W. Hiddemann (Hrsg.) C. Bartram (Hrsg.) Die Onkologie 2., aktualisierte Auflage Teil 1: Allgemeiner Teil 5 Epidemiologie 5 Pathogenese 5 Grundprinzipien der Therapie
W. Hiddemann (Hrsg.) C. Bartram (Hrsg.)
Die Onkologie 2., aktualisierte Auflage Teil 1: Allgemeiner Teil 5 Epidemiologie 5 Pathogenese 5 Grundprinzipien der Therapie
Mit 290 Abbildungen und 184 Tabellen
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Prof. Dr. med. Wolfgang Hiddemann Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Medizinische Klinik und Poliklinik III Marchioninistraße 15 81377 München
Prof. Dr. med. Claus R. Bartram Universität Heidelberg Institut für Humangenetik Im Neuenheimer Feld 366 69120 Heidelberg
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ISBN 978-3-540-79724-1 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.com © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2010 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Dr. Sabine Höschele, Heidelberg Projektmanagement: Cécile Schütze-Gaukel, Heidelberg Copy Editing: Dr. Christiane Grosser, Viernheim Layout und Umschlaggestaltung: deblik Berlin Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH – Reinhold Schöberl, Würzburg SPIN: 11333463 Gedruckt auf säurefreiem Papier
2111 – 5 4 3 2 1 0
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Vorwort zur 2. Auflage Die raschen Fortschritte, die sowohl in der Grundlagenforschung als auch in der Therapie von malignen Tumoren in den letzten Jahren gemacht worden sind, haben uns dazu veranlasst, eine zweite aktualisierte Auflage von »Die Onkologie« zu verfassen. Neben der Aktualisierung aller Kapitel enthält die 2. Auflage auch neue Kapitel, die den aktuellen Entwicklungen entsprechend ergänzt wurden. Darüber hinaus haben wir für einige Kapitel auch neue Autoren gewinnen können, um den hohen Anspruch dieses Buches aufrecht zu erhalten. Wir möchten allen Autoren sehr herzlich für Ihre konstruktive Mitarbeit danken. Danken möchten wir auch dem Springer Verlag, insbesondere Frau Dr. Sabine Höschele und Frau Cécile Schütze-Gaukel für die redaktionelle Unterstützung bei der Zusammenstellung der einzelnen Beiträge. Wie bereits bei der 1. Auflage haben auch diesmal Kollegen aus der Medizinischen Klinik und Poliklinik III der Universität München dazu beigetragen, alle Beiträge unter inhaltlichen und redaktionellen Gesichtspunkten zu überarbeiten. Von Seiten der Herausgeber sei daher besonders Frau PD Dr. M. Feuring-Buske, Herrn Dr. L. Lindner, Herrn Dr. S. Böck, Frau Dr. N. Lang für diese Arbeit sehr herzlich gedankt. Besonderer Dank gilt auch Frau Andrea Höbart, die für die Umsetzung der Korrekturen und die logistische Abwicklung verantwortlich war. Die Grundidee und das Konzept für »Die Onkologie« wurde ursprünglich gemeinsam mit Herrn Prof. Heinz Huber aus Innsbruck entwickelt, der zwischenzeitlich aus dem aktiven Dienst ausgeschieden ist und daher an der 2. Auflage dieses Buches nicht mehr mitwirken konnte. Ihm sei an dieser Stelle noch einmal sehr herzlich für seine konstruktive Mitarbeit bei der 1. Auflage gedankt. Wir hoffen, dass die 2. Auflage von »Die Onkologie« für den interessierten Leser einen Gewinn darstellt und dazu beitragen kann, die Erkennung und Behandlung von bösartigen Erkrankungen zum Wohle unserer Patienten zu verbessern. Prof. Dr. W. Hiddemann Prof. Dr. C.R. Bartram München/Heidelberg, im September 2009
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Vorwort zur 1. Auflage Die rasch zunehmende Anzahl von Menschen, die an Krebs erkranken und an bösartigen Tumoren versterben, hat dazu geführt, dass bösartige Tumoren zu einer zentralen medizinischen und wissenschaftlichen, aber auch sozialpolitischen, finanziellen und menschlichen Herausforderung geworden sind. Dieser Herausforderung kann sich heutzutage kein Arzt mehr entziehen. Sowohl in der nieder-gelassenen Praxis als auch im Krankenhaus wird jeder Arzt mit der Verantwortung konfrontiert, krebskranke Patienten behandeln und betreuen zu müssen. Dieser Herausforderung kann der Arzt nur dann begegnen, wenn er umfassend über die Faktoren Bescheid weiß, die zur Entstehung einer Krebserkrankung beitragen, wenn er die Symptome einer Krebserkrankung kennt und über Thera-piestrategien informiert ist. Da unser Wissen über Tumorerkrankungen rasch zunimmt und sich dank moderner wissenschaftlicher Methoden sowohl die pathogenetischen Erkenntnisse als auch die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten in kurzer Zeit wesentlich erweitern, ist eine kontinuierliche Weiterbildung im Bereich der Onkologie für jeden Arzt zwingend erforderlich. Das vorliegende Buch soll dazu einen Beitrag leisten und die aktuellen Kenntnisse auf einer breit angelegten Basis vermitteln. Der erste Teil dieses zweibändigen Werks gibt einen umfassenden Überblick über die allgemeinen Grundlagen der Onkologie wie die Epidemiologie, die pathogenetischen Prinzipien und die grundsätzlichen Therapie-Strategien. Darüber hinaus kommen u. a. auch Aspekte der Ethik und der psychologischen Unterstützung zur Darstellung. Im zweiten Teil werden die einzelnen Tumorentitäten im Detail dargestellt wobei besonderer Wert auf die Pathogenese unter Einschluss molekularer und genetischer Faktoren und die Therapie gelegt wird. Viele Autoren haben ihren Beitrag dazu geleistet, diesen umfassenden Überblick über die Onkologie in ihrer gesamten Bandbreite zu vermitteln.Wir möchten an dieser Stelle den Autoren für ihre konstruktive Mitarbeit und ihre Kooperationsbereitschaft danken. Danken möchten wir auch dem Springer-Verlag – insbesondere Frau Ulrike Conrad-Willmann und Frau Lindrun Weber – für seine redaktionelle Unterstützung und die Bereitschaft, ein derartiges umfassendes Buchkonzept zu realisieren. Trotz der Bemühungen aller Autoren und der Herausgeber, die einzelnen Kapitel des Buches auf dem neuesten Kenntnisstand zu vermitteln, kann dieses Werk nicht alle aktuellen Fortschritte enthalten, die in den letzten wenigen Monaten vor Erscheinen des Buches gewonnen werden konnten. Die Beiträge sind jedoch zum Zeitpunkt der Manuskriptabgabe, d. h. zum Februar 2003 aktualisiert. Das Studium der einzelnen Kapitel entbindet den Leser daher nicht von der Verpflichtung, sich über aktuelle Ergebnisse in entsprechenden Publikationen kontinuierlich zu unterrichten. Einen ganz wesentlichen Beitrag zum Gelingen dieses Werkes haben drei Kollegen der Medizinischen Klinik und Poliklinik III der Universität München geleistet, die alle Beiträge unter inhalt-lichen und redaktionellen Gesichtspunkten überarbeitet haben. Da es unser Ziel war, den Aufbau der einzelnen Kapitel möglichst gleichsinnig zu gestalten waren eine entsprechende Überarbeitung und Anpassung erforderlich. Von Seiten der Herausgeber sei Frau Dr. M. Feuring-Buske, Herrn Dr. M. Schlemmer und Herrn Dr. L. Lindner für diese Arbeit sehr herzlich gedankt. Frau Margret Höchst hat die Umsetzung der Korrekturen übernommen, alle Kapitel auf Vollständigkeit überprüft und die Literaturverzeichnisse abgeglichen.Für diese mit hoher Sorgfältig-keit durchgeführten Tätigkeiten danken wir ihr sehr. Unser besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Dr. T. Haferlach, der viele Kapitel redigiert hat, die Koordination zwischen Herausgebern, Autoren und Verlag mit unermüdlichem Einsatz übernahm und uns jederzeit in allen Fragen und Aufgaben mit großem Einsatz seine kompetente Unterstützung zur Verfügung stellte. Wir hoffen, dass »Die Onkologie« für den Leser einen Gewinn darstellt und dazu beiträgt, den Kampf gegen bösartige Erkrankungen erfolgreich zum Wohle unserer Patienten zu führen. Die Herausgeber München im Oktober 2003
IX
Inhaltsverzeichnis – Teil 1: Allgemeiner Teil I Epidemiologie und Pathogenese 1
1.1
1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9 1.10 1.11 1.12
2
2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6 2.1.7 2.1.8 2.1.9 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6 2.2.7 2.2.8 2.2.9 2.2.10 2.2.11 2.2.12 2.2.13
Was ist Krebs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
W. Hiddemann, M. Feuring-Buske, L.H. Lindner, M. Krych, H. Huber, C.R. Bartram Krebs stellt eine zentrale medizinische und wissenschaftliche, aber auch sozialpolitische, finanzielle und menschliche Herausforderung dar Krebs ist eine »alte« Erkrankung . . . . . . . . . . . . Krebs ist eine genetische Erkrankung . . . . . . . . Krebs ist eine umweltbedingte Erkrankung . . . . Wird die Krebsentstehung durch Ernährung und Lebensführung beeinflusst? . . . . . . . . . . . Krebs ist eine Infektionskrankheit . . . . . . . . . . Krebs ist ein mehrstufiger Prozess . . . . . . . . . . Die Forschung bei Krebs ist eine interdisziplinäre Aufgabe und erfordert klinische Studien . . . . . . Krebs ist eine vermeidbare Erkrankung . . . . . . . Krebs ist eine behandelbare Erkrankung . . . . . . Krebs ist eine teure Erkrankung . . . . . . . . . . . . Krebs ist eine Lebenskrise . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 12 13 14 16 16
Einteilung und Klassifikation maligner Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
H.K. Müller-Hermelink, T. Papadopoulos Klassifikationsprinzipien maligner Tumoren . . . Morphologisch definierte Merkmale des malignen Wachstums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tumorstroma und extrazelluläre Matrix . . . . . . . . Tumorinfiltrierende Zellen . . . . . . . . . . . . . . . . Spezifische ätiologische Faktoren . . . . . . . . . . . . Sporadische und erbliche maligne Erkrankungen . Tumordefinierende zytogenetische Veränderungen Molekularbiologische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . Klinische bzw. laborchemische Tumormerkmale . . Therapieerfolg dokumentierende Klassifikationssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle histopathologische Klassifikation maligner Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karzinome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plattenepithelkarzinome . . . . . . . . . . . . . . . . . Basaliome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Urothelkarzinome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adenokarzinome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuroendokrine Karzinome . . . . . . . . . . . . . . . Karzinome mit gemischter Differenzierung . . . . . Weichgewebskarzinome (epitheliale Sarkome) . . . Sarkome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mesotheliome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karzinosarkome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synovialsarkome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maligne Melanome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.14 2.2.15 2.2.16 2.2.17 2.2.18 2.2.19 2.2.20 2.3
4 6 6 6 9 10 10
2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.5 2.5.1 2.5.2 2.6
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3
18 20 20 21 21 21 22 22 25 25 25 29 29 30 31 31 31 33 33 33 33 34 34 35
3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6 3.3.7 3.3.8 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4
Tumoren des ZNS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keimbahntumoren (gonadale Stromatumoren) . . Tumoren der Keimzellen . . . . . . . . . . . . . . . . Maligne hämatologische Erkrankungen . . . . . . Maligne Lymphome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plasmozytom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tumoren mit embryonaler (blastomatöser) Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tumorvarianten bei der histologischhistogenetischen Typisierung . . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung maligner Tumoren (Staging) . TNM-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . UICC-Stadium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biologische Relevanz der Stadieneinteilung . . . . Tumorgraduierung (Grading) . . . . . . . . . . . . . Differenzierungsgrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . Malignitäts- bzw. Anaplasiegrad . . . . . . . . . . . Prognostische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
35 35 35 35 36 37
.
38
. . . . . . . . . .
38 38 38 39 39 39 39 40 41 42
Epidemiologie bösartiger Neubildungen . . . .
43
N. Becker Datenquellen und Methoden . . . . . . . . . . . . . . Datenquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse der deskriptiven Epidemiologie . . . . Krebsmortalität und Krebsinzidenz in Deutschland Internationale Vergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologische Epidemiologie: Die maßgeblichen Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rauchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übergewicht, körperliche Aktivität . . . . . . . . . . . Alkohol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Infektiöse Agenzien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genetische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufliche Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekulare Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . Biomarker für Exposition und interne Wirkung . . . Biomarker für Suszeptibilität . . . . . . . . . . . . . . Methodische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . Früherkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Screening als diagnostische Maßnahme in einer »gesunden« Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . Nebenwirkungen als unvermeidbare Begleiterscheinung des Screenings . . . . . . . . . . . . . . . Überlebenszeit und Stadienverteilung als ungeeignete Größen für einen Effektivitätsnachweis . . . Sensitivität, Spezifität und prädiktiver Wert im Screening . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44 44 46 49 49 53 56 57 58 59 59 59 60 60 60 62 63 63 63 64 64 65 65 65 66
X
4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5 4.5.6 4.5.7 4.5.8 4.6 4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.6.4 4.6.5 4.7 4.8 4.8.1 4.8.2 4.8.3 4.8.4 4.8.5 4.8.6 4.8.7 4.8.8 4.8.9 4.9 4.9.1 4.9.2 4.9.3 4.9.4
5 5.1
Inhaltsverzeichnis – Teil 1: Allgemeiner Teil
Genetische Grundlagen der Kanzerogenese . . C.R. Bartram Das Genom des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau und Regulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Genotyp zum individuellen Krankheitsbild . . Onkogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden zur Identifikation von Onkogenen . . . . Physiologische Funktion und pathologische Aktivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturelle Onkogendefekte . . . . . . . . . . . . . . Quantitative Pathomechanismen . . . . . . . . . . . . Tumorsuppressorgene . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identifikation und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . P53 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . P16 und RB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Micro-RNA als Onkogene und Tumorsuppressoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tumorstammzellen und Akkumulation genetischer Läsionen in Tumorzellen . . . . . . . . Tumorstammzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie vieler Mutationen bedarf es zur malignen Transformation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitintervall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiermodelle mit potenziell klinischer Relevanz . . . Modell Kolonkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mutationsabfolge bei anderen Tumoren . . . . . . . Interaktion von Tumor und Mikromilieu . . . . . . . . Hochdurchsatzmethoden zur genetischen Charakterisierung von Tumoren . . . . . . . . . . . . . Telomere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DNA-Replikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Telomerase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regulation der Telomerfunktionen . . . . . . . . . . . Aberrante Telomeraseaktivität in Tumoren . . . . . . Alternative Mechanismen zur Aufrechterhaltung der Telomerlänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das mitochondriale Genom . . . . . . . . . . . . . . . Epigenetische Fehlprogrammierung . . . . . . . . . DNA-Methylierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modifikationen von Histonen . . . . . . . . . . . . . . Verankerung von Umwelteinflüssen im Genom . . . Angeborene Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . X-Chromosom-Inaktivierung . . . . . . . . . . . . . . . Imprinting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epigenetische Ursachen der Tumorentstehung . . . Imprinting-Defekte bei Krebserkrankungen . . . . . Tumordisposition durch erbliche Epimutationen . . DNA-Reparatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen der DNA-Schädigung und Schutzprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reparatur von Einzelstrangdefekten . . . . . . . . . . Reparatur von Läsionen beider DNA-Stränge . . . . Netzwerke zur Erkennung und Reparatur von DNA-Schäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67 68 68 70 72 72 74 74 83 90 90 91 95 98 99 99 100 101 101 102 104 105 105 108 108 109 110 110 110 111 111 111 112 113 114 114 114 115 117 118 118 118 119 122 124 127
Disposition für erbliche Krebserkrankungen . .
128
W. Friedl, P. Propping Genetische Disposition und die Zwei-TrefferHypothese: Tumorsuppressorgene, Protoonkogene und DNA-Reparaturgene . . . . . . . . .
129
5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5 5.1.6
5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.4 5.4.1 5.4.2 5.5 5.5.1 5.5.2 5.6 5.6.1 5.6.2 5.6.3 5.7 5.7.1 5.7.2 5.8 5.8.1 5.8.2 5.9 5.10 5.11 5.12 5.12.1 5.12.2 5.13
Penetranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autosomal-dominanter Erbgang und Risikopersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prädiktive Diagnostik – Möglichkeiten und Grenzen der molekulargenetischen Diagnostik . . . Psychosoziale Aspekte der präsymptomatischen Diagnostik – Humangenetische Beratung . . . . . . Vorsorge- und Nachsorgeuntersuchungen . . . . . Molekulargenetische Untersuchungsmethoden zur Identifizierung von Anlageträgern erblicher Tumorerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familiäres Mamma-/Ovarialkarzinom . . . . . . . . Krankheitsbild und Definition der Risikofamilien . . Molekulargenetische Grundlagen . . . . . . . . . . . Molekulargenetische Diagnostik . . . . . . . . . . . . Krebsvorsorgeuntersuchungen und Therapie . . . . Erbliche Tumoren des Gastrointestinaltrakts . . . Stufenmodell der Tumorgenese beim kolorektalen Karzinom; Adenom-Karzinom-Sequenz . . . . . . . . Lynch-Syndrom (hereditäres kolorektales Karzinom ohne Polyposis; HNPCC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familiäre adenomatöse Polyposis (FAP) . . . . . . . . MUTYH-assoziierte Polyposis (MAP) . . . . . . . . . . Peutz-Jeghers-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . Multiple endokrine Neoplasien . . . . . . . . . . . . Multiple endokrine Neoplasie Typ 1 . . . . . . . . . . Multiple endokrine Neoplasie Typ 2 . . . . . . . . . . Li-Fraumeni-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheitsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekulargenetische Grundlagen . . . . . . . . . . . Retinoblastom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheitsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekulargenetische Grundlagen . . . . . . . . . . . Vorsorgeuntersuchung und Therapie . . . . . . . . . Neurofibromatose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurofibromatose Typ 1 (von Recklinghausen) . . . Neurofibromatose Typ 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erbliche Nierentumorerkrankungen . . . . . . . . . Von-Hippel-Lindau-Erkrankung . . . . . . . . . . . . . Hereditäres papilläres Nierenkarzinom . . . . . . . . Familiäres Melanom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cowden-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gorlin-Syndrom (NBCCS) . . . . . . . . . . . . . . . . . Autosomal-rezessiv erbliche Tumordispositionssyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Xeroderma pigmentosum . . . . . . . . . . . . . . . . Chromosomeninstabilitätssyndrome . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
132 132 133 133 133
133 134 134 135 135 136 137 137 138 141 143 143 144 144 144 146 146 146 146 146 147 147 147 147 147 148 148 148 148 148 149 149 149 150 150 150
6
Apoptose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
151
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9
K.-M. Debatin, S. Fulda Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zelltodexekution durch Caspasen . . . . Liganden/Rezeptor-Systeme . . . . . . . Mitochondrialer Signalkomplex . . . . BCL-2-Proteine . . . . . . . . . . . . . . . . »Inhibitors of Apoptosis Proteins« (IAP) P53 und Apoptose . . . . . . . . . . . . . . Apoptosegene und Tumortherapie . . . Apoptoseregulatoren und Prognose . .
152 154 155 156 156 157 157 158 158
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . . . . . .
XI Inhaltsverzeichnis – Teil 1: Allgemeiner Teil
6.10
7 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.5 7.6
8
8.1 8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4 8.1.5 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.6 8.2.7
8.2.8
Tumortherapie durch Modulation von Apoptosesignalwegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159 161
Zellzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
162
S. Geley, L. Hengst Überblick über den Zellzyklus . . . . . . . . . . . . . G1-Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S-Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G2-Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M-Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien der Regulation des Zellzyklus . . . . . . Oszillierende Proteinexpression: Synthese und Proteolyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kinasen, Phosphatasen und Kinaseinhibitoren . . . Kompartimentierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zellteilungskontrolle: Kontrollmechanismen (Checkpoints) und Schlüsselproteine (Gatekeepers) Regulation der G1- und S-Phase (G1-S-Checkpoint) Regulation des Eintritts in die Mitose (G2-M-Checkpoint) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regulation des Austritts aus der Mitose (Spindel-Checkpoint) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tumorentstehung durch Mutationen in Checkpoint- und Gatekeeper-Proteinen . . . . . Hyperproliferation durch Deregulation des G1-S Überganges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genetische Instabilität durch Verlust von DNA-Qualitätskontrollmechanismen . . . . . . . . . Aneuploidie durch Defekte im Spindel-Checkpoint Zellzyklusproteine als »Proliferations- und prognostische Marker« . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zellzyklusregulatoren als Angriffspunkte für Tumortherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese . . . . . . . . . . . R. Schulte-Hermann, W. Parzefall Mehrstufenprozess der Krebsentstehung . . . . . Evolution der Krebszelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krebsrisikofaktoren und ihre Wirkung auf die Stufen der Kanzerogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tumorinitiation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tumorpromotion, selektives Wachstum . . . . . . . . Tumorprogression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung von chemischen Kanzerogenen . . . . Gentoxische Kanzerogene . . . . . . . . . . . . . . . . Gentoxische Kanzerogene mit direkter Wirkung . . Gentoxische Kanzerogene mit indirekter Wirkung . Reaktive Sauerstoff- und Stickstoffspezies, kanzerogene Metalle und radioaktive Elemente . . Metabolische Aktivierung und Inaktivierung von Kanzerogenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umwelteinflüsse auf die Metabolisierung von Kanzerogenen, Chemoprävention . . . . . . . . Erbliche Variationen bei der Metabolisierung von Kanzerogenen und der Reparatur von DNA-Schäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DNA- und Chromosomenschäden durch gentoxische Chemikalien und endogene Ursachen
8.2.9 8.2.10 8.2.11 8.2.12 163 164 164 165 166 168 168 170 172 172 172 174
8.2.13 8.2.14 8.2.15 8.2.16
9 9.1 9.1.1 9.1.2 9.1.3
174
9.2 9.2.1 9.2.2
176
9.2.3
176
9.2.4
177 178
9.2.5
180 180 180
181 182 182 184 186 189 192 194 196 197 197 204 207 209
210 212
9.2.6 9.2.7 9.2.8 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.3.5 9.3.6 9.3.7 9.4 9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4 9.5 9.5.1 9.5.2 9.5.3 9.5.4 9.5.5 9.6 9.6.1 9.6.2
Chemisch induzierte Mutationen in spezifischen, mit der Kanzerogenese assoziierten Genen . . . . DNA-Reparatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irreversible Wirkung von gentoxischen Kanzerogenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kanzerogene mit nicht gentoxischen Wirkungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfassung der Exposition, Biomonitoring . . . . . . Substanzgemische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Testverfahren für chemische Kanzerogene . . . . . Risikoabschätzung und Prävention . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. .
214 214
.
216
. . . . . .
216 220 220 221 222 223
Kanzerogenese durch Viren . . . . . . . . . . . . .
224
R. Grassmann, T. Iftner, B. Fleckenstein Prinzipien der viralen Onkogenese . . . . . . . . . Bedeutung der Viren als Tumorerreger . . . . . . . Virale Onkogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung der Zelltransformation durch Tumorviren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Papillomviren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau und Systematik der Papillomviren . . . . . Zelltransformation durch die Onkoproteine der Papillomviren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung der Papillomviruspathogenese im Tiermodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Papillomvirusreplikation im differenzierenden Epithel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese papillomvirusinduzierter gutartiger Tumore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Papillomvirusinduzierte maligne Erkrankungen . Klinische Bedeutung des HPV-Nachweis bei der Zervixkarzinomvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . Impfstoffe gegen Papillomviren . . . . . . . . . . . . Epstein-Barr-Virus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transformation von B-Zellen durch EBV . . . . . . . Infektiöse Mononukleose . . . . . . . . . . . . . . . . B-Zell-Lymphome in immunsupprimierten Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Burkitt-Lymphom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hodgkin-Lymphom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . EBV in T-Zell- und NK-Zell-Lymphomen . . . . . . . Anaplastisches Nasopharynxkarzinom . . . . . . . Kaposi-Sarkom und humanes Herpesvirus Typ 8 Isolierung eines Herpesvirus aus dem KaposiSarkom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Humanes Herpesvirus Typ 8 (HHV-8) . . . . . . . . . Wachstumsstimulierende und -transformierende HHV-8-Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolle von HHV-8 bei der Entstehung des KaposiSarkoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Humane T-Zell-Leukämieviren . . . . . . . . . . . . Humanes T-Zell-Leukämievirus: Ein Retrovirus . . T-Zell-Transformation durch HTLV-1 . . . . . . . . . Epidemiologie der HTLV-1-Infektion . . . . . . . . . Asymptomatische HTLV-1-Infektion . . . . . . . . . Adulte T-Zell-Leukämie/Lymphom . . . . . . . . . . Hepatitis-B-Virus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie der HBV-Infektion . . . . . . . . . . . Aufbau und Genomorganisation der Hepatitis-B-Viren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . .
225 225 225
. . .
225 226 226
.
226
.
228
.
228
. .
228 229
. . . . .
229 230 231 231 232
. . . . . .
232 232 233 233 233 234
. .
234 234
.
234
. . . . . . . . .
235 235 235 235 236 236 237 237 237
.
238
XII
9.6.3
10
10.1 10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4 10.1.5 10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.3 10.4 10.4.1 10.4.2 10.4.3 10.5
10.6
11 11.1 11.1.1 11.1.2 11.2 11.2.1 11.2.2 11.2.3 11.2.4 11.3 11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.4 11.4.1 11.4.2 11.5 11.6 11.6.1 11.6.2 11.6.3 11.7 11.7.1 11.8
Inhaltsverzeichnis – Teil 1: Allgemeiner Teil
11.8.1 11.8.2
Molekulare Pathogenese des primären Leberzellkarzinoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
239 240
Krebserkrankungen als Folge ionisierender Strahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
241
12
242 242 243 243 244 244 244 244 245 245
12.1 12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.1.4 12.1.5 12.2
245
13
247
13.1
250
13.2
250 250
13.3
S.E. Combs, J. Debus Formen der Belastung durch ionisierende Strahlen Natürliche Strahlenbelastung . . . . . . . . . . . . . . Beruflich strahlenexponierte Personen . . . . . . . . Medizinische Strahlenexposition . . . . . . . . . . . . Strahlenexposition durch Unfälle . . . . . . . . . . . . Nuklearterrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlendosis und Strahlenwirkung . . . . . . . . . Strahlenarten und Größe von Strahlung . . . . . . . Stochastische Strahlenwirkung . . . . . . . . . . . . . Deterministische Strahlenwirkung . . . . . . . . . . . Pathophysiologie radiogener maligner Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krebserkrankungen und Leukämien nach Strahlenexposition (-behandlungen) . . . . . . . . Sekundärmalignome nach Strahlentherapie des Rektumkarzinoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärmalignome nach Radiotherapie von Kopf-Hals-Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pädiatrische Sekundärmalignome . . . . . . . . . . . Leukämien und Krebserkrankungen nach häufigen Röntgenuntersuchungen bei Erwachsenen und Kindern . . . . . . . . . . . . . Nuklearterrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Hormone und Krebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Grasl-Kraupp, W. Bursch, R. Schulte-Hermann Physiologische und molekulare Wirkungsweise der Hormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physiologische Wirkungsweise der Hormone . . . . Molekulare Wirkungsweise der Hormone . . . . . . . Allgemeine Mechanismen der kanzerogenen Wirkung von Hormonen . . . . . . . . . . . . . . . . . Karzinogenese als mehrstufiger Prozess . . . . . . . Hormone als Tumorinitiatoren . . . . . . . . . . . . . . Hormone als Tumorpromotoren . . . . . . . . . . . . Fremdstoffe mit Hormonwirkung und potenziellem Einfluss auf die Karzinogenese . . . . . . . . . . . . . Mammakarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tierexperimentelle Grundlagen . . . . . . . . . . . . . Initiation, Promotion und Progression in der Mammakarzinogenese des Menschen . . . . . . . . Lebensstil und Brustkrebs . . . . . . . . . . . . . . . . Endometriumkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . Risiken der Behandlung mit Hormonen oder SERM Ernährung und Hormonhaushalt . . . . . . . . . . . . Karzinom des Ovars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prostatakarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Androgene als Tumorpromotoren . . . . . . . . . . . Mögliche Rolle von Östrogenen . . . . . . . . . . . . . Hodentumor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risikofaktoren für Keimzelltumoren . . . . . . . . . . Schilddrüsenkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . .
251 251 253 254
255 255 255 259 259 259 261 262 262 263 264 265 266 266 266 266 267 267 267 268 269 269 270
12.3
13.4 13.4.1 13.4.2 13.4.3 13.4.4 13.5 13.5.1 13.5.2 13.5.3
14 14.1 14.1.1 14.1.2 14.2 14.3 14.3.1 14.3.2 14.3.3 14.3.4 14.4 14.4.1 14.4.2 14.4.3 14.5 14.5.1 14.5.2 14.5.3
Tierexperimentelle Grundlagen . . . . . . . . . . . . . Initiation und Promotion der Schilddrüsenkarzinogenese des Menschen . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Rauchen und Krebs . . . . . . . . . . . . . . . . K.-M. Müller, T. Wiethege Tabakassoziierte Tumoren . . . . . . . . . . . . . Lungentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Larynxtumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mundhöhlentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . Ösophagustumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . Tumoren weiterer Organe und Organsysteme . Mechanismen der Kanzerogenese als Folge des Rauchens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
270 270 271
. . .
272
. . . . . .
. . . . . .
274 274 276 277 277 277
. . . . . . . . .
277 279 280
. . . . . .
Ernährung von Krebspatienten . . . . . . . . . . T. Ruf Pathogenese der durch Ernährung bedingten bzw. mitverursachenden Krebsentstehung . . . Ernährungsempfehlungen zur Minderung des Tumorrisikos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernährungsstörungen als Folge von Krebs und/oder Krebstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . Ernährung bei Krebspatienten . . . . . . . . . . . . Ziele der Ernährungsbetreuung in der Onkologie Nährstoffbedarf bei Tumorpatienten . . . . . . . . Indikationen zur Ernährungstherapie . . . . . . . . Diagnostik der Fehl- und Unterernährung . . . . . Praxis der Ernährungstherapie . . . . . . . . . . . . Orale Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sondenernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Parenterale Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
281
.
282
.
283
. . . . . . . . . . .
283 284 284 284 285 285 285 286 288 289 290
Angiogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
291
H.G. Augustin, S. Christian Bedeutung der Blutgefäßangiogenese für Tumorwachstum und Tumorprogression . . . Solide Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hämatologische Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung der Lymphgefäßangiogenese für Tumorwachstum und Tumorprogression . . . Molekulare Mechanismen von Vaskulogenese, Angiogenese und Lymphangiogenese . . . . . . Vaskulogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angiogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekulare Regulatoren der angiogenen Kaskade Molekulare Regulation der Lymphangiogenese . . Nachweis angiogener Prozesse in humanen Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathomorphologische Untersuchungstechniken . Biomarker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Imaging . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Manipulation tumorangiogener Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien der Angiogeneseinhibition . . . . . . . Pharmakologische Angiogeneseinhibitoren . . . . Kombinationstherapien . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . .
294 295 295
.
295
. . . . .
295 296 296 297 301
. . . .
301 301 302 302
. . . .
303 303 305 306
XIII Inhaltsverzeichnis – Teil 1: Allgemeiner Teil
14.5.4
15 15.1 15.2 15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.2.4 15.2.5 15.2.6 15.3 15.3.1 15.3.2 15.4 15.4.1 15.4.2
16 16.1 16.1.1 16.2 16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.2.4 16.3 16.3.1 16.4 16.4.1 16.4.2 16.5
17 17.1 17.1.1 17.1.2 17.1.3 17.1.4 17.1.5 17.1.6 17.1.7 17.1.8 17.2
Entwicklungen auf dem Gebiet der translationellen Angiogeneseforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zellinvasion und Metastasierung . . . . . . . . . . M. Zöller Definition des malignen Phänotyps und Prozess der Metastasierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metastasierung als physiologisches Programm . . Tumorstammzellen und Metastasierung . . . . . . . Reversible epithelial-mesenchymale Transformation (EMT/MET) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metastasierung und Regulatorgene genetischer Programme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolle des Epigenoms bei der Metastasierung . . . . Einfluss des Genoms auf die Metastasierung . . . . . Metastasierung und Tumorstroma . . . . . . . . . . . Effektor- und Suppressormoleküle der Metastasierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metastasierungsassoziierte Gene . . . . . . . . . . . . Suppressorgene der Metastasierung . . . . . . . . . . Nachweis der metastatischen Kapazität eines Tumors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Screeningverfahren zur Identifizierung von Metastasengenen und Metastasensuppressorgenen . . . Funktionelle Erfassung der metastatischen Kapazität eines Tumors . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tumorimmunologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Renner, A. Zippelius, G. Riethmüller, A. Knuth Grundbegriffe der Tumorimmunologie . . . . Immune Surveillance und Editing als zentrale Bestandteile des Immunsystems . . . . . . . . . Funktioneller Aufbau des Immunsystems . . Antigen präsentierende Zellen . . . . . . . . . . Zelluläre Immunität . . . . . . . . . . . . . . . . . B-Zellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Escape-Mechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . Identifizierung und Charakterisierung von Tumorantigenen . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation von Tumorantigenen . . . . . . . . Immuntherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktive Immuntherapie . . . . . . . . . . . . . . . . Passive Immuntherapie . . . . . . . . . . . . . . . Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
309
Mammakarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . Zervixkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hauttumor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prostatakarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . Kolonkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufsbedingte Tumorerkrankungen . . . Besonderheiten bei erblicher Disposition für Krebserkrankungen . . . . . . . . . . . . Mammakarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . Kolorektales Karzinom . . . . . . . . . . . . . . Multiple endokrine Neoplasie (MEN) . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
311 312 312 312
II Grundprinzipien der Diagnostik
306 307 308
309 309 309
313 313 321 322 322 323 324 325
. . .
326
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
326 326 327 328 329 331
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
332 332 335 336 339 344 345
Prävention und Früherkennung . . . . . . . . . . .
346
R. Kath, W. Berger, C.P. Schneider, K. Höffken Primäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . Tabakkonsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alkoholkonsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physische Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . Ultraviolette Strahlen . . . . . . . . . . . . . . . Reproduktive Faktoren und Sexualverhalten . Infektiöse Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernährungsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . Anwendung pharmakologischer Substanzen (Chemoprävention) . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundäre Prävention – Früherkennung . .
. . . . . . . .
17.2.1 17.2.2 17.2.3 17.2.4 17.2.5 17.3 17.4 17.4.1 17.4.2 17.4.3
18
18.1 18.1.1 18.1.2 18.1.3 18.1.4 18.1.5 18.1.6 18.1.7 18.2 18.2.1 18.2.2 18.2.3 18.2.3 18.2.4 18.2.5
19
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
348 348 348 348 348 349 349 349
. . . . . . . .
353 355
19.1 19.1.1 19.1.2 19.1.3 19.1.4 19.2 19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.3 19.3.1 19.3.2 19.3.3 19.3.4 19.3.5 19.3.6 19.3.7 19.3.8
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
356 356 357 357 357 358
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
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359 359 360 360 361
Grundzüge der klinischen Diagnostik: Anamnese und körperliche Untersuchung . . . .
365
M. Michl, W. Hiddemann Anamnestisches Gespräch . . . . . . . . . . . . . . Aktuelle Beschwerden . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systemanamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemein- und Ernährungszustand . . . . . . . . . Medikamentenanamnese . . . . . . . . . . . . . . . Psychosoziale Anamnese und Familienanamnese Schmerzanamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der palliative Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperliche Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . Herz, Lunge und Abdomen . . . . . . . . . . . . . . . Lymphknotenstationen . . . . . . . . . . . . . . . . . Haut, Schleimhäute, Haare und Nägel . . . . . . . . Mundhöhle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Urogenitalsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurologisches und muskuloskeletales System . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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366 366 366 367 368 369 369 369 369 370 370 370 371 371 371 372
Grundprinzipien der diagnostischen Radiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
373
C.D. Claussen, M. Horger Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolle und Evaluation der onkologischen Bildgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Morphologie zur Funktion . . . . . . . . Strategien in der Bildgebung . . . . . . . . . . . Primäres onkologisches Staging . . . . . . . . . Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . Computertomografie (CT) . . . . . . . . . . . . . Magnetresonanztomografie (MRT) . . . . . . . Positronenemissionstomografie (PET, PET-CT) Diagnostische Strategien . . . . . . . . . . . . . Kolorektales Karzinom . . . . . . . . . . . . . . . . Ösophaguskarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . Hepatozelluläres Karzinom . . . . . . . . . . . . . Gallengangkarzinome . . . . . . . . . . . . . . . . Bronchialkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kopf-Hals-Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zervixkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endometriumkarzinom . . . . . . . . . . . . . . .
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374
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374 374 374 374 375 375 376 377 377 377 378 378 378 378 378 378 379
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XIV
19.3.9 19.3.10 19.3.11 19.3.12 19.3.13
20
Inhaltsverzeichnis – Teil 1: Allgemeiner Teil
Ovarialkarzinom . . . . Prostatakarzinom . . . Harnblasenkarzinom . Mammakarzinom . . . Nierenzellkarzinome . Literatur . . . . . . . .
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Tumormarker in der Diagnostik . . . . . . . . . . .
Petra Stieber 20.1 Allgemeine Kriterien zum Einsatz von Tumormarkern . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.1.1 Qualitätsmerkmale von Tumormarkern . . . . . 20.2 Wichtige Kenntnisse bei der Interpretation von Tumormarkerbefunden . . . . . . . . . . . 20.2.1 Einflussgrössen (in vivo) . . . . . . . . . . . . . . 20.2.2 Störgrößen (in vitro) . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.3 Methodenabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 20.2.4 Irrelevanz eines Cut-offs für den individuellen Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.3 Indikationen zur Bestimmung von Tumormarkern . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.3.1 Früherkennung (Screening) . . . . . . . . . . . . 20.3.2 Risikogruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.3.3 Primäre Tumordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . 20.3.4 Verlauf unter Tumortherapie . . . . . . . . . . . . 20.4 Tumormarker bei den häufigsten soliden Tumorerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . 20.4.1 Kolorektales Karzinom . . . . . . . . . . . . . . . . 20.4.2 Pankreaskarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.4.3 Hepatozelluläres Karzinom (HCC) . . . . . . . . . 20.4.4 Magenkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.4.5 Mammakarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.4.6 Ovarialkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.4.7 Lungenkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.4.8 Hodentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.4.9 Blasenkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.4.10 Nierenzellkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.4.11 Prostatakarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20.4.12 CUP (»cancer of unknown primary«) . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
379 379 379 379 379 380 381
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382 382
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386 386 387 387
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388
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388 389 389 389 389
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390 390 391 392 392 393 393 394 394 394 394 394 395 397
. . . .
III Grundprinzipien der Therapie 21 21.1 21.1.1 21.1.2 21.1.3 21.1.4 21.1.5 21.1.6 21.1.7 21.1.8
Zytostatische Chemotherapie . . . . . . . . . . . . J. Schütte, J. Barth Prinzipien der medikamentösen Tumortherapie . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modelle der Tumorzellkinetik . . . . . . . . . . . . . . Modelle der Tumorresistenz . . . . . . . . . . . . . . . Dosis-Wirkungs-Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . Definitionen der medikamentösen Tumorbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weiterentwicklung medikamentöser Therapieverfahren durch klinische Studien . . . . . . . . . . . Klinische Endpunkte der medikamentösen Tumortherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewertung der Therapietoxizität . . . . . . . . . . . .
21.2 21.2.1
22
401
23.1
402 402 402 403 404
23.2 23.3 23.4 23.5 23.6 23.7 23.8 23.9 23.10 23.11 23.12 23.13
406 406 408
412 413 436
Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
437
R. Pötter, D. Georg, L. Handl-Zeller, A. Kranz, E. Selzer 22.1 Physikalische und technische Aspekte der Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.1.1 Physikalische Grundlagen ionisierender Strahlung . 22.1.2 Apparative Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2 Strahlenbiologische Grundlagen . . . . . . . . . . . 22.2.1 Dosis-Wirkungs-Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . 22.2.2 Dosis-Volumen-Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . 22.2.3 DNA-Schäden und Reparaturmechanismen . . . . . 22.2.4 Sauerstoffeffekt, Hypoxie und Reoxygenierung . . . 22.2.5 Repopulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2.6 Redistribution und Zellzyklus . . . . . . . . . . . . . . 22.2.7 Aktuelle strahlenbiologische Entwicklungen . . . . 22.2.8 Modifikation der Strahlenwirkungen . . . . . . . . . 22.3 Grundlagen der Radioonkologie . . . . . . . . . . . 22.3.1 Strahlendosen und Volumina . . . . . . . . . . . . . . 22.3.2 Dosierung und Fraktionierung . . . . . . . . . . . . . 22.3.3 Kombinierte Radiochemotherapie . . . . . . . . . . . 22.3.4 Unerwünschte Folgen der Strahlentherapie . . . . . 22.3.5 Supportive Maßnahmen während und nach Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.4 Spezielle Methoden und aktuelle Entwicklungen in der Planung und Durchführung der Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.4.1 Teletherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.4.2 Therapieplanung: Von der Röntgensimulation zur schnittbildbasierten und computergestützten 3-D-Planung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.4.3 Megavoltradiotherapie mit Linearbeschleunigern . 22.4.4 3-D-Konformationsradiotherapie . . . . . . . . . . . . 22.4.5 Stereotaktische Radiotherapie . . . . . . . . . . . . . . 22.4.6 Ganzkörperphotonenradiotherapie . . . . . . . . . . 22.4.7 Ganzhautelektronenradiotherapie . . . . . . . . . . . 22.4.8 Radiotherapie mit schweren Teilchen (Hadronentherapie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.4.9 Brachytherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.4.10 Intraoperative Radiotherapie (IORT) . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
404
Wirkungsmechanismen von Antitumortherapeutika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einteilung antineoplastischer Substanzen . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
438 438 440 441 441 443 443 443 444 444 444 445 445 450 451 453 457 459
460 460
460 461 463 463 465 465 466 466 467 468
Grundlagen der onkologischen Chirurgie . . . .
469
J.R. Siewert, H.E. Vogelsang Rahmenbedingungen der onkologischen Chirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präoperatives Staging . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präoperative Risikoabschätzung . . . . . . . . . . . Präoperative Planung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operatives Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lymphadenektomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sicherung der intraoperativen Tumorfreiheit . . . Rekonstruktion in der onkologischen Chirurgie . Operationsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologisch-anatomische Präparatebefundung . Residualtumorkategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapierelevante Prognosefaktoren . . . . . . . . Erweiterte postoperative Diagnostik . . . . . . . . .
470 470 471 471 472 472 473 473 473 473 474 475 475
XV Inhaltsverzeichnis – Teil 1: Allgemeiner Teil
23.14 23.15 23.16 23.17 23.18 23.19 23.20 23.21 23.22 23.23
24
24.1 24.1.1 24.1.2 24.2 24.2.1 24.2.2 24.3 24.4
25 25.1 25.1.1 25.1.2 25.1.3 25.1.4 25.2 25.3 25.4 25.4.1 25.4.2 25.4.3 25.4.4 25.4.5
Adjuvante und additive Therapiemaßnahmen . . Postoperative Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . Tumornachsorge – Tumorvorsorge – Tumorfrüherkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prädiktion und Evaluation von Therapieansprechen – Therapie vorbehandelter Patienten Behandlung von Rezidiven und Metastasen . . . . Tumordebulking . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Palliative Chirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prophylaktische Chirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenwert der minimalinvasiven Chirurgie . . . . Onkologische Chirurgie: Stellenwert und Ausblick Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
477 477 477 477 478 478 479 479
Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie . . . . . . . . .
480
J. Schirra, R.-T. Hoffmann, T.F. Jacobs, F. Kolligs, C. Trumm, C. Weber, C.J. Zech, M. Reiser Diagnostische Punktionen . . . . . . . . . . . . . . . Perkutane diagnostische Punktionen . . . . . . . . . Endosonografisch gesteuerte diagnostische Punktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prophylaxe, Therapie und Palliation gastrointestinaler Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endoskopische Resektion gastrointestinaler Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interventionelle palliative Therapie gastroenterologischer Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . Interventionelle Therapie zentralvenöser Stenosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katheterembolisation von Skelett- und Weichteiltumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zytokine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Derigs, T. Fischer, C. Huber Hämatopoetische Wachstumsfaktoren . . . . . . . Zytokine mit Wirkungen auf frühe Progenitorzellen Zytokine mit vornehmlicher Wirkung auf die granulozytäre/monozytäre Reihe . . . . . . . . . . . . Zytokine mit Wirkungen auf die thrombozytäre Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erythropoetin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interferone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interleukin 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere Zytokine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tumor-Nekrose-Faktor α . . . . . . . . . . . . . . . . . Interleukin 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interleukin 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interleukin 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interleukin 12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
476 476 476
481 481 483 483 483
26.3 26.4 26.5 26.5.1 26.5.2 26.5.3 26.5.4 26.5.5 26.5.6 26.5.7 26.5.8 26.6 26.6.1 26.6.2 26.6.3 26.6.4 26.6.5 26.6.6 26.6.7 26.6.8 26.6.9 26.6.10 26.6.11 26.7 26.7.1 26.7.2 26.7.3
491 26.7.4 505 507 512 513 514 514 518 524 527 529 533 535 535 536 537 538 538 539
27 27.1 27.2 27.3 27.3.1 27.3.2 27.3.3 27.3.4 27.4 27.4.1 27.4.2 27.4.3 27.4.4 27.5
28 26
26.1 26.2 26.2.1 26.2.2 26.2.3
Hochdosistherapie und Stammzelltransplantation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
540
C. Scheffold, W.E. Berdel, J. Kienast Hämatopoetische Stamm- und Progenitorzellen Stammzellquellen und -gewinnung . . . . . . . . Knochenmark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Periphere Progenitorzellen (PBPC) . . . . . . . . . . Nabelschnurblut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
541 541 541 541 545
. . . . .
28.1 28.2 28.3 28.4 28.5 28.6
Stammzellplastizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Embryonale Stammzellen . . . . . . . . . . . . . . . . Autologe Stammzelltransplantation . . . . . . . . . Therapieprinzip und Rationale . . . . . . . . . . . . . Indikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patientenselektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Induktionstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hochdosistherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stammzellpräparation und -reinfusion . . . . . . . . Komplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allogene Stammzelltransplantation . . . . . . . . . Therapieprinzip und Rationale . . . . . . . . . . . . . Indikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patientenselektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spendersuche und -auswahl . . . . . . . . . . . . . . . Klassische Konditionierung . . . . . . . . . . . . . . . . Dosismodifizierte Konditionierung . . . . . . . . . . . Stammzellpräparation und -transplantation . . . . . Immunsuppressive Therapie . . . . . . . . . . . . . . . Spenderlymphozytentransfusionen . . . . . . . . . . Komplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesetzliche Vorgaben, Richt- und Leitlinien . . . . Gesetzliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richt- und Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zertifizierung und Akkreditierung von Transplantationszentren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transplantationsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
546 546 547 547 547 548 548 549 549 551 552 552 552 553 553 554 555 555 556 557 557 558 560 560 560 561
Hyperthermie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . L.H. Lindner, P. Wust, R.D. Issels Thermobiologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . Interaktion mit Radiotherapie und Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physikalische Grundlagen und technische Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lokale Oberflächenhyperthermie . . . . . . . . . . . Regionale Tiefenhyperthermie . . . . . . . . . . . . . Ganzkörperhyperthermie . . . . . . . . . . . . . . . . . Thermometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Studien und Ergebnisse . . . . . . . . . . . Hyperthermie in Kombination mit Radiotherapie . Hyperthermie in Kombination mit Chemotherapie Hyperthermie in Kombination mit Radio-chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ganzkörperhyperthermie in Kombination mit systemischer Chemotherapie . . . . . . . . . . . . Zukünftige Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
563
567 567 567 568 568 569 569 571
Somatische Gentherapie . . . . . . . . . . . . . . . .
575
C.P. Pallasch, C.-M. Wendtner, M. Hallek Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte der Gentherapie . . . . . . . . . Sicherheit und Zulassungsverfahren der Gentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . Vektoren: Werkzeuge für den Gentransfer Viren als Vektoren zur Genübertragung . . Targeting von Vektoren . . . . . . . . . . . .
561 561 562
564 565
573 574 574 574
. . . . . . . . . .
576 576
. . . .
576 577 578 579
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
XVI
28.7 28.8 28.8.1 28.8.2 28.8.3 28.8.4 28.9 28.9.1 28.9.2 28.9.3
29 29.1 29.2 29.2.1 29.2.2 29.2.3 29.2.4 29.2.5 29.2.6 29.3 29.3.1 29.3.2 29.3.3 29.3.4 29.3.5 29.3.6 29.4 29.4.1 29.4.2 29.4.3 29.4.4 29.4.5 29.4.6 29.4.7 29.4.8 29.5 29.5.1 29.5.2 29.5.3 29.5.4 29.5.5 29.5.6 29.6 29.6.1 29.6.2 29.7 29.7.1 29.7.2 29.7.3
Inhaltsverzeichnis – Teil 1: Allgemeiner Teil
Therapeutische Strategien zur Behandlung von Krebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gen-Immuntherapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktive Immunisierung durch Verstärkung der Immunogenität von Tumorzellen . . . . . . . . . Vakzinierung mit rekombinanten Tumorantigenen Vakzinierung mit dendritischen Zellen, die Tumorantigene präsentieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genetische Modifikation immunologischer Effektorzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einbringung therapeutischer Gene . . . . . . . . . Elimination von Tumorzellen durch Einführung eines Suizidgens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Direkte Übertragung von Tumorsuppressorgenen in den Tumor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übertragung von Resistenzgenen in hämatopoetische Stammzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Unkonventionelle Verfahren in der Onkologie M. Horneber, G. Büschel, G. Dennert, M. Wilhelm Definition und Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . Verfahren – Eine Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeit und Kennzeichen der Inanspruchnahme . Diagnostische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernährungsempfehlungen und Nahrungsergänzungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medikamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychologische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtkonzepte und Sonstige . . . . . . . . . . . . . Erfolg: Anspruch und Belege . . . . . . . . . . . . . . Methodenstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestfalluntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spontanremission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beweggründe der Betroffenen . . . . . . . . . . . . . Informationssuche und Entscheidungsfindung . . . Krebsangst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit . . . . . . . . . . Krankheitsparadigmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Innere Desintegration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vertrauensverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Erlebnisorientierung . . . . . . . . . . . . Einfluss des sozialen Umfelds . . . . . . . . . . . . . . Anbieter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heilpraktiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medizinische Laien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsprechung und Politik . . . . . . . . . . . . . . . Krankenkassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfe oder Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Umgang mit unkonventionellen Verfahren . Qualität der Beziehung und Entscheidungsfindung Hilfreiche Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungsmöglichkeiten und Ausblick . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30 580 581 581 582 582 583 583
30.1 30.1.1 30.1.2 30.1.3 30.1.4 30.2 30.2.1 30.2.2
583 584 584 585 586 587 588 588 590 590 591 597 597 598 598 599 599 599 601 601 601 601 602 602 602 603 603 603 603 604 604 604 604 605 605 605 606 606 606 609 609 610 610 611
30.2.3 30.3 30.3.1 30.3.2 30.3.3 30.4 30.4.1 30.4.2 30.4.3 30.4.4 30.5 30.5.1 30.5.2 30.6 30.6.1 30.6.2 30.6.3 30.6.4 30.6.5 30.6.6 30.7
31
31.1 31.1.1 31.1.2 31.2 31.2.1 31.2.2 31.2.3 31.2.4 31.2.5 31.2.6 31.3 31.3.1 31.3.2 31.3.3 31.4 31.5 31.6
Blutersatz in der Onkologie – Anwendung, Komplikationen, Nebenwirkungen und Risiken W. Sibrowski, P. Krakowitzky Anwendung von Erythrozytenkonzentraten (EK) . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indikation und Durchführung von Erythrozytentransfusionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nebenwirkungen der Erythrozytentransfusion . . . EK-Gabe bei Autoimmunhämolysen (AIHA) . . . . . Anwendung von Thrombozytenkonzentraten (TK) Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indikation und Durchführung von Thrombozytentransfusionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nebenwirkung der Thrombozytentransfusion . . . . Anwendung von Granulozytenkonzentraten . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indikation und Durchführung von Granulozytentransfusionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nebenwirkungen der Granulozytentransfusion . . . Anwendung von Plasma (GFP) und Plasmaderivaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indikation und Durchführung von Plasmatransfusionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nebenwirkungen der Plasmatherapie . . . . . . . . . Virussicherheit von Poolplasma und Plasmaderivaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle Indikationen: Bestrahlen und Waschen von Blutkomponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestrahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Waschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Infektionen durch Blut- und Plasmapräparate . . . HIV-Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hepatitisinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . CMV-Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Parvovirus B19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bakterielle Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übertragung sonstiger Mikroorganismen . . . . . . Dokumentation und Qualitätssicherung . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
612 613 613 613 614 615 615 615 616 616 617 617 617 617 617 617 617 618 618 618 618 618 619 619 619 619 619 620 620 620 621
Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . .
622
G.G. Hanekop, M.T. Bautz, F.B.M. Ensink Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävalenz von Symptomen . . . . . . . . . . . . . . Prinzipien der Palliativmedizin . . . . . . . . . . . . Gastrointestinale Symptome . . . . . . . . . . . . Anorexie und Kachexie . . . . . . . . . . . . . . . . Xerostomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übelkeit und Erbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . Obstipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intestinale Obstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . Aszites . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Respiratorische Symptome . . . . . . . . . . . . . Dyspnoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Husten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hämoptysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hyperkalzämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lymphödem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurologische und psychiatrische Symptome
623 625 626 630 631 633 634 636 639 641 642 643 647 648 648 650 651
. . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . .
XVII Inhaltsverzeichnis – Teil 1: Allgemeiner Teil
31.6.1 31.6.2 31.6.3 31.6.4 31.6.5 31.6.6 31.7 31.7.1 31.7.2 31.7.3 31.8 31.9 31.9.1 31.9.2 31.9.3 31.10 31.11
32
32.1 32.2 32.3 32.3.1 32.3.2 32.3.3 32.4 32.4.1 32.4.2 32.4.3
33 33.1 33.2 33.3 33.4 33.5
34
34.1 34.1.1 34.2
Myoklonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zerebrale Krampfanfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidurale spinale Kompression . . . . . . . . . . . . . Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Delirantes Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tumormodifizierende Verfahren in der Palliativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemo- und Hormontherapie . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . Physikalische Behandlung in der Palliativmedizin Psychologische und psychosoziale Aspekte der Palliativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle Aspekte der Befindlichkeit und Bedürfnislage von Palliativpatienten . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutisches Setting . . . . . . . . . . . . . . . . . Familie und Freunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rahmenbedingungen interdisziplinärer Arbeit in der Palliativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Recht des Patienten auf bestmögliche palliativmedizinische Behandlung . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie . . . . . . . . . G.G. Hanekop, M.T. Bautz, F.B.M. Ensink Epidemiologische Aspekte von Tumorschmerzen Pathophysiologische Aspekte von Tumorschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerzdiagnostik und -messung . . . . . . . . . . Anamnese und körperliche Untersuchung . . . . . . Mehrdimensionalität von Tumorschmerzen . . . . . Instrumente zur Erfassung und Dokumentation von Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konzepte zur Schmerztherapie bei Tumorpatienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . WHO-3-Stufen-Schema zur Tumorschmerztherapie Alternativen zur enteralen Pharmakotherapie . . . . Akzeptanz der Empfehlungen zur Tumorschmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Psychoonkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . W.-D. Gerber, J. Kowalski Epidemiologie psychosozialer Belastungen bei Krebskranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie psychosozialer Störungen und Krebs Psychotherapeutische Unterstützung von Krebskranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgaben des Onkologen in der Behandlung . Sterbebegleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . .
651 652 653 654 658 662 664 664 666 668 668 669 669 670 671 672 673 674
675
34.2.1 34.3 34.4 34.4.1 34.4.2 34.5 34.5.1 34.6
35 35.1 35.2 35.3 35.4 35.5 35.6 35.7 35.7.1 35.7.2 35.7.3 35.7.4 35.8
676 35.8.1 677 679 679 679
35.8.2 35.8.3 35.8.4
680
35.8.5
683 683 706 707 708 709
710 711
. . . .
712 713 715 717
Versorgungsstandard, Qualitätsmanagement und klinische Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . .
718
U. Creutzig, R. Herold Standardisierung und Qualitätssicherung in der Onkologie: Notwendigkeit und Grundlagen . . . Nationaler Konsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Standards in der Versorgung . . . . . . . . . . . . . .
719 720 720
35.8.6 35.8.7 35.8.8 35.8.9 35.8.10 35.8.11 35.8.12 35.8.13 35.9 35.9.1 35.9.2 35.9.3 35.9.4 35.9.5 35.10 35.11 35.12 35.13 35.13.1 35.14
Zertifizierung von Einrichtungen in der Onkologie . Instrumente der Qualitätssicherung in der Onkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiel: Pädiatrische Onkologie . . . . . . . . . . . . Internistische Onkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Krebsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsches Kinderkrebsregister . . . . . . . . . . . . . Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
721 721 721 722 722 722 723 724
Ethische Fragen in der Onkologie . . . . . . . . .
725
J.G. Meran Was bedeutet Ethik in der Onkologie? . . . . . . . Was muss der Arzt wissen, um ethische Fragen und Probleme analysieren zu können? . . . . . . . Gibt es eine ethische Methodik? . . . . . . . . . . . . Arzt-Patient-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . Prinzip der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . Ambivalenzen zwischen Hochtechnologie und Schamanentum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paternalismus und Autonomie . . . . . . . . . . . . . Grenzen der Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abhängigkeiten von onkologischen Patienten . . . Paternalismusproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Autonomiefalle« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufklärung, Begleitung und Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was sind Besonderheiten der ärztlichen Aufklärung in der Hämatoonkologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturelle Rahmenprobleme der Aufklärung . . . Aufklärung ist mehr als Information . . . . . . . . . . Grundlage der Aufklärung ist die Beziehung zwischen Arzt und Patient . . . . . . . . . . . . . . . . Verschiedene Voraussetzungen führen zu verschiedenen Perspektiven und verschiedenen Wirklichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überbringung schlechter Botschaften . . . . . . . . . Keine Diagnose ohne Perspektive . . . . . . . . . . . Aufklärung ist ein Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . Ärztliche Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Schwierige Patienten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolle der Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufklärung – Eine Rechtspflicht . . . . . . . . . . . . . Aufklärungspflicht bei medizinischen Fehlern . . . . Ethische Fragen am Lebensende . . . . . . . . . . . Handeln und Unterlassen sind nicht immer hilfreiche Unterscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterlassung und Handlungspflichten . . . . . . . . Lebensqualität oder Lebenswert? . . . . . . . . . . . Sterben ist Teil des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . Sterbebegleitung statt Sterbehilfe . . . . . . . . . . . Therapiemodifikation in der Onkologie . . . . . . . Verteilungsgerechtigkeit – Gerechte Allokation in der Onkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patientenverfügungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethische Fragen bei klinischen Studien . . . . . . . Informed Consent bei klinischen Studien . . . . . . . Fortbildung und Perspektiven von Ethik in der Onkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
721
726 726 726 726 727 727 727 728 729 729 729 730 730 730 730 731
731 731 732 732 732 732 733 733 733 734 735 735 736 736 737 737 737 739 740 741 741 741
XVIII
36 36.1 36.2 36.2.1 36.2.2 36.3 36.4 36.5 36.5.1 36.5.2 36.5.3 36.6 36.6.1 36.6.2 36.6.3 36.7 36.8 36.9 36.9.1 36.9.2 36.9.3 36.9.4 36.9.5 36.9.6 36.9.7
Inhaltsverzeichnis – Teil 1: Allgemeiner Teil
Geriatrische Onkologie . . . . . . . . . . . . . . . . . U. Wedding, L. Pientka Demografie und Epidemiologie . . . . . . . . . . Alterungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alterungsprozesse allgemein . . . . . . . . . . . . Alterungsprozesse und Karzinogenese . . . . . . Aktuelle Behandlungssituation und Teilnahme an klinischen Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapieentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . Unterschiede zwischen alten und jungen Patienten mit Krebserkrankungen . . . . . . . . Tumorbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Somatische Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychosoziale Situation . . . . . . . . . . . . . . . . Geriatrisches Assessment . . . . . . . . . . . . . . Geriatrisches Assessment in der allgemeinen Geriatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geriatrisches Assessment in der Onkologie . . . Praktisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . Primäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chirurgische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . Radioonkologische Therapie . . . . . . . . . . . . . Internistisch-onkologische Therapie . . . . . . . . Adjuvante Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Palliative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Supportive Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Palliativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
742
. . . .
743 744 744 744
. . . .
745 745
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. . . . .
745 745 745 746 747
. . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . .
747 748 749 750 750 750 751 751 751 751 752 752 752 753
38.4 38.4.1 38.4.2
Antimikrobielle Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse klinischer Studien . . . . . . . . . . . . . . Subtypen infektiöser Komplikationen bei neutropenischen Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38.4.3 Prinzip der empirischen antimikrobiellen Therapie . 38.4.4 Differenzierung febriler neutropenischer Patienten in Risikogruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38.4.5 Therapiemodifikation bei klinisch gesicherten Infektionen ohne Keimnachweis . . . . . . . . . . . . 38.4.6 Patienten nach Hochdosischemotherapie und autologer Stammzelltransplantation . . . . . . . 38.4.7 Therapie bei mikrobiologisch gesicherten Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38.4.8 Dauer der Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38.4.9 Kontrolle des lokalen Resistenzspektrums . . . . . . 38.4.10 Begleitmaßnahmen bei schweren Infektionen . . . 38.5 Infektionen bei Patienten nach Splenektomie und bei funktioneller Asplenie . . . . . . . . . . . . . 38.6 Dosisrichtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
39.1 39.1.1 39.1.2 39.1.3 39.1.4 39.2 39.2.1
IV Komplikationen des malignen Wachstums
39.2.2
37 37.1 37.1.1 37.2 37.2.1 37.2.2 37.2.3 37.2.4 37.2.5 37.2.6 37.2.7
38 38.1 38.2 38.3
Paraneoplastische Syndrome . . . . . . . . . . . . H.-J. Stemmler, U. Kaboth, W. Hiddemann, Definition und Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . Inzidenz und klinische Relevanz . . . . . . . . . . . Manifestation paraneoplastischer Syndrome . Paraneoplastische Allgemeinsymptome . . . . . Paraneoplastische Endokrinopathien . . . . . . . Paraneoplastische Veränderungen der Hämatopoese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paraneoplastische Veränderungen des hämostaseologischen Systems . . . . . . . . . . . Paraneoplastische Veränderungen des neuromuskulären Systems . . . . . . . . . . . . . . Kutane Manifestationen paraneoplastischer Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere, seltene Manifestationen . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
757
39.2.3
. . . . .
758 758 758 758 758
39.2.4
. .
759
. . . . .
39.2.5 39.2.6 39.3 39.4
. .
762
. .
763
. . . . . .
765 767 767
Infektionen bei malignen Erkrankungen . . . .
768
Hämorrhagische und thromboembolische Komplikationen bei malignen Erkrankungen . H. Riess Hämorrhagische Komplikationen . . . . . . . . . . . Hämorrhagische Komplikationen bei Patienten mit soliden Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hämorrhagische Komplikationen bei Patienten mit hämatologischen Neoplasien . . . . . . . . . . . . Hämorrhagische Komplikationen bei malignomspezifischer Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Optionen . . . . . . . . . . . . . . . . . Thromboembolische Komplikationen . . . . . . . . Malignom und prothrombogen veränderte Hämostase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Venöse Thromboembolie und manifestes bzw. okkultes Malignom . . . . . . . . . . . . . . . . . Thromboembolische Komplikationen bei Patienten mit hämatologischen Neoplasien . . . . . . . . . . . . Thromboembolische Komplikationen bei Patienten mit soliden Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thromboembolische Komplikationen bei malignomspezifischer Therapie . . . . . . . . . . Therapeutische Optionen . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbrauchskoagulopathie bzw. disseminierte intravasale Gerinnung bei Tumorpatienten . . . . Antikoagulation und malignomassoziiertes Überleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Stichwortverzeichnis
G. Maschmeyer Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansätze zur Verminderung der infektionsbedingten Morbidität neutropenischer Patienten Klinische Diagnostik vor Therapiebeginn . . . . . .
769 770 771
772 772 773 773 773 776 777 778 779 779 780 780 781 781
782 784 784 785 785 786 787 787 787 788 788 788 789 791 791 792
XIX
Inhaltsverzeichnis – Teil 2: Spezieller Teil 41.8 41.8.1 41.8.2 41.8.3 41.8.4
V Tumoren des Magen-Darmtrakts 40 40.1 40.2 40.2.1 40.2.2 40.3 40.3.1 40.3.2 40.3.3 40.4 40.5 40.6 40.7 40.8 40.9 40.9.1 40.9.2 40.9.3
Ösophaguskarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. Stahl, H.-J. Meyer Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . Exogene Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endogene Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metastasierungswege . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekularbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention und Früherkennung . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primäre Diagnosestellung . . . . . . . . . . . . . . Labor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Basisdiagnostik zum Ausschluss von Fernmetastasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatzdiagnostik zur Ermittlung des operativen Risikos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatzdiagnostik zur Festlegung der lokalen Tumorausdehnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chirurgische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere lokale Behandlungsmaßnahmen . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kombination von Chemotherapie und Radiotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadienabhängige Therapie . . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . .
796 796 796 797 797 797 798 798 799 799 800 801 802 802 802 803
. .
803
. .
803
. . . . . . .
. . . . . . .
804 804 805 805 807 808 809
. . . .
. . . .
810 813 813 814
41
Magenkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
815
41.1 41.2 41.2.1 41.3 41.3.1 41.3.2 41.4 41.5 41.5.1 41.5.2 41.6 41.7 41.7.1
A. Sendler, F. Lordick, A. Tannapfel Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese und Molekularbiologie Tumorsuppressorgene und Onkogene Wachstumsfaktoren/Rezeptoren . . . . Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung und Prognose . . . TNM-Klassifikation . . . . . . . . . . . . . Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . Diagnostik und Staging . . . . . . . . . Staging . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
816 816 816 819 820 820 821 824 824 825 827 827 828
40.9.4 40.9.5 40.10 40.11 40.11.1 40.11.2 40.11.3 40.11.4 40.11.5 40.11.6 40.12
. . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . .
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830 830 832 835
. . . .
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836 838 839 840
42
Dünndarmtumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
841
42.1 42.2 42.3 42.3.1 42.3.2 42.4 42.5 42.6 42.7 42.8 42.9 42.9.1 42.9.2 42.9.3
A. Schalhorn Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gutartige Tumoren . . . . . . . . . . . . . Bösartige Tumoren . . . . . . . . . . . . . Klassifikation und Stadieneinteilung . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . Prävention und Früherkennung . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adenokarzinome des Dünndarms . . . Lymphome . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weichteilsarkome . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . .
842 842 842 842 843 843 844 844 845 845 845 846 846 847 847
43
Kolon- und Rektumkarzinom . . . . . . . . . . . .
848
795 41.8.5 41.8.6
43.1 43.2 43.2.1 43.2.2 43.2.3 43.3 43.3.1 43.3.2 43.3.3 43.4 43.4.1 43.4.2 43.5 43.5.1 43.5.2 43.6 43.7 43.7.1 43.7.2 43.7.3 43.7.4 43.7.5 43.7.6 43.7.7
Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Postoperative adjuvante Therapieverfahren . . Prä- und perioperative neoadjuvante Chemotherapie und Radiochemotherapie . . . . . . . Palliative Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . .
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J. Weitz, A. Schalhorn, M. Kadmon, R. Krempien, M.W. Büchler Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . Sporadisches Karzinom . . . . . . . . . . . . . . . . Karzinome bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karzinome bei familiären Krebserkrankungen . . Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Makroskopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Histologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekularbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metastasierung und Dissemination . . . . . . . . Prävention und Früherkennung . . . . . . . . . . Primäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundäre Prävention (Früherkennung) . . . . . Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognose des kolorektalen Primärtumors . . . Klinische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . Disseminierte Tumorzellen . . . . . . . . . . . . . . Biochemische bzw. zellbiologische Faktoren . . . Lebermetastasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Fernmetastasen . . . . . . . . . . . . . . . Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
849 849 849
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
851 851 854 854 854 854 854 855 857 858 858 858 863 864 864 865 866 866 866 866 866
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XX
Inhaltsverzeichnis – Teil 2: Spezieller Teil
43.8 43.9 43.9.1 43.9.2 43.9.3 43.10 43.11 43.11.1 43.11.2 43.11.3 43.12 43.12.1 43.12.2
Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anamnese und körperliche Untersuchung . . . . . . Endoskopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Radiotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachsorge nach endoskopischer Polypektomie . . . . Karzinomnachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
867 868 868 868 869 870 871 871 878 883 895 895 895 897
44
Analkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
898
G.G. Grabenbauer 44.1 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44.2 Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . 44.2.1 HPV-Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44.2.2 HIV-Infektionen und Aids . . . . . . . . . . . . 44.2.3 Andere Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . 44.3 Anatomie und Pathogenese . . . . . . . . . 44.4 Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44.5 Klassifikation und Stadieneinteilung . . . . 44.6 Prävention und Früherkennung . . . . . . . 44.7 Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . 44.8 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44.9 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44.9.1 Chirurgische Therapie . . . . . . . . . . . . . . 44.9.2 Radiotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44.9.3 Simultane Radiochemotherapie (RCT) . . . . 44.9.4 Palliative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . 44.9.5 Zusammenfassende Therapieempfehlung . 44.10 Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44.11 Seltene anorektale Malignome . . . . . . . 44.11.1 Analrandkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . 44.11.2 Anorektales Melanom und Adenokarzinom Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
899 899 899 899 899 900 901 901 901 901 901 902 902 902 903 904 904 905 905 905 905 906
45
Hepatozelluläres Karzinom . . . . . . . . . . . . . .
907
45.1 45.2 45.2.1 45.2.2 45.2.3 45.2.4 45.2.5 45.2.6 45.2.7 45.2.8 45.3 45.3.1 45.3.2 45.4 45.5 45.6 45.7 45.8 45.8.1
H.E. Blum Epidemiologie, Ätiologie und Risikofaktoren Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . Molekulare und zellbiologische Pathogenese . Genetische Veränderungen . . . . . . . . . . . . Epigenetische Veränderungen . . . . . . . . . . Intrazelluläre Signaltransduktion . . . . . . . . . Zellzykluskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . Telomeraseaktivierung . . . . . . . . . . . . . . . Cyclooxygenase-2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . Screening und Stadieneinteilung . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnosen . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
908 908 908 908 909 909 910 910 910 911 911 911 911 912 912 913 914 914 914
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45.8.2 45.8.3 45.8.4 45.8.5 45.8.6 45.9
Perkutane Interventionen . . . . . Transarterielle Interventionen . . . Strahlentherapeutische Strategien Medikamente . . . . . . . . . . . . . Experimentelle Therapiestrategien Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
914 915 915 915 916 916 917
46
Gallenblasen- und Gallengangkarzinom . . . .
918
46.1 46.2 46.2.1 46.2.2 46.2.3 46.2.4 46.2.5 46.2.6 46.2.7 46.3 46.3.1 46.3.2 46.3.3 46.3.4 46.4 46.5 46.6 46.7 46.7.1 46.7.2 46.8 46.8.1 46.8.2 46.8.3 46.9
G. Kornek, W. Schima Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . Konnatale Gallengangzysten . . . . . . . . . . . . . Cholezystolithiasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Parasiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primär sklerosierende Cholangitis/Colitis ulcerosa Adenome der Gallenblase . . . . . . . . . . . . . . . Thorotrast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Caroli-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Histopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Immunhistochemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausbreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation und Stadieneinteilung . . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Labordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildgebende Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
919 919 919 919 919 919 920 920 920 920 920 920 921 921 921 923 924 924 924 924 925 925 927 927 929 929
.
930
. . . . . . . .
931 931 931 931 931 931 932 933
. . . . . . . . . . . . .
933 934 937 937 938 939 939 939 939 940 940 940 940
47 47.1 47.2 47.2.1 47.2.2 47.2.3 47.2.4 47.2.5 47.3 47.3.1 47.3.2 47.4 47.5 47.6 47.7 47.7.1 47.7.2 47.7.3 47.7.4 47.7.5 47.8 47.8.1
. . . . . . .
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Pankreaskarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Heinemann, S.A. Hahn, S. Böck, H. Friess Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . Tabakrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronische Pankreatitis . . . . . . . . . . . . . . . . . Genetische Prädisposition . . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prämaligne Läsionen – Tumorprogressionsmodell des Pankreaskarzinoms . . . . . . . . . . . . . . . . . Onkogene in der Pankreaskarzinogenese . . . . . Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation und Stadieneinteilung . . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik und Tumorstaging . . . . . . . . . . . . Frühsymptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befunde und Symptome beim Pankreaskarzinom Bildgebende Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Labordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Histologische Klärung der Diagnose . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XXI Inhaltsverzeichnis – Teil 2: Spezieller Teil
47.8.2 47.8.3 47.8.4 47.9
Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . Supportive Therapie und Therapie von Komplikationen . . . . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . .
941 943
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
947 947 948
VI Tumoren der weiblichen Geschlechtsorgane 48 48.1 48.2 48.2.1 48.2.2 48.2.3 48.2.4 48.3 48.3.1 48.3.2 48.3.3 48.4 48.4.1 48.4.2 48.4.3 48.4.4 48.4.5 48.4.6 48.5 48.5.1 48.5.2 48.6 48.6.1 48.6.2 48.6.3 48.7 48.7.1 48.8 48.9 48.9.1 48.9.2 48.9.3 48.9.4 48.9.5 48.9.6 48.10
Mammakarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. Kiechle, N. Harbeck, und V. Heinemann Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . Strahlenexposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exogene und endogene Hormone . . . . . . . . . . . Ethnische und peristatische Faktoren . . . . . . . . . Risikotabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Somatische und genetische Läsionen . . . . . . . . . Prädisponierende Gene/Keimbahnmutationen . . . Immunologische Defekte beim Mammakarzinom . Klassifikation und Stadieneinteilung . . . . . . . . . TNM-Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung und TNM-System . . . . . . . . . . Grading . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Histologische Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . Zusatzuntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metastastasierungsverhalten . . . . . . . . . . . . . . Prävention und Früherkennung . . . . . . . . . . . . Gentestung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundäre Prävention (Früherkennung) . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feinnadelaspirations- und Stanzbiopsie . . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chirurgische Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . Radiotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systemische Therapie des Mammakarzinoms . . . . Therapie des duktalen Carcinoma in situ (DCIS) . . . Therapie der lobulären Neoplasie (früher: lobuläres Carcinoma in situ, LCIS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung des metastasierten Mammakarzinoms Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
951 952 952 952 952 953 953 954 954 957 959 959 959 961 963 963 964 965 965 966 967 967 967 968 968 970 970 971 971 971 972 972 978 979 979 988 989
49
Ovarialkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
990
49.1 49.2 49.2.1 49.2.2 49.2.3 49.3
J. Huober, E.-M. Grischke, A. Marmé Epidemiologie . . . . . . . . . . . . Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . Genetische Prädisposition . . . . . Endokrine Faktoren . . . . . . . . . . Ernährung und Umweltfaktoren . Pathogenese . . . . . . . . . . . . .
991 991 991 991 991 991
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
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. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
49.3.1 49.3.2 49.4 49.4.1 49.4.2 49.4.3 49.4.4 49.5 49.6 49.7 49.8 49.9 49.9.1 49.9.2 49.9.3 49.9.4 49.9.5 49.9.6 49.10 49.10.1 49.10.2 49.10.3 49.10.4
Lokalisation und Ausbreitung . . . . . . . . . . . . . . Molekularbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Borderlinetumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epitheliale Ovarialkarzinome . . . . . . . . . . . . . . Keimzelltumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maligne Tumoren des gonadalen Stromas . . . . . . Klassifikation und Stadieneinteilung . . . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention und Früherkennung . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Punktionen . . . . . . . . . . . . . . . . Tumormarker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laparoskopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemotherapie der epithelialen Ovarialkarzinome Strahlentherapie des epithelialen Ovarialkarzinoms Therapien mit einem spezifischen tumorbiologischen Target . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49.10.5 Therapeutisches Vorgehen bei nichtepithelialen Malignomen des Ovars . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49.11 Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
1001 1001 1002 1003
Endometriumkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . 1004
M. Kaufmann, R. Gätje Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inzidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mortalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Altersverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hyperplasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subtypen des invasiven Karzinoms . . . . . . . . . . . Differenzierungsgrad (Grading) . . . . . . . . . . . . . Aufarbeitung des Operationspräparates . . . . . . . Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tumorstadium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Histologische Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steroidhormonrezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . Ploidie und S-Phasen-Anteil . . . . . . . . . . . . . . . Prävention und Früherkennung . . . . . . . . . . . . Primäre Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundäre Prävention: Screeninguntersuchungen zur Früherkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50.8 Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50.9 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50.9.1 Sicherung der Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50.9.2 Feststellung des Tumorstadiums . . . . . . . . . . . . 50.10 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50.10.1 Endometriumhyperplasie . . . . . . . . . . . . . . . . . 50.10.2 Endometriumkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50.11 Sonderfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50.1 50.1.1 50.1.2 50.1.3 50.2 50.3 50.4 50.4.1 50.4.2 50.4.3 50.4.4 50.5 50.6 50.6.1 50.6.2 50.6.3 50.6.4 50.6.5 50.7 50.7.1 50.7.2
991 992 992 993 993 993 994 994 994 995 995 995 995 996 996 996 996 996 997 997 998 1001
1005 1005 1005 1005 1005 1007 1007 1008 1008 1009 1009 1009 1010 1010 1011 1012 1012 1012 1012 1012 1012 1013 1013 1013 1013 1014 1014 1014 1018
XXII
Inhaltsverzeichnis – Teil 2: Spezieller Teil
50.11.1 Serös-papilläres Karzinom (UPSC) . . . . . . 50.11.2 Klarzelliges Karzinom . . . . . . . . . . . . . . 50.11.3 Prophylaktische Hysterektomie bei HNPCC (Lynch-Syndrom) . . . . . . . . . . . . . . . . . 50.12 Rezidivtherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50.13 Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
51.1 51.2 51.3
51.4 51.5 51.5.1 51.5.2 51.5.3 51.5.4 51.5.5 51.5.6 51.6 51.6.1 51.6.2 51.6.3 51.6.4 51.6.5 51.7 51.8 51.9 51.10 51.10.1 51.10.2 51.10.3 51.10.4 51.10.5 51.11 51.12 51.12.1 51.12.2 51.12.3 51.12.4 51.12.5 51.12.6 51.12.7 51.12.8 51.12.9 51.12.10 51.12.11 51.12.12
. . . . . 1018 . . . . . 1018 . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
1018 1019 1019 1020
Schwangerschaftsbedingte Trophoblasttumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1021 P. Wimberger, P. Sevelda, R. Kimmig Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einteilung gestationsbedingter Trophoblasterkrankungen in Anlehnung an die WHO-Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blasenmole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Invasiv destruierende Mole . . . . . . . . . . . . . . . . Plazentabettknötchen (»placental site nodule«) . . Chorionkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trophoblasttumoren der Plazentainsertionsstelle (»placental site trophoblastic tumor«, PSTT) . . . . . Epitheloider Trophoblasttumor (ETT) . . . . . . . . . Klassifikation und Stadieneinteilung . . . . . . . . . FIGO-Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . WHO-Klassifkation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikationssystem nach Hammond (National Cancer Institute, NCI) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Klassifikationssysteme . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassende Wertung . . . . . . . . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention und Früherkennung . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anamnese und klinische Untersuchung . . . . . . . Sonografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Humanes Choriongonadotropien (HCG) . . . . . . . Kürettage und histologische Untersuchung . . . . . Diagnostische Verfahren bei Nachweis gestationsbedingter Trophoblasterkrankungen . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Partialmole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blasenmole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plazentabettknötchen (»placental site nodule«) . . . . Hyperplastische Implantationsstelle des Plazentabettes (EPS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trophoblasttumoren der Plazentainsertionsstelle (»placental site trophoblastic tumor«) . . . . . . . . . Epitheloider Trophoblasttumor (ETT) . . . . . . . . . Persistierende oder invasive Blasenmole, nichtmetastasierendes Chorionkarzinom . . . . . . . Allgemeine Prinzipien der Chemotherapie . . . . . . Metastasierte Trophoblasttumoren . . . . . . . . . . Spezielle Aspekte der Therapie bei ZNS-Metastasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle Aspekte der Therapie bei Lebermetastasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adjuvante Operation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1022 1022
1022 1022 1023 1023 1024 1024 1024 1024 1025 1025 1025 1025 1026 1026 1026 1027 1027 1027 1028 1028 1028 1028 1029 1029 1029 1029 1029 1029 1030
51.13 51.13.1 51.13.2 51.13.3 51.13.4 51.13.5
52 52.1 52.1.1 52.1.2 52.1.3 52.2 52.2.1 52.2.2 52.2.3 52.2.4 52.3 52.3.1 52.4 52.4.1 52.4.2 52.4.3 52.5 52.6 52.6.1 52.6.2 52.6.3 52.6.4 52.7 52.8 52.8.1 52.8.2 52.8.3 52.8.4 52.8.5 52.8.6 52.9 52.10 52.10.1 52.10.2 52.10.3
1030 1030 1030 1031 1031 1032 1034 1035 1035
52.10.4 52.10.5 52.10.6 52.10.7 52.10.8 52.10.9 52.11 52.11.1 52.11.2 52.11.3 52.11.4
Nachsorge und späte Nebenwirkungen der Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontrazeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fertilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwangerschaft nach erfolgreicher Therapie . Risiko für Zweitmalignome . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
1035 1035 1036 1036 1036 1036 1037
Zervixkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1038 A. Schneider, A. Kaufmann, C. Köhler, S. Marnitz Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deskriptive Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . Inzidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Altersverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . Natürlicher Verlauf von HPV-Infektionen . . . . . . . Weitere Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genetische Prädisposition und virusinduzierte genetische Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . Biologische Faktoren für Tumorwachstum, Invasion und Metastasierung . . . . . . . . . . . . . . Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Bedeutung des HPV-Nachweises . . . . . . Histologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prämaligne Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . Invasive Karzinome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Invasives Karzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patientenbezogene Prognosefaktoren . . . . . . . . Tumorbezogene Prognosefaktoren . . . . . . . . . . Tumormarker und quantitative Pathologie . . . . . . Diagnostische Verfahren und Prognose . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präoperative Labordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Invasive diagnostische Eingriffe . . . . . . . . . . . . Chirurgisches Staging . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ablauf des Stagings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charakteristika der Erkrankung und Krankheitsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chirurgische Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie, Radiochemotherapie beim Zervixkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primäre Strahlentherapie-Technik und Durchführung Rezidiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwangerschaft und Zervixkarzinom . . . . . . . . Fernmetastasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präkanzerosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Invasives Karzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlungsalgorithmen . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1039 1039 1039 1039 1039 1040 1040 1040 1040 1041 1041 1044 1044 1045 1045 1045 1046 1046 1047 1048 1049 1049 1049 1049 1049 1049 1050 1051 1051 1051 1051 1051 1052 1055 1056 1061 1064 1064 1064 1065 1065 1065 1065 1065 1066 1068
XXIII Inhaltsverzeichnis – Teil 2: Spezieller Teil
53
Vulvakarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1069
M. Untch, I. Himsl 53.1 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . 53.2 Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . 53.3 Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . 53.4 Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53.4.1 Präinvasive Veränderungen . . . . . . . 53.4.2 Invasives Karzinom . . . . . . . . . . . . . 53.5 Klassifikation und Stadieneinteilung . 53.6 Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . 53.7 Prävention und Früherkennung . . . . 53.8 Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . 53.9 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53.10 Operative Therapie . . . . . . . . . . . . 53.11 Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . 53.11.1 Primäre Radiatio . . . . . . . . . . . . . . . 53.11.2 Adjuvante Radiatio . . . . . . . . . . . . . 53.12 Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . 53.13 Rezidivsituation . . . . . . . . . . . . . . 53.14 Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1070 1070 1070 1070 1070 1070 1072 1072 1074 1074 1074 1074 1075 1075 1075 1076 1076 1076 1076
54
Vaginalkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1077
54.1 54.1.1 54.1.2 54.1.3 54.2 54.3 54.4 54.5 54.6 54.7 54.8 54.8.1 54.8.2 54.9 54.10
R. Kürzl Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Altersverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . Mortalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vaginale intraepitheliale Neoplasie (VAIN) Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . Histologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation und Stadieneinteilung . . . Prävention und Früherkennung . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vaginale intraepitheliale Neoplasie (VAIN) Primäres Vaginalkarzinom . . . . . . . . . . Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1078 1078 1078 1078 1078 1079 1079 1079 1080 1080 1080 1080 1080 1083 1083 1083
VII Tumoren der Niere und der ableitenden Harnwege
55
Nierenzellkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1087
55.1 55.2 55.2.1 55.2.2 55.3 55.3.1 55.3.2 55.4 55.5 55.5.1 55.5.2
W. E. Aulitzky, J. Beck, C. Huber Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . Exogene Faktoren . . . . . . . . . . . . . Erbliche Tumordisposition . . . . . . . Pathologie und Molekularbiologie . Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Histologie und Molekularpathologie . Metastasierung . . . . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung und Prognose . . TNM-Klassifikation . . . . . . . . . . . . Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1088 1088 1088 1089 1091 1091 1091 1092 1092 1092 1093
55.6 55.6.1 55.6.2 55.7 55.7.1 55.8 55.8.1 55.8.2 55.8.3
56
56.1 56.2 56.2.1 56.2.2 56.2.3 56.2.4 56.3 56.3.1 56.4 56.4.1 56.4.2 56.4.3 56.4.4 56.4.5 56.4.6 56.4.7 56.5 56.5.1 56.5.2 56.5.3 56.5.4 56.5.5 56.6 56.7 56.8 56.8.1 56.8.2 56.8.3 56.8.4 56.9 56.10 56.10.1 56.10.2 56.10.3 56.10.4 56.10.5 56.10.6 56.11
Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . Primärtumor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systemische Symptome bei Nierenzellkarzinom Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung lokalisierter Stadien . . . . . . . . . . Adjuvante Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . Systemische Behandlung des metastasierten Nierenzellkarzinoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1093 1094 1094 1094 1094 1095 1095 1097
. . 1098 . . 1103
Harnblasenkarzinome und andere Urothelkarzinome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1104 G. Zöller Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . Zigarettenrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemische Kanzerogene . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronische Infektionen des Harntraktes . . . . . . . Familiäre Disposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese und Molekularbiologie . . . . . . . . Chromosomale Aberrationen und Onkogen/ Tumorsuppressorgen-Expression . . . . . . . . . . . . Pathologie und histologische Klassifikation . . . . Normales Urothel und normaler Harnblasenwandaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hyperplasie (flach und papillär) . . . . . . . . . . . . . Flache Läsionen mit Atypien . . . . . . . . . . . . . . . Nichtinvasive papilläre urotheliale Läsionen . . . . . Invasives Urothelkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . Varianten des invasiven Urothelkarzinoms . . . . . . Metastasierungswege des Harnblasenkarzinoms . . Stadieneinteilung und Prognosefaktoren . . . . . pTa-Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carcinoma in situ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . pT1-Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Muskelinfiltrierende Tumoren pT2-pT4 . . . . . . . . Metastasiertes Urothelkarzinom . . . . . . . . . . . . Prävention und Früherkennung . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnose, Endoskopie und bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnosestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnosesicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausbreitungsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten der Diagnostik von Urothelkarzinomen des oberen Harntraktes . . . . . . . . . . Differenzialdiagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Photodynamische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des therapeutischen Vorgehens in den verschiedenen Krankheitsstadien . . . . . . . Chemoprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1105 1105 1105 1105 1106 1106 1106 1107 1108 1108 1109 1109 1109 1110 1110 1110 1111 1111 1111 1111 1111 1112 1112 1112 1113 1113 1114 1115 1116 1116 1117 1117 1121 1122 1122 1125 1125 1127 1128
XXIV
57 57.1 57.1.1 57.1.2 57.2 57.2.1 57.2.2 57.2.3 57.2.4 57.2.5 57.3 57.3.1 57.3.2 57.3.3 57.3.4 57.4 57.4.1
57.4.2 57.4.3 57.5 57.5.1 57.5.2 57.5.3 57.6 57.7 57.7.1 57.7.2 57.7.3 57.7.4 57.8 57.9 57.9.1 57.10 57.10.1 57.10.2 57.10.3 57.10.4 57.11
Inhaltsverzeichnis – Teil 2: Spezieller Teil
Prostatakarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1129 T. Steuber, A. Haese, H. Huland Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inzidenz, Prävalenz und Mortalität . . . . . . . . . . . Geografische Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hormonelle Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genetische Pädispositon . . . . . . . . . . . . . . . . . Ethnische Zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologisch-anatomische Aspekte des Prostatakarzinoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zonale Anatomie der Prostata . . . . . . . . . . . . . . Mögliche morphologische Vorstufen des Prostatakarzinoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Histologie des Prostatakarzinoms . . . . . . . . . . . Klinische und pathologische Stadieneinteilung des Prostatakarzinoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekularpathologie des Prostatakarzinoms . . . Chromosomale, molekulargenetische und epigenetische Veränderungen als Promotoren der Karzinogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekularpathologie lokaler Tumorprogression, Metastasierung und Androgenresistenz . . . . . . . Androgenresistenz durch strukturelle Veränderungen des Androgenrezeptors . . . . . . . Progression, Metastasierung und Symptomatik des Prostatakarzinoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lokale Progression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lymphogene und hämatogene Metastatsierung . Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natürlicher Verlauf des Prostatakarzinoms . . . . . Früherkennung des Prostatakarzinoms . . . . . . . Prostataspezifisches-Antigen-(PSA-)basiertes Screening des Prostatakarzinoms . . . . . . . . . . . . Prostataspezifisches Antigen (PSA) zur Früherkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Digital rektale Untersuchung zur Früherkennung (DRE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transrektaler Ultraschall (TRUS) . . . . . . . . . . . . . Diagnostik des Prostatakarzinoms: Die TRUS-basierte Prostatabiopsie . . . . . . . . . . Stadien- und Prognosevorhersage des Prostatakarzinoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildgebende Verfahren zur Stadienvorhersage . . . Therapie des Prostatakarzinoms . . . . . . . . . . . Operative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antihormonelle Therapie des Prostatakarzinoms . . Stadienadaptierte Therapie des klinisch lokalisierten Prostatakarzinoms . . . . . . . . . . . . . Nachsorge des Prostatakarzinoms nach kurativer Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1130 1130 1130 1130 1130 1130 1131 1131 1131 1132 1132 1132 1132 1133 1134
58.1.3 58.2 58.2.1 58.2.2 58.3 58.3.1 58.3.2 58.3.3 58.4 58.5 58.5.1 58.5.2 58.5.3 58.6 58.7 58.7.1 58.7.2 58.7.3 58.7.4 58.7.5
1134 1135 1135 1135 1135 1136 1136 1137 1137 1137 1137
58.7.6 58.8 58.9 58.9.1 58.9.2 58.9.3 58.9.4
58.9.5 58.9.6 58.10 58.10.1 58.10.2 58.10.3
1139 1139 1140 1141 1141 1143 1143 1145 1147 1150 1153 1155
58.10.4 58.10.5 58.10.6 58.11 58.11.1 58.11.2 58.11.3 58.11.4 58.11.5 58.11.6 58.11.7
58
Maligne Hodentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . 1156
58.1 58.1.1 58.1.2
T. Kegel, H.J. Schmoll Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1157 Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1157 Inzidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1157
58.11.8 58.12 58.13
Mortalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . Exogene Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endogene Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carcinoma in situ (CIS), testikuläreintraepitheliale Neoplasie (TIN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zytogenetik und Molekularbiologie . . . . . . . . . . Pathogenetisches Modell von Keimzelltumoren . . Prävention und Früherkennung . . . . . . . . . . . . Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Histologische Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . Pathohistologie und Immunhistologie . . . . . . . . Weitere pathologische Diagnostik . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognosefaktoren beim Seminom Stadium CS I . . . Prognosefaktoren beim Nichtseminom Stadium CS I Prognosefaktoren beim Nichtseminom Stadium CS II A/B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognosefaktoren beim fortgeschrittenen Seminom Prognose unter Primärtherapie bei fortgeschrittenem Stadium – Seminomatöser und nichtseminomatöser Keimzelltumor . . . . . . . Behandelnde Institution als Prognosefaktor . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperlicher Untersuchungsbefund . . . . . . . . . . Laborparameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Apparative Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik einer testikulären intraepithelialen Neoplasie (TIN) im kontralateralen Hoden bzw. in beiden Hoden bei extragonadalem Keimzelltumor Spermiogramm, Spermadepot und Kontrazeption . Hormondiagnostik und Hormonersatztherapie . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chirurgische Therapie des Primärtumors . . . . . . . Diagnose und Behandlung der intratubulären Keimzellneoplasie (TIN/CIS) im kontralateralen Hoden bzw. in beiden Hoden bei extragonadalem Keimzelltumor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadiengerechte Therapie des Seminoms . . . . . . . Stadiengerechte Therapie des Nichtseminoms . . . Patienten mit Seminom und Nichtseminom – Fortgeschrittene Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . Therapie beim Keimzelltumorrezidiv . . . . . . . . . Salvagechemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seminom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nichtseminom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hochdosischemotherapie als Rezidivtherapie . . . . Lokalisiertes Rezidiv im Bereich ehemals befallener Lymphknoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spätrezidiv (Rezidiv nach ≥2 Jahren nach Abschluss der primären Chemotherapie) . . . . . . . . . . . . . . Salvagechemotherapie nach Versagen der standarddosierten Second-Line-Salvagetherapie . Residualtumorresektion nach Salvagechemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Tumoren des Hodens . . . . . . . . . . . . .
1157 1158 1159 1160 1163 1163 1163 1163 1164 1164 1164 1166 1167 1167 1167 1170 1170 1170 1171
1171 1171 1171 1172 1172 1172 1172
1173 1173 1174 1174 1174 1174
1177 1178 1183 1188 1196 1196 1198 1198 1198 1199 1199 1199 1201 1201 1203
XXV Inhaltsverzeichnis – Teil 2: Spezieller Teil
58.13.1 58.13.2 58.13.3 58.13.4 58.13.5 58.13.6 58.13.7
Spermatozytisches Seminom . . . . . . . . . . . . . Leydig-Zell-Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sertoli-Zell-Tumor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karzinom des Rete testis . . . . . . . . . . . . . . . . Paratestikuläres Rhabdomyosarkom . . . . . . . . . Malignes Mesotheliom der Tunica vaginalis testis Primäre Hodenlymphome . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . .
1204 1204 1205 1205 1206 1208 1208 1210
60.9.3 60.9.4 60.9.5 60.9.6 60.9.7 60.10
59 59.1 59.2 59.3 59.4 59.5 59.6 59.7 59.7.1 59.7.2 59.7.3 59.8
Peniskarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1211 M.-O. Grimm, R. Ackermann Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . Pathologie und Molekularbiologie . . . . . Prävention und Früherkennung . . . . . . . Stadieneinteilung und Prognosefaktoren Klinisches Erscheinungsbild, Diagnose und Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
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1212 1212 1212 1213 1213
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. . . . . . .
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1214 1214 1215 1217 1217 1218 1219
VIII Tumoren der Luftwege und Lunge 60 60.1 60.2 60.2.1 60.2.2 60.3 60.3.1 60.3.2 60.4 60.5 60.6 60.6.1 60.6.2 60.6.3 60.7 60.7.1 60.7.2 60.8 60.8.1 60.8.2 60.8.3 60.8.4 60.8.5 60.9 60.9.1 60.9.2
Lungenkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1223 M. Thomas, H. Dienemann, F.J.F. Herth, J. Debus Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . Exogene Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endogene Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Histopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekularbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation und Stadieneinteilung . . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention und Früherkennung . . . . . . . . . . . Primärprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Screeninguntersuchungen zur Früherkennung . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine und spezifische Symptome . . . . . . . Paraneoplastische Syndrome . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Basisdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik zum Ausschluss von Fernmetastasen . Diagnostik zur Beurteilung der pulmonalen Funktionsreserven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik zur Beurteilung der technischen Operabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik zur Beurteilung mediastinaler Lymphknotenmetastasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Radiotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1224 1224 1224 1225 1225 1225 1226 1228 1229 1230 1230 1230 1230 1230 1230 1231 1231 1231 1232
. 1232 . 1232 . . . .
1233 1233 1233 1234
61 61.1 61.2 61.3 61.3.1 61.3.2 61.4 61.5 61.6 61.7 61.8 61.9 61.9.1 61.9.2 61.10 61.11 61.11.1 61.11.2 61.11.3 61.11.4 61.11.5 61.12 61.12.1 61.12.2 61.12.3
Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endoskopische Therapieverfahren . . . . . . . . . . . Stadienspezifische Therapie des nicht kleinzelligen Lungenkarzinoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadienspezifische Therapie des kleinzelligen Lungenkarzinoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Palliative Therapiemaßnahmen beim kleinzelligen und nicht kleinzelligen Lungenkarzinom . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1237 1240
1247 1248 1249
Mesotheliom . . . . . . . . . . . . . . . . . W. Eberhardt, S. Korfee und T. Krbek Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . Molekulare Biologie . . . . . . . . . . . . Chromosomale Aberrationen . . . . . . . Membranrezeptoren . . . . . . . . . . . . . Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . Prävention und Früherkennung . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Imaging-Methoden . . . . . . . . . . . . . Invasive Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medikamentöse Therapie . . . . . . . . . . Chirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . Multimodale Therapie . . . . . . . . . . . . Symptomatische Therapie . . . . . . . . . Seltene Mesotheliomformen . . . . . . . Peritoneales Mesotheliom . . . . . . . . . Perikardiales Mesotheliom . . . . . . . . . Mesotheliom der Tunica vaginalis testis . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1251 1251 1251 1251 1251 1252 1252 1254 1255 1255 1255 1255 1257 1258 1258 1258 1261 1262 1262 1263 1263 1263 1264 1264 1264
1241 1246
. . . . . . . 1250 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IX Tumoren im Kopfund Halsbereich 62
Gehirntumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1267
62.1 62.2 62.2.1 62.2.2 62.3 62.4 62.5 62.5.1 62.5.2 62.5.3 62.5.4 62.5.5 62.5.6 62.6
J.-C. Tonn, O.D. Wiestler Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . Genetische Disposition . . . . . . . . . . Andere mögliche Risikofaktoren . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation und Stadieneinteilung . Astrozytäre Tumore . . . . . . . . . . . . . Oligodendrogliale Tumore . . . . . . . . Ependymale Tumore . . . . . . . . . . . . Plexuspapillome/Plexuskarzinome . . . PNET bzw. Medulloblastom . . . . . . . Tumore der Meningen . . . . . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . .
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1268 1268 1268 1269 1269 1270 1271 1272 1272 1274 1274 1274 1274 1275
XXVI
62.7 62.8 62.9 62.10 62.10.1 62.10.2 62.10.3 62.10.4 62.11
63 63.1 63.1.1 63.1.2 63.1.3 63.1.4 63.1.5 63.1.6 63.1.7 63.1.8 63.2 63.2.1 63.2.2 63.2.3
64
Inhaltsverzeichnis – Teil 2: Spezieller Teil
Klinische Symptomatik . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . Neurochirurgie . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . Spezielle Behandlungskonzepte Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . .
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64.10.2 64.10.3 64.10.4 64.10.5 64.10.6 64.10.7 64.10.8 64.10.9 64.11 64.12
Augentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1286 A.J. Mueller Intraokulare Melanome . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Histologie und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Extraokulare Melanome im Augenbereich . . . . . Melanom der Bindehaut . . . . . . . . . . . . . . . . . Melanom des Lids . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seltene andere Melanomlokalisationen im Augenbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1287 1287 1288 1290 1290 1291 1291 1293 1296 1298 1298 1298 1298 1299
Tumoren im Kopf- und Halsbereich . . . . . . . . 1300
T. G. Wendt, F. Waldfahrer, H. Iro Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inzidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mortalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese und Molekularbiologie . . . . . . . . Prävention und Früherkennung . . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärtumor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regionärer Lymphabfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . Fernmetastasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zytostatische Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . Kombination von Operation, Radiotherapie und zytostatischer Chemotherapie . . . . . . . . . . . 64.9.5 Kombination von Radiotherapie und zytostatischer Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64.9.6 Kombination von Radiotherapie und Antikörpern gegen epidermalen Wachstumsfaktor (EGF-Antikörper) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64.9.7 Radiosensitizer und Radioprotektoren . . . . . . . . 64.9.8 Chronische Therapiefolgen . . . . . . . . . . . . . . . . 64.9.9 Andere (alternative, neue) Therapieoptionen . . . . 64.9.10 Palliativtherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64.10 Organtumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64.10.1 Mundhöhlenkarzinome . . . . . . . . . . . . . . . . .
64.1 64.1.1 64.1.2 64.2 64.3 64.4 64.5 64.6 64.7 64.8 64.8.1 64.8.2 64.8.3 64.9 64.9.1 64.9.2 64.9.3 64.9.4
1275 1275 1276 1276 1276 1277 1277 1278 1283 1285
1301 1301 1301 1301 1304 1306 1306 1306 1310 1311 1311 1311 1312 1312 1312 1315 1316
Oropharynxkarzinome . . . . . . . . . . . . . . . . . Nasopharynxkarzinome . . . . . . . . . . . . . . . . Hypopharynxkarzinome . . . . . . . . . . . . . . . . Larynxkarzinome, Trachealkarzinome . . . . . . . . Speicheldrüsenkarzinome . . . . . . . . . . . . . . . Tumoren von Nase und Nasennebenhöhlen . . . Lippenkarzinome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karzinom bei unbekanntem Primärtumor (»carcinoma of unknown primary«, CUP-Syndrom) Nachsorge, Tumordokumentation . . . . . . . . . Supportivtherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1320 1322 1324 1325 1328 1329 1331
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1332 1333 1333 1334
65
Schilddrüsenkarzinome . . . . . . . . . . . . . . . . 1335
65.1 65.2 65.2.1 65.2.2 65.3 65.3.1 65.3.2 65.4 65.4.1 65.5 65.6 65.6.1 65.6.2 65.7 65.7.1 65.8 65.8.1 65.8.2 65.8.3 65.9 65.9.1 65.9.2 65.9.3 65.9.4 65.9.5
G. Brabant Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . Exogene Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . Genetische Prädisposition . . . . . . . . . Pathologie und Pathogenese . . . . . . . Histopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . Molekularbiologie . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation und Stadieneinteilung . . TNM-Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention und Früherkennung . . . . . Primärprävention . . . . . . . . . . . . . . . Früherkennung . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . Allgemeine und spezifische Symptome . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anamnese und klinische Untersuchung Labordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Radiojodtherapie . . . . . . . . . . . . . . . Perkutane Strahlentherapie . . . . . . . . TSH-suppressive Therapie mit Thyroxin . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1336 1336 1336 1336 1338 1338 1339 1340 1340 1341 1341 1341 1341 1341 1341 1342 1342 1342 1343 1344 1344 1345 1346 1346 1346 1348
X Tumoren der Knochen und Weichteile
1318
66
Osteosarkome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1351
1318
66.1 66.2 66.3 66.3.1 66.3.2 66.3.3 66.4 66.4.1 66.4.2
J. Ritter, G. Gosheger, S. Bielack Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genetische Prädisposition . . . . . . . . . . . . . . . . Exogene Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese und Molekularbiologie . . . . . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tumorgenetik und -molekularbiologie Genetische Keimbahnveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . .
1318 1318 1319 1319 1319 1320 1320
1352 1352 1353 1353 1353 1353 1353 1353 1353
XXVII Inhaltsverzeichnis – Teil 2: Spezieller Teil
66.5 66.5.1 66.5.2 66.6 66.7 66.7.1 66.7.2 66.7.3 66.7.4 66.8 66.9 66.9.1 66.9.2 66.10 66.11 66.11.1 66.11.2 66.12 66.13 66.14 66.15 66.15.1 66.15.2 66.16
Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Histopathologie bei Diagnosestellung . . . . . Histopathologie nach präoperativer Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . Bildgebende Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . Labordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Histopathologische Diagnosesicherung . . . . Differenzialdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie bei Osteosarkomen ohne erkennbare Metastasierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie bei metastasierter Erkrankung . . . . Prognostische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . Histologische Subtypen und atypische Lokalisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Histologische Subtypen . . . . . . . . . . . . . . . Osteosarkome an atypischen Lokalisationen . Sekundäre Osteosarkome . . . . . . . . . . . . . Osteosarkome älterer Patienten . . . . . . . . . Palliative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rehabilitation, Nachsorge und Spätfolgen . . Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Onkologische Nachsorge und Spätfolgen . . . Zukunftsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1355 1355 1356 1356 1356 1358 1358 1359 1359
. . . 1359 . . . 1366 . . . 1367 . . . . . . . . . . .
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1367 1368 1368 1369 1369 1370 1370 1370 1370 1371 1371
67
Chondrosarkome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1372
67.1 67.2 67.3 67.4 67.4.1 67.4.2 67.5 67.6 67.7 67.8 67.9 67.9.1 67.9.2 67.9.3 67.9.4 67.10 67.11
J. Ritter, C. Hoffmann, G. Gosheger Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese und Molekularbiologie . Genetische Keimbahnveränderungen . . Erworbene genetische Veränderungen . Histopathologie und Subtypen . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnostik . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chirurgische Therapie . . . . . . . . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . Therapie sekundärer Chondrosarkome . Prognose und prognostische Faktoren Zukunftsperspektiven . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
Ewing-Familie von Tumoren . . . . . . . . . . . . . 1378
68.1 68.2 68.2.1 68.2.2 68.2.3 68.2.4 68.2.5 68.3 68.4
A. Zoubek, H. Kovar, H. Gadner Epidemiologie . . . . . . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . Histogenese . . . . . . . . . . . Immunhistochemie . . . . . . Zytogenetik . . . . . . . . . . . Molekulargenetik . . . . . . . . Metastasierung . . . . . . . . . Pathologie . . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung . . . . . . .
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1373 1373 1373 1374 1374 1374 1374 1374 1375 1375 1376 1376 1376 1376 1376 1376 1377 1377
1379 1379 1379 1379 1379 1380 1381 1381 1382
68.5 68.6 68.7 68.7.1 68.7.2 68.7.3 68.7.4 68.7.5 68.7.6 68.7.7 68.8 68.9 68.9.1 68.9.2 68.9.3 68.9.4 68.9.5 68.10 68.11
Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Röntgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Computertomografie . . . . . . . . . . . Magnetresonanztomografie . . . . . . . Szintigrafie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positronenemissionstomografie (PET) . Knochenmarkpunktion . . . . . . . . . . Laboruntersuchungen . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . Chirurgische Maßnahmen . . . . . . . . Metastatische Erkrankung . . . . . . . . Stammzelltransplantation . . . . . . . . Toxizität und Spätfolgen . . . . . . . . . Zukunftsperspektiven . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
Weichteilsarkome im Erwachsenenalter . . . . . 1392
69.1 69.2 69.3 69.4 69.5 69.6 69.7 69.8 69.9 69.10 69.11 69.11.1 69.11.2 69.11.3 69.11.4 69.12 69.13 69.14 69.14.1 69.14.2 69.14.3 69.14.4 69.14.5 69.14.6 69.14.7 69.14.8
70 70.1 70.1.1
70.1.2 70.1.3
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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M. Schlemmer, H. Sauer, C. Poremba, R.D. Issels Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekularpathologische Diagnostik und Differenzialdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik und Früherkennung . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlungskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metastasenchirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Radiotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zytostatische Chemotherapie . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gastrointestinale Stromatumoren (GIST) . . . . Sonderfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Malignes Mesenchymom . . . . . . . . . . . . . . . Desmoplastischer kleinzelliger Rundzelltumor . Maligner Granularzelltumor (MGCT) . . . . . . . . Endometriales Stromasarkom (ESS) . . . . . . . . Karzinosarkome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cystosarcoma phylloides der Mamma . . . . . . . Desmoidtumoren (»aggressive Fibromatosen«) . Dermatofibrosarcoma protuberans (DFSP) . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1382 1383 1383 1383 1384 1384 1385 1385 1385 1385 1385 1386 1386 1387 1388 1389 1389 1390 1391 1391
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1393 1393 1393 1393 1394
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1395 1397 1398 1398 1399 1399 1399 1399 1400 1400 1403 1403 1404 1404 1404 1404 1404 1404 1404 1404 1405 1405
Malignes Melanom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . T.K. Eigentler, C. Garbe Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steigende Inzidenzraten des malignen Melanoms in Deutschland und bei weißen Bevölkerungen weltweit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stabilisierung der Mortalitätsraten des malignen Melanoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Epidemiologie des malignen Melanoms
. 1406 . 1407
. 1407 . 1408 . 1408
XXVIII Inhaltsverzeichnis – Teil 2: Spezieller Teil
70.1.4 70.2 70.2.1 70.2.2 70.2.3 70.3 70.3.1 70.3.2 70.3.3 70.3.4 70.3.5 70.3.6 70.4 70.4.1 70.4.2 70.4.3 70.4.4 70.4.5 70.4.6 70.5 70.5.1 70.5.2 70.6 70.6.1 70.6.2 70.6.3 70.6.4 70.6.5 70.7 70.7.1 70.7.2 70.7.3 70.7.4
Malignes Melanom in der Kindheit und im Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . UV-Exposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pigmentsystem und Melanomrisiko . . . . . . . . . Risikogruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . UV-Strahlung und Melanom . . . . . . . . . . . . . . Molekulare Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . Hereditäres Melanom . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sporadisches Melanom . . . . . . . . . . . . . . . . . Genetische Melanomklassifikation . . . . . . . . . . Zytogenetisch und biochemisch fassbare Alterationen im Rahmen der Transformation . . . Klassifikation – Klinisch-histologische Subtypen des Melanoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Melanoma in situ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Superfiziell spreitendes Melanom (SSM) . . . . . . Noduläres malignes Melanom (NMM) . . . . . . . . Lentigo-maligna-Melanom . . . . . . . . . . . . . . . Akrolentiginöses Melanom (ALM) . . . . . . . . . . Sonderformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung und Prognose . . . . . . . . . . UICC/AJCC-Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie primärer maligner Melanome . . . . . . . Therapie im Stadium der lokoregionären Metastasierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adjuvante Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie im Stadium der Fernmetastasierung . . . Experimentelle Therapiestrategien . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anamnese und körperliche Untersuchung . . . . . Lymphknotensonografie . . . . . . . . . . . . . . . . Protein S100-β . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktuelle Entwicklungen der bildgebenden Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1409 1409 1409 1409 1410 1410 1410 1411 1414 1415 1415
. 1416 . . . . . . . . . . . .
1416 1416 1416 1417 1417 1418 1419 1419 1419 1421 1422 1422
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1424 1425 1428 1430 1433 1433 1433 1434
. 1434 . 1435
71
Nebennierentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1436
71.1 71.2 71.3 71.3.1 71.3.2 71.3.3 71.4 71.5 71.5.1 71.5.2 71.5.3 71.5.4 71.5.5 71.5.6 71.6 71.6.1 71.6.2 71.6.3
B. Niederle, K. Kaserer, A. Kurtaran, G. Heinz-Peer, H. Vierhapper Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Histopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tumore der Nebennierenrinde . . . . . . . . . . . . . Tumore des Nebennierenmarks . . . . . . . . . . . . . Molekularpathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cushing-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärer Aldosteronismus (Conn-Syndrom) . . . . . Androgen oder Östrogen produzierende Tumoren . Endokrin inaktive Nebennierentumore . . . . . . . . Nebennierenrindenkarzinom . . . . . . . . . . . . . . Phäochromozytom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biochemische (Funktions-) Diagnostik . . . . . . . . . Radiologische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Feinnadelaspirationszytologie (FNA) . . . . . . . . . .
1437 1437 1437 1437 1437 1438 1439 1440 1440 1441 1441 1441 1441 1441 1442 1442 1444 1446
71.6.4 71.6.5 71.7 71.7.1 71.7.2
Nuklearmedizinische Diagnostik . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . Medikamentöse bzw. adjuvante Therapie Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
Apudome: Neuroendokrine Tumoren des Gastrointestinaltrakts . . . . . . . . . . . . . . . 1459
72.1 72.2 72.3 72.4 72.4.1 72.4.2 72.4.3 72.5 72.6 72.7 72.8 72.8.1 72.8.2 72.8.3 72.8.4 72.8.5 72.8.6 72.8.7 72.8.8 72.8.9 72.9 72.9.1 72.9.2 72.10 72.10.1 72.10.2 72.10.3 72.10.4 72.10.5 72.11
. . . . . .
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R. Arnold, B. Simon und R. Göke Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekulare Aberrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . Hormonproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wachstumsverhalten und Metastasierung . . . . . . Histopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation und Stadieneinteilung . . . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Insulinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persistierende hyperinsulinämische Hypoglykämie des Kindesalters (PHHI) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gastrinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karzinoidsyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glukagonom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIPom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Somatostatinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tumoren ohne hormonabhängige Symptomatik (funktionell nicht aktive endokrine Tumoren) . . . . MEN-1-Syndrom-assoziierte Tumoren . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laborchemische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operative Maßnahmen in kurativer Absicht . . . . . Antiproliferative medikamentöse Therapie . . . . . . Interventionelle Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . Symptomatische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung der therapeutischen Strategien Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1447 1450 1452 1452 1457 1458
1460 1460 1461 1461 1461 1463 1463 1463 1464 1465 1465 1465 1466 1467 1467 1467 1467 1468 1468 1468 1468 1469 1470 1471 1471 1472 1474 1475 1476 1477 1477
XI Pädiatrische Tumoren 73
Neuroblastom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1481
73.1 73.2 73.3 73.3.1 73.3.2 73.3.3 73.3.4 73.4 73.4.1 73.4.2
B. Hero, H. Christiansen Epidemiologie . . . . . . . . . . . Histologie und Malignitätsgrad Ätiologie und Pathogenese . . . Biologische Verlaufsformen . . . Progression und Metastasierung Differenzierung . . . . . . . . . . . Regression . . . . . . . . . . . . . . Genetik und Molekularbiologie Genetische Prädisposition . . . . Genetische Aberrationen . . . . .
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1482 1482 1483 1483 1484 1484 1484 1485 1485 1486
XXIX Inhaltsverzeichnis – Teil 2: Spezieller Teil
73.4.3 73.4.4 73.5 73.6 73.7 73.8 73.9 73.9.1 73.9.2 73.9.3 73.9.4 73.10 73.10.1 73.10.2 73.10.3 73.10.4 73.10.5 73.11
74 74.1 74.2 74.3 74.3.1 74.3.2 74.4 74.4.1 74.4.2 74.5 74.6 74.7 74.8 74.8.1 74.8.2 74.8.3 74.9 74.9.1 74.9.2 74.9.3 74.9.4 74.9.5 74.9.6 74.9.7 74.9.8 74.10
Abnorme Genexpressionen . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Früherkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Knochenmarkdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Tumormarker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Immuntherapie und weitere Therapieansätze . . . . Zusammenfassung des therapeutischen Vorgehens in den verschiedenen Krankheitsstadien . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1487 1488 1488 1489 1489 1491 1491 1491 1491 1492 1492 1492 1492 1492 1493 1493
75.6 75.7 75.8 75.8.1 75.8.2 75.8.3 75.8.4 75.8.5 75.9 75.9.1 75.9.2 75.9.3 75.9.4 75.10 75.11
1494 1495 1495
Prävention und Früherkennung . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Indirekte Ophthalmoskopie . . . . . . . . . . . . . . . Histologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pädiatrische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staging-Untersuchungen bei invasiver Erkrankung Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enukleation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lokale Therapiemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung des Rezidivs . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genetische Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1517 1517 1517 1517 1518 1518 1518 1518 1519 1519 1519 1520 1521 1521 1522 1523
XII Hämatologische Neoplasien
Nephroblastom (Wilms-Tumor) . . . . . . . . . . . 1496 N. Graf Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekularbiologie und Genetik . . . . . . . . . . . . . Nephrogener Rest und Nephroblastomatose . . . . Pathologie und pathohistologische Klassifikation Histopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathohistologische Klassifikation . . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung und Prognosefaktoren . . . . . Prävention und Früherkennung . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sicherung der Primärdiagnose . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlaufsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie der Nephroblastomatose . . . . . . . . . . . Therapie bilateraler Nephroblastome . . . . . . . . . Therapie von Erwachsenen mit einem Nephroblastom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie von Rezidiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des therapeutischen Vorgehens in den verschiedenen Krankheitsstadien . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76 1497 1497 1498 1498 1501 1501 1501 1501 1502 1503 1504 1504 1504 1505 1506 1507 1507 1508 1509 1511 1511 1511 1511 1512 1512 1513
75
Retinoblastom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1514
75.1 75.2 75.3 75.3.1 75.3.2 75.4 75.5
R. Wieland, D. Lohmann, A. Schüler, N. Bornfeld Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekulare Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . Molekularbiologie und Zytogenetik . . . . . . . Klassifikation und Stadieneinteilung . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
1515 1515 1515 1515 1515 1516 1516
76.1 76.1.1 76.1.2 76.2 76.3 76.3.1 76.3.2 76.3.3 76.4 76.4.1 76.4.2 76.4.3 76.4.4 76.5 76.5.1 76.5.2 76.5.3 76.5.4 76.5.5 76.6 76.6.1 76.6.2 76.6.3 76.6.4 76.6.5 76.6.6 76.6.7 76.6.8 76.7 76.7.1
Maligne Lymphome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1527 M. Dreyling, A. Neubauer, U. Kaiser, C. Wilhelm, L. Trümper, G. Ott, P. Möller Epidemiologie und Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Histopathologische Klassifikation maligner Lymphome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekularbiologie maligner Lymphome . . . . . . Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekulare Onkologie maligner Lymphome . . . . . Molekulare Diagnostik maligner Lymphome . . . . . Klinik maligner Lymphome . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik von Lymphomen . . . . . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlaufskontrollen und Feststellen des Ansprechens Follikuläre Lymphome . . . . . . . . . . . . . . . . . . Histologie und Immunhistologie . . . . . . . . . . . . Molekularbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezidivtherapie, Therapie im Progress . . . . . . . . . Aggressive Non-Hodgkin-Lymphome . . . . . . . . Definition, Histopathologie und Klinik . . . . . . . . . Prognostische Faktoren bei aggressiven Lymphomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Chemotherapie bei aggressiven Lymphomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie bei aggressiven Lymphomen . . . Hochdosistherapie und Stammzelltransplantation bei aggressiven Lymphomen . . . . . . . . . . . . . . Therapie älterer Patienten mit aggressiven Lymphomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezidivtherapie bei aggressiven Lymphomen . . . . Seltene Subentitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialtherapie histologisch definierter Lymphomsubtypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1528 1528 1529 1532 1532 1532 1534 1536 1537 1537 1537 1539 1540 1541 1541 1541 1542 1542 1544 1545 1545 1546 1548 1548 1550 1551 1552 1554 1555 1555
XXX
76.7.2 76.7.3 76.7.4 76.7.5 76.7.6 76.7.7 76.7.8 76.7.9 76.8 76.8.1 76.8.2 76.8.3 76.8.4 76.8.5 76.8.6 76.8.7 76.9 76.9.1
77 77.1 77.2 77.2.1 77.2.2 77.2.3 77.2.4 77.3 77.4 77.5 77.5.1 77.5.2 77.6 77.7 77.8 77.9 77.9.1 77.9.2 77.9.3 77.9.4 77.9.5 77.9.6 77.9.7 77.10 77.11
Inhaltsverzeichnis – Teil 2: Spezieller Teil
Mantelzelllymphome . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sehr aggressive Lymphome . . . . . . . . . . . . . . Periphere T-Zell- und T/NK-Zell Lymphome . . . . Angioimmunoblastisches T-Zell-Lymphom (AITL) und periphere T-Zell-Lymphome (NOS) . . . . . . . Großzellige anaplastische Lymphome (ALCL) . . . Primär mediastinales großzelliges Lymphom . . . Marginalzonenlymphome . . . . . . . . . . . . . . . Marginalzonenlymphome des Lymphknoten . . . Primär extranodale Lymphome . . . . . . . . . . . Extranodale Marginalzonenlymphome (MALT-Lymphome) – Pathologie . . . . . . . . . . . Marginalzonenlymphome vom MALT-Typ außerhalb des Magens . . . . . . . . . . . . . . . . . Primäre ZNS-Lymphome (PCNSL) . . . . . . . . . . . Lymphome des Gesichtsschädels und der Nasennebenhöhlen (früher: Kopf-Hals-Lymphome) . . . Primäre Hodenlymphome . . . . . . . . . . . . . . . Lymphome des Knochens . . . . . . . . . . . . . . . Weitere extranodale Manifestationen . . . . . . . . Radioimmuntherapie bei Lymphomen . . . . . . Grundlagen der Radioimmuntherapie . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 1555 . 1557 . 1559 . . . . . .
1561 1561 1562 1563 1564 1565
. 1565 . 1568 . 1569 . . . . . . .
1570 1570 1570 1571 1571 1571 1574
Hodgkin-Lymphom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1575 B. Klimm, M. Sieber, V. Diehl Definition und Epidemiologie . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . Klonale Abstammung der H-RS-Zellen von Keimzentrums-B-Zellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung von EBV für die Transformation der H-RS-Zelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Potenzielle molekulare Mechanismen der Transformation von (EBV-negativen) H-RS-Zellen . Bedeutung der T-Zell-Infiltration im befallenen Hodgkin-Lymphknoten . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation und Stadieneinteilung . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risikogruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognose des Rezidivs . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kombinierte Chemo- und Radiotherapie . . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frühes Risikostadium . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intermediäres Risikostadium . . . . . . . . . . . . . . Fortgeschrittenes Risikostadium . . . . . . . . . . . Behandlung des Rezidivs . . . . . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 1576 . 1576 . 1576 . 1577 . 1577 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1578 1578 1579 1579 1580 1580 1581 1581 1582 1582 1582 1582 1582 1584 1584 1585 1586 1587 1588 1589
78
Multiples Myelom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1590
78.1 78.2 78.3
H. Goldschmidt Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1591 Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1591 Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1591
78.3.1 78.3.2 78.3.3 78.3.4 78.3.5 78.3.6 78.3.7 78.3.8 78.4 78.5 78.6 78.6.1 78.6.2 78.6.3 78.6.4 78.6.5 78.6.6 78.7 78.7.1 78.7.2 78.7.3 78.7.4 78.8 78.8.1 78.8.2 78.8.3 78.8.4 78.9 78.9.1 78.9.2 78.9.3 78.9.4 78.9.5 78.9.6
»Stammzelle« des Multiplen Myeloms . . . . . . . . Chromosomale Veränderungen . . . . . . . . . . . . Veränderung der Genexpression . . . . . . . . . . . Mutationen in Wachstumsfaktor-Signaltransduktionswegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wachstumsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Knochendestruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . Angiogeneseinduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenwärtiges pathogenetisches Modell . . . . . Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . Knochenschmerzen und pathologische Frakturen Anämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niereninsuffizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hyperkalzämie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laboruntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Knochenmarkdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . Apparative Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnosesicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monoklonale Gammopathie unbestimmter Signifikanz und »smoldering Multiples Myelom« . Solitäres Plasmozytom . . . . . . . . . . . . . . . . . Primär systemische Amyloidose . . . . . . . . . . . . Monoklonale Gammopathie anderer Ätiologie . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapieindikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Induktions- und Hochdosistherapie . . . . . . . . . Erhaltungstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung des rezidivierten bzw. refraktären Multiplen Myeloms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Supportive Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie von Komplikationen . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 1591 . 1592 . 1592 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1593 1593 1593 1593 1593 1594 1594 1595 1595 1596 1596 1596 1596 1596 1596 1596 1597 1598 1598 1598
. . . . . . . .
1599 1599 1600 1600 1601 1601 1601 1605
. . . .
1605 1606 1606 1607
79
Myelodysplastische Syndrome . . . . . . . . . . . 1608
79.1 79.2 79.3 79.3.1 79.3.2 79.3.3 79.4 79.4.1 79.4.2 79.5 79.5.1 79.5.2 79.5.3 79.6 79.7 79.8 79.9 79.10 79.10.1 79.10.2
A. Ganser, F. Thol Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . Pathologie und Pathogenese . . . . . . Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekularbiologie . . . . . . . . . . . . . Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation und Stadieneinteilung . FAB-Klassifikation/WHO-Klassifikation . Sonderformen des MDS . . . . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . Prognostische Scoring-Systeme . . . . . Prognosefaktoren bei der CMML . . . . Prognosefaktoren bei kindlichen MDS . Prävention und Früherkennung . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Supportive Maßnahmen . . . . . . . . . Hormontherapie . . . . . . . . . . . . . .
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1609 1609 1611 1611 1613 1614 1615 1615 1617 1618 1620 1621 1621 1622 1622 1622 1623 1624 1624 1625
XXXI Inhaltsverzeichnis – Teil 2: Spezieller Teil
79.10.3 79.10.4 79.10.5 79.10.6 79.10.7 79.10.8 79.10.9 79.10.10 79.11
80 80.1 80.1.1 80.1.2 80.1.3 80.1.4 80.1.5 80.1.6 80.2 80.2.1 80.2.2 80.3 80.4 80.4.1 80.4.2 80.5 80.5.1 80.5.2 80.5.3 80.5.4 80.5.5 80.5.6 80.5.7 80.6 80.7 80.7.1 80.7.2 80.7.3 80.7.4 80.7.5 80.7.6 80.8 80.8.1 80.8.2 80.8.3 80.8.4 80.9 80.10 80.11
Differenzierungsinduktoren . . . . . . . . . . . . Interferone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hämatopoetische Wachstumsfaktoren . . . . . Antiapoptotische und immunmodulatorische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niedrigdosierte Chemotherapie . . . . . . . . . Standardchemotherapie . . . . . . . . . . . . . . Allogene Knochenmark- und Stammzelltransplantation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autologe Stammzelltransplantation . . . . . . . Therapie des älteren Patienten . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . 1625 . . . 1626 . . . 1626 . . . 1626 . . . 1627 . . . 1628 . . . .
. . . .
. . . .
1630 1632 1633 1635
Akute myeloische Leukämie . . . . . . . . . . . . . 1636 C. Buske, K. Spiekermann, J. Braess, W. Hiddemann Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . Alkylanzien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Topoisomerase-II-Inhibitoren . . . . . . . . . . . . . Hochdosistherapie mit autologer Knochenmarkoder Stammzelltransplantation . . . . . . . . . . . . Bestrahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benzol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kongenitale Erkrankungen der Hämatopoese . . . Genetische Veränderungen . . . . . . . . . . . . . AML mit aberrantem Karyotyp . . . . . . . . . . . . AML ohne Nachweis von Karyotypanomalien . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . FAB-Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . WHO-Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zytogenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundäre Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leukozytenzahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Immunphänotyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überexpression des MDR1-Gens . . . . . . . . . . . Prognose im Rezidiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Generelle Therapiestrategie . . . . . . . . . . . . . . Induktionstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie in Remission . . . . . . . . . . . . . . . . . . Knochenmark- und Stammzelltransplantation . . Therapie der akuten Promyelozytenleukämie . . . Supportive Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie älterer Patienten . . . . . . . . . . . . . . . Supportive oder antileukämische Therapie . . . . Intensität der Induktionstherapie . . . . . . . . . . . Alternativen zu Daunorubicin . . . . . . . . . . . . . Supportiver Einsatz hämatopoetischer Wachstumsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezidivtherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Therapieansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 1637 . 1637 . 1638 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1638 1638 1638 1638 1639 1639 1645 1646 1647 1647 1650 1650 1650 1657 1657 1657 1658 1658 1658 1658 1659 1659 1659 1661 1661 1665 1667 1667 1667 1668 1668
. . . . .
1668 1669 1670 1671 1671
81
81.1 81.2 81.2.1 81.2.2 81.3 81.3.1 81.3.2 81.3.3 81.3.4 81.4 81.5 81.5.1 81.5.2 81.5.3 81.6 81.7 81.8 81.8.1 81.8.2 81.8.3 81.8.4 81.8.5 81.9 81.10 81.10.1 81.10.2 81.10.3 81.10.4 81.10.5 81.10.6 81.10.7 81.10.8 81.10.9 81.10.10 81.10.11 81.10.12
81.10.13 81.10.14 81.10.15 81.11
Akute Iymphatische Leukämie bei Erwachsenen und Kindern . . . . . . . . . . . . 1672 D. Hoelzer, M. Schrappe, N. Gökbuget Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . Genetische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exogene Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quantitative Veränderungen durch Translokationen Qualitative Veränderungen durch Translokationen . Mutationen von Tumorsuppressorgenen . . . . . . . Genexpressionsanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation und Stadieneinteilung . . . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Immunphänotyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zytogenetik und Molekulargenetik . . . . . . . . . . . Therapieansprechen und »minimal residual disease« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention, Früherkennung . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialblutbild und Laborwerte . . . . . . . . . . Knochenmarkuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Spezialuntersuchungen . . . . . . . . Lumbalpunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere diagnostische Maßnahmen . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . Blutungs- und Infektionsprophylaxe . . . . . . . . . . Wachstumsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hochdosistherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Knochenmarktransplantation (KMT) und periphere Stammzelltransplantation (PBSZT) . . . . Therapiekonzept der GMALL-Studie 07/2003 für B-Vorläufer und T-ALL . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie der Ph/BCR-ABL-positiven ALL in den GMALL-Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie der B-ALL in der GMALL-B-ALL/ NHL-Studie 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapiekonzept der ALL im Kindesalter . . . . . . . Evaluation minimaler Resterkrankung: Basis für neuartige Risikodefinition und innovative Therapieplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie des älteren Patienten . . . . . . . . . . . . . Therapie bei Patienten mit refraktärer ALL oder Rezidiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des therapeutischen Vorgehens bei ALL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1673 1673 1673 1674 1674 1675 1675 1676 1677 1677 1678 1678 1679 1681 1682 1682 1683 1683 1683 1683 1685 1686 1686 1686 1687 1687 1687 1687 1690 1690 1691 1693 1695 1695 1696
1697 1697 1699 1700 1700 1702
82
Chronische myeloische Leukämie . . . . . . . . . 1703
82.1 82.2 82.3 82.3.1 82.3.2
R. Hehlmann, A. Hochhaus Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . Pathogenese und Molekulargenetik Philadelphia-Chromosom . . . . . . . Phänotypen der CML . . . . . . . . . .
. . . . .
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. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
1704 1704 1704 1704 1705
XXXII
82.3.3 82.3.4 82.3.5 82.4 82.5 82.6 82.7 82.8 82.8.1 82.8.2 82.8.3 82.8.4 82.9 82.10 82.10.1 82.10.2 82.10.3 82.10.4 82.10.5 82.10.6 82.10.7 82.10.8 82.11
83 83.1 83.2 83.3 83.3.1 83.3.2 83.3.3 83.3.4 83.4 83.5 83.6 83.6.1 83.6.2 83.7 83.7.1 83.7.2 83.8 83.8.1 83.8.2 83.8.3 83.8.4 83.8.5 83.9 83.9.1 83.9.2 83.10 83.10.1 83.10.2 83.10.3 83.10.4 83.10.5
Inhaltsverzeichnis – Teil 2: Spezieller Teil
Signaltransduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zellbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekulare und zelluläre Ereignisse bei der Krankheitstransformation . . . . . . . . . . . . . . . . Stadieneinteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognose und Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . Prävention und Früherkennung . . . . . . . . . . . . Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befunde und Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Blutbild und laborchemische Befunde . . . . . . . . Knochenmarkbefunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zytogenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Molekularbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medikamentöse Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . Allogene Stammzelltransplantation (SZT) . . . . . . Evidenzbasierte Leitlinien zur Therapie der CML . . Standardisierung des molekularen Monitoring . . . Therapie der späteren Stadien und spezieller Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ph-negative und BCR-ABL-negative CML . . . . . . . Zusammenfassung des therapeutischen Vorgehens Verlaufskontrolle und Nachsorge . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1705 1706 1706 1707 1708 1708 1708 1709 1709 1709 1710 1710 1710 1711 1711 1712 1716 1717 1718 1718 1719 1719 1719 1721
Chronische lymphatische Leukämie . . . . . . . . 1722 B. Emmerich, R. Schmidmaier Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ätiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Art und Funktion der Ursprungszelle . . . . . . . . . Zytogenetik, Onkogene und Tumorsuppressorgene Molekulare Alterationen von B-CLL-Zellen . . . . . . Art und Entstehung der Immundefizienz und der Autoimmunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassifikation und Stadieneinteilung . . . . . . . . . Prognosefaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention und Früherkennung . . . . . . . . . . . . Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Früherkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natürlicher Krankheitsverlauf . . . . . . . . . . . . . . Komplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blutbild und Bestimmung des Immunphänotyps . . Immunphänotypisches Scoring-System und Lymphknotenhistologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung des Knochenmarks . . . . . . . . . . . Klinische, bildgebende und Laboruntersuchungen Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere B-Zell-Neoplasien . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere T-Zell-Neoplasien . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapieziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapiebeurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapieindikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie der frühen Stadien . . . . . . . . . . . . . . . Therapie der fortgeschrittenen Stadien . . . . . . . .
1723 1723 1723 1723 1724 1725
83.10.6 83.11 83.12 83.12.1
Zusammenfassung des therapeutischen Vorgehens Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonderformen der CLL . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leukämie der großen granulierten Lymphozyten (T-LGL) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83.12.2 Prolymphozytenleukämie (PLL) . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84 84.1 84.1.1 84.1.2 84.2 84.2.1 84.2.2 84.2.3 84.2.4 84.3 84.3.1 84.3.2 84.3.3 84.3.4 84.4 84.4.1 84.4.2 84.4.3 84.4.4 84.5 84.5.1 84.5.2 84.5.3 84.5.4 84.6 84.6.1 84.6.2 84.6.3 84.6.4
1739 1741 1741 1741 1741 1742
Myeloproliferative Syndrome . . . . . . . . . . . . 1743 N. Gattermann Definition und Grundlagen . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktueller Fortschritt bei der Aufklärung der Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . Polycythaemia vera (PV) . . . . . . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Essenzielle Thrombozythämie . . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Idiopatische Myelofibrose (IMF) . . . . . . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronische Neutrophilenleukämie (CNL) Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronische eosinophile Leukämie (CEL) bzw. hypereosinophiles Syndrom (HES) . Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . 1744 . . . . . . 1744 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1744 1746 1746 1746 1747 1748 1750 1750 1751 1752 1752 1755 1755 1755 1756 1756 1760 1760 1761 1761 1761
. . . . . .
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1762 1762 1762 1763 1764 1766
1726 1726 1727 1727 1727 1727 1728 1728 1728 1728 1728 1728
85
Tumoren bei immunsupprimierten Patienten . 1769
1729 1729 1729 1730 1730 1730 1730 1730 1731 1731 1732 1732
85.1 85.1.1 85.1.2 85.1.3 85.2 85.2.1 85.2.2 85.3 85.3.1 85.3.2 85.3.3 85.4
U. Jäger Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kongenitale Immundefizienzsyndrome . . . . latrogene Immundefizienz . . . . . . . . . . . . Patienten mit HIV-Infektion . . . . . . . . . . . . Ätiologie, Pathogenese und Risikofaktoren Ätiologie und Pathogenese . . . . . . . . . . . Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologie und Molekularbiologie . . . . . . Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . PT-LPD und HIV-Lymphome . . . . . . . . . . . Molekularbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIII Sonstige Tumoren
. . . . . . . . . . . .
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1770 1770 1770 1771 1771 1771 1772 1773 1773 1773 1773 1773
XXXIII Inhaltsverzeichnis – Teil 2: Spezieller Teil
85.5 85.6 85.7 85.7.1 85.7.2 85.7.3 85.7.4 85.8
85.9
86
86.1 86.2 86.3 86.4 86.5 86.6 86.6.1 86.6.2 86.7 86.7.1 86.7.2 86.8 86.8.1
86.8.2 86.8.3 86.8.4
Stadieneinteilung und Prognosefaktoren . . Differenzialdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Immunologische Therapieansätze bei PT-LPD . Zusammenfassung des therapeutischen Vorgehens in den verschiedenen Krankheitsstadien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
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1774 1774 1775 1775 1775 1775 1775
. . . 1776 . . . 1776 . . . 1777
Krebserkrankungen mit unbekanntem Primärtumor (CUP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1778 E. Weidmann, E. Jäger Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klinische Präsentation . . . . . . . . . . . . . . . . Generelle klinische Charakteristika bei Krebserkrankungen mit unbekanntem Primärtumor . Klinische Charakteristika bei Subgruppen von CUP-Syndromen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen bzw. Basisdiagnostik . . . . . . . . . . Weiterführende Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie der undifferenzierten Karzinome und der wenig differenzierten Adenokarzinome mit unbekanntem Primärtumor . . . . . . . . . . . Therapie der Plattenepithelkarzinome mit unbekanntem Primärtumor . . . . . . . . . . . Therapie der neuroendokrinen Karzinome mit unbekanntem Primärtumor . . . . . . . . . . . Therapie weiterer, prognostisch relevanter Subgruppen von Karzinomen mit unbekanntem Primärtumor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
1779 1779 1779 1780 1781 1782
. . 1782 . . . . .
. . . . .
1783 1784 1784 1785 1787
. . 1787 . . 1788 . . 1789
. . 1789 . . 1790
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1791
XXXV
Autorenverzeichnis Ackermann, Rolf, Prof. Dr. med.
Berdel, Wolfgang E., Prof. Dr. med.
Büchler, Markus, Prof. Dr. med.
Universität Düsseldorf Urologische Klinik Moorenstraße 5 D-40225 Düsseldorf
Universitätsklinikum Münster Med. Klinik und Poliklinik, Innere Medizin A Albert-Schweitzer-Straße 33 D-48129 Münster
Arnold, Rudolf R., Prof. Dr. med. em.
Berger, Winfried, Dr. med.
Universitätsklinikum Heidelberg Chirurgische Klinik Klinik für Allgemein-, Viszeralund Transplantationschirurgie Im Neuenheimer Feld 110 D-69120 Heidelberg
Philipps-Universität Zentrum Innere Medizin Baldinger Straße D-35043 Marburg
Marienhospital Altenessen Medizinische Klinik I und Klinik für Hämatologie und Internistische Onkologie Hospitalstraße 24 D-45329 Essen
Augustin, Hellmut G., Prof. Dr. med. vet. Medizinische Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg und Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg Gemeinsamer Forschungsbereich Vaskuläre Biologie Im Neuenheimer Feld 280 D-69120 Heidelberg
Aulitzky, Walter Erich, Prof. Dr. med. Robert-Bosch-Krankenhaus Zentrum für Innere Medizin, Innere Abt. 2 Postfach 50 11 20 D-70341 Stuttgart
Barth, Jürgen Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH Medizinische Klinik IV Klinikstraße 36 D-35392 Gießen
Bartram, Claus R., Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Heidelberg Institut für Humangenetik Im Neuenheimer Feld 366 D-69120 Heidelberg
Bielack, Stefan, Prof. Dr. med. Klinikum Stuttgart, Olgahospital Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Pädiatrie 5 Bismarckstraße 8 D-70176 Stuttgart
Blum, Hubert, Prof. Dr. Dr. mult. h. c. Universitätsklinikum Freiburg Abt. Innere Medizin II Hugstetter Straße 55 D-79106 Freiburg
Böck, Stefan, Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Medizinische Klinik und Poliklinik III Marchioninistraße 15 D-81377 München
Bornfeld, Norbert, Prof. Dr. med. Universitätklinikum Essen Zentrum für Augenheilkunde Hufelandstraße 55 D-45122 Essen
Hagenbreite 15 D-37124 Rosdorf
Beck, Joachim, Dr. med.
Braess, Jan, Priv.-Doz. Dr. med.
Johannes-Gutenberg-Universität Mainz III. Medizinische Klinik Langenbeckstraße 1 D-55130 Mainz
Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Medizinische Klinik und Poliklinik III Marchioninistraße 15 D-81377 München
Becker, Nikolaus, Prof. Dr. habil. Deutsches Krebsforschungszentrum Abt. Krebsepidemiologie Im Neuenheimer Feld 280 D-69120 Heidelberg
Vivantes Klinikum Neukölln Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie Rudower Straße 48 D-12351 Berlin
Bursch, Wilfried, Prof. Dr. rer. nat. Klinik für Innere Medizin 1 Medizinische Universität Wien Institut für Krebsforschung Borschkegasse 8a A-1090 Wien
Buske, Christian, Prof. Dr. med. CCCU und Universitätsklinikum Ulm Institut für Experimentelle Tumorforschung Albert-Einstein-Allee 11 D-89081 Ulm
Christian, Sven, Dr. rer. nat. Medizinische Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg und Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg Gemeinsamer Forschungsbereich Vaskuläre Biologie Im Neuenheimer Feld 280 D-69120 Heidelberg
Christiansen, Holger, Prof. Dr. med. Brabant, Georg, Prof. Dr. med. The Christie, Manchester Dept. of Endocrinology Wilmslow Rd M20 4BX Manchester, UK
Bautz, Michael T., Dipl.-Psych.
Büschel, Gerd, Dr. med.
Universitätsklinik und Poliklinik für Kinder und Jugendliche Abteilung für Kinder-Onkologie, -Hämatologie und -Hämostaseologie Liebigstraße 20a D-04103 Leipzig
Claussen, Claus D., Prof. Dr. med. Universität Tübingen Abt. für Diagnostische und Interventionelle Radiologie Hoppe-Seyler-Straße 3 D-72076 Tübingen
XXXVI Autorenverzeichnis
Combs, Stephanie E., Dr. med.
Eberhardt, Wilfried, Dr. med.
Fulda, Simone, Prof. Dr. med.
Radiologische Universitätsklinik Abteilung RadioOnkologie und Strahlentherapie Im Neuenheimer Feld 400 D-69120 Heidelberg
Universitätsklinikum Essen Klinik für Innere Medizin, Tumorforschung Hufelandstraße 55 D-45122 Essen
Universitätsklinik für Kinder und Jugendmedizin Eythstraße 24 D-89075 Ulm
Eigentler, Thomas, Dr. med.
Gadner, Helmut, Prof. Dr. med.
Universitäts-Hautklinik Universitätsklinikum Tübingen Liebermeisterstraße 25 D-72076 Tübingen
Children’s Cancer Research Institute St. Anna-Kinderspital Kinderspitalgasse 6 A-1090 Wien
Emmerich, Berthold, Prof. Dr. med.
Ganser, Arnold, Prof. Dr. med.
Klinikum Innenstadt Abt. Hämatologie/Onkologie Kliniken der Universität München Ziemssenstraße 1 D-80336 München
Medizinische Hochschule Hannover Klinik für Hämatologie, Hämostaseologie Onkologie und Stammzelltransplantation Carl-Neuberg-Straße 1 D-30625 Hannover
Ensink, Franz Bernhard M., Dr. med.
Garbe, Claus, Prof. Dr. med.
Universitätsmedizin Göttingen Ressort Krankenversorgung/ Geschäftsbereich 2-2 Robert-Koch-Straße 40 D-37075 Göttingen
Universitäts-Hautklinik Universitätsklinikum Tübingen Liebermeisterstraße 25 D-72076 Tübingen
Creutzig, Ursula, Prof. Dr. med. Universitäts-Kinderklinik Pädiatrische Hämatologie/Onkologie Koordination KPOH – Hannover Albert-Schweitzer-Straße 33 D-48129 Münster
Debatin, Klaus-Michael, Prof. Dr. med. Universitätsklinik für Kinder und Jugendmedizin Eythstraße 24 D-89075 Ulm
Debus, Jürgen, Prof. Dr. med. Radiologische Universitätsklinik Abteilung RadioOnkologie und Strahlentherapie Im Neuenheimer Feld 400 D-69120 Heidelberg
Dennert, Gabriele, Dr. med. Medizinische Klinik 5 Klinikum Nürnberg Nord Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie Prof.-Ernst-Nathan-Straße 1 D-90419 Nürnberg
Gätje, Regine, Prof. Dr. med. Feuring-Buske, Michaela, Priv.-Doz. Dr. med. Universitätsklinikum Ulm Klinik für Innere Medizin III Albert-Einstein-Allee 23 D-89081 Ulm
Fischer, Thomas, Prof. Dr. med. Derigs, Hans Günter, Priv.-Doz. Dr. med. Städtische Klinik Frankfurt Hoechst Klinik für Innere Medizin, Abt. III Gotenstraße 6-8 D-65929 Frankfurt/Main
Universitätsklinikum Magdeburg Zentrum für Innere Medizin Klinik für Hämatologie/Onkologie Leipziger Straße 44 D-39120 Magdeburg
Diehl, Volker, Prof. Dr. med.
Fleckenstein, Bernhard, Prof. Dr. med.
Universitätsklinikum Köln, Haus LebensWert Klinik I für Innere Medizin Kerpener Straße 62 D-50937 Köln
Universitätsklinikum Erlangen Institut für Klinische und Molekulare Virologie Schloßgarten 4 D-91054 Erlangen
Dienemann, Hendrik, Kap. 60 Thoraxklinik am Universitätsklinikum Heidelberg Amalienstraße 5 D-69126 Heidelberg
Friedl, Waltraut, Dr. sc. hum. Universitätsklinikum Bonn Institut für Humangenetik Sigmund-Freud-Straße 25 D-53105 Bonn
Dreyling, Martin, Prof. Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Medizinische Klinik und Poliklinik III Marchioninistraße 15 D-81377 München
Klinikum der J.W. Goethe-Universität Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe Theodor-Stern-Kai-7 D-60590 Frankfurt
Gattermann, Norbert, Prof. Dr. med. Heinrich-Heine-Universität Klinik für Hämatologie, Onkologie und Klinische Immunologie Moorenstraße 5 D-40225 Düsseldorf
Geley, Stephan, Prof. Dr. med. Medizinische Universität Innsbruck Biozentrum, Sektion für Molekulare Pathophysiologie Fritz-Pregl-Straße 3 A-6020 Innsbruck
Georg, Dietmar, Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Medizinische Universität Wien, Allgemeines Krankenhaus Wien Universitätsklinik für Strahlentherapie Währinger-Gürtel 18–20 A-1090 Wien
Gerber, Wolf-Dieter, Prof. Dr. Friess, Helmut, Prof. Dr. med. Technische Universität München Chirurgische Klinik und Poliklinik des Klinikums rechts der Isar Ismaninger Straße 22 D-81675 München
Institut für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie Diesterwegstraße 10–12 D-24113 Kiel
XXXVII Autorenverzeichnis
Gökbuget, Nicola, Dr. med.
Grassmann, Ralph, Prof. Dr. rer.nat.
Havers, Werner, Prof. Dr. med.
Klinikum der Goethe-Universität Medizinische Klinik II, Hämatologie/ Onkologie Theodor-Stern-Kai 7 D-60596 Frankfurt
Universitätsklinikum Erlangen Institut für Klinische und Molekulare Virologie Schloßgarten 4 D-91054 Erlangen
Universitätsklinikum Essen Abt. für Pädiatrische Hämatologie Onkologie und Endokrinologie Zentrum für Kinderheilkunde Hufelandstraße 55 D-45122 Essen
Göke, Burkhard, Prof. Dr. med.
Grimm, Marc-Oliver, Priv.-Doz. Dr. med.
Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Medizinische Klinik und Poliklinik II Marchioninistraße 15 D-81377 München
Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden Urologische Klinik und Poliklinik Fetscherstraße 74 D-01307 Dresden
Göke, Rüdiger, Prof. Dr. med.
Grischke, Eva-Maria, Prof. Dr. med.
Gemeinschaftspraxis Innere Medizin/Diabetologie Dietersdorfer Weg 2 D-35043 Marburg
Universitäts-Frauenklinik Tübingen Calwerstraße 7 D-72076 Tübingen
Haese, Alexander, Priv.-Doz. Dr. med. Goldschmidt, Hartmut, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Heidelberg und Nationales Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Sektion Multiples Myelom Medizinische Klinik, Innere Medizin V Im Neuenheimer Feld 410 D-69120 Heidelberg
Gosheger, Georg, Prof. Dr. med. Klinik und Poliklinik für Allgemeine Orthopädie Albert-Schweitzer-Straße 33 D-48149 Münster
Grabenauer, Gerhard, Dr. med. Universitätsklinikum Erlangen Universitäts-Strahlenklinik Universitätsstraße 27 D-91054 Erlangen
Graefen, Markus, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum HamburgEppendorf (UKE) Martini-Klinik, Prostatakrebszentrum Martinistraße 52 D-20246 Hamburg
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) Martini-Klinik, Prostatakrebszentrum Martinistraße 52 D-20246 Hamburg
Hahn, Stephan, Prof. Dr. med. Ruhr-Universität Bochum, Zentrum für Klinische Forschung (ZKF) Molekulare Gastroenterologische Onkologie Universitätsstraße 150 44780 Bochum
Hallek, Michael, Prof. Dr. med. Universität zu Köln Klinik I für Innere Medizin Kerpener Straße 62 D-50937 Köln
Handl-Zeller, Leonore, Univ.-Prof. Dr. med. Medizinische Universität Wien, Allgemeines Krankenhaus Wien Universitätsklinik für Strahlentherapie Währinger-Gürtel 18–20 A-1090 Wien
Hehlmann, Rüdiger, Prof. Dr. med. Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg III. Medizinische Klinik Pettenkoferstraße 22 D-68169 Mannheim
Heinemann, Volker, Prof. Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Medizinische Klinik und Poliklinik III Marchioninistraße 15 D-81377 München
Heinz-Peer, Gertraud, Prof. Dr. med. Universitätsklinik für Radiodiagnostik Klinische Abteilung für Radiodiagnostik Währinger Gürtel 18-–20 A-1090 Wien
Hengst, Ludger, Prof. Dr. rer. nat. Medizinische Universität Innsbruck Biozentrum, Sektion für Medizinische Biochemie Fritz-Pregl-Straße 3 A-6020 Innsbruck
Herth, Felix, Prof. Dr. med. Thoraxklinik am Universitätsklinikum Heidelberg Amalienstraße 5 D-69126 Heidelberg
Hero, Barbara, Dr. med. Uniklinik Köln, Klinik und Poliklinik für Allgemeine Kinderheilkunde Pädiatrische Onkologie und Hämatologie Kerpener Straße 62 D-50924 Köln
Hanekop, Gerd-Gunnar, Dr. med. Graf, Norbert, Prof. Dr. med. Universitätsklinik für Kinder und Jugendmedizin Pädiatrische Hämatologie und Onkologie Campus Homburg, Gebäude 9 D-66421 Homburg
Universitätsmedizin Göttingen Zentrum Anaesthesiologie, Rettungsund Intensivmedizin Robert-Koch-Straße 40 D-37075 Göttingen
Herold, Ralf, Dr. med. Charité Berlin, Campus Virchow-Klinikum Koordinationszentrale Kompetenznetz, Pädiatrische Onkologie u. Hämatologie Augustenburger Platz 1 D-13353 Berlin
Harbeck, Nadia, Prof. Dr. med. Grasl-Kraupp, Bettina, Prof. Dr. med. Klinik für Innere Medizin 1 Medizinische Universität Wien Institut für Krebsforschung Borschkegasse 8a A-1090 Wien
Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der Universität Köln Brustzentrum Köln/Frechen Kerpener Straße 34 D-50931 Köln
Hiddemann, Wolfgang, Prof. Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Medizinische Klinik und Poliklinik III Marchioninistraße 15 D-81377 München
XXXVIII Autorenverzeichnis
Himsl, Isabelle, Dr. med.
Huber, Heinz, Prof. Dr. med. em.
Kaboth, Ulrich, Prof. Dr. med.
Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Marchioninistraße 15 D-81377 München
Gletscherblick 52 A-6080 Innsbruck
Zum Loh 29 D-37079 Göttingen
Huland, Hartwig, Prof. Dr. med.
Kadmon, Martina, Dr. med.
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) Martini-Klinik, Prostatakrebszentrum Martinistraße 52 D-20246 Hamburg
Universitätsklinikum Heidelberg Chirurgische Klinik Klinik für Allgemein-, Viszeralund Transplantationschirurgie Im Neuenheimer Feld 110 D-69120 Heidelberg
Hochhaus, Andreas, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Jena Abt. Hämatologie und internistische Onkologie, Klinik für Innere Medizin II Erlanger Allee 101 D-07747 Jena
Huober, Jens, Prof. Dr. med. Senologiezentrum Ostschweiz SENZO Kantonsspital St. Gallen CH-9007 St. Gallen
Höffken, Klaus, Prof. Dr. med. Friedrich-Schiller-Universität Jena Universitätsklinikum Jena Bachstraße 18 D-07743 Jena
Hoelzer, Dieter, Prof. Dr. med. Onkologikum am Museumsufer Schaubstraße 16 D-60596 Frankfurt
Hoffmann, Christiane, Dr. med. Westfälische Wilhelms-Universität Universitäts-Kinderklinik Albert-Schweitzer-Straße 33 D-48129 Münster
Hoffmann, Ralf-Thorsten, Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München, Klinikum Großhadern Institut für Klinische Radiologie Marchioninistraße 15 D-81377 München
Iftner, Thomas, Prof. Dr. rer. nat. Universitätsklinikum Tübingen Institut für Med. Virologie Sektion Experimentelle Virologie Elfriede-Aulhorn-Straße 6 D-72076 Tübingen
Horneber, Markus, Dr. med. Medizinische Klinik 5 Klinikum Nürnberg Nord Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie Prof.-Ernst-Nathan-Straße 1 D-90419 Nürnberg
St. Bernward-Krankenhaus Med. Klinik II Treibestraße 9 D-31134 Hildesheim
Kaserer, Klaus, Prof. Dr. med. Universitätsklinik für Pathologie Klinische Abteilung für Pathologie Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien
Iro, Heinrich, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Erlangen Hals-Nasen-Ohren-Klinik, Kopfund Halschirurgie Waldstraße 1 D-91054 Erlangen
Issels, Rolf D., Prof. Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Medizinische Klinik und Poliklinik II Marchioninistraße 15, Helmholtz Zentrum München KKG Hyperthermie Marchioninistraße 25 D-81377 München
Horger, Marius, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Tübingen Radiologische Diagnostik Hoppe-Seyler-Straße 3 D-72076 Tübingen
Kaiser, Ulrich, Prof. Dr. med.
Jakobs, Tobias F., Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Institut für Klinische Radiologie Marchioninistraße 15 D-81377 München
Kath, Roland, Priv.-Doz. Dr. med. Philippusstift, Hülsmannstraße 17 D-45355 Essen Marienhospital Altenessen Medizinische Klinik I und Klinik für Hämatologie und Internistische Onkologie Hospitalstraße 24 D-45329 Essen
Kaufmann, Andreas M., Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Charité-Universitätsmedizin Berlin Klinik für Gynäkologie mit Schwerpunkt gynäkologischer Onkologie Hindenburgdamm 30 D-12203 Berlin
Kaufmann, Manfred, Prof. Dr. med. Klinikum der J.W. Goethe-Universität Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe Theodor-Stern-Kai-7 D-60596 Frankfurt am Main
Jäger, Elke, Prof. Dr. med. Nord-West Krankenhaus Steinbacher Hohl 2–26 D-60488 Frankfurt
Huber, Christoph, Prof. Dr. med.
Jäger, Ulrich, Prof. Dr. med.
Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz III. Medizinische Klinik Langenbeckstraße 1 D-55131 Mainz
Universitätsklinik für Innere Medizin I Klinische Abteilung für Hämatologie und Hämostaseologie Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien
Kegel, Thomas, Dr. med. Universitätsklinikum Halle (Saale) Innere Medizin IV, Onkologie/ Hämatologie Ernst-Grube-Straße 40 D-06120 Halle
Kettler, Dietrich, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Göttingen Zentrum Anästhesiologie, Rettungsund Intensivmedizin Robert-Koch-Straße 40 D-37075 Göttingen
XXXIX Autorenverzeichnis
Kiechle, Marion, Prof. Dr. med.
Kovar, Heinrich, Dr. med.
Kürzl, Rainer, Prof. Dr. med.
Technische Universität München Frauenklinik und Poliklinik des Klinikums rechts der Isar Ismaninger Straße 22 D-81675 München
St. Anna-Kinderspital Children’s Cancer Research Institute Kinderspitalgasse 6 A-1090 Wien
Klinikum der Universität – Innenstadt Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Maistraße 11 D-80337 München
Kowalski, Jens, Dr. med.
Lindner, Lars, Dr. med.
Schiffahrtsmedizinisches Institut Kopperpahler Allee 120 D-24119 Kronshagen
Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Medizinische Klinik und Poliklinik II Marchioninistraße 15 D-81377 München
Kienast, Jochen, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Münster Medizinische Klinik und Poliklinik A Albert-Schweitzer-Straße 33 D-48129 Münster
Kimmig, Rainer, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Essen Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Hufelandstraße 55 D-45122 Essen
Krakowitzky, Petra, Dr. med. Universitätsklinikum Münster Institut für Transfusionsmedizin und Transplantationsimmunologie Domagkstraße 11 D-48149 Münster
Lohmann, Dietmar, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Essen Institut für Humangenetik Hufelandstraße 55 D-45122 Essen
Kranz, Alexander, Dr. med. Klimm, Beate, Dr. med.
Medizinische Universität Wien, Allgemeines Krankenhaus Wien Universitätsklinik für Strahlentherapie Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien
Lordick, Florian, Priv.-Doz. Dr. med.
Universitätsklinikum Köln Klinik I für Innere Medizin Kerpener Straße 62 D-50937 Köln
Knuth, Alexander, Prof. Dr. med.
Krbek, Thomas, Dr. med.
Marmé, Alexander, Dr. med.
Universitäts-Spital Zürich Klinik und Poliklinik für Onkologie Rämistrasse 100 CH-8091 Zürich
Ruhrlandklinik Abteilung Thoraxchirurgie Tüschener Weg 40 D-45239 Essen
Universitäts-Frauenklinik Tübingen Calwerstraße 7 D-72076 Tübingen
Köhler, Christhardt, Prof. Dr. med.
Krempien, Robert, Prof. Dr. med.
Charité-Universitätsmedizin Berlin Klinik für Gynäkologie mit Schwerpunkt gynäkologischer Onkologie Hindenburgdamm 30 D-12203 Berlin
HELIOS Klinikum Berlin-Buch Klinik für Strahlentherapie Schwanebecker Chaussee 50 D-13125 Berlin
Klinikum Braunschweig Medizinische Klinik III Celler Straße 38 D-38114 Braunschweig
Marnitz, Simone, Priv.-Doz. Dr. med.
Maschmeyer, Georg , Prof. Dr. med. Krych, Matthäus, Dr. med.
Kolligs, Frank, Prof. Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Medizinische Klinik und Poliklinik II Marchioninistraße 15 D-81377 München
Korfee, Sönke, Dr. med. Universitätsklinikum Essen Klinik für Innere Medizin, Tumorforschung Hufelandstraße 55 D-45122 Essen
Kornek, Gabriela, Dr. med. Universitätsklinik für Innere Medizin I Abteilung Onkologie Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien
Charité Universitätsmedizin Klinik für Strahlentherapie Charitéplatz 1 D-10117 Berlin
Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Medizinische Klinik und Poliklinik III Marchioninistraße 15 D-81377 München
Klinikum Ernst von Bergmann Klinik für Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin, Zentrum für Hämatologie Onkologie und Strahlenheilkunde Charlottenstraße 72 D-14467 Potsdam
Kurtaran, Armir, Prof. Dr. med.
Meran, Johannes G., Prim. Prof. Dr. med.
Universitätsklinik für Nuklearmedizin Klinische Abteilung für Nuklearmedizin Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien
Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Medizinische Abteilung Große Mohrengasse A-1020 Wien
Kurzeder, Christian, Dr. med.
Meyer, Hans-Joachim, Prof. Dr. med.
Tumorzentrum München GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit Hämatologikum, Klinische Kooperationsgruppe für Gentherapie Thalkirchner Straße 48 D-80337 München
Städtisches Klinikum Solingen Lehrkrankenhaus der Universität Köln Chefarzt der Klinik für Allgemeinund Viszeralchirurgie Gotenstraße 1 D-42653 Solingen
XL
Autorenverzeichnis
Michl, Marlies, Dr. med.
Pallasch, Christian, Dr. med.
Riess, Hanno, Prof. Dr. med.
Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Medizinische Klinik und Poliklinik III Marchioninistraße 15 D-81377 München
Klinik I für Innere Medizin Universität zu Köln Joseph-Stelzmann-Straße 9 D-50924 Köln
Charité, Campus Virchow-Klinikum Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Hämatologie, und Onkologie Augustenburger Platz 1 D-13353 Berlin
Papadopoulos, Thomas, Prof. Dr. Möller, Peter, Prof. Dr. med. Universität Ulm Pathologisches Institut Albert-Einstein-Allee 11 D-89081 Ulm
Universität Erlangen-Nürnberg Institut für Pathologie Krankenhausstraße 8–10 D-91054 Erlangen
Parzefall, Wolfram, Prof. Dr. rer. nat. Mueller, Arthur J., Prof. Dr. med.
Riethmüller, Gert, Prof. Dr. med. em. Klinikum der Universität München Medizinische Klinik und Poliklinik II und Institut für Immunologie Goethestraße 29–31 D-80336 München
Klinikum Augsburg Klinik für Augenheilkunde Stenglinstraße 2 D-86156 Augsburg
Klinik für Innere Medizin 1 Medizinische Universität Wien Institut für Krebsforschung Borschkegasse 8a A-1090 Wien
Müller, Klaus-Michael, Prof. Dr. med. em.
Pientka, Ludger, Prof. Dr. med.
Ruhr-Universität Bochum an der Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinik Bergmannsheil GmbH Institut für Pathologie Bürkle-de-la-Camp-Platz 1 D-44789 Bochum
Klinikum der Ruhr-Universität Bochum Klinik für Altersmedizin und Frührehabilitation, Marienhospital Herne Widumer Straße 8 D-44627 Herne
Ritter, Jörg, Prof. Dr. med.
Poremba, Christopher, Prof. Dr. med.
Ruf, Tilla, Dr. oec. troph.
Wissenschaftspark Trier Zentrum für Histologie, Zytologie und Molekulare Diagnostik (ZHZMD) Max-Planck-Straße 18+20 D-54296 Trier
Deutsches Krebsforschungszentrum Nationales Centrum für Tumorerkrankungen Im Neuenheimer Feld 280 D-69120 Heidelberg
Müller-Hermelink, Hans Konrad, Prof. Dr. med. Luitpoldkrankenhaus Pathologisches Institut der Uni Würzburg, Josef-Schneider-Straße 2 D-97080 Würzburg
Philipps Universität, Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH Standort Marburg Klinik für Hämatologie, Onkologie und Immunologie Baldingerstraße D-35033 Marburg
Niederle, Bruno, Prof. Dr. med. Chirurgische Endokrinologie Universitätsklinik für Chirurgie Klinische Abteilung für Allgemeinchirurgie Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien
Ott, German, Prof. Dr. med. Robert-Bosch-Krankenhaus Institut für Klinische Pathologie Auerbachstraße 110 D-70376 Stuttgart
Georg-August-Universität Göttingen Urologische Klinik Robert-Koch-Straße 40 D-37075 Göttingen
Westfälische Wilhelms-Universität Universitäts-Kinderklinik Albert-Schweitzer-Straße 33 D-48129 Münster
Sauer, Hansjörg, Prof. Dr. med. Pötter, Richard, Univ.-Prof. Dr. med.
Neubauer, Andreas, Prof. Dr. med.
Ringert, Rolf-Hermann, Prof. Dr. med.
Medizinische Universität Wien Allgemeines Krankenhaus Wien Universitätsklinik für Strahlentherapie Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien
Propping, Peter, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Bonn Institut für Humangenetik Sigmund-Freud-Straße 25 D-53105 Bonn
Reiser, Maximilian, Prof. Dr. Dr. h. c. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Direktor des Instituts für klinische Radiologie Marchioninistraße 15 D-81377 München
Josef-Sterr-Straße 9 D-81377 München
Schalhorn, Andreas, Prof. Dr. med. em. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Medizinische Klinik und Poliklinik III Marchioninistraße 15 D-81377 München
Scheffold, Christian, Priv.-Doz. Dr. med. Universitätsklinikum Münster Medizinische Klinik und Poliklinik A Albert-Schweitzer-Straße 33 D-48129 Münster
Schima, Wolfgang, Univ.-Prof. Dr. med. Krankenhaus Göttlicher Heiland GmbH Dornbacher Straße 20–28 A-1170 Wien
Renner, Christoph, Priv.-Doz. Dr. med. Universitäts-Spital Zürich Klinik und Poliklinik für Onkologie Rämistrasse 100 CH-8001 Zürich
Schirra, Jörg, Prof. Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Medizinische Klinik und Poliklinik II Marchioninistraße 15 D-81377 München
XLI Autorenverzeichnis
Schlemmer, Marcus, Dr. med.
Selzer, Edgar, Univ.-Prof. Dr. med.
Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Medizinische Klinik und Poliklinik III Marchioninistraße 15 D-81377 München
Medizinische Universität Wien Allgemeines Krankenhaus Wien Universitätsklinik für Strahlentherapie Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien
Schmidmaier, Ralf, Dr. med.
Sendler, Andreas, Prof. Dr. med.
Kliniken der Universität München Klinikum Innenstadt Abteilung Hämatologie/Onkologie Ziemssenstraße 1 D-80336 München
Isar Medizin Zentrum Abteilung Viszeralchirurgie Sonnenstraße 24–26 D-80331 München
Sevelda, Paul, Prof. Dr. med. Schmoll, Hans-Joachim, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Halle (Saale) Innere Medizin IV, Onkologie/Hämatologie Ernst-Grube-Straße 40 D-06120 Halle
Krankenhaus der Stadt Wien-Lainz Abteilung für Gynäkologie Wolkersbergenstraße 1 A-1130 Wien
Sibrowski, Walter, Dr. med. Dr. Schneider, Achim, Prof. Dr. med. M.P.H. Charité-Universitätsmedizin Berlin Campus Charité Mitte und Campus Benjamin Franklin Klinik für Gynäkologie mit Hochschulambulanz Hindenburgdamm 30 D-12203 Berlin
Schneider, Claus-Peter, Dr. med. Zentralklinik Bad Berka GmbH Klinik für Pneumologie Robert-Koch-Allee 9 D-99437 Bad Berka
Schrappe, Martin, Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Campus Kiel, Klinik für Pädiatrie Schwanenweg 20 D-24105 Kiel
Universitätsklinikum Münster Institut für Transfusionsmedizin und Transplantationsimmunologie Domagkstraße 11 D-48149 Münster
Sieber, Markus, Dr. med. Kreiskrankenhaus Gummersbach Abteilung für Innere Medizin II Wilhelm-Breckow-Allee 20 D-51643 Gummersbach
Siewert, Jörg- Rüdiger, Prof. Dr. med. Dr. h. c. Technische Universität München Chirurgische Klinik und Poliklinik des Klinikums rechts der Isar Ismaninger Straße 22 D-81675 München
Simon, Babette, Prof. Dr. med. Schüler, Andreas, Dr. med. Universitätklinikum Essen Zentrum für Augenheilkunde Hufelandstraße 55 D-45122 Essen
Schulte-Hermann, Rolf, Prof. Dr. Dr. h. c. Klinik für Innere Medizin 1, Medizinische Universität Wien Institut für Krebsforschung Borschkegasse 8a A-1090 Wien
Philipps-Universität Biegenstraße 10–12 D-35037 Marburg
Spiekermann, Karsten, Priv.-Doz. Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Medizinische Klinik und Poliklinik III Marchioninistraße 15 D-81377 München
Stahl, Michael, Prof. Dr. med. Schütte, Jochen, Prof. Dr. med. Marien-Hospital Düsseldorf Klinik für Onkologie/Hämatologie Onkologisches Zentrum Rochusstraße 2 D-40479 Düsseldorf
Kliniken Essen Mitte, Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Duisburg-Essen Klinik für Internistische Onkologie und Hämatologie Henricistraße 92 D-45136 Essen
Stemmler, Hans Joachim, Priv.-Doz. Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Medizinische Klinik und Poliklinik III Marchioninistraße 15 D-81377 München
Steuber, Thomas, Priv.-Doz. Dr. med. Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) Martini-Klinik, Prostatakrebszentrum Martinistraße 52 D-20246 Hamburg
Stieber, Petra, Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Institut für Klinische Chemie Marchioninistraße 15 D-80337 München
Tannapfel, Andrea, Prof. Dr. med. Ruhr-Universität Bochum Institut für Pathologie Bürkle-de-la-Camp-Platz 1 D-44789 Bochum
Thol, Felicitas, Dr. med. Medizinische Hochschule Hannover Klinik für Hämatologie, Hämostaseologie Onkologie und Stammzelltransplantation Carl-Neuberg-Straße 1 D-30625 Hannover
Thomas, Michael, Prof. Dr. med. Thoraxklinik am Universitätsklinikum Heidelberg Abteilung Onkologie/Innere Medizin Amalienstraße 5 D-69126 Heidelberg
Tonn, Jörg Christian, Prof. Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Neurochirurgische Klinik und Poliklinik Marchioninistraße 15 D-81377 München
Trumm, Christoph, Dr. med. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Institut für Klinische Radiologie Marchioninistraße 15 D-81377 München
XLII
Autorenverzeichnis
Trümper, Lorenz, Prof. Dr. med.
Weitz, Jürgen, Prof. Dr. med.
Wilke, Hansjochen, Prof. Dr. med.
Universitäts-Krebszentrum Göttingen – CCC Abteilung Hämatologie und Onkologie Robert-Koch-Straße 40 D-37099 Göttingen
Klinik für Allgemeine, Viszerale und Transplantationschirurgie, Chirurgische Universitätsklinik Sektion Chirurgische Onkologie Im Neuenheimer Feld 110 D-69120 Heidelberg
Kliniken Essen-Mitte Abteilung Innere Medizin/Onkologie Henricistraße 92 D-45136 Essen
Untch, Michael, Prof. Dr. med. Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Charité Frauenklinik, Interdisziplinäres Brustzentrum Schwanebecker Chaussee 50 D-13125 Berlin
Wendt, Thomas G., Prof. Dr. med. Universitätsklinikum Jena Klinik für Strahlentherapie und Radioonkologie Bachstraße 18 D-07743 Jena
Vierhapper, Heinrich, Prof. Dr. med. Universitätsklinik für Innere Medizin III Klinische Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien
Wendtner, Clemens-Martin, Prof. Dr. med. Klinik I für Innere Medizin Universität zu Köln Kerpener Straße 62 D-50937 Köln
Vogelsang, Holger, Priv.-Doz. Dr. med. Klinikum Garmisch- Partenkichen GmbH Allgemein-, Viszeral, Thoraxund Endokrine Chirurgie Auenstraße 6 D-82467 Garmisch-Partenkirchen
Waldfahrer, Frank, Dr. med. Universitätsklinikum Erlangen Hals-Nasen-Ohren-Klinik, Kopfund Halschirurgie Waldstraße 1 D-91054 Erlangen
Wieland, Regina, Dr. med. Universitätsklinikum Essen, Zentrum für Kinder-und Jugendmedizin Klinik für Kinderheilkunde III Hämatologie/ Onkologie, Pulmologie, Kardiologie, Rheumatologie Hufelandstraße 55 D-45122 Essen
Wimberger, Pauline, Dr. med. Universitätsfrauenklinik Essen Hufelandstraße 55 D-45122 Essen
Wust, Peter, Prof. Dr. med. Charité Universitätsmedizin Klinik für Strahlentherapie Augustenburger Platz 1 D-13353 Berlin
Zech, Christoph J., Dr. Ludwig-Maximilians-Universität München Klinikum Großhadern Institut für Klinische Radiologie Marchioninistraße 15 D-81377 München
Zippelius, Alfred, Dr. med. Universitäts-Spital Zürich Klinik und Poliklinik für Onkologie Rämistrasse 100 CH-8001 Zürich
Zöller, Margot, Prof. Dr. med. Wiestler, Otmar D., Prof. Dr. med. Deutsches Krebsforschungszentrum Im Neuenheimer Feld 280 D-69120 Heidelberg
Chirurgische Universitätsklinik Heidelberg Abteilung Tumorzellbiologie Im Neuenheimer Feld 365 D-69120 Heidelberg
Wiethege, Thorsten, Dr. rer. medic.
Zöller, Gerhard, Prof. Dr. med.
BGFA – Forschungsinstitut für Arbeitsmedizin der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung Institut der Ruhr-Universität Bochum Bürkle-de-la-Camp-Platz 1 D-44789 Bochum
Klinikum Bad Hersfeld Klinik für Urologie und Kinderurologie Seilerweg 29 D-36251 Bad Hersfeld
Weber, Christof, Klinikum Deggendorf Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie Perlasberger Straße 41 D-94469 Deggendorf
Wedding, Ulrich, Dr. med. Universitätsklinikum Jena Klinik für Innere Medizin II, Abteilung Palliativmedizin Erlanger Allee 101 D-07747 Jena
Weidmann, Eckhart, Prof. Dr. med. Krankenhaus Nordwest Klinik für Onkologie und Hämatologie Steinbacher Hohl 2–26 D-60488 Frankfurt
Wilhelm, Christian, Dr. med. Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH Klinik für Hämatologie, Onkologie und Immunologie, Zentrum Innere Medizin Baldingerstraße D-35033 Marburg
Wilhelm, Martin, Prof. Dr. med. Medizinische Klinik 5, Klinikum Nürnberg Nord Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie Prof.-Ernst-Nathan-Straße 1 D-90419 Nürnberg
Zoubek, Andreas, Priv.-Doz. Dr. med. Kaiserin-Elisabeth-Straße 1–3 A-2344 Maria Enzersdorf
I
Allgemeiner Teil I Epidemiologie und Pathogenese 1 Was ist Krebs? – 3 W. Hiddemann, M. Feuring-Buske, L.H. Lindner, M. Krych, H. Huber, C.R. Bartram
2 Einteilung und Klassifikation maligner Erkrankungen – 17 H.K. Müller-Hermelink, T. Papadopoulos
3 Epidemiologie bösartiger Neubildungen
– 43
N. Becker
4 Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
– 67
C.R. Bartram
5 Disposition für erbliche Krebserkrankungen – 128 W. Friedl, P. Propping
6 Apoptose
– 151
K.-M. Debatin, S. Fulda
7 Zellzyklus
– 162
S. Geley, L. Hengst
8 Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese – 181 R. Schulte-Hermann, W. Parzefall
9 Kanzerogenese durch Viren R. Grassmann, T. Iftner, B. Fleckenstein
– 224
10 Krebserkrankungen als Folge ionisierender Strahlung – 241 S.E. Combs, J. Debus
11 Hormone und Krebs – 254 B. Grasl-Kraupp, W. Bursch, R. Schulte-Hermann
12 Rauchen und Krebs – 272 K.-M. Müller, T. Wiethege
13 Ernährung von Krebspatienten
– 281
T. Ruf
14 Angiogenese – 291 H.G. Augustin, S. Christian
15 Zellinvasion und Metastasierung – 308 M. Zöller
16 Tumorimmunologie
– 325
C. Renner, A. Zippelius, G. Riethmüller, A. Knuth
17 Prävention und Früherkennung R. Kath, W. Berger, C.P. Schneider, K. Höffken
– 346
1
1 Was ist Krebs? W. Hiddemann, M. Feuring-Buske, L.H. Lindner, M. Krych, H. Huber, C.R. Bartram
1.1
Krebs stellt eine zentrale medizinische und wissenschaftliche, aber auch sozialpolitische, finanzielle und menschliche Herausforderung dar – 4
1.2
Krebs ist eine »alte« Erkrankung
1.3
Krebs ist eine genetische Erkrankung
1.4
Krebs ist eine umweltbedingte Erkrankung
1.5
Wird die Krebsentstehung durch Ernährung und Lebensführung beeinflusst? – 9
1.6
Krebs ist eine Infektionskrankheit
– 10
1.7
Krebs ist ein mehrstufiger Prozess
– 10
1.8
Die Forschung bei Krebs ist eine interdisziplinäre Aufgabe und erfordert klinische Studien – 11
1.9
Krebs ist eine vermeidbare Erkrankung
–6 –6
1.10 Krebs ist eine behandelbare Erkrankung 1.11 Krebs ist eine teure Erkrankung 1.12 Krebs ist eine Lebenskrise Literatur – 16
– 16
– 14
–6
– 12 – 13
1
4
Kapitel 1 · Was ist Krebs?
1.1
Krebs stellt eine zentrale medizinische und wissenschaftliche, aber auch sozialpolitische, finanzielle und menschliche Herausforderung dar
In den vergangenen hundert Jahren hat die Anzahl von Menschen, die an Krebs erkranken und an bösartigen Tumoren versterben erheblich zugenommen. Die aktuelle Schätzung des Robert-Koch-Instituts weist für das Jahr 2004 insgesamt 436.500 Krebsneuerkrankungen in Deutschland aus (Männer 230.500, Frauen 206.000). Die häufigsten Krebslokalisationen bei den Männern sind Prostata (58.570) und Darm (37.250), bei den Frauen sind es die Brustdrüse (57.230) und der Darm (36.000). In demselben Jahr verursachten Krebserkrankungen 208.824 Todesfälle (Männer 110.745, Frauen 98.079). Die Gesamtzahl der Krebsneuerkrankungen blieb bei den Frauen gegenüber dem Jahr 2002 unverändert. Bei Männern traten im Vergleich zur vorangegangenen Schätzung etwa 12.000 Neuerkrankungen mehr auf. Ursachen für diesen Anstieg bei den Männern sind u. a. in der veränderten Altersstruktur und im Anstieg der Zahl der Prostatakrebsneuerkrankungen (um etwa 10.000) zu suchen, der vor allem auf den vermehrten Einsatz der sog. PSA-Bestimmung im Blut als Voruntersuchung zur Früherkennung zurückgehen dürfte. Mehrere Millionen von Menschen befinden sich unter Therapie oder sind in Nachbeobachtung nach einer abgeschlossenen Behandlung. Während zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts ca. 10% aller Todesfälle auf eine Krebserkrankung zurückzuführen waren, beträgt der entsprechende Anteil heute ca. 29% mit weiter steigender Tendenz. Krebserkrankungen sind damit nach den Herz-Kreislauf-Krankheiten die zweithäufigste Todesursache und werden in absehbarer Zeit an der Spitze der Mortalitätsursachen stehen. Dieser Trend wird durch die Tatsache weiter verstärkt, dass die durch kardiale Erkrankungen bedingte Mortalitätsrate in den letzten 40 Jahren um etwa 45% zurückgegangen ist, während die krebsbedingten Todesfälle erst in den letzten wenigen Jahren zu sinken beginnen. Die aus diesen Daten bei oberflächlicher Betrachtung abzuleitende Vermutung, dass der Anstieg der Tumorkrankheiten durch schädliche Umwelteinflüsse bedingt sei, ist jedoch mit Ausnahme des Bronchialkarzinoms falsch. Er ist vielmehr darauf zurückzuführen, dass bösartige Tumoren Erkrankungen des höheren Lebensalters sind und dass der Anteil älterer Menschen kontinuierlich zugenommen hat. Mehr als zwei Drittel aller
Krebskrankheiten treten bei Menschen jenseits des 65. Lebensjahres auf (. Abb. 1.1). Bezieht man die Erkrankungsrate auf das Lebensalter, so ist die Inzidenz von Krebserkrankungen in den vergangenen Jahrzehnten konstant, in einigen Fällen wie dem Magenkarzinom sogar rückläufig. Der zunehmenden Zahl von krebskranken Menschen steht ein erhebliches Defizit in der Versorgung und Ausbildung entgegen. Nach Schätzungen aus den USA sind pro 100.000 Einwohner 1,8 medizinische Onkologen für eine adäquate Versorgung erforderlich (American Society of Clinical Oncology 1996). Nach neueren Schätzungen liegt dieser Bedarf sogar noch deutlich höher (Eastman 1998). In Deutschland sind demgegenüber derzeit 1.213 Ärztinnen und Ärzte mit der Teilgebietsbezeichnung Hämatologie und internistische Onkologie, entsprechend 0,39% aller Ärzte bzw. 0,011 medizinischen Onkologen pro 100.000 Einwohner tätig (. Abb. 1.2; http://www.bundesärztekammer.de). Während an fast allen Universitäten entsprechende Lehrstühle und Abteilungen eingerichtet sind, sind in den Versorgungskrankenhäusern Abteilungen für Hämatologie und Onkologie deutlich unterrepräsentiert. Selbst wenn man bedenkt, dass Patienten mit malignen Erkrankungen in Deutschland auch von anderen Fachgebieten wie beispielsweise der Gynäkologie, der Urologie, der Gastroenterologie oder der Strahlentherapie kompetent betreut werden, lassen die genannten Daten ein erhebliches Defizit in der Versorgung tumorkranker Menschen in Deutschland erkennen. Sie zeigen ferner, dass ein erhebliches Gefälle zwischen onkologischen Zentren an großen Kliniken und der Peripherie besteht. Dieses Defizit überträgt sich in eine deutlich schlechtere Prognose von tumorkranken Menschen in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. So liegt die mittlere 5-Jahres-Überlebenszeit im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten in Deutschland bei Männern an dritter und bei Frauen an achter Stelle (. Abb. 1.3; Coleman 2003). Es bedarf daher vermehrter Anstrengungen, um die Kenntnisse über die Entstehung, Diagnostik und Therapie maligner Erkrankungen, aber auch deren Nachkontrolle und Prävention zum Basiswissen jeden Arztes zu machen und auch um die Zahl qualifizierter Ärzte und Einrichtungen dem Bedarf anzupassen. Da unser Wissen über Tumorerkrankungen rasch zunimmt und sich dank moderner wissenschaftlicher Methoden sowohl die pathogenetischen Erkenntnisse als auch die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten in kurzer Zeit wesentlich erweitern, ist eine kontinuierliche Weiterbildung für jeden Arzt zwingend erforderlich (American Society of Clinical Oncology 1998).
. Abb. 1.1. Inzidenz bösartiger Neubildungen in Deutschland 2004
Behandlungskosten
5 1.1 · Krebs stellt eine zentrale medizinische und wissenschaftliche Herausforderung dar
1
. Abb. 1.2. In der Versorgung tätige Ärzte in Deutschland (Stand 31.12.2006)
. Abb. 1.3. EUROCARE-3: Altersstandardisiertes relatives 5-Jahres-Überleben (%)
Das vorliegende Buch soll dazu einen Beitrag leisten und die aktuellen Erkenntnisse auf einer breit angelegten Basis vermitteln. Es kann dabei trotz aller Bemühungen von Autoren und Herausgebern selbstverständlich nur den Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Erstellung und Drucklegung dieses Werkes wiedergeben und entbindet nicht von der Verpflichtung zu einer kontinuierlichen Verfolgung aktueller Ergebnisse in entsprechenden Publikationen. Diese Verpflichtung und die Notwendigkeit einer umfassenden Kenntnis über bösartige Erkrankungen leitet sich jedoch nicht nur vom Gesichtspunkt der medizinischen Versorgung ab. Die Vorbeugung, Diagnostik und Therapie bösartiger Tumoren bedarf auch des Einsatzes erheblicher finanzieller Ressourcen. Sie in adäquatem Maß bereitzustellen, ist Aufgabe der Gesundheitsbehörden und der Krankenkassen. Sie zum Wohle des Patienten und in fachlich und ökonomisch angemessener Weise einzusetzen, ist Aufgabe der Ärzte. Darüber hinaus gilt es, das Bewusstsein der Gesellschaft für Krebs zu sensibilisieren und Vorurteile abzubauen. Die Diagnose Krebs ist heute nicht zwangsläufig einem Todesurteil gleichzu-
setzen. Auch haben geläufige Behandlungsformen wie insbesondere die zytostatische Chemotherapie viel von ihrem Schrecken verloren. Noch wichtiger ist es jedoch, die existenzielle Lebenskrise zu erkennen, mit der viele Menschen bei der Diagnose einer bösartigen Erkrankung konfrontiert werden. Durch die Diagnose einer Krebserkrankung werden viele Menschen erstmals gezwungen, sich mit der Endlichkeit des eigenen Lebens auseinanderzusetzen. Sie müssen erfahren, dass Gesundheit kein selbstverständliches Gut, sondern ein Geschenk ist und dass Krankheit und Tod natürliche Elemente und Bestandteile unseres Lebens sind. Gerade in unserer modernen Gesellschaft, die diese Aspekte verdrängt und aus dem allgemeinen Bewusstsein ausgrenzt, werden krebskranke Menschen oft isoliert und stehen in der Auseinandersetzung und Bewältigung einer lebensbedrohlichen Krankheit häufig alleine. Krebskrankheiten stellen damit eine zentrale medizinische, wissenschaftliche, aber auch sozialpolitische, finanzielle und menschliche Herausforderung dar. Das vorliegende Buch soll dazu beitragen, dieser Herausforderung zu begegnen und Krebskrankheiten einen Teil ihres Schreckens zu nehmen.
1
6
Kapitel 1 · Was ist Krebs?
1.2
Krebs ist eine »alte« Erkrankung
Bei der archäologischen Ausgrabung der Vogelherdhöhle bei Stetten ob Lonetal auf der Schwäbischen Alb wurde von Gustav Riek im Sommer des Jahres 1931 der Schädel eines frühen Menschen geborgen. Die Datierung des Fundes ergab ein Alter von 32.500 Jahren vor unserer Zeit. 2002 gelang es Alfred Czarnetzki, einem Paläoanthropologen der Universität Tübingen, nachzuweisen dass dieser Mensch an einem Meningeom gestorben war (Weber 2002). Auch aus der vorchristlichen ägyptischen und griechischen Kultur sind zahlreiche Schilderungen bösartiger Erkrankungen überliefert. Krebs ist damit keine Erkrankung der Neuzeit, sondern begleitet die Menschheit wahrscheinlich von ihrem Beginn an. Krebserkrankungen sind auch nicht allein auf den Menschen begrenzt. Sie kommen bei allen taxonomischen Gruppen der Gewebstiere (Eumetazoa) vor, d. h. neben dem Menschen auch bei Intervertebraten, Vertebraten und bei Hohltieren (Krieg 1973). Die Bezeichnung »Krebs« wurde von griechischen Ärzten geprägt. Sie leitete sich von einer Erscheinungsform des Mammakarzinoms ab, bei der oberflächlich sichtbare, gestaute Venen eine an einen Krebs erinnernde Form aufweisen. Das griechische Wort für das seitwärts laufende Schalentier, »karkinos«, ist zudem die Wurzel für das Fachwort Karzinom. Betrachtet man die Häufigkeit von Krebskrankheiten in Relation zum Alter, dann zeigt sich, dass 60% aller Neuerkrankungen bei Menschen jenseits des 65. Lebensjahres auftreten. Die Zunahme der Krebserkrankungsrate mit steigendem Alter lässt einerseits vermuten, dass maligne Erkrankungen über einen langen Zeitraum entstehen, unterstreicht andererseits jedoch auch, dass der Organismus offensichtlich über hoch wirksame Mechanismen verfügt, die die Entstehung einer bösartigen Geschwulst über lange Zeit verhindern oder zumindest verzögern. Die Ursachen für das Versagen der körpereigenen Abwehrmechanismen gegen die Entstehung einer bösartigen Erkrankung sind weitgehend unbekannt. Es ist jedoch anzunehmen, dass diesem Prozess ein multifaktorielles Geschehen zugrunde liegt, das sowohl aus körpereigenen als auch externen Komponenten besteht.
1.3
Krebs ist eine genetische Erkrankung
Bereits 1913 beobachtete der amerikanische Pathologe Warthin in einer Stuttgarter Familie eine ausgeprägte Häufung von Endometrium- und Magenkarzinomen (Warthin 1913). In der gleichen Familie wurden später vor allem kolorektale Karzinome gefunden. Aus dieser Beobachtung leitete sich die Erkenntnis ab, dass ein Teil bösartiger Erkrankungen auf prädisponierenden inhärenten genetischen Alterationen beruht. Am intensivsten untersucht wurde dabei das familiär gehäufte Auftreten von Adenokarzinomen des Kolons und Endometriums. Dieses wurde zunächst als »cancer family syndrome« (CFS), später als LynchSyndrom (Lynch 1966) und heute als HNPCC (»hereditary nonpolyposis colorectal cancer«) bezeichnet (Vasen et al. 1991). Die Arbeitsgruppen von Vogelstein und de la Chapelle lokalisierten 1993 mit HNPCC assoziierte Gene auf dem Chromosom 2 (Aaltonen et al. 1993). Weitere Prädispositionsgene (derzeit 6 für HNPCC), die, bei vorliegender Mutation in der Keimbahn, ihre Träger zu Neoplasien prädisponieren, wurden identifiziert und sequenziert.
1969 identifizierten F.E. Li und J.F. Fraumeni bei einer Analyse von über 600 Kindern mit Rhabdomyosarkomen 5 Familien, in denen zahlreiche weitere Tumoren, vor allem Mammakarzinome, auftraten (Li 1969). 1981 entdeckte Wiglers Gruppe RAS als erstes krebsinduzierendes Onkogen in menschlichen Zellen. Das RAS-Gen (»ratsarcoma«) ist ein Protoonkogen. Das von ihm kodierte Protein ist ein Element in der Signaltransduktionskaskade, bei der Informationen über einen Rezeptor auf der Zelloberfläche bis zum Kern weitergegeben werden. Ist das Gen verändert, kommt es zu einer dauerhaften Aktivierung von Proliferationssignalen und in der Folge zur Vermehrung von Tumorzellen. Die höchste Frequenz (90%) von RAS-Mutationen findet sich beim Pankreaskarzinom. Veränderungen im RAS-Gen finden sich auch bei akuten myeloischen Leukämien (AML) und anderen malignen Erkrankungen des blutbildenden Systems. M.C. King und Mitarbeiter machten 1990 die entscheidende Beobachtung, dass das familiäre Auftreten des Mammakarzinoms in einigen Fällen mit dem Chromosomensegment 17q12–21 gekoppelt ist (Hall et al. 1990). Diese Entdeckung führte 1994 zur Identifizierung des BRCA1-Gens (Miki et al. 1994), wenig später gelang auf dem Chromosom 13 die Identifizierung des zweiten Brustkrebsgens BRCA2 (Wooster et al. 1995). Derzeit wird davon ausgegangen, dass ca. 10% aller Krebserkrankungen durch prädisponierende genetische Alterationen mitbedingt werden. Der Mehrzahl maligner Erkrankungen liegen jedoch erworbene und nicht prädisponierende genetische Veränderungen zugrunde (Knudson 1997). Die Identifikation angeborener genetischer Veränderungen, die für maligne Erkrankungen prädisponieren, vermittelt jedoch nicht nur neue Einblicke in die Ätiologie und Pathogenese bösartiger Tumoren, sondern ist auch die Grundlage für die Erkennung von Hochrisikogruppen und die Etablierung von ScreeningProgrammen und Früherkennungsmaßnahmen. Damit kann es möglich werden, eine wirksame Prophylaxe, zumindest aber Früherkennung zu betreiben und die Letalitätsrate zu senken. Aktuelle Informationen über das derzeit vorhandene genetische Wissen hereditärer Erkrankungen sind über das Internet einzusehen (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/Omim/searchomim.html).
1.4
Krebs ist eine umweltbedingte Erkrankung
Bereits vor ca. 200 Jahren wurde erkannt, dass luftgetragener Staub gesundheitliche Auswirkungen auf den Menschen hat. Sir Percival Pott bemerkte, dass Schornsteinfeger, die extrem hohen Rußkonzentrationen (luftgetragener Staub aus nicht vollständig verbranntem, organischem Brennmaterial) ausgesetzt waren, ungewöhnlich häufig an Hodenkrebs erkrankten (Goldberg 1985). Diese Erkrankungen wurden wahrscheinlich durch die im Ruß enthaltenen kanzerogenen Substanzen wie Benzo(a)pyren verursacht. In den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts folgten die ersten wirkungsbezogenen, epidemiologischen Studien, die einen deutlichen Zusammenhang zwischen atmosphärischer Gesamtschwebstaubbelastung und Atemwegserkrankungen bzw. Sterblichkeitsraten zeigten. Etwa zur gleichen Zeit erfolgten erste Messungen der Größenverteilung atmosphärischer, luftgetragener Partikel. 100 Jahre nach Pott konnte der Hallenser Chirurg Volkmann nachweisen, dass dem Teer kanzerogen wirkende Eigenschaften zukommen (Volkmann 1875). Den beiden japanischen Wissenschaftlern Yamagiwa und Ichi-
7 1.4 · Krebs ist eine umweltbedingte Erkrankung
1
. Abb. 1.4. Das »Zigarettenjahrhundert«
kawa gelang der direkte Nachweis der Kanzerogenität von Teer: Durch Aufpinseln von Steinkohleteer und Teerpräparaten auf die Haut von Kaninchen und Mäusen induzierten sie bereits 1918 Hautkrebs. Das eindrucksvollste Beispiel für eine umweltbedingte maligne Erkrankung ist das Bronchialkarzinom. Dem zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts rasch steigenden Nikotinkonsum durch Zigaretten folgte ca. 10–15 Jahre später eine parallel verlaufende Zunahme von Lungenkarzinomen (. Abb. 1.4). Nicht nur dieser zeitliche Zusammenhang, sondern auch der Nachweis von kanzerogenen Bestandteilen des Zigarettenrauchs belegte den kausalen Zusammenhang mit großer Eindeutigkeit. Es muss in diesem Zusammenhang anerkennend angemerkt werden, dass die vor allem in den USA angelaufenen »Antiraucherprogramme« bereits nach wenigen Jahren erste Erfolge erkennen ließen und zu einem deutlichen Rückgang der Erkrankungs- und Mortalitätsrate geführt haben. Nach einer Publikation von Thun und Jemal et al. (2006) nahm die alterskorrigierte Krebsmortalität in den USA seit 1991 ab. Gemäß diesem Editorial ergeben sich auch bei konservativen Annahmen eindrückliche Zahlen: 40% der Reduktion der Krebsmortalität bei den Männern oder fast 150.000 weniger Lungenkrebs-Todesfälle dürften mindestens auf das Konto des geringeren Zigarettenkonsums gehen (. Abb. 1.5). Der Zusammenhang zwischen chemischen Noxen und der Entstehung von Krebs wurde in den 70er Jahren von dem amerikanischen Wissenschaftler Bruce Ames nachgewiesen. Der von ihm entwickelte Mutagenitätstest mit diversen Stämmen von Salmonella typhimurium gehört zu den auch heute noch gängigsten Methoden der Mutagenitätsprüfung in der ersten Stufe. Das Testprinzip beruht darauf, dass in Anwesenheit mutagen wirkender Substanzen gehäuft Rückmutationen zum HIS+-Genotyp auftreten. Diese »Revertanten« wachsen auf Agarplatten, die nur Spuren von Histidin enthalten, zu Kolonien und können anschließend ausgezählt werden. Eine Erhöhung der Revertantenzahlen gegenüber den stammspezifischen Spontanraten (Lösemittelkontrollen) ist ein direktes Maß für die mutagene Wirkung der Testsubstanz. Im allgemeinen Bewusstsein kommt auch dem kanzerogenen Potenzial von radioaktiven Strahlen eine hohe Bedeutung zu.
Bereits 1926 wies Hermann J. Müller den Zusammenhang zwischen einer Exposition mit Röntgenstrahlen und einer Krebserkrankung nach, indem er zeigen konnte, dass es unter Bestrahlung zu einer Zunahme von Mutationen kommt. Für diese Analysen erhielt er 1946 den Nobelpreis. 1928 gelang Lewis Stadler der Nachweis, dass auch die Einwirkung ultravioletter Strahlung zur Mutation von Genen führt. Zahlreiche Wissenschaftler haben die Erkenntnis, dass radioaktive Strahlung zur Krebsentstehung beiträgt mit ihrer Gesundheit bezahlt. Prominentestes Beispiel ist die Mitentdeckerin der Radioaktivität Marie Curie (Marya Sklodowska, geb. 1867), zweifache Nobelpreisträgerin, die, nahezu erblindet, 1934 an einer Leukämie verstarb. Während das Risiko der derzeit in der bildgebenden Diagnostik verwendeten Strahlenbelastung i. Allg. deutlich überschätzt wird, wird die Exposition mit radioaktiven Strahlen aus dem Weltraum während Flugreisen in großer Höhe kaum als Risikofaktor realisiert. Kaum in der Öffentlichkeit wahrgenommene Untersuchungen zur deutlich erhöhten Rate von Früh- und Fehlgeburten bei weiblichen Flugbegleitern und die deutlich erhöhte Krebserkrankungsrate beim fliegenden Personal unterstreichen jedoch, dass diesem Faktor eine erhebliche Bedeutung zukommt. Diese wenigen Beispiele lassen erkennen, dass Umwelteinflüsse eine wesentliche Rolle bei einigen Krebserkrankungen spielen und dass gezielte Informations- und Präventionsmaß-
. Abb. 1.5. Rückgang der Krebsmortalität auch dank vermindertem Nikotinabusus
8
Kapitel 1 · Was ist Krebs?
1
Quelle: Bericht des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke und des World Cancer Research Fund (WCRF) . Abb. 1.6. Krebsprävention durch Ernährung
9 1.5 · Wird die Krebsentstehung durch Ernährung und Lebensführung beeinflusst?
1
. Abb. 1.6 (Fortsetzung)
nahmen zu einer wesentlichen Senkung der Erkrankungs- und Mortalitätsrate beitragen können.
1.5
Wird die Krebsentstehung durch Ernährung und Lebensführung beeinflusst?
Für viel Aufregung sorgten Ende 2002 Berichte über die krebserzeugende Wirkung von Acrylamid, das bisher nur als Plastikgrundstoff bekannt war. Diese Substanz entsteht, wenn stärkehaltige Lebensmittel bei höheren Temperaturen gebacken, gegrillt oder frittiert werden. Nach ersten Berichten einer schwedischen Forschergruppe haben inzwischen fast alle Behörden in Europa auf die mögliche Gesundheitsgefahr durch Acrylamid reagiert. In Deutschland informieren das Verbraucherministerium und das Bundesministerium für Risikobewertung auf ihren InternetSeiten über den aktuellen Stand. Eine immer wiederkehrende Frage zielt auf den möglichen Zusammengang zwischen bestimmten Ernährungsgewohnheiten und malignen Erkrankungen ab. Inwieweit Ernährung und Krebsentstehung bzw. auch Krebsprävention zusammenhängen, ist schwer zu beantworten. Einige Zusammenhänge sind jedoch erkennbar und in . Abb. 1.6 zusammengestellt. Eine der größten zurzeit durchgeführten Studien läuft seit Anfang der 90er Jahre in 7 europäischen Ländern, darunter auch in Deutschland. Im Rahmen der EPIC-Studie (European Investigation into Cancer and Nutrition) wurden europaweit rund
500.000 Menschen befragt und werden über einen Zeitraum von 15–20 Jahren nachuntersucht. Dabei soll erstmals umfassend geklärt werden, welche einzelnen Ernährungsfaktoren überhaupt und in welcher Menge entweder schädlich sind oder aber vor Krebs schützen. Insbesondere durch den Vergleich der in Europa teilweise sehr unterschiedlichen Ernährungstraditionen sollen hierdurch aussagekräftige Erkenntnisse möglich werden, die direkt in Empfehlungen zur Prävention einmünden sollen. Studienorte in Deutschland sind Heidelberg und Potsdam. Jeweils 20.000–30.000 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Menschen im Alter zwischen 35 und 64 Jahren wurden hier auf freiwilliger Basis mehrmals zu ihren Ernährungsgewohnheiten und ihrem Gesundheitszustand befragt. Blutproben, Angaben zu den Körpermaßen, Lebens- und Arbeitsgewohnheiten sollen mit einbezogen werden. In einer 2006 veröffentlichten Teilauswertung dieser Studie wurden vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke Daten von 130.633 Männern und 215.271 Frauen ausgewertet, die im Rahmen dieser Studie von 1992‒1998 Ernährungsprotokolle führten und Angaben zu ihren Lebensumständen gemacht haben. Während der 5,8-jährigen Nachbeobachtungszeit trat bei insgesamt 352 Studienteilnehmern (255 Männern und 97 Frauen) erstmals Mund-, Rachen-, Kehlkopf- oder Speiseröhrenkrebs auf. Die Studie gibt an, dass das Risiko für die genannten Krebsarten pro 80 Gramm täglich verzehrtem Obst und Gemüse um durchschnittlich 9% sinkt. Dieser Effekt war aber nur nachweisbar, wenn zuvor weniger als 300 Gramm Obst und Gemüse verzehrt wurden. Bei höherem
10
1
Kapitel 1 · Was ist Krebs?
täglichen Obst- und Gemüsekonsum führte eine weitere Verzehrmenge vermutlich zu keiner weiteren Risikoabsenkung. Die höhere Anzahl an erkrankten Männern wird dabei auf den generell bei Männern höheren Alkohol- und Zigarettenkonsum zurückgeführt (Boeing et al. 2006). Für einige wenige ernährungsbedingte Risikofaktoren ist der direkte Einfluss auf die Entstehung einer Krebserkrankung auch toxikologisch und/oder molekularbiologisch nachgewiesen. Solche Zusammenhänge lassen sich im Labor direkt belegen, wie es beispielsweise für Nitrosamine und die Auslösung von Magenkrebs gelang. Nitrosamine können entstehen, wenn Nitrate, etwa aus Düngerrückständen oder Pökelsalzen, mit Eiweißen in Lebensmitteln reagieren. In einer Studie aus den USA konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass deutlich übergewichtige Menschen ein signifikant höheres Risiko haben, an einer malignen Erkrankung zu versterben (Calle 2003). Ob dies durch eine bei Übergewicht veränderte Metabolisierung und vermehrte Entstehung von Kokarzinogenen oder die zum Übergewicht führende Ernährung selbst bedingt ist, bleibt derzeit offen.
1.6
Krebs ist eine Infektionskrankheit
Dass virale Erkrankungen zur Tumorentstehung führen bzw. beitragen können, wurde erstmals von Francis Peyton Rous (1879–1970) nachgewiesen. Er erhielt im Jahre 1966 für seine Entdeckungen auf dem Gebiet der tumorerzeugenden Viren den Nobelpreis für Medizin. In seinen Versuchen filterte er eine Anschwemmung von Krebszellen durch feinstmaschige Siebe, die nur winzige Teilchen, aber keine (Krebs-)Zellen durchließen. Im Jahre 1910 gelang es ihm schließlich erstmals, ein zellfreies Filtrat zu erzeugen. Er injizierte dieses Filtrat in gesunde Hühner, die dadurch erkrankten. Damit konnte Rous nachweisen, dass diese Substanz immer noch in der Lage war, Krebsgeschwüre zu übertragen, womit die Bestätigung erbracht war, dass das »Rous-Sarkom« durch ein bestimmtes Virus, das »RousSarkom-Virus« (RSV), hervorgerufen wird. Zu den beim Menschen bekannten Viren, die an der Karzinogenese beteiligt sind, gehören u. a. die humanen Papillomaviren (HPV, Zervixkarzinom), das Ebstein-Barr-Virus (EBV, Nasopharynxkarzinom in Südchina und Alaska endemisch, bzw. Burkitt-Lymphom in Äquatorialafrika endemisch) und das Hepatitis-Bund-C-Virus (hepatozelluläres Karzinom). Ein weiteres Beispiel für eine infektionsassoziierte maligne Erkrankung ist das MALT-Lymphom des Magens, das auf eine Infektion mit Helicobacter pylori zurückgeführt werden kann.
1.7
Krebs ist ein mehrstufiger Prozess
Anhand von Tierversuchen für Hautkrebs wurde bereits Anfang der 40er Jahre das Mehrstufenmodell der Karzinogenese erstellt. Nach diesem Modell geht man heute bei der Mehrzahl der Krebserkrankungen davon aus, dass nicht eine einzige Veränderung, sondern eine Kette von Ereignissen notwendig ist, um zur Entstehung einer Krebserkrankung zu führen. Dabei werden verschiedene Schritte unterschieden: Initiation, Promotion und Progression. Im ersten Schritt, der Initiation, entstehen potenzielle Tumorzellen, die sich phänotypisch nicht von gesunden Zellen unterscheiden. Im Verlauf der Promotion entstehen aus den
maligne transformierten Zellen morphologisch erkennbare, präneoplastische Zellen, aus denen sich in weiteren Schritten klinisch manifeste Tumoren entwickeln können. Das molekulare Prinzip promovierender Einflüsse scheint Veränderungen der Genexpression zu umfassen. Für die Progression sind wiederum irreversible aneuploide Chromosomenveränderungen charakteristisch (Pitot et al. 1989; Schulte-Hermann 1985). Eines der klassischen Modelle für die Mehrschrittpathogenese der Tumorentstehung wurde von Bert Vogelstein am Beispiel kolorektaler Karzinome entwickelt (Aaltonen et al. 1993; Kinzler u. Vogelstein 1996; Vogelstein et al. 1988). Kolonkarzinome entstehen normalerweise über eine Zeitspanne von Jahrzehnten und sind das Resultat von mehr als sieben verschiedenen genetischen Ereignissen. Die Vererbung eines einzigen veränderten Gens kann aber in einer erhöhten Prädisposition zur Entwicklung kolorektaler Karzinome resultieren, so bei der familiären adenomatösen Polyposis (FAP) und den hereditären nichtpolypösen kolorektalen Karzinomen (HNPCC). Es konnte gezeigt werden, dass der genetische Defekt bei der FAP die Rate der Tumorinitiation durch Störung der Funktion des APC-Gens erhöht. Tausende benigner Polypen werden gebildet, von denen jeder durch die sequenzielle Akkumulation weiterer Mutationen von RAS, P53 oder anderer Gene maligne entarten kann. Aufgrund der Vielzahl der Adenome ist die Wahrscheinlichkeit einer malignen Entartung massiv gesteigert. Das mediane Erkrankungsalter liegt bei 42 Jahren und damit 25 Jahre vor dem medianen Erkrankungsalter der Patienten mit sporadischem Kolonkarzinom. Bei der Gruppe der HNPCC liegen Keimbahnmutationen des Mismatch-Reparatur(MMR-)Systems vor. DNA-Reparaturproteine korrigieren die durch Umweltmutagene oder während der DNA-Replikation akzidentell entstandenen Basenfehler. Falls eine Keimbahnmutation in einem dieser Allele vorliegt, kommt es bei somatischem Verlust des zweiten normalen Allels nach der Knudson-Hypothese zu akkumulierenden DNA-Schäden in der entsprechenden Zelle (Knudson 1993). Diese DNA-Fehler sind dann um 2–3 Logstufen häufiger als in normalen Zellen. In der Folge kommt es zu einer unkontrollierten Zellteilung und malignem Zellwachstum. Interessanterweise liegt das mediane Erkrankungsalter dieser Patienten ebenfalls bei 42 Jahren. Das bedeutet, dass bei der FAP die Tumorinitiierung und bei der HNPCC die Tumorprogression gestört ist (Kinzler u. Vogelstein 1996). In verschiedenen Tumoren können einzelne Prozesse aber auch an unterschiedlichen Punkten sowie durch unterschiedliche Läsionen entstehen. So ist die Kontrolle des Zellzyklus durch den Retinoblastom-(RB-)Weg in humanen Karzinomen durch verschiedene genetische Veränderungen gestört. Neben den soliden Tumoren geht man nun auch zunehmend bei der Pathogenese hämatologischer Erkrankungen, wie der akuten myeloischen Leukämie (AML), von einem Mehrschrittmodell der Krankheitsentstehung aus. So gelang es anhand von Maustransplantationsmodellen sowie unter Verwendung immunsupprimierter Mausstämme als Xenograftmodelle für die humane Hämatopoese zu zeigen, dass eine Vielzahl von Fusionsgenen oder Mutationen als alleinige genetische Veränderung nicht ausreichend sind, um eine AML zu induzieren. Dies trifft sowohl auf das AML1-ETO- als auch auf das PMLRARα-Fusionsgen zu (Le Beau et al. 2002; Rhoades et al. 2000). Die häufige interne Tandemduplikation von FLT3 induziert ebenfalls keine AML, sondern führt im murinen System zu einer Myeloproliferation ohne Differenzierungsblock der myeloischen Reihe (Kelly et al. 2002). Allerdings führte die kombinierte Expression beider
11 1.8 · Die Forschung bei Krebs ist eine interdisziplinäre Aufgabe und erfordert klinische Studien
genetischer Alterationen zur Entstehung von akuten Leukämien in diesen murinen Modellen (Schessl et al, 2005). Translokationen, die NUP98, ein Mitglied des nukleären Porenkomplexes und Mitglieder der Familie der Homeoboxgene, wie z. B. HOXD13 involvieren, finden sich bei den Translokationen t(7;11), t(2;11) und t(1;11). Auch hier konnte an Maustransplantationsmodellen gezeigt werden, dass neben dem Fusionsgen die konstitutive Expression eines Kofaktors, wie MEIS1, vorliegen muss, um eine AML zu initieren (Pineault et al., Blood 2003). Somit verdichten sich die Hinweise, dass bei der großen Mehrzahl der AML wahrscheinlich mindestens zwei kritische genetische Veränderungen vorhanden sein müssen, die sowohl das normale Proliferationsals auch Differenzierungsprogramm früher hämatopoetischer Vorläuferzellen stören.
1.8
Die Forschung bei Krebs ist eine interdisziplinäre Aufgabe und erfordert klinische Studien
Das ständig zunehmende Wissen, die Komplexität der Erkenntnisse und die daraus resultierende Spezialisierung führen zu immer differenzierteren klinischen Entscheidungsabläufen, deren Kenntnis und Umsetzung hohe Anforderungen stellt. Je nach Fachgebiet geht man davon aus, dass sich das Wissen in einem Zeitraum von 5–20 Jahren grundlegend ändert. Dieser Wissenszuwachs schlägt sich allerdings nicht bei allen Erkrankungen in einer Verbesserung der Heilungsraten oder der 10-Jahres-überlebensraten nieder. Gründe hierfür können zumindest zu einem Teil darin liegen, dass der Austausch über relevante Fragen zwischen Klinik und Grundlagenforschung nur unzureichend gelingt. Dieser Austausch auf interdisziplinärer Ebene ist jedoch für die optimale Nutzung des Wissens und für dessen klinische Umsetzung unverzichtbar und verlangt, sowohl in der Forschung und Lehre als auch in der klinischen Anwendung, neue fächerübergreifende Strukturen, die das interdisziplinäre Denken und Handeln, Lehren und Forschen fördern. Die Trennung von Medizin und Biologie ist für beide Disziplinen gleichermaßen nachteilig. Auf dem Schwinden der Barrieren beim Übergang von der Maus zum Menschen bzw. von der Pipette zum Krankenhausbett beruht das Prinzip der translationalen Forschung, die sich Dank der aktuellen Fortschritte in der Molekularbiologie und Genomik rasch entwickelt. Einer der Pioniere der Interdisziplinarität war der Genetiker, Biophysiker und Nobelpreisträger Max Delbrück (1906–1981). Durch einen Vortrag von Niels Bohr über Licht und Leben wurde Delbrücks Interesse an der Biologie geweckt und er stellte die Frage, wie die Gene eines Lebewesens stabil bleiben, wenn sie von Strahlen getroffen und so verändert werden, dass Mutationen auftreten. Zur Beantwortung dieser Frage organisierte er Treffen von Wissenschaftlern, Physikern und Biologen und lud u. a. den russischen Genetiker Nikolai Wladimirovich Timofeeff-Ressovsky und den Physiker Karl Günter Zimmer zu privaten Treffen und Diskussionen ein. Daraus entwickelte sich die 1935 erschienene Schrift »Über die Natur der Genmutation und der Genstruktur«, in der Delbrück ein Genmodell vorschlug und einen ersten Schritt in Richtung moderner Molekularbiologie tat. Genau an diesem Beispiel der Medizin- und Genomforschung lässt sich zeigen, dass der klassische Fächerkanon überwunden wurde. So konnten Ähnlichkeiten zwischen der Genregulation von Wachstum und Differenzierung am Herzen, in Tumoren und in Blutgefäßen detektiert werden, die zeigen, dass
1
zumindest auf molekularer Ebene Krebs- und Kreislaufforschung vielfach identische Zielstrukturen betreffen und ein Austausch an Methoden und Ergebnissen notwendig und wünschenswert ist. Im Bereich der außeruniversitären Forschung stehen mit den Instituten der Max-Planck-Gesellschaft, der Fraunhofer-Gesellschaft, der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren und der Leibnitz-Gemeinschaft international anerkannte Forschungseinrichtungen zur Verfügung, die nicht nur untereinander im Austausch stehen sollten, sondern auch und vor allem mit den Universitäten zusammenarbeiten müssen. Neben der Durchführung erkenntnisorientierter Grundlagenwissenschaften müssen bestehende oder künftige klinische Fragen in die Forschung mit einfließen und muss die Trennung von grundlagenund anwendungsorientierter Forschung aufgegeben werden. Auf dem Gebiet der klinischen Forschung stehen Fragen zur Verbesserung der Krebsbehandlung mithilfe neu entwickelter Medikamente, aber auch optimaler therapeutischer Strategien (Operation, Bestrahlung und Chemotherapie) im Vordergrund. Der Standard zur Beantwortung dieser Fragen ist die Durchführung klinischer Studien. Die ethischen Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen sind in der Deklaration von Helsinki bereits 1964 festgelegt worden. Es existieren drei obligatorische Phasen eines klinischen Versuchs: In Phase-I-Studien wird eine neue, zunächst nur präklinisch getestete Substanz auf ihre Verträglichkeit hin überprüft. In der darauf folgenden PhaseII-Studie wird die Wirksamkeit und die Dosis der Behandlung bestimmt. Phase-III-Studien testen schließlich die Wirksamkeit des neuen Behandlungsansatzes im Vergleich zu herkömmlichen bzw. Standardtherapien. Dieser Vergleich sollte im optimalen Fall durch die zufällige Zuteilung der Patienten (Randomisation) erfolgen, wobei zwischen einer dem Arzt und Patienten bekannten und unbekannten (blinden) Strategie unterschieden wird. Diese klinischen Studien stellen die Brücke zwischen der Entwicklung einer neuen Substanz und ihrem Einsatz am Patienten dar und sind damit gleichermaßen die Verbindung zwischen theoretischer und angewandter Forschung. Zunehmend wird hierbei erkannt, dass neben den objektiven Kriterien des Tumoransprechens auch subjektive, patientenbezogene Kriterien in Form der Lebensqualität zur Bewertung herangezogen werden müssen. So kann eine neue Therapie zwar unter Umständen nicht zu einer Verlängerung des Lebens führen, die Lebensqualität des Patienten aber durchaus deutlich verbessern und damit als neuer Standard in zukünftige Behandlungen einfließen. Obwohl sicherlich nicht in Frage zu stellen ist, dass es sich bei dieser Form von klinischen Studien um einen adäquaten und notwendigen Ansatz zur Verbesserung der Behandlung von Krebspatienten handelt, schleusen weniger als 5% der Onkologen ihre Patienten in klinische Studien ein. Gründe hierfür liegen in dem höheren Aufwand, der für die Aufklärung des Patienten und die Dokumentation der Krankendaten erforderlich ist und dem gegenüberstehenden, vergleichsweise geringen Ansehen, das der klinischen Forschung noch immer zuteil wird. Aufgrund der Seltenheit mancher Tumorerkrankungen ist die Erlangung ausreichender Stichproben oft aber überhaupt nur auf der Basis multizentrischer, nationaler oder internationaler Studien möglich. Dass Deutschland gerade im Bereich der hämatologischen Onkologie mittlerweile auf eine mehr als 25-jährige Tradition multizentrischer Therapiestudien zurückblicken kann, ist in erster Linie einer initialen, zeitlich begrenzten Förderung derartiger Strukturen durch das damalige Bundesministerium für For-
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Kapitel 1 · Was ist Krebs?
schung und Technologie (BMFT), in der jüngeren Vergangenheit und aktuellen Gegenwart vor allem aber der Deutschen Krebshilfe zu verdanken, die multizentrische Therapiestudien in der Hämatologie und Onkologie mit erheblichen Mitteln unterstützt. Seit 1999 fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung Kompetenznetze, die über einen Zeitraum von bis zu 5 Jahren eine Anschubfinanzierung von maximal 2,5 Mio. Euro pro Jahr erhalten. Drei dieser Kompetenznetze befassen sich mit Krebserkrankungen: akute und chronische Leukämien (Koordinationszentrale Mannheim, http://www.kompetenznetz-leukaemie.de), maligne Lymphome (Koordinationszentrale Köln, http://www. lymphome.de) und Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (Koordinationszentrale Berlin, http://www.kinderkrebsinfo.de). Die geförderten Kompetenznetze sollen die wichtigsten, qualitativ besten und innovativsten Forschungseinrichtungen eines spezifischen Krankheitsbereiches zusammenfassen, um neue medizinische Problemlösungen schneller und effizienter entwickeln zu können (horizontale Vernetzung). Um die Zeitspanne der Umsetzung von Forschungsergebnissen in die Praxis, die derzeit bis zu 10 Jahre dauert, zu verkürzen, soll der Austausch zwischen Forschung und medizinischem Alltag verbessert werden (vertikale Vernetzung). Außerdem werden Methoden der Evaluation und Qualitätssicherung der klinischen Forschung und medizinischen Versorgung entwickelt sowie Abstimmungsverfahren etabliert. Ziel ist es, in den jeweiligen Krankheitsbereichen eine Kompetenz aufzubauen, die sowohl für die Öffentlichkeit als auch für die Fachwelt erkennbar und nutzbar ist (http://www.gesundheitsforschung-bmbf.de). Ein weiterer Ansatz zur Verbesserung der Durchführung und Auswertung klinischer Studien in Deutschland besteht im Aufbau von derzeit 12 Koordinierungszentren für Klinische Studien (KKS), die ebenfalls aus Bundes- und Landesmitteln finanziert werden. Aufgaben der KKS sind die Konzeption und Planung klinischer Studien, sowie die konkrete Durchführung, Auswertung und Präsentation der Ergebnisse (http://www.kksinfo. de). Auf europäischer Ebene stellt die seit nunmehr 40 Jahren bestehende »European Organisation for Research and Treatment of Cancer« (EORTC) die Organisation zur Durchführung klinischer Studien dar (http://www.eortc.de). Eines der Beispiele, wie Grundlagenforschung in eine innovative therapeutische Behandlung einmünden kann, ist die Entwicklung des Tyrosinkinase-Inhibitors STI (Glivec, Imatinib) für die Behandlung der chronisch myeloischen Leukämie (CML). Die CML entsteht durch die klonale Proliferation einer maligne transformierten pluripotenten hämatopoetischen Stammzelle. Sie ist zytogenetisch durch das Philadelphia-(Ph-)Chromosom charakterisiert, das im Rahmen der erworbenen reziproken Translokation zwischen den langen Armen der Chromosomen 9 und 22, t(9;22)(q34.1;q11.21) entsteht, charakterisiert. Auf molekularer Ebene liegen die Bruchpunkte auf Chromosom 9 im Bereich des ABL-Protoonkogens und auf Chromosom 22 im Bereich des BCR-Gens. Durch die Translokation t(9;22) kommt es zur Bildung eines chimären BCR-ABL-Gens, das in ein Fusionsprotein mit erhöhter Tyrosinkinaseaktivität translatiert. Die transformierenden Eigenschaften von BCR-ABL wurden in verschiedenen experimentellen murinen und humanen Systemen belegt. Entscheidend für die transformierenden Eigenschaften des chimären Proteins ist seine Eigenschaft einer konstitutiv aktiven Tyrosinkinase. Durch die erhöhte Tyrosinkinaseaktivität kann BCR-ABL verschiedene Substrate phosphorylieren und damit unterschiedliche Signaltransduktionskaskaden aktivieren,
die das Wachstum und die Differenzierung hämatopoetischer Zellen regulieren. Zu diesen Signaltransduktionswegen gehören die RAS, RAF, MAP und JAK/STAT Signalkette. Aufgrund der essenziellen Bedeutung der konstitutiven Tyrosinkinaseaktivität für das onkogene Potenzial von BCR/ABL ist diese ein geeignetes Ziel für pathogeneseorientierte Therapiekonzepte. STI571 (vormals CGP57148, jetzt Imatinib) inhibiert neben der ABL-Tyrosinkinase ebenfalls den Platelet-derived-growth-factor-Rezeptor (PDGF-R) und KIT, nicht aber andere Mitglieder der Typ-IIIRezeptortyrosinkinasen, wie FLT-3 und FMS. In ersten klinischen Studien induzierte STI571 hämatologische Remissionen in praktisch 100% der Patienten und in einem beträchtlichen Anteil der Patienten auch zytogenetische und molekulare Remissionen. Besonders bemerkenswert sind die Wirksamkeit auch bei Resistenz gegenüber dem bisherigen Standard Interferon α und in fortgeschrittenen Krankheitsphasen (Akzelerations- und Blastenphasen) sowie das weitgehende Fehlen von Nebenwirkungen. Die Entwicklung von STI zeigt somit beispielhaft, wie durch Anwendung pathogeneseorientierter Ansätze klinisch hocheffektive therapeutische Konzepte entwickelt werden können. Vergleichbare Ansätze wurden ebenfalls bei der Entwicklung des CD20-Antikörpers (IDEC-C2B8, Rituximab) in der Behandlung von Non-Hodgkin-Lymphomen verfolgt. Neben der interdisziplinären Kooperation von Klinik und Grundlagenforschung ist jedoch auch eine enge Kooperation zwischen klinischer Forschung, Kostenträgern, d. h. in erster Linie den Krankenkassen, und den Gesundheitsbehörden, d. h. den Gesundheits- und Sozialministerien, erforderlich. Aktuell ist die Situation durch erhebliche Vorbehalte gegenüber der klinischen Forschung in Form von klinischen Studien und dem Vorurteil geprägt, dass Ärzte und pharmazeutische Industrie gemeinsam weniger an der Weiterentwicklung der therapeutischen Optionen als vielmehr am Umsatz und Gewinn der Pharmaunternehmen interessiert seien. Diesem Vorurteil begegnen exemplarisch die seit fast 25 Jahren erfolgreich arbeitenden multizentrischen Therapiestudien bei Leukämien und Lymphomen, die zu entscheidenden Fortschritten in der Therapie dieser Erkrankungen beigetragen haben. Sie stellen ferner ein unverzichtbares Element der Qualitätssicherung dar und sind Garanten einer hoch effektiven, qualitativ hochwertigen und verantwortungsvollen Medizin. Diese interdisziplinären kooperativen Strukturen haben deutsche Arbeitsgruppen auf den genannten Gebieten in die Weltspitze geführt.
1.9
Krebs ist eine vermeidbare Erkrankung
Bei einigen Krebsarten können Lebensumstände und Gewohnheiten zur Krebsentstehung beitragen und sollten daher vermieden werden. Diese Lebensumstände betreffen den Nikotinkonsum, Alkoholkonsum, eine Gewichtsnormalisierung, den Schutz vor ausgeprägter UV-Exposition, eine ballaststoff- und vitaminreiche Ernährung, die Wahrnehmung von Krebsvorsorgeuntersuchungen, das Aufsuchen des Arztes bei andauernden Beschwerden und die Selbstkontrolle (Brustuntersuchung bei Frauen) und sind im Europäischen Kodex zur Krebsbekämpfung zusammengestellt worden. Unter diesen Maßnahmen spielt auch gesundheitspolitisch der Nikotinkonsum eine entscheidende Rolle: Schätzungen zufolge sind 25–30% aller Krebserkrankungen in den sog. Industrieländern auf Tabakkonsum zurückzuführen. In Europa, Japan und Nordamerika durchgeführte Studien haben gezeigt, dass zwischen 83
13 1.10 · Krebs ist eine behandelbare Erkrankung
und 92% der Lungenkrebserkrankungen bei Männern und 57–80% bei Frauen dem Zigarettenrauchen zuzuschreiben sind. 80–90% der Krebserkrankungen von Speiseröhre, Kehlkopf und Mundhöhle werden mit der Wirkung von Tabakerzeugnissen sowohl allein als auch in Verbindung mit Alkohol in Zusammenhang gebracht. In einer 2006 im »International Journal of Cancer« von D. Parkin publizierten Studie wurde eine große Zahl an Veröffentlichungen aus dem Jahre 2002 über weltweite Daten zu Krebsneuerkrankungen analysiert und festgestellt, in welchem Ausmaß Infektionen zu Krebs beitragen. Fast 20% der 1,9 Mio. jährlichen Neuerkrankungen werden durch verschiedenste Krankheitserreger ausgelöst. Zu den Hauptverantwortlichen zählen u. a. die Hepatitis-Viren B und C sowie humane Papillomviren. Auch wenn Parkin et al. nicht näher auf andere Risikofaktoren verweisen, macht das Ergebnis, dass etwa 80% der Krebsneuerkrankungen in den Dritte-Welt-Ländern auftreten, deutlich, wie wichtig es ist, solche krankheitsverursachenden Keime zu beseitigen (Parkin et al 2006). Neben Fortschritten auf dem Gebiet der Hygiene, Ernährung und Infektionstherapie stellen Schutzimpfungen – soweit verfügbar – die effektivsten Präventivmaßnahmen dar. So ist die gezielte Prophylaxe der Hepatitis B nur durch die aktive Immunisierung effektiv möglich. In Deutschland wurde 1982 mit der Schutzimpfung gegen Hepatitis B zunächst bei exponierten Personen mit erhöhtem HBV-Infektionsrisiko (z. B. medizinisches Personal) begonnen. Die Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) beinhalten darüber hinaus seit Oktober 1995 eine Hepatitis-B-Grundimmunisierung im Säuglings- und Kleinkindalter und das Nachholen der Grundimmunisierung bis dahin noch ungeimpfter Kinder und Jugendlicher möglichst vor der Pubertät, spätestens aber bis zum 18. Lebensjahr. Die STIKO empfiehlt aufgrund der vorhandenen Evidenz ebenso, zur Reduktion der Krankheitslast durch den Gebärmutterhalskrebs eine generelle Impfung gegen humane Papillomviren (Typen HPV 16, 18) für alle Mädchen im Alter von 12‒17 Jahren durchzuführen (Epidemiologisches Bulletin 12/07). Allerdings ist zu beachten, daß naturgemäß bislang noch nicht klar ist, wie sich die Impfung auf die Gesamtzahl der Zervixdysplasien auswirkt und wie die Langzeitwirkungen in dem geimpften Kollektiv sind. Geimpfte Personen sind in jedem Fall darauf hinzuweisen, dass deshalb die Früherkennungsmaßnahmen zum Gebärmutterhalskrebs unverändert in Anspruch genommen werden müssen.
1.10
Krebs ist eine behandelbare Erkrankung
Obwohl in der Bundesrepublik Deutschland mehr Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen als an Krebs versterben, wird die Diagnose Krebs vom Patienten und seinem Umfeld noch immer mit Hoffnungslosigkeit und Unheilbarkeit assoziiert. Die tatsächlichen Überlebensdaten zeigen jedoch, dass die Chancen, auch mit und nach einer Tumorerkrankung ein hohes Alter zu erreichen, immer besser werden. So sinkt die Zahl der Frauen, die an Krebs sterben, altersstandardisiert seit den frühen 50er Jahren kontinuierlich ab. Die einzige Ausnahme stellt das Bronchialkarzinom dar, dessen Häufigkeit gerade bei Frauen als Folge des Rauchens angestiegen ist. Die Krebssterblichkeit von Männern war dagegen von Anfang der 50er bis Mitte der 70er Jahre kontinuierlich angestiegen. Erst zu Beginn der 90er Jahre kehrte sich auch bei Männern der Trend um. Die Sterblichkeitsraten gehen seither zurück.
1
Zu diesen Entwicklungen haben mehrere Faktoren beigetragen. Dazu zählen die vor allem von Frauen zunehmend genutzten Vorsorgeuntersuchungen, die verbesserten Möglichkeiten der Diagnostik, die eine Erkennung maligner Erkrankungen in frühen Stadien erlauben und nicht zuletzt die Verbesserungen der therapeutischen Optionen. In allen drei Hauptsäulen der Therapie, d. h. der Operation, der Bestrahlung und der systemischen Chemotherapie wurden substanzielle Fortschritte erzielt. Aktuell entwickelt sich die Immuntherapie mit monoklonalen Antikörpern, aber auch in Form der zellulären Therapie zu einer vierten Behandlungssäule mit vielversprechenden Perspektiven. Dass Krebserkrankungen auch in fortgeschrittenen Stadien heilbar sind, sei durch einige besonders eindrucksvolle Beispiele unterstrichen. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang u. a. der Morbus Hodgkin, die akute lymphatische Leukämie des Kindesalters, die Promyelozytenleukämie und die Hodentumoren: Beispielhaft seien die Studien der Deutschen Hodgkin-Studiengruppe genannt, die stadienadaptierte Chemotherapieprotokolle entwickelt hat, die bei kombiniertem Einsatz von Chemound Strahlentherapie in den niedrigen Stadien mit einem Gesamtüberleben nach 5 Jahren von ca. 95% und in den intermediären und fortgeschrittenen Stadien von ca. 90% verbunden sind. Für diese Patientengruppen werden zukünftig Behandlungsstrategien entwickelt, die durch eine Reduktion der Therapie versuchen, die Spättoxizität der Behandlung zu reduzieren ohne die Heilungschancen zu verringern. Auch bei der Behandlung der akuten lymphatischen Leukämie (ALL) des Kindesalters wurden in den letzten 20 Jahren eindrucksvolle Fortschritte gemacht. Jährlich erkranken in der Bundesrepublik etwa 2.000 Kinder und Jugendliche neu an Leukämie. Noch vor 30 Jahren verstarben nahezu alle Kinder an dieser Erkrankung. Heute ist es möglich, mit modernen Therapieschemata Remissionsraten von über 95% und Heilungsraten von 80% zu erreichen. Dadurch ist die kindliche ALL zu einem Modell für die Heilbarkeit einer generalisierten, malignen Erkrankung mit alleiniger Chemotherapie geworden. Grundlage dieser Erfolge war die Entwicklung einer intensiven Kombinationschemotherapie begleitet von einer effektiven Prophylaxe von Rezidiven im Zentralnervensystem und von Verbesserungen der supportiven Therapie. 5% aller erwachsenen Patienten mit akuter myeloischer Leukämie (AML) weisen eine Translokation zwischen den Chromosomen 15 und 17 auf, die sich morphologisch als Promyelozytenleukämie manifestiert. Die Translokation t(15;17) fusioniert das Promyelozytenleukämiegen PML auf Chromosom 15 and das Retinolsäurerezeptor-α-Gen (RARα) auf Chromosom 17. Alle Promyelozytenleukämien scheinen das RARα-Gen zu involvieren, jedoch existieren neben PML andere Fusionspartner wie z. B. das PLZF-Gen bei der Translokation t(11;17) oder das NPM-Gen bei der Translokation t(5;17). PMLRARα scheint als aberranter Retinolsäurerezeptor zu fungieren und agiert als dominant negativer Inhibitor des Wildtyp RARα. Weiteres Resultat des Fusionsgens ist eine aberrante zelluläre Lokalisation des PML-Proteins, die durch All-trans-Retinolsäure (ATRA) normalisiert wird. Eine Therapie mit oraler ATRA führt zu einer hohen Rate (fast 90%) kompletter Remissionen dieser Untergruppe, die durch eine Chemotherapie konsolidiert werden müssen. Hodentumoren sind die häufigste bösartige Tumorerkrankung des jungen Mannes im Alter zwischen 20 und 40 Jahren und gleichzeitig eine der am besten heilbaren Tumorerkrankungen. Spätestens seit Lance Armstrong 3 Jahre nach Überstehen seiner
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1
Kapitel 1 · Was ist Krebs?
Hodentumorerkrankung, die vor Beginn der Therapie bereits zerebral und pulmonal metastasiert war, die Tour de France gewonnen hat, ist dies auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Während vor Einführung von Cisplatin in die Therapie von Hodentumoren die meisten Betroffenen an der Erkrankung verstarben, werden inzwischen insbesondere in frühen Stadien fast alle Patienten dauerhaft geheilt. Trotz dieser erfreulichen Entwicklungen gibt es auf dem Gebiet anderer Tumorerkrankungen noch sehr viel zu tun. Eines der häufigsten Karzinome beim Mann und zunehmend auch bei der Frau ist das Bronchialkarzinom. Es ist gleichzeitig eine der am schwierigsten zu behandelnden Tumorerkrankungen, zum einen aufgrund der meist späten Diagnosestellung und zum anderen aufgrund der schlechten Therapieoptionen. Fast zwei Drittel aller Fälle sind bereits bei der Erstdiagnose inoperabel. Von dem restlichen Drittel erweist sich ein Teil während der Operation als zu weit fortgeschritten, um vollständig entfernt werden zu können. Daher ist die Überlebensrate bei Lungenkrebs sehr niedrig: Insgesamt nur 5% aller Patienten leben noch nach 5 Jahren. 25% der Bronchialkarzinome sind kleinzellige Bronchialkarzinome und haben die mit Abstand schlechteste Prognose, da sie bereits in 80% der Fälle zum Zeitpunkt der Diagnose metastasiert sind. Das kleinzellige Bronchialkarzinom verdoppelt seine Zellen in nur 50 Tagen und wächst damit extrem schnell, was die späte Erkennung und schlechte Therapierbarkeit mit erklärt. Diese Beispiele lassen das breite Spektrum der Möglichkeiten, aber auch der Grenzen der modernen Tumortherapie erkennen. Insgesamt kann man derzeit davon ausgehen, dass sich von den jährlich insgesamt ca. 350.000–400.000 in Deutschland neu diagnostizierten Krebserkrankungen etwa die Hälfte in frühen, lokal begrenzten Stadien befinden. Mittels lokaler Behandlungsmaßnahmen, d. h. in erster Linie einer Operation, ggf. auch einer Bestrahlung, die je nach Risikoprofil durch eine adjuvante systemische Chemo- oder Hormontherapie ergänzt werden, sind ca. 80% dieser Patienten heilbar (. Abb. 1.4). Bei der anderen Hälfte der Fälle ist das Tumorstadium fortgeschritten und lokale Therapieverfahren sind alleine nicht mehr kurativ einsetzbar. Diese Patienten bedürfen einer systemischen, in der Regel zytostatischen Chemotherapie. Bei ca.10–15% der generalisierter Tumorerkrankungen ist eine systemische Chemotherapie mit einem kurativen Anspruch verbunden. Zu diesen Malignomen gehören u. a. die bereits erwähnten Hodentumoren, Lymphome und akute Leukämien. Bei weiteren ca. 30–40% aller Krebserkrankungen führt eine systemische Chemotherapie zu einer vorübergehenden Tumorrückbildung und signifikanten Lebensverlängerung. Zu dieser Gruppe gehören u. a. das Prostatakarzinom, das Mammakarzinom, die chronischen Leukämien und die Weichteilsarkome. Bei 25–30% aller Malignome, zu denen u. a. das Magenkarzinom, die kolorektalen Karzinome, das nichtkleinzellige Bronchialkarzinom und das maligne Melanom zählen, bewirkt die systemische Therapie eine Tumorrückbildung und zeitlich begrenzte Symptomlinderung und objektivierbare Verbesserung der Lebensqualität. Nur ca. 10–20% aller generalisierten Tumorkrankheiten sind in ihrem Verlauf derzeit schwer durch spezifische Therapiemaßnahmen zu beeinflussen. Dazu gehören z. B. das Leberkarzinom und das Pankreas-CA. Diese Übersicht verdeutlicht, dass ein therapeutischer Nihilismus bei Krebserkrankungen ungerechtfertigt ist und dass ein breites Spektrum von Antitumortherapien zur Verfügung steht. Sie lässt jedoch ebenfalls erkennen, dass es eingehender Kenntnisse sowohl über den Tumor selbst als auch über supportive The-
rapiemöglichkeiten bedarf, um die derzeit verfügbaren Behandlungsoptionen sinnvoll und zum Wohle des Patienten einzusetzen. Auch in den Fällen, in denen eine Beeinflussung des Tumorwachstums nicht oder nicht mehr möglich ist, stehen hoch wirksame Substanzen zur Linderung von Schmerzen und Leiden zur Verfügung. Die Behandlung von bösartigen Tumoren umfasst daher nicht nur die unmittelbar gegen den Tumor gerichteten Therapieverfahren, sondern auch Maßnahmen der Schmerzbekämpfung, der Ernährung und anderer supportiver Behandlungsoptionen. Dabei gilt es, neben der Tumorkontrolle die Lebensqualität des Patienten zu verbessern und den richtigen Weg zwischen Therapietoxizität und -effektivität einerseits und Erhalt oder Wiederherstellung einer guten Lebensqualität zu finden. Die weitere Zukunft der Onkologie wird bestimmt durch ein optimales Zusammenspiel von Grundlagenforschung und klinischer Forschung. Es ist das Ziel, bessere Therapieprotokolle zu entwickeln, die eine stadiengerechte und möglichst gezielte Elimination des Tumors erlauben und diese in eine optimale supportive Therapie einzubetten.
1.11
Krebs ist eine teure Erkrankung
Die Abschätzung der Behandlungskosten einer malignen Erkrankung ist komplex, da sowohl die direkten Kosten wie Medikamenten-, Personal-, Geräte-, oder Gebäudekosten berücksichtigt werden müssen als auch die indirekten Aufwendungen durch Arbeitsunfähigkeit und Beitragsausfälle. Zu den direkten, patientenspezifischen Kosten zählen vor allem die Aufwendungen für die Therapie, Laboranalysen, radiologische Untersuchungen und die Bereitstellung von entsprechenden Räumlichkeiten, von Personal und Geräten. Betrachtet man die Entwicklung in den USA, so haben sich dort die Kosten für die Krebsbehandlung innerhalb von 10 Jahren von 18,1 Mrd. US$ im Jahr 1985 auf 41,2 Mrd. US$ im Jahr 1995 mehr als verdoppelt. Die Zahl liegt damit aber immer noch unter 5% der insgesamt im Gesundheitswesen veranschlagten Kosten. Führend bei den Kostenverursachern sind die häufigsten Tumorentitäten Brustkrebs, Dick- bzw. Mastdarmkrebs, Lungenkrebs und Prostatakrebs. Rechnet man den Arbeitsausfall hinzu, so kommt man auf einen gesamtökonomischen Schaden von 143,5 Mrd. US$ pro Jahr durch Krebserkrankungen (http:// progressreport.cancer.gov). Ein besonderes Problem innerhalb der Krebstherapie stellt der Einsatz von Krebsmedikamenten außerhalb der Zulassung (»off label«) dar. Aufgrund der aufwendigen und kostspieligen Zulassungsverfahren für Medikamente und der raschen Weiterentwicklung innerhalb der Onkologie werden für einige Krebsmedikamente von der Pharmaindustrie keine Zulassungsverfahren mehr für die verschiedenen Einsatzgebiete angestrebt. Viele Onkologen sehen sich daher gezwungen, Krebsmedikamente außerhalb ihrer Zulassung einzusetzen. Dies führt zu einer Rechtsunsicherheit gegenüber den Krankenkassen, die sich teilweise weigern, Kosten für »off label« eingesetzte Medikamente zu übernehmen. Weiterhin ist es in der Krebstherapie üblich, Patienten innerhalb von Therapiestudien zu behandeln, um verbesserte Behandlungsregime zu etablieren. Auch hier bahnen sich Konflikte mit den Kostenträgern an, die mit dem Argument, dass die Kassen keine Forschung fördern dürfen, eine Kostenübernahme innerhalb einer Therapiestudie verweigern. Eine Übernahme der üblichen Behandlungskosten (»Versorgungsanteil«) durch
15 1.11 · Krebs ist eine teure Erkrankung
1
. Tab. 1.1. Geschätze Medikamentekosten für eine 8-Wochen-Therapie beim metastasierten Kolonkarzinom. (Nach Schrag 2004)
Kosten 8 Wochen
5FU/FS
5FU/FS Irinotecan
5FU/FS Oxaliplatin
5FU/FS Irinotecan Bevacizumab
5FU/FS Irinotecan Cetuximab
263 $
9381 $
11.889 $
21.399 $
30.790 $
5FU 5-Fluorouracil; FS Folinsäure
den Kostenträger, wobei studienspezifische Kosten (z. B. Zusatzuntersuchungen) durch die Pharmaindustrie getragen werden können, wäre hier wünschenswert (Bennet 2001). Neuartige Zytostatika oder Substanzen wie monoklonale Antikörper sind in der Regel teuer. In Anbetracht zunehmend begrenzter werdender Ressourcen im Gesundheitssystem wird die Bedeutung pharmakoökonomischer Untersuchungen als Entscheidungshilfe bei Fragen der Erstattungsfähigkeit, bei Aufnahme in Behandlungsrichtlinien, aber auch bei der optimalen Verteilung vorhandener Ressourcen im Rahmen neuer Entgeltungssysteme (Fallpauschalen, Sonderentgelte, DRG) immer wichtiger. Pharmakoökonomische Aspekte bei der Chemotherapie von soliden Tumoren sollen am Beispiel des Ovarialkarzinoms dargestellt werden. Die ausführlichsten Daten hierzu liegen aus den USA vor. Dort betrugen die durchschnittlichen 1-Jahres-Krankheitskosten 32.000 US$ für Patientinnen mit Metastasen und 21.000 US$ für Patientinnen mit lokoregionärer Erkrankung. Die Kostenanalyse umfasste die Krankenhausbehandlung, die qualifizierte Krankenpflege, die häusliche Versorgung, ambulante Serviceleistungen, die hausärztliche Versorgung, Hospizeinweisungen und sämtliche diagnostischen Maßnahmen bis einschließlich einen Monat vor Erstdiagnose. Bei einer mittleren 3-jährigen Lebenserwartung zeigte sich eine U-förmige Kostenkurve mit sehr hohen Kosten kurz nach der Diagnose und in den letzten Lebensmonaten der Patientin. Durch die Einführung des neuen Medikaments Paclitaxel ergaben sich für Kanada, USA und einige europäische Länder zusätzliche Kosten von 6.000–23.000 US$ pro zusätzlich gerettetem Lebensjahr (Deutschland 11.900 US$; Ihbe-Heffinger 2001). Innovative Therapien können aber umgekehrt auch ein großes Einsparpotenzial bieten. Ein Beispiel hierfür ist die Einführung von oral zu verabreichendem Capecitabin, das die übliche Infusionstherapie beim metastasierten kolorektalen Karzinom mit 5-Fluorouracil und Folinsäure ersetzen soll. In einer Phase-III-Studie konnte durch die ambulante Behandlung eine Ersparnis von 2.300‒5.000 Euro (nach Land) pro Patient erreicht werden (Twelves et al. 2001). Da in Deutschland bis zu 40% dieser Patienten stationär aufgenommen werden, ist hier das Einsparpotenzial besonders hoch anzusehen. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland mit 10,3% der Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt, BIP) für Gesundheitskosten knapp hinter der Schweiz mit 10,7%. Nur in den USA ist der Mittelaufwand mit 13,0% deutlich höher. Gefolgt wird Deutschland von Frankreich mit 9,5% und Dänemark mit 8,3%. Das Schlusslicht bilden Großbritannien mit 7,1% und Luxemburg mit 6,0% (Bundesamt für Statistik, Schweiz 2002). In wohl kaum einem anderen Sektor in der Medizin ist die Entwicklung von neuen, innovativen und effektiven Substanzen so rasch voranschreitend wie in der Onkologie. Bei Medikamenten, die für den palliativen Einsatz entwickelt worden sind, ist grundsätzlich nicht davon auszugehen, dass mit dem Einsatz der
Innovation die Behandlungskosten sinken werden. Durch neue wirksame Substanzen wird nicht nur das Überleben, sondern meist auch die Behandlungsdauer verlängert und es entstehen so höhere Kosten. Ein typisches Beispiel ist die Behandlung des metastasierten Kolonkarzinoms. Ohne Therapie lag das mediane Überleben bei 8 Monaten. Mit der Gabe von 5-Fluorouracil und Folinsäure stieg es auf 12 Monate . Durch die Addition von Irinotecan bzw. Oxaliplatin erreichte man ein 21-monatiges medianes Überleben, und eine weitere Erweiterung der Therapie um Bevacizumab hat diese Zeit weiter steigern lassen. Ist der Patient nach dieser Therapie progredient, ergeben sich weitere Möglichkeiten, z. B. durch den Einsatz des monoklonalen Antikörpers Cetuximab. Die geschätzten Kosten für 8 Wochen der jeweiligen Therapie zeigt . Tab. 1.1. Dieses Beispiel zeigt, dass das Spektrum wirksamer Therapieoptionen sehr umfangreich geworden ist. Dieser sehr positiven Entwicklung stehen jedoch die beschränkten Ressourcen im Gesundheitswesen gegenüber und verlangen den sparsamen und sinnvollen Einsatz der verfügbaren Mittel. Um eine Objektivierung der Behandlunskosten und eine leistungsbezogene Vergütung zu erreichen, wurden in Deutschland diagnosebezogene Fallpauschalen im stationären Bereich eingeführt (Abk. DRG, »diagonosis related groups«). Bestimmte Krankheitsentitäten – gegliedert nach Aufwand und Komorbidität – sind in einzelnen DRG zusammengefasst, für die das Krankenhaus einen pauschalen Betrag vergütet bekommt. Damit sollen im Wesentlichen drei Prinzipien verfolgt werden: 1. Das Geld folgt der Leistung und Krankenhäuser, die vornehmlich Patienten aus »teuren DRG« behandeln, bekommen eine bessere Vergütung. 2. Gleiches Geld für gleiche Leistung. Durch die landesweiten oder sogar bundesweiten Fallwerte werden gleiche Behandlungen einheitlich hoch vergütet. 3. Förderung der Wirtschaftlichkeit. Durch die Pauschale wird ein Ausgabenlimit gesetzt und gleichzeitig dem Krankenhaus überlassen, wie es mit diesem auf Krankheitsentitäten bezogenen Budget umgehen möchte. Damit können erstmals Patienten mit kostenaufwändigen Krebserkrankungen besser vergütet werden und dabei trotzdem eine gewisse Kostenkontrolle bewahrt werden. Hochpreisige Innovationen in der Onkologie wie rekombinantes Erythropoetin (EPO), intravenöse Immunglobuline (IVIG), monoklonale Antikörper (z. B. Rituximab) oder Thyrosinkinaseinhibitoren (z. B. Imatinib) stellen gesundheitspolitisch eine Herausforderung dar. Für onkologische Spezialpräparate wurden in Deutschland 1999 ca. 700 Mio. Euro ausgegeben (Müller-Oerlinghausen 2002). Bei starker Zunahme von kostenintensiven Therapieformen wie der Hochdosischemotherapie mit Stammzelltransplantation ist eine breite ökonomische Forschung zu fordern.
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Kapitel 1 · Was ist Krebs?
1.12
Krebs ist eine Lebenskrise
Die Diagnose einer Krebserkrankung stellt für viele Menschen eine erstmalige Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit und der Tatsache von Krankheit und Tod als natürlichen Elementen des Lebens dar. Diese Konfrontation ist umso härter, als unsere Gesellschaft Krankheit, Sterben und Tod verdrängt und das Bild des gesunden, sportlichen, lebenshungrigen Menschen als Normalität ansieht. Nicht zuletzt durch die großen Fortschritte der Medizin erscheinen Krankheit und Tod beherrschbar und werden zu einer Randerscheinung des Daseins degradiert. Diese Umstände führen zu einem unnatürlichen und gewissermaßen erzwungenen Umgang mit Krankheit und Tod und erschweren eine bewusste Auseinandersetzung oder gar Akzeptanz dieser Lebenselemente. Belastend kommt hinzu, dass eine Krebserkrankung als etwas Unheimliches, Bedrohendes und Vernichtendes angesehen wird und verdrängte existenzielle Ängste weckt, die erschrecken und abgewehrt werden. Diese Umstände führen dazu, dass krebskranke Menschen oft isoliert und ausgegrenzt werden, dass sich Freunde und manchmal auch Angehörige zurückziehen und die Umwelt mit einer hilflosen Sprachlosigkeit und Distanz reagiert. Der durch seine Krankheit bereits in seiner physischen Existenz bedrohte Mensch wird dadurch auch in seiner psychischen und seelischen Integrität in Frage gestellt und damit einer enormen komplexen Belastung ausgesetzt. Diese kann durch die medizinischen Maßnahmen noch weiter verstärkt werden, die mit einer Fülle von neuen Informationen, Entscheidungsnotwendigkeiten, aber auch körperlichen Veränderungen wie Haarausfall verbunden sind und damit die eigene Identität verändern. Die mit diesen Umständen einhergehende krisenhafte Existenzbedrohung wird von der Umwelt des Patienten einschließ-
lich der medizinischen Betreuer oft nicht erkannt oder nur unzureichend beachtet. Etwa 20–25% aller Tumorpatienten entwickeln Symptome einer schweren Depression, die oft als Zeichen der malignen Erkrankung verkannt werden und unbehandelt bleiben. Weiterer seelischer Rückzug, aber auch Aggression und Abwehr medizinisch notwendiger Maßnahmen können die Folgen sein. Ein mit der Diagnose Krebs konfrontierter Mensch bedarf daher neben der rein medizinischen Versorgung auch einer unterstützenden psychischen Betreuung, um mit der ihn bedrohenden Krankheit richtig umgehen zu lernen und adäquate Hilfe auch bei der seelischen Verarbeitung dieser Erkrankung zu erfahren. Bedauerlicherweise stehen in unserem Gesundheitssystem, aber auch in der studentischen und ärztlichen Ausbildung diese Probleme am Rande und erfahren nicht die Aufmerksamkeit und finanzielle und strukturelle Förderung, die ihnen gebührt. Es darf als ermutigend angesehen werden, dass sich in zunehmendem Maße Selbsthilfegruppen formieren und Aspekte der Lebensqualität und psychischen Betreuung in die studentische Ausbildung integriert werden. In diesem Sinne darf sich die Onkologie nicht auf die medizinischen Aufgaben im engeren Sinne beschränken, sondern muss im Sinne einer ärztlichen Aufgabe einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen, der den Patienten nicht nur im Hinblick auf seine Krankheit, sondern auch im Hinblick auf seine Gesamtpersönlichkeit sehen und möglichst gut betreuen und behandeln muss. Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
2
2 Einteilung und Klassifikation maligner Erkrankungen H.K. Müller-Hermelink, T. Papadopoulos
2.1
Klassifikationsprinzipien maligner Tumoren
2.2
Spezielle histopathologische Klassifikation maligner Tumoren
2.3
Tumorvarianten bei der histologisch-histogenetischen Typisierung – 38
2.4
Stadieneinteilung maligner Tumoren (Staging)
2.5
Tumorgraduierung (Grading) – 39
2.6
Prognostische Faktoren Literatur – 42
– 41
– 18
– 38
– 25
18
Kapitel 2 · Einteilung und Klassifikation maligner Erkrankungen
> Einleitung
2
2.1
Ziel jeder Tumorklassifikation ist die Definition von konkreten, biologisch relevanten Tumorentitäten, die sich anhand reproduzierbarer Kriterien eindeutig und prognostisch relevant voneinander abgrenzen lassen. Ausgangspunkt der Tumoren ist in der Regel ein klonaler, d. h. von einer Tumorstammzelle ausgehender Entartungsprozess, der modifiziert durch zell- und gewebespezifische Merkmale in einem mehrere Stadien umfassenden Progressionsverlauf zur klinisch manifesten Tumorerkrankung und zur Metastasenbildung führt. Es ist deshalb auch Ziel einer Tumorklassifikation, die individuellen tumorspezifischen Risiken und das Tumorstadium zu erfassen, die jeden Tumor einem diskontinuierlichen Erkrankungsstadium zuordnen oder im Falle eines gutartigen Tumors die weitere Progression ausschließen. Dieses ideale Ziel lässt sich bei der außerordentlichen Vielfalt von Tumorerkrankungen und -arten und ihrer biologischen Variabilität nur annähernd erreichen. Die Definition von Tumorentitäten erfolgt deshalb nach empirischen und allgemein akzeptierten Kriterien (z. B. der histologischen Klassifikation nach der WHO, der Stadieneinteilung nach dem TNM-System bzw. den UICC-Stadien). Da sich die Kriterien und auch die therapeutischen Möglichkeiten ständig ändern, sind Tumorklassifikationen von zeitlich begrenzter Gültigkeit und unterliegen ihrerseits einer den diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten angepassten, »evolutionären« Entwicklung. Für die Definition der »Tumorentität« existiert kein für alle Tumoren gleichermaßen gültiges Prinzip. Die pathologische Methodik, Tumoren aufgrund ihrer histologischen und zellulären Differenzierung und ihrer Primärlokalisation zu unterscheiden, hat jedoch die größte Bedeutung erlangt. In der WHO-Klassifikation der hämopoietischen Tumoren und malignen Lymphome (2001) wird jede Entität durch morphologische, immunhistochemische, genetische und klinische Eigenschaften definiert, wobei die einzelnen Faktoren für jede Entität einen unterschiedlichen Beitrag leisten. Dieser Ansatz wird bei der zunehmenden Bedeutung objektivierbarer molekulargenetischer Expressionsprofile und immunologisch erfassbarer Faktoren der transkriptionellen Regulation auch für andere Tumorgruppen Anwendung finden. Derzeit basiert die Tumorklassifikation aber noch weitgehend auf empirisch ermittelten und durch internationalen Konsens akzeptierten Definitionen. Für die Diagnostik bedeutsame Unterschiede in der klinischen oder pathologischen Präsentation innerhalb einzelner Tumorentitäten werden als »Varianten« bezeichnet. Für den Verlauf, das Progressionsrisiko oder die einzuschlagende Therapie werden relevante Faktoren als »prognostische bzw. prädiktive Faktoren« definiert. Manchmal werden verschiedene histologische Tumorentitäten unter therapeutischen oder prognostischen Gesichtspunkten in einer »klinischen Tumorgruppe« zusammengefasst.
Klassifikationsprinzipien maligner Tumoren
Grundlegende Prinzipien und Eckpfeiler der heute allgemeingültigen Klassifikation maligner Erkrankungen sind der primäre Manifestationsort (Fritz et al. 2001; WHO 1990; . Tab. 2.1) des Tumors und seine histologisch-histogenetische Differenzierung (Fritz et al. 2001; WHO 1990). Es handelt sich hierbei um ein Klassifikationssystem, das sich nicht an den malignitätsspezifischen Eigenschaften der Tumorzellen orientiert, sondern vielmehr auf die nichtneoplastischen, morphologisch fassbaren Zelleigenschaften zurückgreift, die den Tumor einer bestimmten nichtneoplastischen Zellpopulation (»Ausgangszelle«) zuordnet. Dieses alle Tumoren umfassende Prinzip beruht auf dem zuerst von Virchow formulierten Postulat, dass Tumorzellen modifizierte Normalzellen sind, die nur in einzelnen Eigenschaften von den Normalzellen abweichen, in anderen jedoch ihnen entsprechen. Folgerichtig war es auch Virchows Schüler Max Borst, der die erste systematische histologisch-histogenetische Klassifikation maligner Tumoren formulierte (Borst 1902; Borst 1906). Durch die inzwischen über fast ein Jahrhundert erfolgte Akkumulation von empirischen Daten hat sich dieses System in der
diagnostischen und therapeutischen Handhabung maligner Tumoren kontinuierlich entwickelt und stellt heute die Basis für die von der WHO verfasste histologische Klassifikation maligner Tumoren (WHO 1967–1981; WHO 1981; WHO 1988; WHO 2000–2006) sowie die internationale Terminologie maligner Erkrankungen (ICD-10) dar (WHO 1990). Das Prinzip, Tumoren nach den korrespondierenden Normalzellen zu definieren, erstreckt sich auch auf Merkmale, die der histologischen Untersuchung nicht direkt zugänglich sind oder hierbei kontroverse Resultate erbringen. Dies sind in erster Linie Differenzierungsmarker, deren immunhistochemischer Nachweis Eigenschaften definiert, die jeden Tumor bestimmten Stadien der zellulären Differenzierung oder Funktion von Normalzellen zuordnen, gewebetypische Eigenschaften definieren oder auch tumorspezifische Transformationsmechanismen darstellen. In Fortsetzung dieser Strategien werden neuerdings Genexpressionsprofile von Tumoren erfasst, die das gesamte Transkriptom der Tumoren abbilden und noch genauere Einblicke in Homogenität oder Heterogenität der Tumorentitäten erlauben. Hierdurch wird die empirische morphologische Diagnostik durch relevante Validierungsfaktoren und Klassifikatoren ergänzt, die in alle
19 2.1 · Klassifikationsprinzipien maligner Tumoren
. Tab. 2.1. Wichtige Einteilungsprinzipien von malignen Tumoren und deren Kriterien Histologischhistogenetische Typisierung
Zytologie: Zellform, Zellkern (Form, Lage), spezifische zelluläre Produkte (z. B. Horn, Schleim) Wuchsform Expression gewebespezifischer Markermoleküle (Tumorstroma) (Tumorinfiltrierende Zellen) Charakteristische genetische Abberation
Graduierung
Zytologie (Atypien) Wuchsform (Dysplasien) Mitoserate Nachweis spezifischer zellulärer Produkte Expression differenzierungsspezifischer Markermoleküle Histologische Entitäten mit charakteristischer günstiger bzw. ungünstiger Prognose
TNM-Stadium (anatomische Ausdehnung)
P – pathologisch C – klinisch Lokale Tumorausbreitung (T1–4) Regionäre Lymphknotenmetastasen (N0–2) Fernmetastasen (M0–1) Serologische Parameter (S0–3)
UICC-Stadium
TNM-Stadium (Graduierung)
neuen Klassifikationssysteme eingebunden sind. Immer bedeutsamer werden die primären molekularen und genetischen Entstehungsmechanismen der Tumoren, da mit der Aufklärung der gestörten zellulären Regulation die Möglichkeiten zu spezifischen, d. h. kausalen therapeutischen Eingriffen gegeben sind. Noch ist generell eine auf derartige metabolische Eingriffe ausgerichtete Tumorklassifikation nicht in Sicht. Für einzelne Tumoren ist aber diese Zukunft schon Wirklichkeit, z. B. die spezifische Hemmung der durch die Translokation t(9;22) verursachten konstitutiven Aktivierung der abl-Tyrosinkinase durch Tyrosinkinaseinhibitoren. Mehr als jedes andere Klassifikationssystem implizieren die pathologisch-morphologischen Tumordiagnosen eine Fülle an biologisch und klinisch relevanten Faktoren, die über das rein Deskriptive einer morphologisch-histologischen Diagnose hinausgehen. So bedeutet z. B. die Diagnose eines »kleinzelligen undifferenzierten Lungenkarzinoms« neben der Aussage, dass es sich hierbei um einen vom Bronchialepithel ausgehenden Tumor handelt, auch Aussagen zu einer Reihe von wesentlichen tumorspezifischen Eigenschaften, so u. a. zu seiner wahrscheinlichen Kausalpathogenese (z. B. Rauchen), zur Tumorprogression (ra-
2
sches Wachstum, Einwachsen in das Mediastinum), zum zu erwartenden Metastasierungsmodus (lymphogen und hämatogen) und auch zu der Wahrscheinlichkeit lokaler und systemischer Komplikationen (z. B. obere Einflussstauung bzw. paraneoplastische Syndrome). Zu den Klassifikationsmerkmalen, die sich nach den malignitätsspezifischen Eigenschaften eines Tumors richten und die Zuordnung in einen kontinuierlich erfolgenden Entartungsprozess ermöglichen, gehören die Graduierung, d. h. die Bestimmung des Malignitätsgrades, und die Stadieneinteilung. Die Kriterien für beide Klassifikationssysteme sind tumorspezifisch definiert und setzen damit zunächst eine Definition des Tumortyps voraus. So erfolgt die Stadieneinteilung eines malignen Melanoms der Haut nach anderen Kriterien als die Stadieneinteilung eines Plattenepithelkarzinoms des gleichen Organs (UICC 2002; UICC 2003) und auch die Graduierung eines Adenokarzinoms der Mamma (Bloom u. Richardson 1957; Elston u. Ellis 1991) erfolgt nach anderen Kriterien als die Graduierung eines Adenokarzinoms der Prostata (Gleason et al. 1977; Gleason u. Mellinger 1974). Die Ausrichtung der Klassifikation auf die korrespondierende Normalzelle lässt die Frage nach der Ausgangszelle eines Tumors zunächst offen. Das klingt zwar paradox, wird aber verständlich, wenn man daran denkt, dass zur Definition die höchsten Differenzierungsmerkmale der Zellen (Tumor- wie Normalzellen) herangezogen werden, also solche Eigenschaften, die im Normalgewebe oft nur in terminal differenzierten und nicht proliferationsfähigen Endzellen der zellulären Entwicklung vorhanden sind (z. B. Hornlamellen in verhornenden Plattenepithelkarzinomen). Die virtuelle Ausgangszelle eines malignen Tumors entspricht häufig nicht dem Entwicklungsstadium, durch das der Tumor definiert ist. Dies ist bei hämopoietischen Tumoren, besonderes den myeloischen Leukämien, schon lange bekannt, die von einer entarteten hämopoietischen Tumorstammzelle abgeleitet werden und als »Stammzellerkrankungen« definiert sind. Die besondere Eigenschaft von Stammzellen ist die Fähigkeit zu asymmetrischer Zellteilung, die den eigenen Pool der Stammzellen erhält und Vorläuferzellen für proliferationsaktive Differenzierungsvorgänge in definierte zelluläre Funktionsstadien ermöglicht. Die Plastizität und Multi- oder Pluripotenz sind für das Verständnis des Tumorwachstums von größter Bedeutung. Die Klassifikation richtet sich aber nach dem Differenzierungsstadium und dem überwiegenden Zelltyp, der im genetischen Programm der Tumorstammzelle erreicht wird. Dieses Stammzellkonzept wird derzeit sehr diskutiert und postuliert, dass nicht alle Tumorzellen gleich sind, dass z. B. disseminierte Tumorstammzellen nach Therapie und kompletter Remission des Primärtumors auch noch nach Jahren zu Rezidiven führen können und dass die Elimination von Tumorstammzellen anderen Prinzipien unterliegt, als sie durch die Behandlung der Mehrzahl der proliferierenden Tumorzellen realisiert werden (Reya et al. 2001; Sell 2004; Al-Hajj et al. 2004). Neben dem histologisch-topografischen Grundprinzip finden bei der Typisierung maligner Erkrankungen zunehmend auch andere Klassifikationsprinzipien Anwendung, die besonders die biologischen Grundlagen der Tumorentstehung berücksichtigen. Entweder werden sie innerhalb des existierenden Klassifikationssystems zur besseren Diskriminierung der einzelnen Entitäten benutzt oder sie werden verwendet, um komplett neue Klassifikationssysteme zu begründen. Obwohl manche dieser Ansätze auf allgemein gültigen taxonomischen Prinzipien beru-
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2
Kapitel 2 · Einteilung und Klassifikation maligner Erkrankungen
hen (z. B. erbliche und sporadische Tumoren), werden sie noch nicht generell angewendet. Manche der neuen Diagnoseansätze richten sich auch nur auf eine definierte Subpopulation von Tumoren oder gar eine einzige Tumorentität. Dies hat dazu geführt, dass Klassifikationssysteme zunehmend der »Aufzählung« und Definition akzeptierter Tumorentitäten weichen, die als Einzelkrankheiten sich nicht einer vorgeschriebenen Systematik unterordnen müssen. Einzelne der hierbei verwendeten Kriterien werden kurz diskutiert. Für detailliertere Darstellungen wird auf die Kapitel der Organtumoren verwiesen.
2.1.1
Morphologisch definierte Merkmale des malignen Wachstums
Aufgrund der morphologischen (und funktionellen) Ähnlichkeit der Tumorzellen zu den korrespondierenden Normalzellen wird die Differenzierung eines Tumors definiert. Empirisch wird der Grad der Differenzierung zwischen differenziert und undifferenziert in ein Graduierungsschema für die einzelnen Tumorarten eingeteilt (7 Abschn. 2.5). Hierfür ausschlaggebend sind die mit der malignen Transformation einhergehenden zytologischen Merkmale maligner Zellen. Hierzu zählen: Pleomorphie der Zellen und Zellkerne, Atypien und Hyperchromasie der Zellkerne, Verlust der zellulären Polarität, gesteigerte Mitoserate etc. Treten derartige Veränderungen im Verband des Normalgewebes auf, spricht man von Dysplasie, die ein Vorstadium der malignen Entartung charakterisiert. Sie sind auch typisch für das präinvasive Stadium der malignen Entartung, das Carcinoma in situ. Obwohl diese Vorgänge einem allgemeinen Tumorprinzip entsprechen und deshalb auch für mesenchymale Tumoren gelten, sind sie in der histopathologischen Tumordiagnostik nur für epitheliale Tumoren und ihre Vorstadien definiert. Invasives und destruierendes Wachstum, das präexistierendes Normalgewebe verdrängt, durchsetzt und zerstört, und die Fähigkeit zur Metastasierung charakterisieren malignes Wachstum. Doch gibt es in den morphologischen Ausprägungen dieses Verhaltens eine erhebliche Variationsbreite. Für manche Tumoren hat sich herausgestellt, dass die Wuchsform das wichtigste Kriterium darstellt, um das klinische Verhalten und den therapeutischen Ansatz zu charakterisieren. So spiegeln die Unterschiede in der Wuchsform des intestinalen und des diffusen Magenkarzinoms (Lauren 1965), aber auch die des follikulären und papillären Schilddrüsenkarzinoms (Carcangiu et al. 1985), beträchtliche Differenzen in der Art und Häufigkeit der Metastasierung wie auch der therapeutischen Ansprechbarkeit wider. Dies gilt auch für nichtepitheliale Tumoren, so z. B. für das maligne Melanom (MM), bei dem die Abgrenzung zwischen radiärer und vertikaler Wuchsform in den frühen Läsionen und die Identifikation der Primärlokalisation die Definition der vier klassischen Varianten des Lentigo-maligna-Melanoms, des oberflächlich spreitenden Melanoms (SSMM), des nodulären malignen Melanoms und des akrolentiginösen malignen Melanoms ermöglichen (Clark 1967; Clark et al. 1969). Die genannten Varianten zeichnen sich durch eine unterschiedliche klinische Präsentation aus, unterscheiden sich aber zugleich in ihrer Formalpathogenese, der Tumorprogression und teilweise auch in ihrer Ätiopathologie. Die Ursachen für unterschiedliche Wuchsformen maligner Tumoren sind in komplexen geweblichen Differenzierungsmustern begründet oder spiegeln Unterschiede im Invasions- und
Migrationsverhalten maligner Zellen wider. Neuere Ansätze finden im Patterning der Tumoren, im Migrationsverhalten invasiver Zellfronten und den dabei auftretenden Vorgängen einer epithelial-mesenchymalen Transition morphologische und molekulare Korrelate der embryonalen Differenzierungsmuster. Beim kolorektalen Karzinom hat die Aufklärung des in der Gastrulation wichtigen Wnt-β-Catenin-Weges wichtige Erklärungen für die in der Invasionsfront ablaufenden Prozesse erbracht (Brabletz u. Kirchner 2000). Beim diffusen Magenkarzinom und auch bei bestimmten Mammakarzinomen finden sich Defekte (Deletionen bzw. Loss-of-function-Mutationen) des E-Cadherin-Gens, die mit dem charakteristischen verstreutzelligen Wachstum korrelieren (Becker et al. 1994; Machado et al. 1999; Cowin et al. 2005). Weitere Wuchsvarianten sind das exophytische und endophytische Wuchsmuster vieler Tumoren, die sich von äußeren und inneren Oberflächen ableiten. Die molekularen Ursachen für diese Verhaltensweisen sind noch weitgehend unbekannt.
2.1.2
Tumorstroma und extrazelluläre Matrix
Maligne Tumoren gestalten die Zusammensetzung des sie umgebenden Tumorstromas sowohl direkt über die Synthese und den Abbau von Matrixkomponenten als auch indirekt, indem sie mit mesenchymalen Zellen, wie z. B. Fibroblasten und Endothelien, in Wechselwirkung treten und Wachstum und Angioneogenese regulieren bzw. die Produktion einer abnormen Matrix induzieren. Das resultierende abnorme Tumorstroma stellt ein charakteristisches morphologisches Merkmal maligner Tumoren dar und wird sowohl als Malignitätskriterium per se als auch als Klassifikationskriterium für bestimmte Tumorentitäten herangezogen. So ist das desmoplastische Stroma, das sich durch stark proliferierende Fibroblasten, Zellen mit myofibroblastärer Differenzierung und einer Synthese von kollagener Matrix kennzeichnet, ein wichtiges morphologisches Unterscheidungskriterium zwischen bereits invasiven und noch in situ gelegenen Karzinomen, so z. B. im Dickdarm und in der Mamma (Lagace et al.1985; Seemayer et al. 1979). Andererseits wird das exzessive desmoplastische Stroma auch zur Definition von nichtepithelialen Tumoren herangezogen, so z. B. für den sog. malignen desmoplastischen Tumor des Retroperitoneums (Gerald et al. 1991, Gerald et al. 1998) oder auch für die Variante des desmoplastischen Medulloblastoms im Gehirn (Chatty u. Earle 1971). In der Ausbildung des Tumorstromas wird die Fähigkeit der malignen Zellen gesehen, sich ein optimales Milieu und eine Nische für optimiertes, von regulativen und normativen Funktionen des Normalgewebes unabhängiges Wachstum zu bilden. In der Tumorprogression können Tumorzellen hiervon durch Autoregulation unabhängig werden, weshalb sich Metastasen durch Fehlen des im Primärtumor vorhandenen Tumorstromas auszeichnen können. Eine weitere zur Tumorklassifikation verwendete, morphologisch distinkte »tumorspezifische« extrazelluläre Matrix ist das an Wasser, Hyaluronsäure und Proteoglykanen reiche myxoide Stroma, das von den Tumorzellen selbst gebildet wird, z. B. im pleomorphen Adenom der Speicheldrüsen (Harrison u. Auger 1991; Zhao et al. 1998) und auch das myxoide Stroma bestimmter Sarkomvarianten, wie z. B. des myxoiden Liposarkoms und Chondrosarkoms. Zudem können manche hochspezialisierte extrazelluläre Matrices wichtige histologisch-histogenetische Klassifikationskriterien sein, so z. B. das abnorme Osteoid für Osteosarkome und die chondroide Matrix für benigne und maligne chondromatöse Tumoren.
21 2.1 · Klassifikationsprinzipien maligner Tumoren
Neue Einsichten im komplexen Wechselspiel zwischen Stroma- und Tumorzellen ergeben sich schließlich aus molekularbiologischen Untersuchungen an bestimmten Hamartomen, die gezeigt haben, dass genetische Aberrationen der Stromazellen offenbar die Ursache für das hyperproliferative Verhalten der benachbarten Epithelien sein können (Fletcher et al. 1992; Howe et al. 1998; Jacoby et al. 1997a, b) was wiederum mit einem erhöhten Karzinomentstehungsrisiko bei diesen Läsionen (z. B. juvenile Darmpolypen) verbunden ist (Howe et al. 1998; Kinzler u. Vogelstein 1998).
2.1.3
Tumorinfiltrierende Zellen
Die Zusammensetzung und Lokalisation des entzündlichen Begleitinfiltrats wird bei malignen Tumoren ebenso wie das umgebende Stroma maßgeblich von den Tumorzellen determiniert, obwohl die Ausprägung als Reaktion des Tumorträgers auf den Tumor angesehen wird. Einerseits spiegeln sich hier funktionelle Eigenschaften der Tumorzellen, die diese von ihren nichtneoplastischen Ausgangszellen übernommen haben, wider. So zeichnen sich Thymome und auch hochdifferenzierte Thymuskarzinome (Kirchner et al. 1989; Kirchner et al. 1992) durch ein verstärktes Vorkommen von interepithelialen Vorläuferzellen der thymischen Lymphopoiese aus. Dendritische Zellen (Langerhans-Zellen) kommen bei Plattenepithelkarzinomen häufiger vor als bei Adenokarzinomen, was die Verhältnisse im nichtneoplastischen squamösen Epithel und Drüsenepithel widerspiegelt. Insofern kann das entzündliche Infiltrat innerhalb eines Tumors ein indirekter Ausdruck seiner histologisch-histogenetischen Differenzierung sein. Andererseits sind auch malignitätsspezifische Eigenschaften der Tumorzellen, so z. B. die Expression von tumorspezifischen bzw. tumorassoziierten Antigenen oder die aberrante Expression von Zytokinen, für die Zusammensetzung der entzündlichen Infiltrate von Bedeutung. Charakteristische entzündliche Infiltrate stellen wichtige Klassifikationskriterien für manche Tumorentitäten und ihre Varianten dar, so z. B. Lymphozyten für das EBV-assoziierte lymphoepitheliale Karzinom des Nasopharynx oder lymphoplasmozelluläre und granulozytäre Infiltrate für die »inflammatorische« Variante des malignen fibrösen Histiozytoms (Kyriakos u. Kempson 1976) und schließlich eosinophile Infiltrate bei Morbus Hodgkin und peripheren T-Zell-Lymphomen. Bei follikulären Lymphomen (und wahrscheinlich auch beim Hodgkin-Lymphom) lassen sich durch Array-basierte Darstellung der transkriptionellen Expressionsprofile Signaturen von prognostischer Bedeutung definieren, die der »Wirtsreaktion« entsprechen und nicht aus den Tumorzellen stammen (Dave et al. 2006). Es bleibt allerdings abzuklären, ob diese »Wirtsreaktion« tatsächlich auf den speziellen Reaktionseigenschaften des Tumorträgers beruht oder, wie schon bei der Diskussion des Tumorstromas ausgeführt, auf die speziellen Eigenschaften des Tumors, seine Umgebung den optimalen und adäquaten Bedingungen des Tumorwachstums anzupassen, zurückzuführen sind.
2.1.4
Spezifische ätiologische Faktoren
Aus mehreren Gründen eignet sich die Kausalpathogenese nicht als allgemein gültiges Klassifikationskriterium maligner Tumoren. Zum einen hat jede Tumorart meist nicht nur eine Ursache,
2
sondern im Verlauf der mehrstufigen Karzinogenese begründete vielfache Ursachen. Die Definition dieser Ursachen erfolgt nach epidemiologischer und statistischer Wahrscheinlichkeit in einem Tumorkollektiv, jedoch fast nie im Einzelfall. Andererseits begünstigt derselbe ätiopathologische Faktor in der Regel auch die Entwicklung unterschiedlicher Tumortypen. So erhöht die Colitis ulcerosa die Inzidenz des kolorektalen Karzinoms (Broome et al. 1995), zugleich aber auch die Inzidenz des Cholangiokarzinoms in der Leber (Altaee et al. 1991; Mir-Madjlessi et al. 1987). Das Ebstein-Barr-Virus (EBV) prädisponiert zu einer Vielzahl unterschiedlicher Formen maligner Lymphome und unterschiedlicher epithelialer Tumoren. Ätiopathologische Faktoren werden aber berücksichtigt, wenn mit ihnen eine spezifische Epidemiologie, eine bestimmte klinische Präsentation oder Unterschiede im Verlauf und im therapeutischen Ansprechen verbunden sind. Ein solches Beispiel ist die Abgrenzung zwischen primären und sekundären myelodysplastischen Syndromen und akuten myeloischen Leukämien (Bennett et al. 1982; Kantarjian u. Keating 1987; Michels et al. 1985), wobei sich Letztere trotz gleichartiger hämatologischer Parameter und ähnlicher klinischer Präsentation durch eine schlechtere Prognose auszeichnen. Von therapeutischer Relevanz ist die pathogenetische Beziehung einer chronischen Infektion der Magenschleimhaut mit Helicobacter pylori (H. p.) und die Entstehung des extranodalen Marginalzonen-B-Zell-Lymphoms des Magens vom MALT-Typ, da etwa 70% dieser Tumoren sich nach einer Helicobacter-Eradikationstherapie zurückbilden.
2.1.5
Sporadische und erbliche maligne Erkrankungen
Zunehmend ermöglicht die Definition von genetischen Aberrationen, die eine familiäre Häufung bestimmter maligner Tumoren begründen, auch eine Identifizierung von erblichen Tumorerkrankungen und -dispositionen, die bisher lediglich aufgrund einer entsprechenden Familienanamnese (Neumann 1987; Vasen et al. 1991; Rossi u. Srivastava 1996) vermutet werden konnten. Mit zytogenetischen und molekularbiologischen Analysen kann man zwischen Keimbahn- und somatischen Mutationen unterscheiden, die einen individuellen Tumor als erblich bedingt oder als sporadisch erworben einordnen. Dies ermöglicht eine präsymptomatische Risikoermittlung im Rahmen einer genetischen Beratung, jedoch keine Klassifikation der manifesten Tumoren. Für die klinische Erfassung familiärer Krebserkrankungen haben sich die beim HNPCC entwickelten Amsterdam-Kriterien mutatis mutandis bewährt (Vasen et al. 1999). Alle fünf Kriterien sollen erfüllt sein: 4 mindestens 3 Familienangehörige mit histologisch gesichertem kolorektalen Karzinom oder Karzinom des Endometriums, Dünndarms oder Urothels, 4 wenigstens 2 aufeinander folgende Generationen betroffen, 4 ein Familienmitglied erstgradig verwandt mit den beiden anderen, 4 bei mindestens einem Patienten Auftreten der Krebserkrankung vor dem 50. Lebensjahr, 4 eine familiäre Adenomatosis coli (FAP) muss ausgeschlossen sein. Familiäre und genetisch definierte Krebssyndrome folgen häufig einem autosomal dominanten Erbgang. Dabei wird in der Regel die inaktivierende Mutation eines Tumorsuppressorgens vererbt,
22
2
Kapitel 2 · Einteilung und Klassifikation maligner Erkrankungen
die folglich in allen Zellen vorhanden ist. Die Krebserkrankung realisiert sich organ- und gewebespezifisch, manchmal auch in mehreren Organen, nachdem das zweite Allel durch eine erworbene Deletion oder LOH (»loss of heterozygosity«) verloren wurde. Die meisten vererbten Tumorsyndrome sind monogen definiert. Hierzu zählen das Retinoblastom, die Syndrome multipler endokriner Neoplasien (MEN I, MEN II), die familiäre Adenomatosis coli (FAP), das hereditäre nichtpolypöse Dickdarmkarzinom (HNPCC), das Li-Fraumeni-Syndrom, bestimmte Formen des familiären Brustkrebs (Mutationen von BCRA1 und BCRA2) und die Neurofibromatosis I. Dabei besitzen Alterationen von bestimmten, für die Zellart spezifischen, die Wachstumsregulation kritisch regulierenden Genen eine »Gatekeeper«-(Pförtner-)Funktion, die indirekt das Risiko für den Erwerb weiterer genetischer Alterationen erhöht. »Gatekeeper-Gene« wurden bei verschiedenen erblichen Tumoren auf zellartspezifischer Basis definiert: das APC-Gen (Adenomatosis polyposis coli) für Dickdarmkarzinome, das VHL-Gen (von-Hippel-Lindau) für Nierenzellkarzinome, das RB-Gen (Retinoblastom) für Retinoblastome, Osteosarkome und andere mesenchymale Tumoren sowie andere mehr. Der Erwerb zusätzlicher genetischer Alterationen während der Tumorprogression kann durch Mutationen in Genfamilien, die die DNA-Replikation und -Reparatur regulieren, wesentlich beschleunigt werden (Loeb 1991; Loeb u. Christians 1996). Diese Genfamilien wurden als »Caretaker« bezeichnet. Zu ihnen zählen Genfamilien, deren erbliche Störung zu ganz unterschiedlichen Syndromen mit schweren Entwicklungsdefekten und einem erhöhten Karzinomrisiko führt. Dazu gehören das Xeroderma pigmentosum, die adulte Progerie (Werner-Syndrom), die Ataxia teleangiectatica, die Fanconi-Anämie, das Nijmegen-BreakageSyndrom wie auch die im Rahmen von Tumordispositionssyndromen entdeckten DNA-Reparaturgendefekte (MLH1, MSH2), die u. a. das erbliche, nicht mit Polyposis coli assoziierte Dickdarmkarzinom (HNPCC) bewirken, und andere Gene, wie z. B. P53, die als Checkpoint-Kontrollgene des Zellzyklus die Genomstabilität regulieren (Lengauer et al. 1998). Allen malignen Tumoren des Menschen gemeinsam, den erblichen wie den sporadischen, ist eine erhöhte genomische Instabilität. Nach dem Typ genomischer Alterationen kann zwischen dem durch Mikrosatelliteninstabilität nachgewiesenen MSI-Typ und dem durch »loss of heterozygocity« (LOH) in Tumorsuppressorgenen charakterisierten LOH- bzw. Suppressortyp der chromosomalen Instabilität (Lengauer et al. 1997; Lengauer et al. 1998; Perucho 1996a,b) unterschieden werden. Für die komplexen Genomalterationen sind wahrscheinlich Gene verantwortlich, die in die dynamische und strukturelle Regulation des Zellkerns sowie der Chromosomenassoziation und -segregation eingreifen.
2.1.6
Tumordefinierende zytogenetische Veränderungen
Bei vielen malignen hämatologischen Erkrankungen und Sarkomen korrelieren definierte zytogenetische Aberrationen gut mit bereits histologisch definierten Entitäten und Subentitäten (WHO 2000; . Tab. 2.2). So zeichnen sich unterschiedliche Formen der Promyelozytenleukämie durch eine Translokation t(15;17) aus (Rowley 1990). Bei anderen Tumoren können gleichartige zytogenetische Anomalien bei morphologisch und klinisch differenten
malignen Erkrankungen auftreten, z. B. die Translokation t(9;22) bei der chronischen myeloischen Leukämie und bei bestimmten Formen der akuten lymphatischen Leukämie (Rowley 1990). Die Zahl der tumordefinierenden, zytogenetischen und molekularbiologischen Befunde wächst ständig. Sie werden zunehmend in den neueren Tumorklassifikationen als objektivierende Merkmale der Diagnostik, als Target einer spezifischen Therapie oder als Grundlage für bestimmte Tumoren charakterisierende immunhistochemische Merkmale berücksichtigt. Nicht bei allen Tumoren einer histologisch definierten Entität ist allerdings die hierfür charakteristische zytogenetische Aberration nachweisbar. Dies beruht darauf, dass entweder funktionell ähnliche molekulare Mechanismen den Effekt der bekannteren Translokation kompensieren (z. B. Amplifikationen anderer Cycline in den translokationsnegativen Mantelzelllymphomen (Fu et al. 2005) oder mehrere Translokationen eine gleichartige Tumorentität erzeugen können (z. B. bei extranodalen Marginalzonen-B-Zell-Lymphomen; Streubel et al. 2006) oder auch andere Amplifikations- oder Deletionsereignisse und auch epigenetische Effekte gleichartige onkogene Veränderungen bewirken. Auch spezifische Translokationen einer Tumorentität können mitunter in histomorphologisch eindeutig nicht zu dieser Entität gehörigen Tumoren nachgewiesen werden. So konnte das EWS/FLI1-Hybridgen, das als diagnostisch für Sarkome aus der Ewing-Gruppe gewertet wird (Delattre et al. 1994), vereinzelt auch in Rhabdomyosarkomen bzw. anderen kindlichen Sarkomen nachgewiesen werden (Thorner et al. 1996). Der Nachweis charakteristischer zytogenetischer Aberrationen ist kein absoluter Beweis für das Vorliegen einer malignen Erkrankung, da »tumorspezifische« Aberrationen mithilfe hochsensitiver Methoden, wie z. B. der PCR, zunehmend auch bei Patienten ohne klinisch nachweisbare Tumorerkrankung nachgewiesen werden können. Dazu gehört u. a. auch die t(14;18)Translokation in Lymphozyten von gesunden Probanden (Aster et al. 1992; Limpens et al. 1991), K-RAS-Mutationen bei Pankreatitis (Brentnall et al. 1995; Furuya et al. 1997) und auch P53Mutationen in Synovialzellen bei rheumatoider Arthritis (Firestein et al. 1997). Für die Tumorentstehung sind dann offensichtlich weitere genetische Ereignisse bedeutsam. Die meisten menschlichen Tumoren folgen hinsichtlich der beobachteten genetischen Alterationen dem an erblichen Karzinomen definierten LOH-Typ der chromosomalen Instabilität. Die hierbei beobachteten komplexen chromosomalen Zugewinne und Verluste sind durch komparative genomische Hybridisierung (CGH) heute mit hoher Auflösung zu erfassen. Es zeigt sich, dass hierbei hoch charakteristische Muster entstehen, die für die Objektivierung einer Klassifikation, den Beweis definierter Tumorentitäten Verwendung finden können (Bea et al. 2006; Zettl et al. 2007; Salverria et al. 2007). Darüber hinaus werden damit auch biologische Unterschiede definiert, da viele der in Tumoren unterschiedlich zu den Normalzellen exprimierten Genaktivitäten durch Genamplifikation (oder Deletion) zustande kommen und damit auf einem Gendosiseffekt beruhen, der in den quantitativen Genomanalysen sichtbar ist.
2.1.7
Molekularbiologische Ansätze
Die Aufklärung des menschlichen Genoms und Fortschritte in den Hochdurchsatztechnologien haben dazu geführt, dass von
23 2.1 · Klassifikationsprinzipien maligner Tumoren
. Tab. 2.2. Beispiele histologisch-histogenetisch definierter Tumorentitäten mit charakteristischer chromosomaler Aberration Tumor
Gene
Aberration
Vorläufer-B-Zell-lymphoblastische Leukämie
BCR/ABL MLL-Rearrangement E2A/PBX1 TEL/AML1
t(9;22)(q34;q11) t(v;11q23) t(1;19)(q23;p13) t(12;21)(p13;q22) del(12)(p12p13) add(12)(p11) der(12)t(8;12)(q11;p11)
Vorläufer-T-Zell-lymphoblastische Leukämie
MYC/TCRαδ TAL1/TCRαδ LMO1/TCRαδ LMO2/TCRαδ HOX11
t(8;14)(q24;q11) t(1;14)(1p32;q11) t(11;14)(p15;q11) t(11;14)(p13;q11) t(10;14)(q24;q11) t(7;10)(q35;q24) t(5;14)(q35;q11) t(5;14)(q35;q32)
Lymphatische Neoplasien
HOX11L2
Burkitt-Lymphom
MYC
t(8;14)(q24;q32) oder Varianten
Follikuläres Lymphom
IGH/BCL2
T(14;18)(q32;q21)
Anaplastisches großzelliges Lymphom (ALCL)
ALK/NPM
T(2;5)(p23;q35) oder Varianten
Mantelzelllymphom
IGH/CCND1
t(11;14)(q13;q32)
Extranodales Marginalzonen-B-Zell-Lymphom vom MALT-Typ
API2/MALT1 IGH/MALT1 BCL10/IGH
t(11;18)(q21;q21) t(14;18)(q32;q21) t(1;14)(p22;q32)
P53 ATM
Trisomie 12 Deletion 13q14 Deletion 17p13 Deletion 11q23
Chronische myeloische Leukämie (CML)
BCR/ABL
t(9;22)(q34;q11)
Akute Promyelozyten-Leukämie (M3), M3v
PML/RARα
t(15;17)(q21;q11-22)
Akute myelomonozytäre Leukämie mit abnormen Eosinophilen (M4eo)
CBFβ/MYH11
inv(16)(p13q22) t(16;16)(p13;q22)
Akute myeloische Leukämie M2/1
AMLl1/ETO
t(8;21)(q22;q22)
Ewing-Sarkom/PNET
FLI1/EWSR1 ERG/EWSR1 ETV1/EWSR1 FEV/EWSR1 E1AF/EWSR1 ZSG/EWSR1
t(11;22)(q24;q12) t(21;22)(q22;q12) t(7;22) (p22;q12) t(2;22)(q33;q12) t(17;22)(q12;q12) Inversion(22)
Intraabdomineller desmoplastischer kleinzelliger Tumor
WT1/EWSR1
t(11;22)(p13;q12)
Extraskelettales myxoides Chondrosarkom
CHN/EWSR1 CHN/RBP56 CHN/TCF12
t(9;22)(q22;q12) t(9;17)(q22;q11) t(9;15)(q22;q21)
Klarzell-Sarkom
ATF1/EWSR1
t(12;22)(q13;q12)
Alveoläres Rhabdomyosarkom
PAX3/FKHR PAX7/FKHR
t(2;13)(q35;q14) t(1;13)(p36;q14)
Myxoides Liposarkom
CHOP/FUS CHOP/EWSR1
t(12;16)(q13;p11) t(12;22)(q13;q12)
Synovialsarkom
SSX1&SSX2/SYT
t(X;18)(p11;q11)
Chronisch lymphozytäre B-Zell-Leukämie
Myeloische Neoplasien
Andere Tumoren
2
24
2
Kapitel 2 · Einteilung und Klassifikation maligner Erkrankungen
sehr vielen Tumorarten charakteristische genomweite Genexpressionsprofile erfasst wurden. Der noch gültige traditionelle histopathologische und empirische Klassifikationsansatz wird durch diese Analysen objektiviert. Neue Entitäten konnten so validiert werden und Tumoren, deren Unterscheidung im traditionellen System schwierig oder arbiträr angesehen wurde, können so sicher und eindeutig differenziert werden. Dabei sind die prinzipiellen Aussagen gar nicht so different. Die auf Microchipbasierten Array-Genexpressionsprofile korrelieren gut mit dem histopathologischen Phänotyp eines Tumors, da die überwiegende Mehrzahl der exprimierten Gene für die Zellart, den jeweiligen Differenzierungs- und Proliferationsstatus charakteristisch ist, also auch Eigenschaften der korrespondierenden Normalzellen beschreibt. Dazu kommen aber viele neue (und unerwartete) Einsichten in die Genaktivitäten, die Tumorzellen von Normalzellen unterscheiden und letztlich bei entsprechender bioinformatischer Aufarbeitung biologische Unterschiede der Tumoren und prognostische Faktoren jenseits der bislang verfügbaren Ansätze erkennen lassen. Dabei sind die Voraussetzungen für die Entdeckung neuer Tumorklassen (»class discovery«) völlig verschieden von denen eines Klassenvergleichs (»class comparison«), bei dem definierte Tumorarten verglichen werden, und denen einer Erfassung von prognostischen Prädiktoren (»class prediction«), bei der üblicherweise innerhalb einer definierten Tumorentität nach Gensignaturen gesucht wird, die prognostisch relevante Unterscheidungsmerkmale oder Ansprechraten bei bestimmten Therapien definieren (Simon 2003). Viele der dabei auftretenden Probleme resultieren aus den nichtprospektiven Ansätzen derartiger Studien, die eine Validierung, soweit sie im Studiendesign überhaupt vorgesehen ist, sehr erschweren. Noch ist der Schritt zu einem routinemäßigen Einsatz dieser Technologien in der Diagnostik nicht getan. Die Begeisterung über die hier erreichten Daten hat schon einige Wissenschaftler dazu veranlasst, das Ende der histopathologischen Ära vorauszusehen. Realistischer ist ein anderer Ansatz. Viele der durch Arraybasierte Methoden erkannten relevanten Gensignaturen, ob sie für die Entdeckung von Tumorentitäten, den Vergleich mit ähnlichen Tumoren oder als prognostische Prädiktoren verwendet werden, lassen sich auf histopathologische oder molekulare Surrogatmarker reduzieren und so in diagnostische Algorithmen integrieren, die wesentlich leichter an großen Fallzahlen und prospektiven Studien und dem hierbei verfügbaren Material geprüft werden können. Dennoch stellen die an großen Fallzahlen erhobenen Transkriptomanalysen eine unverzichtbare Datenbasis dar, die unter veränderten therapeutischen Ansätzen als Standard und Ausgangspunkt einer objektiven Tumorklassifikation dienen können und, weit über diesen deskriptiven Ansatz hinausgehend, die Abklärung tumorspezifischer Signalwege und deren therapeutische Beeinflussung erlauben. Einige wenige Beispiele seien hier zitiert, um einen Einblick in die schon verfügbaren Resultate zu geben; im Übrigen sei aber auf die speziellen Kapitel und Darstellungen der Organtumoren verwiesen. Trotz ähnlicher histopathologischer Klassifikatoren existieren bei vielen Tumorarten große Unterschiede in den therapeutischen Resultaten. Genexpressionsstudien an prätherapeutischen Gewebeproben von Mammakarzinomen zeigten neue Klassifikatoren, die prognostisch unterschiedliche Gruppen definieren. Die Östrogenrezeptor-positive Gruppe des luminalen Zelltyps A vs. B und C und die HER2-Gruppe (Sorlie et al. 2001) wird inzwischen mit immunhistochemischen Markern korreliert und in der
Routinediagnostik berücksichtigt. van’t Veer et al. (2002) haben in einem prädiktiven Ansatz bei Mammakarzinomen im Stadium I (nodal negativ ) bei 78 Patienten ohne adjuvante Chemotherapie eine Liste von 70 differenziell exprimierten Genen generiert, die mit dem späteren Auftreten von Metastasen korrelierten. Sie validierten das Ergebnis in einer unabhängigen Gruppe von Patientinnen und konnten das klinische Resultat mit diesem Prädiktor mit großer Genauigkeit vorhersagen. In einer erweiterten Studie an 295 Patientinnen wurde das Ergebnis weiter bestätigt. Die prognostische Gensignatur korrelierte am besten mit dem Risiko von Fernmetastasen und dem Überleben nach 5 und 10 Jahren. Hieraus konnte für das Mammakarzinom, wie auch später für viele andere Tumoren, gezeigt werden, dass die meisten prognoserelevanten Gensignaturen relevante Unterscheidungen schon zum Zeitpunkt der Erstdiagnose erlauben und hier schon die genetischen Profile einer späteren Therapieresistenz oder Metastasierung vorhanden sind. Hedenfalk et al. (2001) untersuchten die BRCA1-Gen- und BRCA2-Gen-assoziierten hereditären Mammakarzinome. Sie zeigten, dass diese Tumoren sich signifikant von sporadischen Mammakarzinomen unterscheiden. Allerdings fanden sie auch einen sporadischen Tumor, dessen molekulares Profil diesen hereditären Karzinomen entsprach. Hierbei war zwar das BRCA1Gen intakt, aber der Promotor durch DNA-Methylierung inaktiviert. Dies zeigt, wie effektiv Genexpressionsprofile die molekularen Mechanismen der Transformation erfassen können. Die meisten malignen Non-Hodgkin-Lymphome wurden mit Microarray-basierten Genexpressionsstudien untersucht und charakterisiert. Alizadeh et al. (2000) und Rosenwald et al. (2002) wiesen nach, dass in der Gruppe des diffusen großzelligen B-ZellLymphoms unterschiedliche Subentitäten enthalten waren. Die eine Gruppe ähnelt den Keimzentrums-B-Lymphozyten, die andere den in vitro aktivierten B-Lymphozyten. Sie zeigen signifikant unterschiedliche Überlebensparameter nach Doxorubicinbasierter Chemotherapie. Darüber hinaus existieren weitere Gensignaturen mit prognostischer Aussagekraft, die in einem prognostischen Index eine vom klinischen IPI unabhängige signifikante prognostische Zuordnung erlauben. Auch das primäre mediastinale großzellige B-Zell-Lymphom ist eine unabhängige Entität, deren Genexpressionsprofil von den anderen DLBCL verschieden ist und interessanterweise eine enge Beziehung zum Hodgkin-Lymphom aufweist (Rosenwald et al. 2003). Interessanterweise zeigen unterschiedliche Non-HodgkinLymphome ganz unterschiedliche prognoserelevante Gensignaturen. Sind bei den diffusen großzelligen B-Zell-Lymphomen im Wesentlichen die Unterscheidung der verschiedenen Subentitäten, die Expression von MHC-Molekülen und eine auf den Umgebungsfaktoren basierende Lymphknotensignatur bedeutsam, so zeichnet sich das Mantelzelllymphom durch eine fast ausschließliche Korrelation prognostischer Faktoren zu der Proliferationssignatur aus (Rosenwald 2003). Die Prognose des follikulären Lymphoms lässt sich bei der Erstdiagnose an den die sog. Wirtsreaktion definierenden Signaturen, die also nicht einer Genexpression der Tumorzellen entsprechen, sondern die tumorbegleitende Reaktion charakterisieren, erkennen (Dave et al. 2006). Die schwierige histopathologische Diagnose des Burkitt-Lymphoms hat ebenfalls von der Genexpressionsanalyse profitiert. Das klassische Burkitt-Lymphom zeigt eine charakteristische molekulare Burkitt-Signatur, die von derjenigen der großzelligen B-Zell-Lymphome verschieden ist. Allerdings existiert eine Grauzone von Fällen mit molekularer Burkitt-Signatur, die häufig
25 2.2 · Spezielle histopathologische Klassifikation maligner Tumoren
ebenfalls die Burkitt-typischen Translokationen mit Bruchpunkt im C-MYC-Onkogen aufweisen, jedoch morphologisch einem großzelligen B-Zell-Lymphom gleichen. Diese Fälle zeigen darüber hinaus eine viel größere genetische Instabilität und schlechte Prognose (Hummel et al. 2006; Dave et al. 2006). Diese wenigen Beispiele und die Möglichkeiten einer Erfassung multipler Genexpressionsprofile durch Microarray-Chip-Technologie können in Zukunft neue Wege eröffnen, Tumoren nicht nur anhand ihrer histologisch-histogenetischen Typisierung, sondern auch anhand ihres aberranten Genexpressionsprofils zu definieren. Zumindest werden die grundlegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse dieser Methoden und zukünftiger prognostischer Studien der Genexpressionsprofile in die tägliche Routine über entsprechende Surrogatmarker integriert werden.
2.1.8
Klinische bzw. laborchemische Tumormerkmale
Die Bestimmung der primären Tumorlokalisation und die klinische Stadieneinteilung eines Tumors gehören zu den klinisch definierten allgemein gültigen Klassifikationskriterien maligner Erkrankungen. Auch lassen sich mit klinischen, relativ einfachen Laborparametern innerhalb der definierten Tumorentitäten signifikante Risikoabschätzungen (Karnofsky-Index, International Prognostic Index) für Tumorverlauf und Therapieerfolg vornehmen. Für manche Tumoren, z. B. den Morbus Hodgkin, ergeben sich mit diesem Ansatz hochrelevante, prädiktive Werte (Hasenclever u. Diehl 1998). Weitere Kriterien ergeben sich aus der klinischen Symptomatik eines Tumors, aus dem Vorhandensein einer erworbenen oder angeborenen tumorprädisponierenden Grunderkrankung, aber auch aus den unterschiedlichen Metastasierungsmustern bzw. der Form der Tumorgeneralisation einer Tumorerkrankung. So erfolgt die Typisierung von endokrinen Karzinomen u. a. nach dem Vorhandensein und dem Typ des paraneoplastischen Syndroms (Capella et al. 1995). Auch sind kolorektale Karzinome bei zugrunde liegender Colitis ulcerosa oder bei FAP anders zu therapieren als kolorektale Karzinome ohne tumorprädisponierende Grunderkrankung und ebenso Mammakarzinome mit einer skelettalen Tumordissemination im Vergleich zu solchen mit einem viszeralen Metastasierungstyp. Die Beurteilung der Tumorgeneralisation ist insbesondere bei malignen hämatologischen Grunderkrankungen von Bedeutung, die grundsätzlich in leukämische und nichtleukämische Formen unterteilt werden. Tumorspezifische, laborchemisch erhobene Parameter, die sog. Tumormarker, begründen für sich nur in seltenen Fällen eigene Klassifikationssysteme in der Primärdiagnose. In den meisten Fällen werden Tumormarker als Parameter für die Tumorprogression oder in der Rezidivdiagnostik gewertet und sind vereinzelt auch bei der Stadieneinteilung eines Tumors, so z. B. bei malignen Hodentumoren, zu berücksichtigen (UICC 2002). Schließlich ermöglichen spezifische Tumormarker spezieller Tumoren indirekte Rückschlüsse auf die histologisch-histogenetische Differenzierung und das Erkrankungsrisiko eines Tumors. So sind Tumoren der Leber mit einer Erhöhung des α-Fetoproteinspiegels im Serum bei hepatozellulären Karzinomen zu finden. Prostatakarzinome gehen mit erhöhtem Serumspiegel des prostataspezifischen Antigens (PSA) und der prostataspezifischen sauren Phosphatase (PSP) einher. Diese Bestimmungen können dann auch für Screeninguntersuchungen in der Frühdiagnose verwendet werden.
2.1.9
2
Therapieerfolg dokumentierende Klassifikationssysteme
Die Dokumentation des Erfolgs der primär eingeschlagenen Tumortherapie hat weitreichende Konsequenzen für das weitere therapeutische Vorgehen und ist ein wichtiger prognostischer Faktor. Sie stellt daher ein sowohl auf klinischen als auch auf pathologisch-anatomischen Daten beruhendes Klassifikationssystem dar. Die chirurgische Resektion eines malignen Tumors als Grundvoraussetzung eines kurativen chirurgischen Ansatzes wird sowohl makroskopisch als auch histologisch durch Angabe des R-Status (R0: kein Residualtumor; R1: histologisch nachgewiesener Residualtumor; R2: makroskopisch erkennbarer Residualtumor) dokumentiert. Die Grenzen der Beurteilung ergeben sich natürlicherweise hierbei aus der Repräsentativität des histologisch untersuchten Materials und der Sensitivität bzw. Spezifität der bildgebenden klinischen Untersuchungsmethoden. Was der R-Status für den chirurgischen Therapieerfolg bedeutet, stellt die Analyse der Tumorregression bzw. Remission für den chemotherapeutischen, radiotherapeutischen oder multimodalen therapeutischen Ansatz eines malignen Tumors dar. Auch hier kommen klinisch bildgebende, laborchemische und pathologisch-anatomische Untersuchungsmethoden zur Anwendung. Wie auch beim R-Status definieren Sensitivität und Spezifität der zur Anwendung kommenden Untersuchungsmethoden die Nachweisgrenze eines Residualtumors im Organismus. Dieses Vorgehen hat z. B. bei Osteosarkomen nach Chemotherapie und auch bei Plattenepithelkarzinomen der Mundhöhle und des Ösophagus nach einer Bestrahlungstherapie weite Verbreitung gefunden. Jede auf prognostischen Faktoren beruhende Klassifikation ist durch das Kollektiv von Fällen, an dem die Faktoren definiert wurden, und die aktuell durchgeführte Therapie charakterisiert und muss an unabhängigen Kollektiven (Studien) validiert werden. Dabei zeigt sich, dass sich mit Einführung neuer Therapien auch prognostische Faktoren ändern. Hierauf beruht z. B., dass die großzelligen B-Zell-Lymphome des GCB-Typs und des ABCTyps nach Einführung von Rituximab-basierten Therapien (Winter et al. 2006) wesentlich geringere oder gar keine prognostische Unterschiede zeigen, da offensichtlich besonders die mit schlechterer Prognose assoziierten ABC-Typ-Lymphome besonders gut auf die Therapie reagieren. Auf die Therapie ausgerichtete Klassifikationen werden in Zukunft zunehmend von den Ergebnissen der Genexpressionsprofile und neuer in die zellulären Signalwege eingreifende Therapien erwartet, da mit der Definition der primären onkogenen Signalwege auch spezifische Therapien ermöglicht werden.
2.2
Spezielle histopathologische Klassifikation maligner Tumoren
Die Einteilung von Tumoren nach ihrer histologisch-histogenetischen Differenzierung beruht auf der morphologischen und biologischen Ähnlichkeit der Tumorzellen mit ihren nichtneoplastischen Ursprungszellpopulationen (. Abb. 2.1–2.3). Ursprünglich wurde, wie auch der Begriff der »Histogenese« impliziert, angenommen, dass die Tumorzellen sich von den korrespondierenden nichtneoplastischen Zellen des normalen Gewebes herleiten würden und diese damit auch Stammzellen und Aus-
26
Kapitel 2 · Einteilung und Klassifikation maligner Erkrankungen
2
. Abb. 2.1. a–d Unterschiedliche Wuchsform beim tubulären Adenokarzinom (a) und Siegelringzellkarzinom (b) des Magens wie auch bei dem papillären (c) und follikulären (d) Schilddrüsenkarzinom. e–j Desmoplastisches Stroma des cholangiozellulären Karzinoms (e) und des retroperitonealen malignen desmoplastischen klein- und rundzelligen Tumors (h); myxoides Stroma des pleomorphen Adenoms (f) und des myxoiden
Liposarkoms (i); Osteoid beim Osteosarkom (g) und chondroide Matrix beim Chondrosarkom (j); k–m Charakteristisches lymphozytäres Begleitinfiltrat beim Thymom (k) und beim Seminom (m); granulozytäres Begleitinfiltrat bei der inflammatorischen Variante eines undifferenzierten hochgradigen und pleomorphen Sarkoms (l). a–m HE-Färbung
27 2.2 · Spezielle histopathologische Klassifikation maligner Tumoren
. Abb. 2.2. a,b Karzinome des Deckepithels: Verhornendes Plattenepithelkarzinom (a) und papilläres Urothelkarzinom (b). c–f Adenokarzinome: papilläres Nierenzellkarzinom (c), muzinöses Adenokarzinom des Ovars (d), klarzelliges Nierenzellkarzinom (e) und hepatozelluläres Karzinom (f). g,h Endokrine Tumoren: Karzinoid (g) und kleinzelliges Bronchialkarzinom (h). i Malignes Mesotheliom. j–m Immunhistochemische zy-
2
toplasmatische Positivität für PSA bei einzelnen Zellen eines Prostatakarzinoms (j), nukleäre Positivität für TTF1 bei einem pulmonalen Adenokarzinom (k) und Positivität für Chromogranin bei einem endokrinen Pankreastumor (l); Darstellung von EBER des Epstein-Barr-Virus mittels In-situ-Hybridisierung bei einem lymphoepithelialen Karzinom (m). a–c, e–i: HE-Färbung; d: PAS-Färbung
28
Kapitel 2 · Einteilung und Klassifikation maligner Erkrankungen
2
. Abb. 2.3. a–c Sarkome: Leiomyosarkom (a), undifferenziertes hochgradiges pleomorphes Sarkom (b) und Ewing-Sarkom (c). d–e. Keimbahntumoren: Sertoli-Zell-Tumor (d) und Granulosazelltumor (e). f Malignes Melanom. g–h Tumoren mit blastomatöser Differenzierung: Hepatoblastom (g) und Nephroblastom (Wilms-Tumor) (h). i–k Keimzelltumoren: reifes Teratom (i), unreifes Teratom (j) und embryonales Karzinom (k).
l–n Lymphatische Neoplasien: diffuses großzelliges B-Zell-Lymphom als Variante eines Non-Hodgkin-Lymphoms (l), Reed-Sternberg-Zelle eines Hodgkin-Lymphoms (m) und binukleäre Tumorzelle eines Plasmozytoms aus einem Knochenmarksausstrich (n). a–c, e–k: HE-Färbung; d: PASFärbung; l, m: Giemsa-Färbung; n: Pappenheim-Färbung
29 2.2 · Spezielle histopathologische Klassifikation maligner Tumoren
gangspunkt des Tumors wären. Die zellbiologische Grundlage für die verwendeten Kriterien dieses Klassifikationssystems ist aber in komplexen, genetisch determinierten Differenzierungsprogrammen zu suchen, die Tumorzellen gleichartig zu ihren nichtneoplastischen Korrelaten von Vorläuferzellen übernehmen, oder auch aberrant als Folge der tumoreigenen genetischen Aberrationen erwerben. Für die Klassifikation an sich und die hieraus abgeleitete Terminologie der Tumoren hat diese Erkenntnis bislang keine Konsequenzen, da für die Diagnostik lediglich die morphologischen, also deskriptiven Tumormerkmale und nicht das ursprünglich postulierte Konzept der Histogenese im Sinne einer definierten Tumorursprungszelle von Bedeutung sind. Differenzierungscharakteristika betreffen das morphologische Erscheinungsbild der einzelnen Tumorzellen, die Anordnung und das Wachstum der neoplastischen Zellen im Tumorverband, aber auch die Expression gewebe- oder zelltypspezifischer Markermoleküle. Dass sich dieses Konzept in Zukunft modifizieren und auch grundsätzlich verändern kann, wurde in den vorherigen Abschnitten ausführlich begründet. Methodische Grundlage für die histopathologische Klassifikation maligner Tumoren ist nach wie vor die konventionelle lichtmikroskopische Untersuchung, die bei geringem apparativem und finanziellem Aufwand die Komplexität der beschriebenen Differenzierungsprogramme in den Tumorzellen wie keine andere neu etablierte Nachweismethode zu erfassen in der Lage ist. Ergänzend zu der lichtmikroskopischen Analyse sind Zusatzuntersuchungen entwickelt worden, die über die Detektion von gewebe- oder zelltypspezifischen Markermolekülen weitere Informationen zum Differenzierungsprogramm der malignen Tumoren beitragen können. Die Detektion der Markermoleküle kann auf Proteinebene (ELISA, Immunhistochemie) oder aber auch auf DNA- bzw. mRNA-Ebene (z. B. (RT-)PCR, In-situHybridisierung) erfolgen. Zusatzuntersuchungen sind insbesondere dann von Bedeutung, wenn sie aufgrund einer morphologisch nur unzureichenden Diskriminierung zu einer besseren Abgrenzung der Tumorentitäten beitragen können bzw. wenn sich weitere therapeutische oder prognostische Konsequenzen ergeben. Sie sind daher nur in Kombination mit der konventionellen lichtmikroskopischen Analyse sinnvoll und können diese nicht ersetzen. Die histopathologische Klassifikation maligner Tumoren ist hierarchisch gegliedert. Prinzipiell werden Tumoren, die sich aus epithelialen Zellen ableiten, als Karzinome und solche, die sich aus nichtepithelialen Zellen ableiten, als Sarkome definiert. Weiterhin werden die nichtepithelialen Tumoren nach verschiedenen Gewebetypen, wie z. B. Tumoren des Weichgewebes, des Skelettsystems, des hämatopoetischen Systems, des zentralen und peripheren Nervensystems, unterteilt. Epitheliale Tumoren werden organtypisch nach Entstehungsort und Entstehungsart der epithelialen Differenzierung unterteilt. Eine Sonderstellung nehmen Tumoren mit zwei oder mehreren geweblichen Differenzierungsrichtungen ein. Hierzu zählen z. B. Tumoren, die von Keimzellen ausgehen, Tumoren mit embryonaler Differenzierung, aber auch Tumoren mit biphasischer, teils epithelialer und teils mesenchymaler Ausdifferenzierung, wie z. B. Mesotheliome, Karzinosarkome, synoviale Sarkome und metaplastische Karzinome. Im Folgenden soll auf die einzelnen genannten großen Klassifikationsgruppen maligner Tumoren und auf die Prinzipien ihrer weiteren histogenetischen Unterteilung eingegangen werden (. Tab. 2.3).
2.2.1
2
Karzinome
Karzinome sind maligne Tumoren, die sich von Zellen epithelialen Ursprungs ableiten. Nach histopathologischen Kriterien lassen sich maligne epitheliale Neoplasien in größere Kategorien, nämlich in Karzinome des Deckepithels (verhornte und nichtverhornte Plattenepithelkarzinome sowie Transitionalzellkarzinome), Karzinome des exokrinen Drüsenepithels (Adenokarzinome), des diffusen oder organgebundenen endokrinen Epithels (neuroendokrine Karzinome) und solche mit gemischter Differenzierung (z. B. adenosquamöse Karzinome) einteilen. Diese Grundeinteilung wird überlagert durch viele organtypische Merkmale, die sich als einzigartige organspezifische Tumoreigenschaften oder für Tumorgruppen charakteristische Befunde manifestieren und die Diversität der Karzinome der epithelialen Organe begründen. Der Verlust dieser Differenzierungsfaktoren führt zu Karzinomen, deren Ursprung nicht sicher einzuordnen ist, zu un- oder entdifferenzierten Karzinomen. Gerade bei diesen Tumoren haben zusätzliche immunhistochemische Markeranalysen und molekularbiologische Untersuchungen eine wichtige Aufgabe in der Diagnosesicherung und Prognoseabschätzung.
2.2.2
Plattenepithelkarzinome
Plattenepithelkarzinome entsprechen dem nichtneoplastischen Plattenepithel der Haut oder der inneren Oberflächen, den plattenepithelialen Metaplasien des respiratorischen Epithels (z. B. sinonasale oder Bronchialkarzinome) und drüsiger Organe (z. B. Schilddrüse, Speicheldrüsen, Ichthyosis uteri) bzw. des Urothels. Eine herdförmige, plattenepitheliale Differenzierung findet sich gehäuft auch in manchen Adenokarzinomen, so z. B. den endometrioiden Adenokarzinomen des Endometriums bzw. Ovars, wobei hier anders als in adenosquamösen und mukoepidermoiden Karzinomen (7 Abschn. 2.3.7) die plattenepithelial differenzierten Karzinomabschnitte, obwohl sie neoplastisch sind, keine morphologischen Atypien erkennen lassen. Es werden verhornte und nichtverhornte Plattenepithelkarzinome unterschieden. Histomorphologische Kriterien einer plattenepithelialen Differenzierung sind die charakteristisch geschichtete Ausreifung des Epithels innerhalb der soliden Karzinomverbände mit zunehmend kleiner werdenden Zellkernen und gleichzeitiger Zytoplasmazunahme. Typisches zelluläres Produkt ist die Verhornung. Immunhistochemisch zeigen Plattenepithelkarzinome ein charakteristisches Expressionsprofil von Zytokeratinen (Moll 1993), u. a. mit Expression der hochmolekularen Zytokeratine 5 und 6. Organspezifische morphologische oder biochemische Differenzierungskriterien sind bei Plattenepithelkarzinomen nicht bekannt. Die organspezifische Zuordnung lässt sich histologisch deshalb nur indirekt aus der Kontinuität des Karzinoms zum nichtneoplastischen Epithel oder aus präkanzerösen Veränderungen des Epithels (z. B. plattenepitheliale Dysplasien) in der unmittelbaren Umgebung des Karzinoms ableiten. Genetisch zeigen Plattenepithelkarzinome unterschiedlicher Primärlokalisation durchaus typische Unterschiede. Spezifische morphologische Veränderungen finden sich bei den durch HPV (humanes Papillomavirus) induzierten Plattenepithelkarzinomen als sog. koilozytäre Dysplasie. Der spezifische Virusnachweis kann zusätzlich durch ergänzende immunhistologische oder molekularbiologische Analysen erfolgen.
30
Kapitel 2 · Einteilung und Klassifikation maligner Erkrankungen
. Tab. 2.3. Beispiele histogenetischer Differenzierungsmarker für Karzinome und Sarkome
2
Marker
Beschreibung
Normalgewebe
Tumor
Vimentin
Intermediärfilament
Mesenchymale Zellen
Sarkome, Karzinome (u. a. Niere, Endometrium, Ovar, Mamma, Lunge, undifferenziert)
Zytokeratine
Intermediärfilament
Epithelien, Mesothelien
Karzinome, Mesotheliome, Synovialsarkome, Karzinosarkome, sonst. Sarkome (selten), maligne Melanome (sehr selten)
Muskelspezifisches Aktin
Kontraktiles Protein
Glatte und quergestreifte Muskulatur, Myoepithelien, Myofibroblasten
Leiomyosarkome, Rhabdomyosarkome, gastrointestinale Stromatumoren, Fibromatosen, Karzinome mit myoepithelialer Differenzierung, sonstige Sarkome (selten)
Desmin
Muskeltypisches Intermediärfilament
Glatte und quergestreifte Muskulatur, Myofibroblasten
Leiomyosarkome, Rhabdomyosarkome, Fibromatosen (selten), GIST
Protein S-100
Saures dimeres kalziumbindendes Protein
Nervenscheiden, Melanozyten, Fettgewebe, Knorpel, Myoepithelien, LangerhansZellen
Maligne periphere Nervenscheidentumoren, maligne Melanome, gastrointestinale Stromatumoren, Liposarkome, Chondrosarkome, Karzinome (selten), Langerhans-Histiozytosen, pleomorphes Adenom
HMB 45
Onkofetales Glykokonjugat
Unreife Melanozyten
Maligne Melanome, Angiomyolipome, Lymphangioleiomyomatose, Nierenzellkarzinome
Chromogranin B
Bestandteil der neurosekretorischen Granula
Neuroendokrine Zellen
Neuroendokrine Tumoren
Synaptophysin
Membranprotein
Neuroendokrine Zellen
Neuroendokrine Tumoren
Neuronspezifische Enolase
γγ-Dimer des glykolytischen Enzyms
Neuroendokrine Zellen
Neuroendokrine Tumoren
CD 34
115 kD Zelloberflächenprotein, L-Selektin (CD 62) – Ligand 1
Hämatopoetische Stammzellen, Endothelien, dermale Fibroblasten
Angiosarkome und sonstige angiomatöse Tumoren (z. B. Kaposi-Sarkom), Dermatofibrosarkoma protuberans, gastrointestinale Stromatumoren, periphere Nervenscheidentumoren, solitäres fibröses Mesotheliom
Faktor VIII
Antihämophiler Faktor
Endothelien, Megakaryozyten/Thrombozyten
Angiosarkome
Epitheliales Membranantigen (EMA)
Glykoprotein, Milchfett
Epithelien, Mesothelien, perineurale Zellen, Plasmazellen
Karzinome, Mesotheliome, Karzinosarkome, Meningeome, Sarkome (selten), Plasmozytome, großzellig anaplastische Lymphome, Hodgkin-Zellen
CD 31 CD117 (KIT)
Angiosarkome, Kaposi-Sarkom Protoonkogen
u. a. Cajal-Zellen, Melanozyten
Eine morphologische Variante des Plattenepithelkarzinoms mit charakteristischer Klinik stellt das verruköse Karzinom dar, das sich durch eine papillomatöse und oft breitflächige, jedoch nur minimalinvasive Wuchsform kennzeichnet und eine hohe Ausreifung des Epithels aufweist (G1). Bei verrukösen Karzinomen der Mundhöhle und des Larynx lässt sich eine virale Genese nicht in jedem Fall belegen, während die histologisch entsprechenden verrukösen Karzinome im Genitalbereich (sog. Riesenkondylome Buschke-Löwenstein) offenbar immer auf eine HPVInfektion zurückzuführen sind.
2.2.3
Gastrointestinale Stromatumoren, maligne Melanome
Basaliome
Basaliome leiten sich vom Plattenepithel der Epidermis ab und zeigen ein Differenzierungsprogramm, das den Basalzellen der Epidermis entspricht. Obwohl sie mit den Plattenepithelkarzinomen histologisch-histogenetisch eng verwandt sind, treten anders als bei Plattenepithelkarzinomen in der Regel keine Metastasen auf, obwohl sie lokal ein infiltrierendes und destruierendes Wachstum zeigen. Übergangsformen zwischen Basaliomen und Plattenepithelkarzinomen sind die sog. metatypischen Basaliome (Syn.: basosquamösen Karzinome), die ein niedriges Metastasierungspotenzial zeigen.
31 2.2 · Spezielle histopathologische Klassifikation maligner Tumoren
2.2.4
Urothelkarzinome
Urothelkarzinome leiten sich vom Übergangsepithel ab, das das Nierenbecken, die Ureteren, die Harnblase und teilweise auch die Urethra sowie die Ausführungsgänge der Prostata auskleidet. Übergangsepithel kommt nicht nur im Urogenitaltrakt, sondern auch zwischen Plattenepithelien und respiratorischen Epithelien (z. B. sinonasal) sowie zwischen Plattenepithel und Kryptenepithel in der anorektalen Übergangsregion vor. Entsprechend können neben Urothelkarzinomen auch sinonasale und Analkarzinome (sog. kloakogene Karzinome) Differenzierungscharakteristika von Übergangsepithelien aufweisen. Die für Urothelkarzinome charakteristische exophytische papilläre Wuchsform geht mit abnehmendem Differenzierungsgrad zunehmend verloren, wobei dann das solide infiltrative Wachstum überwiegt. Nach zytogenetischen und klinisch pathologischen Befunden werden die exophytisch papillären Urothelkarzinome mit niedrigem Invasions- und Metastasierungspotenzial von den aus der flachen Mukosa entstehenden, multifokalen Karzinomvorstadien (hochgradige Dysplasie und Carcinoma in situ) sowie den Karzinomen mit hohem Invasions- und Metastasierungspotenzial abgegrenzt. Entsprechend der Verwandtschaft des urothelialen zum plattenepithelialen Differenzierungsprogramm und der relativen Häufigkeit plattenepithelialer Metaplasien zeigen 4–6% der invasiven urothelialen Karzinome eine gemischte, teils urotheliale, teils plattenepitheliale Differenzierung. Aus glandulären Metaplasien des Urothels und den embryonalen Resten des Urachus-Gangs gehen zumeist Adenokarzinome hervor, während Karzinome mit teils urothelialer und teils drüsiger Differenzierung eine Rarität sind. An urothelspezifischen Markermolekülen existiert Uroplakin, ein Antigen, das in den Schirmzellen der Deckzellschicht exprimiert wird. Weiterhin zeichnen sich Urothelkarzinome ebenso wie andere Karzinomformen durch ein typisches, für die urotheliale Differenzierung jedoch nicht beweisendes Zytokeratinexpressionsprofil (u. a. CK 7, 8/18, 19 und 20) aus.
2.2.5
Adenokarzinome
Adenokarzinome leiten sich von Zylinderepithelien drüsiger Organe, von mukosalen Oberflächen oder von drüsigen Metaplasien des Plattenepithels (z. B. Barrett-Mukosa im Ösophagus) oder Urothels ab. Unter den genannten großen Karzinomkategorien zeigen Adenokarzinome die stärkste morphologische Vielfalt. Diese betrifft sowohl die Einzelzellmorphologie, die Morphologie der Zellkerne als auch die sehr variablen und für bestimmte Tumoren sehr charakteristischen Wuchsformen. Es ist die ausgeprägte morphologische Vielfalt, die gerade bei Adenokarzinomen eine weiterreichende Subtypisierung und insbesondere auch die klinisch relevante organspezifische Zuordnung ermöglicht. So erlaubt das histologische Bild eines klarzelligen Nierenzellkarzinoms ebenso wie das eines hepatozellulären Karzinoms in der Metastase oft eine sehr zuverlässige Zuordnung zum Primärtumor (. Tab. 2.4). Die zusätzliche Detektion von organspezifischen Markermolekülen, wie z. B. des prostataspezifischen Antigens (PSA) bei Prostatakarzinomen oder des Thyreoglobulins bei Schilddrüsenkarzinomen mittels serologischer Analyse, Immunhistochemie oder In-situ-Hybridisierung, von TTF1, einem Transkriptionsfaktor in Schilddrüsenund Lungenepithelien, ermöglicht in Kombination mit dem morphologischen Erscheinungsbild die organspezifische Zuordnung auch von Adenokarzinomen, deren Zuordnung allein durch
2
die konventionelle lichtmikroskopische Untersuchung nicht oder nicht sicher möglich wäre. Schwierig und oft unmöglich ist hingegen die organspezifische Zuordnung von muzinösen Adenokarzinomen, da Letztere bei einem weitgehend gleichartigen morphologischen Erscheinungsbild in vielen unterschiedlichen Organen primär auftreten können. Dies betrifft auch die verstreutzellig wachsenden Siegelringzellkarzinome, deren charakteristisches Merkmal in der Einzelzellverschleimung besteht. Sie werden zwar am häufigsten im Magen gesehen, treten jedoch u. a. auch im Dickdarm und in der Mamma auf. Auch papillär wachsende Adenokarzinome stellen in Bezug auf die Organspezifität eine problematische Tumorpopulation dar und lassen sich manchmal trotz der Zuhilfenahme von immunhistochemischen Analysen nur eingeschränkt einem bestimmten Organ zuordnen. Zu den wenig differenzierten endokrinen Karzinomen zählen auch das kleinzellige Bronchialkarzinom ebenso wie großzellige neuroendokrine Karzinome der Lunge oder anderer Organe, deren endokriner Charakter weniger durch den morphologischen Nachweis von neurosekretorischen Granula als vielmehr durch die Expression der oben genannten endokrinen Markermoleküle zu belegen ist. Schließlich kommen endokrine Zellen in vielen sonst nichtendokrinen Karzinomen vor, was meist diagnostisch unberücksichtigt bleibt.
2.2.6
Neuroendokrine Karzinome
Neuroendokrine Karzinome entsprechen den Zellen des disseminierten endokrinen Systems. Dieses lässt sich weniger durch Lokalisation und embryologische Abstammung, sondern vielmehr durch bestimmte morphologische Charakteristika und durch spezifische sekretorische Produkte und zytoplasmatische Proteine der nichtneoplastischen Zellen des neuroendokrinen Systems definieren und zusammenfassen. Nichtneoplastische Epithelien des neuroendokrinen Systems kommen in endokrinen Organen (z. B. Adenohypophyse) als distinkte Zellgruppen in exokrinen Drüsen (Pankreas) oder auch als disseminierte Einzelzellen in zahlreichen epithelialen Organen, wie z. B. Thymus, Lunge, Magen, Dünn- und Dickdarm, vor. Traditionell werden die in epithelialen Organen entstehenden neuroendokrinen Tumoren den epithelialen Tumoren und ihre malignen Varianten den Karzinomen zugezählt. Hingegen werden die im Gewebe neuralen Ursprungs, also im Nebennierenmark und den parasympathischen Paraganglien entstehenden Phäochromozytome (sympathischen Paragangliome) und Paragangliome den Weichteiltumoren zugeordnet. Problematisch, da bezüglich seiner Dignitätsaussage unklar und auch nicht einheitlich definiert, ist der 1907 von Oberndorfer etablierte und von der WHO für manche endokrinen Tumoren übernommene Begriff des Karzinoids. Die 1980 von der WHO erfolgte Klassifikation endokriner Tumoren benutzt diesen Begriff unabhängig von der Dignität für alle Tumoren des diffusen neuroendokrinen Systems mit Ausnahme der pankreatischen Tumoren, des medullären Schilddrüsenkarzinoms, des Paraganglioms, des kleinzelligen Bronchialkarzinoms und des MerkelZelltumors der Haut. Seither haben unterschiedliche internationale Gremien wiederholt vorgeschlagen, den Begriff des Karzinoids durch den Begriff »neuroendokriner Tumor« zu ersetzen (Capella et al. 1995), wobei die malignen Varianten dieser Tumoren als hochdifferenziertes und wenig differenziertes neuroendokrines Karzinom zu bezeichnen sind (WHO 1988). In der neuen
32
Kapitel 2 · Einteilung und Klassifikation maligner Erkrankungen
. Tab. 2.4. Beispiele organtypischer histologisch-histogenetischer Differenzierungskriterien bei Adenokarzinomen
2
Karzinom (Varianten)
Charakteristische Wuchsform
Typische Zellmorphologie
Markermoleküle
Follikuläres Schilddrüsenkarzinom
Follikulär
–
Thyreoglobulin, TTF1
Papilläres Schilddrüsenkarzinom
Papillär oder follikulär (selten)
Milchglaszellkerne mit Kernfalten
Thyreoglobulin, TTF1
Pulmonales Adenokarzinom
Tubulopapillär
Pneumozyten-morphologie, ClaraZell-Morphologie
Surfaktantproteine, ZytokeratinVimentin-Koexpression, TTF1
Bronchioloalveoläres Karzinom
Tapetenförmige Auskleidung der Alveolen
–
Surfaktantproteine, ZytokeratinVimentin-Koexpression, TTF1
Magenkarzinom
Tubulär, papillär (intestinaler Typ nach Lauren)
–
–
Siegelringzellkarzinom
Verstreutzellig (diffuser Typ nach Lauren)
Den Zellkern verdrängende Schleimvakuolen
E-Cadherin-Defekt
Invasiv duktales Mammakarzinom
Vorwiegend solide, teilweise tubulär
Große Tumorzellen
Östrogen- und Progesteronrezeptoren
Invasiv lobuläres Mammakarzinom
Gänsemarschähnlich (»indian file pattern«), schießscheibenähnlich (»target file pattern«)
Kleine Tumorzellen (vereinzelt Siegelringzellen)
Östrogen- und Progesteronrezeptoren
Hepatozelluläres Karzinom
Solide-trabekulär, prominente Sinusoide
Gallenproduktion, Tumorzellverfettung, glykogenreich
α-Fetoprotein, α1-Antitrypsin, HBS-positiv, (bei Hepatitis B)
Cholangiokarzinom
Drüsig prominente bindegewebige Septen
–
Zytokeratine 7 und 19
Nierenzellkarzinom u. a. klarzellig
–
Klarzellig
Zytokeratin-Vimentin-Koexpression, VHL-Mutation
Nierenzellkarzinom u. a. papillär
Papillär
–
Zytokeratin-Vimentin-Koexpression
Endometrioides Karzinom (Endometrium/Ovar)
Drüsig mit herdförmiger plattenepithelialer Differenzierung
Glykogenhaltig
Zytokeratin-Vimentin-Koexpression, Östrogenrezeptoren (selten), Progesteronrezeptoren (selten)
Prostatakarzinom
Glandulär/papillär/solide
Hellzellig
Prostataspezifisches Antigen (PSA), prostataspezifische saure Phosphatase
WHO-Klassifikation (2003) der Tumoren von Lunge und Thymus wird der Begriff für diese Lokalisationen einheitlich als Karzinoid (gutartig), atypisches Karzinoid (Syn.: gut differenziertes neuroendokrines Karzinom) und undifferenziertes neuroendokrines Karzinom definiert. Die Begriffsbildung ist in den Vorschlägen für die Terminologie intestinaler Tumoren gering verschieden, da hier der gut differenzierte neuroendokrine Tumor (Syn.: Karzinoid) vom hochdifferenzierten und wenig differenzierten neuroendokrinen Karzinom unterschieden wird. Über die Sekretion von endokrin aktiven Polypeptiden können neuroendokrine Tumoren und Karzinome zu charakteristischen klinischen paraneoplastischen Syndromen führen. Das Fehlen einer entsprechenden Symptomatik schließt jedoch einen neuroendokrinen Tumor nicht aus. Typisches, aber keinesfalls bei allen neuroendokrinen Karzinomen anzutreffendes morphologisches Merkmal ist der ultrastrukturelle oder auch lichtmikroskopische Nachweis von neuroendokrinen Granula im Zytoplasma. Ebenfalls typisch, aber nur bei einem kleinen Anteil der neuroendokrinen Tumoren anzutref-
fen, ist die Ausbildung von Tumorzellrosetten. Zu den Markermolekülen, die mit diesen sekretorischen Granula assoziiert sind, gehören die Chromogranine A, B und C (Weiler et al. 1988; Wiedenmann u. Huttner 1989) und das sekretorische Protein HISL19. Mit den kleinen klaren Vesikeln neuroendokriner Zellen ist ein weiteres wichtiges neuroendokrines Markerprotein, das integrale Membranprotein Synaptophysin (Wiedenmann u. Franke 1985; Wiedenmann et al. 1986; Wiedenmann u. Huttner 1989) assoziiert. Auch CD 56 (N-CAM) ist als membrangebundenes Adhäsions- und Signalprotein exprimiert. Zu den zytosolischen Markerproteinen neuroendokriner Tumoren und Karzinome gehören schließlich die neuronenspezifische Enolase (NSE), das ProteinGen-Produkt 9.5 (PGP 9.5) und das Protein 7B2. Mehr als bei anderen Tumoren bereiten hochdifferenzierte neuroendokrine Tumoren Probleme bezüglich ihrer Dignitätsbeurteilung. Hierfür gibt es mehrere Gründe. Zum einen weisen gerade hochdifferenzierte endokrine Tumoren ein oft sehr niedriges malignes Verhalten auf und metastasieren nur selten. Des Weiteren bereitet die Anwendung klassischer histomorpholo-
33 2.2 · Spezielle histopathologische Klassifikation maligner Tumoren
gischer Malignitätskriterien, wie Kernpolymorphie und Angioinvasivität Probleme. Manche sich in der Regel benigne verhaltende, neuroendokrine Tumoren, wie z. B. Phäochromozytome, zeichnen sich durch eine Kernpolymorphie aus, die jedoch nicht im Sinne von malignitätsspezifischen Atypien zu deuten ist. Schließlich können Zellen von neuroendokrinen Tumoren sich unabhängig von der Tumordignität subendothelial ausbreiten und somit den falschen Eindruck einer malignitätsverdächtigen Angioinvasivität erwecken. Als Malignitätskriterien dienen bei hochdifferenzierten Tumoren neben der groben Angioinvasivität und tumorbedingten Thrombosierung von Blutgefäßen insbesondere die Tumorgröße, das Auftreten von Nekrosen, Tumorzell- und -Kernpolymorphie und die Mitoserate. Auch das Fehlen einer klinischen neuroendokrinen Symptomatik kommt bei malignen Tumoren häufiger vor als bei den benignen Varianten. Letztlich kann bei manchen neuroendokrinen Tumoren, wie z. B. den Phäochromozytomen, oft erst eine manifeste Metastasierung das maligne Potenzial eines Tumors belegen.
2.2.7
Karzinome mit gemischter Differenzierung
Ein kleiner Prozentsatz von Karzinomen zeigt nicht nur eine, sondern zwei Differenzierungsrichtungen. Hierzu gehören u. a. die adenosquamösen Karzinome mit teils drüsiger und teils plattenepithelialer Differenzierung, die u. a. bei Pankreaskarzinomen, Gallenblasenkarzinomen und Karzinomen der Cervix uteri eine höhere Inzidenz aufweisen. Karzinome mit teils drüsiger und teils plattenepithelialer Differenzierung finden sich als sog. mukoepidermoide Karzinome gehäuft in Speicheldrüsen. Zu den Karzinomen mit gemischter Differenzierung gehören auch solche mit teils exokriner und teils endokriner Aktivität, wie z. B. manche seltene Varianten von Pankreaskarzinomen, aber auch Karzinome mit teils epithelialer und teils myoepithelialer Differenzierung, wie die epithelial-myoepithelialen Karzinome der Speicheldrüsen.
2.2.8
Weichgewebskarzinome (epitheliale Sarkome)
Monophasisch epithelial (bzw. epitheloid) differenzierte Weichteilsarkome stellen eine wachsende, seltene Gruppe von Sarkomen dar, die besondere differenzialdiagnostische Probleme in der Abgrenzung zu Karzinommetastasen aufwerfen. Hierzu zählen das epitheloide Weichteilsarkom, das myoepitheliale Karzinom des Weichgewebes sowie neuroektodermale Tumoren der EwingSarkomgruppe in der Abgrenzung zu Metastasen des kleinzelligen Bronchialkarzinoms.
2.2.9
Sarkome
Unter dem Begriff des Sarkoms werden alle nicht von Epithelien abgeleiteten und zugleich nicht den oben genannten Sondergruppen zugehörigen malignen Tumoren erfasst (. Tab. 2.5). Sarkome können sich primär in den Weichgeweben, im Skelettsystem, aber auch in parenchymatösen Organen manifestieren, wo sie sich aus der nichtepithelialen Gewebskomponente des Organs ableiten. Anders als bei den Karzinomen zeigen Sarkome eine gewebstypische, jedoch nur in wenigen Ausnahmen (z. B. endometriales
2
Stromasarkom, gastrointestinale Stromatumoren) eine organspezifische Differenzierung. Je nach ihrer gewebstypischen Differenzierungsrichtung werden sie in verschiedene Entitäten unterteilt und entsprechend bezeichnet. So werden Sarkome mit lipomatöser Differenzierung als Liposarkome, solche mit ossärer Differenzierung als Osteosarkome und gefäßbildende Sarkome als Angiosarkome bezeichnet. Als histomorphologische Kriterien für ihre histologisch-histogenetische Typisierung dient ebenso wie bei Karzinomen ihre Wuchsform, die charakteristische Zellmorphologie, die spezialisierte Matrix und nicht zuletzt die Expression gewebespezifischer Marker (. Tab. 2.5). Es existieren für jede Gewebsdifferenzierung zahlreiche Subtypen, deren Definition klinisch-pathologisch relevant ist und im entsprechenden Kapitel behandelt wird. Für viele Sarkome sind heute tumorcharakterisierende primäre und sekundäre Chromosomenaberrationen und die dabei involvierten Gene bekannt, sodass sich hieraus Strategien für eine gezielte Analyse in der Primärdiagnose ergeben (z. B. tumorspezifische Translokation bei Ewing-Sarkom, Rhabdomyosarkom, synovialem Sarkom etc.). Manche Sarkome zeigen unterschiedliche Differenzierungsrichtungen in unterschiedlichen Tumorabschnitten, so z. B. der maligne Triton-Tumor, der durch eine kombinierte, teils neurale und teils rhabdomyomatöse Differenzierung definiert ist. Unterschiedliche Differenzierungsrichtungen können sich bei Sarkomen aber auch in der gleichen Tumorzellpopulation manifestieren. So haben gerade immunhistochemische Analysen gezeigt, dass die Tumorzellen der Sarkome Markermoleküle von unterschiedlichen Differenzierungsrichtungen, so z. B. muskelspezifisches Aktin und das für Nervenscheidenzellen charakteristische Protein S-100, simultan exprimieren können. Manche Sarkome (z. B. Leiomyosarkome, endometriale Stromasarkome) können u. U. eine herdförmige, abortive epitheliale Differenzierung zeigen, die sich neben dem herdförmigen epitheloiden Aspekt der Tumorzellen auch durch eine Expression von epithelassoziierten Molekülen wie z. B. Zytokeratinen belegen lässt. Schließlich können Sarkome auch Differenzierungsrichtungen zeigen, die am primären Manifestationsort des Tumors gar nicht vorkommen, wie z. B. das Chondrosarkom der Weichteile. Von den in den Weichgeweben entstandenen Sarkomen abgegrenzt werden die im Gastrointestinaltrakt auftretenden gastrointestinalen Stromatumoren (GIST). Neben Tumoren mit glattmuskulärer, Nervenscheiden- oder gemischter Differenzierung lassen sich GIST durch ihren charakteristischen Phänotyp mit Expression und aktivierenden Mutationen des C-KITProtoonkogens (CD117; Sarlomo-Rikala et al. 1998; Hirota et al. 1998) erkennen. Zugleich zeigt ein Großteil der GIST auch eine Expression von CD34 (Miettinen et al. 1995), einem Oberflächenrezeptor, der in der normalen Darmwand ebenso wie CD117 von den sog. Cajal-Zellen exprimiert wird (Sircar et al. 1999). In den Cajal-Zellen der Darmwand wird deshalb eine Vorläuferzelle der GIST vermutet (Kindblom et al. 1998; Sircar et al. 1999). 2.2.10 Mesotheliome
Mesothelien stellen eine aus dem Mesenchym abgeteilte Zellpopulation dar, die sowohl eine mesenchymale spindelzellige als auch eine epitheliale Differenzierung an inneren serösen Oberflächen annehmen kann. Die von ihnen abgeleiteten malignen Tumoren zeigen charakteristischerweise ein biphasisches, teils
34
Kapitel 2 · Einteilung und Klassifikation maligner Erkrankungen
. Tab. 2.5. Histologisch-histogenetische Differenzierungskriterien bei Sarkomen Sarkom
Charakteristische Wuchsform
Typische Zellmorphologie bzw. spezifische Matrix
Immunhistochemie
Fibrosarkom
Fischgrätenmuster
Spindelzellig
Uncharakteristisch
Dermatofibrosarkoma protuberans
Radspeichenähnlich (storiform)
Spindelzellig
CD34
Malignes fibröses Histiozytom
Radspeichenähnlich (storiform)
Starke Pleomorphie
Uncharakteristisch
Liposarkom
U. a. myxoid
Lipoblast
S-100
Leiomyosarkom
Lange durchflochtene Tumorzellfaszikel (u. a. epitheloid)
Spindelzellig mit ovalen Zellkernen, Basalmembran um jede Zelle
Muskelspezifisches Aktin, Desmin
Rhabdomyosarkom
U. a. alveolär
Rhabdomyoblast
Muskelspezifisches Aktin, Desmin
Angiosarkom
Ausbildung von Gefäßlichtungen
Endothelial
CD34, Faktor VIII, CD31
Maligner peripherer Nervenscheidentumor
Zellreiche Antoni-A-Komponente und zellarme myxoide Antoni-BKomponente
Spindelzellig mit spitz zulaufenden Zellkernen
S-100
Synovialsarkom
Biphasisch teils epithelial teils spindelzellig
–
Zytokeratine, epitheliales Membranantigen (EMA)
Chondrosarkom
–
Chondroide Matrix
S-100
Osteosarkom
–
Tumorosteoid
Uncharakteristisch
Ewing-Sarkom
–
Kleinzellig
MIC-2 (CD99)
Mesotheliom
Biphasisch teils epithelial teils spindelzellig epitheliale Komponente oft papillär
Keine Schleimproduktion
Calretinin
2
epitheliales und teils spindelzellig-mesenchymales Wachstumsmuster. Sie können jedoch auch monophasisch, also rein epithelial oder rein spindelzellig, wachsen. Die epitheliale Tumorkomponente zeigt oft, aber keinesfalls ausschließlich, ein papilläres Wachstumsmuster, was differenzialdiagnostische Schwierigkeiten in der Abgrenzung zu papillär wachsenden Adenokarzinomen bereitet. Calretinin, ein zytoplasmatisches kalziumbindendes Protein, wird als der zuverlässigste positive histogenetische Marker von Mesotheliomen angesehen (Doglioni et al. 1996), während Mesotheliome anders als Adenokarzinome keine Schleimproduktion und auch keine Expression von CEA aufweisen. Eine offenbar eigene, sowohl biologisch als auch klinisch differente Entität stellt das lokalisierte fibröse Mesotheliom dar, von dem man annimmt, dass es sich von den submesothelialen mesenchymalen Zellen ableitet, eine Positivität für CD34 aufweist (Suster et al. 1995) und sich meist benigne, nur selten maligne verhält. Entsprechende Tumoren finden sich auch außerhalb der serösen Oberflächen als sog. solitäre fibröse Tumoren. 2.2.11 Karzinosarkome
Tumoren, die dieser insgesamt seltenen Tumorentität zugeordnet werden, haben insbesondere nach der Einführung der immunhistochemischen Zusatzuntersuchungen in der histopathologischen Diagnostik deutlich abgenommen, da sich einige der früher noch dieser Tumorentität zugeordneten malignen Tu-
moren gerade über die immunhistochemische Darstellung von epithelialen Markermolekülen (z. B. Zytokeratine) als teilweise entdifferenzierte und spindelzellig wachsende Karzinome erwiesen haben. Bei strenger Auslegung der Definition sind heute als Karzinosarkome nur solche Tumoren zu bezeichnen, die neben einer epithelialen auch eine spezifische mesenchymale (z. B. leiomyomatöse, chondromatöse) Differenzierung zeigen (z. B. Müller-Mischtumor des Endometriums). Statt des Begriffs Karzinosarkom wird heute in vielen Organen der Begriff metaplastisches Karzinom verwandt. Er bringt zum Ausdruck, dass ausgehend von einer postulierten multipotenten Tumorstammzelle unterschiedliche Differenzierungsprogramme aktiviert werden und eine intraklonale Plastizität und Heterogenität die phänotypisch verschiedenen Tumorkomponenten bedingt. 2.2.12 Synovialsarkome
Diese oft in der Nachbarschaft von Gelenken, Sehnenscheiden und Bursen auftretenden malignen Tumoren werden in der Annahme, dass sie sich vom synovialen, also nichtepithelialen Gewebe, ableiten, traditionell den Sarkomen zugeordnet. Histomorphologisch zeichnen sie sich typischerweise durch ein biphasisches Wachstumsmuster mit jeweils einer distinkten epithelialen und spindelzelligen Komponente aus, während die monophasischen Varianten, also der rein fibröse Typ und der monophasische epitheliale Typ, aufgrund fehlender eindeutiger histomorphologischer Kriterien nur selten diagnostiziert werden.
35 2.2 · Spezielle histopathologische Klassifikation maligner Tumoren
2.2.13 Maligne Melanome
Bösartige melanozytäre Tumoren werden nicht zuletzt aus historischen Gründen als eine Sondergruppe unter den malignen Tumoren behandelt. Histogenetisch sind sie, wie ihre nichtneoplastischen Vorläuferzellen, die Melanozyten, als Gewebe neuralen Ursprungs einzustufen und somit im weiten Sinne den Sarkomen zuzuordnen. Auch gibt es Tumoren, die eine Zwischenstellung zwischen Sarkomen und malignen Melanomen einnehmen, z. B. das sog. Klarzellsarkom, das einem malignen Melanom des Weichteilgewebes entspricht. Auch auf molekularer Ebene exprimieren maligne Melanome neurale Differenzierungsmarker, so z. B. das Protein S-100 (Nakajima et al. 1982b; Longacre et al. 1996) und das auch von unreifen Melanozyten exprimierte Melanosomen-assoziierte Antigen HMB 45 (Thomson u. MacKie 1989), jedoch nur in sehr seltenen Fällen und offenbar aberrant zusätzlich Markermoleküle von epithelialen Zellen, wie z. B. Zytokeratine (Miettinen u. Franssila 1989). Ihre weitere Einteilung richtet sich bei Melanomen der Haut nach dem Ausbreitungsmodus der Tumorzellen in der Frühphase der Läsion und ist mit einer charakteristischen Lokalisation und klinischem Erscheinungsbild verbunden (Clark 1967; Clark et al. 1969). Weitere relativ häufige klinisch relevante primäre Manifestationsorte des malignen Melanoms sind die Analschleimhaut, die Schleimhaut der Genitalien, der Nase und des Mundes, das Auge sowie die Meningen des ZNS. Melanome können prinzipiell überall im Körper entstehen. Maligne Melanome müssen von gutartigen aus den perivaskulären Melanozyten entstehenden Weichgewebstumoren, sog. PEComen abgegrenzt werden. Diese kommen unter unterschiedlicher Bezeichnung in vielen Organen vor: als Adenomyolipome der Niere, als sog. Zuckertumoren der Lunge etc. Charakteristisch ist für diese Tumoren, dass sie mit den melanomcharakteristischen Markermolekülen (Melan A, HMB 45) positiv reagieren. 2.2.14 Tumoren des ZNS
Tumoren des ZNS nehmen sowohl vom klinischen als auch vom tumorbiologischen Gesichtspunkt eine Sonderstellung ein. Diese Tumoren treten mit nur wenigen Ausnahmen (z. B. Keimzelltumor der Pinealisdrüse) ausschließlich im ZNS auf und metastasieren nur sehr selten außerhalb davon. Ihre klinische und prognostische Relevanz hängt mehr als bei anderen Tumoren von ihrer primären Lokalisation innerhalb des Gehirns oder Rückenmarks und weniger von ihrem histologischen Subtyp ab. Von den Ganglienzellen abgeleitete Tumoren bilden sich nur im Kleinkindalter. Die meisten Tumoren leiten sich von den verschiedenen Formen der Gliazellen ab. Am häufigsten ist die hochmaligne Variante des Glioblastoma multiforme. 2.2.15 Keimbahntumoren (gonadale Stromatumoren)
Zu dieser Kategorie gehören gonadale und in sehr seltenen Fällen auch extragonadale Tumoren, die Granulosazellen, Thekazellen, Leydig-Zellen, Sertoli-Zellen und vom gonadalen Stroma abgeleitete Fibroblasten, jeweils als einzige Tumorzellpopulation oder in unterschiedlichen Kombinationen und unterschiedlichen Malignitätsgraden, enthalten. Die unterschiedlichen Bezeichnungen dieser Tumorkategorie spiegeln die embryologischen Vorstellungen über die Herkunft der oben genannten Zellpopulationen aus
2
dem Zölom- und mesonephrischen Epithel der Keimbahn (Granulosa- und Sertoli-Zellen) bzw. dem spezialisierten Stroma der Keimleiste (Thekazellen und Leydig-Zellen) wider. Mit Ausnahme der Granulosazelltumoren, bei denen immer von einem niedrigmalignen Potenzial auszugehen ist, verhalten sich die meisten Keimbahntumoren in der Regel benigne. Die Abgrenzung der malignen Tumorvarianten ist anhand von histomorphologischen Kriterien nur bedingt möglich. 2.2.16 Tumoren der Keimzellen
Tumoren, die sich von den Keimzellen ableiten, können sämtliche Differenzierungsrichtungen zeigen, die auch die normale Keimzelle bei der Entwicklung der fetoplazentaren Einheit annehmen kann. Einerseits finden sich Tumoren mit einer Keimzelldifferenzierung (Seminome, Dysgerminome), benigne reife und maligne unreife Teratome (Teratokarzinome) bis hin zu Dottersackkarzinomen, Chorionkarzinomen und gemischten Keimzelltumoren mit teils embryonaler und teils chorialer Differenzierung. Keimzelltumoren können sich primär in den Gonaden, aber auch extragonadal manifestieren, dann häufig im Bereich der Medianlinie (retroperitoneal, mediastinal, ZNS). 2.2.17 Maligne hämatologische Erkrankungen
Zu den malignen hämatologischen Erkrankungen (WHO 2001) zählen die Neoplasien der hämatopoetischen Zellreihen, also der Erythropoese, Myelopoese und Thrombopoese, sowie die lymphatischen Neoplasien. Aus dem primären Manifestationsort der Neoplasie, der Morphologie der neoplastischen Zellpopulationen und dem klinischen Verlauf lassen sich folgende vier große Kategorien abgrenzen. Myelodysplastische Syndrome zeichnen sich durch Dysplasie und klonale Aberrationen der hämatopoetischen Stammzellen mit ausreifenden myeloischen Zellreihen aus. In Abhängigkeit davon, ob die Dysplasien mit einem Nachweis von Ringsideroblasten und einer Zunahme von Myeloblasten einhergehen, unterscheidet die von der FAB vorgeschlagene und allgemein anerkannte Klassifikation vier Gruppen myelodysplastischer Syndrome. Als 5. Gruppe unter den myelodysplastischen Syndromen zählt die FAB-Klassifikation zudem auch die chronische myelomonozytäre Leukämie (CMML) als myelodysplastisch/myeloproliferative Erkrankung dazu. Bei einem Blastenanteil von über 20% werden die Neoplasien als akute myeloische Leukämien eingestuft. Charakteristische Konstellation myelodysplastischer Syndrome ist eine abnorme Knochenmarkshyperplasie bei gleichzeitiger peripherer Mono-, Bi- oder Trizytopenie, was anders als bei chronischen myeloproliferativen Erkrankungen auf eine Störung in der Ausreifung der Hämatopoese hinweist. Neben den hyperplastischen Formen kommen in seltenen Fällen auch hypoplastische Varianten des MDS vor. Akute Leukämien sind Neoplasien der hämatopoetischen und lymphatischen Stammzellen und Vorläuferzellen und betreffen primär Knochenmark und Blut. Hierzu zählen zum einen die akuten lymphatischen Leukämien, die sich von Progenitorzellen der lymphatischen Zellreihe ableiten und aus Lymphoblasten bestehen. Ihre Definition erfolgt nach immunologischer Phänotypisierung der Linienzugehörigkeit und des Differenzierungsstadiums. Hierzu gehören ebenfalls die akuten myeloischen Leukämien, die
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2
Kapitel 2 · Einteilung und Klassifikation maligner Erkrankungen
sich von hämatopoetischen Stammzellen und myeloischen Progenitorzellen, also Myeloblasten, Monoblasten, Erythroblasten und Megakaryoblasten, ableiten und schließlich die seltenen Formen akuter Leukämien mit gemischter Differenzierung, die sowohl Merkmale lymphatischer als auch myeloischer Progenitorzellen besitzen. Die Unterteilung in die einzelnen Entitäten erfolgte bisher nach den Vorschlägen der Französisch-Amerikanisch-Britischen Kooperationsgruppe, die auch von der WHO weitgehend übernommen wurde (FAB-Klassifikation). Sie richtete sich bisher nach zytologischen, enzymhistochemischen und für einzelne Entitäten (M0; M7) auch immunzytologischen Charakteristika der Tumorzellen. Die beschriebenen Kriterien haben sowohl die Differenzierungsrichtung als auch den erreichten Ausreifungsgrad der neoplastischen Zellen definiert. Nach der neuen WHO-Klassifikation maligner hämatologischer Erkrankungen (Harris et al. 2000) sollen akute myeloische Leukämien mit charakteristischen genetischen Aberrationen, die bisher nur teilweise mit präexistenten FABKategorien übereingestimmt haben, als neue zusätzliche und distinkte Entitäten auf molekularer Ebene definiert werden. Anders als bei chronischen Leukämien liegt bei akuten Leukämien eine Ausreifungsarretierung auf der Ebene der unreifen Vorstufen (z. B. Promyelozyten) vor. Die morphologische Klassifikation der akuten lymphatischen Leukämien nach den Kriterien der FAB-Klassifikation (z. B. L1, L2) wird in der WHO-Klassifikation (2001) zugunsten eines Klassifikationsschemas aufgegeben, das sich am immunzytologischen Nachweis einer Expression von differenzierungsabhängigen Markern ausrichtet und der Definition der malignen Lymphome entspricht. Demnach sind akute lymphatische Leukämien und lymphoblastische bzw. Burkitt-Lymphome, die sich als solide Tumoren manifestieren, lediglich unterschiedliche klinische Präsentationen der gleichen biologischen Entität. Neben den in der FAB- Klassifikation morphologisch definierten Typen akuter myeloischer Leukämien werden in der WHO-Klassifikation akute myeloische Leukämien mit Mehrliniendysplasie, die sekundären akuten myeloischen Leukämien, akute myeloische Leukämien mit Bezug zu bestimmten Therapien (Alkylanzien, Topoisomerasehemmer u. a.) und akute myeloische Leukämien mit definierten rekurrenten genetischen Veränderungen unterschieden. Chronische myeloproliferative Erkrankungen sind eng miteinander verwandte maligne hämatologische Erkrankungen, die eine oder mehrere der hämatopoetischen Zellreihen betreffen. Zu dieser Kategorie zählen die chronische myeloische Leukämie (CML), die Polycythaemia vera (PV), die essenzielle Thrombozythämie (ET) und die idiopathische Myelofibrose (IM; Syn.: megakaryozytäre Myelose, Osteomyelosklerose). Während die CML durch die charakteristische genetische Aberration der Translokation t(9;22) definiert ist (. Tab. 2.2), richtet sich die Diagnose der PV und ET nach Blutbildparametern und charakteristischen klinischen Symptomen. Allerdings wurden hier in unterschiedlichen Häufigkeiten aktivierende Mutationen des JAK2Gens (V617F) definiert, durch die eine konstitutive Aktivierung des JAK-STAT-Signalweges begründet wird. Eine IM (OMS) ist durch eine Panmyelose mit Myelofibrose und extramedullärer Blutbildung definiert. Pathomorphologisch zeichnen sich chronische myeloproliferative Erkrankungen durch eine abnorme, jedoch komplette Ausreifung der betroffenen hämatopoetischen Zellreihen aus. Im Rahmen der Tumorprogression und bei zunehmender Zahl an genetischen Aberrationen können sämtliche myeloproliferative Erkrankungen mit einer unterschiedlichen Wahrscheinlichkeit in eine akute Leukämie übergehen. Dies ge-
schieht am häufigsten bei der CML, bei der nach einer zumeist kurzen Akzelerationsphase der Blastenschub folgt. Der Blastenschub kann sich als akute myeloische Leukämie oder akute lymphatische Leukämie manifestieren. Alternativ kann die Tumorprogression bei manchen myeloproliferativen Erkrankungen auch zur Aplasie führen, was am häufigsten im Rahmen einer IM zu beobachten ist. 2.2.18 Maligne Lymphome
Die früher alternativ verwendeten Klassifikationen der sog. KielKlassifikation in Europa und der sog. Working Formulation in Nordamerika und vielen weiteren Ländern wurde nach dem Vorschlag der R. E. A. L.-Klassifikation 1994 vereinheitlicht (Harris et al. 1994). Auf der Basis dieses Vorschlages ist eine überarbeitete und dann allgemein gültige WHO-Klassifikation der malignen Lymphome veröffentlicht worden (WHO 2001). Das Grundprinzip der neuen Klassifikationen maligner Lymphome ist die Definition der Tumorentität nach morphologischen, zytologischen, immunologischen, genetischen und klinischen Parametern. Die einzelnen Parameter tragen für die Definition einzelner Entitäten unterschiedlich bei. So gelingt es, manche Entitäten schon nach rein histologisch-zytologischen Kriterien sicher zu identifizieren, während andere eine zusätzliche immunphänotypische Charakterisierung erfordern oder nur unter Zuhilfenahme weiterer Faktoren, wie Zytogenetik und klinischer Präsentation, sicher eingeordnet werden können. Grundprinzip ist aber nach wie vor das allgemeine tumorpathologische Konzept, die Tumoren nach der Ausgangszelle und nach ihrem primären Manifestationsort zu definieren. Die »Ausgangszelle« lässt sich vor dem Hintergrund neuer immunbiologischer Erkenntnisse heute exakten Subpopulationen lymphatischer Zellen zuordnen. Grundlegende Einteilungsprinzipien sind die Unterscheidung in die Hodgkin-Lymphome und die Non-Hodgkin-Lymphome. Die Hodgkin-Lymphome werden aufgrund phänotypischer Eigenschaften der Tumorzellen in die lymphozytenprädominante Form des Morbus Hodgkin, das sog. noduläre Paragranulom, und die klassische Form des Morbus Hodgkin unterschieden. Verschiedene Varianten des klassischen Morbus Hodgkin sind die noduläre lymphozytenreiche Form, die nodulär-sklerosierende Form, der Mischtyp des Hodgkin-Lymphoms und die lymphozytenarme Form des Hodgkin-Lymphoms. Die in früheren Klassifikationssystemen vorgenommene und prognostisch relevante Unterscheidung verschiedener Varianten ist unter modernen Therapierichtlinien weniger bedeutsam, da sich die Überlebenskurven angeglichen haben. Ihre Unterscheidung ist aber aus Gründen der klinischen Präsentation und pathologisch-histologischen Differenzialdiagnose weiterhin von Bedeutung. Non-Hodgkin-Lymphome werden differenziert nach ihrer Zugehörigkeit zum B- oder T-Lymphozyten-System. Es werden jeweils Vorläuferzellneoplasien (sog. lymphoblastische Lymphome) von solchen der peripheren Zell- und Differenzierungsformen unterschieden. Neben morphologischen und phänotypischen Charakteristika spielen in der Definition auch primäre zytogenetische Aberrationen eine Rolle, die heute die meisten Non-Hodgkin-Lymphome definitiv biologisch fundierten Entitäten zuordnen lassen (. Tab. 2.2). Die früher in der Kiel-Klassifikation vorgeschlagene Graduierung der Lymphome nach dem zytologischen Typ in niedrig-
37 2.2 · Spezielle histopathologische Klassifikation maligner Tumoren
maligne und hochmaligne Formen wurde jetzt aufgegeben, da der Malignitätsgrad innerhalb der einzelnen Entitäten stark variiert und von indolenten bis zu aggressiven Lymphomformen reicht. Deshalb sind Malignitätskriterien und -graduierung innerhalb einzelner Entitäten nach prognostischen Faktoren und biologischen Merkmalen zu formulieren, um dann tumorbiologisch begründete Therapie abzuleiten. Neben der zellulären Differenzierung ist auch der Entstehungsort des Lymphoms von grundsätzlicher Relevanz für die Tumordefinition. Unter den Non-Hodgkin-Lymphomen entstehen bei solchen des B-Zell-Typs mehr als 35% außerhalb der primären lymphatischen Organe und des Knochenmarks an sog. extranodalen Primärorten. Bei Non-Hodgkin-Lymphomen des T-Zell-Systems ist dieser Prozentsatz wahrscheinlich höher (ca. 40%). Die extranodale Primärlokalisation ist bei den B-Zell-Lymphomen oft durch spezifische Vorerkrankungen (organtypische Autoimmunerkrankungen, organtypische Infektionen) geprägt, die zur Entwicklung eines sekundären lymphatischen Gewebes geführt haben. Vielfach ist aber die Ursache unbekannt. Dennoch existieren klinische und zytogenetische Unterschiede zwischen nodalen und extranodalen Lymphomen. Bei Non-HodgkinLymphomen des T-Zell-Systems leiten sich die extranodalen Lymphome häufig von bestimmten T-Zell-Subpopulationen (zytotoxischen T- und NK-Zellen) ab, die organ- und lokalisationsspezifisch einer extrathymischen, extranodalen Differenzierung entstammen. Leukämien bei Non-Hodgkin-Lymphomen Manche Non-Hodgkin-Lymphome zeigen primär und überwiegend einen leukämischen Verlauf. Andere sind überwiegend und primär tumorbildend. Selbst dann findet man häufig ein Auftreten von Tumorzellen im peripheren Blut als subleukämische Ausschwemmung, sodass Leukämie und Lymphom klinische Präsentationen einer Tumorerkrankung sind, jedoch keine systematische Unterscheidung von Entitäten der NonHodgkin-Lymphome. 2.2.19 Plasmozytom
Das Plasmozytom ist eine in der Regel im Knochenmark entstehende multifokale Neoplasie der Plasmazellen, die durch ein monoklonales Serumimmunglobulin, Skelettdestruktionen mit osteolytischen Läsionen und pathologischen Frakturen charakterisiert ist. Die histologische Diagnose begründet sich auf einer Vermehrung relativ einheitlicher, jedoch atypischer Plasmazellen im Knochenmark. Die Plasmazellen besitzen meist aufgelockerte Zellkerne und prominente Nukleolen sowie ein verbreitertes, basophiles Zytoplasma. Manchmal kommen sekretorische Einschlüsse im Zytoplasma vor (sog. Russell-Körperchen). In histologischen Knochenmarkpräparaten liegen die Plasmazellen in Nestern und Komplexen oder sie bilden Tumoren mit Destruktion des spongiösen Knochengewebes. Die Ausscheidung von Bence-Jones-Proteinen und anderen pathologischen Immunglobulinen führt zur Präzipitation in den Nierentubuli und zur Aktivierung von entzündlichen und fremdkörperbedingten Reaktionen. Die Zylinder werden von typischen Fremdkörperriesenzellen umgeben. Die Ausscheidungsfunktionen sind gestört und es entwickelt sich eine Niereninsuffizienz. Eine Amyloidose kommt als primäre Amyloidose bei subklinischer klonaler Plasmazellproliferation mit Sekretion abnorma-
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ler Immunglobulinleichtketten (AL-Amyloid) vor, wobei die Erkrankung durch Ablagerung der Amyloidfibrillen in vielen Organen entsteht und die zugrunde liegende Plasmazellerkrankung klinisch nicht entdeckt wird. Eine Amyloidose kann aber auch bei manifestem Plasmozytom auftreten (sekundäre Amyloidose vom AL-Typ). Amyloidablagerungen finden sich im Herz, in der Leber, den Nieren, im Magen-Darm-Trakt, in der Zunge oder in peripheren Nerven, wodurch eine sensomotorische periphere Neuropathie entsteht. Die Diagnose wird durch bioptischen Nachweis von Amyloid in Kapillaren und an glatten Muskelfasern der Rektumschleimhaut gestellt. Amyloid ist makroskopisch von fester, wachsartiger Konsistenz und glasiger Struktur. Der Nachweis erfolgt durch die spezifische Kongorotfärbung mit Rot-grün-Dikroismus im polarisierten Licht. Amyloidablagerungen müssen durch färberischen Nachweis von Leichtketten- oder Schwerkettenablagerungen der Immunglobuline, die ebenfalls zu Organdysfunktionen führen können, abgegrenzt werden. In der Regel sind ossäre Plasmozytome multilokulär. Man spricht auch vom »multiplen Myelom«. Röntgenologisch sieht man tumoröse Auftreibungen der Rippen oder rundliche Destruktionsherde im Schädeldach (sog. »Schrotschussschädel«). Alle Orte der Blutbildung im Skelettsystem können interstitiell diffus oder tumorös herdförmig durchsetzt und destruiert sein. Die Plasmozytomzellen bilden, wie normale Plasmazellen, Immunglobuline, jedoch, weil es sich um eine monoklonale Tumorerkrankung handelt, nur von einem molekular identischen Typ. So findet sich eine monoklonale Komponente, ein sog. MGradient, im Serum oder Urin bei 99% der Patienten. Die Serumproteinelektrophorese zeigt eine lokalisierte Bande im Gammaglobulinbereich, die besonders deutlich ist, weil die Patienten meist eine Hypogammaglobulinämie der normalen polyklonalen Serumimmunglobuline aufweisen. In über 50% der Fälle wird monoklonales IgG, in mehr als 20% der Fälle IgA gebildet. Andere Fälle zeigen zusätzlich oder allein eine monoklonale Leichtkettenproduktion oder seltene Immunglobuline (IgD, IgE, IgM). Vorstadien des Plasmozytoms werden als monoklonale Gammopathie mit unbestimmter Signifikanz (M-GUS) bezeichnet. Hierbei findet man im Serum einen monoklonalen (M-)Gradienten ohne weitere klinische Evidenzen eines multiplen Myeloms. Immunhistochemisch kann man dabei eine monotypische Leichtkettenverteilung in den Knochenmarkplasmazellen dokumentieren. Die Häufigkeit der M-GUS nimmt mit dem Alter zu und beträgt 1% bei Patienten, die älter als 50 Jahre sind und 3% bei solchen, die älter als 70 Jahre sind. Etwa 25% der Patienten mit M-GUS entwickeln ein klinisch manifestes Plasmozytom oder eine andere lymphoproliferative Erkrankung innerhalb von 20 Jahren Beobachtungszeit. Die Erkrankung kann in ihrem klinischen Verlauf ein breites Spektrum bieten von einer lokalisierten Erkrankung über schwelende oder indolente Formen, bis zu den aggressiven und disseminierten Erkrankungen, die später zu Plasmazellinfiltraten in verschiedenen Organen oder zu einer Ausschwemmung in das Blut (einer Plasmazellenleukämie) und zu Sekundärerkrankungen, die durch die Ablagerung abnormaler Immunglobulinketten im Gewebe charakterisiert sind, führen. Lokalisierte Formen des Plasmozytoms können selten im Knochen als solitäres Plasmozytom des Knochens und häufiger extraossär (extramedullär) meist im Nasen-Rachen-Raum, aber auch in anderen Geweben inkl. des lymphatischen Systems und Magen-Darm-Trakts in Erscheinung treten.
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Kapitel 2 · Einteilung und Klassifikation maligner Erkrankungen
2.2.20 Tumoren mit embryonaler (blastomatöser)
Differenzierung
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Bei diesen Entitäten handelt es sich um seltene organspezifische maligne Tumoren, deren Differenzierung dem embryonalen Gewebe des Ausgangsorgans in unterschiedlichen Entwicklungsstadien ähnelt. So gleicht das Tumorgewebe bei Wilms-Tumoren (Nephroblastom) dem embryonalen Nierengewebe und das Neuroblastom dem embryonalen Nervengewebe. Entsprechendes gilt für pulmonale Blastome und das Hepatoblastom. Typischerweise werden bei dieser Gruppe von Tumoren auch innerhalb der dominanten embryonalen Differenzierung unterschiedliche Differenzierungsrichtungen erkennbar, so z. B. beim Wilms-Tumor, bei dem gleichzeitig eine blastomatöse, eine tubuläre und eine stromaähnliche Differenzierung nachweisbar sein kann. Auch spezifische mesenchymale Differenzierungsrichtungen, wie z. B. eine rhabdomyomatöse Ausdifferenzierung, können innerhalb eines ansonsten typischen Wilms-Tumors auftreten. Tumoren mit embryonaler Differenzierung sind oft Tumoren des Kindesalters (z. B. Wilms-Tumor, Neuroblastom), manche selteneren Tumorentitäten (z. B. pulmonales Blastom) treten hingegen erst im Erwachsenenalter auf.
Klassifikationsschemata, so z. B. die Stadieneinteilung der Tumoren des weiblichen Genitaltrakts nach der FIGO-Klassifikation (International Federation of Gynecology and Obstetrics) oder auch die Einteilung maligner Melanome entsprechend ihrer Eindringtiefe nach den Kriterien von Clark (»levels of invasion I–V«; Clark 1967; Clark et al. 1969). In der 2002 erschienenen neuesten Fassung der TNM-Klassifikation haben sich die TNM-Kriterien bei gynäkologischen Tumoren den FIGO-Kriterien komplett angeglichen, sodass beide Einteilungen inzwischen identisch sind. Bestimmte Tumorkategorien, wie z. B. die malignen Lymphome, aber auch die Tumoren des ZNS, die pädiatrischen Tumoren und die von den parenchymatösen Organen ausgehenden Sarkome, werden bei der TNM-Klassifikation nicht berücksichtigt. Die Stadieneinteilung dieser Kategorien erfolgt teilweise nach eigenen Schemata, so z. B. nach dem für Hodgkin-Lymphome (Carbone et al. 1971; Lister et al. 1989) etablierten und in modifizierter Form auch bei Non-Hodgkin-Lymphomen (Musshoff u. SchmidtVollmer 1975) angewandten Ann-Arbor-Klassifikationssystem maligner Lymphome. Aktuell ist die WHO-Klassifikation gültig (Jaffe 2001).
2.4.1 2.3
Tumorvarianten bei der histologischhistogenetischen Typisierung
Morphologische Tumorvarianten sind in der nach den Kriterien der WHO erfolgten histologisch-histogenetischen Typisierung maligner Tumoren nicht selten, sondern eher die Regel. Aus klinischen Gesichtspunkten können morphologische Varianten eine Subentität darstellen, die aufgrund von noch limitierten klinischen Daten nicht für die Validierung einer eigenen Entität geeignet sind. Alternativ können sie einen prognostischen Faktor oder eine ungewöhnliche morphologische Präsentation mit einem erhöhten Fehlinterpretationsrisiko bei der histologischen Diagnostik darstellen. Die Kenntnis der Variationsbreite der Morphologie einzelner Tumorentitäten und deren Grenzen sind für die histopathologische Diagnostik essenziell. Ihre Vielfalt stellt für kleine Tumorstudien ein großes Problem dar, da eine ausreichende Patientenrekrutierung für prognostische Aussagen gerade bei selteneren Varianten nur im Rahmen multizentrischer Studien erzielt werden kann.
2.4
Stadieneinteilung maligner Tumoren (Staging)
Die Stadieneinteilung eines malignen Tumors beschreibt seine anatomische Ausdehnung zum Zeitpunkt der Primärdiagnose oder zu einem anderen Zeitpunkt im Verlauf. Sie ist von der Lokalisation des Primärtumors abhängig und für jedes Organ bzw. Organsystem unterschiedlich definiert. Deshalb setzt die Stadieneinteilung eine Zuordnung des Tumors in eine der histologischhistogenetisch definierten Tumorkategorien voraus, da sich die Stadieneinteilung im gleichen Organ bei verschiedenen histologischen Tumorkategorien unterscheiden kann. Unter den verschiedenen Stadieneinteilungen maligner Erkrankungen hat sich bei Karzinomen, aber auch Sarkomen und malignen Melanomen das TNM-System weltweit durchgesetzt. Parallel hierzu existieren bei manchen Tumorentitäten auch andere weit verbreitete
TNM-System
Die Regeln und Einzelkriterien des TNM-Systems beruhen auf der Übereinkunft der Mitglieder des internationalen UICC-Komitees (Union Internationale Contre le Cancer) und werden in mehrjährigen Zeitabständen dem neuesten Erkenntnisstand aus klinischen Studien angepasst. Das System basiert auf der Feststellung von drei Komponenten, nämlich der Ausdehnung des Primärtumors (T), dem Fehlen oder Vorhandensein und der Ausdehnung von regionären Lymphknotenmetastasen (N) sowie dem Fehlen oder Vorhandensein von Fernmetastasen (M). Durch Hinzufügen von Ziffern zu den drei Komponenten wird das Ausmaß der anatomischen Ausdehnung der malignen Erkrankung angezeigt. Die Definition der einzelnen Tumorstadien erfolgt auf der Basis prognostischer Daten und wird deswegen in unterschiedlichen Organen nach unterschiedlichen Kriterien festgelegt. So wird die Ausdehnung des Primärtumors je nach Lokalisation in Größe oder auch Infiltrationstiefe angegeben. Auch die Zahl bzw. Lokalisation der Lymphknoten, die in einem Organ ein bestimmtes N-Stadium determinieren, richtet sich nach entsprechenden prognostischen Parametern. Metastasen in Lymphknoten außerhalb der für jedes Organ definierten regionären Lymphknotenstationen werden immer den Fernmetastasen (MStadium) zugeordnet. Grundsätzlich sind für jede Tumorlokalisation zwei TNMKlassifikationen möglich, eine klinische (cTNM) und eine pathologisch-anatomische TNM-Klassifikation (pTNM). Während die pathologisch-anatomische TNM-Klassifikation auf der feingeweblichen Untersuchung des Operationspräparats beruht, basiert die klinische Klassifikation auf den vor der Behandlung bzw. Operation erhobenen klinischen Befunden. Hierzu gehören nach der neuesten Fassung der TNM-Klassifikation neben bildgebenden Verfahren, endoskopischen Befunden, Biopsien und chirurgischer Exploration bei bestimmten Tumortypen auch serologische Tumormarker, so z. B. bei Hodentumoren die serologischen Werte für HCG, LDH und AFP. Diese Serummarker begründen innerhalb des klinischen TNM-Systems neben den Kategorien T, N und M bei Hodentumoren auch eine vierte, die sog. S-Kategorie.
39 2.5 · Tumorgraduierung (Grading)
Noch nicht abschließend geklärt und umstritten ist die klinisch-prognostische und therapeutische Berücksichtigung weiterer Kategorien einer »anatomischen« Tumorausdehnung, wie sich diese aus der Anwendung neuer hochsensitiver immunzytologischer und molekularbiologischer Analyseverfahren ergeben, die in der Lage sind, einzelne Tumorzellen in einer minimalen Tumordissemination zu detektieren (Funke u. Schraut 1998; Hermanek et al. 1999; Papadopoulos u. Dimmler 2000). Anders als bei histologisch gesicherten Metastasen ist es bei Anwendung dieser Verfahren, z. B. im Blut oder Knochenmark, nicht möglich, zwischen einer manifesten Metastasierung im Sinne eines gesicherten extravasalen invasiven und tumorbildenden Wachstums und einer nur intravasalen Tumorzelldissemination ohne Metastasenbildung zu unterscheiden. Auch ist es unklar, ob die prognostische Wertigkeit eines mit den neuen Untersuchungsmethoden erzielten positiven Tumorzellnachweises mit der prognostischen Wertigkeit einer konventionell histologisch nachgewiesenen Fernmetastase gleichzusetzen ist. Es bedarf daher noch weiterer Untersuchungen sowohl zur klinisch-biologischen Relevanz als auch zur prognostischen Wertigkeit solcher Untersuchungsergebnisse (Funke u. Schraut 1998; Papadopoulos u. Dimmler 2000), um endgültig zu entscheiden, ob und in welcher Form ein immunzytologisch oder molekularbiologisch erbrachter Tumorzellnachweis in der Staging-Nomenklatur mitberücksichtigt werden kann. Nach den Vorschlägen der UICC (Hermanek et al. 1999; UICC 2002) können solche Untersuchungsergebnisse derzeit optional als eigene Kategorie in der Stadieneinteilung maligner Tumoren miterwähnt werden, sie sollen jedoch keinen Einfluss auf die Erstellung der klassischen T-, N- und M-Kategorien und ebenso wenig auf die Festlegung des R-Status haben.
2.4.2
UICC-Stadium
Die Einteilung von Tumoren in ein UICC-Stadium (UICC 2003) erfolgt in den meisten Fällen durch die Zusammenfassung von mehreren TNM-Stadien in größere prognostisch homogene und für das therapeutische Vorgehen relevante Tumorkollektive oder -gruppen. Bei Tumoren, bei denen auch die Graduierung (7 Kap. 2.5) eine dem TNM-Stadium vergleichbare prognostische Aussagekraft hat, so z. B. beim Prostatakarzinom oder bei Sarkomen, wird diese bei der Festlegung der einzelnen UICCStadien mitberücksichtigt. Das UICC-Stadium eines Tumors stellt einen der wichtigsten therapieunabhängigen prognostischen Faktoren dar und ist zugleich ein wichtiger Bezugspunkt, an dem auch die Wertigkeit anderer prognostischer Faktoren, aber auch die Effizienz definierter therapeutischer Konzepte gemessen wird.
2.4.3
Biologische Relevanz der Stadieneinteilung
Viele Beobachtungen bei unterschiedlichen Tumoren belegen, dass die Wertigkeit eines bestimmten Tumorstadiums über den reinen prognostischen Aussagewert einer anatomisch definierten Tumorprogression hinausgeht. So ist die schlechtere Tumorprognose bei einem weiter fortgeschrittenen Tumorstadium keinesfalls nur der Ausdruck einer statistisch höheren Wahrscheinlichkeit zur Metastasenbildung, die auf die höhere »Gesamtbelastung« des Organismus zurückzuführen ist. Vielmehr geht die Zunahme der anatomischen Ausdehnung eines Tumors zugleich
2
mit tumorbiologisch relevanten Veränderungen auch auf der Ebene der einzelnen Tumorzelle einher. So verändert sich bei malignen Melanomen mit zunehmender Infiltrationstiefe auch der Phänotyp der Zellen, was nicht nur in ihrem höheren Metastasierungspotenzial erkennbar wird, sondern auch in einem unterschiedlichen Expressionsprofil von Adhäsionsmolekülen. Auch auf genetischer Ebene lässt sich bei manchen Tumoren die Tumorprogression nachvollziehen, so z. B. bei Nierenzellkarzinomen und Urothelkarzinomen (Bugert u. Kovacs 1996; Richter et al. 1997; Schullerus et al. 1997), die mit zunehmendem Stadium auch eine zunehmende Zahl von genetischen Aberrationen aufweisen (sog. genetisches Staging).
2.5
Tumorgraduierung (Grading)
Methodische Grundlage für die Graduierung aller Tumoren ist nach wie vor die konventionelle lichtmikroskopische Untersuchung. Bei ihrer Beurteilung fließen zwei voneinander abhängige, in ihrer Natur jedoch unterschiedliche morphologisch fassbare Merkmalsgruppen des Tumors ein. Diese lassen sich am besten unter den Begriffen des Differenzierungsgrades und des Malignitäts- bzw. Anaplasiegrades darstellen.
2.5.1
Differenzierungsgrad
Während die histologisch-histogenetische Differenzierung eines malignen Tumors etwas über die Differenzierungsrichtung der Tumorzellen aussagt und somit die Zuordnung eines Tumors zu einer nichtneoplastischen Zellpopulation mit entsprechend morphologisch definiertem Differenzierungsprogramm ermöglicht, sagt der Differenzierungsgrad des Tumors etwas über die Länge der von den Tumorzellen zurückgelegten Differenzierungsstrecke aus. Endpunkte der Differenzierungsstrecke sind die funktionell ausdifferenzierten, in der Regel stark spezialisierten und gering proliferationsaktiven Zellen, so z. B. die schleimproduzierenden Becherzellen bei den muzinösen Adenokarzinomen, aber auch die reifen Granulozyten bzw. Lymphozyten bei der chronischen myeloischen bzw. chronischen lymphatischen Leukämie. Je höher der Differenzierungsgrad eines Tumors ist, desto mehr von den Differenzierungsmerkmalen des nichtneoplastischen Gewebes sind auch im Tumorgewebe erkennbar. Dazu gehört neben den morphologischen Merkmalen der einzelnen Tumorzellen, wie z. B. Zellform, Form und Lage des Zellkerns und Beschaffenheit des Zytoplasmas, insbesondere auch die Wuchsform der Tumorzellen, so z. B. das drüsige Wachstumsmuster bei Adenokarzinomen, die fischgrätenartige Anordnung der Tumorzellen beim Fibrosarkom und auch das follikuläre Wachstumsmuster bei den Keimzentrumslymphomen. Bei hämatologischen Erkrankungen ist zudem auch die Expression spezifischer Differenzierungsmarker von Bedeutung, die eine Zuordnung der Tumorzellen zu einem bestimmten Entwicklungsstadium der nichtneoplastischen hämatopoetischen bzw. lymphatischen Zellen erlauben. Demzufolge lässt sich der Differenzierungsgrad eines Tumors nur innerhalb einer vorgegebenen Differenzierungsrichtung angeben und setzt die histologisch-histogenetische Typisierung des Tumors voraus. Mit der Abnahme des Differenzierungsgrades kommt es bei malignen Tumoren zu einer zunehmenden Entdifferenzierung, also einem zunehmenden Verlust der genannten Eigenschaften.
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Kapitel 2 · Einteilung und Klassifikation maligner Erkrankungen
So geht bei wenig differenzierten Plattenepithelkarzinomen die Fähigkeit der charakteristischen geschichteten Ausreifung innerhalb der soliden Tumorformationen oder gar die Fähigkeit zur Verhornung zunehmend verloren, es überwiegen als undifferenziert oder »primitiv« einzustufende Organisationsmuster der Tumorzellen und Zellformen, z. B. spindelzellige Tumorabschnitte, bei denen die für Epithelien charakteristische polare Anordnung der Zellen innerhalb des Zellverbands nicht mehr erkennbar ist. Bei manchen Tumoren (z. B. Liposarkom, Chondrosarkom) geht dieser Verlust an differenzierten Eigenschaften des adulten Gewebes parallel mit einem Wiedererlangen eines embryonalen Phänotyps einher, sodass in Anlehnung an den primär zellbiologisch geprägten Begriff der Dedifferenzierung (Okada 1991) diese Tumoren auch als dedifferenziertes Liposarkom bzw. Chondrosarkom bezeichnet werden. Oft lässt sich der Prozess einer Entdifferenzierung oder Dedifferenzierung innerhalb eines malignen Tumors durch die Untersuchung verschiedener Tumorabschnitte im gleichen Operationspräparat oder aber auch durch wiederholte Biopsien zu verschiedenen Zeitabschnitten der malignen Erkrankung nachvollziehen, z. B. beim Übergang eines lipomähnlichen Liposarkoms in ein dedifferenziertes Liposarkom. Insofern spiegeln die oben genannten Begriffe auch den Prozess einer intraklonalen Tumorprogression korrekt wieder.
2.5.2
Malignitäts- bzw. Anaplasiegrad
Maligne Tumoren zeichnen sich nicht nur durch einen Verlust von differenzierten Eigenschaften der korrespondierenden, nichtneoplastischen Zellpopulation aus, sondern auch durch ein zunehmend malignes Potenzial mit einer entsprechenden Zunahme von hierfür charakteristischen malignitätsspezifischen Eigenschaften, wie z. B. invasives Wachstum und Metastasierungspotenzial. Das Maß für die Malignitätseigenschaften des Tumors spiegelt sich oft im morphologischen Aspekt des Tumors wider und lässt sich durch seinen Malignitätsgrad angeben. Morphologisch macht sich ein höherer Malignitätsgrad durch eine Zunahme der zellulären Atypien, also malignitätsspezifischen zellulären Veränderungen wie Hyperchromasie der Zellkerne, Anisokaryose und Kernpolymorphie sowie Verschiebung der Kern-Plasma-Relation bemerkbar. Darüber hinaus sieht man oft ein für nichtneoplastische Zellen des adulten Organismus untypisches Ausreifungs- und Wachstumsmuster der Tumorzellen, das unter den Begriff der Dysplasie subsumiert wird. So zeichnen sich Dickdarmkarzinome ebenso wie ihre neoplastischen Vorstufen, die Adenome, durch eine Verzweigung ihrer tubulären Strukturen und zugleich durch ein disseminiertes Wachstum einzelner Tumorzellen aus (Kirchner u. Brabletz 2000), also Wuchsformen, wie sie in der nichtneoplastischen Krypte des Dickdarms unter normalen Bedingungen nicht vorkommen und mehr embryonalen Formen der Morphogenese gleichen (Kirchner u. Brabletz 2000). Zellkinetisch verschiebt sich das Gleichgewicht zwischen programmiertem Zelltod (Apoptose) und Proliferation, das eine der wichtigsten Regelgrößen normaler Gewebe darstellt, zugunsten eines vermehrten Überlebens entweder durch Resistenz gegen Apoptosesignale oder höhere Proliferation oder beides. Dieses Ungleichgewicht führt in Verbindung mit der geänderten Wuchsform (z. B. Ausbildung von Tubuliverzweigungen) und bei klonaler Dominanz zum Tumorwachstum. Biologisch ist der Malignitätsgrad durch eine zunehmende Unab-
hängigkeit der Tumorzellen von exogenen Wachstumseinflüssen und ein hiermit verbundenes erhöhtes Metastasierungspotenzial gekennzeichnet. Während z. B. die Proliferation von neoplastischen Lymphozyten in niedrigmalignen MALT-Lymphomen des Magens offenbar noch von lokalen Stimuli abhängt und bei Eradikation von Helicobacter pylori zumindest zeitweise sistieren kann, scheinen solche Stimuli für hochmaligne MALT-Lymphome, die dann disseminieren und auch außerhalb des Magens wachsen können, keine Rolle mehr zu spielen. Zytogenetische und molekularbiologische Untersuchungen bei verschiedenen Tumortypen belegen, dass mit zunehmendem Malignitätsgrad die Zahl der genetischen Aberrationen in einem malignen Tumor zunimmt (sog. genetisches Grading; Schullerus et al. 1997). In der Regel ist es so, dass mit zunehmendem Malignitätsgrad der Differenzierungsgrad des Tumors abnimmt und auch umgekehrt, sodass in der routinemäßigen Anwendung entweder die Angabe des Differenzierungsgrades oder des Malignitätsgrades ausreichend ist. Dabei erfolgt in der Praxis keine strenge Abgrenzung der Kriteriengruppen, weshalb bei der Angabe des Differenzierungsgrades von Karzinomen auch zelluläre Atypien, also malignitätsspezifische Kriterien, mitberücksichtigt werden. Umgekehrt werden bei der Angabe des Malignitätsgrades maligner Lymphome auch von der zellulären Differenzierung abhängende Kriterien, wie z. B. die Expression von Immunglobulinen, berücksichtigt. Die Auswahl der Graduierungskriterien wie auch die Auswahl der Kriterien bei der Stadieneinteilung erfolgt bei unterschiedlichen Tumorkategorien oder -entitäten nach empirischen klinisch-prognostischen Gesichtspunkten. So ist bei der Graduierung von Mammakarzinomen das von Bloom und Richardson (1957) entwickelte Score-System üblich, bei dem Wuchstyp der Tumorzellen, Kernatypien und Mitoserate berücksichtigt werden, während die nach Gleason erfolgte Graduierung der Adenokarzinome der Prostata nur das Wachstumsmuster der Tumorzellen berücksichtigt. Anders als bei den genannten zwei Beispielen sind die Kriterien für die Graduierung mancher anderer gängiger Karzinome, wie z. B. des kolorektalen oder pulmonalen Adenokarzinoms, nicht exakt definiert, sodass hier Befunderspezifische Variabilitäten stärker in Erscheinung treten. Auch haben sich Graduierungskriterien nicht bei allen Tumorkategorien, z. B. bei den malignen Melanomen, als prognostisch signifikant erwiesen, weshalb bei diesen Tumoren auf eine Graduierung verzichtet wird. Bei manchen Tumorentitäten und morphologischen Varianten spiegeln die gängigen morphologisch definierten Graduierungskriterien die Prognose eines Tumors nicht korrekt wieder. So zeichnen sich kolorektale Adenokarzinome bei genetischer Instabilität typischerweise durch einen nach morphologischen Gesichtspunkten als niedrig einzustufenden Differenzierungsgrad aus, haben jedoch eine durchschnittlich bessere Prognose als kolorektale Adenokarzinome ohne genetische Instabilität. Ähnliches gilt für das medulläre Mammakarzinom, das nach histologischen Gesichtspunkten als wenig differenziert einzustufen ist, aber eine überdurchschnittlich gute Prognose hat. Folgerichtig ist bei manchen Tumoren die Definition der Tumorentität an sich der wichtigste prognostische Faktor, was auch bei der Risikoabschätzung und Wahl des therapeutischen Vorgehens zu berücksichtigen ist. Formal wird diesem Tatbestand Folge geleistet, indem bei manchen Graduierungssystemen, z. B. bei den Sarkomen, die histologische Entität bzw. morphologische Variante selbst ein wichtiges Graduierungskriterium darstellt, während bei
41 2.6 · Prognotische Faktoren
anderen prognostisch wichtigen Tumorvarianten, wie z. B. dem medullären Mammakarzinom, von einer weiter reichenden Graduierung nach gängigen histomorphologischen Kriterien abgesehen wird.
2.6
Prognostische Faktoren
Prognostische Faktoren sind definitionsgemäß Prädiktoren für das Überleben oder das rezidivfreie Überleben, stellen jedoch kausalpathogenetisch weder die Todesursache an sich dar, noch sind sie die Ursache des Rezidivs. Sie können nur innerhalb einer definierten Tumorentität gültig sein und hängen u. U. auch stark von der Therapie ab. So können sie bei neuen Therapieverfahren rasch bedeutungslos werden. Auch deshalb eignen sich prognostische Daten als alleiniges Kriterium für die Definition einer eigenen Entität nicht. Ferner können sie bereits zum Zeitpunkt der Primärdiagnose gültig sein und dann einen Risikofaktor darstellen, sie können sich aber auch aus dem Verlauf der Erkrankung ergeben und somit die Tumorprogression definieren. Als Klassifikationskriterien maligner Tumoren kommen am ehesten die tumorbezogenen oder therapiebezogenen prognostischen Faktoren in Frage, in manchen Fällen aber auch die patientenbezogenen Faktoren, die in der Regel als Prognose-Score ermittelt werden. Wichtige allgemeine patientenbezogene Daten sind im Internationalen Prognostischen Index IPI (Shipp et al. 1993) für viele Tumorentitäten gültig. Innerhalb mancher anderer Entitäten, z. B. beim Morbus Hodgkin, können andere Parameter gültig sein (Hasenclever u. Diehl 1998). Zu den tumorbezogenen prognostischen Faktoren zählen in erster Linie die histologisch-histogenetische Typisierung, die Stadieneinteilung und die Graduierung. Darüber hinaus kommt für praktisch jede Tumorentität eine Vielzahl anderer unterschiedlicher Parameter als prognostischer Faktor in Betracht. Dies können Eigenschaften der Tumorzellen sein, die sich aus verschiedenen histologischen Charakteristika des Tumors ergeben, ebenso wie eine charakteristische klinische Präsentation, biochemische Marker und definierte genetische Aberrationen. Die Wertigkeit jedes dieser prognostischen Faktoren ergibt sich aus uni- bzw. multivariaten Analysen, wobei erst multivariate Studien die Abgrenzung von unabhängigen prognostischen Faktoren ermöglichen. Im Folgenden wird kurz auf einzelne tumorspezifischen Eigenschaften eingegangen, die bei vielen Tumoren mitentscheidend für den klinischen Verlauf und somit auch für die Prognose sind. Wachstumsrate Die Wachstumsrate stellt nicht nur einen prognostischen Faktor dar, sondern ist für manche Tumorkategorien, wie z. B. Sarkome, auch ein wichtiges Malignitätskriterium per se. Ferner fließt sie als einer von mehreren Parametern bei der Graduierung vieler maligner Tumoren mit ein. Sie stellt für jeden Tumor eine charakteristische Größe dar und resultiert aus einer klonal fixierten Dysregulation zwischen Proliferation und Absterberate. Diese Dysregulation geht bei Neoplasien immer mit einem »Wachstumsüberschuss« einher und bedingt ihre Größenzunahme, ist also formalpathogenetisch der »tumorbildende« Faktor eines jeden neoplastischen Prozesses.
2
Wachstumsfraktion Für die Messung ist die Bestimmung der Wachstumsfraktion einer der am leichtesten reproduzierbaren Werte. Sie erfolgt durch immunhistochemische Detektion zellzyklusspezifischer Proteine (z. B. Ki67; Gerdes 1984, 1990) oder durch DNA-flowzytometrische Analysen. Schwieriger ist die Aussage über die Absterberate, die entweder durch terminale Differenzierung oder Apoptose erfolgt. Besonders die bei vielen Tumoren nachgewiesene Apoptoseresistenz geht oft mit einer Chemotherapieresistenz gegen Mitosegifte einher und ist deshalb therapeutisch besonders relevant. Invasivitätsverhalten Auch aus dem histologisch verifizierbaren lokalen Invasivitätsverhalten eines malignen Tumors werden negative und auch positive prognostische Faktoren ermittelt. So sind bei vielen Tumorentitäten der Nachweis einer peritumorösen Lymphangiosis carcinomatosa sowie der histologische Nachweis eines Tumoreinbruchs in venöse Blutgefäße als Risikofaktoren zu werten. Beide genannten Formen der lokalen Tumorausdehnung werden bei der Stadieneinteilung der meisten Tumorentitäten nach dem TNM-System nicht direkt berücksichtigt, können aber separat von den T-, N- und M-Kategorien als zusätzliche fakultative Lund V-Kategorien angegeben werden. Weitere histologische Parameter des lokalen Invasivitätsverhaltens, die zu den Risikofaktoren bei manchen Tumorentitäten zählen, sind u. a. der Einbruch von Tumorzellen in Perineuralscheiden beim kolorektalen Karzinom ebenso wie die fehlende Ausbildung einer peritumorösen bindegewebigen Kapsel beim Schilddrüsen- und hepatozellulären Karzinom. Hingegen scheint, anders als primär angenommen, das auf eine Mutation des Zell-Adhäsionsmoleküls ECadherin zurückzuführende verstreutzellige Wachstumsmuster der Magenkarzinome vom diffusen Typ nach der Klassifikation von Lauren keinen unabhängigen Risikofaktor gegenüber den nichtverstreutzellig wachsenden Magenkarzinomen vom intestinalen Typ darzustellen. Therapiebezogene Faktoren Die wichtigsten therapiebezogenen prognostischen Faktoren sind bei den operablen Malignomen die klinische und histopathologische Beurteilung des Residualtumors (R-Status) und bei den adjuvant bzw. neoadjuvant, chemo- bzw. strahlentherapeutisch behandelten malignen Erkrankungen die Beurteilung der Tumorregression. Indikator für die Tumorprogression und somit als therapieabhängiger prognostischer Faktor einzustufen ist auch der Verlauf serologisch nachweisbarer Tumormarker (z. B. CYFRA21-1 für die nichtkleinzelligen Lungenkarzinome und CA19-9 für die Pankreaskarzinome). Manche prognostische Faktoren können allein auf eine bestimmte Tumortherapie bezogen sein. Ihre klinische Wertigkeit hängt also von der Therapiewahl ab. Hierzu zählt u. a. der immunhistochemische Nachweis von Östrogen- bzw. Progesteronrezeptoren (Vollenweider-Zerargui 1986) bei Mammakarzinomen, wenn diese mit Antiöstrogenen behandelt werden. In klinischen Studien befindet sich der immunhistochemische Nachweis einer HER-2/NEU-Expression für die Therapie mit Antikörpern gegen diesen Zellrezeptor. Für die richtige Bewertung einer jeden Tumorerkrankung sind heute viele Befunde erforderlich, die weit über eine histopathologische Klassifikation hinausgehen. Allerdings stellt diese nach wie vor den Goldstandard für alle nachfolgenden Bewertungen dar, da nur sie eine einfache und reproduzierbare Definition der Tumorart erlaubt.
42
Kapitel 2 · Einteilung und Klassifikation maligner Erkrankungen
Zusammenfassung
2
Die Klassifikation maligner Tumoren erfolgt nach empirischen, allgemein akzeptierten und reproduzierbaren Kriterien mit dem Ziel nach biologischen und klinisch-therapeutischen Gesichtspunkten sinnvoll erscheinende Tumorentitäten eindeutig und prognostisch relevant voneinander abzugrenzen. Im vorliegenden Kapitel wird das Spektrum möglicher Klassifikationsprinzipien maligner Erkrankungen aufgezeichnet und auf die derzeit allgemein gültigen Klassifikationskriterien der primären anatomischen Lokalisation, histopathologischen Typisierung, anatomischen Ausdehnung und Graduierung detailliert eingegangen. Die hierfür weltweit etablierten Klassifikationssysteme der histologischen Typisierung nach WHOKriterien, das TNM- und UICC-System sowie Graduierungssysteme unterschiedlicher Tumorentitäten werden exemplarisch
erörtert sowie die Vielfalt histogenetischer Differenzierungsmarker und histologisch-histogenetischer Differenzierungskriterien im Detail dargestellt. Besonderer Wert wird auf die Beziehung der einzelnen Klassifikationsparameter zum komplexen biologischen Prozess der Tumorentstehung und Progression gelegt und ebenso auf die wechselseitige Beziehung der Klassifikationsparameter zueinander. Der zunehmende Beitrag neuer Klassifikationskriterien wie molekulares Karzinogeneseprinzip, tumordefinierende zytogenetische Veränderung und Genexpressionsprofil innerhalb bestimmter Tumorgruppen wird mit verschiedenen Beispielen erläutert und auf die Notwendigkeit einer fortwährenden Weiterentwicklung und Erweiterung bestehender Klassifikationssysteme hingewiesen.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
3
3 Epidemiologie bösartiger Neubildungen N. Becker
3.1
Datenquellen und Methoden
3.2
Ergebnisse der deskriptiven Epidemiologie
3.3
Ätiologische Epidemiologie: Die maßgeblichen Risikofaktoren
3.4
Molekulare Epidemiologie
3.5
Früherkennung Literatur – 66
– 64
– 44
– 62
– 49 – 56
44
Kapitel 3 · Epidemiologie bösartiger Neubildungen
> Einleitung
3
3.1
Lange Latenzzeiten, eine multifaktorielle Verursachung und eine bei den meisten Agenzien vergleichsweise geringe Risikoerhöhung machen es bis auf wenige Ausnahmen unmöglich, auf individueller Ebene die Ursachen von Krebserkrankungen zu identifizieren. Aus diesem Grund ist man darauf angewiesen, gruppentypische Unterschiede in gegenüber bestimmten Agenzien verschieden stark exponierten Bevölkerungsgruppen aufzuspüren und zu quantifizieren. Dies ist die Aufgabe der Epidemiologie, die definiert werden kann als die Wissenschaft vom Auftreten von Krankheiten in menschlichen Bevölkerungen bzw. Bevölkerungsgruppen und seinen möglichen Ursachen. Aufgrund der bevölkerungsbezogenen Betrachtungsweise wird der Blick gewissermaßen aus der Vogelperspektive auf das Krankheitsgeschehen geworfen. Man erhält damit kaum Einblick in die biologischen Abläufe der Karzinogenese. Das Ziel der Epidemiologie ist dementsprechend auch weniger, zu dem mechanistischen Verständnis der Krebsentstehung beizutragen, als vielmehr die Wissensgrundlagen dafür zu schaffen, Prävention zu betreiben und Strategien hierfür zu entwickeln. Die Erfahrung lehrt, dass eine wirksame Prävention häufig bereits eingeleitet werden kann, bevor die Entstehungsmechanismen einer Krankheit biologisch genau verstanden sind. Beispiele hierfür sind bereits aus der Epidemiologie der Infektionskrankheiten bekannt, bei denen es vielfach genügte, die Ausbreitungswege zu erkennen und zu unterbrechen, z. T. lange bevor die bakteriellen oder viralen Erreger identifiziert werden konnten. Beispiele aus der Krebsforschung sind der Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs oder beruflichen Expositionen und verschiedenen Krebsarten, bei denen nach Entdeckung jeweils unmittelbar Präventionsmaßnahmen angegeben bzw. durchgeführt werden konnten, ohne zuvor die Pathogenese im Einzelnen aufgeklärt zu haben. Der vorliegende Beitrag fasst zusammen, mit welchen Methoden die Epidemiologie arbeitet, welcher Daten sie sich bedient und welche epidemiologischen Ergebnisse bis heute zu den Ursachen der Krebskrankheiten vorliegen. Ausführlichere Darstellungen der Methodik finden sich z. B. in Becker (1998, 2006).
Datenquellen und Methoden
Man unterscheidet in der Epidemiologie gewöhnlich zwischen der Berichterstattung über die Häufigkeit von Krankheiten in menschlichen Bevölkerungen, die als deskriptive Epidemiologie bezeichnet wird, und der eigentlichen Krankheitenursachenforschung, der ätiologischen Epidemiologie. Die deskriptive Epidemiologie gibt Auskunft über das Krankheitsgeschehen in verschiedenen Ländern bzw. in verschiedenen Regionen eines Landes hinsichtlich des säkularen zeitlichen Verlaufes sowie in Abhängigkeit vom Lebensalter. Krebsatlanten sind typische Beispiele für Veröffentlichungen aus dem Bereich der deskriptiven Epidemiologie (z. B. Becker u. Wahrendorf 1997 und Fortschreibung im Internet unter http://www.krebsatlas. de). Auf der Datenebene besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der deskriptiven und der ätiologischen Epidemiologie darin, dass Erstere sich auf routinemäßig erhobene Sammelstatistiken (amtliche Todesursachenstatistik, Daten von Krebsregistern) mit wenig bzw. keinen Angaben zu individuellen Merkmalen stützt, während Letztere ihre Daten fragestellungs- und auf individuelle Merkmale bezogen gezielt selbst erhebt.
3.1.1
Datenquellen
Amtliche Todesursachenstatistik Die grundlegende Datenquelle für die Beantwortung der Frage, wie häufig bestimmte Krankheiten in einem Land zur Todesur-
sache werden bzw. an welchen Todesursachen die Menschen in einem Land versterben, ist die amtliche Todesursachenstatistik. Da es ohne besonderes Zutun keinerlei Instanz gibt, die einen Überblick darüber gewinnen könnte, wie viele Menschen in einem Land an bestimmten Krankheiten jeweils neu erkranken, ist die Todesursachenstatistik darüber hinaus häufig auch die einzige Datenquelle, um wenigstens bei den Krankheiten mit hoher Letalität einen Anhaltspunkt über die Erkrankungshäufigkeit zu gewinnen. In Deutschland geht der Weg einer Todesbescheinigung vom ausstellenden Arzt zum jeweils zuständigen Gesundheitsamt sowie Standesamt, von dort zur Verschlüsselung gemäß ICD (Internationale Klassifikation der Krankheiten; DIMDI 1994) zum statistischen Landesamt des betreffenden Bundeslandes und anschließend wieder zurück zum einsendenden Gesundheitsamt bzw. zum Gesundheitsamt des letzten Wohnortes des Verstorbenen (. Abb. 3.1). In dem jeweiligen Gesundheitsamt wird sie, in den Bundesländern unterschiedlich, mindestens fünf, häufiger jedoch 10 oder 30 Jahre aufbewahrt. Die auf diese Weise als Sammelstatistik in den statistischen Landesämtern entstehenden Daten werden alljährlich an das Statistische Bundesamt in Wiesbaden übermittelt, das eine Bundesstatistik erstellt. Jeder eine Todesbescheinigung ausfüllende Arzt sollte sich darüber bewusst sein, dass seine Angabe möglicherweise irgendwann einmal in eine epidemiologische Studie Eingang finden könnte, deren Qualität u. a. auch von der Qualität seiner Angabe abhängt. In jedem Fall aber geht jede Todesbescheinigung in die amtliche Todesursachenstatistik ein, die routinemäßig hinsichtlich der Veränderungen in der Krebssterblichkeit epidemiolo-
45 3.1 · Datenquellen und Methoden
3
. Abb. 3.1. Der Weg der Todesursachen vom Standesamt bis in die anonyme Bundesstatistik. Berichtswege der Todesursachenstatistik in der Bundesrepublik Deutschland. (Nach Fassl 1982)
gisch ausgewertet wird. Auch die Qualität dieser Auswertungen hängt von der Sorgfalt ab, mit der diese Bescheinigungen ausgestellt werden. Krebsregister Man unterscheidet zwischen epidemiologischen und klinischen Krebsregistern. Ein epidemiologisches Krebsregister ist bevölkerungsbezogen und strebt an, alle Krebsfälle, die in der in seinem Einzugsbereich lebenden Bevölkerung auftreten, zu erfassen, unabhängig davon, wo die Diagnose gestellt wurde. Ein klinisches
Krebsregister ist auf Kliniken oder Tumorzentren bzw. onkologische Schwerpunkte bezogen und strebt an, alle in der betreffenden Einrichtung diagnostizierten oder behandelten Krebsfälle zu erfassen, unabhängig davon, aus welcher Region die betreffenden Personen stammen. Epidemiologische Register vervollständigen demnach ihre bevölkerungsbezogene Sicht auf das Krebsgeschehen in Zusammenarbeit mit Registern anderer Bundesländer um Erkrankungsfälle, die unter Einwohnern der eigenen Region aufgetreten sind, aber nicht in der betreffenden Region diagnostiziert wurden, und klinische Register vervoll-
46
Kapitel 3 · Epidemiologie bösartiger Neubildungen
ständigen im Idealfall ihre Sicht auf das Krebsgeschehen um Daten über Diagnose, Therapie und klinischen Verlauf der von ihnen erfassten Krebspatienten, die nicht in der eigenen Einrichtung durchgeführt wurden, aber für klinisch-epidemiologische Auswertungen relevant sind.
3
Epidemiologische Krebsregister. In der Öffentlichkeit und auch in der Ärzteschaft noch nicht richtig wahrgenommen, existieren mittlerweile in allen Bundesländern epidemiologische Krebsregister, die bis auf eine Ausnahme (Hessen) flächendeckend angelegt sind. Diese Register bestehen allerdings in den meisten Bundesländern erst, seit im Jahr 1995 ein Bundesgesetz die Länder verpflichtete, bis zum Jahr 1999 Krebsregister einzuführen. Viele dieser Register sind daher noch in der Aufbauphase, d. h. erfassen noch nicht alle Krebsfälle vollzählig oder haben diese erste Phase gerade erst hinter sich, d. h. blicken noch nicht auf lange Zeitreihen vollzähliger Datenbestände zurück. Das Register mit der längsten vollzähligen Erhebungsphase (seit 1970) ist das Saarländische Krebsregister. Ein epidemiologisches Krebsregister hat im Wesentlichen drei Aufgaben: 1. Es führt eine alljährliche Berichtserstattung durch, in der (a) die Häufigkeit der verschiedenen Krebskrankheiten, (b) die säkulare Entwicklung und (c) die altersabhängige Verteilung der Inzidenz sowie (d) eventuell die regionalen Unterschiede innerhalb seines Einzugsbereiches dargestellt werden. 2. Es dient als grundlegende Datenquelle für die ätiologischepidemiologische Forschung. 3. Es hat neuerdings die Aufgabe, die Qualitätssicherung des organisierten Mammographie-Screeningprogramms durch regelmäßige Ermittlung der Intervallkarzinome zu unterstützen (Becker 2006). Die Qualität der Registerdaten ist insofern höher als diejenige der Todesursachenstatistik, als für die registrierten Krebsfälle stets angestrebt wird, die genaue histologische Diagnose zu erhalten. Man sollte sich indessen vor dem falschen Eindruck hüten, Krebsregisterdaten seien grundsätzlich »harte« und Daten der Todesursachenstatistik »weiche« Daten. Die Neuerkrankungsdaten der Krebsregister können dann noch viel »weicher« sein als Daten über den Tod an einer Krebskrankheit, wenn man keine sicheren Kriterien zur Beurteilung der Malignität einer Neubildung hat. Mithilfe von PSA gefundene Prostatakrebsfälle sind ein Beispiel dafür, dass ein Krebs zwar diagnostiziert und an das Register gemeldet werden kann, man aber heute noch keine Möglichkeit hat zu beurteilen, ob der Tumor ohne diese gezielte Suche jemals klinisch manifest, d. h. »inzident« geworden wäre. Der Tod an einer Krebserkrankung ist demgegenüber ein »hartes« Faktum. Schließlich ist die Todesursachenstatistik aufgrund ihrer festen Etablierung vollzählig, während die Krebsregister um die Vollzähligkeit und Vollständigkeit ihrer Datensammlung erst einen manchmal erfolglosen Kampf führen müssen. Beides ist aber oberstes Gebot, um die an sie gestellten Erwartungen auch wirklich erfüllen zu können. Auch hier gilt also, dass die Qualität dieser Datenquelle damit steht und fällt, ob die Ärzte sich der Wichtigkeit ihrer Meldung bewusst und bereit sind, jeden ihnen bekannt gewordenen Krebsfall auch tatsächlich an das jeweils zuständige Register zu berichten. Die Daten derjenigen Register, die bestimmten Qualitätsmindeststandards genügen, werden vom Internationalen Krebs-
forschungszentrum (IARC) in Lyon in regelmäßigen Abständen weltweit zusammengetragen und publiziert (Parkin et al. 2002). Klinische Krebsregister. Sie wurden und werden in erster Linie an Tumorzentren bzw. onkologischen Schwerpunkten sowie in den in diesen Jahren ins Leben gerufenen »Comprehensive Cancer Centers« (z. B. Diehl et al. 2005) eingerichtet. Ihre Aufgaben bestehen u. a. in: 4 regelmäßiger Berichterstattung, z. B. über Patientenzahlen insgesamt und nach Tumorarten sowie Alters- und Stadienverteilung bei Diagnose; 4 Qualitätssicherung, z. B. durch Auswertung tumorfreien Überlebens sowie relativer Überlebenszeiten; 4 Durchführung bzw. Unterstützung von wissenschaftlichen Studien, z. B. klinisch-epidemiologischen Vorhaben zu neuen prognostischen Faktoren oder klinischen Therapiestudien. In Baden-Württemberg wird derzeit versucht, in Zusammenarbeit mit der Selbstverwaltung zur Unterstützung der klinischen Qualitätssicherung in Verschränkung mit dem epidemiologischen Krebsregister des Landes auch ein landesweites klinisches Krebsregister aufzubauen.
3.1.2
Methoden
Die bei den Krebskrankheiten herrschenden Zusammenhänge sind stochastischer Natur: Auch starke Raucher müssen nicht zwangsläufig an Krebs erkranken und eine an Lungenkrebs erkrankte Person muss nicht notwendig Raucher gewesen sein. Die dem unter den vorliegenden Bedingungen daher nicht angemessenen deterministischen Begriffspaar Ursache und Wirkung entsprechenden probabilistischen Begriffe sind Risikofaktor und Risiko. Eine Einflussgröße X wird Risikofaktor für das Risiko R genannt, wenn R als Funktion von X bei Kontrolle der übrigen Variablen nicht konstant ist. Risiko ist allgemein die Wahrscheinlichkeit eines unerwünschten Ereignisses (hier: Krebserkrankung, Tod). Das Rauchen ist ein starker Risikofaktor für Lungenkrebs, weil es das Risiko, d. h. die Wahrscheinlichkeit an Lungenkrebs zu erkranken und zu sterben, erhöht. Begriffe der deskriptiven Epidemiologie Die deskriptive Epidemiologie beschreibt Krankheitshäufigkeiten in der menschlichen Bevölkerung, ihren zeitlichen Verlauf, regionale Unterschiede sowie Unterschiede zwischen durch Alter, Geschlecht, Beruf usw. definierten Bevölkerungsgruppen. Die wesentlichen Größen zu deren Beschreibung sind Inzidenz und Mortalität. Inzidenz und Mortalität. Die Inzidenz ist definiert als die Anzahl der Neuerkrankungsfälle, die in einer bestimmten Bevölkerung während eines festgelegten Zeitraumes auftreten. Formal identisch ist auch die Mortalität definiert als die Anzahl der Sterbefälle, die in einer bestimmten Bevölkerung während eines festgelegten Zeitraumes auftreten. Üblicherweise wird bei nicht infektiösen Krankheiten als Beobachtungszeitraum 1 Jahr gewählt. Zu beachten ist, dass diese Begriffe mitunter jeweils synonym gebraucht werden mit den Größen Inzidenzrate und Mortalitätsrate.
47 3.1 · Datenquellen und Methoden
Inzidenz- und Mortalitätsrate. Als Inzidenzrate bezeichnet man die Anzahl der neu aufgetretenen Erkrankungsfälle dividiert durch das Produkt aus Beobachtungszeit und Größe der Bevölkerung, aus der die Erkrankungsfälle stammen. Entsprechend ist die Mortalitätsrate definiert als der Quotient aus der Anzahl der Todesfälle und dem Produkt aus Beobachtungszeit und Größe der zugrunde liegenden Bevölkerung. Um allzu kleine Zahlen zu vermeiden, werden Inzidenz- und Mortalitätsraten häufig je 100.000 Einwohner angegeben. Inzidenz- und Mortalitätsraten werden zunächst altersspezifisch definiert und anschließend in aller Regel für die Berechnung einer altersstandardisierten summarischen Rate verwendet. Altersspezifische Raten. Für die Berechnung altersspezifischer Inzidenz- bzw. Mortalitätsraten wird der Altersbereich in kleine Intervalle aufgeteilt, zumeist 5-Jahres-Altersgruppen 0–4, 5–9, …, 80–84 und 85+, in denen nach dem soeben beschriebenen Verfahren Raten gebildet werden. Altersstandardisierte Raten. Für Vergleiche zwischen verschiedenen Kalenderjahren oder Regionen bzw. Ländern ist eine Vielzahl in einzelnen Altersgruppen definierter altersspezifischer Raten zu unhandlich. Man bevorzugt stattdessen summarische Größen. Die am häufigsten verwendete Größe ist die altersstandardisierte Inzidenz- (ASI) bzw. Mortalitätsrate (ASM), die aus den altersspezifischen Raten dadurch hervorgeht, dass ein gewichteter Mittelwert gebildet wird. Auch die ASI bzw. ASM werden im Allgemeinen bezogen auf eine zugrunde liegende Bevölkerung von 100.000 Personen. Wird für die verschiedenen Zeiträume oder Regionen, für die solche altersbereinigten Raten berechnet werden, stets derselbe Satz von Gewichten verwendet, dann sind diese gewichteten Mittelwerte direkt miteinander vergleichbar. Um diese Vergleichbarkeit sicherzustellen, hat man sich international auf sog. »Standardbevölkerungen« geeinigt, die als Gewichte zur Berechnung der gewichteten Mittelwerte verwendet werden (z. B. die sog. »Weltbevölkerung« oder »Europäische Bevölkerung«). Sie haben die folgende Interpretation: Die altersstandardisierte Inzidenzbzw. Mortalitätsrate gibt diejenige Anzahl von Neuerkrankungsbzw. Todesfällen an, die in dem betreffenden Zeitraum bzw. in der betreffenden Region auftreten würde, wenn die dort jeweils lebende Bevölkerung gerade den Altersaufbau der gewählten Standardbevölkerung hätte. Standarisiertes Mortalitätsverhältnis (»Standardized Mortality Ratio«, SMR). Häufig möchte man die Mortalität in einer Region gezielt unter dem Gesichtspunkt betrachten, ob diese von »normalen« Werten abweicht. Für eine solche primär vergleichende Beurteilung wird im Allgemeinen das sog. standardisierte Mortalitätsverhältnis (SMR) verwendet. Hierbei wird berechnet, wie viele Todesfälle an einer Todesursache oder Todesursachengruppe aufgrund der Größe und der Altersstruktur der Bevölkerung der betrachteten Region unter »normalen« Bedingungen zu erwarten wären. Das SMR setzt die beobachtete Zahl der in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe an der Zielkrankheit verstorbenen Personen in Beziehung zu derjenigen Zahl von Fällen, die in der betreffenden Gruppe zu erwarten wäre, wenn dort die Mortalität in einer Referenzbevölkerung (z. B. die Sterblichkeit an der Zielkrankheit in Deutschland insgesamt) herrschen würde. Entsprechend kann man bezüglich »standardisierter Inzidenzverhältnisse (SIR)« verfahren.
3
Relative Überlebensraten. Als Maß für einen Behandlungserfolg können Überlebensraten gebildet werden. Zumeist für einen Fünfoder Zehnjahreszeitraum berechnet, geben sie die Wahrscheinlichkeit an, am Ende der betreffenden Periode noch am Leben zu sein. Eine Schwäche dieser Größe besteht darin, dass selbst bei der vollständigen Heilung einer Krebskrankheit die Überlebensrate nach 5 oder 10 Jahren niemals 100% betragen kann, weil man während dieser Zeit (auch als Nicht-Krebskranker) auch an einer anderen Krankheit versterben kann. Eine optimale Therapie kann lediglich erreichen, dass der Patient nicht an der betreffenden Krebskrankheit verstirbt und damit das normale Sterberisiko eines NichtKrebskranken erreicht. Das Maß, das diesem Sachverhalt angemessen Rechnung trägt, ist die relative Überlebensrate. Die relative 5-Jahres-Überlebensrate gibt die Wahrscheinlichkeit an, die einer Krebsdiagnose folgenden 5 Jahre zu überleben, bezogen auf die entsprechende Überlebenswahrscheinlichkeit von gleichaltrigen, nicht an Krebs erkrankten Personen. Die üblichen Überlebenszeitanalysen haben den Nachteil, dass für eine Quantifizierung z. B. einer 5-Jahres-Überlebensrate Personen prospektiv beobachtet werden müssen, deren Krebsdiagnose mindestens 5 Jahre zurückliegt. Will man die Wirksamkeit einer neuen erfolgversprechenden Therapie evaluieren, erhält man auf diesem Weg also erst 5 Jahre nach deren Einführung, d. h., wenn vielleicht bereits eine andere Therapie aktuell ist, die betreffende Auskunft. Die Effekte einer Therapie auf die ersten 1 oder 2 Jahre nach Diagnosestellung beruhen daher stets auf möglicherweise bereits veralteten Therapiemodalitäten. Entsprechend ungünstiger ist die Situation bezüglich 10-Jahres-Überlebenszeiten. Betrachtet man stattdessen retrospektiv unterschiedliche Personengruppen, die heute eine Überlebenszeit von 1 Jahr, 2 Jahren usw. hinter sich haben, und setzt diese mit geeigneten mathematischen Methoden zu einer 5- oder 10-Jahres-Überlebenszeit zusammen, spiegelt dieser synthetische Wert die Kurzzeiteffekte aktueller Therapieverfahren und lediglich bei den Überlebensperioden für längeres Überleben die Effekte zurückliegender Therapieansätze wieder. Dieses Verfahren erscheint daher attraktiver für die Bewertung aktueller Therapieschemata. Im Vergleich sind beide Ansätze gut geeignet, mögliche Therapiefortschritte zu quantifizeren. Das erstere Verfahren wird »Kohortenansatz«, der letztere »Periodenansatz genannt (Brenner et al. 2005a,b). Beide Ansätze wurden für . Tab. 3.1 verwendet, auf die im Ergebnisteil eingegangen wird. Ätiologische Studien Das wissenschaftliche Ziel ätiologischer Studien ist die Identifizierung und Quantifizierung von Risikofaktoren für die jeweils untersuchten Krankheiten. Das präventivmedizinische Ziel ist darüber hinaus die Beseitigung dieser Faktoren, so weit dies möglich ist, oder ihre Reduzierung und damit die Verminderung der Krankheitshäufigkeiten. Studientypen Das Paradigma für einen Kausalnachweis ist eigentlich das Experiment. Das Charakteristische z. B. eines Tierexperimentes besteht darin, dass dem Tier unter kontrollierten Laborbedingungen eine genau definierte Dosis eines Karzinogens verabreicht, der Verlauf vollständig überwacht und die Langzeitwirkung beobachtet wird. Die Epidemiologie hat Beobachtungsverfahren entwickelt, die man als Simulation einer experimentellen Situation ansehen
48
Kapitel 3 · Epidemiologie bösartiger Neubildungen
3
. Abb. 3.2. Epidemiologische Studientypen und ihre Blickrichtung
kann. Aus der Vielzahl von Expositionen gegenüber Schadstoffen, denen der Mensch im täglichen Leben ausgesetzt ist, und über deren mögliche Schädlichkeit zum Zeitpunkt der Exposition oft keine hinreichende Kenntnisse vorliegen, werden durch eine geeignete Definition der Studienteilnehmer diejenigen Beobachtungssituationen herauspräpariert, die formal gesehen der kontrollierten Applikation eines möglichen Karzinogens und der Langzeitbeobachtung der eventuell daraus entstehenden Folgewirkungen entsprechen. Diesen Studientyp nennt man Followup-Studie (. Abb. 3.2). Wenn auch unmittelbar nicht so einsichtig, kann man dennoch mathematisch nachweisen, dass bei Einhaltung bestimmter Regeln auch die umgekehrte Blickrichtung zu analogen Ergebnissen führt: Ausgehend von bereits eingetretenen Krebsfällen und geeignet ausgewählten Kontrollpersonen wird retrospektiv die Expositionsvorgeschichte erhoben und hinsichtlich der zu untersuchenden Risikofaktoren ausgewertet. Dieser Studientyp heißt Fall-Kontroll-Studie (. Abb. 3.2). In beiden Fällen geht es darum, die mit einer Exposition gegenüber einem bestimmten Agens verbundene Risikoerhöhung relativ zu einem stets vorhandenen »Hintergrundrisiko« zu identifizieren und zu quantifizieren. Der Begriff relatives Risiko nimmt daher einen zentralen Platz in der Epidemiologie ein. Follow-up-Studien Als Follow-up-Studie bezeichnet man eine epidemiologische Studie, in der eine Gruppe von Personen bzw. eine Bevölkerungsgruppe, die über eine Exposition gegenüber einem Risikofaktor oder eine Interventionsmaßnahme (Prävention, Früherkennung, Therapie) definiert sind, langzeitbeobachtet wird, um das Spektrum der auftretenden Krankheiten oder Todesursachen zu ermitteln. Als Synonym wird der Begriff der Kohortenstudie verwendet. Die geforderte Parallelität zum Experiment impliziert, dass eine Follow-up-Studie Exposition und Krankheitsfolgen auf individueller Basis nachvollziehen muss. Der kontrollierten Applikation im Experiment entspricht die möglichst genaue Ermitt-
lung von Beginn und Ende (und damit der Dauer) sowie der Intensität der Exposition für jede einzelne Person. Dies kann einen persönlichen Kontakt im Sinne einer Befragung (Interview) erforderlich machen (z. B. bei Ernährungsfaktoren als Exposition), muss aber nicht (z. B. im beruflichen Bereich, wo die Exposition häufig aus der Kenntnis der betrieblichen Produktionsbedingungen rekonstruiert werden kann). Die Personen werden sodann dadurch »beobachtet«, dass sie (oder das zuständige Krebsregister) entweder in Abständen hinsichtlich aufgetretener Krankheiten befragt werden (wenn der Endpunkt der Untersuchung Inzidenz, d. h. Neuerkrankungsfälle sind) oder dass der sog. Vitalstatus ermittelt wird, d. h. festgestellt wird, ob die betreffenden Personen noch am Leben oder mittlerweile verstorben sind (wenn der Endpunkt der Untersuchung Mortalität an bestimmten Krankheiten ist) und sodann die Todesursache festgestellt wird. Je nach Fragestellung kann diese Beobachtungsphase Jahre und Jahrzehnte (z. B. bei Krebskrankheiten aufgrund jahrzehntelanger Latenzzeiten) dauern. Die Unterstützung derartiger epidemiologischer Vorhaben durch eine effiziente Identifizierung von Krebserkrankungen in der betreffenden Kohorte (durch sog. »record linkage«) ist eine der wesentlichen Aufgaben der epidemiologischen Krebsregister (7 Abschn. 3.2.1). Allerdings bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass man auf Ergebnisse 10 oder 20 Jahre warten muss. Gelingt es, im Nachhinein die Exposition ausreichend gut zu charakterisieren, kann man eine Follow-up-Studie mit zurückverlegtem Anfangspunkt (Synonym: historische Follow-up-Studie) durchführen. Insbesondere in der Berufskrankheitenepidemiologie ist es häufig möglich, aus alten Betriebsunterlagen die in den 1950er und 1960er Jahren Beschäftigten zu identifizieren. Die Beobachtungsphase kann dann bis heute dauern und umfasst bis zu 45 Jahre mit der entsprechenden hohen Zahl mittlerweile aufgetretener Krankheits- und Todesfälle (Beispiel: Becker 1999). Die Auswertung kann bei dieser Studienanlage sofort erfolgen. Dieser Studientyp liefert damit relativ rasch Resultate. Mögliche Risikofaktoren oder möglicherweise protektiv wirkende Faktoren, die erst neu in unsere Umwelt gelangt sind, können allerdings auf diese Weise nicht untersucht werden. Hier muss die Follow-up-Studie zwangsläufig prospektiv sein mit Expositionsbeschreibung heute und Beobachtung aufgetretener Krankheits- bzw. Todesfälle in der Zukunft (Beispiele: Mobiltelefone, »functional food« oder Arzneimittel). Wie beim Experiment, in dem parallel zur exponierten Gruppe eine Kontrollgruppe geführt wird, erfordert eine Follow-upStudie im Prinzip ebenfalls eine Kontrollgruppe. Sie ist so auszuwählen, dass sie möglichst präzise das »Hintergrundrauschen« in der exponierten Gruppe abbildet. Sie soll genau dasselbe Risikomuster wie die exponierte Gruppe haben mit einem einzigen Unterschied, nämlich der Exposition, die untersucht werden soll. Ist die Kontrollgruppe unangemessen, entstehen systematische Verzerrungen, die das Resultat der Studie bis zur Unbrauchbarkeit verfälschen können. Die Möglichkeit des Vorliegens von Störfaktoren oder Verzerrungen, die bei der Studienanlage zu berücksichtigen bzw. zu vermeiden oder, falls dies nicht möglich ist, bei der Auswertung statistisch zu kontrollieren bzw. eliminieren sind, ist ein grundsätzliches Problem bei der Durchführung epidemiologischer Studien. Ihre Behandlung erfordert große Sorgfalt und es existiert umfangreiche Literatur zu dieser Thematik (z. B. Rothman u. Greenland 1998). Hier seien zumindest allgemeine Definitionen zweier wichtiger Begriffe gegeben:
49 3.2 · Ergebnisse der deskriptiven Epidemiologie
Allgemein bezeichnet man eine Variable, die sowohl mit der in der jeweiligen Studie zu untersuchenden Exposition als auch mit der zu untersuchenden Krankheit assoziiert ist, als Störgröße bzw. Störfaktor (»confounder«). Als Verzerrung (»bias«) bezeichnet man eine systematisch bedingte Abweichung des Ergebnisses einer Studie oder einer Parameterschätzung von dem unbekannten, tatsächlich zu erwartenden Ergebnis. Die im Laufe der Beobachtung der Studien- und Kontrollgruppe identifizierten Neuerkrankungs- bzw. Todesfälle können auf die Anzahl der Studienteilnehmer und die Beobachtungszeit bezogen und damit direkt Inzidenz- bzw. Mortalitätsraten berechnet werden. Aus ihnen lässt sich eine grundlegende Größe der Epidemiologie, das relative Risiko bzw. die »rate ratio« berechnen: Das relative Risiko ist der Quotient aus dem Risiko einer gegenüber einem bestimmten Agens exponierten und dem Risiko einer nicht exponierten Bevölkerungsgruppe. In Followup-Studien können diese gruppenspezifischen Risiken geschätzt werden aus den entsprechenden Inzidenz- bzw. Mortalitätsraten. Das relative Risiko wird demnach geschätzt aus dem Quotienten (Ratio) der betreffenden Inzidenz- bzw. Mortalitätsraten. Fall-Kontroll-Studien Die Untersuchung der Ätiologie seltener Krebsarten (z. B. Hirntumoren) mithilfe von Follow-up-Studien führt zu der Schwierigkeit, dass eine enorme Zahl von Teilnehmern in die Studie aufzunehmen ist, um während einer vernünftigen Studiendauer eine hinreichend große Zahl von Tumorfällen zu beobachten. Das bedeutet, dass man, um eine letztlich relativ kleine Zahl von Erkrankungsfällen zu erhalten, große Datenmengen über Personen erheben muss, die während der Studienlaufzeit niemals an der betreffenden Krebskrankheit erkranken. Dies kann man jedoch vermeiden. Es kann mathematisch gezeigt werden (z. B. Breslow u. Day 1980), dass man eine Serie von Krebsfällen unter bestimmten Bedingungen als Krankheitsendpunkt einer fiktiven Follow-up-Studie interpretieren kann, d. h., dass das Konzept einer Fall-KontrollStudie unter bestimmten bei der Durchführung einzuhaltenden Bedingungen zur Schätzung relativer Risiken tauglich ist. Als Fall-Kontroll-Studie bezeichnet man epidemiologische Studien, deren Ausgangspunkt Erkrankungsfälle an der zu untersuchenden Krankheit sowie geeignet auszuwählende, nicht an dieser Krankheit erkrankte Kontrollpersonen sind; Ziel ist die Identifizierung von Expositionen in deren Vorgeschichte, die möglicherweise mit dem Erkrankungsrisiko für die betreffende Krankheit assoziiert sind. Aus der soeben skizzierten Logik, eine Fall-Kontroll-Studie gewissermaßen als Simulation einer Follow-up-Studie zu betrachten, folgt, dass der »normale« Studientyp die bevölkerungsbezogene Fall-Kontroll-Studie ist. In ihr wird eine Studienregion definiert, in der sämtliche während der Studiendauer neu auftretenden Fälle zu erfassen sind, und aus der im Rahmen einer Zufallsstichprobe aus der Allgemeinbevölkerung die Kontrollgruppe zu bestimmen ist. Die Erfassung kann entweder im Rahmen der Studie in den Krankenhäusern der betreffenden Region erfolgen oder es kann das jeweils zuständige Krebsregister einbezogen werden, das die betreffenden gemeldeten Fälle (nach Einholung einer Einverständniserklärung) an die Studie weitergibt. Dies stellt einen weiteren wissenschaftlichen Einsatzbereich epidemiologischer Krebsregister dar. In Abschwächung dieses Prinzips werden jedoch auch krankenhausbezogene Fall-Kontroll-Studien durchgeführt. Bei dieser
3
Vorgehensweise wird das Klientel der betreffenden Klinik als die der Studie zugrunde liegende Bevölkerung angesehen und entsprechend auch die Kontrollgruppe aus dem Klinikklientel gezogen. Zur Eliminierung elementarer Störfaktoren bereits auf der Ebene der Studienkonzeption wird in Fall-Kontroll-Studien gewöhnlich eine Paarbildung vorgenommen (»gematcht«), in aller Regel hinsichtlich der beiden Faktoren Alter und Geschlecht sowie, bei multizentrischen Studien, der Studienregion. Inzidenzraten können bei Fall-Kontroll-Studien allerdings prinzipiell nicht geschätzt werden. Die am Ende einer Fall-KontrollStudie vorliegenden Daten erlauben aber die Schätzung der Expositionswahrscheinlichkeiten bei Fällen und Kontrollen. Der daraus berechenbare, in Anlehnung an den englischen Begriff »Odds Ratio« mit Quotenverhältnis bezeichnete Quotient liefert gemäß der eingangs erwähnten mathematischen Herleitung einen approximativen Schätzer des relativen Risikos, wenn die Erkrankungswahrscheinlichkeit an der untersuchten Krankheit niedrig ist. Bevölkerungsbezogenes attributables Risiko. Die in bevölkerungsbezogenen Fall-Kontroll-Studien gegebene Schätzung von Expositionswahrscheinlichkeiten bietet den Vorteil, dass aus der Kontrollgruppe ein Schätzwert über die Prävalenz der betreffenden Exposition in der Allgemeinbevölkerung entsteht. Zusammen mit dem für diese Exposition errechneten relativen Risiko kann ein sehr wichtiger Begriff der Epidemiologie, das sog. bevölkerungsbezogene attributable Risiko, bestimmt werden. Es beschreibt den Anteil der an der betreffenden Krankheit erkrankten oder verstorbenen Personen (häufig angegeben in Prozent), der der betreffenden Exposition zuzuschreiben ist und durch deren Eliminierung im Prinzip vermieden werden kann. Die in . Tab. 3.3 angegebenen, bestimmten Risikofaktoren zuzuordnenden prozentualen Anteile von Krebstodesfällen sind ein Beispiel für die Anwendung dieser Größe.
3.2
Ergebnisse der deskriptiven Epidemiologie
3.2.1
Krebsmortalität und Krebsinzidenz in Deutschland
Mortalität Von den im Jahr 2003 in Deutschland verstorbenen 396.270 Männern und 457.676 Frauen starben 110.703 Männer und 98.552 Frauen an Krebs. Das bedeutet, dass hierzulande ungefähr jeder vierte Sterbefall ein Krebstodesfall ist. Damit sind bösartige Neubildungen nach den Herz-Kreislauf-Krankheiten die zweithäufigste Todesursachengruppe in Deutschland (. Abb. 3.3). Die Anzahl der Krebstodesfälle nahm in Westdeutschland bei beiden Geschlechtern seit 1952, dem ersten Jahr, für das Daten der Todesursachenstatistik zur Verfügung stehen, von Jahr zu Jahr zu und hat sich dabei nahezu verdoppelt (. Abb. 3.4, durchgezogegen Kurven). Dies hängt z. T. mit einem Anwachsen der Bevölkerungszahlen und z. T. mit der steigenden Lebenserwartung zusammen, und zeigt sich infolge des Rückganges der Bevölkerungszahlen für das Gebiet der ehemaligen DDR nicht (. Abb. 3.4, gestrichelte Kurven). Betrachtet man die altersstandardisierten Mortalitätsraten, die Veränderungen der Bevölkerungszahlen durch die Ratenbildung und Veränderungen in der Lebenserwartung durch die Altersstandardisierung, erkennt man einen Anstieg der Krebs-
50
Kapitel 3 · Epidemiologie bösartiger Neubildungen
3
. Abb. 3.3. Die häufigsten Todesursachengruppen in Deutschland im Jahr 2003
sterblichkeit unter Männern seit Beginn der 1950er Jahre bis Beginn der 1980er Jahre, danach eine Stagnation und seit Beginn der 1990er Jahre einen deutlichen Rückgang. Bei Frauen zeigt sich ein stetiger Rückgang über die gesamte Periode bzw. zumindest seit Beginn der 1960er Jahre (. Abb. 3.5). Diese Entwicklung besagt mit anderen Worten, dass das Risiko, an Krebs zu sterben, seit Beginn der 1990er Jahre für beide Geschlechter zu-
rückgeht. (Altersstandardisierte Raten quantifizieren nicht das Risiko, aber ihre zeitlichen Veränderungen entsprechen den zeitlichen Veränderungen des Risikos.) . Abb. 3.6 zeigt, dass für die meisten Krebsarten die Mortalität zurückgeht bzw. zumindest nicht weiter ansteigt. Alarmierende Ausnahme ist Lungenkrebs bei Frauen, der gerade dabei ist, die zweithäufigste Krebstodesursache bei Frauen zu werden.
. Abb. 3.4. Entwicklung der Zahl der Todesfälle an bösartigen Neubildungen für Männer und Frauen in Ost- (gestrichelte Linien) und Westdeutschland (durchgezogene Linien)
. Abb. 3.5. Altersstandardisierte Mortalitätsraten für bösartige Neubildungen für Männer und Frauen in Deutschland
51 3.2 · Ergebnisse der deskriptiven Epidemiologie
Die Lungenkrebsmortalität unter Männern geht im Unterschied hierzu seit Anfang der 1990er Jahre deutlich zurück. Auch die Brustkrebssterblichkeit unter Frauen lässt seit Mitte der 1990er Jahre einen Rückgang erkennen. Die Magenkrebssterblichkeit zeigt für beide Geschlechter einen deutlichen Rückgang, der weltweit zu beobachten ist und nicht medizinisch herbeigeführt ist (zu den aktuellen Trends für alle Krebsarten s. Becker et al. 2007). Einen Überblick über die Rangordnung der 20 häufigsten Krebslokalisationen in Deutschland im Jahr 2003 gibt . Abb. 3.7. Der nun bei beiden Geschlechtern zu beobachtende Rückgang der Krebssterblichkeit gibt nicht Anlass dazu, gewissermaßen »Entwarnung« zu geben. Ein Vergleich der Entwicklung bei den beiden häufigsten Todesursachen in Deutschland, Krankheiten des Kreislaufsystems und bösartige Neubildungen, offenbart, dass auch die Sterblichkeit an der häufigsten Todesursache, den Krankheiten des Kreislaufsystems zurückgeht (. Abb. 3.8). Bleiben diese Trends in den nächsten Jahrzehnten in der jetzt erkennbaren Weise unverändert bestehen, erscheint eine Überkreuzung der Kurven, d. h. – altersstandardisiert betrachtet – ein Aufrücken der Krebskrankheiten zur häufigsten Todesursache, nicht ausgeschlossen. Quantitative Extrapolationen zeigen indessen, dass dieser Fall in absehbarer Zukunft (in den nächsten 25– 30 Jahren) nicht eintreten wird (Becker et al. 2007). Mortalität in Abhängigkeit vom Alter . Abb. 3.9 zeigt die Sterblichkeit in Abhängigkeit vom Alter für drei unterschiedliche Krebslokalisationen im Jahr 1995. . Abb. 3.9a lässt erkennen, dass für Magenkrebs die altersspezifische Mortalität mit dem Alter kontinuierlich ansteigt. Demgegenüber ist für Lungenkrebs (. Abb. 3.9b) in den höchsten Altersklassen ein Abknicken der Sterblichkeitsraten erkennbar. Hierbei handelt es sich jedoch vermutlich nicht nur um einen Rückgang des Risikos, sondern um einen sog. Kohorteneffekt, der dadurch zustande kommt, dass in dieser Querschnittsbetrachtung auf der Grundlage der Daten des Jahres 1995 in den verschiedenen Altersgruppen unterschiedliche Generationen nebeneinander betrachtet werden. So stammt die Sterblichkeit in der Altersgruppe der 80- bis 85-Jährigen aus der Generation der 1911–1915 Geborenen, die im Verlauf ihres Lebens ein niedrigeres Lungenkrebsrisiko akkumuliert haben als die darauffolgenden Generationen. Rücken diese »jüngeren« Generationen in die Altersgruppe der 80- bis 84-Jährigen vor, dann wird für sie die Mortalität nicht niedriger liegen als in den vorangegangen Altersgruppen, sondern weiter ansteigen. Betrachtet man bei Lungenkrebs die altersspezifische Mortalität durch langfristige Beobachtung einer alternden Generation, dann erhält man einen ebenso stetigen Anstieg bis ins hohe Alter, wie es in . Abb. 3.9a für Magenkrebs zu sehen ist. Die meisten Tumorlokalisationen haben einen mit dem Alter stetig ansteigenden Verlauf der Sterblichkeit, wie es in . Abb. 3.9a für Magenkrebs zu erkennen ist. Es gibt jedoch einige wenige Lokalisationen, bei denen die Tumoren im jüngeren Alter auftreten und zu »zweigipfligen« Verteilungen führen. Dazu gehören z. B. Hodentumoren (. Abb. 3.9c) und Hirntumoren. Verschiedentlich wurde die mit dem Alter stetig ansteigende Sterblichkeit bei den meisten Krebsarten als Beleg dafür gewertet, dass es sich bei der Karzinogenese um einen mehrstufigen Prozess handelt, und aus der Kurvenform auf die Anzahl der involvierten Stufen (4–5) geschlossen (z. B. Doll 1954). Auch wenn sich bei der Karzinogenese mehrere Schädigungen ereignen müs-
3
sen, erscheinen solche Überlegungen unangemessen. Auch bei Herz-Kreislauf-Krankheiten ist dieser stetige Anstieg der Sterblichkeit bis ins hohe Alter zu beobachten. Ähnliche Kurven erhält man für die Sterblichkeit an Krankheiten der Atmungsorgane oder des Verdauungssystems und sogar z. T. für Unfälle. Bei keiner dieser Todesursachen wird man sagen können, dass der biologische Mechanismus in einer Stufenfolge abläuft, wie man es sich bei den Krebskrankheiten vorstellt. Tatsächlich kann man zeigen, dass solche Kurvenverläufe mathematisch auch durch allgemeine Verschleißprozessse entstehen, bei denen ein »System« von einer im Einzelnen nicht nachvollziehbaren Zahl – beispielsweise umweltbedingter – Schädigungen betroffen ist, und schließlich aufgrund eines die immanente Widerstandsfähigkeit übersteigenden Gesamtschadens »ausfällt« (erkrankt, stirbt) (z. B. Becker 1994). Eine detaillierte Wiedergabe der Sterblichkeit an den häufigeren Krebsarten hinsichtlich ihres zeitlichen Verlaufes, der Altersabhängigkeit, der regionalen Verteilung sowie der Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland finden sich im Krebsatlas der Bundesrepublik Deutschland (Becker u. Wahrendorf 1997 bzw. im Internet unter http://www.krebsatlas.de). Inzidenz Wie im Kapitel über Datenquellen bereits erwähnt, stehen Zeitreihen vollzähliger Neuerkrankungsdaten zu Krebs nur im Saarland zur Verfügung. Diese Daten deuten darauf hin, dass, im Unterschied zur Mortalität, die Inzidenz für Krebs zwar neuerdings nicht weiter ansteigt, aber auch nicht zurückgeht (. Abb. 3.10). Bei den einzelnen Krebsarten nimmt insbesondere die Inzidenz für Prostatakrebs bei Männern sowie Brust- und Lungenkrebs bei Frauen unverändert zu. Zurückgehen die Neuerkrankungsraten für Lungenkrebs bei Männern sowie Magenkrebs bei beiden Geschlechtern. Einen Überblick über die aktuellen Trends liefern auf der Grundlage statistischer Untersuchungen Becker et al. (2007). Auf der Grundlage der zur Zeit verfügbaren Krebsregisterdaten schätzt das Robert-Koch-Institut (RKI) regelmäßig ab, mit wie vielen Neuerkrankungsfällen an den häufigeren Lokalisationen sowie an allen bösartigen Neubildungen zusammen derzeit ungefähr zu rechnen ist (http://www.rki.de). Die neuesten Schätzungen mit den Daten des Jahres 2000 sind in . Abb. 3.11 dargestellt. Demnach stehen den ungefähr 210.000 Todesfällen etwa 450.000 Neuerkrankungsfälle pro Jahr gegenüber. Man muss davon ausgehen, dass ungefähr jeder dritte Deutsche im Laufe seines Lebens an einer Krebskrankheit erkrankt. Überlebenszeiten Die Fortschritte bei der Krebstherapie gelten vielfach als unbefriedigend, abzulesen an den geringen Zugewinnen in den Überlebenszeiten bei konventionellen Berechnungsmethoden (»Kohortenansatz«, 7 Abschn. 3.2.2, Methoden). Wendet man dagegen den moderneren Periodenansatz an, ergibt sich ein anderes Bild, das darauf hindeutet, dass es mittlerweile durchaus Fortschritte bei der Krebstherapie gegeben hat (. Tab. 3.1). So stiegen die relativen 5-Jahres-Überlebensraten z. B. für Kolonkrebs von 53,7% (1990–92) auf 61,2% (2000–02) und Brustkrebs von 75,7% auf 80,6%. Ähnliche Steigerungen sind bei den 10Jahres-Überlebensraten erkennbar. Nur bei einer geringen Zahl von Tumoren sind praktisch keinerlei Veränderungen der Überlebensraten zu beobachten. Dazu gehören bösartige Neubil-
52
Kapitel 3 · Epidemiologie bösartiger Neubildungen
3
. Abb. 3.6. Altersstandardisierte Mortalitätsraten für die fünf häufigsten Krebsarten bei Männern und Frauen in Deutschland
. Abb. 3.7. Die 20 häufigsten Krebstodesursachen in Deutschland im Jahr 2003. Altersstandardisierte Mortalitätsrate pro 100 000
53 3.2 · Ergebnisse der deskriptiven Epidemiologie
3
. Abb. 3.8. Altersstandardisierte Mortalitätsraten für die fünf häufigsten Todesursachengruppen bei Männern und Frauen in Deutschland
a
b
c
. Abb. 3.9. Altersspezifische Mortalitätsraten für (a) Magenkrebs, (b) Lungenkrebs und (c) Hodenkrebs in Deutschland im Jahr 1995
dungen des Pankreas, der Harnblase und des Gehirns (Brenner et al. 2005a).
3.2.2
Internationale Vergleiche
Weltweite Vergleiche zeigen, dass zwischen den verschiedenen Ländern in der Inzidenz der meisten Krebslokalisationen z. T. beträchtliche Unterschiede bestehen mit nicht selten zweistelligen Faktoren zwischen den niedrigsten und den höchsten welt-
weit beobachteten Raten (. Abb. 3.12). Diese Beobachtung kann nicht mit Unterschieden in der Vollständigkeit der herangezogenen Krebsregister erklärt werden. Auch reine Alterseffekte, wie sie durch unterschiedliche Lebenserwartungen in den betrachteten Länder denkbar sind, scheiden als Erklärung aus, da derartige internationale Vergleiche mit altersstandardisierten Raten vorgenommen werden. Mithilfe sog. »Migrantenstudien« kann nachgewiesen werden, dass es sich dabei nicht um ethnisch bzw. genetisch bedingte Invarianten handelt, sondern sich die Krebsinzidenz mit einer
54
Kapitel 3 · Epidemiologie bösartiger Neubildungen
3
. Abb. 3.10. Altersstandardisierte Inzidenzraten für bösartige Neubildungen für Männer und Frauen im Saarland
. Abb. 3.12. Die höchsten und niedrigsten weltweit beobachteten Inzidenzraten für ausgewählte Krebsarten
. Abb. 3.11. Geschätzte Zahl der Neuerkrankungsfälle für die 10 häufigsten Krebsarten in Deutschland im Jahr 2000
55 3.2 · Ergebnisse der deskriptiven Epidemiologie
3
. Tab. 3.1. Relative 5-Jahres- und 10-Jahres-Überlebensraten in den Jahren 1990–92 (Kohortenansatz) und 2000–02 (Periodenansatz). Grundlage sind die Daten des saarländischen Krebsregisters; alle Angaben in Prozent (Klammer: Standardabweichung). (Nach Brenner et al. 2005a) Lokalisation
5-Jahres-Überlebensrate
10-Jahres-Überlebensrate
1990–92
2000–02
1990–92
2000–02
Mundhöhle und Rachen
41,0 (2,3)
51,0 (2,4)
30,6 (2,3)
39,7 (2,6)
Speiseröhre
8,7 (2,5)
24,3 (3,5)
5,6 (2,2)
18,8 (4,4)
Magen
27,7 (2,0)
35,1 (2,4)
26,8 (2,4)
31,4 (2,8)
Dickdarm
53,7 (1,7)
61,2 (1,6)
50,3 (2,1)
58,6 (2,1)
Mastdarm
49,7 (2,1)
59,9 (2,0)
44,3 (2,5)
53,7 (2,5)
Leber
4,0 (2,0)
8,3 (2,7)
1,3 (1,3)
5,2 (2,5)
Gallenblase
14,1 (2,8)
17,6 (3,3)
16,3 (3,6)
15,8 (3,5)
Bauchspeicheldrüse
5,3 (1,6)
5,4 (1,4)
5,0 (1,7)
4,6 (1,5)
Kehlkopf
62,2 (3,9)
62,3 (4,4)
47,3 (4,4)
50,5 (5,0)
Lunge
12,0 (0,9)
15,4 (1,0)
10,0 (0,9)
13,5 (1,1)
Malignes Melanom
81,3 (3,1)
87,1 (2,5)
80,5 (3,7)
85,8 (3,2)
Brust
75,7 (1,3)
80,6 (1,1)
64,9 (1,5)
69,1 (1,5)
Gebärmutterhals
61,0 83,2)
60,4 (3,3)
56,6 (3,5)
55,2 (3,6)
Gebärmutterkörper
81,8 (2,5)
82,8 (2,5)
80,8 (3,3)
81,9 (3,3)
Eierstöcke
38,8 (3,4)
45,7 (3,4)
31,9 (3,6)
40,9 (3,8)
Prostata
79,2 (2,3)
87,6 (1,6)
69,7 (3,2)
77,9 (2,7)
Hoden
92,3 (2,6)
100 (1,1)
93,2 (2,8)
100 (1,4)
Harnblase
68,0 (2,5)
58,9 (3,3)
65,8 (3,3)
59,3 (4,0)
Niere
62,4 (2,7)
68,5 (2,6)
57,7 (3,2)
66,1 (3,2)
Nervensystem
20,7 (3,2)
22,7 (3,1)
19,7 (3,4)
20,9 (3,2)
Schilddrüse
72,4 (4,4)
95,0 (2,9)
76,3 (5,0)
96,0 (3,8)
Lymphome
64,7 (2,7)
67,2 (2,6)
53,6 (3,0)
59,8 (3,1)
Multiple Myelome
33,3 (5,0)
27,6 (4,3)
22,6 (5,1)
23,0 (4,4)
Leukämie
45,8 (3,4)
45,2 (3,4)
33,7 (3,5)
34,1 (3,6)
Veränderung der äußeren Lebensverhältnisse ebenfalls verändert. In . Tab. 3.2 sind die Ergebnisse einer solchen Migrantenstudie wiedergegeben. In der Studie wurden die Neuerkrankungsraten unter Japanern in Japan verglichen mit den Neuerkrankungsraten von Japanern, die ihr Heimatland verlassen haben und nach Hawaii emigriert sind, sowie mit der Inzidenz der auf Hawaii heimischen weißen Bevölkerung. Die Daten belegen, dass sich die Inzidenzraten für die verschiedenen Krebsarten von denjenigen des Ursprungslandes Japan weg hin zu den denjenigen des Ziellandes verändern. So geht die Inzidenz für Magenkrebs deutlich zurück, während für viele andere Tumorlokalisationen die Inzidenz ansteigt. (z. B. Mundhöhle, Darm, Brust, Prostata). Da von den Veränderungen auch die Organe des Verdauungstraktes betroffen sind, kann man aus diesen Befunden auch einen Hinweis darauf ableiten, dass eine mit der Auswanderung
einhergehende Veränderung der Ernährungsweise zu den Veränderungen in Krebsrisiko beigetragen haben könnte. Eine zusätzliche Stütze erfährt diese Vermutung dadurch, dass in der Generation der Kinder der japanischen Einwanderer, die in Hawaii geboren und unter denselben Umweltbedingungen wie die Kinder der ortsansässigen Bevölkerung aufgewachsen sind, die Neuerkrankungsraten sich weiter angleichen, aber zunächst ebenfalls noch nicht identisch zur einheimischen Bevölkerung sind (. Abb. 3.13). Dieser Effekt lässt sich schwerlich durch eine Exposition gegenüber äußeren Umweltschadstoffen erklären (die ja identisch sein muss), während es plausibel ist, dass persönliche Lebensgewohnheiten, zu denen die Ernährung gehört, in der emigrierten Elterngeneration noch denjenigen des Ursprungslandes ähnlicher waren und sich in der Kinder- und Enkelgeneration mehr und mehr den Gewohnheiten des Ziellandes angenähert haben.
56
Kapitel 3 · Epidemiologie bösartiger Neubildungen
. Tab. 3.2. Krebsinzidenz in Japan, bei japanischen Immigranten in die USA sowie unter der ortsansässigen amerikanischen Bevölkerung. (Nach Doll u. Peto 1981) Krebsart
Geschlecht
Jährliche Inzidenz/Million Einwohnera Hawaii 1968–1972
3
Japanb
Japaner
Kaukasier
Speiseröhre
männlich
150 112
46
75
Magen
männlich
1331 1291
397
217
Dickdarm
männlich
78 87
371
368
Mastdarm
männlich
95 90
297
204
Lunge
männlich
237 299
379
962
Prostata
männlich
14 13
154
343
Brust
weiblich
335 295
1221
1869
Gebärmutterhals
weiblich
329 398
149
243
Gebärmutter
weiblich
32 20
407
714
Eierstock
weiblich
51 55
160
274
a b
Alter 35-64 Jahre, altersstandardisiert oberer Wert: Präfektur Miayagi 1968–1971; unterer Wert: Präfektur Osaka 1970–1971
Solche deskriptiv-epidemiologischen Untersuchungen können allerdings aus grundsätzlichen methodischen Gründen nur Hinweise auf mögliche Zusammenhänge liefern. Auf keinen Fall darf man sie als Nachweis für solche Zusammenhänge verstehen.
3.3
Ätiologische Epidemiologie: Die maßgeblichen Risikofaktoren
Das Wissen über die bedeutendsten Risikofaktoren, wie es sich in den letzten 25–30 Jahren herausgebildet hat, unterscheidet sich so wesentlich von den Auffassungen, die man in den 60er und auch noch in den 70er Jahren hatte, dass man geradezu von einem Paradigmenwechsel sprechen kann. Noch im Jahr 1970, dem Gründungsjahr der amerikanischen Umweltschutzbehörde EPA, ging man davon aus, dass der umweltbedingte Anteil des Krebsgeschehens, der mit bis zu 90% beziffert wurde (Higginson 1969), im wesentlichen mit einer Schadstoffbelastung der Umwelt zu tun hat (Boyland 1967). Breit angelegte Forschungsprogramme zur Identifizierung der Schadstoffe und daraus abgeleitete strenge Grenzwerte zur Reduktion der betreffenden Belastungen sollten zu einer substanziellen Senkung der Krebssterblichkeit führen. Die Krebsforschung der darauffolgenden Jahre ließ allerdings deutlich werden, dass selbst bei weitestgehenden Annahmen über die Rolle der Schadstoffbelastung der Umwelt beim Krebs-
. Abb. 3.13. Entwicklung der Sterblichkeit an Dickdarm- und Magenkrebs bei japanischen Einwanderern in den USA
57 3.3 · Ätiologische Epidemiologie: Die maßgeblichen Risikofaktoren
geschehen eine Regulation nicht im Entferntesten zu einer maßgeblichen Verringerung der Krebssterblichkeit beitragen könnte. Stattdessen kristallisierte sich mehr und mehr heraus, dass andere Risikobereiche offenbar weitaus größere Beiträge zum Krebsgeschehen lieferten als die Umweltbelastung. Seit Ende der 1970er Jahre wurden auf der Grundlage britischer und amerikanischer Sterblichkeitsdaten summarische Risikoabschätzungen vorgenommen, die im Zigarettenkonsum und dem Ernährungsverhalten die bei weitem wichtigsten Einflussgrößen erkannten. Die seither zusammengetragenen epidemiologischen Befunde haben zu einer Erhärtung dieser Sichtweise geführt. . Tab. 3.3 gibt diese Abschätzungen wieder, einschließlich des neuesten, im Jahr 1996 veröffentlichten Harvard Report on Cancer Prevention. Den jeweiligen Werten sind durchaus beträchtliche Unsicherheitsbereiche zuzuordnen und die Prozentangaben sind auch nicht auf den Punkt genau auf andere Länder übertragbar. Doch kann man sich aufgrund des heute vorliegenden Wissensstandes weitgehend sicher sein, dass die angegebenen Größenordnungen ein zutreffendes Bild des Anteiles der jeweiligen Risikofaktoren am gesamten Krebsgeschehen liefern. Demnach ist man sich heute sicher, dass der Zigarettenkonsum den bei Weitem wichtigsten Einzelrisikofaktor für die Entstehung verschiedener Krebskrankheiten darstellt mit einem Anteil von durchschnittlich
30%. In der Arbeit von Doll u. Peto (1981) wurde ein Unsicherheitsbereich um diesen Schätzwert von 25–40% genannt. Bei dem Bereich Ernährung, für den ein Anteil ähnlicher Größenordnung angenommen wird, schätzt Willett (1995) heute den Unsicherheitsbereich auf 20–42%. Bei anderen Faktoren können die Unterschiede zwischen den Ländern beträchtlich sein: Beispielsweise spielen virale Agenzien weltweit eine durchaus nicht unbeträchtliche Rolle, sodass der Anteil z. T. auf bis zu 15% geschätzt wird (zur Hausen 1991), während der Anteil in den Vereinigten Staaten oder in der Bundesrepublik weitaus niedriger liegt (s. unten).
3.3.1
Rauchen
Der Zusammenhang zwischen Rauchen und Krebskrankheiten vielfältiger Lokalisationen ist durch eine über Jahrzehnte hinweg angesammelte Fülle epidemiologischen Studienmaterials fest etabliert und als kausal nachgewiesen (IARC 1986, 2004). Erwiesenermaßen betroffene Krebslokalisationen sind Mundhöhle und Rachen (ungefähr 65% sind rauchbedingt), Speiseröhre (30–50%), Bauchspeicheldrüse (30–50% bei Männern, 15–20% bei Frauen), Kehlkopf (80%), Lunge (75–90% bei Männern, 30– 60% bei Frauen), Harnblase (50% bei Männern, 25% bei Frauen) und Niere (30%) sowie der Magen, die Leber und der Gebärmut-
. Tab. 3.3. Geschätzte anteilige Zuordnung der Krebssterblichkeit zu den verschiedenen Risikofaktoren bzw. Risikofaktorbereichen in Prozent Risikofaktor
Wynder u. Gori (1977)
Higginson u. Muir (1979)
Doll u. Peto (1981)a
Harvard Report (1996)
Rauchen
20
19
30 (25–40)
30
Ernährung/Übergewicht
50
46b
35 (10–70)
30
Sitzender Lebensstil Berufliche Faktoren
5 3–4
Familiäre Vorgeschichte
4
4 (2–8)
2
5
5
Viren und andere biologische Agenzien
5
Perinatale Faktoren
5
Reproduktionsvorgeschichte
Alkohol
3
4
7 (1–13)
3
3 (2–4)
3
Sozioökonomischer Status
3
Schadstoffbelastung der Umwelt
Ionisierende/ultraviolette Strahlung Medikamente/medizinische Behandlung
2 (1–5) 9
11 1
Salz/Nahrungsmittelzusatzstoffe/-verunreinigungen a b
3
in Klammern: von den Autoren angenommener Unsicherheitsbereich der Schätzung definiert als Lebensstil
2
2 1 (2–4) <1 (-5–2)
1
58
3
Kapitel 3 · Epidemiologie bösartiger Neubildungen
terhals. Lediglich bösartige Neubildungen der Brust und des Endometriums sind erwiesenermaßen nicht betroffen. Für Lungenkrebs wies bereits im Jahr 1939 der deutsche Arzt Müller auf eine mögliche Verursachung durch Zigarettenrauchen hin (Müller 1939). Nach dem Zweiten Weltkrieg belegten Wynder u. Graham (1950) in den USA und Doll u. Hill (1950) in Großbritannien diesen Zusammenhang durch epidemiologische Untersuchungen. 1951 wurde schließlich eine groß angelegte epidemiologische Langzeitbeobachtungssstudie unter britischen Ärzten begonnen, die auch heute noch fortgeführt wird und die seit den 60er Jahren eine Fülle zusätzlicher Erkenntnisse über den Zusammenhang von Tabakkonsum und Krebs- sowie anderen Krankheiten lieferte. Die jüngst veröffentlichten neuesten Ergebnisse zeigen, dass das Ausmaß der Schädigung der Bevölkerung durch das Rauchen in den vorangegangenen Auswertungen noch unterschätzt wurde (Doll et al. 1994, 2004). Die Daten deuten darauf hin, dass wahrscheinlich jeder zweite Raucher an den Folgen seines Zigarettenkonsums vorzeitig stirbt (an Krebs und anderen Krankheiten). Weltweit sterben jährlich 3 Mio. Menschen an den Folgen des Rauchens mit steigender Tendenz. Frühere Auswertungen der britischen Ärztestudie (z. B. Doll u. Peto 1976) ergaben beispielsweise für Lungenkrebs ein zunehmendes Risiko mit steigendem Zigarettenkonsum auf das knapp 8-fache verglichen mit Nichtrauchern bei einem täglichen Zigarettenkonsum von 1–14 Zigaretten, auf das knapp 13-fache bei einem täglichen Konsum von 15–24 Zigaretten und auf das 25fache bei einem Konsum von mehr als 25 Zigaretten pro Tag. Andere Studien dieser Art kamen zu vergleichbaren Ergebnissen. Das Risiko nimmt ferner zu mit der lebenslangen Dauer des Rauchens und es wird umso höher, je früher eine Person in ihrem Leben mit dem Rauchen beginnt. Die Situation ist bei den anderen betroffenen Krebsarten vergleichbar (für Einzelheiten s. IARC 1986, 2004). Über die Risikoentwicklung bei Beendigung des Rauchens stehen ebenfalls umfangreiche epidemiologische Daten zur Verfügung. Man weiß, dass bereits in den ersten 3–5 Jahren nach Aufgabe des Rauchens das Krebsrisiko nicht weiter ansteigt (im Unterschied zu den Rauchern). Danach beginnt es, relativ zu den Rauchern, zu sinken. Nach 10 Jahren (leichte Raucher) bis 20 Jahren (starke Raucher) liegt es etwa in der Größenordnung von Nichtrauchern, offenbar jedoch ohne sich jemals völlig anzugleichen. Je länger bzw. je stärker geraucht wurde, umso langwieriger ist demnach die Rückführung des Risikos. Die Risikoverminderung tritt jedoch nach Aufgabe des Rauchens in jedem Altersbereich auf (WuWilliams u. Samet 1994). Auch diese Befunde treffen für die anderen betroffenen Krebsarten in vergleichbarer Weise zu. . Tab. 3.3 zeigt, dass für die USA der Anteil Zigarettenkonsum-bedingter Krebstodesfälle auf etwa 30% der gesamten Krebssterblichkeit geschätzt wird. Eine jüngst für Deutschland durchgeführte Berechnung lieferte den niedrigeren Wert von etwa 20% (Becker u. Wahrendorf 1997). Er bedeutet, dass von den jährlich auftretenden ungefähr 210.000 Krebstodesfällen allein etwa 40.000 dem Rauchen zuzuschreiben sind und vermeidbar wären. Der Grund für die Abweichung von dem für die USA errechneten Wert ist darin zu suchen, dass in den USA – wie übrigens auch in einigen europäischen Ländern (z. B. Großbritannien und Finnland) – in der Vergangenheit wesentlich mehr geraucht wurde und dementsprechend auch die Lungenkrebssterblichkeit deutlich höher lag als in Deutschland. Mittlerweile haben die in diesen Ländern aufgrund der beschriebenen Situation bereits in den 1960er bzw. frühen 1970er
Jahren begonnenen Kampagnen dazu geführt, dass der Pro-KopfVerbrauch an Zigaretten unter bzw. auf das deutsche Niveau gefallen ist und auch die Lungenkrebssterblichkeit bereits niedriger liegt als in Deutschland (Finnland) bzw. vergleichbar ist (Großbritannien). Diese Entwicklung beweist, dass wirksame Maßnahmen gegen das Rauchen durchgeführt werden können und dass solche Länder, die in diesem Sinne tätig wurden, eine Senkung der rauchbedingten Krebssterblichkeit erreichen konnten. Demgegenüber nimmt hierzulande aufgrund einer zögerlichen Gesundheitspolitik die Zahl der rauchbedingten Krebstodesfälle auch heute noch Jahr für Jahr zu (Heuer u. Becker 1999). Neuere Arbeiten liefern weiterhin eine Bestätigung für die schon seit Langem bestehende Vermutung, dass auch die Exposition von Nichtrauchern gegenüber Tabakrauch (»Passivrauchen«) mit einer Risikoerhöhung verbunden ist. Die Daten belegen ein auf das 1,2- bis 1,4-Fache erhöhtes Risiko für Lungenkrebs (hierzu Becher u. Wahrendorf 1994; Boffetta et al. 1998; IARC 2004). Alles in allem ist die Beweislage bezüglich der Karzinogenität des Takakonsums so erdrückend wie bei kaum einem anderen krebserzeugenden Agens, und aus wissenschaftlicher Sicht ist das Verbot der Herstellung und des Vetriebes von Tabak und Tabakprodukten die einzige schlüssige Konsequenz aus dieser Befundlage.
3.3.2
Ernährung
Es wird heute davon ausgegangen, dass Ernährungsfaktoren einen ähnlich hohen Anteil an der Krebssterblichkeit haben wie der Zigarettenkonsum. Allerdings bestehen beträchtliche Unsicherheiten über die Rolle und den quantitativen Anteil bestimmter Einzelfaktoren bzw. Nahrungsinhaltsstoffe. Als erwiesenermaßen protektive Faktoren konnte ein hoher Konsum von Obst und Gemüse gezeigt werden, während die Rolle eines hohen Fettbzw. Fleischkonsum als mögliche Risikofaktoren immer noch nicht zweifelsfrei geklärt ist. Der bei Weitem stärkste und am überzeugendsten nachgewiesene Zusammenhang betrifft die protektive Rolle eines reichlichen Obst- und Gemüseverzehrs für viele, aber nicht alle Krebsarten. Die Evidenz ist aufgrund des Vorliegens zahlreicher epidemiologischer Studien (ungefähr 200) im Prinzip als gesichert anzusehen. Die Anstrengungen konzentrieren sich jetzt darauf, den Zusammenhang für die einzelnen Krebsarten genauer zu untersuchen bzw. zu quantifizieren sowie aus den vorliegenden Resultaten quantifizierte Ernährungsempfehlungen abzuleiten. Konsistent nachgewiesen ist der Zusammenhang zwischen einem hohen Verzehr dieser Nahrungsmittel und einem verminderten Erkrankungsrisiko für Tumoren der Organe Mundhöhle und Rachen (10%), Speiseröhre (10–20%), Lunge (5–10%), Magen (50–60%) und Kolon und Rektum (30–40%). Darüber hinaus ist eine Risikoverminderung wahrscheinlich für bösartige Neubildungen des Kehlkopfes, des Pankreas und der Blase sowie möglicherweise auch für eine Reihe weiterer Lokalisationen. Für Brustkrebs konnte ein Zusammenhang dagegen nicht nachgewiesen werden (Smith-Warner et al. 2001; van Gils et al. 2005). Die obigen Prozentangaben stammen aus Tomatis et al. (1990) und sind unbedingt nur als sehr vorläufige Orientierungswerte zu verstehen. Sie werden hier angegeben, um einen Eindruck für die mutmaßliche Größenordnung des jeweiligen Präventionspotenzials zu vermitteln. Eine jüngst durchgeführte Abschätzung des bevölkerungsbezogenen attribuierbaren Risikos alleine bezüglich des Obst- und
59 3.3 · Ätiologische Epidemiologie: Die maßgeblichen Risikofaktoren
Gemüseverzehrs lieferte einen Wert von etwa 20% (Klerk et al. 1998). Das bedeutet, dass diese Lebensmittel möglicherweise den bedeutendsten Beitrag innerhalb des Gesamtbereiches »Ernährung« einbringen. Die Stärke und die Konsistenz der Befunde haben dazu geführt, einen reichlichen Obst- und Gemüseverzehr zu einem wichtigen Bestandteil von Empfehlungen zur Krebsvorbeugung zu machen. Das in den USA im Jahr 1992 begonnene Fiva-a-Day-Programm empfiehlt mindestens fünf über den Tag verteilte Portionen, der Bericht des World Cancer Research Fund (WCRF 1997) einen täglichen Verzehr von 400–800 g Obst und Gemüse. Anzumerken ist, dass Kartoffeln zum Gemüse zu zählen sind und nicht einfach »Beilage« sind. Ungeklärt ist allerdings die Rolle einzelner Nahrungsinhaltsstoffe. Einzelne Vitamine, Mineralstoffe oder Spurenelemente wurden bei den verschiedenen Krebsarten in unterschiedlicher Stärke als protektiv gefunden (z. B. Vitamin C bei Magenkrebs, Betacarotin bei Lungenkrebs). Der Versuch, sie und andere Stoffe gezielt zu supplementieren im Hinblick auf eine Verstärkung des protektiven Effektes der entsprechenden Nahrungsmittel, wurde wichtiger Teil eines eigenständigen Forschungsgebietes »Chemoprävention«. Interventionsstudien, die untersuchen, ob bzw. in welchem Umfang sich damit tatsächlich die Krebsinzidenz senken lässt, wurden bereits durchgeführt bzw. laufen derzeit. Nur in einer Studie zu Magenkrebs in einer Region Chinas mit hoher Speiseröhren- und Magenkrebsinzidenz sowie einer Unterversorgung der Bevölkerung mit Vitaminen und Spurenelementen wurde eine leichte Senkung des Magenkrebsrisikos beobachtet (Blot et al. 1993; Li et al. 1993). In den anderen Studien trat entweder kein Effekt oder sogar eine Risikoerhöhung auf (für Einzelheiten s. World Cancer Research Fund 1997 oder Zänker u. Becker 2006). Es ist im Augenblick eindeutig davon abzuraten, die Wirkung eines regelmäßigen Obst- und Gemüseverzehrs z. B. durch Vitamin- oder Mineralstoffsupplementierung ersetzen zu wollen. Noch nicht zweifelsfrei erwiesen ist ein Zusammenhang zwischen einem hohen Konsum an »rotem« Fleisch (Rind, Schwein, Lamm) und verschiedenen Krebsarten. Allerdings wird eine Risikoerhöhung für Kolon- und Rektumkrebs als wahrscheinlich angesehen. Möglicherweise sind auch Tumoren des Pankreas sowie der Brust und der Prostata sowie der Niere betroffen. Die bisherige Befundlage gibt zu der Ernährungsempfehlung Anlass, den Konsum roten Fleisches zu reduzieren und – wenn überhaupt – auf höchstens 80 g pro Tag zu begrenzen. Zu bevorzugen ist Fisch oder »weißes« Fleisch (Geflügel). Eine selbstständige Rolle eines hohen Fettkonsums als Risikofaktor für verschiedenen Krebsarten (Kolon, Rektum, Brust, Prostata) erscheint neuerdings eher wieder fraglich. Insbesondere der Zusammenhang zu Brustkrebs wurde durch eine gemeinsame Auswertung mehrerer großer Studien, bei der keinerlei Assoziation erkennbar wurde, in Frage gestellt (Hunter et al. 1996). Die nach wie vor bestehende Möglichkeit einer Risikoerhöhung bei anderen Krebsarten sowie die Rolle eines hohen Fettkonsums bei anderen Krankheiten wird jedoch für ausreichend angesehen, als vorbeugende Empfehlung die Begrenzung des Fettkonsums insgesamt sowie die Substitution tierischen durch pflanzlichen Fettes aufrechtzuerhalten.
rungsfaktor Gesamtkalorienzufuhr zusammenhängen, spielen diese beiden Faktoren dennoch offenbar eine eigenständige Rolle bei der Krebsentstehung, die mit bis zu 5% Anteil an der Gesamtkrebssterblichkeit angegeben wird und vermutlich ein entsprechendes Präventionspotenzial eröffnet (Carroll 1998). Allein hinsichtlich des Risikofaktors Übergewicht ergab eine jüngst für Europa durchgeführte Abschätzung ein Präventionspotenzial von ungefähr 5% (Bergström et al. 2001). Krebsarten, bei denen Übergewicht nachgewiesenermaßen zu einer Risikoerhöhung führt, sind (IARC 2002): 4 Kolon, 4 Brust (postmenopausal), 4 Endometrium, 4 Niere (Nierenzellkarzinome) und 4 Speiseröhre. Bei anderen Krebsarten wird die Evidenz derzeit als nicht schlüssig angesehen. Bei dem Faktor »körperliche Bewegung« geht man derzeit von einem nachgewiesenen protektiven Effekt aus für bösartige Tumoren der Organe: 4 Kolon und 4 Brust. Bei Krebs der Prostata und des Endometriums besteht möglicherweise ein protektiver Zusammenhang (Friedenreich 2001; IARC 2002).
3.3.4
Alkohol
Für Deutschland angestellte Rechnungen zum Anteil der dem Alkoholkonsum zuzuschreibenden Krebstodesfälle ergeben mit etwa 3% ebenfalls einen mit den amerikanischen Zahlen vergleichbaren Wert (Becker 2001). Betroffene Organe sind Mundhöhle und Rachen (alkoholbedingt sind ungefähr 50% bei Männern und 40% bei Frauen), Speiseröhre (etwa 75%), Kehlkopf (50% bei Männern, 40% bei Frauen) und Leber (30%). Dass übermäßiger Alkoholgenuss zu einem erhöhten Krebsrisiko führt, ist in der deutschen Bevölkerung allerdings immer noch nicht hinreichend bekannt. Insofern wird dieser Bereich zumindestens in der Praxis auch heute noch unterschätzt. Untersuchungen aus der Epidemiologie der Herz-KreislaufKrankheiten haben zu dem vielfach zitierten Ergebnis geführt, dass die Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Krankheiten sowie, damit verbunden, die Gesamtsterblichkeit durch einen mäßigen Alkoholkonsum verringert werden kann. Ein solcher Zusammenhang trifft für Krebskrankheiten eindeutig nicht zu. Das auch bei mäßigem Alkoholkonsum zweifelsfrei erhöhte Krebsrisiko wird lediglich wettgemacht durch ein im Vergleich hierzu stärker erniedrigtes Risiko, an Herz-Kreislauf-Krankheiten zu erkranken, sodass die Bilanz insgesamt günstig erscheint. Personen, die auf jeden Fall nicht an Krebs erkranken oder sterben wollen, haben davon jedoch nichts.
3.3.5 3.3.3
3
Infektiöse Agenzien
Übergewicht, körperliche Aktivität
Obwohl mangelnde körperliche Bewegung und Übergewicht miteinander zu tun haben und ihrerseits wieder mit dem Ernäh-
Die Rolle infektiöser Erreger bei der Krebsentstehung wurde in der Vergangenheit unterschätzt. Heute geht man in den Ländern Westeuropas und Nordamerikas von einem Anteil von etwa 5%
60
3
Kapitel 3 · Epidemiologie bösartiger Neubildungen
aus, doch wird vermutet, dass weltweit in der Größenordnung von 15% Krebskrankheiten durch infektiöse Agenzien (Bakterien, Viren sowie Parasiten in den Tropen) hervorgerufen und durch Prävention möglicherweise vermeidbar sind. Vorläufige Berechnungen ergeben für Deutschland einen Wert ähnlicher Größenordnung wie in den USA oder etwas darüber (6–8%; Becker 2001). Erwiesenermaßen betroffene Krebsarten sind Magen (Helicobacter pylori; 35–55%), Leber (HBV, HCV; 50–80%), Gebärmutterhals (HPV; 90–100%), Lymphome (EBV; 15%) und anogenitale Tumoren (HPV; 90%). Gegen einige der identifizierten Viren wurden bereits Impfstoffe entwickelt und befinden sich in der Erprobung. So wurde zur primären Prävention gegen Leberkrebs ein Impfstoff gegen Infektionen mit Hepatitis B (HBV), die als eine Ursache von Leberkrebs identifiziert wurden, entwickelt und von der WHO seit 1986 in verschiedenen Ländern (z. B. Gambia und Thailand) im Rahmen von Impfprogrammen unter Neugeborenen eingeführt. Die bisher bekannt gewordenen Daten zeigen, dass durch diese Intervention in der Tat die Leberkrebsinzidenz gesenkt werden kann (Lee u. Ko 1997; Kao u. Chen 2002). Auch gegen eine zweite Art von Tumorviren, die Papillomviren (HPV), die für mehr als 90% aller Tumoren des Gebärmutterhalses sowie auch für Tumoren im Anogentialbereich sowie des Oropharynx verantwortlich sind, wurde Impfstoffe entwickelt. Randomisierte Studien zeigten eine über 90%ige Protektion gegen Neuinfektion und eine 100%ige Protektion gegen persistierende Infektion mit HPV-Typ 16 (Koutsky et al. 2002) bzw. Typ 16 und Typ 18 (Harper et al. 2004). Der nächste Schritt werden nun in den kommenden Jahren erste Einsätze unter Routinebedingungen sein, die jedoch aufgrund vieler noch offener Fragen ebenfalls noch wie Studien durchgeführt werden sollten (Lehtinen u. Paavonen 2004).
3.3.6
Genetische Faktoren
Den Anteil genetischer (erblicher) Faktoren hatte man in der Vergangenheit ebenfalls unterschätzt. Er wird heute mit etwa 5% angegeben (. Tab. 3.3) und könnte eher noch höher liegen. Eine Beteiligung erblicher Faktoren fand man bisher zweifelsfrei bei bösartigen Neubildungen des Darmes (FAP, HNPCC), der Brust und der Eierstöcke, der Schilddrüse sowie bei Melanomen und sie wird vermutet bei Tumoren der Bauchspeicheldrüse, Prostata und des Hodens (für Einzelheiten 7 Kap. 5). 3.3.7
Berufliche Faktoren
Der auf berufliche Expositionen gegenüber krebserzeugenden Stoffen zurückzuführende und durch entsprechende Schutzmaßnahmen vermeidbare Anteil der Gesamtkrebssterblichkeit wird auf etwa 4–5% geschätzt. Zielorgan ist in erster Linie die Lunge, doch können stoffspezifisch auch eine ganze Reihe anderer Organe, wie z. B. Mundhöhle und Rachen, Kehlkopf, Magen, Darm, Pankreas, Leber, Haut, Prostata, Niere, Blase, Gehirn und das hämatopoetische System betroffen sein. Vineis u. Simonato (1991) schätzen den Anteil der beruflich verursachten Lungentumoren auf 4–8%. Für Deutschland wurde eine Schätzung von Jöckel et al. (1995) vorgenommen und mit einem Bereich von 7–12% angegeben. Zu berücksichtigen ist, dass es sich bei den genannten Werten um landesweite Durchschnitte handelt. In stark industrialisierten
Gebieten mit einem hohen Bevölkerungsanteil der an industriellen Arbeitsplätzen Beschäftigten kann der beruflich bedingte Anteil der Krebserkrankungen durchaus höher liegen (Simonato u. Vineis 1991). Außerdem ist die berufsbedingte individuelle Risikoerhöhung stark exponierter Personen mitunter beträchtlich. Dies hat dazu geführt, dass Krebskrankheiten, die an bestimmten Arbeitsplätzen auftreten, bei Vorliegen entsprechender Bedingungen als Berufskrankheiten anerkannt und dementsprechend entschädigt werden können. Für Ärzte und Zahnärzte besteht sogar eine gesetzliche Verpflichtung, bei einem begründeten Verdacht auf Vorliegen einer Berufserkrankung, dem zuständigen Unfallversicherungsträger Meldung zu erstatten. Es ist daher schon allein aus diesem Grund geboten, dass praktisch tätige Ärzte einen gewissen Einblick in die Berufskrebsproblematik haben. Historisch gesehen gehört der Zusammenhang zwischen Berufsausübung und Krebsrisiko zu den ersten Hinweisen auf Ursachen von Krebskrankheiten, die erkannt und beschrieben wurden. Bereits im 16. Jahrhundert beschrieb Paracelsus die sog. »Schneeberger-Krankheit«, die unter Bergleuten im Erzgebirge gehäuft auftrat und später als strahlungsbedingter Lungenkrebs erkannt wurde. Im Jahr 1775 beschrieb Percival Pott das gehäufte Auftreten von Scrotumkrebs bei Schornsteinfegern. Später wurde Ruß als das karzinogene Agens identifiziert, das bei Auftragen auf die Haut zu dem erhöhten Hautkrebsrisiko führt. In Deutschland führt die Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der Deutschen Forschungsgemeinschaft eine Sichtung der international vorhandenen Literatur und eine Einstufung hinsichtlich der vorliegenden Evidenz der Karzinogenität durch. Die Beurteilungen werden alljährlich in einer Broschüre veröffentlicht (Deutsche Forschungsgemeinschaft, Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe, VCH-Verlagsgesellschaft Weinheim, jährliche Erscheinungsweise). Für die epidemiologische Gesamtbeurteilung muss beachtet werden, dass die heute ermittelten Risikoerhöhungen aufgrund der langen Latenzzeiten bei den Krebskrankheiten Ergebnis von Expositionen sind, die z. T. mehrere Jahrzehnte zurückliegen. Da bereits in den 1960er, vor allem aber in den 1970er und 1980er Jahren im industriellen Bereich viele Maßnahmen zum Arbeitsschutz ergriffen wurden, sollte sich in den nächsten Jahrzehnten auch ein Rückgang der beruflich bedingten Krebserkrankungen einstellen. Für einzelne Expositionen bzw. dadurch verursachte Risikoerhöhungen lassen sich tatsächlich derartige rückläufige Tendenzen erkennen.
3.3.8
Umwelt
Trotz der Tatsache, dass sich bei einer toxikologischen Analyse der Schadstofffracht der Außenluft Dutzende (bis zu 100) anthropogener Stoffe finden, die als erwiesenermaßen oder wahrscheinlich karzinogen bekannt sind, wird der Anteil der umweltbelastungsbedingten Krebssterblichkeit auf kaum höher als etwa 2% geschätzt. Entscheidend für die Relevanz von in der Umwelt nachgewiesenen Karzinogenen ist nämlich deren Quantität: Zwar kann mit hoch entwickelten Nachweisverfahren eine Vielzahl krebserregender Stoffe in der Umwelt gefunden werden, doch verbleiben sie in der Regel bei Konzentrationen, die (auch in ihrer Summe) nicht zu einem nachweisbar erhöhten Krebsrisiko führen. Zur Erläuterung dieses Sachverhaltes und zur Quantifizierung der auftretenden Risiken können drei Herangehensweisen gewählt werden:
61 3.3 · Ätiologische Epidemiologie: Die maßgeblichen Risikofaktoren
3
. Abb. 3.14. Neuerkrankungsraten bei Männern und Frauen für Lungenkrebs im Stadt-Land-Vergleich unter Mormonen und Nicht-Mormonen im Bundesstaat Utah (USA)
Ökologische Korrelation Die höhere Schadstoffbelastung der Außenluft in städtischen Ballungsgebieten lässt erwarten, dass insbesondere die Lungenkrebsinzidenz in solchen Regionen höher liegt als in ländlichen Gebieten. Tatsächlich zeigen weltweit wiederholt durchgeführte Stadt-Land-Vergleiche eine höhere Inzidenz nicht nur von Lungenkrebs, sondern auch von einer Reihe weiterer Krebsarten in den Städten verglichen mit ländlichen Regionen. In den USA wurde dieser Befund mit einer aufschlussreichen, weitergehenden Untersuchung analysiert (Lyon et al. 1980): Im Bundestaat Utah gehört ein vergleichsweise großer Anteil der Bevölkerung der religiösen Gemeinschaft der Mormonen an, deren Lebensstil sich u. a. infolge einer strikten Rauch- und Alkoholabstinenz deutlich von demjenigen der nicht dieser Gemeinschaft angehörigen übrigen Bevölkerung des Bundesstaates unterscheidet. Die Epidemiologie trifft hier also die günstige Situation an, in einer ethnisch homogenen Bevölkerung (im Unterschied beispielsweise zu den oben beschriebenen Migrantenstudien) einen Stadt-Land-Vergleich unter Berücksichtigung unterschiedlicher Lebensweisen vornehmen zu können. Das in . Abb. 3.14 grafisch wiedergegebene Resultat lässt den Stadt-Land-Unterschied für Lungenkrebs in der nicht mormonischen Bevölkerung deutlich sichtbar werden, nicht jedoch unter den Mormonen. Da es sich nicht um ethnisch, d. h. genetisch bedingte Unterschiede handeln kann, belegen diese Daten, dass der maßgebliche Anteil des Stadt-Land-Unterschiedes bei Lungenkrebs nicht durch die Schadstoffbelastung der Außenluft verursacht ist. Für den Unterschied müssen Faktoren verantwortlich sein, die von den Menschen selbst beeinflusst werden können: Lebensstilfaktoren (Rauchen) oder der Beruf, der ebenfalls frei gewählt werden kann. Ein wichtiger Aspekt solcher Untersuchungen ist darin zu sehen, dass das Ergebnis jenseits jeglicher Einzelschadstoffbetrachtungen erzielt wurde. Geht man von Einzelschadstoffen aus, kann der Einwand erhoben werden, dass vielleicht wesentliche Stoffe oder die Wirkung von Gemischen nicht angemessen berücksichtigt worden sein könnten und daher möglicherweise zu einer erheblichen Unterschätzung des tatsächlichen Risiko führen. Der beschriebene Stadt-Land-Vergleich zeigt, dass das Lun-
genkrebsrisiko in Städten, welche Stoffe oder Stoffgemische dort auch immer in der Außenluft gegenwärtig sein mögen, dann kaum höher ist als auf dem Lande, wenn ein risikoarmer Lebensstil gepflegt wird. Ätiologische Studien Mit gezielten epidemiologischen Studien und einzelpersonenbezogener Expositionsbestimmung kann die Wirkung von Luftverschmutzung z. B. auf die Lunge in Abgrenzung von Rauchgewohnheiten und beruflichen Belastungen untersucht werden. Ein Beispiel für eine solche Untersuchung ist eine epidemiologische Fall-Kontroll-Studie, die vor einigen Jahren in Krakau durchgeführt wurde und in der der Einfluss von Zigarettenkonsum, beruflicher Schadstoffbelastung und Luftschadstoffbelastung auf das Lungenkrebsrisiko quantifiziert werden konnte (Jedrychowsky et al. 1990). Krakau bot sich für diese Fragestellung an, weil es damals eine der Städte mit der höchsten Luftverschmutzung in Europa war. Die Studie zeigte mit einem ungefähr 70%igen Anteil die überragende Rolle des Zigarettenkonsums beim Lungenkrebsrisiko für Männer, gefolgt von beruflichen Expositionen mit etwa 20% und dem Beitrag der Schadstoffbelastung der Außenluft mit etwa 10%. Infolge des niedrigeren Zigarettenkonsums sowie des geringeren Anteiles von Frauen mit beruflichen Expositionen gegenüber Schadstoffen sind die Anteile für Frauen davon unterschieden und bewegen sich für Zigarettenkonsum bei etwa 40%, berufliche Belastungen 20% und der Schadstoffbelastung der Außenluft ebenfalls bei 20%. Hochgerechnet auf die Gesamtkrebssterblichkeit kommt man damit auf den Wert von einigen wenigen Prozent, wie er oben als Anteil der Schadstoffbelastung der Umwelt am Krebsrisiko angegeben ist. Quantitative Risikoabschätzung Ein dritter Zugang geht von der Belastung der Außenluft mit bestimmten Einzelstoffen aus und quantifiziert das dadurch gegebene Lungenkrebsrisiko. Im Auftrag des Länderausschusses für Immissionsschutz (LAI) wurde eine derartige Risikoabschätzung für sieben relevante krebserregende Luftverunreinigungen vorgenommen (LAI 1992). Eine Abschätzung des auf diese Schadstoffe
62
3
Kapitel 3 · Epidemiologie bösartiger Neubildungen
durchschnittlich zurückzuführenden Anteils der Lungenkrebssterblichkeit kommt auf 2–3%. Innerhalb dieser Bandbreite ergeben sich erhebliche Risikounterschiede zwischen städtischen und ländlichen Regionen (LAI 1992). Der größte Eintrag unter den sieben Stoffen wird dem Dieselruß zugeschrieben, dessen Quelle übrigens zum überwiegenden Teil Nutzfahrzeuge darstellen. Regionale Häufungen von Krebsfällen Eine völlig andere Ebene von Fragestellungen der Umweltepidemiologie liegt bei regionalen Häufungen von Krebsfällen vor. Wenn eine Reihe beobachteter Krebsfälle als eine »regionale Häufung« angesehen wird, liegt dem zumeist bereits, ausgesprochen oder unausgesprochen, die Befürchtung zugrunde, dass die Fälle durch eine gemeinsame umweltbedingte Ursache hervorgerufen wurden. Zumindest wird jedoch für die Tatsache, dass in der jeweiligen Region allem Anschein nach vermehrt Krebsfälle auftreten, ein Erklärungsbedarf gesehen. Als »Region« können bei solchen Überlegungen ganz unterschiedliche Gebietseinheiten angetroffen werden: ganze Landkreise ebenso wie einzelne Gemeinden, Einzugsgebiete von Arztpraxen, Stadtteile oder einzelne Straßenzüge und auch einzelne Gebäude. Den Situationen ist gemeinsam, dass den Betroffenen die Krebshäufigkeiten zu hoch erscheinen, sie nicht selten bereits eine Vermutung über eine mögliche Ursache zu benennen wissen und für sie ganz selbstverständlich ist, dass bei hinreichend sorgfältiger Untersuchung auch die Ursachen für die »zu hohen« Krebshäufigkeiten gefunden werden können. Die Untersuchung einer regionalen Häufung von Krebsfällen erfordert eigentlich den Einsatz eines ganzen Spektrums epidemiologischer Techniken, angefangen von deskriptiv-epidemiologischen Regionalvergleichen über ätiologisch-epidemiologische Studien bis hin zur eingehenden Beurteilung der beobachteten Krebslokalisationen auf der Grundlage des jeweils verfügbaren ätiologischen Wissens sowie zu einer quantitativen Risikoabschätzung. Grundsätzlich gilt, dass mit den Wahrscheinlichkeitsaussagen der Epidemiologie keine kausale Erklärung einzelner Krebsfälle möglich ist. Dies ist auch bei regionalen Häufungen solcher Erkrankungsfälle nicht anders. Die Erwartung, dass die Ursache für eine Clusterbildung aufgeklärt werden kann, muss daher häufig enttäuscht werden. In vielen Fällen kann man nicht einmal zweifelsfrei entscheiden, ob eine Häufung zufallsbedingt ist oder ihr eine gemeinsame Verursachung zugrunde liegt. Aus diesen Gründen bieten sich regionale Häufungen von Krebsfällen auch nicht unbedingt als Forschungsfeld für die Gewinnung von Erkenntnissen über neue, bisher nicht bekannte oder nicht gesicherte Krebsrisikofaktoren an. Verschiedentlich werden dennoch lokale Häufungen als der ideale Ansatzpunkt zur »Hypothesengenerierung« angesehen: Man fahnde nach »Clustern« von Krebsfällen, identifiziere Gemeinsamkeiten zwischen den Fällen und prüfe schließlich die Relevanz der gefundenen Faktoren bei der Krebsentstehung. In Wirklichkeit erweist sich aber die Beschäftigung mit Berichten über ungewöhnliche Häufungen von Krebsfällen bei näherem Hinsehen als zumeist recht unfruchtbar. Dies hat verschiedene Gründe: 4 Krebsfälle treten in der Bevölkerung oder verschiedenen Landesteilen nicht genau gleichmäßig verteilt, sondern ungeordnet, »stochastisch« auf. Bei zufälligen Verteilungen ist aber geradezu zu erwarten, dass sich darunter auch »ungewöhnliche« Häufungen finden. Tatsächlich haben die ameri-
4
4
4
4
kanischen Gesundheitsbehörden, die mehrere Jahre lang Berichten über »Cluster« systematisch nachgegangen sind, die Erfahrung gemacht, dass es sich dabei offenbar genau um solche Zufallshäufungen handelt. Unter den vielen Hundert eingegangenen Meldungen fand sich nicht eine einzige lokale Häufung, für die eine externe Ursache gefunden wurde. Das Programm wurde mittlerweile wieder eingestellt. Bösartige Neubildungen unterschiedlicher Lokalisationen werden gemeinsam als Häufung, d. h. als Hinweis auf Umweltgefahren, interpretiert, obwohl für sie keine gemeinsamen bzw. überhaupt keine umweltbezogenen Ursachen bekannt sind (Heterogenität des Clusters). Im ätiologischen Sinne handelt es sich dann überhaupt nicht um ein Cluster, es sei denn, es läge innerhalb dieser heterogenen Häufung bereits für eine einzelne Lokalisation eine ungewöhnliche Häufung vor. Latenzzeiten zwischen einer vermuteten Exposition und dem Auftreten der betreffenden Krebserkrankung wurden außer Acht gelassen. Sind die Krebsfälle zeitgleich oder nur sehr wenige Jahre beispielsweise nach Inbetriebnahme einer als Expositionsquelle angesehenen Industrieanlage aufgetreten, können Exposition und Erkrankungen nicht in einem ursächlichen Zusammenhang stehen. Quantitative Aspekte werden nicht beachtet. Um in einem kleinen Gebiet eine auffallende Zahl von Krebsfällen zu verursachen, müsste eine vorausgegangene Exposition gegenüber Karzinogenen derartig exzessiv sein, dass sie als Schadstoffbelastung heutzutage mit großer Wahrscheinlichkeit bereits von sich aus aufgefallen und beseitigt worden wäre. Selbst wenn eine lokale Häufung auf einer umweltbedingten Exposition beruhen sollte, ist der Nachweis kaum zu führen: Die Fallzahlen sind zumeist viel zu klein, um eine solide epidemiologische Untersuchung durchzuführen, und quantifizierte Expositionsdaten liegen in aller Regel nicht vor. Man trifft in dem vorliegenden Zusammenhang auf das Problem, dass die Epidemiologie als beobachtende Wissenschaft nicht an jedem als relevant erscheinenden Punkt eine wissenschaftliche Untersuchung ansetzen kann, sondern sich ein geeignetes Szenario suchen muss, in dem günstige Aussichten bestehen, einen eventuellen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zu erforschen.
Trotzdem sollten Epidemiologen Bürger, die mit der Vermutung einer lokalen Häufung von Krebsfällen zu ihnen kommen, nicht abweisen. Die oben erläuterten Probleme der Möglichkeit von Zufälligkeiten, der Heterogenität des Clusters, jahrzehntelanger Latenzzeiten und quantitative Aspekte sind nicht so offensichtlich, dass man ein Wissen darüber ohne Weiteres voraussetzen kann. Eine Erklärung dieser Gesichtspunkte reicht aber häufig aus, mögliche Besorgnisse zu zerstreuen. Bei eventuell erforderlichen Untersuchungen ist es empfehlenswert, mit den unmittelbar zuständigen Behörden zusammenzuarbeiten (Gesundheitsämter, z. T. auch Krebsregister) (weiterführende Literatur: Becker u. Wahrendorf 1991; Case 1996).
3.4
Molekulare Epidemiologie
Unter der seit einigen Jahren verwendeten Bezeichnung »molekulare Epidemiologie« fasst man epidemiologische Vorhaben zusammen, die als eine Komponente die Messung biologischer
63 3.4 · Molekulare Epideniologie
Größen, sog. »Biomarker« enthalten. Als Biomarker bezeichnet man in der Epidemiologie allgemein jedwede(n) Substanz, Struktur oder Vorgang, die/der im menschlichen Körper oder seinen Produkten gemessen werden kann und Einfluss auf das Auftreten einer Krankheit nimmt oder Hinweise auf das Auftreten einer Krankheit liefert. Sie können grob eingeteilt werden in Marker für (a) exogene oder endogene Exposition, (b) die Wirkung einer Exposition sowie (c) für Suszeptibilität. Ziel ist es u. a., Expositionen durch Messung bereits auf niedrigerer Stufe zu identifizieren, zu objektivieren (z. B. durch Reduktion von Missklassifikation) und zu quantifizieren, Gen-Umwelt-Interaktionen zu erkennen und entsprechende Risikoabschätzungen vorzunehmen und Vorstufen von Krankheit früher zu entdecken. Die genannten Größen dienen hierzu als biologische Marker. Ihre Einbeziehung stellt ein zusätzliches und möglicherweise sehr wirkungsvolles Instrument der epidemiologischen Forschung dar, bedeutet jedoch keine Änderung des grundlegenden Konzeptes und ist daher eigentlich auch keine eigenständige Richtung innerhalb der Epidemiologie. Der Ansatz selbst ist darüber hinaus auch nicht neu. Biomarker für Expositionen gegenüber chemischen Agenzien sind beispielsweise Bleikonzentration im Blut oder Arsen-, Nitrosaminoder Kotininkonzentration im Urin. Studien, die sich solcher Messungen bedienten, wurden schon vor Jahrzehnten durchgeführt. Beispiele finden sich in IARC (1997). Neu ist die Einbeziehung molekularbiologisch charakterisierter Marker für Exposition oder die Wirkung von Exposition sowie insbesondere die jetzt gegebene Möglichkeit der Betrachtung von Suszeptibilität direkt auf molekulargenetischer Ebene. Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über einige Ansätze der molekularen Epidemiologie gegeben.
3.4.1
Biomarker für Exposition und interne Wirkung
Ein Beispiel für molekularbiologisch charakterisierte Marker sind sog. »DNA-Addukte«. Chemische Stoffe können kovalent an zelluläre Makromoleküle binden, neben DNA auch an RNA und Proteine, d. h. »Addukte« bilden. Diese Strukturen sind stoffspezifisch identifizierbar und quantifizierbar (z. B. Addukte aus heterozyklischen aromatischen Aminen, polyzyklischen Kohlenwasserstoffen, Aflatoxinen) und können als Maß für das eingesetzt werden, was von einer exogenen Exposition als körperinterne Exposition tatsächlich verfügbar ist. Diese Addukte können innerhalb von Stunden oder Tagen wieder abgebaut werden. Werden sie jedoch während eines Zellteilungszyklus nicht entfernt, sondern weitergegeben, können sie zu einer persistenten somatischen Mutation führen. DNAAddukte sind daher ein Beispiel für die häufiger anzutreffende Tatsache, dass ein Marker für Exposition zugleich auch ein Marker für eine biologische Wirkung eines Exposition sein kann. Die genannte Wirkung, eine genetische Mutation, kann nämlich ein Schritt auf dem Weg der Karzinogenese sein.
3.4.2
Biomarker für Suszeptibilität
Seit Mitte der 1990er Jahre Varianten (unterschiedliche Allele) in Genen gefunden wurden, die für an der Verstoffwechselung karzinogener oder prokarzinogener Stoffe maßgeblich beteiligte
3
Proteine kodieren, und auf die gesundheitspolitischen Implikationen dieser Beobachtungen hingewiesen wurde, gehört die Suche nach solchen »Polymorphismen« (Keimbahnmutationen mit einer Häufigkeit von 1% und mehr) zu den aktivsten Gebieten der biomedizinischen Forschung. Es wurde beobachtet, dass die Träger der unterschiedlichen Allele bestimmte Stoffe unterschiedlich rasch metabolisieren und dadurch bei identischer Exposition gegenüber Umwelteinflüssen unterschiedliche individuelle Risiken resultieren können (z. B. Chen et al. 1998; Marcus et al. 2000). Genpolymorphismen erfüllen damit die obige Definition eines Biomarkers für individuelle Suszeptibilität. Diese Beobachtungen implizieren die gesundheitspolitisch brisante Möglichkeit, dass in der Bevölkerung bisher unerkannte Hochrisikogruppen existieren könnten, deren Krebsrisiko auf der Grundlage der gegenwärtigen Risikoabschätzungen möglicherweise deutlich unterschätzt wird (Perera 1996). Genetische Polymorphismen können jedoch auch bei der Krankheitsprogression und der Wirksamkeit pharmakologischer Wirkstoffe eine Rolle spielen. Sie sind keineswegs selten. Alleine bei einer speziellen Form, den sog. »Single-Nucleotid-Polymorphismen« (SNP; im Vergleich zum »Wildtyp« ist nur ein Nukleotid verändert), geht man davon aus, dass mehr als 1 Mio. solcher Varianten im menschlichen Genom existiert. Obwohl nicht alle in funktionell relevanten Bereich der DNA liegen, ist gleichwohl zu vermuten, dass ein nicht unerheblicher Teil Unterschiede in der betreffenden Genfunktion verursacht und an Krankheitsgeschehen beteiligt sein könnte.
3.4.3
Methodische Probleme
Der rasche Fortschritt bei der Entwicklung biotechnologischer Verfahren hat den Nachweis genetischer Polymorphismen auch bei größeren Zahlen von an einer bestimmten Krankheit erkrankten Personen und nicht erkrankten Vergleichspersonen (»Genotypisierung«, nicht zu verwechseln mit dem Nachweis der Genexpression) einfach, rasch und billig (zurzeit etwa 1 Euro pro Person und Polymorphismus) werden lassen. Dies hat eine Flut von Untersuchungen und Veröffentlichungen ausgelöst, die einen oder einige wenige Polymorphismen in bestimmten Genen mit einer Krankheit in Beziehung setzen, für die die betreffenden Gene als relevant oder vermutlich relevant angesehen werden. Nicht wenige dieser Arbeiten sind, selbst wenn sie in den hochrangigsten internationalen Fachzeitschriften der biomedizinischen Forschung erscheinen, von erstaunlicher methodischer Insuffizienz. Ein methodisch einwandfreier Nachweis einer Assoziation zwischen einem genetischen Polymorphismus und einer Krankheit erfordert die Einhaltung bestimmter Grundregeln epidemiologischer Forschung. Häufig werden die epidemiologischen Fallstricke bei solchen Untersuchungen aber überhaupt nicht erkannt. So kommt es vor, dass in den betreffenden Arbeiten einer nicht näher beschriebenen Serie von Erkrankungsfällen einer nicht näher beschriebenen Serie von Vergleichspersonen gegenübergestellt und mit einem einfachen statistischen Test geprüft wird, ob ein »signifikanter« Unterschied der Häufigkeit der jeweils untersuchten Polymorphismen vorliegt. Man muss allerdings hinzufügen, dass in dem Internationalen Humangenomforschungsprojekt die Notwendigkeit der Verwendung epidemiologisch gut charakterisierter Personengruppen für die weitere genetische Forschung mittlerweile klar erkannt wurde (International Human Genome Sequencing Consortium 2001).
64
Kapitel 3 · Epidemiologie bösartiger Neubildungen
Beispielsweise können durch die beschriebene Vorgehensweise folgende Quellen für Fehler bzw. Verzerrungen der Ergebnisse unberücksichtigt bleiben:
3
Ethnische Zugehörigkeit Ein genetischer Polymorphismus kann in unterschiedlichen Ethnien unterschiedlich häufig sein und eine entdeckte Assoziation bei unterschiedlicher ethnischer Zusammensetzung von Fallund Vergleichsgruppe kann daher ein Artefakt darstellen. Es muss somit sichergestellt und in der Veröffentlichung dokumentiert werden, dass in der Fall- und Vergleichsgruppe nicht bestimmte ethnische Gruppen unterschiedlich häufig vertreten sind (Frage nicht nach Nationalität, sondern nach Abstammung!). Alter Wenn die betreffende Krankheit altersabhängig ist und Fall- und Vergleichsgruppe unterschiedlich alt sind, kann eine möglicherweise vorhandene Assoziation verborgen bleiben, weil die Vergleichsgruppe sich im Extremfall hinsichtlich des Krankheitsstatus gar nicht von der Fallgruppe unterscheidet, sondern einfach im Augenblick der Untersuchung noch nicht erkrankt ist, aber bei gleichem Alter wie die Fallgruppe ebenso erkrankt sein wird. Selektionsverfahren Eine Rekrutierung der beiden Gruppen ohne Beachtung möglicherweise relevanter Kofaktoren kann z. B. Artefakte bei der Betrachtung der Krankheitsprogression verursachen, wenn sich durch die mangelnde Beachtung eine ungleiche Verteilung der Kofaktoren in den beiden Gruppen ergibt. Stammen Fall- und Kontrollgruppe nicht aus der gleichen zugrunde liegenden Bevölkerung als Grundgesamtheit, können über indirekte Assoziationen aufgrund unterschiedlicher Erkrankungsrisiken Artefakte auftreten. Die Liste ließe sich fortsetzen. Ein weiteres Problem, das zumindest erwähnt werden soll, ist dasjenige einer möglichen Vielzahl falsch-positiver Assoziationen, wenn mit den mittlerweile verfügbaren Hochdurchsatzverfahren multiple Tests mit einer großen Zahl von Polymorphismen durchgeführt werden. Um sowohl das Risiko zufällig statistisch signifikanter Assoziationen als auch des Übersehens tatsächlich vorhandener (vielleicht schwacher) Assoziationen bei einer naheliegenden Erhöhung des Signifikanzniveaus einzudämmen, wird weitere statistische Forschung erforderlich sein.
3.5
Früherkennung
Das Konzept der Früherkennung besteht darin, die betreffende Krankheit in einem so frühen Stadium zu entdecken, dass sie therapeutisch noch gut beherrschbar ist und dadurch ein letaler Verlauf vermieden werden kann (Morrison 1992). Diese Vorgehensweise wirkt in sich so stringent, dass sie keiner weiteren Erörterung zu bedürfen scheint. Zum Verständnis von Screening gehört, diesen Anschein als Irrtum zu erkennen. Systematische Krebsfrüherkennung (Screening) ist mit ernsten Problemen behaftet, die vor Einführung und während der Durchführung des jeweiligen Programms angemessen zu handhaben sind. Ihre Analyse führt zu der Implikation, dass der Effektivitätsnachweis neuer Früherkennungsverfahren sowie die gebotene kontinuier-
liche Qualitätskontrolle bestehender Programme mit epidemiologischen Methoden durchzuführen ist. Daher sei im Folgenden auf diesen zunehmend Bedeutung gewinnenden Bereich der Epidemiologie kurz eingegangen.
3.5.1
Screening als diagnostische Maßnahme in einer »gesunden« Bevölkerung
Screening ist definiert als routinemäßige, periodische Untersuchung breiter symptomloser Bevölkerungsschichten (UICC 1982). Das Prinzip besteht also darin, dass unter den bezüglich der betreffenden Krankheit scheinbar Gesunden durch den Screeningtest diejenigen herausgefiltert werden, die vermutlich tatsächlich an der betreffenden Krankheit erkrankt sind, wobei gleichzeitig die Nicht-Erkrankten durch den Test ebenfalls möglichst treffsicher als solche zu identifizieren sind. Da im Screening der Anteil der tatsächlich Erkrankten im 1%-Bereich oder darunter liegt, sind fast alle Screeningteilnehmer bezüglich der betreffenden Krankheit gesunde Personen. Darüber hinaus ist aufgrund der aus Inzidenzdaten abschätzbaren kumulativen Erkrankungsrisiken klar, dass selbst bei häufigen Krebskrankheiten (z. B. Brustkrebs) bis zu 90% aller Screeningteilnehmer niemals in ihrem Leben die betreffende Krankheit entwickeln werden. Das bedeutet, dass es sich bei der teilnehmenden Klientel aufgrund des Konzeptes von Screening prinzipiell um überwiegend gesunde Personen handelt. Der mit dem Screening betraute Arzt tritt damit aus dem Bereich der Krankenversorgung heraus und hat bei der Anwendung eines diagnostischen Tests auf ein mehrheitlich gesundes Klientel (nicht Patienten!) mit qualitativ anderen Problemen zu tun als in der Krankenbehandlung. Ein Kernelement dieses Unterschieds ist die ethische Bewertung möglicher Nebenwirkungen des angewandten diagnostischen Tests. In der Krankenbehandlung steht den Risiken eines diagnostischen Tests das Risiko einer Verschlimmerung der Krankheit gegenüber, wenn der Patient die diagnostischen Maßnahmen ablehnen würde. Der einzelne Patient erfährt Vorteile durch die Anwendung des diagnostischen Tests und nimmt hierfür mögliche Nebenwirkungen in Kauf. In der Screeningsituation stehen potenziellen Nebenwirkungen des diagnostischen Tests bei der überwiegenden Zahl der Teilnehmer keinerlei Risiken der Verschlimmerung einer ja nicht vorhandenen Krankheit gegenüber. Der qualitative und ethisch relevante Unterschied zur klinischen Situation besteht also darin, dass ein direkter Nutzen des Screening nur den tatsächlich Erkrankten zugute kommt, während mögliche Nebenwirkungen alle Teilnehmer betreffen können, also auch diejenigen, die nicht an der betreffenden Krankheit erkrankt sind und vielleicht auch niemals daran erkranken werden. An die Sicherheit des diagnostischen Tests sind daher beim Screening besonders hohe Anforderungen zu stellen. Es ist auf jeden Fall nicht vertretbar, einen für die Früherkennung aussichtsreich erscheinenden Test lediglich aufgrund einer mutmaßlichen Tauglichkeit ohne vorherige wissenschaftlich einwandfreie Prüfung des Nutzens und möglicher Nebenwirkungen in die praktische Anwendung zu bringen. Auf den ersten Blick könnte man in dieser Situation meinen, die Forderung erheben zu müssen (und auch zu können), dass ein im Screening eingesetzter diagnostischer Test einfach keine schädlichen Nebenwirkungen haben darf.
65 3.5 · Früherkennung
3.5.2
Nebenwirkungen als unvermeidbare Begleiterscheinung des Screenings
Leider ist beim Screening ein möglicher Nutzen gerade nicht ohne das Risiko von Nebenwirkungen zu haben. Beim Mammografiescreening sind es die Risiken der eingesetzten ionisierenden Strahlen. Im Einzelfall der diagnostischen Situation ist es zutreffend, auf die niedrige Strahlendosis und die damit verbundenen geringen Gesundheitsgefahren hinzuweisen. In der Screeningsituation bedeutet aber ein geringes individuelles Risiko von kleinen Promillbruchteilen, angewandt auf eine Zielbevölkerung von 10 Mio. 50- bis 69-jährigen Frauen, mehrere strahlungsbedingte Erkrankungsfälle pro Jahr. Im Koloskopiescreening bzw. auch bei Screening mit dem Haemokkult-Test, bei dem unklare Befunde ebenfalls eine Koloskopie nach sich ziehen, ist die Situation ähnlich: Auch hier ist das Risiko einer Komplikation mit letalem Verlauf im Einzelfall äußerst gering, resultiert jedoch in der Multiplikation mit einer viele Millionen zählenden Zielbevölkerung in einer Anzahl von mehreren zu erwartenden Todesfällen pro Jahr. Im Unterschied zum Mammographiescreening, bei dem strahlungsbedingte Erkrankungsfälle eine rechnerisch gegebene Größe darstellen und nicht individuell identifizierbar sind, ist beim kolorektalen Screening der Screening-bedingte letale Verlauf ein individuelles Schicksal einzelner Screeningteilnehmer, die vielleicht niemals an einem kolorektalen Tumor erkrankt oder gestorben wären. Schließlich ist jegliches Screening unausweichlich mit dem Risiko falsch-positiver Befunde behaftet mit den damit verbundenen psychischen (Angst Krebs zu haben) und physischen (Abklärungsdiagnostik) Belastungen. Screening ist ethisch nur vertretbar, wenn diesen unvermeidlichen Risiken ein Nutzen gegenübersteht, der um Größenordnungen höher ist als die Risiken, und deren Inkaufnahme rechtfertigt. Aus ethischen Gründen ist es unabdingbar, dass vor Einführung eines Screeningprogramms eine Nutzen-SchadensBilanz ermittelt wird und die Effektivität des Verfahrens zweifelsfrei belegt wird. Entsprechend ist ein laufendes Screeningprogramm ethisch nur vertretbar, wenn eine kontinuierliche Nutzen-Risiko-Bilanz geführt wird, die zu jedem Zeitpunkt belegt, dass sich diese Bilanz in einem ethisch vertretbaren Bereich bewegt. Fortlaufende Qualitätssicherung eines Screeningprogramms ist keine optionale Angelegenheit, sondern eine Conditio sine qua non.
3.5.3
Überlebenszeit und Stadienverteilung als ungeeignete Größen für einen Effektivitätsnachweis
Leider sind die im Screening eindrucksvoll veränderten und vergleichsweise einfach zu erhebenden klinischen Parameter Überlebenszeit und Stadienverteilung für einen Effektivitätsnachweis unbrauchbar. Die Überlebenszeit ist zwangsläufig immer verlängert, weil der Diagnosezeitpunkt nach vorne verlagert und auch bei unverändertem Krankheitsverlauf die als Überlebenszeit wahrgenommene Beobachtungszeit im Vergleich zur Situation ohne Screening verlängert ist. Entscheidend ist jedoch, ob tatsächlich ein verlängertes Überleben durch Vermeidung oder Hinauszögern des Todes an der betreffenden Krankheit erzielt wird. Da der dem Kliniker verfügbaren Beobachtungszeit ab Diagnosestellung nicht anzusehen ist, ob sie nur wegen des vorverlagerten Diagnosezeitpunktes verlängert ist oder auch wegen einer
3
echten Lebenszeitverlängerung, ist diese Größe für einen Effektivitätsnachweis unbrauchbar. Diese kann daher nur durch direkte Betrachtung der Mortalität an der jeweiligen Krankheit, d. h. auf epidemiologischem Wege, erfolgen. Es muss epidemiologisch gezeigt werden, dass in einer gescreenten Bevölkerung die Mortalität an der betreffenden Krankheit Screening-bedingt niedriger ist als in einer Vergleichsbevölkerung. Die zweite genannte Größe, die Stadienverteilung, ist zwangsläufig verzerrt, weil langsam wachsende, eventuell weniger letale Tumoren eher im Screening entdeckt werden als rasch wachsende, aggressive Tumoren mit hoher Letalität, die mit höherer Wahrscheinlichkeit zwischen zwei Screeninguntersuchungen symptomatisch werden und dann das schlechtere Stadium und die ungünstigere Prognose aufweisen. Auch die Stadienverteilung muss bei effektivem Screening natürlich günstiger ausfallen als ohne Screening, doch kann sie wegen der gerade beschriebenen Problematik ebenfalls nicht im klinischen Rahmen beurteilt werden, sondern auch wieder nur epidemiologisch im Vergleich einer gescreenten mit einer ungescreenten Bevölkerung. Einzelheiten zu diesen methodischen Aspekten sind in Becker (2002) ausgeführt. Die Epidemiologie hat eine zentrale Aufgabe bei der Qualitätssicherung, weil die Effektivität eines Screeningverfahrens nur in einer bevölkerungsbezogenen, d. h. epidemiologischen Sichtweise überprüft, und die Qualitätssicherung eines laufenden Screeningprogramms ebenfalls nur durch epidemiologische Größen durchgeführt werden kann.
3.5.4
Sensitivität, Spezifität und prädiktiver Wert im Screening
Die oben ausgeführten hohen ethischen Anforderungen schlagen sich u. a. in der quantifizierbaren Anforderung nieder, dass die Zahl der falsch-positiven Testresultate möglichst niedrig zu halten ist (Screening-Tests, die zwar positiv ausfallen, aber in weitergehenden Untersuchungen kein Tumor gefunden wird). Falschpositive Befunde klassifizieren »gesunde« Personen zu Unrecht zu Krebskranken, zumindest vorübergehend, bis der Verdacht wieder ausgeräumt ist, mit allen psychischen Belastungen für die betreffende Person und u. U. auch ihre Angehörigen. Außerdem sind die nachfolgend erforderlichen klinischen Untersuchungen nicht immer risikolos und verursachen mitunter nicht unbeträchtliche Kosten. Eine niedrige Zahl falsch-positiver Befunde wird durch eine hohe Spezifität des eingesetzten Tests erreicht (Wahrscheinlichkeit, dass der Test »Gesunde« zutreffend als »gesund« einstuft). In der Praxis erreicht sie fast nie einen Wert von 100%, sodass sich falsch-positiv eingestufte Teilnehmer nie ganz vermeiden lassen. Von für Screeningprogramme geeigneten Tests wird aber zumindest eine besonders hohe Spezifität verlangt (häufig 95–99%). Dem gegenteiligen Problem, dass erkrankte Personen fälschlicherweise als gesund eingestuft werden (falsch-negatives Testresultat), wird durch eine hohe Sensitivität begegnet (Wahrscheinlichkeit, dass der Test die erkrankten Personen zutreffend als an der betreffenden Krankheit erkrankt identifiziert) Auch dieser Fehler soll so klein wie möglich gehalten werden. Die Sensitivität von Screeningtests liegt meist bei 60–90%. Der prädiktive Wert gibt schließlich den Anteil der tatsächlich an der betreffenden Krankheit erkrankten Personen unter den Testpositiven an. Er hängt außer von der Sensitivität und
66
3
Kapitel 3 · Epidemiologie bösartiger Neubildungen
Spezifität des Tests auch von der Prävalenz des durch den Test detektierbaren präklinischen Stadiums der betreffenden Krankheit in der Bevölkerung ab. Ist die Krankheit selten oder die detektierbare Phase kurz, ist der prädiktive Wert auch bei hoher Spezifität niedrig. Die Abhängigkeit des prädiktiven Wertes auch von der Prävalenz der präklinischen Phase der betreffenden Krankheit in der Bevölkerung ist ein Schlüsselelement zum Verständnis der Grenzen des Screenings. Nicht selten werden Spezifitätswerte von 97–99% als »praktisch 100%« interpretiert und als Qualitätsbeweis für die Tauglichkeit eines Tests für den Einsatz beim Screening gesehen. Vor diesem Fehlschluss muss eindringlich gewarnt werden. Beispielsweise wurden in einer Studie über transvaginale Sonographie (TVS) zur Früherkennung von Ovarialtumoren hohe Werte für Sensitivität (81%) und Spezifität (98,9%) gefunden. Der prädiktive Wert war jedoch lediglich 9,4%. Dieser niedrige Wert bedeutet in der Praxis, dass, da die Abklärung des Tumorverdachts operativ erfolgen muss, im Durchschnitt 11 chirurgische Eingriffe vorgenommen werden müssen, um einen Tumorverdacht zu bestätigen; 10 Operationen sind also eigentlich »unnötig«. Für Massenscreening ist TVS daher trotz günstiger Werte für Sensitivität und Spezifität völlig inakzeptabel. Ein weiteres, nicht onkologisches Beispiel: Die Spezifität des HIV-Tests beträgt 99,99%, d. h. einer von 10.000 Tests ist falschpositiv. Da die Prävalenz von HIV in der männlichen heterosexuellen deutschen Bevölkerung ebenfalls etwa 1 zu 10.000 beträgt, wären bei einem Screening von 10.000 Personen aus der Allgemeinbevölkerung 2 Personen Test-positiv, davon einer falschpositiv. Der prädiktive Wert selbst des HIV-Tests ist damit lediglich 50%. Bei einer Krankheit mit einer derartigen Brisanz wäre Massenscreening mit diesem Test ebenfalls kaum zu vertreten.
Missverständnisse gibt es auch hinsichtlich einer geeigneten Vorgehensweise zur Messung der Sensitivität eines Screeningtests. Ein Screeningtest darf nicht mit einem diagnostischen Test verwechselt werden. Ein Design, in dem anhand einer Serie klinisch gesicherter Erkrankungsfälle überprüft wird, wie viele Fälle der Test zu detektieren in der Lage ist, ist zur Bestimmung der Sensitivität eines Screeningtests ungeeignet, weil die klinisch manifeste Erkrankung nicht Gegenstand des Screening ist. Screening heißt, anhand eines Tests an symptomfreien Personen ein präklinisches Stadium einer Krankheit zu erkennen. Ein Test, der für klinische Stadien sensitiv ist, muss es nicht für präklinische Stadien sein. Dass er es ist, kann nicht an erkrankten Patienten, sondern nur an unselektierten (d. h. Personen ohne Vorverdacht), symptomfreien Personen ermittelt werden, bei denen durch hinreichend langes Follow-up die falsch-negativen Fälle identifiziert und bei der Quantifizierung der Sensitivität berücksichtigt werden. Dies geschieht am besten im Rahmen eines prospektiven Designs (für Einzelheiten s. Becker u. von Karsa 2006). Zu welchen Früherkennungsverfahren ein wissenschaftlicher Nachweis der Effektivität hinsichtlich einer Mortalitätssenkung bei vertretbaren Nebenwirkungen vorliegt und welche Früherkennungsprogramme in Deutschland existieren, ist in 7 Abschn. 15.2 ausgeführt. Zur epidemiologischen Qualitätssicherung des gerade beginnenden organisierten Mammographie-Screeningprogramms sei verwiesen auf Becker (2006). Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
4
4 Genetische Grundlagen der Kanzerogenese C.R. Bartram
4.1
Das Genom des Menschen
– 68
4.2
Onkogene
4.3
Tumorsuppressorgene
4.4
Micro-RNA als Onkogene und Tumorsuppressoren
4.5
Tumorstammzellen und Akkumulation genetischer Läsionen in Tumorzellen – 99
4.6
Telomere
4.7
Das mitochondriale Genom
4.8
Epigenetische Fehlprogrammierung – 111
4.9
DNA-Reparatur – 118
– 72 – 90
– 108
Literatur – 127
– 111
– 98
68
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
4.1
Das Genom des Menschen
Bevor genetische Aspekte von Tumoren des Menschen besprochen werden, soll zunächst ein Eindruck von der Komplexität des menschlichen Genoms und des von ihm gesteuerten Informationsflusses vermittelt werden (Kulozik et al. 2000).
4
4.1.1
Aufbau und Regulation
Zweifelsohne markieren die Rohfassung und nachfolgende Ergänzungen der Sequenz des Humangenoms und inzwischen auch einzelner Menschen Meilensteine biomedizinischer Forschung (International Human Genome Sequencing Consortium 2001, 2004; Wheeler et al. 2008). Dennoch kann nicht von einer Entschlüsselung unseres Genoms gesprochen werden. Weder ist die Zahl der Träger unserer Erbinformation (Gene) bekannt, noch ist detailliert verstanden, wie genetische Programme im Kontext der verschiedenen Entwicklungsstudien und Gewebetypen gezielt abgerufen werden. Die Charakterisierung der allermeisten Funktionsträger (Proteomik) und ihrer zahlreichen Interaktionen in den komplexen Netzwerken der Informationsverarbeitung einer Zelle oder eines Menschen (Physiomik) steht noch aus. Von welchen Erkenntnissen können wir heute ausgehen? Das Genom des Menschen ist überwiegend auf den Chromosomen im Zellkern verankert, zu einem kleineren Teil auch in den Mitochondrien (7 Abschn. 4.6). Das nukleäre Genom umfasst im haploiden Chromosomensatz der Keimzellen etwa 3,2 Mrd. Einzelbausteine (Nukleotide). Die meistbenutzte Messgröße der DNA ist das Basenpaar (bp); 1.000 Basenpaare ergeben 1 kb, 1.000 Kilobasenpaare 1 Mb (Megabasenpaare). Unser Genom umfasst also etwa drei Gigabasenpaare. Als Größenvergleich mag dienen, dass bei der konventionellen Chromosomendiagnostik durch das Mikroskop eine Chromosomenbande dem Bereich von etwa 10 Mb entspricht. Ein Blick in die Evolution zeigt, dass diese Kenngröße von begrenzter Aussagekraft ist; ein Krallenfrosch (Xenopus laevis) verfügt über ein vergleichbar großes Genom, die Zelle einer Lilie enthält 30-mal mehr DNA. Es kommt weniger auf die Größe des Genoms als vielmehr auf den Inhalt an.
. Abb. 4.1. Schematischer Aufbau eines Strukturgens und seiner Transkripte. Die Steuereinheiten setzen sich aus dem Promotor (P) sowie Enhancer (E) und Silencer (S) zusammen; Enhancer und Silencer können 5‘ oder 3‘ vom transkribierten Bereich liegen. Das primäre Transkript ent-
Gene sind die kleinsten Einheiten der DNA, die Information für eine bestimmte Funktion oder Struktur einer Zelle tragen. Man geht davon aus, dass das Humangenom 20.000–25.000 Gene umfasst, wobei die Gendichte zwischen verschiedenen Chromosomen (und chromosomalen Subregionen) schwankt. Auf Chromosom 19 kommen etwa 27 Gene auf 1 Mb DNA, 4-mal mehr als auf Chromosom 21 mit 6,5 Genen/Mb. Die Größe der Gene schwankt zwischen knapp 1 kb und mehr als 2 Mb. Ein beträchtlicher Unterschied besteht zwischen Menschen im individuellen Aufbau ihres Genoms. Hierzu tragen zum einen etwa 10 Mio. Einzelnukleotide mit interindividuellen Varianten bei (»single nucleotide polymorphisms«, SNP), die bedingen, dass sich ca. alle 1.200 bp die Nukleotidfolge im Genom zweier Menschen unterscheidet (The International Hap Map Consortium 2005). Noch gravierender ist das Ausmaß von größeren, submikroskopischen Varianten in der Kopienzahl bestimmter DNASegmente (»copy number variation«, CNV). Diese Abschnitte umfassen wenige Kb bis mehrere Mb, werden z. B. durch Deletionen, Insertionen oder Duplikationen hervorgerufen und machen etwa 10% unseres Genoms aus (Redon et al. 2006). Selbst bei eineiigen Zwillingen finden sich Unterschiede im CNV-Profil (Bruder et al. 2008). Insgesamt fällt die genomische Variabilität zwischen Menschen mit wenigstens 0,2% des Gesamtgenoms sehr viel deutlicher aus, als noch vor Kurzem angenommen. Diese Unterschiede betreffen auch Gene und ihre Regulatorregionen und führen somit zu individuellen Schwankungen im Genexpressionsprofil (Stranger et al. 2007). Diese physiologischen Unterschiede können natürlich bei der Manifestation genetischer Erkrankungen von Bedeutung sein (McCarrol u. Altshuler 2007). Nur 1,5% des Gesamtgenoms wird in Messenger-RNA (mRNA) umgeschrieben (transkribiert) und anschließend in Proteine übersetzt (translatiert). In den meisten Strukturgenen werden proteinkodierende Abschnitte (Exons) von nichtkodierenden Abschnitten (Introns) unterbrochen, die während der Weiterverarbeitung des primären Transkriptes im Zellkern herausgeschnitten werden (. Abb. 4.1). Dieser Prozess der Verknüpfung von Exonsequenzen zu einer reifen mRNA bezeichnet man als Spleißen. Die Zahl und Größe der Exons und Introns von Genen können sehr schwanken. Von intronlosen Genen werden bei-
hält noch Intronsequenzen. Während der Weiterverarbeitung zur reifen mRNA können alternative Spleißvorgänge verschiedene Transkripte mit unterschiedlicher Funktion entstehen lassen
69 4.1 · Das Genom des Menschen
spielsweise Interferon α und β kodiert. Andere Gene enthalten bis zu 75 Introns mit einer Länge zwischen 50 bp und mehreren 100 kb. Ähnlich schwankt die Größe von Exonsequenzen von 7 bp bis zu über 7 kb. Auch die Zahl der Gene unterscheidet uns als Menschen nicht wesentlich von anderen Spezies. Der einige Millimeter große Fadenwurm C. elegans lebt wenige Tage und besteht aus genau 959 Zellen, für deren Funktion etwa 19.000 Gene sorgen (C. elegans Sequencing Consortium 1998). Der Mensch mit 1014 Zellen und einer Lebenserwartung von mehreren Jahrzehnten verfügt also über kaum mehr Gene als der Fadenwurm, der Reis über knapp zweimal mehr als wir (Yu et al. 2002). Nicht nur der Inhalt zählt, sondern auch, was man daraus macht. Hier zeigt sich nun eine Komplexität in Aufbau und Nutzung unseres Genoms, die das klassische Genkonzept sprengt. So können Gene ineinander verschachtelt liegen: Intron 26 des NF1Gens enthält sogar drei andere Gene. Von einem Genlocus können über zwei unterschiedliche Promotoren distinkte, sich teilweise überlappende Sequenzbereiche abgelesen werden, die für unterschiedliche Proteine kodieren; ein Beispiel ist der Genlocus ARFINK4a, der für P14 bzw. P16 kodiert (7 Abschn. 4.3.3). Alternative Promotoren regulieren etwa 20% unserer Gene (Landry et al. 2003). In anderen Fällen werden von beiden DNA-Strängen eines Genlocus verschiedene, sich wechselseitig regulierende Funktionsträger synthetisiert. Etwa 20% aller Gene interagieren mit entsprechenden Antisense-Partnern (RIKEN Genome Exploration Group 2005). Für über 90% aller Gene gilt zudem, dass aus dem primären Transkript, durch unterschiedliche Kombination von Exonsequenzen beim Spleißen (alternatives Spleißen), zahlreiche Transkripte entstehen, die in diverse Proteine translatiert werden können (Blencowe 2006; Graveley 2001; Wang et al. 2008; . Abb. 4.1). In einigen Fällen entstehen so hunderte, ja tausende verschiedener Produkte. Das 1-Gen-/1-Protein-Konzept besitzt also keine Allgemeingültigkeit mehr. Die Auswahl der für ein bestimmtes Gewebe oder eine spezifische Entwicklungsphase relevante Teilkomponente des genetischen Gesamtprogramms wird über die Steuereinheiten der einzelnen Gene vermittelt (. Abb. 4.1). Hierzu gehören DNASequenzen, die in unmittelbarer Nachbarschaft des Genes liegen, im sog. Promotor, oder auch über eine Distanz von einigen kb die Genaktivität verstärken (Enhancer) oder hemmen (Silencer). Die Steuereinheiten repräsentieren Erkennungssequenzen (cisagierende Elemente) für Transkriptionsfaktoren und andere Regulatorproteine (trans-agierende Faktoren), die in einer konzertierten Aktion die RNA-Polymerase rekrutieren und die Transkription einleiten. Diese Komplexe von Transkriptionsfaktoren können je nach Genkontext aus vielen Dutzend Einzelkomponenten bestehen. Das primäre Transkript wird in mehreren Schritten modifiziert, bevor die reife mRNA aus dem Zellkern ins Zytoplasma zur Proteinsynthese an den Ribosomen transportiert wird (. Abb. 4.1). Beim Capping wird dem 5’-Ende der prämRNA ein chemisch modifiziertes Nukleotid angefügt; am 3’Ende führt die Polyadenylierung zur Ausbildung eines Poly(A)Schwanzes. Diese Modifikationen erfüllen mehrere Aufgaben: Sie verbessern die Effizienz des Spleißens, erhöhen die Stabilität der RNA, vermitteln Interaktionen der reifen mRNA mit Transportmolekülen für den Export aus dem Zellkern und stimulieren die Initiation der Translation im Zytoplasma. Für den Mechanismus des Spleißens sind RNA-Erkennungssequenzen am 5’-Exon/ Intron-Übergang (Spleißdonor), am 3’-Ende des Introns (Spleißakzeptor), innerhalb des Introns (Verzweigungspunkt) und im Exonbereich (Spleiß-Enhancer) wesentlich. Mutationen, die sol-
4
che Erkennungssequenzen zerstören oder an falscher Stelle generieren, führen zu Fehlern beim Spleißen. Etwa 15% aller krankheitsrelevanten Mutationen beim Menschen repräsentieren Spleißdefekte (Cáceres u. Kornblihtt 2002). Spleißmutationen und Störungen im Muster physiologischer Spleißvarianten spielen auch bei der Tumorentstehung und -progression eine Rolle (Kalnina et al. 2005). Ein Beispiel dafür, wie eine Störung der normalen Balance alternativ gespleißter Isoformen eines Genlocus zur Tumorentwicklung beitragen kann, bietet BCL-X, ein Mitglied der BCL-2–Familie von Apoptoseregulatoren. Die alternativ gespleißten Formen BCL-XL und BCL-XS vermitteln antiapoptotische bzw. proapoptotische Funktionen. In Lymphomen und anderen Neoplasien wird ein deutlicher Überschuss von BCL-XL mit nachfolgender Blockade der Apoptose beobachtet (Taylor et al. 1999). Auch in anderen Fällen kommt dem spezifischen Muster der Spleißprodukte eine wesentliche Bedeutung zu (Nissim-Rafinia u. Kerem 2002). Eine Sonderform der RNA-Weiterverarbeitung ist die mRNA-Editierung, bei der die RNA-Sequenz nach Transkription enzymatisch verändert wird, sodass die editierte RNA ein anderes Protein kodiert als die nichteditierte Vorstufe. Die oben skizzierten, vielschichtigen Regulationsebenen des genetischen Informationsflusses vom Gen zum translationsfertigen Transkript im Zytoplasma sind eng miteinander verzahnt und unterliegen einer besonderen Qualitätskontrolle, die etwa zum Abbau von mRNA führt, bei denen Nonsense- oder FrameshiftMutationen zur Synthese verkürzter Polypeptide führen würden (»nonsense mediated decay«, NMD; Danckwardt et al. 2008; Shyu et al. 2008). Diese Komplexität von verschiedensten Regelkreisen muss bedacht werden, wenn es zu Störungen dieses Systems im Rahmen der Tumorentwicklung kommt. Die genetische Informationsverarbeitung ist beim Menschen durch eine beträchtliche Redundanz gekennzeichnet, die es erlaubt, Teilausfälle ohne Funktionsbeeinträchtigung zu kompensieren. Insofern sind Erkenntnisse aus Tiermodellen auch nur bedingt auf den Menschen übertragbar. Nicht immer sind Proteine die Funktionsträger der Gene; in einigen Fällen wird diese Aufgabe vom Transkript eines Genlocus wahrgenommen (Storz 2002). Etwa 5% der Gene werden in nichtkodierende RNA (ncRNA) transkribiert. Hierzu zählen tRNA, r-RNA, die bei der Translation von Bedeutung sind, die Gruppe der »small nucleolar RNA« (snoRNA), die eine wichtige Rolle beim Spleißen spielt, Antisense-RNA, die es für ca. 70% aller Gene gibt sowie die in jüngster Zeit in den Mittelpunkt des Interesses gerückte Klasse der Micro-RNA (miRNA). Etwa 500 miRNA-Gene sind derzeit bekannt. MiRNA-Gene werden zunächst in einige hundert bis tausend bp große RNA mit Haarnadelstruktur transkribiert (pri-miRNA), die im Zellkern dann durch die RNase III Drosha und Partner Pasha in eine etwa 70 Nukleotide große prä-miRNA prozessiert werden (. Abb. 4.2). Die prä-miRNA wird ins Zytoplasma ausgeschleust und wird dort von einer anderen RNase, Dicer, und ihrem Partner Loqacious (Loqs) in kleine, etwa 22 bp große RNA-Duplices umgewandelt. Nur ein Strang dieser miRNA-Duplices wird in einem großen Proteinkomplex (»RNA induced silencing complex«, RISC) eingebaut und lenkt RISC zu mRNA-Zielen, die komplementär zum miRNA-Segment sind. Die Folge ist entweder ein Abbau der betreffenden mRNA oder eine Inhibition ihrer Translation (Hüttenhofer et al. 2005, Kim 2005). Eine miRNA kann die Expression von bis zu 1.000 Genen über direkte Interaktion mit den entsprechenden mRNA oder indirekte Effekte regulieren (Krek et al. 2005; Selbach et al. 2008). MiRNA-Fehlregulationen sind ein be-
70
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
4
. Abb. 4.2. miRNA-Synthese und Funktion. Erläuterung im Text
deutsamer Pathomechanismus im Kontext der Tumorigenese (7 Abschn. 4.4). Man geht heute davon aus, dass der überwiegende Teil unseres Genoms transkribiert wird und zwar überlappend von beiden DNA-Strängen. (The FANTOM Consortium and RIKEN Genome Exploration Research Group and Genome Science Group 2005). Nur ein sehr kleiner Teil hiervon wird in Proteine übersetzt. Andere Transkripte haben per se eine Funktion, wie z. B. die miRNA. Für die Mehrheit der RNA-Moleküle steht eine Funktionsbeschreibung jedoch noch aus. Der Anteil unseres Genoms, der nicht am genetischen Informationsfluss teilnimmt und evolutionäre Abfallprodukte darstellt, dürfte insgesamt sehr viel kleiner sein als zunächst gedacht.
Der Feinabstimmung der komplexen Expressionsnetzwerke kommt eine wesentliche funktionelle Bedeutung zu. So unterscheidet sich das Genom von Mensch und Schimpanse nur zu etwa 1,3%. Allerdings ergeben sich erhebliche Abweichungen im Expressionsprofil von Hirnarealen zwischen beiden Spezies (Enard et al. 2002). Diese Unterschiede werden vom bloßen Blick auf das Genom nicht erfasst.
4.1.2
Vom Genotyp zum individuellen Krankheitsbild
In der Medizin kommt noch eine weitere Ebene der Komplexität hinzu, geht es hier doch nicht nur um die Normalfunktion von
71 4.1 · Das Genom des Menschen
Genen, sondern um die Auswirkungen ganz unterschiedlicher Störungen im genetischen Programm. Das einfachste Modell zur Illustration dieser Aspekte sind die monogenen Erbkrankheiten (Kulozik et al. 2000; Wolf 1995). So basiert die zystische Fibrose (Mukoviszidose) auf einer Störung in einem Gen, das einen Chloridkanal kodiert. Etwa 1.000 verschiedene Mutationen wurden in diesem Gen identifiziert, die mit einer sehr unterschiedlichen Krankheitssymptomatik einhergehen können; das klinische Spektrum reicht von einer sehr schweren Lungenproblematik mit Tod im Herz-Kreislauf-Versagen als junger Erwachsener über eine Verdauungsstörung durch Ausfall des exokrinen Pankreas bis hin zur Infertilität infolge Aplasie der ableitenden Samenwege als einziges Symptom bei Männern. Diese Assoziation von spezifischer Mutation und klinischem Bild wird als Genotyp-Phänotyp-Korrelation bezeichnet. Das Spektrum unterschiedlicher krankheitsassoziierter Allele kann sehr stark variieren: zwischen verschiedenen Genen bzw. Krankheiten und auch in Abhängigkeit vom ethnischen Hintergrund (Reich u. Lander 2001). In der Onkologie ergibt sich eine vergleichbare Konstellation bei den autosomal-dominant erblichen Tumordispositionen. So führen Keimbahnmutationen im RET-Gen zur pathologischen Aktivierung dieses Tyrosinkinaserezeptors und Disposition für ein familiäres medulläres Schilddrüsenkarzinom (Ponder 1999; 7 Abschn. 4.2.3). Bei einigen Mutationen besteht ein zusätzliches Risiko für Endokrinopathien. Mutationen in einer extrazellulären Domäne (Kodon 634) sind mit dem Krankheitsbild der multiplen endokrinen Neoplasie (MEN) Typ 2A assoziiert, Mutationen in der intrazellulären Tyrosinkinasedomäne (Kodon 918) mit dem eigenständigen Krankheitsbild MEN Typ 2B. Hereditäre RET-Mutationen, die zum Ausfall des Rezeptors führen, bedingen eine gänzlich andere Symptomatik im Sinne eines Morbus Hirschsprung (Eng 1996). Ein anderes Beispiel betrifft Keimbahnmutationen im P53Gen, die das Li-Fraumeni-Syndrom mit einer Disposition für ein breites Spektrum von Malignomen charakterisieren (Malkin 1994). Eine spezifische Mutation in Kodon 337 von Exon 10 ist hingegen ausschließlich mit der Entwicklung von Nebennierenrindenkarzinomen verbunden (Ribeiro et al. 2001). Auch bei der familiären adenomatösen Polyposis (FAP) lassen sich bestimmte Symptome wie Retinahypertrophie, Osteome, Desmoide und auch die Zahl der Polypen mit Mutationen in bestimmten Bereichen des APC-Gens assoziieren (Kinzler u. Vogelstein 1996). Die Penetranz oder Durchschlagskraft einer genetischen Störung ist ebenfalls von großer Bedeutung. Darunter versteht man die Wahrscheinlichkeit, mit der eine bestimmte Mutation überhaupt zu einer klinischen Symptomatik führt, welchen Schweregrades auch immer. Bei den erblichen Tumordispositionen besteht für Anlageträger einer FAP ein nahezu 100%iges Risiko, eine Krankheitssymptomatik innerhalb und/oder außerhalb des Magen-Darm-Traktes zu entwickeln. Anders stellt sich die Situation aber bei erblichen Formen von Mamma- und Ovarialkarzinom in Folge von BRCA1- oder BRCA2-Keimbahnmutationen dar. Insgesamt haben Anlageträgerinnen ein Lebenszeitrisiko von höchstens 80–85% (Devilee et al. 1999). Die Genotyp-Phänotyp-Korrelation steht hier noch am Anfang. In Island dominiert beispielsweise die BRCA2-Mutation 999del5 mit einer 37%igen Penetranz (Thorlacius et al. 1998). Eine eingeschränkte Penetranz von etwa 55% ergibt sich auch für die drei häufigsten BRCA1/2-Mutationen bei Ashkenase-Juden (Struewing et al. 1997). Keimbahnmutationen in anderen Genen zeigen per se eine geringere Penetranz. So führt eine CHEK2 Mutation nur zu einem moderaten dreifach
4
erhöhten Risiko für Brustkrebs (Weischer et al. 2007), während Sequenzvarianten (SNP) anderer Loci eine noch geringere Penetranz mit 1,3- bis 1,6-facher Risikosteigerung zeigen (Stratton u. Rahman 2008). Derartige Penetranzunterschiede und ihre klinische Relevanz werden bei erblichen Tumordispositionen und anderen monogenen Erbkrankheiten besonders deutlich sichtbar (Houlston u. Tomlinson 2000). Schließlich kann eine monogene Erbkrankheit auch bei identischer Mutation eine beträchtliche, z. B. intrafamiliäre Variabilität des klinischen Krankheitsbildes aufweisen (Wolf 1997). So zeigen Männer im Vergleich zu weiblichen Familienmitgliedern eine wesentlich geringere Penetranz der jeweiligen BRCA2-Keimbahnmutation von etwa 5%, wenngleich dieses Brustkrebsrisiko verglichen mit der übrigen männlichen Population deutlich erhöht ist. An dieser Stelle sollte auf die Bedeutung einer adäquaten Kommunikation von Risiken gegenüber Ratsuchenden hingewiesen werden. So ist die Aussage, dass Männer mit BRCA2Keimbahnmutationen ein etwa 100-fach erhöhtes Risiko für Brustkrebs besitzen (da Mammakarzinome des Mannes sehr selten sind), Frauen hingegen ein 8-fach gesteigertes Risiko (da etwa 10% aller Frauen an diesem Tumor erkranken) richtig, aber irreführend. Denn das absolute Lebenszeitrisiko beträgt eben 5% bei betroffenen Männern gegenüber 80% bei Frauen. Ein anderes Beispiel aus der Gastroenterologie: Das relative Risiko für Morbus Crohn bei einem Homozygoten für eine Variante im NOD2/ CARD15-Gen ist gegenüber einem Menschen ohne diese Variante etwa 40-fach erhöht; sein Lebenszeitrisiko für diese Erkrankung beträgt jedoch nur 3% (Gaya et al. 2006). Bei der Neurofibromatose Typ I besteht eine nahezu 100%ige Penetranz, d. h., alle betroffenen Familienmitglieder werden erkranken. Obwohl dieses Risiko in einer Familie stets durch dieselbe NF1-Mutation hervorgerufen wird, ergibt sich eine variable Expressivität des Krankheitsbildes. Zwischen Verwandten reichen die Befunde von bräunlich pigmentierten Hautarealen über gutartige, kosmetisch störende Neurofibrome zu Skelettfehlbildungen oder bösartigen Tumoren, ohne dass man von den Symptomen bei einem betroffenen Familienmitglied auf die eines anderen schließen könnte (Husson u. Hughes 1994). Solche Unterschiede beruhen darauf, dass weitere, derzeit noch nicht bekannte Gene und Umweltfaktoren den Phänotyp mit beeinflussen bzw. modifizieren. Da im Falle der Neurofibromatose nicht einmal die Krankheitsanlage als solche, sondern das individuelle Symptommuster für den Patienten entscheidend ist, kommt der Identifikation von »Modifier-Genen« eine wesentliche Bedeutung zu. Diese Forschungsrichtung steht derzeit noch am Anfang. Ein Beispiel ist die schon genannte Risikoerhöhung für Morbus Crohn infolge Mutationen im NOD2/CARD15-Gen (Cuthbert et al. 2002; Hampe et al. 2001). Ein in dieser Hinsicht sehr instruktives Tiermodell der Krebsforschung repräsentiert die MIN-Maus, die – vergleichbar den FAP-Patienten – multiple intestinale Adenome auf der Basis einer APC-Keimbahnmutation entwickelt (Su et al. 1992). Die Zahl der Polypen variiert aber signifikant in Abhängigkeit von einem zweiten Genlocus (MOM-1) mit einem Kandidatengen, das für die sekretorische Phospholipase A2 kodiert. Dieses Enzym besitzt einen protektiven Effekt gegenüber einer Polypenentwicklung (MacPhee et al. 1995). Prinzipiell können ModifierGene auf allen Ebenen der malignen Transformation von der Initiation bis zur Tumorprogression eingreifen und den Krankheitsverlauf wesentlich beeinflussen (Balmain 2002). Keimbahnmutationen im P16-Gen disponieren für eine erbliche Form von Melanom. Dieses Tumorrisiko wird durch be-
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4
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
stimmte Varianten des Melanocortin-1-Rezeptors (MC1R) erheblich erhöht (Box et al. 2001). In diesem Zusammenhang ist interessant, dass sich in Abhängigkeit von der UV-Exposition – also einem exogenen Faktor – die Penetranz von P16-Mutationen in Europa (60%) und Australien (90%) ähnlich gravierend unterscheiden wie durch Einfluss des MC1R-Genotypes, einer endogenen Komponente (Box et al. 2001). Diese Beispiele verdeutlichen, dass beim Menschen auch sog. monogene Erbkrankheiten vielschichtigen Modifikationen unterliegen. Diese Komplexität potenziert sich bei multifaktoriellen Erkrankungen wie Krebs, die auf der Akkumulation von Läsionen in mehreren Genen basieren. Im Kontext der hier diskutierten Genotyp-Phänotyp-Korrelation sei noch erwähnt, dass auch Mutationen in unterschiedlichen Genen das gleiche Krankheitsbild hervorrufen können (Wolf 1995). Eine solche Heterogenie findet sich zum Beispiel bei Kolonkarzinomen vom HNPCC-Typ auf der Basis von Keimbahnmutationen in verschiedenen DNA-Reparaturgenen (Kinzler u. Vogelstein 1996; 7 Abschn. 4.5.4 und 4.9.2). Den Übergang von monogenen zu multifaktoriellen Krankheitsbildern markiert das Bardet-Biedl-Syndrom (BBS), ein heterogenes, autosomal-rezessiv vererbtes Fehlbildungssyndrom, für das 12 Genloci bekannt sind. Der Ausfall beider Kopien eines BBS-Locus führt bei einigen Formen von BBS aber noch nicht zum Krankheitsausbruch. Erst wenn noch das Allel eines weiteren BBS-Gens mutiert ist, kommt es zur klinischen Manifestation. Es handelt sich um eine triallelische Vererbung, einen rezessiven Erbgang, dessen Penetranz von einem Modifier aus dem Kreis der anderen BBS-Gene abhängt (Katsanis et al. 2001).
4.2
Onkogene
Das Konzept einer Tumorentstehung auf der Grundlage von Störungen des genetischen Programms einer Zelle wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts formuliert. T. Boveri kam in seiner Schrift »Zur Frage der Entstehung maligner Tumoren« (Boveri 1914) zu folgenden Aussagen: Diese Urzelle des Tumors ist nach meiner Hypothese eine Zelle, die einen bestimmten, unrichtig kombinierten Chromosomenbestand besitzt ... Die Tumorzelle, der gewisse Chromosomen fehlen, während sie andere im Übermaß besitzt, wird manche Stoffe im Überschuss produzieren und andere in ungenügender Menge ... Es ist möglich, dass es eine Anzahl verschiedener Chromosomenkombinationen gibt, deren jede einer bestimmten Geschwulstmodifikation entspricht.
Eigentlich entspricht dieses Konzept unserem heutigen Verständnis der Tumorentwicklung infolge eines gestörten Wechselspiels von Onkogenen und Tumorsuppressorgenen. Zwei Aspekte sind im historischen Rückblick interessant. Zum einen entwickelte Boveri seine Hypothesen aus der histologischen Betrachtung eines sehr einfachen Modellsystems, nämlich den Teilungsvorgängen von Seeigeleiern, zum anderen blieben seine wegweisenden Überlegungen so lange unbeachtet, bis Techniken der Zytogenetik, insbesondere aber molekulargenetische Methoden eine Bestätigung dieser Gedanken zuließen.
Die erste tumorspezifische genetische Aberration im Sinne des Konzeptes von Boveri, die beim Menschen entdeckt wurde, war das Philadelphia-Chromosom bei der chronisch myeloischen Leukämie (CML; Nowell u. Hungerford 1960); es resultiert aus einer Translokation zwischen den Chromosomen 9 und 22 (Rowley 1973). Ende der 70er Jahre gelang dann die Klonierung der ersten Gene des Menschen, die am komplexen Prozess der Karzinogenese beteiligt sind. Mehrere hundert solcher Tumorgene wurden seither identifiziert. Sie werden meist in zwei Gruppen unterteilt. Bei den Onkogenen kommt es zur Synthese strukturell veränderter oder fehlregulierter Proteine, während Tumorsuppressorgene dann die Krebsentstehung begünstigen, wenn von ihnen in einem kritischen Moment kein funktionstüchtiges Protein zur Verfügung steht und damit andere Genprodukte, losgelöst von einer physiologischen Gegenregulation, in die Signalübertragung eingreifen. Sie werden auch als rezessive Tumorgene bezeichnet, da erst der Verlust der von beiden Allelen kodierten Proteine biologisch relevante Folgen zeigt; hingegen kommt es bei den dominant wirkenden Onkogenen bereits zu Störungen, wenn nur ein Allel ein tumorigenes Protein kodiert. Die plakativen Begriffe Onkogen, Tumorsuppressorgen oder Tumorgen verweisen nicht auf die physiologische Bedeutung dieser Gene, sondern auf eine besondere Konsequenz ihrer Fehlregulation. Tumorgene sind Mitglieder einer heterogenen Gruppe von positiven und negativen Regulatoren der normalen Zellproliferation, Gewebedifferenzierung und Apoptose (Bishop 1991; Hunter 1997). Sie repräsentieren ein komplexes Netzwerk interund intrazellulärer Kommunikationsprozesse und kodieren beispielsweise Hormone, Wachstumsfaktoren, deren Rezeptoren, Zelladhäsionsmoleküle, intrazytoplasmatische Signalmediatoren und intranukleäre Regulatoren von Transkription und Zellzyklus. Die Akkumulation von Störungen solcher Gene, seien sie ererbt oder im Laufe des Lebens erworben, können schließlich nicht mehr kompensiert werden und führen zur malignen Transformation.
4.2.1
Methoden zur Identifikation von Onkogenen
Die Identifikation von Onkogenen gelang historisch gesehen durch verschiedene Strategien, deren drei Hauptrichtungen hier kurz skizziert werden sollen. Den Beginn markierten Befunde aus der Tumorvirologie (Bishop 1985). Bestimmte Retroviren weisen Sequenzen auf, die ihnen tumorigene Potenz verleihen und deshalb als virale Onkogene (V-ONC) bezeichnet werden. Das erste auf diese Weise charakterisierte Onkogen war das VSRC-Gen des Rous-Sarcoma-Virus, das in Hühnern Sarkome induziert. Die Kurzbezeichnung der etwa 30 seither bekannt gewordenen viralen Onkogene leitet sich jeweils vom betroffenen Virusstamm ab (. Tab. 4.1). . Tab. 4.1. Beispiele für retrovirale Onkogene Akronym
Virusstamm
Isolationsquelle
V-ABL
Abelson Murine Leukemia Virus
Maus
V-MYC
Avian Myelocytomatosis Virus
Huhn
V-K-RAS
Kirsten Murine Sarcoma Virus
Ratte
V-SRC
Rous Sarcoma Virus
Huhn
73 4.2 · Onkogene
Später stellte sich heraus, dass diese Gene gar nicht viralen Ursprungs sind, sondern zellulären Sequenzen (C-ONC) entsprechen, die über einen als Transduktion bezeichneten Prozess aus dem jeweiligen Wirtsgenom entnommen und strukturell verändert in das ursprünglich nichttumorigene Retrovirusgenom eingebaut wurden (Stehelin et al. 1976). Prototypen (Protoonkogene) viraler Onkogene finden sich im Genom aller Wirbeltiere einschließlich des Menschen und lassen sich auf Vorläufersequenzen in einfacheren Organismen wie Hefen, Nematoden und Drosophila zurückverfolgen. Die Beteiligung der meisten dieser Gene bei der Entstehung menschlicher Tumoren konnte in der Folgezeit belegt werden. Ein weiterer Zugang zur Klonierung von Onkogenen eröffneten zytogenetische Vorbefunde. Den Anfang machte, wie erwähnt, 1960 die Philadelphia-Translokation bei CML-Patienten. Seither wurden über 200 balancierte und mehr als 1.500 unbalancierte Chromosomenanomalien beschrieben, die jeweils mehrfach in den 75 ausgewerteten Neoplasien des Menschen nachgewiesen wurden (Mitelman et al. 1997). Über die Klonierung von Bruchpunkten tumorspezifischer Chromosomenanomalien gelingt die Isolation von Genen, die im Rahmen der chromosomalen Rekombination strukturell verändert oder fehlreguliert werden. Zu den ersten chromosomalen Aberrationen, die molekular charakterisiert wurden, gehörte die PhiladelphiaTranslokation; das molekulare Äquivalent ist hier die Fusion der Onkogene ABL und BCR (Bartram et al. 1983; de Klein et al. 1982; Groffen et al. 1984). Mittlerweile wurden über 400 chromosomale Aberrationen kloniert, darunter alle häufigen chromosomalen Translokationen (Mitelman et al. 2007; . Tab. 4.2). Die Kurzbezeichnungen dieser mit Chromosomenanomalien assoziierten Onkogene folgen keinen einheitlichen Kriterien. So meint BCR (»breakpoint cluster region«) das Gen auf Chromosom 22, in dem die Bruchpunkte der CML-Patienten auftreten und BCl2 (»B-cell lymphoma«) bezeichnet ein in der Bruchpunktregion von Chromo-
. Tab. 4.2. Beispiele für molekulare Äquivalente chromosomaler Translokationen Translokation
Beteiligte Gene
Erkrankung
t(1;19)(q23;p13)
PBX1, E2A
Prä-B ALL
t(2;13)(q35;q14)
PAX3, FKHR
Alveoläres Rhabdomyosarkom
t(4;11)(q21;q23
AF4, MLL
Prä-prä-B ALL
t(8;14)(q24;q32)
MYC, IGH
Burkitt-Lymphom
t(8;21)(q21;q22)
ETO, AML1
AML-M2
t(9;11)(p22;q23)
AF9, MLL
AML-M4/M5
t(9;22)(q34;q11)
ABL, BCR
ALL, CML
t(11;22)(q24;q12)
FLI1, EWS
Ewing-Sarkom
t(12;16)(q13;p11)
CHOP, FUS
Myoxides Liposarkom
t(12;21)(p13;q22)
TEL, AML1
ALL (B-Reihe)
t(14;18)(q32;q21)
IGH, BCL2
B-NHL
t(15;17)(q21;q21)
PML, RARA
AML-M3
4
som 18 gelegenes Gen, das in Lymphomen dereguliert wird. Zunehmend wird deutlich, dass auch miRNA-Gene (7 Abschn. 4.1.1) im Kontext chromosomaler Translokationen eine wichtige Rolle spielen können (Calin u. Croce 2007). So kommt es durch die t(8;17) bei einer aggressiven B-Zell-Leukämie zur MYC-Aktivierung, weil dieses Onkogen unter die Kontrolle des im Bruchpunktbereich gelegenen MIR-142 Promotors gerät. Der klinisch wichtigste Aspekt dieser Entwicklung ist, dass hierdurch molekulare Marker bereitgestellt werden, die die Differenzialdiagnostik von hämatopoetischen Neoplasien und soliden Tumoren wesentlich bereichert haben und zudem Zielstrukturen für neue, tumorspezifische Therapieverfahren definieren. Auch in dieser Hinsicht kam den Philadelphia-positiven Leukämien eine Schrittmacherfunktion zu, etwa bei der raschen und zuverlässigen Diagnostik der besonders aggressiven BCR-ABLpositiven akuten lymphatischen Leukämie, dem Nachweis minimaler Leukämiezellpopulationen unter Therapie sowie der Entwicklung spezifischer Tyrosinkinaseinhibitoren zur Behandlung dieser Leukämieformen (Druker 2002; Gleissner et al. 2002; Morgan et al. 1989). Ein Beispiel für die differenzialdiagnostische Relevanz bei soliden Tumoren bilden die EWS-Rearrangements bei Tumoren der Ewing-Familie in Abgrenzung zu anderen kleinrundzelligen Tumoren im Kindesalter (Cohn 1999; Delattre et al. 1994). Kürzlich konnte gezeigt werden, dass fusionierte Onkogenprodukte auch durch Trans-Spleißen auf RNA-Ebene entstehen können, ohne dass eine chromosomale Translokation mit entsprechenden DNA-Rearrangement stattfindet. So finden sich im normalen Stromagewebe des Endometriums Fusionstranskripte des JAZF1-Gens (Chromosom 7p15) und des JIAZ1-Gens (Chromosom 17q11), die durch physiologisch reguliertes TransSpleißen der Transkripte beider Gene generiert werden (Li et al. 2008). Interessanterweise sind 50% der Stromasarkome des Endometriums durch JAZF1-JIAZ1-Fusionsprodukte auf der Basis einer t(7;17)(p15;q11) charakterisiert. Inwieweit der pysiologische Prozess des Trans-Spleißens zur chromosomalen Translokation und Entstehung unphysiologischer Dosen des Fusionsproteins beiträgt, ist derzeit ebenso unklar wie die Bedeutung dieser Befunde für andere Onkogenfusionen. Einen anderen experimentellen Ansatz zur Identifikation von Onkogenen stellen DNA-Transfektionsassays dar. Hierbei geht man von der Überlegung aus, dass die für eine Tumorentstehung relevanten Gene nach Einschleusung in geeignete Zellkulturen (z. B. immortalisierte Mausfibroblasten, NIH/3T3–Linie) in der Lage sind, diese Zellen hinsichtlich ihrer biologischen und morphologischen Eigenschaften zu verändern (Krontiris u. Cooper 1981; Murray et al 1981). Da die Zellen jeweils nur einen Bruchteil (<0,5%) des menschlichen Genoms aufnehmen können, wird auch das betreffende Tumorgen nur in wenige Fibroblasten gelangen, die hierdurch jedoch transformiert werden und mit ihren Nachkommen einen morphologisch veränderten Zellverband (Focus) bilden. Die DNA solcher Foci wird wiederum isoliert und transferiert. Während mehrerer Transfektionsrunden gehen humane Sequenzen verloren, die nicht für die Zelltransformation bedeutsam sind. Ein analoger In-vivo-Assay beruht auf der Injektion transfektierter Zellen in immundefiziente Mäuse (»nude mice«; Fasano et al. 1984). Der Vorteil dieses Tumorigenizitätsassays liegt in der Möglichkeit, Onkogene zu identifizieren, die den rezipienten Zellen neoplastische Eigenschaften verleihen, ohne dass dieses Ereignis an einem morphologischen Phänotyp in vitro ablesbar wäre oder deren neoplastisches Potenzial erst in Gegenwart physiologischer Wachstumsfaktoren, die in
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4
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
Zellkulturen nicht enthalten sind, manifest werden. Es sei darauf hingewiesen, dass einige dieser Gene erst während der DNATransfektion selbst strukturell so verändert wurden, dass sie transformierende Eigenschaften erhielten; solche »Tranfektionsunfälle« identifizieren somit potenzielle Onkogene, die für die Entwicklung des eigentlich getesteten Tumors aber keine Relevanz besitzen. Einige der über Transfektion isolierten Gene wie etwa H-RAS waren bereits aus der Tumorvirologie bekannt (Parada et al. 1982). Darüber hinaus konnten aber über 40 weitere Gene kloniert werden, die keine Homologie zu bekannten Tumorgenen zeigten. Auch die für diese Gene benutzten Akronyme sind meist willkürlich gewählt. Beispielsweise kennzeichnet HST ein aus einem Magenkarzinom (»human stomach«) isoliertes Gen, während VAV, der sechste Buchstabe im hebräischen Alphabet, das sechste im Labor der Autoren entdeckte Onkogen repräsentiert. Heute stehen bei der Identifikation von Tumorgenen Hochdurchsatzmethoden im Vordergrund, die nicht mehr auf die Isolation einzelner Gene abzielen, sondern Kompendien genetischer Läsionen in bestimmten Tumorentitäten aufklären (7 Abschn. 4.5.6). Hierzu zählen Genexpressionsprofile mittels ArrayMethoden, umfassende Mutationsanalysen von Tumor-DNA über ultraschnelle Sequenziermethoden sowie eine breit angelegte Suche nach Tumorgenen durch induzierten Funktionsverlust von Genen mittels doppelsträngiger RNA-Moleküle, d. h. RNA-Interferenz (RNAi) (Quakenbush 2006, Schlabach et al. 2008, Wood et al. 2007).
4.2.2
Physiologische Funktion und pathologische Aktivierung
Für einige Onkogene wurde nach ihrer Isolierung die physiologische Funktion rasch klar, weil sich herausstellte, dass sie bereits ausführlich charakterisierte Proteine kodieren, FMS etwa, den Rezeptor des makrophagenkoloniestimulierenden Faktors (MCSF), oder MAS, den Angiotensinrezeptor. Für die Mehrzahl der Onkogene steht eine präzise Funktionsbeschreibung aber noch aus. Allerdings lässt sich ihre Bedeutung häufig über strukturelle oder funktionelle Teilkomponenten ihrer Proteine abschätzen. Ein Beispiel ist die katalytische Domäne von Proteinkinasen, die durch Übertragung einer Phosphatgruppe von ATP auf die Aminosäure Tyrosin oder Serin bzw. Threonin aktiviert wird und Signale an nachgeschaltete Faktoren weitergeben kann. Andere Proteine enthalten Regionen, die an spezifische Sequenzen binden und somit als Transkriptionsfaktoren fungieren können. Der häufig benutzte Begriff »Onkogenaktivierung« ist insofern missverständlich, als hierunter im Kontext der Onkologie die Freisetzung von tumorigenen Eigenschaften dieser Gene gemeint ist und nicht ihr physiologischer Aktivitätszustand. Der Umwandlung eines Protoonkogenes in ein Tumorgen liegen verschiedene Mechanismen zugrunde, die in zwei Kategorien eingeteilt werden können (. Tab. 4.3). Strukturelle Defekte, seien es Punktmutationen oder Genrekombinationen in Folge chromosomaler Translokationen, lassen ein Genprodukt mit veränderten biologischen Eigenschaften entstehen. Es handelt sich also um eine qualitative Störung. Aber auch die zu hohe oder unzeitgemäße Synthese eines normalen Onkogenproduktes kann den Zellmetabolismus erheblich stören. Solche quantitativen Veränderungen treten etwa im Rahmen von chromosomalen Translokationen wie der t(8;14) bei Burkitt-Lymphomen auf, in
. Tab. 4.3. Beispiele unterschiedlicher Formen von Onkogenaktivierung Mechanismus
Gen
Erkrankung
K-RAS
Pankreaskarzinom (sporadisch)
RET
Medulläres Schilddrüsen karzinom (Keimbahn)
BCR-ABL
CML
EWS-FLI
Ewing-Sarkom
Austausch von Regulatorsequenzen
MYC
Burkitt-Lymphom
Genamplifikation
N-MYC
Neuroblastom
Hypomethylierung
BCL2
B-CLL
Imprinting-Verlust
IGF2
Wilms-Tumor
Qualitativ Punktmutation
Genfusion
Quantitativ
Epigenetische Fehlregulation
deren Folge Regulatorsequenzen des Immunglobulingenlocus zu einer unphysiologischen Expression des MYC-Gens führen. Andere Ursachen für eine Überexpression von Onkoproteinen sind eine Genamplifikation oder eine Fehlregulation epigenetischer Prozesse (7 Abschn. 4.8.). Nachfolgend sollen einige Beispiele für unterschiedliche Formen der Onkogenaktivierung etwas näher betrachtet werden.
4.2.3
Strukturelle Onkogendefekte
RAS – Ein Relais der Signaltransduktion Zur RAS-Familie gehören die funktionell und strukturell ähnlichen Proteine H-RAS, K-RAS und N-RAS (Lowy u. Willumsen 1993; Rebollo u. Martinez 1999). Da RAS-Proteine Guaninnukleotide binden und GTPase-Aktivität besitzen, werden sie zur Gruppe der regulativen G-Proteine gerechnet. Ihre Funktion als Signalmediatoren setzt eine Verankerung an der Innenseite der Zellmembranen voraus (. Abb. 4.3; Choy et al. 1999; Magee u. Marshall 1999). Diese Assoziation erfolgt über eine Farnesylgruppe, die RAS im Rahmen einer posttranslationalen Modifikation im endoplasmatischen Retikulum angekoppelt wird. Der Prozess umfasst mehrere Schritte und ist für die Aktivierung aller RAS-Proteine von essenzieller Bedeutung. Eine Farnesyltransferase (FT) fügt die Farnesylgruppe an das Zystein im C-terminalen CAAX-Motiv an (C Zystein, AA aliphatische Aminosäure, X beliebige Aminosäure). Sodann wird das Tripeptid AAX proteolytisch abgespalten und das jetzt frei stehende Zystein methyliert. Für eine stabile Verankerung von RAS in der Zellmembran sind weitere Proteinmodifikationen nötig; bei H- und N-RAS handelt es sich um eine Palmitoylierung benachbart gelegener Zysteine, bei K-RAS wird das zusätzliche Verankerungssignal über eine aus mehreren Lysinen zusammengesetzte polybasische Domäne vermittelt. Entsprechend diesen unterschiedlichen Modifikationen werden H- und N-RAS sekre-
75 4.2 · Onkogene
4
. Abb. 4.3. Posttranslationale Modifikation von RAS-Proteinen. Dieser Prozess umfasst mehrere Schritte und erfolgt in unterschiedlichen Zell-
kompartimenten. FT Farnesyltransferase; EP Endopeptidase; L Lysin; MT Methyltransferase; F Farnesylgruppe; Me Methylgruppe; P Palmitoylgruppe
torisch über den Golgi-Apparat an cholesterolreiche Domänen der Zellmembran transportiert, während K-RAS andere Membrandomänen direkt über das Zytoplasma erreicht. Eine detaillierte Kenntnis dieser Modifikationsschritte ist insofern von klinischer Relevanz, weil sich hieraus Ansätze für therapeutische Interventionen bei pathologischer RAS-Aktivierung ergeben. Der Wechsel von einer inaktiven zu einer aktiven Form membranständiger RAS-Proteine erfolgt durch die Bindung von GTP anstelle von GDP (. Abb. 4.4). Die Modulation des Aktivitätszustandes wird durch zwei Gruppen von Regulationsproteinen gesteuert, die Guanin-Nukleotid-Austauschfaktoren (GEF) und die GTPase-aktivierenden Proteine (GAP; Boguski u. McCormick 1993; Vetter u. Wittinghofer 2001). RAS-Proteine erhalten ein Aktivierungssignal durch die Bindung von Wachstumsfaktoren oder Hormonen an ihre membranständigen Rezeptoren und die hieraus resultierende Phosphorylierung von Tyrosinen der Kinasedomäne. Phosphotyrosine dienen als Andockstelle für Proteine, die die Signale auf unter-
. Abb. 4.4. Regulation der RAS-Aktivität über Guanin-Nukleotid-Austauschfaktoren (GEF) bzw. GTPase aktivierende Proteine (GAP)
76
4
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
schiedliche Weise weitergeben können. Hierzu zählt das Adapterprotein GRB2, das seinerseits SOS rekrutiert, einen der Austauschfaktoren, die RAS von der GDP-bindenden in die aktive GTP-bindende Version überführen (Egan et al. 1993; Lowenstein et al. 1992). In anderen Fällen kommt es nicht zur direkten Bindung von GRB2-SOS an den Rezeptor, sondern erst über die Vermittlung eines weiteren Faktors wie etwa SHC. Die Gegenregulation im Sinne einer Hydrolyse von GTP in GDP erfolgt durch Faktoren, die die schwache intrinsische Guanosintriphosphatase-(GTPase-)Aktivität von RAS-Proteinen verstärken (GAP, GTPase-aktivierende Proteine). Ein Vertreter dieser Gruppe von RAS-Modulatoren ist Neurofibromin (NF1), ein Tumorsuppressor, der bei Patienten mit Neurofibromatose Typ I defekt ist (Xu et al. 1990). Zu den besonders intensiv untersuchten Effektoren der RASvermittelten Signaltransduktion gehört die RAF-MEK-ERKKaskade (. Abb. 4.5), die durch eine Welle nacheinander ablaufender Phosporylierungen gekennzeichnet ist (Moodis et al. 1993). Ein erster Schritt besteht in der Rekrutierung der Serinthreoninkinase RAF an die Zellmembran. Hierbei wird RAF durch eine Dephosphylierung aus der Assoziation mit seinem Inhibitor 14-3-3 befreit (Roy u. Therrien 2002). Nachfolgend kommt es zur Aktivierung der bispezifischen Serin-/Threonintyrosinkina-
. Abb. 4.5. RAS-vermittelte Signalübertragung am Beispiel der RAFMEK-ERK-Kaskade
se MEK. MEK bildet einen Komplex mit KSR, einem positiven Modulator der RAF-MEK-Signalübertragung. Auch der MEKKSR-Komplex wird zunächst durch eine Phosphatase aus der 143-3-bedingten inaktiven Konfiguration entlassen. Die nächste Station der Signalübertragung ist die Serinthreoninkinase ERK. Die Phosphorylierung von ERK führt zur Homodimerisierung und zum Eintritt der Dimere in den Zellkern. Die Familie der ERK-Proteine phosphoryliert verschiedene Transkriptionfaktoren, entweder direkt (Beispiel FOS) oder, wie im Fall von JUN, über Vermittlung einer weiteren Proteinkinase, RSK. FOS- und JUN-Hetero- oder Homodimere bilden den Transkriptionfaktorkomplex AP-1 (Shaulian u. Karin 2002) und binden an Regulatorsequenzen von Genen wie MYC, deren Proteine als Transkriptionsfaktoren weitere Gene wie CYCLIN D1 aktivieren und damit den Zellzyklus steuern. Die Aktivierung von RAS löst schließlich auch eine komplexe Kaskade epigenetischer Prozesse (7 Abschn. 4.7) aus, die zu einer spezifischen Änderung des Genexpressionsprofils einer Zelle führen (Gazin et al. 2007). Eine RAS-vermittelte Signalübertragung kann über ganz unterschiedliche Wege erfolgen. Ein weiterer wichtiger Interaktionspartner ist die Phosphatidylinositol-3-Kinase (PI3 K), die ihrerseits die Serinthreoninkinase-AKT aktiviert und hierdurch antiapoptotische Prozesse auslöst (Vivanco u. Sawyers 2002). Auch die Steigerung der BCL2-Expression über die RAS-RAFKaskade führt zur Apoptoseinhibition. Die Achse RAS-PI3 K kann zudem durch Vermittlung von TIAM1 das G-Protein RAC aktivieren und damit zur Umgestaltung der Aktinfilamente des Zytoskeletts und einer Neuformation von Zelladhäsionskomplexen führen – Prozesse, die für den invasiven Phänotyp maligner Zellen bedeutsam sind (Michiels et al. 1995). Andere Effektoren von RAS-Funktionen sind RAL-GEF wie RAL-GDS, die über einen Austausch von GTP für GDP RAL aktivieren. Dieses Protein fungiert wiederum als Relais für zahlreiche weitere Interaktionspartner wie RAC oder Faktoren, die bei der Regulation von Endo- und Exozytose eine Rolle spielen (Bos 1998; Urano et al. 1996). Das Netzwerk RAS-vermittelter Signalwege hat sich in den letzten Jahren als immer komplexer erwiesen. Ein Grund dafür ist darin zu sehen, dass auf jeder Stufe der Signalübertragung unterschiedliche Partner rekrutiert werden können, die ihrerseits spezifische Signalkaskaden auslösen. Zudem muss bedacht werden, dass zur Feinabstimmung des Systems jeweils Gegenregulatoren wie Proteinphosphatasen verfügbar sein müssen. So induziert die Proteinkinase ERK parallel zur positiven Signalübertragung auch die Proteinphosphatase MKP3, die ERK-spezifisch inhibiert (Hafen 1998). Schließlich erfüllen die verschiedenen Mitglieder der RAS-Familie im Kontext unterschiedlicher Gewebe- und Entwicklungsstadien jeweils distinkte Aufgaben (BarSagi 2001), wozu sie jeweils andere Schlüsselfaktoren aktivieren; K-RAS rekrutiert präferenziell RAF, H-RAS hingegen PI3 K (Rebollo u. Martinez-A 1999). Zudem können sich, abhängig vom Differenzierungsstadium, zwei RAS-regulierte Signalwege (PI3KAKT, RAF-MEK-ERK) auch gegensinnig beeinflussen; in bestimmten Stadien der Muskelentwicklung inhibiert AKT die Signalübertragung durch RAF (Rommel et al. 1999). In Modellorganismen wie Drosophila beginnt sich ein Verständnis für die Spezifität RAS-vermittelter Zellfunktionen in bestimmte Entwicklungsstadien über die Integration verschiedener Signalwege abzuzeichnen (Halfon et al. 2000). Eine zunächst überraschende Funktion von RAS (aber auch RAF und anderen Onkogenen) ist die Induktion von Zellalte-
4
77 4.2 · Onkogene
rung (»senescence«) und damit die Elimination von Tumorzellen (Serrano et al. 1997). Diese Barrierefunktion von RAS gilt aber nicht für alle Gewebearten. Relevant ist in diesem Kontext, dass durch die Aktivierung von RAS eine Reihe von Hauptfaktoren der DNA Schadenserkennung und -regulierung wie P53, P16, ATM und CHK2 aktiviert werden, die dann die Zellalterungsprozesse koordiniert voranbringen und in einer Negativschleife RAS wieder inaktivieren. Fällt dieser physiologische Regelkreis aus, etwa durch Verlust (Mutation) von Einzelkomponenten dieses Signalweges, dann wirkt die RAS-Aktivierung proliferationsfördernd und onkogen (Cao u. Finkel 2006; Courtois-Cox et al. 2006; Michaloglou et al. 2005). Pathologische RAS-Aktivierung Eine unphysiologische RAS-Aktivität kann unterschiedliche Ursachen haben. Zum einen können vorgeschaltete Signalmediatoren wie GRB2 pathologisch aktiviert werden und über GEF ein Überangebot von RAS-GTP bereitstellen. Ein Beispiel hierfür ist die Aktivierung von GRB2 bzw. SHC und damit der RAS-RAFKaskade durch BCR-ABL bei CML-Patienten (Deininger et al. 2000). Ein weiterer Pathomechanismus besteht in der Akkumulation von RAS-GTP durch Aktivitätsverlust von GAP-Proteinen wie NF1 bei Patienten mit Neurofibromatose. Ein interessanter Teilaspekt ist hier die durch die pathologische RAS-Aktivität induzierte Entwicklung von Neoplasien der myeloischen Zellreihe, sowohl bei Neurofibromatosepatienten wie auch im Tiermodell (Bollag et al. 1996; Side et al. 1997). Selten kann auch eine Amplifikation von RAS-Genen zu einer aberranten RAS-Expression führen (Brison 1993; Heighway u. Haselton 1986). Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Keimbahnmutationen in Genen der RAS-RAF-Kaskade (SOS, K-RAS, B-RAF, MEK) zu Entwicklungsstörungen wie dem Noonan bzw. Cardiofaciocutanem (CFC) Syndrom führen, die überlappende Symptome zeigen (Bentires-Alj et al. 2006). RAS-Mutationen Der häufigste und klinisch relevanteste Mechanismus einer RASAktivierung im Rahmen der Onkologie besteht in spezifischen Punktmutationen (Bos 1989). Die hieraus resultierenden Aminosäuresubstitutionen sind mit Konformationsänderungen der RAS-Proteine verbunden, die insbesondere mit der internen GTPase-Aktivität und deren GAP-vermittelter Regulation interferieren. RAS-Mutanten sind konstitutiv aktiv, unterliegen keiner adäquaten Gegenregulation und senden deshalb ein anhaltendes Proliferationssignal. Besonders betroffen sind die Kodons 12, 13 und 61. RAS-Mutationen stellen mit einer Gesamtinzidenz von etwa 30% die häufigste Onkogenveränderung bei Tumoren des Menschen dar und können in zahlreichen Neoplasien nachgewiesen werden, wenngleich mit unterschiedlicher Frequenz (. Tab. 4.4). Bei den meisten Tumorformen ist vorwiegend ein bestimmtes Mitglied der RAS-Familie von den Veränderungen betroffen, am häufigsten K-RAS, selten H-RAS. Bei Schilddrüsenkarzinomen sind alle drei RAS-Gene beteiligt. Das Pankreaskarzinom nimmt insofern eine Sonderstellung ein, weil es der Tumor mit der weitaus höchsten Frequenz (90%) von RAS-Mutationen ist, die zudem ausschließlich in Kodon 12 von K-RAS beobachtet und bereits in einem hohen Prozentsatz der prämalignen Mukosazellhyperplasien nachgewiesen werden (Almoguera et al. 1988; Hilgers u. Kern 1999; Yanagisawa et al. 1993).
. Tab. 4.4. Neoplasien des Menschen mit hohem Anteil an rasMutationen Tumor
Gen
[%]
Pankreaskarzinom
K-RAS12
90
Kolonkarzinom
K-RAS
50
Schilddrüsenkarzinom
K-. H-, N-RAS
50
AML
N-RAS
30
Lungenkarzinom
K-RAS
30
H-RAS
30
Maligne
Benigne Keratoakanthom
RAS-Mutationen können in unterschiedlichen Stadien einer malignen Erkrankung auftreten. Bei Neoplasien der Myelopoese handelt es sich meist um N-RAS-Mutationen (Bartram 1996; Byrne u. Marshall 1998). Etwa 30% der Patienten mit einer akuten myeloischen Leukämie zeigen RAS-Mutationen. Aber auch bei etwa 10% der Patienten mit einem myelodysplastischen Syndrom, einer heterogenen Gruppe prämaligner Krankheitsbilder, lassen sich RAS-Mutationen nachweisen. Andererseits treten bei Patienten mit chronisch myeloischer Leukämie RAS-Mutationen beim Übergang von der chronischen Phase in die Blastenkrise, also einem fortgeschrittenen Stadium, auf. Ähnlich finden sich K-RAS-Mutationen nicht nur beim manifesten Kolonkarzinom, sondern auch bei den vorangehenden Adenomstadien (Vogelstein et al. 1988). Eine relativ hohe Zahl (30%) von Keratoakanthomen zeigt H-RAS-Mutationen (Leon et al. 1988). Hierbei handelt es sich um einen rasch wachsenden, aber gutartigen Hauttumor, der sich spontan zurückbildet. Die RAS-Mutation verschafft hier den betreffenden Zellen also einen Wachstumsvorteil als Teilschritt auf dem komplexen Weg einer malignen Transformation. Tiermodelle Die hochspezifische K-RAS12-Mutation bei Pankreaskarzinomen erinnert an Befunde bei Nagetieren; nach Exposition mit Mutagenen entstehen bei ihnen Tumoren, die durch bestimmte RAS-Mutationen charakterisiert sind (Barbacid 1987). So induziert Methylnitrosoharnstoff (MNU) bei Ratten Mammakarzinome, die eine G→A-Substitution in Kodon 12 von H-RAS zeigen (Zarbl et al. 1985), während bei Mäusen nach MNU-Behandlung Lungentumoren mit einer K-RAS-Kodon-12-Mutation (G→A) entstehen. Lungentumoren entwickeln sich in Mäusen auch nach Exposition mit Äthylcarbonat; in diesem Fall zeigt sich aber eine Mutation in Kodon 61 (A→T) von K-RAS (You et al. 1989). Allerdings finden sich bei Pankreaskarzinomen des Menschen im Gegensatz zu den genannten Tiermodellen keine spezifischen Nukleotid- bzw. Aminosäuresubstitutionen, und es liegen bisher auch keine überzeugenden epidemiologischen Daten vor, die auf eine bestimmte mutagene Noxe als auslösendes Agens hinweisen würden. In Tiermodellen konnte die Bedeutung von RAS-Mutationen auf den verschiedenen Stufen der Karzinogenese besonders gut herausgearbeitet werden. So führt in Mäusen die Behandlung mit
78
4
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
einer tumorinitiierenden Substanz wie Dimethylanthrazen (DMBA) zu benignen Hautpapillomen, die spezifische Mutationen von H-RAS-Kodon 61 zeigen (Quintanilla et al. 1986), wobei sich diese Mutationen bereits vor der morphologisch sichtbaren Papillomentwicklung in epidermalen Zellen nachweisen lassen (Nelson et al. 1992). Derselbe Effekt wird durch eine Expression transgener H-RAS-Mutanten in der Mausepidermis erzielt (Bailleul et al. 1990). Die weitere Signaltransduktion schließt in diesem Modell den RAC-Aktivator TIAM1 sowie RAC ein. Bei Ausfall von TIAM1 sind die Mäuse resistent gegenüber einer RAS-induzierten Entwicklung von Hauttumoren (Malliri et al. 2002). H-RAS-Mutationen sind aber nicht nur bei der initialen Entwicklung von Hauttumoren von Bedeutung, sondern auch für den Unterhalt des manifesten Malignoms. Wird im transgenen Mausmodell nach Entwicklung eines Melanoms die aberrante H-RAS-Expression unterbunden, kommt es zur Tumorregression (Chin et al. 1999). Ähnliche Befunde ergeben sich auch für ein transgenes Mausmodell von Adenokarzinomen der Lunge. Die konditionale, gewebespezifische Expression von K-RAS-Mutanten in Pneumozyten Typ II induziert innerhalb 1 Woche fokale Zellhyperproliferationen, die nach etwa 2 Monaten in Adenome und Adenokarzinome übergehen. Nach Unterbrechung der aberranten RASExpression kommt es innerhalb weniger Wochen zu einer kompletten Regression der Tumoren durch Apoptose (Fisher et al. 2001). Wurden diese Experimente in P53- oder P16-defizienten Mäuse durchgeführt, so entwickelten sich die Tumoren sehr viel rascher, aber auch in diesen Fällen kam es zur Tumorregression nach Beendigung der RAS-Expression als Hinweis darauf, dass das mutierte K-RAS-Gen zur Aufrechterhaltung des Transformationsstatus notwendig ist, unabhängig von der Funktionstüchtigkeit der genannten Tumorsuppressoren. Vergleichbare Ergebnisse wurden auch in einer neuen Variante transgener Mausmodelle erzielt, bei denen es zu einer spontanen Aktivierung von mutanten K-RAS12-Allelen kommt, ein Ansatz, der der natürlichen Tumorentwicklung noch näher steht (Johnson et al. 2001). Wie komplex die molekularen Mechanismen der Tumorentwicklung sein können, zeigen überraschende Befunde bei einem anderen transgenen Mausmodell, das durch einen heterozygoten Verlust eines normalen K-RAS-Allels charakterisiert ist (Zhang et al. 2001). Nach Exposition mit einem Karzinogen wie MNU kam es zu einer deutlichen Zunahme der Tumorzahl und -größe im Vergleich zu Mäusen mit Normalsequenzen beider RAS-Allele. In beiden Fällen werden durch MNU auf einem K-RAS-Allel Punktmutationen in Kodon 12 induziert. Im transgenen Mausmodell steht aber keine zweite K-RAS-Kopie zur Kompensation zur Verfügung, und die Tumordisposition ist bei diesen Tieren sehr viel größer. Diese Befunde deuten auf eine Tumorsuppressoraktivität von K-RAS hin. Tatsächlich konnte die Transfektion normaler K-RAS-Sequenzen in Zellen mit K-RAS12-Mutation den malignen Phänotyp supprimieren. Inwieweit diesen Daten eine generelle Bedeutung für die RAS-vermittelte Tumorentwicklung zukommt, bleibt abzuwarten. Es deutet sich hier aber an, dass die starre Grenzziehung zwischen Onkogenen und Tumorsuppressorgenen im Einzelfall aufzuweichen beginnt. Klinische Relevanz von RAS-Mutationen Eine prognostische Relevanz von RAS-Mutationen konnte am überzeugendsten für das Adenokarzinom der Lunge belegt werden; hier zeigen Patienten mit K-RAS-Mutationen in Kodon 12
oder 61 in den meisten Studien einen signifikant schlechteren Krankheitsverlauf (Rosell et al. 1993; Slebos et al. 1990). Bei den meisten anderen Malignomen ergaben sich bisher entweder widersprüchliche Befunde oder kein Hinweis auf eine Assoziation mit dem Therapieerfolg. Eine klinische Bedeutung könnten RAS-Mutationen hingegen als molekulare Marker erlangen. Diese Entwicklung begann mit dem Nachweis von RAS-Mutationen in Stuhlproben von Patienten mit Kolonkarzinom (Sidransky et al. 1992). Später wurden Analysen von Sputum, Pankreassaft oder Urin als nichtinvasive Verfahren zur Diagnose von Lungen-, Pankreas bzw. Blasentumoren etabliert (Sidransky 2002). Darüber hinaus geben Tumorzellen im Rahmen der Zellalterung auch DNA in die Blutzirkulation ab, sodass metastasierende Zellen über den Nachweis von RASMutationen in Serum- und Plasmaproben erfassbar sind, teilweise noch bevor die Erkrankung klinisch bemerkt wird (Anker et al. 2001; Gormally et al. 2007). Auch Techniken zur Quantifizierung dieser zirkulisierenden Tumor-DNA stehen zur Verfügung; sie erlauben die Erfassung der Tumordynamik in einem Patienten (Diehl et al. 2008). Bisher sind diese recht komplexen Analyseverfahren aber noch nicht im klinischen Alltag verankert. Therapeutische Implikationen Angesichts der großen Bedeutung einer pathologischen RAS-Aktivierung für die Entwicklung zahlreicher Krebsformen wurden unterschiedliche therapeutische Strategien zur Unterbrechung dieser fehlregulierten Signalübertragung entwickelt (Adjei 2001; Ahmadian 2002; Downward 2003).
Ebenen einer therapeutischen Intervention bei pathologischer RAS-Aktivierung 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Prävention von RAS-Mutationen Avicin Abbau von RAS-Transkripten Antisense-Konstrukte RNA-Interferenz Inhibition der Membranverankerung Blockade der RAS-Modifikation Farnesyltransferaseinhibition Verdrängung von der Zellmembran Farnesylzysteinanaloga Ersatz der defekten GTPase-Funktion GTP-Analoga (DABP-GTP) Inhibitoren von RAS-Effektor-Interaktionen RAS-RAF-Blockade (Sulindac) Inhibition nachgeschalteter Signalmediatoren MEK-Inhibition Virusvermittelte Zelllyse Reoviren
Ein sehr früher Ansatz besteht darin, das Risiko für das Auftreten von RAS-Mutationen im Sinne einer Chemoprävention zu reduzieren. So konnte in dem schon erwähnten Mausmodell, bei dem sich nach DMBA-Behandlung H-RAS-Kodon-61-Mutationen und nachfolgend Hautpapillome entwickelten, eine Vorbehandlung mit Avicin die Mutationsrate und Tumorentwicklung drastisch reduzieren (Hanausek et al. 2001). Weitere Versuche zielen darauf ab, RAS-Transkripte noch vor der Translation abzufangen. Ein solcher Ansatz liegt in der Ver-
79 4.2 · Onkogene
wendung von Antisense-Konstrukten (Zhang et al. 1993; Su et al. 2001). Ein neuer Weg könnte im Einsatz kurzer doppelsträngiger RNA-Moleküle bestehen, die hochspezifisch gegen RASMutationen gerichtet sind (Brummelkamp et al. 2002). Solche RNA-Interferenz-(RNAi-)Verfahren haben sich als wirkungsvoller als klassische Antisense-Strategien erwiesen (McManus u. Sharp 2002; Meister u. Tuschl 2004). Ein anderer therapeutischer Zugang besteht darin, die Prozessierung von RAS-Proteinen im Zytoplasma dadurch zu verhindern, dass synthetische Peptide an den freien C-Terminus von RAS binden und Modifikationen somit generell blockieren (Dong et al. 1999). Schon weiter ausgereift sind zwei weitere Ansätze, die eine Verankerung von RAS in der Zellmembran zu verhindern. Zum einen handelt es sich um Farnesyltransferaseinhibitoren, die die posttranslationale Modifikation von RAS unterbinden (Reuter et al. 2000; Rowinsky et al. 1999). Die Wirksamkeit dieser Strategie konnte in präklinischen Studien belegt werden, insbesondere für H-RAS; K- und N-RAS können auch durch die verwandte Geranygeranytransferase I modifiziert werden und sind deshalb meist resistent gegenüber dieser Behandlung. Farnesyltransferaseinhibitoren blockieren andererseits auch die Modifikation weiterer Proteine und lösen hierdurch apoptische Reaktionen aus, sodass sich ein breiteres Wirkungsspektrum dieser Medikamente ergeben könnte. Derzeit sind Phase-II- und -IIIStudien auf den Weg gebracht worden, die darauf hinweisen, dass diese Substanzen gerade in Kombination mit konventionellen Therapieansätzen wirksam sind (Adjei 2001; Shi et al. 2000). Eine weitere Möglichkeit bieten Farnesylzysteinanaloga wie Farnesylthiosalicylsäure (FTS), die reife RNA-Proteine aus den Zellmembrandomänen verdrängen (Jansen et al. 1999). Für diese Medikamentengruppe liegen erste präklinische Daten vor. Eine andere Strategie besteht in einer Verstärkung der defekten GTPase-Aktivität von RAS-Mutanten durch synthetische GTP-Analoga wie DABP-GTP, die das konstitutiv aktive RASGTP in eine inaktive, GDP-bindende Form überführen (Ahmadian et al. 1999). Eine zusätzliche Ebene therapeutischer Interventionen betrifft RAS-Effektor-Interaktionen und die Blockade nachgeschalteter Signalmediatoren. So unterbinden Derivate des nichtsteroidalen Entzündungshemmers Sulindac nach Kopplung an RAS-Mutanten die RAS-RAF-Signaltransduktion und heben die RAS-induzierte Zelltransformation auf (Hermann et al. 1998). Diese Gruppe von Medikamenten hat darüber hinaus eine große Bedeutung bei der Chemoprävention von Kolonkarzinomen (Jänne u. Mayer 2000). Ein weiterer Ansatz besteht in der Behandlung mit MEK-Inhibitoren (Sebolt-Leopold et al. 1999). Auch B-RAF Mutationen werden in einem breiten Tumorspektrum beobachtet (insbesondere bei 60% der Melanome). Interessanterweise sprechen Tumore mit B-RAF-Mutation sehr viel besser auf MEK-Inhibitoren an als Tumore mit RAS-Mutation (Solit et al. 2006). Dies könnte damit erklärt werden, dass B-RAF Signale nur über die Achse RAF-MEK weitergeben kann, während für RAS alternative Signalwege, z. B. PIK3-vermittelt, zur Verfügung stehen. Genomweite Analysen von Genen, die das Ziel einer pathologischen RAS-Aktivierung sind, könnten die Palette einer medikamentösen Beeinflussung künftig erheblich verbreitern (Zuber et al. 2000). Schließlich könnte es gelingen, Viren zur Tumortherapie zu nutzen. Ein Beispiel hierfür ist der Einsatz von Reoviren, die für eine produktive Infektion eine aktivierte RAS-Kaskade benötigen und betroffene Tumorzellen lysieren (Coffey et al. 1998).
4
Es sei aber nochmals betont, dass alle hier genannten, innovativen Therapieansätze einer weiteren Prüfung hinsichtlich ihrer klinischen Wirksamkeit bedürfen. Tyrosinspezifische Proteinkinasen Der Phosphorylierung von Proteinen kommt im Rahmen der Signaltransduktion eine große Bedeutung zu (Hunter 2000). Beim Menschen katalysieren etwa 500 Proteinkinasen den Transfer einer Phosphatgruppe von ATP auf die Hydroxylgruppe spezifischer Aminosäuren. Man unterscheidet Enzyme mit Tyrosinkinaseaktivität von solchen mit Spezifität für Serin und Threonin. Einige Proteinkinasen können alle drei Aminosäuren phosphorylieren (Huse u. Kuriyan 2002). Die Gegenregulation im Sinne einer Proteindephosphorylierung erfolgt ebenfalls über zwei verschiedene Gruppen von Enzymen, die als Tumorsuppressoren fungieren. Die Hydrolyse von Serin- bzw. Threoninphosphoestern katalysiert eine Form von Proteinphosphatasen, während die etwa 100 verschiedenen Protein-Tyrosin-Phosphatasen eine Spezifität für Phosphotyrosin haben. Auch bei den Proteinphosphatasen besitzen einige Vertreter eine duale Funktion und interagieren sowohl mit Phosphotyrosin wie auch mit Phosphoserin bzw. -threonin (Alonso et al. 2004; Hunter 1995). Nachfolgend werden wir uns auf die Familie der etwa 90 bisher bekannten Tyrosinkinasen konzentrieren. Die meisten Vertreter dieser Gruppe sind in der Zellmembran verankert und lassen sich in die 20 Subfamilien der Tyrosinkinaserezeptoren einteilen, die über charakteristische extrazelluläre Strukturen wie eine zysteinreiche, Fibronektin-III-ähnliche oder Immunoglobulin-ähnliche Domäne verfügen (Fantl et al. 1993; Ullrich u. Schlessinger 1990). Gut 30 Tyrosinkinasen sind im Zytoplasma lokalisiert und gliedern sich in 10 Subfamilien (Blume-Jensen u. Hunter 2001). Selten fungieren Tyrosinkinasen auch im Zellkern als Transkriptionsfaktoren (Lin et al. 2001). Eine pathologische Aktivierung von Tyrosinkinasen erfolgt über Punktmutationen, größere strukturelle Veränderungen im Rahmen chromosomaler Translokationen oder eine Genamplifikation (Scheijen u. Griffin 2002; Skorski 2002). In zahlreichen Tumoren trägt die unphysiologische Phosphorylierung unterschiedlicher Substratgruppen zur Karzinogenese bei. Auch das erste überhaupt bekannt gewordene Onkogen, V-SRC, repräsentiert eine fehlregulierte intrazytoplasmatische Tyrosinkinase. Die katalytische Domäne von Tyrosinkinasen umfasst Subregionen, die der Bindung von ATP bzw. den verschiedenen Substraten dienen. Die sog. Aktivierungsschlaufe (»activation loop«) wird durch Phosphorylierungsreaktionen in einer offenen, stabilen Konfiguration gehalten, die eine Substratbindung und den Phosphotransfer von ATP ermöglicht. In der nichtphosphorylierten, inaktiven Form kollabiert die Aktivierungsdomäne und verhindert ein Andocken von ATP und Substrat (Weiss u. Schlessinger 1998). Bei den Rezeptortyrosinkinasen kommt es nach Bindung des Liganden meist zu einer Dimerisierung, die von einer Autophosphorylierung von Tyrosinen der intrazellulären Rezeptoranteile gefolgt wird (Weiss u. Schlessinger 1998). Von dieser Autophosphorylierung sind neben der Kinasedomäne auch weitere Tyrosinpositionen betroffen, die als Andockstellen für die sog. SH2Domäne von nachgeschalteten Signalmediatoren dienen (. Abb. 4.6). Manche Andockstellen haben eine hohe Spezifität für jeweils ein bestimmtes Substrat, andere können verschiedene Signalmoleküle binden (Braunger et al. 1997; Madhani 2001). Proteine ohne eigene SH2-Domäne können einen Kontakt zum
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Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
fungieren SH3-Domänen auch selbst als Andockstellen für Substrate von Tyrosinkinasen (Pawson 1995). In diesem Kontext konnte kürzlich auch die molekulare Grundlage des Warburg-Effektes näher charakterisiert werden (Warburg 1956). Otto Warburg hatte beobachtet, dass Tumorzellen, im Gegensatz zu Normalgewebe, durch eine erhöhte Glukoseaufnahme bei geringerer oxidativer Phosphorylierung verbunden mit hohen Laktatspiegeln gekennzeichnet sind, eine Stoffwechsellage, die als aerobe Glykolyse bezeichnet wird. Es konnte jetzt gezeigt werden, dass Tumorzellen wieder die fetale Isoform M2 der Pyruvatkinase exprimieren (und nicht die adulte Spleißform M1), welche direkt und spezifisch an tyrosinphosphorylierte Proteine bindet, den Prozess der aeroben Glykolyse induziert und zur Tumorigenese beiträgt (Christofk et al. 2008a,b).
4
. Abb. 4.6. Signaltransduktion eines Tyrosinkinaserezeptors. Nach Bindung eines Liganden kommt es zur Dimerisierung und Autophosphorylierung der Rezeptoren (rechte Hälfte). Die Tyrosinkinase (TK), in diesem Beispiel in 2 Subdomänen gegliedert, überträgt eine Phosphatgruppe von ATP auf nachgeschaltete Signalmediatoren, die über ihre SH2-Domänen an autophosphorylierte Positionen des Rezeptors binden. Einige dieser Rezeptordomänen dienen als spezifische Andockstellen für nur jeweils ein Substrat (A), andere Positionen können unterschiedliche Proteine binden (B, C, D, E). Signalmediatoren ohne eigene SH2-Domäne (G) erhalten ein Aktivierungssignal über Adaptormoleküle (F), die über ihre SH2-Domäne den Kontakt zum aktivierten Rezeptor herstellen
aktivierten Rezeptor durch Vermittlung von Adaptermolekülen wie SHC herstellen, die selbst keine katalytische Funktion, aber eine SH2-Domäne besitzen (Pawson u. Scott 1997). Die Spezifität eines bestimmten Signals kann einerseits durch die Auslösung einer ganz definierten Signalkaskade oder durch die vom Rezeptor koordinierte, distinkte Kombination unterschiedlicher Signalwege gewährleistet werden (Maina et al. 2001). Einige zytoplasmatische Tyrosinkinasen wie SRC und ABL verfügen über eine eigene SH2-Domäne und phosphorylieren präferenziell solche Substrate, die von ihrer SH2-Domäne erkannt werden (Songyang et al. 1995). Für die Regulation der Signalvermittlung ist bei ihnen auch eine SH3-Domäne von Bedeutung, die mit der SH2-Domäne und benachbarten Sequenzen interagiert. Ein Funktionsverlust der SH3-Domäne führt zu einem verbesserten Zugang der SH2-Domäne für Substrate und einer pathologischen Tyrosinkinaseaktivität. Darüber hinaus
Keimbahnmutationen des RET-Gens Der Tyrosinkinaserezeptor RET wird normalerweise durch die Bindung eines seiner natürlichen Liganden, beispielsweise des neurotrophen Wachstumsfaktors GDNF, unter Vermittlung des membranständigen Korezeptors GDNF-Rα, aktiviert (. Abb. 4.7; Manie et al. 2001). Punktmutationen des RET-Rezeptors können zu einer ligandenunabhängigen, konstitutiven Aktivierung der Tyrosinkinase führen, wobei die Art der Mutation unterschiedliche klinische Manifestationen bedingt. Keimbahnmutationen des RET-Gens disponieren Anlageträger zur Entwicklung medullärer Schilddrüsenkarzinome (Alsanea u. Clark 2001; Ponder 1999). Es handelt sich hier also um eine autosomal-dominant erbliche Tumorform auf der Basis einer Onkogenaktivierung, nicht wie in den meisten anderen Fällen durch Funktionsverlust eines Tumorsuppressors. Keimbahnmutationen der Tyrosinkinaserezeptoren MET und KIT bei erblichen Formen von papillärem Nierenkarzinom bzw. gastrointestinalen Tumoren (GIST) sind zwei weitere Beispiele dieser Kategorie von erblicher Tumordisposition (Schmidt et al. 1997; Nishida et al 1998). Bei Patienten mit familiärem medullären Schilddrüsenkarzinom (FMTC) tritt die Mutation meist in Kodon 620 auf. Ist hingegen die benachbart gelegene Position 634 innerhalb der extrazellulären, zysteinreichen Domäne des Rezeptors betroffen, so ergibt sich eine weiter gesteigerte Kinaseaktivität und ein zusätzliches Risiko für Endokrinopathien (Carlomagno et al. 1997). Solche Patienten zeigen das Krankheitsbild einer multiplen endokrinen Neoplasie (MEN) vom Typ 2A, bei der es neben der Disposition für ein Schilddrüsenkarzinom auch zur Entwicklung eines Phäochromozytoms (50% der Fälle) bzw. eines Hyperparathyreoidismus in Folge einer Nebenschilddrüsenhyperplasie (20%) kommen kann. Mutationen in Kodon 918 begründen das eigenständige Krankheitsbild MEN Typ 2B. Pathogenetisch ist hier von Bedeutung, dass die Substitution von Methionin durch Threonin in der Tyrosinkinasedomäne 2 zu einer Kombination verschiedener Fehlregulationen wie eine Rezeptordimerisierung und -phosphorylierung führt (Gujral et al. 2006). Klinisch resultiert hieraus eine besonders aggressive Form des medullären Schilddrüsenkarzinoms; in 50% der Fälle entwickelt sich ein Phäochromozytom, ein Hyperparathyreoidismus wird aber nicht beobachtet. Als Spezifikum sind bei diesen Patienten ein marfanoider Habitus sowie Schleimhautneurome bzw. eine intestinale Ganglioneuromatose anzutreffen. Erwähnt werden sollen noch zwei weitere Krankheitsbilder auf der Basis von Störungen im RET-Gen. So finden sich Fusi-
81 4.2 · Onkogene
. Abb. 4.7. Der Tyrosinkinaserezeptor RET wird normalerweise durch eine Interaktion mit seinem Liganden GDNF und dem membranständigen Korezeptor GDNF-Rα aktiviert. Keimbahnmutationen in verschiedenen RET-Domänen führen zu einer konstitutiven Aktivierung und disponieren für die Entwicklung eines medullären Schilddrüsenkarzinoms
onen von RET mit einer Reihe unterschiedlicher Gene bei 40% der sporadischen papillären Schilddrüsenkarzinomen. Ein hierfür verantwortlicher Pathomechanismus ist die Exposition mit radioaktiven Jodisotopen wie beim Reaktorunfall in Tschernobyl (Bongarzone et al. 1994; Klugbauer et al. 1995, 2001). Hereditäre RET-Mutationen hingegen, die zu einem Funktionsverlust dieses Rezeptors führen, bedingen ein völlig anderes Krankheitsbild, das Megacolon congenitum (M. Hirschsprung; Amiel u. Lyonnet 2001; Gabriel et al. 2002). Hierbei kommt es zu einer Aplasie des Auerbach- und Meissner-Plexus im Übergang vom Dickdarm zum Enddarm, sodass der Enddarm in diesem Bereich permanent eng gestellt ist und der Kot sich im davor gelegenen Kolon aufstaut. Die hier aufgeführten Arten der RET-Mutation illustrieren, wie im Zeitalter der molekularen Medizin unterschiedliche Mutationen in einem Gen für verschiedene Fachrichtungen von Bedeutung sein können und eine interdisziplinäre Diskussion sowie Kooperation erforderlich machen (Pasini et al. 1996). Fusion der Tyrosinkinase ABL mit BCR Bisher wurde bei der Darstellung pathologischer Onkogenaktivierungen insbesondere auf subtile strukturelle Defekte in Form von Punktmutationen eingegangen. Jetzt soll mit der BCR-ABLRekombination im Rahmen der Philadelphia-Translokation eine umfangreiche strukturelle Veränderung angesprochen werden. Die Konsequenzen dieses Rearrangements von zwei Onkogenen sind ausgesprochen vielschichtig (7 Kap. 82). Hierzu zählen die Aktivierung der RAS-RAF-Signalkaskade, von Regulatoren des Zellzyklus wie MYC und Cyclin D1 oder von antiapoptischen Faktoren wie BCL2 sowie eine Fixierung von BCR-ABL am Zytoskelett; insgesamt resultieren aus diesen kom-
4
. Abb. 4.8a,b. Die ABL-Tyrosinkinase wird über die SH3-Domäne inhibiert. a Grundlage hierfür ist die Bindung von SH3 an die Verbindungsregion zwischen SH2- und Kinase(TK)-Domäne von ABL. Die Stellung in dieser inhibierenden Konfiguration wird durch eine N-terminale Kappenstruktur (Cap) gewährleistet, die mit beiden ABL-Domänen (SH3, TK) interagiert. b Im Rahmen der BCR-ABL-Fusion wir die N-terminale Region abgespalten; die Kinasedomäne unterliegt jetzt keiner physiologischen Regulation mehr
plexen Störungen des intrazellulären Informationsflusses eine Stimulation der Zellproliferation und eine Inhibierung des Zelltods (Deininger et al. 2000a; Laurent et al. 2001). Das Hauptaugenmerk liegt in diesem Zusammenhang auf der pathologischen Aktivierung der Tyrosinkinaseaktivität von BCR-ABL. Sie ist maßgeblich dadurch bedingt, dass durch die Fusion mit BCR eine N-terminale Kappenstruktur von ABL verloren geht, die normalerweise die SH3-Domäne von ABL in einer inhibitorischen Konfiguration fixieren kann (Pluk et al. 2002); die BCR-ABL-Tyrosinkinase ist hingegen dieser physiologischen Regulation nicht mehr zugänglich (. Abb. 4.8). Die Folge hiervon ist eine aberrante Aktivierung zahlreicher Substrate der BCRABL-Tyrosinkinase und ihrer nachgeschalteten Signalmediatoren (Deininger et al. 2000b). Tyrosinkinaseinhibitoren Die Expression von BCR-ABL ist für alle Krankheitsphasen Philadelphia-positiver Leukämien von gleicher Bedeutung; eine Ausschaltung dieses Signalgebers führt zur Rückbildung des Krankheitsbildes (Huettner et al. 2000). Da die pathologische Tyrosinkinaseaktivität von BCR-ABL eine der zentralen Störungen dieser Leukämieformen darstellt, wurde versucht, selektive Inhibitoren ihrer katalytischen Domäne zu entwickeln. Tatsächlich steht heute mit Imatinib (STI-571, Gleevec oder Glivec) ein klinisch hochwirksames Medikament zur Verfügung. Imatinib wur-
82
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
a
4
b
. Abb. 4.9. a Wirkung des Tyrosinkinaseinhibitors Imatinib. Die konstitutiv aktive BCR-ABL-Tyrosinkinase überträgt eine Phosphatgruppe auf die Aminosäure Tyrosin eines Substrats, das in phosphorylierter Form das
Signal an nachgeschaltete Effektormoleküle weiterreicht; b Imatinib bindet an die Kinasedomäne, blockiert hierdurch die ATP-Bindung und Substratphosphorylierung
de ursprünglich bei der Suche nach Kinaseinhibitoren des PDGFRezeptors entdeckt, erwies sich dann aber insbesondere als potenter Inhibitor der ABL-Tyrosinkinase (Druker 2002). Imatinib bindet an die Kinasedomäne, blockiert den Zugang von ATP und verhindert so die Phosphorylierung von ABL-Substraten (Schindler et al. 2000) (. Abb. 4.9). Die Behandlungserfolge von Imatinib bei Patienten mit CML in chronischer Phase, aber auch in der Blastenkrise, sowie bei Patienten mit BCR-ABL-positiver ALL sind in Phase-I- bis –IIIStudien bei relativ wenigen Nebenwirkungen beeindruckend (Druker et al. 2001a,b; Talpaz et al. 2002). Imatinib kann derzeit wohl als das wirksamste Medikament angesehen werden, das gezielt gegen eine spezifische molekulare Störung bei einer malignen Erkrankung entwickelt wurde (Savage u. Antman 2002). Nicht unerwähnt bleiben sollte in diesem Kontext aber, dass von der Aufklärung der molekularen Grundlage der PhiladelphiaTranslokation bis zum klinischen Einsatz von Imatinib nahezu 20 Jahre vergingen – eine zeitliche Dimension, die auch im Zeitalter der molekularen Medizin für die Entwicklung innovativer Therapieverfahren veranschlagt werden muss. Imatinib inhibiert neben der Tyrosinkinase von ABL und des PDGF-Rezeptors nur noch den Tyrosinkinaserezeptor KIT, nicht aber die große Zahl anderer Tyrosinkinasen, wie beispielsweise SRC. Auch bei Tumoren mit einer pathologischen KIT-Tyrosinkinaseaktivität wie etwa gastrointestinalen Stromatumoren (GIST) hat sich der Einsatz von Imatinib als wirksam erwiesen (Demetri et al. 2002). Ähnliche Erfolge wurden bei Patienten mit
einem chronisch myeloproliferativen Krankheitsbild infolge einer PDGF-Rezeptoraktivierung durch chromosomale Translokation erzielt (Apperley et al. 2002). Stimuliert durch diese Ergebnisse wird derzeit intensiv an Strategien zur Blockade weiterer Tyrosinkinasen gearbeitet (Krause und van Etten 2005). Allerdings ist auch dieses Therapieverfahren nicht frei von Rückschlägen. So stellte sich heraus, dass Patienten mit BCRABL-positiven Leukämien eine Resistenz gegenüber Imatinib entwickeln können. Die molekulare Basis hierfür sind neben einer Amplifikation von BCR-ABL-Fusionsgenen im Laufe des Krankheitsprozesses insbesondere distinkte Mutationen in der ABL-Kinasedomäne, die eine Bindung von Imatinib verhindern (Gorre et al. 2001; Hofmann et al. 2002b; von Bubnoff et al. 2002). Eine Resistenz gegenüber STI-571 manifestiert sich klinisch innerhalb weniger Monate. Potenzielle Therapieversager können teilweise bereits bei initialer Diagnosestellung durch die Analyse von Genexpressionsprofilen mittels Chiptechnologie identifiziert werden können (Hofmann et al. 2002a). Inzwischen wurde eine neue Generation von BCR-ABL-Inhibitoren entwickelt, die bei Imatinib-Resistenz erfolgreich eingesetzt werden können (Weisberg et al. 2007). Tyrosinkinaseinhibitoren haben in präklinischen Studien auch bei der AML vielversprechende Ergebnisse erbracht. Die Zielstruktur ist hierbei der Tyrosinkinaserezeptor FLT3, der durch Punktmutation oder Tandemduplikation bei 25–30% der AML-Patienten pathologisch aktiviert wird (Sawyers 2002; Schnittger et al. 2002; Thiede et al. 2002). Auch bei Patienten mit
83 4.2 · Onkogene
pathologischer RET-Aktivierung wird eine zielgerichtete molekulare Therapie klinisch erprobt (Plaza-Menacho et al. 2006).
4.2.4
Quantitative Pathomechanismen
Neben qualitativen Störungen der Normalfunktion von Onkogenen durch strukturelle Defekte kann auch die Überexpression eines strukturell intakten Onkogenprodukts bzw. seine Synthese in einem falschen Gewebekontext oder Entwicklungsstadium zur malignen Transformation beitragen. Beispiele für solche quantitativen Formen pathologischer Onkogenaktivierung sollen nachstehend besprochen werden. Amplifikation von Onkogenen Die molekularen Grundlagen einer Genamplifikation sind noch nicht im Detail verstanden (Brison 1997; Stark u. Wahl 1984). Zwar können zahlreiche chromosomale Regionen von einer Amplifikation betroffen sein, diese Gebiete liegen aber nicht zufällig verteilt im Genom. Eine wichtige Rolle scheinen hierbei fragile Stellen (»fragile sites«) zu spielen (Hellman et al. 2000). Es handelt sich um etwa 100 Regionen, die nach Exposition mit Chemotherapeutika und anderen Faktoren besonders anfällig für Chromosomenbrüche sind und über einen Kreislauf von Bruch- und Reparaturprozessen einer Amplifikation den Weg bahnen (Sutherland u. Richards 1992; Windle et al. 1991). Auch Funktionsstörungen von P53 könnten an der Auslösung von Genamplifikationen beteiligt sein (Yin et al. 1992), beispielsweise dadurch, dass Tumorzellen mit initialer Genamplifikation nicht durch Apoptose eliminiert werden, sondern während fortgesetzter Zellteilungen weitere Amplifikationen akkumulieren. Anders als bei CIN-positiven Tumoren, bei denen es zur Änderung der Rate von Chromosomenanomalien kommt, würde die Amplifikationsinstabilität die Fähigkeit einer Zelle erhöhen, eine derartige genetische Läsion zu überleben (Lengauer et al. 1998). Die Amplifikationseinheit beschränkt sich meist nicht auf einen Genlocus, sondern umfasst mehrere 100 Kb. Insgesamt
. Abb. 4.10. Eine Amplifikation des normalerweise auf Chromosom 2 gelegenen N-MYC-Gens kann sich zytogenetisch unterschiedlich manifestieren. Amplifizierte Sequenzen können als homogen gefärbte Strukturen (HSR) in andere Chromosomen (hier Chromosom 17) integrieren oder extrachromosomal »double minutes« (DM) bilden
4
kommt es im Rahmen der Amplifikation zu einer Vermehrung von normalerweise 2 auf bis zu einigen 1.000 Kopien des Zielgens pro Zelle. Dieses zusätzlich genetische Material weist bei zytogenetischer Betrachtung nicht das typische Bänderungsmuster auf, sondern stellt sich als homogene Struktur dar ( »homogeneously staining region«, HSR). Häufig verbleiben amplifizierte Sequenzen aber nicht am normalen Genort, sondern integrieren sich als HSR in anderen Chromosomen oder bilden paarige, extrachromosomale Genpakete (»double minutes« DM; . Abb. 4.10). Ein gut untersuchtes Modell für Genamplifikationen ist die Entwicklung von Zytostatikaresistenzen in Tumorzellen. So tritt eine Methrotrexatresistenz nach Amplifikation des Dehydrofolatreduktasegens auf. Ein anderes Beispiel betrifft ein membranständiges Glykoprotein mit Pumpenfunktion, MDR1, das für die Entgiftung bestimmter Zellpopulationen sorgt, aber auch unterschiedliche Chemotherapeutika aus Zellen herausschleusen kann (Gottesman et al. 1996). Amplifikationen von Onkogenen treten verhältnismäßig spät im Rahmen der Tumorprogression auf und verschaffen malignen Zellen einen Wachstumsvorteil gegenüber anderen Zellpopulationen (Brison 1993). Von großer klinischer Relevanz ist dieser Pathomechanismus als Prognoseparameter. N-MYC bei Neuroblastomen Erstmals konnte eine solche Korrelation zum Krankheitsverlauf bei Neuroblastomen aufgedeckt werden, bei denen man eine Amplifikation des N-MYC-Gens bei etwa 25% der Patienten beobachtete (Schwab et al. 1983; Seeger et al. 1985; . Abb. 4.10). Nur etwa 5–10% der Tumoren im Stadium II, aber 40% der fortgeschrittenen Stadien III und IV weisen diese genetische Veränderung auf. Im lokal begrenzten Stadium I sowie im Stadium IVs, einer besonderen Entität bei Säuglingen, die trotz ausgedehnten Krankheitsbefalls durch eine spontane Regressionsneigung charakterisiert ist, wird eine N-MYC-Amplifikation nur sehr selten beobachtet (Katzenstein et al. 1998). Besonders wichtig ist nun, dass der Befund einer N-MYC-Amplifikation, unabhängig vom jeweiligen Tumorstadium, eine schlechte Prognose signalisiert. Die Frage nach den Gründen für das besonders aggressive Verhalten von Tumoren mit dieser genetischen Veränderung ist noch nicht abschließend beurteilbar. Ein interessanter Teilaspekt ist die Inaktivierung von Caspase 8, sowie P53 und damit wichtiger proapoptotischer Komponenten bei Neuroblastomen mit NMYC-Amplifikation und der hiermit verbundenen Chemotherapieresistenz (Teitz et al. 2000; Slack et al. 2005). Zudem kommt es durch die N-MYC-Amplifikation zur Überexpression einer ganzen Reihe von miRNA, die ihrerseits zu Störungen der Regulation zahlreicher Gene führen (Schulte et al. 2007). Obwohl die Relevanz einer N-MYC-Überexpression für die Neuroblastomentwicklung im transgenen Mausmodell belegt wurde (Weiss et al. 1997), sollte darauf hingewiesen werden, dass eine N-MYC-Amplifikation nicht zwingend mit einer schlechten Prognose verbunden ist, es also Ausnahmen von der Regel gibt (Kawa et al. 1999), wie umgekehrt auch eine Reihe anderer genetischer Läsionen die Prognose dieses Tumors beeinflussen (Maris u. Matthay 1999; Oberthuer et al. 2006). Zudem gilt zu bedenken, dass die Genamplifikation nur einen Mechanismus darstellt, über den es zu einer vermehrten Expression des eigentlich relevanten Onkoproteins kommt. HER2 bei Mammakarzinomen Der Amplifikation bzw. aberranten Expression eines Onkogens kommt auch bei Adenokarzinomen der Brust eine klinische Be-
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4
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
deutung zu. Etwa 25% der Patientinnen zeigen eine entsprechende Veränderung des HER2-Gens (auch ERBB2 oder NEU genannt), das ein Mitglied der Familie von EGF-Rezeptortyrosinkinasen kodiert (Slamon e al. 1987). HER2 induziert die Expression des Chemokinrezeptors CXCR4, der seinerseits zur Metastasierung von Tumorzellen beiträgt (Li et al. 2004). Neben der prognostischen Relevanz kommt diesem Befund auch eine große therapeutische Bedeutung zu, da der Einsatz eines humanisierten monoklonalen Antikörpers gegen HER2, Trastuzumab (Herceptin), in Kombination mit einer Chemotherapie zu einer signifikanten Verbesserung der Behandlungserfolge bei dieser Patientengruppe führt (Leyland-Jones 2002; Slamon et al. 2001). Herceptin aktiviert den Tumorsuppressor PTEN. Der Verlust vom PTEN in Tumorzellen korreliert mit einer Herceptin-Resistenz (Nagata et al. 2004). Dieses Beispiel unterstreicht die Bedeutung neuer, auf den molekularen Defekt ausgerichteter Therapiestrategien in der Onkologie (Zwick et al. 2002). Austausch von Regulatorsequenzen durch chromosomale Translokation Prototyp für die quantitative Deregulation einer Onkogenexpression ist der Transfer von Enhancer-Sequenzen der Immunglobulin-(Ig-) bzw. T-Zell-Rezeptor-(TCR-)Loci infolge chromosomaler Translokationen bei Neoplasien der Lymphopoese. Wegen der grundlegenden Bedeutung der V(D)J-Rekombination für diesen Pathomechanismus werden zunächst die molekularen Grundlagen dieses Prozesses dargestellt.
V(D)J-Rekombination und nachfolgende Modifikationen Das Immunsystem reagiert auf eine nahezu unbegrenzte Zahl von fremden Molekülen (Antigene) mit der Synthese hochspezifischer Antikörper. Die molekulare Basis hierfür ist ein somatisches DNA-Rearrangement, bei dem in den Lymphozyten unterschiedliche Versatzstücke der Ig- oder TCR-Loci individuell zusammengesetzt werden (Bassing et al. 2002; Lewis 1994). Prinzipiell gleicht sich der strukturelle Aufbau von Ig- und TCR-Molekülen: Der aminoterminale variable Bereich (V) dient der Erkennung von Fremdmolekülen und definiert die Spezifität der jeweiligen Ig- oder TCR-Kette, während der konstante Abschnitt
. Tab. 4.5. Chromosomale Lokalisation der IG- und TCR-Gene Gen
Chromosom
IGH
14q32
IGκ
2p12
IGλ
22q11
TCRα
14q11
TCRβ
7q34
TCRγ
7p15
TCRδ
14q11
. Abb. 4.11. Genetische Meilensteine der IgH-Kettensynthese. Im Schema sind nur wenige der zahlreichen V-, D- und J-Segmente angegeben. Die konstante Region (C) ist vereinfachend durch ein Segment wiedergegeben
85 4.2 · Onkogene
4
(C) für die Effektorfunktionen verantwortlich ist. Die Gene der verschiedenen Ig- und TCR-Ketten sind auf 4 Chromosomen lokalisiert (. Tab. 4.5) und erstrecken sich über eine Distanz von 200–3.000 Kb, wobei der TCRδ-Locus innerhalb des TCRαKomplexes angesiedelt ist. Drei Typen von DNA-Sequenzen spielen bei der somatischen Rekombination variabler Kettensequenzen eine Rolle: V-Elemente (»variability«) kodieren die Nterminalen Abschnitte, J-Elemente dienen als Bindeglieder (»joining elements«) zu den konstanten Kettenanteilen und schließlich erhöhen im IgH-, TCRββ- und TCRδ-Locus noch zwischen den V- und J-Segmenten gelegene D-Elemente die Vielfalt (»diversity«) der variablen Region. Die Zahl der V-, D- und J-Elemente schwankt zwischen den verschiedenen Ig- und TCRLoci erheblich. Die Verknüpfung der einzelnen Gensegmente erfolgt nach einem Stufenplan (. Abb. 4.11). Vorläuferzellen der D-Reihe füh-
ren beispielsweise zunächst DJ- und anschließend V-DJ-Rearrangements im Bereich des IgH-Locus auf Chromosom 14 durch. Erst dieses rearrangierte IgH-Allel wird dann in RNA umgeschrieben, durch Spleißvorgänge zu einer reifen mRNA weiterverarbeitet und schließlich in ein Protein translatiert. Die 5’Exons der V-Elemente kodieren die sog. »leader« (L) des Proteins, hydrophobe Bereiche, die den Transport der Ig-Ketten durch die Zellmembran erleichtern und vor der Ig-Sekretion aus Plasmazellen abgespalten werden. Die Rekombination der Ig- und TCR-Segmente wird durch die sog. V(D)J-Rekombinase, ein Multienzymkomplex, gesteuert (. Abb. 4.12). Von essenzieller Bedeutung ist hierbei die Kennzeichnung der einzelnen kodierenden Segmente durch Rekombinationssignalsequenzen (RSS) unmittelbar im Anschluss an die V-, D- und J-Elemente. Es handelt sich um Folgen von 7 bzw. 9 Nukleotiden, die durch Platzhalter (»spacer«) von 12 oder
. Abb. 4.12. Rekombination eines V- und J-Elementes des Igλ-Locus. Die flankierenden Signalsequenzen (RSS) enthalten unterschiedlich große Spacer; die für den Rekombinationsprozess unabdingbaren Nukleotide der RSS sind durch Punkte gekennzeichnet. Die genomische Distanz zwischen dem V- und J-Element kann mehrere 100 Kb betragen. RAG1 und RAG2 schneiden präzise zwischen RSS und dem kodierenden Element. Während die Enden der kodierenden Elemente eine Haarnadelstruktur bilden, werden die RSS und die zwischen ihnen liegenden DNABereiche zum »signal joint« verbunden und deletiert. Bevor die V- und J-
Elemente zum »coding joint« verknüpft werden, kommt es zu einer Reihe von Modifikationen. Der DNA-PK-Komplex aus KU70, KU80 und DNAPKcs rekrutiert ARTEMIS, das die Haarnadelstruktur zentral (J-Element) oder asymmetrisch (V-Element) öffnet, wobei ein überhängender Strang mit P-Elementen entsteht. Das Enzym TdT kann an die freien Enden denovo Nukleotide (+) anknüpfen, andererseits kann es auch zum Verlust von Nukleotiden der kodierenden Bereiche kommen (-). Die in diesem Schema gezeigte VJ-Rekombinationsregion ist durch Deletion von J-Sequenzen sowie die Insertion von P- und N-Sequenzen charakterisiert
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Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
23 Nukleotiden getrennt werden (Heptamer-Spacer-Nonamer). Rearrangements erfolgen nur zwischen Segmenten, deren Signalsequenzen unterschiedlich große Spacer (12 bp bzw. 23 bp) aufweisen. Nicht alle Nukleotide der RSS-Sequenzen sind für den Rekombinationsprozess von gleicher Bedeutung. Ähnliche Sequenzfolgen im Genom bedingen eine fehlerhafte V(D)J-Rekombination mit Translokation der jeweiligen Igbzw. TCR-Loci. Zunächst wird der betreffende Genlocus durch eine epigenetische Modifikation des Chromatingerüstes, eine Histonacetylierung, den Faktoren der V(D)J-Rekombination zugänglich gemacht (McMurray u. Krangel 2000). Für die Einleitung der nachfolgenden Schritte sind an den Ig-Loci die Transkriptionsregulatoren E2A und EBF, an den TCR-Loci E2A und HEB wichtig (Langerak et al. 2001; Romanow et al. 2000). Von entscheidender Bedeutung ist die Erkennung der Signalsequenzen (RSS) durch den Faktor RAG1, anschließend wird RAG2 gebunden (Oettinger et al. 1990). Der RAG1/RAG2-Komplex fungiert als Endonuklease und schneidet beispielsweise bei V-Elementen präzise zwischen dem letzten Nukleotid des Gensegments und dem ersten Nukleotid des RSS-Heptamers ein. Dabei werden die Sense- und Antisense-Stränge des jeweiligen V-, D- oder J-Segments kovalent miteinander verbunden, sodass eine Haarnadelstruktur (»hairpin«) entsteht. Die beiden RSS-Enden werden im weiteren Verlauf mittels einer DNA-Ligase zu einer ringförmigen Struktur (»signal joint«) verbunden, die keine Funktion besitzt und als extrachromosomale DNA eliminiert wird (. Abb. 4.12). Viel komplexer verläuft die Verknüpfung der kodierenden Elemente (»coding joint«). Zunächst kommt es zur Bindung des KU70/KU80-Heterodimers an die freien Enden des DNA-Doppelstranges (Walker et al. 2001), gefolgt von der Rekrutierung eines weiteren Proteins mit Serin-/Threoninkinaseaktivität (DNA-PKcs). Diese drei Komponenten bilden die DNA-abhängige Proteinkinase (DNA-PK), die ihrerseits für den Rekombinationsprozess wichtige Substrate aktiviert. Hierzu gehört in erster Linie ARTEMIS, ein Faktor, der die Haarnadelstruktur an den DNA-Enden öffnet (Ma et al. 2002). Der Einschnitt kann hierbei
entweder zentral erfolgen oder asymmetrisch, sodass bis dahin komplementär gegenüberstehende Nukleotide nebeneinander zu liegen kommen und sog. Palindrome (P-Elemente) bilden, die durch eine DNA-Polymerase ergänzt werden. Das lymphozytenspezifische Enzym terminale Desoxynukleotidyltransferase (TdT) kann an die noch nicht verknüpften Enden der kodierenden Segmente freier Nukleotide (N-Elemente) anhängen. Umgekehrt können auch Nukleotide aus den kodierenden Bereichen eliminiert werden. Den abschließenden Schritt der Verknüpfung beider modifizierter Gensegmente bewerkstelligt ein Komplex aus den Proteinen XRCC4, XLF, und DNA-Ligase 4 (Ahnesorg et al. 2006; Gao et al. 2000; Grawunder et al. 1998). Das V(D)J-Rearrangement umfasst Komponenten, die von genereller Bedeutung für die Reparatur von DNA-Doppelstrangbrüchen (7 Abschn. 4.9.3) oder den Schutz freier Telomerenden (7 Abschn. 4.6.3) sind; hierzu zählen der DNA-PK-Komplex, ARTEMIS, XRC4, XLF und DNA-Ligase 4. Die für den V(D)J-Rekombinationsprozess in Lymphozyten spezifischen Faktoren sind RAG1, RAG2 und TdT. Erbliche Defekte von RAG1, RAG2, ARTEMIS und XLF bedingen beim Menschen schwere kombinierte Immundefekte (Dai et al. 2003; Moshous et al. 2001; Schwarz et al. 1996) und Keimbahnmutationen der DNA-Ligase 4, ein dem NijmegenBreakage-Syndrom ähnliches Krankheitsbild mit Immundefizienz und erhöhtem Krebsrisiko (O’Driscoll et al. 2001). Die klassische SCID-Maus ist durch einen Defekt der katalytischen Untereinheit der DNA-PK charakterisiert (Blunt et al. 1995); eine entsprechende Störung ist beim Menschen bisher nicht beschrieben worden. Die Vielfalt der Ig- und TCR-Moleküle basiert demnach nicht nur auf dem Repertoire der variablen Kettensegmente, sondern auch auf den zahlreichen DNA-Modifikationen während des Rekombinationsprozesses (s. Übersicht). Funktionstüchtig rekombinierte variable Kettenanteile der Ig-Loci können zudem noch nachträglich durch somatische Mutationen an die spezifische Abwehraufgabe adaptiert werden, wobei die Mutationsrate hier
. Abb. 4.13a, b. Sekundäre Modifiktionen des IgH-Locus nach V(D)J-Rekombination unter Koordination von AID. a Hypermutation der variablen
Kettenbereiche. b Wechsel der IgH-Klassen durch Switch-Rekombination. Die konstante Region ist hier detaillierter dargestellt
87 4.2 · Onkogene
millionenfach höher liegt als in anderen Körperzellen (Papavasiliou u. Schatz 2000; . Abb. 4.13).
Grundlagen der Ig- und TCR-Vielfalt 4 Kombination verschiedener Kettentypen (IgH/L, TCRα/β, TCRγ/δ 4 Keimbahnrepertoire von V-, D-, und J-Elementen 4 Rekombinationen zwischen V-, D- und J-Segmenten 4 Variabilität der exakten Rekombinationsstelle zweier Elemente 4 Verlust von Nukleotiden der Rekombinationsregion 4 Insertion von Nukleotiden (N/P-Elemente) während der Rekombination 4 Somatische Mutationen in rekombinierten Genen
Für die Immunglobulinsynthese ist auch ein weiterer Typ genomischer Rekombination von Bedeutung, auf dem der Wechsel (»switch«) der Ig-Klassen vom Ig M/D zu einer IgG-, IgH- oder IgE-produzierenden Zelle unter Beibehaltung einer spezifisch rearrangierten variablen IgH-Sequenz basiert (Maizels 1999; . Abb. 4.13). Betroffen hiervon ist die konstante Region des IgHLocus, die μ-, γ-, ε- und α-Sequenzen umfasst. Nach erfolgreicher V(D)J-Rekombination werden zunächst μ-Ketten produziert. Durch alternatives Spleißen kann auch die Synthese von δ-Ketten aufgenommen werden. Für den Wechsel von einer IgM- bzw. IgD- zu einer IgG-, IgA- oder IgE-exprimierenden Zelle sind jedoch DNA-Rekombinationen notwendig, die durch spezifische Regionen (Switch-Elemente) der konstanten IgH-Loci vermittelt werden, ohne Beteiligung von RAG1 und RAG2. Interessanterweise werden diese beiden sekundären Modifikationen der IgH-Ketten über das Enzym AID (»activationinduced cytidine deaminase«) koordiniert (Muramatsu et al. 2000). Zur Funktion von AID gibt es zwei Hypothesen (Honjo et al. 2004). Im ersten Modell modifiziert AID eine noch nicht bekannte mRNA durch Desaminierung von Cytosin in Uridin; man spricht von RNA-Editierung. Die editierte mRNA kodiert für eine Endonuklease, welche die nachfolgenden DNA-Modifikationen des IgH-Locus einleitet. Die alternative Desaminierungshypothese geht davon aus, dass AID in der DNA des IgH-Locus die Desaminierung vornimmt und durch die so generierten U-GFehlpaarungen DNA-Reparatursysteme aktiviert. Derzeit ist noch unklar, wie die beiden unterschiedlichen Prozesse von AID reguliert werden. Die AID-vermittelte somatische Hypermutation ist in Lymphozyten nicht auf den IgH-Locus beschränkt, sondern erfasst auch andere Teile des Genoms. Diese Schäden werden durch komplex koordinierte DNA-Reparatursysteme behoben. Gelingt dies nicht vollständig, tragen diese Mutationen zur malignen Transformation betroffener Zellen bei (Liu et al. 2008). Der Ausfall von AID führt beim Menschen zum Krankheitsbild des autosomal-rezessiv vererbten Hyper-IgM-Syndroms (Revy et al. 2000). Ig- und TCR-Rearrangements als Klonalitätsmarker Da jeder Lymphozyt und seine Nachkommen ein individuelles Ig- bzw. TCR-Rearrangement aufzeigen, kann das Muster rekombinierter Genfragmente in einer Southern-Blot-Analyse als spezifischer Marker von klonalen Zellpopulationen dienen (van Dongen u. Wolvers-Tettero 1991a,b). Diese Immunogenotypisierung vermag beispielsweise in Ergänzung zur immunolo-
4
gischen Phänotypisierung ein Krankheitsbild in eine bestimmte Zellreihe bzw. ein Differenzierungsschema einzuordnen (s. Übersicht). So würde bei einer unreifen Leukämie ohne aussagekräftiges Expressionsmuster von B- oder T-Zell-Markern der Nachweis eines IgH-Rearrangements eine Klassifikation als sehr unreife B-Zell-Neoplasie nahelegen. Umgekehrt spricht bei einer Leukämie mit Koexpression immunologischer B- und T-ZellMarker ein TCRβ- und TCRγ-Rearrangement bei Keimbahnkonfiguration der Ig-Loci für eine T-Zell-Neoplasie. Allerdings sind Ig- und TCR-Rearrangements keine linienspezifischen Parameter. So zeigen zwar nahezu alle Leukämien der B-Zell-Reihe ein IgH-Rearrangement, aber vielfach auch eine Rekombination der TCRβ- (35%), TCRγ- (55%) bzw. TCRδ-Loci (90%). Umgekehrt findet sich bei 20% der T-Zell-Leukämien ein IgH-Rearrangement. Eine Rekombination der Gencluster für leichte Immunoglobulinketten ist hingegen fast ausschließlich auf die B-Reihe beschränkt.
Diagnostische Relevanz von Ig- und TCR-Genanalysen bei lymphoproliferativen Erkrankungen 4 Einordnung in eine Zellreihe, insbesondere bei unklarem Phänotyp 4 Differenzierung zwischen mono-, oligo- und polyklonalen Erkrankungen 4 Erkennung mehrer Subklone einer malignen Zellpopulation 4 Klonspezifischer Marker zur individuellen Verlaufsbeobachtung 4 Erkennung von Unterschieden zwischen einer neoplastischen Zellpopulation bei Diagnosestellung und im Rezidiv 4 Nachweis sehr kleiner Mengen an malignen Zellen mittels PCR 4 Charakterisierung chromosomaler Translokationen
Die Immunogenotypisierung gestattet auch den Nachweis von Subklonen einer malignen Erkrankung der Lymphopoese; sie stammen meist von einer gemeinsamen Vorläuferzelle ab, können aber durchaus unterschiedlich auf eine Chemotherapie ansprechen. Eine wichtige diagnostische Hilfestellung vermag dieses Verfahren in solchen Situationen zu geben, wo im Rahmen einer Chemotherapie die Morphologie auffällige Zellpopulationen entdeckt, von denen nicht sicher gesagt werden kann, ob es sich um persistierende bzw. rezidivierende Leukämiezellen oder reaktiv veränderte Normalzellen handelt. In diesen Fällen liefert eine Ig- oder TCR-Analyse häufig entscheidende Hinweise, insbesondere wenn das Rekombinationsmuster bei initialer Diagnosestellung bekannt ist. Während sich die Sensitivität der Southern-Blot-Analyse (3–5% klonal-verwandte Zellen) nicht prinzipiell von der morphologischer, immunologischer oder zytogenetischer Methoden unterscheidet, hat der Einsatz von PCR-Verfahren, die auf die hochspezifische Sequenzfolge der jeweiligen V(D)J-Verknüpfungsregion einer Leukämiezellpopulation fokussieren, eine neue Dimension im Nachweis von sehr kleinen Mengen maligner Zellen eröffnet. Hierdurch gelingt die Identifikation von einer Leukämie- oder Lymphomzelle unter bis zu 1 Mio. Normalzellen. Zwischenzeitlich hat sich bei der ALL im Kindes- und Erwachsenenalter der MRD-Status (»minimal residual disease«) als wichtigster Prognoseparameter überhaupt herauskristallisiert (Mor-
88
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
tuza et al. 2002; van Dongen et al. 1998). Die Nachweisverfahren sind weitgehend standardisiert worden; zudem stehen semiquantitative Strategien für die zuverlässige und rasche Quantifizierung zur Verfügung. In aktuellen Therapiestudien wird der MRDStatus zur Stratifikation der Patienten und Therapieadaptation bei ALL-Patienten eingesetzt (Flohr et al. 2008; 7 Kap. 81).
4
Chromosomale Translokationen infolge aberranter Rekombinationsprozesse Wie schon erwähnt, sind nicht alle Nukleotide der die V-,D- und J-Elemente flankierenden Signalsequenzen für die Erkennung durch RAG1 von gleicher Bedeutung und entsprechend konserviert (. Abb. 4.12). Ähnliche Sequenzfolgen, sog. kryptische Signale, finden sich millionenfach im Genom verstreut und werden auch tatsächlich während der Lymhopoese fehlerhaft genutzt (Hiom et al. 1998; Lewis et al. 1997). Nicht in jedem Fall resultiert hieraus aber eine biologisch relevante Konsequenz. Beispielsweise kommt den durch eine unphysiologische Rekombination entstehenden Deletionen im Gen für das Enzym Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyltransferase (HGPT) keine pathologische Bedeutung zu (Finette et al. 1996). Andererseits kann eine illegitime V(D)J-Rekombinaseaktivität zu Rearrangements in funktionell relevanten Abschnitten eines Gens führen und es hierdurch aktivieren. Ein Beispiel sind Deletionen im Tumorsuppressorgen P16 (Cayuela et al. 1997). Eine andere Möglichkeit ist die Fusion von zwei Genen nach Deletion der zwischen ihnen lokalisierten DNA-Abschnitte infolge aberranter Rekombinasefunktion. Prototyp dieses Pathomechanismus ist die TAL1-SIL-Fusion auf Chromosom 1p32 bei T-ALL (Brown et al. 1990). Die Rekombinationsregion unterliegt dabei ähnlichen Modifikationen wie V(D)J-Rearrangements und kann deshalb als individueller Marker für MRD-Analysen genutzt werden (Breit et al. 1993). Insbesondere treten auch Rekombinationen von Ig- bzw. TCR-Sequenzen mit kryptischen Signalsequenzen im Bereich von Genen auf anderen Chromosomen auf, die hierdurch pathologisch aktiviert werden (Marculescu et al. 2002). Ein Beispiel hierfür ist die Rekombination des TCRα/δ-Locus mit dem schon erwähnten TAL1-Gen im Rahmen der t(1;14)(p32;q11) bei TALL-Patienten (Brown et al. 1990). Bei Neoplasien der Lymphopoese ist eine Vielfalt von chromosomalen Translokationen bekannt, die die Ig- bzw. TCR-Loci betreffen (Korsmeyer 1992b; Willis u. Dyer 2000; . Tab. 4.6). Überwiegend basieren die Translokationen aber nicht auf einer fehlerhaften V(D)J-Rekombination auf beiden Partnerchromosomen (Küppers u. Dalla-Favera 2001). Ein häufiger Pathomechanismus beruht auf dem Versuch von Lymphozyten, DNADoppelstrangbrüche zu reparieren (Ferguson u. Alt 2001; Richardson u. Jasin 2000). Viele Komponenten dieses Reparatursystems werden, wie oben dargestellt, auch im Rahmen der V(D)J-Rekombination genutzt. In Lymphozyten kann es während der Reparaturprozesse zu Fusionen mit Sequenzen auf anderen Chromosomen kommen. Diese Fehler bei der DNA-Reparatur beziehen nicht immer die Ig- oder TCR-Loci ein. Auch die bei ALL-Patienten häufigen Onkogenfusionen TEL-AML1 oder MLL-AF4 bei t(4;11) basieren auf unphysiologischen Abschlüssen der Doppelstrangreparatur auf unterschiedlichen Chromosomen (Lovett et al. 2001; Wiemels u. Greaves 1999). Auch Störungen der sekundären Modifikationen von rearrangierten IgH-Loci beim Wechsel der Ig-Klasse (»switch recombination«) oder der somatischen Hypermutation können zu einer
. Tab. 4.6. Beispiele für die Rekombination von Ig- und TCR-Genen mit anderen Genen bei chromosomalen Translokationen Ig/TCR
Translokation
Partner
Neoplasie
IgH
t(4;14)(p16;q32)
FGFR3
Multiples Myelom
t(5;14)(q13;q32)
IL3
B-Vorläufer ALL
t(8;14)(q24;q32)
MYC
Burkitt-Lymphom
t(9;14)(p13;q32)
PAX5
B-NHL
t(11;14)(q13;q32)
CYC D1
Mantelzelllymphom
t(14;16)(q32;q23)
MAF
Multiples Myelom
t(14;18)(q32;q21)
BCL2
Folikuläres Lymphom
t(2;8)(p12;q24)
MYC
Burkitt-Lymphom
t(2;3)(p12;q27)
LAZ3
B-NHL
t(8;22)(q24;q11)
MYC
Burkitt-Lymphom
t(11;22)(q13;q11)
CYCD1
B-NHL
t(8;14)(q24;q11)
MYC
T-ALL
t(14;14)(q11;q32)
TCL1
T-ALL
t(1;7)(p32;q34)
TAL1
T-ALL
t(1;7)(p34;q34)
LCK
T-ALL
t(7;9)(q34;q34)
LYL
T-ALL
t(1;14)(p32;q11)
TAL1
T-ALL
t(10;14)(q24;q11)
HOX11
T-ALL
t(11;14)(p15;q11)
TTG1
T-ALL
t(X;14)(q28;q11)
MTPC1
T-ALL
IgLκ
IgLλ
TCRα
TCRβ
TCRδ
chromosomalen Translokation führen (Küppers u. Dalla-Favera 2001). So basieren die meisten Translokationen der IgH-Loci beim multiplen Myelom auf fehlerhaften Switch-Rekombinationen (Kuipers et al. 1999). Während der Hypermutation von VElementen kommt es zu DNA-Doppelstrangbrüchen, in deren Folge interchromosomale Austausche auftreten können (Goosens et al. 1998; Papavasiliou u. Schatz 2000). Interessanterweise kann die Hypermutation während der B-Zell-Reifung auch andere Loci erfassen, wie beispielsweise das BCL6-Gen, und damit zur Lymphomentwicklung beitragen (Pasqualucci et al. 1998). Dieser Prozess kann in einigen Lymphomen auf eine Reihe weiterer Gene überspringen und zur Progression des Krankheitsbildes führen (Pasqualucci et al. 2001). Aber nicht immer ist die Nähe zu Ig/TCR Kontrollelementen für die Aktivierung der Partnergene im Rahmen einer Translokation verantwortlich. So führt die t(11;14)(p13;q11) bei T-ALL, verbunden mit einer LOM2-TCRδ-Rekombination, zur Entfernung von negativen Regulatorelementen des LOM2-Locus, was in diesem Fall die aberrante LOM2-Expression erklärt (Dik et al. 2007). MYC-Aktivierung bei Burkitt-Lymphomen Zeitgleich mit der Philadelphia-Translokation war die t(8;14) bei Burkitt-Lymphomen die erste molekulargenetisch charakterisierte Chromosomenanomalie bei malignen Erkrankungen des
89 4.2 · Onkogene
4
. Abb. 4.14. MYC-vermittelte Signalübertragung. MYC-MAX-Heterodimere binden an die CACGTG-Sequenz im Promotorbereich MYC-regulierter Gene. MAX besitzt keine Transaktivierungsdomäne, sodass die Re-
gulation des MYC-MAX-Komplexes über die Box1- und Box2-Motive von MYC erfolgt
Menschen (Taub et al. 1982). Es handelt sich hierbei um eine Rekombination des IgH-Locus auf Chromosom 14q32 mit dem MYC-Locus auf Chromosom 8q24. Etwa 80% der Burkitt-Lymphome weisen eine t(8;14) auf; bei den anderen Patienten findet sich eine Variante t(2;8) oder t(8;22) mit Beteiligung der Genloci für die κ- oder λ-leichte Immunglobulinkette. Kürzlich konnte gezeigt werden, dass das Enzym AID im Rahmen dieser Translokationen nicht nur die DNA Brüche in IgH-Locus sondern auch im MYC Gen generiert (Robbiani et al. 2008). Man unterscheidet eine endemische, in Zentralafrika vorkommende Form des Burkitt-Lymphoms, die mit einer Epstein-BarrVirus-Infektion assoziiert ist, von einer sporadischen Form wie sie in Europa überwiegt. Beide Typen des Burkitt-Lymphoms zeigen Unterschiede in der Bruchpunktlokalisation (Boxer u. Dang 2001). Bei der sporadischen Form liegen die Bruchpunkte auf Chromosom 8 im MYC-Gen selbst, typischerweise im ersten Exon oder Intron, während bei der endemischen Subform die Brüche in einer Entfernung von über 100 Kb 5’ vom MXC-Gen auftreten können. In allen Fällen ist die kodierende Region von MYC, die durch die Exone 2 und 3 repräsentiert wird, aber intakt. Auch bei den Varianten t(2;8) und t(8;22) bleibt das Onkogen strukturell unverändert; hier liegen die Brüche 3’ vom MYC-Locus. Auch hinsichtlich der Brüche im Ig-Genlocus unterscheiden sich die endemische und sporadische Form. Während bei endemischen Burkitt-Lymphomen die Brüche im Bereich der rekombinierten V(D)J-Segmente liegen und während der somatischen Hypermutation ausgelöst werden, treten die sporadischen Formen durch Fehler bei der Switch-Rekombination auf und betreffen die konstante Kettenregion (Goosens et al. 1998). Unabhängig vom präzisen Rekombinationsmodus wird in allen Burkitt-Lymphomen eine Überexpression des an der Translokation beteiligten MYC-Gens beobachtet, während das zweite MYC-Allel abgeschaltet ist. In den allermeisten Fällen bedingen Enhancer-Sequenzen des jeweils rekombinierten Ig-Locus die aberrante MYC-Synthese (Boxer u. Dang 2001). Es ist bemerkenswert, dass unabhängig vom Translokationstyp in der Mehrzahl aller Burkitt-Lymphome Mutationen im MYC-Gen beobachtet werden, die die aminoterminale Transaktivierungsdomäne betreffen und Ausdruck einer somatischen Hypermutation sind (Bemark u. Neuberger 2000; Yano et al. 1993). Dies führt dazu, dass mutierte MYC-Proteine nicht mehr auf physiologische Regulatorproteine reagieren können, die etwa den Abbau von MYC im Proteasomenkomplex steuern (Bahram et al. 2000). Zudem sind MYC-Mutanten, im Gegensatz zu Wildtyp MYC, nicht mehr in der Lage, BIM zu aktivieren, welches seinerseits BCL2 inhibiert, einen zentralen antiapoptotischen Faktor. Während MYC
normalerweise also Apoptose induziert, entgehen MYC-Mutanten diesem Kontrollmechanismus (Hemann et al. 2005). Der Transkriptionsfaktor MYC spielt eine zentrale Rolle bei der Regulation der Zellproliferation (Bouchard et al. 1998; Boxer u. Dang 2001). Er kann wachstumsstimulierende Signale vermitteln, aber auch genetische Programme aktivieren, die zur Apoptose führen. Abhängig vom jeweiligen Signal- und Gewebekontext aktiviert oder supprimiert MYC nachgeschaltete Gene. Der aminoterminale Bereich enthält eine Transaktivierungsdomäne mit zwei Box1 und Box2 genannten Motiven, die Interaktionen mit Regulatorproteinen vermitteln (. Abb. 4.14). Die carboxyterminale Effektordomäne enthält Helix-Loop-Helix (bHLH) und Leucine-Zipper-(LZ-)Motive, die die Bindung an Promotoren mit der Erkennungssequenz CACGTG sowie eine Dimerisierung ermöglichen. Voraussetzung jeglicher MYC-Funktion ist die Bildung von MYC-MAX-Heterodimeren (Bouchard et al. 1998). Deren Gegenspieler sind MAX-Heterodimere oder Heterodimere zwischen MAX und verwandten Proteinen wie MAD und MXI (Zhou u. Hurlin 2001). Eine gesteigerte MYC-Synthese führt zur Verschiebung des Gleichgewichts in Richtung MYCMAX und damit zur Übertragung MYC-vermittelter Signale. Auch eine direkte Kontrolle der DNA-Replikation, unabhängig von der Funktion als Transkriptionsfaktor wurde für MYC beschrieben (Dominguez-Sola et al. 2007). Darüber hinaus reguliert MYC die Interaktion von hämatopoetischen Stammzellen mit dem lokalen Micoenvironment. Niedrige MYC-Konzentrationen führen dazu, dass Stammzellen in der Stromanische festgehalten weden, während eine hohe MYC-Expression die Freilassung und Differenzierung von Stammzellen induziert (Murphy et al. 2005). Mehrere hundert Zielgene von MYC wurden schon identifiziert (Dang 1999; Levens 2002; Menssen u. Hermeking 2002). Sie kodieren beispielsweise Zellzyklusregulatoren, wie Cycline und cyclinabhängige Kinasen, Enzyme, die an der DNA-Reparatur und Replikation beteiligt sind, oder auch die Telomerase. In der Summe bedingen diese Effektoren eine genetische Instabilität, denen die vorhandenen Kontrollinstanzen nicht gewachsen sind (Vafa et al. 2002). Hieraus erklärt sich die erhebliche onkogene Potenz einer pathologischen MYC-Aktivierung. Fehlregulation der Apoptose durch Überexpression von BCL2 Noch eine weitere chromosomale Translokation sei erwähnt, weil ihre molekulare Charakterisierung zur Identifikation der ersten Komponente führte, die an der komplexen Regulation der Apoptose beteiligt ist. Die t(14;18) lässt sich bei 85% der Patienten mit
90
4
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
follikulären Lymphom und 20% der diffusen B-Zell-Lymphome nachweisen. Wie bei den Burkitt-Translokationen bedingen Enhancer des IgH-Locus von Chromosom 14q32 die Überexpression eines anderen Gens, in diesem Fall des BCL2-Gens auf Chromosom 18q21 (Korsmeyer 1992a). Im Unterschied zu den Burkitt-Translokationen resultiert die t(14;18) aus einem fehlerhaften V(D)J-Rearrangement unter Beteiligung von RAG und zeigt entsprechende Modifikationen der Rekombinationsregion (Korsmeyer 1992a; Küppers u. Dalla-Faveva 2001). BCL2 repräsentiert einen antiapoptischen Faktor (Yang u. Korsmeyer 1996). Die Überexpression von BCL2 verhindert somit die physiologische Elimination von Zellpopulationen. Die Verlängerung der Lebenszeit erhöht in den betroffenen Lymphozyten das Risiko, weitere genetische Läsionen zu akkumulieren, die dann zur malignen Transformation führen. Hierzu gehören Mutationen im BCL-Gen selbst (Matolcsy et al. 1996), insbesondere aber eine MYC-Überexpression durch sekundäre chromosomale Translokationen wie die t(8;14) (Thangavelu et al. 1990). Die gleichzeitige Deregulation von BCL2 und MYC verursacht ein hochmalignes Krankheitsbild, das gewöhnlich therapieresistent ist.
4.3
Tumorsuppressorgene
4.3.1
Identifikation und Funktion
Beim Menschen wurde das Prinzip der Tumorsuppression zunächst in Zellkulturexperimenten studiert (Harris et al. 1969). Eine Fusion von malignen und normalen Zellen ergab Zellhybride, die ihrerseits keine tumorigen Eigenschaften mehr besaßen. Zytogenetische Analysen zeigten, dass in diesen Hybridzellen bestimmte Chromosomen der Normalzellen für die Korrektur verantwortlich sind; gingen diese Chromosomen während weiterer Kulturpassagen den Hybridzellen wieder verloren, trat erneut der maligne Phänotyp auf. Entsprechend führte auch die gezielte Einschleusung des jeweils relevanten Chromosoms in eine Tumorzellinie zum Verlust der neoplastischen Eigenschaften. So gelang die Korrektur von Wilms-Tumorzellen nach Transfer eines normalen Chromosoms 11 (Weissman et al. 1987), was wiederum nahelegte, dass Wilms-Tumoren durch das Fehlen eines auf diesem Chromosom gelegenen Tumorsuppressorgens charakterisiert sind. Diese Hypothese wurde mit der Klonierung des WT1-Gens bestätigt (Call et al. 1990), wenngleich die Entstehung dieses Tumors durch eine Reihe weiterer genetischer Fehlprogrammierungen initiiert werden kann (Coppes et al. 1994). 1971 hatte Knudson aus epidemiologischen und statistischen Überlegungen heraus abgeleitet, dass Retinoblastome durch zwei unabhängige Läsionen beider Kopien eines Genlocus resultieren. Bei erblichen Tumorformen wird eine Mutation schon über die Keimbahn als eine Art Hypothek an alle Körperzellen vererbt, bei sporadischen Retinoblastomen handelt es sich um zwei somatische Ereignisse in einer einzigen Zelle (Knudson 1971). Das Retinoblastom kann als Prototyp erblicher Tumordisposition infolge von Mutationen in Tumorsuppressorgenen angesehen werden. Tumorsuppressorgene werden auch als rezessive Tumorgene bezeichnet, weil erst ein Verlust der von beiden Allelen kodierten Proteine biologisch relevante Folgen zeigt. Erbliche Tumordispositionen auf der Basis von Keimbahnmutationen in Tumorsuppressorgenen wie etwa das Retinoblastom folgen dennoch einem autosomal-dominanten Erbgang. Der Grund hierfür ist das hohe
Risiko für einen Anlageträger, dass im Laufe seines Lebens im jeweils kritischen Gewebe auch das zweite Allel beschädigt wird und eine maligne Transformation resultiert. Für die Identifikation von Tumorsuppressorgenen ist die Kombination von zytogenetischen und molekulargenetischen Analysen von größter Bedeutung. Viele Krebsformen sind durch spezifische chromosomale Deletionen gekennzeichnet, wobei das Ausmaß solcher mikroskopisch sichtbaren Verluste von Patient zu Patient variieren kann und eine Eingrenzung auf eine kritische chromosomale Region angestrebt wird, in der das jeweils relevante Tumorsuppressorgen vermutet wird (Mitelman et al. 1997). Der erste Nachweis einer tumorspezifischen chromosomalen Deletion gelang bei Meningeomen, die einen Verlust von Chromosom 22 zeigen, wobei sich später das Tumorsuppressorgen NF2 in der Region 22q12 als das krankheitsrelevante Gen herausstellte (Ruttledge et al. 1994; Zang u. Singer 1967). Ergänzend hierzu hat sich die Analyse der über das gesamte Genom verteilten polymorphen DNA-Sequenzen, insbesondere vom Typ der hoch informativen Mikrosatelliten bewährt (Botstein et al. 1980; Ponder 1988). Findet sich im Normalgewebe eines Patienten auf beiden Allelen eines Locus ein unterschiedliches Muster, d. h. eine heterozygote Konstellation, so kann der Vergleich mit dem Tumorgewebe zeigen, ob es zur Deletion eines Allels gekommen ist, kenntlich am Verlust der Heterozygotie (»loss of heterozygosity«, LOH), da dann im Tumorgewebe nur noch ein Allel repräsentiert wird. LOH-Analysen erkennen submikroskopische Deletionen und grenzen den kritischen DNA-Bereich so weit ein, dass der Versuch einer Klonierung des in dieser Region vermuteten Tumorsuppressorgens aussichtsreich erscheint (Positionsklonierung) oder sich die Überprüfung in dieser Region bekannter Kandidatengene auf ihre Relevanz für die Tumorentstehung lohnt. So gelang auch die Klonierung des ersten Tumorsuppressorgens, RB, über die Assoziation von Retinoblastomen mit Deletionen der Chromosomenregion 13q14 (Friend et al. 1986). Tumorsuppressorgene werden gleichsam als Gegenstücke zu den Onkogenen, außer Kontrolle geratenen positiven Signalmediatoren, über den Verlust ihrer Funktion (»loss of function«) definiert (Comings 1973). Ein solcher Verlust kann auf einer mikroskopisch oder submikroskopisch sichtbaren Deletion oder auf Mutationen im Gen bzw. seinen Regulatorsequenzen beruhen, . Tab. 4.7. Funktionsverluste von Tumorsuppressorgenen Mechanismus
Gen
Tumor
Deletion
RB
Retinoblastom
Punktmutation
P16
Melanom (Keimbahn)
P53
Lungenkarzinom (sporadisch)
Gesteigerter Abbau
MDM2-Amplifikation(betroffen: P53)
Weichteilsarkome
Haploinsuffizienz
PTEN
Prostatakarzinom
Epigentische Fehlregulation Hypermethylierung
MLH1
Kolonkarzinom
Pathologische Interaktion
P53 mit HPV16-E6
Zervixkarzinom
91 4.3 · Tumorsuppressorgene
die entweder seine Expression unterbinden, physiologische Interaktionen blockieren oder zur pathologischen Assoziation des mutierten Genproduktes führen, z. B. mit dem Normalprodukt des zweiten Allels (dominant-negativer Effekt). Schließlich kann eine epigenetische Fehlprogrammierung einen Aktivitätsverlust des Gens bedingen. Häufig hat der Funktionsverlust auf beiden Allelen eine unterschiedliche Basis (. Tab. 4.7). Allerdings wird nicht in allen Fällen tatsächlich eine Störung beider Genkopien bzw. ihrer Proteine beobachtet. Auch die Absenkung der Expressionsrate unterhalb einer kritischen Schwelle durch Mutation eines Allels kann bereits zu einer Funktionsbeeinträchtigung des Tumorsuppressors führen und zur malignen Transformation oder Tumorprogression beitragen (Yan et al. 2002). Eine solche Haploinsuffizienz begründet somit eine Ausnahme vom Zwei-Treffer-(»Two-hit«-)Modell nach Knudson (Fero et al. 1998; Kwabi-Addo et al. 2001). Ähnlich den Onkogenen modulieren Tumorsuppressorgene auf verschiedenen Ebenen die komplexen Signalübertragungswege einer Zelle: Proteinphosphatasen wie PTEN fungieren als Gegenspieler der zahlreichen Proteinkinasen, GTPase-stimulierende Proteine wie NF1 inaktivieren RAS-vermittelte Signalwege und Inhibitoren von cyclinabhängigen Kinasen wie P16 unterbrechen den Zellzyklus. Andere Proteine wie RB blockieren die Bereitstellung von Transkriptionsfaktoren, greifen selbst, wie P53, als Transkriptionsfaktoren in die Gegenregulation ein oder unterbinden, wie VHL, die Transkriptionselongation verschiedener Zielgene. Auch Komponenten der komplexen DNA-Reparaturmaschinerie wie BRCA1 oder MLH1 zählen hierzu (Macleod 2000). Eine andere Art der Einteilung von Tumorsuppressorgenen unterscheidet plakativ zwischen Pförtnern (»gatekeeper«) und Hausmeistern (»caretaker«) im Häusermeer unserer Gewebe (Kinzler u. Vogelstein 1997). Als Gatekeeper fungieren Tumor-
. Abb. 4.15. P53-vermittelte Reaktionen auf genomischen Stress
4
suppressoren, die direkt in die Regulation der Zellproliferation eingreifen. Jeder Gewebetyp verfügt nach diesem Modell nur über einen (oder sehr wenige) Pförtner, dessen Ausfall in einem ganz spezifischen Phänotyp und Tumorspektrum resultiert. Beispiele wären RB (Retinoblastom), NF1 (Neurofibromatose I) oder APC (FAP). Ein Ausfall eines solchen Tumorsuppressorgens stellt die Initialzündung zur Entwicklung des jeweiligen Tumors dar. Die Inaktivierung von Caretaker-Genen führt hingegen nicht direkt zur malignen Transformation, sondern begünstigt primär eine genetische Instabilität, in deren Folge Mutationen in zahlreichen Genen, u. a. auch in Gatekeeper-Genen, auftreten, die zur Krebsentstehung beitragen. Hierzu zählen DNA-Reparaturgene wie MLH1 oder BRCA1/2, deren Fehlfunktionen autosomal-dominant erblichen Tumordispositionen (HNPCC bzw. familiäres Mamma-/Ovarialkarzinom) zugrunde liegt, aber auch Komponenten der Nukleotidexzisionsreparatur (XP-Gene), die das autosomal-rezessive Krankheitsbild Xeroderma pigmentosum definieren (Levitt u. Hickson 2002). Wegen ihrer besonderen Relevanz für die Onkologie sollen nachfolgend die eng miteinander verknüpften Regelkreise der Tumorsuppressorgene P53, P16 und RB skizziert werden. Eine Störung einer dieser Signalregulatoren weist nahezu jeder Tumor des Menschen auf (Sherr 2004).
4.3.2
P53
Anfangs wurde P53 als Onkogen eingestuft (Lane 1984), da unwissentlich mutierte P53-Versionen untersucht wurden. Erst 10 Jahre nach seiner Entdeckung wurde die physiologische Funktion von P53 als Tumorsuppressor aufgedeckt (Finlay et al. 1989).
92
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Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
Wächter des Genoms P53 gehört zu den wichtigsten Regulatoren des Zellhaushalts (Levine 1997). Das Gen liegt auf dem kurzen Arm von Chromosom 17 (17p13.1). Man bezeichnet P53 auch als Wächter des Genoms (Lane 1992), weil diesem Transkriptionsfaktor, der im Zellkern normalerweise nur in geringen Konzentrationen vorliegt, eine Schlüsselrolle bei der Reaktion einer Zelle auf genomischen Stress zukommt. Es geht um die Entscheidung, ob der Schaden mit Aussicht auf Erfolg durch Aktivierung von DNAReparatursystemen behoben werden kann oder die betroffenen Zellen durch Apoptose oder Zellalterung (Senescence) eliminiert werden müssen, um damit im Interesse des Gesamtorganismus einer Akkumulation von genetischen Läsionen und malignen Transformation vorzubeugen. Zu den Stressfaktoren zählen eine direkte DNA-Schädigung durch UV- oder γ-Strahlung bzw. genotoxische Substanzen (z. B. Chemotherapeutika), aber auch indirekte Mechanismen wie die pathologische Aktivierung des Zellzyklus durch aberrante Expression von Onkogenen (. Abb. 4.15). Die Bindung bzw. Dissoziation von P53 an den Promoter eines P53-regulierten Gens wird wesentlich durch ein Wechselspiel von Lysin-Methylierungen an spezifischen P53-Positionen gesteuert. Die Methyltransferase SMYD2 methyliert Lysin an Position 370; dies führt zu einer Lösung des Transkriptionsfaktors von der DNA. Umgekehrt stärkt die SET9-vermittelte Methylierung von Lysin 372 die Assoziation mit Promotoren und verhindert die Bindung von SMYD2 an Lys 370 (Huang et al. 2006). P53 wird durch MDM 2 gegenreguliert (Haupt et al. 1997; Prives 1998). MDM 2 induziert den Transport von P53 ins Zytoplasma sowie seine Ubiquitinierung und den nachfolgenden proteolytischen Abbau im Proteasomenkomplex (Boyd et al. 2000; Hochstraßer 1996). Eine ähnliche Funktion hat die Ubiquitinligase COP1 (Dornan et al. 2002). Andererseits stimuliert P53 die Expression von MDM 2 und leitet damit den eigenen Abbau ein – im Sinne einer Autoregulation. Weitere Faktoren beeinflussen die P53-MDM-2-Interaktion. So vermag die Protease HAUSP Ubiquitinmoleküle von P53 abzuspalten und es damit zu stabilisieren (Li et al. 2002). Ebenso verhindert die Assoziation mit NUMB die Ubiquitinierung und Degradation von P53 (Colaluca et al. 2008). Die zytoplasmatische Verankerung von P53 wird durch das mit MDM-2-kooperierende Protein PARC gesteuert (Nikolaev et al. 2003). Abhängig von der Stressursache kann P53 auf unterschiedlichen Wegen aktiviert werden (. Abb. 4.15). DNA-Schäden in Folge ionisierender Strahlen und Radiomimetika induzieren bereits in sehr geringen Dosen (0,5 Gy) innerhalb weniger Minuten die Autophosphorylierung von ATM, die Dissoziation von ATMDimeren und die Entfaltung der ATM-Kinaseaktivität (Bakkenist u. Kastan 2003). Das ATM-Gen ist bei Patienten mit Ataxia teleangiectasia mutiert (7 Abschn. 4.9.4). Die Proteinkinase ATM phosphoryliert P53 an Position-15-Serin (Canman et al. 1998); zudem kommt es zu einer P300/CBP-vermittelten P53-Acetylierung. Parallel hierzu aktiviert ATM die Proteinkinase CHEK2, die P53 an Position-20-Serin phosphoryliert (Hirao et al. 2000). Die Phosphorylierung von P53 führt zur Rekrutierung von PIN1 und dadurch zur Konfigurationsänderung von P53, sodass die Bindung an MDM 2 aufgehoben wird (Zacchi et al. 2002; Zheng et al. 2002). Diese Proteinmodifikationen charakterisieren den aktiven Zustand von P53; eine Deacetylierung unterbricht diese Signalkette (Vaziri et al. 2001). ATM kann andererseits auch die Tyrosinkinase ABL aktivieren, die ihrerseits MDM 2 phosphory-
liert und damit funktionell neuralisiert; die Folge ist eine P53Akummulation (Goldberg et al. 2002). Auch Telomerverluste resultieren in einer für DNA-Schäden typischen Form der P53Aktivierung (Chin et al. 1999a). Auch eine pathologische Onkogenaktivierung kann über ATM-Vermittlung P53 aktivieren (Bartkova et al. 2005). Es existiert jedoch noch ein wichtiger anderer Signalweg. Zum einen blockiert P14ARF den Transport von MDM 2 vom Zytoplasma in den Zellkern und stabilisiert hierdurch P53 (Pomerantz et al. 1998; Tao u. Levine 1999). Umgekehrt aktivieren Mitogene eine Signalkette über Phosphatidylinositol-3(PI3)-Kinase und AKT, die MDM 2 phosphoryliert und dessen Transport in den Kern ermöglicht; die Folge ist ein verstärkter Abbau von P53 (Mayo u. Donner 2001). Die RAS-Signalkaskade führt aber nicht über Vermittlung von P14ARF zur P53-Aktivierung. Vielmehr wird P53 in diesem Falle durch Proteinkinasen spezifisch an Serin 33 bzw. 46 phosphoryliert. Gegenspieler dieser Reaktion ist die Phosphatase PPM1D (Bulavin et al. 2002). Die verschiedenen Effektorfunktionen von P53 werden durch distinkte Signalwege vermittelt (El-Deiry 1998; Vogelstein et al. 2000; Vousden u. Lu 2002). So kann P53 über P21 den Zellzyklus in der G1-Phase arretieren (Bunz et al. 1998). Die Aktivierung des Phosphoserinbindungsproteins 14–3–3δ■■■ führt zu einer Blockade des CDC25-vermittelten Übergangs von der G2-Phase in die Mitose (Chan et al. 1999). Die Induktion der Proteinkinase CHEK2 resultiert im raschen Abbau der Proteinphosphatase CDC25, die damit gehindert wird, die für die DNASynthese und Progression des Zellzyklus benötigte Proteinkinase CDK2 zu aktivieren (Falck et al. 2001). DNA-Reparaturvorgänge werden durch die Ribonukleotidreduktase P53R2 stimuliert (Tanaka et al. 2000). Der Ausfall von P53 führt zu einer Beeinträchtigung der globalen und transkriptionsgekoppelten Nukleotidexzisionsreparatur (Therrien et al. 1999; 7 Abschn. 4.9.2). Ein neuer Aspekt ist die P53-induzierte Aktivierung der miR-34Familie von Micro-RNA. Diese führt zu einer Herunterregulierung von Genen wie CDK4/6 und damit zu einem Proliferationsstop (He et al. 2007). Zur Einleitung des programmierten Zelltodes nach irreparabler Zellschädigung aktiviert P53 eine Reihe proapoptotischer Faktoren (Igney u. Krammer 2002). Prinzipiell können hierzu zwei Signalwege beschritten werden: der extrinsische Weg über die Aktivierung sog. Todesrezeptoren (»death receptors«) aus der Familie der TNF-Rezeptoren (z. B. CD95,TRAILR1, PIDD) oder der intrinsische Weg über die Aktivierung mitochondrialer Komponenten und nachfolgend APAF1-Caspase 9 (z. B. BAX, NOXA, PUMA; Lin et al. 2000; Oda et al. 2000a; Soengas et al. 1999; Vousden 2000; Yu et al. 2001a; Zhang et al. 2001). Von großer Bedeutung könnte in einer Frühphase die PIG3-vermittelte Stimulation von Oxidoreduktasen sein, die zum Anstieg reaktiver Sauerstoffverbindungen (ROS) führen und damit die Integrität der Mitochondrien schädigen (Contente et al. 2002; Polyak et al. 1997). Die Art der DNASchädigung und spezifische Formen der P53-Modifikation sind hierbei für die Auslösung distinkter Signalwege wesentlich. So führt die Phosphorylierung von P53 an Position 46 (Serin) über die Expression von P53AIP zur Apoptose (Oda et al. 2000b). Zu den Mediatoren P53-vermittelter Apoptose zählt auch die Proteinkinase STK11, die bei Patienten mit Peutz-Jeghers-Syndrom mutiert ist. Bei dieser autosomal-dominant vererbten Tumordisposition kommt es, bedingt durch eine Verminderung normaler apoptotischer Prozesse in intestinalen Epithelzellen, zur Ausbildung von Polypen und schließlich Karzinomen (Karuman et al. 2001).
93 4.3 · Tumorsuppressorgene
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. Abb. 4.16. Aktivierungswege von P73
Nach Onkogenaktivierung können über die Achse P14ARF– P53 auch komplexe Prozesse der Zellalterung (Senescence) ausgelöst werden (Chen et al. 2005). Ein weiterer protektiver Effekt von P53. Die Interaktion von P53 und ASPP resultiert in einer selektiven Transkription von proapoptotischen Genen. Sowohl P53Mutationen als auch ein Ausfall von ASPP führen zum Verlust der P53-vermittelten Apoptose, z. B. bei Mammakarzinomen (Samuels-Lev et al. 2001). ASPP bindet u. a. an die prolinreiche Region von P53, die den häufigsten P53-Polymorphismus an Position 72 enthält. Dieser Polymorphismus bewirkt, dass Kodon 72 entweder für Prolin oder Arginin kodiert. ASPP bindet sehr viel stärker an Pro 72 und aktiviert Apoptose effizienter (Bergamaschi et al. 2006). Dieses Beispiel verdeutlicht, wie individuelle Genomvarianten funktionelle Konsequenzen besitzen können. Eine ganz andere Art von Genoprotektion kann nach UVBestrahlung eingeschlagen werden. P53 induziert hierbei in Keratinozyten die Expression von Pro-Opiomelanocortin (POMC) und seines Abbauproduktes α-Melanozyten-stimulierendes Hormon (α-MSH). α-MSH stimuliert in Melanozyten die Ausschüttung von Melanin, welches in Hautzellen zur Pigmentierung im Sinne einer Sonnenbräune führt (Cui et al. 2007). Eine weitere Funktion von P53 scheint in der Aktivierung von Faktoren zu bestehen, die eine Ausbildung neuer Blutgefäße verhindern. Hierzu zählen Maspin und TSP1. Ein Verlust dieser antiangiogenetischen Komponente erleichtert die Erweiterung der Gefäßversorgung von Tumoren (Hendrix et al. 2000; El-Deiry 1998). Ein neuer Aspekt der P53-Funktion besteht in der P53-vermittelten Repression von CD44, einem Transmembranprotein der Zelloberfläche, das an der Tumorprogression und Metastasierung beteiligt ist (Godar et al. 2008). Expressionsprofile nach P53-Stimulation haben noch detailliertere Einblicke in die P53-vermittelte, gewebespezifische Reaktion auf unterschiedliche Formen von genomischem Stress ergeben, wobei die Abklärung der funktionellen Bedeutung der hierdurch ermittelten Faktoren vielfach noch aussteht (Yu et al. 1999). Unabhängig von den vielfältigen Reaktionen auf genotoxische Einflüsse hat P53 weitere Funktionen. Ein Beispiel ist seine Relaisfunktion zur Integration der RAS-RAF und SMAD-TGFβSignalwege, sodass bei intakter P53-Funktion die Proliferationssignale von RAS durch die Wachstumskontrollfunktion von TGFβ ausbalanciert wird (Cordenousi et al. 2007). Familienmitglieder: P63 und P73 Zur P53-Familie gehören P63 und P73. Die drei Transkriptionsfaktoren zeigen sowohl überlappende als auch unabhängige Funktionen (Chen 1999; Yang u. McKeon 2000).
Der Transkriptionsfaktor E2F1 stimuliert nach Ablösung von RB je nach Rahmenbedingung den Zellzyklus oder löst apoptotische Prozesse aus. Im letztgenannten Fall wird einerseits über P14ARF P53 aktiviert (. Abb. 4.16), es kann aber auch ein P53-unabhängiger Weg beschritten werden, der über P73 verläuft (Irwin et al. 2000; Stiewe u. Pützer 2000) und insbesondere von T-Zellen zur Einleitung der Apoptose genutzt wird (Lissy et al. 2000). Auch nach DNA-Schädigung kann P73 aktiviert werden. Die Signalübertragung führt hier wie bei P53 zunächst über ATM (. Abb. 4.16). Die P73-Expression ist dann aber von der Tyrosinkinase ABL abhängig (Agami et al. 1999; Gong et al. 1999). Für die Rekrutierung einiger proapoptotischer Faktoren (BAX, NOXA) bedarf es der Kooperation von P53, P63 und P73, in anderen Fällen (MDM 2, P21) ist P53 nicht auf das Zusammenspiel mit den anderen Familienmitgliedern angewiesen (Flores et al. 2002). Bezüglich der Interaktion mit dem Oberflächenmolekül CD44 wirkt P63 stimulierend, P53 jedoch inhibierend auf die CD44-Expression (Godar et al. 2008). Die komplexen Interaktionen der drei Transkriptionsfaktoren im Kontext unterschiedlicher Gewebe und in Reaktion auf genomischen Stress sind jedoch noch kaum verstanden. P53-Mutationen Eine Verschiebung des Gleichgewichtes von P53 und MDM 2 führt zu einer Fehlregulation dieses zur Aufrechterhaltung der genomischen Integrität wesentlichen Relais und damit zur malignen Transformation. Etwa 50% aller Tumoren des Menschen sind durch eine Störung dieses Signalweges gekennzeichnet. Eine Ursache besteht in der Überexpression von MDM 2 im Rahmen einer Genamplifikation, insbesondere bei Weichteilsarkomen (Oliner et al. 1992). Ein ähnlicher Pathomechanismus beruht auf der Inaktivierung von P53 durch Überexpression der Proteinphosphatase PPM1D infolge einer Genamplifikation bei Mammakarzinomen (Bulavin et al. 2002). Der Verlust von NUMBAktivität hat einen doppelten Effekt; zum einen wird dadurch der Abbau von P53 verstärkt, zum anderen die Aktivität des Onkogens NOTCH gesteigert. Dieser duale Effekt einer Onkogenaktivierung und eines Tumorsuppressorverlustes kommt bei besonders aggressiven Mammakarzinomen vor (Colaluca et al. 2008). Viel häufiger ist jedoch der Ausfall dieser zellulären Kontrollinstanz auf einen Funktionsverlust von P53 zurückzuführen, wobei unterschiedliche Pathomechanismen gefunden werden (Vogelstein u. Kinzler 1992; Vogelstein et al. 2000). Hierzu gehört die Deletion des P53-Locus in verschiedenen Tumoren. Ein anderer Weg ist die Bindung von P53 an virale Onkoproteine wie E6 des humanpathogenen Papillomvirus HPV16
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Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
(Scheffner et al. 1990) bei der Entwicklung von Zervixkarzinomen. In diesem Fall handelt es sich um einen epigenetisch bedingten Funktionsverlust von P53, der nicht in einer Mutation der Erbinformation selbst begründet ist. Die größte Bedeutung kommt jedoch Punktmutationen von P53 zu, die in etwa 50% aller Tumoren des Menschen anzutreffen sind und nahezu alle Krebsformen einschließen (Greenblatt et al. 1994; Kirsch u. Kastan 1998). Zu den wenigen Tumoren, bei denen bisher keine P53-Mutationen nachgewiesen wurden, zählen der Wilms-Tumor und Hodentumore. Häufige Krebsformen wie Mamma-, Kolon- oder Lungenkarzinome zeigen Mutationsraten von 25, 50 und 55%; bei Subtypen wie den kleinzelligen Lungenkarzinomen (70%) oder Karzinomen der Mundhöhle (80%) liegt die Frequenz noch höher (Greenblatt et al. 1994). In 90% der Fälle handelt es sich um Missense-Mutationen, die die P53-Aktivität nicht völlig unterbinden und mit einer Akkumulation des aberranten Proteins in den betroffenen Zellen verbunden sind. Meist ist das zweite P53-Allel dann von einer Deletion betroffen. Andere P53-Mutationen führen zu einer pathologischen Interaktion des mutierten P53-Produktes und seinem normalen Gegenstück vom zweiten Allel. Insgesamt resultiert hieraus ein Funktionsverlust. Man spricht von einer dominant-negativen Wirkung solcher auf ein Allel beschränkten P53-Mutationen (Hann u. Lane 1995). p53-Mutationen können in unterschiedlichen Tumorstadien nachgewiesen werden (Kirsch u. Kastan 1998): in präneoplastischen Gewebeatypien etwa von Lunge und Haut ebenso wie im Rahmen der Progression vom Astrozytom zum Glioblastom, der CML-Blastenkrise oder in Metastasen von Zervixkarzinomen. Beim Kolonkarzinom treten P53-Mutationen präferenziell beim Übergang vom Adenom zum invasiven Adenokarzinom auf (Fearon u. Vogelstein 1990). Auch bei Krankheitsbildern ohne Anzeichen für Malignität finden sich P53-Mutationen, etwa im Synovialgewebe von Patienten mit rheumatoider Arthritis; in diesem Fall werden die Mutationen wahrscheinlich durch den entzündungsbedingten oxidativen Stress ausgelöst (Yamanishi et al. 2002). Über 90% aller Mutationen betreffen die DNA-Bindungsdomäne von P53, wobei diese nicht gleichmäßig über die Region verteilt auftreten. Es gibt P53-Positionen, die viel häufiger verändert sind als andere Stellen, die sog. »hot spots«. Hierzu zählen die Kodons 175, 245, 248, 249, 273 und 283 (. Abb. 4.17; Greenblatt et al. 1994). Eine Reihe von Studien ergab, dass P53-Mutationen mit einer schlechten Prognose verbunden sind, sowohl bei soliden Tumoren als auch bei hämatopoetischen Neoplasien (Kirsch u. Kastan 1998). Allerdings könnte die prognostische Aussagekraft auch von anderen Risikofaktoren abhängen und etwa eine Krankheitsprogression reflektieren. So findet man P53-Mutationen nur sehr selten bei CML-Patienten in chronischer Phase, wohl aber in 25% der Blastenkrisen. Ähnlich zeigen Patienten mit T-ALL initial kaum, im Falle eines Rezidivs aber zu etwa 30% P53-Mutationen (Imamura et al. 1994). Bei hochmalignen B-Zell-Lymphomen er-
gab sich für Patienten mit P53-Mutation eine deutlich schlechtere Prognose, ein Unterschied, der im Kontext anderer Risikofaktoren, aber nicht mehr Bestand hatte (Ichikawa et al. 1997). Auch bei soliden Tumoren ergibt sich eine komplexe Situation (Kirsch u. Kastan 1998). Es zeichnet sich ab, dass der spezifischen Form der P53-Mutation eine sehr große Relevanz zukommt, da sie mit unterschiedlichen biologischen Konsequenzen verbunden ist und insbesondere auch unterschiedliche Formen von Chemotherapieresistenz bedingen können (Aas et al. 1996; Friedländer et al. 1996; Young et al. 2008). So mögen heterogene Mutationsspektren mit zu den widersprüchlichen Aussagen zur prognostischen Bedeutung von P53-Mutationen etwa bei Kolonkarzinomen beitragen (Goh et al. 1995; Soong et al. 1997). Die individuelle Auswirkung einer P53-Mutation wird durch zahlreiche endogene Faktoren wie Gewebespezifität, funktionelle Polymorphismen von Genen des P53 Signalwegs oder andere genetische Läsionen im jeweiligen Tumor mitbestimmt (Soussi u. Wiman 2007). P53-Mutationen können ähnlich wie RAS-Mutanten das Markerspektrum zur nichtinvasiven Diagnostik von Tumorzellen in Sputum, Urin oder Stuhlproben ergänzen (Sidransky 1997; Haber u. Fearon 1998; Gormally et al. 2006) und in Plasmaproben quantifiziert werden (Diehl et al. 2008). Meistens treten P53-Mutationen im Laufe des Lebens sporadisch in einem Körpergewebe auf. Eine Keimbahnmutation charakterisiert hingegen das seltene Li-Fraumeni-Syndrom, ein autosomal-dominant vererbtes Krankheitsbild mit einer Disposition für ein sehr breites Spektrum unterschiedlicher Tumoren wie Sarkome, Brustkrebs und Leukämien (Malkin 1994). Patienten mit Li-Fraumeni-Syndrom sind molekulargenetisch durch eine drastische DNA »copy number variation« (CNV) charakterisiert (Shlien et al. 2008). 50% der Anlageträger erkranken bereits bis zum Alter von 30 Jahren an einem Malignom. Auch Karzinome der Nebennierenrinde gehören zum Spektrum des Li-Fraumeni-Syndroms. Interessanterweise führt eine ganz bestimmte Keimbahnmutation in Kodon 337 von P53 ausschließlich zu diesem Tumortyp. Es handelt sich dabei um eine P53Mutation mit relativ geringer Penetranz und gewebespezifischer Manifestation (Ribeiro et al. 2001). Dieses Beispiel unterstreicht die Bedeutung einer sorgfältigen Genotyp-Phänotyp-Korrelation, bevor Aussagen zum klinischen Verlauf gemacht werden können. Eine kleine Gruppe von Patienten mit Li-Fraumeni-Syndrom zeigt keine Keimbahnmutationen im P53-Gen, sondern in der Proteinkinase CHEK2, die nach DNA-Schädigung zur Aktivierung von P53 beiträgt (Bell et al. 1999; . Abb. 4.15). Auch für dieses Gen sind Mutationen mit geringer Penetranz beschrieben worden, die hier mit einem erhöhten Risiko für Brustkrebs assoziiert sind (The CHEK2-Breast Cancer Consortium 2002). Im Vergleich zu den häufigen P53-Mutationen finden sich in Tumoren des Menschen nur recht selten Beeinträchtigungen der beiden Familienmitglieder P63 und P73. Eine Ausnahme ist die epigenetische Inaktivierung von P73 durch Hypermethylierung
. Abb. 4.17. P53 repräsentiert einen Transkriptionsfaktor, der aus 393 Aminosäure besteht und in 3 funktionelle Domänen unterteilt wer-
den kann. Mutationen finden sich fast ausschließlich in der DNA-Bindungsdomäne, besonders häufig in den 6 gekennzeichneten Kodons
95 4.3 · Tumorsuppressorgene
in bestimmten Lymphomformen (Kawano et al. 1999; Siu et al. 2001). Interessant ist auch, dass bestimmte P53-Mutanten mit intaktem P73 interagieren und es damit funktionslos machen (Marin et al. 2000). Pathologische Interaktionen zwischen Mitgliedern der P53-Familie könnten somit die biologischen Konsequenzen von P53-Mutationen modifizieren. Genetische Epidemiologie Das Muster der P53-Mutationen lässt Rückschlüsse auf den Entstehungsprozess zu und bildet somit eine Grundlage für eine molekulare Epidemiologie von Krebserkrankungen (Greenblatt et al. 1994; Hussain u. Harris 1998; Soussi 1996). Die meisten P53-Mutationen sind G→A-Transitionen, insbesondere im Kontext von CpG-Dinukleotiden, beruhen also auf dem Austausch eines Purins (hier Guanin) gegen das andere Purin (Adenin). Dieser Mutationstyp verweist auf einen endogenen Pathomechanismus (Replikationsfehler, toxische Prozesse der Atmungskette) und basiert auf einer spontanen Desaminierung von 5’-Methylcytosin. Er findet sich in den meisten Neoplasien, beispielsweise bei Leukämien und Dickdarmkarzinomen (Soussi 1996). Ein ganz anderes Bild ergibt sich jedoch bei hepatozellulären Karzinomen nach Lebensmittelkontamination mit dem Pilzgift Aflatoxin B1. Aflatoxin induziert ganz spezifisch eine AGG→ AGT-Transversion, den Austausch eines Purins (Guanin) gegen ein Pyrimidin (Thymin), in Kodon 249 von P53 und damit eine Substitution von Arginin durch Serin (Aguilar et al. 1993; Hsu et al. 1991). Andere Formen von Leberkrebs zeigen diese Mutationsform nicht. UV-Strahlen induzieren CC→TT-Transitionen, vorwiegend in den P53-Kodons 245, 247 und 248. Folgerichtig findet sich bei UV-induzierten Hauttumoren, aber auch schon bei sonnenexponierten normalen Hautregionen, gerade diese Art von Mutation (Ananthaswamy et al. 1997; Brash et al. 1991; Nakazawa et al. 1994). Im Zigarettenrauch lassen sich als hochkarzinogene Noxen Metabolite von Benzo(a)pyren nachweisen, die Guaninaddukte nach Bindung an DNA formen und G→T-Transversionen induzieren. Insbesondere sind hiervon die P53-Kodons 157, 248 und 273 betroffen. Und genau dieses Muster von P53-Mutationen findet sich auch in kleinzelligen Plattenepithelkarzinomen der Lunge, eine Tumorform, die mit dem Ausmaß des Zigarettenkonsums korreliert (Denissenko et al. 1996; Hainaut u. Pfeifer 2001). Diese Art molekularer Analytik könnte künftig wesentlich dazu beitragen, die Bedeutung exogener Noxen am Entstehungsprozess von Tumoren abzuklären und gezielte Präventionsmaßnahmen zu entwickeln. Therapeutische Implikationen Der kombinierte Einsatz von molekularer Pharmakologie und Bioinformatik könnte aus der Vielzahl bekannter Verbindungen solche Chemotherapeutika identifizieren, deren Induktion apoptotischer Prozesse nicht von einer intakten P53-Funktion abhängig sind (Weinstein et al. 1997). Vielversprechend sind therapeutische Ansätze der Pharmakogenomik, Substanzen zu entwickeln, die es als eine Art molekularer Prothese mutiertem P53 gestatten, eine physiologische Konfiguration einzunehmen und seine Funktion zu erfüllen (Bykov et al. 2002; Foster et al. 1999; Friedler et al 2002). Ein sehr interessantes Beispiel ist der Einsatz des kleinen Moleküls CP-31398, welches in einem Mausmodell die nach UV-Betrahlung aufgetretenen P53-Mutationen funkti-
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onell aufheben konnte. Die durch UV-Exposition aufgetretenen Hauttumoren wurden durch Einleitung P53-vermittelter apoptotischer Prozesse effektiv behandelt. Ähnliche Befunde wurden auch in Zellkulturen von Hautkarzinomen des Menschen beobachtet (Tang et al. 2007). Auch Faktoren, die P53 aus der pathologischen Interaktion mit anderen Proteinen wie E6 freisetzen, waren in vitro erfolgreich (Hietanen et al. 2000). Verschiedene Arbeitsgruppen verfolgen derzeit immuntherapeutische Ansätze, die gegen Krebszellen mit Expression von mutiertem P53 gerichtet sind (Chen u. Charbone 1997). Auch gentherapeutische Strategien kommen zum Einsatz. In klinischer Erprobung sind beispielsweise Versuche, durch Injektion retroviral verpackter normaler P53-Sequenzen ins Tumorgewebe, P53-Verluste zu kompensieren und eine Apoptose der Tumorzellen zu induzieren (Roth et al. 1996). In diesem Kontext ist interessant, dass zusätzliche P53-Kopien in transgenen Mäusen zur Resistenz gegenüber einer Tumorinduktion beitragen (Garcia-Cao et al. 2002). Der Einsatz von Adenovirusvarianten, die sich nur in P53-defizienten Tumorzellen vermehren und diese lysieren, wurde ebenso erprobt (Bischoff et al. 1996). Schließlich wurden adenoassoziierte Viren in Tumorzellen eingeschleust, um hierdurch einen DNA-Schaden zu simulieren. Im Gegensatz zu normalen Zellen vermochten Tumorzellen mit P53-Mutation es nicht, den Zellzyklus zur Schadensreparatur zu arretieren; vielmehr kam es zur Apoptose der Tumorzellen (Raj et al. 2001). Interessant sind auch präklinische Versuche, die schweren Nebenwirkungen von Chemotherapeutika und Strahlentherapie durch eine temporäre Blockade von P53 abzumildern (Komarov et al. 1999). Genannt sei auch der Einsatz synthetischer kleiner RNA-Inhibitoren (si-RNA), mit denen es gelingt, P53Mutanten spezifisch zu supprimieren (Martinez et al. 2002). Ob einige dieser innovativen Therapieansätze sich letztlich in der Praxis bewähren, bleibt derzeit noch abzuwarten.
4.3.3
P16 und RB
Der Zellzyklus wird von Cyclinen vorangetrieben, die ihre Wirkung über spezifische Proteinkinasen, CDK, vermitteln. Die Gegenregulation erfolgt über Inhibitoren der CDK, die als CDI bezeichnet werden. Inhibitoren des Zellzyklus Cycline vom Typ D steuern initial den Übergang von der G1- in die S-Phase. Nach Stimulation durch positive Signalgeber wie die RAS-Kaskade oder MYC aktivieren sie die Proteinkinasen CDK4 und CDK6 (. Abb. 4.5; Sherr 1996). P16INK4A inhibiert diese Reaktion. CDK4/6 phosphorylieren im nächsten Schritt RB und lösen damit den Komplex aus RB und Transkriptionsfaktoren der E2F-Familie auf (Chellappan et al. 1991). RB und E2F bilden einen Repressorkomplex, der durch Rekrutierung der DNA-Methyltransferase DNMT1, der Histon-3-Methyltransferase SUV 39H1 und der Histon-Deacetylase HDAC1 die Promotorregion von Genen, die die Zellzyklusprogression ausführen, sowie deren assoziiertes Chromatingerüst epigenetisch modifizieren und inaktivieren (Robertson et al. 2000; Nielsen et al. 2001). Ein wichtiges Zielgen von E2F kodiert Cyclin E, das seinerseits zur weiteren Phosphorylierung und Inaktivierung von RB beiträgt (Lundberg u. Weinberg 1998). So wird rasch eine kritische Konzentration des Komplexes aus Cyclin E und zugeordneter Proteinkinase CDK2 erreicht, ab der unwiderruflich der
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Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
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. Abb. 4.18. Aktivierende und inhibierende Regulatoren des Überganges von der G1- in die S-Phase des Zellzyklus. Die Schaltkreise von
RB, und P53 sind miteinander verknüpft. P16 und P14 werden beide von einem Genlocus (ARF-INK4A) kodiert
Eintritt in die S-Phase erfolgt. Man spricht von Restriktionspunkt (R) der G1-Phase, ein virtueller Zeitpunkt, bis zu dem auch die DNA-Reparatur von DNA-Synthese abgeschlossen sein muss (. Abb. 4.18). Transkriptionsfaktoren der E2-Familie aktivieren ebenfalls P14ARF (bei Mäusen P19ARF), einen direkten Inhibitor von MDM 2 (Zhang et al. 1998). Die Folge ist eine Stabilisierung von P53 und eine hieraus resultierende Arretierung des Zellzyklus bzw. Einleitung der Apoptose. Wie normalerweise Koordinationsstörungen aus den beiden gegenläufigen, E2F-vermittelten Regelkreisen vermieden werden, ist noch nicht bekannt. Der Gewebekontext und das Aktivierungspotenzial der vor- und nachgeschalteten Signalmediatoren mögen eine Rolle spielen (Carnero et al. 2000; Sherr u. Weber 2000). Im Kontext der Onkologie ist wichtig, dass P53 eine Art Pannenhilfe für RB geben kann. Ein Verlust von RB-Funktion führt solange nicht zur E2F-vermittelten Zellproliferation wie die gleichzeitige Aktivierung von P53 in betroffenen Zellen eine Arretierung des Zellzyklus oder Apoptose auslöst (Bates et al. 1998). Erst bei Ausfall beider Kontrollinstanzen, RB und P53, käme der proliferative Stimulus von E2F zum Tragen. Tatsächlich weisen viele Tumoren eine Kombination
von RB- und P53-Defekten auf. Ein in dieser Hinsicht instruktives Beispiel ist das Retinoblastom. Der Ausfall von RB wirkt über die Aktivierung der Signalkaskade E2F1-P14-P53 eigentlich proapoptotisch (. Abb. 4.16). tatsächlich findet sich bei vielen Retinoblastomen aber auch eine Amplifikation von MDM2 und des verwandten MDMX, sodass ein Funktionsverlust von P53 resultiert (Laurie et al. 2006). Es ist bemerkenswert, dass P14 und P16, die die beiden wichtigsten Tumorsuppressorgene, P53 und RB, regulieren, von einem Genlocus (ARF-INK4A) auf Chromosom 9p21 kodiert werden (. Abb. 4.18). Durch Nutzung unterschiedlicher Promotoren und erster Exons sowie überlappender Leserahmen werden somit von einem Gen zwei völlig verschiedene Proteine synthetisiert (Chin et al. 1998; Quelle et al. 1995). Funktionsverlust bei Krebserkrankungen Die Mechanismen der Inaktivierung von RB und P53 in Tumoren des Menschen weisen Gemeinsamkeiten auf (Sellers u. Kaelin 1997). Meist handelt es sich um somatische Veränderungen in einer Vielzahl unterschiedlicher solider Tumoren und in hämatopoetischen Neoplasien. Neben Deletionen des RB-Locus auf Chro-
97 4.3 · Tumorsuppressorgene
mosom 13q14, wie in etwa einem Viertel aller Patienten mit chronisch lymphatischer Leukämie nachgewiesen (Stilgenbauer et al. 1995), finden sich Punktmutationen beispielsweise bei Osteosarkomen und Mammakarzinomen (T’Ang et al. 1988; Wadayama et al. 1994) und eine pathologische Interaktion mit viralen Onkoproteinen wie E7 von Papillomviren (HPV16 und 18) beim Zervixkarzinom (Münger et al. 1989). Es ist interessant, dass Papillomviren über ihre Genprodukte E6 und E7 gleichzeitig die beiden wichtigsten Tumorsuppressoren, RB und P53, ausschalten können. Auf die Bedeutung von RB-Keimbahnmutationen von Retinoblastomen (Friend et al. 1986), der Modellerkrankung einer autosomal-dominanten Tumordisposition, wurde bereits weiter oben hingewiesen. Punktmutationen finden sich hierbei etwa genauso häufig wie kleinere oder größere Deletionen (Lohmann et al. 1996). Bei der in etwa 40% der Fälle vorliegenden erblichen Form gelangt ein defektes Allel über die Keimbahn in alle Körperzellen, also auch alle Retinoblasten eines Patienten. Ein Augentumor entwickelt sich in der prädisponierten Retina, wenn durch ein weiteres Ereignis auch das zweite RB-Allel in einem Retinoblasten seine Funktion verliert. Bei der sporadischen Form des Retinoblastoms führen hingegen erst zwei unabhängige somatische Ereignisse zum Verlust beider RB-Kopien in einem Retinoblasten. Da es statistisch gesehen höchst unwahrscheinlich ist, dass diese Ereignisse in mehreren Zellen zweimal hintereinander auftreten, entwickeln sich sporadische Retinoblastome meist unifokal und später als hereditäre Retinoblastome, bei denen durchschnittlich drei Tumoren pro Patient auftreten. Ein weiterer gravierender klinischer Unterschied besteht darin, dass Träger einer RB-Keimbahnmutation ein zusätzliches Risiko von etwa 35% aufweisen, bis zum 3. Lebensjahrzehnt an einem weiteren Malignom, insbesondere einem Osteosarkom oder Weichteilsarkom, zu erkranken (DiCiommo et al. 2000; Gallie et al. 1990). Eine mit P53 vergleichbar hohe Frequenz von Funktionsverlusten in Malignomen zeigt P16. Zwei Pathomechanismen stehen hier im Vordergrund: homozygote Deletionen auf Chromosom 9p21 sowie die Inaktivierung des P16INK4A-Promotors durch Hypermethylierung (Liggett u. Sidransky 1998). Das Auftreten von Mutationen, Deletionen oder epigenetischen Fehlregulationen schwankt aber zwischen den Krebsformen. Bei Kolonkarzinomen überwiegt beispielsweise die P16-Hypermethylierung (Herman et al. 1995). Besonders zahlreich finden sich P16-Defekte bei Karzinomen des Kopf-Hals-Bereiches, Ösophagus und Pankreas, bei Glioblastomen und Kindern mit T-ALL in jeweils 60–90% (Hirama u. Koeffler 1995; Liggett u. Sidransky 1998). P16-Keimbahnmutationen bedingen eine Form des auto. Abb. 4.19. Skizze des P53-RB-P16-Netzwerks
4
somal-dominant erblichen familiären Melanoms (Hussussian et al. 1994). Dieses Krankheitsbild ist zudem mit einer Disposition für Pankreaskarzinome assoziiert (Goldstein et al. 1995). Es darf aber nicht übersehen werden, dass zahlreiche Daten zur Relevanz von P16 bei der Entstehung von Malignomen noch unberücksichtigt ließen, dass vom gleichen Genlocus P14ARF exprimiert wird. Es bleibt noch weiter abzuklären, welchem dieser beiden Zellzyklusinhibitoren im jeweiligen Gewebekontext die größere pathogenetische Bedeutung zukommt. Tatsächlich scheint bei der T-ALL die Inaktivierung von P14 (P19) der entscheidende Faktor zu sein (Gardie et al. 1998). Bei AML-Patienten mit t(8;21) reprimiert das Fusionsprotein AML1–ETO spezifisch P14 (Linggi et al. 2002). Umgekehrt zeigte sich in transgenen Mausmodellen eine P16-vermittelte Tumordisposition, die durch partiellen Verlust von P19-Aktivität allerdings noch akzentuiert wurde (Krimpenfort et al. 2001; Sharpless et al. 2001). Neben einem Funktionsverlust der Tumorsuppressoren RB und P16 kann natürlich auch eine pathologische Aktivierung positiver Signalgeber im skizzierten Netzwerk zur Tumorentstehung beitragen. So findet sich eine Überexpression von Cyclin D1 infolge einer Amplifikation des Gens auf Chromosom 11q13 bei verschiedenen soliden Tumoren wie Mamma-, Ösophagus- oder Blasenkarzinomen sowie im Rahmen chromosomaler Translokationen wie der t(11;14) bei B-Zell-Neoplasien. Das Gen für die Proteinkinase CDK4 auf Chromosom 12q13 ist in Sarkomen und Glioblastomen amplifiziert und die Überexpression von Cyclin E mit daraus resultierender Chromosomeninstabilität trägt zur Entstehung von Mammakarzinomen bei (Cordon-Cardo 1995; Spruck et al. 1999). Es soll nochmals hervorgehoben werden, dass alle Tumoren des Menschen Störungen der physiologischen Funktion zumindest eines der 4 Hauptakteure (P53, RB, P16, Cyclin D) dieses Signalnetzwerks aufweisen. Angesichts der großen Bedeutung von Störungen der Zellzyklusregulation für die Entstehung von Tumoren beim Menschen ist es verständlich, dass derzeit verschiedene therapeutische Strategien erprobt werden, um die genannten Defekte gezielt anzugehen, ohne mit den physiologischen Aufgaben dieser essenziellen Signalrelais zu interferieren (Shapiro u. Harper 1999). Prinzipiell kann eine Normalfunktion von RB, in Abhängigkeit vom jeweiligen molekularen Defekt, durch 3 Zugänge gewährleistet werden: die Repression einer aberranten CyclinD1-Synthese oder CDK4-Expression sowie den Ersatz eines Funktionsverlustes von P16 (. Abb. 4.19). Zu den Inhibitoren von Cyclin D und CDK4 gehören Rapamycin und Flavopiridol bzw. Geldanamycin (Carlson et al. 1996, 1999; Shapiro u. Harper
98
4
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
1999). Die Inaktivierung von P16 durch epigenetische Fehlregulation könnte durch Inhibitoren von Histondeacetylasen oder DNA-Methyltransferasen wie Triostatin A bzw. 5’-Aza-2’-Deoxycytidin behandelt werden (Jüttermann et al. 1994; He et al. 2001; 7 Abschn. 4.8.6). Ein Ersatz von P16 wurde mit adenoviralen Vektoren bei Tumoren versucht, die eine P16-Deletion aufwiesen (Frizelle et al. 1998; Jin et al. 1995; Sanding et al. 1997). Auch nachfolgende Signalwege sind das Ziel therapeutischer Interventionen. CDK2 Inhibitoren wie Flavopiridol werden in Phase-II-Studien überprüft (Calson et al. 1996; DeAzevedo et al. 1996). Weitere selektive Kinaseinhibitoren sind in der Entwicklung (Gray et al. 1998). Vielversprechend erscheint auch die Blockade der Cyclin-E-CDK2 Interaktionen durch spezifische Peptide, die neben einem S-Phase-Arrest über den Anstau von E2F1 apoptotische Prozesse induzieren (. Abb. 4.19; Chen et al. 1999). Alle genannten Therapieansätze müssen die klinische Bewährungsprobe aber noch bestehen.
. Tab. 4.8. Beispiele für micro RNA Funktionen und Expression in Neoplasien miRNA
Funktion
Expression in Tumorzellen
let-7a
TS
Vermindert, Lungenkarzinom
miR-10b
OG
Erhöht, Mammakarzinom-Metastasen
miR-15a-16–1
TS
Vermindert, CLL
miR-17–92
OG
Erhöht, Lymphome
miR-145
TS
Vermindert, Colonkarzinom
miR 155
OG
Erhöht, Lungenkarzinom
miR 203
TS
Vermindert, CML, ALL (Ph-pos)
miR 335
TS
Vermindert, Mammakarzinom
OG Onkogen; TS Tumorsuppressor
4.4
Micro-RNA als Onkogene und Tumorsuppressoren
Zur Krebsentstehung trägt auch die Gruppe der miRNA Gene bei (7 Abschn. 4.1.1). Diese nichtkodierenden Transkripte regulieren die Expression einer Vielzahl von anderen Genen über eine posttranskriptionelle Ausschaltung derer mRNA. Je nach dem, ob von der Negativregulation ein Onkogen oder Tumorsuppressorgen betroffen ist, wirkt die jeweilige miRNA hemmend oder aktivierend auf Signalwege. Da miRNA in der Regel sehr viele Gene gleichzeitig steuern und zudem konzertiert auftreten, ist der miRNA-Effekt komplex und gewebespezifisch. Eine pathologische Aktivierung von miRNA-Genen oder ihr Ausfall haben ähnliche Folgen wie Störungen von Onkogenen und Tumorsuppressorgenen (. Tab. 4.8). Ein früher Hinweis auf die pathogenetische Bedeutung von miRNA bei Malignomen war die Beobachtung, dass die Gene MIR-15a und MIR-16-1 auf Chromosom 13q14 bei den meisten Patienten mit CLL deletiert oder herunterreguliert sind. Beide miRNA interagieren normalerweise mit BCL2, sodass ein apoptotisches Signal resultiert; sie fungieren somit als Tumorsuppressoren. Ihr Verlust hätte hingegen einen antiapoptotischen Effekt (Cimmino et al. 2005). Interessanterweise liegen zahlreiche miRNA-Gene auf Chromosomenabschnitten, die bei Tumoren deletiert bzw. amplifiziert oder durch chromosomale Bruchpunkte charakterisiert sind (Calin u. Croce 2007; Gazon et al. 2006). So ist das MIR-17-92-Cluster auf 13q31 bei Lymphomen amplifiziert; dies spricht für eine onkogene Wirkung dieser miRNA. MiR-142 liegt 50 Nukleotide vom Bruchpunkt der t(8;17) entfernt. Hierbei gerät MYC unter die Kontrolle es MIR-142-Promotors und wird in betroffenen Leukämien und Lymphomen pathologisch aktiviert. Die funktionelle Relevanz von miRNA für die Tumorentstehung wird durch In-vitro-Analysen unterstrichen. Dabei führte die Induktion von MYC zur Aktivierung des MIR-17-92-Clusters, wobei MYC direkt an diesen Locus auf Chromosom 13q31 bindet. Infolge wird der Transkriptionsfaktor E2F1, der u. a. P53vermittelt proapoptotische Funktion hat, durch 2 miRNA des Clusters, MIR-17-5p und MIR-20a, herunterreguliert, sodass insgesamt ein MYC-induziertes Proliferationssignal resultiert (Gazon et al. 2006; O’Donnell et al. 2005). Der Einfluss einer MYCAktivierung auf das miRNA-Transkriptom ist aber insgesamt sehr viel komplexer; so wird die Expression zahlreicher miRNA durch MYC reprimiert (Chang et al. 2008). Eine interessante Ver-
knüpfung von miRNA Deregulation und epigenetischer Fehlerprogrammierung fand sich in Prostatakarzinomen (Varambally et al. 2008). Hier führt die genomische Deletion von miR-101 zur Überexpression der Histonmethyltransferase EZH2 und nachfolgender Suppression der Aktivität von Zielgenen. miRNA-Expressionsprofile von Krebspatienten zeigen verminderte miR-143- und miR-145-Transkripte bei Kolonkarzinomen. Eine Deletion oder Herabregulation von let-7-miRNA führt zu einer Überexpression von RAS; eine verminderte let-7a-Expression (sowie hohe miR-155-Expression) ist bei Patienten mit Adenokarzinom der Lunge mit einer besonders schlechten Prognose assoziiert (Honson et al. 2005; Yanaihara et al. 2006). Bei Mammakarzinomen zeigte sich das Expressionsprofil von 15 miRNA als diagnostisch und prognostisch relevant (Garzon et al. 2006). miR-126 und mir-335 supprimieren die Metastasierung von Mammakarzinomen, ihr Verlust ist mit einem sehr begrenzten metastasefreien Überleben verbunden (Tavazoie et al. 2008). In diesem Kontext ist eine weitere miRNA von Bedeutung. miR106 induziert die Metastasierungspotenz von Mammakarzinomen (Ma et al. 2007). Hierbei wurden Details der zugrunde liegenden Signalkaskade näher charakterisiert. So induziert der Transkriptionfaktor TWIST die Expression von miR-10b, die wiederum die Translation der mRNA von Transkriptionfaktor HOXD10 inhibiert. Der Ausfall von HOXD10 erhöht die Expression von RHOC, welches die Tumorzellmigration und Invasion befördert. Eine Deletion oder epigenetische Repression von miR-203 bei Patienten mit Ph-positiver CML oder ALL erhöht die BCR-ABLExpression und dessen tumorigene Potenz (Bueno et al. 2008). Micro-RNA-Expressionsprofile können sehr akkurat und teilweise besser als mRNA-Profile verschiedene Neoplasien voneinander abgrenzen, etwa akute lymphatische von akuten myeloischen Leukämien oder unterschiedliche solide Tumoren (Lu et al. 2005; Mi et al. 2007). Bei der AML sind spezifische miRNAProfile mit bestimmten zytogenetischen Aberrationen oder therapeutischem Ansprechen assoziiert. Patienten mit hoher miR191- und miR-199a-Expression haben z. B. eine deutlich schlechtere Prognose als Patienten mit niedriger Expression dieser miRNA (Garzon et al. 2008). Micro-RNA-Analysen scheinen von ähnlicher Bedeutung für das Verständnis von Genese, Subklassifikation und Prognose von Tumorerkrankungen zu sein wie die Untersuchungen von kodierenden Teilen des Genoms.
99 4.5 · Tumorstammzellen und Akkumulation genetischer Läsionen in Tumorzellen
Aberrante miRNA-Transkripte sind das Ziel therapeutischer Interventionen. Eine neue Klasse synthetischer Oligonukleotide, Antagomirs genannt, richten sich gegen miRNA-Transkripte. Ein solches Antisense-Oligonukleotid gegen die leberspezifische miRNA-122 inhibierte in Mäusen effizient die miR-122-Expression und war mit der Hochregulation von über 100 mRNA verbunden, die in der Mehrzahl auch miR-122 Erkennungsmotive enthielten (Krützfeld et al. 2005). Zirkulierende miRNA könnten künftig auch als Marker für die Krebsdiagnostik aus Blutproben dienen (Mitchell et al. 2008). Inwieweit diese Strategien klinische Relevanz erlangen, bleibt vorerst abzuwarten.
4.5
Tumorstammzellen und Akkumulation genetischer Läsionen in Tumorzellen
4.5.1
Tumorstammzellen
Ein für das Verständnis der Karzinogenese wesentlicher Aspekt ist die Erkenntnis, dass zahlreiche Neoplasien (z. B. Leukämien, Hirntumore, Mammakarzinome) von Tumorstammzellen ausgehen (Jordan et al. 2006). Normale Stammzellen verfügen über drei wesentliche Fähigkeiten: Sie können sich bei jeder Zellteilung selbst erneuern, besitzen ein großes Proliferationspotenzial und haben die Fähigkeit, in verschiedene Zellpopulationen zu differenzieren. Durch Mutationen im genetischen Programm normaler Stammzellen können Tumorstammzellen entstehen, die ebenfalls zur Selbsterneuerung in der Lage sind (. Abb. 4.20).
. Abb. 4.20. Stammzellen im normalen Gewebe und in Tumoren. Beide Stammzellarten sind zur Selbsterneuerung fähig (runder Pfeil). Im Normalfall können Stammzellen zu Progenitorzellen und verschiedenen reifen Zellpopulationen differenzieren. Mutationen in normalen Stammzel-
4
Beide Stammzelltypen weisen aber auch Unterschiede auf. So sind normale Stammzellen auf die Funktion von PTEN angewiesen. Der Verlust dieses Tumorsuppressors in einem Mausmodell führte zum Abbau des normalen Stammzellpools und induzierte die Entwicklung von Leukämien, die eine Zellpopulation enthielt, die als Tumorstammzellen fungierten (Yilmaz et al. 2006). Ursprung einer Tumorentwicklung können auch Progenitorzellen sein, die per se nicht die Fähigkeit zur Selbsterneuerung besitzen. Spezifische Onkogenaktivierungen in solchen Progenitorzellen können aber zu einer Reaktivierung von Selbsterneuerungsprogrammen führen, sodass hieraus stammzelläquivalente Tumorzellen resultieren (Kirtsov et al. 2006). Tumorstammzellen sind der Ausgangspunkt von unterschiedlichen malignen Zellpopulationen in einem Tumor, also solchen, die zur Metastasierung führen oder anderen, die nach Chemotherapie den Pool therapieresistenter Zellen bilden, die zum Rezidiv führen. Auf die Akkumulation genetischer Läsionen in unterschiedlichen Entwicklungsstufen von Malignomen soll nachfolgend näher eingegangen werden. Schon die in Stammzellen eines Tumors verankerten Eigenschaften haben aber erhebliche klinische Bedeutung. Denn eine Therapie, der es zwar gelingt, die Hauptmasse der malignen Zellen zu zerstören, nicht aber die vergleichsweise kleine Zahl von Stammzellen zu eliminieren, wird nicht erfolgreich sein können. Die genetische Charakterisierung von Tumorstammzellen steht noch am Anfang. Es ist zu erwarten, dass Einblicke in ihr fehlgesteuertes Programm die Entwicklung gezielter therapeutischer Intervention ermöglicht. So konnte im Mausmodell mit PTEN-Defizienz und daraus
len und teilweise auch Progenitorzellen generieren maligne Stammzellen, die zur Tumorbildung führen. Die Tumorzellen können aus genetisch und funktionell heterogenen Subpopulationen bestehen
100
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
resultierender Aktivierung des AKT-mTOR-Signalweges, die Behandlung mit Rapamycin, einem mTOR-Inhibitor, die normale Stammzellpopulation rekonstituiert und die Leukämiezellpopulation drastisch reduziert werden (Yilmaz et al. 2006).
4.5.2
4
Wie vieler Mutationen bedarf es zur malignen Transformation?
Jeder Tumor basiert auf der Akkumulation von Störungen im genetischen Programm einer Zelle, wobei mehr als 1% aller Gene des Menschen an diesem Prozess beteiligt sein können (Futreal et al. 2004). Diese Tumorgene kann man grob in sechs Kategorien unterteilen kann (Hahn u. Weinberg 2002): 4 Unabhängigkeit einer Krebszelle von externen Wachstumssignalen, beispielsweise durch konstitutive Expression von RAS oder RET infolge somatischer bzw. ererbter Punktmutationen; 4 Verlust einer Gegenregulation von Wachstumsprozessen durch inhibitorische Signale, etwa über die Tumorsuppressoren P16 oder RB; 4 Entkopplung von den normalen Regelkreisen des proprogrammierten Zelltodes durch Störungen proapoptotischer (P53) oder antiapoptotischer (BCL2-)Faktoren; 4 unbegrenzte Fähigkeit zur Zellteilung; Prototyp hierfür ist die aberrante Telomeraseaktivität; 4 Rekrutierung neuer Gefäßanschlüsse für den Tumor, vermittelt durch Angiogenesefaktoren wie VEGF (»vascular endothelial growth factor«). 4 Schließlich überschreiten Tumoren die natürlichen Organgrenzen und metastasieren; auch dieser Prozess kann durch eine Reihe genetischer Läsionen verursacht werden, etwa die Inaktivierung des interzellulären Signalmediators E-Cadherin. Natürlich ist die hier genannte Zahl von sechs Teilschritten der Tumorprogression keine fixe Größe. P53-Mutationen beispielsweise blockieren einerseits apoptotische Prozesse und fördern andererseits die Angiogenese. In anderen Fällen vermag erst ein Zusammenspiel verschiedener genetischer Defekte eine der genannten Kontrollebenen nachhaltig zu beeinträchtigen. In einem Modellsystem konnte eine maligne Transformation von normalen Epithelzellen bzw. Fibroblasten des Menschen durch drei Komponenten herbeigeführt werden: 4 H-RAS-12-Mutation, 4 Large-T-Onkoprotein von SV40, 4 ektope Expression der katalytischen Untereinheit (TERT) der Telomerase (Hahn et al. 1999). Allerdings können die Daten aus diesem Modell nicht direkt auf die komplexe Situation einer natürlichen Tumorentwicklung übertragen werden. Prinzipiell verschaffen die genannten Störungen der normalen Zellregulation Tumorzellen einen Wachstumsvorteil gegenüber dem Normalgewebe und tragen somit zur klonalen Evolution der malignen Zellpopulation bei (Nowell 1976). Etwa 6–12 Mutationen mögen prinzipiell zur Tumormanifestation nötig sein (Renan 1993). Tatsächlich konnte mithilfe von Hochdurchsatzsequenzanalysen für Brust- und Kolonkarzinome gezeigt werden, dass pro Tumor etwa 90 Gene mutiert sind, wobei sich das Muster betroffener Gene nur zu einem kleinen Teil überschnitt und überwiegend spezifisch für beide Tumorentitäten war
(Wood et al. 2007). Ähnliche Daten zur tumorspezifischen Deregulation distinkter Signalwege fanden sich auch beim Pankreaskarzinom und Glioblastom (Parsons et al. 2008; Jones et al. 2008). Allerdings sind wohl nur etwa ein Dutzend dieser Genmutationen für die jeweilige Tumorentstehung und -progression relevant. Die größere Zahl mutierter Gene kann als biologisch neutrale Veränderungen angesehen werden. Diese Interpretation wurde in einer weiteren Studie mit einem breiteren Kollektiv von Tumoren bestätigt (Greenman et al. 2007). Die Mutationsrate normaler Körperzellen ist mit 2×10–7 Mutationen pro Gen und Zellteilung bzw. weniger als 1×10–8 pro Nukleotid sehr gering; durchschnittlich würde damit jede Körperzelle eines Menschen nur eine Mutation erwerben (Loeb 2001). In Tumorzellen lassen sich aber Zehntausende von genetischen Veränderungen nachweisen. Lawrence Loeb postulierte daher, dass eine gesteigerte Mutationsrate ein genuines Merkmal von Tumorzellen ist, die einen »Mutatorphänotyp« begründet (Loeb 1991). In der Tat findet sich in Tumorzellen von Patienten im Vergleich zu ihrem Normalgewebe eine zwei Größenordnungen höhere Mutationsrate von 200×10–8 pro Nukleotid (Bielas et al. 2006). Ein weiterer Pathomechanismus der zur beschleunigten Akkumulation von Mutationen in Tumorzellen führt, findet sich in Malignomen mit einer Mikrosatelliteninstabilität (MIN) infolge eines erworbenen oder vererbten Ausfalls des DNA-Mismatch-Reparatursystems (Lothe 1997; Peinado et al. 1992), wobei durch diese Instabilität die Funktion zahlreicher Gene beeinträchtigt wird (Duval et al. 2001). Die Angaben über die Zahl derartiger Mutationen pro Zelle schwanken zwischen 10.000 und 100.000, aber auch diese Kalkulation mag noch eine Unterschätzung der wirklichen Schadenshöhe bedeuten (Peinado et al. 1992; Stoler et al. 1999; Tomlinson 2002). Beide Pathomechanismen, klonale Selektion und Mutatorphänotyp, schließen sich wechselseitig keinesfalls aus (Fishel 2001). Eine wichtige Quelle für Genfehlregulationen in Tumoren sind auch copy number variations (CNV) in Form von DNA Deletionen und Amplifikationen, von denen jeweils über ein Dutzend in einzelnen Brustund Kolonkarzinomen gefunden wurden (Leary et al. 2008). Genetische Instabilität ist ein generelles Kennzeichen von Tumorzellen (Lengauer et al. 1998); die Mikrosatelliteninstabilität macht hiervon nur einen kleinen Teil aus. Dieser Pathomechanismus wird zu etwa 10–15% bei Kolon-, Endometrium- und Magenkarzinomen beobachtet; andere Tumoren sind zu weniger als 2% betroffen (Herman et al. 1998; Lothe et al. 1997). Sehr viel häufiger besteht eine chromosomale Instabilität (CIN), die entweder mit Methoden der klassischen oder molekularen Zytogenetik (Mitelman et al. 1997) oder über den molekulargenetischen Nachweis eines Verlusts des väterlichen oder mütterlichen Allels verschiedener Loci (»loss of heterozygosity«, LOH) nachgewiesen werden kann (Vogelstein et al. 1989). Derzeit ist die molekulare Basis der Chromosomeninstabilität erst ansatzweise verstanden (Rajagopalan u. Lengauer 2004). Eine Ursache liegt in der Störung des Spindelapparates oder der Zahl von Centomeren während der Mitose. Kommt es zur verfrühten Zellteilung, ohne dass sich die Chromosomen in der Metaphase adäquat ausgerichtet haben, resultiert eine Aneuploidie. Eine wichtige Regulatorfunktion kommt hierbei den Genen MAD2 und BUB1 zu, deren Expression bei Mamma- bzw. Kolonkarzinomen gestört ist (Cahill et al. 1998; Michel et al 2001). MAD2/BUB1 verhindern normalerweise über eine Blockade des Anaphase-Promoting-Komplexes, des zentralen Koordinators der Chromosomensegregation (Peters 2002), einen vor-
101 4.5 · Tumorstammzellen und Akkumulation genetischer Läsionen in Tumorzellen
zeitigen Abbau von Securin; dieser Faktor trägt wesentlich zur Aufrechterhaltung der Chromosomenstabilität bei (Cortez u. Elledge 2000; Jallepalli et al 2001). Auch die Zahl und Größe der Centomere spielt in diesem Kontext eine Rolle; beispielsweise korreliert eine Centromeramplifikation mit CIN und aneuploidem Chromosomensatz (Lingle et al. 2002). Auch eine Beeinträchtigung von Kontrollinstanzen wie ATM, BRCA1/2 oder P53, die über die Erkennung und Reparatur von DNA-Schäden wachen, kann zur Chromosomeninstabilität führen (Levitt u. Hickson 2002; 7 Abschn. 4.9.4). Überwiegend werden die genetischen Läsionen während des Lebens erworben. Epidemiologische Daten weisen darauf hin, dass etwa 10–15% aller Krebserkrankungen auf einer erblichen Tumordisposition zurückzuführen sind (7 Kap. 5). In diesen Fällen wird eine Mutation bereits über die Keimbahn an alle Körperzellen des betroffenen Menschen weitergegeben. Je nach Tumorart schwankt der Anteil dieser hereditären Komponente; so liegt beim Retinoblastom in 40% der Fälle eine erbliche Form vor, während Keimbahnmutationen bei Leukämien eine untergeordnete Rolle spielen.
4.5.3
Zeitintervall
Krebserkrankungen sind wesentlich auf exogene Faktoren zurückzuführen (Lichtenstein et al. 2000). Man geht davon aus, dass etwa 35% aller Tumorerkrankungen auf 9 vermeidbare Risikofaktoren zurückgeführt werden können, zu denen insbesondere das Rauchen und Alkoholkonsum zählen (Danaei et al. 2005). In diesem Kontext fällt die beträchtliche zeitliche Differenz auf, mit der bei unterschiedlichen Tumoren die Teilschritte der Karzinogenese bis hin zur klinischen Manifestation durchlaufen werden. Bei vielen soliden Tumoren veranschlagt man hierfür 20 Jahre und mehr (Loeb 2001). Mithilfe molekulargenetischer Methoden konnte man andererseits bei hämatopoetischen Neoplasien das Zeitfenster nach unten eingrenzen. So induzierte die Behandlung mit Topoisomerase-II-Inhibitoren vom Typ der Anthracycline bei einem Patienten mit Neuroblastom (Megonigal et al. 2000) bzw. ALL (Blanco et al. 2001) ein MLL-Rearrangement, das bereits nach 6 Wochen bzw. 6 Monaten nachweisbar war und innerhalb von 15 Monaten zum Ausbruch einer AML führte. Vergleichbare Daten ergaben Untersuchungen von Säuglingen und Kleinkindern mit ALL. Als Markersystem fungierten hier klonspezifische Immunglobulingenrearrangements bzw. Onkogenfusionen (Gale et al. 1997; Taub et al. 2002; Wiemels et al. 1999). Eine retrospektive Analyse von Blutproben, die während des Neugeborenenscreenings auf Stoffwechselstörungen gewonnen wurden, ergab, dass einige dieser Kinder bereits bei Geburt kleine Leukämiezellpopulationen zeigten, die intrauterin entstanden sein mussten und dann innerhalb weniger Monate bzw. Jahre klinisch manifest wurden. Derartige Diskrepanzen im zeitlichen Verlauf einer Tumorentwicklung basieren auf unterschiedlichen Faktoren, zu denen die Art der genetischen Läsionen, das betroffene Gewebe und schließlich auch die Wirkweise der Noxe zählen.
4.5.4
Tiermodelle mit potenziell klinischer Relevanz
Art und Reihenfolge genetischer Störungen sind für die Entstehung unterschiedlicher Tumoren nicht beliebig. Einige Gene wie
4
P53 und P16 spielen bei nahezu allen Malignomen eine Rolle, andere Gene wie ABL nur bei wenigen Subentitäten. Tiermodelle können hierbei helfen, die Bedeutung einzelner Gene im komplexen Entstehungsprozess von Krebserkrankungen besser zu differenzieren, insbesondere dann, wenn transgene Systeme gewählt werden, die während bestimmter Entwicklungsstadien oder auf definierte Gewebe beschränkt, induziert oder inaktiviert werden können (Hooper et al. 1998; Jonkers u. Berns 2002; Wu u. Pandolfi 2001). So führt beispielsweise die gezielte Überexpression von MYC in der Epidermis der Haut bzw. während der Hämatopoese zur Tumorentstehung (Felscher u. Bishop 1999; Pelengaris et al. 1999). Die pathologische Aktivierung nur eines Onkogens induziert demnach über nicht näher charakterisierte Folgereaktionen ein komplexes Krankheitsbild. Interessant war nun, dass es durch Unterbindung dieser MYC vermittelten Signalkaskade zur Reversion des malignen Phänotyps kam. In einem anderen transgenen Mausmodell induziert MYC Osteosarkome. Bereits eine kurzfristige Unterbrechung dieses pathologischen Stimulus führte zur Tumorregression. Interessanterweise kam es nach abermaliger MYC-Aktivierung nicht zum Tumorwachstum, sondern zur Apoptose betroffener Zellen (Jain et al. 2002). Allerdings sind diese Daten nicht generalisierbar. So zeigte die Blockade von MYC in einem transgenen Mammakarzinommodell keine nachhaltige Tumorregression (Boxer et al. 2004). Hingegen führt die MYC-Inaktivierung in hepatozellulären Karzinomen zur Elimination der Tumore. Allerdings traten nach Aufhebung der Inhibition rasch wieder Karzinome auf, da ruhende Tumorstammzellen im Lebergewebe reaktiviert wurden (Shachaf et al. 2004). Auch im Brustdrüsengewebe von Mäusen konnte die durch aberrante MYC-Expression bedingte Tumorentwicklung nach Unterbrechung dieses Signalkreises rückgängig gemacht werden (D’Cruz et al. 2001). Allerdings kam es bei einem Großteil der Tiere nach längerer MYC-Exposition zur präferenziellen Mutation von K-RAS. War dieser Punkt erreicht, erfolgte die Tumorprogression unabhängig vom MYC-Expressionsstatus. Dieses Ergebnis zeigt zum einen, dass bestimmte Tumorgene distinkte sekundäre genetische Läsionen induzieren können und dass andererseits in Abhängigkeit von der jeweiligen Kombination der genetischen Störungen therapeutische Interventionen greifen oder nicht. Der Gewebekontext spielt hierbei ebenfalls eine Rolle, wie ein anderes Tiermodell belegt. Ausgangspunkt war hier die Beobachtung, dass 50% der Frauen mit Mammakarzinom eine Überexpression von Cyclin D1 mit hieraus resultierender RB-Inaktivierung zeigen. Transgene Mäuse, denen beide Kopien des CYCD1-Gens fehlen, entwickeln trotz Aktivierung der Onkogene RAS oder HER2 im Epithel der Brustdrüse keine Mammakarzinome (Yu et al. 2001b). Wurde hingegen MYC überexprimiert, traten trotz Ausfalls von Cyclin D1 konstant Mammakarzinome auf. Der Grund hierfür ist, dass RAS und HER2 im Gegensatz zu MYC im Brustdrüsengewebe lediglich über Cyclin D1 und nicht kompensatorisch auch über andere Mitglieder der Cyclin-DFamilie Signale vermitteln können (Bartek u. Lukas 2001). In anderen Geweben aktivieren hingegen auch RAS und HER2 Cyclin D2 und D3. Diese Erkenntnisse haben ebenfalls therapeutische Implikationen. Da viele Frauen mit Mammakarzinom eine pathologische Aktivierung von HER2 oder RAS bei gleichzeitiger Überexpression von Cyclin D1 zeigen, könnten selektive Cyclin-D1Inhibitoren eine erfolgreiche Behandlungsoption darstellen. So ist die Entwicklung von Tiermodellen mit ganz spezifischen genetischen Läsionen deshalb von großer Bedeutung,
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Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
weil sich hieraus Möglichkeiten zur gezielten Validierung von Therapieverfahren, die auf die Korrektur distinkter genetischer Läsionen ausgerichtet sind, ergeben (Jonkers u. Berns 2002). In verschiedenen transgenen Mausmodellen konnte gezeigt werden, dass die Reaktivierung von P53, das transient ausgeschaltet wurde, zur völligen Tumorregression führen kann. Die hierfür verantwortlichen Signalwege unterscheiden sich in Abhängigkeit vom Tumortyp. In Leberkarzinomen und Sarkomen kam es unter P53-Einfluss zur Zellalterung (Senescence) und nachfolgender Aktivierung des Immunsystems (Ventura et al. 2007; Xue et al. 2007), während P53 bei Lymphomen eine Apoptose der Tumorzellen induzierte (Ventura et al. 2007). Ein Caveat kommt in diesem Kontext von einer anderen Studie, bei der die Aktivierung von P53 zunächst zur raschen Lymphomregression und Verlängerung der Überlebenszeit führte, im Verlauf aber Rezidive auftraten, die durch sekundäre Inaktivierung von P14ARF oder P53, meist durch Deletion, im Rahmen der Tumorevolution bedingt waren (Martins et al. 2006). Diese Daten deuten insgesamt aber darauf hin, dass auch beim Menschen bereits die Korrektur (eventuell sogar nur transient) einer zentralen Komponente im Mehrstufenprozess der Karzinogenese erheblichen therapeutischen Nutzen bedeuten kann. Der Erfolg des Tyrosinkinaseinhibitors Imatinib bei der Therapie BCR-ABL-positiver Leukämien stützt diese Sichtweise (Druker et al. 2001a,b; 7 Abschn. 4.2.3). Nicht übersehen werden darf aber, dass Befunde in Tiermodellen nicht einfach auf die Situation beim Menschen übertragen werden können. So sind beispielsweise beim Menschen Träger einer RB-Keimbahnmutation für die Entwicklung von Retinoblastomen prädisponiert, bei der Maus treten hingegen Hypothysentumoren auf. Eine Fülle weiterer Diskrepanzen unterstreicht die Notwendigkeit zur Überprüfung aller Befunde der Grundlagenforschung im klinischen Kontext (Hooper 1998).
4.5.5
Modell Kolonkarzinom
Am Modell des Kolonkarzinoms hat die Arbeitsgruppe um Bert Vogelstein exemplarisch die Bedeutung der Abfolge verschiedener Gendefekte für die Tumorentwicklung verdeutlicht (Fearon u. Vogelstein 1990; Kinzler u. Vogelstein 1996; . Abb. 4.21). Dabei zeigen sich Unterschiede in der biologischen Wertigkeit und den klinischen Konsequenzen aus Störungen einzelner Gene. Ein Beispiel: Mit jeweils 80% zählen Funktionsverluste von APC und P53 zu den häufigsten genetischen Läsionen bei Kolonkarzinomen (Baker et al. 1990; Miyoshi et al. 1992). Während aber P53 eine Rolle bei der Tumorprogression spielt, ist das APC-Gen von ausschlaggebender Bedeutung für die initiale Entwicklung von Kolonkarzinomen. Dieser Unterschied lässt sich besonders gut am Sonderfall hereditärer APC- und P53-Mutationen kenntlich machen. Keimbahnmutationen von P53 charakterisieren das Li-Fraumeni-Syndrom, das für zahlreiche Tumoren disponiert, nicht aber für Dickdarmkarzinome (Malkin 1994). Ganz anders die Situation bei Keimbahnmutationen im APC-Gen, der molekularen Basis der familiären Polyposis (FAP), einer der klassischen Formen erblicher Kolonkarzinome (Groden et al. 1991). APC kommt bei der Kontrolle normaler Proliferationsprozesse koloepithelialer Zellen eine essenzielle Bedeutung zu. Ein Ausfall dieses Schlüsselmoleküls, des – in der Terminologie von Vogelstein (Kinzler u. Vogelstein 1996) – »Pförtners« (»gatekeeper«), führt zur malig-
nen Transformation gerade dieses Gewebes, ganz unabhängig davon, ob die Mutation ererbt (FAP) oder – sehr viel häufiger – erworben wurde (Miyoshi et al. 1992). Einen weiteren gravierenden Unterschied ergibt ein Vergleich von APC- und MLH1-Mutationen. MLH1 repräsentiert eine Komponente des DNA-Mismatch-Reparatursystems (Papadopoulos et al. 1994; 7 Abschn. 4.9.2). Eine Störung dieser Kontrollebene führt zur Mikrosatelliteninstabilität (MIN; Ionov et al. 1993), die eine Lawine von Mutationen in Genen auslöst, die für die Aufrechterhaltung normaler Zellfunktionen wichtig sind. Eine Mikrosatelliteninstabilität findet sich bei 90% der HNPCCPatienten, aber auch bei 10–15% der sporadischen Kolonkarzinome. Mutationen im APC-Gen sind hingegen mit einer Chromosomeninstabilität (CIN) assoziiert (Lengauer et al. 1997), einem grundsätzlich anderen Weg der malignen Transformation. Auch klinisch zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den überwiegend proximal gelegenen MIN-positiven Tumoren und den sehr viel aggressiveren distal lokalisierten Tumoren mit Chromosomeninstabilität (Lynch u. de la Chapelle 1999). Der chromosomalen Instabilität entspricht auf molekularem Niveau eine Allelinstabilität, die mit einem sehr viel sensitiveren Auflösungsvermögen erfasst werden kann (Vogelstein et al. 1989). Es stellte sich heraus, dass diesem Prozess eine große Bedeutung in der Frühphase der Entwicklung von Kolonkarzinomen zukommt und sie nicht Folge, sondern Ursache der malignen Transformation ist (Shih et al. 2001). Versucht man die Abfolge der unterschiedlichen genetischen Störungen bei der Entstehung von Kolonkarzinomen einzugrenzen, so repräsentieren Keimbahnmutationen den frühestmöglichen Zeitpunkt (. Abb. 4.21). Epidemiologische Studien weisen darauf hin, dass etwa 15% aller Kolonkarzinome eine autosomaldominante Tumordisposition zugrunde liegt (Cannon-Albright et al. 1988). Zu den am besten charakterisierten Krankheitsbildern zählen in diesem Kontext die FAP und das hereditäre nichtpolypöse Kolonkarzinom (HNPCC). Etwa 90% der HNPCC-Patienten weisen Keimbahnmutationen in den DNA-Reparaturproteinen MLH1 oder MSH2 auf (Leach et al. 1993; Papadopoulos et al. 1994). Eine im Unterschied zu FAP und HNPCC autosomalrezessiv vererbte Disposition für Kolonkarzinome wird durch Mutationen im MUTYH-Gen, das eine Komponente des BaseExzissionreparatursystems kodiert, verursacht. Das klinische Bild ist der FAP ähnlich. Diese Karzinome zeigen weder eine CIN noch MIN (Al-Tassan et al. 2002; Lipton et al. 2003). FAP und HNPCC repräsentieren als häufigste erbliche Kolonkarzinome nur knapp 1 bzw. 3% aller Patienten. Rechnet man noch die sehr viel selteneren Keimbahnmuationen in den Genen STK11 und SMAD4 bei Patienten mit Peutz-Jeghers-Syndrom bzw. juveniler Polyposis hinzu (Hemminki et al. 1998; Howe et al. 1998), so ist die Basis der familiären Disposition noch nicht einmal in 50% der epidemiologisch angenommenen Fälle erklärt. Abgesehen davon, dass eventuell weitere Gene, die einen wesentlichen Beitrag zur hereditären Disposition für Kolonkarzinome liefern, noch nicht identifiziert wurden, könnte eine Erklärung dieser Diskrepanz darin bestehen, dass eine Vielzahl bekannter und unbekannter Gene durch eine Mutation mit geringer Penetranz (unter 15%) für eine Tumormanifestation mitverantwortlich ist und dann ein etwa zweifach erhöhtes Risiko bedingen (de la Chapelle 2004). Diese Mutationen können allerdings recht häufig auftreten und somit insgesamt signifkant zur Entstehung von sporadischen Kolonkarzinomen beitragen. Beispiele hierfür sind die I1307K-Mutation im APC-Gen, die Poly-
103 4.5 · Tumorstammzellen und Akkumulation genetischer Läsionen in Tumorzellen
4
. Abb. 4.21. Akkumulation hereditärer und sporadischer genetischer und epigenetischer Läsionen beim Kolonkarzinom. CIN Chromosomeninstabilität; MIN Mikrosatelliteninstabilität
alaminvariante 6 Ala im TGF-β1-Rezeptor und die MLH1D132H-Variante (Lipkin et al. 2004). Ein bestimmter SNP (»single nucleotide polymorphism«) auf Chromosom 8q24 findet sich in etwa 50% der Bevölkerung und mag trotz seiner niedrigen Penetranz bei der Entstehung von etwa 20% aller Kolonkarzinome beteiligt sein; die Funktion dieses Locus ist noch nicht bekannt (Tomlinson et al. 2007). Aus der Fülle der bisher beim Kolonkarzinom identifizierten Veränderungen seien einige konstante Befunde genannt (. Abb. 4.21). So induzieren APC-Mutationen eine Hyperplasie von Krypten des Kolonepithels. Eine ähnliche Hyperproliferation wurde durch Mutationen des durch APC regulierten β-Catenins in etwa 15% der Patienten hervorgerufen (Morin et al. 1997). In beiden Fällen resultiert eine Aktivierung des Transkriptionsfaktors TCF4 mit nachfolgender Überexpression von MYC und Cyclin D1 (He et al. 1998; Morin et al. 1997; Tetsu u. McCormick 1999). Schon früh in der Adenomentwicklung findet sich auch eine Überexpression des Enzyms Cyclooxygenase 2 (COX2), das u. a. die Produktion von Angiogenesefaktoren durch Kolonkarzinome stimuliert und zudem antiapoptotisch wirkt (Eberhart et al. 1994; Prescott u. White 1996; Tsujii et al. 1998). Dieser Befund ist von großer klinischer Bedeutung, weil nichtsteroidale Entzündungshemmer wie Aspirin und Sulindac sowie COX2-spezifische Inhibitoren eine signifikante Reduktion der Polypenzahl bei FAPPatienten erzielen und zur Apoptose MIN-positiver Zellen bei HNPCC beitragen. Hieraus ergeben sich prinzipiell vielversprechende Optionen für eine Chemoprävention von Kolonkarzinomen (Jänne u. Mayer 2000; Rüschoff et al. 1988; Steinbach et al.
2000). Allerdings sind folgende Einschränkungen zu machen. Die präventive Wirkung bezieht sich auf Tumore mit COX2Überexpression, nicht auf andere Dickdarmtumore (Chan et al. 2007). Zudem konnten prospektive Daten bei jüngeren Anlageträgern für FAP keinen präventiven Effekt belegen (Giardiello et al. 2002). Noch gravierender sind aber die kardiovaskulären Risiken einer Behandlung mit COX2-Inhibitoren, die in mehreren Studien belegt wurden, sodass vorerst diese Präventionsstrategie nicht weiter verfolgt wird (Solomon et al. 2005). Den Übergang in zunehmend dysplastische Adenomformen markieren Mutationen von K-RAS in 50% der Fälle (Bos et al. 1987) bzw. die Inaktivierung der auf Chromosom 18q21 gelegenen Tumorsuppressorgene SMAD4 (15% der Patienten) und DCC (3–5% der Fälle; Chen et al. 1999; Cho et al. 1994; Hahn et al. 1996). SMAD4 ist ein Signalmediator von TGFβ, dessen TypII-Rezeptor bei Kolonkarzinompatienten mit MIN häufig mutiert ist. DCC ist an der Regulation apoptotischer Prozesse beteiligt. Defekte in der Reparatur von Basenfehlpaarungen führen wie im Zeitraffertempo zu einer zunehmenden genetischen Instabilität: Die Mutationsrate ist hierbei 100- bis 1.000-fach gesteigert (Parson et al. 1993). Bei HNPCC-Patienten betreffen die Keimbahnmutationen insbesondere MSH2 und MLH1. Den 10–15% sporadischer Kolonkarzinome mit MIN liegt hingegen nahezu ausschließlich eine Hypermethylierung des MLH1-Promotors zugrunde (Herman et al. 1998; Miyakura et al. 2001). Als Folge der Mikrosatelliteninstabilität kommt es zu Mutationen in zahlreichen Genen, die eine wichtige Rolle in der Signalverarbeitung spielen; mehr als 20 Zielgene wurden identifiziert (Duval et
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Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
al. 2001; Duval u. Hamelin 2002), darunter Signalmediatoren wie TGFβ-Rezeptor II (90% der Kolonkarzinome mit MIN; Markowitz et al. 1995), APC (70%; Huang et al. 1996) und der IGF2Rezeptor (10%; Souza et al. 1996), Regulatoren der Apoptose wie BAX (50%; Rampino et al. 1997; Ionov et al. 1999) und die DNAMismatch-Reparaturfaktoren MSH3 und MSH6 (40%; Malkhosyan et al. 1996). Das Spektrum der von den Mutationen betroffenen Gene scheint in Abhängigkeit vom jeweiligen Gewebekontext zu variieren und zeigt beispielsweise Unterschiede bei MIN-positiven Karzinomen des Magens bzw. Dickdarms (Mori et al. 2002). Insgesamt ist eine Mikrosatelliteninstabilität bei Kolonkarzinomen aber sehr viel seltener zu beobachten als die Chromosomeninstabilität (Lindblom 2001). Somatische Mutationen von SMAD2 (Eggert et al. 1996) und P53 finden sich beim Übergang zum Karzinom. In den wenigen bisher bekannten Schritten von einem lokal begrenzten Malignom zu einem metastasierenden Kolonkarzinom zählen Mutationen im SRC-Gen (Irby et al. 1999) sowie die Überexpression der Tyrosinphosphatase PRL-3 (Saha et al. 2001). Kolonkarzinome können auch durch epigenetische Fehlregulation des genetischen Programms charakterisiert sein; die sporadischen MIN-positiven Dickdarmtumoren gehören hierzu. Ein wichtiger Pathomechanismus ist die aberrante Methylierung von Promotorbereichen verschiedener Tumorsuppressorgene (Toyota et al. 1999); ein Beispiel ist der Funktionsverlust von P16 (Herman et al. 1995). Umgekehrt kann über einen Verlust des Imprinting-Status (»loss of imprinting«, LOI) ein Wachstumsfaktor wie IGF2 im Übermaß produziert werden (Cui et al. 1998; Nakagawa et al. 2001). Epigenetische Fehlprogrammierungen etwa im Sinne einer Hypermethylierung können bereits in sehr frühen Stadien auftreten und eine wesentliche Rolle bei der Tumorinitiation spielen. Hiervon betroffene Gene wie P16, GATA-4 oder APC sind in solchen Tumoren nur selten mutiert. Ihnen könnte normalerweise eine epigenetische Gatekeeper-Funktion zukommen, indem sie bei Stammzellen des Darms überschießende Proliferationsaktivität verhindern (Jones u. Baylin 2007). Eine Integration von epigenetischen und genetischen Fehlregulationen in Tumorzellen kann eine neue Subklassifikation von Kolonkarzinomen begründen, die auf eine unterschiedliche Genese der Tumoren schließen lässt (Shen et al. 2007). Allerdings sollte die hier skizzierte Abfolge von genetischen Läsionen während der Entwicklung von Kolonkarzinomen nicht als starres Konzept verstanden werden. Vielmehr können unterschiedliche Kombinationen von genetischen Defekten zur Entstehung dieser Tumorform beitragen (Smith et al. 2002). Eine nahezu vollständige Sequenzanalyse des Genoms von Kolonkarzinomen mit Hochdurchsatzverfahren hat die Komplexität der genetischen Läsionen in diesen Tumoren verdeutlicht (Wood et al. 2007). Jeder Tumor enthält etwa 80 Genmutationen, von denen die meisten allerdings in weniger als 5% der Tumore angetroffen werden. Diese Gene könnten das individuelle Tumorverhalten und -ansprechen begründen. Etwa 15 Genmutationen stellen die eigentliche treibende Kraft hinter der Entwicklung von Kolonkarzinomen dar und führen zu Alterationen in insgesamt 38 Signaltransduktionswegen. Neben diesen Mutationen finden sich auch noch zahlreiche copy number variations (CNV) in Form von DNA Deletionen und Amplifikationen, welche zur Fehlregulation von Genen führen (Leary et al. 2008). Bei aller Komplexität dieser Befunde eröffnen sich auf diesem Wege doch neue Optionen für individuelle Angriffspunkte von zielgerichteten Therapieverfahren.
4.5.6
Mutationsabfolge bei anderen Tumoren
Die für Kolonkarzinome modellhaft entwickelte Sequenz von genetischen Läsionen im Laufe der Tumorprogression hat bei zahlreichen soliden Tumoren und hämatopoetischen Neoplasien eine Bestätigung erfahren. Karzinome des Kopf-Hals-Bereiches, beispielsweise der Zunge, zeigen eine Abfolge morphologischer Veränderungen von einer Hyperplasie der Mukosa über ein Carcinoma in situ zum invasiven Karzinom. Die häufigsten Veränderungen prämaligner Frühstadien sind ein LOH von Chromosom 9p21 und Funktionsverlust von P16. Hinzu treten P53-Mutationen und 17p13-LOH sowie Deletionen von Chromosom 3p. Im Stadium des Carcinoma in situ werden Cyclin-D-Amplifikation, Gewinne von Chromosom 8q mit Überexpression von MYC sowie ein LOH der Regionen 13q21 und 14q32 beobachtet. Die weitere Krankheitsprogression ist durch Verlust des Tumorsuppressors PTEN und LOH verschiedener weiterer chromosomaler Regionen gekennzeichnet (Califano et al. 1996; Forastiere et al. 2001; Roz et al. 1996). Auch Meningeome sind durch distinkte genetische Veränderungen im Rahmen der Progression von benignen (90% der Fälle) über atypische (7%) zu den anaplastischen Formen (3%) charakterisiert (Weber et al. 1997). Meningiome der Frühphase zeigen zu knapp 60% eine Deletion des Chromosoms 22 (Zang u. Singer 1967) mit dem krankheitsrelevanten Funktionsverlust des Tumorsuppressors NF2 (Rutledge et al. 1994). Den Übergang zum atypischen Meningeom markieren derzeit noch nicht molekular definierte Verluste von Chromosom 1p, 6q, 10, 14q und 18q sowie Gewinne von Chromosom 1q, 9q, 12q, 5q und 17q in jeweils über 30% der Fälle. Ein Verlust von P16 und Deletion 9p repräsentieren ebenso wie eine Amplifikation von Chromosom 17q späte Ereignisse der Entwicklung zum aggressiven anaplastischen Stadium. Die Klassifikation von Gliomen hat wesentlich von genetischen Analysen profitiert und für die unterschiedlichen Subentitäten spezifische Abfolgen von genetischen Läsionen aufgedeckt (Louis et al. 2001; Reis et al. 2000). So sind die primären Glioblastome des älteren Menschen durch Amplifikation bzw. Überexpression des EGF-Rezeptors, P16-Deletionen und PTEN-Mutationen deutlich abzugrenzen von sekundären Glioblastomen, die sich bei jüngeren Patienten aus niedriggradigen Astrozytomen entwickeln und durch P53-Mutationen gekennzeichnet sind. Pankreaskarzinome zeigen pro Tumor die höchste Zahl genetischer Veränderungen im Vergleich zu allen anderen Malignomen (Hilgers u. Kern 1999). In über 90% der Fälle findet man eine K-RAS-12-Mutation sowie einen Funktionsverlust von P16; bei etwa 50–75% der Pankreaskarzinome lassen sich P53und SMAD4-Mutationen nachweisen. Eine genetische Prädisposition als früheste Stufe zur Entwicklung eines Pankreaskarzinoms liegt bei 5–10% der Patienten vor und basiert auf Keimbahnmutationen in den Tumorsuppressorgenen P16, BRCA2 bzw. STK11 oder im Gen für Trypsinogen, PRSS1, bei familiärer Pankreatitis. Zu den hämatopoetischen Neoplasien, bei denen eine Korrelation von klinischer Progression und genetischen Veränderungen vorgenommen werden kann, zählen die verschiedenen Subtypen der Myelodysplasien mit Übergang zur akuten myeloischen Leukämie (Bartram 1996; Solé et al. 2000). Details der Abfolge genetischer Aberrationen sind auch für das multiple Myelom herausgearbeitet worden (Hallek et al. 1998), von der monoklonalen Gammopathie unklarer Signifikanz (MGUS) zum
105 4.5 · Tumorstammzellen und Akkumulation genetischer Läsionen in Tumorzellen
intra- und extramedullären Myelom. Initiale Störungen des genetischen Programms sind hier chromosomale Translokationen der Immunglobulin-(IgH-)Switch-Region auf Chromosom 14q32, die zur pathologischen Aktivierung von positiven Signalgebern wie Cyclin D1 oder FGF-Rezeptor 3 im Rahmen der t(11;14) bzw. t(4;14) führen. Es folgen interstitielle Deletionen von Chromosom 13q unter Einschluss des RB-Locus; RAS-Mutationen finden sich in geringer Frequenz schon in der intramedullären Phase, zu über 60% aber in weiter progredienten Krankheitsstadien. P53-Mutationen sind mit dem aggressiven extramedullären Myelom assoziiert.
4.5.7
Interaktion von Tumor und Mikromilieu
Bei den meisten Krebspatienten führt nicht der Primärtumor zum Tode, sondern die Folgen der Metastasierung. Wie weiter vorne dargestellt, können genetische Läsionen, die im Laufe der Tumorevolution entstehen, letztlich ein genetisches Metastasierungsprogramm etablieren. Andererseits haben Genexpressionsprofile gezeigt, dass zumindest in einigen Tumoren, die Metastasierungspotenz sich schon früh im Krankheitsverlauf manifestiert (Nguyen u. Massague 2007). Einige dieser Gene determinieren etwa den Ort der Metastasierung, bei Mammakarzinomen etwa Lunge oder Knochenmark. So sind für die Lungenmetastasierung vier Faktoren verantwortlich, die ein Programm aus pathologischer Angiogenese mit Anschluss von Mammakarzinomen an den Kreislauf sowie Extravasation der Tumorzellen in die Lunge koordinieren (Gupta et al. 2007). Es handelt sich dabei um Epiregulin (ein Ligand des EGF-Rezeptors), Cyclooxigenase 2 und die Matrixmetalloproteinase 1 und 2. Ein kombinierter Einsatz von Inhibitoren dieser Faktoren konnte im Mausmodell die Metastasierung unterdrücken. Ein weiterer Hinweis darauf, dass das Metastasierungspotenzial von Tumoren nicht der Endpunkt einer langen Kette von Vorereignissen sein muss, ergibt sich daraus, dass es eine erbliche Disposition für Metastasenentwicklung zu geben scheint (Threadgill 2005; Nguyen u. Massague 2007). In einem murinen Mammakarzinommodell hängt die Effizienz zur Metastasierung in die Lunge vom jeweiligen genetischen Hintergrund unterschiedlicher Mausstämme ab. Das hierfür verantwortliche Gen, SIPA1, wurde isoliert; es kodiert ein GTPase-aktivierendes Protein (GAP), welches das RAS-verwandte RAP-Protein inhibiert. Ein Polymorphismus in SIPA1 beeinflusst seine Enzymaktivität und die Metastasierungspotenz. Es gibt zahlreiche Befunde, die belegen, dass das zelluläre Umfeld, das Mikromilieu eines Tumors wesentlich zu seinem Unterhalt und Metastasierungsverhalten beitragen kann. Ein Beispiel hierfür ist die Stimulation von Tumorwachstum und Angiogenese durch Stromafibroblasten bei Mammakarzinomen über die Sekretion von SDF1 (»stromal all-derived factor 1«), wobei dieser Faktor mit dem von Tumorzellen exprimierten Rezeptor CXCR4 interagiert (Orimo et al. 2005). Eine weitere Interaktion steuert die präferenzielle Metastasierung von Mammakarzinomen ins Knochenmark. Im Knochenmark wird der Osteoblastendifferenzierungsfaktor RANKL synthetisiert. Er attrahiert solche Tumorzellen, die seinen Rezeptor RANK exprimieren und stellt somit einen gewebespezifischen Faktor für die Migration von Mammakarzinomen (und anderen Tumoren) in das Knochenmark dar. Osteoprotegerin kann diese Interaktion blocken und die Knochenmarksmetastasierung deutlich reduzieren (Jones et al. 2006).
4
Teilweise ist das umgebende Mikromilieu von Tumoren auch selbst durch genetische Läsionen charakterisiert. Dies kann damit zusammenhängen, dass beide Zelltypen (Tumor und Umgebung) miteinander verwandt sind. So fanden sich bei B-Zell-Lymphomen die selben, spezifischen zytogenetischen Aberrationen wie in Endothelzellen des umgebenden Gefäßsystems (Streubel et al. 2004). In anderen Fällen weisen Stromazellen genetische Veränderungen auf, die sich vom jeweiligen Tumor unterscheiden. Ein Beispiel hierfür sind P53-Mutationen und weitere Aberrationen in Stromazellen von Mammakarzinomen, die im Tumor selber nicht auftraten (Patocs et al. 2007). In dieser Studie waren die genetischen Veränderungen im Stroma (nicht im Tumor) mit der Ausbildung von Lymphknotenmetastasen assoziiert. Auch spezifische epigenetische Fehlmodifikationen des genetischen Programms finden sich im nichtneoplastischen Stromagewebe von Mammakarzinomen (Hu et al. 2005). In eine ähnliche Richtung weisen Daten, die zeigen, dass distinkte Genexpressionsprofile von Stromazellen beim Mammakarzinom prognostische Relevanz besitzen (Finall et al. 2008). Allerdings wird die Bedeutung genetischer Läsionen in Stromazellen kontrovers diskutiert, da sie von anderen Arbeitsgruppen nicht bestätigt werden konnten (Qiu et al. 2008). Diese Erweiterung der Betrachtungsweise vom Tumor auf seine Umgebung unterstreicht die Komplexizität genetischer Regelkreise bei der Karzinogenese.
4.5.8
Hochdurchsatzmethoden zur genetischen Charakterisierung von Tumoren
Einen Durchbruch für die gleichzeitige Erfassung zahlreicher genetischer Veränderungen in Tumorgeweben erbrachten neue Verfahren der molekularen Zytogenetik sowie die Chiptechnologie. Die vergleichende genomische Hybridisierung (»comparative genomic hybridization«, CGH) gestattet es, überzähliges oder deletiertes Chromosomenmaterial zu erkennen. Hierzu werden die Tumor-DNA und Referenz-DNA eines gesunden Probanden mit unterschiedlichen Fluoreszenzfarbstoffen markiert und auf das Chromosomenpräparat einer gesunden Kontrollperson hybridisiert (Kallioniemi et al. 1992). Der Vorteil liegt in einer raschen, umfassenden Analyse des Genoms auch von archiviertem Tumormaterial ohne den Umweg über die Zellkultur. Nachteile sind, dass balancierte Chromosomenaberrationen nicht erfasst werden und mindestens 50–70% der Tumorzelle die jeweilige genetische Veränderung zeigen müssen. Zudem ergibt sich aus der Verwendung von Metaphasechromosomen eine Nachweisgrenze von 10 Mb. Das Problem wird mit einer technischen Weiterentwicklung überwunden, der Matrix-CGH, bei der die Hybridisierung der DNA nicht mehr auf Chromosomenpräparate, sondern ein Array von gut charakterisierten DNA-Fragmenten im Chipformat erfolgt; diese Methode ist einer automatisierten Analyse zugänglich (Pinkel et al. 1998; Wessendorf et al. 2002; . Abb. 4.22). Bei der M-FISH (Multiplex-Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung) und der verwandten Spektralkaryotypisierung (SKY) handelt es sich um zwei neue Ansätze, die eine Darstellung aller Chromosomen des Menschen in 24 verschiedenen Farben ermöglichen (Schröck et al. 1996; Speicher et al. 1996). Auf diese Weise können komplexe chromosomale Umbauten eindeutig charakterisiert und kryptische Rearrangements, die der konventionellen Zytogenetik entgehen, identifiziert werden (. Abb. 4.23). Eine Fokussierung auf subtile Rearrangements im Subtelomerbereich gestattet eine technische Variante, der M-TEL-Assay (Brown et al. 2001).
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4
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
. Abb. 4.22a,b. Untersuchung genomischer Veränderungen mittels Matrix-CGH. a DNA-Mikroarray nach Hybridisierung mit genomischer DNA eines Liposarkoms. Der DNA-Chip besteht aus 188 Klonen, die verschiedene Onkogene und Tumorsuppressorgene repräsentieren (Onkochip), sowie aus 112 Klonen des langen Arms von Chromosom 12. Die Tumor-DNA wurde mit dem Fluorochrom CY3, die Kontroll-DNA (genomische DNA von normalen Zellen) mit dem Fluorochrom CY5 markiert. Die rötlich erscheinenden DNA-Spots zeigen amplifizierte Sequenzen in den Tumorzellen an. b Normalisierte Intensitätsverhältnisse der Hybridisierungssignale zwischen Tumor- und Kontroll-DNA. Deutlich ist die hochgradige Amplifikation mehrerer Klone der Mikroarrays zu erkennen. (Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Prof. Dr. P. Lichter, DKFZ Heidelberg)
Eine äußerst effiziente Methode zur Genotypisierung von Tumoren sind SNP-Chips. Hoch auflösende Arrays enthalten 50.000–500.000 Marker, entsprechend einem Abstand von etwa 50–5 kb. In Verbindung mit einer anspruchsvollen bioinformatischen Auswertung gelingt so eine genomweite Analyse struktureller und numerischer Aberrationen inklusive Dosisunterschiede von maternalem und paternalem Allel. Man spricht von molekularer Allelokaryotypisierung (Kawamata et al. 2008). Über diese Strategie wurden selbst bei Neoplasien wie der ALL im Kindesalter, die bis dato schon intensiv genetisch charakterisiert worden war, eine Reihe neuer, prognostisch relevanter Läsionen gefunden; ein überraschender Befund war die Häufigkeit von uniparentaler Disomie (UPD), d. h. die Herkunft beider Kopien eines Chromosomenabschnittes von einem Elternteil (7 Abschn. 4.8.5; Kawamata et al. 2008; Mullighan et al. 2007). Um hunderte bekannte Genmutationen in großer Tumorkollektiven gleichzeitig zu untersuchen, wurden massenspektrometrische Verfahren entwickelt (Thomas et al. 2007). Zwischenzeitlich
wurde auch die Sequenziertechnologie revolutioniert. Sie erlaubt die Sequenzbestimmung von 25 Mio. bp in 4 Stunden (Margulies et al. 2005), sodass zumindest für Forschungsprojekte der nahezu vollständige Genhaushalt einzelner Tumore buchstabengenau bestimmt werden kann (Wood et al. 2007). Hieraus haben sich völlig neue Erkenntnisse über Umgang und Art genetischer Läsionen in verschiedenen Tumorentitäten ergeben (7 Abschn. 4.5.2). Die gleichzeitige Analyse der Expression von mehreren 1.000 Genen ermöglicht die cDNA-Chiptechnologie (Quackenbush 2006). Ein Vergleich von Tumor- und Normalgewebe lässt Unterschiede im Expressionsprofil erkennen. Sie eröffnet damit einen Blick auf das für die untersuchte Zellpopulation funktionell relevante Transkriptom. In ersten Versuchen ging es darum, bereits bekannte Subklassifikationen nachzuvollziehen, etwa die Unterscheidung zwischen akuten lymphatischen und myeloischen Leukämien (Golub et al. 1999); zudem zeigen zytogenetisch definierte Untergruppen, wie Leukämien mit Trisomie 8 oder Translokation des MLL-Gens auf Chromosom 11q23, ein
107 4.5 · Tumorstammzellen und Akkumulation genetischer Läsionen in Tumorzellen
4
a
b . Abb. 4.23a,b. M-FISH-Analyse. a Metaphase eines gesunden Probanden nach Hybridisierung mit 24 verschiedenen chromosomenspezifischen DNA-Sonden. Jedes Chromosom ist durch eine eigene Farbe gekennzeich-
net. b Die Metaphase einer Patientin mit Osteosarkom zeigt zahlreiche numerische und strukturelle Chromosomenveränderungen, die mit konventionellen Bänderungstechniken nur schwer klassifizierbar wären
distinktes Expressionsprofil (Armstrong et al. 2002; Virtaneva et al. 2001). Noch bedeutsamer ist die Aufdeckung neuer Transformationskaskaden anhand jeweils eigenständiger Expressionssignaturen, zumal wenn sie wie bei der T-ALL von prognostischer Relevanz sind (Ferrando et al. 2002). Expressionsprofile erlauben auch eine prognostisch relevante Subklassifikation von AMLPatienten, insbesondere dann, wenn die Zytogenetik einen normalen Karyotyp ergibt (Mrozek et al. 2007). cDNA-Arrays tragen zur verbesserten Differenzialdiagnostik zwischen Burkitt-Lymphom und aggressiven B-Zell Lymphomen bei (Hummel et al. 2006) oder Prognostik von Lymphompatienten nach Chemotherapie (Rosenwald et al. 2002). Bei soliden Tumoren gelingt es, differenzialdiagnostisch problematische Entitäten sicher abzugrenzen, etwa Tumoren der Ewing-Gruppe von anderen kleinrundzelligen Tumoren des Kindesalters (Khan et al. 2001) oder Medulloblastome von weiteren embryonalen ZNS-Tumoren (Pomeroy et al. 2002); auch histologisch schwierige Zuordnungen von Weichteiltumoren können mithilfe von Expressionsprofilen geklärt werden (Nielsen et al. 2002). Eine ätiopathogenetische und klinisch relevante Subklassifikation gelang ferner bei Melanomen, Prostatakarzinomen und Adenokarzinomen der Lunge (Bhattacharjee et al. 2001; Bittner et al. 2000; Lapointe et al. 2004). Auch die Metastasierungspotenz von Primärtumoren lässt sich mit dieser Methode ermitteln (Ramaswamy et al. 2003) oder eine Unterscheidung von physiologischer Angiogenese und pathologischer Gefäßbildung in Tumoren vornehmen (Seaman et al. 2007). Von besonderer Bedeutung erwies sich die Chiptechnologie beim Mammakarzinom. Genexpressionsprofile konnten neben bekannten Entitäten (Östrogenrezeptor positiv/negativ) auch Unterschiede im therapeutischen Ansprechen oder Metastasierungsgrad aufdecken (Perou et al. 2000). Diese Daten wurden inzwischen in zahlreichen Studien bestätigt (Edgen u. Kallionemi 2006; Fan et al. 2006). Überraschenderweise zeigen Mammkarzinome auf der Basis von Keimbahnmutationen im BRCA1- bzw. BRCA2-Gen untereinander signifikante Unterschiede im Expressionsprofil von ca. 5.000 untersuchten Genen (Hedenfalk et al. 2001). In dieselbe Richtung weisen transgene Mausmodelle zur Mammakarzinomentwicklung, bei denen es abhängig vom jeweils überexprimierten Onkogen zu teils gemeinsamen, in anderen Fällen auch distinkten Expressionsmustern nachgeschalteter Signalkaskaden kam (Desai et al. 2002).
Ein Ergebnis von großem klinischem Interesse ergab eine Studie bei jungen Patientinnen ohne Lymphknotenbefall zum Zeitpunkt der Diagnosestellung (van’t Veer et al. 2002). In dieser Patientengruppe reduziert eine adjuvante Chemo- oder Hormontherapie das Risiko für Fernmetastasen um etwa ein Drittel. Allerdings geht man davon aus, dass etwa 80% der so behandelten Frauen auch durch Operation und Strahlentherapie alleine geheilt werden würden, ohne dass dies für die einzelne Patientin vorhersagbar wäre (Early Breast Cancer Trialists’ Collaborative Group 1998a,b; Goldkirsch et al. 1998). Ausgehend von einer initialen Untersuchung von 25.000 Genen und einer Feinanalyse von 5.000 differenziell exprimierten Genen gelang die Identifikation von Patientinnen, die bei Diagnosestellung ein hohes Risiko zur Entwicklung von Fernmetastasen innerhalb von 5 Jahren nach Operation zeigen und deshalb von einer adjuvanten Therapie profitieren würden (van den Vijver et al. 2003; van’t Veer 2002). Für alle hier zusammengefassten Daten gilt aber, dass sie der Bestätigung durch weitere, prospektive Studien bedürfen, unter Einschluss von wesentlich mehr Patienten und abgestimmt auf das jeweilige therapeutische Konzept. Derzeit findet in Kenntnis relevanter Zielsequenzen in der Diagnostik bereits der Übergang von teuren, arbeitsintensiven Untersuchungen mit hochformatigen cDNA-Chips zu je nach Tumorentität und Fragestellung maßgeschneiderten Chips im Umfang weniger Dutzend Gene statt (Wooster 2000). Von grundsätzlicher Bedeutung sind Expressionsprofile auch für die Suche nach individuellen Reaktionsweisen auf Medikamente (Potti et al. 2006; Staunton et al. 2001) und neuen therapeutischen Zielstrukturen (Evans u. Relling 1999; Reiss 2001). Derzeit richten sich Medikamente insgesamt nur gegen knapp 500 verschiedene Zielmoleküle, darunter 45% Zellmembranrezeptoren, 28% Enzyme, 11% Hormone, 5% Ionenkanäle und andere (Drews 2000). Abhängig vom spezifischen Pathomechanismus können gerade in der Onkologie neue Angriffspunkte für die Behandlung erschlossen werden (Gibbs 2000). Prominente Beispiele sind der Antikörper Trastuzumab bei der Behandlung von Mammakarzinomen mit HER-2-Überexpression sowie der Tyrosinkinaseinhibitor Imatinib zur Therapie BCR-ABL-positiver Leukämien (Druker et al. 2001a,b; Slamon et al. 2001). Zur Erfassung von Reaktionsweisen eines Patienten auf die jeweilige therapeutische Intervention kann eine systematische Analyse der Sequenzvarianten (SNP) zwischen Menschen weg-
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4
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
weisend sein. Diese Marker werden einen Zugang zur Identifikation und Charakterisierung der komplexen Metabolisierungswege von Arzneimitteln eröffnen und auch ethnische Unterschiede berücksichtigen können (Wilson et al. 2001). Die Pharmakogenetik kann künftig wesentlich zur Optimierung therapeutischer Bemühungen beim einzelnen Patienten beitragen (Nebert 1999). Eine weitere Ebene der Analytik komplexer molekularer Interaktionen eröffnet die Proteomik. Auch hier wird allmählich die Analyse von Einzelinteraktionen zwischen Proteinen durch eine simultane Untersuchung aller in einer Zelle synthetisierten Proteine (dem Proteom) ergänzt; im Hefemodell ist dieser Globalansatz schon verwirklicht worden (Gavin et al. 2002). Diese Entwicklung wird eine neue Dimension im Verständnis der molekularen Pathomechanismen von Krebserkrankungen sowie der Identifikation individueller Diagnostika und Therapeutika eröffnen. Schließlich sei noch eine für die Forschung relevante Strategie zur Identifikation von zahlreichen für die Tumorentwicklung wesentlichen Genen erwähnt, die funktionelle Genomik (Schlabach et al. 2008). Zum Einsatz kommen hier Pools von tausenden shRNA (»short hairpin«), Micro-RNA verwandte Moleküle. Der von shRNA verursachte Funktionsausfall von Genen kann auf deren Bedeutung für Zellproliferation, Zellzykluskontrolle oder Beteiligung an Signaltransduktionswegen hinweisen. Hochdurchsatzstrategien stehen also für alle Ebenen des genetischen Informationsflusses zur Verfügung: DNA, RNA und Proteine.
4.6
Telomere
Die Endbereiche (Telomere) von Chromosomen gehören zu den besonders vulnerablen Strukturen des Genoms. Ohne spezifische Schutzmaßnahmen käme es zur Rekombination der freien DNAEnden sowie zu Abbauvorgängen, die die genetische Stabilität . Abb. 4.24. Telomere bilden eine Schlaufe (T-Loop), wobei sich das einzelsträngige 3‘Ende im D-Loop zwischen den DNA-Doppelstrang schiebt. Zahlreiche Faktoren regulieren über Proteinkomplexe die Telomerfunktionen (Einzelheiten im Text)
gefährden würden. Telomere können als eine Art Pufferzone von 5–15 kb Länge aufgefasst werden, deren Aufbau allen Chromosomen des Menschen gemeinsam ist. Zu den Charakteristika gehören eine über 1.000-fache Wiederholung des Hexanukleotids 5’-TTAGGG-3’(Blackburn 2001). Auch die subtelomeren Abschnitte weisen zwischen verschiedenen Chromosomen Ähnlichkeiten auf, bevor noch weiter centromerwärts die chromosomenspezifischen Sequenzen inklusive der kodierenden Bereiche folgen. Alle Telomere schließen mit einer Schlaufenstruktur ab, dem T(Telomer)-Loop (. Abb. 4.24). Das Ende der TelomerDNA besteht in einem einzelsträngigen 3’-Überhang von etwa 50–200 Nukleotiden, der sich zwischen den Doppelstrang voraufgehender Telomerabschnitte schiebt und hier eine dreisträngige DNA-Struktur in Form des D(Displacement)-Loops bildet (Greider 1999; Griffith et al. 1999); diese Schlaufenstruktur verhindert, dass die Enden der Chromosomen als DNA-Schaden angesehen werden.
4.6.1
DNA-Replikation
Ein für die Onkologie besonders relevanter Aspekt ergibt sich aus dem bei jeder Zellteilung auftretenden Verlust an Telomersequenzen. Ursache hierfür ist der physiologische Ablauf der DNAReplikation während der S-Phase des Zellzyklus. Im Zentrum der Replikationsgabel entwinden Helikasen die DNA, während Topoisomerasen durch eine kombinierte Schnitt- und Verknüpfungsreaktion zur Entspannung der Helix beitragen. Unter Nutzung jeweils eines Elternstranges als Matrize erfolgt die Synthese der Tochterstränge durch die DNA-Polymerasen α und δ stets in 5’→3’-Richtung (. Abb. 4.25). Dies bedeutet, dass ein Strang (Leitstrang, »leading strand«) kontinuierlich in der Bewegungsrichtung der Replikationsgabel synthetisiert werden kann. Da für
109 4.6 · Telomere
4
. Abb. 4.25. Prinzip der semikonservativen DNA-Replikation
den antiparallel verlaufenden zweiten Strang keine 3’→5’-Polymerase zur Verfügung steht, wird dieser Folgestrang (»lagging strand«) diskontinuierlich in mehreren Teilschnitten generiert. Zunächst werden hierzu von einer RNA-Polymerase (Primase) RNA-Primer von 4–12 Nukleotiden synthetisiert, die von der DNA-Polymerase in 5’→3’-Richtung (d. h. weg von der Replikationsgabel) bis zum folgenden RNA-Primer ergänzt werden. Die etwa 100–200 bp großen Abschnitte aus RNA-Primer und neusynthetisierter DNA werden Okazaki-Fragmente genannt. Anschließend werden die Primer entfernt (Exonuklease) sowie die DNA-Sequenzen ergänzt (DNA Polymerase) und verknüpft (Ligase). Bei jeder Replikation ergibt sich aber an den Telomeren ein Problem. Der als Startpunkt zur Synthese des Folgestranges in 5’→3’-Richtung benötigte Primer am äußersten Ende hinterlässt nach Entfernung der RNA-Fragmente eine Lücke, die nicht mehr aufgefüllt werden kann (. Abb. 4.26). Dies bedeutet, dass es bei jeder Replikation zur Verkürzung der Telomere um etwa 100 bp kommt. Ist im Verlauf der Zellteilungen ein Verlust von 5–7 kb der Telomersequenzen eingetreten, so ist deren Pufferkapazität erschöpft und es kommt zum Zelltod durch Apoptose oder Zell-
. Abb. 4.26. Während der Replikation kommt es im Endbereich der Telomere nach Entfernung des äußersten RNA-Primers zu einer Lücke im Folgestrang, die bei jeder Zellteilung zur Telomerverkürzung führt
alterung (Senescence). Telomerverkürzungen zählen zu den wichtigsten Komponenten physiologischer Alterungsprozesse und können auch durch verschiedene Umweltfaktoren bis hin zu psychogenen Belastungen beeinflusst werden (Epel et al. 2004).
4.6.2
Telomerase
Keimzellen oder Stammzellen rasch profilierender Gewebe des Intestinaltrakts oder der Hämatopoese dürfen aber nicht in ihrem Bestand gefährdet werden. In diesen Zellpopulationen wirkt – im Gegensatz zu den meisten somatischen Geweben – der Telomerasekomplex dem Verlust terminaler DNA-Sequenzen durch Ankopplung zusätzlicher TTAGGG-Motive an das 3’-Ende des Elternstranges entgegen und erhöht somit die Pufferkapazität für nachfolgende Replikationsrunden (Blackburn 2001). Die Telomerase ist eine RNA-abhängige DNA-Polymerase. Sie besteht aus einer katalytischen Komponente, einer reversen Transkriptase, die vom TERT-Gen (»telomerase reverse transcriptase«) und einer RNA-Untereinheit, die vom TR-Gen (auch TERC-Gen genannt; »telomerase RNA«) kodiert wird (. Abb. 4.27). Sequenzfolgen aus 11 Nukleoiden, 5’-CUAACCCUAAC-3’, der RNA-Komponente dienen als Matrize zur Synthese der TTAGGGMotive. Mutationen im TR-Gen selbst oder im DKC1-Gen, dessen Produkt Dyskerin eine Rolle bei der Modifikation ribosomaler RNA spielt, mit der RNA-Untereinheit interagiert und zur Stabilisierung der Telomerasefunktion beiträgt, führen zum Krankheitsbild der autosomal-dominant bzw. X-chromosomal vererbten Dyskeratosis congenita (Maronne et al. 2005). Das Symptomspektrum dieses Krankheitsbildes manifestiert sich in rasch proliferierenden Geweben wie Haut, Haar, Intestinum und Knochenmark sowie einer Tumordisposition in Folge der mit Telomerverlusten verbundenen Chromosomeninstabilität. Keimbahnmutation in TERT führen zum Krankheitsbild der autosomal dominant vererbten idiopathischen Pulmonarfibrose (Armanios et al. 2007). Erworbene Mutationen in TR oder TERT finden sich bei Patienten mit aplastischer Anämie (Marrone et al. 2005). Die Konsequenzen eines Ausfalls der katalytischen Komponente wurde insbesondere in K.O.-Modellen der Maus untersucht (Rudolph et al. 1999). Dabei ist zu bedenken, dass der Telomerbereich dieser Spezies mit 50 kb eine größere Reserve im Vergleich zum Menschen bereitstellt. Insofern kam es bei diesen Tieren auch erst nach 6 Generationen zur Infertilität, Beeinträchtigung der Hämatopoese, eingeschränkter Lebenserwartung und erhöhter Tumorinzidenz.
4
110
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
4.6.3
Regulation der Telomerfunktionen
Die Funktion der Telomere als Stabilitätsfaktor und der kontrollierte Einsatz der Telomeraseaktivität werden durch ein komplexes Netzwerk von Proteininteraktionen ermöglicht (. Abb. 4.24; Blasco 2005). Von großer Bedeutung für die Architektur der T-Loop-Struktur sind die direkt an die Telomer-DNA bindenden Faktoren TRF1 und TRF2 (Blackburn 2001). TRF1-Homodimere rekrutieren weitere Proteine wie TIN2 und Tankyrase zu einem Komplex, der einer Telomerelongation entgegen wirken. POT1 dient dem besonderen Schutz des einzelsträngigen 3’-Telomerüberhanges und reguliert durch Interaktion mit TPP1 die Rekrutierung der Telomerase an den Telomerbereich (Baumann u. Cech 2001; Xin et al. 2007). TRF2 bindet vorzugsweise im Bereich des D-Loops und verhindert die Fusion von Telomerenden durch überschießende DNA-Reparaturaktivität (Stansel et al. 2001). Es besteht ein feinabgestimmtes Wechselspiel zwischen der Kontrolle von Telomerintegrität und DNA Reparatur (7 Abschn. 4.9.3). TRF2 steuert diese Funktion über Interaktion mit dem MRE11/RAD50/ NBS1 (MRN) Komplex und die Rekrutierung von WRN, BLM, ERCC1–XPF bzw. KU 70/80 (Blasco et al. 2005). Diese Faktoren werden vor bzw. nach der DNA-Replikation koordiniert rekrutiert (Verdun u. Karlseder 2006). Dabei spielt auch die Interaktion mit telomeren Chromatinstrukturen eine wichtige Rolle. So ist etwa die Histon-3-Lysin-9-Deacetylase SIRT6 für die stabile Assoziation von WRN verantwortlich (Michishita et al. 2008). Ein Funktionsverlust von TRF2 führt zur Aktivierung von ATM und P53 sowie Einleitung von Apoptose oder Zellalterung (Herbig et al. 2004; Karlseder et al. 1999). Ein Verlust von funktionstüchtigen P53 kann umgekehrt dazu führen, dass Zellen mit Störungen der Telomere nicht eliminiert werden und genomische Instabilitäten akkumulieren sowie maligne entarten – eine Problemakzentuierung, die sich aus dem Ausfall von zwei wesentlichen Schutzkomponenten des Genoms (P53, Telomere) ergibt (Chin et al. 1999a). Die Mehrzahl dieser TRFL-Interaktionspartner sind bei Chromosomeninstabilitätssyndromen wie Werner-Syndrom, Bloom-Syndrom, Nijmegen-Breakage-Syndrom, Xeroderma pigmentosum oder Ataxia teleangiectasia mutiert, die durch vorzeitige Alterung, erhöhte Tumordisposition und verkürzte Telomere charakterisiert sind (7 Abschn. 4.9.3). Störungen der Telomerfunktion können also unterschiedliche Konsequenzen zeigen. In Geweben ohne Telomeraseaktivität trägt der allmähliche Verlust von Telomersequenzen zur physiologischen Zellalterung bei, während akute Eingriffe in den
komplexen telomeren Schutzapparat apoptotische Prozesse oder Senescence auslösen. Schließlich kann eine Dysfunktion der Telomere zur Rekombination von Chromosomenenden und zur genomischen Instabilität führen, die zwar dem Zelltod vorbeugen, allerdings um den Preis eines deutlich erhöhten Risikos für eine maligne Transformation.
4.6.4
Aberrante Telomeraseaktivität in Tumoren
Rasch proliferierende Tumorzellen würden aufgrund der damit verbundenen Telomererosionen prinzipiell ihren eigenen Tod vorprogrammieren. Insofern verwundert es nicht, dass über 90% aller Neoplasien eine Telomeraseaktivität zeigen, die normalerweise im jeweiligen Gewebekontext nicht zu verzeichnen ist (Meyerson 2000; Shay et al. 2001). Die molekularen Prinzipien aberranter Telomeraseaktivität sind noch nicht im Detail verstanden. Eine hieran beteiligte Komponente ist der Transkriptionsfaktor MYC, der über eine TERT-Stimulation zur pathologischen Zellproliferation beitragen kann (Wu et al. 1999). Dabei führt nicht die Aktivierung der Telomerase per se zur malignen Transformation (Morales et al. 1999). Die Telomerase immortalisert aber Zellen, die genetische Läsionen aquiriert haben und trägt damit entscheidend zur Tumorexpansion bei (Hahn et al. 1999). Zwar stellt die aberrante Telomeraseaktivität ein typisches Merkmal maligner Zellen dar, eine eigenständige prognostische Aussagekraft kommt diesem Parameter aber nicht zu. Die pathologische Telomeraseaktivität in Tumorzellen bietet einen interessanten Angriffspunkt für neue therapeutische Interventionen (Harley 2008). Eine Reihe selektiver Telomeraseinhibitoren wurde bereits entwickelt, um Tumorzellen die Basis ihres Überlebensvorteils zu entziehen. Erste In-vitro-Studien und Tiermodelle deuten darauf hin, dass diese Strategien ohne gravierende Nebenwirkungen geeignet sind, das Tumorwachstum zu stoppen. Allerdings ist es eher unwahrscheinlich, dass große Tumorzellverbände alleine mit Telomeraseinhibitoren effektiv angegangen werden können. Ihr Stellenwert als eine Begleitkomponente in der Krebsbehandlung muss vorerst noch in Therapiestudien überprüft werden.
4.6.5
Alternative Mechanismen zur Aufrechterhaltung der Telomerlänge
Zur Aufrechterhaltung der Telomerlänge in Tumorzellen kann auch ein telomeraseunabhängiger Mechanismus, ALT (»alterna-
. Abb. 4.27. Der Telomerasekomplex besteht aus einer katalytischen und einer RNA-Untereinheit
111 4.8 · Epigenetische Fehlprogrammierung
tive lengthening of telomers«), beitragen (Bryan et al. 1997). Dieser beruht auf einer homologen DNA-Rekombination, bei der Sequenzen eines Telomers als Matrix zur Verlängerung eines anderen Telomers genutzt werden (Dunham et al. 2000). Störungen im DNA-Mismatch-Reparatursystem, das auch eine Barriere gegenüber dieser Art von DNA-Rekombination darstellt, scheinen mit einer Aktivierung des ALT-Mechanismus verbunden zu sein und damit etwa erblichen Kolonkarzinomen vom HNPCC-Typ einen Wachstumsvorteil zu verschaffen (Rizki u. Lundblad 2001) – analog der Telomeraseaktivierung bei anderen Tumoren. ALT bedarf Komponenten des TRF2-Komplexes wie MRN, BLM und WRN zu seiner Funktion (Muntoni u. Reddel 2005). Die gesteigerte ALT-Rekombinationsaktivität kann ihrerseits zu spezifischen, komplexen Mutationsformen im Telomerbereich führen (Varley et al. 2002). Die klinische Relevanz des ALT-Mechanismus, etwa auch im Sinne einer Resistenzentwicklung gegenüber Telomeraseinhibitoren, bleibt abzuklären.
4.7
Das mitochondriale Genom
Neben dem nukleären Genom wird das sehr viel kleinere mitochondriale Genom häufig wenig beachtet. Beide weisen eine Reihe von grundsätzlichen Unterschieden auf (Chinnery u. Turnbull 2000; Wallace 1999). Je nach Gewebetyp enthalten Zellen einige hundert bis zehntausend von Mitochondrien mit jeweils 2–10 Kopien des mitochondrialen Genoms. Die mitochondriale DNA (mt-DNA) zeigt auch keine Helixstruktur, sondern besteht aus einem doppelsträngigen ringförmigen Molekül von etwa 16,5 kb Größe. Die 37 Gene des mitochondrialen Genoms kodieren, abgesehen von 22 mitochondrialen t-RNA und 2 r-RNA, für 13 Untereinheiten von Enzymen der Atmungskette, die wesentlich zur Energiegewinnung des Körpers dienen; pro Tag wird ca. 60 Kg ATP gebildet. Eine weitere Besonderheit liegt in der Vererbung mitochondrialer DNA nahezu ausschließlich über die Mutter. Die Mutationsrate der mt-DNA ist im Vergleich zur nukleären DNA mehr als 10-fach erhöht. Das liegt daran, dass die Mitochondrien nur über eine eingeschränkte Kapazität zur DNAReparatur verfügen, die mt-DNA nicht in ein Chromatingerüst aus Histonen verpackt ist und in der unmittelbaren Umgebung der oxidativen Phosphorylierung ständig Sauerstoffradikalen ausgesetzt ist (Bogenhagen 1999; Shadel u. Clayton 1997). Im Laufe des Lebens kommt es zur Akkumulation von Mutationen im mitochondrialen Genom als Ausdruck des normalen Alterungsprozesses (Michikawa et al. 1999). Eine Mutation der mtDNA kann in jedem mitochondrialen Genom aller Zellen eines Menschen oder nur in einem Teil der mt-DNA Moleküle vorkommen. Man unterscheidet hier zwischen Homoplasmie und Heteroplasmie. Bei der Heteroplasmie variiert häufig der Anteil mutierter mt-DNA erheblich zwischen verschiedenen Zellen eines Gewebes und insbesondere zwischen verschiedenen Geweben. Von Erbkrankheiten, die auf Mutationen im mitochondrialen Genom basieren, weiß man, dass eine Mutation zu mehr als 70–80% im mitochondrialen Genom eines betroffenen Gewebes repräsentiert sein muss, bevor es zur klinischen Manifestation kommt (Sciacco et al. 1994). Die Relevanz von Mutationen im mitochondrialen Genom für die Krebsentstehung ist noch nicht sicher abzuschätzen, da in vielen Studien die funktionelle Relevanz der jeweiligen Veränderungen nicht überprüft wurde (Coller et al. 2001; Nekhaeva et al. 2002). Die ersten Mutationen wurden bei Kolonkarzinomen
4
nachgewiesen; sie fanden sich nicht im jeweiligen normalen Kolongewebe der Patienten (Polyack et al. 1998). Zudem bestand im Tumorgewebe eine Homoplasmie für das mutierte Genom, was auf einen Replikationsvorteil dieser Mutanten hinweisen könnte. Inzwischen sind mt-DNA-Mutationen in einem großen Spektrum solider Tumoren und hämatopoetischer Neoplasien nachgewiesen worden (Brandon et al. 2006, Chatterjee et al. 2006). Eine überzeugende Dokumentation der pathogenetischen Relevanz fand sich bei Prostatakarzinomen mit Mutationen im Gen der Cytochromoxidase-Untereinheit 1 (COI). Zudem wurden COI-Keimbahnmutationen identifiziert; sie scheinen das Risiko für die Entwicklung eines Prostatakarzinoms zu erhöhen (Petros et al. 2005). In einem Mausmodell wurde kürzlich die funktionelle Relevanz von mt-Mutationen für die Tumorprogression nachgewiesen (Ishikawa et al. 2008). In jedem Fall könnten Mutationen der mt-DNA aber eine Verbesserung der diagnostischen Möglichkeiten erbringen. Angesichts der sehr hohen Kopienzahl mitochondrialer Genome im Vergleich zum nukleären Genom einer Zelle ist die Sensitivität eines homoplasmischen mitochondrialen Mutationsmarkers bis zu 200-fach höher als bei Vorliegen einer Mutation im nukleären Genom, sowohl im Tumorgewebe als auch in diagnostisch relevanten Körperflüssigkeiten (Urin, Speichel, bronchoalveoläre Lavage; Fliss et al. 2000). Ein für die klinische Onkologie interessanter Seitenaspekt ergibt sich daraus, dass eine Reihe von Chemotherapeutika, wie beispielsweise Doxorubicin, mt-DNA-Schäden setzen, die eine Teilkomponente des zytotoxischen Effektes erklären und im Falle von Anthrazyklinen auch zu Nebenwirkungen im Sinne der Kardiotoxizität dieses Medikamentes beitragen können (Ellis et al. 1987; Singh et al. 1999).
4.8
Epigenetische Fehlprogrammierung
Der genetische Informationsfluss in einer Zelle hängt nicht nur von der primären DNA-Sequenz des Genoms ab. Es muss auch gewährleistet sein, dass die Transkriptionsmaschinerie inklusive der RNA-Polymerase II Zugang zu den relevanten Genloci erhält. Spezifische Modifikationen der DNA-Sequenz und des umgebenden Chromatingerüstes definieren die Rahmenbedingungen für eine Aktivierung oder Blockade genetischer Programme. Diese Modifikationen erfolgen nach Gesetzmäßigkeiten, die in Abhängigkeit vom Entwicklungsstadium oder Gewebekontext konstant an nachfolgende Zellgenerationen weitergegeben werden. Man spricht von epigenetischen Prozessen, da sie nicht durch die primäre DNA-Sequenz vorgegeben werden, sondern quasi von außen eingreifen und prinzipiell reversibel sind. Störungen epigenetischer Regelkreise können genauso gravierende Konsequenzen zeigen wie Mutationen der Erbinformation selbst. Wegen ihrer grundlegenden Bedeutung für die Krebsentstehung und die Entwicklung neuer therapeutischer Strategien sollen nachfolgend die Prinzipien epigenetischer Regulation ausführlicher dargestellt werden.
4.8.1
DNA-Methylierung
Die wesentliche epigenetische Modifikation der DNA besteht in einer Methylierung bzw. Demethylierung von Cytosin, insbesondere im Kontext von CpG-Dinukleotiden. CpG-reiche Ab-
112
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
a
4
b
. Abb. 4.28a,b. Epigenetische Modifikation eines Genlocus. a CpG-Dinukleotide im Promotorbereich werden durch eine DNA-Methyltransferase (DNMT) markiert und durch Andocken von Faktor MeCP2 an die Methylgruppen (Me) für die Transkriptionsmaschinerie blockiert. Die Rekrutierung des Korepressorkomplexes (SIN3A) mit assoziierter Histondeacetylase-(HDAC-)Aktivität führt zur Chromatinkondensation. b Koaktiva-
torkomplexe wie P300/CBP lockern zusammen mit Chromatinmodulatoren vom Typ SW1/SNF die Assoziation von DNA und Chromatingerüst auf. Eine wichtige Komponente ist hierbei die Acetylierung (Ac) von Histonenden durch die assoziierte Histonacetyltransferase-(HAT-)Aktivität. Die Promotorregion wird Transkriptionsfaktoren (TF) und der RNA-Polymerase II (POLII) zugänglich
schnitte, die sog. CpG-Inseln finden sich in der Promotorregion von etwa 50% der Gene (. Abb. 4.28). Die De-novo-Methylierungen von DNA-Sequenzen katalysieren die Methyltransferasen DNMT3A und DNMT3B, die neben gemeinsamen Funktionen auch Spezifika hinsichtlich des Gewebekontextes und der DNA-Zielstruktur aufweisen (Reik et al. 1999). DNMT3B etwa methyliert präferenziell repetitive Sequenzen im Centromerbereich von Chromosomen. Für die Aufrechterhaltung des Methylierungsstatus bei jeder Zellteilung sorgt die Methyltransferase DNMT1, die die neusynthetisierten Töchterstränge jeweils analog zu den Elternsträngen modifiziert. Anderenfalls käme es zu einer passiven Demethylierung der neu replizierten DNA. Auf die Methylierungsreaktion folgt eine Assoziation von MethylCpG-Bindungsproteinen – Prototyp ist der Faktor MeCP2 – und damit eine Maskierung der cis-agierenden Erkennungssequenzen für Transkriptionsfaktoren. Der Zugang der Transkriptionsmaschinerie ist dadurch blockiert (Bird u. Wolff 1999). DNA-Methylierungen spielen eine wichtige Rolle bei der Regulation der zelltypspezifischen Genexpression (Futscher et al. 2002).
aus jeweils 2 Molekülen der Histone H2A, H2B, H3 und H4 bildet den zentralen Histonkomplex, um den sich in 1,75-facher Windung 146 bp DNA wickeln (. Abb. 4.29). Diese kleinsten Chromatineinheiten werden als Nukleosome bezeichnet. Ihnen ist jeweils ein Histon H1 zugeordnet, das an der Verdrillung von Nukleosomen zu höheren Organisationsstrukturen des Chromatins mitwirkt. Histone werden bevorzugt am freien N-Terminus, der aus dem Nukleosomenkomplex herausragt, modifiziert. Besonders gut untersucht ist die Histonacetylierung, die zur Auflockerung der Chromatinstruktur führt, hierdurch der Transkriptionsmaschinerie den Zugang zur DNA erleichtert und zur Genaktivierung beiträgt (. Abb. 4.28b). Dieser Prozess wird durch Histonacetyltransferasen (HAT) katalysiert und durch Histondeacetylasen (HDAC) gegenreguliert. Das Repertoire von Histonmodifikationen umfasst neben der Acetylierung von Lysin, die Methylierung von Lysin und Arginin, Phosphorylierung von Serin und Threonin, Ubiquitinierung von Lysin, Sumolierung von Lysin und ADP-Ribosylierung von Glutamat. Hieran wirken eine Reihe hochspezifischer Enzyme mit. Die Modifikationen im Histongerüst sind sehr genau aufeinander abgestimmt und mit der DNA-Modifikation verknüpft. Man spricht geradezu von einem Histon-Code, der den genetischen Informationsfluss steuert, vergleichbar mit dem genetischen Code der DNA (Margueron et al. 2005). Auch Analogien zur Modifikation von Signalmediatoren wie den Rezeptortyrosinkinasen sind evident. Ob z. B. eine Methylierung zur Aktivierung oder Repression der Transkription führt, hängt vom Histon (H3 versus H4), dem
4.8.2
Modifikationen von Histonen
Eine weitere Zielstruktur epigenetischer Modifikationen sind Histone, die den Hauptproteinbestandteil des als Chromatin bezeichneten Komplexes aus DNA und Proteinen eines Chromosoms ausmachen. Histone sind wegen ihres Gehalts an basischen Aminosäuren wie Arginin und Lysin positiv geladen und besitzen eine hohe Affinität zur negativ geladenen DNA. Ein Oktamer
113
4.8 · Epigenetische Fehlprogrammierung
. Abb. 4.29. Aufbau eines Nukleosoms aus Histonkomplex und DNA. Die aminoterminalen Enden (N) der Histonuntereinheiten interagieren, abhängig vom Modifikationsstatus, mit der DNA
spezifischen Lysinakzeptor (H3Lysin4 versus H3Lysin9) und weiteren Faktoren wie der Lagebeziehung des jeweiligen Histons zu kodierenden oder nichtkodierenden Abschnitten eines Gens ab. Beispielsweise methyliert die positionsspezifische H3-Methyltransferase SUV39H die Aminosäure Lysin auf Position 9 (. Abb. 4.30). Methylierte Histone sind, ähnlich wie methylierte Cp6-Dinukleotide, die Zielstruktur von Faktoren, die zur weiteren Chromosomenkondensation beitragen; im Fall des methylierten H3Lysin9 handelt es sich um HP1. Umgekehrt führt eine AURORA-B-katalysierte Phosphorylierung des benachbarten Serin 10 zu einer Dissoziation des Faktors HP1 vom methylierten Lysin 9. In der weiteren Folge induziert die Serin-10-Phosphorylierung eine Acetylierung anderer Lysine von Histon 3 und ermöglicht damit eine Auflockerung der Chromatinstruktur zur Vorbereitung von Gentranskriptionen. Wird Serin 10 wiederum dephosphoryliert, kann HP1 wieder an Lysin 9 binden. Es handelt sich also um einen Regelkreis von zwei benachbarten Histonmodifikationen durch eine stabile Methylierung und eine dynamische Phosphorylierung (Fische et al. 2005). Alternativ hierzu kann Lysin 9 auch durch die Histon-Demethylase GASC1 die . Abb. 4.30. Der Histon-Code – hier dargestellt am aminoterminalen Ende (N) von Histon H3 – entspricht spezifischen Aminosäuremodifikationen, die entweder zur Aktivierung genetischer Programme des assoziierten DNA-Abschnittes oder einer Chromatinkondensation beitragen. Details werden im Text erklärt. Me, P, Ac bezeichnen Methyl-, Phosphat- und Acetylgruppen
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Methylgruppe verlieren und steht dann für Serin-10-vermittelte Acetylierung zur Verfügung (Cloos et al. 2006). Wie schon erwähnt führt nicht jede Histonmethylierung zu einer Transkriptionsrepression. Die Methylierung von Arginin an Position 3 des N-terminalen Endes von H4 stimuliert beispielsweise die Acetylierung von H4-Lysin an den Positionen 8 und 12 und eine nachfolgende Transkription. Das Muster der Histonmodifikationen sowie die Interaktionen modifizierter Histonuntereinheiten kann je nach Genlocus variieren und ein sehr unterschiedliches Spektrum biologischer Konsequenzen nach sich ziehen (Magueron et al. 2005). DNA-Methylierung und Histondeacetylierung wirken demnach synergistisch. Beide epigenetische Prozesse sind unmittelbar miteinander verknüpft (Robertson 2002). So rekrutiert der Komplex aus methylierten CpG-Dinukleotiden und MeCP2 einen Korepressorkomplex wie SIN3A sowie eine Histondeacetylase, die eine Chromatinkondensation bewirken (. Abb. 4.28a). Ebenso können methylierte Histoneinheiten DNA-Methyltransferasen assoziieren und eine DNA-Methylierung initiieren (Bird 2001). Um einen Genlocus transkriptionskompetent zu machen, müssen zunächst histonmodifizierende Enzyme wie Acetyltransferasen vom Typ P300/CBP, die auch als Koaktivatoren der Transkription bezeichnet werden, zusammen mit weiteren Chromatinmodulatoren, wie etwa dem SWI/SNF-Komplex, die enge Assoziation von DNA und Chromatinstruktur auflösen und anschließend Transkriptionsfaktoren sowie die RNA-Polymerase II für die Transkription rekrutieren (. Abb. 4.28b; Kadonaga 1998). 4.8.3
Verankerung von Umwelteinflüssen im Genom
Umwelteinflüsse wie Nahrungsbestandteile, verschiedene Noxen, Chemikalien, Strahlen, ja sogar das soziale Verhalten können zu epigenetischen Modifikationen führen, während der Zellteilungen von betroffenen somatischen Zellen weitervererbt werden und damit zu Langzeiteffekten im genetischen Programm beitragen (Jirtle u. Skinner 2007). Dies kann man gut bei eineiigen Zwillingen beobachten, deren Epigenom und Expressionsprofil sich bei Geburt noch gleichen. Im weiteren Verlauf des Lebens kommt es jedoch zu deutlichen Differenzierungen im DNAMethylierungs- und Histon-Acetylierungsmuster mit entsprechenden Verschiebungen der Genexpressionsprofile. Man spricht von epigenetischer Drift. Diese Unterschiede sind umso ausgeprägter, je mehr sich die Lebensumstände beider Zwillinge unterscheiden (Fraga et al. 2005).
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4
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
Generell führen epigenetische Einflüsse zu individuell sehr unterschiedlicher Ausnutzung des genetischen Programms. So können aktive Gene auf den Autosomen im Regelfall von beiden Allelen exprimiert werden, allerdings auch nur von der väterlichen oder der mütterlichen Kopie. Eine solche monoallele Genexpression und damit verbundenen Verschiebungen der Transkriptmenge findet sich bei etwa 1.000 Genen, d. h. etwa 5% aller Gene, mit individuellen Unterschieden in der Art und Anzahl der betroffenen Gene (Gimelbrant et al. 2007). Epigenetische Modifikationen wie die DNA Methylierung scheinen sehr viel dynamischere Prozesse zu sein als zunächst angenommen. So können zyklische Schwankungen im Methylierungsmuster von Bedeutung für die physiologische Regulation der Genexpression sein (Kangaspeska et al. 2008). Dies begründet eine epigenetische Basis für funktionelle Unterschiede im genetischen Informationsfluss zwischen Menschen. Unerwartet gibt es Hinweise darauf, dass auch Verhaltensweisen das genetische Programm beeinflussen können. Ein gut belegtes Beispiel ist das Aufzuchtverhalten in einem Mausmodell. Nachwuchs von Müttern, die sich sehr intensiv um die Nachkommen bemühen, zeigte später im Leben deutlich weniger Furchtsamkeit als vernachlässigter Nachwuchs. Es konnte gezeigt werden, dass diese Verhaltensunterschiede der Nachkommen auf epigenetischen Modifikationen im Gen für den hirnspezifischen Glukokortikoidrezeptor (GR) beruhten, verbunden mit Veränderungen im hormonellen Rückkopplungssystem zwischen Hypothalamus, Hypophyse und Nebenniere (Jirtle u. Skinner 2007). Darüber hinaus gibt es Befunde, die darauf hinweisen, dass erworbene epigenetische Modifikationen sogar auf nachfolgende Generationen weiter vererbt werden können (Jirtle u. Skinner 2007). Ein Beispiel für epigenetische Vererbung betrifft sehr seltene Fälle von hereditären Kolonkarzinomen (7 Abschn. 4.8.9). Obwohl die Erkenntnisse von Darwin das heutige Weltbild der Genetik aus guten Gründen prägen, könnte damit Lamark, zumindest partiell, doch noch zur Geltung kommen.
4.8.4
Angeborene Störungen
Eine Reihe von Krankheitsbildern lässt sich auf Störungen in Einzelkomponenten dieses Systems zurückführen (Hendrick u. Bickmore 2001). Mutationen im Gen der DNA-Methyltransferase DNMT3B sind Ursache für das ICF-Syndrom (Hansen et al. 1999). In den Lymphozyten von ICF-Patienten zeigen sich charakteristische Chromosomenfusionen im Centromerbereich infolge einer Hypomethylierung und Chromatindekondensation. Klinisch resultiert eine Störung im Immunsystem begleitet von faszialen Dysmorphien. Mutationen im Gen für den Faktor MeCP2 führen zu Fehlern bei der normalen Repression genetischer Programme im ZNS, die sich klinisch im Rett-Syndrom, einer schweren, progressiven Entwicklungsstörung manifestieren (Bienvenu u. Chelly 2006). Beispiele für eine gestörte Chromatinaktivierung sind das Rubinstein-Taybi-Syndrom mit Mutationen im Koaktivator CBP (Petrij et al. 1995) und das Coffin-LowrySyndrom mit Mutationen im Gen für die Serin-/Threoninkinase RSK-2, die an der Phosphorylierung von Histon-H3-Serin Position 10 beteiligt ist (Sassone-Corsi et al. 1999).
4.8.5
X-Chromosom-Inaktivierung
Während die oben beschriebenen epigenetischen Modifikationen im Rahmen normaler Entwicklungsprozesse von Zellen fluktuieren können, gibt es auch zwei epigenetische Regulationsprinzipien, bei denen epigenetische Modifikationen über die Generationsfolge von Zellen bzw. Geweben in einem Menschen stabil bleiben: die X-Inaktivierung und das Imprinting. Die XChromosom-Inaktivierung stellt eine chromosomenspezifische Variante epigenetischer Regulation dar. Dieser Prozess dient der Dosiskompensation von Genen auf dem X- gegenüber dem YChromosom (Avner u. Heard 2001). Während der frühen Embryonalentwicklung wird in jeder Embryonalzelle jeweils ein XChromosom inaktiviert, dabei handelt es sich entweder um das X-Chromosom mütterlicher oder väterlicher Herkunft. Dieser erste Schritt folgt dem Zufallprinzip; das jeweilige Inaktivierungsmuster bleibt dann aber in allen Tocherzellen stabil. Etwa 15% der Gene auf dem X-Chromosom, teilweise mit identischen Sequenzen auf dem Y-Chromosom (den terminalen pseudoautosomalen Regionen), unterliegen nicht der Inaktivierung. Das Inaktivierungszentrum auf dem langen Arm des X-Chromosoms umfasst das XIST-Gen, dessen Transkript nicht in ein Protein translatiert wird, sondern selbst als Regulator fungiert. In jeder Körperzelle, ob weiblich oder männlich, ist nur eine Kopie des XIST-Gens an der Expression gehindert – und zwar auf dem aktiven X-Chromosom. Jedes weitere X-Chromosom exprimiert XIST und wird inaktiviert. Jede Körperzelle verfügt deshalb nur über ein aktives X-Chromosom. Ausgehend vom X-Inaktivierungszentrum überzieht die XIST-RNA quasi das X-Chromsom und induziert eine epigenetische Modifikation der Chromatinstruktur. Ein sehr früher Schritt ist hierbei die Methylierung von Histon H3 an Lysin in Position 9 (Heard et al. 2001). Die nachfolgende Kaskade von Prozessen schließt eine DNMT1- und DNMT3-vermittelte DNAMethylierung ebenso ein wie die Deacetylierung des Histonkomplexes, sodass schließlich eine Chromosomenkondensation und Fixierung der betroffenen Genloci in einem inaktiven Zustand resultieren.
4.8.6
Imprinting
Eine weitere Sonderform epigenetischer Modifikation repräsentiert die genomische Prägung (Imprinting; Reik u. Walter 2001). Der Aktivitätszustand einiger Gene hängt wesentlich von ihrer elterlichen Herkunft ab; manche werden nur exprimiert, wenn sie von der Mutter, andere Gene nur, wenn sie vom Vater ererbt wurden. Die Kopie des jeweils anderen Elternteils wurde durch die oben ausführlich beschriebenen Prozesse der Modifikation von DNA und Histonkomplex »geprägt«, d. h. inaktiviert. Es kommt also auf die adäquate Mischung elterlicher Erbinformation an. Bereits Anfang der 80er Jahre konnte mit Kerntransferexperimenten bei Mäusen gezeigt werden, dass Embryonen, die über einen doppelten väterlichen Chromosomensatz (aber keinen mütterlichen Anteil) verfügen, ebenso wenig entwicklungsfähig sind wie Embryonen mit einem doppelten mütterlichen Chromosomensatz (McGrath u. Solter 1984). Ein rein von der Mutter abstammender Chromosomensatz führt zur fehlenden Ausbildung der Eihäute, ein rein vom Vater abstammender Chromosomensatz zur fehlenden Entwicklung des Embryos. In Analogie zu diesen Tierexperimenten wurde beim Menschen die Entwick-
115 4.8 · Epigenetische Fehlprogrammierung
4
. Abb. 4.31. Epigenetische Regulation der PWS/AS-Region auf Chromosom 15. Ein Imprinting-Zentrum (IZ) aktiviert auf dem paternalen Allel den PWS-Locus und inaktiviert die AS-Region inklusive UBE3A-Gen. Ein
umgekehrtes Expressionsmuster findet sich auf dem maternalen Allel. Dieses Gebiet enthält mehrere Gene, die dem Imprinting unterliegen
lung einer Blasenmole mit pathologischer Plazenta- und Amnionentwicklung ohne Embryo beobachtet, wenn die mütterliche Prägung der Eizelle global ausfällt (Judson et al. 2002). Aber auch Störungen im normalen Imprinting-Muster einzelner Gene können zu einem schweren Krankheitsbild führen (Falls et al. 1999). Prototypen hierfür sind das Prader-Willi-Syndrom (PWS) und das Angelman-Syndrom (AS), zwei klinisch sehr verschiedene, komplexe Krankheitsbilder mit schweren Störungen der psychomotorischen Entwicklung, Verhaltensauffälligkeiten sowie einer Reihe neurologischer und endokriner Symptome (Cassidy et al. 2000). Beide Syndrome basieren auf Mutationen in einem Bereich von 2 Mb auf dem langen Arm von Chromosom 15. Normalerweise wird die beim PWS betroffene, noch nicht exakt definierte Erbinformation (wahrscheinlich eine Familie von snoRNA) nur vom väterlichen Allel und das beim AS betroffene Gen UBE3A nur vom mütterlichen Allel exprimiert. Ein Imprinting-Zentrum kontrolliert den Transkriptionsstatus beider Loci (. Abb. 4.31). Grundsätzlich können verschiedene Mechanismen das Imprinting-Muster stören. Am häufigsten sind hierfür chromosomale Deletionen verantwortlich; sie betreffen beim PWS das väterliche, beim AS das mütterliche Chromosom 15. Bei anderen Patienten zeigt sich, dass beide Chromosomen 15 entweder von der Mutter (PWS) oder vom Vater (AS) stammen. Solche Fehlverteilungen können etwa in der frühen Embryonalentwicklung auftreten, wenn eine chromosomale Trisomie, die nicht mit dem Leben vereinbar wäre, durch Verlust eines Chromosoms zur Disomie korrigiert wird. Diese Konstellation bezeichnet man als uniparentale Disomie (UPD). Außerdem kann eine Störung das Imprinting-Zentrum selbst betreffen. Schließlich führen Mutationen im UBE3A-Gen zu dessen Funktionsverlust und zur Entwicklung eines Angelman-Syndroms. Interessanterweise unterliegt das UBE3A-Gen einem gewebespezifischen Imprinting. Eine ausschließlich vom maternalen Allel erfolgende Expression findet sich in bestimmten Hirnarealen. Über 40 Gene, die einem Imprinting unterliegen, wurden bisher identifiziert; insgesamt mögen es in unserem Genom etwa 100–200 sein (Reik u. Walter 2001). Meist sind sie regional auf verschiedenen Chromosomen zusammengefasst und werden – wie oben für Chromosom 15 illustriert – von einem ImprintingZentrum aus reguliert. Anders als die X-Inaktivierung während
der frühen Embryonalentwicklung erfolgt das Imprinting während der Keimzellentwicklung. Zu Beginn der Oogenese der Frau sind die Allele der jeweiligen Imprinting-Region, wie in allen anderen Geweben auch, von Vater und Mutter, d. h. männlich bzw. weiblich geprägt. Am Ende der Eizellentwicklung müssen aber beide Allele die weibliche Prägung tragen. Umgekehrt stellt sich das Problem in der Keimzellentwicklung des Mannes dar. Das ursprüngliche Imprinting-Muster muss also während der Gametogenese zunächst aufgehoben werden, danach erfolgt die neue, geschlechtsspezifische Prägung beider Allele der Keimzellen. In somatischen Geweben wird der Imprinting-Status prinzipiell beibehalten. Er kann aber abhängig vom Entwicklungsstadium oder der Gewebeart Modulationen unterliegen; das UBE3AGen wurde schon als Beispiel genannt.
4.8.7
Epigenetische Ursachen der Tumorentstehung
Störungen der komplexen Regelkreise epigenetischer Modifikationen gehören zu den häufigsten molekularen Veränderungen bei Tumoren (Esteller 2007; Jones u. Baylin 2007). Sie können sehr früh im Rahmen der Tumorigenese auftreten und Schrittmacherfunktion einnehmen; Beispiele sind die CpG-Hypermethylierung von P16 und P14 in Kolonadenomen oder eine aberrante MLH1-Methylierung in atypischen Endometriumhyperplasien bei HNPCC (Esteller 2007). Zu den epigenetischen Aberrationen gehören globale Veränderungen wie eine Hypomethylierung von DNA oder Hypoacetylierung von Histonen sowie genspezifische epigenetische Aberrationen. Eine globale DNA Hypomethylierung ist mit einer chromosomalen Instabilität verbunden, wie es z. B. beim Kolonkarzinom gezeigt wurde (Matsuzaki et al. 2005). Eine spezifische, sehr häufige globale Histonmodifikation in verschiedenen Tumoren ist eine Lysin-16-Deacetylierung verbunden mit einer Lysin-20-Methylierung von Histon 4 (Fraga et al. 2005). Globale Histonmodifikationen können von prognostischer Aussagekraft sein, so beim Prostatakarzinom (Seligson et al. 2005). Neben globalen und genspezifischen Veränderungen können auch große Abschnitte auf einem Chromosom gleichsinnig von derartigen Störungen betroffen sein. Ein Beispiel hierfür ist eine häufige Lysin-9-Methylierung von Histon 3 über 4 Mb auf Chromosom 2
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Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
bei Kolonkarzinomen (Frigola et al. 2006). Erste Faktoren wurden identifiziert, welche die globale epigenetische Modifikation in Tumoren steuern, wie SATB1, dessen aberrante Expression mit der Progression von Brustkrebs assoziiert ist (Han et al. 2008). Hinweise auf eine Onkogenaktivierung durch DNA-Hypomethylierung sind spärlich (Ehrlich 2002). Ein Beispiel ist die fehlerhafte Expression von BCL2 bei Patienten mit B-CLL (Hanada et al. 1993). Hingegen gibt es eine sehr große Liste von Tumorsuppressorgenen, die in den verschiedensten Tumorarten durch DNA-Hypermethylierungen inaktiviert werden. Mann kann sogar genomweite Profile von CpG-Hypermethylierungen erstellen, vergleichbar den Genexpressionsprofilen, deren Muster zwischen Tumorarten variiert (Esteller 2007). Ein besonders wichtiges Beispiel für epigenetische Fehlregulation repräsentiert P16, das die Cyclin-D-vermittelte Aktivierung der Proteinkinasen CDK4/6 blockiert und damit RB ermöglicht, den Zellzyklus im Übergang von der G1- in die S-Phase zu arretieren. Die meisten Tumoren des Menschen zeigen eine Störung dieses Signalweges – entweder durch Funktionsverlust von P16 oder aber RB (Baylin et al. 1998; Sherr 1996). Ein Funktionsverlust von P16 kann auf unterschiedlichen Mechanismen basieren: einer Gendeletion bzw. -mutation oder aber einer Hypermethylierung der Promotorregion (Liggett u. Sidransky 1998); deren Häufigkeit variiert zwischen den Tumorformen. Bei Kolonkarzinomen stellt die Hypermethylierung den wesentlichen Inaktivierungsmodus von P16 dar (Herman et al. 1995). Die aberrante P16-Methylierung kann, wie für das Kolonkarzinom schon erwähnt, bereits früh in der Tumorentwicklung beobachtet werden, ist prinzipiell aber nicht an ein bestimmtes Stadium geknüpft. Eine Promotorhypermethylierung des Gens für das Zelladhäsionsmolekül E-Cadherin findet sich in einer Reihe von epithelialen Tumorformen und resultiert im Funktionsverlust dieses wichtigen Inhibitors der Zellinvasion (Conacci-Sorrell et al. 2002; Yoshiura et al. 1995). Während die Methylierung von P16 und E-CAD in unterschiedlichen Malignomen nachweisbar ist, ergibt sich bei anderen Genen ein stärker begrenztes Spektrum. Keimbahnmutationen im DNA-Reparaturgen MLH1 disponieren für einen bestimmten Typ familiärer Kolonkarzinome (HNPCC) mit assoziierter Mikrosatelliteninstabilität (MIN; 7 Abschn. 4.5.4). Allerdings zeigen auch etwa 10–15% der Patienten mit einem sporadischen Kolon-, Magen- oder Endometriumkarzinom einen MIN-Phänotyp, ohne dass eine Mutation im MLH1-Gen vorliegt. In 70–80% dieser Fälle blockiert eine aberrante Promotormethylierung die Expression von MLH1 (Cunningham et al. 1998; Esteller et al. 1999; Herman et al. 1998; Leung et al. 1999; Toyota et al. 1999). Eine vergleichbare Situation zeichnet sich für Mamma- und Ovarialkarzinome ab. Deren familiäre Form ist vielfach durch Keimbahnmutationen im BRCA1- und BRCA2Gen charakterisiert. In sporadischen Tumoren findet sich hingegen keine Mutation dieser Gene, wohl aber eine Methylierung des BRCA1-Promotors in etwa 10–15% der Fälle (Esteller et al. 2000). Genexpressionsprofile haben gezeigt, dass sich diese Tumore nicht von solchen mit BRCA1-Keimbahnmutation unterscheiden, wohl aber von anderen Formen von Mammakarzinom (Van’t Veer et al. 2002). Eine Hypermethylierung des VHL-Gens wurde ausschließlich in klarzelligen Nierenkarzinomen nachgewiesen (Herman et al. 1994). Auch eine Inaktivierung von Effektoren apoptotischer Prozesse kann auf einer aberranten Promotorhypermethylierung basieren. Ein Beispiel hierfür ist der Verlust von APAF1-Funktion
in therapieresistenten Melanomen (Soengas et al. 2001). Als weiteres Beispiel für eine prognostische Relevanz der aberranten Methylierung von Tumorsuppressorgenen sei die akute lymphatische Leukämie genannt – je mehr Gene von einer Methylierung betroffen sind, desto schlechter ist die Prognose (Roman-Gomez et al. 2004). Auch die epigenetische Fehlregulation von Micro-RNA-Genen kann zur Tumorentstehung beitragen. Ein Beispiel ist die Hypermethylierung von MiR-124a in verschiedenen Neoplasien mit damit verbundener Aktivierung von CDK6 und Repression von RB (Lujambio et al. 2007). Auch Komponenten epigenetischer Regulation können Störungen aufweisen, die zur malignen Transformation beitragen. So werden Mutationen im SNF5/INI1-Gen, das ein Mitglied des für die Chromatinremodellierung wichtigen SWI/SNF-Komplexes kodiert, bei einer besonders aggressiven Gruppe pädiatrischer Malignome gefunden; ihr Prototyp sind die malignen rhabdoiden Tumoren (Sévenet et al. 1999; Versteege et al. 1998). Mutationen des Koaktivators P300 mit Ausfall der assoziierten Histonacetyltransferasefunktion finden sich in verschiedenen epithelialen Tumoren (Gayther et al. 2000) und größere strukturelle Läsionen dieses Faktors infolge chromosomaler Translokationen bei hämatologischen Neoplasien (Rowley et al. 1997; Jacobson u. Pillus 1999). Die Demethylase GASC1 von Histon-3Lysin-9 findet sich in Tumoren z. B. durch Amplifikation überexprimiert und wirkt dann quasi als Onkogen (Cloos et al. 2006). Ein besonders instruktives Beispiel bietet die akute Promyelozytenleukämie (APL). Sie ist durch chromosomale Translokationen gekennzeichnet, in deren Folge der Retinsäurerezeptor α (RARα) mit einem Transkriptionsfaktor fusioniert (Melnick u. Licht 1999). Ihr Prototyp ist die PML-RARα-Fusion bei t(15;17), sehr viel seltener führt die t(11;17) zur PLZF-RARα-Rekombination. Retinsäurerezeptoren interagieren mit einem Transkriptionsrepressorkomplex, der auch über eine Histondeacetylaseaktivität verfügt. Normalerweise induziert der physiologische Ligand Retinsäure (RA) eine Dissoziation des Korepressorkomplexes und eine nachfolgende Aktivierung genetischer Programme. Bei APL-Patienten mit t(15;17) verbleibt das chimäre PLM-RARαProtein jedoch in seiner Bindung am Korepressorkomplex und parallel hierzu erfolgt eine Rekrutierung von DNA-Methyltransferasen, die Promotorbereiche der von RAR regulierten Gene methylieren (Di Croce et al. 2002; Gignani et al. 1998). Erst therapeutische Dosen von All-trans-Retinsäure (ATRA) erlauben eine Entkopplung des Korepressors vom PML-RARα-Fusionsprotein. Da der Transkriptionsfaktor PLZF, anders als PML, auch noch über eine eigene Bindungsstelle für den Korepressorkomplex verfügt, sind Patienten mit t(11;17) ATRA-resistent. Hier eröffnet eine ganz andere Therapieform eine vielversprechende Alternative. Erste Daten von Modellsystemen und klinischen Versuchen belegen die Behandlungserfolge von Histondeacetylaseinhibitoren wie Trichostatin A (TSA) (He et al. 2001; Richon u. O’Brien 2002). Die APL fungiert in der Onkologie somit als Modell dafür, dass Pharmaka zur Modulation epigenetischer Fehlprogrammierungen höchst effektiv das Repertoire konventioneller Behandlungsformen ergänzen können (Redner et al. 1999). Allerdings können durch Mutationen in Histondeacetylasen auch Resistenzen gegen diese Therapieform auftreten (Ropers et al. 2006). Auch die Reaktivierung von hypermethylierten Tumorsuppressorgenen über die Inhibierung von DNA-Methyltransferasen zielt in diese Richtung. Als Beispiel sei 5’-Aza-2’
117 4.8 · Epigenetische Fehlprogrammierung
Deoxycytidin (AZA) genannt, dessen Nebenwirkungen allerdings den klinischen Einsatz limitieren (Jüttermann et al. 1994); es bleibt zu prüfen, ob TSA/AZA-Kombinationen bzw. die Entwicklung analoger Präparate zur Verbesserung der Verträglichkeit beitragen. Histondeacetylaseinhibitoren können auch in Kombination mit Chemotherapie eingesetzt werden. Hierbei geht es darum, den durch Chemotherapeutika induzierten epigenetischen Fehlregulationen, welche zur Resistenzentwicklung führen können, entgegenzuwirken (Smith et al. 2007). Manchmal ist eine epigenetische Modifikation von Genen in Tumoren auch von Vorteil. Glioblastompatienten mit methylierter Promotorregion des MGMT-Gens, das ein DNA-Reparaturprotein kodiert, zeigen ein besseres Ansprechen und Überleben nach adjuvanter Therapie mit dem Alkylanz Temozolomid (Hegi et al. 2005).
4.8.8
Imprinting-Defekte bei Krebserkrankungen
Auch Störungen des genomischen Imprintings spielen bei der Tumorentstehung eine Rolle (Feinberg 2001; Plass u. Soloway 2002; Tycko 2000). Ein Beispiel, das verschiedene Aspekte dieses Pathomechanismus berührt, betrifft den kurzen Arm von Chromosom 11 (11p15.5). Diese Region ist für die Entstehung des Beckwith-Wiedemann-Syndroms (BWS) und die mit diesem Krankheitsbild assoziierte Tumordisposition von großer Bedeutung (Feinberg 2000; Maher und Reik 2000; Steenman et al. 2000). In diesem chromosomalen Bereich von etwa 1 Mb liegen im Abstand von 500 kb zwei Cluster von Genen, die dem Imprinting unterliegen (. Abb. 4.32); ob beide Subregionen der Kontrolle durch ein übergeordnetes Imprinting-Zentrum unterstehen, ist
noch nicht bekannt. Die centromerwärts gelegene Domäne enthält zwei Gene, P57KIP2 und KVLQT1, wobei vom AntisenseStrang des letztgenannten Genlocus LIT2 transkripiert wird. Die wesentlichen Mitglieder des zweiten Genclusters sind die Gene für den Wachstumsfaktors IGF2 und ein nichttranslatiertes Transkript mit Tumorsuppressorfunktion (Yoshimizu et al. 2008), H19. P57 und LIT1 sowie IGF2 und H19 sind jeweils entgegengesetzt geprägt: P57 und H19 werden vom maternalen, LIT1 und IGF2 vom paternalen Allel exprimiert. Details der epigenetischen Regulation dieser Region von Chromosom 11 sollen für die telomerwärts gelegene Gengruppe erläutert werden (. Abb. 4.33). Die Expression von IGF2 und H19 wird von einem 3’-gelegenen Enhancer (DNA-Bindungsstellen für Regulatorproteine, die über eine weite Distanz die Transkription mehrerer Gene beeinflussen) verstärkt. Auf dem maternalen Allel bindet CTCF (»CCCTC-binding factor«) an eine als Imprinting-Kontrollregion (ICR) bezeichnete CpG-reiche DNASequenz in Nähe des H19-Promotors (Hark et al. 2000). Hierdurch wird ein Hindernis zwischen dem Enhancer und der Promotorregion von IGF2 aufgebaut, sodass ausschließlich H19 exprimiert wird. Eine Methylierung der ICR sowie des benachbarten H19-Promotors bedingt nicht nur eine Inaktivierung von H19, sondern verhindert gleichzeitig die Bindung von CTCF. Jetzt kann der Enhancer mit dem IGF2-Promotor interagieren. Zu einer Störung dieses epigenetischen Regelkreises kommt es beim Beckwith-Wiedemann-Syndrom (BWS), das neben einer Makrosomie und verschiedenen Dysmorphien auch durch eine Disposition für embryonale Tumoren des Kindesalters charakterisiert ist. Insbesondere kommt es zur Entwicklung von Wilms-Tumoren. Bei BWS-Patienten finden sich ganz unter-
. Abb. 4.32. Die beiden Imprinting-Domänen auf Chromosom 11. Pfeile markieren die Richtung der Transkription
. Abb. 4.33. Selektive Genaktivierung durch Blockade einer Imprinting-Kontrollregion (ICR). Die Expression von IGF2 und H19 wird durch einen gemeinsamen Enhancer (E) gewährleistet. Auf dem mütterlichen Allel bindet der Faktor CTFC an die IRC. Hierdurch wird die Wechselwirkung zwischen Enhancer und Promotor des IGF2-Gens blockiert und ausschließlich H19 exprimiert. Die Methylierung der ICR und des benachbarten H19-Promotors inhibiert die Bindung von CTCF und inaktiviert H19. Der Enhancer kann jetzt die IGF2-Transkription stimulieren
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Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
schiedliche genetische und epigenetische Läsionen. Hierzu gehören ein Verlust des normalen Imprinting-Musters (»loss of imprinting«, LOI) oder Deletion von LIT1 in 40% der Fälle, ein LOI des IGF2-Locus bzw. eine Fehlmethylierung der ICR 5’ von H19 bei 30% der Patienten, eine uniparentale Disomie (UPD) des väterlichen Allels in 10% der Fälle, eine Deletion der ImprintingKontrollregion (ICR) sowie eine Mutation des P57-Gens bei wenigen Patienten. Von klinischer Bedeutung ist, dass sich das Risiko für Wilms-Tumoren auf solche BWS-Patienten konzentriert, die einen Defekt in der epigenetischen Regulation des IGF2/H19Locus aufweisen – verbunden mit einer vermehrten Expression des Wachstumsfaktors IGF2, während Störungen der LIT1-Expression insbesondere mit Bauchwanddefekten und Makrosomie assoziiert sind. Diese Daten sind die ersten Hinweise auf eine Epigenotyp-Phänotyp-Korrelation (DeBraun et al. 2002). Auch unabhängig vom BWS-Kontext zeigt ein Teil der Patienten mit Wilms-Tumoren eine Störung im Imprinting-Muster des IGF2/H19-Locus (Steenman et al. 1994; Scott et al. 2008). Ein größerer Teil der sporadischen, isolierten Wilms-Tumoren ist jedoch durch andere genetische Läsionen charakterisiert, etwa Mutationen im WT1-Gen (Steenman et al. 2000). Andererseits konnte eine aberrante, zusätzliche IGF2Expression vom (eigentlich stummen) maternalen Allel in Folge eines LOI auch bei einer Reihe weiterer Tumoren nachgewiesen werden (Plass u. Soloway 2002). Ein besonders interessanter Befund ist in diesem Zusammenhang der Verlust des Imprintings von IGF2 auf dem maternalen Allel durch Hypermethylierung der ICR bei Patienten mit sporadischem Kolonkarzinom und Mikrosatelliteninstabilität; diese Fälle sind auch durch eine Hypermethylierung von MLH1 und P16 gekennzeichnet (Cui et al. 1998; Nakagawa et al. 2001). Beachtenswert ist an diesen Befunden insbesondere, dass der Verlust des Imprinting-Musters (LOI) auch im umgebenden normalen Mukosagewebe einiger Patienten nachweisbar war, was auf eine frühe pathogenetische Bedeutung dieser epigenetischen Fehlregulation hinweisen könnte. Hinweise auf Störungen im Imprinting ergeben sich auch aus chromosomalen Deletionen. Bei Neuroblastomen findet sich beispielsweise ein präferenzieller Verlust der maternalen Kopie von Chromosom 1p36; in dieser Region liegt das Tumorsuppressorgen P73, das nur vom mütterlichen Allel exprimiert wird (Kaghad et al. 1997). Ein kausaler Zusammenhang zwischen beiden Befunden und der Neuroblastomentwicklung konnte aber noch nicht erbracht werden. Auch die Relevanz von Imprinting-Defekten anderer Gene in verschiedenen Tumorentitäten bedarf noch einer weiteren Abklärung (Falls et al. 1999; Plass u. Soloway 2002).
4.8.9
Tumordisposition durch erbliche Epimutationen
Während erworbene Modifikationen im epigenetischen Programm von Zellen in der Regel auf das betroffene Gewebe eines Menschen beschränkt bleiben, gibt es erste Hinweise darauf, dass solche Modifikationen auch über die Keimbahn an nachfolgende Generationen weitergegeben werden können. Ein Beispiel hierfür bezieht sich auf das hereditäre Kolonkarzinom vom Typ HNPCC. In einzelnen Familien fanden sich keine DNA-Mutationen in einem der DNA-Fehlpaarungsreparaturgene, wohl aber eine Hypermethylierung im MLH1- bzw. MSH2-Gen, mit entsprechenden Funktionsverlust. Diese epigenetische Modifikation wurde an Nachkommen weitergegeben und führte zur Tumormanifestation (Chan et al. 2006; Suter et al. 2004). In einer
weiteren Familie wurde die MLH1-Epimutation zwar auf den Sohn weitergegeben, während dessen Spermatogenese aber wieder aufgehoben, sodass für seine Nachkommen kein erhöhtes Tumorrisiko mehr bestand (Hitchins et al. 2007). Da epigenetische Modifikationen prinzipiell reversibel sind, können für Patienten mit hereditären Epimutationen neue therapeutische Wege beschritten werden. Derzeit kann aber noch nicht sicher abgeschätzt werden, ob diese neue Art von Vererbung auf Einzelfälle beschränkt ist oder allgemeine Bedeutung hat.
4.9
DNA-Reparatur
4.9.1
Ursachen der DNA-Schädigung und Schutzprinzipien
Anders als kurzlebige Moleküle besteht die DNA, so lange eine Zelle existiert. DNA-Schäden können deshalb im Laufe der Zeit akkumulieren und als Mutationen an Tochterzellen weitergegeben werden. Bei den Ursachen für Störungen im genetischen Programm denkt man häufig zunächst an exogene Faktoren wie Strahlen, chemische Noxen oder Viren. Dabei ergibt sich ein erheblicher Anteil an DNA-Schäden aus intrazellulären Prozessen, die zu unserem Leben gehören und die wir kaum beeinflussen können: Fehler bei der DNA-Synthese (Replikation), die spontane Desaminierung von Nukleotiden oder die Bildung aggressiver Verbindungen wie Sauerstoffradikale, die im Rahmen der Energiebereitstellung entstehen und die Erbinformation im Zellkern und den Mitochondrien schädigen (Marnett u. Plastaras 2001). Zusammengenommen fallen Zehntausende von Mutationen bei jeder Zellteilung an. Bedenkt man, dass der Mensch aus etwa 1014 Zellen besteht, so verdanken wir unsere Lebenserwartung von vielen Jahrzehnten einer Reihe hocheffektiver Schutzsysteme. In erster Linie sind hier die DNA-Reparatursysteme zu nennen, ein Netzwerk von über 200 Komponenten, die ganz unterschiedliche Fehlertypen erkennen und mit enormer Präzision beseitigen (Hoeijmakers 2002; Wood et al 2001). So finden sich nach Abschluss der Replikation der 3 Mrd. Basenpaare in jeder Zelle durchschnittlich nur 3 Fehler. Entsprechend müsste eine Sekretärin in wenigen Stunden 1 Mio. Seiten à 3.000 Anschlägen bewältigen und schlussendlich nur 3 Tippfehler übersehen. Es verwundert nicht, dass der Ausfall einzelner Komponenten dieser Reparatursysteme mit einer Tumordisposition verbunden ist. Die Konsequenzen aus angeborenen Störungen der DNA-Reparatur können jedoch nicht über einen Kamm geschoren werden. So bedingt etwa ein Fehler bei der Reparatur von Basenfehlpaarungen eine Disposition für Kolonkarzinome, während Störungen bei der Korrektur einzelner Nukleotide nach UV-Bestrahlung zum Auftreten von Hauttumoren an sonnenexponierten Stellen führen. Hatten Zellen keine Gelegenheit zur adäquaten Reparatur von DNA-Schäden, so können sie durch programmierten Zelltod (Apoptose) oder Zellalterung (Senescence) eliminiert werden (Chen et al. 2005; d’Adda di Fagagna 2008; Igney u. Krammer 2002; Rich et al. 2000). Die Entscheidung darüber, ob eine Zelle nach Schädigung des genetischen Programms Gelegenheit erhält, in Verbindung mit einer Arretierung des Zellzyklus DNA zu reparieren, oder ob die Apoptose eingeleitet wird, fällen einige Schlüsselmoleküle, unter denen P53 eine besondere Position einnimmt (7 Abschn. 4.3.2). Schließlich bietet das Immunsystem eine weitere Schutzebene. Insbesondere T-Zellen können Krebszellen erkennen und durch Ein-
119 4.9 · DNA-Reparatur
4
. Abb. 4.34. Einige der spontan auftretenden bzw. exogen induzierten DNA-Schäden, ihre Ursachen und die verantwortlichen DNA-Reparatursysteme. BER Basenexzisionsreparatur; HR/NHEJ homologe Rekombi-
nation/»non-homologous end joining«; MMR Mismatch-Reparatur; NER Nukleotidexzisionsreparatur
leitung zytotoxischer Prozesse abtöten. Letztlich ist Krebs also eine individuelle Negativbilanz aus permanenten Störungen des genetischen Programms und Strategien zur Schadensbegrenzung auf dem Niveau von Einzelzellen und des Gesamtorganismus. Die großen Unterschiede in der Art von DNA-Läsionen erfordern hochspezifische Reparatursysteme (. Abb. 4.34). Grundsätzlich können dabei zwei Gruppen unterschieden werden (s. Übersicht). Bei der Reparatur von Defekten eines Einzelstranges kann der intakte komplementäre Strang als Matrize dienen. Die Reparatursysteme der zweiten Gruppe korrigieren Läsionen beider DNA-Stränge.
4.9.2
DNA-Reparatursysteme 4 Einzelstrangdefekte – Nukleotidexzisionsreparatur (NER) – Basenexzisionsreparatur (BER) – Transkriptionsgekoppelte Exzisionsreparatur (TCR) – Basenfehlpaarungs-(Mismatch-)Reparatur (MMR) 4 Doppelstrangdefekte – Homologe Rekombination (HR) – Verknüpfung nichthomologer Enden (NHEJ)
Reparatur von Einzelstrangdefekten
Nukleotidexzisionsreparatur (NER) Dieser Reparaturweg wird insbesondere zur Korrektur von DNASchäden durch exogene Noxen wie UV-Strahlen und eine Reihe chemischer Noxen genutzt. Zu den UV-induzierten Läsionen gehören beispielsweise Pyrimidindimere wie T-T oder C-T, die nicht mehr an der komplementären Basenpaarung teilnehmen und die Doppelhelixstruktur stören. Ähnliche Effekte haben chemische Addukte, die durch Benzpyren, Aflatoxin oder Cis-Platin hervorgerufen werden. Die Reparatur erfolgt in mehreren Schritten (. Abb. 4.35). Zunächst werden die durch die Dimerbildung unterbrochenen Basenpaarungen beider DNA-Stränge durch den Faktor XPC erkannt. Dieser Schritt bezieht sich nur auf die sog. globale NER; er entfällt bei der transkriptionsgekoppelten NER (s. unten). Nachfolgend kommt es zur Demarkierung der Läsion durch Rekrutierung von XPA und XPE. Anschließend entwinden die Helikasen XPB und XPD, die auch Komponenten des Transkriptionsfaktor-TFIIH-Komplexes sind, die DNA auf einer Länge von etwa 30 bp um den Schaden herum. Die Entfernung der geschädigten DNA erfolgt über zwei Arten von Endonukleasen. Das Heterodimer XPF/ERCC1 schneidet 21–23 Basen 5’, XPG genau
120
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
4
. Abb. 4.35. Nukleotidexzisionsreparatur. Dargestellt ist die schrittweise Entfernung eines Pyrimidindimers nach UV-Exposition durch das globale NER-System
5 Basen 3’ vom Pyrimidindimer ein. Die entstandene Lücke wird durch die DNA-Polymerasen δ oder ε aufgefüllt und durch DNALigase 1 verschlossen. Insgesamt sind über 25 Faktoren an der NER beteiligt (Hoeijmakers 2001). Xeroderma pigmentosum. Das Akronym XP für Faktoren des NER steht für Xeroderma pigmentosum, ein autosomal-rezessiv vererbtes Krankheitsbild mit über 1.000-fach erhöhtem Risiko für Hauttumoren an sonnenexponierten Stellen. Es beruht auf Mutationen in einem der 7 Gene XPA bis XPG. Bei Patienten
mit XPB-, XPD- bzw. XPG-Mutation treten zusätzliche Symptome wie neurodegenerative Veränderungen auf, die an das Cockayne-Syndrom erinnern (s. unten). Dies erklärt sich daraus, dass XPB, XPD und auch XPG als Teilkomponenten des Transkriptionsfaktor-TFIIH-Komplexes die Aktivität weiterer Gene beeinflussen (Hoeijmakers 2001; Lee et al. 2002). Etwa 20% der Patienten mit dem klinischen Bild eines Xeroderma pigmentosum zeigen keine Störung im NER-System. Diese XP-Varianten (XPV) beruhen auf einer Störung in der DNA-
121 4.9 · DNA-Reparatur
4
Polymerase η, einem Enzym, das die fehlerfreie Fortsetzung der DNA-Replikation über UV-induzierte Pyrimidindimere hinweg gestattet, diesen DNA-Schaden also toleriert, nicht repariert (Johnson et al. 1999). Basenexzisionsreparatur (BER) Dieses Reparatursystem behebt kleinere Läsionen wie Purinbzw. Pyrimidinverluste oder die Desaminierung von Cytosin zu Uracil, die nach endogener Schädigung im Rahmen physiologischer Stoffwechselprozesse auftreten (. Abb. 4.36). Der erste Schritt besteht in der Aktivierung einer der acht beim Menschen bekannten DNA-Glykosylasen, je nach Art der Schädigung. Beispiele sind die Uracilglykosylase oder die Methylguaninglykosylase (Lindahl u. Wood 1999). Diese Enzyme spalten die defekte Base vom Zuckerphosphatgerüst ab. Nachfolgend wird eine Endonuklease tätig, die AP-(A-Pyrimidin/A-Purin-)Endonuklease, die das betreffende Nukleotid herausschneidet. Abschließend werden durch Vermittlung des Faktors XRCC1 die DNAPolymerase β und die DNA-Ligase 1 bzw. 3 an die Schadensstelle rekrutiert und der Einzelstrang verschlossen. Keimbahnmutationen im MUTYH Gen, welches für eine Adeninglykosylase kodiert, disponieren zu einem FAP-ähnlichen Krankheitsbild mit multiplen kolorektalen Polypen und Karzinomen (Al-Tassan et al. 2002). Im Gegensatz zur FAP wird diese Tumordisposition autosomal rezessiv vererbt. Oxidative DNA-Schädigung führt zur Bildung von 8-Oxoguanin (8-OxoG), welches mit Adenin eine Fehlpaarung eingehen kann; wird dieser Fehler nicht behoben, entsteht während der Replikation aus dem Basenpaar 8-Oxo-G:C ein T:A-Basenpaar. MUTYH entfernt vom 8-OxoG:A-Basenpaar das Adenin. 8-OxoG wird durch eine andere spezifische Glykosylase, OGG, entfernt. Transkriptionsgekoppelte Exzisionsreparatur (TCR) Eine möglichst rasche Reparatur von DNA-Schäden ist von besonderer Bedeutung für die relativ kleine Zahl transkribierter Gene in einer Zelle. Tatsächlich besteht für diese Situation ein Sonderprogramm, die transkriptionsgekoppelte Exzisionsreparatur. Sie ermöglicht, dass innerhalb von 24 Stunden über 65% der Mutationen in transkribierten Genen behoben werden, im Vergleich zu 15% an anderen Loci (Citterio et al. 2000; Svejstrup 2002). Voraussetzung für die Aufnahme der DNA-Reparatur ist in dieser Situation zunächst die Entfernung der RNA-Polymerase II, sodass Reparaturfaktoren Zugang zur Schadensstelle bekommen. Hierfür sorgen die Faktoren CSA und CSB. Anschließend können, abhängig von der Art der DNA-Läsion, die NERoder BER-Systeme aktiviert werden. Cockayne-Syndrom. Mutationen der Faktoren CSA und CSB bedingen das Cockayne-Syndrom, ein autosomal-rezessiv vererbtes Krankheitsbild, das sich in seiner Symptomatik wesentlich von der Xeroderma pigmentosum unterscheidet. Beim Cockayne-Syndrom besteht eine UV-Hypersensitivität, aber keine Disposition für Hautkrebs. Die globale DNA-Exzisionsreparatur ist durch diesen Defekt nicht betroffen (van Gool et al. 1997). Das klinische Erscheinungsbild beruht auf einer verminderten Transkription noch nicht näher definierter Gene, als Folge der verlangsamt ablaufenden DNA-Reparatur. Die Blockade der Transkription aktiviert apoptotische Prozesse, die für viele Symptome des Cockayne-Syndroms, wie Kleinwuchs, Infertilität und neurodegenerative Veränderungen, verantwortlich sein dürften.
. Abb. 4.36. Basenexzisionsreparatur. Das hier gezeigte Beispiel bezieht sich auf die Korrektur von Uracil, das durch Desaminierung aus Cytosin entstanden ist
Reparatur von Basenfehlpaarungen (MMR) Zu den während der DNA-Replikation auftretenden DNA-Läsionen zählen fehlerhafte Basenpaarungen (Mismatch), Deletionen oder Insertionen. Ein Großteil der Fehlpaarungen wird durch die Korrekturaktivität der an der Replikation beteiligten DNA-Polymerase selbst unmittelbar ausgeglichen. Verbleibende Fehler können von einem spezifischen Postreplikationsreparatursystem korrigiert werden, das einfache Basenfehlpaarungen sowie Einzelstranginsertionen von bis zu vier zusätzlichen Basen behebt (Fishel u. Kolodner 1995). Beim Menschen sind sechs Faktoren bekannt, die diesen Prozess charakterisieren (Jiricny u. NyströmLahti 2000; . Abb. 4.37). Der zentrale Faktor bei der Fehlererkennung ist das Protein MSH2, das abhängig vom spezifischen Defekt mit MSH6 oder MSH3 interagiert. Fehlpaarungen oder Deletionen bzw. Insertionen einzelner Nukleotide werden durch MSH2-MSH6 erkannt; mehrere ungepaarte Basen führen zur Bindung von MSH2-MSH3. Die nachfolgende Rekrutierung des Heterodimers MLH1-PMS2 leitet den Reparaturprozess ein.
122
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
. Abb. 4.37. Reparatur von Basenfehlpaarungen (Mismatch). Sind einzelne Nukleotide betroffen, erkennt das Heterodimer MSH2MSH6 den Fehler, mehrere ungepaarte Basen führen hingegen zur Bindung des MSH2MSH3-Komplexes
4
Mutationen in Genen des Mismatch-Reparatursystems sind mit einer Mikrosatelliteninstabilität und einem Mutatorphänotyp assoziiert; sie bedingen die erbliche Disposition für Kolonkarzinome vom HNPCC-Typ (7 Abschn. 5.4.5). Ganz überwiegend sind hiervon MLH1 (60%) und MSH2 (30%) betroffen; MSH6-Keimbahnmutationen sind mit einer atypischen, im höheren Lebensalter auftretenden HNPCC-Variante assoziiert (Fishel 2001; Jiricny u. Nyström-Lahti 2000).
4.9.3
Reparatur von Läsionen beider DNA-Stränge
Sind beide Stränge der DNA geschädigt, so ist keine unmittelbare Matrize vorhanden, an der die Fehlerkorrektur erfolgen könnte. Zu dieser Schadensart zählen Doppelstrangbrüche, die vorwiegend von ionisierenden Strahlen und Radiomimetika wie Bleomycin hervorgerufen werden, sowie Vernetzungen beider Stränge (Crosslinks), die beispielsweise durch Chemotherapeutika wie Cis-Platin induziert werden. Innerhalb weniger Sekunden nach Auftreten der Brüche assoziiert der aus seiner Funktion im Kontext der Telomere bekannte Faktor TRF2 mit den Bruchenden und schützt sie vor unkontrolliertem Abbau (Bradshaw et al. 2005). Als Sensor von Doppelstrangbrüchen fungiert dann ein Komplex aus MRE11, RAD50 und NBS1 (MRN), der in Folge ATM rekrutiert (Lee u. Pauli 2005). ATM phosphoryliert Histon H2AX und macht hierdurch den Schadensort zugänglich für Interaktionen mit weiteren Proteinen (z. B. BRCA1) und aktiviert die CHEK2-P53-Signalkaskade (. Abb. 4.15). Zur eigentlichen Schadensreparatur stehen zwei Systeme zur Verfügung, die in Abhängigkeit von der jeweiligen Phase des Zellzyklus aktiviert werden. Die homologe Rekombination findet während der Sund G2-Phase statt, nutzt die Sequenzinformation des in dieser Zellzyklusphase vorhandenen Schwesterchromatids und arbeitet weitgehend fehlerfrei. Die Verknüpfung nichthomologer DNAEnden (»non-homologous end joining«, NHEJ) wird in der G1Phase vorgenommen; sie ist fehlerbehaftet (Hoeijmakers 2001; Khanna u. Jackson 2001, O’Driscoll u. Jeggo 2006).
Homologe Rekombination (HR) Bei diesem Reparatursystem wird nach der Schadenserkennung durch den MRN-Komplex und Rekrutierung von ATM ein DNADoppelstrangbruch durch die interne Exo- und Endonukleaseaktivität weiter modifiziert, sodass einzelsträngige Überhänge der beiden Fragmente resultieren (Levitt u. Hickson 2002). Mit dem MRN-Komplex ist BRCA1 assoziiert, das an der Einleitung der Reparaturvorgänge teilhat (Zhong et al. 1999). Anschließend bindet RAD52 an die 3’-Einzelstränge und schützt sie vor einem weiteren Abbau (. Abb. 4.38). RAD51 bereitet die Interaktion mit dem homologen DNA-Doppelstrang des Schwesterchromatids vor; für die Rekrutierung von RAD51 ist BRCA2 von wesentlicher Bedeutung (Davis et al. 2001). RAD54 koordiniert die mit der homologen Rekombination verbundene komplexe Chromatinreorganisation. Der homologe Doppelstrang dient der DNAPolymerase als Matrize, eine DNA-Ligase verschließt die Lücken. Schließlich wird die Austauschkonfiguration beider Schwesterchromatide (»Holliday junction«) durch eine Resolvase aufgelöst. Verknüpfung nichthomologer Enden (NHEJ) Zur Reparatur von Doppelstrangbrüchen wird beim Menschen hauptsächlich dieses System herangezogen. Am Prozess sind mehrere Faktoren beteiligt, die auch bei der V(D)J-Rekombination der Immunglobulin- und T-Zell-Rezeptorgene (7 Abschn. 4.2.4) und der Telomerfunktion (7 Abschn. 4.6.3) von Bedeutung sind (Bassing et al. 2002; O’Driscoll u. Jeggo 2006). Im Prinzip werden bei dieser Verknüpfungsaktion beide Enden des Doppelstrangbruches – ohne Nutzung einer Matrize – wieder verbunden, wobei es zu einem Gewinn oder Verlust von Nukleotiden in der Verknüpfungsregion kommen kann (Kanaar et al. 1998). Zunächst bindet an die freien DNA-Enden das KU70/KU80Heterodimer (. Abb. 4.39). Beide Faktoren bilden die regulatorische Untereinheit der DNA-abhängigen Proteinkinase (DNAPK), deren katalytische Einheit (DNA-PKcs) nachfolgend rekrutiert wird. Ein Substrat der DNA-PK ist ARTEMIS, ein Enzym,
123 4.9 · DNA-Reparatur
4
. Abb. 4.38. Reparatur eines Doppelstrangbruches nach ionisierender Strahlung durch homologe Rekombination. Als Matrize fungiert das Schwesterchromatid
das für die Öffnung der Haarnadelstruktur an beiden Bruchenden verantwortlich ist (7 Abschn. 4.2.4). Die DNA-Enden werden weiter prozessiert, bis sich an beiden überhängenden Einzelsträngen eine gewisse Komplementarität ergibt, die eine Verknüpfung zulässt. Diese Modifikationen sind fehlerhaft. Zudem kann es während des Reparaturvorganges zu interchromosomalen Rearrangements in Form von Translokationen kommen (Ferguson u. Alt 2001; Richardson u. Jasin 2000). Der Verschluss erfolgt über einen Komplex aus XRCC4, XLF und DNA-Ligase 4. . Abb. 4.39. Verknüpfung nichthomologer Enden (NHEJ) zur Korrektur eines Doppelstrangbruches. Mehrere Komponenten dieses Reparatursystems sind auch an der V(D)J-Rekombination in Lymphozyten beteiligt (. Abb. 4.12)
Nijmegen-Breakage-Syndrom. Auch unter den an der Reparatur von Doppelstrangbrüchen beteiligten Faktoren sind erbliche Störungen mit Tumordisposition bekannt (O’Driscoll u. Jeggo 2006). Dies betrifft zum einen den MRE11/RAD50/NBS1-Komplex. Das Gen für NBS1 (Nebrin) ist bei Patienten mit dem seltenen, autosomal-rezessiv vererbten Krankheitsbild NijmegenBreakage-Syndrom (NBS) mutiert (Varon et al. 1998). Wesentliche klinische Befunde sind ein Kleinwuchs, Mikrozephalie, Immundefizienzen sowie eine Prädisposition für Neoplasien, insbesonde-
124
4
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
re Leukämien und Lymphome. Ähnlich wie bei Patienten mit Ataxia teleangiectasia (AT) finden sich gehäuft Rearrangements der Chromosomen 7 und 14. NBS1 ist neben seiner Funktion bei der Reparatur von Doppelstrangbrüchen auch bei der Erfassung von DNA-Schäden beteiligt und wird hierbei direkt durch ATM aktiviert (Gatei et al. 2000). Ein der AT sehr ähnliches Krankheitsbild (ATLD) zeigt sich bei Patienten mit MRE11-Mutation (Stewart et al. 1999). Bei Patienten mit erblichen DNA-Ligase-4-Defekt findet sich ein Überlappen der Symptome mit dem NijmegenBreakage-Syndrom (O’Driscoll et al. 2001).
4.9.4
Netzwerke zur Erkennung und Reparatur von DNA-Schäden
Die zahlreichen Faktoren, die DNA-Schäden während der verschiedenen Phasen des Zellzyklus erkennen, etwa bei der Replikation oder Transkription, sind mit den Komponenten der DNAReparatursysteme in komplexen Regelkreisen verbunden (Levitt u. Hickson 2002; Zhou u. Elledge 2000). Krankheitsbilder infolge einer hereditären Störung von einigen Faktoren dieses Netzwerks sind in . Tab. 4.9 zusammengefasst. ATM – Ataxia teleangiectasia Die zentrale Rolle von ATM bei der Erkennung von DNA-Schäden und Aktivierung von P53 sowie anderer Signalrelais wurde bereits dargestellt (7 Abschn. 4.5.4; Kastan u. Lim 2000). Mutationen im ATM-Gen (Savitsky et al. 1995) liegen dem autosomalrezessiven Krankheitsbild Ataxia teleangiectasia (Louis-Bar-Syndrom) zugrunde (Meyn 1999). Zu den klinischen Symptomen zählen neurodegenerative Veränderungen vor allem des Kleinhirns, Teleangiektasien und Immundefekte. Etwa 40% der Patienten entwickeln Malignome, insbesondere des lymphatischen Systems. Heterozygote Träger einer ATM-Mutation zeigen ein erhöhtes Risiko für Brustkrebs. Zu den typischen Laborbefunden zählen eine Chromosomenbrüchigkeit mit Rearrangements der Chromosomen 7 und 14 sowie Telomerfusionen und eine deutlich erhöhte Sensitivität gegenüber ionisierenden Strahlen sowie Chemikalien, die Doppelstrangbrüche induzieren. Abgesehen von diesen Keimbahnmutationen finden sich ATM-Defekte auch häufig bei sporadischen T-Zell-Leukämien vom Prolymphozytenstadium und B-CLL-Patienten (Stilgenbauer et al. 1997; Stankovic et al. 1999). FA-Komplex – Fanconi Anämie Eine weitere autosomal-rezessive Krankheit mit erhöhter Chromosomenbrüchigkeit ist die Fanconi-Anämie (FA). Sie wird ganz überwiegend autosomal rezessiv vererbt. Das klinische Bild ist durch eine aplastische Anämie, Leuko- und Thrombozytopenie sowie durch Wachstumsdefizienzen und Skelettfehlbildungen gekennzeichnet. Die Prädisposition für maligne Erkrankungen schließt insbesondere ein erhöhtes Risiko für myeloische Leukämien und Plattenepithelkarzinome ein (Grompe u. D’Andrea 2001; Joenje u. Patel 2001). Zellen von FA-Patienten zeigen eine erhöhte Sensitivität für bifunktionelle Alkylanzien wie Diepoxybutan oder Mitomycin C, die sog. Crosslinks zwischen beiden DNA-Strängen induzieren. Folge ist eine erhöhte Chromosomenbrüchigkeit mit charakteristischen Reunionsfiguren zwischen Chromosomen. Die Fanconi-Anämie ist ein heterogenes Krankheitsbild und kann durch Mutationen in 13 verschiedenen Genen hervor-
. Tab. 4.9. Krankheiten infolge gestörter Erkennung und Reparatur von DNA-Schäden Krankheitsbild
Gen
Funktion
Ataxia teleangiectasia
ATM
DSB-Erkennung
ATLD
MRE11
HR, NHEJ, Telomererhalt
Bloom-Syndrom (BS)
BLM
DNA-Helikase, HR
Cockayne-Syndrom (CS)
CSA, CSB
TCR
Familiärer Brustkrebs
BRCA1 BRCA2
HR, NHEJ, MMR, TCR HR
Fanconi-Anämie (FA) Komplementationsgruppe A, B, C, E, F, G, L, M
FANC A, B, C, E, F, G, L, M
DSC-Erkennung
D1, J, N
BRCA2, FANC J, N
Partner bei DSC-Reparatur
D2, I
FANCD2, I
Signalmediator bei DSB/DSC
HNPCC
MLH1, MSH2, MSH6
MMR
NBSLD
LIG4
NHEJ, V(D)JRekombination
Nijmegen-BreakageSyndrom (NBS)
NBS1
HR, NHEJ
Werner-Syndrom (WS)
WNR
DNA-Helikase, HR
Xeroderma pigmentosum (XP) Komplementationsgruppe A, C, E, F B, D, G V
XPA, XPC, XPE, XPF XPB, XPD, XPG POLη
NER NER, Transkription Transläsionsreplikation
ATLD »AT-like disorder«; DSB Doppelstrangbruch; DSC DoppelstrangCrosslink; HNPCC hereditäres nichtpolypöses Kolonkarzinom; HR homologe Rekombination; MMR Mismatch-Reparatur; NBSLD »NBS-like disorder«; NHEJ »non-homologous end joining«; TCR »transcriptioncoupled repair«
gerufen werden, die bis auf das FANCB-Gen (X-chromosomal) auf Autosomen liegen. Das FANCA-Gen ist mit Abstand am häufigsten betroffen (60–80%). Überraschenderweise stellte sich heraus, dass die Komplementationgruppe D1 der Fanconi-Anämie auf biallelische Mutationen im BRCA2-Gen zurückzuführen sind (Howlett et al. 2002). Die Fanconi-Proteine sind in die Reparatur von DNACrosslinks, induziert z. B. durch Mitomycin C oder Cisplatin, involviert. Dieser Schaden aktiviert die Proteinkinase ATR, die über ihren Signalmediator CHK1 den FA-Kernkomplex phosphoryliert (. Abb. 4.40). Hierzu zählen FANC A, B, C, E, F, G, L und M sowie die Faktoren FA24 und FA100, für die bisher
125 4.9 · DNA-Reparatur
4
. Abb. 4.40. Die Interaktionen von Mitgliedern der FA-Familie und weiterer Partner bei der Erkennung und Reparatur von DNA-Läsionen. Einzelheiten sind im Text beschrieben
keine Mutationen bei FA-Patienten gefunden wurden. FANM und FA24 stellen den Kontakt zur lädierten DNA her (Wang et al. 2007). Parallel hierzu phosphoryliert ATR einen zweiten FA-Komplex, der aus FANCD2 und FANCI besteht. Dieser Komplex kann auch in Folge von DNA-Doppelstrangbrüchen über ATMCHK2 aktiviert werden. Nachfolgend monoubiquitiniert der FAKernkomplex den I-D2-Komplex und rekrutiert ihn zur Schadensstelle. Im Gegensatz zur Polyubiquinitierung von Proteinen, die zu deren Abbau im Proteasenkomplex führt, stellt die Monoubiquinitierung ein reversibles Signal zur Modifikation von Protein-Protein-Interaktionen dar. Die De-Ubiquitinierung des Komplexes erfolgt durch das Enzym USP1. Der I-D2-Komplex stellt einerseits den Kontakt zu Chromatinstrukturen her und attrahiert andererseits weitere Faktoren, die zur DNA-Reparatur benötigt werden. Hierzu zählt eine dritte Gruppe von FA-Faktoren: FANCD1, FANCJ und FANCN. Von besonderer klinischer Bedeutung ist, dass Störungen dieser Faktoren zur Entwicklung von Brustkrebs disponieren. Es stellte sich heraus, dass FANCD1 identisch mit BRCA2 ist. FANCN war schon vorher als BRCA2-Partner PALB2 bekannt gewesen, während FNACJ zuvor als Interaktionspartner BRIP1 von BRCA1 identifiziert wurde. Patienten mit homozygotem Ausfall dieser drei Gene erkranken an Fanconi-Anämie, heterozygote Genträger sind hingegen für die Entwicklung von Mamakarzinomen disponiert. Allerdings unterscheiden sich die jeweiligen Risiken deutlich. BRCA2/FANCD1-Mutationen sind hochpenetrant mit
einem Lebenszeitrisiko von 80%, heterozygote FANCJ- und FANCN-Mutationen sind mit einer moderaten, etwa zwei- bis dreifachen Risikoerhöhung verbunden, vergleichbar der Risikokonstellation von Patienten mit heterozygoter ATM-Mutation (Renwick et al. 2006). BRCA1 und BRCA2 BRCA1 ist ein wichtiger Faktor im Netzwerk von DNA-Schadenserkennung und Reparaturprozessen (Tutt u. Ashworth 2002; Venkitaraman 2002). Neben der Interaktion mit dem FAKomplex nach dem Auftreten von DNA-Crosslinks wird BRCA1 auch nach Doppelstrangbrüchen aktiviert. ATM phosphoryliert hierzu das mit BRCA1 asoziierte Protein CtIP und setzt damit BRCA1 frei, sodass es als Transkriptionsfaktor nachgeschaltete Mediatoren der Schadenserkennung wie P21 oder GADD45 aktivieren kann (Li et al. 2000), die den Zellzyklus arretieren (Xu et al. 2001). In diesem Sinne reagieren P53 und BRCA1 synergistisch auf einen DNA-Schaden. Über die Interaktion mit dem MRE11/RAD50/NBS1-Komplex wird die Reparatur von Doppelstrangdefekten beeinflusst (Zhong et al. 1999). Der BRCA1-assoziierte Komplex (BASC) koordiniert aber nicht nur die Reparatur von Doppelstrangläsionen, sondern rekrutiert auch Komponenten, die an der Korrektur von Basenfehlpaarungen (MMR) beteiligt sind (Levitt u. Hickson 2002; Venkitaraman 2002; Wang et al. 2000) und ist zudem für die transkriptionsgekoppelte Exzisionsreparatur (TCR) von Bedeutung (Futaki u. Liu 2001; Gowen et al. 1998).
126
4
Kapitel 4 · Genetische Grundlagen der Kanzerogenese
Insgesamt ist die Funktion von BRCA1 in Zusammenarbeit mit einer großen Zahl weiterer Partnerproteine – auch jenseits der Erkennung und Reparatur von DNA-Schäden – noch nicht vollständig definiert (Kerr u. Ashworth 2001). Beispiele hierfür sind die Kooperation von BRCA1 mit P300/CBP, dem SWI/SNF und Histondeacetylasekomplex bei der Transkriptionskontrolle und Modulation der Chromatinstruktur (Bochar et al. 2000; Pao et al. 2000; Yarden u. Brody 1999), die Interaktion mit DNA-Helikasen wie BLM (Wang et al. 2000) oder die Funktion des BRCA1BARD1-Heterodimers als äußerst potente Ubiquitinligase (Brzovic et al. 2001; Hashizume et al. 2001; Ruffner et al. 2001). Zu den Interaktionspartnern von BRCA1 zählt auch BRCA2, das für die Rekrutierung von RAD51 im Rahmen der homologen Rekombination von großer Bedeutung ist und auch das Zusammenspiel mit P53 koordiniert (Marmorstein et al. 1998; Pellegrini et al. 2002). Zudem ist BRCA2 an der Erkennung von DNADoppelstrang-Crosslinks beteiligt (Howlett et al. 2002), sodass auch diesem Faktor eine bedeutende Rolle im Rahmen der DNAReparatur zukommt. Keimbahnmutationen von BRCA1 und BRCA2 sind die molekulare Grundlage der autosomal-dominant erblichen Dispositionen für Mamma- und Ovarialkarzinome (Narod u. Foulkes 2004). Biallelische BRCA2-Mutationen finden sich bei einer Subgruppe von Patienten mit Fanconi-Anämie (Howlett et al. 2002). RECQ-Helikasen – Bloom- und Werner-Syndrom DNA-Helikasen der RECQ-Familie sind ebenfalls Komponenten der Reparaturprozesse (Karow et al. 200b). In diesem Zusammenhang seien die Helikasen BLM (Ellis et al. 1995) und WRN (Gray et al. 1997) genannt, die besondere DNA-Strukturen in 3’→ 5’-Richtung entwinden können. WNR besitzt zudem eine Exonnukleaseaktivität. Beide Enzyme sind im Rahmen der homologen Rekombination bei der Verschiebung der Austauschkonfiguration beider Schwesterchromatide entlang des Doppelstrang-
schadens und der Auflösung dieser »Holliday junction« beteiligt (Karow et al. 2000a; Shen u. Loeb 2000). BLM und WRN sind auch mit dem BASC-Komplex assoziiert und scheinen deshalb eine weitergehende Bedeutung für die Reparatur von DNA-Doppelstrangdefekten zu besitzen (Wang et al. 2000). Beide Helikasen gewährleisten die genomische Integrität bei der DNA-Replikation (Franchitto u. Pichierri 2002). Auch bei der von P53 koordinierten Einleitung apoptischer Prozesse sind BLM und WRN beteiligt (Blander et al. 1999; Wang et al. 2001). Zudem scheint BLM bei der Aufrechterhaltung der Telomerlängen durch den ALT-Mechanismus (telomeraseunabhängig) beizutragen (Stavropoulos et al. 2002). Mutationen im BLM- und WRN-Gen sind Ursache des autosomal-rezessiv vererbten Bloom-Syndroms (BS) bzw. WernerSyndroms (WS). Patienten mit Bloom-Syndrom zeigen eine gravierende Wachstumsretardierung, eine charakteristische Fazies mit einem durch Sonnenexposition induziertem Gesichtserythem, Endokrinopathien und Immundefizienzen (German 1993). Die deutlich erhöhte Disposition für maligne Erkrankungen zeigt keine Präferenz für bestimmte Tumoren. Ein pathognomonischer Laborbefund ist die drastisch erhöhte Zahl von Schwesterchromatidaustauschen sowie Reunionsfiguren zwischen homologen Chromosomen (Chaganti et al. 1974). Die Tumordisposition resultiert aus einer gesteigerten Rate mitotischer Rekombinationen (Luo et al. 2000). Das Werner-Syndrom ist eine Erkrankung, die einen vorzeitigen Alterungsprozess widerspiegelt, der meist in der zweiten Lebensdekade beginnt. Eine Arteriosklerose, Osteoporose und Hautatrophie, juvenile Katarakte sowie ein Diabetes mellitus und weitere Endokrinopathien treten bereits im jungen Erwachsenenalter auf (Epstein et al. 1966; Martin u. Oshima 2000). Dieses Krankheitsbild ist mit einer Disposition für nichtepitheliale Tumoren wie Osteosarkome, Melanome und hämatologische Neoplasien assoziiert. Auch beim Werner-Syndrom lässt sich eine erhöhte Chromosomenbrüchigkeit nachweisen.
Zusammenfassung Das genetische Programm eines Menschen ist im Zellkern und den Mitochondrien verankert. Es bestehen beträchtliche interindividuelle Unterschiede im Aufbau des Genoms, die sowohl die normale Zellfunktion wie auch die Entstehung und Symptomatik von Tumoren beeinflussen. Zu den Funktionsträgern von Genen gehören neben den Proteinen auch nichtkodierende RNAMoleküle wie die Gruppe der Micro-RNA. Hochdurchsatzmethoden erlauben einen Einblick auch in komplexe Netzwerkstrukturen genetischer Programme. Jede Krebserkrankung resultiert aus der Akkumulation von Störungen des im Zellkern und den Mitochondrien verankerten genetischen Programms einer Zelle. Überwiegend werden diese Läsionen im Laufe des Lebens erworben, wofür neben exogenen Faktoren, wie chemische Noxen, Viren oder Strahlen, insbesondere auch endogene Ursachen wie Fehler bei der DNAReplikation oder das Entstehen aggressiver Verbindungen während der Energiebereitstellung von Bedeutung sind. Ein für das Verständnis der Karzinogenese wesentlicher Aspekt ist die Erkenntnis, dass zahlreiche Neoplasien von Tumorstammzellen ausgehen. Das Mikromilieu eines Tumors trägt wesentlich zu seinem Unterhalt und Metastasierungsverhalten bei. In etwa 10–15% der Fälle liegt eine erbliche Tumordisposition vor. Ne6
ben Mutationen der Erbinformation selbst können auch sekundäre Modifikationen der DNA und des umgebenden Chromatingerüsts den genetischen Informationsfluss beeinträchtigen. Solche epigenetischen Prozesse gehören zu den häufigsten und frühesten Veränderungen in Tumoren; sie verankern Umwelteinflüsse im Genom, sind prinzipiell aber reversibel und stellen einen neuen Ansatzpunkt für therapeutische Interventionen dar. Insgesamt verschaffen Mutationen Tumorzellen einen Wachstumsvorteil gegenüber Normalgewebe und tragen zur klonalen Evolution bei. Eine stark beschleunigte Mutationsrate kann aus dem Ausfall des DNA-Mismatch-Reparatursystems resultieren und dann eine Mikrosatelliteninstabilität bedingen, die die Funktion zahlreicher Gene beeinträchtigt. Häufiger als dieser Mutatorphänotyp besteht in Tumoren aber eine chromosomale Instabilität. Die Telomerbereiche sind besonders störanfällige Chromosomenstrukturen. Die Gene, die am komplexen Prozess der Kanzerogenese beteiligt sind, werden in zwei Gruppen unterteilt: Bei den Onkogenen führt eine qualitative oder quantitative Störung, die nur ein Allel betrifft, zu einem Genprodukt mit tumorigenen Eigenschaften, während bei Tumorsuppressorgenen erst der Verlust der von beiden Genkopien kodierten Proteine biologisch relevante Folgen zeigt. Die physiologische Bedeutung von Tumorgenen be-
127 4.9 · DNA-Reparatur
steht in ihrer Funktion als positive bzw. negative Regulatoren von Zellproliferation, Gewebedifferenzierung und Apoptose. Zu den unverzichtbaren Komponenten einer körpereigenen Tumorabwehr gehören die hochspezialisierten DNA-Reparatursysteme, apoptotische Prozesse sowie das Immunsystem.
Die Kenntnis der molekularen Basis von Krebserkrankungen hat bereits wesentliche Fortschritte in der klinischen Diagnostik und Prognostik erbracht sowie zur Entwicklung neuer Strategien der Tumortherapie und Prävention geführt.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
4
5 Disposition für erbliche Krebserkrankungen W. Friedl, P. Propping
5.1
Genetische Disposition und die Zwei-Treffer-Hypothese: Tumorsuppressorgene, Protoonkogene und DNA-Reparaturgene – 129
5.2
Familiäres Mamma-/Ovarialkarzinom
5.3
Erbliche Tumoren des Gastrointestinaltrakts
5.4
Multiple endokrine Neoplasien
5.5
Li-Fraumeni-Syndrom – 146
5.6
Retinoblastom
5.7
Neurofibromatose – 147
5.8
Erbliche Nierentumorerkrankungen
5.9
Familiäres Melanom
– 134 – 137
– 144
– 146
5.10 Cowden-Syndrom
– 148
– 148 – 148
5.11 Gorlin-Syndrom (NBCCS)
– 149
5.12 Autosomal-rezessiv erbliche Tumordispositionssyndrome 5.13 Ausblick
– 150
Literatur – 150
– 149
129 5.1 · Genetische Disposition und die Zwei-Treffer-Hypothese
> Einleitung
5.1
5
Für die meisten häufigen Krebserkrankungen wird geschätzt, dass jeweils etwa 5–10% erblich bedingt sind. In Ermangelung pathognomonischer Stigmata lässt sich ein erbliches Tumorsyndrom – mit wenigen Ausnahmen – nicht an einem einzelnen Patienten diagnostizieren. Das familiär gehäufte Auftreten der Erkrankung sowie die relativ frühe, z. T. auch multiple Entwicklung von Tumoren sind jedoch Hinweise für eine mögliche genetische Tumordisposition. Die wichtigsten erblichen Krebserkrankungen und die daran beteiligten Gene sind in . Tab. 5.1 zusammengestellt. Organmanifestation, klinischer Verlauf und Therapie der erblich bedingten Tumorerkrankungen können sehr unterschiedlich sein. Dennoch haben sie – aufgrund des bevorzugt dominanten Erbgangs und der hohen Tumordisposition – eine ähnliche Problematik, die im ersten Abschnitt beschrieben wird. Die spezifischen Aspekte der häufigsten erblichen Tumorerkrankungen werden in den folgenden Abschnitten dargestellt. Ausführliche, ständig aktualisierte Übersichtsarbeiten zu den verschiedenen erblichen Krebserkrankungen (klinische Kriterien, molekulargenetische Grundlagen, molekulargenetische Diagnostik und Therapie) können z. B. bei Genetests/GeneReviews abgerufen werden (http://www.geneclinics.org).
Genetische Disposition und die Zwei-TrefferHypothese: Tumorsuppressorgene, Protoonkogene und DNA-Reparaturgene
Die Aufdeckung der genetischen Ursachen für die einzelnen erblich bedingten Tumorsyndrome, verbunden mit der Untersuchung der zellulären Signalübertragungsmechanismen, die durch die veränderten Proteine gestört sind, leistet einen wesentlichen Beitrag zur Klärung der Tumorgenese bei den entsprechenden sporadischen Krebsformen (Knudson 1993; Fearon 1997). Die meisten erblich bedingten Krebserkrankungen werden durch Keimbahnmutationen in einem Tumorsuppressorgen, Protoonkogen oder DNA-Reparaturgen verursacht und folgen einem dominanten Erbgang. Tumorsuppressorgene Tumorsuppressorgene kodieren für Proteine, die direkt an der Steuerung von Zellwachstum und Apoptose beteiligt sind. Sie haben eine Schlüsselfunktion an bestimmten Kontrollpunkten des Zellzyklus (»gatekeeper«). Die Inaktivierung von Tumorsuppressorgenen (z. B. RB1, TP53, VHL, APC) führt direkt zu unkontrolliertem Zellwachstum und zur Entstehung von Tumoren (Kinzler u. Vogelstein 1997). In jeder Körperzelle sind alle Erbinformationen in jeweils zwei Kopien enthalten. Nach der von Knudson für das Retinoblastom entwickelten Hypothese ist das Genprodukt von nur einer Kopie des Tumorsuppressorgens für eine normale Funktion der Zelle ausreichend; die Veränderung (Mutation) einer der beiden Genkopien in einer Zelle führt zu einem Verlust der Funktion dieses Genproduktes (»loss of function«) und beeinträchtigt die Wirkung der verbliebenen normalen Genkopie nicht. Erst wenn in der gleichen Zelle auch eine Veränderung in der zweiten Kopie des betreffenden Tumorsuppressorgens erfolgt (z. B. durch eine somatische Mutation), wird die Wirkung dieses Gens komplett ausgeschaltet und der Zellteilungsprozess kann nicht mehr gesteuert werden (Knudson 1971; Knudson 1993; . Abb. 5.1a; nach Kinzler u. Vogelstein 1997). Im Gegensatz zu den familiären Krebserkrankungen ist in der Allgemeinbevölkerung die Wahrscheinlichkeit, dass in der gleichen Zelle beide Genkopien verändert sind, gering.
Personen mit einer erblich bedingten Tumordispositionserkrankung (Anlageträger) haben eine Keimbahnmutation in dem für das betreffende Tumorleiden ursächlichen Gen. Dies bedeutet, dass diese Mutation bereits in der Keimzelle eines Elternteils vorhanden war und folglich in allen Körperzellen des Individuums vorliegt. Jede Zelle enthält somit nur eine funktionsfähige Kopie des Gens: Jedes einzelne Mutationsereignis in dieser einen Genkopie kann bereits dessen Funktion in der betreffenden Zelle komplett ausschalten und den Prozess der Tumorentstehung auslösen. Deshalb haben Personen mit einer ererbten Keimbahnmutation eine stark erhöhte Wahrscheinlichkeit zu Tumoren. Vererbt wird nicht die Krebserkrankung, sondern eine Disposition für Krebs, d. h. eine erhöhte Neigung zu Tumoren in den für die betreffende Erkrankung charakteristischen Organen. Der Erbgang für die Tumordisposition ist autosomal-dominant, der Mechanismus der Tumorentstehung ist auf zellulärer Ebene rezessiv. Die Zwei-Treffer-Hypothese gilt nicht nur für das Retinoblastom, sondern für alle Tumordispositionserkrankungen, die durch Mutationen in Tumorsuppressorgenen verursacht werden (. Tab. 5.1). Durch die gewebespezifische Expression und Funktion führt der Ausfall eines bestimmten Tumorsuppressorgens zu einem ganz spezifischen Tumorspektrum. In der Regel sind dabei mehrere Gewebe betroffen. Keimbahnmutationen im APC-Gen führen z. B. nicht nur zur Entstehung von kolorektalen Adenomen, sondern auch zu gutartigen, jedoch schlecht therapierbaren Bindegewebstumoren im Bauchraum (Desmoide) oder zu Osteomen. Mutationen im RB1-Gen manifestieren sich meist im frühen Kindesalter als Retinoblastom; die Patienten haben aber auch ein erhöhtes Risiko für Osteosarkome, Ewing-Sarkome, Leukämien und Lymphome. Mutationen im BRCA1-Gen prädisponieren zu Mamma-, aber auch zu Ovarialkarzinomen. Onkogene Die für Tumorsuppressorgene und DNA-Reparaturgene beschriebene Zwei-Treffer-Hypothese gilt nicht für die Tumorgenese durch Onkogene. Mutationen in sog. Protoonkogenen führen zu einer neuen Funktion (»gain of function«). Aus dem normalen Protoonkogen wird durch Mutation ein Onkogen; dieses kodiert nun für ein verändertes Genprodukt, das eigenständig in
130
Kapitel 5 · Disposition für erbliche Krebserkrankungen
5
. Abb. 5.1a,b. Mechanismen der Tumorgenese durch Mutationen in Tumorsuppressorgenen und DNA-Reparaturgenen. a Tumorsuppressorgene (TS) haben eine direkte Schlüsselfunktion bei der Regulation des Zellwachstums (»gatekeeper«). Beide Kopien des TS-Gens müssen in einer Zelle inaktiviert werden, um das Tumorwachstum zu initiieren (Zwei-Treffer-Hypothese von Knudson). Bei Patienten mit einer Keimbahnmutation in einem TS-Gen ist nur eine zusätzliche Mutation erforderlich. Deshalb haben sie im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein >1000-fach erhöhtes relatives Risiko (RR) für Krebs. b DNA-Reparaturgene (»caretaker«) kor-
rigieren Fehler in der Erbinformation, die während der DNA-Synthese oder durch Umwelteinflüsse (z. B. UV-Strahlen, Chemikalien) entstehen. Die Inaktivierung beider Kopien eines Reparaturgens führt nicht direkt zur Auslösung der Tumorgenese, sondern zunächst zu einer genetischen Instabilität. Bei Patienten mit einer Keimbahnmutation in einem DNA-Reparaturgen sind noch drei zusätzliche Mutationen erforderlich. Die Inaktivierung des zweiten DNA-Reparaturgens beschleunigt allerdings die Akkumulierung weiterer Mutationen. Diese Patienten haben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein 5- bis 50-fach erhöhtes Krebsrisiko
den Zellzyklus eingreift und wachstumsstimulierend wirkt. Ein Beispiel hierfür ist das RET-Protoonkogen (7 Abschn. 5.4.2, MEN2).
tem erkannt und entfernt werden (Übersicht in Bootsma et al. 1998). Da eine Kopplung zwischen NER und Transkription besteht, läuft die Reparatur im transkribierten Strang von Genen am schnellsten ab (»transcription-coupled repair«). Keimbahnmutationen in verschiedenen Komponenten des NER-Systems sind die Ursache des autosomal-rezessiv erblichen Xeroderma pigmentosum.
DNA-Reparaturgene Bei der Replikation der DNA vor der ständigen Zellteilung sowie auch durch äußere Einflüsse (z. B. UV-Strahlung) treten im Genom im Laufe des Lebens häufig somatische Mutationen auf. Diese Schäden werden durch ein komplexes DNA-Reparatursystem erkannt und beseitigt. Defekte in DNA-Reparaturgenen führen zu einer erhöhten Mutationsrate auch in Tumorsuppressorgenen und Protoonkogenen und damit – indirekt – zu einer erhöhten Tumordisposition. Zu den DNA-Reparatursystemen zählen die Nukleotidexzisionsreparatur (NER), die Basenexzisionsreparatur (BER), die DNA-Doppelstrangbruchreparatur und die Basenfehlpaarungsreparatur (DNA »mismatch repair«, MMR). Nukleotidexzisionsreparatur (NER) Durch UV-Strahlung in Form des natürlichen Sonnenlichtes oder durch Chemikalien kann es im Genom einer Zelle zu einer Dimerisierung benachbarter Pyrimidine (Thymin, Zytosin) oder zu anderen biochemischen Veränderungen kommen. Falls diese Veränderungen nicht entfernt werden, ist sowohl die RNA-Synthese als auch die DNA-Replikation gestört. Nach weiteren Zellteilungen kann es zu einer Vielzahl von somatischen Mutationen kommen. Solche Schäden, die an einem DNA-Einzelstrang entstehen, können durch das aus mehreren Proteinen bestehende NER-Sys-
Basenexzisionsreparatur (BER) Dieser Basenaustausch-Reparatur-Mechanismus spielt insbesondere bei der Reparatur von oxidativen Schäden eine Rolle (Übersicht in Cheadle u. Sampson 2003). Durch Oxidation wird das 2’-Deoxyguanosin zu 8-Oxo-7,8-Dihydro-2’-Deoxyguanosin (8-oxo-G) umgewandelt. 8-oxo-G ist ein stabiles Oxidationsprodukt, welches bei der DNA-Replikation mit dem Nukleotid A anstatt C paart. In der Folge entstehen häufig G>T-Mutationen. In E. coli werden die mutagenen Effekte der Guaninoxidation mithilfe von drei Enzymen verhindert: Die MutM-DNA-Glykosylase entfernt die oxidierte Base aus 8-oxo-G:C-Paarungen in doppelsträngiger DNA, MutY-DNA-Glykosylase schneidet das während der Replikation falsch eingebaute Adenin gegenüber des 8-oxo-G aus und MutT – eine 8-oxo-dGTPase – verhindert den Einbau von 8-oxo-dGMP bei der DNA-Replikation. Die menschlichen Homologen für MutM, MutY und MutT sind OGG1, MUTYH und MTH1. Keimbahnmutationen im MUTYH-Gen sind die Ursache für die autosomal-rezessiv erbliche MUTYHassoziierte adenomatöse Polyposis (7 Abschn. 5.3.4).
131 5.1 · Genetische Disposition und die Zwei-Treffer-Hypothese
5
. Tab. 5.1. Beispiele für erbliche Tumorerkrankungen und die beteiligten Gene Erbliche Tumorerkrankung
Gensymbol
Chromosomale Lokalisation
Häufigkeit
Funktion
BRCA1
17q21
Zusammen etwa 1:200
Tumorsuppressorgen (TSG) u. DNA-Reparatur
BRCA2
13q12.3
Familiäre adenomatöse Polyposis
APC
5q21-q22
1:10.000
TSG
Lynch-Syndrom (HNPCC)
MSH2
2p22-p21
Zusammen etwa 1:1.000
DNA-Mismatch-Reparatur
MLH1
3p21.3
MSH6
2p16
PMS2
7p22
Peutz-Jeghers-Syndrom
STK11
19p13.3
Selten
TSG
Familiäre juvenile Polyposis
SMAD4
18q21.1
Selten
TSG
BMPR1A
10q22.3
Multiple endokrine Neoplasie Typ 1
MEN1
11q13
1:10.000 bis 1:100.000
TSG
Multiple endokrine Neoplasie Typ 2
RET
10q11.2
1:30.000
Protoonkogen
Li-Fraumeni-Syndrom
TP53
17p13.1
1:50.000
TSG
Retinoblastom
RB1
13q14.1-q14.2
1:20.000
TSG
Neurofibromatose Typ 1
NF1
17q11.2
1:3.500
TSG
Neurofibromatose Typ 2
NF2
22q12.2
1:40.000
TSG
Von-Hippel-Lindau-Erkrankung
VHL
3p26-p25
1:36.000
TSG
Papilläres Nierenzellkarzinom
MET
7q31
Selten
Protoonkogen
Familiäres Melanom und Pankreaskarzinom
CDKN2A
9p21
Selten
TSG
Morbus Cowden
PTEN
10q23.31
Selten
TSG
Gorlin-Syndrom
PTCH
9q22.3
1:50.000
TSG
MUTYH-assoziierte adenomatöse Polyposis
MUTYH
1p34.3-p32.1
Etwa 1:40.000
DNA-Reparatur
Ataxia teleangiectatica
ATM
11q22.3
1:40.000 bis 1:100.000
DNA-Reparatur Induktion von p53
Bloom-Syndrom
BLM
15q26.1
Selten
DNA-Helikase
Xeroderma pigmentosum
Multiple Komplementierungsgruppen
Selten
Nukleotidexzisions-Reparatur
Fanconi-Anämie
FANCA
16q24.3
Selten
DNA-Reparatur
FANCC
9q22.3
BRCA2 (FANCB/D1)
13q12.3
Autosomal-dominanter Erbgang Familiärer Brust-/Ovarialkrebs
TSG
Autosomal-rezessiver Erbgang
TSG u. DNA-Reparatur
Andere Komlpementierungsgruppen Nijmegen-Breakage-Syndrom
NBS
8q21
Selten
DNA-Reparatur
132
5
Kapitel 5 · Disposition für erbliche Krebserkrankungen
Doppelstrangbruchreparatur Doppelstrangbrüche können ebenfalls durch Einwirkung ionisierender Strahlung oder DNA-schädigender Chemikalien entstehen. Die Reparatur von Doppelstrangbrüchen ist besonders schwierig, da zwei getrennt voneinander liegende Doppelstrangenden erkannt, einander angenähert und für eine erneute Bindung angepasst werden müssen. Auch an diesem Reparaturmechanismus sind mehrere Proteine beteiligt (Übersicht in Sperling et al. 1998). Das Bloom-Syndrom, die Fanconi-Anämie, die Ataxia teleangiectatica und das Nijmegen-Breakage-Syndrom sind typische Beispiele für autosomal-rezessive Erkrankungen mit Defekten im DNA-Doppelstrangbruchreparatursystem. Basenfehlpaarungsreparatur (MMR) Dieses DNA-Reparatursystem erkennt und beseitigt Fehler, die während der DNA-Replikation vor der Zellteilung entstehen. Defekte in diesem System werden bei dem autosomal-dominant erblichen Dickdarmkrebs ohne Polyposis (Lynch-Syndrom, HNPCC; 7 Abschn. 5.3.2) gefunden. Die Zwei-Treffer-Hypothese gilt auch für Tumorerkrankungen, die auf Mutationen in DNA-Reparaturgenen beruhen. Allerdings führen Mutationen in DNA-Reparaturgenen – wie bereits erwähnt – nur indirekt zur Entstehung von Tumoren. Eine Keimbahnmutation in einem DNA-Reparaturgen hat in der Regel noch keine Konsequenzen für das Zellwachstum. Eine somatische Mutation im zweiten Allel führt zunächst zu einer genomischen Instabilität in der betreffenden Zelle; dies hat eine Akkumulation von Mutationen in vielen verschiedenen Genen zur Folge, einschließlich den oben genannten Tumorsuppressorgenen (. Abb. 5.1b; nach Kinzler u. Vogelstein 1997). Wenn beide Allele eines Tumorsuppressorgens in einer Zelle ausgeschaltet werden, kommt es zum unkontrollierten Zellwachstum (Kinzler u. Vogelstein 1997). Durch die hohe Mutationsrate auch in anderen Genen wachsen die einmal initiierten Tumoren sehr schnell. Allerdings müssen – auch bei erblich bedingten Erkrankungen aufgrund von Mutationen in DNA-Reparaturgenen – in der gleichen Zelle drei somatische Mutationen stattfinden (im zweiten Allel des betreffenden DNA-Reparatur-
. Abb. 5.2. Risikopersonen bei autosomal-dominant erblichen Tumorsyndromen. Kinder eines Betroffenen (z. B. II/1, II/5, II/6, III/3, III/4) sind mit einer Wahrscheinlichkeit von a priori 50% Anlageträger. Ist der Anlageträgerstatus der Eltern nicht bekannt, haben deren Kinder zunächst ein rechnerisches Risiko von 25%; es steigt aber auf 50%, sobald der
gens und in beiden Allelen des Tumorsuppressorgens), damit ein Tumor entsteht. Diese Tatsache kann erklären, warum das Krebsrisiko in Familien mit Keimbahnmutationen in DNA-Reparaturgenen nicht so hoch ist wie bei Patienten mit Keimbahnmutationen in Tumorsuppressorgenen; die Tumoren treten in der Regel später auf und die Penetranz liegt unter 100%.
5.1.1
Penetranz
Die Penetranz definiert die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Anlageträger für eine erblich bedingte Erkrankung tatsächlich auch diese Erkrankung entwickelt. Die Daten zur Penetranz basieren auf Beobachtungen an einer großen Zahl von Familien und werden in der Regel in Abhängigkeit vom Alter gemacht. Altersabhängige Penetranzkurven erlauben auch die Schätzung des Restrisikos, d. h. der Wahrscheinlichkeit, dass eine noch gesunde Risikoperson (7 Abschn. 5.1.2) in einem bestimmten Alter die Anlage für die betreffende Erkrankung trägt. Die Penetranz ist abhängig von der Art der Erkrankung (bzw. von dem involvierten Gen) sowie – in einigen Fällen – auch von der Art und Lokalisierung der genetischen Veränderung innerhalb eines Gens (Genotyp-Phänotyp-Korrelation). Die Penetranz beträgt z. B. nahezu 100% bei der familiären adenomatösen Polyposis (FAP) oder der multiplen endokrinen Neoplasie Typ 2A (MEN2A) und ist geringer beim familiären Brustkrebs und beim LynchSyndrom.
5.1.2
Autosomal-dominanter Erbgang und Risikopersonen
Die meisten erblichen Tumordispositionserkrankungen werden autosomal-dominant vererbt (. Tab. 5.1). Dieses bedeutet, dass alle Kinder eines Erkrankten mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% ebenfalls Anlageträger für die betreffende Tumordisposition sind. Wegen des hohen Krebsrisikos werden sie als Risikopersonen bezeichnet (. Abb. 5.2).
Elternteil als Anlageträger diagnostiziert wurde. Bei Ausschluss einer Mutation bei einer Risikoperson hat diese sowie deren Kinder kein höheres Erkrankungsrisiko als die Normalbevölkerung (z. B. II/1 sowie die Kinder III/1 und III/2); M mutiertes Allel; n normales Allel; ? Mutationsstatus unbekannt
133 5.1 · Genetische Disposition und die Zwei-Treffer-Hypothese
Wenn nicht festgestellt werden kann, wer unter den noch gesunden Risikopersonen Anlageträger ist, wird zunächst allen Risikopersonen ein für die betreffende Tumorerkrankung spezifisches Krebsvorsorgeprogramm empfohlen. Gelingt es, unter den Risikopersonen die tatsächlichen Anlageträger zu erkennen, dann kann die Vorsorge auf diese konzentriert werden, während den Risikopersonen, die die Anlage nicht geerbt haben, die Vorsorgemaßnahmen erspart werden können. Spezifische Vorsorgeprogramme zur Früherkennung und ggf. zur prophylaktischen Therapie gibt es bereits für einige hereditäre Krebserkrankungen, wie z. B. das hereditäre medulläre Schilddrüsenkarzinom (MEN2), das Retinoblastom oder die familiäre adenomatöse Polyposis. In anderen Fällen, wie dem familiären Mammakarzinom oder dem Lynch-Syndrom (HNPCC), wurden entsprechende Vorsorgestrategien zunächst im Rahmen von multizentrischen interdisziplinären Studien erarbeitet, in Deutschland z. B. von der Deutschen Krebshilfe getragen. Für Tumorerkrankungen, die mit einem sehr breiten Tumorspektrum einhergehen, wie z. B. das Li-Fraumeni-Syndrom, kann kein spezifisches Krebsvorsorgeprogramm angeboten werden.
5.1.3
Prädiktive Diagnostik – Möglichkeiten und Grenzen der molekulargenetischen Diagnostik
Bei einigen erblichen Tumorsyndromen können die Anlageträger aufgrund klinischer Merkmale diagnostiziert werden, bevor ein Tumor entstanden ist. Als Beispiel seien die angeborenen Pigmentanomalien der Retina bei Patienten mit familiärer adenomatöser Polyposis, die Pigmentflecken der Mundschleimhaut beim PeutzJeghers-Syndrom oder die Café-au-lait-Flecken bei der von-Recklinghausen-Neurofibromatose genannt. Eine sichere Diagnose kann jedoch nicht in jedem Fall gestellt werden; insbesondere ein Ausschluss ist nicht immer zuverlässig. Die Kenntnis des involvierten Gens erlaubt heute in vielen Fällen, die Veränderung in dem betreffenden Gen bei einem Erkrankten mit molekulargenetischen Methoden direkt nachzuweisen und dann festzustellen, ob die Risikopersonen dieser Familie Anlageträger sind. Die Mutationen sind vielfach über große Bereiche der betreffenden Gene verstreut und können nicht in jedem Fall identifiziert werden. Deshalb sollte die Mutationssuche immer zuerst bei einem Erkrankten der Familie durchgeführt werden; ein sicherer Ausschluss einer Mutation bei einer Risikoperson ist nur dann möglich, wenn die in der Familie vorliegende Mutation bekannt ist.
5.1.4
Psychosoziale Aspekte der präsymptomatischen Diagnostik – Humangenetische Beratung
Die präsymptomatische, d. h. prädiktive Diagnostik bei Risikopersonen stellt eine neue Dimension der Arzt-Patienten-Beziehung dar: Es wird bei einem noch gesunden Menschen eine Tumordisposition diagnostiziert, es kann aber nicht vorhergesagt werden, ob und ggf. zu welchem Zeitpunkt sich – bei Erkrankungen mit verminderter Penetranz – ein Tumor entwickelt. Es kann im Einzelfall auch keine Prognose über den Verlauf der Tumorgenese gemacht werden, da dieser zusätzlich von mehreren endogenen und exogenen Faktoren beeinflusst wird.
5
Die prädiktive Diagnose einer Tumordisposition kann zu psychosozialen Problemen führen. Wegen der damit verbundenen vielschichtigen Problematik hat die Bundesärztekammer 1998 »Richtlinien zur Diagnostik der genetischen Disposition für Krebserkrankungen« erlassen, die für alle auf diesem Gebiet tätigen Ärzte ein interdisziplinäres Vorgehen vorsehen (DÄB 1998). Jeder prädiktiven Diagnostik muss eine umfassende Beratung vorangehen, in die zumindest ein mit dem jeweiligen Krankheitsbild vertrauter Facharzt sowie ein Facharzt für Humangenetik einbezogen sind. Diese interdisziplinäre Beratung soll den Betroffenen und ihren Familienangehörigen eine optimale Information über die betreffende Erkrankung und über die diagnostischen und präventivmedizinischen Möglichkeiten geben. In der Beratung sollten zuvor die Konsequenzen eines möglichen Testergebnisses besprochen werden. Insbesondere bei erblichen Tumordispositionen, für die es noch keine speziellen Vorsorgeprogramme gibt, sollte das Recht auf Nichtwissen gezielt angesprochen und respektiert werden. Die Entscheidung für die Durchführung eines prädiktiven Tests sollte den Risikopersonen selbst überlassen sein. Eine Ausnahme hierzu bilden genetische Tumordispositionen, die im Kindesalter zu manifester Erkrankung führen können. Wenn die Früherkennung bei Kindern therapeutische Konsequenzen hat (z. B. beim Retinoblastom, bei der multiplen endokrinen Neoplasie Typ 2 oder der familiären adenomatösen Polyposis), müssen die Eltern eine Entscheidung bezüglich der Durchführung einer prädiktiven Diagnostik treffen.
5.1.5
Vorsorge- und Nachsorgeuntersuchungen
Risikopersonen, bei denen die zur Tumorerkrankung disponierende Erbanlage festgestellt wurde, sowie alle Risikopersonen aus Familien, bei denen die zugrunde liegende Mutation in dem betreffenden Gen nicht identifiziert wurde, sollten in ein engmaschiges Krebsvorsorgeprogramm einbezogen werden, das spezifisch für die jeweilige Tumordisposition empfohlen wurde. Dadurch können Tumoren in einem frühen Stadium erkannt und rechtzeitig (meist operativ) entfernt werden. Wegen des hohen Risikos von Zweitkarzinomen bzw. von Tumoren in anderen Organen muss die Tumornachsorge von erkrankten Personen in der Regel lebenslang erfolgen.
5.1.6
Molekulargenetische Untersuchungsmethoden zur Identifizierung von Anlageträgern erblicher Tumorerkrankungen
Die heute aktuellen Methoden der Mutationssuche sind in der Fachliteratur ausführlich beschrieben. Wegen der rasch fortschreitenden Entwicklung der molekulargenetischen Untersuchungsmethoden wird hier nur auf allgemeine Aspekte der Diagnostik eingegangen. Bei der molekulargenetischen Diagnostik wird grundsätzlich zwischen einer direkten und einer indirekten Untersuchungsmethode unterschieden. Die direkte Genotypanalyse setzt voraus, dass das Gen, welches bei einer Krankheit eine Veränderung (Mutation) aufweist, bekannt ist und direkt untersucht werden kann (. Abb. 5.3). Wenn ein Gendefekt nur chromosomal lokalisiert, aber noch nicht identifiziert ist, oder wenn die der Erkrankung zugrunde liegende Mutation in einem bekannten Gen bei
134
Kapitel 5 · Disposition für erbliche Krebserkrankungen
5
. Abb. 5.3. Darstellung einer Keimbahnmutation in Exon 11 des APCGens bei einem Patienten mit familiärer adenomatöser Polyposis. Die Sequenzierung zeigt eine Basensubstitution C>T an Nukleotidposition 1495.
Dadurch wird das Triplet CGA in Kodon 499 (für die Aminosäure Arginin) durch das Stoppkodon TGA ersetzt
einer Familie nicht identifiziert werden konnte, kann – in bestimmten Fällen – die indirekte Genotypanalyse (Kopplungsanalyse) eingesetzt werden. Voraussetzung für die indirekte Genotypanalyse ist, dass die Erkrankung nur durch Mutationen in einem einzigen Gen verursacht wird. Bei der indirekten Genotypanalyse ist die Untersuchung mehrerer Familienangehöriger erforderlich. In der Praxis sind die Nachweismöglichkeiten der genetischen Veränderungen bei den einzelnen Tumorerkrankungen verschieden. Bei einer Erkrankung häufig auftretende Mutationen (z. B. bei der multiplen endokrinen Neoplasie Typ 2) können relativ einfach untersucht werden. Schwieriger ist die Diagnostik bei Erkrankungen, bei denen die Mutationen über große Bereiche eines Gens oder gar mehrerer Gene verstreut sind und bei denen fast jede Familie eine andere genetische Veränderung in dem betreffenden Gen aufweist (z. B. beim familiären Brustkrebs oder beim Lynch-Syndrom). Die Identifizierung dieser Mutationen kann lange Zeit in Anspruch nehmen und bei einigen Patienten können gegenwärtig die für die Erkrankung ursächlichen genetischen Veränderungen, wenn überhaupt, dann nur mit speziellen, sehr aufwändigen Techniken aufgedeckt werden. Wenn nur ein Gen involviert ist, kann jedoch in einigen Familien auch mithilfe der Kopplungsanalyse eine relativ sichere molekulargenetische Diagnostik durchgeführt werden. Die Veranlassung von molekulargenetischen Tests zur Diagnostik erblicher Tumordispositionen sollte in Absprache mit einem Humangenetiker erfolgen, der mit der Problematik der betreffenden Tumorerkrankung vertraut ist. Voraussetzung für eine adäquate molekulargenetische Diagnostik ist die detaillierte Kenntnis der klinischen Merkmale bei einem Betroffenen der Familie. Die Interpretation der molekulargenetischen Befunde und die Mitteilung an die Ratsuchenden sollten ebenfalls von einem Humangenetiker vorgenommen werden. Eine in den USA
durchgeführte Umfrage über prädiktive Testung bei FAP durch kommerzielle Labors hatte ergeben, dass die Befunde in etwa 30% der Fälle nicht richtig interpretiert und vermittelt wurden (Giardiello et al. 1997).
5.2
Familiäres Mamma-/Ovarialkarzinom
In Deutschland entwickeln etwa 10% der Frauen im Laufe ihres Lebens ein Mammakarzinom und etwa 1% ein Ovarialkarzinom. Man schätzt, dass etwa 5% aller Brustkrebserkrankungen auf einer erblichen Disposition beruhen. Wegen der hohen Inzidenz von Mamma- und Ovarialkarzinomen in der Allgemeinbevölkerung ist die Erkennung der erblichen Fälle schwierig, d. h., familiäres Auftreten kann einerseits zufällig zustande kommen, andererseits kann auch ein Einzelfall in der Familie auf einer Keimbahnmutation beruhen.
5.2.1
Krankheitsbild und Definition der Risikofamilien
Der Verdacht auf ein familiäres Mamma-/Ovarialkarzinom besteht, wenn mindestens zwei Frauen in einer Familie ein Mamma- oder Ovarialkarzinom entwickeln, wobei eine Frau vor dem 50. Lebensjahr erkrankt, oder wenn drei oder mehr Verwandte erkrankt sind, unabhängig vom Erkrankungsalter. Neben der familiären Häufung ist ein beidseitiges Auftreten des Mammakarzinoms oder das Auftreten eines Mamma- und Ovarialkarzinoms bei einer Frau sowie die Entwicklung dieser Tumoren in sehr jungen Jahren (Mammakarzinom bis zum 30. Lebensjahr, Ovarialkarzinom bis zum 40. Lebensjahr) ein weiterer Hinweis auf eine erbliche Disposition. Ein männlicher an Mammakarzinom
135 5.2 · Familiäres Mamma-/Ovarialkarzinom
Erkrankter in der Familie erhöht ebenfalls das Risiko für eine erbliche Form dieser Krebsart. In Familien mit familiärem Mamma-/Ovarialkarzinom wird auch eine erhöhte Disposition zu anderen Tumoren, insbesondere zu Karzinomen des Pankreas und der Prostata sowie zu Melanomen beobachtet. Derzeit ist noch nicht eindeutig geklärt, ob auch das Risiko für das kolorektale Karzinom erhöht ist (Garber u. Syngal 2004).
5.2.2
Molekulargenetische Grundlagen
Bisher wurden zwei Gene identifiziert, die in etwa 50% der Fälle von familiärem Mamma-/Ovarialkarzinom Mutationen aufweisen: das BRCA1-Gen auf Chromosom 17q21 (Hall et al. 1990; Miki et al. 1994) und das BRCA2-Gen auf Chromosom 13q12.3 (Wooster et al. 1995; Wooster et al. 1994). Weitere Brustkrebsgene werden vermutet, sie wurden jedoch noch nicht eindeutig identifiziert. Die Proteine BRCA1 und BRCA2 spielen eine wesentliche Rolle bei der Aufrechterhaltung der genomischen Integrität und der transkriptionalen Regulation. BRCA1 ist an der Erkennung und Reparatur von DNA-Doppelstrangbrüchen über mehrere Signalwege (homologe Rekombination, Verknüpfung nicht homologer Enden und Nukleotidexzisionsreparatur) beteiligt, während BRCA2 eine spezifischere Rolle bei der Reparatur von DNA-Schäden (über homologe Rekombination) hat. BRCA1 und BRCA2 interagieren mit verschiedenen Proteinen aus der DNA-ReparaturMaschinerie (z. B. RAD51) und kontrollieren die Transkription dieser Proteine (Übersicht in Kinzler u. Vogelstein 1997; Welcsh u. King 2001; Tutt u. Ashworth 2002; Deng u. Wang 2003). Familien mit Mutationen im BRCA1- bzw. BRCA2-Gen haben ein unterschiedliches Tumorrisiko: Trägerinnen einer BRCA1-Mutation erkranken im Durchschnitt früher an Brustkrebs als Trägerinnen einer BRCA2-Mutation und sie erkranken häufiger an Eierstockkrebs. Bei einigen Familien mit einer Mutation im BRCA2-Gen steht die Entwicklung eines Pankreaskarzinoms im Vordergrund (Hahn et al. 2003; Couch et al. 2007). Internationale Studien an verschiedenen ethnischen Patientengruppen zeigen, dass die Penetranz von BRCA1- und BRCA2-Mutationen – d. h. die Wahrscheinlichkeit, einen Tumor zu entwickeln – selbst für Familien mit der gleichen Mutation variabel ist. Einige Mutationsträger bleiben bis ins hohe Alter tumorfrei, während das Erkrankungsalter und die Art des Tumors bei denen, die erkranken, unterschiedlich sind. Die altersspezifischen Penetranzen sind in . Tab. 5.2 zusammengestellt und werden in aktuellen Übersichtsarbeiten ausführlich diskutiert (Schmutzler et al. 2002; Petrucelli et al. 2005). Bei einem Teil der Patienten, die an Fanconi-Anämie (einem autosomal-rezessiv erblichen strahlungssensitiven Syndrom) er. Tab. 5.2. Kumulatives Risiko für Brust- und Eierstockkrebs bei Frauen mit einer Mutation in den Genen BRCA1 oder BRCA2. (Zusammenstellung verschiedener internationaler Daten, nach Schmutzler et al. 2002) BRCA1
BRCA2
MammaCa [%]
OvarialCa [%]
MammaCa [%]
OvarialCa [%]
Bis 50. Lebensjahr
50
20
30
0,4
Bis 80. Lebensjahr
80–90
60
80
30
5
krankt sind (FANCB und FANCD1), wurden biallelische Mutationen im BRCA2-Gen identifiziert (Howlett at al. 2002). Da die Eltern dieser Patienten obligat heterozygot für eine BRCA2-Mutation sind, sollten beide Eltern und ihre Angehörigen auf das erhöhte Brustkrebsrisiko hingewiesen werden. Heterozygot vorliegende Mutationen in den Genen BRIP1 und PALB2, die für mit BRCA1- bzw. mit BRCA2-interagierende Proteine kodieren, gehen mit einem etwa zweifach erhöhten Risiko für Brustkrebs einher (Seal et al. 2006; Rahman et al. 2007); biallelische Mutationen in diesen beiden Genen wurden kürzlich als weitere Ursachen der Fanconi-Anämie (FANCJ und FANCN) beschrieben (Levitus et al. 2005; Levran et al. 2005; Reid et al. 2007; Xia et al. 2007). Diese Befunde unterstreichen zusätzlich den Zusammenhang zwischen Fanconi-Anämie, homologer DNA-Reparatur und Disposition zu Brustkrebs (Übersicht in Walsh u. King, 2007; Patel 2007). Ein erhöhtes Brustkrebsrisiko wird bei Patientinnen mit anderen erblichen Tumorsyndromen (Peutz-Jeghers Syndrom, 7 Abschn. 5.4; Cowden-Syndrom, 7 Abschn. 5.10; Li-FraumeniSyndrom, 7 Abschn. 5.6) beobachtet. Diese Syndrome sind rela-
tiv selten und spielen daher beim familiären Brustkrebs zahlenmäßig keine große Rolle. Gene mit verminderter Penetranz. Die Beobachtung einer erhöhten Brustkrebsinzidenz unter weiblichen Angehörigen von Patienten mit Ataxia teleangiectatica legte nahe, dass Mutationen im ATM-Gen zu Brustkrebs disponieren. Zahlreiche Studien zur Häufigkeit von heterozygoten ATM-Mutationen unter Brustkrebspatientinnen führten zu widersprüchlichen Ergebnissen (Übersicht in Thorstenson et al. 2003). Ein vierfach erhöhtes Brustkrebsrisiko wurde für heterozygote Trägerinnen einer Mutation im ATM-Gen beschrieben (Teraoka et al. 2001). Die Bedeutung verschiedener Missense-Mutationen im ATM-Gen bei Brustkrebspatientinnen muss noch überprüft werden. Auch Mutationen im CHEK2-Gen, dessen Genprodukt eine regulierende Funktion im Zellzyklus hat, wurden bei Patientinnen mit Brustkrebs häufiger als in der Allgemeinbevölkerung (5% vs. 1%) beschrieben (Meijers-Hejboer et al. 2002). Untersuchungen des CHEK2-Gens in der deutschen Bevölkerung fanden geringere Mutationsfrequenzen und keine deutliche Assoziation zwischen CHEK2-Mutationen und Brustkrebs (Dufault et al. 2004). Veränderungen in diesen Genen scheinen bei dem frühmanifesten Brustkrebs keine Rolle zu spielen, sie könnten jedoch im Rahmen eines multifaktoriellen Erbmodus zu einer erhöhten Krebsdisposition in der Bevölkerung beitragen.
5.2.3
Molekulargenetische Diagnostik
Kopplungsanalysen in Hochrisikofamilien mit mindestens vier Brustkrebsfällen ergaben, dass eine Mutation im BRCA1-Gen bei 52% der Familien mit Brustkrebs und bei 81% der Familien mit Brust- und Ovarialkarzinom vorliegt. 32% der Hochrisikofamilien weisen eine Mutation im BRCA2-Gen auf. Bei 76% der Familien, in denen auch männliche Brustkrebspatienten vorkamen, wurden BRCA2-Mutationen identifiziert (Ford et al. 1998). Untersuchungen unter Einbeziehung von Familien mit nur zwei Betroffenen führten jedoch zu weit geringeren Mutationsdetektionsraten; Mutationen im BRCA1- und BRCA2-Gen zusammen fanden sich nur bei etwa 40–50% der erblichen Fälle von Brustkrebs (Couch et al. 1997; Whittemore et al. 1997).
136
Kapitel 5 · Disposition für erbliche Krebserkrankungen
5
. Abb. 5.4. Häufigkeit von pathogenen Mutationen in den Genen BRCA1 und BRCA2 bei 989 Familien in Abhängigkeit von der Familienanamnese und dem Alter bei Erstdiagnose von Brust- oder Eierstockkrebs. Charakterisierung der Patientengruppen: A1 Familien mit 2 oder mehr Fällen von Brustkrebs, mindestens 2 vor dem 50. Lebensjahr; A2 Familien mit mindes-
tens einem männlichen Brustkrebs; B Familien mit einem oder mehr Fällen von Brustkrebs und mindestens einem Eierstockkrebs; C Familien mit mindestens 2 Fällen von Brustkrebs, davon einer vor dem 50. Lebensjahr; D Familien mit 2 oder mehr Fällen von Brustkrebs, alle nach dem 50. Lebensjahr; E Einzelfall von Brustkrebs vor dem 35. Lebensjahr
Die Wahrscheinlichkeit, bei Patientinnen mit Mamma- und/ oder Ovarialkarzinom eine Mutation im BRCA1-oder BRCA2Gen zu finden, ist abhängig von der Eigen- und Familienanamnese sowie von der ethnischen Zugehörigkeit der Patienten. Für die deutsche Bevölkerung wurden diese Daten im Rahmen des Verbundprojekts »Familiärer Brust- und Eierstockkrebs« der Deutschen Krebshilfe an rund 1.000 Familien mit erhöhtem Brustkrebsrisiko ermittelt (. Abb. 5.4; Daten aus dem Verbundprojekt »Familiärer Brust- und Eierstockkrebs«, Meindl et al. 2002). Insgesamt wurde bei 30% der Familien eine Mutation im BRCA1- oder BRCA2-Gen gefunden. Die Nachweisrate beträgt 37% bei Familien mit mindestens zwei Brustkrebsfällen vor dem 50. Lebensjahr und erhöht sich auf 53% bei Familien in denen Brust- und Eierstockkrebs auftreten. In Übereinstimmung mit internationalen Literaturdaten wurden in Familien mit Brustund Eierstockkrebs weitaus häufiger Mutationen im BRCA1Gen identifiziert (80%) und bei Familien mit männlichem Brustkrebs wurden überwiegend Mutationen im BRCA2-Gen festgestellt. Die molekulargenetische Diagnostik wird dadurch erschwert, dass mindestens zwei sehr große Gene untersucht werden müssen. Bisher wurden über 2.000 verschiedene Keimbahnmutationen im BRCA1-Gen und über 1.000 Mutationen im BRCA2-Gen identifiziert. Diese sind – mit wenigen Ausnahmen – jeweils über das ganze Gen verteilt. Die Ergebnisse des Verbundprojekts »Familiärer Brust- und Eierstockkrebs« zeigen, dass die beiden Mutationen c.5382insC und c.300T>G im BRCA1-Gen bei deutschen Familien häufig gefunden wurden und zusammen etwa 30% der BRCA1-Mutationen ausmachen. Für beide Mutationen wurde ein Gründereffekt nachgewiesen (Backe et al. 1999; Meindl et al. 2002). Daher wird empfohlen, bei der molekulargenetischen Diagnostik zuerst nach diesen Mutationen zu suchen. Bei Familien mit männlichen
Brustkrebspatienten sollte zuerst das BRCA2-Gen auf Mutationen untersucht werden.
5.2.4
Krebsvorsorgeuntersuchungen und Therapie
Der Nutzen eines intensivierten Früherkennungsprogramms bereits vor dem 50. Lebensjahr ist für Frauen aus Familien mit familiärem Mamma- und Ovarialkarzinom in mehreren Studien belegt. Die Mammografie allein oder in Kombination mit der Sonografie hat in diesem jungen Risikokollektiv eine ungenügende Sensitivität; die Kernspintomografie führt zu einer deutlich verbesserten Detektionsrate früher Mammakarzinome (Kuhl et al. 2005). Für Frauen mit nachgewiesener Mutation im BRCA1- oder BRCA2-Gen sowie für Frauen mit einem Heterozygotenrisiko >20% oder einem lebenslangen Erkrankungsrisiko von >30% bei nicht durchführbarem oder nicht informativem Gentest wird im Rahmen des Verbundprojekts »Familiärer Brust- und Eierstockkrebs« der Deutschen Krebshilfe das in der folgenden Übersicht wiedergegebene strukturierte Früherkennungsprogramm empfohlen (Schmutzler et al. 2002; Lux et al. 2006):
Strukturiertes Früherkennungsprogramm Untersuchungen: 4 Monatliche Selbstuntersuchung der Brust nach ärztlicher Einweisung [Zeitraum: (1)] 4 Tastuntersuchung der Brust und der Eierstöcke halbjährlich durch den betreuenden Arzt [Zeitraum: (1)] 6
137 5.3 · Erbliche Tumoren des Gastrointestinaltrakts
4 Mammasonografie der Brust (mindestens 7,5 MHz) halbjährlich [Zeitraum: (1)] 4 Vaginale Ultraschalluntersuchung der Eierstöcke (TVS) halbjährlich [Zeitraum: (2)] 4 Tumormarker CA 125 halbjährlich [Zeitraum: (2)] 4 Kernspintomografie der Brust (MRM) jährlich [Zeitraum: (1), (3)] 4 Mammografie jährlich [Zeitraum: (3)] Zeitraum: 1. Ab dem 25. Lebensjahr oder 5 Jahre vor dem Erkrankungsalter der jüngsten betroffenen Verwandten lebenslang 2. Ab dem 30. Lebensjahr lebenslang 3. Aufgrund des dichten Drüsengewebes junger Frauen beginnt die Mammografie ab dem 30. Lebensjahr. Die Kernspintomografie endet in der Regel mit dem 50. Lebensjahr oder bei Involution des Drüsenparenchyms
Die Therapie des familiären Mamma- und Ovarialkarzinoms erfolgt derzeit nach den Richtlinien für die sporadischen Karzinome. Für gesunde Mutationsträgerinnen wird eine prophylaktische Therapie unter bestimmten Voraussetzungen diskutiert. Zahlreiche Studien belegen, dass das Brust- und Eierstockkrebsrisiko durch eine prophylaktische bilaterale Mastektomie in Kombination mit einer bilateralen Salpingo-Oophorektomie auf unter 5% reduziert wird. Schon die Oophorektomie alleine führt zu einer deutlichen Reduktion des Risikos für ein Mammakarzinom (Rebbeck et al. 2002; Kauff et al. 2002; Übersicht bei Schmutzler et al. 2005; Lux et al. 2005).
5.3
Erbliche Tumoren des Gastrointestinaltrakts
Man schätzt, dass 5–10% aller kolorektalen Karzinome (CRC) auf einer autosomal-dominant erblichen Tumordisposition beruhen. Zu den häufigsten gehören das Lynch-Syndrom (hereditäres kolorektales Karzinom ohne Polyposis, HNPCC) mit etwa 2–3% und die familiäre adenomatöse Polyposis (FAP) mit etwa 1% aller kolorektalen Karzinome. Hamartomatöse Polyposissyndrome, wie z. B. das Peutz-Jeghers-Syndrom und die familiäre juvenile Polyposis, die ebenfalls mit einer erhöhten Disposition zu kolorektalen Karzinomen einhergehen, sind selten (Übersicht in Jungck et al. 1999). Die Assoziation von erblichen kolorektalen Tumoren und bestimmten extrakolonischen Manifestationen führte zur Defi-
. Abb. 5.5. Stufenmodell der kolorektalen Tumorgenese.
Darmkrebs, familiär
5
nition von distinkten klinischen Syndromen. Die Aufdeckung der genetischen Ursache ermöglicht heute eine bessere Einordnung dieser Syndrome. Die Assoziation von Polyposis des Kolons und extrakolonischen Manifestationen, wie Osteome (insbesondere des Schädels und der Mandibula), Fibrome, Epidermoidzysten und Desmoide wurde früher als Gardner-Syndrom bezeichnet (Smith 1958). Wegen der fließenden Übergänge zur typischen FAP sowie der Involvierung des gleichen Gens werden die extrakolonischen Manifestationen heute als unterschiedliche Ausprägung der FAP betrachtet. Daher sollte die Bezeichnung Gardner-Syndrom nicht mehr verwendet werden. Das Turcot-Syndrom wird klinisch durch das gleichzeitige Auftreten von Hirntumoren, kolorektalen Adenomen und Karzinomen definiert. Bis zur Identifizierung der zugrunde liegenden genetischen Ursache gab es widersprüchliche Angaben zum Vererbungsmodus, und zwar sowohl autosomal-dominant als auch autosomal-rezessiv (Übersicht bei Hamilton et al. 1995). Nach heutiger Kenntnis ist das Turcot-Syndrom ein genetisch heterogenes Krankheitsbild. Die Mehrzahl der Fälle von Turcot-Syndrom beruht auf einer Keimbahnmutation im APC-Gen und ist daher allelisch zur familiären adenomatösen Polyposis (7 Abschn. 5.3.3), während ein kleinerer Anteil von Patienten mit Turcot-Syndrom eine Keimbahnmutation in einem DNA-Reparaturgen aufweist und eine allelische Variante zum Lynch-Syndrom darstellt (7 Abschn. 5.3.2). Das Muir-Torre-Syndrom wird definiert durch das Auftreten von Hauttumoren (Talgdrüsenadenome, -epitheliome und -karzinome sowie multiple Keratoakanthome) und kolorektalen oder anderen mit dem Lynch-Syndrom assoziierten Karzinomen (Übersicht in Kruse et al. 1996; Schwartz u. Torre 1995). Es hat sich gezeigt, dass die Tumoren einer Untergruppe von Patienten mit Muir-Torre-Syndrom – ebenso wie die Tumoren beim Lynch-Syndrom – durch Mutationen in den gleichen DNA-Reparaturgenen verursacht werden; bei dieser Untergruppe ist das Muir-Torre-Syndrom eine allelische Variante des Lynch-Synroms.
5.3.1
Stufenmodell der Tumorgenese beim kolorektalen Karzinom; Adenom-Karzinom-Sequenz
Die Umwandlung einer normalen Epithelzelle zum metastasierenden Kolorektalkarzinom erfolgt über mehrere, morphologisch gut definierte Stadien (. Abb. 5.5). Ursache für die Tumorentstehung ist die Akkumulierung mehrerer somatischer Mutationen in Tumorsuppressorgenen und Protoonkogenen in der gleichen Kolonepithelzelle (Kinzler u. Vogelstein 1996; Mehlen u.
138
Kapitel 5 · Disposition für erbliche Krebserkrankungen
Fearon 2004). Veränderungen in DNA-Reparaturgenen und im APC-Gen stehen dabei häufig am Anfang der Kaskade. Dieses beim sporadischen CRC beobachtete Stufenmodell gilt auch für das erbliche CRC: Personen mit Keimbahnmutationen im APC-Gen (bei der familiären adenomatösen Polyposis) bzw. in DNA-Reparaturgenen (Lynch-Syndrom) haben eine erhöhte Disposition zu kolorektalen Karzinomen, da in allen Körperzellen bereits die erste Stufe der Tumorgenese abgelaufen ist.
5
5.3.2
Lynch-Syndrom (hereditäres kolorektales Karzinom ohne Polyposis; HNPCC)
Krankheitsbild Das nach dem amerikanischen Internisten Henry Lynch benannte Lynch-Syndrom (HNPCC, »hereditary nonpolyposis colorectal cancer«) ist eine autosomal-dominant erbliche Disposition zu kolorektalen Karzinomen (CRC), die meist vor dem 50. Lebensjahr auftreten und vorwiegend proximal der linken Flexur lokalisiert sind (Lynch u. Krush 1971; Boland 2005). Häufig wird ein synchrones oder metachrones CRC beobachtet. Zusätzlich treten in den Familien überdurchschnittlich häufig Karzinome des Endometriums auf: Bis zu 60% der weiblichen Anlageträger entwickeln bis zum 70. Lebensjahr ein Endometriumkarzinom (Vasen et al. 1999). Zum Tumorspektrum des Lynch-Syndroms gehören weiterhin Tumoren des oberen Gastrointestinaltrakts, des hepatobiliären Systems, des Urothels, der Ovarien, des Pankreas und der Haut (Übersicht in Lamberti et al. 1996; Lynch et al. 1993; Mecklin u. Ponz de Leon 1994; Lynch et al. 2006; Vasen 2005; Watson u. Riley 2005). Anmerkungen zur Nomenklatur des Syndroms (Boland 2005): Die 1985 von Lynch gewählte Bezeichnung HNPCC (hereditäres kolorektales Karzinom ohne Polyposis) sollte betonen, dass dieses Syndrom sich von der familiären adenomatösen Polyposis unterscheidet. Die Diagnose HNPCC wurde zunächst klinisch aufgrund der Amsterdam-Kriterien (s. unten) definiert (Vasen et al. 1991; Vasen et al. 1999), wobei das CRC im Vordergrund stand. Die Entdeckung, dass nur bei einem Teil der klinisch definierten HNPCC-Patienten ein Fehler im DNA-MismatchReparatursystem vorliegt und dass diese Patienten ein anderes Tumorspektrum aufweisen als Patienten mit mikrosatellitenstabilen Tumoren (Mueller-Koch et al. 2005; Lindor et al. 2005), legte nahe, fortan die Bezeichnung Lynch-Syndrom für diese Patientengruppe zu verwenden. Aufgrund fehlender pathognomonischer Stigmata kann die klinische Diagnose HNPCC nur im familiären Zusammenhang gestellt werden. Die Diagnose ist wahrscheinlich, wenn die Familienanamnese des Patienten die »Amsterdam-Kriterien« erfüllt (Vasen et al. 1991). Aufgrund dieser sehr eng gefassten Kriterien (heute als »Amsterdam-I-Kriterien« bezeichnet) liegt HNPCC dann vor, wenn alle unten angegebenen Bedingungen erfüllt sind: 4 in der Familie sind mindestens drei Patienten an einem histologisch gesicherten CRC erkrankt, wobei einer Verwandter 1. Grades der beiden anderen ist; 4 die Krankheit ist mindestens in zwei aufeinanderfolgenden Generationen aufgetreten; 4 mindestens einer der Patienten ist vor dem 50. Lebensjahr erkrankt; 4 eine familiäre adenomatöse Polyposis wurde ausgeschlossen.
In den erweiterten Amsterdam-II-Kriterien (Vasen et al. 1999) werden neben dem kolorektalen Karzinom in gleichwertiger Weise auch Karzinome des Endometriums, des Dünndarms und der ableitenden Harnwege (Urothel) in die klinische Definition von HNPCC einbezogen. Wegen der Schwierigkeit der Abgrenzung zwischen HNPCC und dem in der Bevölkerung häufig auftretenden sporadischen CRC ist eine sorgfältige Familienanamnese unter Aufnahme aller Tumorerkrankungen in der Familie und Einsicht der histopathologischen Befunde unerlässlich. Das mögliche Vorliegen von HNPCC sollte auch in Betracht gezogen werden, wenn nur die weniger stringenten, in den revidierten Bethesda-Richtlinien festgelegten Kriterien erfüllt sind (Rodriguez-Bigas et al. 1997; Umar et al. 2004). Entsprechend der revidierten Bethesda-Richtlinien sollte zunächst das Tumorgewebe der Patienten auf Vorliegen von HNPCC-spezifischen Merkmalen (s. unten) untersucht werden, wenn eine der folgenden Bedingungen vorliegt: 4 Patienten mit kolorektalem Karzinom vor dem 50. Lebensjahr; 4 Patienten mit synchronen oder metachronen kolorektalen Karzinomen oder anderen HNPCC-assoziierten Tumoren, unabhängig vom Alter [zu den HNPCC-assoziierten Tumoren gehören Tumoren in Kolorektum, Endometrium, Magen, Ovarien, Pankreas, Urothel, Gallengang, Dünndarm und Gehirn (meist Glioblastome wie bei Turcot-Syndrom) sowie Talgdrüsenadenome und Keratoakanthome (bei Muir-TorreSyndrom)]; 4 Patienten mit kolorektalem Karzinom mit MSI-H Histologie (Vorliegen von Tumor-infiltrierenden Lymphozyten, Crohnähnlicher lymphozytärer Reaktion, muzinöser/SiegelringDifferenzierung oder medullärem Wachstumsmuster) vor dem 60. Lebensjahr; 4 Patient mit kolorektalem Karzinom (unabhängig vom Alter), der einen Verwandten 1. Grades mit einem kolorektalen Karzinom oder einem HNPCC-assoziierten Tumor vor dem 50. Lebensjahr hat; 4 Patient mit kolorektalem Karzinom (unabhängig vom Alter), der mindestens zwei Verwandte 1. oder 2. Grades hat, bei denen ein kolorektales Karzinom oder ein HNPCC-assoziierter Tumor (unabhängig vom Alter) diagnostiziert wurde. Molekulargenetische Grundlagen Das Lynch-Syndrom (HNPCC) wird durch Keimbahnmutationen in einem von mindestens vier bisher bekannten Genen des DNAMismatch-Reparatursystems (MMR) verursacht (. Tab. 5.1). Die Funktion der DNA-MMR-Proteine ist, eventuelle Fehler, die bei der Replikation der DNA vor jeder Zellteilung entstehen, zu erkennen und zu korrigieren (Übersicht in de la Chapelle u. Peltomäki 1995; Eshleman u. Markowitz 1996; Peltomäki 2001; Peltomäki 2005). DNA-Fehlpaarungen bei der DNA-Synthese werden durch MutSα, ein Heterodimer aus MSH und MSH6 erkannt (Drummond et al. 1995; Palombo et al. 1995). Ein weiteres Heterodimer, MutLα, gebildet aus MLH und PMS interagiert mit MutSα und aktiviert dadurch weitere Proteine, die für die Reparatur der falsch replizierten DNA erforderlich sind. Auch beim Lynch-Syndrom gilt das Vogelstein-Modell der Tumorgenese (7 Abschn. 5.3.1). Da die Patienten bereits in jeder Körperzelle eine Mutation in einem der DNAMMR Gene aufweisen, führt jede zusätzliche somatische Mutation in dem verbleibenden Normalallel des Reparaturgens zu einem Verlust der DNAReparaturfunktion; es kommt in der Folge zu einer Akkumulation
139 5.3 · Erbliche Tumoren des Gastrointestinaltrakts
5
. Abb. 5.6a,b. Voruntersuchung im Tumorgewebe eines Patienten mit Verdacht auf Lynch-Syndrom. a Immunhistochemische Untersuchung. Der Ausfall des MLH1-Proteins im Tumorgewebe weist auf eine Keimbahnmutation im MLH1-Gen hin. b Nachweis der Mikrosatelliteninstabili-
tät. DNA aus normalem Gewebe und Tumorgewebe wurde mit den Mikrosatellitenmarkern BAT26 bzw. D2S123 untersucht. Instabile Tumoren weisen zusätzliche Markerallele auf (Pfeile). (Bilder von N. Friedrichs, Pathologisches Institut, Universitätsklinikum Bonn)
von verschiedenen genetischen Veränderungen in der Zelle. Wenn diese Veränderungen wichtige Gene beeinträchtigen, die für die Kontrolle der Zellproliferation von Bedeutung sind, z. B. Tumorsuppressorgene (APC, TP53, DCC u. a.) oder Wachstumsfaktoren (z. B. TGFBR2), so kommt es zur Entstehung von Neoplasien. Zu den ersten genetischen Veränderungen in Tumoren von Patienten mit Lynch-Syndrom gehören Mutationen im Wachstumsfaktor TGFBR2, der aufgrund seiner Gensequenz besonders anfällig für Mutationen ist (Eshleman u. Markowitz 1996). In der weiteren Tumorprogression sind die gleichen Gene involviert wie beim sporadischen CRC, jedoch sind die Abläufe viel schneller. Charakteristisch für Tumoren von Patienten mit Lynch-Syndrom ist der Verlust eines DNA-MMR-Proteins, der immunhistochemisch mit spezifischen Antikörpern gegen MSH2, MLH1, MSH6 und PMS2 nachgewiesen werden kann (Baudhuin et al. 2005; Hendriks et al. 2003; Leach et al. 1996). (. Abb. 5.6a). Als Folge des Verlustes eines DNA-MMR-Proteins tritt eine hohe genomische Instabilität (RER, »replication error«) im Tumor auf, die mithilfe von Mikrosatellitenmarkern untersucht werden kann (. Abb. 5.6b). Hierfür wird DNA aus Tumorgewebe und Normalgewebe (in der Regel Blut) mit Mikrosatellitenmarkern untersucht (Thibodeau et al. 1993; Ionov 1993). Wenn mit mindestens zwei von fünf untersuchten Markern (oder 40% der untersuchten Marker) im Tumor zusätzliche Allele auftreten (im Vergleich zum
Normalgewebe), so weist dieser Tumor eine hohe Mikrosatelliteninstabilität (MSI-H) auf. Molekulargenetische Diagnostik Bisher wurden Keimbahnmutationen in DNA-MMR Genen nahezu ausschließlich bei Patienten identifiziert, deren Tumoren einen Defekt im DNA-MMR-System aufweisen. Um die Effizienz der Mutationssuche zu erhöhen, ist es daher sinnvoll, vorher die Tumoren auf einen MMR-Defekt zu untersuchen (. Abb. 5.6 a,b). Es besteht eine gute Korrelation zwischen den Ergebnissen der Mikrosatellitenanalyse und der immunhistochemischen Untersuchung im Tumor (Hendriks et al. 2003; Engel et al. 2006). Die immunhistochemische Methode zeigt zusätzlich den Ausfall eines einzelnen MMR-Proteins an und kann daher einen Hinweis auf das bei dem Patienten mutierte Gen geben. Die Untersuchung des Tumorgewebes auf einen MMR-Defekt ist eine geeignete Vorscreeningmethode insbesondere für die Fälle, in denen die Familienanamnese nicht bekannt ist oder nicht den Amsterdam-Kriterien entspricht bzw. wenn bei jungen Patienten mit sporadischem CRC der Verdacht auf ein Lynch-Syndrom besteht (. Tab. 5.3). Außerdem ist die Voruntersuchung des Tumorgewebes hilfreich bei Familien, die formal die Amsterdam-Kriterien erfüllen, bei denen aber eine sehr milde Form der familiären adenomatösen Polyposis als Differenzialdiagnose nicht ausgeschlossen werden kann.
140
Kapitel 5 · Disposition für erbliche Krebserkrankungen
. Tab. 5.3. Anteil der Patienten mit instabilen Tumoren und der identifizierten Keimbahnmutationen in den Genen MSH2 und MLH1 bei verschiedenen Patientengruppen mit Verdacht auf Lynch-Syndrom. (Daten aus dem Verbundprojekt »Familiärer Darmkrebs«, Mangold et al. 2005) Alle Kriterien
AmsterdamKriterien
Weniger stringente Kriteriena
Andere Verdachtskriterienb
1377
324
943
110
davon MSI-H
614
234
352
28
% MSI-H
45%
72%
37%
25%
Mutationsanalyse
406
172
218
16
Pathogene Keimbahnmutation
225
128
95
2
Identifizierte Mutationen bei Patienten mit MSI-H
55%
74%
44%
12%
Gesamtzahl der Patienten, die auf MSI untersucht wurden
5
a
b
Hierzu gehören: Patienten aus Familien, welche die Amsterdam-Kriterien ohne Alterskriterium erfüllen (d. h. kein Tumor in der Familie vor dem 50. Lebensjahr); Personen mit 2 HNPCC-assoziierten synchronen oder metachronen Tumoren und Patienten, welche die weniger stringenten Bethesda-Kriterien 2-4 erfüllen (Patienten mit CRC und einem erstgradig Verwandten mit HNPCC-assoziiertem Tumor <45. Lebensjahr oder mit Adenom <40. Lebensjahr; Patienten mit CRC <45. Lebensjahr oder Endometriumkarzinom <40. Lebensjahr) Patienten erfüllen die vorher genannten Kriterien nicht, aber die Eigen- oder Familienanamnese ist sehr nahe an den Bethesda-Kriterien
Der Nachweis von MSI-H im Tumor eines Patienten macht das Vorliegen eines Lynch-Syndroms wahrscheinlich: Etwa 72% der Tumoren von klinisch definierten HNPCC-Patienten weisen MSI-H auf (. Tab. 5.3; Daten aus dem Verbundprojekt »Familiärer Darmkrebs« der Deutschen Krebshilfe), während nur etwa 15% der sporadischen CRC instabil sind (Aaltonen et al. 1993; Thibodeau et al. 1993). Beweisend für ein Lynch-Syndrom ist jedoch nur der Nachweis einer Keimbahnmutation in einem der DNAMMRGene. Keimbahnmutationen in den Genen MSH2 und MLH1 werden jeweils bei etwa einem Drittel der Lynch-Syndrom-Patienten nachgewiesen, während der Anteil an Mutationen in den Genen MSH6 und PMS2 bedeutend geringer ist (. Abb. 5.7). Die Mutationen in diesen Genen sind über weite Bereiche der Gene verteilt, sodass deren Identifizierung aufwändig ist. Die Mutationsdetektionsrate beträgt 30–70% in verschiedenen Publikationen (Übersicht in Mangold et al. 2005) und ist abhängig von der Auslese der untersuchten Patientengruppe (. Tab. 5.3). Bei deutschen Patienten mit Lynch-Syndrom wurden 160 verschiedene Mutationen in den Genen MSH2 und MLH1 identifiziert, die meisten Mutationen werden nur bei einer oder zwei Familien festgestellt. Zwei Mutationen traten häufiger auf: Bei 15 Familien fand sich die Mutation c.942+3A>T im MSH2-Gen, die auch bei anderen Patientengruppen häufig vorkommt; die bei 21 Familien gefundene Mutation c.1489_1490 insC im MLH1Gen scheint auf einen Gründereffekt in der deutschen Bevölkerung zurückzugehen (Mangold et al. 2005). Krebsvorsorgeprogramm und Therapie Beim Lynch-Syndrom gibt es keine Möglichkeit der klinischen präsymptomatischen Diagnostik von Neoplasien. Deshalb sollten alle identifizierten Mutationsträger, bzw. alle Patienten und Risikopersonen aus Amsterdam-Familien sowie aus Familien, die die Bethesda-Kriterien erfüllen und einen MMR-Defekt im Tumor aufweisen, in denen keine Mutation identifiziert werden konnte, die speziellen Krebsvorsorgeuntersuchungen wahrnehmen. Das vom Verbundprojekt »Familiärer Darmkrebs« empfohlene Früh-
erkennungsprogramm umfasst folgende Untersuchungen (ab dem 25. Lebensjahr jährlich): 4 körperliche Untersuchung, 4 Abdomensonografie, 4 komplette Koloskopie, 4 gynäkologische Untersuchung auf Endometrium- und Ovarialkarzinom einschließlich transvaginaler Sonografie, 4 Ösophago-Gastro-Duodenoskopie (ab dem 35. Lebensjahr). Die früher empfohlene Urinzytologie ist nicht geeignet, frühe Karzinome der ableitenden Harnwege zu erfassen; daher wird sie
. Abb. 5.7. Häufigkeit von pathogenen Mutationen in den Genen MSH2, MLH1, MSH6 und PMS2 bei Patienten, die die Bethesda-Kriterien erfüllen und deren Tumoren eine charakteristische Mikrosatelliteninstabilität aufweisen. (Daten aus dem Zentrum für Familiären Darmkrebs, Universitätsklinikum Bonn)
141 5.3 · Erbliche Tumoren des Gastrointestinaltrakts
in der Leitlinie der DGVS nicht mehr empfohlen (Schmiegel et al. 2004). Wenn im Tumor kein MMR-Defekt nachweisbar ist und die Amsterdam-Kriterien nicht erfüllt sind, wird dem Patienten und seinen erstgradig Verwandten die individuelle Tumornachsorge bzw. das Früherkennungsprogramm gemäß den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) empfohlen (Schmiegel et al. 2004). Angesichts der Penetranz von bis zu 80% im Alter von 80 Jahren und der guten Therapierbarkeit früh erkannter kolorektaler Karzinome wird eine prophylaktische Kolektomie bei gesunden Anlageträgern für Lynch-Syndrom nicht allgemein empfohlen. Bei Auftreten eines kolorektalen Karzinoms wird die Durchführung einer subtotalen Kolektomie mit ileorektaler Anastomose (IRA) diskutiert. Frauen mit Lynch-Syndrom haben ein lebenslanges Risiko von 40–60%, an einem Endometriumkarzinom und von 10–12% an einem Ovarialkarzinom zu erkranken. In einer neuen Studie wird die prophylaktische Hysterektomie mit bilateraler SalpingoOophorektomie – nach abgeschlossener Familienplanung – als effiziente Maßnahme zur Verhinderung von Endometrium- und Ovarialkarzinomen dargestellt (Schmeler et al. 2006). Patienten mit MSI-H-Tumoren sprechen auf die adjuvante Chemotherapie mit 5-Fluorouracil nicht so gut an wie Patienten mit mikrosatellitenstabilen Tumoren (Ribic 2004). Dagegen scheint ein Topoisomerase-I-Inhibitor (Irinotecan) bei MSI-Tumoren wirksamer zu sein (Fallik et al. 2003; Übersicht in Lynch et al. 2006). Vor diesem Hintergrund erscheint ein Screening aller neu diagnostizierten CRC auf einen DNA-MMR-Defekt mittels MSI- oder IHC-Analyse sinnvoll (Hampel et al. 2005).
5.3.3
Familiäre adenomatöse Polyposis (FAP)
Krankheitsbild Die familiäre adenomatöse Polyposis (FAP) ist eine Präkanzerose, die typischerweise durch das Auftreten von Hunderten bis Tausenden von adenomatösen Polypen im gesamten Kolon gekennzeichnet ist. Das Adenomwachstum beginnt meistens im zweiten Lebensjahrzehnt im Rektosigmoid. Unbehandelt entwickelt sich mit nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit
5
im Alter von durchschnittlich 40 Jahren ein kolorektales Karzinom. Ein Teil der Patienten weist eine mildere Verlaufsform der Polypenerkrankung (attenuierte FAP, AFAP) auf. Diese Patienten entwickeln meistens weniger als 100 Adenome, sie entstehen in der Regel 10–15 Jahre später als bei der typischen FAP und sind vorwiegend im proximalen Kolon lokalisiert (Leppert et al. 1990; Lynch et al. 1995). Einige Patienten entwickeln zusätzlich auch extrakolonische Tumoren, vor allem Adenome im Duodenum, Drüsenkörperzysten im Magenfundus, Osteome in Kiefer- und langen Röhrenknochen, sowie Desmoidtumoren (Bülow 1989; Herrera 1990; Phillips et al. 1994). Etwa 85% der Patienten weisen zudem eine charakteristische Veränderung der Netzhaut auf, die sog. kongenitale Hypertrophie des retinalen Pigmentepithels (CHRPE) (Caspari et al. 1993; Romania et al. 1992; Traboulsi et al. 1988). Die Häufigkeit der Erkrankung in der Allgemeinbevölkerung liegt bei etwa 1:10.000. Die FAP wird autosomal-dominant vererbt, die Penetranz beträgt nahezu 100%. Etwa 11–25% der Fälle gehen auf eine Neumutation zurück, die sowohl in der väterlichen als auch in der mütterlichen Gamete auftreten kann (Bisgaard et al. 1994; Aretz et al. 2004a). Molekulargenetische Grundlagen FAP wird durch Mutationen im Tumorsuppressorgen APC (von »adenomatous polyposis coli«) verursacht (Groden et al. 1991; Kinzler et al. 1991). Das APC-Protein ist Teil eines komplexen Regelkreises, der die Zellproliferation und Zelladhäsion sowohl von Einzelzellen als auch von epithelialen Zellverbänden steuert. Durch Interaktion mit β-Catenin ist das APC-Protein an der Vermittlung von Signalen zwischen Zelladhäsionsmolekülen der Zelloberfläche (E-Cadherin) und Zellkern (Mikrotubuli) beteiligt. Zudem spielt β-Catenin eine Schlüsselrolle bei der Übermittlung und Kontrolle von Wachstumssignalen im wnt/winglessRegelkreis (Übersicht in Fodde u. Meera Khan 1995; Polakis 1997; Morin 1999; Friedl u. Lamberti 2001). Genotyp-Phänotyp-Beziehungen: Bei der FAP wurde ein Zusammenhang zwischen der Lokalisation der Mutation und der Ausprägung der Polyposiserkrankung sowie auch der extrakolonischen Manifestationen beobachtet (. Abb. 5.8).
. Abb. 5.8. Beziehung zwischen Lage der Mutation im APC-Gen und klinischen Merkmalen bei der familiären adenomatösen Polyposis
142
5
Kapitel 5 · Disposition für erbliche Krebserkrankungen
Patienten mit einer Keimbahnmutation im Bereich von Kodon 1309 haben einen besonders schweren Verlauf der Polypenerkrankung: Die Zahl der Adenome ist größer, die Adenome treten im Durchschnitt etwa 10 Jahre früher auf und unbehandelte Patienten versterben im Durchschnitt etwa 10 Jahre früher als Patienten mit anderen APC-Mutationen (Caspari et al. 1994; Nagase et al. 1992; Gayther et al. 1994; Friedl et al. 2001). Patienten mit Mutationen am 5’-Ende des Gens (Kodons 77–157), am 3’-Ende des Gens (distal von Kodon 1554) oder in der alternativ gespleißten Sequenz von Exon 9 haben einen besonders milden Verlauf (AFAP) (Friedl et al. 1996; Gebert et al. 1999; Scott et al. 1995; Soravia et al. 1998; Spirio et al.1993; van der Luijt et al. 1995). Es konnte gezeigt werden, dass die Lokalisierung der APC-Keimbahnmutation auch die Art der somatischen Mutation, die letztlich zur Auslösung des Tumorwachstums führt, beeinflusst (Lamlum et al. 1999; Spirio et al. 1998). Die kongenitale Hypertrophie des retinalen Pigmentepithels (CHRPE) wird – mit sehr wenigen Ausnahmen – beobachtet, wenn die Mutation im Bereich der Kodons 463–1387 liegt; Patienten mit Mutationen proximal von Kodon 302 und distal von Kodon 1444 weisen keine CHRPE auf (Caspari et al. 1993; Caspari et al. 1995; Olschwang et al. 1993; Wallis et al. 1994).
Desmoidtumoren werden bei etwa 13% der FAP-Patienten beobachtet (Caspari et al. 1995). Patienten mit Mutationen innerhalb der Kodons 1445–1578 weisen extrem aggressive Desmoide auf; zudem zeigen diese Patienten häufig auch Osteome und Epidermoidzysten.
. Abb. 5.9. Verteilung von 597 bisher identifizierten Punktmutationen und 39 großen Deletionen im APC-Gen bei 634 von 1166 nicht verwandten Patienten mit familiärer adenomatöser Polyposis. Die Promotorregion und die 15 Exons des APC-Gens sind schematisch dargestellt. Die
Länge der waagerechten Linien zeigt das Ausmaß der Deletion an und die Zahlen links davon zeigen an, wenn eine Deletion mehr als einmal festgestellt wurde. Die gestrichelte Linie steht für eine sehr große, mikroskopisch sichtbare Deletion.
Molekulargenetische Diagnostik Eine Keimbahnmutation im APC-Gen wird bei etwa 80% der Patienten mit typischer FAP, aber nur bei etwa 30% der Patienten mit attenuierter FAP identifiziert (Wallis et al. 1999; van der Luijt et al. 1997; Friedl u. Aretz, 2005). Die Mutationen liegen meist in der ersten Hälfte des APC-Gens (. Abb. 5.9; Daten aus dem Institut für Humangenetik der Universität Bonn; Friedl u. Aretz 2005). Etwa 10% der Patienten mit typischer oder schwerer Verlaufsform der FAP haben eine Deletion von fünf Basenpaaren in Kodon 1309, weitere 7% haben eine Deletion von fünf Basenpaaren in Kodon 1061. Alle übrigen Mutationen sind über weite Bereiche des Gens verstreut. Etwa 10% der Patienten mit typischer FAP weisen eine große Deletion im APC-Gen auf (Aretz et al. 2005b). Bei einem Teil der Patienten kann die ursächliche Mutation im APC-Gen mit gängigen Methoden der Mutationssuche gar nicht gefunden werden.
143 5.3 · Erbliche Tumoren des Gastrointestinaltrakts
Vorsorgeuntersuchungen und Therapie Den Risikopersonen aus Familien mit einer typischen FAP wird – gemäß den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) – eine regelmäßige endoskopische Kontrolle ab dem Alter von 10 Jahren empfohlen (wenn Darmsymptome auftreten auch früher). In den meisten Fällen genügt eine Rektosigmoidoskopie, die in 2-jährigem Abstand wiederholt wird. Bei Nachweis von Adenomen muss eine komplette Koloskopie durchgeführt und ggf. eine prophylaktische Kolektomie erwogen werden (Schmiegel et al. 2004). Hierfür stehen heute mehrere operative Methoden zur Verfügung. Das Verfahren der Wahl ist die restaurative Proktokolektomie mit ileoanaler Pouchanlage (Herfarth u. Kadmon 1999); dieser chirurgische Eingriff sollte nur an Kliniken durchgeführt werden, die Erfahrung mit dieser Technik haben. Meist kann der Schließmuskel erhalten bleiben. Bei geringem Polypenbefall im Rektum kann auch eine subtotale Kolektomie (ileorektale Anastomose) durchgeführt werden. Die operative Methode sollte aufgrund des Polypenbefalls und nicht in Abhängigkeit von der Mutation im APCGen gewählt werden. Da die klinische Vorsorgeuntersuchung ab dem Alter von 10 Jahren empfohlen wird, ist auch die molekulargenetische Diagnose bei Risikopersonen in diesem Alter sinnvoll. Patienten mit einer attenuierten FAP sollten in Abhängigkeit von Alter, Polypenzahl und histologischem Befund therapiert werden. Bei endoskopisch nicht beherrschbarer Polyposis ist eine Kolektomie indiziert. Patienten, die nicht kolektomiert sind, müssen zeitlebens regelmäßig koloskopiert werden. Risikopersonen aus Familien mit attenuierter FAP sollten im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung im Alter von 15 Jahren erstmals koloskopiert werden. Finden sich keine Polypen, sollten diese Personen ab dem 20. Lebensjahr jährlich koloskopiert werden (Leitlinien der DGVS, Schmiegel et al. 2004). Zu den klinisch relevanten extrakolonischen Manifestationen der FAP zählen Duodenaladenome und Desmoide. Nahezu alle FAP-Patienten entwickeln im Laufe ihres Lebens Adenome im Duodenum, die eine gewisse Entartungstendenz aufweisen (Heiskanen et al. 1999). Deshalb wird den Patienten spätestens ab dem 30. Lebensjahr eine regelmäßige Gastroduodenoskopie empfohlen, die bei negativem Befund alle 3 Jahre wiederholt werden sollte. Desmoide sind gutartige, jedoch lokal aggressiv wachsende Bindegewebstumoren, die meist retroperitoneal, in der Mesenterialwurzel oder in der Bauchdecke auftreten. Bei kolektomierten Patienten stellen Duodenalpolypen und Desmoide die Haupttodesursache dar.
5.3.4
MUTYH-assoziierte Polyposis (MAP)
Patienten mit MAP entwickeln in der Regel eine attenuierte Form der adenomatösen Polyposis, die im Wesentlichen klinisch vergleichbar ist mit der durch APC-Mutationen verursachten attenuierten FAP (AFAP). Im Unterschied zur FAP wird die MAP autosomal-rezessiv vererbt. Entsprechend gehören hierzu Patienten, deren Eltern in der Regel keine Darmpolyposis hatten; ggf. sind mehrere Geschwister oder nur einzelne Personen in der Familie erkrankt. Extraintestinale Manifestationen werden selten beobachtet. Die MAP wird durch biallelische Keimbahnmutationen im MUTYH-Gen (MYH-Gen) verursacht (Al-Tassan et al. 2002; Sieber et al. 2003; Sampson et al. 2003; Sampson et al. 2005). Das
5
von MUTYH kodierte Protein ist für die Reparatur von durch oxidative Schäden hervorgerufenen Basenfehlpaarungen im Genom verantwortlich. Durch homozygote oder compound-heterozygote Mutationen kann die Funktion des MUTYH-Proteins beeinträchtigt werden. Eine MAP wird bei 15–20% der Patienten mit attenuierter Polyposis diagnostiziert (Aretz et al. 2006; Croitoru et al. 2004). Zwei Missense-Mutationen (Y165C und/oder G382D) werden bei etwa 80% der MUTYH-Mutationsträger festgestellt. Die Entdeckung der autosomal-rezessiv erblichen MUTYHassoziierten Polyposis erfordert ein Umdenken in der Bewertung des Erkrankungsrisikos in den Familien von Patienten mit adenomatöser Polyposis. Geschwister eines Erkrankten haben ein Risiko von 25%, ebenfalls die Krankheit zu entwickeln; für die Geschwister kann eine eindeutige prädiktive molekulargenetische Diagnostik durchgeführt werden. Kinder eines MAP-Patienten sind obligat heterozygot für eine der beiden Mutationen des erkrankten Elternteils. Nach derzeitiger Erkenntnis haben heterozygote Träger einer pathogenen Mutation im MUTYH-Gen nur ein geringfügig erhöhtes Risiko für Darmkrebs (Farrington et al. 2005: relatives Risiko von 1,68 bei über 55-jährigen Personen). Aufgrund der Heterozygotenfrequenz von MUTYH-Mutationen in der Allgemeinbevölkerung (etwa 1%) haben Kinder eines Patienten ein Risiko von etwa 0,5%, zwei Mutationen im MUTYHGen zu tragen und an MAP zu erkranken. Wegen des hohen Krebsrisikos wird MAP-Patienten derzeit das gleiche Früherkennungsprogramm wie Patienten mit attenuierter FAP empfohlen.
5.3.5
Peutz-Jeghers-Syndrom
Charakteristisch für dieses seltene Syndrom sind eine hamartomatöse Polyposis des Darms; sowie typische Pigmentflecken auf den Lippen, der Mundschleimhaut und den Fingern (Übersicht in Spigelman u. Phillips 1994; Friedl et al. 1999; Jenne u. Zimmermann 2001; Tomlinson u. Houlston 1997). Peutz-Jeghers-Polypen weisen charakteristische, sich baumartig verzweigende glatte Muskelfasern auf, die zwischen den Krypten und Villi in feinen Bündeln bis zur Oberfläche ziehen. Im Gegensatz zu den adenomatösen Polypen gelten die hamartomatösen Polypen nicht als neoplastisch, in ihnen können sich aber Neoplasien entwickeln (Mueller et al. 2001). Eine Hamartom-Karzinom-Sequenz wird diskutiert. Die Polypen treten bevorzugt im Jejunum und Ileum auf, wo sie zu Invaginationen führen können. Das PJS wird autosomal-dominant vererbt. Der Krankheitslokus wurde auf Chromosom 19p kartiert (Hemminki et al. 1997) und als eine Serin-Threonin-Kinase (STK11) identifiziert (Hemminki et al. 1998; Jenne et al. 1998). Punktmutationen im STK11-Gen werden bei etwa 60% der Patienten mit klinisch diagnostiziertem PJS identifiziert (Westerman et al. 1999). Bei einem Drittel der Patienten wurden große Deletionen im STK11Gen nachgewiesen (Aretz et al. 2005a). Patienten mit PJS haben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein etwa 15-fach erhöhtes allgemeines Krebsrisiko. Zusätzlich zum erhöhten Risiko für gastrointestinale Tumoren haben sie ein erhöhtes Risiko für bösartige Tumoren der Mamma und des Pankreas sowie auch von Lunge, Uterus und Ovarien (Giardiello et al. 2000).
144
Kapitel 5 · Disposition für erbliche Krebserkrankungen
5.4
Multiple endokrine Neoplasien
Die multiplen endokrinen Neoplasien (MEN) sind autosomaldominant erbliche Dispositionen zu Tumoren des endokrinen Systems. Aufgrund des Tumorspektrums unterscheidet man zwischen MEN Typ 1 und MEN Typ 2, wobei diesen zwei klinischen Subtypen jeweils ein anderer genetischer Defekt zugrunde liegt (Übersicht in Ritter u. Höppner 2001; Carling 2005).
5.4.1
5
Multiple endokrine Neoplasie Typ 1
Krankheitsbild Die Diagnose einer multiplen endokrinen Neoplasie Typ 1 (MEN 1) liegt vor, wenn ein Patient Tumoren in zwei der drei Hauptorgane (Nebenschilddrüsen, endokrines Pankreas, Hypophyse) aufweist. Etwa 90% der Patienten entwickeln Nebenschilddrüsentumoren, bei 50–70% der Patienten finden sich endokrine Pankreastumoren (Gastrinome, Insulinome u. a.) und bei etwa 30% Hypophysentumoren. Seltener treten Karzinoide des Vorderdarms (der Bronchien, des Thymus und des Magens) sowie einige nicht endokrine Tumoren auf (Übersicht in Peters et al. 1998; Scherübl et al. 1996; Trump et al. 1996; Ritter u. Höppner 2001; Carling 2005). Die Angaben zur Häufigkeit von MEN 1 reichen von 1:10.000 bis 1:100.000, die Penetranz im Alter von 20, 35 bzw. 50 Jahren wird mit 43%, 85% bzw. 94% angegeben (Chandrasekharappa et al. 1997). Die früher verwendeten Bezeichnungen »Wermer’s Syndrom« und »Zollinger-Ellison-Syndrom« für hartnäckige (unbehandelbare) Magengeschwüre mit Adenomen der Langerhans-Inseln sollten heute durch MEN 1 ersetzt werden, da sie nur unterschiedliche Ausprägungen von Mutationen im gleichen Gen (s. unten) darstellen. Molekulargenetische Grundlagen Das MEN1-Gen wurde 1988 auf Chromosom 11.q13 kartiert, aber erst 1997 durch Positionsklonierung identifiziert (Chandrasekharappa et al. 1997). Das Genprodukt (genannt Menin) ist in allen Körperzellen (einschließlich Leukozyten) exprimiert und wirkt als Tumorsuppressor. Menin interagiert mit einer Reihe von Kernproteinen, die an der Regulation der Transkription beteiligt sind (Übersicht in Agarwal 2004). Bei 70–90% der typischen MEN-1-Familien wird eine Keimbahnmutation im MEN1-Gen identifiziert; bei den restlichen Familien liegen möglicherweise große Deletionen vor. Es konnte gezeigt werden, dass scheinbar sporadische Fälle von MEN 1 ebenfalls durch Keimbahnmutationen im MEN1-Gen verursacht sein können (Agarwal et al. 1997). Vorsorgeuntersuchungen und Therapie Bei MEN-1-Patienten und bei noch gesunden Mutationsträgern werden regelmäßige Früherkennungsuntersuchungen bezüglich der typischen Organmanifestationen empfohlen. Das Früherkennungsprogramm umfasst regelmäßige Blutuntersuchungen, um eine Überproduktion von Hormonen zu erkennen. Als weiterführende Diagnostik werden die Endosonografie und die Computertomografie auf neuroendokrine Tumoren des Magens, des Duodenums sowie des Pankreas empfohlen. Screeninguntersuchungen sollten ab dem 16. Lebensjahr lebenslang in regelmäßigen, 1- bis 2-jährlichen Abständen durchgeführt werden (Übersicht in Ritter u. Höppner, 2001; Carling 2005).
Hyperparathyreoidismus ist die häufigste und meist die erste klinische Manifestation bei MEN-1-Patienten. Die Patienten weisen bereits präsymptomatisch erhöhte Kalziumspiegel im Blut und im Urin auf. Die Therapie besteht in einer subtotalen oder totalen Entfernung der Nebenschilddrüsen; ggf. wird eine der Nebenschilddrüsen in die Muskulatur des Unterarms transplantiert. Die Überfunktion der Hypophyse und des endokrinen Pankreas wird chirurgisch oder medikamentös behandelt.
5.4.2
Multiple endokrine Neoplasie Typ 2
Krankheitsbild Die multiple endokrine Neoplasie Typ 2 (MEN 2) ist eine autosomal-dominant vererbte Disposition für das medulläre Schilddrüsenkarzinom (C-Zell-Karzinom, MTC) und – je nach klinischem Untertyp – für weitere endokrine Tumoren (. Tab. 5.4). Aufgrund des Tumorspektrums unterscheidet man drei klinische Untertypen: MEN 2A (etwa 80% aller MEN-2-Patienten), MEN 2B (etwa 5–6%) und das familiäre medulläre Schilddrüsenkarzinom ohne Beteiligung anderer Organe (FMTC; etwa 15%). Allen drei Formen gemeinsam ist das multifokal auftretende C-Zell-Karzinom, das sich meist im Laufe des 2. Lebensjahrzehnts aus einer diffusen C-Zell-Hyperplasie entwickelt und bei nicht rechtzeitig diagnostizierten Anlageträgern die häufigste Todesursache darstellt (Übersicht in Dralle et al. 1996; Höppner 1998). Bei MEN 2A und MEN 2B können zusätzliche endokrine Tumoren auftreten (. Tab. 5.4). Etwa die Hälfte der Patienten mit MEN 2A entwickeln z. T. bilaterale Phäochromozytome, die jedoch nur selten entarten; bei etwa 20% der Patienten mit MEN 2A sind Hyperplasien und Adenome der Nebenschilddrüsen nachweisbar. Manche Patien-
. Tab. 5.4. Formen des familiären medullären Schilddrüsenkarzinoms. (Nach Höppner 1998; Raue et al. 1994; Stuhrmann u. ArslanKirchner 1996) FMTC [%]
MEN 2A [%]
MEN 2B [%]
Medulläres Schilddrüsenkarzinom
100
70 (–100)a
70 (–100)a
Phäochromozytom
–
50
50
Nebenschilddrüsenadenome
–
20
–
Intestinale Gangliome
–
–
100
RET-Keimbahnmutationen
Zysteinreiche Domäne
Tyrosinkinasedomäne
In Exon 10
Kodons 609; 611; 618; 620 (17%)
–
In Exon 11
Kodon 634 (78%) –
–
In Exon 16
–
Kodon 918 (95%)
Häufigkeit der Tumoren:
a
bei histologischer Untersuchung
145 5.4 · Multiple endokrine Neoplasien
ten mit MEN 2A entwickeln zusätzlich eine juckende Hautläsion zwischen den Schulterblättern; histologisch handelt es sich um eine Amyloidose (Raue et al. 1994). Bei MEN 2B fehlt der primäre Hyperparathyreoidismus, es treten aber zusätzlich zum MTC und Phäochromozytom auch Schleimhautneurome, eine intestinale Ganglioneuromatose und ein marfanoider Habitus auf. MEN 2B ist insgesamt seltener, aber klinisch aggressiver als MEN 2A; das medulläre Schilddrüsenkarzinom tritt in der Regel früher auf und hat unbehandelt aufgrund der frühen Metastasierung eine schlechtere Prognose. Die C-Zellen der Schilddrüse produzieren physiologischerweise Kalzitonin, dessen Produktion durch Pentagastrin stimuliert wird. Erhöhte Serumkalzitoninspiegel nach Stimulation mit Pentagastrin und/oder Kalziumionen weisen auf eine C-ZellHyperplasie hin. Der Kalzitonin-Stimulationstest mit Pentagastrin war früher die einzige Methode der Früherkennung von Anlageträgern für MEN 2A. Etwa 90% der Anlageträger haben im Alter von 30 Jahren einen positiven Pentagastrintest; ein negativer Test bei jungen Risikopersonen muss allerdings jährlich wiederholt werden, da der Schilddrüsentumor eventuell auch später auftreten kann. Molekulargenetische Grundlagen Das bei MEN 2 veränderte Gen wurde 1987 in der perizentrischen Region von Chromosom 10 kartiert, aber erst 1993 konnte gezeigt werden, dass es sich dabei um das bereits 1985 identifizierte RET-Protoonkogen handelt (Mulligan et al. 1993; DonisKeller et al. 1993). Im Unterschied zu den meisten erblichen Tumordispositionserkrankungen, die durch Mutationen in Tumorsuppressorgenen verursacht werden, ist bei MEN 2 ein dominantes Onkogen ursächlich für die Erkrankung. Das RET-Protoonkogen kodiert für eine Rezeptortyrosinkinase (Takahashi et al. 1988). Es ist ein Transmembranprotein, das aus einer zysteinreichen extrazellulären Domäne, einer Transmembrandomäne und einer zytoplasmatischen Tyrosinkinasedomäne besteht. Bei MEN 2A und MEN 2B wurden bisher nur MissenseMutationen nachgewiesen. Diese führen durch Aktivierung der RET-Kinase zur Umwandlung des RET-Protoonkogens in ein dominant wirkendes Onkogen. Dieser Mechanismus erklärt auch, warum in Tumoren von Patienten mit MEN 2 kein Verlust des Wildtypallels beobachtet wurde. Mutationen im RET-Protoonkogen, die zu einem Verlust der Funktion führen (z. B. größere Deletionen oder Mutationen die zu einem verkürzten RET-Protein führen) wurden bei Morbus Hirschsprung (HSCR; aganglionäres Megakolon) gefunden (Edery et al. 1994; Romeo et al. 1994). Bei HSCR handelt es sich nicht um eine Tumorerkrankung, sondern um eine angeborene Fehlbildung (das Fehlen) der enteralen Ganglien über eine variable Länge des Darms (Passarge 1993). Molekulargenetische Diagnostik Bei der MEN 2 werden ausgeprägte Genotyp-Phänotyp-Beziehungen beobachtet, die z. T. auch therapeutische Konsequenzen haben (Brandi 2001; Frank-Raue et al. 2003). Bei der klassischen MEN 2A werden fast ausschließlich Keimbahnmutationen in den Exons 10 (Kodons 609, 611, 618, 620) und 11 (Kodon 634) festgestellt, die fünf verschiedene Kodons für Zystein betreffen (. Abb. 5.10; nach Raue et al. 1994; Stuhrmann et al. 1996). 85% der MEN-2A-Patienten weisen Missense-Mutationen in Kodon 634 auf, die mit einem einfachen Restriktionsassay dargestellt werden können; weitere 15% der
5
. Abb. 5.10. Schematische Darstellung der funktionellen Domänen des RET-Proteins und Angabe der häufigsten Mutationen im RET-Protoonkogen. 95% der Patienten mit MEN 2A haben eine Missense-Mutation in einem der fünf Kodons in der zysteinreichen extrazellulären Domäne (Cys). Etwa 95% der untersuchten Patienten mit MEN 2B haben die gleiche Mutation in der intrazellulären Tyrosinkinasedomäne (TK2)
Mutationen betreffen Exon 10. Diese Mutationen führen alle zu einer dauerhaften Aktivierung des RET-Proteins. Bei nahezu allen Patienten mit MEN 2B fand sich die gleiche Mutation in Exon 16 (Kodon 918) in der intrazellulären Domäne des RETProteins, die für das Erkennen der Substrate verantwortlich ist. Die Mutation in Kodon 918 führt zu einer Veränderung der Substratspezifität der Tyrosinkinase, d. h. zur Phosphorylierung falscher intrazellulärer Substrate. Beim familiären medullären Schilddrüsenkarzinom (FMTC) wurden zunächst ebenfalls Mutationen in den Exons 10 und 11, später aber auch in den Exons 13–15 gefunden. Durch das bevorzugte Auftreten der RET-Mutationen in wenigen Kodons ist die prädiktive molekulargenetische Diagnostik bei etwa 95% der Familien mit MEN 2A oder MEN 2B relativ einfach. Vorsorgemaßnahmen und Therapie Um die Entwicklung eines C-Zell-Karzinoms bei Anlageträgern zu verhindern, wird eine prophylaktische Thyreoidektomie mit Autotransplantation bereits im Kindesalter empfohlen. Die Operation sollte vor Entwicklung eines Karzinoms, d. h. noch im Stadium der C-Zell-Hyperplasie, durchgeführt werden. Basierend auf den oben genannten Genotyp-Phänotyp-Beziehungen werden in den Empfehlungen des MEN-Konsortiums (2001) drei Risikogruppen definiert (Übersicht in Carling, 2005; Wiesner u. Snow-Bailey, 2005 Genetests): 4 Kinder mit MEN 2B und/oder RET-Mutationen in den Kodons 883, 918 und 922 (Risikogruppe 3) haben das höchste Risiko und sollten innerhalb der ersten 6 Lebensmonate operiert werden. 4 Kinder mit Mutationen in den Kodons 611, 618, 620, 630 und 634 (Risikogruppe 2) haben ein mittleres Risiko; sie sollten vor dem 5. Lebensjahr operiert werden. 4 Kinder mit Mutationen in den Kodons 609, 768, 790, 791, 804 und 891 (Risikogruppe 1) haben das geringste Risiko; auch diese Patienten sollten thyreoidektomiert werden, aber zu einem späteren Zeitpunkt. Das in den Richtlinien des MEN-Konsortiums angegebene Alter für die Risikogruppe 1 (zwischen 5. und 10. Lebensjahr) wurde jedoch kontrovers diskutiert. Wegen des vorwiegend milden Verlaufs empfehlen mehrere Autoren einen jährlichen Kalzitonin-
146
5
Kapitel 5 · Disposition für erbliche Krebserkrankungen
Stimulationstest mit Pentagastrin und eine Thyreoidektomie bei einem auffälligen Pentagastrin-Test (Hansen et al. 2000; Lombardo et al. 2002; Frank-Raue et al. 2003; Lips et al. 2005). Die Richtlinien bezüglich der Zuordnung von Mutationen zu Risikogruppen werden allerdings – mit zunehmend wachsender Datenlage – kontinuierlich modifiziert. Die prophylaktische Thyreoidektomie kann mit gutem Ergebnis auch bei kleinen Kindern durchgeführt werden (Skinner et al. 2005; Moore u. Dluhy, 2005). Der Eingriff sollte an Zentren erfolgen, die Erfahrung mit der Schilddrüsenchirurgie bei Kindern haben. Nach Thyreoidektomie ist eine adäquate Substitution mit Thyroxin notwendig. Eine 1- bis 2-jährliche biochemische Kontrolle zur Erkennung von Phäochromozytomen oder Nebenschilddrüsentumoren ist für thyreoidektomierte Patienten weiterhin erforderlich.
5.5
Li-Fraumeni-Syndrom
5.5.1
Krankheitsbild
Die familiäre Assoziation von Weichteilsarkomen (insbesondere Rhabdomyosarkomen), Brustkrebs und anderen Tumoren wird nach den Erstbeschreibern »Sarcoma family syndrome of Li and Fraumeni« (Li-Fraumeni-Syndrom, LFS) benannt (Übersicht in Malkin 1998; Schneider u. Li 2004 und darin zitierte Literatur). Entsprechend der klassischen Definition liegt ein LFS bei folgenden Kriterien vor: 4 Patient mit einem Sarkom vor dem 45. Lebensjahr und 4 ein Verwandter 1. Grades mit Krebs vor dem 45. Lebensjahr und 4 ein Verwandter 1. oder 2. Grades mit Krebs vor dem 45. Lebensjahr oder mit einem Sarkom unabhängig vom Alter bei Diagnose. Zu dem sehr breiten Tumorspektrum bei LFS gehören zusätzlich zu den oben genannten Tumoren auch Hirntumoren, Osteosarkome, Leukämien, adrenokortikale Karzinome, Kehlkopfund Lungenkarzinome. Es können auch Melanome, Tumoren der Gonadenkeimzellen, des Pankreas und der Prostata auftreten. Die verschiedenen Tumoren entwickeln sich typischerweise in ungewöhnlich jungem Alter und multiple Primärtumoren sind häufig. Außerdem wurde ein Li-Fraumeni-ähnliches Syndrom (»LiFraumeni-like syndrome«, LFL) definiert, welches einen Teil der oben genannten Kriterien, aber auch andere enthält. Ein LFLSyndrom (definiert nach Birch et al. 1994) liegt vor bei: 4 Patient mit irgendeinem Krebs des Kindesalters oder mit einem Sarkom, Hirntumor oder Nebennierenrindentumor vor dem 45. Lebensjahr und 4 ein Verwandter 1. oder 2. Grades mit einem typischen LFSTumor (Sarkom, Brustkrebs, Hirntumor, Nebennierenrindentumor oder Leukämie) in jedem Alter und 4 ein Verwandter 1. oder 2. Grades mit Krebs vor dem 60. Lebensjahr. Ein LFL-Syndrom (definiert nach Eeles, 1995) liegt vor, wenn in einer Familie zwei Verwandte 1. oder 2. Grades an einem LFSassoziierten Tumor erkrankt sind (unabhängig vom Alter). Risikopersonen aus LFS-Familien entwickeln bis zum Alter von 30 Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von fast 50% einen
invasiven Tumor aus dem oben genannten Tumorspektrum, während in der Allgemeinbevölkerung nur etwa 1% der 30-Jährigen einen solchen Tumor entwickeln. Mehr als 90% der Anlageträger haben bis zum Alter von 70 Jahren Krebs (McKusick 1998). Die Krebsvorsorge ist schwierig, da der Zeitpunkt der Tumorentstehung sowie das betroffene Gewebe auch innerhalb der gleichen Familie sehr stark variiert.
5.5.2
Molekulargenetische Grundlagen
Bei den meisten Familien mit LFS liegt eine Keimbahnmutation im Tumorsuppressorgen TP53 vor (Malkin et al. 1990). Das P53-Protein hat eine Schlüsselfunktion bei der Kontrolle des Zellwachstums. Es ist ein Transkriptionsfaktor, der in der Zelle normalerweise nur in geringen Konzentrationen vorhanden ist und durch verschiedene Typen von DNA-Schäden aktiviert wird. Das aktivierte P53-Protein bindet an spezifische DNA-Sequenzen und beeinflusst dadurch die Transkription von weiteren Genen (MDM2, GADD45, Cyclin G u. a.), die ihrerseits über einen sehr komplexen Mechanismus die wachstumsregulierende Funktion wahrnehmen (Übersicht in Levine 1997; Oren 1999). Bei einigen Familien mit LFS und LFL wurden Keimbahnmutationen im CHEK2-Gen gefunden (Lee et al. 2001; Varley 2003). Somatische Mutationen werden – unabhängig vom LFS – in über 50% der verschiedensten Karzinome festgestellt. Über 90% der Mutationen im TP53-Gen (meist Missense-Mutationen) wurden in der DNA-bindenden Domäne (zwischen den Kodons 102– 292) festgestellt. Auch die Keimbahnmutationen beim LFS liegen meist in dieser Domäne.
5.6
Retinoblastom
Das Retinoblastom gilt als klassisches Beispiel für eine erbliche Tumordispositionserkrankung, die durch Mutationen in einem Tumorsuppressorgen verursacht wird. Anhand dieser Erkrankung wurde die Zwei-Treffer-Hypothese der Tumorgenese bereits 1971 von Knudson postuliert (7 Abschn. 5.1). 5.6.1
Krankheitsbild
Das Retinoblastom ist die häufigste intraokuläre Tumorerkrankung im Kleinkindesalter. Die Inzidenz liegt bei etwa einer Neuerkrankung auf 20.000 Lebendgeborenen. Die ersten Symptome sind Leukokorie, Strabismus, unilaterale Mydriasis und Heterochromie. Bei etwa 90% der Erkrankten tritt der Augentumor vor dem 3. Lebensjahr auf. Eine Früherkennung und Behandlung ist für die Prognose entscheidend (Übersicht in Lohmann u. Horsthemke 1998; Bornfeld et al. 2006). Patienten, bei denen das Retinoblastom erfolgreich behandelt wurde, haben ein erhöhtes Risiko (etwa 40% bis zum 3. Lebensjahrzehnt) für die Entwicklung von Zweitkarzinomen. Hierzu gehören vor allem Osteosarkome und Weichteilsarkome (Fibrosarkome, Chondrosarkome, maligne Hauttumoren, EwingSarkom, Leukämie, Lymphome, Melanome, Hirntumoren und Pinealome). Etwa 40% der Retinoblastome beruhen auf einer erblichen Disposition, und zwar auf einer Keimbahnmutation im RB1-
147 5.7 · Neurofibromatose
Gen. Charakteristisch für das familiäre Retinoblastom ist das multifokale oder ggf. bilaterale Auftreten der Augentumoren. Nur etwa 10% der Kinder haben eine positive Familienanamnese, bei den restlichen 30% ist eine Neumutation aufgetreten, vorwiegend im väterlichen Allel.
5.6.2
Molekulargenetische Grundlagen
Das RB1-Gen kodiert für ein Protein von 110kDa. Das Retinoblastom-assoziierte Protein (RB) ist im normalen menschlichen Gewebe ubiquitär exprimiert. Es bildet Komplexe mit den Transkriptionsfaktoren DRTF und E2F sowie mit Cyclin A und dem RB-ähnlichen Protein P107. Diese Komplexbildung variiert in Abhängigkeit vom Zellzyklus; daher wird vermutet, dass die Tumorsuppressorwirkung des RB-Proteins durch transkriptionelle Regulation gesteuert wird. Die Mutationen in dem 27 Exons umfassenden RB1-Gen sind bei Patienten mit familiärem Retinoblastom über das ganze Gen verteilt und reichen von Einzelbasenaustauschen bis zu großen Deletionen. Die Identifizierung der ursächlichen Mutation im RB1Gen gelingt in über 90% der Patienten mit familiärem Retinoblastom (Lohmann u. Gallie 2005). Keimbahnmutationen im RB1-Gen wurden auch bei 17% der Patienten mit scheinbar sporadischem Retinoblastom gefunden (Gallie 1997; Lohmann et al. 1997).
5.6.3
Vorsorgeuntersuchung und Therapie
Es ist sinnvoll, die prädiktive Diagnostik bei Risikopersonen bereits kurz nach der Geburt durchzuführen, da erste Tumorherde oft schon in der ersten Lebenswoche erkennbar sind. Für Anlageträger muss deshalb mit den engmaschigen ophthalmologischen Kontrolluntersuchungen möglichst schon in der ersten Lebenswoche begonnen werden. Ein früh erkanntes Retinoblastom kann in der Regel erfolgreich behandelt werden. Der Tumor kann unter Erhalt des Auges durch Lichtkoagulation, Kryokoagulation oder Bestrahlung zerstört werden, wobei die gewählte Therapie u. a. von der Größe, Zahl und Lage der Tumoren abhängt. Allerdings ist zu beachten, dass die Patienten im weiteren Leben ein erhöhtes Risiko für Zweittumoren (insbesondere Osteosarkome, Ewing-Sarkome, Lymphome und Leukämie) haben, deren Prognose durch Strahlenbelastung verschlechtert wird.
5.7
Neurofibromatose
Mit dem Oberbegriff Neurofibromatosen werden zwei unterschiedliche autosomal-dominant erbliche Erkrankungen bezeichnet, die vor allem mit Tumoren des Nervensystems einhergehen (Krone u. Kehrer-Sawatzki 2001).
5.7.1
Neurofibromatose Typ 1 (von Recklinghausen)
Die Neurofibromatose Typ 1 (NF1) gehört zu den häufigsten autosomal-dominanten Erkrankungen. Die Inzidenz wird mit 1:3.500 angegeben. Bei NF1 ist vor allem das Wachstum der Gewebe, die vom Neuralrohr stammen, betroffen.
5
Charakteristisch für NF1 ist das Auftreten von multiplen braunen Flecken der Haut (Café-au-lait Flecken), Hamartomen der Iris (Lisch-Knötchen) sowie von multiplen kutanen und subkutanen Neurofibromen, einer sommersprossenähnlichen Pigmentierung, z. B. in Achselhöhlen, Optikusgliomen oder bestimmten Knochenläsionen. Die Neurofibrome haben eine gewisse Entartungstendenz: Bei 3–15% der Patienten wurde eine maligne Degeneration der Neurofibrome beobachtet. Die Mutationsrate ist hoch (etwa 1×10–4/Gamete/Generation). 30–50% der Fälle beruhen auf einer Neumutation, die fast ausschließlich in der väterlichen Gamete stattfindet (Stephens et al. 1992). Wegen der hohen Neumutationsrate sollte auch bei einem Einzelpatienten an das Vorliegen einer NF1 gedacht werden, wenn bei ihm mindestens zwei der oben genannten klinischen Symptome festgestellt werden, auch wenn die Familienanamnese leer ist. Die Penetranz ist nahezu 100%, jedoch ist die klinische Expression sehr variabel, auch innerhalb der gleichen Familie. Eine mögliche Ursache für diese Variabilität könnte in der aberranten Prozessierung der mRNA liegen (Skuse u. Cappione 1997). NF1 wird durch Mutationen im NF1-Gen verursacht. Das über 300 kb große Gen enthält 60 Exons und kodiert für ein Protein (Neurofibromin) von 2818 Aminosäuren (Marchuk et al. 1991). Das Neurofibromin hat große Homologie zu GTPase-aktivierenden Proteinen, und seine Funktion liegt in der Herunterregulierung von p21RAS (DeClue et al. 1992). Bislang sind über 700 verschiedene Mutationen bekannt. Die Mutationen bei NF1 erstrecken sich über weite Bereiche des Gens, wobei auch große Deletionen nicht selten sind; daher ist die molekulargenetische Diagnostik schwierig (Fahsold et al. 2000).
5.7.2
Neurofibromatose Typ 2
Die Neurofibromatose Typ 2 (NF2) ist wesentlich seltener als NF1 (Inzidenz etwa 1: 40.000). Leitsymptom ist das Auftreten von bilateralen vestibulären Schwannomen des Nervus acusticus: Diese werden bei 95% der Patienten beobachtet. Die frühere Bezeichnung »Akustikusneurinom« für diese Tumoren sollte nicht mehr gebraucht werden, da die Tumoren aus Schwann-Zellen bestehen und mehr den vestibulären als den akustischen Zweig des achten Hirnnervs betreffen. Bei einem großen Teil der Patienten finden sich zusätzlich subkapsuläre Katarakte, gelegentlich auch Café-aulait-Flecken und Meningiome oder Ependymome. Erstes Symptom bei NF2 ist meist ein einseitiger oder beidseitiger Verlust des Gehörs. Aufgrund von Kompressionen benachbarter Bereiche durch die Tumormasse kann es zur Schwäche der Gesichtsmuskeln, zu sensorischen Störungen, Ataxie und Kopfschmerzen kommen. Eine Früherkennung von sehr kleinen, häufig noch asymptomatischen vestibulären Schwannomen ist mit Kernspintomografie mit Kontrastmittel (Gadolinium) möglich. Die Behandlung besteht in der operativen Entfernung der Tumoren. Das NF2-Gen wurde auf Chromosom 22 kartiert (Rouleau et al. 1987) und 1993 identifiziert (Rouleau et al. 1993; Trofatter et al. 1993). Es kodiert für ein 595 Aminosäuren enthaltendes Protein (Merlin, Schwannomin), das eine große Homologie zu den drei Proteinen Ezrin, Radixin und Moesin aufweist. Es wird vermutet, dass Merlin ein Tumorsuppressor ist, der eine Rolle bei der Übertragung von Signalen zwischen Zellmembran und Zytoskelett hat.
148
Kapitel 5 · Disposition für erbliche Krebserkrankungen
Die Keimbahnmutationen sind über weite Bereiche des Gens verteilt und führen meist zu einem verkürzten Protein. MissenseMutationen wurden selten gefunden, und diese sind mit einem milderen Krankheitsverlauf assoziiert (Kluwe et al. 1996; Ruttledge et al. 1996).
5.8
5
Erbliche Nierentumorerkrankungen
Hereditäre Nierenparenchymtumoren im Erwachsenenalter sind selten. Mit 85% ist das klarzellige Nierenkarzinom der häufigste maligne Nierentumor. Nur etwa 2% der Fälle zeigen eine familiäre Häufung; diese Fälle beruhen vorwiegend auf einer Keimbahnmutation im VHL-Gen. Das papilläre Nierenkarzinom ist der zweithäufigste maligne Nierenparenchymtumor, der meist sporadisch vorkommt. Eine familiäre Form des papillären Nierenkarzinoms wurde 1994 entdeckt (Übersicht in Neumann et al. 2001).
5.8.1
Von-Hippel-Lindau-Erkrankung
Die von-Hippel-Lindau-Erkrankung ist ein autosomal-dominant erbliches Syndrom, das zu einer Vielzahl von benignen und malignen Neoplasien prädisponiert. Bei dieser Erkrankung sind bisher klarzellige Nierenkarzinome sowie auch Nierenzysten beobachtet worden. Charakteristisch für die von-Hippel-LindauErkrankung sind extrarenale Manifestationen: retinale Angiome, Hämangioblastome des ZNS, multiple Pankreaszysten sowie Zystadenome des Nebenhodens bei Männern. Phäochromozytome werden bei der VHL-Erkrankung ebenfalls häufig gefunden. Die Häufigkeit der Erkrankung in Deutschland liegt bei etwa 1: 36.000 und die Penetranz ist bis zum Alter von 65 Jahren vollständig. Das Erstmanifestationsalter ist organabhängig. Das kapilläre Hämangiom der Retina tritt im Durchschnitt im Alter von 25 Jahren auf, das Nierenzellkarzinom mit 33 Jahren. Das Nierenzellkarzinom ist die häufigste Todesursache: Etwa 15–55% der Patienten sterben an diesem Malignom. VHL-assoziierte Nierentumoren haben eine bessere Prognose als sporadische Klarzellkarzinome, insbesondere wenn sie in einem frühen Stadium erkannt werden. Eine organerhaltende Tumorresektion ist in vielen Fällen möglich. Das für die von-Hippel-Lindau-Erkrankung verantwortliche Gen VHL wurde auf Chromosom 3p25 kartiert und 1993 identifiziert (Latif et al. 1993). Das VHL-Protein spielt in der Angiogenese, in der Bildung der extrazellulären Matrix, in der Zellzyklusregulation und in der ubiquitinregulierten Proteolyse eine Rolle (Übersicht in Ohh u. Kaelin 2003). Die kodierende Sequenz des VHL-Gens enthält 852 Nukleotide. Bisher wurden über 130 Keimbahnmutationen identifiziert, die über das ganze Gen verteilt sind. Es treten sowohl MissenseMutationen als auch Mutationen, die zu einem verkürzten VHLProtein führen, auf, wobei Missense-Mutationen häufiger mit der Entwicklung von Phäochromozytomen einhergehen (Brauch et al. 1996).
5.8.2
Hereditäres papilläres Nierenkarzinom
Das hereditäre papilläre Nierenkarzinom (HPRC) ist eine erbliche Disposition zu multiplen bilateralen papillären Nierentumoren. Der Erbgang ist autosomal-dominant, mit verminderter
Penetranz. HPRC unterscheidet sich histologisch und genetisch von zwei anderen erblichen Nierentumorerkrankungen, dem von-Hippel-Lindau-Syndrom (7 Abschn. 5.8.1) und der chromosomalen Translokation 3/8. In bösartigen sporadischen papillären Nierenkarzinomen wurde häufig eine Trisomie der Chromosomen 7, 16 und 17 sowie – bei Männern – ein Verlust des Y-Chromosoms beobachtet. Die familiären papillären Nierenzellkarzinome weisen gehäuft eine Trisomie von Chromosom 7 auf. Über Kopplungsanalysen in HPRC-Familien wurde ein Gen auf dem langen Arm von Chromosom 7 (Abschnitt 7q31–34) kartiert und das in dieser Chromosomenregion befindliche MET-Protoonkogen als involviertes Gen identifiziert (Schmidt et al. 1997). MET gehört – ebenso wie das bei MEN 2 veränderte RET – zur Familie der Rezeptortyrosinkinasen. Bei Patienten mit HPRC wurden Keimbahnmutationen in den Exons 17, 18 und 19 des MET-Gens gefunden. Somatische Mutationen im gleichen Genabschnitt wurden auch in sporadischen Tumoren festgestellt. In allen Fällen handelt es sich um Missense-Mutationen, d. h. Basenaustausche, die zum Einbau einer veränderten Aminosäure führen. Die Mutationen liegen alle in der Tyrosinkinasedomäne des MET-Gens. Interessanterweise liegen die bei MEN 2B gefundenen Mutationen im RET-Protoonkogen ebenfalls in der homologen Tyrosinkinasedomäne, z. T. sogar in homologen Kodons.
5.9
Familiäres Melanom
Etwa 7.000 Menschen erkranken in Deutschland jährlich an einem malignen Melanom. Davon sind 5–10% erblich bedingt. Charakteristisch für diese erbliche Tumorerkrankung ist eine autosomaldominant erbliche Disposition zu Melanomen und Plattenepithelkarzinomen des Pankreas. Bei einem Teil der Patienten werden dysplastische Nävi und atypische Muttermale festgestellt. Für die meisten Patienten mit familiärem Melanom ist die genetische Grundlage noch nicht bekannt (Übersicht in de Snoo et al. 2003). Einige Patienten mit familiärem Melanom weisen eine Keimbahnmutation im CDKN2A-Gen (P16) auf, einem auf Chromosom 9p21 lokalisierten Tumorsuppressorgen. Abhängig von der untersuchten Population und Patientenselektion variiert die Mutationsdetektionsrate zwischen 1,5–50%, Foundereffekte wurden beschrieben. Das P16-Protein hat eine Schlüsselfunktion bei der Arretierung des Zellzyklus in der G1-Phase, durch Interaktion mit den Zyklin-D-abhängigen Kinasen CDK4 und CDK6 (Harland et al. 1997; Hussussian et al. 1994; Kamb et al. 1994; Whelan et al. 1995). Bei einigen Familien wurde eine Keimbahnmutation im CDK4Gen im Bereich der Bindungsstelle für P16 festgestellt (Zuo et al. 1996). Das mutierte CDK4-Protein wirkt als Onkogen, da es durch P16 nicht mehr gehemmt werden kann.
5.10
Cowden-Syndrom
Morbus Cowden (Cowden-Syndrom, CS), auch als »multiples Hamartomsyndrom« bekannt, ist eine autosomal-dominante Disposition zu Hamartomen und benignen Tumoren in verschiedenen Organen, insbesondere von Haut, Darm, Brust, Schilddrüse, Endometrium und Gehirn (Eng et al. 1994). Neben den Hamartomen, die meist gutartig sind, entwickeln etwa 30–50%
149 5.12 · Autosomal-rezessiv erbliche Tumordispositionssyndrome
der weiblichen Anlageträger Brustkrebs und etwa 10% der Anlageträger Schilddrüsenkrebs. Ein Drittel der CS-Patienten weist eine Makrozephalie auf. Ein Teil der Patienten entwickelt Hirntumoren, insbesondere Meningiome. Patienten mit der sog. Lhermitte-Duclos-Erkrankung entwickeln zusätzlich eine dysplastische zerebelläre Gangliozytomatose, die zu Ataxie und Krampfanfällen führt. Das Cowden-Syndrom wird durch Veränderungen in dem auf Chromosom 10q23 kartierten PTEN-Gen verursacht (Li et al. 1997; Steck et al. 1997; Übersicht in Zbuk et al. 2006). Es wurden sowohl Missense-Mutationen in der hochkonservierten Tyrosinphosphatasedomäne des Gens als auch Mutationen, die zu einem verkürzten Genprodukt führen, gefunden. In Hamartomen der CS-Patienten wurden zusätzlich Verluste des Wildtypallels (LOH) nachgewiesen. Diese Befunde sprechen dafür, dass PTEN ein klassisches Tumorsuppressorgen ist. Es wird angenommen, dass PTEN für den korrekten Aufbau der Zellen, Gewebe und Organe von Bedeutung ist. Die Inaktivierung des PTEN-Proteins durch eine heterozygote Keimbahnmutation bei CS und eine zusätzliche somatische Mutation oder LOH des Wildtypallels führen zu verstärktem und unorganisiertem Zellwachstum, es entstehen zunächst benigne Hamartome, die jedoch durch somatische Mutationen von anderen Tumorsuppressorgenen und Onkogenen die maligne Transformation begünstigen (Liaw et al. 1997). Da CS mit einem erhöhten Risiko für Mammakarzinome einhergeht und somatische Mutationen auch in sporadischen Mammakarzinomen gefunden wurden, könnten Mutationen im PTEN-Gen eine Rolle als BRCA-Suszeptibilitätsgen mit verminderter Penetranz spielen (Liaw et al. 1997). Bisherige Untersuchungen konnten jedoch keine Keimbahnmutation im PTENGen bei Patienten <50 Jahren mit Mammakarzinom nachweisen (Tsou et al. 1997). PTEN-Mutationen wurden auch bei anderen Syndromen mit überlappender klinischer Symptomatik festgestellt. Hierzu gehört das Bannayan-Riley-Ruvalcaba Syndrom (BRRS), das ProteusSyndrom (PS) und das Proteus-like-Syndrom. Aufgrund der gemeinsamen Ätiologie wurden diese Syndrome – zusammen mit dem Cowden-Syndrom – als »PTEN hamartoma tumor syndrome« (PHTS) bezeichnet (Eng 2003).
5.11
Gorlin-Syndrom (NBCCS)
Das Basalzell-Nävus-Syndrom (Gorlin-Syndrom, NBCCS) ist eine seltene, autosomal-dominante Disposition zu multiplen Basalzellkarzinomen der Haut, zu Medulloblastomen und Fibromen der Ovarien. Diese benignen oder malignen Tumoren sind assoziiert mit verschiedenen Entwicklungsanomalien, insbesondere Keratozysten des Kiefers und andere Zahnanomalien, Narben (»pits«) der Handflächen und Fußsohlen, Gaumenspalte u. a. (Bale 1997; Gorlin 1995; Wicking et al. 1997; Hahn 2001). Die Penetranz ist hoch, doch ist das Krankheitsbild sehr variabel, wobei die Variabilität innerhalb der Familien geringer ist als die zwischen verschiedenen Familien. Das verantwortliche Gen wurde 1992 mittels Kopplungsanalysen auf Chromosom 9q22.3 kartiert (Farndon et al. 1992; Gailani et al. 1992; Reis et al. 1992) und 1996 identifiziert (Hahn et al. 1996; Johnson et al. 1996). Das menschliche Gen (PTCH) hat hohe Homologie zu dem Drosophila-Segmentpolaritätsgen Patched, das bei der Festlegung der Vorwärts-Rückwärts-Orien-
5
tierung in der embryonalen Entwicklung eine Rolle spielt (Übersicht in Bale 1997). Bei Patienten mit erblichem NBCCS wurden Keimbahnmutationen im PTCH-Gen identifiziert, die über das ganze Gen verstreut sind. Die identifizierten Mutationen führen meist zu einem verkürzten Genprodukt (Wicking et al. 1997; Lindström et al. 2006). PTCH ist ein Rezeptor für Hedgehog-Liganden im Hedgehog-Signaltransduktionsweg (Marigo et al. 1996). Bei NBCCS gilt ebenfalls das Zwei-Treffer-Modell von Knudson. Die zweite, somatische Mutation wird häufig durch exogene Faktoren, insbesondere UVB-Licht, induziert. Die intra- und interfamiliäre Variabilität der Tumorentwicklung, ausgelöst durch eine zweite, somatische Mutation, kann aber auch durch die Wirkung modifizierender Gene erklärt werden (z. B. Gene, die die Pigmentierung der Haut steuern).
5.12
Autosomal-rezessiv erbliche Tumordispositionssyndrome
Während bei den bisher beschriebenen autosomal-dominanten Erkrankungen die erhöhte Neigung zu bestimmten Tumoren bei sonst gesunden Personen im Vordergrund steht, ist die Tumordisposition bei den im weiteren beschriebenen autosomal-rezessiven Erkrankungen nur eine von zahlreichen klinischen Auffälligkeiten bei den Betroffenen. Heterozygote Personen sind im Allgemeinen asymptomatisch. Zu den genetisch gut charakterisierten autosomal-rezessiven Erkrankungen, die mit einer hohen Krebsrate einhergehen, gehören Xeroderma pigmentosum, die Ataxia teleangiectatica und das Nijmegen-Breakage-Syndrom, das Bloom-Syndrom sowie die Fanconi-Anämie (. Tab. 5.1). Allen diesen Tumordispositionssyndromen liegen Defekte in verschiedenen DNA-Reparatursystemen zugrunde. 5.12.1 Xeroderma pigmentosum
Charakteristisch für Patienten mit Xeroderma pigmentosum (XP) ist die hohe Empfindlichkeit gegenüber Sonnenstrahlen, die zur progressiven Degeneration der lichtexponierten Bereiche der Haut und der Augen führt und mit einem erhöhten Risiko für Melanome und andere Formen von Hautkrebs einhergeht. Bis zu 50% der XP-Patienten weisen Symptome des De-Sanctis-Caccione-Syndroms auf, mit Störungen der Geschlechtsentwicklung, Wachstumsretardierung sowie progressiven neurologischen Auffälligkeiten (aktuelle Übersicht in Wattendorf u. Kraemer 2005). Die Empfindlichkeit gegenüber UV-Strahlen basiert auf einem angeborenen Defekt im Nukleotidexzisionsreparaturmechanismus (NER), der insbesondere für die Reparatur von durch UV-Strahlung induzierten Schäden der DNA von Bedeutung ist (Übersicht in Bootsma et al. 1998; Chu u. Mayne 1996; Cleaver et al. 1999). An dem komplexen NER-Mechanismus sind mehrere Enzyme beteiligt. Je nachdem, welche Enzyme des NER-Systems betroffen sind, werden die Patienten in mindestens sieben verschiedene Komplementationsgruppen eingeteilt. Aufgrund der genetischen Heterogenität ist der klinische Ausprägungsgrad der Xeroderma pigmentosum sehr variabel. Cleaver et al. (1999) geben eine Übersicht der gefundenen Keimbahnmutationen in den sieben involvierten Genen des NER-Systems und deren Korrelation zum klinischen Phänotyp.
150
Kapitel 5 · Disposition für erbliche Krebserkrankungen
5.12.2 Chromosomeninstabilitätssyndrome
5
Zu den wichtigsten Chromosomeninstabilitätssyndromen gehören das Bloom-Syndrom (German u. Ellis 1998) und die FanconiAnämie (Auerbach et al. 1998; Digweed u. Sperling 1996; Howlett at al. 2002; Venkitaraman 2004), die Ataxia teleangiectatica (Gatti 1998; Stuhrmann et al. 1999) und das Nijmegen-Breakage-Syndrom (Digweed et al. 1999; Sperling et al. 1998; Varon et al. 1998). Ursache für die Chromosomeninstabilität ist ein Defekt im Doppelstrangbruchreparatursystem. Bei diesen Syndromen wurde bereits früher mittels zytogenetischer Methoden eine Häufung spontaner chromosomaler Aberrationen festgestellt. Die Ursache für die beobachtete chromosomale Instabilität konnte bei einem Teil der Patienten identifiziert werden. Für eine ausführliche Darstellung der einzelnen Krankheitsbilder und der genetischen Grundlage dieser Syndrome wird auf die angegebenen Übersichtsarbeiten verwiesen. Entsprechend dem autosomal-rezessiven Erbgang führt der Ausfall beider Allele zu dem Vollbild der betreffenden Erkrankung, während Heterozygote in der Regel unauffällig sind. Eine Besonderheit stellt die Fanconi-Anämie Typ B/D1 dar, die auf biallelischen Mutationen im BRCA2-Gen beruht; heterozgote Frauen haben ein hohes Risiko für Brust- und Ovarialkarzinom (7 Abschn. 5.2). Die Frage, ob Heterozygote allgemein ein erhöhtes Krebsrisiko haben, war in den letzten Jahren Thema zahlreicher Untersuchungen. Eine eindeutige Antwort darauf gibt es noch nicht. So konnte z. B. nur in einem Teil der Studien ein erhöhtes Risiko für Brustkrebs bei Heterozygoten für Ataxia tele-
angiectatica nachgewiesen werden (7 Abschn. 5.2). Ob Heterozygote für Ataxia teleangiectatica oder für das Nijmegen-Breakage-Syndrom eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber ionisierenden Strahlen oder bestimmten Klassen von chemischen Substanzen (z. B. Zytostatika) haben, ist von bedeutender Relevanz für die Methoden zur Früherkennung und Therapie von Brustkrebs und anderen Tumorerkrankungen.
5.13
Ausblick
Die genetische Analyse der erblichen Krebsdispositionen hat tiefe Einblicke in die Krebsentstehung gebracht. Die Bedeutung der erhobenen Befunde bei den z. T. seltenen Krankheiten geht weit über diese Krankheiten hinaus, weil auf diesem Wege allgemeingültige Mechanismen der Karzinogenese aufgedeckt werden. Der Fortschritt im Bereich der erblichen Tumorerkrankungen eröffnet den Betroffenen und ihren Familien neue Möglichkeiten für die prädiktive Diagnostik einer Tumordisposition. Für Anlageträger wurden spezifische Vorsorgeprogramme entwickelt, die eine Früherkennung von Tumoren und damit gute Heilungschancen für Betroffene ermöglichen. Die prädiktive Diagnostik einer erblichen Tumordisposition kann jedoch zu vielschichtigen psychosozialen und ethischen Problemen führen. Die »Richtlinien zur Diagnostik der genetischen Disposition für Krebserkrankungen« der Bundesärztekammer weisen darauf hin, dass die optimale Beratung und Betreuung der Familien eine interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Fachgruppen erfordert.
Zusammenfassung Für die meisten häufigen Krebserkrankungen gilt, dass jeweils etwa 5–10% erblich bedingt sind. Das familiär gehäufte Auftreten sowie die relativ frühe, z. T. auch multiple Entwicklung von Tumoren sind erste Hinweise für eine mögliche genetische Tumordisposition. Erbliche Tumorerkrankungen werden durch Keimbahnmutationen in für die betreffende Erkrankung charakteristischen Tumorsuppressorgenen, DNA-Reparaturgenen oder Protoonkogenen verursacht. Organmanifestation, klinischer Verlauf und Therapie der erblich bedingten Tumorerkrankungen können sehr unterschiedlich sein. Dennoch haben sie – aufgrund des bevorzugt dominanten Erbgangs und der hohen Tumordisposition – eine ähnliche Problematik, die im ersten Teil des Kapitels beschrieben wird. Hierzu gehört insbesondere die Möglichkeit, mithilfe molekulargenetischer Methoden festzustellen, ob gesunde Kinder oder Geschwister eines Patienten mit erblicher Tumorerkrankung tatsächlich die Tumordisposition geerbt haben. Diese sog. »prädiktive« Diagnostik kann mit vielen psychischen Problemen verbunden sein. Deshalb wird auf die »Richtlinien zur Diagnostik der genetischen Disposition für Krebserkrankungen« der Bundesärztekammer (DÄB 1998) hingewiesen, denen zufolge vor jeder prädiktiven Diagnostik eine humangenetische Beratung durchgeführt werden sollte. Der erste Teil dieses Kapitels enthält eine kurze Übersicht über die Mechanismen der Entstehung von Tumoren auf dem Boden einer erblichen Disposition. Die häufigsten autosomaldominant erblichen Tumorerkrankungen werden beschrieben:
erbliches Mamma-/Ovarialkarzinom, erbliche Tumoren des Gastrointestinaltrakts (Lynch-Syndrom, familiäre adenomatöse Polyposis, Peutz-Jeghers-Syndrom), multiple endokrine Neoplasie Typ 1 und Typ 2, Li-Fraumeni-Syndrom, Retinoblastom, Neurofibromatose Typ 1 und Typ 2, erbliche Nierentumorerkrankungen (von-HippelLindau-Erkrankung, hereditäres papilläres Nierenkarzinom), familiäres Melanom, Cowden-Syndrom und Gorlin-Syndrom. Die vor kurzem entdeckte autosomal-rezessiv erbliche MUTYH-assoziierte adenomatöse Polyposis wurde – aufgrund der klinischen Ähnlichkeit mit der autosomal-dominant erblichen attenuierten familiären adenomatösen Polyposis – im 7 Abschn. 5.3 (erbliche Tumoren des Gastrointestinaltrakts) beschrieben. Auf einige andere autosomal-rezessive Erkrankungen, die mit erhöhter Tumordisposition einhergehen, wird am Ende des Kapitels eingegangen. Nach einer kurzen Definition der einzelnen Krankheitsbilder werden die molekulargenetischen Grundlagen, die Möglichkeiten und Grenzen der molekulargenetischen Diagnostik sowie die empfohlenen Vorsorge- und Therapiemaßnahmen aufgezeigt. Wegen der raschen Entwicklung auf diesem Gebiet wird auch auf die Möglichkeit der Abfrage von regelmäßig aktualisierten Übersichtsarbeiten zu den verschiedenen erblichen Krebserkrankungen (z. B. Genetests/GeneReviews, http://www.geneclinics. org). hingewiesen. Wegen der Vielschichtigkeit der Probleme kann eine optimale Beratung und Betreuung von Familien mit erblichen Tumorerkrankungen nur durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Fachgruppen gewährleistet werden.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
6
6 Apoptose K.-M. Debatin, S. Fulda
6.1
Grundlagen
– 152
6.2
Zelltodexekution durch Caspasen
6.3
Liganden/Rezeptor-Systeme
6.4
Mitochondrialer Signalkomplex
6.5
BCL-2-Proteine
6.6
»Inhibitors of Apoptosis Proteins« (IAP)
6.7
P53 und Apoptose
6.8
Apoptosegene und Tumortherapie – 158
6.9
Apoptoseregulatoren und Prognose – 158
– 154
– 155 – 156
– 156 – 157
– 157
6.10 Tumortherapie durch Modulation von Apoptosesignalwegen – 159 Literatur – 161
152
Kapitel 6 · Apoptose
> Einleitung
6.1
6
Wesentliches Merkmal maligner Tumoren ist neben unkontrollierter Proliferation, der Ausfall oder die Störung der Moleküle und Signalwege, die Zelltod kontrollieren. In den letzten Jahren sind wichtige Mechanismen entschlüsselt worden, die den programmierten Zelltod (Apoptose) kontrollieren, ohne den eine koordinierte Entwicklung in multizellulären Organismen nicht möglich ist. Die Regulation von Apoptose ist zwar in den Grundzügen verstanden, im Detail handelt es sich dabei jedoch jeweils um äußerst komplexe Regulationsvorgänge mit gegenseitiger Verknüpfung mit anderen intrazellulären Signalwegen.
Grundlagen
Von ca. 1014 Zellen des erwachsenen Organismus sterben täglich ca. 1012 ab. Apoptose, lange Zeit unentdeckt geblieben, ist die häufigste Form des Zelltods in eukaryontischen Organismen (Jacobson et al. 1997; Kerr et al. 1972; Raff 1992; Thompson 1995; Edinger u. Thompson 2004; Wyllie 1993). Bis zur Entdeckung der Apoptose ging man davon aus, dass Zellen einfach »verschwinden« oder durch Nekrose zugrunde gehen. Nekrose ist ein passiver Zelltod, z. B. durch Sauerstoffmangel oder bestimmte Toxine, bei dem Zellen durch Störungen der Membranfunktionen (Ionenfluxe) sowie durch Ausfall der mitochondrialen ATP-Generierung anschwellen. Durch Zerstörung der Zellmembran werden zytoplasmatische Proteine freigesetzt, die eine inflammatorische Reaktion der Umgebung induzieren und zu typischen Symptomen entzündlicher Reaktionen, wie Schwellung und Schmerzen, führen können (. Abb. 6.1). Während Nekrose eher den »schweren Unfall« im Gewebe durch exogene »Gewalt« darstellt, ist der apoptotische Zelltod durch vielfältige Signale reguliert, die in den meisten Geweben mit hohem Zellumsatz die Homöostase aufrechterhalten. In den letzten Jahren sind wesentliche Elemente der Apoptosesignalwege aufgeklärt worden. Im Gegensatz zu Nekrose vollzieht sich Apoptose eher im Verborgenen und ist in den meisten Fällen durch typische Zellveränderungen charakterisiert: bläschenförmige Aus-
. Abb. 6.2. Sequenzhomologie und Funktion apoptogener Proteasen (Caspasen)
stülpungen der Zellmembran (»blebs«), Kondensierung des Chromatins und Fragmentierung des Zellkerns sowie in vielen Zellen durch Fragmentierung der DNA in hochmolekulare (50– 300 kb) Bruchstücke und/oder niedermolekulare (180 bp) internukleosomale DNA-Fragmente. Im Terminalstadium zerfallen
. Abb. 6.1. Morphologische Unterschiede zwischen Nekrose and Apoptose
153 6.1 · Grundlagen
. Abb. 6.3. Apoptose Signalwege
die Zellen in »apoptotic bodies«, die von Phagozyten oder Nachbarzellen aufgenommen werden. Apoptose führt in der Regel weder zu sichtbaren Veränderungen der Struktur des Gewebes noch zu einer Entzündungsreaktion (Steller 1995). Im Zentrum des Apoptosesignalweges steht die Aktivierung von proteolytischen Enzymen, Caspasen (7 Abschn. 6.3.1), die zelluläre Substrate spalten und apoptotische Morphologie und
. Abb. 6.4. Struktur und Funktion von Proteinen der BCL-2-Familie
6
DNA-Fragmentierung induzieren (Hengartner 2000). Die Aktivierung von Caspasen kann entweder durch Todesrezeptorsignalwege oder durch mitochondrienabhängige Molekülinteraktionen angestoßen werden. Mitglieder der BCL2-Familie von proapoptotischen und antiapoptotischen Molekülen, die als Homo- oder Heterodimere fungieren, modulieren die Apoptosesignalwege durch Dämpfung oder Akzeleration der Caspasenspaltung. Das zelluläre Todesprogramm ist in vielzelligen Organismen evolutionär hochkonserviert. So wurden im Nematoden caenorrhabditis elegans Schlüsselmoleküle identifiziert, deren Funktion mit homologen Molekülen in Säugetierzellen korreliert. In c-elegans sind im wesentlichen drei Gene an der Initiation und Exekution des Apoptoseprogrammes beteiligt: CED-3, das den Caspasen in Säugetierzellen entspricht, CED-4 (APAF-1 Äquivalent), das an der Regulation der Aktivität von BCL-2-Familienmitgliedern in Säugetierzellen beteiligt ist und CED-9, ein BCL-2-Homolog, das den Apoptosesignalweg blockieren kann (Cecconi et al. 1998; Chinnaiyan et al. 1997; Yuan et al. 1993). Ähnliche Moleküle finden sich auch bei Drosophila melanogaster. Allerdings ist das Programm in Säugetierzellen wesentlich komplizierter. So wurden verschiedene Liganden/Rezeptor-Systeme als Initiatoren des Apoptose-Exekutionsprogrammes identifiziert und CED-3- und CED-9-Homologe bestehen aus Familien mit bis zu 15 verschiedenen Molekülen, die unterschiedlich miteinander in Wechselwirkung treten können (. Abb. 6.2, 6.3, 6.4). Prinzipiell kann Apoptose durch Entzug von Wachstumsfaktoren, Stimulation eines Apoptose induzierenden Oberflächenrezeptors oder Störungen mitochondrialer Funktionen ausgelöst werden. Apoptosesignalwege sind vielfältig mit anderen zellulären Programmen, wie Zellzykluskontrolle, DNASchadensantwort und zelluläre Stressreaktion, verknüpft. Obwohl Apoptose als physiologisches Zelltodesprogramm identifiziert wurde, gibt es einen fließenden Übergang zu Zelltod durch Nekrose und die an Apoptose beteiligten Moleküle wie BCL-2 können auch nekrotischen Zelltod hemmen (Antonsson u. Martinou 2000; Green u. Kroemer 2004). Andererseits scheint Caspasen-abhängige Apoptose nicht die einzige Form des
154
Kapitel 6 · Apoptose
physiologischen Zelltods darzustellen. Caspasen-unabhängige Apoptose durch proapoptotische Moleküle, wie BAX, sowie Zelltod, der unabhängig von bisher beschriebenen Signalwegen verläuft, wurde beschrieben (Hirsch et al. 1997; Holler et al. 2000; Susin et al. 2000; Sperandio et al. 2000; Vercammen et al. 1998; Wyllie u. Golstein 2001; Xiang et al. 1996).
6.2
6
Zelltodexekution durch Caspasen
In allen bisher molekular charakterisierten Apoptosesystemen spielen Zysteinproteasen (Caspasen) als Effektormoleküle eine entscheidende Rolle. Ihre Aktivierung verursacht die Morphologie apoptotischer Zellen und ist für die Aktivierung der DNase verantwortlich. Als erster Prototyp wurde »Interleukin-1 converting enzyme« (ICE) identifiziert, das mit CED-3 homolog ist (Yuan et al. 1993). Caspasen besitzen eine Spezifität für Aspartat und werden analog der Gerinnungskaskade, hierarchisch geordnet, sequenziell aktiviert (Alnemri et al. 1996; Hengartner 2000). Nach der Sequenz ihrer Aktivierung werden Initiatorcaspasen und Effektorcaspasen unterschieden (. Abb. 6.2, 6.3). Moleküle der Caspase-1-Familie (z. B. ICE) sind nicht an Apoptosevorgängen beteiligt, sondern wirken inflammatorisch durch Prozessierung von Zytokinen, die intrazellulär als Proformen vorliegen (z. B. Interleukin-1). Die Aktivierung von Caspase-3, der prototypischen Effektorcaspase, führt zur proteolytischen Spaltung einer Vielzahl intrazellulärer Substrate, z. B. von Zytoskelett-Proteinen, wie Fodrin und Gelsolin, sowie vor allem auch zur Aktivierung der DNase CAD (»caspase activated DNase«), die die Apoptose-typische Zerstörung der DNA (DNA-Leiter) bewirkt (Enari et al. 1998; Nagata 2000). CAD liegt in der Zelle als Komplex an den Inhibitor ICAD gebunden vor und wird durch Caspase-3-Aktivierung freigesetzt. Die volle Aktivierung von Caspase-3 ist möglicherweise der kritische Punkt der Apoptosesignalkaskade, nach dem der Selbstmord der Zelle nicht mehr gestoppt werden kann. Bei den Apoptose-relevanten Caspasen sind die Funktionen von Caspase-3, -8 oder -9 bisher am besten charakterisiert. Die Aktivierung von Caspase-3 erfordert die proteolytische Aktivität von Initiatorcaspasen, die durch zwei prinzipiell verschiedene Signalwege in Molekülkomplexen generiert werden. Bei Todesrezeptor/Liganden-induzierter Apoptose (7 Kap. 998.3.2), z. B. über CD95, wird die Aktivierung der CaspaseKaskade durch Bindung von Caspase-8 (= FLICE) an einen Rezeptor-Adaptor-Komplex initiiert (Hengartner 2000; Peter u. Kramer 2003; Nagata 1997). Weiterhin ist die Aktivierung von Effektorcaspasen durch Veränderungen der mitochondrialen
. Abb. 6.5. Struktur von IAP-Proteinen
Zellmembran mit Freisetzung apoptogener Moleküle, wie Zytochrom C, möglich (. Abb. 6.3). Die Freisetzung dieser Substanzen aus den Mitochondrien wie auch die Aktivierung der Mitochondrien innerhalb der Apoptose führt zur Bildung eines Mitochondrien-assoziierten Komplexes (Apoptosom) mit Aktivierung von Caspase-9 und Bildung aktiver Fragmente (Chinnaiyan et al. 1997; Kroemer et al. 2007). Die Aktivierung von Initiator- und Effektorcaspasen scheint darüber hinaus biochemisch unterschiedlich abzulaufen. Während Caspase-3 durch die proteolytische Aktivität von Caspase-8 und -9 gespalten wird, werden die Initiatorcaspasen, Caspase-8 und -9, in ihren jeweiligen Molekülkomplexen durch autokatalytische Spaltung mit Umlagerung der Tertiärstruktur der Moleküle aktiviert. Eine Inhibition der Caspasenfunktion, z. B. durch inhibitorische Peptide oder natürliche Inhibitoren, führt fast immer zu einer Hemmung von Apoptose. In jedem Fall werden die morphologischen Charakteristika des apoptotischen Zelltods durch Caspaseninhibition eliminiert, allerdings kann z. B. bei TNF-induziertem Zelltod die Hemmung des Apoptoseprogrammes eine Verschiebung hin zu Nekrose bewirken (Vercammen et al. 1998) Die deletäre proteolytische Aktivität aktivierter Caspasen erfordert eine strikte Kontrolle ihrer Aktivierung und Effektorfunktion (Deveraux u. Reed 1999). Diese wird durch Moleküle der IAP-Familie (»inhibitors of apoptosis proteins«) ausgeübt (. Abb. 6.3 und 6.5). Als erstes Mitglied der IAP-Familie wurde SURVIVIN entdeckt, das in vielen Tumoren, insbesondere in Neuroblastomen überexprimiert wird (Adida et al. 1998; Ambrosini et al. 1997; Islam et al. 2000; Kawasaki et al. 1998; Tamm et al. 2000). Eine gesteigerte Expression von IAP-Molekülen scheint eine der wichtigsten molekularen Veränderungen in Tumorzellen zu sein. Einige IAPProteine, wie SURVIVIN, hemmen nicht nur Caspasenaktivierung, sondern scheinen interessanterweise auch direkt an der Kontrolle der Mitose durch Interaktion mit dem Spindelapparat beteiligt zu sein (Altieri 2006). Die genaue Verknüpfung der Apoptoseinhibition mit Zellzyklusregulation ist bei den IAPProteinen bisher allerdings noch nicht geklärt. Die zytotoxische Wirkung von Chemotherapie oder γ-Bestrahlung wird wesentlich durch Aktivierung von Caspasen vermittelt (Kaufmann u. Earnshaw 2000). Allerdings gibt der Phänotyp von Mäusen, in denen durch gengerichtete Deletion Caspasegene in der Keimbahn ausgeschaltet wurden, keinen Aufschluss über ihre Rolle bei der Tumorentstehung, da nahezu alle Caspase-knock-outs embryonal letal sind (Los et al. 1999; Varfolomeev et al. 1998; Zheng u. Flavell 2000). Es kommt dabei zu schweren Störungen der ZNS-Entwicklung mit massiver Akkumulation von Neuronen und zu Störungen der Entwicklung des kardiovaskulären Systems. Diese Befunde weisen darauf hin, dass Caspasen für den programmierten Zelltod während der Embryogenese besonders wichtig sind. Weiterhin haben Caspase-knock-out-Experimente Hinweise für die Beteiligung individueller Caspasen bei stimulusspezifischer Apoptose gegeben (Hakem et al. 1998; Li H et al. 1998; Kuida et al. 1998). Obwohl keine Caspasenmutation in Tumoren gefunden wurde, findet sich z. B. bei neuroektodermalen Tumoren eine stark reduzierte Expression insbesondere von Caspase-8 durch Hypermethylierung regulatorischer Gensequenzen (Teitz et al. 2000). Die Induktion der Caspase-8-Re-Expression durch Demethylierung erbrachte eine Sensibilisierung der Tumorzellen für Apoptosesignale (Fulda u. Debatin 2006).
155 6.3 · Liganden/Rezeptor-Systeme
6.3
Liganden/Rezeptor-Systeme
In vielen Zellen kann Apoptose durch extrazelluläre Liganden der TNF-Familie nach Bindung an ihre zugehörigen Rezeptoren induziert werden (Peter u. Kramer 2003; Li-Weber u. Krammer 2003; Chan et al. 2000; Roy u. Nicholson 2000). Apoptose induzierende Mitglieder der TNF-Familie sind TNF, CD95Ligand, TRAIL (»TNF-related apoptosis inducing ligand« = APO-2L) und APO-3-Ligand. Die Rezeptoren dieser Zytokine gehören zur Familie der TNF/NGF-Rezeptoren. Das CD95System ist am besten untersucht und kann prototypisch den Todesrezeptorsignalweg verdeutlichen (Li-Weber u. Krammer 2003; Roy u. Nicholson 2000). Interessanterweise können die Todesrezeptoren, insbesondere CD95, unter bestimmten Bedingungen auch Überleben oder gar Proliferation vermitteln (Peter et al. 2007). Todesrezeptorsignalweg Die Oligomerisierung von Todesrezeptoren an der Zelloberfläche durch ihre korrespondierenden multimeren Liganden initiiert die Aktivierung einer Signalkaskade, die letztendlich zum Zelltod führt. Nach der Bindung von Todesrezeptorliganden an die entsprechenden Todesrezeptoren der TNF-Familie kommt es im ersten Schritt zur Rekrutierung von FADD und Caspase-8 (FLICE = »FADD like ICE«) (Boldin et al. 1996; Chinnaiyan et al. 1995; Muzio et al. 1996). FADD bindet durch homologe Interaktion über die eigene Todesdomäne an die intrazelluläre Todesdomäne des Rezeptors und fungiert als Adaptormolekül zwischen Todesrezeptoren und Initiatorcaspasen wie Caspase-8. Die Rekrutierung von Caspase-8 in den DISC führt zu deren autokatalytischen Spaltung mit Freisetzung proteolytischer aktiver Fragmente, die direkt Caspase-3 aktivieren. Die Bildung dieses DISC (»death-inducing signalling complex«) aus oligomerisiertem Rezeptor, FADD und Caspase-8 ist essenziell für die Aktivierung der nachfolgenden proteolytischen Enzyme, die das Todessignal vermitteln (Peter u. Kramer 2003; Varfolomeev et al. 1998; Zhang et al. 1998). In Typ-I-Zellen führt die DISC-Bildung zur Generierung einer ausreichenden Zahl aktiver Caspase-8-Fragmente und damit zur direkten Aktivierung von Effektorcaspasen wie Caspase-3. In Typ-II-Zellen ist für eine effiziente Apoptoseinduktion über CD95 allerdings ein zusätzlicher Signalweg erforderlich, der den mitochondrialen Apoptosesignalkomplex involviert (Roy u. Nicholson 2000; Scaffidi et al. 1998). Durch aktive Caspase-8-Fragmente wird BID, ein BH3 enthaltendes BCL-2-Molekül, gespalten (Li H et al. 1998; Luo et al. 1998; Wang et al. 1996). Aktiviertes BID inseriert in die mitochondriale Membran und löst als Verstärkerreaktion des CD95-Signalweges die Initiation des Mitochondrien-abhängigen Signalwegs (7 Abschn. 6.3.3). Die Inhibition von Todesrezeptor-vermittelter Apoptose geschieht durch direkte Blockade der Rekrutierung von Caspase-8 in den Rezeptorkomplex. In Viren, wie Herpes-Viren (v-FLIP), wurden Proteine gefunden, mit deren Hilfe homologe zelluläre Proteine (c-FLIP) identifiziert wurden, die an den CD95-FADD-Komplex binden und die Rekrutierung und Aktivierung von Caspase-8 inhibieren können (Caspase-8 = FLICE). Diese FLIP (»FLICE inhibiting proteins«) inhibieren das Apoptosesignal über alle Todesrezeptoren, ein weiterer Hinweis darauf, dass die Apoptoseinduktion über diese Moleküle über gleichartige Signalwege verläuft (French u. Tschopp 1999; Tepper et al. 1999; Yeh et al. 2000). Obwohl die Rolle der Moleküle des
6
CD95-Signalkomplexes gut identifiziert wurde, hat der Phänotyp von Mäusen, in denen durch Gen-Targeting eine Defizienz für FADD oder Caspase-8 hergestellt wurde, überrascht. In diesen Tieren finden sich Störungen der embryonalen Differenzierung und FADD-defiziente Mäuse zeigen darüber hinaus einen ausgeprägten Defekt der Aktivierung von T-Lymphozyten (Varfolomeev et al. 1998; Zhang et al. 1998). Dieser Befund weist auf eine Rolle der Todesrezeptor-Adaptormoleküle bei der zellulären Proliferation hin. CD95-System CD95 (Fas/APO-1) ist ein membranständiger Rezeptor mit einem Molekulargewicht von 48 kD, charakterisiert durch drei extrazelluläre zysteinreiche Domänen, eine Transmembranregion und einen intrazellulären Anteil, der eine hochkonservierte »Todesdomäne« enthält, die in allen Apoptose induzierenden Rezeptoren das Apoptosesignal vermittelt (Itoh et al. 1991; Tartaglia et al. 1993; Trauth et al. 1989). CD95 wird in einigen Geweben (z. B. Leber) konstitutiv exprimiert und kann vor allem in lymphohämatopoetischen Zellen durch Antigenstimulation oder Zytokine induziert werden. Eine lösliche Form des Rezeptors kann durch alternatives Splicing generiert werden, eine Rezeptorvariante ohne intrazelluläre Todesdomäne wurde ebenfalls beschrieben (Pitti et al. 1998). Die genaue Funktion der CD95-Varianten ist derzeit noch nicht geklärt. CD95-Ligand, ein Typ-II-Transmembranprotein, wird nur in wenigen Geweben konstitutiv exprimiert, kann aber ebenfalls durch verschiedene Aktivierungssignale induziert werden (Bellgrau et al. 1995; Suda et al. 1993). Durch proteolytische Abspaltung von der Zelloberfläche kann der Ligand als lösliches Molekül freigesetzt werden. Konstitutive Expression von CD95L wurde in immunologisch privilegierten Stellen, wie der vorderen Augenkammer und im Hoden, gefunden und kann das Gewebe vor der Attacke aktivierter T-Zellen schützen. Zytotoxische T-Lymphozyten und NK-Zellen, die nach Aktivierung CD95L exprimieren, zerstören andererseits über CD95 ihre Zielzellen. Der zweite Zytotoxizitätsmechanismus der Killerzellen verläuft über die Perforinvermittelte Einschleusung von Granzyme B in das Zytoplasma der Zielzellen, wo Granzyme B direkt vor allem Caspase-8 aktiviert. Induktion der CD95L, z. B. in aktivierten T-Zellen, die den CD95-Rezeptor exprimieren, kann zu autokrinem Suizid oder Fratrizid führen (Dhein et al. 1995; Strasser u. Pellegrini 2004). Stimulation der Expression von CD95 und CD95L ist neben physiologischen Aktivierungssignalen z. B. auch durch Zytostatika möglich (7 Abschn. 6.3.7). Die aktivierungsinduzierte Auslösung der CD95-Ligand/Rezeptor-Interaktion ist ein Schlüsselmechanismus für die Homöostase in lymphatischen Zellen (Debatin 1994; Debatin 1996; Klas et al. 1993; Krammer et al. 1994; Bidere et al. 2006). So führen Mutationen des Rezeptors in lpr-Mäusen und des Liganden in gld-Mäusen zu einem Syndrom mit polyklonaler Lymphoproliferation und Autoimmunität (Nagata u. Golstein 1995). Mutationen im CD95-Rezeptor sind auch bei Kindern mit lymphoproliferativer Erkrankung gefunden worden (Fisher et al. 1995; Rieux-Laucat et al. 1995; Bidere et al. 2006). Weiterhin wurden heterozygote CD95-Mutationen in Leukämien und Non-Hodgkin-Lymphomen gefunden (Beltinger et al. 1998; Gronbaek et al. 1998; Maeda et al. 1999). Die Tatsache, dass CD95-Liganden/Rezeptor-Interaktion auch durch Zytostatika ausgelöst werden kann, weist darauf hin, dass die Aktivierung des CD95-Systems eine zelluläre Antwort auf verschiedene
156
Kapitel 6 · Apoptose
Stimuli in verschiedenen Geweben darstellt (Friesen et al. 1996; Debatin u. Krammer 2004; Herr u. Debatin 2001).
6
TRAIL-System »TNF-related apoptosis inducing ligand« (TRAIL)/Apo-2-Ligand wurde im Jahre 1995 aufgrund seiner Sequenzhomologie zu anderen Liganden der TNF-Familie identifiziert (Schaefer et al. 2007; LeBlanc u. Ashkenazi 2003). TRAIL ist wie CD95-Ligand ein Typ-II-Transmembranprotein, dessen extrazellulärer Anteil durch Proteolyse von der Zelloberfläche abgespalten werden kann und dann als lösliche Form vorliegt. Für das TRAIL System sind insgesamt fünf Rezeptoren beschrieben. Die beiden agonistischen TRAIL-Rezeptoren TRAIL-R1 und -R2 vermitteln ihr Apoptosesignal über den oben beschriebenen Rezeptorsignalweg (Schaefer et al. 2007). Die zwei antagonistischen TRAILRezeptoren TRAIL-R3 und -R4 verfügen als sog. »Decoy«-Rezeptoren über keinen intrazellulären Anteil, um das Apoptosesignal weiterzuleiten, können jedoch die Aktivität von TRAIL auf der Zelloberfläche neutralisieren (Schaefer et al. 2007). Osteoprotegerin ist ein löslicher TRAIL-Rezeptor, der vor allem bei Osteoklasten eine Rolle spielt.
6.4
Mitochondrialer Signalkomplex
Mitochondrien sind nicht nur das »Kraftwerk der Zellen«, in dem der Energieträger ATP generiert wird, sondern auch Ausgangspunkt des zweiten Apoptosesignalweges, der zur Aktivierung von Caspase-9 als Initiatorcaspase führt (. Abb. 6.3). Die Aktivierung der im Zytoplasma lokalisierten Caspase-9 erfordert die Bildung eines Komplexes, an dem das zytoplasmatische Protein APAF-1 (»apoptosis activating factor-1«) und das aus Mitochondrien freigesetzte Zytochrom C beteiligt sind (Cecconi et al. 1998; Gross et al. 1999; Kroemer et al. 2007; Li 2000; Yoshida et al. 1998; Zou et al. 1999). Aus diesem »Apoptosom-Komplex« wird aktive Caspase-9 freigesetzt, die dann Caspase-3 als Effektor aktivieren kann. Zytochrom C, das im Mitochondrium an entscheidender Stelle in der Atmungskette beteiligt ist, gelangt ins Zytoplasma durch Poren in der Mitochondrienmembran, die auf apoptogene Signale gebildet werden. Die Bildung des mitochondrialen Signalkomplexes entspricht der Bildung des DISC am Todesrezeptor, wobei APAF-1 als Adaptorprotein ähnlich wie FADD fungiert. Neben Zytochrom C werden weitere apoptogene Moleküle aus Mitochondrien freigesetzt. AIF (»apoptosis inducing factor«) ist ein Protein, das Caspase-unabhängig Zelltod induziert, wobei es zur Bildung von hochmolekularen DNAFragmenten kommt (Susin et al. 2000). SMAC/DIABLOProteine inhibieren die Caspase-Inhibitoren der IAP-Familie und führen so zur Propagation eines einmal induzierten Apoptosesignals (Du et al. 2000; Verhagen et al. 2000). Der mitochondriale Signalweg mit Zytochrom C, APAF-1 und Caspase-9 ist ein entscheidender Mechanismus der »intrinsischen Apoptoseauslösung« als Antwort auf Zellschädigung. Dabei ist noch nicht geklärt, wie die Freisetzung der apoptogenen Faktoren aus Mitochondrien initiiert wird. Die mitochondriale Aktivierung kann durch Veränderung der Permeabilität der Mitochondrienmembran durch proapoptotische BCL-2-Proteine, wie BID oder BAX (7 Abschn. 6.3.4), oder z. B. durch direkte Interaktion mit P53 induziert werden (Li H et al. 1998; Marchenko et al. 2000). Die Freisetzung apoptogener mitochondrialer Faktoren ist Angriffspunkt der Apoptoseregulation durch BCL-2-Proteine.
6.5
BCL-2-Proteine
Der prototypische Vertreter dieser Familie antiapoptotischer und proapoptotischer Moleküle, BCL-2, wurde ursprünglich als Translokationspartner t(14;18) in B-Zell-Lymphomen identifiziert (Adams 2007; Antonsson u. Martinou 2000). Überraschenderweise zeigte sich, dass BCL-2 kein Onkogen im klassischen Sinn darstellt, da BCL-2-Überexpression in Zellen nicht zu einer malignen Transformation führt, sondern das normale Absterben der Zellen blockiert. Zur BCL-2-Familie gehören antiapoptotische Moleküle, wie BCL-2 und BCL-xL, oder Apoptoseagonisten, wie BAX, BAK und BCL-xS. BCL-2-Proteine finden sich in Membranen, wie der Mitochondrienmembran und der nukleären Membran. Sie enthalten als strukturell homologe Regionen konservierte Domänen (BH1 bis BH4), die die Homo- und Heterodimerisierung der Moleküle untereinander, die Interaktion mit anderen Molekülen und die Insertion in Membranen ermöglichen (. Abb. 6.4). BCL-2-Proteine modifizieren Apoptosesignale, indem sie die Aktivierung von Caspasen im mitochondrialen Signalweg regulieren (Chinnaiyan et al. 1997; Gross et al. 1999; Kroemer et al. 2007). Die Balance zwischen Apoptose und Überleben scheint dabei vom Zellgehalt an proapoptotischen und antiapoptotischen BCL-2-Komplexen bestimmt zu sein. So antagonisiert BCL-2 die proapoptotische Wirkung von BAX, während umgekehrt die Überexpression von BAX zur Neutralisierung des Antiapoptoseeffektes von BCL-2 führt. Proapoptotische BCL-2-Proteinkomplexe (z. B. BAX) lagern sich als Poren oder Kanäle in die Mitochondrienmembran ein und induzieren so die Freisetzung der apoptogenen mitochondrialen Proteine (Zytochrom C, AIF). Die Kontrolle Apoptose auslösender BCL-2-Proteine erfolgt z. B. für BAX über transkriptionelle Regulation des Expressionslevels oder für BID durch Caspasen-abhängige Abspaltung eines aktiven Fragmentes und ist somit auch an andere Signalwege wie P53 (BAX) oder Todesrezeptor (BID) gekoppelt. Proteine der BCL-2-Familie sind ubiquitär in allen Geweben exprimiert. Die fundamentale Rolle der antiapoptotischen Vertreter, wie BCL-2 und BCL-xL zeigte sich in Knock-out-Experimenten, bei denen in Mäusen die jeweiligen Gene ausgeschaltet wurden (Motoyama et al. 1995; Veis et al. 1993). Der BCL-xLnullPhänotyp ist dabei embryonal letal, BCL-xLnull-Mäuse sterben intrauterin an massivem Zelluntergang im zentralen Nervensystem und im frühen hämatopoetischen System. BCL-2null-Mäuse werden zwar geboren, sterben jedoch in den ersten Wochen an einer nahezu kompletten Involution des Immunsystems sowie an einer polyzystischen Nierendegeneration. Im Unterschied zu klassischen Onkogenen, wie C-MYC, führt die konstitutive Überexpression von BCL-2 jedoch eher zu einer indolenten polyklonalen Akkumulation lymphatischer Zellen als zu einer rasch proliferierenden monoklonalen Erkrankung. Die Überexpression von BCL-2 und BCL-xL in humanen Tumorzellen kann zu einer deutlichen Reduktion der apoptotischen Antwort auf Chemotherapie führen (Bargou et al. 1995; Campana et al. 1993; Campos et al. 1993; Coustan-Smith et a. 1996; Hermine et al. 1996; Krajewski et al. 1995; Minn et al. 1995; Miyashita u. Reed 1993). Dementsprechend konnte in einigen Fällen eine hohe Expression von BCL-2 und BCL-xL mit einer schlechten Prognose korreliert werden. Umgekehrt scheint eine Expression von BAX, das auch Caspasen-unabhängig Apoptose induzieren kann und Chemosensitivität reguliert, mit einer guten Antwort auf Chemotherapie, z. B. beim Mammakarzinom, zu korrelieren (Bargou et
157 6.7 · P53 und Apoptose
6
al. 1995; Ionov et a. 2000; Zhang et al. 2000). Allerdings wurde auch in einigen Studien kein Zusammenhang zwischen BCL-2Expression und Prognose oder Therapieansprechen gefunden.
6.6
»Inhibitors of Apoptosis Proteins« (IAP)
Die deletäre proteolytische Aktivität aktivierender Caspasen erfordert eine strikte Kontrolle ihrer Aktivierung und Effektorfunktion. Diese wird durch Moleküle der IAP-Familie ausgeübt, zu der u. a. XIAP, cIAP1, cIAP2, SURVIVIN oder ML-IAP (LIVIN) gehören (Salvesen u. Duckett 2002). Strukturell sind Proteine der IAP-Familie durch drei verschiedene Proteindomainen gekennzeichnet (. Abb. 6.5; Salvesen u. Duckett 2002). Über die »baculoviral IAP repeat-(BIR-)domaine«, die Voraussetzung für die Klassifikation als IAP-Protein ist, wird die Bindung und Hemmung von Caspasen vermittelt. Die »RING-(RING zinc-finger-) domaine« fungiert als E3-Ubiquitin-Ligase und ist an der Regulation des Proteinabbaus über das Ubiquitin-/Proteasomensystem beteiligt. Die »caspase activating and recruitment domain« (CARD) ist als eine typische Protein-Protein-Interaktionsdomaine für die Wechselwirkung mit anderen CARD-Domain enthaltenden Proteinen verantwortlich. IAP hemmen Apoptose, indem sie an Effektorcaspasen, wie z. B. an Caspase-3 oder -7 binden, und damit deren Aktivierung und Aktivität blocken (Eckelman et al. 2006). IAP wiederum können durch endogene Antagonisten wie SMAC/DIABLO bzw. OMI/HTRA2 negativ reguliert werden. SMAC/DIABLO und OMI/HTRA2 werden nach Apoptosestimulation aus den Mitochondrien freigesetzt und neutralisieren durch ihre Bindung an IAP deren inhibitorische Wirkung auf die Aktivierung von Caspasen (Saelens et al. 2004). Einige IAP-Proteine, wie SURVIVIN, hemmen nicht nur Caspasenaktivierung, sondern sind auch an der Kontrolle der Mitose durch Interaktion mit dem Spindelapparat beteiligt (Li F et al. 1998; Altieri 2006).
6.7
P53 und Apoptose
P53, das in Tumoren am häufigsten mutierte Gen, wird wegen seiner Schlüsselfunktion für Zellzyklusarrest und Apoptoseinduktion nach DNA-Schädigung auch als »Wächter des Genoms« bezeichnet (Lane 1992; Levine 1997; Milner 1995; Horn u. Vousden 2007). Die Tumorsuppressorfunktion von P53 kann die Transformation von Zellen durch Onkogene neutralisieren. Diese Funktion als negativer Wachstumsregulator scheint zwar im Wesentlichen durch Einfluss auf den Zellzyklus (7 Kap. 998.2.2) bedingt zu sein, P53 spielt jedoch auch eine entscheidende Rolle bei der Initiation von Apoptose, insbesondere nach DNA-Schädigung (Dulic et al. 1994; Lowe et al. 1993; Lowe et al. 1994; Horn u. Vousden 2007). Bei DNA-Schädigung kommt es zu einem transitorischen Anstieg der Konzentration des P53-Proteins und unter bestimmten Bedingungen zur Auslösung von Apoptose. Die Induktion von P53-Protein nach DNA-Schädigung erfolgt im Wesentlichen durch posttranslationelle Modifikation des P53Proteins. Normalerweise sind nur geringe Mengen von P53-Protein in der Zelle vorhanden. P53 wird durch MDM2 (bzw. HDM2 in humanen Zellen) rasch degradiert. Für die Induktion von P53Protein, z. B. nach DNA-Schädigung, sind im Wesentlichen zwei Mechanismen verantwortlich: Phosphorylierung von P53 durch ATM und Freisetzung aus dem zu Degradation führenden
. Abb. 6.6. P53-vermittelte Apoptoseinduktion
MDM2/P53-Komplex sowie Inhibition der MDM2-Bindung an P53 durch Interaktion mit ARF, einem der beiden Produkte des INK4α/ARF-Genlokus (Barlow et al. 1997; Tao u. Levine 1999). Dabei spielt die zelluläre Lokalisation von P53 eine wichtige Rolle. Im Nukleus vorhandenes P53 wird durch MDM2 ubiquitiniert und im Zytoplasma abgebaut. Durch Sequestrierung von MDM2 aus dem MDM2-P53-Komplex verbleibt P53 im Zellkern. Es wird angenommen, dass die meisten Funktionen von P53 im Rahmen von Apoptoseinduktion durch die Aktivität von P53 als Transkriptionsfaktor induziert werden. So tragen die Gene vieler Apoptose induzierender Proteine, wie BAX, CD95 und NOXA, P53-regulatorische Sequenzen in ihren Promotoren (Miyashita u. Reed 1995; Oda et al. 2000; Owen-Schaub et al. 1995). Über diesen Mechanismus der verstärkten Bildung apoptogener Proteine könnte die proapoptotische Wirkung von P53 vermittelt sein (. Abb. 6.6). Allerdings kann P53 auch unabhängig von transkriptioneller Aktivität, z. B. durch Veränderung des intrazellulären Transports von Todesrezeptorproteinen (Bennett et al. 1998). Darüber hinaus wird auch eine direkte Wirkung von P53 auf die Permeabilität der mitochondrialen Membran angenommen. Die Bedeutung von P53 bei stimulationsinduzierter oder DNA-Schädigung induzierter Apoptose wird durch knock-out-Mäuse belegt, in denen z. B. die bestrahlungsinduzierte Apoptose in Thymozyten ausbleibt (Clarke et al. 1993). Somit scheint der P53initiierte Apoptosesignalweg in erster Linie mit der Zellantwort auf Schädigungen und zellulären Stress assoziiert zu sein. Auch in P53-negativen Zellen kann jedoch durch Zellschädigung Apoptose ausgelöst werden. Es wurden verschiedene P53homologe Proteine identifiziert (P63, P73) denen eine Substitutionsfunktion bei Ausfall von P53 zugeschrieben wurde (Levrero 2000). P73 kann proapoptotisch wirken und teilweise eine defekte P53-Funktion ersetzen. Analog zur RAS-induzierten P53Expression kann die deregulierte Expression der onkogenen Tyrosinkinase C-ABL direkt P73-vermittelte Apoptose induzieren (Agami et al. 1999; Yuan et al. 1999). Allerdings sind auch antiapoptotische Funktionen für Varianten von P63 und P73 beschrieben worden (Pozniak et al. 2000). Im Gegensatz zu P53, das in einem hohen Prozentsatz humaner Tumoren mutiert ist, wurden Mutationen von P63 oder P73 bisher nur selten (z. B. P73 im Neuroblastom) gefunden. Mäuse mit Keimbahndeletionen von P63 oder P73 zeigen ausgeprägte Fehlbildungssyndrome ohne die bei P53-negativen Mäusen beobachtete erhöhte Tumorinzidenz
158
Kapitel 6 · Apoptose
(Yang et al. 1999; Yang et al. 2000; Mills et al. 1999). Die könnte darauf hinweisen, dass P63 und P73 im Wesentlichen andere Funktionen als Apoptoseregulation im Rahmen von Zellschädigungen ausüben.
6.8
6
Apoptosegene und Tumortherapie
Basierend auf dem Konzept, dass Tumoren vor allem durch verstärkte Proliferation gekennzeichnet sind, wurden Medikamente entwickelt, die als Zytostatika mit DNA-Synthese und Zellteilung interferieren (Farber et al. 1948). In den letzten Jahren hat sich jedoch gezeigt, dass Chemotherapie und γ-Bestrahlung in therapiesensitiven Zellen Apoptose auslösen können und somit die Wirksamkeit dieser Behandlung wohl im Wesentlichen auf der Fähigkeit liegt, Zelltod zu induzieren (Dive et al. 1992; Fisher 1994; Gorczyca et al. 1993; Kaufmann u. Earnshaw 2000; Kerr et al. 1994). Da Chemotherapeutika, wie Anthrazykline oder Platinderivate, und γ-Bestrahlung DNA-Schäden verursachen, wird P53 eine wesentliche Rolle bei der Apoptoseauslösung zugeschrieben (Horn u. Vousden 2007). In experimentellen Systemen fand sich eine deutlich verminderte Sensibilität P53-negativer Tumoren gegenüber Zytostatika oder Bestrahlung. Neue Befunde zeigen jedoch, dass auch Moleküle und Signalwege, die direkt Apoptose vermitteln oder regulieren, für die Wirksamkeit der Antitumortherapie entscheidend sind. So kann die verstärkte Expression von z. B. BCL-2 und BCL-xL direkt die Chemosensitivität von Tumoren beeinflussen (Dive et al. 1992; Dole et al. 1995; Fisher 1994; Gorczyca et al. 1993; Kerr et al. 1994) und Zytostatika können direkt Apoptosesignalwege aktivieren (Beltinger et al. 1999; Debatin 1997; Friesen et al. 1996; Friesen et al. 1997; Fulda et al. 1997; Fulda et al. 1998; Fulda et al. 2000; Houghton et al. 1997; Müller et al. 1997; Reap et al. 1997). Doxorubicin und andere Medikamente induzieren in einigen untersuchten Zellen die Bildung von CD95-Ligand, CD95- und TRAIL-Rezeptoren und erhöhen die Sensitivität für Todesrezeptor-induzierte Apoptose (Chinnaiyan et al. 2000). Zytostatikainduzierte Sensibilisierung für Apoptosesignalwege ist auch für T-Zell-vermittelte Antitumormechanismen von Bedeutung (Debatin 1997; Micheau et al. 1997; Yoshihiro et al. 1997). Auch T-Zell- und NK-Zell-Zytotoxizität wirkt über die Auslösung von Apoptose, die entweder über CD95 oder durch direkte Caspasenaktivierung (Granzyme B) vermittelt wird. Bei der Aktivierung des CD95-Systems durch Zytostatika spielen P53 und der »stress pathway« eine Rolle (Müller et al. 1997; Herr 2001). Diese Systeme scheinen insbesondere in T-Zell-Leukämien aktiviert zu sein, bei denen CD95 konstitutiv exprimiert wird und CD95-vermittelte Apoptose erstmals
nachgewiesen wurde (Debatin et al. 1990; Debatin et al. 1993; Debatin u. Krammer 1995; Lücking-Famira et al. 1994). Mehr noch als die Aktivierung der Rezeptor Ligandensysteme, besitzt die Aktivierung des mitochondrialen Apoptosom-Komplexes eine entscheidende Bedeutung für zytostatikainduzierte Apoptose (Meng et al. 2006). Offensichtlich ist die Sensibilität von Tumorzellen gegenüber Therapie davon abhängig, dass Schlüsselelemente des Apoptoseprogrammes in der Zelle intakt sind und durch die Therapie getriggert werden können. Resistenz gegenüber Apoptoseauslösung, z. B. durch Defekte in Apoptoseprogrammen, führt so zur Zytostatikaresistenz (Friesen et al. 1997; Landowski et al. 1997; Los et al. 1997; Min et al. 1996). Daraus ergibt sich ein hypothetisches Konzept zur Aktivierung von Apoptosesignalwegen bei der Tumortherapie (. Abb. 6.7). Neben Apoptose gibt es auch andere Formen des Zelltodes, wie z. B. Nekrose, über die die Wirkung von zytotoxischen Therapien vermittelt werden (Leist u. Jaattela 2001). Im Gegensatz zur Apoptose als programmiertem Zelltod ist Nekrose eher ein passiver Zelltod, z. B. durch Sauerstoffmangel oder bestimmte Toxine, bei dem Zellen durch Störungen der Membranfunktionen (Ionenfluxe) sowie durch Ausfall der mitochondrialen ATP-Generierung anschwellen. Durch Zerstörung der Zellmembran werden zytoplasmatische Proteine freigesetzt, die eine inflammatorische Reaktion der Umgebung induzieren. Ferner ist Senescence ein zelluläres Programm, das durch zytotoxische Stimuli, wie Chemotherapie, aktiviert werden kann und die Chemosensitivität beeinflusst (Schmitt 2003). Darüber hinaus können neben der Induktion von Apoptose-zytotoxische Therapien, wie Zytostatika oder Bestrahlung, auch Signalwege stimulieren, die das Überleben der Krebszellen fördern, wie z. B. die Aktivierung des Transkriptionsfaktors NFκB (Karin et al. 2002).
6.9
Apoptoseregulatoren und Prognose
Untersuchungen in experimentellen Systemen sowie klinische Beobachtungen haben Hinweise dafür erbracht, dass die Bestimmung einzelner Apoptose regulierender Moleküle in Tumoren von prognostischer Bedeutung sein könnte. So wurde Therapieansprechen in einigen Studien mit der Expression proapoptotischer oder antiapoptotischer BCL-2-Proteine oder IAP korreliert. Allerdings hat sich bisher der klinische Wert solcher Untersuchungen nicht generell gezeigt (Andreeff et al. 1999; Harada et al. 1998; Johnston et al. 1997; Lauria et al. 1997; Meijerink et al. 1998; Soengas et al. 2001; Svingen et al. 2000; Tamm et al. 2000; Tsurusawa et al. 1998; Uckun et al. 1997; Wuchter et al. 2000). Selbst bei Leukämien in denen bisher die meisten Untersu-
. Abb. 6.7. Hypothetische Sequenz der Apoptoseinduktion durch Zytostatika bzw. Bestrahlung
159 6.10 · Tumortherapie durch Modulation von Apoptosesignalwegen
chungen durchgeführt wurden, ergibt sich kein klares Bild. Wahrscheinlich spielt die Veränderung der Expression und vor allem Funktion Apoptose-regulierender Moleküle unter der Tumortherapie eine größere Rolle als die konstitutive Expression einzelner Faktoren in unbehandelten Zellen. Weiterhin ist sicher das Zusammenspiel verschiedener Faktoren in der komplexen Regulation von Zelltod entscheidend. Solche Analysen haben eindeutig zeigen können, dass es möglich ist, insbesondere hämatologische Neoplasien hinsichtlich ihrer Genexpressionsmuster entsprechend ihrer immunologischen und molekulargenetischen Subtypen zu identifizieren (Ross et al. 2003). Da Apoptoseregulatoren und Zellzyklusregulatoren vor allen Dingen eine funktionelle Bedeutung und somit eine mögliche Rolle bei Therapieansprechen und Prognose zukommt, wurden zahlreiche Untersuchungen insbesondere an Leukämien mit dem Ziel durchgeführt, Prognose oder Therapieansprechen mit Genexpression zu korrelieren. Interessanterweise zeigte sich dabei, dass die differenzielle Expression Apoptoseregulierender Gene bei Korrelation mit Prognose oder Therapieansprechen nicht im Vordergrund steht. Bei den Top-20-Genen, die z. B. bei Vorläufer-B-ALL identifiziert wurden, fanden sich Zellzyklusregulatoren und Enzyme des Intermediärstoffwechsels und der Proteinbiosynthese, jedoch keine Apoptosegene (Bhojwani et al. 2006). Auch bei AML-Studien wurden differenziell regulierte Gene zwischen günstigen und ungünstigen Prognosegruppen identifiziert, die im Wesentlichen mit zellulärem Stoffwechsel assoziiert waren. Neben Studien zur prognostischen Wertigkeit von Genexpressionsanalysen wurden Studien mit der gezielten Fragestellung durchgeführt, inwieweit bestimmte Genexpressionsprofile mit Therapieansprechen korrelieren. Die bei pädiatrischen ALL-Patienten durchgeführten Analysen ergaben kein einheitliches Bild. Im Vordergrund der gefundenen differenziellen Expression standen wiederum Gene, die DNA-Stoffwechsel, Zellzyklus und allgemeinen Stoffwechsel regulieren (Cario et al. 2005). Weiter wurde in Longitudinalstudien die In-vitro-Sensitivität für Prednisolon, Vincristin, Asparaginase und Daunorubicin, die als prognostische Parameter identifiziert werden konnte, mit Genexpressionsprofilen assoziiert. Auch hier fand sich wiederum die stärkste Korrelation zwischen Empfindlichkeit für Zytotoxizität in vitro und Prognose mit Genen für Proteinmetabolismus, Nukleinsäuremetabolismus und Kohlenhydratmetabolismus (Holleman et al. 2004). Im Gegensatz zu den Analysen, die die statische Expression von Zellzyklus- oder Apoptoseregulatoren mit Prognose in Einzelanalysen oder Genexpressionsprofilen assoziierten, gibt es bisher nur sehr wenige Untersuchungen, die eine definierte In-vitro-Apoptosesensitivität (z. B. Caspasenaktivierung und/oder Zytochrom-C-Freisetzung) mit Prognose assoziieren. Einige Studien konnten jedoch überzeugend zeigen, dass Apoptosesensitivität in vitro mit Therapieansprechen bzw. mit Prognose direkt korreliert werden kann (Meyer et al. 2006; Prokop et al. 2000).
6.10
Tumortherapie durch Modulation von Apoptosesignalwegen
In den letzten Jahren sind verschiedene Ansätze entwickelt worden, das Wissen über die Regulation von Apoptose in Krebszellen in experimentelle Tumortherapie umzusetzen. Strategien zur Modulation von Apoptosesignalwegen basieren auf dem Konzept, dass die Fehlregulation von intrazellulären Signalwegen zur
6
Tumorprogression und Therapieresistenz führt und dass die Wirkung der meisten Therapieverfahren vor allem auf der Induktion von Zelltod in Zielzellen beruht (Fesik 2005; Fulda u. Debatin 2004). Prinzipiell kann die Balance zwischen Apoptose fördernden und hemmenden Faktoren zugunsten von Apoptose entweder durch die direkte Aktivierung von Apoptoseprogrammen oder durch die Blockade von Signalmolekülen, die Apoptose hemmen, verschoben werden. Ziel ist es, in Krebszellen entweder direkt Apoptose auszulösen oder für Zelltodsignale zu sensitivieren. Beispiele hierfür sind die Stimulation von Todesrezeptoren des TRAIL-Systems oder die Hemmung von negativen Regulatoren von Apoptose durch Proteine der BCL-2-Familie bzw. durch »inhibitors of apoptosis proteins« (IAP). Therapeutische Modulation von Apoptose über das TRAIL-System Das Konzept, über die Stimulation von Todesrezeptoren in Tumorzellen Apoptose auszulösen, ist deshalb so attraktiv, da Todesrezeptoren eine direkte Verbindung zur intrinsischen Todesmaschinerie der Zelle haben (Ashkenazi 2002). Obwohl sich CD95-vermittelte Apoptose in Tumormodellen als außerordentlich wirksam erwiesen hat (Debatin et al. 1990; Trauth et al. 1989), verbiete sich jedoch wegen der ausgeprägten Hepatotoxizität einer systemischen Gabe von CD95-Ligand dessen klinische Anwendung (Ogasawara et al. 1993). Im Gegensatz zum CD95-System ist TRAIL ein vielversprechender Kandidat für eine klinische Weiterentwicklung, da TRAIL vornehmlich auf Tumorzellen und nicht auf normale Zellen wirkt (Koschny et al. 2007). Toxizitätsstudien in Primaten belegen, dass TRAIL im Vergleich zu CD95Ligand oder TNFα nahezu keine unerwünschten Wirkungen zeigt (LeBlanc u. Ashkenazi 2003). Allerdings sind die Ursachen für diese tumorselektive Wirkung von TRAIL zurzeit noch nicht verstanden und Gegenstand laufender Forschungsarbeiten. Zahlreiche In-vitro-Untersuchungen und präklinische Testungen in Tiermodellen haben die Antitumoraktivität von rekombinantem, löslichem TRAIL gezeigt (LeBlanc u. Ashkenazi 2003; Koschny et al. 2007). Vergleichbare Resultate wurden mit dem Einsatz von humanen, monoklonalen Antikörpern erzielt, die spezifisch gegen einen der beiden agonistischen TRAIL-Rezeptoren gerichtet sind (Motoki et al. 2005; Pukac et al. 2005). Auf der Basis dieser Ergebnisse und des günstigen Sicherheitsprofils von TRAIL sind die ersten klinischen Studien mit TRAIL oder TRAIL-Rezeptor-Antikörpern initiiert worden (Duiker et al. 2006). Klinische Phase-I-Studien haben gezeigt, dass die systemische Applikation von rekombinantem, löslichem TRAIL (Genentech, San Francisco, CA) oder von TRAIL-R1- bzw. TRAILR2-spezifischen Antikörpern (Human Genome Sciences, Rockville, MD) sicher ist und die maximal tolerierte Dosis in der Regel nicht erreicht wurde (Tolcher et al. 2007; Patnaik et al. 2006; Herbst et al. 2006; Ling et al. 2006). Da jedoch ein beträchtlicher Anteil aller bisher untersuchten Tumorzelllinien in vitro eine mehr oder weniger ausgeprägte Resistenz gegenüber TRAIL-vermittelter Apoptose aufzeigten und auch in präklinischen Tiermodellen durch die alleinige Gabe von TRAIL oft keine ausreichende Tumorwachstumskontrolle erzielt werden konnte (LeBlanc u. Ashkenazi 2003; Koschny et al. 2007), werden Kombinationen von TRAIL-Agonisten zusammen mit konventioneller Chemotherapie evaluiert. Zahlreiche Untersuchungen in Zellkulturen zeigen nämlich, dass die gleichzeitige Aktivierung einer DNADamage/Stress-Response synergistisch zusammen mit TRAIL wirkt (Fulda u. Debatin 2004). Offen ist zurzeit noch, welche
160
Kapitel 6 · Apoptose
Form von TRAIL letztendlich besser für eine Krebstherapie geeignet ist. Rekombinantes, lösliches TRAIL hat eine kurze Halbwertzeit von ca. 30 Minuten und wirkt gleichzeitig über beide agonistischen TRAIL-Rezeptoren (Ling et al. 2006). Im Vergleich dazu weisen monoklonale Antikörper gegen TRAIL-R1 oder TRAIL-R2 eine deutlich längere Halbwertzeit von mehreren Tagen auf (Tolcher et al. 2007; Patnaik et al. 2006; Herbst et al. 2006) und stimulieren das TRAIL-System selektiv entweder über TRAIL-R1 oder TRAIL-R2. Ob mit einer Rezeptor-selektiven Stimulation des TRAIL-Systems und einer erhöhten Stabilität auch eine bessere Antitumoraktivität und therapeutische Breite erzielt werden kann, bleibt in künftigen Studien zu klären.
6
Therapeutische Modulation von Apoptose durch IAP Antagonisten Ein weiteres Prinzip zur Modulation von Apoptose in Tumorzellen beruht auf der Inhibition von antiapoptotischen Molekülen, wie z. B. von IAP (Schimmer et al. 2006). Da XIAP von den IAPProteinen die stärkste Apoptose hemmende Wirkung hat, wurde in den letzten Jahren vor allem XIAP als Targetstruktur für die Entwicklung von Antisense-Oligonukleotiden oder Inhibitoren verwendet (Schimmer et al. 2006). Bei Letzteren diente die BIR3Domaine von XIAP, an die auch der endogene XIAP Antagonist SMAC bindet, als Ausgangspunkt für das strukturbasierte Design von Leitsubstanzen (Shiozaki et al. 2004). Zahlreiche Experimente an Zellkulturen oder in Mausmodellen haben gezeigt, dass bereits durch eine alleinige Gabe von XIAP-Antisense-Oligonukleotiden oder XIAP-Inhibitoren eine Antitumorwirkung bei verschiedenen Tumortypen erzielt werden kann (LaCasse et al. 2005; LaCasse et al. 2006). Darüber hinaus können XIAP-AntisenseOligonukleotide oder XIAP-Inhibitoren in Kombinationstherapien eingesetzt werden, um Tumorzellen für Apoptose zu sensitivieren. So konnte durch die kombinierte Gabe von AntisenseOligonukleotiden oder Inhibitoren gegen XIAP zusammen mit Chemotherapie, Bestrahlung oder zytotoxischen Liganden, wie TRAIL, ein additiver oder sogar synergistischer Antitumoreffekt in präklinischen Untersuchungen bei verschiedenen Tumoren erzielt werden (Fulda et al. 2002; Vogler et al. 2007; Giagkousiklidis et al. 2005; Giagkousiklidis et al. 2007; LaCasse et al. 2005; McManus et al. 2005). Erste klinische Testungen von XIAP-Antisense-Oligonukleotiden, die per os appliziert werden können, haben deren gute Verträglichkeit gezeigt (Ranson et al. 2006). XIAP-Antisense-Oligonukleotide werden zurzeit in Phase-IIStudien alleine oder in Kombination mit Chemotherapie evaluiert und die erste klinische Erprobung von niedermolekularen XIAP-Inhibitoren soll in Kürze starten. Neben XIAP ist auch SURVIVIN ein interessantes molekulares Target in der Onkologie, da SURVIVIN nicht nur Apoptose hemmt, sondern auch direkt an der Kontrolle der Mitose durch Interaktion mit dem Spindelapparat beteiligt ist (Altieri 2006). Ansätze zur Modulation von SURVIVIN, wie Antisense-Oligonukleotide oder niedermolekulare Inhibitoren, werden in klinischen Phase-I/II-Studien derzeit getestet (Altieri 2006). Darüber hinaus sind gegen SURVIVIN gerichtete Immuntherapien entwickelt worden, da SURVIVIN ein universelles Tumorantigen ist, das nahezu selektiv in Tumorzellen vorkommt (Altieri 2006).
Therapeutische Modulation von Apoptose durch BCL-2-Antagonisten Basierend auf Befunden, dass Apoptose hemmende Proteine der BCL-2-Familie in vielen Krebsarten verstärkt exprimiert sind, sind verschiedene Strategien entwickelt worden, die auf die Hemmung von antiapoptotischen BCL-2-Molekülen abzielen, z. B. niedermolekulare Inhibitoren, Antisense-Oligonukleotide oder BH3-Peptidomimetika (Adams et al. 2007; Dai u. Grant 2007; Manion et al. 2006). Diese Ansätze zielen darauf ab, das Gleichgewicht von pro- und antiapoptotischen BCL-2-Molekülen zugunsten von Apoptose zu verschieben, indem entweder die Expression oder Funktion von Apoptose hemmenden BCL-2-Proteinen blockiert oder das Vorhandensein von Apoptose fördernden BCL-2-Proteinen erhöht wird. Die Sensitivität von Krebszellen gegenüber Apoptosesignalen wird u. a. durch die relative Expression von pro- versus antiapoptotischen BCL-2-Molekülen diktiert, da antiapoptotische BCL-2-Proteine über eine direkte Interaktion die Funktion von proapoptotischen BCL-2Molekülen blockieren (Adams et al. 2007; Dai u. Grant 2007; Manion et al. 2006). BCL-2-Antisense-Oligonukleotide, wie beispielsweise Genasense, wurden bereits in klinischen Studien eingesetzt, z. B. in der Behandlung von Non-Hodgkin-Lymphomen oder beim Melanom (Cotter 2004). Dabei konnte insbesondere durch die Kombination von Genasense mit Zytostatika, z. B. mit Dacarbazin, ein Ansprechen beim Melanom erreicht werden (Cotter 2004). In der Behandlung von Non-Hodgkin-Lymphomen wird die kombinierte Gabe von Genasense zusammen mit monoklonalen Antikörpern gegen CD20 (Rituximab) oder CD52 (Alemtuzumab) evaluiert (Kay et al. 2006). Ein konzeptioneller Meilenstein in der Entwicklung von BCL-2-Inhibitoren ist möglicherweise mit ABT-737 erfolgt (Oltersdorf et al. 2005; Stauffer 2007). Mithilfe von strukturbasiertem Design gelang es, einen BCL-2/BCL-XL-Inhibitor, ABT-737, zu generieren, der kompetitiv die Interaktion von antiund proapoptotischen BCL-2-Proteinen blockiert (Oltersdorf et al. 2005). ABT-737 bindet an die hydrophobe Tasche in BCL-2, BCL-XL und BCL-W und verhindert damit deren Bindung an BAX, BAK oder NOXA (Oltersdorf et al. 2005). Präklinische Untersuchungen belegen, dass in bestimmten Tumoren wie CLL, follikulärem Lymphom oder kleinzelligem Lungenkarzinom bereits die alleinige Gabe von ABT-737 für einen ausgeprägten zytotoxischen Effekt ausreichend ist, während in anderen Malignomen die Kombination von ABT-737 zusammen mit einer gleichzeitigen Chemotherapie oder Bestrahlung notwendig ist (Oltersdorf et al. 2005). Ein wichtiger Parameter für die Sensitivität von Tumorzellen gegenüber ABT-737 ist dabei die Expression von MCL-1, da ABT-737 nur sehr schwach an MCL-1 bindet und damit dieses antiapoptotische BCL-2-Protein nicht neutralisieren kann (van Delft et al. 2006). In Folge sind daher in Tumoren mit hoher MCL-1-Expression Substanzen, die die Expression von MCL-1 supprimieren, wie beispielsweise RAFMEK oder CDK-Inhibitoren, zusammen mit ABT-737 kombiniert worden (Dai u. Grant 2007). ABT-263 ist eine Weiterentwicklung von ABT-737 mit oraler Bioverfügbarkeit und wird in klinischen Phase-I-Studien bei CLL, Lymphomen und Lungenkarzinom getestet.
161 6.10 · Tumortherapie durch Modulation von Apoptosesignalwegen
Zusammenfassung Die Identifizierung wichtiger Moleküle und Signalwege, die Überleben und Absterben von Zellen steuern, hat zu wesentlichen Einblicken in Gebiete der Zellbiologie geführt, die für die Onkologie von entscheidender Bedeutung sind. Sequenziell akquirierte Veränderungen in Genen und Signalwegen, die Zelltod regulieren, sind als entscheidender Schritt der Karzinogenese charakterisiert worden. Die bisher entdeckten Signalwege für Apoptose bilden bereits jetzt die Grundlage für Untersuchungen an klinischem Tumormaterial mit dem
Ziel, aus der molekularen Analyse prognostische Aussagen treffen zu können. Diese Analysen werden durch die Entwicklung und Implementierung insbesondere der Proteomanalyse zukünftig noch weiter verbessert werden. Da auch die Antitumortherapie wesentlich von Induktion und Vorhandensein Apoptose regulierender Moleküle abhängt, ist zu erwarten, dass die neuen therapeutischen Ansätze zukünftig auch die Behandlung von Tumorerkrankungen mit molekular gerichteter Therapie deutlich verbessern.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
6
7 Zellzyklus S. Geley, L. Hengst
7.1
Überblick über den Zellzyklus
7.2
Prinzipien der Regulation des Zellzyklus
7.3
Zellteilungskontrolle: Kontrollmechanismen (Checkpoints) und Schlüsselproteine (Gatekeepers) – 172
7.4
Tumorentstehung durch Mutationen in Checkpointund Gatekeeper-Proteinen – 176
7.5
Zellzyklusproteine als »Proliferations- und prognostische Marker«
7.6
Zellzyklusregulatoren als Angriffspunkte für Tumortherapie – 180 Literatur – 180
– 163 – 168
– 180
163 7.1 · Überblick über den Zellzyklus
> Einleitung
7.1
7
Maligne Tumoren entstehen durch die klonale Expansion einer zur autonomen Proliferation befähigten Zelle. Um diesen Zustand zu erreichen, muss die Zelle auf dem Weg der Tumorgenese zahlreiche zelluläre Barrieren permanent überwinden, welche die Proliferation auf unterschiedlichen Ebenen regulieren und limitieren. Während der Entwicklung und Differenzierung von Zellen in einem multizellulären Organismus werden zahlreiche Mechanismen aktiviert, welche die Fähigkeit zur Zellteilung (den Zellzyklus) einschränken. Diese beinhalten u. a. die Abhängigkeit von extrazellulären Signalen wie Wachstumsfaktoren oder die Aktivierung von »Seneszenz- oder Apoptoseprogrammen« bei unkoordinierten Proliferationsstimuli (Hanahan u. Weinberg 2000). Bei Wegfall dieser Barrieren, z. B. durch angeborene oder erworbene Mutationen oder epigenetische Mechanismen, die zu einer Veränderung der Genexpression oder -funktion führen, kommt es zur vermehrten Proliferation bzw. zu einer verminderten Absterberate der betroffenen Zellen. Sowohl eine Erhöhung der Proliferationsrate als auch eine Erniedrigung der Apoptoserate können daher zu einer Zellzahlerhöhung des betroffenen Gewebes führen. Obwohl Tumorerkrankungen epidemiologisch gesehen häufige Erkrankungen sind, entwickeln sich nur extrem wenige Zellen in einem Organismus zu einem malignen Tumor. Ein effizienter Schutz vor zellulärer Entartung ist durch zahlreiche tumorsuppressive Mechanismen bedingt, die überwunden werden müssen, um eine autonome Zellproliferation zu ermöglichen. Die Akkumulation von genetischen Veränderungen, die alle malignen Tumoren charakterisiert, kann durch exogene Faktoren, wie chemische Mutagene, physikalische Noxen, onkogene Viren oder auch durch endogene Faktoren, wie eine erhöhte Mutationsrate, eine Verminderung der DNA-Reparatur oder ein Versagen sog. Checkpoint-Mechanismen (s. unten) hervorgerufen werden (Vogelstein u. Kinzler 2002). In seltenen Fällen, wie etwa beim Hodgkin-Lymphom entstehen die Tumormassen nicht durch die exzessive Proliferation von entarteten Zellen, sondern durch die »normale«, reaktive Proliferation von Zellen, die von wenigen malignen Zellen durch Ausschüttung von mitogenen Faktoren stimuliert werden. Während der Tumorgenese kommt es also zu einer Enthemmung der zellulären Proliferation, die in eukaryontischen Zellen einem festgeschriebenen Programm, dem Zellzyklus, folgt. In normal regulierten Zellzyklen fällt in der ersten Zellzyklusphase die Entscheidung, ob eine Zelle sich noch einmal teilen darf oder aus dem Zellzyklus in die G0-Phase austritt oder differenziert. Nach der G1-Phase erfolgt die Verdopplung der zellulären Bestandteile, insbesondere der genetischen Information, und deren anschließende Aufteilung auf die entstehenden Tochterzellen. Vielfältige Kontrollmechanismen des Zellzyklus gewährleisten die Präzision und zeitliche Kopplung dieser Prozesse. Die Proteine, die diese Kontrollfunktionen übernehmen, können entweder den Zellteilungsprozess vorantreiben oder anhalten. Positiv wirkende Zellzyklusregulatoren sind daher in der Regel in proliferierenden Zellen aktiv und werden, wenn kausal in den Entstehungsprozess des Tumors eingebunden, als Onkogene bezeichnet. Der Nachweis der Expression von positiven Zellzyklusregulatoren in Tumorproben kann als Maß für den Proliferationsindex und auch als prognostischer Marker verwendet werden. Analog kann der Verlust von hemmenden Faktoren ebenfalls zur Tumorentstehung beitragen (in diesem Fall werden diese Regulatoren als Tumorsuppressorgene bezeichnet), sodass auch deren molekularem Nachweis eine wichtige diagnostische und prognostische Bedeutung zukommt. Im Folgenden werden die Prozesse der Zellteilung und deren Regulationsmechanismen dargestellt, wobei vor allem auf Schlüsselvorgänge und -moleküle, die für das Verständnis der Pathogenese maligner Erkrankungen essenziell sind, eingegangen wird.
Überblick über den Zellzyklus
Zur erbgleichen zellulären Reproduktion müssen Zellen zunächst jene Bestandteile replizieren, die ohne »Vorlage« nicht synthetisiert werden können. Hierzu zählt als Wichtigstes die DNA, die während der sog. Synthese-(S-)Phase des Zellzyklus exakt einmal verdoppelt werden muss. Die präzise Verdoppelung des Genoms ist eine Voraussetzung dafür, dass zwei genetisch identische Tochterzellen entstehen können. Fehler in der DNA-Replikation
oder in der nachfolgenden Verteilung (Segregation) der Chromosomen auf die beiden Tochterzellen während der Mitose können daher zur Aneuploidie (Fehler der Chromosomenzahl) führen, die als Kennzeichen maligner Tumoren gilt. Inwieweit die Aneuploidie Ursache oder Konsequenz der zellulären Entartung ist, soll weiter unten angesprochen werden. Im Zentrum der Maschinerie, die die Zellteilung steuert, stehen Enzyme aus der Familie der cyclinabhängigen Kinasen (CDK; Murray u. Hunt 1993). Durch eine definierte Abfolge von
164
7
Kapitel 7 · Zellzyklus
Aktivierung und Inaktivierung regulieren die CDK alle wichtigen Übergänge des Zellzyklus. Diese Serin-Threonin-Kinasen bestehen in ihrer einfachsten Form aus einer katalytischen Untereinheit, der CDK, und einer positiv regulatorischen Untereinheit, dem Cyclin. Als Plattform zur Integration mitogener und antiproliferativer Signale sowie zellzyklusinterner Kontrollpunkte (Checkpoints) wird die Aktivität der CDK über ein komplexes Netzwerk unterschiedlicher Regulationsmechanismen gesteuert (Morgan 1997). Dazu gehören, neben der Cyclinexpression, als weitere wichtige Mechanismen auch aktivierende und inaktivierende Phosphorylierungen und das Binden von CDK-inhibitorischen Untereinheiten (Pavletich 1999). Die Substrate der CDK sind Schlüsselproteine unterschiedlicher Natur, die durch reversible Phosphorylierung aktiviert oder inaktiviert werden können. So werden z. B. transkriptionelle Repressorkomplexe inaktiviert, um Transkriptionsfaktoren freizusetzen, die dann ein zellzyklusphasenspezifisches Transkriptionsprogramm aktivieren. CDK können durch Phosphorylierung aber nicht nur die Funktion, sondern, durch Aktivierung oder Inaktivierung von Ubiquitinligasen, auch die Stabilität definierter Substrate den jeweiligen Zellzyklusphasen anpassen. Zusätzlich zur Steuerung der für die eigentliche Zellteilung notwendigen Prozesse beinhaltet die Kontrolle des Zellzyklus sowohl die Koordination dieser Prozesse untereinander, als auch die Integration der Zellteilungsrate in den Kontext der Zellzahlhomöostase eines vielzelligen Organismus. Diese Regulationsmechanismen können zellkontextabhängig sein, um bei Bedarf den nötigen Nachschub an Zellen zu gewährleisten oder um eine weitere Zellteilung terminal differenzierter Zellen zu verhindern. Sie können auch die »akute« Reaktion auf eine »Noxe« (etwa DNA-Schädigung) sein, die zur Zellzyklushemmung führt, um z. B. die Reproduktion geschädigter DNA zu verhindern.
Für die Reproduktion einer Zelle stellen die DNA-Replikation und die Chromosomensegregation die wesentlichsten Vorgänge dar, die in Eukaryonten in zwei diskreten, zeitlich voneinander abgesetzten Zellzyklusphasen, der S- und M-Phase ablaufen. Diese beiden Phasen sind durch die gap-Phasen, G1 und G2, getrennt, die je nach Zelltyp von unterschiedlicher Länge sein können und u. a. eine zeitliche Koordination von Zellteilungsrate und Wachstum sowie eine Qualitätskontrolle erlauben. Wichtige Zellzyklustransitionen sind durch die Aktivierung spezifischer Cyclin-CDK-Komplexe charakterisiert. Während die Länge der Gap-Phasen sehr variabel sein kann, weisen die M- und S-Phase eine relativ konstant Länge von etwa einer (M-Phase) bzw. von 6–8 Stunden (S-Phase) auf. Die minimale Zellzyklusdauer beträgt somit in somatischen Zellen etwa 8 Stunden, was in aktivierten lymphoiden Zellen, die sich bis zu 3-mal pro Tag teilen können, bei maximaler zellulärer Expansion auch ausgeschöpft wird. Bei den meisten Zelltypen, die auch in vitro studiert werden können, dauert ein Zellzyklus etwa 24 Stunden, wobei die G1Phase davon etwa die Hälfte in Anspruch nimmt. . Abb. 7.1 zeigt eine schematische Übersicht über die Zellzyklusphasen sowie der wichtigsten Cyclin-CDK-Komplexe.
7.1.1
Ist eine Zelle durch die Einwirkung von Proliferationssignalen aus dem Ruhezustand, auch G0-Phase genannt, wieder in die Proliferationsphase eingetreten, durchläuft sie zunächst die G1Phase, in welcher die Zelle durch vermehrte Proteinsynthese an Masse zunimmt. In Anwesenheit ausreichender Nährstoffe und positiver Proliferationssignale erreichen die Zellen einen Zustand in G1, der, wenn überschritten, zur Zellteilung verpflichtet, selbst wenn anschließend Nährstoffe oder Proliferationssignale entzogen werden sollten. Dieser sog. Restriktionspunkt (R in . Abb. 7.1) koordiniert die Entscheidung über Proliferation oder Wachstumsarrest. Er wird u. a. durch den Aktivitätszustand des Retinoblastomaproteins RB1 (pRb) reguliert (Blagosklonny u. Pardee 2002). Wird dieser Kontrollmechanismus inaktiviert, kommt es zu wachstumsfaktorunabhängigen Proliferation. Nachdem der Restriktionspunkt überschritten und RB1 durch die Aktivität der Cyclin D-CDK-Komplexe inaktiviert worden ist, kommt es zur Induktion von Genen, deren Produkte zur DNASynthese benötigt werden. Während der G1-Phase liegt also ein diploider (2n) oder auch »einfacher« (1C) DNA-Gehalt vor. Das Zentrosom als zweite wichtige Struktur, die während des Zellzyklus exakt einmal repliziert werden muss, liegt in der G1-Phase in einer Kopie, bestehend aus 2 Zentriolen und dem perizentriolären Material, vor.
7.1.2
. Abb. 7.1. Schematische Darstellung des Zellzyklus. Dargestellt sind die einzelnen Zellzyklusphasen, deren wichtigste Cyclin-CDK-Komplexe (innerer Ring) sowie eine vereinfachte Darstellung wichtiger zellulärer Vorgänge während des Zellzyklus (Verdopplung der DNA und des Zentrosoms sowie die Ausbildung der mitotischen Spindel während der Mitose). Die schwarzen Balken symbolisieren jene Zellzyklusübergänge, die durch Checkpoint-Proteine reguliert werden. Kursiv sind Faktoren dargestellt, die zur Aktivierung des Checkpoint-mediierten Zellzyklusarrestes führen können
G1-Phase
S-Phase
Während der S-Phase kommt es zur Replikation der DNA und durch Ausbildung der Tochterzentriolen zur Duplikation des Zentrosoms. Das Zentrosom dient der Organisation des Mikrotubuli-Zytoskeletts und ist während der Mitose an der Ausbildung der mitotischen Spindel beteiligt. Die Spindel, eine besondere Organisationsform der Mikrotubuli, ist essenziell für die präzise Aufteilung der Chromosomen. Die Zentrosomen müssen einmal dupliziert werden, um die bipolare mitotische Spindel aufbauen zu können (Meraldi u. Nigg 2002). Genauso wie eine
165 7.1 · Überblick über den Zellzyklus
. Abb. 7.2. Regulation der DNA-Replikation durch Cyclin-CDK-Komplexe. Die einmalige Verdopplung der DNA während eines Zellzyklus wird durch die doppelte Wirkung der Cyclin-CDK-Komplexe sichergestellt, die einerseits zur Initiation der Replikation benötigt werden und andererseits über die gleichzeitige Inaktivierung der replikativen Komplexe (RC) bis zum Ende der nächsten Mitose eine wiederholte Initiation der DNA-Replikation unterbinden. Am Ende der Mitose bzw. in der frühen G1-Phase wird an definierten Replikationsinitiationsstellen, welche durch den gebundenen ORC-Komplex gekennzeichnet sind, durch Licensing-Faktoren wie CDC6, CDT1 und die MCM-Proteine der prä-replikative Komplex (Prä-RC) gebildet. Dieser Pre-RC wird für den Aufbau eines funktionellen Replikationsapparates benötigt. Der nun replikationskompetente Komplex wird zu Beginn der S-Phase durch Cyclin/CDK und andere Kinasen, wie dem Heterodimer DBF4/CDC7, phosphoryliert und aktiviert. Gleichzeitig mit der Aktivierung bewirken CDKs auch eine Inaktivierung der Licensing-Faktoren, die nach Phosphorylierung entweder aus dem Nukleus ausgeschlossen oder durch Proteolyse abgebaut werden. Durch transkriptionelle Induktion wird zu Beginn der S-Phase auch Geminin induziert, welches freies CDT1 bindet und dadurch den Neuaufbau eines replikativen Komplexes während der S-Phase verhindert. Geminin selbst wird während der Mitose durch den APC/C-ProteasomWeg abgebaut. Daher muss für eine neue DNA-Synthese die Mitose durchlaufen werden, um die CDK zu inaktivieren, den Licensing-Faktoren durch Auflösung der Kernmembran wieder Zutritt zum Chromatin zu geben und schließlich um Geminin abzubauen, was zur Freisetzung von CDT1 führt
7
ungenaue Replikation der DNA zur Aneuploidie führt, führen Fehler in der Zentrosomenreplikation zu Fehlern in der Ausbildung der mitotischen Spindel. Es können so multipolare Spindeln mit der Möglichkeit zur Aneuploidisierung entstehen. Der Beginn der DNA-Replikation erfolgt an definierten Regionen der Chromosomen, den sog. Replikationsinitiationsstellen (»origins of DNA replication«). Sie sind durch die Bindung von Proteinen des »origin recognition complex« (ORC) gekennzeichnet (. Abb. 7.2). In der frühen G1-Phase baut sich an diesen Orten durch die Wirkung von limitierenden und zellzyklusregulierten Faktoren, den »licensing factors«, der sog. präreplikative Komplex (Pre-RC) auf. Zu diesen Licensing-Faktoren gehören etwa die Proteine CDC6, CDT1 und Mitglieder der MCM-Proteine, die gemeinsam dafür verantwortlich sind, dass die eigentlichen Replikationsenzyme, wie z. B. die DNA-Polymerase, an diese »Origins« herangebracht werden, an denen die Replikation der DNA beginnen soll (Blow u. Tanaka 2005). Da Replikationsproteine wie MCM2-7 nur in proliferierenden Zellen exprimiert werden, eignen sich diese auch als diagnostische Marker, um die Proliferationsrate eines Gewebes zu bestimmen. Durch die Aktivierung der G1/S- und S-Phase-spezifischen CDK-Aktivitäten (Cyclin E/CDK2 und Cyclin A/CDK2) am Übertritt in die S-Phase wird die DNA-Replikation initiiert, d. h., es bilden sich zwei sog. Replikationsgabeln aus, die sich voneinander entfernen, um den DNA-Strang semikonservativ zu replizieren. Die beiden neuen Tochterstränge, die Schwesterchromatiden, bleiben durch den Cohesinkomplex miteinander verbunden. Mit der Aktivierung der DNA-Replikation durch die S-Phasen-CDK geht gleichzeitig eine Inaktivierung der präreplikativen Komplexe, durch CDK-abhängige Phosphorylierung der Licensing-Faktoren, einher, sodass diese nicht noch einmal zur Initiation der DNA-Synthese verwendet werden können und so eine Mehrfachreplikation verhindert wird. Da CDK bis in die Mitose (s. unten) aktiv bleiben, kann von einem »origin of replication« daher nur einmal während des Zellzyklus DNA-Synthese begonnen werden (Diffley 2001; . Abb. 7.2). Neben der CDKabhängigen Phosphorylierung von Licensing-Faktoren ist aber noch durch weitere Mechanismen sichergestellt, dass DNA-Synthese erst nach einem Durchlaufen durch eine Mitose wieder ermöglicht wird. Zu diesen Mechanismen gehört die Sequestration von Licensing-Faktoren im Zytoplasma während der S- und G2-Phase, die daher erst nach der Auflösung der Kernmembran – zu Beginn der Mitose – wieder mit DNA interagieren können. Hinzu kommt eine Kopplung von mitotischer Proteolyse mit der DNA-Replikation. Neben der schon erwähnten Inaktivierung der CDK-Aktivität durch Proteolyse während der Mitose wird auch ein spezifischer Inhibitor des Licensing-Faktors CDT1, Geminin, durch Proteolyse spezifisch in Mitose degradiert. CDT1 wird dadurch wieder freigesetzt, sodass es wieder zum Aufbau von präRC verwendet werden kann. Während der S-Phase steigt der DNA-Gehalt einer Zelle kontinuierlich auf 4n (2C) an. Die Zentriolen der Zentrosomen haben jeweils Tochterzentriolen ausgebildet, sodass am Ende der S-Phase zwei komplette Zentrosomen ausgebildet sind.
7.1.3
G2-Phase
Die G2-Phase trennt die DNA-Synthesephase von der M-Phase. Während der G2-Phase überprüft die Zelle, ob die DNA exakt kopiert worden ist und ob strukturelle DNA-Alterationen vor-
166
Kapitel 7 · Zellzyklus
liegen. Sollten Fehler vorliegen, werden sog. CheckpointMechanismen aktiviert, die einer zellulären Qualitätskontrolle entsprechen. Diese Checkpoint-Mechanismen koordinieren die Abfolge der Zellzyklusphasen untereinander, indem sie z. B. verhindern, dass Zellen mit nicht vollständig replizierter DNA mit der Mitose beginnen können. Erst nachdem in der G2-Phase sichergestellt wurde, dass die Voraussetzungen für eine Mitose, d. h. im Wesentlichen das Vorliegen eines exakt duplizierten Genoms, vorliegen, kann mit der Einleitung der Mitose begonnen werden. Die G1-, S- und G2-Phase werden zusammen auch als Interphase bezeichnet, um sie von der folgenden Mitosephase abzugrenzen.
7.1.4
7
M-Phase
In der M-Phase (Pines u. Rieder 2001) werden die verdoppelten Chromosomen auf die beiden entstehenden Tochterzellen aufgeteilt. Die während der S-Phase verdoppelten DNA-Stränge, die jetzt als Schwesterchromatiden bezeichnet werden, sind reißverschlussartig aneinander gebunden. Diese Kopplung, ausgebildet durch den sog. Cohesinkomplex, ist eine essenzielle Voraussetzung für eine erfolgreiche erbgleiche Teilung. Koordiniert mit dieser »nukleären« Teilung erfolgt die zytoplasmatische Teilung, auch Zytokinese genannt, die garantiert, dass ein kompletter Chromosomensatz in je einer der neu gebildeten und sich voneinander abschnürenden Zellen zu liegen kommt (zum Mechanismus der Chromosomensegregation s. Nasmyth 2002). Die Vorgänge während der Mitose werden im Wesentlichen von der mitotischen Spindel ausgeführt, einer mechanochemischen »Maschine«, welche die aus der Hydrolyse von Nukleotiden gewon-
. Abb. 7.3. Mitose in der Lebendzellmikroskopie. Gezeigt ist eine humane Zelle, in welcher die Mikrotubuli und das Chromatin durch die Verwendung von fluoreszierenden Proteinen in lebenden Zellen beobachtet werden können. Die Mikrotubuli wurden durch Expression der Mikrotubuli-Bindungsdomäne des Proteins E-MAP-115, welches an grün fluores-
nene chemische Energie in mechanische Energie zur Auftrennung der Chromosomen und zur Zellteilung umwandelt (Gadde u. Heald 2004). Die Mitose wird als einzige Zellzyklusphase in weitere Phasen unterteilt (. Abb. 7.3), die nun kurz beschrieben werden sollen. Prophase In der Prophase beginnt die Kondensation der Chromosomen im Zellkern, die als »Fäden« in der Mikroskopie sichtbar werden. Im Zytoplasma erfolgt die Trennung der duplizierten Zentrosomen, die nun, geleitet durch Mikrotubuli-assoziierte Proteine, auseinanderweichen, um den Zellkern wandern und gegenüber voneinander Aufstellung beziehen. An den Zentrosomen, die später zu den beiden Polen der mitotischen Spindel differenzieren, assemblieren zahlreiche Proteine, die wesentliche Funktionen in der Regulation des Zellzyklus ausüben. Unter diesen befindet sich Cyclin B1/CDK1, das in inaktiver Form während der S-Phase und G2-Phase akkumuliert und nun, am Ende der Prophase, an den Zentrosomen aktiviert wird. Die Aktivierung dieser Kinase bewirkt deren Translokation in den Zellkern und die Auslösung einer positiven Rückkopplungsschleife, die zu vermehrter und – jetzt irreversibler – Aktivierung von Cyclin B1/CDK1 führt. Diese starke Aktivierung von Cyclin B1/CDK1 findet am Übergang in die Prometaphase statt. Prometaphase Der Beginn der Prometaphase ist durch die Auflösung der Kernhülle (und damit der Auflösung der Kompartimentierung der Zelle in Zellkern und Zytoplasma) durch CDK1-abhängige Phosphorylierung der Laminfilamentproteine gekennzeichnet. Gleichzeitig bewirkt die CDK1-Aktivität eine noch stärkere Kondensati-
zierendes Protein (GFP) fusioniert wurde, nachgewiesen, während Chromatin durch die Expression von Histon H2B fusioniert an rot fluoreszierendes Protein (RPF) markiert wurde. Die zeitliche Abfolge der einzelnen Stadien der Mitose ist deutlich zu erkennen. Prophase bis Zytokinese werden hier in weniger als 60 Minuten durchlaufen
167 7.1 · Überblick über den Zellzyklus
on der Chromosomen, die nun auch mit Mikrotubuli interagieren, welche an den Zentrosomen (Spindelpolen) verankert sind. Diese Interaktion findet vorwiegend an den Kinetochoren statt, die während der Mitose an der zentromeren DNA der Chromosomen assembliert werden. Hat eine Bindung von Mikrotubuli an einem Kinetochor stattgefunden, wird das Chromosom zunächst zu jenem Spindelpol gezogen, welcher den »erfolgreichen Mikrotubulus« ausgebildet hat. Dies führt zu einer Neuorientierung des zweiten, noch nicht gebunden Kinetochors des Schwesterchromatids, welches jetzt das gegenüberliegende Zentrosom »anvisiert«, um von einem von dort ausgehenden Mikrotubulus eingefangen zu werden. Die auf diese Weise schließlich bipolar angehefteten Chromosomen beginnen nun zwischen den Polen zu oszillieren, um schlussendlich an der Metaphasenplatte zu liegen zu kommen. Metaphase Die Metaphase ist eine relativ kurze Phase der Mitose, in welcher alle Chromosomen die Mittelstellung zwischen den Spindelpolen eingenommen haben. Die Chromosomen sind bipolar an die mitotische Spindel angeheftet und werden von beiden Polen angezo-
. Abb. 7.4. Schematische Darstellung der Vorgänge während der Mitose. In den ersten drei Zeilen sind die wichtigsten zellulären, chromosomalen und zentrosomalen Vorgänge während der Mitose symbolisch dargestellt. Wichtig ist, dass während der Prometaphase noch unipolar angeheftete Chromosomen dominieren. Obwohl CDKs die wichtigsten Regulatoren des Zellzyklus und der Mitose sind, gibt es zahlreiche andere die an der Regulation der Zentrosomen (Aurora-A-Kinase), der Ausbildung der mitotischen Spindel (Aurora B und Plk1) sowie der Zytokinese beteiligt sind. In vielen Tumoren wird eine Überexpression dieser Kinasen beobachtet, sodass deren fehlerhafte Funktion durch Mitosefehler zur Kanzerogenese beitragen kann. Das Fortschreiten in der Mitose ist aber
7
gen. Da die beiden Schwesterchromatiden durch den Cohesinkomplex physikalisch aneinander gekoppelt sind, entsteht durch den Zug der Mikrotubuli eine Spannung, vor allem zwischen den Kinetochoren, welche ein wichtiges zelluläres Signal für eine erfolgreiche bipolare Anheftung der Chromosomen darstellt. Während der Metaphase erfolgt die Aktivierung der Ubiquitinligase APC/Cyclosom (APC/C), welche zentrale Mitoseregulatoren durch Polyubiquitylierung der proteasomabhängigen Proteolyse zuführt. Zu diesen Regulatoren gehört Securin (PTTG1), ein Inhibitor der Cysteinprotease Separase. Durch den Abbau von Securin wird Separase aktiviert, die eine Untereinheit (RAD21) des Schwesterchromatid-Cohesinkomplexes spaltet und damit die Verbindung der beiden Schwesterchromatiden löst. Diese Spaltung ermöglicht der mitotischen Spindel, die jetzt nicht mehr miteinander verbundenen Schwesterchromatiden voneinander zu trennen. Anaphase Neben Securin wird auch Cyclin B1 am Beginn der Anaphase ubiquitinabhängig abgebaut und damit der Austritt aus der Mitose vorbereitet. Durch die Ausbildung der Anaphasenspindel
nicht nur durch Phosphorylierung, sondern auch durch proteolytische Vorgänge bestimmt. Eine entscheidenen Rolle spielt hierbei die Ubiquitinligase APC/C, die entweder durch CDC20 oder FZR1 aktiviert werden kann und zahlreiche Mitoseregulatoren (Cycline, Securin, CDC20 u. a.) durch Polyubiquitylierung der Degradation zuführt. Für ein koordiniertes Auftrennen der Schwesterchromatiden ist es wichtig, dass die Degradation von Cyclin B1 und Securin erst erfolgt, nachdem alle Chromosomen korrekt (bipolar) an der mitotischen Spindel angeheftet sind. Solange dies nicht der Fall ist, wird die Degradation von Cyclin B1 und Securin durch den Mitose-Checkpoint verhindert
168
Kapitel 7 · Zellzyklus
werden die Chromosomen zunächst polwärts gezogen (Anaphase A). Anstelle der Metaphasenplatte haben sich inzwischen gegenläufige interpolare Mikrotubuli zur sog. zentralen Spindel assembliert (Mishima et al. 2004). Durch molekulare Motorproteine können diese überlappenden Mikrotubuli nun gegeneinander verschoben werden und bewirken so ein Auseinanderweichen der Spindelpole und eine weitere Auftrennung der Chromosomen (Anaphase B).
7
Telophase Während der letzten Phase der Mitose, der Telophase, beginnen die Chromosomen zu dekondensieren und es erfolgt der Wiederaufbau der Kernhülle, wodurch wieder ein G1-Zellzykluszustand etabliert wird. Gegen Ende der Mitose erfolgt auch die Abspaltung der Tochterzentriolen, sodass wieder zwei »Ausgangsstrukturen« für die Verdopplung der Zentrosomen während der S-Phase zur Verfügung stehen. Zytokinese Die während der Ana- und Telophase ausgebildete zentrale Spindel ermöglicht nicht nur ein Auseinanderweichen der Spindelpole, sondern positioniert auch den membranassoziierten AktinMyosin-Ring, dessen Kontraktion die Zelle schon während der Telophase in der Mitte abzuschnüren beginnt und damit die zytoplasmatische Zellteilung einleitet. Mit der Ausbildung des sog. »Mittelkörpers«, auch Fleming-Körper genannt, erfolgt die endgültige Abschnürung der Zellen voneinander. Während der Mitose kommt es also zu einer erbgleichen Teilung, d. h., beide Tochterzellen erhalten exakt eine Kopie jedes Chromosoms, sodass der 2n-(1C-)Zustand wiederhergestellt wird. Durch die Spaltung der Zentrosomen, die während der Mitose eine wichtige Funktion in der Organisation der mitotischen Spindel ausüben, erhält jede Tochterzelle auch wieder nur ein Zentrosom. Die wichtigsten Vorgänge während der Mitose sind in . Abb. 7.4 zusammengefasst. Neben der oben beschrieben erbgleichen Zellteilung gibt es Zellteilungen, die einem abgewandelten Schema folgen. Dazu gehören die Reduktionsteilung oder Meiose in den Keimzellen, in welchen ein haploides Genom durch zwei aufeinanderfolgende Teilungen entsteht, aber auch Endomitosen, die zu einer Polyploidisierung von Zellen führen, wie sie z. B. bei Leberzellen oder Megakaryozyten gefunden werden. Die Polyploidisierung, d. h. gleichförmige Erhöhung der Kopienanzahl von Genen, etwa zur erhöhten Leistungsfähigkeit, ist deutlich von ungleichen Vermehrungen der Genkopienzahl zu unterscheiden, wie sie bei Tumoren beobachtet wird. Bei Tumoren geht im Gegensatz zur Polyploidisierung die Balance zwischen den Genen verloren (Aneuploidie). Neben der Endomitose, die durch eine nukleäre Teilung bei fehlender zytoplasmatischer Teilung charakterisiert ist, gibt es auch noch die sog. Endoreplikation, bei welcher das Genom während einer S-Phase mehrfach repliziert wird, ohne dass die Zellen eine Mitose oder Zytokinese anschließen.
7.2
Prinzipien der Regulation des Zellzyklus
Die Zellteilung erfordert die richtige Abfolge der einzelnen Zellzyklusphasen, die u. a. durch die sequentielle und oszillierende Aktivität der CDKs gewährleistet wird. Zum Verständnis der Zellzyklusregulation ist es also notwendig, jene Prozesse zu ver-
stehen, welche diese Oszillation zwischen hoher und niedriger Kinaseaktivität ermöglichen. Diese Prozesse umfassen: 1. die regulierte Proteinsynthese und Proteolyse, 2. die Kontrolle der CDK-Aktivität durch regulatorische Phosphorylierung und Assoziation mit CDK-Inhibitoren sowie 3. eine subzelluläre Kompartimentalisierung von CDK, deren Regulatoren und Substraten. Das Zusammenwirken dieser Vorgänge ermöglicht sowohl das sprunghafte Einsetzen der CDK-Aktivität, wie sie z. B. für den Cyclin B1-CDK1-Komplex am Beginn der Mitose erfolgt, als auch dessen Inaktivierung etwa 30 Minuten später, sodass ein kurzer, aber starker Kinaseimpuls entsteht, der ausreicht, die nukleäre Zellteilung zu bewirken. Der sprunghafte Anstieg und Abfall der CDK Aktivität trägt zur Unumkehrbarkeit der Zellzyklusübergänge bei. Neben der zellzyklusphasenspezifischen Aktivität der CDKs muss jedoch auch sichergestellt sein, dass die nachfolgende Zellzyklusphase erst beginnen darf, wenn die vorherige erfolgreich abgeschlossen worden ist (Nasmyth 2001). So darf die Mitose etwa erst nach Beendigung der DNA-Replikation erfolgen, da es sonst zur Fragmentierung der Chromosomen und zur genetischen Instabilität kommen würde. Die Mechanismen der Qualitätskontrolle des Zellzyklus, die auch als »cell cycle checkpoints« bezeichnet werden, bleiben während einer Zellzyklusphase aktiv, um den Beginn der nachfolgenden Phase zu verhindern.
7.2.1
Oszillierende Proteinexpression: Synthese und Proteolyse
Beim Wiedereintritt in den Zellzyklus oder zu Beginn der G1Phase, werden D-Typ-Cycline bei mitogener Stimulation durch Transkriptionsfaktoren wie C-MYC, AP-1 und NF-κB transkriptionell induziert und bewirken durch die Aktivierung von weiteren Transkriptionsfaktoren ein komplexes Genexpressionsprogramm, das für die Induktion der S-Phase und die Expression der nachfolgenden Cycline (Cyclin E, A und B) notwendig ist (. Abb. 7.5a). Das bedeutet, dass Cyclin E, A und die B-Typ-Cycline nur indirekt durch Wachstumsfaktorwirkung induziert werden. Zu ihrer Expression wird die Aktivität zwischengeschalteter Transkriptionsfaktoren, u. a. aus der sog. E2F-Familie (Attwooll et al. 2004), benötigt. E2F-Transkriptionsfaktoren, die ihre Funktion als Heterodimere gemeinsam mit DP-Proteinen ausüben, liegen in nicht proliferierenden Zellen in einem inaktiven Komplex mit dem Tumorsuppressor RB1 vor. So ist der Cyclin E-Promoter während G0 und der frühen G1-Phase von E2F-Transkriptionsfaktoren gebunden, die ihrerseits nicht phosphoryliertes RB1 (aber auch die verwandten »Pocket«-Proteine P107 und P130) rekrutieren. Der E2F-RB1-Komplex am Cyclin E-Promoter rekrutiert Histon-Deacetylasen und möglicherweise auch DNA-Methyltransferasen, um diesen Promoter in nicht proliferativen Zellen inaktiv zu halten. Nach der Induktion der D-Typ-Cycline kommt es zur Aktivierung von CDK4 und 6, welche RB1 durch direkte Phosphorylierung modifizieren. Diese Modifikation hebt die Repression des Cyclin E-Promotors auf, indem die Histon-Deacetylase HDAC von dem RB1-Repressorkomplex abdissoziiert. Der verbleibende RB1-Komplex übt weiterhin aber eine hemmende Wirkung auf die Promotoren von Cyclin A, Cyclin B1 und CDK1 aus, die erst durch Cyclin E/CDK2-abhängige Phosphorylierung aufgehoben wird, wodurch ein zeitlich geregelte Staffelung der
169 7.2 · Prinzipien der Regulation des Zellzyklus
7
. Abb. 7.5a,b. Kontrolle des Zellzyklus durch Synthese und Proteolyse (Erklärungen s. Text). a Sequentielle transkriptionelle Aktivierung der Cycline während der G1-Phase; b Gegenüberstellung der beiden wichtigsten an der Zellzyklusregulation beteiligten Ubiquitinligasen, SCF (linke Bildhälfte) und APC/C (rechte Bildhälfte)
Cyclinexpression erreicht wird. Die Inaktivierung von RB-Proteinen sowie die Induktion der Cycline E und A sind essenziell für den Eintritt in die S-Phase. Die E2F-Tranksriptionsfaktoren und deren Regulation durch die Pocket-Proteine RB1, P107 und P130 (Cobrinik 2005), stellen also wichtige Regulatoren des Zellzyklus dar. Zu dieser Familie zählen 6 Faktoren, die transkriptionell aktivierend (E2F1-3) oder CDK
auch nur reprimierend wirken können (E2F4-6) und die nicht nur eine Vielzahl von Zellzyklusregulatoren induzieren, sondern auch zahlreiche Gene aktivieren, die für die Durchführung der DNA-Replikation während der S-Phase benötigt werden. Interessanterweise werden durch E2F-Transkriptionsfaktoren auch Gene, welche die Apoptose induzieren können, transkriptionell induziert (Dimova u. Dyson 2005).
170
Kapitel 7 · Zellzyklus
Beim Menschen gibt es eine Anzahl verschiedener Cycline (u. a. Cyclin C, D1, D2, D3, E1, E2, A1, A2, B1, B2, B3), die für die Zellzyklusregulation von Bedeutung sind (Murray 2004). Interessanterweise hat die genetische Analyse der Cycline in Mäusen gezeigt, dass die Inaktivierung der meisten Cycline zu zelltypspezifischen Phänotypen und Entwicklungstörungen führt und nur die Deletion von Cyclin A2 und Cyclin B1 eine Zellteilung in allen Zellen verhindert (Sherr u. Roberts 2004; Murphy et al. 1997; Brandeis et al. 1998). Ob bei Fehlen einzelner Cycline während der Embryogenese andere Cycline deren Funktion kompensatorisch übernehmen können oder ob wirklich nur Cyclin A2 und Cyclin B1 für die Proliferation essenziell sind, kann zurzeit nicht beantwortet werden. Auch ist nicht klar, ob und in welchem Ausmaß die Cycline zur Substratspezifität der CDK-Komplexe beitragen.
7
Proteolyse Regulierte und spezifische Proteolyse spielt in der Zellzyklusregulation eine essenzielle Rolle und ist zum Beispiel für die Degradation der Cycline während der Mitose verantwortlich (. Abb. 7.5b). Die Inaktivierung der mitotischen CDK während der Mitose ist eine Voraussetzung für den Wiedereintritt in die G1-Phase und die Vorbereitung auf eine weitere Zellteilung. Die für die Zellzyklusregulation notwendige spezifische und genau regulierte Proteolyse ist ein ubiquitinvermittelter Prozess (Ciechanover et al. 2000). Ubiquitin, ein kleines 76 Aminosäuren langes Protein, kann durch verschiedene Ubiquitin-Konjugationssysteme als Monomer und in Form langer Ketten an ausgewählte Proteine kovalent gebunden werden. Die langen Polyubiquitinketten werden von Proteinen der 19S-Untereinheit des 26S-Proteasoms erkannt und zur Wiederverwertung abgespalten, während das markierte Protein durch die proteolytische Funktion des Proteasoms in Peptide abgebaut wird (Zwickl et al. 1999). Die Polyubiquitinierung erfolgt durch Ubiquitinligasen, welche aktiviertes Ubiquitin von ubiquitinkonjugierenden Enzymen übernehmen und an Lysinreste von Substraten koppeln. Die spezifische Erkennung der Substrate erfolgt u. a. durch primäre und sekundäre Degradationsmotive, d. h. Aminosäuresequenzen, die entweder direkt oder erst nach Modifikation, wie etwa durch Phosphorylierung, von Ubiquitinligasen erkannt werden. SCF Die beiden wichtigen an der Zellzyklusregulation beteiligten Ubiquitinligasen, der SCF- und der APC/C-Komplex, gehören beide der Familie der RING-Finger-Ubiquitinligasen an und bestehen aus mehreren Untereinheiten. Der SKP1/Cullin/F-Box-Protein(SCF-) Komplex besteht aus einem Komplex aus SKP1, CUL1 und dem RING-Finger-Protein RBX1 sowie einem variablen F-BoxProtein, welches für die Substraterkennung und Rekrutierung verantwortlich ist (Ang u. Wade 2005). Interessanterweise erkennen viele der F-Box-Proteine phosphorylierte Proteine, also Proteine mit sekundären Degradationsmotiven. Ein Substrat dieser Ubiquitinligase ist der CDK-Inhibitor p27KIP1 (CDKN1B), welcher durch Cyclin E/CDK2 an einem Threoninrest phosphoryliert werden muss, um durch den SCF-SKP2-CKS1-Komplex polyubiquityliert zu werden. Ein verstärkter Abbau von p27KIP1 wird in verschiedenen Tumoren beobachtet und kann auf einer verstärkten Expression von Untereinheiten des SCF-Komplexes beruhen (Gstaiger et al. 2001; Chu et al. 2008).
APC/C Der »anaphase promoting complex«, der auch als »cyclosome« bezeichnet und daher als APC/C abgekürzt wird, erkennt hingegen primäre Degradationsmotive und ist im Gegensatz zum SCFKomplex nur während der M- und G1-Phase des Zellzyklus aktiv (Vodermaier 2004). Auch der APC/C enthält ein RING-FingerProtein (APC11) und ein den Cullin-Proteinen verwandtes Molekül (APC2), daneben jedoch noch ein gutes Dutzend weiterer Proteine. Der APC/C wird in der Mitose durch CDK-abhängige Phosphorylierung (CDK1/CYCB1) und Bindung von CDC20, welches auch für die Substraterkennung notwendig ist, aktiviert. Wichtige Substrate des APC/C sind einerseits die Cycline und andererseits Securin, dessen Degradation die Aktivierung von Separase und dadurch die Spaltung des Cohesinringmoleküls bewirkt, wodurch die Schwesterchromatiden während der Anaphase voneinander getrennt werden können (Peters 2002). Sowohl Securin als auch die mitotischen Cycline tragen primäre Degradationsmotive, die hier als Destruktionsboxen (D-Box) bezeichnet werden. Am Ende der Mitose, nachdem die CDK1Aktivität gesunken ist, bindet APC/C einen zweiten Aktivator, CDH1/FZR1. CDH1/FZR1 ist ein dem CDC20 verwandtes Molekül, das die Substratspezifität des APC/C um Proteine, die eine sog. KEN-Box besitzen, erweitert. Diese Form des APC/C bleibt während der G1-Phase aktiv, bis CDH1/FZR1 durch das Einsetzen der Cyclin A/CDK2-Aktivität inhibitorisch phosphoryliert und durch die Expression von FBX5/EMI1, einem F-Box-Protein, inaktiviert wird. Der APC/C ist daher für den Austritt aus Mitose als auch die Länge der G1-Phase und damit möglicherweise für die Einleitung der terminalen Differenzierung verantwortlich.
7.2.2
Kinasen, Phosphatasen und Kinaseinhibitoren
Reversible posttranslationelle Proteinmodifikation durch Phosphorylierung spielt in der Regulation der Zellteilung eine essenzielle Rolle. Im Zentrum der Zellzyklusregulation stehen die Cyclin-abhängigen Kinasen (CDK; Manning et al. 2002; Endicott et al. 1999). Die Phosphorylierung der Substrate durch CDKs kann einerseits deren Inaktivierung bewirken, wie etwa im Fall des Tumorsuppressors RB1, welches während der G1-Phase durch CDK4/6 sowie CDK2 phosphoryliert und so inaktiviert wird. Ein anderes Substrat sind etwa die Lamine, deren Phosphorylierung die Auflösung der Kernhülle bewirkt. CDK-abhängige Phosphorylierung kann aber auch aktivierend wirken. So wird etwa der Condensin-Komplex, welcher die Kondensation der Chromosomen während der Mitose bewirkt, oder die APC/CUbiquitinligase durch CDK-abhängige Phosphorylierung aktiviert (zur Bedeutung mitotischer Kinasen siehe: Nigg 2001). CDKs sind als Monomere katalytisch weitgehend inaktiv und benötigen zur Aktivierung eine regulatorische Untereinheit, das Cyclin, welches durch Bindung eine Konformationsänderung der katalytischen Untereinheit bewirkt, die nun das aktive Zentrum für die Substratphosphorylierung freigibt. Diese Konformationsänderung wird durch Phosphorylierung in der sog. Aktivierungsschleife fixiert. Dieser Komplex kann durch hemmende Phosphorylierung und Bindung von CDK-Inhibitoren reguliert werden. Die Cyclinexpression oszilliert während des Zellzyklus und bewirkt somit eine Oszillation der Kinaseaktivität, die für die Zellzyklusprogression verantwortlich ist. Beim Menschen kennt man mindestens 12 Cycline und 6 CDK, die direkt an der Regu-
171 7.2 · Prinzipien der Regulation des Zellzyklus
lation der Zellteilung beteiligt sind. Nach ihrem Aktivitätsmuster unterscheidet man G1-Phase-Cycline (Cyclin D1, D2, D3), welche CDK4 und CDK6 aktivieren und die G1-Cycline E1 und E2, welche mit CDK2 und CDK3 einen Komplex bilden können. Cyclin C und CDK3 sind ebenfalls am Wiedereintritt in die Proliferationsphase beteiligt. Die Cycline A1 und A2 binden in der S-Phase an CDK2 und CDK1, und in der Mitose aktivieren die Cycline A1, A2, B1, B2 und B3 CDK1. Cyclin H und CDK7 sind als CDK-aktivierende Kinase ebenfalls an der Zellzyklusregulation beteiligt, da sie die anderen CDKs in der sog. Aktivierungsschleife phosphorylieren kann, was zu deren maximaler Aktivierung notwendig ist (Kaldis 1999). Die Bedeutung dieser Kinasen wurde durch genetische Inaktivierung in Mäusen analysiert, die zu überraschenden Ergebnissen führte, weil gezeigt werden konnte, dass nur CDK1 für die Proliferation essenziell ist (Malumbres u. Barbacid 2005). Da, wie oben schon erwähnt, nur Cyclin A2 und Cyclin B1 für die zelluläre Proliferation essenziell zu sein scheinen, und beide Cycline CDK1 aktivieren können, ist es möglich, dass die oszillierende Aktivität dieser beiden Kinasen (Cyclin A/CDK1 und Cyclin B1/ CDK1) ausreicht, den Zellzyklus humaner Zellen zu regulieren. Wie bei der Bewertung der genetischen Cyclinanalysen, muss auch hier betont werden, dass zurzeit nicht klar ist, ob z. B. CDK2 wirklich keine Rolle während der Mitose zukommt. Diese Fragen sind nicht nur von theoretischem Interesse, sondern auch für die
. Abb. 7.6. Regulation des Eintritts in die Mitose (G2-M-Übergang; Erklärungen s. Text)
. Abb. 7.7. Oszillation der Cyclin-CDK-Aktivitäten während des Zellzyklus. Schematisch sind die Aktivitäten der verschiedenen Cyclin-CDKKomplexe in den einzelnen Zellzyklusphasen dargestellt. Besonders her-
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Tumortherapie relevant, da zahlreiche CDK-Inhibitoren bereits in klinischen Studien zur Inhibition von CDK1 und CDK2 angewendet werden. Für den streng kontrollierten Eintritt in die Mitose unterliegt CDK1 einem komplexen Netzwerk unterschiedlicher Regulationsmechanismen, da neben der Cyclinbindung CDK1 auch durch Phosphorylierung reguliert wird. Während der S- und G2Phase hält die atypische Tyrosinkinase WEE1 CDK1 durch Phosphorylierung von Tyr15 inaktiv. Die dualspezifische Phosphatase CDC25C kann das inhibitorische Phosphat von Tyr15 der CDK1 entfernen. Ihrer Aktivierung kommt daher eine Schlüsselrolle in der Regulation des Cyclin B1-CDK1-Komplexes und damit dem Eintritt in die Mitose zu. Einmal aktiviert, verstärkt sich die Cyclin B1-CDK1-Kinase selbst durch die Aktivierung einer positive Rückkopplungsschleife, da sie – durch Phosphorylierung – die CDC25-Phosphatase aktiviert und gleichzeitig die inhibitorische WEE1-Kinase durch Phosphorylierung inaktiviert (Pomerening et al. 2003). Dieser Mechanismus, der in . Abb. 7.6 schematisch zusammengefasst ist, ermöglicht eine schalterartige Regulation der CDK1-Aktivität, die sich gut zur Kontrolle des Eintritts in die Mitose eignet und die Koordination der Mitose mit anderen Zellzyklusphasen durch Regulation der CDC25C-Aktivität ermöglicht. So bleibt etwa während der S-Phase die CDC25CAktivität durch die Aktivität der Checkpoint-Proteine blockiert (s. unten). Unterbleibt jedoch diese Hemmung, kann die Mitose zu früh, sogar schon während der S-Phase, ausgelöst werden, was für die Zellen fatale Konsequenzen hat, da das Genom nun fragmentiert wird, was zu »mitotischem Zelltod« führt (Castedo et al. 2004). Ist die Zelle durch Aktivierung von CDK1 einmal in die Mitose eingetreten, gibt es keine andere Möglichkeit diese Kinase zu inaktivieren, als die aktivierende Untereinheit, d. h. die Cycline, abzubauen. Durch die APC/C-abhängige Degradation der mitotischen Cycline kommt es am Beginn der Anaphase daher zu einem drastischen Abfall der CDK1-Aktivität (Pines 2006). Danach können spezifische und unspezifische Phosphatasen die mitotischen Phosphoproteine dephosphorylieren. Dies erst ermöglicht den Austritt aus der Mitose, da zahlreiche Prozesse in der späten M-Phase, wie z. B. die Zytokinese, durch mitotische Phosphorylierung gehemmt werden. Neben dem CDK-»Hauptschalter« gibt es jedoch zahlreiche andere Kinasen, die spezifisch in der Mitose aktiv werden und zu denen u. a. die Kinasen der Aurorafamilie und die Polokinasen (Plk) zu rechnen sind. Diese Kinasen sind ebenfalls Serin-
vorzuheben sind die kurzen Aktivitäten der Cyclin E-CDK2- und Cyclin B1-CDK1-Komplexe, die für den Eintritt in die S-Phase und die Mitose verantwortlich sind (Erklärungen s. Text)
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7
Kapitel 7 · Zellzyklus
Threonin-Kinasen, die die Ausbildung der mitotischen Spindel und die Zytokinese regulieren. Aurora A ist in zahlreichen Tumoren, z. B. dem Mammakarzinom stark amplifiziert und könnte durch eine Fehlsteuerung der Zentrosomen eventuell zur Tumorentstehung beitragen (Meraldi et al. 2004). Einen weiteren zentralen Mechanismus der CDK-Regulation und der Proliferationskontrolle stellen Proteine dar, die CDK durch Bindung inaktivieren können (Pavletich 1999). Da es sich hier um stöchiometrische, stabile Protein-Protein-Interaktionen handelt, ergibt sich, dass die Expressionshöhe eines CDK-Inhibitors eine molekulare »Schwelle« bildet, welche durch vermehrte Cyclin- und CDK-Expression überwunden werden kann. CDKInhibitoren können u. a. durch zellspezifische und differenzierungsabhängige Signale induziert werden und dadurch z. B. festlegen, wie oft sich ein bestimmter Zelltyp teilen kann. Bei Eintreten in die terminale Differenzierung können diese Inhibitoren weitere Teilungen verhindern. Zwei Familien von strukturell und funktionell unterschiedlichen CDK-Inhibitoren regulieren die CDK-Aktivität: Inhibitoren der CIP/KIP-Familie binden und regulieren die Aktivität verschiedener CDK-Komplexe durch gleichzeitige Interaktion mit der Cyclin-und CDK-Untereinheit, während die vier funktionell und strukturell verwandten Inhibitoren der INK4-Familie nur CDK4 oder CDK6 binden und dadurch nur Cyclin D-assoziierte Kinasen inhibieren. CDK-Inhibitoren, wie etwa p21CIP1 (CDKN1A), können auch im Falle von Stressantworten, wie z. B. nach DNA-Schädigung oder durch Onkogenaktivierung bewirkte inadäquate Proliferationsneigung, induziert werden und durch CDK-Hemmung ein weiteres Fortschreiten im Zellzyklus verhindern. Dieser zentrale tumorsuppressive Mechanismus basiert vor allem auf einer transkriptionellen Induktion von P21 durch den Tumorsuppressor TP53. Er ist in vielen Tumorzellen durch eine Mutation oder Inaktivierung von TP53 nicht mehr aktiv.
7.2.3
Kompartimentierung
Neben den bisher besprochenen Mechanismen, welche die zyklische Oszillation der CDK-Aktivitäten erklären können, gibt es noch zusätzliche Regulationsprinzipien, die zur Robustheit der Zellzykluskontrolle beitragen. Eines davon ist die unterschiedliche subzelluläre Lokalisation von CDKs, ihren Regulatoren und ihren Substraten, die bis zum notwendigen Zeitpunkt voneinander getrennt und in unterschiedlichen Kompartimenten lokalisiert bleiben können. Während der S- und G2-Phase bleibt Cyclin B1, schon an CDK1 gebunden, im Zytoplasma und transloziert erst kurz vor der Prometaphase in den Zellkern. Die zytoplasmatische Lokalisation resultiert aus einem ständigen nukleären Export von Cyclin B1, der erst kurz vor Prometaphase sistiert und einem gezielten nukleären Import von Cyclin B1 weicht (Hagting et al. 1999). Da die CDK1 aktivierende Phosphatase CDC25C (s. oben) ein nukleäres Protein ist, wird so u. a. sichergestellt, dass Phosphatase und Kinase einander erst zum richtigen Zeitpunkt, d. h. am Ende der Prophase, im Kern treffen können, was zum explosionsartigen Anstieg der CDK1-Aktivität führt. Eine Fehllokalisation von Zellzyklusregulatoren kann zum Entstehen von Tumoren beitragen. So wird zum Beispiel der CDK-Inhibitor p27KIP1 in verschiedenen Tumorzellen im Zytoplasma gefunden, wo er zur Inhibition nukleärer CDK nicht beitragen kann (z. B. Min et al. 2004; Chu et al. 2008).
7.3
Zellteilungskontrolle: Kontrollmechanismen (Checkpoints) und Schlüsselproteine (Gatekeepers)
Die in den vorhergehenden Kapiteln beschriebenen Prinzipien der Regulation der CDK-Aktivität werden nun auf unterschiedlichste Weise ausgenutzt, um ein geordnetes Fortschreiten im Zellzyklus zu erreichen bzw. die Zellteilung mit den Notwendigkeiten und Bedürfnissen eines vielzelligen Organismus zu koordinieren. Der Zellzyklus kann nur während der G1- und G2-Phase für einen längeren Zeitraum unterbrochen werden. Die Übergänge in die S-Phase bzw. in die Mitose sind daher strengen Regulationsmechanismen unterworfen. Für beide Übergänge gilt, dass ein Eintritt in die jeweilige Phase nur erfolgen darf, wenn die notwendigen Grundvoraussetzungen auch gegeben sind (z. B. eine genügend große Menge an Desoxyribonukleotiden zur DNA-Synthese oder replizierte Chromosomen für die Mitose). Bei ungünstigen Bedingungen, etwa bei Mangel an Nährstoffen, Wachstumsfaktoren oder nach Schädigung der DNA, kann so eine weitere Zellteilung ausgesetzt werden, bis wieder adäquate Bedingungen vorliegen. Während der S-Phase bzw. Mitose kann der Zellzyklus nur vorübergehend aufgehalten werden, um eventuell während dieser Phasen auftretende Fehler korrigieren zu können. Da ein Versagen dieser koordinierenden Mechanismen zu schweren Störungen führen kann, werden diese auch mit einer Qualitätskontrolle des Zellzyklus verglichen und im Weiteren, aus Ermangelung eines gleichwertigen Begriffs, unter dem Lehnwort »checkpoint« zusammengefasst (Kastan u. Bartek 2004). Die Checkpoint-Mechanismen wirken auf Schlüsselproteine ein, die ein weiteres Fortschreiten des Zellzyklus verhindern und daher im Weiteren als »gatekeeper« bezeichnet werden. Im Folgenden sollen die vier wichtigsten Checkpoints besprochen werden, da ein Versagen dieser Kontrollmechanismen das »intrinsische« Tumorrisiko deutlich erhöht. Zu diesen vier Checkpoints gehören der G1-S-, der Intra-S-, der G2-M- und der mitotische oder Spindelcheckpoint.
7.3.1
Regulation der G1- und S-Phase (G1-S-Checkpoint)
Während der G1-Phase muss sichergestellt sein, dass neben den Proliferationssignalen auch ausreichend Wachstumssignale die Zelle erreichen und dass genügend Material für das notwendige Wachstum zur Verfügung steht. Würden die mitogenen Signale von den Wachstum induzierenden Signalen getrennt, könnte es zur Ausbildung von immer kleiner werdenden Tochterzellen kommen. Die Wachstums- und Proliferationssignale führen über mehrere Signaltransduktionswege zur transkriptionellen Induktion von D-Typ-Cyclinen, welche die Kinasen CDK4 und/oder CDK6 aktivieren. Die Expression von CDK4- und CDK6-spezifischen Inhibitoren, wie etwa p16INK4A (CDKN2A), kann die Aktivierung von CDK4 und CDK6 verhindern. Aktive Cyclin D-CDK-Komplexe phosphorylieren Mitglieder der RB-Familie (Pocket-Proteine). Die Phosphorylierung inaktiviert diese transkriptionellen Inhibitoren und ermöglicht die Expression des nachgeschalteten Cyclin E (. Abb. 7.5). Die sog. Pocket-Proteine RB1, P107 (RBL1) und P130 (RBL2) sind als Gatekeeper-Proteine anzusehen, da ihr Phosphorylierungszustand darüber entscheidet, ob ein Fortschreiten im Zellzyklus möglich ist oder nicht. Der Phosphorylierungszustand
173 7.3 · Zellteilungskontrolle: Kontrollmechanismen (Checkpoints) und Schlüsselproteine (Gatekeepers)
. Abb. 7.8. Überblick über die Zellzykluskontrolle durch DNA-Checkpoint-Proteine. Auf der linken Seite der Abbildung ist die zelluläre Antwort auf einen Doppelstrangbruch der DNA (DSB) dargestellt, während auf der rechten Seite Mechanismen dargestellt sind, die durch die strukturelle Alteration der DNA während der Replikation, aber auch durch andere Faktoren, wie z. B. UV-Licht, induziert werden können. Ein DSB (linker Teil der Abb.) wird durch den MRN-Komplex, bestehend aus den Proteinen MRE11, RAD50, und NBS1, erkannt. Die DSB werden durch phosphoryliertes Histon H2AX markiert und führen zur Aktivierung der Kinase ATM, welche nun in Zusammenwirken mit Mediatoren, wie etwa BRCA1, einerseits die DNA-Reparatur durch homologe Rekombination einleitet und andererseits weitere Signaltransduktionsmoleküle, wie die Kinase CHK2 und den Transkriptionsfaktor TP53, aktiviert. Aktiviertes TP53 induziert den CDK-Inhibitor p21CIP1 und verhindert damit eine weitere Zellzyklusprogression, die durch CHK2-mediierte Hemmung der
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CDC25-Phosphatasen noch verstärkt wird. Während der DNA-Replikation (rechter Teil der Abbildung) kommt es zum Auftreten einzelsträngiger DNA, die ebenfalls ein Signal darstellt, welches zur Aktivierung einer Checkpoint-Antwort führt. Dieser Mechanismus wird auch arretierte, »steckengebliebene« Replikationsgabeln oder durch DNA-Addukte oder UV-induzierte Thymidindimere induziert. Einzelsträngige DNA wird durch RPA markiert. Der, dem ringförmigen Replikationsprotein PCNA ähnlichen, 9-1-1-Komplex (RAD9-RAD1-HUS1) gibt ein Signal an den ATR-ATRIP-Kinase-Komplex weiter, welcher nun, wieder mithilfe sog. Mediatoren, wie Claspin oder TOPBP1, vor allem zur Aktivierung von CHK1 führt. Aktivierte CHK1-Kinase hemmt die CDC25C-Phosphatase und kontrolliert dadurch den Eintritt in die Mitose. Im Gegensatz zum links dargestellten ATM-CHK2-TP53-Mechanismus ist der ATR-CHK1-Checkpoint essenziell für die Zellviabilität. SMC1 Teil des Schwesterchromatidcohesinkomplexes; CDC7 S-Phasenkinase
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7
Kapitel 7 · Zellzyklus
der RB-Proteine korreliert auch recht gut mit dem Restriktionspunkt in der G1-Phase, der ja darüber entscheidet, ob eine Zelle sich weiter teilt oder nicht. Neben ihrer Rolle als E2F-Regulatoren haben die Pocket-Proteine allerdings auch noch E2F-unabhängige Funktionen, wie etwa eine direkte Inhibition der Kinaseaktivität von Cyclin E/CDK2 oder Cyclin A/CDK2 durch P107 und P130. RB1 hat auch die Fähigkeit diese S-Phase-Kinasen zu blockieren, jedoch nur indirekt über p27KIP1. Der Eintritt in die S-Phase wird auch durch die Expression von CDK-Inhibitoren der CIP/KIP-Familie reguliert, welche ein breites Spektrum verschiedener Cyclin-CDK-Komplexe binden und inhibieren können. Zu dieser Gruppe von CDK-Inhibitoren gehören p21CIP1, p27KIP1 und p57KIP2 (CDKN1C), die durch unterschiedliche Signale wie etwa Schädigung der DNA (p21CIP1), antiproliferative Signale (p27KIP1) oder Differenzierungssignale (p21CIP1, p27KIP1 und p57KIP2) induziert werden und die durch Bindung z. B. an Cyclin E/CDK2 und Cyclin A/CDK2 deren Kinaseaktivität inhibieren. Die Expressionsmenge dieser Inhibitoren gibt so einen »Schwellenwert« vor, der von Cyclinen überschritten werden muss, um ausreichend CDK2-Aktivität für den Eintritt in S-Phase zu generieren. P21CIP1 inhibiert u. a. Cyclin E/CDK2 und Cyclin A/CDK1,2 und kann so den Eintritt in die S-Phase hemmen. Zudem bindet p21CIP1 PCNA, einen Prozessivitätsfaktor der DNA-Polymerase, wodurch die DNA-Replikation reguliert werden kann (Boulaire et al. 2000). Die gleichzeitige Entdeckung von p21CIP1 als einem CDK-Inhibitor und als wichtigem Zielgen des Transkriptionsfaktors TP53, erlaubte eine mechanistische Erklärung der antiproliferativen Funktion von TP53. Die Aktivierung von TP53, z. B. durch DNA-Schädigung in der G1-Phase, führt zur transkriptionellen Induktion von p21CIP1. Der P21-induzierte Zellzyklus-Arrest ermöglicht eine Reparatur der Schäden, wodurch verhindert wird, dass sich DNA-Schädigungen als Mutationen fixieren, die dann an Tochterzellen weitergegeben werden können. Ein Verlust der TP53-Funktion bewirkt daher u. a. ein Versagen dieses wichtigen Kontrollmechanismus, der eine Akkumulation von genetischen Veränderungen in der betroffenen Zelle ermöglicht, die schließlich zu einer Tumorzelle entarten kann. Im Gegensatz zu p21CIP1 sind die beiden strukturverwandten CDK-Inhibitoren p27KIP1 und p57KIP2 nicht durch TP53 induzierbar. P27KIP1 wird häufig auf Proteinebene durch mitogene und antimitogene Signale reguliert (Hengst und Reed, 1998). Nach der Aktivierung von CDK2/Cyclin E kommt es zur Phosphorylierung und nachfolgender SCF-abhängiger Proteolyse von p27KIP1. Dieser Abbauweg von p27KIP1 stellt eine Rückkopplungsschleife dar, die verhindert, dass sich p27KIP1 nach CDK-Aktivierung anreichern kann, auch wenn antimitogene Signale nun überwiegen sollten (Chu et al. 1997). Dieser Mechanismus trägt zur Unumkehrbarkeit des Restriktionspunktes und des Eintritts in die S-Phase bei. P57KIP2 kann ebenfalls durch bestimmte antimitogene Signale, wie etwa TGF-β, induziert werden, zeigt aber im Gegensatz zu p27KIP1 eine stark zelltyp- und entwicklungsspezifische Expression (Swanger u. Roberts 1997).
7.3.2
Regulation des Eintritts in die Mitose (G2-M-Checkpoint)
Auch zu Beginn der Mitose muss sichergestellt sein, dass eine Zelle die für eine erfolgreiche Zellteilung notwendigen Voraussetzungen erfüllt. So muss die DNA-Replikation abgeschlossen
sein und es dürfen keine DNA-Schädigungen vorliegen, um einen Verlust der genetischen Information oder eine Fixierung von DNA-Schädigungen in Form von Mutationen zu verhindern. Während der DNA-Synthese wird ein Signal generiert, welches die Aktivierung von Cyclin B1/CDK1 verhindert, um einen zu frühen Eintritt in die Mitose zu unterbinden. Dieser Mechanismus wirkt also auf den schon gebildeten Cyclin B1-CDK1Komplex, der durch Tyr15-Phosphorylierung in einem inaktiven Zustand gehalten wird. Das Signal zur CDK1-Inaktivierung wird durch einzelsträngige DNA und von Proteinen des Replikationsapparates an der Replikationsgabel ausgelöst. Ein Schlüsselprotein in der Signaltransduktion ist die Kinase ATR (»ataxia teleangiectasia mutated related«), die durch Serin-Phosphorylierung zur Aktivierung der CHK1-Kinase führt. Aktivierte CHK1-Kinase inhibiert durch Serin-Phosphorylierung die CDC25C-Phosphatase, die durch diese Phosphorylierung an 14-3-3-Protein gebunden und als inaktiver Komplex im Zytoplasma sequestriert wird, wodurch Cyclin B1/CDK1 gehemmt bleibt. Solange also DNA repliziert wird und entweder nur partiell replizierte DNA oder eine noch aktive Replikationsgabel vorliegen, verhindert dieser Kontrollmechanismus in Abhängigkeit von ATR und CHK1 den Beginn der Mitose. Bei DNA-Schäden und replikativem Stress wird CHK1 über das normale Maß hinaus aktiviert und verhindert dann, durch Hemmung von DNA-Polymerasen und noch nicht aktivierten präreplikativen Komplexen, auch ein weiteres Fortschreiten der DNA-Synthese. Dieser Kontrollmechanismus kann also die DNA-Synthese verlangsamen, die SPhase damit verlängern und wird daher auch als Intra-S-Checkpoint bezeichnet. Bei Mutationen in den dafür verantwortlichen Checkpoint-Proteinen kann die Replikation bei DNA-Schädigung nicht angehalten werden, was experimentell als radioresistente DNA-Synthese, also als Verlust der Fähigkeit die DNA-Synthese nach Einwirkung von ionisierenden Strahlen blockieren zu können, nachwiesen werden kann. Während der Replikation, aber auch durch die Wirkung von chemischen und physikalischen Mutagenen kann es zu einem DNA-Doppelstrangbruch (DSB) kommen, welcher von der Zelle unbedingt vor Eintritt in Mitose repariert werden muss, da sonst die Gefahr des Verlustes eines ganzen Chromosomenabschnittes besteht. Neben der Induktion der notwendigen Reparaturmechanismen muss auch die Mitose aktiv verhindert werden (. Abb. 7.8). Im Zentrum der zellulären Antwort auf Doppelstrangbrüche steht hier ATM, jene Kinase die bei Patienten, die an Ataxia teleangiectasia (AT) leiden, mutiert ist. ATM wird durch viele unterschiedliche Signale aktiviert und bewirkt seinerseits die Aktivierung des Transkriptionsfaktors TP53 sowie der Kinasen CHK1 und CHK2. So blockt ATM nicht nur den Eintritt in Mitose (durch Hemmung von CDC25C), sondern auch den Eintritt in die S-Phase durch TP53-abhängige Induktion von p21CIP1 und Inaktivierung von CDC25A, einer Phosphatase, die zur Aktivierung von CDK2 benötigt wird. Charakteristischerweise zeigen AT-Patienten daher eine Hypersensitivität auf ionisierende Strahlen und neigen zur Entwicklung von Malignomen.
7.3.3
Regulation des Austritts aus der Mitose (Spindel-Checkpoint)
Neben den in der Interphase wirksamen Checkpoint-Mechanismen, die einerseits zur Integration der Proliferationsrate in einem multizellulären Organismus und zur Koordination der einzelnen
175 7.3 · Zellteilungskontrolle: Kontrollmechanismen (Checkpoints) und Schlüsselproteine (Gatekeepers)
7
. Abb. 7.9. Schematische Darstellung des Spindel-Checkpoints. Der obere Teil der Abb. zeigt mögliche Anheftungsformen der Chromosomen an die mitotische Spindel, wobei ganz links die richtige bipolare Anheftung gezeigt wird, die durch den Zug der Mikrotubuli zu einer Spannung zwischen den Kinetochoren der noch gepaarten Schwesterchromatiden führt. Fehlt entweder die Anheftung der Mikrotubuli oder fehlt die Interkinetochorspannung kommt es zur Aktivierung des Spindel-Checkpoints, welcher die Zelle in Mitose arretiert bis alle Chromosomen unter Spannung bipolar an die Spindel angeheftet sind. Die Mikrotubuli assoziieren
mit Proteinen der äußeren Kinetochorplatte, an welcher sich auch die Signaltranduktionsprotein des Spindel-Checkpoints befinden (unterer Teil der Abb.). Solange dieser aktiviert bleibt, kommt es zur Ausbildung eines löslichen Inhibitors der Ubiquitinligase APC/C, wodurch Securin und Cyclin B1 stabilisiert bleiben und Anaphase sowie Austritt aus Mitose verhindert werden. Zwei Modelle erklären diesen Mechanismus: Im Sequestrierungsmodell binden MAD2 und BUBR1 an CDC20, welches dann APC/C nicht mehr aktivieren kann. Im direkten Inhibitionsmodell binden und inaktivieren MAD2, BUBR1, BUB3 den CDC20-APC/C Komplex
Zellzyklusphasen untereinander benötigt werden und andererseits eine Voraussetzung für zeitgerechte DNA-Reparatur sind, gibt es noch einen weiteren wichtigen Checkpoint in der Mitose. Dieser Spindel-Checkpoint verhindert eine Chromosomenfehlverteilung, indem die Trennung der Schwesterchromatiden und die zytoplasmatische Teilung (Zytokinese) so lange gehemmt werden, bis alle Chromosomen in korrekter Weise an die mitotische Spindel angedockt haben. Dies wird durch die Hemmung des APC/C bewirkt, der ja die Degradation von Securin und Cyclin B1, und damit den Beginn der Anaphase und den Austritt aus
Mitose, kontrolliert. Ein Versagen dieses wichtigen Mechanismus führt zwangsläufig zu numerischen Chromosomenaberrationen. Der Spindelkontrollmechanismus besteht aus Sensoren, welche die Anheftung der Mikrotubuli an die Kinetochoren der Chromosomen überwachen und erfolgreiche bipolare Anheftung als Interkinetochorenspannung messen können. Bei mangelnder Anheftung und fehlender Spannung kommt es zur Aktivierung eines komplexen Signaltransduktionsweges, der zur Bildung eines löslichen APC/C-Inhibitors führt, welcher die Anaphase und den Austritt aus Mitose verhindert, bis alle Chromosomen
176
Kapitel 7 · Zellzyklus
korrekt, d. h. bipolar, an die Spindelmikrotubuli angeheftet sind. Dieser Inhibitor wird an den Kinetochoren gebildet und involviert evolutionär konservierte Proteine (Baker et al. 2005; . Tab. 7.2 und . Abb. 7.9).
Das Retinoblastom wird durch Keimbahnmutationen im RB1Gen bedingt (Sherr 2004). Die relativ hohe Gewebsspezifität dieser durch die angeborene Mutation bewirkten Tumoren lässt sich am ehesten dadurch erklären, dass in den meisten anderen Zelltypen neben RB1 auch die verwandten Moleküle P107 und P130 exprimiert werden (oder bei Verlust von RB1 kompensa-
torisch induziert werden), die einen Funktionsverlust von RB1 auffangen können. Aber nicht nur in angeborenen Retinatumoren findet sich ein Verlust von RB1, sondern auch in zahlreichen somatischen Tumoren, in denen RB1 entweder durch Mutation oder funktionell inaktiviert ist. Funktionell kann RB1 durch die Bindung von viralen Onkoproteinen oder durch Phosphorylierung inaktiviert werden. Es ist daher nicht überraschend, dass zahlreiche Zellzyklusproteine, welche RB1 regulieren, auch an der Tumorentstehung beteiligt sind. Es finden sich etwa eine Überexpression von G1-Cyclinen und CDK4 sowie ein Verlust von p16INK4A in zahlreichen Malignomen unterschiedlicher Organe, da durch diese Mechanismen ja nicht nur RB1, sondern alle Pocket-Proteine reguliert werden (Malumbres u. Barbacid 2001; . Abb. 7.10). Eine Erhöhung von Cyclin D1 durch chromosomale Translokation wurde u. a. in chronisch lymphatischer Leukämie identifiziert. In Familien mit gehäuftem Auftreten von Melanomen konnten aktivierende Mutationen im CDK4-Gen nachgewiesen werden. Die in CDK4 (interessanterweise aber nicht in CDK6) gefundene Mutation bewirkt, dass der CDK4-Inhibitor p16INK4A nicht mehr binden kann und der Schwellenwert der für die Proliferation notwendigen Cyclin D-Expression dadurch deutlich gesenkt wird. Ein besonders häufig mutierter Genort auf Chromosom 9p21 ist der INK4A-Lokus, dessen Verlust in zahlreichen Malignomen dokumentiert ist. Mutationen im P16INK4A-Lokus wurden auch in Familien mit gehäuftem Auftreten von malignen Melanomen beobachtet. Interessanterweise wird von diesem Genort noch ein zweites Genprodukt gebildet, p14ARF (CDKN2A), welches die Expression des Tumorsuppressors TP53 reguliert (s. unten). Der INK4A-Lokus kann jedoch nicht nur durch Mutation inaktiviert
. Abb. 7.10. Schematische Darstellung der G1-S-Regulatoren, die an der Entstehung von Tumoren beteiligt sein können. Die Prozentangaben beziehen sich auf die Frequenz von Tumoren, in welchen einer der dargestellten G1-S-Regulatoren betroffen ist, wobei für die grau unterlegten
Felder eine molekulare Erklärung für die abnorme Expression und oder Funktion vorliegt. Prognostisch relevante Alterationen sind mit einem schwarzen Stern markiert. Tumoren, die bei angeborenen Tumorsyndromen auftreten, sind mit einem weißen Stern gekennzeichnet
7.4
7
Tumorentstehung durch Mutationen in Checkpoint- und Gatekeeper-Proteinen
Die Bedeutung der oben besprochenen Checkpoints und Gatekeeper wird sichtbar, wenn man sich die Konsequenzen einer Fehlfunktion dieser Mechanismen und Proteine vor Augen führt. In allen Tumoren sind Mutationen oder Änderungen der Expression der entsprechenden Gene gefunden worden, wobei der Deregulation des G1-S-Überganges sowie einer ungenügenden Checkpoint-Antwort auf DNA-Schädigung besondere Bedeutung zukommt. Besonders drastisch ist eine Fehlfunktion dieser Checkpoint- und Gatekeeper-Proteine bei angeborenen Defekten zu erkennen, die zu Krebserkrankungen im Kindesalter führen.
7.4.1
Hyperproliferation durch Deregulation des G1-S Überganges
177 7.4 · Tumorentstehung durch Mutationen in Checkpoint- und Gatekeeper-Proteinen
werden, sondern es kann die Genexpression auch durch epigenetische Mechanismen, wie Promotormethylierung, blockiert werden (Esteller 2005). Die Bedeutung dieser Gene an der Tumorentstehung ist in . Abb. 7.10 (mod. nach Malumbres u. Barbacid 2001) vereinfacht dargestellt. Sie zeigt, dass in nahezu allen malignen Tumoren einer oder mehrere dieser G1-S-Regulatoren dereguliert oder inaktiviert ist. Die Pocket-Proteine RB1, P107, und P130 kontrollieren als E2F-Regulatoren den Eintritt in die S-, also DNA-Synthesephase. Zahlreiche humanpathogene Viren müssen, um replizieren zu können, die DNA-Synthese der infizierten Wirtszelle aktivieren. Die tumorigenen DNA-Viren verwenden dazu Proteine wie etwa E1A (Adenovirus) oder E7 (HPV), welche die Pocket-Proteine binden und dadurch inaktivieren können. Durch diese Hemmung wird RB1 funktionell inaktiviert und E2F freigesetzt. Dies führt nicht nur zu einer erhöhten Proliferationsneigung, sondern auch zu einer erhöhten Apoptoseneigung, die durch Induktion von p14ARF über den Tumorsuppressor TP53 vermittelt wird (s. unten).
7
Eine Deregulation des Eintritts in die S-Phase kann auch durch Überexpression von Cyclin E bewirkt werden, welches in zahlreichen Tumoren überexprimiert ist. In zahlreichen Tumoren ist die erhöhte Expression von Cyclin E auf seine fehlerhafte Degradation während der S-Phase zurückzuführen, die normalerweise durch den SCF-Komplex erfolgt. Eine während der S-Phase persistierende Cyclin E-CDK2-Aktivität, kann auch zu Störungen der DNA-Replikation und Zentrosomenduplikation führen und so Aneuploidie bewirken.
7.4.2
Genetische Instabilität durch Verlust von DNA-Qualitätskontrollmechanismen
Der Tumorsuppressor TP53 ist eines der wichtigsten Moleküle, welche für die Erhaltung der genetischen Integrität einer Zelle verantwortlich ist (Vogelstein u. Kinzler 2004). Die Bedeutung der Regulation von TP53 sei aber hier in Bezug auf seine Effekte auf den Zellzyklus noch einmal hervorgehoben. Das TP53-Gen
. Tab. 7.1. Übersicht über einige wichtige Checkpoint-Gene, die in der Antwort auf DNA-Schädigung eine wichtige Rolle spielen und in . Abb. 7.8 gezeigt sind Gen
Kennzeichen
Funktion
Bemerkungen, Tumorprädisposition
Mausgenetik
RAD17
Ähnlich dem Replikationsprotein RFC1
»clamp loader«
RAD17 interagiert mit den Replikationsproteinen RFC2-5 und rekrutiert den 9-1-1 Komplex
-/-: embryonal letal, zellulärer DNA-Reparaturdefekt
RAD9
Ähnlich dem Replikationsprotein PCNA bilden ‚ 9-1-1’ Komplex
»sliding clamp«
Der 9-1-1-Komplex ist ein heterotrimeres Ringprotein, welches dem Replikationsprotein PCNA ähnlich ist und weitere Signaltransduktions- und Reparaturmoleküle bindet
Rad9 -/-: embryonal letal; IR-hypersensitiv; Hus1 -/-: S-Phase Checkpoint defekt
Enthalten BRCT’Domäne
Adaptor/ Mediator
Die BRCT-Domäne wird in zahlreichen Checkpoint-Proteinen gefunden und dient der Protein-Protein-Interaktion. Angeborene Mutationen in BRCA1 prädisponieren für Mamma- und Ovarialkarzinome
Brca1 -/-: embryonic letal; +/-: keine Tumoren; tr/tr: Mammakarzinom, Lymphome 53BP1 -/-: AT-ähnlich;
Bilden MRN’-Komplex
DSB-Erkennung und Reparatur
Der MRN Komplex bindet an DSB der DNA und ist für die Reparatur (homologe Rekombination) und die Aktivierung des Checkpoints wichtig. Mutationen in MRE11 oder NBS1 führen zu AT-ähnlichen Syndromen
Rad50 hypomorph (RadS): Krebsdisposition Nbs1 -/-: AT-ähnlich
Besitzen DNA-Helikase Domäne
Replikation/ Reparatur
Progeria-Syndrom. BLM ist Teil des BASC (»BRCA1 associated genome surveillance complex«)
Blm -/-: embryonal letal, Blmm3/m3 hypomorph: Lymphome, Karzinome
RAD1 HUS1 BRCA1a 53BP1 TOPBP1 MRE11a RAD50 NBS1a BLMa
WRNa
ATMa
WrnΔhel/Δhel: Krebsdisposition Gehören zur Gruppe der PI3-Kinase ähnlichen Kinasen (PIKK)
Signaltransduktion
ATR
ATRIP CLSPN
PIKK-Partner
Kinaseregulation
Serin/Threoninekinase mutiert in Ataxiateleangiectasia-Patienten. Nicht essenziell für zelluläre Proliferation. Kinase aktiviert durch DSB und Chromatinalterationen. Bindet DNA. Rekrutiert den MRN Komplex an DSB. Substrate: TP53, BRCA1, CHK1/2
-/-: Lymphome
Bindet einzelsträngige DNA und ist essenziell für zelluläre Proliferation. Benötigt ATRIP zur Aktivierung. Substrate wie ATM
-/- embryonal letal
Aktiviert ATR
-
Wird für CHK1 Aktivierung durch ATR benötigt.
-
178
Kapitel 7 · Zellzyklus
. Tab. 7.1 (Fortsetzung) CHK1
Ser/Thr-Kinase
Effektorkinasen
CHK2a
7
Intra-S-Checkpoint, essenziell für zelluläre Proliferation
Chk1 -/-: embryonal letal; +/-: haploinsuffizient
Nicht essenziell, Keimbahnmutationen: Li-Fraumeni Syndrom
Chk2 -/-: normal; hypersensitiv
TP53a
Transkriptionsfaktor
Effektorprotein
Angeborene Mutationen: Li-Fraumeni-Syndrom; wird durch ATM/ATR aktiviert Ser15 und durch CHK2 (Ser20) stabilisiert
-/-: Krebsdisposition
BRCA2a
DNA-Bindung
DNA-Reparatur
RAD51-Interaktion, interagiert mit FanconiAnämie Proteinen, DSB-Reparatur, Prädisposition für Mamma- und Ovarialkarzinome
Brca2 -/-: embryonal letal; +/-: keine Tumoren; tr/tr: Mammakarzinom
RPA
DNA-Bindung
Replikation
RPA2 Untereinheit ist ein ATM Substrat; bindet ssDNA und ist für die Replikation essenziell
a Gene, deren Mutation für familiäre Krebserkrankungen prädisponieren, sind halbfett hervorgehoben -/- homozygot deletiert; +/- heterozygot; tr/tr homozygot kodierend für ein trunkiertes Protein; IR ionisierende Strahlung; AT Ataxia teleangiectasia; DSB DNA-Doppelstrangbruch; ssDNA einzelsträngige DNA.
ist in allen Zellen konstitutiv aktiv, jedoch ist das TP53-Protein in den meisten Zellen durch effiziente Degradation nur in sehr geringen Mengen nachweisbar, da TP53 seine eigene Degradation durch die transkriptionelle Induktion der Ubiquitinligase MDM2 bewirkt. Diese zunächst als »Verschwendung« erscheinende direkte Kopplung von TP53-Synthese und Degradation hat jedoch den entscheidenden Vorteil, dass durch Unterbrechung dieser negativen Rückkopplungsschleife TP53 sehr rasch und effektiv induziert werden kann und das auch unter Bedingungen, welche die Transkription beeinträchtigen. Diese Stabilisierung kann entweder durch Modifikation von TP53, wie Phosphorylierung, erfolgen, welches dann nicht mehr von MDM2 erkannt und polyubiquityliert werden kann, oder auf Hemmung der MDM2Ubiquitinligase selbst beruhen. Ein wichtiger Inhibitor der MDM2-Aktivität ist p14ARF (Sharpless 2005), welches, wie schon erwähnt, auf dem gleichen Lokus wie der CDK-Inhibitor p16INK4A kodiert wird. Beide Proteine werden vom gleichen DNA-Strang transkribiert und verwenden das gleiche Exon 2, welches jedoch durch einen alternativen Promotor und alternatives »splicing« zur Bildung von unterschiedlichen Proteinen (ARF, »alternative reading frame«) verwendet wird. Beide Proteine hemmen jedoch direkt (p16INK4A) oder indirekt (TP53-mediierte Induktion von p21CIP1) die Zellzyklusprogression in der G1-Phase. Die Kontrolle der Expression dieser beiden Proteine ist spezifisch reguliert. P16INK4A wird z. B. durch Antimitogene und Differenzierungsfaktoren, der P14ARF-Promoter durch zahlreiche »proliferative« Signale induziert, zu denen auch die Aktivierung von Onkogenen oder der Verlust von RB1 gehören. Dies ist dadurch zu erklären, dass der P14ARF-Promoter auch durch E2F-Transkriptionsfaktoren induziert werden kann. Dadurch ergibt sich, dass ein Funktionsverlust von RB1 oder ein durch Onkogenaktivierung induziertes starkes Proliferationssignal auch zur Aktivierung von TP53 und dadurch zu Zellzyklusarrest und Einleitung der Apoptose führen kann. Auch andere bekannte Tumorsuppressoren, wie etwa das beim familiären Mammakarzinom mutierte Gen BRCA1 (Nathanson et al. 2001), das »Nejmengen-breakage-syndrome«-Gen NBS1 (Digwees u. Sperling 2004) oder andere am Intra-S- oder
G2-M-Checkpoint beteiligten Gene (. Tab. 7.1), spielen, wie TP53 in der Antwort auf DNA-Schäden eine große Rolle und führen zur Aktivierung von ATM/ATR und indirekt zur Aktivierung von TP53. Da ATR und CHK1 während jeder S-Phase aktiviert werden, bewirkt ein Verlust dieser Gene einen zu frühen Eintritt in die Mitose und dadurch »mitotischen Zelltod«. Inaktivierungen dieser Gene in der Maus führen zu frühem embryonalen Zelltod. Ob Mutationen in diesen Genen, ähnlich wie für ATM und CHK2 gezeigt, auch zur Tumorentstehung beitragen ist daher unklar. Eine Folge der Mutationen im RB1- und im TP53Pathway sind ein Verlust der Qualitätskontrolle des zellulären Genoms. Ein Verlust des RB-Pathways führt zu fehlerhafter weil unkoordinierter DNA-Replikation oder zu Störungen der Zentrosomenreplikation, während eine Inaktivierung des TP53Weges zu einer ungehinderten Weitergabe des geschädigten Genoms führt. Über einen bisher wenig verstandenen Mechanismus wird TP53 auch induziert, um zu verhindern, dass Zellen, die durch ein Versagen der zytoplasmatischen Teilung, also der Zytokinese, tetraploid geworden sind, sich noch einmal teilen können.
7.4.3
Aneuploidie durch Defekte im Spindel-Checkpoint
Aneuploidie wird in unterschiedlichem Ausmaß in allen Tumoren gefunden und führt zu einer Verschiebung der Genexpression von mehreren hundert Genen. Obwohl nahezu alle malignen Tumoren aneuploid sind, ist nicht klar, ob Aneuploidie als eine Ursache oder nur als Folge der Tumorerkrankung anzusehen ist. Die Identifikation von Keimbahnmutationen in Tumorsuppressorgenen bei Patienten mit hereditären Tumorerkrankungen und der Nachweis, dass somatische Mutationen in denselben Genen auch in spontanen Tumoren gefunden werden, untermauert die Bedeutung erworbener Mutationen in Onkogenen und Tumorsuppressorgenen für die Krebsentstehung. Schwieriger ist die Situation bei Keimbahnmutationen in Genen die eine Fehlverteilung der Chromosomen, also Aneuploidie, bewirken, da angeborene komplette Verlustmutationen meist schon gar nicht mit einer normalen Ent-
179 7.4 · Tumorentstehung durch Mutationen in Checkpoint- und Gatekeeper-Proteinen
7
. Tab. 7.2. Übersicht über wichtige Proteine des Mitose-Checkpoints Gen
Domäne
Funktion
Mutationen
BUB1
S/T-Kinase
Phosphoryliert CDC20
Karzinome: Kolon, Lunge, Pankreas, Rectum
BUBR1
S/T-Kinase
Mit BUBR1, BUB3 und MAD2 Teil des APC/C-Inhibitorkomplexes
Kolonkarzinom, Lymphome
BubR1 +/-: erleichterte chemische Karzinogenese
BUB3
7 WD40-Domänen
Teil des APC/C-Inhibitorkomplexes
–
Bub3 +/-: erleichterte chemische Karzinogenese
MAD1
–
Rekrutiert MAD2 an freie Kinetochoren
Lymphome, Karzinome: Prostata, Lunge, Mamma
Bindet und inhibiert CDC20
Karzinom: Blase, Mamma
Mad2 +/-: Lungenkarzinom
MAD2
Mausgenetik
MPS1
Y-S/T-Kinase
–
–
–
CENPE
Kinesin
Aktiviert BubR1
-
+/-: Aneuploidie
ZW10
–
Rekrutiert MAD1/MAD2 Komplex an freie Kinetochoren
Kolonkarzinom
–
KNTC1
–
Kooperiert mit ZW10
Kolonkarzinom
–
ZWILCH
–
Kooperiert mit ZW10/KNTC1
Kolonkarzinom
–
ZWINT
–
Kooperiert mit ZW10/KNTC1
–
–
MAD2L1BP
–
Inhibiert MAD2; Termination des Checkpoints
–
–
S/T-Kinase Serin-Threonin-Kinase; Y-Kinase Tyrosin-Kinase
wicklung vereinbar sind. Im Gegensatz zu Onkogenen und Tumorsuppressorgenen ist die Frage ob Mutationen in »Aneuploidiegenen« kausal zur Tumorerkrankung führen können zurzeit nicht eindeutig zu beantworten. Die zur Aneuploidie führenden Störungen der Chromosomenverteilung können zahlreiche Ursachen haben, die von Fehlern der DNA-Replikation, überzähligen Zentrosomen (beides etwa durch Deregulation der Cyclin E-Expression), Störungen der Schwesterchromatidtrennung, Kinetochordefekten bis hin zu Defekten im Spindelkontrollmechanismus reichen. In Tumoren sind zahlreiche an diesem Prozess beteiligte Proteine dereguliert, wie z. B. der Separaseinhibitor Securin, der auch als PTTG1-Onkogen bezeichnet wird, oder HEC1 (»highly expressed in cancer«), welches am Kinetochor die Verankerung der Spindelmikrotubuli mit koordiniert. Neben diesen findet sich aber auch ein Verlust oder eine Reduktion des Spindelkontrollmechanismus, der den Zeitpunkt der Anaphase und den Austritt aus der Mitose kontrolliert. Eine Inaktivierung dieses Mechanismus führt zur vorzeitigen Schwesterchromatidtrennung und bewirkt dadurch massive Aneuploidie. Mit Ausnahme des Variablen-Mosaik-Aneuploidie-Syndroms (MVA-Syndrom) sind bisher keine Keimbahnmutationen beim Menschen bekannt, die zu Aneuploidie und Tumorentstehung beitragen. Beim MVA-Syndrom liegen Mutationen im BUBR1-Gen (BUB1B) vor, die zu einer Verminderung der Proteinexpression und einer deutlichen Reduktion der BUB1R-Kinaseaktivität führen. Durch die Störung des Spindelkontrollmechanismus kommt es zur zufälligen Fehlverteilung von Chromosomen (Mosaik), die zahlreiche Entwicklungsstörungen bewirkt und mit einer erhöhten Tumorinzidenz assoziiert ist.
Da auch in Tiermodellen mit experimentell induzierter Inaktivierung eines der entsprechenden Spindel-CheckpointGene (. Tab. 7.2) in einem Fall (MAD2) eine erhöhte Suszeptibilität für spontan auftretende Malignome und in einem anderen eine erhöhte Tumorinzidenz bei chemisch induzierten Tumoren (Baker et al. 2005) gefunden wurden, scheint klar, dass primär aneuploidisierende Mutationen zur Kanzerogenese beitragen können. In diesen Tiermodellen handelte es sich aber entweder um eine Haploinsuffizienz (MAD2) oder um hypomorphe Mutationen (BUBR1), denn ein vollständiger Funktionsverlustes dieser Checkpoint-Proteine in der Maus ist mit einer normalen embryonalen Entwicklung durch die Induktion von massiver Aneuploidie nicht vereinbar. Diese Befunde zeigen aber, dass somatische Mutationen in den Spindelkontrollgenen durch eine primäre Destabilisierung des Genoms zur Tumorentstehung beitragen könnten. Ein weiterer interessanter Fall ist die Adenomatosis polyposis coli, die u. a. durch Mutationen im APC-Gen verursacht wird. Neben seiner gut verstandenen und für die Tumorsuppression wichtigen Funktion in der Regulation des β-Catenin-Signaltransduktionsweges, ist das APC-Protein auch an der Anheftung der Mikrotubuli an die Kinetochoren während der Mitose beteiligt. Es konnte experimentell gezeigt werden, dass Störung des APCProteins zu einer Chromosomenfehlverteilung, d. h. zu Aneuploidie, führen kann. Mutationen im APC-Gen könnten daher einerseits durch Deregulation des β-Catenin-Weges proliferativ und andererseits direkt aneuploidisierend wirken. Es gibt aber noch zahlreiche andere Gene, deren Mutation direkt oder indirekt zur Aneuploidisierung beitragen können, wie z. B. TP53, RB1, PTTG1, Cyclin E (CCNE), Aurora-A-Kinase
180
Kapitel 7 · Zellzyklus
(AURKA) etc., die jedoch hier nicht näher besprochen werden können.
7.5
7
Zellzyklusproteine als »Proliferationsund prognostische Marker«
Die Bestimmung von Zellzyklusproteinen in der Tumordiagnostik erlaubt es die genauen proliferativen Eigenschaften eines Tumors zu bestimmen und kann in manchen Fällen auch als prognostischer Marker verwendet werden. Die Expression der Zellzyklusproteine Cyclin A und B ist in den meisten rasch proliferierenden Tumoren erhöht und kann daher als ein Proliferationsmarker, ähnlich wie das nur in proliferierenden Zellen exprimierte Protein KI-67 (MKI67), allerdings mit höherer Zellzyklusphasenspezifität verwendet werden (Yasmeen et al. 2003). Entsprechend sind die Mengen des CDK-Inhibitorproteins p27KIP1 in Tumoren oft erniedrigt, u. a. wenn p27KIP1 in Tumoren aufgrund einer Überexpression des F-BoxProteins SKP2, einer Komponente des SCF-Ubiquitinligasekomplexes, verstärkt abgebaut wird. Der Expressionsspiegel von p27KIP1 kann zudem für verschiedene Tumoren als prognostischer Marker für den Krankheitsverlauf herangezogen werden (Chu et al. 2008). Eine vermehrte Expression von Cyclin E hingegen weist nicht nur auf eine erhöhte Proliferation, sondern eventuell auch auf eine gestörte Degradation von Cyclin E hin (Bashir u. Pagano 2003). In normalen Zellen wird Cyclin E nur kurz am Übergang in die S-Phase exprimiert und während der S-Phase durch einen SCF-abhängigen Mechanismus wieder degradiert. In vielen Tumoren fehlt diese Degradation, z. B. durch Mutation des F-Box-Proteins HCDC4 (FBXW7), und Cyclin E akkumuliert zu hohen Leveln, was etwa bei Mammakarzinompatientinnen mit einer schlechteren Prognose korreliert. Die höhere Aggressivität von Tumoren mit hoher Cyclin E-Expression wurde mit einer Deregulation der DNA-Synthese und daraus resultierenden Aneuploidie in Verbindung gebracht (Spruck et al. 1999). Ein weiterer diagnostisch wichtiger Gesichtspunkt liegt in der Früherkennung prämaligner Läsionen. Der Nachweis aktivierter »DNA-damage«-Checkpoint-Proteine durch phosphoproteinspezifische Antikörper könnte, in konventionellen immunhistochemischen Analysen, hier etwa einen wichtigen Beitrag leisten (Bartkova et al. 2005).
7.6
Zellzyklusregulatoren als Angriffspunkte für Tumortherapie
Nach der Identifikation der CDK als zentralem Zellzyklusregulator wurden viele Versuche unternommen, CDK-spezifische Kinaseinhibitoren als Tumortherapeutika zu entwickeln. Mehrere dieser Inhibitoren werden aufgrund der starken antiproliferierenden Wirkungen zurzeit in klinischen Studien vor allem in der Kombinationstherapie, evaluiert (Fischer et al. 2003). Besonders vielversprechend scheint die Kombination mit Spindelzellgiften zu sein, da hier ein von der Zelle vorgesehener CheckpointMechanismus außer Kraft gesetzt wird. Spindelzellgifte führen ja durch die Aktivierung des Spindel-Checkpoints zu einem durch hohe CDK1-Aktivität bedingten Arrest in Mitose, der verhindern soll, dass sich die Zelle ohne eine funktionelle mitotische Spindel zu teilen beginnt. Dies wird nun durch Administration von niedermolekularen CDK-Inhibitoren umgangen und die Zellen treten aus der Mitose aus, wodurch eine massive Aneuploidie induziert wird, die ein starkes Apoptosesignal darstellen kann (Shapiro 2004). Neben CDKs als Zielmolekülen für die Entwicklung neuer Pharmaka werden auch gegen zahlreiche andere Kinasen, etwa der Aurora-Familie oder der Checkpoint-Kinasen ATM, ATR, CHK1 und CHK2, Inhibitoren entwickelt und getestet (Pommier et al. 2005). Durch die Inhibition der Checkpoint-Funktion in einer Poly-Chemotherapie mit genotoxischen Substanzen, verspricht man sich die Induktion von prämaturer Mitose und mitotischem Zelltod. Da die meisten normalen Zellen auf genotoxische Chemotherapeutika aber auch durch den TP53-abhängigen G1-Checkpoint vor dem Eintritt in die S-Phase arretieren, wären diese von einer Inhibition des G2-M-Checkpoints nicht so sehr betroffen. Eine andere Strategie besteht darin in Tumorzellen einen normalen TP53-Status wiederherzustellen, der bewirken soll, dass durch die massiven genetischen Alterationen in Tumorzellen, TP53 aktiviert wird und Tumorzellen spezifisch zur Apoptose bringen soll (Berkson et al. 2005). Andere Ansätze, die durch den Funktionsverlust von TP53 in Tumoren ermöglicht werden, stellen onkolytische Viren dar, die sich nur in Abwesenheit von TP53 vermehren und damit zur Lyse der infizierten Tumorzellen führen sollen (Aghi u. Martuza 2005). Eine weitere Strategie, die z. T. einen zellzyklusrelevanten Hintergrund hat, ist der Einsatz von Proteasominhibitoren in der Tumortherapie, da ja viele Zellzyklusregulatoren, wie z. B. die Cycline und CDK-Inhibitoren, durch proteasomabhängige Proteolyse reguliert werden (Ludwig et al. 2005; Nickleit et al. 2008).
Zusammenfassung Der Zellzyklus wird durch die oszillierende Aktivität cyclinabhängiger Kinasen reguliert. In somatischen Zellen wird dieser Oszillator durch zahlreiche externe Signale reguliert, die das Proliferationsverhalten den Bedürfnissen des Gesamtorganismus anpassen. Während der Tumorentstehung kann es zu einer Entkopplung der Zellzyklusmaschinerie von diesen Kontrollmechanismen kommen, die nun eine von äußeren Signalen unabhängige Proliferation erlauben. Der Zellzyklus unterliegt jedoch nicht nur äußeren Signalen, sondern wird auch durch intrinsische Mechanismen kontrolliert. Diese garantieren die richtige Abfolge der Zellzyklusphasen und bieten der Zelle die Möglichkeit, im Falle von DNA-Schädi-
gung den Zellzyklus anzuhalten, um den Schaden zu beheben, bevor er auf die Tochterzellen weitergegeben werden kann. Auch diese Kontrollmechanismen können während der Tumorentstehung beeinträchtigt werden, sodass verstärkt DNA-Schäden als Mutationen auf die Tochterzellen weitergegeben werden. Der Nachweis der Zellzyklusproteine in Tumorproben erlaubt eine Aussage über den Proliferationszustand einer Zelle und kann daher von diagnostischer als auch prognostischer Relevanz sein. Durch die zunehmend besser verstandenen Mechanismen der Zellzyklusregulation öffnen sich der Tumortherapie neue Optionen, die auf eine gezielte Manipulation des deregulierten Tumorzellzyklus abzielen.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
8
8 Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese R. Schulte-Hermann, W. Parzefall
8.1
Mehrstufenprozess der Krebsentstehung – 182
8.2
Bedeutung von chemischen Kanzerogenen Literatur – 223
– 194
8
182
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
8.1
Mehrstufenprozess der Krebsentstehung
8.1.1
Evolution der Krebszelle
Die heutigen Vorstellungen zum Mechanismus der Krebsentstehung wurden seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konzipiert. Virchow (1863) postulierte, dass Krebs durch chronische Gewebereizung und Entzündung ausgelöst wird. Boveri (1914) und Bauer (1928) erkannten die Bedeutung chromosomaler Veränderungen und somatischer Mutationen für die Kanzerogenese. Entscheidende Fortschritte bei der Erforschung von Ursachen und Mechanismen der Krebsentstehung ermöglichte die Einführung von Tierversuchen. 1915 bewiesen Yamagiwa und Ichikawa im Experiment am Kaninchen, dass Teer Hautkrebs erzeugen kann und bestätigten damit ältere Beobachtungen am Menschen. Als spezifische kanzerogene Wirkstoffe des Teers wurden Benz(a)pyren und zahlreiche andere polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) identifiziert (Cook et al. 1933; Kennaway 1955). In Modelluntersuchungen an der Mäusehaut wurde die Rolle von Teer bzw. einzelnen PAK und von Gewebereizungen für die Tumorentstehung studiert. Deelmann (1924) beobachtete, dass Verwundungen und Regeneration die krebserregende Wirkung der Teerbehandlung verstärkten. Anfang der 40er Jahre fanden dann Berenblum, Rous und Mottram, dass eine einmalige, niedrige Dosis von Benz(a)pyren oder wiederholte Entzündungen durch Aufpinseln von Crotonöl jeweils allein keine Hauttumoren erzeugten, gemeinsam jedoch stark wirksam waren (Berenblum 1941; Übersicht bei Boutwell 1964). Crotonöl wird aus bestimmten Pflanzen (Croton tiglium und anderen Wolfsmilcharten) gewonnen. Es enthält sehr stark hautreizende Verbindungen aus der Klasse der Phorbolester (Hecker 1985), darunter Tetradecanoylphorbolazetat (TPA), das später als ein hochwirksamer Tumorpromotor in der Mäusehaut erkannt wurde. Als entscheidend erwies sich die Reihenfolge der Behandlung: Tumoren traten nur auf, wenn erst Benz(a)pyren, dann Crotonöl auf die Haut aufgetragen wurde, die umgekehrte Sequenz war unwirksam. Daraus wurde abgeleitet, dass die Entstehung von Krebs eine Abfolge unterschiedlicher biologischer Vorgänge erfordert. Der erste, im Modell durch PAK induzierte Vorgang wurde Initiation genannt und die auslösende Substanz Initiator. Der zweite, die Tumorentstehung fördernde Prozess wurde als Promotion bezeichnet, und die auslösende Substanz als Promotor (Die Verwendung des Wortes Promotor in diesem Zusammenhang hat keine Beziehung zu der Bezeichnung von Promotor- DNA, die die Expression von Genen steuern ). Zunächst entstanden gutartige Tumoren (Papillome), die sich nach Behandlungsende in der Mehrzahl zurückbildeten. In einem anschließenden Stadium, der Phase der Progression, entwickelten sich Karzinome. Spätere Tierexperimente zeigten, dass die Kanzerogenese auch in anderen Organen über die Stufen Initiation, Promotion und Progression erfolgt. Auch histologische Untersuchungen belegten die stufenweise Entstehung von Krebs. In verschiedenen Organen lassen sich, oft lange vor dem Auftreten von Malignomen, Zellgruppen nachweisen, die aufgrund ihres herdförmigen Auftretens, veränderter Morphologie, erhöhter Proliferation und anderer Abweichungen vom normalen Phänotyp als Tumorvorstufen gelten: Präneoplasien und gutartige Tumoren, z. B. atypische Hyperplasien und Dysplasien in verschiedenen Organen, dysplastische Nävi und aktinische Keratosen in der Haut, aberrante Krypten, gutartige frühe und späte Adenome im Kolon sowie Myelodysplasien im
blutbildenden Organ. Auch bei experimenteller Krebsinduktion in Versuchstieren treten zuerst präneoplastische Zellgruppen auf. Am eingehendsten charakterisiert sind derartige »präneoplastische Zellfoci« in der Leber von Ratte und Maus (Pitot 1990; Grasl-Kraupp et al. 2000; Williams 1999). Weitere Beweise für die schrittweise Entwicklung von Krebs wurden nach der Entdeckung der Onkogene und Tumorsuppressorgene gefunden. Es zeigte sich, dass bösartige Zellen erst dann entstehen, wenn mindestens zwei Onkogene in der Zelle zusammenwirken (Land et al. 1983). Auch bei der Analyse des Retinoblastoms ergab sich Evidenz für mehrere Schritte in der Kanzerogenese. Retinoblastome sind maligne Tumoren der Netzhaut, die im Kindesalter entweder aufgrund einer familiären Disposition oder sporadisch auftreten. Aus statistischen Untersuchungen über das Auftreten der Tumoren wurde der Schluss gezogen, dass für die Entstehung der Erkrankung zwei Mutationen notwendig sind, von denen bei der familiären Form eine aus der Keimbahn stammt, die zweite spontan erworben wird. Bei der sporadischen Erkrankung erfolgen beide Mutationen spontan (Knudson 1976). Das betroffene Gen, ein Tumorsuppressorgen, wurde identifiziert und kloniert und als Retinoblastom-(RB-)Gen bezeichnet. Die Identifizierung des Gens erlaubte, die beiden Mutationen direkt nachzuweisen; sie erfolgen in den beiden Allelen des Gens (Weinberg 1992). Inzwischen wurde in vielen Untersuchungen nachgewiesen, dass in Tumoren generell mehrere Gene mutiert sind. Vogelstein und Mitarbeitern gelang es, das Auftreten verschiedener Genmutationen in der Kolonkanzerogenese in eine zeitliche Abfolge (Stufen) einzuordnen und mit der Sequenz histologisch nachweisbarer Krebsvorstufen zu korrelieren (Fearon u. Vogelstein 1990; Vogelstein u. Kinzler 1993). An der mehrstufigen Entstehung von Tumoren aus Einzelzellen durch sequenziellen Erwerb von Mutationen, wie im Prinzip von Boveri 1914 vorausgesagt, besteht kein Zweifel mehr. Heute sind wesentliche biologische und molekulare Vorgänge während der einzelnen Stufen der Krebsentstehung aufgeklärt. Krebs ist eine Erkrankung der zellulären Signalmechanismen, die von genetischen Veränderungen ausgeht. In normalen Zellen . Tab. 8.1. Einige während der schrittweisen Krebsentstehung erworbene Eigenschaften Wachstumsvorteil
4 erhöhte Zellteilungsrate 4 verringerte Absterberate
Genetische Instabilität, »Mutatorphänotyp«
4 Unzureichende Reparatur von Schäden im genetischen Material 4 Rasche Akquisition von Mutationen
Immortalität
4 Unbegrenzte Proliferationsfähigkeit 4 Expression von Telomerase
Umprogrammierung des Stoffwechsels
4 Verlust von »Luxusfunktionen« 4 Umstellung zugunsten der Zellvermehrung
Veränderte Wechselwirkungen mit der Mikroumgebung
4 Induktion von Angiogenese 4 Epithelial-mesenchymale Transition
Metastasierung
4 4 4 4
Auflösung der Basalmembran Migration Invasion Überleben und Wachstum außerhalb des Ursprungsgewebes
183 8.1 · Mehrstufenprozess der Krebsentstehung
8
. Abb. 8.1. Mehrstufenprozess der Krebsentstehung. Die Krebsentstehung ist beispielhaft als vierstufiger Prozess dargestellt: 1. Entstehung einer initiierten Einzelzelle (Initiation); 2. klonales Wachstum der initiierten Zelle (Promotion); 3. Mutation einer Zelle des präneoplastischen Klons, deren selektives Wachstum zur Bildung eines gutartigen Tumors führt; 4. Mutation einer Zelle des gutartigen Tumors; diese kann einen malignen Tumor bilden. Die Stufen 3 und 4 zählen zur Progression; die Progression kann auch mehrere Stufen umfassen. Initiation und Progression sind als irreversible Prozesse anzusehen, während die Promotion ebenso wie die selektiven Wachstumsvorgänge während der Progression prinzipiell re-
versible Vorgänge sind (gestrichelte schwarze Pfeile). Außer Mutationen spielen auch epigenetische Vorgänge bei der Progression eine bedeutende Rolle, s. Text. Dargestellt ist auch die Einwirkung exogener Krebsursachen. Es sind zwei verschiedene Prinzipien zu unterscheiden: gentoxische Effekte, die zu Mutationen führen (blau), und Interaktionen mit wachstumsregulierenden Signalen, die selektives Wachstum auslösen (hellblau). Mit fortschreitender Progression wird der Prozess der Krebsentstehung zunehmend autonom. Die Stärke der farbigen Pfeile kennzeichnet die Stärke der Wechselwirkung exogener Noxen mit dem Krebsprozess. ROS »reactive oxygen species«
werden Differenzierung und Wachstum durch komplexe Regelkreise von inter- und intrazellulären Signalen präzise gesteuert, um dem Bedarf des Organismus zu entsprechen und die Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen zu ermöglichen (Aufrechterhaltung der Homöostase). In Krebszellen bestehen dauerhafte Störungen dieser Regelkreise; die Zellen entkommen der Kontrolle und vermehren sich auf Kosten des Gesamtorganismus. Krebszellen unterscheiden sich von normalen Zellen durch mehrere verschiedene phänotypische Eigenschaften (. Tab. 8.1). Für die Umwandlung einer normalen in eine maligne Zelle sind daher mehrere Störungen im Netzwerk der zellulären Regelkreise erforderlich. Die Störungen beruhen meist auf Mutationen von Schlüsselgenen der Signalgebung und -verarbeitung. Dabei hat die Mutation eines einzelnen Schlüsselgens oft nur geringe Auswirkungen auf das Wachstumsverhalten. Kennzeichen der Krebszelle ist daher der Besitz von mehreren Mutationen, die verschiedene
Schlüsselgene betreffen. Spezifische Mutationen sind in gesunden Zellen extrem selten und treten nur in einzelnen, sehr wenigen Zellen eines Gewebes auf. Der Erwerb der ersten Mutation entspricht der Stufe der Initiation. Von diesen initiierten Einzelzellen geht die Krebsentstehung aus (. Abb. 8.1). Die Initiation bringt für die betroffene Zelle nur einen geringen Wachstumsvorteil. Tumorpromotion stimuliert die Vermehrung der initiierten Zellen. Dies erfolgt selektiv, sodass es zur Entstehung und raschen Vergrößerung eines Klons initiierter Zellen kommt. Mit der Anzahl der Tochterzellen steigt die Chance für die Mutation weiterer Schlüsselgene, die zusätzliche Wachstumsvorteile verleihen, sodass weitere (Sub-)Klone entstehen. Ohne Promotion ist die Weiterentwicklung der initiierten Zelle zum Tumor unwahrscheinlich. Tumorpromovierende Reize fördern die Kanzerogenese also durch Selektion, nicht durch Mutation. Die Akkumulation weiterer Mutationen wird der Stufe der Progression zugerechnet (. Abb. 8.1).
184
8
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
Triebkraft und Richtungsgeber dieser Prozesse ist das Prinzip der Evolution, durch Mutation und Selektion Individuen hervorzubringen, die für Wachstum und Ausbreitung in ihrer Umwelt optimiert sind (»darwinistisches Prinzip«). . Abb. 8.1 illustriert die Sequenz der auseinander hervorgehenden intermediären Zellpopulationen und die Korrelation zwischen zunehmenden genotypischen und phänotypischen Abweichungen. Diesen tumorbiologischen Vorstellungen entspricht der klinische Ablauf: Nach der Initiation folgt meist eine längere Latenzphase bis zur Manifestation der Krebserkrankung, die mehrere Jahre oder Jahrzehnte dauert. Die lange Dauer der Latenzphase beruht auf dem langsamen Wachstum der initiierten Zellen und Tumorvorstufen und der geringen Häufigkeit spezifischer Mutationen. Dies macht verständlich, dass Krebs fast immer eine Krankheit des höheren Lebensalters ist. Tumorpromovierende Faktoren beschleunigen das Wachstum und verkürzen dadurch die Latenzzeit. Den Stufen der Initiation und Promotion folgt die Progression (. Abb. 8.1). Sie bezeichnet die Umwandlung gutartiger in bösartige Tumoren und die weitere Zunahme der Aberrationen in den malignen Zellen. Ein fixer Endpunkt der geno- und phänotypischen Veränderungen wird in den meisten Tumoren nicht erreicht. Eine wesentliche Ursache der Progression ist die genetische Instabilität (»Mutatorphänotyp«), die für Tumorzellen charakteristisch ist. Sie bedingt eine zunehmende Häufigkeit von Mutationen, die zur Entstehung immer neuer (Sub-) Klone mit aggressiverem Verhalten führen. Daher besteht der gleiche Tumor oft aus mehreren Zellklonen mit unterschiedlichem Genotyp (Tumorheterogenität). Die Heterogenität resultiert aus der zufallsbedingten Verschiedenheit der Mutationen und der Selektion von Mutanten nach Maßgabe ihres Vermehrungsvorteils. Während einer medikamentösen Tumortherapie können solche Subklone selektiv wachsen, wenn sie zufällig resistent gegenüber der Therapie sind; sie können auch während der Therapie aufgrund der genetischen Instabilität der Tumorzellen neu entstehen. Letzteres wird begünstigt durch die mutagenen Wirkungen vieler Zytostatika und ionisierender Strahlen. Durch Selektion resistenter Klone kann ein anfangs sensitiver Tumor gegenüber der Therapie resistent werden. In der Klinik spricht man vereinfachend von Progression, wenn ein Tumor sich vergrößert oder seine Metastasierungsneigung zunimmt.
8.1.2
Krebsrisikofaktoren und ihre Wirkung auf die Stufen der Kanzerogenese
Krebs entsteht fast immer durch ein Zusammenwirken verschiedener exogener und endogener Ursachen (Krebsrisikofaktoren). Dabei spielen exogene Faktoren die dominierende Rolle. Nach epidemiologischen Schätzungen sind 80–90% aller Krebsfälle des Menschen exogen bedingt (Perera 1996). Diese exogenen Faktoren wirken hauptsächlich in den Stufen Initiation und Promotion. In den folgenden Schritten der Progression wird der Krebsprozess mehr und mehr unabhängig von exogenen Faktoren. Die Krebsentstehung wird also meist von äußeren Einwirkungen in Gang gesetzt, läuft dann jedoch zunehmend autonom in der Zelle ab (. Abb. 8.1). Die einzelnen krebserzeugenden Umweltfaktoren sind sehr unterschiedlicher Natur: verschiedenartige chemische Substanzen, verschiedene Strahlentypen (α-, β-, γ-Strahlen, UV-Licht) und bestimmte Viren, Bakterien und Parasiten können zur Krebs-
entstehung führen. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Faktoren die Fähigkeit, mit den zellulären Signalmechanismen zu interferieren, die Wachstum und Differenzierung der Zellen regeln. Zwei Typen von Einwirkungen sind zu unterscheiden: Schädigungen des Erbgutes werden als gentoxisch bezeichnet, sie führen zu Initiation und weiteren Mutationen. Wirkungen auf andere Zielmoleküle als die DNA, z. B. auf die Proteine der Signalketten, heißen nicht-gentoxisch. Sie verstärken die Selektion (Tumorpromotion; . Abb. 8.1). Gentoxische Krebsrisikofaktoren Diese führen in erster Linie zu Mutationen und sind damit die wichtigste Ursache für die Tumorinitiation; auch bei der Progression spielen sie eine wesentliche Rolle. Gentoxische Effekte werden definiert als stabile chemische Veränderungen der DNA, z. B. Anlagerung von kanzerogenen Substanzen (Adduktbildung), Strangbrüche und Vernetzungen. Der Begriff umfasst Mutationen, d. h. Austausch, Insertion oder Deletion von Basen, Änderung der Basensequenz inklusive Austausch von DNA-Abschnitten zwischen verschiedenen Chromosomen (Translokation), Chromosomenveränderungen und Zugewinn oder Verlust von Chromosomen (Appel et al. 1990). Die regulierte Methylierung von Zytosin (s. unten, epigenetische Veränderungen) und Änderungen der Transkription von Genen zählen dagegen nicht zu den gentoxischen Effekten. Die Wirkungsweise der gentoxischen Noxen ist in wesentlichen Teilen aufgeklärt. Chemische Kanzerogene werden in definierten Schritten meist enzymatisch in der Zelle zu reaktionsfähigen Agenzien aktiviert, die dann chemische Reaktionen mit der DNA eingehen (. Abb. 8.1). Ionisierende Strahlen erzeugen DNA-Läsionen durch Freisetzung energiereicher Elektronen oder durch Bildung von Sauerstoffradikalen (ROS, »reactive oxygen species«). Die entstandenen Schäden werden zwar überwiegend durch die sehr effizienten DNA-Reparatursysteme der Zelle beseitigt, nicht reparierte Schäden können jedoch zu Mutationen führen (Näheres zur Entstehung von Mutationen 7 Abschn. 8.2.8–8.2.11). Viren können ebenfalls zu stabilen Veränderungen der DNA führen, etwa indem sie zusätzliche virale Sequenzen in das Genom einfügen, z. B. humane Papillom-Viren (HPV) oder Retroviren (»insertional mutagenesis«). Nicht-gentoxische Krebsrisikofaktoren Diese Risikofaktoren reagieren nicht direkt mit der DNA. Sie können aber aufgrund von Interaktionen mit anderen Gliedern der zellulären Signalketten – meist Proteinen – eine Selektion (Promotion) von Tumorvorstufen auslösen. Eine große Zahl tumorpromovierender Substanzen und Reize sind bekannt. Ihre Wirkung kann auf toxischen oder nicht toxischen Effekten beruhen. Beispiele für nicht toxische Promotoren sind mitogene Hormone (»endogene Promotoren«) und ihre synthetischen Derivate; (. Tab. 8.2). Nicht gentoxische Kanzerogene haben für die Krebsentstehung vermutlich größere Bedeutung als gentoxische Risikofaktoren. Auch Ernährung im Übermaß und in ungeeigneter Zusammensetzung, eine der wichtigsten Krebsursachen (Lifestyle-Faktoren), verändert direkt oder indirekt endokrine und parakine Regelkreise. Die resultierenden hormonalen Ungleichgewichte lösen Tumorpromotion in verschiedenen Organen aus. Gentoxische Substanzen und Strahlen verändern nicht nur die DNA, sondern aufgrund ihrer hohen Reaktivität auch Proteine und andere Zellbestandteile. Daher wirken sie bei ausreichend
185 8.1 · Mehrstufenprozess der Krebsentstehung
. Tab. 8.2. Einige tumorpromovierende Substanzen und Vorgänge Faktoren
8
. Tab. 8.3. Einige chronische Entzündungserkrankungen, die mit Krebsentstehung assoziiert sind
Zielorgane Disponierende chronische Erkrankung
Krebsart
Aethanolabusus
Hepatitis
Hepatozelluläres Karzinom
Tabakrauch
Bronchitis
Bronchialkarzinom
Asbest
Entzündungen in Atemorganen
Mesotheliom, Bronchialkrebs
Ursache (Beispiele) Endogene Faktoren Östrogene
Mamma, Endometrium, Leber
Androgene
Prostata, Leber
TGF-α
Haut, Leber (experimentell)
TNFα
Haut, Leber (experimentell)
Sekundäre Gallensäuren
Darm
Prostaglandine
Darm (indirekte Evidenz)
Exogene Substanzen
Physikalisch-chemischer Reiz
Exogene Faktoren Überernährung
Mamma, Kolon, Endometrium, Leber, andere Organe
Gallensteine
Cholezystitis
Karzinom der Gallenblase
Salzreiche Kost
Magen
Säurereflux
Oesophagitis
Karzinom des Oesophagus
Tetradecanoylphorbolazetat (TPA), Wirkstoff des Crotonöls
Haut (experimentell)
Nicht gentoxische Reizstoffe im Tabakrauch
Bronchien
Abnorme Immunreaktionen
Ulzerative Colitis, Morbus Crohn
Dickdarmkarzinom
Nikotin
Bronchien, andere Organe
Hämochromatose
Hepatitis
Hepatozelluläres Karzinom
Aethylalkohol
Mundhöhle, Kehlkopf, Speiseröhre, Leber, Darm, Mamma
Infektionen Schistosoma
Harnblasenentzündung
Blasenkarzinom
Leberegel (Opisthorchis sp.)
Hepatitis, Cholangitis
Cholangiokarzinome
Helicobacter pylori
Gastritis
Magenkarzinom und -lymphom
HBV, HCV
Hepatitis
Hepatozelluläres Karzinom
Erblich
hoher Dosis zytotoxisch und zelltötend. Zellverluste haben ein regeneratives Wachstum zur Folge, das oft tumorpromovierend wirkt. Somit wird die Krebsentwicklung zusätzlich durch eine nicht gentoxische Wirkung gefördert, an der auch entzündliche Vorgänge beteiligt sind (s. unten). So haben die eingangs erwähnten PAK bei einmaliger, niedriger Dosierung vor allem initiierende, bei höherer und wiederholter Gabe infolge ihrer Zytotoxizität auch promovierende Wirkung. Kanzerogene, die sowohl initiierend als auch promovierend wirken, werden »vollständige Kanzerogene« genannt. Sie besitzen meist ein besonders hohes Gefährdungspotenzial. Entzündungen und Infektionen Chemische Substanzen, Strahlen und Infektionserreger können die Krebsentstehung auch durch Auslösung von Entzündungen fördern. Der bereits im 19. Jahrhundert von Virchow erkannte Zusammenhang zwischen chronischen Gewebeschäden und Entzündungen mit der Entwicklung von Tumoren ist heute vielfach belegt. So sind Entzündungen durch chemische Substanzen bei der Entstehung folgender Krebsarten wesentlich beteiligt: Bronchialkrebs (chronische Bronchitis durch zytotoxische Tabakrauchbestandteile), Bronchialkrebs und Mesotheliom (chronische Entzündung der unteren Atemorgane durch Asbest), Leberkrebs (Entzündung und Zirrhose durch Äthanolabusus); weitere Beispiele für die Assoziation zwischen Entzündung und Krebs finden sich in . Tab. 8.3. Infektionen sind im weltweiten Durchschnitt für rund 15% aller Krebserkrankungen verantwortlich. Die bakteriellen und parasitären Infekte führen über chronische Entzündung zu
Krebserkrankungen, das gleiche gilt für Infektionen mit einigen Viren, die nicht in DNA integrieren (HCV) bzw. durch Integration Onkogene aktivieren (HBV). Insgesamt dürfte somit etwa die Hälfte der Krebserkrankungen des Menschen mit Entzündungen assoziiert und von diesen mitverursacht sein. Entzündungen aktivieren inflammatorische Zellen wie Makrophagen und Granulozyten (. Abb. 8.2). Diese bilden daraufhin reaktive Sauerstoffspezies (Oxygen; ROS) und reaktive Stickstoffspezies (Nitrogen; RNS) wie Superoxyd, Peroxyd, Stickstoffmonoxyd (NO), Peroxynitrit u. a. in hoher Konzentration. Die reaktiven Spezies erzeugen DNA-Addukte oder -Strangbrüche, Zytosin-Deaminierung etc. (7 Abschn. 8.2.4; Oshima et al. 2003; Oshima 2003; Hussain u. Harris 2006). Auf diese Weise können entzündungsauslösende Reize sekundär gentoxisch wirken und Mutationen hervorrufen, die zu Initiation führen. Chronische Entzündungen bewirken auch Tumorpromotion und -progression (. Abb. 8.1, 8.2). Die Bedeutung entzündlicher Prozesse für die einzelnen Stufen der Kanzerogenese wird später näher erläutert (7 Abschn. 8.1.4, 8.1.5, 8.2.4 und 8.2.12).
186
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
8
. Abb. 8.2. Die vielfältige Rolle mesenchymaler Zellen bei der Entstehung solider Tumoren. Aktivierung der Zellen durch entzündliche Reize
und durch Signale der Tumorzellen (. Tab. 8.3 und Text); EMT epithelialmesenchymale Transition
Endogene Krebsrisikofaktoren Zu den Krebsrisikofaktoren sind auch die seltenen ererbten Mutationen von Tumorsuppressorgenen zu zählen, die wie diejenige des Retinoblastomgens mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Tumoren führen. Sie erhöhen das Risiko für Initiation und Progression. Häufig sind Dispositionen, die eine weniger ausgeprägte Erhöhung der Empfindlichkeit (Suszeptibilität) gegenüber exogenen Krebsursachen bedingen. Suszeptibilitätsunterschiede sind z. T. ererbt, z. T. durch exogene Einflüsse verursacht (7 Abschn. 8.2.6 und 8.2.7). Sie können auf Variationen bei Enzymen, die chemische Kanzerogene aktivieren oder deaktivieren, auf Variationen in der DNA-Reparatur und vielen anderen Faktoren beruhen. In den folgenden Abschnitten werden die einzelnen Stufen der Kanzerogenese charakterisiert und bekannte molekulare Mechanismen dargestellt. Das Verständnis dieser Prozesse kann Ansatzpunkte für Prävention und Intervention bieten.
gewinnt. Dieser ist jedoch gering, sodass klonales Wachstum nicht oder nur sehr langsam erfolgt, sofern keine Tumorpromotion stattfindet (. Abb. 8.1). Die Initiation (Initiierung) betrifft in der Regel einzelne, im Gewebe verstreut liegende Zellen und induziert nur wenige phänotypische Veränderungen. Daher ist die Identifizierung initiierter Zellen schwierig und bisher nur in wenigen Modellen möglich, z. B. in der Haut des Menschen und der Leber der Ratte; ihre Charakterisierung basiert bislang weitgehend auf der Analyse ihrer Nachkommenschaft (Präneoplasien und Tumoren). Als bewiesen gilt, dass die Initiation durch gentoxische, mutagene Einwirkungen von chemischen Substanzen und Strahlen sowie durch Integration von Genen aus tumorerzeugenden Viren ausgelöst wird. Objekt der mutagenen Wirkungen sind die Signalgene in zellulären Regelkreisen, die Zellzyklus, Apoptose und Differenzierung regulieren. Bereits eine einmalige, kurz wirkende gentoxische Belastung kann zur Initiation führen. Ein sehr wichtiges Charakteristikum der Initiation ist ihre Irreversibilität; sie wird auch an Tochterzellen weitergegeben. Das hat zwei Konsequenzen: (1) Wiederholte Einwirkungen von initiierenden Noxen, auch nach langen Intervallen, haben additive Wirkung auf das Krebsrisiko. (2) Gabe von Promotoren kann noch Jahre nach der Initiation Tumoren erzeugen. Unter bestimmten Bedin-
8.1.3
Tumorinitiation
Initiation, der erste Schritt zur malignen Entartung, bewirkt, dass die betroffene Zelle einen Wachstums- oder Überlebensvorteil
187 8.1 · Mehrstufenprozess der Krebsentstehung
gungen können initiierte Zellen allerdings durch Apoptose eliminiert werden, im Tierexperiment z. B. durch Nahrungsrestriktion (Grasl-Kraupp et al. 1994). Die Initiation erfolgt nur in proliferationsfähigen Zellen. Deshalb sind die Stammzellen im unreifen Organismus und in den Wechselgeweben des Erwachsenen typische Ziele initiierender Wirkungen (in Knochenmark, Krypten des Darms, Basalzellschicht der Haut). Stammzellen besitzen bereits das unbegrenzte Proliferationspotenzial, das für maligne Zellen charakteristisch ist (. Tab. 8.1). Folge der Initiation ist eine Hemmung der terminalen Differenzierung verbunden mit (erhöhter) Proliferation der Tochterzellen. In »stabilen«, nicht ständig proliferierenden Geweben wie Leber und Niere erfolgt die Proliferation nach Zellverlusten oder funktionellen Reizen in den differenzierten Zellen und geht nicht von Stammzellen aus. Somit kann die Initiation in differenzierten Zellen ebenfalls stattfinden. Die Wahrscheinlichkeit für Initiation ist dann hoch, wenn der Zellumsatz erhöht ist, etwa nach Zellverlusten oder bei Kindern. Einige Beispiele mögen diese Aussagen illustrieren: Die eingangs erwähnte Mutation des RB-Gens führt nur so lange zu Retinoblastomen, wie proliferierende Retinoblasten vorhanden sind, d. h. nur im kindlichen Alter (mittleres Alter bei der Diagnose: 1–2 Jahre). Bei pränataler Exposition gegenüber Röntgenstrahlen besteht ein erhöhtes Leukämierisiko. Auch bei Personen, die bereits als Jugendliche mit dem Zigarettenrauchen beginnen, ist das Krebsrisiko gesteigert (IARC 1986a). Ferner sind Kinder wesentlich empfindlicher als Erwachsene für die Initiation von Hautkrebs durch intensives Sonnenlicht. Initiation kann auch ohne erkennbare Ursachen auftreten. In vielen Geweben des menschlichen oder tierischen Organismus wurden Präneoplasien gefunden, die offenbar durch unerkannte gentoxische Umwelteinflüsse oder endogen verursacht wurden, z. B. im Verlauf von Entzündungen oder durch Replikationsfehler bei der Zellteilung. Die sog. »spontane Initiation« dürfte ein häufiges Ereignis sein. Daher sind Tumorpromotoren wichtige Faktoren in der menschlichen Kanzerogenese. Dies wird durch die große Bedeutung von Hormonen und falscher Ernährungsweise illustriert, denn bei deren krebsfördernder Wirkung spielen gentoxische und initiierende Effekte meist keine wesentliche Rolle. Molekulare Mechanismen Mutationen infolge von gentoxischen Einwirkungen treten an zahlreichen Orten im Genom auf. Für die Initiation sind sie dann relevant, wenn Gene betroffen sind, deren Produkte das Gleichgewicht zwischen Zellproliferation und Zelltod aufrechterhalten. Die Gene, die Vermehrung, Überleben und Tod von Zellen steuern, sind Protoonkogene bzw. Onkogene und Tumorsuppressorgene. In manifesten Tumoren sind meist Mutationen von mehreren, mitunter zahlreichen dieser Gene nachweisbar. Kenntnis der initialen Mutationen ist von großer Bedeutung, denn sie liefert Hinweise auf die exogenen und genetischen Ursachen der Krebsentstehung und kann Wege zu Früherkennung und Prävention von Tumoren öffnen. Initiierende Mutationen von Onkogenen oder Suppressorgenen können in Tumorvorstufen sowie in bestimmten Fällen auch in manifesten Tumoren identifiziert werden. Letzteres basiert darauf, dass einige initiierende Kanzerogene charakteristische Mutationsmuster (»Fingerabdrücke«) im mutierten Gen hinterlassen, die auf spezifische gentoxische Schäden hinweisen. Da Tumoren monoklonal aus einer einzelnen Zelle hervorgehen,
8
findet sich die ursprüngliche initiierende Mutation in allen Zellen des Tumors und ist dort (potenziell) nachweisbar. Vierzig Jahre nach der Entdeckung der Tumorinitiation im Mäusehautmodell wurde die molekulare Ursache identifiziert. Benz(a)pyren und andere Initiatoren erzeugen Punktmutationen des HA-RAS-Gens, das damit vom Protoonkogen zum Onkogen wird (Balmain u. Pragnell 1983). RAS-Proteine sind Signaltransduktoren im Zytoplasma, die als »molekulare Schalter« in Signalketten fungieren und zu erhöhter Genexpression führen können. Für sich allein bewirkt aktives RAS offenbar keinen ausreichenden Proliferationsvorteil, sondern erst in Kooperation mit einem Tumorpromotor oder einer weiteren Mutation (Frame u. Balmain 2000; Osaka et al. 1997; Weinberg 1997). In der Folge wurde auch in anderen Modellen (Leber und Lunge der Maus, Mamma und Knochenmark der Ratte) Initiation durch aktivierende Punktmutationen in verschiedenen RAS-Genen (HA-, K-, N-RAS, Kodon 11, 12 oder 61) beobachtet. RAS-Mutationen wurden auch in zahlreichen menschlichen Tumoren nachgewiesen. In einigen Fällen ist eine initiierende Rolle wahrscheinlich, so bei der Auslösung von Bronchialkrebs durch Tabakrauchkanzerogene und von Angiosarkomen der Leber durch Exposition gegenüber Vinylchlorid. In konditionalen »Knock-out«-Modellen der Maus konnte die Rolle, die die Aktivierung von Onkogenen bzw. die Ausschaltung von Tumorsuppressorgenen für die Initiation spielt, bewiesen werden. Diese Modelle erlauben die kontrollierte An- oder Abschaltung des interessierenden Gens im gewünschten Organ des erwachsenen Organismus. Wie erwartet führte die Anschaltung eines mutierten K-RAS in der Lunge zur Entwicklung von Lungentumoren. Umgekehrt löste die Abschaltung der Suppressorgene APC oder PTEN in Kolon bzw. Prostata Tumorentstehung in diesen Organen aus (Hirst u. Balmain 2004, Wang et al. 2006). Diese Modelle ermöglichen die Untersuchung noch unverstandener Details bei der Initiation und den nachfolgenden Stufen der Kanzerogenese. Weitere Studien haben gezeigt, dass die Initation im gleichen Zelltyp von unterschiedlichen Genen ausgehen kann; die Selektion spezifischer initiierter Zellen für die Tumorentwicklung wird vom Promotor bestimmt. Phenobarbital, ein Lebertumor-Promotor in der Maus, promoviert Zellen mit β-Catenin-Mutationen, jedoch nicht Zellen mit HA-RAS-Mutationen (Stahl et al. 2005). So können Lebertumoren in der Maus initiierende Mutationen entweder im HA-RAS- oder im β-Catenin-Gen aufweisen. Beim Menschen werden inaktivierende Mutationen oder Deletionen des Tumorsuppressorgens P53 besonders häufig gefunden, nämlich in rund 50% der Tumoren (Hussain u. Harris 2006). Sein Genprodukt ist sowohl in die Kontrolle der Proliferation als auch der DNA-Reparatur involviert. P53 wird nach gentoxischen Schäden aktiviert, arretiert den Zellzyklus am G1-Checkpoint und ermöglicht eine Reparatur des Schadens vor der S-Phase – ein wichtiger Mechanismus, um Mutationen zu vermeiden. Bei exzessiven DNA-Schäden kann P53 den Tod der Zelle durch Apoptose induzieren. P53 fungiert somit als Wachstumsinhibitor und zugleich als »Caretaker« oder »Wächter« im Genom (Kinzler u. Vogelstein 1998). Sein Ausfall bedeutet einen doppelten Defekt: Er fördert die Vermehrung der Zellen und verringert ihre genetische Stabilität. Analysen von Tumorvorstufen in der menschlichen Haut haben gezeigt, dass das P53-Tumorsuppressorgen Mutationen aufweist, bei denen zwei nebeneinander liegende C durch T ersetzt sind (CC→TT »Tandem«-Mutation). Diese Mutation ist ein
188
8
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
typischer »Fingerabdruck« des UV-Lichts im Genom, der sich auch in späteren Läsionen einschließlich Plattenepithelkarzinomen findet (Williams et al. 1998; Ziegler et al. 1994). Daher ist anzunehmen, dass UV-Licht die Tumorentstehung in der Haut durch inaktivierende Mutation des P53 initiiert. Auch in Vorstufen von Bronchialkrebs wurden Anzeichen für P53-Mutationen gefunden (Mao et al. 1997; Wistuba et al. 1997). Damit übereinstimmend zeigt das P53-Gen in Bronchialkarzinomen Mutationsmuster mit zahlreichen G→T-Transversionen, die für polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (aus Tabakrauch) charakteristisch sind (Hainaut u. Pfeifer 2001, Rodin u. Rodin 2005). Ähnlich wird die P53-Mutation im Kodon 249 von Leberkarzinomen aus tropischen Ländern auf das Pilzgift Aflatoxin B1 zurückgeführt. P53-Mutationen werden somit in einem Teil der Haut,Bronchial- und Lebertumoren offenbar in frühen Stadien erworben, dagegen treten sie in der Kolonkanzerogenese erst spät ein (Fearon u.Vogelstein 1990). Als kooperative Reize, die die Vermehrung der initiierten Zellen promovieren, können in Haut, Bronchien und Leber unter anderem entzündliche Vorgänge wirken (ausgelöst durch UV-Licht, Tabakrauch und Hepatitis, s. unten). Ein wichtiger Tumorsuppressor ist auch das APC-Gen (von adenomatöser Polyposis coli). Seine Ausschaltung ist eine häufige Ursache für die Entstehung der hyperproliferativen (»aberranten«) Krypten im Kolon, der frühesten derzeit nachweisbaren Präkanzerose im Darm. Mutationen des APC-Gens treten in zahlreichen sporadischen kolorektalen Tumoren auf; sie werden häufig durch endogene Mutagene wie ROS und Stickstoffmonoxid, also im Rahmen entzündlicher Prozesse, induziert, wie aus der Art der Mutationen (G:C→A:T u.a.) zu schließen ist (7 Abschn. 8.2.4 und 8.2.9; Hussain et al. 2000). Der APC-Verlust führt zu vermindertem Abbau von β-Catenin. Die resultierende erhöhte Verfügbarkeit von β-Catenin erhält die Stammzelleigenschaft der (mutierten) Zellen, sodass Proliferationsfähigkeit bestehen bleibt, während terminale Differenzierung und Abschilferung der Zellen ins Darmlumen gehemmt sind. Patienten mit familiärer adenomatöser Polyposis (FAP) besitzen eine ererbte APC-Mutation. Die Mutation betrifft nur ein Allel, disponiert jedoch für Mutation auch des zweiten Allels und damit für Initiation. Bei diesen Patienten bilden sich im 2.–3. Lebensjahrzehnt Hunderte bis Tausende von gutartigen Polypen in Kolon und Rektum, aus denen sich mit hoher Wahrscheinlichkeit kolorektale Karzinome entwickeln (Fearon u. Vogelstein 1990; Ilyas et al 1999; Lamprecht u. Lipkin 2002). Das APC-Gen besitzt offenbar eine Schlüsselrolle für die Erhaltung der Homöostase der Zellzahl in der Darmschleimhaut; es wurde daher als »Gatekeeper« bezeichnet. Verlust der Gatekeeper-Funktion durch Mutationen bedeutet Initiation der Kolonkanzerogenese. Auch Mutationen anderer Gene, z. B. des β-Catenin oder K-RAS, können zur Entstehung aberranter Krypten führen oder dazu beitragen. Die Bedeutung der verschiedenen Mutationen für die Initiation wird derzeit unterschiedlich bewertet (Pretlow u. Pretlow 2005). Andere Suppressorgene, denen eine Gatekeeper-Funktion zugeschrieben wird, sind z. B. das RB-Gen in der Retina, das VHLGen in der Niere, das PTC-Gen in der Haut und das PTEN-Gen im Endometrium. Verminderte PTEN-Expression scheint mit Östrogenen in frühen Stadien der Krebsentstehung im Endometrium zu kooperieren (Ali 2000; Matt et al. 2000). Leukämien sind vielfach durch spezifische TranslokationsMutationen charakterisiert. Diese können als initiierendes Ereignis auftreten. Das MLL-Gen auf 11q23, das bei mehreren myelo-
ischen und lymphatischen Leukämien Rearrangements durch Translokationen mit anderen Chromosomen aufweist, kodiert für einen Transkriptionsfaktor. Bei einer Anzahl von Patienten mit myeloischen Leukämien wurden MLL-Rearrangements beschrieben, die auf eine zytostatische Behandlung mit Etoposid zurückgeführt werden konnten (»sekundäre« Leukämieentstehung). Etoposid hemmt das Enzym Topoisomerase II, das während der Replikation den DNA-Doppelstrang schneidet und anschließend wieder schließt. Infolge der Hemmung können die offenen Doppelstrangenden fehlerhaft rekombiniert werden. Damit sind Gen-Rearrangements und Translokationen zu erklären. Analoge Translokationen im Bereich des MLL-Gens, die bei kindlichen Leukämien auftreten, entstehen offenbar in utero (Ravindranath 2003; Mori et al. 2002). Die Initiation kann also bereits pränatal erfolgen. Eine weitere für ein Kanzerogen charakteristische initiierende Translokation wurde beim RET-Gen im Schilddrüsenkarzinom, verursacht durch radioaktives 131Jod, beschrieben. Diese Beispiele illustrieren, dass bei der Initiation nicht nur Punktmutationen bedeutsam sind. Auch aufgrund von Modellrechnungen wird chromosomalen Translokationen eine wichtige Rolle bei der Initiation zugeordnet (Nowak et al. 2002). Bei erblichen Krebserkrankungen mit Mutationen in »Gatekeeper«-Suppressorgenen liegen die defekten Gene in allen Körperzellen monoallelisch vor. Erst die Mutation des 2. Allels (oft erkennbar durch »loss of heterozygosity« des betreffenden Chromosoms ) führt zur Initiation und Kanzerogenese in suszeptiblen Organen. Die ererbten Mutationen disponieren ihren Träger daher für die Entstehung initiierter Zellen. Angeborene Defekte in DNA-Reparaturgenen (»Caretaker«) disponieren für Mutation und damit indirekt auch für Initiation und rasche Progression (s. unten). Auch virusinduzierte Veränderungen des Genoms können zur Initiation führen. Nach einer Infektion mit humanen »HighRisk«-Papillomviren (HPV 16, 18) kommt es in einzelnen Zellen der Cervix uteri zu einer Aufnahme von Virus-DNA in die Wirtszelle. Die Produkte der viralen Gene E6 und E7 binden an P53Protein bzw. an RB-Protein (Kersemaekers et al. 1999; Zwerschke u. Jansen-Dürr 2000). Der folgende Funktionsverlust und Abbau dieser Tumorsuppressorproteine hat die gleiche Konsequenz wie inaktivierende Mutationen der Suppressorgene: Zellzyklusinhibitoren werden vermindert und es resultiert ein Wachstumsvorteil der betroffenen Zelle. Dies führt zur Entstehung von zervikalen intraepithalialen Neoplasien (CIN) und unter Umständen zum Zervixkarzinom. Eine wachsende Zahl von Beobachtungen zeigt, dass außer genetischen Veränderungen (Mutationen) auch sog. epigenetische Mechanismen zur Initiation von Tumoren beitragen oder sie sogar verursachen können. Dabei handelt es sich um »semipermanente« Veränderungen der Genexpression, die an Tochterzellen vererbt werden können, ohne dass die DNA-Sequenz modifiziert ist. Sie können unter bestimmten Umständen reversibel sein. Bei diesen epigenetischen Mechanismen spielen Chromatin-Modifikationen und Änderungen der physiologischen Methylierung des Zytosins in der DNA eine wesentliche Rolle. Die Hypermethylierung an Zytosin-Guanin-Paaren, sog. »CpG«Paaren oder -Inseln in der Promotorregion von Genen verringert deren Expression (»gene silencing«). Umgekehrt führt Hypomethylierung zu erhöhter Expression. Es ist schon länger bekannt, dass Suppressorgene in fortgeschrittenen Tumoren vielfach durch Hypermethylierung abgeschaltet sind (s. unten). Ähnliche Vorgänge wurden neuerdings auch in Tumorvorstufen beobachtet.
189 8.1 · Mehrstufenprozess der Krebsentstehung
So war in aberranten Krypten des Menschen die Expression von sog. »frizzled factors« durch Hypermethylierung abgeschaltet. Frizzled-Faktoren führen zu einer Reduktion des β-Catenin in Kolonozyten. Ihr Ausfall hat damit die gleichen Folgen wie die oben besprochene APC-Mutation. Das APC-Gen selbst kann offenbar zunächst durch Hypermethylierung und erst später durch Mutation abgeschaltet werden (Pretlow u. Pretlow 2005; Baylin u. Ohm 2006). Auch in frühen Entwicklungsstadien anderer Tumoren wurde »gene silencing« durch Promoter-Hypermethylierung beobachtet (Esteller 2005; Laird 2005). Epigenetische Niederregulierung der Expression von Tumorsuppressorgenen wurde auch in chronisch entzündetem Gewebe und Präkanzerosen verschiedener Organe gefunden, meist in der Umgebung prämaligner dysplastischer Zellgruppen, z. B. bei ulzerativer Kolitis (Issa et al. 2001), Gastritis (Kang et al. 2003), chronischer Hepatitis und Leberzirrhose (Kopelovich et al. 2003; Macheiner et al. 2006), chronischer Cholezystitis (Takahashi et al. 2004) etc. Es wird vermutet, dass der ständige Bedarf an Reparatur und Zellregeneration während der chronischen Gewebeschädigung und Entzündung zu Hypermethylierung von Tumorsuppressorgenen führt, die normalerweise die Erhöhung der Zellproliferation begrenzen und beenden. Interessanterweise hat auch die Ernährung Einfluss auf den Methylierungsstatus der DNA (Yuasa et al. 2005; Feinberg u. Tycko 2004). Möglicherweise werden sich aus solchen Befunden Wege zur Tumorprävention ergeben. Insgesamt lassen die hier beschriebenen und weitere ähnliche Beobachtungen als zweifelhaft erscheinen, dass die Krebsentwicklung stets zwingend mit Mutationen beginnt. In der Tat werden genetische und epigenetische Mechanismen als alternative oder einander ergänzende Mechanismen in der Kanzerogenese diskutiert (Feinberg et al. 2006; Baylin u. Ohm 2006).
8.1.4
Tumorpromotion, selektives Wachstum
Tumorpromotion führt zu präferenzieller Vermehrung initiierter Zellen (Selektion; . Abb. 8.1). Initiierende und promovierende Reize wirken synergistisch auf die Krebsentstehung (Beispiele in 7 Abschn. 8.2.12). Im Gegensatz zu Initiation und Progression ist die Promotion ein reversibler Vorgang. Effiziente Promotion erfordert eine längere Einwirkungsdauer (Monate oder Jahre); Intervallbehandlung oder unterschwellige Dosen sind nicht effektiv. Nach Ende einer promovierenden Behandlung erfolgt meist eine Regression der Tumorvorstufen (negative Selektion, s. unten). Viele Promotoren wirken organ- und zellspezifisch. Tumorpromotion ist in der Regel mit Wachstum und phänotypischen Veränderungen der normalen Zellen im Zielgewebe assoziiert, allerdings wirkt nicht jedes Wachstumssignal promovierend. Das Wachstum kann primär durch trophe Hormone und andere Mitogene ausgelöst sein. Auch physiologisches Organwachstum, z. B. bei Kindern, kann tumorpromovierend wirken. Dies folgt aus experimentellen Untersuchungen, die in Einklang mit Humanerfahrungen zeigen, dass die Latenzzeit zwischen Tumorinitiation und -manifestation bei jungen Individuen oft kürzer ist als bei adulten. Tumorpromovierendes Wachstum kann auch sekundär durch zytotoxische Vorgänge, Entzündung, Zelltod und die nachfolgende Regeneration hervorgerufen werden. Selektion von Tumorvorstufen und Tumoren erfolgt, wenn diese resistent gegen endogene oder exogene toxische Stoffe sind, z. B. in einem entzündlich geschädigten Gewebe, und dadurch länger überleben als die normalen Zellen.
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Zahlreiche exogene Substanzen, kalorische Überernährung und endogene Faktoren wie Hormone und Wachstumsfaktoren können als Tumorpromotoren wirken (. Tab. 8.2). Auch das Wachstum fortgeschrittener Krebsvorstufen und selbst von malignen Tumoren wird vielfach durch Tumorpromotoren gefördert, wie das oft hormonabhängige Wachstum von Karzinomen der Brust und Prostata zeigt. Diese Beobachtungen illustrieren, dass der Vorgang der Promotion (Selektion) nicht auf initiierte Zellen beschränkt ist und unterstreichen seine klinische Bedeutung im gesamten Prozess der Kanzerogenese. Wachstumsvorteil von Tumorvorstufen Ursprünglich wurde angenommen, dass der Wachstumsvorteil von initiierten und neoplastischen Zellen durch eine erhöhte Zellvermehrung verursacht wird. Inzwischen wurde jedoch auch die Bedeutung des Zelltods und insbesondere der Apoptose für die Regulation der Zellzahl und für Störungen der Homöostase erkannt (Bursch et al. 1992). Naturgemäß kann der Wachstumsvorteil einer Zellpopulation auch auf einer zu geringen Absterberate der Zellen beruhen (. Abb. 8.3). In Krebszellen wurden Störungen proapoptotischer Signalwege aufgezeigt. Das bedeutet jedoch nicht, dass initiierte oder Tumorzellen die Fähigkeit zur Apoptose gänzlich verloren haben. Vielmehr belegen histologische und zellkinetische Untersuchungen das Auftreten von Apoptosen in malignen Tumoren und ihren Vorstufen in verschiedenen Organen von Tier und Mensch (Bursch et al. 1984; Kitanaka et al. 2002; Kyprianu et al. 1991; Sarraf u. Bowen 1988; Tenniswood et al. 1992). Vielfach ist nicht nur die Zellteilungs-, sondern auch die Apoptoserate höher als im gesunden Gewebe. Daher ist der Überschuss an Zellneubildung in Tumoren oft geringer als die Replikationsrate erwarten ließe. In einigen schnell proliferierenden Tumoren wurden hohe Zellverlustraten festgestellt. Somit ist vielfach der Zellumsatz erhöht, was wiederum den Erwerb weiterer Mutationen und damit die Progression fördert. Der charakteristische Wachstumsvorteil von initiierten und malignen Zellen ist also als Störung des Gleichgewichts von Zellreplikation und Zelltod zugunsten der Zellvermehrung zu verstehen (. Tab. 8.1). Initiierte Zellen reagieren stärker als normale Zellen auf die Wachstumsreize während der Tumorpromotion. Experimentell wurde gezeigt, dass die Replikationsrate von initiierten Zellen durch Tumorpromotoren stärker erhöht wird als die von normalen Zellen, zugleich sinkt die Apoptoserate ab; Tumorpromotoren wirken als Survival-Faktoren für initiierte Zellen (Bursch et al. 1984; Schwarz et al. 2000). Im Gegensatz zu den normalen Zellen im Gewebe wird in initiierten Zellpopulationen ein Gleichgewicht zwischen Replikation und Tod nicht erreicht, sodass während der Promotion ständiges klonales Wachstum erfolgt. Diese »Überreaktion« initiierter Zellen ist Ausdruck der Kooperation zwischen der Genveränderung in diesen Zellen und der Aktivierung wachstumsstimulierender Signalkaskaden durch die Tumorpromotoren (. Abb. 8.3). Die Tumorgene in initiierten Zellen kooperieren mit Promotoren ähnlich wie mit anderen Tumorgenen. Regression von Vorstufen und Tumoren, Antipromotion Wie im vorangehenden Absatz dargestellt, besitzen viele präneoplastische und maligne Zellen eine hohe Apoptoseneigung. Diese Zellen können auf apoptoseinduzierende Signale stärker als die normalen Zellen der Muttergewebe reagieren. Unter wachstumshemmenden Bedingungen (z. B. Hormonentzug) kann der
190
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
8
. Abb. 8.3. Schematische Darstellung von Promotion und Antipromotion. Initiierte Zellen reagieren stärker als normale Zellen auf die wachstumsstimulierende Wirkung von Promotoren (blaue Pfeile). Promotorent-
zug oder Antipromotoren führen zu Wachstumshemmung und Regression durch Zelltod (Apoptose, schwarze Pfeile). Auch diese Wirkung kann in initiierten Zellen stärker sein als in normalen
Wachstumsvorteil ins Gegenteil verkehrt werden und eine Regression von Tumorvorstadien eintreten (»negative Selektion«, »Antipromotion«). Dies ist von großem Interesse für Prävention und Therapie von Krebserkrankungen. In Tierexperimenten wurde gezeigt, dass Entzug von Tumorpromotoren und trophen (promovierenden) Hormonen oder Futterrestriktion die Apoptoserate in Tumorvorstadien und Tumoren erhöhen und die Zellteilungsrate senken können (Bursch et al. 1991; Grasl-Kraupp et al. 1994; Kyprianu u. Isaacs 1989; Tang u. Porter 1997; Thompson 1995). Dadurch wurde eine Regression der Läsionen ausgelöst. Bei Rauchern konnte nach Beendigung des Tabakkonsums eine Rückbildung von Tumorvorstadien in der Bronchialschleimhaut beobachtet werden (Lee et al. 1994; Mao et al. 1997). Gutartige Polypen im Kolon von FAP-Patienten zeigen manchmal Regression (Ilyas et al. 1999). Die Chemoprävention hat u. a. das Ziel, proapoptotische und antiproliferative Wirkungen auf Präneoplasien mittels chemischer Substanzen auszuüben. Außer einigen Pharmaka und Vitaminen besitzen zahlreiche Inhaltsstoffe in Gemüsen und Obst chemopräventive Wirkungen. . Tab. 8.4 zeigt einige Beispiele für erfolgreiche Antipromotion im Experiment und beim Menschen. Antiöstrogene, z. B. Tamoxifen, werden zur Prävention der Entwicklung von Mammatumoren bei Risikopatientinnen eingesetzt. Selbst in Karzinomen können Antihormone Replikationshemmung und/oder Apoptosesteigerung bewirken. Auf diesen Effekten basiert die Antihormontherapie hormonabhängig wachsender Mamma- und Prostatakarzinome. Mit neueren Pharmaka lassen sich wachstumsstimulierende Signalketten gezielt blockieren, um den Wachstumsvorteil neoplastischer Zellen aufzuheben. Das Onkogen HER2/NEU, ein Rezeptor für den epidermalen Wachstumsfaktor (EGF), ist bei einem Teil der Frühstadien und manifesten Mammakarzinome amplifiziert und überexprimiert.
Aufgrund dieser Erkenntnis wurden Antikörper gegen das Onkoprotein entwickelt (Trastuzumab), die Wachstumsstillstand oder Regression der Tumoren induzieren können (Green u. Furr 1999; Pusztai et al. 1999; Tang u. Porter 1997; Westin u. Bergh 1998). Spontanregressionen, die (sehr selten) bei verschiedenen Tumorerkrankungen beobachtet werden, konnten in einigen Fällen auf Erhöhungen der Apoptosefrequenz in den Tumoren zurück-
. Tab. 8.4. Einige Antipromotoren Substanz
Zielgewebe
Anwendung
Antiöstrogene SERM
Mammatumoren, Mammatumorvorstufen
Therapeutisch, präventiv
Antiandrogene
Prostatatumoren
Therapeutisch
Gestagene
Endometriumtumoren
Therapeutisch, präventiv
Antiphlogistika (NSAID, Cyclooxygenasehemmer)
Adenome (Polypen) im Kolon
Therapeutisch, präventiv
Vitamin-A-Derivate
Präkanzerosen in der Mundschleimhaut (Leukoplakie)
Vitamin-A-Derivate
Papillome der Haut
Experimentell
TGF-β
Einige epitheliale Gewebe und Tumorvorstufen
Experimentell
SERM selektiver Östrogenrezeptormodulator; NSAID »non-steroidalanti-inflammatory«
191 8.1 · Mehrstufenprozess der Krebsentstehung
geführt werden (Matsushita et al. 1999; Tonini et al. 1997). Relativ häufig sind Spontanregressionen beim Neuroblastom, der vierthäufigsten Tumorerkrankung des frühen Kindesalters. Bei der Tumorrückbildung erfolgt eine Induktion von Apoptosen. So weisen Neuroblastome mit niedriger BCL-2 und hoher CaspaseExpression eine höhere Wahrscheinlichkeit für spontane Regression sowie eine höhere Responsivität gegenüber Chemotherapie auf (Brodeur 2003). Darüber hinaus wird der »autophagische Zelltod« als Mechanismus des Absterbens von Neuroblastomzellen diskutiert; dabei handelt es sich um einen zweiten, von der Apoptose verschiedenen Subtyp des programmierten Zelltodes (Kitanaka et al. 2002; Koizumi et al. 2006). Somit ist das selektive Wachstum von Tumorvorstadien und Tumoren – wie andere Wachstumsvorgänge – prinzipiell reversibel. Die Krebsentstehung kann daher als ein potenziell reversibler Prozess aufgefasst werden (vgl. . Abb. 8.2). Die weitere Aufklärung der Mechanismen, die Wachstum und Regression der Gewebe regulieren, lässt neue Möglichkeiten zur Prävention und Therapie von Tumoren mittels physiologischer Faktoren erwarten. Molekulare Mechanismen Tumorpromovierende Reize beeinflussen Wachstum und Differenzierung ihrer Zielzellen. Molekulare Basis dieser Effekte sind in erster Linie Wechselwirkungen mit den Proteinen der zellulären Signalwege. Dabei handelt es sich um spezifische Bindungen von Promotoren an einzelne Proteine der Signalwege oder auch um unspezifische Schädigungen durch zytotoxische Effekte. Derartige Wirkungen sind reversibel, weil die Promotorbindung reversibel ist oder weil irreversibel veränderte Proteine abgebaut und neu synthetisiert werden. Spezifische Signalproteine, die mit tumorpromovierenden Substanzen reagieren, sind z. B. Wachstumsfaktor-Rezeptoren, Signaltransduktoren, Kinasen und Transkriptionsfaktoren. Das Tumormodell an der Mäusehaut hat zu wichtigen Erkenntnissen über die Tumorpromotion in Haut, Darm, Leber und anderen Organen geführt. Wirksame Bestandteile des Crotonöls sind verschiedene Ester des Terpenalkohols Phorbol, z. B. Tetradecanoyl-Phorbolazetat (TPA). Sie besitzen strukturelle Ähnlichkeit mit dem zellulären Botenstoff Diglycerid und binden an seinen Rezeptor, die Proteinkinase C (PKC), eine Familie lipidaktivierbarer Kinasen (Hecker 1985; Weinstein 2000). Die Bindung aktiviert die PKC, die daraufhin Signalproteine phosphoryliert und aktiviert, die Wachstumsstimulation, Apoptosehemmung und Entzündung (s. unten) bewirken. PKC-abhängige Signalketten sind vernetzt mit solchen, die vom (Proto)Onkogen RAS kontrolliert werden. Wenn dieses durch Mutation aktiviert ist, resultiert ein synergistischer Effekt auf die Wachstumsrate. Diese Kooperation zwischen TPA/PKC-Aktivierung und RAS führt zum selektiven Wachstum der RAS-mutierten Hautzellen (Frame u. Balmain 2000; Marks u. Fürstenberger 2000). Zu den tumorpromovierenden Rezeptorliganden gehören bestimmte lipophile Hormone, z. B. Sexualsteroide, Prostaglandine, Leukotriene sowie langkettige und verzweigtkettige Fettsäuren aus der Nahrung. Als Beispiel kann die Bindung von Androgenen bzw. Östrogenen an die Androgen- oder Östrogenrezeptoren dienen. Testosteron wird in der Prostata nach Reduktion als Dihydrotestosteron (DHT) an den Androgenrezeptor (AR) gebunden; dies führt zur Transkription wachstumsstimulierender und anderer Gene. Bei der Untersuchung menschlicher Prostatatumoren wurde in einigen Fällen eine Amplifizierung und erhöhte Expression des AR beobachtet. Dadurch kommt es zu ex-
8
zessivem, unbalanziertem Wachstum der mutierten Zellen. Der AR vermittelt auch die Hemmung des Tumorwachstums durch Antiandrogene, die bei Prostatakarzinomen oft therapeutisch wirksam sind (Antipromotion). Interessanterweise wurden bei der Untersuchung einiger androgenunabhängig wachsender Karzinome Punktmutationen in der ligandbindenden Domäne des AR gefunden, die zu einer wachstumsstimulierenden Wirkung des Antiandrogens führten (Feldman u. Feldman 2001). Dadurch wird das Antiandrogen – scheinbar paradox – zum Tumorpromotor. Diese Untersuchungen illustrieren, wie Tumorpromotoren mit den spezifischen Genveränderungen in initiierten Zellen kooperieren können. Dabei werden Hormone in physiologischer Konzentration sowie exogene Wirkstoffe zu Tumorpromotoren und -wachstumsfaktoren (. Abb. 8.3, 7 Kap. 11). Wachstumsfaktorrezeptoren in der Membran oder im Kern sind auch für die Antipromotionseffekte von Derivaten der Vitamine A und D, die an nukleäre Rezeptoren binden, oder von endogenen Wachstumsinhibitoren wie dem transformierenden Wachstumsfaktor β verantwortlich. Nikotin wurde früher nicht als Krebsrisikofaktor angesehen. Neuere mechanistische Studien machen jedoch eine starke tumorpromovierende Wirkung wahrscheinlich. Nikotin (und ebenso das tabakspezifische Nitrosamin NNK, 7 Abschn. 8.2.3) besetzen als Liganden nikotinerge Azetylcholin (ACh)-Rezeptoren. An Zellen aus normalem menschlichen Bronchialepithel (Ursprung von Plattenepithelzellkarzinomen) und aus Epithel der kleinen Luftwege (Ursprung von Adenokarzinomen) wurde nachgewiesen, dass die Bindung von Nikotin und NNK an die ACh-Rezeptoren α3, α4 bzw. α7 bereits in nanomolaren Konzentrationen zur Aktivierung des PI3K/AKT-Signalweges durch AKT-Phosphorylierung führte. Dieser Weg ist in verschiedenen Organen an der Tumorentwicklung beteiligt. In den Bronchialepithelzellen bewirkte die AKT-Aktivierung eine erhöhte Überlebensfähigkeit/verringerte Apoptose sowie verstärkte Proteinsynthese und Zellproliferation. NNK induzierte die Phosphorylierung von AKT auch in vivo in der Maus. Bei Rauchern war die AKT-Phosphorylierung in allen Bronchialtumorproben nachweisbar (West et al. 2003). Weitere Studien haben eine proliferationsfördernde Wirkung von Nikotin auch an menschlichen Lungenkrebszellen gezeigt (Tsurutani et al. 2005). In Magentumoren von Mäusen wurde verstärktes Wachstum sowie Aktivierung von Cyclooxygenase-2 (s. unten) gefunden. Ferner beschrieben mehrere Autoren die Induktion von Neoangiogenese durch Nikotin, ein wichtiger Vorgang in der Tumorentwicklung (7 Abschn. 8.1.5; Shin et al. 2004). Es bleibt abzuwarten, ob Nikotinanwendungen zur Raucherentwöhnung ohne negative Folgen auf die Tumorentwicklung bleiben. Als Folge ihrer Interaktion mit zellulären Regelkreisen induzieren Tumorpromotoren die Synthese von Wachstumsfaktoren, die dann die Zellvermehrung stimulieren, z. B. von transformierendem Wachstumsfaktor α (TGF-α). TGF-α wird in einigen Organen bei Zellverlust von den Zellen selbst gebildet und stimuliert seine eigene Synthese. Solche »autokrinen Schleifen« können bei Behandlung mit promovierenden Substanzen stabilisiert werden und Ursache des permanenten Wachstumsvorteils in initiierten Zellen sein. In einigen Geweben zeigen Tumorvorstadien TGF-α-Überexpression, die durch Tumorpromotoren noch verstärkt wird. Chronische Entzündungen sind wichtige Faktoren im Rahmen der Tumorpromotion (. Tab. 8.3, . Abb. 8.2). Die schon bei
192
8
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
der Beschreibung der gentoxischen Wirkung von Entzündungsprozessen erwähnten reaktiven Mediatoren (ROS, RNS; 7 Abschn. 8.1.2. sowie 8.2.4) reagieren naturgemäß nicht nur mit DNA, sondern auch mit Proteinen und anderen Molekülen der Zelle. Durch Oxidation und Tyrosinnitrierung veränderte Proteine wurden im Plasma von Rauchern sowie in der Magenschleimhaut bei Helicobacter-induzierter Gastritis gefunden. Die resultierende Fehlfunktion zahlreicher Proteine kann zum Zelltod führen, andererseits wurde auch über Aktivierung des RAS- und Hemmung des P53-Proteins und weitere ähnliche Effekte berichtet (Oshima et al. 2003). Ein genaueres Bild über die komplexen Veränderungen der zellulären Proteine im Lauf von Entzündungen und die Folgen für die Krebsentstehung liegt bislang nicht vor. Die Aktivierung des Transkriptionsfaktors »nuclear factor kappa B« (NF-κB) wurde als ein zentrales Ereignis bei entzündlichen Vorgängen erkannt. Sie wurde in vielen Tumoren gefunden. Es wird angenommen, dass die NF-κB-Aktivierung eine wesentliche Rolle als Bindeglied zwischen Entzündung und Krebs spielt. NF-κB hat antiapoptotische Wirkung und kann in einigen Modellen präneoplastische Zellen vor dem Tod schützen, d. h. promovieren. In anderen Modellen scheint NF-κB dagegen die Krebsentstehung zu hemmen. Eine übergreifende Erklärung dieser widersprüchlichen Befunde steht noch aus (Karin 2006; Pikarsky u. Neriah 2006). Makrophagen, Granulozyten, Endothelzellen und andere mesenchymale Zellen sezernieren zahlreiche Zytokine, z. B. TNFα, EGF, wenn sie durch Entzündungsreize aktiviert werden. Einige dieser Zytokine sind potente Wachstumsfaktoren und Tumorpromotoren für epitheliale Zellen. Der Tumor-NekroseFaktor α (TNFα) kann unter bestimmten Bedingungen Zelltod (»Nekrosen«) in Tumoren induzieren, fungiert aber überwiegend als Wachstums- und Schutzfaktor gegenüber entzündungsbedingten Schäden. In Tiermodellen wirkt TNFα als Tumorpromotor in der Haut und Leber. Ausschaltung des Gens für TNFα oder für den TNFα-Rezeptor verhinderte die Tumorpromotion (Suganuma et al. 1999; Karin 2006). Prostaglandine (PG) wie PGE2 oder PGF2 sind mitogene Liganden, die bei Entzündungen entstehen. Sie werden von den Cyclooxygenasen 1 und 2 (COX-1, COX-2) gebildet. Die COX-2 wird in den meisten Geweben nur während der Embryonalentwicklung und – später – in Notsituationen (z. B. nach Verwundung, Infektionen) vorübergehend exprimiert. In vielen Tumorarten des Menschen sowie auch in Tumorvorstufen wurde eine Überexpression dieses Enzyms gefunden (Marks u. Fürstenberger 2000; Basu et al. 2004). Knock-out-Mutationen von COX-2 hemmen im Tierversuch die Tumorentstehung (Oshima et al. 1996; Tiano et al. 2002). Umgekehrt wirkt eine transgene Überexpression von COX-2 tumorpromovierend, d. h., sie erzeugt eine starke Überempfindlichkeit für gentoxische initiierende Kanzerogene (Müller-Decker et al. 2002). Außer tumorpromovierenden Mitogenen entstehen bei der Cyclooxygenasereaktion (und ebenso als Produkt der nahe verwandten Lipoxygenasen) gentoxische Neben- und Folgeprodukte, die zum Erwerb weiterer Mutationen in neoplastischen Zellen beitragen können. Inhibitoren der COX, insbesondere nichtsteroidale antiinflammatorische Pharmaka (NSAID), senken die Bildung mitogener PG und hemmen die Tumorentwicklung im Versuchstier und wahrscheinlich auch beim Menschen (Basu et al. 2004). Einige Inhibitoren werden therapeutisch genutzt, um die Regression von Adenomen im Darm zu induzieren (Reddy et al. 2000; Richter et al. 2001).
Der bei Entzündungen freigesetzte reaktive Sauerstoff kann unabhängig von der DNA-Schädigung (7 Abschn. 8.1.2) Signalwege aktivieren. H2O2 wird als »second messenger« angesehen, der die Wirkung wachstumsstimulierender Zytokine verstärken und damit tumorpromovierend und krebsfördernd wirken kann (Oshima u. Bartsch 1994; Goldstein et al. 2005).
8.1.5
Tumorprogression
Genetische Instabilität – Der »Mutatorphänotyp« Während der Tumorprogression treten Mutationen in mehreren Onkogenen und Tumorsuppressorgenen nebeneinander auf und führen zu Störungen in verschiedenen zellulären Signalwegen und Funktionen (. Tab. 8.1). Durch Kooperation der gestörten Signalmechanismen entsteht der maligne Phänotyp. Hinweise auf die synergistische Kooperation verschiedener Tumorgene wurden zuerst in Nagerzellen erhalten. Transfektion mit bestimmten Onkogenen, z. B. MYC, führte zur Immortalisierung, während Onkogene wie RAS andere Transformationszeichen induzierten. Erst die Kotransfektion mit beiden Genen bewirkte die vollständige Malignisierung der Zellen (Land et al. 1983). Analog zeigte sich in vivo an transgenen Mäusen ein synergistischer Effekt von MYC und RAS auf die Tumorentstehung (Sinn et al. 1987). Diese Beobachtungen wurden in anderen Modellen bestätigt (Conner et al. 2000; Ilyas et al. 1999). Menschliche Zellen in Kultur lassen sich weniger leicht transformieren als Nagerzellen. Hierzu ist offenbar die Kooperation von mehr als zwei onkogenen Schäden erforderlich (Hahn et al. 1999), was mit der Aussage übereinstimmt, dass auch im intakten Organismus eine Kumulation mehrerer Mutationen zur malignen Transformation notwendig ist. Die Abwehr von Mutationen ist daher eine entscheidende Voraussetzung, um die Entwicklung von Krebserkrankungen zu verhindern. Unsere Zellen besitzen hoch wirksame Schutzmechanismen, die die Integrität des Genoms überwachen und Schäden reparieren (Caretaker-Gene, nach Kinzler u. Vogelstein 1998). Obwohl die DNA sehr häufig durch gentoxische Effekte geschädigt wird, sind Mutationen äußerst selten (bei der DNAReplikation 1 Fehler pro 109 kopierte Nukleotide). Intakte Reparaturgene sind somit ein wirksamer Schutz gegen die Entstehung von Tumorvorstufen und ihre weitere Entartung. Ihre Ausschaltung bedeutet zwar keinen unmittelbaren Wachstumsvorteil, jedoch erhöhte Wahrscheinlichkeit für zusätzliche Mutationen. Tatsächlich erwerben die meisten Tumoren im Verlauf ihrer Entstehung inaktivierende Mutationen von DNA-Reparaturgenen. Reparaturdefiziente Zellen sind genetisch instabil; sie zeigen den »Mutatorphänotyp« (Loeb 1998). Dies bedeutet erhöhte Empfindlichkeit gegenüber gentoxischen Noxen und erhöhte Frequenz von Spontanmutationen. Da zugleich vielfach der Zellumsatz in den Tumorvorstufen und Tumoren steigt, resultiert eine dramatische Zunahme der Mutationsrate und damit der Chance für die Entstehung von Mutanten mit Selektionsvorteil. Dies ist eine wesentliche Ursache der zunehmenden Autonomie und Geschwindigkeit der Kanzerogenese im Stadium der Progression. Nicht genetische Veränderungen der Genexpression Die dramatische Umstellung des Zellphänotyps (. Tab. 8.1) im Verlauf der Krebsentstehung erfordert Änderungen der Expression von Hunderten bis Tausenden verschiedener Gene. Diese erfolgen in den meisten Fällen, ohne dass die Gene selbst mutiert
193 8.1 · Mehrstufenprozess der Krebsentstehung
werden. Auch Protoonkogene und Tumorsuppressorgene zeigen oft eine erhöhte bzw. erniedrigte Expression in Tumoren, ohne dass Mutationen nachweisbar sind (Devereux et al. 1999; Sager 1997). Ursache ist die hierarchische Struktur der Signalkaskaden, in denen mutierte Gene die Expression nachgeordneter Gene steuern. Gene, deren Expression infolge Mutation verändert ist, werden manchmal als »Klasse-I-Tumorgene« bezeichnet, während Regulationsvorgänge die Expression von »Klasse-II-Tumorgenen« modifizieren (Sager 1997). Diese weitgehende Reprogrammierung der Genexpression ist ein Charakteristikum der Tumorprogression. Zu den Mechanismen dieser regulierten Genexpressionsänderungen in Tumorzellen gehören epigenetische Vorgänge, die auf Änderungen der Methylierung des Zytosins in »CpG-Inseln« der DNA oder auf Chromatinmodifikationen beruhen (7 Abschn. 8.1.3). So wird in Tumoren häufig eine generelle Hypomethylierung der DNA, die die Expression vieler Gene erhöhen kann, neben »Silencing« von Suppressorgenen und DNA-Reparaturgenen durch Hypermethylierung beobachtet. Die Progression zu hormonunabhängigem Wachstum bei Tumoren von Brust, Endometrium und Prostata, ein prognostisch ungünstiges Zeichen (7 Kap. 11), kann teilweise auf Hypermethylierung der Östrogen- oder Androgenrezeptorgene zurückgeführt werden (Esteller 2005). Auch der Verlust der Expression des Zelladhäsionsmoleküls (CAM) Cadherin E, ein wichtiger Vorgang während der Progression in Magen-, Mamma-, Kolon- und anderen Tumoren, kann durch Promotorhypermethylierung ausgelöst werden; es wurden jedoch auch inaktivierende Mutationen dieses Gens sowie Niederregulierung durch Transkriptionsfaktoren gefunden (s. folgender Absatz) (Esteller 2005; Becker et al. 1994; Berx et al. 1996; Katoh 2005; Huber et al. 2005 ). Epithelial-mesenchymale Transition. Um Tochtergeschwülste in entfernten Organen bilden zu können, sind spezifische Eigenschaften, u. a. die Fähigkeit zur Migration und Invasion erforderlich (. Tab. 8.1). Epitheliale Zellen verändern dazu ihre Morphologie und transkriptionelle Aktivität und nehmen einen mesenchymalen Phänotyp an. Dieser Vorgang wird epithelial-mesenchymale Transition (EMT) genannt. EMT tritt in epithelialen Zellen physiologisch während der Embryogenese und der Wundheilung auf, wenn Gewebestrukturen modelliert werden, z. B. zur Bildung neuer Epithelschichten in Wunden. Charakteristisch für die EMT ist die Niederregulierung vieler epithelialer Proteine wie z.B. E-Cadherin oder Zytokeratine, während das mesenchymale Vimentin exprimiert wird. Diese komplexen Veränderungen der Expression zahlreicher Gene werden durch spezifische Transkriptionsfaktoren, z. B. snail und slug, gesteuert. Die EMT ist prinzipiell reversibel und wird dann als mesenchymal-epitheliale Transition (MET) bezeichnet (Katoh 2005; Huber et al. 2005; Thiery u. Sleeman 2006). An der Auslösung der EMT in epithelialen Tumorzellen sind mesenchymale Zellen im Tumorstroma (»microenvironment«) beteiligt (. Abb. 8.2). Sie sezernieren Zytokine wie TGF-β, TNFα und EGF. TGF-β wirkt in normalen epithelialen Zellen als Tumorsuppressor und negativer Wachstumsregulator, es hemmt die Zellvermehrung und fördert die Apoptose. Auch das Wachstum früher Tumorvorstufen wird noch gehemmt. Dagegen sind Karzinome vielfach resistent gegen die Suppressorwirkung des TGF-β und können es selbst sezernieren. Modellversuche in Kultur zeigen, dass TGF-β mit (durch Mutation aktiviertem) RAS kooperiert und dadurch die charakteristischen Vorgänge der EMT induziert werden. Unter anderem
8
erhöht es nunmehr die Zellproliferation (Gotzmann et al. 2002; Thiery u. Sleeman 2006). Diese Befunde zeigen, dass auch nicht gentoxische Faktoren bei der Progression wichtig sind. Weitere Charakteristika von Tumorzellen Immortalisierung (. Tab. 8.1). Die meisten Zellen des adulten Organismus besitzen ein beschränktes Vermehrungspotenzial. Lediglich Keimzellen und einige frühe Stammzellen sind in der Lage, Replikationszyklen in unbegrenzter Zahl zu durchlaufen. In der Zellkultur können sich normale (»mortale«) Fibroblasten etwa 50-mal teilen, danach werden sie allmählich teilungsunfähig, altern, werden seneszent und sterben in weiterer Folge ab (Hayflick 1997). Ähnliche Seneszenzphänomene dürften auch im intakten Organismus bestehen. Dagegen sind Zellen aus Tumoren in der Kultur unbegrenzt teilungsfähig, sie sind (als Zellpopulation) immortal. Offenbar reicht der Wachstumsvorteil allein nicht aus, um einen größeren Tumor zu bilden, vielmehr muss in weiteren Schritten der Kanzerogenese auch die Begrenzung des Proliferationspotenzials überwunden werden. Die zelluläre Seneszenz gilt als ein weiterer Schutzmechanismus gegen die Entwicklung von Tumoren. Seneszenz und Immortalisierung unterliegen komplexen Regulationsvorgängen. Als ein wesentlicher Indikator des Zellalters (»biologische Uhr«) wurde die Länge der Telomeren an den Chromosomenenden erkannt, die sich in somatischen Zellen mit jedem Teilungsvorgang verkürzen. Unterhalb einer gewissen Länge tritt Instabilität der Chromosomen ein. Das Enzym Telomerase verlängert die Chromosomenenden und sorgt damit für deren konstante Länge. Telomerase wird in den meisten untersuchten Tumoren und in Keimzellen exprimiert, nicht dagegen in somatischen Zellen mit Ausnahme von Stammzellen (Sasgary et al. 2001). Ferner werden in seneszenten Zellen P53 und andere Zellzyklusinhibitoren exprimiert; bei der Immortalisierung werden sie durch Mutation oder Hypermethylierung inaktiviert oder durch immortalisierende Gene antagonisiert (Hussain u. Harris 2006; Zwerschke u. Jansen-Dürr 2000). Mit der zunehmenden Progression erfolgt eine Umprogrammierung des Stoffwechsels der Zellen. Dabei werden u. a. Enzymkaskaden induziert, die die Zellen für ihre Vermehrung benötigen. Im Kohlehydratstoffwechsel wird die Synthese von Energie und Bausteinen für die Nukleotidsynthese erhöht, die Biosynthesewege für Pyrimidine und Purine werden verstärkt, während entgegengerichtete Stoffwechselwege für den Pyrimidin- und Purinabbau niederreguliert werden (Weber 1983). Funktionen, die die Zellen nicht für ihren eigenen Haushalt, sondern als »Service« für den Organismus ausüben (sog. Luxusfunktionen der Zellen), werden meist abgeschaltet, z. B. Glukoneogenese und fremdstoffmetabolisierende Enzyme in der Leber. Bei diesen phänotypischen Veränderungen können auch Isoenzyme exprimiert werden, die einem fetalen Phänotyp entsprechen. Die Umprogrammierung des Stoffwechsels der Tumorzelle ist eine wichtige Voraussetzung für die Herausbildung ihres Selektionsvorteils. Ein »resistenter Phänotyp« ist ein häufiges Charakteristikum der Zellen in Tumorvorstufen und malignen Tumoren. Sie zeigen dann eine verringerte Empfindlichkeit gegenüber unterschiedlichen Zytostatika und anderen zytotoxischen Substanzen (»multi-drug-resistence«, MDR). Molekulare Grundlage ist u. a. eine Überexpression von membranständigen Transportproteinen, die unterschiedliche Substrate unter ATP-Verbrauch aus der Zelle schleusen können (Haimeur et al. 2004). Auch eine Überexpression von Glutathiontransferasen, die zytotoxische Substanzen inaktivieren, Apoptoseresistenz und andere Phänomene können
194
8
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
an der Ausbildung des resistenten Phänotyps beteiligt sein. Der MDR-Phänotyp tritt oft unter einer zytostatischen Therapie von Tumoren als Zeichen der Progression auf. Auf die Bedeutung von Zell-Zell-Interaktionen für die Entwicklung von Tumoren wurde bei der Besprechung von Entzündung und EMT bereits eingegangen (. Abb. 8.2). Es wäre falsch anzunehmen, dass die relevanten Vorgänge während der Krebsentstehung auf die initiierten Zellen und ihre Nachkommen beschränkt sind. Tumoren bestehen wie alle Gewebe aus verschiedenen Zelltypen. Neoplastische und normale Wirtszellen, z. B. Fibroblasten, Immun- und Endothelzellen sowie die extrazelluläre Matrix im Tumor beeinflussen sich wechselseitig. Epitheliale Zellen, auch im entarteten Zustand, benötigen die Nachbarzellen in ihrem »microenvironment« für Überleben und Wachstum. Sie haben die Fähigkeit, deren Funktion zu ihrem eigenen Wachstumsvorteil zu modulieren (Kinzler u. Vogelstein 1998; Skobe u. Fusenig 1998). An dieser Modulation sind Onkogene beteiligt, z. B. stimuliert durch Mutation aktiviertes RAS die Sekretion von Interleukin 8 (IL-8) durch die Tumorzellen (Karin 2005). IL-8 bewirkt die Einwanderung von Makrophagen und anderen mesenchymalen (Entzündungs-) Zellen. Wachsende Tumoren induzieren auch das Einsprossen von Gefäßen, um ihren Sauerstoff- und Nährstoffbedarf zu decken. Dies geschieht durch Expression angiogeneseinduzierender Faktoren wie z. B. VEGF (»vascular endothelial growth factor«) oder Repression von Inhibitoren (z. B. Angiostatin, Thrombospondin 1; Fidler u. Ellis 1994). Für die Invasion und Migration epithelialer Zellen ist außer der EMT auch die Auflösung der extrazellulären Matrix einschließlich der Basalmembran nötig. Auch diese Funktion wird überwiegend von Stromazellen, insbesondere Makrophagen und Fibroblasten übernommen. Sie sezernieren Metalloproteina-
sen, die die Komponenten der extrazellulären Matrix wie Fibronectin, Laminin und Kollagen spalten (. Abb. 8.2; Hagemann et al. 2004; Dameni et al. 2003; Pollard 2004). Die vorangehende Darstellung zeigt, dass die Progression durch zahlreiche komplexe Veränderungen des Phänotyps der Tumorzelle gekennzeichnet ist. Sie beruhen auf einem Zusammenwirken genetischer Mechanismen (Mutationen) mit Expressionsänderungen durch epigenetische Regulationen, Transkriptionsfaktoren und veränderte Zell-Zell-Interaktionen, die wir als einzeln wirksame Mechanismen bei den Stufen Initiation und Promotion kennengelernt haben. Dies macht auch verständlich, dass klare Grenzen zwischen den einzelnen Schritten im Mehrstufenprozess der Krebsentstehung nicht immer erkennbar sind. Bedeutung von chemischen Kanzerogenen
8.2
Epidemiologische Studien lassen erkennen, dass ein erheblicher Anteil der menschlichen Tumoren durch Umweltfaktoren im weitesten Sinne bedingt ist (Perera 1996). Die wichtigsten dieser Faktoren und ihre mutmaßliche quantitative Bedeutung sind in . Tab. 8.5 angegeben. Unter den exogenen Krebsrisikofaktoren spielen chemische Substanzen die größte Rolle. Laut WHO/IARC (Huff 1999) sind rund 50 chemische Substanzen bzw. Substanzgemische als Humankanzerogene bekannt. Die größte Bedeutung haben Tabakrauch und falsche Ernährungsweise, insbesondere Überernährung, die jeweils für ca. ein Drittel aller Krebserkrankungen (mit)verantwortlich gemacht werden. Eine geringere, jedoch messbare Rolle spielt das Genussmittel Ethanol in alkoholischen Getränken (. Tab. 8.5; nach Doll u. Peto 1980). Weitere Kanzerogene wurden nach hoher Exposition an bestimm-
. Tab. 8.5. Anteil der Krebstodesfälle, die Umwelt- und Lebensstilfaktoren zugeschrieben werden Kanzerogener Faktor
Bester Schätzwert [%]
Minimaler und max. Schätzwert [%]
Tabak
30
25–40
Alkohol
3
2–4
Beruf
4
2–8
Umweltverschmutzung
2
<1–5
<1
<1–2
Geophysikalische Faktorena
3
2–4
Therapie und Diagnose
1
0,5–3
Infektionen
15
8–25b
Ernährung
35
10–70
7
1–13
Industrieprodukte
Reproduktions- und Geschlechtsverhaltenc
Datengüte
Epidemiologisch am besten dokumentiert
Weniger gesicherte Schätzungen
Sehr unsichere Schätzungen Lebensmittelzusätze
<1
Unbekannte Faktoren
?
a
b c
–5–2 ?
In dieser Schätzung ist der Anteil von Krebstodesfällen aufgrund von UV-Strahlung durch Sonnenlicht mit ca. 1–2% enthalten. Allein das Melanom trug im Jahre 1996 in den USA 1,6% zur gesamten Krebssterblichkeit bei (US Cancer Statistics 2002; CDC 2005). Eine aktuelle Schätzung (Munoz 2002) differenziert zwischen entwickelten Ländern (8%) und Entwicklungsländern (25%). Beim Geschlechtsverhalten war im Jahre 1981 der Informationsstand über infektiöse Viren (HPV, HBV, HCV) noch sehr lückenhaft. Heute können diese Krebsursachen überwiegend bei Infektionen subsummiert werden (b).
195 8.2 · Bedeutung von chemischen Kanzerogenen
8
. Tab. 8.6. Tumoren, die beim Menschen durch chemische Kanzerogene verursacht werden Zielorgan
Tumortyp
Substanz(gemisch)
Mundhöhle, Ösophagus
Plattenepithelzellkarzinome
Tabakrauch, alkoholische Getränke
Magen
Adenokarzinome
Geräuchertes und stark gesalzene Speisen
Leber
Hepatozelluläre Karzinome
Aflatoxin, Tabakrauch, alkoholische Getränke
Leber
Hämangiosarkome
Vinylchlorid
Niere
Nierenzellkarzinome
Tabakrauch, Aristolochiasäure (aus chinesischen Kräutern)
Harnblase
Krebs des Übergangsepithels
Tabakrauch, 4-Aminobiphenyl, 2-Naphthylamin, Benzidin
Kolon
Adenokarzinome
Heterozyklische Amine aus der menschlichen Nahrunga
Lunge
Klein- und großzellige Plattenepithelzellkarzinome und Adenokarzinome
Tabakrauch, Asbest, kristalline Silikate; Arsenverbindungen, Lostverbindungen; 1,3-Butadien, PAK, Steinkohlenteer, Pech, Ruß
Pleura
Mesotheliome
Asbest
Haut
Plattenepithelzellkarzinome, Basalzellkarzinome
Arsen, Steinkohlenteer, Pech, Ruß
Knochenmark
Leukämien
Tabakrauch, Benzol, Ethylenoxid, 1,3-Butadien, alkylierende Zytostatika
a
Epidemiologisch noch nicht genügend abgesichert.
. Tab. 8.7. Krebserzeugende Stoffe am Arbeitsplatz Kanzerogene Substanz
Betroffene Gewebe/Tumorart
Relatives Risikoa
Früher hoch exponierte Personengruppenb
Asbest
Pleura, Peritoneum: Mesotheliom; Lunge
500
Hersteller von Bremsbelägen, Isolierstoffen, Abriss- und Werftarbeiter
Benzidin und/oder 2-Naphthylamin
Harnblase
500
Arbeiter in der chemischen Industrie, Farbstoffherstellung
Vinylchlorid
Leber (Angiosarkom)
400
PVC-Hersteller
Eichen- und Buchenholzstaub
Nase und Nasennebenhöhlen
Bis zu 530c
Holzarbeiter in Tischlereien und Möbelwerkstätten
Chrom(VI)-Verbindungen
Bronchialkarzinom
30
Pigmenthersteller, Galvanisierer, Schweißer
PAK/Benzpyren
Bronchialkarzinom
10
Hochofen-, Kokereiarbeiter
Benzol
Myeloische Leukämie
5,6
Maler, Arbeiter in der Petrochemie, Gummiindustrie
Nickelverbindungen, Nickelstäube
Nase und Lunge
5
Arbeiter in der Metallverhüttung
Steinkohlenteer/Bitumen
Haut
Arsenverbindungen
Lunge, Haut
3
Arbeiter in der Metallverhüttung, Insektizid- und Herbizidanwender, Gerber, Arbeiter in Ölraffinerien
Formaldehyd
Nasen-Rachen-Raum
2,1
Industriearbeiter
a b
c
Dachdecker
Bei hoher Exposition; relatives Risiko der Vergleichspopulation = 1; (Tomatis 1987). Nach der Erkenntnis der ursächlichen Bedeutung der Substanzen für die Krebsentstehung wurden die Expositionen am Arbeitsplatz in den entwickelten Ländern durch gesetzliche Regelungen minimiert. IARC (1995).
ten Arbeitsplätzen gefunden (s. beruflich bedingte Krebserkrankungen, . Tab. 8.5 und 8.7). Ferner besitzen einige Hormone und Arzneimittel kanzerogene Wirksamkeit (. Tab. 8.2, 8.5 und 8.8). Daneben können auch bestimmte chemische Substanzen, die im Zellstoffwechsel entstehen, kanzerogen wirken (endogene Kanzerogene). Die Entstehung von Tumoren nach Kanzerogenexpo-
sition wurde in zahlreichen verschiedenen Organen beobachtet (. Tab. 8.6; nach Yuspa 2001 und . Tab. 8.7). Die einzelnen kanzerogenen Stoffe gehören zu einer Vielzahl unterschiedlicher chemischer Verbindungsklassen und können synthetischer oder natürlicher Herkunft sein. Für die Abschätzung des Risikopotenzials ist die Unterteilung krebsauslösender
196
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
PAK, Nitrosamine, aromatische Amine, Benzol) kommen jedoch in Spuren fast überall in der Umwelt vor. Meist treten viele kanzerogene Einzelsubstanzen nebeneinander auf (z. B. im Tabakrauch, Verbrennungsabgasen, in unsachgemäß zubereiteten Lebensmitteln). Wenn auch der Beitrag jeder einzelnen Substanz zum Krebsrisiko oft gering ist, führt doch die Summe aller Expositionen in empfindlichen Individuen zur Krebsentstehung (. Tab. 8.6). Einwirkung mehrerer gentoxischer Kanzerogene wirkt additiv, Einwirkung gentoxischer Kanzerogene und Tumorpromotoren synergistisch auf die Kanzerogenese. Daher ist die Identifizierung und Charakterisierung der chemischen Kanzerogene und ihrer Wirkungsweise unverändert eine entscheidende Voraussetzung für die Prävention von Krebs. Von der Kanzerogenexposition bis zum Auftreten einer Krebserkrankung wirken vielfältige endogene und exogene Faktoren mit, die das individuelle Risiko bestimmen. Dem Schritt der Initiation im Mehrstufenprozess der Kanzerogenese entsprechen die DNA-Schädigung und Mutation; dem Promotionsschritt entspricht das selektive Wachstum (. Abb. 8.4).
8
8.2.1
. Abb. 8.4. Sequenz wichtiger Ereignisse in der chemischen Kanzerogenese
Substanzen nach dem überwiegenden Wirkmechanismus in gentoxische und nicht gentoxische Kanzerogene bedeutsam. Nur selten ist die Belastung mit exogenen Kanzerogenen so hoch, dass alle Abwehrmechanismen des Organismus überwunden werden und praktisch 100% der exponierten Personen Tumoren entwickeln wie in der Vergangenheit bei bestimmten Belastungen mit Asbest und aromatischen Aminen (. Tab. 8.7). In den meisten Fällen werden Krebserkrankungen durch das Zusammenwirken exogener Krebsrisikofaktoren, endogener Schäden und körpereigener Suszeptibilitätsfaktoren verursacht. . Abb. 8.4 stellt schematisch einerseits den möglichen Einfluss von Umweltfaktoren auf verschiedenen Stufen des Krebsprozesses und andererseits die Modulation dieser Einflüsse aufgrund der individuellen genetischen Disposition (»Suszeptibilität«) dar. Das Erkrankungsrisiko des Einzelnen wird durch die Summe dieser Ereignisse und Faktoren bestimmt. Da hohe Belastungen mit den genannten einzelnen Kanzerogenen an Arbeitsplätzen und – soweit möglich – in anderen Bereichen drastisch reduziert wurden, sind die meisten, früher berufsbedingten Krebserkrankungen weitgehend verschwunden. Oft kann heute der quantitative Beitrag bestimmter einzelner Kanzerogene zum Krebsrisiko kaum mehr angegeben werden. Alle in diesem Kapitel erwähnten Einzelsubstanzen (z. B.
. Abb. 8.5. Prinzip der Elektrophil-Nukleophil-Interaktion
Gentoxische Kanzerogene
Gentoxische Kanzerogene verursachen irreversible Schäden im Genom der Zellen. Voraussetzung dafür ist, dass die Substanzen selbst chemisch reaktiv sind (direkt wirkende Kanzerogene/Mutagene) oder enzymatisch in reaktive Metaboliten umgewandelt werden (indirekt wirkende Kanzerogene/Mutagene). In beiden Fällen handelt es sich um hochreaktive Agenzien, die in bestimmten Molekülregionen einen Mangel an Bindungselektronen aufweisen. Sie tragen daher eine positive (Teil-)Ladung (in den folgenden Abbildungen mit ⊕ gekennzeichnet) und können mit elektronenreichen Molekülgruppen reagieren. Die elektronenarmen Moleküle oder Molekülgruppen heißen Elektrophile, sie suchen elektronenreiche Partner. Umgekehrt werden elektronenreiche Molekülgruppen nukleophil genannt (. Abb. 8.5). Nukleophile sind Atome mit freien Elektronenpaaren. In der Zelle sind dies vor allem Stickstoff, Sauerstoff und Schwefel sowie Phosphat. Auf der Reaktion der reaktiven elektrophilen Agenzien mit nukleophilen Gruppen in DNA, RNA und Protein beruht ihre zytotoxische, mutagene und kanzerogene Wirkung (. Abb. 8.6). Die Bindung an DNA ist das gemeinsame Prinzip, das der Wirkung der meisten gentoxischen chemischen Kanzerogene zugrunde liegt. Die entstehende chemische Bindung ist kovalent und praktisch irreversibel (lediglich durch DNA-Reparatur können diese Addukte wieder beseitigt werden). Allerdings enthalten Zellen ubiquitäre Nukleophile wie Glutathion (GSH) und Wasser, die den größeren Teil der reaktiven Agenzien inaktivieren. Ein weiterer Teil wird enzymatisch inaktiviert. Aufgrund dieser Kon-
197 8.2 · Bedeutung von chemischen Kanzerogenen
8
. Abb. 8.6. Nukleophile Gruppen in Purin- und Pyrimidinbasen der DNA. Die Ziffern bezeichnen die Stellungen der Atome im Molekül. Wichtige Substitutionen an den Basen durch chemische Kanzerogene sind in . Tab. 8.11 angegeben. An den nukleophilen Gruppen können elektrophile Agenzien binden und DNA-Addukte bilden
kurrenzreaktionen wird stets nur ein geringer Anteil der insgesamt entstehenden reaktiven Agenzien tatsächlich kovalent an DNA gebunden.
8.2.2
Gentoxische Kanzerogene mit direkter Wirkung
Direkt wirkende Kanzerogene zerfallen spontan oder bei Kontakt mit Wasser (»Hydrolyse«). Zu ihnen zählen Schwefel- und Stickstofflostverbindungen (s. unten), die in mehreren Kriegen als Kampfstoffe (Senfgas) eingesetzt wurden (Yamada 1963; . Abb. 8.7). Stickstofflost erwies sich auch bei der Therapie von Tumoren als wirksam und ist als Mechlorethamin für die Therapie verfügbar. Diese Beobachtung führte zur Entwicklung von weniger toxischen Lostderivaten, wie Cyclophosphamid (s. unten), die nicht direkt wirksam sind. Ein Zytostatikum mit direkter Wirkung ist Melphalan. Stickstofflost (. Abb. 8.7a) und Melphalan (. Abb. 8.7b) ergeben dasselbe reaktive Elektrophil. Cisplatin wird durch Abspaltung der Chlorionen zum Elektrophil und bindet direkt an nukleophile Stellen der Basen in der DNA (. Abb. 8.7c). In der chemischen Industrie wird eine Reihe von reaktiven Chemikalien zu Synthesezwecken eingesetzt (. Abb. 8.7d). Die Substanzen sind direkt wirksam und reizen lokal; betroffen sind vor allem Haut und Lunge. Bis(chlormethyl)ether verursachte an bestimmten Arbeitsplätzen in der chemischen Industrie bereits 6–15 Jahre nach Exposition Bronchialtumoren. Die starke kanzerogene Wirkung wurde in Inhalationsstudien an Ratten bestätigt.
8.2.3
Gentoxische Kanzerogene mit indirekter Wirkung
Im Gegensatz zu den o. g. direkt wirkenden Substanzen sind die meisten chemischen Kanzerogene per se mehr oder weniger inert, d. h. sie sind »Prokanzerogene« und bedürfen erst einer metabolischen Umwandlung (»Bioaktivierung«) in ein reaktives Agens, das sog. »ultimale Kanzerogen«. Sie werden deshalb auch als indi-
rekt wirkende Kanzerogene bezeichnet. Die an der Bioaktivierung beteiligten Enzyme werden in 7 Kap. Abschn. 8.2.5 besprochen. Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) umfassen eine große Gruppe von Substanzen, in deren Grundkörper mehrere Benzolringe kondensiert sind. Sie entstehen bei Verbrennungsprozessen, insbesondere bei Sauerstoffmangel (Schwelbrände, sog. unvollständige Verbrennung), und sind in Abgasen von Kokereien, Hochöfen, Automotoren und des Hausbrandes enthalten, kommen im Tabakrauch, in Ruß und Teer vor und können auch bei der Lebensmittelzubereitung auftreten (Räuchern, Grillen, Braten). Die kanzerogene Wirkung von Ruß wurde 1775 von Percival Pott beschrieben (Hautkrebs am Skrotum von Schornsteinfegern). Bei Hochofenarbeitern kam Bronchialkrebs gehäuft vor (. Tab. 8.7). Bei Teerarbeitern traten bis in die 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts Tausende von Krebserkrankungen pro Jahr auf. Im Tierexperiment sind Teer und Ruß und bestimmte einzelne PAK an Haut, Lunge und verschiedenen weiteren Organen kanzerogen wirksam. Die Kanzerogenität der PAK ist in hohem Maß von ihrer Struktur abhängig (. Abb. 8.8). Eine starke Wirkung wurde bei einigen aus 4–6 Benzolringen kondensierten PAK und methylierten Derivaten gefunden, andere PAK sind nicht kanzerogen wirksam (IARC 1987). Benz(a)pyren gilt als Leitsubstanz der Gruppe. Für Benz(a)pyren ist eine Vielzahl von Metaboliten bekannt. In . Abb. 8.9 sind nur jene Schritte der metabolischen Aktivierung dargestellt, die zu den wichtigsten elektrophilen Metaboliten und zur Bildung des entsprechenden kanzerogenen DNAAddukts führen. Weitere Addukte entstehen an anderen Basen von DNA und RNA und an nukleophilen Gruppen in Proteinen. Reaktive Metabolite können inaktiviert werden, Phase-II-Reaktionen, Näheres in 7 Abschn. 8.2.5). Bei Benzpyren sind die Inaktivierung durch Konjugationen mit Glutathion und Glucuronsäure wichtig. Sie werden durch die Glutathiontransferasen (GST) mit den wichtigsten Isoformen M und T und durch Glucuronyltransferasen (UGT) katalysiert (Koss 1994).
198
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
8
. Abb. 8.7a–d. Direkt wirkende Kanzerogene. Spontaner Zerfall von Stickstofflost (a) und von Melphalan (b) zu Elektrophilen. Strukturen von Cisplatin (c) und einigen Industriechemikalien (d)
. Abb. 8.8. Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe. Die mit T gekennzeichneten Verbindungen sind Bestandteile des Tabakrauches
199 8.2 · Bedeutung von chemischen Kanzerogenen
8
. Abb. 8.9. Aktivierung von Benz(a)pyren. Der reaktive Metabolit ist das BP-Diolepoxid, das bei Ringöffnung am Sauerstoff eine negative Ladung und an einem benachbarten Kohlenstoff eine positive Ladung trägt. Reaktive Metabolite und DNA-Addukt sind blau dargestellt. Diese Unter-
scheidung wird auch in den folgenden Metabolismusschemata eingehalten. CYP Zytochrom P450; GST Glutathiontransferasen; UGT UDP-Glucuronyltransferasen
Aromatische Amine und heterozyklische Amine Aromatische Amine sind aromatische Kohlenwasserstoffe, die Aminogruppen tragen (. Abb. 8.10). Sie werden seit dem 19. Jahrhundert zur Farbstoffsynthese (Azofarbstoffe) eingesetzt. Bereits 1895 beschrieb der Betriebsarzt Rehn das gehäufte Auftreten von Blasenkrebs und vermutete als Ursache Fuchsin oder Anilin am Arbeitsplatz. Später wurden 2-Naphthylamin (Perlmann u. Stähler 1932; Schär 1930), Benzidin und 4-Aminobiphenyl als die kausalen chemischen Ursachen im Tierexperiment identifiziert. Die mittlere Latenzzeit bis zum Auftreten der Tumoren bei den Arbeitern betrug ca. 20 Jahre. Jedoch wurden in Einzelfällen Latenzzeiten von 30 und mehr Jahren beobachtet (Williams et al. 1958). Wie bei anderen chemischen Kanzerogenen bleibt das Krebsrisiko auch nach Expositionsende bestehen und nimmt bei kumulativer Betrachtung über die gesamte Lebenszeit zu (. Abb. 8.11; Harris et al. 1976; adaptiert nach Daten aus Williams et al. 1958). Aufgrund der getroffenen präventiven Maßnahmen ist das Arbeitsplatzrisiko Harnblasenkrebs praktisch eliminiert. 2-Naphthylamin und 4-Aminobiphenyl sind auch im Tabakrauch enthalten und dürften für das gehäufte Auftreten von Harnblasenkarzinomen bei Rauchern verantwortlich sein. Azofarbstoffe
werden für technische Produkte verwendet und dienen als Textilfarbstoffe und Lebensmittelfarbstoffe. Aus bestimmten Azofarbstoffen können kanzerogene aromatische Amine freigesetzt werden. Diese sind für Textilien, die mit der Haut in Berührung kommen können, und für Lebensmittel nicht zugelassen. In Tierversuchen wurden durch einige Azofarbstoffe auch Leberkarzinome induziert, z. B. durch das in den 30er Jahren zum Färben von Margarine verwendete Buttergelb. Heterozyklische aromatische Amine sind mit den aromatischen Aminen chemisch verwandt. Sie entstehen beim Braten und Grillen von Fleisch und Fisch aus Aminosäuren durch Wasserentzug (. Abb. 8.12). Sie sind auch im Tabakrauch (T) enthalten. Wegen ihrer komplexen Strukturen werden die rationellen chemischen Bezeichnungen durch Abkürzungen ersetzt (z. B. PhIP, Trp-P-2). Die genannten Substanzen sind hoch wirksame Mutagene und erzeugen im Tierexperiment Karzinome in Kolon, Leber, Mamma und anderen Organen. Die Substanzgruppe steht im Verdacht, beim Menschen u. a. für Kolonkrebs verantwortlich zu sein (Adamson et al. 1996). Die metabolische Aktivierung der aromatischen Amine wird im Folgenden etwas detaillierter dargestellt, um exemplarisch
. Abb. 8.10. Einige aromatische Amine. Die mit T gekennzeichneten Verbindungen sind Bestandteile des Tabakrauches
. Abb. 8.11. Tumorinduktion durch aromatische Amine. Das Harnblasenkrebsrisiko von Arbeitern, die aromatische Amine destillierten, nimmt mit steigender Expositionszeit (Gesamtdosis) und zunehmender Latenzzeit zu
200
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
. Abb. 8.12. Einige heterozyklische aromatische Amine. PhiP entsteht aus einem Phenylalaninrest (blau) und einem Kreatininrest (schwarz), an der Entstehung von Trp-P-2 ist Tryptophan beteiligt. Die mit T gekennzeichneten Verbindungen sind Bestandteile des Tabakrauchs
8
die komplexen Vorgänge zur Organotropie der Kanzerogenese zu beleuchten (Parkinson 1996). Der Metabolismus der aromatischen einschließlich der heterozyklischen Amine erfolgt an der Aminogruppe zunächst durch N-Azetylierung; das N-Azetylamin ist stabil und wird ausgeschieden. Ein alternativer Stoffwechselweg ist die N-Hydroxylierung mittels Zytochrom P450. Die entstandene N-Hydroxygruppe kann anschließend O-azetyliert werden. Das O-Azetylamin zerfällt zu reaktiven Produkten (. Abb. 8.13).
. Abb. 8.13. Aktivierung eines aromatischen Amins (langsamer Azetylierer). Dargestellt ist die metabolische Aktivierung zu einem elektrophilen reaktiven Metaboliten (blau) und die Bildung des DNA-Adduktes in der Harnblase
Die Azetylierung wird von zwei N-Azetyltransferasen (NAT1 und NAT2) katalysiert (7 Abschn. 8.2.4). Diese unterscheiden sich in den folgenden wichtigen Punkten: 4 Expression in verschiedenen Personen (Azetyliererphänotyp): NAT1 kommt in allen Individuen vor; NAT2 zeigt einen genetischen Polymorphismus, d. h. seine Aktivität unterliegt starken interindividuellen Schwankungen; ca. 50% der Europäer exprimieren in ihren Geweben NAT2; sie werden als »schnelle Azetylierer« bezeichnet. 4 Gewebeverteilung: NAT1 wird in allen Geweben, NAT2 jedoch nur in Leber und Darm exprimiert; die Gewebeverteilung bestimmt somit wesentlich die Organotropie der Kanzerogenese. Dennoch ist die Leber kein typisches Zielorgan der Kanzerogenese von aromatischen und heterozyklischen aromatischen Aminen. Dies wird mit der höheren Entgiftungskapazität durch Phase-II-Enzyme und mit der hohen DNA-Reparaturkapazität in der Leber erklärt. 4 Substratspezifität: Aromatische Amine werden durch beide Enzyme per N-Azetylierung inaktiviert, aber N-Hydroxy-dizyklische aromatische Amine (z. B. 2-Naphthylamin) werden via O-Azetylierung auch aktiviert (. Abb. 8.13). Heterozyklische Amine sind sowohl für NAT1 als auch für NAT2 schlechte Substrate.
201 8.2 · Bedeutung von chemischen Kanzerogenen
Die Harnblasenkanzerogenität der aromatischen Amine tritt präferenziell bei Personen mit langsamer Azetylierung auf und wird wie folgt erklärt: Wegen der geringen NAT-Aktivität wird ein relativ großer Teil des Amins durch CYP1A2 in der Leber N-hydroxyliert, gelangt in die Blase und kann dort durch NAT1 O-azetyliert werden. Die O-Azetyl-Konjugate sind im sauren Milieu des Harns instabil. Bei ihrer Hydrolyse wird Azetat als Ion abgespalten und das an der Aminogruppe positiv geladene Gegenion stellt den elektrophilen Metaboliten dar, der an DNA-Basen kovalent bindet. Er wird für die Entstehung von Harnblasentumoren verantwortlich gemacht (. Abb. 8.13). Wie epidemiologische Studien nahelegen, ist mit erhöhtem Fleischverzehr und damit erhöhter Aufnahme an heterozyklischen Aminen ein gesteigertes Risiko für Kolontumoren verknüpft. Das Risiko betrifft insbesondere Personen mit dem Phänotyp des schnellen Azetylierers (IARC 1993). Weil die heterozyklischen Amine schlechte Substrate für NAT darstellen, ist trotz der hohen NAT-Aktivität die Inaktivierung durch N-Azetylierung wenig effizient. Infolgedessen wird relativ viel Amin durch CYP1A2 hydroxyliert und durch NAT2 im Darm via O-Azetylierung aktiviert. Wiederum wird Azetat als Ion abgespalten und es entsteht als reaktives Kanzerogen der bereits genannte elektrophile Metabolit, der DNA-Addukte bildet. Die hohe Aktivität von NAT2 im Darm bei schnellen Azetylierern macht diesen Phänotyp zum eigentlichen Risikofaktor. Nitrosamine Nitrosamine sind Nitrosoderivate von substituierten Aminen (. Abb. 8.14). Zahlreiche verschiedene Verbindungen sind bekannt. In Tierversuchen rufen viele Nitrosamine, z. T. mit hoher Organspezifität, Tumoren hervor (Druckrey et al. 1963); auch beim Menschen dürften sie eine beträchtliche Rolle für die Krebsentstehung in verschiedenen Organen spielen. Nitrosamine bilden sich aus sekundären Aminen und Nitrit bzw. nitrosen Gasen und sind weit verbreitet (vgl. Nitrosierung von Dimethylamin, oberer Teil der . Abb. 8.15). Nitrit wird als Pökelsalz verwendet und kann daher in Fleischwaren enthalten sein. Es entsteht auch bei ungekühlter Aufbewahrung von gekochtem Gemüse durch bakterielle Reduktion aus Nitrat. Nitrat ist in allen pflanzlichen Lebensmitteln vorhanden; infolge von Düngung kann es in größeren Mengen auch ins Trinkwasser gelangen. Im Speichel wird ein Teil des aufgenommenen Nitrats durch Bakterien zu Nitrit reduziert, dann resorbiert, mit dem Speichel resezerniert und gelangt in den Magen. Amine als zweite Komponente für die Nitrosaminbildung bilden sich beim Abbau von Eiweiß. Das saure Milieu des Magens begünstigt die Reaktion der beiden Komponenten zu Nitrosaminen. Vitamin C vermag diesen Vorgang zu hemmen, indem es das Nitrit bindet und dadurch eine Schutzwirkung ausübt. Präformierte Nitrosamine können mit der Nahrung (Bildung aus Aminen und Nitrit beim Braten von gepökeltem Fleisch), mit der Atemluft am Arbeitsplatz oder bei der Inhalation von Tabakrauch, aber auch beim Genuss von Schnupftabak aufgenommen werden. Auch einige Zytostatika sind Nitrosamine (z. B. BCNU, CCNU, Streptozotocin) Bei der Fermentation von Tabak wird das in den Blättern enthaltene Nitrat zu Nitrit reduziert. Dieses bildet mit Nikotin und anderen Alkaloiden tabakspezifische Nitrosamine wie N-Nitroso-Nornikotin (NNN) und NNK (. Abb. 8.14). Auch andere Nitrosamine, z. B. N-Nitrosodimethylamin, sind im Tabakrauch nachweisbar. Das Vorkommen von Nitrosaminen
8
. Abb. 8.14. Nitrosamine. Die mit T gekennzeichneten Verbindungen sind Bestandteile des Tabakrauchs
. Abb. 8.15. Bildung und Aktivierung von Dimethylnitrosamin
dürfte die kanzerogene Wirkung von Tabak erklären, der nicht geraucht, sondern gekaut oder geschnupft wird. Bereits 1761 wurde von Hill das Auftreten von Nasenschleimhautkrebs nach häufigem Gebrauch von Schnupftabak beschrieben. Nitrosamine konnten in relevanten Konzentrationen an bestimmten Arbeitsplätzen (Ledergerberei, Gummi- und Reifenindustrie) festgestellt werden und wurden vor einigen Jahren auch in manchen Kosmetika nachgewiesen. Die Aktivierung von Nitrosaminen wird i. Allg. durch einen Hydroxylierungsschritt eingeleitet. Das aktivierende Enzym ist CYP2E1, das durch Ethanol induzierbar ist. Das primäre Hydroxylierungsprodukt zerfällt rasch in Formaldehyd und einen elektrophilen Methylrest, der DNA-Addukte bildet (s. unteren Teil der . Abb. 8.15). Vinylchlorid und Benzol Die kanzerogene Wirkung von Vinylchlorid (VC; . Abb. 8.16) war aus Tierversuchen bekannt (Maltoni et al. 1974). Beim Menschen wurden Hämangiosarkome der Leber beobachtet. Wegen der Seltenheit dieses Tumors wurde VC nach Auftreten von nur drei Fällen bei exponierten Arbeitern als Ursache erkannt (Creech u. Johnson 1974). Bis heute sind ca. 200 Fälle dokumentiert. Die
202
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
. Abb. 8.16. Vinylchlorid, Benzol und Toluol. Die mit T gekennzeichneten Verbindungen sind Bestandteile des Tabakrauchs
8
mittlere Latenzzeit beträgt etwa 20 Jahre. Bei näheren Untersuchungen stellte sich heraus, dass die an Hämangiosarkomen erkrankten Arbeiter sehr hohen Vinylchloridkonzentrationen von über 600 ppm in der PVC-Produktion ausgesetzt waren. Vinylchlorid wird durch CYP2E1 an der Doppelbindung zu einem reaktiven Epoxid aktiviert. Der aktive Metabolit bildet u. a. Ethenobasenaddukte (. Abb. 8.22 mit analogen Addukten der Lipidperoxidation). Die Inaktivierung verläuft über Glutathionkonjugation. Als Entgiftungsprodukt wird im Urin Thiodiglycolsäure ausgeschieden. Die Verwendung von Benzol (. Abb. 8.17) als Lösemittel in der Gummiindustrie bzw. in Klebstoffen in der Schuh- und Möbelindustrie führte zu Leukämien (Aksoy 1985; Rinsky et al. 1987). Die Latenzzeit betrug im Mittel 11 Jahre, kann im Einzelfall jedoch wesentlich kürzer sein. Benzol wird in der Leber über ein Epoxid zu einer Reihe von toxischen und mutagenen Metaboliten aktiviert (. Abb. 8.17). Von diesen haben insbesondere das Diphenol Hydrochinon sowie das Semichinonradikal eine ausgeprägte Organotropie für das Knochenmark. Im Gegensatz zum Benzol konnte für Toluol keine Mutagenität/Kanzerogenität nachgewiesen werden. Die Metabolisierung erfolgt beim Toluol nicht durch Oxidation am Ring, sondern an der Seitenkette; dabei entstehen keine reaktiven Metabolite, sondern die ungiftige Benzoesäure, die nach Aminosäurekonjugation mit Glycin im Urin ausgeschieden wird. Naturstoffe Aflatoxin B1 (AFB1) ist ein Mykotoxin der Schimmelpilze Aspergillus flavus und A. parasiticus. Die Pilze gedeihen in feucht-hei. Abb. 8.17. Metabolische Aktivierung von Benzol und Toluol
ßen Klimazonen. In den dort produzierten Lebensmitteln, insbesondere in Mais, Erdnüssen, Pistazien kommen AFB1 und andere Aflatoxine vor. In früheren Jahren wurden immer wieder einige Importwaren aus bestimmten Ländern wegen Grenzwertüberschreitung (2 μg AFB1/kg Lebensmittel) beanstandet (BVL 2005); seit dem Jahr 2000 gab es dazu keinen Anlass mehr. Nach Aufnahme von AFB1 wird der ebenfalls kanzerogene Metabolit Aflatoxin M1 in der Milch ausgeschieden. Dadurch kann eine Kontamination der Kuhmilch (und der Frauenmilch) entstehen. Aflatoxin und seine Wirkungsweise wurden besonders eingehend untersucht. Es ist eines der stärksten bekannten Kanzerogene. AFB1 führt bei Mensch und Tier zu Leberschäden, -entzündung und -krebs, andere Organe sind kaum betroffen (IARC 1993). Leberkrebs ist weltweit die dritthäufigste Krebstodesursache. Die geografischen Zonen der Aflatoxinexposition decken sich weitgehend mit den Endemiegebieten des HBV, das ebenfalls Leberkrebs verursacht. AFB1-Exposition und HBV-Infektion wirken synergistisch bei der Leberkanzerogenese (Qian et al. 1994). Im Organismus wird AFB1 zu einem Epoxid aktiviert (. Abb. 8.18). Die Reaktion wird hauptsächlich durch CYP3A4, in geringerem Umfang auch durch CYP1A2, 2A3, 2A6 und 2B7 katalysiert.Die Enzyme sind vor allem in der Leber lokalisiert, was die Organotropie des AFB1 erklärt. Ein typisches DNA-Addukt ist das N7-Guanyl-Aflatoxin, das durch Ringspaltung in eine stabilere Form überführt wird. AFB1-Metabolite und AFB1Guaninaddukte werden im Urin ausgeschieden; sie dienen als molekulare Marker zum Expositionsnachweis (. Abb. 8.18). Auch AFB1-Albuminaddukte im peripheren Blut können als Expositionsindikator herangezogen werden. Die AFB1-DNA-Addukte führen zu charakteristischen Mutationen in der DNA, u. a. im Tumorsuppressorgen P53. Diese Mutationen wurden in hepatozellulären Karzinomen aus China, Afrika und Mexiko gefunden, jedoch praktisch nicht in Lebertumoren aus USA und Westeuropa, wo die AFB1-Belastung gering ist. Es gibt eine Reihe anderer, im Tierexperiment kanzerogener Mykotoxine: Als wichtigste sind hier Fusarientoxine zu nennen, darunter Zearalenon, Fumonisin B1 und Ochratoxin (IARC 1993). Ochratoxin wurde mit Nierenschäden (»Balkan endemic nephropathy«) und Nierenkarzinomen assoziiert (Tatu et al. 1998).
203 8.2 · Bedeutung von chemischen Kanzerogenen
8
. Abb. 8.18. Aflatoxin B1 und seine Aktivierung und Inaktivierung. Das mit einer grauen Linie umschriebene Molekülbruchstück wird im Urin ge-
funden und zum Biomonitoring auf AFB1-Exposition verwendet. Es ist ein Abbauprodukt aus letal geschädigten Zellen
Auch höhere Pflanzen können kanzerogene Stoffe enthalten. In Tierexperimenten kanzerogene Pyrrolizidine kommen in bestimmten Arzneipflanzen, z. B. im Kreuzkraut (Senecio sp.), in Mitteleuropa und in tropischen Crotalaria- und Heliotropumarten vor. Die Anwendung von Kräutertees aus Kreuzkraut hatte beim Menschen hepatotoxische Wirkung; in Einzelfällen entwickelten sich Leberzirrhosen (Ridker 1989; Roulet et al. 1988). Ein weiteres Beispiel ist die Aristolochiasäure aus der Osterluzei (Aristolochia), die früher in der Volksheilkunde zur Immunstimulation verwendet wurde. In den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde berichtet, dass nach Einnahme von chinesischen Heilkräutern, die Aristolochiapflanzenteile enthiel-
ten, progrediente interstitielle Nephropathien mit Nierenversagen (Vanherweghem et al. 1992) und ein hohes Risiko für das Auftreten von urothelialen Tumoren auftraten (Nortier et al. 2000). In diesem Zusammenhang sei auch auf jene Giftstoffe hingewiesen, die Pflanzen bilden, um sich vor Pilz- und Bakterienschädlingen und vor Fraßfeinden zu schützen (»natürliche Pestizide«). Die Anzahl dieser Stoffe in der menschlichen Nahrung wird auf 5.000–10.000 geschätzt. Einige natürliche Pestizide [Methoxypsoralene (in Sellerie und Petersilie), diverse Hydrazine, z. B. Agaritin (in Champignons), Sinigrin (in Kohl, braunem Senf und Merrettich), Safrol (in Muskatnüssen) u. v. a. m.] kommen
. Tab. 8.8. Kanzerogene, gentoxische Arzneistoffe Substanz
Lokalisation des Sekundärtumors
Referenz
Alkylierende Zytostatika (z. B. Cyclophosphamid, Melphalan)
Harnblase, Leukozyten
IARC (1987), Suppl. 7: S. 182, 239
Topoisomerasehemmstoffe (Epipodophyllotoxine: Etoposid, Teniposid)
Leukozyten (AML, ALL)
IARC (2000), 76: S. 177a, S. 259b
Anorganische Arsenverbindungen (früher)
Haut, Leber, Lunge
IARC (1987), Suppl. 7: S. 100
Methoxypsoralen zusammen mit UV-Licht
Haut
IARC (1987), Suppl. 7: S. 261
Phenazetin (früher)
Nierenbecken, Harnblase
IARC (1987), Suppl. 7: S. 310
Thorotrast (früher)c
Leber (Angiosarkome und hepatozelluläre Karzinome)
van Kaick et al. (1978, 1999)
a
b c
Es gibt nur wenige Hinweise für eine Kanzerogenität von Etoposid beim Menschen. Es gibt ausreichende Belege für eine Kanzerogenität von Etoposid beim Menschen in Kombination mit Cisplatin und Bleomycin. Es gibt nur ungenügende Hinweise für eine Kanzerogenität von Etoposid im Tierversuch. Es gibt nur wenige Hinweise für eine Kanzerogenität von Teniposid beim Menschen. radioaktiv.
204
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
in Mikro- bis Milligrammmengen je Gramm Produkt vor. Sie sind im Tierexperiment mutagen und kanzerogen. Ihre Wirkungsstärke übertrifft oft bei weitem die der synthetischen Pestizide wie DDT, Lindan, 2,4,5-Trichlorphenoxyessigsäure und ihrer Kontaminanten, der Dioxine (Ames et al. 1990). Ein kanzerogenes Risiko könnte daher, wenn überhaupt, eher von natürlichen als von synthetischen Pestiziden ausgehen.
8
Kanzerogene Arzneistoffe Als wichtigste Gruppe sind hier die alkylierenden Zytostatika zu nennen. Aufgrund ihrer chemischen Natur ist damit zu rechnen, dass diese Substanzen alkylierend wirken und damit gentoxisches und kanzerogenes Potenzial besitzen. Diese Erwartung ist durch Tierversuche und in mehreren Fällen durch epidemiologische Untersuchungen gesichert (. Tab. 8.8). Nach Behandlung von Patienten mit alkylierenden Zytostatika ist bei langfristiger Remission oder Heilung der Primärerkrankung mit einer sekundären Tumorerkrankung zu rechnen. Am häufigsten treten Leukämien, meist myeloischen Ursprungs, auf. Es wurden relative Risiken von mehr als dem 10-fachen der jeweiligen Kontrollen beobachtet (. Abb. 8.19, nach Kaldor et al. 1990). Ein häufigeres Auftreten von soliden Tumoren bei Langzeitüberlebenden einer Krebstherapie ist ebenfalls dokumentiert. Wegen der kombinierten Anwendung von mehreren Zytostatika und Strahlen ist die Tumorentstehung jedoch meist nicht einer spezifischen Therapiekomponente zuzuordnen. Jedoch gilt es als gesichert, dass auch Topoisomerase-II-Hemmstoffe, die Bestandteil der meisten chemotherapeutischen Strategien sind, zu akut myeloischen Leukämien (AML) und akut lymphatischen Leukämien (ALL) führen (Andersen et al. 2001; Sugita et al. 1993). Die Latenzzeiten betragen im Mittel 2 Jahre. Es treten typische Chromosomenaberrationen in 11q23 auf. Sie stehen in Zusammenhang mit einem Rearrangement des MLL-Gens (zum Wirkungsmechanismus 7 Abschn. 8.1.3). Cyclophosphamid ist ein wichtiges Beispiel für die metabolische Aktivierung eines unspezifischen Zellgiftes und Kanzerogens (. Abb. 8.20). Im Gegensatz zum direkt wirksamen Stickstofflost (s. oben) ist Cyclophosphamid selbst nicht reaktiv, weshalb es oral verabreicht werden kann. Nach Ringhydroxylierung durch Zytochrom P450, Ringspaltung und Zerfall des Produktes entsteht der reaktive Metabolit Phosphorsäureamidlost, der analog wie Stickstofflost reagiert (. Abb. 8.7). Phosphorsäureamidlost ist die therapeutisch wirksame zytotoxische Verbindung und
gleichzeitig auch das reaktive Kanzerogen. Daneben wird bei der Aufspaltung der zytotoxische und gentoxische Aldehyd Acrolein freigesetzt, der für Entzündungen und Tumoren in der Harnblase verantwortlich gemacht wird.
8.2.4
Reaktive Sauerstoff- und Stickstoffspezies, kanzerogene Metalle und radioaktive Elemente
Reaktive Sauerstoffspezies (ROS) und reaktive Stickstoffspezies (RNS) Durch die schrittweise Übertragung von Elektronen auf Sauerstoff können Superoxidradikal (•O2–), Peroxid (H2O2, O22–) und Hydroxylradikal (•OH) entstehen. Diese Moleküle sind äußerst reaktionsfreudig und folglich sehr kurzlebig. ROS entstehen im Zellstoffwechsel vor allem in Mitochondrien oder werden durch Immunzellen (Makrophagen, Granulozyten) gebildet. Beim Zytochrom-P450-katalysierten Metabolismus (7 Abschn. 8.2.5) von exogenen Substanzen können ROS im endoplasmatischen Retikulum gebildet werden. Ebenso vermögen Substanzen wie Hydrochinon (ein Benzolmetabolit; . Abb. 8.17) und die Zytostatika Adriamycin und Bleomycin, die zu Semichinonradikalen reagieren, ROS-Bildung zu initiieren. Ionisierende Strahlung, Ozon und Asbest setzen im Gewebe chemische Reaktionen mit ROS-Bildung in Gang. Tabakrauch ist selbst eine Quelle von Radikalen, die zur ROS-Bildung beitragen. Bestimmte Metalle katalysieren die Bildung von ROS. Bei der hereditären Hämochromatose (Eisenspeicherkrankheit) sind die Folgen der verstärkten ROS-Entstehung u. a. Leberschädigung, Leberzirrhose und Leberkrebs. Ähnlich wirkt das bei der Wilson-Krankheit im Übermaß gespeicherte Kupfer (Hussain et al. 2000). Die induzierbare Stickstoffoxidsynthetase produziert aus Arginin das Radikal Stickstoffmonoxid •NO. Stickstoffmonoxid wird sehr schnell durch Superoxidradikal zu Peroxynitrit oxidiert ONOO-, welches ein starkes Oxidans und Nitrierungsmittel ist. Stickstoffmonoxid und Peroxynitrit werden als reaktive Stickstoffspezies (RNS) bezeichnet. ROS und RNS sind wichtige Komponenten für die Abwehr von bakteriellen, viralen und parasitären Infekten. Sie treten bei Entzündungsprozessen vermehrt auf (. Abb. 8.21, nach Bartsch et al. 1997) und werden auch bei Belastung mit zyto- und gentoxischen Stoffen sowie bei Strahlenschäden gebildet (s. oben). Darüber hinaus haben ROS und NO physiologische Bedeutung,
. Abb. 8.19. Auftreten von Sekundärtumoren nach Chemotherapie von Morbus Hodgkin (Zeitverlauf ). Die gestrichelte horizontale Linie stellt das relative Risiko = 1 dar
205 8.2 · Bedeutung von chemischen Kanzerogenen
8
. Abb. 8.20. Cyclophosphamid und seine Aktivierung
z. B. bei der Biosynthese von Prothrombin und von Katecholaminen, und als Signalmoleküle bei der Phagozytose, der Regulation des Gefäßtonus, der Thrombozytenaggregation und bei Entzündungen. Im Intermediärstoffwechsel in physiologisch normalem Umfang entstehende ROS werden durch Katalase, Superoxiddismutase, Glutathionperoxidase und durch Antioxidanzien wie Vitamin C und E entgiftet. Bei erhöhter Bildungsrate können durch Reaktionen mit anderen zellulären Bestandteilen toxische, mutagene und kanzerogene Effekte auftreten. Die übermäßige Produktion von ROS wird als »oxidativer Stress« bezeichnet, welcher an der Pathogenese von Atherosklerose, Autoimmun- und anderen Erkrankungen beteiligt ist (Nohl 1994). Wasserstoffperoxid, H2O2, reagiert in Gegenwart von Übergangsmetallen (z. B. Eisen, Kupfer) zu hochtoxischem Hydroxylradikal (•OH), welches die Basen in der DNA oxidieren kann. Dabei entstehen z. B. 8-Hydroxyguanin oder DNA-Strangbrüche. ROS zerstören die Doppelbindungen in den mehrfach ungesättigten Fettsäuren (muFS) der Zellmembranen (Lipidperoxidation). Dabei entstehen in der Folge insbesondere die ungesättigten Aldehyde 4-Hydroxynonenal (. Abb. 8.21 und 8.22), Malondialdehyd und Crotonaldehyd, welche exozyklische DNA-Addukte bilden und mutagen wirken können (Bartsch et al. 1997).
Die häufigsten Punktmutationen, die in oxidativ geschädigter DNA gefunden werden, sind G:C- zu A:T-Transitionen, gefolgt von G:C- zu T:A-Transversionen (. Tab. 8.9); DNA-Strangbüche können Translokationen verursachen (Ohshima et al. 2003). Stickstoffmonoxid kann in Gegenwart von Sauerstoff in N2O3 umgewandelt werden, welches als starkes Nitrosierungsreagenz Guanin zu Xanthin, Adenin zu Hypoxanthin, Zytosin zu Uracil und 5-Methylzytosin zu Thymin deaminiert. Außerdem kann es mit sekundären Aminen zu Nitrosaminen reagieren, welche ihrerseits DNA alkylieren. Peroxynitrit schädigt die DNA durch Nitrierung, Nitrosierung und Oxidation. Die durch RNS deaminierten DNA-Basen verursachen sehr häufig Mutationen im P53-Gen und im HPRT-Locus. Charakteristisch ist das Auftreten von G:C- zu A:T-Transitionen in CpG-Regionen; das wahrscheinliche Agens ist Peroxynitrit (Ohshima 2003). Derartige gentoxische Vorgänge dürften zur Entstehung von Tumoren durch Entzündungen beitragen (7 Abschn. 8.1.2, . Abb. 8.2, . Tab. 8.3). Auch bei anderen Krebsursachen wird den ROS große Bedeutung zugeschrieben. Kanzerogene Metalle Bei einer Reihe von Metallverbindungen wurden kanzerogene Wirkungen gefunden: Als epidemiologisch gesichert gilt die
206
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
8
. Abb. 8.21. Entstehung und Wirkung von sauerstoffhaltigen Radikalen (ROS). Radikale sind durch einen Punkt als Symbol für das ungepaarte Elektron gekennzeichnet; ONOO- Peroxynitrit
. Abb. 8.22. Bildung von Lipidperoxiden aus ROS und mehrfach ungesättigten Fettsäuren als endogene Quelle von DNA-Addukten
207 8.2 · Bedeutung von chemischen Kanzerogenen
8
. Tab. 8.9. Oxidativer Stress induziert DNA-Schäden und Mutationen Agens
DNA-Schaden
•OH•
→
•NO
•NO
+ •O2 – →
ONOO–
Mutationen
8 – OH – dG
→
G: C- → A: T-Transition G: C- → T: A-Transversion
DNA-Strangbrüche
→
Gen-Translokationen
→
Deaminiert C, Methyl-C
→
G: C- → A: T-Transition G: C → T: A-Transversion
→
Deaminiert C, Methyl-C 8-O-dG 8-NO2-dG
→ →
G: C- → A: T-Transition G: C- → T: A-Transversion ?
→
Etheno - dG Etheno - dA
→
G: C- → T: A-Transversion
Lipidperoxidation → HNE und andere Aldehyde
krebsauslösende Wirkung von Arsen, Beryllium, Cadmium, Chrom, und Nickel (IARC 1987, 1990, 1993). Die Exposition erfolgte zumeist an Arbeitsplätzen durch atembare Stäube und führte zu Tumoren der Atemwege. Nach Arsenexposition, vor allem aus medizinischer Indikation, sind Hauttumoren (überwiegend oberflächliche Basaliome) und nach Inhalation am Arbeitsplatz Lungentumoren dokumentiert. Heute kommen hohe Belastungen mit diesen Schwermetallen in den entwickelten Ländern praktisch nicht mehr vor. Dagegen sind in einigen Fällen Umweltbelastungen, v. a. mit Cadmium und Arsen, bekannt geworden (Chen et al. 1985; Basu et al. 2004). In mehreren süd- und ostasiatischen Ländern treten hohe Arsenbelastungen des Trinkwassers auf, z. T. aus neu angelegten Trinkwasserbrunnen. Daraus resultieren hohe Arsenexpositionen bei bis zu 100 Mio. Personen, die in Zukunft einen Anstieg arsenbedingter Krebserkrankungen der Haut, Lunge, Harnblase und Leber befürchten lassen (Chen et al. 1985). Arsen bindet wie auch etliche andere Schwermetalle an vizinale SH-Gruppen in Proteinen. Hierdurch können je nach bevorzugtem Proteinpartner Transkriptionsänderungen, Störungen der DNA-Reparatur und DNAReplikationsfehler, Beeinträchtigung des Chromatins mit nachfolgenden Strangbrüchen u. a. m. die Folge sein. Anorganische Arsenverbindungen werden im Organismus zu Dimethylarsenat (DMA) methyliert. Daraus entstehen reaktive DimethylarsinPeroxid-Radikale. Die Metaboliten können sowohl gentoxisch als auch tumorpromovierend wirken (ROS). Außerdem wurde in Mäuselebern nach Arsengabe DNA Hypomethylierung beobachtet (Chen et al. 2004). Diese kann zur Hepatokanzerogenese beitragen. Das Zytostatikum Cisplatin bildet stabile Komplexe mit DNA (7 Abschn. 8.2.2) Es ist im Tierversuch kanzerogen, beim Menschen wird eine kanzerogene Wirkung vermutet (IARC 1987). Chromverbindungen sind aufgrund ihrer besonderen Toxikokinetik nur in der sechswertigen Form kanzerogen wirksam (Klein 1996): Nur das sechswertige Chromat kann die Zellmembranen passieren, indem es in einer Art molekularer Mimikry über den Sulfatanionentransporter in die Zelle gelangt. Intrazellulär wird Cr(VI) zu den Oxidationsstufen Cr(V), Cr(IV) und Cr(III) reduziert. Diese Chromspezies können direkt mit zellulären Makromolekülen interagieren. Ebenso wie andere Schwermetalle können auch Chromspezies Redoxreaktionen induzieren, bei denen ROS entstehen.
Radioaktive Elemente Radioaktive Elemente sind ebenfalls wichtige chemische Kanzerogene: Radon erzeugte Bronchialkarzinome bei Arbeitern im Uranbergbau. Das Gas wird in Gegenden mit hohen geogenen Emissionen auch für ein erhöhtes Bronchialkrebsrisiko der dort ansässigen Bevölkerung verantwortlich gemacht. Radium führte zu Osteosarkomen bei Uhrmachern, die radiumhaltige Leuchtfarben verarbeiteten. Thorium wurde seit 1935 als Thoriumdioxid (ThO2) in kolloidaler Form als Röntgenkontrastmittel verwendet (»Thorotrast«). Das Kolloid wird phagozytiert, mit der Folge lebenslanger Speicherung von Thorium im retikuloendothelialen System der Leber und anderer Organe. Thorium enthält das radioaktive Isotop 232Th, das α-Strahlen emittiert. Nach mehr als 20 Jahren Latenz traten Karzinome und Angiosarkome in der Leber auf (Da Silva Horta et al. 1965; van Kaick 1999). In der Folge der Anwendung von 131Jod zur Hyperthyreosetherapie wurden Schilddrüsenkarzinome beobachtet. Nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl 1986 kam es zu einer erheblichen 131Jod-Belastung einiger Regionen in Weißrussland. Daraufhin traten in den betroffenen Gegenden Schilddrüsenkarzinome gehäuft auf (IARC 2001). Die minimale Latenzzeit betrug nur 4 Jahre (Baverstock et al. 1992; Kazakov et al. 1992; IARC 2001). Bisher sind im Wesentlichen Kinder und Jugendliche erkrankt.
8.2.5
Metabolische Aktivierung und Inaktivierung von Kanzerogenen
Die Metabolisierung von Substanzen setzt ihre Aufnahme in die Zellen und Interaktion mit den metabolisierenden Enzymen voraus und in den meisten Fällen müssen die Metabolite anschließend aus den Zellen ausgeschleust werden. Diese Vorgänge werden als Phase 0, I, II und III bezeichnet (. Abb. 8.23). Lipophile Fremdstoffe, Arzneimittel und Naturstoffe penetrieren meist die Zellmembranen durch passive Diffusion. Andere, mehr hydrophile oder geladene Substanzen gelangen durch spezifische Transportmechanismen in die Zellen (Phase 0). Sie werden dann in der Phase-I-Reaktion metabolisch aktiviert. Dies geschieht durch Einführung reaktionsfähiger, funktioneller Gruppen, meist alkoholische, phenolische und Epoxidgruppen (s. unten). Hieran sind vor allem die Zytochrom-P450-abhängigen Enzyme beteiligt (. Tab. 8.10), ferner flavinabhängige Monooxygenasen, Prosta-
208
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
. Abb. 8.23. Zelluläre Aufnahme und Metabolisierung von chemischen Kanzerogenen und Ausschleusung der Metabolite
glandinsynthetase, Peroxidasen und andere Oxidasen. Diese Enzyme binden den Luftsauerstoff, reduzieren ihn und übertragen ihn auf die jeweiligen Substrate. Die erforderlichen Reduktionsäquivalente werden meist in Form von NADPH bereitgestellt. Die typische Bruttoreaktion ist:
8
Cytochrom P450 Substrat–H + O2 + NADPH + H+ 00009 Substrat–OH + H2O + NADP+ Die in der Phase I eingeführten funktionellen Gruppen stehen nun für Inaktivierungsreaktionen bereit. Diese laufen in Phase II ab und führen durch Konjugation mit wasserlöslichen Kofaktoren (Glukuronsäure, Schwefelsäure, Aminosäuren, Glutathion und Azetat) zu inaktiven, hydrophilen und ausscheidungsfähigen Produkten. Aufgrund ihrer Hydrophilie können sie nicht mehr passiv durch die Zellmembran diffundieren, sondern werden durch eine Familie von Transportproteinen (PG-P, MRP) aktiv ausgeschleust (Deeley et al. 2004). Die am Fremdstoffmetabolismus beteiligten Enzyme kommen häufig als Familien von ähnlichen katalytischen Proteinen
vor. Dadurch entstehen aus einer Substanz oft mehrere verschiedene Metabolite in unterschiedlichen Mengen. Die wichtigsten fremdstoffmetabolisierenden Enzyme der Phase I sind die Zytochrome P450 (CYP). . Tab. 8.10 gibt eine Übersicht über bedeutsame CYP und ihre Beteiligung an der Aktivierung von Kanzerogenen. CYP1A1 kommt in der menschlichen Lunge, Plazenta und in Lymphozyten, nicht aber in der Leber vor. Es ist wesentlich beteiligt an der Aktivierung von Kanzerogenen vom Typ der PAK, z. B. Benz(a)pyren (. Abb. 8.9). CYP1A2 kommt ausschließlich in der Leber vor. Dieses Enzym aktiviert ebenfalls PAK, darüber hinaus werden aromatische und heterozyklische Amine zu reaktiven Metaboliten umgewandelt. Diese gelangen systemisch zu den Zielorganen (Harnblase und Kolon). CYP2E1 ist ein wichtiges Enzym zur Umsetzung kleiner, wenig lipophiler Moleküle wie Nitrosamine, Vinylchlorid, Benzol u. a. CYP2D6 ist an der metabolischen Aktivierung der tabakspezifischen Nitrosamine N-Nitroso-Nornikotin (NNN) und NNK beteiligt, die als starke Lungenkanzerogene gelten. CYP3A4 ist das quantitativ häufigste P450-Enzym in der menschlichen Leber. Es spielt beim Metabolismus des Aflatoxin B1 eine wichtige Rolle (Groopman u. Kensler 2005).
. Tab. 8.10. Charakteristika der wichtigsten Zytochrom-P450-Enzyme beim Menschen und deren Bedeutung für die Aktivierung von Kanzerogenen ZytochromP450-Enzym
Interindividuelle Variation
Organe
Kanzerogene Substrate
Induktoren
Inhibitoren
CYP1A1
ca. 15- bis 50facha
Plazenta, Lymphozyten, Lunge
Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK), z. B. Benzo(a)pyren
PAK, polychlorierte Biphenyle, polychlorierte Dibenzodioxine
7,8-Benzoflavon, Ellipticin
CYP1A2
ca. 50- bis 100facha
Nur in Leber
aromatische Amine: 2-Naphtylamin, 4-Aminobiphenyl, Benzidin; heterozyklische Amine: PhlP, Trp-2, u. a.
PAK, Gegrilltes, Kohl u. Broccoli, Omeprazol
7,8-Benzoflavon, Furafyllin
CYP2 E1
ca. 10-fach, Leber und Lymphozyten im peripheren Blut
Nitrosamine, z. B. Dimethylnitrosamin, Vinylchlorid, Benzol, Styrol
Ethanol, Azeton, nicht insulinabhängiger Diabetes
Diethyldithiocarbamat, Disulfiram, Pyrazol
CYP2D6
ca. 25-fach
Leber, Lunge
NNN, NNK (tabakspezifische Nitrosamine)
Keine bekannt
Chinidin, Yohimbin
CYP3A4
ca 20-fach
Leber, Darmschleimhaut
Benzo(a)pyren u.andere PAK, Aflatoxin B1, Sterigmatozystin, 4,4‹Methylen-bis(2-chloranilin)
Rifampicin, Troleandomycin, Glukokortikoide
Troleandomycin, Ketoconazol, Cimetidin, Gestoden, Naringenin
a
Verursacht durch Rauchen (Kadlubar u. Guengerich 1992; Guengerich u. Shimada 1991). Die Enzyme des CYP werden entsprechend ihrer Sequenzhomologie in Familien (erste arabische Ziffer) und Unterfamilien (großer lateinischer Buchstabe) sowie mit einer abschließenden arabischen Ziffer für das individuelle Enzymprotein bezeichnet.
209 8.2 · Bedeutung von chemischen Kanzerogenen
Für die Kanzerogenese bedeutsame Enzyme der Phase II sind insbesondere die Glutathion-, Glucuronyl-, Sulfo-, Azetyl- und Aminosäuretransferasen. Ihre Relevanz wurde in den vorhergehenden Abschnitten anhand einiger Beispiele erläutert. Wichtig ist, dass Konjugationsreaktionen in der Regel zu wasserlöslichen, ausscheidungsfähigen Metaboliten führen, die nicht mehr reaktiv sind und daher nicht mehr mit der DNA reagieren. Es gibt jedoch Ausnahmen von diesem Prinzip: So können Konjugate wieder gespalten werden, sodass intermediär reaktive elektrophile Produkte auftreten (s. aromatische Amine). Wie wichtig die metabolische Aktivierung von Kanzerogenen durch Zytochrom-P450-Enzyme ist, wurde inzwischen durch molekulargenetische Untersuchungen bewiesen. Mäuse ohne einzelne spezifische CYP-Enzyme (»Knock-out-Mäuse«) waren resistent gegen Tumorinduktion durch bestimmte Kanzerogene (Gonzalez u. Kimura 2003). Bildungsrate und Verweildauer der reaktiven Metabolite bestimmen neben ihrer Reaktivität das Ausmaß der Bindung an DNA, RNA und Protein. Rasche Inaktivierung durch Konjugationsreaktionen der Phase II reduziert daher die Adduktbildung. Somit ist die Balance zwischen Aktivitäten der Phase-I- und Phase-II-Enzyme eine kritische Determinante für das kanzerogene Risiko (. Abb. 8.24). Die Enzymaktivitäten können infolge von Einwirkungen aus der Umwelt und infolge von ererbten Dispositionen sehr stark variieren. Diese Variationen bestimmen in großem Umfang das individuelle Krebsrisiko.
8.2.6
Umwelteinflüsse auf die Metabolisierung von Kanzerogenen, Chemoprävention
Viele fremdstoffmetabolisierende Enzyme sind induzierbar, d. h., bestimmte Substanzen erhöhen die Genexpression und Enzymsynthese. Dieses Phänomen ist aus der Arzneimittelpharmakologie und -toxikologie seit Langem bekannt und stellt eine der wesentlichen Ursachen von Arzneimittelinteraktionen dar. Neben Arzneimitteln wirken auch natürliche oder synthetische Bestandteile in unserer Nahrung induzierend. Durch Enzyminduktion kann die Aktivierung von Kanzerogenen in der Phase I gesteigert werden. Da die meisten Induktoren aber auch Phase-II-Enzyme induzieren, wird in der Regel gleichzeitig auch die Inaktivierung beschleunigt. Als Beispiele seien genannt (. Tab. 8.10): 4 Arzneimitteltherapie (Barbiturate, Rifampicin, Isoniazid) induziert verschiedene CYP. 4 Ernährung (Cruciferen-Gemüse wie Kohl und Broccoli, Gegrilltes) induziert CYP der Phase I und Enzyme der Phase II und kann ROS-Bildung hemmen (Miyoshi et al. 2004). 4 Genussmittel: 5 Alkohol induziert CYP2E1, das u. a. Nitrosamine aus Tabakrauch aktiviert. Dies könnte die synergistische Zunahme des Krebsrisikos in Mundhöhle und Speiseröhre durch Rauchen und stärkeren Alkoholkonsum erklären (7 Abschn. 8.2.12). 5 PAK im Tabakrauch sind starke Induktoren von CYP1A1 in der Lunge und im Plazentagewebe. CYP1A1 zeigt bei einigen Personen hohe Induzierbarkeit in peripheren Lymphozyten. Diese korreliert mit erhöhten Bronchialkrebsraten, möglicherweise aufgrund stärkerer Aktivierung von Prokanzerogenen. 4 Bei verschiedenen Krankheiten ist die Aktivität von Enzymen des Fremdstoffmetabolismus verändert. So induziert
8
Diabetes aufgrund des Auftretens von Ketonkörpern das Enzym CYP2E1. Auf diese Weise kann eine Disposition zu erhöhter Kanzerogenmetabolisierung erworben werden. Die molekularen Mechanismen der Induktion von Zytochrom P450 sind für eine Reihe von Induktoren z. B. PAK, TCDD, Retinoide und Steroide (Green 1992; Waxman 1999) geklärt. Diese Substanzen sind Liganden nukleärer Rezeptoren. Nach Translokation in den Kern bindet der Ligand-Rezeptor-Komplex an spezifische responsive Elemente der DNA und erhöht die Transkriptionsrate der betreffenden Gene. Daher heißen die genannten Rezeptoren auch ligandenaktivierte Transkriptionsfaktoren. Die Induktion von Enzymen der Zytochrom-P450Superfamilie führt zu großen interindividuellen Empfindlichkeitsunterschieden gegenüber chemischen Kanzerogenen; die Metabolisierungsraten können um das 10- bis 100-fache variieren (. Tab. 8.10). Hemmung von Phase-I-Enzymen reduziert die Aktivierung, und Induktion von Phase-II-Enzymen fördert die Inaktivierung von Kanzerogenen. Beide Wirkungen sind erwünscht, weil sie dazu beitragen, das kanzerogene Risiko zu senken. Oltipraz wird in den Tropen gegen Schistosomiasis, eine Wurmerkrankung eingesetzt. In Tierexperimenten hemmt Oltipraz die Aktivierung von AFB1, steigert seine Inaktivierung über Glutathionkonjugation und senkt die Entstehung von Leberkrebs durch AFB1. Deshalb wurde die Substanz in China in Gegenden, in denen die Nahrung mit hohen Aflatoxinmengen belastet ist, in einer Interventionsstudie auf ihre Wirksamkeit am Menschen geprüft (Kensler et al. 2004). Tatsächlich wurden in den mit Oltipraz behandelten Personen beide Wirkungen beobachtet: Die im Urin ausgeschiedene Menge an Aflatoxin-M1-Metabolit war nur halb so hoch wie in den placebobehandelten Kontrollen, was auf eine Hemmung der CYP-Enzyme hinweist, und gegenüber den unbehandelten Personen wurde die 2,6-fache Menge Aflatoxin-N-AzetylzysteinKonjugat eliminiert, was für eine gesteigerte Entgiftung spricht. An den quantitativen Veränderungen dieser Biomarker wird die Wirksamkeit von Oltipraz deutlich und lässt die Anwendung zur Chemoprävention als vielversprechend erscheinen. Chemoprävention ist definiert als eine Intervention mit dem Ziel, mithilfe spezifischer Substanzen der Kanzerogenese vorzubeugen, sie zu hemmen oder Präneoplasien zur Rückbildung zu bringen, bevor Malignität auftritt. Die Strategie der Chemoprävention besteht in drei Ansätzen: 1. Hemmung der Bildung von Kanzerogenen, 2. Reduktion des Auftretens von kanzerogenen Metaboliten und freien Radikalen (z. B. ROS) durch 5 Hemmung der Aktivierung von Prokanzerogenen, 5 Beschleunigung der Inaktivierung von Kanzerogenen, 5 Einsatz von Radikalfängern, 3. frühzeitige Erkennung von Vorstufen der Kanzerogenese und Behandlung mit Substanzen, die antipromovierend wirken, indem sie Wachstumsprozesse hemmen und/oder die Differenzierung der Zellen induzieren. Beim Menschen reduziert reichlicher Verzehr von Gemüse und Obst die Krebshäufigkeit in Mundhöhle, Speiseröhre, Dickdarm, Lunge, Gebärmutterhals und anderen Organen. Für diese Schutzwirkung werden z. T. jene natürlichen Nahrungsbestandteile verantwortlich gemacht, die Phase-II-Enzyme induzieren. So enthalten Kohl und andere Gemüse Isothiocyanate, die einerseits die Bildung von ROS hemmen (Miyoshi et al. 2004) und andererseits
210
8
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
Glutathiontransferasen (GST) induzieren (Sparnins et al. 1982). Diese Mechanismen können die DNA-Schädigung und Tumorerzeugung durch bestimmte chemische Kanzerogene im Experiment vermindern (Steinkellner et al. 2000; Wattenberg 1975). Auch Inhibitoren von Phase-I-Enzymen wurden in pflanzlichen Lebensmitteln gefunden, z. B. das in . Tab. 8.10 erwähnte Naringenin aus Grapefruitsaft. Ob diese zur Schutzwirkung vor Krebs beitragen, ist nicht bekannt. An der protektiven Wirkung des Verzehrs von Obst und Gemüse sind noch weitere Mechanismen beteiligt, z. B. bindet Vitamin C freies Nitrit und vermag so die endogene Nitrosierung von Aminen zu Nitrosaminen (s. oben) zu blockieren. Ferner können Vitamin C und andere antioxidative Inhaltsstoffe wie Vitamin E und Polyphenole intermediär entstehende ROS und andere Radikale inaktivieren, denen eine kanzerogene Wirkung zugeschrieben wird. Eine Schutzwirkung antioxidativer Vitamine gegenüber Krebsentstehung wurde in Ländern nachgewiesen, in denen eine Unterversorgung mit Vitaminen bestand. Über ein Optimum hinaus gehende Vitaminzufuhr kann jedoch ungünstige Wirkungen haben, wie die Supplementation mit β-Carotin in der »Finnischen Raucherstudie« (Heinonen et al. 1994) und in der CARET-Studie (Redlich et al. 1999) gezeigt hat.
8.2.7
Erbliche Variationen bei der Metabolisierung von Kanzerogenen und der Reparatur von DNA-Schäden
Die zunehmenden Kenntnisse über die Metabolisierung chemischer Kanzerogene ermöglichen Voraussagen über die Krebsempfindlichkeit (Suszeptibilität) des Einzelnen. Bei den meisten Enzymen der Phase I und II des Fremdstoffmetabolismus sowie auch für viele DNA-Reparaturproteine sind zahlreiche genetische Varianten entdeckt worden. Sehr oft handelt es sich um Genmutationen, bei denen nur ein Nukleotid ersetzt ist, »single nucleotide polymorphisms (SNP)«. Liegt die Häufigkeit einer genetischen Variante unter 1%, wird von einer Mutation gesprochen. Von genetischem Polymorphismus spricht man bei einer Häufigkeit von mehr als 1%. Bei bestimmten genetischen Konstitutionen des Fremdstoffmetabolismus kann die Aktivierung von chemischen Kanzerogenen verstärkt und/oder die Inaktivierung vermindert sein. In diesen Fällen ist ein erhöhtes kanzerogenes Risiko zu erwarten. Da meist alternative Stoffwechselwege die Umsetzung des Fremdstoffes oder seiner Metabolite übernehmen können, sind die Auswirkungen solcher Dispositionen begrenzt. Die Epidemiologie untersucht die Assoziation von Exposition und Krebshäufigkeit. Heute wird zusätzlich nach Suszeptibilitätsparametern mittels genetischer Analysen differenziert (molekulare Epidemiologie). Dabei werden zusätzlich genetische Varianten, z. B. des Metabolismus und der DNA-Reparatur, die das Krebsrisiko mit bestimmen können, analysiert. . Tab. 8.11 gibt die wichtigsten Parameter an, die in den entsprechenden Untersuchungen eingesetzt werden. Wenn ein Enzym polymorph exprimiert wird, kann der Fremdstoffmetabolismus durch die veränderte Enzymaktivität der Isoform derart ungünstig verändert sein, dass dadurch das Krebsrisiko zunimmt. Naturgemäß ist eine solche genetische Konstitution nur dann relevant, wenn Exposition gegenüber einer bestimmten Substanz erfolgt. Einige wichtige Beispiele für Assoziationen zwischen spezifischen genetischen Varianten und verändertem Tumor-
. Tab. 8.11. Parameter der individuellen Exposition und Disposition Parameter zur Abschätzung der internen Kanzerogenexposition
Parameter zur Abschätzung der individuellen (ererbten) Empfindlichkeit
Molekulare Dosimetrie der Kanzerogenexposition, d. h. Quantifizierung von Kanzerogenaddukten an Makromolekülen
Genetische Variationen der Aktivierung und Inaktivierung von chemischen Kanzerogenen
Zytogenetische Läsionen
Genetische Variationen in DNA-Reparaturgenen
Mutationsspektren
Genomische Instabilitäten
Mutationsfrequenzen
Keimzellmutationen oder Variationen in Tumorsuppressorund Protoonkogenen
risiko sind in . Tab. 8.12 angeführt. Eine umfangreichere Zusammenstellung findet man bei Vineis (2004). In menschlichen Populationen treten bei polymorphen Enzymen neben Wildtypen zahlreiche Varianten in homo- und heterozygoten Genotypen auf. Dies bedingt erhebliche interindividuelle Aktivitätsunterschiede. Da meist auch die Substanzexposition gegenüber Kanzerogenen nur ungenügend quantifizierbar ist, treten in molekularepidemiologischen Studien erhebliche Streuungen der beobachteten Krebsrisiken auf. Diese Streuungen werden geringer und die Aussagen bezüglich einer möglichen Gen-Umwelt-Interaktion (. Abb. 8.4) treffender, wenn in genügend großen Kollektiven bei qualitativ gleicher Exposition jene Untergruppen getrennt analysiert werden, die eine möglichst gleichartige genetische Ausstattung besitzen. Im Folgenden werden beispielhaft einige bekannte genetische Polymorphismen und ihr Einfluss auf das Krebsrisiko besprochen. Der CYP2D6-Polymorphismus ist ursprünglich wegen der Unterschiede im Metabolismus von Antihypertensiva bekannt geworden. CYP2D6 ist auch an der Aktivierung von tabakrauchspezifischen Nitrosaminen wie NNN und NNK beteiligt (s. Formel . Abb. 8.14). »Schnelle Metabolisierer« mit hoher Aktivität des CYP2D6-Enzyms (ca. 93% der Europäer) haben ein erhöhtes Risiko für Bronchial- und Harnblasenkarzinome. Obwohl die molekulare Genetik der CYP2D6-Varianten gut untersucht ist (Bertilsson et al. 2002), ist aufgrund widersprüchlicher epidemiologischer Befunde die Assoziation eines erhöhten Bronchialkrebsrisikos mit der schnellen Metabolisierervariante des CYP2D6 noch unklar. Personen, die zwei inaktive Allele des CYP2D6-Gens besitzen, werden als schlechte Metabolisierer bezeichnet. Bei diesen wurden nach Tabakrauchexposition weniger 7-Methyl-Desoxy-Guaninaddukte gefunden als bei den schnellen Metabolisierern mit intaktem Gen (Kato et al. 1995). Dies ist mit der Vorstellung in Einklang, dass schnelle Metabolisierer aufgrund einer verstärkten Aktivierung mehr DNA-Addukte erzeugen und damit verbunden ein erhöhtes Krebsrisiko aufweisen. Ein weiteres Beispiel stellt der CYP2A6-Polymorphismus der Asiaten dar, bei dem ein deletiertes Allel CYP2A6*4 bei 15–20% der Japaner vorkommt. Diese Individuen können 1,3-Butadien, AFB1, Nikotin, die Nitrosamine NNN, NNK, NNAL und Diethylnitrosamin schlechter metabolisieren (aktivieren) als die Träger
211 8.2 · Bedeutung von chemischen Kanzerogenen
8
. Tab. 8.12. Wichtige genetische Polymorphismen im Fremdstoffmetabolismus, die mit veränderten Tumorrisiken assoziiert werden. (Nach Bartsch u. Hietanen 1996; Vineis u. Martone 1995; Wormhoudt et al. 1999, Vineis 2004) Enzym
Variante
Vorkommen
Tumorrisiko bei Vorliegen der Variante
CYP2D6
Schneller Metabolismus von Debrisoquin und anderen Antihypertensiva und des kanzerogenen NNK
90–95% der Europäer
Harnblasen-, Leber- und Bronchialkrebs ↑
CYP1A1
Hohe Induzierbarkeit durch PAK und TCDD
10% der Europäer und kombiniert mit GSTM1 null
Bronchialkrebs ↑
CYP1A2
Defizienz, genetischer Polymorphismus für Koffein (bimodal)
<1%
Harnblasen- und Kolonkrebs ↓??
GST-M1
Nullgenotyp, mangelnde Inaktivierung von AFB1 und Tabakrauchbestandteilen
50% der Europäer
Harnblasen-, Bronchial- und Leberkrebs (AFB1) ↑
GST-T1
Nullgenotyp, kann schlecht Ethylenoxid und einige andere Tabakrauchbestandteile abbauen
25–30% in der BRD, 10% in Schweden
Magen-, Harnblasen-, Bronchialkrebs
Epoxidhydrolase
Mutation
??
Leberkrebs (AFB1) ↑
Azetyltransferase
Langsame Azetylierer (Konjugation von aromatischen Aminen)
50% der Europäer
Harnblasenkrebs ↑ (. Abb. 8.13)
Azetyltransferase
Schnelle Azetylierer (Konjugation von heterozyklischen Aminen: PhlP, Trp-P-2 u. a.)
50% der Europäer
Kolonkrebs ↑ (s. oben)
. Tab. 8.13. Wichtige chemische Veränderungen in der DNA durch gentoxische Kanzerogene und Strahlen Kanzerogen
Veränderung
Aromatische Amine
C8- und N2-Guanin und N6-Adeninaddukte
Polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK)
N2-Guanin und -Adeninaddukte
Methylierende und ethylierende Substanzen
O6-Guaninaddukte, O2-, O4-Thyminaddukte, Depurinierung
Aflatoxin B1
N7-Guaninaddukte
Olefine (Ethen, Ethylenoxid, Vinylchlorid)
Ethenoaddukte an Adenin, Guanin und Zytosin
Interkalierende Agenzien (Daunorubicin, Doxorubicin, Mitoxanthron, PhlP, PAK, 9-Aminoacridine)
Deletion bzw. Insertion von Basen während der Replikation
Bifunktionelle Agenzien, Mitomycin C
Strangvernetzung, Protein-DNA-Bindungen
UV-Strahlung
Pyrimidindimere, Protein-DNA-Bindungen
Ionisierende Strahlung Radikalbildner: Daunorubicin, Doxorubicin, Bleomycin, ROS
Doppel- und Einzelstrangbrüche, Clastogenese, Hydroxylierung von Thymidin und Guanin, Depurinierung, Depyrimidinierung, ProteinDNA-Bindungen
des Wildtypallels. Tabakrauchende Japaner mit dieser Deletion hatten in einer Fall-Kontroll-Studie ein deutlich reduziertes Lungenkrebsrisiko (relatives Risiko = 0,25; Miyamoto et al. 1999). Bei Europäern kommt dieser Polymorphismus praktisch nicht vor. CYP1A1 spielt eine wesentliche Rolle bei der Aktivierung von PAK. Tabakrauchbestandteile, insbesondere PAK selbst, induzieren CYP1A1 in der Lunge und beschleunigen dadurch ihre eigene Aktivierung. Bei ca.10% der Europäer ist diese Induzierbarkeit aufgrund des genetischen Status besonders ausgeprägt. Molekularepidemiologische Studien haben gezeigt, dass bei Vorliegen dieser Konstitution in Europäern zum einen die PAK-Addukt-Spiegel von Rauchern leicht erhöht sind (Alexandrov et al. 2002) und zum anderen das Bronchialkrebsrisiko ca. 2-fach er-
höht ist (Spivack et al. 1997). Häufig ist diese hohe CYP1A1-Induzierbarkeit noch mit einem GST-M1-Null-Genotyp assoziiert. Somit fehlt den betroffenen Personen eine der wesentlichen Glutathiontransferasen für die Inaktivierung der Benzpyrenepoxide. Hohe Aktivierung und niedrige Inaktivierung sind in diesen Fällen verknüpft und mit einem deutlich erhöhten Tumorrisiko (5,9 für Bronchialkrebs) assoziiert (Hayashi et al. 1992). Dieses Beispiel verdeutlicht den Einfluss von Genverknüpfungen (»gene linkage«), welche zusätzlich zur individuellen Suszeptibilität und letztlich zur Variation der Krebsrisiken in der Population beitragen. Der N-Azetyltransferase-(NAT2-)Polymorphismus wurde bereits bei der Vorstellung der aromatischen und heterozyklischen Amine besprochen. Langsame Azetylierer besitzen ein
212
8
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
. Abb. 8.24. Mögliche Auswirkungen der Exposition und Variation von Fremdstoffmetabolismus und DNA-Reparatur auf das Krebsrisiko. Das Schema gibt für eine bestimmte Exposition gegenüber einem initiierenden Kanzerogen zwei Extremvarianten für die Aktivierung/Inaktivierung an, welche entweder zu sehr hohen oder sehr niedrigen Konzentrationen
an reaktiven Metaboliten und DNA-Schäden führen. Je nach genetischer Ausstattung mit DNA-Reparaturproteinen ist dann ausgehend von einem hohen DNA-Schadensniveau das mögliche Ausmaß des Krebsrisikos dargestellt. Man beachte, dass sich bei allen Prozessen eine Fülle von Zwischenstufen einstellen können
erhöhtes Harnblasen- und ein verringertes Kolon-RektumKrebsrisiko. Die Ursachen für die veränderten Risiken waren relativ leicht zu identifizieren, da ca. 50% der Individuen in der europäischen Bevölkerung NAT2-defizient sind. Der NAT2-Polymorphismus illustriert, dass bestimmte genetische Dispositionen bei spezifischer Substanzexposition das Krebsrisiko maßgeblich determinieren können (Gen-Umwelt-Interaktion). NAT1 wird in den meisten Organen konstitutiv exprimiert. Entgegen früherer Ansicht zeigt NAT1 polymorphe Verteilung. Das Wildtypallel (NAT1*4) kommt bei ca 73%, das NAT1*11Allel (erhöhte Aktivierung von aromatischen und heterozyklischen Aminen) bei 1–4% und das NAT1*10 Allel (mit vermutlich erhöhter Aktivität) bei ca. 19% der Europäer vor. Das Brustkrebsrisiko von Nichtraucherinnen wird durch keinen dieser Genotypen signifikant verändert (Zheng et al. 1999). Raucherinnen, die das NAT1*10-Allel tragen, haben dagegen ein tendenziell erhöhtes, Trägerinnen des NAT1*11-Allels sogar ein signifikant erhöhtes Brustkrebsrisiko (13-fach). Bei hohem Verzehr von gut durchgebratenem Fleisch, welches heterozyklische Amine enthält, ist bei Genotyp NAT1*11 das Brustkrebsrisiko ebenfalls signifikant erhöht (4- bis 6-fach; Zheng et al. 1999). In den verschiedenen DNA-Reparaturwegen (s. unten) sind eine Vielzahl von Proteinen aktiv. Die betreffenden Gene enthalten ebenfalls häufig SNP. In einer Reihe von Arbeiten wurde geprüft, ob mit bestimmten SNP erhöhte Krebsrisiken assoziiert sind. In den meisten Fällen waren jedoch die Risiken nicht oder nur wenig erhöht. Bei der Untersuchung von 44 SNP in 20 DNAReparaturgenen bei Rauchern mit nicht kleinzelligem Bronchialkarzinom wurden bestimmte SNP identifiziert, die mit einem bis zu 3-fach erhöhten Krebsrisiko assoziiert waren (Zienolddiny et al. 2006). Umgekehrt wurden auch SNP gefunden, die mit einem verringerten Krebsrisiko verknüpft waren. In diesen Fällen zeigten die zugehörigen Lungengewebsproben meist signifikant geringere PAK-DNA-Addukt-Spiegel. Das Krebsrisiko durch chemische Substanzen wird also nicht nur durch das Ausmaß der Exposition bestimmt, sondern in vielfältiger Weise durch unterschiedliche genetische Varian-
ten der fremdstoffmetabolisierenden Enzyme und der DNA-Reparaturgene moduliert (. Abb. 8.24). 8.2.8
DNA- und Chromosomenschäden durch gentoxische Chemikalien und endogene Ursachen
Je nach ihren chemischen Eigenschaften können gentoxische Agenzien mit unterschiedlichen Atomen in der DNA stabile kovalente Bindungen eingehen. Eine Übersicht über die wichtigsten Addukte und weitere Schäden gibt . Tab. 8.13. Die Schädigungsmuster sind in gewissem Umfang charakteristisch für die einzelnen Noxen und können zu deren Identifizierung beitragen. Bei einigen Kanzerogenen, z. B. Benzol, stehen klastogene Schäden im Vordergrund, die sich als Chromosomenaberrationen, Mikrokernbildung usw. zeigen. Weitere Substanzen bewirken vorzugsweise Aneuploidien. Zur Erläuterung der Adduktpositionen in den Nukleotidbasen sei auf . Abb. 8.6 verwiesen. Auch endogene Ursachen von DNA-Schäden sind bekannt. Aufgrund reaktionskinetischer Wahrscheinlichkeiten wurde abgeschätzt, dass in einer Säugerzelle pro Tag ca. 55.000 Einzelstrangbrüche, 12.000 Purin-, ca. 600 Pyrimidinabspaltungen, 200 Zytosindeaminierungen, 8 DNA-Strangquervernetzungen und ca. 3.000 O6-Methylguaninbildungen auftreten (National Acadamy of Science 1989). Freie Radikale, Strahlung, ROS, RNS (7 Abschn. 8.2.4) und Replikationsfehler der DNA-Polymerase werden als Auslöser für derartige Schäden angesehen (. Abb. 8.25). Durch endogene oder exogene Noxen verursachte DNASchäden können Ursache von Mutationen sein (. Abb. 8.25). So ist z. B. die Bildung eines Methyladduktes am O6 des Guanin dafür verantwortlich, dass die dritte Wasserstoffbrückenbindung zum Zytosin verhindert wird (. Abb. 8.26). Bei der nächsten DNA-Replikation wird folglich ein Thymin anstelle von Zytosin eingebaut und dieses wird bei der darauf folgenden DNA-Replikation mit Adenin gepaart, sodass letzt-
213 8.2 · Bedeutung von chemischen Kanzerogenen
8
. Abb. 8.25. Ursachen für Mutationen
lich ein Guanin-Zytosin-Paar durch Adenin-Thymin ersetzt wurde1. Damit ist eine »Punktmutation« entstanden. Das falsche Kodon führt meist zum Einbau einer falschen Aminosäure in das Protein (Missense-Mutation). Bestimmte Punktmutationen erzeugen aufgrund der Mehrdeutigkeit des genetischen Codes keine Veränderung der Aminosäuresequenz, sind also als »stille Mutationen« zu bezeichnen. Wenn jedoch durch Basensubstitution ein Stoppkodon generiert wird, so handelt es sich um eine Nonsense-Mutation. Außer Punktmutationen können einige weitere Typen von Mutationen erzeugt werden, z. B. durch Basendeletion, die zur Verschiebung des Leserasters führen, durch Deletion größerer Genabschnitte oder ganzer Gene; ferner können Genamplifikation, Chromosomentranslokation und Aneuploidie als Folge gentoxischer Schäden auftreten. Genamplifikationen sind meist adaptative Reaktionen und führen zu einer verstärkten Expression des jeweiligen Gens. Sie sind Teil evolutionärer Entwicklungen (Globin-, ZytochromP450-Gene), wurden aber auch als Ursache der Überexpression der Protoonkogene MYC, CCND1 und ERB-B2 sowie anderer Gene in Tumoren entdeckt. Jedoch kann eine Überexpression von Genen auch unabhängig von Amplifikationen erfolgen. Chromosomentranslokationen werden durch radioaktive Strahlung, ROS und klastogene Substanzen (z. B. Benzol) ausgelöst. Aneugene Chemikalien sind meist tubulinbindende Agenzien, z. B. Colcemid, Vincristin, Vinblastin, die die Aufteilung der Chromosomen durch Blockade der Teilungsspindel stören. Für die Ausbildung einer Mutation kommt es entscheidend darauf an, ob auf die DNA-Schädigung eine DNA-Replikation folgt. Je weniger Zeit für die Reparatur vor der Zellreplikation verbleibt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Mutation. Die letale und mutagene Wirkung gentoxischer Noxen ist daher kurz vor und nach Beginn der S-Phase am größten. Daraus folgt, dass proliferierende Gewebe und junge Individuen (Embryonen, 1
Ein solcher Basentausch von einer Pyrimidin- zu einer anderen Pyrimidinbase oder von einer Purin- zu einer anderen Purinbase heißt Transition; dagegen bezeichnet man die Mutation von einer Purinbase zu einer Pyrimidinbase oder umgekehrt als Transversion.
Kinder) besonders empfindlich gegenüber gentoxischen Kanzerogenen sind. Ohne Replikation können praktisch keine Mutationen beobachtet werden. Bei der klinischen Anwendung von alkylierenden Zytostatika und anderen gentoxischen Substanzen zur Chemotherapie von Tumoren kann deren zytotoxische und mutagene Wirkung eine besondere Gefahr für proliferierende Zellen bedeuten. So führt die Behandlung häufig zu Neutropenie und Depletion der granulopoietischen Vorläuferzellen und in der Folge zur Aktivierung und Proliferation der Stammzellen im Knochenmark. Erleiden diese bei weiterer Behandlung DNASchäden, sind Mutation und Initiation zu erwarten. Auf derartigen Vorgängen beruht vermutlich die Häufung des Auftretens von Leukämien nach Behandlung mit alkylierenden Zytostatika (. Abb. 8.19).
. Abb. 8.26. Verursachung von Mutationen durch elektrophile Agenzien. Bedeutung der DNA-Replikation für die Mutagenese. Als Beispiel werden die Bindung eines elektrophilen Methylrestes (. Abb. 8.15) an DNA, das dabei entstehende DNA-Addukt und die resultierende Punktmutation (G:C→A:T-Transition) dargestellt; MeG O6-Methyl-Guanin
214
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
8
. Abb. 8.27. Stellenwert der metabolischen Aktivierung im Mehrstufenprozess der chemischen Kanzerogenese
Abschließend zeigt . Abb. 8.27 schematisch die wesentlichen Schritte, die von der kanzerogenen Substanz (Prokanzerogen) über die Aktivierung zum reaktiven Kanzerogen, zur Mutation und schließlich zur initiierten Zelle führen (vgl. . Abb. 8.1). 8.2.9
Chemisch induzierte Mutationen in spezifischen, mit der Kanzerogenese assoziierten Genen
Die meisten Belege für eine ursächliche Beteiligung von chemischen Kanzerogenen an Protoonkogenaktivierungen oder Tumorsuppressorgeninaktivierungen sind an Tiermodellen gewonnen worden. Auch für einige Tumortypen des Menschen wurden Hinweise für eine kausale Rolle chemischer Kanzerogene gefunden (. Tab. 8.14). Bei den meisten chemisch induzierten Tumoren sind jedoch die Gene und die Mutationen, die für die Krebsentstehung unmittelbar verantwortlich sind, noch unbekannt. Die Untersuchung von Mutationstypen im P53-Tumorsuppressorgen hat ergeben, dass z. B. in Kolontumoren G:C→A:TTransitionen als häufigste Veränderung vorkommen. 63% dieser Mutationen werden in CpG-Dinukleotiden gefunden, von denen man annimmt, dass sie durch 5-Methylzytosin-Deaminierung zustande kommen. Als Ursache sind sehr wahrscheinlich ROS und NO• beteiligt. Dies spricht für eine entzündungsbedingte
Entstehung der Mutationen (s. oben). Im Unterschied hierzu wurden im P53-Gen von Lungentumoren zu 40% G:C→T:ATransversionen gefunden, die wahrscheinlich auf PAK-Exposition zurückzuführen sind (. Tab. 8.14). Am besten untersucht sind die Zusammenhänge bei Aflatoxin B1, das hier exemplarisch vorgestellt wird: In 30–50% der hepatozellulären Karzinome in Südchina und in Afrika, nicht jedoch in Europa und den USA, finden sich spezifische Mutationen im P53. Sie werden mit der AFB1Exposition in jenen geografischen Regionen verknüpft. Häufig ist die dritte Base von Kodon 249 betroffen. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um G:C→T:A-Transversionen. Diese Mutation stellt eine sog. »Hotspot-Mutation« dar. Die Aufnahmemenge an AFB1 korreliert mit der Häufigkeit des Auftretens von P53-Mutationen im Kodon 249 (Montesano et al. 1997). In Gegenden mit hoher Inzidenz an hepatozellulären Karzinomen und Aflatoxinexposition kommen die Mutationen sowohl in normalen als auch in Tumorzellen vor. Auch in kultivierten menschlichen Leberzellen bindet das AFB-8,9-Epoxid an die dritte Base (G) im Kodon 249 des P53-Gens und führt zur Mutation. Die Mutation hemmt die Wirkung von P53 als Transkriptionsfaktor und die Aktivierung des Apoptoseweges. Leberzellen in Kultur mit einer Kodon-249-Mutation im P53 zeigten ein gesteigertes Proliferationspotenzial (Ponchel et al. 1994). Damit ist eine mechanistische Erklärung vom verursachenden Kanzerogen über die genetischen Veränderungen bis zu den funktionellen Konsequenzen, die zur Tumorentstehung führen, gegeben. Die Sequenz der molekularen Veränderungen unterstützt somit die Annahme, dass AFB1-Exposition ursächlich mit der Leberkanzerogenese assoziiert ist (Hussain u. Harris 1998). Mutationen in den »Hot-Spots« der RAS-Gene sind aktivierende Mutationen. Sie führen zu beschleunigtem Wachstum. Schließlich sind für Hautkarzinome, die durch UV-Licht ausgelöst wurden, C-C→T-T-Tandem-Doppelmutationen im P53Gen typisch. Dieser Mutationstyp wird in Plattenepithel und Basalzelltumoren der Haut gefunden, ist jedoch in Tumoren anderer Organe ungewöhnlich. Diese Beispiele zeigen, dass kanzerogene Noxen spezifische Mutationsspektren erzeugen können. Somit kann die Analyse des Mutationsspektrums in Tumorgenen zur Aufklärung der Ätiologie bestimmter Krebserkrankungen beitragen. 8.2.10 DNA-Reparatur
Die Häufigkeit von DNA-Schäden ist außerordentlich hoch und wäre ohne Korrekturmechanismen nicht mit dem Leben vereinbar. In der Evolution haben sich wirksame Reparaturmechanismen entwickelt. So wird jeder der oben genannte endogenen DNA-Schäden in der Zelle mit einer Geschwindigkeit von ca. 10.000 Basenpaaren pro Stunde repariert. Bei Fehlfunktion von DNA-Reparaturmechanismen (Mutatorphänotyp) besteht eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber endogenen und exogenen gentoxischen Noxen. So ist bei Personen mit genetischen Defekten in der Erkennung von DNA-Schäden und ihrer DNA-Reparatur (Xeroderma pigmentosum, Cockayne-Syndrom, Fanconi-Anämie, Ataxia telangiectasia, Bloom-Syndrom) die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Krebserkrankungen deutlich erhöht. DNA-Schäden werden durch Sensorsysteme erkannt (7 Kap. 4). An Kontrollpunkten vor der DNA-Replikation (in G1) und der Zellteilung (in G2) wird die DNA auf Integrität geprüft,
215 8.2 · Bedeutung von chemischen Kanzerogenen
8
. Tab. 8.14. Einige Mutationen in Onkogenen und Tumorsuppressorgenen in menschlichen Tumoren, die auf chemische Kanzerogene und radioaktive Elemente zurückgeführt werden Tumor (Referenz)
Mutation
Gen
Kodon
Vermutete Noxe
Vermutetes Addukt
Bronchialkarzinom (Hussain u. Harris 1998)
G:C→T:A
P53
157, 248, 273
PAK
–
Bronchialkarzinom (Taylor et al. 1994)
Diverse, u. a. G:C→A:T
P53
diverse, u. a. 249
Radon
–
Leberkarzinom (Hsu et al. 1991; Bressac et al. 1991)
G:C→T:A
P53
249
Aflatoxin B1
AFB1-Guanin-N7
Leberangiosarkom (Hussain u. Harris 1998)
A:T→T:A
P53
249
Vinylchlorid
–
Leberangiosarkom (Marion u. Boivin-Angele 1999; Bartsch et al. 1994)
G:C→A:T
K-RAS
13
Vinylchlorid
Etheno-Guanin
Bronchialkarzinom (Hussain u. Harris 1998)
G:C→T:A
K-RAS
12
PAK
–
Kolonkarzinome (Hussain u. Harris 1998)
G:C→A:T
K-RAS
13
Alkylierende Substanzen
–
Akute myeloische Leukämie (Taylor et al. 1992)
Diverse
K-, H-, N-RAS
12, 13, 61
Arbeitsplatzchemikalien
–
Klarzellige Nierenkarzinome (Brauch et al. 1999)
C:G→T:A
VHL
81
Trichlorethylen
Exozyklisches Ethenozytosin
Schilddrüsenkarzinom (Klugbauer et al. 1995)
Translokation
RET
–
Jod-131
–
um die Replikation geschädigter DNA oder die Weitergabe defekter Chromosomen zu verhindern, da sonst die Gefahr einer hohen Mutationsrate besteht. Drei verschiedene Folgen sind bekannt: 4 Zellzyklusarretierung, wodurch Zeit für die DNA-Reparatur gewonnen wird; 4 Elimination der Zelle durch Apoptose, wenn die DNA-Schädigung zu schwer ist; 4 DNA-Reparatur. Der erste Schritt zur DNA-Reparatur besteht in der Erkennung von genomischen Schäden, die bereits nach wenigen Minuten Gegenreaktionen auslösen. Es ist noch unbekannt, wie die unmittelbare Schadenserkennung molekular abläuft. Die primären Reaktionen der Zellen bestehen in einer Aktivierung präexistenter Proteine, um schnell auf die Schädigung reagieren zu können. Daran sind Kinasen beteiligt, die Signal- und Transkriptionsfaktoren aktivieren (z. B. die früh induzierten Gene der FOS- und JUN-Familie sowie RHO B und P21; die FOS- und JUN-Proteine bilden den Transkriptionsfaktor AP-1 und die ATM-Kinase, s. unten). DNA-Strangbrüche aktivieren binnen kürzester Zeit das Enzym Poly(ADP-Ribose)-Polymerase 1 (PARP1). PARP1 bindet als Zinkfingerprotein an Einzel- und Doppelstrang-DNA ohne Sequenzspezifität und überträgt ADP-Ribose auf sich selbst (Automodifikation) und auf andere Proteine. Als Antwort auf DNA-Strangbrüche werden Kernproteine in der Umgebung des Schadens poly(ADP)ribosyliert, wodurch intrazelluläre Signale
gesetzt werden, die zur Anschaltung von DNA-Reparatur oder Zelltod führen. PARP1 wirkt als antirekombinogener Faktor. Bei sehr extensivem Schaden werden große Mengen an NAD als Kofaktor verbraucht. Dies belastet den Energiestoffwechsel der Zelle und kann Zelltod durch Apoptose einleiten. Auch ein rascher Abbau proreplikativer Signalfaktoren kann nach DNA-Schäden erfolgen. Ein Sensormechanismus bewirkt den proteolytischen Abbau von Cyclin D1 mit konsequenter Arretierung des Zellzyklus in G1 (Agami u. Bernards 2000). Für den raschen Abbau des Cyclin D1 ist eine spezifische »destruction box« (RxxL-Motiv) an dessen aminoterminalem Ende verantwortlich. Daneben gibt es andere Mechanismen, die mit einer gewissen Latenz induziert werden: z. B.Induktion der Gene für Alkyltransferase und für β-Polymerase, die zur Neusynthese dieser Reparaturproteine führt. Eines der wichtigsten regulatorischen Gene, das über Schadensreparatur oder Tod einer geschädigten Zelle entscheidet, ist das Tumorsuppressorgen P53. Nach gentoxischer Schädigung wird P53 durch ATM2 phosphoryliert und damit stabilisiert (eine ähnliche Rolle scheint ABL für die Phosphorylierung von P73
2
Das ATM-Gen ist nach der Krankheit Ataxia teleangiectasia benannt, deren Träger u. a. ein ca. 60-fach erhöhtes Tumorrisiko haben. ATM scheint nicht nur eine Rolle bei der Kontrolle des Zellzyklus im Zusammenhang mit DNA-Schädigung, sondern auch bei der Reparatur von Doppelstrangbrüchen zu spielen.
216
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
. Tab. 8.15. Einige Typen und Mechanismen der DNA-Reparatur Reparaturtyp
Art des Schadens
Schadensrückbildung
Alkyliertes Nukleotid
Basenexzisionsreparatur (BER)
Einzelnes verändertes Nukleotid (niedermolekulares Addukt)
Nukleotidexzisionsreparatur (NER)
Große raumerfüllende Addukte am Nukleotid; Pyrimidindimere
Basenfehlpaarungsreparatur (»mismatch repair«)
Basenfehlpaarung z. B. nach Desaminierung von 5-Methylzytosin
Transkriptionsgekoppelte Reparatur
UV-induzierte Cyclobutan-PyrimidinDimere, oxidative Schäden an den Nukleotiden, DNA-Strangvernetzungen, sonst wie bei BER und NER
Strangbruchreparatur
Einzelstrangbrüche, Doppelstrangbrüche
8 nach DNA-Schädigung zu besitzen; Agami et al. 1999; Yuan et al. 1999). Es akkumuliert in den Zellen und aktiviert die Transkription von P21cip1, das den Zellzyklus in G1 arretiert. Damit ist Zeit gewonnen, um DNA-Schäden reparieren zu können, bevor sie durch Zellreplikation zu Mutationen führen (s. oben). Im Falle sehr starker DNA Schädigung werden hohe P53-Spiegel erreicht. P53 ist als transkriptioneller Aktivator des CD95-Gens aktiv (Müller et al. 1998) und induziert so letztlich Apoptose. Angesichts der zentralen Kontrollfunktion von P53 ist es nicht überraschend, dass Mutationen in diesem Gen in einer Vielzahl von Tumoren auftreten. Die Bedeutung wird am Li-Fraumeni-Syndrom deutlich: In den Betroffenen existiert eine Keimbahnmutation dieses Gens. Bei Schädigung des verbliebenen funktionellen Allels besitzen die Zellen kein wirksames P53 mehr und es besteht ein generell erhöhtes Krebsrisiko. Nach der Schadenserkennung kann DNA-Reparatur erfolgen. Welcher der verschiedenen Mechanismen wirksam wird, hängt von der Art des Schadens ab. Die wichtigsten Reparaturprozesse sind in einer Kurzcharakteristik in . Tab. 8.15 zusammengestellt. Organspezifität von DNA-Schäden und DNA-Reparatur In welchem Ausmaß nach Aufnahme chemischer Kanzerogene DNA-Addukte in einem Gewebe vorkommen, hängt einerseits vom Ergebnis des Metabolismus, also der Organdosis des reaktiven Metaboliten, und andererseits von der DNA-Reparaturkapazität des jeweiligen Gewebes ab. Experimentell wurde festgestellt, dass DNA-Addukte chemischer Kanzerogene, z. B. von Methyl- und Ethylnitrosoharnstoff (. Abb. 8.7), aus Gehirngewebe der Ratte viel langsamer eliminiert werden als aus der Leber (Goth u. Rajewsky 1974). Dies korrelierte mit der Organspezifität der kanzerogenen Wirkung (überwiegendes Auftreten von ZNSTumoren). Bei anderen Organen und Kanzerogenen wurden ähnliche Unterschiede in der Reparaturkapazität beobachtet (Kleihues u. Wiestler 1984). Eine zusätzliche Variable ist die Lokalisation von Addukten an den diversen nukleophilen Stellen der DNA-Basen (. Abb. 8.6), die mit sehr verschiedener Effizienz repariert werden. Schließlich ist die DNA-Reparaturkapazität von verschiedenen Spezies ungefähr mit ihrer Lebensdauer korreliert (Hart u. Setlow 1974), woraus geschlossen werden kann,
dass die Wahrscheinlichkeit für Mutationen und Krebsentstehung in den üblichen Tiermodellen an Nagern höher ist als beim Menschen. 8.2.11 Irreversible Wirkung von gentoxischen Kanzero-
genen Reparaturvorgänge arbeiten nicht perfekt. Daher führt ein (geringer) Teil der exogenen und endogenen Schäden zu persistierenden Veränderungen (Mutationen). Dies bedeutet, dass die Wirkung gentoxischer Kanzerogene prinzipiell als irreversibel anzusehen ist. Bei wiederholter Exposition gegenüber gentoxischen Agenzien summieren sich die Schäden. Bei zunehmender Expositionsdauer können immer kleinere Einzeldosen über längere Zeit zum Tumor führen. Das Produkt aus Einzeldosis (d) und Zeitdauer der Exposition (t) ist der Wirkung (W) proportional (d×t~W). Nach dieser Beziehung, die empirisch gefunden wurde (Druckrey u. Kupfmüller 1948), kann keine Schwellendosis angegeben werden, unterhalb derer gentoxische Kanzerogene unwirksam sind. Zur gleichen Schlussfolgerung führt der Umstand, dass im Extremfall ein einziges Molekül eines gentoxischen Kanzerogens eine onkogene Mutation bewirken kann. 8.2.12 Kanzerogene mit nicht gentoxischen Wirkungs-
mechanismen Nicht gentoxisch wirkende Kanzerogene sind Substanzen, die in Testsystemen auf Mutagenität/Gentoxizität keine nachweisbare Wirkung zeigen und dennoch zur Entstehung von Tumoren führen. In Tierexperimenten wurden zahlreiche nicht gentoxische Kanzerogene gefunden. Es handelt sich dabei meist um Substanzen, die aufgrund hormonartiger oder zytotoxischer und entzündungsauslösender Eigenschaften Zellteilungsvorgänge (mitogene Effekte) hervorrufen. Sie wirken daher tumorpromovierend. Wenn initiierte Zellen aus anderer Ursache (»spontan«, 7 Abschn. 8.1.2) entstehen, können diese nicht gentoxischen Kanzerogene Tumoren erzeugen. Über die Auslösung chronischer Entzündungen können auch (indirekt) gentoxische Effekte und Initiation hervorgerufen werden. Die zugrunde liegenden Substanzwirkungen sind reversibel und treten erst oberhalb einer Schwellendosis auf. Auch beim Menschen dürften nicht gentoxische Substanzen große Bedeutung für die Krebsentstehung haben, z. B. bestimmte Hormone, Überernährung, einige Therapieformen, Ethylalkohol, Nikotin, Asbest, Formaldehyd, Dioxin (. Tab. 8.3 und 7 Kap. 11). Asbest Als Asbest bezeichnet man natürlich vorkommende mineralische Silikate von faseriger Struktur. Aufgrund der günstigen physikalischen und technologischen Eigenschaften wie Feuerfestigkeit, Zugfestigkeit und Isolierwirkung wurde Asbest bis in die 80er Jahre vielfältig verwendet (z. B. für Dachplatten, Rohre aus Asbestzement, für Brems- und Kupplungsbeläge, in Elektrogeräten u. v. a. m.). Entsprechend wurden große Populationen an Arbeitern exponiert. Für die Vereinigten Staaten wurde geschätzt, dass 200.000 Arbeiter in Primärprozessen und 3 Mio. in Sekundärprozessen betroffen waren. Bei den Beschäftigten in der Asbestgewinnung und -verarbeitung traten Asbestose (eine nicht maligne fibrotische Erkran-
217 8.2 · Bedeutung von chemischen Kanzerogenen
. Tab. 8.16. Bronchialkrebs bei Rauchern nach Asbestexposition (Isolierungsarbeiter). (IARC 1986) Asbestexposition Nichtraucher
Raucher
Relatives Risiko
–
1
+
5
–
11
+
53
kung der Lunge), Mesotheliome und eine erhöhte Inzidenz von Bronchialkrebs auf. Bei Bronchialkrebs ist eine starke synkanzerogene Wirkung von Asbest mit Tabakrauch bemerkenswert (. Tab. 8.16). Dies spricht für die große Bedeutung der tumorpromovierenden Wirkungskomponente, die sowohl auf Tabakrauchbestandteile als auch auf die chronische Entzündung zurückgehen dürfte (. Tab. 8.2 und 8.3). Die Mesotheliome gehen überwiegend von der Pleura, jedoch auch vom Peritoneum, Perikard und vereinzelt von der Tunica albuginea aus. Diese Erkrankungen sind mit der Inhalation von Asbeststäuben assoziiert. Nach oraler und intravenöser Zufuhr von Asbestfasern ist laut vorliegenden epidemiologischen und tierexperimentellen Daten nicht mit Krebsentstehung zu rechnen. Mesotheliome sind bei Asbestarbeitern weitaus seltener als Bronchialkrebs. Mesotheliome gelten jedoch als pathognomonisch für Faserkanzerogenese, allerdings kann dieser Tumor selten auch bei Personen ohne stärkere bekannte Asbestexposition auftreten. Die Latenzzeit zwischen der Exposition und Manifestation des Mesothelioms beträgt 20–40 Jahre. Aufgrund der beträchtlichen Exposition in der Vergangenheit ist noch auf Jahre hinaus ein Ansteigen der Mesotheliominzidenz zu erwarten (. Abb. 8.28). Nach neueren Berechnungen für die westeuropäischen Industrieländer ist in den nächsten 20 Jahren nahezu mit einer Verdoppelung der Mesotheliomrate von ca. 5.000 im Jahre 1998 auf ca. 9.000 im Jahre 2018 zu rechnen (Peto et al. 1999; Hogson et al. 2005). Das kanzerogene Risiko nach Asbestfaserexposition ist dosisabhängig. Tumoren wurden insbesondere bei Arbeitern beobachtet, die sehr hohen Faserkonzentrationen (>1 Mio./m3) ausgesetzt waren, gelegentlich auch bei ihren Familienangehörigen, die bei der Reinigung von verstaubter Arbeitskleidung exponiert wurden. Faserkonzentrationen von 10–400 Fasern/m3, die heute vielfach in der Luft unbelasteter Gebiete anzutreffen sind, gelten als praktisch unbedenklich.
. Abb. 8.28. Voraussichtliche Mesotheliomsterblichkeit in England
8
Die kanzerogene Wirkung von Asbestfasern wird in erster Linie durch ihre Form bestimmt: Besonders wirksam sind lange dünne Fasern. Als kanzerogen gelten Faserlängen über 5 μm (bis etwa 20 μm) bei einem Durchmesser von weniger als einem Drittel der Länge. Auch Glasfasern ähnlicher Abmessungen erzeugten im Tierexperiment Mesotheliome, was die Bedeutung der Form für die Wirkung unterstreicht. Andererseits besitzen nicht alle Asbestarten das gleiche kanzerogene Potenzial: Die stärker biegsamen und im Körper weniger beständigen Chrysotilfasern sind weniger gefährlich als die stabilen Amphibolasbeste, Crocidolit und Amosit. Auch hohe Persistenz der Fasern ist somit ein Risikofaktor. Der Mechanismus der kanzerogenen Wirkung von Asbestfasern ist nur teilweise geklärt (. Abb. 8.29, nach Oberdörster 1996). Asbest ist chemisch weitgehend inert und nicht zu kovalenter Bindung an DNA oder andere Zellbestandteile fähig. Eine Schlüsselrolle für die toxischen Wirkungen spielt offenbar die Phagozytose von Asbestfasern, insbesondere durch alveoläre Makrophagen, wodurch diese aktiviert werden und dadurch reaktive Sauerstoffspezies (ROS), NO, Prostaglandine, verschiedene Zytokine und Wachstumsfaktoren freisetzen. Diese induzieren die Einwanderung weiterer Makrophagen u. a. Entzündungszellen, die für die Entstehung der chronischen Entzündung und Fibrose verantwortlich sind. Die Fibrosierung findet sich in der Lunge und in der Pleura. Ständiger Proliferationsreiz dürfte der wichtigste Faktor für die Krebsentstehung nach Asbest sein (selektives Wachstum von spontan entstandenen initiierten Zellen?). Zusätzlich wurde eine (indirekte) gentoxische Wirkung von Asbestfasern berichtet (Schurkes et al. 2004), die sich als dosisabhängige Zunahme der prämutagenen Läsion 8-Hydroxy-desoxyguanosin darstellt. Molekularbiologisch konnten weder in Mesotheliomen von Ratten noch vom Menschen Mutationen im K-RAS- oder im P53-Gen (Exons 5–8) gefunden werden (Ni et al. 2000). Jedoch wurde erhöhte Expression der Protoonkogene C-MYC, FRA-1 und EGFR (Sandhu et al. 2000) sowie von FOS und JUN (Davis et al. 1997; Janssen et al. 1995; Timblin et al. 1998) beobachtet. Bei menschlichen Mesotheliomen wurden in ca. 40% der Fälle Mutationen im NF2-Tumorsupressorgen und zusätzlich in 70–100% der Tumore Deletionen der Tumorsuppressorgene P15 und P16 gefunden. Diese Veränderungen werden als späte, während der Tumorprogression auftretende Ereignisse angesehen (IARC 1999). In kultivierten Zellen zeigten Asbestfasern Adhäsion an Tubulin, Störungen der Chromosomenaufteilung bei der Mitose und dadurch bedingt Aneuploidien sowie auch Chromosomenschäden (Barrett et al. 1989). Somit könnte Asbest durch
218
Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
8
. Abb. 8.29. Hypothetische Mechanismen der pathologischen Effekte kanzerogener Fasern in den Atemorganen. Dargestellt sind die Deposition der Fasern in Bronchien und Alveolen und die anschließende Translo-
kation in unterschiedliche Regionen der Atemorgane. Die Bedeutung der verschiedenen Clearance-Wege, der Faserdimensionen und -stabilität sowie der chronischen Entzündung sind ebenfalls ersichtlich
verschiedene indirekte Effekte gentoxisch wirken; ihre jeweilige Bedeutung für die Krebsentstehung ist jedoch unklar. Unter Einbeziehung der Gesamtheit der vorliegenden Erfahrungen am Menschen und der Ergebnisse aus Tier- und Zellversuchen wird geschlossen, 4 dass die im Körper beständige faserige Form der Asbeststaubteilchen die Ursache ihrer tumorerzeugenden Wirkung darstellt und 4 dass langgestreckte Staubteilchen jeder Art im Prinzip die Möglichkeit zur Tumorerzeugung wie Asbestfasern besitzen, sofern sie hinreichend lang (>5 μm), dünn (Durchmesser <3 μm; Länge: Durchmesser >3:1) und biobeständig sind (DFG 2000).
ist. Das alkoholbedingte Leberkrebsrisiko nimmt bei lebenslangem Abusus dosisabhängig auf ca. 10 zu. Die Todesraten durch alkoholbedingte Leberzirrhosen sind in einigen europäischen Ländern z. T. dramatisch angestiegen (Leon u. McCambridge, 2006). Es ist zu befürchten, dass in Verbindung mit dem gesteigerten Alkoholkonsum auch die Krebsraten zunehmen werden. Die epidemiologischen Studien ergeben für viele Organe eine klare Dosis-Wirkungs-Beziehung (Boffetta u. Hashibe 2006). Bei Konsum niedriger Alkoholmengen bleibt das Krebsrisiko auf Kontrollniveau und steigt dann mit zunehmender Dosis an. Gut dokumentiert ist die synergistische Wirkung von Alkoholkonsum und Tabakrauchen in Mundhöhle und Speiseröhre: Während Rauchen oder Alkohol allein das Risiko einer Erkrankung jeweils etwa 7- bzw. 14-fach erhöhen, kann die Steigerung durch Rauchen und starkes Trinken das 55-fache betragen (Castellsagué et al. 1999). Für die Zunahme des Krebsrisikos nach Alkoholkonsum werden verschiedene Wirkungsmechanismen diskutiert. Ethanol wird über Azetaldehyd zur Essigsäure metabolisiert. Ethanol selbst wirkt nicht gentoxisch, wohl aber der Metabolit Azetaldehyd. Azetaldehyd ist mehrfach toxischer als die Muttersubstanz. Höhere Alkoholdosen wirken immunsuppressiv und zytotoxisch, eine Wirkung, an der in Leber und Magen auch Azetaldehyd beteiligt sein kann. Bei starken Trinkern wurden Azetaldehyd-DNA-Addukte in Lymphozyten und Autoantikörper gegen Azetaldehyd-Protein-Addukte gefunden. Die Evidenz für Kan-
Nikotin Wie oben in 7 Abschn. 8.1.4 dargestellt, ist Nikotin für den Menschen wahrscheinlich ein tumorpromovierendes Agens. Alkohol Regelmäßiger Konsum größerer Mengen Ethylalkohol (Ethanol) wird für ca. 2–4% der Krebstodesfälle verantwortlich gemacht (. Tab. 8.5). Epidemiologische Studien haben kausale Assoziationen zwischen chronischem Alkoholkonsum und Krebs für die folgenden Organe etabliert: Mundhöhle, Pharynx, Larynx, Oesophagus mit Krebstodesrisiken bis zu 6-fach; Kolon, Rektum und weibliche Brust mit Risiken bis zu 1,7-fach; für Pankreas und Lunge besteht der Verdacht, dass Alkohol (Mit)verursacher
219 8.2 · Bedeutung von chemischen Kanzerogenen
. Abb. 8.30. Synergistische Wirkung von Alkohol- und Tabakkonsum auf das Ösophaguskrebsrisiko. Steigende Mengen Alkohols bei keinem oder geringem Tabakkonsum erhöhen dosisabhängig das Krebsrisiko. Zusätzlich gesteigerter Tabakkonsum ergibt eine überadditive Risikoerhöhung
zerogenität von Azetaldehyd beim Menschen ist jedoch schwach (IARC 1999). Daher wird angenommen, dass die kanzerogene Wirkung von Ethanol hauptsächlich auf nicht gentoxischen Wirkungsmechanismen beruht. Ethanol induziert Zytochrom CYP2E1 und verstärkt so die Aktivierung von Nitrosaminen aus Tabakrauch oder aus anderen Quellen (kokanzerogene Wirkung). Ethanol wird auch eine Lösemitteleigenschaft für Tabakrauchinhaltsstoffe zugeschrieben. Beides bietet mögliche Erklärungen für die synergistische Wirkung von Alkohol und Tabakrauchen bei Krebs in Mundhöhle, Pharynx, Larynx und Ösophagus (. Abb. 8.30). Weiter soll Alkohol den Folsäuremetabolismus durch Hemmung der Aufnahme von Folsäure, Umsetzung zu Tetrahydrofolat und durch Abbau des Kofaktors Pyridoxal-5’-Phosphat beeinträchtigen. Dies reduziert den Methylgruppentransfer auf die DNA, sodass Hypomethylierung und erhöhte Transkription von Onkogenen resultieren können. Zusätzlich ist die Freisetzung von Endotoxinen im Darm bedeutsam, die die Kupffer-Zellen in der Leber aktivieren und damit ROS-Freisetzung, Entzündungen und Zellschäden verstärken, wodurch regenerative Zellproliferation und Fibrose induziert werden. Die typische Sequenz der pathologischen Stadien beginnt mit einer akuten, dann chronischen Hepatitis gefolgt von Leberfibrose und -zirrhose. In den chronisch entzündeten fibrotischen Arealen treten herdförmige Dysplasien auf, die als Vorstufen für hepatozelluläre Karzinome gelten. Alkohol stört die Homöostase der Östrogene und Östrogenrezeptoren (Drogan et al. 2001; Dumitrescu u. Shields 2005). Mammatumoren bei Frauen mit Alkoholmissbrauch sind fast ausschließlich Östrogenrezeptor positiv (Suzuki et al. 2005). Diese Hormonstörungen werden für den promovierenden Effekt in der weiblichen Brust verantwortlich gemacht. Untersuchungen der Modulation des kanzerogenen Risikos nach Alkohol haben für genetische Varianten des Folsäure- und Alkoholmetabolismus und für DNA-Reparatur bisher keine klaren Aussagen erbracht.
8
Formaldehyd Formaldehyd (FA) ist ein stark reizendes Gas, es wird meist in wässriger Lösung (Formalin max. 37%) verwendet. Die Grenze für Geruchswahrnehmung liegt bei 0,24–0,5, die für Nasen-Rachen-Irritationen bei 1 ppm (»parts per million«, entspr. 1 ml/ m3). Die maximale Arbeitsplatzkonzentration (MAK) wurde im Jahr 2000 auf 0,3 ppm festgelegt. FA ist Bestandteil vieler Gebrauchsgüter wie Haushaltsreiniger, Desinfektionsmittel, Kosmetika, Farben und Lacke und Bauprodukte. Es kommt auch in Lebensmitteln vor, und es entsteht bei oxidativen Demethylierungen im normalen Zellstoffwechsel. FA wird industriell in großem Umfang zur Herstellung von Kunstharzen, Gussformen, fotografischen Filmen, dekorativen Schichtpressstoffen und Sperrholz sowie als Bakterizid und zur Gewebefixierung angewendet. Das Gas hat bei einigen Industriearbeitern, die z. T. zwischen 1934 und 1994 exponiert waren (Exposition: regelmäßig, wiederholt bis zu 15 Minuten mehr als 4 ppm, bzw. kumulativ mehr als 5,5 ppm × Jahre), Tumoren des Nasen-Rachen-Raumes erzeugt (Hauptmann et al. 2004), eine Wirkung, die schon früher an Ratten und Mäusen bei sehr hohen Atemluftkonzentrationen beobachtet worden war. FA reagiert schnell mit Amino- und Sulfhydrylgruppen der Proteine. Dies ist der Mechanismus der epithelialen Reizung (beim Menschen ab 0,24 ppm beobachtet) und der Zellschädigung (>2 ppm) und auch Ursache für die sehr geringe systemische Verfügbarkeit von FA bei Aufnahme üblicher niedriger Dosen mit der Nahrung oder per Inhalation. Bei Überlastung des Gewebes mit FA werden in den Zellen DNA-ProteinVernetzungsprodukte gebildet. In der geschädigten, entzündeten Schleimhaut im Tierexperiment traten Hyperplasien/Plattenepithel-Metaplasie, Dysplasien (ab 2 ppm) und Plattenepithelkarzinome (ab 6 ppm) auf. Aufgrund seiner Reaktivität ist Formaldehyd in vitro und in vivo gentoxisch (in der Nasenschleimhaut der Ratte ab 0,3 ppm, beim Affen ab 0,7 ppm). Damit sind zwei unterschiedliche, konzentrationsabhängig auftretende Wirkungen für die Krebsentstehung erforderlich: (1) Gentoxizität, einsetzend unterhalb von 2 ppm, und (2) Epithelzellschädigung ab 2 ppm mit zellproliferativer Wirkung. Daher wird die Risikobewertung nach dem Konzept der »praktischen Wirkungsschwelle« vorgenommen – anders als bei den bisher besprochenen gentoxischen Kanzerogenen. Eine tumorigene Wirkung kann beim jetzigen Wissensstand für Konzentrationen unter 0,1 ppm praktisch ausgeschlossen werden (WHO 2002; BfR 2006). Weitere nicht genotoxische Kanzerogene Zur Stoffgruppe der nicht gentoxischen Kanzerogene gehören zudem die Fibrate, die therapeutisch als Hypolipidemika eingesetzt werden, sowie die als Kunststoffweichmacher verwendeten Phthalate. Sie induzieren in der Leber von Versuchstieren eine Vermehrung der Peroxisomen sowie Wachstum. Dies geschieht durch Bindung und Aktivierung eines Rezeptors im Zellkern (Peroxisomen-Proliferator-aktivierter-Rezeptor, PPARα). Diese Wirkung ist speziesspezifisch für Nagetiere. Wird der menschliche PPARα in die Leber der Maus transfiziert, zeigt sich keine kanzerogene Wirkung (Morimura et al. 2006). Die Tumorentstehung wird daher für den Menschen als nicht relevant angesehen. Endogene Faktoren wie Diacylglycerol und natürliche Lipide, Fettsäuren und Leukotriene sind ebenfalls über den PPARα wirksam. Auch die Wirkung des 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin (TCDD, »Dioxin«), des stärksten synthetischen Kanzerogens und ein Nebenprodukt bei vielen Verbrennungsprozessen, wird über die Bindung an einen spezifischen Rezeptor (»AH-Rezeptor«)
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Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
vermittelt, der als Transkriptionsfaktor wirkt. Einige polychlorierte Biphenyle und andere chlorierte Kohlenwasserstoffe sowie polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (Arylhydrocarbon, AH) aktivieren das gleiche Rezeptorprotein. Eine kanzerogene Wirkung von Dioxin und anderen chlorierten Kohlenwasserstoffen ist beim Tier nach relativ hohen Dosierungen gefunden worden; auch bei Beschäftigten an stark dioxinbelasteten Arbeitsplätzen bzw. nach Chemieunfällen (Seveso) wurde ein erhöhtes Auftreten von Tumoren beobachtet (Steenland et al. 2004). Die ubiquitär vorhandenen Belastungen sind jedoch zu gering, um ein erhöhtes Krebsrisiko anzunehmen (Becher et al. 1998). 8.2.13 Erfassung der Exposition, Biomonitoring
8
Die Exposition gegenüber chemischen Kanzerogenen kann in herkömmlicher Weise durch analytische Messung der externen Dosis erfolgen. Aufgrund der in den vorigen Abschnitten dargestellten großen individuellen Variationen ist die Abschätzung des Tumorrisikos aus der Exposition jedoch sehr unsicher. Eine Verbesserung wird durch Verwendung von Expositionsindikatoren in biologischem Material erzielt (Biomonitoring). Als Endpunkte können die Adduktkonzentration, DNA-Schäden (Einzel- oder Doppelstrangbrüche) oder deren biologische Folgen, wie Mutationen in Protoonkogenen und Tumorsuppressorgenen, Chromosomenaberrationen und DNA-Reparatur herangezogen werden. Die Konzentration der Addukte bzw. der bioverfügbaren aktiven Metabolite sind ein Maß für die interne Dosis eines Kanzerogens. Der Adduktnachweis wird meist an DNA vorgenommen; ersatzweise werden auch Proteinaddukte (z. B. an Hämoglobin) gemessen. Je nach angewendeter Technik kann der Adduktnachweis mit sehr hoher Sensitivität erfolgen (Felton u. Turteltaub 1994): Im Immunoassay werden 1 veränderte Base in 107 Nukleotiden, beim 32P-Postlabeling 1 in 109 Nukleotiden und mit der Beschleunigermassenspektrometrie gar 1 in 1011 Nukleotiden (d. h. 1 Addukt in 100 Zellen!) entdeckt. Beim Menschen sind u. a. DNA-Addukte der folgenden kanzerogenen Noxen quantifiziert worden: Aflatoxin B1 (. Abb. 8.18), 4-Aminobiphenyl, Benzidin (. Abb. 8.10), Benz(a)pyren (. Abb. 8.9), tabakspezifische Nitrosamine (. Abb. 8.14), Cis- und Carboplatin, Dacarbazin, Mitomycin C. Die Basenaddukte wurden nach Ausscheidung im Urin, in der DNA von Blutzellen (Chemotherapie, Exposition am Arbeitsplatz, bei Rauchern) oder in den Zielorganen der Kan-
. Abb. 8.31. Bindung von Benzpyrendiolepoxid an DNA von Leukozyten des Menschen. Die Adduktkonzentrationen von Benz(a)pyrendiolepoxid wurden mithilfe eines hochsensitiven Radioimmunoassays bestimmt, angegeben sind Mittelwerte und Standardabweichung, in
zerogenese selbst (Harnblasenepithelzellen, Lungen- und Bronchialgewebe) identifiziert. Als Beispiel ist der Nachweis von Benz(a)pyrenaddukten in Leukozyten-DNA mithilfe einer immunologischen Methode in . Abb. 8.31 (nach Shamsuddin et al. 1985) dargestellt. Die Nachweismöglichkeit von Addukten ist mit der Persistenz der Läsionen limitiert. Diese wird von der Lebensdauer der adduktierten Makromoleküle oder der betroffenen Zellen und von der Reparaturaktivität bestimmt. Bei der Interpretation von DNAAddukt-Daten ist zu beachten, dass sie in erster Linie eine Aussage über stattgefundene Exposition ermöglichen. Quantitative Rückschlüsse auf Mutationen oder Krebsentstehung sind wegen der vielfältigen biologischen Prozesse von der Primärläsion bis zur klinischen Manifestation eines Tumors nicht möglich. DNA-Addukte sowie Chromosomenaberrationen, Mikrokernbildung, Schwester-Chromatid-Austausch und Genmutationen treten auch bei Patienten unter zytostatischer Behandlung auf (Carbonell et al. 1996; Kubota 1991; Lopez de Mesa et al. 2000; Prevost et al. 1996; Wiencke et al. 1982) und können zum Therapiemonitoring eingesetzt werden (vorzugsweise in peripheren Blutzellen). Analoge Schäden wurden beim medizinischen Personal auf onkologischen Stationen nach unsachgemäßer Handhabung von Zytostatika gefunden (Major et al. 1999; Reitz et al. 1993; Sorsa et al. 1996; Stucker et al. 1986). 8.2.14 Substanzgemische
In der Praxis erfolgt oft Exposition gegenüber Substanzgemischen mit kanzerogenen Komponenten. So ist Tabakrauch ein Substanzgemisch, das neben zahlreichen gentoxischen Kanzerogenen auch nicht gentoxische und promovierende Substanzen enthält. Von den gentoxischen Tabakrauchbestandteilen werden für die Entstehung von Bronchialkrebs vor allem PAK und tabakspezifische Nitrosamine verantwortlich gemacht. Die aromatischen Amine 4-Aminobiphenyl und 2-Naphthylamin sind für die Auslösung von Harnblasentumoren nach Tabakrauchen verantwortlich, Benzol für Leukämien. Bestimmte phenolhaltige Fraktionen aus Tabakrauchkondensaten erwiesen sich in Tierversuchen als starke Tumorpromotoren. Beim Menschen ist auch die chronische Bronchitis, unterhalten von toxischen Phenolen, Aldehyden usw. für die tumorpromovierende Wirkung des Tabakrauches bedeutsam. Zudem hat Nikotin, wie oben ausgeführt, wahrscheinlich starke tumorpromovierende Eigenschaften. Ins-
Klammern die Probandenzahl; ATTOMOL 10–18 Mol; BPDE Benzpyrendiolepoxid. Für die Gruppe der Dachdecker ergeben sich ca. 109 Addukte je μg DNA oder ca. 4.000 Addukte je Zelle
221 8.2 · Bedeutung von chemischen Kanzerogenen
gesamt dürften die tumorpromovierenden Wirkungskomponenten wesentlich zur Entwicklung des Bronchialkarzinoms beitragen. Dies folgt aus der in mehreren Studien belegten Abnahme des Risikos bei Ex-Rauchern (Reif 1981). Dieselabgase enthalten ein Gemisch von PAK, Nitro-PAK, Rußpartikeln und anderen Komponenten. Tierversuche an Ratten haben eine kanzerogene Wirkung in den Atemorganen aufgezeigt. Dabei spielt offenbar eine Überladung der Clearance-Mechanismen durch die Rußpartikel, also ein nicht gentoxischer Vorgang, eine bedeutende Rolle. Es wird als unwahrscheinlich angesehen, dass aufgrund der Exposition mit Dieselpartikeln aus der normalen Umgebungsluft Überladungen beim Menschen auftreten. Bei stärkerer, andauernder Belastung mit Dieselabgasen an Arbeitsplätzen wurden leicht erhöhte Krebsrisiken (1,2bis 1,5-fach) berichtet (Nauss 1997; Lipsett u. Campleman 1999, Guo et al. 2004). Die IARC bewertete Dieselabgase als möglicherweise kanzerogen (»limited evidence«, IARC 1989). Die Vermutung, dass die den sehr feinen Dieselrußpartikeln anhaftenden Schadstoffe an der Tumorinitiation ursächlich beteiligt sind, hat sich experimentell nicht bestätigen lassen, denn die DNA-Addukt-Mengen waren bei Dieselruß und reinem Ruß, welcher aus reinem Kohlenstoff besteht, gleich hoch (Bond et al. 1990), es handelt sich also nicht um einen chemischen Substanz-, sondern um einen physikalischen Partikeleffekt (Hesterberg et al. 2005). Bei Diesel-exponiertem Mautpersonal wurden signifikant erhöhte Malondialdehyd und Nitrit-/Nitratspiegel im Serum gefunden (Arbak et al. 2004). Daher wird angenommen, dass Dieselpartikel oxidativen Stress verursachen. Dieser Befund wird durch Studien an Ratten gestützt, in denen mit hohen Konzentrationen an reinem Ruß Entzündungen, Lungenschädigung, vermehrte Zytokinausschüttung, epitheliale Hyperplasie und Beeinträchtigung der Lungenclearance beobachtet wurden (Driscoll et al. 1996). Zusammenfassend ergibt sich der Schluss, dass die permanente Reizung mit hohen Partikelkonzentrationen chronische Entzündungen und vermutlich auch DNA-Addukt-Bildung hervorruft und somit zur Entstehung von Lungentumoren beiträgt. 8.2.15 Testverfahren für chemische Kanzerogene
Im Wesentlichen geht es bei Kanzerogenitäts-/Gentoxizitätsuntersuchungen um die Fragen, ob Pharmaka, Arbeitsplatz- und
. Abb. 8.32. Ames-Test
8
Umweltchemikalien beim Menschen Schäden an der Erbsubstanz und Krebs auslösen können, welches Gefährdungspotenzial einzelne Substanzen aufweisen (Risikoabschätzung) und welche Mechanismen zugrunde liegen. Kanzerogenitätstests werden seit Jahrzehnten auf empirischer Basis an Versuchstieren durchgeführt. Für die Zulassung von Arzneimitteln, Lebensmittelzusatzstoffen, Pflanzenschutzmitteln etc. sind Tierversuche an Ratten oder Mäusen gemäß sehr aufwendigen Protokollen vorgeschrieben. Man benötigt 50 Tiere je Dosis und Geschlecht, 3 Dosierungen plus Kontrollgruppe, ca. 2 Jahre für den tierexperimentellen Teil sowie 2–4 Jahre für Vorbereitung und Auswertung. Daneben werden mittelfristige Tests (Dauer ca. 3–9 Monate) für mechanistische und orientierende Untersuchungen verwendet (McGregor 1999). Hierzu gehören der Leberfokustest mit Ratten, der Hautpapillomtest an Mäusen, der Test mit neonatalen Mäusen und Tests mit transgenen Mäusen. Bei Leberfokus- und Hautpapillomtest werden präneoplastische Zellklone bzw. gutartige Tumoren als Untersuchungsparameter verwendet. Sie ermöglichen den spezifischen Nachweis initiierender und promovierender Wirkungen. Mit dem Test an neonatalen Mäusen können ebenfalls initiierende Substanzeffekte identifiziert werden, zur Promotion dient das physiologische Wachstum der Tiere. Ferner wurden Wachstums- oder DNA-Reparaturgene bei Mäusen mit gentechnischen Methoden moduliert, sodass die Versuchstiere auf Kanzerogene rascher ansprechen (Tennant et al. 1999). Fünf dieser transgenen Tests wurden für die Prüfung von Arzneimitteln evaluiert und eine Reihe von Änderungen/Verbesserungen vorgeschlagen (MacDonald et al. 2004). Kurzfristige Tests dienen in erster Linie dazu, ein gentoxisches Potenzial der Prüfsubstanzen aufzudecken. Solche Prüfungen werden ebenfalls bei Zulassungsverfahren verlangt. Wegen der schnellen und kostengünstigen Durchführung werden in der Regel Zellen in vitro verwendet. Die einheitliche Struktur der Erbsubstanz in Säugern und niederen Organismen ermöglicht es, eine Vielzahl verschiedener Indikatororganismen, einschließlich Bakterien, einzusetzen. Am häufigsten wird der Ames-Test mit speziell gezüchteten Bakterienstämmen von Salmonella typhimurium angewandt (. Abb. 8.32; McGregor et al. 1999). Diese Bakterien können infolge einer Mutation im HIS-Gen nicht mehr auf histidinfreiem Medium wachsen (auxotrophe
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Kapitel 8 · Mehrstufenprozess der Kanzerogenese und chemische Kanzerogenese
Mutanten). Mutagene Substanzen lösen Rückmutationen zum prototrophen Zustand aus, sodass die betroffenen Bakterien in histidinfreiem Medium proliferieren. Binnen 2 Tagen sind Bakterienkolonien mit bloßem Auge sichtbar und können durch Auszählen quantifiziert werden. Die meisten Bakterienund Säugerzelllinien besitzen unzureichende Enzymkapazitäten, um Kanzerogene zu aktivieren. Durch Zusatz von Leberhomogenat als Enzymquelle erfolgt die notwendige enzymatische Aktivierung der Prüfsubstanzen, sodass auch prokanzerogene Substanzen als Mutagene erkannt werden (Ames et al. 1973). Die Zuverlässigkeit bakterieller Mutagenitätstests für die Vorhersage kanzerogener Wirkungen liegt bei 60–80%. Zusätzlich werden Genmutationstests an Säugerzellen durchgeführt, z. B. Hypoxanthin-Phosphoribosyltransferase oder Thymidinkinase-Mutationen oder Oubain-Resistenz in Zellen des chinesischen Hamsters, menschlichen Hautfibroblasten oder peripheren Lymphozyten. Durch Kombination mehrerer Tests erreicht man eine höhere Treffsicherheit. Zu den vorgeschriebenen Prüfprogrammen gehören auch Tests in vivo sowie zytogenetische Untersuchungen zum Nachweis von Chromosomenaberrationen und Aneuploidien an Eukaryontenzellen (Bakterien besitzen keine Chromosomen). Häufig angewendet wird die Prüfung auf Kleinkerninduktion. Kleinkerne sind außerhalb des Zellkerns liegende Chromosomen oder Chromosomenbruchstücke. Sie entstehen durch klastogene Wirkungen und Mitosestörungen. Nach Substanzexposition in vivo erfolgt die Analyse am Knochenmark der Maus (→ mikrokernhaltige Erythrozyten). In vitro werden vielfach kultivierte Ovarialzellen des chinesischen Hamsters (CHO) verwendet. Zur Prüfung auf Mutagenität in vivo stehen transgene Tiermodelle zur Verfügung (»Big Blue Rat«, »Muta Mouse«, für Details s. Schmezer u. Eckert 1999). Zusätzlich werden Verfahren eingesetzt, bei denen nicht Mutationen, sondern Primärschäden (DNA-Addukt-Bildung, DNABrüche) oder deren Konsequenzen (DNA-Reparatur) analysiert werden. Einige der genannten Tests können auch zur Erfassung Zusammenfassung Mehrstufenprozess Krebs ist eine Erkrankung der zellulären Signalmechanismen. In gesunden Zellen werden Wachstum und Funktion durch komplexe Regelkreise präzise reguliert. Krebszellen entkommen aus dieser Regulation in mehreren Stufen (Initiation, Promotion, Progression). Diese sind durch sequenzielle Akkumulation von Mutationen im Wechsel mit klonaler Proliferation der mutierten Zellen gekennzeichnet. Die Triebkraft für diesen Prozess ist das Prinzip der Evolution, durch Mutation und Selektion Zellindividuen hervorzubringen, die für Wachstum und Ausbreitung im Organismus optimiert sind. Krebs wird überwiegend durch äußere Ursachen ausgelöst. Dies sind bestimmte chemische Substanzen, radioaktive und UV-Strahlen sowie Infektionserreger. Ihre Wirkung beruht auf gentoxischen und nicht gentoxischen Effekten. Bei der Entstehung vieler Krebserkrankungen spielen Entzündungsvorgänge eine wesentliche Rolle. Exogene Risikofaktoren wirken hauptsächlich in den Stufen Initiation und Promotion; während der Progression wird der Krebsprozess mehr und mehr autonom. In der ersten Stufe, der Tumorinitiation, gewinnt die betroffene Zelle einen (geringen) Wachstums- oder Überlebensvorteil. Ursache der Initiation sind gentoxische Schäden, die zu Mutatio6
einer gentoxischen Exposition beim Menschen dienen. Generell anwendbare, validierte Kurzzeittests zur Identifizierung von Tumorpromotoren stehen (noch) nicht zur Verfügung. 8.2.16 Risikoabschätzung und Prävention
Auf der Basis der erhaltenen Testergebnisse wird das Risiko einer kanzerogenen Wirkung der betreffenden Substanz qualitativ und quantitativ abgeschätzt. Aufgrund der zuvor beschriebenen Erkenntnisse zum Wirkungsmechanismus werden gentoxische Kanzerogene (irreversible Wirkung, keine wissenschaftlich sichere Angabe einer Schwellendosis) als potenziell gefährlicher als nicht gentoxische angesehen. Gentoxische Chemikalien werden daher in der Regel nicht zur Anwendung zugelassen, wenn die Aufnahme in den menschlichen Körper vorgesehen bzw. möglich ist. Ausnahmen sind z. B. Zytostatika oder Substanzen/Dosen mit sehr geringem Krebsrisiko. Als akzeptabel gilt oft ein Risiko von 1:106, d. h. ein zusätzlicher Krebstodesfall je 1 Mio. Exponierter. Das ist eine fiktive Risikogröße, die unter jeglicher Nachweisgrenze und somit nicht abgeschätzt werden kann. Bei nicht gentoxischen Kanzerogenen kommt eine Zulassung in Betracht, wenn ein ausreichend großer Sicherheitsabstand zwischen kanzerogener Dosis im Tierversuch und Exposition des Menschen besteht oder wenn der spezifische Wirkungsmechanismus im Tier beim Menschen ausgeschlossen werden kann, wie z. B. bei Saccharin oder D-Limonen. Für Arbeitsstoffe mit kanzerogener Wirkung werden keine Grenzwerte (MAK-Werte) wie bei anderen toxischen Chemikalien angegeben, stattdessen werden »technische Richtkonzentrationen« (TRK-Werte) festgesetzt. Diese orientieren sich an den technisch erreichbaren Möglichkeiten zur Expositionsminimierung. Generell soll die Freisetzung gentoxischer Kanzerogene in die Umwelt minimiert werden (Minimierungsprinzip).
nen führen. Diese erfolgen insbesondere in (Proto-) Onkogenen (z. B. RAS) und Tumorsuppressorgenen (z. B. P53). In einigen Organen werden spezifische Suppressorgene als »Gatekeeper« angesehen, deren Ausschaltung zur Initiation führt (z. B. APC, RB, PTEN). Auch epigenetische Vorgänge können bei der Initiation beteiligt sein. Bei bestimmten Erbkrankheiten liegen heterozygot Mutationen von Suppressorgenen vor. Diese disponieren für initiierende Mutationen. Tumorpromotion beschleunigt die Selektion initiierter Zellen. Infolge der erhöhten Reaktivität initiierter Zellen fördern Wachstumsfaktoren bereits in physiologischer Konzentration selektiv das Tumorwachstum. Zahlreiche körperfremde Substanzen, kalorische Überernährung, endogene Faktoren wie Hormone und bei Entzündungen und regenerativem Wachstum freigesetzte Signalstoffe wirken tumorpromovierend. Molekulare Basis der Tumorpromotion sind Aktivierungen wachstumsstimulierender Signalkaskaden im Erfolgsorgan, die mit dem Gendefekt in initiierten Zellen kooperieren; diese Kooperation führt zu erhöhter Zellreplikation und Unterdrückung der Apoptose. Das selektive Wachstum von Tumorvorstadien und Tumoren ist prinzipiell reversibel. Promotorentzug oder antipromovierende Substanzen können Proliferationsstopp, Apoptosen und damit
223 8.2 · Bedeutung von chemischen Kanzerogenen
Regression von (Prä-) Neoplasien hervorrufen (Antipromotion, »negative Selektion«). Dieses Prinzip wird für die Prävention und Therapie von Tumorerkrankungen genützt. Während der Tumorprogression kumulieren Mutationen in Onkogenen und Suppressorgenen verschiedener Signalwege. Dies wird in vielen Tumoren durch Erwerb des »Mutatorphänotyps« verursacht. Die Expression einer großen Zahl von Genen wird durch epigenetische Regulationen verändert. Ferner werden komplexe Änderungen des Phänotyps wie z. B. die epithelial-mesenchymale Transition durch spezifische Transkriptionsfaktoren und durch Wechselwirkungen zwischen Tumor- und mesenchymalen Zellen bewirkt. Durch Zusammenwirken dieser zahlreich veränderten Signalmechanismen entsteht der maligne Phänotyp.
Chemische Kanzerogenese Exogene Ursachen werden für 80–90% der Krebserkrankungen verantwortlich gemacht. Daher ist Krebs weitgehend eine vermeidbare Krankheit. Chemische Substanzen sind die wichtigsten exogenen Krebsrisikofaktoren, unter diesen haben Tabakrauch sowie Fehl- und Überernährung mit Abstand die größte Bedeutung. Viele Krebserkrankungen werden durch das Zusammenwirken einer Vielzahl exogener Kanzerogene mit endogenen Suszeptibilitätsfaktoren verursacht, die individuell variieren. Chemische Kanzerogene kommen in sehr unterschiedlichen chemischen Stoffklassen vor: Verbrennungsprodukte inklusive Tabakrauch, Zwischenstufen von chemischen Synthesen, Nahrungskontaminanten und bei der Zubereitung der Nahrung gebildete Stoffe, Naturstoffe, Arzneistoffe, Schwermetalle und radioaktive Elemente. Auch endogene reaktive Sauerstoff- und Stickstoffspezies, die überwiegend im Verlauf von Entzündungen entstehen, tragen wesentlich zur Kanzerogenese bei. Kanzerogene Substanzen werden z. T. spontan, z. T. im Zellstoffwechsel in reaktive Produkte umgewandelt, die an DNA binden und gentoxisch sind. Gentoxische Stoffe verändern die Erbinformation der Zellen. Die reaktiven Moleküle können Basenmodifikationen, Addukte, Deletionen, Insertionen, Einzelund Doppelstrangbrüche der DNA, Chromosomentranslokationen, Genamplifikationen und Aneuploidie erzeugen.
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Das gemeinsame Wirkungsprinzip gentoxischer Kanzerogene ist die Entstehung und Wirkung elektrophiler Agenzien. Direkt wirkende Kanzerogene reagieren unmittelbar mit der DNA. Indirekt wirkende Kanzerogene werden durch Enzyme der Phase I des Fremdstoff-/Arzneimittelstoffwechsels zu elektrophilen Metaboliten aktiviert und durch Phase-II-Enzyme inaktiviert. Die individuelle genetische Ausstattung des Menschen mit diesen Enzymen ist eine wichtige Determinante für die Entstehung von DNAreaktiven Metaboliten und damit für das kanzerogene Risiko. Überexpression von Phase-I-Enzymen oder Fehlen von Phase-IIEnzymen disponiert für ein erhöhtes Krebsrisiko, wenn die betreffende Substanz aufgenommen wird (Gen-Umwelt-Interaktion). Die Aktivierung von chemischen Kanzerogenen kann durch Umwelteinflüsse wie Arzneimittel, Ernährung, Genussmittel und durch Krankheiten induziert oder gehemmt werden. Bei der Chemoprävention wird mit spezifischen Substanzen die Aktivierung von Kanzerogenen gehemmt, ihre Inaktivierung gefördert oder Tumorvorstufen eliminiert. Geschädigte DNA wird mit hoher Effizienz repariert. Unvollständige oder fehlerhafte DNA-Reparatur kombiniert mit DNAReplikation können zur Festschreibung des DNA-Schadens, also zur Mutation führen. Bei Vorliegen von DNA-Schäden hemmt ein Kontrollsystem die DNA-Replikation bzw. die Zellteilung. Dadurch wird verhindert, dass DNA-Schäden repliziert und an Tochterzellen weitergegeben werden. Bei extensiven Schäden wird Apoptose ausgelöst. Kanzerogenexposition kann anhand der Adduktkonzentration oder des DNA-Schadens oder deren biologischen Folgen, wie Mutationen in Protoonkogenen und Tumorsuppressorgenen, Chromosomenaberrationen und DNA-Reparatur festgestellt werden (Biomonitoring). Eine Anzahl von chemischen Kanzerogenen zeigt keine wesentliche gentoxische Aktivität. Solche »nicht gentoxischen Kanzerogene«, z. B. Asbest, Ethylalkohol und Hormone, lösen aufgrund rezeptorvermittelter oder zytotoxischer Eigenschaften Zellteilungen aus und wirken auf präexistente initiierte Zellen tumorpromovierend. Als Testverfahren für chemische Kanzerogene werden Kurzzeit-Mutagenitätstests (in vitro) sowie mittelfristige oder Lebenszeit-Kanzerogenitätsstudien an Labortieren angewandt.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
9 Kanzerogenese durch Viren R. Grassmann, T. Iftner, B. Fleckenstein
9.1
Prinzipien der viralen Onkogenese – 225
9.2
Papillomviren
9.3
Epstein-Barr-Virus – 231
9.4
Kaposi-Sarkom und humanes Herpesvirus Typ 8
9.5
Humane T-Zell-Leukämieviren
9.6
Hepatitis-B-Virus
– 226
Literatur – 240
– 237
– 235
– 234
225 9.1 · Prinzipien der viralen Onkogenese
9.1
Prinzipien der viralen Onkogenese
9.1.1
Bedeutung der Viren als Tumorerreger
Vor mehr als 100 Jahren mutmaßten Ellermann und Bang erstmals, dass bösartige Tumoren durch Viren hervorgerufen werden. Diese Vermutung wurde durch die Forschung der letzten 20 Jahre nachhaltig bestätigt. Heute geht man davon aus, dass etwa 20% aller Krebserkrankungen beim Menschen durch Viren verursacht werden. Die häufigsten kanzerogenen Erreger sind DNA-Viren mit relativ kleinen Genomen. Sie vermehren sich, indem sie in Zellen des Wirtsorganismus eindringen und die zelluläre Synthesemaschinerie für DNA und Proteine dazu programmieren, Kopien der eingedrungenen Viren herzustellen. Da wesentliche Enzyme, die für die virale DNA-Synthese nötig sind, nur während der S-Phase des Zellzyklus synthetisiert werden, stimulieren viele Tumorviren ruhende Zellen zur Zellteilung. Hierzu synthetisieren DNA-Tumorviren Proteine, die die wachstumshemmende Funktion von zellulären Regulatorproteinen des Zellzyklus aufheben. Viele grundlegende Mechanismen der Signaltransduktion und der Zellzykluskontrolle konnten über die Analyse von Tumorviren aufgeklärt werden. So konnten sowohl Onkogene als auch Tumorsuppressoren über die Untersuchung von Tumorviren identifiziert und ihre Funktion im Zellzyklus erstmals entschlüsselt werden. Heute bekannte Viren, die Tumoren des Menschen auslösen können, sind humane Papillomviren (HPV), das Hepatitis-B-Virus (HBV), das Epstein-Barr-Virus (EBV), das humane T-Zell-Leukämievirus (HTLV-1) und sehr wahrscheinlich das humane Herpesvirus Typ 8 (HHV-8). Andere Viren können indirekt zur Entstehung von Tumorerkrankungen beitragen. So können menschliche Immundefizienzviren (HIV) über die Störung des Immunsystems die Entstehung des Kaposi-Sarkoms, aber auch maligner Lymphome fördern. Das Hepatitis-C-Virus (HCV) begünstigt wahrscheinlich durch eine chronische Schädigung des Leberparenchyms die Genese des Leberzellkarzinoms.
9.1.2
Virale Onkogenese
Die Virusinfektion von permissiven Zellen, die zur effizienten Produktion von Nachkommenviren und zur Zellzerstörung (lytisch-produktive Infektion) führen, tragen nicht zur Tumorentstehung bei. Die Induktion von malignen Tumoren ist vielmehr häufig Folge einer abortiven Infektion oder einer lang dauernden Viruspersistenz. Unter einer abortiven Infektion versteht man die Infektion durch ein verändertes Virus mit einem Defekt in einem essenziellen viralen Gen oder die Infektion einer Wirtszelle, die die Virusreplikation nicht unterstützt. Bei abortiven Infektionen entsteht keine Virusnachkommenschaft. Die virale DNA kann jedoch zufällig in die chromosomale Wirts-DNA eingebaut werden. Dabei treten häufig größere Deletionen im Virusgenom auf. Die durch die chromosomale Integration andauernde Präsenz der viralen Erbinformation ermöglicht eine dauerhafte Beeinflussung des Wachstumsverhaltens einer Zelle durch virale Proteine. Manche Tumorviren haben die Fähigkeit, in Form ihrer Nukleinsäuren über lange Zeiträume in Wirtszellen zu persistieren. Solche Viren haben zirkuläre Genome mit zellregulierten Ursprungsorten der DNA-Replikation wie Herpesviren oder verfügen wie Retroviren über Enzyme, die eine effiziente Integration der viralen DNA in das Wirtszellchromosom ermöglichen. Die virale
9
Persistenz geht häufig mit einer reversiblen Unterdrückung der Virussynthese (Latenz) oder mit einer andauernden Virusproduktion auf geringem Niveau einher, die die Zelle nicht schädigt. Solche Viruspersistenz kann ebenfalls zu Tumoren führen, da die viralen Genome häufig virale Regulatorproteine exprimieren, die in den Zellzyklus eingreifen und somit die Zellteilung stimulieren. Nur wenige Tumorviren induzieren im Tiermodell nach der experimentellen Infektion in wenigen Tagen oder Wochen Tumoren. Die meisten onkogenen Viren, einschließlich aller menschlichen Tumorviren haben lange, oft Jahrzehnte dauernde Latenzzeiten bis zur Manifestation eines Malignoms. Dies deutet darauf hin, dass weitere Veränderungen in der infizierten Zelle, zusätzlich zur persistierenden Virusinfektion, für die Tumorentstehung nötig sind. Dafür spricht auch, dass Tumorviren bei der Tumorentstehung mit karzinogenen Substanzen kooperieren können. Virusinduzierte Tumoren beruhen im Grunde auf einem Defekt der Wachstums-(Zellteilungs-)kontrolle und damit auf der Deregulation von Protoonkogenen und Tumorsuppressoren. Solche Effekte können auf unterschiedliche Weise durch Viren erzielt werden: 4 So können etwa animale Retroviren in ihrem Genom Onkogene enthalten, die als Folge der persistierenden Infektion exprimiert werden. Diese Onkogene entsprechen mutierten Varianten von zellulären Protoonkogenen oder Wachstumsfaktorrezeptoren. Solche veränderten Gene führen zu Proteinen, die zelluläre wachstumsrelevante Signalwege konstitutiv aktivieren. Charakteristisch für sie ist ihre große Effizienz: Die Tumoren entstehen meist nach kurzer Latenzzeit an mehren Stellen unabhängig voneinander und sind polyklonal. Onkogentransduzierende Retroviren werden daher oft als schnelle (akute) Retroviren bezeichnet. Sie induzieren auch messbare Veränderungen im Wachstumsverhalten von Zellkulturen (Immortalisierung/Transformation). 4 Durch virale Genprodukte (Transaktivatoren) oder durch Insertion von viralen Promotor-/Enhancer-Elementen (cis-Aktivierung) können Viren eine Fehlregulation von zellulären Protoonkogenen auslösen. Die Tumorinduktion durch cis-Aktivierung bei der Integration der proviralen DNA von Retroviren ist eher ein seltenes Ereignis und gekennzeichnet durch lange Latenzzeiten und Monoklonalität der Tumoren. Retroviren, die durch cis-Aktivierung in Versuchstieren Tumoren verursachen, können keine Wachstumsveränderungen in der Zellkultur auslösen. Während man lange Zeit davon ausging, dass diese Form der Tumorinduktion ausschließlich in Tieren relevant ist, stellte sich jüngst heraus, dass sie als Nebenwirkung der somatischen Gentherapie mit retroviralen Vektoren im Menschen auftreten und zur Entstehung von Leukämien führen kann. 4 Verschiedene DNA-Viren kodieren für Proteine, die zelluläre Tumorsuppressoren über eine direkte Bindung inaktivieren. Häufigste Ziele solcher viraler Onkogene sind Proteine aus der Retinoblastom (RB)-Familie und das Protein P53. Die Expression solcher viraler Onkoproteine aktiviert die Zellteilung und führt zum Eintritt in die DNA-Synthese(S)-Phase des Zellzyklus.
9.1.3
Untersuchung der Zelltransformation durch Tumorviren
Das am häufigsten verwendete Modellsystem zur Untersuchung der transformierenden Wirkung von Tumorviren oder viralen
226
9
Kapitel 9 · Kanzerogenese durch Viren
Onkogenen sind Zellkulturen von Nagerfibroblasten. Solche Zellen lassen sich leicht aus embryonalem Gewebe der Maus oder Ratte gewinnen und wachsen zu Primärkulturen aus. Die Zellen sind diploid und haben nur eine begrenzte Vermehrungsfähigkeit in vitro (ca. 50 Zellteilungen). Die nichtproduktive Infektion mit einem Tumorvirus oder der Transfer (Transfektion) bestimmter Onkogen-DNA in diese Zellen führt zu veränderten Wachstumseigenschaften. Je nach Art und Ausmaß der eingetretenen Veränderungen bezeichnet man den Vorgang als Immortalisierung oder Transformation. Die Immortalisierung befähigt eine Zelle, unbegrenzt wachsen zu können. Sie führt zu dauerhaft proliferierenden Zellkulturen, die als Zelllinien bezeichnet werden. Immortalisierte Fibroblasten unterscheiden sich morphologisch kaum von Primärkulturen. Sie wachsen zu einem geschlossenen einschichtigen Zellrasen aus und stellen, sobald jede Zelle zu allen Seiten Kontakt mit Nachbarzellen hat, die Zellteilung ein (Kontaktinhibition). Zum Wachstum benötigen sie eine feste Unterlage, an die sie sich anheften (»anchorage dependend«: ankerabhängig). Die Zellproliferation ist abhängig von Wachstumsfaktoren, die dem Zellkulturmedium in Form von Kälberserum zugegeben werden (serumabhängig). Immortalisierte Zellen können häufig keine Tumoren in Nacktmäusen bilden. Transformierte Zelllinien können durch Infektion mit Tumorviren oder Transfektion mit Onkogenen sowohl aus Primärkulturen als auch aus immortalisierten Zellen hervorgehen. Eine oder mehrere der folgenden Eigenschaften sind bei transformierten Zellen im Vergleich zu immortalisierten Zellen verändert: 4 Die Zellen weisen eine geringere Abhängigkeit von Serum bzw. Wachstumsfaktoren auf. 4 Sie wachsen unabhängig von einer festen Kontaktfläche auch in Weichagar (»anchorage independend«, ankerunabhängig). 4 Sie weisen eine veränderte Zellmorphologie auf (morphologische Transformation) und wachsen ungeordnet, oft mehrschichtig (Verlust der Kontaktinhibition, Fokusbildung). In der Nacktmaus wachsen diese Zellen oft zu Tumoren. Die Wirkung einzelner viraler Onkogene auf den gesamten Organismus lässt sich mit transgenen Tieren, bevorzugt Mäusen, untersuchen. Die zu untersuchenden Gene können hier entweder im gesamten Tier oder gezielt nur in bestimmten Geweben exprimiert werden. Dies erlaubt z. B. den Nachweis einer transformierenden Wirkung auf Zelltypen, die in vitro schlecht zu kultivieren sind, oder den Nachweis einer gewebsspezifischen transformierenden Funktion.
Kriterien der Zelltransformation 4 4 4 4 4
9.2
Reduzierte Serumabhängigkeit Morphologische Transformation Verlust der Kontaktinhibition, Fokusbildung Wachstum in Weichagar Tumorinduktion in der Nacktmaus
nung »Condyloma« ist ebenfalls bereits von den Griechen für eine kreisförmige Hautverdickung im Bereich des Anus eingeführt worden. Gegen Mitte des 16. Jahrhunderts wurde dann von Fallopius zur besseren Differenzialdiagnose gegenüber den durch Syphilis verursachten flachen Hautveränderungen (Condylomata lata) der Begriff Condylomata accuminata (spitze Genitalwarzen) geprägt. Bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts wurde die virale Ätiologie der Papillome postuliert, als in Testpersonen mit filtrierten zellfreien Warzenextrakten neue Warzen induziert werden konnten. Im Elektronenmikroskop konnten 1950 Viruspartikel in Hautwarzen und 1968 in Genitalwarzen nachgewiesen werden. Im Jahr 1977 konnten zur Hausen und Mitarbeiter aus Viruspartikeln isolierte Papillomvirus-DNA in bakterielle Vektoren klonieren. Mithilfe dieser klonierten viralen Nukleinsäuren, die nach radioaktiver Markierung als Sonden eingesetzt wurden, ließ sich Virus-DNA in Tumorgewebe nachweisen. Dabei zeigte sich, dass vor allem Karzinome des Genitalbereichs und Hautkarzinome bei Patienten mit einer bestimmten genetischen Prädisposition (Epidermodysplasia verruciformis) zu einem hohen Prozentsatz Papillomvirus-DNA enthielten.
9.2.1
Aufbau und Systematik der Papillomviren
Die Klassifikation der Familie Papillomaviridae in über 100 verschiedene Genotypen basiert auf Unterschieden innerhalb der Nukleotidsequenz des L1-Genes welches für das Hauptkapsidprotein kodiert (International Committee on the Taxonomy of Viruses; de Villiers et al. 2004). Typen die über 60% Sequenzhomologie im L1-Gen gemeinsam haben werden in den Gattungen »alpha« bis »pi« zusammengefasst. So enthält z. B. die Gattung alpha-Papillomviren alle 13 von der WHO als Klasse-I-Karzinogen eingestuften HPV-Typen (HPV 16, 18, 31, 33, 35, 39, 45, 51, 52, 56, 58, 59, 66; Cogliano et al. 2005) Die Gattungen werden weiter unterteilt in Spezies, deren Mitglieder 71–89% Sequenzhomologie im L1-Gen haben. So enthält die Spezies alpha-9 z. B. die HPV-Typen 16, 31, 33, 35, 52 und 58 (de Villiers et al. 2004). Papillomviruspartikel sind nicht umhüllte ikosaedrische Virionen mit einem Durchmesser von 55 nm. Die Partikel sind resistent gegen organische Lösungsmittel und gegen eine moderate Hitzebehandlung (56°C) und sie bleiben in der Umwelt für lange Zeit infektiös. Sie enthalten in ihrem Inneren eine doppelsträngige ringförmig geschlossene DNA von etwa 8.000 Nukleotiden, die mit zellulären Histonen assoziiert ist. Das virale Genom kann in drei funktionelle Abschnitte mit unterschiedlicher Länge unterteilt werden (Pfister u. Fuchs 1994). Der Kontrollbereich (»noncoding region«, NCR) entspricht etwa 10% der Gesamtgenomgröße und enthält alle wichtigen Steuersequenzen für die koordinierte Genexpression des Virus im differenzierenden Epithel. Die frühe Region kodiert für regulatorische Genprodukte, die bei der Virusvermehrung, aber auch im Prozess der malignen Entartung eine wichtige Rolle spielen. In der späten Region finden sich die zwei Strukturgene des Virus, deren Genprodukte das virale Kapsid aufbauen.
Papillomviren
Das klinische Erscheinungsbild der Papillomvirusinfektionen in Form von gutartigen Tumoren der Haut und der Schleimhaut ist schon seit über 2000 Jahren bekannt. Bereits der griechische Arzt Galen beschrieb charakteristische warzenförmige Hautveränderungen im Genitalbereich. Die bis heute verwendete Bezeich-
9.2.2
Zelltransformation durch die Onkoproteine der Papillomviren
Die viralen Proteine E6 und E7 von »high-risk« genitalen HPVTypen sind als Onkogenprodukte verifiziert worden, die mensch-
227 9.2 · Papillomviren
9
liche Epithelzellen zu immortalisieren vermögen. Durch E6/E7 immortalisierte Epithelzellen zeigen ein gestörtes Differenzierungsmuster in Haut-Organ-Kulturen und können bei fortgesetzter Kultivierung maligne entarten. Die kontinuierliche Expression der viralen Genprodukte E6 und E7 scheint somit eine wichtige Rolle bei der malignen Konversion von HPV-infizierten Epithelzellen zu spielen. Dies konnte anhand von HPV-haltigen Zelllinien gezeigt werden, bei denen die Hemmung der E6/E7Expression durch Antisense-RNA oder mittels siRNA (small interfering RNA) zu einer Wachstumsinhibition und einem Verlust der Tumorigenität in Versuchstieren führte (Thomas u. Laimins 1998; Kubbutat u. Vousden 1997; Yoshinouchi et al. 2003; Butz et al. 2003) Eine relevante Eigenschaft der E6- und E7-Proteine von »high-risk« genitalen Viren ist ihre Fähigkeit, Tumorsuppressorproteine zu inaktivieren. In den HPV-assoziierten Karzinomen des Gebärmutterhalses ist meist ein gleichzeitiger Verlust der Funktion von zwei Tumorsuppressorproteinen, nämlich des Retinoblastomproteins (RB) und des P53-Proteins zu beobachten. . Abb. 9.1 zeigt ein vereinfachtes Modell, wie die Interaktionen von Papillomvirusonkoproteinen mit RB und P53 den Zellzyklus beeinflussen können. Das Durchlaufen der verschiedenen Stadien des Zellzyklus wird durch eine Familie von Kinasen (zyklinabhängige Kinasen, CDK) kontrolliert, die durch Bindung an Zykline in einer festen Abfolge aktiviert werden. Das Retinoblastomprotein kontrolliert im Zellzyklus den wichtigen Übergang von der G1- zur S-Phase. Ohne Phosphatgruppen blockiert RB den Zellzyklus in der G1-Phase, indem es Transkriptionsfaktoren der E2F-Familie, die für die Einleitung der S-Phase benötigt werden, einfängt und festhält. Erhält die Zelle mitogene Stimuli in ausreichendem Umfang, wird in der späten G1-Phase das RB-Protein durch bestimmte zyklinabhängige Kinasen phosphoryliert. Die gebundenen Transkriptionsfaktoren werden freigesetzt und leiten über spezifische Transkriptionsaktivierung die Produktion von Proteinen ein, die für die DNA-Synthese benötigt werden. Als Konsequenz geht die Zelle in die S-Phase. Die gleiche Wirkung erzielt das E7-Protein von HPV 16, indem es direkt an das RB-Protein bindet und E2F verdrängt. Darüber hinaus führt es zu einer verkürzten Halbwertszeit von RB. In Gegenwart von HPV16 E7 leitet die Zelle also die S-Phase ein (Thomas u. Lai-
mins 1998). Andere wichtige Bindungspartner von E7 sind die S4-Untereinheit des 26S-Proteasoms, Mi2beta, eine Komponente des NURD Histon-Deacetylasekomplexes, die Transkriptionsfaktoren MPP2 und AP-1, sowie das TATA-Box bindende Protein TBP. Welche dieser Interaktionen des E7-Proteins für die RBunabhängige Destabilisierung der zellulären Zentrosomen und die daraus resultierenden mitotischen Defekte bzw. genomische Instabilität verantwortlich ist, bleibt noch ungeklärt (Duensing u. Munger 2004). Als Konsequenz der Induktion der S-Phase durch E7 wird das P53-Protein über den ARF/MDM2-Pathway induziert. Diese Aktivierung von P53 führt zu einer verstärkten Synthese von Inhibitoren der zyklinabhängigen Kinasen, die für die Posphorylierung von RB verantwortlich sind. Somit würde durch P53 der Zellzyklus in der G1-Phase arretiert. Um diesem entgegen zu wirken, komplexiert in HPV16-infizierten Zellen das E6-Protein zusammen mit der Ubiquitinligase E6-AP mit P53 und führt es einem zellulären Proteinabbauweg zu. Als Konsequenz kann es zu einer permanenten Proliferation der Zelle kommen. Dies wird unterstützt durch eine weitere Funktion des HPV16 E6-Proteins welche zur Aktivierung des zellulären Telomeraseenzyms führt, das der kontinuierlichen Verkürzung der Chromosomenenden während der DNA-Replikation entgegenwirkt und somit zur Immortalisierung der Zellen beiträgt. Durch die Aktivität von E6 ist die natürliche Funktion von P53 als Antwort auf Schädigung der zellulären DNA, durch ionisierende Strahlen oder chemische Agenzien den G1-Arrest auszulösen oder den programmierten Zelltod (Apoptose) zu induzieren, aufgehoben. Weitere beschriebene Bindungspartner von E6 sind Transkriptionsfaktoren und zelluläre Proteine die einen Einfluss auf die Zellpolarität und motilität haben, auf DNA-Replikation und Reparatur, sowie die Apopotose induzieren können. Durch diese Interaktionen kann das E6-Protein Transkriptionsvorgänge beeinflussen, Zelladhäsionen aufheben, die Apoptose induzieren, die DNA-Reparatur beeinflussen und genomische Instabilität erzeugen. Eine persistent mit HPV infizierte Zelle hat somit ein stark erhöhtes Risiko, durch schädigende Umwelteinflüsse Mutationen zu erleiden, die zu weiteren Ausfällen von zellulären Kontrollgenen führen. Dies kann entscheidend die maligne Progression einer infizierten Zelle vorantreiben.
. Abb. 9.1. Stimulation des Zellzyklus durch die Onkoproteine E6 und E7 von High-risk-Papillomviren. Das E7-Protein verdrängt den Transkriptionsfaktor E2F aus der Bindung mit dem RB-Tumorsuppressor und bewirkt den Abbau von RB. E2F stimuliert die Transkription von S-Phase-
spezifischen zellulären Genen. Das E6-Protein bindet P53, führt zu seiner Degradation und aktiviert die Telomerase. Sowohl das E6- als auch das E7-Protein erzeugen genomische Instabilität in der infizierten Zelle
9
228
Kapitel 9 · Kanzerogenese durch Viren
9.2.3
Untersuchung der Papillomviruspathogenese im Tiermodell
Das einzige derzeit verfügbare Tiermodell, mit dem es möglich ist, einzelne Schritte der Progression von benignen Tumoren genau zu verfolgen, ist die Infektion von Hauskaninchen mit dem Papillomvirus amerikanischer Wildkaninchen (»CottontailrabbitPapillomvirus«, CRPV). Dieses Virus ist nahe verwandt mit bestimmten kutanen HPV-Typen. Die infizierten Tiere entwickeln Papillome, die in mehr als zwei Drittel der Fälle nach wenigen Monaten zu invasiv wachsenden metastasierenden Tumoren entarten. Kofaktoren sind für die maligne Progression nicht nötig (Wettstein 1987). Mithilfe dieses Tiermodells konnten die primären Zielzellen von Papillomviren, in Form von epithelialen Stammzellen in Haarfollikeln, als diejenigen Zellen identifiziert werden, die wenige Tage nach der Virusinfektion ausschließlich die viralen Onkogene E6 und E7 exprimierten (Schmitt et al. 1996). Spätere Arbeiten mit menschlichem Untersuchungsmaterial weisen auf einen ähnlichen Verlauf der Infektion beim Menschen hin (Boxman et al. 1997). Anhand des Kaninchensystems ließ sich auch belegen, dass epitheliale Stammzellen den Ort der latenten Infektion darstellen. Die experimentelle Infektion von Kaninchen mit suboptimalen Virusmengen von CRPV führt zu einer klinisch inapparenten Infektion des Epithels, die noch nach Monaten durch mechanische Irritation oder durch Bestrahlung der Haut mit ultraviolettem Licht (UV) reaktiviert werden kann. Als Folge der Bestrahlung oder der mechanischen Irritation entwickeln sich aus den zuvor unauffälligen Hautpartien, wahrscheinlich durch eine Aktivierung von latent infizierten Stammzellen, Hauttumoren (Amella et al. 1994; Zhang et al. 1999; Laimins 1996). Bisher unverstanden sind die Wirtsmechanismen, die bestimmen, ob Tumore oder latente Infektionen entstehen. Sie sind möglicherweise von großem Wert für das Verständnis der Entstehung und Progression menschlicher Tumoren.
9.2.4
Papillomvirusreplikation im differenzierenden Epithel
Alle humanpathogenen Papillomviren zeichnen sich durch einen strikten Gewebetropismus aus. Nur im terminal differenzierten Plattenepithel der Haut und der Schleimhaut findet eine Virusvermehrung statt. Dabei sind die einzelnen Schritte der viralen Genexpression und der Virusreifung eng mit dem jeweiligen Differenzierungsstatus der Keratinozyten im infizierten Epithel gekoppelt. Nach der initialen Infektion der Basalzellen im geschichteten Plattenepithel etabliert sich das HPV-Genom als extrachromosomales Replikon im Kern der infizierten Zelle. Kommt es zur Zellteilung, verlässt die Tochterzelle die Basalzellschicht und beginnt ein irreversibles Differenzierungsprogramm, das keine weitere Zellteilung mehr zulässt (Zellzyklus-Exit). Mit zunehmender Differenzierung werden die Zellen permissiver für die Amplifikation der viralen DNA, die Expression der Kapsidproteine und schließlich für die Produktion von neuen Viruspartikeln. Die Mutterzelle verbleibt in der Basalzellschicht und bildet ein Reservoir verbleibender viraler DNA. Für das Ausbilden einer persistenten Infektion spielen wahrscheinlich sowohl der virale Replikationsblocker E8^E2C als auch mangelnde T-Zell-Antworten gegen virusinfizierte Zellen eine wichtige Rolle. Da Papillomviren auf die zelluläre Synthesemaschinerie für die Replikation der Virusgenome angewiesen sind, ist eine wichtige Konsequenz der
HPV-Infektion eine Blockade des normalerweise stattfindenden Zellzyklus-Exit differenzierter Keratinozyten. HPV-infizierte suprabasale Zellen durchlaufen verursacht durch die Aktivität der viralen Proteine E6 und E7 eine inkomplette DNA-Synthesephase um die Virusgenome zu replizieren (Halbert et al. 1992; Cheng et al. 1995). Störungen der viralen Replikationskontrolle sind möglicherweise für die Progression von Dysplasien verantwortlich, die mit karzinogenen HPV-Typen persistent infiziert sind. Entsprechend wird die normalerweise episomal replizierende virale DNA in Zervixkarzinomen häufig in integrierter Form gefunden. Da jedoch keine präferenziellen Integrationsorte gefunden wurden, kann der Mechanismus einer integrationsbedingten Aktivierung von Protoonkogenen oder Inaktivierung von Tumorsuppressorgenen weitgehend ausgeschlossen werden. Ein Modell favorisiert die integrationsbedingte Inaktivierung des viralen Transkriptionsregulators E2 als den Wegfall des Repressors der E6/E7-Onkogenexpression. Schlüssige Daten, die belegen, dass eine gesteigerte Expression von E6/E7 in der infizierten Zelle für die Progression derselben nötig ist, liegen jedoch nicht vor. Die Integration der Virus-DNA könnte auch einfach eine Konsequenz des geänderten zellulären Milieus darstellen. So ist eine lang andauernde extrachromosomale Replikation des Virusgenoms nicht in etablierten Tumorzelllinien, sondern nur in normalen Keratinozyten möglich (Laimins 1996; Stubenrauch u. Laimins 2000).
9.2.5
Pathogenese papillomvirusinduzierter gutartiger Tumore
Die meisten HPV-Infektionen verlaufen klinisch inapparent. Im infizierten Epithel findet sich jedoch häufig ein zytopathogener Effekt, der sich in Form von sog. Koilozyten manifestiert. Koilozyten sind Zellen mit aufgehelltem Zytoplasma und pyknotischem Kern. Es sind jedoch keine Zellnekrosen oder entzündlichen Reaktionen mit der Virusvermehrung verknüpft. Die Infektion wird vom Immunsystem nicht effizient erkannt. Nur bei einem kleineren Teil der HPV-Infektionen folgt relativ kurz nach der Primärinfektion die Ausbildung von benignen Tumoren der Schleimhaut und der Haut; diese heilen in der Regel nach Monaten bis Jahren spontan ab. Diese benignen Tumoren (Kondylome, Papillome) weisen ein verdicktes Epithel, ausgeprägte Papillenbildung und mäßig erhöhte Mitoseraten auf. Deshalb wird angenommen, dass die massive Epithelverbreiterung vor allem auf einer verzögerten Differenzierungsbereitschaft der Keratinozyten in den Schichten des Stratum spinosum beruht (Laimins 1996). Daneben spielt auch die proliferationsstimulierende Wirkung der Infektion eine Rolle. Die Krankheitsbilder, die durch die Papillomvirusinfektionen verursacht werden, sind häufig charakteristisch für den infizierenden HPV-Typ (. Tab. 9.1). Vulgäre Warzen der Extremitäten und Plantarwarzen werden vor allem durch die HPV-Typen 1, 2, 4, 10, 27, 57, 65 verursacht. In genitalen Kondylomen und juvenilen Larynxpapillomen finden sich dagegen bevorzugt die Typen 6 und 11 (Gross u. Barrasso 1997). Die in benignen Warzen auftretenden zytopathologischen Veränderungen (Koilozyten) wurden schon sehr frühzeitig auch in Dysplasien des Gebärmutterhalses entdeckt. Diese auch als zervikale intraepitheliale Neoplasien (CIN) bezeichneten Läsionen wurden als Präkanzerosen verdächtigt. Aufgrund des Verlustes einer geordneten Differenzierungsfähigkeit der Keratinozyten können sich
229 9.2 · Papillomviren
Papillomviren jedoch nicht in prämalignen und malignen Veränderungen des Epithels vermehren. Sie konnten deshalb auch mit dem Elektronenmikroskop nicht nachgewiesen werden (Laimins 1996; Zur Hausen 1994).
vor allem HPV Typen der Spezies β-2 als auch genitale High-riskTypen und bereits bekannte HPV-Typen.
9.2.7 9.2.6
9
Klinische Bedeutung des HPV-Nachweis bei der Zervixkarzinomvorsorge
Papillomvirusinduzierte maligne Erkrankungen
Bei den Krebserkrankungen im Bereich des Anogenitaltrakts ist eine kausale Beteiligung von bestimmten Papillomviren seit längerer Zeit erkannt worden. In über 71,5% der Karzinome des weiblichen Genitaltraktes findet sich die DNA der High-risk-Typen HPV 16 und 18 (. Tab. 9.1), sodass eine persistente Infektion mit diesen Typen ein hohes Risiko für die Entstehung eines Karzinoms darstellt. Dagegen verursachen die Low-risk-Typen HPV 6 und 11 hauptsächlich gutartige Tumoren des äußeren Genitalbereiches sowie niedriggradige intraepitheliale Neoplasien und sind nur selten mit Karzinomen assoziiert (Munoz 2004). Bereits seit langer Zeit gilt eine Beteiligung von bestimmten Papillomviren (wie HPV 5 und 8) an der Entstehung von Hautkarzinomen bei Patienten mit der sehr seltenen Erkrankung Epidermodysplasia verruciformis als weitgehend gesichert. Dieses Krankheitsbild ist assoziiert mit einer bestimmten erblichen Form von T-zellulärer Immundefizienz. Auch eine lang andauernde Immunsuppression in Folge einer Organtransplantation führt zu einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber HPV-induzierten Hautwarzen und zu einer erhöhten Inzidenz von Hautkarzinomen 10–15 Jahre nach Beginn der Immunsuppression. In Untersuchungen wurde in ca. 60% dieser Hautkarzinome HPV-DNA entdeckt; dabei konnte eine große Anzahl neuer, bisher unbekannter Typen erstmals identifiziert werden (Pfister 1993). Auch in Hautkarzinomen von nicht immunsupprimierten Individuen und in Präkanzerosen (aktinische Keratosen, Morbus Bowen) konnte HPV-DNA nachgewiesen werden (Proby et al. 1996; Iftner et al. 2003). Das gefundene HPV-Spektrum umfasst dabei
Weltweit erkranken 500.000 Frauen jährlich neu an einem Zervixkarzinom. Besonders in den Entwicklungsländern ist diese Krebsart eine der häufigsten Todesursachen mit jährlich 274.000 Fällen weltweit. Im Jahr 2002 wurden in der EU (25 Länder) 32.700 neue Fälle von Gebärmutterhalskrebs registriert (5Jahres-Überlebensrate 50–60 %) und 14.400 durch das Zervixkarzinom bedingte Todesfälle. Diese Zahlen wären für die europäischen Länder sicherlich um ein Vielfaches höher, wenn nicht bereits effektive Screening-Untersuchungen angewendet würden. Insbesondere die Untersuchung von zytologischen Abstrichen nach Papanicolaou hat zu einem Rückgang der Inzidenz und der Mortalität des Zervixkarzinoms geführt. Trotzdem war es bisher nicht möglich, das invasive Zervixkarzinoms durch das zytologische Präventivprogramm vollständig zu verhindern. Nahezu zwei Drittel aller am Zervixkarzinom verstorbenen Patientinnen unter 45 Jahren in England waren vor der Diagnosestellung in regelmäßiger gynäkologischer Betreuung und ihre Abstriche waren als unauffällig klassifiziert worden. Bei der Nachtestung solcher falsch-negativer Abstriche auf die Anwesenheit von HPVDNA, konnten in 90% der archivierten Präparate die High-riskHPV-Typen 16 oder 18 bis zu 6 Jahre vor der Diagnosestellung nachgewiesen werden (Wallin et al. 1999). Deutschland gehört zu den Ländern mit der höchsten Inzidenz und Mortalität des invasiven Zervixkarzinoms in Westeuropa. Das ist der Fall, obwohl jährlich die Krebsfrüherkennung mit dem Pap-Abstrich angeboten wird und das Screening vom 20. Lebensjahr ohne obere Altersgrenze verläuft. In Deutschland erkranken pro Jahr etwa 6.500 Frauen an Gebärmutterhalskrebs
. Tab. 9.1. Übersicht über die menschlichen Papillomviren und assoziierte Erkrankungen Klinische Symptomatik
HPV-Genus/Spezies/Typ (de Villiers et al. 2004) Häufig
Seltener
Vulgäre Warzen
1, 2, 4, 10, 27, 57
6, 7, 11, 28
Plantarwarzen
1, 2, 4, 27, 57, 65 (Spezies alpha 4)
10
Seborrhoische Keratose
1, 27
Aktinische Keratose
1, 27
6, 16, 33
Morbus Bowen
16
1, 3, 16, 27, 34, 35
Äußerliche Kondylome
6, 11
2, 10, 16, 30, 40–42, 44, 45, 54, 55, 61
Hautkarzinome bei EV-Patienten
5, 8
β-Genus, Spezies alpha 2
Hautkarzinome bei Transplantierten
β-Genus, alpha 5
Neue Typen
Hautkarzinome Normalbevölkerung
EV-verwandte Typen (β-Genus),
1, 2, 4, 16, 33, 38, 57, neue Typen
Kondylome der Zervix
6, 11, 16, 42–44
Larynxpapillome
6, 11
Zervikale intraepitheliale Neoplasien der Zervix (CIN)
Spezies alpha 1, 3, 5, 6, 7, 9, 10, 11, 13, 14
Gebärmutterhalskarzinome
16, 18, 31, 33, 35, 39, 45, 51, 52, 56, 58, 59, 66
26, 53, 68, 70, 73, 82
230
9
Kapitel 9 · Kanzerogenese durch Viren
. Abb. 9.2. Pathogenese von High-risk-Papillomviren: Nach der Primärinfektion kommt es zu einer unauffälligen latenten oder auf wenige Zellen beschränkten persistierenden Infektion. Zytomorphologisch auffällige, aber noch nicht maligne Veränderungen des Epithels werden als
»cervical intraepithelial neoplasia« (CIN) unterschiedlicher Schwerestufe bezeichnet. CIN I entspricht einer milden, CIN II einer moderaten und CIN III einer schweren Dysplasie bzw. einem Carcinoma in situ
und ca. 1.700 sterben daran. Das entspricht einem Anteil von 4% an allen Krebserkrankungen und 2% an allen Krebssterbefällen bei Frauen. Ein Grund dafür könnte die niedrige Teilnahmerate der Frauen an der Früherkennung mit weniger als 50% sein, es scheinen aber auch systemimmanente Mängel dafür mitverantwortlich zu sein. Bisher war angenommen worden, dass der PAPAbstrich eine Sensitivität von 80% und eine Spezifität von 99,9% für die Erkennung der schwergradigen Vorstufen des Zervixkarzinoms aufweist. Die tatsächliche Sensitivität für die Detektion einer schwergradigen Dysplasie liegt nach einem amerikanischen Technology Assessment Report (McCrory et al. 1999) und einer großen deutschen Studie (Petry et al. 2003) nur bei ca. 50%. Da die persistente Infektion mit sog. Hochrisikotypen von Humanen Papillomviren (HR-HPV) eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung von zervikalen Krebsvorstufen und Gebärmutterhalskrebs darstellt, wäre der Einsatz eines Nachweistestes für diese HPV-Typen in der Früherkennungsuntersuchung folgerichtig (. Abb. 9.2). Die neue interdisziplinäre S2k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG, 2008; AWMF 015/027) empfiehlt einen HPV Test bei unauffälliger Zytologie als sinnvolle Ergänzung des zytologischen Primärscreenings ab dem 30. Lebensjahr. Evaluiert und positiv bewertet ist der Einsatz der HPV-Diagnostik bei unklaren zytologischen Befunden, sowie bei leicht- und mittelgradigen Präkanzerosen zur Vorhersage von Regression, Persistenz oder Progression, und nach Behandlung von Dysplasien zur Kontrolle des Therapieerfolges. Die Kombination des zytologischen Abstriches mit der Testung auf HR-HPV kann jedoch die Sensitivität des Nachweises von Gebärmutterhals-Krebsvorstufen und -krebs entscheidend verbessern. Die höhere Sensitivität des HPV-Tests geht zu Lasten einer niedrigeren klinischen Spezifität (niedrigerer positiver Vorhersagewert), da mit dem Test die virale DNA auch bei gesunden HPV-infizierten Frauen in den zervikalen Zellen nachgewiesen werden kann. Somit erlaubt ein einmaliger positiver HPV-Test nur das Erkennen einer vorliegenden Infektion, jedoch nicht den Rückschluss auf eine vorliegende Erkrankung. Zwei positive HPV-Testbefunde im zeitlichen Abstand von 12 Monaten bei Frauen ab 30 Jahren sind aber ein Hinweis für eine persistente
Infektion, die mit einem stark erhöhten Risiko für das Zervixkarzinom einhergeht. Im Vergleich dazu ist die Zytologie nur geeignet, bereits vorliegende Läsionen zu detektieren und sagt nichts über das Risiko für zukünftige Läsionen aus. Problematisch ist, dass bei gleichzeitig negativer Zytologie und positivem HPV-Befund zurzeit keine klaren Richtlinien für das weitere Vorgehen verfügbar sind. Bei ungenügender Aufklärung der Frauen und der Ärzte ist hier von einer erhöhten psychischen Belastung ohne einen erkenntlichen Gewinn auszugehen, sowie eine Übertherapie zu befürchten, vor allem wenn Frauen unter 30 Jahren auf HPV getestet werden. Eine interdisziplinäre Projektgruppe aus 23 Fachgesellschaften, Berufsverbänden und Organisationen betreibt deshalb in Deutschland objektive Aufklärung der Bevölkerung und Fachkreise zu diesem Thema (www.zervita.de). Eine neuere Studie zum prognostischen Wert einer HPVTestung mit 8.000 Frauen aus Dänemark zeigt eindeutig, dass bei Vorliegen eines normalen Pap-Abstriches und negativem HPVTest eine hohe Sicherheit (NPV >99%) über 10 Jahre besteht, keine Krebsvorstufen zu entwickeln (Kjaer et al. 2006). Zusammenfassend erbringt die HPV-Typisierung für Frauen im Alter von 30–60 Jahren einen zusätzlichen früh erkennbaren Parameter zur Differenzialdiagnostik von grenzwertigen und leichtgradig zytologischen Befunden sowie zur Risikoklassifizierung für den weiteren Follow-up, und ist in der Therapiekontrolle von dysplastischen Läsionen der traditionellen Zytologie überlegen (Iftner, 2008).
9.2.8
Impfstoffe gegen Papillomviren
Das Konzept der prophylaktischen Vakzine zur Verhinderung von Infektionen von genitalen HPV Infektionen basiert auf Studien mit Papillomvirus-Tiermodellen, wie dem CRPV-Kaninchenmodell. Hier wurde die Regression von Tumoren bzw. die Abstoßung transplantierbarer CRPV-induzierter Tumore in vivo nach Immunisierung mit Extrakten von Papillomen beobachtet. Die Impfung mit verschiedenen CRPV-Genen schützte vollständig gegen Virusinfektion bzw. bewirkte auch eine Regression bestehender Papillome oder verhindert deren maligne Progression.
231 9.3 · Epstein-Barr-Virus
Die Protektion vor einer Infektion nach Impfung mit dem CRPV L1-Hauptkapsid-Protein beruhte auf neutralisierenden Antikörpern, jedoch nicht auf zellvermittelter Immunität. Auch im Fall der heute verwendeten »Virus-like-particles«-(VLP-)Vakzine beruht der Infektionsschutz auf neutralisierenden Antikörpern. Dafür spricht auch, dass sich der Impfschutz durch passiven Transfer von IgG aus immunisierten Tieren übertragen lässt. Der Impfstoff gegen Papillomviren besteht aus »virus-like particles« (VLP), die sich sich aufgrund der Eigenschaft der viralen Hauptstrukturproteine zur spontanen Partikelbildung relativ leicht herstellen lassen und sich in ihrer Morphologie und ihren antigenen Eigenschaften nicht von infektiösen Partikeln unterscheiden. VLP bilden sich spontan aus 360 Molekülen des Hauptstrukturproteins L1 zusammen mit dem kleineren Strukturprotein L2 (12 Kopien pro Partikel), aber auch in dessen Abwesenheit. Für den Impfstoff im Menschen werden nur L1-VLP verwendet, die in Hefe- und Insektenzellen hergestellt werden. Cervarix (GSK) enthält VLP von HPV 16 und HPV 18, den beiden häufigsten mit Zervixkarzinom assoziierten Virustypen (71,5% der weltweit auftretenden Zervixkarzinome). Gardasil (SPMSD) beinhaltet außerdem noch VLP der Typen 6 und 11 zum zusätzlichen Schutz vor Genitalwarzen. In mehreren klinischen Studien wurden Verträglichkeit und Immunogenität demonstriert. Nach 4 Jahren Followup zeigt sich bis jetzt ein fast völliger Schutz gegen persistierende Infektion der Zervix mit HPV 16 und 18 sowie gegen damit assoziiertes CIN (Harper et al. 2004; Koutsky et al. 2002; Villa et al. 2005). In einer Studie wurde auch eine geringere Wirksamkeit gegen verwandte HPV-Typen (z. B. HPV 31, 45) beobachtet. Um die Wirksamkeit gegen das Zervixkarzinom beurteilen zu können bedarf es allerdings Nachbeobachtungszeiträume von 20–30 Jahren und größerer Studien auf der Basis ganzer Populationen. Wichtig ist, dass die HPV-Impfung rein prophylaktischer Natur ist und keinen therapeutischen Nutzen hat. Dies zeigt eine Studie vom US-National Cancer Institute in Bethesda mit 2.189 Frauen im Alter von 18–25 Jahren, die alle einen HPV-DNA-positiven Zervixabstrich hatten. Sie erhielten entweder die drei vorgeschriebenen Dosierungen des Impfstoffes oder eine Kontrollvakzine (Hepatitis A). Nach 6 Monaten waren bei 33,4% der gegen HPV geimpften Frauen keine HPV-Viren mehr im Kontrollabstrich vorhanden. Dies war aber nicht auf die Impfung zurückzuführen, denn auch in der Kontrollgruppe wurde bei 31,6% der Frauen und damit nicht signifikant seltener eine HPV-Clearance erreicht. Wie hoch die »Spontanheilungsrate« bei HPV-Infektionen ist, zeigen auch die Ergebnisse nach 12 Monaten: Zu diesem Zeitpunkt waren 48,8% der Geimpften und 49,8% in der Kontrollgruppe ohne HPV-Viren im Abstrich (Hildesheim et al. 2007).
9.3
Epstein-Barr-Virus
Im Jahre 1964 wurde von Epstein, Achong und Barr erstmalig eine Verbindung zwischen einer Tumorerkrankung beim Menschen und Herpesviren aufgezeigt. In Zelllinien, die aus afrikanischen Burkitt-Lymphomen etabliert worden waren, konnten sie im Elektronenmikroskop Herpesviren nachweisen. Herpesviruspartikel haben einen Durchmesser von 120– 300 nm und eine charakteristische Morphologie. Sie bestehen aus einem ikosaedrischen Kapsid mit DNA-haltigem Kern (»core«), der von einer Hüllmembran (»envelope«) umgeben ist. In die Hülle eingelagert befinden sich virale Glykoproteine, die für die
9
Anheftung an Membranrezeptoren auf der Wirtszelle von großer Bedeutung sind. Zwischen Hülle und Kapsid befindet sich eine amorphe, asymmetrische Proteinstruktur, das Tegument. Die viralen Genome bestehen aus linear-doppelsträngiger DNA von 120–230 kbp. Sie kodieren für etwa 70–200 Proteine. Neben den Proteinen der Viruspartikel (Strukturproteinen) können Herpesviren ihre eigene DNA-Polymerase sowie Enzyme des Nukleotidstoffwechsels synthetisieren. Die Virusreplikation findet im Zellkern statt. Dabei werden die Virusgene gruppenweise, in geordneter zeitlicher Abfolge transkribiert. Am Ende des produktiven Replikationszyklus kommt es zur Freisetzung infektiöser Viren und zur vollständigen Zerstörung der Wirtszelle. In bestimmten Zellen folgt der Infektion keine Virusvermehrung, sondern die Langzeitpersistenz der Virusgenome (Latenz). In persistent infizierten Zellen liegt die Virus-DNA meist zirkulär vor und verdoppelt sich bei jeder Zellteilung. Sie ist nur zu kleinen Teilen exprimiert. Auf diese Weise können Herpesviren im Wirt lebenslang persistieren. Latente Herpesviren können bei einer Schwächung des Wirts wieder eine produktive Infektion auslösen und somit zur Weiterverbreitung des Virus beitragen. Die Herpesviren (Familie Herpesviridae) können aufgrund ihrer biologischen und genetischen Eigenschaften in Unterfamilien eingeteilt werden. α-Herpesviren, wie das Herpes-simplexVirus, sind durch einen breiten Wirtsbereich, schnelle Vermehrung in Zellkultur und durch Persistenz in sensorischen Ganglien gekennzeichnet. Dagegen weisen β-Herpesviren (z. B. menschliches Zytomegalievirus) einen begrenzteren Wirtsbereich und längere Vermehrungszyklen auf; häufig findet sich eine Vergrößerung infizierter Zellen (Zytomegalie). γ-Herpesviren persistieren bevorzugt in lymphoiden Zellen, während die produktive Infektion häufig in Epithelzellen stattfindet. Man unterscheidet γ-1 (Lymphokryptoviren) von γ-2 (Rhadinoviren). Beide Gruppen enthalten Tumorviren. So können die Rhadinoviren Herpesvirus (H.) saimiri und H. ateles lymphoproliferative Erkrankungen bei Neuweltprimaten hervorrufen. Ihr nächster Verwandter beim Menschen ist das humane Herpesvirus Typ 8 (HHV-8), welches das Kaposi-Sarkom induziert. Das EpsteinBarr-Virus (EBV), der Prototyp der γ-1-Herpesviren, stimuliert effizient die Zellproliferation in B-Lymphozyten und ist mit mindestens vier verschiedenen Tumorerkrankungen (. Tab. 9.2) eng assoziiert (Rickinson u. Kieff 2001; Niedobitek et al. 1997).
9.3.1
Transformation von B-Zellen durch EBV
Eine Infektion von menschlichen B-Lymphozyten aus dem peripheren Blut mit EBV führt zu einer Veränderung der Zellmorphologie und des Wachstumsverhaltens in Zellkultur (Rickinson u. Kieff 2001). Die Zellen gleichen phänotypisch B-Zellen, die durch Mitogen aktiviert wurden. Im Gegensatz zu normalen BZellen vermehren sie sich uneingeschränkt, was zum Auswachsen lymphoblastoider Zelllinien führt (Wachstumstransformation). Die transformierten Zellen enthalten zirkularisierte EBVGenome in meist hoher Kopienzahl (1–800). Nur neun virale Proteine werden exprimiert, sechs »Epstein-Barr-Virus-assoziierte nukleäre Antigene« (EBNA) und drei »latente Membranproteine« (LMP; Henderson et al. 1994). Für die Aufrechterhaltung des ungehemmten Zellwachstums sind die Proteine EBNA-1, EBNA-2, EBNA-3A/3C, EBNA-LP und LMP-1 notwendig. Dabei wird EBNA-1 für die Replikation der persistierenden episomalen
232
Kapitel 9 · Kanzerogenese durch Viren
. Tab. 9.2. Tumorassoziation des Epstein-Barr-Virus. (Mod. nach Rickinson u. Kieff 1996)
9
Tumor
Subtyp
Latenzzeit Jahre
EBV-Assoziation [%]
Antigenexpression
Latenz
Burkitt-Lymphom
Endemisch
3–8 post EBV
100
EBNA-1
I
Sporadisch
3–8 post EBV
15–85
Aids-assoziiert
3–8 post HIV
30–40
Nasopharynxkarzinom
Wenig- oder undifferenziert
30 post EBV
100
EBNA-1, LMP-1, LMP-2
II
T-Zell-Lymphom
Nasal
>30 post EBV
100
EBNA-1, LMP-1, LMP-2
II
Hochmalignes B-ZellLymphom
X-gekoppelt,
<0,5 post EBV
100
III
Posttransplantation
<0,5 oder >1 post Transplantation
100
EBNAs 1,2,3A,3B,3C,LP,LMPs 1,2
Aids-assoziiert
5–10 post HIV
70–80
DNA benötigt. Es bindet am Ursprung der DNA-Replikation (Ori P) an die Virus-DNA und stimuliert die Initiation der DNAReplikation. Das Protein EBNA-2 stimuliert als Transaktivator die Expression aktivierungsspezifischer zellulärer Gene, die EBNA-Expression (einschließlich EBNA-2) sowie die LMP-1-Expression. Das Protein LMP-1 hat Kennzeichen eines viralen Onkogens: In Fibroblasten führt es zu verankerungsunabhängigem Wachstum, zu vermindertem Wachstumsfaktorbedarf und zum Tumorwachstum in der Nacktmaus. Die LMP-Expression induziert die meisten der EBV-typischen Veränderungen im Phänotyp der B-Zellen. Über die Bindung von TNF-Rezeptor-assoziierten Faktoren (TRAF) löst es zelluläre Wachstumssignale aus und imitiert damit die Signaltransduktion zellulärer Rezeptoren aus der Superfamilie der Tumor-Nekrose-Faktor-Rezeptoren (z. B. CD40; Thorley-Lawson 2000; Young u. Rickinson 2004). Darüber hinaus werden in allen EBV-infizierten Zellen zwei kleine nicht kodierende Transkripte synthetisiert, EBER1, EBER2, die häufig zum In-situ-Nachweis einer EBV-Infektion herangezogen werden, deren Bedeutung für die Pathogenese jedoch noch nicht völlig klar ist. Neueste Befunde sprechen dafür, dass EBV während der Latenz auch eine Reihe von Micro-RNA (miRNA) exprimiert, die u. a. aus dem sehr stark gespleißten BART-Transkript prozessiert werden. Diese miRNA könnten auf vielfältige Weise die zelluläre Genexpression beeinflussen (Cai et al. 2006). Die EBV-Gene, die in den transformierten B-Zellen aktiv sind, werden auch in latent infizierten B-Zellen von Patienten exprimiert und deshalb als latenzassoziiert bezeichnet (Rickinson u. Kieff 2001). Nach dem Umfang der latenzassoziierten viralen Genexpression lassen sich drei Latenztypen unterscheiden: Bei der Latenz III sind alle latenzassoziierten Gene aktiv, bei Latenz II sind EBNA-1, LMP-1 und LMP-2 und bei der Latenz I ausschließlich EBNA-1 exprimiert. Die Latenztypen sind charakteristisch für EBV-assoziierte Tumoren (siehe . Tab. 9.2). 9.3.2
Infektiöse Mononukleose
Das Epstein-Barr-Virus ist weltweit verbreitet (Rickinson u. Kieff 2001). Etwa 80–90 % der Erwachsenen weisen spezifische Antikörper auf. Das Virus wird überwiegend durch Speichel übertragen. Die Primärinfektion erfolgt meist im Kindesalter und verläuft oft inapparent. In Ländern der westlichen Welt kommt es dagegen auch zu Infektionen im jungen Erwachsenenalter,
die häufig zum Krankheitsbild der infektiösen Mononukleose führt (Synonym: Pfeiffer-Drüsenfieber). Kennzeichnend ist eine Schwellung der Tonsillen und Lymphknoten, insbesondere im Halsbereich. Diese ist verbunden mit einer charakteristischen starken Vermehrung von monozytoiden Zellen im Blutbild. Dabei handelt es sich um infizierte B-Zellen und in der überwiegenden Mehrheit um T-Lymphozyten. Die infizierten B-Zellen bei der infektiösen Mononukleose entsprechen in ihrer EBV-Expression der Latenz III. Nach Ausheilung der Krankheit persistiert das Virus lebenslang in B-Lymphozyten. In diesen Lymphozyten wird als virales Antigen EBNA-1 exprimiert.
9.3.3
B-Zell-Lymphome in immunsupprimierten Patienten
Das onkogene Potenzial des Epstein-Barr-Virus manifestiert sich besonders deutlich bei der Entstehung von hochmalignen B-ZellLymphomen bei Patienten mit eingeschränkter Immunabwehr wie bei bestimmten Formen genetischer Immundefizienz (Sullivan u. Woda 1989), bei Aids (Hamilton-Dutoit 1991) und unter lang dauernder immunsuppressiver Therapie nach Transplantation (Craig et al. 1993; Locker u. Nalesnik 1989). Dabei kommt es initial zu einer polyklonalen Vermehrung von EBV-infizierten B-Zellen. Sie sind diploid, enthalten zirkuläre EBV-Genome und exprimieren alle latenzassoziierten viralen Genprodukte (Latenz III). Diese Beobachtungen sprechen dafür, dass das Virus der wesentliche, vielleicht sogar der einzige Faktor ist, der die Lymphoproliferation bewirkt. Gelegentlich können jedoch weitere molekulare Alterationen auftreten, die z. B. in der Aktivierung des MYC-Gens und der monoklonalen Expansion maligner Zellen bestehen können. Das Risiko, ein derartiges Lymphom zu entwickeln, ist abhängig vom Ausmaß der Immunsuppression sowie vom EBV-Status des Patienten und des Spenders. Seronegative Empfänger, die sich eine EBV-Infektion durch das Transplantat oder Blutspenden zuziehen, haben das größte Risiko.
9.3.4
Burkitt-Lymphom
Die Persistenz von Epstein-Barr-Virus in Burkitt-Lymphomzellen führte zur Entdeckung des Virus und zu der Vermutung, dass EBV kausal an der Tumorentstehung beteiligt ist. Die Assoziation mit
233 9.3 · Epstein-Barr-Virus
dem Virus ist vom Typ des Burkitt-Lymphoms abhängig (Magrath et al. 1992; Rickinson u. Kieff 2001). Bei der sporadischen Form in Europa und Nordamerika enthalten 15–25% der Tumore virale Genome. Die Klonalität der EBV-Genome in diesen Lymphomen erlaubt den Schluss, dass das Virus vor der malignen Entartung die Zellen infiziert hat und somit einen Kofaktor bei der Onkogenese darstellen könnte. Die endemische Form des Burkitt-Lymphoms (BL) ist dagegen zu fast 100% mit EBV assoziiert. Letztere unterscheidet sich von der sporadischen Form durch eine geografische Abgrenzung des Verbreitungsgebiets, durch die sehr hohe Manifestationsrate (50- bis 100-fach höher als bei der sporadischen Form) und durch ein anderes klinisches Erscheinungsbild. Die endemische Form ist die häufigste Krebsform bei Kindern in Äquatorialafrika. Das Verbreitungsgebiet entspricht dem Vorkommen der Malaria, die möglicherweise als Kofaktor die Entstehung des Tumors begünstigt. Das endemische BL tritt nahezu regelhaft extranodal auf, wie beispielsweise im Kiefer, in den Augenhöhlen, im ZNS oder als abdominale Masse. Nahezu jeder Tumor enthält monoklonale EBV-Genome (Zur Hausen et al. 1970) und exprimiert als einziges virales latenzassoziiertes Protein EBNA-1. Alle Formen des BL weisen reziproke Translokationen auf. Dabei kommt es zum »Rearrangement« vom MYC-Lokus (8q24) und den Chromosomenloki der schweren (Chromosom 14, 80% aller Fälle) und leichten Ketten (Chromosome 2 und 22) der Immunglobuline. Dies führt zur Aktivierung des MYCGens und ist wahrscheinlich essenziell für die Tumorentstehung. Vieles spricht dafür, dass EBV einen wesentlichen Beitrag zur Burkitt-Lymphom-Pathogenese leistet, obwohl der Mechanismus, über den das Virus zur Lymphomagenese beiträgt, immer noch in wesentlichen Aspekten unklar ist. Die sehr potenten wachstumsstimulierenden Eigenschaften des Virus sprechen allerdings dafür, dass es in der frühen Lymphomagenese zur Vergrößerung einer Zellpopulation führt, die ein erhöhtes Risiko für Translokationen aufweist. So prädisponiert die EBV-Transformation zu illegitimen Translokationen, die auch Immunglobulingene betreffen können. Alternativ könnte das Virus auch auf Zellen wirken, in denen bereits eine Translokation vorliegt und deren Überlebensfähigkeit erhöhen. Auf diese Weise würde es die Expansion eines translokationspositiven Klons ermöglichen.
9.3.5
Hodgkin-Lymphom
Der Schlüsselbefund, der die EBV-Infektion mit dem HodgkinLymphom verknüpfte, war der Nachweis monoklonaler EBV-Genome in mononukleären Hodgkin- und multinukleären ReedSternberg-Zellen (Weiss et al. 1989; Pallesen et al. 1993). Diese Zellen stellen die eigentliche maligne Zellpopulation dar, obwohl sie nur einen Bruchteil der Tumormasse ausmachen. HodgkinLymphome lassen sich aufgrund histologischer Kriterien in vier Subtypen einteilen: 4 lymphozytenreicher Typ, 4 nodulär-sklerosierender Typ, 4 gemischtzelliger Typ und 4 lymphozytenarmer Typ. Die EBV-Assoziation ist abhängig vom Typ. Etwa 50–90% der gemischtzellulären und lymphozytenarmen Typen und 30% der nodulär-sklerosierenden Typen enthalten EBV-DNA. Im lymphozytenreichen Typ ist EBV nur selten nachweisbar. Wie beim anaplastischen Nasopharynxkarzinom exprimieren die Virusge-
9
nome in den Tumorzellen EBNA-1 und sehr große Mengen von LMP-1. Dies spricht für eine ätiologische Rolle von EBV bei der Entstehung eines Teils der Hodgkin-Lymphome.
9.3.6
EBV in T-Zell- und NK-Zell-Lymphomen
Bei drei verschiedenen Typen von T-Zell-Tumoren wurde ebenfalls eine Assoziation mit EBV nachgewiesen (Pallesen et al. 1993; Niedobitek et al. 1997). Eine besonders hohe Assoziationsrate weist das nasale T-Zell-Lymphom auf. Es handelt sich dabei um ein extranodales Lymphom von angiozentrischem Typ, das vor allem in der Nasenhöhle auftritt. Der Tumor ist relativ häufig in Südostasien, kommt aber auch bei Kaukasiern vor. Das nasale T-Zell-Lymphom kann wahrscheinlich aus T-Zellen verschiedener Differenzierungsstufen entstehen; die Zellen haben unterschiedliche T-Zell-Phänotypen. Häufig weisen die nasalen, EBV-assoziierten Lymphome auch den Phänotyp von »NaturalKiller«-(NK-)Zellen (CD3-/CD 56+) auf. Das EBV-Genexpressionsmuster entspricht der Latenz II (Young u. Rickinson 2004).
9.3.7
Anaplastisches Nasopharynxkarzinom
Als Folge der Infektion von Epithelien durch das EBV können auch Karzinome, wie das anaplastische Nasopharynxkarzinom (NPC) entstehen. Es weist die konsistenteste Assoziation aller Tumoren mit EBV auf (Young u. Rickinson 2004). Aber auch in anderen Karzinomen, wie einer Untergruppe des Adenokarzinoms des Magens sowie in Speicheldrüsenkarzinomen findet sich EBV und hat möglicherweise eine Bedeutung für ihre Entstehung (Young u. Rickinson 2004). Das anaplastische Nasopharynxkarzinom (NPC) wird als eine eigenständige klinische Einheit betrachtet. Es unterscheidet sich von anderen Formen des NPC insbesondere durch den geringen Differenzierungsgrad der Tumorzellen. Kennzeichnend ist auch eine Tendenz zu ausgedehnten Infiltration durch Lymphozyten. In Deutschland wird dieser Tumor auch häufig als Lymphoepitheliom, lymphoepitheliales undifferenziertes Epipharynxkarzinom oder SchminckeRegaud-Tumor bezeichnet. Die Tumorzellen sind epithelialen Ursprungs; sie sind nur geringfügig differenziert oder völlig undifferenziert. Charakteristisch für Tumorpatienten und damit von Bedeutung als diagnostisch-prognostischer Marker sind antivirale Antikörper der Unterklasse IgA gegen die viralen Antigene VCA (»virus capsid antigen«) und EA (»early antigen«). Für eine ätiologische Rolle von EBV bei der Tumorentstehung (Niedobitek et al. 1996) spricht: 4 Nahezu alle anaplastischen NPC enthalten EBV-DNA (Zur Hausen et al. 1970). 4 Die viralen Episomen in den Tumoren sind monoklonal, die Infektion muss also vor der Tumorentstehung stattgefunden haben. 4 Monoklonale EBV-Genome sind im nichtinvasiven Vorläufertumor, dem In-situ-NPC nachweisbar. 4 Neben EBNA-1 wird auch das virale Onkoprotein LMP-1 exprimiert (Latenz II) sowie das BARF1-Protein, welches nicht in lymphatischen Tumoren gefunden wurde In Europa und Nordamerika ist dieser Tumor selten. Die Inzidenzrate ist geringer als 1/105/Jahr. Wesentlich höher ist die Inzi-
234
Kapitel 9 · Kanzerogenese durch Viren
denz bei der Bevölkerung Südchinas (2–3/10.000), bei Eskimos und bestimmten Bevölkerungsgruppen Nordafrikas. Die Verteilung dieses Tumors spricht für einen genetischen Kofaktor oder für bestimmte risikofördernde Verhaltensweisen bei der betroffenen Bevölkerung.
9.4
Kaposi-Sarkom und humanes Herpesvirus Typ 8
Das 1867 von Moriz Kaposi erstmals beschriebene Krankheitsbild eines multifokalen, von Endothelzellen der Haut ausgehenden Sarkoms war bis zum Beginn der HIV-Erkrankung selten. Allerdings konnten schon 1972 Herpesviruspartikel in Zelllinien aus KaposiSarkomen elektronenmikroskopisch nachgewiesen werden. Die Vermutung, dass das menschliche Zytomegalievirus im KaposiSarkom regelmäßig vorkommt, bestätigte sich jedoch nicht.
9.4.1
9
Isolierung eines Herpesvirus aus dem Kaposi-Sarkom
Zu Beginn der Aids-Epidemie zeigte sich, dass Kaposi-Sarkome bei homosexuellen Patienten deutlich häufiger als bei anderen HIVÜbertragungswegen beobachtet wurden. Dies legte den Verdacht nahe, dass die Tumorkrankheit nicht unmittelbar durch HIV, sondern durch ein zweites, sexuell übertragenes Virus verursacht ist (Beral et al. 1990). Erst 1994 gelang es Chang und Mitarbeitern mithilfe der RDA-Methode (»representational difference analysis«), einem PCR-Verfahren zur selektiven Amplifikation unbekannter DNA-Sequenzen, die DNA eines neuen humanen Herpesvirus in Kaposi-Sarkomen nachzuweisen (Chang et al. 1994). Dieses neue Virus, als humanes Herpesvirus Typ 8 (HHV-8) oder als Kaposi-Sarkom-assoziiertes Herpesvirus (KSHV) bezeichnet, fand sich nicht nur regelmäßig in Kaposi-Sarkomen, sondern auch bei der Castleman-Krankheit (»Castleman’s Disease«, CD) und bei BCBL (»body cavity based lymphoma«) bzw. PEL (»primary effusion lymphoma«), einem B-Zell-Lymphom, das gelegentlich bei Aids in Pleura, Perikard oder Peritoneum entsteht.
. Abb. 9.3. HHV-8-Genom. Die doppelsträngig-lineare DNA in den Viruspartikeln besteht aus repetitiven Sequenzelementen hohen G+C-Gehalts (H-DNA) an den Enden und der kodierenden A+T-reichen L-DNA im
9.4.2
Humanes Herpesvirus Typ 8 (HHV-8)
Das Herpesvirus HHV-8 gehört zur Subgruppe der Rhadinoviren, die eine charakteristische Genomstruktur aufweisen (. Abb. 9.3). Ihre doppelsträngige lineare DNA besteht aus einem Abschnitt von 110–140 kbp mit niedrigem GC-Gehalt (L-DNA), der an beiden Enden durch hochrepetitive GC-reiche H-DNA flankiert ist. In den Genomen der Rhadinoviren finden sich verschiedene Gene, die eine deutliche Homologie zu zellulären Genen aufweisen (. Abb. 9.3). Möglicherweise erleichtert die besondere Genomstruktur sogar die Aufnahme der zellulären Gene in Form von cDNA-Kopien in den viralen Genverband. Die zellhomologen viralen Gene sind, soweit untersucht, den zellulären Genen funktionell gleichzusetzen oder kodieren für konstitutiv aktive Proteine ähnlicher Funktion. Das HHV-8 besitzt mindestens 20 virale Gene, die sich offenbar aus akquirierten zellulären Genen ableiten (Neipel et al. 1997). In ihrer Mehrzahl besitzen die entsprechenden zellulären Proteine wachstumsstimulierende oder antiapoptotische Eigenschaften und sind sehr wahrscheinlich für die Pathogenese des Kaposi-Sarkoms von Bedeutung.
9.4.3
Wachstumsstimulierende und -transformierende HHV-8-Gene
Verschiedene virale Genprodukte simulieren zelluläre Wachstumssignale und können so die Zellproliferation stimulieren (Neipel u. Fleckenstein 1999; Schulz 2006). So kodiert HHV-8 für ein Interleukin-6-Äquivalent, das in seiner Funktion dem natürlichen Zytokin analog ist und das B-Zell-Wachstum stimulieren kann. Das Protein wird auch im Kaposi-Sarkom exprimiert. Das virale Homolog des IL-8-Rezeptors (vIL-8), ein G-Protein-gekoppelter Zytokinrezeptor, ist transformierend für Endothelzellen und stimuliert die Angiogenese. Ebenfalls transformierend wirkt ein Virusprotein, das Homologien zu interferonresponsiven Faktoren aufweist. In den Spindelzellen des Kaposi-Sarkoms wird auch das latenzassoziierte nukleäre Antigen (LANA) exprimiert, das für die
zentralen Bereich. Gene mit deutlichen Zellhomologien sind farbig gekennzeichnet
235 9.5 · Humane T-Zell-Leukämieviren
Replikation der zirkulären viralen Genome essenziell ist und eine große Anzahl von zellulären Genen stimuliert. Ein anderes virales Protein kann direkt in die Zellzyklusregulation eingreifen. Das KZyklin bildet mit der zyklinabhängigen Kinase CDK6 einen funktionellen Holoenzymkomplex, der in infizierten Lymphozyten vermutlich den G1-/S-Phase-Übergang stimulieren kann. Bei zwei weiteren transformierenden Virusproteinen (K1, K12) sind keine Zellhomologien bekannt. Mindestens zwei virale Genprodukte interferieren mit der Induktion der Apoptose. So unterdrückt das virale Protein FLIP (»flice inhibitory protein«) die Aktivierung der Caspase 8, einer Protease, die für Signaltransduktion von Todesrezeptoren essenziell ist. Darüber hinaus findet sich im viralen Genom die kodierende Sequenz für ein Homolog des BCL2-Proteins (vBCL-2), das antiapoptotisch wirkt.
9.4.4
Rolle von HHV-8 bei der Entstehung des Kaposi-Sarkoms
Epidemiologische Studien zur Verbreitung des HHV-8 weisen darauf hin, dass das Virus in Mitteleuropa und Nordamerika relativ selten ist (ca 5%), während es in manchen mediterranen Regionen und in Zentralafrika (bis zu 50%) häufig vorkommt (Kedes et al. 1996; Gao et al. 1996; Schulz 2006). Dies korreliert gut mit der Verbreitung der Aids-unabhängigen Form des Kaposi-Sarkoms. Retrospektive Studien bei Patienten, die Kaposi-Sarkome entwickelten, sprechen dafür, dass die Infektion mit dem Virus dem Beginn der Tumorkrankheit um wenige Jahre vorausgeht. Neben den epidemiologischen sprechen auch zellbiologische Daten dafür, dass das HHV-8 ein entscheidender Kausalfaktor für die Entstehung des Kaposi-Sarkoms ist. So findet sich die virale Erbinformation durchgängig in den Kaposi-Sarkom-Spindelzellen. Die Fähigkeit des Virus, wachstumsstimulierende, antiapoptotische und angiogenesefördernde Faktoren zu synthetisieren, stellt ein weiteres Argument für die tumorverursachende Rolle des Virus dar. Obwohl die Infektion mit dem Virus eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung der Tumorkrankheit zu sein scheint, müssen zusätzlich Kofaktoren wirken, damit sich ein Kaposi-Sarkom entwickeln kann. Hierfür spricht der Vergleich der HHV-8Seroprävalenz mit der Inzidenz des klassischen Kaposi-Sarkoms in südeuropäischen Ländern. Danach kommen auf einen KS-Fall mehr als 1.000 unsymptomatische HHV-8-Infizierte. In vielen Fällen mag allein die virusbedingte Immunsuppression bei AIDS als Kofaktor die KS-Pathogenese stimulieren; andere Formen der Immunsuppressionen oder genetische Faktoren könnten ebenso Mitauslöser der Tumorkrankheit sein.
9.5
Humane T-Zell-Leukämieviren
Anfang der 80er-Jahre wurden in den USA von R. Gallo und in Japan von Y. Hinuma und I. Miyoshi aus Leukämiezelllinien zum ersten Mal menschliche Retroviren isoliert. Die Zelllinien entstammten Patienten mit einer besonderen Form der kutanen T-Zell-Leukämie, die von Uchijama schon vor der Entdeckung des Virus als eigene Krankheitsform erkannt und als adulte T-Zell-Leukämie bezeichnet worden war. Die in den Zellen nachgewiesenen Retroviren wurden als humanes T-ZellLeukämievirus-Typ-1 bzw. humanes T-lymphotropes Virus Typ 1 (HTLV-1) bezeichnet und gelten heute als Erreger der adulten T-Zell-Leukämie/-Lymphom (ATLL).
9.5.1
9
Humanes T-Zell-Leukämievirus: Ein Retrovirus
Retroviren sind umhüllte Partikel von ca. 100 nm Durchmesser mit einem sphärischen oder konischen Nukleokapsid (Goff 2001). Als Genom enthalten die Viren einzelsträngige RNA in mRNA-Konfiguration und daran gebunden die reverse Transkriptase. Dieses Enzym katalysiert das namengebende Schlüsselereignis im Replikationszyklus der Retroviren, die Rückübersetzung der viralen RNA in DNA. Die entstandene DNA-Kopie des Virusgenoms (Provirus) wird durch ein virales Enzym (Integrase) in die chromosomale DNA des Wirts integriert. Die Transkription des Provirus führt zur Synthese von viralen Genomen und von subgenomischen RNA, die zu Virusproteinen translatiert werden. Aufgrund morphologischer, pathogenetischer und genetischer Kriterien werden die Retroviren in sieben Gruppen (Genera) eingeteilt (Goff 2001). Viele dieser Gruppen enthalten potente animale Tumorviren wie die α-Retroviren der Vögel sowie die β- und γ-Retroviren der Säuger. Viele Vertreter dieser Gruppen enthalten virale Onkogene (V-ONC) in ihrem Genom, die sich von zellulären Protoonkogenen ableiten. Als komplexe Retroviren werden die Vertreter der anderen Gruppen zusammengefasst, die neben den Strukturproteingenen auch regulatorische Gene aufweisen. Hierzu werden die Spumaviren und die Lentiviren gezählt, zu denen auch die menschlichen Immundefizienzviren (HIV-1, HIV-2) gehören. Auch die ε-Retroviren, die in niederen Wirbeltieren Tumoren auslösen können, sind komplexe Retroviren. HTLV-1 ist Prototyp der δ-Retroviren. Es induziert eine chronische (Goff 2001; Gessain u. Gout 1992) myeloische Erkrankung (HTLV-assoziierte Myelopathie/tropische spastische Paraparese, abgekürzt: HAM/TSP) und die adulte T-Zell-Leukämie/Lymphom (ATLL). Ein naher Verwandter ist HTLV-2 (Feuer u. Green 2005). Dieses Virus konnte bisher nicht eindeutig als Erreger einer Krankheit identifiziert werden; HTLV-2 ist jedoch assoziiert mit einer Form der Myelopathie und mit einer seltenen T-Zell-Variante der Haarzellleukämie. Die bei Afrikanern isolierten Virusstämme HTLV-3 und HTLV-4 sind möglicherweise zoonotisch erworbene Viren von nicht-menschlichen Primaten. Weitere Vertreter der Gruppe sind verschiedene Primatenviren, die z. T. HTLV-1 bzw. HTLV-2 sehr ähnlich sind, und ein weiter entfernter Verwandter, das bovine Leukämievirus (BLV), das eine Form der B-Zell-Leukämie in Rindern hervorruft.
9.5.2
T-Zell-Transformation durch HTLV-1
Herausragendes Kennzeichen HTLV-infizierter T-Zellen ist ihre Fähigkeit, ohne Antigenstimulation permanent in Kultur zu proliferieren (Popovic et al. 1984). Solche Zelllinien lassen sich in vitro durch Kokultivation primärer menschlicher Lymphozyten mit virusproduzierenden Zellen herstellen. Sie ähneln in vielen Kennzeichen Zelllinien, die aus Lymphozyten von ATLL-, HAM/ TSP-Patienten oder asymptomatischen Virusträgern gewonnen wurden. HTLV-infizierte Zellen sind nicht nur in der Kontrolle des eigenen Wachstums dereguliert. Sie wirken auch wachstumsstimulierend auf nichtinfizierte primäre Lymphozyten. Die In-vitro-Transformation durch HTLV-1 verläuft in zwei Phasen (Grassmann et al. 1994). Zunächst sind die infizierten Zellen in ihrem Wachstum abhängig von dem T-Zell-Wachstumsfaktor Interleukin 2 (IL-2). Sie konvertieren jedoch nach längerer Kultur in vitro häufig zu IL2-unabhängigem Wachstum.
236
9
Kapitel 9 · Kanzerogenese durch Viren
Die frühe Phase der Transformation korreliert mit der Expression des T-Zell-Rezeptors. Während des IL-2-abhängigen Wachstums sind T-Zell-Funktionen nachweisbar. In der späten, IL-2-unabhängigen Phase kommt es zum Verlust von T-Zell-Rezeptor und T-Zell-Funktionen. Da diese Veränderungen häufig erst nach Monaten der Zellkultur auftreten, werden sie wahrscheinlich nicht durch unmittelbare Wirkung von viralen Genprodukten verursacht. Schon in der frühen Phase der Transformation ist eine Deregulation des Zellzyklus nachweisbar. Die Zellen sind resistent gegen den Zellteilungsblock, der durch »transforming growth factor β« (TGF-β) bewirkt wird, und enthalten inaktiviertes (hyperphosphoryliertes) Retinoblastomprotein. Viele der wachstumstransformierten HTLV-1-infizierten Zellen synthetisieren infektiöse Viruspartikel und exprimieren alle Virusgene. Neben den typischen retroviralen Genen enthält das HTLV1-Genom auch Sequenzen, die für die regulatorischen Proteine TAX und REX und vier akzessorische Proteine (Nicot et al. 2005) kodieren. Das Regulatorprotein REX ist essenziell für die Synthese von viralen Strukturproteinen (Gröne et al.1996). Es hat keine bekannten transformierenden Eigenschaften. Das Transaktivatorprotein TAX ist ein essenzielles regulatorisches Protein und gleichzeitig ein transformierendes Protein (Grassmann et al. 2005). TAX bindet nicht direkt an DNA, komplexiert jedoch indirekt durch Bindung zellulärer Transkriptionsfaktoren an Promotoren. Die Assoziation mit dem Transkriptionsfaktor CREB führt zur Stimulation des viralen Promotors. Die Bindung an den serumresponsiven Faktor P67SRF stimuliert die Transkription zellulärer Aktivierungsgene wie JUN und FOS. TAX aktiviert auch den Transkriptionsfaktor NF-κB. Im Wesentlichen bewirkt TAX dabei eine Abtrennung eines zytoplasmatischen Inhibitors von einem aktiven Transkriptionsfaktor NF-κB. Dieser stimuliert wiederum mehrere Promotoren zellulärer Gene (Wäldele et al. 2006), wie die bestimmter Zytokine und antiapoptotischer RegulatorProteine (HIAP-1). Das TAX-Protein kann wahrscheinlich über direkte Bindung auch die zyklinabhängigen Kinasen CDK4 und CDK6 aktivieren, die das RB-Protein phosphorylieren und damit inaktivieren (Schmitt et al. 1998; Haller et al. 2002). Über die Aufhebung des inhibierenden RB-Effekts könnte TAX den Zellzyklus in der G1-Phase stimulieren (. Abb. 9.4). Auch der »spindle assembly checkpoint« in der G2-Phase des Zellzyklus wird durch Tax über die Bindung an zelluläre Regulatorproteine (MAD-1) dereguliert. Diese TAX-Wirkung ist möglicherweise verantwortlich für die häufig beobachtete chromosomalen Instabilität und Aneupoidie in HTLV-transformierten Zellen und könnte bei der Leukämogenese eine wesentliche Rolle spielen.
. Abb. 9.4. Wirkung des HTLV-1-TAX-Proteins auf den Zellzyklus. Das virale Protein stimuliert den Übergang von der G1- in die S-Phase von Lymphozyten durch die Aktivierung der zyklinabhängigen Kinase (CDK-4). Diese Kinase phosphoryliert und inaktiviert das RB-Protein
Ein Einfluss des TAX-Proteins auf die Proliferationskontrolle infizierter Zellen kann mit verschiedenen experimentellen Systemen nachgewiesen werden (Grassmann et al. 2005): 4 Die fortdauernde TAX-Expression führt zur Transformation etablierter Nagerfibrobloasten. 4 In transgenen Mäusen induziert TAX Leukämie und Neurofibrome. 4 In primären menschliche T-Lymphozyten stimuliert TAX permanentes Wachstum und führt zum Auswachsen von TZell-Linien. Diese wachsen TAX-abhängig und ähneln morphologisch und phänotypisch den Zelllinien, die durch HTLV-1 transformiert sind.
9.5.3
Epidemiologie der HTLV-1-Infektion
Etwa 10–20 Mio. Menschen sind weltweit mit HTLV-1 infiziert (Green u. Chen 2001). Endemiegebiete mit höherer Durchseuchung sind der Süden Japans, die Karibik, der Norden Südamerikas sowie das äquatoriale Afrika. In Europa ist das Virus weniger prävalent (The HTLV European Research Network 1996). Wahrscheinlich ist es erst in jüngerer Zeit durch Zuwanderung aus den Endemiegebieten bei uns heimisch geworden. Auch in Deutschland gibt es um die 6.000 Virusträger. Mittlerweile finden sich HTLV-Infektionen in den meisten westeuropäischen Ländern (2–7 Infektion in 100.000 Blutspendern). In Risikogruppen, wie mehrfach transfundierten Patienten, Fixern und Prostituierten, kann sich dagegen eine wesentlich höhere Durchseuchung finden. Die HTLV-Infektion kann über MutterKind-Kontakte, Sexualkontakte und parenteral übertragen werden. Ein wesentlicher Übertragungsweg ist das Stillen, da Muttermilch das Virus enthält. Auch eine Übertragung über die Plazenta ist wahrscheinlich. Die sexuelle Übertragung ist sowohl durch heterosexuellen als auch homosexuellen Geschlechtsverkehr möglich. Eine wesentliche Infektionsquelle ist die parenterale Übertragung durch Blut, auch im Zusammenhang mit Drogenmissbrauch. Begünstigt wird die Infektion durch hohe Virusbeladung, genitale Ulzera sowie die Übertragung von Zellen.
9.5.4
Asymptomatische HTLV-1-Infektion
Nach Infektion gelangt das Virus in CD4/CD25-positive T-Zellen, die es auch in vitro infizieren kann (Green u. Chen 2001). In diesen Zellen kann das Virus jahrelang persistieren; es vermehrt sich als Provirus hauptsächlich passiv über Zellteilungen der Wirtszelle, die zu jahrelang persistierenden Klonen auswachsen (Mortreux et al. 2003) oder über aktive Replikation. Die persistent infizierten Lymphozyten werden durch das Virus nicht lysiert, sind jedoch in ihren Wachstumseigenschaften verändert. Im Gegensatz zu normalen T-Zellen können sie in Zellkultur permanent wachsen. Trotz der Veränderungen bleibt das infizierte Individuum über Jahrzehnte symptomfrei und wird als »Carrier« bezeichnet (. Abb. 9.5). Als Folge der persistierenden HTLV-1-Infektion können zwei Krankheiten auftreten: die HTLV-1-assoziierte Myelopathie/tropische spastische Paraparese (HAM/TSP) und die adulte T-Zell-Leukämie/Lymphom (Taylor et al. 2005). Bei der HAM/TSP handelt es sich um eine langsam fortschreitende, chronische spastische Lähmung der unteren Extremitäten, bei der adulten T-Zell-Leukämie/
237 9.6 · Hepatitis-B-Virus
. Abb. 9.5. Pathogenese der HTLV-1-Infektion: Nach einer Primärinfektion etabliert das HTLV-Virus über die Integration der proviralen DNA und über Neuinfektion eine lebenslange Persistenz im Wirt. Zielzellen der Infektion sind CD4-positive T-Lymphozyten, die bei Carriern zu Klonen auswachsen, aus denen dann über zusätzliche seltene Ereignisse (Mutationen) maligne wachsende Klone der adulten T-Zell-Leukämie entstehen können. Die Pathogenese der HTLV-assoziierten Myelopathie basiert ebenfalls auf virusinfizierten T-Zellen
Lymphom (ATLL) um eine aggressive Neoplasie von T-Lymphozyten. Für eine kausale Rolle von HTLV-1 bei der Entstehung der ATLL spricht, dass das Virus eng mit der Erkrankung assoziiert ist: Die Tumorzellen enthalten regelmäßig das HTLV-1-Provirus. Für eine Infektion der Zellen vor der malignen Entartung spricht, dass jeder ATLL-Klon ein spezifisches, klonales Integrationsmuster der proviralen DNA aufweist. Die Fähigkeit von HTLV-1 mit der Kontrolle des Zellwachstums zu interferieren, zeigt sich auch in der Zellkultur. Primäre menschliche T-Zellen werden durch die Infektion mit HTLV-1 zu permanent wachsenden Kulturen transformiert. Diese gleichen im Phänotyp den ATLL-Zellen.
9.5.5
Adulte T-Zell-Leukämie/Lymphom
Mit einem Lebenszeitrisiko von 1–3% entwickeln Virusträger nach einer Latenzzeit von mehreren Jahrzehnten eine akute lymphoproliferative Erkrankung: die adulte T-Zell-Leukämie/ Lymphom (ATLL) (Takatsuki et al. 1994). Sie tritt typischerweise im Alter von 40–70 Jahren auf. Als Beschwerden werden häufig Unterleibsschmerzen, lang andauernde Durchfallerkrankungen und Husten angegeben. Als Symptome finden sich: Aszites, Lymphknotenschwellungen, Mycosis-fungoides-ähnliche kutane Läsionen, vergrößerte Leber und Milz sowie Hyperkalzämie. Viele der Symptome werden durch Infiltration der Organe verursacht. Bei fortgeschrittener Krankheit werden die Patienten oft immundefizient und entwickeln eine interstitielle Pneumonie, an der sie sehr häufig versterben. Für die Diagnose der ATLL ist der Nachweis von HTLV-1 essenziell. Als primäre (»Screening-«)Tests eignen sich der Partikelagglutinationstest sowie der Antikörper-ELISA. Um falschpositive Reaktionen dieser Tests auszuschließen, ist eine Bestätigung durch andere Verfahren, wie Westernblot oder Polymerasekettenreaktion (PCR) notwendig. Westernblots und PCR
9
erlauben auch die Differenzialdiagnose zwischen HTLV-1 und HTLV-2. Die Leukämiezellen ähneln phänotypisch Helfer-T-Zellen (Matsuoka u. Yamaguchi 1994), von denen sie sich wahrscheinlich ableiten. Sie sind überwiegend CD4-positiv, selten auch CD8-positiv und exprimieren große Mengen der Alphakette des Interleukin-2-Rezeptors (IL2-Rα). Die Zellmorphologie ist verändert; charakteristisch sind vergrößerte Zellen mit gelappten Kernen (»flower-shaped«). Die ATLL lässt sich in mehrere Subtypen klassifizieren (Yamada u. Tomonaga 2003; Matsuoka u. Yamaguchi 1994): Die schwelende (»smouldering«) ATLL und die chronische ATLL sind leichtere Formen der Erkrankung, die jedoch in die akute Form übergehen können. Bei der schwelenden ATLL sind weniger als 5% der Zellen im peripheren Blut Leukämiezellen, die Gesamtlymphozytenzahl ist nicht erhöht; Läsionen finden sich nur in der Haut oder der Lunge. Bei der chronischen Form können neben diesen Organen auch Leber, Milz und Lymphknoten betroffen sein sowie eine milde Lymphozytose auftreten. Beim Lymphomtyp findet sich keine Lymphozytose, dagegen eine ausgeprägte Lymphadenopathie mit extranodalen Läsionen. Am häufigsten ist der akute Typ, der die aggressivste Form der ATLL darstellt und das Vollbild aller Symptome zeigen kann. Die durchschnittliche Überlebenszeit beträgt je nach Subtyp wenige Wochen bis zu mehreren Jahre. Die akute und die lymphomatöse Form der ATLL sind nur schwer zu therapieren. Dabei kommen verschiedene Formen der Kombinationschemotherapie (Yamada u. Tomonaga 2003; Taylor et al. 2005) zum Einsatz. Sie erhöht die mittlere Lebenserwartung auf 8–13 Monate. Auch wurden in Einzelfällen Knochenmarkstransplantationen erfolgreich angewandt. Ein in seiner Wirksamkeit nicht abschließend evaluierter therapeutischer Ansatz mit beachtlichen Erfolgen in einem Teil der Studien (Gill et al. 1995; Taylor et al. 2005) besteht in einer Kombination von Interferon und Zidovudin (AZT).
9.6
Hepatitis-B-Virus
Schon Ende des letzten Jahrhunderts wurde von Lurmann erkannt, dass es eine parenteral übertragbare Form der Leberentzündung gibt. Wegen der epidemiologischen Unterschiede wurden 1947 von McCallum die Begriffe Hepatitis A und Hepatitis B eingeführt, um zwischen der epidemischen und der Serumhepatitis zu unterscheiden. Nach Vorarbeiten in den 60er Jahren am NIH (»National Institutes of Health«), die das Australia-Antigen und seine Assoziation mit der Hepatitis B entdeckten, konnte schließlich Dane 1970 zum ersten Mal das Virus im Elektronenmikroskop darstellen. Aufgrund epidemiologischer Befunde und einem Tiermodell gilt heute der kausale Zusammenhang zwischen einer chronischen Infektion mit dem Hepatitis-B-Virus (HBV) und der Entwicklung eines primären Leberzellkarzinoms als gesichert (Buendia 1992; Rogler u. Chisari 1992; Schirmacher et al. 1993).
9.6.1
Epidemiologie der HBV-Infektion
Die enorme klinische Bedeutung des Hepatitis-B-Virus ergibt sich aus der hohen Zahl von über 200 Mio. Menschen, die weltweit persistent infiziert sind; etwa 700.000 von ihnen versterben
238
Kapitel 9 · Kanzerogenese durch Viren
. Abb. 9.6. Pathogenese der Hepatitis-B-Infektion. Dargestellt sind die verschiedenen Manifestationsformen und ihr Entwicklungspotenzial
9
jährlich an HBV-assoziiertem Leberkrebs. Das Hepatitis-B-Virus wird durch drei wesentliche Infektionswege übertragen: 4 kontaktassoziierte Übertragung über Speichelaustausch und Sexualkontakte; 4 parenterale Übertragung über Blut und Blutprodukte oder im Zusammenhang mit Drogensucht; 4 perinatale Übertragung von der Mutter auf das Kind. Die HBV-Infektion kann sich in sehr unterschiedlichen Formen manifestieren (. Abb. 9.6). Der recht häufige asymptomatische Verlauf bleibt häufig unbemerkt. Bei dieser Form kommt es meist zu einer völligen Eliminierung des Virus aus dem Organismus; sie kann aber auch zu einem Träger-(»Carrier«-)Status führen. Die akute Hepatitis B beginnt typischerweise nach einer Inkubationszeit von 1–6 Monaten mit schweren Allgemeinsymptomen, auf die nach etwa 10 Tagen ein Ikterus folgt. Die Hepatitis B kann ebenso wie die asymptomatische Infektion entweder völlig ausheilen, in einen asymptomatischen Carrier-Zustand oder in eine chronische Hepatitis B mit persistierender Virämie übergehen (Hildt et al. 1996). Auf dem Boden dieser chronischen Hepatitis B entstehen primäre Leberzellkarzinome. Das Risiko für den Träger einer chronischen Hepatitis-B-Infektion, an einem primären Leberzellkarzinom (»hepatocellular carcinoma«, HCC) zu erkranken, ist weltweit ca. 100-fach erhöht. In Endemiegebieten mit einer hohen Durchseuchung, wie in Taiwan, haben chronische Virusträger sogar ein über 200-fach gesteigertes Risiko, ein primäres Leberzellkarzinom zu entwickeln. Drei Viertel der chronisch HBV-Infizierten leben in Asien (bis zu 20 % der Bevölkerung sind HBV-positiv), während in Nordamerika und weiten Teilen Westeuropas die Durchseuchung zwischen 0,1 und 1% liegt. Dementsprechend ist der primäre Leberkrebs in den westlichen Industrienationen relativ selten, während er in Südostasien und Afrika als die häufigste Krebsart des Mannes gilt. Aufgrund der hohen Trägerrate in der dritten Welt ist die Ansteckung Neugeborener durch infizierte Mütter ein häufiger Übertragungsmodus. Da die Infektion bei Neugeborenen in 80–85% der Fälle chronisch wird, nimmt die Gesamtzahl an Infizierten in diesen Ländern bis jetzt kontinuierlich zu. Es wird geschätzt, dass aufgrund dieser sehr frühen Infektionsmöglichkeit ca. 45% der chronischen Virusträger im Alter von 40–50 Jahren an einem pri-
mären Leberzellkarzinom sterben werden (Wands et al. 1992; Schirrmacher et al. 1993).
9.6.2
Aufbau und Genomorganisation der Hepatitis-B-Viren
Das 42 nm große Hepatitis-B-Virus gehört zur Familie der Hepadnaviren. Es besitzt eine äußere lipidhaltige Hülle mit drei verschiedenen viralen Hüllproteinen, die ein ikosaedrisches Kapsid mit einer partiell doppelsträngigen DNA von etwa 3.200 Nukleotiden umschließt. Das für DNA-Viren kleine Genom ist sehr kompakt aufgebaut und kodiert nur für vier virale Gene, die in überlappenden Leserastern angeordnet sind (Hildt et al. 1996). Das Polymerasegen (P-Gen) nimmt drei Viertel des Genoms ein und überlappt mit Teilen aller anderen Leserahmen. Es kodiert für bisher noch nicht komplett charakterisierte Enzymaktivitäten (z. B. reverse Transkriptaseaktivität), die an der Vermehrung der viralen DNA beteiligt sind, und ein sog. terminales Protein, dem ebenfalls eine Rolle bei der Replikation zukommt. Das S-Gen (»surface«, Oberfläche) trägt die Information für das Haupthüllprotein des Virus (HBS-Antigen). Im gleichen Leseraster liegt vor dem S-Gen die etwa 500 Nukleotide umfassende Prä-S-Region, die zur Synthese der beiden anderen Hüllproteine gebraucht wird. Prä-S2 und S kodieren für das mittlere Hüllprotein, Prä-S1 im Verbund mit Prä-S2 und S für das große Hüllprotein. Das CGen (»core«, Kern) kodiert für das einzige Kapsidprotein, HBc genannt. Vor dem Gen liegt eine kurze Prä-C-Region, die die Information für ein hydrophobes Peptid trägt und für die Entstehung des sog. HBe-Antigens verantwortlich ist (Buendia 1992). Polypeptide mit der Prä-C-Region werden im endoplasmatischen Retikulum am N- und C-Terminus verkürzt und das dabei entstehende HBe-Antigen wird anschließend aus der Zelle ausgeschleust. Das X-Gen ist bei verschiedenen HBV-Isolaten variabel in der Größe und kodiert für ein transaktivierendes Protein (HBx), das die Transkription viraler, aber auch verschiedener zellulärer Gene steigern kann. Das X-Protein übt seine transaktivierende Funktion nicht direkt über die spezifische Bindung an DNA, sondern über intrazelluläre Signaltransduktionswege aus und führt so zu einer Aktivierung zellulärer Regulatorproteine (AP1, AP2, NFκ-B; Hildt et al. 1996).
239 9.6 · Hepatitis-B-Virus
9.6.3
Molekulare Pathogenese des primären Leberzellkarzinoms
Bei der Onkogenese des HCC kooperieren direkte und indirekte Auswirkungen der chronischen HBV-Infektion. Direkt tragen die von viralen Proteinen induzierten Signalkaskaden und die durch die Integration des Virusgenoms bedingten genetischen Veränderung bei. Indirekt befördert die Virusinfektion die Tumorigenese durch die chronisch entzündlichen und regenerativen Prozesse, die durch die virale Zytotoxizität und die fortdauernde Immunantwort gegen das Virus ausgelöst werden. Für eine kausale Rolle viraler Proteine bei der Pathogenese des primären Leberzellkarzinoms spricht, dass sie Eigenschaften eines Onkogens aufweisen. So kann die Expression des Transaktivator-X-Proteins zur Transformation von Nagerzellen führen und immortalisierte Hepatozyten tumorigen machen. Transgene Mäuse, die das HBX-Protein exprimieren, entwickeln innerhalb eines Jahres progressive Veränderungen der Leber, die zu Adenomen und Karzinomen entarten können (Rogler u. Chisari 1993). Seine transformierende Wirkung erklärt sich wahrscheinlich aus seiner Fähigkeit zelluläre Signaltransduktion zu aktivieren und zelluläre Gene zu stimulieren. Darüber hinaus kann das HBXProtein auch DNA-Reparaturmechanismen hemmen, das P53Protein funktionell inaktivieren, den proteasomalen Proteinabbau regulieren und die Mitochondrienfunktion beeinflussen (Feitelson et al. 1993; Gerbes u. Caselmann 1993; Puisieux et al. 1993; Truant et al. 1995; Brechot 2004). Neuere Studien zeigen, dass das Gen in Tumorzellen des HCC exprimiert wird (Brechot 2004). Ein weiteres transaktivierendes Protein verbirgt sich in der PräS2-/S-Region von HBV. Während das große Hüllprotein (PräS1-S2-S) konstitutiv als Transaktivator wirkt, zeigt das komplette mittlere Hüllprotein keine regulatorischen Eigenschaften und erwirbt erst durch eine Verkürzung am Carboxyterminus transaktivierende Fähigkeiten (Rogler u. Chisari 1993). Nicht nur in Hepatomzelllinien, sondern auch in Zellen primärer Leberzellkarzinome und sogar in normalen Leberzellen von chronischen Trägern findet man ins Wirtsgenom integrierte HBV-DNA-Moleküle. Untersuchungen an einer Vielzahl von Tumoren erbrachten aber keinen Hinweis auf bevorzugte Integrationsstellen in der Nähe von bestimmten Protoonkogenen, wie dies bei einem Tiermodell, der Waldmurmeltier (»Woodchuck«-)Hepatitis, der Fall ist (Rogler u. Chisari 1993). Allerdings sind am Insertionsort in HCC-Zellen häufig wachstumsrelevante Gene lokalisiert, wie z. B. das Telomerase Gen hTERT (Brechot 2004). Etwa 80% aller HBV-assoziierten Leberzellkarzinome enthalten monoklonale, chromosomal integrierte virale DNA. Dies deutet darauf hin, dass die HBV-DNA zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Tumorentstehung integriert, und dass dieses Ereignis anscheinend einen Wachstumsvorteil für die infizierte Zelle erbringt (Hildt et al. 1996). In Zellen mit integrierter HBV-DNA finden sich auch häufig chromosomale Mutationen wie Deletionen, Translokationen und Duplikationen von Chromosomenabschnitten. Diese Mutationen können bekannte Tumorsuppressorgene betreffen. So konnten in fortgeschrittenen Leberkarzinomen Deletionen nachgewiesen werden, die mit dem Verlust des Retinoblastomgens (RB) und des P53-Gens einhergehen. Mutationen des P53-Tumorsuppressorgens, die auch bei vielen anderen menschlichen Tumoren auftreten, finden sich vor allem in primären Leberzellkarzinomen von Patienten aus Entwicklungsländern, die mit Aflatoxin B1exponiert waren. Aflatoxine sind mutagene Stoffwechselprodukte von
9
Schimmelpilzen wie Aspergillus flavus, die sich in verdorbenen Lebensmitteln anreichern. Somit kooperiert die mutagene Wirkung von Aflatoxinen mit den onkogenen Eigenschaften von HBV. Sie induzieren bevorzugt die Mutation des Codons 249 des P53-Tumorsuppressorproteins. Die mutagene Wirkung von Aflatoxinen scheint durch einen direkten Einfluss des X-Proteins auf DNA-Reparaturmechanismen begünstigt zu werden. Darüber hinaus kann das X-Protein von HBV möglicherweise durch Bindung das P53-Protein funktionell inaktivieren. Dies könnte für die Entstehung von Leberzellkarzinomen, die keine Mutation im P53-Gen aufweisen, relevant sein (Feitelson et al., 1993; Gerbes und Caselmann 1993; Puisieux et al 1993; Truant et al., 1995). Kennzeichnend für eine chronische Hepatitis B sind der fortgesetzte Zelltod und darauffolgende Regeneration von Leberparenchymzellen. Als Folge entstehen chronische Lebernekrosen und sekundäre Entzündungen; diese gehen mit der Sekretion vieler Zytokinen einher, die auto bzw. parakrin auf die infizierten Leberzellen wirken und ihr Wachstum stimulieren können. Die durch die regenerativen Prozesse bedingte erhöhte Zellteilung erhöht aber auch die Wahrscheinlichkeit von wachstumsfördernden Mutationsereignissen. Der fortgesetzte Zelltod wird hauptsächlich durch die Immunantwort gegen das Virus aber auch durch zytotoxische Effekte viraler Proteine, wie des großen Hülllproteins ausgelöst (Brechot 2004). Versuche mit transgenen Mäusen zeigten tatsächlich einen zytotoxischen Effekt des großen Hüllproteins auf Hepatozyten. Die aberrante Expression dieses Proteins führt zur Bildung von Proteinfilamenten, die im endoplasmatischen Retikulum akkumulieren und zum histologischen Bild von Milchglashepatozyten führen. Diese sind auch als pathologisches Merkmal einer chronischen HBV-Infektion beim Menschen bekannt (Rogler u. Chisari 1993). Die andauernde schwere Leberschädigung durch die Expression des großen Hüllproteins führt bei diesen transgenen Mäusen zu chronischen Lebernekrosen, sekundären Entzündungen mit regenerativen Prozessen und im Endergebnis zur Entstehung eines primären Leberzellkarzinoms (Schirmacher et al. 1993). Die Ausprägung eines chronischen Entzündungsprozesses der Leber hängt eng mit der persistierenden Virusinfektion zusammen, für deren Aufrechterhaltung das Virus verschiedene Mechanismen entwickelt hat. So reguliert es mithilfe des Prä-C-Genprodukts wahrscheinlich die Replikation der eigenen DNA, um ein Überschießen der Virusproduktion zu verhindern (Lamberts et al. 1993). Eine weitere Vorraussetzung für die persistierende Virusinfektion könnte die Inhibition der zellulären Antwort auf Interferon durch das terminale Protein von HBV darstellen. Die hohe genetische Variabilität des Hepatitis-B-Virus in chronisch infizierten Patienten trägt schließlich dazu bei, der körpereigenen Immunabwehr zu entkommen (Carman et al. 1993; Foster et al. 1991). Verschiedene gentechnisch hergestellte Impfstoffe gegen Hepatitis B sind seit längerer Zeit auf dem Markt. In Populationen, die bereits 1970 gegen HBV geimpft wurden, lässt sich eine verringerte Inzidenz des primären Leberzellkarzinoms beobachten (Shepard et al. 2006). Es lässt sich somit zusammenfassen, dass die Genprodukte des Hepatitis-B-Virus sowohl onkogene als auch zytotoxische Eigenschaften besitzen. Infizierte Hepatozyten sind durch eine erhöhte Rate von chromosomalen Aberrationen und die Inaktivierung von Tumorsuppressorgenen gekennzeichnet. Durch die Entstehung von Virusvarianten und die Behinderung der zellvermittelten Immunantwort kann es zu einer persistierenden Infektion kommen, die auf dem Boden einer lang andauernden, chronischen Entzündung die Entstehung eines primären Leberzellkarzinoms hochgradig begünstigt.
240
Kapitel 9 · Kanzerogenese durch Viren
Zusammenfassung Die Induktion maligner Tumoren durch Viren ist meist Folge einer abortiven Infektion oder einer lang dauernden Viruspersistenz. Entscheidend dafür ist eine Deregulation der zellulären Wachstums- und Zellteilungskontrolle durch die Tumorviren. Diese kodieren für regulatorische Proteine, die spezifisch mit der normalen Funktion von Tumorsuppressoren und Protoonkogenen interferieren. In der Zellkultur induzieren die viralen Onkogene sowie die persistierende Infektion mit Tumorviren ein permanentes und verändertes Wachstum (Transformation). Etwa 20% aller Krebserkrankungen beim Menschen sind vermutlich durch Viren verursacht. Die humanpathogenen Tumorviren sind
Vertreter der Retroviren (humanes T-Zell-Leukämievirus, HTLV), Hepadnaviren (Hepatitis-B-Virus), Papovaviren (humane Papillomviren, HPV) sowie zwei Herpesviren: das Epstein-Barr-Virus (EBV) und das humane Herpesvirus Typ 8 (HHV-8). Bedeutende Tumoren mit viraler Ätiologie sind das Zervixkarzinom (HPV), das primäre Leberzellkarzinom (HBV), EBV-assoziierte Formen des Burkitt- und Hodgkin-Lymphoms, das Nasopharynxkarzinom (EBV), das Kaposi-Sarkom (HHV-8) sowie die adulte T-Zell-Leukämie/Lymphom (HTLV-1). Gegen zwei der Tumorviren (HBV, HPV) stehen bereits Impfstoffe zur Verfügung, mit denen einer Infektion und damit auch der Tumorentstehung effizient vorgebeugt werden kann.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
9
10
10 Krebserkrankungen als Folge ionisierender Strahlung S.E. Combs, J. Debus
10.1
Formen der Belastung durch ionisierende Strahlen
10.2
Strahlendosis und Strahlenwirkung
10.3
Pathophysiologie radiogener maligner Erkrankungen
10.4
Krebserkrankungen und Leukämien nach Strahlenexposition (-behandlungen) – 247
10.5
Leukämien und Krebserkrankungen nach häufigen Röntgenuntersuchungen bei Erwachsenen und Kindern
10.6
Nuklearterrorismus – 251 Literatur – 253
– 242
– 244 – 245
– 251
242
Kapitel 10 · Krebserkrankungen als Folge ionisierender Strahlung
> Einleitung
10
10.1
Neben der natürlichen Strahlenbelastung gibt es eine Reihe anderer erwünschter und unerwünschter Strahlenquellen. Berufllich exponierte Personen, die in der überwiegenden Mehrzahl im medizinischen Bereich tätig sind, stellen eine der größten Gruppen der potenziell strahlenexponierten Personen dar. Im Rahmen der medizinischen Strahlenexposition sind sowohl konventionelle Röntgendiagnostik, CT und nuklearmedizinische Untersuchungen zu nennen, wobei eine weit höhere Strahlenbelastung durch die Strahlentherapie erzeugt wird; insbesondere bei der Tumortherapie im Kindesalter ist es wichtig, das Sekundärmalignomrisiko im Blickfeld zu halten. Leider sind in den letzten Jahrzehnten nuklearterroristische Anschläge in den Fokus der Diskussion gerückt: Sog. »dirty bombs« mit vernichtender und jahrelanger Verstrahlung durch radioaktiven Fallout sind ein Horrorszenario. Dabei sind insbesondere Sicherheitsmechamismen wie »Triage«-Pläne wichtig, um im Ernstfall möglichst schnell und korrekt zu reagieren und das Ausmaß an Schaden zu minimieren. Viele Untersuchungen, die entscheidende Erkenntnisse zur Entstehung von strahleninduzierten Krebserkrankungen geliefert haben, wurden nach Unfällen an betroffenen Personen durchgeführt. So wurden z. B. nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl große epidemiologische Studien zur Entstehung von Leukämien und Schilddrüsenkarzinomen durchgeführt. Signifikant erhöht war bei exponierten Peronen das Risiko für Schilddrüsenkarzinome, vor allem für früh auftretende, aggressive Tumoren, sowie für Leukämien. Die Strahlen selbst lösen im Organismus sowohl deterministische als auch stochastische Strahlenschäden aus, die über verschiedene molekulare Mechanismen die Krebsentstehung induzieren. So wird z. B. eine Reihe von schwerwiegenden DNA-Schäden, die kaum durch die Zellen zu reparieren sind, induziert. Des Weiteren werden sog. Protoonkogene zu Onkogenen verändert, die ihre zuvor normale Funktion in der Zelle dann nicht mehr ausüben können und u. a. die Proliferation der Zellen außer Kontrolle geraten lassen; P53 und RET/PTC sind in diesem Zusammenahng wichtige Faktoren. Oft induziert Bestrahlung aber auch die unkontrollierte Expression und Sekretion von veschiedenen Wachstumsfaktoren. Eine Reihe von Untersuchungen hat das Sekundärmalignomrisiko nach Strahlentherapie verschiedener onkologischer Erkrankungen evaluiert, wobei in diesem Zusammenhang der Einfluss der Chemotherapie, die in sehr vielen Therapiekonzepten essenzieller Bestandteil ist, nicht vergessen werden sollte. Sollte es zu einer Strahlenexposition kommen, ist schnelles und fachgerechtes Reagieren essenziell: Die akute Strahlenkrankheit, die sich je nach Ausmaß der Exposition in verschiedene Symptomsequenzen unterteilt, ist von einem chronischen Stahlenschaden zu unterscheiden. Essenziell ist es, die Opfer zu retten und weitere Kontamination(en) zu verhindern.
Formen der Belastung durch ionisierende Strahlen
Die Gefahr ionisierender Strahlung ist immer wieder ein zentraler Diskussionspunkt. Oft liegen jedoch nur wenige Daten zu speziellen Fragestellungen vor, sodass das Risiko für Nebenwirkungen durch ionisierende Strahlen häufig nur geschätzt werden kann. Alle Menschen sind im Laufe ihres Lebens aus verschiedenen Gründen ionisierender Strahlung ausgesetzt. Man unterscheidet zwischen natürlicher, medizinischer, beruflicher und akzidenteller Strahlenexposition. Die Gründe, die zu einer Strahlenexposition führen, können in vielen Fällen eine Rechtfertigung für die Aussetzung einer Strahlung sein, spielen jedoch für die Kalkulation des individuellen Nebenwirkungsrisikos keine wesentliche Rolle. Dabei sollte jedoch immer berücksichtigt werden, dass die Strahlenexposition in der Regel einer handfesten Indikation gegenübersteht. Bei der medizinischen Anwendung von ionisierender Strahlung müssen neben dem Nutzen auch mögliche Nebenwirkungsrisiken abgeschätzt werden. Die medizinische
Strahlenanwendung muss durch eine klare, rechtfertigende medizinische Indikation begründet werden. 10.1.1 Natürliche Strahlenbelastung
Die natürliche Strahlenbelastung wird bei ca. 1‒3 Milli-Sievert (mSv) pro Jahr angegeben (Boice 1996; Kellerer u. Nekolla 1997; Olsen et al. 1993). Sie besteht zu einem Drittel aus externer und zu zwei Dritteln aus interner Strahlenexposition. Die externe Strahlenexposition besteht zum einen aus kosmischer Strahlung, die als energiereiche Strahlung aus dem Weltraum in die Erdatmosphäre eindringt. Sie wird auch als primäre Höhenstrahlung bezeichnet. Man unterteilt sie in eine galaktische Strahlung, die überwiegend aus energiereichen Protonen besteht, und in eine solare Komponente. Mit zunehmender Höhe über dem Meer steigt die Dosis durch die kosmische Strahlung an. Ein weiterer Bestandteil der externen Strahlenexposition ist die terrestrische Strahlung. Sie entsteht durch den Zerfall radio-
243 10.1 · Formen der Belastung durch ionisierende Strahlen
aktiver Stoffe, die in der Erdkruste in unterschiedlicher Konzentration und in regionaler Variation enthalten sind. Infolge des geologischen Untergrundes und insbesondere durch die obersten Bodenschichten bedingt, sind die Werte der terrestrischen Strahlung von Ort zu Ort sehr unterschiedlich. Als Mittelwert für Deutschland wird eine terrestrische Strahlenexposition im Freien von 0,35 mSv pro Jahr angegeben. An einigen Orten kann sie jedoch bis zu 7 mSv sein. Die interne Strahlenexposition entsteht durch natürliche radioaktive Stoffe im Menschen selbst. Diese werden unter anderem mit der Nahrung, über das Wasser oder die Atemluft in den Körper aufgenommen. Einen großen Teil nehmen primordiale Radionuklide ein, von denen u. a. Kalium-40 eine nicht unbeträchtliche Strahlendosis bewirkt, da Kalium als ein lebenswichtiges Element im Körper vorhanden sein muss. Daneben tragen zur internen Strahlenexposition kosmogene Radionuklide, die durch Wechselwirkung der kosmischen Strahlung mit den Atomen der Atmosphäre ständig neue Nuklide bilden, wie H-3, Na-22 und Na-24, C-14 oder Si-31 bei. Insgesamt beträgt die effektive Dosis aus allen natürlichen Strahlenquellen 0,7 mSv pro Jahr, die zu einem Drittel aus externer und mit 1,4 mSv pro Jahr zu zwei Dritteln aus interner Strahlenexposition bestehen. Dabei können individuelle, lokale und regionale Abweichungen von diesen mittleren Werten erheblich sein. Die mittlere natürliche Strahlenbelastung wird von der UNSCEAR mit 2,4 mSv pro Jahr angegeben. Dabei haben 25% der Weltbevölkerung weniger als 1 mSv pro Jahr und 10% mehr als 3 mSv pro Jahr. 10.1.2 Beruflich strahlenexponierte Personen
Zur Gruppe der strahlenexponierten Personen gehören alle, die während ihrer Arbeitszeit dem Risiko einer Strahlenexposition oder einer definitiven Strahlenexposition ausgesetzt sind, die den Wert der natürlichen Strahlung überschreiten kann. Dazu gehören insbesondere auch Radiologen und Radioonkologen sowie medizinisch-technisch-radiologische Assistenzberufe, aber auch Arbeiter in kerntechnischen Anlagen und Bergwerken sowie seit einiger Zeit auch Flugpersonal, sobald die effektive Dosis im Kalenderjahr 1 mSv überschreiten kann. Schon vor über 400 Jahren beschrieb Agricola verheerende Lungenerkrankungen bei Bergwerksarbeitern im Schwarzwald. Später hat man herausgefunden, dass die hohe Konzentration von Radon in den Bergwerken zur Entstehung dieser Erkrankungen beigetragen hat. So waren es auch die ersten Radiologen, die das Entstehen des strahleninduzierten Hautkrebses beobachteten. Eine Reihe von Studien über medizinisches Personal, das Niedrig-Dosis-Strahlung ausgesetzt war, konnte unterschiedliche Beobachtungen verzeichnen. Bei Radiologen in den USA und einigen europäischen Ländern, die vor dem Jahre 1940 beschäftigt waren, konnte eine erhöhte Rate an Leukämien, Hautkrebs und eine ganze Reihe anderer Tumoren beobachtet werden (Smith u. Doll 1981; Berrington et al. 2001; Matanoski et al. 1975; Lewis 1963; Wang et al. 2002). Allerdings zeigte sich in Studien an medizinischem Personal nach dem Jahre 1940 keine generell signifikant erhöhte Krebsrate; lediglich das Risiko für das Auftreten eines Plasmozytoms schien bei US-amerikanischen Radiologen erhöht zu sein (Matanoski et al. 1975; Lewis 1963). Eine kleine Gruppe von Studien zeigte ein erhöhtes Leukämierisiko, jedoch konnte dies nicht
10
durch alle Untersuchungen bestätigt werden (Wang et al. 2002; Yoshinaga et al. 1999; Jablon u. Miller 1978; Andersson et al. 1991). Jährlich werden etwa 314.000 Personen während ihrer beruflichen Tätigkeit mit Personendosimetern überwacht, davon etwa 77% im medizinischen Bereich. Neben der Überwachung ist auch die arbeitsmedizinische Vorsorge in regelmäßigen Abständen einzuhalten. 10.1.3 Medizinische Strahlenexposition
Von allen Anwendungsgebieten ionisierender Strahlung verzeichnet die Röntgendiagnostik bei Weitem den größten Beitrag zur zivilisatorischen Strahlenexposition der Bevölkerung. Jährlich werden etwa 136 Mio. Röntgenuntersuchungen durchgeführt, davon entfallen ca. 24 Mio. auf zahnmedizinische Untersuchungen. Auf Basis der Daten von 1997 und Vergleichsdaten von 1994 wird jeder Bürger in Deutschland pro Jahr ca. 1,7 Mal geröntgt (Regulla et al. 2003). Dies ergibt eine medizinische Strahlenexposition von ca. 2±0,5 mSv. Der Beitrag der Nuklearmedizin ist hierbei mit 0,15 mSv sehr gering. Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten und außereuropäischen Ländern nimmt Deutschland damit in der Frequenz von Röntgenuntersuchungen und der Höhe der medizinischen Strahlenbelastung einen Spitzenplatz ein. In der Frequenz wird Deutschland dabei nur noch von Japan mit 2,3 Untersuchungen pro Patient und Jahr überboten. Aus der Radiologie tragen Skelettaufnahmen mit 62% und Thoraxaufnahmen mit 21% – also insgesamt 83% der Untersuchungen – nur mit 16% zur medizinischen Strahlenexposition bei. CT-Untersuchungen mit 4% und Angiografien mit 2% ergeben einen kollektiven Dosisbeitrag von 65% und mit 10‒20 mSv pro Untersuchung zugleich die höchste Dosis pro Einzeluntersuchung. Die Nuklearmedizin trägt mit insgesamt 7,5% nur gering zur medizinischen Strahlenbelastung bei. Die Strahlentherapie trägt einen weiteren großen Anteil zur medizinischen Strahlenbelastung bei. Dabei steht gerade die Strahlentherapie, die in den meisten Fällen im Rahmen der Therapie von malignen Erkrankungen durchgeführt wird, einer harten medizinischen Indikation gegenüber. In der Regel wird eine Strahlentherapie über mehrere Wochen durchgeführt, und die Gesamtdosis, je nach Grunderkrankung, liegt in der Regel zwischen 40 und 60 Sv im Bestrahlungefeld. Außerhalb des Bestrahlungsfeldes können Dosen von 200‒800 mSv ankommen. Mit dem Ende der Strahlentherapie von außen (Teletherapie) endet auch die Strahlenbelastung. Das Personal in der Strahlentherapie ist in der Regel keiner oder nur sehr geringer Dosisbelastung ausgesetzt. Dem gegenüber stehen lebenslange Strahlenbelastungen, die u. a. durch das radioaktive Kontrastmittel Thorotrast ausgelöst wurden (van Kaick et al. 1991). Dieses intravenös zu applizierende Kontrastmittel (232Th) wurde Ende der 40er Jahre bei Arteriografien eingesetzt und reichert sich vor allem im Knochenmark und in der Leber an; Patienten sind damit einem lebenslangen Strahler aus 90% α-Strahlung ausgesetzt. Insbesondere durch dänische und deutsche Arbeitsgruppen wurden Verlaufsbeobachtungen an betroffenen Patienten durchgeführt (van Kaick et al. 1991; Andersson u. Storm 1992; Andersson et al. 1993a,b, 1994a,b, 1995a,b; Andersson 1997, 2000); dabei konnte ein 28-fach gesteigertes Tumorrisiko mit einer kumulativen Gesamttumorrate von
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Kapitel 10 · Krebserkrankungen als Folge ionisierender Strahlung
86% nach 50 Jahren nachgewiesen werden. Van Kaick et al. zeigten dabei, dass das Leukämierisiko 10-fach erhöht ist, wobei das Risiko für lymphatische Leukämien, M. Hodgkin und maligne Lymphome unverändert war. Als wesentliche Spätmorbidität zeigten sich gehäuft cholangiozelluläre Karzinome der Leber. Analog hierzu sehen die Daten der Radiumbelastung sowie der Jod-131-Belastung bei der Therapie von Schilddrüsenkarzinomen aus (Speiß u. Mays 1970; de Vathaire et al. 1997). 10.1.4 Strahlenexposition durch Unfälle
10
Weltweit gibt es eine Reihe von Institutionen, die alle Unfälle mit energiereicher Strahlung dokumentieren. Die größten ihrer Art sind sicherlich UNSCEAR (United Nations Scientific Comitee on the Effects of Atomic Radiation; UNSCEAR 1993), die IAEA (International Atomic Energy Agency) in Wien (IAEA 1993, 1999, 2000), die REACTS-Gruppe (Radiation Emergency Assistance Center / Training Site) in Oak Ridge, USA (Berger et al. 1997; Goans et al. 1997), die NRBP (National Radiobiological Protection Board) in Großbritannien (Walker et al. 1999) sowie eine Ulmer Arbeitsgruppe in Deutschland (Fliedner et al. 2001). Wesentliche Gefahrenquellen für Strahlenunfälle in größerem Rahmen sind Kernkraftwerke und kerntechnische Anlagen. Bisher hat es weltweit 3 Unfälle mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt gegeben, wovon der Reaktorunfall in Tschernobyl sicherlich der schwerste war. Am 26. April 1986 wurde durch Fehlbedienung der Reaktorregelung der Reaktorunfall in Tschernobyl ausgelöst. Dabei kam es zu einem so großen Temperaturanstieg in den Brennelementen, dass diese schmolzen. Der dadurch entstehende sehr hohe Wasserdampfdruck in den Brennelementen ließ die Druckrohre, in denen sich auch die Brennelemente befanden, platzen. Der Moderator Graphit geriet dabei in Brand, aus dem zerstörten Reaktor gelangten Radionuklide ins Freie. Der Großteil der Radionuklide hat zu einer hohen Kontamination der Umwelt in einer 30-kmZone um den Reaktor geführt. Durch die Brände wurden radioaktive Stoffe in Höhen von über 2 km transportiert und über weite Gebiete verteilt. Durch meteorologische Einflüsse bedingt sind die aus dem Tschernobyl-Unfall abgelagerten Aktivitätsengen in den Regionen in Deutschland sehr unterschiedlich, im Norden und Westen deutlich geringer als im Süden und Südosten. Die Strahlenexposition in Deutschland betrug für Kleinkinder, für die sich gegenüber Erwachsenen generell höhere Dosiswerte errechnen, für das Jahr des Unfalls zwischen 0,2 mSv bzw. 3,6 mSv. Für Einzelpersonen mit extremen Lebens- und Verzehrgewohnheiten können sich maximale Dosiswerte bis zum Zwei- und Dreifachen dieser Werte ergeben. In den durch den Unfall besonders betroffenen Gebieten Weißrusslands, Russlands und der Ukraine zeigte sich bei Kindern und Jugendlichen ein deutlicher Anstieg der Schilddrüsenkrebserkrankungen, der auf die Strahlenexposition zurückzuführen ist. Verantwortlich dafür ist vor allem die Aufnahme von Iod-131 über die Nahrungskette, das zu höheren Strahlendosen in der Schilddrüse führte. In den betroffenen Ländern sind bis heute mehr als 1.000 Schilddrüsenkrebserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen aufgetreten. Auf der Basis von Risikobetrachtungen werden insgesamt bis zu 4.000 Schilddrüsenkrebsfälle erwartet. Mehrere andere unabhängige Untersuchungen konnten jedoch zeigen, dass die Katastrophe in Tschernobyl nicht
zu einer signifikanten Erhöhung der Leukämierate geführt hat (Ivanov et al. 1997a,b,c); es konnte u. a. in einer Studie des Kinder-Krebsregisters in Belarus gezeigt werden, dass die Inzidenz von Leukämien bei Kindern nach der Katastrophe in Tschernobyl nicht erhöht ist, nicht einmal in den Zonen um das Katastrophengebiet, die am meisten kontaminiert waren. Unfälle kleineren Ausmaßes mit Bestrahlungsquellen führen immer wieder lokal und regional zu hohen Individualdosen und Kontaminationen; dazu gehören auch Satellitenabstürze mit Radionuklidbatterien bzw. Kernreaktoren als Energiequellen oder unsachgemäße Entsorgung von medizinischen Bestrahlungsanlagen. 10.1.5 Nuklearterrorismus
Terroristische Anschläge sind in der modernen Welt leider in großer Vielzahl vorgekommen. Die technologische Expertise zur Herstellung funktionstüchtiger nuklearer Waffen ist weltweit vorhanden. Generell muss man verschiedene technische Waffenarten unterscheiden: Die Atombombe kann in sog. »klassische Atombomben« nach dem Kernspaltungs- oder Fissionsprinzip und in Atombomben, die nach dem Kernfusionsprinzip (Wasserstoff- oder H-Bombe) zünden, unterteilt werden. Die Explosionsenergie reicht von der Sprengkraft weniger hunderter TNTbis zu einigen Megatonnen TNT-Äquivalent. Gefürchtet werden heute insbesondere Bombenanschläge mit radioaktiven Stoffen, sog. »dirty bombs«. Bei einer solchen »schmutzigen Bombe« wird die ohnehin vernichtende Wirkung während der Explosion mit der großflächigen und jahrelangen Verstrahlung durch radioaktiven Fallout gesteigert, da konventioneller Sprengstoff mit radioaktivem Material verpackt wird und durch die Explosion die Radioaktivität durch Dispersion des Trägermaterials verteilt wird. Insbesondere die Kobaltbombe wurde als schmutzige Bombe bezeichnet; das Metall wird durch die Explosion in stark strahlende Isotope langer Halbwertszeit umgewandelt. Eine weitere große Gefahr sind konventionelle Anschläge auf Kernkraftwerke oder andere Orte hoher Radioaktivität mit dem Ziel, diese in die Umwelt freizusetzen. Ein katastrophaler Terroranschlag gegen ein deutsches Kernkraftwerk gilt nach Meinung der meisten Experten als extrem unwahrscheinlich, inwieweit jedoch vor allem die älteren Kernkraftwerke gegen den Aufprall einer großen Verkehrsmaschine oder eines schnell fliegenden Militärjets geschützt sind, wird zurzeit immer wieder kontrovers diskutiert. Generell ist es daher wichtig, solche Anschläge frühzeitig zu erkennen und geeignete Maßnahmen in Bezug auf Dekontamination bzw. Schutz der Bevölkerung zu entwickeln. Dabei sind eingespielte Triage-Pläne für diese Notfallsituationen entscheidend.
10.2
Strahlendosis und Strahlenwirkung
10.2.1 Strahlenarten und Größe von Strahlung
Der Begriff »ionisierende Strahlung« umfasst eine große Gruppe verschiedener Strahlenarten; dazu gehören elektromagnetische Strahlung, γ-Strahlung und Röntgenstrahlung. Bei allen diesen Strahlenarten handelt es sich um Strahlen »ohne Masse«. Demgegenüber steht die Gruppe der Partikelstrahlung; sie umfasst α-Strahlen, Elektronen, Protonen, Neutronen und Kohlenstoff-
245 10.3 · Pathophysiologie radiogener maligner Erkrankungen
ionen sowie eine Reihe anderer Teilchen, die bislang nur sehr wenig zur Therapie von Patienten verwendet werden. Die Partikeltherapie mit Protonen und Schwerionen hat in den letzten Jahren zunehmend Eingang in die klinische Routine gefunden, wird aber bisher weiterhin nur an wenigen Zentren angeboten. Die im Gewebe absorbierte Dosis der Strahlung wird in Gray (Gy) gemessen. Da die biologische Wirksamkeit der Strahlung nicht nur von der absorbierten Dosis, sondern auch von der Strahlenqualität abhängt, wird für jeden Strahlentyp eine individuelle Äquivalenzdosis, insbesondere aber auch für Zwecke des Strahlenschutzes, in einer anderen Einheit, in Sievert (Sv), angegeben. Für γ-Strahlung entspricht ein Gray einem Sievert, für αStrahlung und für Neutronen muss die in Gray gemessene Dosis mithilfe von Multiplikatoren in Sv umgerechnet werden (Kellerer u. Nekolla 1997). 10.2.2 Stochastische Strahlenwirkung
Entscheidend für die Gesundheitsgefährdung im Bereich niedriger Strahlendosen und somit auch für die Abschätzung von Risiken durch Strahlen sind die sog. stochastischen Strahlenschäden. Unter stochastischen Effekten einer Strahlung versteht man alle Wirkungen von ionisierender Strahlung, bei denen die Wahrscheinlichkeit für ihr Eintreten mit der Dosis steigt. Die Schwere oder die Ausprägung der Wirkung ist jedoch immer gleich. Man geht davon aus, dass für die Entstehung der Erkrankung keine »Schwellendosis« existiert. Diese Schäden beruhen auf Transformationen und Mutationen der betroffenen Zellen und führen zu neoplastischen Veränderungen und Erbkrankheiten. Es besteht eine Wahrscheinlichkeit von ca. 30%, dass auch ohne Strahlung im Laufe des Lebens eine Krebserkrankung oder Leukämie entsteht. Wird eine Gruppe von Personen ionisierender Strahlung ausgesetzt, so steigt das Erkrankungsrisiko für diesen Personenkreis an. Je höher die Dosis der Strahlung war, desto höher wird der Anteil der Leukämie- und Krebserkrankungen sein. Der Verlauf der Erkrankung, die »Schwere«, ist jedoch von der Dosis, der die Personen ausgesetzt waren, unabhängig. 10.2.3 Deterministische Strahlenwirkung
Neben den stochastischen Effekten treten bei Strahlenexposition sog. deterministische Strahlenwirkungen auf. Deterministische Effekte werden durch Abtötung einer größeren Anzahl von Zellen in einem Gewebe ausgelöst. Mit zunehmender Abtötungsrate wird eine Schwelle zum Pathologischen überschritten, die in Abhängigkeit von der biologischen Variabilität einer gewissen Schwankungsbreite unterliegt. Für verschiedene Gewebe sind die Schwellenwerte unterschiedlich. Sie verändern sich auch in Abhängigkeit von der Dosisrate. Deterministische Effekte sind z. B. der Tod eines Organismus durch eine Ganzkörperstrahlung mit hoher Dosis. Sein Schwellenwert wird z. B. durch die Inaktivierung der besonders strahlenempfindlichen Organe bestimmt. Die wichtigste Rolle spielt hier das Knochenmarksgewebe. Ebenfalls zu den deterministischen Effekten rechnet man den Funktionsverlust bestimmter Organe. Die durch Hoch-LET-Strahlung (LET = »linear energy transfer«) ausgelösten deterministischen Effekte gleichen denen der Nieder-LET-Bestrahlung, unterscheiden sich jedoch in Häufigkeit und Schwere von diesen.
10
Diese Unterschiede werden über die relative biologische Wirksamkeit (RBE) als sog. RBE-Werte ausgedrückt.
10.3
Pathophysiologie radiogener maligner Erkrankungen
In der Regel sind Tumore monoklonalen Ursprungs, d. h., sie sind aus einer einzelnen Zelle hervorgegangen, die sich zu einer neoplastischen Zelle veränderte (Cole u. Nowell 1965). Unter maligner Transformation versteht man die Entartung einer eukaryotischen Zelle zu einer Zelle, die sich in ihrer Morphologie von einer normalen Zelle unterscheidet und die durch Immortalisierung und Tumorigenität ausgezeichnet ist. Die Transformation ist ein komplexer, in mehreren Teilschritten ablaufender Prozess, durch den gutartige Zellen die Charakteristika von Tumorzellen erlangen (Lehane et al. 1999). Besonders zwei Gruppen von Genen, die Protoonkogene und Tumorsuppressorgene sind bei der Karzinogenese von Bedeutung; Protoonkogene können zu Onkogenen aktiviert werden und nachfolgend die Zellproliferation beschleunigen. Tumorsuppressorgene können durch Mutationen in ihrer Funktion derart verändert werden, dass sie die Zellneubildung nicht mehr ausreichend bremsen können. Nach Vogelstein charakterisiert man die Entwicklung von Tumorzellen durch ein dreistufiges Modell (Vogelstein u. Kinzler 1993): 1. die Initiation der Krebsentstehung (Transformation einer normalen Zelle in eine maligne Tumorzelle); 2. die Promotion, die von zellproliferativen Prozessen bestimmt wird, die auch bei der Zelltransformation von Bedeutung sind und dann zur Vermehrung der transformierten Zelle führt; 3. DIE Progression, bei der aus einer Ansammlung von transformierten Zellen durch Zellproliferation und weitere Entwicklungsvorgänge schließlich ein maligner Tumor entsteht, der klinisch diagnostiziert werden kann. Der Ablauf von biologischen Strahlenschäden lässt sich auf den verschiedenen Ebenen des Gesamtorganismus als stark vereinfachte Reaktionskette anschaulich darstellen (. Abb. 10.1). Nachdem die ionisierende Strahlung von der Materie absorbiert worden ist, entstehen innerhalb von wenigen Sekunden makromolekulare und biochemische Veränderungen durch physikalische und chemische Reaktionen innerhalb der Zelle. Durch die Wechselwirkung von ionisierender Strahlung mit Materie kommt es primär zu einer Ionisierung von Molekülen und Atomen durch Abspaltung von Elektronen sowie zur Bildung von Radikalen. Durch diese Ionisierung kommt es zu chemischen Reaktionen in der Zelle wie Oxidation, Decarboxylierung, Desaminierung etc.; nachfolgen können biochemische Vorgänge in der Zelle, die durch Konformationsänderungen von Molekülen in der Zelle deren Aktivität beeinflussen, insbesondere durch Konformationsveränderungen von Enzymen kann deren Aktivität beeinflusst werden. Diese wirken sich in einer Zellschädigung aus, die sich insbesondere in Struktur- und Funktionsänderungen der Zellmembranen und des Zellkerns manifestieren. Schwerwiegender als der Effekt der Strahlung auf die Proteinsynthese ist die Ionisation der molekularen Struktur von Genen, die für das Zellwachstum essenziell sind. Grundlage dieser Strahlenschäden sind Schäden an der DNA, die, je nach Schwere, enzymatisch repariert werden können. Be-
246
Kapitel 10 · Krebserkrankungen als Folge ionisierender Strahlung
10
. Abb. 10.1. Schematischer Ablauf biologischer Strahlenwirkung
sonders gut untersucht sind Einzelstrangbrüche, deren Frequenz direkt abhängig ist von der absorbierten Strahlendosis. Ein resultierender biologischer Effekt jedoch entsteht in der Regel nur, wenn mehrere solcher Läsionen zeitgleich und eng benachbart auftreten, sodass der Schaden an der DNA komplexer ist. Konventionelle Strahlenquellen mit niedrigerem Energietransfer (»low linear energy transfer«; low-LET) führen oft nur zu vereinzelten Strangbrüchen, während Strahlenmodalitäten mit hohem Energietransfer (high-LET) mit einem »Treffer« einen Doppelstrangbuch auslösen (Boice et al. 1996). Die Dosis-WirkungsBeziehung verläuft daher bei High-LET-Strahlung annähernd linear, während bei Low-LET-Strahlung eine linear-quadratische Dosis-Wirkungs-Beziehung vorliegt. Zusätzlich zur Strahlendosis ist jedoch auch die Dosisrate von Bedeutung. Man weiß, dass z. B. 30 Gy als Einmaldosis appliziert deutlich toxischer sind als die gleiche Dosis, die über einen längeren Zeitraum in kleinen Bruchteilen, sog. Fraktionen, appliziert wird (Boice et al. 1996). Wenn man von den biologischen Effekten einer Einzeitexposition auf Effekte einer prolongierten Strahlenbelastung schließen möchte, muss man Korrekturfaktoren von 2 bis 20 berücksichtigen. Neben den genannten Dosis-Wirkungs-Beziehungen für ionisierende Strahlung gibt es eine Reihe von Hinweisen, dass sich gerade bei sehr niedrigen Strahlendosen (bis zu ein paar 100 mGy) eine größere Wirksamkeit der Strahlen im Vergleich zu höheren Strahlendosen zeigt (Joiner et al. 1996); in vielen In-vitro-Model-
len sind die Zahl der inaktivierten Zellen und die Mutationsrate bezogen auf die Dosiseinheit niedriger als bei hohen Dosen, wo eine Zunahme der Radioresistenz beobachtet werden konnte. Dieses Phänomen wird »low dose hypersensitivity« genannt. Das konnte auch in vivo beobachtet werden (Joiner et al. 2001). Die erhöhte Sensitivität bei niedrigen Dosen führt zu einer verstärkten Inaktivierung von Krebsvorläuferzellen und von gesunden Zellen, was eine Verringerung der Proliferationsunterdrückung der Krebsvorläuferzellen durch gesunde benachbarte Zellen bewirken kann. Die Berücksichtigung einer derartigen promovierenden Wirkung von Strahlung in einem Krebsentstehungsmodell führte z. B. zu einer besseren Beschreibung des Lungenkrebsrisikos unter den Atombombenüberlebenden von Hiroshima und Nagasaki. Die Induktion von Leukämien oder soliden Neoplasien nach Strahlenapplikation entsteht nicht sofort, sondern nach einer gewissen Latenz, für Leukämien 4‒15 Jahre, für solide Tumoren in der Regel mehr als 15 Jahre (bis zu 50 Jahre nach Strahlenexposition). Grundlage hierfür ist, dass durch Strahlung entstehende DNA-Schäden alleine nicht für die Induktion einer Neoplasie ausreichen (Ban et al. 1997; Bartolucci et al 1983; Sabatier et al. 1994, 1995). Man weiß heute, dass insbesondere Schädigungen an Onkogenen und Tumorsuppressorgenen, also Genen, die an der Regulation von Zellwachstum und -reparatur beteiligt sind, eine besondere Bedeutung zukommt. Es existiert keine Präferenz für radiogene Mutationen oder bestimmte Gene. Daher kann ein Tumor nicht zweifelsfrei als radiogen induziert identifiziert werden (Ben Yehuda et al. 1996). Wir wissen heute, dass Veränderungen in der Abfolge der genetischen Information, d. h. durch Basenverlust, Basensubstitution einen Funktionsverlust des entsprechenden Genes bedingen können. Zellen besitzen eine ganze Reihe natürlicher Reparaturmechanismen, die Schäden an der DNA bis zu einem gewissen Umfang reparieren können. Daher führen nicht alle Schädigungen zu einer bleibenden DNA-Veränderung und zu permanenten Mutationen. Ein großer Anteil der DNA kodiert auch nicht für funktionsfähige, essenzielle Proteine, sodass Schäden in diesen Bereichen keinen Effekt auf die Funktion oder die genetische Stabilität der Zelle haben. Andere Schäden jedoch ziehen direkte Veränderungen der Funktionsweise einer Zelle nach sich, wenn sie in Bereichen entstehen, die wichtige Funktionen der Zelle kodieren. Neben Veränderungen an der DNA von Zellen gibt es eine Reihe anderer Mechanismen, die durch Strahlung zur Schädigung von Zellen führen können, wie z. B. die Stabilität der Zellmembran. Dennoch bleibt die DNA, die die gesamte Information über eine Zelle enthält, das strahlenempfindlichste Ziel einer Zelle. Die Mechanismen der strahleninduzierten Krebsentstehung können über verschiedene Wege fortgeleitet werden. Die Zellteilung und Zelldifferenzierung wird von einer ganzen Reihe von Proteinen als negative und positive Regulatoren kontrolliert, und Schädigungen jedes einzelnen dieser Proteine können zu Veränderungen in der Zellbiologie führen. Eine Reihe der Protoonkogene wirken als Transkriptionsfaktoren verschiedener Proteine, die durch exogene Stimuli wie Wachstumsfaktoren, Differenzierungsindikatoren sowie durch Strahlung selbst aktiviert werden können. Andere Genprodukte sind primär an intrazellulären Signaltransduktionswegen im Rahmen der Proliferationskontrolle entscheidend beteiligt, wie z. B. RAS-Gene. Diese Protoonkogene können durch die Induktion von Mutationen in ihrer kodierenden DNA-Sequenz zu Onkogenen ver-
247 10.4 · Krebserkrankungen und Leukämien nach Strahlenexposition (-behandlungen)
ändert werden, die dann ihre normale Funktion innerhalb der Zelle nicht mehr ausüben können. Bei einer Reihe von onkogenetischen Überaktivierungen wie z. B. des MYC- oder RAS-Gens wird die Proliferation der Zelle kontinuierlich stimuliert. In gleicher Weise kann die Inaktivierung eines Tumorsuppressorgens, wie P53, unkontrolliertes Zellwachstum bewirken, da die negative Kontrollfunktion zur Inhibition der Zellproliferation wegfällt. Wir wissen heute aufgrund zahlreicher Untersuchungen, dass sofort nach einer Bestrahlung eine Stimulation der P53-Aktivität beobachtet werden kann (Sabatier et al. 1994; Lane et al. 1994, 1995). Die Rolle von P53 gleicht einem Schlüsselenzym, das als Tumorsuppressorgen einen Zellzyklusarrest in der G1-Phase bewirkt und gleichzeitig Reparaturmechanismen aktiviert (Lakin u. Jackson 1999). Läuft diese Reparatur korrekt ab und sind alle Schäden an der DNA erfolgreich beseitigt, dann wird das P53Protein wieder inaktiviert und die Zelle geht wieder in die Synthesephase über, sodass die normale Zellproliferation fortgesetzt werden kann. Ist der DNA-Schaden nicht vollständig oder nur teilweise repariert worden, so wird eine P53-vermittelte Apoptose eingeleitet. Es wird so erfolgreich verhindert, dass eine geschädigte Zelle klonal expandieren kann. Das ist ein wichtiger Mechanismus der Zellen, Schäden, die durch ionisierende Strahlung entstanden sind, entweder erfolgreich zu eliminieren oder, falls das nicht oder nur unvollständig möglich ist, die Zelle selbst aus dem Organismus zu entfernen. In papillären Schilddrüsenkarzinomen wurden vor allem Rearrangements des RET-Protoonkogens idendifiziert. Diese RET-PTC-Rearrangements entstehen durch die Fusion des RETTyrosine-Kinase-kodierenden Domäne mit verschiedenen heterologen Genen, die ubiquitär exprimiert sind; es ensteht das RETPTC-Fusionsprotein, wovon RET-PTC1 und 3 die häufigsten Fusionsproteine sind (Ciampi u. Nikiforov 2007). RET/PTC ist tumorigen, u. a. in follikulären Zellen der Schilddrüse. Nach der Tschernobyl-Katastrophe wurde u. a. eine erhöhte Inzidenz von Schilddrüsenkarzinomen beobachtet, da das freigesetzte Radiojod mit der Atemluft aufgenommen und zu einer starken Anreicherung in der Schilddrübe geführt hat. Untersuchungen an betroffenen Personen konnten zeigen, dass RETPTC3- mit diesen post Tschernobyl auftretenden papillären Schilddrüsenkarzinomen assoziiert ist. Diese Tumoren traten nach einer sehr kurzen Latenzzeit auf und zeigten eine ungewöhnliche Aggressivität und ein hohes Metastasierungspotenzial (Unger et al. 2004, 2006). Nicht alle Strahlenschäden führen jedoch zu einer klonalen Expansion der Zelle; wenn die Schäden groß sind und nicht repariert werden können, resultiert daraus, zum Schutz des Körpers, der Zelltod. Traditionell unterscheidet man zwei Formen des strahleninduzierten Zelltodes: den Interphase-Zelltod und den reproduktiven Zelltod (Radford 1991; Shinohara u. Nakano 1993). Der Interphase-Zelltod wird definiert als Zelltod, bevor die Zelle die erste Mitose nach der Strahlenexposition erreicht. Eine Reihe von Studien konnte zeigen, dass diese Form des Zelltodes einem festgelegten, sog. programmierten Ablauf unterliegt; er wird daher auch programmierter Zelltod oder Apoptose genannt. Der reproduktive oder mitotische Zelltod ist dadurch charakterisiert, dass die geschädigten Zellen die Eigenschaft des klonogenen Überlebens verlieren; er wird daher auch klonogener Zelltod genannt. Hierbei spielen reparierte oder inkomplett reparierte DNA-Doppelstrangbrüche eine Schlüsselrolle und führen zur Inaktivierung der Zelle, während oder nach der Mitose (Radford 1986). Nach der klassischen Definition ist der reproduktive
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Zelltod dadurch definiert, dass die geschädigte Zelle keine weiteren Zellteilungen durchlaufen kann, obwohl auf metabolischer Ebene ein Überleben möglich wäre (Dewey et al. 1995). Die geschädigte Zelle muss jedoch nicht sofort sterben, sondern der Zelltod kann auch nach mehreren Zellzyklen eintreffen; eine kritische Schwelle genomischer Instabilität ist die direkte Voraussetzung für das Modell des reproduktiven Zelltods. Nicht in allen Fällen der Zellschädigung führt die Reaktionskaskade innerhalb der Zellen zum Zelltod. Wird z. B. durch die Strahlung selbst eine Mutation am P53-Gen gesetzt, so führt dies zum Verlust der Expression von P53. Dadurch gehen eine Reihe von Kontrollmechanismen innerhalb einer Zelle verloren; die Zellen können den P53-induzierten Zellarrest und -tod nicht ausbilden, und die nicht reparierte DNA geht in den Zellzyklus ein und wird durch die Mitose auf nachfolgende Zellgenerationen weitergeleitet. Diese auf die Tochterzellen übertragenen Schäden bzw. chromosomalen Imbalancen und genetischen Instabilitäten vermitteln Promotion und Progression von tumorigenen Zellen. Weitere Genmutationen können aber auch die Reparaturkapazität einer Zelle betreffen, sodass der Zelle die Möglichkeit, DNA-Schäden zu erkennen und zu reparieren, unmöglich wird. Auf der anderen Seite jedoch kann ionisierende Strahlung auch deutliche Proliferationssignale triggern, die nicht nur gesunde Zellen zur Zellteilung anregen zur Repopulierung des geschädigten Gewebes, sondern damit können auch transformierte Zellen in ihrer Proliferation stimuliert werden. Eine Reihe von Untersuchungen konnten zeigen, dass verschiedene Wachstumsfaktoren durch ionisierende Strahlung freigesetzt werden können und damit einen starken Wachstumsreiz bewirken; dazu gehören insbesondere Zytokine wie »platelet-derived growth factor« (PDGF), »transforming growth factor«-(TGF-)α und -β, Interleukin-(IL-)1α und -β sowie »basic fibroblast growth factor« (bFGF) (Gridley et al. 2004; Lindroos et al. 1997; Zerwes u. Risau 1987). Darüber hinaus induziert ionisierende Strahlung die Expression und Sekretion von »vascular endothelial growth factor« (VEGF) (Brieger et al. 2004). Neben den proliferativen Effekten auf die gesunden Körperzellen sowie auf transformierte Zellen sind u. a. VEGF und bFGF hochaktive proangiogene und zytoprotektive Faktoren, die insbesondere Revaskularisierung stark mediieren.
10.4
Krebserkrankungen und Leukämien nach Strahlenexposition (-behandlungen)
Seit Konrad Röntgen im Jahre 1895 die Röntgenstrahlen entdeckt hat und diese in der medizinischen Diagnostik und Therapie eingesetzt werden, hat es unzählige Berichte über die schädlichen Effekte von Strahlung gegeben. Schon im Jahre 1896 berichtete Grubbe über strahleninduzierte Dermatitiden an der Hand. Das erste strahleninduzierte Ulkus wurde 1902 von Frieben beschrieben, Blutbildveränderungen und Knochenmarksdepression wurden 1904 von Milchner und Mosse und 1906 von Warthin beobachtet. Die Inzidenz von Sekundärneoplasien nach Strahlenexposition ist relativ gering, dennoch ist es wichtig ihr aktuarisches Risiko zu evaluieren. Fajardo definierte im Jahre 1986 eine Reihe von notwendigen Faktoren, um zu entscheiden, ob eine Neoplasie durch Strahlung induziert wurde. Dazu gehört, dass diese
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Kapitel 10 · Krebserkrankungen als Folge ionisierender Strahlung
Tumoren innerhalb von Geweben entstehen, die ionisierender Strahlung ausgesetzt waren. Weiterhin treten sie nach einer gewissen Latenzzeit nach Bestrahlung auf, die ca. 3‒8 Jahre für Leukämien und 15‒45 Jahre für solide Tumoren entspricht (Fajardo 1986). Insbesondere für Leukämien, aber auch für Tumoren der Schilddrüse, Lunge und Brust wurden in der Vergangenheit deutliche Assoziationen mit ionisierender Strahlung gezeigt (Ron 1998). Man darf nicht vergessen, dass die meisten Untersuchungen über strahleninduzierte Karzinogenese epidemiologische Studien sind und an unterschiedlichen Patientengruppen evaluiert wurden, die einer gleichen Strahlenform aus einer medizinischen Indikation exponiert wurden. Daher können die Ergebnisse nicht zwingend repräsentativ sein für die Allgemeinbevölkerung. Ein weiteres Problem entsteht dadurch, dass die Strahlenexposition in der Vergangenheit lag und die Daten retrospektiv erhoben wurden; daher kann sehr oft die genaue Strahlendosis nicht mehr festgestellt werden. Bei einer geplanten Strahlenexposition wie einer Strahlentherapie wird eine definierte Körperregion oder eine definierte Zielstruktur einer für die jeweilige Erkrankung bzw. Tumorart notwendigen Dosis ausgesetzt. Die Strahlentherapie wird in der Regel als sog. fraktionierte Therapie durchgeführt, d. h., die geplante Strahlendosis wird auf kleine Einzeldosen über einen Zeitraum von in der Regel mehreren Wochen verteilt, um strahlenbiologische Vorteile auszunützen und eine bessere Verträglichkeit zu erzielen. Das den Tumor oder die zu bestrahlende Region umgebende Normalgewebe wird während dieser Therapie ebenfalls einer gewissen Strahlendosis ausgesetzt. Zu geringen Teilen betrifft die Strahlendosis auch den gesamten Körper. Trotz moderner Präzisionstechniken, mit denen es möglich ist, die Dosis auf das Normalgewebe zu reduzieren, tritt durch sog. Streustrahlung eine schwer kalkulierbare Strahlenbelastung für den gesamten Organismus auf. Dies ist insbesondere der Fall bei Strahlenapplikation im Körperstammbereich. Dort liegen die für die Neoplasieinduktion
sensitiven Organe in direkter Nachbarschaft. Das gilt sowohl für die Induktion von soliden Neoplasien als auch für die Leukämien. Die meisten der im Folgenden zitierten Beobachtungsstudien beziehen sich auf länger zurückliegende Strahlentherapien mit Strahlenenergien unter 1 MeV, bei der für die kritischen Organe am Körperstamm eine Streustrahlung von 0,5% der Herddosis angenommen werden muss. Dies würde bei einer Dosis von 60 Gy einer Streustrahlung von 300 mSv entsprechen. Bei modernen Präzisionsstrahlentherapien lässt sich die Streustrahlung für entfernte Regionen im Körperstamm auf 0,1% oder 0,05% der Herddosis reduzieren. Im Vergleich zur angestrebten Gesamtdosis im definierten Strahlentherapie-Zielvolumen erscheint die Streustrahlung vergleichsweise gering, jedoch ist die Dosis durchaus vergleichbar mit Strahlendosen, die nur ein sehr kleiner Teil der Überlebenden in Hiroshima erlitten hat (1.000 mSv in 1,5 bis 2 km Entfernung vom Explosionsort). Eine ganze Reihe von Studien hat die Leukämie- und Krebshäufigkeit nach Strahlenbehandlung untersucht (Abrahamsen et al. 1993; Andrieu et al. 1990; Arai et al. 1991; Armitage et al. 1983; Boice et al. 1985; Boivin et al. 1984; Bokemeyer u. Schmoll 1995; Bookman et al. 1988; Curtis et al. 1992; Doreen et al. 1986; Gassmann u. Slanina 1993; Geller et al. 1989; Glanzmann et al. 1994; Glicksman et al. 1982; Joss et al. 1981; Kellerer u. Nekolla 1997; Kinsella et al. 1982; Koletsky et al. 1986; Lavey et al. 1990; HenryAmar et al. 1989; MacDougall et al. 1981; Mattsson et al. 1997; Neugut et al 1993, 1997; Shimizu et al. 1990; Shore 1990; Vlachaki et al. 1997; Tester et al. 1984; Thar u. Million 1980; van Leeuwen et al. 1987). Die meisten der evaluierten Patienten erhielten die Strahlentherapie zur Behandlung von malignen Tumorerkrankungen. Eine kleine Gruppe mit Ausnahmefällen stellt die Strahlentherapie bei Erwachsenen mit Morbus Bechterew und Meno-/ Metrorrhagie dar, sowie bei Kindern, die wegen Hämangiomen, Thymushyperp lasien oder Tinea capitis behandelt wurden. . Tab. 10.1 und . Tab. 10.2 stellen eine umfassende Zusammenstellung von Studien dar.
. Tab. 10.1. Sekundärmalignome nach Strahlenbehandlung von malignen Tumoren Patientenpopulation
Sekundärmalignome
Zervixkarzinome (Kleinerman et al. 1982; Curtis et al. 1985c; Storm u. Boice 1985)
Leukämien, Tumoren von Blase, Rektum, Uterus, Ovar, Magen, Knochen, Bindewebe, Schilddrüse, Niere
Pädiatrische Tumoren (Li 1977; Mike et al. 1982; Kaplan et al. 1983; Draper et al. 1986; Tucker et al. 1984, 1986, 1987a,b)
Tumoren von Knochen, Schilddrüse, Bindegewebe, Brust, Gehirn; keine Leukämien
Morbus Hodgkin (Boivin et al. 1984; Curtis et al. 1985a; Boivin u. Hutchinson 1984; Tucker et al. 1988)
Tumoren von Brust, Magen, Schilddrüse, Mundhöhle, Lunge; keine Leukämien
Non-Hodgkin Lymphome (Greene et al. 1983)
Leukämien
Uteruskarzinome (Curtis et al. 1985b; Boivin et al. 1986)
Karzinome des Rektum; Leukämien
Ovarialkarzinom (Curtis et al. 1985b)
Karzinome von Kolon, Rektum, Blase
Mammakarzinome (Curtis et al. 1985b; Hankey et al. 1983; Fisher et al. 1985; Ewertz et al. 1984; Boivin et al. 1986)
Karzinome des Uterus; Tumoren der Lunge, kontralaterale Mammakarzinome; Leukämien
249 10.4 · Krebserkrankungen und Leukämien nach Strahlenexposition (-behandlungen)
10
. Tab. 10.2. Sekundärmalignome nach Strahlenbehandlung benignen Erkrankungen Patientenpopulation
Sekundärmalignome
Spondylitis (Smith u. Doll 1982; Darby et al. 1985; Darby et al. 1987)
Leukämien, Tumoren von Blase, Rektum, Uterus, Ovar, Magen, Knochen, Bindewebe, Schilddrüse, Niere
Tinea capitis (Ron u. Modan 1980; Ron u. Modan 1984; Ron et al. 1988; Shore et al. 1984)
Schilddrüsenkarzinome, Hirntumoren, Hauttumoren
Thymushyperplasie (Hildreth et al. 1985; Shore et al. 1985)
Schilddrüsenkarzinome, Mammakarzinome, Hauttumoren
Benigne Erkrankungen im Kopf-Hals-Bereich (Maxon et al. 1980; Sandler et al. 1982; Schneider et al. 1985)
Schilddrüsenkarzinome, Speicheldrüsenkarzinome, neurale Tumoren
Benigne Erkrankungen der Brust (Baral et al. 1977; Shore et al. 1986)
Mammakarzinome
Benigne gynäkologische Tumoren (Smith u. Doll 1976; Wagoner 1984)
Leukämien, Tumoren des Dünndarms, Dickdarms und Rektums, des Uterus und der Harnwegsorgane
Zuvor ist es sicherlich hilfreich, das durch Strahlung erhöhte Risiko für Krebserkrankungen an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wenn für eine bestimmte Erkrankung, z. B. Brustkrebs, die natürliche Inzidenz bei 500 Neuerkrankungen pro 1 Mio. Personen liegt, entspricht das einer natürlichen prozentualen Inzidenz von 0,5%. Wir setzen nun eine strahleninduzierte Zunahme der Inzidenz von 1% voraus. Dies entspricht 500×0,01 zusätzlichen Neuerkrankungen oder 5 Fällen. Insgesamt treten also 505 Neuerkrankungen auf, einer Inzidenz von 0,505% entsprechend (Jablon et al. 1971). Wichtig ist es zudem, zwischen dem absoluten und relativen Risiko zu unterscheiden. Die Hypothese des absoluten Risikos geht davon aus, dass ionisierende Strahlung eine bestimmte Rate an Tumoren induziert, unabhängig von einem potenziell bestehenden natürlichen Risiko. Das Modell des relativen Risikos geht davon aus, dass der Effekt der Strahlung die natürliche Inzidenz für die Krebsentstehung um einen definierten Faktor erhöht. Nachdem die natürliche oder spontane Inzidenz für Karzinome mit dem Lebensalter ansteigt, wird durch das Modell des relativen Risikos eine größere Anzahl an strahleninduzierten Tumoren für ältere Patientengruppen vorgegeben. In jüngster Zeit wurde das Modell des zeitabhängigen relativen Risikos favorisiert, in dem das Krebsrisiko in der Population der japanischen Atombombenopfer berechnet wurde; dabei wird die Zunahme der Krebsinzidenz nach Strahlenexposition als Funktion von Dosis, (Dosis)2, Alter bei Strahlenexposition und Zeit seit der Strahlenexposition dargestellt. Zur absoluten Häufigkeit von soliden Tumoren nach Strahlentherapie werden in der Literatur unterschiedliche Angaben gemacht. Nach Strahlentherapie von Mammakarzinomen und Uteruskarzinomen scheint das Risiko für Zweitmalignome minimal zu sein (Boice et al. 1988). 1985 publizierte Boice eine Studie, in der das Sekundärmalignomrisiko bei 82.616 bestrahlten Patientinnen mit Zervixkarzinomen untersucht wurde. Dabei konnte gezeigt werden, dass ein nur um 10% erhöhtes Risiko für solide Tumoren im Bestrahlungsfeld und in dessen unmittelbarer Nachbarschaft besteht. Dieses Risiko schien lebenslang bestehen zu bleiben (Boice et al. 1985). In einer großen Studie untersuchte ebenfalls Boice das Sekundärmalignomrisiko nach Strahlentherapie von Zervixkarzi-
nomen (Boice et al. 1988). Hierbei wurden 4.188 Frauen mit einer großen Anzahl verschiedener Tumorarten und 150.000 Patienten als Kontrollgruppe nach Strahlentherapie eines Zervixkarzinoms untersucht und die individuelle Strahlendosis von 20 Organen berechnet. Es konnte gezeigt werden, dass eine ganze Reihe von Tumorarten, einschließlich des Rektums, der Blase und Vagina, mit einer hohen Strahlendosis assoziiert zu sein scheint. Es konnte aber auch gezeigt werden, dass hohe Strahlendosen das Risiko für die Entstehung von Darmkrebs, Vulvakarzinomen sowie Morbus Hodgkin, multiplem Myelom und lymphatischen Leukämien unbeeinflusst lassen. Überrascht waren die Autoren insbesondere darüber, dass die Rate an Kolonkarzinomen unverändert war, zumal die Patientenzahl groß und die applizierten Dosen hoch waren. Darüber hinaus konnte ein Zusammenhang zwischen der Strahlendosis und der Entstehung von Non-Hodgkin-Lymphomen gezeigt werden, während das für Morbus Hogdkin, das multiple Myelom und die chronische lymphatische Leukämie nicht der Fall war. Die Autoren schlossen aus den Daten, dass für die meisten Tumoren, die eine Assoziation mit der Strahlentherapie von Zervixkarzinomen zeigen, das Risiko etwa 20 oder mehr Jahre nach der Radiatio am höchsten ist. Für die Entstehung von Leukämien war das Risiko 1‒4 Jahre nach der Strahlentherapie am höchsten, insbesondere für Frauen, die im Alter unter 55 bestrahlt wurden. Eine ganze Reihe von Arbeitsgruppen hat sich mit der Entstehung von Zweittumoren bei Patienten mit Morbus Hodgkin beschäftigt. Es muss dabei daran gedacht werden, dass bis vor einigen Jahren zur Therapie des Morbus Hodgkin oft die totale nodale Bestrahlung eingesetzt wurde, die nicht nur ein sehr großes Zielvolumen umfasst, sondern auch eine sehr hohe Ganzkörperexposition darstellt. Dabei ist das Risiko bei dieser Erkrankung insofern etwas anders zu beurteilen, da zur Therapie des M. Hodgkin in der Regel große Strahlentherapiefelder eingesetzt werden müssen. In dieser Patientengruppe wurden insbesondere Tumoren der Lunge, der Schilddrüse aber auch akute nichtlymphatische Leukämien beobachtet. Eine Arbeitsgruppe in USA und Kanada hat die Zweitmalignomdaten von acht großen amerikanischen Tumorkliniken ausgewertet und Daten aus der Literatur in diese Auswertung mit einfließen lassen. Die Untersuchung basierte auf 6.513 Patienten mit Morbus Hodgkin (Boivin
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Kapitel 10 · Krebserkrankungen als Folge ionisierender Strahlung
u. O’Brien 1988; Boivin et al. 1984). Insbesondere für Tumoren des Bindegewebes sowie der Knochen, aber auch für Karzinome der Mundhöhle und des Pharynx ist das Risiko in dieser Patientengruppe deutlich erhöht. Für alle Tumorlokalisationen zusammen, inklusive Niere, Harnwege, Mamma, Genitalorgane, ZNS, Blut- und Knochenmark und Haut, ist das Risiko nach alleiniger Strahlentherapie 1,9-fach gegenüber der Normalbevölkerung, nach Chemotherapie 1,1-fach und nach einer Kombination von Radiatio und Chemotherapie 2,6-fach erhöht. Kaldor u. Lasset (1990) untersuchten in einer Übersicht 18 große klinische Studien und fanden 662 Sekundärmalignome in einer Gruppe von über 14-000 Patienten. Das relative Risiko war insbesondere für akute Leukämien erhöht, es zeigte sich aber auch eine größere Assoziation ihrer Entstehung mit Chemotherapie als mit Strahlentherapie. Patienten mit Morbus Hodgkin weisen weiterhin ein erhöhtes Risiko für Lungenkarzinome, Non-Hodgkin-Lymphome und andere Karzinome auf, was aber nicht therapieassoziiert zu sein scheint (Kaldor u. Lasset 1990). Nach Therapie eines M. Hodgkin wurden von einigen Gruppen im Gegensatz zur Strahlentherapie anderer Neoplasien vermehrt auch Non-Hodgkin-Lymphome beobachtet (Armitage et al. 1983). Es konnte jedoch nicht vollends geklärt werden, ob es sich dabei auch wirklich um eine Sekundärneoplasie handelte. Ein Studie von Boivin et al. (1984) untersuchte die Frage, ob die Induktion von Sekundärneoplasien von der Ausdehnung der Radiatio abhängt . Nach einer Strahlentherapie, die die supraund infradiaphragmalen Regionen mit einschloss, war das Tumorrisiko in den ersten 9 Jahren gering gesteigert mit einer 1,3-fachen Steigerung der Tumorentstehung im Vergleich zur Normalbevölkerung. In den nachfolgenden Jahren 10‒38, war das Risiko um den Faktor 25 erhöht. Nach nicht ausgedehnter Radiatio, wie beispielsweise einer Mantelfeldbestrahlung, war das Risiko in den ersten 9 Jahren um den Faktor 1.9 gesteigert, in den Jahren 10‒38 war es mit einem Faktor von 1,2 nicht signifikant unterschiedlich vom Risiko der Normalbevölkerung (Boivin et al. 1984). Daraus kann man schließen, dass das Risiko für solide Tumoren nach regional begrenzter Radiatio vernachlässigbar gering ist. Weiterhin sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass die meisten onkologischen Therapiekonzepte multimodal sind, und neben einer Strahlenthrapaie in vielen Fällen auch eine Chemotherapie appliziert wird. Es ist bekannt, dass auch eine Reihe von Chemotherapeutika ein Sekundärmalignomrisiko mit sich bringen. Im Rahmen von Studien zur Stammzelltransplantation nach myeloablativer Radiochemotherapie wurde beobachtet, dass das Risiko für strahleninduzierte Zweitmalignome höher zu sein scheint als nach alleiniger Strahlenexposition. Insbesonderere die myeloablativen Chemotherapieregime zeigen im Vergleich zu anderen Kombinationstherapien ein deutlich erhöhtes Risiko für sekundäre hämatologische Neoplasien (Lenz et al 2004). 10.4.1 Sekundärmalignome nach Strahlentherapie des
Rektumkarzinoms Eine schwedische Arbeitsgruppe untersuchte das Risiko für das Auftreten von Sekundärmalignomen nach Strahlentherapie des Rektumkarzinoms. Die Strahlentherapie ist heute essenzieller Bestandteil in der multimodalen Therapie des Rektumkarzinoms und konnte das Gesamtüberleben dieser Patienten signifikant
verbessern. Allerdings konnten Birgisson et al. (2005) zeigen, dass bei dieser Patientengruppe das Risiko für Sekundärmalignome verdoppelt war im Vergleich zu den Patienten, die nur chirurgisch therapiert wurden. Dabei traten die meisten Malignome im Bestrahlungsfeld oder in direkter Nachbarschaft auf, wobei aber auch die Rate an Zweitmalignomen in Organen außerhalb des Bestrahlungsfeldes leicht erhöht war. Dies entspricht den Ergebnissen nach Strahlentherapie anderer maligner Tumoren im Beckenbereich, wo ein erhöhtes Risiko für die Entstehung von akuter myeloischer Leukämie, malignem Melanom, Karzinomen der Lunge und Genitalorgane, des Bindegewebes, Magens, Darmes und des Rektums beobachtet wurde (Birgisson et al. 2005; Strom 1988; Kleinerman et al. 1982; Pettersson et al. 1985). Insgesamt scheint der Zeitraum für die Entstehung von Sekundärmalignomen zwischen 4 und 15 Jahren besonders kritisch zu sein (Penn 1982), jedoch konnte nach Strahlentherapie von Zervixkarzinomen auch nach >30 Jahren ein erhöhtes Risiko beobachtet werden (Storm 1988). Die schwedische Untersuchung von Patienten mit Rektumkarzinomen beobachtet eine kritische Zeit für das Entstehen von Sekundärmalignomen zwischen 5 und 10 Jahren nach Bestrahlung (Birgisson et al 2005). 10.4.2 Sekundärmalignome nach Radiotherapie von
Kopf-Hals-Tumoren Eine Reihe von Arbeitsgruppen konnte beobachten, dass nach Strahlentherapie die Entstehung von Sekundärmalignomen signifikant erhöht ist. Hashibe et al. (2005) untersuchte 30.221 Patienten mit Plattenepithelkarzinomen im Kopf-Hals-Bereich des SEER-Programmes (»surveillance, epidemiology and end results«) zwischen 1973 und 1999, von denen 6.163 (20,4%) ein Zweitmalignom entwickelten. Dabei zeigte sich eine Erhöhung des Risikos für Sekundärmalignome nach 10 Jahren für solide Tumoren der Mundhöhle (2,8-fach erhöht), ein 3,9-fach erhöhtes Risiko für Tumoren des Ösophagus, ein 5,9-fach erhöhtes Risiko für Pharynxtumoren und ein 1,5-fach erhöhtes Risiko für Lungentumoren. Ein bis fünf Jahre nach Ende der Strahlentherapie war das Risiko für die Entstehung von Leukämien 2,5-fach erhöht. 10.4.3 Pädiatrische Sekundärmalignome
Hawkins et al. (1996) untersuchten 9.279 Kinder, die aufgrund einer malignen Erkrankung in Großbritannien vor 1980 behandelt wurden. Ausgenommen waren Retinoblastome. Das kumulative Risiko eines Sekundärmalignoms lag bei 3,7%, was etwa dem 5-fachen des Strahlentherapie-assoziierten Risikos in der Allgemeinbevölkerung entspricht. Das Strahlentherapie-assoziierte Risiko war 6-fach und das Risiko nach Chemotherapie und Strahlentherapie 9-fach erhöht. Oft ist es aber gerade bei Kindern schwierig, das Sekundärmalignomrisiko nach Strahlentherapie zu kalkulieren, da in den meisten Fällen eine Kombination aus Chemotherapie und Strahlentherapie durchgeführt wird. Insgesamt jedoch weiß man, dass auch bei Kindern die Strahlentherapie das Risiko für eine Leukämie erhöht; man geht davon aus, dass das Risiko vergleichbar ist mit dem Risiko in der Erwachsenenbevölkerung. Insgesamt sollte jedoch beachtet werden, dass bei Kindern aufgrund des jungen Alters nach Heilung eine längere Überlebenszeit nach Therapie erwartet werden kann
251 10.6 · Nuklearterrorismus
im Vergleich zu Erwachsenen und somit eine größere Anzahl von behandelten Patienten ein Sekundärmalignom erleben wird. Die nach Strahlentherapie bei Kindern entstehenden Leukämien sind, insofern sie im Rahmen von Studien untersucht worden sind, vor allem akute myeloische Leukämien und Myelodysplasien. Man kann aber davon ausgehen, dass die überwiegende Anzahl von Leukämien nach Kombinationstherapien durch die aggressive Chemotherapie induziert zu sein scheint. Welches Risiko hierbei der Strahlentherapie zuzuschreiben ist, ist noch Gegenstand von Untersuchungen, es scheint aber, dass das Leukämierisiko der durch Strahlen belasteten Kinder grob verdoppelt ist. Man weiß heute auch, dass das Risiko für solide Sekundärneoplasien nach Radiatio bei Kindern erhöht ist, wobei das Gesamtrisiko hierfür noch nicht sicher abschätzbar ist.
10.5
Leukämien und Krebserkrankungen nach häufigen Röntgenuntersuchungen bei Erwachsenen und Kindern
Eine Reihe von Arbeitsgruppen hat sich mit den Folgen häufiger Röntgenuntersuchungen sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern beschäftigt. Viele dieser Untersuchungen entstammen der Vor- und frühen Nachkriegszeit. Bei Kindern und Erwachsenen mit Tuberkulose (n=6.285) konnte nach im Mittel 77 Röntgenuntersuchungen eine Gesamtleukämierate von 11/100.000 pro Jahr beobachtet werden (Davis et al. 1989). Damit war die Leukämierate vergleichbar mit dem Risiko der unbelasteten Normalbevölkerung und auch die Gesamtrate aller Krebserkrankungen war mit 10% nicht signifikant erhöht. Lediglich für die Entstehung von Brustkrebs zeigte sich eine erhöhte Erkrankungsrate, während die Inzidenz der Lungenkarzinome etwas niedriger war als erwartet. Dies wurde durch eine Untersuchung von Howe et al. (1995), bestätigt, die bei 64.172 kanadischen Patienten mit Tuberkulose kein erhöhtes Risiko für Lungenkarzinome beobachten konnten. Hierfür wurden unterschiedliche Erklärungsversuche herangezogen, u. a. dass die nach Tuberkulose geheilten Patienten den Zigarettenkonsum im Vergleich zur Normalbevölkerung häufiger mieden. Spengler et al. (1983) evaluierten den Einfluss häufiger Röntgenuntersuchungen bei Kindern auf das Sekundärmalignomrisiko. Nach einer mittleren Nachbeobachtungszeit von 13 Jahren starben von 4.891 Kindern mit angeborenen Herzfehlern und frühkindlicher Herzkatheteruntersuchung zwischen 1946 und 1968 fünf Kinder an malignen Tumoren (von 4,8 erwarteten), dabei waren 3 Todesfälle durch Leukämien (2 erwartet) bedingt. Eine ähnliche Untersuchung von 3.915 Kindern dokumentierte 13 Krebserkrankungen (17,3 erwartet), davon 3 Leukämien (1,9 erwartet).
10.6
Nuklearterrorismus
Seit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 und den nachfolgenden Anschlägen inklusive der Anthrax-Anschläge sind auch terroristische Anschläge mit Nuklearwaffen immer weiter in den Fokus gerückt. Die technologische Expertise, einfache, aber funktionsfähige Nuklearwaffen herzustellen, ist weltweit vorhanden und insbesondere terroristische Organisationen haben sich Zugang zu solchen Mitteln verschafft (Federation of American Scientists 2002). Der freie Han-
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del und die schnelle Bewegung von Handelsgütern weltweit machen es unmöglich, den Handel mit Nuklearwaffen zu verhindern. Des Weiteren haben terroristische Gruppen konventionelle Anschläge auf Anlagen wie Kernkraftwerke oder radioaktive Zwischenlager mit dem Ziel geplant, dort radioaktive Strahlung freizusetzen. Daher ist es heute besonders wichtig, die Auswirkungen einer solchen Katastrophe zu kennen und entsprechende Reaktionspläne ausgearbeitet zu haben. Generell muss man einige unterschiedliche Formen von Anschlägen mit Nuklearwaffen unterscheiden: Am 6. und am 9. August 1945 wurden auf Hiroshima und Nagasaki in Japan Atombomben abgeworfen und innerhalb weniger Tage danach war der Zweite Weltkrieg im Pazifik ausgebrochen. Die damaligen Bomben waren, im Vergleich zu heutigen Waffen dieser Art, eher klein, bestehend auf 10‒20 kT Trinitrotoluene (TNT). Atombomben zeichnen sich durch eine hohe Explosionskraft aus, mit der die freigesetzte Strahlung praktisch sofort freigesetzt wird. Man unterscheidet Atombomben nach dem Kernspaltungs- oder Fissionsprinzip, die sog. klassischen Atombomben, und nach dem Kernfusionsprinzip (Wasserstoffoder H-Bomben). Bei der Kernspaltungsbombe wird eine überkritische Menge Uran 235 oder Plutonium 239 durch Sprengstoff auf engem Raum zusammengebracht. Ab einem bestimmten Verhältnis von Masse zu Oberfläche des Spaltmaterials können Neutronen, die beim spontanen Zerfall einzelner Kerne entstehen, weitere Kerne im Material spalten, wobei diese wiederum einige Neutronen liefern. Es kommt zur nuklearen Kettenreaktion, in deren Verlauf immer weitere Kerne gespalten werden. Bei der Fusionsbombe wird zunächst eine Kernspaltungsbombe gezündet. Die dadurch im Inneren der Bombe erzeugten Drücke und Temperaturen reichen aus, um in dem enthaltenen schweren Wasserstoff (Deuterium) die Fusionsreaktion zu zünden. Durch den Atombomenabwurf auf Hiroshima starben von den ca. 310.000 Einwohnern der Stadt etwa 90.000‒140.000 Menschen durch die unmittelbare Explosionswirkung wie Druckwelle, Hitze, Strahlung und einstürzende Bauwerke, in Nagasaki waren es ca. 60.000‒80.000 Einwohner von rund 250.000. Seit 1950 werden von der Radiation Effects Research Foundation gemeinsam durch die USA und Japan Untersuchungen über die Sterblichkeit von Atombomenüberlebenden durchgeführt: Die sog. Life Span Study (LLS) untersuchte 120.321 Personen, von denen sich 93.741 zur Zeit der Explosion in Hiroshima oder Nagasaki aufhielten. Zwischen 1950 und 1990 sind von den 86.572 Personen, über die detaillierte Informationen vorlagen, 37.764 verstorben, davon 7.578 an Krebs und 249 an Leukämie. Die zu erwartenden Todesfälle liegen bei 7.578 durch Krebs und 239 an Leukämie, sodass 87 Leukämietodesfälle und 334 Krebstodesfälle auf die Strahlenexposition zurückzuführen sind. Nachbeobachtungen bis 1997 wurden 2003 veröffentlicht und zeigen keine weiterhin erhöhte Inzidenz von Leukämietodesfällen, wohl aber für Krebstodesfälle. Davon zu unterscheiden sind Anschläge mit einer sog. »dirty bomb«. Dabei wird radioaktives Material zusammen mit einem konventionellen Sprengsatz zu einem einzigen Sprengkörper verpackt; im Vergleich zu einer echten Atombombe bewirkt sie nicht deren enorme Sprengkraft, da keine Nuklearexplosion ausgelöst wird. Ziel ihres Einsatzes ist es, radioaktives Material über ganze Stadtteile zu zerstreuen und diese auf lange Sicht unbewohnbar zu machen. Eine solche Waffe ist daher eher zu den Chemiewaffen zu zählen. Im Gegensatz zu den chemischen Waffen jedoch tötet das strahlende Material nicht sofort, sondern erhöht die
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Kapitel 10 · Krebserkrankungen als Folge ionisierender Strahlung
Sterblichkeit längerfristig. Daher versuchen einige Experten die »dirty bomb« nicht zu den tödlichen Waffen zu rechnen. Nach einigen Experten jedoch können auch nur schwach verstrahlte Landstriche die Gefahr für Krebserkrankungen erhöhen. Der radioaktive Inhalt schmutziger Boben setzt sich aus strahlenden Substanzen zusammen, wie sie u. a. in der Industrie oder Medizin zum Einsatz kommen, wie z. B. radioaktives Spaltmaterial aus Kernkraftwerken oder radioaktive Stoffe aus medizinischen Geräten. Die Zutaten für schmutzige Bomben sind im Unterschied zu echten Kernwaffen also verhältnismäßig leicht zu beschaffen. In der Vergangenheit sind eine ganze Reihe von Strahlenunfällen dokumentiert worden. Das United States Department of Energy verfügt über die weltweit größte Sammlung von Strahlenunfällen im Rahmen des Radiation Emergency Assistance Center Training Sites (REACTS). Seit 1944 konnten in den USA 243 Strahlenunfälle mit 1.342 Opfern dokumentiert werden; weltweit waren es 403 mit 133.617 Opfern, von denen 2.965 einer signifikanten Strahlenbelastung ausgesetzt waren und 120 Personen verstarben. Die Explosion in Tschernobyl im Jahre 1987 exponierte mehr als 116.500 Personen und führte zu mindesten 28 Toten durch akute Strahlenkrankheit (Geiger 1986; Linnemann 1987). Während bei Strahlentherapien vor allem eine lokalisierte Strahlenbelastung zum Tragen kommt, tritt bei Strahlenunfällen oder -anschlägen in der Regel eine Ganzkörper-Strahlenbelastung auf. Dabei wird die Energie über den gesamten Körper absorbiert, und die Nebenwirkungen der Strahlung verändern die gesamte Physiologie und Reparaturmechanismen des Körpers. Der Einfluss auf den Körper ist dementsprechend viel schwerwiegender als nach einer lokalisierten Strahlenexposition. Die Ganzkörperstrahlenbelastung kann bei Dosen <2 Gy als subletal betrachtet werden, wobei Dosen von 2‒10 Gy als letale Dosen gelten (Browne et al. 1992). Ein wichtiger Unterschied muss insbesondere zwischen akuter und chronischer Strahlenbelastung gemacht werden. Zeitlich verzögerte oder aber auch sehr spät nach Strahlenexposition auftretende Nebenwirkungen können nach einem breiten Spektrum von Strahlendosen und Dosisraten auftreten. Verzögerte Nebenwirkungen können Monate bis Jahre nach Strahlenexposition auftreten; Formen der chronischen Strahlennebenwirkungen können Kataraktbildung, chronische Radiodermatitis, herabgesetzte Fertilität, genetische Mutationen und Krebsentstehung sein. Die Applikation einer definierten Strahlendosis mit einer sehr geringen Dosisrate, oder in einer Fraktionierung über einen längeren Zeitraum, erlaubt es dem Gewebe, Reparaturprozesse durchzuführen. Damit kann der Strahlenschaden der durch eine Applikation der Gesamtdosis in einer einzelnen Fraktion erwartet würde, deutlich reduziert werden. Als die Sowjetunion ihr Kernwaffenprogramm entwickelte, war eine große Anzahl von Arbeitern jährlichen Strahlendosen von 2‒4,5 Gy ausgesetzt; es konnte bei 1.596 Arbeitern ein chronisches Strahlensyndrom diagnostiziert werden, definiert als ein Symptomenkomplex, der nach Langzeitexposition nach einer Strahlendosis, die zulässige »occupational dose« überschritten hat. Der klinische Verlauf zeichnete sich durch Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Konzentrationsstörungen und Gedächtnisstörungen, Kopfschmerzen sowie Schwindel und Ataxien aus; weiterhin zeigten sich neuroregulatorische Störungen, Leukopenien und Thrombozytopenien; in schweren Verläufen kamen Anämien, atrophische Veränderungen im Gastrointestinaltrakt,
Enzephalomyelitiden und Infektionen durch Immunsuppression dazu. Die akute Strahlenkrankheit teilt sich in eine definierte Sequenz von Symptomen, deren Ausprägung sowie Auftreten von der individuellen Strahlenempfindlichkeit, der Strahlenart und der Strahlendosis abhängig ist. Nach Ganzkörperbelastung entwickelt sich die Strahlenkrankheit in mehreren Phasen, abhängig von der erhaltenen Strahlendosis. Eine Minimaldosis zur Auslösung der Strahlenkrankheit ist nicht bekannt, jedoch weiß man, dass sie durch niedrige Dosen wie 1 Gy getriggert werden kann, bei Dosen über 6 Gy ist ihr Eintritt sicher (Finch 1987). Je höher die Strahlendosis desto höher ist die Wahrscheinlichkeit des Auftretens und die Schwere der Erkrankung. Nach einer latenten Phase von bis zu 2,5 Wochen folgt die Prodromalphase, in der die schnell proliferierenden Zellen des hämatopoetischen und gastrointestinalen Systems absterben. Die nachfolgende klinische Phase entspricht den klinischen Organmanifestationen, vor allem in gastrointestinalen, hematopoetischen, vaskulären, neurologischen und kutanen Manifestationen. Das Ende der klinischen Phase ist gekennzeichnet durch Erholung von den Schäden oder, im schlimmsten Fall, durch den Tod des Opfers. Im Falle des Überlebens schließt sich eine Erholungsphase an, die Wochen oder Monate umfassen kann. Neben der Strahlenwirkung nach einer Nuklearexplosion können Personen auch durch die freigesetzte Wärme, den Explosionsdruck oder den ballistischen Effekt der Explosion geschädigt werden. Zusätzlich kann durch den grellen sichtbaren, aber auch unsichtbaren infraroten Blitz der Explosion Blindheit entstehen (Jarrett 2001; National Academy of Sciences 1963). Des Weiteren kann durch den radioaktiven Staub eine schwere Pneumonitis ausgelöst werden (Gibson et al. 1988; Salovsky et al. 2000), mit nachfolgender Lungenfibrose (Andersson 1997). Hautreaktionen nach einer solchen Explosion umfassen Verbrennungen und Strahlendermatitis (Jarrett 2001), diese können akut aber auch nach einer Latenz von mehreren Tagen auftreten. Als chronische Folgen der Strahlenkrankheit können sich Keratosen, Fibrosen und Teleangiektasien auch noch nach Jahren bilden (Peter et al. 1944; Gottlober et al. 2000). Eine Reihe klinisch-neurologischer Symptome tritt nach Strahlenbelastung auf, insbesondere Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel. Krampfanfälle können schon wenige Minuten nach der Exposition auftreten und sind ein klinisches Zeichen für supraletale Strahlendosen. Das bedrohlichste klinische Bild des Strahlenschadens ist das sog. neurovaskuläre Syndrom, das in der Regel mit höheren Strahlendosen von 20‒40 Gy assoziiert ist. Generell gelten Nervengewebe und Gefäße als strahlenresistent, jedoch können bei hohen Dosen klinisch signifikante Schäden auftreten. Die Entwicklung des neurovaskulären Syndroms ist mit einer hohen Mortalität assoziiert. Vaskuläre Dekompensation, epileptische Anfälle sowie nachfolgender Tod des Opfers sind die typischen Manifestationen. Überlegungen, welche Schäden und Folgen mit einem nuklearterroristischen Anschlag einhergehen würden, basieren vor allem auf historischen Daten von Hiroshima und Nagasaki sowie der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Während in Hiroshima und Nagasaki eine blitzartige Explosion mit wenig Kontamination durch Fallout handelt, stellt die Katastrophe von Tschernobyl eine klassische Fallout-Kontamination mit Ingestion der strahlenden Substanzen dar. Es wurde nachgewiesen, dass die Radioaktivität in der Größenordnung der natürlichen Strahlenbelastung keine mess-
253 10.6 · Nuklearterrorismus
baren Effekte auf die Krebsentstehung hat. Studien aus England konnten jedoch zeigen, dass pränatale Strahlenexposition, im Rahmen von Röntgendiagnostik, in Höhen von 10‒20 mGy eine klare Assoziation mit der Entstehung von kindlichen Tumoren zeigt. Die Oxford Childhood Mortality Study ergab eine Inzidenz von Leukämien und soliden Tumoren bei Kindern, die 40% über der natürlichen Inzidenz lag. Man ging daher davon aus, dass auch nach Strahlenunfällen wie in Tschernobyl dieses Risiko erhöht sein müsste. Bis heute können jedoch in verschiedenen Regionen um das Katastrophengebiet keine signifikant erhöhten Raten für Leukämien bei Kindern beobachtet werden. Sicherlich kann man aus diesen Daten nicht schließen, dass die derzeit angenommenen Risikowerte überschätzt sind, jedoch zeigt sich im Vergleich dieser Daten mit den Daten der Oxford-Studie, dass es ein unterschiedliches prä- und postnatales Risiko gibt. Aus Studien über Hiroshima und Nagasaki sowie Teststudien an Nuklearwaffen in Utah wissen wir, dass das maximale Risiko während der ersten 12 Jahre nach Strahlenexposition besteht, und zwar für Leukämien sowie für Schilddrüsenkarzinome. Für Schilddrüsenkarzinome konnte eine starke Assoziation zwischen Strahlendosis und Tumorrate beobachtet werden (Hempelmann et al. 1967; Hempelmann 1967, 1968; Refetoff et al. 1975). Besonders in Weißrussland konnte eine dramatisch hohe Karzinomrate dokumentiert werden als Folge der Kontamination mit radioaktiven Jodisotopen (Rabenhorst et al. 1998; Ivanov 1997a,b,c; Pacini et al. 1997, 1998). Dabei waren insbesondere Kinder betroffen; nach etwa 5 Jahren kam es bei Kindern zu einer nahezu 100-fach erhöhten Zunahme von Schilddrüsenkarzinomen, insbesondere vom papillären Typ (Kazakov et al. 1992). Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, im Falle eines nuklearterroristischen Anschlages Patienten adäquat zu betreuen, um Folgeschäden zu minimieren. Dabei sollte zu einem frühen Zeitpunkt die Lymphozytenzahl im Blut bestimmt werden, die als guter Labormarker für den Grad der Strahlenbelastung gilt und eine enge Korrelation mit der Prognose der Opfer zeigt. Lymphozytenzahlen von >1.200 mm3 48 Stunden nach der Exposition versprechen eine gute Prognose, während Lymphozytenzahlen zwischen 300 mm3 und 1.200 m3 mit einer moderaten Prognose, und Zahlen <300 m3 mit einer sehr schlechten Prognose einhergehen. Wegen des direkten und substanziellen Einflusses der Strahlung auf das Knochenmark kann es therapeutisch notwendig werden, Opfer größerer Strahlendosen mit einer Knochmarktransplantation zu behandeln. Die ersten drei wichtigen Ziele in der Behandlung von Strahlenopfern sind immer zu beachten: 4 Rettung des Opfers; 4 Beseitigung der Kontaminationsquelle oder Strahlenquelle vom Patienten; 4 Prävention der Kontamination und Strahlenexposition des medizinischen Personals.
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Dabei muss man prinzipiell drei Kontaminationsarten unterscheiden: 4 Strahlung: Opfer, die einer Strahlung ausgesetzt waren, stellen in der Regel keine Gefahr für Ihre Umwelt dar, da sie nicht radioaktiv kontaminiert sind. 4 Interne Kontamination: Diese kann durch Inhalation, Ingestion oder Absorption von Radioisotopen entstehen. In der Regel stellen diese Opfer keine Gefahr für ihre Umwelt dar. Wichtig ist es hierbei, kontaminierte Oberflächen zu spülen, und durch bronchoalveoläre Lavage oder Magenspülungen die Absorption der inokkulierten Substanzen zu minimieren sowie andere geeignete Maßnahmen zur Exkretion der Substanzen einzuleiten. 4 Externe Kontamination: Hierbei ist es wichtig, alle Kleidungsstücke und persönlichen Gegenstände zu entfernen und separat sicher zu lagern sowie das Opfer zu dekontaminieren. Für schwerwiegende Strahlenschäden ist die stationäre medizinische Behandlung unerlässlich, die Patienten eng überwachen und symptombezogen versorgen muss. Es ist nicht nur wichtig, im Rahmen der Triage am Unfallort die Opfer zu bergen und weitere Kontamination zu verhindern, sondern nachfolgend müssen spezielle medizinische Abteilungen für die Behandlung der Opfer vorhanden sein, deren medizinisches Personal für die Behandlung von Strahlenopfern geschult ist und regelmäßig den Einsatz innerhalb eines solchen Notfallszenarios trainiert. Jedoch ist es auch essenziell, dass nicht nur im medizinischen Bereich, sondern auch im Bereich der übrigen Sicherheitskräfte für die Katastrophenbewältigung standardisierte Notfallpläne vorhanden sind, die den beteiligten Personen bekannt sind und die in einer solchen Katastrophe greifen. Dabei müssen Abläufe und Handlungsmaßnahmen festgelegt und auch im Rahmen von Katastophenübungen trainiert werden. Solche Notfallpläne existieren in unterschiedlicher Weise; in den USA sowie auch in Europa gibt es sowohl von der Regierung als auch von den radiologischen und radioonkologischen Fachgesellschaften Arbeitsgruppen, die vorhandene Expertise nutzen, um diese Pläne zu erstellen und zu verbreiten. Sicherlich erscheint das Gesamtrisiko für einen Strahlenunfall oder einen nuklearterroristischen Anschlag gering, jedoch sollten zumindest die Grundbegriffe der Dekontamination bekannt sein, sodass im entscheidenden Fall früh geholfen werden kann. Für medizinisches Personal sollten langfristig spezielle Aktionspläne eingeführt werden, die das Prozedere nach chemischen, biologischen, nuklearterroristischen oder auch konventionellen terroristischen Anschlägen definieren und die im entscheidenden Moment einsatzbereit sind. Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
11 Hormone und Krebs B. Grasl-Kraupp, W. Bursch, R. Schulte-Hermann
11.1
Physiologische und molekulare Wirkungsweise der Hormone
11.2
Allgemeine Mechanismen der kanzerogenen Wirkung von Hormonen – 259
11.3
Mammakarzinom
11.4
Endometriumkarzinom
11.5
Karzinom des Ovars
11.6
Prostatakarzinom – 267
11.7
Hodentumor – 269
11.8
Schilddrüsenkarzinom – 270 Literatur – 271
– 262 – 266
– 266
– 255
255 11.1 · Physiologische und molekulare Wirkungsweise der Hormone
> Einleitung
11.1
11
Tumoren in hormonabhängigen Organen gehören zu den weltweit häufigsten Ursachen von Krebserkrankungen; zu ihnen zählen vor allem die Mamma-, Endometrium-, Prostataund Hodenkarzinome. Die Hormonwirkung auf die Zielzelle wird durch Rezeptoren vermittelt. Viele Hormone lösen in ihrem Zielgewebe Zelldifferenzierung und/oder Zellvermehrung aus. Hormone besitzen meist keine nachweisbare mutagene Wirkung. Nur für wenige Hormone, darunter einzelne Östrogene, wird ein tumorinitiierendes Potenzial diskutiert. Der wichtigste Hormoneffekt in der Karzinogenese dürfte die wachstumsstimulierende Wirkung im Zielorgan sein, die präferenziell präneoplastische Zellen betrifft und diese zu selektivem Wachstum anregt. Hormone wirken somit als Tumorpromotoren, z. B. Östrogene und Gestagene in der Brustdrüse oder Testosteron in der Prostata. Krebs wird durch multiple Risikofaktoren hervorgerufen. So führen ererbte Mutationen der BRCA1- und BRCA2-Tumorsuppressorgene zu einer starken Zunahme des Risikos, an Brust- oder Ovarialkarzinomen zu erkranken. Es gibt bestimmte Lebensabschnitte, in denen ein hormonabhängiges Organ besonders empfindlich auf mutagene Schädigungen oder Störungen hormonaler Gleichgewichte reagiert. Die Rückbildung des Müller-Ganges während der Embryogenese, der Deszensus des Hodens in der Fetalzeit und die Entwicklung der Brustdrüse in der Pubertät sind als solch kritische Phasen erkannt worden, in denen sich Genschädigungen oder Fehlbildungen im Sinne einer Tumorinitiation auswirken können. Die Hormonwirkung wird auch durch den Lebensstil beeinflusst. In der Nahrung wurden Pflanzeninhaltsstoffe identifiziert, die als Liganden an eine Subform des Östrogenrezeptors binden und dort agonistische oder antagonistische Wirkung entfalten. In der Nahrungskette reichern sich Umweltchemikalien an, die, wie z. B. DDT, ebenfalls Liganden des Östrogenrezeptors sind. Ein signifikanter Beitrag dieser »Umweltöstrogene« zur Krebsentstehung ist allerdings wenig wahrscheinlich. Dagegen hat der Kaloriengehalt der Nahrung einen deutlichen Einfluss auf endogene Hormonspiegel und damit auf die Krebsinzidenz.
Physiologische und molekulare Wirkungsweise der Hormone
11.1.1 Physiologische Wirkungsweise der Hormone
Hormone fungieren als chemische Botenstoffe, die in endokrinen Organen gebildet werden und über den Blutweg ihre Zielorgane erreichen. Dort steuern sie Lebensfunktionen wie Stoffwechsel, Reifung, Wachstum u. a. m. Hormone und ihre Rezeptoren passen aufgrund ihrer chemischen Struktur wie »Schlüssel und Schloss« zueinander, wodurch die Spezifität der Wirkung des Boten auf die Zielzelle gewährleistet wird. Manche Hormone, wie z. B. das Stresshormon Adrenalin, rufen rasche und kurzfristige biochemische/biologische Reaktionen hervor. Andere Hormone, wie die große Gruppe der Steroidhormone, induzieren oft länger andauernde Veränderungen in ihren Zielorganen, die oftmals eine Reaktion auf veränderte Funktionen des Organismus darstellen, wie z. B. eine Vergrößerung der Geschlechtsorgane in der Pubertät durch Zellvergrößerung und/oder Zellvermehrung (Bursch et al. 1991; Isaacs 1998; Russo u. Russo 2000). Eine Reihe dieser Steroidhormone, wie z. B. Östrogene, Gestagene, Androgene, aber auch Wachstums- und Schilddrüsenhormone sind entscheidend an der Krebsentstehung beteiligt. Die physiologischen und auch die pathologischen Reaktionen der Zielzelle auf die Einwirkung dieser Hormone erfolgen meist über Bindung an Hormonrezeptoren. Ändert sich die Hormonkonzentration, ist das ein Signal, via Rezeptor das Genexpressionsmuster in der Zelle zu ändern (Cheskis et al. 2007; Heemers u. Tindall 2007; Heldring et al. 2007).
11.1.2 Molekulare Wirkungsweise der Hormone
Funktionelle Domänen der Steroidhormonrezeptoren Steroidhormone passieren als lipophile Substanzen die Zellmembran via Diffusion, mittels rezeptorvermittelter Endozytose oder anderer teilweise noch nicht vollständig geklärter Mechanismen und binden im Zytoplasma reversibel an hormonspezifische Rezeptorproteine (. Abb. 11.1). Diese Hormonrezeptoren bilden eine große Proteinfamilie mit mehreren Subgruppen und ungefähr 150 Mitgliedern. Die verschiedenen Rezeptorsubtypen binden neben den Steroidhormonen auch noch viele andere Liganden, wie z. B. Retinoide, Vitamin D3 oder Schilddrüsenhormon. Für manche der Rezeptoren konnte bisher noch kein Ligand identifiziert werden [»Orphan«-(Waisen-)Rezeptoren]. Funktionell handelt es sich bei den Hormonrezeptoren um ligandenabhängige Transkriptionsaktivatoren (Cheskis et al. 2007; Heemers u. Tindall 2007; Heldring et al. 2007). Die Mitglieder der Hormonrezeptor-Superfamilie bestehen im Prinzip aus mehreren Domänen mit unterschiedlichen Funktionen (. Abb. 11.1). Mechanismen der Transkriptionsaktivierung Manche Steroidhormone können nach Eindringen in die Zelle direkt an den Hormonrezeptor binden, andere müssen erst zu dem eigentlichen Liganden verstoffwechselt werden, wie z. B. Testosteron, das durch das Enzym 5α-Reduktase zu dem Androgenrezeptor(AR)-Ligand Dihydrotestosteron umgewandelt wird. Die Bindung des Hormons führt zu Konformationsänderung des Rezeptors und Dissoziation eines »Heatshock-Proteins« (Transformation des Rezeptors). Die Hormon-Rezeptor-
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11
Kapitel 11 · Hormone und Krebs
Komplexe translozieren in den Kern und lagern sich als Dimere an DNA-Regionen mit spezifischen Erkennungsstrukturen, sog. hormonresponsive Elemente (-RE) an, die sich in der Promotorregion der Zielgene der Hormonwirkung befinden. Es handelt sich dabei um DNA-Bindungsmotive, die sich aus zwei Komponenten zusammensetzen, die in unterschiedlicher Orientierung zueinander angeordnet sein können (Palindrom). Bindet ein Hormon-Rezeptor-Komplex an ein -RE, wird das Gen in der Regel aktiviert. Der molekulare Mechanismus der Transkriptionsaktivierung ist am Beispiel des Östrogenrezeptors (ER) in . Abb. 11.2 näher erläutert. Bei den aktivierten Genen handelt es sich u. a. um sog. »early genes« (z. B. c-FOS, c-JUN), die Transkriptionsfaktoren für nachgeschaltete Zielgene (»late genes«) kodieren, die den eigentlichen hormonspezifischen biochemischen/biologischen Effekt bewirken (Cheskis et al. 2007; Heemers u. Tindall 2007; Heldring et al. 2007).
. Abb. 11.1. Schematische Darstellung des Aufbaus der Hormonrezeptoren. Die N-terminalen Domänen (A/B) mit der Aktivierungsfunktion (AF-1) variieren unter den Rezeptoren am meisten. AF-1 kann unabhängig davon, ob ein Ligand gebunden ist, durch Phosphorylierung aktiviert werden. Die C-Domäne enthält die DNA-Bindungsstelle, die spezifische palindromische Bindungssequenzen in der DNA, sog. hormonresponsive Elemente (-RE), erkennt. Sie besteht aus zwei Zinkfingerstrukturen, die die Bindung an das -RE ermöglichen und in Kombination mit der D-Box zur Dimerisierung führen. In dieser Domäne befindet sich außerdem ein Kernlokalisierungssignal. Die D-Domäne ist an der Bindung von koregulatorischen Proteinen beteiligt. Die C-terminalen Domänen E und F beinhalten die Ligandenbindungsdomäne und eine Domäne mit ligandenabhängiger transaktivierender Funktion (AF-2). AF-1 und AF-2 agieren oft synergistisch, können aber auch unabhängig voneinander wirksam werden
Antihormone und selektive Hormonrezeptormodulatoren Es gibt synthetische Hormonrezeptorliganden mit partiell agonistischer bzw. partiell antagonistischer Wirkung. So entfalten Substanzen wie Hydroxytamoxifen, Toremifen, Droloxifen oder Idoxifen (. Abb. 11.3) östrogenartige Effekte vor allem in Uterus und/oder Knochen, wirken aber an der Brustdrüse als Östrogenantagonisten. Andere Substanzen, wie z. B. Raloxifen, GW 5638 oder CP 336.156, besitzen östrogene Wirkung überwiegend im Knochen und antiöstrogene Effekte in Brustdrüse
. Abb. 11.2a,b. Schematische Darstellung der Transkriptionsaktivierung durch Hormone und deren Blockade durch Antagonisten am Beispiel des Östrogenrezeptors. a Nach Diffusion des Östradiols (E) in das Zytoplasma erfolgt durch die Hormonbindung an den Rezeptor (R) und Abdissoziation eines Schutzproteins (»heat-shock protein«, HSP) eine Konformationsänderung des Rezeptor-Liganden-Komplexes und eine Translokation in den Kern. Als Dimere binden die ligandenbesetzten Rezeptoren an Östrogen-reponsive Elemente (ERE). Bei Bindung eines Rezeptoragonisten kommt es zur Interaktion der AF2-Domäne des Rezeptors mit Koaktivatoren (CoA) aus der p160-Proteinfamilie, was die Rekrutierung von weiteren Transkriptionsaktivatoren und von HistonAzetyltransferasen (HAT) ermöglicht. Durch die Histon-Azetylierung er-
folgt eine Auflockerung der Chromatinstruktur und die Anlagerung von Proteinen der Transkriptionsmaschinerie, z. B. der RNA-Polymerase II (POL II). Die Interaktion zwischen Rezeptor-Liganden-Komplex und dem allgemeinen Transkriptionskomplex wird durch Proteine der TRAP220 (»thyroid hormone receptor-associated proteins 220«) vermittelt. b Nach Bindung eines Antagonisten (A) an den Hormonrezeptor transloziert der Komplex in den Kern und bindet an ERE. Der gebundene Antagonist verändert die 3-dimensionale Konfiguration des Rezeptors, sodass die Assoziation von Korepressoren (CoR) und die Rekrutierung von Histon-Deazetylasen (HDAC) ausgelöst werden. Bedingt durch die dichte Chromatinstruktur ist eine Anlagerung des Transkriptionskomplexes nicht mehr möglich
257 11.1 · Physiologische und molekulare Wirkungsweise der Hormone
11
. Abb. 11.3. Struktur und relative östrogene Potenz von natürlichen und synthetischen Liganden des ER. PCB polychloriertes Biphenyl; DDT Dichlordiphenyltrichlorethan; blau: Alkylaminoethoxyseitenketten
und Gebärmutterschleimhaut. Diese Stoffklasse, wegen ihrer unterschiedlichen Wirkung als selektive ER-Modulatoren benannt (SERM), ermöglicht eine relativ organspezifische Hormontherapie (Lewis u. Jordan 2005; Deroo u. Korach 2006; Cheskis et al. 2007). Zusätzlich existieren komplette Antiöstrogene, z. B. ICI 182.780, die in allen Organen die Wirkung endogener Östrogene blocken. Auch für andere Steroidhormonrezeptoren gibt es komplette Antagonisten oder inkomplette Antagonisten mit partiell agonistischer Wirkung, wie z. B. selektive Progesteronrezeptormodulatoren (SPRM) oder selektive Androgenrezeptormodulatoren (SARM; Leo u. Lin 2008; Kilbourne et al. 2007). Strukturanalysen zeigen verschiedene 3D-Konfigurationen der SERM-Rezeptorkomplexe. Die unterschiedlichen Alkylaminoethoxyseitenketten (. Abb. 11.3) der SERM scheinen mit variabler Ausprägung die Funktion von AF-2 und von Koaktivatoren zu behindern (Lewis u. Jordan 2005; Deroo u. Korach 2006; Cheskis et al. 2007; . Abb. 11.2). Komplette Östrogenantagonisten wirken wahrscheinlich durch Inaktivierung von AF-1 und
AF-2. SERM vom Raloxifentyp scheinen allerdings weder mit AF-1 noch mit AF-2 zu interagieren, sodass die Vermutung naheliegt, dass noch andere Mechanismen bei partiellen ER-Antagonisten wirksam werden (. Abb. 11.2b). Hormonrezeptorvarianten Die Entdeckung eines zweiten, von einem anderen Gen kodierten ER (ERβ) hat zu neuen, wesentlich differenzierteren Vorstellungen über die Wirkungsweise von Östrogen-ER-Komplexen geführt (Imamov et al. 2005; Zhao et al. 2008). ERβ ist mit dem ursprünglich entdeckten ERα hochgradig homolog, sein N-Terminus ist jedoch verkürzt und besitzt daher eine schwach ausgeprägte Transkriptionsaktivierungsfunktion (AF-1). 17β-Östradiol bindet an beide Rezeptoren mit ähnlicher Affinität. Es gibt allerdings Östrogene, die präferenziell an die α-Form binden, während manche Pflanzeninhaltsstoffe (»Phytoöstrogene«), wie z. B. Genistein, überwiegend Liganden des β-Rezeptors sind (Kuiper et al. 1996; Imamov et al. 2005; 7 Abschn. 11.2.4). Eine
258
11
Kapitel 11 · Hormone und Krebs
relativ hohe Konzentration von ERα findet sich in Gebärmutter, Hypophyse, Ovar und Leber, während die β-Form in Knochen, Urogenitaltrakt und ZNS stark exprimiert wird. Es gibt viele Gewebe, in denen beide Formen überwiegend als Heterodimer vorkommen, wie z. B. die Brustdrüse (Imamov et al. 2005; Zhao et al. 2008). ERα und ERβ entfalten unterschiedliche transkriptionelle Aktivität in Abhängigkeit von der Art des Liganden, der Zelle und weiterer regulierender Elemente in der Promotorregion des Zielgens. An alternativen Promotorregionen im ERα- und ERβ-Gen bzw. durch alternatives Splicing können zahlreiche weitere ERα- und ERβ-Isoformen entstehen, die die östrogenvermittelte Genexpression auf unterschiedliche Weise modulieren können (Zhao et al. 2008). Zusätzlich existieren »Orphan«-(Waisen)-Rezeptoren, sog. »Estrogen-related«Rezeptor α und β (ERRα und ERRβ), die ohne Ligand, d. h. östrogenunabhängig an östrogenresponsive Elemente (ERE) binden und als Transkriptionsfaktoren wirken; ihre Interferenz mit der Wirkung der klassischen Hormonrezeptoren ist sehr wahrscheinlich (Vanacker et al. 1999). Entsprechend diesen Beobachtungen entscheidet eine Vielzahl von Faktoren über Qualität und Quantität der Wirkung des Hormon-Rezeptor-Komplexes. Das Progesteronrezeptorgen kodiert ebenfalls für mindestens zwei verschiedene Rezeptorisoformen, die Variante A und die um 165 Aminosäuren längere Variante B. In vivo sind die beiden Varianten meist koexprimiert, ihr Verhältnis kann jedoch teilweise sogar innerhalb des gleichen Gewebes in Abhängigkeit vom physiologischen Zustand stark schwanken, wie z. B. im Endometrium in den verschiedenen Phasen des Zyklus. Generell ist die B-Variante der stärkere transkriptionelle Aktivator, während die A-Variante auf die B-Variante inhibierend wirkt. So werden die gestagenspezifischen Effekte z. B. in der Gebärmutterschleimhaut überwiegend durch die transkriptionelle Aktivität der B-Rezeptorform hervorgerufen (Li et al. 2005). Das AR-Gen kodiert für mindestens zwei verschiedene Splicevarianten, denen noch keine spezifischen Funktionen zugeschrieben werden konnten. Weitere Mechanismen der Transkriptionsaktivierung Neben dem klassischen Steroidhormon/Rezeptor-induzierten Signalweg sind noch weitere molekulare Mechanismen der Transkriptionsaktivierung durch Östrogene, andere Steroidhormone und deren Rezeptoren beschrieben worden (. Abb. 11.4). Vermutlich wird infolge der Anlagerung des ligandengebundenen Rezeptorkomplexes die räumliche Organisation der DNA so modifiziert, dass z. B. die AP-1-Erkennungssequenz für die entsprechenden Transkriptionsfaktoren (c-JUN/c-FOS-Heterodimere) zugänglich wird. Am N-Terminus der Hormonrezeptoren liegt die Transaktivierungsdomäne AF-1, die ligandenunabhängig durch die MAPK (Mitogen-aktivierte Proteinkinase) phosphoryliert und damit aktiviert werden kann (. Abb. 11.1). Hormon-Rezeptor-Komplexe können auch die transkriptionelle Aktivität von Genen beeinflussen, die kein -RE in der Promotorregion aufweisen. So kann ein ligandengebundener ER direkt mit anderen DNA-gebundenen Transkriptionsfaktoren wie c-FOS/cJUN-Dimeren, NFkB, oder SP1- interferieren und damit Gene an- oder abschalten (Boulware u. Mermelstein 2005; Warner u. Gustafsson 2006). Zunehmend werden auch »nichtgenomische« Wirkungsmechanismen der Steroidhormone bekannt, d. h. Effekte abseits der Wirkung des Hormon-Rezeptor-Komplexes an der DNA im Zell-
. Abb. 11.4. Quervernetzung der hormonvermittelten Transkriptionsaktivierung mit intrazellulären Signaltransduktionswegen. (1) Durch Interaktion mit -RE induziert der Hormon-Rezeptor-Komplex eine sterische Veränderung in der DNA, die es c-FOS/c-JUN-Dimeren ermöglicht, sich an AP1 Bindungsstellen anzulagern. (2) Hormon-Rezeptor-Komplexe können auch direkt mit c-FOS/c-JUN-Dimeren oder anderen Transkriptionsfaktoren interagieren und Gene ohne -RE in der Promotorregion aktivieren. (3) Wechselwirkungen von Hormonen mit Zellmembran-gebundenen Hormonrezeptoren können den RAS/RAF1/MEK/MAP-Kinase Signalweg starten oder die Adenylatzyklase (AC) aktivieren. (4) Interagiert das Steroidhormon mit G-Protein-gekoppelten Rezeptoren (GPCR), kann via AC c-AMP ansteigen, die Proteinkinase A (PKA) aktiviert und die Genexpression beeinflusst werden
kern (. Abb. 11.4; Mhyre u. Dorsa 2006; Hammes u. Levin 2007; Kampa et al. 2008). Zellmembranen verfügen über membrangebundene ERα und ERβ, die bei Aktivierung innerhalb von Minuten zum Anstieg von cAMP oder zur Aktivierung des MAP-Kinase-Signalweges führen. Zudem können Hormonrezeptoren direkt mit der Proteintyrosinkinase SRC interagieren und auch dadurch die MAPK-Signalkaskade in Gang setzen. Ebenso wurde eine direkte Interaktion von nicht gebundenen Steroidhormonen mit G-Protein-gekoppelten Rezeptoren und nachgeschalteter Aktivierung der Adenylatzyklase, der Phospholipase C oder auch von Ionenkanälen beschrieben. Es wird vermutet, dass die nichtgenomischen Effekte an der Zellmembran der raschen Auslösung hormonspezifischer Effekte dienen. Im Gegensatz dazu benötigt der transkriptionell aktive Hormon-Rezeptor-Komplex im Zellkern oft viele Stunden, um seine biochemisch-biologische Wirkung zu entfalten. Die zahlreichen Quervernetzungen der Hormonrezeptor-induzierten Transkriptionsaktivierung mit anderen intrazellulären Signalwegen erklären, dass die Hormonwirkung durch andere Mediatoren mittels »Rezeptor-Crosstalk« imitiert werden kann. So wurde beobachtet, dass alleinige Behandlung mit Epidermal Growth Factor (EGF) in ovariektomierten Tieren Wachstum in Endometrium und Vaginalschleimhaut auslöst (Ignar-Trowbridge et al. 1992). Offensichtlich können Hormone unter bestimmten Bedingungen durch Wachstumsfaktoren ersetzt werden, die vielfach von Stromazellen gebildet werden. Dieser »Crosstalk« spielt auch bei der Progression von Tumoren zum hormonunabhän-
259 11.2 · Allgemeine Mechanismen der kanzerogenen Wirkung von Hormonen
gigen Phänotyp eine Rolle (7 Abschn. 11.3.2, 11.6.2). Wachstumsfaktoren, wie z. B. EGF, Transforming Growth Factor α (TGFα) oder Insulin-like Growth Factor I (IGF-I) und die dazugehörenden Rezeptoren, werden dann vom Tumor vermehrt exprimiert und ersetzen zunehmend die Wachstumsstimulation durch Hormone (Pandini et al. 2007; Zhu u. Pollard 2007).
11.2
Allgemeine Mechanismen der kanzerogenen Wirkung von Hormonen
Tierexperimentelle Studien haben überzeugend belegt, dass bestimmte Hormone Tumoren induzieren können: Beispielsweise entstehen Mammatumoren bei Hunden oder Hypophysentumoren bei Nagetieren nach Langzeitbehandlung mit Östrogenen und/oder Gestagenen sowie Prostatakarzinome nach längerer Verabreichung von Testosteron. Generell erfordert diese Hormonwirkung hohe Dosen und lange Behandlungszeiten. Einige Arzneimittel und andere chemische Substanzen, die die endogene Hormonsynthese verändern, aber auch idiopathische Störungen des hormonellen Gleichgewichts können ebenfalls Tumoren hervorrufen. Somit wird eine Anzahl von Hormonen und hormonal wirksamen Stoffen ebenso wie andere Krebsrisikofaktoren als kanzerogen bei Tier und (teilweise) Mensch eingestuft (IARC 1979, 1999). Angesichts der Tatsache, dass im Stoffwechsel des Menschen potenzielle Kanzerogene entstehen, sind wichtige Fragen zu beantworten: Auf welchem Mechanismus beruht die kanzerogene Wirkung der Hormone? Gibt es individuelle Unterschiede, die den Einzelnen für die potenziell kanzerogene Wirkung der Hormone empfänglich machen? Die folgenden Kapitel gehen diesen entscheidenden Fragen nach. 11.2.1 Karzinogenese als mehrstufiger Prozess
In jedem Gewebe können präneoplastische Zellpopulationen durch mutagene Noxen wie chemische Substanzen, Strahlung oder Viren, aber auch »spontan« aus unbekannter Ursache entstehen (Tumorinitiation). Tumorpromovierende Stoffe entfalten eine wachstumsstimulierende Wirkung nicht nur auf gesunde, unveränderte Zellen, sondern präferenziell auf Präneoplasien und führen damit zur selektiven Vermehrung dieser Zellen. Ein wichtiger Vorgang in der Karzinogenese ist die abnorme Wachstumsreaktion der präneoplastischen Zielzelle. Sie bewirkt, dass ein natürlich vorkommender Wachstumsfaktor selbst bei physiologischen Konzentrationen zu einem »Tumorwachstumsfaktor« werden kann (Grasl-Kraupp et al. 2000; Pitot et al. 2000; Russo u. Russo 1998; Marks et al. 2007). Im Verlauf eines langjährigen Wachstums von Tumorvorstadien entstehen durch Mutation und Selektion maligne, metastasierende Tumoren (Progression). 11.2.2 Hormone als Tumorinitiatoren
Bei den meisten Tumoren in hormonabhängigen Organen sind die gentoxischen Noxen, die zur Initiation der Karzinogenese führen, noch nicht näher identifiziert. Im folgenden Kapitel werfen wir die Frage auf, ob Hormone selbst ein tumorinitiierendes Potenzial aufweisen können.
11
DNA-reaktive Metabolite der Katecholöstrogene als potenzielle Tumorinitiatoren Östradiol wird im Organismus über verschiedene Abbauwege metabolisiert, die durch externe Faktoren wie Ernährung, Rauchen, Sport und Medikamente wie L-Thyroxin und H2-Blocker induziert oder auch unterdrückt werden. Erfolgt eine Hydroxylierung an C2 oder C4, entstehen sog. Katecholöstrogene, die zwischen der Katecholform (Hydrochinon mit zwei OH-Gruppen in Position C3 und C2 bzw. C4) und der Chinonform (zwei Ketogruppen in Position C3 und C2 bzw. C4) ein »Redoxcycling« durchlaufen können (. Abb. 11.5). Als Intermediärprodukte fallen Semichinone unter Bildung von freien Radikalen an. Letztere können mit der DNA reagieren und Schädigungen verursachen. Die während des Redoxcycling gebildeten Chinone binden in vitro kovalent an die DNA (Liehr 2000; Cavalieri et al. 2006). Eine Studie wies Katecholöstrogen-Addukte in der DNA von humanem Brustdrüsengewebe nach (Embrechts et al. 2003). 4-OHMetabolite führen zu promutagenen «apurinic sites«, während die 2-OH-Östrogenmetaboliten DNA-Addukte bilden, die nicht oder nur schwach mutagen wirken (Cavalieri et al. 2006). Inzwischen wurde in vitro die Entstehung von Genmutationen durch Östradiol bzw. dessen 4-OH-Metabolite nachgewiesen (Liehr 2000; Cavalieri et al. 2006). Ob diese unter ganz speziellen Bedingungen durchgeführten In-vitro-Tests tatsächlich als prädiktiv für ein mutagenes und tumorinitiierendes Potenzial im Organismus angesehen werden können, ist bislang nicht geklärt. Auch für synthetisch hergestellte Liganden des ER, wie Diethylstilböstrol und Tamoxifen, ist ein Abbau über reaktive Semichinone und Adduktbildung an der DNA beschrieben worden (. Abb. 11.6). Da diese Aktivierungsreaktion einen aromatischen Ring im Steroidhormonmolekül benötigt, sind analoge Reaktionen bei Gestagenen und Androgenen nicht möglich. Genetische Varianten (Polymorphismen) von Enzymen des Östrogenabbaus, z. B. von Zytochrom-P450-Isoenzymen (P450), Katechol-O-Methyltransferase, oder Glutathion-S-transferaseIsoenzymen zeigen oft von der Norm abweichende Aktivitätsniveaus und können zu intrazellulären Konzentrationsverschiebungen bei 2-Hydroxy- und 4-Hydroxy-Östrogenen führen (Dawling et al. 2001). Mehrere Studien untersuchten, ob Polymorphismen von z. B. P450-1B1 oder der Katechol-OMethyltransferase mit einem veränderten Risiko für die Entwicklung von Mamma- und Endometriumkarzinomen assoziiert sind. Ein eindeutiger Zusammenhang konnte bisher nicht bewiesen werden. Mutationsbedingter Funktionsausfall von BRCA1 und BRCA2, die bei der Reparatur von DNA-Doppelstrangbrüchen mitwirken, erhöht das Krebsrisiko vor allem in hormonabhängigen Organen (7 Abschn. 11.3.2). Da Doppelstrangbrüche vor allem bei Einwirken von Sauerstoffradikalen entstehen, bleibt zu untersuchen, ob bei Vorliegen von mutiertem BRCA1 oder BRCA2 endogen entstehende DNA-reaktive Katecholöstrogene bei der Tumorentstehung kausal involviert sind. Synthetische Gestagene als mögliche Tumorinitiatoren in der Leber Bei einigen synthetischen Gestagenen wurde in den letzten Jahren Evidenz für ein gentoxisches Potenzial gefunden. In der Leber kann Zyproteronazetat zu einem reaktiven Metaboliten verstoffwechselt werden, der DNA-Addukte bilden und Reparatursynthese in humanen und Rattenhepatozyten auslösen kann. Die Aktivierung inkludiert eine am C3-Atom des Moleküls befindliche Ketogruppe, die sulfatiert wird. Es entsteht ein instabiles
260
Kapitel 11 · Hormone und Krebs
11 . Abb. 11.5. Bildung von DNA-reaktiven Metaboliten des Östrogens. 3,4-Östradiol kann via Semichinon- und Chinonform ein Redox-cycling
durchlaufen. Analoge Reaktionen können auch bei 2,3-Östradiol ablaufen (nicht gezeigt). P450 Zytochrom P450; E1 Östron, R=0; E2 Östradiol, R=OH
. Abb. 11.6. Diethylstilböstrol: Bildung eines DNA-reaktiven Metaboliten
Konjugat mit der Gefahr der Bildung eines reaktiven Carbonium Ions. Die entstehenden DNA-Addukte sind promutagen, da sie Mikrokerne bilden und die Hepatokarzinogenese in der Ratte zu initiieren vermögen. Andere synthetische Gestagene, wie Chlormadinonazetat und Megöstrolazetat, weisen dieselbe Ketogruppe am C3-Atom auf wie Zyproteronazetat. Die bisher vorliegenden Ergebnisse deuten auf qualitativ dem Zyproteronazetat ähnliche gentoxische Effekte dieser Gestagene hin (Brambilla u. Martelli 2002; Mattioli et al. 2004). Da beim Menschen kein tumorpromovierendes Potenzial von diesen Gestagenen auszugehen scheint und sich in Jahrzehnten klinischer Anwendung auch hoher Dosen keine Hinweise auf die Induktion von Lebertumoren gefunden haben, werden sie als nicht komplette Kanzerogene eingestuft und das Risiko bei Einnahme als akzeptabel angesehen. Tumorinitiation als mögliche Folge einer Diethylstilböstrol-induzierten Organfehlbildung Seit Ende der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde das synthetischen Östrogen Diethylstilböstrol (DES) (. Abb. 11.3 und . Abb. 11.6) bei drohendem Abort unter der Vorstellung eingesetzt, die Schwangerschaft zu erhalten. Ca. 20 Jahre später trat bei
Töchtern der mit DES behandelten Mütter nach der Geschlechtsreife eine sehr seltene Form von Vaginalkarzinomen auf (klarzelliges Adenokarzinom). Das Tumorrisiko lag etwa bei 1:1.000 behandelte Mütter (Melnick et al. 1987). Diese Erfahrungen mit DES belegen, dass transplazentare Karzinogenese beim Menschen möglich ist. Darüber hinaus illustrieren sie die ausgeprägte Empfindlichkeit der Geschlechtsdifferenzierung gegenüber Störungen der endokrinen Regulation. Bei männlichen Nachkommen wurde keine erhöhte Tumorinzidenz beobachtet, mit der möglichen Ausnahme von Hodentumoren (Abschn. 11.7). Die reproduktionstoxikologische Forschung hat Tests für Arzneimittel und andere Fremdstoffe entwickelt, die solche Katastrophen heute weitgehend verhindern können. Während der Organogenese werden die persistierenden Abschnitte des Müller-Ganges im weiblichen Embryo zu Tube, Uterus und oberer Vagina, die übrigen Abschnitte werden durch programmierten Zelltod (Apoptose) eliminiert. DES verhindert die vollständige Regression dieser Abschnitte, die somit in der Vagina als abnorme Zellgruppen verbleiben. Diese wurden bei 100% der DES-exponierten Töchter nachgewiesen (Hogan et al. 1987). Vermutlich interferiert DES mit der Müllerian Inhibiting
261 11.2 · Allgemeine Mechanismen der kanzerogenen Wirkung von Hormonen
Substance, einem Peptidhormon, das die Ausbildung der Geschlechtsorgane steuert und programmierten Zelltod (Apoptose) in den Müller-Gang-Zellen auslöst. Der Wirkungsmechanismus des DES bei der eigentlichen Tumorinitiation ist unklar; eine gentoxische Wirkung wurde nur in vitro bei extrem hohen Konzentrationen nachgewiesen, deren Bedeutung beim Menschen fraglich ist (. Abb. 11.6; Liehr 2000). Möglicherweise erfolgt die Initiation nicht durch mutagene Schädigung, sondern durch eine »Fehldeterminierung«. Nach diesem Konzept ist die Unterdrückung des programmierten Zelltodes in den Müller-GangZellen durch DES der kritische Vorgang, der die Initiation auslöst. Dabei könnte einer DES-induzierten Fehlregulation der entwicklungssteuernden HOX-, WNT- und EPH-Gene eine kausale Rolle zukommen (Newbold 2004; Suzuki et al. 2007). Die infolge der DES-Einwirkung überlebenden Zellen des Müller-Ganges persistieren als fehldifferenzierte abnorme Zellgruppen und zeigen eine präferenzielle Wachstumsreaktion auf Hormone, die während der Pubertät vermehrt ausgeschüttet werden (Tumorpromotion). In weiterer Folge kann Progression zum Tumor eintreten. Dies würde das gehäufte Auftreten der Karzinome im Alter von 15–25 Jahren erklären (Melnick et al. 1987). 11.2.3 Hormone als Tumorpromotoren
Viele Hormone induzieren eine Hyperplasie in ihrem Zielorgan. Die spätere Entstehung von Tumoren wird damit erklärt, dass Hormone ihre Wachstumsstimulation besonders in den im Zielorgan vorhandenen präneoplastischen Zellen entfalten (Tumorpromotion). Der molekulare Mechanismus der übersteigerten Wachstumsreaktion der Tumorvorstufe bei Hormoneinwirkung ist bislang noch nicht geklärt. Das hormoninduzierte Wachstum der gesunden wie auch der übersteigert reagierenden präneoplastischen Zielzelle wird durch den Hormonrezeptor/Signalübertragungsweg vermittelt (. Abb. 11.7). Es bietet einen Angriffspunkt für Hormonrezeptorantagonisten, die die kanzerogene Wirkung des Hormons abblocken können und damit – im Sinne des Mehrstufenkonzepts – als »Antipromotoren« wirken (Lewis u. Jordan 2005; Deroo u. Korach 2006; McKenzie u. Kyprianou 2006).
. Abb. 11.7. Effekt von Hormonen auf Zellerneuerung und Zelltod von unveränderten und (prä)neoplastischen Zellen
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Im Verlauf der zunehmenden Dedifferenzierung der Tumoren (Progression) verlieren Hormone meist ihre ursprüngliche Funktion als »Tumorwachstumsfaktor«. Andere Wachstumsfaktoren, wie EGF, TGFα oder IGF-I, werden dann vom Tumor selbst (autokrin) produziert, was zu zunehmender Wachstumsautonomie führt. Hyophysenhormone als Tumorpromotoren Die Hypophyse ist die zentrale Schaltstelle des Hormonhaushaltes. Viele Beobachtungen weisen auf Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß der Hypophysenaktivität und der Karzinogenese hin. Lässt man Versuchstiere kurzfristig hungern, so sinkt die hypophysäre Ausschüttung von LH, FSH, TSH, Prolaktin und von Wachstumshormon auf ca. die Hälfte (Weindruch u. Walford 1988). Der Stoffwechsel wird gedrosselt und die Fähigkeit zur Reproduktion eingestellt. Lang andauernde Nahrungsrestriktion verlängert die durchschnittliche Lebensspanne der verschiedensten Versuchstierspezies (Einzeller, Fische, Insekten, Vögel, Säugetiere), indem es das Auftreten lebensbedrohlicher Erkrankungen wie z. B. Krebs verzögert (Tannenbaum 1945). Offenbar ist es ein natürlicher Schutzmechanismus, in Hungerperioden durch Drosselung der Fortpflanzung und Verlängerung der Lebenszeit das Aussterben einer Population zu verhindern (Weindruch u. Walford 1988). Die krebsprotektive Wirkung verminderter Nahrungsaufnahme dürfte teilweise auf die geringere Ausschüttung hypophysärer Hormone zurückzuführen sein. Hierdurch wird der trophische Effekt auf periphere Organe und präferenziell auf initiierte Zellen schwächer. Auch der Mensch reagiert bei starker Nahrungsrestriktion (z. B. Anorexia nervosa) mit einer Verringerung der hypophysären Hormonausschüttung (Weindruch u. Walford 1988). Einen gesicherten Nachweis einer krebsprotektiven Wirkung durch verminderte Nahrungsaufnahme gibt es bisher aber nicht. Die tumorfördernde Wirkung überkalorischer Ernährung ist dagegen unbestritten. So wurde immer wieder ein Zusammenhang zwischen fettreicher und damit kalorienreicher Ernährung, erhöhtem Körpergewicht und Krebs des Endometriums und der Brustdrüse beschrieben (Hursting et al. 2003; Renehan et al. 2008). Dem von der Adenohypophyse sezernierten Wachstumshormon (Somatotropin, STH) werden indirekt tumorpromovierende Wirkungen zugeschrieben. Es induziert vor allem in der Leber die Synthese von IGF-1, dem eigentlichen Wachstumsfaktor für die Körperzellen. In Mausmodellen zeigte sich, dass IGF-1-defiziente Tiere vor Brustkrebs geschützt sind, während Überexpression von IGF-1 oder IGF-1-Rezeptor zu vermehrtem Tumorwachstum in Brustdrüse und Dickdarm führt (Hadsell u. Bonnette 2000). Es wird diskutiert, dass IGF-1 nicht nur auf gesunde, sondern auch (präferenziell) auf (prä)neoplastische Zellen wachstumsstimulierend wirken kann. In Abhängigkeit von der Höhe der STH- und IGF-1-Spiegel im Körper könnte es daher zu einem – je nach Krankheitsbild – unterschiedlich starken Wachstum vorhandener präneoplastischer Zellen kommen (Swerdlow et al. 2002; Waters u. Barclay 2007). Patienten mit Akromegalie weisen eine vermehrte hypophysäre Ausschüttung von STH und in einigen der Studien auch ein erhöhtes Krebsrisiko auf (Barzilay et al.1991). Andererseits haben Patienten mit hypophysärem Minderwuchs und Mangel an STH ein tendenziell geringeres Krebsrisiko (Rosen u. Bengtsson 1990; Waters u. Barclay 2007). Mehrere epidemiologische Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen erhöhtem IGF-1-Serumspiegel und dem Risiko für Krebs der Brustdrüse, des Kolons
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11
Kapitel 11 · Hormone und Krebs
und der Prostata (Pollak et al. 2004). Es fanden sich auch Assoziationen von Polymorphismen der IGF-1-Synthese und des IGF-1Rezeptors mit dem Krebsrisiko. Bei beschleunigtem präpubertärem Längenwachstum haben Frauen in der Prä- und Postmenopause eine um ca. 30% erhöhte Wahrscheinlichkeit, an Brustkrebs zu erkranken (Waters u. Barclay 2007). Menge und Energie- bzw. Aminosäuregehalt der Nahrung beeinflussen den IGF-1-Serumspiegel maßgeblich, was eine mechanistische Erklärung für den oft beobachteten Zusammenhang zwischen kalorienreicher Nahrung, zunehmendem Längenwachstum der Kinder und der steigenden Inzidenz von Brustkrebs in den westlichen Industrienationen liefern könnte (Stoll 1998; 7 Abschn. 11.3.3). Eine wiederholte Substitutionsbehandlung mit STH in der Kindheit wird mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko für Dickdarmkrebs in Zusammenhang gebracht (Swerdlow et al. 2002). Da sich unter Gabe von STH die Muskel-Fett-Verteilung zugunsten der Muskulatur verschiebt, wird dieses Hormon zunehmend im Leistungssport, in der Anti-Aging-Medizin und als Unterstützung bei Diäten angewendet. Bei diesen Therapien werden vielfach die physiologischen IGF-1-Serumspiegel überschritten, sodass potenzielle Risiken nicht ausgeschlossen sind. Im Tierexperiment wirken Wachstumshormon und Prolaktin, aber auch Östrogene, Gestagene und Androgene als Tumorpromotoren in der Leber von Ratte und Maus (Snibson et al. 2001; Liao et al. 1996; Hallstrom et al. 1996). Es zeigte sich, dass Östrogene die hypophysäre Ausschüttung von Prolaktin erhöhen und diese Hormonkombination die Tumorpromotion besonders fördert (Hallstrom et al. 1996). Generell entwickeln männliche Ratten und Mäuse spontan und auch in den verschiedenen experimentellen Modellen mehr Lebertumoren als weibliche Tiere. Eine pulsatile Freisetzung von Wachstumshormon aus der Hypophyse war nur bei den männlichen Tieren bzw. nach Gabe von Androgenen zu beobachten, was sich als entscheidender Faktor für den Geschlechtsunterschied in der Hepatokarzinogenese herausstellte (Liao et al. 1996). Auch beim Menschen hat das männliche Geschlecht ein 3mal höheres Risiko an Leberkrebs zu erkranken als das weibliche (De Maria et al. 2002). Es ist bisher nicht näher untersucht worden, ob dies auf geschlechtsspezifische Unterschiede in der Sekretion von hyophysären Hormonen, von Androgenen und/oder anderen Hormonen zurückzuführen ist. Die Zufuhr von Androgenen zum Muskelaufbau (Anabolika) kann das Wachstum von Lebertumoren begünstigen (Velazquez u. Alter 2004). Orale Einnahme von Kontrazeptiva (Östrogene, Gestagene) erhöht jedoch bei den heute üblichen Dosierungen das Risiko nur leicht, wenn keine zusätzliche Lebererkrankung vorliegt. 11.2.4 Fremdstoffe mit Hormonwirkung und poten-
ziellem Einfluss auf die Karzinogenese In jüngerer Zeit werden Krebserkrankungen in hormonabhängigen Organen mit der Exposition des Menschen gegenüber in der Umwelt verbreiteten, endokrin aktiven Substanzen in Verbindung gebracht. Aufgrund ähnlicher struktureller Eigenschaften binden solche Substanzen an den ERα und ERβ und ahmen Wirkungen des natürlichen Östrogens nach (»estrogen mimics«). Infolgedessen kann das Gleichgewicht der hormonellen Regelkreise unterbrochen werden (»endocrine disruption«). Diese Stoffe werden als »Umweltöstrogene« bezeichnet. Sie können synthetischen oder natürlichen Ursprungs sein.
Synthetische »Umweltöstrogene« (»Xenoöstrogene«) Die synthetischen »Umweltöstrogene« umfassen Pestizide wie o,p’-Dichlordiphenyltrichlorethan (o,p’-DDT) und seine Metabolite, Industriechemikalien wie polychlorierte Biphenyle (PCB) sowie polychlorierte Dibenzodioxine und Dibenzofurane (PCDD/PCDF) (. Abb. 11.3). Es sind auch Substanzen mit antiandrogener (z. B. p,p’-DDT) und antiöstrogener Wirkung bekannt (z. B. 2,3,7,8-Tetrachlordibenzo-p-dioxin). Insgesamt gibt es für mehr als 190 Substanzen Hinweise auf Störung der endokrinen Regulation in vivo (Petersen et al. 2007). Als lipophile und persistente Substanzen reichern sich derartige Organochlorverbindungen in der Nahrungskette an. Tier und Mensch sind gegenüber zahlreichen dieser Chemikalien stets in niedrigen Konzentrationen exponiert. Der Verdacht auf eine Gesundheitsgefährdung durch synthetische Umweltöstrogene beruht im Wesentlichen auf Beobachtungen an einzelnen stark exponierten Wildtierpopulationen, bei denen Verkümmerungen von Fortpflanzungsorganen oder Geschlechtsumwandlungen auffielen. Bei Nagetieren wurde nach langfristiger Zufuhr hoher Dosen einiger dieser Substanzen (z. B. Methoxychlor, Hexachlorbenzol, Hexachlorcylohexan, PCDD/ PCDF, DDT und seine Metabolite) eine kanzerogene Wirkung in Leber, lymphatischem System und anderen Organen nachgewiesen. Hierfür ist wahrscheinlich eine tumorpromovierende Wirkung verantwortlich (IARC 1991). Eine Reihe von Fall-Kontroll-Studien, in denen ein möglicher Zusammenhang zwischen den Umweltöstrogenen p,p’-Dichlordiphenyldichlorethylen (DDE), Dieldrin sowie PCB und Brustkrebs geprüft wurde, ergab widersprüchliche Ergebnisse (Safe 2005). Die Exposition des Menschen gegenüber Umweltöstrogenen liegt insgesamt um mehrere Größenordnungen niedriger als bei den oben angeführten stark exponierten Wildtierpopulationen. Bedeutsam ist ferner, dass die bekannten Xenoöstrogene meist eine wesentlich geringere Rezeptoraffinität bzw. östrogene Potenz (Faktor 103–106) als die körpereigenen Östrogene besitzen (Soto et al. 1995; . Abb. 11.3). Nach dem derzeitigen Stand des Wissens ist daher ein kausaler Zusammenhang zwischen der Exposition gegenüber Umweltöstrogenen und dem Anstieg von Krebserkrankungen in hormonabhängigen Organen nicht anzunehmen (Safe 2005; Waring u. Harris 2004; Muir 2005). Natürliche Umweltöstrogene Natürliche Umweltöstrogene aus Pflanzen (Phytoöstrogene) und Pilzen reichern sich im Gegensatz zu ihren synthetischen Verwandten meist nicht in der Nahrungskette oder im Fettgewebe an. Eine der phytoöstrogenreichsten Pflanzen ist Soja, dessen regelmäßiger Verzehr zu der niedrigen Inzidenz an Brustkrebs in asiatischen Ländern beitragen soll. Insgesamt zeigen die vorliegenden epidemiologischen Studien jedoch widersprüchliche Ergebnisse und der derzeitige Kenntnisstand erlaubt keine endgültige Bewertung der vermuteten krebsprotektiven Wirkung von Phytoöstrogenen (Adlercreutz 2007; Gikas u. Mokbel 2005; Sirtori et al. 2005; Magee u. Rowland 2004, Messina et al. 2006; Duffy et al. 2007).
11.3
Mammakarzinom
In vielen westlichen Industrienationen ist das Malignom der weiblichen Brust die häufigste Krebstodesursache bei Frauen. Laut Prognosen ist mit einer weiteren Zunahme der Inzidenz
263 11.3 · Mammakarzinom
dieser Erkrankung zu rechnen (Parkin et al. 2005; Hortobagyi et al. 2005). In einigen Fällen stehen hereditäre Dispositionen, z. B. Mutationen in BRCA-Genen, im Vordergrund. Für die Mehrheit scheinen nichtvererbliche Mechanismen für die Manifestation des Tumors bestimmend zu sein, wie z. B. Hormonstatus, Lebens- und Ernährungsgewohnheiten. 11.3.1 Tierexperimentelle Grundlagen
Initiation der Mammakarzinogenese Frühzeitig hat man begonnen, den komplexen Prozess der Mammakarzinogenese in Tierexperimenten zu studieren. Bei der Ratte entstehen während der verschiedenen Stadien der Tumorentwicklung aus initiierten Zellen duktale atypische Hyperplasien, duktale In-situ-Karzinome und daraus infiltrierende Karzinome (Russo et al. 1990). Die Empfindlichkeit der Brustdrüse gegenüber der Wirkung von Tumorinitiatoren ist abhängig von Alter und Hormonstatus (. Abb. 11.8a; Huggins et al. 1961). Bei weiblichen Versuchstieren bewirkt die Behandlung mit zahlreichen gentoxischen Kanzerogenen (»Tumorinitiation«)
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knapp vor der Geschlechtsreife eine hohe Tumorinzidenz; bei Behandlung nach der Geschlechtsreife, nach Schwangerschaft oder nach Verabreichung von Östradiol, Progesteron, Prolaktin oder Choriongonadotropin ist die Tumorinzidenz wesentlich geringer. Die höchste Empfindlichkeit der Brustdrüse gegenüber gentoxischen Kanzerogenen besteht somit während ihres aktiven Wachstums, das sich postnatal bei weiblichen Tieren im Wesentlichen vor der Geschlechtsreife vollzieht. Da zu diesem Zeitpunkt Brustdrüsenzellen vermehrt DNA replizieren, ist die Wahrscheinlichkeit einer Mutation nach Einwirkung eines gentoxischen Kanzerogens erhöht. Erst mit der ersten kompletten Schwangerschaft ist die Entwicklung der Brustdrüse beendet und damit auch das zeitliche »Fenster erhöhter Empfindlichkeit« geschlossen. Diese Entwicklungsstadien in weiblichen Tieren werden durch eine komplexe Interaktion von Hormonen des HypothalamusHypophysen-Systems und der Reproduktionsorgane gesteuert. So ist wahrscheinlich die protektive Wirkung einer Schwangerschaft vor der Initiation auf eine beschleunigte Ausdifferenzierung der Zielzellen zurückzuführen. Ebenso wirken Prolaktin, Östradiol und Choriongonadotropin, die den Effekt einer Schwangerschaft auf die Brustdrüse imitieren (Russo et al. 1990). Promotion der Mammakarzinogenese Nach einmaliger Gabe gentoxischer Kanzerogene, wie z. B. polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe oder Nitrosamine, entstehen in nahezu 100% der zum empfindlichen Zeitpunkt behandelten weiblichen Ratten oder Mäuse Mammatumoren (. Abb. 11.8a). In männlichen Tieren treten bei gleichem Verabreichungszeitpunkt und gleicher Dosierung des Kanzerogens keine Tumoren auf; dieser Geschlechtsunterschied dürfte auf Tumorpromotion durch endogene weibliche Geschlechtshormone beruhen (Huggins et al. 1961; Blank et al. 2008). In der Promotionsphase von Tumoren der Brustdrüse kommt dem Prolaktin eine wichtige Rolle zu. In Tierexperimenten wurde beobachtet, dass die Tumorentwicklung durch Hypophysektomie gehemmt und durch vermehrte Prolaktinausschüttung beschleunigt wird (Yokoro et al. 1977). Auch Östrogen und Progesteron fördern die Karzinogenese in der Brust, wobei sich der wachstumsstimulierende Effekt von Östrogenen nur bei intakter Hypophyse manifestiert. Im Tierexperiment erwies sich auch die Ernährung als ein wichtiger Faktor in der Entwicklung von Brustdrüsentumoren. Eine hohe Kalorienaufnahme, die auch bei fettreicher Ernährung gegeben ist, begünstigt die Tumorentstehung. Eine kalorische Restriktion bei unveränderter Nahrungszusammensetzung bewirkt eine Verminderung der Tumorinzidenz (Tannenbaum 1945). Dabei kommt es zu einer Drosselung der hypophysären Ausschüttung gonadotroper Hormone und der hormonellen Aktivität der Gonaden; der endogene Spiegel tumorpromovierender Steroidhormone sinkt (7 Abschn. 11.2.3; Weindruch u. Walford 1988; Hursting et al. 2003). Es wird angenommen, dass Nahrung und bestimmte Nahrungsbestandteile als exogene Tumorpromotoren sowohl direkt als auch indirekt (via endogene Mediatoren) wirken können.
. Abb. 11.8a–c. Altersabhängige Variation der Empfindlichkeit der weiblichen Brustdrüse für kanzerogene Noxen.
Antipromotion bei der Mammakarzinogenese Tumoren können sich nach Ovarektomie zurückbilden (. Abb. 11.9; Gullino et al. 1972). Dies beruht auf dem Entzug der Hormone, die für das Überleben des Tumors essenziell sind (überwiegend Östrogen), sodass die Tumorzellen in den Zelltod durch Apoptose getrieben werden (Antipromotion). Erneute Zu-
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Kapitel 11 · Hormone und Krebs
. Abb. 11.9. Regression von Tumoren der Brustdrüse bei Ratten nach Entfernung der Ovarien; DMBA Dimethylbenzanthrazen
fuhr von Hormonen verhindert das Absterben und induziert neuerliches Tumorwachstum, was die tumorpromovierende Wirkung durch Hormone belegt (Huggins 1967; Russo et al. 1990; Russo u. Russo 1998). 11.3.2 Initiation, Promotion und Progression in der
Mammakarzinogenese des Menschen
11
Viele Erkenntnisse aus dem Tierexperiment treffen auch für die Mammakarzinogenese des Menschen zu. Die Erkrankung umfasst mehrere Stadien, in deren Verlauf verschiedene Tumorvorstufen auftreten, aus denen sich ein invasives Karzinom entwickeln kann. Mutation der BRCA1- und BRCA2-Gene Frauen mit einer heterozygoten Keimbahnmutation des BRCA1oder BRCA2-Gens haben ein ca. 40–80%iges Risiko an Brustkrebs und ein ca. 20–40%iges Risiko an Ovarialkrebs zu erkranken. Auch in anderen hormonabhängigen Organen wie Endometrium, Zervix und Prostata bedingen diese Mutationen ein signifikant erhöhtes Krebsrisiko (7 Abschn. 11.5 und 11.6.1). Etwa 5–10% der Patientinnen mit Brustkrebs tragen eine vererbte Mutation in einem der BRCA-Gene. Damit die Krankheit ausbrechen kann, muss auch das verbliebene Wildtypallel durch eine somatische Mutation seine Funktion verlieren. Diese Sequenz von zweifacher Mutation und komplettem Funktionsverlust eines Gens stimmt mit der Vorstellung überein, dass BRCA1 und BRCA2 als Tumorsuppressorgene wirken. Molekularbiologische Untersuchungen zeigen, dass BRCA1 und BRCA2 mit RAD51 und P53 Multiproteinkomplexe bilden, die im Zellzyklusarrest und der Induktion von DNA-Reparatur involviert sind. Bei Schäden an der DNA wird die DNA-Synthese angehalten und es bildet sich eine sog. Replikationsgabel am Übergang von der noch einsträngig zur bereits doppelsträngig vorliegenden Helix. Dabei sollen BRCA1 und BRCA2 die Umgehung der angehaltenen Replikationsgabel erleichtern und die Reparatur von DNA-Doppelstrangbrüchen durch homologe Rekombination ermöglichen. Dementsprechend bedingt ein Funktionsausfall von BRCA1 oder BRCA2 eine abnorme Regulation von P53 und eine erhöhte genetische Instabilität durch nicht homologe Rekombination (Kennedy u. Andrea 2005; Deng u. Scott 2000; Wang 2007). BRCA1 und BRCA2 wirken somit als »Caretaker« für das Genom. Ihr Funktionsausfall erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass eine Schädigung des Genoms im Sinne einer Tumorinitiation erfolgen
kann. Es wird auch vermutet, dass ein Funktionsausfall von BRCA1 oder BRCA2 und die resultierende genetische Instabilität zu beschleunigter Tumorprogression führen – zu erkennen an hohen Malignitätsgraden, stark gesteigerter Zellproliferation und frühem Übergang zu hormonunabhängigem Wachstum (Deng u. Scott 2000). Einige Studien zeigen, dass BRCA1 einerseits die transkriptionelle Aktivität von AF-2 des ERα blockiert und andererseits auch direkt an östrogenresponsive Elemente (ERE) in der Promotorregion binden kann, solange der Rezeptor nicht durch ein Hormon stimuliert wird. Dies könnte bedeuten, dass der ER bei mutationsbedingtem Funktionsausfall von BRCA1 unzureichend moduliert wird und unabhängig von Ligandenbindung aktiviert wird. Die Folge wäre ein ungebremstes östrogenunabhängiges Wachstum (Rosen et al. 2005). Gentoxische Noxen und Entwicklungsphasen der Brustdrüse Ähnlich wie bei Versuchstieren scheint auch beim jungen Menschen eine Phase besonderer Empfindlichkeit gegenüber gentoxischen Noxen zu existieren. Epidemiologische Studien an strahlenexponierten Personengruppen in Hiroshima und Nagasaki zeigten, dass Frauen, die zum Zeitpunkt der Exposition im Kindes- oder Jugendalter waren, die höchste Mammatumorinzidenz hatten (. Abb. 11.8b; Tokunaga et al. 1994). Tabakrauch enthält zahlreiche gentoxische Kanzerogene, z. B. PAK und Nitrosamine, die im Tierexperiment als Initiatoren der Mammakarzinogenese wirken. Zigarettenkonsum und Passivrauchexposition in der Jugend erhöhen ebenfalls das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken (Palmer et al. 1991; Johnson 2005; . Abb. 11.8c). Ferner ist Brustkrebs bei Frauen mit einer frühen Schwangerschaft weniger häufig als bei später Erstschwangerschaft oder bei Nullipara (Shantakumar et al. 2007). Offenbar besteht, analog zum Tierexperiment, eine verminderte Sensitivität gegenüber initiierenden Noxen infolge früherer Differenzierung der Brustdrüsenzellen (Russo et al. 1990). In welchem Umfang exogene gentoxische Substanzen bzw. mutagene Östrogenmetaboliten für die Initiation der Mammakarzinogenese beim Menschen verantwortlich sind, ist jedoch nicht geklärt. Tumorpromotion Der hormonelle Status beeinflusst auch beim Menschen die Krebsentwicklung in der Brustdrüse; für Männer ist das Erkrankungsrisiko mehr als 100-mal geringer als für Frauen. Die Rolle einzelner Hormone, wie der Sexualsteroide, des Prolaktins, Wachstumshormons oder Melatonins, ist für die Entstehung von Brustkrebs nicht geklärt (Yager u. Davidson 2006; Blask et al. 2005; Bernstein 2002). Unbestritten ist, dass frühe Menarche und/oder späte Menopause das Risiko erhöhen, was durch eine längere Dauer derjenigen Lebensphase erklärt werden kann, in der tumorpromovierende Hormone in relativ großer Menge gebildet und ausgeschüttet werden (Östrogenlebenszeitdosis; Bernstein 2002). Die Einnahme von hormonellen Kontrazeptiva hat – nach derzeitigem Kenntnisstand – kaum Einfluss auf die Mammatumorinzidenz (Kiley u. Hammond 2007). Das relative Risiko für die Entstehung von Mammakarzinomen erhöht sich in einem Zeitraum von 20 Jahren um etwa 3 Fälle pro 10.000 Frauen und normalisiert sich nach Absetzen (Collaborative Group 1996). Nur bei Frauen, die sehr jung mit der Anwendung beginnen, scheint ein etwas erhöhtes Risiko zu bestehen (Shapiro et al. 2000; IARC 2007).
265 11.3 · Mammakarzinom
Mehrere retrospektive und prospektive Beobachtungsstudien und Metaanalysen untersuchten den Langzeiteffekt der Hormonersatztherapie in der Postmenopause mit Östrogenen oder Östrogen-Gestagen-Kombinationspräparaten (Collaborative Group 1997; Persson et al. 1999; Ross et al. 2000; Schairer et al. 2000; Million Women Study Collaborators 2003; Hulley u. Grady 2004; Fournier et al. 2005; IARC 2007). Eine langfristige Gabe von Östrogenen erhöhte die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung eines Mammakarzinoms, wobei zusätzliche Gestagengabe dies nochmals verstärkte. Insgesamt stieg das relative Risiko des Mammakarzinoms pro Jahr im Schnitt um wenige Prozent an. Dies bedeutet bei einer 5-jährigen Therapie eine Zunahme im Schnitt um etwa 2–4 Fälle mit Mammakarzinom pro 1.000 Frauen, und bei einer 10-jährigen Hormonsubstitution etwa 6–18 zusätzliche Fälle pro 1.000 Frauen. Auch Behandlung mit Tibolon, das aufgrund der Bildung von östrogen und gestagen wirkenden Metaboliten einer kombinierten Hormonersatztherapie ähnelt, erhöhte das Brustkrebsrisiko (Million Women Study Collaborators 2003). Der Kombinationseffekt hängt vermutlich damit zusammen, dass Gestagene mit der wachstumsregulierenden Wirkung der Androgene interferieren und die östrogenabhängige Proliferation des Brustdrüsenepithels zusätzlich steigern (Hofseth et al. 1999; Birrell et al. 2007). Die Risikoerhöhung der Hormonersatztherapie erschien relativ unabhängig von der Dosierung, Art und Darreichungsform der Hormone. Sie nahm mit zunehmender Dauer der Substitutionsbehandlung zu und verschwand bei den meisten Studien innerhalb von 5 Jahren nach Absetzen. Dieser Befund ist ein Hinweis darauf, dass die erhöhte Mammatumorinzidenz durch Östrogene und Gestagene auf Wachstumsstimulation bestehender okkulter Tumoren basiert (Tumorpromotion) und dass diese promovierende Wirkung reversibel ist (Colditz 2007). Antipromotion Das Verständnis der Wirkung von Hormonen auf (Prä-)Neoplasien der Brust bietet Ansätze zur präventiven und kurativen Therapie. Wie im Tierversuch sind auch humane Tumoren oft hormonabhängig und bilden sich nach Gabe von Hormonantagonisten oder Ovarektomie zurück (Antipromotion). Bereits seit Längerem wurde die Ovarektomie mit Erfolg in der Therapie des Mammakarzinoms angewendet. Heute werden ER-Antagonisten, SERM und Hemmstoffe der Östrogenbiosynthese (Aromataseinhibitoren) und der GnRH-Sekretion in der adjuvanten Therapie des Mammakarzinoms eingesetzt. Die Wirksamkeit dieser Behandlungen ist durch umfangreiche Studien belegt (Deroo u. Korach 2006 ). Tumorprogression Bei bis zu 30% der metastasierenden Brustkrebstumoren (und einem Teil der Karzinome in Ovar, Endometrium, Zervix, Lunge, Magen, Dickdarm u. a. m.) wurde eine Überexpression des HER2/NEU-Proteins festgestellt. Bei Brust-, Ovarial- und Magenkarzinomen wird die Überexpression dieses Proteins im Wesentlichen durch Genamplifikation verursacht. Es handelt sich um eine Rezeptortyrosinkinase aus der EGF-Rezeptorfamilie, die bei Heterodimerbildung mit anderen Rezeptoren aus dieser Famile durch EGF, TGFα und weitere Wachstumsfaktoren aktiviert werden kann. Diese Wachstumsfaktoren sind im Organismus praktisch ubiquitär vorhanden, deshalb kann über »Crosstalk« im Brustgewebe eine Wachstumsstimulation unabhängig von Östrogenen erfolgen (7 Abschn. 11.1.2). Die HER2-Amplifikation
11
bedingt eine größere Wachstumsautonomie und trägt somit zur Verminderung bzw. zum Verlust der Wirksamkeit von Antiöstrogenen bei. Die HER2-Überexpression wird therapeutisch genützt (Shephard et al. 2008). Trastuzumab ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper, der gegen die extrazelluläre Domäne von HER2 gerichtet ist, dadurch die signaltransduzierende Aktivität des HER2 bremst und auch eine lokale Immunreaktion gegen die Tumorzelle hervorzurufen scheint (Nahta u. Esteva 2006). 11.3.3 Lebensstil und Brustkrebs
Viele epidemiologische Studien weisen auf die Rolle der Lebensund vor allem der Ernährungsgewohnheiten als möglichen Risikofaktor hin (Xue u. Michels 2007). So zeigen Migrationsstudien, dass weibliche Nachkommen von japanischen Einwanderern in die USA das für ihre neue Heimat typische hohe Brustkrebsrisiko aufweisen (Ziegler et al. 1993). In Japan selbst nimmt die Inzidenz dieser Erkrankung nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls zu, was mit einer »Verwestlichung« der Ernährungsweise in Zusammenhang gebracht wird (Hortobagyi et al. 2005). Wird die Morbidität und Mortaliät an Brustkrebs verschiedener Länder aller fünf Kontinente mit dem landestypischen durchschnittlichen ProKopf-Verzehr von tierischem Fett in der Nahrung verglichen, ergibt sich eine hochsignifikante positive Korrelation (Rose et al. 1986). Ein kausaler Zusammenhang ist aufgrund von Tierexperimenten wahrscheinlich. Die Identifizierung des eigentlichen Risikofaktors beim Fettkonsum gelang bisher nicht. Möglicherweise sind sowohl ein hoher Gehalt an mehrfach ungesättigten Fettsäuren (besonders ω-6-Fettsäuren) als auch die erhöhte Kalorienmenge bei reichlichem Fettverzehr für die Entstehung und das Wachstum von Tumoren wirksam. Darüber hinaus wird ein Zusammenhang zwischen proteinreicher Ernährung und der immer früher eintretenden Menarche in den westlichen Industrienationen angenommen, was das Brustkrebsrisiko indirekt durch Erhöhung der »Östrogenlebenszeitdosis« erhöhen könnte (Stoll 1998; Bernstein 2002). Gut belegt ist, dass drastische Restriktion der täglichen Kalorienmenge, z. B. bei Anorexia nervosa, eine Drosselung der Hypophysen- und Gona-
. Abb. 11.10. Wirkung einer Diät mit reduziertem Fettgehalt auf Gonadotropine und Östrogene im Serum von Frauen; LH luteotropes Hormon; FSH follikelstimulierendes Hormon
266
Kapitel 11 · Hormone und Krebs
denfunktion und eine Senkung der Serumspiegel von tumorpromovierenden Steroidhormonen bewirkt (Weindruch u. Walford 1988; 7 Abschn. 11.2.3). Bei fettreduzierter Diät zeigt sich ein ähnlicher, aber wesentlich schwächer ausgeprägter Effekt (Rose et al. 1987; . Abb. 11.10). Zur Rolle von Phytoöstrogenen in pflanzlicher Nahrung für die Entstehung und Progression von Brustkrebs liegen widersprüchliche Daten vor (7 Abschn. 11.2.4). 11.4
Endometriumkarzinom
AF-2-Region des ER interferiert, was die hormonvermittelte Gentranskription in der Brustdrüse blockiert, in der Gebärmutter aber eine untergeordnete Rolle spielt. Wurde Tamoxifen zur Prävention von Krebs in der kontralateralen Brust verabreicht, wurden vermehrt Endometriumkarzinome beobachtet, sodass insgesamt kaum weniger Krebsfälle zu verzeichnen waren (Sasco et al. 1996; Bernstein et al. 1999). 11.4.2 Ernährung und Hormonhaushalt
Analog zu der stufenweisen Entwicklung von Neoplasien der Brustdrüse und anderer Organe entsteht das infiltrierende Endometriumkarzinom in einer Sequenz von einfachen und komplexen Hyperplasien. Im Tierexperiment und beim Menschen wird die Endometriumkarzinominzidenz durch Östrogene erhöht und durch Progesteron vermindert. Die gegensätzliche Wirkung von Östrogen und Progesteron lässt sich als Promotion und Antipromotion interpretieren, denn bei Mensch und Tier stimuliert Östrogen die Zellproliferation im Endometrium, während Progesteron sie hemmt.
Umfangreiche epidemiologische Studien zeigen, dass die Inzidenz des Endometriumkarzinoms mit der täglich verzehrten Menge an Fett bzw. mit dem Körpergewicht steigt (Levi et al. 1992; Renehan et al. 2008). Ob die Art des Fetts oder der erhöhte Kaloriengehalt fettreicher Nahrung der eigentliche Risikofaktor ist, ist nicht geklärt (Bandera et al. 2007). Es wird diskutiert, ob das vor allem im Fettgewebe vorkommende Enzym Aromatase (wandelt Androgene zu Östrogenen um) bei erhöhtem Körpergewicht vermehrt Östrogene synthetisiert und damit zu einer Hormonimbalance führt (Cohen 1999).
11.4.1 Risiken der Behandlung mit Hormonen oder
11.5
Karzinom des Ovars
SERM
11
Östrogenersatztherapie ohne Zusatz von Gestagenen führte zu einem deutlichen Anstieg der Inzidenz von Endometriumkarzinomen in der Mitte der 70er Jahre, wobei das relative Erkrankungsrisiko um das etwa 5- bis 10fache erhöht war (Weiderpass et al. 1999). Diese Therapie ist daher heute obsolet. Bemerkenswert erscheint auch, dass nach Absetzen der Östrogenersatztherapie das Risiko für Endometriumkarzinome nicht erhöht blieb, sondern wieder abnahm. Dies spricht für Tumorpromotion durch Östrogene und nachfolgende Tumorregression nach Absetzen des Promotors. Unter der sequenziellen Hormonsubstitution mit ÖstrogenGestagen-Präparaten, wie sie heutzutage durchgeführt wird, kommt es zu einer Entzugsblutung, wobei die Funktionalis des Endometriums abgestoßen wird. Dies ist aber nicht als entscheidender Faktor für den günstigen Effekt des Gestagenzusatzes anzusehen, da auch unter einer kontinuierlichen Kombinationstherapie mit Östrogen-Gestagen-Präparaten, die längerfristig zu einer Amenorrhoe führt, das Risiko des Endometriumkarzinoms reduziert ist. Der antiöstrogene Effekt der Gestagene erfolgt vor allem über eine Suppression der ER, eine Stimulation östrogeninaktivierender Enzyme (17β-Hydroxysteroiddehydrogenase, Östrogen-Sulfotransferase) sowie die Ausdifferenzierung der Funktionalis. Eine von zwei umfangreichen retrospektiven Studien zu Tibolon berichtete, dass ähnlich einer Östrogen-Monotherapie die Inzidenz von Endometriumkarzinomen erhöht war (Beral et al. 2005). Es ist noch ungeklärt, ob die beim Tibolonabbau entstehenden gestagen wirkenden Metabolite die östrogene Wirkung des Medikaments in der Gebärmutterschleimhaut ausreichend antagonisieren können (Bruce et al. 2004; 7 Abschn. 11.3.2). Tamoxifen wirkt als typischer Vertreter der Östrogenrezeptormodulatoren (SERM) östrogenantagonistisch in der Brustdrüse und östrogenagonistisch im Endometrium. Der molekulare Mechanismus der gegensätzlichen Wirkung dieser Substanz in verschiedenen Geweben ist nicht vollständig geklärt (7 Abschn. 11.1.2). Es wird jedoch vermutet, dass Tamoxifen mit der
Maligne Ovarialtumoren sind das fünfthäufigste Karzinom der Frau. In etwa 90% der Fälle handelt es sich um epitheliale Ovarialkarzinome, die aus Zellen des Oberflächenepithels der Ovarkapsel entstehen, das sich vom Mesothel der embryonalen Zölomhöhle ableitet. Ovulation und Krebsrisiko Die Bedeutung endokriner Faktoren für die Pathogenese dieser Tumoren lässt sich u. a. aus der protektiven Wirkung der Schwangerschaft und anderer Faktoren ableiten, die die Ovulation unterdrücken. Schätzungen zufolge wird mit jeder Geburt das Erkrankungsrisiko um etwa 10–15% und nach mehreren Schwangerschaften um insgesamt etwa 30% vermindert. Dieser protektive Effekt wird durch Stillen nochmals gesteigert. Das Alter bei der ersten Geburt ist wahrscheinlich unbedeutend (Adami et al. 1994; Landen et al. 2008). Eine protektive Wirkung wird auch von ovulationshemmenden Kontrazeptiva vermittelt. Das relative Risiko für Ovarialkrebs sinkt bereits nach einjähriger Einnahme um ca. ein Zehntel und nach mehr als 5-jähriger Einnahme um die Hälfte (La-Vecchia u. Franceschi 1999; Auranen et al. 2005). Bei 5- bis 10-jähriger Einnahme gleicht sich das ursprünglich erhöhte Erkrankungsrisiko von Frauen ohne Kinder bzw. mit positiver Familienanamnese dem von Frauen mit Kindern bzw. ohne positive Familienanamnese an. Andererseits wird das Risiko durch hohe Blutspiegel von Gonadotropinen und Superovulationen erhöht. Es gibt Hinweise, dass mehrmalige künstlich ausgelöste Superovulationen, wie sie zur Behebung der ungewollten Kinderlosigkeit angewendet werden, mit einer höheren Ovarialkrebsinzidenz einhergehen. Diese Deutung ist allerdings nicht unwidersprochen geblieben, da ungewollte Kinderlosigkeit per se ein bedeutender Risikofaktor ist (Auranen et al. 2005; Landen et al. 2008). Die Gefahr scheint eher von der Ovulation als von den Gonadotropinen auszugehen. So entfaltet Hormonersatztherapie in der Postmenopause keinen protektiven Effekt, obwohl sie nachweislich die FSH- und LH-Blutspiegel senkt (Auranen et al. 2005).
267 11.6 · Prostatakarzinom
. Abb. 11.11. Die Wahrscheinlichkeit lokaler Entzündungen, der Freisetzung potenziell gentoxischer, reaktiver Sauerstoffspezies (ROS) und der Entwicklung von Ovarialkrebs wird durch Unterdrückung der Ovulation vermindert. LH luteotropes Hormon; FSH follikelstimulierendes Hormon; GnRH Gonadotropin-releasing-Hormon
Der diesen Beobachtungen zugrunde liegende pathogenetische Mechanismus wird in der mit jeder Ovulaton verbundenen Verwundung des Oberflächenepithels vermutet (. Abb. 11.11). Dabei wurde die entzündungsbedingte Entstehung von Sauerstoffradikalen nachgewiesen, die in der Folge promutagene DNA-Veränderungen und Doppelstrangbrüche hervorrufen und Tumorinitiation auslösen können (Murdoch 2005). Das Krebsrisiko erhöht sich zusätzlich, wenn Keimzellmutationen des BRCA1- oder BRCA2-Gens und damit verbundene Störungen der Reparatur von DNA-Doppelstrangbrüchen vorliegen (7 Abschn. 11.3.2). Ebenso besteht bei jeder Ovulation die Gefahr von Einstülpungen des Oberflächenepithels und von Vernarbungen, die in weiterer Folge zur Bildung von Inklusionszysten führen können. Es wird diskutiert, dass diese Zysten in einem Milieu hoher Hormonkonzentrationen einen tumorpromovierenden Stimulus erfahren und ein abnormes Wachstum entwickeln (Auranen et al. 2005; Landen et al. 2008). Beim Syndrom des polyzystischen Ovars besteht – trotz ausbleibender Ovulationen – ein erhöhtes Ovarialkarzinomrisiko. Somit sind vermutlich mehrere pathogenetische Mechanismen bedeutsam.
11.6
Prostatakarzinom
11.6.1 Risikofaktoren
Das Prostatakarzinom ist eine der fünf häufigsten Krebserkrankungen beim Mann mit einer ausgeprägten Abhängigkeit von Alter sowie ethnischer und geografischer Zugehörigkeit (Parkin
11
et al. 2005). Die höchste Prostatakarzinominzidenz mit 1 von 7 Männern tritt bei über 65-Jährigen auf; in dieser Altersgruppe ist das Prostatakrebsrisiko im Vergleich zu 50- bis 54-Jährigen um das 20-fache erhöht. Familiäre Häufungen lassen bei <10% der Erkrankungen eine ursächliche Rolle vererbbarer Prädispositionen vermuten (Shand u. Gelmann 2006). Männer mit einer heterozygoten Keimbahnmutation des BRCA1- oder BRCA2-Gens vom Typ der Ashkenazi-GründerMutation tragen ein gering erhöhtes Risiko, an Prostatakrebs zu erkranken. Die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung scheint sich jedoch deutlich um das ca. 4-fache zu erhöhen, wenn das BRCA2-Gen Deletionen aufweist (Edwards et al. 2003; Kirchhoff et al. 2004). Einige Studien zeigen, dass BRCA1 und BRCA2 als Koregulatoren die transkriptionelle Aktivität des Androgenrezeptors stimulieren (Shin u. Verma 2003). Es ist bislang nicht geklärt, ob ein mutationsbedingter Funktionsverlust dieser Gene die Tumorentwicklung in testosteronabhängigen Epithelien beeinflusst (7 Abschn. 11.6.2). Auffallend ist, dass die Inzidenz des latenten Karzinoms weltweit annähernd gleich ist; bei etwa 60% der 80-jährigen Männer finden sich histologisch erkennbare mikrofokale Krebsstadien. Die Wahrscheinlichkeit einer klinischen Manifestation ist regional jedoch sehr unterschiedlich; die niedrigsten Prostatakrebsraten treten in Asien und die höchsten in Nordamerika und Nordeuropa auf. Die höchste Inzidenz und Mortalität weisen USAmerikaner afrikanischer Herkunft mit einem doppelt so hohen Risiko wie weiße Amerikaner auf (Parkin et al.2005). Diese Beobachtungen lassen erkennen, dass zusätzlich zu genetischen Faktoren Umweltfaktoren als »Tumorpromotoren« zur klinischen Manifestation des Prostatakarzinoms beitragen. Hierzu sind vermutlich die heutigen Lebens- und Ernährungsgewohnheiten zu rechnen (Sugimura 2000; Crawford 2003; Thompson 2007; Zeigler-Johnson et al. 2008). 11.6.2 Androgene als Tumorpromotoren
Im Tierexperiment lassen sich Prostatatumoren durch gentoxische Chemikalien wie Nitrosamine und PAK auslösen. Androgene wirken als Wachstumsfaktoren für die normale Prostata und können präferenziell das Wachstum von Prostatatumoren stimulieren (Noble 1977). Im Zytoplasma der Zielzelle wird Testosteron enzymatisch zu 5α-Dihydrotestosteron umgewandelt, das an den AR stärker als Testosteron bindet und somit in der Prostata als der eigentliche androgene Wirkstoff anzusehen ist. Nach Entzug von Androgenen durch Kastration oder Aufhebung ihrer Wirkung durch Antiandrogene (Zyproteronazetat, Flutamid) kommt es zu einer Regression der Prostata und – präferenziell – der Tumoren. Im Tierexperiment erfolgt sie durch massive Auslösung von Apoptosevorgängen (Isaacs 1998; McKenzie u. Kyprianou 2006). Steigerung des Androgenspiegels löst erneutes Tumorwachstum aus. Androgene erfüllen damit die Kriterien endogener Tumorpromotoren. Beim Menschen wirken Androgene ebenfalls als potente Tumorpromotoren in der Prostata. Entzug des Promotors durch Antiandrogenbehandlung führt analog zum Tierexperiment in vielen Fällen zur Regression des Tumors (Daskivich u. Oh 2006). Junge Männer, die an einer genetisch bedingten Defizienz des Schlüsselenzyms der Dihydrotestosteron-Biosynthese (5α-Reduktase Typ 2) leiden, entwickeln kein Prostatakarzinom. Angesichts dieser Erkenntnis und der hohen Inzidenz latenten Krebses
268
Kapitel 11 · Hormone und Krebs
11
. Abb. 11.12a–c. AR-agonistische Wirkung des Antiandrogens Bicalutamid in Gegenwart von IL-1β. a Nach Bindung des Antiandrogens (A) assoziiert der AR mit dem Kernhormon-Korepressor (CoR). Dies führt zur Rekrutierung von Histon-Deazetylasen (HDAC), die die Transkription unterdrücken. b Das proinflammatorische Zytokin IL-1β induziert die Phosphorylierung eines nukleozytoplasmatischen Shuttle-Proteins TAB2 durch MEKK1. c In der Folge kommt es zur Konformationsänderung von TAB2, einer Komplexbildung von TAB2 mit CoR, und einer Translokation des TAB2/CoR-Komplexes in das Zytoplasma. Die anschließende Rekrutieren von Koaktivatoren (CoAk) zusammen mit Histon-Azetyltransferasen (HAT) führt zur Reaktivierung des Gens
enzyme oder 5-alpha-Reduktase (Singh et al. 2005; Cunningham et al. 2007). Die bisher durchgeführten Studien waren in ihren Fallzahlen zu gering, um weiterreichende Schlussfolgerungen zu erlauben. Die AR-vermittelte Signalkaskade hat für die Entwicklung und das Wachstum von Adenokarzinomen der Prostata die größte Bedeutung, weil normale sowie neoplastische Epithelzellen in vielen Entwicklungsstufen androgenabhängig sind. Bei ca 10% der untersuchten Prostatakarzinome liegen eine oder mehrere Mutationen im AR vor. Meist sind die Ligandenbindungs- und Transaktivierungsdomäne des Rezeptors durch Austausch einzelner Nukleotide im Sinne einer »Gain-of-function«-Mutation (z. B. vermehrte Transaktivierung) betroffen. Die bekannten ARMutationen sind in einer Datenbank veröffentlicht (http://androgendb.mcgill.ca/; Gottlieb et al. 2004; etwa 600 Mutationen). Eine häufige AR-Mutation führt zum Austausch von Threonin durch ein Alanin im Kodon 877, die sowohl bei Tumorpatienten als auch in der experimentell verwendeten ProstataadenokarzinomZelllinie LNCaP gefunden wurde. Im Gegensatz zum Wildtyp wird diese AR-Mutante durch Östrogene, Gestagene und sogar durch Antiandrogene aktiviert. Die Progression zum hormonunabhängigen Phänotyp scheint demnach in vielen Fällen nicht mit Verlust oder Inaktivierung des AR-Rezeptors, sondern vielmehr mit dessen veränderter Spezifität und Hyperaffinität gegenüber Steroidhormonen einherzugehen. Dies erklärt die Beobachtung, dass ein Absetzen der Antiandrogentherapie bei vielen Patienten eine Verbesserung der klinischen Parameter bewirken kann (Daskivich u. Oh 2006). Zusätzlich zur gesteigerten Affinität von AR-Mutanten für nichtphysiologische AR-Liganden dürfte auch ein »Crosstalk« zwischen Wachstumsfaktor- und AR-Signalkaskade zum Erwerb der Androgenunabhängigkeit der Prostatakarzinome beitragen. Wachstumsfaktoren der EGF-, der FGF- und der IGF-Familien scheinen dabei besonders involviert zu sein (Heinlein u. Chang 2004; McKenzie u. Kyprianou 2006). Ein weiterer möglicher Resistenzmechanismus wurde kürzlich beschrieben. Bei Einwirken des proinflammatorischen Zytokins IL-1β kann ein Antiandrogen zu einem Rezeptoragonisten mit transkriptionsstimulierender Aktivität werden. Der zugrunde liegende molekulare Mechanismus ist in . Abb. 11.12 ersichtlich. So können Infiltration eines Tumors mit IL-1β produzierenden Makrophagen oder lokale Entzündungsprozesse zur Resistenzentwicklung des Tumors gegenüber Antiandrogenen beitragen (Zhu et al. 2006). 11.6.3 Mögliche Rolle von Östrogenen
bei älteren Männern wurden prospektive Präventionsstudien mit Inhibitoren der 5α-Reduktase (Finasterid, Dutasterid) durchgeführt. Nach Gabe von Finasterid wurde das Krebsrisiko innerhalb von 7 Jahren um etwa 25% gesenkt. Die Tumoren, die sich in der behandelten Gruppe entwickelten, waren jedoch weiter fortgeschritten (Thompson 2007). Es wird diskutiert, dass durch Finasterid-Behandlung nicht ausreichend 3β-Androstandiol im Prostatagewebe gebildet wurde. Dieser Steroidmetabolit ist ein Ligand des ERβ, der den wachstumsstimulierenden Effekt des ERα antagonisiert (7 Abschn. 11.6.3; Imamov et al. 2005). Vermutlich existiert auch ein kausaler Zusammenhang zwischen einem erhöhten Prostatakrebsrisiko und Polymorphismen von Genen, die für das AR-Protein und für Enzyme der Steroidbiosynthese kodieren, wie z. B. verschiedene Zytochrom-P450-Iso-
Klinisch manifeste Adenokarzinome der Prostata bilden sich fast immer bei älteren Männern, bei denen die Androgenspiegel langsam sinken und sich das Androgen-Östrogen-Verhältnis zugunsten der Östrogene verschiebt. Die Prostata ist ein östrogenresponsives Organ und exprimiert ERα in den Stromazellen und ERβ überwiegend im Epithel. Die physiologische Bedeutung dieser Rezeptoren ist noch weitgehend ungeklärt (Ricke et al. 2007). In Tierexperimenten zeigte sich, dass die Prostata während ihrer Entwicklung besonders empfindlich gegenüber exogen zugeführten Östrogenen oder erhöhten endogenen Östrogenspiegeln ist. Kurze perinatale Östrogenbehandlung von Ratten oder Mäusen führt zu persistierenden Veränderungen in der Prostata, wie vermehrte Proliferation, Inflammation und in weiterer Folge dysplastische Epithelveränderungen (Santti et al.
269 11.7 · Hodentumor
1994). Männliche ERβ-Knock-out-Mäuse zeigen eine Prostatahyperplasie. Offenbar wird das Wachstum der Prostata durch den ERβ gebremst. Auf molekularer Ebene konnte gezeigt werden, dass der ERβ die transkriptionelle Aktivität des ERα verringert. Ferner gibt es Berichte, wonach der ERβ die Konzentration des AR in der Prostata senkt (Hall u. McDonnell 1999; Omoto et al. 2005). Möglicherweise fördert ein relatives Überwiegen von ERα bzw. von Östrogenen das gut- und bösartige Wachstum dieses Organs (Krege et al. 1998). Entsprechend wurde in Tierexperimenten durch Kombination von Östrogenen mit Androgenen die Entwicklung von Prostatatumoren besonders wirksam promoviert (Leav et al. 1988; Leav et al. 1989; Santti et al. 1994). In einem transgenen Mausmodell, in dem sich androgenabhängige Tumoren entwickeln, wirkte neben dem Antiandrogen Flutamid auch der SERM Toremifen chemopräventiv (Raghow et al. 2002). In der Prostata des Menschen scheinen Östrogene ebenfalls eine wachstumsfördernde Wirkung zu entfalten. In explantiertem Prostatagewebe in Organkulturen führte die Behandlung mit Östrogenen zur Auslösung von replikativer DNA-Synthese (Nevalainen et al. 1993). Phytoöstrogene wie Genistein und Coumöstrol in pflanzlicher Nahrung binden präferenziell an den transkriptionell minder aktiven ERβ. Es ist denkbar, aber nicht bewiesen, dass das geringere Prostatakarzinomrisiko bei überwiegend vegetarischer Ernährung, z. B. bei Sieben-Tage-Adventisten, auf einer Aktivierung des (schützenden) ERβ beruht (Mills et al. 1989; Maggee u. Rowland 2004; Sirtori et al. 2005). Basierend auf dem erfolgreichen Einsatz von Toremifen in Tierversuchen wurden klinische Studien an einem kleinen Kollektiv mit intraepithelialen Prostataneoplasien durchgeführt. Bei 72% der behandelten Männer war nach Behandlung ein Rückgang der Neoplasien zu beobachten (Steiner u. Pound 2003).
11
dig-Zellen. Der pathogenetische Mechanismus besteht in den meisten Fällen in einer längerfristigen Verminderung der Steroidhormonbiosynthese in diesen Zellen, die mit einer erhöhten Ausschüttung von LH und bei Nagetieren mit einer oft unkontrollierten Vermehrung der Leydig-Zellen beantwortet wird. Während beim Mann nur wenige Prozent aller Hodentumoren von Leydig-Zellen abstammen, ist diese Tumorart bei Ratte und Maus sehr häufig. Die Tumorentwicklung bei den Nagetieren dürfte auf eine große Empfindlichkeit gegenüber Störungen der hypothalamisch-hypophysären Achse beruhen. Eine Bedeutung für den Menschen ist daher sehr fraglich (Cook et al. 1999). 11.7.1 Risikofaktoren für Keimzelltumoren
Der Keimzelltumor ist der häufigste bösartige Tumor des jungen Mannes zwischen 20 und 35 Jahren; das Lebenszeitrisiko des Mannes, an einem Hodentumor zu erkranken, beträgt etwa 0,5% (Parkin et al. 2005). Seit einigen Jahrzehnten ist ein kontinuierlicher Anstieg der Inzidenz von Hodentumoren zu verzeichnen, die Ursachen sind unbekannt. Die Vorstufe des Keimzelltumors (intratubuläre Keimzellneoplasie, IGCN) dürfte aus primordialen Keimzellen entstehen und bereits bei der Geburt vorhanden sein. Leydig-Zell- und Sertoli-Zell-Tumoren machen nur etwa 2–3% der Hodentumoren aus.
Meist sind jüngere Männer von Keimzelltumoren des Hodens betroffen und es liegt die Vermutung nahe, dass die initiierende Noxe früh im Leben wirksam wird. Bei ca 10% der Betroffenen lag bei der Geburt ein Hodenhochstand (Kryptorchismus) vor, der ein prädisponierender Faktor ist (Strader et al. 1998). Der Abstieg des Hodens (Descensus testis) verläuft in zwei Phasen als transabdominaler und transinguinaler Abstieg. Er wird in der ersten Phase vor allem durch das Wechselspiel von Insulinlike-Factor 3, Östrogenen und der Müllerian Inhibiting Substance (7 Abschn. 11.2.2) und in der zweiten Phase durch Androgene aus dem reifenden Hoden gesteuert (Ferlin et al. 2007). Beim überwiegenden Teil der Fälle mit Kryptorchismus liegt ein inguinal positionierter Hoden vor. Es ist bislang nicht geklärt, ob frühe Störungen des Hormonhaushaltes am Hodenhochstand und damit indirekt an der späteren Erhöhung des Krebsrisikos beteiligt sind. Eine Korrektur des Kryptorchismus vor dem 10. Lebensjahr kann das Hodentumorrisiko weitgehend normalisieren. In tierexperimentellen Studien hemmt Diethylstilböstrol (DES) die Regression des Müller-Ganges durch Interferenz mit der Müllerian Inhibiting Substance nicht nur bei weiblichen, sondern auch bei männlichen Nachkommen (McLachlan et al. 1975). Östradiol und DES vermindern zusätzlich die Expression von Insulin-like-Factor 3 in fetalen Leydig-Zellen, dem zweiten wichtigen Faktor für den Abstieg (Emmen et al. 2000; Ferlin et al. 2007). Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Hodenretention (McLachlan et al. 1975; Hogan et al. 1987). Es gibt gewisse Hinweise dafür, dass auch beim Menschen In-utero-Exposition mit DES Kryptorchismus auslösen kann (Gill et al. 1979; Martin et al. 2008).
Luteotropes Hormon als Promotor von Leydigzelltumoren Im Tierexperiment wurde eine Entwicklung von LeydigZell-Tumoren nach Schädigung des Hodengewebes bzw. Auslösung einer Hodenatrophie durch Gabe von verschiedensten Fremdstoffen, wie z. B. Schwermetallen (Kadmium, Blei), Lösungsmitteln (Methylbutylether, Trichlorethylen), Fungiziden (Folpet), Weichmachern (Phthalate), Kalziumkanalblockern (Felodipin, Nimodipin), Kohlenwasserstoffen (Flugpetroleum) oder Hypolipidämika (Gemfibrozil, Clofibrat) beobachtet. Auch verschiedene Störungen in der Wirkung der Steroidhormone (Agonisten der Gonadotropine, des GnRH und des Dopaminrezeptors, AR-Antagonisten oder Inhibitoren der Testosteron- und Östrogenbiosynthese) zeigten einen tumorigenen Effekt auf Ley-
Gestörte Ausreifung primitiver Keimzellen. Einige Berichte weisen auf ein gesteigertes Risiko für Hodenkrebs bei erhöhtem pränatalen Östrogenspiegel der Mutter hin (Depue et al. 1983; Storgard et al. 2006). In den wenigen existierenden epidemiologischen Studien wurde etwa eine Verdoppelung des Tumorrisikos bei in utero DES-exponierten Nachkommen beschrieben (Giusti et al. 1995; Strohsnitter et al. 2001; Martin et al. 2008). Als pathogenetischer Mechanismus wird postuliert, dass erhöhte Östrogenspiegel mit der Ausreifung primitiver Keimzellen im Embryo/ Fetus interferieren, indem sie die Sekretion der Müllerian Inhibiting Substance aus den Sertoli-Zellen reduzieren. Diese entwicklungsretardierten Zellen könnten bis zum Beginn der Pubertät als IGCN persistieren und unter dem Einfluss der Gonadotropine einen Wachstumsstimulus erfahren.
11.7
Hodentumor
270
Kapitel 11 · Hormone und Krebs
11.8
Schilddrüsenkarzinom
11.8.2 Initiation und Promotion der Schilddrüsen-
karzinogenese des Menschen 11.8.1 Tierexperimentelle Grundlagen
11
Einige Nitrosamine und aromatische Amine sowie radioaktive Strahlen sind Tumorinitiatoren in der Schilddrüse des Versuchstieres. Als Tumorpromotoren wirken solche Substanzen, die die Konzentration der Schilddrüsenhormone im Serum senken, wie z. B. Hemmstoffe der Hormonsynthese (Thioharnstoffderivate, Thyreostatika, Inhaltsstoffe von Kohl, Kraut, Senf oder Rettich, jodarme Nahrung, bestimmte Herbizide), Hemmstoffe der Hormonsekretion (polychlorierte Biphenyle, Lithium) und Induktoren des Hormonabbaus in der Leber (Phenobarbital) (Tan u. Zoeller 2007). Sie induzieren via Senkung der zirkulierenden Spiegel von Schilddrüsenhormonen eine Erhöhung der Ausschüttung des Thyreotropins (TSH) durch die Hypophyse. TSH stimuliert die Hormonsynthese in der Schilddrüse und zugleich eine Hyperplasie des Organs. Hypophysektomie oder Zufuhr von Thyroxin verhindern die (erhöhte) Sekretion von TSH und damit auch die tumorpromovierende und kanzerogene Wirkung der genannten Stoffe. Sie sind also typische indirekt wirkende Tumorpromotoren, die ein Hormonungleichgewicht auslösen, das seinerseits direkt für die Tumorpromotion verantwortlich ist (McClain 1995). TSH löst in der Schilddrüse initial eine erhöhte Zellteilungsaktivität aus. Diese bildet sich bei kontinuierlich erhöhten TSHSpiegeln zurück, die erzeugte Hyperplasie bleibt jedoch bestehen. Offensichtlich werden die Schilddrüsenzellen unempfindlich gegenüber der mitogenen Wirkung von TSH, obwohl sie weiterhin erhöhte funktionelle Aktivität zeigen. Dagegen bleiben präneoplastische Zellen empfindlich gegenüber dem Proliferationsstimulus durch kontinuierliche TSH-Erhöhung (Tumorpromotion). Dies wurde auf eine zusätzliche Eigenproduktion von Wachstumsfaktoren (autokrine Wachstumsstimulation) zurückgeführt (McClain 1995).
Maligne Tumoren der menschlichen Schilddrüse sind in der Regel selten. In Analogie zum Versuchstier entwickeln sie sich häufig in einer (nodulären) Hyperplasie (Struma). In Weißrussland, der Ukraine und Südwestrussland ist in den Jahren nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl die Inzidenz papillärer Schilddrüsenkarzinome stark angestiegen (UNDP 2002). Dies macht sich vor allem bei Kindern bemerkbar, bei denen diese Erkrankung eigentlich sehr selten vorkommt. In dem am stärksten mit radioaktivem Niederschlag kontaminierten Gebiet, dem weißrussischen Verwaltungsbezirk Gomel, wird nach Schätzungen der WHO ein Drittel der Kinder, die zum Unglückszeitpunkt jünger als 4 Jahre waren, im Laufe des Lebens an Schilddrüsenkrebs erkranken. Ausgelöst wird diese Tumorerkrankung nach Exposition mit 131Jod, das in der Schilddrüse in Trijodthyronin und Thyroxin eingebaut wird, sich dadurch in diesem Organ bis zu ca. 1000-fach anreichern kann und β- und γ-Strahlung emittiert. Dies führt zu Mutationen vor allem im RET-Protooncogen und einer Initiation der Schilddrüsenkarzinogenese (Rabes et al. 2000). Viele der in Versuchstieren tumorpromovierenden Substanzen führen auch in der Schilddrüse des Menschen zu einer Wachstumsreaktion. So werden Jodmangel und Verzehr von Kohl (Inhaltsstoff Glucobrassicin) für die Entstehung eines Kropfes in europäischen Regionen mitverantwortlich gemacht. Nach therapeutischer Anwendung von Hemmstoffen der Schilddrüsenfunktion wurde ein erhöhtes Auftreten von Adenomen oder Karzinomen der Schilddrüse bisher nicht dokumentiert (McClain 1995). Dennoch gibt es Hinweise auf die tumorpromovierende Wirkung von TSH beim Menschen. Bei Kindern, die nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl 131Jod ausgesetzt waren, konnte das Risiko für Schilddrüsenkarzinome auf 30% gesenkt werden, wenn Kaliumjodid als Nahrungsergänzung verabreicht wurde. Diese Prophylaxe war selbst dann wirksam, wenn mit der Einnahme etliche Monate nach dem Reaktorunglück, d. h. nach der höchsten Exposition der Schilddrüse gegenüber radioaktivem Jod, begonnen wurde (Cardis et al. 2005). Da die Kinder an einer Unterversorgung mit Jod litten, dürfte die prophylaktische Wirkung auf einer Reduktion der Spiegel an tumorpromovierenden TSH durch die Nahrungssupplementation beruhen.
Zusammenfassung Hormone binden an spezifische Rezeptorproteine; der HormonRezeptor-Komplex wirkt zusammen mit Aktivatoren, Repressoren und anderen Kofaktoren als Transkriptionsfaktor für bestimmte Gene. So wird über molekulare Interaktionen in der Zelle ein hormonspezifischer biologischer Effekt ausgelöst. Die Wirkung eines Hormons am Rezeptor kann medikamentös vollständig oder teilweise oder nur in bestimmten Geweben blockiert werden [komplette Antagonisten oder selektive Hormonrezeptormodulatoren (SERM)]. Gemäß dem Mehrstufenmodell der Karzinogenese wird für einige wenige Hormone (in erster Linie Östrogene) über intrazelluläre Radikalbildung ein mutagenes und damit tumorinitiierendes Potenzial diskutiert. Der wichtigste Effekt von Hormonen bei der Krebsentstehung dürfte auf ihrer wachstumsstimulierenden Wirkung im Zielorgan beruhen, die besonders präneoplastische Zellen betrifft und damit 6
zu selektivem Wachstum der Präneoplasie führt (Tumorpromotion). Eine vermehrte Hypophysenfunktion mit gesteigerter Ausschüttung von TSH, STH, Gonadotropinen und Prolaktin scheint durch die Förderung von Wachstumsvorgängen im Organismus indirekt auch das Wachstum von Tumoren zu begünstigen (zu promovieren). »Umweltöstrogene« umfassen Industriechemikalien, Pestizide oder natürliche Stoffe aus Pflanzen (Phytoöstrogene) und Pilzen. Tier und Mensch sind stets gleichzeitig gegenüber vielen dieser Chemikalien in niedrigen Konzentrationen exponiert. Die bekannten Umweltöstrogene besitzen meist eine wesentlich geringere ER-Affinität als körpereigene Östrogene und können agonistisch oder antagonistisch wirken. Nach dem derzeitigen Stand des Wissens ist ein signifikanter Effekt von Umweltöstrogenen auf die Gesundheit unwahrscheinlich.
271 11.8 · Schilddrüsenkarzinom
Das Malignom der weiblichen Brust ist die häufigste Krebstodesursache bei Frauen in Mittel- und Nordeuropa. Es entwickelt sich stufenweise über verschiedene Vorstadien. Bei ca. 5–10 % der Fälle sind Keimzellmutationen des BRCA1- oder BRCA2-Gens ursächlich beteiligt. Darüber hinaus scheinen besonders in der Wachstumsphase der Pubertät gentoxische Einflüsse durch Tabakkonsum oder Bestrahlung tumorinitiierend zu wirken. Nicht gentoxische Mechanismen infolge bestimmter Lebens- und Ernährungsgewohnheiten fördern die Manifestation des Tumors. Viele Tumoren wachsen abhängig von Östrogenen oder Gestagenen und regredieren bei Antihormonbehandlung; die Wirkung der natürlichen Hormone lässt sich als Tumorpromotion und diejenige des Hormonentzugs als Antipromotion beschreiben. Krebs der Gebärmutterschleimhaut wird durch eine Hormonimbalance zugunsten des Östrogens, wie z. B. durch manche SERM oder unausgewogene Hormonersatztherapie, gefördert. Diese promoviert die Entwicklung von Tumorvorstufen zum Endometriumkarzinoms. Behandlung mit dem synthetischen Östrogen DES im ersten Schwangerschaftstrimenon blockiert die vollständige Regression des Müller-Ganges in weiblichen Embryonen und führt zur Ausbildung von Adenokarzinomen der Vagina während und nach der Pubertät. Eine ungebremste bzw. gesteigerte Ausschüttung von Gonadotropinen scheint durch die Auslösung der Ovulation bzw.
11
von Superovulationen die Bildung von Vernarbungen und Zysten und dadurch indirekt die Entwicklung von Tumoren des Ovarialepithels zu begünstigen. Androgene stimulieren das Wachstum der normalen Prostata und besonders stark dasjenige der Prostatatumoren. Nach Entzug von Androgenen kommt es daher zu einer präferenziellen Regression von Tumorgewebe. Progression des Prostatakarzinoms führt zum androgenunabhängigen Phänotyp. Daran dürften Mutationen des AR beteiligt sein, die eine Aktivierung des Rezeptors durch Östrogene, Gestagen und sogar durch Antiandrogene bewirken. Es erkranken fast immer ältere Männer mit abnehmendem Androgenspiegel und einem relativen Überwiegen von Östrogenen. Diese Verschiebung im Androgen-Östrogen-Verhältnis dürfte das gut- und bösartige Wachstum der Prostata fördern. Epidemiologische Studien zeigen, dass vegetarische Ernährung das Erkrankungsrisiko senkt. Dafür ist möglicherweise das Vorkommen natürlicher ER-Liganden in pflanzlicher Nahrung verantwortlich. Maldeszensus des Hodens erhöht das Risiko für Hodenkrebs. Es wird diskutiert, ob Störungen des Steroidhormonhaushaltes in der Embryonal-/Fetalzeit am Maldeszensus beteiligt sind. Solche hormonellen Störungen interferieren möglicherweise auch mit der Ausreifung der Keimzellen, die als entwicklungsretardierte Zellen persistieren und unter dem Einfluss der Gonadotropine in der Pubertät einen Wachstumsstimulus erfahren können.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
12 Rauchen und Krebs K.-M. Müller, T. Wiethege
12.1
Tabakassoziierte Tumoren
12.2
Mechanismen der Kanzerogenese als Folge des Rauchens
12.3
Ausblick
– 279
Literatur – 280
– 274 – 277
273 12 · Rauchen und Krebs
> Einleitung
12
Schwerwiegende Gesundheitsstörungen durch chronisches Takakrauchen sind seit mehr als 50 Jahren wissenschaftlich belegt. Die Suchterzeugung des Nikotins ist lange dokumentiert, aber erst seit knapp 20 Jahren offiziell anerkannt (US Department of Health and Human Services 1988). Die Mechanismen der Suchterzeugung durch das hydrophile ionisierte Nikotin mit vielfältigen Wirkungen über zentrale psychoaktive Transmitter, besonders Dopamin und die Endorphine Noradrenalin und Vasopressin sowie Mechanismen der molekularen Ansatzpunkte der mehr als 60 bekannten Kanzerogene in mehr als 3.000 chemischen und gasförmigen Substanzen des Tabakrauches sind heute wissenschaftlich gut belegt (Übersicht s. Batra 2005; Scheidt 2006). Kommerzielle und politische Gesichtspunkte erschweren bis heute Maßnahmen zur Tabakprävention, wobei in den letzten Jahren die auch öffentliche Diskussion zu einem Brennpunkt werden konnte. Die Steuereinnahmen aus der Tabaksteuer belaufen sich auf jährlich 14 Mrd. Euro, entsprechend 5,5% des deutschen Bundeshaushaltes. Rauchverbote in öffentlichen Gebäuden und Restaurants sowie der Nichtraucherschutz sind in der täglichen Diskussion und werden zunehmend umgesetzt. Dennoch rauchen zurzeit in Deutschland noch ca. 17–20 Mio. Menschen. 7 Mio. Menschen gelten als tabakabhängig bzw. nikotinsüchtig (Haustein 2001). In den letzten Jahren hat sich im Rauchverhalten der Bevölkerung ein bemerkenswerter Wandel vollzogen. Die Anzahl rauchender Männer im Erwachsenenalter nimmt kontinuierlich ab. Bei Frauen ist in den vergangenen 40 Jahren ein fast linearer Anstieg des Zigarettenkonsums zu registrieren. Aktuell sind 35% der Männer und 22% der Frauen aktive Raucher. Im demografischen Spektrum führt die Gruppe der 18- bis 30-jährigen Raucher mit einem Anteil von mehr als 40% die Häufigkeitsskala an (Statistisches Bundesamt 2006). Die seit 1980 deutlich rückläufigen Zahlen verkaufter Zigaretten pro Kopf der Bevölkerung von 2.200 (1980) auf 1.200 im Jahre 2005 (= 5 bzw. 3 Zigaretten pro Kopf pro Tag) müssen unter dem Aspekt des Tabak-Gesamtkonsums kritisch gesehen werden, da Produktion und Verkauf von Tabakfeinschnitt von 31 Tonnen im Jahr 1994 auf 66 Tonnen im Jahr 2004 zugenommen haben (. Abb. 12.1). 2005 wurden 263 Mio. Zigaretten pro Tag in Deutschland geraucht. Der Rückgang des Zigarettenkonsums ist wohl maßgeblich durch die Erhöhungen der Tabaksteuer während der letzten Jahre beeinflusst (Statistisches Bundesamt 2005). Nach jahrelang kontrovers geführten Diskussionen ist dem Passivrauchen als Krankheitsursache ebenfalls eine wesentliche Bedeutung beizumessen. Allein in Deutschland geht man derzeit von 3.000 vorzeitigen Todesfällen durch Passivrauchen aus (Bofetta 2002; Radon u. Nowak 2004) In Deutschland sterben jährlich bis 140.000 von 850.000 Menschen vorzeitig an den Folgen des Rauchens. Raucher verkürzen ihre Lebenserwartung um 5–9 Jahre, leben also rund 10% kürzer als Nichtraucher (Statistisches Bundesamt 2005). Die daraus resultierenden Gesamtkosten werden mit 20 Mrd. Euro pro Jahr für Deutschland berechnet und liegen damit deutlich über den Einnahmen durch die Tabaksteuer. Die Volkskrankheiten koronare Herzkrankheit, zerebrale Insulte und die chronische Bronchitis mit ihren Folgen (z. B. COPD) führen die Liste tabakrauchassoziierter Erkrankungen an, gefolgt von den bösartigen Tumoren (Fabel u. Konietzko 2005). Bei 425.000 jährlichen Neuerkrankungen an Krebs in Deutschland muss bei 35% der Fälle dem Tabakrauchen eine wesentliche Bedeutung beigemessen werden, wobei allein der Lungenkrebs mit 45.000 Erkrankungen beteiligt ist (Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e.V. u. Robert Koch Institut 2006). Weltweit sterben mehr als 6 Mio. Menschen an den Folgen bösartiger Tumorleiden. Bis zum Jahr 2020 wird diese Zahl wahrscheinlich auf über 10 Mio. Menschen steigen, wobei den Entwicklungsländern ein Anteil von rund 70% zufällt. Nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist der Tod als Folge eines bösartigen Tumorleidens bei 40– 45% der Männer und 10–15% der Frauen ursächlich auf das chronische Inhalationsrauchen oder den Genuss von Tabakprodukten in anderer Form (Zigarren, Pfeife, Schnupftabak) zurückzuführen. Schätzungen gehen davon aus, dass bei einer weltweiten Reduzierung des Tabakkonsums diese Zahlen in den entwickelten Industrienationen um bis zu 30% sinken würden. Mit dem Konsum von Tabakprodukten und der damit verbundenen Exposition gegenüber mehr als 60 sicher als kanzerogen identifizierten Inhaltsstoffen sind jedoch nicht nur 6
274
Kapitel 12 · Rauchen und Krebs
bösartige Tumoren assoziiert: Neben chronisch-entzündlichen und destruktiven Lungenerkrankungen (chronische Bronchitis, Emphysem; Müller 1986) sind als direkt tabakkonsumassoziierte Todesursachen vornehmlich kardiovaskuläre Erkrankungen, besonders die koronare Herzkrankheit und der Myokardinfarkt, dokumentiert. Insgesamt wurde die Zahl der Toten 1995 als Folge des Abusus an Tabakprodukten von der WHO weltweit auf rund 1,9 Mio. (1,4 Mio. Männer; 500.000 Frauen) geschätzt. Andere Schätzungen gehen von jährlich rund 3 Mio. Toten weltweit aus (Boyle 1997). Allein in den USA werden 30% aller Todesfälle und damit rund 440.000 Fälle auf den chronischen Tabakabusus zurückgeführt (Koh u. Geller 2005).
12
. Abb. 12.1. Gegenüberstellung des Anstiegs des Zigarettenkonsums 1910–2005 und Häufigkeitszunahmen bösartiger Lungentumoren bei Männern und Frauen seit 1940. Ausschnitt: Produktionssteigerung von Tabakfeinschnitt 1994–2005
12.1
Tabakassoziierte Tumoren
Unter den tabakkonsumassoziierten Tumoren stehen bösartige Krebserkrankungen der oberen und unteren Atemwege an erster Stelle (Parkin et al. 1994; Koh u. Geller 2005; . Tab. 12.1). Weltweit erkrankten im Jahr 2002 rund 1,35 Mio. Menschen an einem bösartigen Lungentumor. 90% der Lungentumoren bei Männern und 75% der Lungentumoren bei Frauen weltweit entstehen als Folge des chronischen Tabakabusus. Für Europa und Nordamerika geht man sogar davon aus, dass 95% der Lungentumoren bei Männern Folge des Tabakabusus sind (Parkin et al. 2005). Bezogen auf alle tabakkonsumassoziierten Krebserkrankungen betreffen schon heute 56% der Todesfälle die sog. Entwicklungsländer (Pisani et al. 1993). Fundierte Kenntnisse über den Zusammenhang zwischen Tabakabusus und der Entwicklung bösartiger Geschwülste sind nicht neu. Schon vor mehr als zwei Jahrhunderten, nämlich im Jahr 1761, beobachtete der Londoner Arzt John Hill einen direkten Zusammenhang zwischen dem Abusus von Schnupftabak und der Entstehung von bösartigen Geschwülsten in der Nase (Redmond 1970). Bis heute konnte eine kaum mehr überschaubare Zahl von epidemiologischen, klinischen und experimentellen Studien zeigen, dass Raucher gegenüber Nichtrauchern für die Entwicklung bösartiger Tumoren ein signifikant erhöhtes Risiko haben. Mehr als 30% (175.000) aller Krebstodesfälle pro Jahr werden in den USA als Folge des direkten oder indirekten Tabakkonsums gewertet (American Cancer Society 2006). Die Inhalation
von Tabakrauch ist führend verantwortlich für die Entwicklung von Tumoren der Lungen, des Mund- und Rachenraums und der Speiseröhre. Weiterhin fördern Tabakinhaltsstoffe maßgeblich die Entwicklung der Tumoren von Pankreas, Harnblase, Nieren, Magen, Genitalsystem, Speicheldrüsen und Darmtrakt und auch von Leukämien, besonders der akuten myeloischen Leukämie (. Tab. 12.2 und 12.3; Boyle 1997; Horn-Ross et al. 1997; Newcomb et al. 1995; Parkin et al. 1994, Koh u. Geller 2005). Die pathologisch-anatomische Diagnose eines bösartigen Tumors wird auch heute noch ganz überwiegend nach histomorphologischen und zytologischen Kriterien vorgenommen. Diese Parameter bilden die Basis für die histologische Typisierung und das Tumorgrading. Immunhistochemische Zusatzuntersuchungen sind wertvolle Ergänzungen für die gelegentlich schwierige histogenetische Ableitung der Tumoren. Die Methode der DNA-Zytometrie deckt vielfach neben den morphologischen Befunden heterogene Zellmuster in bösartigen Neoplasien auf. Aus dem Spektrum der Untersuchungsergebnisse und dem Ausbreitungsstadium (TNM-Stadium) lassen sich bedingt auch Prognosefaktoren zum Krankheitsverlauf des Tumorleidens ableiten (Müller et al. 1997; Müller et al. 2002). Für Organtumoren als Folge des Rauchens gibt es kein spezifisches morphologisches Tumorbild in den verschiedenen Organen. Die Diagnose wahrscheinlich tabakkonsumassoziiertes Krebsleiden kann nur bei Kenntnis anamnestischer, meist subjektiver Daten über Dauer und Ausmaß der Rauchgewohnheiten erfolgen. Auch die in den letzten 10 Jahren zu dieser Fragestellung durchgeführten umfangreichen molekularbiologischen Studien konnten für einzelne Tumorformen keine hochspezifischen, reproduzierbaren genetischen Anamolien aufzeigen, die mit Sicherheit einen Rückschluss auf eine tabakrauchassoziierte Genese des Tumorleidens erlauben würden (Travis et al. 2004). Für die einzelnen Organe bzw. Organsysteme ergibt sich derzeit die im Folgenden dargestellte Situation. 12.1.1 Lungentumoren
Die Inhalation von Tabakrauch ist die Hauptursache für die Entstehung bösartiger Lungentumoren (. Abb. 12.2; Parkin et al. 2005; Simonato et al. 2001; Koh u. Geller 2005Abb. 1). In Deutschland wurden 2004 bei rund 45.000 Neuerkrankungen gut 40.000 Todesfälle registriert. Es besteht eine klare Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen dem täglichen Tabakkonsum und der Inzidenz eines bösartigen Lungentumors. So ist das relative Risiko bei Rauchern, die über einen Zeitraum von 40 Jahren am Tag
12
275 12.1 · Tabakassoziierte Tumoren
. Tab. 12.1. Gesamtzahl jährlicher tabakkonsumassoziierter Krebstodesfälle. Für die Jahre 1990 und 2002 geschätzte weltweite jährliche tabakkonsumassoziierte Krebsmortalität nach Organen geordnet. (Daten aus Blum 1993 und Parkin et al. 2005) Tumor
Männer
Frauen
1990
2002
1990
2002
Lunge
605.510
763.319
162.092
248.090
Larynx
55.639
63.690
10.640
9.855
Mundhöhle
170.124
168.924
64.544
47.684
Ösophagus
162.785
203.706
83.109
93.548
Pankreas
30.599
34.668
32.697
36.543
Harnblase
43.347
50.906
12.603
13.579
Niere
23.113
30.094
4.056
4.704
Magen
73.156
75.829
65.282
63.574
Leukämie
21.829
25.028
17.348
19.473
69.081
84.787
521.452
621.837
Zervix Summe
1.186.102
1.416.164
. Tab. 12.2. Erhöhung des Risikos (Multiplikationsfaktor) bei Rauchern gegenüber Nichtrauchern für die Krebsmortalität. (Nach Blum 1993) Tumor
Männer
Frauen
Lunge
22,4
11,9
Larynx
10,5
17,8
Mundhöhle
27,5
5,6
Ösophagus
7,6
10,3
Pankreas
2,1
2,3
Harnblase
2,9
2,6
Niere
3,0
1,4
Magen
1,5
1,5
Leukämie
2,0
2,0
Zervix
. Tab. 12.3. Prozentuale Häufigkeit tabakassoziierter Tumoren an der Gesamtkrebsmortalität. (Nach Blum 1993) Tumor
Männer
Frauen
Lunge
90%
75%
Larynx
81%
87%
Mundhöhle
92%
61%
Ösophagus
78%
75%
Pankreas
29%
34%
Harnblase
47%
37%
Niere
48%
12%
Magen
17%
25%
Leukämie
20%
20%
Gebärmutterhals
–
31%
2,1
mehr als 20 Zigaretten konsumieren, gegenüber Nichtrauchern etwa um den Faktor 20–30 erhöht (US Department of Health and Human Services 1982). Das Lungenkrebsrisiko sinkt zwar tendenziell nach Einstellung des Tabakkonsums. Selbst nach 2– 9 Jahren der Tabakabstinenz besteht für Männer aber immer noch ein rund 19-fach und für Frauen ein rund 7-fach erhöhtes Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken. Auch nach über 30 rauchfreien Jahren liegt bei Männern das Risiko immer noch doppelt so hoch wie bei Nichtrauchern. Während die relative Zahl der Raucher an der Gesamtbevölkerung in den Industrienationen in den letzten 10 Jahren um jährlich 0,5% gesunken ist, nimmt die Zahl der neu diagnostizierten Lungentumoren bei Männern nach einem Plateau langsam ab. Dagegen ist die Zunahme von rund 5% jährlich bei Frauen
unverändert (. Abb. 12.1). Bei der Entstehung bösartiger Lungentumoren muss berücksichtigt werden, dass sich bei Rauchern berufliche oder milieubedingte Expositionen gegenüber zusätzlichen Kanzerogenen (z. B. Asbest, Radon) vielfach nicht nur additiv, sondern bedingt auch deutlich überadditiv im Sinne einer Synkanzerogenese auf das Risiko auswirken können (Wiethege u. Müller 1999). Produktspezifische histomorphologische Wachstumsmuster? Alle wesentlichen histomorphologischen Wachstumsmuster bösartiger Tumoren – Plattenepithelkarzinome, Adenokarzinome und kleinzellige Karzinome – werden beim sog. »Raucherkrebs« gefunden. Auch wenn es als Folge des Rauchens kein
276
a
Kapitel 12 · Rauchen und Krebs
a
b
c
d
b
. Abb. 12.3a–d. Makroskopische Befunde bösartiger Kehlkopftumoren bei Rauchern. Tumoren im supraglottischen (a), glottischen (b, d) und epiglottischen (c) Bereich; teilweise papillöses Wachstumsmuster, zentrale Nekrosen und Ulzerationen c
12
d
. Abb. 12.2a–d. Makroskopische Befunde bösartiger Lungentumoren bei langjährigen starken Rauchern. Im tumorfreien Lungengewebe variable Bilder der Kondensatpneumopathie; a zentraler Tumor mit Infiltration der mediastinalen Lymphknoten und des Herzbeutels; b fortgeschrittener intermediär vom Bronchialsystem ausgehender Lungentumor mit ausgedehnter sekundärer Retentionspneumonie; c peripherer Lungentumor mit breitflächiger Infiltration der Pleura; d peripherer Lungentumor mit Einlagerung partikulärer gelb-schwarzer Fremdstoffe
spezifisches histomorphologisches Wachstumsmuster gibt, wird in den letzten Jahren gerade bei Raucherinnen ein kontinuierlicher Anstieg von Adenokarzinomen registriert (Boyle et al. 1995; Damber et al. 1986; Hoffmann et al. 1997; Muscat et al. 1995; Pohlabeln et al. 1997; Travis et al. 2004). Der Grund für diese Verschiebung der relativen Anteile verschiedener histomorphologischer Wachstumstypen muss in geänderten Produktionsverfahren, den damit verbundenen geänderten Tabakinhaltsstoffen und einem hieraus abzuleitenden geänderten Rauchverhalten mit einer tieferen Inhalation der Karzinogene gesucht werden. So sank in den Vereinigten Staaten der durchschnittliche Anteil von »Teer (Kondensat) in den Zigaretten von 38 mg 1954 auf 12 mg im Jahr 1992. Im gleichen Zeitraum reduzierte sich der Anteil von Nikotin von 2,7 auf 0,95 mg (Hoffmann u. Hoffmann 1997; Hoffmann et al. 1997). Auch andere, als Kanzerogene bekannte Bestandteile wurden durch geänderte Produktionverfahren in den letzten Jahren zunehmend reduziert. Auch wenn durch eine Reduzierung der Karzinogenkonzentrationen das relative Krebsrisiko grundsätzlich gesenkt werden kann, beträgt es aber immer noch ein Vielfaches gegenüber dem von Nichtrauchern.
Passivrauchen Eine Exposition gegenüber Passivrauch (»environmental tobacco smoke«, ETS) wurde über Jahre intensiv und kontrovers als ursächlich für ein erhöhtes Lungentumorrisiko bei Nichtrauchern diskutiert. Zahlreiche epidemiologische Studien belegen inzwischen diesen Zusammenhang. Das Lungentumorrisiko ist allerdings bei Passivrauchern im Vergleich zu Aktivrauchern deutlich geringer (IARC 2002; US Department of Health and Human Services 2006; Radon u. Nowak 2004). 12.1.2 Larynxtumoren
Rund 80% der Kehlkopfkarzinome bei Männern und Frauen werden auf das chronische Inhalationsrauchen zurückgeführt (. Abb. 12.3). Weltweit sterben jährlich rund 67.000 Menschen an den Folgen eines tabakkonsumbedingten Kehlkopfkarzinoms. In Deutschland muss die Zahl der Todesfälle bei rund 3.000 Neuerkrankungen für 2004 auf rund 1.200 geschätzt werden. Bei Personen mit einem Konsum von mehr als 25 Zigaretten pro Tag ist das Risiko um den Faktor 20–30 erhöht (US Department of Health and Human Services 1982, 1979). Außerdem besteht ein direkter Zusammenhang zum Alkoholkonsum: Alkohol konsumierende Raucher haben gegenüber nicht Alkohol konsumierenden Rauchern ein um 75% höheres Tumorrisiko (Flanders et al. 1982; US Department of Health and Human Services 1979). Der Grund für dieses Phänomen liegt wahrscheinlich darin begründet, dass verschiedene Tabakinhaltsstoffe im Alkohol besser löslich sind und so zu einer intensiveren Zellschädigung führen können. Auch Krebsvorstadien der Stimmbandregion lassen sich in Grad und Ausprägung mit der Anzahl gerauchter Zigaretten morphologisch korrelieren (Müller 1994; Müller u. Krohn 1980).
277 12.2 · Mechanismen der Kanzerogenese als Folge des Rauchens
12.1.3 Mundhöhlentumoren
Wie auch bei der Genese anderer »Rauchertumoren« besteht eine enge Korrelation zwischen der Anzahl der konsumierten Zigaretten pro Tag und dem Risiko für die Entwicklung eines Tumors im Bereich der Lippen, der Zunge, des Mundbodens sowie des Meso- und Hypopharynx. Bei mehr als 10.000 Neuerkrankungen verstarben in Deutschland 2004 rund 3.800 Personen an den Folgen eines derartigen Tumorleidens. Für Raucher, die Tabakprodukte in Form von Zigarren oder Pfeifen aufnehmen, besteht ebenso wie für Schnupftabakkonsumenten ein ähnlich hohes Risiko wie für Zigarettenraucher (US Department of Health and Human Services 1982, 1979). Bei Männern wird ein 27-fach, bei Frauen ein bis zu 6-fach erhöhtes Risiko diskutiert (. Tab. 12.2). 92% der Mundhöhlentumoren bei Männern und 61% der Mundhöhlentumoren bei Frauen müssen als direkte Folge des Rauchverhaltens interpretiert werden. Nach Lungen- und Speiseröhrenkarzinomen stellen Mundhöhlentumoren die dritthäufigste tabakkonsumbedingte Krebstodesursache dar. In Analogie zu Kehlkopfkarzinomen wirkt auch hier der gleichzeitige Konsum von Tabak und Alkohol multiplikativ auf das Krebsrisiko. 12.1.4 Ösophagustumoren
Verschiedene prospektive und retrospektive epidemiologische Studien konnten zeigen, dass bei Frauen und Männern der Konsum von Tabakprodukten gleichermaßen verantwortlich ist für die Entstehung eines Ösophagustumors. Bei rund 5.000 Neuerkrankungen verstarben in Deutschland 2004 rund 4.500 Personen an den Folgen eines Ösophaguskarzinoms. Raucher haben gegenüber Nichtrauchern ein 7- bis 10-fach erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines Karzinoms des Ösophagus (. Tab. 12.2). Wie bei Larynx- und Mundhöhlentumoren wirkt auch hier der gleichzeitige Konsum von Tabak und Alkohol synergistisch und erhöht das Risiko der Kanzerogenese um 25–50% (Schottenfeld 1984; Schottenfeld et al. 1974; Williams u. Horn 1977). 12.1.5 Tumoren weiterer Organe und Organsysteme
Neben Tumoren der oberen und unteren Atemwege können auch eine Vielzahl anderer Tumoren mit dem Tabakkonsum korreliert werden. Eine Vielzahl ätiologischer Faktoren kann mit der Entstehung bösartiger Harnblasentumoren (Neuerkrankungen Deutschland 2002: 18.850) und Nierentumoren (Neuerkrankungen Deutschland 2002: 17.000) assoziiert werden. In den entwickelten Industrienationen stellt das chronische Inhalationsrauchen jedoch den wichtigsten Faktor dar. So müssen in Deutschland rund 40% der 11.000 jährlich auftretenden Todesfälle als Folge eines Harnblasen- und Nierentumors dem chronischen Tabakabusus zugeschrieben werden. Für die Entwicklung dieser Tumoren besteht bei männlichen Rauchern jeweils ein um den Faktor 3 erhöhtes Risiko für die Tumorentstehung (. Tab. 12.2). Weltweit sterben jährlich rund 55.000 Menschen an den Folgen im Wesentlichen tabakbedingter Harnblasentumoren und 27.000 Menschen an überwiegend tabakbedingten Nierentumoren. Im Gegensatz zu den Tumoren anderer Organe, bei denen der Verzicht auf den Tabakkonsum über die Zeit das Risiko für die Tumorgenese senkt, wird ein gleichbleibend hohes Risiko für die Genese von Harnbla-
12
sen- und Nierentumoren auch noch nach Zeiträumen von mehr als 15 Jahren nach Einstellung des Tabakkonsums beobachtet (Burch et al. 1989; Hartge et al. 1987). Raucher, die beruflich durch organische Chemikalien und Farben mit kanzerogenem Potenzial umgehen, besitzen ein stark erhöhtes Risiko für die Erkrankung an Harnblasentumoren (Burch et al. 1989). Raucher haben gegenüber Nichtrauchern ein doppelt so hohes Risiko für die Entstehung von Tumoren des Pankreas. Rund 30% der weltweit jährlich 210.000 Todesfälle eines derartigen Tumors können auf den Tabakkonsum zurückgeführt werden. Allein in Deutschland wird die Zahl der tabakrauchassoziierten Todesfälle als Folge eines Pankreaskarzinoms im Jahr 2004 auf rund 3.900 geschätzt. Die kausale bzw. kokausale Pathogenese dieser Tumoren wird wahrscheinlich gleichermaßen durch den Transport der Tabakkarzinogene über die Gallensäuren und den Blutstrom eingeleitet. Inhaltsstoffe wie Benzol und radioaktives Polonium 210 im Tabakrauch werden für die Entstehung der Leukämie verantwortlich gemacht werden. Dies erklärt das etwa um den Faktor 2 erhöhte Risiko von Rauchern für diese Krankheitsgruppe. Epidemiologische Studien gehen davon aus, dass rund 20% der neu diagnostizierten Leukämien auch auf einen erhöhten Tabakkonsum zurückgeführt werden können. Nicht zuletzt der Nachweis von Tabakinhaltsstoffen wie Nikotin und Kotinin, einem Tabakalkaloid, in Zervixsekreten von Raucherinnen und die Tatsache, dass diese Stoffe mutagen auf die Zellen der Zervixschleimhaut wirken, begründen die Assoziation zwischen Karzinomen der Zervix und dem Rauchverhalten (Holly et al. 1986; Sasson et al. 1985). 30% dieser weltweit über 220.000, davon in Deutschland 2004 rund 1.660 Todesfälle können mit dem Tabakkonsum korreliert werden. Das Risiko für die Tumorentwicklung ist bei Raucherinnen um den Faktor 2 erhöht. Es wird vermutet, dass einige Tabakkarzinogene mit Produkten der Papillomaviren interagieren und so indirekt die Tumorgenese initiieren (Koutsky et al. 1988). Untersuchungen konnten zeigen, dass bei Raucherinnen auch eine signifikante Korrelation zwischen dem Tabakkonsum und der Entwicklung von Tumoren der Mamma besteht (Calle et al. 1994). In Deutschland wird die Zahl der Todesfälle im Jahr 2004 mit rund 18.000 angegeben (Neuerkrankungen Deutschland 2002: 55.150). Das Risiko für die Entwicklung eines derartigen Tumors ist bei Raucherinnen in Abhängigkeit von der konsumierten Tabakmenge um den Faktor 1,3–1,7 erhöht. Obwohl die absolute Zahl der Todesfälle als Folge eines bösartigen Magentumors seit Jahren fällt (Deutschland 1990: 17.285; 2004: 11.473; Neuerkrankungen 2002: 19.450), gehören sie weltweit nach den Lungentumoren immer noch zu den häufigsten malignen Erkrankungen. In einer Metaanalyse, die 40 epidemiologische Studien berücksichtigte, zeigte sich für Raucher ein um den Faktor 1,5–1,6 erhöhtes Risiko für die Tumorentstehung (Tredaniel et al. 1997).
12.2
Mechanismen der Kanzerogenese als Folge des Rauchens
Aus zahlreichen epidemiologischen und experimentellen Untersuchungen wissen wir heute, dass Initiation und Promotion von Tumoren mehr oder weniger direkte Folgen von genetischen Schäden in der Erbsubstanz von Zellen sind. Zur Entartung oder Transformation von Zellen kommt es dabei meist als Konsequenz einer
278
Kapitel 12 · Rauchen und Krebs
. Abb. 12.4. Schematische Darstellung der Abfolge genetischer Alterationen bei der Entwicklung invasiver bzw. metastasierender Tumoren über präneoplastische Vorstadien in der Bronchialschleimhaut als Folge der Einwirkung inhalierter Karzinogene
. Abb. 12.5. Mechanismen der mutations- und lokusspezifischen Karzinogenese am Beispiel des K-RAS-Gens
12
oder mehrerer genetischer Alterationen (Mutationen) in Onkogenen oder Tumorsuppressorgenen (Wiethege et al.1994; . Abb. 12.4; 7 Kap. 4 und 9). Die individuelle Anfälligkeit für derartige Mutationen kann bedingt mit phänotypischen oder genotypischen Polymorphismen anderer Gene korreliert sein (Bouchardy et al. 1996; Hietanen et al. 1997). Neben endogenen Kanzerogenen sind heute eine Vielzahl exogener Kanzerogene bekannt, die Mutationen induzieren können. Neben einer direkten Wirkung verschiedener als kanzerogen identifizierter Komponenten, wie den polyzyklischen aromatischen Hydrokarbonsäuren (PAH), den aromatischen Aminen und den tabakspezifischen N-Nitrosaminen (TSNA) bedingen andere im Tabakrauch identifizierte Komponenten über die Generierung von Radikalen eine Zell- und DNA-Schädigung (Pryor 1997). Bestimmte Kanzerogene können bedingt auch ein spezifisches Mutationsmuster, also fast einen »Kanzerogenfingerabdruck«, auf der DNA hinterlassen. Zu den am besten untersuchten Genen gehören die RASGene, eine Familie von Genen, die in der Zellmembran lokalisierte Proteine kodieren, die für die Signaltransduktion verantwortlich sind. Zahlreiche Befunde liegen auch für Alterationen im Gen für das nukleäre Phosphoprotein P53 vor. RAS-Gene gehö-
ren zur Gruppe der Onkogene, sie werden durch Mutationen (über-)aktiviert. Das P53-Gen dagegen wird in die Gruppe der Tumorsuppressorgene eingeordnet. Punktmutationen des KRAS-Gens finden sich mit einer Häufigkeit von bis zu 30% in Adenokarzinomen der Lungen, insbesondere bei Rauchern (Müller et al. 2002; . Abb. 12.5). Die Mutationsrate ist bei Rauchern deutlich höher als bei Nichtrauchern (Demoly et al.1994). Vergleichbares gilt für inaktivierende Mutationen des P53-Gens bei Lungentumoren und Tumoren der Kopf-Hals-Region (Brennan et al. 1995; Suzuki et al. 1992; . Abb. 12.6). In Korrelation zum führenden histologischen Wachstumsmuster werden hier jedoch deutlich höhere Mutationsraten als bei RAS-Genen dokumentiert. So können in bis zu 75% der Plattenepithelkarzinome der Lunge P53-Mutationen beobachtet werden. Bei Lungentumoren von Rauchern werden gehäuft G>T-Mutationen beobachtet, die aufgrund des Austausches einer Purinbase (G=Guanin) gegen eine Pyrimidinbase (T=Thymin) zur Gruppe der Transversionen gezählt werden (Johnson u. Kelly 1993; Semenza u. Weasel 1997; Vineis u. Caporaso 1995). Im Falle des P53-Gens hat diese, bedingt als kanzerogenspezifisch zu bezeichnende Mutation, bei Lungentumoren von Rauchern einen Anteil
chromosomale Deletionen Chromosomen-Rearragements strukturelle Mutation Genamplikation Zellproliferation Apoptose Reparatur
279 12.3 · Ausblick
. Abb. 12.6. Immunhistochemischer Nachweis der nukleären Akkumulation des P53-Tumorsuppressorgenproduktes in einer präneoplastischen Läsion der Bronchialschleimhaut
nen bewirken. Im Falle des K-RAS-Gens werden so G>T-Mutationen fast ausschließlich im Bereich der Kodons 12, 13 oder 61 des Gens auf dem kurzen Arm von Chromosom 12 beobachtet (Johnson et al. 1993). Neben diesen, weil in der Regel nur einen einzelnen DNA-Baustein betreffend, auch als Punktmutationen bezeichneten genetischen Alterationen, werden bei Rauchern gehäuft DNA-Addukte beobachtet, die zu Chromosomenbrüchen führen können. Bei Rauchern mit einem manifesten Lungentumor findet man ein DNA-Addukt pro 107 Nukleotiden. Bei einer Zahl von rund 6 Mrd. Nukleotiden finden sich so bei Rauchern pro Nukleus fast 90 DNA-Addukte (Randerath u. Randerath 1993). Nichtraucher zeigen mit durchschnittlich 4,5 DNAAddukten pro Nukleus nur eine um den Faktor 20 geringere Adduktrate (Bartsch et al. 1993; 7 Kap. 8). 12.3
von 69%. Bei Nichtrauchern beträgt der relative Anteil dagegen nur 35%. Auch bei tabakrauchinduzierten Tumoren des Mundund Rachenraums werden ähnliche relative Verhältnisse beobachtet (Greenblatt et al. 1994). Die biochemische Basis für diese bedingt spezifische Mutation (G>T) beruht darauf, dass Tabakrauchkomponenten, nämlich polyzyklische aromatische Hydrokarbonsäuren (PAH), wie z. B. Benzo(a)pyren bevorzugt an den DNA-Baustein Desoxyguanosin (G) binden und so bei der Replikation der DNA im Vorfeld einer Zellteilung den Einbau eines Desoxythymidin (T) bewirken. Ein vergleichbarer biochemischer, kanzerogenspezifischer Mechanismus konnte für N-Nitrosamine [z. B. 4-(Methylnitrosamino)-1-(3pyridyl)-1-butonon] belegt werden. Die spezifische mutationsinduzierende Wirkung dieser Kanzerogene konnte inzwischen auch bei In-vitro- und In-vivo-Modellen nachvollzogen werden. So finden sich in 70% der durch Benzo(a)pyren induzierten Hauttumoren bei Mäusen G>T-Transversionen (Ruggeri et al. 1994). Nicht abschließend erklärt werden kann das Phänomen, wonach bestimmte Kanzerogene nicht nur kanzerogenspezifische, sondern zugleich in einigen Fällen auch lokusspezifische Mutatio-
12
Ausblick
Die heute im Fachgebiet der Pathologie durch die Verfahren der modernen Molekularbiologie möglichen Erkenntnisse – in Korrelation zu mikroskopischen, immunhistochemischen und ultrastrukturellen Befunden – eröffnen neben den epidemiologischen Daten auch Einblicke in genetische Anomalien als Ursache der Krebsentwicklung bei Rauchern. Fast täglich werden neue Befunde zu Mechanismen der Initiierung, Progression und Realisation bösartiger Tumoren bei chronischen Rauchern erhoben. Schon jetzt ist eindeutig belegt, dass im zweifelsfrei polyätiologischen Spektrum der Krebsursachen den mehr als 60 bekannten und gesicherten krebserzeugenden Substanzen im Tabakrauch gegenwärtig die entscheidende Bedeutung für gravierende Veränderungen der genetischen Information als Krebsursache zukommt (Vineis et al. 1995). Ob diesen Ergebnissen der Molekularbiologie in absehbarer Zeit auch eine Bedeutung für therapeutische oder präventive Maßnahmen auch bei den häufigsten Organtumoren zukommt, ist – abgesehen von bemerkenswerten Einzelbefunden – bis heute leider immer noch völlig offen. Die beste Vorsorge ist und bleibt der Verzicht auf den Tabakkonsum in jeder Form.
Zusammenfassung Das Kapitel gibt einen Überblick zu Epidemiologie und wissenschaftlich fundierten Daten und Fakten der Zusammenhänge zwischen Rauchen und Krebserkrankungen. Zusammenhänge zwischen chronischem Tabakrauchen und Krebserkrankungen sind seit mehr als 50 Jahren wissenschaftlich belegt. Die Suchterzeugung des Nikotins ist ebenfalls lange dokumentiert, aber erst seit 20 Jahren offiziell anerkannt. In Deutschland rauchen zurzeit ca. 20 Mio. Menschen (37% Männer, 28% Frauen). 7 Mio. Deutsche gelten als tabakabhängig bzw. nikotinsüchtig. Neben der Bedeutung des Rauchens als eine wesentliche Ursache für die Volkskrankheiten koronare Herzkrankheit, zerebraler Insult und die chronisch-obstruktive Bronchitis muss bei 35% der 425.000 jährlichen Krebserkrankungen in Deutschland dem Tabakrauchen eine wesentliche ätiologische Bedeutung beigemessen werden. Die Gesamtzahl der jährlichen Todesfälle als Folge des Rauchens liegt in Deutschland bei rund 120.000. Unter den tabakrauchassoziierten Krebserkrankungen stehen Tumoren der oberen und unteren Atemwege an erster 6
Stelle. Die Liste wird angeführt von bösartigen Lungentumoren, wobei dosisabhängig das Rauchen in mehr als 85% der entscheidende Kausalfaktor ist. Auch die über viele Jahre kontrovers diskutierte Umweltbelastung durch Passivrauchen erhöht das Lungenkrebsrisiko. Kehlkopfkarzinome sind in 80% der Fälle mit chronischem Inhalationsrauchen assoziiert. Mundhöhlenkarzinome sind in 92% der Fälle bei Männern und 61% der Fälle bei Frauen als direkte Folgen des Rauchverhaltens zu werten. Bei Ösophaguskarzinomen ist das Tumorrisiko auf das 7- bis 10-fache bei Rauchern im Vergleich zu Nichtrauchern erhöht. Für Harnblasen-, Nieren- und Pankreastumoren ist bei 40% ein wesentlicher Einfluss des Rauchens belegt. Eine Risikoerhöhung ist inzwischen auch für Zervix-und Mammakarzinome sowie Leukämien wissenschaftlich dokumentiert. Dem Fachgebiet der Pathologie kommt bei der Tumordiagnose die entscheidende Bedeutung besonders bei der Frühdiagnose unter therapeutischen Gesichtspunkten zu. Pathologischanatomisch gibt es aber bis heute keine spezifische Morphologie der Raucherkrebse.
280
Kapitel 12 · Rauchen und Krebs
Molekulargenetische Untersuchungsbefunde der letzten Jahre haben uns wesentliche neue Befunde zu komplexen Mechanismen der Kanzerogenese als Folge des Rauchens gebracht. Von den Ergebnissen der kommenden Jahre können Gesichtspunkte für eine differenziertere Diagnostik und daraus abzuleitende therapeutische Konsequenzen erwartet werden.
Die beste Vorsorge zur grundlegenden Änderung der Situation ist und bleibt der Verzicht auf den Tabakkonsum in jeder Form, begleitet von pädagogischen und gesetzlichen Maßnahmen auch zu Nichtraucherschutz und Prävention.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
12
13
13 Ernährung von Krebspatienten T. Ruf
13.1
Pathogenese der durch Ernährung bedingten bzw. mitverursachenden Krebsentstehung – 282
13.2
Ernährungsempfehlungen zur Minderung des Tumorrisikos
13.3
Ernährungsstörungen als Folge von Krebs und/oder Krebstherapie
13.4
Ernährung bei Krebspatienten
– 284
13.5
Praxis der Ernährungstherapie
– 285
Literatur – 290
– 283 – 283
282
Kapitel 13 · Ernährung von Krebspatienten
13.1
Pathogenese der durch Ernährung bedingten bzw. mitverursachenden Krebsentstehung
Das Risiko, an Krebs zu erkranken, hängt von mehreren Faktoren ab. Neben der genetischen Veranlagung und dem Lebensalter spielen auch die Ernährung, der Lebensstil, z. B. Rauchen, und Umweltweinflüsse nachweislich eine Rolle. Mehr als ein Drittel aller Todesfälle durch Krebs werden auf die Ernährung zurückgeführt und könnten durch eine gesunde und ausgewogene Ernährung sowie einen veränderten Lebensstil vermieden werden (Doll u. Peto 1981). Dabei lässt sich das Risiko für Brustkrebs durch eine entsprechende Ernährung um etwa die Hälfte senken, bei Dickdarm- und Magenkrebs kann es durch eine gesunde Ernährungsweise sogar um bis zu 60% reduziert werden. Ernährungsfaktoren greifen zum einen in der Phase der Krebsentstehung ein, in der die DNA durch Kanzerogene verändert wird und zum anderen wirken Ernährungsfaktoren in der Promotionsphase, in der aus einer mutierten Zelle eine Tumorzelle entsteht. Nahrungsfaktoren können den Prozess der Krebsentstehung fördern (Promotoren und Kanzerogene) oder hemmen (Antipromotoren) sowie die Proliferation mutierter Zellen begünstigen oder hemmen (Kohlmeier et al. 1995; s. Übersicht).
Beeinflussung der Krebsentstehung durch Nahrungsbestandteile und Ernährungsfaktoren
13
4 Promotoren – Überernährung/Übergewicht – Fette – Alkohol – Hoher Fleischverzehr 4 Antipromotoren – Antioxidanzien – Ballaststoffe 4 Karzinogene – Nitrat, Nitrit – Nitrosamine – Heterozyklische aromatische Amine (HAA) – Polyzyklische Kohlenwasserstoffe (PAK) 4 Antikarzinogene – Sekundäre Pflanzeninhaltsstoffe: – Phenolsäuren – Glukosinolate – Sulfide
Anhand von zwei Beispielen sollen die potenziell pathologischen Prozesse, die ernährungsbedingt angestoßen werden können, näher erläutert werden. Übergewicht ist ein Promotor, der die Krebsentstehung fördert. Bei übergewichtigen Männern wurde im Vergleich zu normalgewichtigen Männern eine Zunahme von Dickdarmkrebs um 56% beobachtet. Das Risiko an Enddarm- oder Bauchspeicheldrüsenkrebs zu erkranken erhöhte sich bei übergewichtigen Männern im Vergleich zu normalgewichtigen Männern um 20–30%. Übergewichtige Frauen haben ein 30% höheres Risiko an Gebärmutterkrebs zu erkranken als normalgewichtige Frauen. Bei starker Adipositas (BMI>35) erhöht sich dieses Risiko sogar auf den 4-fachen Wert. Auch das Brustkrebsrisiko sowie die Gefahr, an Nierenkrebs oder einem malignen Lymphom zu erkranken, erhöht sich bei Übergewicht.
Dass Übergewicht die Krebsentstehung fördern kann, liegt zum einen an der Fehlernährung, auf die das Übergewicht zurückzuführen ist. Diese Fehlernährung ist gekennzeichnet durch einen zu großen Anteil an tierischen Fetten, zuckerhaltigen Speisen und Alkohol und einen zu geringen Anteil an pflanzlichen Lebensmitteln, Vitaminen und Ballaststoffen. Das Fettgewebe selbst produziert verschiedene Hormone und Wachstumsfaktoren. Bei übergewichtigen Frauen findet sich so ein erhöhter Östrogenspiegel, der das Risiko für einen hormonabhängigen Brustkrebs stark erhöht. Aber auch die Wachstumsfaktoren tragen zu einer Tumorentstehung bei, indem sie Zellen zu einem unkontrollierten Wachstum anregen (Ollenschläger 2004). Heterozyklisch aromatische Amine (HAA) konnten in Tierversuchen eindeutig als Karzinogene bestimmt werden. Die kanzerogene Wirkung beim Menschen nachzuweisen ist schwieriger, da die aufgenommenen HAA-Mengen viel geringer sind, als sie in den Tierversuchen verabreicht werden. Dennoch gibt es mittlerweile zahlreiche Studien, die ein erhöhtes Risiko für Lungen-, Brust-, Magen- und Darmkrebs durch HAA feststellen konnten. Heterozyklisch aromatische Amine (HAA) entstehen bei der Erhitzung von Muskelfleisch aus Kreatin, Aminosäuren und Zucker durch die sog. Maillard-Reaktion. Die Bildung von HAA setzt dann im Fleisch ein, wenn die Zubereitungstemperatur 130°C übersteigt. Je höher die Temperatur und die Dauer der Temperatureinwirkung, desto mehr HAA wird im Fleisch gebildet, bis zu einer Plateauphase bei 250°C. Somit entstehen beim Dünsten und Kochen nur geringe Mengen an HAA, während beim Grillen und Braten hohe Mengen HAA gebildet werden. Heterozyklisch aromatische Amine werden im Dünndarm resorbiert und in die Leber transportiert. Dort werden die HAA zu N-Azetoxyamin azetyliert. Dieses sehr reaktive Molekül kann ein Nitreniumion bilden, das in der Lage ist mit der DNA Bindungen einzugehen und Mutationen auszulösen, die dann tumorinitiierend wirken können (Rohrmann 1997). Die Wirkung der Ernährung auf das Krebsrisiko ist jedoch nicht auf einzelne Nähr- oder Inhaltsstoffe zurückzuführen. Nach den derzeit vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen kommt bei der Beeinflussung des Erkrankungsrisikos für Krebs dem Ernährungsmuster, d. h. der Nahrungsmittelauswahl, -zubereitung und -menge die tragende Bedeutung zu. Regelmäßiger Alkoholkonsum gilt als gesicherter Risikofaktor für ein Karzinom der Leber, der Speiseröhre, des Kehlkopfes und der Mundhöhle und scheint auch eine Rolle bei der Entstehung von Kolon-Rektum- sowie Brustkrebs zu spielen. Ein erhöhter Salzkonsum ist an der Entstehung von Magenkrebs beteiligt und ein erhöhter Fleischkonsum an Kolon-Rektum-Krebs. Übergewicht erhöht das Risiko für Brust-, Gebärmutter- und Nierenkrebs. Ein gesteigerter Verzehr von Obst und Gemüse hingegen reduziert das Krebserkrankungsrisiko für Leber, Magen, Kolon, Rektum, Lunge, Speiseröhre und Mundhöhle. Auch kommt ihm eine risikosenkende Wirkung bei Kehlkopf-, Bauchspeicheldrüsen-, Brust- und Blasenkrebs zu. Einen Zusammenhang scheint es zwischen dem Verzehr von karotinreichem Gemüse und der Verminderung des Lungenkrebsrisikos zu geben (WCRF 1997). Verschiedene Studien an größeren Bevölkerungsgruppen weisen darauf hin, dass generell eine überwiegend aus pflanzlichen Lebensmitteln bestehende Ernährung das Krebsrisiko senken kann bzw. ein zu geringer Verzehr von Gemüse und Obst das Tumorrisiko erhöht.
13
283 13.3 · Ernährungsstörungen als Folge von Krebs und/oder Krebstherapie
13.2
Ernährungsempfehlungen zur Minderung des Tumorrisikos
Auf der Grundlage der dargestellten Erkenntnisse wurden Ernährungsempfehlungen zur Verminderung des Tumorrisikos wie folgt formuliert (DGE 2005): 4 hoher Verzehr von Obst und Gemüse (5 Portionen pro Tag), 4 Verzehr von tierischen gesättigten Fetten reduzieren, 4 ausreichende Zufuhr von Ballaststoffen, Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen, 4 Vermeiden von Alkohol, 4 Reduktion von Übergewicht, 4 sparsame Kochsalzzufuhr, 4 Verzehr von geräucherten Lebensmitteln senken, 4 schonende Zubereitung der Nahrung. Zur notwendigen täglichen Menge der Zufuhr von Vitaminen mit der Nahrung können derzeit noch keine genauen Angaben gemacht werden (Biesalski 1997).
13.3
Ernährungsstörungen als Folge von Krebs und/oder Krebstherapie
Ernährungsstörungen gehören mit zu den häufigsten Komplikationen onkologischer Erkrankungen, wobei die Gewichtsabnahme und Mangelernährung die häufigsten Symptome sind. Weitere Faktoren, die im Verlauf einer malignen Erkrankung den Gewichtsverlauf negativ beeinflussen, sind Appetitlosigkeit, Übelkeit und Erbrechen, worunter 80% aller Tumorpatienten leiden (. Tab. 13.1) (Tisdale 2001). Oft ist ein Gewichtsverlust der erste diagnostische Hinweis auf eine Tumorerkrankung. In einer Multizenterstudie an Patienten mit 12 Tumorarten zeigte sich, daß 50% der Patienten in den 6 Monaten vor der Diagnosestellung an Gewicht verloren hatten, davon 16% über 10% (DeWys et al. 1980), womit sie die Kriterien einer schweren Mangelernährung erfüllten (Nitenberg u. Raynard 2000). Angaben zur Inzidenz der Mangelernährung liegen ja nach Art, Lokalisation und Stadium der Tumorerkrankung zwischen 30 und 90%. Während des Klinikaufenthaltes verlieren 45% der Patienten mehr als 10% ihres Ausgangsgewichtes. Am geringsten ausgeprägt ist der Gewichtsverlust bei Patienten mit hämatologischen Tumoren, während über 80% der Patienten mit Tumoren des Gastrointestinaltraktes deutliche Gewichtsabnahmen aufweisen (DeWys et al. 1980). Der Gewichtsverlust ist zwar bei den verschiedenen Tumorarten unterschiedlich, es besteht jedoch kein eindeutiger Zusammenhang mit der Größe, der Ausbreitung und
. Tab. 13.1. Häufigkeit des Gewichtsverlustes und eine Gewichtsabnahme beeinflussende Faktoren. Patienten [%] Gewichtsabnahme
54 (15>10%)
Anorexie
40
Symptome bei noch gutem Appetit Völlegefühle
61
Vorzeitiges Sättigungsgefühl
40–60
Geschmacksveränderung
46
Mundtrockenheit
41
Übelkeit
39
Erbrechen
27
dem Differenzierungsgrad des Tumors sowie auch der Erkrankungsdauer. Gewichtsverlust und Mangelernährung haben signifikanten Einfluss auf die Erkrankungshäufigkeit, Überlebensdauer und Lebensqualität (Gorter 1999). Die schwerste Form der Mangelernährung, die mit einer hohen Gewichtsabnahme und dem Verlust an Muskel- und Fettmasse einhergeht, wird als Tumorkachexie bezeichnet. Mangelernährung, gleich welcher Ursache, beeinträchtigt den Stoffwechsel und die Immunabwehr, was zu einer Verhinderung der Standardtherapie bzw. einer verringerten Erfolgsrate einer spezifischen Tumortherapie führen kann. Mangelernährte Tumorpatienten haben zudem eine vermehrte Komplikationsrate durch Wundheilungsstörungen, Infektionen und Sepsis. Konsequenzen der tumorassoziierten Mangelernährung sind eine eingeschränkte Lebensqualität, eine erhöhte Morbidität sowie eine erhöhte Mortalität. Die Krebsmortalität ist bei Mangelernährung um 30% erhöht. Mangelernährung ist zudem mit Depressionen und einer deutlichen Minderung von Leistungsfähigkeit und Lebensqualität assoziiert (Padilla 1986). Ein Gewichtsverlust von nur 5% bei unzureichender Energie- und Eiweißaufnahme korreliert signifikant mit einer Minderung der Lebensqualität. Ein Gewichtsverlust von über 15% erhöht eindeutig die Mortalität (Keller 2001). Die Tumorkachexie ist neben der Sepsis mit 10–20% die häufigste Todesursache bei Krebs (Stähelin 1995). Die Ursachen der tumorassoziierten Mangelernährung sind vielschichtig (. Tab. 13.2, nach Zürcher 1996). Zwei Faktoren sind für die Entstehung einer Tumorkachexie jedoch besonders
. Tab. 13.2. Stoffwechselveränderungen bei Tumorpatienten als Ursache der tumorassoziierten Mangelernährung Proteinstoffwechsel
Kohlenhydratstoffwechsel
Fettstoffwechsel
Muskelproteinsynthese ↓
Glukoseoxidation ↓
Lipogenese ↓
Muskelproteinabbau ↓
Glukoneogenese ↑
Lipoproteinliposeaktivität ↓
Gesamtkörperproteinumsatz ↓
Glukogenolyse ↑
Lipolyse ↑
Leberproteinsynthese ↓
Glukoseumsatz ↑
Spiegel an freien Fettsäuren ↑
Insulinresistenz
Glycerol-Turnover ↑
284
13
Kapitel 13 · Ernährung von Krebspatienten
bedeutend. So beruht die Genese der Mangelernährung zum einen auf einer verminderten Energie- und Nährstoffaufnahme, zum anderen auf Stoffwechselstörungen auf der Basis spezifischer tumoraler und inflammatorischer Reaktionen (Tisdale 2001). Die verminderte Nahrungsaufnahme kann Folge einer Entzündung oder Mobilitätsstörung im Mund- und Halsbereich oder im Gastrointestinaltrakt sein. Weiterhin tragen Schmerzen, lange Nüchternphasen im Rahmen der Diagnostik und die Nebenwirkungen der Therapien wie Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit zu einer geringen Nahrungsaufnahme bei. Das anorektische Syndrom wird als der wichtigste pathogenetische Faktor der Mangelernährung angesehen. Dieser Symptomenkomplex aus Appetitlosigkeit und vorzeitigem Sättigungsgefühl, Nahrungsmittelaversionen sowie Geschmacksund Geruchsstörungen stellt ein besonderes Problem dar. Das Auftreten der Anorexie ist abhängig vom Typ und der Lage des Tumors sowie dem Stadium der Erkrankung. Im Spätstadium ist sie bei allen Tumoren signifikant mit dem Ernähungsstatus korreliert. Als Ursache diskutiert werden Therapiefolgen (z. B. Malabsorption durch Dünndarmresektionen), konditionierte Aversionen, z. B. gegen bestimmt Nahrungsmittel, die unbewusst mit der Erinnerung an stark belastende Situationen assoziiert werden, sowie gastrointestinale Störungen (Verminderung der Magensaft- und Verdauungsenzymsekretion) (Bozetti et al. 1989). Ein weiterer Faktor für die Entwicklung von Mangelernährung und Kachexie sind Abnormitäten im Eiweiß-, Fett- und Kohlenhydratstoffwechsel, die die Effizienz der Nährstoffaufnahme und -verwendung vermindern (s. Übersicht). Ein erhöhter Muskelproteinkatabolismus und eine erhöhte Glukoneogenese aus Aminosäuren und Laktat führen zu einem Eiweißverlust. Zusätzlich trägt eine Insulinresistenz, eine gesteigerte Lipolyse und verminderte Lipogenese zum Gewebeverlust bei und fördert die Entwicklung der Mangelernährung bzw. der Tumorkachexie (Toomey et al.1995). Als Reaktion auf die Tumorerkrankung werden vom Patienten aus Zellen des Immunsystems Zytokine wie TNF-α, IL-1, IL-6, INF-γ sowie der Leukemia Inhibitory Factor (LIF) und der Ciliary Neurotrophic Faktor (CNTF) freigesetzt. Diese Zytokine wirken an verschiedenen Zielorten, wie Skelettmuskelzellen und Knochenmark, und induzieren die beschriebenen Stoffwechselveränderungen, die schließlich zur Kachexie führen. Obwohl der Ort der Zytokinwirkung von der Art des Stimulus abhängig ist, scheint eine systemische Erkrankung die Expression von Zytokinrezeptoren im Hypothalamus vorrangig zu beeinflussen. Im Hypothalamus herrscht die größte Dichte der meisten Zytokinrezeptoren. Dort befinden sich auch das Sättigungszentrum sowie das Appetitzentrum. Die Zytokine spielen eine entscheidende Rolle bei der anhaltenden Unterdrückung der Nahrungsaufnahme, indem sie einen Anstieg des Leptinspiegels induzieren, der eine Verminderung der Nahrungsaufnahme und eine Steigerung des Energieverbrauchs zur Folge hat (Tisdale2002). Neben den Zytokinen können auch vom Tumor selbst spezifische Produkte ausgeschüttet werden. Der sog. Lipid Mobilizing Faktor (LMF) wurde im Urin von kachektischen Patienten nachgewiesen und stimuliert die Lipolyse. Auch der Proteolysis Inducing Faktor (PIF) wurde im Urin und im Serum von kachektischen Patienten gefunden und induziert den Eiweißabbau in der Skelettmuskulatur (Zürcher 1992).
13.4
Ernährung bei Krebspatienten
13.4.1 Ziele der Ernährungsbetreuung
in der Onkologie Onkologische Patienten sind oft schon zum Zeitpunkt der Diagnosestellung mangelernährt. Jedoch kann eine Mangelernährung auch unvorhergesehen in jedem Stadium der Erkrankung auftreten. Somit ist es sinnvoll, eine ernährungsmedizinische Betreuung von Tumorpatienten von Anfang an in den Therapieplan mit einzubeziehen. Eine Ernährungstherapie sollte bereits bei drohender und nicht erst bei manifester Malnutrition beginnen. Entgegen immer wieder geäußerten Behauptungen gibt es keine spezielle Ernährung im Sinn einer Krebstherapie, die einen vorhandenen Tumor beseitigt und eine spezifische Tumortherapie ersetzen kann (Ollenschläger 1995). Das primäre Ziel einer Ernährungstherapie ist in erster Linie der Ersatz von verloren gegangener Körpersubstanz, die Verbesserung des Ernährungszustandes und damit die Stärkung des Immunsystems. Weiterhin geht es um die Verbesserung der subjektiven Lebensqualität, eine Erhöhung der Therapieeffektivität durch Verminderung von Nebenwirkungen und damit letztlich eine Verbesserung der Prognose. Auch der Erhalt der körperlichen und geistigen Mobilität spielt bei der Ernährungstherapie eine Rolle (Ollenschläger u. Bürger 1992). 13.4.2 Nährstoffbedarf bei Tumorpatienten
Der Energie- und Nährstoffbedarf von Tumorpatienten wird durch den Ernährungszustand, die Art des Tumors sowie der Tumortherapie, durch Begleiterkrankungen, klinischen Zustand und die Prognose bestimmt. Da es für die optimale Energie- und Nährstoffzufuhr bei Tumorpatienten keine allgemein akzeptierten Standards gibt, gelten als Grundlage die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) für eine gesunde Ernährung (50–60% Kohlenhydrate, 25–30% Fett, 10–15% Protein). Die Energiezufuhr muss im Hinblick auf den im Rahmen der mit der Tumorkachexie assoziierten Inflammationsprozesse möglicherweise gesteigerten Energiebedarf korrigiert und an die Intensität adaptiert werden. Der dennoch mit Gesunden vergleichbare Gesamtenergieverbrauch lässt sich auf die Abnahme der körperlichen Aktivität bei metabolisch alterierten Tumorpatienten zurückführen. Dass es trotzdem zu einer Gewichtsabnahme kommt, liegt daran, dass Tumorpatienten auch bei normalem Energiebedarf ihren Energie- und Nährstoffbedarf nicht der Energiezufuhr anpassen können. Der tägliche Energiebedarf unterscheidet sich im Allgemeinen nicht von demjenigen Gesunder. Nach Studien ist etwa ein Drittel der Tumorpatienten hypometabol und ca. ein Viertel hypermetabol (Knox et al. 1983). Eine Kalorienzufuhr von 35–40 kcal/kg Körpergewicht ist meist ausreichend, kann aber auf 45–50 kcal/kg Körpergewicht gesteigert werden (Ollenschläger 1991). Der tägliche Proteinbedarf liegt bei Tumorpatienten zwischen 1,2 und 2,0 g/kg Körpergewicht und ist von großer Bedeutung. Von der ausreichenden Proteinzufuhr hängt es mit ab, ob das Immunsystem des Körpers und die übrigen nichtimmunologischen Abwehrsysteme funktionieren. Bei terminaler Niereninsuffizienz und bei stark eingeschränkter Leberfunktion muss die Proteinzufuhr entsprechend vermindert werden (Zürcher 1996).
285 13.5 · Praxis der Ernährungstherapie
Bei Tumorpatienten wird empfohlen, den Fettanteil auf 35% der Gesamtenergiezufuhr zu erhöhen, da sie eine erhöhte Lipidoxidation und eine gesteigerte Utilisation exogen zugeführter Fette aufweisen (Körber et al. 1999). Bei Fettunverträglichkeit müssen die langkettigen, schwer verdaulichen Fette durch Öle mit leicht resorbierbaren mittelkettigen Fettsäuren (MCT-Fette) ersetzt werden. Aus zahlreichen Studien ergeben sich vielversprechende Ergebnisse für den Einsatz von Fischöl in der Tumortherapie. Bei Patienten mit fortgeschrittenem Pankreaskarzinom und anhaltendem Gewichtsverlust (2,9 kg pro Monat) konnte gezeigt werden, dass eine Supplementierung mit täglich 12 g Fischöl (entspricht 2 g Eicosapentaensäure EPA) über 3 Monate zu einer signifikanten Gewichtszunahme von 0,3 kg pro Monat führte (Wigmore et al. 1996). Die 3-monatige Gabe einer mit Fischöl (2 g EPA) angereicherten Trinknahrung führte bei Pankreaskarzinompatienten zu einem Gewichtsanstieg und zu einer Normalisierung der für Tumorpatienten charakteristischen Stoffwechselveränderungen. Dies lässt sich auf die antiinflammatorische Wirkung der in Fischöl enthaltenen Omega-3-Fettsäuren zurückführen (Barber et al. 2000). Auch bei anderen Tumorarten konnte durch eine Supplementierung mit 2–3 g Eicosapentaensäure pro Tag eine Gewichtsstabilisierung bzw. eine Gewichtszunahme erreicht werden (z. B. Fürst u. Kuhn 2000; Gogos et al. 1998). Wissenschaftlich belegte Empfehlungen für die Bedarfszahlen von Mikronährstoffen für den Tumorpatienten liegen nicht vor. Aus diesem Grund sollte generell der mittlere Tagesbedarf von Gesunden als Basisbedarf zugrunde gelegt werden (ASPEN 2002a). 13.4.3 Indikationen zur Ernährungstherapie
Eine gezielte Ernährungstherapie sollte bereits bei drohender und nicht erst manifestierter Malnutrition beginnen (s. Übersicht, nach Ollenschläger 1992a). Grundlage der Indikationsstellung und Überwachung einer Ernährungstherapie ist eine genaue Festlegung des Ernährungszustandes. Es ist zu berücksichtigen, dass die Verbesserung des Ernährungszustandes nach derzeitigem Kenntnisstand keinen Einfluss auf den Verlauf der Krebserkrankung hat. Ziel einer Ernährungstherapie ist es somit, das körperliche und psychische Allgemeinbefinden des Tumorpatienten zu stärken bzw. zu verbessern. Die Verbesserung des subjektiven Wohlbefindens ist bei Patienten mit nebenwirkungsreicher Behandlung von großer Bedeutung. Die Ernährungstherapie wird durch den Ernährungszustand, zusätzlich bestehende Erkrankungen, die Therapieform und den klinischen Zustand des Patienten bestimmt und im Hinblick auf Kostform, Applikationsart und Nährstoffbedarf individuell festgelegt. Hierbei werden auch die Wünsche und Lebensumstände des Patienten mit einbezogen. Grundsätzlich benötigen Tumorpatienten keine spezielle Ernährung.
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Indikationen zur Ernährungsbetreuung onkologischer Patienten 4 Vorhandene Mangelernährung – Aktuelles Körpergewicht <90% Normalgewicht – Normalgewicht = BMI (Body Mass Index = Körpermassenindex): – BMI = (Körpergewicht in kg)/(Körperlänge in m)² – (Frauen: BMI 19–24, Männer: BMI 20–25) oder – Ungewollter Gewichtsverlust >10% in 6 Monaten bzw. >5% in 3 Monaten – Serumalbumin, Cholinesterase unter der Norm oder – Kontinuierlicher Abfall von Albumin, Cholinesterase – In Ausnahmen: Nachweis isolierter Substratdefizite von Vitaminen, Elektrolyten, Aminosäuren) 4 Drohende Mangelernährung – Unzureichende spontane Nahrungsaufnahme (<60% des berechneten Bedarfs für mehr als 1 Woche) – Andauernde Diarrhöen – Wiederholte Nüchternphasen zur Diagnostik – Operationsvorbereitung
13.4.4 Diagnostik der Fehl- und Unterernährung
Der einfachste Parameter zur Diagnose einer Mangelernährung ist die Beobachtung des Gewichtsverlaufs, wobei es wichtig ist, das Ausgangsgewicht zu erfragen. Bei der alleinigen Beurteilung des aktuellen Körpergewichtes kann es zu Fehleinschätzungen des Ernährungszustandes kommen, da Tumorpatienten eine verminderte Körpermagermasse bei kompensatorischer Zunahme der Weichteil- und Flüssigkeitsmasse aufweisen. Eine Beurteilung der Körpermagermasse kann durch die Messung der Hautfaltendicke oder des Oberarmumfangs erfolgen. Neben diesen antropometrischen Parametern können auch Blutparameter Aufschluss über den Ernährungszustand geben. Veränderungen der Konzentration von bestimmten Plamaproteinen (Albumin, Gesamtprotein) korrelieren mit der viszeralen Eiweißsynthese und mit dem Grad der Mangelernährung (Müller 1993). Zur Verifizierung einer Mangelernährung ist die qualitative und quantitative Nahrungsaufnahme eines Tumorpatienten ein wichtiger Diagnosefaktor. Eine Ernährungsanamnese gibt Aufschluss über individuelle Ernährungsgewohnheiten und -bedürfnisse und bildet somit eine Basis für eine Ernährungsberatung (Bürger u. Ollenschläger1992).
13.5
Praxis der Ernährungstherapie
Die Ernährungstherapie des Tumorpatienten muss individuell geplant und an den Nährstoffbedarf, den Erkrankungsstatus, die Lebenssituation und die Bedürfnisse des Patienten angepasst werden. Daraus ergibt sich die Nahrungszufuhr auf oralem Weg, über Magen-Darm-Sonden oder mittels parenteraler Ernährung (s. Übersicht, nach Ollenschläger 2004).
286
Kapitel 13 · Ernährung von Krebspatienten
Ernährungsformen für den Tumorpatienten 4 Oral – Normalkost (Wunschkost) – Normalkost + Zusatzernährung (Nährstoffsupplemente) – Adaptierte Kost (spezielle Zubereitungen, z. B. passiert) 4 Gastral (NDD, nährstoffdefinierte Diäten) – Nasogastrale Sonde – Perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG) 4 Intestinal (CDD, chemisch definierte Diäten) – Nasoduodenale Sonde – Nasojejunale Sonde – PEG – Katheterjejunostomie 4 Parenteral – Periphervenöse Ernährung (kurzzeitig oder in Kombination mit oraler/gastrointestinaler Ernährung) – Zentralvenöse Ernährung
13.5.1 Orale Ernährung
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Jede Nahrungsaufnahme sollte möglichst physiologisch und komplikationsarm erfolgen. Somit ist bei Tumorpatienten so lange wie möglich eine orale Ernährung anzustreben (s. Übersicht, Ollenschläger 2004, nach Kotthoff u. Haydous 1992). Meist kann der Tumorpatient mit einer Vollkost oder einer leichten Vollkost als abwechslungsreiche Mischkost ernährt werden. Dabei sollte diese den individuellen Bedürfnissen entsprechen und während des Klinikaufenthaltes als Wunschkost angeboten werden. Dies ist wichtig, da die Standardkost wahrscheinlich die häufigste Ursache für Fehl- und Mangelernährung in der Klinik ist. Ein fester Speiseplan ist wegen der häufig wechselnden Appetit-, Geschmacks-, Kau- und Schluckprobleme der Tumorpatienten nicht sinnvoll. Die optimale Form von oraler Ernährung kann unter stationären Bedingungen am besten mithilfe fachkundiger Betreuung und Beratung durch Ernährungsfachkräfte durchgeführt werden. Dabei sollten auch die Angehörigen miteinbezogen werden, um den Patienten zu unterstützen (Ollenschläger u. Bürger 1992). Mit ausschließlich oraler Ernährung ist bei Tumorpatienten in der Regel keine Gewichtszunahme zu erreichen. Ziel ist es vielmehr, den Ernährungszustand zu stabilisieren und eine weitere Verschlechterung aufzuhalten oder zu verzögern (Fearon et al. 2001).
4 Flüssige Kost: wie leichte Vollkost, dickflüssig, voll passiert, 6 Mahlzeiten am Tag. Nicht sondennahrungsgeeignet; je nach klinischer Situation durch vollbilanzierte Formeldiäten ersetzen; je nach Indikation säurearm bzw. Verzicht auf schleimbildende Nahrungsmittel (z. B. Milch, Haferschleim, Bananen) 4 Ovolaktovegetabile Kost: wie Vollkost, Verzicht auf Fleisch und Fleischzubereitungen; indiziert bei Fleischaversion 4 Eiweißdefinierte Diäten: eiweißarme Diäten (bei Niereninsuffizienz, Leberinsuffizienz); eiweißreiche Diät: wie leichte Vollkost, mit hohem Eiweißanteil, hochenergetisch. Indiziert bei Kachexie, nephrotischem Syndrom 4 Gastroenterologische Basisdiät: wie leichte Vollkost, zusätzlich fettarm, ballaststoffarm, je nach Indikation ohne Verwendung von Zucker; indiziert bei akuten oder abheilenden Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes, zum Kostaufbau nach enteraler oder parenteraler Ernährung, 6–8 Mahlzeiten pro Tag, als Langzeiternährung nicht geeignet 4 Ballaststoffreiche Diät: wie Vollkost, Einsatz ballaststoffreicher Nahrungsmittel, erhöhte Flüssigkeitszufuhr; indiziert bei Obstipation, funktioneller Diarrhöe, Reizdarmsyndrom, Hämorrhoidalleiden 4 Diät ohne Milch und Zucker: wie leichte Vollkost, Verzicht auf Zucker und zuckerhaltige Nahrungsmittel, auf Milch und Milchzubereitungen, Milchprodukte; bei unzureichender Ausnutzung des Nahrungsfettes teilweise Ersatz durch Fette mit mittelkettigen Triglyzeriden; bei Gastrektomie Substitution von Vitamin B12 und Eisen; indiziert bei Dumping-Syndrom 4 Diät mit mittelkettigen Triglyzeriden: wie leichte Vollkost; Ersatz von Fetten mit langkettigen Fettsäuren durch Fette mit mittelkettigen Fettsäuren; je nach Indikation ohne Milch und Zucker; Indikationen: Pankreasinsuffizienz, Kurzdarmsyndrom, intestinales Eiweißverlustsyndrom (z. B. bei intestinalem Lymphom), Malabsorptionssyndrom 4 Laktosefreie Diät: wie leichte Vollkost; Elimination von Milch und Milchprodukten; Austestung der Toleranzgrenze bei Quark, Joghurt, Käse; Indikation: primäre und sekundäre Laktoseintoleranz 4 Purinarme Diät: wie leichte Vollkost; Vermeidung purinreicher Nahrungsmittel; Elimination von Alkohol; indiziert bei primärer und sekundärer Hyperurikämie (z. B. während zytostatischer Therapie) 4 Energie- und nährstoffdefinierte Diäten: Reduktionsdiäten, Diabetesdiäten, Hyperproteinämiediäten (beim Krebspatienten nur in Ausnahmefällen indiziert)
Nomenklatur und Eigenschaften von oraler Kostform 4 Vollkost: bedarfsdeckende Zusammensetzung, ausgewogene Nährstoffrelation 4 Leichte Vollkost: wie Vollkost, Verzicht auf individuell und/oder häufig unverträgliche Nahrungsmittel, 5 Mahlzeiten pro Tag, Konsistenz nach Bedarf (z. B. püriert); indiziert bei möglichen oder vorhandenen Nahrungsmittelunverträglichkeiten 6
Spezielle Probleme bei oraler Ernährung Unspezifische Nahrungsmittelunverträglichkeiten sind bei Tumorpatienten häufig. Oft anzutreffen ist eine Aversion gegen tierisches Eiweiß, meist werden zunächst Schweine- und Rindfleisch, später dann auch Geflügel und Fisch und zuletzt Eier und Milchprodukte abgelehnt. Die Zubereitungs- und Darreichungsform spielt dabei eine Rolle. Fleisch als Scheibe oder Steak wird eher abgelehnt als in Stücken in einem Eintopf. Auch Streich-
287 13.5 · Praxis der Ernährungstherapie
wurst wird eher akzeptiert als Schnittwurst. Eine einseitige Ernährung sollte vermieden werden, da sie die Gefahr der konditionierten Anorexie beinhaltet (Zürcher 1996). Lebensmittel, die häufig zu Unverträglichkeiten führen, sollten vermieden werden. Diese sind: sehr fette und sehr süße Speisen, blähende Gemüse, hartschalige und säurereiche Früchte, scharf Gebratenes, stark Gewürztes, alkoholische und säurehaltige Getränke. Immunsupprimierte Patienten erhalten zur Minderung des Keimrisikos eine keimreduzierte Kost. Diese beinhaltet eine eingeschränkte Lebensmittelauswahl, so den Verzicht auf frisches Obst und Gemüse, rohe und halbgare Lebensmittel (Stähelin 1995). Leidet der Tumorpatient zusätzlich unter besonderen Krankheitsbildern, wie operative Eingriffe im Magen-Darm-Trakt oder im Bereich des Pankreas, Störungen der Leber- und Nierenfunktion, so müssen für diese Erkrankungen spezielle Ernährungsrichtlinien bei der Ernährungstherapie mitberücksichtigt werden. Außerdem ist bei der Kostzusammensetzung auf spezifische Substratverwertungsstörungen und Nährstoffmängel zu achten (Deutsche Krebshilfe 2005). Wirksamkeit der oralen Ernährungstherapie Die Wirksamkeit einer ausschließlich auf oralem Wege durchgeführten Ernährungstherapie war lange umstritten. Doch kann die Praktikabilität der intensiven oralen Ernährungstherapie bei internistischen Tumorpatienten nun anhand von Studien belegt werden. Bei Patienten mit Gastrointestinaltumoren ohne schwere Mangelernährung, d. h. Gewichtsverlust unter 10%, konnte eine 5-tägige präoperative Supplementierung mit einer speziellen Trinknahrung (Arginin, Nukleotiden, ω3-Fettsäuren) in einer prospektiv randomisierten Untersuchung die infektiösen Komplikationen von ca. 30% auf 15% und den Klinikaufenthalt signifikant reduzieren (Gianotti et al. 2002). Die Letalität konnte jedoch mit dieser Ernährungsform nicht reduziert werden (Baele et al. 1999). In einer randomisierten kontrollierten Studie an Patienten mit akuter myeloischer Leukämie hatten 70% der durch eine Diätassistentin betreuten Patienten am Ende der Induktionsphase einen normalen Ernährungszustand, von der Vergleichsgruppe ohne Diätberatung nur 30% (Ovesen et al. 1993). Sogenannte Krebsdiäten Krebsdiäten gehören zu den am häufigsten verwendeten alternativen Therapiekonzepten. Es handelt sich hierbei um Ernährungsempfehlungen für Krebskranke, die versprechen den Tumor zu heilen oder die Krankheit zu lindern. Wissenschaftlich ist dies nicht bewiesen. Kaum ein Thema ist so umstritten, wie die Möglichkeit der Bekämpfung von Krebs mit einer Diät. Jedoch vermag keine Diät den Krebs schrumpfen zu lassen oder sogar auszumerzen. Bei den Krebsdiäten handelt es sich meist um genussfeindliche, z. T. gesundheitlich bedenkliche Behandlungsmethoden. Es gibt eine unüberschaubare Anzahl von sog. Krebsdiäten, diese können in einzelne Gruppen eingeteilt werden: 4 Heilfasten (z. B. nach Buchinger), 4 saft- und eiweißarme Kuren (z. B. nach Breuss), 4 Rohkostdiäten (z. B. nach Burger), 4 vegetarische, vollwertige Kostformen (z. B. nach Gerson), 4 spezielle Kuren und Diäten (z. B. Homotoxinlehre nach Reckeweg).
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Viele Diäten beinhalten eine lactovegetabile Kostform, bei der pflanzliche Lebensmittel sowie Milch und Milchprodukte im Vordergrund stehen, während vor übermäßigem Kochsalzkonsum und Fleischverzehr gewarnt wird. Diese sind nicht gesundheitsschädlich. Einige Diätvorschläge hingegen sind extrem einseitig und äußerst riskant (s. Übersicht). Vor allen einseitigen und extremen Krebsdiäten ist der Patient in einer Ernährungsberatung zu warnen. Aufzuzeigen sind alle Folgen einer unkonventionellen Ernährungstherapie, von der Verschlechterung des Ernährungszustandes über eine drohende Fehlernährung bis hin zu einer erhöhten Mortalität. Als Ernährungsempfehlungen sollten dem Patienten die wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse vermittelt und zur Durchführung einer konventionellen Behandlung geraten werden (Imoberdorf 2001).
Inhalte verschiedener Krebsdiäten Heilfasten nach Buchinger. Eine 2–4 Wochen dauernde niederkalorische Trinkdiät, bestehend aus Gemüsebrühe, Kräutertees, Mineralwasser und Säften, es wird auf feste Nahrung und Genussmittel verzichtet. Die Selbstheilungskräfte des Körpers sollen aktiviert und der Organismus gereinigt werden. Flüssige, eiweißarme Kost nach Breuss. Ausschließlich Gemüsesaftmischung aus Raden, Karotten, Sellerieknollen, Rettich und Kartoffeln wird über einen Zeitraum von 42 Tagen zu sich genommen, dazu Teemischungen. Der Tumor soll durch diese Kostform ausgehungert werden. Diese Kostform führt zu einem beschleunigten Gewichtsverlust, was den Körper zusätzlich schwächt und bei bereits kachektischen Patienten äußerst gefährlich ist. Rohkostdiäten nach Burger. Es darf alles verzehrt werden, aber nur in rohem Zustand. Dies ist bei Fleisch und Eiern nicht unbedenklich. Mangelzustände können auftreten, da nicht alle Lebensmittel roh genießbar sind und vom Körper verstoffwechselt werden können. Vegetarische, vollwertige Kostform nach Gerson. Streng vegetarische Kost wird mit einer Entgiftung durch tägliche Einläufe mit Kaffee und Rizinusöl kombiniert. Weiterhin bekommt der Patient hohe Dosen von Jod, Vitamin B12, AzidolPepsin-Kalium und Leberextrakt verabreicht, gleichzeitig wird vor dem Verzehr von Zucker, Eiweiß und Salz gewarnt. Diese Kostform forderte schon einige Todesopfer durch Infektionen wegen geschwächter Abwehr, schwerer Unterernährung und Kräfteverfall. Spezielle Kuren und Diäten (z. B. Homotoxinlehre nach Reckeweg). Alle Vorgänge, die als Krankheiten bezeichnet werden, sind der Ausdruck der biologisch-zweckmäßigen Abwehrmaßnahmen gegen exogene und endogene Homotoxine oder sie stellen den biologisch zweckmäßigen Versuch des Organismus dar, erlittene Homotoxinschäden zu kompensieren. Krankheiten sind Ausdruck eines Abwehrkampfes des kybernetisch gesteuerten Fließsystems Mensch gegen endogene und exogene Homotoxine. Ferner sind Krankheiten der Versuch, homotoxisch bedingte Giftschädigungen wieder zu kompensieren.
288
Kapitel 13 · Ernährung von Krebspatienten
13.5.2 Sondenernährung
Erst wenn eine orale Ernährung nicht bzw. nicht mehr möglich ist, kommen künstliche Ernährungsformen zum Einsatz, zuerst möglichst in Form der enteralen Ernährung, wenn der MagenDarm-Trakt in der Lage ist, die über Sonde verabreichte Nahrung zu verwerten (Richter 1992). Folgende Sondentechniken stehen zur Verfügung: 4 nasale Sonden (nasointestinal: nasogastral/nasojejunal), 4 transkutane Sonden (perkutane endoskopische Gastrostomie PEG, Laparoskopie PLG/PLJ, Feinnadel-Katheter-Jejunostomie FKJ).
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Nasale Sonden Bei nasalen Sonden unterscheidet man zwei Arten von nasointestinalen Verfahren, zum einen die nasogastrale Sonde, zum anderen die nasojejunale Sonde. Voraussetzungen für die Ernährung über nasointestinale Sonden sind ein funktionierender Gastrointestinaltrakt sowie ein intakter Schluckreflex. In der Onkologie sind nasale Sonden kontraindiziert, wenn der Patient sie ablehnt, bei ständigem Brechreiz, häufigem Erbrechen und bei gestörtem Schluckreflex. Die gastrale Applikation ist gegenüber der jejunalen Applikation zu bevorzugen, da sie die für Verdauung und Nahrungsresorption physiologischere Zufuhrart ermöglicht. Jedoch müssen hierfür eine regelmäßige Magenentleerung und der Ausschluss einer mechanischen Auslassobstruktion vorliegen (Horbach 2004). Kritisch kranke Intensivpatienten sind für eine gastrale Sondenapplikation ungeeignet. Bei diesen Patienten können annähernd bedarfsdeckende Mengen an Nahrung nur bei jejunaler Sonde verabreicht werden (Kearns et al. 1994). Sonden zur enteralen Ernährung sind für eine über 24 Stunden hinausgehende Liegezeit konzipiert. Sie bestehen aus Polyurethan oder Silikon. Der Quotient aus Sondenaußen- und Sondeninnendurchmesser sollte für die jeweilige Anwendungsart möglichst klein sein. Die Applikation von nasogastralen Sonden erfolgt mittels Vorschubtechnik. Nach Lokalanästhesie eines Nasenostiums wird die gleitfähig gemachte Sonde vorgeschoben. Aktives Schlucken des Patienten und Kopfpositionierung erleichtern die Passage durch die Speiseröhre. Die nasojejunale Sonde kann nur schwer durch die Vorschubtechnik appliziert werden, da nur in wenigen Fällen eine spontane Passage der Sondenspitze durch den Pylorus gelingt. Hier wird entweder auf die radiologische Durchleuchtung oder die endoskopisch unterstützte Sondenapplikation ausgewichen, wobei letztere den Vorteil hat, dass sie am Krankenbett direkt durchgeführt werden kann (Horbach 2004). Die Zuführung der Nahrung über nasale Sonden kann in Form von Tropfinfusion von 500- ml-Portionen über jeweils einen Zeitraum von 2 Stunden erfolgen. Die Vorteile der nasointestinalen Ernährung sind die einfache Sondenplatzierung, die physiologische Magenentleerung und die Möglichkeit, preisgünstige nährstoffdefinierte Diäten verwenden zu können. Jedoch sollten nasale Sonden nur zur kurzfristigen stationären Ernährungstherapie eingesetzt werden, da Patienten den Fremdkörper in Gesicht und Rachenraum oft schlecht tolerieren und es zu lokalen Komplikationen (Ulzerationen, Dislokation) kommen kann. Für Patienten mit Bewusstseinsstörungen kommt diese Form der Ernährung selten in Be-
tracht, da sie z. B. eine Fehllage der Sonde nicht durch klinische Zeichen wie Husten bemerkbar machen können. Transkutane Sonden Transkutane Sonden sind im Gegensatz zu nasalen Sonden für eine längerfristige Ernährung über 3 Wochen hinaus geeignet. Man unterscheidet zwischen der perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG), der Laparoskopie (PLG/PLJ) und der Feinnadel-Katheter-Jejunostomie (FKJ). Die Akzeptanz von transkutanen Sonden ist bei den Patienten höher als die der nasalen Sonden, da die persönliche Beeinträchtigung wesentlich geringer ist. Die perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG) stellt den Goldstandard für transkutane Sonden dar. Sie kann zur gastralen und intestinalen Ernährung verwendet werden und eignet sich für die ambulante künstliche Ernährung des Patienten. Vor einer endoskopischen Sondenanlage wird routinemäßig eine Gastroskopie durchgeführt. Die Einführung der Sonde erfolgt unter bedarfsgerechter Sedierung mittels einer venösen Verweilkanüle (Horbach 2004). Laparoskopische Verfahren (perkutane laparoskopische Gastrostomie PLG, Jejunostomie PLJ) sind nur unter folgenden Ausnahmeindikationen angezeigt: 4 endoskopisch nicht passierbare und nicht erweiterbare Pharynx- oder Ösophagusstenosen, 4 ausgedehnte HNO-Tumoren, 4 nach kieferchirurgischer Intervention, 4 bei fehlender Diaphanoskopie auch in einem zweiten PEGVersuch. Die Vorteile der Laparoskopie sind die geringe Patientenbelastung, rasche schmerzfreie postoperative Erholung und keine relevante perioperative intestinale Motilitätsstörung. Als Nachteil müssen die Notwendigkeit einer Allgemeinnarkose und der höhere Applikationsaufwand gesehen werden (Horbach 2004). Die Feinnadel-Katheter-Jejunostomie (FKJ) dient der postoperativen enteralen Ernährung nach großen Abdominaleingriffen. Die Patienten sollten direkt bei der Operation mit einer Feinnadel-Katheter-Jejunostomie versorgt werden. Die FKJ ist ein guter Zugangsweg für eine längerfristige enterale Ernährung, da sie durch den direkten Zugang zum Dünndarm wenig belästigt und den Magen durch das Einbringen der Nährlösung in den Dünndarm nicht belastet. Jedoch muss durch die Umgehung des Magens mit chemisch definierten Diäten ernährt werden. Kontraindikationen sind mechanische Darmobstruktion, Peritonitis, Blutungsneigung, portale Hypertension, Aszites und chronisch entzündliche Darmerkrankungen (Vestweber 2004). Komplikationen der Sondenernährung und ihre Vermeidung Die Komplikationen der enteralen Ernährung hängen von der Sondentechnik, der Erkrankung und der verabreichten Ernährung ab. Bei nasalen Sonden ist die bedrohlichste Komplikation die Fehlplatzierung, besonders bei Patienten mit eingeschränktem Bewusstsein. Die fehlgeleitete Sondennahrung kann zu einer Pneumonie führen (Horbach 2004). Weitere Komplikationen bei nasalen Sonden sind: 4 perforierende Verletzungen in allen von der Sonde erreichten Abschnitten des Intestinums,
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4 Dislokation, wesentliche Ursache ist die Manipulation der Sonde durch den Patienten selbst, 4 Sondenokklusionen durch zu geringen Sondeninnendurchmesser oder mangelnde Pflege, 4 Ulzerationen durch längere Liegezeiten, 4 Hautaffektionen durch häufiges Wechseln der Verbände, 4 Defekte der Sonde. Die perkutane Sondenernährung hat eine Erfolgsrate von über 95%. Nur in weniger als 1% treten schwere Komplikationen auf. Die wichtigsten Akutkomplikationen sind Schmerzen und Infektionen. Schmerzen treten nahezu immer nach der Anlage einer perkutanen Sonde auf, sie werden systemisch behandelt und klingen in der Regel nach drei Tagen ab. Auf eine Fehllage der Sonde, die Entwicklung eines Hämatoms oder einer Bauchdeckenphlegmone folgende Komplikationen hin: weisen lokale Peritonitis, zugabhängige Schmerzen, Zunahme des Haut-HalteplattenAbstands sowie Rötung und Überwärmung der Einstichstellenumgebung. Eine langfristige Komplikation der perkutanen Sonde ist eine Sondenobstruktion, die aber meistens die Folge einer mangelnden Pflege der Sonde und nur selten der Materialermüdung ist (Gossner 1995). Neben den oben aufgeführten Komplikationen kann es durch die Sondennahrung zu gastrointestinalen Komplikationen kommen. Hierbei handelt es sich um Diarrhö, Reflux, Übelkeit, Erbrechen und Obstipation. Durch eine Adaptionsphase an die Sondenkost können diese Komplikationen vermindert werden. Hierbei wird die tägliche Infusionsmenge über 2–4 Tage langsam gesteigert bis die berechnete Gesamtzufuhr erreicht ist. Eine zu schnell zugeführte zu hohe Infusionsmenge kann zu Völlegefühl, abdominellen Krämpfen und Diarrhöen führen. Durchfälle sowie Übelkeit und Erbrechen können auch aufgrund von individuellen Unverträglichkeiten entstehen, wie z. B. Laktoseintoleranz, Fettintoleranz. Hierfür gibt es speziell auf diese Unverträglichkeiten abgestimmte Sondennahrungen. Auch falsche Applikation (zu kalte Zufuhr) und bakterielle Kontaminationen können zu Beschwerden führen. Von besonderer Bedeutung ist der hygienisch einwandfreie Umgang mit dem jeweiligen Sondensystem und der Nährlösung. Zusätzlich ist eine individuell angepasste und flexible enterale Ernährung unerlässlich. 13.5.3 Parenterale Ernährung
Eine parenterale Ernährung ist dann indiziert, wenn die enterale Ernährung über den Magen-Darm-Trakt nicht erfolgen kann oder die Funktionen des Magen-Darm-Traktes nicht ausreichend gewährleistet sind. Enterale und parenterale Ernährung schließen sich nicht aus und werden häufig zur Deckung des Kalorienbedarfs kombiniert. Es wird zwischen einer totalen parenteralen Ernährung (TPE) und einer partiellen parenteralen Ernährung (PPE) unterschieden. Die Applikation der TPE erfolgt über einen zentralvenösen Katheter, daher auch der Begriff der zentralvenösen Ernährung. Der Zugang für die PPE läuft über eine periphervenöse Vene, daher die Bezeichnung periphervenöse Ernährung. Bei der parenteralen Ernährung sind Makronährstoffe (Kohlenhydrate, Aminosäuren, Fettemulsionen) und Mikronährstoffe (Elektrolyte, Spurenelemente, Vitamine) zu berücksichtigen und können individuell kombiniert werden. Die Substrate können einzeln appliziert werden, z. B. als Aminosäurelösung, oder auch
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kombiniert als komplette Nährlösung, die alle drei Makronährstoffe enthält. Die Komplettlösungen können zu einer All-in-one-Lösung gemischt werden, in der neben den Makronährstoffen auch Mikronährstoffe enthalten sind. Hier können die einzelnen Stoffe in unterschiedlicher Konzentration, Osmolarität und Volumina vor Applikation individuell gemischt werden. Es gibt jedoch auch ein breites Spektrum von industriell hergestellten Nährlösungen (Weimann u. Bley 2004). Nicht nur die Makro- und Mikronährstoffe können individuell dosiert werden, auch die Kalorien können bedarfsgerecht verabreicht werden, als normokalorisch und hypokalorisch. Die Vorteile der Komplettlösungen sind: 4 gleichmäßige Substratzufuhr, 4 verbessertes Monitoring, 4 weniger Arbeitsaufwand, 4 geringere Kontaminationsgefahr für Zwei- und Dreikammerbeutel. Das ernährungstherapeutische Vorgehen ist ein Stufenplan, in dem die Wasser- und Elektrolytzufuhr sowie der Bedarf an Makround Mikronährstoffen schrittweise angepasst werden: 4 Stufe I: Flüssigkeitssubstitution, allenfalls Minimalzufuhr an Kohlenhydraten, 4 Stufe II: hypokalorische (periphervenöse) Ernährung, 4 Stufe III: normokalorische (zentralvenöse) Ernährung. Komplikationen der parenteralen Ernährung und ihre Vermeidung Die häufigste Komplikation der parenteralen Ernährung ist die Katheterinfektion. Ursache hierfür ist das Nichteinhalten einer aseptischen Arbeitsweise, die bei der Applikation der Infusionslösung sowie bei Verbandswechseln unerlässlich ist. Die Katheterpflege ist somit von besonderer Bedeutung zur Vermeidung von Komplikationen (Weimann u. Bley 2004). Bei der Zubereitung der Infusionslösung ist es wichtig, einerseits auf eine aseptische Arbeitsweise zu achten und andererseits mögliche Unverträglichkeiten der einzelnen Komponenten zu berücksichtigen. Besonders beim Mischen von wässrigen Lösungen (Kohlenhydrate, Elektrolyte, Aminosäuren) mit Fettemulsionen ist Vorsicht geboten, da die Fettemulsion instabil werden kann. Die Lagerzeiten und -bedingungen der Nährlösungen sind zu beachten und unbedingt einzuhalten, um den einwandfreien Zustand der Infusionen zu gewährleisten. Medikamente dürfen nie durch den Ernährungskatheter appliziert werden, da ihre Steuerbarkeit und ihre Wirksamkeit beeinträchtigt werden können. Wirksamkeit der parenteralen Ernährung in der Onkologie Die parenterale Ernährung ist gerade bei mangelernährten Patienten zur Verbesserung des Ernährungszustandes sehr wirksam. In zwei Metaanalysen konnte eine signifikant niedrigere Letalität, eine tendenziell niedrigere Infektionsrate sowie eine niedrigere Komplikationsrate bei kritisch kranken und chirurgischen Patienten nachgewiesen werden (Braunschweig et al. 2001; Heyland et al. 2001). In einer prospektiven randomisierten Studie an 90 schwer mangelernährten Patienten (über 10% Gewichtsverlust) mit gastrointestinalen Tumoren konnte beobachtet werden, dass eine periopera-
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Kapitel 13 · Ernährung von Krebspatienten
tive parenterale Ernährung (10 Tage prä- plus 9 Tage postoperativ) die postoperative Komplikationsrate um ein Drittel verminderte und die Let alität signifikant reduzierte (Bozetti et al. 2000).
Voraussetzung für eine parenterale Ernährung des Patienten zu Hause ist die gesicherte Versorgung durch einen Pflegedienst und die Betreuung durch ein spezialisiertes Ernährungsteam.
Zusammenfassung Die Ernährung spielt neben anderen Risikofaktoren eine bedeutende Rolle bei der Krebsprävention und der Krebsentstehung. Man geht davon aus, dass 35% aller Krebserkrankungen durch eine gesunde und ausgewogene Ernährung, begleitet von einem bewussten Lebensstil, verhindert werden können. Ernährungsstörungen gehören zu den häufigsten Komplikationen bei onkologischen Erkrankungen. Kachexie und Sepsis zählen zu den häufigsten Todesursachen von Tumorkranken. Die Hauptziele der Ernährungstherapie sind die Vermeidung und Behandlung von lebensbedrohlicher Fehl- und Mangelernährung sowie die Verbesserung und Erhaltung des Ernährungszustandes. Außerdem können Nebenwirkungen der Tumortherapien vermindert und die Lebensqualität der Tumorpatienten gesteigert werden.
Durch eine Vielfalt von möglichen Ernährungstherapien kann jeder Patient individuell, angepasst an seine Erkrankung, seinen Erkrankungsstatus, sein körperliches und seelisches Befinden optimal behandelt werden. Die meisten Ernährungsinterventionen sind auch ambulant durchführbar, sodass ein Klinikaufenthalt verkürzt und der Patient in seiner gewohnten Umgebung weiter betreut werden kann. Krebsdiäten sind unkonventionelle Ernährungsformen, die jeglicher wissenschaftlichen Grundlage entbehren. Es handelt sich hierbei meist um genussfeindliche, z. T. gesundheitlich äußerst bedenkliche Behandlungsmethoden, die sehr kritisch zu bewerten sind. Die Ernährungstherapie ist immer eine supportive Therapie und als solche fester Bestandteil in der medizinischen Behandlung von Tumorpatienten.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
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14 Angiogenese H.G. Augustin, S. Christian
14.1
Bedeutung der Blutgefäßangiogenese für Tumorwachstum und Tumorprogression – 294
14.2
Bedeutung der Lymphgefäßangiogenese für Tumorwachstum und Tumorprogression – 295
14.3
Molekulare Mechanismen von Vaskulogenese, Angiogenese und Lymphangiogenese – 295
14.4
Nachweis angiogener Prozesse in humanen Tumoren
14.5
Therapeutische Manipulation tumorangiogener Prozesse Literatur – 307
– 301 – 303
292
Kapitel 14 · Angiogenese
> Einleitung
Tumorprogression und Metastasierung sind zwingend abhängig von der Versorgung des wachsenden Tumors mit einem Netzwerk funktioneller Blutgefäße, die den Tumor versorgen und Stoffwechselprodukte abtransportieren. Zwar können Tumoren auch entlang bestehender Blutgefäße wachsen und von diesen perfundiert werden (Gefäßkooption), doch ist heute weithin anerkannt, dass die allermeisten Tumoren das Wachstum von Blutgefäßen aktiv induzieren. Dies war nicht immer so. Tatsächlich glaubte man bis etwa 1970, dass Gefäßkooption ein primärer Mechanismus der Durchblutung von Tumoren wäre. Schließlich stellt 1971 der amerikanische Chirurg Dr. Judah Folkman die Hypothese auf, dass die Progression solider Tumoren zwingend mit der Induktion der Angiogenese einhergehen müsse (Folkman 1971). Damit wurde die moderne Angiogeneseforschung begründet. Trotzdem wurden in den Jahren 1970–1985 jährlich nicht einmal 200 angiogeneserelevante Publikationen veröffentlicht. Dies änderte sich mit der Entdeckung des ersten spezifischen Angiogenesefaktors VEGF (»vascular endothelial growth factor«) durch den italienisch-stämmigen Gynäkologen Dr. Napoleone Ferrara im Jahre 1989 (. Tab. 14.1; Leung et al. 1989). Mit der Entdeckung von VEGF begannen weltweit intensive Anstrengungen, die molekularen Mechanismen der Angiogenese zu verstehen und angiomanipulatorische Therapien (Angioinhibition bei Tumoren; therapeutische Angiogenese bei kardialer Ischämie) bis zur klinischen Anwendung zu entwickeln (. Abb. 14.1). Tatsächlich dauerte es nur 15 Jahre seit der Entdeckung von VEGF, bis im Jahre 2004 die erste angioinhibitorische Therapie (neutralisierender Antikörper gegen VEGF) die klinische Zulassung erhielt. Dieses Kapitel diskutiert die Bedeutung von Blutgefäßangiogenese und Lymphgefäßangiogenese für die Tumorprogression und Metastasierung. Es fasst den derzeitigen Kenntnisstand über die molekularen Mechanismen von Angiogeneseinduktion und Angiogeneseinhibition zusammen und skizziert die gegenwärtigen Möglichkeiten zur angiodiagnostischen Bewertung von Tumorpatienten. Schließlich entwickelt es den aktuellen Kenntnisstand zum Einsatz angioinibitorischer Tumortherapien und beschreibt die Möglichkeiten weiterer zukünftiger klinischer Entwicklungen auf dem Gebiet der Angiogeneseforschung.
14
. Abb. 14.1. Entwicklung der Angiogeneseforschung auf der Grundlage angiogeneserelevanter Publikationen. Dargestellt ist die Summe der Publikationen, die pro Jahr in »Pubmed« erscheinen (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/entrez) und bei denen das Wort »angiogenesis« entweder im Titel () oder im Abstract () erscheint. Bis 1990 sind jährlich weniger als 200 Arbeiten erschienen. Die 90er Jahre markieren die Phase des exponentiellen Wachstums der Angiogeneseforschung. Gegenwärtig pendelt sich die Angiogeneseforschung auf einem stabil hohen Niveau jährlich publizierter Arbeiten ein
293 14 · Angiogenese
14
. Tab. 14.1. Meilensteine der Angiogeneseforschunga Zitationen
Referenz
Entdeckung von VPF als tumorsezernierter Permeabilitiätsfaktor
1431
Senger et al. (1983)
Induktion der Angiogenese durch TGFβ
1961
Roberts et al. (1986)
Angiogener Switch in transgenem Pankreaskarzinommodell (RipTag)
1029
Folkman et al. (1989)
Identifizierung von VEGF
2164
Leung et al. (1989)
Identifizierung der Identität von VPF und VEGF
1131
Keck et al. (1989)
Prognostischer Wert der intratumoralen Mikrogefäßdichte
2544 1027
Weidner et al. (1991) Weidner et al. (1992)
Hypoxieregulation der VEGF-Expression
2103
Shweiki et al. (1992)
Identifizierung von VEGF als Tumorangiogenesefaktor
1388
Plate et al. (1992)
Identifizierung von Interleukin-8 als angiogener Faktor
1015
Koch et al. (1992)
Inhibition der Tumorangiogenese durch Anti-VEGFAntikörper
1687
Kim et al. (1993)
Entdeckung von Flk-1 (VEGFR-2) als VEGF-Rezeptor
1137
Millauer et al. (1993)
Entdeckung des endogenen Angiogeneseinhibitors Angiostatin
1853
O’Reilly et al. (1994)
Bedeutung des Integrinheterodimers αvβ3 für die Tumorangiogenese
1282/1250
Brooks et al. (1994a,b)
Embryonal letaler Phänotyp von Flk-1 (VEGFR-2)defizienten Mäusen
1588
Shalaby et al. (1995)
Embryonal letaler Phänotyp von VEGFR-1-defizienten Mäusen
1175
Fong et al. (1995)
Embryonal letaler Phänotyp von VEGF-defizienten Mäusen
1409 1322
Carmeliet et al. (1996) Ferrara et al. (1996)
Entdeckung des endogenen Angiogeneseinhibitors Endostatin
1882
O’Reilly et al. (1997)
Identifizierung zirkulierender endothelialer Progenitorzellen
1204
Asahara et al. (1997)
Identifizierung von Angiopoietin-2
1011
Maisonpierre et al. (1997)
Regulation der Angiogenese durch Zyklooxygenase (COX)
1145
Tsujii et al. (1998)
a
Diese Liste umfasst in zeitlicher Anordnung die mehr als 1.000-mal in wissenschaftlichen Arbeiten zitierten angiogeneserelevanten Originalpublikationen [von insgesamt etwa 25.000 angiogeneserelevanten Originalarbeiten (auf der Grundlage einer Science Citation Index – ISI Web of Science Recherche im Juni 2006)]
14
294
Kapitel 14 · Angiogenese
14.1
Bedeutung der Blutgefäßangiogenese für Tumorwachstum und Tumorprogression
Zur Tumorinitiation kommt es als klonales Ereignis als Folge einer stabilen neoplastischen Transformation einer Zelle. Aus dieser kann sich durch Tumorpromotionsereignisse ein avaskulärer Zellhaufen entwickeln. Ein solcher avaskulärer Zellhaufen kann als »schlafendes« In-situ-Karzinom (»dormant microtumor«) über sehr lange Zeit bestehen und in einem Wachstumsäquilibrium aus Tumorzellproliferation und Apoptose vorliegen, ohne zwingend zu einem klinisch manifesten Tumor heranzuwachsen (Udagawa et al. 2002). Das Wachstum über einen kritischen Durchmesser hinaus, der die Versorgung durch Diffusion ermöglicht, erfordert zwingend die Induktion der Tumorangiogenese, d. h., Tumorzellen sezernieren lösliche angiogene Wachstumsfaktoren, die parakrin auf umliegende Mikrogefäße wirken und das Aussprossen von neuen Kapillaren induzieren (Folkman 2006). Eine Reihe spezifischer und eine lange Liste pleiotroper angiogener Wachstumsfaktoren wurde in den vergangenen 20 Jahren molekular und funktionell charakterisiert (7 Abschn. 14.3.3). Allerdings ist die Angiogenese, wie die meisten biologischen Prozesse, durch positive und negative Faktoren gesteuert. Diese Erkenntnis hat zu der Beobachtung geführt, dass mit der Induktion der Angiogenese durch tumorsezernierte Wachstumsfaktoren auch die Herunterregulation endogener Angiogenesefaktoren verbunden ist. Das Verschieben der homöostatischen Balance von Angiogenese induzierenden und Angiogenese inhibierenden Faktoren im Verlauf der Tumorprogression wird als angiogener Switch (»angiogenic switch«) bezeichnet (. Abb. 14.2; Bergers u. Benjamin 2003; Hanahan u. Folkman 1996). Zum angiogenen Switch (»switch« = Schalter) kommt es, wenn Tumoren über einen Durchmesser von 1 mm hinauswachsen. Der kritische Durchmesser, bis zu dem ein solider Tumor avaskulär heranwachsen kann, wird durch die biophysikalischen Eigenschaften des Sauerstoffs definiert. Sauerstoff kann maximal etwa 150 μm in Gewebe diffundieren. Das impliziert, dass der Abstand zwischen zwei Gefäßen innerhalb des Tumors bei maximal 200–300 μm liegt. Diese biophysikalischen Überlegungen korrespondieren tatsächlich mit den histomorphologischen Eigenschaften von Tumoren. So ist es regelmäßig möglich, in schnell wachsenden Tumoren mit größeren nekrotischen Arealen Tumorzellen zu finden, die zylindrisch um Mikrogefäße angeordnet sind. Diese Tumorzellzylinder (»perivascular cuffs«) haben einen Radius von 100 μm bis maximal 150 μm. Der angiogene und lymphangiogene Switch im Verlauf der Tumorprogression ermöglicht einerseits das progrediente Wachstum von Tumoren und sorgt andererseits überhaupt erst dafür, dass Tumorzellen Anschluss an Blut- und Lymphgefäße bekommen, was eine Voraussetzung für deren metastatische Dissemination ist. Damit sind Blutgefäß- und Lymphgefäßangiogenese die entscheidenden Tumorprogressionsmechanismen, die aus einer lokalen Wachstumsstörung eine systemische, unter Umständen lebensbedrohliche Krankheit machen. Die Erkenntnis der Angiogeneseabhängigkeit des Tumorwachstums hat frühzeitig die Hoffnung genährt, dass die Angiogenese eine kritische Achillesferse des Tumorwachstums sein könnte, dessen therapeutische Manipulation neue Möglichkeiten der Tumortherapie ermöglicht. Diese Hoffnung wird auch durch die Erkenntnis unterstützt, dass Antiangiogenese im Adulten ein sehr günstiges therapeutisches Fenster hat: »klassische« chemo-
. Abb. 14.2a,b. Der »angiogene Switch«. a Der Tumor befindet sich im Gleichgewicht, wenn sich proangiogene Faktoren (Stimulatoren) wie VEGF, bFGF, Ang-1 oder HGF und antiangiogene Faktoren (Inhibitoren) wie Thrombospondin, Angiostatin, Endostatin oder Tumstatin die Waage halten. b Verschiebt sich das Gleichgewicht zugunsten der Stimulatoren, findet Angiogenese statt. Dieser Übergang wird als der »angiogene Switch« bezeichnet
therapeutische und strahlentherapeutische Interventionen wirken antiproliferativ auf Tumorzellen und alle anderen sich teilenden Zellen des Körpers, was vor allen Dingen bei der Chemotherapie mit erheblich belastenden Nebenwirkungen einhergeht. Demgegenüber ist das Wachstum von Blutgefäßen in erster Linie ein entwicklungsbiologischer Prozess der Embryonal- und Adoleszenzphase, der im gesunden Adulten weitgehend herunterreguliert ist. Quantitativ bedeutsame physiologische Angiogeneseprozesse gibt es im Adulten lediglich zyklisch im Verlauf des Ovarialund Endometrialzyklus (Augustin 2005). Angiogenese ist daher ein »onkofetaler« Mechanismus, d. h. ein Prozess, der normalen physiologischen Regulationsmechanismen unterliegt und andererseits im Adulten kaum operativ ist. »Onkofetal« bezeichnet dabei einen entwicklungsbiologischen Prozess, der im Verlauf des Tumorwachstums reaktiviert wird. Dies hat die Hoffnung genährt, dass antiangiogene Tumortherapien einerseits weitgehend nebenwirkungsfrei sind. Andererseits sollten sie auch weitgehend frei von Resistenzmechanismen sein, da eben nicht die
295 14.3 · Molekulare Mechanismen von Vaskulogenese, Angiogenese und Lymphangiogenese
veränderte Tumorzelle selbst, sondern das physiologischen Wachstumsmechanismen unterliegende tumorassoziierte Gefäßbett als Bestandteil des Tumorstromas Angriffsziel einer antiangiogenen Therapie ist. Tatsächlich stellt die klinische Zulassung des neutralisierenden Anti-VEGF-Antikörpers Bevacizumab (Avastin) im Jahre 2004 einen Paradigmenwechsel der Tumortherapie dar, da erstmals ein Therapieprinzip eingeführt wurde, das nicht die neoplastisch transformierte Zelle per se zum Ziel hat, sondern vielmehr das tumorassoziierte Gefäßbett. Damit begründet die therapeutische Antiangiogenese neben der chirurgischen Entfernung des Tumors sowie der chemotherapeutischen und radiotherapeutischen Behandlung von Tumoren die Antistromatherapie als viertes Standbein der Tumortherapie. 14.1.1 Solide Tumoren
Aufgrund der biophysikalischen Eigenschaften des Sauerstoffs ist vor allen Dingen das Wachstum solider Tumoren abhängig von der ausreichenden Induktion der Angiogenese. Dies hat die Hoffnung genährt, dass Antiangiogenese als therapeutisches Wirkprinzip bei den meisten Tumorerkrankungen Anwendung finden könnte. Tatsächlich gibt es nur wenige Studien, die die angiogene Potenz verschiedener Tumorarten systematisch vergleichend untersucht haben. Die quantitative Bewertung der Tumorangiogenese auf der Grundlage der Proliferation von Endothelzellen ergab, dass das Glioblastom der menschliche Tumor mit der stärksten angiogenen Potenz ist, bei dem im Mittel in jedem zehnten Mikrogefäß eine oder mehrere proliferierende Endothelzellen nachgewiesen werden können (Eberhard et al. 2000). Es folgen Nierenzellkarzinom, Kolonkarzinom und Mammakarzinom. Lungenkarzinome und Prostatakarzinome haben eine mittlere endotheliale Proliferationsaktivität von etwa 2% (Eberhard et al. 2000). Damit ist die angiogene Potenz in diesen Tumoren mindestens um den Faktor 5 geringer als in Glioblastomen. Im Vergleich zum ruhenden Gefäßbett ist die endotheliale Proliferationsaktivität aber immer noch 20- bis 50-mal höher (Eberhard et al. 2000). 14.1.2 Hämatologische Tumoren
Obwohl die Bedeutung der Angiogenese aus den genannten biophysikalischen Gründen insbesondere für das Wachstum von soliden Tumoren von Bedeutung ist, hat sich in den vergangenen Jahren die Erkenntnis durchgesetzt, dass angiogene Faktoren auch das Wachstum hämatologischer Tumoren steuern (Dankbar et al. 2000; Moehler et al. 2001). Die Überexpression angiogener Faktoren wurde bei Leukämien, Lymphomen, beim myelodysplastischen Syndrom und beim multiplen Myelom beschrieben (Moehler et al. 2001). Vor allen Dingen die antiangiogene Wirkung von Thalidomid beim multiplen Myelom hat zu berechtigten Hoffnungen Anlass gegeben, dass antiangiogene Therapien auch bei hämatologischen Tumoren Bedeutung bekommen können (Rajkumar u. Witzig 2000).
14.2
Bedeutung der Lymphgefäßangiogenese für Tumorwachstum und Tumorprogression
Neben der Erforschung der Blutgefäßangiogenese ist die molekulare Analyse lymphangiogener Prozesse in den Mittelpunkt der
14
Angiogeneseforschung gerückt. Mehr als 100 Jahre alte Untersuchungen an Schweineföten haben bereits ein sehr genaues Bild des subkutanen Lymphgefäßnetzwerkes und der Dynamik des entwicklungsbiologischen Wachstums von Lymphgefäßen vermittelt (Sabin 1902). Eine molekulare Disziplin ist die Lymphangiogeneseforschung allerdings erst im Jahre 2001 geworden, als die Wachstumsfaktoren VEGF-C (Skobe et al. 2001) und VEGFD (Stacker et al. 2001) als Liganden des VEGF-Rezeptors 3 funktionell charakterisiert wurden. Korrespondierend konnte gezeigt werden, dass löslicher VEGFR-3 zur Inhibition der Lymphangiogenese eingesetzt werden kann (Makinen et al. 2001). Die in den vergangenen Jahren erfolgte Identifizierung von lymphendothelialen Markermolekülen wie VEGFR-3, Prox-1, LYVE-1 und Podoplanin hat eine histologische Bewertung der intratumoralen und peritumoralen Lymphangiogenese überhaupt erst möglich gemacht (Wigle u. Oliver 1999; BreitenederGeleff et al. 1999; Banerji et al. 1999). Diese Untersuchungen unterstützen die Erkenntnis, dass es zur aktiven Lymphangiogenese vor allen Dingen in der Tumorperipherie kommt (Mandriota et al. 2001), was invadierenden Tumorzellen Zugang zu Lymphgefäßen verschafft und damit lymphatische Metastasierung ermöglicht (Alitalo et al. 2005). Experimentelle Untersuchungen haben gezeigt, dass neben VEGF-C und VEGF-D auch VEGF selbst in der Lage ist, Lymphangiogenese zu stimulieren und damit lymphatische Metastasierung zu fördern (Nagy et al. 2002; Hirakawa et al. 2005).
14.3
Molekulare Mechanismen von Vaskulogenese, Angiogenese und Lymphangiogenese
Der Begriff Angiogenese bezeichnet im weitesten Sinne die Prozesse des Blutgefäßwachstums (»vaskuläre Morphogenese«). Tatsächlich beschreibt Angiogenese im engeren Sinne das Auswachsen von Blutgefäßen aus bereits bestehenden Gefäßen (. Abb. 14.3). Dies geschieht klassischerweise als »sprossende Angiogenese«. Dem steht die »nicht sprossende Angiogenese« gegenüber [auch Intussuszeption oder intussuszeptives mikrovaskuläres Wachstum (Djonov et al. 2003) genannt]. Intussuszeption bezeichnet die Bildung eines komplexen vaskulären Netzwerkes durch Längsspaltung eines Gefäßes durch die Einziehung vertikaler Pfeiler (Risau 1997; Carmeliet 2000). Im Gegensatz zur Bildung von vaskulären Netzwerken durch Mechanismen der sprossenden und nicht sprossenden Angiogenese bezeichnet der Begriff Arteriogenese das adaptive Wachstum innerhalb bestehender kapillärer Netzwerke als Folge von Veränderungen des Blutflusses oder sich verändernder biomechanischer Kräfte, in deren Verlauf es zur Bildung von Arterien (Kollateralen) kommt (Carmeliet u. Jain 2000; Buschmann u. Schaper 2000). Der Terminus Arteriogenese wird zumeist im Zusammenhang mit der pathologieassoziierten inflammatorischen Remodellierung der adulten Vaskulatur nach kardialer Ischämie verwendet (Hoefer et al. 2005). Allerdings sollte diese Art der adaptiven »adulten Arteriogenese« von den Mechanismen der »fetalen Arteriogenese« unterschieden werden. Dieser Begriff ist formal nicht gut etabliert, aber er beschreibt den physiologischen Umbauprozess eines primären kapillaren Plexus im Embryo, der zur Bildung von Arterien mit direktionalem Blutfluss führt. Eine Kombination von genetischen Determinanten (Zhong et al. 2001) und biomechanischen Kräften (Le Noble et al. 2004) steuert das physiologische Programm der Bildung von Arterien und Venen.
296
Kapitel 14 · Angiogenese
14.3.2 Angiogenese
. Abb. 14.3. Schritte der vaskulären Morphogenese. Bei der Entwicklung vaskulärer Gefäße unterscheidet man die Vaskulogenese, die sprossende Angiogenese, Assemblierung und Ausreifung der Blutgefäße. Als Vaskulogenese wird die In-situ-Differenzierung von Endothelzellen aus mesodermalen Vorläuferzellen (Angioblasten) und die nachfolgende Bildung eines primären kapillaren Plexus bezeichnet. Bei der nachfolgenden sprossenden Angiogenese entwickeln Endothelzellen einen proinvasiven Phänotyp und migrieren in Richtung des angiogenen Reizes. Schließlich kommt es zur Ausbildung eines dreidimensionalen Netzwerkes von Gefäßen, in denen direktionaler arteriovenöser Blutfluss einsetzt, zur Rekrutierung von Wandzellen (Perizyten, glatte Muskelzellen), die maßgeblich an der Reifung der Blutgefäße beteiligt sind, und zur Etablierung organspezifischer vaskulärer Eigenschaften
14.3.1 Vaskulogenese
14
Der Begriff Vaskulogenese beschreibt die In-situ-Differenzierung von Endothelzellen aus mesodermalen Vorläuferzellen (Angioblasten) und die nachfolgende Bildung des primären kapillaren Plexus (. Abb. 14.3; Risau u. Flamme 1995). Angioblasten haben eine gemeinsame Vorläuferzelle mit hämatopoetischen Zellen (Hämangioblasten), was ein Hinweis auf die nahe Verwandtschaft der gefäßauskleidenden residenten Endothelzellen und der mobilen Zellen in der Zirkulation ist (Choi et al. 1998). Vaskulogenese ist in erster Linie ein entwicklungsbiologischer Prozess, der der angiogenen Phase der Gefäßbildung vorausgeht. Allerdings wurden zirkulierende endotheliale Progenitorzellen (EPC, »endothelial progenitor cells«) auch im Adulten nachgewiesen (Asahara et al. 1997). Dies hat in den vergangenen Jahren zu erheblichen Forschungsanstrengungen geführt, die Bedeutung von endothelialen Stamm- und Progenitorzellen im Adulten besser zu verstehen und therapeutisch auszunutzen, z. B. für Zwecke der therapeutischen Angiogenese nach kardialer Ischämie (Rafii u. Lyden 2003; Urbich u. Dimmeler 2004) oder zum Zwecke des gezielten Targetings der Tumorneovaskulatur (Wei et al. 2004). Prinzipiell gilt heute als gesichert, dass aus dem Knochenmark stammende Zellen an Orte aktiver Angiogenese rekrutiert werden können. Sie können sich dort entweder zu Zellen der Gefäßwand differenzieren (Endothelzellen, glatte Muskelzellen) oder parakrin an der Induktion der Angiogenese beteiligt sein (mononukleäre Zellen). Neuere Untersuchungen weisen darauf hin, dass der quantitative Beitrag von distal rekrutierten Gefäßwandzellen tatsächlich eher gering zu sein scheint und die Wirkung von knochenmarksrekrutierten Zellen primär in der parakrinen Induktion der Angiogenese liegt (Grunewald et al. 2006; Jin et al. 2006).
Der vaskulogenetischen Phase der Angiogenese folgt die eigentliche sprossende Angiogenese (. Abb. 14.3). Dabei entwickeln Endothelzellen einen proinvasiven Phänotyp (Verschiebung der proteolytischen Balance) und migrieren gerichtet auf den angiogenen Reiz. Embryonal steuern physiologisch kontrollierte Gradienten von angiogenen Faktoren das koordinierte Auswachsen kapillärer Sprossen. In Tumoren sorgen primär Hypoxiegradienten für die sauerstoffabhängige Produktion von angiogenen Faktoren in Tumorzellen und deren Gradientenbildung (Pouyssegur et al. 2006). Allerdings ist dieser Prozess im Gegensatz zu physiologischen Angiogeneseprozessen nicht fein koordiniert, was im Ergebnis zu einer chaotischen Organisation des Tumorgefäßbettes führt (Carmeliet 2005). An der Spitze auswachsender kapillärer Sprossen befinden sich spezialisierte Endothelzellen (»tip cells«), die multiple Lamellipodien auswerfen, die Gradienten angiogener Faktoren wahrnehmen und so die Direktionalität des Gefäßwachstums vermitteln (Gerhardt et al. 2003). Weiter zurückliegende Endothelzellen (»stalk cells«) proliferieren und bilden eine lumenbildende, blind endende kapillare Sprosse. Auswachsende Kapillarsprossen anastomosieren und formen auf diese Weise ein dreidimensionales Netzwerk von Gefäßen, in denen direktionaler arteriovenöser Blutfluss einsetzt. Durch Rekrutierung von muralen Zellen (Perizyten, glatte Muskelzellen) kommt es zur Ausreifung der Neovaskulatur (Folkman u. D’Amore 1996). Die komplexen funktionellen Anforderungen der angiogenen Kaskade erfordern ein spezialisiertes Repertoire an Molekülen, das von angiogenen Endothelzellen selektiv oder präferenziell exprimiert wird. Im Vergleich zu ruhenden, organotypisch differenzierten Endothelzellen werden auf angiogenen Endothelzellen verstärkt Rezeptoren von angiogenen Wachstumsfaktoren, Inva-
. Abb. 14.4. Neue Marker angiogener Blutgefäße. Schematische Darstellung der Domänenstruktur neuer Markermoleküle (ROBO4, DELTA4, TEM1, TEM5, TEM8) angiogener Blutgefäße. IG immunglobulinähnliche Domäne; F fibronektinähnliche Domäne; LR leucinreiche Domäne; Horm R Hormonrezeptor Domäne; GPS »G-protein-coupled receptor« Proteolysestelle; vWA von-Willebrand-Faktor-A-Domäne
297 14.3 · Molekulare Mechanismen von Vaskulogenese, Angiogenese und Lymphangiogenese
sion vermittelnde Adhäsionsmoleküle, proproteolytische Moleküle, zytoskeletale Moleküle, Proliferation regulierende Moleküle, Komponenten der Basalmembran sowie sezernierte Faktoren synthetisiert (Neri u. Bicknell 2005). All diese Determinanten der angiogenen Kaskade sowie neuere, funktionell im Einzelnen noch nicht näher charakterisierte Moleküle (. Abb. 14.4) sind Gegenstand intensiver Untersuchungen, da sie potenziell selektive Targets für eine antiangiogene Intervention sind (Ruoslahti 2002).
14
14.3.3 Molekulare Regulatoren der angiogenen Kaskade
Eine große Anzahl an spezifischen und pleiotropen Wachstumsfaktoren ist in der Lage, Angiogenese in experimentellen Modellen zu induzieren (. Tab. 14.2). Mittlerweile ist eine etwa ebenso große Anzahl an angioinhibitorischen Molekülen molekular charakterisiert. Das Interesse der Angiogeneseforschung gilt vor allen Dingen solchen Molekülen, die weitgehend selektiv im Ge-
. Tab. 14.2. Stimulatoren und endogene Inhibitoren der Angiogenese Stimulatoren
Inhibitoren
Wachstumsfaktoren VEGF-A, -B, -C, -D PlGF Ang-1, Ang-2 (kontextabhängig) FGF-1, -2 PDGF-BB TGF-α, TGF-β HGF IGF-1
Proteolytische Peptide Alphastatin (Fibrinogenfragment) Angiostatin (Plasminogenfragment) Arresten (Kollagen-IV-Fragment) Antithrombin-III-Fragment Canstatin (Kollagen-IV-Fragment) Endostatin (Kollagen-XVIII-Fragment) Tumstatin (Kollagen-IV-Fragment) Vasostatin (Calreticulin-Fragment) Lösliche Rezeptoren sVEGFR-1 (sFlt-1) sTie1
Enzyme PD-ECGF, «thymidine phosphorylase« Angiogenin (Homolog von Ribonuclease A)
Inhibitoren enzymatischer Aktivität TIMP-1, -2, -3, -4 PAI-1, -2 Maspin
Multifunktionelle Zytokine bzw. Immunmediatoren TNF-α (niedrige Konzentrationen)
Multifunktionelle Zytokine bzw. Immunmediatoren TNF-α (hohe Konzentrationen) Semaphorin-3A, -3C, -3F Netrin-1
Chemokine MCP-1 IL-8
Chemokine PF-4 IP-10 Gro-β Extrazelluläre Matrixmoleküle Thrombospondin Fibulin-5
Hormone Follistatin Östrogene Prostaglandin-E1, -E2 Proliferin
Hormone und Hormonmetaboliten 2-Methoxy-Östradiol Proliferin-verwandtes Protein
Oligosaccharide Oligosaccharide von Hyaluronsäure Ganglioside
Oligosaccaride Hyaluronan (hochmolekular)
Hämatopoietische Wachstumsfaktoren Erythropoietin G-CSF GM-CSF VEGF vaskulär-endothelialer Wachstumsfaktor (»vascular endothelial growth factor«); PlGF plazentarer Wachstumsfaktor (»placenta growth factor«); Ang, Angiopoietin; FGF Fibroblastenwachstumsfaktor (»fibroblast growth factor«); PDGF plättchenentstammender Wachstumsfaktor (»platelet-derived growth factor«); TGF Transformierender Wachstumsfaktor (»transforming growth factor«); HGF Hepatozytenwachstumsfaktor (»hepatocyte growth factor«); IGF insulinartiger Wachstumsfaktor (»insulin-like growth factor«); TNF Tumor-Nekrose-Faktor (»tumor necrosis factor«); MCP Monozyten-chemotaktische Protein (»monocyte chemoattractant protein«); IL Interleukin; PD-ECGF plättchenentstammender endothelialer Wachstumsfaktor (»platelet-derived endothelial cell growth factor«); G-CSF Granulozytenkolonien stimulierender Faktor (»granulocyte-colony stimulating factor«); GM-CSF Granulozyten-Makrophagenkolonien stimulierender Faktor (»granulocyte-macrophage colony stimulating factor«); TIMP Gewebeinhibitor der Metalloproteasen (»tissue metalloproteinase inhibitor«); PAI Plasminogen-Aktivator-Inhibitor (»plasminogen activator inhibitor); PF Plättchenfaktor (»platelet factor«); IP-10 Interferon-γ-induzierbares Protein-10 (»interferon-γ-inducible protein-10«)
298
Kapitel 14 · Angiogenese
. Abb. 14.5a–c. Angiogenese regulierende Rezeptortyrosinkinasen 7 und ihre Liganden. a Schematische Darstellung des VEGF-VEGFR-Liganden-Rezeptor-Systems. Es besteht beim Menschen aus den Wachstumsfaktorrezeptoren VEGFR-1, VEGFR-2 und VEGFR-3, sowie den Korezeptoren Neuropilin-1 und -2, bzw. den Wachstumsfaktorliganden PlGF, VEGF (eigentlich: VEGF-A), -B, -C und -D. Die Spezifität der Wachstumsfaktoren für die Rezeptoren ist durch Pfeile gekennzeichnet. VEGF-C und -D binden primär VEGFR-3 und vermitteln Lymphangiogenese, können aber nach proteolytischer Spaltung auch VEGFR-2 binden. b Schematische Darstellung von Liganden-Rezeptor-Systemen, die die dreidimensionale Differenzierung sprossender Kapillaren durch Vermittlung von propulsiven und repulsiven Signalen steuern. c Schematische Darstellung des Gefäßmaturation steuernden Ang-Tie-Systems. Es gibt 4 Angiopoietinliganden sowie die Rezeptoren Tie1 und Tie2. Ang-1–4 binden den Rezeptor Tie2. Tie1 nimmt mutmaßlich Korezeptorfunktionen wahr. Ig immunoglobulinähnliche Domäne; EGF »epidermal growth factor«-ähnliche Domäne; FVIII Fibronektin Typ-VIII-ähnliche Domäne
fäßsystem wirken, da nur von solchen Molekülen zu erwarten ist, dass sie attraktive Targets für eine nebenwirkungsfreie oder nebenwirkungsarme therapeutische Intervention sind. Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich daher primär auf die spezifischen molekularen Bausteine der angiogenen Kaskade.
14
Spezifische Angiogeneseinduktoren Der Prozess der Angiogenese wird spezifisch durch eine Kaskade hierarchisch aufeinander aufbauender und ineinander greifender Rezeptor-Tyrosinkinasen-Systeme kontrolliert. Dabei folgen der VEGF-vermittelten sprossenden Angiogenese komplexe und im Einzelnen noch nicht hinreichend verstandene Mechanismen der Gefäßassemblierung und -differenzierung. Diese Schritte werden weitgehend von den gleichen Molekülen kontrolliert, die auch das Auswachsen und die Verschaltung von Neuronen steuern (Eichmann et al. 2005). Am Ende der angiogenen Kaskade steht die Ausreifung des Gefäßbettes zu einem patenten Gefäß mit ruhendem Phänotyp, das seine vaskulär homöostatischen Funktionen wahrnehmen kann. Dabei zeigt sich in jüngster Zeit zunehmend, dass die gleichen Moleküle, die entwicklungsbiologisch und im Verlauf des Tumorwachstums vaskulär morphogenetische Funktionen haben, im Adulten zentrale Funktionen bei der Aufrechterhaltung der vaskulären Homöostase wahrnehmen (Fiedler et al. 2006). VEGF-vermittelte Angiogeneseinduktion VEGF steht sehr hoch in der Hierarchie der Ereignisse, die Angiogenese induzieren. Die VEGF-Familie umfasst mindestens 6 Wachstumsfaktoren: VEGF (eigentlich: VEGF-A), VEGF-B, VEGF-C und VEGF-D sind beim Menschen vorkommende Regulatoren physiologischer und pathologischer Angiogenese- und Lymphangiogeneseprozesse (. Abb. 14.5a). VEGF-E ist ein Orfvirushomolog, das nach Infektion zu hypervaskularisierten Läsionen führt. VEGF-F ist bisher noch nicht weitergehend untersucht und nur als Ergebnis der Sequenzierung des humanen Genoms identifiziert worden. Daneben gibt es PlGF-1 und PlGF2 (»placenta growth factor«) als VEGF-verwandte Angiogenesefaktoren (Ferrara et al. 2003; Neufeld et al. 1999). VEGF ist der bisher am besten untersuchte Angiogenesefaktor. VEGF liegt in mindestens 5 Isoformen vor: VEGF121, VEGF145, VEGF165, VEGF189 und VEGF206 (Olsson et al. 2006). Funktionell von Bedeutung ist, dass die größeren VEGF heparinbindend sind, was Einfluss auf ihre freie Diffusionsfähigkeit hat.
299 14.3 · Molekulare Mechanismen von Vaskulogenese, Angiogenese und Lymphangiogenese
VEGF121 ist demgegenüber nicht heparinbindend. Neben den agonistischen VEGF-Isoformen wurden proteolytische VEGFFragmente (VEGF113) und C-terminale Splicevarianten von VEGF (VEGFxxxb) als inhibitorische VEGF identifiziert (Lee et al. 2005; Woolard et al. 2004). VEGF vermitteln ihre gefäßspezifischen Effekte durch VEGFRezeptoren, die weitgehend selektiv von Endothelzellen exprimiert werden (Olsson et al. 2006). Der primär Blutgefäßangiogenese vermittelnde Rezeptor ist VEGFR-2 (Flk1, »fetal liver kinase-1«). VEGFR-1 bindet VEGF mit fast 20-mal stärkerer Affinität als VEGFR-2. Auf diese Weise ist die Wirkung von VEGFR-1 kontextabhängig, da es einerseits negativ auf VEGFR-2-vermittelte Signaltransduktion wirken kann und andererseits selbst insbesondere bei Prozessen der pathologischen Angiogenese stimulierende Signaltransduktionsfunktionen wahrnimmt. VEGF-Rezeptoraktivierung vermittelt promitogene, chemotaktische, antiapoptotische und permeabilitätsfördernde Signale (. Abb. 14.6). Als Korezeptoren der VEGF wurden die Neuropiline identifiziert. Neuropiline (NP-1 und NP-2) sind eigentlich Rezeptoren der bei axonalen Wachstumsprozessen zuerst beschriebenen Semaphorine. Allerdings haben NP-defiziente Mäuse diskrete Blutgefäßbildungsstörungen (Neufeld et al. 1999) und Semaphorine haben ebenfalls vaskulär morphogene Funktionen (Eichmann et al. 2005). Die Funktionen von VEGF und seiner Rezeptoren wurde primär durch die Phänotypen genetisch manipulierter Mäuse charakterisiert: VEGF-defiziente Mäuse sterben frühembryonal (E8.5) als Folge massiver Gefäßbildungsstörungen (Ferrara et al. 1996; Carmeliet et al. 1996). Tatsächlich ist bereits der Verlust
. Abb. 14.6. VEGF-induzierte angiogene Signaltransduktionskaskaden. Die Bindung des angiogenen Wachstumsfaktors VEGF an seinen Rezeptor aktiviert verschiedene intrazelluläre Signaltransduktionskaskaden. Nach der Bindung kommt es zur Dimerisierung des Rezeptors und anschließender Transphosphorylierung. Die entstehenden Phosphorylierungsstellen dienen als Erkennungsmotiv für Adapterproteine, die daraufhin intrazelluläre Signalmoleküle rekrutieren. So führt die Aktivierung der GTPase RAS zur Aktivierung des »Mitogen-activated-protein«-(MAP-) Kinaseweges und zur Aktivierung spezifischer Transkriptionsfaktoren (Elk1) im Zellkern. Andere intrazelluläre Kaskaden wie z. B. Proteinkinase C (PKC) oder der P38-vermittelte Signalweg führen zur Hochregulierung von chemischen Signalmolekülen wie Stickstoffmonoxid (NO) und zur Umstrukturierung des Zytoskeletts, was schließlich zur gerichteten Zellwanderung und Angiogenese führt
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eines VEGF Allels nicht mit dem Leben vereinbar und führt zu frühembryonalem Tod. Diese Beobachtungen haben das Dosiskonzept der VEGF-Wirkung begründet, nach der die Fähigkeit von VEGF zur Bildung eines funktionsfähigen dreidimensionalen Gefäßnetzes von der feingesteuerten zeitlich und räumlich genauen Präsentation von VEGF abhängig ist. Dabei sind zu geringe Mengen von VEGF ebenso schädlich wie unkontrolliert hohe Mengen, wie dies bei dem chaotropen Gefäßnetz in einem Tumor der Fall sein kann. Korrespondierend zur Wirkung von VEGF haben deletionsmutante VEGFR-2- und VEGFR-1-defiziente Mäuse ebenfalls einen embryonal letalen Phänotyp (Shalaby et al. 1995; Fong et al. 1995), was auf die kritische Bedeutung beider VEGF-Rezeptoren für eine ungestörte Gefäßbildung hinweist. Die Expression von VEGF wird entwicklungsbiologisch einerseits durch genetische Determinanten und andererseits durch Milieufaktoren der Mikroumgebung gesteuert. Korrespondierend erfolgt die Regulation der VEGF-Expression in Tumoren einerseits durch Onkogenaktivierung und andererseits durch das Mikromilieu. Der wichtigste VEGF-steuernde Milieufaktor ist Hypoxie. Hypoxie führt in vielen Zellen durch Aktivierung von Prolylhydroxylasen zur Stabilisierung von hypoxieregulierten Transkriptionsfaktoren (HIF, »hypoxia-inducible factor«), die die Aktivierung eines adaptiven Genexpressionsprogramms steuern, zu dem als einem der wichtigsten Faktoren VEGF gehört (Shweiki et al. 1992; Pugh u. Ratcliffe 2003). Damit sorgen Hypoxiegradienten für funktionelle VEGF-Gradienten, die als parakrine Faktoren das Gefäßbett aktivieren. Assemblierung und dreidimensionale Differenzierung VEGF hat induktive Wirkung. Tatsächlich ist die alleinige längerfristige Überexpression von VEGF in der Lage, das komplette genetische Programm zu aktivieren, das zur Bildung von patenten Gefäßen erforderlich ist (Dor et al. 2002). Dieses Programm impliziert eine Kaskade von molekularen Regulatoren, die in den vergangenen Jahren zunehmend im Detail analysiert wurden. Embryonal wirken in aktivierten Angioblasten Transkriptionsfaktoren, die die Differenzierung von Endothelzellen steuern. Aktiviert durch VEGF induzieren Notch-Rezeptoren und Delta-Liganden die endotheliale Signaltransduktion, die zur Aktivierung von Hey-Transkriptionsfaktoren (auch Hesr oder Gridlock genannt) führt. Diese steuern in Endothelzellen ein Genexpressionsprogramm, das die Differenzierung von arteriellen Endothelzellen induziert (Zhong et al. 2001; Fischer et al. 2004). Die Unterdrückung der Notch-Signaltransduktion durch den Transkriptionsfaktor Coup-TF-II führt demgegenüber zur Differenzierung von venösen Endothelzellen (You et al. 2005). Insbesondere der NotchLigand Delta-like 4 (Dll4) hat eine besondere Rolle als VEGFGegenspieler. Dll4-defiziente Mäuse haben entsprechend einen ähnlich dramatischen Phänotyp wie VEGF-defiziente Mäuse, der durch Haploinsuffizenz mit heterozygoter Letalität gekennzeichnet ist (Krebs et al. 2004; Duarte et al. 2004). In trans wirkende Interaktionen zwischen Notch-Rezeptoren und Delta-Liganden haben auch eine erhebliche Rolle bei der Steuerung von Wechselwirkungen von Tumorzellen und Endothelzellen und werden gerade in jüngster Zeit erst als Tumorprogression regulierendes Signaltransduktionssystem charakterisiert (Li u. Harris 2005). VEGF-Aktivierung führt zu einem angiogenen endothelialen Phänotyp, der mit dem Erwerb arterieller Endothelzelleigenschaften einhergeht. Tatsächlich wurden eine ganze Reihe arteriovenös-asymmetrisch exprimierter Endothelzellmoleküle identifiziert, die eine Rolle bei der dreidimensionalen Assemblierung des
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Kapitel 14 · Angiogenese
wachsenden Gefäßbettes haben (Lawson u. Weinstein 2002). VEGF induziert die Expression von ephrinB2, einem transmembranen Liganden der präferenziell venös exprimierten Rezeptortyrosinkinase EphB4 (. Abb. 14.5b). EphB-Rezeptoren und ephrinB-Liganden wurden ursprünglich als ein bi-direktionales Signaltransduktionssystem identifiziert, das positionelle Informationen in auswachsenden Neuronen überträgt. Es war eine große Überraschung, dass die gleichen Moleküle, die das Auswachsen von Neuronen kontrollieren, auch positionelle Informationen im wachsenden Gefäßbett transduzieren. EphB4 und ephrinB2 sind essenziell für die korrekte Positionierung von Arterien und Venen, wie eindrucksvoll durch den embryonal letalen Phänotyp EphB4und ephrinB2-defizienter Mäuse dokumentiert wird (Wang et al. 1998; Adams 2002; Augustin u. Reiss 2003). Bi-direktionale EphB-ephrinB-Interaktionen sind auch bei der Tumorvaskularisierung von Bedeutung. EphB-Rezeptoren werden stark von den neoplastisch transformierten Zellen in zahlreichen Tumoren exprimiert und scheinen kontextabhängig tumorpromovierende und tumorinhibierende Wirkungen zu haben (Heroult et al. 2006; Batlle et al. 2005). Lösliche monomere EphB4-Rezeptoren wirken als dominant-negative Inhibitoren und haben potente antiangiogene und antitumorigene Wirkungen in EphB-Rezeptoren exprimierenden Tumoren (Martiny-Baron et al. 2004). Nach der Identifizierung des EphB-ephrinB-Systems als positionelle Information vermittelndes Signaltransduktionssystem, das die Assemblierung von sprossenden Gefäßnetzen kontrolliert, wurde eine Reihe weiterer, ursprünglich als neuronale Regulatoren charakterisierte Moleküle identifiziert, die ebenfalls positionelle Informationen im Gefäßsystem vermitteln (. Abb. 14.5b; Carmeliet u. Tessier-Lavigne 2005). Dazu gehören insbesondere die sezernierten Klasse-3-Semaphorine (Sema3A, 3B, 3C, 3F), die endothelial exprimierte Neuropiline und Plexine binden und repulsive Signale vermitteln (Eichmann et al. 2005). Ebenso wurde die Interaktion von Netrin mit seinem Rezeptor Unc5B als ein repulsives signaltransduzierendes System identifiziert (Lu et al. 2004). Schließlich wurden Robo-Slit-Interaktionen in der Kontrolle angiogener endothelialer Funktionen beschrieben (Eichmann et al. 2005). Die funktionelle Charakterisierung dieser Moleküle im Kontext der Tumorangiogenese steckt noch in den Anfängen. Ausreifung und Maturation des vaskulären Systems Ausgereifte Gefäße besitzen eine innere, organotypisch differenzierte endotheliale Auskleidung, die sich nur innerhalb von Monaten bis Jahren proliferativ erneuert. Die meisten Zellen des menschlichen Körpers teilen sich entweder selten bis nie (z. B. Neuronen) oder sie befinden sich dauerhaft im Prozess der proliferativen Erneuerung (z. B. Epithelzellen). Tatsächlich gibt es nur wenige Zellpopulationen, die wie Endothelzellen im Ruhezustand bradytroph sind und sich selten teilen, aber nach angiogener Aktivierung in kürzester Zeit massiv proliferieren können. Diese Überlegungen implizieren, dass es sehr fein gesteuerte molekulare Mechanismen geben muss, die den Ruhezustand des vaskulären Endothels steuern. Tatsächlich ist die Perturbation des ruhenden Phänotyps ein gemeinsames Charakteristikum, das pathogenetisch zahlreichen vaskulären Störungen zugrunde liegt (angiogene Aktivierung, inflammatorische Aktivierung, atherosklerotische Perturbation, Restenosierung). Das Angiopoietin-Tie-Liganden-Rezeptor-System ist nach dem VEGF-VEGFR- und dem ephrinB-EphB-System das dritte, weitgehend vaskulär spezifisch exprimierte Rezeptor-Tyrosinkinasen-System (. Abb. 14.5c). Es kontrolliert den quieszenten
Endothelzellphänotyp und ist damit ein entscheidender Regulator der vaskulären Homöostase (Thurston 2003). Angiopioetin-1 (Ang-1) ist der agonistische Ligand des Rezeptors Tie2. Das oligomere Ang-1 wird von zahlreichen Zellpopulationen synthetisiert und wirkt als klassisch parakriner Wachstumsfaktor gefäßstabilisierend und trägt durch konstitutive Tie2-Phosphorylierung zur Aufrechterhaltung der vaskulären Homöostase bei (Wong et al. 1997; Suri et al. 1996). Ligandenvermittelte Tie2Phosphorylierung aktiviert verschiedene Signaltransduktionskaskaden. Primär wirkt es auf den PKB-Akt-Signalweg und damit als Überlebensfaktor für Endothelzellen. Tie1 ist ein Korezeptor der Ang-Tie-Signalachse, dessen molekulare Funktionen noch nicht im Detail entschlüsselt sind. Angiopoietin-2 (Ang-2) ist der funktionelle gefäßdestabilisierende Antagonist der Ang-1-Tie-2-Achse (Hanahan 1997; Maisonpierre et al. 1997). Ang-2 wird von Endothelzellen selbst synthetisiert, in denen es in Weibel-Palade-Körperchen gespeichert wird und für rasche Sekretion zur Verfügung steht (Fiedler et al. 2004). Es wird praktisch bei jeder Art der endothelialen Aktivierung stark exprimiert. Als gefäßdestabilisierendes Zytokin sind die Nettowirkungen von Ang-2 kontextabhängig: in Anwesenheit angiogener Aktivität (z. B. VEGF) ermöglicht es die Angiogenese, während es in Abwesenheit von angiogener Aktivität zur Regression des Gefäßbettes kommt, wie dies beispielsweise physiologisch im Rahmen der luteolytischen Gefäßregression im ovariellen Corpus luteum vorkommt (Hata et al. 2002). Die Rolle von Ang-2 bei der Tumorangiogenese ist Gegenstand intensiver aktueller Forschungsarbeiten. Ang-2 wird wie VEGF stark durch Hypoxie induziert. Tatsächlich wird Ang-2 sehr stark von der Tumorneovaskulatur in fast allen soliden humanen Tumoren gebildet (Stratmann et al. 1998). Es gibt aber praktisch kaum einen humanen Tumor, bei dem der evolutionäre Druck dafür gesorgt hätte, dass die Tumorzellen selbst Ang-2 exprimieren. Das bedeutet, dass Ang-2 entweder in ausreichendem Maße vom tumorassoziierten Endothel produziert wird oder aber, dass Ang-2 per se keine protumorigene Wirkung hat. Tatsächlich wurde jedoch in experimentellen Modellen gezeigt, dass Ang-2 neutralisierende Antikörper potente antiangiogene und antitumorigene Wirkungen haben (Oliner et al. 2004). Der zweite Mechanismus der Gefäßstabilisierung ist die Rekrutierung und Assoziierung von Gefäßendothelien mit Perizyten (Kapillaren) und glatten Muskelzellen (größere Gefäße). Die Rekrutierung von muralen Zellen wird von Endothelzellen selbst vermittelt, die PDGF-B (»platelet-derived growth factor«) exprimieren, was zur Aktivierung von PDGF-Rezeptoren auf muralen Zellen und zu deren Anlagerung an auswachsende Kapillarsprossen führt (Hellstrom et al. 1997; Folkman u. D’Aamore 1996). Murale Zellen penetrieren mit Zellfortsätzen die endotheliale Basalmembran und kontrollieren den quieszenten Phänotyp von Endothelzellen durch direkte Zell-Zell-Kontakte. Dieser Prozess wird mutmaßlich durch die Aktivierung von latentem TGF-β (»transforming growth factor«) gesteuert (Folkman u. D’Aamore 1996). Pleiotrope Angiogeneseinduktoren Die sequenzielle Kaskade aus sprossender Angiogenese, Assemblierung und Ausreifung ist heute molekular sehr detailliert aufgeklärt. Es gibt über diese ausführlicher diskutierten weitgehend vaskulär spezifischen Wachstumsfaktoren hinausgehend noch eine längere Liste pleiotroper Faktoren, die ebenfalls in der Lage sind, in experimentellen Systemen sehr potent Angiogenese zu induzieren (. Tab. 14.2). Insbesondere das FGF-FGFR-System
301 14.4 · Nachweis angiogener Prozesse in humanen Tumoren
sowie das CXC-Chemokin Interleukin-8 sind in zahlreichen humanen Tumoren stark exprimiert. Zwar sind diese Moleküle für entwicklungsbiologische Vaskularisierungsprozesse dispensibel. Die klinisch-epidemiologische Evidenz, dass insbesondere diese beiden molekularen Systeme stark mit der Tumorprogression assoziiert sind, ist jedoch überwältigend, weshalb sie neben den spezifischen Angiogenese induzierenden Systemen ebenso valide Targets für mögliche angioinhibitorische Tumortherapien sind.
kehrt auch VEGF selbst lymphangiogen wirken kann (Hirakawa et al. 2005). Neben der spezifischen Lymphangiogeneseinduktion durch Aktivierung von VEGFR-3 wurden in jüngster Zeit weitere pleiotrope Regulatoren der Lymphangiogenese wie HGF (»hepatocyte growth factor«) und GH (»growth hormone«) beschrieben (Kajiya et al. 2005).
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Endogene Angiogeneseinhibitoren Angiogenese ist, wie die meisten biologischen Prozesse, durch eine Balance aus stimulierenden und inhibierenden Kräften gesteuert (. Abb. 14.2). Es wurden in den vergangenen 10 Jahren mehr als 25 endogene Inhibitoren der Angiogenese identifiziert. Diese sind in experimentellen Systemen in der Lage, den Prozess der Angiogenese zu inhibieren. Molekular ist die Gruppe der endogenen Angiogeneseinhibitoren bisher noch nicht gut verstanden, was auch die Möglichkeiten der klinischen Exploration bisher limitiert. Zahlreiche endogene Inhibitoren sind proteolytische Fragmente größerer Moleküle. Prototypische proteolytisch generierte endogene Angiogeneseinhibitoren sind Angiostatin (Plasminogenfragment; O’Reilly et al. 1994) und Endostatin (Kollagen-XVIII-Fragment; O’Reilly et al. 1997). Zahlreiche endogene Angiogeneseinhibitoren sind Spaltprodukte von Molekülen der extrazellulären Matrix (. Tab. 14.2). Damit sind sie prädisponiert, mit den adhäsiven Zell-Matrix-Interaktionen aussprossender Endothelzellen negativ zu interferieren. Für wenige endogene Angiogeneseinhibitoren wurden bisher definitive Experimente in genetischen Modellen realisiert. Mäuse mit genetischer Manipulation des Tumstatin generierenden Muttermoleküls Typ-IV-Kollagen haben reduzierte zirkulierende Tumstatinkonzentrationen und eine erhöhte Prädisposition zur Tumorentwicklung und Tumorprogression (Hamano et al. 2003). Diese Beobachtungen unterstützen die Hypothese, dass endogene Angiogeneseinhibitoren langlebig sind und systemisch wirken, während die Induktoren der Angiogenese lokal wirken und kurzlebig sind. Nach dem Modell der angiogenen Balance (. Abb. 14.2) könnte dieses auch implizieren, dass Patienten mit reduzierten Konzentrationen endogener Angiogeneseinhibitoren ein erhöhtes Risiko haben, dass die im Körper zahlreich vorkommenden »schlafenden« Mikrometastasen progredient werden und zu einem vaskularisierten Tumor heranwachsen. Tatsächlich spricht Einiges dafür, dass endogene Angiogeneseinhibitoren eine entscheidende Rolle in frühen Stadien des Tumorwachstums im Zusammenhang mit dem angiogenen Switch haben. 14.3.4 Molekulare Regulation der Lymphangiogenese
Die Schlüsselmoleküle der Lymphangiogenese wurden in den vergangenen Jahren strukturell und funktionell charakterisiert (Alitalo u. Carmeliet 2002). Der primär Lymphangiogenese vermittelnde Rezeptor ist VEGFR-3, der von lymphatischen Endothelzellen und von angiogenen Blutendothelzellen exprimiert wird. VEGFR-3 bindet die lymphangiogenen Wachstumsfaktoren VEGF-C und VEGF-D (Alitalo et al. 2005). Die VEGF-CVEGF-D-VEGFR-3-Achse ist heute das spezifischste Lymphangiogenese induzierende System. Allerdings haben genetische Experimente auch Hinweise darauf gegeben, dass die VEGF-CVEGFR-3-Interaktion eine Rolle bei der embryonalen Blutgefäßangiogenese spielt (Shibuya u. Claesson-Welsh 2006), wie umge-
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Nachweis angiogener Prozesse in humanen Tumoren
Die wichtigsten molekularen Mechanismen der Angiogenese wurden in den zurückliegenden 20 Jahren in erheblichem Detail entschlüsselt (. Tab. 14.1). Diese Arbeiten haben im Rahmen von präklinischen tierexperimentellen »Proof-of-Principle«-Experimenten zur Validierung von therapeutischen Targets geführt, die seit knapp 10 Jahren mehr oder weniger erfolgreich klinisch getestet werden. VEGF hat als erstes therapeutisches Target Eingang in die klinische Praxis gefunden. Weitere Moleküle und Wirkprinzipien befinden sich in verschiedenen Phasen der klinischen Prüfung. Zwischen experimentellen antiangiogenen »Proof-ofPrinciple«-Experimenten und klinischer Anwendung beim Menschen sollten eigentlich analytische Untersuchungen an humanen Tumoren stehen, die Aufschluss über die spezifischen Eigenschaften der humanen Tumorneovaskulatur geben, die schlussendlich das therapeutische Fenster antiangiogener Tumortherapien definieren. Solche Untersuchungen wurden auch in vielfältiger Weise durchgeführt. Trotzdem zeigt sich, dass die Kenntnisse der spezifischen Eigenschaften der Neovaskulatur in humanen Tumoren der limitierende Schritt der Implementation antiangiogener Therapien ist (. Abb. 14.7). Eine gezielte Therapie sollte eigentlich immer eine gezielte Diagnostik voraussetzen. Eine zuverlässige spezifische Angiodiagnostik zur rationalen Bewertung des therapeutischen Fensters antiangiogener Tumortherapien ist allerdings bis heute nicht etabliert. Es werden zu diesem Zweck histomorphologische, klinisch-chemische und nichtinvasive bildgebende Verfahren entwickelt. 14.4.1 Pathomorphologische Untersuchungstechniken
Die Erstbeschreibung des Zusammenhangs zwischen der Mikrogefäßdichte in einem Tumor und der Prognose am Beispiel des Mammakarzinoms im Jahre 1991 ist bis heute die am meisten zitierte Originalarbeit der Angiogeneseforschung (. Tab. 14.1; Weidner et al. 1991). Tatsächlich hat diese Publikation sehr viele Forschergruppen inspiriert, entsprechende Untersuchungen an anderen Tumorarten durchzuführen. Bis heute wurden mehr als 1.500 Mikrogefäßdichtenstudien an praktisch allen Tumorarten publiziert (Hlatky et al. 2002). Insgesamt haben diese Studien bestätigt, dass die Mikrogefäßdichte ein unabhängiger prognostischer Parameter der Tumorprogression ist, d. h., je mehr Blutgefäße in einem Tumor pro mikroskopischem Gesichtsfeld nachweisbar sind, desto ungünstiger ist die Prognose des Patienten. Allerdings haben diese Studien auch zur weit verbreiteten Miskonzeption geführt, dass die Mikrogefäßdichte mit dem Prozess der Angiogenese gleichgesetzt werden kann. Mikrogefäßdichtenzählungen basieren auf der Quantifizierung von Gefäßen in histologischen Schnitten, in denen Endothelzellen mit Antikörpern gegen Pan-Endothelzellmarker [CD31, CD34, von-Willebrand-Faktor (vWF)] dargestellt werden (Uzzan et al.
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Kapitel 14 · Angiogenese
ausreichend dahingehend validiert werden, dass er zur zuverlässigen Quantifizierung der aktivierten (d. h. angiogenen) Mikrogefäßdichte verwendet werden könnte. Tatsächlich ist bis heute die Quantifizierung proliferierender Endothelzellen der zuverlässigste histomorphologische Parameter aktiver Angiogenese (Eberhard et al. 2000). Allerdings ist dieser Parameter weitgehend experimentellen Untersuchungen vorbehalten, da die Bestimmung für Routineanwendungen zu aufwändig ist. 14.4.2 Biomarker
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. Abb. 14.7. Schritte der Angiogeneseforschung von der Grundlagenforschung bis hin zur Therapie beim Menschen. Präklinischer Grundlagenforschung und tierexperimentellen »Proof-of-Principle«- und »Proofof-Concept«-Studien folgen analytische Untersuchungen der Vaskulatur in humanen Tumoren und die klinische Implementation antiangiogener Therapien. Die Implementation antiangiogener Tumortherapien schreitet rasch voran. Das funktionelle Verständnis der spezifischen Eigenschaften der humanen Tumorneovaskulatur und die daraus resultierende Definition des therapeutischen Fensters antiangiogener Tumortherapien entwickelt sich zunehmend zum Flaschenhals der translationellen Angiogeneseforschung
2004). Pan-Endothelzellmarker identifizieren sämtliche Endothelzellen unabhängig von ihrem Aktivierungsstatus. Mikrogefäßdichtenzählungen sind daher ein angioarchitektonischer Ausdruck der mittleren interkapillären Distanz. Sie reflektieren jedoch nicht unbedingt das Ausmaß aktiver Angiogenese. Die interkapilläre Distanz ist ein wichtiger Parameter des Tumorwachstums, da das ultimative Ziel einer angioinhibitorischen Therapie die Erhöhung der interkapillären Distanz bis auf ein Maß ist, das limitierend für das Wachstum des Tumors ist. Tatsächlich haben die meisten humanen Tumoren (in histologischen Schnitten) zwischen 80 und 120 Mikrogefäße pro Quadratmillimeter (Krneta et al. 2006). Experimentelle Untersuchungen haben ergeben, dass Tumoren in erheblichem Maße zur Nekrosebildung neigen, wenn die Mikrogefäßdichte auf unter 50 pro Quadratmillimeter sinkt (Krneta et al. 2006). Es wäre wünschenswert, wenn Parameter aktiver Angiogenese zur zuverlässigen Quantifizierung des Angiogenesestatus von Tumorpatienten durch histologische oder immunhistologische Untersuchungen von extirpierten Tumoren oder von Tumorbiopsien zur Verfügung stünden. Es sind mittlerweile eine ganze Reihe von Markermolekülen aktivierter Endothelzellen identifiziert worden (. Abb. 14.4; St Croix et al. 2000; Neri u. Bicknell 2005). Trotzdem konnte bisher keiner dieser Marker
Es wurden in den vergangenen Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, systemisch zirkulierende Biomarker (»Surrogatmarker«) als Ausdruck lokoregionärer angiogener Prozesse zu identifizieren und zu validieren (Singhal et al. 2005). Die lokale Produktion angiogener Wachstumsfaktoren kann dazu führen, dass erhöhte Konzentrationen dieser Moleküle in der systemischen Zirkulation nachweisbar sind. Der am besten validierte Biomarker ist VEGF, das bei vielen Tumoren erhöht in der Zirkulation nachgewiesen werden kann (Kaushal et al. 2005). Andere angiogeneserelevante Biomarker sind bFGF, Ang-2, sVEGFR-2 (löslicher VEGF-Rezeptor-2), sE-Selektin (lösliches E-Selektin) und VCAM-1 (Davis et al. 2003; Byrne et al. 2000). Diese Moleküle werden mittlerweile regelmäßig bei fortgeschrittenen klinischen Prüfungen antiangiogener Medikamente bestimmt. Allerdings variieren die zirkulierenden Konzentrationen dieser Moleküle erheblich, sodass auf den einzelnen Tumorpatienten bezogene diagnostische oder prognostische Rückschlüsse bisher nicht zuverlässig möglich sind und die Quantifizierung von Biomarkern primär zur Bestimmung des Verhaltens von Patientenkohorten genutzt wird. Allerdings werden aktuell erhebliche Anstrengungen auf der Ebene einzelner Patienten unternommen, longitudinale Profile von angiogeneserelevanten Biomarkern im Verlauf einer antiangiogenen Intervention zu bestimmen, da Veränderungen der zirkulierenden Konzentrationen von Biomarkern möglicherweise relativ zuverlässig Auskunft über das Ansprechen einer antiangiogenen Therapie geben können (Ramaswamy et al. 2006). Ein relativ neuer angiogeneserelevanter Biomarker ist die Quantifizierung der Zahl endothelialer Progenitorzellen (7 Abschn. 14.3.1; Shaked et al. 2005; Luttun et al. 2002; Bertolini et al. 2005). Verschiedene Differenzierungsantigene endothelialer Progenitorzellen wurden in der Literatur beschrieben. Insbesondere die Zahl zirkulierender CD133-positiver Zellen scheint mit der Intensität lokaler Angiogeneseaktivität zu korrelieren (Bertolini et al. 2005). 14.4.3 Imaging
Enorme Fortschritte wurden in den vergangenen Jahren bei der Implementation nichtinvasiver Imagingtechniken zur Darstellung der Neovaskulatur in Tumoren gemacht (Miller et al. 2005a; McDonald u. Choyke 2003; Anderson et al. 2001). Einfache Doppler-sonografische Techniken werden bereits seit vielen Jahren zur Bestimmung der Durchblutung von Tumoren genutzt (Delorme u. Knopp 1998). Allerdings ist die Auflösung der Dopplersonografie nicht ausreichend, um wirklich zuverlässig eine Beurteilung der Mikrovaskulatur innerhalb eines Tumors zu ermöglichen. Hochauflösende, dynamische, kontrastmittelverstärkte Magnetresonanztomografie (MRT) ist heute die Methode der Wahl
303 14.5 · Therapeutische Manipulation tumorangiogener Prozesse
zur nichtinvasiven Darstellung der Tumorneovaskulatur (Kiessling et al. 2005). MRT-Techniken haben heute eine Auflösung von weniger als 100 μm und bieten damit die Möglichkeit, auch sehr kleine Gefäße darzustellen. MRT-Techniken konnten erfolgreich zum longitudinalen Monitoring antiangiogener Therapien eingesetzt werden (Preda et al. 2004; Morgan et al. 2003).
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Therapeutische Manipulation tumorangiogener Prozesse
Das Ziel einer antiangiogenen Tumortherapie ist der spezifische Angriff auf das tumorassoziierte Gefäßbett mit dem Ziel der negativen Wachstumsbeeinflussung des Tumorgefäßbettes. Damit soll das weitere Wachstum des Tumors behindert oder im Idealfall sogar die Regression bestehender Tumorgefäße angestrebt werden. Alle bekannten Stimulatoren und Inhibitoren der Angiogenese sowie spezifisch von tumorangiogen aktivierten Endothelzellen exprimierte Oberflächenmoleküle werden zu diesem Zweck exploriert. Trotzdem muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt konkludiert werden, dass VEGF das einzige zuverlässig validierte therapeutische Angiogenesetarget ist. Anti-VEGF-Therapien haben Eingang in die klinische Praxis gefunden. Zukünftige therapeutische Entwicklungen sind folglich vor allen Dingen darauf gerichtet, solche Targets zu validieren, deren therapeutische Manipulation sich günstig vertragend, synergistisch gut mit AntiVEGF-Therapien kombinieren lässt. 14.5.1 Prinzipien der Angiogeneseinhibition
Eine antiangiogene Tumortherapie ist konzeptionell aus einer Reihe von Überlegungen sehr attraktiv: 1. Angiogenese ist ein onkofetaler Mechanismus, d. h., sie definiert ein günstiges therapeutisches Fenster, da sie einen physiologischen Mechanismus der Embryonalphase darstellt, der im gesunden Adulten herunterreguliert und weitgehend nicht operativ ist. Das hat zur Hoffnung Anlass gegeben, dass Antiangiogenese (im Gegensatz zu chemotherapeutischen und strahlentherapeutischen Modalitäten) eine weitgehend nebenwirkungsfreie Therapie ist. 2. Tumorassoziierte Angiogenese ist ein physiologisches Programm des tumortragenden Wirtsorganismus, d. h., Angiogenese unterliegt physiologischen Wachstumsrestriktionen und sollte somit weitgehend frei von der Induktion von Resistenzmechanismen sein. 3. Jede Kapillare versorgt potenziell hunderte von Tumorzellen. Ein Angriff auf das Gefäßbett könnte damit zu einem therapeutischen Lawineneffekt führen. 4. Im Gegensatz zur interstitiellen Lokalisation von Tumorzellen haben tumorassoziierte Endothelzellen direkten Kontakt zur Blutzirkulation, d. h., sie sind für systemisch verabreichte Medikamente sehr gut zugänglich. Auf der Grundlage dieser konzeptionellen Überlegungen werden nachfolgend einige grundsätzliche Anmerkungen zu den Prinzipien einer antiangiogenen Therapie ausgeführt. Ziel einer antiangiogenen Tumortherapie Grundsätzliches Ziel einer antiangiogenen Intervention ist es, die interkapillare Distanz in einem Tumor durch Blockade des Ge-
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fäßwachstums so weit zu erhöhen, dass die Versorgung über Blutgefäße limitierend für das Wachstum des Tumors wird. Dies wird erreicht, wenn die interkapillare Distanz über 200 μm steigt, was einer histologischen Mikrogefäßdichte von weniger als 50 Gefäßen pro Quadratmillimeter Querschnittsfläche entspricht. Die meisten soliden Tumoren im Menschen haben aber tatsächlich zwischen 80 und 120 Mikrogefäße pro Quadratmillimeter histologischer Querschnittsfläche. Tatsächlich reflektiert die Mikrogefäßdichte das relative Verhältnis der Expansion des Tumorkompartments zur Expansion des Gefäßkompartments. Das bedeutet, dass ein schneller wachsender Tumor mit moderater Angiogeneseintensität möglicherweise vulnerabler auf eine antiangiogene Intervention reagiert, als ein langsam wachsender Tumor mit relativ geringerer Angiogeneseintensität. Auf der anderen Seite ist es möglich, dass ein Tumor mit sehr hoher Angiogeneseintensität und ungünstiger Prognose schlecht auf eine antiangiogene Intervention reagieren wird, da selbst bei Halbierung der Mikrogefäßdichte immer noch eine Gefäßdichte vorliegt, die deutlich über dem Schwellenwert liegt, bei dem die Gefäßversorgung limitierend für das Tumorwachstum ist. Neben dem angioarchitektonischen Parameter Mikrogefäßdichte ist der entscheidende funktionelle Parameter die Perfusion des Tumors. Der histologische Nachweis von »perivascular cuffs« mit einem Zylinder lebender Tumorzellen ist ein guter Hinweis darauf, dass das zentrale Gefäß tatsächlich perfundiert war. Auf der anderen Seite ist heute weniger denn je klar, welchen Effekt eine antiangiogene Therapie auf die Perfusion des Tumors hat. Nach gegenwärtiger Vorstellung führt eine antiangiogene Therapie primär dazu, dass die unreifen Mikrogefäße destabilisiert und abgebaut werden. Das führt im Ergebnis dazu, dass nur größere Gefäße im Tumor verbleiben und das Gefäßbett damit »normaler« wird (Jain 2005). Dies könnte zwar erklären, warum Antiangiogenese sich günstig mit Chemotherapie kombinieren lässt. Ob dies aber auch impliziert, dass es nach Antiangiogenese zu einer netto besseren Tumorperfusion kommt, kann bezweifelt werden. Auch Chemotherapie ist eine antiangiogene Therapie und Antiangiogenese ist Chemotherapie Die Aktivitäten der Antiangiogeneseforschung konzentrieren sich auf die spezifischen Regulatoren der angiogenen Kaskade. Dabei wird zumeist übersehen, dass etablierte chemotherapeutische und radiotherapeutische Anwendungen immer auch einen antiangiogenen Effekt haben: Chemotherapie und Radiotherapie greifen sich teilende Zellen an. Die Proliferation von Endothelzellen ist zentral für die angiogene Kaskade. Daher ist davon auszugehen, dass antiproliferative Therapien nicht nur das Tumorkompartment, sondern immer auch das aktivierte tumorassoziierte Gefäßbett angreifen. Dies ist seit langer Zeit bekannt. Der quantitative Anteil des antiangiogenen Effekts der Chemotherapie und der Radiotherapie im Verhältnis zum antitumorigenen Effekt ist jedoch nicht klar. So wie Chemotherapie auf das proliferierende Gefäßkompartment des Tumors wirkt, können antiangiogene Medikamente auch das Tumorkompartment therapeutisch beeinflussen. Es hat sich gezeigt, dass zahlreiche Tumorzellen selbst Rezeptoren für angiogene Wachstumsfaktoren exprimieren. Insbesondere bei der antiangiogenen Therapie von Kolonkarzinomen hat sich gezeigt, dass insbesondere solche Tumoren gut auf eine Anti-VEGFTherapie ansprechen, bei denen in den Tumorzellen die Expression von VEGF-Rezeptoren nachweisbar ist.
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Kapitel 14 · Angiogenese
Antiangiogenese vs. vaskuläres Targeting Klassische Antiangiogenese greift in das Wachstum von Gefäßen ein, indem Regulatoren der angiogenen Kaskade inhibiert oder endogene Inhibitoren der Angiogenese aktiviert werden. Das Ziel des vaskulären Targetings ist es demgegenüber, molekulare Determinanten angiogener Gefäße (. Abb. 14.4) als Ankermoleküle zu verwenden, um über diese gezielt eine globaler wirkende tumorizide Aktivität zu applizieren (Neri u. Bicknell 2005). Beispielsweise wird eine bestimmte embryonale Form von Fibronektin (ED-B FN) in der extrazellulären Matrix von Tumorgefäßen deponiert (Nicolo et al. 1990). Der rekombinante Einzelkettenantikörper L19 bindet ED-B FN mit hoher Affinität. L19 wurde verwendet, um verschiedene Effektormoleküle zu binden (z. B. TNF, Interferon-γ, Interleukin-12). Die spezifische Bindung an das im Tumorgefäßbett exprimierte ED-B FN-Antigen ermöglicht auf diese Weise die Akkumulation von tumoriziden Substanzen über das Tumorgefäßbett (Neri u. Bicknell 2005). Ansätze zur Implementation von vaskulären Targetingtherapien befinden sich gegenwärtig in frühen Phasen der klinischen Prüfung. Inhibition von Aktivatoren der angiogenen Kaskade vs. Verwendung endogener Angiogeneseinhibitoren Prinzipiell ist es möglich, Angiogenese durch Blockade der Agonisten oder aber durch eine Hochregulation der Antagonisten der angiogenen Kaskade zu blockieren. Bisherige Studien zur Blockade der Agonisten der angiogenen Kaskade beziehen sich größtenteils auf das VEGF-VEGFR-System, da es das am besten charakterisierte Rezeptor-Liganden-System der Angiogenese ist (Ferrara u. Kerbel 2005). Grundsätzlich kann in das VEGFVEGFR-System auf jeder Stufe therapeutisch eingegriffen werden, d. h., es kann die Produktion von VEGF inhibiert werden, es kann VEGF funktionsneutralisiert werden und es kann die Akti-
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. Abb. 14.8. Möglichkeiten der therapeutischen Manipulation des VEGF-VEGFR-Systems. Es besteht auf verschiedenen Ebenen die Möglichkeit, therapeutisch in das VEGF-VEGFR-System einzugreifen. Zum einen kann die Produktion des Wachstumsfaktors VEGF in VEGF produzierenden Zellen durch Verwendung von VEGF-siRNA (21–28 Nukleotide lange RNA, die die Expression von spezifischen Zielgenen verringern) oder -Ribozymen (katalytisch aktive RNA-Moleküle) verhindert werden. Zum anderen kann bereits sezerniertes VEGF mit löslichem VEGF-Rezeptor (VEGF-Trap) oder mit neutralisierenden Antikörpern abgefangen werden, um somit die Interaktion von VEGF mit seinem Rezeptor zu verhindern. Schließlich kann die Funktion des Rezeptors auf der Endothelzelle selbst inhibiert werden, z. B. durch niedermolekulare Tyrosinkinaseinhibitoren oder durch VEGFR-Ribozyme
vierung der VEGF-Rezeptoren blockiert werden (. Abb. 14.8). Tatsächlich wurde im Jahre 1993 zum ersten Mal ein monoklonaler VEGF bindender Antikörper beschrieben, der das Wachstum verschiedener experimenteller Tumoren inhibiert (Gerber u. Ferrara 2005). Ähnliche Effekte wurden für Antikörper gegen den VEGF-Rezeptor VEGFR-2 (Prewett et al. 1999), für niedermolekulare Rezeptor-Tyrosinkinase-Inhibitoren (Wood et al. 2000) und für lösliche VEGF-Rezeptoren (Gerber et al. 2000; Holash et al. 2002) beschrieben. Alternativ zur Blockade von Stimulatoren der Angiogenese ist es auch möglich, Angiogenese durch den Einsatz endogener Angiogeneseinhibitoren (. Tab. 14.2) zu blockieren. Endogene Inhibitoren der Angiogenese wurden in vielfältiger Weise in experimentellen Tumormodellen erfolgreich zur Blockade von Angiogenese und Tumorprogression eingesetzt (O’Reilly et al. 1997; Maeshima et al. 2001). Die klinische Translation hat bisher allerdings überwiegend ernüchternde Ergebnisse erbracht. Dies kann eine Reihe von Ursachen haben. Unter anderem ist es sehr gut möglich, dass die langlebigen und systemisch wirkenden endogenen Inhibitoren der Angiogenese eher für den präventiven Einsatz und zur Therapie sehr frühen Tumorwachstums geeignet sind, als dass sie eine gute therapeutische Wirkung in den bisher fast ausschließlich an fortgeschrittenen Tumoren durchgeführten klinischen Antiangiogenesestudien haben könnten. Nebenwirkungen einer antiangiogenen Tumortherapie Antiangiogenese sollte eine nebenwirkungsfreie Tumortherapie sein. Diese Hoffnung hat sich bisher weitgehend bestätigt, was in gewisser Weise eine Überraschung ist, da sich abzeichnet, dass Regulatoren der vaskulären Morphogenese auch kritische vaskulär homöostatische Funktionen wahrnehmen. So werden VEGFRezeptoren in nennenswertem Maße von zahlreichen ruhenden Endothelien exprimiert und durch VEGF auf niedrigem Niveau konstitutiv phosphoryliert. Auch vermittelt konstitutive VEGFSignaltransduktion die Fenestrierung von diskontinuierlichen Endothelien, wie sie in allen endokrinen Drüsen und der Niere vorkommen (Esser et al. 1998). Deutlich nachweisbare phoshorylierte VEGF-Rezeptoren lassen sich auch auf den Kapillarendothelzellen der Lunge nachweisen. Zwar konnten in experimentellen Modellen schädigende Effekte lang anhaltender Anti-VEGFTherapien auf Endothelzellen der Lunge und endokriner Drüsen (insbesondere Schilddrüse) nachgewiesen werden (Kasahara et al. 2000). Trotzdem scheinen im klinischen Alltag auch lang anhaltende systemische Anti-VEGF-Therapien gut und weitgehend nebenwirkungsfrei toleriert zu werden. Lediglich eine geringe, medikamentös gut handhabbare Erhöhung des Blutdrucks wird bei längeren Anti-VEGF-Therapien beobachtet. Allerdings wurden lang anhaltende antiangiogene Therapien bisher fast ausschließlich an fortgeschrittenen Tumorpatienten durchgeführt. Eine fortgeschrittene Tumorerkrankung ist jedoch immer auch eine systemische Erkrankung, weshalb nicht auszuschließen ist, dass Nebenwirkungen einer antiangiogenen Therapie nicht vordergründig diagnostiziert werden. Resistenzbildung bei antiangiogenen Therapien und genetische Stabilität des Tumorgefäßbettes Antiangiogenese greift einen physiologischen Mechanismus an. Daher sollte eine antiangiogene Therapie weitgehend frei von der Bildung von Resistenzmechanismen sein. Diese Feststellung ist auch richtig, so weit sie sich auf das Effektorprogramm des angiogenen Gefäßkompartments bezieht. Allerdings trifft es nicht auf
305 14.5 · Therapeutische Manipulation tumorangiogener Prozesse
das Repertoire der von Tumorzellen produzierten Induktoren der Angiogenese zu. Vielmehr ist sehr gut vorstellbar, dass es in VEGF-abhängigen Tumoren im Verlauf einer Anti-VEGF-Therapie durch Selektionsdruck zu einer phänotypischen Drift hin zu einem Tumor kommt, der primär einen anderen angiogenen Faktor (z. B. bFGF) produziert und damit ein anderes Effektorprogramm in Endothelzellen aktiviert. In experimentellen Modellen gibt es in der Tat sehr gute Hinweise, dass derartige phänotypische Drift unter dem Einfluss einer antiangiogenen Therapie zur Resistenzbildung führen kann. Ob diese Phänomene auch bei klinisch manifesten Tumoren von Bedeutung sind, ist gegenwärtig noch nicht geklärt. Es könnte auch zu Resistenzbildung vonseiten des tumorassoziierten Gefäßbettes kommen, wenn das Tumorgefäßbett nicht so genetisch stabil ist, wie bisher angenommen wurde. Tatsächlich wurden in einigen viel beachteten Arbeiten zytogenetische Aberrationen in tumorassoziierten Endothelzellen beobachtet (Hida et al. 2004; Streubel et al. 2004). Die quantitative Bedeutung dieses Phänomens ist noch nicht klar. Trotzdem ist es konzeptionell eine sehr interessante Beobachtung, da es impliziert, dass das tumorassoziierte Stroma nur durch die Nähe zu genetisch veränderten Tumorzellen selbst gefährdet ist, neoplastisch zu transformieren. Metronome Chemotherapien Chemotherapeutische Ansätze folgen zumeist dem Konzept der maximalen tolerierten Dosis (MTD, »maximum tolerated dose«). Dieses »viel hilft viel« ist eine Konsequenz der Tatsache, dass überhaupt nur ein sehr geringer Anteil eines systemisch verabreichten Tumormedikaments am Wirkort ankommt (in vielen Fällen weniger als 1%). Die Gründe hierfür sind vielfältig. Unter anderem liegt es an der schlechten Perfusion des Tumorinterstitiums, in dem Tumormedikamente gegen einen deutlich erhöhten interstitiellen Druck diffundieren müssen. Im Gegensatz zur interstitiellen Lokalisation von Tumorzellen haben tumorassoziierte Endothelzellen direkten Anschluss an das Gefäßbett. Daher sollte es möglich sein, sich teilende, angiogene Endothelzellen mit deutlich geringeren Dosen von chemotherapeutischen Medikamenten antiangiogen zu behandeln. Damit ist es möglich, statt der zyklischen Verabreichung hoher Konzentrationen von chemotherapeutischen Medikamenten, denen längere Erholungsphasen folgen, niedrige Chemotherapiekonzentrationen als Dauermedikation zu verabreichen. In experimentellen »Proof-of-Principle«-Studien wurde eine solche »metronome« Therapie erfolgreich eingesetzt, um eine Chemotherapie in eine ausschließlich antiangiogene Therapie umzuleiten (Munoz et al. 2006; Kieran et al. 2005; Kerbel u. Kamen 2004; Klement et al. 2000). Die klinische Implementation von metronomen antiangiogenen Therapien ist noch in den Anfängen. Vaskuläre Mimikry Vaskuläre Mimikry beschreibt die Beobachtung, dass es in Tumoren gefäßartige Kanäle mit antithrombogener Oberfläche geben kann, die von modifizierten Tumorzellen selbst gebildet werden (Maniotis et al. 1999). Offensichtlich besitzen manche Tumorzellen selbst ein erhebliches Transdifferenzierungspotenzial, so dass sie quasi-endotheliale Eigenschaften erwerben können. Dieser »vaskuläre Mimikry« genannte Vorgang wurde vor allen Dingen beim uvealen Melanom beobachtet (Maniotis et al. 1999). Die Beobachtung von Prozessen der tumorzellvermittelten vaskulären Mimikry hat für erhebliche Beunruhigung in der Angiogeneseforschung gesorgt, da dieser Mechanismus der intratumoralen
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Gefäßbildung einer klassischen antiangiogenen Therapie nicht zugänglich ist. Umfangreiche immunhistologische Markeranalysen haben zwischenzeitlich jedoch recht gute Hinweise darauf geliefert, dass der Prozess der vaskulären Mimikry bei humanen Tumoren quantitativ eine eher untergeordnete Bedeutung hat. 14.5.2 Pharmakologische Angiogeneseinhibitoren
Mit der klinischen Zulassung des ersten Angiogeneseinhibitors Bevacizumab (Avastin) 2004 in den USA und 2005 in Europa hat die translationelle Angiogeneseforschung Eingang in den klinischen Alltag gefunden. Im Jahre 2006 hat der erste niedermolekulare Angiogeneseinhibitor klinische Zulassung erhalten. Damit wird sich in den nächsten Jahren auch zeigen, ob hochmolekulare biologische Angiogeneseinhibitoren oder niedermolekulare chemische Blocker klinisch erfolgreicher sind. Eine Übersicht über die gegenwärtig etwa 20 spezifischen und pleiotropen, in klinischen Studien erprobten Angiogeneseinhibitoren findet sich auf der Webseite der National Institutes of Health unter http://www. nci.nih.gov/clinicaltrials/developments/anti-angio-table. Niedermolekulare Angiogeneseinhibitoren Praktisch alle großen Pharmaunternehmen haben in den vergangenen 10 Jahren intensive Screeningprogramme zur Identifizierung von niedermolekularen Kinaseinhibitoren entwickelt (Smith et al. 2004; Kerbel u. Folkman 2002). Das Ziel dieser Arbeiten ist die Identifizierung von Substanzen, die gezielt ein bestimmtes Spektrum von Kinasen blockieren, die tumorprogressionsrelevante Funktionen steuern. Solche Multi-Target-Kinaseinhibitoren werden in immer stärkerem Maße das therapeutische Portfolio personalisierter Tumortherapien beeinflussen. Die Entwicklung von Multi-Target-Kinaseinhibitoren ist an zwei zentrale konzeptionelle Bedingungen geknüpft: Zum einen muss es gelingen, die richtige Kombination von Zielkinasen zu definieren, die therapeutisch angegriffen werden soll. Dabei geht es vor allen Dingen um die beste Nutzung des therapeutischen Fensters hinsichtlich der richtigen Kombination von biologischen Targets (z. B. Zellproliferation und Angiogenese). Die zweite Herausforderung ergibt sich aus der Tatsache, dass das humane Kinom nur zu etwa einem Drittel bekannt ist. Aus dem abgeschlossenen humanen Genomprojekt ist bekannt, dass das menschliche Kinom etwa 500 Kinasen enthält. Screeningprogramme enthalten immer nur ein bestimmtes Spektrum an Kinasen. Lediglich für etwa 100 humane Kinasen sind bisher Hochdurchsatz-Screeningprogramme entwickelt. Da alle Kinaseinhibitoren weitgehend auf dem gleichen Wirkprinzip beruhen (Blockierung der ATP-Bindungsstelle), kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass selbst ein breit validierter Kinaseinhibitor noch weitere bisher unbekannte Targets hat. Daher sind therapeutisches Potenzial und Nebenwirkungsprofil in präklinischen Tierexperimenten nur bis zu einem gewissen Maße abzuschätzen. Therapeutisch folgen Angiogenese inhibierende Kinaseinhibitoren klassischen chemotherapeutischen Herangehensweisen, d. h. die Substanzen werden oral verabreicht, haben zumeist eine kurze Halbwertszeit von Stunden bis wenigen Tagen und werden nach MTD (»maximum tolerated dose«) dosiert. Als erste niedermolekulare Angiogeneseinhibitoren haben 2006 Sumatinib [Sutent (SU11248)] zur Therapie von metastasierenden Nierenzellkarzinomen und gastrointestinalen Stromatumoren (GIST) und Sorafenib [Nexavar (BAY43-9006)]
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Kapitel 14 · Angiogenese
zur Behandlung von Nierenzellkarzinomen Zulassung erhalten. Sutent ist ein kombinierter VEGFR-, PDGFR-, KIT-, RET- und FLT3-Rezeptorblocker und greift damit in den Prozess der Angiogenese auf der Ebene der Gefäßsprossung (VEGFR) und der Gefäßausreifung (PDGFR) ein (Bergers et al. 2003). Es verdient Erwähnung, dass die präklinischen Arbeiten, die Anfang der 90er Jahre zur Entwicklung von Sutent geführt haben, unmittelbar auf die beiden Max-Planck-Wissenschaftler Werner Risau und Axel Ullrich zurückgehen. Nexavar blockiert die Rezeptoren RAF-Kinase, VEGFR-2, VEGFR-3, PDGFR-β, KIT und FLT-3 und wirkt damit als kombiniertes antiangiogenes (VEGFR, PDGFR) und chemotherapeutisches Medikament [RAFKinase (Zellproliferation)]. Zu den gegenwärtig in fortgeschrittenen klinischen Studien untersuchten niedermolekularen Angiogeneseinhibitoren gehören PTK787/ZK222584 (primär Anti-VEGFR; Wood et al. 2000) und ZD6474 (ebenfalls primär Anti-VEGFR).
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Biologische Angiogeneseinhibitoren Als biologische Angiogeneseinhibitoren wurden neutralisierende Antikörper (Gerber u. Ferrara 2005; Willett et al. 2004) und lösliche Rezeptoren (Gerber et al. 2000; Holash et al. 2002) entwickelt. Außerdem werden die endogenen Inhibitoren der Angiogenese in klinischen Studien auf ihre Wirksamkeit getestet, Tumorangiogenese und damit Tumorwachstum zu inhibieren (Nyberg et al. 2005). Als erster Angiogeneseinhibitor überhaupt hat 2004 der neutralisierende VEGF-Antikörper Bevacizumab (Avastin) die klinische Zulassung zur Behandlung von fortgeschrittenen kolorektalen Tumoren erhalten (Ferrara et al. 2004). Diese Zulassung bezieht sich auf die Kombinationstherapie mit Chemotherapeutika, die 5-FU einschließen. Seit der Zulassung von Avastin für kolorektale Tumoren wurden erfolgreiche Avastin-Phase-III-Studien für Mammakarzinome, Nierenzellkarzinome und Lungenkarzinome abgeschlossen (Miller et al. 2005b). Grundlage der ersten Zulassung war eine klinische Phase-IIIStudie unter Einschluss von 800 Patienten (Hurwitz et al. 2004). Dabei zeigte sich, dass mit Avastin behandelte Patienten im Vergleich zur Placebogruppe eine um 25% verlängerte mittlere Überlebenszeit aufwiesen (20,3 vs. 15,6 Monate). Eine Erhöhung der mittleren Überlebensdauer von 5 Monaten mag auf den ersten Blick als ein moderater Erfolg gewertet werden. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die Ansprechrate von Avastin bei weniger als 50% liegt, d. h., von Avastin profitierende Patienten haben eine deutlich höhere mittlere Überlebensdauer. Dieses Dilemma unterstreicht, wie weiter oben bereits detailliert ausgeführt wurde, dass effektive Antiangiogenese dringend die Entwicklung einer zuverlässigen Angiodiagnostik erfordert, um gezielt die Patienten zu identifizieren, die am meisten von einer antiangiogenen Intervention profitieren werden. Der Vorteil von neutralisierenden Anti-VEGF-Antikörpern gegenüber niedermolekularen Kinaseinhibitoren ist das exakt definierte Zielmolekülspektrum, da der Anti-VEGF-Antikörper wirklich nur VEGF inhibiert, während Kinaseinhibitoren immer ein breiteres Zielmolekülspektrum haben, was auch unbekannte, bisher nicht charakterisierte Kinasen einschließt. Allerdings kann das enge Zielmolekülspektrum von Antikörpern auch ein Nachteil sein, da nicht alle Mitglieder der VEGF inhibiert werden. Dieses Problem umgehen lösliche Rezeptoren. Bei der VEGFTrap handelt es sich um einen chimären Rezeptor, der aus der extrazellulären Domäne von VEGFR-1 und VEGFR-2 besteht (Holash et al. 2002). Die VEGF-Trap hat eine um ein Vielfaches
höhere Affinität zu VEGF als die natürlichen Rezeptoren und bindet neben VEGF alle VEGF-Familienmitglieder, die an die VEGF-Rezeptoren binden, u. a. auch PlGF. Antikörpern und löslichen Rezeptoren ist gemein, dass es sich im Gegensatz zu niedermolekularen chemischen Kinaseinhibitoren um hochmolekulare biologische Moleküle handelt. Sie werden daher intravenös eingesetzt und haben in der Regel eine lange Halbwertszeit. Avastin beispielsweise hat eine biologische Halbwertszeit von 17 Tagen. Immunologische Reaktionen sind beim Einsatz von Antikörpern heute weitgehend kein Problem mehr, da die eingesetzten Moleküle zu deutlich mehr als 90% humanisiert sind. 14.5.3 Kombinationstherapien
Die ersten klinischen Versuche zeigten, dass Antiangiogenese als Monotherapie keine befriedigenden therapeutischen Effekte erzielt. Daher wurden in den vergangenen Jahren verstärkt Kombinationstherapien entwickelt (Gasparini et al. 2005). Konzeptionell ist es nicht einfach, Antiangiogenese rational mit anderen Therapieschemata zu kombinieren. Antiangiogenese sollte grundsätzlich eine Therapieform sein, die darauf gerichtet ist, eine schlechtere Perfusion des Tumors zu erreichen. Eine schlechtere Perfusion sollte jedoch eine noch schlechtere Zugänglichkeit von Chemotherapeutika an ihrem Wirkort zur Folge haben. Tatsächlich hat sich jedoch gezeigt, dass Antiangiogenese und Chemotherapie sich sehr gut synergistisch kombinieren lassen. Die Gründe hierfür sind nicht wirklich bekannt. Verschiedene Modelle werden gegenwärtig diskutiert und experimentell untersucht. Zum einen wurde bereits darauf hingewiesen, dass Chemotherapie immer auch Antiangiogenese ist. Die Kombination von Chemotherapie und Antiangiogenese könnte daher synergistisch wirken, indem das gleiche Ziel angegriffen wird. Eine zweite, aktuell favorisierte Hypothese ist das Konzept der »Normalisierung« des Tumorgefäßbettes nach antiangiogener Intervention (Jain 2005). Antiangiogenese greift primär das chaotische intratumorale Kapillarnetzwerk an und treibt unreife Mikrogefäße in die Regression. Dadurch verbleiben weniger und größere Gefäße im Tumor, was als Nettoergebnis eine »normalere« Perfusion des Tumors zur Folge hat. Dadurch könnten Chemotherapeutika unter Umständen besser den Tumor penetrieren. Ob diese Überlegungen schlüssig sind, wird sich zeigen, denn sie könnten schlussendlich bedeuten, dass Antiangiogenese im Nettoergebnis eine Properfusionstherapie ist, wofür es keine experimentellen Evidenzen gibt. Konzeptionell schwierig ist auch die Kombination von Antiangiogenese und Radiotherapie. Eine antiangiogenesevermittelte Minderperfusion wird im Ergebnis zu stärkerer intratumoraler Hypoxie führen. Hypoxie führt zu verstärkter Radioresistenz, wodurch die Wirkung einer radiotherapeutischen Intervention vermindert wird. Kombinationen von Antiangiogenese und Radiotherapie sind zwar noch nicht befriedigend klinisch validiert. In experimentellen Modellen werden jedoch sehr gute synergistische Effekte beobachtet (Zips et al. 2005). 14.5.4 Entwicklungen auf dem Gebiet der translatio-
nellen Angiogeneseforschung Mit dem Einzug von antiangiogenen Tumortherapien in die klinische Praxis stellt sich die Frage, welche Entwicklungen zukünf-
307 14.5 · Therapeutische Manipulation tumorangiogener Prozesse
tig die translationelle Angiogeneseforschung prägen werden. Einige der wichtigsten Entwicklungen der translationellen Angiogeneseforschung sind in den folgenden Bereichen zu erwarten: 1. Eine größere Anzahl von Substanzen befindet sich in fortgeschrittenen Stadien der klinischen Prüfung. Weitere Medikamente werden daher in den nächsten Jahren die klinische Zulassung erhalten. 2. Anti-VEGF-Therapien sind heute der Goldstandard der antiangiogenen Therapie. Es ist wenig wahrscheinlich, dass bessere Targets als VEGF validiert werden. Daher wird es vor allen Dingen darum gehen, solche Targets zu validieren, die sich gut mit Anti-VEGF-Therapien kombinieren lassen. Dies dürfte nach dem heutigen Wissensstand vor allen Dingen vom Angiopoietin-Tie- und vom PDGF-PDGFR-System zu erwarten sein. Interessante Entwicklungen dürften sich auch auf dem Gebiet des vaskulären Targetings abzeichnen. 3. Die biologischen Grundlagen des synergistischen Effekts von Kombinationstherapien müssen besser verstanden werden
14
und das Konzept der Normalisierung muss hinsichtlich seiner therapeutischen Konsequenzen mechanistisch analysiert werden. 4. Es wird verbesserte Techniken der Angiodiagnostik geben müssen. Nichtinvasive Imagingtechniken werden dabei im Vordergrund stehen in Kombination mit besser validierten Biomarkern. 5. Lymphangiogenese- und Metastasierungsforschung sind beides noch junge Disziplinen. Es ist daher realistisch anzunehmen, dass diese beiden Forschungsgebiete zur Identifizierung von validierten Targets zur therapeutischen Beeinflussung von Tumorprogression und Metastasierung führen werden. Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
15 Zellinvasion und Metastasierung M. Zöller
15.1
Definition des malignen Phänotyps und Prozess der Metastasierung – 309
15.2
Metastasierung als physiologisches Programm
15.3
Effektor- und Suppressormoleküle der Metastasierung
15.4
Nachweis der metastatischen Kapazität eines Tumors Literatur – 324
– 309 – 313 – 322
309 15.2 · Metastasierung als physiologisches Programm
15.1
Definition des malignen Phänotyps und Prozess der Metastasierung
Benigne Tumoren sind charakterisiert durch den Verlust an Wachstumskontrolle, an Kontaktabhängigkeit und Kontaktinhibition sowie einem reduzierten Bedarf an Wachstumsfaktoren. Maligne, also metastasierende Tumoren sind definiert durch die Fähigkeit zur Invasion des umgebenden Gewebes, des Gefäßsystems und vom Primärtumor entfernt lokalisierter Organe. Die Bildung eines Tumorgewebsverbandes in einem vom Primärtumor entfernten Organ wird als Metastase bezeichnet. Da der heutige Stand der Technik die Entfernung nahezu jedes soliden, d. h. im Gewebsverband wachsenden Primärtumors (Karzinome, Sarkome, Lymphome) erlaubt, ist es der Prozess der Metastasierung und die Repetitivität dieses Vorgangs, der häufig den Grenzstein kurativer Therapie darstellt (Liotta u. Kohn 2001). Untersuchungen zur Mechanistik, die einer Tumorzelle Invasivität verleihen, sind daher eine notwendige Voraussetzung für die Erarbeitung neuer, systemisch wirksamer therapeutischer Konzepte. Der Prozess der Metastasierung, auch als Metastasierungskaskade bekannt, ist vielstufig und setzt sich aus folgenden konsekutiv ablaufenden Prozessen zusammen (Fidler 2003). 4 Lösung der individuellen Tumorzelle aus dem Gewebsverband des Primärtumors, 4 Durchbrechung der Basalmembran, 4 Eindringen in das Gefäßbett, 4 Adaptation an den Strömungsdruck innerhalb der Blutbahn, 4 Anheftung an das Gefäßendothel, 4 Extravasation, Einnistung und Wachstum in einem fremden Organsystem.
15.2
Metastasierung als physiologisches Programm
15.2.1 Tumorstammzellen und Metastasierung
Metastasierung könnte theoretisch das Ergebnis von Mutationen und nachfolgenden Selektionen darstellen, sodass jede Metastase individual-spezifische Eigenschaften aufweist. Dies entspricht nicht der klinischen Beobachtung. Es ist seit über 100 Jahren bekannt, dass in Abhängigkeit vom Ort des Primärtumors Metastasen bevorzugt in einer begrenzten Zahl von Organen gefunden werden und dies kann in vielen Fällen nicht ausschließlich mechanistisch erklärt werden in dem Sinne, dass eine Tumorzelle, die Zugang zum Gefäßsystem erlangt hat, vorzugsweise im Bereich der ersten Kapillarpassage hängen bleibt. Hinzukommt, dass metastasierende Tumorzellen Proteinexpressionsprofile aufweisen, die sich häufig auf Metastasen unterschiedlicher Primärtumoren wiederfinden. Diese Proteinexpressionsprofile umfassen vornehmlich Adhäsionsmoleküle, extrazelluläre matrixdegradierende Enzyme und eine ganze Reihe von Botenstoffen, wie Wachstumsfaktoren, angiogene Faktoren und Chemokine. Alle diese Komponenten einer metastasierenden Tumorzelle weisen im Vergleich zum gesunden Organismus keine Mutationen auf und jede einzelne dieser Komponenten wird für den vielstufigen Prozess der Metastasierung benötigt. Sell und Pierce haben 1994 die Hypothese aufgestellt, dass ein Block in der Differenzierung von Stammzellen den Ausgangspunkt maligner Tumoren darstellt. Dies wird untermauert durch die Beobachtung, dass Stammzellen und metastasierende Tumorzellen in vielerlei Hin-
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sicht austauschbar sind. Eine normale Stammzelle kann experimentell in eine embryonale Karzinomzelle umgewandelt werden (Damjanov u. Solter 1974) und eine Teratokarzinomzelle, die in die innere Masse einer Mausblastozyste injiziert wird, trägt zur Entwicklung des normalen Phänotyps einer Maus bei. Klinisch fanden sich erste Hinweise auf den Ursprung maligner Zellen von Stammzellen bei hämatopoetischen Malignomen wie chronischmyeloiden Leukämiezellen, die Marker verschiedener Keimblätter exprimieren (Fialkow et al. 1981). Alle Stammzellen haben ihren Ursprung in der embryonalen Stammzelle (ES-Zelle) der inneren Masse der Blastozyste (AlMehdi et al. 2000). ES-Zellen sind die ontogenetisch früheste pluripotente Stammzelle des Embryos. Stammzellen sind charakterisiert durch Immortalität, die Fähigkeit zur Selbsterneuerung, Differenzierung der Tochterzellen und migratorisches Potenzial (Tu u. Lin 2002). Diese Charakteristika finden sich auch bei metastasierenden Tumoren, wobei in jüngster Zeit gezeigt werden konnte, dass speziell das Homing von Stammzellen und metastasierenden Tumorzellen durch einen entsprechenden Satz an Chemokinen und Chemokinrezeptoren reguliert wird (Muller et al. 2001). Die Transformation der Stammzellen in hoch spezialisierte epitheliale Zellen und mesenchymale Zellen erfolgt über die Transkription selektiver Gene, die durch das Environment eingeleitet wird (Prindull u. Zipori 2004). Individuelle Stammzellen besitzen die Eigenschaft der reversiblen Dedifferenzierung und Transformation in Zellen verschiedener Keimblätter. Ein Beispiel dieser Plastizität ist die epithelial-mesenchymale Transformation und ihre Reversion (EMT/MET; Blau et al. 2001), die das fundamentale Prinzip der Reorientierung von Transkriptionsprogrammen darstellt (Perez-Pomares u. Munoz-Chapuli 2002) und auch bei adulten Stammzellen (AS-Zellen) beobachtet wird (Quesenberry et al. 2002). AS-Zellen (Fernandes et al. 2004) liegen in verschiedenen Geweben im Ruhezustand vor und bilden ein potenzielles Repertoir an Gewebestammzellen (Blau et al. 2001), die unter physiologischen Bedingungen für Geweberepair essenziell sind (Mezey et al. 2000). Die Theorie des Ursprungs maligner Tumoren von Stammzellen steht nicht im Widerspruch zu einem Beitrag genetischer Stabilität und epigenetischer Faktoren in der Tumorevolution (Pathak 1990), sie geht nur davon aus, dass Stammzellen die Zielzelle der genetischen bzw. epigenetischen Veränderungen darstellen. Die Stammzelltheorie ist auch in Einklang mit der Mutationshypothese von Knudson und Volgestein (Vogelstein et al. 1988), sofern Mutationen, die zu klonaler Expansion führen, in einer Stammzelle ablaufen. Die Stammzelltheorie der Malignomentstehung deckt sich auch mit klinischen Befunden: Tumorzellen (Ovarialkarzinome, Testistumoren, maligne Melanome, kleinzellige Lungenkarzinome u. a.) exprimieren karzinoembryonale Antigene wie AFP (α-Foetoprotein), βHCG (β-human chorionic gonadotropin), aber auch Stammzellantigene wie C-KIT, CD34 (Tu u. Lin 2002). 15.2.2 Reversible epithelial-mesenchymale
Transformation (EMT/MET) Stammzellen durchlaufen Programme, wobei aus primär epithelialen mesenchymale Zellen hervorgehen. Dieser Prozess stellt auch bei der Tumorprogression einen zentralen Mechanismus dar, an dem sowohl Tumor- als auch Stromazellen beteiligt sind (Thiery 2003). Embryonale und metastatische EMT decken sich weitgehend: Beide Prozesse nutzen entsprechende Signaltrans-
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Kapitel 15 · Zellinvasion und Metastasierung
duktionskaskaden und werden über entsprechende Mediatoren initiiert. M(metastatische)-EMT schließt profunde Veränderungen der Gentranskription ein (Jechlinger et al. 2002) und nutzt dabei reguläre Wachstumsfaktoren (Oft et al. 2002). Hauptmediatoren sind TGFβ und autokrine Wachstumsfaktoren wie EGF, HGF/SF, bFGF oder PDGF. Wenngleich die molekularen Voraussetzungen für die EMT be i der Tumorprogression noch nicht voll geklärt sind, zeichnen sich einige wesentliche Signaltransduktionwege ab. Hauptkomponenten sind Rezeptortyrosinkinasen (RTK)/ RAS und Wnt-, Notch- Hedgehog- und NF-κB-abhängige Signaltransduktionswege (Huber et al. 2005). Angestoßen wird der Prozess über die Interaktion von TGFβ mit mutierten Mitgliedern der RAS/HER-Familie (Schramek et al. 2003) und nukleärem SMAD2 (Janda et al. 2002). SNAIL, eines der Masterregulatorgene bei der Gastrulation des Zebrafisches (Yamashita et al. 2004), ist auch ein zentraler Regulator für M-EMT (Cano et al. 2000). Bei der M-EMT wird SNAIL über STAT3-abhängige Expression von LIV1 (Mamma-Ca-assoziiertes Zinktransporterprotein) aktiviert (Yamashita et al. 2004), wobei bekannt ist, dass Expression von STAT3 und LIV1 die metastatische Absiedlung einer Reihe von Tumoren unterstützen (Blanco et al. 2002). TGFβ1 kann MET auch durch Kollaboration mit dem Tumorstroma, z. B. mit Makrophagen stimulierendem Protein (RON), TNFα (via p38MAPK) und β-Catenin (Prindull 2005) unterstützen. Die Metastasierung unterstützenden Eigenschaften des ursprünglich als Tumorsuppressorgen beschriebenen TGFβ gehen in der Regel mit einem Verlust des TGFβ-Rezeptors-II einher (Oft et al. 1996). Einen weiteren wesentlichen Beitrag zur epithelial-mesenchymalen Transformation leistet die Regulation der Expression von E-Cadherin. E-Cadherin kann über verschiedene Mechanismen funktionell inaktiviert werden (Nelson u. Nusse 2004): posttranskriptionelle Kontrolle, somatische Mutation, Unterdrückung der Genexpression durch Promotorhypermethylierung, Histondeazetylierung und transkriptionelle Unterdrückung über spezielle E-Boxen des proximalen E-Cadherinpromotors (Nieto 2002). Wesentlich sind hierfür SNAIL, SLUG, SIP-1 und dEF-1/ZEB1 (Nieto 2002). Auch der Transkriptionsfaktor TWIST, der für die Mesodermentwicklung während der Gastrulation essenziell ist, reprimiert die E-Cadherin-Expression und fördert damit EMTInduktion. Ein experimenteller Knock-down von TWIST führt zum Verlust der Metastasenbildung (Yang et al. 2004). Da sowohl SNAIL als auch TWIST keinen Einfluss auf das Wachstum von Primärtumoren nehmen, sind diese EMT-Regulatoren bona fide Metastasengene (Huber 2004). Auch EGF (»epidermal growth factor«) und HGF/SF (»hepatocyte growth factor/scatter factor«) tragen zum Verlust E-Cadherin-mediierter Zell-Zell-Adhäsion bei (Lu et al. 2003). EGF induziert den SRC-Kinase-Pathway mit Remodellierung des Zytoskeletts und unterbricht E-CadherinKontakte durch katalytische Aktivität (Owens et al. 2000). Es trägt auch zu reduzierter Expression von Caveolin-1 bei und verstärkt so Endozytose von Cadherin (Lu et al. 2003). Neben EGF sind weitere Faktoren wie H-RAS, SRC, RHOC, WNT an EMT-assoziierten Veränderungen des Zytoskeletts beteiligt (Clark et al. 2000). Eine weitere wesentliche Komponente in der Regulation von ECadherin ist AKT, das in vielen humanen Karzinomen überexprimiert wird (Larue u. Bellacosa 2005). Durch Überexpression von AKT kann EMT induziert werden (Grille et al. 2003). AKT unterdrückt die Transkription von E-Cadherin. Die verbleibende geringe Menge an E-Cadherin wird in perinukleäre Organellen ein-
gelagert und degradiert. Letzteres ist auf eine AKT-induzierte Expression von RAB5, ersteres auf die Aktivierung von SNAIL zurückzuführen (Cano et al. 2000), wobei die Aktivierung (Phosphorylierung) von AKT wiederum über TGFβ und PI3K eingeleitet wird (Muraoka-Cook et al. 2005). Weitere Regulatoren der EMT sind ILK, WNT/β-Catenin, Notch, RAC1Β, ROS, NF-κB, GSK-3β, MTA3 (»metastasis-associated gene 3«) die mit Signaltransduktionskaskaden über RTK/RAS and TGFβ in engem Konnex stehen (Yamashita et al. 2004; Huber et al. 2004; Larue u. Bellacosa 2005; Kang u. Massague 2004). EMT geht nicht nur mit dem Verlust epithelialer Komponenten und damit der Zellpolarität einher (Ozdamar et al. 2005), sondern ist gleichzeitig mit der Aktivierung einer Reihe mesenchymaler Gene wie VIMENTIN, TENASCIN, MMP2, MMP-9 und MMP-3 verknüpft, die alle bei metastasierenden Tumorzellen beobachtet werden (Egeblad u. Werb 2002). EMT umfasst ein weites Spektrum an Veränderungen in der Plastizität epithelialer Zellen, wobei der Subtyp der kompletten EMT mit E-CadherinVerlust und VIMENTIN-Expression am engsten mit lokaler Invasion und Metastasierung korreliert (Grunert et al. 2003). Wann im Metastasierungsprozess findet EMT statt? Der EMT induzierende Transkriptionsfaktor TWIST agiert vornehmlich während der Emigration vom Primärtumor und der Intravasation (Yang et al. 2004). Daneben gibt es Hinweise, dass EMT auch zu späteren Zeitpunkten noch erforderlich ist, da EMT-spezifische Gene auch bei intravenöser Tumorzellapplikation für Metastasenbildung in der Lunge benötigt werden (Jechlinger et al. 2003). EMT stellt zweifelsohne ein zentrales Element der Malignität eines Tumors dar (Thiery 2003), das nicht über genetische Alterationen erklärt werden kann (Brabletz et al. 2001), wobei dem Tumorstroma wesentliche regulatorische Funktionen zukommen (Bissell u. Radisky 2001). Brabletz und Mitarbeiter haben die Theorie aufgestellt, dass der Prozess der epithelial-mesenchymalen Transformation eng an die Stammzellnatur der Tumorzellen gebunden ist und begründen dies u. a. mit der Reversibilität des Vorgangs (Brabletz et al. 2005). Die Reversion von EMT (Prindull 2005; Brabletz et al. 2005) wird als MET (mesenchymal-epitheliale Transformation) bezeichnet. Die Reversion erfordert eine Normalisierung des Chromatinmusters (Linares-Cruz et al. 1998), Inaktivierung der MAPK-Signaltransduktionskette (Schramek et al. 2003) und Reaktivierung der E-Cadherin-Catenin-Expression (Portella et al. 1998). Klinische Evidenzen unterstützen die Hypothese der Rücktransformation einer Metastase in einen epithelialen Tumor. Dies konnte für Kolonkarzinome, Mammakarzinome (Al-Hajj et al. 2003), Pankreaskarzinome (Nakajima et al. 2004), Magenkarzinome vom intestinalen Typ (Rosivatz et al. 2002) und Plattenepithelkarzinome (McAlhany et al. 2004) gezeigt werden und gilt prinzipiell für alle Karzinome, die von einer Tumorstammzelle ausgehen: 1. Intranukleäre Lokalisation von β-Catenin, das zur Repression von E-Cadherin notwendig ist, wird hauptsächlich in dedifferenzierten Tumorzellen an der Tumor-Wirt-Grenze beobachtet. Diese Zellen haben die EMT durchgemacht, die Expression von E-Cadherin eingestellt und proliferieren nicht aufgrund der erhöhten Expression des zellzyklusabhängigen Kinaseinhibitors INK4a (Jung et al. 2001). 2. Ein gradueller Verlust an nukleärem β-Catenin findet sich im Zentrum des Tumors mit gut differenzierten Zellen. Ein entsprechender Wechsel der β-Catenin-Lokalisation wird auch
311 15.2 · Metastasierung als physiologisches Programm
während der Progression vom Adenom zum Karzinom beobachtet (Brabletz et al. 2000). 3. Der EMT-Prozess ist reversibel, da die meisten Metastasen E-Cadherin exprimieren und entsprechend weniger nukleäres β-Catenin vorliegt. Auch innerhalb einer Metastase wird die gleiche lokale Verteilung von β-Catenin wie beim Primärtumor gefunden (Brabletz et al. 2001). WNT/β-Catenin-Zielgene können in zwei Gruppen eingeteilt werden: »stammzellunterstützende« Gene wie SURVIVIN und C-MYC und solche, die EMT unterstützen, wie SLUG (E-Cadherin Repressor), L1CAM (Axon-guidance-Adhäsionsmolekül) und LAMC2 (Laminin-γ2-Kette), das Epithelzellmigration unterstützt. Die ersteren Gene werden früh in der Karzinogenese exprimiert, die letzteren werden nur transient hochreguliert und zwar vornehmlich in dissoziierten Tumorzellen, die durch eine überwiegend nukleäre Lokalisation von β-Catenin gekennzeichnet sind, sodass man von stationären und migrierenden Stammzellen ausgehen könnte. Das bedeutet, dass der entscheidende Schritt von benignem zu malignen Wachstum durch das umgebende Milieu initiiert wird, in dem Sinne, dass das Tumorstroma Mediatoren bereitstellt, die die Transformation epithelialer Tumorzellen in mesenchymale Tumorzellen unterstützen. 15.2.3 Metastasierung und Regulatorgene genetischer
Programme Die gerichtete Veränderung einer Zelle, die mit einer transienten Aktivierung und Stilllegung von Genen verbunden ist, sodass die Tochterzelle über von der Parentalzelle unterschiedliche Eigenschaften verfügt, wird in der Zellbiologie als Programm definiert. Programme werden von Zellen multizellulärer Organismen nur während der Ontogenese und lebenslang bei der Differenzierung von Stammzellen genutzt. In Übereinstimmung mit der Stammzellnatur von Tumorzellen wurden entsprechende Prozesse bei metastasierenden Tumorzellen beschrieben. Die Expression von Genen in einem definierten Zelltyp wird durch in der Entwicklung festgelegte Chromatinmodifikationen determiniert, wobei man zwischen sog. »House-keeping«-Genen und »Luxus«-Genen unterscheidet. Letztere werden nur in bestimmten Zelltypen exprimiert (Weintraub 1972). Damit stellt sich die Frage, ob Luxusgene durch ihre inhärente Chromatinstruktur spezifisch zur Aktivierung markiert sind, oder ob zelltypspezifische Transkriptionsfaktoren die Expression von Luxusgenen induzieren können. Es gibt Hinweise, dass komplexe Programme der Zelldifferenzierung durch die Expression einiger weniger oder eines einzelnen Gens reguliert werden und dies wurde als Master-Switch definiert (Holtzer et al. 1975). Als Master-Regulatoren werden sowohl Gene bezeichnet, die die Entwicklung einer ganzen Organanlage mit unterschiedlichen Zelltypen initiieren als auch Gene, die die Differenzierung in einen definierten Zelltyp initiieren. Eines der klassischen Beispiele für den ersten Typ ist EY, das die Entwicklung des Drosophilaauges initiiert. Ein Beispiel für die zweite Kategorie ist der Transkriptionsfaktor MYOD (Lassar et al. 1986), der die Differenzierung in Skelettmuskelzellen induziert. EMT entspricht dem letztgenannten Prinzip und deshalb seien die heutigen Vorstellungen der zugrunde liegenden Mechanismen kurz an MYOD erläutert, da diese Untersuchungen aufzeigten, inwieweit gewebespezifische
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Transkriptionsfaktoren und chromatinassoziierte Proteine Zelldifferenzierung regulieren und wie ein einzelner Transkriptionsfaktor die Durchführung eines gesamten Programms der Zelldifferenzierung mediieren kann. Die Studien haben aufgezeigt, dass MYOD Informationen von Ko-Regulatoren und von chromatinassoziierten Proteinen integriert, um promotorspezifische Bindung und transkriptionelle Aktivierung von Zielgenen für einen definierten Zeitraum zu regulieren (Tapscott 2005). Wichtig ist, dass nicht alle Gene simultan als Antwort auf die Aktivierung von MYOD aktiviert werden, vielmehr werden einige Gene sofort induziert, andere erst im Laufe von zwei Tagen, einige Gene werden transient exprimiert und die Expression weiterer Gene kann unterdrückt werden (Bergstrom et al. 2002). Dieses zeitlich regulierte Expressionsprofil könnte eine Abfolge an Ereignissen darstellen, die durch MYOD nur angestoßen werden. Dies ist nicht der Fall. MYOD ist direkt für die Regulation des gesamten Differenzierungsprogrammes verantwortlich, wobei ein sog. »Feed-forward«-Programm zum Tragen kommt. Dies bedeutet, dass Faktor A (MYOD) die Transkription von B, C, D etc. induziert, dass aber die Transkription von Faktor C zusätzlich Faktor B benötigt und die Transkription von Faktor D auf Faktor A (MYOD) und Faktor C angewiesen ist. Neben diesem Feed-forward-Mechanismus der Genexpression bedarf es eines instruktiven ChromatinEnvironments (de la Serna et al. 2005), wobei im Falle von MYOD die Promotorregion der Targetgene erst durch die Rekrutierung entsprechender Faktoren und Histonazetylierung freigelegt wird. Weitere für Metastasierung wichtige Masterregulatoren sind 1. PU.1, ein Transkriptionsfaktor der ETS-Familie, der für die Entwicklung von B-Zellen und myeloider Zellen essenziell erforderlich ist. Dem entspricht, dass bei akuter myeloider, myelomonozytärer und monozytärer Leukämie, sowie bei der Erythroleukämie Mutationen des PU.1-Gens beobachtet werden, wobei die Lokalisation der Mutationen mit dem Auftreten der entsprechenden Leukämie-Subtypen korreliert (Gangenahalli et al. 2005); 2. GSK3 (»glycogen synthase kinase 3«), eine zytoplasmatische Serin-Threonin-Kinase, die die Glykognesynthase reguliert. GSK3 gibt sowohl Differenzierung aktivierende als auch inhibierende Signale über die Einbettung in unterschiedliche Signaltransduktionskaskaden und über die Erkennung unterschiedlicher Substrate weiter, wobei Phosphorylierung und Abbau von β-Catenin, die über einen GSK3-Axin-Komplex eingeleitet werden, eine zentrale Rolle zufällt (Kim u. Kimmel 2000); 3. Ein weiteres Schlüsselelement ist der Transkriptionsfaktor TWIST, der die E-Cadherin Expression transkriptionell inhibiert (Kang u. Massague 2004). Yang et al (2004) haben beschrieben, dass TWIST auch auf Tumorzellintravasation und auf die Absiedlung von Metastasen Einfluss nimmt. Die ektopische Expression von TWIST geht mit dem Verlust von E-Cadherin und α- und γ-Catenin einher und ist von Scattering, gerichteter Migration und der Expression mesenchymaler Marker wie Fibronektin, Vimentin und N-Cadherin begleitet. Die Aktivierung von TWIST während der metastatischen Progression ist noch nicht bekannt. In Drosophila ist TWIST eine Targetstruktur für dorsal, einem NF-κB-ähnlichen Transkriptionsfaktor (Bernards u. Weinberg 2002). Es gibt Hinweise dass die Aktivierung von TWIST in der Tumorprogression ebenfalls eine Antwort auf einen hyperaktiven NF-κB-Pathway darstellen könnte (Huber et al. 2004).
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Kapitel 15 · Zellinvasion und Metastasierung
15.2.4 Rolle des Epigenoms bei der Metastasierung
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Das Epigenom, das sich aus Chromatin, assoziierten Proteinen und dem Muster der kovalenten Modifikationen der DNSMethylierung zusammensetzt, dirigiert das Expressionsprogramm der Gene. Tumoren sind sowohl durch den Verlust der Methylierung als auch einer Hypermethylierung bestimmter Gene, speziell von Tumorsuppressorgenen, charakterisiert. Man geht davon aus, dass Hypo- und Hypermethylierung unabhängige Prozesse darstellen, die unterschiedliche Programme und unterschiedliche Stadien der Tumorgenese targetieren, wobei Hypomethylierung speziell bei der Aktivierung von Genen, die für Metastasierung und Invasion verantwortlich sind, eine Rolle spielt (Szyf et al. 2004; Baylin 2005; Macaluso et al. 2003). Tumorgewebe zeichnet sich in der Regel durch hyomethylierte Bereiche aus (Ehrlich 2002), wobei Hypomethylierung sowohl zu chromosomaler Instabilität als auch zu gesteigerter Metastasierung beiträgt (Pakneshan et al. 2003). Letztere Annahme wird durch Hypomethylierung einer ganzen Reihe von metastasierungsassoziierten Genen unterstützt, z. B. uPA, S100A4, Heparanase, Proteine der MAGE-Familie (Rosty et al. 2002, Shteper et al. 2003). Da DNS-Methylierung reversibel ist (Baylin 2005) und DNSHypermethylierung und als deren Folge die Repression von Tumorsuppressorgenen lange Zeit im Vordergrund der Forschung standen, wurden entsprechende Demethylierungsagenzien wie 5’-Azazytidin und Histondeazetylaseinhibitoren therapeutisch eingesetzt. In Anbetracht der Hypomethylierung speziell metastasierungsassoziierter Gene müssen diese Therapieansätze neu evaluiert werden (Szyf et al. 2004). Generell sollte jedoch vermerkt werden, dass, wenngleich die Erprobung therapeutischer Ansätze auf der Basis epigenetischer Modifikationen sich noch weitgehend in der Etablierungsphase befindet, epigenetische Modifikationen des Genoms durch DNS-Methylierung und kovalente Modifikation der Histone den Schlüssel zur Aufrechterhaltung des Differenzierungsstatus von Zellen darstellen. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass sich auf lange Sicht damit erheblich erweiterte Möglichkeiten therapeutischer Interferenz eröffnen (Armstrong et al. 2005). 15.2.5 Einfluss des Genoms auf die Metastasierung
Aussagen zur metastatischen Kapazität eines Tumors sind auch bei Kenntnis des Expressionsprofils metastasierungsassoziierter Moleküle häufig nicht mit der zu erwartenden Sicherheit möglich. Dies bedeutet, dass von weiteren Variablen ausgegangen werden muss. Der genetische Hintergrund stellt eine dieser Variablen dar, die die Effizienz der Metastasierung und das Genexpressionsprofil eines Tumors beeinflussen (Hunter 2004). Erste Hinweise auf die Bedeutung des genetischen Hintergrundes kamen von Transfektionsstudien, bei denen die Einführung eines Onkogens in immortalisierte Fibroblasten eines Mausstammes zu metastasierenden Tumoren führte, aber nicht in einem Mausstamm mit einem anderen genetischen Hintergrund (Tuck u. Wilson 1990). Kreuzung eines transgenen Mausstamm, der zu 100% metastasierende Mammatumoren entwickelte, mit Mäusen eines unterschiedlichen genetischen Hintergrunds bestätigten diese Befunde (Lifsted et al. 1998). Statistisch signifikante Assoziationen mit der Metastasierungstendenz konnten u. a. auf Chromosom 6 und 19 identifiziert werden (Hunter 2004). Die Gruppe konnte ihre Hypothese einer erblichen Disposition zur
Metastasierung (Threadgill 2005) bestätigen und mit SIPA 1 (»signal-induced proliferation-associated gene 1«) einen genetischen Polymorphismus bestätigen, der Einfluss auf die Metastasierung zeigt (Park et al. 2005). Hinzu kommt, dass erhebliche Unterschiede im Phänotyp der DNS des Primärtumors und der Metastasen beobachtet werden, wobei der Phänotyp der Metastasen bereits zu einem frühen Zeitpunkt in der Onkogenese auch in histologisch normalem Gewebe, das den Tumor umgibt, gefunden wird. Die Autoren postulieren, dass sich der metastatische Phänotyp unabhängig vom Phänotyp des Primärtumors früh in der Onkogenese entwickelt und prognostisch erfasst werden kann (Malins et al. 2004). Da nicht nur der Tumor, sondern auch das umgebende Gewebe maßgeblich zur Tumordissemination beiträgt, kann über den genetischen Hintergrund auch die Funktion normaler Gewebe, in diesem Falle des Tumorstromas, beeinflusst werden (Muller et al. 2001). Polymorphismen können auch indirekt durch Veränderungen der epigenetischen Kontrolle Einfluss nehmen. So wurde bei einigen Metastasasierungsuppressorgenen gezeigt, dass sie epigenetisch reprimiert werden, ohne dass Mutationen oder Deletionen beobachtet werden (Domann et al. 2000). 15.2.6 Metastasierung und Tumorstroma
Zum Ablauf eines Programms bedarf es der Interaktion der beteiligten Zellen mit dem umgebenden Gewebe. Mareel und Mitarbeiter (Mareel et al. 1993) haben die Minimaleinheit an Zellen und extrazellulärer Matrix, die erforderlich ist, um ein Programm zu durchlaufen, als Mikroökosystem bezeichnet. Ein solches System zeichnet sich dadurch aus, dass minimale Veränderungen jeder einzelnen Komponente dramatische Veränderungen des gesamten Systems nach sich ziehen können. Für den Prozess der Metastasierung bedeutet dies, dass einerseits die invasive Tumorzelle Wirtszellen und die Elemente der extrazellulären Matrix beeinflussen kann, andererseits die invasive Tumorzelle durch Wirtszellen und extrazelluläre Matrix beeinflusst wird. Eine Reihe klinischer Beobachtungen unterstützt nachhaltig die Annahme, dass Metastasierung innerhalb solcher Ökosysteme abläuft: Die Metastasierungsrate eines definierten Tumortyps hängt von der Lokalisation des Primärtumors ab (Plattenepithelkarzinome des Nasopharynx metastasieren in über 25%, solche der Stimmbänder in 3%); Metastasierung wird weit häufiger bei orthotoper als bei ektoper Implantation beobachtet (Killion et al. 1998–99). Einen weiteren Hinweis liefert die Organspezifität der Metastasierung. In einigen Fällen kann die beobachtete Präferenz mechanistisch erklärt werden, wie die Absiedlung von Kolonkarzinomzellen in der Leber. Dies gilt jedoch nicht für die Besiedlung des Gehirns durch maligne Melanome, die Etablierung von Hautmetastasen durch leukämische T-Zellen und die Absiedlung von multiplen Myelomen im Knochen (Alonso-Varona et al. 1996). Erstmals wurde dieser Tatbestand von Paget 1889 in seiner »Seedand-Soil-Theorie« beschrieben (Übersicht in Fidler 2003). Die Tumorzelle ist insbesondere bei zwei Schritten in der Metastasierungskaskade auf die Unterstützung durch das umgebende Gewebe angewiesen, beim Gefäßeintritt und bei der Tumorbildung in einem sekundären Organ (Wyckoff et al. 2000). Dem Stroma fallen hierbei spezielle Aufgaben bei der Änderungen der Zusammensetzung der extrazellulären Matrix, der Veränderungen der Zelladhäsion, der Unterstützung von Motilität über Veränderungen in der Aktivität von matrixdegradieren-
313 15.3 · Effektor- und Suppressormoleküle der Metastasierung
den Enzymen, der Freisetzung bioaktiver Fragmente der extrazellulären Matrix und von Wachstumsfaktoren zu (Schedin u. Elias 2004). Die Veränderungen des Stromas von Tumoren im Vergleich zu gesundem Gewebe und die Proliferation von Fibroblasten mit einer Anreicherung an Bindegewebe werden zusammenfassend als Desmoplasie bezeichnet (Micke u. Ostman 2004). Eine zentrale Rolle spielen hierbei aktivierte Fibroblasten, die auch als Myofibroblasten bezeichnet werden. Beide Komponenten, Tumorzelle und Stroma, unterstützen sich wechselseitig, wobei der Wirt aktiv an der Induktion, Selektion und Expansion der Tumorzellen beteiligt ist (Wernert 1997). Die Tumorzellen ihrerseits rekrutieren Gefäße und Stroma über die Sekretion von Wachstumsfaktoren und Zytokinen (Brown et al. 1999), wobei TGFβ eine zentrale Rolle bei der Rekrutierung aktivierter Fibroblasten zukommt (De Wever u. Mareel 2003), die für EMT essenziell sind (Micke u. Ostman 2004). Die extrazelluläre Matrix liefert eine mechanische Stütze bei der Migration der Tumorzellen und verhindert die Induktion von Apoptose (Egeblad u. Werb 2002). Über die Bereitstellung von matrixdegradierenden Enzymen, Metalloproteinasen, ADAM-Proteinasen, BMP-1 (»bone morphogenetic protein 1«) und Serinproteasen (uPA, Thrombin und Plasmin) (Werb 1997), die hauptsächlich vom Tumorstroma zur Verfügung gestellt werden (Coussens et al. 2000), schafft sie die Voraussetzung für die lokale Invasion der Tumorzelle, wobei der Invasion der Tumorzellen die Aktivierung des Stromas vorausgeht, die zur Zerstörung der Basalmembran und der Hemidesmosomen führt und einen lokalen Angiogenese-Flush einschließt (Tomakidi et al. 1999). Die perizelluläre Matrix unterstützt die Einwanderung von Wirtszellen, wie Lymphozyten, dendritischen Zellen, Monozyten, Granulozyten, Muskelzellen, Fibroblasten und Gefäßzellen (Park et al. 2000). Auch die Organpräferenz der Metastasierung wird maßgeblich durch die Kommunikation zwischen Tumorzelle und Wirtsgewebe beeinflusst, wobei Chemokine und Chemokinrezeptoren, die zirkulierende Lymphozyten und Stammzellen zum Homing in bestimmten Organen benutzen, von Tumorzellen und dem Wirtsorgan der Metastase benutzt werden (Muller et al. 2001). In diesem Kontext ist der Befund, dass hämatopoetische Progenitorzellen vor der Besiedlung mit metastatischen Tumorzellen eine entsprechende Nische bilden von besonderem Interesse. Die hämatopoetischen Progenitorzellen exprimieren den VEGF-Rezeptor 1 und das Integrin VLA-4, das an Fibronektin bindet. Die Tumorzellen ihrerseits sezernieren Wachstumsfaktoren, die die Produktion von Fibronektin in Fibroblasten induziert, sodass es zur Clusterbildung der hämatopoetischen Progenitorzellen in den von dem individuellen Tumor für die Metastasierung bevorzugten Organen kommt (Kaplan et al. 2005). Anhand dieser Befunde geht man davon aus, dass das Tumorstroma, hauptsächlich aktivierte Fibroblasten, als Zielstruktur in der Tumortherapie in Erwägung gezogen werden kann. Kandidatenmoleküle sind Inhibitoren, die in TGFβ- und PDGF-mediierte Signaltransduktion involviert sind.
15.3
Effektor- und Suppressormoleküle der Metastasierung
15.3.1 Metastasierungsassoziierte Gene
Der Prozess der Metastasierung erfordert wechselnde funktionelle Charakteristika von der metatsasierenden Tumorzelle, die
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die Zelle über eine reversible Anschaltung und Abschaltung von Genexpressionsprofilen erwirbt. Das bedeutet, dass wir im strengen Wortsinn nicht von Metastasierungsgenen sprechen können, vielmehr handelt es sich um Genprodukte, die in einem definierten Kontext einzelne Schritte der Metastasierungskaskade unterstützen, also um metastasierungsassoziierte Gene. Entsprechend den von der metastasierenden Tumorzelle zu erfüllenden Aufgaben wie Adhäsion und Lösung aus dem Gewebsverband, Migration, Proteolyse und Modulierung der extrazellulären Matrix, sowie Homing in Zielorgane, sind folgende Molekülgruppen maßgeblich an der Metastasierung beteiligt: Adhäsionsmoleküle, matrixdegradierende Enzyme, Homing-Rezeptoren, Chemokine und Zytokine. Zelladhäsion und Metastasierung Adhäsionsmoleküle werden in folgende Hauptklassen eingeteilt: Integrine, Mitglieder der Immunglobulinsuperfamilie, Cadherine, Selektine und einzelne, nicht familienzugehörige Moleküle wie CD44 und EpCAM (»epithelial cell adhesion molecule«). Integrine Integrine sind heterodimere Transmembranproteine, die sich aus einer α- und einer β-Kette zusammensetzen. Bisher sind 18 αund 8 ß-Ketten bekannt, die mindestens 24 unterschiedliche Integrinheterodimere bilden. Integrine binden an Proteine der extrazellulären Matrix, Plasmaproteine und Zelloberflächenmoleküle, u. a. Mitglieder der Immunoglobulinsuperfamilie (Hynes 2002). Über die Ligandenbindung kommt es zur Konformationsänderung der Integrine (»outside-in signaling«), sodass Signaltransduktionskaskaden eingeleitet werden, die auf das Zytoskelett, die Proliferation und das Überleben der Zelle sowie auf die Expression weiterer Gene Einfluss nehmen (Hood u. Cheresh 2002). Über die β-Kette rekrutieren die meisten Integrine FAK (»focal adhesion kinase«). Phosphoryliertes FAK rekrutiert weitere Kinasen. Dies führt zur Aktivierung von RAC und in der Folge von NF-κB und der JUN-Kinase oder zur Aktivierung der MAP-Kinasen. Alternativ kann es zur Aktivierung von AKT kommen. Manche Integrine sind über ihre α-Kette an Phosphotyrosinkinasen gebunden, die in der Regel ebenfalls die Aktivierung der MAP-Kinasen einleiten. Alle diese Signaltransduktionskaskaden unterstützen entweder Proliferation und Zellmigration oder schützen vor Apoptose (Guo u. Giancotti 2004). Ein weiterer wesentlicher Aspekt der Integrine ist ihre konzertierte Aktion mit Rezeptortyrosinkinasen, hauptsächlich für Wachstumsfaktoren (Miranti u. Brugge 2002). Viele Tumoren zeichnen sich durch ein im Vergleich zum gesunden Ausgangsgewebe verändertes Expressionsmuster an Integrinen aus (Mercurio u. Rabinovitz 2001). Die Expression von α2β1 und α3β1, die Adhäsion an die Basalmembran fördern, ist reduziert; α2β1 aktiviert die MAP-Kinase p38, die hemmend auf den Zellzyklus wirkt (Ivaska et al. 1999); αvβ6 und αvβ8 binden an die Proform von TGFβ (»transforming growth factor β«) und tragen so zu dessen Aktivierung und damit zur Inhibition des Wachstums bei (Sheppard 2005); αvβ3, αvβ6 und α6β4, die das Überleben der Tumorzelle, Migration und Proliferation fördern, werden überexprimiert (Mercurio u. Rabinovitz 2001); α6β4 kooperiert mit EGF (epidermal growth factor), ERBB2, MET und unterstützt so die Proliferation der Tumorzellen (Mariotti et al. 2001); αvβ3 kooperiert mit PDGF (»platelet derived growth factor«) (Dai et al. 2001). Integrine, die mit Rezeptortyrosinkinasen interagieren, unterbrechen Zell-Zell-Adhäsionen. Zwei Mechanismen werden
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Kapitel 15 · Zellinvasion und Metastasierung
diskutiert. Durch die Kooperation von Rezeptortyrosinkinasen mit integrinassoziierten Kinasen kommt es zur Phosphorylierung des E-Cadherin-β-Catenin-Komplexes, der zur Endozytose führt und damit zu reduzierter E-Cadherin-Expression. Zweitens, Integrin-mediierte Signale kooperieren mit SNAIL/SLUG, die die Expression von E-Cadherin supprimieren. Dieser Prozess kann ILK (»integrin-linked kinase«), aber auch SRC-Rezeptortyrosinkinasen involvieren (Jin u. Varner 2004). Integrine spielen auch eine wesentliche Rolle bei der Migration metastasierender Tumorzellen. Die Zellen bilden zuerst Filipodien, die dann zu einer Lamelle verschmelzen und über fokale Adhäsionspunkte mit der extrazellulären Matrix interagieren. Innerhalb der Zelle sind die sog. »focal adhesions« an Stressfibern verankert. Über die Kontraktion dieser Stressfiber bewegt sich die Zelle vorwärts (Webb et al. 2002). Eine der wesentlichen Komponenten hierbei ist FAK (Chen et al. 2001). Für die Beteiligung von Integrinen am partiellen Abbau der extrazellulären Matrix ist insbesondere αvβ3 verantwortlich. Ein Komplex aus MMP2 und TIMP2 bindet an die membranständige Metalloproteinase MT1-MMP, was zur partiellen Aktivierung von MMP2 führt, das an der Migrationsfront der Zelle an αvβ3 bindet und dadurch voll aktiviert wird (Brooks et al. 1996). αvβ3 und weitere Integrine können auch an den Rezeptor des Urokinase-Plasminogen-Aktivators (uPAR) binden und über diese Interaktion den Abbau der extrazellulären Matrix unterstützen (Blasi u. Carmeliet 2002). Gleichzeitig legen matrixdegradierende Enzyme auch neue Bindungsstellen, u. a. in Laminin5, für Integrine frei, sodass die migrierende Tumorzelle sich wieder verankern kann (GivantHorwitz et al. 2005). Eines der Integrine, dessen Überexpression in vielen Karzinomen zur Tumorprogression beiträgt ist α6β4. Dies ist erstaunlich, da α6β4 eine Komponente der Hemidesmosomen darstellt und über die Bindung an Laminin basale Epithelien fest mit der Basallamina verankert. α6β4 kann jedoch durch Faktoren in der Umgebung des Tumors aus den Hemidesmosomen gelöst werden und assoziiert dann in der Lamelle oder in Filipodien mit F-Aktin. Um die Lokalisation von α6β4 in der Zelle zu verändern muss die β4-Kette des Integrins aktiviert werden. Als Konsequenz kommt es zur Aktivierung der PI3-Kinase, die Migration, Invasion und Überleben der metastasierenden Tumorzelle über die Transkription von VEGF und weiteren Wachstumsfaktoren unterstützt (Lipscomb u. Mercurio 2005). Immunglobulinsuperfamilie (CAM; »cell adhesion molecules«) Den Mitgliedern der Ig-Superfamilie ist eine variable Anzahl von extrazellulären Immunglobulindomänen mit konservierten Zysteinen, an denen sich Disulfidbrücken ausbilden, gemeinsam (Edelman 1987). Die Mitglieder der Ig-Superfamilie agieren als Adhäsionsmoleküle und unterstützen über Assoziation mit signaltransduzierenden Molekülen und Interaktion mit Rezeptoren für Wachstumfaktoren den Informationsaustausch zwischen Tumorzellen und der Umgebung. CAM werden vor allem von Endothelzellen exprimiert. Expression kann aber auch in epithelialen Zellen z. B. des Kolons induziert werden (Moos et al. 1988), sodass CAM auch Adhäsion nichthämatogener Zellen vermitteln. Hauptsächlich in malignen Melanomen ist die Expression von MUC18/CD146 mit schlechter Prognose assoziiert (Bogenrieder u. Herlyn 2002). Hingegen ist die Reduktion der Expression von N-CAM (»neural cell adhesion molecule«) bei mehreren Karzinomen mit einer schlechten Prognose assoziiert (Cavallaro u. Christofori 2001).
Selektine Die Familie der Selektine besteht aus drei Mitgliedern, deren Namen, E-Selektin (»endothelial/CD62E«), P-Selektin (»platelet/ CD62P«), L-Selektin (»leukocytes/CD62L«), durch die Zellen der Erstbeschreibung vorgegeben sind. Selektine sind Adhäsionsrezeptoren, die an Fukose binden (Gonzalez-Amaro u. SanchezMadrid 1999). Selektinliganden sind das Kohlenhydratantigen Sialyl-Lewis X und seine Isoformen, die auf Neutrophilen, aber auch auf gastrointestinalen Adenokarzinomzellen nachweisbar sind. Für E- und P-Selektin wurden kürzlich auch monospezifische Glykoproteinliganden beschrieben (Konstantopoulos et al. 2003). Selektinvermittelte Adhäsion von Tumorzellen an Gefäßendothelien konnte für verschiedene gastrointestinale Karzinome belegt werden. Untersuchungen in selektindefizienten Mäusen zeigten, dass die Selektinligandeninteraktion Tumorprogression unterstützt. Neben der Adhäsion können Selektinliganden auch in Signaltransduktion involviert sein (Witz 2006). Nicht familienzugehörige Moleküle CD44 ist ein Adhäsionsmolekül, von dem eine Vielzahl von Isoformen vorliegt, die sich durch Glykosylierung und die Insertion sog. varianter Exonprodukte unterscheiden (Naor et al. 1997). Ursprünglich als Leukozyten-homing-Rezeptor und als Hauptligand von Hyaluronsäure beschrieben, ist inzwischen bekannt, dass CD44 durch die Bindung an seine Liganden eine Kaskade von Ereignissen in Gang setzt, die über die ligandenbindungsinduzierte Aktivierung des Moleküls eingeleitet wird (Lesley et al. 1997). Aktiviertes CD44 bindet an Wachstumsfaktoren und matrixdegradierende Enzyme, bildet Komplexe mit Transmembranmolekülen, assoziiert mit Zytoskelettelementen und signaltransduzierenden Molekülen (Ponta et al. 2003; Marhaba u. Zöller 2004). Über diese Interaktionen moduliert CD44 Adhäsion, Motilität, den Abbau der extrazellulären Matrix, Proliferation und Apoptoseresistenz, Aktivitäten, die zusammengenommen eine Tumorzelle bei allen Schritten der Metastasierungskaskade unterstützen können. In der Tat konnte gezeigt werden, dass die Transfektion einer nicht metastasierenden Tumorzelle mit varianten CD44-Isoformen dieser Tumorzelle metastatische Kapazität verleiht. Neben dem experimentellen Nachweis, dass variante CD44-Isoformen Metastasierung unterstützen, gibt es eine Vielzahl klinischer Studien, die belegen, dass hohe Expression von varianten CD44-Isoformen, speziell CD44v6 mit einer schlechten Prognose korreliert (Günthert 1996). Der erste Schritt der Tumorzellextravasation kann über Selektin und seine Liganden, aber auch über die Bindung von CD44 an Hyaluronsäure der Endothelzellen erfolgen. Durch die Bindung aktiviertes CD44 assoziiert mit CD49d (VLA-4). Dies verstärkt Adhäsion und erleichtert Extravasation (Nandi et al. 2004). Die In-vivo-Effizienz CD44-mediierter Adhäsion an Endothelzellen wurde für intravenös applizierte Tumorzellen bestätigt (Wallach-Dayan et al. 2001). Als membranständiges Proteoglykan verstärkt CD44 die Bindung von Osteopontin (Weber et al. 1997). Über die Bindung von CD44 an Osteopontin werden Signale induziert, die die Sekretion antiinflammatorischer Zytokine weitgehend abschalten. Darüber hinaus werden PI3-Kinase und AKT aktiviert, das die Expression antiapoptotischer Moleküle unterstützt (Denhardt et al. 2001). CD44v-Isoformen immobilisieren eine ganze Reihe von Wachstumsfaktoren und Chemokinen, wie SF (»scatter factor«), bFGF (»basic fibroblast growth factor«), VEGF (»vascular endothelial growth factor«), MIP-1β und RANTES (Herrlich et al. 1998). Von spezieller Bedeutung für
315 15.3 · Effektor- und Suppressormoleküle der Metastasierung
die Tumorprogression ist die Bindung von SF, die die Aktivierung (Autophosphorylierung) von C-MET einleitet (Orian-Rousseau et al. 2002). Über die Bindung an Matrixmetalloproteinasen, speziell MMP-2 und MMP-9, ist CD44 auch in den Prozess des Abbaus der extrazellulären Matrix involviert. CD44-assoziiertes MMP9 und MMP2 schneidet auch die Vorläuferform von TGFβ und unterstützt so Angiogenese (Yu et al. 2002). Zellgebundene Proteasen schneiden ebenfalls CD44, sodass die Tumorzelle sich von der extrazellulären Matrix lösen kann (Ahrens et al. 2001). CD44v3 bindet HBGF (»heparin binding growth factor«), eine Voraussetzung für die Aktivierung der ERBB-Rezeptortyrosinkinase 4 (HER4), die antiapoptotische Signaltransduktionswege aktiviert und Tumorzellapoptose supprimiert. CD44 interagiert auch mit EGFR (»epidermal growth factor receptor«), HER2/neu (ERBB2) und ERBB3, Rezeptortyrosinkinasen, die bei der Tumorprogression eine wesentliche Rolle spielen. In Ovarialkarzinomen führt die Bindung von CD44 an HER2/neu zur Aktivierung von RAS und RAC-1, die Proliferation und Reorganisation des Zytoskeletts unterstützen. EGFR und ERBB2 in Assoziation mit CD44 ‒ häufig bei Zervixkarzinomen, Glioblastomen und Mammakarzinomen ‒ fördern ebenfalls die Tumorprogression. Die zytoplasmatische Domäne von CD44 assoziiert auch mit einer Reihe von C-SRC-Tyrosinkinasen (Corso et al. 2005). Für die metastasierungsunterstützende Funktion von CD44 ist auch die Assoziation mit dem Zytoskelett wesentlich, die indirekt über die Linkerproteine Ankyrin und Mitglieder der ERM-Familie (Ezrin, Radixin, Moesin) erfolgt. Die Interaktion zwischen CD44und ERM-Proteinen wird über die Phosphorylierung der ERMProteine reguliert, die nur im phosphorylierten Zustand CD44 an das Aktinzytoskelett koppeln (Bourguignon et al. 1998). Da ERM-Proteine die assoziierten Proteine aus glykolipidreichen Membranmikrodomänen, in denen zahlreiche Adaptorproteine und Phosphotyrosinkinasen angelagert sind, dirigieren, ist die Assoziation von CD44- mit ERM-Proteinen auch für CD44assoziierte Signaltransduktion wesentlich (Martin et al. 2003). Man könnte CD44v als Metastasengen definieren, da ausschließlich durch die Überexpression dieses Moleküls eine Tumorzelle die Fähigkeit zur Metastasierung erwerben kann. Alle Funktionen von CD44v werden jedoch auch in nicht transformierten Zellen beobachtet und daher ist auch CD44 »nur« ein Metastasierungsassoziiertes Molekül. E-Cadherin und EpCAM sind zwei Zell-Zell-Adhäsionsmoleküle, die bei der Metastasierung eine wesentliche Rolle, spielen. Beide Moleküle sind Transmembranproteine, die durch homophile Interaktion enge interzelluläre Bindung im Gewebsverband vermitteln (Hazan et al. 2004). Da die Lösung der metastasierenden Tumorzelle aus dem Gewebsverband des Primärtumors den ersten Schritt der Metastasierungskaskade darstellt, sollte Metastasierung mit einem Verlust an Zell-Zell-Adhäsionsmolekülen einhergehen. Dies ist für E-Cadherin der Fall (Cavallaro et al. 2002), nicht aber für EpCAM (Winter et al. 2003). Cadherine sind in einem sog. Core-Komplex zusammen mit β-Catenin und α-Catenin, das an β-Catenin bindet, organisiert. α-Catenin bindet direkt an Aktin und an die Aktin-bindenden Proteine α-Aktinin, ZO-1, Vinkulin und Formin (Kobielak et al. 2004). Die Integrität dieses Komplexes ist essenziell zur Ausbildung und Aufrechterhaltung stabiler Zell-Zell-Adhäsion und wird über Phosphorylierung und Dephosphorylierung von βCatenin reguliert (Lilien u. Balsamo 2005). Weitere Komponenten können konstitutiv oder transient mit diesem Core-Komplex assoziiert sein: Das Catenin P120 (Thoreson et al. 2000), die
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Phosphatase PTP1B (Xu et al. 2002), die beide direkt mit Cadherin interagieren, und weitere Phosphatasen. Die Phosphorylierung von Catenin führt zur reduzierten Expression von E-Cadherin, ein Prozess der bei der epithelial-mesenchymalen Transformation in der Ontogenese und bei der Metastasierung gleichermaßen wichtig ist (Rhee et al. 2002). Weitere Mitglieder der Cadherin-Familie sind N-Cadherin (neuronal), P-Cadherin (plazentaassoziiert) und L-CAM (»liver cell adhesion molecule«). Speziell N-Cadherin erhöht die Motilität von Tumorzellen, wobei Tumorzellen mit Verlust der E-Cadherin-Expression de novo N-Cadherin exprimieren, sodass man einen Switch von proadhäsiven Cadherinen (E-Cadherin) zu mesenchymalen, promigratorischen Cadherinen diskutiert (Hazan et al. 2004). E-Cadherin wird möglicherweise auch über ein weiteres Zell-Zell-Adhäsionsmolekül, EpCAM, reguliert. EpCAM ist ein Transmembranmolekül, das auf epithelialen Zellen exprimiert wird und kalziumunabhängige, homotypische Zell-Zell-Adhäsion mediiert (Winter et al. 2003). In einer Vielzahl epithelialer Tumoren wird eine Überexpression von EpCAM beobachtet (Armstrong u. Eck 2003). Langzeitstudien weisen auf eine Korrelation zwischen EpCAM-Expression und Tumorprogression (Gastl et al. 2000). Die Funktion von EpCAM ist weitgehend ungeklärt. Es wird vermutet, dass es die E-Cadherin-Expression gegenreguliert und so zur Tumorprogression beiträgt. Alternativ könnte EpCAM, das kovalent an Claudin-7 binden kann, zur Auflösung von Zell-Zell-Adhäsionskomlexen (»tight junctions«) beitragen (Ladwein et al. 2005). Ungeachtet des ungeklärten Funktionsprinzips konnte in klinischen Studien nachgewiesen werden, dass EpCAM-spezifische monoklonale Antikörper ein effektives Therapeutikum darstellen (Übersicht in Zbar 2004). Tumorzellinvasion, extrazelluläre Matrix und extrazelluläre matrixdegradierende Enzyme Tumorzellinvasion erfordert die Bindung der Tumorzelle an Elemente der extrazellulären Matrix (EZM) und die lokale Proteolyse der umgebenden Matrix. Dies bedeutet, dass die invasiven Tumorzellen eine Feinregulation von Adhäsion an und Lösung von Elementen der EZM benötigen. Die meisten Moleküle der EZM bilden Netzwerke, die sowohl statische als auch dynamische Funktionen erfüllen, Letztere hauptsächlich über die Bindung an zellmembranständige Rezeptoren mit Signaltransduktionspotenzial (Ruoslahti u. Vaheri 1997). Das Phänomen der Invasivität beruht bei diesen Interaktionen auf qualitativen und quantitativen Veränderungen der Zusammensetzung der Komponenten der EZM und der entsprechenden zellulären Rezeptoren sowie auf Depotfunktionen der EZM für Zytokine, Wachstumsfaktoren, Motilitätsfaktoren, Enzyme und Enzyminhibitoren (Vlodavsky et al. 1990). Keines dieser Phänomene ist metastasierungsspezifisch. Unterschiede zu physiologischen Invasionsprozessen beruhen ausschließlich auf Gleichgewichtsverschiebungen der beteiligten Elemente. Extrazelluläre Matrix (EZM) Der Aufbau der EZM und der Basalmembran gestaltet sich entsprechend der Funktion variabel. EZM und Basalmembran stellen Netzwerke dar, die dazu dienen, Zellen in einem Gewebe zusammenzuhalten. Die Struktur der EZM erlaubt eine Wanderung der Zellen, während die Basalmembran keine Poren besitzt, sodass eine passive Migration von Zellen nicht möglich ist. Die prinzipiellen Komponenten der EZM sind Kollagene, Hyaluron-
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Kapitel 15 · Zellinvasion und Metastasierung
säure, Proteoglykane (Komplexe aus Polysacchariden und Proteinen) und Glykoproteine (Bosman u. Stamenkovic 2003). Kollagene stellen die Hauptklasse der unlöslichen fibrillären Proteine der EZM. Es gibt mindestens 12 Typen, wobei die Fibrillen bildenden Kollagen I, II und III am häufigsten auftreten. Kollagen IV bildet ein zweidimensionales Netzwerk und ist ein wesentlicher Bestandteil der Basalmembran. Kollagene werden von Fibroblasten und vielen Epithelzellen sezerniert und setzen sich aus einer rechtsgewundenen Tripelhelix zusammen. Hyaluronsäure besteht aus 50.000 Wiederholungen des Disaccharids Glukuronsäure β (1–3)–N-Azetylglukosamin. Aufgrund der hohen Zahl an hydrophilen Resten bindet es H2O und bildet ein visköses Gel, dessen Volumen das 1.000- bis 10.000fache des Molekülvolumens ausmacht. Hyaluronsäure inhibiert Zell-Zell-Interaktionen und erleichtert die Zellmigration. Proteoglykane bestehen aus einem Kernprotein und einem oder mehreren kovalent gebundenen Glukosaminoglykanen. Dabei handelt es sich um lange, sich wiederholende, lineare Polymere bestimmter Disaccharide. Ein oder beide Zucker tragen Sulfatgruppen. Es gibt eine große Zahl verschiedener Proteoglykane. Der Name orientiert sich an der Struktur des dominierenden Disaccharids (Keratansulfat, Dermatansulfat, Heparansulfat, Heparin). Proteoglykane finden sich auf der Oberfläche vieler Zellen. Sie binden an Kollagen und Fibronektin und verankern die Zellen in der EZM. Laminin ist das Hauptstrukturprotein der Basalmembran. Es handelt sich um ein kreuzförmiges Molekül aus drei Polypeptiden mit hoher Affinität für weitere Komponenten der Basalmembran. Zellen binden in der Regel nicht direkt an KollagenTyp-IV oder Proteoglykane, sondern indirekt über Laminin, wobei eine ganze Reihe von Lamininrezeptoren, u. a. Integrine, bekannt ist. Fibronektine sind Glykoproteine. Es handelt sich um Dimere aus zwei ähnlichen Ketten, die sich aus sechs Domänen mit sich wiederholenden Sequenzen zusammensetzen. Fibronektine binden an spezifische Rezeptoren, an Kollagen, Fibrin und Proteoglykane. Sie dienen dazu, Zellen an die EZM, außer an Typ-IVKollagen, anzuheften, wobei sie sowohl die Form der Zelle als auch die Organisation des Zytoskeletts regulieren. Die Basalmembran ist eine 60–100 nm dicke, blattähnliche Struktur und stellt ein besonders dichtes Netzwerk aus KollagenTyp-IV-Fibrillen dar, an die sich Laminin, Entactin und Heparansulfatproteoglykane anlagern. Die Basalmembran besitzt strukturell und funktionell unterschiedliche Domänen. Zur Zellgrenze ist die Membran weniger dicht und reich an Laminin. An der Grenze zum interstitiellen Bindegewebe werden hauptsächlich adhäsive Strukturen gefunden. In adulten Geweben ist die Basalmembran relativ stabil mit einem niedrigen Turnover ihrer Komponenten. Bei Neoplasien ist der Turn-over drastisch erhöht (Aumailley u. Smyth 1998). Tumorstroma erscheint »geordnet« und tumorspezifisch: Stromareaktionen werden besonders bei drüsigen Tumoren (Mamma, Pankreas, Prostata, Kolon) beobachtet. Die Stromabildung ist ein phänotypisches Charakteristikum, das bei der Bildung von Metastasen beibehalten wird; Veränderungen in der Expression von Proteoglykanen werden ausschließlich in Tumoren, nicht aber bei Regenerationsprozessen beobachtet. Speziell bei Kolonkarzinomen wird eine Anreicherung an Chondroitinsulfat beobachtet, die auf einer erhöhten Synthese durch Fibroblasten und glatte Muskulatur beruht. TGFβ (»transforming growth factor β«) unterdrückt die Expression des leuzinreichen
Proteoglykans Decorin, wohingegen die Expression von Biglykan, Versican und Perlekan gesteigert wird. TGFβ supprimiert auch die Expression von Stromelysin, Elastase und Kollagenase, drei Elementen, die am Abbau der EZM beteiligt sind. Da Decorin mit hoher Avidität an TGFβ bindet, wird postuliert, dass die Ausschaltung dieses Proteoglykans, zusammen mit der Reduktion an Proteasen, in besonderer Weise die durch TGFβ induzierte Aktivierung der Matrix fördert. Dadurch werden die Anlagerung weiterer Zytokine und das Wachstum des Tumors gefördert (Honn u. Tang 1992; Iozzo 1995). Wenngleich die EZM vielfältige Aufgaben in der Tumorprogression erfüllt, stellt die Impermeabilität der Basalmembran eine Barriere für disseminierende Tumorzellen dar, die mithilfe matrixdegradierender Enzyme überwunden werden muss (Matrisian 1999). Hauptkomponenten der die EZM degradierenden Enzyme sind unspezifische Proteasen wie Trypsin und Cathepsin, das Plasminsystem, Metalloproteinasen (MMP) und Heparanase (Hagedorn et al. 2001). Diese lytischen Enzyme werden auch in nicht transformierten Zellen beobachtet. Die Involvierung in den Metastasierungsprozess basiert auf Überexpression in der Tumorzelle, den Wirtszellen oder beiden. Klinische Studien belegen eine direkte Korrelation zwischen einer erhöhten Expression dieser Enzyme und der Invasivität von Tumoren. Über genetische Manipulation der Expressionslevel dieser Proteasen konnte das Ursache-Wirk-Prinzip zwischen Proteasen und Tumorprogression bestätigt werden (Werb et al. 1999). Die Aktivität lytischer Enzyme wird auf mehreren Ebenen reguliert: Für die Aktivierung der Proteasen, die meist als Vorstufen vorliegen, sind spezifische Aktivatoren erforderlich. Daneben sind natürlich vorkommende Inhibitoren bekannt (Skrzydlewska et al. 2005). Die Aktivität der die Basalmembran degradierenden Enzyme ist auch für den vorübergehenden und reversiblen Wechsel des Phänotyps metastasierender Tumorzellen von essenzieller Bedeutung (Lynch u. Matrisian 2002). Matrixmetalloproteinasen MMP sind eine große Familie extrazellulärer oder membrangebundener proteolytischer Enzyme, die in fünf Subfamilien eingeteilt werden: Kollagenasen, Gelatinasen, Stromelysine, membrangebundene MMP (MT-MMP) und andere (McCawley u. Matrisian 2001). MMP werden als sog. Präenzyme synthetisiert, wobei das Leader-Peptid während der Sekretion entfernt wird. Die entstehenden Proenzyme (Zymogene) sind enzymatisch inaktiv und werden durch enzymatische Entfernung des Propeptids aktiviert (Murphy et al. 1999). Stromelysin 3 und MT-MMP werden bereits intrazellulär aktiviert (McCawley u. Matrisian 2001). Aktivierte MMP haben unterschiedliche, aber häufig überlappende Substratspezifität (Overall u. Lopez-Otin 2002). Mit Ausnahme von Matrilysin, das in verschiedenen glandulären Epithelien exprimiert ist, sind Fibroblasten die Hauptquelle der MMP (Stuelten et al. 2005). Wachstumsfaktoren, wie EGF, TGFα und PDGF können die Expression von MMP dramatisch modulieren (Müller u. Fusenig 2002). Komponenten der extrazellulären Matrix, Zell-Matrix-Interaktionen und die perizelluläre Umgebung sind weitere wichtige Faktoren bei der Produktion von MMP. Die Stimulation des αvβ3-Integrinrezeptors (Vitronektinrezeptor) und Peptidfragmente der Laminin-AKette induzieren die Produktion von Gelatinase A (Chakraborti et al. 2003). Daneben spielt die Interaktion zwischen Tumor und Wirtsgewebe eine Rolle: Eine Kolonkarzinomlinie, die nur bei orthotoper Implantation metastasiert, exprimiert auch nur in
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dieser Umgebung erhöhte Mengen an Gelatinase A, Stromelysin und Heparanase (Tester et al. 2004). Die Kollagenasen 1, 2 und 3 (MMP-1, MMP-8, MMP-13) schneiden natives Kollagen vom Typ I, II, III, V und IX (Aimes u. Quigley 1995). MMP-1 wird von vielen Tumorzellen, aber auch Keratinozyten, Fibroblasten, Endothelzellen, Makrophagen und anderen Zellen synthetisiert (Overall u. Lopez-Otin 2002). Kollagenase 2 (MMP-8) wird u. a. von Neutrophilen und Chondrozyten sowie malignen Melanomen sezerniert. MMP-8 schneidet außer Kollagenen auch Chemokine (Hasty et al. 1987). Kollagenase 3 (MMP-13) zeigt eine restringierte Expression, aber breite Substratspezifität, inaktiviert auch Chemokine (MCP-3 und SDF-1) und ist in die Aktivierung von TGFβ involviert (Deng et al. 2000). Die Expression der Kollagenasen wird transkriptionell reguliert. Wesentliche Transkriptionsfaktoren sind AP-1 und ETS (Westermarck et al. 1997). Weitere Kontrollmechanismen umfassen die Stabilität der mRNA, die Aktivierung latenter Vorläuferformen durch Plasmin, Trypsin, Kallikrein, Chymase, Tryptase und andere MMP sowie die Inhibition durch TIMP (Ala-aho u. Kahari 2005). Kollagenase 1 und 13, die fibrilläre Kollagene degradieren, werden vermehrt in Kolon-, Magen-, Ösophagus-, Mamma-, Bronchial-, Pankreaskarzinomen und dem malignen Melanom (MMP-1), daneben auch in Plattenepithelkarzinomen des Nasopharynx und bei Ovarialkarzinomen (MMP-8), Mamma-, Vulva, Ösophaguskarzinomen, Chondrosarkomen, malignem Melanom und Urothelzellkarzinomen (MMP-13) sezerniert (Ala-aho u. Kahari 1997). Die proteolytische Aktivität korreliert mit dem Grad der histologischen Differenzierung und die Kollagenasen werden insbesondere im Umkreis von Stromafibroblasten, die direkt an das Tumorgewebe angrenzen, gefunden (Pardo u. Selman 2005). Man geht davon aus, dass invasive epitheliale Tumoren einen Stimulus abgeben, der die Fibroblasten zur Synthese dieser Enzyme stimuliert. Stromelysin 1, 2 und 3 (MMP-3, MMP-26, MMP-11) und Matrilysin 1 und 2 (MMP-7, MMP-26) haben ein relativ weites Wirkspektrum. Sie degradieren Laminin, Fibronektin, Proteoglykane und nichthelikale Domänen von Typ-IV-Kollagen. Matrilysin schneidet Urokinase zwischen der katalytischen und der rezeptorbindenden Domäne. Man nimmt an, dass diesem Enzym besondere Bedeutung bei der Regulation des Plasminogenaktivators zukommt (Hornebeck u. Maquart 2003). Hohe Expression von Stromelysin 1 und 2 korreliert in Plattenepithelkarzinomen des Kopf-Nacken-Bereiches mit erhöhter lokaler Invasivität. Matrilysine (aber nicht Stromelysin 1 und 2) sind auch bei Magenund Kolonkarzinomen überexprimiert (Rio 2005). In Prostatakarzinomen wurden ebenfalls erhöhte Mengen an MatrilysinRNS beobachtet, allerdings nicht im Stroma. Stromelysin 3 (MMP-11) wird von Stromazellen in der Umgebung des Tumors sezerniert und wurde ursprünglich bei Mammakarzinomen entdeckt. Die Expression ist auch bei Plattenepithelkarzinomen des Nasopharynx, Basalzellkarzinomen und Bronchialkarzinomen erhöht. Stromelysin-3 nimmt eine Sonderstellung ein, da es in aktivierter Form sezerniert wird und vornehmlich Nicht-EZMProteine degradiert (Wei u. Shi 2005). Gelatinase A und B (MMP-2 und MMP-9) degradieren hauptsächlich denaturiertes Kollagen. Die beiden Gelatinasen stammen von verschiedenen mRNA-Transkripten und unterscheiden sich von den anderen Mitgliedern der MMP-Familie durch eine Region, die homolog zur gelatinbindenden Domäne von Fibronektin ist und wahrscheinlich an der Substratbindung
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beteiligt ist. Ein weiteres Charakteristikum besteht darin, dass die Proenzyme häufig als Komplex mit den endogenen Inhibitoren der MMP, den TIMP, vorliegen (Turpeenniemi-Hujanen 2005). In der Tat erfolgt die Aktivierung von MMP-2 hauptsächlich über einen Komplex mit MT1-MMP und TIMP-2 an der Zellmembran, wobei nahe gelegenes, TIMP-freies MT-MMP zuerst schneidet; in einem zweiten Schritt erfolgt die volle Aktivierung durch bereits aktiviertes MMP-2 oder über MMP-1 und MMP-7. Die Existenz eines membranabhängigen Mechanismus für die Aktivierung von MMP-2 hat bedeutende physiologische Implikationen, da er die Proteolyse auf die unmittelbare Nachbarschaft der Tumorzelle beschränkt. Die Aktivierung von pro-MMP-9 erfolgt über plasminaktiviertes MMP-3, das in der Folge MMP-9 aktiviert, und zwar direkt an der Zellmembran. Alternativ kann eine Aktivierung auch über Trypsin eingeleitet werden (Murphy et al. 1999). Hohe MMP-2- und MMP-9 Expression wird in Mamma-, Kolon-, Lunge-, Haut-, Ovar- und Prostatakarzinomen beobachtet und korreliert mit schlechter Prognose. Bei Mäusen mit einer targetierten Deletion von MMP-9 ist die Metastasierungseffizienz deutlich reduziert. Dem entspricht, dass die Expression von MMP-2, MMP-9 und weiteren MMP häufig im Tumorstroma erhöht ist (Ala-aho u. Kahari 2005; Turpeenniemi-Hujanen 2005). Die membrangebundene Form von MMP-9 spielt auch bei der Migration von Tumorzellen eine wesentliche Rolle, wobei MMP-9, das auf sehr vielen Tumoren exprimiert wird, an Integrine, CD44 und ICAM-1 bindet. Gelatinasen können durch Proteolyse auch ein chemotaktisches Epitop von uPAR freilegen und so die Intravasation unterstützen (Steffensen u. Bigg 1998; Fiore et al. 2002; Kim et al. 1998). MT1-MMP wurde zuerst als membranständige Protease identifiziert, die proMMP-2 aktiviert. Weitere biologisch wichtige Substrate für MT1-MMP sind Typ-I-Kollagen, Laminin, Lumikan, Integrin αv, Transglutaminase, CD44, Syndecan 1, KISS1, IL-8, die Proform von TNFα und weitere. Man geht daher davon aus, dass MT1-MMP nicht nur beim fokalisierten Abbau der EZM eine wesentliche Rolle zufällt, es vielmehr auch zum Wachstum der Metastasen erheblich beiträgt (Sato et al. 2005). Wenngleich Tumoren von einer Reihe unterschiedlicher Strategien Gebrauch machen, um die Matrixbarriere zu durchbrechen und zu durchwandern, kann die Expression von MMP unter ausgewählten Bedingungen diagnostisch und prognostisch genutzt werden, wobei die Proenzymaktivierung einen wichtigen Kontrollpunkt in der Entwicklung des invasiven Phänotyps darstellt. Dem entspricht die Beobachtung, dass der Gehalt an aktiviertem Enzym bei Weitem aussagekräftiger ist als die Bestimmung der Proenzyme. Allerdings sollte darauf verwiesen werden, dass Breitspektruminhibitoren der MMP nicht den erwarteten therapeutischen Effekt gezeigt haben. Strategien zur gezielten Targetierung von MMP sind in Vorbereitung (Übersicht in Mannello et al. 2005). Plaminogen-Aktivator-(uPA-)System Urokinase (uPA, »urine type plasminogen activator«) und dessen Rezeptor (uPAR) sind zentrale Elemente der Zellinvasion und Metastasierung (Sidenius u. Blasi 2003). uPAR gehört zur Ly6Familie und ist über eine Glykosylphosphatidyleinheit in der Zellmembran verankert, besitzt jedoch im Gegensatz zu den weiteren Mitgliedern der Ly6-Familie drei Domänen (Ploug 2003). uPA und sein inaktives Zymogen (pro-uPA) binden mit hoher Affinität an uPAR. Die Bindung von pro-uPA an seinen Rezeptor akzelleriert dessen Aktivierung, wahrscheinlich über multiple
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Kapitel 15 · Zellinvasion und Metastasierung
Mechanismen. Der uPA-uPAR-Komplex wird nicht internalisiert und hat eine Halbwertszeit von 4–6 Stunden (Ploug 2003). Die uPA-Aktivität wird über PAI (Plaminogenaktivatorinhibitor) reguliert. PAI interagiert mit dem membranständigen uPAuPAR-Komplex, der rasch internalisiert wird, wobei der Rezeptor nach kurzer Zeit wieder auf der Zellmembran erscheint. Durch diesen raschen Wechsel zwischen membranständigem Rezeptor bzw. Rezeptorkomplex kommt es zu einer kontinuierlichen Modulation migrationskompetenter Bereiche der Zellmembran, was die Invasivität von Tumorzellen in spezieller Weise fördert (Myohanen u. Vaheri 2004). Die hohe Expressionsrate in Lungen-, Kolon-, Magen-, Mamma-, Prostatakarzinomen, Melanomen und Gliomen korreliert mit einem hohen Risiko für Metastasenbildung. Der experimentelle Nachweis, dass uPA in Prozesse der Invasion involviert ist, wurde durch Inhibition der Invasion über uPA-Inhibitoren, Antikörper und Rezeptorantagonisten erbracht. Durch Überexpression von PAI-1 kann die Invasivität von Tumoren erniedrigt werden (de Bock u. Wang 2004). Therapeutisch werden folgende Möglichkeiten diskutiert: Die uPA-uPAR-Interaktion könnte durch Sequestrierung von uPA in nicht bindender Form oder durch Besetzung von uPAR mit einem inaktiven Liganden blockiert werden. Auch wurde löslicher uPAR hergestellt, der die Bindung von uPA an den membranständigen Rezeptor verhindert. Eine weitere therapeutische Möglichkeit besteht in der Gabe von uPA-Inhibitoren (Romer et al. 2004). Das uPA-uPAR-System hat pleiotrophe Effekte auf Zellmigration und Spreading. Ursprünglich wurde der stimulatorische Effekt von uPA auf Zellmigration und Invasivität über die Aktivierung von Plasminogen zu Plasmin erklärt. Plasmin, eine Serinprotease mit breiter Spezifität, schneidet Fibronektin, Vitronektin, Laminin und Fibrin und aktiviert Pro-Kollagenasen an Zell-Zellund Zell-Matrix-Kontaktstellen. Die Gegenwart von Rezeptoren für uPA und Plasminogen an denselben Zellen erlaubt die Bildung von zellmembranständigem Plasmin, das durch den im Überschuss vorhandenen Inhibitor Antiplasmin nicht degradiert werden kann. Wenn die Serinprotease uPA an uPAR bindet, führt dies zur fokalisierten Aktivierung der proteolytischen Aktivität von uPA und der Generierung von Plasmin. uPA und Plasmin stimulieren auch das Tumorwachstum durch die proteolytische Aktivierung latenter Formen verschiedener Wachstumsfaktoren, wie SF/HGF, bFGF, TGFβ (Syrovets u. Simmet 2004). uPAR reguliert Zellmigration nicht ausschließlich über die Bindung von uPA und die Aktivierung von Plasminogen. uPAR hat zwei weitere Liganden, Vitronektin und Kininogen und assoziiert mit bestimmten Integrinen. uPAR bindet mit hoher Affinität an Vitronektin. Die Vitronektinbindung wird durch uPA und Integrine unterstützt (Kjoller 2002). Dies führt zu einer RACabhängigen Reorganisation des Zytoskeletts und Zellmotilität. Kininogen kompetitiert mit Vitronektin um die Bindungsstelle an uPAR, führt zum Detachment von der extrazellulären Matrix (Hoyer-Hansen et al. 1997) und unterstützt auf diese Weise die Motilität der Tumorzelle. Wichtig für die Funktion von uPAR ist auch die Assoziation mit Integrinen. uPAR assoziiert substratunabhängig mit β1-Integrinen, speziell in fokalen Adhäsionsstellen. Die Assoziation mit α5, β3 und αv ist substratabhängig (Kugler et al. 2003). Über die Assoziation werden integrinassoziierte Signaltransduktionskaskaden aktiviert, die die Migration der Tumorzelle unterstützen (Blasi u. Carmeliet 2002). Das native uPAR-Molekül kann auch proteolytisch freigesetzt oder zwischen Domäne 1 und 2 geschnitten werden. Beide
uPAR-Fragmente sind funktionell wichtig. Über Phospholipase D freigesetztes uPAR zeigt weiterhin hohe Affinität für die beiden Hauptliganden uPA und Vitronektin. Die Spaltung zwischen Domäne 1 und 2 erfolgt durch Trypsin, Chymotrypsin, uPA oder MMP. Weder Domäne-1- noch das Domäne-2/3-Fragment binden uPA oder VN, aber diese Fragmente zeigen chemokinähnliche Aktivität (Montuori et al. 2005). ADAM-Familie ADAM sind Transmembranproteine, die Disintegrin- und Metalloproteinasedomänen enthalten und daher sowohl Zelladhäsion als auch Proteasaktivität entfalten. Zurzeit sind 29 Mitglieder der ADAM-Familie bekannt (Huovila et al. 2005). Für ADAM17, ADAM10 und ADAM9 wurde Metalloproteinaseaktivität nachgewiesen (Huovila et al. 2005). ADAM werden auch als Sheddasen bezeichnet, da sie membranverankerte Moleküle schneiden und somit freisetzen. Shedding von Ektodomänen umfasst viele strukturell und funktionell unterschiedliche Moleküle, wie proinflammatorische Zytokine, alle EGFR-Liganden, TNF-Rezeptoren, ERBB2, ERBB4 und weitere, z. B. setzt ADAM17, auch als TACE bekannt, TNFα, aber auch TGFα, L-Selektin und Amyloid frei, ADAM9 setzt HbEGF frei (Ludwig et al. 2005). Die Freisetzung dieser Zytokine und Wachstumsfaktoren ist von zentraler Relevanz für die über diese Moleküle vermittelte Signaltransduktion, wie dies insbesondere für den EGFR- und die TNF-Rezeptoren demonstriert wurde (Blobel 2005). Aufgrund ihrer SheddingFunktion von EGFR-Liganden erscheinen ADAM auch als attraktive therapeutische Targets bei der Metastasierung (Blobel 2005) Heparanase Heparansulfatproteoglykane (HSPG) werden sowohl membranständig als auch in der EZM gefunden (Vlodavsky et al. 2002). Sie binden an eine Reihe von Proteinen der EZM und spielen eine wesentliche Rolle bei Zell-Zell- und Zell-Matrix-Interaktionen. Über die Bindung bioaktiver Moleküle wie HBGF, Chemokinen, Lipoproteinen und Enzymen sind sie in den Prozess der Metastasierung involviert. Dies gilt entsprechend für das HSPG abbauende Enzym Heparanase. Heparanase wird von einer ganzen Reihe von Zellen sezerniert und schneidet HSPG nur an wenigen Stellen. Die Proform der Heparanase wird durch ein noch nicht definiertes Enzym geschnitten. Die aktive Form ist ein Heterodimer aus einer 50-kDa-Subeinheit und einem nicht kovalent gebundenem 8-kDa Peptid. Heparanase wird sowohl zellmembranständig als auch in intrazellären Vesikeln gefunden (Sanderson et al. 2004). Die Expression in normalem Gewebe ist auf Plazenta und lymphoide Zellen restringiert. Überexpression wird auf Mamma-, Kolon-, Lungen-, Prostata-, Ovarial- und Pankreaskarzinome beobachtet, wobei hohe Expression mit einer verkürzten Überlebenszeit und gesteigerter Angiogenese korreliert. Heparanase spielt speziell bei Absiedlung und Proliferation disseminierter Tumorzellen über die Freisetzung von Wachstums- und angiogenen Faktoren eine Rolle (Vlodavsky et al. 2002; Simizu et al. 2004). In experimentellen Studien zur Inhibition von Heparanase mittels sulfatierter Oligosaccharide konnte sowohl das Wachstum des Primärtumors als auch die hämatogene Metastasierung signifikant reduziert werden (Fjeldstad u. Kolset 2005). Regulation der extrazellulären matrixdegradierenden Enzyme Wenngleich Matrixdegradation und Migration durch Gewebsbarrieren eine physiologische Funktion bestimmter Zellen unter
319 15.3 · Effektor- und Suppressormoleküle der Metastasierung
definierten Bedingungen darstellen, ist die anhaltende Proteolyse der EZM durch Tumorzellen zweifellos ein Element der Invasivität. Da die Invasivität von Tumorzellen ein zyklisches Andocken und in der Folge eine Ablösung von Elementen der EZM erfordert, impliziert dieses Wechselspiel, dass auch die Proteolyse durch Tumorzellen, wenngleich erhöht, dennoch einen zeitlich und räumlich streng kontrollierten Prozess darstellen muss. Diese Kontrolle ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen der lokalen Konzentration der lytischen Enzyme und ihren endogenen Inhibitoren. Die am besten charakterisierten Inhibitoren sind TIMP (»tissue inhibitors of metallo-proteinases«) and PAI (»plasminogen activator inhibitors«; Lambert et al. 2004; Dellas u. Loskutoff 2005). TIMP sind die natürlichen Inhibitoren der MMP. Bisher sind vier TIMP bekannt. Sie inhibieren die proteolytische Aktivität der MMP über die Bildung eines nicht kovalent gebundenen Komplexes (Lambert et al. 2004). TIMP können auch mit den Zymogenformen der MMP-Komplexe bilden und so deren Aktivierung regulieren. Nur TIMP-2 und TIMP-3 können membranständige MMP inhibieren. TIMP-3 inhibiert auch einige Mitglieder der ADAM-Familie. TIMP-1 und -3 sind Glykoproteine, TIMP-2 und -4 sind nicht glykosyliert. TIMP-1, -2 und -4 liegen in löslicher Form vor, TIMP-3 ist an die Matrix gebunden. TIMP-2 wird konstitutiv exprimiert, die Expression von TIMP-1, -3 und -4 ist über eine Reihe von Wachstumsfaktoren und Zytokinen induzierbar (Bode u. Maskos 2001). Speziell im Hinblick auf die Interkonnektivität des Invasionsgeschehens ist es interessant, dass Induktion und endogene Aktivierung von Kollagenase IV von einer Suppression der Transkription von TIMP-Genen begleitet werden kann (Yoshizaki et al. 2002). Neben der Inhibition der MMP erfüllen TIMP eine Reihe weiterer metastasierungsrelevanter Funktionen: Unterstützung der Proliferation durch TIMP-1 und TIMP-2; Inhibition der Proliferation und Apoptoseinduktion durch TIMP-2, -3 und -4; TIMP-2 und TIMP-4 können auch antiapoptotische Aktivität entfalten; TIMP-1 und-3 wirken auch als Angiogeneseinhibitoren (Jiang et al. 2002). Experimentelle Studien belegen, dass TIMP den Abbau der EZM durch invasive Tumorzellen unterdrücken. Hoch metastatische Mausmammatumoren zeigen einen niedrigeren Level an TIMP-mRNA als nicht metastasierende Varianten der gleichen Linie. Obwohl beide Sublinien gleiche Mengen an Kollagenase produzieren, ist die enzymatische Aktivität in der metastasierenden Variante deutlich höher. Sowohl natives als auch rekombinantes TIMP-1 inhibiert in vitro und in vivo Invasion und Metastasierung. Durch Transfektion mit Anti-sense-TIMP-RNA wird die Fähigkeit zur Metastasenbildung gesteigert. In vitro verhindert TIMP-2 die Invasion von Tumorzellen. Überexpression von TIMP2 in RAS-transformierten embryonalen Rattenfibroblasten supprimiert Koloniebildung in der Lunge nach intravenöser Injektion (Shiomi u. Okada 2003). Basierend auf diesen Beobachtungen sind synthetische und endogene MMP-Inhibitoren als Therapeutika in der Erprobung (Mannello et al. 2005). Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass TIMP nicht ausschließlich als Inhibitoren von Invasivität agieren. Eine erfolgreiche Tumorzellinvasion erfordert einen Gleichgewichtszustand zwischen Proteasen und Proteaseinhibitoren, da die Proteasen ohne Kontrolle durch die Inhibitoren die Matrix so weit zerstören, dass die für die Invasion notwendige ZellMatrix-Interaktion nicht mehr stattfinden kann. Weitere Gelatinaseinhibitoren sind Endostatin, Thrombospondin und α2-Makroglobulin, das nur an aktivierte MMP
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bindet. Der Komplex wird internalisiert und in der Folge degradiert (Ala-aho u. Kahari 2005); RECK-Proteine sind die einzigen membranständigen Inhibitoren (Annabi et al. 2005). Auch die Aktivierung von Plasminogen, das einen Schlüsselfaktor in der Kontrolle proteolytischen Geschehens in der EZM darstellt, wird durch spezifische Serinproteaseinhibitoren, PAI-1 und -2, kontrolliert. PAI-1 ist der physiologische Inhibitor sowohl von uPA als auch von tPA und stellt eine Hauptkomponente der EZM dar. Der Inhibitor schützt Komponenten der EZM vor zellulären Proteasen und beeinflusst so Migration und Gewebedestruktion. PAI-1 ist ein Glykoprotein, das von einer Reihe von Zellen synthetisiert und sezerniert wird und das in aktiver und inaktiver Form vorliegt. Da das inaktive Molekül durch Behandlung mit Detergenzien oder Vitronektin in die aktive Form umgewandelt werden kann, nimmt man an, dass es sich um eine Konformationsänderung handelt. Interessanterweise wird PAI-1 in aktiver Form synthetisiert, verfällt aber in die inaktive Form, sobald es von der Zelle freigegeben wird. Durch die Bindung von PAI-1 an Vitronektin im Serum und in der EZM wird es stabilisiert, was einen raschen Verlust an Aktivität verhindert. Sobald PAI-1 an PA bindet, dissoziiert der Komplex von der EZM. Der dissoziierte Komplex bleibt über 24 Stunden biologisch aktiv (Dellas u. Loskutoff 2005). Auch die Relevanz von PAI-2 für Metastasierung konnte in vivo und in vitro nachgewiesen werden. Da PAI-2 selektiv an zellmembrangebundenes uPA bindet, wird PAI-2 auch therapeutisch als Vehikel zur Abgabe radioaktiver Isotope und Toxine eingesetzt (Medcalf u. Stasinopoulos 2005). Daneben moduliert PAI-1 die Assoziation von uPAR mit Integrinen und beeinflusst so Tumorzellmigration. PAI-2 liegt auch als zytosolisches Protein vor, was die Annahme unterstützt, dass PAI-2 vornehmlich weitere, von der uPA-Inhibition unabhängige Funktionen im Kontext von Apoptose, Proliferation und Differenzierung erfüllt (Medcalf u. Stasinopoulos 2005). Auch TATI (»tumor-associated trypsin inhibitor«) besitzt invasionsinhibierendes Potenzial. In vitro inhibiert TATI die Degradation der EZM durch TAT-2. Die Bestimmung von TATI im Serum wird als Marker für Tumorprogression gewertet (Stenman 2002). Tumorzellmigration, Zytokine und Chemokine Zell-Substrat-Interaktionen tragen wesentlich zur Kontrolle von Zellproliferation und Differenzierung bei. Diese Funktion der EZM wird hauptsächlich über an die Matrix gebundene Wachstumsfaktoren und Enzyme reguliert, wobei die Bindung an Makromoleküle der EZM als stabilisierender und schützender Faktor für die biologisch aktiven Substanzen dient. Neoplastische Zellen brauchen in besonderer Weise eine geeignete perizelluläre Umgebung zur Neuformierung von Stroma und Blutgefäßen, die eine essenzielle Voraussetzung für das Wachstum des Tumors darstellen (Kim 2005). bFGF (»basic fibroblast growth factor«) ist einer der wichtigsten Faktoren für Stromabildung und Angiogenese. bFGF wird in vielen Normalgeweben gefunden. Es liegt an Heparansulfat gebunden vor und wird nur dann in aktiver Form freigesetzt wird, wenn Heparansulfat durch zelluläre Heparanase degradiert wird, sodass Tumorwachstum und Angiogenese über die limitierte Verfügbarkeit von bFGF durch die Bindung an die EZM und die lokale Regulation der Freisetzung reguliert werden. An die EZM gebundenes bFGF kann auch durch Plasmin freigesetzt werden, das mit Heparansulfatproteoglykan einen nicht kovalenten Kom-
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Kapitel 15 · Zellinvasion und Metastasierung
plex bildet. Dieser Komplex stimuliert die Produktion von PA durch Stromazellen, wobei das sezernierte Enzym im Sinne eines autokatalytischen Prozesses zur weiteren Freisetzung von bFGF beiträgt. Da das als Komplex freigesetzte bFGF nicht mehr an die EZM binden kann, die Bindung an den Rezeptor aber unbeeinträchtigt erscheint, ist die Diffusion des Komplexes durch das Stroma zur Zielzelle erleichtert, sodass diese Form von bFGF eine konstante Quelle eines lokal verfügbaren angiogenen Faktors darstellt (Presta et al. 2005). Weitere Wachstumsfaktoren, die an Heparansulfatproteoglykane der EZM anlagern, sind GM-CSF (»granulocyte/monocyte colony-stimulating factor«) und IL-3 (Interleukin 3; Kim 2005) und verschiedene Formen von TGFβ, die an Chondroitinsulfat und Heparansulfat binden (Dibrov et al. 2006). Auf die Bedeutung einer großen Zahl weiterer Zytokine und Wachstumsfaktoren wurde bereits im Kontext der epithelialmesenchymalen Transformation hingewiesen.
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Tumorzellmigration und das Zytoskelett Tumorzellmigration ist ein kritischer Schritt der Metastasierung. Die Art der Migration metastasierender Tumorzellen unterscheidet sich nach Typ und Differenzierung der Tumorzelle. Die Reorganisation des Aktinzytoskeletts ist für die Migration metastasierender Tumorzellen von zentraler Bedeutung (Yamazaki et al. 2005) und wird über die Dynamik der Regulatoren des Zytoskeletts, insbesondere die Familie der RHO-GTPasen reguliert (Sherr u. McCormick 2002). Zellmigration wird über Signale von Membranrezeptoren wie Integrinen, Wachstumsfaktorrezeptoren und G-Protein-gekoppelte Rezeptoren eingeleitet, die in der Modulation der RHO-GTPasen konvergieren (Burridge u. Wennerberg 2004). RHO, RAC und CDC42 ihrerseits kontrollieren die erforderliche Zytoskelettreorganisation: Polarisierung, neue Adhäsionspots an der Migrationsfront, Translokation des Zellkörpers, Retraktion und Lösung der Zelladhäsion am rückwärtigen Teil der Zelle. RHOA unterstützt die Ausbildung von Stressfasern und fokalen Adhäsionspunkten über die Rekrutierung von Diaphonus und RHO-Kinase (ROCK) 1 und 2. RAC1 unterstützt die Extension der Lamellipodien an der Migrationsfront über kontraktile Aktin-Myosin Filamente, formiert neue Kontaktpunkte und löst alte Kontaktpunkte sowie Stressfasern. Das bedeutet, dass RHO und RAC als aufeinander abgestimmte Antagonisten agieren (Besson 2004). Die RAC/CDC42-induzierte Reorganisation des Zytoskeletts wird über die Polymerisierung von monomerem Aktin über den ARP2/3-Komplex eingeleitet. Der ARP2/3 Komplex setzt sich aus sieben Proteinen zusammen. WASP-Proteine spielen eine zentrale Rolle, indem sie CDC42/RAC-abhängige Signale weiterleiten, die die Aktivierung des ARP2/3-Komplexes initiieren und zur De-novo-Aktinpolymerisierung beitragen (Miki u. Takenawa 2003). Untersuchungen in 3-dimensionalen Matrizes haben darüber hinaus gezeigt, dass die metastasierende Tumorzelle zwei Arten der Migration einsetzt, mesenchymale oder amöboide. Die mesenchymale ist integrinabhängig, es kommt zur beschriebenen Ausbildung eines elongierten Phänotyps, zur Anhaftung der Migrationsfront an die Matrix und zur perizellulären Proteolyse (Wolf et al. 2003). Die amöboide Tumorzellmigration ist integrinunabhängig. Die Zelle bewegt sich durch Verformung durch die EZM, ohne sie abzubauen (Lambrechts et al. 2004). Tumorzellen können zwischen diesen beiden Migrationstypen wechseln, z. B. wenn Proteaseinhibitoren den Abbau der Matrix unterbinden (Wolf et al. 2003).
Organeinbettung der metastasierenden Tumorzelle, Chemokine und Chemokinrezeptoren Es wird seit Langem postuliert, dass die Organspezifität der Metastasierung sich durch ein speziell geeignetes Environment, entsprechend der »Seed-and-Soil-Theorie« in bestimmten Organen erklären lässt (Fidler 2001). Diese Hypothese konnte vielfach bestätigt werden. Hinzu kommt, dass auch das Expressionsprofil der Tumorzelle erheblich zur Organpräferenz bei der Metastasierung beiträgt. So konnten Minn et al. (2005) in eleganten Studien zeigen, dass Subpopulationen eines Tumors unterschiedliche Pattern an metastasierungsassoziierten Genen exprimieren und dass den einzelnen Expressionsprofilen eine präferenzielle Metastasierung in bestimmte Organe, z. B. Knochen, Nebenniere oder andere, zugewiesen werden kann. In Weiterführung dieser Untersuchungen gelang es den Autoren speziell einen Satz an Genen zu identifizieren, der für die Metastasierung von Mammakarzinomen in die Lunge zumindest mitverantwortlich erscheint (Minn et al. 2005). Neben den Wachstumsfaktoren spielen hierbei Chemokine und ihre Rezeptoren eine wesentliche Rolle (Tanaka et al. 2005; Zlotnik 2004). Chemokine sind kleinmolekulare, chemotaktische Zytokine, die an G-Protein-gekoppelte 7-Transmembranrezeptoren binden (Zlotnik u. Yoshie 2000). Durch die Bindung an den Rezeptor wird dessen Tertiärstruktur verändert mit der Konsequenz der Bindung und Aktivierung heterotrimerer G-Proteine und der Stimulation einer ganzen Reihe von Signaltransduktionskaskaden, die Phospholipase Cβ, PI3K und verschiedene SRC-Kinasen involvieren (Tanaka et al. 2005). Einige Chemokine dienen als gewebsspezifische Anziehungskraft für metastasierenden Tumorzellen und einige, aber nicht alle Tumoren exprimieren Chemokinrezeptoren. Das Konzept, dass spezielle Chemokin-ChemokinrezeptorPaare die Organspezifität von Metastasen unterstützen können, wurde zuerst bei Mammakarzinomen beobachtet, die CXCR4 hoch exprimieren und, entsprechend der Lokalisation des Liganden, CXCL12/SDF-1a, speziell in Lymphknoten, Knochenmark und Lunge metastasieren. Hohe Expression von CXCR4 wird auf vielen Karzinomen beobachtet und gilt derzeit als der für organspezifische Metastasierung wesentlichste Chemokinrezeptor (Balkwill 2004; Kucia et al. 2005). Die Expression von CCR7, des Rezeptors für CCL19/ELC und CCL21/SLC, die in Lymphknoten exprimiert werden, korreliert ebenfalls mit lymphatischer Metastasierung und schlechter Prognose (Ding et al. 2003). Weitere für die Metastasierung wichtige Chemokin-ChemokinrezeptorPaare sind CCR10‒CCL27/CTACK (Melanome), CCR4‒CCL17/ TARC (T-Zellleukämien), CCR3‒CCL11/Eotaxin (kutane Lymphome) (Kleinhans et al. 2003). Wichtig ist hierbei, dass die Chemokine entweder an Proteoglykane oder weitere Proteine der EZM gebunden vorliegen, also nicht frei diffundieren (Rot u. von Andrian 2004). Hinzukommt, dass über Chemokin- oder Chemokin-Chemokinrezeptor-initiierte Signaltransduktion Expression von Integrinen, L-Selektin und weiteren Adhäsionsmolekülen in Gang gesetzt wird. Dies kann entweder die Adhäsion der metastasierenden Tumorzelle im fremden Gewebe erleichtern oder die Motilität der Tumorzelle unterstützen (Rolli et al. 2003). Letztlich sei erwähnt, dass für eine ganze Reihe von Chemokinen eine Zytokin-Protease-Chemokin-Achse beschrieben wurde, in dem Sinne, dass die Sekretion eines Zytokins zur Aktivierung von Proteasen beiträgt, die ihrerseits ein Chemokin prozessieren. Dies kann, in Abhängigkeit von der Protease und dem Chemokin zu dessen Aktivierung oder zum Verlust der Bindung beitragen
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(Van Damme et al. 2004). Eine weitere wesentliche Funktion kommt den Chemokinen bei der Rekrutierung des Tumorstromas zu, wobei das komplexe Netzwerk aus vom Tumor, dem Stroma und den infiltrierenden hämatopoetischen Zellen sezernierten Chemokinen erst in wenigen Tumoren analysiert wurde (Balkwill 2004). Osteopontin ist ein weiteres Chemokin, dessen Rolle bei der Metastasierung explizit nachgewiesen werden konnte. Osteopontin ist ein phosphoryliertes Glykoprotein mit einer RDG-Bindungsdomäne und einer Schnittstelle für Thrombin (Weber 2001). MMP-3 und -7 schneiden OPN und generieren zwei funktionell aktive Fragmente, die an αvβ5- und/oder β1-Integrine bzw. CD44 binden. OPN hat chemotaktische Eigenschaften. Über die Bindung von OPN an CD44-ERM-Proteine kommt es zur Reorganisation des Zytoskeletts und der Induktion eines mobilen Phänotyps (Rangaswami et al. 2006). Über die OPN-Bindung an Integrine wird die Transkription von uPA initiiert, sodass Chemokinaktivität, motiler Phänotyp und Matrixdegradierung zusammenwirken, um die Motilität der metastasierenden Tumorzelle zu steigern (Standal et al. 2004). Insbesondere bei Knochenmetastasen von Mamma- und Prostatakarzinomen ist die Expression von OPN signifikant erhöht (Weber 2001; Rangaswami et al. 2006). Für die Ausbildung von Knochenmetastasen ist eine weitere Zytokin-Zytokinrezeptor-Interaktion wichtig. RANK-Expression wird auf vielen epithelialen Tumoren und Melanomen beobachtet. Es bindet an RANKL und RANK-positive Tumorzellen werden durch RANKL zur Migration angeregt. Entsprechend konnte die Metastasierung von Tumorzellen durch eine Blockade von RANKL mittels Osteoprotegerin blockiert werden (Jones et al. 2006). Weitere, nicht familienzugehörige metastasierungsassoziierte Gene Metastasierung beruht auf einem unkontrollierten Zusammenspiel physiologischer Faktoren (Huber et al. 2005). Dies schließt nicht aus, dass Onkogene an Tumorprogression und Metastasierung beteiligt sind (Giehl 2005). Dies sei an einigen Beispielen aufgezeigt. RAS-Gene sind die am häufigsten mutierten Onkogene in humanen Karzinomen. Aktivierung von RAS nimmt Einfluss nicht nur auf Proliferation, sondern auch auf Invasivität und Metastasierung. Epitheliale Zellen brauchen in der Regel für EMT zwei Signale, z. B. eine Kooperation zwischen aktivem RAS und TGFβ. Darüber hinaus trägt K-RAS zusammen mit einem Defekt an INK4/ARF zur Tumorprogression bei (Tu u. Lin 2002; Giehl 2005). ERBB2/HER2 gehört zur Familie der EGFR und besitzt intrinsische Tyrosinkinaseaktivität. Überexpression von ERBB2 fördert Metastasierung, wobei die ERBB2-mediierte Hochregulation von MMP-2 and MMP-9 und von VEGF als ursächlich angesehen wird (Yu u. Hung 2000). Bei MTA1 (»metasasis-associated protein«), das bei Brustkarzinomen häufig hochreguliert ist, handelt es sich um eine Histonazetylase, die sich entsprechend einem GATA-ElementTranskriptionsfaktor verhält, sodass MTA1 multiple Funktionen in der Signaltransduktion, bei Chromosomremodellierung und bei Transkriptionsprozessen erfüllt. Drei MTA-Gene sind bekannt, die unter physiologischen Bedingungen Zellpolarität, Migration, Patterning und die Entwicklung der Vulva unterstützen. MTA sind Teil von Mi-2/NuRD Komplexen, Multiproteinkomplexen, die auch nukleosomabhängige ATPase Unterein-
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heiten enthalten, die für eine funktionelle Spezialisierung dieser Komplexe notwendig sind (Nicolson et al. 2003; Bowen et al. 2004). HMG-1(Y) (»high mobility group protein«) ist ein weiteres Molekül, das zu metastatischer Progression beitragen kann, da es in die Transkription einer ganzen Reihe von metastasierungsassoziierten Molekülen involviert ist. HMG-1 und HMG-Y sind basische Nicht-Histone, chromosomenbindende Proteine, die in differenzierten Zellen kaum exprimiert werden, aber in einer ganzen Reihe von Tumoren. HMG-1(Y) ist in die transkriptionelle Regulation mehrerer, einschließlich metastasierungsrelevanter Gene involviert, indem es DNA und Chromatinstrukturen erkennt und moduliert (Evans et al. 2004). S100A4 ist ein kleines kalziumbindendes Protein. Prognostische Signifikanz wurde bei der Metastasierung von Mamma-, Kolon-, Gallenblasen-, Blasen-, Ösophagus-, nicht kleinzelligem Lungenkarzinom, Medulloblastom, Pankreas- und Leberkarzinom beobachtet. S100A4 beeinflusst Motilität und Invasion vornehmlich über assoziierende Moleküle u. a. der Myosin-Schwerkette und p53 (Helfman et al. 2005). Proteine mit einer PDZ-Domäne sind Adaptorproteine, die in der Regulation von Wachstum, Entwicklung und Differenzierung eine essenzielle Rolle einnehmen, indem sie an der Plasmamembran als zentrale Organisatoren bei der Ausbildung von Proteinkomplexen agieren. MDA-9, auch als Syntenin bekannt, wurde über subtraktive Hybridisierung einer in terminale Differenzierung getriebenen Melanomlinie identifiziert. Syntenin interagiert mit Syndecan und weiteren Transmembranmolekülen. Knock-down-Untersuchungen haben gezeigt, dass Syntenin essenziell zur Motilität von Tumorzellen beiträgt. Ob dies direkt über die Assoziation mit Syndecan oder mit weiteren Assoziationspartnern erfolgt, ist noch nicht bekannt (Sarkar et al. 2004). 15.3.2 Suppressorgene der Metastasierung
Da Metastasierung einen vielstufigen Prozess darstellt, kann man die Hypothese aufstellen, dass die Ausschaltung eines einzigen Proteins, welches für einen individuellen Schritt in der Metastasierungskaskade erforderlich ist, ausreicht, um diese Kaskade zu unterbrechen (Berger et al. 2005). Auf der Basis dieser Annahme wurde der Begriff von Metastasierungsuppressorgenen kreiert, d. h., die Expression eines Metastasierungsuppressorgens wird von einer Reduktion der metastatischen Kapazität eines Tumor begleitet, ohne dass das Wachstum des Primärtumors verändert ist (Steeg 2004; Keller et al. 2005). Bisher wurden 12 Metastasierungsuppressorgene identifiziert: NM23, »differentiation related gene« (DRG-1), »SRC-suppressed C Kinase substrate« (SSECKS), »vitamin D3 up-regulated protein 1« (VDUP), »CRSP3 transcriptional coactivator«, »mitogen activated protein kinase kinase 4«, »RAF kinase inhibitor« (RKIP), RhoGDI2, BRMS1, KISS1, CLAUDIN-4 und KAI1 (Steeg 2004). Die Mehrzahl dieser Gene hat weder Einfluss auf die In-vitro-Proliferation von Tumorzellen noch auf das Tumorwachstum in vivo und beeinflusst weder Invasion noch Angiogenese. Auf der Suche nach den biochemischen Grundlagen der Metastasierung supprimierenden Aktivität dieser Moleküle haben sich bisher drei Merkmale herauskristallisiert: 1. Die meisten Metastasierung supprimierenden Moleküle agieren erst bei der Kolonialisierung des Zielorgans. Dies wurde u. a. für MKK4 und KISS1 gezeigt, wobei während des
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Kapitel 15 · Zellinvasion und Metastasierung
Metastasierungsprozesses die Transkription von Metastasensuppressorgenen abgeschaltet wird, aber in der Regel keine Mutationen vorliegen. 2. Häufig werden für die Metastasierung essenzielle Funktionsabläufe blockiert; so reguliert BRMS die Signaltransduktion in »gap junctions«, KISS1 kodiert für einen Vorläufer eines migrationsinhibierenden Zytokins. 3. Metastasensuppressorgene modulieren häufig Signaltransduktionswege, die von metastasierenden Tumorzellen genutzt werden: MKK4 und RKIP greifen in den MAP-KinasePathway ein; BRMSL interagiert mit HistondeazetylaseKomplexen; CRSP3 ist ein transkriptioneller Ko-Aktivator.
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Jedoch ist bisher das Funktionsprinzip keines der Metastasierungsuppressorgene hinlänglich bekannt (Steeg 2004). Es sei deshalb nur in Kürze der derzeitige Wissensstand für die bekanntesten Metastasensuppressorgene zusammengefasst. Für NM23 wird diskutiert, dass es Differenzierung fördert. NM23 ist eine Nukleosid-Diphosphat-Kinase, die an KSR (»kinase suppressor of RAS«) bindet und so die Aktivierung der MAPKinasen blockiert. Daneben werden eine Regulation GTP-bindender Proteine, DNA-assoziierte Aktivitäten und histidinabhängige Phosphotransferase Aktivität diskutiert. Es gibt auch Hinweise, dass NM23 die Adhäsion von Tumorzellen über eine Hochregulation von Integrinen unterstützt. Eine detaillierte Analyse zu Interaktionen von NM23 mit ICAP1, TIAM1 und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Expression von Integrinen und die Lokalisation in definierten Membranmikrokompartimenten findet sich in einem eleganten Übersichtsartikel von Fournier et al (2003). Es sei auch darauf hingewiesen, dass NM23 nicht in allen Tumoren Metastasierung inhibiert, vielmehr z. B. in Neuroblastomen Metastasierung fördert (Steeg 2004; Fournier et al. 2003). RKIP (»RAF kinase inhibitor protein«) gehört in die Familie der Phosphatidyläthanolamin bindenden Proteine. RKIP bindet RAF und blockiert so die Phosphorylierung von MEK. RKIP ist auch an der Regulation weiterer Signaltransduktionswege über G-Proteine und NF-κB beteiligt und ist in eine Vielzahl unterschiedlicher physiologischer Prozesse wie Membranbiosynthese, Spermatogenese, neuronale Entwicklung und Apoptose involviert. Erste Hinweise, dass RKIP-Metastasierung supprimierende Funktion erfüllt, wurden in einer Prostatakarzinomlinie erhoben, bei der sich die metastasierende Variante durch eine Reduktion der RKIP Expression auszeichnete. Hierzu gehört, dass eine Restaurierung von RKIP die Metastasierung inhibierte ohne Einfluss auf das Wachstum des Primärtumors zu nehmen (Keller et al. 2005). Auch für KISS1 bleibt der Mechanismus, über den es Metastasierung supprimiert, unklar, wenngleich die physiologische Aktivität weitgehend geklärt ist. Die Metastasierung supprimierende Eigenschaft wurde über Transfer von Chromosom 6 in eine humane Melanomlinie verifiziert. Bei unverändertem Tumorwachstum blieb die bei der Parentallinie beobachtete Metastasierung aus. Über subtraktive Hybrisierung und differenziellen Display, konnte KISS1 identifiziert werden. Die Metastasierung inhibierende Wirkung von KISS1 ist nicht auf maligne Melanome beschränkt. Auf der Suche nach Liganden für einen Orphan GProtein-gekoppelten Rezeptor wurde ein 54 Aminosäuren umfassendes Peptid identifiziert (Metastin oder KISS-Peptin-54). Dieses Peptid und sein G-Protein-gekoppelter Rezeptor haben weitere Klärung der Funktion ermöglicht. Der KISS1-Metasta-
tin-Rezeptor ist an die Gq-11G-Protein-Subfamilie gekoppelt und die Interaktion mit KISS1 führt zu erhöhter Ca++-Freisetzung. Überexpression von KISS1 ist mit der Aktivierung der MAP-Kinasen ERK1/2 verbunden. Daneben wurde eine modulierte Regulation von NF-κB beobachtet. Autokrine, parakrine und endokrine Funktionen werden diskutiert, sind aber noch nicht bewiesen (Harms et al. 2003). Das Tetraspanin KAI1/CD82 wurde 1994 als Metastasensuppressorgen in Prostatakarzinomen beschrieben (Rinker-Schaeffer et al. 1994). CD82 gehört in die Familie der vier Transmembranproteine, die als »molecular facilitators« bekannt sind, da sie ihre Aktivität vornehmlich über die Assoziation mit weiteren Transmembranproteinen und der Modulation der Aktivität der assoziierenden Proteine erfüllen (Hemler 2005). CD82 wird auf vielen Zellen und Geweben exprimiert, interagiert mit α4β1, anderen Tetraspaninen und weiteren Transmembranproteinen, die einen Komplex in glykolipidangereicherten Membranmikrodomänen bilden (Hemler 2005). Überexpression von CD82 geht mit erhöhter Motilität und reduzierter Zell-Zell- und Matrixadhäsion einher. Die molekularen Mechanismen sind nicht geklärt. CD82 assoziiert mit dem EGFR und attenuiert die Ausbildung von Lamellipodien sowie EGFR Dimerisierung und Internalisierung. CD82 supprimiert Motilität auch über die Einflussnahme auf die FAK-Lyn-p130CAS-CrkII-Kaskade, die die Organisation des Aktinzytoskeletts reguliert. Ein weiterer Bindungspartner von CD82 ist EW12, ein Mitglied der Immunglobulinsuperfamilie, das in die Inhibition von Zellmigration involviert ist und Kitenin, ein weiteres Tetraspanin, das Metastasierung fördert, wobei dieser Effekt durch die Assoziation mit CD82 gegenreguliert wird (Jackson et al. 2005). In jüngster Zeit wurde auch beschrieben, dass CD82 mit einem Protein auf Endothelzellen (DARC) interagiert. Diese Interaktion führt zu einer Inhibition der Tumorzellproliferation und deren Alterung sowie einer gesteigerten Metastasierungstendenz in DARC-Knock-outMäusen (Bandyopadhyay et al. 2006).
15.4
Nachweis der metastatischen Kapazität eines Tumors
Die Komplexität des Metastasierungsvorgangs einerseits und die zwingenden Hinweise, dass Metastasierung sich nicht in stabilen genetischen Veränderungen widerspiegelt, lassen es verständlich erscheinen, dass die Charakterisierung einer metastasierenden Tumorzelle noch immer bruchstückhaft erscheint und es dementsprechend auch den idealen Metastasierungsassay noch nicht gibt. 15.4.1 Screeningverfahren zur Identifizierung von
Metastasengenen und Metastasensuppressorgenen Wenngleich aufgrund der Reversibilität von EMT und der Rekrutierung von Stammzellprogrammen sowie der notwendigen Interaktion der Tumorzellen mit dem umgebenden Stroma genomische Screeningverfahren nicht mit dem gleichen Erfolg eingesetzt werden konnten wie bei der Suche nach Onkogenen, haben neuere Studien doch einige relevante Ergebnisse gezeigt. Darüber hinaus kann insbesondere im Bereich der Proteomics mit wertvollen Hinweisen für Diagnostik und Prognostik gerechnet wer-
323 15.4 · Nachweis der metastatischen Kapazität eines Tumors
den (Cai et al. 2004). DNS-Mikroarray-Studien haben gezeigt, dass Sätze von Genen mit guter bzw. schlechter Prognose korrelieren, wobei innerhalb einer Gesamt-Tumorpopulation hochmetastastische Varianten mit einer speziellen »Signatur« ausgemacht werden konnten. Diese Studien haben aber auch bestätigt, dass bei vielen Tumoren Metastasierung nicht über Gene und Messenger-RNA definiert werden kann, sondern vielmehr das funktionelle Zusammenspiel von Proteinen essenziell ist (Cai et al. 2004), wobei wir bei der Analyse des Proteoms zwischen Proteomics im Sinne von Profilerstellung und funktioneller Proteomanalyse unterscheiden (Choudhary u. Grant 2004; MacBeath 2002). Methodisch werden zurzeit insbesondere Proteinreinigung zusammen mit Massenspektrometrie und Proteinmikroarrays eingesetzt. Bei der Massenspektrometrie werden Elektrosprayionisierung (ESI) und »matrix-assisted laser desorption/ionization« (MALDI) vornehmlich eingesetzt, wobei MALDI in der Regel mit TOF (»time of flight mass analyzer«) kombiniert wird und ESI mit Ionentrapspektrometrie (MS/MS). Proteinmikroarrays sind affinitätsbasiert, wobei z. B. Antikörper, Nukleinsäuren, Lipide auf einen soliden Träger aufgetragen werden. SELDI-(»surface enhanced laser desorption ionization«-)ProteinChips sind eine spezielle Form einer Proteinplattform, die das Einfangen bestimmter Gruppen von Proteinen aufgrund spezifischer physikalischer und chemischer Eigenschaften erlaubt. Der Vorteil der Methode liegt in der Sensitivität bei der Analyse geringer Mengen nicht aufgereinigter Proteine und der Detektion von Molekülen mit weniger als 6 kDa. SELDI ist jedoch nicht geeignet um Proteine zu identifizieren (Rai u. Chan 2004). Alle diese Methoden werden erfolgreich eingesetzt und weitere Verbesserungen werden ausgearbeitet (Cai et al. 2004). Ansätze für aktivitätsbasierte Proteomanalysen (Liu et al. 1999) und Proteomanalysen unter Berücksichtigung posttranslationaler Modifikationen (Wulfkuhle et al. 2003) sind weitere Tools, bei denen erst wenige Varianten der Basismethodik erprobt wurden. 15.4.2 Funktionelle Erfassung der metastatischen
Kapazität eines Tumors Essenziell für den Nachweis der metastatischen Kapazität eines Tumors sind Funktionsanalysen. Wenn man der natürlichen Abfolge der Ereignisse folgt, bieten sich einige In-vitro-Testsysteme an, mittels derer einzelne Schritte der Metastasierungskaskade nachvollzogen werden können. Invasivität kann durch die Überlagerung eines Zellrasens (Monolayerinvasionstest) und durch den Hühnerherztest, bei dem Tumorzellen auf Schnitte von Hühnerherzgewebe aufgebracht werden, untersucht werden. Motilität, gerichtete Migration und Migrationsstopp können mithilfe von Gelen aus extrazellulärer Matrix, Polykarbonatfiltern und an gefrorenen Gewebeproben überprüft werden (Yamaguchi et al. 2005). Den verlässlichsten Nachweis der Invasivität einer Tumorzelle erbringen geeignete Tiermodelle, wobei zwischen zwei Modellsystemen unterschieden wird: dem sog. natürlichen, bei dem die
15
Tumorzelle orthotopisch oder ektopisch in einen Gewebsverband transplantiert wird und dem artifiziellen, bei dem die Tumorzelle intravenös appliziert wird. Das letztgenannte System erlaubt keine Beantwortung der Fragen zu den einleitenden Schritten der Metastasierung. Als Kontrolle dienen bei den In-vivo-Metastasierungsassays die Injektion nicht metastasierender Tumorzellen, die mit einem potenziellen Metastasengen transfiziert wurden bzw. metastasierende Tumorzellen mit einer definierten Deletion metastasierungsassoziierter Proteine (»Knock-down«). Eine weitere wesentliche Verbesserung stellen Knock-in-Knock-out-Modelle dar, bei denen das potenzielle metastasierungsassoziierte Gen selektiv an- bzw. abgeschaltet werden kann. Letztlich, und speziell im Hinblick auf die Bedeutung der Stromareaktion auf die metastasierende Tumorzellen, erweitert auch die genetische Modulation des Wirttieres (transgene Tiere, Tiere mit targetierter Deletion) das Spektrum der Evaluierung der notwendigen Voraussetzungen für den Prozess der Metastasierung. So konnte nachgewiesen werden, dass bei targetierter Expression von K-RAS in Pankreas-Progenitorzellen der Maus, alle drei Stadien er Pankreaskarzinomentwicklung nachvollzogen werden (Hingorani et al. 2003). In einem Hautkarzinogenesemodell mit Expression des humanen Papillomavirus Typ 16 in basalen Keratinozyten entwickelten sich invasive Karzinome mit einem extensiven Remodelling der extrazellulären Matrix bereits in frühen Stadien der Tumorprogression, das von hoher MMP9-Expression begleitet war. HPV16-Mäuse mit einer targetierten Deletion von MMP9 zeigen erst spät hyperplastische und dysplastische Hautläsionen und eine reduzierte Inzidenz an Malignomen (Coussens et al. 2000). MMP9 wird vornehmlich vom Tumorstroma bereitgestellt. Dem entspricht, dass eine Rekonstitution der MMP9-/-HPV16-Mäuse mit Knochenmark von MMP9Wildtyp-Mäusen den invasiven Phänotyp wiederherstellt, was nachhaltig den Beitrag inflammatorischer Zellen zur Tumorprogression belegt. Weitere neue Ansätze genetisch manipulierter Mäuse zur Verbesserung der Aufklärung des Metastasierungsprozesses (Herzig u. Christofori 2002; Green u. Hudson 2005) betreffen die sog. »Hit-and-run«-Strategie, die auf spontanen Rekombinationen zur Aktivierung eines mutierten Allels eines Onkogens, das über die konventionelle ES-Technologie an den authentischen Genlokus integriert wurde, basiert (Johnson et al. 2001). Die Kombination dieser »Hit-and-run«-Strategie mit konventionellen transgenen und Knock-out-Modellen wird die Nachahmung eines weiten Spektrums humaner Tumoren erlauben. Eine Alternative hierzu stellen multiple genetische Veränderungen dar, die über virale Gene eingeführt werden, wobei ein Zellmembranrezeptor für ein Virus unter der Kontrolle eines zelltypspezifischen Promotors in transgenen Mäusen exprimiert wird (Fisher et al. 2001). Ein Modell zu chromosomalem Rearrangement kann über eine Kombination der Technik der Targetierung in ES-Zellen mit Cre-LoxP-Rekombination geschaffen werden (Mills u. Bradley 2001). In Anbetracht dieser methodischen Möglichkeiten sollten in absehbarer Zeit realistische bzw. ideale Metastasierungsmodelle zur Verfügung stehen.
324
Kapitel 15 · Zellinvasion und Metastasierung
Zusammenfassung Metastasierung ist die Absiedlung vom Primärtumor disseminierter Tumorzellen in einem fremden Organ. Da die Ausbildung von Metastasen bei vielen Malignomen den Grenzstein kurativer Therapie setzt, ist die Entschlüsselung dieses komplexen Prozesses ein klinisch vorrangiges Ziel. Wesentlich zur Erreichung dieses Ziels haben und werden folgende Erkenntnisse beitragen: Metastasierung ist nicht die Folge von Mutationen und Selektionen, sondern basiert auf der reversiblen Übernahme von Programmen, wie sie embryonale und adulte Stammzellen in der Ontogenese und beim Gewebsrepair durchlaufen. Eines dieser Programme stellt die epithelial-mesenchymale Transformation und ihre Reversion bei der Absiedlung der Tumorzelle vom Primärtumor dar. Ein wichtiges Element bei biologischen Programmabläufen sind sog. Master-Regulatorgene. In der Regel handelt es sich um Transkriptionsfaktoren. TWIST ist eines der für die Metastasierung wesentlichen Masterregulatorgene. Darüber hinaus spielen epigenetische Veränderungen speziell der Methylierung bestimmter Gene eine maßgebliche Rolle. Die metastasierende Tumorzelle kreiert ein Mikroökosystem, das das umgebende Stroma und Wirtszellen einbezieht.
Beide Elemente sind »metastasenspezifisch« und tragen aktiv zum Metastasierungsprozess bei. Funktionell unterscheidet man zwischen sog. Metastasenund Metastasensuppressorgenen. In beiden Fällen handelt es sich um nicht mutierte Gene, die aber im Kontext der vorgegebenen Transformation der Tumorzelle und einem definierten Mikromilieu Metastasierung fördern oder unterdrücken. Wichtige metastasierungsfördernde Elemente sind Adhäsionsmoleküle, matrixdegradierende Enzyme, Zytokine und Chemokine. Eine entsprechende Klassenzuordnung ist bei den bisher bekannten Metastasierung supprimierenden Molekülen noch nicht möglich. Profilerstellungen der metastasierenden Tumorzelle auf DNS- und Proteinebene haben in den letzten Jahren die Kenntnis der beteiligten Elemente wesentlich erweitert und weitere technische Verbesserungen werden dies vermutlich in den nächsten Jahren zum Abschluss bringen. Funktionell kann davon ausgegangen werden, dass mittels genetisch manipulierter Tiere in absehbarer Zeit Metastasierungsmodelle zur Verfügung stehen, die die Entschlüsselung des Metastasierungsprozesses erlauben und damit eine Handhabe für therapeutische Konzepte liefern.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
15
16
16 Tumorimmunologie C. Renner, A. Zippelius, G. Riethmüller, A. Knuth
16.1
Grundbegriffe der Tumorimmunologie
16.2
Funktioneller Aufbau des Immunsystems
16.3
Identifizierung und Charakterisierung von Tumorantigenen – 332
16.4
Immuntherapie – 335
16.5
Perspektiven
– 344
Literatur – 345
– 326 – 326
326
Kapitel 16 · Tumorimmunologie
> Einleitung
16.1
Bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts entwickelte Paul Ehrlich als erster die Hypothese, dass eine Immunüberwachung – sehr viel später von MacFarlane Burnett als »immune surveillance« bezeichnet – eine Tumorentstehung verhindern oder bestehende Tumoren bekämpfen kann (Burnet 1970). Nach dieser Theorie ist das Immunsystem darauf ausgerichtet, Tumorgewebe zu erkennen und abzustoßen. Bis vor kurzem war die Existenz einer Immunüberwachung umstritten, obwohl schon seit längerer Zeit eine Häufung lymphatischer Tumoren bei einer angeborenen oder erworbenen Immundefizienz bekannt war. Eine erhöhte Inzidenz von soliden, spontan entstehenden Tumoren konnte durch die Herstellung von genau definierten immundefizienten Mäusen, wie z. B. komplett T- und B-Zelldefizienten Mäusen oder auch Mäusen mit Defekten im Interferon-γ-Signaltransduktionsweg gezeigt werden (Dunn et al. 2005). Diese Experimente weisen eindrücklich auf eine wechselseitige Beziehung zwischen Immunsystem und Tumor hin und belegen die Thesen von Ehrlich und Burnett als wissenschaftliche Grundlage der Tumorimmunologie.
Grundbegriffe der Tumorimmunologie
Zum besseren Verständnis des Kapitels sei hier eine kurze einleitende Übersicht über die allgemeine Funktion des Immunsystems, die Mechanismen der Antigenpräsentation und die Effektormechanismen des Immunsystems gegeben. Das Immunsystem hat sich zu einem komplexen System entwickelt, um potenzielle Gefahren für den Organismus abzuwehren. Viren, Bakterien und parasitäre Organismen müssen kontinuierlich eliminiert werden. Die Komponenten der Abwehr können in ein unspezifisches, angeborenes (»innate immunity«) und ein spezifisches, erworbenes Immunsystem (»acquired immunity«) eingeteilt werden. Das erworbene Immunsystem muss den Unterschied zwischen »Selbst« und »Nicht-Selbst« lernen, während das angeborene Immunsystem vorwiegend »Nicht-Selbst« erkennt. Eine enge Interaktion zwischen diesen Komponenten stellt eine effektive Immunabwehr sicher. In den letzten Jahren wird das Erkennen und Abwehren von »Gefahrsignalen« als ein Mechanismus der Immunabwehr diskutiert (Fuchs u. Matzinger 1996; Matzinger 1994; Gallucci u. Matzinger 2001). Wahrscheinlich spielen beide Mechanismen eine wichtige Rolle (. Tab. 16.1).
16 16.1.1 Immune Surveillance und Editing als zentrale
Bestandteile des Immunsystems Detaillierte Studien über die Funktion von IFN-γ (Dighe et al. 1994; Kaplan et al. 1998; Street et al. 2002) und Perforin (van den Broek et al. 1996; Smyth et al. 2000) in Mäusen haben gezeigt, dass ein Mangel an diesen immunologischen Effektormolekülen . Tab. 16.1. Erkennungsprinzipien des Immunsystems
Gefahr
Nicht-Gefahr
Nicht-Selbst
Selbst
Bakterien Viren Pilze Parasiten
Tumorzellen
Fötus Darmflora Transplantate Allergie
Autoimmunität
die Wirtsanfälligkeit für chemisch induzierte als auch spontan entstehende Tumoren erhöht. Damit war zum ersten Mal der Begriff der »tumor immune surveillance« bzw. Immunüberwachung von Tumoren experimentell belegt. In den letzten Jahren konnte zudem die Existenz der Immunüberwachung auch für den Menschen gezeigt werden. (Dunn et al. 2002, 2004a). So lautet heutzutage die Frage nicht »ob«, sondern »wie« die Immunüberwachung als extrinsischer Tumorsuppressor funktioniert und den immunkompetenten Organismus vor der Entstehung maligner Erkrankungen schützt. Arbeiten der letzten Jahre legen nahe, dass die Immunüberwachung nur einen Bestandteil in der sehr komplexen Interaktion zwischen Immunsystem und Tumorzelle darstellt (Dunn et al. 2002, 2004a). Die Hypothese des »immune editing« teilt die Tumorentwicklung in drei Phasen ein und beschreibt die wirtsprotektive als auch tumorgestalterische Eigenschaft des Immunsystems (Dunn et al. 2002, 2004a). Die drei Phasen der Tumorentstehung sind die Elimination, das Äquilibrium, und das Entweichen (im Englischen auch als drei »E« beschrieben: »elimination«, »equilibrium«, »escape«; Dunn et al. 2004b). Die Elimination stellt das klassische Konzept der Krebs-Immunüberwachung dar, d. h. die Zerstörung von Tumorzellen durch das Immunsystem. Darauf folgt die mit Äquilibrium beschriebene immunologische Latenzphase, in der schwach immunogene Tumorzellklone nur zum Teil der Kontrolle des Immunsystems unterliegen und damit überleben können (Shankaran et al. 2001). In der Phase des Entweichens entzieht sich ein Tumorzellklon letztendlich vollständig der immunologischen Kontrolle und wird exponentiell wachsen und den Wirtsorganismus zerstören. So fördert das Immunsystem die Entstehung von Tumoren mit geringer Immunogenität, die der immunologischen Erkennung und damit auch Zerstörung entgehen können (Shankaran et al. 2001).
16.2
Funktioneller Aufbau des Immunsystems
Die Struktur des Immunsystems ist facettenreich: Es lässt sich nicht in klar voneinander abgegrenzte Raster einordnen, vielmehr weist es multiple Quervernetzungen zwischen den einzelnen Komponenten auf. Für eine effektive Immunreaktion gegen Krebszellen ist ein Zusammenspiel zwischen dem angeborenen Immunsystem und dem erworbenen Immunsystem notwendig
327 16.2 · Funktioneller Aufbau des Immunsystems
. Tab. 16.2. Elemente des Immunsystems Unspezifisch
Spezifisch
Humoral
Zytokine Komplementsystem
Antikörper
Zellulär
Granulozyten Monozyten NK-Zellen
T-Zellen B-Zellen
16
nulozyten und Makrophagen phagozytiert oder von NK-Zellen lysiert. Unspezifische lösliche Faktoren des Immunsystems wie antibakteriell wirkende Substanzen, Komplementfaktoren und Zytokine lysieren und opsonisieren Erreger und aktivieren den spezifischen Teil des Immunsystems. Parallel werden T-Lymphozyten von professionellen APC, vor allem den dendritischen Zellen (DC), prozessierte Peptide des Erregers präsentiert. B-Zellen erkennen hingegen unprozessierte Fremdmoleküle (. Tab. 16.3). In diesem Abschnitt wird auf die wichtigsten zellulären Komponenten der Immunantwort gegen maligne Tumoren eingegangen.
(Rossi u. Young 2005) (. Tab. 16.2), so braucht es u. a. die Interaktion zwischen Antigen präsentierenden Zellen (APC), Antikörper produzierenden B-Lymphozyten sowie zytotoxische und Helfer-T-Lymphozyten (Friedl et al. 2005). Diese Komponenten können die Grundlage für eine immuntherapeutische Strategie gegen Tumorzellen darstellen. Während der Entartung von Zellen und der Entwicklung von Tumoren und Metastasen kann es zu verschiedenen Interaktionen mit dem Immunsystem kommen (. Abb. 16.1). Unterschiedliche tumorassoziierte bzw. tumorspezifische Antigene werden exprimiert, andere Moleküle wiederum werden herunterreguliert, was zu einer immunologischen Erkennung von Tumoren führen kann. Die erworbene Immunabwehr muss wie erwähnt im Gegensatz zur angeborenen erst geprägt werden. Beim ersten Kontakt mit Erregern oder Fremdmolekülen werden diese zuerst von Gra-
Das erworbene Immunsystem hat die Fähigkeit, sich an einen Kontakt mit einem Krankheitserreger bzw. Fremdkörper für viele Jahre, manchmal sogar lebenslang zu erinnern (Kaech et al. 2002). Diese fundamentale Eigenschaft des Immunsystems ist die Grundlage und Ziel jeglicher Impfung. Neuere Arbeiten schreiben DC eine kritische Rolle in diesem Prozess zu, indem sie direkt oder indirekt Krankheitserreger oder Impfstoffe aufspüren, diese Information integrieren, um dann die Quantität, Qualität und Dauer der erworbenen Immunantwort zu regulieren (. Abb. 16.2; Janeway u. Medzhitov 2002; Banchereau et al. 2000; Shortman u. Liu 2002). DC können bestimmte Erreger- oder auch Vakzinmuster
. Abb. 16.1. Überblick über die Möglichkeiten des Immunsystems, mit Tumorzellen zu interagieren (Dunn et al. 2004a). Auf dem Weg einer normalen Gewebezelle zur entarteten Tumorzelle bzw. zu Metastasen besitzt das Immunsystem sowohl mit seiner angeborenen, als auch mit seiner erworbenen Immunität Angriffspunkte zur Tumorbekämpfung. Die erworbene und dadurch spezifische Immunreaktion basiert auf B- und TLymphozyten, die mit ihren Effektormolekülen wie Antikörpern, Zytokinen oder zytotoxischen Rezeptoren Tumorzellen erkennen und ggf. eliminieren können. Dagegen beruht die angeborene Immunität auf der Aktivierung sog. unspezifischer Mechanismen wie der Ausschüttung von
inflammatorischen Faktoren oder Zytokinen. Wenngleich sich sowohl Mechanismen als auch Zellen der beiden Immunitätsformen unterscheiden, so beeinflussen die Tumorzellen ihrerseits z. B. durch die Produktion von Zytokinen die Regulation der Immunantwort. Diese gegenseitige Einflussnahme befindet sich ständig im Fluss und wird durch Veränderungen der Tumorzellen, die fast einer Evolution durch einen Selektionsdruck u. a. des Immunsystems gleichkommen, permanent angepasst werden. Die Frage nach einer effektiven und damit das Tumorwachstum stoppenden Immunantwort ist somit von vielen Faktoren abhängig und kann nicht generell beantwortet werden
16.2.1 Antigen präsentierende Zellen
328
Kapitel 16 · Tumorimmunologie
. Tab. 16.3. Zelluläres und humorales Immunsystems
16
Humoral
Zellulär
Zelle
B-Zelle
T-Zelle
Antigenrezeptor
Immunglobuline
T-Zell-Rezeptor
Natur der Antigene
Protein, Nukleinsäure, Polysaccharide u. a.
Proteine
Antigenerkennung
Nativ oder denaturiert; löslich oder zellgebunden; unabhängig von weiteren »Selbst-Molekülen«
Prozessierte Peptide; werden nur präsentiert von körpereigenen MHC-Molekülen erkannt
. Abb. 16.2. Schematische Darstellung der Interaktionen des Immunsystems mit Tumorzellen. Antigen präsentierende Zellen prozessieren aufgenommene Fremdproteine und präsentieren diese über MHC-I(»Cross-Präsentation«) als auch MHC-II-Moleküle den CD4+- bzw. CD8+-
T-Lymphozyten. Über die TCR-MHC-Interaktion zusammen mit akzessorischen Molekülen erfolgt die Aktivierung der T-Lymphozyten zu T-Helferzellen (CD4+) oder zytotoxischen T-Zellen (CD8+)
(»pathogen-associated molecular patterns«, PAMP) durch sog. »pathogen recognition receptors« (PRR) erkennen (Janeway u. Medzhitov 2002; Germain 2004; Takeda u. Akira 2003). Eine wichtige Familie von PRR sind Toll-like-Rezeptoren (TLR; Takeda u. Akira 2003), die auf verschiedenen Zellen des angeborenen Immunsystems, einschließlich DC, Makrophagen, Mastzellen, Neutrophilen, endothelialen Zellen und Fibroblasten exprimiert werden. TLR erkennen konservierte molekulare Muster, die auf Bakterien, Viren, Parasiten vorkommen. Entsprechend den spezifischen Erkennungsmustern exprimieren DC-Subpopulationen unterschiedliche TLR. So findet sich z. B. der Lipopolysaccharid(LPS-)bindende TLR4 in hoher Dichte auf den Oberflächenmembranen von myeloischen DC bzw. Monozyten (Beutler et al. 2004). Demgegenüber wird TLR9 im endosomalen Kompartment von plasmazytoiden DC (pDC) und von B-Zellen exprimiert und ist für die Erkennung von viraler, als auch bakterieller DNA entscheidend (Takeda u. Akira 2003). Eine Signalaktivierung über TLR auf Zellen des angeborenen Immunsystems stellt häufig den Auslöser für eine Aktivierung des erworbenen Immunsystems dar.
nisierten Mäusen belegt (Dunn et al 2004a). Hauptrepräsentanten der zellulären Immunantwort sind dabei CD4+- und CD8+T-Zell-Subpopulationen, wobei die zytotoxischen CD8+-(CTL-) T-Zellen als klassische Effektorzellen auftreten und tumorspezifische Peptide im Kontext von MHC-Klasse-I-Molekülen erkennen. Die Erkennung und Aktivierung von T-Zellen über spezifische T-Zell-Rezeptoren ist ein sehr komplexes Geschehen, das in . Abb. 16.2 schematisch dargestellt ist. Alle zytoplasmatischen Proteine, also auch Tumorantigene, werden durch das Proteasom – ein Komplex aus verschiedenen Proteasen – abgebaut. Die dadurch entstehenden Peptide von 8–15 Aminosäuren werden durch einen Transporter (TAP) ins endoplasmatische Retikulum (ER) befördert, wo sie mit den heranwachsenden MHC Klasse I und β2-Mikroglobulin Molekülen einen stabilen trimolekulären Komplex bilden. Dieser Komplex wird an die Zelloberfläche transportiert, wo er von spezifischen CD8+ T-Zellen erkannt werden kann. Diese Interaktion hat eine Aktivierung der T-Zellen zur Folge und resultiert in Perforin/Granzyme-mediierte Apoptose der Zellen, die das betreffende MHC Klasse I-Peptide Komplex tragen. Da nahezu jede kernhaltige Zelle MHC-I exprimiert, kann so im Prinzip jede Tumorzelle zerstört werden. Voraussetzung dafür ist die Expression eines spezifischen Peptids bei gleichzeitiger Präsenz spezifischer aktivierter CD8+-Zellen. Um eine effiziente zytotoxische CD8+-T-Zell-Antwort generieren zu können, müssen auch CD4+-T-Lymphozyten von professionellen APC aktiviert werden. MHC-I-Moleküle sind die Bindungspartner für CD4 und werden nur auf bestimmten Zellen des Immunsystems
16.2.2 Zelluläre Immunität
Die Bedeutung der T-Zell-vermittelten Immunität für die Tumorelimination ist heutzutage unbestritten und eindrücklich an der Abstoßung viraler oder chemisch induzierter Tumoren bei immu-
329 16.2 · Funktioneller Aufbau des Immunsystems
wie B-Zellen, Makrophagen, aktivierten T-Zellen und in sehr hoher Dichte auf DC exprimiert (Drozina et al. 2005). Typischerweise nehmen die genannten Zellen extrazelluläre Proteine mithilfe von Phagosomen auf, verschmelzen diese intrazellulär mit Lysosomen und zerlegen die Proteine in 10–15 Aminosäuren lange Peptide. Nach Beladung dieser Peptide auf MHC-II-Moleküle wird der MHC-II-Peptid-Komplex dann auf die Zelloberfläche transportiert. Für eine optimale Aktivierung von CD4+-TZellen reicht die Erkennung des MHC-II-Peptid-Komplexes alleine nicht aus. Es muss ein »zweites Signal« vorhanden sein. Dieses zweite Signal signalisiert »Gefahr« und kann durch lösliche Moleküle wie IL-2 (und andere Zytokine wie GM-CSF) oder zusätzliche zellgebundene Aktivierungsmoleküle auf APC, wie ICAM, LFA-3 oder Mitglieder der B7-Familie vermittelt werden (Allison u. Krummel 1995). Über die Rolle der CD4+-T-ZellSubpopulationen bei der Tumorantwort war lange Zeit relativ wenig bekannt. Bei verschiedenen humanen Tumoren ist auch das Auftreten MHC-Klasse-II-restringierter CD4+-T-Lymphozyten mit definierter Spezifität für bestimmte Tumorpeptide zu beobachten (Topalian et al. 1996). Studien der letzten Jahre haben aber auch eine CD4+-T-Zell-Subpopulation mit negativem Einfluss auf die Tumorabstoßung beschrieben (Schreiber 1999). Diese sog. regulatorischen T-Zellen werden im weiteren Verlauf näher beschrieben. Regulatorische T-Zellen In den letzten Jahren sind zunehmend Daten generiert worden, die eine Kontrolle der zellulären Immunität durch regulatorische T-Zellen nahelegen. Diese Zellen machen 6–10% aller peripheren CD4+-T-Zellen aus, wobei verschiedene und phänotypisch distinkte Populationen existieren. Die »klassischen« regulatorischen T-Zellen sind CD4+CD25+, exprimieren den Forkhead-Box-P3Transkriptionsfaktor (FOXP3+) und differenzieren im Thymus aus (Zou 2006; Sakaguchi 2005). Es wird spekuliert, dass regulatorische T-Zellen die Immunantwort durch selektive Migration und/oder Akkumulation bei Patienten mit Autoimmunerkrankungen, nach Organtransplantation, bei allergischen oder infektiösen Erkrankungen oder auch Tumoren modulieren (Wei et al. 2006). Die Migration wird durch Expression von Chemokinrezeptoren als auch Integrinen gesteuert. Am Beispiel des Ovarialkarzinoms zeigte sich eine deutlich verminderte Anzahl von regulatorischen T-Zellen in tumordrainierenden Lymphknoten im Vergleich zu Lymphknoten ohne Tumorbezug (Curiel et al. 2004). Da sich zudem eine vermehrte Anzahl von regulatorischen T-Zellen im Tumorgewebe findet, ist eine Wanderung dieser Population aus den Lymphknoten in den Tumor wahrscheinlich. Neben der Anreicherung im Tumorgewebe konnte auch eine erhöhte Anzahl regulatorischer T-Zellen im Blut von Patienten mit Mamma-, Gastrointestinalen und Bronchuskarzinomen, Lymphomen, Leukämien und Melanomen gefunden werden (Zou 2005). Zusammenfassend suggerieren die Daten eine Rekrutierung von regulatorischen T-Zellen in das Tumorgewebe und damit Blockade einer tumorspezifischen Immunantwort. Auffällig ist der zahlenmäßige Anstieg von regulatorischen CD4+-T-Zellen im Blut aber auch Tumorgewebe von Patienten nach IL-2-Applikation. Deshalb muss die Bedeutung von IL-2 in der Immuntherapie sehr kritisch gesehen werden, da zwar eine Expansion von T-Zellen nach IL-2Gabe zu verzeichnen ist, diese aber primär auf die Expansion einer regulatorischen CD4+-Lymphozyten-Subpopulation zurückgeht (Sereti et al. 2004). Regulatorische T-Zellen wurden inzwischen in verschiedenen Lymphozytensubpopulationen (CD8+-, CD4-
16
CD8--Thymozyten) beschrieben und sind nicht nur auf die CD4+T-Zell-Population beschränkt (Fischer et al. 2005). Natürliche Killerzellen Neben den MHC-restringierten T-Lymphozyten werden auch natürliche Killerzellen (NK-Zellen) und Lymphokin-aktivierte Killerzellen (LAK-Zellen) als Effektoren in der Tumorabwehr diskutiert. NK-Zellen stellen eine eigene Lymphozytensubpopulation dar und unterscheiden sich von T-Lymphozyten durch das Fehlen des T-Zell-Rezeptor-CD3-Komplexes. Im Gegensatz zu CTL lässt sich ihre zytotoxische Aktivität gegen bestimmte Tumorzellen ohne vorherige Antigenstimulation nachweisen (Basse et al. 2000). Tumorzellen mit verminderter Expression eines oder mehrerer MHC-Moleküle zeigen in murinen NK-Tumorsystemen eine effizientere Abstoßung als ihre stark MHC-positiven Parentallinien. Für Jahrzehnte ging die Immunologie von einem MHC-unabhängigen Mechanismus der Interaktion zwischen NK-Zellen und Tumorzellen aus. Mit der Entdeckung neuer Rezeptorfamilien auf NK-Zellen wandelte sich die Betrachtung der NK-Spezifität entscheidend: Die Interaktion dieser inhibitorischen Rezeptoren mit bestimmten MHC-Molekülen auf den Tumorzellen führt zu einer Hemmung der zytotoxischen Aktivität der NK-Zelle (Long 1999). Die mit diesen Rezeptoren assoziierte negative Signalkaskade dominiert über die aktivierenden Signale und bewirkt eine »Abschaltung« der NK-Zelle. Im menschlichen System gehören alle bekannten inhibitorischen Rezeptoren zur Immunglobulin- (KIR, »killer cell inhibitory receptor«) oder zur C-Typ-V-Lektin-Familie (CD94/NKG2; Long 1999; Moretta u. Moretta 1997). Bei der Maus sind bislang nur inhibitorische Rezeptoren aus der C-Typ-V-Lektinfamilie (Ly49, CD94/NKG2) identifiziert worden. Als Liganden für die menschlichen inhibitorischen Rezeptoren fungieren nicht nur die klassischen HLA-A-, -B-, bzw. -C-Moleküle, sondern auch die nichtklassischen HLA-G- und -E-Moleküle. Diese Rezeptoren reagieren wie molekulare Densitometer auf die Intensität der MHC-Expression: Unterschreiten Tumorzellen einen bestimmten Schwellenwert der MHC-Expression, so können sie von NK-Zellen ebenso lysiert werden, wie völlig MHC-Klasse-I-defiziente Zielzellen (Pende et al. 1998). Die Interaktion mit inhibitorischen Rezeptoren ist in diesen Situationen für eine Inaktivierung zu gering. Überschreitet die MHC-Klasse-I-Expression dagegen ein bestimmtes Niveau, erzielt die Interaktion der MHC-Moleküle mit inhibitorischen Rezeptoren eine effektive negative Singaltransduktion, die zur Inaktivierung der NK-Zelle führt (Long 1999; Moretta u. Moretta 1997). Neben den inhibitorischen Rezeptoren spielen auch aktivierende Rezeptoren, sog. »natural cytotoxicity receptors« (NCR, NKp46, NKp44 und NKp30) eine wichtige Rolle in der Regulation der NK-Aktivität. NCR sind in der NK-Zell vermittelten Lyse von Tumorzellen direkt involviert und ihre Expressionsdichte korreliert mit dem zytotoxischen NK-Zell-Potenzial. Die Liganden für NCR-Moleküle konnten bisher nicht molekular definiert werden, müssen aber aufgrund der in Zytotoxizitätstests erhobenen Daten auf Neuroblastom-, AML- und EBV+-Lymphomlinien exprimiert sein (Moretta u. Moretta 2004). Ferner gibt es präliminäre Daten für eine Interaktion von NKp46 mit Hämagglutinin nach Virusinfektion (Mandelboim et al. 2001). 16.2.3 B-Zellen
Auch wenn deren Rolle in der Tumorabwehr kontrovers diskutiert wird, so ist die Erkennung von Tumorzellen und insbeson-
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16
Kapitel 16 · Tumorimmunologie
. Abb. 16.3. Schematische Darstellung eines Antikörpermoleküls und seiner rekombinant hergestellten Derivate (Carter 2006). Rekombinante AK-Moleküle können bis auf eine Bindungsstelle in Form von sog. »Single-
domain«-Antikörpern reduziert, mit Toxinen direkt gekoppelt oder als bispezifische AK mit zwei verschiedenen Bindungsspezifitäten ausgestattet werden
dere ihrer Antigene durch das humorale Immunsystem mit konsekutiver Bildung von spezifischen Antikörpern (Ak) unbestritten. Durch den Einsatz molekularer Methoden konnte in den letzten Jahren bei einer Vielzahl von Tumorerkrankungen die Präsenz tumorspezifischer Antikörper im Blut betroffener Patienten nachgewiesen werden. Die SEREX-Methode (»serological analysis of recombinant tumor cDNA expression libraries with autologous serum«) bedient sich dieser Antikörper zur Identifizierung und Charakterisierung neuer Tumorantigene (s. unten). Der größte Anteil identifizierter Antigene weist eine zytoplasmatische Lokalisation mit Expression im Normalgewebe auf (Chen 2000). Allerdings sind auch Antikörper gegen Tumorantigene beschrieben worden, die charakteristisch für bestimmte Tumorarten sind, so z. B. Antikörper gegen Ganglioside beim malignen Melanom (Yamaguchi et al. 1987). Verfolgt man die Fülle an SEREX-definierten Antigenen, so scheint die Existenz einer humoralen Immunantwort bei nahezu allen untersuchten Tumorentitäten belegbar zu sein. Dazu im Gegensatz ist die Relevanz einer Antikörperantwort für den Krankheitsverlauf weiterhin unklar, da eine starke humorale Antitumorimmunantwort nicht mit einer messbaren Resistenz des Wirtes bei Tumorprogredienz korrelieren muss (Jager u. Knuth 2005). Für das Cancer-Testis-Anti-
gen NY-ESO-1 konnte jedoch eine Korrelation zwischen Antikörpertiter und Ausmaß der Tumorerkrankung gezeigt werden. Steigt die Tumorlast, so ist mit einem steigenden Antikörpertiter zu rechnen; bei Tumorremission tritt in der Regel auch ein Rückgang bzw. eine Normalisierung des Antikörpertiters auf. Auch ist die Präsenz einer humoralen Antikörperantwort ein verlässlicher Surrogatmarker für die Präsenz einer zellulären Immunantwort, da IgG-Produktion durch B-Zellen von einer CD4+ T-Zell-Antwort abhängt. Die Frequenz von spezifischen CD8+- als auch CD4+-T-Zellen korreliert eng mit dem Nachweis von NY-ESO-1spezifischen Antikörpern (Gnjatic et al. 2003; Jager et al. 2000b). Von funktioneller Seite her sind Antikörper die wichtigsten spezifischen humoralen Effektormoleküle des Immunsystems. Die immunologische Aktivität von Immunglobulinen (Ig) ist durch ihre besondere Struktur begründet. Man unterscheidet prinzipiell den antigenbindenden Anteil [F(ab)] und den konstanten Teil [Fc]. Der F(ab) ist aus hochvariablen Domänen (CDR) aufgebaut und für die spezifische Erkennung und Bindung des Zielantigens verantwortlich (. Abb. 16.3). Der Fc-Teil vermittelt die Effektorfunktionen durch Bindung des Ig-Moleküls an FcRezeptoren auf Effektorzellen, wie NK-Zellen oder Makrophagen (. Tab. 16.4). Eine weitere wichtige Funktion ist die Aktivierung
331 16.2 · Funktioneller Aufbau des Immunsystems
16
. Tab. 16.4. Charakteristika der humanen IgG-Fc-Rezeptoren (modifiziert nach Ravetch 1994) Rezeptor
Affinität für IgG
Spezifität für humanes IgG
Spezifität für Maus-IgG
ADCC-Aktivität
Positive Leukozyten
FcβRI CD64
hoch 108-109 M–1
3>1>4>>>2
2a=3>>>1,2b
+++
Monozyten 95%
FcβRII CD32
niedrig < 107 M–1
IIaHR: 3>1>>>2,4 IIaLR: 3>1=2>>>4 IIb1:3>1>4>>2
IIaHR: 2a=2b=1 IIaLR: 2a=2b>>>1 IIb1: 2a=2b>1
+
Monozyten Neutrophile Eosinophile B-Zellen Thrombozyten
FcβRIII CD16
mittel 1-3 x 107 M–1
1=3>>>2,4
3>2a>2b>>1
+
NK-Zellen 80% Monozyten 5% Neutrophile
des Komplementsystems. Bei Verwendung von speziesfremden Ig, also z. B. Maus-monoklonalen Antikörpern (MAK) im Menschen, sind die verschiedenen Funktionen und Bindungen sehr von den jeweiligen Isotypen und von der Speziesspezifität abhängig. Die Effektivität ist dabei z. T. deutlich beeinträchtigt, d. h. im Vergleich zum humanen Pendant ist die Wirkung eines Maus-Ig in der Regel deutlich verringert. Auf der anderen Seite kann z. B. Maus-IgG3 sehr gut humanes Komplement aktivieren und auch eine starke Bindung an Fc-Rezeptoren und damit gute ADCC (»antibody dependent cell cytotoxicity«) beim Menschen vermitteln (Ravetch 1994). Die antikörpervermittelte Zerstörung von Tumorzellen im soliden Verband als auch in der Blutzirkulation bei hämatologischen Erkrankungen beruht auf verschiedenen Mechanismen, die Komplementaktivierung als auch ADCC einschließen. Von diesen indirekten, d. h. über das Immunsystem vermittelten Wirkungsmechanismen der MAK unterscheidet man die direkte Antitumorwirkung, die vom MAK allein ausgeht. Dazu zählt z. B. die Induktion von Apoptose oder die Inhibition des Tumorwachstums durch Blockade von Wachstumsrezeptoren auf den Tumorzellen. Die Wertigkeit dieser einzelnen Komponenten in der effektiven Tumorzelllyse ist sehr variabel und zum Teil nur unvollständig bekannt. 16.2.4 Escape-Mechanismen
Um vom zellulären Teil des Immunsystems erkannt zu werden, müssen Peptide aus Tumorantigenen von MHC-Molekülen präsentiert werden. Dieser bereits in der Einleitung beschriebene mehrstufige Prozess der Zerlegung eines Proteins in Peptidbruchstücke durch Proteasomenverdau, Transport in das endoplasmatische Retikulum (ER), Assoziation mit MHC Molekülen, Transport zur Zelloberfläche und Präsentation als deren Bestandteil ist hochkomplex. Die Präsentation von Tumorpeptiden kann daher auf mehreren Ebenen verhindert werden (s. Übersicht), z. B. wenn die Peptidbeladungsmaschinerie durch den Verlust eines Peptidtransporters ineffizient arbeitet und das Tumorpeptid so nicht mehr vom entsprechenden MHC-Klasse-IProtein gebunden wird (Meidenbauer et al. 2004). Für einige Tumoren wie dem Melanom ist der Verlust eines MHC-Allels bis hin zu HLA-Klasse-I-negativen Tumorvarianten beschrieben (Garrido et al. 1997). In manchen Fällen beruht eine solche Veränderung auf dem Verlust beider Kopien des β2-Mikroglobulin-
gens (β2-M), was zur Folge hat, dass die MHC Klasse I-Peptid Komplexe instabil sind und nicht zur Oberfläche gelangen. Ein Selektionsdruck für sog. MHC-loss-Varianten kann im Rahmen einer Vakzintherapie durch die Induktion einer effizienten CTLAntwort entstehen, d. h. es überleben nur Klone, die sich so der T-Zell-Erkennung entziehen (Garrido et al. 1997; Ruiz-Cabello u. Garrido 1998). Ungeklärt ist dagegen zum heutigen Zeitpunkt, warum solche MHC-Verlustvarianten nicht durch NK-Zellen eliminiert werden können, da diese Effektorzellen MHC-negative Zielzellen erkennen sollten.
Immune-Escape-Mechanismen und Resistenzentwicklung 4 Verlust der Expression von: – Tumorantigenen (MAGE, Tyrosinase, gp100) – MHC-Molekülen (β2-m, HLA-A, B) – Proteasomenbestandteilen – Tumorsuppressorgenen – Apoptoserezeptoren 4 Induktion von: – Resistenzgenen gegen Chemotherapeutika – Zellzyklusgenen – Immunmodulatorischen Botenstoffen (Zytokinen, Chemokinen) – Angiogenese induzierenden Proteinen – Antiapoptotisch wirkenden Genen
Der Widerspruch zwischen dem Vorhandensein tumorspezifischer T-Lymphozyten im Tumor einerseits und ungehindertem Wachstum der Tumorzellen andererseits bietet aber auch die Grundlage für weitere Escape-Mechanismen: 1. T-Lymphozyten werden durch bestimmte vom Tumor produzierte Zytokine funktionell »neutralisiert«; 2. Tumorzellen verlieren die Expression von Tumorantigenen (Nestle et al. 1998); 3. die tumorinfiltrierenden Lymphozyten (TIL) sind selektiv durch den Tumor in ihren Effektorfunktionen beeinträchtigt (Zippelius et al. 2004); 4. Tumorzellen entwickeln Resistenzmechanismen gegen den zytotoxischen Angriff der TIL, z. B. durch Verlust der Rezeptoren oder wichtiger Signalmoleküle für den programmierten Zelltod (Apoptose; Igney et al. 2000; Krammer 2000).
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Kapitel 16 · Tumorimmunologie
16.3
Identifizierung und Charakterisierung von Tumorantigenen
Eine wesentliche Voraussetzung in der Entwicklung von Immuntherapien war die Identifizierung und Charakterisierung von Zielantigenen im Tumor (van der Bruggen et al. 2002). Tumorspezifische T-Zell-Linien, die in gemischten LymphozytenTumorzell-Kulturen, sog. MLTC, von zwei Melanompatienten (MZ2, SK29) etabliert werden konnten, haben Anfang der 90er Jahre die Grundlage für die Identifizierung der ersten Tumorantigene (z. B. MAGE-Genfamilie) mittels cDNA-Expressionsklonierung gelegt (van der Bruggen et al. 1991). Dazu wurden eukaryontische Expressionszellen, die mit einer cDNA-Bibliothek der autologen Tumorzelllinie transfiziert sind, auf Erkennung durch die T-Zellen überprüft. Die sequenzielle Testung der cDNA-Fragmente und anschließende Sequenzierung erlaubten die Definition des potenziellen Tumorantigens bzw. der peptidkodierenden Region. Einen entscheidenden Beitrag in der Erfassung neuer Tumorantigene lieferte die SEREX-Technologie, die Tumorantigene basierend auf einer spontanen humoralen Immunantwort kloniert (Sahin et al. 1997). Dazu wird aus Tumorgewebe eine rekombinante cDNA-Expressionsbibliothek generiert und auf Erkennung durch autologe IgG-Antikörper im Serum von Tumorpatienten untersucht. Die identifizierten Antigene werden einer sorgfältigen Expressionsanalyse unterzogen. Tumorantigene mit restringierter Expression sind grundsätzlich für Immuntherapiestrategien interessant und werden weiter bezüglich Immunogenität evaluiert. Mittels SEREX ist es somit möglich, auch Tumorsysteme zu untersuchen, die nicht oder nur sehr selten in Zellkulturen wachsen wie die meisten epithelialen Tumoren. Zudem kann mit dieser Technik auch die gegen intrazelluläre Antigene gerichtete humorale Immunität analysiert werden. Mittlerweile gibt es weit mehr als 1.000 mit SEREX neu identifizierte Antigene, wobei für einige dieser Antigene mittlerweile eine simultane spezifische humorale und zelluläre Antitumorimmunantwort gezeigt werden konnte. Weitere Verfahren zur Identifizierung von Tumorantigenen beruhen auf der Elution von MHC-Klasse-I-gebundenen Peptiden auf Tumorzellen, die nach Fraktionierung durch HPLC (»high performance liquid chromatography«) auf Erkennung durch tumorreaktive T-ZellKlone getestet und mittels Massenspektrometrie untersucht werden (Rammensee et al.1993). Mögliche Teilsequenzen von Peptiden werden durch Datenbankanalysen komplettiert und das für das Tumorantigen kodierende Gen ermittelt. Unter diesem biochemischen Ansatz fällt auch die sog. Mimotop-Methode, bei der synthetische, kombinatorische Peptidbibliotheken (d. h., eine bestimmte Aminosäure ist an einer Position fixiert, alle anderen werden frei kombiniert) ebenfalls auf Erkennung durch tumorreaktive T-Zell-Klone geprüft werden (Pinilla et al. 2001). Der Vergleich der erkannten Peptide mit Datenbanken erlaubt den Rückschluss auf das Tumorantigen. Schließlich basiert die Strategie der »reversen Immunologie« auf der Prädiktion von potenziellen MHC-Klasse-I-bindenden Sequenzen mittels Computeralgorithmen. Hierzu wird die Aminosäurensequenz nach Peptiden mit hoher Affinität zum gewünschten MHC-Klasse-IMolekül abgesucht, um potenzielle Epitope vorherzusagen. Somit ist nicht die patienteneigene T-Zelle oder Antikörper der Ausgangspunkt der Untersuchung, sondern das Antigen selbst. Interessante Targetantigene sind beispielsweise mit »DANN-MicroArray«-Techniken oder »Proteomics«-Analysen identifizierte Antigene, die im Tumor überexprimiert sind. Bei dieser Methode
ist es essenziell, dass T-Zell-Klone von Tumorpatienten, die mittels Stimulation mit den betreffenden Peptiden generiert wurden, auf Erkennung von Tumorzellen getestet werden. Nur so kann gezeigt werden, dass diese Peptide natürlich in der Tumorzelle prozessiert und auf der Oberfläche präsentiert werden, also Epitope darstellen. 16.3.1 Klassifikation von Tumorantigenen
Prinzipiell gibt es mehrere Möglichkeiten, Tumorantigene zu klassifizieren. Dabei unterscheidet man sowohl tumorassoziierte/tumorspezifische als auch patientenspezifische (»unique«) oder gruppenspezifische (»shared«) Tumorantigene. Die patientenspezifischen Antigene treten z. B. durch sporadische somatische Mutationen in der Tumorzelle auf und sind daher tumorspezifische Neoantigene. Diese entstehen durch sporadisch auftretende somatische Punktmutationen, Splicing-Aberrationen oder chromosomale Rearrangements (Preuss et al. 2002). Eine Impfung gegen diese Antigene würde nicht nur für jeden Patienten die genaue Charakterisierung der Mutation erfordern, sondern danach auch noch die Herstellung eines maßgeschneiderten Impfstoffes und ist somit kaum breit anwendbar. Jedoch könnten für Proteine mit identischen genetischen Aberrationen (z. B. RAS, BCR-ABL) eine Relevanz für spezifische Immuntherapieverfahren gegeben sein. Gruppenspezifische oder auch gemeinsame Tumorantigene werden nach Gewebsexpression, Genfunktion oder Entstehung in mehrere Untergruppen eingeteilt: I. »Cancer-Testis-«(CT-)Antigene. Sie werden physiologisch von Keimzellen des Testis (Spermatogonien, Spermatozyten) und der fötalen Ovarien sowie den Trophoblasten der Plazenta exprimiert /Simpson et al. 2005). Ihre »aberrante« Expression in Tumoren verschiedenster Herkunft wird als Aktivierung des stillgelegten »Keimzellprogrammes« in somatischen Zellen verstanden. Dies könnte ursächlich für die Tumorformation und -progression sein. Tatsächlich zeigen Keimzellen und Tumorzellen überlappende Merkmale der Zelldifferenzierung, wie Immortalisierung, Invasion, Induktion der Meiose und Migration. Somit sind Promotordemethylierungen, Angiogeneseinduktion und Niederregulation der MHC-Moleküle gemeinsame Eigenschaften beider Zelltypen. Mehr als 40 unterschiedliche CT-Antigen-Familien sind inzwischen identifiziert worden (Scanlan et al. 2004). Die kodierende Gensequenz ist bei »X-CT-Antigenen« auf dem XChromosom lokalisiert, während sie bei »Nicht-X-CT-Antigenen« an unterschiedlichen Stellen im Genom zu finden ist. In die Gruppe der CT-Antigene gehören die Antigene MAGE, BAGE, GAGE und NY-ESO-1. Ihre Expression in Tumorgeweben variiert je nach Histologie. Generell exprimieren Melanome, Blasen-, Bronchus- und hepatozelluläre Karzinome häufig CTAntigene, während ihre Expression bei Leukämien, Lymphomen, Nierenzell-, Kolon-, und Magenkarzinomen weitaus seltener ist. In der Regel sind CT-Antigene koexprimiert, sodass ein bestimmter Tumor, der ein CT-Antigen exprimiert, meist für mehrere positiv ist. Die Expression vieler CT-Antigene lässt sich mit der Zunahme des Tumorstadiums und dem Grad der Entdifferenzierung des Tumors korrelieren. Das Antigen NY-ESO-1 zeigt eine hohe Expression auf verschiedenen Tumoren, wie z. B. Melanom (35%), Mamma- (30%), Prostata- (25%) und Ovarialkarzinom (25%) und scheint gegenwärtig dasjenige CT-Antigen mit
333 16.3 · Identifizierung und Charakterisierung von Tumorantigenen
der höchsten Immunogenität zu sein. Viele Patienten mit vor allem fortgeschrittenen Tumoren zeigen kombinierte humorale und T-Zell-vermittelte (sog. integrierte) Immunantworten gegen NY-ESO-1; die zellulären Antworten umfassen dabei die Präsenz von spezifischen zytotoxischen CD8+- und Helfer-CD4+-T-Zellen. Die Immunogenität und ihre auf maligne Zellen beschränkte Expression machen die CT-Antigene zu sehr aussichtsreichen Kandidaten für Tumorvakzinierungen. II. Differenzierungsantigene. Sie sind in einem ausdifferenzierten Zelltyp und dem entsprechendem Tumortyp wie etwa in Melanozyten und im malignen Melanom exprimiert. Obwohl keines dieser Antigene vom Expressionsmuster als tumorspezifisch bezeichnet werden kann, reichen Unterschiede in der Expressionsstärke oder posttranslationale Modifikationen wie Glykosylierung häufig aus, um diese diagnostisch und ggf. auch therapeutisch zu nutzen (Oettgen u. Old 1991). Die Expression dieser Antigene ist meist hoch, anders als bei CT-Antigenen geht sie mit zunehmendem Entdifferenzierungsgrad der Zellen bei Progression der Erkrankung zurück. Proteine wie Tyrosinase, Glykoprotein 100 (GP100) und Melan-A/MART-1 sind an der Biosynthese von Melanin in Melanosomen beteiligt. Für sämtliche dieser Antigene konnten T-Zell-Epitope identifiziert werden. Melan-A/ MART-1 scheint dabei das höchste immunogene Potenzial zu haben: Bei der Mehrheit der untersuchten Melanompatienten lassen sich im Tumor und auch in der Zirkulation spezifische zytotoxische CD8+-T-Zellen nachweisen, die ein immunodominantes Epitop (Position 26–35 in der Aminosäurensequenz) erkennen (Romero et al. 2002). Die Überwindung der Toleranz gegen diese Selbst-Antigene und das Auftreten spezifischer T-Zellen nach aktiver Immuntherapie konnte mit Tumorrückbildung korreliert werden, kann aber auch ursächlich sein für das Auftreten von Autoimmunphänomenen, z. B. Vitiligo und Uveitis. III. Überexprimierte Antigene. Überexprimierte Antigene, wie p53, Telomerase, sind in einigen Tumoren stark überexprimiert, dennoch aber auch in vielen Normalgeweben – wenn nur schwach – nachzuweisen. Obgleich spezifische T-Zellen offensichtlich selektiv die Zellen in vitro erkennen können, die das betreffende Antigen überexprimieren, und auch die bisher mit diesen Antigenen durchgeführten Immuntherapiestudien keine Autoimmunphänomene gezeigt haben, bleibt es gegenwärtig unklar, inwieweit sich unerwünschte Wirkungen bei Erhöhung der Immunogenität der Vakzine einstellen. Eine Überexpression von Mitgliedern der humanen »Epidermal-growth-factor-receptor«(EGFR-)Familie ist bei vielen Tumoren epithelialen Ursprungs (Tumoren Der Brust, Lunge, Magen-Darm-Trakts, Kopf-Hals, Ovar) zu beobachten. So korreliert die starke Expression des humanen EGFR-2-(HER-2/NEU-)Moleküls bei Patientinnen mit Brustkrebs mit einem aggressiveren klinischen Verlauf (Bange et al. 2001; Yamauchi 2001). Immunantworten gegen das HER-2/ NEU-Protein bilden daher die Basis für therapeutische Strategien in der Brustkrebsbehandlung und lassen sich auf humoraler sowie zellulärer Ebene induzieren (Disis u. Cheever 1996). IV. Onkofetale Antigene. Sie entstehen durch Reaktivierung silenter Gene und führen zur Expression von Proteinen, wie z. B. CEA. Vor über 50 Jahren wurde erstmals über die Produktion von Proteinen in Tumorzellen berichtet, die serologisch mit normalem embryonalen Gewebe kreuzreagieren. Soweit heute bekannt ist, sind zwei Mechanismen für das Auftreten solcher on-
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kofetaler Antigene in Tumorzellen verantwortlich: Die Expression embryonaler oder fetaler Antigene resultiert aus der malignen Transformation und/oder der Tumorprogression (Schreiber 1999). Dies ist als Folge einer aberranten Aktivierung von Genen zu sehen, die in adulten Normalzellen fast völlig stillgelegt sind (z. B. durch Methylierung), in bestimmten embryonalen oder fetalen Geweben wie Trophoblasten aber normal aktiv sind. Bei dem zweiten Mechanismus verhalten sich die Antigene »linientreu« und sind nicht nur in fetalen oder embryonalen Zellen exprimiert, sondern bereits in den normalen Stammzellen des adulten Ursprungsgewebes des Tumors zu finden (Schreiber 1999). Tumoren zeichnen sich häufig durch eine Amplifikation verschiedener Tumorantigene aus. Als Beispiel sei hier das karzinoembryonale Antigen (CEA) genannt. CEA wurde ursprünglich als tumorspezifisches Antigen für das humane Kolonkarzinom und als fetales Antigen mit restringierter Expression auf fetalem Darm-, Pankreas- und Lebergewebe während des ersten Trimesters entdeckt. Später stellte sich eine CEA-Produktion in geringem Umfang von nicht malignen, nicht fetalen Zellen der Darmmukosa, der Lunge und Milch produzierender Brustdrüsen heraus. Die Hoffnungen, CEA als frühen Marker für gastrointestinale Tumoren einzusetzen zerschlugen sich mit dem Nachweis erhöhter CEA-Serumspiegel auch bei anderen malignen Veränderungen wie etwa der Lunge oder Brustdrüse, aber auch bei nicht malignen Erkrankungen wie chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (z. B. Colitis ulcerosa). Obwohl die CEASerumspiegel für die Diagnose früher Krebsstadien nicht hilfreich sind, so lässt sich der CEA-Spiegel im Serum von Markerpositiven Patienten für die Überwachung des Therapieverlaufes heranziehen. Ferner gibt es Versuche, CEA als Zielstruktur für immuntherapeutische Strategien in laufenden Phase-I- bzw. Phase-II-Studien einzusetzen (Wong et al. 2000). V. Virale Antigene. Sie stammen von onkogenen Viren ab. Obwohl für die meisten menschlichen Tumorarten bisher keine virale Ursache gefunden wurde, spielen virale Proteine in den wenigen Fällen bekannter krebsinduzierender Viren eine wichtige Rolle für Induktion und Aufrechterhaltung der malignen Transformation. Verschiedene Virusproteine dienen dabei als Peptidquelle für die Ausbildung virus- und damit tumorspezifischer MHC-restringierter T-Zell-Antworten. Es existieren sowohl DNA- als auch RNA-Viren mit Potenzial zur Transformation menschlicher Zellen. Verschiedene Typen von DNA-Viren sind mit Krebserkrankungen eng assoziiert: Subtypen von HPV mit Zervix- und Analkarzinomen; Hepatitis-B-Virus (HBV) mit dem primären hepatozellulären Karzinom (HCC); Epstein-Barr-Virus (EBV) mit lymphoblastoiden Lymphomen in immundefizienten Individuen sowie dem in Afrika endemisch auftretenden BurkittLymphom (Klein 1994; Klein et al. 1999; Knecht et al. 2001). Ein anderes Herpesvirus, HHV8, ist häufig bei dem HIV-assoziierten Karposi-Sarkom als auch M. Castleman zu finden (Blauvelt 1999). Ferner scheint das SV40-Virus an der Entwicklung von Mesotheliomen, Knochentumoren, Ependymomen sowie Chorion-Plexus-Tumoren beteiligt zu sein (Carbone et al. 1997). Häufig ist mit dem Übergang vom infizierten zum malignen Stadium eine Integration des sonst episomal vorliegenden Virusgenoms in das Genom der Zelle verbunden, wie bei der Integration der EBVDNA in das Genom infizierter Lymphomzellen. Dabei kann die Integrationsstelle die Transformation entscheidend beeinflussen, z. B. wenn starke Promotoren direkt vor einem Signalmolekül oder einem Wachstumsfaktor integriert werden und so die natür-
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Kapitel 16 · Tumorimmunologie
liche Expressionskontrolle zerstören. HPV-assoziierte Zervixkarzinome exprimieren die transformierenden Proteine E6/E7, die auch als Zielstrukturen für T-Zellen dienen (zur Hausen 1999, 2000); im Mausmodell führt eine aktive Immunisierung gegen E6/E7-Proteine zur Abstoßung transplantierter Tumorzellen. Als Meilenstein auf dem Gebiet der Vakzintherapie sind kürzlich publizierte Arbeiten zur Prävention einer HPV-16/18-Infektion bei jungen Frauen zu bezeichnen (Harper et al. 2004), da unter Vakzinierung 100% aller Frauen nach 18 Monaten eine Serokonversion aufwiesen. Damit ist mit einer deutlichen Reduktion der Inzidenz HPV-assoziierter Zervixkarzinome nach Einführung der Vakzine zu rechnen. Außer DNA-Viren sind auch RNA-Tumorviren bekannt, die ihr Genom immer in die Wirts-DNA integrieren. Exogene RNAViren kommen die meiste Zeit ihres Replikationszyklus als exogene episomale Form vor und replizieren als infektiöse Partikel mit hohem Infektionspotenzial für andere Zellen. Endogene RNA-Viren dagegen verbleiben die meiste Zeit als integriertes Provirus im Wirtsgenom und produzieren infektiöse Partikel nur nach entsprechender Induktion durch UV-Strahlung, chemische Karzinogene, Mutagene oder Proteinbiosyntheseinhibitoren (Schreiber 1999). Alle RNA-Virusfamilien besitzen eine Anzahl gemeinsamer Antigendeterminanten der Hüllproteine (ENVProteine), selbst bei Isolation aus verschiedenen Spezies. Dies passt zu der Beobachtung einer ähnlichen Genomstruktur bzw. nahen Verwandschaft von RNA-Viren, sodass für Primaten sogar phylogenetische Stammbäume anhand dieser Sequenzen erstellt werden können. Das humane T-lymphotrope Virus 1 (HTLV-1) repräsentierte das erste RNA-Virus mit eindeutiger Assoziation zu einer humanen Krebserkrankung, der endemischen adulten T-Zell-Leukämie. Heutzutage kristallisiert sich zunehmend das humane RNA-Virus HCV (Hepatitis-C-Virus) neben dem DNAVirus HBV (Hepatitis-B-Virus) als eine der Hauptursachen für die Entstehung des hepatozellulären Karzinoms (HCC) weltweit (Tanaka et al. 2006; Kubicka 2000). Die Expression humaner endogener Retrovirusgenprodukte dagegen wird für mehrere humane Tumoren berichtet. Zudem ist bei Tieren eine deutliche Assoziation von RNA-Viren mit verschiedenen Krebsformen zu beobachten (Lower et al. 1996). Die aus DNA-Viren stammenden transformierenden Gene sind mit normalen zellulären Proteinen wenig verwandt und ihre Genprodukte lösen deshalb starke Immunreaktionen aus. Im Gegensatz dazu sind die transformierenden Gene der RNA-Tumorviren (auch als virale Onkogene bezeichnet) sehr nah mit zellulären Onkogenen verwandt bzw. sogar identisch und ihre Genprodukte dementsprechend nur zur Induktion relativ schwacher Immunreaktionen fähig (Schreiber 1999). Die daraus resultierende Selbsttoleranz ist für die unzureichende Induktion einer spezifischen T-Zell-Reaktion gegen onkogene Proteine aus RNA-Tumorviren wie SV40, HPV oder Adenoviren verantwortlich. VI. Mutationsbedingte Antigene. Sie entstehen meistens als somatische Mutationen und können als tumorspezifische Antigene mithilfe von spezifischen T-Lymphozyten oder patienteneigenen Antikörpern identifiziert werden. In der Regel treten die Mutationen nicht wahllos über das Gen verteilt auf, sondern sind vielmehr in für die Proteinfunktion entscheidenden Regionen präsent. So reduziert die Mutation der zyklinabhängigen Kinase 4 (CDK4), die häufig beim familiär assoziierten Melanom gefunden wird die Bindung an seinen Inhibitor, ein Tumorsuppres-
sorprotein, und greift so in den Zellzyklus ein (Wolfel et al. 1995). Eine Mutation im β-Catenin-Gen führt zu dessen vermehrter Stabilität, verhindert den Abbau dieses Onkogens (Schreiber 1999) und kann als individuelles tumorspezifisches Antigen von zytotoxischen T-Zellen erkannt werden. Schließlich findet man das Phänomen des Verlustes von Heterozygotie (»loss of heterocygocity«, LOH) und dabei des Wildtypallels im Tumorgewebe, beispielsweise im Falle des ribosomalen Proteins L9. Während im Normalgewebe das Wildtypallel dominiert, exprimiert der Tumor das Protein des mutierten Allels und ist damit immunogen (Mumberg et al. 1996). Neben der verstärkten Immunogenität hat die Mutation aber auch häufig Einfluss auf Funktionen des Proteins im Rahmen der Tumorprogression. Am Beispiel der RAS-Protoonkogenund der p53-Suppressorgenfamilie lässt sich die Verknüpfung zwischen Funktion der Mutation in der Wachstumskontrolle und der T-Zell-vermittelten Erkennung als Tumorantigen verdeutlichen. Das tumorigene Potenzial der RAS-Protoonkogenfamilie wird durch Mutationen, die an vordefinierten funktionell wichtigen Stellen des P21RAS-Proteins auftreten, aktiviert. Peptide aus dem mutierten Bereich des RAS-Proteins, stimulieren CD4+- oder CD8+- T-Lymphozyten und induzieren so eine T-Zell-Antwort gegen Tumorzellen mit mutiertem P21RAS (Abrams et al. 1996). Die Region des mutierten RAS-Proteins, aus der die von T-Zellen erkannten Peptide stammen, ist identisch für alle drei Mitglieder der RAS-Familie, H-RAS, K-RAS, und N-RAS, die wiederum je nach Tumorart unterschiedliche Prävalenzen aufweisen (Ramirez De Molina et al.2001). RASMutationen treten in prämalignen oder malignen Zellen auf; in den meisten Individuen sind demnach auch RAS-peptidspezifische T-Zell-Klone in vitro mit gereinigtem RAS-Protein stimulierbar (van Elsas et al. 1995). In wieweit RAS-mutierte Tumorzellen selbst fähig sind, eine spezifische T-Zell-Antwort zu stimulieren, ist von mehreren Faktoren wie der effizienten Antigenpräsentation, bzw. entsprechendem »Priming« abhängig. In präklinischen und letztendlich auch klinischen Untersuchungen konnte am Modell der KI-RAS-Mutation ein Vakzinprogramm entwickelt werden und die Relevanz dieser Zielstruktur durch die Induktion und Expansion muRAS-spezifischer, zytotoxischer Präkursor-T-Lymphozten im peripheren Blut im Verlauf der Immunisierung belegt werden. Ähnlich verhält es sich mit dem p53-Suppressorgen, dessen Mutationen mit am häufigsten bei humanen Tumoren vorkommen. Das als Tumorsuppressor agierende normale P53-Protein ist in normalen Zellen sehr gering exprimiert und deshalb auf Proteinniveau kaum nachzuweisen. Die hohen Mengen an P53 in malignen Zellen repräsentieren dagegen in der Regel mutiertes P53, das seine Tumorsuppressoraktivität eingebüßt hat (Camplejohn u. Rutherford 2001; van Steeg 2001; Taylor u. Stark 2001). Die in p53 auftretenden Mutationen treten in evolutionär konservierten Regionen des P53-Gens konzentriert auf, wenngleich die exakten Positionen bei verschiedenen Spezies unterschiedlich sind (Hollstein et al. 1991). Aus der Analyse der präferenziellen Reaktivität mutierter P53-Proteine mit diversen P53-spezifischen monoklonalen Antikörpern geht hervor, dass verschiedene Mutationen anscheinend gemeinsame Konformationsänderungen und damit möglicherweise ähnliche Dysfunktionen verursachen. Bei einigen Tumorpatienten ist eine Antikörperantwort gegen mutierte P53-Proteine nachweisbar. Die Anwesenheit solcher Antikörper korreliert interessanterweise mit einer schlechteren Prognose der Erkrankung (Houbiers et al. 1995). Darüber hinaus
335 16.4 · Immuntherapie
ist häufig eine T-Zell-Antwort gegen mutiertes p53 nachweisbar. Vor dem Hintergrund einer induzierbaren T-Zell-Antwort gegen p53-spezifische Epitope erscheinen immunologische Therapieansätze gegen mutiertes P53-Protein als potenzielle Zielstruktur äußerst attraktiv. Ähnlich wie im Falle des RAS-Proteins erweisen sich T-Lymphozyten nach Immunisierung mit Tumorzellen nicht als spezifisch für das mutierte Protein, sondern reagieren vielmehr auch kreuz mit normalem P53. Erste klinische Peptidstudien deuten jedoch auf eine gute Verträglichkeit und die Induktion einer spezifischen Immunantwort bei knapp der Hälfte aller geimpften Patienten hin. Zudem schien die Entwicklung einer zellulären Immunantwort mit einem längeren Überleben einherzugehen (Carbone et al. 2005). Größere Studien müssen diese Daten aber noch bestätigen. Neue antigene Determinanten können außer durch Mutationen auch durch Neukombination von ursprünglich getrennten Proteinkomponenten entstehen, wodurch sich neue Peptidsequenzen und Konformationsänderungen ergeben. Etwa 40% der malignen Glioblastome, der häufigsten malignen Erkrankung des menschlichen Gehirns, besitzen eine interne Deletion im Gen des epidermalen Wachstumsfaktorrezeptors (EGFR). Diese Deletion führt zu einer verkürzten extrazellulären Domäne und Bildung einer neuen Aminosäure am Fusionspunkt (Humphrey et al. 1990). Diese neue Antigendeterminante auf der Oberfläche der Tumorzellen lässt sich durch Antikörper nachweisen und stellt sowohl eine diagnostische (Jungbluth et al. 2003) als auch therapeutische (Perera et al. 2005) Zielstruktur dar. Fusionsproteine werden auch als Folge chromosomaler Translokationen in verschiedenen humanen Tumoren gefunden. Dabei lassen sich oft definierte Translokationen und Rekombinationsereignisse verschiedenen Tumortypen zuordnen. Hoch konservierte Chromosomenbruchstellen führen in der entsprechenden Tumorform zur Ausbildung identischer Fusionsproteine bei unterschiedlichen Individuen. Das beste Beispiel repräsentieren die chimärischen BCR-ABL-Fusionsproteine bei Patienten mit chronischer myeloischer Leukämie (CML) und einer Untergruppe akuter lymphatischer Leukämien (ALL; Kurzrock et al. 2001; Sattler u. Griffin 2001). Bei anderen Krebsformen können die Stellen der Chromosomenbrüche erheblich variieren, sodass individuell einzigartige Fusionsproteine entstehen. In einigen Fällen wird sogar ein neues Kodon kreiert, das zum Einbau einer anderen Aminosäure am Fusionspunkt führt (Kurzrock et al. 2001; Willman 2001). Fusionsproteine können spezifisch durch Antikörper bzw. Peptide aus dem Bereich des Fusionspunktes durch spezifische T-Lymphozyten erkannt werden. Erste klinische Phase-I-Studien konnten die gute Verträglichkeit
16
einer Impfung mit Peptiden des BCR-ABL-Fusionsproteins belegen und trotz hoher Tumorzelllast ein effizientes immunologisches Ansprechen erzielen (Pinilla-Ibarz et al. 2000). Viele dieser Fusionsproteine spielen außerdem eine wichtige Rolle in der Erhaltung des malignen Status der Tumorzelle. Eine gegen diese Fusionsproteine gerichtete Therapie ließe sich damit nicht so leicht durch den Verlust der Expression des Zielantigens unterlaufen, da gerade dieses Protein für die Aufrechterhaltung des malignen Wachstums essenziell ist. Ein klassisches Beispiel in diesem Zusammenhang ist der Einsatz von Tyrosinkinase Inhibitoren (z. B. Imatinib) mit der Fähigkeit, die durch die BCR-ABL-Gen-Umlagerung konstitutiv aktive Tyrosinkinase zu hemmen und damit die Proliferation des malignen Klons zu unterbinden (O’Dwyer et al. 2003).
16.4
Immuntherapie
Die Idee einer aktiven Immuntherapie gegen maligne Erkrankungen hat eine lange Tradition. Sie beruht auf kasuistischen Beobachtungen von Remissionen nach Infektionen und erfuhr eine wesentliche Stimulation durch die Erfolge der Vakzinierung bei Infektionskrankheiten. Auf dieser Grundlage konzentrierten sich die ersten Versuche einer Immuntherapie gegen maligne Tumoren auf die Applikation von bakteriellen Vakzinen wie insbesondere BCG (Bacillus Calmette Guerain). Wenngleich die Mechanismen dieses Ansatzes nur unvollständig verstanden sind, hat sich die lokale Applikation von BCG vor allem beim lokal begrenzten Blasenkarzinom als Standardverfahren etabliert (Lockyer u. Gillat 2001; van der Meijden 2001). Die zunehmenden Einblicke in die Funktion des Immunsystems und die Interaktion zwischen Immunsystem und Tumorzellen haben in den letzten Jahren zu gezielteren Ansätzen der immunologischen Intervention geführt. Diese umfassen 1. den lokalen oder systemischen Einsatz von Zytokinen (s. Übersicht), 2. eine aktive Immunisierung, 3. eine passive Therapie mit Antikörpern und 4. den adoptiven Transfer von Effektorzellen (. Tab. 16.5). Mit Ausnahme der intravesikalen Instillation von BCG beim oberflächlichen Blasenkrebs waren diese Ansätze und auch spezifische Vakzinierungen von Tumorpatienten mit ganzen Tumorzellen oder Tumorzellextrakten, oftmals in der Kombination mit Immunstimulanzien wie BCG oder IL-2, bis vor wenigen Jahren beim Menschen weitgehend ohne Erfolg (Gruber et al. 1996).
. Tab. 16.5. Einteilung der biologischen Tumortherapie Aktiv
Passiv
Spezifisch
Autologe Tumorzellvakzinierung Peptidvakzinierung DANN-Vakzinierung RNA-Vakzinierung Anti-ID-Vakzinierung
Zellulär: zytotoxische T-Lymphozyten (CTL), tumorinfiltrierende Lymphozyten (TIL) Humoral: monoklonale Antikörper
Unspezifisch
BCG-Vakzinierung Coryne-Bakterien
Zellulär: Lymphokin-aktivierte Killerzellen (LAK) Humoral: Immunmodulatoren (IL-2, IFN-α, GM-CSF), Wachstumsinhibition (antiangiogenetische Rezeptorantagonisten)
336
Kapitel 16 · Tumorimmunologie
Prinzipien der Anwendung von Zytokinen in der Tumortherapie 4 Direkte Zytotoxizität (TNF) 4 Stimulation des Immunsystems durch IL-2, 12, IFN-α, GM-CSF u. v. a. (systemische Gabe; konjugiert an MAK; transfiziert in Tumorzellen zur aktiven Vakzinierung) 4 Wachstumsfaktoren in der adjuvanten Therapie zur Abmilderung von Nebenwirkungen z. B. bei Hochdosischemotherapie (IL-3, GM-CSF) 4 (Zytokinantagonisten z. B. gegen IL-10 zur Überwindung der Anergie von tumorspezifischen T-Zellen)
16.4.1 Aktive Immuntherapie
16
Eine der ersten Immuntherapeuten, die aktiv gegen Tumoren zu immunisieren versuchten, war der Chirurg William Coley (Starnes 1992). Er behandelte Ende des 19. Jahrhunderts Patienten mit peritumoraler Injektion von hitzeinaktivierten Streptokokken und Serratia marcescens (Coley’s Toxin) und konnte in einigen Fällen wenigstens vorübergehende Tumorrückbildungen erreichen. Es folgten Behandlungsversuche mit allogenen und autologen Tumorzellvakzinen, wobei man schon frühzeitig durch die gleichzeitige Gabe sog. Adjuvanzien versuchte, die Stärke und Dauer der Immunantwort zu erhöhen. Adjuvanzien zeichnen sich durch verschiedene Wirkmechanismen aus, so z. B. die Auslösung einer inflammatorischen Reaktion (z. B. QS21, IFA), die Aktivierung spezifischer T-Zellen (z. B. IL-2, IL-12), die Stimulierung von TLR (CpG-ODN) oder die verbesserte Präsentation des Antigens (z. B. GM-CSF) (Pulendran u. Ahmed 2006). Darüberhinaus kann die Natur des Adjuvans die Art der Immunantwort bestimmen und sie in Richtung einer zellulär-zytotoxischen oder humoralen Antikörperantwort determinieren (Rappuoli 2004; Pulendran 2004). Dies ist von lebenswichtiger Bedeutung für den Organismus, da ein wirkungsvoller Schutz gegen verschiedene Krankheitserreger unterschiedliche Immunantworten erfordert. Trotz des gemeinsamen Ursprungs von Impf- und Immunitätsforschung in den bahnbrechenden Arbeiten von Pasteur und Jenner, sind die meisten derzeit klinisch eingesetzten Impfstoffe empirisch entwickelt worden (Rappuoli 2004; Plotkin 2005). Folglich ist es entscheidend, die grundlegenden Prozesse der angeborenen Immun-
. Abb. 16.4. Schematische Darstellung der Präsentation von Tumorantigenen durch HLA-Klasse-I-Moleküle. Dazu werden die in einer Tumorzelle synthetisierten tumorassoziierten, tumorspezifischen, onkogenen bzw. viralen Antigene durch Proteasome in Peptidbruchstücke prozessiert, auf HLA-Klasse-I-Moleküle beladen und an der Oberfläche präsentiert. Die antigenspezifische T-Zelle interagiert mithilfe ihres T-Zell-Rezeptors und kann die Tumorzelle als solche erkennen
antwort besser zu verstehen, um ein systematisches Vorgehen in der Entwicklung effizienter Vakzintherapien realisieren zu können. Die molekulare Charakterisierung von Tumorantigenen bildete schließlich die Grundlage für die Entwicklung Immuntherapieverfahren, bei der die betreffenden Tumorantigene in verschiedenen Formen eingesetzt werden können. Somit muss im Rahmen der aktiven Immuntherapie zwischen spezifischen (d. h. gegen definierte Antigene) und unspezifischen Vakzinierungen (d. h. gegen undefinierte Antigene) unterschieden werden. Grundsätzlich kann mit verschiedenen Formen von Antigenen vakziniert werden (. Tab. 16.6). Durch die Entdeckung von T-ZellEpitopen (. Abb. 16.4) kam es zu einer Vielzahl von klinischen Phase-I/II-Studien mit definierten Peptiden (. Tab. 16.7) bei Patienten mit soliden Tumoren. Der Vorteil von Peptidantigenen liegt in der kostengünstigen Synthese sowie deren einfacher Lagerung und Handhabung. Da die T-Zell-Erkennung von Peptiden auf be-
. Tab. 16.6. Ansätze zur aktiven Vakzinierung gegen Tumoren Impfmaterial
Eigenschaften; Vor- und Nachteile
Ganze Zellen
Autologe Zellen (selten in ausreichender Menge kultivierbar) Zellkulturzellen, niedrige Antigenexpression Mit aktivierenden Zytokinen transfizierbar (GM-CSF, IL-2, IL-12 u. v. a.)
Zelllysate
Grobe Antigenmischung; Zielstrukturen der Immunantwort schwierig zu definieren
Peptide
Mit oder ohne Adjuvans, Restriktion auf bestimmte HLA-Allele Mit Peptiden beladene dendritische Zellen
DNA
Neue Methodik; kanzerogene Potenz und andere Langzeitwirkungen noch wenig bekannt
RNA
Neue Methodik, Präsentation auf HLA-Klasse I/II, Stabilität bei In-vivo-Applikation derzeit unklar
Antiidiotypische Antikörper
Genau definiertes Epitop Gut bekanntes Molekül; lange Halbwertszeit
337 16.4 · Immuntherapie
16
. Tab. 16.7. Studien mit definierten Peptiden Peptid/Aminosäuren
HLA-Restriktion
Verabreichung
Tumor
Zahl der Patienten und Ergebnisse
Literatur
Melan-A/MART-1 (26–35)
A 0201
1×/Monat; 4 Injektionen; s.c.; kombiniert mit CpG und IFA
Metastasierendes Melanom
8 Patienten; 8/8 Patienten mit immunologischem Ansprechen; 6/8 Patienten mit klinischem Progress
Speiser et al. (2005)
NY-ESO-1 (157–165)
A 0201
1×/Woche; 4 Injektionen; i.d.; kombiniert mit GM-CSF
NY-ESO-1 exprimierende Tumore
12 Patienten; 8/12 mit Stabilisierung, 4/12 mit Progression; 4/7 antikörpernegative Patienten entwickeln spezifische CD8 T-Zellen
Jager et al. (2000a)
MAGE-3 (168–176)
A1
1×/Monat; 3 Injektionen; s.c./i.d.
Metastasierendes Melanom
39 Patienten; 7/39 mit Regression, wobei 3 mit kompletter und 4 mit partieller Remission; keine spezifischen CD8 T-Zellen detektierbar.
Marchand et al. (1999)
. Tab. 16.8. Studien mit definierten Proteinen Protein
Verabreichung
Tumor
Zahl der Patienten und Ergebnisse
Literatur
MAGE-A3
1×/3 Wochen; 4 Injektionen s.c./i.d.; +/- AS02B
Nicht kleinzelliges Bronchialkarzinom
17 Patienten mit Stadium I/II; spezifische CD8 (2/17, D4 (4/17) und humorale (10/17) Immunantworten
Atanackovic et al. (2004)
NY-ESO-1
1×/Monat; 3 Injektionen; i.m.
Metastasierendes Melanom
46 Patienten mit minimaler Tumorlast; 16 Patienten mit Rezidiv; breite Immunantwort gegen NY-ESO-1 gegen multiple Epitope
Davis et al. (2004)
stimmte HLA-Moleküle restringiert ist, können Peptidvakzinierungen im Allgemeinen nur für Patienten mit dem gleichen HLATyp eingesetzt werden. Die meisten Impfungen werden mit HLA*0201-restringierten Peptiden durchgeführt, da dieser Genotyp mit einer Verbreitung von etwa 50% der häufigste in der weißen, westlichen Bevölkerung ist. Wiederholt konnte gezeigt werden, dass eine Peptidvakzinierung verträglich ist und eine tumorantigenspezifische T-Zell-Antwort induzieren kann. Besonders ermutigende immunologische und klinische Ergebnisse wurden nach Vakzinierung mit Peptidantigenen erzielt, die sich von Cancer-Testis-Antigen (z. B. NY-ESO-1, MAGE-3) ableiten (Jager et al. 2000a; Marchand et al. 199). Es konnten einige partielle und wenige komplette Remissionen beobachtet werden, die im Gegensatz zu chemotherapieinduzierten Remissionen oft sehr beständig sind. Legt man die heute in der Onkologie üblichen Ansprechkriterien bei diesen frühen Phase-I-Studien zugrunde, müssen die klinischen
Ergebnisse derzeit allerdings im Gesamtkollektiv als enttäuschend bewertet werden (Rosenberg et al. 2004). Die unerwünschten Wirkungen beschränken sich auf Lokalreaktionen an den Injektionsstellen und selten Temperaturerhöhungen mit grippeähnlichen Symptomen. Wie bereits erwähnt, ist das Auftreten von Vitiligo eine seltene, aber mögliche unerwünschte Wirkung bei Vakzinierung mit melanozytären Differenzierungsantigenen. Neuere Arbeiten belegen, dass Adjuvanzien ein entscheidender Bestandteil einer Peptidvakzinierung sind und zeigen, dass durch Verwendung von modernen, hochpotenten Adjuvanzien die Effektivität der immunologischen T-Zell-Antwort deutlich gesteigert werden kann (Krug et al. 2003; Storni et al. 2005). Ob die verbesserte Immunogenität auch in klinischer Wirksamkeit translatiert, werden künftige Untersuchungen zeigen. Weiterhin kann mit rekombinanten, kompletten Proteinen des betreffenden Tumorantigens vakziniert werden (. Tab. 16.8).
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Kapitel 16 · Tumorimmunologie
. Tab. 16.9. Studien mit DNA- Konstrukten. Protein
Tumor
Vektor
Zahl der Patienten und Ergebnisse
Literatur
MAGE-A1/A3
MAGE-A3exprimierende Tumore
Kanarienvogelpockenvirus
40 Patienten; 28/31 Progression; 1/31 partielle Remission; 2 stabile Erkrankung; spezifische CD8-T-ZellAntwort in ¾ Patienten mit Regressionen
Van Baren et al. (2005)
CEA
Kolonkarzinom
CEA/HBsAg-Plasmid
17 Patienten; metastasiert; 7/17 HBsAg-spezifische Antiköper; 4/17 zelluläre Immunantworten gegen CEA
Conry et al. (2002)
Tyrosinase
Melanom
Modifiziertes Vakziniavirus Ankara
20 Patienten; Stadium II; starke Immunantwort gegen den Vektor, nicht gegen Tyrosinase
Meyer et al. (2005)
. Tab. 16.10. Studien mit Tumorzelllysaten
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Impfstoff
Zahl der Patienten und Ergebnisse
Literatur
Zelllysat aus allogenen Melanomzellen (Melacine) mit Adjuvans Detox
600 Patienten mit T3N0-Melanom; adjuvant; Phase III; kein Vorteil im krankheitsfreiem Überleben
Sosman et al. (2002)
Zelllysat auf autologen Nierenzellkarzinomzellen
379 Patienten; adjuvant nach Nephrektomie; Phase III; signifikante Zunahme des progressionsfreien Überlebens in der Vakzinegruppe
Jocham et al. (2004)
Zelllysat aus allogenen Prostatakarzinomzelllinien mit BCG
28 Patienten mit hormonrefraktärem Prostatakarzinom; signifikanter PSA-Abfall in 42%; mittlere Zeit bis Tumorprogression 58 Wochen (vs. 26 Wochen bei historischer Kontrollgruppe)
Michael et al. (2005)
Während diese einerseits bei allen Patienten unabhängig vom HLA-Typ eingesetzt werden können, werden zunächst extrazellulär vorliegende Proteine vor allem über den extrinsischen Weg prozessiert. Dabei werden sie vorwiegend auf HLA-Klasse-IIMolekülen präsentiert und induzieren überwiegend eine CD4+T-Zell- bzw. Antikörperantwort. Um das Antigen in das Zytoplasma zu translozieren und damit die Induktion von CD8+-TZellen zu erreichen, kann für Tumorantigene kodierende DNA, die »nackt« oder in viralen Vektoren verpackt ist, für die Transfektion von Antigen präsentierenden Zellen verwendet werden (. Tab. 16.9). Die Gabe von Plasmid-DNA führt dabei meist zu einer lang dauernden Expression des Transgens, allerdings ist die Tranfektionseffizienz niedrig. Die Verwendung von Liposomen, Polymeren und die »Gene-gun«-Immunisierung sollen dieses Problem beheben. Virale Vektoren, z. B. Adeno- und VacciniaViren, haben den Vorteil, dass sie neben einer höheren Transfektionsrate Komponenten der unspezifischen Abwehr stimulieren, die umgekehrt wiederum die spezifische Immunantwort steigern können. Obgleich bei einzelnen Patienten ein objektives
klinisches Ansprechen beobachtet werden konnte, waren meistens die spezifischen T-Zell-Antworten nur schwach nachweisbar. Ein Grund mag darin bestehen, dass virale Vektoren gleichzeitig auch eine antivirale Antikörperantwort induzieren können, welche eine Boosting-Immunisierung durch Virusneutralisation verhindert. Die umfassende Charakterisierung der DC als die wichtigsten und effizientesten Antigen präsentierenden Zellen hat zu einer Vielzahl von klinischen Studien geführt. Dabei werden diese Zellen aus CD34+- bzw. CD14+-Zellen im Blut gewonnen, ex vivo mit definierten Tumorantigenen (Peptid, Protein, RNA, DNA) oder undefinierten Tumorzellpräparationen (Lysat, Tumor-RNA; . Tab. 16.10) beladen und dem Patienten injiziert. Obwohl auch hier mehrheitlich Immunantworten induziert werden können, sind die bisherigen klinischen Resultate nicht eindeutig. Die abschließende Auswertung einer ersten Phase-III-Studie beim metastasierten Prostatakarzinom steht derzeit aus. Die Herstellung von DC ex vivo ist aufwendig und erfordert GMP-Bedingungen (»good manufactering practice«). Aussichtsreich könnten »zell-
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freie« Vakzine sein, die versuchen, über spezifische Oberflächenrezeptoren (z. B. DEC-205) oder TLR-Liganden (z. B. CpG) Antigene an DC in vivo zu binden. Parallel mit der Entwicklung neuer Immuntherapieansätze werden hochempfindliche Methoden des Monitorings einer antigenspezifischen Immunantwort entwickelt. Gegenwärtig werden Zytotoxizitätsassays zur Messung der lytischen T-Zell-Funktion, ELISPOT-Assays zur Detektion zytokinsezernierender T-Zellen, »CDR3-Spectrotyping« zur Analyse des T-Zell-Rezeptor-Repertoires, und Peptid/MHC-IMultimerkomplexe (sog. »Tetramere«) angewendet. Die »Tetramer«-Technologie gestattet dabei nicht nur die direkte Darstellung und Aufreinigung antigenspezifischer CD8+-TZellen innerhalb einer polyspezifischen T-Zell-Population im Durchflusszytometer, sondern sie kann auch mit anderen Techniken wie phänotypischen Markern und funktionellen Assays, z. B. Zytokinsekretionsassays, kombiniert werden. Damit können zusätzlich Effektorfunktionen antigenspezifischer T-Zellen beurteilt werden. Als klinisch-immunologischer Indikator einer signifikanten Immunantwort ist die »Delayed-type-hypersensitivity«(DTH-)Reaktion definiert, eine Immunreaktion vom verzögerten Typ, die 48 Stunden nach erneuter Antigeninjektion in ihrer Qualität und Stärke beurteilt wird und mit der Induktion spezifischer T-Zell-Antwort korreliert werden kann. Stehen weder definierte Peptide noch rekombinante Proteine zur Verfügung, so können Impfstoffe auch aus Tumorzellen hergestellt werden. Dabei handelt es sich entweder um Tumorzellen, die bestrahlt werden, um Lysate von Tumorzellen, oder um Impfstoffe aus den sog. Hitzeschockproteinen der Tumorzellen. Bei den sog. »Wholecell«-Vakzinen werden autologe Tumorzellen des Patienten gewonnen und bestrahlt. Dies hat den Vorteil, dass sie neben den gemeinsamen Tumorantigenen auch patientenspezifische Tumorantigene beinhalten (Morton u. Barth 1996). Da bei vielen Patienten die Gewinnung autologer Tumorzellen schwierig ist, werden auch allogene Tumorzelllinien als Ausgangsmaterial verwendet. Nach Injektion allogener Tumorzellen wandern diese noch lebenden, aber replikationsunfähigen Zellen vermutlich in die drainierenden Lymphknoten, wo zahlreiche APC vorhanden sind. Die Resultate klinischer Phase-III-Studien waren jedoch insofern enttäuschend, als eine verlängerte Überlebensdauer nur bei Patienten mit präexistenter, vakzinspezifischer Immunantwort beobachtet wurde, nicht jedoch beim gesamten Patientenkollektiv. Das immunologische Problem bei dieser Impfstrategie liegt in der Verabreichung ganzer Tumorzellen, die Tumorantigene nur in sehr kleiner, offensichtlich für die Induktion einer Immunantwort meist ungenügender Menge exprimieren. Eine Steigerung der Immunogenität wird durch Transduktion der Tumorzellen mit Genen von immunstimulatorischen Zytokinen (z. B. IL-2, IL-7, GM-CSF) und/oder kostimulatorischen Komponenten (Mitgliedern der B7-Familie) versucht und bedarf der klinischen Bestätigung. Anstelle von ganzen Zellen können auch Membranextrakte oder Zellkomponenten wie »Heat-shock«Proteine verwendet werden (Srivastava 2005). Zur Gewinnung von Membranextrakten werden autologe bzw. allogene Tumorzellen in der Regel mechanisch oder enzymatisch lysiert. PhaseIII-Studien zeigten wiederum einen positiven, wenn auch marginalen Effekt auf den Krankheitsverlauf für Patientenkolletive, mit positiver Immunreaktion auf die eingesetzten Vakzine. Der Grund dürfte wohl wieder in der zu kleinen Menge von Tumorantigenen im Lysat liegen. Hitzeschock oder Heat-Shock-Proteine sind intrazelluläre Chaperone bzw. Helferproteine, die die vorzeitige Faltung neu synthetisierter Polypepitde verhindern. Durch
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diese Funktion binden Hitzeschockproteine in den Tumorzellen auch Peptide von Tumorantigenen. Die Verwendung solcher Hitzeschockproteine als Impfstoff ist deshalb interessant, weil DC einen Rezeptor für Heat-Shock-Proteine besitzen (CD91). Werden aus autologen Tumorzellen eines Patienten Hitzeschockproteine isoliert, können diese dazu verwendet werden, Tumorantigene zu den DC zu tragen (Srivastava et al. 1998). Die Resultate aus ersten klinischen Pilotstudien waren ermutigend und zurzeit klärt eine Phase-III-Studie die Wirksamkeit bei einem größeren Patientenkollektiv. 16.4.2 Passive Immuntherapie
Im Gegensatz zur aktiven Immunisierung, die die Induktion einer Immunreaktion des wirtseigenen Immunsystems voraussetzt, basiert die passive Immuntherapie auf ex vivo aktivierten Komponenten wie monoklonalen Antikörpern oder immunreaktiven Zellen, die dem Patienten zur Unterstützung seiner eigenen Abwehr gegeben werden. Adoptiver Zelltransfer Ende der 80er Jahre kam das Konzept der unspezifischen Aktivierung peripherer Blutlymphozyten mit hohen Dosen Interleukin-2 (IL-2) zur Generierung sog. Lymphokin-aktivierter Killerzellen (LAK-Zellen) auf (Grimm et al 1982). Grundgedanke ist die Beobachtung, dass einige Tumorzelllinien mit Resistenz gegen NKvermittelte Zytotoxizität sich durch LAK-Zellen in vitro lysieren lassen. Nicht maligne Zellen sind zumeist gegen die Lyse durch LAK-Zellen resistent, fetale und plazentale Zellen sowie periphere hämatopoietische Zellen hingegen können von LAK-Zellen lysiert werden (Rosenberg 1993). Bei Melanompatienten und Patienten mit Nierenzellkarzinom erfolgte bereits ein Einsatz von LAK-Zellen im adoptiven Transfer, wonach eine gegen den Tumor gerichtete Reaktion zu verzeichnen war. Diese Selektivität ist vor dem Hintergrund der in vitro erfolgenden Lyse verschiedener Tumorzelllinien und der Heterogenität der LAK-Zellen schwer zu erklären. Aktivierte NK-Zellen vom CD16+/CD56+/CD3-Phänotyp repräsentieren nur einen Teil der in LAK-Zellen enthaltenen Populationen (Philips u. Lanier 1986). Mithilfe der inhibitorischen Rezeptoren lassen sich auch innerhalb der LAK-Zellen in Zukunft Subpopulationen definieren und bezüglich ihrer Antitumoraktivität untersuchen. In unterschiedlichem Ausmaße sind aber auch CD4+- oder CD8+-T-Lymphozyten in LAK-Linien enthalten, deren Spezifität nicht im Detail bekannt ist. Aufgrund dieser Mischung aktivierter NK-Zellen und T-Lymphozyten ist die molekulare Grundlage der LAK-Aktivität noch nicht aufgeklärt (Rosenberg et al. 1993). Zumindest einige der in letzter Zeit entdeckten NK-Rezeptoren, aktivierende sowie inhibitorische, haben zur Erklärung des LAK-Phänomens beitragen und wichtige Anhaltspunkte für das Verständnis der Regulation der Immunantwort gegen Tumoren geliefert. Eine Weiterentwicklung der LAK-Zelltherapie stellt der adoptive Transfer hochavider, tumorpeptidspezifischer T-Zellen nach exogener IL-2 Aktivierung dar (Rosenberg et al. 2003). Leider zeigte sich aber auch für diesen Ansatz in ersten klinischen Versuchen nur ein unzureichendes klinisches Ansprechen. Die hohe Avidität für definierte Tumorzellepitope durch Transfer von aktivierten Lymphozyten erlaubt damit keine Rückschlüsse auf klinische Erfolge. Eine deutliche Verbesserung des Ansprechens kann durch eine vorhergehende nicht myeloablative Chemotherapie erzielt werden. Die derzeit favorisierte Hypothese
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Kapitel 16 · Tumorimmunologie
. Abb. 16.5. Direkte und indirekte Wirkungsmechanismen von Antikörpermolekülen im Rahmen der Tumorzelllyse
legt eine Elimination der bereits erwähnt tumorinfiltrierenden regulatorischen T-Zellen durch eine vorangehende Chemotherapie nahe. So können die negativ inhibitorische Signale im Tumorgewebe eliminiert werden und die tumorspezifische Lymphozyten ihre Aktivität entfalten.
16
Monoklonale Antikörper Monoklonale Antikörper, erstmals 1975 von Köhler und Milstein hergestellt (Kohler u. Milstein 1975), sollen im Rahmen einer sog. passiven Immuntherapie im Patienten spezifisch Tumorzellen auffinden und zerstören. Vom theoretischen Ansatz her entsprechen monoklonale Antikörper in vieler Hinsicht den »magic bullets« von Paul Ehrlich und seiner zu Beginn des 20. Jahrhundert formulierten Hypothese über die Rolle des Immunsystems zur spezifischen Therapie maligner Tumoren. Monoklonale Antikörper eignen sich auch als Transporteure, um gekoppelte zytotoxische Substanzen gezielt an Tumorzellen zum Einsatz zu bringen. In . Abb. 16.5 sind die bereits erwähnten Wirkmechanismen von AK-Molekülen zur Tumorzelllyse dargestellt. Obwohl die meisten Tumorantigene auf Tumorzellen nicht exklusiv, sondern im Vergleich zu Normalgeweben stärker oder verändert exprimiert sind, ist dieser Unterschied meist ausreichend, um eine gewisse Selektivität zu erreichen (Riethmüller et al. 1993). Klinische Erfolge mit monoklonalen Antikörpern wurden erstmals 1982 berichtet, als ein Patient mit Non-HodgkinLymphom mit individuell hergestellten antiidiotypischen Antikörpern eine komplette Remission erreichte (Miller et al. 1982). Trotz zahlreicher Therapiestudien bei anderen Tumoren blieben jedoch weitere therapeutische Erfolge aus. Probleme bereiteten insbesondere die hohen Kosten sowie die nach wiederholter Anwendung mit Regelmäßigkeit auftretenden blockierenden Antikörper (HAMA: humane Anti-Maus-Antikörper). Zu Beginn der 90er Jahre hatte nur der murine anti-CD3 OKT3 (Muromonab) den Weg in die Klinik zur Therapie der akuten Abstoßungsreaktion nach Organtransplantation geschafft (Wilde et al. 1996). Erst die Entwicklung rekombinanter Antikörper als chimäre bzw. humanisierte Antikörper Mitte der 90er Jahre ermöglichte wiederholte Therapiezyklen, und verbesserte Produktionsbedingungen ließen zudem eine kosteneffiziente Herstellung benötigter Mengen zu (Adams et al. 2001). Heute repräsentieren antikörperbasierte Therapeutika einen Gesamt-
anteil von 25% an den in der frühen klinischen Forschung befindlichen neuen Produkten. Die amerikanische Gesundheitsbehörde hat bisher 8 Antikörper mit unterschiedlicher Indikation zugelassen (. Tab. 16.11), mehr als 70 Antikörper befinden sich in Phase-I/II-Studien. Da ca. 20–30% aller in klinischen Studien getesteter Antikörper eine erfolgreiche Marktzulassung erhalten (. Tab. 16.13), ist in Kürze mit weiteren Zulassungen zu rechnen (. Tab. 16.12). Als limitierende Faktoren für den Einsatz tumorantigenspezifischer MAK haben sich vor allem die Heterogenität der Tumorzellen und die Unzugänglichkeit des Tumorgewebes für i. v. applizierte MAK herauskristallisiert. Durch den Einsatz eines »Antikörper-Cocktails« gegen verschiedene tumorassoziierte Strukturen ist es möglich, der Heterogenität des Tumorgewebes entgegenzutreten (Riethmüller et al. 1993). Der Verlust einzelner Tumorantigenkomponenten wird durch die Persistenz anderer Antigene kompensiert. Schwieriger gestaltet sich das Problem der Zugänglichkeit von Tumorgewebe für MAK, weshalb diese Verfahren primär vor allem bei hämatologischen Neoplasien entwickelt wurden. Die biophysikalischen Eigenschaften großer solider Tumoren als auch die von Antikörpern führen zu einem Gradienten in der MAK-Verteilung zwischen Tumorkern und Peripherie, sodass meist nur die äußeren Tumorschichten angegriffen werden können. Je größer ein Tumor im Durchmesser, desto größer ist in der Regel der maximale Abstand zwischen Tumorzelle und nächstgelegenem Blutgefäß. Zusätzlich bestimmt aber auch die Affinität des Antikörpers für sein (Tumor-)Antigen Penetrationsfähigkeit und -ausmaß im Tumor. Liegt ein hochaffiner Antikörper vor, so penetriert er aus dem Blutgefäß in das umliegende Tumorgewebe, diffundiert aber von dort nicht weiter in das Tumorzentrum, da er beim Kontakt mit den ersten Tumorzellen gefäßnah verbleibt. Antikörper mit mittlerer Affinität (Affinitätskonstante von 10–9 bis 10–10 M) weisen ein sog. »On-off«-Phänomen auf. Sie binden zunächst auch die gefäßnahen Tumorzellen, lösen sich aber dann wieder und können mittels Diffusion Richtung Tumorzentrum gelangen. So weisen sie nicht eine maximale lokale Konzentration, sondern eine homogenere Verteilung im Tumor auf (Adams et al. 2001). Daraus ergibt sich eine hauptsächlich durch das Tumorvolumen bedingte Limitation für die Antikörpertherapie; je kleiner der Tumor, desto besser ist das Verhältnis
341 16.4 · Immuntherapie
16
. Tab. 16.11. In der Europäischen Union (EU) oder USA zugelassene Antikörperpräparate Indikation
Generischer Name
Handelsname
AK-Typ/Zielantigen
Zulassungsdatum
Hersteller
Transplantation
Muromonab-CD3
Orthoclone OKT3
Muriner IgG2a, anti-CD3
19.6.86 (USA)
Johnson & Johnson
Blutgerinnung
Abciximab
ReoPro
Chimärer IgG1, anti-GPIIb/IIIa
22.12.94 (USA)
Centocor
B-NHL
Rituximab
Rituxan
Chimärer IgG1κ, anti-CD20
26.11.97 (USA) 2.6.98 (EU)
Genentech Roche
Transplantation
Daclizumab
Zenapax
Humanisierter IgG1κ, anti-CD25
10.12.97 (USA) 26.2.99 (EU)
Roche
Transplantation
Basiliximab
Simulect
Chimärer IgG1κ, anti-CD25
12.5.98 (USA) 9.10.98 (EU)
Novartis
Virale Infektionen
Palivizumab
Synagis
Humanisierter IgG1κ, anti-RSV
19.6.98 (USA) 13.8.99 (EU)
MedImmune
Rheumatoide Arthritis
Infliximab
Remicade
Chimeric, IgG1κ, anti-TNFα
24.8.98 (USA) 13.8.99 (EU)
Centocor
Brustkrebs
Trastuzumab
Herceptin
Humanisierter IgG1κ, anti-HER2
25.9.98 (USA) 28.8.00 (EU)
Genentech Roche
Akute myeloische Leukämie
Gemtuzumab ozogamicin
Mylotarg
Humanisierter IgG4κ, anti-CD33 Immuntoxin
17.5.00 (USA)
Wyeth
NHL
Alemtuzumab
Campath-1H
Humanisierter IgG1κ, anti-CD52
7.5.01 (US) 6.7.01 (EU)
Genzyme
B-NHL
Ibritumomab tiuxetan
Zevalin
Muriner IgG1κ, anti-CD20; radioaktiv-markiert (Yttrium 90)
19.2.02 (USA) 16.1.04 (EU)
Biogen Idec
Rheumatoide Arthritis
Adalimumab
Humira
Humaner IgG1κ, anti-TNFα
31.12.02 (USA) 1.9.03 (EU)
Abbott
Allergie
Omalizumab
Xolair
Humanisierter IgG1κ, anti-IgE
20.6.03 (USA)
Genentech Roche
B-NHL
Tositumomab-I131
Bexxar
Muriner IgG2aλ, anti-CD20; radioaktivmarkiert (Iodine 131)
27.6.03 (USA)
Corixa
Efalizumab
Raptiva
Humanisierter IgG1κ, anti-CD11a
27.10.03 (USA) 20.9.04 (EU)
Genentech Roche
Kolonkarzinom Kopf-/Hals-Tumoren
Cetuximab
Erbitux
Chimärer IgG1κ, anti-EGF-R
12.2.04 (USA) 29.6.04 (EU)
Imclone Merck
Kolonkarzinom
Bevacizumab
Avastin
Humanisierter IgG1, anti-VEGF
26.2.04 (USA) 12.1.05 (EU)
Genentech Roche
Multiple Skerlose
Natalizumab (Zulassung ruht)
Tysabri
Humanisierter IgG4κ, anti-α4-Integrin
23.11.04 (USA)
Biogen Idec
Listung erfolgt nach Datum der Zulassung (Reichert et al. 2005)
342
Kapitel 16 · Tumorimmunologie
. Tab. 16.12. Derzeit in klinischen Phase-III-Studien befindliche Antikörperpräparate. (Nach Reichert et al. 2005) Firma
Generischer Name
Handelsname
AK-Typ, Zielantigen
Abgenix
Panitumumab
Humaner IgG2κ anti-EGF-R
Amgen
AMG-162
Humaner IgG2 anti-RANKL
Genmab
Zanolimumab
Humax-CD4
Humaner IgG anti-CD4 Rezeptor
Genentech
Ranibizumab
Lucentis
Humanisierter IgG1 anti-VEGF; Fab Fragment
GlaxoSmithKline
Mepolizumab
Immunomedics
Epratuzumab
Lymphocide
Humanisierter IgG1 anti-CD22
MedImmune
Ant i-RSV mAb
Numax
Humanisierter anti-RSV
UCB Brussels
Certolizumab Pegol
Cimzia
Humanisierter IgG, anti-TNFα, pegyliertes Fab-Fragment
Abbott
Afelimomab
Segard
Muriner IgG3κ, anti-TNFαF(ab)2
Trion Pharma
Catumaxomab
Removab
Bispezifischer AK anti-CD3/Epcam
Wilex
WX-G250
Rencarex
Chimeric, IgG1, »anti-carbonic anhydrase IX«
Humanisierter IgG1 anti-IL5
. Tab. 16.13. Zulassungsrate von Antikörpern bei verschiedenen Indikationen. (Nach Reichert et al. 2005)
16
AK-Typ und Einsatzgebiet
Anzahl Studien
Anzahl gestoppter Studien
AK mit FDAZulassung
Erfolgreiche Zulassungen (%)
Chimäre AK, alle Indikationen
39
19
5
21
Chimäre AK, Onkologie
21
9
2
18
Chimäre AK, Immunologie
9
7
2
22
Chimäre AK, 1987−1997
20
12
5
29
Humanisierte AK, alle Indikationen
102
41
9
18
Humanisierte AK, Onkologie
46
13
4
24
Humanisierte AK, Immunologie
34
17
4
19
Humanisierte AK, 1987−1997
46
24
9
27
zwischen MAK-beladenen und unbeladenen Tumorzellen und damit die Effektivität der Therapie. Als geeigneter Zeitpunkt bietet sich daher das Stadium der minimalen residualen Krebserkrankung an, da hier die Tumorbelastung auf vereinzelte Tumorzellen, bzw. Mikroaggregate beschränkt ist. Diese einzelnen
Tumorzellen sind leicht zugänglich und stellen so ein gutes Angriffsziel für MAK dar (Riethmüller et al. 1993). Als zweite Gruppe bieten sich hämatologische Tumoren an, da bei diesen die Tumorzellen zumeist in der Blutbahn zirkulieren und damit sehr gut zugänglich sind.
343 16.4 · Immuntherapie
Klinischer Einsatz unmodifizierter monoklonaler Antikörper Bedeutendster Vertreter auf dem Gebiet der Hämatologie ist der chimäre Anti-CD20-Antikörper (Rituximab, Mabthera) zur Behandlung von B-Zell-Non-Hodgkin-Lymphomen (B-NHL), da er zu einem Paradigmenwechsel in der Tumortherapie geführt hat. Zunächst nur bei fortgeschrittenen bzw. rezidivierten Lymphomen zugelassen, hat sich in den letzten Jahren eindrucksvoll sein Potenzial in der Kombination mit Chemotherapie in der Primärbehandlung von indolenten und aggressiven B-NHL durch eine Verlängerung des Überlebens gezeigt (Coiffier 2004). Zudem kann die Intensität und Toxizität der Chemotherapie reduziert werden, da durch die Hinzunahme von Rituximab zu dem bewährten CHOEP-Chemotherapie-Regimen das Zytostatikum Etoposid (E) ohne Verlust an Therapieeffektivität eliminiert werden kann. Neben der Sicherung eines exzellenten Therapieergebnisses ist eine Verkürzung der Therapiedauer pro Zyklus von drei auf einen Tag mit Gewinn an Lebensqualität für den Patienten zu verzeichnen. Auf dem Gebiet der soliden Tumoren sind insbesondere Erfolge in der Antikörperbehandlung des Brustkrebs zu verzeichnen. Trastuzumab (Herceptin) ist ein humanisierter MAK, der zur Behandlung metastasierter, HER2-(über)exprimierender Mammakarzinome zugelassen wurde. Zielstruktur dieses MAK ist HER2, eine Wachstumsfaktorrezeptor-Tyrosinkinase, die auf 25–30% aller Mammakarzinome sowie einigen anderen Tumoren überexprimiert wird und mit einer ungünstigen Prognose assoziiert ist. Bei Patientinnen mit metastasiertem, überwiegend mehrfach vorchemotherapiertem Mammakarzinom und nachgewiesener HER2-Überexpression im Tumorgewebe konnte durch eine Antikörpermonotherapie bei 15% der Patientinnen eine objektive Remission für median 8 Monate erzielt werden (Cobleigh et al. 1999). Im Vergleich zu einer alleinigen Chemotherapie lassen sich durch Kombination mit Herceptin die Remissionsraten von Doxorubicin/Cyclophosphamid bzw. Taxol eindrucksvoll von 42 auf 65% bzw. von 25 auf 57% steigern und eine Verlängerung des progressionsfreien Intervalls um 2–4 Monate erreichen (Slamon et al. 2001). Da jedoch unter der Kombinationstherapie insbesondere mit dem Anthrazyklin Doxorubicin, einem Vertreter aus einer der beiden wirksamsten Zytostatikasubstanzklassen beim Mammakarzinom, eine gehäufte Kardiotoxizität auftrat, bleibt die Frage nach der optimalen Kombination weiterhin offen und zeigt, dass auch Antikörpertherapien signifikante Toxizitäten haben können. Nahezu zeitgleich sind im Sommer 2005 auch Daten dreier Arbeitsgruppen über die Wirksamkeit von Trastuzumab in Kombination mit Paclitaxel bei den frühen Stadien des HER2-positiven Mammakarzinoms veröffentlicht werden. Trastuzumab wurde nach der Operation und nach einer adjuvanten Chemotherapie mit Adriblastin und Cyclophosphamid verabreicht (Romond et al. 2005; Piccart-Gebhart et al. 2005). Alle drei Studien bestätigen die hohe Wirksamkeit von Trastuzumab in der adjuvanten Therapie mit einer hoch signifikanten Reduktion des Rezidivrisikos um 50% nach einer Beobachtungszeit von 1–2 Jahren. Offen ist weiterhin die Frage der optimalen Dauer und des besten Zeitpunkts der Therapie. Auch wenn die Rate an schweren Kardiotoxizitäten nach 3 Jahren kumulativ 2,9–4,1% betrug, so ist dieser Wert für eine adjuvante Therapie zu hoch und es müssen bessere Therapiekombinationen, d. h. mit geringerer Kardiotoxizität, entwickelt werden. Ein zweiter wichtiger Vertreter aus der Gruppe der Wachstumsfaktorrezeptor-bindenden MAK ist der MAK C225 (Cetu-
16
ximab), der den von vielen epithelialen Tumoren überexprimierten »epidermal-growth-factor-receptor« (EGF-R) erkennt (Mendelsohn u. Baselga 2000). Die erste Zulassung des Antikörpers beruht auf einer Kombinationstherapie mit Irinotecan beim fortgeschrittenen Darmkrebs. Inzwischen ist die Zulassung um eine Kombinationstherapie (mit Bestrahlung) bei Kopf-HalsTumoren ergänzt und weitere Phase-III-Studien, z. B. zur Therapie des nicht kleinzelligen Lungenkrebs, sind am laufen. Da für EGF-R-spezifische Antikörper ein breites Einsatzspektrum zu erwarten ist, sind derzeit mehrere pharmazeutische Firmen mit insgesamt fünf verschiedenen Antikörperpräparaten in der klinischen Testung. Sowohl bei Herceptin als auch bei C225 sind die Zielantigene keine tumorspezifischen Antigene und ihr ubiquitäres Expressionsmuster auch auf nicht entarteten epithelialen Zellen erscheint auf den ersten Blick eher als Hindernis für einen breiten klinischen Einsatz. Der Grund für ihre Wirksamkeit liegt wohl in der Interaktion des Antikörpers mit dem jeweiligen Rezeptor und zwar in der Blockade der physiologischen Interaktion des Wachstumsfaktors mit seinem Rezeptor im Falle des C225-Antikörpers bzw. in einer Veränderung der rezeptorabhängigen Signaltransduktion für Herceptin (Ciardiello et al. 1996; Slixkowski et al. 1999). So beeinflussen Herceptin als auch C225 durch Bindung am Wachstumsrezeptor die Proliferation in den Tumorzellen und können direkt Apoptose (Zelltod) induzieren. Darüberhinaus ist für Herceptin eine Blockade des zellulären DNA-Reparaturmechanismus gezeigt und erklärt den Synergismus von Chemo- und Antikörpertherapie (Baselga et al. 1998). Ein ganz neues Wirkprinzip stellt die Blockade der (Tumor-) Angiogenese durch Inhibition des »vascular endothelial growth factors« (VEGF) dar. VEGF ist für das Tumorwachstum und die Metastasenbildung unverzichtbar, da die Nährstoffversorgung ab einem Tumordurchmesser von mehr als 2 mm nicht mehr über Diffusion erfolgen kann, sondern von der Ausbildung von neuen Blutgefässen abhängig ist. Der rekombinante humanisierte monoklonale Antikörper Bevacizumab (Avastin) verlängert, in Kombination mit einer Chemotherapie, bei Patienten mit metastasiertem kolorektalen Karzinom das Überleben signifikant um annähernd 5 Monate (Hurwitz 2003). Da dieses Wirkprinzip nicht auf die Behandlung des Darmkrebs beschränkt ist, ergibt sich auch hier ein potenziell sehr breit gefächertes Einsatzgebiet. Auch ist die Frage nach der Dauer der Behandlung unklar und wird in derzeit laufenden Studien geprüft. Eine Resistenzbildung scheint vom Ansatz her kaum möglich, sodass erste Autoren eine (lebens-?)lange Therapie postulieren. Antikörperkonjugate mit radioaktiven oder zytotoxischen Substanzen Bei dieser Strategie werden MAK als Transporteure natürlicher oder synthetischer Toxine bzw. Radionuklide eingesetzt, um die schädigende Substanz durch die Kopplung an TAA-spezifische oder assoziierte MAK direkt am Tumorgewebe zu platzieren. Radioimmunkonjugate haben gegenüber anderen Immunkonjugaten den Vorteil, dass sie nicht von der Zielzelle internalisiert werden müssen, um ihre Wirkung zu entfalten. Schließlich werden durch die Strahlen vor allem Tumorzellen in der Nachbarschaft erreicht, sodass die möglicherweise schlechte Penetration in solide Tumoren hierdurch teilweise kompensiert werden kann. Klinisch derzeit zugelassene Antikörper werden mit 131Iod (Tositumomab-Tiuxetan) oder 90Yttrium (Ibritumomab) gekoppelt. 90Yttrium bietet gegenüber 131Iod den Vorteil einer einfachen und
344
Kapitel 16 · Tumorimmunologie
sicheren Antikörperkopplung und eines ambulanten Einsatzes. Zudem hat es verglichen mit 131Iod eine 5-fach energiereichere β-Strahlung, nahezu keine γ-Emission, eine günstige Halbwertszeit (2,5 Tage) und verbleibt auch nach Endozytose dauerhaft in der Zielzelle (Sakaguchi 2005). Beide Präparate sind für einzelne Indikationen in der Therapie von B-NHL zugelassen (Pohlmann et al. 2006). Konjugate aus Antikörpern und Toxinen wie Ricin, Saponin oder Pseudomonas-Exotoxin (Ciardiello et al. 1996) oder Zytokinen wie Interleukin-2 (IL-2) oder Tumor-Nekrose-Faktor (Cobleigh et al. 1999; Clynes et al. 2000) befinden sich im Stadium der frühen klinischen Prüfung und können bezüglich ihres klinischen Nutzen insbesondere auf dem Gebiet der aggressiven Lymphome noch nicht sicher beurteilt werden. Ein in der Entwicklung relativ weit fortgeschrittenes Konstrukt ist ein Fusionsprotein [DAB(389)IL-2, Denileukin diftitox] basierend auf dem IL-2-Gen und der enzymatisch aktiven und translozierenden Domäne des Diphtherietoxins. Denileukin diftitox wird über die Bindung am IL-2-Rezeptor (IL-2R) rasch internalisiert und die Toxindomäne intrazellulär enzymatisch abgespalten. Das Toxin inhibiert dann die Proteinsynthese in der Tumorzelle und löst Apoptose aus. Das klinische Studienspektrum ist recht weit gefasst und beinhaltet B-NHL, kutane T-Zell-Lymphome (CTCL), Hodgkin-Lymphome, akute Schübe der Psoriasis bzw. rheumatoiden Arthritis und HIV-Infektion. Die besten Ansprechraten konnten für die Behandlung von CTCL erzielt werden und Denileukin diftitox ist inzwischen für diese Indikation von der amerikanischen Gesundheitsbehörde (FDA) zugelassen worden (Cohen 2000).
16
Rekombinante Antikörpermoleküle Die sich schnell entwickelnden molekularbiologischen Techniken erlauben heute eine nahezu unbegrenzte Vielfalt an Antikörpermolekülen und Wegen, diese zu generieren. So kann immer noch der klassische Weg der Immunisierung von Tieren (vornehmlich Mäusen) gegangen werden, anschließend bieten sich aber eine Vielzahl von Techniken an, die murinen Antikörper so zu modifizieren, d. h. »humanisieren«, dass sie im Menschen nicht oder nur gering immunogen sind. Erfolgt die Immunisierung bereits in Mausstämmen mit Transgenen für humane Ig, so sind die resultierenden Antikörper bereits voll human und damit beim Menschen klinisch einsetzbar. Am weitesten verbreitet sind heutzutage jedoch auf der »Phage-display«-Technologie basierende Applikationen (Laffly u. Sodoyer 2005). Dabei werden Antikörpersequenzen auf der Phagenoberfläche exprimiert und einzelne Binder in einem nur knapp 2 Wochen dauernden Prozess selektioniert. Die Qualität einer Phagenbank hängt primär von der Diversität der eingesetzten Antikörpersequenzen und des Selektionsprozesses ab. Eine Weiterentwicklung, komplett zellfreie und damit in vitro durchzuführende Technologie, heißt RibosomenDisplay und beruht auf der Bildung eines stabilen Komplexes aus Antikörperfragment und seiner kodierenden mRNA. Die mRNA von selektionierten Komplexen werden nach Selektion amplifiziert und analysiert. Die erfolgreichste Anwendung der Ribosomentechnologie ist auf dem Gebiet der Affinitätsmaturation zu sehen (Hoogenboom 2005). Über die Möglichkeit einer rein zufälligen fehlerhaften mRNA-Amplifikation können Antikörper mit picomolaren Bindungseigenschaften generiert werden. Eine andere Option, die Phagentechnologie weiterzuentwickeln, stellen eukaryontische und hier insbesondere hefebasierte Expressionssysteme dar. Hefen ermöglichenn Proteinen eine kor-
rekte Tertiärstruktur anzunehmen und damit zumeist bessere Löslichkeit und Stabilität. Zudem können Hefen mittels Durchflusszytometrie einzelzellsortiert werden, womit ein hoher Probendurchsatz und eine Automatisierung des Verfahrens erreicht wird. In Verbindung mit empirischen Mutationen der VH- und VL-Gene konnte in Hefen bisher der Antikörper mit höchster publizierter Affinität (48 fM) generiert werden (Boder et al. 2000). Betrachtet man Antikörper primär von einem strukturellen und nicht funktionellen Blickwinkel, so sieht man einen aus zwei Untereinheiten bestehenden, spiegelbildlich angeordneten Proteinkomplex, der eine Bindungstasche um ein gegebenes Molekül bilden kann. Auch andere Moleküle in der Natur sind zum Ausbau einer solchen Tasche befähigt und können als Bindungsblock und damit Antikörperersatz dienen. Eine relativ neue Technologie beruht dabei auf der Verwendung von Lipocalinen oder Ankyrinen als Bindungsmatrix. Diese Proteingrundgerüste (»scaffolds«) können aus einer nahezu beliebigen Anzahl von repetitiven Beta-Faltblattdomänen entstehen und eine optimale Bindungstasche bei hoher Diversität erlauben. Da es sich nicht mehr um eine Zusammenlagerung zwei unabhängiger Proteinketten wie bei einem Antikörpermolekül handelt, sind Ankyrine und Lipocaline als Bindungsmatrix sehr stabil und können in Mengen von 200 mg/l in Bakterien routinemässig exprimiert werden. Damit ist die Handhabbarkeit und Ausbeute dieser Systeme sämtlichen Antikörperansätzen bzgl. der Generierung von Bindern überlegen und ein attraktiver Ansatz für die Generierung von Forschungsreagenzien (Binz et al. 2004; Schlehuber u. Skerra 2005). Eine Beurteilung ihrer klinischen Relevanz ist derzeit aufgrund fehlender Daten nicht möglich.
16.5
Perspektiven
Auch wenn auf dem Gebiet der Tumorimmunologie schon seit mehr als 100 Jahren intensiv geforscht wird, so sind dennoch viele Prozesse erst unvollständig bzw. in ihren Anfängen erkannt. Die noch vor wenigen Jahren herrschende Euphorie, als die klinische Verfügbarkeit einer effektiven Impfsubstanz zur Tumortherapie mithilfe der Molekular- und Gentherapie nur noch eine Frage von wenigen Jahren erschien, ist inzwischen verflogen und Ernüchterung macht sich breit (Rosenberg et al. 2004). Auch gibt es erste skeptische Stimmen, die den Ansatz einer tumorspezifischen Vakzinierung von vornherein als unmöglich und damit die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema als Zeitverschwendung deklarieren. Wir können und wollen uns diesem Urteil aus folgenden Gründen nicht anschließen: 1. Die komplexe Interaktion zwischen Tumorzelle und Immunsystem ist immer noch unzureichend erkannt und die zellulären und humoralen Prozesse zum Erzielen einer optimalen Immunisierung müssen besser verstanden werden. Erst wenn das Prinzip einer effizienten Immunisierung gegen Tumorzellen etabliert ist, kann an einem klinisch erfolgversprechenden Vakzinkonzept gearbeitet werden. 2. Die Definition negativ regulatorischer zellulärer Elemente ist erst kürzlich gelungen und zeigte erneut, dass wichtige Prozesse mit eindeutigem Bezug zur Induktion einer optimalen Immunantwort noch nicht ausreichend bekannt sind. 3. Betrachtet man die Entwicklung der aktiven Immuntherapie, drängt sich ein Vergleich mit der Einführung von monoklonalen Antikörpern auf. Wie bereits erwähnt, gab es anfangs eine große Euphorie für diese neue Therapieform und kli-
345 16.5 · Perspektiven
nische Erfolge schienen rasch realisierbar. Als erste klinische Daten erhoben wurden, war die Ernüchterung groß und die Anzahl an Pessimisten überwog deutlich. Erst die Einführung der Molekularbiologie und ein besseres Verständnis für die Interaktion zwischen Antikörper und menschlichem Immunsystem ließ die Entwicklung klinisch relevanter Antikörperkonstrukte zu. Heutzutage herrscht erneut eine Euphorie auf dem Gebiet der Antikörperentwicklung und -therapie, da ein breites klinisches Einsatzgebiet vorzuliegen scheint.
16
Aufgrund dieser Erfahrungen sollte ein abschließendes Urteil über das Potenzial einer aktiven Immuntherapie nicht gefällt werden. Kürzlich publizierte Daten zur Prävention von HPVInfektionen und damit Reduktion an Zervixneoplasien geben erste Hinweise über die Bedeutung der Vakzinierung in der Tumorimmunologie. Nun muss der zweite Schritt mit einer Translation dieser Daten von der Prävention zur Therapie und von viralen zu tumorspezifischen bzw. -assoziierten Antigenen erfolgen.
Zusammenfassung Das Immunsystem hat sich im Laufe der Evolution von wenigen polyreaktiven Molekülen zu einem hochkomplexen System basierend auf einer unspezifischen und spezifischen Immunabwehr mit diversen zellulären und humoralen Elementen entwickelt. Neben seiner Grundaufgabe, der Abwehr exogener Erreger und Gefahren (Toxine), übt es ferner die für das Überleben des Organismus essenzielle Funktion der Tumorabstoßung und Immunüberwachung aus. Gerade die Erforschung der Immunüberwachung und der dazugehörenden Prozesse der Antigenprozessierung und Tumorzellelimination haben entscheidende Einblicke in die dem Immunsystem zugrunde liegenden Mechanismen erlaubt. Eine Aktivierung bzw. Umprogrammierung des Immunsystems und seiner humoralen und zellulären Bestandteile
erscheint derzeit als zentraler Ansatzpunkt für die Entwicklung einer effizienten Immuntherapie maligner Erkrankungen. Auf dem Gebiet der humoralen Antikörpertherapie ist dies in den letzten Jahren eindrucksvoll gelungen und Antikörper stellen sowohl bei soliden als auch hämatologischen Tumoren inzwischen einen Eckpfeiler im Behandlungskonzept dar. Der Traum einer Vakzinierung gegen Tumoren ist aufgrund der Komplexität und dem daraus resultierenden, noch unvollkommenen Verständnis zellulärer Abläufe nicht realisiert. Die Erfolge einer präventiven Immunisierung gegen viral induzierte Karzinome der Zervix deuten aber das Potenzial einer zellulären Immuntherapie bereits an und lassen die Hoffnung zu, dass auf das Jahrzehnt der Antikörpertherapien das Jahrzehnt der Vakzinierungen folgen wird.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
17 Prävention und Früherkennung R. Kath, W. Berger, C.P. Schneider, K. Höffken
17.1
Primäre Prävention – 348
17.2
Sekundäre Prävention – Früherkennung
17.3
Berufsbedingte Tumorerkrankungen
17.4
Besonderheiten bei erblicher Disposition für Krebserkrankungen Literatur – 361
– 355
– 358 – 359
347 17 · Prävention und Früherkennung
> Einleitung
17
Krebs führte nach Schätzungen der WHO im Jahre 2002 weltweit zu 7,1 Mio. Todesfällen. Mehr als die Gesamtzahl von 5,6 Mio. Todesfällen an HIV/Aids/Malaria und Tuberkulose (WHO 2003). In Deutschland besteht kein nationales Cancer-Control-Programm. Beispiele sind in Dänemark, Norwegen, Großbritannien, Frankreich, Kanada und Chile realisiert. Wahrscheinlich werden etwa 80% aller Tumorerkrankungen durch exogene Faktoren verursacht. Diese Schätzung beruht hauptsächlich auf retrospektiven epidemiologischen Assoziations- und Korrelationsstudien. Durch solche Studien wurde beispielsweise der Zusammenhang zwischen Tabakkonsum und der Entstehung des Bronchialkarzinoms sowie verschiedener anderer Tumorerkrankungen gesichert. Umgekehrt ergaben sich nur für wenige Tumorlokalisationen (Gastrointestinaltrakt, Brust, Prostata) Hinweise für hereditäre Tumorursachen (Lichtenstein et al. 2000). Ergebnisse prospektiv geplanter Interventionsstudien mit klarem aussagefähigem Endpunkt liegen nur begrenzt vor. In einigen dieser Interventionsstudien konnte durch eine definierte Nahrungszusammensetzung (Obst/ Gemüse) und durch die Applikation von Nahrungsmitteladditiva (Vitamine/Mineralien) die Tumorinzidenz und -mortalität statistisch signifikant reduziert werden. In chemopräventiven Studien mit Anwendung pharmakologischer Substanzen (z. B. Retinoide) ist dies bislang nicht zweifelsfrei gelungen. Ebenfalls problematisch ist die Abschätzung der individuellen Risikokonstellation für die Entstehung einer bestimmten Tumorerkrankung. Spezielle Präventionsmaßnahmen bei nachgewiesener hereditärer Prädisposition für eine Tumorerkrankung beziehen sich einerseits auf humangenetische Beratungen und andererseits auf spezifische diagnostische und therapeutische Strategien. Für hereditäre kolorektale Karzinome existieren Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie, die u. a. den Leitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft zu entnehmen sind. Auch wenn der exakte Anteil exogener und endogener Faktoren und die Bedeutung von deren Zusammenspiel für die Tumorgenese noch ungewiss ist, dürfte unter Kenntnis und Berücksichtigung der relevanten exogenen Faktoren durch eine geeignete Prävention eine gravierende Reduktion der Tumorinzidenz und -mortalität grundsätzlich möglich sein. Der World Cancer Report der WHO beziffert den Anteil der allein durch Tabakkonsum und Ernährungsfaktoren ausgelösten Krebserkrankungen auf 60% (IARC 2003). Der Identifikation, statistischen Sicherung und quantitativen Beschreibung von Zivilisations-, Ernährungs, Umwelt- und beruflichen Risikofaktoren, die mit der Entstehung von Tumorerkrankungen assoziiert sind (. Tab. 17.1; nach Kath 2004, mod. nach Becker 2004), kommt daher in der Prävention eine wesentliche Bedeutung zu. Tumorprävention und -früherkennung beziehen sich auf eine Reihe von Maßnahmen, die die Tumorinzidenz und Mortalität reduzieren sollen. Die Primärprävention zielt auf die Verhinderung der Tumorerkrankung, die Sekundärprävention auf deren frühzeitige Diagnose, d. h. die Früherkennung in einem heilbaren Stadium.
. Tab. 17.1. Approximative prozentuale Krebsursachen Krebsursache
Häufigkeit [%]
Rauchen
30
Ernährung/Übergewicht
30
Sitzender Lebensstil
5
Berufliche Faktoren
5
Familiäre Vorgeschichte
5
Viren/biologische Agenzien
5
Perinatale Faktoren
5
Reproduktionsvorgeschichte
3
Alkohol
3
Sozioökonomischer Status
3
Schadstoffe/Strahlen/andere
6
6
348
Kapitel 17 · Prävention und Früherkennung
Die Primärprävention hat zum Ziel, Karzinogene und andere Risikofaktoren der Tumorentstehung zu benennen, zu identifizieren und nach Möglichkeit zu vermeiden oder protektive Substanzen zu erkennen, die das Risiko einer malignen Erkrankung reduzieren. Die Sekundärprävention ist an Früherkennungsverfahren gekoppelt, die Tumorerkrankungen bei einer großen Anzahl von Personen in einem asymptomatischen Stadium erkennen sollen. Grundsätzlich sollte innerhalb der primären Prävention zwischen Verzicht auf oder Weglassen von po tenziell kanzerogenen Noxen und der Durchführung von kanzeroprotektiven Maßnahmen, Anwendung von chemopräventiven Substanzen oder chirurgischen Interventionen unterschieden werden.
17.1
Primäre Prävention
17.1.1 Tabakkonsum
17
Der Tabakkonsum, insbesondere das Zigarettenrauchen, ist der wichtigste Einzelfaktor für die Entstehung einer Vielzahl von Tumorerkrankungen. Betroffene Lokalisationen sind: Mundhöhle und Rachen 65%, Speiseröhre 30–50%, Magen 20–35%, Pankreas 15–50%, Kehlkopf 80%, Lunge 75–90% bei Männern und 30– 60% bei Frauen, Niere 30%, und Blase 25–50% (Becker 2004). Selbst nach 2–9 Jahren der Tabakabstinenz besteht für Männer noch ein 19,68-fach erhöhtes Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken (Mertens 1997). Erst nach 10 Jahren gleicht sich das Risiko von ehemaligen Rauchern dem von Nichtrauchern wieder an (Becker 2004). Einen dramatischen Anstieg in der Lungenkrebsinzidenz zeigte eine Analyse der Konsumdauer und -menge. Hierfür wurde der Begriff Packungsjahre (»pack years«) eingeführt: Ein Packungsjahr definiert die Menge an Zigarettenpackungen, die pro Tag geraucht werden, multipliziert mit der Anzahl Jahre, in denen Zigaretten konsumiert wurden. Nach dieser Berechnung besteht für die Entwicklung eines Bronchialkarzinoms bei männlichen Rauchern ein relatives Risiko von 31,77, wenn mehr als 40 Packungsjahre errechnet werden. In den westlichen Industrienationen hat der Tabakkonsum zwischen 1980 und 2007 leicht abgenommen. Dennoch rauchen in Deutschland gegenwärtig rund 35% der Bevölkerung. Ähnliche Veränderungen der Raucherprävalenz und Bronchialkarzinominzidenz werden aus den USA berichtet. Im Gegensatz zu den westlichen Industrienationen nimmt der Tabakkonsum aber weltweit (insbesondere in den Entwicklungsländern, China und den Ländern der ehemaligen UDSSR) weiter zu. In den kommenden Jahren ist insbesondere in China mit einer dramatischen Zunahme tabakassoziierter Tumorerkrankungen zu rechnen. 17.1.2 Alkoholkonsum
Unabhängig von der Art des alkoholischen Getränks ist eine konsistente Erhöhung des Risikos von Mundhöhlen-, Rachen-, Kehlkopf-, Speiseröhren- und Leberkarzinomen nach Alkoholexposition beobachtet worden. Ein Effekt beruht auf der lösungsvermittelnden Eigenschaft des Alkohols für Nahrungskarzinogene aus der Mundhöhle, insbesondere bei mangelhafter Hygiene. Alkohol und Tabakkonsum multiplizieren sich in ihrem Effekt, insbesondere bei Speiseröhrenkarzinomen und Karzinomen der oberen Atemwege. Nach Virushepatitis besteht bei fortbestehender Alko-
holexposition ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines Leberzellkarzinoms. Die derzeitigen Empfehlungen gehen darauf hin, den täglichen Alkoholkonsum bei Männern auf zwei Getränkeeinheiten und bei Frauen auf eine Getränkeeinheit zu beschränken (1 Getränkeeinheit = 0,2 l Bier oder 0,1 l Wein; Becker 2004). 17.1.3 Physische Aktivität
Bei Krebs der Mamma und des Kolons geht man derzeit von einem nachgewiesenen protektiven Effekt durch körperliche Aktivität aus. Bei Prostata- und Endometriumkarzinomen ist dieser wahrscheinlich (IARC 2002). Allerdings sind insbesondere beim Mammakarzinom die beobachteten Zusammenhänge zwischen geringer körperlicher Aktivität und einer erhöhten Tumorinzidenz komplex, da die physische Aktivität häufig nicht von anderen Faktoren, wie Übergewicht, Fettzufuhr und hormonellen Einflüssen (Hyperöstrogenämie), zu trennen ist. Nichtsdestoweniger weisen über 40 epidemiologische Studien darauf hin, dass sportliche Betätigung generell einen protektiven Effekt auf die Entwicklung von Brustkrebs ausübt (Friedenreich 2004). In Berufen mit einer vorwiegend sitzenden Tätigkeit wurde in mehreren Studien ein erhöhtes Kolonkarzinomrisiko beobachtet, während in Berufen, die mit körperlicher Bewegung verbunden sind, bzw. bei Personen, die sich allgemein mehr bewegen, das Erkrankungsrisiko niedriger lag (IARC 2002). Teilweise lässt sich ein Erkrankungsrisiko mit zunehmender Dauer einer sitzenden Tätigkeit nachweisen. Dies ist möglicherweise mit der verzögerten Darmpassage bei sitzender Tätigkeit und der damit verlängerten Karzinogenkontaktzeit begründet. 17.1.4 Ultraviolette Strahlen
Untersuchungen zur Ätiologie und Pathogenese lassen für die Mehrzahl der Melanome und anderer Tumoren der Haut eine kausale Beziehung zwischen der Einwirkung ultravioletter Strahlen und der Tumorinzidenz erkennen (Tucker 2003). Bevölkerungen mit gutem Pigmentschutz (Afrikaner und Asiaten) scheinen ein 10- bis 100-fach niedrigeres Risiko zu haben, ein Melanom zu entwickeln. Armstrong und Kricker (1993) nahmen Schätzungen vor, welcher Anteil der Melanome in Australien durch Sonne bedingt ist. Wurde die Inzidenz von Melanomen in sonnengeschützten Körperarealen als Bezugspunkt gewählt, so wurde der Anteil sonneninduzierter Melanome auf 95% geschätzt. Bei Europäern, die nach Australien eingewandert sind, ergaben sich kor-
349 17.1 · Primäre Prävention
respondierende 70%. Für die Entwicklung eines Melanoms scheinen schon wenige schmerzhafte Sonnenbrandepisoden, intermittierende intensive Sonnenexpositionen und regelmäßige Sonnenexpositionen besonders gefährlich zu sein. Im Vergleich zu epithelialen Hauttumoren ergeben sich für das Melanom folgende weiteren abweichenden Risikofaktoren. Die anatomische Verteilung entspricht nicht den Körperregionen mit der höchsten UV-Belastung. Melanome finden sich gehäuft bei Stadtbewohnern, seltener bei einer Landbevölkerung. Durch geändertes Verhalten im Zusammenhang mit persönlichem Lebensstil und vermehrter Sonnenexposition ist das Melanom mittlerweile von den seltenen Erkrankungen zu einer Volkskrankheit geworden. Allein in den letzten drei Jahrzehnten ist es in Deutschland mit mittlerweile mehr als 8 Fällen/100.000 Einwohnern zu einer Verdoppelung der Inzidenzzahlen gekommen (Garbe 2001). Ebenso ist die Mortalität des Melanoms gestiegen (Blum 2004). 17.1.5 Reproduktive Faktoren und Sexualverhalten
Eine große Zahl von Risikofaktoren ist für das Mammakarzinom beschrieben, u. a. reproduktive Faktoren. Es wird vermutet, dass die langfristige Reduktion der zirkulierenden Östrogene und Gestagene das Risiko, im Laufe des Lebens ein Mammakarzinom zu entwickeln, signifikant reduzieren kann. Frauen, die Kinder geboren haben, zeigen im Vergleich zu kinderlosen Frauen ein 21–70% geringeres Mammakarzinomrisiko. Dies gilt jedoch nicht für Frauen mit einer BRCA1/2-Mutation. Für diese Frauen bedeutet eine Schwangerschaft ein erhöhtes Mammakarzinomrisiko. Für Frauen ohne nachgewiesene BRCA1/2-Mutation besteht eine positive Mammakarzinomkorrelation mit dem Alter der Mutter zum Zeitpunkt der ersten Schwangerschaft und eine negative Korrelation mit der Anzahl der Schwangerschaften. Kinderlosigkeit sowie erstmalige Schwangerschaft nach dem 30. Lebensjahr erhöhen das Mammakarzinomrisiko um etwa das Doppelte. Das Stillen über einen prolongierten Zeitraum hat einen protektiven Effekt auf die Entwicklung eines Mammakarzinoms. Zu den wenigen gut gesicherten Risikofaktoren des Mammakarzinoms gehören eine frühe Menarche und eine späte Menopause. So ist das Risiko von Frauen, deren Menarche vor Vollendung des 12. Lebensjahres lag, um den Faktor 1,2 erhöht gegenüber Frauen mit einer Menarche nach 14 Jahren (Harris et al. 1992). Das Risiko von Frauen mit einer Menopause nach dem 55. Lebensjahr ist etwa verdoppelt gegenüber Frauen mit einer Menopause vor dem 45. Lebensjahr. Auch beim Endometrium- und Ovarialkarzinom ist die Anzahl der Schwangerschaften negativ und eine späte Menopause positiv mit dem Risiko einer Karzinomentstehung assoziiert. Beim Zervixkarzinom hingegen ist die Situation umgekehrt. Hier steigt das Risiko einer Karzinomentwicklung mit der Anzahl der Schwangerschaften an. Erklärt werden diese Verhältnisse mit der jeweiligen hormonellen Konstellation. 17.1.6 Infektiöse Faktoren
Die Rolle infektiöser Erreger bei der Krebsentstehung wurde in der Vergangenheit unterschätzt. Onkogene Viren allein führen beim Menschen nur selten zu einer Tumorerkrankung. Dennoch sind weltweit etwa 15% aller Tumoren durch infektiöse Agenzien verursacht, in den westlichen Industrienationen sind es etwa 5%
17
(Becker 2004). 70% davon sind mit verschiedenen Varianten des humanen Papillomavirus assoziiert (Britten 1995). Dies gilt speziell für das Zervixkarzinom und andere anogenitale Karzinome. Andere onkogene Viren sind das Hepatitis-B- und -C-Virus (hepatozelluläres Karzinom), Herpesviren (Lymphome, nasopharyngeale Karzinome) und Retroviren (adulte T-Zell-Leukämie, Haarzellleukämie). Seit Anfang 2007 sind in Europa die ersten Impfprogramme zur Prävention des Zervixkazinoms zugelassen worden (vorher Zulassung in den USA und Mexiko). Die sog. High-risk- bzw. Low-risk-Papillomvirus-Typen verursachen mehr als 99% der Zervixkarzinome und mehr als 90% der Fälle von Condylomata acuminata. Außerdem sind High-risk-HPV-Typen auch für die Entstehung von mehr als 50% der seltener auftretenden malignen Penis-, Vulva- und Analkarzinome sowie für etwa 30% der Karzinome im Hals- und Rachenbereich verantwortlich. Während die Zahl der Fälle von Gebärmutterhalskrebs gut dokumentiert ist (in Deutschland 7.000 pro Jahr), wird die Inzidenz der häufig therapieresistenten Condylomata acuminata auf jährlich 400.000– 500.000 Fälle geschätzt. Die entwickelten Impfstoffe bestehen aus DNA-freien und damit nicht infektiösen Viruspartikeln (»viruslike particles«, VLP), die durch gentechnische Verfahren hergestellt werden. Die bisherigen klinischen Studien zeigen einen vollständigen Schutz gegen persistierende Infektionen mit den durch den Impfstoff erfassten HPV-Typen sowie gegen damit assoziierte Erkrankungen (Condylomata acuminata und hochgradige Dysplasien). Die bisher vorliegenden Daten lassen vermuten, dass bei jüngeren Schulkindern die höchsten Antikörpertiter induziert werden. Andererseits ist bisher unklar, wie lange der Impfschutz anhalten wird. Gesichert ist eine Schutzdauer von 5 Jahren. Zehn Jahre und mehr dürfen als wahrscheinlich angesehen werden. Die publizierten Studien zeigten, dass HPV-naive Frauen unter 25 Jahren durch die nach Protokoll durchgeführte Impfung zu nahezu 100% vor persistierenden Infektionen und Folgeerkrankungen wie CIN und Condylomata acuminata geschützt waren (Harper 2006). Bei HIV-Infizierten kommt es in ca. 40% der Fälle (Levine 1993) und damit weitaus häufiger als bei nicht HIV-infizierten Personen zu Tumorerkrankungen. Praktisch alle Arten von Tumoren sind bei HIV-Infizierten beschrieben. Bislang wurden jedoch nur das Kaposi-Sarkom (relatives Risiko 1.000 bis 20.000), die hochmalignen Non-Hodgkin-Lymphome (relatives Risiko 37,5 bis ca. 55) und die invasiven Zervixkarzinome (relatives Risiko 2,8 bis 4,9) in die Definition des »aids-related complex« (ARC) aufgenommen. Hierbei spielt jedoch die Immundefizienz als konditionierende Konstellation, nicht das HIV-Virus eine auslösende Rolle. Eine Helicobacter-pylori-Infektion ist ein Kofaktor für die Entstehung von Karzinomen und Non-Hodgkin-Lymphomen des Magens. 17.1.7 Ernährungsfaktoren
Ernährungsfaktoren können die Tumorentstehung auf vielfältige Weise beeinflussen. Es können entweder Karzinogene direkt, z. B. in Form von Mykotoxinen (Aflatoxin, Fumonisin), aufgenommen oder durch Nahrungsfaktoren aktiviert werden. Ferner ist für die Tumorentstehung die Umwandlung von Nahrungsmittelbestandteilen in Karzinogene bedeutsam. Während frühere Studien vor allem die Bedeutung einzelner Nahrungsbestandteile oder -zusätze analysierten, ist in aktuellen Untersuchungen eher der Nahrungsmenge und -zusammensetzung Interesse ge-
350
Kapitel 17 · Prävention und Früherkennung
schenkt worden. Grundsätzlich sollte in der Tumorprävention durch Ernährungsfaktoren zwischen dem Weglassen von Kanzerogenen und dem Hinzufügen von kanzeroprotektiven Nahrungsmittelbestandteilen unterschieden werden.
17
Fettkonsum Insgesamt sind 5% aller in Deutschland auftretenden Krebsfälle bei Männern und 6,8% bei Frauen einem erhöhten Körpergewicht zurechenbar (Bergstrom 2001). Der größte Anteil entfällt auf Endometriumkarzinome (40%) und Gallenblasenkarzinome (25%). Absolut sind jedoch Kolon- und Mammakarzinome wegen der höheren Inzidenz bedeutsamer. Gerade hier sind die Zusammenhänge, wie unten ausgeführt, jedoch eher vermutet als gesichert. In einigen Tierversuchen konnte eine klare Beziehung zwischen der Fettaufnahme und der Inzidenz verschiedener Tumorerkrankungen festgestellt werden. Die tierexperimentellen Daten wurden durch epidemiologische Untersuchungen ergänzt, die für Länder mit hoher Inzidenz an Karzinomen der Mamma, des Kolons, der Prostata und des Endometriums und gleichzeitig hohem Fettkonsum einen Zusammenhang aufzeigen. Diese Daten wurden durch Migrationsstudien erweitert, nach denen die betreffenden Tumorerkrankungen bei Personen, die aus einer Niedriginzidenzregion in eine Hochinzidenzregion wechselten, nach 2–3 Generationen auch eine höhere Inzidenz entwickeln. Hieraus konnte ein indirekter Hinweis auf eher diätetische und weniger hereditäre Ursachen der aufgeführten Tumorerkrankungen abgeleitet werden. Die meisten Studien zum Zusammenhang einer Tumorerkrankung mit dem absoluten Fettkonsum wurden beim Mammakarzinom durchgeführt. Aus der größten Fall-Kontroll-Studie von Graham et al. (1982) an 2.024 Mammakarzinompatientinnen und 1.463 Kontrollpatientinnen sowie mehreren kleineren Arbeiten ergab sich zusammenfassend ein gepooltes Risiko von 1,35 (p<0,0001) pro 100 g Zunahme der täglichen totalen Fettaufnahme. Für postmenopausale Frauen war das relative Risiko sogar mit 1,48 erhöht. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass die insgesamt relativ geringen Unterschiede durch Patientenselektionen hervorgerufen werden. In Kohortenstudien konnte der beobachtete Zusammenhang zwischen der Fettaufnahme und der Mammakarzinominzidenz nicht nachvollzogen werden. Die vier größten Studien (. Tab. 17.2) beinhalten 32.000–89.000 Frauen, die bis zu 8 Jahre nachbeobachtet wurden (Howe et al. 1991; Kushi et al. 1992; van den Brandt et al. 1993; Willett et al. 1992). Eine zusammengefasste Auswertung aller großen Studien zu diesem Thema konnte ebenfalls keinen Zusammenhang zwischen absolutem Fettkonsum und einem erhöhten Mammakarzinomrisiko feststellen (Hunter et al. 1996).
Bei der Diskussion über Fettkonsum und Entstehung von Mammakarzinomen muss ferner berücksichtigt werden, dass zumindest in einer deutschen Studie (Merzenich et al. 1993) Fettkonsum mit früher Menarche korreliert. In anderen Studien war die Korrelation eher mit dem Body Mass Index, der Körpergröße und dem Gewicht gegeben. Eine frühe Menarche wiederum kann, wie oben angegeben, als Risikofaktor für die Entstehung einer Mammakarzinomerkrankung angesehen werden. Die Auswertung der beiden amerikanischen Kohorten Nurses Health Study und Health Professional Study (insgesamt 109.000 Teilnehmer, 2.500 Krebsfälle) zeigte keinen Einfluss des Obst- und Gemüseverzehrs auf das gesamte Krebsrisiko und nur eine geringe (und nicht signifikante) Absenkung des Erkrankungsrisikos für chronische Erkrankungen (5%) insgesamt (Hung et al. 2004). Dieses Ergebnis schließt jedoch nicht aus, dass es für einzelne Krebsarten und in anderen Populationen signifikante Assoziationen gibt. Deshalb sollten zur Beurteilung der Datenlage alle prospektiv angelegten Untersuchungen, die nach Krebsart differenzieren, insbesondere auch die wichtigsten europäischen Studien, herangezogen werden (. Tab. 17.3). Die Daten der prospektiven Kohortenstudien zeigen übereinstimmend, dass zwischen dem Verzehr von Obst und Gemüse und dem Risiko einer Brustkrebserkrankung keine Assoziation besteht (Smith-Warner et al. 2001; van Gils et al. 2005). Sie zeigen aber ein signifikant erniedrigtes Lungenkrebsrisiko in der Quintile (Fünftel) der Studienteilnehmer mit dem höchsten Obstverzehr (Smith-Warner et al., 2003; Miller et al. 2004). Diese Assoziation ist ein Hinweis auf eine schützende Wirkung des Obstverzehrs, kann diese jedoch nicht zweifelsfrei beweisen. Es muss zudem hervorgehoben werden, dass die Daten für den geringeren Obstverzehr von Rauchern korrigiert werden mussten; einige Autoren schließen deshalb nicht aus, dass die Assoziation durch einen Resteffekt des sog. Confounders Rauchen zustande gekommen ist (Smith-Warner et al. 2003). Fettzusammensetzung Für mehrfach ungesättigte Fette wurde in Tierversuchen ein Kausalzusammenhang zu dem Risiko einer Mammakarzinomerkrankung hergestellt. In einer Metaanalyse verschiedener FallKontroll-Studien konnten diese Ergebnisse allerdings nicht bestätigt werden (Howe et al. 1990). Danach war das relative Risiko einer Mammakarzinomerkrankung bei gesättigten Fettsäuren 1,46, bei einfach ungesättigten Fettsäuren 1,41 und bei mehrfach ungesättigten Fettsäuren 1,25. Die Diskussion über die Bedeutung der Fettzusammensetzung wurde ferner kompliziert durch zwei Fall-Kontroll-Studien, die für spanische und griechische Frauen mit einem hohen Nahrungsanteil an Olivenöl mit einfach
. Tab. 17.2. Prospektive Studien zur Korrelation der totalen Fettaufnahme mit dem Risiko einer Mammakarzinomerkrankung Populationsgröße
Nachbeobachtung in Jahren
Nahrungsfettanteil [%]
Relatives Risiko: hohe vs. niedrige Fettaufnahme (Konfidenz)
Literatur
56.837
5
31–47
1,3 (0,9–1,88)
Howe et al. (1991)
32.080
4
27–41
1,13 (0,84–1,51)
Kushi et al. (1992)
89.494
8
29 bis > 49
0,86 (0,67–1,08)
Hunter et al. (1996)
62.573
3
Nicht angegeben
1,1 (0,5–2,4)
van den Brandt et al. (1993)
351 17.1 · Primäre Prävention
17
. Tab. 17.3. Ergebnisse prospektiver Kohortenstudien (>25.000 Teilnehmer) zum Zusammenhang zwischen Obst- und Gemüseverzehr und häufigen Krebsarten Studie
Teilnehmerzahl
Fallzahl
Ergebnis
Referenz
8 versch. Studien
430.000
3.206
Obst: RR-Senkung auf 0,77 Gemüse: RR 0,88 (nicht signifikant)
Smith-Warner et al. (2003)
EPIC
478.000
860
Obst: RR-Senkung auf 0,6 Gemüse: keine Assoziation
Miller et al. (2004)
NL Diet & Cancer
120.800
1.074
Obst: RR-Senkung auf 0,8 Gemüse: RR 0,7
Voorrips et al. (2000)
8 versch. Studien
351.800
7.377
Obst und Gemüse: keine Assoziation (RR 0,93 und 0,96)
Smith-Warner et al. (2001)
EPIC
285.500
3.659
Obst und Gemüse: keine Assoziation (RR 0,98 und 1,05)
van Gils et al. (2005)
NL Diet & Cancer
120.800
>1.000
Kolon: nur bei Frauen, nur Obst und Gemüse kombiniert: RR 0,66 (n.s.) Rektum: nicht signifikant
Voorrips et al. (2000)
ATBC
27.100
185
Obst und Gemüse: keine Assoziation (nur Männer und Raucher)
Pietinen et al. (1999)
Schwed. Mammografie
61.400
460
Obst und Gemüse: inverse Assoziation, niedrigster Obstverzehr RR 1,65
Terry et al. (2001)
ATBC
27.111 (nur Raucher)
267
Obst und Gemüse: keine Assoziation (RR 1,28)
Michaud et al. (2002)
NL Diet & Cancer
120.800
569
Obst: RR 0,74 Gemüse: RR 0,91 (n.s.)
Zeegers et al. (2001)
EPIC
130.500
1.104
Obst und Gemüse: keine Assoziation (RR 1,06 und 1,00)
Key et al. (2004)
HPFS
47.365
2.969
Kohlgemüse: keine Assoziation (RR 0,93)
Giovannucci et al. › (2003)
Lunge
Brust
Kolon/Rektum
Urothel/Blase
Prostata
RR relatives Risiko. Ein relatives Risiko wird als das Verhältnis des Risikos bei den Exponierten (z. B. Studienteilnehmer mit einem geringen Obstund Gemüseverzehr) zum Risiko bei den nicht Exponierten (z. B. Studienteilnehmer mit einem hohen Obst- und Gemüseverzehr) definiert. Beispiel: ein RR von 1,3 bedeutet, dass die Exponierten ein 30% höheres Risiko haben, an dem untersuchten Krebs zu erkranken. n.s. nicht signifikant
ungesättigten Fettsäuren ein vermindertes Risiko einer Mammakarzinomerkrankung, also einen protektiven Effekt beschrieben. Dies ist im Einklang mit der relativ geringen Inzidenz an Mammakarzinomen in Südeuropa. Ähnlich komplex ist die Datenlage beim Kolonkarzinom. Mit wenigen Ausnahmen haben Fall-Kontroll-Studien eine Assoziation zwischen dem Auftreten von Kolonkarzinomen und der Fettaufnahme bzw. Aufnahme an »rotem Fleisch« (Rind, Schwein, Lamm) gezeigt (Yoon 2000). Damit gilt der Zusammenhang als wahrscheinlich, aber nicht gesichert (Becker 2004). Diese Studien haben jedoch meist auch eine Beziehung zur Gesamtenergieaufnahme dargelegt. Insbesondere beim Mann ist der abdominelle
Fettansatz ein Risikofaktor für kolorektale Karzinome. Prospektive Kohortenstudien haben sowohl positive, inverse als auch keine derartigen Zusammenhänge aufgezeigt. In der »Nurses Health Study« (Willet et al. 1990) wurde ein zweifach erhöhtes Risiko einer Kolonkarzinomerkrankung bei Frauen mit dem höchsten im Vergleich zu dem niedrigsten Quintil der Fett- und »Roten-Fleisch-Aufnahme« beobachtet. Hierbei scheint die Fettkomponente jedoch eine geringere Rolle als die Fleischkomponente zu spielen. Im Gegensatz zu »rotem Fleisch« wurde bei »weißem Fleisch« (Geflügel) sowie Fisch mit wachsendem Konsum sogar eine Risikoverminderung für das Kolonkarzinom beobachtet. Trotz der noch nicht gesicherten Datenlage gilt als der-
352
Kapitel 17 · Prävention und Früherkennung
. Tab. 17.4. Risiko für maligne Dickdarmtumoren in Abhängigkeit vom Verarbeitungsgrad. Studientyp
Fleisch gesamt RR (95% CI)
n
Fleisch gesamt RR (95% CI)
n
Fleisch verarbeitet RR (95% CI)
N
Alle Studien
1,12 (0,98–1,30)
18
1,24 (1,08–1,41)
17
1,36 (1,15–1,61)
16
Fall-Kontroll-Studien
1,10 (0,94–1,29)
13
1,26 (1,02–1,55)
8
1,37 (1,13–1,66)
9
Kohortenstudien
0,99 (0,71–1,39)
5
1,22 (1,05–1,41)
9
1,54 (1,10–2,17)
7
zeitige Empfehlung, den Konsum an »rotem Fleisch« auf 80 g/Tag zu beschränken. Zudem haben Ergebnisse einer umfangreichen, im Jahr 2002 publizierten Studie ergeben, dass das Risiko für maligne Dickdarmtumoren mit dem Verarbeitungsgrad von Fleischund Fleischwaren steigt (Norat 2002) (. Tab. 17.4). Prostatakarzinome sind unter den häufigen Krebsarten diejenigen, über deren Ätiologie man am wenigsten weiß. Dennoch, internationale Korrelationsstudien haben bereits früh zu Vermutungen geführt, dass ein Zusammenhang zwischen einem hohen Fettkonsum und Prostatakarzinomen bestehen könnte. Hierbei korrelierte insbesondere die Zufuhr von tierischen, nicht aber pflanzlichen Fetten mit der Mortalität an Prostatakarzinomen (Armstrong u. Doll 1975). Möglicherweise am Erkrankungsrisiko beteiligt sind ein geringer Verzehr von Gemüse und ein hoher Konsum an Milchprodukten (Grönberg 2003).
17
Ballaststoffe Epidemiologische und experimentelle Daten wiesen in der Vergangenheit darauf hin, dass diätetisch zugeführte Getreideprodukte mit hohem Fasergehalt die Inzidenz von Kolon- und Mammakarzinomen senken können. Der Grund könnte in einer obstipationsverhindernden Wirkung mit dadurch bedingter kürzerer Verweildauer von Karzinogenen liegen. Aber auch bei anderen Karzinomen (Ösophagus, Mundhöhle, Pharynx, Magen) zeigte sich eine inverse Beziehung zwischen der Aufnahme von Ballaststoffen und der Tumorinzidenz. Hierdurch wurden die zum Teil großen rassisch, religiös und geografisch bedingten Variationen der Tumorinzidenzen erklärt. Beim Mammakarzinom könnte der Effekt der diätetischen Ballaststoffe indirekt durch eine Senkung der biologisch aktiven Sexualhormone erklärt werden. Neuere Untersuchungen halten diese Aussagen nicht aufrecht (Schneider 2002). In der Studie von Willett et al. (1990) wurde kein protektiver Effekt von Ballaststoffen per se für die Entwicklung von Kolonkarzinomen festgestellt. Zusammenhänge dieser Art, wie sie aus anderen Studien wiederholt berichtet wurden, werden heute eher auf den Anteil von protektiven Vitaminen und Mineralstoffen in den betreffenden Lebensmitteln zurückgeführt (Alberts et al. 2000; Schatzkin et al. 2000). Diese Vermutung wird von zwei prospektiv randomisierten Studien unterstützt, die durch eine ballaststoffreiche Ernährung keinen Effekt auf die Rezidiventwicklung von kolorektalen Adenomen belegen konnte (Alberts et al. 2000; Schatzkin et al. 2000). Obst und Gemüse Ein Minimum von 5 Portionen oder 400 g Obst und Gemüse am Tag wird von vielen Gesundheitsorganisationen empfohlen. Tatsächlich konsumieren Nordeuropäer aber nur die Hälfte. Würde die niederländische Bevölkerung ihren Obst- und Gemüsekonsum von 250 g/Tag auf 400 g/Tag erhöhen, gäbe es nach Grundgaard (2003) 19% weniger Krebserkrankungen in den Nieder-
landen. Ein deutlicher protektiver Effekt für das Auftreten einer Tumorerkrankung ist mit einem hohen Konsum von Früchten und Gemüse verbunden. Dies wurde bereits von Block et al. (1992) berichtet, basierend auf insgesamt 156 epidemiologischen Studien bei verschiedenen Karzinomen (Lunge, Mamma, Zervix, Ösophagus, Mundhöhle, Magen, Harnblase, Pankreas und Ovar). Für die meisten Tumoren ergab sich, dass die Gruppe mit einem niedrigen Früchte- und Gemüsekonsum ein ungefähr doppelt so hohes Risiko einer Karzinomerkrankung hatte wie die Gruppe mit hohem Konsum. Früchte waren besonders protektiv bei Ösophagus-, Mundhöhlen- und Larynxkarzinomen (28 von 29 Studien). Früchte und Gemüse waren besonders protektiv bei Pankreas- und Magenkarzinomen (26 von 30 Studien) und bei Kolonkarzinomen (20 von 27 Studien). Allerdings haben prospektive Studien im Vergleich zu Fall-Kontroll-Studien schwächere Nachweise für die Schutzwirkung von Obst und Gemüse erbracht. Hochinteressante erste Daten erbrachte die EPIC-Studie zum Kolorektalkarzinom. In dieser seit 1993 auf 15–20 Jahre angelegten Studie an 500.000 Europäern in 24 Forschungszentren zeigte sich, dass durch hohen Obst- und Gemüsekonsum das kolorektale Karzinomrisiko um 255 gesenkt werden kann. Aus diesen Daten hat sich weltweit eine »5-a-day«- oder »5-am-Tag«-Kampagne (5-mal am Tag frisches Obst und Gemüse essen) gebildet, die sowohl von der WHO als auch von nationalen Fachgesellschaften wie der Deutschen Krebsgesellschaft unterstützt wird. Für nähere Information: http://www.5amtag.de. Die WHO empfiehlt einen täglichen Obst- und Gemüseverzehr von 400 g, die Deutsche Gesellschaft für Errnährung hält sogar eine Menge von 650 g für wünschenswert. Diese entspricht ungefähr der Aufnahmemenge in den Mittelmeerländern (Agudo 2002). Die »5-amTag«-Kampagne hat ihre Begründung auch in der Beobachtung, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Bevölkerungsgruppen, die viel Gemüse und Obst verzehren, vermindert auftreten (WHO 2003). Dieser Effekt wurde in der US-amerikanischen Studie (Hung et al. 2004) bestätigt: Eine Erhöhung des Obst- und Gemüseverzehrs von durchschnittlich 2,6 auf 9,4 Portionen pro Tag senkte das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen pro Gemüse- und Obstportion um 12%. Die Beweislage für einen protektiven Effekt eines hohen Gemüse- und Obstverzehrs ist also für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erheblich besser als für Krebserkrankungen, wie zudem schon 2003 von einem Expertengremium der Weltgesundheitsorganisation festgestellt wurde (WHO 2003a). Deshalb kann an der allgemeinen Empfehlung, den Obstund Gemüseverzehr in Deutschland auf die in Spanien und Griechenland verzehrte Menge (650 g) anzuheben, festgehalten werden. Die Daten zur Rolle des Obst- und Gemüseverzehrs in der Entstehung des Kolon- bzw. Rektumkarzinom sind bislang inkonsistent, zeigen geringe Effekte und z. T. nur in Subgruppen der Studienpopulationen. Allerdings ist die Rolle der Ernährung für die Entstehung dieser Krebsform am besten belegt: So hatte die
353 17.1 · Primäre Prävention
EPIC-Studie gezeigt, dass ein hoher Ballaststoffgehalt der Ernährung mit einem erniedrigten Dickdarmkrebsrisiko assoziiert ist (Bingham et al. 2003). Nach der jetzigen Datenlage ist also das vermutete krebspräventive Potenzial von Obst und Gemüse geringer als bislang angenommen und auf wenige Krebsarten beschränkt. Ob sich diese Beurteilung nach sehr langen Beobachtungszeiten ändern kann, werden die weiteren Auswertungen der noch laufenden EPIC-Studie sowie anderer großer Kohortenstudien klären. Vitamine und Spurenelemente Eine Reihe von Untersuchungen konnte eine protektive Wirkung von Vitaminen und Spurenelementen gegenüber unterschiedlichen Tumoren aufzeigen. Die wichtigsten randomisierten Studien zur Bedeutung von Vitaminen und Spurenelementen in der Chemoprävention von Tumorerkrankungen konnten diese Ergebnisse jedoch nur teilweise bestätigen: 4 In der ATBC-Studie, deren Abkürzung für »Alpha-Tocopherol, Beta-Carotene Cancer Prevention Study« steht, wurde der Frage nachgegangen, ob die Gabe von oralem α-Tocopherol (Vitamin E), β-Carotin oder beiden Substanzen die Inzidenz an Bronchialkarzinomen bei männlichen Rauchern reduzieren kann. Beginnend im Jahr 1985 wurden 29.133 Probanden für 5–8 Jahre verfolgt. Entgegen der Erwartung ergab sich eine 18%ige Erhöhung der Inzidenz an Bronchialkarzinomen in der β-Carotin-Gruppe. Ferner wurde eine 34%-ige Abnahme der Prostatakarzinominzidenz und eine kleine, aber signifikante Abnahme an kolorektalen Karzinomen in der Vitamin-E-Gruppe beobachtet. 4 Im »Linxian General Population Trial« (Blot et al. 1993) wurde die Frage untersucht, ob die orale Gabe von vier Vitaminkombinationen und Mineralien die Inzidenz an Ösophagusund Magenkarzinomen in einer Hochrisikopopulation in China (Linxian) reduziert. Beginnend im Jahr 1985 wurden 29.584 Probanden über einen Zeitraum von 6 Jahren verfolgt. Es ergab sich eine 21%ige Reduktion an Magenkarzinomtodesfällen in der Gruppe, die β-Carotin, Vitamin E und Selen einnahm. Insgesamt war in dieser Gruppe die Inzidenz aller Karzinomarten reduziert. Ein positiver Effekt zeigte sich ab einer Dauer von 1–2 Jahren Vitamin- bzw. Mineralsubstitution. Einschränkend muss betont werden, dass die beobachteten Effekte nicht direkt auf die Bevölkerung der westli-
chen Industrienationen mit einer traditionell größeren Zufuhr an Vitaminen und Spurenelementen übertragen werden können, sondern eher durch die Behebung eines Ernährungsdefizits in der Studienpopulation zustande gekommen sein dürften. 4 Im »Beta-Carotene and Retinol Efficacy Trial« wurde an 18.314 Rauchern und Asbestexponierten, die mit 30 mg/Tag β-Carotin und 25.000 IU/Tag Retinol vs. Plazebo behandelt wurden, in der Verumgruppe eine signifikante Zunahme an Bronchialkarzinomen beobachtet (Omenn et al. 1996). 17.1.8 Anwendung pharmakologischer Substanzen
(Chemoprävention) Vitamine Die am besten untersuchten Substanzen zur Chemoprävention von Tumorerkrankungen sind Retinoide (natürliche Derivate und synthetische Analoga des Vitamin A) und β-Carotin. Studien wurden vor allem bei Rauchern, Asbestexponierten, Nierentransplantatempfängern, Populationen mit früheren Tumorerkrankungen, oralen Leukoplakien und bronchialen Metaplasien durchgeführt. Kürzlich wurden die Ergebnisse einer groß angelegten randomisierten Studie zur Wirksamkeit des Vitamin-AAnalogons Fenretinide in der Verhinderung eines kontralateralen oder ipsilateralen Mammakarzinoms beim frühen Tumor (T1-T2 oder Carcinoma in situ) vorgestellt. Obwohl bei prämenopausalen Frauen ein potenzieller Nutzen möglich ist, zeigte der primäre Endpunkt (Tumorinzidenz nach 7 Jahren) keine signifikanten Unterschiede (Veronesi et al. 1999). Die Ergebnisse zur chemopräventiven Wirksamkeit pharmakologischer Substanzen zeigen insgesamt, dass Eingangskriterien für Probanden in Chemopräventionsstudien stringent festgelegt werden müssen, um aussagefähige Resultate zu erhalten. Dies betrifft u. a. Variablen des Lebensstils, soziale und sozioökonomische Faktoren. Randomisierte Studien mit mehr als 100 Personen, die die chemopräventive Anwendung von Retinoiden und β-Carotin in verschiedenen Konzentrationen als Monosubstanz oder in Kombination untersucht haben, sind in . Tab. 17.5 und . Tab. 17.6 aufgeführt. Die Daten sind nicht konkludent, da sowohl signifikante als auch insignifikante Ergebnisse beobachtet wurden. Zudem wurde in zwei großen Studien, wie oben ausgeführt, eine Zunahme von
. Tab. 17.5. Randomisierte Studien, in denen Retinoide allein oder in Kombination zur Chemoprävention eingesetzt wurden Populationsgröße
Eingangskriterien
Endpunkt
Signifikanz p
Literatur
384
Orale Leukoplakie
Leukoplakieprävalenz
<0,05
Zaridze et al. (1993)
316
Frühere Kopf-Hals-Tumoren
Sekundärtumoren
n. s.
Bolla et al. (1994)
755
Asbestexposition
Sputumatypien
n. s.
McLarry et al. (1995)
18.314
Raucher und Asbestexposition
Bronchialkarzinom
<0,05a
Omenn et al. (1996)
307
Frühere NSCLC
Sekundäre Primärtumore
0,045
Pastorino et al. (1993)
2.849
Früheres Mammakarzinom
Ovarialkarzinome
0,016
De Paolo et al. (1995)
5.187
Früheres Mammakarzinom
Ipsi- oder kontralaterales Mammakarzinom nach 7 Jahren
n. s.
Veronesi et al. (1999)
a signifikante Zunahme von Bronchialkarzinomen in der Verumgruppe
n. s. nicht signifikant, NSCLC nichtkleinzelliges Bronchialkarzinom
17
354
Kapitel 17 · Prävention und Früherkennung
. Tab. 17.6. Randomisierte Studien, in denen β-Carotin allein oder in Kombination zur Chemoprävention eingesetzt wurden Populationsgröße
Eingangskriterien
Endpunkt
Signifikanz p
Literatur
755
Asbestexposition
Sputumatypien
n. s.
McLarry et al. (1995) Alpha-Tocopherol Beta Carotene Cancer Prevention Study Group (1994)
29.133
Raucher
Bronchialkarzinom
<0,05a
18.314
Rauchen und Asbestexposition
Bronchialkarzinom
<0,05a
Omenn et al. (1996)
22.071
Männliche Ärzte
Karzinome Herzerkrankungen
n. s.
Hennekens et al. (1996)
1.805
Frühere Hauttumore
Sekundäre Hauttumore
n. s.
Greenberg et al. (1990)
29.584
Allgemeine Bevölkerung Linxian (China)
Magen-, Ösophaguskarzinom, Tod
n. s.
Blot et al. (1993)
3.318
Ösophageale Dysplasie
Magenkarzinom, Tod
n. s.
Li et al. (1993)
751
Resezierte Adenome
Rekurrente Adenome
n. s.
Greenberg et al. (1994)
390
Resezierte Adenome
Rekurrente Adenome
n. s.
MacLennan et al. (1995)
a = signifikante Zunahme von Bronchialkarzinomen in der Verumgruppe
n. s. nicht signifikant
Bronchialkarzinomen nach einer »Prävention« beobachtet (Alpha-Tocopherol Beta Carotene Cancer Prevention Study Group 1994; Blot et al. 1993; Omenn et al. 1996).
17
Azetylsalizylsäure und nichtsteroidale Antirheumatika Es gibt Hinweise darauf, dass Azetylsalizylsäure und andere nichtsteroidale Antirheumatika das Risiko einer Tumorentstehung und insbesondere das von kolorektalen Karzinomen reduzieren. Diese Hinweise gründen sich auf experimentelle Studien in Tierversuchen und die Beobachtung, dass Patienten mit einer langfristig medikamentös behandelten rheumatoiden Arthritis und Patienten, die Azetylsalizylsäure zur »Koronarprophylaxe« einnehmen, eine erniedrigte Inzidenz an gastrointestinalen und anderen Karzinomen aufweisen. In 6 Fall-Kontroll-Studien und 6 von 7 Kohortenstudien wurde eine konsistente Risikoreduktion für die Entwicklung von kolorektalen Karzinomen, Adenomen und anderen Tumoren nach der regelmäßigen Einnahme von Azetylsalizylsäure beobachtet. Die einzige randomisierte Studie (Gann et al. 1993) hingegen zeigte keinen signifikanten Effekt. Einschränkend muss betont werden, dass in den genannten Studien eine bewusste, selbstbestimmte Medikamenteneinnahme vorlag, die eine Selektion von besonders gesundheitsbewussten Menschen beinhalten kann. Der Wirkmechanismus der nichtsteroidalen antiinflammatorischen Medikamente in der Regulation der adenomatösen Polyposis coli ist in einer Übersichtsarbeit zusammengefasst worden (. Abb. 17.1; Jones et al. 1999; Shiff u. Rigas 1999; Wu 2000). Für ein nichtsteroidales Antirheumatikum (Sulindac) konnte nachgewiesen werden, dass seine Einnahme zu einer Regression von Kolonpolypen bei der familiären Adenomatosis coli (FAP) führen kann. Allerdings wurden vermehrte kardiovaskuläre Ereignisse in der Langzeittherapie mit Zyklooxygenasehemmern beobachtet. In einer prospektiv randomisierten Studie zur Prävention von Rezidivpolypen im Kolon mit Rofecoxib zeigte sich ein hoch signifikant erhöhtes Infarkt- und Thromboembolierisiko in der Verumgruppe Rofecoxi. Der Effekt wurde
nach einer Behandlungsdauer von 18 Monaten deutlich (Bresalier, 2005). Hormone und Derivate Hormone spielen eine wichtige Rolle in der Ätiologie verschiedener Karzinome. Bei Frauen werden postmenopausale Hormonsubstitution sowie die Einnahme oraler Kontrazeptiva seit Langem als mögliche protektive Faktoren für die Entwicklung eines Kolonkarzinoms diskutiert. Arbeiten zum Kolonkarzinom liefern weitere Belege hierfür, wobei teilweise ein Zusammenhang mit der Dauer der Einnahme der Hormonpräparate aufgezeigt werden konnte. Beim Mammakarzinom wird durch eine langjährige (>5 Jahre) postmenopausale Hormonsupplementierung mit Östrogenen allerdings eine Risikoerhöhung auf das 1,4fache beobachtet (Harris et al. 1992). Ebenso weisen aktuelle Daten an mehr als 50.000 Mammakarzinompatientinnen (Collaborative Group on Hormonal Factors in Breast Cancer 1996) darauf hin, dass durch die langjährige Einnahme von östrogenhaltigen oralen Kontrazeptiva eine Risikoerhöhung für die Entwicklung eines Mammakarzinoms auf das 1,24-fache auftritt. Dieser Risikoerhöhung steht gleichzeitig eine risikovermindernde Wirkung oraler Kontrazeptiva für Zervix- und Ovarialkarzinome gegenüber. Die chemopräventive Anwendung von Antiöstrogenen zur Verhinderung eines Mammakarzinoms wird seit 1986 diskutiert. Die Rationale begründet sich aus der Beobachtung, dass adjuvant mit Tamoxifen behandelte Mammakarzinompatientinnen ein ca. 35% niedrigeres Risiko der Entwicklung eines Mammakarzinoms in der kontralateralen Brust haben als Kontrollpatientinnen. Das Ergebnis einer 1993 initiierten prospektiv randomisierten Studie aus Mailand mit Tamoxifen an gesunden Frauen zur Prävention eines Mammakarzinoms steht noch aus. Die Studie rekrutiert nur hysterektomierte Frauen, da das Risiko der Induktion eines Endometriumkarzinoms durch Tamoxifen ca. 4-fach erhöht ist. Das Risiko, an einem Tamoxifen-induzierten Endometriumkarzinom
355 17.2 · Sekundäre Prävention – Früherkennung
17
. Abb. 17.1. Wirkmechanismus der nichtsteroidalen antiinflammatorischen Medikamente in der Regulation der adenomatösen Polyposis coli
zu versterben, ist jedoch bei Durchführung regelmäßiger gynäkologischer Kontrolluntersuchungen gering. Zudem ist durch die Entwicklung neuer selektiver Östrogen-Response-Modifier (z. B. Raloxifen) ohne intrinsische Östrogenaktivität keine erhöhte Endometriumkarzinominzidenz zu erwarten. Außerdem konnte durch langfristige Raloxifen-Gabe eine signifikante Senkung von ossären Frakturen bei postmenopausalen Frauen mit Osteoporose erreicht werden.
17.2
Sekundäre Prävention – Früherkennung
Früherkennungsmaßnahmen (Screeninguntersuchungen) sind zur Identifizierung von malignen Erkrankungen nur dann sinnvoll, wenn der angewandte Test die Tumorerkrankung in einem frühen Stadium erfasst und eine früh eingeleitete Therapie erwiesenermaßen bessere Ergebnisse als eine erst bei klinischen Symptomen eingeleitete Therapie erbringt. Früherkennungsverfahren werden dann angewandt, wenn die Tumorerkrankung eine erhebliche Morbidität, Mortalität und eine hohe Prävalenz in einem asymptomatischen Stadium aufweist. Es müssen ferner effektive Früherkennungsverfahren mit hoher Sensitivität und Spezifität zur Verfügung stehen. Die Untersuchungen sollten preisgünstig und wenig belastend sein. Diese Voraussetzungen sind derzeit lediglich für wenige Tumorerkrankungen gegeben. Fortschritte in der Molekularbiologie und Molekulargenetik lassen für die Zukunft eine weitere Vorverlegung der Diagnose und eine bessere Definition von Risikogruppen für Tumorerkrankungen erwarten (Wölfl 2002). Die Früherkennungsempfehlungen müssen sich daher dem wissenschaftlichen Fortschritt kontinuierlich anpassen.
Im Idealfall führen Früherkennungsuntersuchungen zu einer reduzierten Mortalität und Morbidität, weniger radikalen Therapieverfahren, einer psychischen Stabilisierung bei negativen Testergebnissen und einer Reduzierung von Kosten für diagnostische und therapeutische Verfahren. Andererseits müssen bei falschpositiven Testergebnissen erhebliche medizinische, psychologische und ökonomische Nachteile einer überzogenen Diagnostik und Therapie berücksichtigt werden. Die gesetzlichen Krebsfrüherkennungsprogramme existieren in Deutschland seit 1971. Sie beinhalten für Frauen ab dem 20. Lebensjahr die Untersuchung des äußeren und inneren Genitale, ab dem 30. Lebensjahr die Untersuchung der Mammae und der Haut und ab dem 45. Lebensjahr die Untersuchung des Rektums und Kolons. Bei Männern schließen die gesetzlichen Krebsfrüherkennungsprogramme Untersuchungen der äußeren Genitale, der Prostata, der Haut, des Rektums und Kolons ein. Die eingesetzten Methoden beinhalten neben einer gezielten Anamnese und körperlichen Untersuchung den Papanicolaou-Abstrich (Zervixkarzinom), Tests auf okkultes Blut im Stuhl (gastrointestinale Karzinome), die Anleitung zur Selbstuntersuchung der Brust und in Abhängigkeit vom Risikoprofil verschiedene Mammografieprogramme. Im Jahr 1990 nahmen in Deutschland nur 14,1% der berechtigten Männer und 34% der berechtigten Frauen an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen teil. Diese unbefriedigende Inanspruchnahme führt dazu, dass selbst bei optimaler Empfindlichkeit der Untersuchungen die Wirksamkeit von Früherkennungsuntersuchungen begrenzt ist. Bei Frauen werden zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr die meisten Vorsorgeuntersuchungen (40% der Frauen) durchgeführt. Diese Altersgruppe entspricht jedoch nicht der Altersverteilung der Zieltumoren. Bei Männern
356
Kapitel 17 · Prävention und Früherkennung
nehmen die auffälligen Untersuchungsbefunde der Prostata, des Darms, des äußeren Genitales sowie positive Testergebnisse auf okkultes Blut im Stuhl mit dem Alter zu. Allgemein sind die altersstandardisierten pathologischen Befunde am niedrigsten bei denjenigen Männern, die die Krebsfrüherkennungsuntersuchungen in kurzem Untersuchungsintervall (1 Jahr) wahrnehmen. Sie sind am höchsten bei Männern, die die Untersuchung entweder zum ersten Mal oder in langen Abständen (3 Jahre und mehr) durchführen lassen. Weiterführende Aussagen zur Morbiditätsentwicklung wie auch zur Effektivität und Effizienz der Früherkennung lassen sich bei der bisherigen Querschnittsdokumentationsstrategie nicht ableiten. Eine zeitlich aufwendige und kostenträchtigere Längsschnittuntersuchung, die eine fallbezogene Früherkennungsdokumentation durchführt, wäre anzustreben, um den tatsächlichen Gewinn der Krebsfrüherkennungsuntersuchungen zu bestimmen. Ferner muss geklärt werden, ob in Zukunft Früherkennungsmaßnahmen nicht nur für bestimmte Zieltumoren, sondern auch für bestimmte Risikogruppen aufgebaut werden können. Ein Beispiel ist die Sputumzytologie bei Rauchern. 17.2.1 Mammakarzinom
17
Allgemein angewandte Techniken zur Mammakarzinomfrüherkennung beinhalten die körperliche Untersuchung, die Selbstuntersuchung der Brust und die Mammografie. Der Wert dieser Untersuchungen wird kontrovers diskutiert. Die Selbstuntersuchung der Brust sollte dennoch gefördert werden, weil hiermit Motivation und Bewusstseinsförderung für präventive Maßnahmen vermittelt werden können. Die seit mehr als 30 Jahren durchgeführten Studien zum Mammakarzinomscreening belegen, dass zumindest Frauen im Alter von 50–70 Jahren von einem Mammografiescreeningprogramm profitieren. Die Mammografie ist zurzeit die einzige für die Erkennung von Brustkrebsvorstufen oder frühen Tumorstadien allgemein als wirksam anerkannte Methode. Prospektiv randomisierte Studien zeigen, dass mit der Einführung einer Screeningmammografie als Röntgenreihenuntersuchung eine altersabhängige Brustkrebssterblichkeitsreduktion um 20–40% möglich ist. Aufgrund der randomisierten Studien ist eine Wirksamkeit der Früherkennungsmammografie für Frauen zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr, neuerdings auch zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr, belegt, aber auch nach dem 70. Lebensjahr anzunehmen. Der individuelle Nutzen der Mammografie überwiegt ab dem 40. Lebensjahr die sich aus der Strahlenexposition ergebenden Risiken. Das besondere Risko-Nutzen-Verhältnis für Frauen zwischen dem 40. und 49. Lebensjahr ist aktuell in einer Übersichtsarbeit von Amstrong et al. (2007) dargelegt. Die besten Empfehlungen zur Anwendung der Screeningmammografie nützen jedoch wenig, wenn die Mammografie technisch unzureichend durchgeführt und qualitativ mangelhaft ausgewertet wird. Der technischen Qualitätssicherung werden die Europäischen Leitlinien zugrunde gelegt (Perry 2001). Spezielle Aus- und Fortbildung des medizinisch-technischen sowie Weiter- und Fortbildung des ärztlichen Personals (Stufenkonzept) muss sichergestellt sein. Bei der mindestens selektiv notwendigen Doppelbefundung (BIRADS III–V) ist die Zweitbefundung durch einen zertifizierten Experten durchzuführen. Die sorgfältige Befunddokumentation und Befundevaluation müssen gewährleistet sein. Das Intervall zwischen Erstbefundung und notwendigen apparativen sowie inva-
siven diagnostischen Zusatzmaßnahmen muss auf ein zeitliches Minimum reduziert werden. Die Wirkungen endogener und exogener Hormone sind bei Durchführung und Befundung diagnostischer Maßnahmen zu berücksichtigen. 4 Indikation: asymptomatische Frauen im Alter zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr. 4 Vor jeder Mammografie: Anamnese, Aufklärung, schriftliche Einwilligung und klinische Untersuchung. 4 2-Ebenen-Mammografie in der Follikelphase prämenopausal, ggf. Absetzen einer Hormonbehandlung postmenopausal. 4 Im Anschluss an die Untersuchung ist der Befund im Gespräch mit der Frau zu erläutern. Die ärztliche Inspektion und Palpation der Brust soll alle 3 Jahre im Alter von 20–40 Jahren und jährlich im Alter von 50 Jahren und älter erfolgen. Der Wert der Selbstuntersuchung der Brust ist trotz entsprechender Empfehlungen derzeit nicht belegt. Frauen mit besonderem Risiko (z. B. BRCA1/2-Mutationen) sollten ein intensiviertes Früherkennungsprogramm erfahren. Dies trifft für Betroffene und deren Angehörige nach humangenetischer Beratung zu. Allerdings fehlen auch weiterhin wissenschaftlich basierte Richtlinien für das adäquate Management (Kuhl et al 2003). Empfohlen werden die halb-jährliche klinische Untersuchung sowie die jährliche Mammografie und Kernspintomografie, die 5 Jahre vor dem Erkrankungsalter der jüngsten betroffenen Verwandten begonnen werden sollten (7 Abschn. 17.4.1). Alle anderen Untersuchungen zur Früherkennung in dieser Risikogruppe sollten im Rahmen von Studien durchgeführt werden. Ob eine Chemoprävention mit Antiöstrogenen oder durch Östrogenentzug (GnRH-Analoga, Aromatasehemmer) bei Frauen mit deutlich erhöhtem Risiko für Brustkrebs diesen einen Benefit bringt, wird derzeit in internationalen randomisierten Studien untersucht. Manche Frauen mit deutlich erhöhtem Brustkrebsrisiko entscheiden sich für eine bilaterale prophylaktische Mastektomie (Meijers-Heijboer 2001). Die subkutane Mastektomie bei dieser Indikation wird wegen des dabei zurückbleibenden Brustdrüsengewebes nicht empfohlen (Metcalfe 1991). 17.2.2 Zervixkarzinom
Das Zervixkarzinom ist weltweit der zweithäufigste Tumor bei Frauen. Der Papanicolaou-Test wurde in den 30er Jahren eingeführt und setzte sich so schnell durch, dass randomisierte Studien nicht durchgeführt worden sind. Die Effektivität der Methode wurde durch Fall-Kontroll-Studien und Kohortenstudien belegt, die durch ein Screening eine 60–90%ige Reduktion an invasiven Karzinomen feststellten. Ein regelmäßiges Screening würde die Mortalität durch das Zervixkarzinom wahrscheinlich um 90% reduzieren können (Eddy 1990). Einen klaren Beleg für den Wert eines nationalen Zervixkarzinomscreeningprogramms zur Reduktion tumorbedingter Mortalität für die Jahre 1950–1995 konnten kürzlich englische Daten liefern (. Abb. 17.2; Quinn et al. 1999). Unsicherheiten bestehen darüber, welche Untersuchungsintervalle gewählt werden sollten und bis zu welchem Alter ein Screening sinnvoll ist. Von einigen Autoren wird eine obere Altersgrenze von 60 Jahren angegeben. Da die Mortalität von Zer-
357 17.2 · Sekundäre Prävention – Früherkennung
17
a
b
. Abb. 17.2. a Reduktion der altersstandardisierten Zervixkarzinommortalität in England zwischen 1950 und 1995 mit Markierung der zeitlichen Einführung des nationalen »Call-Recall-Systems«. b Zunahme
des altersstandardisierten Nachweises von Zervixkarzinomen in situ zwischen 1971 und 1995
vixkarzinomen im Alter zunimmt, erscheint es jedoch nicht sinnvoll, ab einem bestimmten Alter keine Screeninguntersuchungen mehr durchzuführen. Die meisten Empfehlungen zur unteren Altersgrenze beziehen sich auf das Alter von 18–25 Jahren bzw. den Beginn der sexuellen Aktivität und ein jährliches Untersuchungsintervall, bis drei aufeinanderfolgende Untersuchungen ein normales Ergebnis erbracht haben. Danach können die Untersuchungen in einem 3-jährigen Intervall durchgeführt werden.
die rektal-digitale Untersuchung, die Bestimmung des prostataspezifischen Antigens (PSA) und die endorektale Sonografie (TRUS). Empfehlungen zum Screening werden kontrovers diskutiert. Es gibt bislang keinen Beleg dafür, dass ein Prostatakarzinomscreening zu einer reduzierten Mortalität führt (Gerber et al. 1993). Ferner ist die Zunahme an Prostatakarzinomen vor allem durch die Identifizierung von asymptomatischen Fällen zu erklären, deren klinische Signifikanz ungewiss und deren Behandlungsstrategie daher nicht definiert ist.
17.2.3 Hauttumor 17.2.5 Kolonkarzinom
Obwohl keine Ergebnisse aus randomisierten Studien vorliegen, ist anzunehmen, dass durch die regelmäßige ärztliche Inspektion des gesamten Integuments bei hellem Licht und eine ausführliche Anamnese die Mortalität an Hauttumoren allgemein und insbesondere bei Melanomen gesenkt werden kann. Selbstuntersuchungen und Untersuchungen durch Ehepartner und andere Angehörige können ergänzend wirksam sein. Aufklärungsprogramme in Australien haben teilweise beeindruckende Erfolge erzielt. Durch eine frühzeitige Diagnose bestehen gute Voraussetzungen für kurative Interventionen. Die »US Preventive Task Force« empfiehlt regelmäßige Screeninguntersuchungen bei Personen mit einer familiären Häufung an Hauttumoren, dem Nachweis von prämalignen Läsionen und einer erhöhten Sonnenexposition. Allerdings wird hierbei nicht definiert, was unter einer regelmäßigen Screeninguntersuchung zu verstehen ist. Es werden keine Anweisungen für eine Selbstuntersuchung gegeben. Die American Cancer Society empfiehlt eine tumorbezogene klinische Untersuchung, die eine Hautinspektion einschließt. Diese sollte alle 3 Jahre bei Personen über 20 Jahren und »häufiger« bei Personen erfolgen, die besondere Risikofaktoren aufweisen. Andere Empfehlungen sehen eine jährliches »Hautscreening«, regelmäßige Untersuchungen für ältere Personen oder eine Screeninguntersuchung beim Dermatologen vor. 17.2.4 Prostatakarzinom
Prostatakarzinome sind in den westlichen Industrienationen die häufigsten diagnostizierten Karzinome bei Männern und die zweithäufigste Todesursache bei männlichen Tumorpatienten. Die drei hauptsächlich angewandten Screeningmethoden sind
Die Biologie des Kolonkarzinoms mit einer relativ langen Tumorprogressionsphase birgt gute Voraussetzung für die Anwendung von Screeningverfahren. Neben der rektal-digitalen Untersuchung gibt es zwei allgemein akzeptierte Screeningstrategien: Testung auf okkultes Blut im Stuhl und die flexible Sigmoidoskopie. Empfehlungen zum Screening mittels flexibler Rektosigmoidoskopie in 3- bis 5-jährigen Intervallen beziehen sich entweder auf asymptomatische Personen im Alter von 50–75 Jahren oder schließen auch jüngere Personen ein. Die vollständige Koloskopie ist keine primäre Screeningmethode und sollte auf Risikogruppen beschränkt werden. In vier randomisierten Studien, an denen jeweils 45.000– 140.000 Personen teilgenommen hatten, wurde trotz geringer Sensitivität und Spezifität mit der Testung auf okkultes Blut im Stuhl eine signifikante Reduktion von frühen Karzinomen im Stadium Dukes A und B in der untersuchten Gruppe beobachtet (Mandel et al. 1993). In lediglich einer dieser Studien wurde eine 13-Jahres-kumulative Reduktion der Mortalität an kolorektalen Karzinomen von 33% nachgewiesen (Mandel et al. 1993). Die flexible Sigmoidoskopie hat im Gegensatz zur Testung auf okkultes Blut im Stuhl eine höhere Sensitivität und Spezifität bei vergleichsweise niedrigen Kosten. In Fall-Kontroll-Studien wurde durch die Sigmoidoskopie eine 60–80%ige Reduktion der Mortalität an kolorektalen Karzinomen beobachtet (Selby 1993; Selby et al. 1992). Randomisierte Studien zum Wert der flexiblen Sigmoidoskopie als Screeninguntersuchung liegen allerdings nicht vor. Für die Sondersituation bei Patienten mit familiären Kolonkarzinomen liegen Leitlinien der Fachgesellschaften vor. Beim hereditären nicht polypösen kolorektalen Karzinom (HNPCC)
358
Kapitel 17 · Prävention und Früherkennung
. Tab. 17.7. Vorsorgeprogramm beim hereditären nicht polypösen kolorektalen Karzinom (HNPCC) oder Lynch-Syndrom Körperliche Untersuchung
einmal im Jahr
Ultraschall der Oberbauchorgane
einmal im Jahr
Komplette Magen- und Darmspiegelung
einmal im Jahr
Gynäkologische Untersuchung auf Gebärmutterschleimhaut- und Ovarkarzinom einschließlich eines transvaginalen Ultraschalls
einmal im Jahr
Urinzytologie zur Früherkennung von Tumoren der Harnwege
einmal im Jahr
oder Lynch-Syndrom sind entsprechende Vorsorgeprogramm (. Tab. 17.7) entwickelt worden. Zur klinischen Diagnostik des HNPCC-Syndroms wurden die Amsterdam-Kriterien etabliert: 1. Mindestens drei Familienangehörige mit gesichertem kolorektalem oder einem HNPCC-assoziertem Karzinom, einer davon Verwandter 1. Grades der beiden anderen. 2. Erkrankungen in mindestens zwei aufeinanderfolgenden Generationen. 3. Mindestens ein Patient mit der Diagnose eines kolorektalen Karzinoms vor dem 50. Lebensjahr. Bei gesichertem HNPCC-Syndrom wird mit dem Patienten sowie allen seinen Familienangehörigen ein engmaschiges und langfristiges Früherkennungsprogramm erarbeitet. Alle Untersuchungen sollten bei Patienten mit positiver Familienanamnese ab dem 25. Lebensjahr durchgeführt werden.
17.3
Berufsbedingte Tumorerkrankungen
Die Arbeitsgruppe »Krebsbekämpfung am Arbeitsplatz« im Gesamtprogramm zur Krebsbekämpfung der Bundesregierung unterteilt bei berufsbedingten malignen Erkrankungen in Tumoren des Atemtraktes, des blutbildenden und lymphatischen Systems, der ableitenden Harnwege, der Haut, des Gastrointestinaltraktes und anderen Lokalisationen. Tumoren des Atemtraktes stehen an der Spitze aller beruflich bedingten Tumorerkrankungen, vor Leukämien und Tumoren der ableitenden Harnwege. Die Einwirkung von berufsbedingten und nichtberufsbedingten Karzinogenen hat teils additive, superadditive oder multiplikative Effekte. Ein multiplikativer karzinogener Effekt ist beispielsweise für die Asbestexposition und einen gleichzeitigen Tabakkonsum belegt. Die Exposition mit einer großen Anzahl von Karzinogenen, die in der Land- und Forstwirtschaft, im Berg- und Schiffsbau, bei der Metallerzeugung und -bearbeitung, in der chemischen Industrie, im Bau- und Ledergewerbe, bei der Holzverarbeitung, beim Fahrzeugbau, der Glasindustrie und anderen Bereichen anfallen, können den Verdacht auf eine »Berufskrebserkrankung« begründen. Berufskrankheitennummern, in deren Zusammenhang Krebserkrankungen anerkannt werden, sind in . Tab. 17.8 aufgeführt. Jede mehr als 6 Monate andauernde Einwirkung karzinogener Arbeitsstoffe ist einer zentralen berufsgenossenschaftlichen Erfassungsstelle zu melden. Unter Umständen kann jedoch auch schon eine eintägige (exzessive) Karzinogenexposition eine Tumorerkrankung hervorrufen. Die Latenzzeiten bis zur klinischen Manifestation einer berufsbedingten Tumorerkrankung variieren erheblich und liegen meist zwischen 3 und 10 Jahren. Für die Entstehung von Tumoren sind das Lebensalter, in dem die Ein-
. Tab. 17.8. Berufskrankheitennummern
17
Nr.
Krankheit
1103
Erkrankungen durch Chrom oder seine Verbindungen
1108
Erkrankungen durch Arsen oder seine Verbindungen
1301
Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine
1303
Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe oder durch Styrol
1310
Erkrankungen durch halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Alkylaryloxide
2402
Erkrankungen durch ionisierende Strahlen
3101
Infektionskrankheiten, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war
4102
Quarzstaublungenerkrankung in Verbindung mit aktiver Lungentuberkulose (Silikotuberkulose)
4104
Lungenkrebs in Verbindung mit Asbeststauberkrankung (Asbestose) oder in Verbindung mit durch Asbeststaub verursachter Erkrankung der Pleura oder bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaubdosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren (Faser/m2 × Jahre)
4105
Durch Asbest verursachtes Mesotheliom des Rippenfells, des Bauchfells oder des Perikards
4109
Bösartige Neubildungen der Atemwege und der Lungen durch Nickel oder seine Verbindungen
4110
Bösartige Neubildungen der Atemwege und der Lungen durch Kokereirohgase
4203
Adenokarzinome der Nasenhaupt- und Nasennebenhöhlen durch Stäube von Eichen- und Buchenholz
5102
Hautkrebs oder zur Krebsbildung neigende Hautveränderungen durch Ruß, Rohparaffin, Teer, Anthracen, Pech oder ähnliche Stoffe
359 17.4 · Besonderheiten bei erblicher Disposition für Krebserkrankungen
wirkung stattfand, und die Exposition kokarzinogener Faktoren bedeutsam.
17.4
Besonderheiten bei erblicher Disposition für Krebserkrankungen
Für einige Tumorerkrankungen konnte eine überzufällige familiäre Häufung an Erkrankungsfällen nachgewiesen werden. Diese Beobachtung legte den Verdacht nahe, dass es sich hierbei um genetisch bedingte Prädispositionen infolge bestimmter, in der Keimbahn angelegter Mutationen handeln könnte. In den letzten Jahren wurden derartige Mutationen bei mehreren Tumorentitäten identifiziert. Damit ist es möglich, Merkmalsträger im asymptomatischen Stadium, also vor Ausbruch der Erkrankung, zu identifizieren und sowohl einer intensivierten Frühdiagnostik als auch einer genetischen Beratung zuzuführen. 17.4.1 Mammakarzinom
Etwa 5% aller Mammakarzinomneuerkrankungen sind erblich bedingt. Die beiden Tumorsuppressorgene BRCA1 und BRCA2 sind ursächlich an der Entstehung des familiär gehäuften Mammakarzinoms beteiligt. Die von diesen Genen kodierten Proteine sind an der Reparatur von DNA-Doppelstrangbrüchen und an der Regulation der Zellteilung beteiligt. Mutationen im BRCA1Gen werden in ca. 80% aller Familien mit Mamma- und Ovarialkarzinom gefunden. Das Erkrankungsrisiko ist offenbar bei verschiedenen Mutationen unterschiedlich hoch. Es ist unklar, ob die in 7 Abschn. 17.1 beschriebenen Maßnahmen bei diesen Merkmalsträgern effektiv sind, denn das Erkrankungsrisiko ist insbesondere bei BRCA2-Mutationen sehr hoch (32% im Alter von 50 Jahren, 67% bei 70 Jahren und 80% bei 90 Lebensjahren). Die chirurgisch-präventiven Maßnahmen werden kontrovers diskutiert (Meijers-Heijboer 2001). Modellrechnungen lassen zwar theoretisch einen Überlebensgewinn erwarten (Reduzierung der Manifestation von Mamma-, Ovarial- und anderen Karzinomen), einen signifikanten Gewinn an Lebensqualität halten die vorliegenden Untersuchungen jedoch für nicht wahrscheinlich (Graham et al. 1982). Ein intensiviertes Früherkennungsprogramm, das u. a. ab dem 25. Lebensjahr oder 5 Jahre vor dem Erkrankungsalter der jüngsten betroffenen Verwandten halbjährlich eine Mammografie vorsieht, ist detailliert in Kiechle (2002) beschrieben. Durch präventive Maßnahmen soll der Ausbruch einer Erkrankung verhindert, die Erkrankung in ihrer Intensität gemindert oder der erneute Ausbruch vermieden werden. Früherkennung oder Intervention zum Zeitpunkt vor der klinischen Manifestation der Erkrankung ist sekundär präventiv. Die Früherkennung bzw. intensivierte Früherkennungsprogramme konnten aktuell noch keine Reduktion der Mortalität des Mammakarzinoms von BRCA1/2-Mutationsträgerinnen aufzeigen, ist jedoch zum jetzigen Zeitpunkt die am wenigsten invasive und belastende Option. Das empfohlene Früherkennungsprogramm für BRCA1/2-Mutationsträgerinnen bzw. Hochrisikofrauen mit familiärer Belastung wird im Folgenden dargestellt. Jedoch müssen Ratsuchende darauf hingewiesen werden, dass der Beweis der Effektivität der Maßnahmen insbesondere für Hochrisikopatientinnen noch durch weitere Studien bewiesen werden muss.
17
Intensiviertes Früherkennungsprogramm (Beckmann 2004) Früherkennung (angegebenes Alter oder 5 Jahre vor dem Erkrankungsalter der jüngsten betroffenen Verwandten) 4 Ab 25. Lebensjahr monatliche Selbstpalpation 4 Ab 25. Lebensjahr halbjährliche Palpation durch Gynäkologen 4 Ab 25. Lebensjahr halbjährliche Mammasonografie (US, 7,5–13 MHz), ab 40. Lebensjahr evtl. jährlich US 4 Ab 30. Lebensjahr jährliche Mammografie (MG) in 2 Ebenen (ab 35. Lebensjahr abhängig von Brustdrüsendichte) 4 Ab 25.–50. Lebensjahr jährlich MRT (sie endet in der Regel mit dem 50. Lebensjahr oder bei Involution des Drüsenparenchyms)
Die monatliche Selbstuntersuchung der Brust sollte im Alter von 25 Jahren begonnen werden, um eine Regelmäßigkeit und die Gewöhnung an die normalen Eigenschaften des Brustgewebes zu erreichen. Die Ratsuchende sollte die Abtastung der Mammae jeden Monat zum gleichen Zeitpunkt, möglichst am 4.–6. Zyklustag, durchführen, um einen Überblick über Veränderungen im Brustgewebe zu bekommen. Eine Metaanalyse mehrerer Studien ergab eine Senkung der Mammakarzinome <2 cm und Lymphknoten-positive Befunde durch die Selbstuntersuchung. Weiterhin ist eine altersabhängige Mortalitätssenkung von bis zu 25% belegt (Engel 2000). In einer chinesischen Studie mit 266.064 Frauen hingegen konnte keine Reduktion der Mortalität nachgewiesen werden (Thomas 2003). Das Vertrauen in die Selbstuntersuchung und die Genauigkeit der Untersuchungsmaßnahme können mit ärztlicher Beratung und Übung gesteigert werden. Die Selbstpalpation sollte auf Wunsch der Ratsuchenden während eines Beratungsbesuchs in der Tumorrisikosprechstunde gezeigt werden. Indikation für eine BRCA1- und BRCA2-Analyse Bei ungefähr 10–20% der Familien mit hohem Risiko für Brustkrebserkrankungen kann eine kausale Mutation gefunden werden. Etwa 5% aller Mammkarzinome sind Folge einer BRCA1/2Mutation. Der Gentest setzt umfassende Beratungsgespräche in einer erfahrenen klinischen Einheit voraus. Mögliche Indikationen zu einer familiären Gentestung sind (Beckmann 2001; Kiechle 2002): 4 mindestens 2 Frauen der Familie (z. B. Erkrankung <50. Lebensjahr, Mutter, Schwester, Tochter oder Ratsuchende selbst) mit einem Mamma- und/ oder Ovarialkarzinom und mindestens 1 Frau zum Zeitpunkt der Erkrankung <50. Lebensjahr, 4 1 Frau der Familie (Mutter, Schwester, Tochter oder Ratsuchende selbst) mit einem einseitigen Mammakarzinom <30. Lebensjahr, 4 1 Frau der Familie (Mutter, Schwester, Tochter oder Ratsuchende selbst) mit einem beidseitigem Mammakarzinom <40. Lebensjahr, 4 1 Frau der Familie (Mutter, Schwester, Tochter oder Ratsuchende selbst) mit einem Ovarialkarzinom <40. Lebensjahr, 4 1 Frau der Familie (Mutter, Schwester, Tochter oder Ratsuchende) mit einem Mamma- und Ovarialkarzinom unabhängig vom Alter, 4 1 männlicher Verwandter mit einem Mammakarzinom.
360
Kapitel 17 · Prävention und Früherkennung
Weitere zu berücksichtigende Kriterien für eine BRCA1/2-Analyse sind Beckmann (2001, 2004) und Kiechle (2002) zu entnehmen. 17.4.2 Kolorektales Karzinom
17
Obwohl den Ernährungs- und Lebensgewohnheiten bei der Entstehung gastrointestinaler Tumoren eine große Bedeutung zugeschrieben wird, ist davon auszugehen, dass ca. 10% der Kolon- und Rektumkarzinome durch eine genetische Prädiposition bedingt sind. Diese genetisch determinierten Tumorerkrankungen umfassen mehrere klinisch und molekulargenetisch definierte Krankheitsbilder. Dazu gehören das am häufigsten beobachtete LynchSyndrom (oder auch HNPCC: »hereditary non-polyposis colorectal cancer«), die familiäre adenomatöse Polyposis und deren Variante, das hereditäre Flat-adenoma-Syndrom (HFAS) und Gardner-Syndrom, das Turcot-Syndrom sowie die familiäre juvenile Polyposis. Patienten mit familiärer adenomatöser Polyposis entwickeln in nahezu allen Fällen bis zum 50. Lebensjahr ein kolorektales Karzinom. Die bisher einzige Möglichkeit, das Auftreten eines Kolon- bzw. Rektumkarzinoms bei Trägern einer APC-Keimbahnmutation zu verhindern, besteht in der operativen Entfernung des gesamten Kolons und der Rektumschleimhaut. Die in der Vergangenheit durchgeführte Kolektomie mit Erhalt des Rektums hatte zur Folge, dass sich bei etwa 50% der Patienten im Rektumstumpf Adenome bzw. Karzinome bildeten und damit bei diesen Patienten das Ziel der Tumorprävention nicht erreicht wurde bzw. eine zweizeitige Rektumresektion durchgeführt werden musste. Als Operationsmethode der Wahl gilt deshalb derzeit die sphinktererhaltende Kolektomie mit Proktomukosektomie und Rekonstruktion durch eine J-Pouch-Anlage. Hinter dieser Empfehlung treten andere primäre Präventionsmaßnahmen in den Hintergrund, z. B. Chemoprävention mit NSAR, deren alleiniger Nutzen bei diesen Patienten nicht geklärt ist. Über die Entwicklung kolorektaler Karzinome hinaus haben FAP-Patienten ein erheblich erhöhtes Risiko, an einem Malignom des oberen Gastrointestinaltraktes (Ösophagus, Magen, Duodenum) zu erkranken und zu versterben. Insofern gelten hier zusätzlich Regeln intensiverer Überwachung. Die Patienten sollten ab dem 30. Lebensjahr alle 3 Jahre einer Ösophagogastroduodenoskopie (ÖGD) unterzogen werden. Die Amsterdam-Kriterien zur Diagnose eines hereditären nicht polypösen Kolonkarzinoms (Vasen et al. 1991) betonen die Bedeutung einer eingehenden Anamnese. Danach müssen für die HNPCC-Diagnose folgende fünf Punkte erfüllt sein: 4 mindestens drei Familienmitglieder mit kolorektalem Karzinom, 4 mindestens zwei aufeinanderfolgende Generationen betroffen, 4 ein Familienmitglied erstgradig verwandt mit den beiden anderen, 4 ein Erkrankter zum Zeitpunkt der Diagnose jünger als 50 Jahre, 4 Ausschluss einer familiären adenomatösen Polyposis (FAP). Die Bethesda-Kriterien umfassen folgende Kriterien: 4 Patienten mit Krebserkrankungen in Familien, die die Amsterdam-Kriterien erfüllen, 4 Patienten mit zwei HNPCC-assoziierten Karzinomen einschließlich synchroner und metachroner kolorektaler Karzi-
4
4 4 4 4
nome oder assoziierter extrakolonischer Karzinome (Endometrium-, Ovarial-, Magen-, Dünndarm-, Gallenwegs-, Leberkarzinom, Karzinome im Bereich des Nierenbeckens oder Ureters), Patienten mit kolorektalem Karzinom und einem erstgradigen Verwandten mit kolorektalem oder assoziierten extrakolonischen Karzinom und/oder einem kolorektalen Adenom; eine der Krebserkrankungen wurde im Alter <45 Jahren diagnostiziert, das Adenom <40 Jahren, Patienten mit kolorektalem Karzinom oder Endometriumkarzinom, diagnostiziert im Alter <45 Jahren, Patienten mit rechtsseitigem Kolonkarzinom mit einem undifferenzierten (solid/kribiformen) Zelltyp in der Histopathologie, diagnostiziert im Alter <45 Jahren, Patienten mit kolorektalem Karzinom vom Siegelringtyp, diagnostiziert im Alter <45 Jahren, Patienten mit Adenomen, diagnostiziert im Alter <40 Jahren.
Vorsorgeuntersuchungen bei Risikopatienten 4 Verwandte 1. Grades von Patienten mit KRK, 4 wenn Indexpatient <60 Jahre bei KRK-Diagnose, erste Koloskopie spätestens mit 40 Jahren, 4 wenn Indexpatient >60 Jahre bei KRK-Diagnose, erste Koloskopie spätestens mit 50 Jahren, 4 Koloskopie auf jeden Fall mindestens 10 Jahre vor dem Alterszeitpunkt der KRK-Diagnose beim Indexpatienten, 4 Koloskopie alle 10 Jahre wiederholen bei Verwandten von Patienten mit kolorektalem Adenom, 4 wenn Indexpatient bei Adenomdiagnose <60 Jahre, erste Koloskopie mit 40 Jahren, 4 wenn Indexpatient bei Adenomdiagnose >60 Jahre Vorsorge entsprechend asymptomatischer Bevölkerung, Koloskopie alle 10 Jahre wiederholen. 17.4.3 Multiple endokrine Neoplasie (MEN)
Die MEN-2a ist gekennzeichnet durch das zeitlich unabhängige Auftreten endokriner, zum Teil maligner Tumoren (Raue et al. 1994). Der die MEN-2 bestimmende Tumor ist das medulläre Schilddrüsenkarzinom (C-Zell-Karzinom), das bei allen Fällen im Rahmen dieses autosomal-dominant vererbbaren Syndroms auftritt. Weitere benigne Tumoren, die assoziiert mit MEN-2a auftreten, sind in der Hälfte der Fälle Phäochromozytome (z. T. bilateral) und in 15–20% eine Hyperplasie oder Adenome der Nebenschilddrüsen. Bei dem seltenen MEN-2b-Syndrom treten zusätzlich Schleimhautneurome, eine intestinale Ganglioneuromatose und ein marfanoider Habitus auf. Um Träger der für die MEN-2-Formen charakteristischen RET-Mutationen sicher vom C-Zell-Karzinom zu heilen, sollte die Operation vor Entwicklung zervikaler Lymphknotenmetastasen, besser vor Entwicklung eines Karzinoms noch im Stadium der C-Zell-Hyperplasie durchgeführt werden. In der Literatur finden sich Mitteilungen einer C-Zell-Hyperplasie bei MEN-2Patienten im Alter von 1 Jahr, eines invasiven C-Zell-Karzinoms bei einem Kind mit MEN-2a im Alter von 2,7 Jahren und bei einem Kind mit MEN-2b schon im Alter von 1 Jahr, während der früheste Zeitpunkt von Lymphknotenmetastasen bei einem 8-jährigen Kind mit MEN-2 berichtet wurde. Aus diesen Daten lässt sich ein Zeitraum von 3–8 Lebensjahren definieren, in dem die totale Thyreoidektomie bei Familienangehörigen mit
361 17.4 · Besonderheiten bei erblicher Disposition für Krebserkrankungen
nachgewiesener RET-Mutation aus Gründen der Tumorprophylaxe durchgeführt werden sollte. Aus praktischen Erwägungen, die die kindliche Entwicklung und Einschulung ebenso berück-
17
sichtigen wie die chirurgisch bedingte Morbidität, ist als Zeitpunkt der prophylaktischen Thyreoidektomie das 6. Lebensjahr anzustreben.
Zusammenfassung In der Primärprävention ist die Bedeutung des Tabakkonsums bei der Entstehung von verschiedenen Tumoren seit Jahrzehnten unbestritten. Das Ausmaß des tabakbedingten Risikos ist in den letzten Jahren immer weiter nach oben korrigiert worden. Andere Faktoren des Lebensstils, wie Alkoholkonsum, physische Aktivität, Sonnenexposition und Ernährungsgewohnheiten, scheinen gegenüber beruflichen Kanzerogenen und allgemeinen Umweltnoxen eine absolut größere Rolle zu spielen. In den letzten 15 Jahren ergab sich eine Reihe von Hinweisen, die eine Bedeutung der Aufnahme von diätetischen Fetten, Getreideprodukten mit hohem Fasergehalt, Obst, Gemüse und von Vitaminen und Mineralien bei der Tumorverhinderung nahelegen. Die komplexen Zusammenhänge sind jedoch nicht vollständig erfasst. Alle prospektiven Studien sind weniger als 10 Jahre in Nachbeobachtung. Wissenschaftlich gesicherte, konkrete Empfehlungen zur primären Krebsprävention sind daher nur eingeschränkt möglich. Eine Sekundärprävention, d. h. die Anwendung geeigneter Früherkennungsmaßnahmen bei schon eingetretener Tumorerkrankung, führt zumindest beim Zervixkarzinom und beim Melanom zu einer signifikanten Reduktion der Tumormortalität. Beim Mamma- und Kolonkarzinom ist die Effektivität von Früherkennungsmaßnahmen für bestimmte Risikogruppen ebenfalls belegt. Bei anderen Tumorerkrankungen, wie beispielsweise dem Pankreaskarzinom, stehen keine effektiven Früherkennungsmaßnahmen zu Verfügung. Von verschiedenen Organisationen sowie nationalen und internationalen Gesellschaften sind einfache Empfehlungen verfasst worden, die eine Reduktion der Tumorinzidenz und -mortalität durch eine gezielte primäre und sekundäre Prävention bewirken sollen. Das National Cancer Institute der USA beteiligt sich beispielsweise an der Kampagne »5 a day – for better health«, die den Verzehr von mindestens fünf obst- und gemüsehaltigen Mahlzeiten am Tag propagiert. Exaktere Empfehlungen sind derzeit nicht möglich. Ein weiteres Beispiel beinhaltet der »Europäische Kodex gegen den Krebs«, herausgegeben von der Kommission der
Europäischen Gemeinschaften (Vertretung in der Bundesrepublik Deutschland) mit folgenden 10 Regeln (Boyle et al. 1993): 1. Rauchen Sie nicht! Raucher sollten dies so schnell wie möglich befolgen und schon gar nicht in Anwesenheit anderer rauchen. 2. Verringern Sie Ihren Alkoholkonsum: Bier, Wein, Spirituosen! 3. Vermeiden Sie starke Sonnenbestrahlung! 4. Beachten Sie die Sicherheitsvorschriften für Ihren Arbeitsplatz, wenn Sie dort krebserregende Stoffe herstellen, handhaben oder gebrauchen! Ihr allgemeiner Gesundheitszustand wird durch die folgenden zwei Empfehlungen gefördert, die auch das Risiko mancher Krebskrankheiten vermindern: 5. Essen Sie häufig frisches Obst und Gemüse sowie Getreideprodukte mit hohem Fasergehalt! 6. Vermeiden Sie Übergewicht und begrenzen Sie die Aufnahme fettreicher Nahrungsmittel! Mehr Krebserkrankungen werden geheilt, wenn Sie früh erkannt werden: 7. Gehen Sie zum Arzt, wenn Sie eine ungewöhnliche Veränderung bemerken, eine Veränderung an einem Hautmal oder eine abnorme Blutung! 8. Gehen Sie zum Arzt, wenn Sie andauernde Beschwerden haben wie chronischen Husten oder Heiserkeit, dauerhafte Auffälligkeiten bei der Verdauung oder wenn sie einen ungeklärten Gewichtsverlust bemerken! Für Frauen: 9. Gehen Sie regelmäßig zur gynäkologischen Vorsorgeuntersuchung! 10. Untersuchen Sie regelmäßig Ihre Brüste; wenn Sie über 40 Jahre sind, gehen Sie, wenn möglich, in regelmäßigen Abständen zur Mammografie! Nehmen Sie an Mammografieprogrammen teil, wenn Sie älter als 50 Jahre sind.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
II
II Grundprinzipien der Diagnostik 18 Grundzüge der klinischen Diagnostik: Anamnese und körperliche Untersuchung – 365 M. Michl, W. Hiddemann
19 Grundprinzipien der diagnostischen Radiologie – 373 C.D. Claussen, M. Horger
20 Tumormarker in der Diagnostik – 381 P. Stieber
18
18 Grundzüge der klinischen Diagnostik: Anamnese und körperliche Untersuchung M. Michl, W. Hiddemann
18.1
Anamnestisches Gespräch
– 366
18.2
Körperliche Untersuchung
– 369
Literatur – 372
366
Kapitel 18 · Grundzüge der klinischen Diagnostik: Anamnese und körperliche Untersuchung
> Einleitung
18.1
»Anamnese und körperliche Untersuchung« ist vermutlich das am häufigsten geschriebene und am seltensten gelesene Kapitel in medizinischen Büchern. Der Stellenwert ist jedoch auch in einem Zeitalter der mannigfaltigen technischen Diagnostikmöglichkeiten essenziell, da die Erfahrung und Wahrnehmung des Arztes nicht ersetzt werden können. Die Sinnesorgane des Arztes sind eine schnelle und kostengünstige Screening-Methode, auf deren Basis die Entscheidung für die weiterführende Diagnostik fußt. Die große Bandbreite von Beschwerdesymptomatik und klinischer Präsentation erfordert es, bei jedem Patienten eine internistische »Basis«-Anamnese und -Untersuchung durchzuführen (Gruene u. Schölmerich 2006).
Anamnestisches Gespräch
18.1.1 Aktuelle Beschwerden
Das anamnestische Gespräch beginnt mit der patientenzentrierten Phase, in der der Patient den Anlass für den Arztbesuch und seine Beschwerden schildert. Dabei hört der Arzt vorwiegend zu, ordnet das Erzählte gedanklich und definiert ein Leitsymptom. In dieser Phase darf nicht auf Details eingegangen werden. Die Überleitung in die arztzentrierte Phase kann beispielsweise durch eine kurze Zusammenfassung der aktuellen Problematik erfolgen. Unklarheiten in den Erzählungen des Patienten dürfen nicht abgetan oder übergangen, sondern müssen genauer eruiert werden. Durch gezieltes Nachfragen (offene »W-Fragen«) wird die Krankengeschichte vervollständigt. Es sollte so häufig wie möglich eine Quantifizierung vorgenommen werden, z. B. seit Minuten, Stunden, Tagen, Monaten, Jahren oder immer, stündlich, täglich, wöchentlich oder anhand der Schmerzskala 1–10 (s. unten). Stellt sich ein Patient im Chemotherapieintervall oder zu einem erneuten Chemotherapiezyklus vor, so ist der genaue Beginn des letzten Zyklus zu erfragen. So können Therapieneben-
wirkungen wie beispielsweise die Länge der Neutropeniedauer beurteilt werden, die das therapeutische Vorgehen beeinflussen. Idealerweise bringt der Patient seine Blutwerte mit, die im Intervall regelmäßig untersucht werden (Tumorpass). Wurden Blutprodukte transfundiert ist die Anzahl, das Datum und deren Verträglichkeit abzufragen. Wurde bisher keine hämatoonkologische Erkrankung diagnostiziert, kann sich hinter jedem Leitsymptom eine maligne Erkrankung verbergen (. Tab. 18.1). 18.1.2 Systemanamnese
Nach Erhebung der aktuellen Beschwerdesymptomatik folgt die Systemanamnese. Dabei werden die Funktionen bzw. Funktionsdefekte aller Organsysteme systematisch abgefragt, soweit dies noch nicht in der aktuellen Anamnese geschehen ist. Grundsätzlich muss nicht nur das Auftreten von Symptomen (»pertinent positives«), sondern auch die Abwesenheit von Symptomen (»pertinent negatives«) beschrieben werden, da beide in die differenzialdiagnostischen Überlegungen mit einfließen. Aufgrund der Vielfalt an Manifestationsformen und -orten hämatoonkologischer Erkrankungen mit vielfältigen Therapienebenwirkungen
. Tab. 18.1. Übersicht über die häufigsten soliden Karzinome und Hämoblastosen und deren klinische Leitsymptomen
18
Organ(-system)
Symptom
Tumorerkrankung
ZNS
Krampfanfall, Hemiparese, Ausfall eines Hirnnerven (z. B. Facialisparese), Kopfschmerzen, Wesensveränderung
Hirnmetastasen (z. B. Mamma-, Bronchialkarzinom), Meningeosis leucaemica, Chlorom, primärer Hirntumor
Kardiovaskuläres System
Synkope, Schwindel, Herzrasen, Dyspnoe
Maligner Perikarderguss
Respiratorisches System
Dyspnoe, Hämoptoe/-ptyse
Bronchialkarzinom
Gastrointestinales System
Schluckstörungen, Hämatemesis, Teerstuhl Hämatochezie, Diarrhoe/Obstipation Ikterus Flush-Symptomatik
Magenkarzinom, Ösophaguskarzinom Kolorektales Karzinom Lebermetastasen, Pankreaskarzinom, HCC, CCC Karzinoid
Urogenitales System
Hämaturie, Harnverhalt
Urothel-, Nierenkarzinom
Muskuloskeletal periphere Nerven
Schmerz, Schwellung, Paresen, Parästhesien
Sarkome, extranodale NHL
Lymphsystem
Lymphadenopathie (zervikal, axillär, inguinal), obere/untere Einflusstauung
M. Hodgkin, NHL, Leukämien, Lymphknotenmetastasen solider Karzinome
Knochenmark
Schwäche, Müdigkeit, Blutungen, Infektionen
Leukämien, Lymphome, KM-Infiltration durch solides Karzinom
Endokrines System
Hypo-/Hyperthyreose,
Schilddrüsenkarzinom
367 18.1 · Anamnestisches Gespräch
und Komplikationen darf dieser Teil nie weggelassen werden. Hat der Patient eine Chemotherapie erhalten, wird entsprechend des Nebenwirkungsprofils nach deren Verträglichkeit gefragt (z. B. periphere Sensibilitätsstörungen unter Vinkaalkaloiden?). Analog einer Toxizitätsskala der Common Terminology Criteria of Adverse Events des National Cancer Institute (NCI CTCAE), die von der Food and Drug Administration (FDA) regelmäßig aktualisiert wird, erfolgt die Einteilung in Grad 0 (keine Nebenwirkung) bis 5 (Nebenwirkung mit Todesfolge). Neben vom Patienten geschilderten Beschwerden werden ebenso klinische und laborchemische Untersuchungsbefunde beurteilt, die als Therapienebenwirkung angesehen werden. Im Rahmen der Systemanamnese können Vorerkrankungen, relevante Voroperationen, Vorsorgeuntersuchungen und die aktuelle Medikamenteneinnahme organbezogen mit abgefragt werden. 4 B-Symptome: Fieber >38°C, Nachtschweiß (Wechseln der Schlafbekleidung nötig) und ungewollter Gewichtsverlust >10% des Körpergewichts innerhalb von 6 Monaten werden als B-Symptome bezeichnet. Die Bezeichnung gründet sich auf der Ann-Arbor-Klassifikation. Ihr Auftreten gilt als prognostisch ungünstiges Zeichen bei Lymphomen (Anderson et al. 1982; Gobbi et al. 1985). 4 Anämie-, Blutungs- und Infektanamnese: Hämatoonkologische Patienten leiden häufig unter den Folgen einer Knochenmarkinsuffizienz oder -aplasie, die Folge der Erkrankung selbst oder der zytostatischen Therapie ist. Klinische Zeichen von Anämie (1), Leukozytopenie (2) und Thrombozytopenie (3) müssen daher abgefragt werden. 1. Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Leistungsknick, (Belastungs-)dyspnoe, Herzrasen; 2. Fieber, Schüttelfrost, produktiver Husten, Dysurie, Diarrhoe, Hautinfekte, Schwäche; 3. Petechien, Hämatome (spontan? Trauma erinnerlich?), Sugillationen, Epistaxis, Zahnfleischbluten, Hämatemesis, Hämatochezie, Teerstuhl. Bei Infektneigung können ursächlich außerdem immunsuppressiv wirkende Medikamente (z. B. Steroide) oder ein Antikörpermangel im Rahmen der Grunderkrankung infrage kommen, bei Blutungsneigung eine Koagulopathie oder antithrombozytäre Antikörper. 4 Peripheres und zentrales Nervensystem: Kopfschmerzen, Schwindel, Krampfanfälle, Synkopen, Paresen, Parästhesien (Vinkaalkaloide?), Apoplex oder Krampfleiden in der Vorgeschichte. 4 Haut und Schleimhaut: Hautausschlag, Bläschen an Lippen und im Mund (Herpesvirusinfektion?), Hautinfektionen. 4 Augen, Ohren, Nase, Mundhöhle: Grüner oder grauer Star, Hörminderung (Vinkaalkaloide?), häufige oder chronische Nasennebenhöhlenentzündungen, Zahnstatus (Infektfokus?). 4 Lymphsystem: vergrößerte, schmerzhafte oder druckdolente Lymphknoten an Hals, Axilla oder Leiste. 4 Kardiovaskuläres System: Herzrasen/-stolpern, thorakale Schmerzen, Beinödeme, Belastbarkeit (Gehstrecke in Metern), Vorhofflimmern (Antikoagulation?), KHK oder Herzinfarkt in der Vorgeschichte (Ziel-Hb>10 g/dl). Kardiovaskuläre Risikofaktoren: arterielle Hypertonie (antihypertensive Medikamente?), Hyperlipidämie/-cholesterinämie, Diabetes mellitus, Nikotinabusus. Letzte EKG, UKG und Ergometrie.
18
4 Respiratorisches System: Dyspnoe (Ruhe-, Belastungs-, Sprech-, Orthopnoe), Husten (trocken vs. produktiv), COPD, Asthma bronchiale, tiefe Beinvenenthrombose oder Lungenarterienembolie in der Vorgeschichte (Antikoagulation?). 4 Gastrointestinales System: Inappetenz, Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Diarrhoe, Obstipation (letzter Stuhlgang?), Hämatemesis, Meläna, Hämatochezie, Teerstuhl, Gelbfärbung von Haut und Skleren, Bauchumfangszunahme, Voroperationen im Bauchbereich, letzter Hämokkult-Test, letzte Gastroskopie und Koloskopie. 4 Urogenitaltrakt: Dysurie, Algurie, Pollakisurie, Hämaturie, Niereninsuffizienz, rezidivierende Harnwegsinfekte (welche Antibiotika?). Frauen: vaginale Blutungen, Bauchumfangszunahme, letzte gynäkologische (Vorsorge-)untersuchung, PAP-Abstrich. Männer: letzte urologische Vorsorgeuntersuchung (PSA-Wert). 4 Muskuloskeletales System: Knochen-, Muskel-, Gelenkschmerzen (G-CSF erhalten?), Fehlstellung (pathologische Fraktur). 4 Brustdrüse: tastbarer Knoten, Blut- oder Sekretaustritt aus Mamille, Hautveränderungen (Einziehungen, Orangenhaut, Ekzem). 4 Endokrinologie: Hypo-/Hyperthyreose (orale Einnahme von Schilddrüsenhormon?), Diabetes mellitus (orale Antidiabetika oder parenterale Insulinsubstitution?). 4 Erhaltene Bluttransfusionen (Anzahl, Verträglichkeit, Komplikationen). 4 Allergien oder Medikamentenunverträglichkeiten. 4 Tumorpassnummer. 18.1.3 Allgemein- und Ernährungszustand
Die Einschätzung von Allgemeinzustand oder Leistungsstatus (»performance status«) des Tumorpatienten durch den untersuchenden Arzt hat therapeutische und prognostische Relevanz. Daher wurden speziell für Patienten mit maligner Grunderkrankung einige Bewertungssysteme entwickelt. Am häufigsten werden der 1949 von Karnofsky et al. entwickelte Index (Karnofsky 1949) und die 1982 von der Eastern Cooperative Oncology Group (ECOG) entworfene Leistungsskala (Oken et al. 1982) verwendet (. Tab. 18.2). In Abhängigkeit von Leistungsfähigkeit, Aktivitätszustand, Erfüllung von Alltagstätigkeiten sowie Hilfs- und Pflegebedürftigkeit wird dem Patienten eine Nummer 0–5 (ECOG) oder ein Prozentsatz 0–100% (Karnofsky) zugeordnet. Sowohl bei der Erstanamnese als auch im weiteren Therapieverlauf müssen oben genannte Fähigkeiten abgefragt und der Patient bezüglich seines Leistungsstatus beurteilt werden. Neben anderen Kriterien nehmen der ECOG-Performance-Status bzw. der Karnofsky-Index Einfluss darauf, ob eine Chemotherapie durchgeführt werden kann, welche Zytostatika verabreicht werden können und ob eine Dosisreduktion vorgenommen werden muss. Im weiteren Verlauf können das Therapieansprechen sowie die Toxizität der Behandlung mitbeurteilt werden. Validität, Reliabilität und Objektivität der beiden Bewertungssysteme wurden bisher nur wenig im Rahmen von Studien untersucht. Bisherige Studien zeigen jedoch eine enge Korrelation der beiden Bewertungssysteme, die unabhängig von Krankheitsstadium, Therapieansprechen und Untersucher sind (Buccheri et al. 1996; für eine kritische Diskussion s. Ando et al. 2001; Blagden et al. 2003). Der ECOG-Performance-Status besitzt vermutlich gegenüber dem Karnofsky-
368
Kapitel 18 · Grundzüge der klinischen Diagnostik: Anamnese und körperliche Untersuchung
. Tab. 18.2. ECOG-Performance-Status und Karnofsky-Index. Der ECOG-Performance-Status wird im angloamerikanischen Raum auch WHO-, Zubrod- oder AJCC-Score genannt ECOG Performance Status
Karnofsky Index (%)
0
100
1
2
3
4
5
Normale Leistungsfähigkeit und Aktivität
Einschränkung bei körperlicher Anstrengung, aber gehfähig, leichte körperliche Arbeit bzw. Arbeit im Sitzen möglich Gehfähig, Selbstversorgung möglich, aber nicht arbeitsfähig, <50% der Wachzeit an Bett oder Stuhl gebunden Nur begrenzte Selbstversorgung möglich, >50% der Wachzeit an Bett oder Stuhl gebunden Ständig bettlägrig und völlig pflegebedürftig, keinerlei Selbstversorgung möglich
Tod
Normalzustand, keine Beschwerden, keine manifeste Erkrankung
90
Normale Leistungsfähigkeit, minimale Krankheitssymptome
80
Normale Leistungsfähigkeit mit Anstrengung, geringe Krankheitssymptome
70
Eingeschränkte Leistungsfähigkeit, arbeitsunfähig, kann sich selbst versorgen
60
Eingeschränkte Leistungsfähigkeit, braucht gelegentliche fremde Hilfe
50
Eingeschränkte Leistungsfähigkeit, braucht krankenpflegerische und ärztliche Hilfe, nicht dauernd bettlägrig
40
Patient ist bettlägerig, spezielle Pflege erforderlich
30
Patient ist schwer krank, Krankenhauspflege notwendig
20
Patient ist schwer krank, Krankenhauspflege und supportive Maßnahmen erforderlich
10
Patient ist moribund, Krankheit schreitet schnell fort
0
Tod
Index eine etwas höhere prädiktive Aussagekraft bezüglich der Prognoseeinschätzung. Ernährungsprobleme treten häufig im Rahmen einer malignen Erkrankung auf. Entweder durch den Tumor selbst (Passagehindernis, Resorptionsstörung) oder indirekt (Inappetenz, Übelkeit) kann es zu starkem Gewichtsverlust bis zur Tumorkachexie kommen. Daher ist eine Ernährungsanamnese mit folgenden Fragen für die weiteren supportiven Maßnahmen essenziell: 4 Kann der Patient feste und flüssige Nahrung oral aufnehmen? 4 Besteht Inappetenz? 4 Wie viel trinkt der Patient (Quantifizierung beispielsweise in Tassen oder Gläser). 4 Kann er hochkalorische Flüssignahrung zu sich nehmen? 4 Wird er bereits parenteral ernährt?
18
Immunsuppressiva) zu erwarten. Daher kann eine regelmäßige Bestimmung der Serumspiegel notwendig sein. Wachstumsfaktoren. Eine Leukozytopenie oder Leukozytose im Blutbild kann durch eine zu kurze oder zu lange Applikation von Wachstumsfaktoren (z. B. G-CSF) bedingt sein. Daher ist die Dosierung und Anzahl der Tage, an denen G-CSF gespritzt wurde, abzufragen. Immunsuppressiva. Steroide sind häufig eingesetzte Substanzen im Rahmen von Chemotherapieprotokollen, bei ZNS-Befall oder als Antiemetika. Des Weiteren werden immer mehr Patienten einer allogenen Stammzelltransplantation zugeführt, der eine medikamentöse Langzeitimmunsuppression folgt. Opportunistische Infektionen und ein erweitertes Erregerspektrum müssen in die differenzialdiagnostischen Überlegungen mit einfließen.
18.1.4 Medikamentenanamnese
Schmerzmedikamente. s. Schmerzanamnese (7 Abschn. 18.1.6).
Alle Tumorpatienten haben meist eine lange, sich ständig ändernde Medikamentenliste. Bei individueller Compliance sollte konkret nach der Einnahmezeit, -dauer und -dosis gefragt werden (Lopez-Gomez et al. 2008). Außerdem sollte der Arzt die Medikamentenliste auf Sinn- und Lückenhaftigkeit überprüfen und Medikamentenunverträglichkeiten abfragen. Im Folgenden wird auf einzelne Medikamentengruppen eingegangen, die bei hämatoonkologischen Patienten für besonders relevant erachtet werden.
Antikoagulantien. Häufig nehmen Patienten aufgrund von koronarer Herzkrankheit, Vorhofflimmern, tiefer Beinvenenthrombose oder Lungenarterienembolie in der Vorgeschichte Thrombozytenaggregationshemmer (z. B. Aspirin, Clopidogrel), orale Antikoagulationen (z. B. Marcumar) oder spritzen niedermolekulares Heparin. Bei zytostatikainduzierter Thrombozytopenie oder insuffizienter plasmatischer Gerinnung bei Lebermetastasen müssen diese Medikamente pausiert werden, um schwerwiegende Blutungskomplikationen zu vermeiden. Andererseits haben Tumorpatienten ein erhöhtes Risiko für die Ausbildung von tiefen Beinvenenthrombosen, Lungenarterienembolien oder Thrombosen an atypischen Stellen wie in der Pfortader oder in arteriellen Gefäßen, die einem Tumorleiden vorangehen können (Lyman et al. 2007). Von der American Society of Clinical Oncology wird derzeit empfohlen, dass alle Tumorpatienten bei fehlenden Blutungskomplikationen und anderen Kontraindikationen im stationären, nicht jedoch im ambulanten Bereich (Ausnahme: unter
Antibiotika, Antimykotika, Virostatika. Bei Infekten sind die genauen Präparate, die Tagesdosis und die Anzahl der Tage, an denen diese eingenommen wurden, zu erfragen. Wurde bei Nichtansprechen auf eine andere Substanzgruppe umgestellt, ermöglicht dies die Abschätzung der Resistenzlage der Erreger. Bei der Einnahme einiger Substanzen sind Wechselwirkungen (CYPInduktion/Hemmung) mit anderen Medikamenten (Zytostatika,
369 18.2 · Körperliche Untersuchung
Thalidomid oder Lenalidomid), prophylaktisch antikoaguliert werden (Akl et al. 2008a; Akl et al. 2008b). Niedermolekulares Heparin wird sowohl prophylaktisch als auch therapeutisch den oralen Antikoagulantien vorgezogen (Zabora et al. 2001). Antihypertensiva und orale Antidiabetika. Im Laufe der Tumorerkrankung und der Chemotherapiezyklen kommt es häufig ungewollt zur Umstellung des Essverhaltens und zur Gewichtsreduktion. Durch Normalisierung der Blutdruck- und Blutzuckerwerte kann der Bedarf an antihypertensiven und antidiabetischen Medikamenten sinken und das Risiko für hypotensive Synkopen und gefährliche Hypoglykämieepisoden steigen. Vor StagingUntersuchungen mittels Computertomographie muss Metformin pausiert werden, um ein akutes Nierenversagen mit renaler Laktatazidose zu verhindern. 18.1.5 Psychosoziale Anamnese und Familienanamnese
Die Diagnose »Krebs« wird von vielen Patienten anfangs als »Todesurteil« aufgenommen. Nach der initialen »Schockphase« setzt sich der Patient mit den Krankheitsfolgen auseinander, und findet sich häufig in einer starken Belastungssituation wieder. Etwa ein Drittel aller Krebspatienten entwickelt im Laufe der Behandlung eine klinisch relevante psychische Komorbidität (Zabora et al. 2001). Für den behandelnden Arzt ist es wichtig, das soziale Netzwerk zu kennen, in dem der Patient mit seiner Diagnose und Erkrankung psychisch und physisch aufgefangen wird. Der Beruf kann einerseits für die Exposition mit karzinogenen Substanzen verantwortlich sein, andererseits für den Patienten die einzige Einbindung in ein soziales Netzwerk bedeuten. Das konkrete Fragen nach der psychischen Stimmung oder nach der Verarbeitung bzw. dem Umgang mit der Erkrankung gibt dem Patienten die Möglichkeit sich zu öffnen. Bestehende Familienkonflikte oder finanzielle Probleme verstärken die Belastungssituation. Selbstvorwürfe, Suizidgedanken, Zukunftsängste oder die Vernachlässigung von Alltagstätigkeiten können eine Anpassungsstörung oder reaktive Depression anzeigen, die behandelt werden muss. Neben der pharmakologischen Therapie kann dem Patienten und auch dessen nahestehenden Angehörigen eine psychoonkologische bzw. psychotherapeutische Betreuung angeboten werden. Eine positive Familienanamnese bezüglich einer hämatoonkologischen Erkrankung oder Gerinnungsstörung kann bei der Diagnosefindung hilfreich sein. Außerdem sollten die Geschwister oder Kinder von Patienten mit maligner Erkrankung und bekannter erblicher Komponente frühzeitig und regelmäßig Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen. Bei Hämatoblastosen ist die Anzahl der Geschwister, deren Gesundheitsstatus und Wohnort von Interesse, da deren HLA-Status erfasst und sie als mögliche Spender im Falle einer allogenen Stammzelltransplantation registriert werden sollten. Mit jüngeren Patienten ohne abgeschlossene Familienplanung ist bei Kinderwunsch die Möglichkeit der Kryokonservierung von Spermien und Oozyten vor Therapieeinleitung zu besprechen.
18
zum Arzt, der die Schmerztherapie einleiten oder optimieren soll. Eine genaue Schmerzanamnese muss die Fragen nach der Schmerzlokalisation, -qualität, -auslöser, -zeitpunkt (viszeral vs. muskuloskeletal vs. neurogen) beantworten. Mithilfe einer Zahlenskala (1–10) werden Schmerzspitzen identifiziert und ein 24-hSchmerzprofil erstellt. Erhält der Patient bereits eine Schmerztherapie, sind die genauen Schmerzmedikamente (WHO-Stufenschema), der Einnahmezeitpunkt (Uhrzeit) und die letzte Umstellung der Schmerzmittelliste von Interesse. Bei Übelkeit, Erbrechen oder Schluckstörungen ist auf eine andere Applikationsform umzusteigen, bei Medikamentenunverträglichkeiten auf andere Präparate oder Substanzen. Da das Schmerzempfinden von Menschen sehr unterschiedlich ist und durch Wahrnehmung und Emotionen beeinflusst wird, sollten gezielt Gefühle wie Ängste, Ärger, Traurigkeit sowie Freude, Geborgenheit und Zuwendung abgefragt werden. Anhand der Schmerzanamnese werden die Medikamentenauswahl, die Dosierung, die Applikationsform sowie das Einnahmeintervall festgelegt. Sie bildet damit den Grundstock für eine suffiziente Schmerztherapie. Häufig nehmen Patienten die verordneten Medikamente nicht nach der Uhrzeit, sondern erst bei Auftreten von Schmerzen, um Nebenwirkungen wie z. B. Schläfrigkeit unter Opioiden zu vermeiden. Eine Aufklärung des Patienten über die Notwendigkeit der Einnahme der Schmerzmedikamente nach der Uhrzeit kann bereits die richtige Therapie darstellen, u. a. um die Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses zu vermeiden. 18.1.7 Der palliative Patient
Die Betreuung palliativer Patienten ist ein ärztlicher Teilbereich der Hämatoonkologie. Im Zentrum steht die symptomatische Behandlung von Fatigue, Schmerzen, Kachexie und Anorexie, Übelkeit und Erbrechen, Mukositis, Obstipation und Diarrhoe, Dyspnoe, Flüssigkeits- und Ernährungsproblemen, Angst und Depression (Symptomauflistung nach Lipman et al. 2000). Die Aufgabe des Arztes ist es, Beschwerden und Symptome gezielt abzufragen und behebbare oder akut interventionsbedürftige Ursachen auszuschließen. Die Beurteilung der ambulanten Führbarkeit, der körperlichen Aktivität, der selbstständigen Versorgungsfähigkeit und des Bewusstseinszustands des Patienten ermöglicht analog einer Palliative Performance Skala (PPS) eine prädiktive Aussage bezüglich des Überlebens (Lau et al. 2009). In der Regel helfen jedoch Angehörige oder Pflegedienste im Rahmen einer ambulanten Heimversorgung bei der Bewältigung von Alltagstätigkeiten, körperlichen Hygiene, Zubereitung von Nahrung oder parenteralen Ernährung. Der Arzt sollte eine mangelhafte Versorgung des Patienten erkennen und ggf. eine Erhöhung der Pflegestufe oder eine stationäre Aufnahme in ein Krankenhaus, eine Palliativstation oder ein Hospiz einleiten. Hilfreich ist das Vorliegen einer Patientenverfügung, die einerseits dem Patienten ein Mitbestimmungsrecht einräumt und andererseits dem Arzt ermöglicht den Patientenwunsch mit entsprechenden Mitteln zu verfolgen.
18.1.6 Schmerzanamnese
18.2
Körperliche Untersuchung
Tumorpatienten sind häufig durch starke Schmerzen geplagt, die ihre Lebensqualität einschränken. Ruheschmerzen, Einschränkung der körperlichen Aktivität oder Schlaflosigkeit führen sie
Aus Gewicht und Körpergröße des Patienten lässt sich seine Körperoberfläche (in m2) berechnen. Der Patient sollte bei jeder Vorstellung gewogen werden, da starke Gewichtsschwankungen
370
Kapitel 18 · Grundzüge der klinischen Diagnostik: Anamnese und körperliche Untersuchung
während des Therapieverlaufs eine Korrektur der Zytostatikadosis erforderlich machen. Durch regelmäßiges Wiegen können außerdem ein Gewichtsverlust bei mangelnder oraler Nahrungszufuhr oder Resorptionsstörung sowie eine Gewichtszunahme bei Flüssigkeitseinlagerung (Aszites?) verifiziert und entsprechend therapeutisch angegangen werden. Die Vitalparameter (Blutdruck, Herzfrequenz, Temperatur, Sauerstoffsättigung) zeigen an, ob ein Patient vital bedroht ist und eine stationäre oder intensivmedizinische Überwachung benötigt. Da eine entsprechende klinische Symptomatik oft fehlt, dienen sie u.a. der Erkennung einer Dehydratation, einer Sepsis, eines fieberhaften Infekts oder eines Sauerstoffmangels (CAVE: Sauerstoffsättigung kann bei Anämie im Normbereich sein!). . Abb. 18.1. Zervikale Lymphadenopathie
18.2.1 Herz, Lunge und Abdomen
Die Palpation, Perkussion und Auskultation von Herz, Lunge und Abdomen gehört zu jeder internistischen Untersuchung und darf nie weggelassen werden. Im Folgenden wird auf die hämatoonkologischen Ursachen der Untersuchungsbefunde eingegangen. Herz 4 Tachykardie und funktionelles Systolikum bei Fieber oder Anämie; 4 Tachykardie und Hypotonie bei Dehydratation, Kreislaufschock (septisch, Volumenmangel) oder Perikarderguss (maligne, infektiös); 4 pathologische Herzgeräusche bei chemotherapieinduzierter Kardiomyopathie (Anthrazykline); 4 obere Einflussstaung bei mediastinaler Raumforderung (Bronchialkarzinom, Lymphom, Teratom, Schilddrüsenkarzinom).
18
Lunge 4 Dyspnoe bei Anämie, Pneumonie, Lungenarterienembolie oder chemotherapieinduzierter Kardiomyopathie mit Herzinsuffizienz; 4 feuchte Rasselgeräusche bei Pneumonie (mit Bronchophonie oder Pleurreiben) oder chemotherapieinduzierter Lungenfibrose (Bleomycin); 4 trockene Rasselgeräusche bei Bronchospasmus im Rahmen einer allergischen Reaktion (z. B. nach Immunglobulingabe) oder Aspergillenpneumonie; 4 fehlendes oder abgeschwächtes Atemgeräusch bei Pleuraerguss (infektiös, maligne), Pneumothorax (spontan, nach Pleurapunktion) oder poststenotischer Atelektase; 4 Stridor (s. obere Einflussstaung). Abdomen 4 Fehlende oder hochgestellte Darmgeräusche bei Passagehindernis, Elektrolytstörung oder Urämie; 4 tastbare Resistenzen und lokaler Druckschmerz bei abdomineller Raumforderung oder Leberkapselschmerz bei Metastasierung; 4 aufgetriebenes Abdomen bei Aszites (Peritonealkarzinose, Lebermetastasen, Ovarialkarzinom, Eiweißmangel, Pfortaderthrombose) oder Obstipation; 4 Abwehrspannung bei Milzruptur oder Perforation eines Hohlorgangs bei Tumornekrose;
4 Peritonismus bei infektiösen Prozessen (Abszess, gedeckte Perforation); 4 Hepato- und/oder Splenomegalie bei Tumorinfiltration oder extramedullärer Blutbildung; 4 digital-rektale Untersuchung: tastbarer Tumor im Enddarm oder Blut am Fingerling bei kolorektalem Karzinom. 18.2.2 Lymphknotenstationen
Normalerweise sind Lymphknoten nicht tastbar, <1 cm groß (inguinal <2 cm), weich und nicht druckdolent. Sie werden nach folgenden Kriterien beurteilt: 4 Lokalisation: zervikal (okzipital, retroaurikulär, präaurikulär, submandibulär, supraklavikulär, infraklavikulär), axillär, inguinal. 4 Größe: Die Angabe erfolgt in cm. Ab >1 cm (inguinal >2 cm) spricht man von Lymphadenopathie (. Abb. 18.1). Größenangaben wie erbs-, kirschkern- oder nussgroß etc. sind obsolet. Von »bulky disease« oder Lymphknoten-Bulk spricht man bei Lymphomen, wenn Lymphknotenpaktete ein Mindestmaß (in cm) erreicht haben. Die Beurteilung kann in der Regel nicht klinisch, sondern erst durch die radiologische Bildgebung erfolgen. 4 Konsistenz: weich, gummiartig, steinhart. 4 Verschieblichkeit: verschieblich im Unterhautfettgewebe vs. verbacken miteinander oder der Umgebung (Lymphknotenpakete). 4 Druckschmerzhaftigkeit: druckdolent vs. druckindolent. Neben hämatoonkologischen Erkrankungen stellen infektiöse Lymphknotenschwellungen die wichtigste Differenzialdiagnose dar. 1. Je älter der Patient mit Lymphadenopathie, desto höher die Wahrscheinlichkeit einer malignen Erkrankung. 2. Jede unklare Lymphadenopathie, die länger als 3 Wochen anhält, muss histologisch abgeklärt werden 18.2.3 Haut, Schleimhäute, Haare und Nägel
4 Blasse Schleimhäute oder Konjunktiven bei Anämie; 4 petechiale Einblutungen vor allem an der unteren Extremität bei Thrombozytopenie (. Abb. 18.2);
371 18.2 · Körperliche Untersuchung
18
. Abb. 18.3. Candidabefall der Mundschleimhaut (Soor) (aus Burgdorf, W.H.C. 2008)
. Abb. 18.2. Petechiale Hautblutungen am Fußrücken bei Thrombozytopenie (aus Burgdorf, W.H.C 2008)
4 digital-rektale Untersuchung: knotige, tastbar verhärtete Prostata bei Karzinom 18.2.5 Neurologisches und muskuloskeletales System
4 Hämatome oder Sugillationen bei Störungen der plasmatischen Gerinnung; 4 stehende Hautfalten bei Dehydratation; 4 Infektzeichen wie Rötung, Schwellung, Überwärmung oder Eiter bei Pilzinfektion, Erysipel, Phlegmone, Abszess oder Thrombophlebitis; 4 Haut- und Sklerenikterus bei Tumor bedingter Cholestase; 4 Exanthem, Hautschuppung, Alopezie, Nagelveränderungen nach Chemotherapie (Cytarabin, Erlotinib, Hand-Fuß-Syndrom bei Capecitabine; Gilbar et al. 2009; Ulrich et al. 2008). 18.2.3 Mundhöhle
4 Mukositis °I (Erythem, schmerzlos), °II (Ulcera, orale Nahrungsaufnahme möglich), °III (Ulcera, orale Nahrungsaufnahme nur mit Schmerzmedikamenten möglich), °IV (Nekrosen, parenterale Ernährung) (McGowan 2008); 4 weiße Stippchen oder Schlieren bei Soor (. Abb. 18.3); 4 Aphten oder Bläschen bei Herpes-simplex-Infektion; 4 Schleimhautpetechien bei Thrombozytopenie; 4 Infektfoci bei schlechtem Zahnstatus; 4 Druckstellen oder offene Infektfoci unter Zahnprothesen. 18.2.4 Urogenitalsystem
4 Klopfschmerzhafte Nierenlager bei Harnstau durch postrenale Kompression der Harnabflusswege;
4 Eingeschränkte Vigilanz bei Dehydratation, Infektion, Sepsis, Opioidüberdosierung, Hyperkalzämiesyndrom, Urämie, Leberversagen; 4 periphere sensorische oder motorische Neuropathie nach Chemotherapie (Vincaalkaloide); 4 Meningismus bei Meningeosis carcinomatosa oder Meningitis; 4 Hemiparese, fokale neurologische Ausfälle oder Krampfanfälle bei intrakranieller Raumforderung, Blutung (Thrombozytopenie? gestörte plasmatische Gerinnung) oder Infektion; 4 klopfschmerzhafte Wirbelsäule bei Knochenmetastasen; 4 Krepitation, Achsenfehlstellung des Kochens, pathologische Beweglichkeit oder eingeschränkte Beweglichkeit, Schmerzen oder Hämatome bei pathologischer Fraktur. Die klinische Diagnostik erfolgt nur wenig standardisiert und ist »observer-dependent«. Die Anamnese und körperliche Untersuchung dürfen jedoch nicht auf ein rein diagnostisches Medium reduziert werden. Sie dienen ebenso zum gegenseitigen Kennenlernen und zum Aufbau eines Arzt-Patienten-Verhältnis. Dieses ist vermutlich in wenig anderen Fächern von so großer Relevanz und Intensität wie in der Hämatoonkologie. Aufgrund der häufig langen Erkrankungsdauer und intensiven, nebenwirkungsreichen Therapie erfolgt die Betreuung der Patienten oft über Monate, Jahre oder bis ans Lebensende. Ein gutes Arzt-Patienten-Verhältnis mit der entsprechenden Kommunikation beeinflusst die Compliance des Patienten und den Krankheitsverlauf positiv (Vermeire et al. 2001).
372
Kapitel 18 · Grundzüge der klinischen Diagnostik: Anamnese und körperliche Untersuchung
Zusammenfassung Der Stellenwert von Anamnese und körperlicher Untersuchung ist auch in einem Zeitalter der mannigfaltigen technischen Diagnostikmöglichkeiten essenziell, da die Erfahrung und Wahrnehmung des Arztes nicht durch technische Geräte ersetzt werden können. Gleichzeitig ermöglicht sich der Aufbau eines ArztPatienten-Verhältnisses, das nachweislich die Compliance des Patienten und dessen Krankheitsverlauf positiv beeinflusst. Das Kapitel »Klinische Diagnostik« stellt das anamnestische Gespräch und die körperliche Untersuchung bei hämatoonkologischen Patienten dar. Kenntnisse über eine allgemeine Basisuntersuchung vorausgesetzt, geht es weit über das Abfragen von B-Symptomen und das Tasten von vergrößerten Lymphknoten hinaus. Neben der aktuellen Beschwerdesymptomatik und Systemanamnese beinhaltet dieses Kapitel eine nach Leitsymptomen gegliederte Übersicht über die häufigsten Malignome. So kann beispielsweise eine körperliche Schwäche nicht nur durch eine Hypothyreose, sondern auch durch Leukämien entstehen, und ein Krampfanfall nicht nur bei Epilepsie, sondern auch bei Hirnmetastasen. Es wird auf in der Onkologie gängige Bewertungssysteme des Allgemein- und Leistungszustands wie den ECOG-Status oder Karnofsky-Index eingegangen. In der Medikamentenanamnese werden Substanzgruppen und einzelne Präparate besprochen, deren Applikation während
einer Tumorerkrankung oder -therapie sorgfältig überprüft werden muss. Antikoagulatien, Immunsuppressiva etc. können im Laufe der Erkrankung zu schwerwiegenden Komplikationen führen oder mit Zytostatika interagieren. Die Chemotherapienebenwirkungen selbst beurteilt man anhand einer international anerkannten Toxizitätsskala. Außerdem wird eine ausführliche Schmerzanamnese dargestellt, welche die Basis für eine suffiziente Schmerztherapie bildet. Des Weiteren werden die psychosozialen und psychoonkologischen Aspekte diskutiert, da etwa ein Drittel aller hämatoonkologischen Patienten eine psychische Komorbidität entwickelt, die eine eigenständige Therapie erfordert. Die Erhebung der Familienanamnese dient nicht nur dem Erkennen einer genetischen Prädisposition, sondern auch der Identifikation von Geschwistern als potenzielle Knochenmarkspender. Ein Abschnitt ist dem Kontakt mit palliativen Patienten gewidmet, da deren Betreuung einen Teilbereich der Hämatoonkologie einnimmt. Die körperliche Untersuchung von Herz, Lunge und Abdomen ist vollständig auf den hämatoonkologischen Patienten ausgelegt und durch eine genaue Beschreibung von Lymphadenopathie sowie Haut- und Schleimhautveränderungen u. a. in der Mundhöhle ergänzt. Zur Verbesserung der Anschaulichkeit sind Abbildungen aus der klinischen Praxis eingefügt und verschiedene Textstellen mit Literaturangaben versehen.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
18
19
19 Grundprinzipien der diagnostischen Radiologie C.D. Claussen, M. Horger
19.1
Grundlagen
– 374
19.2
Bildgebende Verfahren
19.3
Diagnostische Strategien Literatur – 380
– 375 – 377
374
Kapitel 19 · Grundprinzipien der diagnostischen Radiologie
19.1
Grundlagen
19.1.1 Rolle und Evaluation der
onkologischen Bildgebung Die Bildgebung stellt eine wichtige Säule im Gesamtbehandlungskonzept von Tumorpatienten dar. Sie ermöglicht nicht nur eine größere Verlässlichkeit der Diagnose sowie eine objektivierbare Therapiekontrolle, sondern spielt auch eine tragende Rolle im Rahmen der Frühdiagnostik möglicher Komplikationen. Gleichwohl ist bis heute nicht klar, in welchem Grad die Technologie tatsächlich das Wohl des Patienten verbessert; eine Frage, die gerade im Hinblick auf technische Neuerungen von erheblicher Bedeutung ist (Husband u. Reznek 2000). Entsprechend wurden Strategien entwickelt, die Informationskette von der Bildgebung bis zur klinisch-therapeutischen Entscheidung genauer zu fassen und die Interaktionen der einzelnen Glieder zu bewerten (Aberle et al. 2005). Als relevante Glieder dieser Kette wurden folgende Ebenen benannt: Leistungsfähigkeit der Technologie, diagnostische Erfahrung und Güte, Einfluss dieser Größen auf die Diagnose, Einfluss der Diagnose auf die Therapie, Einfluss der Therapie auf die Prognose und schließlich der Kosten-Nutzen-Faktor der neuen Technologie (Cancer Stats Mortalitiy UK 2003). In diesem Algorithmus bedingen sich die etwaigen positiven oder negativen Effekte auf den verschiedenen Ebenen gegenseitig. Es bleibt gleichwohl schwierig, den Einfluss eines spezifischen bildgebenden Verfahrens auf einen etwaigen Gesundheitsgewinn der Patienten zu erfassen. Wichtig bleibt am Ende, dass wenn auch die Bildgebung keinen unmittelbaren Einfluss auf das Outcome haben kann, sie jedoch wesentlichen und unbestreitbar wachsenden Einfluss auf therapeutische Entscheidungen der klinischen Kollegen anderer Fachdisziplinen nimmt und so auch einen Einblick in die immer komplizierteren Bildgebungsverfahren gewähren sollte. 19.1.2 Von der Morphologie zur Funktion
Neben einer zunehmend verbesserten morphologischen Diagnostik mittels der modernen Schnittbildverfahren wie der Multidetektor-Computertomografie (CT) und der Magnetresonanztomografie (MRT) machen die modernen radiologischen Verfahren, insbesondere die Positronenemmisionstomografie in Kombination mit der CT (PET-CT) sowie die in der Entwicklung befindliche PET-MRT auch eine funktionelle Bildgebung bis hin zur molekularen Ebene (sog. »molecular imaging«) möglich.
19
19.1.3 Strategien in der Bildgebung
Die enorme Dynamik der technischen Innovationen macht eine umfassende und objektive Bewertung vor ihrer Implementierung zunehmend schwerer. Bei der Bewältigung dieser Herausforderung sind in erster Linie die Radiologen gefordert. Gleiches gilt für die nicht immer einfache Entscheidung, welche onkologische Fragestellung unter Einsatz welcher radiologischen Methode beantwortet werden sollte. Eine Standardfrage ist die nach dem Tumorstaging im Rahmen der initialen Patientenvorstellung. Handelt es sich um therapierbare Tumoren, muss der Therapieerfolg meist bildmorphologisch gesichert werden. Die Wahl der Methode richtet sich hierbei im Übrigen nicht allein nach deren
Eignung, die Pathologie zu erkennen, sondern ist von der Möglichkeit auch einer ausreichend spezifischen Charakterisierung abhängig, vor allem aber die Abgrenzbarkeit zur nicht malignen Läsion von Bedeutung. Demjenigen Verfahren, welches vor Therapiebeginn zum Einsatz kam, sollte grundsätzlich der Vorzug im Verlauf gegeben werden; da Tumoren häufig singuläre und gewebsbedingte Bildgebungseigenschaften tragen, hilft oft die ursprüngliche Charakterisierung, ein etwaiges Rezidiv im Verlauf zu erfassen (Husband et al. 2004). Schließlich wird ganz allgemein der positive Beitrag einer onkologischen Bildgebung durch den engen interdisziplinären Austausch verstärkt. Dieser sollte am besten im Rahmen von klinischradiologischen Tumorkonferenzen erfolgen und für den gesamten Krankheitsverlauf eines Patienten die radiologischen Ergebnisse in den klinischen und therapeutischen Kontext stellen. 19.1.4 Primäres onkologisches Staging
Die bildgebende Diagnostik spielt eine zentrale Rolle beim Staging maligner Tumoren. Ein unvollständiges oder inadäquates Staging stellt eine der häufigsten Ursachen für suboptimale Therapien dar. Das Staging sollte dabei stets die folgenden Informationen beinhalten: Definition der lokalen Ausdehnung der Erkrankung, einschließlich der exakten anatomischen Lokalisation des Primärtumors, der Lage in Bezug auf angrenzende vitale Organe und des Grades ihrer Infiltration; ferner die Information bezüglich einer Fernmetastastasierung (Parsons et al. 2004, Takamochi et al. 2000). Das zur Verfügung stehende Instrumentarium ist vielfältig und umfasst neben der konventionellen Röntgendiagnostik die Schnittbildmethoden Ultraschall (US), Computertomografie (CT) und Magnetresonanztomografie (MRT) sowie nuklearmedizinische Verfahren wie die Szintigrafie, einschließlich SPECT (Singlephotonenemissionstomografie) und die Positronenemissionstomografie (PET). An die neuen funktionellen Methoden wie PET und Tumor-SPECT, insbesondere auch in Kombination mit modernster Schnittbilddiagnostik (PET-CT, SPECT-CT, PET-MRT) werden große Erwartungen in der onkologischen Diagnostik gestellt. Bei der Wahl des bildgebenden Verfahrens und den zu empfehlenden Zeitintervallen für Kontrolluntersuchungen müssen prinzipiell mehrere Faktoren berücksichtigt werden: die Biologie des Primärtumors und Mechanismen der hämatogenen Metastasierung, die Wahrscheinlichkeit von Fernmetastasen, die Sensitivität und Spezifität des jeweils eingesetzten bildgebenden Verfahrens, die Auswirkung auf das Patientenmanagement sowie schließlich die Kosten der jeweiligen Untersuchung. Auch muss bei der Auswahl der zur Verfügung stehenden radiologischen Modalitäten differenziert werden, inwieweit eine Abklärung des Primärtumors bzw. der Nachweis oder aber Ausschluss von Metastasen im Vordergrund stehen. Hier weisen die unterschiedlichen Modalitäten zum Teil erhebliche Schwankungen hinsichtlich Sensitivität und Spezifität auf. Jüngste Studienergebnisse belegen beispielsweise die hohe Sensitivität der MRT im Nachweis ossärer Metastasen (90– 100%) bei allerdings etwas geringerer Spezifität. Gleichzeitig gilt die CT weiterhin als Referenzmethode bei der Abklärung pulmonaler Raumforderungen. Im Bereich des Abdomens hat die Sonografie Ihren Stellenwert in der Abklärung von Leberraumforderungen auch unter Einsatz von Ultraschallkontrastmitteln unter Beweis stellen können. Somit ist in Abhängigkeit von der primären Tumorentität eine Kombination verschiedener Verfahren manch-
375 19.2 · Bildgebende Verfahren
19
mal erforderlich. Exemplarisch sei hier das Bronchialkarzinom genannt; neben der Beurteilung des Lokalbefundes und des thorakalen Lymphknotenstatus mittels CT haben Modalitäten wie die Ganzkörper-PET bei der Beurteilung der lymphogenen oder ossären Fernmetastasierungen ihren Stellenwert.
19.2
Bildgebende Verfahren
19.2.1 Computertomografie (CT)
Die in der onkologischen Bildgebung am häufigsten eingesetzte Methode ist die CT. Es ist die erste Methode im Rahmen des Stagings, der Therapiekontrolle und der Bestrahlungsplanung (Hopper et al. 2000). Gleich ob es um eine Metastasensuche in der Lunge oder Leber geht oder aber um die Ausbreitungsbeurteilung von primären Hals-, Brust-, Becken- und Abdominaltumoren bzw. deren Verlaufskontrollen, die CT spielt hier die zentrale Rolle. Dabei hat die CT in den letzten 10 Jahren eine erhebliche Entwicklung genommen. Diese lässt sich auf drei wesentliche Entwicklungen zusammenfassen. Zunächst erlaubte die stetig wachsende Computerleistung nach und nach den Einsatz einer höheren Matrix (512×512) mit Steigerung der Auflösung, später wurden dank komplexerer und verbesserter Rekonstruktionsalgorithmen, kürzere Rekonstruktionszeiten sowie die Darstellung virtueller Endoskopien des Kolons, der Luftwege sowie der Nasenebenhöhlen möglich (Rydberg et al. 2000). Weiterhin kommt der Entwicklung der Spiral-MDCT mit bis zu 128 Schichten gleichzeitig eine große Bedeutung zu. Diese hat nicht nur die Untersuchungszeiten erheblich reduziert, sondern auch die Bildqualität deutlich verbessert. Für den Krebspatienten bedeutet dies eine Untersuchung von Thorax, Abdomen und Becken mit einer einzigen Kontrastmittelapplikation in weniger als einer Minute und weit höheren Gewebskontrasten als sie die konventionelle CT bieten konnte (. Abb. 19.1). Schließlich wurden stärkere hitzebeständige Röntgenröhren entwickelt, welche Untersuchungen mit ebenso hohen Spannungs- und Stromstärken erlauben, wie sie in der konventionellen CT verwendet wurden. Mit einer modernen CT-Technologie kann die Auffindbarkeit selbst kleiner Tumoren methodisch auf dreierlei Weise verbessert werden. Zunächst gilt es, die Fenstermitte möglichst zwischen den Dichtewerten des Tumors selbst und der des umgebenden Gewebes einzustellen. Von noch größerer Bedeutung ist die Anfertigung sowohl nativer als auch kontrastangehobener Bilder. Die ausschließliche Gewinnung nativer Bilder mag ihre Berechtigung bei hypervaskularisierten und verkalkten Läsionen haben. Dennoch ist sie häufig nicht effizient und somit wenig kosteneffektiv (Oliver et al. 1997). Dies gilt besonders für die Spiral-CT mit ihrer verbesserten Kontrastauflösung. Tatsächlich ist die Untersuchung vieler Organe, vor allem aber der Leber, der Niere und des Pankreas, in mehreren Phasen von unschätzbarem Nutzen, zumal durch die Dynamik der Kontrastmittelanreicherungen in verschiedenen Tumoren ganz entscheidende funktionale Informationen gewonnen werden, die wiederum eine bessere Gewebscharakterisierung und Differenzierung zwischen gut- und bösartig zulassen (Oliver et al. 1996). Aufgrund der schnellen Untersuchungszeiten kann heute der gesamte Torso mit einer Kontrastmittelgabe entlang der jeweiligen Spitzenkontraste in den einzelnen Geweben abgetastet werden. Spezielle Hochdruckinjektionsgeräte sind hierfür die Vorraussetzung. Je größer die Kontrastdifferenz zwischen Tumor und umgebendem Gewebe ist,
. Abb. 19.1. Koronare CT-Rekonstruktion aus einer Post-KM-Spirale bei einem Patienten mit systemischer hämatologischer Erkrankung. Vollständige Darstellung aller vergrößerten mesenterialen und inguinalen Lymphknoten (weißer Pfeil) einschließlich der Splenomegalie und der nicht mehr frischen Milzinfarkte (schwarzer Pfeil)
desto sicherer wird die Diagnose sein. Umgekehrt können auch die genannten Vorzüge der MDCT eine Detektion solcher Tumoren nicht erleichtern, die relativ zu ihrer Umgebung kaum Kontrastmittel aufnehmen. Ein Kontrast von nur 10–15 HounsfieldEinheiten (HE) ist in der Regel die Grenze, an der jedes noch so geschulte Radiologenauge scheitert (Foley et al. 1983). Die genaue Ausmessung der Tumoren ist ein wichtiger Aspekt im Rahmen der onkologischen Bildgebung und des Therapiemonitoring, für die die Tumorgröße ein allgemein anerkanntes Kriterium darstellt. Die besondere Eignung der CT zur Größenbestimmung von Tumoren wurde schon unmittelbar nach deren Einführung beschrieben (Hopper et al. 1991). So stellt die CT den Tumorherd in vielerlei Ebenen dar und ist augrund einer unübertroffenen Ortsauflösung besonders gut reproduzierbar. Im Vergleich zum konventionellen Röntgen, das im Bereich der Lunge von Bedeutung ist, ist es durch den Einsatz der Kontrastmittel häufig möglich, die Grenze von bösartigem zu gutartigem Gewebe zu bestimmen. Eine neue Option zur Bestimmung der Tumorgröße bieten schließlich automatisierte dreidimensionale Volumenberechungen, die zunehmend verfügbar werden. Die Eignung dieser Methoden wird derzeit erprobt. Ein letztes wichtiges Feld der onkologischen Radiologie ist das Angebot einer schnell verfügbaren und hochpräzise durch-
376
Kapitel 19 · Grundprinzipien der diagnostischen Radiologie
geführten Biopsieentnahme. Eine sichere Diagnose und entsprechend optimale Therapie setzt meist eine vorangehende histopathologische Sicherung voraus. Die Kombination aus der MDCT und den Innovationen auf dem Gebiet der perkutanen Biopsietechnik haben in den letzten Jahren die diagnostische Materialgewinnung erheblich verbessert und die Zeit für den Eingriff gleichzeitig deutlich vermindert, sodass die CT einige einzigartige Vorteile im Rahmen der perkutanen Nadelbiopsie bietet. Die Nadelpositionierung kann in einem sehr kurzen longitudinalen Untersuchungsabschnitt unter Berücksichtigung der hohen Akquisitionsgeschwindigkeiten gleichsam in Echtzeit erfolgen. Eine CT-Fluoroskopie wird entweder optional oder aber schon integriert in die Gantry angeboten. Für die verschiedenen Gewebsarten werden speziell zugeschnittene Biopsiekits offeriert, sodass insgesamt die MDCT heute für die meisten Entnahmen im Gehirn, der Wirbelsäule, am Hals, dem Thorax, Becken und Retroperitoneum die Methode der ersten Wahl darstellt. 19.2.2 Magnetresonanztomografie (MRT)
19
Die onkologische Bildgebung war von Beginn an ein wichtiger Teil der Magnetresonanztomografie (MRT) und hat sich in den letzen 10 Jahren weiter stark entwickelt. Die hohe Ortsauflösung, vor allem aber der große Weichteilkontrast machen die MRT zu der idealen Methode in der Darstellung von parenchymatösen und ossären Läsionen. Lange Zeit war das relativ kleine »Blickfeld« mit Beschränkung auf nur kleine Körperausschnitte ein großer Nachteil konventioneller MR-Bildgebung. Neuerdings steht dagegen die Ganzkörper-MRT als weitere Methode für das Staging zur Verfügung. Trotz ihrer Vorteile ist der breite Einsatz dieser Technologie gleichwohl einigen Einschränkungen unterlegen. Zum einen führen die komplizierte Lagerung von Patient und Spulen sowie die lange Akquisitionsdauer gegenüber der MDCT zu vergleichsweise langen Untersuchungszeiten bis zu einer Stunde zur Ganzkörperdarstellung. Die Einführung eines Vielkanal-MRT und Verwendung multipler Oberflächenspulen sowie deutlich schnelleren Sequenzen mit paralleler Bildgebung haben zu einer Verbesserung der Methodik geführt (MullerHorvat et al. 2006). Die Methode hat sich im Vergleich zum Ganzkörper-CT bei der Suche nach Fernmetastasen bei Patienten mit fortgeschrittenem malignem Melanom als sensitiver erwiesen und bei 25% der Patienten zu einer Änderung der Therapie geführt. Im Vergleich mit der Ganzkörper-CT zeigt die MRT damit sowohl Vor- als auch Nachteile. Letztere beziehen sich vor allem auf die Schwierigkeit mit der Methode auch kleinere Lungenherde aufzuspüren, schließlich aber auch auf die eingeschränkte Sequenzauswahl für die einzelnen Organe im Rahmen einer Ganzkörperuntersuchung. Demgegenüber erwies sich die Sensitivität gegenüber Knochenmetastasen mit 100% der CT als auch der Knochenszintigrafie überlegen. Immerhin konnten neuere Sequenzen, namentlich die VIBE (»volumetric interpolated breath-hold examination«) oder auch schnelle T2-gewichtete Sequenzen, die Sensitivität der MRT auch für intrapulmonale Prozesse erhöhen, und zurzeit Läsionen bis 3 mm Größe erfassen. Eine weitere wesentliche Verbesserung für die MRT-gestützte Lungendarstellung resultiert aus der Anwendung paralleler Akquisitionstechniken, etwas der SENSE oder SMASH. Diese Technik erlaubt eine höhere zeitliche und räumliche Auflösung, ohne dass die Akquisitionszeiten dabei verlängert werden (Madore u. Pelc 2001).
. Abb. 19.2. Koronare Ganzkörper-MRT (»Inversion-recovery«-Sequenz) bei einem Patienten mit hoch malignem NHL, der sich zum Staging vorgestellt hatte. Nachweis von Knochenmanifestationen im Rahmen der Grunderkrankung (weißer Pfeil) und somit Diagnose eines Stadium IV NHL. Die Knochenmarkinfiltration wurde initial bei der Ganzkörper-MDCT übersehen. Optimale Darstellung des gesamten Skeletts einschließlich der parenchymatösen Organe (z. B. der Splenomegalie)
Die MRT-gestützte skelettale Bildgebung im Rahmen einer Metastasensuche gestaltet sich komplex. Wie bereits oben erwähnt zeigen mehrere Studien eine grundsätzliche Überlegenheit der MRT gegenüber CT und Szintigrafie (. Abb. 19.2). Gleichwohl müssen die Vor- und Nachteile der Methoden je nach zu untersuchender Region abgewogen werden. So bietet die Szintigrafie einen raschen Überblick über das Skelettsystem. Die Technik erweist sich dazu als sensitiver für Metastasen in Schädel, Rippen und Skapula. Demgegenüber erlaubt die MRT eine bessere Detektion ossärer Metastasen in der Wirbelsäule und dem Becken. Diese Überlegenheit der MRT gilt interessanterweise sogar für Metastasen solcher Tumorentitäten, die eine generell hohe Tracer-Aufnahme bei der Knochenszintigrafie zeigen (Eustace et al. 1997). Aufgrund der längeren Untersuchungszeiten, der limitierten Verfügbarkeit von MR-Installationen sowie komplexerer und an-
377 19.3 · Diagnostische Strategien
spruchsvollerer Untersuchungsprotokolle konnten sich bislang die meisten MRT-Ganzkörperkonzepte nicht in der klinischen Routine durchsetzten. Der Einsatz T2-gewichteter echo-planarer Sequenzen oder aber einer Kombination aus T1- und T2-gewichteter Sequenzen verbessert aber die Metastasendetektion für viele Organe; dennoch sind Ganzkörperprotokolle bislang nicht in der Lage, die organspezifischen MRT-Untersuchungen zu ersetzen. Eine erhebliche Bedeutung hat die Ganzkörper-MRT bereits bei kindlichen Tumoren erlangt. Hier ist die Strahlenexposition z. B. der MDCT ein wichtiges Argument für die MRT (Mazumdar et al. 2002). Der Einsatz von Ganzkörper-»fast-inversion-recovery«-Sequenzen stellt für dieses Patientengut eine vielversprechende Methode dar und erweist sich schon jetzt den konventionellen Methoden als ebenbürtig. In Analogie zur CT profitiert die MRT von der Möglichkeit, dynamische, kontrastangehobene Untersuchungen mit sequenzieller Akquisition durchzuführen und auf diese Weise das Tumorgewebe besser vom Gesunden abzugrenzen, zu charakterisieren und den Behandlungserfolg zu messen. Entsprechend werden zunehmend dynamische MRT-Untersuchung im Rahmen von klinischen Studien bzw. der Kontrolle neoadjuvanter, antiangiogenetischer und immunologischer Chemotherapien eingesetzt (Wang et al. 2004). 19.2.3 Positronenemissionstomografie (PET, PET-CT)
Die Positronemissionstomografie (PET) ist eine funktionale, quantitative Bildgebungsmethode. Der für onkologische Studien am häufigsten eingesetzte Tracer ist die F-18-Deoxyglukose (FDG), ein Glukoseanalogon. In den vergangenen Jahren wurde die FDG-PET für die Erstdiagnose und Verlaufskontrolle der unterschiedlichsten Tumoren, vor allem des kolorektalen Karzinoms, der malignen Lymphome, des Melanoms, der Weichteilsarkome und Lungentumore evaluiert. Die PET gründet eine Tumordetektion auf einen erhöhten, regionalen Glukosestoffwechsel. Durch die PET wird auch das Monitoring von Therapien möglich (Strauss 1997; Pfannenberg et al. 2004). Dies gilt beispielsweise für das präoperative Staging von Lungentumoren oder aber den Rezidivnachweis von Lymphomen. Die Sensitivität von FDG-PET-Studien liegt je nach Tumorart und Lokalisation bei über 85%. Ein größeres Problem der FDG-PET liegt in falschpositiven Resultaten, häufig bedingt durch das Vorliegen einer Entzündung. Mittlerweile liegen auch erste, vielversprechende Daten aus klinischen Studien zu weiteren Tracern wie etwa dem F-18-Thymidin oder dem C-11-Cholin vor (Jacobs et al. 2005). Gleichwohl werden weitere Arbeiten notwendig sein, bevor eine solide Beurteilung möglich ist. Die Markierung von Zytostatika mit PET-gängigen Markern erlaubt eine Abschätzung deren Wirksamkeit noch vor Therapiebeginn. Ein solches Vorgehen kann vor allem bei Monotherapien seine Berechtigung haben. Die immer häufiger eingesetzte PET- und CT-Hybridtechnik (PET-CT) hat viele der PET-spezifischen Probleme gelöst, allem voran die nicht ausreichende Lokalisation einer pathologischen fokalen oder diffusen Tracer-Aufnahme aufgrund der geringen morphologischen Auflösung. Die Visualisierung der Hintergrundanatomie und die hiermit gegebene Möglichkeit einer exakten Ko-Lokalisation von anatomischer und physiologischer Information erlauben in der Tat eine deutlich sicherere Diagnose und haben die Zahl der falsch-positiven Befunde merklich redu-
19
ziert. Die fixe Kombination der zwei Modalitäten in einem Gerät erlaubt bei entsprechender Software erstmalig hochqualitative Fusionsbilder in der Routine. Gleichwohl ist auch die reine Hybridtechnik in Bezug auf die Auffindung sehr kleiner Herde noch limitiert. Aufgrund der geringen räumlichen Auflösung der PET und des Problems der Partialvolumina gestaltet sich so z. B. die Detektion von Lungen- oder Leberherden mit wenigen Millimetern Größe als weiterhin schwierig. Hoch differenzierte hepatozelluläre Karzinome entziehen sich durch ihren leberäquivalenten Uptake einem Nachweis. Auch eine vermehrte Tracer-Aufnahme in gesundem Gewebe erschwert die Diagnose (z. B. Prostatakarzinom). Neue hochsensitive und spezifische Tracer auf der Basis von Aminosäuren versprechen hier Abhilfe (Mankoff et al. 1999). Aufgrund der physiologischen FDG-Aufnahme im Darm gestaltet sich der Nachweis einer peritonealen Aussaat auch in der FDG-PET als schwierig. Auch der Nachweis kleiner, pathologischer Lymphknoten in unmittelbarer Nachbarschaft zu aktivem Gewebe bleibt eine Herausforderung. Neben dem Staging ist das Therapiemonitoring eine Hauptindikation für die FDG-PET. Klinisch ist die FDG-PET in diesem Sinne vor allem für das Monitoring von Lymphomen etabliert. Eine weitere potenzielle Indikation ist die Beurteilung der metabolischen Aktivität kurz nach Beginn einer Induktionstherapie. Tatsächlich konnten von entsprechenden Messungen Rückschlüsse auf die Gesamtprognose gezogen werden. Denn während Patienten mit negativem PET-Befund nur sehr selten ein Rezidiv erleiden, haben solche mit positivem Befund bei gegebener Therapie nur eine geringe Aussicht auf Heilung. Heute existieren eine Reihe sehr wirksamer, potenziell jedoch mit wesentlich schwerwiegenderen Nebenwirkungen behaftete Therapien. Entsprechend besteht ein großes Interesse an einer frühen Patientenselektion und Identifikation der »Nonresponder«, welche von einem raschen Wechsel der Therapieschemata profitieren können.
19.3
Diagnostische Strategien
19.3.1 Kolorektales Karzinom
Dank der langsam fortschreitenden Karzinogenese des Kolonkarzinoms und der guten Heilungsaussicht beim Vorliegen eines entarteten Adenoms oder lokalisierten Karzinoms kommt der Vorsorgeuntersuchung ein erhebliches Potenzial zu. Die virtuelle computertomografische Koloskopie ist ein nichtinvasives Verfahren, welches lediglich eine gute Darmreinigung voraussetzt. Es handelt sich um eine strukturelle, virtuelle dreidimensionale Untersuchung des gesamten Kolorektums, welche auf den Volumendaten der MDCT aufbaut. Derzeit werden große Anstrengungen unternommen, die CT-Koloskopie klinisch als breit eingesetztes Screeningverfahren zu evaluieren (Cotton et al. 2004). Die Rolle der CT für das lokale Staging ist wiederum begrenzt; die Sensitivität für die lokale Invasion (T2 vs. T3) ist mit 50% niedrig. Gleichwohl führt der sichere Nachweis einer T4-Invasion meist zu einer Änderung des chirurgischen Therapiekonzeptes. Die Attraktivität der MRT-Koloskopie liegt zunächst in der fehlenden Strahlenexposition. Bei Verwendung endorektaler Spulen ist die Sensitivität der MRT für die lokale Invasion des Rektumkarzinoms deutlich höher als die der CT. Für ein verlässliches N- und M-Staging sind CT und MRT gleichermaßen adäquat (Lauenstein et al. 2001).
378
Kapitel 19 · Grundprinzipien der diagnostischen Radiologie
19.3.2 Ösophaguskarzinom
Das Staging des Ösophaguskarzinoms ist mehr und mehr zu einer Domäne der Endoskopie und endoluminalen Sonografie geworden. Beide Verfahren sind dem Bariumbreischluck, aber auch den Schnittbildverfahren bei der Evaluation der Tumorausdehnung überlegen. Bei Vorliegen höherer T-Stadien und dem Nachweis einer tracheobronchialen, aortalen, diaphragmalen oder vertebralen Infiltration ist die CT- oder MRT-Bildgebung wiederum unverzichtbar (Takashima et al. 1991). Das Gleiche gilt für die Detektion von Fernmetastasen, eine Domäne, für die auch das PET-CT zum Einsatz kommen kann. Ebenso die relative Änderung der SUV (»standardized uptake value«) im Verlauf unter adjuvanter Therapie konnte mit dem prozentualen Anteil lebender Zellen in resizierten Tumoren korreliert werden (Flanagan et al. 1997). 19.3.3 Hepatozelluläres Karzinom
Aufgrund der schrittweisen Genese dieses Tumors bietet die Bildgebung auch hier die Möglichkeit, frühe prämaligne Läsionen zu erfassen und noch vor ihrer weiteren Entartung und Metastasierung erfolgreich zu behandeln. Bildgebenden Verfahren mit hoher Sensitivität für hepatische Läsionen sind die CT, MRT und der Ultraschall. Letzterer ist vor allem mit Einführung neuer Kontrastmittel und der Möglichkeit, die Tumorperfusion zu visualisieren, interessant geworden (Hollins et al. 2005). Der Einsatz hepatozellulärer Kontrastmittel hilft in der Differenzierung primär hepatischer und metastatischer Läsionen durch die MRT. Ähnliches gilt für hochspezifische Tracer, welche über die Stoffwechselsituation eine Tumorcharakterisierung erlauben sollen. 19.3.4 Gallengangkarzinome
19
Die Evaluation von Gallengangkarzinomen setzt eine exzellente Bildqualität voraus. Auch hier können prinzipiell alle Schnittbildverfahren, namentlich CT, MRT und Ultraschall, zum Einsatz kommen. Die präoperative Auswahl einer dieser Methoden hängt aber auch von der Verfügbarkeit, den Kosten und der diagnostischen Ausbeute ab. In den vergangenen Jahren hat die MRT die größten Fortschritte verzeichnet. Die Bildcharakteristika korrelieren gut mit den Eigenschaften des jeweiligen Tumorstromas: fibrös, glandulär oder gemischt (Han et al. 2002). Ein weiterer Vorteil der MRT ist die Möglichkeit der MR-Cholangiopankreatikografie (MRCP). Diese kann heute routinemäßig angeboten werden und ist vor allem auch im Zusammenhang mit extrahepatischen Cholangiokarzinomen interessant, welche eine frühe biliäre Obstruktion bedingen. 19.3.5 Bronchialkarzinom
Das Staging und die Beurteilung eines Therapieansprechens sind die häufigsten Indikationen für eine Bildgebung im Zusammenhang mit Lungentumoren. Die CT ist hierfür generell ein gutes Verfahren, vor allem bei der Evaluation der lokalen Ausdehnung (T) und etwaiger Fernmetastasen (M). Gleichwohl kann die Darstellung eines kontralateralen, mediastinalen Lymphknotenbefalls Schwierigkeiten bereiten, eine Limitation, die mit Blick auf die erheblichen therapeutischen Konsequenzen ins Gewicht fällt (N1/2
vs. N3). Augrund der klaren Vorteile für das Patientenmanagement darf heute die Anwendung der FDG-PET generell empfohlen werden. Dies gilt umso mehr in der Kombination mit einer MDCT. Wie oben bereits erwähnt, besteht jedoch selbst bei Anwendung solcher Hybridtechnik noch eine nicht unerhebliche Variabilität bei der Größenbeurteilung kleiner und unscharf begrenzter Tumoren. Seit Kurzem versucht man diesem Problem mit volumetrischen dreidimensionalen Messungen beizukommen (WinerMuram et al. 2002). Durch die Einführung neuartiger Behandlungsstrategien, wie etwa dem Einsatz von Invasions- oder Angiogeneseinhibitoren, wird das schwierige Feld der Therapiekontrolle zunehmend komplexer. So ist der Effekt der genannten Therapeutika zunächst zytostatischer, nicht toxischer Natur und somit die Beschreibung der Größendynamik im Frühstadium einer Therapie z. T. unzureichend. Entsprechend ist in ausgewählten Fällen auch eine Kombination von CT oder MRT mit PET gerechtfertigt. Wie eingangs betont ist bei jedem der genannten Verfahren die Dynamik der eingesetzten Kontrastmittel bzw. Tracer eine wertvolle Hilfe, die erkannte Läsion weiter zu charakterisieren. 19.3.6 Kopf-Hals-Tumoren
Die Bedeutung der konventionellen Bildgebung bei der Evaluation von Kopf- und Halstumoren ist sehr limitiert. Vielmehr verlangt ein adäquates lokoregionäres Staging der Plattenepithelkarzinome eine hochauflösende CT oder MRT. Auch wenn Letztere zunächst komplementäre Verfahren sind, fällt die Gewebecharakterisierung im Kopf- und Halsbereich mittels MRT deutlich leichter. Dies gilt vor allem bei der Beurteilung von etwaigen Rezidiven, vor allem bei Patienten nach Bestrahlung (Henrot et al. 2003). Bei Anwendung der MRT sollten dabei die ganzen Vorzüge der multiplanaren Bildgebung genutzt werden. Der klinische Einsatz der FDG-PET kann auch hier drei Domänen zugeordnet werden: dem initialen Staging, dem Staging des Rezidives und der Beurteilung eines Therapieansprechens. Auch hier gilt, dass der durch die PET erzielte zusätzliche Informationsgewinn im Verlauf der Erkrankung größer ist als bei der initialen Bildgebung (Schöder et al. 2004). 19.3.7 Zervixkarzinom
Ein Therapieversagen beim Zervixkarzinom hat häufig seine Ursache in der Resistenz des Primärtumors gegenüber Chemotherapeutika sowie der Nichtresektion von okkulten lymphatischen Metastasen. Unter der Vorraussetzung einer scharfen Abgrenzbarkeit der Tumorränder wäre eine primäre Radiochemotherapie der Operation in den meisten Fällen vorzuziehen. Ein besseres lokales Staging mit genauester Eingrenzung des Tumorvolumens könnte auch die Bestrahlungstechnik optimieren und so von der Ganzbeckenbestrahlung wegführen. Bei solchen Bemühungen um eine möglichst genaue Ausbreitungsdiagnostik stehen die Schnittbildverfahren (MRT und CT) wiederum im Mittelpunkt. Sinnvoll sind gleichwohl zusätzliche Informationen bezüglich des Angiogenesegrades und der Tumorhypoxie, die beide wichtige Faktoren für die Progression des Zervixkarzinoms sind (Hawighorst et al. 1999). In der Tat kann eine CT- oder MRT-gestützte Perfusionsmessung zusätzlich zur konventionellen Bildgebung mit diesen Methoden erfolgen. So können in einer Sitzung Tumorausdehung, Lymphknotenbeteiligung und Perfusion bestimmt werden. Da Mikrometastasen häufig auch in Lymph-
379 19.3 · Diagnostische Strategien
knoten zu finden sind, die morphologisch nicht vergrößert erscheinen, war bislang eine Entscheidung hinsichtlich des Bestrahlungsfeldes oft erst nach chirurgischem Staging möglich. Hier wiederum kann die PET-CT einen wertvollen Beitrag leisten, welche als Hybridtechnik bei der Auffindung von Mikrometastasen der CT und MRT überlegen ist. Darüber hinaus wurden kürzlich vielversprechende Daten zur nichtinvasiven MRT-Detektion von klinisch okkulten Lymphknotenmetastasen mithilfe von lymphotropen supermagnetischen Nanopartikeln publiziert.
19.3.8
Endometriumkarzinom
Im Zusammenhang mit dem präoperativen Staging ist der negative prädiktive Wert von entscheidender Bedeutung. Ultraschall und MRT sind in der Diagnose der tiefen, myometrialen Invasion zwar effektiver, dennoch liegt ihr negativer prädiktiver Wert unter 90%. Die Evaluation der Tumorperfusion mittels Doppler-Sonografie ist zwar vielversprechend bei der Bestimmung der Tumordifferenzierung, dennoch ist die transvaginale Sonografie aufgrund ihres kleinen Blickfeldes nicht in der Lage, die Zervix, die Parametrien sowie die Lymphknoten einzusehen und somit ungeeignet für ein vollständiges Staging. Die CT wurde in großem Ausmaß zum Staging von Endometriumkarzinomen herangezogen und erreicht immerhin eine Wertigkeit von 84–88%. Auch die CT ist jedoch in ihrer Fähigkeit limitiert, die zervikale oder myometriale Eindringtiefe zu erfassen. Aus diesen Gründen hat die MRT eine breite Akzeptanz in der Evaluation von Endometriumkarzinomen gefunden. Ihre Wertigkeit beträgt 92% (Manfredi et al. 2004).
19.3.9
Ovarialkarzinom
In vielen großen Serien erwiesen sich über zwei Drittel der als tumorverdächtig resizierten Raumforderungen der Adnexe als benigne. In den meisten dieser Fälle hätte die Operation bei der präoperativen Diagnose dieser Fälle verhindert werden können. Nach einigen Berichten erlaubt die Duplexsonografie eine gute Charakterisierung auch komplizierter Läsionen. Nach anderen Studien ist die MRT derzeit die geeignetste Methode zur Darstellung von Ovarialkarzinomen (Woodward et al. 2004). Die FDGPET zeigt ihre Überlegenheit bei der Diagnose des Rezidivs sowie beim frühen Nachweis eines Therapieansprechens.
Rahmen der initialen Untersuchung von Männern mit Prostatakarzinom sind. Die MRT-Spektroskopie identifiziert die Tumoren anhand ihrer Metabolite (Lichy et al. 2005). Die MR-gesteuerte Biopsie ermöglicht eine verbesserte Initialdiagnostik bei erhöhtem PSA-Wert. Große Fortschritte sind bei der Lymphknotendiagnostik auch mit der MRT und neuen eisenhaltigen Kontrastmitteln zu erwarten (Harisinghani et al. 2003). Patienten einer mittleren Risikogruppe mit größeren extrakapsulären Tumoranteilen oder aber einem Mitbefall der Samenbläschen profitieren von einer erweiterten prätherapeutischen Bildgebung. Hier verbessert die C-11-Choline-PET die Sensitivität der Metastasendetektion (Schmid et al. 2005).
19.3.11
Harnblasenkarzinom
Die Beteiligung regionaler Lymphknoten nimmt beim Blasenzellkarzinom mit dem Grad der Tumorinvasion zu. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass eine Lymphknotendarstellung mittels MRT und eisenhaltigem Kontrastmittel die präoperative Diagnose verbessert und das chirurgische Vorgehen im Sinne einer gezielteren Lymphknotendissektion erleichtert. In Zukunft mag auch die PET neben anderen molekularen Bildgebungsmethoden eine Anwendung beim Staging des Blasenkarzinoms finden.
19.3.12
Mammakarzinom
Ein Mammografiescreening beim Brustkrebs wird seit Langem als wertvolles Werkzeug zur Senkung der Mortalität akzeptiert. Das Screening führt zur Diagnose von kleineren Tumoren mit einer geringeren Inzidenz von Lymphknotenmetastasen. Die Einführung der digitalen Mammografie sowie die computerunterstützte Detektion von Brusttumoren kann die Detektionsrate um bis zu 20% verbessern (Siegmann et al. 2002). Bei der Diagnose der Mammakarzinome ist heute eine Kombination von Mammografie, Ultraschall und MRT das Verfahren der Wahl. Die FDG-PET spielt bei der Erstdiagnose aufgrund einer niedrigen Sensitivität von nur 64% für kleine Tumore praktisch keine Rolle. Dies ist anders bei der Lokalisation von Fernmetastasen sowie dem Verdacht auf Rezidivtumor.
19.3.13 19.3.10
19
Nierenzellkarzinome
Prostatakarzinom
Das Aufkommen von ablativen Therapien, wie etwa der interstitiellen Brachytherapie, der Radiofrequenzablation, der Hochintensität-Ultraschalltherapie sowie der Kryotherapie haben eine zuverlässige Lokalisation der Prostatatumoren immer wichtiger gemacht. Eine solch fokale Therapie verspricht immerhin eine Verminderung der mit einer Ganzorganbestrahlung oder Operation verbundenen Morbidität. Die MRT-Bildgebung und Spektroskopie sind hoffnungsvolle Methoden, die eine gute Lokalisation des Tumors versprechen und von größtem Nutzen im
Die meisten Nierenzellkarzinome werden heute zufällig durch den breiten Einsatz von CT, MRT und US entdeckt (Sheth et al. 2001). Entsprechend werden die Nierenzellkarzinome auch bei zunehmend kleiner Größe und vermutlich in immer früheren Stadien gefunden. In der Tat sind die kontrastangehobene CT und MRT gleichermaßen geeignet, selbst kleinste Tumoren aufzuspüren. Eine Bildgebung mittels PET und speziellen Tracern wie etwa dem C-11-Azetat könnte die Kontrolle einer Therapieansprache erleichtern, sie konnten sich jedoch in der Routinediagnostik nicht behaupten.
380
Kapitel 19 · Grundprinzipien der diagnostischen Radiologie
Zusammenfassung Die onkologische Bildgebung macht einen zunehmenden Anteil der Arbeit einer radiologischen Abteilung aus. Eine gute Kenntnis der Eigenheiten verschiedener Tumoren sowie der Vor- und Nachteile der einzelnen Untersuchungsverfahren ist für den onkologisch arbeitenden Radiologen eine wesentliche
Voraussetzung. Die erhebliche Dynamik der technologischen Innovationen in der Radiologie stellt auch an alle onkologischen Disziplinen hohe Anforderungen und macht eine enge Kooperation wünschenswert und notwendig.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
19
20
20 Tumormarker in der Diagnostik Petra Stieber
20.1
Allgemeine Kriterien zum Einsatz von Tumormarkern – 382
20.2
Wichtige Kenntnisse bei der Interpretation von Tumormarkerbefunden – 386
20.3
Indikationen zur Bestimmung von Tumormarkern
20.4
Tumormarker bei den häufigsten soliden Tumorerkrankungen Literatur – 397
– 388 – 390
382
Kapitel 20 · Tumormarker in der Diagnostik
20.1
Allgemeine Kriterien zum Einsatz von Tumormarkern
Tumormarker (TM) sind im Blut und/oder in anderen Körperflüssigkeiten zirkulierende Makromoleküle – zumeist Proteine mit einem Kohlenhydrat oder Lipidanteil – deren Auftreten und Konzentrationsänderungen mit dem Entstehen und dem Wachstum von malignen Tumoren eines Individuums in gewisser Beziehung stehen. Tumormarker werden in oder auf Tumorzellen bzw. durch Induktion anderer Zellen gebildet und gelangen als zirkulierende Antigene in Körperflüssigkeiten wie Blut, Aszites oder Pleuraexsudat. Diese tumorassoziierten Antigene können eingeteilt werden in biosynthetisch aberrierende Vorstufen normaler Antigene, z. B. Blutgruppensubstanzen (CA19-9, CA242), in ektopisch gebildete normale Antigene, z. B. Hormone (HCG, PTH, Calcitonin u. a.), Enzyme (PSA, NSE, TK, PHI), ontogenetisch alte reaktivierte Antigene wie die primär entdeckten onkofetalen Antigene AFP und CEA, hybridom-definierte Muzinsubstanzen wie MUC-1-Antigene (CA15-3, MCA, CA549, TAG-12, CA27.29) oder andere (CA125, CA72-4), Zytokeratine (CYFRA21-1) u. a. (Paraproteine, β2-Mikroglobulin, SCCA, HTG). Für die Diagnostik wäre es ideal, wenn eine Zelle erst nach ihrer malignen Transformation diese Signalsubstanzen in genügender Konzentration in das Blut sezernieren würde und wenn man darüber hinaus durch ihren Nachweis den Ursprungsort des
Tumors feststellen könnte. Tatsächlich sind aber alle derzeit bekannten Tumormarker auch bei gesunden Personen immer im Blut nachweisbar, das heißt Tumormarker mit 100%iger Spezifität (bei benignen Erkrankungen und gesunden Personen nicht nachweisbar) wurden bis heute nicht entdeckt. Darüber hinaus ist das Ausmaß der Freisetzung von Tumormarkern bei Karzinomen zumindest in den frühen Tumorstadien nicht so deutlich ausgeprägt, dass sich die Konzentrationen von denjenigen gesunder Personen generell abheben würden. Daraus resultiert eine Überlappung der Kollektive Tumorkranker mit Nicht-Tumorkranken und eine Sensitivität, die keine 100% erreicht (. Abb. 20.1). 20.1.1 Qualitätsmerkmale von Tumormarkern
Der diagnostische Wert eines Tumormarkertests ist durch seine Empfindlichkeit (Sensitivität) und seine Spezifität charakterisiert. Die Spezifität eines Tumormarkers gibt an, bei wie viel Prozent der Gesunden bzw. von benignen Erkrankungen Betroffenen (Nicht-Tumorkranken) das Testergebnis richtig-negativ ausfällt. Sie ist also umso höher, je niedriger der Prozentsatz falsch-positiver Befunde ist. Die Sensitivität eines Tumormarkers gibt den Prozentsatz richtig-positiver Ergebnisse bei Vorhandensein eines Tumors an.
a
20
b . Abb. 20.1a,b. Unterscheidung zwischen dem Kollektiv der »Nicht-Tumorkranken« und dem der »Tumorkranken« mittels der Messgröße Tumormarker. a Idealvorstellung: negative Testergebnisse bei allen benignen Erkrankungen und gesunden Personen (100% Spezifität); positive Testergebnisse bei allen »Tumorkranken« (100% Sensitivität). Bei dem ge-
wählten Cut-off (Grenzwert) ist die Unterscheidung der beiden Kollektive möglich. b Wirklichkeit: falsch-negative und falsch-positive Befunde in Abhängigkeit von dem gewählten Cut-off: je höher die Spezifität, desto geringer die Sensitivität und umgekehrt
383 20.1 · Allgemeine Kriterien zum Einsatz von Tumormarkern
20
. Abb. 20.2. Sinnvoller Einsatz von Tumormarkern. Schwarz Tumormarker der 1. Wahl, zumeist als Einzelmarker ausreichend, bei 2 oder mehr schwarzen Punkten ist die Kombination der Marker empfehlens-
wert; grau Tumormarker der 2. Wahl, der am zweithäufigsten gesteigert von dem jeweiligen Karzinom freigesetzt wird
Bei Angaben über die diagnostische Spezifität und Empfindlichkeit sind der Einfluss des Tumorstadiums und die Auswahl der Kontrollgruppen von entscheidender Bedeutung. Angaben über die Empfindlichkeit sind nur dann zuverlässige Kriterien, wenn die Stadien einer Krebserkrankung gut definiert sind; Angaben über die Spezifität geben nur dann eine zuverlässige Aussage, wenn die Kontrollgruppe genau charakterisiert ist. Der sog. »Cut-off« bezeichnet den angenommenen oberen Grenzwert eines Tumormarkers bei gesunden Personen bzw. bei den differenzialdiagnostisch relevanten benignen Erkrankungen. Die Festlegung dieses Cut-offs bestimmt in Abhängikeit von der Spezifität eines Markers dessen Sensitivität (. Abb. 20.1). Der Cut-off oder Grenzwert ist keine starre Grenze und kann je nach der Intention verändert werden. Will man z. B. möglichst viele Tumorpatienten erfassen, sollte der Grenzwert eher tiefer angesetzt werden. Man nimmt dafür allerdings zwangsläufig eine erhöhte Rate falsch-positiver Ergebnisse in Kauf. Will man dagegen sichergehen, dass ein positives Testergebnis mit größter Wahrscheinlichkeit einen Tumor bedeutet, so ist der Grenzwert entsprechend hoch festzusetzen. In diesem Falle erhält man relativ viele falsch-negative Ergebnisse. Hieraus geht hervor, dass die diagnostische Wertigkeit von Tumormarkern in hohem Maße von der Festlegung des Cut-offs abhängig ist. Nach internationaler Vereinbarung entspricht dieser Cut-off in der Routinediagnostik der Laboratoriumsmedizin zumeist der 95. oder 97,5. Perzentile gesunder Kontrollpersonen. Beim gleichen Schwellenwert sinkt bei guten TM-Testen die Spezifität nur unwesentlich gegenüber einer für die Tumorerkrankung differenzialdiagnostisch wichtigen benignen Krankheitsgruppe, bei manchen Markern jedoch deutlicher bis auf 80% und weniger. Der Vergleich der Sensitivität verschiedener Teste bei der gleichen malignen Erkrankung sollte deshalb immer am gleichen
Kollektiv und immer gegenüber der entsprechenden differenzialdiagnostisch wichtigen benignen Erkrankung erfolgen (EGTM, Consensus Recommendations 1999). Für die Brauchbarkeit eines Tumormarkerstestes in der Diagnostik und insbesondere in der Screeningsituation sind weiterhin die prädiktiven Werte, d. h. Vorhersagewerte, von Bedeutung. Hierbei unterscheidet man einen positiven und einen negativen prädiktiven Wert. Der positive Vorhersagewert sagt aus, mit welcher Wahrscheinlichkeit innerhalb einer gemischten Kontrollgruppe bei positivem Testergebnis ein Tumor vorliegt. Der negative Vorhersagewert bezieht sich auf die Tumorfreiheit, also die Wahrscheinlichkeit, bei einem negativen Testergebnis keinen Tumor zu haben. Die Spezifitäts- und Sensitivitätswerte beziehen sich auf ein homogenes Kollektiv, während die Vorhersagewerte auf einem gemischten Kollektiv beruhen. Hierbei ist wiederum die Prävalenz eines Karzinoms eine wesentliche Einflussgröße, d. h. das Verhältnis Tumorkranker zu Nicht-Tumorkranken in dem zu untersuchenden Patientenkollektiv. Aus der Vielzahl von beschriebenen Tumormarkern haben sich nur einige in der Routine als brauchbar erwiesen (. Abb. 20.2; EGTM 1999; Fleisher et al. 2002; Sturgeon 2002; Thomas 2005; Stieber 2005). Die Bestimmung mehrerer gleichbedeutender Tumormarker ist sinnlos (wie z. B. die Kombination von CA15-3 und CA27-29 oder MCA beim Mammakarzinom); nur bei eindeutig besserem Sensitivitäts-Spezifitäts-Profil oder einer additiven Aussagekraft sollte ein bewährter Marker durch einen neuen ersetzt werden. In . Tab. 20.1 sind die wichtigsten biochemischen Eigenschaften, Referenzbereiche, Hauptindikationsgebiete sowie die möglichen Einfluss- und Störgrößen der einzelnen Tumormarker zusammengefasst (Thomas 2005; Stieber 2005), die bereits in der Routinediagnostik Anwendung finden.
384
Kapitel 20 · Tumormarker in der Diagnostik
. Tab. 20.1. Wesentliche Charakteristika der wichtigsten Tumormarker Bezeichnung
Biochemische Eigenschaften
Molekulargewicht
Referenzbereich
HWZ d
Indikationen
Bemerkung
Karzinoembryonales Antigen CEA
Glykoprotein 45–60% Kohlehydrate elektrophoretische βMobilität 6 Epitope
ca. 180.000
<3 ng/ml
2–8
Verlauf und Therapiekontrolle beim kolorektalen Karzinom, Mammakarzinom, Lungenkarzinom
Raucher zeigen in 5% Werte von 2,5–5; in 3% 5–10 und in 1% 10–20 ng/ ml
α1-Fetoprotein AFP
Glykoprotein 4% Kohlehydrate elektrophoretische α1-Mobilität
ca. 70.000
<15 ng/ml
2–8
Schwangerschaftsüberwachung, Frühentdeckung, Diagnostik, Verlauf und Therapiekontrolle bei Primärem Leberkarzinom, + Staging bei Keinzelltumoren
Prostataspezifisches Antigen PSA
Glykoprotein Sekretionsprodukt der Prostata
ca. 36.000
<3,7 ng/ml
2–3
Screening, Diagnostik, Verlaufs- und Therapiekontrolle beim Prostatakarzinom
Gewebsspezifisch, nicht tumorspezifisch Cave: Blutentnahme vor rektaler Untersuchung, TRUS, Koloskopie, Zystoskopie, Ergometrie, Blasenkatheter
Cancer Antigen CA15-3
Glykoprotein 2 MAK: 1. 115 D 8 gegen Milchfettmembran 2. DF 3 gegen Mammakarzinom-Zelllinie
1. 115 D 8: 400.000 2. DF 3: 290.000
<30 U/ml
5–7
Verlaufs- und Therapiekontrolle beim Mammakarzinom
In Kombination mit CEA Hohe Werte in der Schwangerschaft
Carbohydrate Antigen CA19-9
Glykolipid Hapten der Lewis-aBlutgruppen-determinante
Antigen: 36.000 Muzin: 106D
<35 U/ml
4–8
Diagnostik, Verlaufs- und Therapiekontrolle Pankreaskarzinom, cholangiozelluläres Karzinom
Marker der 2. Wahl bei kolorektalen Karzinomen Cave: Kontamination mit Speichel ->falsch hoher Wert
Cancer Antigen CA125
Glykoprotein MAK, nach Immunisierung gegen eine Ovarialkarzinom-Zelllinie
ca. 200.000
<35 U/ml (<65 U/ml)
5
Diagnostik, Verlaufs- und Therapiekontrolle beim Ovarialkarzinom
Freisetzung durch seröse Häute, hohe Serumwerte bei Aszites, Pleuraerguss, Perikarderguss jeglicher Genese
Neuronspezifische Enolase NSE
Dimer des Enzyms Enolase
ca. 87000
<12,5 ng/ml
1
Diagnostik, Verlaufs- und Therapiekontrolle beim kleinzelligen Lungenkarzinom, Neuroblastom, Apudom (u.a. Insulinom, Phäochromozytom, Karzinoid)
Blut nicht länger stehen lassen (falsch hoher Wert) Zentrifugation innerhalb 1 Stunde; beim kleinzelligen Lungenkarzinom in Kombination mit ProGRP
20
385 20.1 · Allgemeine Kriterien zum Einsatz von Tumormarkern
20
. Tab. 20.1 (Fortsetzung) Human Choriongonadotropin HCG
Glykoproteinhormon, bestehend aus 2 nicht kovalent miteinander verbundenen Untereinheiten Alpha und Beta
α: 14.000 β: 24000
Beim Mann 0–5 mU/ml
Calcitonin
Polypeptid mit 32 Aminosäuren
3.500
<100 pg/ml
Cancer Antigen CA72-4
Glykoprotein TAG 72 wird mit 2 MAK erkannt 1: CC49, 2: B72-3
ca. 400.000
<3 U/ml
Squamous Cell Carcinoma Antigen SCCA
Glykoprotein Subfraktion gegen Tumorantigen T4
48.000
Zytokeratin Fragment CYFRA 21-1
Fragment des Zytokeratins 19
Pro Gastrin Releasing Peptide ProGRP
S100
0,5–1,5
Diagnostik, Staging, Verlaufs- und Therapiekontrolle bei nicht seminomatösen Keimzelltumoren (48–86%), testikulären oder plazentaren Choriumkarzinome (100%), Blasenmolen (97%), Seminomen (Kombinationstumoren (7–14%) Diagnostik, Verlaufs- und Therapiekontrolle beim medullären Schilddrüsenkarzinom
Auch für Screening von Risikogruppen und für die Diagnostik geeignet
3–7
Verlaufs- und Therapiekontrolle beim Magenkarzinom, muz. Ovarialkarzinom
Bei Magenkarzinom in Kombination mit CEA und CA19-9, Marker der 2. Wahl beim Ovarialkarzinom
<2 ng/ml
1
Verlaufs- und Therapiekontrolle bei Plattenepithelkarzinomen der Zervix Uteri, des HNO-Trakts, der Lunge und des Ösophagus
Cave: Kontamination mit Haut oder Speichel → falsch hoher Wert Hohe Werte bei Hauterkrankungen Und Niereninsuffizienz
ca. 30.000
<3,3 ng/ml
0,5
Diagnostik, Verlaufs- und Therapiekontrolle beim Lungenkarzinom, HNO-PLattenepithelkarzinome Cholangiocelluläres Karzinom
Cave: Kontamination mit Haut oder Speichel → falsch hoher Wert Hohe Werte bei Niereninsuffizienz
Hormon (67 Aminosäuren)
18.000
<30 pg/ml
1
Diagnostik, Verlaufs- und Therapiekontrole Kleinzelliges Lungenkarzinom Medulläres Schilddrüsenkarzinom
Werte bis 300 pg/ ml bei Niereninsuffizienz
Saures Protein, Dimer α und β
21.000
<0,1 ng/ml
0,5
Therapiekontrolle beim Malignen Melanom
Cave: starke zerebrale Ischämie
386
Kapitel 20 · Tumormarker in der Diagnostik
20.2
Wichtige Kenntnisse bei der Interpretation von Tumormarkerbefunden
Tumormarker sind nicht tumorspezifisch, sondern können im Rahmen verschiedenster nicht maligner Grunderkrankungen gesteigert freigesetzt werden (. Tab. 20.2)
. Tab. 20.2. Prozentuale Verteilung von Tumormarkerwerten bei benignen Erkrankungen Diagnose
Wertlagen nach Erkrankung
CEA
AFP
CA 19-9
CA 72-4
CA 125
CA 15-3
CYFRA 21-1
NSE
SCC
ProGRP
HER2
Cut-off-Werte 3 ng/ ml
15 ng/ ml
35 U/ ml
3 ng/ ml
35 U/ ml
30 U/ ml
3 ng/ ml
20 ng/ ml
2 ng/ ml
30 pg/ ml
14 ng/ ml
Benigne gastrointestinale Erkrankungen
● ●● ●●●
79 20 0
94 3 2
78 16 2
92 6 1
78 17 4
90 0 0
92 8 0
96 3 0
91 9 0
85 15 0
72 28 0
Benigne gynäkologische Erkrankungen
● ●● ●●●
91 8 1
99 0 1
90 9 1
86 12 1
76 21 1
95 5 0
98 1 1
96 4 0
91 8 1
90 10 0
96 4 0
Benigne Brusterkrankungen
● ●● ●●●
92 7 1
99 1 0
95 5 0
89 11 0
90 9 0
96 4 0
97 3 0
99 1 0
100 0 0
83 17 0
98 2 0
Benigne Lungenerkrankungen
● ●● ●●●
76 23 1
98 2 0
90 9 1
86 14 0
80 18 2
83 17 0
95 4 1
98 2 0
89 10 0
83 17 0
100 0 0
Benigne urologische Erkrankungen
● ●● ●●●
78 21 1
98 1 1
89 10 1
88 11 1
91 8 1
88 12 0
92 8 0
95 5 0
84 14 0
36 61 2
83 17 0
● <1-mal Cut-off; ● ● 1- bis 5-mal Cut-off; ● ● ● >10-mal Cut-off
Darüber hinaus sind bei der Bewertung der Tumormarkerkonzentration bzw. Tumormarkerkonzentrationsänderungen Kenntnisse über die In-vivo-Einflussgrößen und In-vitro-Störgrößen von besonderer Bedeutung, und zwar nicht nur für den Laborarzt, sondern auch für den direkt betreuenden bzw. für den in der Nachsorge tätigen Arzt. Die In-vivo-Einflussgrößen und In-vitro-Störgrößen sind bei einzelnen Tumormarkern unterschiedlich. 20.2.1 Einflussgrössen (in vivo)
20
Die Konzentration eines Tumormarkers ist nicht nur von der Tumormarkerexpression, -synthese, -freisetzung und -exkretion sowie Tumormasse und Tumorausbreitung abhängig, sondern auch von der Blutversorgung des Tumors sowie von der Körperlage des Patienten zum Zeitpunkt der Blutentnahme. Darüber hinaus sind der Metabolismus und die Eliminationskinetik sowie intraindividuelle Schwankungen von tumorassoziierten Antigenen, ferner z. B. der Menstruationszyklus, das Vorliegen einer Gravidität sowie etliche iatrogene Einflüsse von Bedeutung. Erhöhte Tumormarkerwerte können auch bei Störungen der Ausscheidung beobachtet werden, so bei Niereninsuffizienz, Leberinsuffizienz und insbesondere bei Cholestase. Insbesondere für das Glykoprotein CA19-9 besteht eine Korrelation zu einer vorhandenen Cholestase. Bei CA19-9 handelt
sich um ein Hapten der menschlichen Lewis-a-Blutgruppendeterminante, welches im normalen Pankreas auf der oberflächlichen Epithelmembran der Pankreasgänge lokalisiert ist und in den Pankreassaft sezerniert wird. Die Erhöhung von CA19-9 bis zu Werten von ca. 400 U/ml während Cholestase und der hochsignifikante Abfall nach der ERCP zur Gallensteinentfernung lässt eine biliäre Ausscheidung dieses Antigens annehmen. Aber auch ein reduzierter Metabolismus von CA19-9 in der Leber könnte diese Konzentrationsänderungen verursachen. Beim Mirizzi-Syndrom sowie bei akuter Cholangitis wurden CA19-9Konzentrationen zwischen 190 und 32.000 U/ml beschrieben. Für die häufig schwierige Differenzialdiagnose unklarer anhaltender Oberbauchbeschwerden kann bei gleichzeitig vorhandener cholestatischer Komponente der weitere Markerverlauf, parallel zu Cholestaseparametern, hilfreich sein. Bei Patienten mit Pankreas- oder Gallengangskarzinomen fällt CA19-9 nach Beseitigung der biliären Abflussstörung nur leicht ab, jedoch nicht in den Referenzbereich, bei Patienten ohne Karzinom sinken die Werte unter den Cut-off ab. Auch eine eingeschränkte Nierenfunktion kann die Serumspiegel der Tumormarker beeinflussen. Die höchsten Konzentrationen bei chronischer Einschränkung der Nierenfunktion zeigen niedermolekulare Marker wie SCC, CYFRA21-1 und ProGRP. Aber auch hochmolekulare Proteine wie CA125 und CA15-3 können höhere Konzentrationen im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen aufweisen. Problematisch ist, dass es keine Korre-
387 20.2 · Wichtige Kenntnisse bei der Interpretation von Tumormarkerbefunden
lation zum Kreatinin gibt, was die Interpretation von Tumormarkern im Verlauf von Tumorpatienten mit eingeschränkter Nierenfunktion erschwert. Vereinzelt wurde auch eine Abhängigkeit zwischen dem CA125-Wert und dem Menstruationszyklus beschrieben. Im Allgemeinen handelt es sich hierbei jedoch um geringfügige Veränderungen, die keine statistische Signifikanz erreichen. Bei Patientinnen mit Ovarialzysten kann es jedoch vereinzelt zur Lyse einer Zyste (stark CA125-haltig) kommen und dann zu einem vorübergehenden aber deutlichen Anstieg von CA125 bis zu 200– 300 U/ml. Daher sollte nie aufgrund eines einzelnen CA125-Anstieges (wie generell für alle anderen Marker auch) eine diagnostische oder gar therapeutische Konsequenz gezogen werden. Neben den üblicherweise in der Schwangerschaft für diagnostische Zwecke eingesetzten Markern AFP und HCG zeigen auch andere Marker wie CA15-3, CA125 und CYFRA21-1 eine signifikante Erhöhung während der Schwangerschaft. So nimmt CA15-3 unter der Schwangerschaft kontinuierlich zu und sollte während Schwangerschaft und Stillzeit nicht zur Verlaufskontrolle des Mammakarzinoms oder eines anderen Karzinoms eingesetzt werden. CEA hingegen als zweiter Marker zeigt keine Abhängigkeit von der Schwangerschaft und kann somit weiterhin zur Nachsorge eingesetzt werden. Ebenso sind CA19-9, CA72-4, NSE und SCC unabhängig von der Schwangerschaft, CA125 kann bis zur 16. SSW mäßig zunehmen. CYFRA21-1 nimmt zum Ende der Schwangerschaft gelegentlich zu, was eventuell durch Uteruskontraktionen bedingt sein kann. Wichtig zu erwähnen ist auch der Einfluss des Rauchens auf die CEA-Konzentration, wobei diese höheren Konzentrationen nicht für alle Teste zur CEA-Bestimmung gleich ausgeprägt ist, dieses Phänomen kann durch den Einsatz unterschiedlicher Antikörper zur Detektion von CEA erklärt werden. An weiteren iatrogenen Einflüssen ist insbesondere die teilweise deutlich ausgeprägte PSA-Freisetzung im Anschluss an die digital rektale Palpation bzw. den transrektalen Ultraschall der Prostata, aber auch an eine Zystoskopie, Koloskopie oder Prostatabiopsie. Auch ein akuter Harnverhalt, eine Katheterisierung der Harnblase oder die Ergometrie sowie generell intensives Fahrradfahren (z. B. im Fitnesstudio oder Mountainbiking) können PSA stark ansteigen lassen. Auch bei anderen Organen können invasive diagnostische Maßnahmen wie Endoskopien und Biopsien zu teilweise starken Erhöhungen der Tumormarker führen (CYFRA21-1 und SCC bei Bronchoskopie, aber auch durch Intubation und Überdruckbeatmung), CA125 bei Laparoskopie und Laparotomie und CEA bei einer Koloskopie. Zusammengefasst ausgedrückt sollten Blutproben für onkologische Biomarker immer vor invasiven diagnostischen Maßnahmen abgenommen werden. Falls dennoch vor der Blutentnahme solch eine iatrogene Massnahme stattgefunden hat, muss vor einer nächsten Kontrolluntersuchung die physiologische Ausscheidung entsprechend der Halbwertszeit der einzelnen Tumormarker abgewartet werden (. Tab. 20.1), z. B. 3–4 Wochen bei PSA. 20.2.2 Störgrößen (in vitro)
4 Lagerungsbedingungen: Tumormarker sind im Allgemeinen relativ stabil nach der Blutentnahme. Dennoch sollte die Trennung des Serums vom Blutkuchen möglichst zügig erfolgen. Dies gilt insbesondere für:
4 4 4 4
20
5 PSA, falls die zusätzliche Bestimmung von freiem PSA durchgeführt werden soll, muss die Zentrifugation der Probe spätestens 3 h nach der Blutentnahme erfolgen. Anschließend kann die Probe für 24 h bei +4°C gelagert werden, bei längerem Intervall bis zur Bestimmung sollte die Probe bei mindestens –20°C tiefgefroren werden. 5 NSE, hier muss eine möglichst schnelle Trennung des Serums vom Blutkuchen binnen 60 min nach der Blutentnahme erfolgen, da sonst durch passive Diffusion aus den Thrombozyten und Erythrozyten physiologischerweise eine NSE-Freisetzung erfolgt. Hämolyse: hier ist besonders der Einfluss auf die NSE-Konzentration zu erwähnen, da Thrombozyten und Erythrozyten NSE-haltig sind. Hautkontakt mit den primären oder sekundären Probengefäßen. SCCA (»squamous cell carcinoma antigen«) wird hierdurch deutlich erhöht. Kontamination der Probe mit Speichel (Nießen, Husten bei der Bearbeitung der Probe), dies führt bei SCC und CA19-9 zu deutlich erhöhten Konzentrationen. Falsch-positive Testergebisse der Tumormarker durch die humanen Anti-Maus-Ig-Antikörper (sog. heterophile Antikörper, Hasholzner et al. 1997). Sie können bei denjenigen Patienten entstehen, bei denen aus diagnostischen oder therapeutischen Gründen im Rahmen einer Immunszintigrafie oder Immuntherapie Mausimmunglobuline appliziert worden sind. Hierdurch ist es möglich, dass in Testsystemen, in denen monoklonale Mausantikörper verwendet werden, ein positives Signal vorgetäuscht wird. Diese heterophilen AntiIg-Antikörper können auch bei Patienten, die mit sog. Frischzellen behandelt worden sind, vorkommen und somit falsch hohe Tumormarkerwerte vortäuschen. Heterophile Antikörper können auch sehr selten bei Normalpersonen vorkommen, wobei über die Herkunft dieser HAMA (»human antimouse monoclonal antibodies«) zurzeit keine Klarheit besteht.
20.2.3 Methodenabhängigkeit
TM-Bestimmungen werden überwiegend durch kommerziell verfügbare, einfach handhabbare, gut reproduzierbare Testmethoden (Radioimmuno-, immunoradiometrische, Enzym-, Fluoreszenz- oder Luminiszenz-immunologische Assays) zumeist in automatisierter Form und in kurzer »time to result« durchgeführt. Es ist aber von besonderer Wichtigkeit darauf hinzuweisen, dass Tumormarkerwerte zum Teil stark methodenabhängig sind. Mit Kits verschiedener Herstellerfirmen können in der gleichen Blutprobe völlig unterschiedliche Werte gemessen werden, sogar dann, wenn es sich im Prinzip um dieselbe Methode unter Benutzung der identischen monoklonalen Antikörper handelt (Schambeck et al. 1995). Auf diese Weise können Remissionen und Progressionen vorgetäuscht werden. Wegen diesen Standardisierungsproblemen zwischen gleichen TM-Testen verschiedener Hersteller, deren Verbesserung durch eine mit Testanbietern und -anwendern besetzte europäische Arbeitsgruppe für TM-Standardisierung und -Qualitätskontrolle (European Group on Tumor Markers, EGTM 1999) und der amerikanischen National Academy of Clinical Biochemistry (NACB, Fleisher et al. 2002) angestrebt wird, ist bei Verlaufsbestimmungen eines Patienten der gleiche Test vom selben
388
Kapitel 20 · Tumormarker in der Diagnostik
Hersteller (evtl. im gleichen Labor bestimmt) zu verwenden und das Testergebnis zusammen mit dem verwendeten Test und Hersteller anzugeben und diese Informationen auch im Arztbrief weiterzugeben. Im Falle eines eventuellen Wechsels des verwendeten Testes muss entweder ein Vorserum parallel mit dem alten und dem neuen Test untersucht werden, oder aber es muss eine prospektive parallele Untersuchung beider Methoden über 1– 2 Untersuchungsintervalle erfolgen. 20.2.4 Irrelevanz eines Cut-offs für den individuellen
Patienten Eine häufige Fehlinterpretation von tumorassoziierten Antigene liegt im Bereich der Überbewertung von Grenzwerten, Referenzbereichen oder Cut-offs und der Unterschätzung der Bedeutung von individuellen Basiswerten. Hierbei ist wichtig zu bedenken, dass jeder Patient nur ein einziges Mal eine Beurteilung seiner Tumormarkerwerte im Vergleich zu sog. Normalwerten braucht, nämlich bei seiner ersten Untersuchung im Hinblick auf eine Tumorerkrankung (meist prätherapeutisch). Unabhängig davon, ob im weiteren Verlauf eine Therapie vorgenommen wird oder nicht, ist von diesem Moment an nur noch die individuelle Kinetik eines
20.3
einzelnen Patienten entscheidend. So kommt z. B. der postoperativen Kontrolluntersuchung von CEA beim kolorektalen Karzinom im Anschluss an die radikale Resektion bzw. nach Beendigung der adjuvanten Therapie die größte Bedeutung während des gesamten Krankheitsverlaufs zu. Nach Ermittlung dieses individuellen tumorfreien Basiswertes eines Patienten, die unter Berücksichtigung der Halbwertszeit von CEA (3–8 Tage) erst in entsprechendem zeitlichem Abstand erfolgen darf, ist für diesen Patienten jeder Referenzbereich oder Cut-off bedeutungslos. Bei nicht vorhandenen zusätzlichen chronischen Erkrankungen des Gastrointestinaltraktes, der Niere oder auch Autoimmunerkrankungen sollte die CEA-Konzentration in den Bereich gesunder Kontrollpersonen abfallen. Die »Normalität« des CEA-Befundes darf sich dann im weiteren Verlauf nicht mehr daran orientieren, dass der Wert innerhalb des sog. Referenzbereichs liegt, sondern nur noch an dem individuellen Basiswert. Bei derzeitigem Kenntnisstand kann davon ausgegangen werden, dass ein reproduzierbarer 100%iger Anstieg der CEA-Konzentration (einmalig oder aber kontinuierlich) ausgehend von diesen individuellen Basiswerten tumorspezifisch ist und auf Rezidivierung des Karzinoms bzw. ein Zweitkarzinom hinweist (Stieber et al. 2006). Diese Interpretation darf allerdings nur auf der Basis von CEA-Werten durchgeführt werden, die im Verlauf mit dem gleichen Test gemessen wurden.
Indikationen zur Bestimmung von Tumormarkern
In . Tab. 20.3 sind die für die wichtigsten klinischen Indikationen etablierten Biomarker zusammengefasst.
. Tab. 20.3. Indikationen für die Tumormarkerbestimmung Marker
Screening
Diagnose
Follow-up
Prognose
CEA
C-Zell-Tumore
C-Zell-Tumore
Kolon, Mamma, Lunge, C-Zell
Kolon, Magen, Mamma
AFP
Risikogruppen
Keimzell, HCC
Keimzell, HCC
Keimzell
Pankreas
Pankreas, Gallenwege
Magen, Kolon
CA19-9 CA72-4
Magen, Ovar muzinös
CA125
Ovar serös
Ovar serös
CA15-3
Mamma
Mamma
HER2/neu
Mamma CUP
Mamma
Mamma
NSE
Lunge SCLC
Lunge SCLC, Neuroblast. TU, Apud.
Lunge
Lunge SCLC
Lunge SCLC
SCCA
Lunge NSCLC
Zervix, HNO, Lunge NSCLC
CYFRA21-1
Lunge NSCLC, CCC
Lunge NSCLC, Harnblase
Lunge NSCLC Keimzell, trophoblast. TU
ProGRP
20
Lunge SCLC
HCG
Risikogruppen
Keimzell, trophoblast. TU
Keimzell, trophoblast. TU
PSA
Prostata
Prostata
Prostata
Calcitonin
C-Zell-Tumore
C-Zell-Tumore
C-Zell-Tumore
HTG
Diff. Schilddrüsenkarzinom
S100
Malignes Melanom
C-Zell-Tumore
Malignes Melanom
AFP α-Fetoprotein; CEA Carcino-Embryonales Antigen; HER2 humaner epidermaler Wachstumsfaktorrezeptor; NSE neuronenspezifische Enolase; ProGRP Pro-Gastrin-Releasing-Peptide; SCCA »squamous cell carcinoma antigen«; CYFRA21-1 Cytokeratinfragment 21-1 HCG human ChorionGonadotropin; PSA prostataspezifisches Antigen; HTG humanes Thyreoglobulin
389 20.3 · Indikationen zur Bestimmung von Tumormarkern
20.3.1 Früherkennung (Screening)
Insbesondere aufgrund fehlender Tumor- und Organspezifität aber auch zu geringer Prävalenz der Erkrankung in der Gesamtbevölkerung haben die meisten Tumormarker in der Screeningsituation (einmalige Untersuchung asymptomatischer Personen) keinen Stellenwert. Jeder bislang bekannte Tumormarker kommt bei jedem Menschen im Blut vor, wobei das Ausmaß der Freisetzung dieser Analyten individuell stark variiert (individuelle Basiswerte). Ein Referenzbereich beschreibt meist die 95. Perzentile der untersuchten gesunden Kontrollpersonen, hat aber in keiner Weise die Bedeutung einer Trennung von tumorfrei zu tumorkrank, d. h., dass weder ein Wert innerhalb des Referenzbereichs gleichzusetzen ist mit »kein Karzinom« noch ein Wert oberhalb dieses Referenzbereichs mit »Karzinom« (. Abb. 20.1). Folgendes Rechenbeispiel soll zeigen, warum die derzeit verfügbaren Tumormarker für Screeninguntersuchungen asymtomatischer Personen nicht geeignet sind. Nehmen wir an, dass der CEA-Test beim Kolonkarzinom eine diagnostische Sensitivität von 70% und eine diagnostische Spezifität von 95% Prozent besitzt. Das bedeutet einerseits, dass 30% der Tumorpatienten auch im fortgeschrittenen Stadium nicht erkannt werden und andererseits, dass bei Durchuntersuchung einer Bevölkerungsgruppe von 10.000 Personen, bei denen die Erkrankung mit einer Häufigkeit von 1% auftritt, 70 Patienten mit Kolonkarzinom erfasst werden. Bei der angenommenen Spezifität von 95% würden den 70 richtig-positiven Testergebnissen allerdings 495 falsch-positive Testergebnisse gegenüberstehen (5% von 9.900). Bei diesen Patienten einen Tumor auszuschließen, bedeutet für das Individuum eine erhebliche psychische Belastung und darüber hinaus für die Allgemeinheit einen erheblichen finanziellen Aufwand. Eine Ausnahme stellt allerdings das prostataspezifische Antigen (PSA) dar. Sein Einsatz zum Screening nach kritischer Patientenaufklärung wird zusammen mit der digitalen rektalen Untersuchung und je nach Befund mit der Notwendigkeit eines transrektalen Ultraschalls und einer Biopsie von mehreren amerikanischen medizinischen Gesellschaften beim Mann ab dem 50. Lebensjahr und unter dem Vorbehalt einer voraussichtlichen Lebenserwartung von wenigstens 10 Jahren empfohlen. Diese Empfehlung wird in den europäischen Ländern kritischer gesehen und restriktiver gehandhabt. In der aktuellen Situation sei auf die offizielle S3-Leitlinie verschiedener deutscher interdiszipliärer Fachgesellschaften (DGU, BDU, AUO, DKG, DKH, BPS, AWMF) zur Frage der Prostatakrebs-Früherkennung durch die PSA-Bestimmung nur nach Aufklärung und Einwilligung des Patienten hingewiesen (http://www.awmf-leitlinien.de) hingewiesen. 20.3.2 Risikogruppen
Unter dem Anstieg der Prävalenz einer Erkrankung (Überwachung von Risikogruppen) können einzelne TM Bedeutung erlangen, z. B. die Calcitonin-Bestimmung bei Verwandten von Patienten mit familiärem medullären Schilddrüsenkarzinom (CZell-Karzinom) bzw. einer MEN II zur Früherkennung einer inapparenten Erkrankung (heute zunehmend ersetzt durch molekulargenetische RET-Onkogen-Bestimmung), oder die AFP-Bestimmung mit Ultraschalluntersuchung bei Patienten mit chronischer Lebererkrankung auf Entstehung eines hepatozellu-
20
lären Karzinoms (2- bis 3-mal/Jahr bei Leberzirrhose, vor allem durch chronische Hepatitis B/C). Die momentan verfügbaren tumorassoziierten Antigene sind zum jetzigen Kenntnisstand nicht geeignet zur Überwachung (und frühzeitigen Entdeckung eines Karzinoms) von Risikopatienten wie Rauchern (Bronchialkarzinom), Patienten mit familiärer Poliposis coli (kolorektales Karzinom), postmenopausalen Frauen (Ovarialkarzinom) oder auch Patientinnen mit familiärer Häufung bzw. genetischer Belastung eines Mammakarzinoms. 20.3.3 Primäre Tumordiagnostik
Tumormarker können zumindest in frühen Tumorstadien nur selten einen regelrechten Beitrag in der Diagnosefindung von Tumorerkrankungen zum Zeitpunkt der Erstdiagnose leisten. Zum einen beruht dies auf der Tatsache, dass die meisten Tumorerkrankungen in einem nicht metastasierten Stadium entdeckt werden und die Tumormarkerfreisetzung noch nicht stark ausgeprägt ist. Andererseits ist bei der Primärdiagnose ohne Kenntnis der individuellen Basiswerte eines Patienten die Beurteilung der Freisetzung eines Tumormarkers immer abhängig vom gewählten Grenzwert, letztendlich kann das Vorhandensein einer prätherapeutischen tumorbedingten Freisetzung tumorassoziierter Antigene erst nach Abschluss der ersten Therapiephase (Operation und/oder Radiochemotherapie) durch Wiedererlangen der individuellen Basiswerte beurteilt werden, dies gilt zumindest für die frühen Tumorstadien. Vom Standpunkt der tumorassoziierten Antigene aus betrachtet beginnt die Nachsorgephase mit dem Zeitpunkt der Primärdiagnose und so ist es empfehlenswert, die mit der größten Wahrscheinlichkeit von einem bestimmten Karzinom freigesetzten Tumormarker (. Abb. 20.2) vor der ersten Therapie zu bestimmen. Dieser Erstbefund zeigt das Freisetzungsmuster des Tumors an, ermöglicht prognostische Aussagen und kann zusätzlich bei einer sehr starken Freisetzung von Markern zu diesem Zeitpunkt ein Hinweis auf eine noch nicht entdeckte Fernmetastasierung sein. 20.3.4 Verlauf unter Tumortherapie
Nach Beendigung der Ersttherapie Die Bestimmung der Tumormarker nach Beendigung der ersten Therapie (Operation und evtl. Radio-/Chemotherapie) ist von großer Relevanz, einerseits zur Überprüfung der Effektivität der Therapie und um die für die gesamte weitere Nachsorge relevanten individuellen Basiswerte des jeweiligen Patienten zu erheben. Im Falle einer R0-Resektion fallen die Tumormarker bei den meisten Patienten entsprechend der Halbwertszeit in den Referenzbereich ab (definitionsgemäß 95. Perzentile), wobei zu berücksichtigen ist, dass zwar 50% der tumorfreien Patienten in oder unterhalb des Bereichs des Medians abfallen, aber dass einige Patienten generell höhere Basiswerte aufweisen (5%), d. h., immer oberhalb des Referenzbereichs liegen. Die Unterscheidung zwischen außerhalb des Referenzbereichs liegendem individuellem Basiswert und postoperativ vorhandenem Tumorrest kann durch die Kinetik bei zunächst engmaschigeren postoperativen Kontrolluntersuchungen erfolgen. Die postoperative Bestimmung der Tumormarker sollte auch dann erfolgen, wenn die
390
Kapitel 20 · Tumormarker in der Diagnostik
Marker präoperativ innerhalb des Referenzbereichs liegen, lediglich bei Werten unterhalb der Nachweisgrenze kann die postoperative Bestimmung entfallen, allerdings nicht die Bestimmung in der weiteren Nachsorge. Im gesamten weiteren Krankheitsverlauf orientiert sich die Interpretation der Tumormarker an diesen individuellen Basiswerten bzw. »Normwerten« des individuellen Patienten, die Normalität eines Befundes kann somit nur unter Kenntnis der individuellen Basiswerte beurteilt werden. Somit ist die postoperative Tumormarkerbestimmung unter Berücksichtigung der Halbwertszeit für den Patienten meist von größerer Tragweite als die präoperative Bestimmung. Werden diese individuellen Basiswerte nach abgeschlossener Ersttherapie nicht ermittelt, können Tumormarker in der Nachsorgesituation zumindest nicht frühzeitig auf ein Rezidiv hinweisen.
20
Nachsorge, Stadium »no evidence of disease« Insgesamt gesehen stellen tumorassoziierte Antigene ein hochsensitives diagnostisches Potenzial in der Nachsorge von Tumorerkrankungen dar. Mithilfe der in definierten Zeitintervallen durchgeführten Tumormarkerbestimmung kann eine Rezidivierung bis zu 2 Jahre vor der klinisch manifesten Progression angezeigt werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn man die Kinetik ausgehend von den individuellen Basiswerten interpretiert. Deshalb ist der Wiederanstieg eines TM nach erfolgter Normalisierung nach vermeintlich kurativer Operation (z. B. Kolonkarzinomoperation) als dringender Verdacht auf ein Rezidiv oder eine Metastasierung zu werten. Die Möglichkeit für eine noch kurative Resektion sinkt jedoch mit wachsender Latenzzeit zwischen erstem TM-Anstieg und Diagnosesicherung (CT, Endoskopie etc.). Die notwendige Anstiegssteilheit zur Erreichung einer hohen Tumorspezifität und damit Vermeidung falsch-positiver Befunde ist neben PSA erst seit Kurzem für CEA und CA15-3 bekannt. Für diese beiden Tumormarker ist ein reproduzierbarer 100%iger Anstieg basierend auf den individuellen Basiswerten und unter Berücksichtigung relevanter Einflussgrößen tumorspezifisch (Stieber et al. 2006). Unter Berücksichtigung der nachweisbaren Geschwindigkeit der TM-Spiegel-Zunahme (Dopplungszeit DZ) scheint diese beim kolorektalen Karzinom bei Lokalrezidiv oder Weichteilmetastasierung langsamer (z. B. längere DZ >100 d) als bei Metastasierung in Lunge, Leber, Knochen oder multipler Metastasierung zu verlaufen (DZ <100 d; Umehara et al. 1993). Immerhin ist ein Gesamtüberlebensvorteil durch eine intensivere postoperative Nachsorge nach kurativer kolorektaler Operation inzwischen gesichert (Jeffery et al. 2004) und dieser nach einer Metaanalyse (Rosen et al. 1998) vor allem durch die CEA-Kontrollen belegt. Problematischer ist die Situation bei vielen Tumoren mit nur begrenzten chemotherapeutischen Möglichkeiten wie beim Bronchial- und Magenkarzinom, weil bisher trotz früherer Diagnose mangels effektiver Therapie dadurch kein wesentlicher Überlebensvorteil für die Patienten erreicht werden konnte. Therapieüberwachung unter systemischer Therapie Die Therapie- und Verlaufskontrolle nach Operation bzw. Radio-, Chemo- oder Hormontherapie ist das wichtigste Einsatzgebiet für die Anwendung von TM. Im Allgemeinen reflektieren TM im Verlauf die klinische Entwicklung der Erkrankung unter Therapie: Sie zeigen eine hohe Korrelation eines fallenden Markerspiels (>50%) mit dem Ansprechen einer Therapie, eines TM-Anstiegs (>25%) mit einer Progression sowie eines im pathologischen Be-
reich persistierenden oder leicht ondulierenden TM-Spiegels (<25%) mit einer stabilen Erkrankung. Zeitlich diskordante Episoden zwischen TM-Verlauf und Klinik bzw. Bildgebung sind neben ungeklärten Ursachen in bis zu 50% der Fälle durch eine TM-Vorzeitigkeit von 1–6 Monaten (»lead time«) vor anderen diagnostischen Verfahren bedingt. Ein in der Therapiepause erneut ansteigender TM-Wert kann erster Hinweis auf Reaktivierung der Grundkrankheit und damit Therapieindikation sein, ein unter Therapie auftretender kontrollierter TM-Anstieg Hinweis auf Therapieversagen und Indikation für einen Therapiewechsel. Aufgrund fehlender Studien zur Geschwindigkeit und Stärke der Reaktion der Tumormarker auf die verschiedenen Therapiemodalitäten in Korrelation zum klinischen Therapieansprechen ist derzeit die TM-Änderung allein noch keine Indikation für eine Therapieänderung oder -induktion (Ausnahme HCG beim Hodentumor).
20.4
Tumormarker bei den häufigsten soliden Tumorerkrankungen
Eine Zusammenfassung der am häufigsten eingesetzten Biomarker für die verschiedenen Karzinome findet sich in . Tab. 20.4. 20.4.1 Kolorektales Karzinom
Das karzinoembryonale Antigen CEA stellt beim kolorektalen Karzinom den Marker der ersten Wahl dar. Zum Zeitpunkt der Primärdiagnostik eines kolorektalen Karzinoms steht die CEAFreisetzung in ausgeprägter Korrelation zum Tumorstadium (Dukes A: 0–20%; B: 20–40%; C: 40–60%; D: 60–95%), ebenso gibt es eine deutliche Korrelation des präoperativen CEA-Serumspiegels zum postoperativen, rezidivfreien Intervall und zur Überlebenszeit. Die American Society of Clinical Oncology (ASCO) hat in jährlich überarbeiteten Empfehlungen zum kolorektalen Karzinom die primäre Rolle des Tumormarkers CEA als Zusatzinstrument zur Bestimmung von Prognose und Verlaufskontrolle auf Rezidiv und Therapieansprechen anerkannt (ASCO 2006), ebenso die EGTM (Duffy et al. 2007). Zusätzlich hat die AJCC (American Joint Committee on Cancer) empfohlen, das prätherapeutische CEA (C1: CEA = 5 ng/ml, C0: CEA <5 ng/ml; CX: CEA nicht bekannt) wegen gesichertem höherem Rezidivrisiko und schlechterer Prognose bei Erhöhung in die klassische TNM- und R-Tumorklassifikation aufzunehmen (Compton et al. 2000). Die starke prognostische Aussagekraft von CEA im Vergleich zu anderen Biomarkern zum Zeitpunkt der Primärdiagnose eines nicht metastasierten kolorektalen Karzinoms ist in multivariaten Anlysen anderen Biomarkern überlegen (Hofmann et al. 2007). Wegen bislang fehlender Evidenzen unterstützen ASCO, NACB und EGTM zurzeit nicht die Bestimmung von CEA zum Screening oder zur alleinigen Entscheidung über eine adjuvante Chemotherapie, aber seine präoperative Bestimmung als Ausgangsbasiswert und zur Abschätzung der Prognose (EGTM 1999; Fleisher et al. 2002). Inzwischen gilt als gesichert, dass eine intensivere Nachsorge von Patienten mit Dickdarmkarzinom nach kurativer Resektion einen 5-Jahres-Gesamtüberlebens-Vorteil erbringt (Jeffery et al. 2004) und diesen nach einer Metaanalyse (Rosen et al. 1998) nur im Zusammenhang mit häufigen CEAKontrollen (über 3-mal pro 1. und 2. postoperativem Jahr). Fer-
20
391 20.4 · Tumormarker bei den häufigsten soliden Tumorerkrankungen
. Tab. 20.4. Prozentuale Verteilung von Tumormarkerwerten bei malignen Erkrankungen Diagnose
Wertlagen nach Karzinomen
CEA
AFP
CA 19-9
CA 72-4
CA 125
CA 15-3
CYFRA 21-1
NSE
SCC
ProGRP
HER2
Cut-off- Werte 3 ng/ ml
15 ng/ ml
35 U/ ml
3 ng/ ml
35 U/ ml
30 U/ ml
3 ng/ ml
20 ng/ ml
2 ng/ ml
30 pg/ ml
14 ng/ ml
Kolorektales Karzinom
● ●● ●●●
50 26 17
98 2 0
70 17 10
63 21 11
82 15 2
92 8 0
68 20 7
84 15 0
91 7 1
75 25 0
88 12 0
Pankreaskarzinom
● ●● ●●●
56 33 6
96 1 3
24 21 41
60 25 9
46 32 9
73 24 1
64 29 2
92 6 2
92 4 4
96 4 0
65 35 0
Magenkarzinom
● ●● ●●●
72 7 8
92 3 3
70 18 9
56 26 12
70 24 3
88 11 1
64 24 5
89 11 0
89 4 7
89 11 0
79 21 0
HCC
● ●● ●●●
66 32 1
36 15 46
43 42 9
91 8 1
42 36 14
70 28 2
54 33 9
83 12 3
100 0 0
86 14 0
35 65 0
Mammakarzinom
● ●● ●●●
82 15 2
99 1 0
94 5 1
87 9 2
82 12 2
82 15 2
82 12 4
97 3 0
98 2 0
81 19 0
61 33 3
Ovarialkarzinom
● ●● ●●●
83 10 4
95 2 3
75 15 8
44 27 22
16 22 49
49 40 3
49 30 11
86 12 1
88 10 1
92 4 0
91 9 0
Zervixkarzinom
● ●● ●●●
73 21 3
97 2 0
87 7 3
75 18 5
72 20 4
89 8 0
78 19 0
97 3 0
63 25 7
93 5 0
90 10 0
Lungenkarzinom
● ●● ●●●
46 39 0
98 1 1
81 12 5
77 16 5
60 31 4
72 26 2
57 35 4
86 11 1
77 19 2
69 19 9
77 23 0
HNOKarzinom
● ●● ●●●
64 36 0
99 1 0
92 6 1
89 10 0
96 4 0
91 9 0
86 12 1
94 6 0
70 26 3
33 50 0
95 5 0
● <1-mal Cut-off; ● ● 1- bis 5-mal Cut-off; ● ● ● >10-mal Cut-off
ner zeigte nach einer prospektiven randomisierten Studie ein postoperativ im Verlauf steigender CEA-Wert häufiger beim Rektum- als Kolonkarzinom ein asymptomatisches lokales Rezidiv an und war darin kosteneffektiver als andere Maßnahmen. Da eine Resektion isolierter Metastasen bei Frühentdeckung zu einem besseren Überleben und erhöhter Lebensqualität führt, empfehlen ASCO, NACB und EGTM bei potenzieller Lebermetastasenresektion den CEA-Test alle 2–3 Monate im Stadium II und III über 2–3 Jahre nach Primärdiagnose/-therapie und bei erhöhtem CEA-Spiegel eine zusätzliche Untersuchung auf Metastasierung (EGTM 1999; Fleisher et al. 2002). 20.4.2 Pankreaskarzinom
Tumormarker der ersten Wahl beim Pankreaskarzinom ist das Cancer Antigen 19-9, dies ist in Einklang mit den Empfehlungen der EGTM (Klapdor et al. 1999), der NACB (Goggins et al. 2006) und seit 2006 auch erstmals der American Society of Clinical
Oncology (ASCO 2006). Die Sensitivität von CA19-9 für das Pankreaskarzinom liegt – unabhängig vom Differenzierungsgrad – zwischen 70 und 80%. Ein CA19-9-Wert innerhalb des Referenzbereichs schließt ein Pankreaskarzinom nicht aus, wobei zu berücksichtigen ist, dass diejenigen Personen mit der seltenen Blutgruppe Lewis-a/b-negativ CA19-9 nicht freisetzen können, also unterhalb der Nachweisgrenze liegen. Es besteht keine Korrelation der Markerkonzentration zur Tumormasse, jedoch weisen CA19-9-Werte über 1.000 U/ml bei Patienten mit Pankreaskarzinom i. Allg. auf eine Lymphknotenbeteiligung hin, Werte über 10.000 U/ml fast immer auf eine hämatogene Aussaat. Es konnte gezeigt werden, dass Patienten mit noch resezierbaren Pankreastumoren in über 60% erhöhte CA199-Werte aufweisen, bei einer Tumormarker-Dopplungszeit von 0,5–3,5 Monaten. Daher wird empfohlen, bei Patienten mit Oberbauchbeschwerden und einem Alter über 45 Jahre nach 2–3 Wochen eine CA19-9-Bestimmung durchzuführen, wenn bis dahin die Ätiologie unklar bleibt und die Beschwerden weiterhin bestehen.
392
Kapitel 20 · Tumormarker in der Diagnostik
In den letzten Jahren wird zunehmend der Stellenwert von CA19-9 als Indikator zu einem intensiveren präoperativen Staging postuliert, da sich etliche Patienten erst intraoperativ als inoperabel herausstellen. Es ist belegt, dass die CA19-9-Serumspiegel bei Patienten mit einem operablen Tumor zum Zeitpunkt der Primärdiagnose signifikant niedriger liegen (Safi et al. 1998). Doch auch innerhalb der Gruppe der Patienten mit operablem Tumor normalisierten sich die CA19-9-Serumspiegel nur bei 29%, 13%, und 10% der Patienten im Stadium I, II, oder III. Innerhalb von Patienten mit dem gleichen Tumorstadium war die mediane Überlebenszeit bei denjenigen Patienten signifikant länger, bei denen CA19-9 durch die Operation in den Referenzbereich absank. (Stadium I: 33 vs. 11,3 Monate; Stadium II: 41 vs. 8,6 Monate; Stadium III: 28 vs. 10,8 Monate). Bei denjenigen Patienten mit Progression zeigten 88% einen starken CA19-9-Anstieg. Unter systemischer Therapie wie Chemo- und/oder Radiotherapie konnte inzwischen reproduzierbar belegt werden, dass die CA19-9-Konzentration im Verlauf eine deutliche Aussagekraft bezüglich der Ansprechrate und der Überlebenszeit von Patienten mit einem Pankreaskarzinom besitzt (Ishii et al. 1997; Gogas et al. 1998). Die bildgebende Beurteilung des Therapieansprechens z. B. mittels Computertomografie ist bei diesem Karzinom aufgrund der lokalen desmoplastischen und entzündlichen Reaktionen erschwert, die Kriterien des klinischen Ansprechens zu subjektiv, um reproduzierbar zu sein. Da CA19-9 mit großer Wahrscheinlichkeit im Rahmen eines Pankreaskarzinoms vermehrt freigesetzt wird, kann es bei den meisten Patienten als Verlaufsparameter eingesetzt werden. Eigene Untersuchungen (Heinemann et al. 1999; Boeck et al. 2006) zeigen, dass die Aussagekraft von CA19-9 bezüglich des Therapieansprechens systemischer Therapien im fortgeschrittenen Stadium unabhängig von der Abfallgeschwindigkeit ist. Allen Studien ist gemeinsam, dass Patienten mit einem CA19-9Abfall unter Therapie (CA19-9-Responder) ein signifikant längeres Gesamtüberleben aufwiesen als die Patienten, bei denen CA19-9 unter Therapie nicht abfiel (Nonresponder). CA19-9 hat in der Verlaufsbeurteilung nach abgeschlossener Ersttherapie je nach Anstiegssteilheit eine Empfindlichkeit von 80–100% in der frühzeitigen Entdeckung einer Progression. Inwieweit und in welchen Intervallen jedoch CA19-9 zur Verlaufsbeurteilung eingesetzt werden sollte, hängt in erster Linie von der individuellen Patientensituation ab und auch von den gegebenen therapeutischen Möglichkeiten im Falle einer Progression des Pankreaskarzinoms. 20.4.3 Hepatozelluläres Karzinom (HCC)
20
Für die Frühentdeckung, Diagnose und Verlaufsbeobachtung des primären Leberzellkarzinoms ist der Tumormarker Alpha-Fetoprotein (AFP) von besonderer Bedeutung. Aufgrund der verbesserten bildgebenden Diagnostik inklusive CT und NMR werden heutzutage die HCC in einem früheren Tumorstadium entdeckt, was in Anbetracht der Korrelation der AFP-Freisetzung zum Tumorstadium im Vergleich zu den früher beschriebenen Sensitivitäten mit einer geringeren allgemeinen AFP-Positivitätsrate gekoppelt ist. So weisen derzeit bei Erstdiagnose etwa 60–70% der Patienten pathologische AFP-Konzentrationen auf; dabei liegen ca. 30% der Werte über 1.000 ng/ml, 20% sogar über 10.000 ng/ ml. Da kleine Herde des HCC <1–2 cm häufig AFP-negativ sind,
bleibt abzuwarten, inwieweit sich in Zukunft andere Biomarker wie das DCP (Des-gamma-Carboxy Prothrombin) additiv zu AFP etablieren werden, derzeit ist AFP immer noch der empfohlene Tumormarker seitens diagnostischer Gesellschaften wie EGTM (Klapdor et al. 1999) und NACB (Lamerz et al. 2006), und klinischer Gesellschaften wie der EASL und der British Society for Gastroenterology. Aufgrund der relativ hohen Tumor- und Organspezifität von AFP und der ebenfalls hohen Sensitivität beim HCC sowie einer großen und klar umschriebenen Risikogruppe für die Entwicklung eines hepatozellulären Karzinoms kommt AFP ein hoher Stellenwert in der regelmäßigen (alle 3 Monate unter Anwendung des gleichen Testes) Überwachung von Patienten mit Leberzirrhose oder chronischer Hepatitis zur Früherkennung eines Leberzellkarzinoms zu. Hierbei ist besonders zu berücksichtigen, dass Patienten mit AFP-positiven chronischen Lebererkrankungen eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung eines hepatozellulären Karzinoms haben. Ab Konzentrationen >1.000 ng/ml hat AFP bei unklaren Raumforderungen der Leber diagnostischen Stellenwert, wobei generell zu berücksichtigen ist, dass auch nichtseminomatöse Keimzelltumoren mit einer starken AFP-Freisetzung einhergehen können. AFP ist nicht in die TNM-Klassifikation des Leberzellkarzinoms integriert, eine gesteigerte AFP-Freisetzung des Primärtumors stellt jedoch einen unabhängigen ungünstigen Prognosefaktor dar. 20.4.4 Magenkarzinom
CA72-4 hat beim Magenkarzinom eine höhere Spezifität und Sensitivität als CEA oder CA19-9 und ist demnach am besten für die Therapie- und Verlaufskontrolle des Magenkarzinoms geeignet. Aber es besteht eine eindeutige additive Sensitivität durch die zusätzliche Bestimmung von CEA und CA19-9, sodass die Kombination dieser drei Marker beim Magenkarzinom das beste Spezifitäts-Sensitivitäts-Profil aufweist. Etliche Untersucher beschreiben die prätherapeutische prognostische Relevanz der CA72-4-Freisetzung beim Magenkarzinom (Reiter et al. 1997). So kommt CA72-4 neben dem Alter und dem Tumorstadium eine unabhängige prognostische Relevanz zu. Patienten mit einem CA72-4-Wert über 6 ng/ml haben ein 4,2-fach höheres Risiko, an der Krankheit zu versterben, als Patienten mit einem CA72-4-Wert unter 6 ng/ml. Diese prognostische Information hat jedoch derzeit rein informativen Charakter, ist nicht in das Staging integriert. Die Nachsorge des Magenkarzinoms hängt stark von den gegebenen therapeutischen Möglichkeiten und deren Effektivität zum Zeitpunkt einer eintretenden Progression ab. Somit muss auch in Einklang mit Empfehlungen der EGTM und NACB die Nachsorge mittels Tumormarker sehr kritisch und auf den Patienten individuell abgestimmt erfolgen (Bonfrer et al. 2006). CA72-4 besitzt zusammen mit CEA und CA19-9 eine sehr hohe Empfindlichkeit in der Entdeckung einer Rezidivierung des Magenkarzinoms, bei Patienten, bei denen zum Zeitpunkt der Primärdiagnose CA72-4 oder CA19-9 oder CEA vermehrt freigesetzt wurde, wird die Rezidivierung immer durch die Tumormarker im Verlauf angezeigt (Sensitivität 100 %).
393 20.4 · Tumormarker bei den häufigsten soliden Tumorerkrankungen
20.4.5 Mammakarzinom
Etliche onkologische Biomarker werden im Rahmen eines Mammakarzinoms vermehrt freigesetzt, aber das Verhältnis von Spezifität und Sensitivität ist für CA15-3 und CEA beim Mammakarzinom am effizientesten, wobei dies unseren eigenen Erfahrungen und den Empfehlungen der EGTM (Molina et al. 2005) entspricht, während die NACB Guidelines CEA nur in seltenen Fällen einen Stellenwert beimessen (Duffy et al. 2006) und die ASCO Guidelines generell nur die Muzinmarker CA15-3 und CA27-29 berücksichtigen. Neben CA15–3 gibt es weitere Tests wie MCA, CA549, TAG12, CA M26, CA M29, CA27.29, die ebenfalls gleiche oder ähnliche Epitope des MUC-1-Antigens entdecken und eine dem CA15-3-Test vergleichbare Bedeutung besitzen. Demnach ist die kombinierte Bestimmung mehrerer dieser »Muzin-Tumormarker« sinnlos, da sie ähnliche Strukturen messen und keine zusätzliche Information liefern. Aufgrund der fehlenden Tumor- und Organspezifität und darüber hinaus der niedrigen Empfindlichkeit haben Tumormarker in der Screeningsituation sowie in der Frühentdeckung des Mammakarzinoms bei Hochrisikogruppen keinen Stellenwert. Je nach Untersucher wird zum Zeitpunkt der Primärdiagnose eine vermehrte CA15-3- und CEA-Freisetzung in jeweils durchschnittlich ca. 15–35% festgestellt, wobei für beide Marker eine deutliche Korrelation zum Tumorstadium besteht. Es herrscht Einigkeit darüber, dass diese Tumormarker derzeit keinen Beitrag in der Diagnosefindung des Mammakarzinoms leisten können. Dennoch ist empfehlenswert, CEA und CA15-3 vor der ersten Therapie zu bestimmen. Einerseits kommt der Markerkonstellation prognostische Aussagekraft zu, zusätzlich kann eine sehr starke Freisetzung von Markern zu diesem Zeitpunkt ein Hinweis auf eine noch nicht entdeckte Fernmetastasierung sein. Die prätherapeutischen CA15-3- und CEA-Konzentrationen sind unabhängige prognostische Faktoren sowohl für das rezidivfreie Intervall als auch für das Überleben. Eine besonders starke prognostische Aussagekraft kommt dem postoperativen Abfall von CEA um über 33% zusammen mit dem Lymphknotenstatus zu (s=0,0001, RR=2,05; Ebeling et al. 2002). Dieser prognostischen Aussagekraft kommt derzeit nur Informationscharakter zu, entsprechende prospektive randomisierte therapeutische Interventionsstudien fehlen. Nach aktuellem Kenntnisstand haben Tumormarker in der Überwachung der neoadjuvanten und adjuvanten Chemo- und/oder Strahlentherapie des Mammakarzinoms keinen Stellenwert. Die für die gesamte weitere Nachsorge relevanten individuellen Basiswerte der Tumormarker der Patientinnen werden etwa 4 Wochen nach Beendigung der gesamten ersten Therapiephase erreicht. Somit ist sehr wichtig, zu diesem Zeitpunkt CA15-3 und CEA in Kombination und unabhängig von der präoperativen Wertlage zu bestimmen. Fehlen diese individuellen Basiswerte, nimmt man sich das diagnostische Potenzial der frühzeitigen Beurteilung einer Rezidivierung sowie die Beurteilung einer biochemischen Remission im Falle einer auftretenden Metastasierung und konsekutiver Therapie. CEA und CA15-3 können Fernmetastasen in 70% der Fälle entdecken, sind aber nicht hilfreich in der frühzeitigen Entdeckung von Lokalrezidiven sowie lokoregionären Lympknotenmetastasen. Mit zunehmender Anzahl der Progressionen werden CEA und CA15-3 in bis zu 100% markerpositiv (Lässig et al.
20
2007). Ausgehend von den individuellen Basiswerten der einzelnen Patientinnen ist ein reproduzierbarer 100%iger Anstieg von CEA oder CA13 tumorspezifisch (Stieber et al. 2006), bei einem isolierten Anstieg von CEA muss neben einer Metastasierung des Mammakarzinoms ein kolorektales Karzinom differenzialdiagnostisch berücksichtigt werden, bei einem isolierten CA15-3Anstieg ein Ovarialkarzinom. Trotz dieser hohen diagnostischen Fähigkeit der TM in der frühzeitigen Entdeckung von Metastasen besteht weltweit derzeit eine eher restriktive Grundhaltung gegenüber einer apparativen Nachsorge des Mammakarzinoms. Ursächlich hierfür ist, dass der Beweis der klinischen Relevanz einer frühzeitigen Therapie durch frühzeitig entdeckte Metastasierung mittels tumorassoziierter Antigene und moderner bildgebender Technologie (MRT, PET-CT) aussteht. Die frühzeitige Beurteilung der Effektivität systemischer Therapien des metastasierten Mammakarzinoms ist derzeit Gegenstand intensiver Untersuchungen. Aufgrund des zunehmenden Spektrums an Therapiemöglichkeiten wird die schnelle Beurteilung der Wirksamkeit einer einzelnen Therapie klinisch relevant, die bislang vorliegenden Daten sind für eine tumormarkergesteuerte Therapieentscheidung noch nicht ausreichend (Stieber et al. 2007; Esteva et al. 2005). Ebenso ist der Stellenwert des HER-2/neu-shed-Antigens in der alleinigen Therapieentscheidung noch nicht letztlich geklärt, allerdings ist die gesteigerte Freisetzung dieses Antigens einerseits ein diagnostischer Parameter für das metastasierte Mammakarzinom und des Weiteren ein Indikator für eine Überprüfung des HER2-Status der Metastasen unabhängig vom Primärtumor (Stemmler et al. 2005). 20.4.6 Ovarialkarzinom
Der beste Serum-TM beim epithelialen Ovarialkarzinom ist CA125. Für muzinöse Ovarialkarzinome ist CA72-4 häufig der führende Marker, sodass sich zum Zeitpunkt der Primärdiagnose vor der ersten Therapie die kombinierte Bestimmung von CA125 mit CA72-4 empfiehlt. Nach der NACB und EGTM (EGTM 1999; Fleisher et al. 2002; Duffy et al. 2005; Chan et al. 2006) wird zur Zeit ein Screening auf Ovarialkarzinom mittels CA125 in Kombination mit anderen Verfahren nur bei Frauen mit hereditärer Brust- und Ovarialkrebsbelastung (BRCA1-/BRCA2-Mutation oder »Mismatch-repair«-Genveränderung) empfohlen. Bei ihnen sollten wenigstens halbjährliche CA125-Bestimmungen mit jährlichem transvaginalem Ultraschall durchgeführt werden. Ferner empfiehlt die EGTM CA125-Messungen bei postmenopausalen Frauen mit unklaren Beckentumoren, wobei bei erhöhtem CA125Spiegel über 35 U/ml eine weitere Abklärung beim Gynäkologen erforderlich ist. Mehrere Expertenzirkel und die EGTM empfehlen zusätzlich eine Therapie-Response-Prüfung bei Primärtherapie mittels CA125, z. B. durch Untersuchung auf 50%igen (zwei initiale Proben zum Anstiegs- und zwei nachfolgende Proben zum Abfallsnachweis) oder 75%igen (mit nur drei Proben) Spiegelabfall mit der letzten Serumprobe mindestens 28 Tage nach der vorherigen Probe und einem initialen Probenwert von wenigstens über 40 U/ml (Chan et al. 2006). Ein geringerer Spiegelabfall spricht für ein Therapieversagen und legt den Abbruch einer ineffektiven bzw. Wechsel auf eine andere Therapie nahe. Ein größerer Abfall dagegen bestätigt ein Therapieansprechen und die Fortführung der eingeschlagenen Therapie. Ferner spricht eine gemessene CA125-Spiegelerhöhung zum Zeitpunkt der frü-
394
Kapitel 20 · Tumormarker in der Diagnostik
her angestrebten »Second-look«-Operation mit hoher Spezifität für einen Residualtumor (in bis zu 50% der Fälle auch bei einem normalen CA125-Spiegel). Bezüglich Verlaufs-Untersuchungen nach vollständiger Primärtherapie empfehlen die EGTM u. a. zurzeit eine routinemäßige CA125-Spiegel-Messung nur bei Auftreten von verdächtigen Symptomen. Die Vorlaufzeit des CA125Anstiegs vor einer gesicherten Progression wurde zu 1–15 Monaten (Median 2–3 Monate) bestimmt. Hinweis auf eine Progression ist z. B. ein CA125-Anstieg von unter bis über die obere normale Referenzgrenze von 35 U/ml und eine bestätigte Verdopplung des oberen Referenzgrenzwertes (Sensitivität 84%, Spezifität 98%) oder des CA125-Nadirs (tiefster Vorwert) (S=94%, Sp=100%; Rustin et al. 1996, Rustin et al. 2001).
20.4.7
20
Lungenkarzinom
Beim Lungenkarzinom mit seinen Hauptgruppen kleinzelliges (SCLC: 20–25%) und nicht kleinzelliges Karzinom (NSCLC: Plattenepithel-, Adeno-, großzelliges Karzinom) ist entsprechend Empfehlungen der EGTM und NACB der Einsatz der Tumormarker NSE, CEA, SCCA, CYFRA21-1 und ProGRP in Abhängigkeit von der klinischen Fragestellung sinnvoll (Stieber et al. 1999; Stieber et al. 2006). Obwohl nicht empfohlen für das Screening und die Primärdiagnose, sind NSE and ProGRP von Bedeutung als Marker im Gewebe (Immunhistochemie) und im Serum für die SCLC-Diagnose bei Vorliegen eines unklaren Lungenrundherdes. Bei Lungentumoren unbekannter, nicht verfügbarer Histologie können deutlich erhöhte Serumspiegel von NSE und/oder insbesondere ProGRP differenzialdiagnostisch für ein SCLC und gegen ein NSCLC sprechen (Stieber et al. 2002), während CYFRA21-1 und CEA bei Bronchialkarzinomen jeglicher Histologie in starkem Umfang freigesetzt werden können (Ebert et al. 1994; Molina et al. 2003). Ferner ist ein hoher Wert des Markers SCCA mit hoher Wahrscheinlichkeit verdächtig auf NSCLC bzw. Plattenepithelkarzinom (Molina et al. 2003). Die wichtigste Indikation für die Bestimmung der Marker ist zur Beurteilung der TherapieWirksamkeit und in der postoperativen Nachsorge. Postoperativ mit physiologischer HWZ abfallende TM-Werte können erster Hinweis auf eine kurative Resektion und gute Prognose, ein langsamerer Abfall und fehlende Normalisierung für eine nicht kurative Operation bzw. ein nicht ausreichendes Staging bei Primärdiagnose (okkulte Metastasen) sein. Den ersten Hinweis auf Rezidiv stellen im Verlauf ansteigende TM-Werte über den individuellen Basiswert hinaus dar. Beim NSCLC haben CYFRA21-1, beim SCLC NSE und ProGRP sowie SCCA beim Plattenepthelkarzinom eine fast 100%ige Spezifität und 70–80%ige Sensitivität für ein Rezidiv mit Vorlaufzeiten von 2 (SCCA) bis zu 15 Monaten (CYFRA21-1) vor Entdeckung. Die »lead time« von CYFRA21-1 kann hilfreich sein für einen früheren Einsatz der Bildgebung als kosteneffektive und nichtinvasive Maßnahme sowie für eine noch mögliche chirurgische Intervention.
20.4.8
abhängig. Bei Routine-Untersuchungen wegen eines Verdachts auf einen Hodentumor werden neben CT (Abdomen, Becken, Thorax) Serum-TM-Bestimmungen von AFP (endodermaler Sinustumor), HCG (Syncytiotrophoblast-Zellen), LDH und auch der PLAP (nicht bei aktiven Rauchern, in 50–90% beim Seminom und 20–36% beim NSGCT) empfohlen (EGTM 1999; Fleisher et al. 2002; Stenman et al. 2006). Nach einem internationalen Konsensus sind prätherapeutische Spiegel von AFP, HCG und LDH, Ort des Primärtumors und der Nachweis nichtpulmonlaler viszeraler Metastasen unabhängige Faktoren für das Überleben (IGCCCG 1997). Die Tumormarker LDH, HCG und AFP ermöglichen die Einteilung in drei Gruppen unterschiedlicher Prognose (gut: LDH <1,5×N, AFP <1.000 ng/ml, HCG <5.000 U/l; mittel: LDH 1,5–10×N, AFP 1.000–10.000 ng/ml, HCG 5.000– 50.000 U/l; schlecht: LDH >10×N, AFP >10.000 ng/ml, HCG >50.000 U/l) mit abfallenden Raten für Gesamt- und erkrankungsfreies Überleben (um 90%; 50% und ca. 30%). Trotz der Erfolge der Chemotherapie sind die Heilungs- bzw. Überlebensraten besonders in der letzten Gruppe immer noch schlecht. Ferner wurde in das TNM-Stagingsystem eine zusätzliche S-Variable (für Serumwerte: Sx, S0, S1, 2, 3 für steigende Prognosegruppen, s. oben) unter Berücksichtigung der prätherapeutischen Serumspiegel von AFP, HCG und LDH aufgenommen. Neben obiger Prognoseklassifikation ist eine Verlängerung der Abklingzeit von AFP (>7 d) und HCG (>3 d) nach den ersten beiden Chemotherapiezyklen ein weiterer unabhängiger ungünstiger Prognosefaktor (Gerl et al. 1996; Mazumdar et al. 2001). Nach Empfehlungen der EGTM und NACB und EBM-validierten Empfehlungen sollten deshalb AFP-, HCG- sowie LDH-Spiegel vor Orchiektomie zur Evaluation und zum Staging von Hodentumoren verwandt werden (Schmoll et al. 2004). Bei Seminomen mit erhöhtem AFP besteht Verdacht auf einen Kombinationstumor.
20.4.9
Blasenkarzinom
Aufgrund der invasiven Form der Primär- und Rezidivdiagnostik wären nichtinvasive Blasentumortests im Urin oder Blut für die Patienten von großem Vorteil. In den letzten Jahren wurden bereits existierende Marker wie CYFRA21-1und TPA und neu hinzugekommene wie NMP22, BTA und UBC auf diese Fragestellung hin vielfach untersucht. Das Spezifitäts-Sensitivitäts-Verhältnis dieser Tests erlaubt es aber nicht, sie als Alternative zur Endoskopie einzusetzen oder sie als stufendiagnostischen Parameter zur Senkung der Endoskopiehäufigkeit zu benutzen (Mahnert et al. 2003).
20.4.10
Nierenzellkarzinom
Spezifische Tumormarker für die routinemäßige Diagnostik und zur Beurteilung des Krankheitsverlaufs des Nierenzellkarzinoms gibt es bisher nicht.
Hodentumoren
Bei Hodentumoren (reine Seminome, nichtseminomatöse Hodentumoren oder Kombinationstumoren) sind Prognose und Überleben vom TNM-Stadium, der Zahl und Ausdehnung viszeraler Metastasen (Leber, Knochen, Lunge, Hirn) und den initialen Serumkonzentrationen der TM AFP, HCG, LDH (und PLAP) kolorektales Karzinom
Mammakarzinom Keimzelltumore
20.4.11
Prostatakarzinom
PSA Screening Eine PSA-Bestimmung ersetzt niemals die digitale rektale Untersuchung, aber die Kombination aus PSA-Bestimmung und digi-
395 20.4 · Tumormarker bei den häufigsten soliden Tumorerkrankungen
taler Untersuchung steigert die Wahrscheinlichkeit, bei verdächtigen Befunden durch Biopsien ein Prostatakarzinom zu sichern und möglichst frühzeitig, stadiengerecht und erfolgreich zu therapieren. Die Häufigkeit eines bioptisch gesicherten Prostatakarzinoms steigt bei positivem Tastbefund (digitale rektale Untersuchung positiv) mit der Höhe des PSA-Werts an. Das PSA-Screening wird immer noch kontrovers diskutiert. Gründe für eine ablehnende Haltung liegen einerseits darin, dass nicht alle Prostatakarzinome im weiteren Verlauf klinisch relevant werden, dass manche Männer also übertherapiert werden könnten. Andererseits werden aufgrund der Überlappung der PSA-Werte prostatagesunder Männer und von Patienten mit einem Prostatakarzinom bei dem üblicherweise benutzten oberen Grenzwert von 4 ng/ml einige hochaggressive Tumoren trotzdem nicht erkannt. Auf der anderen Seite ist gesichert, dass bei jedem dritten bis sechsten Patienten mit alleinig erhöhtem PSA durch die Biopsie ein Prostatakarzinom nachgewiesen werden kann. Des Weiteren erscheint gesichert, dass bei Patienten, bei denen über das PSAScreening die Diagnose des Prostatakarzinoms gestellt wird, ein früheres und damit potenziell kurables Stadium vorliegt. So sind im Bereich des Tumorzentrums München der Anteil von Patienten mit metastasierter Erkrankung zum Zeitpunkt der Primärdiagnose von 33% in der »Vor-PSA-Ära« in den letzten Jahren auf ca. 7% gesunken und der Anteil primär operabler Tumoren (
20
Nach erfolgreicher R0-Resektion oder Strahlentherapie in kurativer Intention müssen die PSA-Spiegel beim primär nicht metastasierten Karzinom unter die Nachweisgrenze fallen, die Konzentrationen liegen dann nach einigen Wochen bei oder unter 0,1 ng/ml. Persistierende PSA-Spiegel nach einer Therapie in kurativer Intention weisen auf eine nicht ausreichende Wirkung hin, Tumorreste und/oder zuvor nicht erkannte Metastasen sind verblieben. Wieder ansteigende Spiegel weisen praktisch immer auf neue Tumoraktivität hin, die entweder durch ein Lokalrezidiv und/oder durch Metastasen hervorgerufen worden sein kann. Eine erfolgreiche Strahlentherapie des lokal begrenzten Prostatakarzinoms wird über einen Abfall des PSA definiert. Für eine Vollremission wird das Unterschreiten eines Grenzwerts gefordert, der sich aber je nach Autor mit Werten von 0,5–4,0 ng/ml erheblich unterscheiden kann. Neuerdings wird die Effektivität auch über die Dauer des PSA-Abfalls definiert. Ein Therapieversagen erscheint gesichert, wenn das PSA bei drei aufeinander folgenden Messungen angestiegen ist (Kattan et al. 1999). Bei der häufigsten medikamentösen Therapie des Prostatakarzinoms, dem Androgenentzug, spiegelt der Verlauf des PSA die Effektivität der Therapie wider: Patienten mit fortgeschrittenem Prostatakarzinom haben eine besonders günstige Prognose, wenn das PSA innerhalb eines Monats um über 80% und innerhalb von 3–6 Monaten um über 90% abfällt. Ein Abfall in den Referenzbereich bzw. auf unter 1 ng/ml ist mit einer besonders guten Prognose korreliert. Auch der Wiederanstieg des PSA unter Androgenentzug hat eine hohe prognostische Aussagekraft: Bei Patienten, die Fernmetastasen entwickeln, ist die PSA-Verdopplungszeit mit 2,5 Monaten wesentlich kürzer als bei Patienten, die von Fernmetastasen verschont bleiben (PSA-Verdopplungszeit: 7,5 Monate; Roberts et al. 2001). Wegen der Schwierigkeit gerade bei Skelettmetastasen, die Effektivität z. B. einer hormonellen Manipulation oder einer modernen Chemotherapie durch eine Bildgebung wie Skelettszintigrafie und Röntgen oder CT wirklich exakt zu erfassen, wird heute in allen großen Studien auch der Abfall des PSA als Maß der Therapieeffektivität herangezogen. Außerhalb von Studien erfolgt die Beurteilung der Therapie neben den klinischen Aspekten in erster Line nach dem Verlauf des PSA und ergänzende bildgebende Untersuchungen werden nur bei einem signifikanten Anstieg und/oder bei zusätzlich klinischen Problemen, z. B. neu aufgetretenen Schmerzen im Bereich einer Skelettregion, durchgeführt. Rezidive eines Prostatakarzinoms ohne PSA-Anstieg sind – wenn überhaupt – eine große Rarität. Dies bedeutet, dass regelmäßige PSA-Bestimmungen der Standard in der Nachsorge kurativ behandelter Prostatakarzinome sind.
20.4.12
CUP (»cancer of unknown primary«)
Im Fall von Metastasen eines unbekannten Primärtumors können TM Hinweise auf die Lokalisation des Primärtumors geben, da es im metastasierten Stadium einer Tumorerkrankung zu einer stark gesteigerten Freisetzung der meisten TM kommt. Organspezifische Marker wie PSA, Thyreoglobulin oder auch das BenceJones-Protein sind bereits als Einzelmarker für die Diagnostik eines Prostatakarzinoms, des Rezidivs eines vorher kurativ operierten follikulären/papillären Schilddrüsenkarzinoms bzw. eines Plasmozytoms besonders aussagekräftig. Des Weiteren sind dieje-
396
Kapitel 20 · Tumormarker in der Diagnostik
nigen Biomarker hilfreich, deren gesteigerte Freisetzung besonders häufig mit einem bestimmten Karzinom einhergeht: Hierzu gehört AFP, ProGRP, HER-2/neu und S100. Dies gilt für AFP-Erhöhungen über 100 ng/ml zur Differenzierung der beiden wichtigsten AFP-Tumorquellen eines hepatozellulären Karzinoms und Keimzelltumors mittels Lektin-Affinitäts-Chromatografie durch Concanavalin A (hohe Bindung beim HCC/benigner Lebererkrankung) oder einer malignen AFP-Quelle an Lens-culinarisAgglutinin (Bindung >15% spricht für Malignität). Bei einem unklaren Leberrundherd ermöglicht die kombinierte Bestimmung von AFP und CEA eine gute Differenzierung zwischen einem hepatozellulären Karzinom und Lebermetastasen eines anderen Primärtumors. Eine AFP-Konzentration von über 500 ng/ ml spricht mir großer Wahrscheinlichkeit für ein HCC (falls ein Keimzelltumor ausgeschlossen werden kann), ein CEA von über 50 ng/ml spricht für Lebermetastasen eines anderen Primärtumors, wobei im Weiteren das Freisetzungsmuster mehrerer Tumormarker Aussagen zur Lokalisation des Primärtumors ermöglichen kann. Bei Vorliegen einer Raumforderung der Lunge spricht eine ProGRP-Freisetzung von über 500 pg/ml für ein kleinzelliges Lungenkarzinom – differenzialdiagnostisch muss sehr selten ein metastasiertes medulläres Schilddrüsenkarzinom oder metasta-
siertes neuroendokrines Prostatakarzinom berücksichtigt werden. Eine Freisetzung des HER-2/neu-shed-Antigens ist bei Werten über 80 ng/ml wegweisend für ein primäres Mammakarzinom, wobei diese Freisetzung ins Blut keine Korrelation zur HER2-Expression des Metastasengewebes haben muss. Gleichermaßen besteht bei einer S100-Freisetzung über 1 ng/ml dringender Anhalt für ein metastasiertes malignes Melanom. Neben bzw. zusätzlich zu diesen als Einzelmarker aussagekräftigen Parametern ist das Freisetzungsmuster weiterer Biomarker diagnostisch weiterführend. Hierbei spielt der sog. führende Marker eine Rolle (wie z. B. CA19-9 beim Pankreaskarzinom, CYFRA21-1 beim cholangiozellulären Karzinom, CA125 und CA72-4 beim Ovarialkarzinom, CA72-4 beim Magenkarzinom usw.), aber auch die Nichtfreisetzung (wie z. B. CA15-3 und CA125 beim kolorektalen Karzinom). Somit ist in der Situation eines CUP im Gegensatz zu allen anderen Indikationen die Bestimmung aller häufigsten Biomarker in Kombination indiziert (CEA, AFP, CA125, CA19-9, CA724, CA15-3, CYFRA21-1, NSE, ProGRP, SCCA, S100, HER-2/neu, Thyreoglobulin, Bence-Jones-Protein und bei Männern PSA), wobei man je nach Lokalisation der Metastasierung auch stufendiagnostisch vorgehen kann.
Zusammenfassung
20
Unter Tumormarkern werden Biomarker subsummiert, die auf einen Tumor hinweisen oder zu seiner Charakterisierung und Messung seiner Ausbreitung und Therapieansprechen beitragen können. Humorale zirkulierende Tumormarkersubstanzen als Vorstufen normaler Antigene, ektopisch gebildete Hormone oder Enzyme, ontogenetisch alte reaktivierte Antigene, hybridomdefinierte Muzine und Zytokeratine sind unter den Tumormarkern von besonderem Interesse. Es gibt bis heute keinen tumorspezifischen Biomarker, die große Mehrzahl der bislang bekannten sog. Tumormarker sind physiologischerweise im Blut nachweisbar, d. h., Marker mit 100%iger Tumorspezifität (bei benignen Erkrankungen und gesunden Personen nicht nachweisbar) wurden bislang nicht entdeckt. Darüber hinaus ist das Ausmaß der Freisetzung von Biomarkern bei soliden Karzinomen zumindest in den frühen Tumorstadien nicht so deutlich ausgeprägt, dass sich die Konzentrationen von denjenigen gesunder Personen generell abheben würden. Daraus resultieren eine Überlappung der Kollektive Tumorkranker mit Nicht-Tumorkranken und eine Sensitivität, die nie 100% erreicht. Somit liegt die diagnostische Bedeutung der meisten in der Labordiagnostik verfügbaren Biomarker mehr in der Quantität denn in der Qualität. Der gemessene Tumormarkerspiegel reflektiert die Tumormasse und/-ausbreitung und ist primär von der Tumorblutversorgung abhängig. Im Einzelnen stellt er die Summe aus der im Tumor vorhandenen Tumormarkerexpression, -synthese, -freisetzung, dem im Organismus ablaufenden Tumormarkerkatabolismus und der Tumormarkerexkretion dar. Tumormarkeränderungen ohne Korrelation zur Tumormasse können deshalb auch durch Störungen von Katabolismus und der Exkretion (Leber-, Niereninsuffizienz), durch Freisetzung infolge invasiver diagnostischer Maßnahmen (Endoskopie, Biopsie, Katheterisierung) oder durch akute Therapieeinwirkung (Operation, Radio-, Chemotherapie) auftreten. Wegen Standardisierungsproblemen zwischen gleichen Tumormarkertests verschiedener Hersteller, muss bei einer punktuellen Diagnostik – z. B. mittels PSA – die Interpretation immer 6
auf den assayspezifischen Referenzangaben erfolgen und bei Verlaufsbestimmungen eines Patienten der gleiche Test vom selben Hersteller (evtl. im gleichen Labor bestimmt) herangezogen werden, das Testergebnis ist zusammen mit dem jeweils verwendeten Test und Hersteller anzugeben. Von den potenziellen Indikationen für den Einsatz zirkulierender Tumormarker ist die punktuelle Untersuchung zur Früherkennung/Screening aufgrund der fehlenden Tumor- und Organspezifität aber auch aufgrund der starken Überlappung der Konzentrationen und der daraus resultierenden niedrigen Empfindlichkeit eines Tumors mit einer unverantwortlich hohen Quote falsch-positiver Befunde verknüpft und somit bis auf die nach wie vor umstrittene Bestimmung von PSA beim Prostatakarzinom kontraindiziert. Mit Ausnahme der AFP-Bestimmung bei chronischen Lebererkrankungen (primäres Leberzellkarzinom) sind die derzeit verfügbaren Biomarker nicht geeignet zur Überwachung (und frühzeitigen Entdeckung eines Karzinoms) von Risikopatienten, wie Patienten mit familiärer Poliposis Coli (kolorektales Karzinom), postmenopausalen Frauen (Ovarialkarzinom) oder Patientinnen mit familiärer Häufung bzw. genetischer Belastung eines Mammakarzinoms. Obwohl die meisten Biomarker zumindest in frühen Tumorstadien nur selten zur Primärdiagnostik eines Tumors beitragen können, ist die präoperative Bestimmung der relevanten Marker als Ausgangspunkt der Verlaufsbeobachtung sinnvoll, wobei der posttherapeutischen Bestimmung nach Operation bzw. Abschluss der ersten adjuvanten Radio-Chemotherapie zur Ermittlung der für die Nachsorge relevanten individuellen Basiswerte eine zentrale Rolle zukommt. Vereinzelt können Biomarker zur Tumorlokalisation beitragen, das gilt einerseits für diejenigen Marker, die organspezifisch sind wie PSA und Thyreoglobulin, andererseits für diejenigen Marker, die wie ProGRP und HER-2/neu ab einem bestimmten Ausmaß der Freisetzung typisch für eine bestimmte Tumorerkrankung werden, d. h. Tumor- und Organspezifität erreichen, oder
397 20.4 · Tumormarker bei den häufigsten soliden Tumorerkrankungen
aber auch für die Summe der Biomarker, deren Freisetzungsmuster im fortgeschrittenen Stadium wie z. B. eines »cancer of unknown primary« (CUP) auf die Lokalisation des Primärtumors hinweist. Die häufig vorhandene unabhängige prognostische Information der Biomarker geht bislang nur bei der S-Klassifikation der Hodentumore durch die Bestimmung von AFP, HCG und LDH in das Staging ein. Für die Rezidiverkennung und Therapieüberwachung stellen Tumormarker sehr sensitive und bei korrekter Interpretation auch spezifische diagnostische Parameter dar,
20
deren Sinnhaftigkeit aber immer im Kontext mit der individuellen Situation der Patienten gegeben sein sollte. Unter kritischer Auswahl von Tumormarkern nach Zieltumor, bei Verlaufsbestimmungen unter Verwendung der gleichen Tests und unter Berücksichtigung eines verwertbaren Informationsgehalts leisten Tumormarker einen wichtigen Beitrag zur Diagnostik, Prognosefindung, Beurteilung der Therapieantwort und Rezidiverkennung. Die Qualität des Untersuchers geht besonders auf dem Sektor der onkologischen Labordiagnostik signifikant in die Qualität des erhobenen Befundes ein.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
III
III Grundprinzipien der Therapie 21
Zytostatische Chemotherapie
– 401
J. Schütte, J. Barth
22
Strahlentherapie
– 437
R. Pötter, D. Georg, L. Handl-Zeller, A. Kranz, E. Selzer
23
Grundlagen der onkologischen Chirurgie – 469 J.R. Siewert, H.E. Vogelsang
24
Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie – 480 J. Schirra, R.-T. Hoffmann, T.F. Jakobs, F. Kolligs, C. Trumm, C. Weber, C.J. Zech, B. Göke, M. Reiser
25
Zytokine
– 513
G. Derigs, T. Fischer, C. Huber
26
Hochdosistherapie und Stammzelltransplantation – 540 C. Scheffold, W.E. Berdel, J. Kienast
27
Hyperthermie
– 563
L.H. Lindner, P. Wust, R.D. Issels
28
Somatische Gentherapie
– 575
C.P. Pallasch, C.-M. Wendtner, M. Hallek
29
Unkonventionelle Verfahren in der Onkologie – 586 M. Horneber, G. Büschel, G. Dennert, M. Wilhelm
30
Blutersatz in der Onkologie – Anwendung, Komplikationen, Nebenwirkungen und Risiken W. Sibrowski, P. Krakowitzky
– 612
31
Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin – 622 G.G. Hanekop, M.T. Bautz, F.B.M. Ensink
32
Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie – 675 G.G. Hanekop, M.T. Bautz, F.B.M. Ensink
33
Psychoonkologie
– 709
W.-D. Gerber, J. Kowalski
34
Versorgungsstandard, Qualitätsmanagement und klinische Studien – 718 U. Creutzig, R. Herold
35
Ethische Fragen in der Onkologie – 725 J.G. Meran
36
Geriatrische Onkologie – 742 U. Wedding, L. Pientka
21
21 Zytostatische Chemotherapie J. Schütte, J. Barth
21.1
Prinzipien der medikamentösen Tumortherapie – 402
21.2
Wirkungsmechanismen von Antitumortherapeutika – 412 Literatur – 436
402
Kapitel 21 · Zytostatische Chemotherapie
> Einleitung
21.1
Die präzise Kenntnis der antitumoral wirksamen Substanzen ist eine Grundvoraussetzung für eine verantwortliche onkologische Tätigkeit. Dazu gehören Kenntnisse zu den Wirkund Resistenzmechanismen, den Kreuzresistenzmustern, der Pharmakologie, den Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln sowie potenziellen Nebenwirkungen einschließlich deren Prophylaxe und Therapie. Aufgrund des meist höheren Alters der Mehrzahl der Tumorpatienten und ihrer Komorbiditäten zählen die sorgfältige Abwägung verfügbarer Therapieoptionen und ihrer Nebenwirkungsprofile im Hinblick auf bestehende Organfunktionen, Begleiterkrankungen und auch psychosoziale Aspekte sowie das kompetente Nebenwirkungsmanagement mit zu den bedeutsamsten Aufgaben des internistischen Hämatoonkologen. Im folgenden Kapitel soll ein Überblick über Konzepte der medikamentösen Tumortherapie sowie die wichtigsten antitumoralen Medikamente, ihre Wirkmechanismen und Nebenwirkungen vermittelt werden.
Prinzipien der medikamentösen Tumortherapie
21.1.1 Definition
Die medikamentöse Tumortherapie stellt neben lokal wirksamen Behandlungsverfahren wie der chirurgischen/operativen Tumorbehandlung und der Strahlentherapie die dritte wichtige Säule der Tumorbehandlung dar. Als über den Blutkreislauf verabreichte, systemisch wirksame Therapieform ist die medikamentöse Tumortherapie in der Lage, nicht nur den Primärtumor, sondern auch lymphogen oder hämatogen disseminierte Tumorzellen bzw. Metastasen zu behandeln. Immunoder gentherapeutischen Behandlungsansätzen kommt außerhalb von Studien bislang keine nennenswerte klinische Bedeutung zu. Als Zytostatika werden Substanzen bezeichnet, die die Tumorzellteilung hemmen oder Tumorzellen zum Absterben bringen. Durch Einflüsse auf die DNA-, RNA- oder Proteinsynthese oder die Hemmung bestimmter Proteine, die mit dem Überleben, der Proliferation und der Migration von Tumorzellen assoziiert sind, kommt es zu einer antiproliferativen (zytostatischen) Wirkung und/oder zu zytotoxischen Effekten im Sinne eines programmierten Zelltods (Apoptose), eines Zelluntergangs (Nekrose) oder einer Seneszenzinduktion. Weitere putative Ziele der medikamentösen Tumorbehandlung sind die Inhibition der Tumorzellmigration (Metastasierung) und der Tumorgefäßneubildung (Tumorangiogenese) (7 Übersicht).
Zielpunkte der zytostatischen Chemotherapie 4 4 4 4
Tumorzellteilung bzw. -proliferation Tumorzellüberleben ↔ Apoptose bzw. Nekrose Tumorzellmigration Tumorangiogenese
21 Eine Einteilung der medikamentösen Tumorbehandlung in eine (klassische) zytostatische/zytotoxische Chemotherapie, eine antihormonelle Therapie, eine Antikörpertherapie oder eine Therapie mit Kinase-Inhibitoren ist historisch bedingt und arbiträr. Die zellbiologischen Effekte der einzelnen oben genannten Therapieformen sind meist pleiotrop und überlappend. Eine gewisse Bedeutung hat diese Einteilung durch ihre Unterscheidung in die
meist weniger tumorselektiv wirksamen klassischen Zytostatika sowie die sog. selektiv wirksamen Therapieformen wie beispielsweise antihormonelle Therapien, Antikörpertherapien und Kinaseinhibitoren, bei denen die tumorzellulären Zielmoleküle definiert, meist aber auch nicht auschließlich tumorzellselektiv exprimiert sind. Die therapeutische Breite klassischer Zytostatika (z. B. Alkylanzien) ist oft jedoch geringer als diejenige selektiver Therapieformen. 21.1.2 Modelle der Tumorzellkinetik
Das Grundprinizip der medikamentösen Tumortherapie orientiert sich an zellbiologischen bzw. zellkinetischen Modellen, die die Tumorzellproliferation und die Resistenzentwicklung berücksichtigen. Entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung moderner Chemotherapiekonzepte hatte das In-vitro-Modell von Skipper und Schabel, die anhand der L1210-Mausleukämiezelllinie ein exponentielles Tumorwachstum und eine logarithmische Tumorzellabtötung entsprechend einer Kinetik 1. Ordnung beschrieben (Skipper et al. 1964). Dabei wird mit einer bestimmten Dosis eines Zytostatikums immer der gleiche Prozentsatz von Tumorzellen vernichtet (»log cell kill« oder »fractional cell kill«). So führt ein Zytostatikum, das eine Reduktion von beispielsweise 1010 auf 107 Tumorzellen (3 log) induziert, anschließend bei gleicher Dosis von 107 auf 104 und von 104 auf 101 Tumorzellen. Auch die Effekte der Kombinationschemotherapie wurden an diesem Modell beschrieben, das wesentlicher Bestandteil der Entwicklung zunächst von Therapieregimen zur Behandlung akuter Leukämien war (. Abb. 21.1). Weitgehend unberücksichtigt im Modell von Skipper und Schabel blieben die komplexen Aspekte der Tumorzellresistenz sowie die in vivo unterschiedliche, nicht exponentielle Proliferationskinetik in Abhängigkeit von der Tumorgröße. Diese Zusammenhänge wurden von Norton und Simon (1977) näher beschrieben. Entgegen der exponentiellen Wachstumskinetik nach Skipper und Schabel beschreibt dieses Modell eine zunächst geringe Wachstumsfraktion bei sehr kleinen Tumoren, später eine zunehmende Proliferationskinetik (mit einem Maximum bei etwa einem Drittel der Tumorgröße) und dann die wieder abnehmende Tumorzellproliferation mit zunehmender Tumorgröße (Kinetik nach Gompertz). Entsprechend verringert sich die abso-
403 21.1 · Prinzipien der medikamentösen Tumortherapie
21
21.1.3 Modelle der Tumorresistenz
Modelle der Entstehung von Tumorzellresistenzen haben einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung neuer Zytostatika und die Konzepte der medikamentösen Tumorbehandlung. Es werden u. a. die in der folgenden Übersicht aufgeführten Resistenzmechanismen unterschieden.
Resistenzmechanismen 4 Pharmakokinetische/pharmakologische Resistenz 4 (Zell)kinetische Resistenz 4 Tumorzelluläre molekulare Resistenz . Abb. 21.1. Modell des »fractional cell kill« (Kinetik 1. Ordnung) bei exponentiell wachsendem Tumor (1). Links: Tumorreduktion (»log kill« ) bei Fehlen resistenter Klone; rechts: Entwicklung resistenter Zellklone. Pfeile kennzeichnen die jeweiligen Chemotherapiezyklen
lute therapiebedingte Tumorreduktion bei kleinen Tumoren (. Abb. 21.2 und 21.3). Hieraus folgte das Konzept der kinetischen Resistenz kleiner Tumoren sowie die hieraus abgeleitete späte Therapieintensivierung (»late intensification« ) (Norton u. Simon 1976, 1986; Norton 1988, 2006).
Beispiele für eine pharmakokinetische oder pharmakologische Resistenz sind Unterdosierungen der Zytostatika, ein durch veränderte Organfunktionen oder Begleitmedikamente veränderter Metabolismus der Zytostatika oder eine verringerte intratumorale Zytostatikakonzentration durch veränderte Blutgefäßversorgung oder beispielsweise auch die Blut-Hirn-Schranke. Beispiele für eine kinetische Resistenz sind die unterschiedlichen Sensitivitäten für bestimmte Zytostatika in verschiedenen Zellzyklusphasen (z. B. Antimetabolite) sowie die kinetische Resistenz entsprechend dem Modell von Norton und Simon (7 oben). Die kinetische Resistenz dient u. a. als Rationale für Strategien der Konsolidierungs- und Erhaltungschemotherapie sowie der späten Therapieintensivierung (»late intensification«) (. Abb. 21.4). Die zelluläre, molekulare Resistenz hat zahlreiche Ursachen. Involviert sind beispielsweise Mechanismen des Membrantransports (Influx; Efflux; Beispiel MDR-1-Gen-Amplifikation als Membrantransportsystem für verschiedene Zytostatika oder MRP-Gen), der intrazellulären Aktivierung und Inaktivierung, DNA-Reparaturmechanismen sowie quantitative oder qualitative Veränderungen der Zielmoleküle oder der Genprodukte der Signaltransduktionswege beispielsweise infolge von Genamplifikationen, Überexpressionen oder Mutationen.
. Abb. 21.2. Wiederholte zytostatische Therapie (Pfeile), entweder früher (hellblau) oder später (dunkelblau) beginnend
. Abb. 21.3. Tumorzelleradikation in arithmetischer Darstellung bei gleichbleibendem »log kill«
. Abb. 21.4. Schematische Darstellung verschiedener Phasen einer zytostatischen Chemotherapie am Beispiel der Behandlung einer akuten Leukämie. Die Induktionschemotherapie supprimiert die Tumorzellast zunächst in einen subklinischen Bereich (beispielhaft 109 Zellen, entsprechend ca. 1 g Tumorzellen). Konsolidierungs- und Erhaltungstherapie sollen residuelle Tumorzellen (»minimal residual disease«) eradizieren oder supprimieren. Der gestrichelte Kurvenverlauf kennzeichnet die Entwicklung resistenter Zellklone
404
Kapitel 21 · Zytostatische Chemotherapie
Das bekannteste Modell zur Tumorzellresistenz wurde von Goldie und Coldman (1979) entwickelt. Grundlage dieses Modells ist die Annahme einer zunehmenden Zahl resistenter Tumorzellen mit ansteigender Tumormasse. Bei einer anzunehmenden Mutationsrate von ca. 10-6 ist bereits bei einer Tumorzellzahl von ca. 109 Zellen (entsprechend ca. 1 g Tumormasse) die Heilungschance mit nicht kreuzresistenten Zytostatika sehr gering. Dies führte einerseits zum Postulat eines möglichst frühzeitigen Beginns der Chemotherapie sowie zur Prüfung zahlreicher Behandlungsregime mit alternierenden, möglichst nicht oder wenig kreuzresistenten Zytostatikakombinationen. Letztlich haben aber auch die Modelle von Goldie und Coldman zum frühen Einsatz sequenziell alternierender Chemotherapieregime nicht zu überzeugenderen klinischen Ergebnissen geführt als ausreichend dosierte Therapieregime mit sequenzieller Zytostatikaapplikation (Goldie u. Coldman 1979; Coldman u. Goldie 1987; Citron et al. 2003). Konzepte der Dosisintensivierung zur möglichen Resistenzüberwindung wurden in den 80er bis 90er Jahren entwickelt (7 unten). 21.1.4 Dosis-Wirkungs-Beziehungen
21
Dosis-Wirkungs-Beziehungen haben eine wichtige Bedeutung für die Durchführung und den Erfolg einer Chemotherapie. Die sog. Dosisintensität (dose intensity) ist definiert durch die verabreichte Chemotherapiedosis in mg/m2/Zeiteinheit. Weitere Modulationen des Begriffs oder Konzepts der Dosisintensität sind die Dosisdichte (»dose density«) und Dosisrate (»dose rate«). Auch der Begriff der akzelerierten Therapie, z. B. eine Intervallverkürzung von 3 auf 2 Wochen, fällt in dieses Konzept. Dabei können unterschiedliche Therapieregime unter oben genannten Begriffen subsumiert werden, bei denen die Höhe der verabreichten Dosis unberücksichtigt bleibt, so beispielsweise eine einmalige Hochdosischemotherapie, die in einer Zeiteinheit rasche Verabreichungsfolge kleiner, evtl. subeffektiver Zytostatikadosierungen sowie verkürzte Zeitintervalle standarddosierter Therapieregime (Hryniuk u. Bush 1984; Hryniuk u. Goodyear 1990; Frei et al 1998; Chu u. DeVita 2001; Frei 1992). Mögliche Effekte der Dosismodulation auf das Behandlungsergebnis lassen sich anhand von Dosis-Wirkungs-Kurven erklären. Bei einer steil verlaufenden Kurve können bereits geringe Dosisreduktionen zu einem erheblichen Wirkungsverlust führen (. Abb. 21.5). So wurde in präklinischen Modellen gezeigt, dass eine ca. 20%ige Dosisreduktion bei noch gleich hoher Remissionsrate zu einer Reduktion der endgültigen Heilungsrate um 50% führen kann (Chu u. DeVita 2001). Die klinische Bedeutung der Dosisintensität wurde in retrospektiven Untersuchungen bei verschiedenen Tumoren bestätigt, so beispielsweise bei Mammakarzinomen, Ovariallkarzinomen, Bronchial- und Kolonkarzinomen sowie malignen Lymphomen. Demgegenüber hat sich der Nachweis eines prognostischen Vorteils durch eine über die Standarddosis hinausgehende Dosierung vielfach als schwierig erwiesen, sei es, weil Standarddosierungen bereits am oberen Ende der Dosis-Wirkungs-Kurve angesiedelt sind oder die Dosis-Wirkungs-Kurve einen flacheren Verlauf zeigt. So konnten bisherige Studien zur Hochdosistherapie bei Patientinnen mit Mammakarzinom keinen klaren prognostischen Vorteil zeigen. Demgegenüber können Hochdosistherapiekonzepte als Salvagetherapie beispielsweise bei Keimzelltumoren und Lymphomen mit einer höheren Rate langzeitfreien
. Abb. 21.5. Hypothetische grafische Darstellung der Dosis-WirkungsBeziehung bei einer zytostatischen Chemotherapie. Abhängig von der Positionierung einer Therapie auf dem Kurvenverlauf können bereits geringe Dosisreduktionen (hier z. B. 20%) zu einem erheblichen Wirkungsverlust (hier ca. 50%) führen
Überlebens assoziiert sein als standarddosierte Rezidivtherapien. Auch zeigten intervallverkürzte Applikationen (2- statt 3-Wochen-Intervalle) standarddosierter Therapien sowohl bei Lymphomen als auch bei Mammakarzinomen verbesserte Therapieergebnisse innerhalb bisheriger Beobachtungszeiträume. 21.1.5 Definitionen der medikamentösen
Tumorbehandlung Mono- vs. Kombinationschemotherapien Kombinationschemotherapien sind gegenüber Monochemotherapien von Vorteil, da sie zu einem additiven oder multiplikativen Effekt der Tumorzellabtötung führen und primär oder sekundär resistente Tumorzellklone durch unterschiedliche Wirkmechanismen eradiziert oder supprimiert werden können. Idealerweise zeigen Kombinationstherapien folgende Eigenschaften: 4 Äquieffektivität der Einzelsubstanzen, 4 fehlende Kreuzresistenz, 4 unterschiedliche Wirkmechanismen, 4 additive oder synergistische Wirkmechanismen, 4 nicht überlappende Toxizitäten. Für die unterschiedlichen Indikationen und Phasen einer medikamentösen Behandlung werden nachfolgend aufgeführte Definitionen verwendet. Die Begriffe der Induktions-, Konsolidierungs- und Erhaltungstherapie wurden primär anhand zellkinetischer Aspekte der Chemotherapie am Beispiel der Behandlung akuter Leukämien geprägt (auch . Abb. 21.4) und später auch auf andere Tumorentitäten übertragen. Induktionschemotherapie Hierunter wird eine Therapie verstanden, die als primäre Behandlungsmodalität bei Patienten bzw. Tumoren eingesetzt wird, für die keine Therapiealternative vorliegt. Ziel der Induktionstherapie ist das Erreichen einer weitestgehenden Tumorremission, möglichst einer kompletten Remission (auch . Abb. 21.4).
405 21.1 · Prinzipien der medikamentösen Tumortherapie
Konsolidierungstherapie Die Konsolidierungstherapie dient der Eradikation klinisch okkulter Tumorresiduen. Sie soll die Rate kompletter Remissionen bzw. die Remissionsdauer verbessern (auch . Abb. 21.4). Erhaltungstherapie Die Erhaltungstherapie soll im Anschluss an die Konsolidierungstherapie eventuelle residuale Tumorzellen eradizieren, beispielsweise solche, die infolge einer kinetischen Resistenz (7 oben) mit der vorherigen Therapie nicht erreichbar waren. Sofern eine anhaltende komplette Remission nicht erreicht werden kann, soll die Erhaltungstherapie die Remissionsdauer verlängern (auch . Abb. 21.4). Primäre (neoadjuvante oder präoperative) Chemotherapie Eine primäre (neoadjuvante oder präoperative) Chemotherapie bezeichnet eine Therapie bei Patienten mit lokalem/lokoregionalem Tumorwachstum, bei denen die alleinige Anwendung lokaler Behandlungsformen, z. B. Operation und/oder Strahlentherapie, zu unzureichenden Behandlungsergebnissen führt, sei es hinsichtlich der Resektionsraten, der Morbidität oder der Langzeitergebnisse im Hinblick auf lokoregionale Rezidive oder das Auftreten von Fernmetastasen. Idealerweise erlaubt die primäre Chemotherapie die Bestimmung des klinischen und histopathologischen Tumoransprechens mit der Möglichkeit, die weitere Therapie dem vorherigen Tumoransprechen anzupassen. Gleichzeitig ermöglicht die primäre Chemotherapie häufig ein verringertes Operationsausmaß mit dementsprechend geringerer Morbidität oder ermöglicht erst nach chemotherapeutisch induzierter Tumorremission eine nachfolgende lokale Tumorbehandlung. Beispiele sind u. a. primäre Mammakarzinome, bei denen durch eine primäre Chemotherapie die Rate brusterhaltender Operationen erhöht werden kann sowie u. a. auch bestimmte Sarkome, Magenkarzinome, Bronchialkarzinome oder Kopf-Hals-Karzinome. Simultane Strahlen- und Chemotherapie Bei simultanen Chemo-/Strahlentherapiekonzepten wird die sensibilisierende Aktivität bestimmter Zytostatika eingesetzt, um die tumoriziden Effekte der Strahlentherapie zu verstärken. Vielfach muss die Dosis bzw. Dosisintensität der Chemotherapie dabei soweit reduziert werden, dass hinreichende systemische Effekte dieser Therapie nicht zu erwarten sind. Daher wurden Konzepte entwickelt, zunächst eine primäre bzw. Induktionschemotherapie durchzuführen, von der auch eine systemische Wirksamkeit im Hinblick auf die mögliche Eradikation von Mikrometastasen (adjuvante/neoadjuvante Therapieeffekte) zu erwarten ist. Diese Therapiesequenz hat theoretische Vorteile gegenüber einem unmittelbaren Beginn mit einer simultanen Strahlen-/ Chemotherapie, da nach Abschluss dieser Therapie oft längere Rekonvaleszenzzeiten erforderlich sind, die bei zahlreichen Patienten eine konsequente nachfolgende adjuvante Chemotherapie nicht möglich oder sinnvoll erscheinen lassen. Entsprechende Konzepte werden in Studien geprüft. Adjuvante Chemotherapie Ziel der adjuvanten Chemotherapie ist die Eradikation subklinischer Metastasen – Mikrometastasen – nach erfolgter Primärtumorbehandlung durch Operation und/oder Strahlentherapie. Zum Einsatz kommen dabei in der Regel Kombinationschemothera-
21
pien, die bei fortgeschrittener Erkrankung mit hohen Remissionsraten und einem möglichst langen progressionsfreien Überleben bzw. langer Remissionsdauer assoziiert sind. Endpunkt dieser Therapieform ist somit eine Verbesserung des rezidiv- bzw. krankheitsfreien Überlebens und idealerweise auch des Gesamtüberlebens.
Tumoren mit etablierter Indikation für eine adjuvante bzw. perioperative Therapie 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Mammakarzinome Magenkarzinome Kolonkarzinome Rektumkarzinome Wilms-Tumoren Kleinzellige Bronchialkarzinome Ewing-Sarkome Osteosarkome Rhabdomyosarkome Hodentumoren Ovarialkarzinome nichtkleinzellige Bronchialkarzinome
Palliative Chemotherapie Eine palliative Chemotherapie bezeichnet eine Therapie mit dem Ziel einer Lebensverlängerung und/oder Symptomlinderung. Alternativ kann diese Therapie auch als nicht kurative, tumorreduktive oder tumorstabilisierende Behandlung bezeichnet werden. Im Kontext nicht kurativer Behandlungsansätze gilt das Prinzip einer Chronifizierung der Erkrankung als therapeutisches Ziel. Dabei soll die Addition möglichst vieler und lang anhaltender progressionsfreier Zeiten zu einer Erhöhung der Überlebenszeit mit einer größtmöglichen Aufrechterhaltung der Lebensqualität führen (. Abb. 21.6). Bei symptomatischer Erkrankung steht klinisch zunächst die Remissionsinduktion im Vordergrund, wozu meist eine Kombinationschemotherapie angewendet wird. Für eine ausschließliche Tumorstabilisierung und im Hinblick auf d ie Überlebenszeit ist nicht selten eine eventuell besser verträgliche Monochemotherapie ausreichend. Grundlage der Entscheidungsfindung für eine in dieser Situation bestmögliche Behandlung sind die Daten randomisierter Studien hinsichtlich des zu erwartenden Benefits, eine hohe Expertise in der Behandlung entsprechender Patientengruppen sowie die Verfügbarkeit supportiver Behandlungsoptionen.
. Abb. 21.6. Theoretischer Tumorverlauf mit sequenziellen Therpien (T-1 bis T-6): Pfeile kennzeichnen die einzelnen progressionsfreien Zeiten; T-1 (hellblau) führt zu einem längeren progressionsfreien Intervall als T-1 (grau)
406
Kapitel 21 · Zytostatische Chemotherapie
21.1.6 Weiterentwicklung medikamentöser
Therapieverfahren durch klinische Studien Klinische Studien stellen die Grundlage der Weiterentwicklung onkologischer Behandlungsverfahren dar. Sie werden in verschiedene Phasen eingeteilt. Phase-I-Studien Ziel von Phase I-Studien ist die Bestimmung der maximal tolerablen Dosis eines Zytostatikums bzw. eines bestimmten Therapieregimes. Hierzu werden in vorab festgelegten Schritten Dosissteigerungen an Subgruppen von meist 3‒6 Patienten vorgenommen, bis die maximal tolerable Dosis festgelegt wird. Diese Dosis wird dann im nächsten Schritt in einer Phase-II-Studie geprüft. Phase-II-Studien In Phase-II-Studien wird das in der Phase I geprüfte Therapieregime an einer vorbestimmten Zahl von Patienten mit einer definierten Erkrankung hinsichtlich seiner antitumoralen Aktivität überprüft. Neben der erneuten Toxizitätsbeurteilung stehen Endpunkte des Tumoransprechens im Mittelpunkt der Prüfung. Phase-III-Studien In Phase-III-Studien wird die klinische Relevanz einer neuen Substanz bzw. eines neuen Therapieregimes mit bisherigen Therapiestandards verglichen. Dies können andere, etablierte Therapieverfahren, Placeboapplikationen oder reine Beobachtungsarme sein. Endpunkte sind neben der erneuten Beurteilung des Tumoransprechens und der Toxizität vor allem der Vergleich des krankheitsfreien oder progressionsfreien Überlebens oder des Gesamtüberlebens der Patienten im experimentellen Studienarm mit dem des Standardarms. Wichtiger Bestandteil von Phase-III-Studien ist heute auch die Bewertung der Lebensqualität in den geprüften Studienarmen, die begleitend erfasst werden sollte. Ökonomische Aspekte spielen heute ebenfalls eine gewisse Bedeutung, da nicht jedem statistisch signifikanten Vorteil einer Therapie auch eine nennenswerte klinische Relevanz zuzuschreiben ist, die Behandlungskosten bei vergleichsweise geringem Vorteil für die Patienten jedoch erheblich ansteigen können. Beispiele, bei denen die Therapiekosten pro zusätzlichem Lebensjahr berechnet werden, zeigen nicht nur die Relativität einer möglichen klinischen Relevanz, sondern auch die ethische Problematik solcher Studienergebnisse auf. Phase-IV-Studien Phase-IV-Studien sollen dazu dienen, den therapeutischen Einsatz eines bereits zugelassenen Medikaments in der breiten Anwendung zu untersuchen und eine Bestätigung der Nutzen-Risiko-Abwägung zu erhalten. Dabei sollen auch selten auftretende Nebenwirkungen sowie Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln erfasst und charakterisiert werden.
21 21.1.7 Klinische Endpunkte der medikamentösen
Tumortherapie Ziele der medikamentösen Tumortherapie können 1. das Erreichen einer langfristigen Tumorfreiheit durch vollständige Rückbildung makroskopisch erkennbarer Tumormanifestationen oder einer Eradikation klinisch okkulter Mikrometastasen (kura-
tive Therapie) oder 2. nicht kurative Therapiestrategien mit Erreichen eine Tumorgrößenreduktion und/oder eines Tumorwachstumsarrests (tumorreduktive oder palliative Therapie) oder einer Symptomlinderung sein (Miller et al. 1981; Therasse et al. 2000). Vor Beginn der Therapie sollten diese Ziele definiert werden, um die Therapieintensität, die Therapieregime, die vertretbare Nebenwirkungsrate der Therapie sowie die Überwachungsintensität festlegen zu können. Die in klinischen Studien definierten Endpunkte der Therapie sind das Erreichen einer objektiven Remission, das krankheits- oder progressionsfreie Überleben, die (mediane) Überlebenszeit und die Überlebensrate. Diese Endpunkte sind nicht immer eng miteinander korreliert. Im Kontext nicht kurativer Behandlungsansätze gilt das Prinzip einer Chronifizierung der Erkrankung als therapeutisches Ziel. Dabei soll die Addition möglichst vieler und lang anhaltender progressionsfreier Zeiten zu einer Erhöhung der Überlebenszeit mit einer größtmöglichen Aufrechterhaltung der Lebensqualität führen (auch . Abb. 21.6). Heilung Die Definition einer Heilung ist problematisch und wird gelegentlich auch als unmöglich angesehen. Eine der eventuellen Definitionen bezeichnet als Heilung, wenn eine behandelte Gruppe von Patienten eine Überlebenswahrscheinlichkeit aufweist, die derjenigen der allgemeinen Bevölkerung mit vergleichbaren demografischen Merkmalen vergleichbar ist. Eine andere Definition spricht von »Überlebenden« oder einer »Heilung«, wenn die Wahrscheinlichkeit, infolge der initialen Tumorerkrankung zu versterben, als sehr gering erachtet wird oder wenn die krankheitsfreie Überlebenszeit eines Patienten lang genug ist, um einer Gruppe von Patienten mit bekanntermaßen sehr geringem Rückfallrisiko zugeordnet werden zu können. Tumorrückbildungen bzw. Tumorremissionen Die weitgehende bzw. vollständige Tumorrückbildung ist bei potenziell kurativen Therapieansätzen die wichtigste Voraussetzung für das Erreichen einer lang anhaltenden oder dauerhaften Tumorfreiheit. Als Beispiele seien hier Leukämien, maligne Lymphome, kleinzellige Bronchialkarzinome und Keimzelltumoren genannt. Entsprechende Therapieregime eignen sich somit meist auch als adjuvante Therapieverfahren. Im Kontext lokoregional fortgeschrittener, primär nicht kurativ resektabler Tumoren sind medikamentöse Therapien mit hoher Remissionswahrscheinlichkeit auch als präoperative Verfahren nutzbar, um durch eine Tumorverkleinerung anschließende, ggf. schonendere lokoregionale Behandlungsansätze zu ermöglichen. Bei nicht kurativen Therapien hat die Tumorgrößenreduktion vor allem dann eine herausragende Bedeutung, wenn tumorbedingte Symptome verringert werden sollen. Krankheitsfreies und progressionsfreies Überleben Das krankheitsfreie Überleben ist die Zeitdauer von einer vollständigen Tumorrückbildung oder Tumorentfernung bis zum Auftreten eines Rezidivs. Es muss nicht zwangsläufig mit der Gesamtüberlebenszeit korrelieren. Bedeutsam ist es u. a. dann, wenn es mit der natürlichen Lebenserwartung überlappt. Auch bedeutet ein längeres krankheitsfreies Intervall oft eine höhere Lebensqualität durch das Fehlen tumorbedingter Symptome und längere Phasen der Therapiefreiheit.
407 21.1 · Prinzipien der medikamentösen Tumortherapie
21
Bei nicht kurativen Therapien, bei denen eine partielle Tumorrückbildung oder eine Tumorgrößenstabilisierung erreicht wird, bezeichnet das progressionsfreie Intervall die Zeitdauer bis zum erneuten Tumorfortschreiten. Oft kann in dieser Therapiephase auch eine Rückbildung oder Stabilisierung einer klinisch relevanten Tumorsymptomatik erzielt werden. Ferner mag die Verlängerung einzelner und die Addition progressionsfreier Zeiten infolge verbesserter und zunehmender Therapieoptionen auch zu einer verbesserten Überlebenszeit führen. Die in Studien verwendeten Definitionen können sich unterscheiden und sind daher im Einzelnen zu prüfen. Häufig verwendete Definitionen sind wie folgt: Remissionsdauer Die Remissionsdauer definiert die Zeitspanne vom Erreichen einer partiellen oder kompletten Remission bis zum Zeitpunkt der nachgewiesenen Tumorprogression oder des Rezidivs. Krankheitsfreies Überleben; rückfallfreies/ereignisfreies Überleben (»disease-free survival«, DFS; »recurrence-free survival«, RFS; »event-free survival«, EFS) Als krankheitsfreies Überleben wird die Zeit von der Randomisation in einer Studie bzw. dem Therapiebeginn bis zum lokoregionalen oder hämatogenen Rezidiv, einem Zweitkarzinom oder bis zum Tod bezeichnet. Progressionsfreies Überleben (»progression-free survival«, PFS) Als progressionsfreies Überleben wird diejenige Zeitdauer bezeichnet von der Randomisation in einer Studie bzw. dem Therapiebeginn bis zum Auftreten jedweder Tumorprogression oder bis zum Tod jedweder Ursache. Zeitdauer bis zum Therapieversagen (»time-to-treatment failure«, TTF) Als Zeit bis zum Therapieversagen wird die Zeitdauer bezeichnet bis zum Nachweis einer Tumorprogression, einem Zweitkarzinom oder dem Ausschluss aus einem Therapieprotokoll infolge therapieassoziierter Toxizität oder Tod. Gesamtüberleben (»overall survival«, OS) Das Gesamtüberleben bezeichnet die Zeitdauer vom Therapiebeginn bis zum Tod jedweder Ursache. Überlebensrate Die Überlebensrate beschreibt die Rate der Überlebenden zu definierten Zeitpunkten. Neben der medianen Überlebenszeit gibt die Überlebensrate wichtige Informationen zur Effektivität einer Therapie. So können die Überlebensraten verschiedener Therapieformen bei nahezu gleichen medianen Überlebenszeiten signifikante Unterschiede aufweisen (. Abb. 21.7). Definition des Tumoransprechens nach RECIST-Empfehlungen Die für mehrere Jahrzehnt verwendeten WHO-Kriterien des Tumoransprechens wurden inzwischen weitgehend abgelöst durch die einfacher handhabbaren »Response Evaluation Criteria in Solid Tumors« (RECIST; . Tab. 21.1 und 21.2). Unterschieden wird in messbare (»measurable lesions«) und nicht messbare (»non-measurable lesions«) Läsionen. Messbare Läsionen sind diejenigen, die in konventionellen Untersuchungsverfahren ei-
. Abb. 21.7. Überlebenskurven mit vergleichbarer medianer Überlebenszeit, aber deutlich unterschiedlichen Überlebensraten
nen messbaren Längsdurchmesser ≥20 mm oder im Spiral-CT einen messbaren Längsdurchmesser ≥10 mm aufweisen. Die Erhebung und Bewertung der mit anderen Verfahren erhobenen Befunde (z. B. Ultraschall, MRT, Endoskopie, Zytologie, Labor, Tumormarker, Röntgenuntersuchungen) ist ebenfalls gut definiert. Als nicht messbare Läsionen gelten u. a. Knochenmetastasen, Meningeosis carcinomatosa, Aszites, Pleura-, Perikardergüsse, Lymphangiosis cutis/pulmonum sowie zystische Läsionen. Für die Bewertung des Tumoransprechens werden bis zu 5 Läsionen pro Organ und insgesamt bis zu maximal 10 Läsionen ausgemessen, die alle beteiligten Organe repräsentieren. Diese Läsionen werden als Zielläsionen (»target lesions«) bezeichnet und im Therapieverlauf reevaluiert (»baseline sum longest diameter«). Weitere Tumorherde (»non-target lesions«) werden im Ausgangsbefund erfasst, im weiteren Verlauf jedoch nicht regelmäßig vermessen. Zahlreiche Fragen und Antworten zu RECIST-Kriterien und deren Evaluation sind im Internet zu finden unter http://www. eortc.be/Recist/allquest.asp.
. Tab. 21.1. Definitionen des besten Tumoransprechens nach RECIST. (Nach Therasse et al. 2000) Endpunkt*
Definition*
CR (komplette Remission)
Vollständige Rückbildung; Bestätigung nach ≥4 Wochen
PR (partielle Remission)
30% Reduktion; Bestätigung nach ≥4 Wochen
SD (»stable disease«)
Entspricht weder den PRnoch den PD-Kriterien
PD (»progressive disease«)
20% Größenzunahme (ohne vorherige CR, PR oder SD)
* bewertet wird der längste Tumordurchmesser bzw. die Summe der längsten Tumordurchmesser (»baseline sum longest diameter«)
408
Kapitel 21 · Zytostatische Chemotherapie
. Tab. 21.2. Definition des Gesamtansprechens nach RECIST. (Nach Therasse et al. 2000) »Target Lesion«
»Nontarget Lesion«
»New Lesion«
Gesamtansprechen
CR
CR
Nein
CR
CR
Inkomplettes Ansprechens / SD
Nein
PR
PR
Nicht PD
Nein
PR
SD
Nicht PD
Nein
SD
PD
CR, PR, SD oder PD
Ja oder Nein
PD
CR, PR, SD oder PD
PD
Ja oder Nein
PD
CR, PR, SD oder PD
CR, PR, SD oder PD
Ja
PD
Alternative Kriterien und Surrogatparameter des Tumoransprechens bei neuen Therapieverfahren Mit der Einführung neuer medikamentöser Therapieverfahren wie der Tyrosinkinaseinhibitoren wurde deutlich, dass ein Tumoransprechen häufig nur partiell mit klassischen Kriterien nach RECIST oder WHO erfasst wird. Größenstabilisierungen bei gleichzeitiger metabolischer Tumorzellinaktivierung können einer Tumorremission nach RECIST-Kriterien prognostisch gleichwertig sein. Dabei findet sich häufig eine Abnahme der in der CT bestimmbaren Dichtewerte (HU), histopathologisch einhergehend mit dem Nachweis einer Kolliquationsnekrose. Beispiele hierfür sind das Tumoransprechen von gastrointestinalen Stromatumoren oder Nierenzellkarzinomen auf Imatinib bzw. Sunitinib (Antoch et al. 2004). 21.1.8 Bewertung der Therapietoxizität
21
Nebenwirkungen einer medikamentösen Tumorbehandlung werden innerhalb klinischer Studien nach einheitlichen Kriterien bewertet. Auch außerhalb klinischer Studien sollte eine genaue Erfassung und Dokumentation der therapieassoziierten Begleiterkrankungen und -symptome erfolgen. Diese dient als Grundlage möglicher Therapiemodifikationen. International werden am häufigsten die vom National Cancer Institute, Bethesda, USA, festgelegten »Common Toxicity Criteria« (CTC) oder die neueren »Common Terminology Criteria for Adverse Events v3.0« (CTCAE) vewendet. Diese sind im Internet abrufbar unter http:// ctep.cancer.gov/forms/CTCAEv3.pdf. Grad-1-Toxizitäten bezeichnen geringfügige Nebenwirkungen (NW), Grad 2 moderate NW, Grad 3 schwerwiegende NW und Grad 4 lebensbedrohliche NW. Das Auftreten von Grad-3- und -4-Toxizitäten führt häufig zu einer der nachfolgenden Therapiemodifikationen. Dosisanpassungen Dosisanpassungen einzelner Zytostatika sind an den Hinweisen der Fachinformationen und verfügbarer Studiendaten zu orientieren. Eine hinreichende Erfahrung in der Anwendung einer
zytostatischen Chemotherapie, ihrer möglichen Nebenwirkungen, Pharmakokinetik, relevanter Begleiterkrankungen, erforderlicher Überwachungsmaßnahmen und gute Kenntnisse eventueller Supportivmaßnahmen sind elementare Voraussetzungen für eine adäquate Chemotherapiedurchführung einschließlich eventuell notwendiger Dosismodifikationen. Ein rascher Zugriff auf Fachinformationen im Hinblick auf einzelne antitumorale Substanzen, deren Nebenwirkungen sowie mögliche Dosisreduktionen findet sich u. a. im Internet unter http:// www.fda.gov/cder/cancer/approved.htm. Die unten angegebenen Hinweise sind als Orientierungshilfen zu verstehen. Hämatologische Toxizität Die hämatologische Toxizität im Therapieintervall (Nadirwerte) wird üblicherweise durch eine automatisierte Blutbildanalyse 1bis 2mal wöchentlich bestimmt (Schütte u. Seeber 1993; Scheulen 2003). Anleitungen zu Dosisreduktionen oder Therapieintervallverlängerungen in Abhängigkeit von Nadirwerten und Werten zu Beginn des jeweils nächsten Therapiezyklus entsprechen Orientierungshilfen auf der Basis empirischer Daten. Mögliche Dosisanpassungen sind individuell vorzunehmen in Abhängigkeit von der Intention des Therapiekonzepts (kurativ oder nicht kurativ), Alter des Patienten, Knochenmarkreserve in Abhängigkeit von Vorerkrankungen, Strahlentherapie KM-enthaltender Knochenregionen, Knochenmarkkarzinose, Begleiterkrankungen mit Einschränkungen der Metabolisierung oder Elimination der Zytostatika, Patientencompliance, Verfügbarkeit von G-CSFUnterstützung und antimikrobieller Prophylaxe etc. Der Aufrechterhaltung einer vorgesehenen Dosisintensität kommt zumindest bei kurativen Therapien eine hohe Priorität zu. Die in . Tab. 21.3 angegebenen Empfehlungen beziehen sich vorrangig auf die Thrombozytenwerte. Meist werden Dosisreduktionen oder Dosissteigerungen myelosuppressiver Substanzen in Schritten von 20‒25% der Solldosis oder vorherigen Dosis vorgenommen (. Tab. 21.4).
. Tab. 21.3. Mögliche Dosisanpassung der Chemotherapie in Anhängigkeit von Leukozyten- und Thrombozytenwerten zu Beginn des nächsten vorgesehenen Therapiezyklus Leukozyten/μl
Thrombozyten/nl
Dosis
≥3.500
≥ 100
100% Dosis
2.500–3.400*
75–99
Intervallverlängerung um 1 Woche*
<75
1. Intervallverlängerung um 1 Woche* 2. Dosisreduktion auf 75– 80% falls weiterhin Leuko <3.000/μl und/oder Thrombo <75–100/nl*
<2.500*
* Bei kurativen Therapiekonzepten sollte nach Durchschreiten des Leukozytennadirs die Applikation der Standarddosis geplant werden mit posttherapeutischer Applikation von G-CSF, ggf. ergänzt durch eine prophylaktische antimikrobielle Therapie. Reduktionen der Dosisintensität durch Dosisreduktion oder Intervallverlängerung sind möglichst zu vermeiden
409 21.1 · Prinzipien der medikamentösen Tumortherapie
. Tab. 21.4. Mögliche Dosisanpassung der Chemotherapie in Anhängigkeit von den Nadirwerten der Leukozyten und Thrombozyten Nadirwerte
Grad 1
Grad 2
Grad 3
Grad 4
Leukozyten
≥3.000
<3.000– 2.000
<2.000– 1.0002
<1.000
Neutrophile
≥1.500
<1.500– 1.000
<1.000– 5002
<500
Thrombozyten
≥75
<75–501
<50–25
<25
Dosisreduktion im nächsten Zyklus4
–
20%1
20%
20–25%3
1 2 3
4
gilt nur für Thrombopenie gilt nicht für Leuko-/Neutropenie; hier eher G-CSF-Applikation eventuell nur Dosisreduktion der am meisten thrombopen wirksamen Substanzen gilt nicht für wenig knochenmarktoxische Substanzen wie Vincristin, Bleomycin, Asparaginase, LD-Methotrexat + FolinsäureRescue
Dosisanpassungen bei Leberfunktionsstörungen Bei Leberfunktionsstörungen muss die Dosis zahlreicher Zytostatika modifiziert werden (Eklund et al. 2005; Floyd et al. 2006). Detaillierte Angaben und Sicherheitshinweise finden sich in den Fachinformationen zu den einzelnen Substanzen. Orientierende Hinweise zu Dosisreduktionen sind in . Tab. 21.5 dargestellt.
. Tab. 21.5. Orientierungshilfe für die Dosisreduktion von Zytostatika bei eingeschränkter Leberfunktion (Nach Scheulen 2003; Eklund et al. 2005; Floyd et al. 2006; Perry 1992) Zytostatikum
Leberparameter Bilirubin <1,5 (mg/dl) und GOT (U/l) <60
1,5–3,0 oder 60–180
3,1–5,0 oder >180
> 5,0
Dosis [%]
21
Zytochrom-P450-Metabolismus und Interaktionen Zytochrom-P450-Enzyme katalysieren die Oxidation zahlreicher Substanzen endogenen oder exogenen Ursprungs (Scripture 2005). Sie haben eine hohe Bedeutung für das Ausmaß und die Dauer von Arzneimitteleffekten durch Katabolisierung von Medikamenten zu inaktiven Metaboliten oder durch Bioaktivierung von Vorläufersubstanzen (Prodrugs) zu ihren aktiven Formen. Zahlreiche Zytostatika werden ebenfalls durch Zytochrom-P450Enzyme metabolisiert (. Tab. 21.6). Die Aktivität des ZytochromP450-Metabolismus kann durch endogene Faktoren wie Alter des Patienten, Geschlecht, Begleiterkrankungen sowie durch genetischen Polymorphismus beeinflusst sein. Bei Zytostatika, die durch CYP450-Enzyme inaktiviert werden, führt die Koadministration von Inhibitoren zu einer Erhöhung der Plasmaspiegel oder der AUC und dadurch ggf. auch der Toxizität, während Induktoren zu einer Wirkungsabschwächung führen. Für sog. Prodrugs gelten inverse Beziehungen, d.h. Induktoren führen zu einer Wirkungsverstärkung, Inhibitoren zu einer Wirkungsabschwächung. Eine Übersicht über Medikamente, die mit Zytochrom-P450Isoenzymen interagieren können, findet sich u. a. unter http:// medicine.iupui.edu/flockhart/table.htm.
. Tab. 21.6. Zytostatika, die durch Zytochrom-P450-Enzyme metabolisiert werden. (Nach Scripture 2005) Zytostatikum
Metabolismus durch Zytochrom P450 Isoenzyme
Altretamin
2B
Bexaroten
2C9, 3A4
Busulfan
3A4
Carmustin
Unbekannt
Chlorambucil
Unbekannt
Cisplatin
2E1, 3A4
Cyclophosphamid
2B6, 2C9, 3A4
Cytarabin
3A4
Anthrazykline
100
50
25
–
Dacarbazin
1A1, 1A2, 2E1
Etoposid
100
50
–
–
Docetaxel
1B1, 3A4, 3A5
5-Fluorouracil
100
100
100
–
Doxorubicin
2D6, 3A4
Imatinib
100
75–100
Erlotinib
1A1, 1A2, 3A4
Irinotecan
100
–
Etoposid
1A2, 2E1, 3A4, 3A5
Methotrexat
100
100
75
–
Exemestan
3A4
Oxazophosphorine
Fulvestrant
3A4
100
100
75
– Gefitinib
3A4
Taxane
100
75 a
–b
–
Hydroxyurea
Unbekannt
Vinca-Alkaloide
100
50
– (25–50)c
–
Idarubicin
2D6, 2C9
Ifosfamid
2A6, 2B1, 2B6, 2C9, 2C18, 2C19, 3A4, 3A5
Imatinib
1A2, 2C9, 2C19, 2D6, 3A4
a b c
75 66
alkalische Phosphatase >2,5 x UNL oder Transaminasen >1,5 x UNL alkalische Phosphatase >6 x UNL oder Transaminasen >3,5 x UNL 7 Fachinformation
410
Kapitel 21 · Zytostatische Chemotherapie
. Tab. 21.7. Antitumorale Substanzen mit renaler Ausscheidung als aktive Substanz oder aktiver bzw. toxischer Metaboliten
. Tab. 21.6 (Fortsetzung) Zytostatikum
Metabolismus durch Zytochrom P450 Isoenzyme
≥30%
<30% Dosisanpassung Üblicherweise keine Dosisanpassung
Letrozol
2A6, 3A4
Lomustin
Unbekannt
Dosisanpassung entspr. Nierenfunktion
Mitoxantron
Unbekannt
Bleomycin
5-Azacytidin
Paclitaxel
2C8, 3A4, 3A5
Carboplatin
5-Fluorouracil
Procarbazin
1A, 2B
Cisplatin
6-Mercaptopurin
Sunitinib
3A4
Cytarabin
6-Thioguanin
Tamoxifen
1A1, 1A2, 1B1, 2B6, 2C9, 2C19, 2D6, 2E1, 3A4, 3A5
Darcabazin
Chlorambucil
Thiotepa
2B1, 2C11
Etoposid
Cyclophosphamid
Topotecan
3A4
Fludarabin
Dactinomycin
Toremifen
1A2, 3A4
Hydroxyurea
Daunorubicin
Tretinoin
2C8, 2C9, 2E, 3A4
Ifosfamid
Docetaxel
Vinblastin
3A4
Melphalan
Doxorubicin
Vincristin
3A4
Methotrexat
Epirubicin
Vinorelbin
3A4
Nitrosoharnstoffe (ACNU, BCNU, CCNU)
Gemcitabin
Pentostatin
Irinotecan
Topotecan
Mitomycin C
Dosisanpassungen bei Nierenfunktionsstörungen Auch bei Nierenfunktionsstörungen muss die Dosis zahlreicher Zytostatika modifiziert werden (Kintzel u. Dorr 1995; Canal et al. 1998; Marx et al. 2004; Wright et al. 2001). Detaillierte Angaben und Sicherheitshinweise finden sich in den Fachinformationen zu den einzelnen Substanzen. Substanzen mit einer nennenswerten renalen Elimination ≥30% entweder als aktive Substanz oder aktive Metaboliten erfordern bei eingeschränkter Nierenfunktion in der Regel eine Dosisreduktion. Für Substanzen mit einer renalen Elimination <30% als aktive Substanz oder aktive Metaboliten ist meist keine Dosisreduktion empfohlen (. Tab. 21.7). Orientierende Hinweise zu Dosisreduktionen sind in . Tab. 21.8 dargestellt.
Mitoxantron Paclitaxel Procarbazin Streptozocin Thiotepa Vinca-Alkaloide
. Tab. 21.8. Orientierungshilfe für die Dosisreduktion von Zytostatika bei eingeschränkter Nierenfunktion Medikament
21
Dosismodifikation in Abhängigkeit von der Kreatininclearance [% der Normaldosis] >60 ml/min
60 ml/min
45 ml/min
30 ml/min
Bleomycin
100
70
60
–
Capecitabin
100
100
75
–
Carboplatin
100
entsprechend Calvert-Formel**
Carmustin
100
80
75
–
Cisplatin*
100
75
50
–
Cytarabin (1–3 g/m2)
100
60
50
–
Dacarbazin
100
80
75
70
Etoposid
100
85
80
75
Fludarabin
100
80
75
65
411 21.1 · Prinzipien der medikamentösen Tumortherapie
21
. Tab. 21.8 (Fortsetzung) Medikament
Dosismodifikation in Abhängigkeit von der Kreatininclearance [% der Normaldosis] >60 ml/min
60 ml/min
45 ml/min
30 ml/min
Hydroxyurea
100
60
50
35
Ifosfamid
100
80
75
70
Lomustin
100
75
70
–
Melphalan iv
100
85
75
70
Methotrexat*
100
65
50
–
Mitomycin
100
100
–
–
Pentostatin
100
70
60
–
Semustin
100
75
70
–
Topotecan
100
80
75
70
* bei eingeschränkter Nierenfunktion möglichst keine Verwendung von Cisplatin oder Methotrexat ** Carboplatin-Dosis (mg) = Ziel-AUC (mg/ml x min) × (GFR [ml/min] + 25); Berechnung der Kreatininclearance z. B. nach Cockroft-Gault (Reduktion um 15% bei Frauen): (140 – Alter) • Gewicht [kg] CrCl = 000004 72 • Serumkreatinin [mg/100 ml] Alternative Berechnungsformeln sind diejenigen nach Jellife, Chatelut oder Wright (Marx et al. 2004; Wright et al. 2001)
Interaktionen / Therapiesequenzen Es gibt zahlreiche potenzielle Interaktionsmechanismen zwischen Zytostatika, die zu synergistischen, additiven oder antogonistischen Effekten im Hinblick auf die antitumorale Wirksamkeit und mögliche Nebenwirkungen führen können (Scripture u. Figg 2006; McLeaod 1998; Beijnen u. Schellens 2004). Beispiele sind Therapiekombinationen von Platinderivaten mit Taxanen oder Antimetaboliten wie 5-Fluorouracil oder Gemcitabin, von Taxanen mit Anthrazyklinen, Mitoseinhibitoren mit Trastuzumab, etc. Im Übrigen sind Interaktionen mit nicht onkologischen Komedikationen zu berücksichtigen, so beispielsweise Interaktionen von Allopurinol mit Purinantagonisten, oder hinsichtlich der Metabolisierung durch Zytochrom P450-Enzyme. Eine ausführliche Darstellung möglicher Interaktionen mit und zwischen Zytostatika würde den Umfang dieses Kapitels überschreiten, weshalb auf die entsprechende Literatur verwiesen wird. Therapie älterer Patienten Obwohl ältere Patienten einen zunehmenden Anteil an Tumorpatienten darstellen, sind sie in Therapiestudien unterrepräsentiert, weshalb vielfach exakte Daten zur Wirksamkeit und Toxizität im Vergleich zu jüngeren Patienten fehlen (Balducci u. Extermann 1997; Wasil u. Lichtman 2005; Lichtman 2004; Höffken et al. 2002). Die Definition des »älteren Patienten« variiert zwischen einem Alter von 65‒75 Jahren. Aus Sorge vor erhöhten Nebenwirkungsraten und -intensitäten werden ältere Patienten weniger häufig zytostatisch behandelt oder Chemotherapiedosierungen so weit reduziert, dass die Wirksamkeit in Frage gestellt oder signifikant herabgesetzt ist. Zahlreiche, meist retrospektive Analysen zeigen jedoch, dass adäquat dosierte Chemotherapien eine vergleichbare antitumorale Effektivität aufweisen wie bei jüngeren Patienten und dass die Nebenwirkungsraten nicht generell höher sind. Erforderlich ist daher eine sorgfältige Analyse der
Organfunktionen, der Komorbiditäten und Komedikationen und des Allgemeinzustands. Auch psychosoziale Faktoren haben eine große Bedeutung für die Durchführbarkeit einer medikamentösen Tumorbehandlung. In höherem Maße als bei jüngeren Patienten sind pharmakokinetische und pharmakodynamische Parameter zu berücksichtigen, die sich aus reduzierten Organfunktionen, Begleiterkrankungen und Komedikationen ergeben. Pharmakokinetische Besonderheiten berücksichtigen die Absorption, die Verteilung, die Metabolisierung und die Ausscheidung der Medikamente. Die Absorption kann reduziert sein durch eine verringerte gastrointestinale Motilität, eine reduzierte Durchblutung des Splanchnikusgebiets, verringerte Sekretion von Verdauungsenzymen und eine Mukosaatrophie. Das Verteilungsvolumen kann Änderungen erfahren beispielsweise durch einen erhöhten Fett- (15→ 30%) und reduzierten Wasseranteil (42→33%) des Körpers, eine Reduktion des Serumalbumins (um 15–20%) oder eine Anämie. Die Metabolisierung kann betroffen sein durch eine im Alter verringerte Leberdurchblutung (0,3‒1,5% pro Jahr) oder eine altersbedingte Verringerung der Expression von Zytochrom-P450-Enzymen. Die renale Ausscheidung kann beeinträchtigt sein durch eine Reduktion der glomerulären Filtrationsrate (ca. 1 ml/min pro Jahr ab dem 40. Lebensjahr), die bei meist gleichzeitiger Abnahme der Muskelmasse nicht durch einen parallelen Anstieg des Serumkreatinins reflektiert wird. Neben der Cockroft-Gault (7 oben)- und der Jellife-Formel zur Berechnung der glomerulären Filtrationsrate scheint die Formel nach Wright et al. (2001) die beste Korrelation mit der [51Cr]-EDTA-Bestimmung aufzuweisen (zur Dosisreduktionen renal eliminierter Zytostatika . Tab. 21.8): GFR = {[6580 – (38.8 × Alter)] × BSA × [1 – (0.168 × Geschlecht)]}/SCr,
412
Kapitel 21 · Zytostatische Chemotherapie
wobei CrCl = Kreatininclearance; GFR = glomeruläre Filtrationsrate (ml/min); Geschlecht: männlich = 0; weiblich = 1; BSA = »body surface area« (DuBois); SCr = Serumkreatinin (μmol/l) (oben genannte Formel gilt für die Kreatininbestimmung nach Jaffe). Zur biliären Exkretion von Zytostatika bzw. deren Metaboliten liegen bislang nur wenige Daten vor, die keine relevante altersbedingte Einschränkung erkennen ließen. Die Myelotoxizität kann altersbedingt erhöht sein durch eine Reduktion der Zahl oder Mobilisierbarkeit pluripotenter hämatopoetischer Stammzellen infolge einer myelosuppressiven Therapie. Damit einhergehen können eine erhöhte Hospitalisationsrate und Mortalität durch Infektionen, arbiträre Dosisreduktionen mit reduzierter kurativer Therapiechance sowie eine erhöhte Anämiehäufigkeit. Ältere Patienten sollten daher besonders sorgfältig überwacht und frühzeitig antimikrobiell behandelt werden und bedürfen einer häufigeren Applikation von hämatopoetisch wirksamen Zytokinen wie G-CSF und Erythropoetin. Im Hinblick auf die Durchführbarkeit spezieller Behandlungsregime bei häufigen Tumorerkrankungen und die Besonderheiten bei der Applikation spezifischer Substanzen bei älteren Patienten sei auf entsprechende Fachliteratur verwiesen.
21
Therapiedurchführung, -dokumentation und -überwachung Entsprechend allgemeiner Richtlinien, die bei jeder medizinischen Behandlungsmaßnahme gelten, ist vor Beginn der zytostatischen Therapie eine umfassende Aufklärung der Patienten mit entsprechender schriftlicher Dokumentation erforderlich. Diese beinhaltet die Indikation zur Therapie, die Auflistung der für die Therapie eingesetzten Substanzen, die Dauer der Therapie, die möglichen Therapienebenwirkungen sowie die Verhaltensmaßnahmen vor (z. B. Spermakryokonservierung; evtl. Konsiliaruntersuchungen bei eingeschränkter Organfunktion, Diagnostik) während (z. B. Komedikationen) und nach (z. B. Komedikationen, prophylaktische Gabe von Antiemetika, Zytokinen, Antibiotika, Verhalten bei Fieber, Diarrhoen, etc.) der Chemotherapie. In der Patientenakte sind die Grundlage der Dosierung (z. B. Größe und Körpergewicht; Körperoberfläche), die verabreichten Medikamente mit Datum und Mengenangabe, evtl. Komplikationen der Therapie, Laborwertbesonderheiten im Therapieintervall sowie die Rationalen für eventuelle Dosismodifikationen zu dokumentieren. Jeder Arzt, der Chemotherapeutika appliziert oder verordnet, hat sich vorab mit den erforderlichen Sicherheitsinstruktionen für die Applikation und Überwachung der Therapie vertraut zu machen. Als Beispiel sei die Applikation von Vesikanzien aufgeführt, deren korrekte Anwendungsweise den Patienten vor beeinträchtigenden Toxizitäten und den Arzt vor juristischen Konsequenzen schützt. Abhängig von der Art und Dosis der Zytostatika(kombinationen) sind im Therapieintervall regelmäßige Laborwertkontrollen erforderlich. Meist beinhalten diese wöchentliche Blutbildkontrollen und – abhängig von Ausgangswerten und der verabreichten Therapie – auch Kontrollen der Leber- und Nierenfunktion.
Off-label Use Zahlreiche Zytostatika und Therapieregime sind für einzelne Tumorerkrankungen und Therapiesituationen nicht zugelassen. Beispielhaft seien hier die Therapieindikationen in der pädiatrischen Hämatoonkologie genannt. Auch in der Erwachsenenonkologie finden sich häufig Situationen, in den wirksame Substanzen seitens der Pharmaindustrie nicht zur Zulassung beantragt werden, sei es, dass es sich um relativ seltene Erkrankungen handelt oder hohe Zulassungskosten anfielen bei absehbarem Auslaufen des Patentschutzes oder vergleichsweise seltener Indikationsstellung. Sofern ausreichende wissenschaftliche Daten zur Wirksamkeit, z. B. zum krankheits- oder progressionsfreien Überleben, zum Gesamtüberleben oder zur Remissionsrate einzelner Medikamente oder Therapiekombinationen vorliegen und keine Behandlungsalternativen sowie Kontraindikationen für zugelassene Regime vorhanden sind, kann sich eine mögliche Indikation zum sog. »off-label use« ergeben. Dieser ist mit dem Patienten gesondert zu besprechen und entsprechend zu dokumentieren. Im Zweifelsfall ist zum Schutz vor möglichen Regressansprüchen eine Rücksprache mit den Kostenträgern erforderlich.
21.2
Wirkungsmechanismen von Antitumortherapeutika
Zytostatika wirken mit unterschiedlichen Angriffspunkten als Zellgifte innerhalb der Zellen. Ihre Selektivität auf Tumorzellen ist von relativer Natur aufgrund der deutlich höheren Stoffwechselrate der entarteten Zellen. Diese wird insbesondere bei hoher Tumorlast offenkundig. Darüber hinaus bestimmen die physikochemischen Eigenschaften die Gewebeverteilung und somit z. T. auch die Toxizität der Substanzen. Beispielsweise können nur besonders lipophile Stoffe in therapeutisch relevanten Mengen eine intakte Blut-Hirn-Schranke überwinden. Viele der (klassischen) Zytostatika greifen innerhalb der Zelle in diverse Stoffwechselvorgänge während des Zellzyklus ein, wobei die DNA als zen-
. Abb. 21.8. Auswahl zellzyklusphasenspezifisch wirksamer Zytostatika
413 21.2 · Wirkungsmechanismen von Antitumortherapeutika
traler Informationsspeicher eines der primären Angriffsziele zahlreicher Zytostatika darstellt. Ungeachtet der intrazellulären DNA-Reparatursysteme können hinreichend starke Noxen bei einer Überlastung oder Blockade der Reparaturenzyme zu irreversiblen Schädigungen und zum Zelluntergang führen. Auf den Zellzyklus bezogen können Zytostatika in phasenspezifische (z. B. Antimetabolite) (. Abb. 21.8) und phasenunspezifische (z. B. Alkylanzien) Substanzen eingeteilt werden. Mögliche Zytostatikaeffekte auf die DNA sind, dass 4 Informationen nicht oder nicht richtig von der DNA abgelesen werden und ein für die Zelle überlebenswichtiges Genprodukt (→ Funktionsprotein) ausbleibt, 4 die Kettenverlängerung eines DNS-Stranges ausbleibt oder fehlerhaft verläuft, 4 die DNA nicht entspiralisiert und/oder aufgeschnitten werden kann und Informationen somit nicht abgelesen werden können oder 4 der DNA-Strang abbricht (Chromosomenstrangbruch) und die DNA nicht repariert und/oder überspiralisiert werden kann (Einzel- und Doppelstrangbrüche sind möglich).
21
. Tab. 21.9. Antitumorale Substanzen: Naturstoffe bzw. Naturstoffderivate Wirkstoff
Herkunft
Aclarubicin
Streptomyces galileus
Asparaginase, Erwinase
E. coli, E. Crysanthemi
Bleomycin
Streptomyces verticillus
Camptothecin
Camptotheca acuminata (Chin. Baum)
Cytosinarabinosid
Vollsynthetisches Derivat der CNukleoside Sponguridin/Spongthymin aus Cryptothethia crypta, einem Schwamm
Dactinomycin
Streptomyces parvullus
Daunorubicin
Streptomyces caeruleorubidus
Docetaxel
Taxus baccata (Europäische Eibe)
Doxorubicin
Streptomyces caeruleorubidus
Epirubicin
Streptomyces caeruleorubidus
Epothilone
Sorangium cellulosum zelluloseabbauendes Myxobakterium (Myxococcales; Stamm So ce90)
Etoposid, Etoposidphosphat
Podophyllum peltatum (Maiapfel, Mandargora, mandrake)
Idarubicin
Streptomyces caeruleorubidus
Irinotecan (CPT-11)
Camptotheca acuminata (Chin. Baum)
Mitomycin
Streptomyces caespitosus
Paclitaxel
Taxus brevifolia (Pazifische Eibe)
Pentostatin
Streptomyces antibioticus
Streptozocin
Streptomyces achromogenes var. 128
Teniposid
Podophyllum peltatum (Maiapfel, Mandargora, mandrake)
Topotecan
Camptotheca acuminata (Chin. Baum)
Vinblastin
Vinca rosea (syn. Catharanthus roseus) (Immergrün)
Vincristin
Vinca rosea (syn. Catharanthus roseus) (Immergrün)
Vindesin
Vinca rosea (syn. Catharanthus roseus) (Immergrün)
Vinorelbin
Vinca rosea (syn. Catharanthus roseus) (Immergrün)
21.2.1 Einteilung antineoplastischer Substanzen
Die Einteilung antitumoraler Substanzen in Klassen ist nach verschienenden Kriterien möglich. Die WHO teilt aus historischen Gründen einmal nach Wirkungsmechanismus (z. B. Alkylans) und dann wieder nach Ursprung oder Herkunft ein (z. B. Pflanzenalkaloide oder »Antitumorantibiotika«) ein. So werden Zytostatika nach ihrer Entdeckung oder der erstmaligen qualitativen Beschreibung einzelner Wirkausprägungen klassifiziert. Das Einteilungskriterium Herkunft ist aus pharmakologischer Sicht wenig hilfreich. Allein die Einteilung Naturstoffe oder Naturstoffderivate generiert eine nach anderen Kriterien eingeteilte Liste bestehend aus Antimetaboliten, Pflanzenalkaloiden, Antibiotika, Terpenen etc. wie in der folgenden . Tab. 21.9 wiedergegeben ist (nicht weiter differenziert nach Naturstoff oder Derivat eines solchen). Im vorliegenden Kapitel werden Substanzklassen vorrangig aufgrund der Wirkmechanismen (z. B. Alkylierung) oder der Zielmoleküle (z. B. »Tubulin aktive« Agenzien) kategorisiert (Hauptwirkungsmechanismus) (. Tab. 21.10). Die Problematik dieser Klassifikation ist am Beispiel der monoklonalen Antikörper (moAK) erkennbar. Diese könnte man in antilymphozytäre Antikörper (Alemtuzumab und Rituximab), Angiogenesehemmstoffe (Bevacizumab) und Tyrosinkinaserezeptorinhibitoren (Trastuzumab und Cetuximab) unterteilen. Man könnte auch eine Klasse von Angiogeneseinhibitoren erstellen, bestehend aus moAK (7 o.), Wachstumsfaktorrezeptor-/ Tyrosinkinaseinhibitoren und intraintrazellulären (»small molecules«) Tyrosinkinaseinhibitoren (z. B. Sunitinib). Diese Beispiele verdeutlichen die Problematik einer konsequenten Systematik.
414
Kapitel 21 · Zytostatische Chemotherapie
. Tab. 21.10. Zytostatikaklassen entsprechend ihrem Hauptwirkungsmechanismus Wirktyp
Wirkstoff
(Haupt-)Wirkphase (im Zellzyklus)
ALKYLANZIEN G1, G2, S, M (alle)
»klassische«, nicht-Platin haltige Aziridine
Thiotepa
Bismethanosulfonate
Busulfan Treosulfan
Nitrosoharnstoffe
Carmustin (BCNU) Fotemustin Lomustin (CCNU) Nimustin (ACNU) Streptozocin
N-Lost-Abkömmlinge (Bischlorethylamine)
Bendamustin Chlorambucil Estramustinphosphat Melphalan N-Lost = Bis-(2-chlorethyl)-ETHYLamin Mechlorethamin = Bis-(2-chlorethyl)-METHYLamin Prednimustin
Substituierte N-Lost Derivate – Oxazaphosphorine
Cyclophosphamid Ifosfamid Trofosfamid
Triazene
Dacarbazin Temozolomid
Platinhaltige Verbindungen (reine »cross-linker«)
Carboplatin Cisplatin Oxaliplatin
Sonstige alkylierende Verbindungen
Altretamin Mitomycin C Procarbazin
ANTIMETABOLITE »Antifolate«
Methotrexat = Folsäureantagonist
S
Pemetrexed (MTA = Multi Target Antifolat) Raltitrexed (direkter Thymidilatsynthetasehemmer)
21
Purinanaloga
6-Mercaptopurin 6-Thioguanin Cladribin
(auch G0?)
Fludarabinphosphat
(auch G0?)
Pentostatin (2’-Desoxycoformicin); Intermediat
(auch G0?)
415 21.2 · Wirkungsmechanismen von Antitumortherapeutika
21
. Tab. 21.10 (Fortsetzung) Wirktyp
Wirkstoff
Pyrimidinanaloga
5-Fluorouracil
(Haupt-)Wirkphase (im Zellzyklus)
Capecitabin Cytosinarabinosid Gemcitabin S 1 = Tegafur : Gimeracil : Oteracil 1 : 0,4 : 1 Tegafur : Uracil 1 : 4 »Pseudo«Pyrimidine-Triazene
Azacitidin Decitabin
INHIBITOREN DES MIKROTUBULIERGEN SYSTEMS (MITOSEHEMMER / SPINDELGIFTE) Tubulin stabilisierende Agenzien (Taxane)
Docetaxel
G2/M
Paclitaxel Tubulin destruierende Agenzien (Vincaalkaloide)
Vinblastin
M1
Vincristin Vindesin Vinorelbin TOPOISOMERASEHEMMSTOFFE Hemmstoffe der Topoisomerase I
Irinotecan
S (1000 x >G)
Topotecan Hemmstoffe der Topoisomerase II; – nicht interkalierende
Etoposid
– interkalierende indirekt hemmende; (Matritzenblocker)
Aclarubicin
S, G2 (M)
Teniposid S, G2, (G1, M) (unterschiedlich stark ausgeprägt)
Amsacrin Dactinomycin Daunorubicin Doxorubicin Epirubicin Idarubicin Mitoxantron
SONSTIGE Enzyme
Asparaginase / Erwinase (Crisantaspase)
G1 G2 (M, S, G1)
PEG-Asparaginase DNA-spaltende Agenzien (Radikalbildner)
Bleomycin
S (G2, G1)
Ribonukleotidreduktaseinhibitoren
Hydroxycarbamid = Hydroxyharnstoff = Hydroxyurea
S (G1)
Weitere, nicht näher zuzuordnende, chemisch definierte Substanzen
Miltefosin
?
Mitotane
?
Tretionin
?
416
Kapitel 21 · Zytostatische Chemotherapie
. Tab. 21.10 (Fortsetzung) Wirktyp
Wirkstoff
HORMONE, HORMONANTAGONISTEN UND VERWANDTE VERBINDUNGEN Antiandrogene
Bicalutamid Cyproteronacetat Flutamid
Antiöstrogene
Droloxfen Raloxifen Tamoxifen Toremifem
Aromatasehemmer
Aminogluthetimid Anastrozol Exemestan Formestan Letrozol
Gestagene
Gestonoroncaproat (Progestagen) Lynestrenol Medrogeston Medroxyprogesteronacetat Megestrolacetat
Östrogene
Chlorotrianisen Ethinylestradiol Fosfestrol Polyestradiolphosphat
GnRH-Superagonisten
Buserelin Goserelin Leuprorelin Triptorelin
ZYTOTOXISCHE ZYTOKINE Interferone
Interferon-alfa-2a Interferon-alfa-2b Interferon beta
Interleukine
Proleukin (Interleukin-2)
MONOKLONALE ANTIKÖRPER Alemtuzumab Bevacizumab Cetuximab Gemtuzumab Ozogamicin Rituximab Trastuzumab
21
KINASEINHIBITOREN (»INIBE«) Dasatinib Erlotinib Everolismus Gefitinib Imatinib Lapatinib
(Haupt-)Wirkphase (im Zellzyklus)
417 21.2 · Wirkungsmechanismen von Antitumortherapeutika
21
. Tab. 21.10 (Fortsetzung) Wirktyp
Wirkstoff
(Haupt-)Wirkphase (im Zellzyklus)
Lestaurtinib (CEP-701) Nilotinib Sorafenib Temsirolismus IMMUNMODULATROISCHE SUBSTANZEN (»IMiDE«) Lenalodomid Thalidomid 1
größter Effekt in der S-Phase, aber Block des Zellzyklus/Zelltod in der M-Phase.
. Tab. 21.11. Auswahl substanz- und klassentypischer Zytostatikatoxizitäten* Substanz
Typische Nebenwirkung
Bemerkungen bzw. Schwellendosierungen
Alemtuzumab
Opportunistische Infektionen
Antimikrobielle Prophylaxe
Anthrazykline und verwandte Verbindungen
Kardiomyopathie, Herzrhythmusstörungen
Kumulative Schwellendosen: Daunorubicin 700–900 mg/m2 Doxorubicin 450–550 mg/m2 PEGyliertes liposomalses Doxorubicin bis 1.680 mg/m2 (derzeit nicht exakt bestimmt) Liposomales Doxorubicin >1.260 mg/m2 Epirubicin 900–1.000 mg/m2 Idarubicin >120 mg/m2 Mitoxantron (7 unten) >140 mg/m2
Aromataseinhibitoren
Knochen- und Gelenkbeschwerden; Osteoporose
Bevacizumab
Arterielle Hypertonie, Proteinurie, Magen-DarmWundheilungsstörungen bis hin zu Darmperforation
Bleomycin
Pulmotoxizität (Lungenfibrose); kutane Toxizität
Bortezomib
Polyneuropathie
Busulfan
Pulmotoxizität, venoocclusive disease
Cetuximab
Akneiforme Exantheme
Chlorambucil
Pulmotoxizität (Lungenfibrose)
Cytarabin
ZNS-Toxizität (vor allem bei Hochdosis-AraC; vorwiegend zerebellär), Lebertoxizität, »Cytarabinsyndrom«
Docetaxel
Nagelveränderungen, Tränenkanalstenosen, Ödeme, Neuropathie
Erlotinib/Gefitinib
Pneumonitis, ARDS
Fluoropyrimidine
Diarrhoen, Stomatitis, Hand-Fuß-Syndrom, Kardiotoxizität (Arrhythmien, Angina-pectoris-ähnliche Symptome; Myokardinfarkt)
Irinotecan
Diarrhoen, cholinerges Syndrom
Methotrexat
ZNS-Toxizität, Hepato- und Pulmotoxizität Nephrotoxizität bei inadäquater renaler Elimination
ZNS-Toxizität vor allem bei HD-MTX oder i.th.-MTX und Bestrahlung; Nierenversagen bei HD-MTX und inadäquater Ausscheidung
Mitomycin C
Hämalytisch-urämisches Syndrom, Nephrotoxizität, Pulmotoxizität
Schwellendosis 60 mg/m2
Mitoxantron
Kardiomyopathie
Schwellendosis 140 mg/m2 (7 o.)
Nitrosoharnstoffe
Nephro-, Pulmotoxizität (Lungenfibrose)
Schwellendosis für BCNU ca. 1.000–1.200 mg/m2; ACNU ohne nennenswerte Pulmotoxizität
Schwellendosis >300 mg/m2
Schwellendosis ab 500 mg/m2
Schwellendosis 2000 mg/m2
418
Kapitel 21 · Zytostatische Chemotherapie
. Tab. 21.11 (Fortsetzung) Substanz
Typische Nebenwirkung
Bemerkungen bzw. Schwellendosierungen
Oxazophosphorine
Urotheltoxizität; Nephrotoxizität und ZNS-Toxizität (reversibles Psychosyndrom) bei hochdosiertem Ifosfamid
Mesna (Uromitexan) als prophylaktische Gabe bei Ifosfamid und Cyclophosphamid
Paclitaxel
Periphere Neuropathie, allergische Reaktionen, Onycholyse
Platinkomplexe
Nephro-, Oto-, Neurotoxizität
Sunitinib
Arterielle Hypertonie, Hand-Fuß-Syndrom
Tamoxifen
Vaginale Blutungen (Cave: Endometriumkarzinom), Thromboembolien, Katarakt
Trastuzumab
Kardiotoxizität
Vinca-Alkaloide
Periphere Neurotoxizität/Polyneuropathie
Gilt vorwiegend für Cisplatin, nur sehr gering für Carboplatin; für Oxaliplatin nur periphere Neuropathie
* Häufige Nebenwirkungen wie hämatologische Nebenwirkungen, Nausea, Schleimhautveränderungen inklusive Stomatitis und geringe Diarrhoen, Alopezie etc. sind nicht aufgeführt. Auch fehlen zahlreiche weitere, jedoch seltene Nebenwirkungen einzelner Substanzen
. Abb. 21.9. Basenveränderung durch Alkylierung und DNA-Vernetzung (»cross-linking«) durch bifunktionelle Alkylanzien. Platinderivate agieren immer als reine Cross-Linker an DNA-Strängen (A Adenin; T Thymin; C Cytosin; G Guanin; 5’- bzw. 3’Ende eines DNA-Stranges)
21
419 21.2 · Wirkungsmechanismen von Antitumortherapeutika
I. Alkylanzien Alkylanzien sind eine chemisch inhomogene Gruppe fast ausschließlich organischer Moleküle mit reaktiven Alkylgruppen (Kohlenwasserstoffreste der allgemeinen Form: CnH2n+1; einfachster Rest ist eine Methylgruppe –CH3). Eine Ausnahme bilden die Platinderivate. Bei diesen ist das zentrale Platinatom das aktive, anorganische Agens. Dies gilt sowohl für die erste klinisch eingesetzte Verbindung, Cisplatin, als auch für die mit organischen Resten gekoppelten Folgederivate wie Carboplatin und Oxaliplatin. Sie werden im Organismus zur aktiven Spezies mit Platin-Zentralatom abgebaut. Unterschiede ergeben sich durch die sog. Abgangsgruppe(n) und den Carrier-Liganden. Die Abgangsgruppen (bei Cisplatin = Chlorid) haben Einfluss auf die Gewebespezifität, während die Carrier-Liganden (bei Cisplatin = die -NH3-Gruppen) die Art der DNA-Bindung bestimmen. . Abb. 21.10. Prinzipielle Reaktionsmechanismen von Nitrosoharnstoffen. Unten links: Auswahl von Klassenvertretern
21
Letztendlich haben insbesondere die Abgangsgruppen durch die Gewebespezifität Einfluss auf die Organtoxizität und damit auf die beobachteten Nebenwirkungen. Die reaktiven Gruppen der Alkylanzien können intrazellulär leicht mit funktionellen (elektronenreichen) Atomgruppen wie z. B. Phosphatgruppen der DNA oder Carbonylgruppen von Proteinen reagieren. Hierbei stellen Alkylierungsreaktionen mit DNA- oder RNA-Basen die bedeutendsten im Hinblick auf eine antitumorale Wirkung dar. Es resultieren (Punkt-)Mutationen (DNA) und Funktionsstörungen (Proteine) durch die chemische Veränderung (→ monofunktionale Alkylanzien). Durch bi- und höherfunktionale Alkylanzien kann es zu Quervernetzungen von DNA und Funktionsproteinen kommen (. Abb. 21.9 und 21.10). Funktionelle Makromoleküle (z. B. Enzyme) können inaktiviert werden. Durch die Zerstörung der DNA-Struktur (Verlust
420
Kapitel 21 · Zytostatische Chemotherapie
der Matritzenfunktion) wird deren Replikationsfähigkeit aufgehoben. Die bisher zugelassenen Platinverbindungen sind immer bifunktionale Quervernetzer. Sie werden daher auch als reine »cross-linker« bezeichnet. Durch die Quervernetzung von DNADoppelsträngen werden insbesondere proliferierende Zellen geschädigt. Der Zelltod wird in der Folge durch irreversible DNAund/oder gestörte RNA- und Proteinbiosynthese verursacht. Alkylanzien wirken in allen Phasen des Zellzyklus, wobei Zellen in der G1-, S- und G2-Phase am empfindlichsten reagieren. Innerhalb der Gruppe der Alkylanzien kann aufgrund der chemischen Struktur eine weitere Unterteilung vorgenommen werden in: 4 Aziridine (Thiotepa); 4 Bismethanosulfonate (Busulfan, Treosulfan); 4 Nitrosoharnstoffe (Carmustin = BCNU, Fotemustin, Lomustin = CCNU, Nimustin = ACNU, Streptozocin); 4 Stickstoff (N)-Lost-Abkömmlinge 5 Bischlorethylamine (Bendamustin, Chlorambucil, Estramustinphosphat, Melphalan, Mechlorethamin, Prednimustin): 5 Oxazaphosphorine = substituierte Stickstoff-Lost Derivate (Cyclophosphamid, Ifosfamid, Trofosfamid); 4 Platinhaltige Verbindungen – »cross-linker« (Carboplatin, Cisplatin, Oxaliplatin); 4 Triazene (Dacarbazin, Temozolomid); 4 Diverse/Sonstige/ »Atypische« (Altretamin = Hexamethylmelamin, Mitomycin C (7 auch weiter unten, Procarbazin) II. Antimetabolite Antimetabolite können entsprechend ihrer strukturellen Ähnlichkeiten mit physiologisch vorkommenden Substraten (z. B. Purin- oder Pyrimidinanaloga) oder nach ihrer Wirkqualität (z. B. Enzymhemmstoff) eingeteilt werden. So kann 5-Fluorouracil beispielsweise als strukturelles Pyrimidinanalogon oder als indirekter Thymidilatsynthetaseinhibitor klassifiziert werden. Letzteres ist auch Methotrexat, das auf der Basis seiner chemischen Struktur ein Antifolat (Folsäureantagonist) ist. Primär . Abb. 21.11. Einfluss von Methotrexat und Pemetrexed auf den Folatzyklus: Während von Pemetrexed viele in den Folatzyklus involvierten Enzyme gehemmt werden (Details 7 Text), wirkt MTX lediglich auf die DHFR und TS (7 Text)
21
orientiert sich die Benennung von Antimetaboliten üblicherweise an der strukturellen Ähnlichkeit zu ihrem physiologischen Substrat (7 Antifolat, Purin-, Pyrimidinanalogon). Bei den Antimetaboliten handelt es sich um pharmakologisch und molekular wirksame Verbindungen, die in den Zellstoffwechsel eingreifen. Sie stören Reaktionen mit bestimmten Schlüsselenzymen von Synthesereaktionen insbesondere für die DNA- und RNA- bzw. für die resultierende Proteinbiosynthese. Sie werden diesen Schlüsselenzymen als physiologisch ähnliches, aber letztendlich nicht funktionelles oder »falsches« Substrat oder Intermediat zur Abreaktion angeboten. Die in der antitumoralen Therapie eingesetzten Antimetabolite beeinflussen im Wesentlichen die Nukleinsäuresynthese (DNA, RNA). Antifolate Methotrexat (MTX) MTX greift in den sog. Folsäurezyklus ein, indem die Dihydrofolatreduktase (DHFR) inhibiert wird (Enzymhemmung) (. Abb. 21.11 und 21.12). Folsäure wird dadurch nicht zu Tetrahydrofolsäure reduziert, womit in der Folge 2’-Desoxyuridyl-5’monophosphat nicht durch die Thymidylatsynthetase (TS) zu Thymidin-5’-monophosphat verstoffwechselt werden kann, da der dazu notwendige Ein-Kohlenstoffdonator durch MTX verdrängt ist. Somit treffen für Methotrexat die Bezeichnungen Antifolat als auch indirekter TS-Inhibitor zu. Reduzierte Folate werden ferner zur Biosynthese von Purinnukleotiden und bestimmten Aminosäuren benötigt. Die Methotrexatwirkung kann durch die Gabe von Folinsäure (5-Formyltetrahydrofolsäure) im Sinne einer klassischen Verdrängungsreaktion antagonisiert werden, was man sich beim sog. »MTX-Rescue« zu Nutze macht. Zusätzliche metabolische Effekte des MTX resultieren aus einer intrazellulären Bildung von Polyglutamaten. Das Enzym Folylpolyglutamylsynthetase konjugiert 5–7 Glutamylreste an MTX. Diese Polyglutaminierung ist ein zeit- und konzentrationsabhängiger Prozess innerhalb von Tumorzellen. In Normalgewebe ist dieser Vorgang geringer ausgeprägt, was eine gewisse Gewebeselektivität erklärt. Diese Polyglutamate zeigen eine län-
421 21.2 · Wirkungsmechanismen von Antitumortherapeutika
gere intrazelluläre Verweilzeit als das unkonjugierte MTX. Auch die Polyglutamate agieren mit unterschiedlicher Affinität als Inhibitoren weiterer folatabhängiger Enzyme (DHFR, TS, Aminoimidazolcarboxamidribonucleotidformyltransferase = AICARFT, Glycinamidribonukleotidformyltransferase = GARFT). Das zeigt den multifaktoriellen Prozess der MTX-Wirkung auf: 4 partielle Depletion reduzierter Folate, 4 direkte Inhibition folatabhängiger Enzyme. Die Zytotoxizität der durch MTX induzierten Verarmung an Thymidintriphosphat und weiteren Purinnukleotiden hängt in starkem Maße von der zellulären DNA-Reparaturkapazität ab (→ DNA-Strangbrüche). Pemetrexed Als »multi-target(ed)« Antifolat (MTA) unterbricht Pemetrexed viele folatabhängige Vorgänge (. Abb. 21.11). Die drei hauptsächlich von MTA gehemmten Enzyme sind die TS, die DHFR, GARFT sowie, mit geringerer Affinität, 6‒7 weitere, für die Purin- und Pyrimidinsynthese notwendige Enzyme. Wie MTX wird auch Pemetrexed polyglutaminiert. Polyglutamate sind noch stärkere Inhibitoren der TS und der GARFT als die Muttersubstanz MTX. Zur Reduktion der möglichen Toxizität ist 7 Tage vor Therapiebeginn eine orale Substitution mit Folsäure (350‒1.000 μg) zu beginnen und während der Therapie fortzusetzen. Injektionen von Vitamin B12 (1.000 μg i.m.) beginnen ebenfalls 1 Woche vor Therapiestart und werden alle 3 Wochen wiederholt. Direkte Thymidilatsynthetaseinhibitoren (TSI) (indirekte TSI: Methotrexat 7 oben, 5-Fluorouracil 7 unten)
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Raltitrexed Im Unterschied zu Methotrexat und 5-Fluorouracil interagiert dieser Wirkstoff, der derzeit in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht zugelassen ist (Handelspräparat = Tomudex), direkt mit dem Enzym Thymidylatsynthetase (. Abb. 21.12). Damit wird in die für DNA-abhängige Reaktionen notwendige Thymidinsynthese eingegriffen. Wie MTX wird auch Raltitrexed polyglutaminiert. Die zytotoxisch aktiven Polyglutamate sind ca. 100fach stärker wirksam bzw. zeigen eine ca. 100-fach höhere Affinität zur TS als die nicht metabolisierte Form. Infolge der TS-Inhibition verarmen die Zellen an den für die DNA-Synthese und -Reparatur benötigten Nukleotidvorläufern (vgl. MTX). Purinanaloga An der Namensgebung schon kenntlich, handelt es sich bei dieser Gruppe von Substanzen um Stoffe, die strukturell den Purinen (physiologisch: Adenin, Guanin) oder deren Derivaten/Intermediaten (Pentostatin) ähneln. Die Entwicklung von Purinanaloga begann mit den 6-Thiopurinen in den frühen 50er Jahren des 20. Jahrhunderts. Beiden Substanzen ist gemeinsam, dass die Hydroxylgruppe in Position 6 der Purinbase durch eine Thiolgruppe substituiert worden ist. In Bezug auf ihre zelluläre Biochemie reagieren beide Thiopurine ähnlich. In ihre phosphorylierte Form überführt (Monophosphate) fungieren sie als Inhibitoren der De-novo-Purinbiosynthese und interagieren an verschiedenen Stellen mit weiteren Purinmetabolisierungsreaktionen. Die Thiopurintriphosphate werden als falsche Substrate in DNA inkorporiert, was die DNAReplikation stört und Strangbrüche verursacht. 6-Mercaptopurin (6-MP). 6-MP interagiert mit Stoffwechselwegen der zellulären Glykolyse. So wird beispielsweise das Enzym 6Phosphofrukto-2-kinase inhibiert, das für den Kohlehydratstoffwechsel bedeutsam ist. Ferner werden antiangiogenetische Effekte für diese Substanzklasse diskutiert (Xenograftmodelle). 6-Thioguanin (6-TG). Das Enzym Hypoxanthin-guaninphosphoribosyltransferase (HGPRT) aktiviert 6-TG intrazellulär zum Ribonukleotidmonophosphat. Neben Thioguaninnukleotiden finden sich auch Thioinosinnukleotide, ohne dass die klinische Bedeutung hinsichtlich der Zytotoxizität derzeit geklärt ist. Adenosindesaminase (ADA)-Inhibitoren Den Purinanaloga Pentostatin, Cladribin und Fludarabin ist gemeinsam, dass sie das Enzym Adenosindesaminase (ADA) inhibieren. Dieses Enzym findet man in hohen Konzentrationen in lymphoiden Geweben. Es spielt eine entscheidende Rolle für die B- und T-Zelldifferenzierung. Die Hemmung dieses Enzyms setzt eine Reaktionskaskade in Gang, die mit dem Zelltod, der Apoptose, endet.
. Abb. 21.12. Schematische Darstellung der Angriffspukte indirekter (5-FU, MTX) und direkter (Raltitrexed) Thymidilatsynthetasehemmstoffe
2’-Desoxycoformicin = Pentostatin Pentostatin, ein Fermentationsprodukt von Streptomyces antibioticus, inhibiert in starkem Maße die Adenosindesaminase. Da keine alternativen Stoffwechselwege zur Metabolisierung zu Desoxyinosin und Harnsäure beschritten werden können, kommt es zur Akkumulation von Desoxyadenosin, das in der Folge durch das Enzym Desoxycytidinkinase zunächst zum Desoxyadenosinmonophosphat und dann zum Triphosphat phosphoryliert wird. Durch die Akkumulation dieses Substrats wird die Ribonukleodidreduktase gehemmt. Pentostatin gelangt mittels des Nukleo-
422
Kapitel 21 · Zytostatische Chemotherapie
tidtransportsystems in die Zellen und bildet dort einen sehr stabilen Komplex mit ADA. Sowohl in vitalen als auch in ruhenden Zellen (G0-Zellen) beobachtet man eine progressive Akkumulation von DNA-Strangbrüchen zusammen mit einer deutlich herabgesetzten RNA-Synthese. Als Reaktion auf die Pentostatinwirkung erfolgt die Aktivierung der DNA-Reparatur. Eine weitere Folge davon ist ein kritisches Absinken intrazellulärer NAD-Spiegel (Nikotinamidadenindinukleotid). Dies wiederum führt zu einer Verarmung des ATP-Pools (Adenosintriphosphat) und schließlich zum Zelltod. Cladribin = 2-Chlordesoxyadenosin (2-CdA) Durch Substitution eines Wasserstoffatoms durch Chlorid an Position 2 des Purinringes ist dieses Adenosinanalogon gegen die Desaminierung durch die Adenosindesaminase resistent (vgl. Pentostatin). 2-CdA wird ebenfalls über das Nukleosidtransport. Abb 21.13. Schematische Darstellung der ADA-Hemmung und die Konsequenzen am Beispiel von Cladribin. dCK Desoxycytidinkinase; 5’-NT 5’-Nukleotidase
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system in die Zellen geschleust (. Abb. 21.13). Die Resistenz gegen die Desaminierung führt zu einem ADA-Mangel ähnlichen Zustand. 2-CdA kumuliert intrazellulär zu lymphotoxischen Spiegeln. Es wird über das Mono- zum aktiven Triphosphat aktiviert. Dieses Triphosphat verhindert in einer kompetitiven Reaktion den Einbau des physiologischen Substrats Desoxyadenosintriphosphat in die DNA. Eine Folge davon ist der Abbruch der DNA-Kettenverlängerung. Die fortscheitende Akkumulation des 2-CdA-Triphosphats führt zu einem Ungleichgewicht des Desoxyribonukleotidpools mit der Folge gestörter DNA-Synthese und -Reparatur. Die Akkumulation unreparierter, beschädigter DNA initiiert den programmierten Zelltod – die Apoptose – auch in ruhenden, sich nicht teilenden Lymphozyten (G0-Zellen). Als starker Hemmstoff der Ribonukleotidreduktase hemmt Cladribin die Synthese von Nukleotidsubstraten, die als Schlüsselbausteine der DNA-Biosynthese dienen.
423 21.2 · Wirkungsmechanismen von Antitumortherapeutika
Fludarabinphosphat (F-Ara) Auch Fludarabinphosphat zeigt sich gegenüber der ADA desaminierungsresistent. Es wird zunächst dephosphoryliert und gelangt wie Pentostatin und Cladribin mittels des Nukleosidcarriers in die Zelle. Intrazellulär wird es zunächst zum Monophosphat rephosphoryliert und dann zum Triphosphat verstoffwechselt. Dieser aktive Metabolit konkurriert mit Desoxyadenosintriphosphat um den Einbau in die DNA und fungiert anschließend als effektives Kettenabbruchsignal. F-Ara-Triphosphat inhibiert direkt die DNA-Polymerasen, die sowohl für DNA-Synthese- als auch -Reparaturenzyme fungieren. Es werden darüber hinaus weitere, für die DNA-Synthese essenzielle Enzyme wie die DNAPrimase, DNA-Ligase I und die Ribonukleotidreduktase inhibiert. Fludarabin wird auch in RNA inkorporiert und unterbindet deren Funktionen, Verarbeitung und Übersetzung in mRNA. Wie Pentostatin und Cladribin ist auch Fludarabin in ruhenden, sich nicht teilenden Zellen aktiv und induziert die Apoptose. Nelarabin Nelarabin ist ein Purinanalogon und Prodrug des zytotoxischen Desoxyguanosinanalogs 9-β-D-arabinofuranosylguanin (AraG). Nach Demethylierung durch ADA und Phosphorylierung zum Triphosphat kumuliert Ara-GTP in leukämischen Blasten. Inkorporation in DNA führt zur Hemmung der DNA-Synthese und zum Zelltod.
. Abb. 21.14. Struktur von 5-Fluorouracil and seinen »Prodrugs«. 5-FU 5-Fluorouracil; 5-FdUrd 5-Fluoro-2‘-deoxyuridin; 5‘d5-FUrd 5‘-deoxy-5-Fluorouridin; CAP Capecitabin; FTO Ftorafur; U Uracil; CDHP 5-chloro-2,4-Di-
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Pyrimidinanaloga Diese Gruppe von Antimetaboliten ähnelt den physiologisch vorkommenden Pyrimidinen Cytosin und Thymin bzw. Uracil (statt Thymin in RNA). 5-Fluorouracil (5-FU) Beim 5-FU wurde am Kohlenstoff 5 des Pyrimidinringes Wasserstoff durch Fluorid ersetzt (. Abb. 21.14). Um zytotoxisch zu wirken, muss 5-Fluorouracil intrazellulär aktiviert werden (. Abb. 21.15; mod. nach Allegra et al. 1990). Es gelangt zunächst über den Uraciltransportmechanismus in die Zellen und wird dort über verschiedene Stoffwechselwege anabolisiert und katabolisiert. Über mehrere Vorstufen entsteht der aktive Metabolit 5-Fluoro2’-desoxyuridinmonophosphat (FdUMP). Dieser Metabolit hemmt die Thymidylatsynthetase. In Anwesenheit reduzierter Folate (→ Gabe von Calciumfolinat vor 5-FU) bildet sich ein noch stabilerer, ternärer Komplex aus 5-FU ←→ Folat ←→ TS. Die Hemmung der TS führt zu einer Verarmung an Desoxythymidintriphosphat und somit zu einer Störung der DNA-Biosynthese. Gleichzeitig akkumuliert aber dadurch Desoxyuridinmonophosphat (dUMP). Sowohl dUMP als auch FdUMP werden in Form ihrer Triphosphate in die DNA eingebaut und stören deren Synthese und Funktion. Durch eine Hemmung der DNA-Kettenverlängerung und reduzierter DNA-Stabilität kommt es zu dann-
hydroxypyridin; Kaliumoxonat; S1: Dreierkombination von Prodrug, DPDInhibitor und Hemmstoff der Orotat-Pyrimidin-Phosphoriboslytransferase nebst Mengenverhältnissen (1:0,4:1)
424
Kapitel 21 · Zytostatische Chemotherapie
. Abb. 21.15. Metabolismus und Katabolismus von 5-Fluorouracil
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Einzelstrangbrüchen und zu Störungen bei der DNA-Reparatur. Über einen anderen Stoffwechselweg kann 5-Fluorouracil zu Fluorouridintriphosphat (FUTP) konvertiert werden. Dieser Metabolit wird – wie 5-FU selbst – vornehmlich als »falsche Base« in RNA eingebaut. Damit werden RNA-Funktion und -Verarbeitung (zu mRNA und tRNA) gestört. Die Art und die Dauer einer 5-FU-Applikation bestimmen die Pharmakodynamik und die Gewebetoxizität. Während man nach 5-Fluorouracil-Boli vorrangig eine Myelosuppression beobachtet, werden bei Patienten mit Dauerinfusionen überwiegend Stomatitis, Neurotoxizität, Diarrhöen und das HandFuß-Syndrom gesehen. 5-FU verhält sich mit seiner Pharmakokinetik in Abhängigkeit des Applikationsmodus (Bolus vs. kontinuierliche Infusion) wie zwei verschiedene Medikamente. Eine 1- bis 2-minütige i.v.-Bolusinjektion mit einer Dosierung von 400‒600 mg/m2 ergibt Plasmaspitzenkonzentrationen im millimolaren Bereich (0,1‒1 mmol/L). Danach folgt ein schnelles Absinken mit einer Plasmahalbwertszeit zwischen 6‒20 Minuten. Die plasmatische Schwellendosis für zytotoxische Effekte liegt bei 1 μmol/L. Da die bereits erwähnte Thymidilatsynthetasehemmung phasenspezifisch erfolgt, ist es unwahrscheinlich, dass diese Art der Arzneimittelwirkung der Hauptwirkungsmechanismus nach Bolusinjektionen ist. Um mehr Tumorzellen in der S-Phase zu schädigen, sind aufgrund theoretischer Überlegungen und In-vitro-Experimenten die mittlerweile etablierten Dauer-
infusionen entwickelt worden. Für eine effiziente TS-Hemmung bedarf es also lang anhaltender Plasmaspiegel oberhalb einer gewissen Schwellendosis. Mit der Einwirkdauer von 5-FU oberhalb eines bestimmten Spiegels (7 oben) einher geht auch die Inkorporation von 5-FU in DNA sowie die Möglichkeit der Induktion von DNA-Strangbrüchen aufgrund ineffizienter bzw. überlasteter DNA-Reparaturmechanismen. Die Inkorporation in RNA erfolgt jedoch zellzyklusunabhängig und betrifft alle Arten der (zytoplasmatischen) Ribonukleinsäuren (Messenger-, Transfer-, ribosomale RNS), aber hauptsächlich nukleäre RNA sowie deren Reifung. Dieser RNA-Inkorporation wird zum einen die antitumorale Wirksamkeit aber auch die gastrointestinale Toxizität zugeschrieben. Capecitabin Wegen inter- und intraindividueller Resorptionsschwankungen von oral verabreichtem 5-FU (0‒80%), war man bemüht, andere orale Darreichungsformen zu finden. Das ist mit dem 5-FUProdug Capecitabin gelungen. Capecitabin (Xeloda) wird nach fast vollständiger Resorption über die hepatische Carboxylesterase zu 5’-Desoxy-5-fluorocytidin (5’-dFCR) verstoffwechselt. Über die in der Leber und im Tumorgewebe vorkommende Cytidindesaminase erfolgt die weitere Metabolisierung zu 5’Desoxyfluorouridin (5’-dFUR). Die Thymidinphosphorylase wandelt das bereits mäßig antineoplastisch wirkende 5’-dFUR zu
425 21.2 · Wirkungsmechanismen von Antitumortherapeutika
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Cytosinarabinosid bzw. Cytarabin (Ara-C) Der Transport dieses Nukleosidanalogons in die Zelle erfolgt durch das Nukleosidtransportsystem. Wie die anderen Nukleoside muss Ara-C durch Phosphorylierung aktiviert werden. Als Triphosphat konkurriert es mit den natürlichen Substrat, Desoxycytidintriphosphat, um den Einbau in die DNA. Als falscher DNA-Baustein behindert Ara-C diverse DNA-prozessierende Enzyme. Es kommt in der Folge zu einem DNA-sequenzspezifischen Kettenabbruch und partiell zur DNA-Fragmentierung als Zeichen des programmierten Zelltods (Apoptose).
. Abb. 21.16. Enzymatische Konversion von Capecitabin (CAP) zu 5Fluorouracil. 5‘-dFCR 5‘-Deoxy-5-Fluorocytidin; 5‘d5-FUrd 5‘-Deoxy-5-Fluorouridin; 5-FU 5-Fluorouracil
5-FU um (. Abb. 21.16; nach Malet-Martino u. Martino 2002). Dieses Enzym ist in Tumoren oftmals stärker exprimiert. Daher wird Capecitabin relativ selektiv im Tumorgewebe bioaktiviert (tumorselektive Bioaktivierung). Intrazellulär zeigt sich die gleiche Pharmakodynamik wie bei 5-Fluorouracil. Das Toxizitätsprofil ist ähnlich dem einer 5-FU-Dauerinfusion. Tegafur Ein weiteres oral applizierbares 5-FU-Derivat ist Tegafur (auch Ftorafur; 5-Fluoro-1-(2-tetrahydrofryl)uracil (. Abb. 21.14). Es handelt sich um ein Gemisch aus Tegafur und Uracil im Mengenverhältnis 1:4. Während Tegafur bei der ersten Leberpassage durch mikrosomale Leberenzyme (Zytochrom P450) oder durch die Thymidinphosphorylase zur eigentlichen Wirkform – dem 5-FU ‒ umgewandelt wird, verhindert Uracil einen zu schnellen Abbau des 5-FU durch die DihydropyrimidinDehydrogenase (DPD). Uracil wirkt als reversibler DPD-Hemmstoff, wodurch es möglich wird, dass sich 5-FU in Tumorzellen anreichern kann. Diese fixe Kombination ist in anderen Ländern (z. B. Spanien) seit Mitte der 80er Jahre zugelassen. In der Bundesrepublik Deutschland wurde im Frühjahr 2002 die Zulassung für UFT erteilt. S1 S1 (. Abb. 21.14) ist eine orale Dreierkombination bestehend aus Tegafur als Prodrug (7 oben), Gimestat (jetzt Gimeracil = 5-Chloro-2,4-dihydroxypyridin) als reversibler DPD-Hemmstoff und Kaliumoxonat (jetzt Oteracil), ein Hemmstoff der OrotatPyrimidin-Phosphoriboslytransferase, die 5-FU durch Phosphorylierung zu RNA-toxischen Metaboliten aktiviert. Damit lassen sich gastrointestinale Nebenwirkungen der Therapie (u. a. Diarrhöen) reduzieren.
Gemcitabin Gemcitabin ist ein difluoriertes Analogon des Desoxycytidins (2’,2’-Difluorodesoxycytidin). Transport und intrazelluläre Aktivierung von Gemcitabin ähneln in starkem Maße denen von Ara-C (7 oben). Der aktive Metabolit (Difluorodesoxycytidintriphosphat) inhibiert das Enzym Desoxycytidinmonophosphatdesaminase und die Ribonkleotidreduktase, wodurch keine Desoxynukleotide mehr gebildet werden. Durch den Abfall der Konzentration an Desoxynukleotiden wird der Einbau von Gemcitabinnukleotid in die DNA dann potenziert. Zusätzlich kommt es durch Hemmung der Desoxycytidinmonophosphatdesaminase zu einer Selbstverstärkung der Gemcitabinaktivierung, sodass dieser aktive Metabolit intrazellulär akkumuliert. In die DNA falsch eingebaute Basen können von Reparaturenzymen dadurch erkannt und entfernt werden, dass sie sich am Kettenende der sich verlängernden DNA befinden. Gemcitabin wird jedoch von korrekturlesenden Enzymen nicht erkannt. Es wird sogar noch eine weitere (physiologische) Base angehängt, bevor der DNAKettenabbruch erfolgt. Dieser Mechanismus ist auch als »maskierter Kettenabbruch« bekannt. »Pseudo«-Pyrimidinanaloga – Triazine Die den Pyrimidinen ähnlich sehenden, N-Ring-substitituierten Triazine Azacitidin und Decitabin (5-aza-2’-desoxycytidin) bewirken über eine Hemmung der DNA-Methyltransferase eine Hypomethylierung der DNA. Daraus resultiert eine Differenzierung zu normalen Zellen oder der Eintritt in die Apoptose. Hypomethylierung soll die Funktion von Genen, die zur Differenzierung und Proliferation notwendig sind, restaurieren. Azacitidin soll darüber hinaus direkt zytotoxisch für abnormale hämatopoetische Knochenmarkzellen sein. Die Zytotoxizität von Decitabin in sich schnell teilende Zellen wird mit Addukten der Methyltransferase und inkorporiertem Decitabin begründet. III. Inhibitoren des mikrotubulären Systems (Mitosehemmer bzw. Spindelgifte) Mikrotubuli sind integraler Bestandteil der Kernspindel, die sich während der Zellkernteilung bildet. Es handelt sich um intrazelluläre Proteinstrukturen, die der Zellstabilisierung dieses Teils des Zytoskeletts dienen. Durch eine Verkürzung der Tubuli während der Anaphase kommt es zur Verlagerung der Chromosomen zu den Zentren der beiden entstehenden Zellen im Rahmen der Zellteilung. In die Gruppe der tubulinaktiven Agenzien fallen die Vinca-Alkaloide, die Taxane (Diterpene) und Epothilone (. Abb. 21.17 und 21.18). Tubulinstabilisierende Agenzien (Taxane) Die beiden derzeit zur Verfügung stehenden Taxane Docetaxel und Paclitaxel binden scheinbar an die gleichen Stellen der Tubulinpolymere. Die Mikrotubuli werden gegen Depolymerisierung
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Kapitel 21 · Zytostatische Chemotherapie
. Abb. 21.17. Unterschiedliche Effekte der Taxane und Vinca-Alkaoide auf die Mikrotubuli
stabilisiert, womit das dynamische Tubulingleichgewicht zwischen Mitose und Interphase gestört und der Abbau eines bestehenden Zytoskeletts verhindert wird. Die Mikrotubuli und von ihnen abgeleitete aberrante Strukturen verlieren ihre Funktionstüchtigkeit, wodurch der Mitosevorgang arretiert bzw. unterbrochen wird. Der Zelltod hängt von der Substanzkonzentration und der Expositionsdauer der Wirkstoffe ab. Es ist bekannt, dass die Taxane weitere zelluläre Prozesse stören, die zur Apoptose führen, ohne dass man derzeit die genauen Mechanismen kennt, die die Apoptose einleiten. Die derzeit eingesetzten Substanzen sind das partialsynthetische Docetaxel (aus Taxus baccata) und der originäre Inhaltsstoff der pazifischen Eibe (Taxus brevifolia) Paclitaxel. Epothilone Epothilon ist ein Akronym aus Epoxid, Thiol und Keton. Es handelt sich um 16 gliedrige, makrozyklische Laktone aus dem zellulose-abbauendem Myxobakterium Sorangium cellulosum (Myxococcales; Stamm So ce90) (. Abb. 21.18). Trotz ihrer geringen strukturellen Ähnlichkeiten zu Paclitaxel scheinen die Epothilone nach demselben Mechanismus zu wirken und an dieselben Regionen (kompetitiv) zu binden. Die Bindung von Taxanen oder Epothilonen an Mikrotubuli verringert die Geschwindigkeit der Dissoziation deutlich. Das erste vollsynthetische Epothilon befindet sich derzeit in klinischer Prüfung. Ebenfalls Tubulin stabilisierend wirken: 4 Eleutherobin, ein glykosiliertes Diterpen aus Weichkorallen (Eleutherobia ssp.) 4 Die Laulimalide, 18 gliedrige, makrozyklische Laktone aus dem Schwamm Cacospongia mycofijiensis und die 4 Discodermolide aus dem Schwamm Discodermia dissoluta
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Tubulindestruierende Agenzien (Vinca-Alkaloide) Das pharmakodynamische Wirkprinzip der Vinca-Alkaloide ist eine Interaktion mit Tubulin und eine hieraus resultierende Unterbrechung der Tubulinpolymerisation. Die Folge ist eine Zerstörung des bereits polymerisierten Tubulins. Diese Zerstörung des Spindelapparates arretiert die Zellteilung in der Metaphase. Zum klinischen Einsatz kommen die aus Immergrün isolierbaren Vinca-Alkaloide Vinblastin und Vincristin sowie die partialsynthetischen Abkömmlinge Vindesin und Vinorelbin. Bei qualitativ gleicher Wirkung zeigen die Einzelsubstanzen jedoch ein unterschiedliches Gewebeverteilungs- und Nebenwirkungsspektrum. IV. Topoisomerasehemmstoffe Bei den Topoisomerasen (TOP) handelt es sich um Enzyme, die die räumliche Struktur der DNA kontrollieren und modifizieren
. Abb. 21.18. Unterschiedlich strukturierte Tubulin-stabilisierende Agenzien
(. Abb. 21.19). Diese Enzyme können die DNA spalten und vorübergehende DNA-Einzel- und -Doppelstrangbrüche herbeiführen. Weiterhin ermöglichen sie eine Passage von DNA-Stücken. Damit sind Topoisomerasen in der Lage, die Überspiralisierung und die Verdrillung der DNA aufzuheben. Sie beseitigen die topologischen Sperren der hochgradig im Zellkern gefalteten DNA, um ein Ablesen einzelner Gene zu ermöglichen. Ebenso schaffen sie die Voraussetzungen zur DNA-Duplikation. TOP können aufgetrennte DNA-Fragmente auch wieder verbinden. Sie sind verantwortlich für das sog. »supercoiling« und »twisting«, also das Verdrillen, Verknoten und Überspiralisieren der DNA. Damit wird gewährleistet, dass die DNA nach dem Ablesen der benötigten Informationen wieder komprimiert im Zellkern vorliegt. TOP sind nukleäre Enzyme mit essenzieller Bedeutung für Repli-
427 21.2 · Wirkungsmechanismen von Antitumortherapeutika
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. Abb. 21.19. Schematische Übersicht der TOP-Zyklen. (Details 7 Text)
kation, Transkription und DNA-Reparatur. In Säugerzellen können zwei Typen von Topoisomerasen unterschieden werden, die TOP I und die TOP II. Topoisomerase I bindet an doppelsträngige DNA und induziert physiologische Einzelstrangbrüche für die sog. Replikationsgabel. Durch einen »Drehmechanismus« kann der unzerschnittene DNA-Strang durch eine Art TOP-mediierte »Kerbe« treten und die Torsionsspannung aus der Doppelhelix nehmen. Die DNA wird so entspiralisiert und ist für die informationslesenden und -verarbeitenden Enzyme sterisch zugänglich. Nach Ablesen der benötigten Informationen wird die Phosphodiesterbindung wiederhergestellt und die Topoisomerase dissoziiert wieder. Die Topoisomerase II wird zur Entdrillung und zur Verkürzung der DNA benötigt. Auch sie bindet an Doppelstrang-DNA und kann neben Einzel- auch Doppelstrangbrüche induzieren und wieder schließen. Dadurch wird ein regelrechtes Verknoten der DNA möglich. Durch die gegenläufige Reaktion ist das Entwinden der DNA-Superschraube möglich (das Entknoten). Wenn auch die biologischen Effekte von Topoisomerasehemmstoffen bekannt sind, so weiß man relativ wenig über den präzisen Me-
chanismus, der zum Zelltod führt. Man geht davon aus, dass multiple DNA-Schäden zur Nekrose oder Apoptose führen. Hemmstoffe der Topoisomerase I (Irinotecan, Topotecan) Klinisch eingesetzt werden derzeit zwei Hemmstoffe der Topoisomerase I: Irinotecan (CPT-11, aktiv ist jedoch der Metabolit SN-38) und Topotecan. Sie binden an den oben erwähnten Spaltungskomplex, stabilisieren diesen und verhindern die Re-Ligation, was Einzelstrangbrüche zur Folge hat. Andererseits kann die TOP I nicht mehr von der DNA dissoziieren. Es resultiert eine Interaktion mit dem fortschreitenden DNA-Replikationskomplex. Die Folge dieser Interaktion ist ein Doppelstrangbruch. Die Interaktionen und die Zytotoxizität von TOP-I-Hemmstoffen sind stark von aktiver DNA-Synthese abhängig. Hemmstoffe der Topoisomerase II (TOP-II) Bei den Hemmstoffen der Topoisomerase II (TOP II) wird zwischen interkalierenden oder auch indirekten TOP-II-Hemmern und nicht interkalierenden oder direkten TOP-II-Hemmstoffen unterschieden.
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Kapitel 21 · Zytostatische Chemotherapie
Interkalierende TOP-II-Hemmstoffe (Anthrazykline, Anthracendione, Acridinderivate) Zu den erstgenannten Substanzen zählen die Anthrazykline (Aclarubicin, Daunorubicin, Doxorubicin, Epirubicin, Idarubicin) und verwandte Verbindungen wie Anthracendione (Mitoxantron), Acridinderivate (Amsacrin) sowie das Polypeptid-Phenoxazon Dactinomycin. Diese Verbindungen besitzen als Gemeinsamkeit ober- und unterhalb ihres planaren, aromatischen Ringsystems leicht polarisierbare Elektronenwolken, womit sie in der Lage sind, sich zwischen übereinander gelegene Basenpaare der Nukleinsäuren zu schieben (Interkalation). Aufgrund einer elektrostatischen Quervernetzung durch starke intermolekulare Kräfte können die DNA-Stränge nicht mehr zur Replikation voneinander getrennt werden. Die doppelsträngige DNA wird quasi elektrostatisch zusammengehalten. Durch die Interkalation wird zudem die dreidimensionale DNA-Konfiguration verändert und das Zusammenfügen eines bestehenden, temporären Doppelstrangbruchs ist für die TOP II unmöglich. Speziell die Anthrazykline können Makromoleküle alkylieren. Das erfolgt über einen chemischen Radikalmechanismus. Eine Schädigung der Zelle durch die Bildung von Sauerstoffradikalen über AnthrazyklinEisen2+- und -Eisen3+ -Komplexe ist ebenfalls bekannt. Überdies können Anthrazykline DNA- und RNA-Polymerasen hemmen. Das Anthracen Mitoxantron kann nicht reduktiv metabolisiert werden, sodass die beschriebene Radikalbildung und die Folgereaktion unterbleiben. Dactinomycin interkaliert in die DNA mittels einer spezifischen Interaktion zwischen seinen Polypeptidketten und Desoxyguanosin. Diese Interaktion blockiert die Matrizenfunktion der DNA. Nicht Interkalierende TOP-II-Hemmstoffe (Podophyllotoxinderivate) Im Unterschied zu den oben besprochenen Substanzen, die sich zwischen DNA-Doppelstränge schieben und somit die TOP II indirekt hemmen, interagieren die Podophyllotoxinderivate Etoposid und Teniposid mit der TOP II, ohne in die DNA zu interkalieren. Um die bereits weiter oben erwähnte DNA-Strangpassage zu ermöglichen, wird die doppelsträngige DNA vorübergehend von der dimeren TOP II aufgespalten. Die Podophyllotoxinderivate binden direkt an das Enzym und bewirken damit einerseits eine Hemmung der katalytischen Aktivität und andererseits eine Stabilisierung dieses Doppelstrang-Spaltungskomplexes. Es folgen eine DNA-Proteinspaltung und Proteindenaturierung. Diese führen im Weiteren zu persistierenden Doppelstrangbrüchen und zum Zelltod.
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V. Sonstige Enzyme (Asparaginase, Crisantaspase = Erwinase, PEGAsparaginase) Bestimmte Tumorzellen, insbesondere leukämische Lymphoblasten, sind von der Aminosäure Asparagin abhängig. Ihnen fehlt das Enzym Asparaginsynthetase. Sie sind nicht in der Lage, Asparagin aus Glycin zu bilden. Das Enzym Asparaginase (LAsparagin-Amidohydrolase ) ist ein zytostatisch wirksames Enzym, das spezifisch L-Asparagin in L-Asparaginsäure und Ammoniak spaltet. Durch den Einsatz von Asparaginase verarmen die Tumorzellen an der für sie essentiellen Aminosäure. Die Folge ist einer Hemmung der Proteinbiosynthese. Therapeutisch stehen eine Asparaginase aus Escherichia coli, aus Erwinia chrysanthemi (Erwinase) sowie eine MonomethoxypolyethylenglykolAsparaginase (PEGylierte Asparaginase = PEG-Asparaginase)
zur Verfügung. Durch die Verknüpfung von Asparaginase (aus E. coli) mit Polyethylenglykol wird die Immunogenität des Fremdeiweißes herabgesetzt. Metabolisch abbaubare Gruppen sind verkappt und die Plasmahalbwertszeit daher deutlich verlängert (2–3 Wochen). DNA-spaltende Agenzien (Radikalbildner) Bleomycin. Bestimmte Zytostatika können chemische Radikale bilden (Anthrazykline) und alkylieren DNA oder andere Zellbestandteile über eine Radikalreaktionen. Bleomycin mediiert auch die Entstehung von Radikalen. Diese gebildeten Radikale führen über eine Art »Kettenreaktion« letztendlich zu einer Spaltung der DNA-Einzel- und -doppelstränge. Man geht davon aus, dass Bleomycin zunächst mit Eisen der Oxidationsstufe 2+ (Fe2+), in der Folge mit Sauerstoff einen Bleomycin-Fe2+-O2-Komplex bildet. Dieser Komplex bindet via Interkalation an die DNA. Er zerfällt dann in Bleomycin-Fe3+ (Oxidation) und ein O2-Radikal (O2–). Aus diesem Radikal entsteht ein Hydroxylradikal das zu DNAStrangbrüchen führt. Bleomycin wirkt quasi als Eisen2+-Oxidase mit folgender Reduktion von Sauerstoff. Durch die erwähnte Interkalation inhibiert Bleomycin in geringem Ausmaß auch die DNA-Polymerase und behindert die DNA-Reparatur. Mitomycin C (7 auch Abschnitt I). Mitomycin C ist bereits unter I. als Alkylans aufgeführt. Es zählt zu den sog. »atypischen Alkylanzien« und wird auf unterschiedliche Weise bioaktiviert. Mitomycin kann auf drei Arten abreagieren. 1. Unter anaeroben Bedingungen wird Mitomycin C reduziert und enzymatisch aktiviert. In der Folge kann es monofunktionell über sein Kohlenstoffatom 1 alkylieren. Kohlenstoffatom 10 kann ebenfalls zur Abreaktion aktiviert werden, sodass Mitomycin C als bifunktionelles Alkylans auch zu Quervernetzungen führen kann. Unter diesen Bedingungen spricht man auch von bioreduktiver Alkylierung. Mitomycin C wird auch als »bioreduktives Alkylans« bezeichnet. 2. Eine reduktive enzymatische Aktivierung unter aeroben Bedingungen führt zur Entstehung reaktiver Sauerstoffradikale. Die Reaktionsprodukte schädigen dann die DNA (oxidativer Stress). 3. Der dritte Aktivierungsweg von Mitomycin C geschieht säurekatalytisch bei pH-Werten ≤5 zu mono- und bifunktionellen Alkylierungsprodukten. Ribonukleotidreduktaseinhibitoren Hydroxycarbamid = Hydroxyharnstoff = Hydroxyurea. Die einzige therapeutisch eingesetzte Substanz, die dieses Enzym hemmt, ist das Hydroxycarbamid. Durch eine spezifische Hemmung der Nuklosiddiphosphatreduktase wird die DNA-Synthese gestört. Die Bildung von Desoxynukleosidtriphosphaten wird unterbunden, eine DNA-Reparatur verhindert. Weitere, nicht näher zuzuordnende, chemisch definierte Substanzen Miltefosin. Dieses Ätherlipid zeigt Strukturähnlichkeiten mit Phospholipiden von Zellmembranen. Man vermutet einen »Falscheinbau« in Zellmembranen und somit eine Störung der Zell(membran)integrität und -stabilität. Weiterhin wird eine Modulation des Phosphoinositolstoffwechsels vermutet. Eine Hemmung der Proteinkinase C wird diskutiert. Die Substanz wird topisch zur Behandlung von flachen, kleinknotigen, karzinomatösen, intrakutan wachsenden Metastasen angewendet.
429 21.2 · Wirkungsmechanismen von Antitumortherapeutika
Mitotan. Mitotan ähnelt in seiner chemischen Struktur dem Insektizid DDT (p,p’-Dichlordiphenyltrichloräthen). Es beeinflusst den Metabolismus von Steroiden in der Peripherie und führt zu einer Suppression der Nebenierenrinde. Unter Mitotantherapie kommt es daher zu einer Nebennierenrindenatrophie begleitet von einem Absinken der Gluko- und Mineralokortikoidsynthese (Mineralokortikoidsubstitution unter Therapie obligat!). Tretinoin. Dieser physiologischerweise vorhandene Vitamin-AMetabolit induziert in pharmakologischen Dosen die Zelldifferenzierung und hemmt die Zellproliferation von hämatopoetischen Zellen. VI. Hormone, Hormonantagonisten und verwandte Verbindungen Hormone und Hormonantagonisten kommen bei sog. hormonbzw. endokrinsensitiven Tumoren zum Einsatz. Diese umfassen beispielsweise Mamma-, Prostata- oder Endometriumkarzinome sowie das Karzinoidsyndrom. Die eingesetzten Substanzen können hormonagonistische oder antagonistische Wirkungen entfalten. Die sog. Antagonisten können auch partialagonistische Eigenschaften aufweisen. Um der differenziellen Wirksamkeit der Antiöstrogene an verschiedenen Organen Rechnung zu tragen, spricht man auch von selektiven Estrogenrezeptormodulatoren (SERM). Am Beispiel von Tamoxifen und Raloxifen lassen sich die Unterschiede erläutern. Während beide Substanzen an der Brust antagonistische Eigenschaften und auf den Knochenstoffwechsel agonistische Wirksamkeit aufweisen, wirkt Tamoxfen agonistisch und Raxoxifen antagonistisch am Endometrium. Neben einer unmittelbaren Wirkung auf die Hormonrezeptoren beispielsweise durch kompetitiv wirksame Antagonisten ist die Hemmung der Hormonbiosynthese z. B. durch Aromatasehemmer ein alternativer Angriffspunkt. Eine Synthese der Agonisten unterbleibt (inhibierende hormonelle Wirkung). Die Aromatasehemmstoffe unterbinden den letzten Schritt bei der . Abb. 21.20. Schematische Darstellung der Östrogenproduktion und möglicher Östrogeninhibitoren
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Biosynthese von Östrogenen (Östradiol, Östron) ohne mit anderen Schritten der Steroidhormonbiosynthese zu interferieren. Weiterhin nutzt man durch Anwendung hoch dosierter, gleichgeschlechtlicher Hormone eine Hormoninterferenz, indem negative Rückkopplungsmechanismen ausgelöst werden. Eine ablative hormonelle Wirkung erreicht man beispielsweise mit Agonisten des luteinisierenden Hormon-Freisetzungs-Hormons (LHRH = Gonadotropin-Releasing-Faktor, GnRH, Gonadoliberin, GnRH-Agonisten). Diese »Superagonisten« sind beispielsweise Substanzen, die durch Hemmung der hypophysären Gonadotropinrezeptoren indirekt die Produktion von Sexualhormonen reduzieren. Durch eine Dauerstimulation der physiologischerweise pulsatil stimulierten hypophysären Rezeptoren kommt es zu deren Herabregulierung, sodass die Hypophyse nicht mehr auf LHRH-Stimuli anspricht. Unter einer Therapie mit LHRH-Analoga kommt es in der Folge zu einer Hemmung der LH-Ausschüttung (»chemische Kastration«). Es können die in der folgenden Übersicht aufgeführten Klassen von Hormonen, Antagonisten und Agonisten kategorisiert werden (Inhaltstoffe jeweils in alphabetischer Reihenfolge, keine Prioritätenliste).
Klassen von Hormonen, Antagonisten und Agonisten (in alphabetischer Reihenfolge) 4 Antiandrogene: Bicalutamid, Cyproteronacetat, Flutamid 4 Antiöstrogene: Droloxifen, Raloxifen, Tamoxifen, Toremifem 4 Aromatasehemmer: Aminoglutethimid, Anastrozol, Exemestan, Formestan, Letrozol 4 Gestagene: Gestonoroncaproat (ein Progestagen), Lynestrenol, Medrogeston, Medroxyprogsteonacetat (= MPA), Megestrolacetat 4 Östrogene: Chlorotrianisen, Ethinylestradiol, Fosfestrol, Polyestradiolphosphat 4 Superagonisten: Buserelin (GnRH-Agonist), Goserelin, Leuprorelin, Triptorelin
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Kapitel 21 · Zytostatische Chemotherapie
Das Somatostatinanalogon Octreotid findet Einsatz beim Karzinoidsyndrom und anderen hormonellen »Exzesssyndromen« (z. B. Vipome, Glukagonome). Es hemmt die Sekretion des hypophysären Wachstumshormons, TSH, von endokrinen Peptiden des Pankreas und des Gastrointestinaltraktes sowie gastrointestinale Funktionen. VII. Zytotoxische Zytokine Zytokine ist ein Oberbegriff für zahlreiche, von einer Vielzahl von Zellarten gebildete und sezernierte Substanzen, die als interzelluläre Mediatoren zur Aktivierung von Zellen beitragen. Andere Umschreibungen und Begriffe sind: Lymphokine, Interleukine, Monokine und Wachstumsfaktoren oder Biomodulatoren (BRM). Es handelt sich bei den Zytokinen um körpereigene Eiweißsubstanzen (Peptide), die beispielsweise von aktivierten TZellen und anderen Zellen während der natürlichen und der spezifischen Immunantwort freigesetzt werden. Sie haben vielfältige steuernde Funktionen bei der Proinflammation, Immunregulation und der Steuerung der Hämatopoese. Zu den therapeutisch eingesetzten, zytotoxischen und antitumoralen Zytokinen gehören die Interleukine. Einzige derzeit klinisch eingesetzte Substanzen sind das Interleukin-2 (IL-2) und Interferone (α-Interferone). Interleukin-2 wird physiologischerweise von aktivierten T-Zellen gebildet und ausgeschüttet. Es stimuliert die Produktion weiterer Zytokine (z. B. Interferone) und dient als T-Zell-Wachstumsfaktor. IL-2 steigert die Proliferation der BZellen und induziert die Zytotoxizität aktivierter Makrophagen. Es findet vor allem Anwendung bei malignem Melanom und fortgeschrittenem Nierenzellkarzinom. Die Interferone (IFN) werden von kernhaltigen Zellen gebildet. Die niedermolekularen Proteine wirken als »physiologische« Hemmstoffe der intrazellulären Virusreplikation. Die Herstellung von Interferonen erfolgt heutzutage durch rekombinante Gentechnologieverfahren. Durch Bindung an spezifische Rezeptoren wirken die Interferone ohne selbst in die Zellen einzudringen, indirekt u. a. durch Abbau von mRNA und Hemmung der Peptidketten-Initiation. Die antiproliferativen Wirkungen der αInterferone umfassen: 4 Veränderungen der Zellmembran und des Zytoskeletts, 4 Stimulation der Zelldifferenzierung, 4 Modulation autokriner Wachstumsfaktoren, 4 Reversion des malignen Phänotyps, 4 Onkogene können sowohl gehemmt als auch induziert werden, 4 verminderte Synthese von DNA, RNS und Proteinen.
Immunologisch ansprechende Tumore für den Einsatz von Interferonen
21
4 4 4 4 4 4 4
Haarzellleukämie Chronische myeloische Leukämie Kutane T-Zell-Lymphome Multiples Myelom Kaposi-Sarkom bei Aids Nierenzellkarzinome Maligne Melanome
VIII. Monoklonale Antikörper Allgemeines Antikörper (AK) sind physiologischerweise eine zu den Gammaglobulinen gehörende heterogene Gruppe von Glykoproteinen (Immunglobuline). Sie werden von B-Lymphozyten und Plasmazellen als Antwort des Immunsystems nach Kontakt des Organismus mit Antigenen gebildet und in Körperflüssigkeiten sezerniert. Als Träger der humoralen Immunität binden AK vornehmlich an fremde (pathogene) Mikroorganismen. Körpereigene Antigene können aber ebenfalls erkannt und neutralisiert werden. Monoklonale Antikörper (MoAK) sind Antikörper, die aus einem Zellklon gebildet werden und von den in Zellkulturen wachsenden Zellen klonierter B-Zellen-Hybridome produziert werden. »Hybridom«-Zellen sind in geeigneten Tieren züchtbare Tumoren, die bei der Fusion von antikörperproduzierenden Zellen (z. B. B-Lymphozyten) mit Tumorzelllinien (z. B. Myelom) entstehen. Dieses Hybridom hat dann sowohl die Eigenschaft, Antikörper zu produzieren, als auch in Kulturen weiterzuleben und sich zu vermehren. Die Nachkommen von Zellhybriden, die durch die künstliche Verschmelzung von gegen ein definiertes Antigen sensibilisierten B-Lymphozyten mit geeigneten Tumorzellen (meist Myelomzellen) entstanden sind, produzieren dann die monoklonalen AK (. Abb. 21.21). Die Rationale einer antitumoralen Therapie mit monoklonalen Antikörpern ist, dass Tumorzellen Antigene auf ihrer Oberfläche tragen können, die selektiv oder vorzugsweise tumorspezifisch oder zumindest zelllinienspezifisch exprimiert werden und vom Immunsystem erkannt werden. Die klassischen Wirkmechanismen von AK sind die ADCC und CDC (7 unten). ADCC bedeutet antikörperabhängige zelluläre Zytotoxizität (»antibody dependent cell-mediated cytotoxicity«, auch antikörperabhängige zellvermittelte Zytotoxizität). Zu natürlichen Killerzellen (NK-Zellen) ausgereifte Lymphozyten spielen hierbei eine funktionelle Rolle als Effektorzellen. Die Reaktion ist dadurch charakterisiert, dass Antikörper als Zielstruktur im Sinne eines Angriffspunktes für die NK-Zellen dienen. Die AK markieren quasi die Tumorzellen. Es kommt zur Freisetzung von lysosomalen Enzymen durch die NK-Zellen und danach zur Zelllyse. Der andere klassische AK-Wirkungsmechanismus ist die CDC, die komplementabhängige Zytotoxizität (»complement dependent cytotoxicity«). Ein Immunkomplex aus an Tumorzellen gebundenem Antikörper wird von Komplement erkannt und löst die sog. Komplementkaskade aus, an deren Reaktionsende der sog. MAC (»membrane attack complex«) steht. Es kommt durch diese Komplementreaktionen zunächst zur Porenbildung in den Zellmembranen und dann zur vollständigen Zelllyse. AK, die diese Reaktion auslösen, werden auch als »zytotoxische AK« bezeichnet. Mittlerweile werden weitere Wirkqualitäten insbesondere von neu generierten AK offenkundig. Dazu gehören: 4 Rezeptoragonismus und 4 Rezeptorantagonismus; z. B. gegen Wachstumsfaktorrezeptoren. Das kann speziell bei diesen Angriffsstrukturen Folgeeffekte bewirken wie: 5 Signaltransduktionsmodulation, 5 Zellzyklusinhibition, 5 antiangiogenetische Effekte, 5 Verhinderung der Metastasierung durch das Unterbinden von Interaktionen mit Tumorzellsubstraten, 5 Erhöhung der Empfindlichkeit des Tumorgewebes gegenüber Zytostatika.
431 21.2 · Wirkungsmechanismen von Antitumortherapeutika
21
. Abb. 21.21. Schematische Darstellung der Teilschritte zu Herstellung monoklonaler Antikörper (MoAK) mittels Hybridomtechnik. Es handelt sich um Antikörper, die aus einem Zellklon gebildet werden und daher monospezifisch sind. MoAK werden von in Zellkulturen wachsenden Zellen klonierter B-Zell-Hybridome produziert. Bei der Fusion von antikörperproduzierenden Zellen (z. B. B-Lymphozyten) vorher immunisierter Tiere mit Tumorzelllinien (z. B. Myelom) entsteht das sog. Hybridom.
Dieses Hybridom hat dann sowohl die Eigenschaft Antikörper zu produzieren, als auch in Kulturen weiter zu leben und sich zu vermehren. Die Nachkommen von Zellhybriden, die durch die künstliche Verschmelzung von gegen ein definiertes Antigen sensibilisierten B-Lymphozyten mit geeigneten Tumorzellen entstanden sind, produzieren dann die monoklonalen AK
Um die Zytotoxizität von MoAK zu verstärken bzw. eine unzureichende Aktivierung von Effektormechanismen zu kompensieren oder um ansonsten kaum tolerable, extrem toxische Wirkstoffe selektiv an das Zielgewebe zu bringen, können monoklonale Antikörper mit diesen Wirkstoffen zu sog. Immunotoxinen (IT) konjugiert werden. Die Zytotoxizität wird dabei durch die Pharmakodynamik des Kopplungspartners bestimmt (. Abb. 21.22). Voraussetzung für die gewünschte Zytotoxizität mit IT ist, dass der MoAK-Toxinkomplex nach Bindung an die Zielzelle in diese aufgenommen (internalisiert) und das Toxin im Zytosol vom Antikörper freigesetzt wird. Das erste zur Marktreife entwickelte IT ist Gemtuzumab Ozogamicin (Mylotarg™). Als weitere Antikörpermodifikation sind die sog. Radioimmunokonjugate (RIC, »radionuclide immunoconjugates«) zu nennen. Hierbei sind Radionuklide an die AK gekoppelt. Durch sie erfolgt quasi eine »innere Bestrahlung«, wobei der AK den radioaktiven Strahler selektiver an das Zielgewebe bringen soll. Man kann bei RIC zwischen Alphastrahlern und Betastrahlern unterscheiden. Alphastrahlen (α-Strahlen) sind schnelle, zweifach positiv geladene Heliumkerne (42He). Wegen ihrer starken Ionisations- und Dissoziationswirkung sind Alphastrahlen chemisch sehr wirksam und biologisch schädigend. Alphapartikel führen zu DNA-Doppelstrangbrüchen, können aber kaum tief in das Gewebe eindringen. Betastrahlen (β-Strahlen) sind ionisierende Teilchenstrahlen, die beim radioaktiven Zerfall (Betazerfall) bestimmter Radionuklide, den Betastrahlern, entstehen. Betastrahlen bestehen aus Elektronen (e-) oder Positronen (e+) mit einer Energie mehrerer Megaelektronenvolt (MeV). Betastrahlen bewirken DNA-Einzelstrangbrüche, sind aber in der Lage, mehrere Zellschichten zu durchdringen. Sie verursachen
dadurch den sog. »Kreuzfeuereffekt«. Als dritte Strahlungsart gibt es noch Gammastrahlen (γ-Strahlen). Es handelt sich im engeren Sinne um die von angeregten Atomkernen bei Gammaübergängen ausgesandte, äußerst kurzwellige elektromagnetische Wellenstrahlung mit hoher Energie. Sie treten vor allem bei der natürlichen und künstlichen Radioaktivität auf. Beim radioaktiven Zerfall bilden die Gammastrahlen neben den Alpha- und Betastrahlen die dritte Komponente der radioaktiven Strahlung. Aufgrund ihrer hohen Quantenenergie sind Gammastrahlen sehr durchdringend und wirken ionisierend, ihre physiologische Wirkung ist die gleiche wie die von Röntgenstrahlen. Die ersten zugelassenen RIC sind Y90-Ibritumomab Tiuxetan (Zevalin) und I131-Tositumomab (Bexxar™). Vorteile von RIC sind: 4 Zytotoxizität unabhängig vom Immunstatus des Patienten, 4 keine Internalisierung in die Zielzelle(n) erforderlich, 4 Elimination auch maligner antigennegativer Zellen, 4 unterliegen keinen »Multiresistenzmechanismen« , 4 können, analog einer »Dauerinfusion« , für eine kontinuierliche (vs. konventionell intermittierender) Strahlenexposition genutzt werden, 4 üblicherweise geringe generalisierte Strahlenschäden, Nachteile von RICs sind: 4 aufwändige Logistik, 4 Applikation nur in nuklearmedizinischen Einrichtungen, 4 strahlenassoziierte Nebenwirkungen insbesondere Knochenmarktoxizität möglich.
432
Kapitel 21 · Zytostatische Chemotherapie
Klinisch kommen derzeit folgende Antikörperpräparate zum Einsatz: Antilymphozytäre Antikörper Alemtuzumab Bei Alemtuzumab handelt es sich um einen chimären Rattenantikörper, der auf menschlichen Lymphozyten und Monozyten das sog. CD52-Antigen erkennt. Dieses Antigen ist auf >95% aller menschlichen Blutlymphozyten und auf den meisten B- und TZelllymphomzellen vorhanden. Der AK erkennt scheinbar ein Kohlenhydratepitop und wirkt in Anwesenheit von Komplement lytisch (CDC, 7 oben). Alemtuzumab ist derzeit für die Behandlung der chronischen lymphatischen Leukämie (CLL) zugelassen. Rituximab Rituximab ist ein chimärer monoklonaler Antikörper mit CD20-Spezifität. Er bindet mit hoher Spezifität an das CD20 auf der Oberfläche von normalen B-Lymphozyten und B-Zelllymphomen. Prinzipiell können Antikörper, die an CD20 binden, transmenbranäre Signale auslösen, die eine ganze Bandbreite von Effekten nach sich ziehen. Dazu gehören sowohl die Blockade der Zellzyklusprogression (Antagonismus) als auch die Zellaktivierung und Differenzierung (Agonismus). Weiterhin scheinen apoptoseinduzierende Signaltransduktionswege stimulierbar zu sein. Rituximab fördert (u. a.) indirekt die ADCC und die komplementabhängige Zytotoxizität. Rituximab ist für die Behandlung von Non-Hodgkin-Lymphomen zugelassen.
21
Anti-EGF-Rezeptor Antikörper Cetuximab Wachstumsfaktoren steuern über ihre Rezeptoren die Differenzierung und Proliferation von Geweben. Zu den Typ-1-Wachstumsfaktorrezeptoren zählen der epitheliale Wachstumsfaktorrezeptor [EGF-Rezeptor (EGF-R) oder erbB1 (EGF, »epithelial growth factor«)] und seine Homologen. Weitere (homologe) Mitglieder dieser Familie sind erbB2, erbB 3 und erbB 4. Die Rezeptoren erbB2 bis erbB4 sind auch unter den Namen HER2- bis HER4-Rezeptor (HER, »human epithelial growth factor receptor«) bekannt. Cetuximab bindet spezifisch mit der 5- bis 10-fach höheren Affinität als physiologische Liganden kompetitiv an den EGF-Rezeptor, blockiert diesen und unterbindet somit die multiplen Mechanismen der EGFR-vermittelten Signaltransduktion und des Tumorwachstums (7 auch . Abb. 21.24). EGFR-vermittelte Signalwege sind an der Steuerung der Überlebensfähigkeit von Zellen, des Ablaufs des Zellzyklus, der Angiogenese, Zellmigration sowie der zellulären Invasion bzw. Metastasierung beteiligt. Cetuximab hat ebenso Einfluss auf zytotoxische Effektorzellen des Immunsystems. Sie können gezielt auf die EGFRexprimierenden Tumorzellen gelenkt werden, womit es auf diese Weise zur antikörperabhängigen zellulären Zytotoxizität kommen kann. Cetuximab verstärkt die antitumoralen Effekte der Strahlen- und Chemotherapie. Zugelassen ist Cetuximab derzeit für die Behandlung kolorektaler Karzinome sowie in Kombination mit der Strahlentherapie für die Therapie von Kopf-Hals-Karzinomen. Matumazumab (vorm. EMD 72.000) Dieser humanisierte AK bindet ebenso wie Cetuximab an den EGFR, jedoch an ein anderes Epitop. Matumazumab ist derzeit noch nicht für die Behandlung zugelassen.
Panitumumab (ABX-EGF) Panitumumab (ABX-EGF) ist ebenfalls ein anti-EGFR-Antikörper, der kürzlich für die Therapie kolorektaler Karzinome zugelassen wurde. Trastuzumab Trastuzumab ist ein gegen das durch das HER2/neu-Gen (CERBB2-Protoonkogen) kodierte transmembranäre Protein p185Her2 gerichteter humanisierter Antikörper (. Abb. 21.24). Das Oberflächenprotein kommt bei 20‒30% der Mammakarzinome sowie auf vielen soliden Tumoren vor. Durch Bindung des Antikörpers an die extrazelluläre Domäne dieses humanen epidermalen Wachstumsfaktorrezeptors 2 (EGFR2, »epidermal growth factor receptor 2«) soll die Proliferation der diesen Faktor überexprimierenden Zellen unterbunden werden (Antikörper als Signaltransduktionsinhibitor). Trastuzumab induziert auch eine antikörperabhängige zellmediierte Zytotoxizität (ACCD). Trastuzumab hat einen gesicherten Stellenwert in der adjuvanten Behandlung sowie in der Therapie metastasierter, HER-2-positiver Mammakarzinome. Pertuzumab (Omitarg) Ist ein anti-HER2-Ak, der zum einen an ein anderes Epitop wie Trastuzumab bindet und eine Ko-Rezeptorfunktion von HER2/ EGFR (Heterodimerisierung) zu unterbinden scheint. Pertuzumab ist im Unterschied zu Trastuzumab auch aktiv gegen Tumorzellen, die den HER 2-Rezeptor tragen, jedoch nicht überexprimieren (derzeit in klinischer Prüfung). Anti-angiogene Antikörper Bevacizumab Sowohl die Blutgefäß- als auch die Lymphgefäßentwicklung hängt von den Mitgliedern der VEGF-Proteinfamilie und ihren Rezeptoren ab. Die vaskulären endothelialen Wachstumsfaktoren VEGF-A, VEGF-B, VEGF-C, VEGF-D, VEGF-E und PlGF – der Plazenta-Wachstumsfaktor (»placenta growth factor«) – binden an Rezeptortyrosinkinasen. Sie lösen deren Dimerisierung und Aktivierung mit folgender Signaltransduktion und direkten zellulären Effekten aus. VEGF-A ist der potenteste, direkt wirkende proangiogene Faktor. Er ist ein endothelzellspezifisches Mitogen und Angiogenesefaktor. Die Antagonisierung des agonistischen Liganden, bevor er den Rezeptor erreicht, wurde mit der ersten zugelassenen antiangiogenetischen Substanz – Bevacizumab – realisiert (. Abb. 21.24). Dadurch unterbleibt eine VEGF-Rezeptoraktivierung. Bevacizumab ist ein rekombinanter humanisierter monoklonaler Antikörper gegen VEGF-A und dessen Isoformen. Dadurch werden die biologische Aktivität von VEGF-A neutralisiert, die Tumorvaskularisierung reduziert und das Tumorwachstum gehemmt. Bevacizumab ist derzeit für die Behandlung kolorektaler Karzinome, Mamma- und Nierenzellkarzinome zugelassen. Immunotoxinkonjugate Gemtuzumab Ozogamicin (Mylotarg™) Bei diesem IT wurde ein Anti-CD33 Antikörper mit einem toxisch wirksamen Calicheamicinderivat gekuppelt. Das CD33– Antigen findet sich u. a. auf AML-Zellen (AML, akute myeloische Leukämie; 90% aller AML-Patienten). Calicheamicine sind wirksam gegen Maustumoren (Leukämielinien, Kolontumore und Melanome). Ihre Aktivität wird als viertausendfach höher als die von Doxorubicin beschrieben. Bei
433 21.2 · Wirkungsmechanismen von Antitumortherapeutika
Tieren verursachen natürliche Calicheamicine allerdings inakzeptable Organspätschäden. Calicheamicin spaltet/schneidet doppelsträngige DNA durch Bildung freier Radikale. Sie werden daher auch als »free radical-based DNA-cleaving natural products« bezeichnet. Der Anti-CD33-Antikörperanteil des IT bindet spezifisch an das Adhäsionsprotein auf der Oberfläche leukämischer Blasten. Der gesamte Komplex von Gemtuzumab Ozogamicin wird durch Bindung des Anti-CD33-Anteils aufgenommen. Intrazellulär erfolgt in den Lysosomen der Zielzellen die Freisetzung des N-Acetylcalicheamicins, welches nach dem beschriebenen Mechanismus abreagiert und durch DNA-Doppelstrangbrüche zum Zelltod führt.
21
Radioimmunotoxinkonjugate Yttrium90-Ibritumomab Tiuxetan (Zevalin) und Iod131-Tositumomab (Bexxar™) Bei diesen beiden RICs handelt es sich jeweils um radioaktive Immunokonjugate mit CD20-Spezifität im Antikörperanteil. Man könnte sie im Entferntesten als radioaktive Rituximabanaloga (7 oben) bezeichnen. Es sind rein murine AK. Yttrium90Ibritumomab Tiuxetan (Zevalin) ist aktuell für die Behandlung refraktärer NHL zugelassen.
. Abb. 21.22. Auswahl an potenziellen Angriffspunkten einer zielgerichteten (»selektiven«) Chemotherapie (Details 7 Text). Antisense, Ribozyme und Gentherapie sind nicht explizit erläutert
434
Kapitel 21 · Zytostatische Chemotherapie
. Abb. 21.23. Hypothetisches Verhältnis von Toxizität und Antitumorwirkung bei nicht selektiven (hellblau) vs. selektiven (grau) Therapieverfahren. MTD maximal tolerable Dosis; OTD optimale tumorizide Dosis
21
. Abb. 21.24. Schematische Darstellung von Wachstumsfaktorrezeptorfamilien mit intrazellulären Tyrosinkinasedomänen sowie therapeutischen Interventionsoptionen durch Antikörper und »small molecules«
. Abb. 21.25. Schematische Darstellung der intrazelluären Tyrosinkinasedomäne von Wachstumsfaktorrezeptoren mit Darstellung der ATP-Bin-
dungsstelle und Interaktionen durch »Tinibe« (Tyrosinkinaseinhibitor, »Nibs«; Beispiele: Imatinib, Sunitinib, Erlotinib etc.)
IX. Zielgerichtete (selektive) Therapieansätze (»targeted therapy«) Eine konventionelle Chemotherapie wird infolge des scheinbaren Mangels an eindeutigen molekularen Zielstrukturen vielfach als unselektiv und toxisch angesehen. Demgegenüber stehen neue, zielgerichtete (selektive) Therapieansätze (. Abb. 21.22), die sich gegen definierte Zielstrukturen richten und daher nicht nur eine höhere Wirksamkeit, sondern auch eine geringere Toxizität aufweisen sollen (. Abb. 21.23). Vielfach lassen sich jedoch auch für klassische Zytostatika eindeutige Zielstrukturen definieren (z. B. Enzymhemmung wie TS, TOP, DHFR und Hemmung der DNSMethyltransferase, Zielstruktur Tubulin etc.). Im Gegensatz zu einigen neueren, selektiven Therapieansätzen werden diese jedoch mit einer geringeren Tumorspezifität exprimiert. Als Beispiele für zielgerichtete (selektive) Therapien sind die zuvor erwähnten moAK anzusehen, für die es klar definierte Zielstrukturen gibt (VEGF-A für Bevacizumab, EGFR/ErbB1 für Cetuximab, HER2 für Trastuzumab usw.; . Abb. 21.24). Zusätzlich zu den im
Einsatz befindlichen moAK, die ihre Wirkung extrazellulär ausüben, gibt es inzwischen eine Menge »kleiner Moleküle« (»small molecules«) mit intrazellulärer Aktivität (. Abb. 21.24 und 21.25). Während Cetuximab und Trastuzumab Wachstumsfaktorrezeptoren extrazellulär blockieren, hemmen die kleinen Moleküle Erlotinib und Gefitinib die intrazelluläre EGFR-Domäne bzw. dessen Autophosphorylierung und damit den zellulären SignalDownstream. Im Rahmen der zielgerichteten Therapie spielt die Signaltransduktionsmodulation oder -hemmung eine wesentliche Rolle. Vielfach werden hierbei Tyrosinkinasen (TK) gehemmt (. Abb. 21.24). Als Oberbegriff für diese Klasse von Substanzen wird gelegentlich das Acronym »Tinibe« (Tyrosinkinaseinhibitor) oder »Nibs« (auch bei Hemmung anderer Kinasen als Tyrosinkinasen, z. B. Sorafenib) verwendet. Dabei können einerseits die intrazellulären Kinasedomänen transmembranärer Wachstumsfaktorrezeptoren durch kompetitive Bindung an die ATP-Bindungsstelle oder auch nachgeschaltete Kinasen sowie andere intrazelluläre Kinasen (z. B. ABL oder BCR-ABL) inhibi-
21
435 21.2 · Wirkungsmechanismen von Antitumortherapeutika
. Abb. 21.26. Horizontale und vertikale Inhibitionsmechanismen von Rezeptortyrosinkinaseinhibitoren
hiert werden. Gelegentlich wird unterschieden in horizontale und vertikale Inhibitionsmechanismen (. Abb. 21.26). Wichtige Signaltransduktionswege sind die Phosphatidylinositol-3-kinase (PI3K)/AKT-, Proteinkinase-C-(PKC)Familie- sowie die »mitogen-activated« Proteinkinase (MAPK)/ Ras-Signaltransduktionskaskaden. EGFR induzierte Signaltransduktionswege umfassen die Phosphatidylinositol-3-kinase (PI3K)/ AKT-, Raf/MEK/Erk und Jak/Stat-Aktivierung. Erster Hemmstoff, der Einzug in die Therapie hielt, war Imatinib. Imatinib hemmt die durch das Fusionsprotein BCR-Abl erhöhte TK-Aktivität bei chronisch myeloischer Leukämie. Es hemmt ebenfalls c-kit-positive GIST-Tumoren und hat Wirkung auf den »platelet derived growth factor receptor« (PDGF-R). Im Falle von Imatinibresistenzen sind Zweitgenerations-Abl-Kinasehemmstoffe wie Dasatanib (BMS 354825) und Nilotinib (AMN 107) in der Entwicklung. »Tinibe« bilden mittlerweile eine eigene chemische Substanzklasse (. Tab. 21.12). Wie oben erwähnt, kompetieren Erlotinib und Gefitinib mit ATP um die Bindung mit der intrazellu-
lären katalytischen Domäne der TK von EGF-Rezeptoren. Weitere TK-Inhibitoren wirken antiangiogen (Vandetanib = Zactima = ZD 6474) oder antiangiogen und antiproliferativ, wie beispielsweise Sorafenib (Bay 43-9006), das nicht nur – wie anfangs gemutmaßt ‒ die RAF-Kinase hemmt. Neben den TK sind weitere Proteinkinasen das Ziel einer selektiven Antitumortherapie. Den Zellzyklus maßgeblich regulierende Proteinkinasen sind Cyclin-abhängige Kinasen (CDK; »cyclin dependent kinases«; Serin/Threonin-Kinasen). Substanzen mit Hemmwirkung auf diese Transferasen sind z. B. das Flavopiridol und die Isopropylpurine Seliciclib (CYC202, R-Roscovitin), Olomoucin, Iso-Olomoucin, Butyrolacton I, NU 6027, CINK4 (»chemical inhibitor of CDK4«), Indirubin nebst Derivaten, Paullone, Hymenialdisin, Staurosporin und 7-Hydroxystaurosporin (UCN-01). Die beiden letztgenannten Substanzen sind nicht nur Hemmstoffe der Proteinkinase C, sondern führen auch zu einer CDK-Inhibition. Weitere Zielkinasen sind die als multiple Schlüsselregulatoren der Mitose und Genomstabilität agierenden Aurorakinasen. Als Hemmstoffe zu nennen wären Heperadin als Aurora-B
. Tab. 21.12. Auswahl von (Tyrosin-)Kinasen und Inhibitoren, die bereits zugelassen oder in ihrer klinischen Entwicklung weit fortgeschritten sind
Lapatinib
ErbB1
ErbB2
X
X
c-kit
Imatinib
X
Sunitinib
X
Sorafenib
X
Dasatinib
X
Src
RAF
ABL
X
X X
X*
X
Erlotinib
X
Gefitinib
X
Vandetanib (ZD6474)
X
X X
X
X
X
X
X
X
X
mTOR
PDGFR
X
Vatalanib Nilotinib
VEGFR
436
Kapitel 21 · Zytostatische Chemotherapie
. Abb. 21.27. Physiologische selektive Proteolyse via Proteosomen. Ubiquitin als Markerprotein kennzeichnet abzubauende Proteine. Protein-Ubiquitin-Konjugate werden an das Proteasom gebunden, aufgefaltet und im Inneren fragmentiert. Durch Hemmung der Proteasomen kommt es zur Abbauhemmung regulatorischer Proteine. Folge: eine Unterbrechung von regulatorischen/regulierten Wachstumskontrollpfaden gefolgt von Apoptoseinduktion
u.a. für die Therapie der Lepra genutzt werden, führten zur weiteren Erforschung der Wirkmechanismen dieser Substanz im Hinblick auf mögliche antitumorale Aktivitäten. Neben den antiangiogenetischen Eigenschaften führt Thalidomid u.a. zu einer Hemmung des Tumornekrosefaktors-alpha (TNF-α). Thalidomid-Analoga wurden vorrangig getestet hinsichtlich ihrer TNF-α Hemmung in Lipopolysaccharid (LPS)-stimulierten peripheren mononukleären Blutzellen (PBMC). Abhängig von ihrer Inhibition verschiedener Chemokine werden 2 Substanzklassen unterschieden: Klasse-I-Substanzen oder ›IMiDs‹ (= immunmodulatorische IMID Substanzen [drugs]) sowie Klasse-II-Substanzen oder ›SelCiDs‹ (= selektive Cytokin-inhibitorische Substanzen [drugs]). IMiDe entsprechen 4-Amino-Analoga von Thalidomid, bei denen eine Aminogruppe am 4. Kohlenstoffatom des Phthaoylrings von Thalidomid ergänzt ist (. Abbildung 21.28). Lenalidomid O O H
Thalidomid O
O
H N
N N
N
Hemmstoff, ZM 447439 mit inhibitorischer Wirkung auf Aurora C und VX-680, welches als einzige der Substanzen eine Tumormassenreduktion herbeiführt. VX-680 hemmt alle drei beim Menschen vorkommenden Aurorakinasen A, B und C. mTOR (»mammalian target of rapamycin«) ist ein Zellsignalprotein, welches die Antwort von Tumorzellen auf äußere Reize wie Nährstoffe, Wachstumsfaktoren und Blutversorgung durch VEGF reguliert. Durch eine mTOR-Hemmung verarmen Zellen an einer »nutritiven Regulation« und sterben ab. Rapamycin wurde vor ca. 35 Jahren in Bodenproben auf den Osterinseln gefunden. In den 1970er Jahren nutzte man dessen antimykotische Eigenschaften, in den 1990er Jahren das immunosuppressive Potenzial nach Organtransplantationen (Nieren). Drei Rapamycinanaloga befinden sich in der Entwicklung als Antitumortherapeutika: CCI-779 (Temsirolimus), AP23573 und RAD-001 (Everolimus). Die mTOR-Antagonisten Temsirolismus (bereits zugelassen) und Everolismus sind bei fortgeschrittenen Nierenzellkarzinomen wirksam. Weitere Einzelheiten der möglichen therapeutischen Einflussnahme auf die komplexen Signaltransduktionswege würden den Umfang und Inhalt dieses Kapitels überschreiten.
21
Proteasominhibition Neben den diversen Proteinkinasehemmstoffen, die einen Einfluss auf die intrazelluläre Signaltransduktion haben, sei abschließend noch die Abbauhemmung von regulatorischen Proteinen durch Proteasomhemmung angeführt. Das seit einigen Jahren eingeführte Bortezomib (7 oben) – ein Boronsäurederivat mit Proteinpartialstruktur ‒ hemmt den Multienzymkomplex reversibel durch Bindung an die Chymotrypsin ähnliche Untereinheit 20S. Die Folge dieser Hemmung ist eine Unterbrechung von regulatorischen/regulierten Wachstumskontrollpfaden gefolgt von einer Apoptoseinduktion. Weitere Wirkmechanismen umfassen die Inhibition der Genexpression mit einer Hemmung von NFκB. Bortezomib wirkt durch eine Inhibition der Expression von zellulären Adhäsionsmolekülen antimetastatisch (. Abb. 21.27). X. Immunmodulatorische Substanzen (IMiDe) Die antiangiogenetischen und antiinflammatorischen Eigenschaften von Thalidomid (α-N-Phthalimido-Glutarimid), die
O
O NH2
O
CC-4047 (Actimid) O
O
H N O
NH2
O
. Abb. 21.28. Chemische Struktur von Thalidomid, Lenalidomid und Actimid
IMiDe führen zu pleiotropen Effekten, u.a. zu einer Inhibition von TNF-alpha sowie der Produktion von IL-1-beta und IL-12, zu einer Stimulation der IL-10 Sekretion, sowie zu einer Hemmung von NF-kappa-B und IL-6. Darüber hinaus zeigen IMiDe antiproliferative und pro-apoptotische Eigenschaften bei verschiedenen hämatologischen Neoplasien einschließlich des Plasmozytoms, eine T-Zell-stimulatorische Aktivität und eine Sekretionshemmung von VEGF und FGF. Thalidomid und Lenalidomid sind aktuell für die Therapie des multiplen Myeloms und Lenalidomid zusätzlich für die MDS (del5q)-Therapie zugelassen.
Zusammenfassung Das vorliegende Kapitel beschreibt die wichtigsten Prinzipien der medikamentösen Tumortherapie, die antitumoralen Medikamente, ihre Wirkmechanismen und Nebenwirkungsprofile. Für eine kritische Indikationsstellung, eine souveräne Therapiesteuerung und eine hohe Behandlungssicherheit sind neben den theoretischen Grundkenntnissen eine umfassende Erfahrung, eine kontinuierliche Fortbildung und eine sorgfältige Beobachtung des Patienten erforderlich.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-54079724-1
22
22 Strahlentherapie R. Pötter, D. Georg, L. Handl-Zeller, A. Kranz, E. Selzer
22.1
Physikalische und technische Aspekte der Strahlentherapie – 438
22.2
Strahlenbiologische Grundlagen
– 441
22.3
Grundlagen der Radioonkologie
– 445
22.4
Spezielle Methoden und aktuelle Entwicklungen in der Planung und Durchführung der Strahlentherapie – 460 Literatur – 468
438
Kapitel 22 · Strahlentherapie
> Einleitung
22.1
Die Strahlentherapie blickt auf eine mehr als 100-jährige Geschichte zurück. Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die vielfältigen Möglichkeiten der Strahlentherapie unter den Bedingungen begrenzter technischer Ressourcen genutzt. Mit der Einführung der Megavoltradiotherapie in den 60er und 70er Jahren, den Innovationen in der Therapieplanung in den letzten 20 Jahren (Schnittbilddiagnostik, Computertechnologie) und der Weiterentwicklung der Beschleunigertechnologie (Multileaf-Kollimator, Computertechnologie) sind entscheidende Weiterentwicklungen in der Radioonkologie eingeleitet worden. Diese manifestieren sich u. a. als 3-D-Konformationsradiotherapie (3-DCRT), intensitätsmodulierte Radiotherapie (IMRT), stereotaktische Radiotherapie (SRT) und bildgeführte Radiotherapie (»image guided radiotherapie«, IGRT) basierend auf der schnittbildgestützten (CT, MRT, PET) Therapieplanung und Therapiekontrolle am Gerät. Computergestützte Berechnungen erlauben in zunehmendem Maße a priori die Abschätzung der Antitumorwirkung und möglicher Nebenwirkungen. Während des letzten Jahrzehntes hat in zunehmendem Maße die Therapie mit Protonen bzw. Ionen an Bedeutung gewonnen wegen der höheren physikalischen und biologischen Selektivität. Insgesamt konnte durch diese technischen Entwicklungen die therapeutische Breite deutlich gesteigert werden. Das Verständnis der grundlegenden Mechanismen der Strahlenwirkung hat sich durch Entwicklungen der klinischen Strahlenbiologie wesentlich verbessert. Erkenntnisse zur Fraktionierung der Strahlendosis konnten in der klinischen Praxis Berücksichtigung finden und führten zu entsprechenden klinischen Fortschritten. In jüngster Zeit gewinnen vor allem Erkenntnisse der molekularen Biologie zunehmend an Bedeutung (Apoptose, Modulation der Genexpression und der Signaltransduktion, Angiogenese). Kombinierte Therapiestrategien (Radiotherapie und zytotoxische medikamentöse Therapie) als simultane und/oder (neo)adjuvante Therapieform mit oder ohne chirurgische Intervention stellen vielversprechende Herausforderungen in der aktuellen therapeutischen Situation dar und werden bei einer zunehmenden Zahl von Tumoren angewandt. In naher Zukunft werden die Fortschritte der technisch-physikalischen Aspekte der Strahlentherapie noch enger mit den Entwicklungen der medikamentösen Therapieformen verbunden werden, einschließlich neuer Formen wie der Therapie mit monoklonalen Antikörpern und den »kleinen Molekülen« (»targeted therapies«) oder der Antiangiogenese. Die therapeutische Breite wird durch Verbesserungen der supportiven Therapie (Wachstumsfaktoren, Radioprotektoren) weiter gesteigert werden.
Physikalische und technische Aspekte der Strahlentherapie
Das Verständnis der Wirkung der Strahlentherapie erfordert neben strahlenbiologischen Kenntnissen auch Grundkenntnisse der Strahlenphysik (Khan 2003; Van Dyk 1999). 22.1.1 Physikalische Grundlagen
ionisierender Strahlung
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Ionisierende Strahlung ist dadurch gekennzeichnet, dass diese bei Absorption ein Elektron aus Atomen oder Molekülen herauslösen, d. h., Atome oder Moleküle »ionisieren« kann. Es entsteht ein Elektron und ein positiv geladenes Restatom bzw. Molekül. Das freigesetzte Elektron verliert längs seiner Bahn kinetische Energie und gibt diese an das absorbierende Medium ab. Die Energie ionisierender Strahlung ist größer (oder zumindest gleich groß) als der zur Ionisation notwendige Schwellenwert (Ionisationsenergie). Ionisation ist nicht der einzige Prozess, bei dem Strahlungsenergie auf Materie übertragen wird. Weitere wichtige Prozesse sind beispielsweise die Anregung von Atomen und Molekülen oder die Änderung von chemischen Bindungen. Wenn die übertragene
Energie nicht zur Ionisation ausreicht, kann Anregung stattfinden. Dabei wird ein Elektron durch Energieabsorption auf einen höheren Energiezustand gebracht und kehrt anschließend wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurück, wobei die überschüssige Energie in Form von Licht ausgesendet wird (Lumineszenz). Das Atom oder Molekül bleibt bei der Anregung als Ganzes neutral. Ionisierende Strahlung kann sowohl aus Teilchen mit Ruhemasse (Korpuskeln), aber auch aus Teilchen ohne Ruhemasse (Photonen) bestehen. Photonen sind elektromagnetische Wellen mit definierter Energie, z. B. Röntgenstrahlung, hochenergetische Photonenstrahlung und die γ-Strahlung. Beispiele für Korpuskularstrahlung sind die beim radioaktiven Zerfall auftretende α-Strahlung oder β-Strahlung, Elektronen, Protonen, Neutronen, π-Mesonen und leichte Atomkerne (z. B. Kohlenstoff- oder Helium-Ionen). Hinsichtlich der Zahl der durch Wechselwirkungen erzeugten Ladungen (»Ionisationen«) kann Strahlung in locker und dicht ionisierend unterteilt werden. Elektronen und hochenergetische Photonenstrahlung zählen zur locker ionisierenden Strahlung, α-Teilchen oder Kohlenstoffionen hingegen werden der dicht ionisierenden Strahlung zugeordnet. Die Quantenenergie elektromagnetischer Strahlung und die kinetische Energie von Korpuskularstrahlung werden i. Allg. in eV (Elektronenvolt) oder vielfachen Elektronenvolt (keV, MeV)
439 22.1 · Physikalische und technische Aspekte der Strahlentherapie
. Abb. 22.1. Schematische Darstellung einer Röntgenröhre
angegeben. Ein eV ist jene Energie, die ein Elektron beim Durchlaufen einer Potenzialdifferenz von einem Volt gewinnt. Lediglich die in einem bestrahlten Körper absorbierte Energie kann wirksam werden. Der bevorzugte Absorptionsmechanismus von Photonenstrahlung hängt sowohl von deren Energie als auch vom Absorbermaterial ab. Die drei wichtigsten Wechselwirkungsprozesse sind der Photoeffekt, die Compton-Streuung und die Paarbildung. Die Energiedosis repräsentiert die durch Strahlung im Absorber lokal absorbierte Energie und ist die zentrale Messgröße in der Dosimetrie ionisierender Strahlung. Sie enthält die Strahlenenergie, unabhängig von deren Herkunft. Die Energiedosis D ist definiert als die mittlere übertragende Energie, die durch ionisierende Strahlung auf das Material in einem Massenelement dm übertragen wird: D = dĒ/dm (D Energiedosis; dĒ mittlere übertragene Energie; dm Massenelement) Die Einheit der Energiedosis ist das Gray (Gy), ein Gray entspricht einer Energie von einem Joule pro Kilogramm (1 Gy = 1 J/ kg). Die früher verwendete, veraltete Einheit der Energiedosis ist das Rad (»radiation absorbed dose«, 1 Gy = 100 rad). Alle im folgenden genannten Strahlenarten werden für die Strahlentherapie in Betracht gezogen bzw. finden seit vielen Jahren Anwendung im klinischen Routinebetrieb. Photonenstrahlung Röntgenstrahlen, hochenergetische Photonenstrahlung und γStrahlung sind elektromagnetische Wellen mit definierter Ener. Abb. 22.2. Relative Tiefendosiskurvenverläufe in Wasser für Elektronen- und Photonenstrahlung unterschiedlicher Energie, γ-Strahlen (Co60), Röntgenstrahlung (150 kV) sowie Protonenstrahlung (185 MeV)
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gie und von ihrer Natur her identisch, lediglich die Art der Erzeugung bzw. Herkunft unterscheidet sie. Röntgenstrahlen werden i. Allg. in Röntgenröhren erzeugt. In diesen werden Elektronen durch eine elektrische Spannung beschleunigt und auf ein sog. Target geschossen. Beim Auftreffen der Elektronen auf das Target werden diese abgebremst, der Verlust an kinetischer Energie wird als Photonenstrahlung (Bremsstrahlung) frei. . Abb. 22.1 zeigt die schematische Darstellung einer Röntgenröhre. Eine andere Form der Röntgenstrahlung ist die charakteristische Röntgenstrahlung. Diese wird aus der Atomhülle emittiert, wenn Elektronen einer äußeren Schale einen unbesetzten Elektronenzustand (»Elektronenloch«) einer inneren Schale auffüllen. In der Strahlentherapie wird meist die Röntgenbremsstrahlung angewandt. γ-Strahlung entsteht durch Kernreaktionen beim Zerfall radioaktiver Elemente. Therapeutisch genutzt wird beispielsweise die beim radioaktiven Zerfall von Co-60 oder Cs-137 freigesetzte γ-Strahlung. Hochenergetische Photonenstrahlung wird in sog. Beschleunigern (z. B. Kreisbeschleuniger, Linearbeschleuniger) erzeugt. Der physikalische Grundvorgang ist derselbe wie bei der Erzeugung von Röntgenstrahlung: Beschleunigte Elektronen werden an einem Target abgebremst. Die Elektronen werden jedoch auf höhere Energien beschleunigt als in Röntgenröhren, folglich ist die Energie dieser Bremsstrahlung um Größenordnungen höher als die der konventionellen Röntgenstrahlung. In der Strahlentherapie wird sowohl niederenergetische (Röntgenstrahlung bis zu 300–400 kV) als auch hochenergetische Photonenstrahlung (MV-Bereich) verwendet. Für alle Strahlenqualitäten nimmt die Energiedosis nach dem Dosismaximum (Dosisaufbau) mit zunehmender Tiefe ab (Dosisabfall). Die Steilheit des Dosisabfalls mit zunehmender Tiefe, aber auch die Lage des Dosismaximums hängt in erster Linie von der Energie der Photonenstrahlung ab (. Abb. 22.2). Elektronenstrahlung Elektronenstrahlung unterscheidet sich grundsätzlich von Photonenstrahlung. Elektronen besitzen sowohl eine Masse als auch eine (negative) elektrische Ladung. Die Wechselwirkung von geladenen Teilchen mit Materie findet kontinuierlich unter Energieverlust statt, ihre Eindringtiefe ist begrenzt. Die wichtigsten Wech-
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Kapitel 22 · Strahlentherapie
selwirkungsprozesse von Elektronen mit Materie sind Stöße mit Atomen oder Atomelektronen bzw. die Streuung an Atomkernen oder Atomen. Der Energieverlust von Elektronen beim Durchgang durch Materie ist eine komplexe Funktion der Elektronenenergie, der Dichte und der Ordnungszahl des Absorbers. Der grundlegende Unterschied zwischen Elektronen- und Photonenstrahlung kann am einfachsten durch die Abnahme der Strahlungsintensität beim Durchgang durch Materie (Tiefendosisverteilung) beschrieben werden. Nachdem das Dosismaximum erreicht wurde, fällt die Intensität der Elektronenstrahlung viel stärker ab als bei Photonenstrahlung (. Abb. 22.2). Mit zunehmender Elektronenenergie steigt die Durchdringungsfähigkeit der Strahlung und der Intensitätsabfall nach Erreichen des Dosismaximums ist nicht mehr so steil. Als β-Strahlung bezeichnet man die bei radioaktivem Zerfall freigesetzten Elektronen. Sie unterliegen denselben physikalischen Prinzipien wie die Elektronen (7 Abschn. »Radioaktivität«). Schwere geladene Teilchen Seit 2000 ist das Interesse an der Therapie mit schweren geladenen Teilchen stark gestiegen. Der Grund dafür liegt zum einen in der Ladungseigenschaft der Teilchen selbst, die eine aktive Strahlführung ermöglichen, zum anderen in ihrem energieabhängigen Tiefendosisverlauf, der dadurch eine Anpassung des Dosisbereiches an die Tumortiefe ermöglicht. In der Radioonkologie werden Ionen mit einer Masse oder Größe gleich der von Protonen als schwere geladene Teilchen bezeichnet. Diese Teilchen besitzen gegenüber den konventionellen Strahlenarten neben dem vorteilhaften Tiefendosisverlauf (Bragg-Peak) zusätzlich den Vorteil eines erhöhten linearen Energietransfers, der wiederum mit einer höheren relativen biologischen Wirksamkeit korreliert. Radioaktivität Radioaktive Substanzen zerfallen ohne äußeres Einwirken unter Aussendung von Elektronen (β-), Positronen (β+) oder α-Teilchen (Heliumkerne), z. T. unter gleichzeitiger Emission von γStrahlung. Jedes Radionuklid ist durch die emittierte Strahlung und deren Energie charakterisiert. Als Aktivität eines Radionuklids bezeichnet man die Anzahl der Zerfälle pro Zeiteinheit. Die Einheit der Aktivität ist das Becquerel (Bq), wobei 1 Bq einem Zerfall pro Sekunde entspricht. Die alte Einheit der Aktivität ist ein Curie (Ci), es gilt: 1 Ci = 3, 7 × 1010 Bq 22.1.2 Apparative Grundlagen
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Therapiesimulator Ein Therapiesimulator ist rein technisch gesehen ein Durchleuchtungsgerät, das nahezu alle Einstell- und Bewegungsmöglichkeiten eines Teletherapiebestrahlungsgerätes aufweist. Mithilfe eines Simulators werden das Zielgebiet, die Risikoorgane, die Bestrahlungsfelder und alle geometrischen Parameter für die folgende Bestrahlung festgelegt (Van Dyk 1999). Teletherapie Unter Teletherapie versteht man eine strahlentherapeutische Behandlung, bei der sich die Strahlenquelle in einem gewissen Abstand außerhalb des Patienten befindet.
In allen Bestrahlungsgeräten, die in der Teletherapie Anwendung finden (konventionelle Röntgentherapiegeräte, Telekobaltbestrahlungsgeräte, Beschleuniger) muss die im Gerät erzeugte Strahlung an das gewünschte Bestrahlungsfeld angepasst (»kollimiert«) werden. Bei konventionellen Röntgentherapiegeräten werden die Bestrahlungsfelder mittels sog. Tuben definiert. Bestrahlungsfelder hochenergetischer Photonenstrahlung aus Kobaltgeräten bzw. Beschleunigern werden mittels beweglicher Kollimatorenblenden, bestehend aus Absorbermaterialien mit hoher Ordnungszahl, begrenzt. Therapeutische Elektronenfelder aus Beschleunigern werden aufgrund der erheblichen Luftstreuung der Elektronen zusätzlich mittels sog. Elektronentrimmer oder Elektronentuben, die unterhalb der konventionellen Kollimatoren am Bestrahlerkopf angebracht werden, definiert. Teletherapiegeräte erzeugen hochenergetische Photonenund/oder Elektronenstrahlung im Energiebereich von 4–25 MeV. Die im Gerät erzeugte Strahlung kann für klinische Anwendungen mithilfe von feldformenden Elementen (individuelle Blöcke oder Multileaf-Kollimatoren) und Keilfiltern verändert werden, um die Dosisverteilung individuell an den Patienten anzupassen (. Abb. 22.3, 22.4, 22.13 und 22.14). In modernen Teletherapieverfahren werden vorwiegend Linearbeschleuniger verwendet. Brachytherapie – Afterloading-Geräte Unter Brachytherapie versteht man die Anwendung umschlossener radioaktiver Stoffe in unmittelbarer Nähe zum Tumor. Charakteristisch für die Brachytherapie ist die Applikation hoher Dosen in unmittelbarer Tumornähe oder im Tumor unter weitgehender Schonung des umliegenden gesunden Gewebes. Bei der interstitiellen Therapie werden radioaktive Strahler direkt in das zu bestrahlende Gewebe implantiert. In der intrakavitären Therapie werden mithilfe von Applikatoren, in denen sich die radioaktive Quelle während der Bestrahlung befindet, körpereigene Hohlräume ausgenützt, um das Zielvolumen zu bestrahlen. Afterloading-Geräte werden für das sog. Nachladeverfahren in der Brachytherapie verwendet. Im strahlengeschützten Tresor eines Afterloading-Geräts wird die zu verwendende radioaktive Quelle vor und nach der Applikation aufbewahrt. Während der Therapie kann die Position der radioaktiven Quelle automatisch von außerhalb des Bestrahlungsraumes gesteuert werden. Rechnergestützte Bestrahlungsplanung In der modernen Brachy- und Teletherapie wird sowohl die Dosisverteilung im Patienten als auch die Bestrahlungszeit mithilfe geeigneter Software und leistungsfähiger Computer berechnet. Als Basisdaten für diese Bestrahlungsplanung dienen einerseits anatomische Informationen, die durch bildgebende Systeme gewonnen werden (Computertomografie, Magnetresonanztomografie), andererseits die physikalischen Basisdaten der jeweiligen Strahlenart. Grundvoraussetzung einer Bestrahlungsplanung sind daher die sorgfältige Bestimmung dieser physikalischen Basisparameter und deren korrekte Implementierung in das Bestrahlungsplanungssystem (ESTRO 2004; NCS 2006). Technische Aspekte der Qualitätssicherung und Strahlenschutz Die für die Durchführung einer Strahlentherapie notwendigen technischen Geräte bzw. Hilfsmittel unterliegen strengen periodischen technischen Kontrollen. Dabei werden einerseits die für den Erfolg einer Therapie wichtigen physikalischen Parameter,
441 22.2 · Strahlenbiologische Grundlagen
22
. Abb. 22.3. Schematische Darstellung des Aufbaus eines Linearbeschleunigers
andererseits die Betriebssicherheit des jeweiligen Gerätes überprüft. Sowohl nationale als auch internationale Richtlinien geben Empfehlungen für die Häufigkeit der durchzuführenden Kontrollen und die Toleranzen der zu überprüfenden Parameter an. Sie dienen als Grundlage für die in der Strahlentherapie durchzuführenden Qualitätssicherungsmaßnahmen (z. B. Mayles et al 1999; Thwaites et al 1995). Bautechnische Maßnahmen der Behandlungsräume schützen Patienten und medizinisches bzw. medizinisch-technisches Personal vor ungewollter Strahlenexposition. Als beruflich strahlenexponierte Personengruppe werden für das medizinische bzw. medizinisch-technische Personal jährlich arbeitsmedizinische Untersuchungen vorgeschrieben. Zusätzlich wird monatlich mithilfe sog. Personendosimeter, die während der Arbeitszeit getragen werden müssen, die Strahlenbelastung kontrolliert. Dem Strahlenschutz auf Patientenebene wird in der Bestrahlungsvorbereitung Rechnung getragen. Vor der eigentlichen Bestrahlung wird die Dosisverteilung im Patienten berechnet, dabei wird die Dosis an Risikoorganen und Normalgewebe genauestens überwacht bzw. protokolliert. Wenn erforderlich, wird die
Bestrahlung individuell an die Anatomie des Patienten angepasst (Van Dyk 1999). Wie bisherige Erfahrungen gezeigt haben, sind bei Beachtung der Vorschriften weder das Personal, noch die Patienten einer ungewollten Strahlenbelastung ausgesetzt. Die Einhaltung der Strahlenschutzmaßnahmen ist durch eine entsprechende Protokollierung nachvollziehbar. Die Strahlentherapie kann als sichere Behandlungsmethode betrachtet werden, die bei richtiger Anwendung heute keine Gefahr für Patienten oder Personal darstellt.
22.2
Strahlenbiologische Grundlagen
Die klinische Strahlenbiologie befasst sich mit der Beschreibung und Erforschung der Wirkungen von Strahlen auf Tumoren und Normalgewebe sowie mit der Analyse der biologischen Mechanismen und Faktoren, die den beobachtbaren Strahleneffekten zugrunde liegen (Hall 2005; Steel 2002). 22.2.1 Dosis-Wirkungs-Beziehungen
. Abb. 22.4. Schematische Darstellung der Freiheitsgrade für die Bewegung der Gantry eines Bestrahlungsgerätes und des zugehörigen Bestrahlungstisches
Die Bestimmung der Strahlensensitivität verschiedener Tumoren erfolgt klinisch z. B. durch Messung der Abnahme der Tumorgröße, tierexperimentell im Mausmodell durch Messung der Wachstumsverzögerung (»tumor regrowth delay«) oder in vitro in der Zellkultur anhand von Zellüberlebenskurven. Die Strahlenwirkung auf Gewebe, Organe und auf einzelne Zellen wird ebenfalls klinisch und tierexperimentell anhand von morphologischen und funktionellen Parametern und in vitro anhand von Zellüberlebenskurven dargestellt. Durch die Bestimmung von Zellüberlebenskurven (klonogene Tests, Koloniebildungstests) werden Rückschlüsse gezogen auf die Strahlendosis, die zu einer potenziellen Heilung erforderlich ist. Aus den entsprechenden Parametern kann die zur Erzielung eines bestimmten klinischen Effekts notwendige Strahlendosis abgeschätzt werden. Das in der Strahlenbiologie am weitesten verbreitete Modell zur Darstellung des zellulären Überlebens als Funktion der Dosis ist das sog. linear-quadratische Modell (LQ-Modell; Denekamp et al. 1997).
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Kapitel 22 · Strahlentherapie
. Abb. 22.5. Schematische Darstellung der »therapeutischen Breite« in der Strahlentherapie. Derartige sigmoidal verlaufende Kurven geben die Dosis-Wirkungs-Beziehungen an für unterschiedliche Tumoren und Normalgewebe und sind vor allem abhängig vom behandelten Volumen
Therapeutische Breite Wie bei jeder anderen Therapiemodalität ist es Ziel der Strahlentherapie, eine maximale Tumorkontrolle bei einer minimalen Rate an akzeptablen Nebenwirkungen zu erreichen. Dosis-Wirkungs-Kurven beschreiben den Zusammenhang zwischen einer bestimmten Dosis und der Wahrscheinlichkeit, eine erwünschte Wirkung (Tumorkontrolle) zu erzielen bzw. eine unerwünschte Wirkung (Nebenwirkung) zu induzieren (Holthusen 1936). Das Verhältnis dieser Dosis-Wirkungs-Kurven zueinander beschreibt die »therapeutische Breite«. Es hat sich als sinnvoll herausgestellt, das Risiko einer zu erwartenden Nebenwirkung in Abhängigkeit von der Dosis anzugeben. Dabei wird eine Toleranzdosis (TD) definiert. Eine TD 5/5 entspricht der Strahlendosis, bei der innerhalb von 5 Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von 5% bestimmte Nebenwirkungen zu erwarten sind. Derartige Dosis-Wirkungs-Beziehungen und Toleranzdosen sind für die meisten Gewebe bzw. Organe bekannt (. Abb. 22.5; Holthusen 1936; Emami et al. 1991). Früheffekte und Späteffekte Unter Früheffekten der Strahlentherapie (akut, subakut) versteht man Wirkungen, die typischerweise in den ersten Tagen bis hin zu 12 Wochen nach Behandlungsbeginn auftreten. Späteffekte werden definitionsgemäß ab 90 Tagen beobachtet, mit einer Latenzzeit, die sich über Jahre erstrecken kann.
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Modelle zur Beschreibung von Strahlenwirkungen auf Tumoren und Normalgewebe Die verschiedenen Effekte unterschiedlicher Fraktionierung von Strahlendosen können in Rechenmodellen beschrieben werden (Bentzen 2003; Fowler 2007). Diese Modelle sind z. T. unabhängig (LQ-Modell) und z. T. abhängig vom Gewebetyp (z. B. zellkinetische Modelle der Granulopoese nach Bestrahlung). Das Konzept der »biological equivalent dose« (BED) und der »relative efficiency« (RE) erlaubt eine Abschätzung und einen Vergleich der biologischen Wirkungen auf verschiedene Tumoren und Gewebe bei unterschiedlich fraktionierter Bestrahlung unter Zugrundelegung des LQ-Modells (Denekamp et al. 1997). Die BED ist nicht gleich der physikalischen Bestrahlungsdosis, sondern ein relatives Maß, um die biologische Effektivität einer bestimmten Form der Bestrahlung mit einer anderen zu vergleichen. Für die unterschiedlichen Gewebe und Tumoren liegen bereits zahlreiche (kli-
nische) Daten vor (α/β-Werte), die eine Abschätzung der relativen Wirksamkeit nach diesem Modell ermöglichen. Entscheidender Unsicherheitsfaktor ist nach wie vor die Unkenntnis der Reparaturhalbwertszeiten der verschiedenen Gewebe. Man nimmt an, dass nach etwa 4–6 h die meisten Reparaturvorgänge abgeschlossen sind. Unklar ist nach wie vor, welcher Kinetik die Reparaturprozesse nach ionisierender Strahlung folgen (Fowler 2001). Klinische und experimentelle Daten weisen darauf hin, dass es einen erheblichen Unterschied zwischen früh reagierenden Geweben (z. B. Haut, Schleimhaut) und spät reagierenden Geweben (z. B. Bindegewebe, kleine Gefäße) bezüglich ihres Verhaltens auf Veränderungen des Fraktionierungsschemas gibt. Es kommt zu einem Anstieg der unerwünschten Spätfolgen, wenn die Anzahl der Bestrahlungsfraktionen reduziert wird bei Erhöhung der Dosis pro Fraktion. Eine Verlängerung der Gesamtbehandlungszeit bei unveränderter Gesamtdosis hat im Wesentlichen eine Verringerung des Ausmaßes der Frühreaktionen zur Folge (z. B. an Haut und Schleimhaut) ohne wesentlichen Einfluss auf die Späteffekte (z. B. Fibrose, Teleangiektasien). Anderseits hängt der Tumoreffekt wesentlich von der Gesamtbehand-
. Abb. 22.6. Jedes Organ hat ein Spektrum von Dosis-Wirkungs-Beziehungen als Funktion der Dosis und des bestrahlten Volumens. Beispielhaft ist hier als Funktion der Dosis und des bestrahlten Volumens die Wahrscheinlichkeit dargestellt, bei notwendiger Mitbestrahlung der Parotis eine Xerostomie zu entwickeln (»normal tissue complication probability«, NTCP)
443 22.2 · Strahlenbiologische Grundlagen
lungszeit ab: Bei der Mehrzahl der Tumoren verringert sich der Tumoreffekt mit zunehmender Behandlungszeit (Fowler 2001). Darüber hinaus werden zunehmend Modelle entwickelt, die nicht die Fraktionierung der Dosis, sondern das bestrahlte Volumen in Beziehung zur Wahrscheinlichkeit einer Schädigung der Organfunktion setzen. So kann z. B. angegeben werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit bei einem bestimmten bestrahlten Volumen in einem Normalgewebe mit nennenswerten Therapiefolgen zu rechnen ist (»normal tissue complication probability«, NTCP). Ähnliche Modelle werden für die Abschätzung der Tumorkontrollwahrscheinlichkeit entwickelt (»tumor control probability«, TCP; Jones u. Dale 2000; . Abb. 22.6; Emami et al. 1991). 22.2.2 Dosis-Volumen-Beziehungen
Nahezu alle radiogenen Gewebsveränderungen sind abhängig von applizierter Gesamtdosis, behandeltem Volumen und Fraktionierungsmodus. Darüber hinaus ist die anatomisch-funktionelle Organisation des bestrahlten Gewebes von nennenswerter Bedeutung. Volumeneffekte Die Größe des bestrahlten Volumens bzw. der Anteil des bestrahlten Volumens am Gesamtvolumen eines Organs hat einen entscheidenden Einfluss auf die zu erwartenden Effekte. Histogramme, die die Dosisverteilung in einem bestimmten Volumen beschreiben (DVH) können in der 3-D-Therapieplanung erstellt werden. Hierauf aufbauend kann mithilfe von klinisch validierten Rechenmodellen die Tumorkontrollwahrscheinlichkeit (TCP) bzw. die Häufigkeit des Auftretens von Komplikationen am Normalgewebe (NTCP) abgeschätzt werden (Lyman 1992; Kehwar 1995; Roberts 1998). Einfluss der anatomisch-funktionellen Organisation Einen wesentlichen Einfluss auf die zu erwartenden Wirkungen und Nebenwirkungen hat die anatomisch-funktionelle Struktur der bestrahlten Gewebe. Aus strahlentherapeutischer Sicht lassen sich die verschiedenen Organsysteme nach ihrem Aufbau in unterschiedliche Gruppen einteilen: 4 »Graded-response-Systeme«: Haut, Mukosa: Die Ausprägung der Bestrahlungseffekte verläuft entlang einer kontinuierlichen Skala. 4 »Integral-response-Systeme«: Organe mit paralleler Elementstruktur (Lunge, Leber, Niere): Ein klinisch fassbarer Bestrahlungseffekt tritt auf, wenn ein substanzieller Anteil des Organs geschädigt ist. 4 »Critical-element-Systeme«: Organe mit kritischer Elementstruktur (Rektum, Rückenmark, Peritoneum, Darm): Diese Organe sind aus hintereinander geschalteten funktionellen Einheiten aufgebaut, sodass der Ausfall einer Einheit zu einer Komplikation im gesamten System führt (Niemierko et al. 1993; Stavrev et al. 2001). 22.2.3 DNA-Schäden und Reparaturmechanismen
Ein Teil der Wirkungen ionisierender Strahlen ist durch »direkte« Ionisation der DNA-Moleküle bedingt. Quantitativ bedeutsamer sind jedoch die aus dem Wasser gebildeten freien Radikale (vor allem Hydroxylradikale), die in weiterer Folge durch die sog. »in-
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direkte« Ionisation ein Spektrum von verschiedenen Schäden an der Erbsubstanz wie vor allem Strangbrüche produzieren können. Einzel- und Doppelstrangbrüche, Basenmodifikationen, Insertionen und Deletionen, Inter- und Intrastrang-DNA-DNAVerbindungen oder DNA-Protein-Crosslinks bilden den Hauptanteil der Schäden (Stenerlow et al. 2000; Stewart et al. 2001). Eine Form der (phänomenologischen) Unterteilung von Strahlenschäden ist die Einteilung in die folgenden drei Kategorien: 4 Letale Schäden: Letale Schäden sind irreparabel und irreversibel. Sie führen immer zum Zelltod. 4 Subletale Schäden: Subletale Schäden können innerhalb von Stunden repariert werden, solange nicht ein zusätzlicher subletaler Schaden (z. B. durch eine erneute Bestrahlung) gesetzt wird. 4 Potenziell letale Schäden: Potenziell letale Schäden können durch physiologische Umgebungseinflüsse modifiziert werden. Ein Schaden an der DNA, der nicht effizient repariert werden kann, wird wahrscheinlich während einer der nächsten Zellteilungen zum Zelltod führen: mitotischer Zelltod. Diese Form des Zelltodes ist neben dem programmierten Zelltod (Apoptose) der wichtigste Mechanismus der strahleninduzierten zytotoxischen Zellwirkung (Blank et al. 1997). Ionisierende Strahlen und UVStrahlen verursachen unterschiedliche Arten von DNA-Schäden. Zellen von Patienten mit Xeroderma pigmentosum (XP) sind extrem sensibel gegenüber UV-Licht, aber nicht gegenüber ionisierenden Strahlen, während Zellen von Patienten, die an Ataxia teleangiectatica (AT) leiden, den umgekehrten Phänotyp aufweisen. Eine Dysfunktion des bei AT-Patienten betroffenen Genproduktes führt zu einer abnormalen Reaktion der bestrahlten Zellen auf ionisierende Strahlen im Zellzyklus. Bei dem betroffenen Protein handelt es sich um eine Proteinkinase (ATM-Proteinkinase), die eine wichtige Rolle für die zelluläre Reaktion auf ionisierende Strahlen wie auch auf andere Stresseinflüsse spielt. Ionisierende Strahlen führen zu einer erhöhten Kinaseaktivität. Dieses Enzym hat u. a. die Fähigkeit, das P53-Protein am Serin 15 zu phosphorylieren. Die ATM-Kinase scheint somit eine wichtige Rolle zu spielen in der unmittelbaren Reaktion von Zellen auf DNA-Schäden während aller Zellzyklen. Entsprechend den genetisch unterschiedlich angelegten Möglichkeiten der Reparatur von Strahlenschäden gibt es ein unterschiedliches Muster der Strahlenempfindlichkeit bei verschiedenen Menschen bzw. Geweben (Ho et al. 2006; Fernet et al. 2004). 22.2.4 Sauerstoffeffekt, Hypoxie und Reoxygenierung
Sauerstoffeffekt und Hypoxie Hypoxische Zellen sind 2- bis 4-fach weniger empfindlich gegenüber locker ionisierender Strahlung (Röntgen- und γ-Strahlen) als euoxische Zellen (»Sauerstoffeffekt«). Es ist eine allgemein akzeptierte Tatsache, dass die meisten soliden Tumoren hypoxische Zellpopulationen aufweisen and dass diese Zellen das Ansprechen auf eine Bestrahlung beeinflussen. Die meisten dieser Ergebnisse wurden allerdings in Tierversuchen gewonnen, da die experimentellen Ansätze nicht gleichermaßen am Menschen durchführbar sind. Es gibt allerdings eine Vielzahl an indirekten Hinweisen, die beim Menschen für eine bedeutende Rolle der Oxygenierung sprechen (Molls et al. 1998). Anzumerken ist, dass für dicht ionisierende Strahlen, (z. B. α-Partikel) keine Abhängigkeit von der
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Kapitel 22 · Strahlentherapie
. Abb. 22.7. Darstellung des biologischen Effektes der Reoxygenierung. Durch die strahleninduzierte Tumorschrumpfung werden die Diffusionsstrecken für Sauerstoff verkürzt und die entsprechenden hypoxischen und anoxischen Tumoranteile reduziert
Oxygenierung besteht. Ein wichtiger Parameter für den Sauerstoffeffekt ist der sog. Sauerstoffverstärkungsfaktor (»oxygen enhancement ratio«, OER). Dieser gibt an, um wie viel stärker ein bestimmter Effekt (z. B. durch Bestrahlung induzierter Zelltod) in Gegenwart von Sauerstoff im Vergleich zu anoxischen Bedingungen ausgeprägt ist (Dasu u. Denekamp 1998). Eine Modifikation der Tumorhypoxie kann zu einer Verbesserung des klinischen Ansprechens auf eine Radiotherapie führen und dieser Effekt scheint am ehesten bei Tumoren des HNO-Traktes eine Rolle zu spielen (Nordsmark et al. 2005). Eine wichtige modulatorische Rolle bei diesen Prozessen spielen oxidative und antioxidative Enzyme und Verbindungen in der Zelle wie z. B. die Gluthation-S-Transferase und die SuperoxidDismutase. Nichtenzymatische Antioxidanzien sind bestimmte Vitamine: Tocopherol, Carotinoide, Vitamin C und Thiole. Reoxygenierung Unter fraktionierter Bestrahlung kommt es mit Verkleinerung eines Tumors zu einer Zunahme der Sauerstoffversorgung, zu einer Reoxygenierung (. Abb. 22.7). Eine weitgehend komplette Reoxygenierung erfolgt nach ca. 4–6 Wochen bei einer konventionellen Strahlentherapie und nach ca. 2–3 Wochen bei akzelerierter Bestrahlung. Der vorteilhafte Effekt einer Reoxygenierung in Bezug auf die Strahlenwirkung wird auf die vermehrte Bildung reaktiver Sauerstoffspezies und anderer Prooxidanzien zurückgeführt (Crokart et al. 2005). Es gibt zahlreiche Substanzen, die hypoxische Zellen für ionisierende Strahlen sensibilisieren, sog. »Radiosensitizer«. Eine der bekanntesten Substanzen ist das Misonidazol (Ro-07–0582), das eine sensibilisierende Wirkung in experimentellen Systemen aufweist. Eine neuere Substanz ist Etanidazol. In klinischen Studien konnte dieser strahlensensibilisierende Effekt bisher nicht umfassend belegt werden. Ein analoger Effekt liegt bei einigen Zytostatika vor, z. B. Mitomycin C. Klinische Effekte derartiger Kombinationsbehandlungen sind erwiesen (Dobrowsky u. Naude 2000).
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22.2.5 Repopulation
Unter dem Begriff Repopulation versteht man eine Zunahme der Tumorzellzahl während einer fraktionierten Strahlentherapie aufgrund der fortgesetzten proliferativen Aktivität der Zellen. Hieraus resultiert eine quantitative Verringerung des Effekts io-
nisierender Strahlen und letztlich eine Verringerung der lokalen Tumorkontrolle. Die meisten Tumoren weisen potenzielle Verdopplungszeiten in der Größenordnung von einigen Tagen bis zu mehreren Wochen auf. Behandlungspausen von einigen Tagen können daher bei Plattenepithelkarzinomen (z. B. in der KopfHals-Region) mit Verdopplungszeiten in derselben Größenordnung (einige Tage) durchaus eine nennenswerte Rolle spielen. Die Proliferation mancher Tumoren kann nach oder unter einer zytotoxischen Behandlung (Strahlentherapie oder Chemotherapie) beschleunigt werden. Dies wird dadurch erklärt, dass nach therapieinduzierter Reduktion der Gesamttumormasse die restlichen Tumorzellen besser versorgt werden können (Reoxygenierung – geringere Diffusionsstrecke für O2 und Nährstoffe). Die klinische Bedeutung der beschleunigten Repopulation ist bei Plattenepithelkarzinomen der Kopf-Hals-Region sowie bei Bronchialkarzinomen in einigen Studien gezeigt worden. Seit einigen Jahren werden bei diesen Tumorentitäten in zunehmendem Maße klinische Studien durchgeführt, die die oben genannten Aspekte durch eine Verkürzung der Gesamttherapiedauer mit einbeziehen (Fu et al. 2000; Bourhis et al. 2006). 22.2.6 Redistribution und Zellzyklus
Redistribution ist definiert als eine Neuverteilung und Synchronisation von Zellen im Zellzyklus während und nach einer Bestrahlung. Dieser Effekt spielt eine wesentliche Rolle für die Strahlentherapie, da Zellen während ihres Zellzyklus unterschiedliche Empfindlichkeiten gegenüber ionisierenden Strahlen aufweisen (Stobbe et al. 2002; Krause et al. 2005). In einer Zellpopulation, die sich in einer exponentiellen Wachstumsphase befindet und einer Bestrahlung ausgesetzt wird, werden präferenziell die sensitiven Zellen eliminiert, die sich in einer bestimmten »empfindlichen« Phase des Zellzyklus befinden. Dieser Effekt betrifft hauptsächlich rasch proliferierende Tumorzellen, jedoch kaum spät reagierende Normalgewebe (langsame Teilung). 22.2.7 Aktuelle strahlenbiologische Entwicklungen
Hypoxie Trotz langjähriger Forschung über die Rolle der Hypoxie, deren grundsätzliche Bedeutung für das Ansprechen auf eine Strahlentherapie außer Frage steht, sind die Mechanismen, über die die Hypoxie das Ansprechen auf eine Strahlentherapie beeinflusst, noch nicht hinreichend geklärt (Adams et al. 1997). Inzwischen wurden verschiedene Klassen von hypoxischen Stressproteinen identifiziert, die möglicherweise die Resistenz der Tumorzellen gegen eine Behandlung beeinflussen. Dazu zählen Proteine, die in der oxidativen Stressantwort und in der Redoxhomöostase eine Rolle spielen, des Weiteren verschiedene Transkriptionsfaktoren sowie Onkogene und Tumorsuppressorgene, Moleküle, die in der Signaltransduktion involviert sind, und Enzyme, die im Intermediärstoffwechsel eine Bedeutung haben. Eine wichtige Rolle in Zusammenhang mit der Hypoxie scheint insbesondere dem P53-Tumorsuppressorgen zuzukommen. Apoptose Forschungsergebnisse der letzten Jahre haben gezeigt, dass die strahleninduzierte Apoptose (Pruschy et al. 2001) neben dem
445 22.3 · Grundlagen der Radioonkologie
mitotischem Zelltod ein grundlegender Mechanismus der Strahlenwirkung ist. Allgemein kann gesagt werden, dass bei Tumoren, die auf eine Strahlentherapie sehr schnell ansprechen, die Fähigkeit zur Apoptose besonders deutlich ausgeprägt ist, z. B. bei malignen Lymphomen. Bei den soliden Tumoren bestehen diesbezüglich große Unterschiede zwischen den einzelnen histologischen Typen (Meyn et al. 1993). Inwieweit das Ausmaß der Apoptose mit der Radiokurabilität eines bestimmten Tumors korreliert, ist derzeit noch nicht genügend geklärt. Das P53-Protein sowie Proteine der BCL-2 Familie spielen für die Strahlenund/oder Chemoresistenz eine wichtige Rolle. Mutationen, die zu einer Inaktivierung des P53-Tumorsuppressorgens führen, resultieren in einer deutlichen Verringerung der Empfindlichkeit gegenüber Hypoxie. Somit bedingt Hypoxie eine Selektion von Zellen mit einer verringerten Fähigkeit, in Apoptose zu gehen (Graeber et al. 1996). Ebenso konnte z. B. für das antiapoptotische Protein MCL-1 gezeigt werden, dass eine Herunterregulierung mittels Antisenstechnologie die Strahlensensibilität von Melanomen erhöht (Skvara et al. 2005). Zytokine, Signaltransduktion Ionisierende Strahlen können zu einer Modulation der Synthese und der Freisetzung von Zytokinen im Gewebe führen. Zu den wichtigsten, durch Bestrahlung vermehrt produzierten Zytokinen zählen TNF-α und TGF-β. In den letzten Jahren sind verschiedenste Faktoren charakterisiert worden, die die zelluläre Antwort auf eine Bestrahlung modifizieren können. Ein in dieser Hinsicht besonders gut untersuchtes Organsystem stellt die Lunge dar, bei der es nach einer Bestrahlung zu einer pulmonalen Fibrose kommen kann (Rubin et al. 1995; Rübe et al. 2000). Hierbei ist vor allem die radiogen induzierte Zytokinkaskade, sowohl im Tiermodell wie auch beim Menschen, sehr gut untersucht. Zu den wichtigsten radiogen initiierten Zytokinen zählen Interleukin-1α (IL-1α) sowie TGF-β. IL-1α scheint für die inflammatorische Phase mitverantwortlich zu sein, während TGF-β hauptsächlich proliferative Aktivität besitzt. Letztendlich können strahleninduzierte entzündliche Veränderungen zu einer klinisch manifesten Lungenfibrose führen. Es ist sogar vorgeschlagen worden, durch Bestimmung der Freisetzung von TGF-β im Plas-
. Abb. 22.8. Modell der strahleninduzierten Freisetzung von Zytokinen, die über eine Bindung an entsprechende Rezeptoren einer Targetzelle eine zelluläre Antwort hervorrufen. Diese kann z. B. aus Proliferation oder Differenzierung bestehen und zu entsprechenden Nebenwirkungen führen (z. B. Pneumonitis, Lungenfibrose)
22
ma während einer Bestrahlung der Lunge das Risiko für die Entwicklung einer Pneumonitis vorherzusagen (. Abb. 22.8; Rube et al. 2006). 22.2.8 Modifikation der Strahlenwirkungen
Bei vielen humanen hämatologischen wie auch soliden Neoplasien ist eine erworbene oder intrinsische Resistenz gegenüber der antineoplastischen Behandlung das Haupthindernis für eine erfolgreiche Krebstherapie. Die Induktion des programmierten Zelltodes ist eine wesentliche Strategie für eine erfolgreiche antineoplastische Therapie. Gleichzeitig kann versucht werden, durch pharmakologische Intervention die unerwünschten Wirkungen einer Bestrahlung zu verringern, sodass die therapeutische Breite erhöht wird. Pharmokologische Möglichkeiten einer Modifikation der Strahlenresistenz sind überblicksweise bei Horsman et al. (2006) dargestellt. Weitere Beispiele für Substanzen mit einer die Strahlenresistenz modulierenden Wirkung sind: Nikotinamid, Pilocarpin, Captopril, Pentoxifyllin, α-Difluoromethylornithin, Desferrioxamin, Sucralfat, Glukokortikoide, Superoxid-Dismutase und andere Substanzen (Weiss et al. 2000; Horsman et al. 2006). Kombinierte Radiochemotherapien erhöhen die therapeutische Breite, da die Chemotherapeutika (z. B. 5-FU, Mitomycin C, Cisplatin, Gemcitabine, Paclitaxel) über verschiedene Wirkmechanismen (»Radiosensitizer«) den Effekt der Bestrahlung auf das Tumorgewebe verstärken, z. B. durch Verminderung der DNA-Reparaturfähigkeit. Radiotherapie in Kombination mit tumorspezifischen Antikörpern: Der epidermale und vaskuläre Wachstumsfaktorrezeptor sind potenzielle therapeutische Ziele für eine Verbesserung der Strahlensensitivität. Viel versprechende klinische Ergebnisse einer Kombination von Radiotherapie mit gegen den EGFR gerichteten AK bei Kopf-Hals-Tumor-Patienten wurden erst kürzlich publiziert (Bonner et al. 2006). Zytokine erhöhen die therapeutische Breite, wenn sie zu biologischen Modifikationen der Strahlenantwort führen (»biological response modifier«). Bei der durch Bestrahlung induzierten Myelosuppression führen beispielsweise hämatopoetische Wachstumsfaktoren (IL-3, GM-CSF, G-CSF, Erythropoetin) zu einer rascheren Erholung des hämatopoetischen Systems während und nach einer Bestrahlung. Seit Längerem wird die Modifikation der Strahlenwirkungen auf Gewebe mittels gentherapeutischer Methoden diskutiert und experimentell untersucht (Gridley et al. 2004; McCarthy et al. 2006; He et al. 2007; Rhee et al. 2007; Cao et al. 2006; Lambin et al. 2000). Ein interessanter Ansatz besteht darin, mittels gentechnischer Verfahren mutiertes P53-Protein in betroffenen Tumorzellen durch normales Wildtyp-P53 zu ersetzen. Mittels eines Inhibitors, dem Pifithrin ist es möglich den P53-Signaltransduktionsweg in Mäusen zu hemmen und diese vor einer ansonsten letalen Bestrahlungsdosis zu schützen (Gudkov et al. 2005).
22.3
Grundlagen der Radioonkologie
Die Radiotherapie kann als alleinige Maßnahme durchgeführt werden oder in Kombination mit verschiedenen operativen und/ oder medikamentösen Verfahren (. Tab. 22.1).
446
Kapitel 22 · Strahlentherapie
. Tab. 22.1. Indikationen, Strategien und Ergebnisse der Radiotherapie als definitive Therapieform oder in Kombination mit medikamentösen und/oder operativen Therapieverfahren: tabellarische Literaturübersicht an ausgewählten Beispielen Tumor
Referenz
Stadium
Strategie
Radiotherapie
OP
Chemotherapie
Lokale Kontrolle [Jahre]
Gesamtüberleben [Jahre]
Mamma
Veronesi et al. 2002 (RPS)
T1
Brusterhaltend (Quadrantekt.+ RT) (vs. Mastektomie)
60 Gy KF
Ja
Nein (N)
98% (5)
92% (5)
96% (12)
58% (20)
91% (20)
74% DSS (20)
Lumpekt. allein:
Lumpekt. ± RT:
72% (5) 61% (20)
85% (5)
Lumpekt. + RT:
62% (12)
93% (5) 86% (20)
46% (20)
+ RT 91% (10)
+ RT 54% (10)
– RT 68% (10)
– RT 45% (10)
+ RT 92% (10)
+ RT 45% (10)
– RT 65% (10)
– RT 36% (10)
94,9% (5)
94,5% (5)
99,6% (5)
97,9% (5)
Fisher et al. 2002 (RPS) NSABP-06
T1, T2, N0
Brusterhaltend: Lumpekt. allein
50 Gy KF
Ja
N–: 0, N+: CT
vs. Lumpekt. + RT
Overgaard et al. 1997 (RPS)
Overgaard et al. 1999
Pötter et al. 2007 (ABCSG-8A)
T3, T4, N+
T3, T4, N+
T1, T2 (< 3 cm), N0
Ablatio, CT ± RT (prämenopausal)
50 Gy KF
Ablatio, Tamoxifen ±RT (postmenopausal)
50 Gy KF
Brusterhaltend : Lumpektomie +Tamoxifen/ Anastrozol vs.
50 Gy KF +/Boost
Ja
Ja
Ja
CMF
Tamoxifen
Tamoxifen/ Anastrozol
Lumpektomie +Tamoxifen/ Anastrozol + RT (+/- Boost) Bronchus
Baumann et al. 2005 (RPS)
NSCLC I – IIIB
Definitive alleinige RT KF vs. HYF/AKZ
66 Gy KF vs. 60 Gy HYF/ AKZ
Nein
Nein
k.A.
55% (1) 32% (2) 18% (3) vs. 54% (1) 28% (2) 21% (3)
Komaki et al. 2002 (RPS) (RTOG)
NSCLC II+III
Simultane RT/CH KF vs. HYF/AKZ
63 Gy KF vs. 70 Gy
Nein
Cisplatin
55% (2)
32% (2)
vs.
vs.
74% (2)
37% (2)
HYF/ AKZ Turrisi et al. 1999 (RPS)
22
SCLC
Konkomitante RT/CT
45 Gy KF vs.
Nein
Cisplatin,
49% (CR)
16% (5)
(Limited Disease)
KF vs. HYF/AKZ
45 Gy HYF/ AKZ
Nein
Etoposid
56% (CR)
26% (5)
22
447 22.3 · Grundlagen der Radioonkologie
. Tab. 22.1 (Fortsetzung) Tumor
Referenz
Stadium
Strategie
Radiotherapie
OP
Chemotherapie
Lokale Kontrolle [Jahre]
Gesamtüberleben [Jahre]
Rektum
Dutch TME Trial, Kapiteijn et al. 2001 (RPS)
T1–T4 T2/ T3 N0/N+
Präoperative RT+OP vs. OP (Totale mesorektale Exzision)
25 Gy AKZ, HOF
Ja
Nein
97,6% vs. 91,8% (2)
82% (2)
Swedish Rectal Cancer Trial 1997 (RPS)
Dukes AC
Präoperative RT+OP vs. OP
25 Gy AKZ, HOF
Ja
Nein
89% vs. 73% (5)
58% vs. 48% (5)
O‘Connell et al. 1994 (RPS)
Dukes B/ C
Postop RT/CT mit 5 FU: Bolus vs. Kontinuierliche Infusion
50,4– 54 Gy
Ja
5-FU
53% vs. 63%
60% vs. 70% (4)
German Rectal Cancer Study Group, Sauer et al. 2004 (RPS)
T3, T4 oder N+
präoperative RT/CT vs. postoperative RT/ CT
50,455,8 Gy
Ja
5-FU
94% vs. 87% (5)
76% vs. 74% (5)
Flam et al. 96 (RPS) (SWOG)
T2–4 N+/-
Komb. RT/CT mit 5-FU/MMC,
45–50 Gy
Nein
5-FU, MMC
84% (4)
76% (OS)
71% (4)
73% (DFS) (4)
66% (4)
67% (OS)
59% (4)
51% (DFS) (4)
Anus
Kolostomie-freies Intervall T2–4 N+/-
vs. komb. RT/CT mit 5-FU,
45–50 Gy
Nein
5-FU
Kolostomie-freies Intervall Ösophagus
Magen
Prostata
Cooper et al. 1999 (RPS) (RTOG 8501)
T1–T3, N0–1, M0
RT
81,8 (2)
65 Gy
Nein
Nein
63%
0% (5)
Komb. RT/CT
50 Gy
Nein
Cis/5-FU
74%
26% (5)
vs.
Macdonald et al. 2001 (RPS)
IB – IV M0
OP vs. OP + Postop. RT/CT
45 Gy
Ja
41% vs. 50% (3)
Zelefsky et al. 2007 (PS)
T1a-2a, GS 2-6
Brachytherapie
Seeds
Nein
Keine
82% (8) bNED
81% (8) OS
Galalae et al. 2004 (PS)
T1b-3; G1-3
Teletherapie + HDRBrachytherapie
40/ 50 Gy + 2 x 9 Gy
Nein
Keine
73% (10) bNED
92% (10) DSS 65% (10) OS
RTOG Phase-IIIStudien (Roach 2000) RPS
T1/T2, GS 2–6, N–
Definitive RT
65– 70 Gy
Nein
Nein
92–100% (T1) 77–84% (T2)
96% (5), 86% (10) 72% (15) DSS
MD Anderson (Pollack et al. 2002) RPS
T1–T3
Definitive RT
70 vs. 78 Gy
Nein
Nein
64% vs. 70% (6)
83% vs. 90% (6) OS
Kupelian et al. 2005 (PS)
Low-risk (n= 412)
Teletherapie
<72 Gy vs. ≥ 72 Gy
Nein
Nein
LR: 75% vs. 79% bNED (5)
5-FU/LV
Intermediate (n= 657)
IR: 63% vs. 72% bNED (5)
High-risk (n= 221)
HR: 38% vs. 46% bNED (5)
448
Kapitel 22 · Strahlentherapie
. Tab. 22.1 (Fortsetzung) Tumor
Referenz
Stadium
Strategie
Radiotherapie
OP
Chemotherapie
Lokale Kontrolle [Jahre]
Gesamtüberleben [Jahre]
Prostata
Bolla et al. 2002 (RPS) (EORTC)
T1-2 Nx, G3 T3–T4 Nx, Gx
Teletherapie vs: Teletherapie + HT
70 Gy
Nein
Ohne HT
40% DFS (5).
62% (5) vs.
Mit HT
74% DFS (5)
78% (5)
Sauer et al. 1998 (RS)
>T1, T1 »high risk«
TURB, RT
45/ 60 Gy
Ja
Nein
57% (CR)
40% (DSS 5)
Roedel et al. 2002 (PS)
T1, G3 (n=´89) T2-4 (n= 326)
TURB, RT + CT
50,4 – 59 Gy
Ja
Cisplatin +/– 5-FU
65% (10)
42% (DSS 10)
Jones et al. 2005 (RPS)
Stadium 1
Orchiektomie + RT der LK paraaortal
30 Gy vs. 20 Gy
Ja
Nein
97% DSS (5) vs. 96,4% DSS (5)
Weissbach et al. 1999 (PS)
Stadium 2A/B
Orchiektomie + RT der LK
36 Gy
Ja
Nur 2B
100% / 95% DSS (3)
Eich et al. 2005 (GHSG, German Hodgkin Study Group)
Stad. I–IIIA (ohne RF)
CT und RT EF RT
30 Gy EF + 10 Gy bulk
Nein
COPP (2x) / ABVD (2x)
vs. IF RT
30 Gy IF + 10 Gy bulk
Harnblase
Seminom
Morbus Hodgkin
NHL hoch maligne
22
90,8% (5)
84,2% (5)
92,4% (5)
Jox et al. 1999 (RPS) (GHSG)
Stad. I– IIIa (+RF)
Kombinierte CT und RT (EF)
20–40 Gy
Nein
COPP/ABVD x 4
~80% (5)
>90% (5)
Diehl et al. (GHSG) 2003
Stad. IIBIV
CT + IF RT
30 Gy auf prim. bulk
Nein
COPP/ABVD (8x)
69% (5)
83% (5)
vs. Stand BEACOPP (8x)
76% (5)
88% (5)
vs. Gesteig. BEACOPP (8x)
87% (5)
91% (5)
Nein
Nein
89% (5) (cb-cc)
86–89% (5) (cb-cc)
40 Gy auf Rest-Tu
NHL niedrig maligne
85,8% (5)
Sack et al. 1998 (PS)
Pfreundschuh et al. 2006
CS I–II
EF (nodal und extranodal)
26 Gy EF/TNI
CS III: cb-cc
TNI bei cb-cc (nodal)
36 Gy IF
Stad II-IV ohne Risiko
CT + IF – RT mit Rituximab
30-40 Gy bulk
Nein
RituximabCHOP (6x)
79% (3)
93% (3)
Stad I mit Bulk
Vs. CT + IF – RT ohne Rituximab
oder 30-40 Gy Rest TU
Nein
vs. CHOP (6x)
59% (3)
84% (3)
22
449 22.3 · Grundlagen der Radioonkologie
. Tab. 22.1 (Fortsetzung) Tumor
Referenz
Stadium
Strategie
Radiotherapie
OP
Chemotherapie
Lokale Kontrolle [Jahre]
Gesamtüberleben [Jahre]
Glioblastom
Stupp et al. 2005
---
Post OP RT mit CT
60 Gy
Ja
10,7% (2)
26,0% (2)
Post OP RT ohne CT
60 Gy
Ja
Parallel Temozolamid + Temozol (6x)
1,5% (2)
10,4% (2)
»high« +
Op + CT (»high grade«) +/- postop. RT
45 Gy + 18 Gy (Boost)
Ja
»High grade« 100% vs. 72% (8)
High grade: 75% (8) (kein Unterschied)
low grade«, M0
+/- postop. RT
Lokal fortgeschritten, M0
Konventionelle RT
70 Gy
Nein
Nein
46% (2)
46% (2)
HYF-AKZ
72 Gy
Nein
Nein
54% (2)
55% (2)
Lokal fortgeschritten M0
Radiotherapie konventionell oder intensiviert Mit/ohne Cetuximab
70 – 76,8 Gy
Nein
Cetuximab
50% (2)
Median 49 Monate
41% (2)
Median 29 Monate
Weichteilsarkom (Extremitäten)
Oro-Hypopharynx + Layrnx
Yang et al. 1998 (RPS)
Fu et al. 2000 (RPS) (RTOG)
Bonner et al. 2006
Doxorubizin, Cyclophosphamid
»Low grade« 97% vs. 62% (10)
Nein
Larynx
Mendenhall et al. 1994
Glottis T 1,2
Definitive alleinige RT
67–70 Gy
Nein
Nein
90–95%
91–97%
Cervix
Pötter et. al. 2007 (PS)
Ib-IVa, N–/+
Definitive RT + MRI BT (HDR) +/– CisPlatin
45-50 Gy + BT 4x7 Gy (HDR)
Nein
+/– Cisplatin
85% (3)
58% (3)
Eifel et al. 2005 (RPS) (RTOG 9001)
Ib–IVa
Definitive RT + BT (LDR) Mit/ ohne simultane CT
45 Gy + BT (LDR)
Nein
Cisplatin, 5-FU
81% vs. 56% (8)
67% vs. 41% (OS) (8) 61% vs. 36% (DFS) (8)
Scholten et al. 2005 (RPS)
T1
Postop RT vs. keine RT
46 Gy
Ja
Nein
95% vs. 86% (10)
66% vs. 73% (10)
Knocke et al. 1997 (RS)
T1a,b
Definitive RT
34–42,5 Gy BT (HDR)
Nein
Nein
86–69% (5)
64–47% (5)
Endometrium
bNED biochemisch rezidivfrei; CR komplette Remission; OS Gesamtüberleben/Overall Survival; DSS krankheitsspezifisches Überleben; DFS krankheitsfreies Überleben; EFS ereignisfreies Überleben; PS prospektive Studie; RPS randomisierte prospektive Studie; RS retrospektive Studie; CT zytotoxische Chemotherapie; HT Hormontherapie; RT Radiotherapie; KF konventionell fraktioniert; HYF hyperfraktioniert; AKZ akzeleriert; HOF hypofraktioniert; IF »involved field«; BT Brachytherapie; EF »extended field«; HDR »high dose rate«; TNI »total nodal irradiation«; LDR »low dose rate«; RF Risikofaktoren; RTOG Radiation Therapy Oncology Group (USA); EORTC European Organisation for Research and Treatment of Cancer; TURB transurethrale Resektion
450
Kapitel 22 · Strahlentherapie
22.3.1 Strahlendosen und Volumina
Die Effekte der Strahlentherapie auf Tumoren und Normalgewebe lassen sich im Wesentlichen beschreiben in Abhängigkeit von den Variablen »Dosis«, »Volumen«, und »zeitliche Applikation der Dosis« (Fraktionierung, Dosisleistung). Im Rahmen einer alleinigen Strahlentherapie sowie multimodaler Therapiekonzepte wird die zur Inaktivierung klonogener Zellen notwendige Strahlendosis der (noch) vorhandenen Zellzahl bzw. dem Tumorvolumen angepasst. Bezüglich der notwendigen Gesamtdosis wird unterschieden zwischen adjuvanten und definitiven Behandlungskonzepten. So genügt z. B. bei Plattenepithelkarzinomen bei einem residuellen Tumorvolumen unter der makroskopischen Nachweisbarkeitsgrenze (<1 mm, Zellzahl <1 Mio. ) eine Gesamtdosis von etwa 45 Gy konventionell fraktioniert, um in >95% eine lokale Tumorkontrolle zu erzielen. Bei einem Tumorvolumen von 1 ccm (Zellzahl >109 Zellen) ist zur Erzielung eines ähnlichen Effektes bei der entsprechenden Tumorentität hingegen eine Strahlendosis >70 Gy konventionell fraktioniert notwendig. Bei größeren Tumorvolumina (z. B. 10–100 ccm) sind entsprechend höhere Strahlendosen notwendig (z. B. 80–90 Gy), um bei gegebener Strahlenempfindlichkeit und alleiniger Radiotherapie wahrscheinlich eine Tumorkontrolle zu erzielen. Dies ist meist nur durch spezielle Techniken (z. B. Brachytherapie oder Konformationsradiotherapie) möglich (. Abb. 22.9; Wambersie u. Scalliet 1989).
22
. Abb. 22.9. Schematische Darstellung des Anteils der überlebenden Zellen solider Tumoren bei unterschiedlichen Therapiestrategien: alleinige Radiotherapie, Radiotherapie in Kombination mit Operation, Radiotherapie in Kombination mit (präoperativer) Chemotherapie und Operation. Um eine bestimmte absolute Reduktion der Zellzahl zur Erzielung einer anhaltenden Tumorkontrolle zu erreichen (Inaktivierung sämtlicher klonogener Zellen, klonogene Zellen etwa 1–10% der Gesamtzellzahl), sind unterschiedliche Strahlendosen in Abhängigkeit von der Strahlenempfindlichkeit und der Tumormasse notwendig. Die Radiotherapie kann bei der Mehrzahl der soliden Tumoren abhängig von der Dosis und der Strahlenempfindlichkeit die Zellzahl um 6–9 bis hin zu 10–12 Zehnerpotenzen reduzieren. Die chirurgische Entfernung eines Tumors kann zu einer vollständigen Elimination der Tumorzellen oder lediglich zu einer Reduktion der Tumormasse führen, z. B. bis in den mg-Bereich mit einer verbleibenden Zellzahl von etwa 106-7 Zellen. Die Chemotherapie erzielt bei soliden Tumoren üblicherweise eine Reduktion der Tumorzellzahl um 1–2 Zehnerpotenzen, abhängig von der Aus-
Einige allgemeine Definitionen von Volumina, die eine onkologische Behandlung i. Allg. betreffen, sind die folgenden (. Abb. 22.10; Pötter 1989; vgl. ICRU Report 50 und 62): 4 makroskopisch abgrenzbares Tumorvolumen (»gross tumor volume«, GTV); 4 klinisches Zielvolumen (»clinical target volume«; CTV): anatomisch zu definierendes Gewebsvolumen, dessen umfassende Behandlung für die Erzielung eines Therapieerfolges maßgeblich ist (kurativ/palliativ). Hierbei kann es sich um makroskopisch abgrenzbares Tumorvolumen und/oder um ein Gewebsvolumen handeln, das dem subklinischen Ausbreitungsgebiet der malignen Erkrankung entspricht. In jedem Fall ist das klinische Zielgebiet vor dem Beginn jedweder lokalen oder systemischen Behandlung genau zu definieren. Spezielle, die Radiotherapie betreffende Definitionen sind notwendig, um die Volumina zu kennzeichnen, in denen die vorgeschriebene Strahlendosis appliziert wurde, bezogen auf das klinische Zielvolumen (»Behandlungsvolumen«) und bezogen auf Risikoorgane (»bestrahltes Volumen«): 4 Planungszielvolumen (»planning target volume«, PTV): Geometrisch zu definierendes Gewebsvolumen, das alle geometrischen Variationen und Unsicherheiten der Dosisapplikationen miteinbezieht. Durch Berücksichtigung des Pla-
gangssituation bis hin zu einer Zellzahl von etwa 1010 bis 105. Dies entspricht einer Reduktion der Tumormasse z. B. um 50–99% entsprechend einer klinisch partiellen oder kompletten Remission. Die notwendige Strahlendosis hängt in diesem Kontext davon ab, ob eine alleinige Radiotherapie erfolgt, in welchem Ausmaß die chirurgische Entfernung eines Tumors möglich ist (makroskopisch/mikroskopisch komplette Resektion, »Sicherheitsabstände« bei Resektionsgrenzen) und inwieweit die Tumormasse bzw. die Tumorzellzahl durch eine Chemotherapie reduziert werden kann. In der vorliegenden Abbildung wird eine durchschnittliche homogene Strahlenempfindlichkeit angenommen, wobei eine Strahlendosis von 2 Gy (eine Fraktion) zu einer 50%igen Vernichtung der klonogenen Tumorzellen führt. Die Strahlenempfindlichkeit ist ausgeprägter bei Leukämien und malignen Lymphomen, sodass hier deutlich geringere Strahlendosen für eine signifikante Reduktion der Zellzahl notwendig sind: Es genügt z. B. eine Strahlendosis von 35–40 Gy, um ein malignes Lymphom mit einer Tumormasse von 50–300 g (Zellzahl 109-11) dauerhaft zu kontrollieren
451 22.3 · Grundlagen der Radioonkologie
. Abb. 22.10. Schematische Darstellung der in der Radioonkologie gebräuchlichen Volumendefinitionen (GTV, CTV, PTV sowie behandeltes und bestrahltes Volumen) am Beispiel einer Vierfeldertechnik bei Strahlentherapie eines prävertebral gelegenen Tumors (z. B. Pankreaskopfkarzinom oder paraaortale Lymphknotenmetastasen). Die unterschiedliche Schraffierung des bestrahlten und des behandelten Volumens entspricht den unterschiedlichen Strahlendosen in diesen Bereichen
4
4 4 4
nungszielvolumens wird sichergestellt, dass die Dosis der Strahlentherapie im klinischen Zielvolumen entsprechend der Dosisvorschrift appliziert wird. Behandeltes Volumen: Volumen, das von einer bestimmten Strahlenisodose umschlossen wird, die vom Radioonkologen als angemessen für das Erzielen eines Therapieerfolges angesehen wird. Bestrahltes Volumen: Gewebsvolumen, das eine Strahlendosis erhält, die in Relation zur bekannten Gewebstoleranz als signifikant angesehen wird. Risikoorgane: Risikoorgane sind jene Gewebe, deren Strahlenempfindlichkeit den Prozess der Therapieplanung bzw. der Dosisvorschrift maßgeblich beeinflusst. ICRU-Referenzpunkt/ICRU-Referenzdosis: Der ICRU-Referenzpunkt (International Commission on Radiation Units and Measurements) repräsentiert die Dosis im Zielvolumen und ist klinisch relevant. Er ist einfach und unmissverständlich definiert, üblicherweise im Schnittpunkt der Bestrahlungsfelder. Die Dosis im ICRU-Referenzpunkt wird als ICRU-Referenzdosis bezeichnet.
22.3.2 Dosierung und Fraktionierung
Nach Einführung der klinischen Anwendung ionisierender Strahlen um die Jahrhundertwende wurde rasch deutlich, dass die Aufteilung der Strahlendosis in zahlreiche Fraktionen zu einer besseren Verträglichkeit der Strahlenwirkung am Normalgewebe führt. Die Tumorwirkung wurde mit der akuten Wirkung auf Haut und Schleimhäute verglichen: Bei einer ausgeprägten entzündlichen Reaktion an Haut bzw. Schleimhäuten ging man entsprechend der empirisch gewonnenen Erfahrung davon aus, dass die Gesamtdosis in der entsprechenden Fraktionierung ausreichte, um eine Tumorheilung zu erzielen, z. B. bei Hautkarzinomen (Freund 1904).
22
In den letzten Jahrzehnten sind die Kenntnisse über diese Zusammenhänge klinisch und experimentell weiterentwickelt und präzisiert worden (Fowler et al. 2001). Die Tumorwirkung ist in erster Linie abhängig von der Strahlenempfindlichkeit der einzelnen Tumoren, dem Tumorvolumen sowie der applizierbaren Gesamtdosis und der Fraktionierung. Abhängig von der Strahlenempfindlichkeit beginnt sich die Tumorwirkung schon nach einigen Tagen klinisch zu manifestieren (maligne Lymphome), nach einigen Wochen (Plattenepithelkarzinome) oder erst im Verlauf von Monaten (langsam proliferierende Tumoren, z. B. hochdifferenzierte Adenokarzinome). Die jeweilige Wahrscheinlichkeit der Tumorwirkungen und der Wirkungen auf Normalgewebe lässt sich in Abhängigkeit von der Dosis am besten in Form von sigmoidal verlaufenden Kurven beschreiben, wobei der Abstand der Kurven voneinander (»therapeutische Breite«) über die potenziell applizierbare Gesamtdosis entscheidet (. Abb. 22.5 und 22.6). Entsprechende Kurvenverläufe konnten unter Zugrundelegung konventioneller Fraktionierung inzwischen für nahezu sämtliche Tumor- und Normalgewebe aus empirischen und experimentellen Beobachtungen gewonnen werden (Emami et al. 1991). Entsprechend den Erfahrungen der klassischen Strahlentherapie sind die Strahlenempfindlichkeit der Tumorzellen (maligne Lymphome, Plattenepithelkarzinome, Adenokarzinome) und das Tumorvolumen einerseits sowie die Strahlenempfindlichkeit und das Volumen bzw. die funktionell-anatomische Organisation des mitbestrahlten Normalgewebes andererseits die wesentlichen Parameter, die das Ausmaß der therapeutischen Breite bestimmen. Die meist vollständig reversiblen akuten Reaktionen sind vor allem abhängig vom Gesamtbehandlungszeitraum, der Gesamtdosis und dem Behandlungsvolumen, in gewisser Weise auch von der Höhe der Einzeldosis. Akute Reaktionen (z. B. an den Schleimhäuten) werden bei konventioneller Fraktionierung etwa mit Beginn der dritten Behandlungswoche beobachtet und nehmen im Laufe der Strahlenbehandlung mit Steigerung der Strahlendosis zu. Die radiogenen Spätfolgen sind abhängig von der Höhe der Einzeldosis, der Gesamtdosis und dem Behandlungsvolumen, während dem Gesamtbehandlungszeitraum lediglich eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Bis auf wenige Ausnahmen (»sequenzielle Effekte«) besteht keine Korrelation zwischen der Ausprägung akuter und später Reaktionen, da es sich um unterschiedliche Zellsysteme handelt (Stammzellen der Mukosa vs. Gefäßendothelzellen und Fibroblasten). Das Zeitintervall zwischen den einzelnen Fraktionen spielt für die Ausprägung der Nebenwirkungen eine bedeutende Rolle. Um die Reparaturvorgänge nach den unterschiedlichen Formen der Strahlenschädigung am Normalgewebe abzuschließen, benötigen die Zellerneuerungssysteme nach neueren Erkenntnissen Zeitintervalle von mindestens 8–12 h, vor allem in langsam proliferierenden Geweben, wie z. B. im ZNS (Steel 2002). Während einer fraktionierten Strahlentherapie kommt es infolge des Zelluntergangs des Tumorgewebes zu einer verstärkten proliferativen Aktivität von Tumorzellen, zur »Repopulierung«. Die Geschwindigkeit dieser Repopulierung ist abhängig von der individuellen Zellkinetik der Tumoren. Bei Plattenepithelkarzinomen der Kopf-Hals-Region beginnt die Repopulierung entsprechend experimentellen und klinischen Beobachtungen schon nach etwa 4 Wochen. Ein Teil der Strahlendosis, die über einen Zeitraum von 4 Wochen hinaus appliziert wird, ist deshalb nicht für die ursprünglich vorhandene Tumorzellmasse, sondern für die Elimination von neu gebildeten Tumorzellen notwendig (Fowler et al. 2001).
452
Kapitel 22 · Strahlentherapie
Unter Berücksichtigung dieser Zusammenhänge sind Fraktionierungsschemata für die klinische Praxis entwickelt worden, die versuchen, diese unterschiedlichen Aspekte zu berücksichtigen. Konventionell fraktionierte Strahlentherapie Zur Erzielung einer adäquaten Tumorwirkung werden Einzeldosen von 1,5–2,0 Gy/Fraktion pro Tag und 7,5–10 Gy pro Woche zugrunde gelegt. Diese Strahlendosen werden entsprechend der notwendigen Gesamtdosis von 15–45 Gy (maligne Lymphome, Seminome, pädiatrische Malignome) sowie von 45–80(90) Gy (solide Tumoren) in einem Gesamtbehandlungszeitraum von etwa 2–8 Wochen mit je 5 Fraktionen pro Woche appliziert, wobei üblicherweise an den Wochenenden nicht behandelt wird (. Abb. 22.11). Diese »konventionelle Fraktionierung« stellt seit 2‒3 Jahrzehnten die übliche Form der Dosisapplikation in der kurativen Strahlentherapie dar. Hyperfraktionierte Strahlentherapie Bei der hyperfraktionierten Strahlentherapie wird eine größere Anzahl kleinerer Strahlendosen verwendet ohne Veränderung der Gesamtbehandlungszeit der Strahlenbehandlung: mehrmalige Bestrahlungen pro Tag (2 bzw. 3 Fraktionen) mit Verringerung der Einzeldosis pro Fraktion (1,1–1,6 Gy) und Beibehaltung der Gesamtbehandlungszeit (. Abb. 22.11). Ziel dieser Behandlungsstrategie ist die Erhöhung der Gesamtdosis durch Verwendung niedriger Einzeldosen. Niedrige Einzeldosen führen bei spät reagierenden Geweben zu vergleichsweise geringeren Effekten als bei akut reagierenden Geweben und Tumoren. Auf diese Weise ist zur Verbesserung der Tumorwirkung eine Dosiseskalation möglich unter Inkaufnahme einer begrenzten Zunahme akuter Nebenwirkungen. Die Rate radiogener Spätfolgen wird nicht nennenswert erhöht, wenn eine komplette Rückbildung akuter Nebenwirkungen nach Strahlentherapie weiterhin möglich ist. Erfahrungen wurden vor allem gewonnen in der Behandlung von Tumoren der Kopf-HalsRegion und Bronchialkarzinomen (Fu et al. 2000; Turrisi et al. 1999).
. Abb. 22.11. Konventionelle Fraktionierung und unkonventionelle Fraktionierungsschemata (Erklärung s. Text)
22
Akzelerierte Strahlentherapie Bei der akzeleriert fraktionierten Strahlentherapie wird die Gesamtbehandlungszeit der Strahlenbehandlung verkürzt: Erhöhung der Zahl der Fraktionen pro Tag bzw. pro Woche bei unveränderter bzw. nur geringfügig reduzierter Einzeldosis pro Fraktion (. Abb. 22.11). Ziel dieser Strategie ist es, den Effekt einer bestimmten Strahlendosis auf das Tumorgewebe zu erhöhen: Durch Verkürzung der Behandlungszeit wird der gegenläufige Effekt der nach einigen Wochen der Strahlentherapie einsetzenden Tumorzellproliferation verringert bzw. weitgehend ausgeschaltet. Begrenzend für diese Intensivierung der Dosisapplikation ist die akute Toxizität der Strahlentherapie. Erste Erfahrungen liegen vor für die Behandlung von Bronchialkarzinomen (Saunders et al. 1997, 1999) und von Tumoren der Kopf-Hals-Region (Skladowski et al. 2006; Overgaard et al. 2003). Hyperfraktioniert akzelerierte Strahlentherapie Bei der hyperfraktionierten und akzelerierten Form der Radiotherapie werden die Vorteile beider Fraktionierungsschemata miteinander verknüpft. Das bekannteste Beispiel hierfür ist das »CHART-Protokoll« (»continuous hyperfractionated accelerated radiotherapy«). In einem Zeitraum von 2–3 Wochen werden Gesamtdosen von 54 Gy appliziert mit 2–3 Fraktionen pro Tag und ohne Bestrahlungspausen am Wochenende. Sowohl die Wirkung auf den Tumor wie auf die akut reagierenden Normalgewebe werden im Vergleich mit der konventionellen Fraktionierung erheblich verstärkt. Für die Restitutio ad integrum der Normalgewebe kommt der lokalen supportiven Therapie bei diesen Schemata eine entscheidende Bedeutung zu. Vielversprechende klinische Erfahrungen aus prospektiven Therapiestudien zur hyperfraktioniert akzelerierten Radiotherapie liegen vor bei Plattenepithelkarzinomen der Kopf-HalsRegion (Dobrowsky u. Naude 2000; Fu et al. 2000) und bei Bronchialkarzinomen (Baumann et al. 2005; Saunders et al. 1997, 1999; Turrisi et al. 1999). Zurzeit werden hyperfraktioniert akzelerierte Behandlungsschemata mit Strahlendosen zwischen
453 22.3 · Grundlagen der Radioonkologie
60 und 72 Gy in einem Zeitraum von 5–6 Wochen zunehmend in die klinische Praxis eingeführt. Kombinationen mit Chemotherapie Hyperfraktioniert akzelerierte Behandlungsschemata in Kombination mit zytostatischer Behandlung wurden bisher in nennenswertem Umfang bei Sarkomen im Kindes- und Jugendalter (Ewing-, Weichteilsarkome, VACA/VAIA), bei Plattenepithelkarzinomen der Kopf-Hals-Region (MMC, 5–FU, platinhaltige Schemata; Guadagnolo et al. 2005, Dobrowsky u. Naude 2000) und bei Bronchialkarzinomen (SCLC/NSCLC; Belani et al. 2005; Turrisi et al. 1999; Uitterhoeve et al. 2000) untersucht. Neben der Tumorwirkung ist vor allem die akute Toxizität an akut reagierenden Geweben nennenswert erhöht (Schleimhäute Mundhöhle und Pharynx, Ösophagus). In der Behandlung der pädiatrischen Malignome und der Bronchialkarzinome werden deshalb Behandlungspausen der Radiotherapie diskutiert (ca. 2 Wochen), wobei hierdurch die Effektivität vermindert werden kann. Eine andere Möglichkeit besteht darin, Zytostatika so auszuwählen, dass das Spektrum der akuten Toxizität beider Behandlungsmodalitäten sich nicht überschneidet, z. B. MMC (ohne Schleimhauttoxizität) bei Malignomen der Kopf-HalsRegion. Hypofraktionierte Strahlentherapie Die hypofraktionierte Strahlentherapie verwendet eine kleinere Anzahl größerer Fraktionen (>2 Gy) ohne Veränderung der Gesamtbehandlungszeit (hypofraktionierte Strahlentherapie) bzw. mit Verkürzung der Gesamtbehandlungszeit (hypofraktioniert akzelerierte Strahlentherapie) (Zimmermann et al. 2006). Behandlungsschemata mit 10-mal 3 Gy in 2 Wochen (. Abb. 22.11) oder 4-mal 5 Gy in 1 Woche finden insbesondere in der palliativen Situation Anwendung, in der der Vermehrung radiogener Spätfolgen durch Erhöhung der Einzeldosis keine Bedeutung zukommt (Hoskin 1988). In der präoperativen Radiotherapie von Rektumkarzinomen sind Schemata zur hypofraktioniert akzelerierten Radiotherapie im Rahmen zahlreicher kurativer Therapieprotokolle ex-
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tensiv untersucht worden (Swedish Rectal Cancer Trial Group 1997; Kapiteijn et al. 2001). 22.3.3 Kombinierte Radiochemotherapie
Bei malignen Tumoren, die einer kombinierten Radiochemotherapie unterzogen werden, werden Radiotherapie und Chemotherapie überwiegend zytotoxisch wirksam. Die Wirkungsmechanismen können unterschiedlich, ähnlich oder gleich sein. Dabei ist die Zahl der Tumorzellen, die lokal durch Radiotherapie abgetötet werden, um ein Vielfaches größer als die durch Chemotherapie. Im Unterschied zur lokoregional wirkenden Strahlentherapie kann die systemisch wirkende Chemotherapie jedoch auch mikroskopische Fernmetastasen inaktivieren. Eine additiv wirkende Chemotherapie verstärkt die Strahlenwirkung unmittelbar am Tumor (»lokale Wirkung«, z. B. Analkarzinome, Plattenepithelkarzinome der Kopf-Hals-Region); sie kann (auch oder vor allem) disseminierte Tumorzellen inaktivieren (»Fernwirkung«, z. B. Bronchialkarzinome); sie kann in ähnlicher Intensität sowohl lokal als auch systemisch wirken (z. B. maligne Lymphome). Bei der klassischen Radiochemotherapie steht die lokoregionale Wirkungsverstärkung im Vordergrund (. Tab. 22.2). Im Idealfall sollten bei einer Kombinationsbehandlung die Nebenwirkungen der Chemotherapie unabhängig von denen der Strahlentherapie sein, d. h., die Wirkung auf das Normalgewebe sollte nicht additiv sein. Für viele Chemotherapeutika ist die effektivste zeitliche Kombination mit der Strahlentherapie noch nicht eindeutig geklärt (sequenziell, simultan). Im Rahmen der klassischen Radiochemotherapie (z. B. Analkarzinome, Tumoren der Kopf-Hals-Region) scheint die simultane Applikation der sequenziellen Applikation überlegen zu sein (Pignon et al. 2000). Umfassende experimentelle und klinische Forschungen erfolgten während der letzten Jahrzehnte, um die Wechselwirkungen zwischen Radiotherapie und Chemotherapie zu verstehen und die klinischen Anwendungen vor allem in der Kombination dieser beiden Therapiemodalitäten zu optimieren (. Tab. 22.3; John et al. 1993; Horwich et al. 1992).
. Tab. 22.2. Spektrum der Toxizität der für eine kombinierte Radiochemotherapie gebräuchlichen Zytostatika: Knochenmarktoxizität, Organtoxizität. Spektrum der Wirkungsverstärkung der Radiotherapie: Verstärkung der Tumorwirkung (in vitro/in vivo), Verstärkung der Organtoxizität Zytostatikum
Knochenmarktoxizität
Organtoxizität
Verstärkung der Tumorwirkung in vitro/in vivo
Verstärkung der Organtoxizität
Alkylantien (Ifosfamid, Cycloposphamid, u.a.)
Neutropenie, Thrombopenie
Hämorrhagische Zystitis, Niere
+ (+)
–
Taxane
Neutropenie, Thrombopenie
GI-Trakt, periphere Nerven, Herz, allergische Reaktionen
+ (+)
(+) ZNS
MTX
Neutropenie, Thrombopenie
Schleimhaut, Gl-Trakt, Niere
++
+ ZNS + Gl-Trakt + Schleimhaut
5-FU
Neutropenie
Gl-Trakt, Schleimhaut
++
+ Gl-Trakt + Schleimhaut
Capecitabine
–
Hand-Fuss-Syndrom, Diarrhoe, Stomatitis
+
+ Mukositis + Diarrhoe
454
Kapitel 22 · Strahlentherapie
. Tab. 22.2 (Fortsetzung) Zytostatikum
Knochenmarktoxizität
Organtoxizität
Verstärkung der Tumorwirkung in vitro/in vivo
Verstärkung der Organtoxizität
Actinomycin D
Neutropenie, Thrombopenie
Gl-Trakt, Leber, Haut
++
+ »Radiation Recall« (Haut) + Leber
Anthrazykline
Neutropenie, Thrombopenie
Lokale NW, Herz, Haut, Nausea
+
+ Herz + »Radiation recall« (Haut)
Doxorubicin-HCL (lipos. i.v.)
Myelosuppression
Bleomycin
Herz, Haut, Hand-Fuss-Syndrom
+
+ Herz
Lunge
-+
+ Lunge
Mitomycin C
Neutropenie, Thrombopenie
Lunge, Niere Hämolytisch-uraemisches Syndrom
++
+ Lunge
Cis-Platin
Anämie
Nausea, Niere, periphere Neuropathie Innenohr
++
+ Schleimhaut + Innenohr + Gl-Trakt + ZNS
Carboplatin
Neutropenie, Thrombopenie
Niere, periphere Nerven
++
+ Schleimhaut
Oxaliplatin
Myelosuppression
Periphere Neuropathie, Diarrhoe
+
-
Topotecan
Myelosuppression
Mucositis
+ (+)
+ Knochenmarktoxizität
Etoposid
Neutropenie, Thrombopenie
+-
+ Schleimhaut
Gemcitabine
Neutropenie, Thrombopenie
Transaminasen ↑
+ (+)
+ Schleimhaut
Cetuximab
-
Allergie, Akne, Hypomagnesämie
+
-
. Tab. 22.3. Möglichkeiten des Einsatzes einer kombinierten Radiochemotherapie sowie Bewertung der klinischen Ergebnisse Tumorentität/Behandlungsziel
Bewertung der klinischen Ergebnisse
Präoperative Radiotherapie/Chemotherapie
22
Erwünschter Effekt der Kombinationsbehandlung:
1. Verbesserung der lokoregionären Tumorkontrolle 2. Vernichtung von Mikrometastasen 3. Verbesserung der Überlebenszeit
Kopf-Hals-Karzinom (1, 2, 3)
Die Rolle in der organerhaltenden Behandlung für operable Tumoren ist vielversprechend, muss jedoch noch endgültig definiert werden. Einsatz im Rahmen von Studien (Guadagnolo et al. 2005; Urba S. et al. 2006).
Ösophaguskarzinom (1, 2, 3)
Metaanalysen zeigen einen Überlebensvorteil sowie verbesserte lokale Kontrolle nach 3 Jahren bei Radiochemotherapie mit Resektion im Vergleich zur alleinigen Resektion (Fiorica et al. 2004; Urschel et al. 2003).
Nichtkleinzelliges Bronchuskarzinom (1, 2, 3)
Ein Vorteil im Vergleich zur alleinigen konventionell fraktionierten Radiotherapie ist bewiesen worden. Strategien zur Kombination von Strahlentherapie und Chemotherapie im Stadium III beinhalten den sequenziellen und simultanen Einsatz beider Modalitäten, wodurch eine verbesserte Tumorkontrolle und z. T. eine Verlängerung der Überlebenszeit erreicht werden können (Furuse et al. 1999; Komaki et al.2002; Uitterhoeve et al. 2000). Die Induktionschemoradiotherapie im Stadium III ist nicht als Standardtherapie anzuwenden, sondern im Rahmen von Studien.
455 22.3 · Grundlagen der Radioonkologie
22
. Tab. 22.3 (Fortsetzung) Tumorentität/Behandlungsziel
Bewertung der klinischen Ergebnisse
Weichteilsarkom (1, 2, 3), Vermeidung von Mutilation
Diese Therapiestrategie sollte zunächst Patienten mit primär inoperablen bzw. marginal resektablen Weichteilsarkomen vorbehalten bleiben und in prospektiv randomisierten Studien einer präoperativen Strahlentherapie gegenübergestellt werden (; Pisters et al. 2002; O´Sullivan et al. 2002). Bei operablen Tumoren wird die Radiochemotherapie in prospektiven Studien untersucht.
Rektumkarzinom (1, 2, 3)
Bei primär operablen Tumoren ist zur Reduktion der lokoregionalen Tumorrezidive und/oder zur Sphinktererhaltung eine Strahlentherapie ggf. eine Radiochemotherapie indiziert, wobei die Daten eine präoperative Bestrahlung favorisieren (Colorectal Cancer Collaborative Group 2001; Glimelius et al. 1997; Kapiteijn et al. 2001; Sauer et al. 2004). Bei primär inoperablen Tumoren ist eine Down-Staging-Radiochemotherapie generell anzustreben (Mohiuddin et al. 2000). Die präoperative kombinierte Radiochemotherapie (5-FU/LV) ist der präoperativen alleinigen Radiotherapie bezüglich Down-Sizing und Down-Staging signifikant überlegen, EORTC Studie 22921 (Bosset et al. 2005).
Definitive Radiochemotherapie Kopf-Hals-Karzinom (1, 2, 3)
Ein Vorteil im Vergleich zu konventionell fraktionierter Radiotherapie ist nachgewiesen (ca. 4-8%, Pignon et al. 2000). Eine Verlängerung der Überlebenszeit wurde bisher allerdings lediglich für 5-FU, Cisplatin und Mitomycin mit simultaner Radiotherapie gezeigt [Dobrowsky u. Naude 2000; Pignon et al. 2000 (Metaanalyse); Denis et al. 2004; Hehr et al. 2004; Budach et al. 2005; Semrau et al. 2006; Bensadoun et al. 2006] Eine Überlegenheit der definitiven Radiochemotherapie gegenüber einer alleinigen Radiotherapie in hyperfraktionierter bzw. akzelerierter Form wird von manchen Autoren vermutet (Bensadoun) ist allerdings noch nicht gesichert (Nguyen u. Ang 2002).
Ösophaguskarzinom (1, 2, 3)
Im prospektiv randomisierten Vergleich zwischen alleiniger Radiotherapie und Radiochemotherapie scheint es eine Überlegenheit der Kombination hinsichtlich medianer Überlebenszeit und Langzeitüberleben zu geben. Ist ein chirurgisches Vorgehen nicht möglich, sollte eine kombinierte Radiochemotherapie der alleinigen Radiotherapie, falls möglich, vorgezogen werden [RTOG 85-01: Cooper et al. 1999; Wong et al. 2004 (Metaanalyse)].
Zervixkarzinom (1, 2, 3)
Beim primären lokal fortgeschrittenen Zervixkarzinom ergibt die definitive kombinierte Radiochemotherapie mit wöchentlich Cisplatin (und 5-FU) gegenüber der alleinigen Radiotherapie einen stadienabhängigen Überlebensvorteil von mehr als 10% (Keys et al. 1999; Eifel et al. 2005; Rose et al. 1998; Green et al. 2001).
Analkanalkarzinom (1, 3), Erhaltung der Kontinenz
Durch Kombination von RT und CT (MMC + 5-FU) lassen sich stadienabhängig bis zu 90% Fünfjahresheilungen erzielen, sodass sich dieses Verfahren allgemein durchgesetzt hat (Bartelink et al. 1997; Flam et al 1996; UKCCCR 1996; Bosset et al. 2003). Tumoren unter 2 cm Durchmesser werden durch alleinige Strahlentherapie in ca. 80% geheilt (Papillon u. Montbarbon 1987).
Nichtkleinzelliges Bronchuskarzinom (1, 3)
Ein Vorteil der Radiochemotherapie im Vergleich zur alleinig konventionell fraktionierten Radiotherapie wurde erstmals 1990 in einer prospektiv, randomisierten Studie (CALGB 8433) gezeigt. Ein Vorteil gegenüber einer alleinigen akzelerierten oder einer konventionell fraktionierten dosiseskalierten Radiotherapie ist bisher nicht bewiesen (Belderbos et al. 2003; Bradley et al. 2005; Rengan et al. 2004).
Pankreaskarzinom [1 (3)]
In kleinen Phase-I/II-Studien konnten bei kombinierten Radiochemotherapien mit Paclitaxel 2-Jahres-Überlebensraten von 13–27% erzielt werden (Rich et al. 2004; Ashamalla et al. 2003).
Harnblasenkarzinom, Erhaltung der Blase (1, 2)
Durch Kombinationsbehandlung (TURB und RT+CHT oder CT) kann die Rate histologisch kompletter Remissionen im Vergleich zur alleinigen Radiotherapie signifikant gesteigert werden. Mit Cisplatin-haltigen Regimen erreicht man auch bei fortgeschrittenen Karzinomen Remissionsraten ≥70% und eine ähnliche Lokalkontrolle wie nach Zystektomie bei gleichzeitigem Organerhalt (Roedel et al. 2002). Neben Cisplatin kommt auch 5-FU in Kombination zum Einsatz. Neuere Substanzen (z. B. Gemcitabine und Taxane) werden derzeit in Studien erprobt.
456
Kapitel 22 · Strahlentherapie
. Tab. 22.3 (Fortsetzung) Tumorentität/Behandlungsziel
Bewertung der klinischen Ergebnisse
Postoperative Radiotherapie/Chemotherapie Rektumkarzinom (1, 2, 3)
In randomisierten Studien (O‘Connell et al. 1994; Tepper et al. 1997; Lee et al. 2002; Wolmark et al. 2000) konnte gezeigt werden, dass bei kombinierter Radiochemotherapie (5-FU) die Überlebenszeit signifikant länger ist als bei lediglich mit postoperativer Strahlentherapie behandelten Patienten. Unterschiedliche Applikationsarten von 5-FU (Bolusgabe versus kontinuierliche Infusion) zeigten keinen Einfluss auf rezidivfreies oder Gesamtüberleben (Smalley et al. 2006).
Pankreaskarzinom
Die adjuvante Kombinationstherapie ist derzeit als experimentell zu bezeichnen, die derzeit laufende EORTC-Phase-III-Studie (postoperative Chemotherapie vs. postoperative Radiochemotherapie, EORTC-40013; EORTC-22012) soll eine Klärung herbeiführen.
Mammakarzinom [axillärer LK-Befall bei brusterhaltender Operation (1, 2, 3)]
Bei prämenopausalen Patientinnen mit nachgewiesenen axillären LK-Metastasen gilt die adjuvante Chemotherapie als Standardtherapie. Es liegen neuerdings Hinweise vor, dass eine adjuvante Hormontherapie bei hormonrezeptorpositiven Patientinnen zu ähnlichen Ergebnissen führt (Jakesz et al 2002). Postmenopausale Patientinnen mit nachgewiesenen LK-Metastasen benötigen systemische Therapie. ER/PR pos.: Hormontherapie; ER/PR neg.: CT [Early Breast Cancer Trialist‘s Collaboration Group (EBCTCG) 2005].
Lokal fortgeschrittene Kopf-HalsTumore
Bei lokal fortgeschrittenen Kopf-Hals-Tumoren Stadium III–IV kann eine konkomitante postoperative Radiochemotherapie die Lokalkontrolle und möglicherweise auch das Überleben deutlich verbessern (Bernier et al. 2004; Cooper et al. 2004).
Zervixkarzinom (1, 3)
Verbesserung der Resultate der Radiotherapie und der radikalen Operation durch eine adjuvante Chemotherapie mit Platinderivaten in Risikogruppen (Monk et al. 2005).
Glioblastom
Die zusätzliche Gabe von Temozolamid im Rahmen der primären Behandlung von Glioblastomen führt erstmals in Kombination mit Operation und Radiotherapie zu einer deutlichen Steigerung der lokalen Kontrolle und zu einer signifikanten Steigerung des Überlebens nach 2 Jahren (Stupp et al. 2005).
Weichteilsarkom (1, 2, 3), Vermeidung von Mutilation
Ein Vorteil gegenüber alleiniger postoperativer Radiotherapie ist nicht bewiesen. Lediglich in 2 von 10 prospektiv randomisierten Studien zur adjuvanten Therapie zeigt sich eine signifikante Verlängerung der Überlebenszeit in Hochrisikogruppen (McCarter et al. 2002). Eine Metaanalyse konnte bei adjuvanter Therapie eine Verlängerung des rezidivfreien Überlebens, jedoch keine Verlängerung des Gesamtüberlebens nachweisen (Metaanalyse Lancet 1997).
Induktionschemotherapie/konsolidierende Radiotherapie Erwünschter Effekt der Kombinationsbehandlung
Konsolidierung des Effekts der Chemotherapie
Kleinzelliges Bronchialkarzinom
Eine große randomisierte Studie konnte im Vergleich zum konsekutiven Vorgehen bei frühem Einsatz einer simultanen, hyperfraktioniert akzelerierten Radiochemotherapie einen signifikanten Vorteil zeigen (Turrisi et al 1999).
Vernichtung zerebraler Mikrometastasen (kleinzelliges Bronchialkarzinom)
Ein Überlebensvorteil (5%) durch prophylaktische Ganzhirnbestrahlung bei Patienten mit limitierter Tumorausbreitung und kompletter Remission nach Abschluss der Induktionstherapie ist bewiesen (Auperin et al 1999).
Morbus Hodgkin
Bei der Behandlung des Morbus Hodgkin lässt sich in den Stadien I–IIIa ohne Risikofaktoren durch Chemotherapie und Involved-Field-Radiotherapie ein 5-Jahres-Überleben von 91% und ein ereignisfreies Überleben von 83% erzielen (Eich et al. 2005). Mit der intensivierten Chemotherapie (BEACOPP und eskaliertem BEACOPP) konnten auch für höhere Tumorstadien gute Therapieergebnisse mit 5-Jahres-Überlebensraten von bis zu 91% erzielt werden. Die Notwendigkeit der zusätzlichen Strahlentherapie bei »bulky disease« bzw. Resttumoren ist bisher in diesem Regime nicht eindeutig geklärt (Diehl et al. 2003).
Non-Hodgkin-Lymphome (niedrig maligne NHL)
Die Kombination von Rituximab mit CHOP verbessert das Überleben der Patienten mit fortgeschrittenem follikulärem Lymphom und wird als Erhaltungstherapie nach Zytoreduktion angewandt. (Hiddemann et al. 2005a,b). In den Stadien I und II ist die Strahlentherapie bisher nach wie vor Goldstandard (Sack et al. 1998).
Non-Hodgkin-Lymphme (hoch maligne NHL)
Bei Patienten bis 60 Jahre konnte durch die Zugabe von Rituximab zu 6 Zyklen CHOP die 3-Jahres-Überlebensrate auf über 90% gesteigert werden. Der Stellenwert der Radiotherapie bei den primär ungünstigen großen Tumoren ist weiterhin Frage von laufenden Studien (Pfreundschuh et al 2006).
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457 22.3 · Grundlagen der Radioonkologie
22.3.4 Unerwünschte Folgen der Strahlentherapie
Die radiogenen akuten oder chronischen Effekte auf Normalgewebe sind begrenzend für die Applikation tumorizider Strahlendosen (Dörr et al. 2005). In der kurativen Radiotherapie sind insbesondere chronische Therapiefolgen von erheblicher Bedeutung für die Lebensqualität. Eine detaillierte Kenntnis der akuten Effekte ist für die adäquate Durchführung der Therapieschemata Voraussetzung, vor allem bei der Verwendung intensiver Therapieprotokolle (z. B. unkonventionelle Fraktionierung, Dosiseskalation, Radiochemotherapie). Die einzelnen Gewebearten unterscheiden sich beträchtlich hinsichtlich ihrer Strahlenempfindlichkeit, wobei bezüglich des Reaktionsmusters im Wesentlichen zwischen akut und spät reagierenden Geweben zu unterscheiden ist. Rasch proliferierende Gewebe (Haut, Schleimhäute, Knochenmark) reagieren schnell und führen zu passageren akuten Effekten. Langsam proliferierende Gewebe (Parenchymzellen, Gefäße, Bindegewebe) reagieren klinisch erst nach einer gewissen Latenzzeit, die Monate bzw. Jahre betragen kann. Während die akuten Effekte in der Regel passager sind (Tage bis Wochen), entwickeln sich die chronischen Effekte in der Regel langsam progredient und sind meist irreversibel. Bei den akuten und chronischen Effekten der Strahlentherapie ist zu beachten, dass – von einzelnen Ausnahmen abgesehen – zwischen der Häufigkeit klinisch auffälliger akuter Effekte und der Wahrscheinlichkeit von Späteffekten kein direkt proportionaler Zusammenhang besteht, sodass das Vorhandensein bzw. das Nichtvorhandensein von akuten Effekten keine Rückschlüsse auf die Wahrscheinlichkeit von Späteffekten erlaubt. Die radiogenen Spätfolgen sind vor allem abhängig von der Höhe der Einzeldosis, der Gesamtdosis und dem Behandlungsvolumen, während bei den akuten Reaktionen der Gesamtbehandlungszeitraum zusätzlich eine maßgebliche Rolle spielt. Die Wahrscheinlichkeit akuter bzw. chronischer Therapiefolgen an einzelnen Organen ist erhöht, wenn eine Vorerkrankung an diesem Organ vorliegt. (z. B. entzündliche Darmerkrankungen, obstruktive bzw. restriktive Lungenerkrankungen, Kardiomyopathien), bei allgemeinen Erkrankungen, wie z. B. bei Störungen des Stoffwechsels (Diabetes mellitus) oder bei kardiovaskulären Erkrankungen (Bluthochdruck), bei bestimmter genetischer Disposition (z. B. Ataxia teleangiectatica), bei Störungen des Ernährungszustandes und bei Nikotin- und Alkoholabusus. Des Weiteren müssen grundsätzlich operative Eingriffe hinsichtlich einer Beeinflussung radiogener Effekte mit in Betracht gezogen werden, meist im Sinne einer Verstärkung der Strahlenwirkung. Nach abdominellen operativen Eingriffen werden beispielsweise häufiger radiogene Therapiefolgen am Darm bei Bestrahlungen im Bereich des Beckens beobachtet. Bei der kombinierten Radiochemotherapie können in Abhängigkeit von dem jeweiligen Nebenwirkungsspektrum der beiden Therapiemodalitäten ebenfalls die radiogenen Effekte auf das Normalgewebe verstärkt werden, vor allem bei additiven Wirkungen, z. B. am Knochenmark, an den Schleimhäuten des Verdauungstraktes (5-Fluoruracil), an der Lunge (Bleomycin), am ZNS (Methotrexat), am Herzen (Anthrazykline, nicht additiv) oder an den Geschlechtsorganen (z. B. Alkylanzien). Zur Klassifikation radiogener Nebenwirkungen stehen heute international anerkannte Graduierungssysteme für strahlenassoziierte Nebenwirkungen zur Verfügung, z. B. EORTC/ RTOG-Score, LENT-SOMA Score (Pavy et al. 1995; Rubin et al. 1995; Common Toxicity Criteria, http://ctep.cancer.gov/report-
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ing/ctc.html CTCAE v3.0; Seegenschmiedt et al. 1999). Sie unterscheiden sich deutlich von den von der WHO empfohlenen Graduierungen, die sich im Wesentlichen ausschließlich auf die chemotherapieassoziierten Nebenwirkungen beschränken. Die Wahrscheinlichkeit radiogener Nebenwirkungen lässt sich in ähnlicher Weise wie die Tumorkontrollwahrscheinlichkeit auf der Grundlage der Auswertung klinischer Erfahrungen abschätzen. Als Begriff ist hierfür die »normal tissue complication probability« (NTCP) eingeführt worden (Überblick bei Emami et al. 1991; Dörr et al. 2005). Bedeutend ist die Beachtung verschiedener Endpunkte für die Abschätzung der Wahrscheinlichkeit bestimmter Effekte. Abhängig von der »Targetzelle« schwankt die NTCP für unterschiedliche Organe, jedoch auch innerhalb von Organen, nennenswert. Die akute Strahlenreaktion der Haut beginnt nach etwa 2– 3 Wochen Bestrahlung mit einem Erythem, gefolgt von Epilation und Hyperpigmentierung. Abhängig von der Dosis können trockene (40 Gy) und gelegentlich auch feuchte (60 Gy) Epitheliolysen auftreten. Erythem und Epitheliolyse sind passager; abhängig von der applizierten Dosis können Epilation, Hyperpigmentierung und vor allem Aussetzen der Schweißdrüsen- und Talgdrüsenfunktion persistieren. Die Mehrzahl der Spätreaktionen der Haut umfassen Teleangiektasien (40–50 Gy), Hautatrophien und subkutane Fibrosen (50–60 Gy). Die akute Strahlenreaktion an den strahlenempfindlichen Schleimhäuten des Verdauungstraktes ist eine Kombination aus einer Epithelhypoplasie mit erosiven und ulzerativen Veränderungen und einer entzündlichen Reaktion der Submukosa mit Erythem und Ödembildung und beginnt in der 3. Woche der Bestrahlung. In der Folge kommt es, abhängig von Dosis, Fraktionierung und Volumen der Bestrahlung, zur Ausbildung von Fibrinbelägen bis hin zu konfluierenden Pseudomembranen (Kopf-HalsRegion) bzw. zu unterschiedlichen Ausprägungen einer Gastroenterokolitis-/proktitis im Magen-Darm-Bereich (Durchfälle, Schmerzen). Die vielfältigen chronischen Strahlenfolgen werden wesentlich geprägt durch die fibrosierenden Veränderungen im Bereich der Mikrovaskulatur, die entsprechende Auswirkungen auf alle Wandschichten nach sich ziehen kann, wie z. B. Mukosaatrophie und fibrosierende Veränderungen in der Submukosa. Die seltenen akuten Strahlenreaktionen der Leber führen zu einer Nekrose der Hepatozyten, zu Hyperämie und Ödem sowie zur Leberstauung im bestrahlten Lebersegment. Betroffen sind vor allem die Sinusoide sowie die Zentralvenen und die Hepatozyten. Im weiteren Verlauf kommt es zu einer Sklerosierung und Obliteration der Zentralvenen, zu einer interstitiellen Fibrosierung in den Zentren der Läppchen und zu einer Bindegewebsseptierung. Diese venookklusive Erkrankung (VOD) kann unter dem Bild einer akuten Strahlenhepatitis foudroyant verlaufen und in eine chronisch progrediente Leberzirrhose übergehen. Die Ausprägung des klinischen Krankheitsbildes ist abhängig von der Strahlendosis und dem Volumen des bestrahlten Lebersegments und kann sich Wochen bis Monate nach Strahlendosen zwischen 25 und 50 Gy entwickeln. Die Strahlenreaktion der Lunge ist in ihrer Pathogenese komplex und wird bestimmt durch eine Schädigung der alveolokapillären Membran, einer Schädigung der Pneumozyten (Typ II), einer Schädigung des Kapillarendothels sowie der Aktivierung von Wachstumsfaktoren (TGF-β) und Fibroblasten. Nach einer Latenzphase von mehreren Wochen bis hin zu Monaten kommt es zur Ausbildung einer Pneumonitis mit einem in-
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Kapitel 22 · Strahlentherapie
terstitiellen Ödem, das häufig auch von einer alveolären Komponente begleitet wird. Die klinisch manifeste akute Pneumonitis kann im Verlaufe von Monaten mit minimalen Folgen im bestrahlten Lungenabschnitt ausheilen, sie kann auch in eine langsam über Jahre progrediente Fibrose übergehen. Die Strahlenreaktion der strahlenempfindlichen Lunge (Toleranzdosis für die Bestrahlung beider Lungen <18 Gy) ist wesentlich bestimmt durch das Verhältnis zwischen bestrahltem und nicht bestrahltem Lungengewebe, der Strahlendosis und der vorbestehenden Lungenfunktion des Patienten. Strahlenreaktionen am Herzen sind Folge der radiogen induzierten Endothelproliferation in den kleinen Gefäßen und führen zu Zirkulationsstörungen und Ischämien mit Fibrosierungen des Myokards. Sie werden erst nach längeren Zeiträumen klinisch manifest. Derartige Spätfolgen werden vor allem nach Strahlendosen über 40 Gy beobachtet. Am Gehirn können akute Strahlenreaktionen als Folge einer Zunahme eines peritumoralen Ödems oder als meningeale Reizung auftreten mit klinischen Zeichen einer intrakraniellen Drucksteigerung (Kopfschmerzen, Erbrechen). Nach Wochen bis Monaten kann es infolge einer passageren radiogenen Demyelinisierung der Nervenfasern zu einem breiten Spektrum von passageren Symptomen kommen: nach Bestrahlungen im Bereich des Gehirns von einer allgemeinen gewissen Verlangsamung bis hin zum »Somnolenzsyndrom« sowie im Bereich des Rückenmarks zum »Lhermitte-Syndrom«. Strahlenspätfolgen im ZNS (Latenzzeit: Jahre) sind Ausdruck meist irreversibler vaskulärer, glialer und neuronaler Schäden, die von Entzündungsreaktionen unterschiedlichen Ausmaßes begleitet werden. Das Spektrum der jeweiligen klinischen Symptome und Syndrome ist außerordentlich vielfältig, entsprechend der Lokalisation und dem Ausmaß der jeweiligen Läsionen, und reicht von diskreten Störungen feinmotorischer und kognitiver Funktionen bis hin zu unterschiedlichen epileptischen Anfällen und dem Bild einer diffusen nekrotisierenden Enzephalopathie. Die Strahlentoleranz des Gehirns gilt als relativ hoch (45–60 Gy). Die Strahlenreaktionen an den strahlenempfindlichen Nieren (ab 15–25 Gy) betreffen im Wesentlichen das Gefäßendothel (Glomerula) und das Tubulusepithel mit entsprechender Gefäßobliteration sowie Fibrosierung und führen nach einer Latenzzeit von etwa 6–12 Monaten zu einer radiogenen Nephritis, die in eine chronische Verlaufsform übergeht. Die Ausprägung und die klinischen Folgen dieser Nephritis (unter Umständen begleitet von Proteinurie, Anämie, Hypertonie) sind vor allem abhängig von dem bestrahlten Nierenvolumen und der Strahlendosis. Die akuten Strahlenreaktionen an der Harnblase werden mit einer radiogenen Störung des Prostaglandinstoffwechsels in Zusammenhang gebracht. Chronische Strahlenfolgen sind Folge einer spät einsetzenden Denudation des Urothels (Monate); im weiteren Verlauf kann ein fibrotischer Umbau der Blasenwand mit entsprechender Verminderung der Blasenkapazität folgen (Schrumpfblase). Das myelopoetische System reagiert schon nach kleinen Strahlendosen im Bereich des Knochenmarks mit einer deutlichen Verminderung der Stammzellen (1–2 Gy). Das Ausmaß dieser Reduktion der myeloiden Stammzellkapazität ist vor allem abhängig vom Volumen des bestrahlten Knochenmarks und der Strahlendosis sowie einer möglichen zusätzlichen Schädigung durch andere Noxen, wie vor allem durch myelotoxische Zytostatika. Klinisch wird diese Schädigung der Stammzellen entsprechend dem Zellumsatz der unterschiedlichen Populationen nach einer Zeitverzö-
gerung von Tagen (Granulozyten) bis hin zu Monaten (Erythropoese) mit entsprechender Symptomatik manifest. Eine Kompensation erfolgt im Wesentlichen durch die Hyperplasie anderer nicht bestrahlter Knochenmarkbereiche, eine gewisse Restitution kann auch durch eine Migration von Stammzellen in hypoplastisches Knochenmark erfolgen. Radiogene Veränderungen der nichtmyeloischen Komponente des Immunsystems sind schon nach geringen Strahlendosen bekannt und äußern sich vor allem in einer Verminderung immunkompetenter Zellen des lymphatischen Systems. Die klinischen Auswirkungen dieser Veränderungen sind bisher nicht umfassend untersucht. Die Strahlenreaktionen am Auge sind vielfältig entsprechend der hohen Anzahl der beteiligten Gewebe. Die Haut der Augenlider wie auch die Konjunktiven zeigen ähnliche Strahlenreaktionen wie Haut und Schleimhäute, akut als Erythem und Ödem, chronisch als Teleangiektasie und Fibrose. Eine radiogene Atrophie der Tränendrüsen (ab 40–50 Gy) führt zum Syndrom des »trockenen Auges« mit konsekutiver Keratoconjunctivitis sicca. Die Augenlinse ist sehr strahlenempfindlich (2–12 Gy) und reagiert nach Jahren mit einer chronisch progredienten Linsentrübung. An der Retina kann sich nach Jahren eine radiogene Retinopathie entwickeln (50 Gy). Die Strahlenreaktionen am Ohr beziehen sich im Wesentlichen auf Haut und Schleimhäute. Im Mittelohr kann es nach 40–50 Gy zu einer akuten serösen Otitis media kommen. Strahlenreaktionen an den Speicheldrüsen beginnen schon während der Therapie als Ausdruck einer akuten Strahlenreaktion und führen über ein chronisches Ödem zu einem progredienten fibrotischen Umbau des Drüsengewebes mit weitgehend irreversiblem Funktionsverlust. Die Xerostomie verstärkt ihrerseits die Mukositis, beeinträchtigt die Geschmacksfunktion und führt zu einer indirekten Zahnschädigung. Eine radiogene Störung der Spermatogenese tritt als Strahlenfolge schon nach geringen Strahlendosen auf (1–2 Gy) und führt in der Regel zu bleibender Azoospermie, während eine radiogene Störung der Testosteronproduktion in den LeydigZwischenzellen erst nach höheren Strahlendosen beschrieben wird (10–20 Gy). Die Oogenese wird durch Strahlendosen zwischen 5 und 18 Gy bleibend gestört und führt zu bleibender Sterilität; ähnliche Strahlendosen werden für eine Störung der Granulosazellen angegeben, die zur Verminderung der Sexualhormonbildung und damit zur radiogenen Menopause führt. Radiogene Veränderungen der Schilddrüsenfunktion im Sinne einer Hypoplasie werden nach Jahren manifest (ab 30 Gy), sind meist irreversibel und können zum klinisch manifesten Hypothyreoidismus führen. Die radiogenen Veränderungen an den verschiedenen Zellsystemen der hypothalamisch-hypophysären Achse treten im Verlauf von Jahren auf, wobei die Strahlenempfindlichkeit für die einzelnen Zellsysteme in folgender Reihenfolge abnimmt: STH, TSH, LH/FSH und ACTH. Die zytotoxische Wirkung ionisierender Strahlen ist äußerst stark, der kanzerogene Effekt relativ schwach. In der Kanzerogenese, bei der zwischen Tumorinduktion und Tumorpromotion unterschieden wird, gilt die ionisierende Strahlung neben anderen (z. B. UV-Strahlung, Chemotherapeutika) als typischer Tumorinduktor (einmaliges kurzzeitiges Ereignis), dem andere Tumorpromotoren während einer längeren Zeitperiode folgen müssen, z. B. Chemikalien oder mechanische Irritationen. Entsprechend liegen die Latenzzeiten für das Auftreten eines Zweit-
459 22.3 · Grundlagen der Radioonkologie
malignoms nach Strahlentherapie zwischen Jahren und Jahrzehnten. Hierbei reagieren einzelne Organe unterschiedlich: Das relative Risiko kann schon bei geringen Strahlendosen (Schilddrüse, Knochenmark) oder erst nach hohen Strahlendosen erhöht sein (z. B. Vagina) bzw. kann als im Wesentlichen unverändert (Kolon) oder sogar als vermindert gelten (Ovar). Bei kombinierter Radiochemotherapie kann das relative Risiko, an einem Zweittumor zu erkranken, deutlich erhöht sein, abhängig von den jeweils eingesetzten Substanzen (z. B. bei Alkylanzien). 22.3.5 Supportive Maßnahmen während
und nach Strahlentherapie Systemische supportive Therapie Während einer Radio- oder einer kombinierten Radiochemotherapie muss allgemein auf den Ernährungszustand geachtet werden, da ein reduzierter Ernährungszustand zu vermehrten und verstärkten Nebenwirkungen und damit zu einer geringeren Therapietoleranz führt (Minski et al. 1993). Regelmäßige Gewichtskontrollen und konsekutive Berechnung des BMI bzw. Erstellung eines Ernährungsassessments/-plans komplettieren die Überwachung. Bei Alterationen im Bereich des Pharynx und Ösophagus sowie des oberen Gastrointestinaltrakts sind mechanische Hilfsmittel (Nasogastrale oder PEG-Sonden) indiziert, um eine adäquate Ernährungssituation zu gewährleisten. Insbesondere bei Tumoren des Kopf-/Halsbereiches sollte großzügig und vor allem frühzeitig die Indikation zur Anlage einer PEG gestellt werden, da bei diesem Patientenkollektiv immer mit hochgradigen und anhaltenden Schluckstörungen (Mucositis) zu rechnen ist. In diesem Zusammenhang sei eindringlich darauf hingewiesen, dass eine parenterale Ernährung lediglich Patienten vorbehalten ist, die eine Kontraindikation für enterale Ernährung aufweisen. Eine tägliche Kalorienzufuhr zwischen 25–30 kcal/kg KG ist anzustreben. Über den Einsatz von hämatopoetischen Wachstumsfaktoren während der Bestrahlung liegen z. T. sich widersprechende Berichte vor. Da eine vorbestehende Anämie einen unabhängigen Risikofaktor für das Ansprechen auf Strahlentherapie darstellt (Girinski et al. 1989), wurde Erythropoetin in der Folge zur Korrektur der Anämie eingesetzt. Es gibt Hinweise, dass das Therapieansprechen durch Korrektur der Anämie verbessert wird (Dusenberg et al. 1994). Bei Patienten mit klinisch manifester Anämiesymptomatik und/oder nennenswerter Anämie sollte deshalb ein Hb≥12 g/dl angestrebt werden. Der Einsatz von Erythropoetin während der Bestrahlung wird aufgrund negativer Studienergebnisse nicht (mehr) empfohlen (Henke et al. Lancet 2003). Der Einsatz von G-CSF bzw. GM-CSF muss nach klinischen Erfordernissen getroffen werden. Vereinzelt wurde, insbesondere bei großvolumigen Bestrahlungen (Becken/Paraaortalregion), über langdauernde Thrombopenien berichtet. Nach den Richtlinien der ASCO (2002) sollte der prophylaktische Einsatz von GCSF in der Strahlentherapie auf Studien beschränkt werden. Unbestritten ist der Einsatz von G-CSF bei febriler Neutropenie (Granulozyten <1 G/l, Temperatur >38°C) gemeinsam mit dem Einsatz von Breitbandantibiotika. Eine systemische antimykotische Therapie ist nach Versagen zweier nicht kreuzresistenter Antibiotikaschemata oder bei Vorliegen eines direkten Keimnachweises indiziert. Bei Thrombopenie, insbesondere bei Abfall der Thrombozyten unter 10 G/l, ist eine Gabe von Thrombozytenkonzentraten indiziert.
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Spezielle supportive Therapieformen (vgl. im Einzelnen Dörr et al. 2005) Haut. Während der Bestrahlung sollte die Haut im Bestrahlungsfeld mit Puder oder feuchten Cremes gepflegt werden. Es sollten keine Okklusionsmaßnahmen erfolgen und keinerlei Reizstoffe wie Parfums, Deodorants oder Seifen verwendet werden (Kärcher 1958). Mechanische Irritationen der Haut sollen vermieden werden. Bei feuchten Epitheliolysen ist eine Reinigung mit steriler Kochsalzlösung und Abdeckung mit nicht klebenden Fettgazeverbänden sinnvoll. Puder ist zu vermeiden. Antiseptische Gazeauflagerungen sollten nur bei nachgewiesenen Infektionen verwendet werden. Bei tiefen Defekten, vor allem mit Sekretion, sollten saugfähige Hydrogele allein appliziert werden. Systemische Antibiotika sollten nur in besonderen Situationen entsprechend der Resistenzbestimmung nach Erregernachweis appliziert werden. Nach Abschluss der Bestrahlung soll die (trockene) Haut mit feuchtigkeitsspendenden Cremes oder Salben gepflegt werden. Die dosisabhängige Hyperpigmentation bedarf keiner speziellen Behandlung. Die Therapie von Lymphödemen, vor allem der Extremitäten, erfolgt hauptsächlich durch Kompressionsverbände. Physikalische Therapie (Lymphdrainage) und systemische Antiphlogistika können adjuvant eingesetzt werden. Mukosa von Mundhöhle und Pharynx (Ösophagus). Folgende Grundsätze sind bei Bestrahlungen in diesem Bereich zu beachten: Neben sorgfältiger regelmäßiger Mundhygiene und antiseptischen Spülungen sollte die Mukosa durch oberflächenaktive Substanzen wie Sucralfat geschützt werden, wobei zu beachten ist, dass Sucralfat nur eine minimale Haftzeit auf Plattenepithel aufweist. Neben einer systemischen Analgesie ist auch eine topische Analgesie mit Lidocain-Gel anzustreben. Eine systemische antiphlogistische Therapie mit nichtsteroidalen Antiphlogistika ist bei entsprechender Symptomatik sinnvoll. Eine topische Antibiose scheint die Situation zu verbessern (Feber 1996). Zur Therapie der häufigen Soorstomatitis wird Amphotericin B als Suspension eingesetzt. Die topische Anwendung von GM-CSF kann die Mukositis in Einzelfällen bessern (Kannan et al. 1997). Bei tiefen Ulzerationen ist eine systemische Antibiose mit Berücksichtigung der gramnegativen bzw. anaeroben Mundflora zu empfehlen, Abstrichkontrollen sollten bei Therapieversagern immer durchgeführt werden. Zur Besserung der Xerostomie können Pilocarpin oral oder Speichelersatz gegeben werden. Pilocarpin oral kann bereits während der Bestrahlung zur Aktivierung der Restfunktion der Speicheldrüsen angewandt werden. Der Gewebsprotektor Amifostin wurde in verschiedenen prospektiven Therapieprotokollen geprüft, wegen der z. T. ausgeprägten Nebenwirkungen (Hypotonie/Kollaps, Nausea und Vomitus) ist eine endgültige Beurteilung noch nicht möglich (Brizel et al. 2000). Bei immunsupprimierten Patienten ist im Rahmen von Schleimhautulzerationen auf das Auftreten von z. T. atypisch aussehenden Herpes- bzw. CMV -Infektionen zu achten, in diesem Fall ist die systemische Therapie mit Virostatika indiziert. Gastrointestinaltrakt. Zum Schutz der Darmschleimhaut hat sich neben allgemeinen diätetischen Maßnahmen (Reduktion des Fettgehalts, ausgeglichener Zucker- und Ballaststoffgehalt) die Gabe von Protonenblockern bewährt. Zur Therapie der Nau-
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Kapitel 22 · Strahlentherapie
sea ist zumeist Metoclopramid ausreichend. Gelegentlich muss auf 3HT-Antagonisten (z. B. Ondasetron) zurückgegriffen werden. Bei leichter bis mittlerer Diarrhö ist Loperamid ausreichend, bei schwerer Diarrhö sind Opiate oral bzw. Somatostatin parenteral notwendig. Spasmolytika sind bei krampfartigen abdominellen Schmerzen angezeigt. Bei nennenswerten anhaltenden Diarrhoen darf auf eine bakteriologische Aufarbeitung (Stuhlkultur) nicht verzichtet werden (Clostridien/Pseudomembranöse Colitis). Bei großvolumigen Bestrahlungen im Bereich des Abdominalraums ist, insbesondere bei Vorliegen einer absoluten Neutropenie (Granulozyten <1 G/l), die Gabe von nicht resorbierbaren Antibiotika wie Vancomycin und Antimykotika (Amphotericin B, Nystatin) indiziert. Bei einer relativen Neutropenie ist diese Therapie überlegenswert. Bei kleinvolumigen Bestrahlungen, insbesondere im Bereich des Rektums, können kortisonhaltige Zäpfchen und Clysmen bzw. Rektalschaumapplikationen bei Vorliegen einer symptomatischen Proktitis gegeben werden. Eine systemische Therapie mit nichtsteroidalen Antirheumatika ist in schweren Fällen einer Enterokolitis nach Strahlentherapie indiziert, der Vorzug sollte hierbei Salazopyrin gegeben werden. Lunge. Während der Bestrahlung sind klinisch manifeste radiogene Nebenwirkungen sehr selten. Etwa 4–12 Wochen nach Ende der Bestrahlung kann eine Pneumonitis auftreten, deren Schweregrad von der Dosis an der Lunge und dem bestrahlten Volumen abhängt. In leichten Fällen ist bei entsprechender Symptomatik (trockener Husten, geringe Dyspnoe) eine kurze, hochdosierte Kortikoidtherapie das Mittel der Wahl. Bei schweren Fällen sollten Antibiotika/Antimykotika/Virostatika nach Keimnachweis (durch Bronchoskopie und Lavage) gegeben werden, da nicht selten atypische Erreger Auslöser sind. Urogenitaltrakt. Bei Zystitis während der Radiatio sind ausreichende Hydratation und die Alkalisierung des Harnes notwendig. Nichtsteroidale Antiphlogistika werden bei ausgeprägten entzündlichen Symptomen eingesetzt. Antibiotika sind nur bei positivem Keimnachweis im Urin indiziert. ZNS. Die im Rahmen einer ZNS-Bestrahlung mögliche meningeale Irritation bzw. Zunahme des peritumoralen Ödems sollte nicht prophylaktisch, sondern erst beim Auftreten von Symptomen (Nausea, Verwirrtheit) mit oraler Kortikoidtherapie (Dexamethason) behandelt werden. Bei Nichtansprechen bzw. Verschlechterung ist parenteral Kortikoidtherapie zusammen mit Mannitinfusionen (Cave Reboundphänomen) notwendig. Zusätzlich können 3HT-Antagonisten oder Diamox gegeben werden. Auge. Die Therapie der radiogenen Konjunktivitis besteht in der Anwendung topischer Antiphlogistika (Kortikoide, NSAR).
22.4
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Spezielle Methoden und aktuelle Entwicklungen in der Planung und Durchführung der Strahlentherapie
22.4.1 Teletherapie
Nach Einführung der Beschleunigertechnologie in den 60er Jahren sind in den letzten Jahrzehnten richtungsweisende Entwick-
lungen sowohl in der Planung als auch in der Durchführung der Teletherapie erzielt worden. Hierfür sind Entwicklungen der bildgebenden Verfahren, der Lokalisationstechniken, der Computertechnologie und der Beschleunigertechnologie maßgebend, die vor allem in jüngster Zeit zu einem richtungsweisenden Innovationsschub geführt haben. 22.4.2 Therapieplanung: Von der Röntgensimulation
zur schnittbildbasierten und computergestützten 3-D-Planung In Ergänzung zur durch Röntgendurchleuchtung gestützten Therapiesimulation der 70er Jahre wurde nach Entwicklung der Computertomografie die Schnittbilddiagnostik schon in den 80er Jahren in die computergestützte Rechnerplanung eingeführt. Allerdings konnte eine umfassende Integration der Schnittbilddiagnostik in die computergestützte Rechnerplanung erst mit der Weiterentwicklung der Computertechnologie und des direkten digitalen Transfers (Netzwerk) gelingen. An modernen Computertomografen (Spiral-CT) kann heute eine umfassende und effiziente Bilderstellung für das gesamte Zielvolumen eines Patienten unter den Bedingungen der späteren Strahlentherapie erfolgen (Schnittführung, Patientenlagerung, Topografie von Zielvolumen und Risikoorganen), wobei in der Behandlungsvorbereitung und Planung die Bedeutung an ergänzenden bildgebenden Verfahren – MRT (MRS), PET-CT, SPECT – zunimmt. Die Bilddaten werden über eine direkte Datenleitung an die leistungsfähigen Planungsrechner der Strahlentherapie geschickt (Networking) (. Abb. 22.12). An den Computerarbeitsplätzen erfolgt die 3-D-Therapieplanung in enger Kooperation zwischen Radioonkologen, Medizinphysikern und medizinisch-technischem Assistenzpersonal. Die spezielle Tumorsituation des Patienten kann in dieser individualisierten 3-D-Planung umfassend Berücksichtigung finden, sowohl in der Gestaltung des Zielvolumens wie auch in der Schonung von Risikoorganen. Ziel ist die weitgehende Anpassung des Behandlungsvolumens an das Planungszielvolumen. In Anlehnung an die seit Jahrzehnten praktizierte röntgendurchleuchtungsgestützte Therapiesimulation, die unmittelbar am Patienten erfolgt, wird dieser Prozess als schnittbild- und computergestützte virtuelle Simulation bezeichnet. Die sich hiermit eröffnenden vielfältigen Möglichkeiten der 3-D-Therapieplanung haben in den letzten Jahren vor allem bei bestimmten Tumoren zunehmend Anwendung gefunden, z. B. bei Prostatakarzinomen (Wachter et al 1997; Goldner et al 2006), HNO-Tumoren (Mock et al 2004) und Bronchialkarzinomen (Graham et al. 1999; Kwa et al. 1998). So können Dosis-Volumen-Histogramme (DVH), die die Dosisverteilung in einem bestimmten Volumen beschreiben, in der 3-D-Therapieplanung erstellt werden (. Abb. 22.6). Die Verteilung der Dosis im individuell definierten Volumen (Zielvolumen, kritisches Organ) wird durch entsprechende Anordnung der Strahlenfelder optimiert. Mithilfe von strahlenbiologischen Rechenmodellen kann die Tumorkontrollwahrscheinlichkeit (TCP) bzw. die Häufigkeit des Auftretens von Komplikationen am Normalgewebe (NTCP) abgeschätzt werden (Lyman 1985, 1992). Die Größe des bestrahlten Volumens bzw. der Anteil des bestrahlten Volumens am Gesamtvolumen eines Organs hat entscheidenden Einfluss auf die zu erwartenden Effekte (Wachter et al. 2001; Kwa et al. 1998).
461 22.4 · Spezielle Methoden und aktuelle Entwicklungen in der Planung und Durchführung der Strahlentherapie
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. Abb. 22.12. Computergestützte Zusammenführung sämtlicher bildgebender Untersuchungen, Befunde und Bestrahlungspläne eines Patienten in einem zusammenhängenden System, sodass jedwede Informa-
tion unmittelbar in die Planung und Durchführung der Strahlentherapie integriert werden kann (Netzwerkstruktur)
Der klinische Nutzen dieser aufwendigen Therapieplanung führt vor allem zu einer Verbesserung der therapeutischen Breite (. Abb. 22.5). Zurzeit sind in der Planung der Radiotherapie folgende Vorgehensweisen möglich, die z. T. als Ergänzung aufzufassen sind: 4 Fluoroskopische Therapiesimulation (Therapiesimulator mit Röntgendurchleuchtung); Beispiel: opponierende Strahlenfelder bei Ganzschädelbestrahlungen. 4 Fluoroskopische Therapiesimulation plus CT-gestützte Rechnerplanung; Beispiel: tangentiale opponierende Strahlenfelder in der postoperativen adjuvanten Radiotherapie beim Mammakarzinom; opponierende Strahlenfelder bei malignen Lymphomen. 4 3-D-Rechnerplanung basierend auf vollständiger 3-D-Abbildung der notwendigen Volumina und Risikoorgane (CT, MR, PET) ggf. mit zusätzlicher fluoroskopischer Therapiesimulation; Beispiel: definitive Radiotherapie bei Prostatakarzinomen und Bronchialkarzinomen, intensitätmodulierte Radiotherapie bei Tumoren im Kopf-Hals-Bereich.
die Veränderungen von Tumor und Gewebe im zeitlichen Verlauf der Radiotherapie mit berücksichtigt.
Wenn auch die Entwicklung zurzeit im Einzelnen noch nicht abzusehen ist, so wird doch wahrscheinlich in absehbarer Zukunft den einzelnen Planungsmodalitäten jeweils eine spezielle Verwendung zukommen. So ist z. B. nach dem derzeitigen Wissensstand eine Planung mit fluoroskopischer Therapiesimulation für eine Bestrahlung des gesamten Neurokraniums im Rahmen einer »Schädelprophylaxe« oder bei manifesten Hirnmetastasen als suffizient anzusehen, während ein Patient mit einem Prostatakarzinom oder einem Bronchialkarzinom von einer 3-D-Planung profitiert (. Abb. 22.16 bis 22.18; Goldner et al 2006, 2001; Kwa et al. 1998). Eine vielversprechende Entwicklung liegt in der 4-D-adaptiven Radiotherapie und der entsprechenden Therapieplanung,
22.4.3 Megavoltradiotherapie mit Linearbeschleunigern
Die Teletherapie wird heute überwiegend mit Megavoltradiotherapiegeräten durchgeführt, wobei in den westlichen Industrieländern vorwiegend Linearbeschleuniger zur Anwendung kommen, die über die Möglichkeit der Photonen- und Elektronenbestrahlung verfügen. Linearbeschleuniger haben vor allem durch ihre überlegenen physikalisch-technischen Eigenschaften (Eindringtiefe, Präzision, Mutileaf-Kollimatoren für die Feldformung, »Portal Imaging« für die Lagerungskontrolle etc.) die Kobaltgeräte verdrängt. Bei der Mehrzahl der Patienten wird das Zielgebiet über mehrere Stehfelder (2–4 Felder) bestrahlt, damit die umliegenden Gewebe so weit möglich geschont werden können. Die üblichen Techniken umfassen 2 opponierende Stehfelder (. Abb. 22.13), 4 jeweils konformierende Stehfelder (»Box-Technik«;, 3 orthograde Stehfelder (2 opponierend) und 3 zueinander gewinkelte Stehfelder. Die Verteilung der Strahlendosis kann der individuellen Situation durch Einbringen von Abschirmungen in den Strahlengang angepasst werden. Dazu werden in der modernen Radiotherapie vor allem Multileaf-Kollimatoren verwendet, vereinzelt aber auch Standardblöcke oder Blöcke in individuell gegossener Form. Des Weiteren kann die Tiefendosisverteilung entsprechend den notwendigen Gegebenheiten (z. B. bei unebenen Eintrittsflächen) durch Verwendung von Keilfiltern oder Kompensatoren modifiziert werden. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Rotationsbestrahlung, wobei der Strahlerkopf kontinuierlich während der Bestrahlung um den Patienten bewegt wird. Mit dieser Bewegungsbestrahlung ist ebenfalls eine Konzentration der Strahlendosis im Zentrum der Drehachse des Therapiegerätes möglich (sog. Pendelbestrahlung; Georg et al 2003).
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Kapitel 22 · Strahlentherapie
. Abb. 22.13. Vergleich einer opponierenden 2-Felder-Technik mit einer konformierenden 4-Felder-Technik mit jeweiliger Darstellung des Tumorvolumens (GTV), des Zielvolumens (»Planungszielvolumen«) und des behandelten Volumens am Beispiel einer Mediastinalbestrahlung (z. B. beim Bronchialkarzinom). Bei der konformierenden Technik wird eine signifikante Reduktion des mit der Therapiedosis (z. B. 50–70 Gy) behan-
delten Volumens durch eine Fokussierung der Dosis im vorderen Mediastinum erreicht. Risikoorgane wie Rückenmark und Speiseröhre können auf diese Weise weitgehend geschont werden. Ähnliche Bestrahlungstechniken werden häufig bei Bestrahlungen im Beckenbereich verwendet (gynäkologische Malignome, urologische Tumoren, Rektum- und Analkarzinome)
. Abb. 22.14. Definitive 3-D-Konformationsradiotherapie eines lokalisierten Prostatakarzinoms mit niedrigem Risikoprofil: cT2, cN0, M0, Gleason-Score 6, PSA 9. Applikation von 74 Gy in 37 Fraktionen über 7½ Wochen. Rekonstruierte mediokoronare, mediosagittale, medioaxiale CTSchnittebenen (4-Felder-Technik) mit entsprechender Dosisverteilung
(blau/grün: niedrig-mittlerer Dosisbereich; gelb: hoher Dosisbereich). Hohe fokussierte Dosis im Bereich der Prostata (rot: PTV) unter weitestmöglicher Schonung der angrenzenden Risikoorgane: Harnblase dunkelrot; Rektum gelb – mit luftgefülltem Ballonkatheter zur internen Immobilisierung der Prostata. 3-D-Abbildung der konturierten Volumina
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463 22.4 · Spezielle Methoden und aktuelle Entwicklungen in der Planung und Durchführung der Strahlentherapie
Entsprechend den klinischen Notwendigkeiten erfolgt häufig eine Bestrahlung mit unterschiedlichen Dosen in unterschiedlichen Zielvolumina, wobei in der Region mit einem größeren Tumorvolumen eine entsprechend höhere Dosis appliziert wird, z. B. Boost-Bestrahlung oder »Shrinking-Field-Technik« (Sack u. Thesen 1998; Dobbs et al. 1999). 22.4.4 3-D-Konformationsradiotherapie
Die Anpassung des Behandlungsvolumens an das klinische Zielvolumen war schon immer erklärtes Ziel der Radiotherapie (. Abb. 22.10, 22.13). Aufgrund von unterschiedlichen Defiziten in verschiedenen Bereichen der Planung und Durchführung der Radiotherapie war eine weitgehende Anpassung des Behandlungsvolumens an das Zielvolumen (»Konformation«) bis auf wenige Ausnahmen jedoch nur eingeschränkt möglich, was sich in den letzten zwei Jahrzehnten mit der Entwicklung der 3-D-Konformationsradiotherapie richtungsweisend verändert hat. Ziel der 3-D-Konformationsradiotherapie oder der 3-DStrahlentherapie ist es, die Form der Isodosenoberfläche einer zu applizierenden Strahlendosis nach anatomischen Gesichtspunkten in drei Dimensionen an das Zielvolumen anzupassen (Webb 1993). Die 3-D-Strahlentherapie ist eine äußerst präzise Form der Strahlentherapie mit höchsten Anforderungen an die Genauigkeit in jedem Schritt der Planung und Durchführung der Therapie. Erst die Entwicklungen während der letzten 15 Jahre erlauben den praktischen Einsatz dieser Konformationsradiotherapie in der klinischen Routine: verbesserte Verfügbarkeit moderner Schnittbilddiagnostik zur Tumorlokalisation, Integration leistungsfähiger Computer in die 3-D-Bestrahlungsplanung, Verfügbarkeit von Techniken zur individuellen Feldgestaltung (Fertigung individueller Abschirmblöcke, Multileaf-Kollimatoren), kontinuierliche Qualitätskontrolle am Therapiegerät durch »Portal Imaging«, Einführung von Netzwerken zwischen den Gerä-
. Abb. 22.15a,b. Postoperative Bestrahlung eines linksseitigen Tonsillenkarzinoms (pT3 pN0 M0). Dosisverteilung in transversaler Ebene bei CT-gestützter Bestrahlungsplanung (intensitätsmodulierte Radiotherapie, IMRT) mit 60 Gy in 6 Wochen und 2 Gy pro Fraktion. Die initiale Tumorregion + Sicherheitssaum erhält eine mittlere Dosis von 60 Gy wobei die 95% Isodose (rote gestrichelte Linie) das entsprechende PTV umschließt. Die regionären Lymphknotenregionen werden mit einer mittleren Dosis von 50 Gy behandelt und die 95% Isodose erfasst das PTV (grüne gestrichelte Linie). Die mittlere Dosis im kontralateralen (rechten) Paro-
22
ten für die Planung und Durchführung der Radiotherapie (. Abb. 22.12). Eine prospektiv randomisierte klinische Studie hat die Überlegenheit der 3-D-Konformationsradiotherapie im Vergleich zur konventionellen Radiotherapie bei der Bestrahlung von Karzinomen der Prostata (. Abb. 22.14) bezüglich chronischer radiogener Morbidität bewiesen (Dearnaley et al. 1999). Eine spezielle Weiterentwicklung der 3-D-Konformationsradiotherapie stellt die intensitätsmodulierte Radiotherapie dar. Hierbei wird die Intensität der Strahlung moduliert: Die Isodosen können so der unterschiedlichen Tiefenausdehnung von Tumoren bzw. Risikoorganen angepasst werden (Webb 2005) (. Abb. 22.15). Die therapeutische Breite kann in bestimmten klinischen Situationen gesteigert werden. Eine weitere wichtige Weiterentwicklung ist die bildgeführte Strahlentherapie, bei der ein CT direkt am Bestrahlungsgerät Schnittbilder während der Bestrahlung ermöglicht: »Image Guided Radiotherapy« (IGRT). 22.4.5 Stereotaktische Radiotherapie
Stereotaktische Bestrahlungen stellen eine Sonderform der Konformationsradiotherapie dar, wobei die Anforderungen an die Präzision der Therapie deutlich höher liegen (Abweichungen <1 mm). Stereotaktische Bestrahlungen können sowohl an einem speziellen Kobalttherapiegerät mit einer großen Zahl fokussierter Strahlenquellen (Gammaknife) wie auch am Linearbeschleuniger mit speziellem Stereotaxie-Equipment durch konvergierende Bewegungsbestrahlung oder durch eine größere Zahl individuell geformter statischer Strahlenfelder erfolgen (MikromultileafKollimator; . Abb. 22.16). Diese extreme Fokussierung der Strahlung führt zu einem extrem steilen Dosisabfall in allen Strahlrichtungen (Khan 2003; Georg et al 2003). Bei stereotaktischen Bestrahlungen werden zur exakten Patientenpositionierung spezielle Hilfsmittel verwendet, wie sie
tisbereich wird auf 26 Gy limitiert. Zusätzlich werden weitere Dosisbegrenzungen verwendet: 67%, 45% and 24% des Parotisvolumens erhält eine Dosis von weniger als 15 Gy, 30 Gy bzw. 45 Gy. Durch diese Technik (IMRT) kann eine anhaltende komplette Remission bei Vermeidung einer chronischen Mundtrockenheit erzielt werden. a Dosisverteilung in transversaler Ebene (CT): postoperative IMRT bei Tonsillenkarzinom (T3) links mit Schonung der kontralateralen rechten Parotis; b DosisVolumen-Histogramm (DVH) zur Darstellung der Dosis-Volumen-Beziehung in der kontralateralen rechten Parotis
464
22
Kapitel 22 · Strahlentherapie
. Abb. 22.16. Isozentrische stereotaktische Konvergenzbestrahlung eines Hirntumorrezidivs hirnstammnah am Rand des 4. Ventrikels mit 6 Feldern mithilfe eines Mikromultileaf-Kollimators am Linearbeschleu-
niger unter Fokussierung der hohen Strahlendosis auf den unmittelbaren Tumorbereich unter Schonung des unmittelbar angrenzenden Hirnstamms (30–50% der Referenzdosis)
auch bei stereotaktischen Interventionen in der Neurochirurgie üblich sind (stereotaktischer Rahmen). Während der letzten Jahre werden stereotaktische Bestrahlungen zunehmend an den üblichen medizinischen Linearbeschleunigern durchgeführt, wobei hierfür zusätzliche Hilfsmittel am Beschleunigerkopf (Kollimatoren) und am Bestrahlungstisch (Fixierungen) angebracht werden müssen. Wegen der extrem aufwendigen Technik wurden die stereotaktischen Bestrahlungen bisher vor allem als Einzeitbestrahlungen (sog. Radiochirurgie) eingesetzt. An Linearbeschleunigern erfolgt in den letzten Jahren zunehmend die Erprobung fraktionierter stereotaktischer Bestrahlungen mithilfe von nichtinvasiven Immobilisationshilfen und speziellen Patientenpositionierungssystemen.
Die stereotaktischen Bestrahlungen eignen sich vor allem für kleinvolumige, gut abgrenzbare Tumoren (Durchmesser bis zu 3 cm). Sie wurden bisher in erster Linie bei hirneigenen Tumoren (arteriovenöse Malformationen, Neurinomen, Meningeomen) z. T. in Kombination mit operativen Verfahren und als alleinige Therapie bei Hirnmetastasen erfolgreich eingesetzt (Verhey et al. 2006). In jüngster Zeit findet die stereotaktische Radiotherapie auch bei extrakraniellen Tumoren Anwendung. Hierbei müssen spezielle Lagerungshilfen (Körperschale) und Bestrahlungstechniken verwendet werden. Erste vielversprechende klinische Erfahrungen sind in der Behandlung von Lebermetastasen, Lungenmetastasen, Lungentumoren und rückenmarknahen Tumoren gesammelt worden (Dvorak et al 2005; Wulf et al 2005; . Abb. 22.17).
465 22.4 · Spezielle Methoden und aktuelle Entwicklungen in der Planung und Durchführung der Strahlentherapie
22
. Abb. 22.17a–c. Definitive stereotaktische 3-D-konformale Radiotherapie eines nichtkleinzelligen Bronchialkarzinoms (NSCLC, PEC): cT2, cN0, M0 rechter Hilus. a Tumordarstellung im Thorax-CT mit Belüftungsstörung peripher. Bestimmung des Zielvolumens (CTV) sowie – abhängig von der Tumorbeweglichkeit bei flacher Atmung – des Planungsvolumens (PTV) [Lagerung des Patienten im stereotaktischen Bodyframe (Elekta)]. b Dosisverteilung im Bereich des CTV und PTV und
in der rechten Lunge. Steiler Dosisabfall zum umgebenden Lungengewebe. Darstellung verschiedener Strahlendosen (95%, 65% 33%, 16%). Applizierte Dosis 3×12,5 Gy auf die 65% Isodose entsprechend ca. 70 Gy in konventioneller Fraktionierung. c Kontrolluntersuchung, Thorax-CT nach 10 Monaten: komplette Tumorrückbildung, diskrete fibrotische Veränderungen rechts hilusnah. Keine Veränderung der Lungenfunktion
22.4.6 Ganzkörperphotonenradiotherapie
22.4.7 Ganzhautelektronenradiotherapie
Ziel der Ganzkörperphotonentherapie im Rahmen einer Knochenmarktransplantation ist es, nach Hochdosischemotherapie das maligne Knochenmark vollständig zu eliminieren und die Immunsuppression zu unterstützen, damit Stammzellen sich anschließend im tumorfreien Markraum ansiedeln können. Aufgrund des Ausbreitungsmusters der malignen Stammzellen und der immunkompetenten Zellen ist das Zielvolumen der Strahlentherapie der gesamte Körper unter Einschluss der Haut. Zur Reduktion der nach Hochdosischemotherapie noch verbliebenen Stammzellen (bis zu 106–7 im Stadium der klinisch kompletten Remission) sind im Rahmen der Behandlung akuter Leukämien Ganzkörperdosen von 5–15 Gy notwendig. Heute wird typischerweise die Strahlendosis über 6–8 Fraktionen an 3 oder 4 aufeinanderfolgenden Tagen bis zu einer Gesamtdosis von 10–12 Gy appliziert, bezogen auf die Körpermitte in Nabelhöhe. Die am stärksten gefährdeten Risikoorgane sind die Lunge, die Gonaden und die Linsen. Für die Lunge werden unterschiedliche Abschirmtechniken verwandt, als zulässige Toleranzdosis gelten 8–10 Gy. Die Behandlung kann mit unterschiedlichen opponierenden Bestrahlungstechniken im horizontalen bzw. sagittalen Strahlengang erfolgen. Als Therapiegeräte werden Kobalttherapiegeräte oder Linearbeschleuniger niedriger Energie (4–6 MeV) verwendet. Interstitielle Pneumonitiden nach dieser intensiven Radiochemotherapie sind bei Beachtung der üblichen Vorgaben heute selten (<10%). Katarakte werden als Spätfolge in bis zu 20% nach fraktionierter Ganzkörperbestrahlung beobachtet. Nahezu obligat treten irreversible Störungen der gonadalen reproduktiven Funktionen bei Männern und Frauen auf.
Die Manifestationen beim primär kutanen T-Zell-Lymphom (CTCL) sprechen sehr gut auf Bestrahlung an. Bei fortgeschrittenen Stadien des CTCL gilt die Behandlung der gesamten Haut mit schnellen Elektronen als Methode der Wahl. Ausgelastet wird die Haut bis zu einer erkrankungsbedingten Tiefe von ca. 1 cm. Diese Schicht wird möglichst homogen mit Elektronen mit einer Energie von 4,5–6 MeV und großem Bestrahlungsabstand bestrahlt. Zahlreiche Bestrahlungstechniken werden angewandt, die meist auf der in Stanford entwickelten Methode basieren (Karzmark et al. 1960; Jones et al. 2002). Bestrahlt wird über 6 Einzelstehfelder (6-Felder-Technik) mit 2 Gy pro Fraktion und 1 Gy pro Tag (3 Felder) bis zu einer Gesamtherddosis von 30–36 Gy. Die Ganzhautbestrahlung wird meist gut vertragen. Akute Nebenwirkungen wie Erytheme, subkutane Ödeme und Hauttrockenheit lassen sich durch lokale Pflege und medikamentöse Maßnahmen gut beherrschen. Der Verlust von Augenbrauen und Wimpern nach einigen Wochen ist dosisabhängig reversibel. Eine Wiederholung der Ganzhautbestrahlung bis zu dreimal ist möglich. Patienten mit »Minimalstadium« IA Mycosis fungoides (nur 1 Läsion oder 2–3 Läsionen in enger geografischer Beziehung) benötigen in kurativer Intention lediglich eine lokale Bestrahlung (Wilson et al. 1998). Die Ganzhautelektronenbestrahlung ist wie die Ganzkörperphotonentherapie eine technische Herausforderung. Diese Therapiemodalitäten sollten deshalb nur an Zentren erfolgen, die über eine entsprechende Ausrüstung, eine enge interdisziplinäre
466
Kapitel 22 · Strahlentherapie
Zusammenarbeit und kontinuierliche Erfahrung an einem nennenswerten Patientenkollektiv verfügen.
4 steiler Dosisabfall in alle Richtungen (exponentiell), geringe Integraldosis im Körper: Schonung des umliegenden Gewebes, geringe Morbidität.
22.4.8 Radiotherapie mit schweren Teilchen
(Hadronentherapie) Strahlentherapie mit schweren Teilchen (schnelle Neutronen, Protonen, Heliumionen, Schwerionen) wird in nur wenigen Forschungs- und Behandlungszentren durchgeführt. Während der letzten Jahre erlebt die Hadronentherapie einen großen Aufschwung und die Zahl der Therapiezentren mit Protonen und/oder Kohlenstoffionen steigt seit dem Jahr 2000 kontinuierlich an. Die Erzeugung dieser Teilchenstrahlung erfolgt in großen, speziell konstruierten Beschleunigeranlagen (Cyclotron, Synchrotron) und ist mit hohem technischen, personellen und einem nennenswerten finanziellen Aufwand verbunden. Aufgrund der physikalischen Charakteristika dieser Teilchenstrahlung (u. a. steiler Dosisabfall in der Tiefe, sog. Bragg-Peak) ist bei Protonen und Ionen eine deutlich bessere Konformation als bei Photonen möglich (physikalische Selektivität). Bei den Ionen kommt als weiterer Vorteil eine deutlich höhere biologische Aktivität (im Bereich der Dosisspitze) im Zielvolumen hinzu (physikalische und biologische Selektivität). Neutronen verfügen zwar über eine hohe biologische Aktivität, jedoch weisen die physikalischen Charakteristika dieser Strahlung Nachteile im Vergleich zu Protonen und auch zu hochenergetischen Photonen auf. In großem Maßstab sind bisher Neutronen erfolgreich bei adenoidzystischen Karzinomen und Prostatakarzinomen, Protonen bei Aderhautmelanomen, Chordomen und Chondrosarkomen der Schädelbasis und Prostatakarzinomen zur Anwendung gekommen. Die Bestrahlung mit Kohlenstoffionen wird derzeit im Rahmen von unterschiedlichen klinischen Studien insbesondere in der Behandlung von adenoidzystischen Karzinomen, Chordomen und Chondrosarkomen sowie lokalisierten NSCLC verwendet (Miyamoto et al. 2007; Schulz-Ertner et al. 2004) (vgl. bezüglich der physikalisch-technischen, biologischen und klinischen Aspekte der Hadronentherapie: Pötter et al. 1999; Amaldi et al. 2004). 22.4.9 Brachytherapie
22
Unter Brachytherapie versteht man die Bestrahlung kleiner Zielvolumina mit Radioisotopen aus naher Distanz (griech. »brachio« = kurz). Synonyme sind Curietherapie und Endocurietherapie. Die hohe Wirksamkeit dieser Therapiemodalität basiert auf folgenden radioonkologischen Prinzipien: 4 hohe Wahrscheinlichkeit lokaler Kontrolle durch hohe Tumordosis (bis über 90–100 Gy), 4 effiziente Tumorwirkung wegen verminderter Tumorzellrepopulation durch Verkürzung der Behandlungszeit (z. B. 50 Gy in einer Woche), 4 optimale Anpassung des Hochdosisbereiches der Brachytherapie an das klinische Zielvolumen: 3-D-Konformationsbrachytherapie, 4 lokale Kontrolle auch bei makroskopisch abgrenzbaren (großen) Tumoren durch hohe Strahlendosis; Morbidität häufiger, wenn große Volumina bestrahlt werden, 4 Inaktivierung wenig strahlensensibler hypoxischer Tumorareale durch hohe Strahlendosen,
Applikationstechniken Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Brachytherapie in Kategorien einzuteilen: 4 Art der Einbringung des Implantats, 4 Art der Einbringung des Isotops, 4 Dosisleistung, 4 Behandlungsdauer, 4 Art der Isotope. Bezüglich der Einbringung des Implantats bzw. des Isotops in das Zielgebiet unterscheidet man zwischen folgenden Techniken: 4 intrakavitär (z. B. Gebärmutter), 4 intraluminal (Ösophagus, Bronchus), 4 interstitiell (Prostata, Mamma, Zunge, Mundboden), 4 Oberflächen (Haut). Bei der Art der Einbringung des Radioisotops unterscheidet man die direkte Einführung sowie das manuelle und das ferngesteuerte (»remote«) Nachladeverfahren (Afterloading). Nur die vollautomatisierten, ferngesteuerten Nachladeverfahren garantieren einen absoluten Strahlenschutz für das Personal und stellen daher heute bei der Mehrzahl der brachytherapeutischen Applikationen die Therapieform der Wahl dar. Dosisleistung Hinsichtlich der Dosisleistung unterscheidet man zwischen Verfahren niedriger Dosisleistung (»low dose rate«, LDR), mittlerer Dosisleistung (»medium dose rate«, MDR), hoher Dosisleistung (»high dose rate«, HDR) und gepulster Dosisleistung (»pulsed dose rate«, PDR): 4 LDR: 0, 4–2 Gy/h: Mit dieser Therapieform gibt es Erfahrungen seit Anfang des 20. Jahrhunderts (Radium226, heute Iridium192, Iod125), 4 MDR: 2–12 Gy/h (Caesium137), 4 HDR: mehr als 12 Gy/h (Iridium192). Die biologischen Wirkungen der LDR-, MDR-, HDR- und PDRBrachytherapie, bezogen auf Tumoren und Normalgewebe, sind sehr unterschiedlich. HDR-Brachytherapie kann aufgrund der hohen Strahlenexposition nur im vollautomatisierten Afterloadingsystem durchgeführt werden (Iridium192). Implantationsdauer Bezüglich der Dauer der Implantation unterscheidet man zwischen permanenten Implantaten (Isotope mit kurzer Halbwertszeit) wie Jod125, Palladium103, Gold198 und temporären Implantaten. Das am häufigsten angewendete Isotop für temporäre Implantate ist Iridium192. Radionuklide 4 Gammastrahler: Radium, Kobalt, Caesium, Gold, Iridium, Jod und Palladium; 4 Betastrahler: Phosphor, Ruthenium, Strontium und Yttrium; 4 Neutronenemitter: Californium.
467 22.4 · Spezielle Methoden und aktuelle Entwicklungen in der Planung und Durchführung der Strahlentherapie
Indikationen für Brachytherapie Brachytherapie kann als alleinige primäre Behandlung, häufiger jedoch eingebunden in eine multimodale Therapie mit externer Radiotherapie – evtl. kombiniert mit Chemotherapie – angewendet werden. Generelle Richtlinien für die Anwendung der Brachytherapie: 4 Bei kleinen lokalisierten Tumoren (z. B. Prostatakarzinom, Tumoren der Kopf-Hals-Region, Gebärmutter- und Vaginalkarzinom) kann die Brachytherapie als alleinige definitive Behandlung angewendet werden. 4 In Kombination mit Teletherapie wird die Brachytherapie meist als Boost-Behandlung im Sinne eines Shrinking-Field-Konzepts zur Dosiserhöhung in Hochrisikoarealen eingesetzt (z. B. brusterhaltende Therapie des Mammakarzinoms, Malignome der Kopf-Hals-Region, lokal fortgeschrittenes Prostatakarzinom, Ösophagus- und Bronchialkarzinom). Bei Zervixkarzinomen wird eine extrem hohe Dosis in der Tumorregion appliziert (bis über 80–100 Gy), die auch bei nennenswert großen Tumorvolumina (50–100 ccm) eine anhaltende Remission ermöglicht. 4 Brachytherapie wird auch im Sinne einer Rezidivbehandlung nach vorangegangener externer Radiotherapie angewendet (Ösophagus- und Bronchialkarzinom sowie gynäkologische Malignome). 4 In der Palliativsituation kann Brachytherapie auch in Kombination mit einer Teletherapie zum Einsatz kommen, sodass die Behandlungszeit erheblich verkürzt werden kann. Die wichtigsten klinischen Indikationen betreffen gynäkologische Tumoren, Kopf-Hals-Tumoren, Mamma-, Bronchial- und
22
Ösophaguskarzinome, Augentumoren sowie Prostata- und Analkarzinome. Seltenere Indikationen sind Gallenwegskarzinome, Tumoren des Gehirns, der Blase sowie kolorektale Tumoren, Sarkome, Karzinome des Pankreas und pädiatrische Malignome (Überblick bei Gerbaulet et al. 2002).
22.4.10
Intraoperative Radiotherapie (IORT)
Das Ziel dieser Methode ist die Konzentration der Bestrahlung mittels Elektronen oder Röntgenstrahlen auf den Tumor, während das umliegende chirurgisch mobilisierte Normalgewebe geschont werden kann (Tepper u. Calvo 1998). Dies ist durch Anpassung der Elektronenenergie an die gewünschte Tiefe im Zielvolumen möglich. Die Strahlendosis liegt im Bereich von 10–22 Gy. Hohe Einzeldosen haben im Vergleich zur fraktionierten Bestrahlung eine um den Faktor 2–3 höhere Wirkung. Bei Einbindung in ein Behandlungsprotokoll mit Teletherapie (mit und ohne Chemotherapie) ist die akute und perioperative sowie die späte Morbidität akzeptabel. Zur IORT ausschließlich des Tumorbetts kann auch ein »Flap« verwendet werden: Es handelt sich dabei um eine flexible Kunststoffplatte mit eingelassenen Kanälen, die im Nachladeverfahren mit einem Radionuklid beschickt werden (Brachytherapie). Eindeutige klinische Indikationen für eine intraoperative Radiotherapie sind bisher nicht etabliert. In den letzten Jahren ist die IORT in einigen Zentren vermehrt für die Strahlentherapie des Mammakarzinoms eingesetzt worden (Orecchia u. Veronesi 2005).
Zusammenfassung In den letzten Jahrzehnten sind die Möglichkeiten der Strahlentherapie mit Einführung der Megavoltradiotherapie, mit Weiterentwicklung der Beschleunigertechnologie, mit der Integration der Schnittbilddiagnostik in die dreidimensionale Planung der Strahlentherapie und mithilfe der Integration entwickelter Computertechnologie substanziell erweitert worden. Die therapeutische Breite hat sich durch Anwendung der 3-DKonformationsradiotherapie bzw. der intensitätsmodulierten und bildgeführten Radiotherapie sowie der stereotaktischen Radiotherapie wesentlich vergrößert. Dies führt einmal zu einer Reduktion der therapieassoziierten Nebenwirkungen durch Dosisreduktion am Normalgewebe, zum anderen zu einer Verbesserung der Tumorwirkung durch Dosissteigerung im Zielvolumen. Eine definitive Radiotherapie mit oder ohne begleitende medikamentöse Therapie gilt als Standardtherapie bei lokal fortgeschrittenen Tumoren der Kopf-Hals-Region und Bronchialkarzinomen, beim lokalisierten Prostatakarzinom, bei Zervixund Vaginalkarzinomen, bei Analkarzinomen und bei Tumoren des Auges. Bei einer großen Zahl von soliden Tumoren und bei den malignen Lymphomen gehört die Strahlentherapie zu einem wesentlichen integralen Bestandteil einer multimodalen Therapiestrategie (definitiv/präoperativ/postoperativ) wie z. B. beim Mammakarzinom, Bronchialkarzinom, Rektumkarzinom, bei Hirntumoren, bei Weichteilsarkomen sowie Hodgkin- und Non-Hodgkin-Lymphomen. Innerhalb dieser unterschiedlichen Strategien führt die Strahlentherapie zu oft lang anhaltenden 6
kompletten Remissionen bei vertretbaren Nebenwirkungen. Neben dieser vorwiegend kurativen Radiotherapie existiert ein breites Indikationsspektrum der palliativen Radiotherapie, vornehmlich bei lokalisierter Schmerzsymptomatik durch Metastasen. Für die moderne Radiotherapie ist eine Terminologie entwickelt worden, die eine wissenschaftlich fundierte, methodisch eindeutige Beschreibung des Prozesses ermöglicht und die Radiotherapie gleichzeitig mit ihren Möglichkeiten und Grenzen in multimodale Therapiekonzepte integrieren lässt. Diese Terminologie umfasst die präzise Angabe bedeutender allgemein onkologischer Parameter wie das makroskopische Tumorvolumen (GTV) und das klinische Zielvolumen (CTV), das eine effiziente antineoplastische Behandlung benötigt (Operation, Radiotherapie, Chemotherapie), sowie radiotherapiespezifische Parameter wie das Planungszielvolumen (PTV) und das mittels Radiotherapie behandelte Volumen. Die konventionelle Fraktionierung der Radiotherapie beinhaltet eine tägliche Strahlendosis von 1,5–2 Gy fünfmal pro Woche bis zu einer therapeutischen Gesamtdosis, die bei soliden Tumoren 50–85 Gy und bei malignen Lymphomen, Seminomen und pädiatrischen Malignomen 15–45 Gy beträgt. Eine Dosiseskalation bzw. eine Intensivierung der Radiotherapie wird heute im Rahmen der IMRT/IGRT bzw. unkonventioneller Fraktionierungskonzepte vor allem bei Plattenepithelkarzinomen der Kopf-HalsRegion, beim Bronchialkarzinom, beim Prostatakarzinom und beim Zervixkarzinom eingesetzt: Erhöhung der Strahlendosis im
468
Kapitel 22 · Strahlentherapie
CTV, Verkürzung der Gesamtbehandlungszeit (Akzelerierung), Applikation einer verringerten Strahlendosis mehr als einmal pro Tag (Hyperfraktionierung). Die lokoregionale Wirkungsverstärkung der Strahlentherapie durch zytotoxische Chemotherapie (Radiochemotherapie) bzw. durch Hormonentzugtherapie hat bei zahlreichen Tumoren – vor allem bei simultaner Applikation – zu deutlich verbesserten anhaltenden Remissions- und Heilungsraten geführt, wie z. B. bei Analkarzinomen (5-FU, MMC), Zervixkarzinomen (Cisplatin), Tumoren der Kopf-Hals-Region (Cisplatin, MMC) und Prostatakarzinomen (Androgenentzug). Vielversprechende Ergebnisse liegen für die Kombination mit monoklonalen Antikörpern bei Tumoren der Kopf-Hals-Region vor (Cetuximab). Das Nebenwirkungsprofil der medikamentösen Therapie sollte nach Möglichkeit so gewählt werden, dass akute und chronische Therapiefolgen an den für die Radiotherapie bekannten Risikogeweben (z. B. Schleimhäuten) nicht verstärkt werden. Unerwünschte Folgen der Radiotherapie sind begrenzend für die Applikation von Strahlendosen jenseits der Toleranzgrenze bestimmter Gewebe. Diese Nebenwirkungen sind abhängig von der Gesamtdosis der Strahlentherapie, der Dosis pro Fraktion und dem bestrahlten Volumen. Die Gesamtbehandlungszeit ist vor allem maßgebend für die Ausprägung akuter Reaktionen. Diese sind meist reversibel und betreffen insbesondere rasch proliferierende Gewebe (Haut, Schleimhäute). Späte Strahlenfolgen treten vornehmlich an langsam proliferierenden Geweben auf (Gefäßendothel, Fibroblasten, Nervenzellen) und verlaufen nach einer klinischen Latenzperiode (Monate, Jahre) meist chronisch progredient. Die Supportivtherapie radiogener Nebenwirkungen ist vor allem bei akut reagierenden Geweben wirksam, wie bei den Stammzellen des Knochenmarks (Wachstumsfaktoren), den Schleimhäuten des Digestionstraktes (topische Schleimhautprotektoren, Antiphlogistika, antibakterielle bzw. antimykotische Therapie) und der Haut (topische Externa). Chronische Therapiefolgen können symptomatisch in ihrem Verlauf gemildert werden. In der Therapieplanung gehört heute die schnittbildgestützte 3-D-Therapieplanung zum Standard neben der fluoroskopischen Therapiesimulation. In der 3-D-Planung wird
eine quantitative Abschätzung möglich (auf der Grundlage von Dosis-Volumen-Histogrammen) bezüglich der wahrscheinlichen Tumorwirkung und der Wahrscheinlichkeit einer Induktion von Nebenwirkungen. In der 3-D-Konformationsradiotherapie und der computeroptimierten intensitätsmodulierten bzw. bildgeführten Radiotherapie (IMRT/IGRT) werden diese Möglichkeiten praktisch umgesetzt. Die stereotaktische Radiotherapie erlaubt wegen des steilen Dosisabfalls die Applikation hoher Strahlendosen in einem kleinen Volumen, ohne das umliegende Normalgewebe nennenswert zu beeinträchtigen. Die Ganzkörperphotonentherapie stellt inzwischen ein bewährtes Instrument zur Stammzellelimination und zur Immunsuppression im Rahmen der Knochenmarktransplantation bei Leukämien dar. Die Ganzhautelektronentherapie ist eine wirksame Behandlungsform der kutanen T-ZellLymphome. Die Brachytherapie wird mit miniaturisierten Quellen über eine computergestützte Steuerung üblicherweise im Nachladeverfahren durchgeführt (Afterloading). Hinsichtlich der Planung ist die Entwicklung ähnlich der 3-D-Planung in der externen Radiotherapie (3-D-konformale bildgestützte Brachytherapie). Die Haupteinsatzgebiete der Brachytherapie sind gynäkologische Tumoren, Prostatakarzinome, Mammakarzinome, Tumoren der Kopf-Hals-Region sowie Bronchusund Ösophaguskarzinome. Die klinische Strahlenbiologie trägt nennenswert zum Verständnis der Strahlenwirkungen auf Tumoren und Normalgewebe bei und unterstützt durch Anwendung biologischer Modelle die Abschätzung klinischer Strahlenwirkungen und die klinische Entwicklung unkonventioneller Fraktionierungsschemata. In Zusammenhang mit den Möglichkeiten der 3-DRadiotherapie werden in absehbarer Zukunft das Verständnis und die Abschätzung dieser Wirkungen richtungsweisend zunehmen. Die molekulare Strahlenbiologie hat neue Wirkungsmechanismen ionisierender Strahlen entdeckt (Beeinflussung der Signaltransduktion, Apoptoseinduktion). Neue (medikamentöse) Therapieformen werden in Zukunft diese Wirkungsmechanismen für die Strahlentherapie gezielt nutzen, sowohl im Hinblick auf eine Wirkungsverstärkung am Tumor wie auch im Hinblick auf eine Wirkungsminderung am Normalgewebe.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
22
23
23 Grundlagen der onkologischen Chirurgie J.R. Siewert, H.E. Vogelsang 23.1
Rahmenbedingungen der onkologischen Chirurgie
23.2
Präoperatives Staging – 470
23.3
Präoperative Risikoabschätzung – 471
23.4
Präoperative Planung – 471
23.5
Operatives Vorgehen – 472
23.6
Lymphadenektomie
23.7
Sicherung der intraoperativen Tumorfreiheit – 473
23.8
Rekonstruktion in der onkologischen Chirurgie
23.9
Operationsbericht – 473
23.10
Pathologisch-anatomische Präparatebefundung – 473
23.11
Residualtumorkategorie
23.12
Therapierelevante Prognosefaktoren – 475
23.13
Erweiterte postoperative Diagnostik – 475
23.14
Adjuvante und additive Therapiemaßnahmen – 476
23.15
Postoperative Aufklärung – 476
23.16
Tumornachsorge – Tumorvorsorge – Tumorfrüherkennung
23.17
Prädiktion und Evaluation von Therapieansprechen – Therapie vorbehandelter Patienten – 477
23.18
Behandlung von Rezidiven und Metastasen
23.19
Tumordebulking
23.20
Palliative Chirurgie – 477
23.21
Prophylaktische Chirurgie
23.22
Stellenwert der minimalinvasiven Chirurgie – 478
23.23
Onkologische Chirurgie: Stellenwert und Ausblick Literatur – 479
– 470
– 472
– 473
– 474
– 477
– 477
– 478
– 479
– 476
470
Kapitel 23 · Grundlagen der onkologischen Chirurgie
23.1
Rahmenbedingungen der onkologischen Chirurgie
Die onkologische Chirurgie bewegt sich im Spannungsfeld zwischen den Gegebenheiten der Tumorerkrankung, der notwendigen Radikalität ihrer Behandlung und dem individuellen Risiko des Patienten. Die Tumorerkrankung ist gekennzeichnet durch die Tumorlokalisation, den Tumortyp, das Tumorstadium, die biologische Wachstumspotenz sowie das Risiko einer metachronen Zweittumorerkrankung. Das perioperative Risiko ist von patientenspezifischen und operationsspezifischen Faktoren abhängig. Letztere werden durch das tumortragende Organ bzw. seine topografische Anatomie und das Ausmaß der notwendigen oder gewählten Radikalität bestimmt, welche wiederum durch die Tumorerkrankung selbst beeinflusst wird. Das patientenspezifische Risiko ist von den Organfunktionen und von vorexistierenden Begleiterkrankungen geprägt (. Abb. 23.1). Um erfolgreich zu sein, bedarf die onkologische Chirurgie heute der horizontalen Vernetzung mit anderen onkologischen Fächern. Diese enge Kooperation findet ihren Ausdruck in sog. multimodalen Therapieprinzipien, d. h. in Therapien, in denen die Operation von nichtchirurgischen Therapieprinzipien flankiert wird. Der Bereich der Onkologie, der sich in erster Linie diesen perioperativen onkologischen Therapieprinzipien widmet, wird als chirurgische Onkologie bezeichnet. Aus dem Gesagten ergeben sich zwei Definitionen: 4 Onkologische Chirurgie: Hierunter versteht man den Teil der Chirurgie, der sich mit der Indikation, Verfahrenswahl und Technik der operativen Behandlung von Tumoren befasst. 4 Chirurgische Onkologie: Hierunter versteht man den Teil der Onkologie, der sich mit Indikation und Art multimodaler Therapieprinzipien am chirurgischen Patienten, d. h. mit prä-, intra- und postoperativen Therapieprinzipien, befasst. Im Zentrum dieser Therapieprotokolle steht ebenfalls die Operation. Vorrangiges Ziel der onkologischen Chirurgie ist die Sicherung eines anhaltenden Überlebens bzw. zumindest eine Verbesserung der Prognose des Patienten im Vergleich zu nichtoperativen Maßnahmen allein (Radio- und/oder Chemotherapie, interventionell-instrumentelle Verfahren, »best supportive care«, keine Therapie). An zweiter Stelle steht die Gewährleistung einer bestmöglichen Lebensqualität. Diese gewinnt eine umso größere Bedeutung, je geringer der Einfluss der onkologischen Chirurgie auf die Prognoseverbesserung des Patienten ist.
23 . Abb. 23.1. Rahmenbedingungen der onkologischen Chirurgie
. Abb. 23.2. Interdisziplinäres Tumorboard
Onkologische Chirurgie lebt im Umfeld der anderen onkologischen Disziplinen (. Abb. 23.2). Entscheidungen über nichtoperative prä-, intra- oder postoperative Therapien müssen präoperativ im Tumorboard interdisziplinär festgelegt werden. Derartige interdisziplinäre Therapieentscheidungen im Tumorboard sind umso wichtiger, je weniger die alleinige operative Therapie im Vordergrund steht bzw. neoadjuvante Therapien das operative Vorgehen erfolgreicher machen können. Während allgemeine Therapieleitlinien von Fachgesellschaften oder Tumorzentren die Rahmenbedingungen der Therapie einer bestimmten Tumorentität darstellen, wird im Tumorboard anhand konkreter Befunde eines Patienten eine individualisierte Tumortherapie festgelegt.
23.2
Präoperatives Staging
Die moderne onkologische Chirurgie strebt ein individuelles Therapiekonzept für den einzelnen Patienten an und benötigt daher präoperativ möglichst viele Informationen über die Tumorsituation und den Patienten selbst. Entscheidendes Operationsziel in der onkologischen Chirurgie ist die lokale Tumorentfernung im Gesunden in allen vier Ebenen inklusive des Lymphabflusses mit adäquatem Sicherheitsabstand (R0-Resektion). Umfang und Qualität des präoperativen Staging sind darauf ausgerichtet, folgende Fragen beantworten zu können: 4 Ist eine R0-Resektion möglich? 4 Liegen Fernmetastasen vor? 4 Wie groß ist das Risiko der Resektion unter Berücksichtigung des Risikoprofils des Patienten und der anatomischen Lokalisation des Tumors? 4 Müssen prä-, intra- oder postoperative nichtchirurgische Behandlungsmaßnahmen im Gesamttherapiekonzept berücksichtigt werden? Auch im Hinblick auf die steigende Bedeutung neoadjuvanter Therapieprinzipien wird ein exaktes präoperatives Tumorstaging immer wichtiger. Dabei bedeutet Staging zwar in erster Linie Erfassung der TNM-Kategorien, aber auch anderer belegter Prognosefaktoren. Während die T-Kategorie von luminal her relativ zuverlässig bestimmbar ist (endoluminale Ultraschalluntersuchung, soweit das Organ endoskopisch erreichbar ist), ist die Diagnostik der N-Kategorie nach wie vor unzuverlässig. Insgesamt ist die diagnostische Treffsicherheit bei regionalen Lymphknotenmetastasen zu gering, um daraus therapeutische Konsequenzen ziehen zu können. Für organferne Lymphknotenmetas-
471 23.4 · Präoperative Planung
tasen ist eine extraluminale Diagnostik mit CT oder evtl. PET anzustreben. Bezüglich der M-Kategorie (Organmetastasen, Peritonealkarzinose, lymphogene Fernmetastasen) ist der Wert der extraluminalen Diagnostik mit CT, MR und PET unbestritten. In Zweifelsfällen sollte eine histologische oder zytologische Sicherung durch Stanzbiopsie oder Feinnadelpunktion erfolgen. In Einzelfällen bleibt trotz ausgiebiger diagnostischer Maßnahmen die Primärtumorlokalisation unklar (»unknown primary«). Dann stellt sich die Frage der weiteren diagnostischen Eskalation. Für die abdominelle Diagnostik einer Peritonealkarzinose bietet sich bei den gastrointestinalen Tumoren die diagnostische Laparoskopie an, da sie die gewünschten Fragestellungen mit hoher Zuverlässigkeit beantworten kann. In begrenztem Umfang gilt dies auch für die Thorakoskopie bei thorakalen onkologischen Fragestellungen. Die diagnostische Laparoskopie im Rahmen der Onkologie hat allerdings nur dann wirkliche Bedeutung, wenn aus ihren Ergebnissen therapeutische Konsequenzen gezogen werden. Solche Konsequenzen sind derzeit beim Magenkarzinom und beim Adenokarzinom der Speiseröhre am ehesten belegt (Siewert et al. 1997). Hier ist sie entscheidend für die Indikation einer neoadjuvanten Chemotherapie, da der Nachweis einer Peritonealkarzinose eine derartige Chemotherapie ausschließt. Beim Pankreaskarzinom dient die präoperative laparoskopische Diagnostik mangels eines belegten neoadjuvanten Therapieprinzips der Vermeidung unnötiger oder nur palliativer Operationen. Schließlich hilft die diagnostische Laparoskopie bei Lebertumoren die richtige Indikation zur Lebertransplantation bzw. zu palliativen Therapiemaßnahmen zu finden (Ausschluss extrahepatischer Tumormanifestation). Um die gestellten Aufgaben zu erfüllen, muss die diagnostische Laparoskopie mit chirurgischer Technik durchgeführt werden (Peritoneallavage, Eröffnung der Bursa omentalis, laparoskopischer Ultraschall, ggf. Lymphknotenexstirpation etc.). Offen ist derzeit allerdings noch, ob diese Aggressivität onkologisch inert ist, d. h., ob Biopsien nicht zu einer Tumorzellfreisetzung führen können. Exakte prospektive Studien werden hier Klarheit schaffen müssen. Auswärtige bildgebende oder histopathologische Befunde müssen kritisch in die Therapieentscheidung eingebunden werden. So ist der einmalige und durch erneute Biopsie nicht reproduzierbare histopathologische Befund eines Magenkarzinoms durch eine histopathologische Zweitbefundung vor Ort zu bestätigen oder zu verwerfen, bevor eine Therapie im Sinne eines Frühkarzinoms oder einer »hochgradigen intraepithelialen Neoplasie« eingeleitet wird. Die Erfassung einer potenziellen hereditären Tumordisposition kann die Abklärung weiterer Organsysteme hinsichtlich bisher unbekannter Tumorerkrankungen notwendig machen (z. B. Endometriumkarzinom bei HNPCC-Kolonkarzinomen).
23.3
Präoperative Risikoabschätzung
Die Risikoabschätzung dient der präoperativen Identifizierung gestörter Organfunktionen, die ggf. durch gezielte Maßnahmen verbessert werden können (z. B. funktionelle Vorbehandlung bei pulmonalen Störungen, Therapie der koronaren Herzkrankheit), nimmt Einfluss auf die Verfahrenswahl (z. B. limitierte Chirurgie beim Hochrisikopatienten) und ermöglicht eine problemorientierte postoperative Therapie (z. B. Nachbeatmung, Therapie ei-
23
ner Gerinnungsstörung). Als notwendige Voraussetzung dafür müssen Vorerkrankungen identifiziert, relevante Organfunktionen mit möglichem Einfluss auf den postoperativen Verlauf erfasst und diese Funktionen in Korrelation zum geplanten Eingriff bewertet werden. Hierzu zählen die pulmonale, kardiovaskuläre und hepatorenale Funktion sowie der Allgemeinzustand und die Kooperationsfähigkeit des Patienten. Der Umfang der Risikoanalyse orientiert sich an der objektiven Beeinträchtigung von Organfunktionen, der Dringlichkeit einer Operation sowie der Größe des geplanten Eingriffes.
23.4
Präoperative Planung
Die Abschätzung des Umfanges der Operation ist wesentlich für die Planung des Operationszeitpunktes. Ein für diesen Eingriff erfahrener Operateur muss verfügbar sein. Die voraussichtliche Operationsdauer muss realistisch geplant sein und darf keinen Zeitdruck aufkommen lassen. Mögliche Operationserweiterungen sind präoperativ funktionell abzuklären und bei der Patientenaufklärung zu berücksichtigen. So muss z. B. die Mitentfernung einer Niere durch die Bestimmung einer seitengetrennten Clearance abgesichert werden. Vorbereitende Maßnahmen wie eine orthograde Darmspülung oder die Plazierung von Ureterschienen bei Rezidiveingriffen müssen berücksichtigt werden. Die Verfügbarkeit technischer Zusatzgeräte z. B. bei ausgedehnteren Leberteilresektionen erleichtert den operativen Ablauf. Der mögliche Operationsumfang sollte mit dem Operationspersonal und auch dem Anästhesisten abgesprochen sein. Die richtige Lagerung des Patienten ist von der Wahl des Zuganges abhängig, der vorher ausdrücklich mitgeteilt werden muss. Bestimmte Eingriffe machen die Anwesenheit von Operateuren anderer Fachdisziplinen erforderlich. Eventuelle additive intraoperative Therapiemaßnahmen wie eine intra-
Checkliste zur Planung eines onkologischchirurgischen Eingriffes 1.
2.
3.
Patientenbezogen a) Präoperative Darmspülung erforderlich? b) Schienung der Harnleiter sinnvoll? c) Frühzeitige präoperative Vorstellung in der Anästhesie notwendig? d) Zugangswahl zum Operationsgebiet e) Mögliche Operationserweiterungen einplanen Operationsbezogen a) Lagerung des Patienten b) Voraussichtliche Operationsdauer c) Erfahrener Operateur evtl. auch anderer Fachdisziplinen anwesend? d) Technische Zusatzgeräte erforderlich? e) Spezielle intraoperative Medikamente notwendig? Tumorbezogen a) Schnellschnittuntersuchung in der Pathologie notwendig? b) Intraoperative Strahlen- oder Chemotherapie angezeigt? c) Implantation von Spezialkathetern (intravenöser/ intraperitonealer Port) notwendig? d) Sind Gefäßrekonstruktionen zu erwarten?
472
Kapitel 23 · Grundlagen der onkologischen Chirurgie
operative Radiatio oder peritoneale Chemotherapie bedürfen der Vorbereitung. Die sorgfältige Planung eines onkologischen Eingriffes trägt wesentlich zu seinem Gelingen bei (s. Übersicht). Von besonderer Bedeutung ist die präoperative Aufklärung des Patienten. Diese sollte schrittweise erfolgen und nicht erst kurz vor dem Operationstag den vollen Umfang der Operation darlegen. Bei vielen Primärtumoroperationen, zu denen keine therapeutischen Alternativen bestehen, zeigt der Patient selten eine kritische Distanz zur Operation. Der Wunsch einer raschen Tumorentfernung ist beim Patienten häufig übermächtig und verschließt den Blick auf die Zeit danach. Die Aufgabe des Chirurgen ist auch die Darstellung möglicher funktioneller postoperativer Einschränkungen sowie eventuell notwendiger adjuvanter oder additiver Therapiemaßnahmen bereits im Vorfeld der Operation. Ganz individuell müssen dabei auch Aspekte der möglichen Prognose besprochen werden. Hierzu ist die Einbeziehung naher Angehöriger oder Vertrauenspersonen unbedingt erforderlich. Entsprechende Aufklärungsbögen erleichtern die Arbeit sehr. »Nur ein aufgeklärter Patient ist ein kooperativer Patient!«
23.5
Operatives Vorgehen
Ziel der Operation ist die Entfernung des Tumors im Gesunden in allen Ebenen. Hierunter ist bei Hohlorganabschnitten nicht nur die orale und aborale Resektionsfläche, sondern auch das Tumorbett selbst mit seiner dreidimensionalen Orientierung im Raum zu verstehen. Erweitert werden muss die »Resektion im Gesunden« auch auf die Dimension des topografisch-anatomisch vorgegebenen Lymphabflusses im Sinne einer systematischen Lymphadenektomie. Der zu fordernde Sicherheitsabstand vom Primärtumor ist vom Wachstumstyp und vitalen anatomischen Gegebenheiten abhängig, er beträgt bei Hohlorganen in der Regel zwischen 2 und 10 cm. Grundsätzlich ist eine En-bloc-Resektion des Lymphabflussgebietes sowie des Primärtumors im Sinne einer zentripetalen Präparation beginnend im topografisch zugehörigen peripheren Lymphabflussgebiet anzustreben. Bei Einbeziehung von Nachbarorganen durch die Infiltration des Primärtumors sollte in Abhängigkeit von der zu erwartenden Prognose, von der Lebensnotwendigkeit beteiligter Organe und von der zu erwartenden Einschränkung der Lebensqualität eine multiviszerale En-bloc-Resektion durchgeführt werden. Diese Aussage gilt insbesondere für kolorektale Karzinome, weil hier auch große Primärtumoren (T4) lange ohne Lymphknotenmetastasierung wachsen können. In einem erweiterten Sinne kann die Forderung der Resektion im Gesunden auch auf Fernmetastasen übertragen werden, wenn diese synchron oder metachron zur Primärtumoroperation reseziert werden können.
23.6
23
Lymphadenektomie
Die Lymphadenektomie erfüllt einen diagnostischen und therapeutischen Aspekt. Nur eine ausreichende Lymphadenektomie gewährleistet eine korrekte Stadienzuordnung der Tumorerkrankung. Die N-Kategorie ist ein wichtiger Prognosefaktor und entscheidet bei einzelnen Tumorentitäten über die Indikation zu einer additiven oder adjuvanten Nachbehandlung. Nur eine exakte Stadienzuordnung erlaubt eine internationale Vergleichbarkeit von Behandlungsergebnissen.
Der therapeutische Aspekt der Lymphadenektomie beinhaltet eine mögliche Prognoseverbesserung des Patienten. Belegt ist der Wert der Lymphadenektomie vor allem für die Tumoreingriffe von Patienten, bei denen eine gerade beginnende Lymphknotenmetastasierung vorliegt. Dabei muss der an der Embryogenese orientierte, dem erkrankten Organ zugehörige korrekte lokoregionäre Lymphabfluss (qualitativer Aspekt) möglichst en bloc mit dem Primärtumor entfernt werden. Die jeweilig vom Primärtumor am weitesten distanziert gelegenen Lymphknoten, die sich überwiegend an großen Gefäßverläufen orientieren, werden dabei als Grenzlymphknoten bezeichnet und für den Pathologen ggf. gesondert markiert. Eine wirkliche Prognoseverbesserung durch die Lymphadenektomie erscheint nur dann möglich, wenn die Anzahl der zu entfernenden Lymphknoten deutlich die Anzahl befallener Lymphknoten übersteigt (quantitativer Aspekt). Hierzu ist eine subtile Aufarbeitung der Lymphknoten mit entsprechender Zählung durch den Pathologen erforderlich. Dabei wird der Quotient aus der Anzahl befallener Lymphknoten zur Anzahl entfernter Lymphknoten als Lymphknoten-Quotient (LK-Ratio) bezeichnet, der mit einem Wert unter 0,2 eher eine bessere Prognose anzeigt, wenn also über 80% der entfernten Lymphknoten in der Routinehistologie tumorfrei sind (Roder et al. 1994). Hierdurch wird das Prinzip des ausreichenden Sicherheitsabstandes auf die Lymphadenektomie übertragen (Siewert et al. 1998; . Abb. 23.3). Eine immunhistochemische Aufarbeitung konventionell-lichtmikroskopisch tumorfreier Lymphknoten führt in einem bestimmten Umfang zum Nachweis von Tumorzellen in den Sinus oder der Pulpa der Lymphknoten ohne Stromareaktion, bei molekularbiologischer Aufarbeitung zum Nachweis von Tumorzellmaterial. Dieses Mikroinvolvement der Lymphknoten stellt beim nodal-negativen Magenkarzinom und beim Plattenepithelkarzinom des Ösophagus einen eigenständigen prognostischen Faktor dar (Kestlmeier et al. 1997; Natsugoe et al. 1998). Das erklärt möglicherweise, dass der therapeutische Aspekt der Lymphadenektomie nur bei einer ausreichenden Lymphknotenratio mit Entfernung möglichst vieler, konventionell-lichtmikroskopisch tumorfreier Lymphknoten, die in einem hohen Prozentsatz ein Mikroinvolvement zeigen, zum Tragen kommt. Die N-Kategorie der TNM-Klassifikation wird nach immunhistochemischer oder molekularbiologischer Untersuchung auf isolierte Tumorzellen in regionären Lymphknoten durch den Zusatz »pN (i-/+)« bzw. »pN (mol-/mol+)« ergänzt (Wittekind et al. 2002). Nur bei wenigen Tumoren sind derartig umfangreiche Datenbanken zum Lymphknotenbefall in Abhängigkeit vom Tumorstadium, dem Tumortyp und der Tumorlokalisation wie beim Magenkarzinom angelegt. Diese Datenbanken könnten zukünftig eine individualisierte Lymphadenektomie beim Magenkarzinom erlauben (Bollschweiler et al. 1992a). Unter Studienbedingungen wird zurzeit mit einer Markierung des Lymphabflussgebietes von Primärtumoren durch Farbstoffe, radioaktive Marker oder Antikörper versucht, das primäre Lymphabflussgebiet zu definieren. Dadurch kann die erste Lymphknotenstation isoliert entfernt und hinsichtlich einer Metastasierung untersucht werden (»sentinel lymph node«, Schildwächterlymphknoten) oder auch eine regionale Lymphadenektomie gesteuert werden (»radio-immunoguided surgery«, RIGS). Der Schildwächterlymphknoten wird in der pN-Kategorie durch den Zusatz »pN(sn)« gekennzeichnet (Wittekind et al. 2002).
473 23.10 · Pathologisch-anatomische Präparatebefundung
23
. Abb. 23.3. Deutsche Magenkarzinomstudie (GGCS 92). Überleben R0-resezierter Patienten in Abhängigkeit von der Lymphknoten-Ratio.
23.7
Sicherung der intraoperativen Tumorfreiheit
Eine genaueste intraoperative Exploration der zugänglichen anatomischen Regionen soll die lokoregionäre Tumorausdehnung und eine eventuelle Fernmetastasierung erfassen. Zur Exploration der Leber hat sich der intraoperative Ultraschall bewährt. Eine intraoperative Lavage der Thorax- und Bauchhöhle kann freie Tumorzellen ohne makroskopisch erkennbare Pleura- oder Peritonealkarzinose nachweisen. Eine Schnellschnittdiagnostik im Bereich der Absetzungsgrenzen des Primärtumors erscheint nur dann sinnvoll, wenn aus dem positiven Tumornachweis Konsequenzen im Sinne einer Resektionserweiterung gezogen werden können. Schnellschnittuntersuchungen im Rahmen der Lymphadenektomie sind im Allgemeinen nicht sinnvoll, da das Ausmaß der Lymphadenektomie durch die Topografie vorgegeben ist und eine Erweiterung der Lymphadenektomie in der Regel nicht möglich ist bzw. keinen therapeutischen Einfluss hat (s. LK-Ratio). Gegebenenfalls können einzelne repräsentative Lymphknoten distanzierter Kompartimente entfernt werden, um eine Fernmetastasierung in Lymphknoten (MLYM) pathohistologisch sichern zu können.
23.8
Rekonstruktion in der onkologischen Chirurgie
Im Vordergrund der Operation steht die radikale Tumorentfernung im Gesunden. Die Rekonstruktion ist diesem Ziel untergeordnet und sollte möglichst einfach und komplikationsarm sein, da postoperative Komplikationen bei onkologischen Eingriffen einen eigenständigen Prognosefaktor für das langfristige Überleben darstellen (Roder et al. 1993). Aufwendige Rekonstruktionsverfahren können bei Patienten mit geringem Risikoprofil und guter onkologischer Prognose indiziert sein. Berücksichtigt werden muss auch, dass bestimmte Rekonstruktionsverfahren (z. B. Pouchbildung nach Gastrektomie) erst im mittelfristigen Verlauf für den Patienten Vorteile zeigen, also für Patienten mit nur kurzfristiger Prognose keinen subjektiven Vorteil bringen (Roder et al. 1996). Die Wahl der Rekonstruktion ist auch vom Lokalrezidivrisiko abhängig. So sollte bei einem lokal fortgeschrittenen Ösophaguskarzinom eine Rekonstruktion im vorderen Mediastinum einer im hinteren Mediastinum (»Tumorbett«) vorgezogen werden. Beim lokal fortgeschrittenen Rektumkarzinom ist häufig die Rektumexstirpation mit Anus-praeter-Anlage einer kontinenzerhal-
tenden Anastomosierung im Tumorbett vorzuziehen. Die Rekonstruktion außerhalb des Tumorbettes erleichtert die Durchführung einer postoperativen Strahlentherapie.
23.9
Operationsbericht
Der Operationsbericht dient in erster Linie als onkologisches Dokumentationsprotokoll. Er soll die lokoregionäre Tumorausdehnung sowie die Exploration der Umgebung beschreiben. Das Resektionsausmaß sowie der Umfang der Lymphadenektomie und ggf. die Markierung des Tumorbettes müssen Erwähnung finden. Eventuelle additive intraoperative Maßnahmen werden geschildert. Von besonderer Bedeutung ist die Festlegung der vorläufigen Residualtumorkategorie durch den Operateur. Dieser muss lokoregionäres Resttumorgewebe oder verbliebene Fernmetastasen nachvollziehbar beschreiben und markieren.
23.10
Pathologisch-anatomische Präparatebefundung
Engste Kooperation zwischen onkologischem Chirurg und Pathologen ist unerlässlich. Ein Präparatedienst, der das Resektat intraoperativ mit erläuterndem Kommentar vom Chirurgen entgegennimmt und bearbeitet, erleichtert die weitere Befundung. Er soll das Präparat nach entsprechender makroskopischer Bearbeitung (Eröffnung von Hohlorganabschnitten, zentrale Schnittführung durch die Haupttumormanifestation, Asservierung von vitalem Tumorgewebe etc.) dem Chirurgen präsentieren und den Resektionsabstand luminal sowie auch im Tumorbett beschreiben. Bei eventueller Indikation zur Erweiterung der Radikalität können vom Präparat Schnellschnitte veranlasst werden. Die frühe makroskopische Aufarbeitung des Resektates durch den Präparatedienst ermöglicht die unmittelbare Asservierung von Frischtumorgewebe für wissenschaftliche Fragestellungen oder Spezialfärbungen im Rahmen der Routine, ohne für den Pathologen nicht mehr nachvollziehbare Veränderungen am Präparat vorzunehmen. Das Präparat kann so bereits im Operationssaal ggf. orientierend aufgespannt und formalinfixiert werden. Die Außenbegrenzung des Präparates im Tumorbett kann mit Tuschepartikeln markiert werden, um mikroskopisch auch nach Schneideartefakten die äußere Begrenzungsschicht sicher identifizieren zu können. Eine Bilddokumentation des frischen
474
Kapitel 23 · Grundlagen der onkologischen Chirurgie
. Tab. 23.1. Empfohlene Mindestanzahl zu untersuchender Lymphknoten für die pN-Klassifikation gastrointestinaler Tumoren. Tumorlokalisation
Mindestanzahl
Ösophagus
6
Magen
15
Dünndarm
6
Kolon, Rektum
12
Pankreas, Ampulla vateri
10
Leber, Gallenblase, extrahepatische Gallenwege
3
Resektates ermöglicht eine spätere fallorientierte Besprechung im interdisziplinären Tumorboard. Der Pathologe stellt in diesem Konzept eine qualitätssichernde Instanz in der onkologischen Chirurgie dar. Eine weitgehend standardisierte Bearbeitung umfasst Basisinformationen und ggf. auch weitergehende wissenschaftliche Daten. Zunächst ist der Sicherheitsabstand luminal und im Bereich des Tumorbettes zu vermessen. Weitere Basisinformationen sind der histologische Tumortypus, das Grading, die pTNM-Kategorie sowie die Residualtumorkategorie ggf. unter Einbeziehung mitgeteilter klinischer Informationen über verbliebene Tumoranteile bzw. Fernmetastasen. Für die korrekte pN-Kategorie wird als Qualitätsmaßstab eine Mindestanzahl präparierbarer Lymphknoten gefordert (Wittekind et al. 2002; . Tab. 23.1). Die exakte M-Kategorie ist insbesondere von einer umfassenden Information durch den Chirurgen abhängig. Eine Peritonealkarzinose oder irresektable Lebermetastasierung sollte zum Zwecke der diagnostischen Sicherung für den Pathologen asserviert werden. In seltenen Fällen wird hierbei eine Fernmetastasierung bisher unbekannter anderweitiger Primärtumoren oder vorausgegangener Tumorerkrankungen diagnostiziert. In den Rahmen einer erweiterten Befundung gehört die Angabe der Lymphknotenratio, d. h. der Quotient der Anzahl befallener Lymphknoten zur Anzahl insgesamt entfernter Lymphknoten. Eine gesonderte Befundung der sog. Grenzlymphknoten wird ebenfalls angestrebt.
23.11
23
Residualtumorkategorie
Erst nach adäquatem Staging, chirurgischem Eingriff und sorgfältiger histopathologischer Aufarbeitung ist eine zuverlässige Festlegung der Residualtumorkategorie (R-Kategorie; Sobin u. Wittekind 1987), dem wichtigsten eigenständigen therapieabhängigen Prognosefaktor onkologischer Chirurgie, möglich. Nur eine R0-Resektion, d. h. die Abwesenheit von mikroskopischem oder makroskopischem Tumorrest, kann als kurative Resektion bezeichnet werden. Bei mikroskopischem (R1-Resektion) oder makroskopischem Tumorrest (R2-Resektion) ist im Regelfall von einer palliativen Resektion auszugehen (Hermanek u. Wittekind 1994a,b). Dabei bezieht sich die Residualtumorkategorie sowohl auf den Primärtumor als auch auf sein lokoregionäres Lymphabflussgebiet. Die Feststellung einer R0-Resektion kann somit nur vom Chirurgen und Pathologen gemeinsam vorgenommen werden. Der Chirurg muss am Ende der Operation nach Exploration
des Tumorsitus und Tumorresektion einschließlich Lymphadenektomie eine lokoregionäre makroskopische Tumorfreiheit feststellen. Der Pathologe muss eine mikroskopische Tumorfreiheit in allen drei Dimensionen nachweisen, also insbesondere bei Hohlorgantumoren nicht nur im Bereich der oralen und aboralen luminalen Resektionsränder, sondern auch im Bereich des Tumorbettes. Hier kann bei knappen Resektionsrändern und speziellen Fragestellungen die Anfertigung zytologischer Tupfpräparate hilfreich sein. Dabei ist zur Annahme einer absoluten Residualtumorfreiheit in Abhängigkeit vom histologischen Tumorwachstumstyp ein luminaler Sicherheitsabstand von 2– 10 cm zu fordern, um ein mikroskopisches Tumorwachstum jenseits der Resektionsränder ausschließen zu können. Ein notwendiger Sicherheitsabstand im Bereich des Tumorbettes ist derzeit noch nicht verbindlich festgelegt. Er ist insbesondere abhängig von topografisch-anatomischen Gegebenheiten, die eine Erweiterung der Resektion in Nachbarstrukturen ermöglichen oder ausschließen (z. B. Ösophagus- und Rektumkarzinom). Als Sicherheitsabstand im Tumorbett sind wahrscheinlich mindestens 0,5 cm zu fordern. Eine R1-Resektion, also der Nachweis bzw. die Annahme eines mikroskopischen Tumorrestes, kann nur vom Pathologen festgestellt werden, der Tumor histologisch im Bereich der Resektionsgrenzen nachweisen muss. Die Feststellung einer R2-Resektion, also makroskopisch verbliebenes Resttumorgewebe, ist im Regelfall vom Chirurgen abhängig und sollte wenn immer möglich durch die Biopsie des Resttumorgewebes durch den Pathologen dokumentiert werden. Kann nach Aufarbeitung eines Präparates festgestellt werden, dass eine lokoregionäre Tumorfreiheit in allen drei Dimensionen des Primärtumors einschließlich seines Lymphabflussgebietes und unter Einhaltung der zu fordernden Sicherheitsabstände erzielt werden konnte, sollte von einer absoluten R0-Resektion gesprochen werden. Bei Erzielung einer Tumorfreiheit mit knappem Sicherheitsabstand sollte die durchgeführte Operation als relative R0-Resektion bezeichnet werden. Da sich die Residualtumorkategorie im Regelfall auf die Primärtumorsituation bezieht, entsteht häufiger die Konstellation einer lokalen R0-Resektion des Primärtumors bei bekannten Fernmetastasen, die einer operativen Therapie nicht zugeführt werden können. Hierfür haben sich bezogen auf die Primärtumorsituation im klinischen Alltag der Terminus »lokal R0« und bezogen auf die Gesamttumorlast des Patienten die Bezeichnung »R2-Situation« eingebürgert. Mit modernen immunhistochemischen und molekularbiologischen Verfahren gelingt der Nachweis freier Tumorzellen in der Thorax- oder Bauchhöhle (Lavage), im Knochenmark (Punktion), in den Lymphknoten oder auch im Blut des Patienten. Die prognostische Bedeutung dieser freien Tumorzellen konnte von verschiedenen Arbeitsgruppen nachgewiesen werden, die biologische Wertigkeit der jeweils nachgewiesenen Tumorzellen ist dennoch bisher nicht vollständig klar (Friederichs et al. 2005; Funke u. Schraut 1998; Nekarda et al. 1999; Rosenberg et al. 2004, 2006) Die 6. Auflage der TNM-Klassifikation berücksichtigt die immunhistochemische oder molekularbiologische Untersuchung auf isolierte Tumorzellen durch einen Zusatz zur M-Kategorie »pM (i-/i+)« bzw. »pM (mol-/mol+)« (Wittekind et al. 2002). Um eine Vergleichbarkeit der R-Kategorie zu ermöglichen, bedarf es einer Angabe, mit welchen Untersuchungstechniken Residualtumor nachgewiesen werden konnte. Der Einsatz konventioneller (»conventional«) Untersuchungstechniken auch in der histopathologischen Beurteilung kann durch den Zusatz R1(conv), die
23
475 23.13 · Erweiterte postoperative Diagnostik
Anwendung anspruchsvoller neuer Methoden (»sophisticated«) durch den Zusatz R1(soph) gekennzeichnet werden (Hermanek et al. 1993; Hermanek 1995). Erst nach genauer tumorbiologischer und prognostischer Evaluation der Bedeutung des Nachweises freier Tumorzellen wird eine Neudefinition der TNMKlassifikation erfolgen.
23.12
Therapierelevante Prognosefaktoren
Die Betrachtung von Prognosefaktoren setzt eine Definition des Zielkriteriums voraus. International wird die 30-Tage-Letalität verwandt. Der Versuch, eine 90-Tage-Letalität als zweiten Parameter einzuführen, ist bislang nicht erfolgreich gewesen. Ersatzweise ist eine Hospitalletalität, die im Wesentlichen von der operativen Intervention bestimmt wird, von einem langfristigen Überleben (5-Jahres-Überlebensrate), im Wesentlichen bestimmt durch die Tumorerkrankung, zu unterscheiden (Bollschweiler et al. 1992b). Beide Zielkriterien können zuverlässig ermittelt werden. Auch die Lokalrezidivrate kann ein wichtiges Zielkriterium sein, ist sie doch ein wesentlicher Qualitätsfaktor für die lokoregionäre Radikalität der chirurgischen Behandlung. In Abhängigkeit vom Tumortyp und vom Aufwand der Nachbeobachtung kann jedoch die Ermittlung der Lokalrezidivrate außerordentlich schwierig und unzuverlässig sein. Hier muss zwischen intra- und extraluminalen Lokalrezidiven unterschieden werden. Erstere sind eher selten und endoskopisch sowie bildgebend einfach zu diagnostizieren. Extraluminale Rezidive sind häufiger und stellen bildgebend eine ggf. schwierige Differenzialdiagnose zwischen Tumorrezidiv und Narbe dar. Sie können durch verbliebene Anteile des Primärtumors oder verbliebene Lymphknotenmetastasen verursacht werden. An dieser Stelle sollen nur durch den Chirurgen beeinflussbare Prognoseparameter dargestellt werden (s. Übersicht; Böttcher et al. 1994; Hermanek et al. 1994). Die Vielzahl bisher beschriebener histopathologischer und molekularbiologischer Prognosefaktoren ist umfassend von der UICC erfasst (Hermanek et al. 1995).
Chirurgisch beeinflussbare Prognosefaktoren gastrointestinaler Tumoren (nach Böttcher et al. 1994, Hermanek et al. 1994) 4 4 4 4
R-Kategorie Lymphknotenquotient Erfahrung des Operateurs/Zentrums (»high volume«) Postoperative Komplikationen
Unzweifelhaft ist die Residualtumorkategorie der relevanteste Prognosefaktor. Operative Eingriffe, die keine R0-Resektion erreichen, sind in der Regel nicht in der Lage, die Prognose des Patienten zu verbessern (Siewert et al. 1998). In der Untergruppe der Patienten mit beginnender Lymphknotenmetastasierung stellt auch das Ausmaß der Lymphknotendissektion, das in die LK-Ratio eingeht, einen eigenständigen Prognosefaktor dar. Der prognostische Grenzwert beträgt ca. 20% befallener Lymphknoten (. Abb. 23.3; Siewert et al. 1998). Der Umfang der über die befallenen Lymphknoten hinausgehenden Lymphknotendissektion stellt einen Sicherheitsabstand im Bereich der Lymphadenektomie dar und berücksichtigt die Möglichkeit eines Mikroinvolvement.
. Tab. 23.2. 30-Tage-Letalität nach verschiedenen operativen Eingriffen in Abhängigkeit von der Eingriffshäufigkeit. Eingriffe/Jahr
1–5
6–10
≥11
Pankreatektomie
12,9
7,7
5,8
Ösophagektomie
17,3
3,9
3,4
Pneumonektomie
13,8
14,1
10,7
Leberresektion
5,4
3,5
1,7
Pelvine Exenteration
3,7
3,2
1,5
Die Häufigkeit einer R0-Resektion und auch das Ausmaß der Lymphadenektomie sind u. a. von der Erfahrung einer chirurgischen Institution und des Operateurs selbst mitbestimmt. Diese kann insbesondere an der Anzahl durchgeführter Eingriffe pro Zeiteinheit gemessen werden. Selbstverständlich beeinflusst diese Erfahrung besonders die postoperative Komplikationsrate und die Hospitalletalität der Patienten, Studien konnten aber auch einen deutlichen Einfluss auf die Lokalrezidivrate und das langfristige Überleben der Patienten nachweisen (Böttcher et al. 1994; Hermanek et al. 1995; Hermanek et al. 1994). Darüber hinaus stellen postoperative Komplikationen allein einen eigenständigen Prognosefaktor dar. Neben dem erwarteten Einfluss auf die Hospitalletalität haben postoperative Komplikationen auch einen Einfluss auf die Häufigkeit von Lokalrezidiven sowie insbesondere auf das langfristige Überleben (Böttcher et al. 1994; . Tab. 23.2, nach Begg et al. 1998). Die Bewertung der dargestellten Prognosefaktoren lässt den Schluss zu, dass der Einsatz komplikationsarmer Operationsverfahren in der Hand trainierter Chirurgen innerhalb eines onkologischen Zentrums die beste prognostische Voraussetzung für den Patienten darstellt. Das Behandlungsziel der Residualtumorfreiheit wird einerseits durch eine verbesserte Patientenselektion nach adäquatem präoperativen Staging und andererseits durch die Erfahrung des Chirurgen erreicht. Wenn immer möglich sollten Patienten, bei denen wahrscheinlich operativ keine Tumorfreiheit erzielt werden kann, entweder einer neoadjuvanten Therapie oder einer ausschließlich palliativen Therapie zugeführt werden.
23.13
Erweiterte postoperative Diagnostik
Spezielle histopathologische Befunde oder auch anamnestische Daten können Anlass für eine erweiterte postoperative Diagnostik sein. Die Diagnose eines differenzierten neuroendokrinen Karzinoms beispielsweise ist mit der Frage nach dessen hormoneller Aktivität verbunden. Diese stellt einen möglichen Tumormarker dar. Bei präoperativem Verdacht auf einen solchen Tumor sollte bei fehlender klinischer Symptomatik Serum für eine eventuelle postoperative Diagnostik asserviert werden. Geeignete nuklearmedizinische Untersuchungstechniken bieten die Möglichkeit einer differenzierteren Metastasensuche. Insbesondere kleine neuroendokrine Tumoren (z. B. Gastrinome) können bei unbekannter Primärtumorlokalisation mit einer schon ausgedehnten Lymphknoten- oder Fernmetastasierung einhergehen. Gelingt auch nach erweiterter diagnostischer Laparotomie mit intraoperativer Sonografie keine Primärtumorlokalisation, können angio-
476
Kapitel 23 · Grundlagen der onkologischen Chirurgie
grafische Stimulationsverfahren (z. B. intraarterieller Sekretintest) eine annähernde Lokalisation mit anschließender »blinder« Organresektion (z. B. Whipple’sche Operation) ermöglichen. Anamnestische und auch tumorspezifische Hinweise für eine hereditäre Tumordispositionserkrankung sollten nach Aufklärung und Zustimmung des Patienten zu einer eventuellen molekularbiologischen Diagnostik Anlass geben. Tumorentitäten unklarer Dignität und Weichteiltumoren können häufig einer nur relativen R0-Resektion zugeführt werden. Postoperative Verlaufskontrollen ermöglichen gerade in der Frühphase nur sehr schwer die Unterscheidung zwischen Tumorund Narbengewebe. Hier empfiehlt sich in ausgewählten Einzelfällen die frühe postoperative Anfertigung einer CT oder MRT zur Dokumentation des Ausgangsbefundes im Hinblick auf weitere Kontrolluntersuchungen.
23.14
Adjuvante und additive Therapiemaßnahmen
Das Wissen um eine postoperative adjuvante oder additive Therapieoption darf das Bemühen um eine R0-Resektion nicht beeinträchtigen. Der Anstoß zu einer postoperativen Therapie muss vom onkologischen Chirurgen ausgehen, die Indikation sollte durch das interdisziplinäre Tumorboard gestellt werden. Die Vorbereitung bzw. der Beginn zahlreicher erprobter oder in Prüfung befindlicher Therapiemaßnahmen fällt mit dem Zeitpunkt der Operation zusammen. So bedürfen Studien zur frühen postoperativen portalen Perfusion einer intraoperativen Katheterplazierung. Die Durchführung einer lokoregionären Chemotherapie, z. B. bei Lebermetastasen, kann durch die Implantation eines arteriellen Portsystems erleichtert werden. Individuelle postoperative Strahlentherapien profitieren zur Bestimmung der Feldgröße von einer intraoperativen Clipmarkierung des Tumorbettes bzw. fraglicher R1- oder tatsächlicher R2-Tumorreste. Die intrakavitäre Chemotherapie geht mit einer bereits intraoperativen Chemotherapie einher oder der Vorbereitung durch intraperitoneale Katheterplazierung. Die Prüfung innovativer Therapiemaßnahmen gelingt nur, wenn der Chirurg zur Patientenrekrutierung beiträgt und über den Zugang zu entsprechenden Studien verfügt.
23.15
23
Postoperative Aufklärung
Die postoperative Aufklärung betrifft erneut gleichermaßen den Patienten als auch sein familiäres Umfeld. Zunächst bedarf es einer Information über den tatsächlichen Umfang der Operation und eventueller funktioneller Konsequenzen sowie auch über das intraoperativ festgestellte Ausmaß der Tumorerkrankung. Eine abschließende Information kann erst nach Vorliegen der definitiven pathohistologischen Befundung erfolgen. In der postoperativen Situation ist es immer vorteilhaft, an die bereits präoperativ durchgeführte stufenweise Aufklärung anknüpfen zu können. Hierdurch können krisenhafte emotionale Einbrüche bei einer Vielzahl von Patienten verhindert werden. Ganz wesentlich ist die Erläuterung der Sinnhaftigkeit adjuvanter oder additiver Therapiemaßnahmen durch den Chirurgen selbst, da dieser als unmittelbare Vertrauensperson des Patienten einen wesentlichen Motor zur Motivationsbildung darstellt. Er bereitet das anschließende Gespräch mit dem Onkologen bzw. Strahlentherapeuten entscheidend vor. Eine vorherige Entscheidungsfindung im Tumorboard erleichtert eine gemeinsame Sprachregelung und trägt wesentlich
zur Vertrauensbildung bei. Eine Einbeziehung des Hausarztes im Vorfeld dieser Entscheidungen erscheint ebenfalls wünschenswert, da dieser häufig von dem Patienten oder den Angehörigen in die Entscheidungsfindung eingebunden wird. Abschließend gehört die Erläuterung von Nachsorge- bzw. Vorsorgemaßnahmen in den Aufgabenbereich des onkologischen Chirurgen.
23.16
Tumornachsorge – Tumorvorsorge – Tumorfrüherkennung
Die Erfassung gewisser und zumindest auf das reine Überleben bezogener Daten ist für die Evaluierung der Therapieergebnisse eines onkologisch-chirurgischen Zentrums unerlässlich. Nachsorge aber heißt nicht allein die Evaluierung von ausschließlich onkologischen Daten, sondern auch die Betreuung des Patienten bezogen auf seine Lebensqualität mit Blick auf potenzielle operations- oder komplikationsbedingte Funktionseinbußen bzw. Funktionsanpassungen. Die Effektivität einer Tumornachsorge insbesondere bei der kolorektalen Tumorerkrankung ist in den letzten Jahren immer wieder in Frage gestellt worden. Grundsätzlich haben nur solche Nachsorgeuntersuchungsergebnisse eine Relevanz, aus denen therapeutische Konsequenzen zu ziehen sind. So ist der Nachweis eines intraluminalen Anastomosenrezidivs meistens von der Konsequenz einer Nachresektion begleitet. Auch der Nachweis von Lungen- oder Lebermetastasen kolorektaler Karzinome hat bei anderweitiger Tumorfreiheit häufig eine operative Konsequenz. Entsprechend sollten Nachsorgeuntersuchungsprotokolle an mögliche therapeutische Konsequenzen angepasst werden. Bei der Planung einer postoperativen Patientenbetreuung sollte in Abhängigkeit vom Tumorstadium auch immer an eine erneute Tumorvorsorge bzw. Tumorfrüherkennung gedacht werden. Das Auftreten metachroner Zweitkarzinome nach kolorektaler Tumorchirurgie oder Mammakarzinomchirurgie ist gegenüber der Normalbevölkerung deutlich erhöht. Daher stellt eine regelmäßige Koloskopie beim kolorektalen Karzinom die beste Tumorvorsorge bzw. Tumorfrüherkennung dar. Neuerdings haben hereditäre Tumordispositionserkrankungen, ganz besonders das HNPCC (hereditäres nichtpolypöses kolorektales Karzinom), eine zunehmende Bedeutung, da entsprechend familienanamnestischer oder molekularbiologischer Kriterien ein deutlich erhöhtes Krebsrisiko auch in anderen definierten Organen besteht, die durch geeignete Früherkennungsuntersuchungen überwacht werden können. Eine molekularbiologisch-prädiktive Diagnostik kann zur Erkennung von Risikopersonen beitragen, bei denen durch geeignete Vorsorgeuntersuchungen präneoplastische Veränderungen bzw. durch Früherkennungsuntersuchungen günstige Tumorstadien erkannt werden können (Lynch et al. 2003). Über mutationspositive familiäre kolorektale Tumorerkrankungen hinaus konnten auch mutationsnegative familiäre kolorektale Tumorerkrankungen identifiziert werden, bei denen zurzeit keine prädiktive molekulare Diagnostik zur Verfügung steht, dennoch aber spezifische Früherkennungsempfehlungen für erstgradige Familienmitglieder gegeben werden können (Lindor et al. 2005; Mueller-Koch et al. 2005). Angehörige1. Grades von Patienten mit kolorektalem Karzinom haben grundsätzlich in Abhängigkeit vom Erkrankungsalter des Indexpatienten ein um den Faktor 1,5–4 erhöhtes Risiko für kolorektale Tumorerkrankungen, das Anlass für spezielle risikoadaptierte Früherkennungsstrategien sein sollte (Schmiegel et al. 2004).
477 23.20 · Palliative Chirurgie
23.17
Prädiktion und Evaluation von Therapieansprechen – Therapie vorbehandelter Patienten
Der zunehmende Einsatz neoadjuvanter Therapiemaßnahmen macht Strategien notwendig, um ein Ansprechen auf die zu applizierende Therapie entweder vor Beginn der Therapie aus der genetischen Disposition des Patienten oder der Molekulargenetik des Tumors herzuleiten (Response-Prädiktion) bzw. unter laufender Therapie eine Response frühzeitig zu bestimmen (Response-Frühevaluation) und an der definitiven histopathologischen Aufarbeitung des Präparates zu erkennen (histopathologische Response-Evaluation). Eine molekulare Response-Prädiktion (wie z. B. bei der c-KIT-Bestimmung gastrointestinaler Stromatumoren, ist bisher bei nur wenigen soliden Tumoren möglich (Vogelsang et al. 2003). Eine Response-Frühevaluation mit der Positronenemissionstomografie bietet bereits kurze Zeit nach Einleitung einer neoadjuvanten Therapie die Möglichkeit, über einen reduzierten Glukosestoffwechsel ein potenzielles Therapieansprechen vorherzusagen und damit therapeutische Konsequenzen hinsichtlich einer Verlängerung, Umstellung oder eines Abbruchs der neoadjuvanten Therapie zu ziehen (Ott et al. 2003; Weber et al. 2001). Grundsätzlich ist nach neoadjuvanter Vorbehandlung ein geeignetes Zeitintervall von ungefähr 3– 4 Wochen zwischen Therapieende und Operation abzuwarten, um ein Restaging durchzuführen. Hierbei ist im Wesentlichen eine Progression der Tumorerkrankung und insbesondere eine neu aufgetretene Fernmetastasierung auszuschließen. Die Überprüfung eines Ansprechens auf eine Vorbehandlung durch konventionelle bildgebende Diagnostik ist eher unzuverlässig, immerhin kann die endoskopisch-endoluminale Befundung einen Hinweis auf die Wirksamkeit einer stattgehabten Vorbehandlung geben. Dabei ist das endoluminale Ansprechen des Primärtumors meist besser als das extraluminale Ansprechen (zentripetale Wirkung der Therapie). Die Endosonografie kann im Vergleich zur Endoskopie kaum zwischen resultierender Narbe und Resttumor unterscheiden (Dittler et al. 1994). Insgesamt ist aber das Ansprechen auf eine Vorbehandlung derzeit nur bedingt überprüfbar, deshalb ist bei fehlender Progression nach Vorbehandlung in primär neoadjuvanter Intention im Allgemeinen großzügig eine Operationsindikation zu stellen. Das Therapieansprechen kann dann am Operationspräparat zuverlässiger erfasst werden. Wenn ein adäquates Zeitintervall von 3–4 Wochen nach Polychemotherapie eingehalten wird, zeigen bisherige Erfahrungen kein erhöhtes postoperatives Risiko (Ott et al. 2003). Im Gegensatz dazu wird nach kombinierter Radiochemotherapie ein deutlich erhöhtes postoperatives Risiko mit auch erhöhter Letalität beobachtet, was möglicherweise durch eine strahlentherapieinduzierte Immunsuppression bedingt ist (Heidecke et al. 2002). Daher bedarf es nach kombinierter Radiochemotherapie besonders komplikationsarmer Operationsstrategien (»Sicherheitschirurgie«). So hat sich nach kombinierter Radiochemotherapie des Ösophaguskarzinoms ein zweizeitiges operatives Vorgehen bewährt, bei dem zunächst eine transthorakale Ösophagektomie mit Anlage einer zervikalen Speichelfistel und sekundär eine Rekonstruktion der Speisepassage z. B. durch Magenhochzug durchgeführt wird. Auch beim distalen Rektumkarzinom mit Anastomose im aboralen Rektumdrittel nach neoadjuvanter Radiochemotherapie ist großzügig mit der Anlage eines temporären Anus praeter zu verfahren.
23.18
23
Behandlung von Rezidiven und Metastasen
Die Behandlung von Rezidiven und Metastasen stellt im Regelfall eine palliative Therapiesituation dar. Zunächst bedarf es immer eines exakten Stagings zum Ausschluss oder Nachweis weiterer Tumormanifestationen. Erste Erfahrungen mit dem PET weisen diesem eine besondere Sensitivität zu. In der Abwägung operativer und nichtoperativer Therapieoptionen müssen bei dem jeweiligen Patienten zuvor eingesetzte adjuvante oder additive Therapieverfahren exakt erfasst und berücksichtigt werden. Ausschließlich intraluminale Rezidive sind selten, können aber häufig durch eine Nachresektion tumorfrei (»R0«) reseziert werden. Die häufigste Lokalisation bei soliden gastrointestinalen Tumoren ist das ausschließliche oder überwiegende extraluminale Rezidiv, das in den meisten Fällen primär nicht R0-resektabel ist. Erscheint eine onkologisch-chirurgische Behandlung dennoch grundsätzlich möglich, sollten vorwiegend multimodale Therapieprinzipien zur Anwendung kommen (Chemotherapie und/oder Radiotherapie gefolgt von Operation mit/ohne intraoperative Bestrahlung). Das chirurgische Vorgehen schließt häufig die Notwendigkeit einer multiviszeralen En-bloc-Resektion ein. Daher bedarf es prätherapeutisch einer diagnostischen Abklärung benachbarter Organe. Die onkologisch-chirurgische Behandlung von Metastasen ist überwiegend eine Individualentscheidung und bezieht Kriterien wie den Tumortyp und seine spezifische Prognose, das tumorfreie Intervall, postoperative Behandlungsoptionen, die Funktionsreserve des betroffenen Organs und das perioperative Risiko in die Entscheidung ein. Auch in der Metastasenchirurgie ist die Möglichkeit einer R0-Resektion Voraussetzung. Der Nachweis von Fernmetastasen macht zunächst immer eine Klärung der lokoregionären Tumorsituation notwendig. Darüber hinaus ist in diesen Fällen über eine palliative oder additive Chemotherapie im Sinne einer lokoregionären oder systemischen Applikation zu entscheiden. Alternativ oder ergänzend kann auch der Einsatz thermo-, laser- oder hochfrequenzablativer Verfahren sowie einer stereotaktischen Strahlentherapie erwogen werden. Zunehmend werden auch bei Metastasen neoadjuvante Therapiekonzepte verfolgt.
23.19
Tumordebulking
Im Regelfall stellt nur eine R0-Resektion des Primärtumors oder des Tumorrezidivs für den Patienten eine Verbesserung der Prognose dar. Nahezu alle additiven Therapiemaßnahmen zeigen durch ein vorausgegangenes operatives Tumordebulking keine verbesserte Wirksamkeit. Eine beeinträchtigte Blutversorgung des Resttumors mindert die Wirksamkeit einer Strahlen- und Chemotherapie. Ausnahmen von dieser grundsätzlichen Auffassung erscheinen nur gerechtfertigt, wenn sich die Tumorerkrankung durch ein belegt effektives additives Therapiekonzept auszeichnet oder spezielle tumorbiologische Faktoren vorliegen. Typische Beispiele sind hierfür das Ovarialkarzinom, hochdifferenzierte neuroendokrine Karzinome und Sarkome (Bristow et al. 2002).
23.20
Palliative Chirurgie
Immer wenn bereits entsprechend dem präoperativen Staging die Möglichkeit einer R0-Resektion nicht gegeben ist oder intraoperativ keine R0-Resektion möglich war, ist eine palliative Behandlungssituation gegeben. Eine fehlende R0-Resektabilität sollte im-
478
Kapitel 23 · Grundlagen der onkologischen Chirurgie
mer Anlas sein, die Indikation zu einem multimodalen Therapiekonzept zu prüfen. Beim Ösophagus-, Magen- und Rektumkarzinom haben sich für die Wirksamkeit dieses Therapieprinzips gute Hinweise ergeben (Ott et al. 2003; Rodel et al. 1998). Die neoadjuvante Therapie des Bronchial- und Leberzellkarzinoms wird gerade einer Prüfung unterzogen, Versuche beim Pankreaskarzinom haben noch experimentellen Charakter. Die Entscheidung zu einer palliativen Chirurgie stellt immer eine Individualentscheidung dar und ist von verschiedenen Einflussfaktoren abhängig. Zum einen sind alle nichtoperativen Behandlungsverfahren alternativ in ihrer Wirksamkeit zu berücksichtigen, zum anderen bestimmt die nur durch eine Operation zu beeinflussende Beschwerdesymptomatik des Patienten (u. a. Blutung, Stenose) sowie sein operatives Risiko die Therapieentscheidung. Je geringer die Beschwerdesymptomatik und je größer das operative Risiko einzuschätzen sind, um so eher sollte von einer operativen Maßnahme Abstand genommen werden. Der Einsatz operativer Maßnahmen sollte sich auf komplikationsarme Verfahren beschränken, die eine rasche subjektive Beschwerdebesserung mit frühzeitiger stationärer Entlassung ermöglichen.
23.21
Prophylaktische Chirurgie
Mit dem zunehmenden Wissen über präkanzeröse Veränderungen und deren potenziellen Übergang in ein invasives Karzinom sowie der Definition hereditärer molekularbiologischer Tumordispositionen gewinnt der Aspekt einer prophylaktischen Chirurgie große Bedeutung. Eine prophylaktische Operationsindikation ist abhängig von der Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen malignen Entartung, dem Umfang der operativen Therapie und der daraus resultierenden funktionellen Einschränkung. Das Ausmaß der chirurgischen Therapie (radikale onkologische Resektion mit Lymphadenektomie versus limitierte Resektion) muss berücksichtigen, mit welcher Wahrscheinlichkeit zum Operationszeitpunkt bereits eine zuvor nicht diagnostizierte maligne Entartung vorliegen könnte oder im weiteren Verlauf Zweitkarzinome im Restorgan zu erwarten sind. Typische Beispiele hierfür sind schwere Dysplasien im Barrett-Ösophagus, dem Adenom der Papilla vateri oder der Colitis ulcerosa bzw. die adenomatöse Polyposis coli und das HNPCC-Syndrom (Kadmon 2005; Möslein et al. 2005). Eine prädiktive Diagnostik setzt immer ein interdisziplinäres Beratungskonzept inklusive einer angemessenen Darstellung des genetischen Sachverhaltes voraus. Keimbahnmutationen des RET-Protoonkogens (multiple endokrine Neoplasie Typ 2) und des E-CadherinGens (hereditäres diffuses Magenkarzinom) stellen beispielsweise molekulare Befunde dar, die bei hoher Penetranz eine Indikationsstellung zur prophylaktischen Thyreoidektomie im Vorschulalter (C-Zellkarzinom) bzw. Gastrektomie im jungen Erwachsenenalter (diffuses Magenkarzinom) rechtfertigen, ohne dass makroskopische Organveränderungen erkennbar sind (Frilling et al. 2006; Vogelsang et al. 2005). Prophylaktisch-chirurgische Optionen werden auch beim Mamma- und Ovarialkarzinom, dem familiären Nebenschilddrüsenkarzinom und dem Pankreaskarzinom diskutiert (Gimm et al. 2006; Langer et al. 2006; Lux et al. 2005).
23
23.22
Stellenwert der minimalinvasiven Chirurgie
Der Einsatz minimalinvasiver laparoskopischer und thorakoskopischer Techniken innerhalb der onkologischen Chirurgie mit
kurativer Behandlungsintention muss die gleichen Standards wie bei korrespondierender herkömmlicher Chirurgie erfüllen. Einerseits liegen Hinweise dafür vor, dass ein geringeres Zugangstrauma im Rahmen der minima-invasiven Chirurgie eine im Vergleich zur offenen Chirurgie geringere Immunsuppression bewirkt. Andererseits verursacht der begrenzte Zugang zur Tumorregion durch die Schwierigkeiten der operativen Manipulation ein erhöhtes Tumortrauma mit möglicher Mobilisation von Tumorzellen, die u. a. Implantationsmetastasen im Bereich der Instrumenteneinstichkanäle hervorrufen kann. Die Rahmenbedingungen der minimalinvasiven Tumorchirurgie können zurzeit wie folgt skizziert werden: 4 Die beste Indikation stellen Präkanzerosen, Frühkarzinome und kleine Tumoren in gut mobilen Organen mit übersichtlichen Metastasierungswegen dar. 4 Eine Lymphadenektomie ist möglich. 4 Eine En-bloc-Resektion erscheint bei der Größe mancher Resektate schwierig, eine eventuelle Zerlegung der Präparate kann eine notwendige Präparatebeurteilung gefährden und beinhaltet die Gefahr der Tumorzellverschleppung. 4 Eine sinnvolle Präparatebergung kann nur über eine Minilaparotomie erfolgen, die Häufigkeit von Implantationsmetastasen bedarf noch einer weiteren Beobachtung 4 Die anfänglich jeweils langen Operationszeiten verkürzen sich im Laufe einer Lernphase. Derzeit eignen sich am ehesten präneoplastische Veränderungen von Hohlorganen, die einer ausschließlich endoskopischen Entfernung nicht ausreichend zugänglich sind, für minimalinvasive Eingriffe. Darüber hinaus erscheinen Mukosakarzinome des Magens und Submukosakarzinome des Dickdarms einer laparoskopischen Resektion besonders zugänglich, da bei diesen Tumoren nur sehr selten von einer Lymphknotenmetastasierung auszugehen ist. Es muss gewährleistet sein, dass das gewonnene Präparat unzerstört einer genauen pathohistologischen Aufarbeitung zugeführt werden kann. Demgegenüber ist die Bedeutung der minimalinvasiven Chirurgie unter palliativen Gesichtspunkten unumstritten. Erfolgt die Indikationsstellung zu palliativen Maßnahmen im Gegensatz zu radikaler konventioneller Chirurgie aufgrund eines erhöhten funktionellen Risikos, sollte dieses zuvor eindeutig objektiviert werden. Die laparoskopische Anlage einer Gastroenterostomie, anderer Umgehungsanastomosen oder eines Anus praeter sowie die Implantation von Ernährungskathetern sind gute Indikationen für eine palliative minimalinvasive onkologische Chirurgie, die ein relativ geringes Operationstrauma mit baldiger Entlassungsmöglichkeit des Patienten bietet. Die erweiterte diagnostische Laparoskopie mit ausgiebigen präparatorischen Maßnahmen (z. B. Eröffnung der Bursa omentalis, Darstellung der Ovarien etc.) und eventueller intraoperativer Sonografie hat bereits einen festen Stellenwert im Vorfeld neoadjuvanter Therapien, um eine Peritonealkarzinose oder andere okkulte Fernmetastasen auszuschließen. Während die minimalinvasive Chirurgie bisher am geringeren Operationstrauma und kürzeren Aufenthaltszeiten gemessen wurde, muss sie sich im Bereich der onkologischen Chirurgie den Zielkriterien »Verbesserung der Prognose« und »Sicherstellung einer längerfristigen Lebensqualität« stellen und die gleichen Standards wie die konventionelle Chirurgie erfüllen.
479 23.23 · Onkologische Chirurgie: Stellenwert und Ausblick
23.23
Onkologische Chirurgie: Stellenwert und Ausblick
Die onkologische Chirurgie hat sich von älteren mechanistischen Vorstellungen gelöst und tumorbiologische Erkenntnisse in operative Strategien umgesetzt. Sie ist ein primär interdisziplinär agierendes Fach mit der Erkenntnis, dass die onkologisch-chirurgische Behandlung des Patienten weder mit der Tumorresektion beginnt, noch aufhört. Die Erkenntnis, dass nur eine R0-Resektion für den Patienten von prognostischem Vorteil ist, hat zu einer Erweiterung der Radikalität und zu einer Abnahme palliativer Resektionen geführt. Der Nachweis freier Tumorzellen in Körperhöhlen, im Blut und im Knochenmark wird zu einer weiteren Präzisierung des
23
Begriffes der R0-Resektion führen, sobald die biologische Wertigkeit dieser Tumorzellen evaluiert worden ist. In der Folge werden neue additive Therapiestrategien molekularbiologischer, immunologischer und gentherapeutischer Art diese Resttumorlast nach chirurgischer Therapie zum Ziel haben. In wissenschaftlicher Hinsicht hat die onkologische Chirurgie ihren Blick auch auf die Suche nach molekularbiologischen Strategien der Erkennung von prämalignen und frühen malignen Veränderungen gerichtet. Hierdurch könnte zukünftig das Radikalitätsausmaß beeinflusst und auch prophylaktische onkologischchirurgische Maßnahmen zur Anwendung kommen. Im Rahmen einer solchen Chirurgie mit deutlich verbesserter Prognose gewinnt die Lebensqualität bestimmter rekonstruktiver Maßnahmen einen neuen wissenschaftlichen und klinischen Stellenwert.
Zusammenfassung Die onkologische Chirurgie hat bei kurativem Therapieansatz eine R0-Resektion als Zielsetzung. Prätherapeutisch sollten alle wesentlichen Befunde über das Stadium und die Lokalisation der Tumorerkrankung sowie über den funktionellen Zustand des Patienten ermittelt werden. Das interdisziplinäre Tumorboard, besetzt mit allen onkologisch relevanten Fachdisziplinen, entscheidet über die individuelle Gesamttherapie im Sinne einer Strahlen-, Chemo- und operativen sowie auch palliativ-symptomatischen Therapie. Lokal fortgeschrittene Tumorerkrankungen ohne Fernmetastasen werden zunehmend einer neoadjuvanten präoperativen Therapie zugeführt. Möglichkeiten der ResponsePrädiktion und Response-Evaluation beeinflussen die Therapieindikation. Bei fehlender neoadjuvanter Therapieoption kommen postoperativ adjuvante oder additive Therapiekonzepte zur
Anwendung. Das operative Vorgehen umfasst eine En-bloc-R0-Resektion mit systematischer Lymphadenektomie und situationsgerechter komplikationsarmer und funktionell adäquater Rekonstruktion. Die anschließende pathohistologische Aufarbeitung ergibt zusammen mit anderen onkologischen und molekularen Befunden, der postoperativen Morbidität sowie der Kompetenz des Zentrums die Summe der therapierelevanten Prognosefaktoren. Moderne molekulare Daten und Techniken ermöglichen eine differenzierte Diagnostik, prophylaktische Therapieindikationen und nichtoperative Therapieoptionen. Bestimmte Risikofaktoren einer Tumorerkrankung und die Tumorfamilienanamnese eröffnen Früherkennungsstrategien für erstgradige Angehörige. Minimalinvasive Operationstechniken bieten neue diagnostische und therapeutische Ansätze bei ausgewählten onkologischen Indikationen.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
24 Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie J. Schirra, R.-T. Hoffmann, T.F. Jakobs, F. Kolligs, C. Trumm, C. Weber, C.J. Zech, B. Göke, M. Reiser
24.1
Diagnostische Punktionen
24.2
Prophylaxe, Therapie und Palliation gastrointestinaler Tumoren
24.3
Interventionelle Therapie zentralvenöser Stenosen
24.4
Katheterembolisation von Skelett- und Weichteiltumoren Literatur – 512
– 481
– 505 – 507
– 483
481 24.1 · Diagnostische Punktionen
> Einleitung
24.1
24
Unter dem Begriff der interventionellen Onkologie werden i. Allg. nicht oder wenig invasive Eingriffe verstanden, die sowohl der Abklärung und/oder Sicherung der Diagnose als auch der Therapie dienen. Der Einsatz interventioneller Maßnahmen ist in hohem Maße von der verfügbaren Technik und der Expertise der durchführenden Personen abhängig und ist derzeit einer raschen Weiterentwicklung und Expansion unterworfen. Die interventionelle Onkologie wird wesentlich geprägt von der interventionellen Radiologie. Endoluminale Interventionen im Gastrointestinaltrakt sind hingegen eine Domäne der gastrointestinalen Endoskopie.
Diagnostische Punktionen
Zur zielführenden Therapie von Krankheiten ist eine korrekte Diagnose unabdingbar. Dies gilt im besonderen Maße für onkologische Erkrankungen, bei denen die Kenntnis des genauen histopathologischen Befundes direkten Einfluss auf die Therapiestrategie hat. Für diese Patienten stellt die bildgesteuerte Biopsie eine wichtige minimalinvasive Methode zur histologischen Klärung dar. 24.1.1 Perkutane diagnostische Punktionen
Biopsieverfahren, bildgebende Steuerung und Komplikationen Zur Gewinnung von Zell- und Gewebeproben stehen die Feinnadelaspirationsbiopsie (FNAB) und die Stanzbiopsie zur Verfügung. Bei der Feinnadelaspirationszytologie werden überwiegend sehr dünne Nadeln verwendet, bei denen durch Aspiration einzelne Zellen aus dem Tumorverband gelöst werden, dann wird mithilfe einer zytologischen Begutachtung die Diagnose gestellt. Dieses Verfahren wurde in zahlreichen Körperregionen evaluiert und zeigt in der Literatur überwiegend gute Ergebnisse (DelMaschio et al. 1991; Hertz et al. 2000; Wallace et al. 2002). Um diese hohen Erfolgsraten mit der Aspirationszytologie zu erreichen, benötigt man einen sehr erfahrenen Zytopathologen. Die zytologische Begutachtung muss direkt während der Biopsie stattfinden, sodass beliebig viele Proben gewonnen werden können. Gerade diese Forderung ist im klinischen Alltag schwer zu verwirklichen. Bei der Stanzbiopsie wird ein Gewebezylinder manuell oder mit einer automatischen Biopsievorrichtung gewonnen, an dem der Pathologe eine histologische Begutachtung vornehmen kann. Durch die größere Menge an Material für die Begutachtung wird die Stanzbiopsie als aussagekräftiger als die Feinnadelaspirationsbiopsie angesehen, insbesondere wenn nur 2 oder 3 Gewebeproben entnommen werden und die histopathologische Aufarbeitung und Begutachtung zeitversetzt stattfindet (Zech et al. 2002). Verwertbares Material lässt sich bei Stanzbiopsien typischerweise erst ab einem Nadeldurchmesser von 18–20 G erreichen, da bei kleineren Nadeldurchmessern die Geweberänder durch Quetschungen häufig nicht mehr eindeutig beurteilbar sind (Thanos et al. 2005). Die Befürchtung, dass durch die im Allgemeinen größeren Nadeldurchmesser bei der Stanzbiopsie eine höhere Komplikationsrate resultiert hat sich nicht bestätigt (Laurent et al. 2000; Thanos et al. 2005; Zech et al. 2002). Sowohl für die Aspirationsbiopsie als auch für die Stanzbiopsie sollte die Koaxialtechnik gewählt werden. Dabei bleibt eine äußere Kanüle während der gesamten Biopsieprozedur in Positi-
on, sodass mit dem Innenstilett mehrere Proben gewonnen werden können, ohne jeweilige erneute Punktion. Dieses Vorgehen begrenzt die Komplikationsrate, vermindert das Risiko einer Tumorverschleppung in den Stichkanal und führt zu einer höheren Erfolgsrate (Hopper et al. 1995). Zur bildgebenden Steuerung stehen Ultraschall (US), Computertomografie (CT) und Magnetresonanztomografie (MRT) zur Verfügung. Der Ultraschall bietet für gut erreichbare Läsionen den Vorteil einer Echtzeitsteuerung und der interaktiven Bildgebung in jeder beliebigen Raumebene. Das Handling wird durch Nadelhalterungen am Ultraschallkopf erleichtert. Nachteil des US ist die fehlende Darstellbarkeit von lufthaltigen und knöchernen Strukturen, sodass Punktionen im Bereich der Lunge, von Knochen und z. B. im Bereich des Oberbauchs erschwert sind. Die CT bzw. CT-Durchleuchtung ist als universelle bildgebende Modalität für die Biopsie in prinzipiell allen Regionen des Körpers nutzbar. Die überlagerungsfreien Querschnittbilder der CT gewährleisten eine übersichtliche Darstellung der anatomischen Verhältnisse. Nachteil der CT ist zum einen die Strahlen- und Kontrastmittelexposition, zum anderen die Einschränkung der Navigation auf jeweils nur eine axiale Schicht, was bei schräger Nadelführung (z. B. bei Leberläsionen in der Leberkuppel) einiger Übung bedarf. Die bildgebende Steuerung in der MRT ist prinzipiell durch den hohen Weichteilkontrast der MRT selbst ohne Kontrastmittel als vorteilhaft anzusehen, wenn nicht die Einschränkungen bezüglich der Patientenerreichbarkeit und die hohen Systemkosten wären. Generell gelten bildgesteuerte perkutane Biopsien als sicher (Smith et al. 1991). Auftretende Komplikationen sind meist nicht klinisch relevant, tödliche Komplikationen sind extrem selten (Smith et al. 1991). Auf spezifische Komplikationen wird bei den jeweiligen Organsystemen kurz eingegangen. Biopsien verschiedener Organsysteme Lunge und Mediastinum Die Ergebnisse für die perkutane Biopsie von Lungenrundherden betragen bei neueren Publikationen deutlich über 90% diagnostische Richtigkeit auf alle Läsionen bezogen (Lis et al. 2004; Yeow et al. 2003). Ein entscheidender Faktor, der die diagnostische Genauigkeit beeinlusst, ist die Größe der Läsion; sowohl sehr kleine Läsionen (<1,5 cm) als auch sehr große Läsionen (>5 cm) ergeben niedrigere Erfolgsraten, wobei die kleinen Läsionen schwerer zu treffen sind und die großen Läsionen häufig große nekrotische Areale enthalten, die die Beurteilung durch den Pathologen erschweren (Yeow et al. 2003). Typische Komplikationen sind der Pneumothorax mit 19–34% sowie kleinere pulmonale Blutungen entlang des Stichkanals mit 11–29% (Loubeyre et al. 2005; Yamagami et al. 2003; Yeow et al. 2003). Ein Pneumothorax sollte je
482
24
Kapitel 24 · Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie
. Abb. 24.1. Obere Reihe: CT-gesteuerte Stanzbiopsie eines kleinen basalen Lungenrundherdes bei einer 68-jährigen Patientin mit einer 18GNadel. Zur erfolgreichen Biopsie von Herden dieser Größe ist eine gute Kooperation des Patienten erforderlich. Die Biopsie ergab die Diagnose eines benignen Chondrohamartoms. Untere Reihe: CT-gesteuerte Stanzbiopsie eines großen mediastinalen Tumors bei einer 34-jährigen Patien-
tin mit einer 16G-Nadel. In der KM-verstärkten Planungs-CT lässt sich die Arteria mammaria interna sicher identifizieren. Eine exakte bildgebende Steuerung ist auch bei großen mediastinalen Raumforderungen nötig wegen zystischer Anteile (Stern), deren Biopsie meist keine repräsentative Diagnose erlaubt und wegen der Nähe der großen mediastinalen Gefäße (A – Aorta). Die Biopsie ergab die Diagnose eines Lymphoms
nach Ausdehnung noch in der gleichen Sitzung mit einer Drainage versorgt werden; die Blutungskomplikationen sind meist nur in der CT-Kontrolle nachweisbar und klinisch nicht relevant. Eine Läsionsgröße <2 cm sowie kleine direkt subpleural gelegene Läsionen erhöhen das Pneumothoraxrisiko (Yeow et al. 2003). Ihre perkutane Biopsie ist deshalb nicht als sinnvoll anzusehen, weil neben dem erhöhten Komplikationsrisiko auch die Treffsicherheit für diese Läsionen sinkt. Bei mediastinalen Biopsien sollte üblicherweise ein extrapulmonaler Zugang gewählt werden. Durch Injektion von NaCl kann ein vorher kleiner anatomischer Raum so aufgedehnt werden, dass ein sicherer Zugangsweg möglich ist (Gupta et al. 2005). . Abb. 24.1 zeigt ein Beispiel einer perkutanen CT-gesteuerten Biopsie eines Lungenherds und einer mediastinalen Raumforderung.
MRT die beste bildgebende Steuerung (Kettenbach et al. 2005). Allerdings sprechen bisher der Aufwand, die beschränkte Verfügbarkeit und der eingeschränkte Platz im Magneten gegen eine weitere Verbreitung MR-gesteuerter Leberbiopsien. Im Pankreas ist bei CT-gesteuerten Stanzbiopsien von einer etwas geringeren Sensitivität auszugehen (Zech et al. 2002). Die wichtigste Komplikation bei abdominellen Biopsien ist die Blutung. Die Häufigkeit von relevanten Blutungen lag in einer retrospektiven Studie von über 68.000 Leberbiopsien bei 0,4%, die Mortalität lag bei 0,009%. Bei Pankreasbiopsien ist neben der Blutung noch die Pankreatitis als spezifische Komplikation zu berücksichtigen. Ihre Häufigkeit wird in der Literatur mit 0,5–3% angegeben (Zech et al. 2002). Die Mortalität von abdominellen Stanzbiopsien allgemein liegt unter 0,05% (Smith et al. 1991).
Abdomen Das Spektrum von abdominellen Biopsien ist weit, deshalb schwanken in der Literatur die Werte bezüglich der Erfolgsraten sowie der Häufigkeit von Komplikationen. Besonders umfangreiche Erfahrungen bestehen bei der Leberbiopsie. Hier sind in der Literatur Trefferraten von weit über 90% zu finden (Kettenbach et al. 2005; Stattaus et al. 2006). Diese Werte lassen sich erreichen bei Stanzbiopsien mit 16- bis 18-G-Biopsienadeln und automatischen Biopsievorrichtungen. Für die bildgebende Steuerung reicht bei großen, einfach zu erreichenden Läsionen der Ultraschall, insbesondere Punktionen in den kranialen Anteilen der Leber (Segment 4a, 7 und 8) sind jedoch mit der CT-Fluoroskopie sicherer und einfacher. Da viele fokale Leberläsionen in der CT trotz Kontrastmittelgabe einen nur geringen Kontrast zum umgebenden Leberparenchym aufweisen, wäre prinzipiell das
Läsionen der Weichteile und des Skeletts Während im peripheren Skelett eher selten Biopsien angefordert werden, da primäre Knochentumore meist initial operiert werden, ergibt sich häufiger die Indikation zur Biopsie von suspekten Herden in der Wirbelsäule oder dem Beckenskelett. Als bildgebende Steuerung hat die CT-Durchleuchtung die konventionelle Durchleuchtung weitgehend abgelöst, da eine sichere Lokalisation der oft nur im CT oder gar MRT sichtbaren Herde mit konventioneller Durchleuchtung zu ungenau ist (Babu et al. 1994). Vorteil der CT-Steuerung ist darüber hinaus, dass auch ein posterolateraler oder streng lateraler Zugangsweg sicher möglich ist. Die Trefferraten liegen für Wirbelkörperbiopsien im Bereich von 85–90% (Ghelman et al. 1991; Lis et al. 2004). Insgesamt beträgt die Treffsicherheit von Biopsien des muskuloskelettalen Systems (alle Lokalisationen) ca. 80% (Puri et al. 2006). Bei osteolytischen
483 24.2 · Prophylaxe, Therapie und Palliation gastrointestinaler Tumoren
Läsionen lässt sich häufiger adäquates Material gewinnen als bei osteosklerotischen Läsionen (Lis et al. 2004). Komplikationen sind bei Biopsien von Wirbelkörpern selten, neben kleineren Blutungen im Stichkanal kommen passagere radikuläre Neuropathien vor (Lis et al. 2004; Puri et al. 2006; Yaffe et al. 2003). Kontraindikationen und Patientenvorbereitung Allgemeine Kontraindikationen für die perkutane Biopsie sind nicht korrigierbare Gerinnungsstörungen mit einem Quick-Wert <55%, eine Thrombozytopenie von <50.000–70.000/μl, ungenügende Kooperationsfähigkeit des Patienten, im Abdomen ein ausgedehnter Aszites, in der Lunge ein großer Pleuraerguss, und Einnahme von Thrombozytenaggregationshemmern <5-7 Tage vor der Biopsie. Die Patienten sollten vor der Biopsie nüchtern bleiben. Eine Aufklärung des Patienten muss vor dem Eingriff erfolgen, in der neben dem Ablauf der Prozedur auch mögliche Komplikationen sowie die Erfolgsaussicht der Biopsie besprochen werden. Darüberhinus sollten – wenn nötig – die Instruktionen zur Atmung mit dem Patienten geübt werden, insbesondere bei kleinen Leber- oder Lungenherden. Da z. B. bei Pankreasbiopsien eine Passage der Nadel durch Magen oder Darm nicht immer zu vermeiden ist, können eine Darmreinigung oder entblähende Massnahmen das Vorgehen erleichtern. 24.1.2 Endosonografisch gesteuerte diagnostische
Punktionen Die Endosonografie (EUS) ist integraler Bestandteil des Stagings von vielen Tumoren des oberen Gastrointestinaltraktes. Der diagnostische Stellenwert der Endosonografie hat durch die EUSgesteuerte Feinnadelpunktion (EUS-FNA) erheblich zugenommen. Die transösophageale, transgastrale oder transduodenale EUS-FNA dient der Gewebegewinnung aus wandnahen Lymphknoten (z. B. mediastinale Lymphknoten), gastrointestinalen Wandläsionen (z. B. GIST-Tumoren), und Tumoren benachbarter Organe (z. B. Pankreaskarzinomen). Die Indikation zur EUSFNA besteht, wenn aus dem gewonnenen zytologischen oder histologischen Material Konsequenzen für therapeutische Konzepte entstehen: Ausschluss von kurativer Chirurgie, Begrenzung oder Ausweitung der operativen Radikalität, neoadjuvante statt operativer Verfahren, Diagnosesicherung vor palliativer Chemotherapie, Verzicht auf diagnostische chirurgische Methoden wie Mediastinoskopie oder Thorakoskopie. Im Gegensatz zur primären Diagnostik waren Studien zur EUS-FNA im Rahmen des Re-Staging von Neoplasien nach Radiochemotherapie bisher jedoch enttäuschend (Jenssen et al. 2008). Technik Nach Einstellen der Läsion unter Schallkopfkontakt zur Hohlorganwandung und Ausschluss interponierter Gefässe und anderer Strukturen erfolgt die Punktion mit einer Aspirationsnadel unter endosonografischer Sicht. Es werden überwiegend Aspirationsnadeln mit einem Durchmesser von 22 Gauge verwendet. Es werden mehrere – in der Regel 5 bis 7 – Nadelpassagen durchgeführt. Bei jeder Nadelpassage wird die Nadel unter Aspiration in der Läsion 5- bis 10-mal hin- und herbewegt. Dabei wird Material für die Zytologie und ggf. auch für die Histologie gewonnen. Wird kein adäquates Material gewonnen, kann die Punktion mit einer 19-G-Nadel wiederholt werden.
24
Diagnostische Ausbeute Neben zytologisch verwertbarem Aspirat kann auch mit 22-GAspirationsnadeln histologisch untersuchbares Material gewonnen werden (22 G: in 71–100%, 19 G: 69–100%). In verschiedenen Studien lag die diagnostische Genauigkeit mit der 22-GFNA zwischen 73 und 89% (Jenssen et al. 2008c). Die diagnostische Ausbeute unterliegt dabei zahlreichen Einflussfaktoren: Härte und Struktur der Zielläsion (zellreiche Tumore wie maligne Lymphome oder neuroendokrine Tumoren besser als Pankreastumoren), Kontamination der Aspirate (Blut, Schleimhautepithel, Pankreasazini), Größe und Art der Läsion (schlechter bei sehr kleinen Läsionen, großen nekrotischen Läsionen, zystischen Läsionen), Anzahl der Nadelpassagen und Erfahrung und Training des Endosonografikers und des Zytopathologen). Patientenvorbereitung Die Patienten sollten wenigstens 6 Stunden nüchtern sein. Die Gerinnung sollte normalisiert sein. Ein Quick-Wert ≥50% und Thrombozyten ≥50.000/μl sind Mindestanforderungen für einen elektiven Eingriff. Gerinnungshemmende Medikation sollte abgesetzt sein (ASS mindestens 2 Tage, niedermolekulares Heparin mindestens 24 Stunden, andere orale Thrombozytenaggregationshemmer 8 Tage). Vor FNA einer zystischen Läsion sollte zur Vermeidung einer lokalen Infektion eine Antibiotikagabe erfolgen. Komplikationen Die Komplikationsrate der EUS-FNA ist sehr niedrig (Jenssen et al. 2008; Adler et al. 2005). In den Jahren 1991 bis 2006 wurden Komplikationen von 100.604 endosonografischen Prozeduren in 64 deutschen Zentren (davon 13.223 EUS-FNA) berichtet (Jenssen et al. 2008): Komplikationen der diagnostischen Endosonografie (unabhängig von EUS-FNA) waren fast ausschließlich Perforationen des Duodenum und des Ösophagus (0,034%). Komplikationen traten nach EUS-FNA in 0,29% der Fälle auf, davon Blutungen in 0,15%, akute Pankreatitis in 0,07%, Infektion/Abszess in 0,05%. Kontraindikationen Interponierte Gefäße, Ascites.
24.2
Prophylaxe, Therapie und Palliation gastrointestinaler Tumoren
Endoskopie und interventionelle Radiologie sind heute unverzichtbare Bestandteile der Diagnostik und Therapie gastrointestinaler Tumoren. Komplementär zur endoluminalen Endoskopie ist die Intervention an parenchymatösen Organen des Gastrointestinaltraktes die Domäne der interventionellen Radiologie. 24.2.1 Endoskopische Resektion gastrointestinaler
Tumoren Die endoskopische Polypektomie dient der Entfernung von Neubildungen im Gastrointestinaltrakt. Gastrointestinale Adenome müssen als Präkanzerosen entfernt werden. Auch hyperplastische Polypen ≥1 cm bergen ein Entartungsrisiko von ≥1% und sollten entfernt werden. Am häufigsten finden sich Adenome im Kolon. Aufgrund der Adenom-Karzinom-Sequenz und der Häufigkeit des Kolonkarzinoms – es ist das zweithäufigste Karzinom
484
Kapitel 24 · Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie
– wurde die Koloskopie als Screeningmethode etabliert. Die endoskopische Resektion ist auch in anderen Teilen des Gastrointestinaltraktes mittlerweile die Methode der Wahl zur Therapie mukosaler Neoplasien. Im Vergleich zur konventionellen Chirurgie ist sie weniger invasiv und ökonomischer. In schwierigen Fällen kann sie bei Tumoren des Kolons, Magens und Dünndarms mit der chirurgischen Laparaskopie als sog. Rendevouz-Endoskopie mit hoher Effektivität und Patientensicherheit erfolgen. Techniken und Risiken Ziel ist bei allen Resektionstechniken die komplette Entfernung der mukosalen Neoplasie im Gesunden und eine gute pathologische Beurteilbarkeit. Technischer Standard ist die Polypektomie mit der Diathermieschlinge (. Abb. 24.2; J. Schirra, LMU München). In technisch anspruchsvollerer Abwandlung kommt die Schlingenabtragung bei der endoskopischen Mukosresektion (EMR) flacher Tumoren zur Anwendung. Da bei größeren auf die Mukosa beschränkten Tumoren durch die Abtragung mehrerer Mukosafragmente tumortragende Mukosa verbleiben kann, die zu Tumorrezidiven führt, gewinnt die En-bloc-Resektion durch die endoskopische Submukosadissektion (ESD) einen zunehmenden Stellenwert bei flächigeren Tumoren (Tanaka et al. 2008). EMR und ESD sind endoskopische Techniken zur Resektion von neoplastischen Läsionen der Mukosa und der oberflächlichen Schichten der Submukosa sowie von auf die Mukosa beschränkten Karzinomen. Zum Einsatz kommt die EMR insbesondere bei neoplastischen Läsionen im Ösophagus, Magen und Kolon, die ESD bei großflächigeren Neoplasien von Ösophagus und Magen. Die Penetrationstiefe der Läsion muss vor Resektion genau erfasst werden. Die Endosonografie vor einer kurativen EMR/ ESD im Ösophagus, Magen und Rektum ist die wichtigste Diagnostik zur akkuraten Beurteilung der lokalen Tumorpenetration und im Falle des Ösophagus auch der lokoregionären Lymphknoten. Darüberhinaus wurden zwei Klassifikationssysteme entwickelt, um anhand der endoskopisch-makroskopischen Befunde Kriterien für Indikation und Outcome der EMR zu entwickeln (. Tab. 24.1). Diese Kriterien wurden mittlerweile erweitert (siehe unten: Magen). Endoskopische Detektion von gastrointestinalen Tumoren Von großer Bedeutung für die endoskopische Resektion ist die Abtragung im Gesunden. Hierzu werden die angestrebten Resektionsränder im Gesunden markiert, die Markierung erfolgt meist mit Argonplasmakoagulation. Zur optimalen Visualisierung dieser Grenzen werden Färbemethoden (z. B. Intravitalfärbung mit
24
. Tab. 24.1. Klassifikation von oberflächlichen endoskopischen Läsionen vor endoskopischer Resektion Läsion
Klassifikation der JSGEa
Paris-System 2002b
Oberflächliche Läsion
-
Typ O-
Polypoid
Typ I
O-I
Gestielt (»pedunculated«)
Ip
O-Ip
Breitbasig (»sessil«)
Is
O-Is
Flach, nicht-polypoid
Typ II
O-II
Leicht erhaben
IIa
O-IIa
Flach
Iib
O-IIb
Gering eingesunken
IIc
O-IIc
Ulzeriert, exkaviert
Typ III
O-III
Laterale Ausbreitung
Typ IV
– Penetration in Submukosa = Kontraindikation für EMR: 4 Typ O-III 4 Läsionen >15 mm 4 fehlende Abhebung der Läsion bei Injektion in die Submukosa
a
b
JSGE Japanische Gesellschaft für Gastrointestinale Endoskopie, Jpn J Surg 1973;3:61 Gastrointest Endosc 2003;58:S1
Methylenblau beim Barrett, Lugol’sche Lösung beim Plattenepithelkarzinom des Ösophagus, Essigsäure oder Indigokarmin bei Adenomen des Ösophagus, Magens oder Kolons) angewandt in Verbindung mit der heute verbreiteten hochauflösenden Videoendoskopie (Brown et al. 2007). Zunehmend werden optische Verfahren in Kombination eingesetzt. Relativ verbreitet ist mittlerweile das NBI (»narrow band imaging«), eine optische Filter-Technologie, bei der durch Reflektion von blauem und grünen Licht in oberflächlichen bzw. subepithelialen Gewebsschichten Kapillarnetzwerke visualisiert werden können, wodurch ein sehr kontrastreiches Bild der Gewebeoberfläche entsteht (Song et al. 2008). Unterschiedliche Gefäßstrukturen von neoplastischem und nor-
. Abb. 24.2. Polypektomie eines gestielten Kolonpolypen. Hier Blutungsprophylaxe mit Endoloop (blaue Schlinge, Strangulation des Polypenstiels) vor Abtragung mit der Diathermieschlinge
485 24.2 · Prophylaxe, Therapie und Palliation gastrointestinaler Tumoren
24
. Abb. 24.3. Vier korrespondierende Abbildungen eines Barrett-Areals mit hochauflösender Weißlichtendoskopie (a), Indigokarmin-Chromoendoskopie (b), Essigsäure-Chromoendoskopie (c) und Narrow Band
Imaging (NBI, d). Irreguläres mukosales und vaskuläres Muster mit abnormen spiralförmigen Blutgefäßen. Dieses Areal enthielt eine »high-grade« intraepitheliale Neoplasie (HIEN)
. Abb. 24.4. Endoskopische Mukosaresektion (EMR) eines T1-Karzinom in einem Barrett-Ösophagus mit der »Cap«-Technik. a und b Entfernung des Karzinoms, histologisch im Gesunden, c Entfernung der restlichen
Barrett-Mukosa im distalen Ösophagus (Histologie: multifokale IEN), d abheilende, fibrinbedeckte Ulzera 7 Tage nach EMR
malem Gewebe können so visualisiert werden (. Abb. 24.3; nach Curvers et al. 2008). Weiterführende hochauflösende optische Techniken wie die optische Kohärenztomografie (OCT) oder die konfokale Laserendomikroskopie (CFE) werden derzeit in klinischen Studien evaluiert (Anandasabapathy et al. 2008). Färbemethoden sowie »optische Biopsien« können sowohl bei der Festlegung von Resektionsgrenzen als auch bei der »targed biopsy« schwierig zu detektierender Neoplasien hilfreich sein, z. B. Neoplasien bei Colitis ulcerosa (Hurlstone et al. 2008; Kiesslich et al. 2007) oder im Barrett-Epithel (Curvers et al. 2008).
Technik wird am Ende des Endoskops eine transparente Kappe mit einer endständigen zirkulären Rille befestigt, die die Positionierung einer Polypektomieschlinge erlaubt. Die Läsion wird in die Kappe gesaugt, und der so geformte Pseudopolyp wird mit der Schlinge unter Elektrokoagulation abgetragen (. Abb. 24.4; J. Schirra, LMU München). Bei einer alternativen Methode (»Suckband-and-cut«-Technik) wird ein stabiler Pseudopolyp durch eine Gummiband-Ligatur gebildet und anschließend mit einer Schlinge abgetragen. Bei Letzterer ist eine submuköse Injektion nicht erforderlich. Beide Techniken sind hinsichtlich der Fläche des abgetragenen Areals (im Mittel 16×11 mm) vergleichbar. Bei einer dritten Alternative (»Lift-and-cut«-Technik) wird nach submukosaler Injektion das Schleimhautareal mit einer monofilen Schlinge ohne ein zusätzliches Hilfsmittel abgetragen. Diese älteste Technik wird insbesondere im dünnwandigen Kolon und Dünndarm eingesetzt.
Endoskopische Mukosaresektion (EMR) Bei der in Ösophagus und Magen am häufigsten verwendeten »Suck-and-cut«-Technik wird die Mukosa zunächst durch Injektion einer Flüssigkeit (meist Suprarenin 1:100000) in die Submukosa abgehoben, um sie von dieser zu separieren. Bei der »Cap«-
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24
Kapitel 24 · Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie
. Abb. 24.5. Endoskopische Resektion eines Cardia-Tumors (»Cap«Technik) bei einem 84-jährigen Patienten. a Cardiatumor 2×2 cm, b und c Perforation mit Sicht auf das Fettgewebe der Bursa omentalis, d und e
Verschluss der Perforation mit Metallclips. Histologie: Adenom, Resektatbasis tumorfrei. CT: geringste Mengen freier Luft. Patient klinisch beschwerdefrei, im Verlauf Abheilung
Blutungen treten je nach Lokalisation und abgetragenem Areal in bis zu 10% auf, können aber in aller Regel endoskopisch gestillt werden. Perforationen sind selten (<1%). Wenn sie nicht endoskopisch durch Clips verschlossen werden können, müssen sie chirurgisch versorgt werden (. Abb. 24.5; J. Schirra, LMU München).
Patientenvorbereitung Für alle ablativen endoskopischen Eingriffe sollte die Gerinnung der Patienten normalisiert sein. Ein Quick-Wert ≥50% und Thrombozyten ≥50.000/μl sind Mindestanforderungen für einen elektiven Eingriff. Gerinnungshemmende Medikation sollte abgesetzt sein (ASS mindestens 2 Tage, niedermolekulares Heparin mindestens 24 Stunden, andere orale Thrombozytenaggregationshemmer 8 Tage). Bei großflächigeren Resektionen, somit in jedem Fall bei einer ESD, sollte eine Kurzzeit-Antbiotikaprophylaxe erfolgen. Die Patienten müssen über die Risiken einer Blutung und Perforation sowie eines u. U. notwendigen chirurgischen Folgeeingriffs und über die Risiken der für die Endoskopie erforderlichen Anästhesie aufgeklärt sein. Alle Patienten müssen nüchtern sein (Nahrungskarenz über wenigstens 6 Stunden). Eingriffe am Kolon erfordern grundsätzlich eine orthograde Darmspülung. Eingriffe im oberen Gastroinestinaltrakt (Ösophagus, Magen, Duodenum) sollten von einer effizienten Säuresuppression mit Protonenpumpeninhibitoren begleitet sein, die über den Eingriff hinaus fortgesetzt wird. Wenn diese Voraussetzungen nicht sicher eingehalten werden können, ist für die erfolgreiche Durchführung eine vorherige Rücksprache mit der Endoskopie erforderlich.
Endoskopische Submukosadissektion (ESD) Ein Nachteil bei Entfernung großflächiger Neoplasien (>15– 20 mm) mit EMR ist die Notwendigkeit multipler Resektionen (sog. »Piece-meal«-Technik) mit histologisch nicht beurteilbaren Resektionsrändern und relativ hohen Rezidivraten bis etwa 30%. Die ESD erlaubt eine En-bloc-Resektion auch großflächiger Neoplasien mit guter pathologischer Beurteilbarkeit der Resektionsränder (. Abb. 24.8). Nach Markierung der Resektionsränder wird zunächst die Submukosa durch Injektion einer Flüssigkeit von der Muskularis separiert. In einem zweiten Schritt wird die Mukosa innerhalb der markierten Resektionsränder zirkumferenziell inzidiert. Anschließend wird das Bindegewebe der Submukosa unter der Neoplasie disseziert. Dazu werden ein Wasserstrahldissektor und/oder Messer unterschiedlicher Form verwendet. Blutgefäße können dabei isoliert und unter Sicht zertrennt bzw. koaguliert werden. Nachteilig im Vergleich zur EMR in Piece-meal-Technik ist die erheblich längere Untersuchungsdauer. Das Perforationsrisiko ist mit 1–4% höher als das der EMR. Nachblutungen treten meist innerhalb von 12 Stunden nach der Prozedur auf in ähnlicher Frequenz wie nach einer EMR (zum Überblick Tanaka et al. 2008). Verspätete Blutungen sind jedoch häufiger, können noch nach 3–4 Wochen auftreten und hängen von der Größe der entfernten Läsion ab.
Endoskopische Eingriffe an verschiedenen Organsystemen Ösophagustumoren Für die lokale endoskopische Therapie von hochgradigen intraepithelialen Neoplasien (HGIN) und Frühkarzinomen (auf die Mukosa beschränkte Ösophaguskarzinome) stehen drei Verfahren zur Auswahl:
487 24.2 · Prophylaxe, Therapie und Palliation gastrointestinaler Tumoren
1. die endoskopische Mukosaresektion (EMR, . Abb. 24.8) und endoskopische Submukosadissketion (ESD), 2. die nicht thermische photodynamische Therapie (PDT mit 5-Aminolävulinsäure als oralem Photosensitizer (Pech et al. 2005) oder Radiofrequenzablation (Ganz et al. 2008) sowie 3. thermische Techniken wie Neodym-YAG-Laser, Argonplasmakoagulation oder multipolare Elektrokoagulation. Alle endoskopischen Methoden haben eine niedrige Morbidität und Mortalität und sind deshalb attraktive Alternativen zur chirurgischen Resektion. Die endoskopische Resektion ist die Methode der Wahl für optisch lokalisierbare und umschriebene Läsionen, da die Resektate hinsichtlich des histopathologischen Gradings, der kompletten Resektion und der Beteiligung der Submukosa klassifiziert werden können. Die PDT und die Radiofrequenzablation sind die besten lokalen Behandlungsoptionen für multifokale und nicht lokalisierbare Läsionen, da große Areale in einer einzigen Untersuchung behandelt werden können (Pech et al. 2008; Ganz et al. 2008). Die thermischen Verfahren dienen hauptsächlich als unterstützende Methoden. Grundsätzlich sind all diese Methoden komplementär und kombinierte Therapien haben sich als sinnvoll erwiesen. Bei Penetration eines Karzinoms in die Submukosa ist in etwa 40% der Fälle mit Lymphknotenmetastasen zu rechnen, und bereits bei Beteiligung des ersten Drittels der Submukosa (Sm1) beträgt die Rate der Lymphknotenmetastasen 10–15%. Neben der Beschränkung auf die Mukosa sind Kriterien für eine EMR die makroskopischen Typen I, IIa, IIb und IIc einer Größe bis zu max. 15–20 mm. Größere Areale sollten mit ESD abgetragen werden. Im Gegensatz zu der großen Bedeutung der Endosonografie für das lokoregionale Staging fortgeschrittener Ösophaguskarzinome scheint der zusätzliche Wert der Endosonografie bei frühen Karzinomen unter Zugrundelegung der oben genannten makroskopischen Kriterien für die EMR limiert. Allerdings liegt die Bedeutung der Endosonografie in ihrem hohen negativ prädiktiven Wert (>95%) für das Fehlen einer Tumorinfiltration in tiefere Wandschichten und lokale Lymphknoten. Da die Tumorpenetrationstiefe der bedeutenste Prädiktor für Lymphknotenmetastasen ist, erlaubt die histopathologische Aufarbeitung endoskopischer Resektate neben der Beurteilung einer vollständigen Resektion auch die Einschätzung des Risikos für eine Lymphknotenmetastasierung. In der bislang größten Studie wurden 349 Patienten mit Barrett-Ösophagus (61 mit HGIN, 288 mit mukosalem Adenokarzinom) nach oben genannten Kriterien behandelt mit einer mittleren Beobachtungsperiode von 64 Monaten (Pech et al. 2008):
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endoskopische Resektion in 279, PDT in 55, endoskopische Resektion + PDT in 13 Fällen. Ein komplettes Ansprechen wurde bei 337 Patienten (96,6%) erreicht, eine Operation wurde bei 13 Patienten (3,7%) erforderlich. Metachrone Läsionen entwickelten sich bei 74 Patienten (21,6%). Die 5-Jahres-Überlebensrate betrug 84%, kein Patient verstarb an einem Ösophaguskarzinom. Signifikante Risikofaktoren für die Wiederkehr von HGIN oder Karzinom waren Piece-meal-Resektion, Long-segment-Barrett (≥3 cm), multifokale Neoplasien und der Verzicht auf eine komplette Ablation des Barrett-Epithels nach Resektion der initialen Läsion. Die Gesamt-Komplikationsrate betrug 17,2% (60 von 349 Patienten): klinisch signifikante Blutung (HbAbfall >2 g/dl) bei 2 Patienten, nicht-Hb-wirksame Blutungen bei 40 Patienten und eine Ösophagusstenose bei 15 Patienten, Perforationen traten keine auf. Alle Komplikationen wurden konservativ behandelt. Die endoskopische Therapie ist also hoch effektiv und sehr sicher. Abgesehen von der Resektion lokaler Läsionen mit HGIN oder Karzinom im Barrett-Ösophagus ist die komplette Ablation des gesamten Barrett-Segments derzeit unter Evaluation. Insbesondere bei multifokalen Läsionen scheint dies sinnvoll. Neben der ESD bieten sich hierfür die PDT und die Radiofrequenzablation an. In jedem Fall sollte nach einer ablativen Therapie des Ösophagus eine suffiziente Säureblockade mit Protonenpumpeninhibitoren durchgeführt werden, um die Wundheilung durch Neubildung von Plattenepithel zu fördern und die Wahrscheinlichkeit lokaler Narbenbildung zu reduzieren. In Abhängigkeit von der Größe des resezierten Areals nimmt die Wundheilung etwa 3–6 Wochen in Anspruch. Magentumoren Die endoskopische Resektion des Magenfrühkarzinoms – lange bereits Standard in Japan – gewinnt derzeit weltweit zunehmende Akzeptanz. Die Rationale der endoskopischen Resektion ist das sehr niedrige Risiko einer Lymphknotenmetastasierung in bestimmten Stadien des Magenfrühkarzinoms. Allgemein bei 10– 15% sinkt sie bei nicht ulzerierten Tumoren Typ I und IIa bis zu 2 cm Größe und Typ IIb und IIc bis 1 cm Größe auf 0–0,3%. Das ist die Rationale, diese kleinen Karzinome mit hoher Wahrscheinlichkeit durch EMR zu heilen. Derzeit akzeptierte Indikationen betreffen die Resektion kleiner intramukosaler Magenfrühkarzinome vom intestinalen Typ (JSGE, . Tab. 24.1, . Abb. 24.6; nach Gotoda et al. 2007). Diese Empfehlung basiert auf der höheren Wahrscheinlichkeit, dass größere Läsionen oder Läsionen vom diffusen Typ in die Submukosa einwachsen und
. Abb. 24.6. Kriterien für die endoskopische Mukosaresektion (EMR) beim Magenfrühkarzinom. Prozentangabe des Risikos von Lymphknotenmetastasen. SM Submukosa
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Kapitel 24 · Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie
daher ein höheres Risiko von Lymphknotenmetastasen haben. Derzeit sind die Indikationen zur endoskopischen Mukosaresektion (EMR): 4 Gut differenzierte, leicht erhabene intramukosale Karzinome <2cm 4 Kleine (≤ 1cm), nicht-ulzerierte gering eingesunkene Karzinome Diese engen Kriterien führten zu unnötigen D2-Gastrektomien. In einer großen Studie mit 5.265 Patienten mit Gastrektomie und einer R2-Lymphknotendissektion zeigte sich eine weitere Subgruppe von Läsionen, die entweder mit keinem Lymphknotenmetastasenrisiko einhergeht oder deren Risiko niedriger ist als das Mortalitätsrisiko einer Gastrektomie (Gotoda et al. 2000). Diese Beobachtung führte zum Vorschlag für erweiterte Kriterien für die endoskopische Resektion als En-bloc-Resektion durch die endoskopische Submukosadissektion (ESD; . Abb. 24.6 und 24.7; nach Gotoda et al. 2007). EMR und ESD sind diagnostisch relevant. Ergibt die histopathologische Aufarbeitung nach EMR oder ESD eine Beschränkung der Läsion auf das obere Drittel der Submukosa (SM1, 500 μm) und keinen Anhalt für eine vaskuläre Infiltration, kann
auf eine Gastrektomie verzichtet werden. Kann die Tiefeninfiltration aber nicht festgelegt werden, infiltriert der Tumor das mittlere Drittel der Submukosa (SM2) oder besteht eine vaskuläre Beteiligung, sollte eine Gastrektomie mit Lymphknotendissektion erfolgen (Gotoda et al. 2007; Takekoshi et al. 1994). Ergebnis In einer frühen retrospektiven Studie bei 308 Patienten lag die Rate der kompletten Resektion durch EMR nach oben genannten Kriterien bei fast 100% (Takekoshi et al. 1994). Bei 210 dieser Patienten mit einem Follow-up von 14 Jahren lagen die allgemeinen 5- und 10-Jahres-Überlebensraten bei 86 und 56%, und somit vergleichbar mit aggressiveren chirurgischen Eingriffen. In einer anderen Serie von 102 Patienten wurden während eines Follow-up von 9 Jahren keine lokalen oder distanten Metastasen gefunden (Inoue et al. 1998). Lokal rekurrente Tumore (4–5%) können nahezu immer erfolgreich endoskopisch behandelt werden. Die erfolgreiche endoskopische Resektion scheint einen tumorfreien Rand von wenigstens 2 mm vorauszusetzen. In einer der größten Studie bei 551 Patienten, bei denen ein Magenfrühkarzinom nach oben genannten erweiterten Kriterien per ESD entfernt wurde, wurde eine En-bloc-Resektion in 94,9%
. Abb. 24.7. Erweiterte Kriterien für die endoskopische Submukosadissektion (ESD) beim Magenfrühkarzinom. Prozentangabe des Risikos von Lymphknotenmetastasen (95% CI). SM Submukosa
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. Abb. 24.8a–g. Endoskopische Submukosadissektion (ESD). a–c ein flach erhabenes Magenfrühkarzinom an der kleinen Kurvatur des Magens (a) wird zunächst zirkumferenziell umschnitten (b), anschließend wird die Submukosa disseziiert (c). 1–3 unterschiedliche Messer für die
ESD; d–g Management von Komplikationen der ESD: Eine arterielle Blutung aus der Submukosa (D) wird mit der »Hot-biopsy«-Zange koaguliert (e). Eine Perforation (f) wird mit Endoclips verschlossen (g)
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der Fälle erzielt. Die En-bloc-Resektion war der einzige signifikante Prädiktor für eine kurative Resektion. Die allgemeine und krankheitsspezifische 5-Jahres-Überlebensrate betrug 97,1 bzw. 100% (Isomoto et al. 2008). Komplikationen Die EMR sollte auf Läsionen ≤15 mm beschränkt werden, da größere Läsionen nicht in einem Stück abgetragen werden können. Piece-meal-Resektionen sind ein Hauptgrund für hohe Rezidivraten nach EMR (3,5–36.5%). Die kurative Abtragung in einem Stück per ESD zeigte hingegen keine Rezidive (Isomoto et al. 1998). Blutungen treten bei bis zu 8% der Patienten nach EMR und bei bis zu 7% der Patienten nach ESD auf (Gotoda et al. 2007). Während akute Blutungen während der Resektion in der Regel endoskopisch gestillt werden können, können verspätete Blutungen in Abhängigkeit von der Tumorgröße und Lokalisation (mittleres und distales Drittel > proximales Drittel des Magens) insbesondere nach ESD noch binnen 30 Tage auftreten (Gotoda et al. 2007; Shiba et al. 2005; Okano et al. 2003). Perforationen sind selten nach EMR, häufiger nach ESD zu beobachten (ca. 4%, (Gotoda et al. 2007) und können endoskopisch mit Endoclips verschlossen werden (Tsunada et al. 2003; Minami et al. 2006; . Abb. 24.8; nach Gotoda et al. 2007). Nachsorge Nach Resektion sollten die Patienten zur Säuresuppression Protonenpumpeninhibitoren über 8 Wochen einnehmen. Eine 24Stunden-Nüchternperiode nach Resektion ist gefolgt von klarer Flüssigkeit am zweiten Tag und weicher Kost ab dem dritten Tag. Nach Resektion bedürfen die Patienten regelmäßiger Kontrollendoskpien. Das optimale Kontrollintervall ist derzeit noch unklar. Hierzu sind prospektive Studien zur Erfassung der Inzidenz metachroner Läsionen erforderlich. Dünndarmtumoren Dünndarmtumoren sind mit 1–2% aller gastrointestinalen Tumore eher selten. Sie können sich manifestieren als Blutungsquelle, weniger häufig als Obstruktion des Dünndarms. Die Videokapselendoskopie und die Doppel- oder Single-Ballon-Endoskopie repräsentieren einen bedeutenden endoskopischen Fortschritt der letzten Jahre, da beide Methoden erstmals die direkte endoskopische Diagnostik des gesamten Dünndarms ermöglichen (Yamamoto et al. 2005; Rondonotti et al. 2008). Einzelfallberichte zeigen auch die grundsätzliche Möglichkeit zur Resektion von mukosalen Dünndarmtumoren durch die Doppel-Ballon-Endoskopie. Zukünftige Studien sind aber erforderlich, um die therapeutische Bedeutung einschätzen zu können. Sporadische Duodenaladenome können endoskopisch effektiv per endoskopischer Mukosaresektion (EMR, Technik s. oben) entfernt werden. Eine vorherige Endosonografie ist erforderlich, um eine Submukosabeteiligung auszuschließen. Im Unterschied zur endoskopischen Resektion in anderen Regionen des Gastrointestinaltraktes liegt das Blutungsrisiko mit etwa 14% recht hoch (Lepilliez et al. 2008). Adenome der Papilla Vateri müssen wegen des Malignitätspotentials reseziert werden. Die endoskopische Resektion (Papillektomie) wird als EMR durchgeführt. Voraussetzung ist, dass das Adenom nicht in den Ductus choledochus einwächst. In der Hand erfahrener Endoskopiker liegt die Erfolgsrate einer kompletten Resektion bei etwa 80%. Die periinterventionelle Morbidität ist sehr gering, Mortalität nahezu nicht vorhanden
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(Bohnacker et al. 2006). In einer retrospektiven Analyse von 70 Papillektomien bei 55 Patienten zeigte sich eine Gesamtkomplikationsrate von 14,5% (10 Komplikationen; Cheng et al. 2004): Pankreatitis 7%, Blutung 5,7%, Perforation 1,4%. Bei 37 initial kompletten Papillektomien ohne duktale Beteiligung zeigten sich Rezidivadenome bei etwa einem Drittel nach durchschnittlich 27 Monaten. Eine retrospektive Studie zeigte, dass Adenome mit »high-grade« intraepithelialer Neoplasie (HIEN) keine lymphovaskuläre Invasion oder Lymphknotenmetastasen aufweisen (Yoon et al. 2007). Innerhalb eines Follow-ups von 27±6 Monaten entwickelte sich kein Karzinom. Im Gegensatz dazu gingen T1Karzinome in etwa 10,7% mit Lymphknotenmetastasen einher; die Mukosa des Ductus choledochus war in 17,9% betroffen. T1Karzinome sollten derzeit bevorzugt chirurgisch reseziert werden. Haben solche Patienten ein hohes operatives Risiko sollte eine endoskopische Resektion nur nach Rücksprache mit dem Chirurgen und mit engmaschigem Follow-up erfolgen. Kolontumoren und Screening des Kolonkarzinoms Das kolorektale Karzinom ist mit über 70.000 jährlichen Neuerkrankungen und fast 30.000 Todesfällen die zweithäufigste tumorbedingte Todesursache in Deutschland. Das Lebenszeitrisiko, an einem kolorektalen Karzinom zu erkranken, beträgt etwa 6%. 90% der kolorektalen Karzinome treten nach dem 50. Lebensjahr auf. Diese Fakten zusammen mit der Möglichkeit, Kolonadenome als Präkanzerosen risikoarm zu entfernen, sind Grundlage der Früherkennung und der Screeningprogramme. Die folgende Übersicht listet die Indikationen zur Koloskopie und deren zeitliche Abfolge im Rahmen von Screening und Nachsorge kolorektaler Adenome und Karzinome entsprechend der S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselerkrankungen (DGVS) auf (Schmiegel et al. 2008).
Indikationen zur Koloskopie im Rahmen von Screening und Nachsorge von Neoplasien des Kolon (Schmiegel et al. 2000, 2008) I. Asymptomatische Bevölkerung Screening von asymptomatischen Patienten mit durchschnittlichem Risiko für eine Kolon-Neoplasie: Koloskopie ab 50. Lebensjahr, Wiederholung im Abstand von 10 Jahren
II. Risikogruppen 1.
2. 6
Sporadisches kolorektales Karzinom a) Verwandte 1. Grades von Patienten mit kolorektalem Karzinom: 4 erste Koloskopie 10 Jahre vor dem Zeitpunkt der Diagnose beim Indexpatienten, spätestens ab dem 50. Lebensjahr 5 Indexpatient bei Diagnosestellung <60 Jahre: erste Koloskopie spätestens mit 40 Jahren. 5 Wiederholungskoloskopien im Abstand von 10 Jahren. b) Verwandte 1. Grades von Patienten mit kolorektalem Adenom: 4 wenn Indexpatient <60 Jahre, Koloskopien ab dem 40. Lebensjahr alle 10 Jahre Hereditäres kolorektales Karzinom a) FAP (familiäre adenomatöse Polyposis):
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Kapitel 24 · Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie
3.
4 Jährliche Rektosigmoidoskopie bei Risikopersonen (bestätigte oder nicht ausgeschlossene Genträgerschaft) ab dem 10. Lebensjahr, gefolgt von einer Koloskopie bei Nachweis von Adenomen 4 Nach Proktokolektomie: jährliche Pouchoskopie b) HNPCC (hereditäres Non-Polyposis Coli-Kolonkarzinom): 4 Jährliche Koloskopie bei Risikopersonen ab dem 25. Lebensjahr Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen 4 Colitis ulcerosa und Colitis Crohn (American Society for Gastrointestinal Endoscopy 2000): 4 Bei Pancolitis >8 Jahre Dauer oder linkseitiger Colitis >15 Jahre Dauer Koloskopie in den ersten beiden Jahren jährlich, anschließend im Abstand von 2 Jahren 4 nach Proktokolektomie bei Colitis ulcerosa jährliche Pouchoskopie erforderlich
III. Nachsorge des kolorektalen Adenoms und Karzinoms a)
Komplette Koloskopie zur Diagnostik und ggf. Entfernung von synchronen Neoplasien bei Patienten mit behandelbarem Karzinom oder neoplastischem Polyp präoperativ, intraoperativ oder innerhalb von 3 Monaten postoperativ b) Nach makroskopisch-endoskopischer und/oder histologisch kompletter Abtragung von neoplastischen Polypen (Adenome) Kontrollendoskopie abhängig je nach Risikostratifizierung: 4 Niedriges Risiko: 1–2 Adenome <1 cm, niedriggradige intestinale Neoplasie: Kontrolle nach 5 Jahren 4 Hohes Risiko: 3–10 Adenome <1 cm, 1 Adenom >1 cm, 1 Adenom mit villöser oder tubulovillöser Histologie, 1 Adenom mit hochgradiger intestinaler Neoplasie, serratierte Histologie: Kontrolle nach 3 Jahren. 4 Sehr hohes Risiko: >10 Adenome gleich welcher Größe: Kontrollintervall individuell festlegen 4 Wenn die Kontrollkoloskopie unauffällig ist, erfolgt die nächste Kontrolle nach 5 Jahren c) Nach endoskopischer Abtragung von Adenomen mit Karzinom (pT1) 4 Low risk (pT1, G1-2, L0): Kontrollendoskopie nach 6, 24 und 60 Monaten 4 High risk (pT1, G3 oder 4 und/oder L1): radikal chirurgische Therapie, Kontrollendoskopie 24 und 60 Monate nach Eingriff d) Nach R0-Resektion von Tumoren der UICC-Stadien I–III: Kontrollendoskopie 24 und 60 Monate nach Eingriff
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Etwa 70% aller kolorektaler Karzinome entwickeln sich als sporadische Karzinome bei der asymptomatischen Bevölkerung, etwa 10–30% als sporadische Karzinome mit familiärem Risiko, etwa 4–5% bei Anlageträgern für ein hereditäres kolorektales Karzinom (HNPCC, FAP, hamartöse Polyposissyndrome). Da die komplette Koloskopie das sensitivste und spezifischste Verfahren zur Detektion kolorektaler Adenome und Karzinome ist,
ist sie etablierter Bestandteil der Screeningprogramme bei den Risikogruppen, zumal mit der Möglichkeit der Polypektomie eine deutliche Senkung der Karzinominzidenz verbunden ist. Seit dem Jahr 2002 hat jeder in Deutschland gesetzlich Versicherte einen Anspruch auf eine erste Vorsorgekoloskopie im Alter von 55 Jahren und eine Wiederholungsuntersuchung 10 Jahre später. Obwohl durch die Screeningkoloskopie bis zu 90% aller kolorektalen Karzinome verhindert werden können, ist die Akzeptanz dieses Angebotes mit einer kumulativen Teilnahmerate von weit unter einem Viertel der Berechtigten weiterhin gering. Die Ursachen hierfür sind nicht gut verstanden. Neben möglicherweise unzureichender Information kommen hier vor allem zum Teil unberechtigte Vorbehalte gegen die Koloskopie zum Tragen. Insbesondere die virtuelle Computertomografie-(CT-) basierte Kolonografie (CTC) hat sich hier in den letzten Jahren zu einem Verfahren entwickelt, das an die Sensitivität der endoskopischen Koloskopie für Polypen >9 mm heranreicht (Pickhardt et al. 2003; Johnson et al. 2008; Graser et al. 2008). Während die CTC in den USA seit 2008 als Alternative zur Koloskopie empfohlen wird, ist sie in Deutschland nur im Falle der technisch nicht durchführbaren endoskopischen Kolonuntersuchung zugelassen. Zu bedenken ist aber auch, dass die Vorbereitung zur CTC in gleicher Weise wie zur Koloskopie mit ausgiebiger Darmlavage zu erfolgen hat. Auch ist die Frage der Gefahren der mit der CTC applizierten ionisierenden Strahlung noch nicht abschließend geklärt. Die häufigste Indikation zur therapeutischen Koloskopie ist die Entfernung von Kolonpolypen. Jeder abgetragene Polyp muss geborgen und histologisch aufgearbeitet werden. Am häufigsten finden sich klassische Adenome. Die Prävalenz von Adenomen beträgt etwa 30% im Alter von 50 Jahren und steigt mit 70 Jahren auf etwa 50% an. Fortgeschrittene Adenome (>1 cm) sind mit 3–5% seltener als kleine Adenome. Die Polypektomie von Adenomen geht mit einer Reduktion der Karzinominzidenz um 88– 90% einher und stellt somit eine echte Prävention dar. Werden bei einer Koloskopie Polypen festgestellt, sollten Polypen >5 mm durch Polypektomie, Polypen ≤5 mm mit der Zange komplett entfernt werden. Es ist anzustreben, dass diagnostische Koloskopien nur dann durchgeführt werden, wenn in gleicher Sitzung die Möglichkeit zur Polypektomie besteht. Das Risiko des Adenomträgers und somit die Empfehlung für weitere Kontrollen ist abhängig von der Anzahl, der Größe und der Histologie der gefundenen Adenome. Von einem niedrigen Risiko ist auszugehen, wenn lediglich 1–2 Adenome gefunden werden, die <1 cm sind und die lediglich eine niedriggradige intestinale Neoplasie aufweisen. In diesem Fall wird ein Kontrollintervall von 5 Jahren empfohlen. Als Hochrisiko-Adenomträger sind folgende Personen einzugruppieren: 4 3–10 Adenome <1 cm, 4 mindestens 1 Adenom >1 cm, 4 1 Adenom mit villöser oder tubulo-villöser Histologie oder 4 1 Adenom mit hochgradiger intestinaler Neoplasie. Findet sich ein solcher Befund, ist eine Kontrollkoloskopie bereits nach 3 Jahren indiziert. Wurde ein Polyp nicht vollständig abgetragen, so wird eine frühzeitige Kontrolle nach 2–6 Monaten empfohlen. Finden sich mehr als 10 Adenome, muss ggf. ein kürzeres Kontrollintervall als 3 Jahre empfohlen werden. Findet sich bei der Kontrollkoloskopie dann ein unauffälliger Befund, ist in jedem Fall ein Nachkontrollintervall von 5 Jahren zu empfehlen.
491 24.2 · Prophylaxe, Therapie und Palliation gastrointestinaler Tumoren
Die Mehrzahl der verbleibenden Histologien entfällt auf serratierte Adenome und hyperplastische Polypen. Bei den serratierten Adenomen ist unabhängig vom Vorliegen von intestinalen Neoplasien von Risikobefunden auszugehen, weshalb hier nach Abtragung eine Kontrolle nach 3 Jahren empfohlen wird. Während sich traditionelle serratierte Adenome vorwiegend im linksseitigen Kolon als gestielte Polypen finden, sind die sessilen serratierten Adenome eher flach und im rechtsseitigen Kolon gelegen. Sie sollen bedingt durch ihre schwierigere Erkennbarkeit für die Mehrzahl der Intervallkarzinome, also Karzinome nach unauffälliger Koloskopie, verantwortlich sein. Sporadische hyperplastische Polypen stellen keine Präkanzerose dar und hyperplastische Polypen unter 1 cm Größe müssen nicht nachkontrolliert werden. Hier empfiehlt sich die nächste Koloskopie nach 10 Jahren. Gelegentlich treten hyperplastische Polypen aber gehäuft auf. Nach internationalen Kriterien muss vom Vorliegen eines hyperplastischen Polyposis-Syndroms ausgegangen werden, wenn ≥5 hyperplastische Polypen proximal des Sigmas vorliegen, von denen 2 >10 mm sind oder hyperplastische Polypen proximal des Sigma bei einem erstgradig Verwandten eines Patienten mit hyperplastischer Polyposis oder mehr als 30 hyperplastische Polypen im gesamten Kolon gefunden werden. Für die Überwachung dieser Patienten gelten bisher keine einheitlichen Richtlinien, i. Allg. wird aber empfohlen, bereits 10 Jahre vor dem frühesten Manifestationsalter in der Familie Screening-Koloskopien vorzunehmen und diese alle 1–3 Jahre zu wiederholen. Die Komplikationen der therapeutischen Koloskopie liegen um den Faktor 10 höher als bei der diagnostischen Endoskopie. Die Abtragung breitbasiger Polypen ist risikoträchtiger als die gestielter Polypen. Das Risiko bei Abtragung von Polypen im dünnwandigen rechtsseitigen Kolon ist höher als im linksseitigen. Die häufigste Komplikation ist die Blutung (0,3–6,1%). Das Risiko hängt ab von Art und Größe des Polypen, der Polypektomietechnik und dem Gerinnungsstatus des Patienten. Blutungen zeigen sich meist akut im Rahmen der Untersuchung, können aber auch bis zu 30 Tage nach der Polypektomie auftreten. Unmittelbare Blutungen werden bei etwa 1,5% der Polypektomien beobachtet. Sie treten am häufigsten bei großen Polypen, solchen mit dickem Stiel und sessilen Polypen >2 cm auf. Die meisten unmittelbar auftretenden Blutungen können endoskopisch kontrolliert werden, wobei die Technik von der Blutungsstärke, der Art des Polyps und der persönlichen Präferenz des Untersuchers abhängt. Verzögerte Blutungen treten bei bis zu 2% aller polypektomierten Patienten auf. Die Blutung entwickelt sich im Mittel 5– 7 Tage nach Polypektomie, der Zeitraum reicht aber von wenigen Stunden bis zu 30 Tagen. Das Risiko einer verzögerten Blutung steigt mit dem Alter des Patienten und bei sessilen Polypen aus dem rechtsseitigen Kolon. Es gibt keine Studien, die ein größeres Risiko durch Einnahme von NSAID oder Aspirin belegen. Dennoch müssen gerinnungshemmende Medikamente vor elektiven Eingriffen abgesetzt werden. Im Gegensatz dazu steigt das Risiko mit Wiederaufnahme einer zur Polypektomie ausgesetzten Medikation von Marcumar, wenn die Nekrosezone unter therapeutischem INR abgestossen wird. Die zwei wesentlichen Ursachen für eine verzögerte Blutung sind zum einen die Abstoßung einer Nekrosezone mit darunter liegendem Blutgefäss und zum anderen die Exkavation der thermischen Nekrosezone in die Submukosa. Auch die verzögerten Postpolypektomieblutungen können in der Regel endoskopisch kontrolliert werden. Die Frequenz der
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blutigen Stuhlgänge des Patienten ist ein guter Indikator über Stärke und Dauer der Blutung. Stoppt die Hämatochezie spontan, ist ein abwartendes Verhalten unter Blutbildkontrollen gerechtfertigt. Hält die Hämatochezie an, ist die Notfallendoskopie indiziert, insbesondere bei drohender hämodynamischer Instabilität. Das Postpolypektomie-Elektrokoagulationssyndrom beschreibt die Entwicklung von lokalisiertem abdominellem Schmerz, Fieber, Leukozytose und einer peritonealen Entzündung in Abwesenheit einer freien Perforation nach Polypektomie mit Elektrokoagulation. Es entsteht durch Einwirken von Strom auf die Muskularis propria und die Serosa, resultierend in einer transmuralen Verbrennung ohne Perforation. Die Serosareizung führt zu einer lokalen entzündlichen Reaktion, welche klinisch als lokalisierte Peritonitis imponiert. Mit einer Häufigkeit von 0,5–1,2% ist das Postpolypektomiesyndrom nach der Blutung die zweithäufigste Komplikation der Polypektomie. Es entsteht am häufigsten bei der Abtragung großer (>2 cm), sessiler Polypen, welche eine größere Menge und längere Dauer thermischer Energie erfordert. Die Beschwerden treten meist binnen 12 Stunden auf, können sich aber noch innerhalb von 5 Tagen entwickeln. Meistens handelt es sich um einen milden abdominellen Schmerz in Projektion auf die Abtragungsstelle. Manche Patienten bieten jedoch einen heftigen lokalen Schmerz mit Abwehrspannung, Fieber und Leukozytose, klinisch nicht zu unterscheiden von einer Kolonperforation. Die Unterscheidung von einer freien Perforation erfordert die radiologische Diagnostik freier intraperitonealer oder retroperitonealer Luft, am besten durch ein Abdomen-CT. Die Prognose des Postpolypektomiesyndroms ist unter konservativer Behandlung mit Bettruhe, Nahrungsrestriktion und Antibiotika (z. B. Ciprofloxacin 2-mal 500 mg p.o., Metronidazol 3-mal 500 mg p.o.) gut. Die freie Perforation ist mit 0,3% eher selten. Wenn ein endoskopischer Verschluss der Läsion durch Metallclips nicht gelingt, ist der operative Verschluss der Perforation erforderlich. 24.2.2 Interventionelle palliative Therapie
gastroenterologischer Tumoren Viele Patienten mit gastrointestinalen Tumoren können wegen eines lokal fortgeschrittenen Tumors oder Metastasen nicht kurativ operiert werden. Der Verlauf der Erkrankung erfordert bei den meisten dieser Patienten eine palliative Behandlung wegen der Komplikationen einer luminaler Obstruktion, Fisteln oder Blutung. Das potenzielle Risiko jeder Behandlung muss gegen den zu erwartenden Nutzen und die Prognose des individuellen Patienten abgewogen werden. Eine effektive Palliation setzt ein individualisiertes Konzept mit einem multidisziplinären Vorgehen unter Einbeziehung von Onkologen, Strahlentherapeuten, Chirurgen und Endoskopikern voraus. Während Interventionen an Hohlorganen eine Domäne der Endoskopie sind, sind Eingriffe an parenchymatösen Organen eine Domäne der interventionellen Radiologie. Die Ableitung von Verhalten/Abszessen in parenchymatösen Organen bildet derzeit eine Schnittmenge zwischen den beiden Diszplinen. Endoluminale und transmurale endoskopische Therapie Indikationen, Techniken und Patientenvorbereitung Endoskopische palliative Interventionen müssen eine schnelle symptomatische Besserung bei niedriger Komplikationsrate leisten. Die hauptsächlichen Indikationen sind die Wiederherstel-
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Kapitel 24 · Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie
lung der Passage von Hohlorganen bei Tumorobstruktion, Blutung von Tumoren im oberen und unteren Gastrointestinaltrakt, die endoluminale Drainage ableitender Gallenwege und die transluminale Drainage von Verhalten im oberen Gastrointestinaltrakt. Im Gegensatz zur kurativen Resektion von Tumoren spielen endoskopische Resektionen in der Palliation keine Rolle. Als grundsätzliche Verfahren werden eingesetzt: 4 thermische ablative Verfahren: Neodym-YAG-Laser-Vaporisation, Argonplasmakoagulation oder multipolare Elektrokoagulation: Blutstillung und Gewebedestruktion; 4 nicht thermische ablative Verfahren: photodynamische Therapie: Gewebedestruktion bei Gallenwegskarzinom; 4 Drainagen: diverse Metall- und Kunststoffdrainagen: Wiederherstellung von Passage, endoluminale biliäre und transluminale Ableitung. Diese Verfahren kommen je nach Organ modifiziert zum Einsatz. Patientenvorbereitung. Für alle interventionellen endoskopischen Eingriffe sollte die Gerinnung der Patienten normalisiert sein. Ein Quick-Wert ≥50% und Thrombozyten ≥50.000/μl sind Mindestanforderungen für einen elektiven Eingriff. Die Patienten müssen aufgeklärt sein über die Risiken einer Blutung und Perforation sowie eines u. U. notwendigen chirurgischen Folgeeingriffs. Sie müssen ebenfalls aufgeklärt sein über die Risiken der für die Endoskopie erforderlichen Anästhesie. Alle Patienten müssen nüchtern sein (Nahrungskarenz über wenigstens 6 Stunden). Bei Obstruktionen am Ösophagus oder Magen sollte die Nahrungskarenz auf 24 Stunden ausgedehnt werden. Eingriffe am Kolon erfordern grundsätzlich eine orthograde Darmspülung. Eingriffe im oberen Gastroinestinaltrakt (Ösophagus, Magen, Duodenum) sollten begleitet sein von einer effizienten Säuresuppression mit Protonenpumpeninhibitoren, die über den Eingriff hinaus fortgesetzt wird. Interventionen an den Gallengängen, insbesondere bei Cholestase, erfordern eine Antibiotikaprophylaxe. Wenn diese Voraussetzungen nicht sicher eingehalten werden können, ist für die erfolgreiche Durchführung eine vorherige Rücksprache mit der Endoskopie erforderlich.
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Eingriffe an verschiedenen Organsystemen Ösophaguskarzinom Bei der palliativen Therapie des fortgeschrittenen Ösophaguskarzinoms ist zu berücksichtigen, dass die Risiken der Verfahren der geringen 5-Jahres-Überlebensrate von <5% und dem Allgemeinzustand der Patienten Rechnung tragen muss. Lediglich die kombinierte Radiochemotherapie bietet einer Minderheit der Patienten in gutem Allgemeinzustand die Chance des Überlebens über mindestens fünf Jahre. Bei Patienten in schlechtem Allgemeinzustand oder mit Fernmetastasen verlängert die Chemotherapie das Überleben nicht. Hauptziel ist die Behandlung der Dysphagie. Es stehen ein Reihe von therapeutischen Möglichkeiten zur Verfügung, von denen aber nur wenige wirklich effektiv sind: 4 Ösophagusresektion: Sie ist nicht indiziert beim fortgeschrittenen Ösophaguskarzinom. 4 Strahlentherapie: Der Überlebensvorteil durch die alleinige Strahlentherapie ist marginal. Die alleinige Strahlentherapie führt nur zu einer vorübergehenden Kontrolle der Dysphagie, in der Regel nicht ausreichend bei Patienten mit einer Lebenserwartung von >6 Monaten. Komplikationen der
Strahlentherapie sind tracheoösophageale Fisteln und Ösophagusstrikturen. Die bronchoskopisch nachgewiesene Infiltration von Trachea oder linkem Hauptbronchus durch ein proximales Ösophaguskarzinom ist wegen des Fistelrisikos eine relative Kontraindikation zur Strahlentherapie. Bei proximalen lokal fortgeschrittenen Ösophaguskarzinomen sollte deshalb vor Strahlentherapie eine Bronchoskopie mit Biopsie erfolgen. 4 Kombinierte Radiochemotherapie: Die Kombination einer Chemotherapie mit Cisplatin und 5-FU plus 50 Gy kann zu einer Lebensverlängerung führen. Darüber hinaus bewirkt diese Therapiemodalität eine gute lokale Tumorkontrolle und verbessert die Dysphagie: In einer Serie von 120 Patienten zeigten zwei Drittel eine Besserung der Dysphagie bis zum Zeitpunkt des Todes (Coia et al. 1993). 4 Brachytherapie: Das Prinzip ist die intraluminale Platzierung einer Strahlenquelle im Ösophagus (Kobalt 60, Iridium 192 oder Caesium 137). Sie ist kein Standardverfahren, sondern kommt bei einem lokalen Tumorrezidiv nach einer kombinierten Radiochemotherapie in Betracht. Sie ist in der Lage zu einer auch langfristigen Palliation der Dysphagie, ihre Rolle in der Differenzialtherapie ist aber bislang nicht gut etabliert. 4 Endoskopisch-palliative Therapie der Dysphagie: 1. Die Bougierung mit Savary-Guillard-Kautschuk-Bougies oder die Ballondilatation von malignen Tumoren bewirkt wegen der Elastizität der Tumoren allenfalls eine kurzfristige symptomatische Besserung. Ihr Einsatz ist beschränkt auf die Vorbereitung eines Patienten mit hochgradiger Obstruktion unmittelbar vor Brachytherapie oder zur Stentversorgung. Aufgrund eines Perforationsrisikos von ca. 1% und der mangelnden Effektivität haben Bougierung und Dilatation keinen Stellenwert in der palliativen Therapie von Dysphagie bei stenosierendem Ösophaguskarzinom. 2. Thermische Verfahren: Die Vaporisation mit dem hochenergetischen Neodym-Yag-Laser ist geeignet zur Behandlung von flächigen diffusen Tumorblutungen sowie zur Gewebedestruktion. Nachteilig sind die hohen Kosten. Kostengünstiger ist die Argonplasmakoagulation (APC). Es handelt sich um eine Non-Kontakt-Methode, bei der energiereiches Argongas (= Argonplasma, Edelgas) bei Auftreffen auf Gewebe seine Energie mit sehr kurzer Tiefenwirkung (1–2 mm) abgibt. Dies führt zu Koagulation und Gewebedestruktion. Die Applikation erfolgt über flexible Sonden. Die APC ist geeignet zur Gewebedestruktion (z. B. Tumordurchwachsen von Metallstents) und auch zur Behandlung von flächigen Tumorblutungen. Durch die begrenzte Tiefenwirkung ist sie nicht geeignet zur Wiederherstellung der Passage bei Karzinomobstruktion. 3. Die effektivste Form, eine maligne Ösophagusstenose zu überbrücken, ist die Einlage eines selbstexpandierenden Metall- oder Plastikstents (. Abb. 24.10). Dadurch lässt sich die Dysphagie bei bis zu 95% der Patienten deutlich und schnell bessern. Selbstexpandierende Metall- und Plastikstents im Ösophagus Nach Platzierung eines Führungsdrahtes wird eine Stenose aufbougiert. Anschließend wird der Trägerkatheter des Stents drahtgeführt in der Tumorstenose platziert, und der Stent wird unter
493 24.2 · Prophylaxe, Therapie und Palliation gastrointestinaler Tumoren
Durchleuchtungskontrolle entfaltet (. Abb. 24.10). Die initiale Entfaltung bis 80–90% erfolgt in Abhängigkeit von der Härte der Stenose schnell, die komplette Entfaltung erfordert meist 1– 3 Tage. Der entfaltete Stent hat eine Lumenweite von 20–24 mm, was zu einer sehr schnellen und effektiven Behandlung der Dysphagie führt. Zumindest weiche Kost kann in der Regel problemlos eingenommen werden (Conio et al. 2007). Man sollte den Patienten vor Stenteinlage informieren, dass insbesondere während der ersten 2–3 Tage ein thorakales Druckgefühl bestehen kann, das durch die Stentexpansion bedingt ist. Grundsätzlich sollten im Ösophagus nur noch beschichtete Stents zum Einsatz kommen: Eine Beschichtung mit einer Membran verhindert das Einwachsen des Tumors (Yakoub et al. 2008) (. Abb. 24.9). Dies ist sowohl bei selbstexpandierenden Metallstents (SEMS) als auch selbstexpandierenden Plastikstents (SEPS) gegeben. Limitationen und Komplikationen. Leichtere Komplikationen treten häufig auf (ca. 44% (Conio et al. 2007)), schwere Komplikationen sind jedoch selten. Alle Komplikationen sind in der Regel endoskopisch beherrschbar: 4 Nahrungsaufnahme: Die Einnahme von weicher fester Kost ist in der Regel problemlos, faserhaltige sollte gemieden werden. 4 Bolusimpaktion (Nahrung): selten, ca. 1% (Conio et al. 2007). 4 Blutung und Perforation: periinterventionell je ca. 2% (Conio et al. 2007; Yakoub et al. 2008), häufiger bei SEPS als bei SEMS (Yakoub et al. 2008) 4 Stentmigration: ca. 6% (Conio et al. 2007), häufiger bei SEPS als bei SEMS (Yakoub et al. 2008). 1. SEMS sind in der Regel an ihrem proximalen und distalen Ende unbeschichtet und haben eine größere Expansionskraft; ihre Migrationsrate ist deshalb geringer als die der SEPS. 2. Umgekehrt ist die Repositionierung und Entfernbarkeit der SEPS einfacher und auch noch nach längerer Liegezeit möglich, da SEPS eben nicht durch Tumor einwachsen können. 3. SEMS und SEPS verhindern keine externe Radiochemotherapie. Zu beachten ist jedoch, dass die erfolgreiche Behandlung einer Stenose durch die Radiochemotherapie zu einer Migration der Stents führen kann. 4. Migration ist am häufigsten bei Stents im gastroösophagealen Übergang. 4 Säurereflux bei Stentpositionierung im gastroösophagealen Übergang: PPI-Prophylaxe erforderlich! 4 Tumorkompression der Atemwege: durch die beträchtliche radiale Entfaltungskraft der selbstexpandierenden Stents (SEMS > SEPS) kann es bei proximalen Ösophaguskarzinomen, die der Trachea oder Trachealbifurkation anliegen, zu einer akuten Tumorkompression der Atemwege kommen. In solchen Fällen sollte die Stenteinlage in anästhesiologischem Standby mit der Möglichkeit zur raschen Intubation und ggf. zur Einlage eines Bronchialstents erfolgen. 4 Stents im proximalen Ösophagus sind möglich (technische Erfolgsrate 96%; Verschuur et al. 2007), können jedoch zu mechanischer Behinderung bei Kopfbewegungen, zu subjektivem Fremdkörpergefühl und zu Aspiration führen. Ein Abstand von 2–3 cm zum oberen Ösophagussphinkter sollte eingehalten werden. In einer retrospektiven Studie bei
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104 Patienten war der Dysphagie-Score von 3 (nur Flüssigkeiten) bis 1 (Schwierigkeiten bei fester Nahrung) wesentlich gebessert (Verschuur et al. 2007). Schwerere Komplikationen traten bei 21% der Patienten auf (Aspirationspneumonie 9%, Blutung 8%, Fistel 7%, Perforation 2%). Schmerz berichteten 15% der Patienten, 8% ein Globusgefühl. Wegen der leichteren Entfernbarkeit haben SEPS im proximalen Ösophagus u. U. Vorteile im Vergleich zu SEMS. 4 Tumorüberwachsung: ca. 20% (Conio et al. 2007), abhängig von Tumorwachstum und Gesamtüberleben. Lösbar durch Gewebedestruktion mit APC oder Neodym-YAG-Laser oder durch Implantation eines weiteren Stents (»Stent-in-Stent«). Beschichtete Stents sind Methode der Wahl zur palliativen Behandlung von tumorinduzierten ösophagotrachealen Fisteln. Ein Fistelverschluss kann in 70–100% der Patienten erreicht werden. Die Anlage einer perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG) (s. unten »Enterale Sondenernährung«) kann insbesondere vor Strahlentherapie, die durch entzündliche Schwellung häufig zu einer passageren Zunahme der Dysphagie führt, sinnvoll sein. Die Indikationen für eine endoskopische Palliation der Dysphagie sind in der folgenden Übersicht zusammengefasst.
Indikationen für die endoskopische Palliation von Dysphagie beim fortgeschrittenen Ösophaguskarzinom 4 Patienten, für die eine definitive Behandlung mit Strahlentherapie oder Radiochemotherapie geplant ist, die aber wegen erheblicher Dysphagie vor Therapie einer Intervention bedürfen 4 Fehlende ausreichende Palliation der Dysphagie durch die Initialtherapie 4 Rekurrente Dysphagie durch lokoregionäres Rezidiv 4 Rekurrente Dysphagie durch benigne Stenosen bei durch Strahlentherapie erfolgreich behandelten Patienten 4 Patienten mit Kontraindikationen zur Strahlen- oder Chemotherapie
Magen-, Dünndarm und Kolonkarzinom Ziel der lokalen palliativen Therapie bei Magen-, Dünndarmund Kolonkarzinomen ist die Prophylaxe bzw. Therapie von Tumorstenose und -blutung. In diesen weitlumigen Hohlorganen ist die Behebung von Passagestörungen nach wie vor eine Domäne der Chirurgie. Beim Magenkarzinom (AEG Typ II und III) verbessert die palliative Resektion das Überleben sowohl bei der lokal fortgeschrittenen als auch bei der metastasierten Erkrankung (Hallissey et al. 1988) durch Vermeidung von Tumorblutung und -obstruktion. Beim fortgeschrittenen Kardiakarzinom (AEG Typ II) bietet die endoskopische Implantation selbstexpandierender Stents eine wirkungsvolle und komplikationsarme Therapie der Obstruktion und der Dysphagie (s. oben »Ösophagus«). Beim subkardialen Magenkarzinom kann im individuellen Fall die endoskopische Einlage von selbstexpandierenden Metallstents bei Tumorstenosen diskutiert werden; dies ist zwar technisch möglich, aber nur bei schlechtem Allgemeinzustand und Inoperabilität und wenn auch kleine Eingriffe wie eine Gastroenterostomie nicht in Frage kommen sinnvoll. Passagestörungen bei Magenausgangsstenosen oder Duodenalstenosen bei biliopankrea-
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Kapitel 24 · Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie
. Abb. 24.9. Implantierter selbstexpandierender Plastikstent (SEPS) und selbstexpandierender Metallstent (SEMS) bei Tumorstenose im mittleren Ösophagus. Links: Durchleuchtungskontrolle der Implantation eines SEPS (Polyflex). Mitte und rechts: endoskopische Sicht des proxinalen,
mittleren und distalen Stentanteils beim SEPS (Mitte) und SEMS (rechts). Die Pfeile kennzeichnen die röntgendichten mittleren bzw. distalen Markierungen des Stents. Die Röntgenbilder zeigen die jeweils zum endoskopischen Bild korrespondierenden Endoskoppositionen
tischen Tumoren können mit Einlage von Metallstents behoben werden. Hierbei werden – ggf. nach Ballondilatation – unter Durchleuchtung durch das Endoskop (TTS, »through the scope«) nicht gecoverte Stents eingelegt, um der peristaltikinduzierten Migrationstendenz entgegenzuwirken. Die technische Erolgsquote beträgt 95%. In einer retrospektiven Studie mit 63 Patienten hatten 70% der Patienten für den Rest ihrer Lebenszeit keine Ernährugsprobleme mehr, die mediane Überlebenszeit betrug 7 Wochen (1–64 Wochen) (Nassif et al. 2003). Eine ausschließlich orale Diät war bei 92% der Patienten (feste oder weiche Kost) möglich. Überwiegend endoskopisch lösbare Komplikationen ergaben sich in 30% der Fälle: Stentobstruktionen 20%, Stentmigrationen 7% sowie 3% Duodenalperforationen. Letztere mussten chirurgisch angegangen werden. Zweifelsohne ist die chirurgische Resektion die geeignetste palliative Behandlung beim Kolonkarzinom, da sie mit einer niedrigen Morbidität einhergeht und tumorassozierte Komplikationen wie Blutung und Ileus verhindert. Hingegen gehen palliative Resektionen beim distalen Rektumkarzinom mit einer beträchtlichen Morbidität einher. Palliative Kolostomien sind effektiv in der Prophylaxe eines Ileus, beeinträchtigen aber die Lebensqualität. Ablative endoskopische Techniken unter Einschluss von Laser-Vaporisation, Argonplasmakoagulation und Kryotherapie bieten beim fortgeschrittenen Rektumkarzinom die Möglichkeit einer schnellen und effektiven Tumordestruktion verbunden mit niedriger Morbidität und Mortalität. Nachtei-
lig sind die erforderlichen häufigen Behandlungen, um nach initialer Rekanalisation das Lumen offen zu halten. Selbstexpandierende Metallstents können beim Rektumkarzinom mit hoher technischer Erfolgsrate (>90%) und geringen frühen Komplikationsraten (<5%) eingesetzt werden, scheinen aber eher nicht für eine Langzeittherapie geeignet. Die Daten zu den Langzeitresultaten sind limitiert. Bei 68% von 31 untersuchten Patienten blieben die rektalen Metallstents über einen mittleren Zeitraum von 90 Tagen offen, wohingegen bei 32% der Patienten ein frühzeitiges Stentversagen durch Dislokation oder schmerzbedingte Extraktion beobachtet wurde (Hunerbein et al. 2004). Die Stentimplantation kann bei Patienten, die eine Kolostomie ablehnen, als Alternative erwogen werden Endoskopische Drainage der Gallenwege Eine Stenose der Gallenwege führt zur Cholestase. Komplikation ist die Cholangitis, die unbehandelt zur Sepsis und zum Tod führt. Die häufigsten Ursachen einer malignen distalen Choledochusstenose sind die Kompression durch ein Pankreaskopfkarzinom oder auch durch Lymphknoten. Maligne Stenosen im Leberhilus sind meistens durch ein Gallenblasenkarzinom oder ein cholangiozelluläres Karzinom bedingt. Ziel der Palliation ist die Vermeidung von Cholestase und Cholangitis. Hierzu werden im Rahmen einer ERC (endoskopisch retrograde Cholangiografie mit Duodenoskop) nach initialer Papillotomie Drainagen in den D. choledochus eingelegt, die
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die prästenotisch gestaute Galle ins Duodenum ableiten. Endoskopische Eingriffe an gestauten Gallenwegen sollten immer unter einer begleitenden Antibiose erfolgen (Amoxicillin, Piperacillin, Cephalosporine oder Ciprofloxacin).
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Maligne Stenose des Ductus choledochus Im Falle einer Choledochusstenose belegen mehrere randomisierte Studien – die größte bei 201 Patienten (Smith et al. 1994) – zum Vergleich eines chirurgischen Bypass (biliodigestive Anastomose) mit endoskopischem Stenting des Choledochus bei vergleichbarer Erfolgsrate von >90% eine deutlich geringere verfahrensbedingte Mortalität und Komplikationsrate verbunden mit einem kürzeren Krankenhausaufenthalt zugunsten der endoskopischen Stenteinlage. Implantiert werden v. a. kostengünstige Kunststoffstents (Außendurchmesser 7–11,5 F). Nachteilig ist die Verschlussrate, die einen regelmäßigen Stentwechsel etwa alle 3 Monate erforderlich macht. Der elektive Stentwechsel ist in aller Regel jedoch einfach, komplikationsarm und bedingt meist nur einen 1- bis 2-tägigen stationären Aufenthalt und kann grundsätzlich auch ambulant erfolgen. Eine Alternative zum Polyethylenstent ist die Implantation eines auf eine Lumenweite bis 10 mm
selbstexpandierenden Metallstents, der eine signifikant geringere Okklusionsrate hat (mediane Offenheit 273 versus 126 Tage; Davids et al. 1992). Die initiale Einlage eines Metallstents reduziert die Zahl endoskopischer Eingriffe um fast ein Drittel, sie sind jedoch deutlich teurer und nicht entfernbar. Die Wahl eines geeigneten Stents muss deshalb individuell anhand des Lokalbefundes, des Allgemeinzustandes und der Prognose des Patienten überlegt werden. Problematisch kann die maligne Choledochusobstruktion bei Patienten nach rekonstruktiven chirurgischen Eingriffen (BII-Resektion, Whipple-Operation, Gastroenterostomie) sein, da der Gallengang konventionell-endoskopisch per Duodenoskop für die ERC häufig nicht erreichbar ist. In diesen Fällen gelingt die ERC in etwa 70–80% der Fälle mit einem Doppel-Ballonoder Single-Ballon-Endoskop (Aabakken et al. 2007; Emmett et al. 2007; Maaser et al. 2008). Nur wenn die Darstellung des D. choledochus auf konventionell-endoskopischem Weg nicht möglich ist, sind die perkutane transhepatische CholangioDrainage (PTCD) oder – in selektierten Fällen – die endosonografisch gesteuerte transgastrale Drainage der linksseitigen Gallenwege palliative Alternative.
. Abb. 24.10. Endoskopische Gallengangdrainage bei Hilustumor. a, b 50-jähriger Patient mit etwa 3 cm langer perihilärer Gallengangstenose, die sich in 4 intrahepatische Segmente fortsetzt. Alle 4 Segmente sind prästenotiosch dilatiert (a). Segmentdrainage durch 4 Kunststoffdraina-
gen (b). c, d Hepatikusgabelstenose durch CC, Bismuth II (keine Stenose von intrahepatischen Segmentästen). Metallstenteinlage zunächst in den D. hepaticus sinister (c), anschließend in den D. hepaticus dexter (d, Stent-in-Stent).
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Kapitel 24 · Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie
Hepatikusgabelstenose und intrahepatische Gallenwegsstenosen Die endoskopische Drainage mit Kunsstoffstents (Außendurchmesser 7–11,5 F) im Rahmen einer ERCP ist der Standard auch der Gallenwegsdrainage bei Hepatikusgabelstenosen oder hilusnahen intrahepatischen Gallengangstenosen. Wie bei der Choledochusdrainage müssen die Stents alle 2–3 Monate gewechselt werden. Im Falle von Hepatikusgabelstenosen und insbesondere, wenn mehrere Segmente der Leber betroffen sind, kann es erforderlich werden, mehrere Drainagen zu legen (. Abb. 24.10). In einer größeren retrospektiven Studie mit 61 Patienten verdoppelte die Drainage beider Leberlappen im Vergleich zur einseitigen Drainage die Überlebenszeit bei Patienten mit malignen Hilusstenosen (Chang et al. 1998). Sinnvoll ist eine Drainage nur bei prästenotischer Erweiterung eines Gallengangs. Zur optimalen Planung einer solchen ERC kann es im individuellen Fall hilfreich sein, vorher per Sonografie oder MRT zu schauen, welche Gallengänge intrahepatisch aufgestaut sind. Grundsätzlich ist auch die endoskopische Metallstentimplantation bei Stenosen der Hepatikusgabel möglich. Sinnvoll ist dies aber nur bei Hilusstenosen, die nicht auf die Abgänge der intrahepatischen Segmente übergreifen. Der Eingriff ist technisch anspruchsvoll, die entfalteten Metallstents dürfen keinen intrahepatischen Gallengang komprimieren, müssen also sehr genau gelegt werden: Entweder werden zwei Metallstents nebeneinander mit der Spitze in den rechten und linken Gallengang gelegt – diese können auch gecovert sein-, oder man kann auch ein Y-förmiges Stent-in-Stent-System verwenden (immer ungecovert).
Cholangioläres Karzinom des Leberhilus: Endoskopische Drainage und photodynamische Therapie (PDT) Zwei Drittel der Cholangiokarzinome (CC) liegen perihilär (»Klatskin-Tumor«), ein Viertel extrahepatisch und der Rest primär intrahepatisch. Das perihiläre CC geht mit einer schlechten Prognose einher. Auf den D. choledochus und die Bifurkation begrenzte Tumore sind kurativ resezierbar, hohe Rezidivraten bedingen jedoch ein 5-Jahres-Überleben von nur bis zu 30%. 70–80% der Patienten zeigen bereits bei Diagnose eine Beteiligung intrahepatischer Gallengänge und sind nicht kurativ operierbar. Das CC infiltriert meist den Leberhilus mit konsekutiver refraktärer obstruktiver Cholestase und Tod durch septische Cholangitis oder Leberversagen. Die Tumorausbreitung entlang oder innerhalb der intrahepatischen Gallenwege ist der führende komplizierende Faktor, der das Überleben limitiert (zur Übersicht: Kolligs et al. 2008). Das mediane Überleben beim nicht resektablen Tumor beträgt drei Monate ohne Intervention und etwa 6 Monate mit biliärer Drainage durch endoskopisch plazierte Kunststoffdrainagen. Die Effektivität bisheriger Chemotherapien ist marginal und die der Strahlentherapie sehr kontrovers. Beim CC ist deshalb die endoskopisch biliäre Drainage durch ein oder mehrere Kunststoffstents verbunden mit einer Antibiotikatherapie im Falle einer manifesten Cholangitis derzeit Therapiestandard. Die endoluminale photodynamische Therapie (PDT, . Abb. 24.11; J. Schirra, LMU München) mit dem nicht toxischen Hämatoporfimer Photofrin II als Photosensitizer ist darüber hinaus eine mittlerweile etablierte effektive palliative Therapie des fortgeschrittenen CC. Die PDT verlängert die mediane Überlebenszeit von 6 Monaten mit biliärer Draiange auf 12–18 Monate
. Abb. 24.11a–e. Photodynamische Therapie (PDT) bei cholangiozellulärem Karzinom (CC). a Stenose des D. hepatocholedochus mit fehlender Darstellung (Abgangsstenosen, ??) des rechten und linken intrahepatischen Gallengangs. Prästenotischer Leberabszess, initial noch von außen drainiert; b Drahtgeführte Sondierung und PDT der relevanten Stenosen;
↑ Lichtleitermarkierungen; c interne Drainage der Hepatikusgabel und des Leberasbzesses nach PDT; d mit Laser illumierter Lichtleiter; e endoskopische Sicht auf Papille, hier sondiert mit Lichtleiter und mehreren Führungsdrähten
497 24.2 · Prophylaxe, Therapie und Palliation gastrointestinaler Tumoren
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zung für die Listung ist neben einer Tumorbegrenzung auf den Hilus (<3 cm) und fehlenden Lymphknotenmetastasen eine kontrollierte neoadjuvante Therapie, idealerweise im Rahmen eines Studienprotokolls. In der bislang einzigen größeren kontrollierten Studie wurden nach neoadjuvanter Therapie mit endoluminaler Brachytherapie (Yttrium) und externer Radiochemotherapie 38 von 71 Patienten lebertransplantiert mit einem 5-Jahres-Überleben von 82% (Rea et al. 2005). Es existieren auch erste Ansätze mit der neoadjuvanten Porfimer-PDT (Wiedmann et al. 2003). Klinische Studien müssen diese neue Indikation für die endoluminale Therapie beim CC erhärten.
mit zusätzlicher photodynamischer Tumortherapie (Berr et al. 2000; Ortner et al. 2003; Wiedmann et al. 2004; Witzigmann et al. 2006). Intravenöses Photofrin II akkumuliert nach 48 Stunden mit einem Faktor von 2,3:1 in Tumorzellen des CC. Unter lokaler Applikation von Laserlicht – endoskopisch appliziert über dünne (OD 400 μm) zylindrische Lichtdiffusoren – wird die Lichtenergie durch den Photosensitizer absorbiert und auf Sauerstoff übertragen. Hochreaktive Sauerstoff-Intermediate (Singulett-Sauerstoff) führen durch Reaktion mit Amino-, Fett- und Nukleinsäuren über Nekrose und Induktion von Apoptose zum Zelltod. Darüber hinaus werden immunologische Mechanismen für die Wirkung diskutiert. Die PDT erweitert signifikant Gallengangstenosen und erleichtert dadurch den Gallefluss und die Gallengangsdrainage. Die Tiefenwirkung beträgt 3–4 mm; innerhalb dieser Zone konnte nach PDT kein vitaler Tumor mehr gefunden werden (Wiedmann et al. 2003). Zusätzlich werden immunologische Phänomene diskutiert (van Duijnhoven et al. 2003). Neben dem Überleben hat die PDT auch positive Effekte auf das Ausmaß der Cholestase und die Lebensqualität. Die PDT kann wiederholt werden mit Tumoransprechraten von etwa 75%. Nachteil der Porfimer-PDT ist die 6- bis 8-wöchige generalisierte Lichtempfindlichkeit der Patienten. Aufgrund der Effektivität und der fehlenden Toxizität des Photosensitizers ist die PDT derzeit Behandlung der Wahl in der Palliation des inoperablen hilären CC. Seit 2006 können inoperable Patienten mit Hilustumor eines CC gelistet werden für eine Lebertransplantation. Vorausset-
Transmurale EUS-geführte Drainage in der Onkologie Transmural können alle zystischen Verhalte drainiert werden, die der Wand von Ösophagus, Magen, Duodenum, Jejunum unmittelbar anliegen. Am häufigsten erfolgen sie als transgastrale Drainagen. Im Rahmen der Onkologie ermöglicht die transgastrale Drainage z. B. eine palliative Gallenwegsdrainage bei tumorinduzierter Cholestase, wenn die Papilla Vateri endoskopisch nicht erreicht werden kann. Dies gilt insbesondere für die linksseitigen Gallenwege, die auch per PTCD nur mit erhöhtem Risiko punktiert werden können (Kahaleh et al. 2006; Will et al. 2007). Andere Beispiele aus der Onkologie sind postoperative Verhalte und Biliome (. Abb. 24.12; J. Schirra, LMU München). Die Punktion erfolgt unter endosonografischer Sicht (EUS), sodass etwaig zwischenliegende Gefäßstrukturen gut erkannt werden können. Die Drainage erfolgt dann mit Metallstents oder mit Kunststoffstents
. Abb. 24.12. Endosonografisch gesteuerte transgastrale Drainage eines Bilioms nach erweiterter Hemihepatektomie links bei fibrolamellärem Leberkarzinom. a ca. 3 l-Verhalt, »markiert« durch einen endosonografisch eingelegten Führungsdraht; b transgastrale Drainage durch zwei
Kunststoffdrainagen (2) (1=Gallengandrainage); c endoskopische Sicht der Gastrostomie und der beiden transgastralen Zystendrainagen; d komplette Evakuation des nun luftgefüllten Verhalts 24 Stunden später. Drainage in situ
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Kapitel 24 · Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie
in den Magen. Die Methode hat eine hohe technische Erfolgsrate von etwa 90% und ist sehr nebenwirkungsarm. Bei 2297 aus 67 deutschen Zentren berichteten EUS-gestützten Interventionen betrug die Komplikationsrate 1,61% (Jenssen et al. 2008): davon Perforationen und Stentdislokationen in 0,44%, Blutungen in 0,44%, Pseudozysteninfektionen in 0,52%. Die Entscheidung zur transluminalen Ableitung sollte in Zusammensicht der lokal vorhandenen interventionellen Expertisen und der Situation des Patienten individualisiert erfolgen. Perkutane biliäre Drainage/Stenteinlage Die meisten Patienten, bei denen ein Gallengangsverschluss aufgrund eines malignen Tumors bzw. von Metastasen diagnostiziert wird, sind bereits zum Zeitpunkt der Diagnosestellung nicht mehr operabel. Gerade bei diesen Patienten ist ein interdisziplinäres Vorgehen erforderlich, um eine massgeschneiderte Therapie anbieten zu können, deren Ziel es sein muss, dem Betroffenen in dieser palliativen Situation eine möglichst hohe Lebensqualität zu garantieren. Unbehandelt hat der maligne Gallengangsverschluss eine sehr schlechte Prognose bei der die Überlebenszeit von etwa 3–12 Monaten vor allem durch Leberversagen und Sepsis bei Cholangitis bestimmt wird (Hii et al. 2004). Die perkutane transhepatische Cholangiodrainage (PTCD) stellt eine effektive minimalinvasive Methode dar, mit der eine temporäre oder dauerhafte Entlastung des Gallengangssystems erreicht werden kann, ohne den Patienten zu sehr zu belasten oder einen langen stationären Aufenthalt nötig zu machen. Prinzipiell sind drei Möglichkeiten der perkutanen Gallenableitung möglich: 4 externe (Einwege-) biliäre Drainage; 4 kombinierte externe/interne (Zweiwege-) biliäre Drainage; 4 dauerhafte Stentimplantation. Gallengangstents werden heute bei malignen Strikturen der Gallengänge zunehmend häufiger eingesetzt, da sie eine schnelle Entlassung des Patienten in seine häusliche Umgebung ermöglichen. Darüber hinaus entfällt die externe Drainage, was neben dem Wegfall der Stigmatisierung des Patienten vor allem die häusliche Pflege erleichtert. Die endoskopischen Techniken für die Entlastung der Gallenwege wurden deutlich verbessert und weiterentwickelt. Die externen radiologisch-interventionellen Verfahren kommen vorwiegend dann zum Einsatz, wenn endoskopische Methoden nicht in Frage kommen bzw. nicht erfolgreich sind. Die MR-Bildgebung (Magnetresonanz-Cholangiopankreatikografie, MRCP) erlaubt bei klinisch vermuteter Obstruktion der Gallenwege eine nichtinvasive, genaue Abklärung, sodass weitere Maßnahmen genau geplant werden können (Hii et al. 2004; Hii et al. 2003; Isayama et al. 2004; Lammer et al. 1996; Levy et al. 2001).
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Indikationen Allgemein akzeptierte Indikationen für biliäre Drainagen oder Stentimplantationen bei malignem Ikterus umfassen inoperable Tumoren der Gallenblase oder der Gallenwege, Tumoren des Pankreaskopfes oder des Duodenums sowie Metastasen im Bereich von Leber oder Leberpforte sowie von Lymphknotenmetastasen innerhalb des Lig. hepatoduodenale. Zu einer Notfallindikation für die Durchführung der PTCD kann eine Superinfektion mit einer ausgeprägten Cholangitis werden, die schlimmstenfalls in eine Sepsis münden kann. Die Drainage erfolgt abhängig von der anatomischen Lage der jeweiligen Obstruktion. Bei distal ge-
legenen Stenosen kommt die ERCP zum Einsatz, während bei proximalen und hilären Läsionen oder solchen, die mit der ERCP nicht erreichbar sind, z. B. nach Billroth-II-OP oder Roux-YAnastomosen, eine perkutane Entlastung erfolgt. Falls möglich, sollte immer eine extern-interne oder besser noch eine rein interne Ableitung der Galle angestrebt werden, da es ansonsten zu einem Verlust von Flüssigkeit, Elektrolyten sowie von Gallensalzen kommen kann, was unter Umständen die Therapie des Patienten zusätzlich erschweren kann. Vor allem bei einer absehbar langfristigen palliativen Drainage ist eine interne Drainage erste Wahl, da sie den natürlichen enterohepatischen Kreislauf wiederherstellt. Die innere Schienung der Gallenwege durch einen von außen perkutan eingebrachten, selbstexpandierbaren Metallstent ist vorzuziehen, da es sich gezeigt hat, dass diese den Plastikstents vor allem hinsichtlich ihrer Offenheitsrate, aber auch ihrer Komplikationsrate, der Überlebenszeit des Patienten und ihrer Kosten überlegen sind. Darüber hinaus können mit Metallstents die typischen Probleme, die von Drainagekathetern verursacht werden (Dislokation und gallige Peritonitis, Obstruktion, Infektion und chronische Cholangitis) vermieden werden (Lammer et al. 1996). Aufgrund der angeführten Vorteile der Metallstents werden diese von den meisten Zentren als erste Wahl bei der Therapie von malignen Strikturen eingesetzt. Kontraindikationen Auch für die PTCD gelten die gängigen Kontraindikationen, die bei allen perkutanen Eingriffen zu berücksichtigen sind. Zu diesen gehören neben Blutgerinnungsstörungen (Quick-Wert unter 50%, PTT über 60 s), eine manifeste Thrombozytopenie (<70.000/ mm3), sowie die Einnahme gerinnungshemmender Substanzen. Muss die PTCD schnellstmöglich erfolgen, so empfiehlt sich eine Substitution mit Gerinnungsfaktoren bzw. eine Antagonisierung der gerinnungshemmenden Medikamente, da andernfalls schwerwiegende Blutungskomplikationen befürchtet werden müssen. Relative Kontraindikationen sind darüber hinaus das Vorliegen von Aszites, da hier eine mögliche Blutung entlang des Stichkanals wegen der Verdünnung nicht oder nur schlecht sistiert und die Leber mobiler ist, sodass es leichter zu einer Dislokation des Drainagekatheters kommt. Als relative Kontraindikation werden auch eine fortgeschrittene Metastasierung und ein insgesamt schlechter Allgemeinzustand des Patienten gesehen, da bei diesen Patienten keine Verbesserung quoad vitam erwartet werden kann. Allerdings bedürfen gerade diese Patienten häufig einer palliativen Maßnahme, insbesondere des Pruritus, weshalb in diesen Fällen die Indikation durchaus weiter gestellt werden kann. Technik Üblicherweise wird die PTCD unter Durchleuchtungskontrolle durchgeführt, wobei es sich empfiehlt, eine DSA-fähige Angiografieanlage zu verwenden, da diese üblicherweise über eine sehr gute Auflösung verfügen und die Möglichkeit bieten, interessierende Bildabschnitte zu vergrößern sowie Aufnahmeserien in Subtraktionstechnik anzufertigen. Bei dem Eingriff befindet sich der Patient in Rückenlage und erhält über einen sicheren i.v. Zugang eine Analgosedierung, wobei z. B. eine Mischung aus Dipidolor (Piritramid) oder Rapifen (Alfentanil) und Dormicum (Midazolam) verwendet werden kann. Bei eventuell notwendiger tiefer Analgosedierung ist eine Monitorkontrolle der Vitalparameter erforderlich. Darüber hinaus sollte der Patient eine einmalige periinterventionelle Antibiotikagabe (z. B. Refobacin, Ampicillin o. Ä.) zur Infektprophylaxe erhalten. Der gebräuchlichste
499 24.2 · Prophylaxe, Therapie und Palliation gastrointestinaler Tumoren
Zugangsweg ist der über das rechte Gallengangssystem. Dazu wird nach örtlichen Betäubung der Haut die Leber mit einer dünnen Nadel durch den Interkostalraum zwischen 9. und 10. Rippe punktiert und zunächst eine Cholangiografie mit verdünntem Kontrastmittel durchgeführt, mit der sich die Stenosierung(en) abgrenzen lassen. Anschließend wird mit unterschiedlichen Draht-Katheter-Kombinationen die Engstelle passiert und – je nach Intention zunächst eine Drainage oder sofort ein Stent eingebracht. Auch wenn moderne selbstexpandierende Stents innerhalb von spätestens 24 Stunden ihren Nominaldurchmesser erreichen, sollte eine Stenose zunächst mittels eines PTA -Ballon vorgedehnt werden, bevor der Stent platziert wird. Bei der Stentplatzierung ist darauf zu achten, dass der Stent die Stenose sicher überbrückt und 1–2 cm in das Duodenum ragt. Es empfiehlt sich auch bei einer sofortigen Stenimplantation zunächst für einige Tage eine Schutzdrainage zu belassen, um eine schnelle Entlastung des Gallengangssystems zu erreichen. Bei Stenosen der Hepaticusgabel sollte man einen bilateralen Zugang von links epigastrisch und von rechts wählen, damit beide Gallengangssysteme entlastet werden. Hier werden üblicherweise zwei Drainagen oder Stents parallel eingeführt, sodass die typische Y–Konfiguration am Röntgenbild zu sehen ist (Morgan et al. 2001). Permanente externe Drainagen sollten einmal wöchentlich kontrolliert werden, um eine Dislokation, ein Galleleck, mechanische Probleme (Bruch) oder Galleinkrustationen möglichst früh zu erkennen. Ergebnisse Die perkutane Gallenwegsdrainage kann in beinahe 100% der Fälle technisch erfolgreich durchgeführt werden, während eine endoskopische Sondierung nur in ca. 75–90% möglich ist (England et al. 1996; Mueller et al. 1982). Insgesamt lässt sich durch die PTCD ein signifikanter Abfall des Bilirubins und gleichzeitig eine Besserung der klinischen Symptome (Pruritus) innerhalb der ersten 10 Tage erzielen (Gunther et al. 1988) und ein chirurgisches Vorgehen bei vielen Patienten vermeiden (Besser et al. 2001). Perkutan eingebrachte selbstexpandierende Metallstents haben gegenüber Kunststoffstents deutliche Vorteile (Moss et al. 2006), wie eine längere Offenheitsrate, eine niedrigere Komplikationsrate aufgrund des kleineren Kalibers ihres Einführbestecks (7 French versus 10–12 French), und ein geringeres Risiko einer Dislokation und Migration (Lammer et al. 1996; Menon et al. 2001). Die offene Konstruktion der Metallstents begünstigt (theoretisch) das Einwachsen des Tumors und damit einen erneuten Verschluss des Gallengangssystems. Hinsichtlich möglicher Vorteile bei die Verwendung von gecoverten Stents ist die Studienlage derzeit uneinheitlich (Isayama et al. 2004; Morgan et al. 2001; Moss et al. 2006). Allerdings sind sich alle Autoren einig, dass die Implantation gecoverter Stents mit einer höheren Komplikationsrate (Pankreatitis, Cholangitis) sowie signifikant höheren Kosten verbunden ist. Strikturen am Leberhilus und im Bereich der Bifurkation des Ductus choledochus sind besonders schwierig zu behandeln, da es in diesen Fällen häufig nicht ausreicht, einen Stent bzw. eine Drainage zu platzieren. Häufig müssen bei diesen Patienten über einen beidseitigen Zugang zwei Drainagen bzw. zwei Stents eingebracht werden, um eine Cholangitis der nicht entlasteten Seite zu vermeiden (Morgan et al. 2001). Komplikationen Die besonders schwerwiegenden Komplikationen, die bei perkutanen Interventionen an den Gallenwegen auftreten können, hängen mit der initialen PTCD zusammen. Es wird eine Morta-
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lität zwischen 0–3% und eine Rate behandlungsbedürftiger Komplikationen zwischen 3,5 und 10% beschrieben. An Frühkomplikationen sind Blutungen, Sepsis und Gallelecks zu nennen. Seltene Ursachen für Komplikationen sind akzidentelle Verletzung angrenzender Organe (insbesondere Kolon, Niere und Lunge) oder Pankreatitiden. Häufig können eine selbstlimitierende Hämobilie, Fieber und eine transiente Bakteriämie auftreten, die aber meist keine weitere Therapie erfordern. Spätkomplikationen umfassen vor allem Dislokation von Drainagen, Fistelbildung, Stent- oder Drainagenokklusion und Perforation der Duodenalwand nach Stentimplantation (Morgan et al. 2001; Wagner et al. 1998; Winick et al. 2001). Chemoembolisation und Embolisation der Leber Das Management von Patienten mit primären oder sekundären Lebermalignomen ist eine der schwierigsten Aufgaben in der Onkologie. Die effektivste Methode zur primär kurativen Behandlung von malignen Lebertumoren ist die vollständige chirurgische Resektion oder die Lebertransplantation. Abhängig von der Tumorgröße, der Leberfunktion oder dem Befall der Portalvenen sind jedoch nur bis zu 20–25% der Patienten operativ therapierbar. Als palliative Maßnahmen kommen beim inoperablen Lebermalignom die systemische (intravenöse) Chemotherapie, die regionale (transarterielle oder portalvenöse) Chemotherapie, die Kombination aus Hyperthermie und lokaler Chemotherapie, die Katheterembolisation, die laserinduzierte Thermotherapie (LITT), die Radiofrequenzablation (RFA), die perkutane Tumorablation mit Äthanol sowie die selektive interne Strahlentherapie (SIRT) in Frage (Lencioni et al. 2001; Livraghi et al. 2002). Die interventionelle Radiologie bietet bei einer Reihe von inoperablen, typischerweise auf die Leber beschränkten Tumoren Behandlungsmöglichkeiten. Dazu zählen das hepatozelluläre Karzinom (HCC), Metastasen des kolorektalen Karzinoms, des okulären Melanoms, des Karzinoids sowie von Inselzelltumoren. Das am häufigsten eingesetzte interventionelle Verfahren zur Behandlung des nicht resektablen hepatozellulären Karzinoms ist die transarterielle (Chemo-)Embolisation [TA(C)E], die mit dem Ziel der Lebensverlängerung durchgeführt wird (Llovet et al. 2002; Bruix et al. 2004). Dabei macht man sich zu Nutze, dass das intakte Leberparenchym vorwiegend (zu 75%) über die Vena portae versorgt wird, während zahlreiche primäre und sekundäre Lebermalignome zu 80–100% über die Arteria hepatica versorgt werden. Dieses physiologische Prinzip der dualen Blutversorgung der Leber erlaubt in der Regel eine (Chemo-)Embolisation des Lebertumors ohne bzw. mit nur geringer begleitender Schädigung des gesunden Parenchyms. Als Embolisat wird üblicherweise ein Chemotherapeutikum gemischt mit Lipiodol selektiv in die tumorversorgende Arterie instilliert, anschließend können Gelatine oder Polyvinylalkoholpartikel (PVA) zur Okklusion der Feederarterie verabreicht werden (Brown et al. 2005). In zahlreichen Studien konnte gezeigt werden, dass Patienten in einem frühen Stadium der Erkrankung von der lokalen Embolisationsbehandlung stärker profitieren (. Tab. 24.2). Gegenüber chirurgisch implantierten Kathetersystemen für die regionale Chemotherapie ist die Flexibilität der kathetergestützten TACE im Hinblick auf die arterielle Versorgung der Leber von großem Vorteil. Die häufigen Gefäßvarianten der arteriellen Leberversorgung können bei fest implantierten Systemen zu einer inkompletten Perfusion der Leber oder einer Fehlperfusion in gastroduodenale Gefäße führen.
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Kapitel 24 · Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie
. Tab. 24.2. Signifikante prognostische Faktoren des Überlebens bei minimalinvasiver Behandlung des HCC im frühen oder intermediären Stadium. (Nach Grieco et al. 2005) Faktor
Variable
Mittleres Überleben (Monate)
p-Wert (Univariate Analyse)
HBVsAG
negativ/positiv
27,7/21,8
0,048
Albumin (g/dl)
<3,5/>3,5
22,3/29,6
<0,001
Gesamtbilirubin (mg/dl)
<1,5/>1,5
23,6/27,9
<0,001
Thrombozyten (x103/μl)
<100/>100
22,0/26,5
<0,041
Serum-AFP (ng/ml)
<22,5/>22,5
29,4/22,0
<0,001
Aszites
nein/ja
26,6/19,3
<0,001
Pfortaderthrombose
nein/ja
26,3/9,0
<0,001
Tumorgröße (cm)
<3,7/>3,7
26,3/21,9
<0,001
Anzahl der Leberläsionen
1/>1
27,8/22,7
<0,001
n=268 Patienten; PEI 49,2%; TACE 38,4%; RFA 5,2%; 7,2% supportive Therapie
Indikationen Für die Chemoembolisation/Embolisation eines primären oder sekundären Lebermalignoms sind die fehlende Resektabilität des Tumors und ein auf die Leber beschränkter Befall oder ein Scheitern einer systemischen Chemotherapie als Indikationen anzusehen (s. Übersicht). Weiterhin kann die TACE zur Vorbehandlung einer hepatischen Neoplasie vor Resektion, zur Vermeidung einer Tumorprogression vor Lebertransplantation (»bridging«), oder bei postoperativ verbliebenen Tumorresten oder auftretenden Randrezidiven eingesetzt werden. Die TACE hat ihren primären Stellenwert in der palliativen Behandlung hepatozellulärer Karzinome, ein Therapieversuch kann ebenfalls bei Lebermetastasen des Kolonkarzinoms, des okulären Melanoms, des Karzinoids und von Inselzelltumoren unternommen werden.
Das zu erwartende klinische Outcome der TACE ist abhängig von der Tumorlast (Tumorgröße, Gefäßeinbruch, AFP-Level), einer Beeinträchtigung der Leberfunktion (Child-Pugh, Bilirubin, Aszites), dem Allgemeinzustand des Patienten (Karnofsky Index, PST), und dem Ansprechen auf die Therapie (Llovet et al. 2002). Einschlusskriterien für die TACE sind eine erhaltene Leberfunktion (Child-Pugh A oder gutes Child B-Stadium) bei asymptomatischer multinodulärer Tumormanifestation. Die US-, CT- oder MR-gesteuerte perkutane interstitielle Therapie (LITT, Alkoholablation) oder Radiofrequenzablation von Lebertumoren wird zunehmend beim inoperablen HCC und fortgeschrittener Lebermetastasierung des kolorektalen Karzinoms wegen der oft stark eingeschränkten Leberfunktion durch Leberzirrhose (Kontraindikation für TACE) als einzige Therapieoption eingesetzt (Livraghi et al. 2002; Solbiati et al. 2001).
Indikationen und Kontraindikationen zur TACE
Indikationen 4 Fehlende operative Resektabilität 4 Hepatozelluläres Karzinom, Lebermetastasen des Kolonkarzinoms, des okulären Melanoms, des Karzinoids bzw. von Inselzelltumoren 4 Scheitern der systemischen Chemotherapie 4 Präoperative Vorbehandlung vor Resektion oder Radiofrequenzablation 4 Präoperatives Bridging vor Lebertransplantation 4 Postoperative Behandlung von Tumorresten bzw. Rezidiven
Kontraindikationen
4 Verschluss des Pfortaderhauptstamms 4 Hepatofugaler Fluss in der Pfortader 4 Deutlich reduzierter Allgemeinzustand (Karnofsky-Index <50%) 4 Floride Infektionen 4 Fernmetastasen oder Peritonealkarzinose 4 Obstruktiver Ikterus (Bilirubin >3 mg/dl) 4 Leberinsuffizienz (schlechtes Stadium Child B, Stadium Child C, Stadium Okuda III, Quick <40%, INR >2,3, massiver Aszites, Albumin <2,8 g/dl) 4 Knochenmarkinsuffizienz (Leukozytopenie <2000/μl, Thrombozytopenie <100×103/μl)
4 Tumorbefall der Leber >75% des Lebervolumens 4 Extrahepatisches Wachstum
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Kontraindikationen Als Kontraindikation für die TACE sind ein ausgedehnter Tumorbefall der Leber (>75%), ein extrahepatisches Wachstum, ein Verschluss des Pfortaderhauptstammes bzw. hepatofugaler Fluss, ein deutlich reduzierter Allgemeinzustand (Karnofsky-Index
<50%), floride Infektionen, bekannte Fernmetastasen oder eine Peritonealkarzinose, ein obstruktiver Ikterus (Bilirubin >3 mg/ dl), ein Leberinsuffizienz (schlechtes Child-B- oder Child-C-Stadium, Okuda III, Quick <40% bzw. INR >2,3, ein massiver Aszites, Albumin <2,8 g/dl) oder eine Knochenmarkinsuffizienz
501 24.2 · Prophylaxe, Therapie und Palliation gastrointestinaler Tumoren
anzusehen (Leukozytopenie, Thrombozyten <100000/μl) (Llovet et al. 2003; Group d’Etude 1995; s. Übersicht). Technik Eine (kurzzeitige) stationäre Aufnahme der Patienten ist bei der TACE zu empfehlen, um möglicherweise auftretende Komplikationen zu erfassen und ein Postembolisationssyndrom zu behandeln. Zur Beurteilung der aktuellen Tumorlokalisation und -ausdehnung sowie um Kontraindikationen (wie Pfortaderthrombose, intrahepatische Cholestase, ausgeprägter Aszites) auszuschließen, ist vor der Intervention eine genaue Diagnostik mit CT oder MRT erforderlich (. Abb. 24.13 und . Abb. 24.14). Als Prämedikation hat sich das zentral wirksame Antiemetikum Ondansetron (Zofran) bewährt. Zur Behandlung von Schmerzreaktionen kann während der Embolisation eine Analgosedierung (z. B. mit Midazolam und Fentanyl) erfolgen. Bei der Embolisation endokrin aktiver Tumormetastasen muss der Patient zur Vermeidung schwerer, u. U. lebensbedrohlicher Nebenwirkungen infolge Ausschüttung von Hormonmediatoren mit Octreotid (Sandostatin) prämediziert werden.
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Für die TACE ist eine qualitativ hochwertige, kontinuierliche Fluoroskopie und DSA erforderlich, damit eine schnelle Gefäßsondierung, eine Minimierung von Strahlendosis (für Arzt und Patienten) und Komplikationen, sowie eine gute Dokumentation des Embolisationsergebnisses möglich sind (. Abb. 24.15, 24.16 und 24.17). Zunächst sollte eine komplette angiografische Übersichtsdarstellung (DSA) der Oberbauchgefäße einschließlich der arteriellen Leber- und Tumorversorgung durchgeführt werden, da nur in etwa 50% der Patienten eine klassische Gefäßanatomie vorliegt. Mit der indirekten Splenoportografie oder Mesenteri-
. Abb. 24.15. Angiografischer (DSA) Nachweis eines teilweise hypervaskularisierten Tumors mit zuführendem Feeder (Pfeile)
. Abb. 24.13. In der MRT nodulär-enkapsuliertes, exophytisch wachsendes HCC (Pfeil) im Segment VI bei deutlicher Leberzirrhose und Splenomegalie
. Abb. 24.14. Im primären CT (portalvenöse Phase) großer, inhomogen KM-anreichernder Tumor im rechten Leberlappen (Pfeile)
. Abb. 24.16. Angiografisch disseminierte Lipiodolspeicherung im Tumor (Pfeile) bei Embolisation über die A. hepatica propria
502
Kapitel 24 · Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie
. Abb. 24.17. Nach 10 Zyklen TACE deutliche Lipiodolspeicherung und Abnahme der Hypervaskularisation (Pfeile)
coportografie ist ein orthograder hepatopetaler Fluss und eine freie Durchgängigkeit der Pfortaderäste nachzuweisen. Anschließend werden die tumorversorgenden Segment- und Subsegmentarterien – üblicherweise superselektiv mit Mikrokathetern in Koaxialtechnik – sondiert. Auf jeden Fall sollte eine Katheterlage distal des Abganges der Aa. cystica und gastroduodenalis angestrebt und ein Reflux des Embolisates während der Instillation vermieden werden. Eine große Anzahl verschiedener Substanzen und Protokolle wurden und werden zur TACE-Behandlung nicht resektabler Lebertumoren empfohlen. Doxorubicin, Mitomycin C, Cisplatin, Epirubicin und 5-Fluorouracil sind die am häufigsten eingesetzten Chemotherapeutika (Bruix et al. 2004; Brown et al. 2005; Liu et al. 2003). Durch die rasche Aufnahme in die Leber während der Chemoembolisation (hohe »first-pass-clearance«) wird eine bis zu 400-fache Konzentration des Agens in der Leber gegenüber der systemischen Zirkulation – mit entsprechend geringerer systemischer Toxizität – erreicht. Die therapeutische Effektivität der Zytostatika wird durch die höhere Dosis verbessert (steile Dosis-Response-Kurve). Nach selektiver Positionierung des Katheters im Feedergefäß des Tumorknotens oder in der zuführenden Arterie des tumor-
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. Abb. 24.18. a RFA-Sonde (Pfeil) in Ablationsposition. b Kontroll-CT 24 Stunden nach RFA zeigt die hypodense Nekrosezone des Ablationsareals (Pfeile), am medialen Rand verbliebener vitaler Tumoranteil. c Kontroll-CT nach TACE zeigt eine deutliche Speicherung des Embolisats in
tragenden Lebersegments wird unter fluoroskopischer Kontrolle die Mischung direkt intraarteriell instilliert. In der Literatur wird kontrovers diskutiert, ob dieses Vorgehen zusätzlich mit einer Embolisation der zum Tumor führenden Gefäße mit dem Ziel der Okklusion kombiniert werden sollte. Als resorbierbare Okklusionsmaterialien für die transarterielle Embolisation (TAE) oder Chemoembolisation (TACE) der Leber gelangen jodierte Fettsäureethylester (z. B. Lipiodol), Gelatine (Gelfoam), abbaubare Stärkepartikel (DSM; z. B. Spherex), Kollagen (z. B. Angiostat) zum Einsatz (Brown et al. 2005). Polyvinylalkoholpartikel (z. B. Ivalon) und Prolaminlösungen (z. B. Ethibloc) gehören zu den nicht resorbierbaren Embolisaten, weiterhin kann auch Äthanol eingesetzt werden. Diese Substanzen zeichnen sich durch eine unterschiedliche Okklusionswirkung aus: Nach intraarterieller Injektion des öligen Kontrastmittels Lipiodol wird dieses aufgrund pathologischer Kapillarveränderungen, Permeabilitätsstörungen mit Übertritt des Kontrastmittels in das Interstitium und reduzierter Lymphdrainage bei geschädigtem retikuloendothelialem System über Wochen selektiv im HCC gespeichert. Bei kombinierter Applikation von Lipiodol und eines Zytostatikums (in Form einer Emulsion) – sowie ggf. zusätzlich Gelfoam – wird die arterielle Blutzufuhr unterbrochen und das Zytostatikum kann im Tumorgewebe seine Wirkung länger entfalten (Brown et al. 2005). Die Alkoholablation (Äthanol 95%) von Lebertumoren erfolgt in der Regel transarteriell (Cheung et al. 2005) oder als perkutane Ethanolinjektion (PEI) (Lencioni et al. 1997). Sie wird auch präoperativ vor atypischer Leberresektion oder vor Radiofrequenzablation als TAE in Kombination mit Lipiodol/Ethiodol durchgeführt, um einen Verschluss des peripheren Gefäßbetts des Tumors und eine Demarkierung okkulter Tumorherde zu erreichen (Sturm et al. 2004). Die Kombination von TACE und anschließender PEI erzielt höhere Überlebensraten im Vergleich mit der alleinigen Anwendung der Verfahren (Greten et al. 2005). Die Responseraten betragen bei Tumoren mit einer Größe des HCC unter 2 cm 90–100%, bis zu 3 cm 70% und 50% bei einem Durchmesser von 5 cm (Blum 2005). Die Kombination von Radiofrequenzablation (RFA) und TACE (. Abb. 24.18) erzielt im Vergleich zu TACE kombiniert mit PEI besonders vielversprechende Ergebnisse (Llovet et al. 2000; Goldberg et al. 2002). Die TACE kann nach der RFA die Nekrosezone vergrößern und die Wahrscheinlichkeit eines Randrezidivs des Ablationsareals vermindern (Lencioni et al. 2001).
den medialen Abschnitten des Tumorherdes, der durch die RFA nicht vollständig erfasst wurde. Angeschlossen wurde eine weitere RFA zur vollständigen Ablation des Herdes
503 24.2 · Prophylaxe, Therapie und Palliation gastrointestinaler Tumoren
Ergebnisse Obwohl es Berichte über ein Langzeitüberleben nach TACE gibt, wird das Verfahren primär in palliativer Intention mit einem mäßigen Benefit für das kurzfristige Überleben eingesetzt. HCC
Ein signifikanter Tumorresponse bei HCC wird in 17–61,9% erreicht, jedoch kommt es selten zu einem kompletten Ansprechen (0–4,8%), da nach der TACE vitale Tumorzellen persistieren (Llovet et al. 2002; Bruix et al. 1998; Lin et al. 1988; Pelletier et al. 1998). Bis 1998 wurde die TACE in 6 randomisierten Studien mit der konservativen Therapie verglichen (Groupe d’Etude 1995; Bruix et al. 1998; Pelletier et al. 1998; Lin et al. 1988; Pelletier et al.1990; Madden et al. 1993). Alle Patienten hatten wenigstens einen Tumorherd über 4 cm oder einen multinodulären Befall. Trotz einer deutlichen antitumoralen Wirkung der TACE bestätigte keine Studie einen Unterschied bezüglich des Überlebens. Die zwei randomisierten Studien von Llovet et al. (2002) und Lo et al. (2002) mit einer stringenten Patientenauswahl konnten zeigen, dass sich das 1-Jahres-Überleben nach Chemoembolisation (Gelfoam und Doxorubicin) signifikant (p<0,01) auf 82 bzw. 57% erhöht, im Vergleich zur konservativen Therapie (63 bzw. 32%). Die kürzlich publizierte Metaanalyse von Llovet et al. (2003) konnte für 7 randomisierte Studien [T(A)CE vs. konservative Therapie] ein signifikant besseres 2-Jahres-Überleben bestätigen (Odds Ratio 0,53; 95% KI 0,32–0,89; p=0,017). Dabei zeigte sich ein signifikanter Benefit der TACE mit Cisplatin oder Doxorubicin, jedoch nicht bei alleiniger Embolisation ohne Zytostatikum. Wenige Studien geben eine 5-Jahres-Überlebensrate an, die zwischen 1–8% beträgt (Jansen et al. 2005). Metastasen des kolorektalen Karzinoms Die Ergebnisse der systemischen Chemotherapie sind bei nicht resektablen Lebermetastasen des kolorektalen Karzinoms unbefriedigend (Responserate 9–23%; mediane Überlebenszeit 8– 17 Monate), während für die intraarterielle Applikation des Zytostatikums (»hepatic arterial infusion«, HAI) über einen permanenten Infusionskatheter in der Literatur bis zum Jahr 2000 Responseraten von 34–62% und mediane Überlebenszeiten von 10–22 Monaten angegeben wurden (Müller et al. 2001). Kemeny et al. (2005) konnten eine signifikante Lebensverlängerung durch HAI (Floxuridine, Dexamethason, HochdosisMitomycin C) im Vergleich mit der systemischen Chemotherapie (Mediane Überlebenszeit 24,4 vs. 20 Monate; Tumorresponse 47 vs. 24%) nachweisen. Die bedeutsamsten toxischen Effekte waren Biliome (7,9%), eine Erhöhung des Serumbilirubins über 3 mg/dl (22%) und Gallengangssklerose (9,5%), während hämatologische und gastrointestinale Komplikationen nur in unter 2% beobachtet wurden. Einen positiven Effekt auf das Survival bei alleiniger TACE mit Lipiodol und Doxorubicin konnten die meisten Autoren bislang nicht bestätigen (Yamashita et al. 1993; Inoue et al. 1989), während Lang und Brown (1993) eine 2-Jahres-Überlebensrate von 53% und in 70% eine Stabilisierung der Metastasen über 1 Jahr erreichen konnten (Lang et al. 1993). Lebermetastasen des Karzinoids und endokriner Inselzelltumoren Für die TACE von Lebermetastasen von Karzinoiden und endokrinen Inselzelltumoren (APUDomen) werden in der Literatur
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mediane Überlebensraten von 13–80 Monaten berichtet (Gupta et al. 2005; Roche et al. 2003). Ein Langzeitüberleben kann durch wiederholte TACE-Sitzungen erzielt werden (Roche et al. 2003: Doxorubicin/Lipiodol 5-Jahres-Überlebensrate 83%; 10-Jahres-Überlebensrate 56%). Die Studie von Gupta et al. (2005) konnte einen Vorteil der TACE gegenüber der TAE mit PVA-Partikeln im Hinblick auf das Überleben (31,5 vs. 18,2 mediane Überlebenszeit), sowie einen Vorteil der Lebermetastasen von Karzinoiden gegenüber Inselzelltumoren im Hinblick auf das Therapieoutcome zeigen (Gupta et al. 2005). Die typische Beschwerdesymptomatik der Patienten mit hormonsezernierenden Lebermetastasen zeigt nach der TACE in 70 (Roche et al. 2003) bis 100% (Therasse et al. 1993) einen Rückgang. Eine begleitende Octreotidtherapie verlängert bei Patienten mit Karzinoiden das progressionsfreie Überleben (Gupta et al. 2005). Komplikationen Die transarterielle Chemoembolisation kann zu verschiedenen Nebenwirkungen bzw. Komplikationen führen: Die Letalität der TACE beträgt bis zu 40% bei einer Child C-Leberzirrhose (= Kontraindikation) im Vergleich zu unter 10% bei Patienten im Stadium Child A oder B. Das Postembolisationssyndrom mit Fieber, Oberbauchschmerzen und Erbrechen tritt in 40–90% auf. Ferner wurden eine Leberinsuffizienz mit Aszites (4–20%), ein Nierenversagen (1–10%), eine Cholezystitis (1–11%), Leberabszesse (2–5%), eine Sepsis (1–3%), gastrointestinale Blutungen (1–3%) oder Mesenterial- (1–3%) und Milzinfarkte durch Reflux des Embolisats, seltener intrahepatische Aneurysmen, eine Pankreatitis oder Tumorlysesyndrom beobachtet (Sturm et al. 2001). Enterale Sondenernährung in der Onkologie Ernährungsunterstützung – bevorzugt auf enteralem Weg – kann den Outcome bei ausgewählten onkologischen Patienten verbessern. Ein wahlloser Gebrauch von enteraler oder parenteraler Ernährung ist bei gut genährten Patienten oder solchen mit milder Malnutrition nicht indiziert. Von einer routinemäßigen Nahrungssubstitution bei Patienten mit einer fortgeschrittenen, inkurablen malignen Erkrankung sollte aufgrund des Risikos behandlungsbedingter Komplikationen und einer unklaren Evidenz für Überleben oder Lebensqualität abgeraten werden. Onkologische Patienten, die von einer zusätzlichen Ernährung zu profitieren scheinen, sollten folgende Kriterien erfüllen: 4 deutliche Mangelernährung oder Risiko einer Mangelernährung während der onkologischen Behandlung, 4 potenziell heilbare Erkrankung oder Erwartung einer längeren Remissionsperiode nach onkologischer Behandlung. Eine zusätzliche enterale Ernährung kann bei mangelernährten Patienten gerechtfertigt sein 4 im Rahmen eines größeren viszeralchirurgischen Eingriffs: Eine randomisierte Studie mit 317 Patienten zeigte trotz häufigerer ernährungsinduzierter Bauchbeschwerden eine deutlich geringere Inzidenz postoperativer Komplikationen (34 vs. 49%) und einen kürzeren Krankenhausaufenthalt (13 vs. 15 Tage) (Bozzetti et al. 2001). 4 während der Strahlentherapie bzw. Radiochemotherapie bei oropharyngealen Malignomen: Retrospektive bzw. unkontrollierte Studien zeigten einen geringeren Gewichtsver-
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Kapitel 24 · Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie
lust, eine höhere Lebensqualität und weniger Behandlungsabbrüche (Lee et al. 1998; Marcy et al. 2000). Ein Effekt auf die Überlebenszeit ist jedoch unklar. Der Nutzen einer zusätzlichen perioperativen Ernährung bei lokalisiertem Ösophaguskarzinom ist hingegen unklar und sollte im individuellen Fall entschieden werden. Wahl des enteralen Zugangswegs: nasal vs. perkutan Die kurzzeitige (<30 Tage) enterale Ernährung sollte bevorzugt über nasogastrale oder im Falle einer Magenentleerungsstörung über nasojejunale Sonden erfolgen. Ist eine längerfristige enterale Ernährung >30 Tage indiziert, ist ein perkutaner Zugang sinnvoll, der mit besserer Kosmetik, Mobilität und Lebensqualität einhergeht. Perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG) Voraussetzungen: Perkutane Sondenanlagen sind immer elektive Eingriffe. Voraussetzung ist eine ärztliche Aufklärung, die schriftliche Einverständnis des Patienten und ein Absetzen jeglicher gerinnungshemmender Medikamente. Der Quick sollte mindestens 50% sein, die Thrombozyten mindestens bei 50.000/ μl liegen. Eine präinterventionelle einmalige Antibiotikaprophylaxe (Cephalosporin) reduziert das Risiko einer Wundinfektion um 25%. Ausgeprägter Ascites, Gerinnungs- oder Wundheilungsstörungen oder ein pathologischer Punktionsbereich (Peritonealkarzinose, Peritonitis, Tumor, Entzündung) sind Kontraindikationen für eine perkutane Sondenanlage. Technik der endoskopischen perkutanen Sondenanlage Voraussetzung für die Anlage einer perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG) ist eine positive Diaphanoskopie und eine endoskopisch eindeutig sichtbare äußere Palpation. Dies minimiert das Risiko einer Verletzung von potenziell interponierten Organen (Leber, Kolon). Technik. Nach Hautdesinfektion, Lokalanästhesie, lokaler Hautinzision und endoskopisch kontrollierter Punktion der Magenwand mit einer dicklumigen Kanüle wird durch diese ein Faden eingeführt, der endoskopisch ergriffen und transoral nach außen gezogen wird. Die Gastrostomiesonde wird an dem Faden befestigt und auf umgekehrten Weg durch Ösophagus und Magenwand nach außen gezogen (Fadendurchzugsmethode). Eine innere Halteplatte verhindert eine Dislokation der Sonde nach außen, eine anschließend angebrachte äußere Halteplatte verhindert die Dislokation nach innen und komprimiert den Gastrostomiekanal. PEG/J. Bei der mit einer PEG kombinierten Jejunostomie wird eine dünnlumige Sonde durch die PEG geschoben und endoskopisch – bevorzugt unter Durchleuchtung – mit der Spitze distal des Treitz’schen Bandes, wenigstens aber im distalen Duodenum positioniert. Die PEG/J ist also eine doppellumige Sonde mit Zugang zum Magen und zum Intestinum.
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PEJ. Wie PEG, nur direkte Punktion des Jejunum (keine Gastrostomie). Cave: Die direkte endoskopisch perkutane Jejunostomie gelingt in 68% der Fälle und vermeidet dann eine chirurgische Katheterjejunostomie. Jedoch ist die Komplikationsrate mit etwa 10% beträchtlich. Diese Komplikationen beinhalten insbesonde-
re Dünndarmperforationen, Blutungen und schwierig zu behandelnde enterokutane Fisteln (Marcy et al. 2000). Die intestinale Ernährung in das distale Duodenum – besser ins Jejunum distal des Treitz’schen Bandes – verhindert intestinogastralen Reflux. Indikationen sind somit tracheale Aspiration und Refluxösophagitis, außerdem Gastroparese und somit postoperativ nach größeren viszeralen Operationen, gelegentlich auch Magenausgangsstenosen. Risiken Die PEG-Anlage gelingt komplikationslos in etwa 95% der Fälle. Häufigste Gründe für das Misslingen sind eine fehlende Diaphanoskopie oder eine endoskopisch nicht passierbare Stenose (Larson et al. 1987). Schwerwiegende akute Komplikationen sind selten (Blutungen ca. 0,6%, Magenwandhämatom ca. 0,3%). Wundinfektionen sorgen mit 6% für die häufigsten leichten Akutkomplikationen und sind in der Regel antibiotisch einfach beherrschbar. Ein Pneumoperitoneum findet man radiologisch bei etwa einem Drittel der Patienten; ohne klinsche Zeichen einer Peritonitis ist der Befund ohne Bedeutung und begründet nicht das Aussetzen der Sondenernährung. Im Zweifel kann die korrekte Sondenlage mit Kontrastmittel kontrolliert werden. Zwei sehr seltene, aber potenziell schwerwiegende Spätkomplikationen sind die nekrotisierende Fasciitis und die kolokutane Fistel. Die nekrotisierende Fasciitis entspricht einer Nekrose der oberflächlichen Fascie. Sie manifestiert sich meist 3–14 Tage nach PEG-Anlage und imponiert klinisch mit hohem Fieber, einem Hautödem und eventuell einer lokalen Krepitation. Ohne sofortige aggressive Behandlung durch chirurgisches Debridement ist die Mortalität hoch. Risikofaktoren sind Diabetes mellitus, Adipositas, schlechter Allgemeinstatus, eine fehlende prophylaktische Antibiotikagabe, exzessiver Zug an der PEG-Sonde und eine zu kleine abdominelle Hautinzision. Eine kolokutane Fistel wird häufig erst Monate nach PEG-Anlage bemerkt durch plötzliche Diarrhoe nach Sondenernährung. Die Therapie besteht im Entfernen der Sonde und Beobachtung: Die Fistel verschließt sich in der Regel spontan. Umgang mit einer Gastrostomie Eine unkomplizierte PEG-Anlage und Darmgeräusche vorausgesetzt kann die Sondenernährung 6–12 Stunden nach Anlage aufgenommen werden. Bei einer Gastrostomie ist die intermittierende Ernährung (Bolus über 30–60 min) physiologisch und sinnvoll; auf schnelle Bolusgaben (10–15 min) sollte wegen hoher Reflux- und Aspirationsgefahr verzichtet werden. Bei der jejunalen Ernährung via Jejunostomie ist eine kontinuierliche Ernährung mittel Ernährungspumpe obligat. Die Sonden sollten nach jeder Mahlzeit, wenigstens aber einmal am Tag gespült werden (z. B. 30 ml lauwarmes Wasser oder Tee). Säurehaltige Flüssigkeiten dürfen nicht perfundiert werden, Medikamente können gemörsert oder flüssig über eine Gastrostomie appliziert werden. Tabletten sollten auch gemörsert nicht über eine Jejunostomie verabreicht werden. Eine Gastrostomie sollte regelmäßig auf festen Sitz überprüft werden, um Wundheilungsstörungen oder – später – Hautreizungen durch Magensekret zu vermeiden. Eine Gastrostomie darf frühestens nach 2 Wochen, besser 4 Wochen entfernt werden, wenn der gastrokutane Kanal verheilt ist, da sonst peritoneale Fisteln drohen. Jejunostomien sollten frühestens nach 4 Wochen entfernt werden.
505 24.3 · Interventionelle Therapie zentralvenöser Stenosen
24.3
Interventionelle Therapie zentralvenöser Stenosen
Zentralvenöse Stenosen sind im Vergleich zu Stenosen des arteriellen Kreislaufs selten. Die Symptome einer zentralvenösen Stenose zeigen sich in Abhängigkeit ihrer Lage in der Vena cava inferior oder superior als Einflussstauung der oberen oder unteren Körperhälfte mit diffusem Ödem, venöser Kongestion und Ausbildung von venösen Umgehungskreisläufen. Es liegen nur wenige Zahlen zur Inzidenz vor. Bei zentralvenöser Katheteranlage wird die Inzidenz um 7% geschätzt (Gonsalves et al. 2003), in diesen Fällen liegen Erfahrungen zur Therapie vor (Oderich et al. 2000; Sprouse et al. 2004). Langfristig intravenös verbleibende Fremdkörper, wie Elektrodenkabel eines Herzschrittmachers, sollen in bis zu 45% der Fälle zu Stenosen führen (Da Costa et al. 2002). Bei onkologischen Patienten ist die Ursache neben venösen Thrombosen nach Anlage zentralvenöser Katheter eine Kompression der Vena cava inferior/superior durch tumoröse Raumforderungen oder eine Verlegung nach Tumoreinbruch in die Vene. Sehr selten sind Malignome der Venenwand selber (Leiomyosarkome) oder eine Fibrosierung nach Bestrahlung die Ursache venöser Stenosen. Indikationen Meist tritt eine zentralvenöse Stenose beim onkologischen Patienten erst im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung auf. Die Indikation zu interventionellen Maßnahmen ist somit überwiegend unter palliativen Gesichtspunkten zu sehen. Im Gegensatz zu den umfangreichen und fundierten Studien bei arteriellen Stenosen ist die Studienlage bei venösen Stenosen spärlich. Es liegen lediglich Fallserien mit kleinen Kollektiven vor, diese zudem größtenteils mit narbigen Stenosen als Folge zentralvenöser Katheter bei dialysepflichtigen Patienten. Es liegen keine derartigen Daten bei onkologischen Patienten vor. Ausgehend von der andersartigen Ätiologie kann im Falle einer malignen Stenose aufgrund eines austherapierten, progredienten Tumorleidens auch eine prophylaktische Stentimplantation in eine noch nicht symptomatische Stenose diskutiert werden. Die Indikation muss individuell gestellt werden und sollte interdisziplinär Onkologen, Chirurgen und interventionelle Radiologen einschließen. Stent oder kein Stent? Die vorliegenden Publikationen zu diesem Thema (Greillier et al. 2004; Lanciego et al. 2001; Smayra et al. 2001; Thony et al. 1999; Wilson et al. 2002) zeigen bei Patienten mit malignen Stenosen der Vena cava gute Erfolge der Stentimplantation, sofern diese technisch korrekt erfolgt. Die genannten Arbeiten berichten eine rasche Linderung der Symptomatik und gute Offenheitsraten über einen Zeitraum von 6 Monaten. Ausgehend vom palliativen Ansatz sollte die Lebensqualität und somit eine Vermeidung von wiederholten Interventionen ein zentrales Therapieziel sein. Unter diesem Aspekt erscheint eine Stentimplantation, auch ohne das Vorliegen von Daten über die langfristigen Offenheitsraten, in den meisten Fällen sinnvoll. Kontraindikationen Kontraindikationen stellen Stenosen in der Nähe der Vorhofeinmündung der Vena cava superior/inferior bzw. der Einmündung der Nierenvenen. Da in den meisten Fällen eine permanente Dilatation der Stenose nur durch Implantation eines Stents zu erzie-
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len ist, muss ein Sicherheitsabstand zur Vorhofeinmündung erhalten bleiben, um eine sichere Verankerung des Stents zu gewährleisten und eine Migration in das Herz zu vermeiden. Ein Überstenten der Nierenvene ist zu vermeiden, um diese nicht einer erhöhten Thrombosegefahr auszusetzen. Ebenso wie bei anderen intravaskulären Eingriffen stellen die nicht behebbare schwere Koagulopathie, insbesondere in Anbetracht der benötigten großlumigen Zugänge, Sepsis oder systemische Infektionen sowie Allergien gegen die im Rahmen der Prozedur eingesetzte Medikamente (Lokalanästhetika, jodhaltige Röntgenkontrastmittel) weitere Kontraindikationen dar. Diagnostik Entwickeln Patienten die Symptome einer zentralvenösen Stenose, ist die Sonografie mit Doppler- und Duplexsonografie die primäre diagnostische Modalität. Bei guten Untersuchungsbedingungen können die stammnahen Venen der oberen und unteren Extremität und des Halses, ihre Einmündung in die zentralen Venen und die Vena cava inferior und ihre größeren Einmündungen auch hinsichtlich ihrer Flussdynamik gut beurteilt werden. Ihre Einschränkungen erfährt die Sonografie im Bereich der nur schlecht einsehbaren Vena cava superior. Als zweite Stufe ist die Mehrzeilen-Computertomografie (MSCT) mit intravenöser Kontrastmittelgabe angezeigt. Die MSCT ist eine sehr aussagefähige Methode, um die großen Gefäße des Körperstamms genau darzustellen und bietet eine Fülle weiterer Informationen, z. B. über die Tumorausdehnung und Metastasen. Die Untersuchung sollte als venöse CT-Angiografie erfolgen, je nach Lage der Stenose kann die Kontrastmittelgabe über eine periphere Vene des Arms oder die Vena femoralis communis erfolgen. Es hat sich bewährt, die gesamte Vena cava superior und inferior inklusive der kaudalen Halsabschnitte und der Oberschenkel bis zum Trochanter major in der Äquilibriumphase (ca. 90–120 Sekunden nach Kontrastmittelinjektion) darzustellen, um die Gefäße für den iliacalen oder zervikalen Zugang beurteilen zu können. Multiplanare Reformatierungen in der koronaren und sagittalen Ebene sind hilfreich um die Ausdehnung der Stenose sowie deren Ursache zu erfassen. Die kontrastverstärkte dynamische Kernspinangiografie (MRA) kann die Vorteile einer Flussdarstellung mit guter Darstellung der Morphologie kombinieren. Einschränkend muss berücksichtigt werden, dass die schwerkranken Patienten die relativ langen Untersuchungszeiten, insbesondere bei Darstellung der gesamten Vena cava, schlecht tolerieren können. Eine Cavografie kann durchgeführt werden, wenn keine ausreichend leistungsfähige Schnittbildgebung zur Verfügung steht, sie ist jedoch in der Primärdiagnostik nicht mehr zwingend notwendig. Technik Die Ballondilatation und Stentimplantation in zentralvenöse Stenosen unterscheidet sich in ihren Grundzügen nicht von der perkutanen transluminalen Angioplastie (PTA) arterieller Stenosen. Nach Passieren der Stenose mit einem geeigneten Führungsdraht wird über diesen ein Ballon bzw. Stent eingebracht und entfaltet (. Abb. 24.19 bis 24.22). Die Unterschiede im Aufbau der Arterien und Venen bedingen Besonderheiten, die beachtet werden müssen, um eine Intervention erfolgreich und komplikationslos durchführen zu können. Die großen zentralen Venen des Körpers verfügen als Niederdruckabschnitt des Kreislaufs nicht über die stabile Wand der arteriellen Gefäße. Infolge dessen treten stärke-
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Kapitel 24 · Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie
re Schwankungen des Lumens auf, die von verschiedenen Faktoren beeinflusst werden, wie z. B.: Atem- und Herzzyklus, Hydratationsstatus und orthostatischer Druck. Dies muss bei der Abschätzung sowohl des Ballon- als auch des Stentdurchmessers bedacht werden. Ein zu klein gewählter Stent wird dislozieren, ein zu groß gewählter Ballon erhöht aufgrund der geringeren Stabilität der Venenwände die Gefahr einer insbesondere im Bereich der thorakalen zentralen Venen möglicherweise fatal verlaufenden Gefäßruptur. Aus diesem Grunde muss die Anwendung von Spezialballons wie dem Cutting Balloon oder Hochdruckballons bei Stenosen durch äußere Kompression durch einen Tumor unterbleiben. Die . Abb. 24.19 bis 24.22 zeigen den Ablauf einer Intervention. Als Zugangsweg eignen sich die Vena femoralis communis oder die Vena jugularis interna gleichermaßen, die Wahl sollte hauptsächlich von der Lage der Stenose abhängig gemacht werden. Die Zugangsschleuse muss ausreichend groß gewählt werden, um Ballons und Stents mit einem Durchmesser bis über 20 mm einsetzen zu können, i. Allg. bedingt dies den Einsatz von
Schleusen mit 12–14 French Innendurchmesser. Lange Interventionsschleusen ermöglichen in komplizierten Situationen nach Vordilatation eine Passage über die Stenose und geschützte Platzierung des Stents. Dies vermeidet bei ballonexpandierbaren Stents ein Abstreifen des Stents vom Ballon. Eine Empfehlung zur Stentauswahl kann aus den vorliegenden Daten nicht abgeleitet werden. Der Durchmesser des Stents ist der bei weitem wichtigste Parameter. Die Größenabschätzung hat in dem Wissen zu erfolgen, dass eine weitere Therapie der Grunderkrankung zur Schrumpfung des Tumors und damit Erweiterung der Vene führen kann. Die Stentgröße muss daher an der nicht komprimierten Vene abgeschätzt werden. Wir setzen derzeit nur ballonexpandierbare Stents (Palmaz XXL, Cordis Endovascular) ein. Ob der Einsatz gecoverter Stents einen Vorteil bietet, ist nicht hinreichend untersucht. Im Gegenteil erscheint uns bei gecoverten Stents eine schlechtere Verankerung an der Venenwand die Gefahr einer Stentmigration zu erhöhen. Eine Vordilatation sollte bei hochgradigen Stenosen erfolgen, da der Versuch, eine nicht ausreichend dilatierte Stenose zu passieren, bei ballonmontierten Stents zum Abstreifen des Stents
. Abb. 24.19. Axiale CT-Schichten aus der prä-interventionellen Untersuchung: Stenose der Vena cava superior (Pfeile) durch ein fortgeschrittenes zentrales Bronchialcarcinom mit ausgeprägter oberer Einflussstauung
. Abb. 24.20. Katheter zur präinterventionellen Darstellung kranial der Stenose platziert
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. Abb. 24.21. Implantierter Palmaz XXL-Stent mit 16 mm Durchmesser. Im zentralen Stentabschnitt keine vollständige Aufdehnung, um das Risiko einer venösen Ruptur zu vermindern. Das vollständig entfaltete kraniale und kaudale Ende des Stents gewährleisten eine sichere Verankerung
507 24.4 · Katheterembolisation von Skelett- und Weichteiltumoren
. Abb. 24.22. Abschließende Kontrolle zeigt eine ausreichende Wiederherstellung des Lumens mit raschem Abstrom des Kontrastmittels. Die Symptome der oberen Einflusstauung bildeten sich in kurzer Zeit vollständig zurück
und folgender Dislokation führen kann. Die Passage einer langen Schleuse durch die Stenose zur geschützten Platzierung des Stents erfordert ebenfalls eine ausreichende Vordilatation. Bei der Platzierung des Stents ist auf einen ausreichenden Sicherheitsabstand zur Einmündung in den rechten Vorhof zu achten. Der Stent sollte auf seiner ganzen Länge, mindestens jedoch am Stentein- und -ausgang, sicher der Venenwand anliegen, um das Risiko einer Migration und folgenden Embolisation zu vermindern. Der Wert einer postinterventionellen Plättchenaggregationshemmung nach venöser Stentimplantation kann anhand der vorliegenden Daten nicht beurteilt werden. In Anbetracht der niedrigen Flussgeschwindigkeit in den Venen mit langem Kontakt der Thrombozyten mit dem thrombogenen Stentmaterial, einer möglicherweise zusätzlichen paraneoplastischen Thrombophilie und des günstigen Risikoprofils erscheint die einmal tägliche Gabe von 100 mg Acetylsalicat p.o. empfehlenswert, sofern nicht anderweitige Kontraindikationen vorliegen. Komplikationen Nachblutungen an venösen Punktionsstellen sind aufgrund des niedrigen intravenösen Drucks wesentlich seltener als bei arteriellen Punktionen, in Anbetracht der oft großlumigen Einführbestecke ist dennoch auf eine sorgfältige und ausreichend lange manuelle Kompression des Punktionskanals zu achten. Für den Einsatz von Verschlusssystemen liegen initiale Erfahrungen mit Nahtsystemen (Perclose, Abbott Pharmaceuticals) vor, die bei Einführbestecken bis 14 French gute Erfolge erzielten (Shaw et al. 2004). Für andere Verschlusssysteme liegen keine Erfahrungen vor. Akzidentelle arterielle Punktionen können an der Vena femoralis durch ausreichend lange manuelle Kompression behandelt werden. Fehlpunktionen der Arteria carotis communis bei zervikalem Zugang können durch Kopftieflage und ggf. sonografisch gesteuerte Punktion vermieden werden. Vereinzelt wur-
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den auch in Fällen einer arteriellen Fehlpunktion erfolgreich Verschlusssysteme eingesetzt (Leijdekkers et al. 2006; Nicholson et al. 2004). Erfahrungen mit derartigen Systemen an der Arteria carotis communis liegen nicht vor, vom Einsatz ist daher abzuraten. Die häufigste beschriebene Komplikation ist die Migration eines implantierten Stents (Lanciego et al. 2001; O’Brian et al. 2005; Smayra et al. 2001; Srinathan et al. 2005). Insgesamt kann die Komplikationsrate durch Stentmigration anhand der vorliegenden Literatur auf weniger als 1% geschätzt werden. Als Ursache sind hauptsächlich Stents mit zu kleinem Durchmesser anzusehen, die an der elastischen Venenwand keine ausreichende Verankerung finden. Pulsationseffekte in herznahen Venen können durch Lumenschwankungen eine Stentmigration begünstigen. Die früher berichtete Verkürzung von Stents insbesondere in narbigen Stenosen (Verstandig et al. 2003) dürfte in erster Linie auf die verwendeten Wallstents zurückzuführen sein und sollte mit modernen und in ihrer Größe gut angepassten Stents nicht in diesem Maße auftreten. Eine balloninduzierte Ruptur der Vena cava ist als extrem seltene, jedoch potenziell letale Komplikation anzusehen, in der Literatur sind lediglich Einzelfälle berichtet (Brown et al. 2005). Bei der Abschätzung der Ballongröße sollte bedacht werden, dass ein von einer Seite die Vene komprimierender Tumor zu einer lokalen Arrosion und Schwächung der Venenwand führen kann, wie auch zu einer asymmetrischen Ballonentfaltung mit Überdehnung der gegenüberliegenden Seite. Im palliativen Setting ist eine vollständige Wiederherstellung des Lumens nach unserer Erfahrung nicht zwingend erforderlich, um die Symptome zu lindern. Eine Lazeration der thorakalen Aorta durch eine perforierende Stentstrebe eines Palmaz-Stents ist nur in einem einzigen Fall beschrieben (Evans et al. 2000). Fazit Die perkutane Dilatation und Stentimplantation in zentralvenöse Stenosen stellt eine sichere und erfolgversprechende Therapie auch bei onkologischen Patienten dar. Die Stentimplantation ist einer reinen Ballondilatation überlegen. Aufgrund der meist fortgeschrittenen Erkrankung der Patienten liegen jedoch keine Daten zu Offenheitsraten der Stents über 6 Monate vor. Um Komplikationen zu vermeiden, sollte die Stentimplantation nur durch erfahrene Interventionalisten erfolgen. Bei der Auswahl des Stents kann keine eindeutige Empfehlung ausgesprochen werden, sie sollte unter dem Gesichtspunkt eines ausreichenden Durchmessers erfolgen, der auch bei einem unter Therapie möglicherweise schrumpfenden Tumor eine sichere Verankerung des Stents in der Vene gewährleistet.
24.4
Katheterembolisation von Skelettund Weichteiltumoren
Indikationen Die transarterielle Embolisation wird zur päoperativen Embolisation stark vaskularisierter, maligner Skelett- und Weichteiltumoren mit dem Ziel der Reduktion des intraoperativen Blutverlustes bzw. Erleichterung der Operation durchgeführt (Breslau et al. 1995; Gorich et al. 1995; Guzman et al. 2005; Manke et al. 2001; O’Reilly et al. 1989; Roscoe et al. 1989; Rowe et al. 1984; Sundaresan et al. 1986; Wirbel et al. 2005). Am häufigsten wird diese
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Kapitel 24 · Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie
Technik beim ossär metastasierten Nierenzellkarzinom und Schilddrüsenkarzinom angewendet. Die vielversprechenden Ergebnisse führten zu einer Ausweitung der Indikationsstellungen auf gutartige Tumoren, insbesondere der aneurysmatische Knochenzyste und des symptomatischen Wirbelkörperhämangioms. In der Literatur wird beschrieben, dass die alleinge transarterielle Embolisation der aneurysmatischen Knochenzyste zu einer kompletten Tumorregression führen kann (Mohit et al. 2004; Papagelopoulos et al. 2001). Als palliative Therapiemaßnahme führt die transarterielle Embolisation zu einer Hemmung des Tumorwachstums mit einer Größenreduktion des Tumors (Gottfried et al. 2003; O’Reilly et al. 1989). Dadurch kann eine Schmerzreduktion bzw. ein Rückgang evtl. bestehender neurologischer Symptomatik erreicht werden (Chiras et al. 2004; Smit et al. 2000; Sundaresan et al. 1990), in Einzelfällen kann aber auch ein initial inoperabler Tumor in ein operationsfähiges Stadium überführt werden (Rossi et al. 1990).
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Technik der transarteriellen Embolisation Die transarterielle Embolisation wird meist superselektiv in Koaxialtechnik durchgeführt, wobei die tumorversorgenden Zervikal-, Intervertebral-, Lumbal-, bzw. Weichteilarterien in der Regel mit einem Selektivkatheter sondiert werden. Die angiografische Darstellung sollte obligat in digitaler SubtraktionsangiografieTechnik (DSA) durchgeführt werden, um insbesondere von den tumorversorgenden Arterien abgehende spinale Arterien sicher zu erkennen. Anschließend wird ein Koaxialkatheter (2–3 F) bis in die Tumorgefäßprovinz vorgeführt. Für die Embolisation steht eine Vielzahl verschiedener Embolisate zur Verfügung [Partikel (PVA, Embosphären, Gelantine), Zyanoakrylate, Ethibloc und Mikrospiralen], welche abhängig von der individuellen Gefäßanatomie und dem Vaskularisierungsgrad des Tumors eingesetzt werden sollten. Vor allem bei malignen Tumoren ist stets eine vollständige Okklusion des Kapillarbettes anzustreben. Ein Verschluss auf dem Niveau der tumorversorgenden Arterien allein ist meist nicht ausreichend, da das Risiko einer Versorgung des Tumors über nicht erreichte bzw. bis dahin nicht visualisierte Kollateralen besteht. Im Allgemeinen reichen für eine vollständige Embolisation auch größerer Skelett- oder Weichteiltumoren wenige Milliliter des Embolisates aus. Bei einer kaliberstarken Interkostal- oder Lumbalarterie empfiehlt es sich, vor der Embolisation des Tumorgefäßsystems den distalen Abschnitt der Arterie mit einer Spirale zu verschließen (. Abb. 24.23). Dadurch kann zum einen ein Abstrom des Embolisates in z. B. die Rücken- oder Bauchwandmuskulatur vermieden werden, zum anderen wird die Gefahr einer retrograden Wiederauffüllung des Tumors über Kollateralen von ventralen Bauchwandgefäßen reduziert. Um eine ektope Implantation des Embolisats z. B. durch Reflux zu verhindern, ist eine kontinuierliche Durchleuchtungskontrolle unerlässlich. Für eine erfolgreiche und effiziente Embolisation von Wirbelsäulen- aber auch Weichteiltumoren ist es unverzichtbar auch die benachbarten Gefäßterritorien gründlich abzusuchen, da, auch wenn sie z. B. nur auf einen Wirbelkörper beschränkt sind, diese von zwei oder mehreren Gefäßen versorgt werden können. Sehr wichtig ist, nach jeder erfolgten Embolisation, die erneute Durchführung einer Übersichtsangiografie der Gefäßprovinz, da aufgrund der geänderten hämodynamischen Verhältnisse eventuell spinale Gefäße oder andere Risikogefäße erst darstellbar werden und das weitere Prozedere angepasst werden muss.
. Abb. 24.23a–c. Präoperative Wirbelkörperembolisation der Metastase eines Nierenzellkarzinoms. In der angiografischen Darstellung Nachweis eines hypervaskularisierten Tumorherdes in Projektion auf LWK 2 (a). Verschluss des distalen Abschnittes der tumorversorgenden Lumbalarterie mit einem Mikrocoil (b). Anschließend Embolisation des Tumorkapillarbettes mit Embosphären (350–500 μm) und Unterbindung des arteriellen Zuflusses durch die ostiumnahe Platzierung eines weiteren Mikrocoils (c). Es wurde eine subtotale Embolisation des betroffenen Wirbelkörpers erreicht
Embolisation der Niere Indikationen Die perkutane transarterielle (Total-) Embolisation der Niere ist ein minimalinvasives Therapieverfahren zur Behandlung nicht resektabler Nierenmalignome, benigner Nierenblutungen (z. B. arteriovenöse Fisteln, perforierende Verletzungen, Aneurysma spurium) oder eine präoperative Maßnahme vor geplanter Ne-
509 24.4 · Katheterembolisation von Skelett- und Weichteiltumoren
phrektomie. Die selektive Embolisation von Teilen der Niere wird bei malignen Tumoren auch der perkutanen Thermoablation (Radiofrequenzablation, RFA; laserinduzierte Thermotherapie, LITT) vorgeschaltet. Das Ziel dieser Interventionen ist entweder bei inoperabler Situation Symptome, wie Hämaturie (Fichtner et al. 2003), Tumorschmerzen (Munro et al. 2003) oder paraneoplastische Symptome (Fujikawa et al. 2002) zu lindern und/oder die Überlebenszeit zu verlängern (Kauffmann et al. 1989; Lamb et al. 2004; Munro et al. 2003; Saitoh et al. 1997; Zielinski et al. 2000). Wird die Embolisation unmittelbar präoperativ durchgeführt, soll eine mögliche Tumorzellverschleppung durch die intraoperative Manipulation bei Tumornephrektomie reduziert und die chirurgische Maßnahme durch die postembolische Blutleere erleichtert werden (Bakal et al. 1993; . Abb. 24.24). Diese Indikation wird in der Literatur kontrovers diskutiert und nur noch in Einzelfällen durchgeführt (Fischedick et al. 1987; Munro et al. 2003). Bei der Thermoablation wird zusätzlich durch die Embolisation der i. Allg. hypervaskularisierten Malignome der Wärmeabtransport über die Gefäße reduziert und die Wahrscheinlichkeit einer effektiven Thermokoagulation erhöht (Gervais et al. 2005; Hall et al. 2000; Tacke et al. 2001; Tacke et al. 2004; Veltri et al. 2004). Bei Patienten mit Verletzungen der Nieren setzt sich die konservative Behandlung immer mehr durch. Liegen dagegen massive Einblutungen oder Kontusionen mit Hämaturie vor oder entwickeln sich im Gefolge des Traumas Pseudoaneurysmen oder Fisteln der Nierengefäße, so ist ein aktives Vorgehen angezeigt (. Abb. 24.25). Hier gilt neben der chirurgischen Therapie bei Abriss des Nierenbeckens oder des Gefäßstiels mit daraus resultierender lebensbedrohlicher hämodynamischer Instabilität des Patienten, insbesondere bei iatrogenen oder penetrierenden Verletzungen der Nierengefäße die superselektive transarterielle Embolisation als ein effektives Behandlungsverfahren (Chatziioannou et al. 2000; Flanigan et al. 2006). Eine Übersicht der Indikationen zur Embolisationsbehandlung der Niere liefert die folgende Übersicht.
Indikationen zur Nierenteil-/Nierentotal-Embolisation 4 Palliative Behandlung bei fortgeschrittenen Nierenmalignomen zur Symptomkontrolle 4 Präoperative Tumorembolisation bei chirugischen Eingriffen und thermoablativen Verfahren 4 Nicht beherrschbare Hypertonie (bei Schrumpfnieren) 4 Nierenerkrankung im Endstadium vor Nierentransplantation 4 Abgestoßene Transplantatniere 4 Therapierefraktäres nephrotisches Syndrom 4 Urinfistel bei fortgeschrittenem Tumorleiden als Ultima Ratio 4 Dialysepflichtige Niereninsuffizienz bei polizystischen Nieren zur Behandlung von Kompressionssymptomen 4 Traumatische, iatrogene oder penetrierende Verletzung der Nierengefäße
Technik der transarteriellen Embolisation Abhängig von der gewünschten Verschlussebene, welche okkludiert werden soll, unterscheidet man den zentralen Verschluss
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der Arteria renalis, einen peripheren Verschluss, einen kombiniert zentral-peripheren Verschluss oder aber einen kapillären Verschluss. Die zu erzielende Verschlussebene wird insbesondere durch die Wahl des verwendeten Embolisats bestimmt. Die folgende Übersicht gibt Aufschluss über die verschiedenen zur Verfügung stehenden Embolisate.
Embolisate zur Nierenembolisation 4 Zentrale Okklusion – Makrospiralen – Größere Gelfoampartikel – Ablösbare Ballons 4 Periphere und/oder kapilläre Embolisation 4 Partikel – Polyvinylalkoholpartikel (PVA) – Embosphären – Gelantinepartikel 4 Mikrospiralen 4 Zyanoakrylate 4 Ethibloc 4 Alkohol
Um das Auftreten eines Postembolisationssyndroms zu vermeiden, sollte die präoperative Nierenembolisation möglichst unmittelbar vor, oder frühestens am Vortag der Tumornephrektomie erfolgen. Die bedarfsgesteuerte Periduralanästhesie (PDA) eignet sich sehr gut zur Bekämfung des Ischämieschmerzes bei Totalembolisation der Niere. Die selektive Nierenembolisation erfordert in der Regel allenfalls eine Analgesierung mit intravenöser Verabreichung von z. B. Piritramid oder Pethidin-HCl, während eine superselektive Embolisation für den Patienten meist überhaupt keine Schmerzen verursacht. Für die unmittelbar präoperative Nierenembolisation ist die Verwendung von Makrospiralen ausreichend, soll jedoch ein dauerhafter, kapillärer Verschluss erzielt werden, sind Partikel, Ethibloc oder hochkonzentrierter Alkohol vorzuziehen. Soll zur Embolisation hochkonzentrierter Alkohol verwendet werden, ist u. U. der Einsatz von Ballonokklusionskathetern sinnvoll. Weiterhin gilt es darauf zu achten, dass bei Vorliegen von arteriovenösen Fisteln die Verwendung von partikulären Substanzen kontraindiziert ist. Hier sind dann flüssige Gewebekleber (Zyanoakrylate) geeignet. Diese bieten den Vorteil, dass sie auch bei Gerinnungsstörungen des Patienten wirksam sind, jedoch wegen der Gefahr des Verklebens des hydrophilen Gewebklebers an der Katheterspitze mit der Gefäßwand etwas problematisch in der Handhabung sind. Daher ist der Einsatz einer koaxialen Katheterisierung zwingend notwendig. Ergebnisse Eine vollständige Tumorembolisation ist auch bei der Anwendung von Zyanoakrylaten selten möglich, da sich häufig sehr schnell Umgehungskreisläufe ausbilden. In größeren Anteilen des Tumors kann aber durchaus eine komlette Infarzierung erreicht werden und dies scheint auch zu einer Verlängerung der Überlebenszeit der Patienten zu führen. Onishi et al. (2001) verglichen in einer retropsektiven Studie 54 Patienten mit einem histologisch gesicherten, inoperabelen Nierenzellkarzinom, wobei bei 24 Patienten eine Behandlung mit transarterieller Nierenembolisation mit hochkonzentriertem Al-
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Kapitel 24 · Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie
. Abb. 24.24a–g. Patient mit Z. n. Tumornephrektomie links. Neu aufgetretenes Nierenzellkarzinom rechts. In der präinterventionellen angiografischen Untersuchung zeigt sich ein ca. 3,5 cm großer, hypervaskularisierter Tumor (a). Selektive Darstellung mit einem Koaxialkathetersystem (b) und erneute angiografische Darstellung nach Embolisation mit Mikropartikeln (Embospären, 300–500 μm) und Lipiodol. Es zeigt sich ein
vollständiger Verschluss der Tumorgefäße (c). Im nativen Planungs-CT vor Radiofrequenzablation deutliche Demarkierung des Lipiodol speichernden Nierenzellkarzinoms (d). CT-fluoroskopisch gesteuerte Platzierung der Ablationssonde im Tumor (e). In der funktionellen MRT-Untersuchung nach RFA kein Nachweis einer Restperfusion im Tumor (f, g)
511 24.4 · Katheterembolisation von Skelett- und Weichteiltumoren
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. Abb. 24.25a,b. Patientin mit metastasiertem Nierenzellkarzinom. Selektive Darstellung der rechten Nierenarterie mit Nachweis einer ausgeprägten Kontrastmittelextravasation im Bereich des Nierenoberpols (a).
In der angiografischen Darstellung nach Embolisation mit ZyanoakrylatLipiodol ist die Blutung gestoppt (b)
kohol durchgeführt wurde, während bei 30 Patienten auf eine Embolisationsbehandlung verzichtet wurde. Die Überlebensraten lagen in der Embolisationsgruppe nach 1, 2 und 3 Jahren bei 29, 15 und 10%, während die Überlebensraten in der Gruppe ohne Embolisationsbehandlung mit 13, 7 und 3% signifikant kürzer waren. Zielinski et al. (2000) verglichen in einer retrospektiven Analyse Patienten mit Nierenzellkarzinomen, wobei die eine Gruppe (n=118) präoperativ embolisiert wurde, während die zweite Gruppe (n=116) nicht in dieser Weise vorbehandelt wurden. Es zeigte sich, dass neben der Tumorausdehnung und dem Lymphknotenstatus vor allem die präoperative Embolisationsbehandlung einen relevanten Einfluss auf das Überleben der Patienten hatte. Die 5- und 10-Jahres-Überlebensraten waren in der Embolisationsgruppe 62 und 47%, im Vergleich zu 35 und 23% in der Gruppe ohne Embolisationstherapie. In der palliativen Situation zur Bekämpfung der Tumorschmerzen, Hämaturie und paraneoplastischen Symptome konnte mit der transarteriellen Nierenembolisation in mehrere Studien eine hohe Wirksamkeit nachgewiesen werden (Fujikawa et al. 2002; Lamb et al. 2004; Singh et al. 2004). Die Kombination der selektiven, transarteriellen Nierenembolisation mit lokal-ablativen Verfahren, wie der RFA oder LITT gewinnt in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung. Erste Studien zeigen vielversprechende Ergebnisse bezüglich der lokalen Tumorkontrolle, wobei Langzeitergebnisse wie auch prospektiv randomisierte Studien noch fehlen (Gervais et al. 2005; Tacke et al. 2001; Tacke et al. 2004; Thanos et al. 2006; Veltri et al. 2004).
möglicht bei Weichteiltumoren die Stabilisierung der Erkrankung (Breslau et al. 1995; Gellad et al. 1990; Heary et al. 2001; Hess et al. 1997; Roscoe et al. 1989; Wirbel et al. 2005). Manke et al. (2001) ermittelten bei 19 vollständigen Embolisation ossärer Metastasen von Nierenzellkarzinomen einen durchschnittlichen, intraoperativen Blutverlust von 1.500 ml, während der durchschnittliche Blutverlust in der Kontrollgruppe (n=11) bei 5.000 ml lag. Auch bei nur partieller Embolisation lag der durchschnittliche intraoperative Blutverlust unter dem der Kontrollgruppe. In einer erst kürzlich publizierten Studie beschrieben Guzman et al. (2005) bei 24 Patienten mit hypervaskularisierten Wirbelkörpermetastasen einen durchschnittlichen Blutverlust von 1.900 ml, gegenüber 5.500 ml in der Gruppe ohne präoperative Tumorembolisation. Ernsthafte Komplikationen werden in der Literatur nicht beschrieben, allerdings besteht die Gefahr einer spinalen Infarzierung aufgrund eines akzidentellen Verschlusses einer Spinalarterie. Die Einschätzung und Bewertung der lokalen Embolisationsbehandlung ist jedoch schwierig, da es sich in der Regel um Patienten mit generalisierten Metastasen handelt. Die Prognose bei diesen Patienten wird somit meist durch die fortgeschrittene Grundkrankheit bestimmt. Wie bei der Embolisationsbehandlung in anderen Organen kann vorübergehend ein Postembolisationssyndrom mit leichtem Fieber auftreten, das symptomatisch behandelt werden kann. Insgesamt handelt es sich aber bei der perkutanen, transarteriellen Embolisation von Knochen- und Weichteiltumoren um ein sehr sicheres und im Einzelfall auch sehr effizientes Verfahren, das den Blutverlust bei einer nachfolgenden Operation substanziell reduziert und einen guten palliativen Effekt zu haben scheint.
Ergebnisse der Katheterembolisation Die päoperative Tumorembolisation führt regelmäßig zu einer deutlichen Reduktion des intraoperativen Blutverlustes bzw. er-
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Kapitel 24 · Interventionelle Onkologie: Radiologie und gastrointestinale Endoskopie
Zusammenfassung Radiologische und endoskopische Interventionen sind ein unverzichtbarer Bestandteil der Diagnostik und Therapie onkologischer Erkrankungen. Die Biopsie ist als komplikationsarme Methode zur Histologiegewinnung wesentliches Element der Therapiestrategie. Perkutane Biopsien können je nach Organsystem bildgesteuert durch Ultraschall, CT und/oder MRT erfolgen. Endoluminale Biopsien erfolgen endoskopisch unter direkter Sicht, wobei hochauflösende Videoendoskopie in HDTVQualität, ggf. in Verbindung mit Zoom-Endoskopie und/oder mit Färbetechniken eine genaue Lokalisation auch flacher Tumoren gestatten. Im Gastrointestinaltrakt erlaubt darüberhinaus die Endosonografie auch die Diagnostik und Biopsie extraluminaler wandnaher Läsionen. Abgesehen von den diagnostischen Möglichkeiten bilden heute interventionell-therapeutische Eingriffe einen Schwerpunkt der modernen Endoskopie und Radiologie. Resektive und ablative endoskopische Verfahren nehmen einen großen Stellenwert in der Prophylaxe und Palliation invasiver gastrointestinaler Karzinome ein. Die endoskopische Mukosaresektion (EMR) und endoskopische Submukosadissektion (ESD) erlauben die komplikationsarme kurative Resektion auch von T1-Karzinomen
in Ösophagus, Magen und Rektum. Die endoskopische Drainage bei Galleaufstau ist heute auch bei komplizierten Gallenwegsstenosen Standard. Beim inoperablen cholangiolären Karzinom führt sie in Verbindung mit einer photodynamischen Therapie zu einer erheblichen Lebenszeitverlängerung. Die transarterielle Katheterembolisation (TAE) stark vaskularisierter Skelett- und Weichteiltumoren wird präoperativ zur Verringerung von Blutverlust und palliativ zur Hemmung von Tumorwachstum durchgeführt. Die perkutane Radiofrequenzablation (RFA) und die transarterielle Chemoembolisation (TACE) sind etablierte Standards in der pallativen Therapie von malignen Lebertumoren. Die endoskopisch oder radiologisch kontrollierte Behandlung von intestinalen Stenosen zur Sicherstellung einer enteralen Ernährung ist eine wichtige Komponente im Palliativkonzept bei Patienten mit intestinalen Tumorstenosen. Radiologische und endoskopische interventionen sind als Teil eines onkologischen Gesamtkonzepts im komplementären Verbund mit medikamentösen, chirurgischen und strahlentherapeutischen Verfahren zu sehen. Andererseits ermöglichen sie aber auch eine individualisierte onkologische Therapie gerade in der palliativen Situation.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
24
25
25 Zytokine G. Derigs, T. Fischer, C. Huber
25.1
Hämatopoetische Wachstumsfaktoren
25.2
Interferone
25.3
Interleukin 2
25.4
Andere Zytokine
– 529 – 533
Literatur – 539
– 535
– 514
514
25
Kapitel 25 · Zytokine
> Einleitung
25.1
Die Hämatopoese hat die Fähigkeit, auf veränderte Umweltbedingungen rasch zu reagieren. Dadurch kann jede hämatopoetische Linie in geeigneter Weise expandieren, ohne dass die übrigen Zelllinien unnötig vermehrt werden. Bei einer bakteriellen Infektion kommt es z. B. zur Expansion der neutrophilen Granulozyten. Die erythroide Zelllinie bleibt dagegen von dieser Zellvermehrung unberührt. Die Regulation der Proliferation und die Differenzierung der einzelnen hämatopoetischen Zelllinien wird durch endogene Peptidhormone – die Zytokine – reguliert. Bislang sind ungefähr 30 dieser Proteine auf molekularer Ebene charakterisiert und in Zukunft werden vermutlich weitere beschrieben werden. Zytokine werden zum einen von hämatopoetischen Zellen selbst, vor allem von aktivierten Lymphozyten und Monozyten/ Makrophagen im Rahmen einer Infektabwehr gebildet. Zum anderen produzieren auch Zellen des Bindegewebsstromas im Knochenmark und in anderen Organen verschiedene Zytokine, die entweder auf humoralem Wege oder durch direkten Zellkontakt auf die verschiedenen hämatopoetischen Zellen wirken. Einerseits kann Zytokinrezeptoraktivierung in einem oder in verschiedenen Zellsystemen zu Recht unterschiedlichen Effekten führen (Pleiotropie). Andererseits kann ein und derselbe Effekt von verschiedenen Peptidhormonen induziert werden (Redundanz). Biologische Untersuchungen an Knock-out-Mäusen haben in den letzten Jahren einen tieferen Einblick in die Regulationszusammenhänge des Zytokinnetzwerkes gegeben. Dabei zeigte sich, dass einzelne Wachstumsfaktoren essenziell sind und ihre Defizienz zu einer schwerwiegenden Verminderung einer hämatopoetischen Zelllinie führt. Der Verlust anderer Zytokine hingegen kann vollständig oder teilweise kompensiert werden. Im Knochenmark existiert ein komplexes Netzwerk von humoralen und zellmembrangebundenen Wachstumsfaktoren, das die an die jeweiligen Bedingungen angepasste Hämatopoese reguliert. Einige Faktoren beeinflussen die Produktion von Blutzellen direkt über die Bindung an Oberflächenrezeptoren hämatopoetischer Vorläuferzellen, andere wirken auf diesen Prozess indirekt durch Bindung an Rezeptoren auf akzessorischen Stromazellen ein, die dann durch die Freisetzung anderer Wachstumsfaktoren reagieren (parakrine Interaktion). Einige Zytokine haben auf die Zellteilung Einfluss, während andere das Überleben der Progenitorzellen einer gegebenen Zelllinie ermöglichen. Insbesondere linienspezifische Wachstumsfaktoren steuern die Replikation und das Überleben von determinierten Vorläuferzellen und aktivieren die terminale Differenzierung einer spezifischen Zelllinie. Es existieren außerdem Synergismen zwischen verschiedenen Zytokinen. Akzessorische Zellen und Progenitorzellen können sich gegenseitig durch parakrine Mechanismen beeinflussen, die eine weitere Signalverstärkung oder -abschwächung induzieren können. Zudem können sich zytokinproduzierende Zellen durch dieses Protein selbst aktivieren (autokrine Stimulation). Zurzeit sind sicherlich noch nicht alle komplexen Zusammenhänge dieses Zytokinorchesters erforscht. Durch die biochemische und genetische Charakterisierung von spezifischen Wachstumsfaktorgenen sowie durch ihre gentechnische Produktion kommt jedoch schon eine Reihe von Zytokinen bei der Therapie verschiedener hämatologischer und anderer Erkrankungen zum Einsatz. Im Folgenden werden die biologischen Eigenschaften und die klinischen Anwendungsdaten der wichtigsten Zytokine, aufgegliedert nach ihren vornehmlichen Wirkungen, detailliert dargestellt.
Hämatopoetische Wachstumsfaktoren
Die Differenzierung und Proliferation der Blutzellen wird direkt durch einige hämatopoetische Wachstumsfaktoren, die sog. koloniestimulierenden Faktoren, und indirekt durch mehrere Zytokine ohne intrinsische koloniestimulierende Aktivität gesteuert. Koloniestimulierende Faktoren wurden erstmalig in Kulturüberständen von in vitro kultivierten Lymphozyten, Monozyten und Fibroblasten entdeckt. Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts wurden einzelne Faktoren mit spezifischen Aktivitäten für verschiedene myeloische Reihen aus diesen Überständen isoliert und biochemisch charakterisiert. Die Entwicklung der rekombinanten DNA-Technik ermöglichte die Produktion größerer Mengen dieser Faktoren sowie detaillierte Analysen ihrer Eigenschaften. Die verschiedenen hämatopoetisch wirksamen Zytokine greifen bei unterschiedlichen Reifungsstufen der myeloischen Reihen
an. . Abb. 25.1 zeigt schematisch, auf welche Progenitorzellen die klinisch relevanten Zytokine einen proliferativen Effekt ausüben. Je nach ihrem klinischen Einsatzgebiet werden Wirkungen auf die frühen Progenitorzellen sowie auf die weiter differenzierten Vorläuferzellen der granulozytären, erythropoetischen und thrombopoetischen Reihen unterschieden (Griffin 1997). 25.1.1 Zytokine mit Wirkungen
auf frühe Progenitorzellen Stammzellfaktor Biosynthese. Ende der 80er Jahre wurde der Ligand für das zur Typ-III-Tyrosin-Kinase-Rezeptorfamilie gehörende Protoonkogen KIT (CD117) von verschiedenen Arbeitsgruppen
515 25.1 · Hämatopoetische Wachstumsfaktoren
25
. Abb. 25.1. Schematische Darstellung der Regulation der Hämatopoese durch hämatopoetische Wachstumsfaktoren. BFU-E »burst-forming unit erythrocyte«; CFU-Meg »colony-forming unit megakaryocyte«; CFUGM »colony-forming unit granulocyte/macrophage«; CFU-Eo »colony-forming unit eosinophil«; CFU-Baso »colony-forming unit basophil«; CFU-E »colony-forming unit erythrocyte«; CFU-M »colony-forming unit macro-
phage«; CFU-G »colony-forming unit granulocyte«; IL Interleukin; SCF Stammzellfaktor; Flt-3 Lig Flt-3-Ligand; GM-CSF »granulocyte/macrophage colony stimulatig factor«; EPO Erythopoetin; TPO Thrombopoetin; LIF »leukemia inhibitory factor«; G-CSF »granulocyte colony stimulating factor«; M-CSF »macrophage colony stimulating factor«
kloniert (Anderson et al. 1990; Zsebo et al. 1990). Damit konnte eine für lange Zeit unverstandene murine Erbanomalie aufgeklärt werden. Die homozygoten »White Spotting«- (W-) und »Steel«(Sl-)Mäuse weisen den gleichen Phänotyp mit Anomalien der Melanozyten, Keimzellen und der hämatopoetischen Zellen auf. Es wurde daher schon lange vermutet, dass ein Rezeptor-Liganden-System betroffen sein muss. Der Defekt der W-Mäuse wurde auf Mutationen im Locus für das Protoonkogen KIT zurückgeführt (Besmer et al. 1993). Die Klonierung des zugehörigen Liganden erbrachte einen Wachstumsfaktor, der u. a. proliferativ auf frühe hämatopoetische Vorläuferzellen wirkt. Neben dem Namen Stammzellfaktor wird dieses Zytokin weiterhin SteelFaktor, »Mast cell growth factor« oder KIT-Ligand genannt. Das Gen für den menschlichen Stammzellfaktor wurde auf dem langen Arm von Chromosom 12 lokalisiert und wird von verschiedenen Zellarten gebildet. Die Expression ist weitgehend konstitutiv. Von TGF-β ist bekannt, dass es die Stammzellfaktor-
produktion inhibiert (Heinrich et al. 1993). Es existieren zwei verschiedene Formen des Zytokins, die sich durch eine proteolytische Spaltungsstelle unterscheiden. Ist diese Sequenz vorhanden, so kann der üblicherweise membrangebundene Stammzellfaktor durch enzymatische Abspaltung sezerniert werden. Das Molekulargewicht des in Säugerzellen exprimierten Zytokins beträgt 28–40 kD, wovon ca. 30% auf die Glykosylierung zurückzuführen sind. Die molekulare Struktur ist dem M-CSF ähnlich und bildet im Serum Dimere. Die biologische Rolle des löslichen Stammzellfaktors ist bislang unklar. Die physiologische Hauptwirkung des Stammzellfaktors auf die Hämatopoese geht von der membrangebundenen Form auf Knochenmarkstromazellen aus (Broudy 1997; Galli et al. 1994). Rezeptoren und Signalübertragung. Neben hämatopoetischen Zellen exprimieren auch interstitielle Zellen des Gastrointestinaltraktes und Leukämiezellen den Stammzellfaktorrezeptor KIT,
516
25
Kapitel 25 · Zytokine
der zu einer Untergruppe der Tyrosinkinasen (Typ III) gehört. Die extrazelluläre Domäne ist durch eine ausgeprägte Glykosylierung gekennzeichnet. Neben einer einzelnen Transmembranregion ist die Rezeptorfamilie durch eine oder mehrere katalytische Tyrosinkinasedomänen gekennzeichnet. Die Bindung von Stammzellfaktor an KIT führt zur Dimerisierung und mit der nachfolgenden Autophosphorylierung zur Aktivierung der intrazytoplasmatischen Signaltransduktionskaskade. Die Signaltransduktion von KIT kann durch den selektiven Tyrosinkinaseinhibitor STI 571 durch Blockade der ATP-Bindungsstelle inhibiert werden (Heinrich et al. 2000). Von Interesse ist eine in humanen gastrointestinalen Stromatumoren vorkommende Mutation in KIT, die zu einer konstitutiven Aktivierung führt und in der Pathogenese dieses Malignoms eine entscheidende Rolle spielt (Hirota et al. 1998). Biologische Aktivität und Wirkungsweise. Stammzellfaktor stimuliert die Proliferation und Differenzierung von frühen hämatopoetischen Vorläuferzellen und hat zudem eine synergistische Wirkung mit IL-3, GM-CSF und Erythropoetin auf determinierte Vorläuferzellen (CFU-GEMM, CFU-Mk, BFU-E). Auf Mastzellen hat der Stammzellfaktor einen proliferativen Effekt und begünstigt das Überleben und die Differenzierung. Zudem wirkt das Zytokin chemotaktisch auf Mastzellen und fördert deren Degranulation (Tsai et al. 1991; Columbo et al. 1992). Außerhalb der Hämatopoese ist der Stammzellfaktor für die normale Entwicklung und Migration von Melanozyten und Keimzellen notwendig (Murphy et al. 1992). Klinischer Einsatzbereich. In präklinischen Studien bewirkte die Verabreichung der löslichen Form des Stammzellfaktors eine gesteigerte Knochenmarkzellularität, eine Vermehrung der hämatopoetischen Vorläuferzellen sowie einen Anstieg der im Blut zirkulierenden Erythrozyten, Neutrophilen, Monozyten, Eosinophilen, Basophilen und Lymphozyten. Von besonderem Interesse ist die Tatsache, dass die Stammzellfaktorgabe zu einer gesteigerten Mobilisation von peripheren Blutstammzellen führt, insbesondere dann, wenn gleichzeitig G-CSF verabreicht wird (Andrews et al. 1992a, b). Die Tierversuchsdaten wurden auch durch klinische Studien bestätigt, wonach die Gabe von Stammzellfaktor in einer Dosierung von 20 μg/kg in Kombination mit G-CSF (10 μg/kg) gegenüber der alleinigen Gabe von G-CSF eine signifikant bessere Mobilisierung von CD34-positiven Zellen erzielte. Dies konnte in randomisierten Untersuchungen an Patienten mit ausgedehnt vorbehandelten Lymphomen und bei Patientinnen mit metastasiertem Mammakarzinom gezeigt werden (Glaspy et al. 1997). Nach Transplantation der mit Stammzellfaktor mobilisierten Vorläuferzellen kam es zu einem prompten Anwachsen des Knochenmarks. Stammzellfaktor verursachte bei der überwiegenden Mehrzahl der behandelten Patienten eine lokale Reaktion an der Einstichstelle und bei ca. 5% eine systemische Sofortreaktion. Aufgrund dieses Nebenwirkungsprofils kam es bislang nicht zur klinischen Zulassung dieses Zytokins. Stammzellfaktor kann auch für die Expansion von hämatopoetischen Vorläuferzellen in vitro eingesetzt werden (Smith et al. 2001). Ob sich daraus in Zukunft ein klinisches Einsatzgebiet z. B. in der Gentherapie oder in der Plazentabluttransplantation ableiten lässt, ist bislang noch unklar.
Stammzellfaktor 4 Synonyme: KIT-Ligand, Mastzellwachstumsfaktor, SteelFaktor 4 Chromosomale Kodierung: 12q22–24 4 Molekulargewicht: 28–30 kDa 4 Produktion: Konstitutive Expression in Knochenmarkstromazellen, Endothelzellen, Sertoli-Zellen, Hepatozyten, Fibroblasten 4 Rezeptor: Typ-III-Tyrosinkinaserezeptor KIT (CD117) 4 Bioaktivität – Proliferation und Differenzierung von frühen hämatopoetischen Vorläuferzellen und Mastzellen – Synergistische Wirkung mit anderen Wachstumsfaktoren auf determinierte hämatopoetische Vorläuferzellen – Chemotaxis für Mastzellen – Degranulation von Mastzellen – Unstützung von Melanozytenentwicklung und -migration – Unterstützung der Gametogenese 4 Mangelerscheinungen – Maus: Phänotyp der »White-Spotting-Steel-Maus« mit hämatopoetischer Insuffizienz, Mastzellmangel, Infertilität und weißem Fell – Mensch: Depigmentierungen
Interleukin 3 Biosynthese. Die Klonierung von Interleukin 3 (IL-3) wurde 1986 durch Yang et al. (1986) beschrieben. Das humane IL-3-Gen ist nahe dem Locus für GM-CSF auf dem langen Arm von Chromosom 5 lokalisiert und kodiert für ein Glykoprotein von ca. 28 kD. Das Zytokin wird vornehmlich von aktivierten T-Lymphozyten und Mastzellen produziert. Rezeptoren und Signalübertragung. Der hochaffine IL-3-Rezeptor ist ein Heterodimer aus der spezifisch IL-3-bindenden α-Untereinheit und der β-Untereinheit, die er mit dem IL-5und dem GM-CSF-Rezeptor gemeinsam hat. Diese β-Untereinheit initiiert die intrazelluläre Signalübertragung durch Aktivierung verschiedener Signaltransduktionskaskaden (Sato et al. 1993). Der Rezeptor ist auf hämatopoetischen Vorläuferzellen sowie auf neutrophilen und eosinophilen Granulozyten sowie auf Mastzellen exprimiert (Martinez-Moczygemba et al. 2003). Biologische Aktivität und Wirkungsweise. IL-3 stimuliert in vitro die Vorläuferzellen aller hämatopoetischen Reihen, weshalb es auch Multi-CSF genannt wird. Einen Teil seiner biologischen Aktivitäten, insbesondere diejenige auf die Mastzellentwicklung, entfaltet IL-3 durch die Induktion anderer Zytokine in akzessorischen Zellen. In IL-3-Knock-out-Mäusen wurden keine hämatologischen Veränderungen beschrieben, sodass das Zytokin für die konstitutive Hämatopoese entbehrlich erscheint (Mach et al. 1998). Klinischer Einsatzbereich. Zum klinischen Einsatz von IL-3 liegen verschiedene Phase-I/II-Studienergebnisse vor. In einer Dosierung von 2–10 μg/kg hatte IL-3 eine signifikante Toxizität mit
517 25.1 · Hämatopoetische Wachstumsfaktoren
Fieber, Kopfschmerzen, Schwäche und Hautreaktionen (Lindemann et al. 1991). Die Effektivität des Zytokins bezüglich der Neutrophilen- oder Thrombozytenerholung nach einer myelotoxischen Chemotherapie wurde in verschiedenen Studien untersucht. Die Ergebnisse zeigten zwar einen positiven Einfluss auf die hämatopoetische Erholung, das klinische Nutzen-ToxizitätsVerhältnis rechtfertigte jedoch nicht die Fortführung größerer klinischer Studien bezüglich dieser Indikation (Tepler et al. 1994; D’Hondt et al. 1993). Eine ähnliche Situation besteht bezüglich des klinischen Einsatzes des Zytokins nach autologer Knochenmarktransplantation oder bei Knochenmarkversagen im Rahmen verschiedener hämatologischer Grunderkrankungen (Nemunaitis et al. 1993). Weiterhin besteht Interesse am Einsatz von IL-3 zur Mobilisation von peripheren Blutstammzellen. Hier wurde das Zytokin in Kombinationen mit GM-CSF oder G-CSF nach vorangegangener Mobilisierungschemotherapie getestet. Während die Kombination von IL-3 und GM-CSF mit stärkeren Nebenwirkungen verbunden war, wurde die sequenzielle Applikation von IL-3 und G-CSF in einer Phase-II-Studie bei ausgedehnt vorbehandelten Patienten ohne Probleme vertragen und wies eine gute Mobilisierungseffizienz auf (Brugger et al. 1992; Kolbe et al. 1997). In einer randomisierten Phase-IIIStudie konnte ein klinischer Benefit im Vergleich zu einer mit G-CSF behandelten Kontrollgruppe jedoch nicht nachgewiesen werden. Zurzeit finden keine klinische Studien mit IL-3 mehr statt. Eine potenzielle Einsatzmöglichkeit für das Zytokin besteht noch in der In-vitro-Expansion hämatopoetischer Vorläuferzellen.
Interleukin 3 Synonyme: Multi-CSF, Mastzellwachstumsfaktor 1 4 Chromosomale Kodierung: 5q31.1 4 Molekulargewicht: 14–28 kDa 4 Produktion – T-Lymphozyten, Mastzellen – Induziert durch Mitogene, Phorbolester, IgE-Rezeptoraktivierung 4 Rezeptor: Heterodimer von IL-3 spezifischer α-Untereinheit (CDw123) und mit IL-5- und GM-CSF-Rezeptor gemeinsamer β-Untereinheit (CDw131) 4 Bioaktivität – Proliferation von frühen und determinierten hämatopoetischen Vorläuferzellen – Differenzierung von B-Lymphozyten – Fördert haptenspezifische Kontakthypersensitivitäten 4 Mangelerscheinungen – Keine hämatopoetischen Effekte – Defiziente verzögerte Hypersensitivität
FLT3-Ligand Biosynthese. FLT3(»fms-like tyrosine kinase 3«)-Ligand ist ein Glykoprotein mit einer Molekularmasse von 155–160 kD und wird vornehmlich von unreifen lymphohämatopoetischen Zellen gebildet. Zusätzlich wird es auch im Gehirn sowie in der Plazenta produziert. Durch ein variables Splicing entstehen verschiedene mRNA-Spezies von FLT3-Ligand, wodurch sowohl lösliche als auch membrangebundene FLT3-Ligandformen produziert
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werden können (Lyman et al. 1994, 1995). Das Protein ist normalerweise in einer Konzentration von <100 pg/ml im Serum messbar. Im Falle einer Panzytopenie können die Werte aber auf bis zu mehrere Tausend pg/ml ansteigen (Wodnar-Filipowicz et al. 1996). Die Produktion von FLT3-Ligand wird durch Interleukin 1 induziert. Rezeptoren und Signalübertragung. FLT3-Ligand bindet an den Thyrosinkinaserezeptor FLT3/FLK2 (CD135). Dieser Rezeptor gehört wie KIT oder »Platelet-derived-growth-factor«(PDGF-)Rezeptor zur Typ-III-Tyrosinkinaserezeptorfamilie. Die intrazelluläre Signalübertragung erfolgt wie bei den anderen Rezeptortyrosinkinasen durch Phosphorylierung von SH2-Domänen tragenden Adaptermolekülen und Aktivierung der RAS/ RAF-Signaltransduktionskaskade. Biologische Aktivität und Wirkungsweise. Das Zytokin weist eine geringe in-vitro-koloniestimulierende Aktivität als Einzelsubstanz auf, zeigt aber einen ausgeprägten Synergismus mit einer Vielzahl anderer Wachstumsfaktoren wie Stammzellfaktor, IL-3, GM-CSF, G-CSF, M-CSF und IL-11. Insbesondere die Vorläuferzellen der erythrozytären, megakaryozytären, Mastzell- und Eosinophilenreihen werden von FLT3-Ligand stimuliert. Zusätzlich wird auch die Proliferation von B-Zellen sowie die granulozytäre Proliferation und Differenzierung stimuliert. In FLT3-Ligand-Knock-out-Mäusen konnte keine direkte hämatopoetische Insuffizienz nachgewiesen werden, es zeigte sich jedoch eine Reduktion der B-Lymphozytenvorläuferzellen sowie der Repopulationsfähigkeit von transplantierten Blustammzellen (Mackarehtschian et al. 1995). Von besonderem Interesse ist die starke proliferative und differenzierungsinduzierende Wirkung auf dendritische Zellen (Lyman u. Jacobsen 1998). Klinischer Einsatzbereich. Bei einer In-vivo-Applikation führt das Zytokin zu einer Ausschwemmung von hämatopoetischen Vorläuferzellen in das periphere Blut und lässt in dieser Hinsicht einen Synergismus mit G-CSF und GM-CSF erkennen. In vitro stimuliert FLT3-Ligand insbesondere sehr frühe Vorläuferzellen, die dadurch expandiert werden können (Haylock et al. 1997). Aktivierende Mutationen des Rezeptors bilden die zweithäufigste genetische Abnormalität bei der akuten myeloischen Leukämie (AML). Sie kommen in ca. 30% der Fälle vor und sind mit einer schlechten Prognose verbunden. Daher stellt der FLT3-Rezeptor ein attraktives Ziel für eine Kinaseinhibitor-basierte Therapie bei der AML dar (Drexler et al. 2004).
FLT3-Ligand 4 Synonyme: FLK2-(»Fetal-liver-kinase-2«-)Ligand 4 Chromosomale Kodierung: 19q13. 3 4 Molekulargewicht: Verschiedene lösliche und membrangebundene Isoformen, 155–160 kD 4 Produktion – Milz, Lunge, Knochenmarkstromazellen, mononukleäre Blutzellen, T-Lymphozyten – Induziert durch IL-1α 4 Rezeptor: FLT3/FLK2, Typ-III-Tyrosinkinaserezeptor (CD135) 6
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Kapitel 25 · Zytokine
4 Bioaktivität – Synergistische Wirkung mit anderen Wachstumsfaktoren auf hämatopoetische Vorläuferzellen – Proliferation von Leukämiezellen – Proliferation und Differenzierung von dendritischen Zellen – Verstärkt retrovirale Transduktion von hämatopoetischen Vorläuferzellen 4 Mangelerscheinungen – Reduzierte B-Lymphozytenvorläuferzellen – Reduzierte Stammzellrepopulationskapazität
25.1.2 Zytokine mit vornehmlicher Wirkung auf die
granulozytäre/monozytäre Reihe Granulozyten-Makrophagenkoloniestimulierender Faktor Biosynthese. Granulozyten-Makrophagen-koloniestimulierender Faktor (GM-CSF) wurde 1977 als erster hämatopoetischer Wachstumsfaktor isoliert und biochemisch gereinigt (Burgess et al. 1977). Das Gen für den menschlichen GM-CSF ist auf dem langen Arm des Chromosoms 5q31 lokalisiert und kodiert ein 22-kD-Glykoprotein. GM-CSF wird von unterschiedlichen Zellarten wie T-Zellen, Monozyten, Makrophagen, Endothelzellen und Fibroblasten produziert. Die Sekretion von GM-CSF in T-Lymphozyten wird nach der Aktivierung mit Antigen, Anti-TZell-Rezeptorantikörpern oder dem polyklonalen Mitogen Phytohämagglutinin (PHA) beobachtet. Auch Interleukin 1 induziert GM-CSF in T-Zellen. Das bakterielle Toxin Lipopolysaccharid (LPS) ist ein potenter Induktor der GM-CSF-Produktion in Monozyten und Makrophagen. In Endothelzellen und Fibroblasten wird GM-CSF nach geeigneter Stimulation wie mit Interleukin 1 oder nach retroviraler Infektion produziert (Sieff et al. 1987). Der Produktion von GM-CSF durch Stromazellen wird eine besondere Bedeutung für die Hämatopoese beigemessen (Kittler et al. 1992). Die Regulation dieser GM-CSF-Produktion in vivo unterliegt strengen Kontrollmechanismen, da die Überproduktion im Knochenmark zu letalen Konsequenzen infolge eines myeloproliferativen Syndroms führt, wie Experimente mit transgenen Mäusen zeigten (Johnson et al. 1989). In Knochenmarkstromazellen wird die Produktion von GM-CSF durch Interferon-α-Inkubation gehemmt. Diese Veränderung des Mikromilieus kann als Mitursache von Zytopenien bei Virusinfektionen oder unter Interferon-α-Therapie angesehen werden. Rezeptoren und Signalübertragung. GM-CSF bindet an einen heterodimeren Rezeptor, dessen α-Kette für die Bindung des GM-CSF spezifisch ist. Die β-Kette des Rezeptors hat GM-CSF mit IL-3 und IL-5 gemeinsam. Dieser Rezeptoranteil sorgt für eine hohe Bindungsaffinität und ist für die intrazelluläre Signaltransduktion durch Aktivierung der JAK2, JAK1 und STAT5 verantwortlich. Biologische Aktivität und Wirkungsweise. GM-CSF stimuliert alle Vorläuferzellen von Makrophagen und eosinophilen sowie neutrophilen Granulozyten. Darüber wirkt GM-CSF auf multi-
potente Vorläuferzellen, die die Fähigkeit besitzen, sich zu jeglicher Endzelle der myeloischen Reihe, einschließlich der Erythrozyten und Megakaryozyten, zu differenzieren. GM-CSF stellt nicht nur einen proliferativen Stimulus für hämatopoetische Vorläuferzellen dar, sondern übt auch Einfluss auf die reifen, nicht mehr teilungsfähigen Zellen aus. So bewirkt das Zytokin eine Verlängerung der Lebensdauer und eine Aktivierung der Granulozyten, Makrophagen und Eosinophilen (Begley et al. 1986; Chen et al. 1988; Di Persio et al. 1988). Mäuse, in denen das Gen für GM-CSF deletiert wurde (Knock-out-Mäuse), weisen keinen Defekt in der Hämatopoese auf (Dranoff et al. 1994). Dies ist wahrscheinlich in der Redundanz der Regulatormoleküle für die Blutzellbildung begründet. Die GM-CSF-Knock-out-Mäuse sind jedoch durch einen Defekt der Lunge in Form einer Alveolarproteinose gekennzeichnet. Pharmakokinetik und Toxizität. Rekombinanter GM-CSF steht als Molgramostim (Leukomax), gewonnen aus E. coli, zum klinischen Einsatz zur Verfügung. Die terminale Halbwertszeit beträgt nach intravenöser Gabe 1–2 h und nach subkutaner Gabe 2–3 h. Nach subkutaner Injektion kommt es im Blut zu einem dosisabhängigen Anstieg der Neutrophilen, Eosinophilen und Monozyten. Es findet sich kein signifikanter Effekt auf die rote und die thrombozytäre Reihe. Nach intravenöser Injektion kann es zu einer Anhäufung der Neutrophilen in der Lunge kommen, was eine kurzzeitige periphere Neutropenie zur Folge hat. Einige Patienten können auch unter einer kurzfristigen Dyspnoe leiden. Systemische Nebenwirkungen wie Fieber, Myalgien, Schwäche und Gewichtszunahme sowie lokale Reaktionen an der Einstichstelle sind nicht selten unter GM-CSF-Therapie zu beobachten (Lieschke et al. 1989; Antman et al. 1988). Klinischer Einsatzbereich. Molgramostim ist zur Reduktion des neutropeniebedingten Infektionsrisikos nach Chemotherapie oder autologer Knochenmarktransplantation zugelassen. Da sich diese Einsatzgebiete mit denen für den Granulozytenkoloniestimulierenden Faktor überschneiden, werden sie im Detail im nächsten Abschnitt beschrieben. Durch das günstigere Nebenwirkungsprofil von G-CSF, wird GM-CSF zur Stimulation von Granulozyten routinemäßig nicht mehr eingesetzt. Demgegenüber zeichnet sich für GM-CSF eine Anwendung in der Invivo- oder In-vitro-Generation von dendritischen Zellen ab (Hamilton et al. 2004).
GM-CSF 4 Chromosomale Kodierung: 5q31.1 4 Molekulargewicht: 18–28 kDa 4 Produktion – Knochenmarkstromazellen, Mastzellen, T-Lymphozyten, Endothelzellen, Fibroblasten – Induziert durch IL-1α, TNF-α, Lipopolysaccharid, Phorbolester 4 Rezeptor: Heterodimer bestehend aus GM-CSFspezifischer α-Untereinheit (CD116) und β-Untereinheit (CDw131) gemeinsam mit IL-3 und IL-5 4 Bioaktivität – Stimulation der Proliferation von CFU-GEMM, CFU-GM, BFU-E, CFU-G, CFU-M, CFU-E 6
519 25.1 · Hämatopoetische Wachstumsfaktoren
– Stimulation der Funktion und Zytokinexpression von myeloischen Leukozyten – Stimulation der Proliferation und Migration von Gefäßendothelien 4 Mangelerscheinungen: Alveoläre Proteinose der Lungen und Infektionen mit obligat intrazellulären Organismen in Knock-out-Mäusen
Granulozyten-koloniestimulierender Faktor (G-CSF) Biosynthese. Humaner G-CSF ist ein Glykoprotein, dessen Proteinanteil ein Molekulargewicht von 18,8 kD aufweist. Das Gen ist auf dem Chromosom 17q11–22 lokalisiert (Simmers et al. 1987). G-CSF wird auch als Granulopoetin bezeichnet, da er die Proliferation und Differenzierung der granulozytären Reihe stimuliert. Dementsprechend weisen G-CSF-Knock-out-Mäuse eine schwere Neutropenie auf (Lieschke et al. 1994). Im Plasma liegt der Spiegel des Zytokins im umgekehrten Verhältnis zur Neutrophilenzahl in einem Bereich zwischen 20 und 100 ng/l. Bei septischen Krankheitsbildern kann der Spiegel um ein Vielfaches ansteigen. Der exakte Regelkreis, über den G-CSF die Neutrophilenzahl im Blut steuert, ist zur Zeit noch nicht aufgeklärt (Demetri u. Griffin 1991). G-CSF wird von einer Reihe von Zelltypen, u. a. von Endothelzellen, Makrophagen, Epithelzellen und Knochenmarkstromazellen produziert. Inflammatorische Zytokine wie IL-1 und TNF sowie Endotoxin induzieren die Proteinexpression sowohl auf transkriptioneller wie auf posttranskriptioneller Ebene. Rezeptoren und Signalübertragung. G-CSF bindet an einen 100 kD großen Rezeptor, der nicht nur auf hämatopoetischen Zellen, sondern auch auf verschiedenen Tumorzelllinien zu finden ist. Eine klinische Bedeutung der extrahämatopoetischen Expression des G-CSF-Rezeptors konnte bislang nicht nachgewiesen werden. Auch myeloische Leukämiezellen exprimieren sehr häufig den G-CSF-Rezeptor. In vitro zeigt G-CSF sowohl proliferative als auch differenzierungsinduzierende Wirkungen auf verschiedenen Leukämiezelllinien. Die Signalübertragung des aktivierten G-CSF-Rezeptors erfolgt durch Phosphorylierung der Tyrosinkinasen JAK1 und JAK2 sowie durch die anschließende Beteiligung der RAS/MAP-Kinasen (Avalos 1996). Biologische Aktivität und Wirkungsweise. G-CSF wirkt sowohl auf reife neutrophile Granulozyten als auch auf deren Vorläuferzellen. Funktionen der reifen Neutrophilen wie Chemotaxis, Phagozytose und oxidative Verdauung werden durch GCSF beeinflusst. Nach intravenöser Injektion von G-CSF beobachtet man eine transiente Neutropenie und eine Anhäufung der Granulozyten in der Lungenstrombahn, was vermutlich durch ein verändertes Adhäsionsverhalten bedingt ist. Auch das Auftreten einer Linksverschiebung im Differenzialblutbild und die zu beobachtende toxische Granulation sind Ausdruck der Wirkung auf die Funktion der neutrophilen Granulozyten durch G-CSF. Auf Vorläuferzellebene beeinflusst G-CSF vornehmlich die Proliferation der »colony-forming unit granulocyte« (CFUG). Es sind aber auch Daten über eine direkte zellzyklusinitiierende Wirkung auf frühe Vorläuferzellen durch G-CSF in Kombination mit anderen hämatopoetischen Wachstumsfaktoren beschrieben worden (McNiece et al. 1989). Neuere Arbeiten
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schreiben G-CSF auch eine immunregulatorische Wirkung auf T-Lymphozyten (Polarisation zu TH2-Zellen) und dendritische Zellen zu (Roberts 2005). Pharmakokinetik und Toxizität. G-CSF steht in zwei Formen für den therapeutischen Einsatz am Menschen zur Verfügung. Während Filgrastim (Neupogen) als unmodifiziertes Protein mit 175 Aminosäuren aus E. coli gewonnen wird, ist das aus einer Säugerzelllinie (CHO) gewonnene Lenograstim (Granocyte) 174 Aminosäuren lang und wie das natürliche Protein am Threoninrest in Position 133 glykosyliert. Bei In-vitro-Versuchen wies Lenograstim gegenüber Filgrastim eine höhere Potenz auf (Nissen et al. 1994). Demgegenüber wird die Bioverfügbarkeit nach subkutaner Injektion von Filgrastim mit 50–80% ungefähr doppelt so hoch angegeben wie für Lenograstim. Aus diesen Daten ergibt sich für den klinischen Einsatz ein fast identisches Wirkungsprofil für die beiden Substanzen. Die Serumeliminationshalbwertszeit beträgt für G-CSF zwischen 1,7 und 4 h. Die Serumspiegel für G-CSF sind nach intravenöser und subkutaner Gabe proportional zur eingesetzten Dosis und können mehr als 300 μg/l erreichen (Welte et al. 1996). Das Nebenwirkungsprofil von G-CSF ist grundsätzlich milde. Am häufigsten wird von den behandelten Patienten über Knochenschmerzen geklagt (Bishop et al. 1997). Diese treten charakteristischerweise unter G-CSF nach einer myelotoxischen Chemotherapie kurz vor der Rekonstitution der Granulopoese auf und sind mit der Mobilisierbarkeit von Vorläuferzellen korreliert. Sie lassen sich in aller Regel durch Analgetika gut beherrschen. Personen, die im hämatopoetischen Gleichgewicht G-CSF zur Stammzellmobilisierung erhalten, leiden gehäuft unter Kopfschmerzen, die den Einsatz stärkerer Analgetika bis hin zu Opiaten erforderlich machen können. Gelegentlich treten lokale Reaktionen an der Einstichstelle, Fieber oder eine Gewichtszunahme durch Flüssigkeitsretention auf. Die durch GCSF bedingte Leukozytose kann sehr selten zu vasalen Verschlüssen führen. Daher ist die G-CSF-Medikation bei Auftreten einer Hyperleukozytose über 70.000/μl zu reduzieren oder ganz abzusetzen. Nach Absetzen halbiert sich die Neutrophilenzahl täglich, um nach ca. 4–6 Tagen wieder den Ausgangswert zu erreichen. Die Serumlaktatdehydrogenase kann als Ausdruck der Knochenmarkproliferation während und nach der G-CSF-Gabe erhöht sein. Einige Studien zeigten einen Abfall der peripheren Thrombozyten- und Erythrozytenzahlen unter G-CSF-Therapie (Bishop et al. 1997). Klinischer Einsatzbereich. Die für den klinischen Einsatz zugelassenen myeloischen Wachstumsfaktoren Filgrastim, Lenograstim und Molgramostim haben durch unterschiedliche klinische Studien ihre Zulassung erlangt. Eindeutige vergleichende Studien zwischen den einzelnen Substanzen liegen nicht vor. Das Nebenwirkungsprofil von G-CSF scheint zwar milder zu sein als das von GM-CSF, aber in kontrollierten Studien wiesen beide Zytokine vergleichbare Toxizitäten auf (Bregni et al. 1996). Da keine randomisiert vergleichenden Daten zu den verschiedenen myeloischen Wachstumsfaktorpräparaten vorliegen, werden diese in den folgenden Abschnitten gemeinsam behandelt. . Tab. 25.1 stellt eine Zusammenfassung der Indikationen zur CSF-Gabe dar.
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Kapitel 25 · Zytokine
G-CSF 4 Chromosomale Kodierung: 17q11.2–12 4 Molekulargewicht: 18 kDa 4 Produktion – Knochenmarkstromazellen, Makrophagen, Monozyten, Endothelzellen, Fibroblasten – Induziert durch IL-1, TNF-α, Lipopolysaccharid 4 Rezeptor: Typ-1-Zytokinrezeptor (CD114) 4 Bioaktivität – Stimulation der Proliferation von CFU-G – Aktivierung der Phagozytose von reifen neutrophilen Granulozyten – Stimulation der Zellzyklusprogression von ruhenden hämatopoetischen Stammzellen – Mobilisation von hämatopoetischen Vorläuferzellenin das periphere Blut 4 Mangelerscheinungen: Neutropenie
Prophylaktische CSF-Gabe bei Standardchemotherapie. Die Indikationsstellung zur prophylaktischen hämatopoetischen Wachstumsfaktorgabe nach einer moderat myelosuppressiven Routinechemotherapie zur Behandlung von hämatologischen Systemerkrankungen oder soliden Tumoren lässt sich nicht generell stellen. Zu diesem Thema hat die »American Society of Clinical Oncology« im Oktober 2000 aktualisierte Richtlinien veröffentlicht (Ozer et al. 2000). Eine Vielzahl von Berichten belegen die positive Wirkung der CSF auf die Häufigkeit und die Schwere der chemotherapieassoziierten Neutropenie. Demgegenüber zeigten bislang nur wenige randomisierte Studien eine signifikante Reduktion der febrilen Neutropenierate. Die Häufigkeit des neutropenischen Fiebers in den Kontrollgruppen dieser Studien lag mit über 40% wesentlich über der Rate, die nach einer konventionellen Chemotherapie zu erwarten ist. Durch den Wachstumsfaktoreinsatz ist es jedoch möglich geworden, dosisintensivere Schemata zu verabreichen. Bei den chemotherapiesensiblen Lymphomen und Mammakarzinomen liegen Ergebnisse vor, wonach diese dosisintensivierten Schemata zu einem verbesserten krankheitsfreien und Gesamtüberleben führen. Aufgrund der vorliegenden Daten ist der generelle Einsatz von
CSF bei nichtmyelotoxisch vorbehandelten Patienten nach einer Routinechemotherapie nicht zu empfehlen. Die Möglichkeit zur frühzeitigen und fachgerechten Behandlung einer neutropenischen Infektion ist eine wichtige Grundvoraussetzung für den Verzicht auf die CSF-Gabe nach myelosuppressiver Chemotherapie. Die Mortalität einer neutropenischen Infektion nach konventioneller Chemotherapie ist bei frühzeitiger antibiotischer Behandlung gering und rechtfertigt somit nicht den generellen prophylaktischen Einsatz von hämatopoetischen Wachstumsfaktoren (Hiddemann et al. 1996). Neuere pharmakoökonomische Untersuchungen halten einen Routineeinsatz von G-CSF bei Chemotherapieregimen mit einer febrilen Neutropenierate von 20% oder höher bereits für gerechtfertigt ( Calhoun et al. 2005). Dementsprechend wurden die Leitlinien des »National Comprehensie Cancer Networks« (NCCN) im Jahre 2005 adaptiert (Crawford et al. 2005). Zudem existieren einige Situationen, die den Einsatz von CSF erfordern. Bei Patienten in schlechtem Allgemeinzustand, bei Patienten mit schwerwiegenden Vorerkrankungen oder mit großer Tumorlast ist das Risiko einer ernsten Infektion erhöht, sodass in diesen Ausnahmefällen der Einsatz von CSF auch schon nach der ersten myelosuppressiven Chemotherapie (primäre Prophylaxe) sinnvoll erscheint. Wird bei einem afebrilen Patienten nach einer konventionellen Chemotherapie im Routineblutbild eine Neutropenie festgestellt, so besteht keine generelle Indikation zur interventionellen CSF-Gabe. CSF-Gabe als Intervention bei Infektionen während der chemotherapieinduzierten Neutropenie. Bei Patienten mit neutropenischem Fieber fehlen überzeugende Daten, die den generellen Einsatz von CSF vorschreiben. Studien, die diese interventionelle Indikation untersuchten, konnten zwar regelmäßig eine Verkürzung der Neutropeniedauer zeigen, es ließ sich daraus aber in der Mehrzahl der Studien kein signifikanter klinischer Vorteil bezüglich Fieberdauer oder Überleben ableiten (Maher et al. 1994; Mayordomo et al. 1995). Lediglich bei Patienten mit besonderen Risiken erscheint die Gabe von hämatopoetischen Wachstumsfaktoren zusammen mit Antibiotika medizinisch notwendig (Anaissie et al. 1996). Zu diesen Risiken zählen: schwere Neutropenie unter 100/μl, Pneumonie, Zeichen einer schweren Sepsis und eine invasive Pilzinfektion.
. Tab. 25.1. Indikationen zum Einsatz der hämatopoetischen Wachstumsfaktoren G-CSF und GM-CSF Indikation
Wachstumsfaktor
Chemotherapieschema mit hoher Inzidenz an neutropenischem Fieber (primäre Prophylaxe)
G-CSF, GM-CSF
Chemotherapie mit neutropenischer Komplikation im Vorzyklus (sekundäre Prophylaxe)
G-CSF, GM-CSF
Kompliziertes neutropenisches Fieber nach Chemotherapie (Intervention)
G-CSF, GM-CSF
Aggressive Chemotherapie bei ALL und Lymphomen
G-CSF
Konsolidierungschemotherapie bei akuter Leukämie
G-CSF, GM-CSF
Aggressive Chemotherapie bei älteren Patienten mit AML
G-CSF, GM-CSF
Autologe Knochenmarktransplantation
G-CSF, GM-CSF
Mobilisierung von hämatopoetischen Stammzellen in das periphere Blut
G-CSF
Aplastische Anämie mit Neutropenie
G-CSF
Myelodysplasie mit neutropenischen Komplikationen
G-CSF
521 25.1 · Hämatopoetische Wachstumsfaktoren
Ist es nach einem Chemotherapiezyklus zu einer febrilen Neutropenie oder zu einer Neutropeniedauer (<500/μl) von mehr als 6 Tagen gekommen, so ergeben sich hieraus Konsequenzen für den darauffolgenden Zyklus. Es kann sowohl die Dosis der myelosuppressiven Substanzen verringert als auch die Therapiepause verlängert werden. Die dritte Möglichkeit, die insbesondere bei kurativ zu behandelnden Patienten einzuschlagen ist, besteht in der CSF-Gabe als sekundäre oder kalkulierte Prophylaxe. Durch die Anwendung von hämatopoetischen Wachstumsfaktoren kann in diesen Fällen oft die Dosisintensität der geplanten Chemotherapie beibehalten werden (Ribas et al. 1996). Auch beim Einsatz von myelotoxischen Salvage-Regimen nach vorangegangener primärer Chemotherapie ist die kalkulierte Prophylaxe mit einem CSF sinnvoll. Zeitpunkt der CSF-Gabe. Die Verkürzung des Leukozytennadirs kommt durch die Wirkung der CSF auf hämatopoetische Vorläuferzellen, die eine gewisse Zeit zur Ausreifung benötigen, zustande. Wegen dieser zeitversetzten Wirkung sollte mit der CSF-Therapie nicht später als 5 Tage nach Abschluss der Chemotherapie begonnen werden. Die Therapie ist bis zum Wiederanstieg der neutrophilen Granulozyten auf mindestens 1.000–1.500/ μl fortzuführen. Die gleichzeitige Gabe von CSF und Chemotherapie oder Radiatio sollte vermieden werden, da dies zu einem verstärkten Knochenmarkschaden führen kann (van Os et al. 2000). In einer randomisierten SWOG-Studie zur Therapie des kleinzelligen Bronchialkarzinoms mittels kombinierter Radiochemotherapie wurde in der mit GM-CSF behandelten Gruppe eine signifikant höhere Rate an schweren Thrombozytopenien und therapiebedingten Todesfällen beobachtet (Bunn et al. 1995). CSF-Gabe bei intensiver zytostatischer Chemotherapie. Der Einsatz von hämatopoetischen Wachstumsfaktoren in der supportiven Therapie der akuten Leukämien war Gegenstand mehrerer großer randomisierter klinischer Studien zu Beginn der 90er Jahre (Geller 1996; Schiffer 1996; Lowenberg et al. 1997; Zittoun et al. 1996). Es ist aus In-vitro-Studien schon seit langer Zeit bekannt, dass myeloische Blasten Rezeptoren sowohl für GCSF als auch für GM-CSF auf ihrer Oberfläche tragen können. Durch diese Rezeptoren können die myeloischen Wachstumsfaktoren die Proliferation sowie die terminale Differenzierung myeloischer Blasten stimulieren. Aufgrund dieser In-vitro-Daten bestand zum einen die Befürchtung, dass der klinische Einsatz von hämatopoetischen Wachstumsfaktoren bei der akuten myeloischen Leukämie (AML) nach einer Chemotherapie zu einer Erhöhung der Rezidivrate führen könnte. Zum anderen bestand die Hoffnung, dass durch Wachstumsfaktorgabe vor und während der Chemotherapie eine Rekrutierung der leukämischen Blasten in den Zellzyklus erreicht werden könnte. Diese wiederum könnte die Wirksamkeit der Chemotherapeutika verbessern und die Heilungsaussichten erhöhen. Letztere Strategie, Priming genannt, wurde in verschiedenen klinischen Studien getestet. Das Hauptziel des Wachstumsfaktoreinsatzes war jedoch die Verminderung der chemotherapieassoziierten Neutropeniedauer und damit die Senkung der therapieassoziierten Mortalität und Morbidität. Diese Therapiekomplikationen spielen vor allem bei Patienten über 60 Jahre eine entscheidende Rolle, weshalb in dieser Patientengruppe die meisten Studien durchgeführt wurden. In einer großen multizentrischen, randomisierten Studie zum Einsatz von G-CSF zeigten Heil et al. (1997), dass der Einsatz
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des Wachstumsfaktors keinen Einfluss auf die Remissionsrate, das krankheitsfreie und das Gesamtüberleben bei AML-Patienten hatte. Auch andere Studien bestätigten, dass es zu einer Reduktion der Neutropeniedauer um ca. 5 Tage nach Wachstumsfaktoreinsatz kommt. Dadurch bedingt war in einigen Studien der Krankenhausaufenthalt und vermutlich auch der Antibiotikaverbrauch reduziert. Die meisten Studien zeigten keinen Einfluss auf die Inzidenz von schweren Infektionen oder therapiebedingten Todesfällen. Eine randomisierte Studie zum Einsatz von GM-CSF bei älteren Patienten konnte einen geringgradigen Überlebensvorteil für die Verumgruppe durch Reduktion der Frühmortalität zeigen (Rowe et al. 1995). Andere Studien konnten verbesserte Remissionsraten oder krankheitsfreie Intervalle in der CSF-behandelten Gruppe nachweisen. Diese Daten sind in . Tab. 25.2 zusammengefasst (Hiddemann et al. 1999). Insgesamt unterstützen die gegenwärtigen Daten den prophylaktischen Einsatz hämatopoetischer Wachstumsfaktoren nach einer intensiven Chemotherapie bei älteren Patienten. Die optimale Art und die Dauer der CSF-Gabe müssen aber in zukünftigen Studien noch spezifiziert werden. Zum Priming der AML-Zellen existieren weniger aussagekräftige Studien. Die überwiegende Mehrzahl dieser Studien wies keinen positiven Einfluss auf die Rate der kompletten Remissionen oder das krankheitsfreie Überleben auf. Somit ist diese Therapiestrategie zurzeit nur im Rahmen von kontrollierten klinischen Studien anzuwenden. Bezüglich des Einsatzes von G-CSF als supportive Therapie während der Induktion der akuten lymphatischen Leukämie liegt eine prospektiv randomisierte Studie der deutschen ALL-Gruppe vor (Ottmann et al. 1995). Hier beschreiben Ottmann et al. an 76 Patienten, dass die G-CSF-Gabe während der Induktionphase II zu einer signifikant verkürzten Neutropeniedauer (8 vs. 12,5 Tage) führte. Es wurde auch ein klinischer Nutzen durch Verringerung der infektiösen Komplikationen sowie seltenere Unterbrechungen der Chemotherapiezyklen verzeichnet. Demgegenüber wurden keine Unterschiede zwischen den beiden Behandlungsarmen in der Rate der kompletten Remissionen oder des krankheitsfreien Überlebens nachgewiesen. CSF-Gabe im Rahmen der Blutstammzelltransplantation. Ein Haupteinsatzgebiet für die hämatopoetischen Wachstumsfaktoren ist die Mobilisation hämatopoetischer Vorläuferzellen aus dem Knochenmark in das periphere Blut. Diese zunächst nicht erwartete Fähigkeit besitzen sowohl G-CSF wie GM-CSF. Während im peripheren Blut normalerweise weniger als eine CD34-positive Zelle pro μl zu finden ist, steigt diese Zahl ca. 4‒ 5 Tage nach subkutaner Wachstumsfaktorgabe (G-CSF oder GM-CSF 10 μg/kg KG) auf das 10-fache an. Nach Verabreichung der Wachstumsfaktoren bei vorangegangener myelotoxischer Chemotherapie kann die Zahl der zirkulierenden Vorläuferzellen auf das über 100-fache des Ruhezustands ansteigen. In der Mobilisierbarkeit von peripheren Blutstammzellen gibt es große interindividuelle Unterschiede. Neben dem Alter und konstitutionellen Faktoren spielt die vorangegangene myelotoxische Chemo- oder Radiotherapie eine wichtige Rolle (Freedman et al. 1997; Haas et al. 1994). Während nach einer autologen KMT auch unter Zugabe von hämatopoetischen Wachstumsfaktoren die Zeit bis zur ausreichenden Rekonstitution der Granulozyten im Mittel um 15–20 Tage beträgt, kann diese Zeit durch Verwendung einer ausreichenden Anzahl von PBSZ auf ca. 8–12 Tage
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Kapitel 25 · Zytokine
. Tab. 25.2. Randomisierte Studien zum Einsatz von GM-CSF bei älteren Patienten mit AML. (Nach Hiddemann et al. 1999) Referenz
Zahl der Patienten
Alter
Therapie
ED [%]
Neutropenie [Tage]
CR [%]
DFS [Monate]
Überleben [Monate]
Rowe et al. 1995
117
>55
DNR 3 × 60
6 (p=0,015)
13 (p=0,001)
60 (p=0,08)
8,5
10,6
15
17
44
9,6
4,8
23
21 (p<0,001)
70 (p=0,002)
–
45% nach 1 Jahr
27
27
47
–
40% nach 1 Jahr
20
15 (p=0,02)
51
8,2
7,5
16
17
54
10,4
10
14
23 (p=0,0002)
55
14% nach 2 Jahren
–
13
25
56
19% nach 2 Jahren
–
18
24 (p=0,0001)
63
23 (p=0,003)
39% nach 2 Jahren
16
29
61
11
27% nach 2 Jahren
AraC 7 × 100 GM-CSF DNR 3 × 60 AraC 7 × 100 Dombret et al. 1995
173
>65
DNR 4 × 45
AraC 7 × 200 GM-CSF DNR 4 × 45
AraC 7 × 200 Stone et al. 1995
388
>60
DNR 3 × 45 AraC 7 × 200 GMCSF DNR 3 × 45 AraC 7 × 200
Löwenberg et al. 1997
318
>60
DNR 3 × 30
AraC 7 × 200 GMCSF DNR 3 × 30 AraC 7 × 200 GMCSF Witz et al. 1998
240
55–75
Ida 5 × 8
AraC 7 × 100 MCSF Ida 5 × 8 AraC 7 × 100 ED Frühtodesrate; CR komplette Remission; DFS krankheitsfreies Überleben; DNR Daunorubicin; AraC Cytarabin; Ida Idarubicin
verkürzt werden. Die Mortalität der Hochdosischemotherapie wird durch die verkürzte Knochenmarkaplasiedauer auf deutlich unter 5% gesenkt. Die hämatopoetische Wachstumsfaktorgabe eignet sich auch für den Einsatz zur Gewinnung von Blutstammzellen für die allogene Transplantation. Hierdurch wird beim Spender die Operation der Knochenmarkentnahme vermieden. Die Wachstumsfaktorgabe wird in aller Regel gut toleriert und über schwerwiegende Nebenwirkungen wurde nur in ganz seltenen Einzelfällen berichtet. Es wird allgemein eine Dosierung von 10 μg/kg KG s. c.
pro Tag für diese Indikation angegeben (Anderlini et al. 1997). Eine Verdopplung dieser Dosis kann aber die Progenitorausbeute noch weiter steigern (Waller et al. 1996). Spätwirkungen der Faktorgabe sind bislang bei Normalpersonen nicht berichtet worden, die Erfahrungen zum Wachstumsfaktoreinsatz sind allerdings noch zeitlich auf ca. 15–20 Jahre begrenzt. Nach einer autologen Knochenmarktransplantation hat die Gabe von G-CSF oder GM-CSF eine signifikante Verkürzung der Neutropeniedauer zur Folge, was sich auch in einem klinischen Vorteil mit Reduktion der Antibiotikatage und des Kran-
523 25.1 · Hämatopoetische Wachstumsfaktoren
kenhausaufenthaltes niederschlägt (Nemunaitis et al. 1991; Stahel et al. 1994 u. 1997). Weniger klar ist der klinische Benefit der routinemäßigen Wachstumsfaktorgabe nach autologer peripherer Blutstammzelltransplantation oder nach allogener Transplantation. Hierzu wurde zwar auch in verschiedenen Studien eine Beschleunigung der Granulozytenrekonstitution nachgewiesen, der sich daraus ergebende klinische Nutzen war jedoch nur marginal (Bishop et al. 2000). Andererseits gibt es bei der allogenen Stammzelltransplantation auch keine sicheren Hinweise für eine höhere Rate an akuter GvHD unter CSF-Gabe. Bei Vorliegen einer verzögerten Knochenmarkrekonstitution nach jeder Art der Transplantation ist der Einsatz von G-CSF oder GM-CSF auf jeden Fall indiziert. In einer kleinen Serie von 7 Patienten berichteten Giralt et al. (1993) über den Einsatz von G-CSF bei einem AML-Rezidiv nach einer allogenen Knochenmarktransplantation. Drei dieser Patienten erzielten eine hämatologische und zytogenetische Remission der Spenderhämatopoese. Da bei einigen dieser Patienten gleichzeitig die Immunsuppression abgesetzt oder reduziert wurde, ist nicht eindeutig klar, ob die Wachstumsfaktorgabe ursächlich oder unterstützend die erneute Remission eingeleitet hat. Von GM-CSF ist bekannt, dass es die Ausreifung dendritischer Zellen fördert. Dieser Effekt wird seit Kurzem ausgenutzt, um die Spenderlymphozyteninfusion beim Rezidiv nach allogener KMT zu unterstützen. CSF-Gabe bei angeborenen oder erworbenen Neutropenien. Ein weiteres Einsatzgebiet für G-CSF ist die Behandlung von Neutropenien bei nichtmalignen Grunderkrankungen. Schon Ende der 80er Jahre wurde über den erfolgreichen Einsatz von G-CSF bei schwerer kongenitaler Neutropenie und bei zyklischer Neutropenie berichtet (Hammond et al. 1989; Jakubowski et al. 1989b; Welte et al. 1990). Bei diesen Erkrankungen liegen jetzt Erfahrungen über den chronischen Einsatz des Wachstumsfaktors über mehr als 10 Jahre vor. Bislang wurde dabei keine Erschöpfung des hämatopoetischen Systems beobachtet. Bei Patienten mit schwerer kongenitaler Neutropenie und einer nachgewiesenen Mutation im G-CSF-Rezeptor sind unter G-CSF-Behandlung akute myeloische Leukämien und Myelodysplasien dokumentiert worden. Da bei diesen Patienten aber auch ohne G-CSF-Therapie maligne Transformationen auftraten, muss man bei der schweren kongenitalen Neutropenie von einer prämalignen Erkrankung ausgehen (Dong et al. 1997; Welte u. Dale 1996). Bacigalupo et al. (1995) berichteten über eine EBMT-Studie bei schwerer aplastischer Anämie, in der der G-CSF-Einsatz zusätzlich zum Antilymphozytenglobulin und Zyklosporin-A einen klinischen Nutzen erbrachte. Bei marginal erhaltener Resthämatopoese lässt sich bei der aplastischen Anämie durch G-CSF-Gabe oft noch eine ausreichende Neutrophilenzahl zur Vermeidung schwerer infektiöser Komplikationen stimulieren. Auch bei neutropenischen Aids-Patienten, insbesondere unter myelotoxischer Therapie, kann G-CSF einen klinischen Nutzen erbringen (Miles et al. 1991). Bei Patienten mit myeolodysplastischem Syndrom und neutropenischen Komplikationen kann die Wachstumsfaktorgabe zu einem Anstieg der neutrophilen Granulozyten und zu einer klinischen Besserung der Infektionen führen (Negrin et al. 1990; Vadhan-Raj et al. 1987). Die Rate der sekundären Leukämien wird bei diesen Patienten zwar nicht signifikant erhöht, aber bislang ließ sich auch kein signifikanter Überlebensvorteil nachweisen. Daher wird von einer generellen Dauertherapie mit G-CSF oder GM-CSF bei Myelodysplasiepatienten abgeraten.
25
Durch Bindung eines Polyethylen-Glycol-Moleküls (PEG) an den N-terminalen Methioninrest (Pegylierung) des Filgrastims konnten die pharmakokinetischen Eigenschaften des resultierenden Pegfilgrastims entscheidend verändert werden (Lüftner et al. 2005). Durch die Größenzunahme des Moleküls auf 40 kDa wird die renale Clearance minimiert. Während die funktionellen Wirkungen des Pegfilgrastims nahezu identisch mit dem unmodifizierten Muttermolekül sind, erfolgt die Elimination nun nahezu ausschließlich durch die Bindung an den G-CSF-Rezeptor auf neutrophilen Granulozyten oder deren Vorläuferzellen. Dadurch ist die Halbwertszeit in neutropenen Patienten deutlich verlängert und die Clearance wird nach der hämatopoetischen Erholung drastisch beschleunigt, wodurch ein sich selbst regulierender Eliminationsweg resultiert. Diese speziellen pharmakokonetischen Eigenschaften erlauben es, eine einzige therapeutische Injektion mit einer fixen Dosis von 6 mg zur Behandlung der chemotherapieinduzierten Neutropenie einzusetzen. Erste Daten weisen auch auf eine Gleichwertigkeit der einmaligen Pegfilgrastimgabe gegenüber der G-CSF-Gabe bei Patienten mit AML oder bei der Stammzellmobilisierung hin. Bei letzterer Indikation konnte in einer vergleichenden Studie kein Unterschied zwischen einer einmaligen Dosis von 6 oder 12 mg bezüglich der Ausbeute der asservierten CD34-positiven Zellen gefunden werden. Die Nebenwirkungen des Pegfilgrastims sind mit denen des Filgrastims vergleichbar. Knochenschmerzen treten bei ca. einem Viertel der Patienten auf, lassen sich aber in der Regel mit einfachen Analgetika beherrschen. Insgesamt stellt die Einführung des Pegfilgrastims einen Fortschritt in der ambulanten Verabreichung von G-CSF dar. Sozioökonomische Studien zu Vorteilen in der Kosteneffizienz der beiden Darreichungsformen liegen zurzeit noch nicht vor. Makrophagen-koloniestimulierender Faktor (M-CSF) Biosynthese. Humaner M-CSF wird in zwei verschiedenen Glykoproteinspezies von 70–90 und 40–50 kD je nach Splicing synthetisiert und entweder als humorale Form sezerniert oder auf der Zelloberfläche exprimiert. Die aktive Form des Zytokins liegt als Homodimer vor. M-CSF wird von Monozyten, Granulozyten, Endothelzellen, Fibroblasten, aktivierten Lymphozyten und anderen Zellarten synthetisiert. Inflammatorische Zytokine, wie IL-1, TNF-α, INF-γ, IL-3 und GM-CSF induzieren die Synthese von M-CSF (Fixe u. Praloran 1998). Rezeptoren und Signalübertragung. Makrophagen-koloniestimulierender Faktor bindet an den Tyrosinkinaserezeptor FMS. Nach Aktivierung von FMS erfolgt eine rasche Autophosphorylierung, und Dimerisation des Rezeptormoleküls. Dies hat wiederum die Phosphorylierung weiterer Downstream-Moleküle zur Folge, unter ihnen SHC, RAF-1, cCBL, Phosphatidylinositol3-Kinase und die Proteintyrosinphosphatase 1C (Hatch et al. 1998). Der Rezeptor wird hauptsächlich von Monozyten und Makrophagen, aber auch Osteoklasten und anderen Zellarten exprimiert. Biologische Aktivität und Wirkungsweise. M-CSF stimuliert die Monozyten-Makrophagen-Proliferation in vitro und in vivo. Darüber hinaus hat es auch Wirkungen auf die Makrophagenfunktion, indem es die Phagozytose und die intrazelluläre Sauerstoffradikalenbildung fördert. Dadurch wird die Fähigkeit der stimulierten Monozyten zur intrazellulären Tötung von Mirkoorganismen gefördert (Fiona et al. 2004). Zusätzlich reguliert
524
25
Kapitel 25 · Zytokine
M-CSF auch die Genese von Osteoklasten. Bei M-CSF-Knockout-Mäusen scheint die fehlende Wirkung auf die Osteoklasten die Ursache für die vorherrschende Osteopetrose zu sein (Stanley et al. 1994). Klinischer Einsatzbereich und Toxizität. Phase-I-Dosiseskalationsstudien mit M-CSF wurden bei Patienten mit invasiven Mykosen vorgenommen. Als maximal tolerable Dosis wurden 120 μg/kg KG ermittelt. Als dosislimitierend erwies sich eine Thrombozytopenie. Darüber hinaus war die Zytokininfusion vereinzelt von einer Fieberreaktion begleitet. Im Vergleich zu historischen Kontrollen konnte jedoch eine therapeutische Wirksamkeit von M-CSF bei Pilzinfektionen vermutet werden. Bislang liegen diesbezüglich aber keine eindeutig positiven Phase-III-Studien vor, weshalb M-CSF noch keinen Eingang in die klinische Routine gefunden hat (Nemunaitis 1997).
M-CSF 4 4 4 4
Synonym: CSF-1 Chromosomale Kodierung: 1p21-p13 Molekulargewicht: 40–90 kDa Produktion – Knochenmarkstromazellen, Makrophagen, Monozyten, Endothelzellen, Fibroblasten, Osteoblasten – Induziert durch IL-3, IL-4, TNF-α, Lipopolysaccharid 4 Rezeptor: Typ-III-Tyrosinkinaserezeptor, FMS, (CD115) 4 Bioaktivität – Stimulation der Proliferation von CFU-M – Aktivierung der Phagozytose von Makrophagen – Homöostase der Osteoklastenzahl 4 Mangelerscheinungen: Osteopetrose, Makrophagenund Osteoklastenmangel
Interleukin 5 (IL-5) Biosynthese. Interleukin 5 ist ein disulphidbrückengebundenes homodimeres Glykoprotein mit einem Molekulargewicht des sezernierten Zytokins von 40–45 kD. Es findet sich eine hohe Sequenzhomologie zwischen verschiedenen Säugetierspezies. Das Zytokin wird von TH2-Lymphozyten und eosinophilen Granulozyten produziert und in T-Zellen durch Aktivierung mittels z. B. Antigenkontakt oder IL-2-Inkubation induziert (Enokihara et al. 1989; Desreumaux et al. 1993) Rezeptoren und Signalübertragung. Der Interleukin-5-Rezeptor besteht aus der spezifischen α-Untereinheit (CDw125) und der mit den Rezeptoren für IL-3 und GM-CSF gemeinsamen β-Untereinheit (CDw131). Während die α-Untereinheit alleine IL-5 nur mit niedriger Affinität bindet, stabilisiert die β-Untereinheit die Zytokinrezeptorbindung und ist zudem für die intrazelluläre Signaltransduktion durch Aktivierung der JAK2, JAK1 und STAT5 verantwortlich (Ogata et al. 1998; van der Bruggen et al. 1995). Biologische Aktivität und Wirkungsweise. Interleukin 5 regt die Proliferation von eosinophilen Granulozytenvorläuferzellen (CFU-EO) an. In reifen eosinophilen Granulozyten inhibiert IL-
5 die Apoptose und stimuliert die funktionelle Aktivität. IL-5transgene Mäuse weisen eine der Genexpression proportionale Eosinophilie auf (Roboz u. Rafii 1999). Bei IL-5-Knock-outMäusen ist die Funktion und Zahl der Eosinophilen unter Ruhebedingungen normal. Es kommt jedoch nach Wurminfektionen oder Atemwegsallergenexposition zu einer verminderten Eosinophilenreaktion (Kopf et al. 1996; Matthaei et al. 1997). Die Elimination der infizierenden Helminthen ist zudem behindert. Neben den Effekten auf die Eosinophilen liegen Daten über eine aktivierende Wirkung von IL-5 auf zytotoxische T-Zellen und die Immunglobulinsekretion vor (Matthaei et al. 1997). Es ist bislang jedoch unklar, ob diese Wirkungen beim Menschen von Relevanz sind. Während sich für die therapeutische Gabe von IL-5 kaum klinische Einsatzgebiete finden lassen, kommt der Hemmung der IL-5-Aktivität eine wesentlich größere Bedeutung zu. In Tierversuchen konnte durch die Verabreichung von monoklonalen Anti-IL-5-Antikörpern die Bronchialwandeosinophilie nach Allergenexposition erfolgreich inhibiert werden (Garlisi et al. 1999). Ob sich in der Behandlung des Asthmas oder des hypereosinophilen Syndroms ein klinisches Einsatzgebiet für einen monoklonalen Antikörper ergibt, ist bislang noch unklar.
IL-5 4 4 4 4
Synonym: Eosinophilendifferenzierungsfaktor Chromosomale Kodierung: 5q31.1 Molekulargewicht: 40–45 kDa Produktion – T-Lymphozyten, eosinophile Granulozyten – Induziert durch Antigen, Mitogene, Phorbolester, IL-2 4 Rezeptor: Heterodimer bestehend aus M-CSF-spezifischer α-Untereinheit (CDw125) und β-Untereinheit (CDw131) gemeinsam mit IL-3 und GM-CSF 4 Bioaktivität – Stimulation der Proliferation von eosinophilen Ganulozytenvorläuferzellen – Aktivierung der eosinophilen Granulozyten – Aktivierung zytotoxischer T-Lymphozyten – Induktion der Immunglobulinsekretion 4 Mangelerscheinungen: Mangel an Eosinophilen unter Stimulation, Defizienz in der Elimination von Wurminfektionen
25.1.3 Zytokine mit Wirkungen auf die
thrombozytäre Reihe Thrombopoetin Biosynthese. Humanes Thrombopoetin ist ein 60–70 kD großes Glykoprotein. Die Aminosäuresequenz hat über weite Strecken eine Homologie mit dem Erythropoetin (Bartley et al. 1994; Kuter et al. 1994; Lok et al. 1994). . Abb. 25.2 zeigt ein Schema zum Modell der Regulation der Thrombozytenzahl im Blut. Danach ist die Thrombopoetinproduktion, die vornehmlich in Leber und Niere vonstatten geht, weitgehend konstant. Die Entfernung des Zytokins aus der Zirkulation geschieht durch Bindung an seinen Rezeptor auf Megakaryozyten und Thrombo-
525 25.1 · Hämatopoetische Wachstumsfaktoren
25
. Abb. 25.2. Regelkreis der Thrombopoese
zyten. Sind im Blut zu wenige Thrombozyten vorhanden, wird weniger Thrombopoetin von diesen gebunden und inaktiviert. Dadurch steigt der Serumspiegel des Zytokins und die Megakaryopoese wird vermehrt stimuliert. Bei gesteigerter Thrombozytenzahl wird vermehrt Thrombopoetin inaktiviert und die Megakaryopoese wird weniger stark angeregt. Der Thrombopoetinserumspiegel ist bei konstanter Produktion durch Bindung an die Thrombozyten in der Regel reziprok zur Thrombozytenzahl. Eine Ausnahme von dieser Regel bildet die idiopathische thrombozytopenische Purpura (ITP), bei der weitgehend normale Thrombopoetinspiegel gefunden werden. Bei dieser Erkrankung und anderen Thrombozytenverbrauchszuständen wird das Thrombopoetin durch die expandierte Megakaryozytenpopulation gebunden, was einen annähernd normalen Serumspiegel zur Folge hat (Kaushansky 1995).
Biologische Aktivität und Wirkungsweise. Thrombopoetin stimuliert alle Entwicklungsschritte der Megakaryozyten und deren Vorläuferzellen. Während das Molekül in vitro auch die Vorläuferzellen anderer myeloischer Reihen stimuliert, führt die Verabreichung in vivo nur zu einem Thrombozytenanstieg. Knock-out-Mäuse für Thrombopoetin oder seinen Rezeptor MLP weisen eine um 90% reduzierte Thrombozytenzahl auf, während die anderen hämatopoetischen Reihen normal entwickelt sind. Dies unterstreicht die spezifische Wirkung des Rezeptor-Liganden-Systems auf die Plättchenproduktion (Murone et al. 1998). Die Funktion der Thrombozyten wird zudem dahingehend beeinflusst, dass die Sensitivität gegenüber aggregierenden Substanzen, wie Thrombin oder Kollagen, erhöht wird. Dieser PrimingEffekt gegenüber thrombogenen Faktoren konnte in Tiermodellen auch in vivo nachgewiesen werden und ist bei einer eventuellen klinischen Anwendung zu beachten (Kaushansky 1998).
Rezeptoren und Signalübertragung. Der Thrombopoetinrezeptor ist das Genprodukt von MLP, dem humanen Homologon des murinen myeloproliferativen Leukämievirus (Vigon et al. 1992). Das humane Gen ist auf Chromosom 1 (1p34) lokalisiert, sein Produkt gehört zur hämatopoetischen Typ-1-Wachstumsfaktorrezeptorsuperfamilie. Nach Bindung an den Thrombopoetinrezeptor läuft die Signaltransduktion des Zytokins über die JAK/STAT- und RAS-Signaltransduktionskaskaden (Kaushansky 1995; de Sauvage et al. 1994).
Pharmakokinetik und Toxizität. Die Plasmahalbwertszeit von Thrombopoetin liegt mit 30 h deutlich über der anderer hämatopoetischer Wachstumsfaktoren. Durch Bindung eines Polyethylengykol-(PEG-)Restes an ein rekombinantes trunkiertes Thrombopoetinpolypeptid, »megakaryocyte growth and development factor« (PEG-rHuMGDF) genannt, kann die zirkulatorische Verweildauer noch um den Faktor 10 verlängert werden (Kaushansky 1998). Die einmalige subkutane Gabe von 3 μg/kg dieses Faktors bei gesunden Probanden führte innerhalb einer Woche
526
25
Kapitel 25 · Zytokine
zu einer Verdoppelung der Megakaryopoese und innerhalb von 12 Tagen zu einer verdoppelten Thrombozytenzahl im peripheren Blut. Die Funktion und Lebensspanne dieser Thrombozyten waren normal und die Zahl fiel innerhalb von 4 Wochen wieder auf den Ausgangswert zurück (Harker et al. 2000). Bei wiederholten PEG-rHuMGDF-Gaben wurde die Entwicklung von neutralisierenden Antikörpern beobachtet, die in Einzelfällen mit einer mäßigen bis schweren Thrombozytopenie einherging. Als mögliche Ursache kommt eine neutralisierende Kreuzreaktion mit endogenem Thrombopoetin in Frage. Aufgrund dieser Berichte wurde die klinische Entwicklung von PEGrHuMGDF gestoppt (Kuter et al. 1999). Klinischer Einsatzbereich. Durch eine schwere Thrombozytopenie verursachte Blutungskomplikationen können heute zuverlässig durch Transfusion von Thrombozytenkonzentraten verhindert werden. Der klinische Nutzen der Thrombopoetingabe kann somit nur in der Verhinderung von Komplikationen bei der Thrombozytentransfusion und in einer Kostensenkung liegen. Verschiedene klinische Studien konnten bislang zwar einen positiven Effekt auf die Thrombozytenbildung aufzeigen; ein in einem randomisierten Vergleich nachgewiesener signifikanter Nutzen durch die Thrombopoetingabe ließ sich bislang jedoch noch nicht erbringen (Schiffer et al. 2000). Weitere potenzielle Einsatzmöglichkeiten für das Zytokin liegen in der optimierten Mobilisation von hämatopoetischen Vorläuferzellen zur Transplantation und in der Ex-vivo-Manipulation dieser Zellen. Durch genetisch konstruierte Antikörperfragmente (Minibodies) gegen den Thrombopoetinrezeptor (MPL) gelang es kürzlich den funktionell inaktiven MPL bei Patienten mit angeborener amegakaryozytärer Thrombozytopenie zu stimulieren (Orit et al. 2005).
Thrombopoetin 4 Synonyme: Megakaryozytenwachstums- und -entwicklungsfaktor (MGDF), MPL-Ligand 4 Chromosomale Kodierung: 3q27–28 4 Molekulargewicht: 60–70 kDa 4 Produktion: Knochenmarkstromazellen, Milz, Niere, Leber, Muskel, Gehirn 4 Rezeptor: C-MPL, Typ-1-Wachstumsfaktorrezeptor 4 Bioaktivität – Stimulation der Proliferaton und Differenzierung von CFU-Mk – Synergismus mit anderen Wachstumsfaktoren (Stammzellfaktor, IL-3, FLT-3) – Plättchenfunktionsbeeinflussung 4 Mangelerscheinungen: Thrombozytopenie
Rezeptoren und Signalübertragung. Der IL-11-Rezeptor (IL11-R) setzt sich aus einer zytokinbindenden α-Untereinheit (CD125) von 43 kD und einem 130-kD-Glykoprotein (GP130, CD130) zusammen, was der Signaltransduktion dient. Neben der IL-11-Signaltransduktion ist GP130 an der Signalübertragung weiterer Zytokine beteiligt. Die intrazelluläre Signalübertragung erfolgt durch Aktivierung von JAK1, JAK2, TYK2 sowie STAT1 und STAT3 (Liu et al. 1998). Biologische Aktivität und Wirkungsweise. In vitro wirkt IL-11 auf verschiedene hämatopoetische Progenitorzellen. Das Zytokin stimuliert die Proliferation von frühen Vorläuferzellen durch Aktivierung des Zellzyklus. Auf megakaryozytäre Progenitorzellen wirkt IL-11 zusammen mit IL-3, Stammzellfaktor oder Thrombopoetin proliferativ und induziert gleichzeitig die Reifung dieser Zellen. Es liegen ebenfalls Daten über die Stimulation der Erythropoese, Myelopoese und B-Zell-Bildung durch IL-11 vor (Leonard et al. 1994; Du et al. 1993). Neben diesen hämatopoetischen Wirkungen hat IL-11 noch eine Reihe von Wirkungen auf andere Gewebe. So inhibiert es die Proliferation von gastrointestinalen Epithelzellen und Adipozyten, während Osteoklasten stimuliert werden (Du u. Williams 1997). In präklinischen Tiermodellen zeigte IL-11 eine stimulierende Wirkung auf die Megakaryopoese und Myelopoese nach myelotoxischer Vortherapie. Neben den hämatopoetischen Wirkungen übte es auch eine protektive Wirkung auf den Gastrointestinaltrakt bei chemotherapierten Mäusen aus (Du et al. 1994). Zudem verminderte es die chemotherapieinduzierte Mukositis in einem Hamstermodell (Sonis et al. 1995). Pharmakokinetik und Toxizität. Nach subkutaner Gabe von rhuIL-11 an freiwillige Probanden wurde eine Bioverfügbarkeit von über 65% beschrieben. Die maximale Plasmakonzentration von ca. 17 ng/ml wird nach ca. 3 h erreicht. Die Elimination des Zytokins erfolgt durch Metabolismus mit einer linearen Pharmokokinetik und einer terminalen Halbwertszeit von ca. 7 h (Aoyama et al. 1997). In klinischen Studien verursachte IL-11 in einer Dosierung von 50 μg/kg KG s. c. eine Flüssigkeitsretention mit Ödembildung bei 55–63% und Luftnot bei 48% der behandelten Patienten (Du Bois et al. 1997; Isaacs et al. 1997). Die Symptomatik war in der Regel mild und bildete sich entweder spontan oder nach Diuretikagabe zurück. In einer Studie war die IL-11-Gabe mit einer signifikanten Rate von Vorhofflimmern assoziiert (Du Bois et al. 1997). Auch in dieser Studie wurde eine Flüssigkeitsretention beobachtet und für die Vorhofarrhythmie verantwortlich gemacht.
Interleukin 11
Interleukin 11 Biosynthese. Interleukin 11 wurde 1990 aus Knochenmarkstromazellen von der Arbeitsgruppe um Yang kloniert (Paul et al. 1990). Das Molekulargewicht des Molekül beträgt 19–23 kD und das Gen wurde auf dem kurzen Arm von Chromosom 19 lokalisiert. IL-11 wird von verschiedenen mesenchymalen Geweben synthetisiert und die Expression wird durch inflammatorische Zytokine und Hormone in komplexer und gewebsspezifischer Weise moduliert (Du u. Williams 1994).
4 4 4 4
Synonym: Adipogenese inhibierender Faktor Chromosomale Kodierung: 19q13.3–13. 4 Molekulargewicht: 19–23 kDa Produktion – Knochenmarkstromazellen, Fibroblasten – Induziert durch IL-1, Phorbolester 4 Rezeptor: Heterodimer bestehend aus IL-11-spezifischer α-Untereinheit (CD125) und β-Untereinheit (CD130) gemeinsam mit LIF, IL-6 und Onkostatin 6
527 25.1 · Hämatopoetische Wachstumsfaktoren
4 Bioaktivität – Stimulation der Proliferation von Plasmazellen – Synergistische Wirkung mit IL-3 und Stammzellfaktor auf erythroide und megakaryozytäre Vorläuferzellen – Verkürzung der G0-Phase hämatopoetischer Vorläuferzellen – Steigerung der Thrombozyten- und der neurophilen Granulozytenzahl im peripheren Blut – Stimulation von Akute-Phase-Proteinen in der Leber – Inhibition der Adipogenese in Adipozyten 4 Mangelerscheinungen; Kein hämatopoetischer Defekt
Klinischer Einsatzbereich. In zwei randomisierten, plazebokontrollierten Studien wurde die Effizienz der IL-11-Gabe zur Vermeidung von Thrombozytentransfusionen nachgewiesen. In der von Tepler et al. durchgeführten Studie wurden 93 Patienten mit verschiedene Tumorentitäten und vorangegangener chemotherapieinduzierter Thrombozytopenie zwischen Plazebo und zwei verschiedenen Dosen von Il-11 randomisiert. Während in der Plazebogruppe nur 1 von 27 Patienten keiner Transfusion bedurfte, konnte die Rate transfusionsfreier Patienten in der mit IL-11 (50 μg/kg s. c. pro Tag) behandelten Gruppe auf 8 von 27 (p<0,05) gesteigert werden (Du Bois et al. 1997). In einer Studie von Isaacs et al. wurden 77 Patientinnen mit metastasiertem Mammakarzinom mit einer dosiseskalierten Chemotherapie (Cyclophosphamid 3.200 mg/m2, Doxorubicin 75 mg/m2) behandelt. In der Plazebogruppe erhielten 15 von 37 (41%) während der ersten beiden Zyklen keine Thrombozytentransfusionen, während in der mit IL-11 behandelten Gruppe diese Rate bei 27 von 40 (68%) lag (p<0, 04; Isaacs et al. 1997). Einen Einfluss der IL-11-Gabe auf das Tumorwachstum wurde in keiner dieser Untersuchungen gefunden. Aufgrund dieser Studienergebnisse ist IL-11 (Oprelvekin, Neumega) für den Einsatz bei chemotherapieinduzierter Thrombozytopenie in den USA zugelassen worden. 25.1.4 Erythropoetin
Biosynthese. Erythropoetin ist der primäre Regulator der Erythropoese. Das Zytokin wurde 1984 von mehreren Gruppen kloniert (Lee Huang 1984; Jacobs et al. 1985; Lin et al. 1985). Das humane Gen wurde auf dem kurzen Arm des Chromosom 7 lokalisiert. Das Molekulargewicht des Glykoproteins beträgt 34–39 kD. Erythropoetin wird zu 90% in den tubulären und juxtatubulären Endothelkapillarzellen sowie in interstitiellen Zellen der Niere gebildet. Im Fetalalter ist die Leber der Hauptbildungsort; sie produziert beim Erwachsenen jedoch nur noch ca. 10% des Wachstumsfaktors (Petersdorf u. Dale 1995). Die Regulation der Genexpression wird durch ein sauerstoffbindendes Hämprotein beeinflusst (Goldberg et al. 1988). Unter hypoxischen Bedingungen wird die Erythropoetintranskription gesteigert. . Abb. 25.3 zeigt den Regelkreis der erytropoetingesteuerten Erythropoese. Die Plasmaspiegel liegen beim gesunden Erwachsenen zwischen 10 und 30 mU/ml. Verschiedene Tumoren der Nieren, der Leber, des Uterus und des Ovars können paraneoplastisch auch Erythropoetin produzieren.
25
Erythropoetin 4 4 4 4 4 4
Synonym: EPO Chromosomale Kodierung: 7q21 Molekulargewicht: 34–39 kDa Produktion: Nieren, Leber während der Entwicklung Rezeptor: Typ-I-Zytokinrezeptor Bioaktivität – Stimulation der Proliferation und Verhinderung von Apoptose von CFU-E und BFU-E – Freisetzung von Retikulozyten aus dem Knochenmark – Globinsyntheseinduktion in erythroiden Vorläuferzellen 4 Mangelerscheinungen: Anämie, Knock-out-Maus letal durch Anämie
Rezeptoren und Signalübertragung. Der Erythropoetinrezeptor gehört zur Typ-I-Zytokinrezeptorsuperfamilie und wird von zwei quervernetzten Glykoproteinen mit Molmassen von 95 und 110 kD gebildet (D’Andrea et al. 1989). Die intrazelluläre Signaltransduktion erfolgt über Aktivierung der JAK/STAT-Signaltransduktionskaskade. Kongenitale Mutationen im distalen Ende des Rezeptors führen zu einer konstitutiven Aktivierung und familiären Erythrozytose (Sokol et al. 1995). Biologische Aktivität und Wirkungsweise. Erythropoetin aktiviert im Knochenmark die Proliferation erythrozytärer Vorläuferzellen. In der Knock-out-Maus für Erythropoetin oder seinen Rezeptor findet man einen embryonalen Tod durch eine Anämie. In In-vitro-Modellen stimuliert Erythropoetin auch megakaryozytäre Vorläuferzellen, wobei die physiologische Relevanz dieser Beobachtung bislang unklar ist. Pharmakokinetik und Toxizität. Seit 1985 steht das rekombinante Erythropoetin für therapeutische Interventionen zur Verfügung. Zurzeit sind zwei verschiedene rhEPO-Präparationen zugelassen. Dabei handelt es sich um Epoetin α (ERYPO) und Epoetin β (Recormon). Beide Substanzen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer pharmakologischen Daten nur unwesentlich, sodass sie im Folgenden gemeinsam abgehandelt werden. Nach intravenöser Bolusinjektion von rhEPO steigt der Plasmaspiegel rasch an. Die Halbwertszeit liegt bei ca. 4–8 h und das Verteilungsvolumen entspricht dem Plasmavolumen. Nach subkutaner Verabreichung beträgt die relative Bioverfügbarkeit ca. 20–50%
. Abb. 25.3. Regelkreis der Erythropoese
528
25
Kapitel 25 · Zytokine
mit erheblichen interindividuellen Schwankungen. Die Plasmaspiegel steigen dabei über 12–24 h an und erreichen nur ca. 5% der nach intravenöser Gabe erzielten Plasmakonzentration. Durch die Überlagerung der Resorption aus dem subkutanen Depot und dem Abbau ergibt sich für subkutan verabreichtes rhEPO eine Eliminationshalbwertszeit von ca. 21 h. Aufgrund einer besseren Wirksamkeit von kontinuierlich erhöhten Plasmaspiegeln wird rhEPO im Allgemeinen subkutan verabreicht. Durch diese Darreichungsweise kann der gleiche Effekt mit einer gegenüber der intravenösen Verabreichung um ca. 30% reduzierten Dosis erzielt werden. Bei einzelnen Patienten kann jedoch auch die intravenöse Verabreichung zu einer besseren Wirkung führen, sodass im Einzelfall bei hohen Einzeldosen ein Wechsel der Applikationsweise erprobt werden kann. Als Nebenwirkungen der rhEPO-Therapie kann es neben lokalen Reaktionen an der Einstichstelle zu grippeähnlichen Symptomen, insbesondere zu Beginn der Behandlung, kommen. Vornehmlich bei Hämodialysepatienten kann der normalisierte Hämatokrit zu einer arteriellen Hypertension führen, die sich bis zur hypertensiven Krise steigern kann. Daher sind regelmäßige Blutdruckmessungen, v. a. zu Beginn der Therapie angeraten. Ein unkontrollierter Bluthochdruck stellt eine Kontraindikation zur rhEPO-Behandlung dar. Durch Kreuzstimulation der Thrombopoese kann es unter rhEPO-Therapie zu einer erhöhten Blutplättchenzahl kommen. Dadurch und durch den erhöhten Hämatokrit wächst bei Hämodialysepatienten die Rate von thrombotischen Shunt-Komplikationen unter rhEPO-Therapie, sodass eine Thromboseprophylaxe (z. B. mit Azetylsalizylsäure) empfohlen wird. Ebenso muss ggf. die Heparindosis im Dialysesystem bei steigendem Hämatokrit angepasst werden. Bei mit rhEPO behandelten Eigenblutspendern sollte nach der Phlebotomie regelmäßig ein Volumenersatz durchgeführt werden. Bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz, die rekombinantes Erythropoetin zur Behandlung einer Anämie subkutan verabreicht bekamen, ist über einige Fälle von isolierter Aplasie der roten Reihe (»pure red cell aplasia«) berichtet worden (Casadevall et al. 2002). Als Ursache wurden im Serum der Patienten neutralisierende Antierythropoetinantikörper nachgewiesen. Nach Absetzen von Erythropoetin fielen die Antikörpertiter langsam wieder ab. Unter Epoetin-α-(ERYPO-)Therapie ist das Auftreten dieser Nebenwirkung deutlich häufiger beobachtet worden als unter Epoetin-β-Behandlung. Aufgrund dieser Nebenwirkung darf Epoetin α bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz nur noch intravenös verabreicht werden. Die Applikation der ersten Dosis des rhEPO sollte unter ärztlicher Aufsicht erfolgen, da es in sehr seltenen Einzelfällen zu einer anaphylaktoiden Reaktion kommen kann. Mit Darbepoetin ist seit geraumer Zeit ein Erythropoese stimulierendes Protein mit einer Halbwertszeit von 74 h zum klinischen Einsatz zugelassen. Durch diese pharmakokinetischen Eigenschaften ist die biologische Aktivität gesteigert und die Dosierungsintervalle lassen sich auf 1‒3 Wochen ausdehnen. Klinischer Einsatzbereich. Haupteinsatzgebiet der Erythropoese stimulierenden Faktoren (ESF) ist die renale Anämie. Bei ca. 30–50% der Patienten mit terminaler Niereninsuffizienz entwickelt sich eine schwere transfusionsbedürftige Anämie, die zu einer deutlich reduzierten Lebensqualität mit Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit führt. Hauptursache dieser Anämie ist ein endogener Erythropoetinmangel. Hier kann die subkutane Gabe von 15–150 IE/kg KG 3-mal pro Woche die Lebensqualität der meisten Patienten deutlich verbessern.
Als Nebenwirkung tritt bei ca. 20% der Behandelten die Entwicklung oder Verschlechterung eines arteriellen Hypertonus auf (Eschbach et al. 1989). Zur Vermeidung dieser Nebenwirkung sollte die Korrektur der Anämie nicht zu rasch erfolgen. Daher wird empfohlen, zunächst eine rhEPO-Dosis von 20 IE/kg KG s. c. zu verabreichen und bei mangelndem Hämatokritanstieg (<2%) nach 4 Wochen die Dosis um jeweils 20 IE/kg KG 3-mal pro Woche zu steigern. Als Zielwerte der rhEPO-Therapie gelten ein Hämatokrit von 33–36% oder eine Hämoglobinkonzentration von 11–12 g/dl. Zu Beginn einer ESF-Therapie oder bei mangelndem Therapieansprechen ist nach einem funktionellen Eisenmangel zu forschen. Falls das Serumferritin unter 100 ng/dl liegt oder die Transferrinsättigung <20% beträgt, sollte Eisen in einer Dosierung von 200–300 mg Fe2+ pro Tag substituiert werden. Im Falle einer Unverträglichkeit der oralen Medikation ist eine intravenöse Gabe indiziert. Ein weiteres Einsatzgebiet von ESF ist die präoperative Eigenblutspende. Bei mäßig anämischen Patienten, die vor einem operativen Eingriff mit einem erwarteten Blutverlust von mehr als 2 l eine Eigenblutspende vornehmen lassen, kann rhEPO zur vermehrten Sammlung von Eigenblutkonserven verabreicht werden. In dieser Indikation wird eine Dosierung von 600 IE/kg KG 2-mal wöchentlich für 3 Wochen empfohlen. Gleichzeitig oder schon einige Wochen vorher sollten diese Patienten 200 mg Eisen/Tag p. o. erhalten. Weitere Anwendungen finden ESF bei der Vorbeugung einer Frühgeborenenanämie, der Ziduvudin-assoziierten Anämie bei Aids-Patienten und der Tumoranämie (Goodnough et al. 1989; Goodnough 1995; Maier et al. 1994; Markham u. Bryson 1995; Oster et al. 1990). Bei Hämoglobinwerten unter 10 g/dl steigt physiologischerweise die Erythropoetinserumkonzentratiom um ein Vielfaches (bis zum 1.000-fachen) an. Bei Tumorpatienten mit chronischer Anämie kann diese Zunahme aber zu gering ausfallen. Verschiedene Studien zeigten weiterhin einen Nutzen der ESF-Therapie bei Tumorpatienten mit Chemotherapieinduzierter Anämie. Erstmals konnte dieser Effekt bei Ovarialkarzinompatientinnen, die mit platinhaltigen Schemata behandelt wurden, nachgewiesen werden (Cascinu et al. 1994; Gamucci et al. 1993). Die benötigte rhEPO-Dosis lag bei diesen Patientinnen über der für die renale Anämie wirksamen und beträgt 100–300 IE/kg 3-mal pro Woche. Weitere Studien konnten diesen positiven Effekt auch bei anderen Tumorentitäten und anderen Chemotherapieregimen nachweisen. Die Medikation wurde in allen Studien ohne schwere Nebenwirkungen gut vertragen. Die Ansprechrate für ESF bei Tumorpatienten liegt bei ca. 50% mit Verbesserung der Lebensqualität und Reduktion der Transfusionsbedürftigkeit. Trotz positver Daten aus Tiermodellen, konnte bislang in randomisierten klinischen Studien kein positiver Effekt der ESF-Therapie auf das Tumoransprechen oder das Überleben gezeigt werden. Anhand der im Jahre 2002 veröffentlichten ASH/ASCO-Leitlinien sollte bei Chemotherapie-induzierter Anämie die ESF-Gabe bei Hb-Werten ≤10g/dl (bei symptomatischen Patienten <12 g/dl) beginnen und dann einen Zielwert von 12 g/dl anpeilen (Rizzo et al. 2002). Gegenüber der Transfusionstherapie hat die ESF-Therapie folgende Vorteile: 4 Es besteht kein Infektionsrisiko. 4 Eine Eisenüberladung kann vermieden werden.
529 25.2 · Interferone
4 Es können keine Transfusionszwischenfälle oder Unverträglichkeitsreaktionen auftreten. 4 Es können Personen behandelt werden, die aus religiöser Überzeugung Bluttransfusionen ablehnen. Die ESF-Therapie der Tumoranämie hat jedoch bei Zugrundelegung aller klinischer Studienergebnisse eine gering erhöhte Rate von thromboembolischen Ereignissen zur Folge. Dieses kann evtl. auf den in vielen Studien noch zu hohen Ziel-Hb zurückzuführen sein (Bokemeyer et al. 2004). Zudem ist die Kosteneffizienz der rhEPO-Therapie noch in weiteren Studien zu prüfen. Bei Patienten mit hämatologischen Grunderkrankungen ist der klinische Nutzen einer Erythropoetintherapie bislang weniger gut belegt. Da die Hämatopoese bei diesen Erkrankungen selbst betroffen ist, kann die Anämie auch durch pharmakologische Erythropoetinspiegel oft nicht adäquat behandelt werden. Beim multiplen Myelom, der CLL und bei Non-Hodgkin-Lymphomen liegen zurzeit jedoch positive klinische Studien vor (Cazzola et al. 1995; Di Raimondo et al. 1996; Musto et al. 1997). Aufgrund dieser Daten gelten bei diesen Erkrankungen dieselben Regeln zum rhEPO-Einsatz wie für die soliden Tumoren. Prädiktiv für einen Erythropoetin-Response bei hämatologischen Erkrankungen waren ein inadäquat niedriger Serumerythropoetinwert und eine Thrombozytenzahl von über 100.000/μl (Österborg et al. 1996). Bevor eine tumorassoziierte Anämie mit ESF oder Bluttransfusionen behandelt wird, sollten Anämieursachen abgeklärt werden, die spezifisch behoben werden können. Hierzu gehören z. B. gastrointestinale Blutungen oder Knochenmarkinfiltrationen durch hämatologische Neoplasien. Auch ein funktioneller Eisenmangel sollte ausgeschlossen oder kompensiert werden. Die Transfusion von Erythrozytenkonzentraten ist in der Akutsituation sowie bei tumor- oder therapiebedingtem Knochenmarkversagen unverzichtbar. Ludwig et al. (1994) stellten einen brauchbaren Algorithmus auf, um jene Patienten zu identifizieren, die voraussichtlich nicht von einer ESF-Therapie profitieren. Dies sind Tumorpatienten, die nach 2-wöchiger Erythropoetintherapie keinen Hb-Anstieg von mehr als 0,5 g/dl aufweisen und bei denen der endogene Serumerythropoetinwert über 100 E/ml liegt. Bei diesen Patienten erscheint die Therapie mit ESF unwirksam. Die bei Tumorpatienten allgemein übliche Dosierung des rhEPO beträgt 450 E/kg pro Woche, verteilt auf 3–7 Einzeldosen, die subkutan verabreicht werden. Vergleichsstudien konnten zudem zeigen, dass die einmal wöchentliche Gabe von 30.000 E rhEPO-β, 40.000 E rhEPO-α oder 150 μg Darbepoetin eine den wiederholten Verabreichungen vergleichbare Effizienz aufweist. Diese Dosis kann bei Bedarf nach 4 Wochen verdoppelt werden. Sollte der Hb-Wert um mehr als 2 g/dl pro Monat oder auf mehr als 12 g/dl ansteigen, so ist die Therapie zu unterbrechen und ggf. mit 50% der letzten Dosis nach einer angemessenen Pause fortzuführen. Wegen der längeren Halbwertszeit kann für das Darbepoetin ein Dosierungsintervall von bis zu 3 Wochen gewählt werden, ohne dass die Therapieeffizienz darunter leidet. In einer großen randomisierten verblindeten Studie konnte nachgewiesen werden, dass die Gabe von 500 μg Darbepoetin alle 3 Wochen bei Patienten mit Chemotherapie-induzierter Anämie sicher war und zu signifikant weniger Bluttransfusionen geführt hat als die wöchentliche Gabe von 2,25 μg/kg in der Vergleichsgruppe (Canon et al. 2006). Verschiedene Studien haben den Nutzen einer Erythropoetintherapie nach Knochenmarktransplantationen untersucht.
25
Während sich bei autologen Transplantationen kein Nutzen dokumentieren ließ, konnten verschiedene Gruppen eine beschleunigte Erholung der Erythropoese und eine Verminderung der Erythrozytentransfusionen nach allogener Knochenmarktransplantation nachweisen (Chao et al. 1994; Pene et al. 1993). So berichteten Link et al. (1994) über eine randomisierte, doppelblinde, plazebokontrollierte Studie mit 215 Patienten. Erythropoetin wurde in einer Dosierung von 150 IE/kg intravenös ab Tag 0 verabreicht. Die Zahl der zwischen Tag 20 und 42 verabreichten Erythrozytenkonzentrate konnte in der Verumgruppe zwar signifikant verringert werden (1,4 vs. 2,7; p<0,004), der klinische Nutzen war jedoch nur marginal.
25.2
Interferone
Subtypen und Biosynthese. Die Interferone (IFN) stellen eine Familie von multifunktionalen Proteinen dar, die ihrem Ursprung nach als Leukozyten-, Fibroblasten- und Immuninterferon bezeichnet werden (Pestka et al. 1997). Die aktuell gültige Nomenklatur basiert auf der Analyse der Aminosäurensequenz und unterscheidet drei Hauptgruppen (. Tab. 25.3): 4 IFN-α (Leukozyten-IFN), 4 IFN-β (Fibroblasten-IFN), 4 IFN-γ (Immun-IFN). Leukozyten- und Fibroblasten-IFN werden auch als Typ-IIFN und Immun-IFN als Typ-II-IFN bezeichnet (Pestka et al. 1997). 4 IFN-α wird von mehr als 20 eng verwandten Genen kodiert, die eine ca. 80–85%ige Aminosäurenhomologie untereinander aufweisen und aus ca. 170 Aminosäuren bestehen (Pestka et al. 1997). Zu den biologischen Stimuli der IFN-α-Biosynthese gehören in erster Linie Viren, aber auch eine Reihe von Bakterien, Mykoplasmen und Protozoen (Sen u. Lengyel 1992). Doppelstrang-(ds-)RNA ist ein klassischer Stimulus der IFN-α-Biosynthese und entsteht als Zwischenprodukt während der Virusreplikation (Sen u. Lengyel 1992). Darüber hinaus sind auch einige Zytokine und Wachstumsfaktoren (CSF-1, IL-1, IL-2, TNF) in der Lage, die Synthese von IFN-α zu induzieren. Die Regulation der IFN-α-Synthese
. Tab. 25.3. Interferonsubtypen
Subtypen
IFN Typ I
IFN Typ II
IFN-α 1–22
IFN-γ
IFN-β IFN-ω Gene
27
1
Aminosäuren
165–166
143
pH-Stabilität
Stabil
Labil
Produzierende Zellen
Leukozyten, Fibroblasten
T-Lymphozyten, NK-Zellen
Rezeptor
IFNAR1
IFNGR1
IFNAR2c
IFNGR2
530
25
Kapitel 25 · Zytokine
wird in erster Linie transkriptionell kontrolliert und über die Aktivierung von regulatorischen Elementen im Promotor von IFN-α vermittelt (PRDI; Sen u. Lengyel 1992). 4 IFN-β wird durch ein einziges Gen auf Chromosom 9 kodiert und weist eine Länge von 166 Aminosäuren auf (Pestka et al. 1997). Auf DNA-Ebene besteht eine ca. 30%ige Homologie mit den IFN-α-Subtypen. Wie bei IFN-α wird die Synthese von IFN-β durch die gemeinsamen Stimulatoren der Interferone (Viren, dsRNA, andere Mikroorganismen) induziert. IFN-β wird hauptsächlich von Fibroblasten und einigen epithelialen Zelltypen produziert. Die Regulation der IFN-βBiosynthese erfolgt weitgehend analog der IFN-α-Synthese; es sind aber zusätzliche negativ und positiv regulatorische Elemente (z. B. für die Bindung von NFκB) involviert (Sen u. Lengyel 1992). 4 IFN-γ wird durch ein einziges Gen kodiert, das auf Chromosom 12 lokalisiert ist (Pestka et al. 1997). Das mature IFN-γMolekül besteht aus einem Dimer, dessen Untereinheiten jeweils 146 Aminosäuren aufweisen (Farrar u. Schreiber 1993). IFN-γ besitzt keine nennenswerte Homologie mit IFN-α oder IFN-β. IFN-γ wird nur durch stimulierte Lymphozyten (Alloantigene, Antigene, Mitogene) und NK-Zellen produziert (Sen u. Lengyel 1992). Darüber hinaus kann IL-2 die Synthese durch NK-Zellen stimulieren. Die Induktion von IFN-γ wird transkriptionell durch cis-Elemente in der Promotorregion und in den Introns reguliert.
IFN-Typ I 4 Synonym: Familie von Interferonen: IFN-α 1–22, IFN-β, IFN-ω 4 Chromosomale Kodierung: IFN-α-Gene und IFN-β: 9p22 4 Gene: 27 4 Aminosäuren: 165–166 4 Molekulargewicht: 19–26 kDa 4 pH-Stabilität: Stabil 4 Produktion: Leukozyten, Fibroblasten 4 Rezeptor: Heterodimer bestehend aus IFNAR1 und IFNAR2c 4 Bioaktivität – Antivirale Wirkung – Antiproliferative Wirkung – Immunmodulierende Wirkung 4 Mangelerscheinungen: Mausmodell: Defekte der antiviralen Abwehr
IFN-Typ II 4 4 4 4 4 4 4 4 6
Synonym: IFN-γ Chromosomale Kodierung: Chromosom 12 Gene: 1 Aminosäuren: 143 Molekulargewicht: 2 Formen mit 20 bzw. 25 kDa pH-Stabilität: Labil Produktion: T-Lymphozyten, NK-Zellen Rezeptor: Heterodimer, bestehend aus IFNGR1 und IFNGR2
4 Bioaktivität – Antivirale Wirkung – Antiproliferative Wirkung – Immunmodulierende Wirkung 4 Mangelerscheinungen: Mausmodell: Defekte der antiviralen, antibakteriellen und antiparasitären Abwehr
IFN-Rezeptoren und Signaltransduktion. In den letzten Jahren gelang eine weitgehende Aufklärung der Struktur und Funktion der IFN-Rezeptoren und der Signaltransduktion (Pestka 1997; Williams 1991). Der IFN-α/β-Rezeptor besteht aus den beiden Untereinheiten IFNαR1 und IFNαR2, die wiederum in verschiedenen Formen vorliegen können. Die IFNαR1-Untereinheit kann als komplette Kette (IFNαR1a) oder als Splicevariante (IFNαR1 s) vorkommen, während die IFNαR2-Untereinheit als soluble Form (IFNαR2a) und als kurzkettige (IFNαR2b) sowie langkettige (IFNαR2c) Variante exprimiert werden kann. Nach Bindung der Liganden IFN-α oder IFN-β kommt es zur Aktivierung der TYK2- und JAK1-Kinase. Diese phosphorylieren und aktivieren die latenten zytoplasmatischen Transkriptionsfaktoren STAT1 und STAT2. Es resultiert ein STAT1/STAT2-Heterodimer, der nach Bindung an p48 den aktiven Transkriptionsfaktor ISGF3 (»IFN stimulated gene factor 3«) bildet. ISGF3 bindet an positiv regulatorische Elemente (ISRE-Sequenzen) im Promotor von IFN-α/β-induzierbaren Genen und aktiviert deren Transkription (. Abb. 25.4). Dieser vereinfacht dargestellte Signaltransduktionsweg ist Teil des JAK/STAT-Komplexes, der eine herausragende Rolle in der Signaltransduktion zahlreicher Zytokine und Wachstumsfaktoren spielt (Ransohoff 1998). Wie der IFN-α/β-Rezeptor weist auch der IFN-γ-Rezeptor zwei Untereinheiten, IFNγR1 und IFNγR2, auf. Die IFNγR1Kette übernimmt die Ligandenbindung, während die IFNγR2Kette reine Signaltransduktionseigenschaften besitzt. Beide Untereinheiten sind für die Auslösung biologischer Signale von essenzieller Bedeutung. Die Aktivierung des Rezeptors führt zur Phosphorylierung der Kinasen JAK1 und JAK2, die dann ihrerseits die IFNγR1-Kette phosphorylieren. STAT1-α bindet an die phosphorylierte IFNγR1-Kette, wird selbst phosphoryliert und dann als Dimer freigesetzt, der an positiv regulatorische Sequenzen, die sog. GAS-Sequenzen, im Promotor von IFN-γ-induzierbaren Genen bindet. Biologische Aktivität. IFN erfüllt eine wichtige Rolle in der Abwehr viraler, bakterieller und parasitärer Infektionen (Sen u. Lengyel 1992). Darüber hinaus besitzt es auch antitumorale Eigenschaften. Bei der Aufdeckung der molekularbiologischen Mechanismen dieser vielfältigen biologischen Aktivitäten sind in den letzten Jahren große Fortschritte in der Identifizierung und Charakterisierung einer Vielzahl von IFN-induzierbaren Proteinen gemacht worden (Sen u. Lengyel 1992). Einige dieser Proteine können von allen IFN-Subtypen induziert werden, andere sind spezifisch für IFN-α, IFN-β oder IFN-γ. Die antiviralen Aktivitäten von IFN zielen in erster Linie auf die verschiedenen Ebenen der Virusreplikation, -transkription und -translation, aber auch auf andere biochemische Prozesse. Besondere Bedeutung besitzt hier die IFN-induzierbare 2–5-OA-Synthetase/RNase-L-Achse (Sen u. Lengyel 1992; Sen et al. 1993; Staeheli 1990) und das MXProtein (Pestka 1997). Aktivierung der 2–5-OA-Synthetase resul-
531 25.2 · Interferone
25
. Abb. 25.4. Schematische Übersicht der Signaltransduktion von IFN-α. Die intrazelluläre Signalverarbeitung hat zwei wesentliche Spieler: die JAK (Januskinasen) und die zytoplasmatischen Transkriptionsfaktoren STAT (»signal transducer and activator of transcription«). ISRE »IFN stimulated response element«
tiert in der Aktivierung der RNase L. Diese Endoribonuklease katalysiert die Spaltung von viraler und zellulärer RNA. Die Hemmung der Translation viraler RNA wird als potenzieller antiviraler Mechanismus diskutiert. Die antivirale Wirkung des MX-Proteins wird vermutlich über eine Beteiligung in der Hemmung der Transkription und/oder posttranskriptionelle Prozesse vermittelt. Detaillierte Kenntnisse über die Mechanismen der antitumoralen Eigenschaften sind im Wesentlichen rudimentär. Prinzipiell kann man eine direkte antitumorale Wirkung von indirekten Wirkprinzipien unterscheiden. . Tab. 25.4 zeigt eine Auswahl IFN-induzierbarer bzw. -modifizierbarer Proteine, für die eine wichtige Rolle in der direkten antitumoralen Wirkung von IFN diskutiert wird (Ben Dori et al. 1983; Lengyel 1993; Tiefenbrun et al. 1996; Yamada et al. 1995; Zhang et al. 1994). Antitumorale Wirkungen können darüber hinaus durch negative Regulation von Wachstumsfaktoren bzw. positive Regulation von antiproliferativen Zytokinen und Interleukinen erfolgen. Zusätzlich wird den immunmodulatorischen Eigenschaften der Interferone eine besondere Bedeutung in der Kontrolle des Tumorwachstums zugeschrieben (Farrar u. Schreiber 1993). IFN-γ
ist unter physiologischen Bedingungen ein primärer Aktivator der Monozyten- und Makrophagenfunktion. Darüber hinaus reguliert es auch die Sekretion der Immunglobulinisotypen, die Differenzierung der T-Helferzell-Subsets und führt zu einer positiven Regulation von Fc-Rezeptoren (Farrar u. Schreiber 1993). Eine weitere wichtige Funktion ist in diesem Zusammenhang die Verstärkung der Aktivität natürlicher Killerzellen (NK-Zellen). Modifikation der Antigenprozessierung durch Regulation der TAP-Proteine (Seliger et al. 1997) und Inhibition der Angiogenese vervollständigen das Spektrum antitumoraler Aktivitäten. Kürzlich wurde gezeigt, dass es bei der Therapie der chronisch myeloischen Leukämie mit IFN-α zu einer Aktivierung von Immuneffektormechanismen kommt. Bei Patienten, die eine Wiederherstellung der normalen Hämatopoese zeigten, konnte eine Expansion autologer leukämiespezifischer CTL (»cytotoxic Tlymphocytes«) nachgewiesen werden (Molldrem et al. 2000). Pharmakokinetik und Toxizität. Nach einer subkutanen oder intramuskulären Injektion von rekombinanten IFN-α wird nach 4–8 h ein Maximum der Plasmakonzentration erreicht (Dorr
. Tab. 25.4. Potenzielle Mechanismen der direkten antitumoralen IFN-Aktivität Protein
Funktion
IFN-Wirkung
PKR (= P68-Kinase)
Kontrolle der Translation, potenzielles Tumorsuppressorgen
Induktion durch IFN-α, -β, -γ
IRF-1
Transkriptionsfaktor, potenzielles Tumorsuppressorgen
Induktion durch IFN-α, -β, -γ
RNase L
Endoribonuklease, potenzielles Tumorsuppressorgen
Induktion durch IFN-α, -β
RB
Zellzyklusregulation
Modifikation der Phosphorylierung durch IFN-α
P53
Tumorsuppressorgen
Verstärkung der Down-Regulation von P53 in sich differenzierenden Zellen
Zykline
Zellzyklusregulation
Down-Regulation der Expression durch IFN-α
CDKs
Zellzyklusregulation
Down-Regulation der Expression und Inhibition der Kinaseaktivität durch IFN-α
MYC
Transkriptionsfaktor, Onkogen
Downregulation der MYC mRNA durch IFN-α
532
25
Kapitel 25 · Zytokine
1993). Hinsichtlich der Bioverfügbarkeit bestehen keine relevanten klinischen Unterschiede zwischen i. v.-, s. c.- oder i. m.Applikation. Bei Dosen unter 50 Mio. IE ist normalerweise keine Verteilung ins ZNS zu beobachten. Die Halbwertszeit der Plasmaelimination ist relativ kurz und beträgt ca. 4 h (Dorr 1993). Die Elimination von IFN-α erfolgt durch proteolytische Degradation in den Nieren (Dorr 1993). IFN-β ist eine lipophile Substanz (Fierlbeck et al. 1996), die wegen ihrer hohen Gewebsaffinität bei intraläsionaler Applikation bzw. nach i. m.-Injektion nur geringe Serumspiegel erreicht und wenig systemische Nebenwirkungen hervorruft. Prinzipiell kann aber ein IFN-α-ähnliches Spektrum an Nebenwirkungen beobachtet werden. Dies gilt dosisabhängig auch für IFN-γ, das aber mit minimalen Nebenwirkungen in biologisch und therapeutisch aktiven Dosen verabreicht werden kann. Nach subkutaner Applikation von IFN-β wird ein Serumspitzenspiegel nach ca. 5 h erreicht; die Halbwertszeit im Serum beträgt ca. 30 min. Die Nebenwirkungen von IFN-α wurden in einer Vielzahl von klinischen Phase-I-Studien untersucht (Dorr 1993). In der Inzidenz toxischer Effekte ist eine klare Dosisabhängigkeit zu beobachten. Im Gegensatz dazu wird bei den meisten Tumorentitäten die antitumorale Wirkung oberhalb von Dosen um 5 Mio. IE pro Tag nicht mehr verbessert. Bei den in der Klinik am häufigsten verwendeten Dosierungen um 5 Mio. IE pro Tag bestehen die klinisch relevanten, akuten Nebenwirkungen in erster Linie in einem »flu-like syndrome«. Es tritt ca. 4–6 h nach Applikation von IFN-α auf und ist durch Fieber, Schüttelfrost und Myalgien, Kopfschmerzen sowie Arthralgien gekennzeichnet. Das Auftreten dieses Syndroms ist nicht von der gewählten Applikationsroute abhängig. Die akute Symptomatik kann durch prophylaktische Gabe von Paracetamol oder Indomethacin (Einnahme ca. 2 h vor s. c.-IFN-α-Applikation) partiell geblockt werden. Innerhalb von Tagen kommt es im Rahmen einer Tachyphylaxie normalerweise zur deutlichen Reduktion der Beschwerden. Auf längere Sicht gesehen, stehen bei Dosen um 5 Mio. IE IFN-α pro Tag Anorexie, Antriebslosigkeit und depressive Verstimmung klinisch im Vordergrund der Nebenwirkungen. Gastrointestinale Nebenwirkungen werden bei der Applikation von Dosen um 5 Mio. IE selten gesehen. Höhere Dosen können Übelkeit, Erbrechen und Diarrhö auslösen. Gelegentlich kann auch schon bei niedrigen Dosen eine IFN-induzierte Hepatitis auftreten, die eventuell zur Reduktion der Dosis oder zum Abbruch der Therapie zwingt. Kardiovaskuläre Nebenwirkungen der IFN-α-Therapie können sich in seltenen Fällen als Hypotension oder Auslösung von Angina-pectoris-Beschwerden präsentieren. Klinisch lässt sich das Risiko kardiovaskulärer Nebenwirkungen am ehesten durch eine potenzielle Exazerbation vorbestehender kardialer Erkrankungen unter dem »flu-like syndrome« beschreiben. Hämatologische Nebenwirkungen manifestieren sich in erster Linie als eine allgemeine Suppression der Hämatopoese, die zu Leukopenie, Anämie und Thrombozytämie führen kann. Diese bei hämatologischen Indikationen zum Teil therapeutisch genützten Effekte sind nach Reduktion der IFN-α-Dosis relativ kurzfristig reversibel. ZNS-Symptome treten meistens erst bei höherer Dosierung von IFN-α auf und können sich als Vertigo, Beeinträchtigung des mentalen Status oder Konfusion bemerkbar machen. Klinisch relevant bei Dosen um 5 Mio. IE ist dagegen das Auftreten einer möglichen Depression, die immer zum Abbruch der IFN-α-Therapie zwingt. Unter längerer IFN-α-The-
rapie kann eine Suppression der Schilddrüsenfunktion auftreten. Ein Monitoring von TSH, fT3 und fT4 erscheint deshalb bei klinischem Verdacht sinnvoll. Klinisch bedeutsame renale Komplikationen sind selten, obwohl bei ca. 10–25% der Patienten ein Anstieg des Kreatinins und des Harnstoffs zu beobachten ist. Diese Laborveränderungen erfordern selten eine Dosismodifikation. Sehr selten treten ätiologisch unklare Lungeninfiltrate oder Pneumonitiden auf, die eventuell einen Abbruch der IFN-α-Therapie erfordern. Netzhautveränderungen gehören ebenfalls zu den raren Komplikationen, die mit einer IFN-α-Therapie assoziiert werden. Eine andere Gruppe von Nebenwirkungen betrifft immunologische Komplikationen (Vial u. Descotes 1995). Allgemein können Autoimmunerkrankungen wie z. B. Thyreoiditis oder systemischer Lupus erythematodes unter einer IFN-α-Therapie exazerbieren. Diese Komplikationen wurden bisher kaum unter IFN-β- oder IFN-γ-Therapie beobachtet. Das Nebenwirkungsspektrum von IFN-β entspricht als TypI-Interferon im Wesentlichen dem von IFN-α. Bei Applikation von IFN-γ stehen Allgemeinsymptome wie Fieber, Schüttelfrost, Abgeschlagenheit, Muskel- und Gelenkschmerzen im Vordergrund. Vorübergehend kann es zu Hautausschlägen an der Injektionsstelle kommen. Klinischer Einsatzbereich. IFN-α besitzt antitumorale Wirkungen gegenüber einer Reihe von Tumoren. . Tab. 25.5 und . Tab. 25.6 geben einen Überblick über die Ansprechraten verschiedener hämatologischer und solider Malignome (Mandelli et al. 1994; Kurzrock et al. 1991). Antitumorale Wirkungen von IFN-β in der Therapie des undifferenzierten Nasopharynxkarzinoms wurden in relativ frühen Studien gezeigt (Treuner et al. 1980). Intraläsionale Applika-
. Tab. 25.5. Profil der antitumoralen Wirksamkeit von IFN-α bei hämatologischen Malignomen Tumor
Response-Rate (partielle und komplette Remissionen) [%]
Chronisch myeloische Leukämiea Neudiagnose
70–80
in fortgeschrittenen Stadien
10–30
Essenzielle Thrombozythämie und Polycythaemia vera
75
Haarzelleukämiea
80–90
Follikuläre Non-HodgkinLymphomea
40–50
Kutane T-Zell-Lymphomea bei Neudiagnose
80
nach Vortherapie
50
Multiples Myeloma
a
Neudiagnose
50
nach Vortherapie
15–30
In der BRD zugelassene Indikationen
533 25.3 · Interleukin 2
. Tab. 25.6. Profil der antitumoralen Wirksamkeit von IFN-α bei soliden Tumoren Tumor
Response-Rate (partielle und komplette Remissionen) [%]
Karzinoida
5–15
Kaposi-Sarkoma
35
Malignes Melanoma
10–15
Nierenzellkarzinoma
10–15
Kolorektale Karzinome
<10
Mammakarzinom
<10
Bronchialkarzinome
<10
Osteosarkome
<10
a
In der BRD zugelassene Indikationen
tion (Fierlbeck et al. 1992) in Metastasen von Karzinomen des Kopf- und Halsbereiches, von Mammakarzinomen und von malignen Melanomen führte in einigen Fallberichten ebenfalls zu klinisch bedeutsamer Tumorreduktion. Trotz seiner gut dokumentierten antiproliferativen Aktivität in vitro waren die klinischen Studien zur antitumoralen Wirksamkeit von IFN-γ im Wesentlichen enttäuschend (Reddy et al. 1997; Schiller et al. 1987; Vadhan et al. 1986;Wiesenfeld et al. 1995). In der Behandlung des metastasierten Nierenzellkarzinoms konnte eine Ansprechrate dokumentiert werden, die der anderer Zytokinstudien entspricht (Aulitzky et al. 1989).
25.3
Interleukin 2
Biosynthese. Interleukin 2 (IL-2) wird von aktivierten CD4+-TZellen und zu einem geringeren Anteil auch von CD8+-T-Zellen produziert. Nach Antigenstimulation wird die IL-2-Synthese auf transkriptioneller Ebene aktiviert. Innerhalb von 4 h nach Antigenstimulation kommt es zur maximalen IL-2-Sekretion, die in der Regel transient ist. Sezerniertes IL-2 ist ein Glykoprotein von 14–17 kD Molekularmasse, wobei die Größenheterogenität des reifen IL-2-Proteins durch einen variablen Glykosylierungsgrad bedingt ist. Reifes IL-2 faltet sich in ein globuläres Protein, das aus zwei Paaren von α-Helices besteht. Rezeptoren und Signalübertragung. IL-2 wirkt auf seine Zielzellen durch Bindung mit den IL-2-Rezeptor-(IL-2R-)Proteinen IL-2Rα, einem 55-kD-Polypeptid, und IL-2Rβ, einem 70–75-kDPolypeptid. T-Zellen exprimieren den niedrigaffinen IL-2Rα nach Aktivierung, wobei der IL-2Rα alleine kein biologisches Signal übertragen kann. Der intermediär affine IL-2Rβ wird im Komplex mit der sog. »gemeinsamen γ-Kette« (»common γ chain«, γc), einem 64-kD-Polypeptid, das ebenfalls mit den Rezeptoren der Zytokine IL-4, IL-7, IL-9 und IL-15 assoziiert ist, als IL-2Rβγc exprimiert (Taga u. Kishimoto 1995). Ruhende T-Zellen, die nur den IL-2Rβγc-Komplex exprimieren, werden durch hohe Konzentrationen von IL-2 zur Proliferation stimuliert. Aktivierte T-Zellen exprimieren IL-2Rβγc gemeinsam mit dem IL2Rα. Dieser Komplex zeichnet sich durch eine hohe IL-2-Bin-
25
dungsaffinität aus und ist somit durch weitaus geringere Konzentrationen von IL-2 stimulierbar als der IL-2Rβγc-Komplex. Die Bindung von IL-2 mit dem hochaffinen IL-2Rαβγc-Komplex führt zur Signalübertragung durch den JAK/STAT-Signalweg, wobei das IL-2-Signal durch JAK1, JAK3 und STAT5 vermittelt wird (Liu et al. 1998). Biologische Aktivität und Wirkungsweise. IL-2 ist der wichtigste autokrine Wachstumsfaktor für T-Zellen, wobei die Menge von IL-2, das von den aktivierten CD4+-T-Zellen synthetisiert wird, die Stärke der T-Zell-abhängigen Immunantwort bestimmt. IL-2 führt zum Übertritt von T-Zellen aus der G1-Phase in die S-Phase des Zellzyklus und somit zur Proliferation. Darüber hinaus stimuliert IL-2 die Synthese weiterer T-Zell-Zytokine, wie IFN-γ und Lymphotoxin. Neben T-Zellen werden auch natürliche Killerzellen (NK-Zellen) durch IL-2 in Proliferation und zytolytischer Aktivität angeregt. NK-Zellen exprimieren ebenfalls den IL-2Rβγc-Komplex, aber nicht den IL-2Rα, woraus sich ergibt, dass sie nur durch konstant hohe Konzentrationen von IL-2 zu den sog. lymphokinaktivierten Killerzellen (LAK) stimuliert werden können. Darüber hinaus wirkt IL-2 als Wachstumsfaktor für humane B-Zellen und stimuliert deren Antikörpersynthese, aber nicht den Isotypenwechsel. Im Gegensatz zur proliferativen Wirkung kann IL-2 auch den programmierten Zelltod (Apoptose) von antigenstimulierten TZellen induzieren. Diese Wirkung hat IL-2 zu einem späteren Zeitpunkt der Immunantwort, wenn die expandierten T-Zellen beispielsweise den Liganden für den CD95/Fas-Rezeptor exprimieren, der den sog. aktivierungsinduzierten Zelltod von TZellen vermittelt. Diese proapoptotische Funktion von IL-2 ist vermutlich auch die Erklärung für den Phänotyp von Knock-outMäusen, die defizient für IL-2, den IL-2Rα oder den IL-2Rβ sind. In diesen Tiermodellen werden Autoimmunerkrankungen beobachtet. Im Gegensatz dazu zeigen für die gemeinsame γc defiziente Knock-out-Mäuse ebenso wie Patienten mit Mutationen der γc eine schwere Immundefizienz, was wahrscheinlich darin begründet ist, dass diese Defekte die Signalübertragung einer ganzen Reihe von Zytokinen (s. oben) beeinträchtigt. Pharmakokinetik und Toxizität. IL-2 wirkt vor allem lokal in parakriner Weise und ist entsprechend unter physiologischen Bedingungen im systemischen Kreislauf nicht nachweisbar. Bei der therapeutischen Anwendung hingegen werden teilweise hohe Plasmaspiegel erreicht. Das Verteilungsvolumen von IL-2 nach intravenöser Infusion entspricht dem Extravasalraum, kann sich aber bei repetitiver Applikation zusätzlich erhöhen. Die Elimination von IL-2 erfolgt renal, vermutlich nach tubulärer Metabolisation. Die Plasmaspiegel nach intravenöser Bolusinfusion von IL-2 sinken in biphasischer Weise ab: Die initiale Plasmahalbwertszeit liegt bei etwa 13 min; die folgende Eliminationsphase ist durch eine Plasmahalbwertszeit von 85 min bis zu 4 h gekennzeichnet. Bei kontinuierlicher Infusion von IL-2 wird nach etwa 2 h der Durchflussstatus (»steady state«) erreicht. Bei subkutaner oder intramuskulärer Injektion werden etwa 30% der Aktivität in das Blut transportiert; maximale Plasmaspiegel treten zwischen 90 und 240 min nach Injektion auf (Konrad et al. 1990; Lotze et al. 1985). Die maximal tolerable Dosis (MTD) variiert mit der Applikationsform (. Tab. 25.7). Die klinische Anwendung von IL-2 weist dosisabhängig eine hohe Toxizität auf, und geht mit einer behandlungsbedingten Mortalität um 5% einher. Die intravenöse Verabreichung von höher
534
25
Kapitel 25 · Zytokine
. Tab. 25.7. Maximal tolerable Dosierungen von IL-2 Applikation
MTD
Referenz
Intravenös, Bolus
1 MU/kg
Lotze et al. (1986a,b)
Intravenös, Dauerinfusion
3.000 IE/kg/h
Gaynor et al. (1990)
Intraperitoneal
8 MU/m2
Melioli et al. (1989), Chapman et al. (1988)
Intrapleural
24 MU/m2
Stewart et al. (1990)
dosiertem IL-2 erfordert intensive Überwachungsmaßnahmen mit kontinuierlichem Kreislauf- und Rhythmusmonitoring. Sie kann deshalb nur bei entsprechend geeigneten Patienten sowie unter Bereitstellung supportiver Maßnahmen (Einfuhr-/Ausfuhrbilanzierung, Dopamin, Diuretika) durchgeführt werden. Demgegenüber kann durch niedrigere Dosierung und subkutane Verabreichung die Inzidenz und Schwere unerwünschter Wirkungen deutlich reduziert werden. Neben dem durch die meisten Zytokine ausgelösten, »grippeähnlichen« Syndrom ist die Mehrzahl der ernsten Nebenwirkungen von IL-2 durch ein Syndrom der erhöhten Kapillardurchlässigkeit bedingt (»vascular leak syndrome«). Dieses führt zum extravasalen Flüssigkeitsaustritt mit daraus resultierendem Hypotonus, generalisiertem Ödem, Gewichtzunahme sowie Dyspnoe bis hin zur Intubationspflichtigkeit aufgrund eines interstitiellen Lungenödems. Hinzu können Linksherzinsuffizienz, Arrhythmien und durch verminderte Perfusion bedingte Oligurie und Niereninsuffizienz treten. Typische Nebenwirkungen von IL-2 sind in . Tab. 25.8 zusammengefasst, wobei die Intensität der klinisch bedeutsamen Nebenwirkungen durch Dosis und Applikationsweg beeinflusst sind (Whittington u. Faulds 1993). Klinischer Einsatzbereich. Hauptproblem bei der Beurteilung der klinischen Effektivität von IL-2 ist die Heterogenität der in einer Vielzahl von Phase-II-Studien untersuchten Dosierungen,
Applikationsformen und Kombinationen mit weiteren Zytokinen, Zytostatika oder anderen Substanzen. Aufgrund des oben genannten Nebenwirkungsprofils liegt in den meisten dieser Studien eine Patientenselektion vor. Es fehlen gesicherte Erkenntnisse über eine Dosis-Wirkungs-Beziehung oder über die ideale Applikationsform (subkutan, intravenöser Bolus, intravenöse Dauerinfusion). Ferner ist bislang ebenfalls nicht konklusiv gezeigt worden, ob sich die unter IL-2 auftretenden Remissionen in einen Überlebensvorteil der Patienten umsetzten. Auf der anderen Seite besteht seit über 10 Jahren eine breite klinische Erfahrung mit dem Einsatz von IL-2 v. a. in der Behandlung von intensiv vortherapierten Patienten oder Patienten mit primär zytostatikarefraktären Tumoren (Rosenberg et al. 1989). Darüber hinaus wurde in den letzten Jahren eine Reihe großer, randomisierter Multizenterstudien durchgeführt. Beim metastasierten Nierenzellkarzinom finden sich in größeren Studien mit der IL2-Monotherapie Remissionsraten unterhalb von 15% (Fyfe et al. 1995), in einer randomisierten Studie lediglich 6,5% (Negrier et al. 1998). Obwohl hoch dosiertes Il-2 (2,2 Mio. E/kg KG pro Tag) in einer randomisierten Studie mit 21 vs. 13% eine höhere Ansprechrate aufwies als niedrig dosiertes (0,22 Mio. E/kg KG pro Tag), konnte sich dieser Unterschied nicht in einem Überlebensvorteil für die Gesamtgruppe widerspiegeln (Yang et al. 2003). Trotzdem sind unter den Respondern auf hoch dosiertes IL-2 Patienten, die auch nach mehr als 30 Monaten noch rezidivfrei überleben (Fisher et al. 2000). Die Kombination von IL-2 mit CD8+-tumorinfiltrierenden Lymphozyten erbrachte in einer randomisierten Phase-III-Studie keine höheren Remissionsraten als die IL-2-Monotherapie (Figlin et al. 1999). Die Kombination von IL-2 plus IFN-α erwies sich in einer großen randomisierten Studie mit 425 eingeschlossenen Patienten mit metastasiertem Nierenzellkarzinom bei einer Remissionsrate von 18,6% gegenüber der jeweiligen Monotherapie mit IL-2 oder IFN-α signifikant überlegen (Negrier et al. 1998). Die Kombination von IL-2, IFN-α und 5-Fluorouracil (5-FU) erbrachte in einer Phase-II-Studie mit 111 eingeschlossenen Patienten lediglich eine Remissionsrate von 1,8% (Ravaud et al. 1998), während in einer Studie mit 50 Patienten immerhin 18%
. Tab. 25.8. Nebenwirkungsprofil von IL-2 Organsystem
Toxizität
Inzidenz [%]
Herz/Kreislauf
Hypotonie, Linksherzinsuffizienz, Arrhythmien, Kardiomyopathie, Myokardischämie
60–85
Lunge
Interstitielles Ödem, Pleuraerguss
>20
Niere
Akutes Nierenversagen, tubuläre Dysfunktion
>60
Magen-Darm-Trakt
Nausea, Erbrechen, Diarrhö, Ulzera
80
Leber
Cholestase (mit Enzym und Bilirubinanstieg), Aszites
60
Endokrinium
Autoimmune Hypothyreose
10–20
Blut
Anämie, reversible Lymphopenie, Eosinophilie, Neutrophilenfunktionsstörung, Thrombopenie, Splenomegalie, DIC
20–80
Nervensystem
Lethargie, psychotische Bilder
20–70
Haut
Erythem, Mukositis, Gesichtsödem, Urtikaria
>40
Allgemeinsymptome
Grippeähnliches Syndrom, Malaise, Fieber
>85
Infektionen
Bakterielle Infektionen, Sepsis
20
535 25.4 · Andere Zytokine
objektive Remissionen zu beobachten waren (Dutcher et al. 2000). Eine Phase-III-Studie, die 131 Patienten mit Nierenzellkarzinom zwischen IL-2 plus IFN-α und IL-2, IFN-α plus 5-FU randomisierte, erbrachte jedoch nur Remissionsraten von 1,5 bzw. 7,5% sowie ein Einjahresüberleben von 12 und 15% (Negrier et al. 2000). Es lassen sich somit starke Schwankungen zwischen in Phase-II- und Phase-III-Studien erreichten Remissionsraten sowie zwischen geringfügigen Modifikationen der Therapierregime feststellen. Beim malignen Melanom wurden mit der IL-2-Monotherapie in größeren Phase-II-Studien ebenfalls Remissionsraten unter 20% beobachtet. In Phase-II-Studien fanden sich Hinweise auf eine höhere Effektivität der Kombinationstherapie mit IFN-α und/oder Zytostatika (Atkins et al. 1994; Khayat et al. 1993). Darüber hinaus liegen Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Therapieschema, Effektivität und Toxizität der IL-2basierten Behandlung des Melanoms vor (Keilholz et al. 1993). Eine randomisierte Phase-III-Studie demonstrierte jedoch bei insgesamt niedrigen Remissionsraten keine Überlegenheit der Kombination von IL-2 mit IFN-α gegenüber der IL-2-Monotherapie beim malignen Melanom (Sparano et al. 1993). Ebenso erbrachte die Kombination von IL-2, Cisplatin und IFN-α bei erhöhter Remissionsrate (25%) und erhöhter Toxizität keinen signifikanten Überlebensvorteil gegenüber der Kombination von IL-2 mit Cisplatin (Dorval et al. 1999). In einer weiteren randomisierten Studie fand sich schließlich kein signifikanter Vorteil für eine Chemoimmuntherapie mit IL-2, IFN-α, Cisplatin, Dacarbazin und Tamoxifen gegenüber der alleinigen Chemotherapie mit den drei letztgenannten Substanzen (Rosenberg et al. 1999). Nur geringe Wirkungshinweise ergaben sich bei Patienten mit metastasiertem Kolonkarzinom, Ovarialkarzinom, Bronchialkarzinom oder Blasenkarzinom. Dahingegen scheinen Subgruppen von Patienten mit refraktären malignen Lymphomen (Gisselbrecht et al. 1994) oder akuter myeloischer Leukämie (AML) in zweiter Remission (Bergmann et al. 1995) in Phase-IIStudien von einer Behandlung mit IL-2 zu profitieren. Ebenso wird der Einsatz zur Behandlung minimaler residueller Erkrankung nach Hochdosistherapie mit autologer Stammzelltransplantation bei Patienten mit Non-Hodgkin-Lymphomen und AML untersucht (Robinson et al. 1997). Auch hier kann eine abschließende Beurteilung der Wertigkeit der IL-2-Behandlung noch nicht vorgenommen werden.
Interleukin 2 4 4 4 4 4 4 4 4
Synonym: T-Zell-Wachstumsfaktor Chromosomale Kodierung: Chromosom 4q Gene: 1 Aminosäuren: 157 Molekulargewicht: 14–17 kDa Produktion: T-Zellen Rezeptor: Heterotrimer bestehend aus α-, β-, γc-Ketten Bioaktivität: Proliferationsfaktor für T-, B- und NK-Zellen 4 Mangelerscheinungen – IL-2-Defizienz Mausmodell: Autoimmunität – Verlust der γc-Kette der Zytokinrezeptoren: schwere kombinierte Immundefizienz
25.4
25
Andere Zytokine
25.4.1 Tumor-Nekrose-Faktor α
Biosynthese. Tumor-Nekrose-Faktor α (TNF) gehört zusammen mit IL-1 und IL-6 zu den Monokinen, deren Sekretion im Rahmen einer Akute-Phase-Reaktion, wie z. B. bei einer Endotoxinämie oder einer gramnegativen bakteriellen Sepsis, beobachtet wird. Hauptproduzenten von TNF sind Lipopolysaccharid-(LPS-)aktivierte mononukleäre Phagozyten, wobei aber auch antigenstimulierte T-Zellen, aktivierte NK-Zellen und Mastzellen TNF sezernieren können. Die TNF-Synthese in Phagozyten wird durch von T-Zellen sezerniertes IFN-γ verstärkt. Initial wird TNF als ein 25-kD-, nichtglykolysiertes Transmembranprotein (mTNF) synthetisiert, das sich zu einem Homotrimer komplexiert. Ferner kann ein 17-kD-TNF-Fragment proteolytisch von der Plasmamembran der Phagozyten abgespalten werden, das dann als stabiles Homotrimer von 51 kD frei zirkuliert. Rezeptoren und Signalübertragung. Es gibt zwei distinkte TNF-Rezeptoren, den 55-kD-TNF-Rezeptor (TNF-R) I und den 75-kD-TNF-RII, die beide eine relative niedrige Affinität aufweisen. Die biologische Aktivität von TNF wird überwiegend über den TNF-RI übertragen, während der TNF-RII vermutlich präferenziell der Signalübertragung von mTNF dient (Armitage 1994). Entsprechend zeigen Knock-out-Mäuse für den TNF-RI einen schwereren Phänotyp als solche des TNF-RII. Die Signalübertragung durch die TNF-R erfolgt über eine Rezeptortrimerisation, die durch Bindung des TNF-Ligandentrimers erleichtert wird. Ein TNF-R-Trimer rekrutiert dann über spezifische Bindungsdomänen verschiedene Adaptermoleküle, die wiederum weitere intrazelluläre Signalmoleküle rekrutieren und aktivieren. Der TNF-RI enthält beispielsweise ebenso wie CD95/FAS eine intrazelluläre »Todesdomäne« (»death domain«), die das Adaptermolekül FAS-assoziierte »death domain« (FADD) bindet. FADD bindet über seine Todeseffektordomäne (»death effector domain«) die Cyteinprotease Caspase 8, die im Rezeptorkomplex aktiviert wird, die Apoptosesignalwege aktiviert und somit ein »Todessignal« überträgt (Nagata 1997). Im Gegensatz dazu kann TNF-RI ebenfalls über seine Todesdomäne das Adaptermolekül TRADD binden. TRADD enthält eine Domäne, die den TNFrezeptorassoziierten Faktor (TRAF) 2 bindet und somit zur Aktivierung der Transkriptionsfaktoren NF-κB und AP-1 und damit zu einem »Lebenssignal« führt. Der TNF-RII kann über eine entsprechende Domäne mit TRAF1 und TRAF2 interagieren und damit direkt NF-κB sowie über die stressaktivierten Proteinkinase-(SAPK-)Signalwege den Transkriptionsfaktor AP-1 aktivieren (Cleveland u. Ihle 1995). Der exakte Mechanismus und die Regulation der Signalübertragung durch die TNF-R-Familie sind allerdings nicht völlig aufgeklärt. Biologische Aktivität und Wirkungsweise. Die biologischen Wirkungen von TNF sind vielfältig und dosisabhängig. In niedrigen Dosen wirkt TNF lokal als parakriner und autokriner Regulator von Leukozyten und Endothel. Es führt zur Expression von Adhäsionsmolekülen auf Endothelzellen und erhöht die Affinität neutrophiler Granulozyten zu Endothelzellen, was zur lokalen Granulozytenakkumulation und Diapedese führt. Ferner stimuliert TNF die Sekretion von Chemokinen und steigert die mikrobizide Aktivität der Granulozyten.
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Kapitel 25 · Zytokine
Wenn durch einen starken Stimulus größere Mengen TNF induziert werden, die dann in den Kreislauf eintreten, ändert sich das Wirkungsprofil. Systemisches TNF wirkt hypothalamisch als Pyrogen. Es stimuliert mononukleäre Phagozyten zur Sekretion von IL-1 und IL-6 und steigert hierüber die Synthese von sog. Akute-Phase-Proteinen, wie beispielsweise C-reaktives Protein (CRP) oder Serumamyloid A (SAA), in der Leber. Über Wirkungen auf Endothelzellen fördert TNF die Blutgerinnung und supprimiert die Teilung hämatopoetischer Stammzellen, was bei langfristig hohen Spiegeln zu Lymphopenie und Immundefizienz führen kann. Ferner führt die langfristige systemische Applikation von TNF zu einem katabolen Stoffwechsel, der in Kachexie resultiert. Außerdem reduzieren hohe systemische Dosen von TNF Blutdruck sowie Gewebsperfusion und haben eine negativ inotrope Wirkung. Pharmakokinetik und Toxizität. Die Toxizität von TNF war in den klinischen Phase-I-Studien hoch; dosislimitierende Nebenwirkungen waren Hypotension und konstitutionelle Symptome. Die Gabe von TNF führt regelmäßig zu Fieber, Schüttelfrost, dem grippeähnlichen Syndrom und Kopfschmerzen. Ferner wurden Nausea mit Erbrechen, wässrige Diarrhöen, eine Flüssigkeitsretention, Leukozyto- und Thrombozytopenien sowie ein Anstieg von Leberenzymen beobachtet. Die maximal tolerable Dosis (MTD) für die subkutane und intramuskuläre Gabe lag bei 150 μg/m2/Tag (Jakubowski et al. 1989a; Zamkoff et al. 1989), für die intravenöse Kurzinfusion ebenfalls bei 150 μg/m2 (Creagan et al. 1988; Gamm et al. 1991). Bei der Infusion über 4 h lag die MTD bei 200 μg/m2, bei der 24-h-Infusion bei 260 μg/m2 (Steinmetz et al. 1988) oder in einer anderen Studie bei 545 μg/m2 (Spriggs et al. 1988). Bei der 5-tägigen Dauerinfusion wurde die MTD mit 40 μg/m2/Tag erreicht (Schwartz et al. 1989). Klinischer Einsatzbereich. In Phase-II-Studien fanden sich bei weniger als 1% der Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen objektive Remissionen (Hersh et al. 1991). Ebenso zeigte sich keine relevante antitumorale Effektivität von TNF bei Patienten mit Nierenzellkarzinom (Skillings et al. 1992), Pankreaskarzinom (Brown et al. 1991), Mammakarzinom (Budd et al. 1991) oder kolorektalen Karzinomen (Kemeny et al. 1990; Schaadt et al. 1990; Whitehead et al. 1990). Die Toxizität in diesen Phase-II-Studien war ebenfalls beträchtlich. Beeindruckende klinische Remissionen fanden sich hingegen in einer Studie der isolierten Perfusion von Gliedmaßen mit TNF, IFN-γ und Melphalan bei Patienten mit malignem Melanom oder Sarkomen: Hier wurden lokale komplette Remissionen bei 89% der Patienten beobachtet (Lienard et al. 1992). Eine Serie von Studien bei Patienten mit Weichteilsarkomen erreichte ebenfalls mittels hyperthermer Gliedmaßenperfusion mit der Kombination von TNF und Doxorubicin bei 25% der Patienten komplette histologische Tumornekrosen und ermöglichte bei mehr als 90% der Patienten eine gliedmaßenerhaltende Operationstechnik (Rossi et al. 1999). Auch die intravesikale Instillation von TNF führte bei etwa 20% der Patienten mit oberflächlichem Blasenkarzinom zu kompletten Remissionen (Serretta et al. 1992). Die intraperitoneale Anwendung von TNF bei Patientinnen mit Ovarialkarzinom war hingegen nicht effektiv (Hirte et al. 1997). Eine Studie an 34 Patienten mit inoperablen hepatisch metastasierten Tumoren erreichte durch hypertherme intraarterielle Perfusion mit TNF und Melphalan bei 75% der Patienten objektive Remissionen (3% komplette Remissionen). Allerdings kam es bei 75%
der Patienten zu einer reversiblen WHO-Grad-III- oder -IV-Hepatotoxizität, und die behandlungsassoziierte Mortalität lag bei 3% (Alexander et al. 1998). Zusammenfassend lässt sich anhand der publizierten Studien keine gesicherte Indikation für eine systemische Abwendung von TNF ableiten. Die systemische Toxizität dieses Zytokins ist erheblich. Bei selektierten Patienten scheint jedoch eine lokale Verabreichung, beispielsweise durch Gliedmaßenperfusion, in Kombination mit weiteren Zytokinen und Zytostatika klinisch effektiv zu sein.
Tumor-Nekrose-Faktor α 4 4 4 4 4 4
Synonym: Kachektin Chromosomale Kodierung: Chromosom 6p Gene: 1 Aminosäuren: 233 Molekulargewicht: 17 kDa Produktion: Makrophagen, T-Zellen, NK-Zellen, Mastzellen 4 Rezeptor: TNF-RI 55 kDa, TNF-RII 75 kDa, TNF-Rezeptorfamilie 4 Bioaktivität: Dosisabhängig Aktivierung von Leukozyten und Endothelien oder Induktion einer Akute-PhaseReaktion 4 Mangelerscheinungen: Defekte in Keimzentrumsentwicklung, erhöhte Empfindlichkeit gegenüber mikrobiellen Pathogenen
25.4.2 Interleukin 1
Biosynthese. Interleukin 1 (IL-1) gehört ebenfalls zu den Monokinen und ist ein Entzündungsmediator der innaten Immunität. Hauptproduzenten von IL-1 sind aktivierte mononukleäre Phagozyten, deren Produktion durch LPS, Monokine wie TNF und IL-1 selbst oder durch Kontakt mit CD4+-T-Zellen stimuliert wird. Daneben können auch epitheliale und endotheliale Zellen IL-1 synthetisieren. Die beiden Isoformen IL-1α und IL-1β sind jeweils 17-kD-Polypeptide, die aber von zwei verschiedenen Genloci kodiert werden und nur eine geringe strukturelle Homologie untereinander aufweisen. Sie werden als 33-kD-Präkursoren synthetisiert und durch proteolytische Spaltung in die reifen 17kD-Polypeptide überführt, die eine fassähnliche Konformation einnehmen. Während der 33-kD-Präkursor von IL-1α biologisch aktiv ist, muss IL-1β hierzu in die 17-kD-Form überführt werden. Diese proteolytische Spaltung erfolgt durch die Zysteinprotease ICE (IL-1β »converting enzyme«) oder Caspase 1, die strukturell den am programmierten Zelltod beteiligten Caspasen verwandt ist. ICE-Knock-out-Mäuse zeigen eine gestörte inflammatorische Reaktion und sind gegenüber LPS-induziertem Schock resistent. IL-1β vermittelt den größten Anteil der systemisch gefundenen IL-1-Aktivität. Ein drittes Mitglied der IL-1-Familie ist der antiinflammatorisch wirkende IL-1-Rezeptorantagonist (IL-1RA). Rezeptoren und Signalübertragung. Die IL-1-Signalübertragung erfolgt über zwei membranständige Rezeptoren, die der Immunoglobulin-(Ig-)Superfamilie angehören. Der IL-1R I weist eine höhere Affinität gegenüber IL-1β als gegenüber IL-1α auf und ist der dominante Rezeptor. Er wird von nahezu allen
537 25.4 · Andere Zytokine
Zelltypen exprimiert. Der IL-1R II zeigt eine höhere Affinität gegenüber IL-1α, und seine Funktion ist hauptsächlich die eines »Decoy-Rezeptors«, d. h., er kompetiert mit dem IL-1R I um die IL-1-Bindung. Der IL-1R II findet sich vor allem auf B-Zellen, aber seine Expression kann auch in anderen Zelltypen induziert werden. Die intrazelluläre Signalübertragung erfolgt vermutlich über Rekrutierung von TRAF-Adaptermolekülen und führt zur Aktivierung der Transkriptionsfaktoren NF-κB und AP-1. Biologische Aktivität und Wirkungsweise. Die biologische Aktivität von IL-1 ähnelt der von TNF und zeigt ebenfalls eine Dosisabhängigkeit. Niedrige Dosen von IL-1 führen lokal zur Aufregulation von Adhäsionsmolekülen sowie zur lokalen Gerinnungsaktivierung und stimulieren inflammatorische Leukozyten zur Chemokinproduktion. Hohe, systemische Dosen von IL-1 wirken als Pyrogen, induzieren die Synthese von Akute-PhaseProteinen und führen zur Kachexie. Pharmakokinetik und Toxizität. In Phase-I-Studien zeigte IL-1 eine hohe Toxizität, die mit der von hochdosiertem IL-2 oder TNF vergleichbar ist. Fieber, Myalgien, Nausea sowie das grippeähnliche Syndrom waren regelmäßige, aber reversible Nebenwirkungen. Dosislimitierende Toxizitäten waren Hypotonie, Niereninsuffizienz und neurologische Symptome. Die MTD von IL-1α sowohl als Monotherapie (Smith et al. 1992) als auch nach Gabe von hochdosiertem Carboplatin (Smith et al. 1993) lag bei 0,3 μg/kg. Die MTD von IL-1β nach Gabe von 5-Fluorouracil wurde mit 0,1 μg/kg erreicht (Crown et al. 1991); beim Einsatz nach autologer Knochenmarktransplantation lag die MTD von IL-1β bei 0,05 μg/kg (Nemunaitis et al. 1994). Klinischer Einsatzbereich. In Phase-I- und Phase-II-Studien konnte eine durch die Gabe von IL-1 gesteigerte Thrombozyten(Smith et al. 1993) und Granulozytenregeneration (Weisdorf et al. 1994) nach Chemotherapie demonstriert werden. Hingegen fand sich in Phase-II-Studien keine relevante antitumorale Effektivität von IL-1 bei Patienten mit malignem Melanom (Janik et al. 1996) oder Nierenzellkarzinom (Redman et al. 1994). Zusammenfassend ist durch mehrere Studien eine Wirksamkeit von IL1 als hämatopoetischer Wachstumsfaktor nachgewiesen. Ein möglicher klinischer Einsatz von IL-1 wird jedoch durch die ausgeprägte Toxizität stark limitiert.
Interleukin 1 4 Synonym: Leukozytenaktivierender Faktor, endogenes Pyrogen 4 Chromosomale Kodierung: Chromosom 2q 4 Gene: 2 4 Aminosäuren: 272 bzw. 270 (Präkursoren) 4 Molekulargewicht: 33-kDa-Präkursor, 17-kDa-Spaltungsprodukt 4 Produktion: Makrophagen, viele andere Zelltypen 4 Rezeptor: IL-1R I und IL-1R II, Immunglobulinsuperfamilie 4 Bioaktivität: Dosisabhängig, ähnlich wie TNF, Hämatopetin 4 Mangelerscheinungen: Mausmodell: gestörte Fieberreaktion und Glukokortikoidsynthese
25
25.4.3 Interleukin 4
Biosynthese. Interleukin 4 (IL-4) wird vor allem von CD4+TZellen des sog. T-Helfer-2-(TH2-)Typs produziert. Ferner können aktivierte Mastzellen, basophile Granulozyten und bestimmte CD8+-T-Zellen IL-4 produzieren. IL-4 hat eine Molekularmasse von 20 kD und seine Struktur umfasst vier α-Helices. Rezeptoren und Signalübertragung. Der Rezeptor für IL-4 (IL-4R) ist ein membranständiges 130-kD-Protein. Alleine ist der IL-4R nicht zur Signalübertragung befähigt. Er muss hierzu entweder mit dem IL-13R oder mit der »gemeinsamen« γc assoziieren (Taga u. Kishimoto 1995), um dann über JAK3, JAK1 oder JAK2 und STAT6 intrazelluläre Signalwege zu aktivieren (Liu et al. 1998). Biologische Aktivität und Wirkungsweise. Physiologischerweise wirkt IL-4 vor allem als Regulator der IgE- und mastzellvermittelten »allergischen« Immunreaktion. Es ist für den Isotypenwechsel zur IgE-Schwerkette während der B-Zell-Differenzierung essenziell. IL-4-Knock-out-Mäuse können kein IgE produzieren. Daneben hemmt IL-4 den Isotypenwechsel zu den Schwerketten IgG2a und IgG3, der durch IFN-γ gefördert wird. IL-4 und IFN-γ weisen reziprok antagonistische Wirkungen auf. Ferner wirkt IL-4 als Wachstums- und Differenzierungsfaktor für T-Zellen des TH2-Typs, der neben anderem durch die Produktion von IL-4, aber nicht von IFN-γ charakterisiert wird (Carter u. Dutton 1996). Schließlich kann IL-4 die Expression bestimmter Adhäsionsmoleküle (z. B. VCAM-1), die Sekretion bestimmter Chemokine und auch die Proliferation von Mastzellen stimulieren. Insgesamt spielen IL-4 und die durch IL-4R mediierte Signaltransduktion eine zentrale Rolle in der Entwicklung allergischer Prozesse, einschließlich des allergischen Asthmas (Boothby et al. 2001) Pharmakokinetik und Toxizität. Dosisfindungsstudien erbrachten für die intravenöse Bolusgabe von IL-4 eine MTD von 10 μg/ kg (Atkins et al. 1992), für die subkutane Gabe eine MTD von 5 μg/kg (Gilleece et al. 1992) und für die intravenöse Dauerinfusion von IL-4 eine MTD von 360 μg/m2/Tag (Sosman et al. 1994). Dosislimitierende Nebenwirkungen waren Dyspnoe, das »vascular leak syndrome« bei der Dauerinfusion, Kopfschmerzen, Fatigue und das grippeähnliche Syndrom sowie Diarrhö und Hepatotoxizität. Klinischer Einsatzbereich. In Phase-II-Studien bei Patienten mit Nierenzellkarzinom und malignem Melanom (Margolin et al. 1994; Stadler et al. 1995) fand sich keine antitumorale Wirksamkeit von IL-4 in der gewählten Dosierung. Eine randomisierte Phase-II-Studie von zwei verschiedenen Dosen IL-4 bei Patienten mit inoperablem nichtkleinzelligem Lungenkarzinom fand lediglich bei einem von 55 auswertbaren Patienten eine objektive Tumor-Response (Vokes et al. 1998). Eine Phase-II-Studie bei 39 Patienten mit vorbehandelten Non-Hodgkin-Lymphomen erbrachte ebenso bei nur einem Patienten eine objektive Remission (Taylor et al. 2000). Klinische Prüfungen wurden auch bei Patienten mit Plasmozytom durchgeführt. Anhand der veröffentlichten Daten lässt sich somit derzeit keine klinische Wirksamkeit von IL-4 in den untersuchten Indikationen ableiten. Interessant erscheint jedoch für Tumorvakzinierungsansätze die Möglichkeit der Generierung dendritischer Zellen aus hämatopoetischen Progenitoren mittels IL-4 und GM-CSF (Nestle et al. 1998).
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25
Kapitel 25 · Zytokine
Interleukin 4 4 Synonym: B-Zell-stimulierender Faktor 1, Mastzellwachstumsfaktor 2 4 Chromosomale Kodierung: Chromosom 5q 4 Gene: 1 4 Aminosäuren: 154 4 Molekulargewicht: 20 kDa 4 Produktion: CD4+-T-Zellen (TH2), Mastzellen 4 Rezeptor: 130 kDA IL-4R, Signalübertragung in Assoziation mit γc-Kette (wie weitere Zytokinrezeptoren) 4 Bioaktivität: Regulator der IgE- und mastzellvermittelten »allergischen« Immunität 4 Mangelerscheinungen: Mausmodell: gestörte zelluläre Immunität
25.4.4 Interleukin 6
Biosynthese. Nach Stimulation durch IL-1 oder auch durch TNF synthetisieren mononukleäre Phagozyten, Endothelzellen, Fibroblasten und anderen Zelltypen Interleukin 6 (IL-6). Dies kann beispielweise im Rahmen einer gramnegativen Sepsis durch Stimulation von TNF und IL-1 über LPS beobachtet werden. IL-6 ist ein 26-kD-Protein, das strukturell aus vier α-Helices aufgebaut wird und in seiner aktiven Form als Homodimer vorliegt (Kishimoto et al. 1995). Rezeptoren und Signalübertragung. Der IL-6-Rezeptor (IL6R) setzt sich aus einer zytokinbindenden Untereinheit von 60 kD und einem 130-kD-Glykoprotein (GP130) zusammen, das der Signaltransduktion dient (Hibi et al. 1990; Taga u. Kishimoto 1995). Neben der IL-6-Signaltransduktion ist GP130 an der Signalübertragung weiterer Zytokine beteiligt. Zellen, die nur GP130, aber nicht den membranständigen 60-kD-IL-6R exprimieren, können dennoch über IL-6 im Komplex mit solublem IL-6R stimuliert werden. Die Interaktion von IL-6 mit dem IL-6R/GP130Komplex aktiviert die intrazelluläre Signalübertragung durch JAK1, JAK2, TYK2 sowie STAT1 und STAT3 (Liu et al. 1998). Biologische Aktivität und Wirkungsweise. Im Rahmen der Akute-Phase-Reaktion wird IL-6 durch TNF und vor allem IL-1 aufreguliert. Es stimuliert Hepatozyten zur Produktion von Akute-Phase-Proteinen, wie z. B. CRP, Fibrinogen und SAA. Daneben wirkt IL-6 als Wachstumsfaktor für aktivierte und differenzierte B-Zellen. Das Zytokin wirkt antiapoptotisch für eine Reihe von Immunzellen, um deren Überleben in einer toxischen Umgebung zu gewährleisten. Ferner kann IL-6 als Kofaktor mit anderen Hämatopoetinen das Wachstum hämatopoetischer Progenitoren stimulieren und zumindest in vitro als Kofaktor zur Stimulation von T-Zellen und Thymozyten wirken. IL-6 fördert außerdem die Proliferation maligner Plasmazellen. Bei vielen Plasmozytomen findet sich eine autonome IL-6-Sekretion im Sinne eines autokrinen Wachstumsfaktors. Pharmakokinetik und Toxizität. Die maximal tolerable Dosis (MTD) von IL-6 bei Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen lag bei der 3-mal täglichen intravenösen Gabe (Weber et al. 1994) ebenso wie bei der täglichen subkutanen Gabe (Weber et al. 1993) bei einer Einzeldosis von 10 μg/kg. Dosislimi-
tierende Nebenwirkungen von IL-6 waren Fieber, Nausea, das grippeähnliche Syndrom sowie eine reversible Hepatotoxizität. Bei der subkutanen Gabe von IL-6 nach zytostatischer Chemotherapie lag die MTD bei 10 μg/kg (Veldhuis et al. 1995), während die MTD beim Einsatz nach Hochdosistherapie mit autologer Blutstammzelltransplantation lediglich 1 μg/kg IL-6 betrug (Lazarus et al. 1995). Die MTD von IL-6 als Monotherapie bei Patienten mit myelodysplastischem Syndrom lag bei 3,75 μg/kg (Gordon et al. 1995). Klinischer Einsatzbereich. Klinisch wurde IL-6 für seinen Einsatz als antitumorales Zytokin und als hämatopoetischer Wachstumsfaktor überprüft: In Phase-II-Studien bei Patienten mit metastasiertem Nierenzellkarzinom konnte keine bedeutsame antitumorale Wirkung von IL-6 beobachtet werden (Schuler et al. 1998; Stouthard et al. 1996; Weiss et al. 1995). Ebenso war der Einsatz mit Chemotherapie beim Plasmozytom (Young et al. 1997; de Nully Brown et al. 1998) sowie als Monotherapie bei rezidivierter akuter myeloischer Leukämie (Estey u. Andreeff 1995) in Phase-II-Studien nicht effektiv. Als Hämatopoetin bewirkt IL-6 in vivo einen Thrombozytenanstieg, führt aber ebenso regelmäßig zu einer Anämie (Nieken et al. 1995; Schuler et al. 1996). Eine Phase-I/II-Studie bei Patienten mit refraktärer aplastischer Anämie wurde wegen Toxizität und fehlender Wirksamkeit abgebrochen (Schrezenmeier et al. 1995). Zusammenfassend sind Sicherheit und Durchführbarkeit der parenteralen Gabe von IL-6 durch klinische Prüfungen etabliert. Die publizierten Studien konnten jedoch keine überzeugende Wirksamkeit in den untersuchten Indikationen nachweisen.
Interleukin 6 4 4 4 4 4 4 4
Synonym: B-Zell-stimulierender Faktor 2 Chromosomale Kodierung: Chromosom 7p Gene: 1 Aminosäuren: 213 Molekulargewicht: 26 kDa Produktion: Makrophagen, viele andere Zelltypen Rezeptor: IL-6R, bestehend aus 60-kDa-Untereinheit (Immunglobulinsuperfamilie) und der gp-130-Untereinheit; membranständig oder soluble 4 Bioaktivität: Stimuliert Hepatozyten im Rahmen der Akute-Phase-Reaktion, Wachstumsfaktor reifer B-Zellen, Hämatopoetin 4 Mangelerscheinungen: Mausmodell: gestörte lokale Entzündungsreaktion, gestörte Synthese von Akute-PhaseProteinen
25.4.5 Interleukin 12
Biosynthese. Interleukin 12 (IL-12) besteht als Heterodimer aus einer 35-kD-(P35-) und einer 40-kD-(P40-)Untereinheit, die durch Disulfitbrückenbindung verbunden sind. Die P35-Untereinheit faltet sich strukturell in vier α-Helices und ähnelt somit anderen Zytokinen, wie IL-2, IL-4 oder IL-6, die mit Typ-I-Zytokinrezeptoren interagieren. Die P40-Untereinheit von IL-12 enthält hingegen ähnlich dem IL-6R eine Ig-ähnliche Domäne und zwei Bindungsdomänen, wie sie sich in Typ-I-Zytokinrezeptoren finden. Viele Zelltypen können die P35-Untereinheit produzieren,
539 25.4 · Andere Zytokine
25
aber die Synthese der P40-Untereinheit scheint auf aktivierte mononukleäre Phagozyten und dendritische Zellen beschränkt zu sein, woraus folgt, dass diese beiden Zelltypen die Hauptquelle für biologisch aktives IL-12 sind. Die Produktion von IL-12 wird neben anderem durch Typ-I-Interferone stimuliert.
IL-12 bei Patienten mit fortgeschrittenem Nierenzellkarzinom, malignem Melanom oder kolorektalem Karzinom waren Hepatotoxizität, pulmonale Toxizität, Stomatitis, Verschlechterung des Allgemeinzustandes, Fieber, Emesis, Depression und Leukopenie (Atkins et al. 1997; Motzer et al. 1998; Portielje et al. 1999).
Rezeptoren und Signalübertragung. Trotz der strukturellen Ähnlichkeit ist die P40-Untereinheit nicht der IL-12-Rezeptor (IL-12R). IL-12R werden hauptsächlich von T-Zellen, NK-Zellen und bestimmten B-Zell-Typen exprimiert. Die intrazelluläre Signaltransduktion durch den IL-12R erfolgt über JAK2, TYK2 sowie STAT3 und STAT4 (Liu et al. 1998).
Klinischer Einsatzbereich. IL-12 wurde in mehreren Phase-IStudien und Pilotstudien bei Patienten mit Nierenzellkarzinom (Atkins et al. 1997; Motzer et al. 1998; Portielje et al. 1999), malignem Melanom (Atkins et al. 1997; Bajetta et al. 1998), kutanen T-Zell-Lymphomen (Rook et al. 1999) und kolorektalem Karzinom (Atkins et al. 1997) klinisch geprüft. Bei den Patienten mit fortgeschrittenen soliden Tumoren wurden erwartungsgemäß geringe Remissionsraten beobachtet, während bei 5 Patienten mit kutanen Lymphomen mittels systemischer Injektion von IL-12 zwei komplette und zwei partielle Remissionen auftraten. Systematische Phase-II- oder Phase-III-Studien zur klinischen Effektivität von IL-12 bei Tumorerkrankungen liegen allerdings nicht vor.
Biologische Aktivität und Wirkungsweise. Zielzellen von IL-12 sind vor allem NK-Zellen und T-Zellen. IL-12 induziert die Sekretion von IFN-γ. Ferner führt IL-12 zur Differenzierung von CD4+T-Zellen in den sog. TH1-Typ, der u. a. durch Sekretion von IFN-γ charakterisiert ist (Carter u. Dutton 1996). Schließlich steigert IL12 die zytolytische Aktivität von NK-Zellen und von aktivierten CD8+-T-Zellen. Knock-out-Mäuse, die für die P40-Untereinheit von IL-12 defizient sind, weisen eine reduzierte IFN-γ-Produktion auf. Sie können aber weiterhin zytolytische Zellen generieren, was auf eine Redundanz zwischen verschiedenen Zytokinen hinweist. Pharmakokinetik und Toxizität. Im Gegensatz zu anderen Zytokinen, die eine Halbwertszeit im Bereich von Minuten aufweisen, hat IL-12 nach einmaliger Verabreichung eine prolongierte Plasmahalbwertszeit im Bereich von 6–9 h. Ferner zeigte sich im Vergleich zur einmaligen Injektion von IL-12 bei der mehrmaligen Gabe eine Tachyphylaxie bezüglich der Toxizität und biologischer Wirkungsparameter. Insofern wurde in Phase-I-Studien der einmal wöchentlichen Gabe einer fixen Dosis die MTD mit 1 μg/kg erreicht, während mittels einer Dosistitrationsstrategie MTD von 1,25 bzw. 1,5 μg/kg erzielt werden konnten (Motzer et al. 1998; Portielje et al. 1999). Dosislimitierende Toxizitäten von
Interleukin 12 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Synonym: NK-Zell-stimulierender Faktor Chromosomale Kodierung: 3p (p35) und 5q (p40) Gene: 2 Aminosäuren: 254 (P35) und 328 (P40) Molekulargewicht: 75-kDa-Dimer aus den Untereinheiten P35 und P40 Produktion: Makrophagen, dendritische Zellen Rezeptor: 110 kDa IL-12R Bioaktivität: Differenzierung von CD4+-Zellen zu TH1-Zellen, stimuliert NK-Zellen Mangelerscheinungen: Mausmodell: Reduktion der INFγ-Produktion, gestörte TH1-Differenzierung, gestörte DTH-Antwort
Zusammenfassung Zytokine sind Proteine mit niedrigem Molekulargewicht, die das hämotopoetische und immunologische System regulieren. Sie binden an hochaffine zytokinspezifische Rezeptoren auf der Zelloberfläche und ändern das zelluläre Verhalten durch Beeinflussung der Transkription von funktionellen Schlüsselgenen. Im Allgemeinen wirken sie in autokriner oder parakriner Weise. Ihre Effekte sind pleiotrop und teilweise zelltypspezifisch. Insgesamt bilden die Zytokine ein komplexes Netzwerk mit multiplen, zum Teil redundanten, sich aufhebenden oder überlappenden Effekten. In vivo ist eine individuelle Zelle dem Einfluss einer Reihe von Zytokinen, Hormonen und anderen externen Mediatoren ausgesetzt. Die letztendliche Reaktion der Zelle auf ein bestimmtes Zytokin hängt vom Kontext der anderen Signalmoleküle ab. In den letzten zwei Jahrzehnten ist eine Reihe von Zytokinen rekombinant hergestellt und ihr klinischer Einsatz in multiplen Studien getestet worden. Die anfängliche Euphorie über die Möglichkeiten eines breiten therapeutischen Einsatzes dieser Moleküle ist in den letzten Jahren durch eine realistische Ein-
schätzung ihres Stellenwertes in einer differenzierten Therapie ersetzt worden. Alle Hoffnungen haben sich zwar nicht erfüllt, eine Reihe der rekombinanten Proteine hat aber einen festen Platz in der Therapie verschiedenster Erkrankungen gefunden. In Zukunft werden sicher molekular veränderte Zytokine mit verbesserten pharmakologischen Eigenschaften das Spektrum des klinischen Einsatzes dieser Wirkstoffe erweitern. Auch die Entdeckung neuer Zytokine und die Entschlüsselung des komplexen regulatorischen Netzwerkes werden zu neuen Einsatzmöglichkeiten von Zytokinen oder Zytokinblockern im therapeutischen Repertoire führen. Eine besondere klinische Bedeutung wird sicher auch den Inhibitoren der Zytokinsignaltransduktion zukommen. Als Prototyp dieser rational molekular hergestellten Signaltransduktionshemmer ist das Imatinib Myselat (STI 571) bereits für die Behandlung der CML zugelassen worden. Andere kleine Moleküle, die spezifisch in die Signaltransduktionskaskaden eingreifen, werden vermutlich in Zukunft gezielte Eingriffe in das Zytokinnetzwerk erlauben und so zu neuen therapeutische Optionen führen.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
26 Hochdosistherapie und Stammzelltransplantation C. Scheffold, W.E. Berdel, J. Kienast
26.1
Hämatopoetische Stamm- und Progenitorzellen
26.2
Stammzellquellen und -gewinnung
26.3
Stammzellplastizität – 546
26.4
Embryonale Stammzellen
26.5
Autologe Stammzelltransplantation – 547
26.6
Allogene Stammzelltransplantation – 552
26.7
Gesetzliche Vorgaben, Richt- und Leitlinien Literatur – 562
– 541
– 541
– 546
– 560
541 26.2 · Stammzellquellen und -gewinnung
> Einleitung
26.1
In den 50 Jahren seit den ersten klinischen Transplantationsversuchen hat sich die hämatopoetische Stammzelltransplantation zu einem wichtigen Element der modernen Tumortherapie und der Behandlung nichtmaligner Stammzell- und Immundefekte sowie bestimmter hereditärer Stoffwechselerkrankungen entwickelt. Neue Indikationsgebiete werden erschlossen und Anwendungsgrenzen, bedingt durch Alter, Vorbehandlung und Komorbidität der Patienten, verschieben sich. Möglich wurde dieser Fortschritt durch eine Vielzahl paralleler Entwicklungen auf den Gebieten der Transplantationsimmunologie und Stammzellbiologie sowie der immunsuppressiven und supportiven Therapie.
Hämatopoetische Stamm- und Progenitorzellen
Die Expression des Membranphosphoglykoproteins CD34 kennzeichnet eine Population hämatopoetischer Progenitorzellen (HPC), die neben linienspezifisch determinierten Vorläuferzellen auch eine kleine Population pluripotenter hämatopoetischer Stammzellen (HSC) umfasst (Krause et al. 1996; Sienna et al. 2000). HSC sind zur Selbstreplikation, Proliferation und schrittweisen Differenzierung in jede Form terminal differenzierter Zellen des lymphohämatopoetischen Systems befähigt. Diese Prozesse unterliegen komplexen intra- und extrazellulären Regulationsmechanismen, für die das Mikromilieu des Knochenmarkstromas ideale Voraussetzungen bietet (Metcalf 1998). Werden HSC einem myeloablativ vorbehandelten Patienten intravenös infundiert, so siedeln sie sich innerhalb kurzer Zeit in Nischen des Knochenmarkstromas an (»Homing«) und übernehmen die langfristige Rekonstitution der Hämatopoese. Neben CD34 sind weitere stammzelltypische (linienunspezifische) Antigene wie Thy-1 oder AC-133 (CD133) bekannt. Multiparametrische durchflusszytometrische Analysen haben zur Definition von Konsensusphänotypen humaner HSC geführt (Civin u. Gore 1993; Gratama et al. 1999; Petzer et al. 1996; Weissman 2000b; Yin et al. 1997). Eine Quantifizierung und funktionelle Charakterisierung klonogener HPC in vitro ist darüber hinaus mit geeigneten Kurz- und Langzeitkulturverfahren möglich (Petzer et al. 1996; Sutherland et al. 1989). Dennoch gibt es heute keine routinetaugliche Referenzmethode zum direkten Nachweis der hämatopoetischen Stammzellpopulation. In der Praxis der Stammzelltransplantation hat sich das CD34Antigen als hinreichend verlässlicher Marker zur Quantifizierung von HSC/HPC im Blut und als Zielstruktur für die Stammzellanreicherung mit immunologischen Verfahren bewährt. Die CD34+Zellzahl im Knochenmark hat im Vergleich zum CD34+-Gehalt peripherer Blutstammzellpräparate einen geringeren prädiktiven Wert hinsichtlich Engraftment-Potenzial und -Kinetik, wird aber zur Qualitätskontrolle bestimmt. Voraussetzung für zuverlässige Ergebnisse der durchflusszytometrischen CD34-Quantifizierung ist die Anwendung standardisierter Referenzprotokolle mit validierten Antikörpern (Siena et al. 2000; Sutherland et al. 1996).
26.2
26
Stammzellquellen und -gewinnung
erfolgt durch serielle Punktionen und Markaspirationen entlang des hinteren, in Ausnahmefällen auch des vorderen Beckenkamms oder Sternums. Der 1- bis 2-stündige Eingriff wird unter aseptischen operativen Bedingungen üblicherweise in Allgemein-, seltener unter Epidural- oder Spinalanästhesie durchgeführt. Das Entnahmevolumen richtet sich nach der für die Transplantation geforderten Dosis an mononukleären Zellen (MNC) bzw. CD34+-Zellen und beträgt in der Regel 10–20 ml/kg Körpergewicht, beim Erwachsenen selten mehr als 1.500 ml Gesamtvolumen (7 Abschn. 26.4 und 26.5). Ist eine autologe Reinfusion vorgesehen, so wird die nukleäre Zellfraktion des entnommenen Knochenmarks nach Zusatz des Kryoprotektors Dimethylsulfoxid (DMSO, 10% v/v) unter kontrollierten Bedingungen tiefgefroren (programmierbares Einfriergerät) und in gasförmigem oder flüssigem Stickstoff zwischengelagert. Im Fall der syngenen oder allogenen Transplantation wird das Knochenmark üblicherweise »warm« transfundiert, d. h. unmittelbar nach Entnahme und Aufbereitung. Bei Raumtemperatur oder +4°C können Lagerungs- und Transportzeiten von 24–48 h in Kauf genommen werden. Zur Vereinfachung der Therapieplanung und Logistik werden auch allogene Stammzellpräparate zunehmend häufiger kryokonserviert (Van Zant 1998). Risiken und Nebenwirkungen der Knochenmarkentnahme Im Vordergrund stehen Schmerzen an der Entnahmestelle und Müdigkeit (60–80% der Fälle), Wundgefühl im Bereich der oberen Luftwege und Übelkeit (anästhesiebedingt, 40–60%) sowie Schwindel, Kopfschmerz, gelegentlich Fieber und Erbrechen (20–40%; Confer u. Stroncek 1998). Abhängig vom Entnahmevolumen ist eine transfusionsbedürftige Anämie unter/nach Knochenmarkentnahme regelhaft zu erwarten. Für Familien- und Fremdspender sind autologe Erythrozytenkonzentrate vorzuhalten. Leichte Komplikationen wie Kollapsneigung, arterielle Hypotonie und unkomplizierte Infektionen kommen in 6–20% der Fälle vor. Schwere, z. T. vital bedrohliche Komplikationen sind mit einer Inzidenz von 0,1–0,3% selten. Sie treten im Zusammenhang mit Anästhesie- oder Transfusionszwischenfällen auf bzw. manifestieren sich als Infektionen (Pneumonie, Sepsis, Osteomyelitis), punktionsbedingte Blutungen (z. B. retroperitoneal) oder Organverletzungen. Kasuistisch ist auch über ein Fettemboliesyndrom berichtet worden.
26.2.1 Knochenmark 26.2.2 Periphere Progenitorzellen (PBPC)
Klassisches Stammzellreservoir für die Gewinnung von HSC/ HPC zur Transplantation ist das Knochenmark (Kurnick et al. 1958; Thomas et al. 1957, 1959). Die Knochenmarkentnahme
PBPC zirkulieren auch bei normaler Hämatopoeseaktivität im peripheren Blut (Barr et al. 1975), jedoch in zu geringer Konzent-
542
Kapitel 26 · Hochdosistherapie und Stammzelltransplantation
. Tab. 26.1. Richtwerte zur Herstellung peripherer Blutstammzellpräparate Zellzahlen im PB vor Stammzellseparation
26
Leukozyten
CD34+-Zellen
Prozessiertes BV pro Apherese
Mindestdosis CD34+-Zellen
Maximal 4-fache des Patienten-BV
≥2-mal 106/kg KG für jede autologe Transplantation
Maximal 4-fache des Spender-BV
≥4-mal 106/kg KG des Empfängers
Thrombozyten
1. Autologe Stammzellpräparation >1000/μl
>10/μl
Erwachsene: >50.000/μl
Kinder: >30.000/μl 2. Allogene Stammzellpräparation >3000/μl
–
>80.000/μl
Maximal 5 Apheresen innerhalb von 14 Tagen PB peripheres Blut; BV Blutvolumen; KG Körpergewicht
ration für eine effiziente Stammzellgewinnung zum Zweck einer autologen oder allogenen Transplantation (Krause et al. 1996; Siena et al. 2000). Voraussetzung für eine breite Anwendung der peripheren Blutstammzelltransplantation war die Beobachtung, dass HSC/HPC bei stimulierter Hämatopoese, z. B. in der Regenerationsphase nach myelosuppressiver Chemotherapie (Richman et al. 1976) oder/und unter Behandlung mit hämatopoetischen Wachstumsfaktoren (Duhrsen et al. 1988; Socinski et al. 1988), vermehrt in das Blut ausgeschwemmt (»mobilisiert«) werden. Zum Zeitpunkt der maximalen Expansion des peripheren Blutstammzellpools lassen sich PBPC durch ambulant durchführbare präparative Blutzellseparation (Leukapherese) in genügender Zahl für eine Transplantation aus dem peripheren Blut gewinnen. »Zytotoxische« Mobilisierung von PBPC Die zytotoxische Behandlung, z. B. mit hochdosiertem Cyclophosphamid (3–7 g/m2) oder verschiedenen Kombinationschemotherapien, führt während der Regeneration der Hämatopoese zu einem vorübergehenden 15- bis 25-fachen Anstieg klonogener HSC/HPC im Blut (Richman et al. 1976; Siena et al. 2000; To et al. 1984). Bei Leukozytenzahlen ab 1.000/μl nach Durchschreiten des Nadirs können PBPC durch ein-, häufig mehrfache Leukapherese in transplantationsrelevanter Zahl aus dem peripheren Blut isoliert werden (. Tab. 26.1; nach DGTI 1998; Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 1997, 2000). Ohnehin nur zur Gewinnung autologer PBPC bei Tumorpatienten anwendbar, wird die PBPC-Mobilisierung durch alleinige zytostatische Chemotherapie heute kaum noch durchgeführt. Gründe sind die begrenzte Mobilisierungseffektivität, die mit der Myeloaplasie verbundenen Risiken und der im Einzelfall schwer planbare Apheresezeitpunkt. PBPC-Mobilisation mit hämatopoetischen Wachstumsfaktoren Eine 4- bis 7-tägige Stimulation der Hämatopoese durch alleinige Behandlung mit hämatopoetischen Wachstumsfaktoren wie rekombinantem humanem »granulocyte colony-stimulating factor« (G-CSF) oder »granulocyte-macrophage colony-stimulating factor« (GM-CSF) resultiert in einer Leukozytose bei gleichzeitiger Anreicherung von HSC/HPC im peripheren Blut (. Abb. 26.1; schematische Darstellung nach Hoglund et al. 1997;
Murata et al. 1999), die sowohl bei gesunden Stammzellspendern als auch bei Tumorpatienten die Gewinnung von PBPC in ausreichender Zahl für eine Transplantation erlauben (Duhrsen et al. 1988; Fu u. Liesveld 2000; Siena et al. 2000; Socinski et al. 1988). Hinsichtlich Mobilisierungspotenzial und Verträglichkeit ist GCSF in glykosylierter (Lenograstim) oder nichtglykolysierter Form (Filgrastim) dem GM-CSF überlegen (Hoglund et al. 1997; Lane et al. 1995). G-CSF (Lenograstim/Filgrastim) ist als einziger hämatopoetischer Wachstumsfaktor zur PBPC-Mobilisation bei gesunden freiwilligen Spendern zugelassen. Dosierung PBPC-Mobilisation und -Ausbeute unter G-CSF-Stimulation sind dosisabhängig. Üblicherweise werden Tagesdosen von 10– 24 μg/kg in 2 Einzelgaben appliziert (Kroger et al. 2000; Zeller et al. 1996). Für gesunde freiwillige Stammzellspender werden Tagesdosen von 10 μg/kg mit Dosisreduktion bei Leukozytenzahlen ≥70.000/μl empfohlen (Anderlini et al. 1998). Optimaler Apheresezeitpunkt ist Tag 5 nach Beginn der G-CSF-Stimulation (s. . Abb. 26.1). Leukapheresen sollten frühestens am Tag 4 begonnen und bedarfsweise bis spätestens Tag 7 der G-CSF-Behandlung durchgeführt werden, jeweils innerhalb von maximal 12 h nach vorangehender G-CSF-Applikation. Nebenwirkungen Zu den direkten Nebenwirkungen der G-CSF-Behandlung zählen Knochenschmerzen (80% der Fälle), Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schlaflosigkeit und Übelkeit (10–40%), selten Fieber, Flüssigkeitsretention und nichtkardiale Thoraxschmerzen (Anderlini et al. 1998; Murata et al. 1999). Leukozytosebedingt kommt es häufig zu einem transienten Anstieg der Laktatdehydrogenase und der alkalischen Leukozytenphosphatase (Murata et al. 1999). Schwerwiegende Komplikationen wie Thromboembolien, kardio- oder zerebrovaskuläre Ischämien, Milzruptur oder anaphylaktoide Reaktionen sind kasuistisch berichtet worden (Adkins 1998; Anderlini et al. 1997; Falzetti et al. 1999). Langfristige Nebenwirkungen einer vorübergehenden Behandlung mit G-CSF sind nach gegenwärtiger Datenlage weder zu belegen, noch definitiv auszuschließen. Bisher gibt es keine Hinweise auf Spätkomplikationen, z. B. im Sinne einer erhöhten Malignominzidenz (Anderlini et al. 1998; Cavallaro et al. 2000). Eine systematische Langzeitbeobachtung von Spendern ist je-
543 26.2 · Stammzellquellen und -gewinnung
26
. Abb. 26.1. Mobilisation hämatopoetischer Progenitorzellen (CD34+) in das periphere Blut durch Stimulation der »Steady-State-Hämatopoese« mit
»granulocyte colony-stimulating factor« (G-CSF; 10 μg/kg/Tag) bei gesunden Spendern. Nota bene: Thrombozytenabfall unter Leukapheresen
doch sicherzustellen (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 1997). Kontraindikationen Als Kontraindikationen einer G-CSF-Behandlung zur PBPCMobilisation gelten insbesondere bei freiwilligen Stammzellspendern (Anderlini et al. 1997): 4 kardio-/zerebrovaskuläre Erkrankungen oder Risikofaktoren, 4 Thromboembolien in der Anamnese oder eine entsprechende Prädisposition, 4 entzündliche Erkrankungen, 4 Autoimmunerkrankungen, 4 maligne Erkrankungen (aktuell oder in der Vorgeschichte), 4 ungünstige periphere Venenverhältnisse (relativ).
hemmt kompetitiv die Interaktion mit »stromal cell-derived factor-1, SDF-1« (CXCL12) von Osteoblasten und Knochenmarkendothelzellen. Es wird angenommen, dass die Rezeptor-LigandInteraktion zwischen CXCR4 und CXCL2 die Migration und das »Homing« von HSC/HPC reguliert. Die vorläufigen klinischen Untersuchungen belegen, dass AMD3100 vor allem in Kombination mit G-CSF signifikant die Menge mobilisierter HPC erhöht und hierdurch die Anzahl notwendiger Blutstammzellapheresen vermindert. Darüber hinaus ließen sich bei Patienten Stammzellen gewinnen, die unter alleiniger G-CSF-Behandlung nicht mobilisierten. Als Hauptnebenwirkungen von AMD3100 wurden Diarrhöen, Parästhesien und Rötungen an Einstichstellen beschrieben. Nach Retransfusion der mittels AMD3100 mobilisierten Stammzellen kam es jeweils zur zeitgerechten Regeneration der Hämatopoese (Flomenberg et al. 2005).
Kombinationen hämatopoetischer Wachstumsfaktoren Bei Tumorpatienten mit unzureichender PBPC-Mobilisation unter G-CSF, in der Regel aufgrund intensiver Vorbehandlung, kann in Einzelfällen der synergistische Mobilisierungseffekt von GCSF und rekombinantem humanem »stem cell factor« (SCF, Ancestim) genutzt werden (Shpall et al. 1999; Stiff et al. 2000b). Wegen der Gefahr von Unverträglichkeitsreaktionen ist eine entsprechende Prämedikation vor SCF-Gabe erforderlich. Synergistische Mobilisierungseffekte wurden auch für eine GM-CSF-Vorbehandlung vor G-CSF-Stimulation sowie im murinen Modell u. a. für die Kombination von FLT-3-Ligand und G-CSF beschrieben (Molineux et al. 1997; Winter et al. 1996). Aussichtsreich wird derzeit ein Chemokinrezeptorantagonist AMD3100 (Bicyclam) in klinischen Studien (Phase II) geprüft. AMD3100 bindet selektiv an den Chemokinrezeptor CXCR4 auf HPC und
Zytokinunterstützte zytotoxische PBPC-Mobilisation Zur Mobilisation autologer PBPC bei Tumorpatienten wird heute überwiegend die Kombination einer transient myelosuppressiven Chemotherapie mit anschließender Stimulation der regenerierenden Hämatopoese durch G-, seltener GM-CSF eingesetzt (Fu u. Liesveld 2000; Siena et al. 2000). Vorteile sind der (supra)additive Mobilisierungseffekt (Koc et al. 2000; Meldgaard et al. 2000; Siena et al. 1989), die Verkürzung der Neutropeniedauer durch die Wachstumsfaktorgabe sowie möglicherweise eine Reduktion der Tumorzellkontamination des Stammzellpräparats durch die zytotoxische Vorbehandlung (»In-vivo-Purging«; Fu u. Liesveld 2000). Als zytotoxisches Element der kombinierten Mobilisierungsstrategie eignet sich eine Monotherapie mit unterschiedlichen Zytostatika, z. B.
544
Kapitel 26 · Hochdosistherapie und Stammzelltransplantation
. Tab. 26.2. G-CSF-unterstützte zytotoxische Stammzellmobilisierung Mobilisierungsregime
Zusammensetzung
Dosierung
Mediane CD34+-Ausbeute (× 106/kg KG)
Streuungsbereiche
Cya
Cyclophosphamid
4 g/m2
2,02
0,20–18,49
CyEa
Cyclophosphamid
4 g/m2
11,03
2,40–46,91
Etoposid
600 mg/m2
Cyclophosphamid
4 g/m2
5,37
0,10–33,07
12,9
0,95–73,79
26
CyEPa
CyPaclitaxelb
a
mg/m2
Etoposid
600
Cisplatin
105 mg/m2
Cyclophosphamid
4 g/m2
Paclitaxel
170 mg/m2
10 μg/kg/Tag G-CSF, b 16 μg/kg/Tag G-CSF
4 Cyclophosphamid (4–7 g/m2; Goldschmidt et al. 1996; Koc et al. 2000; Meldgaard et al. 2000); 4 Ifosfamid (10 g/m2;Vela-Ojeda et al. 2000); 4 Etoposid (2 g/m2; Copelan et al. 1997; Reiser et al. 1999); 4 Paclitaxel (170 mg/m2; Gomez-Espuch et al. 2000); 4 Docetaxel (100–120 mg/m2; Laport et al. 2001), ebenso wie verschiedene Kombinationsregime (. Tab. 26.2; Demirer et al. 1997; Fu u. Liesveld 2000; Siena et al. 2000). Ausschlaggebend für die Wahl der zytotoxischen Mobilisierungskomponente ist deren Aktivität gegen den jeweiligen Tumor. Um zusätzliche Toxizität durch die Mobilisierungstherapie zu vermeiden, wird diese in die ohnehin erforderliche zytoreduktive Behandlung vor der Hochdosistherapie mit autologem Stammzellersatz integriert.
4 Strahlentherapie unter Einbezug von Regionen blutbildenden Knochenmarks, 4 Tumorentität und -status (z. B. indolente Lymphome, Mammakarzinom Stadium IV vs. II/III, Rezidiv vs. Erstremission), 4 Alter >60 Jahre.
Bevorzugtes Zytokin zur Stimulation der regenerierenden Hämatopoese ist G-CSF, das in Tagesdosen von 5–10 μg/kg, beginnend 24–48 h nach Ende der Chemotherapie bis zum Abschluss der Leukapheresen, gegeben wird (Weaver et al. 2000). Die Kombination von G-CSF mit SCF erhöht die PBPC-Ausbeute (Weaver et al. 1998). Stärker als bei der PBPC-Mobilisation durch alleinige Gabe hämatopoetischer Wachstumsfaktoren variiert der optimale Apheresezeitpunkt bei der zytokinunterstützten zytotoxischen PBPC-Mobilisation interindividuell und in Abhängigkeit von der zytostatischen Therapiekomponente. Als Surrogatparameter für den Apheresebeginn kann die Leukozytenzahl herangezogen werden, verlässlicher ist das CD34+-Monitoring im peripheren Blut (Apheresebeginn ab 10 CD34+-Zellen/μl; . Tab. 26.1).
Bei Mobilisierungsversagen mit einer CD34+-Ausbeute von <1mal 106 Zellen/kg ist die Gewinnung autologer Stammzellen durch Knochenmarkentnahme eine naheliegende Alternative (Dreger et al. 1995), aber nicht selten ebenfalls ineffektiv (Watts et al. 1998). Ein Remobilisationsversuch mit Dosiserhöhung der zytotoxischen Therapiekomponente (z. B. Cyclophosphamid 7 statt 4 g/m2) und/ oder der G-CSF-Behandlung ist in einem Teil der Fälle erfolgreich. Aussichtsreicher ist eine Umstellung des Mobilisierungsregimes, z. B. von Cyclophosphamid auf Etoposid (Reiser et al. 1999), von zytostatischer Mono- auf Kombinationschemotherapie (Demirer et al. 1997) und/oder auf Wachstumsfaktorkombinationen wie GCSF plus SCF (Shpall et al. 1999; Weaver et al. 1998). Bei kumulativ insuffizienter Gewinnung autologer Stammzellen ist in Einzelfällen eine allogene Stammzelltransplantation als Alternative zu erwägen. Eine experimentelle Option ist die Ex-vivo-Expansion der Stammzellen (Stiff et al. 2000a). In den seltenen Fällen einer unzureichenden PBPC-Gewinnung von einem freiwilligen Stammzellspender wird in der Regel eine Knochenmarkspende erforderlich. Für diesen Fall sollte die entsprechende Einwilligung des Spenders bereits vor Beginn der Konditionierungstherapie des Patienten vorliegen (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 1997).
Mobilisierungsversagen Eine CD34+-Ausbeute von <1-mal 106 Zellen/kg wird als Mobilisierungsversagen definiert (Fu u. Liesveld 2000). Aus der Literatur sind zahlreiche Faktoren bekannt, die mit einer insuffizienten PBPC-Mobilisation assoziiert sind (Brown et al. 1997; Fu u. Liesveld 2000; Watts et al. 1997, 1998; Weaver et al. 1997): 4 Dauer, Zykluszahl und Intensität der chemotherapeutischen Vorbehandlung, 4 Vorbehandlung mit Alkylanzien (≥6 Monate), Fludarabin oder Platinverbindungen,
Blutstammzellapherese Zum Zeitpunkt maximaler Mobilisation (Voraussetzungen . Tab. 26.1) werden PBPC durch Apherese von MNC mittels Blutzellseparatoren gewonnen, die mit kontinuierlichem Volumenfluss auf der Basis einer Dichtegradientenzentrifugation arbeiten. Mithilfe von Dichtesensoren differenzieren die Geräte zwischen Plasmaüberstand, der stammzellreichen Interphase (Zielfraktion) sowie einer granulozyten- und erythrozytenreichen Phase. Während die Interphase gezielt abgesammelt wird, werden die übrigen Blutbestandteile dem Patienten/Spender über einen zweiten Katheter(schenkel) rückinfundiert.
545 26.2 · Stammzellquellen und -gewinnung
Zur Antikoagulation während der Zytapherese wird eine kalziumbindende Zitratlösung (ACD) im geeigneten Mischungsverhältnis oder ggf. zusätzlich Heparin verwendet (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 1997). Pro Apherese von 2–3 h, maximal 5 h Dauer wird das 2- bis 4-fache Blutvolumen des Patienten/Spenders prozessiert (. Tab. 26.1). Bei gesunden Spendern sind innerhalb von 14 Tagen maximal 5 Leukapheresen zulässig, die auch an aufeinanderfolgenden Tagen durchgeführt werden können (DGTI 1998; Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 1997, 2005). Für die Leukapheresen sind zwei Venenzugänge bzw. ein zweischenkliger Zugang mit ausreichendem Lumen für Flussraten von 30–80 ml/min erforderlich. Bei ungünstigen peripheren Venenverhältnissen sind bei Tumorpatienten auch zentralvenöse Zugänge (z. B. Sheldon-Katheter) über die V. jugularis interna, alternativ über die V. subclavia oder die Femoralvenen zulässig. Bei freiwilligen Stammzellspendern werden periphervenöse Zugänge bevorzugt, um Komplikationen durch Katheterinsertion zu vermeiden. Lagerung, Kryokonservierung und Qualitätskontrolle Die PBPC-Präparate können bei 4 ± 2°C bis maximal 72 h gelagert werden. Für eine längere Lagerung ist die Kryokonservierung in gasförmigem oder flüssigem Stickstoff mit einer geeigneten Gefrierschutzlösung (DMSO, 5–10% v/v) notwendig (kontrolliertes Einfrieren gemäß Standardprotokoll; Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 1997). Von jedem PBPC-Apheresepräparat sind das Volumen, die Leukozytenzahl mit Differenzialverteilung, der Anteil an CD34+Zellen, Vitalität und ggf. Klonogenität der Progenitorzellen, ferner Sterilität, Erythrozytengehalt und Thrombozytenzahl zu kontrollieren. Bei kryokonservierten PBPC-Präparaten sollte vor Konditionierung des Patienten die Vitalität der Zellen aus einer eingefrorenen Referenzprobe überprüft werden (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 1997). Vor Freigabe allogener Präparate müssen alle Infektionsparameter analog zu Knochenmarktransplantaten eindeutig negativ sein (HBsAg, Antikörper gegen HCV, HIV-1/2 und Treponema pallidum, HCV-Genom; Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 1997, 2000). Autologe Präparate mit positiven Infektionsmarkern müssen entsprechend den Richtlinien separat gelagert werden (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 1997). Risiken und Nebenwirkungen der Blutstammzellapheresen Zu den seltenen, aber aufklärungsrelevanten Nebenwirkungen der Blutstammzellapherese gehören (Confer u. Stroncek 1998; DGTI 1998): 4 Komplikationen durch Katheterinsertion (Pneumothorax, Infektionen, Blutungen insbesondere durch arterielle Fehlpunktionen, Thromben), 4 Schweißausbruch, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel und Kollapsneigung infolge transienten Volumenmangels (korrigierbar durch Anpassung der Flussrate am Zellseparator oder zusätzliche Flüssigkeitsgabe), 4 Blutungsneigung durch Hypokalzämie und Thrombozytopenie (korrigierbar durch Substitution, Anpassung des ACD-AMischungsverhältnis), 4 Hyp- und Parästhesien, Muskelspasmen (korrigierbar durch orale, ggf. intravenöse Kalziumzufuhr, Anpassung des ACDA-Mischungsverhältnis),
26
4 selten Überempfindlichkeitsreaktionen, 4 technische Komplikationen (Luftembolie durch Ausfall von Sicherheitssystemen, Blutverlust oder Infektionen durch Einreißen der Schlauch-/Beutelsysteme, Hämolyse durch Druckveränderungen). Hämozytopenien nach Blutstammzellapherese Unter bzw. nach Stammzellapherese ist mit einem 30- bis 50%igen Abfall der peripheren Thrombozytenzahlen zu rechnen (Murata et al. 1999), was bei Tumorpatienten nicht selten eine Thrombozytensubstitution oder Verschiebung der Apherese erforderlich macht. Ursache der Thrombozytopenien sind in erster Linie die Zytapheresen, möglicherweise auch die G-CSF-Vorbehandlung. Bei gesunden Spendern sind Thrombozytopenien ≤50.000/ μl selten (3% der Fälle) und ggf. durch Reinfusion von autologem thrombozytenreichem Plasma, das aus dem Aphereseprodukt separiert wird, zu korrigieren (Murata et al. 1999). Zu den minimal erforderlichen Thrombozytenzahlen vor Blutstammzellapherese s. . Tab. 26.1. Eine leichte Abnahme der Neutrophilen- und Lymphozytenzahlen wird auch bei gesunden Spendern beobachtet, verläuft jedoch asymptomatisch und ist binnen weniger Wochen reversibel. Kritische Neutropenien <1.000/μl sind bei gesunden Spendern selten (3% der Fälle), in der Regel ebenfalls asymptomatisch und rasch reversibel (Murata et al. 1999). Auf die Vor- und Nachteile von PBPC gegenüber Knochenmark bei der autologen und allogenen Stammzelltransplantation wird in 7 Abschn. 26.4 und 26.5 eingegangen. 26.2.3 Nabelschnurblut
Die erste erfolgreiche Transplantation allogener hämatopoetischer Stammzellen aus fetalem Nabelschnur- und Plazentarestblut (»cord blood«, CB) wurde 1988 von Gluckman und Mitarbeitern bei einem Kind mit Fanconi-Anämie durchgeführt (Gluckman et al. 1989). Zwischenzeitlich stehen durch den Aufbau von CB-Banken in Europa und Nordamerika bereits über 100.000 kryokonservierte CB-Einheiten zur Transplantation zur Verfügung (z. B. Netcord, New York Blood Center, NMDP Registry). In den entsprechenden Registern wurden bereits mehr als 6.000 familiär- oder fremdallogene CB-Transplantationen erfasst (Gluckman 2001, Rocha et al. 2006). Das stammzellreiche kindliche Plazentarestblut wird unmittelbar nach Abnabelung durch sterile Punktion der Nabelschnur gewonnen und innerhalb von 24 h zum Zweck der Kryokonservierung, Qualitätskontrolle und späteren Typisierung (HLA, Blutgruppe) aufbereitet. Voraussetzung für Aufarbeitung und Einlagerung des CB-Präparates ist ein Mindestvolumen von 60 ml (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 1999). Wesentliche Vorteile von CB sind die für den Spender risikolose Gewinnung des Stammzellpräparates und dessen sofortige Verfügbarkeit im Bedarfsfall. Günstig im Vergleich zu Knochenmark oder PBPC sind die geringere Viruskontamination, der geringere Lymphozytengehalt sowie die funktionelle Unreife der fetalen Immunzellen (Mayani u. Lansdorp 1998). Darin wird die Erklärung für die niedrige Inzidenz von Graft-versus-Host-Erkrankungen (GvHD) nach familiär- oder fremdallogener Transplantation von CB gesehen (Barker et al. 2001; Laughlin et al. 2001; Rocha et al. 2000).
546
26
Kapitel 26 · Hochdosistherapie und Stammzelltransplantation
Nachteilig ist das begrenzte Volumen einer CB-Einzelspende. Bezogen auf die Volumeneinheit ist der Gehalt klonogener HSC/ HPC in CB und Knochenmark zwar vergleichbar (Mayani u. Lansdorp 1998). Absolut betrachtet enthält eine CB-Einheit von ca. 100 ml aber nur ein Zehntel der MNC und CD34+-Zellen einer Knochenmarkspende von ca. 1.000 ml (Gluckman 2001). Die geringere Absolutzahl wird durch das höhere Proliferations- und Expansionspotenzial der fetalen Stammzellen kompensiert (Gluckman 2001; Mayani u. Lansdorp 1998), sodass die Transplantation von 2-mal 107 fetalen MNC bzw. 2-mal 105 fetalen CD34+-Zellen pro kg Empfängergewicht zur dauerhaften Repopulation des Knochenmarks ausreicht (Gluckman 2001). Bei Engraftment-Raten von 85–90% ist die Rekonstitution der Hämatopoese nach Transplantation von CB allerdings deutlich verzögert (Regeneration der Neutrophilen im Median 7–14 Tage später als nach Knochenmarktransplantation; Barker et al. 2001; Laughlin et al. 2001; Rocha et al. 2000). Noch nicht abschließend geklärt ist, ob die gleichzeitige Transplantation von CB verschiedener Spender zu einem beschleunigten Engraftment führt und die Anwendbarkeit vor allem bei Erwachsenen hierdurch verbessert wird (Barker et al. 2005). Darüber hinaus wird gegenwärtig in experimentellen Studien die Ex-vivo-Expansion fetaler Stammzellen aus CB sowie die Transplantation von CB zusammen mit mesenchymalen oder aufgereinigten Stammzellen von haploidenten Familienspendern geprüft. Es bleibt zu zeigen, ob durch diese Strategien die Transplantation von CB auch zu einer breit anwendbaren Therapieoption für erwachsene Patienten wird. Bei Kindern sind die Ergebnisse der CB-Transplantation selbst bei Histokompatibilitätsdisparitäten denen der Knochenmarktransplantation von histokompatiblen Familien- oder Fremdspendern hinsichtlich des Gesamtüberlebens vergleichbar (Barker et al. 2001; Rocha et al. 2000). Bei Erwachsenen sind Rezidivfreiheit und Gesamtüberleben nach CB-Transplantation in hohem Maß von der Zahl der transplantierten MNC bzw. CD34+-Zellen abhängig (Gluckman 2001; Laughlin et al. 2001). Aus diesem Grund beschränkt sich die Anwendung der CBTransplantation auf Empfänger mit geringem Körpergewicht, in der Regel Kinder und Jugendliche. Neuere retrospektive Studien deuten darauf hin, dass die Gesamtüberlebenszeit nach CBTransplantation bei Erwachsenen mit der nach fremdallogener Knochenmarktransplantation vergleichbar ist (Laughlin et al. 2004, Rocha et al. 2004).
26.3
Stammzellplastizität
Einzelne adulte Stammzellen verschiedener somatischer Gewebe verfügen über ein Differenzierungspotenzial, das weder durch die Gewebe- noch durch die Keimblattspezifität limitiert ist (Weissman 2000a,b). Tierexperimentelle Studien, z. T. auch Exvivo-Untersuchungen an humanem Gewebe haben gezeigt, dass HSC aus dem Knochenmark zu vaskulären Endothelzellen (Kocher et al. 2001), epithelialen Zellen der Haut, Lunge, Leber und des Gastrointestinaltrakts (Alison et al. 2000; Krause et al. 2001; Petersen et al. 1999), zu kardialen Myozyten (Orlic et al. 2001), Skelettmuskel- (Ferrari et al. 1998), Glia- (Eglitis u. Mezey 1997) oder neuralen Zellen (Brazelton et al. 2000) ausreifen können und entsprechenden »Homing-Signalen« zugänglich sind. Umgekehrt differenzieren beispielsweise adulte neurale (Bjornson et al. 1999) oder aus der Skelettmuskulatur isolierte Stammzellen (Jackson et al. 1999) unter geeigneten Bedingungen zu hämato-
poetischem Gewebe. Dieses klassischen Dogmen widersprechende Phänomen wird als Stammzellplastizität bezeichnet, wobei noch unklar ist, ob es durch die Präsenz einzelner totipotenter Stammzellen in somatischen Geweben oder durch Transbzw. Redifferenzierung kommittierter Stammzellen zu erklären ist. Zumindest theoretisch ergibt sich aus diesen Beobachtungen eine Vielzahl neuer Anwendungsperspektiven nicht nur für die hämatopoetische Stammzelltransplantation, z. B. bei der Wiederherstellung von Organfunktionen durch Stammzellersatz geschädigten Gewebes oder durch die gewebe- bzw. organspezifische Ansiedlung transgener Zellen (Orlic et al. 2001).
26.4
Embryonale Stammzellen
Embryonale Stammzellen (ESC) werden nach ihrer Herkunft benannt. Beim Menschen bilden ESC die innere Zellmasse (Embryoblast) eines 4‒7 Tage alten Präimplantationsembryos. Dieser wird als Blastozyste bezeichnet und enthält neben dem Embryoblast einen flüssigkeitsgefüllten Hohlraum (Blastozöl) sowie eine äußere Zellwand (Trophektoderm), die zu einem späteren Zeitpunkt den embryonalen Teil der Plazenta (Chorion) bildet. ESC weisen stabile, diploide Chromosomensätze auf und besitzen die Fähigkeit zur unbegrenzten Selbstreplikation. Im Verlauf der Embryogenese können ESC unter dem Einfluss noch nicht weitreichend geklärter Ausdifferenzierungssignale zu Zelltypen der drei klassischen Keimblätter Ektoderm, Mesoderm, Endoderm und zu Keimzellen ausreifen. In Kultursystemen etablierte murine ESC-Zelllinien konnten bereits zu neuronalen Zellen, kardialen Myozyten, vaskulären Endothelzellen, Keratinozyten, Zellen der quergestreiften und glatten Muskulatur, Insulin produzierenden Zellen und Osteoblasten ausdifferenziert werden (Übersicht in Smith 2001). Darüber hinaus besitzen ESC die Fähigkeit hämatopoetische Vorläuferzellen auszubilden (Übersicht in Olsen et al. 2006). Nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand wird die Pluripotenz von ESC durch die Interaktion verschiedener Gene reguliert u. a. durch OCT4 »octamer-binding transcription factor« (Boiani u. Schöler 2005). Humane ESC wurden erstmals 1998 erfolgreich kultiviert (Thomson 1998). Für deren Gewinnung kommen gegenwärtig drei Verfahren zur Anwendung. Im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation können ESC aus der inneren Zellmasse von »überzähligen« Embryos im Blastozystenstadium isoliert werden. Da der Embryo hierdurch zerstört wird, ist dieses Verfahren in vielen Ländern gesetzlich verboten. Das zweite Verfahren verwendet primordiale Keimzellen (»embryonic germ cells«, EG-Zellen) aus abortierten Föten, die anschließend in Kultursystemen zu ESC ausdifferenziert werden. Dies ist technisch sehr anspruchsvoll und setzt voraus, daß die Föten keine Entwicklungsstörung aufweisen. Darüber hinaus können ESC aus gespendeten Eizellen mittels Kerntransfer (»nuclear transfer«) gewonnen werden. Bei diesem Verfahren wird der Zellkern der Eizelle durch einen Zellkern einer somatischen Körperzelle ersetzt. Nach dem Austausch entwickelt sich aus der Eizelle ein Embryo mit dem Genom seines Spenders. Dieser als genetisches Reprogrammieren bezeichnete Vorgang verläuft jedoch meist fehlerhaft und in der Mehrzahl der Fälle bleibt die Embryogenese auf das Blastozystenstadium begrenzt oder es kommt zur Ausbildungen von Fehlbildungen. Trotz ethischer, rechtlicher und technischer Vorbehalte wecken die pluripotenten Eigenschaften von humanen ESC große Hoffnung für einen therapeutischen Einsatz im Bereich der rege-
547 26.5 · Autologe Stammzelltransplantation
nerativen Medizin. Kontrastierend birgt die therapeutische Anwendung von ESC jedoch auch signifikante Gesundheitsrisiken. Im Tiermodell kommt es fast regelhaft nach Applikation humaner pluripotenter ESC zur Ausbildung von Teratomen mit Gewebe ekto-, meso- und endodermalen Ursprungs. Strategien zur Überwindung dieses Risikos sehen die partielle Ausdifferenzierung zu adulten Stammzellen sowie eine nachfolgende Aufreinigung (»lineage selection«) zur Abtrennung undifferenzierter ESC vor. Bezüglich der gesetzlichen Vorgaben wird auf 7 Abschn. 26.7.1 verwiesen.
26.5
Autologe Stammzelltransplantation
26.5.1 Therapieprinzip und Rationale
26
4 zur beschleunigten Regeneration der Hämatopoese nach dosisintensivierter zytostatischer Therapie mit dem Ziel, die Dosistoleranz des Knochenmarks zu steigern und eine sequenzielle Behandlung innerhalb kürzerer Zeit zu ermöglichen (Stammzell-Support, . Abb. 26.2b). 26.5.2 Indikationen
Nach Registerdaten der »European Group for Blood and Marrow Transplantation« (EBMT) wurden im Jahr 2003 europaweit ca. 14.000 autologe Stammzelltransplantationen durchgeführt (Gratwohl et al. 2005). Damit erreichte die Anzahl der durchgeführten autologen Transplantationszahlen einen Plateauwert im Vergleich zum Vorjahr. 97% der autologen Transplantationen erfolgten mit zuvor mobilisierten peripheren Blutstammzellen.
Die Reinfusion (»Transplantation«) autologer HSC/HPC gewährleistet eine rasche Rekonstitution der Hämatopoese selbst nach myeloablativer Chemo- bzw. Chemoradiotherapie. Sie eliminiert damit die Myelotoxizität als dosislimitierenden Faktor einer systemischen zytostatischen Tumortherapie und ermöglicht eine Dosisintensivierung (Hochdosistherapie) bis an die Toleranzgrenzen anderweitiger Organtoxizität. Gemäß auf präklinischen, für einige Malignomentitäten auch auf klinischen Daten basierenden Rationalen der Hochdosistherapie mit autologer Stammzelltransplantation ist der maximierte tumorzytotoxische Effekt durch Dosisintensivierung primär myelotoxischer Zytostatika mit oder ohne Ganzkörperbestrahlung zu erreichen (»total body irradiation«, TBI; Doroshow 1988). Die autologe Stammzelltransplantation wird eingesetzt: 4 zur Rekonstitution der Hämatopoese nach myeloablativer zytostatischer Vorbehandlung (Stammzell-Rescue, . Abb. 26.2a);
. Abb. 26.3. Gegenüberstellung der Indikationsdomänen für autologe und allogene hämatopoetische Stammzelltransplantationen anhand der Transplantationszahlen für Europa im Jahr 2003 nach Registerdaten der »European Group for Blood and Marrow Transplantation«
. Abb. 26.2a,b. Prinzip der autologen hämatopoetischen Stammzelltransplantation als a Stammzell-Rescue nach myeloablativer Hochdosis-
therapie und b Stammzell-Support nach dosisintensivierter sequenzieller Zytostatikatherapie
548
26
Kapitel 26 · Hochdosistherapie und Stammzelltransplantation
Im Vergleich zu 1990 besteht weiterhin eine zurückhaltendere Indikationsstellung beim Mammakarzinom. Führende Indikationen sind der internationalen Studienlage und Krankheitsinzidenz entsprechend die lymphoproliferativen Erkrankungen einschließlich des multiplen Myeloms, gefolgt von den soliden Tumoren und Leukämien (. Abb. 26.3; EBMT; Gratwohl et al. 2005). Bezüglich der aktuellen Indikationsstellung zur jeweiligen Krankheitsentität wird auf die Empfehlungen der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Knochenmark- und Blutstammzelltransplantation (http://www.dag-kbt.de) und der EMBT verwiesen (Ljungman et al. 2006). Die wichtigsten, durch Phase-III-Studien etablierten Indikationen sind: 4 intermediär-/hochmaligne Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) im chemosensitiven Rezidiv (Philip et al. 1995), 4 rezidivierte bzw. refraktäre Hodgkin-Lymphome (Lazarus et al. 2001), 4 das therapiebedürftige multiple Myelom (Fermand et al. 1998). Nach Subgruppenanalysen kontrollierter Studien ist wahrscheinlich, dass Patienten mit aggressiven NHL auch in erster kompletter Remission bei ungünstigem Prognoseindex von einer konsolidierenden Hochdosistherapie nach Standardinduktionsbehandlung profitieren (Shipp et al. 1999, Haioun et al. 2000, Milpied et al. 2004). Das gilt offenbar nicht für lymphoblastische Lymphome (Sweetenham et al. 2001, van Imhoff et al. 2005). Noch nicht abschließend geklärt ist der Stellenwert der autologen Stammzelltransplantation bei aggressiven NHL, die auf eine konventionelle Induktionstherapie nicht, verzögert oder nur kurzfristig ansprechen (Shipp et al. 1999). Bei den indolenten Lymphomen wird das Potenzial der autologen Stammzelltransplantation derzeit in prospektiven randomisierten Studien geprüft (»German Low Grade Lymphoma Study Group«, »European Mantle Cell Lymphoma Intergroup« unter http://www.lymphome.de). Die Analysen einer kontrollierten Studie beim Mantelzelllymphom deuten darauf hin, dass die besten Ansprechraten nach autologer Stammzelltransplantation bei Patienten in kompletter Remission nach konventioneller Chemotherapie erzielt werden (Dreyling et al. 2005). Bei transformierten follikulären Lymphomen, die primär gut auf eine konventionelle Chemotherapie ansprechen, ist die myeloablative Hochdosistherapie mit autologem Stammzellersatz zu empfehlen. Mehrere klinische Studien konnten bereits ein signifikant verlängertes progressionsfreies Überleben zeigen, jedoch ist ein Vorteil bezüglich des Gesamtüberlebens noch nicht eindeutig belegt (Williams et al. 2001, Lenz et al. 2005, Deconinck et al. 2005). Darüber hinaus scheint auch das chemosensible Rezidiv beim follikulären Lymphom von der autologen Stammzelltransplantation zu profitieren (Schouten et al. 2003). Zu den etablierten oder zumindest aussichtsreichen Indikationen zählen darüber hinaus akute und chronische Leukämien definierter Krankheitsstadien und Risikogruppen sowie unter den soliden Tumoren vor allem prognostisch ungünstige metastasierte bzw. rezidivierte Keimzelltumoren des Mannes. Wieder offen ist die Frage des Stellenwerts der Hochdosischemotherapie bei Hochrisikopatienten mit Mammakarzinom (Zander et al. 2004, Nitz et al. 2005). Bei den genannten Indikationen für eine myeloablative Chemotherapie ist das Risiko der Entwicklung sekundärer hämatologischer Erkrankungen und solider Tumoren zu berücksichtigen, die unter Umständen Einfluss auf das
Gesamtüberleben nehmen (Brown et al. 2005). Bezüglich weiterführender Angaben zu den Ergebnissen und dem Stellenwert der Hochdosistherapie mit autologer Stammzelltransplantation wird auf die Kapitel zu den jeweiligen Malignomentitäten verwiesen. 26.5.3 Patientenselektion
Neben der Indikation und den Voraussetzungen zur Stammzellgewinnung ist die Eignung des Patienten für ein Hochdosiskonzept mit autologer Stammzelltransplantation zu prüfen. Die Therapievoraussetzungen ergeben sich aus den üblichen Ein- und Ausschlusskriterien der einschlägigen klinischen Studien: 4 Alter ≤60–65 Jahre, 4 Karnosfsky-Index 70–100% (Allgemeinzustand nach ECOGKriterien ≤2), 4 normale bzw. suffiziente Organfunktionen: 5 Herz: systolische Ejektionsfraktion ≥50%, altersentsprechend normaler Belastungstest, 5 Lunge: FEV1, DLCO ≥50% des Sollwerts, 5 Leber: Serumbilirubin ≤2 mg/dl, SGOT und SGPT ≤2bis 3-mal oberer Normwert (ONW), 5 Niere: Serumkreatinin ≤1,5–2,0 mg/dl, 4 Ausschluss einer aktiven bzw. nicht kontrollierten Infektion (Fokussuche), 4 Ausschluss einer anderweitigen prognose- oder therapielimitierenden Erkrankung (z. B. Zweitmalignom, schwere kardio- oder zerebrovaskuläre Erkrankung, nicht einstellbarer Diabetes mellitus bzw. arterieller Hypertonus), 4 Ausschluss eines (nicht kontrollierten) ZNS-Befalls, 4 ausreichender psychosozialer Status (Compliance, Gewinn an Lebensqualität), 4 Aufklärung und Einverständnis des Patienten. Die im Einzelfall akzeptablen Voraussetzungen können von den genannten Bedingungen abweichen. Das gilt in erster Linie für Einschränkungen (Allgemeinzustand, Organfunktionen), die durch die Grunderkrankung bedingt sind. So kann eine Hochdosistherapie mit Melphalan durchaus bei Myelompatienten mit fortgeschrittener Niereninsuffizienz durchgeführt werden (Tricot et al. 1996). Darüber hinaus sprechen neuere Studien dafür, dass Patienten bis zu einem Lebensalter von 70–75 Jahren von einer Hochdosistherapie, ggf. dosisadaptiert, mit autologer PBPC-Transplantation profitieren (Jantunen et al. 2000; Siegel et al. 1999). 26.5.4 Induktionstherapie
In der Regel werden die Patienten mit einer konventionell dosierten, auf den jeweiligen Tumor abgestimmten Induktionschemotherapie vorbehandelt, die wesentliche Voraussetzungen für die anschließende Hochdosistherapie schafft: 4 Tumorreduktion und Chemosensitivitätstestung: Eine möglichst geringe Tumormasse, idealerweise eine komplette Remission, und nachgewiesene Chemosensitivität des Tumors sind günstige Prognosefaktoren für den Erfolg der Hochdosistherapie. 4 In-vivo-Tumorzell-Purging: Durch die Tumorreduktion, insbesondere bei Knochenmarkbefall, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, ein tumorzellarmes bzw. -freies Stammzellpräparat zu gewinnen;
549 26.5 · Autologe Stammzelltransplantation
4 PBPC-Mobilisation: Die Induktionschemotherapie wird als zytotoxisches Mobilisierungsprinzip zur zytokinunterstützten Gewinnung peripherer Blutstammzellen genutzt. Auf den Einsatz besonders stammzelltoxischer Zytostatika sowie Strahlentherapie in Regionen blutbildenden Knochenmarks sollte vor ausreichender Stammzellasservierung verzichtet werden (7 Abschn. 26.2 »Mobilisierungsversagen«). 26.5.5 Hochdosistherapie
Das Potenzial der autologen Stammzelltransplantation liegt in der kompletten Tumoreradikation durch die vorangehende Hochdosistherapie. Diese wird durch maximal tolerable Dosisintensivierung tumorzytotoxischer Therapieprinzipien unter Inkaufnahme einer längerfristigen bis definitiven Myeloablation erreicht, die durch die Stammzellreinfusion aufgefangen wird. Dosislimitierend werden damit extramedulläre Toxizitäten (. Tab. 26.3; Doroshow 1988; Jones et al. 1995). Die Myeloablation ist außer bei den primären Malignomen des Knochenmarks wie Leukämien oder multiplem Myelom nicht Therapieziel, sondern durch die Stammzellreinfusion kompensierbare und damit akzeptable Nebenwirkung der Therapie. Die Wahl des Hochdosisregimes richtet sich nach der Erkrankung, Vorbehandlung und zu erwartenden bzw. zumutbaren Toxizität. Zahlreiche Varianten der Hochdosistherapie sind in . Tab. 26.3. Zur Hochdosistherapie vor Stammzelltransplantation eingesetzte Zytostatika Zytostatikum
Dosisintensivierungsfaktor
Dosislimitierende Toxizität
Cyclophosphamid
4–8
Herz, Lunge
Busulfan
8
VOD, ZNS, Lunge
Melphalan
6
Schleimhaut
Thiotepa
8–10
Schleimhaut, Lunge, ZNS
BCNU
3
VOD, Lunge, ZNS, Herz
Ifosfamid
3–4
Niere, ZNS, Schleimhaut
Cisplatin
3
Niere, Gehör, periphere Nerven
Carboplatin
4–5
Niere, Gehör, periphere Nerven
Etoposid
3–7
Schleimhaut, Haut, Leber
Doxorubicin
1,5–4
Schleimhaut, Herz
Mitoxantron
6
Schleimhaut, Herz
Paclitaxel
3–5
Schleimhaut, periphere Nerven, Herz
VOD »venoocclusive disease« der Leber
26
Phase-I/II-Studien geprüft worden. Vergleichende Untersuchungen liegen jedoch nur für wenige Krankheitsentitäten vor (Bensinger u. Buckner 1999). Alkylanzien sind wesentlicher Bestandteil der meisten Hochdosisregimes aufgrund ihrer primären Myelotoxizität, der steilen Dosis-Wirkungs-Beziehung und minimalen Kreuzresistenz innerhalb der Wirkstoffgruppe (Frei et al. 1985). Sie werden häufig mit einer Ganzkörperbestrahlung oder/und Topoisomerase-II-Inhibitoren kombiniert. Klassische und häufig eingesetzte Hochdosisregime für verschiedene Malignomentitäten sind in . Tab. 26.4 (nach Mangan 2000) zusammengestellt. 26.5.6 Stammzellpräparation und -reinfusion
Knochenmark vs. periphere Blutstammzellen Mit breiter Verfügbarkeit hämatopoetischer Wachstumsfaktoren ist das Knochenmark als Stammzellquelle im Rahmen der autologen Transplantation weitgehend durch G-CSF mobilisierte PBPC abgelöst worden (Gratwohl et al. 2005). Vorteile der G-CSF-mobilisierten PBPC sind die schnellere Engraftment-Kinetik und damit eine Verkürzung der Neutro- und Thrombozytopeniedauer mit geringerem Thrombozytentransfusionsbedarf, reduzierter therapieassoziierter Morbidität und Verkürzung der stationären Behandlungsbedürftigkeit (Schmitz et al. 1996). Noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob mit autologen Knochenmarkstammzellen nach vorherigem In-vivo-Priming mit G-CSF ähnlich günstige Ergebnisse erzielt werden (Damiani et al. 1997). Aufbereitung des Stammzellpräparates Ein potenzieller Nachteil autologer gegenüber allogenen Stammzellpräparaten besteht in der Kontamination durch klonogene Tumorzellen. Das gilt für Knochenmark, in geringerem Maße aber auch für periphere Blutstammzellpräparate (Ross et al. 1993). Genmarkierungsstudien haben gezeigt, dass mit dem Stammzellpräparat reinfundierte Tumorzellen zu einem Rezidiv beitragen können (Deisseroth et al. 1994). Mit dem Ziel der Tumorzellelimination sind verschiedene Verfahren zur Aufreinigung autologer Stammzellpräparate bis zur klinischen Anwendungsreife entwickelt worden (Blume u. Thomas 2000): 4 Negativselektion (Tumorzell-Purging): Abreicherung bzw. Elimination von Tumorzellen durch physikalische, pharmakologische oder immunologische Methoden; 4 Positivselektion (»CD34+-Selektion«): Anreicherung der CD34-positiven Progenitorzellen durch immunologische Methoden. Trotz vielversprechender Ergebnisse klinischer Phase-II-Studien, z. B. zum immunologischen Tumorzell-Purging bei B-Zell-Lymphomen (Gribben et al. 1991) ist ein Vorteil durch Selektionsverfahren autologer Stammzellpräparate hinsichtlich Progressionsfreiheit und Gesamtüberleben in kontrollierten Phase-III-Studien noch nicht belegt (Stewart et al. 2001). Als experimentell zu werten sind Versuche einer Ex-vivoExpansion hämatopoetischer Progenitorzellen durch Inkubation mit mitogenen und differenzierenden Zytokinen mit oder ohne Stromazellen mit folgenden Zielen: 4 Expansion der Progenitor- und Postprogenitorzellen (beschleunigtes Engraftment mit Vermeidung kritischer Neutro- und Thrombozytopenien),
550
Kapitel 26 · Hochdosistherapie und Stammzelltransplantation
. Tab. 26.4. Klassische Hochdosisregime für verschiedene Transplantationsindikationen.
26
Akronym
Zusammensetzung
Übliche Dosierung
Autologe/allogene SZT
Indikationen
Cy/TBl
Cyclophosphamid
120–200 mg/kg
+
+
AML, ALL, CML, MDS, HD, NHL, SAA, MM, CLL
Ganzkörperbestrahlung
1000–1440 cGy
Busulfan
16 mg/kg
+
+
AML, CML, MDS, MM, Thal, NHL
Cyclophosphamid
120–200 mg/kg
Cy
Cyclophosphamid
200 mg/kg
–
+
SAA
Cy/ATG
Cyclophosphamid
200 mg/kg
–
+
SAA
Antithymozyten-Globulin
(präparateabhängig)
Mel
Melphalan
200 mg/m2
+
–
MM
Mel/TBl
Melphalan
140 mg/m2
+
–
MM
Ganzkörperbestrahlung
800–1200 cGy
Cyclophosphamid
6,0–7,2 g/m2
+
–
NHL, HD
BCNU
300–600 mg/m2
Etoposid
600–2400 mg/m2
BCNU
300–600 mg/m2
+
–
NHL, HD
+
–
NHL, HD
+
–
Mammakarzinom, NHL, Hodentumoren
Bu/Cy
CBV
BEAM
BEAC
ICE
mg/m2
Etoposid
400–800
Cytarabin
800–1600 mg/m2
Melphalan
140 mg/m2
BCNU
300 mg/m2 mg/m2
Etoposid
800
Cytarabin
800 mg/m2
Cyclophosphamid
140 mg/kg
Ifosfamid
16–20 g/m2
Carboplatin
1,8 g/m2
Etoposid
1,5–3,0 g/m2
SZT hämatopoetische Stammzelltransplantation; ALL akute lymphatische Leukämie; AML akute myeloische Leukämie; CLL chronische lymphatische Leukämie; CML chronische myeloische Leukämie; HD M. Hodgkin; MDS myelodysplastische Syndrome; MM multiples Myelom; NHL NonHodgkin-Lymphome; SAA schwere aplastische Anämie; Thal Thalassämie
4 Expansion zahlenmäßig insuffizienter Stammzellpräparate (s. Mobilisierungsversagen), 4 selektive Abreicherung kontaminierender Leukämie- bzw. Tumorzellen. Stammzelldosis Bei Verwendung peripherer Blutstammzellpräparate sollte eine Mindestdosis von 2-mal 106 CD34+-Zellen/kg Empfängergewicht transfundiert werden. Geringere Stammzelldosen sind in Einzelfällen akzeptabel (Joint Accreditation Committee of ISHAGE-Europe and EBMT 1998). Für eine optimale Thrombozyten-
und Neutrophilenregeneration werden CD34+-Dosierungen von ≥5-mal 106/kg Empfängergewicht empfohlen (Weaver et al. 1995). Reinfusion der Stammzellen Nach dem Auftauen in einem auf 37–40 °C vorgewärmten Wasserbad mit sterilem, mit physiologischer Kochsalzlösung befülltem Einsatz oder in einem dafür vorgesehenen Auftaugerät wird das Stammzellpräparat über einen zentralen Venenkatheter infundiert bzw. injiziert. Die Reinfusion soll zügig (≤15 min) erfolgen, um nach dem Auftauen die Kontaktzeit der Zellen mit dem potenziell stammzelltoxischen DMSO kurz zu halten. Von
551 26.5 · Autologe Stammzelltransplantation
vielen Zentren werden zur Reinfusion großporige Partikelfilter verwendet, um größere Zellkonglomerate zurückzuhalten. Während der Reinfusion der Stammzellen ist eine geeignete Überwachung des Patienten erforderlich (z. B. regelmäßige Kontrollen von Blutdruck, Puls und Atmungsparametern). Zu den unmittelbar auftretenden Nebenwirkungen zählen: 4 Volumenbelastung (selten bei den in der Regel kleinvolumigen peripheren Blutstammzellpräparaten), 4 Bradykardie (kältebedingte Kardioplegie), 4 Übelkeit, Erbrechen (durch DMSO verursachte unangenehme Geschmacks- und Geruchsempfindungen), 4 Fieber, Tachykardie, Hypo- oder Hypertension (vermutlich verursacht durch lysierte Granulozyten im Stammzellpräparat), 4 Unverträglichkeitsreaktionen gegenüber DMSO oder Plasmaproteinen. Die akuten Nebenwirkungen können in der Regel durch eine entsprechende Prämedikation (Antiemetika, H1-Rezeptorantagonisten, Kortikosteroide) verhindert bzw. abgemildert werden. Notfallmedikamente sowie die gerätetechnischen Voraussetzungen zur Intensivbehandlung und Reanimation müssen vorhanden sein. Darüber hinaus sind längerfristige Nebenwirkungen, insbesondere Nierenschäden oder die Entwicklung einer Pankreatitis, nach Gabe von DMSO zu beachten (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 1997). Hämatopoetische Wachstumsfaktoren nach Transplantation Zur Beschleunigung der Neutrophilenregeneration wird nach Transplantation von autologem Knochenmark oder PBPC GCSF in Tagesdosen von 5 μg/kg Körpergewicht s. c. eingesetzt (McQuaker et al. 1997). Randomisierte Untersuchungen haben gezeigt, dass der sofortige oder verzögerte Beginn der G-CSFApplikation (Tag +1 vs. Tag +7) zu vergleichbaren Ergebnissen bezüglich der Neutrophilenregeneration führt (Bence-Bruckler et al. 1998). Verzögernd wirkt sich jedoch die G-CSF-Stimulation auf die Thrombozytenregeneration aus (Ringdén et al. 2004). 26.5.7 Komplikationen
Therapieassoziierte Toxizität Durch die Dosiseskalation von Zytostatika bzw. Zytostatikakombinationen bis an individuelle Toleranzgrenzen, evtl. in Kombination mit einer Ganzkörperbestrahlung, können die als dosislimitierend bekannten Organtoxizitäten auftreten (»regimen-related toxicity«; . Tab. 26.3). Typisch sind folgende Manifestationen: 4 Mukosa: oropharyngeale Mukositis, Gastroenteritis (häufig); 4 Herz: akute und chronische Kardiotoxizität v. a. durch Anthrazykline (kumulative Toxizität) und Cyclophosphamid, aggraviert durch Bestrahlung; 4 Lunge: Pneumonitis durch pulmotoxische Zytostatika (Busulfan, Cyclophosphamid, BCNU, Thiotepa) und/oder Bestrahlung; diffuse alveoläre Hämorrhagien, Lungenödem bis hin zum respiratorischen Versagen und ARDS (kardiogen, volumenbedingt, »capillary leak«; Afessa et al. 2001; Ho et al. 2001);
26
4 Niere: Niereninsuffizienz bis zum akuten Nierenversagen durch nephrotoxische Zytostatika, Aminoglykoside, Antimykotika, Hypohydratation und Tumorlyse (in der Regel reversibel); 4 Leber: VOD (»veno-occlusive disease«) mit einer Inzidenz von ca. 3% nach autologer Stammzelltransplantation (Carreras et al. 1998); 4 Harnblase: hämorrhagische Zystitis durch Zytostatika (Cyclophosphamid) oder Viren (JC-, BK- oder Adenoviren), Inzidenz ca. 3% (Seber et al. 1999). Transplantatversagen Ein Transplantatversagen nach autologer Stammzelltransplantation mit adäquater CD34+-Dosis wird nur in seltenen Einzelfällen beobachtet. Es ist in der Regel auf eine Schädigung von Stammzellen und/oder Knochenmarkstroma durch intensive Vorbehandlung, auf Virusinfektionen (z. B. CMV) oder den Einsatz myelotoxischer Medikamente wie Ganciclovir zurückzuführen. Infektionen FUO (»fever of unknown origin«) und bakterielle Infektionen sind während der vergleichsweise kurzen Neutropeniephase (ca. 10 Tage nach Transplantation autologer PBPC) häufig, erworbene und reaktivierte Pilzinfektionen im Vergleich zur allogenen Stammzelltransplantation selten. Virusinfekte treten in der Regel als Reaktivierung auf (HSV, VZV, seltener CMV) [Vgl. dazu die Standardempfehlungen der Arbeitsgemeinschaft Infektiologie in der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie zum Thema »Interventionelle antimikrobielle Therapie febriler Komplikationen nach Hochdosistherapie und autologer Stammzelltransplantation« (http://www. DGHO-Infektionen.de).] Nach Hochdosistherapie mit autologer Stammzelltransplantation ist die Wiederherstellung eines ausreichenden Impfschutzes gemäß Standardempfehlungen erforderlich (Avigan et al. 2001; Ljungman 1999; Singhal u. Mehta 1999). Transplantationsassozierte Letalität Die transplantationsassoziierte Letalität (»treatment-related mortality«, TRM) nach Hochdosistherapie mit Transplantation autologer PBPC liegt heute im Durchschnitt bei 2–6%. Für Hochrisikokollektive sowie in älteren Studien und Langzeitregistern mit hohem Anteil autologer Knochenmarktransplantationen werden dagegen noch TRM-Raten von 13–18% angegeben (Bjorkstrand 2001; Cassileth et al. 1998; Slovak et al. 2000). Diese im Trend positive Entwicklung ist bei der Diskussion um den Stellenwert der autologen Stammzelltransplantation im Vergleich zu konkurrierenden Therapieverfahren zu berücksichtigen. Sekundärmalignome Die kumulative Inzidenz solider Tumoren nach autologer Stammzelltransplantation liegt bei 1,5–3,5% nach 5–10 Jahren (Bhatia et al. 2001). Relativ häufig sind darüber hinaus sekundäre bzw. therapieassoziierte myelodysplastische Syndrome (MDS) und akute myeloische Leukämien (AML), insbesondere nach autologer Transplantation bei NHL oder multiplem Myelom (kumulative Inzidenz 3–5% bzw. 10–20% nach 5 bzw. 10 Jahren; Micallef et al. 2000; Pedersen-Bjergaard et al. 2000). Zu den Risikofaktoren zählen die intensive Vorbehandlung mit Alkylanzien, Vorbehandlung mit Fludarabin, Patientenalter, vorangehende Bestrahlung und Ganzkörperbestrahlung im Rah-
552
26
Kapitel 26 · Hochdosistherapie und Stammzelltransplantation
men der Hochdosistherapie sowie die Verwendung zytotoxisch mobilisierter Stammzellen, insbesondere nach Mobilisation mit VP-16 (Micallef et al. 2000; Pedersen-Bjergaard et al. 2000). Zurzeit noch schwer zu beantworten ist, ob das Sekundärmalignomrisiko tatsächlich der Hochdosistherapie mit autologer Stammzelltransplantation oder vielmehr der Vorbehandlung anzulasten ist (Blume u. Thomas 2000). In einer retrospektiven Analyse von Knochenmark- und Blutproben von 12 Patienten, die nach autologer Stammzelltransplantation ein MDS entwickelten, ließen sich die klonalen Chromosomenaberrationen bei 9 Patienten bereits zum Zeitpunkt der Stammzellgewinnung nachweisen (Abruzzese et al. 1999). 26.5.8 Perspektiven
Im Vordergrund steht die Prüfung der Hochdosistherapie mit autologer Stammzelltransplantation bei den aussichtsreichen, aber noch nicht gesicherten Indikationen durch kontrollierte prospektive Studien. Darüber hinaus werden verschiedene Optimierungsansätze primär mit dem Ziel evaluiert, die je nach Krankheitsentität und -stadium noch unbefriedigend hohen Rezidivraten zu senken. Schwerpunkte der klinischen Entwicklung sind: 4 Therapieintensivierung durch sequenzielle Transplantationsstrategien: »Tandemtransplantation«: autolog/autolog, autolog/allogen (Papadopoulos et al. 2001). 4 Integration immuntherapeutischer Ansätze: Kombination der Hochdosistherapie mit tumorselektiven Antikörpern oder Immunkonjugaten (Cheson 2002; Flinn u. Lazarus 2001; Schnell et al. 2001), Erhaltungstherapie mit immunstimulatorischen Zytokinen (Bjorkstrand et al. 2001), Induktion autologer Graft-versus-Tumor-Effekte (Sica et al. 2000; van der Wall et al. 2000); adoptiver Transfer tumorzytotoxischer T-Zellen und Tumorvakzinierung (Brossart et al. 2001; Stevenson et al. 2001). 4 Prospektive Evaluation sensitiver Verfahren zum Nachweis minimaler Resterkrankung (MRD) und MRD-basierter Interventionen (Dolken 2001; Verma u. Stock 2001). 4 Weiterentwicklung und klinische Prüfung der gezielten Transplantatmanipulation: hochaufgereinigte Stammzellisolate, effektivere Elimination kontaminierender Tumorzellen, Ex-vivo-Expansion von Stammzellen, Postprogenitoren und dendritischen Zellen (Sorrentino 2004, Tricot et al. 1998).
26.6
Allogene Stammzelltransplantation
26.6.1 Therapieprinzip und Rationale
Bei der allogenen Stammzelltransplantation wird das maligne entartete und/oder funktionell defekte lymphohämatopoetische System des Empfängers durch die Übertragung hämatopoetischer Stammzellen eines gesunden, histokompatiblen Spenders ersetzt. In der klassischen Therapievariante wird vor der Stammzellübertragung eine myeloablative Hochdosistherapie in Form einer dosiseskalierten Chemo- oder Chemoradiotherapie appliziert. Mit der Hochdosistherapie wird einerseits eine Transplantattoleranz durch Immunsuppression bzw. -ablation des Empfängers induziert, andererseits bei malignen Erkrankungen eine maximale Tumorreduktion, im günstigsten Fall Tumorera-
dikation erreicht. Eine komplett bzw. irreversibel myeloablative Vorbehandlung ist entgegen früherer Auffassung keine zwingende Voraussetzung zur Etablierung der Spenderhämatopoese (s. dosisreduzierte Konditionierung). GvL/GvT-Effekt Konzeptionell wegweisend war die Beobachtung der als Graftversus-Leukemia-(GvL-) bzw. Graft-versus-Tumor-(GvT-)Effekt beschriebenen Tumorkontrolle und -eradikation durch alloreaktive Immunzellen aus dem Transplantat (Appelbaum 2001; Horowitz et al. 1990; Weiden et al. 1981). Klinische Evidenzen für dieses Phänomen ergaben sich zunächst aus der Feststellung signifikant niedrigerer Rezidivraten 4 nach Transplantation nativ belassener allogener im Vergleich zu autologen, syngenen oder T-Zell-depletierten Stammzellpräparaten (Cassileth et al. 1998; Horowitz et al. 1990), 4 nach Auftreten einer akuten und/oder chronischen Graftversus-Host-Erkrankung (GvHD; Horowitz et al. 1990; Weiden et al. 1981). Den eindrucksvollsten Beweis einer zellulären Alloimmunreaktion im Sinne des GvL/GvT-Effekts lieferte die erfolgreiche Behandlung von Leukämie-, Lymphom- und Myelomrezidiven nach allogener Stammzelltransplantation durch adoptiven Transfer von Spenderlymphozyten (»donor lymphocyte transfusions«, DLT; Kolb et al. 1995; Collins et al. 2000; Lokhorst et al. 2000). Der GvL/GvT-Effekt ist neben der Tumorfreiheit des Transplantats der entscheidende Vorteil der allogenen gegenüber der autologen Stammzelltransplantation bei der Behandlung lymphohämatopoetischer Malignome und hat zu dem Konzept der allogenen Zelltherapie als einer Sonderform der adoptiven Immuntherapie geführt (Appelbaum 2001). Die Mechanismen des GvL/GvT-Effekts sind komplex und noch nicht abschließend geklärt. Fortschritte im Bereich der molekularen Immunologie konnten zur Identifizierung von immunologischen Zielstrukturen maligner Zellen und zur teilweisen Entschlüsselung immunregulatorischer Vorgänge nach allogener Zelltherapie beitragen. Unumstritten ist die Bedeutung von Spenderlymphozyten als Mediatoren von GvL/GvT-Effekten. Nach heutiger Vorstellung verlaufen GvL/GvT-Reaktionen stufenartig, d. h., nach Induktion einer Alloimmunreaktion kommt es in einem zweiten Schritt zur Expansion klonaler Effektorzellen und abschließend zur direkten oder indirekten Tumorzellzerstörung. Daran beteiligen sich neben T-Lymphozyten und natürlichen Killerzellen (NK) auch Antigen präsentierende Zellen (APC) wie z. B. Langerhans- und dendritische Zellen. Die Alloimmunreaktion von Spender-T-Lymphozyten wird induziert durch die Interaktion des T-Zellrezeptor-Komplexes mit prozessierten, kurzkettigen Peptiden, die gebunden an Haupthistokompatibilitätsmolekülen der Klasse I und II auf der Zelloberfläche von APC präsentiert werden. Die Proliferation der Spender-T-Lymphozyten erfolgt bei gleichzeitiger Aktivierung über kostimulierende Rezeptoren, u. a. durch die Interaktion von CD80/CD86-Antigenen der APC mit CD28-Antigen der Spender-T-Lymphozyten. Darüber hinaus wird die Expansion der Spender-T-Lymphozyten durch das umgebende Zytokinmilieu beeinflusst. Im Rahmen der Tumorzellerkennung kommt es durch die alloreaktiven T-Lymphozyten zur Freisetzung von gewebetoxischen Zytokinen (Granzyme, Perforin), die eine Zytolyse herbeiführen, oder zur Aktivierung von Sekundäreffektoren wie z. B. Gewebemakrophagen.
553 26.6 · Allogene Stammzelltransplantation
Immunologische Zielstrukturen für eine T-Zell-gerichtete Alloimmunreaktion können darstellen: 4 Haupthistokompatibilitätsantigene Klasse I und II, Minorhistokompatibilitätsantigene (mHA); 4 linienspezifische Antigene, oder solche die in Tumoren gegenüber Normalgeweben überexprimiert werden (z. B. Proteinase-3, Wilms-Tumor-Protein 1, Telomerase, hTERT, Survivin); 4 Antigene die im engeren Sinne tumorspezifisch sind, d. h. durch Mutationen oder durch Gentranslokationen entstehen (z. B. BCR/ABL, TEL/AML1, pml/RARα); 4 virusspezifische Antigene (EBNA 1–3 und LMP-1/2 bei EBV). An Bedeutung für die GvL/GvT-Reaktion haben in jüngrer Zeit die Erkenntnisse über Minor-Histokompatibilitätsantigene (mHA) gewonnen (Goulmy 1997). Hierbei handelt es sich um Peptide mit ausgeprägtem Polymorphismus, die von Zellproteinen des Empfängers abstammen und nach Prozessierung den Spender-T-Lymphozyten durch Haupthistokompatibilitätsmoleküle der Klasse I und II präsentiert werden. Aufgrund spezifischer Geweberestriktion wurden bereits einzelne mHA für eine zielgerichtete zelluläre Immuntherapie bei Leukämien eingesetzt (Marijt et al 2003). Im Gegensatz zu T-Lymphozyten erkennen und zerstören alloreaktive Spender-NK-Zellen ihre Zielzellen ohne vorausgegangene Aktivierung. Neuen Erkenntnissen entsprechend unterliegt die Alloreaktivität von NK-Zellen der Kontrolle von KIRRezeptoren (»killer cell immunoglobulin like receptors«, KIR). KIR-Rezeptoren stellen Liganden von HLA-Klasse-I-Antigenen dar und besitzen entweder hemmende oder aktivierende Rezeptoreigenschaften. Die Bedeutung der Alloreaktivität von NK-Zellen auf dem Boden von KIR-Rezeptordisparität ist noch nicht abschließend geklärt, jedoch wurde bereits auf einen Zusammenhang zwischen KIR-Genotypen und antileukämischen Reaktionen nach allogener HSCT hingewiesen (Ruggeri et al. 2002; Hsu et al. 2005). Einfluss auf den Verlauf von GvL/GvT-Reaktionen nehmen auch der Phänotyp und die Proliferationsaktivität der malignen Zellen. Aus klinische Studien ist bekannt, dass Alloimmunreaktionen vor allem bei langsam wachsenden Neoplasien wie z. B. der chronischen myeloischen Leukämie und der chronischen lymphatischen Leukämie zum Tragen kommen (Kolb et el 2004; Schetelig et al. 2003). Dagegen können undifferenzierte schnell wachsende Neoplasien wie z. B. die akute myeloische Leukämie und die akute lymphatische Leukämie den Kontrollmechanismen alloreaktiver Effektorzellen entkommen. Es wird in den nächsten Jahren herauszufinden sein, wie die heutigen Erkenntnisse im Bereich der Transplantationsimmunologie klinisch implementiert werden können. 26.6.2 Indikationen
Das hohe kurative Potenzial auf der einen und die noch immer erhebliche therapieassoziierte Letalität und Langzeitmorbidität auf der anderen Seite erfordern eine kritische Nutzen-Risiko-Abwägung bei der Indikationsstellung und der Wahl des Transplantationszeitpunktes. Zu berücksichtigen sind: 4 Alter, Allgemeinzustand und Komorbidität des Patienten (s. Patientenselektion),
26
4 Stadium, Vorbehandlung und Remissionsstatus der Grunderkrankung sowie deren Prognose unter optimalen Therapiealternativen, 4 Empfänger-Spender-Konstellation (s. Spenderauswahl), 4 Risiken und Erfolgsaussichten der zunehmend variantenreicheren allogenen Transplantationsverfahren (Konditionierungsintensität, Art des Stammzellpräparates, Sensitivität maligner Erkrankungen gegenüber GvL/GvT-Effekten). Hilfreich bei der Entscheidungsfindung ist die laufend verbesserte Risikostratifizierung maligner Erkrankungen, die u. a. bei der chronischen myeloischen Leukämie (CML) zur Entwicklung von Prognoseindizes unter konventioneller Therapie und Risikoscores für die allogene Stammzelltransplantation geführt hat (Gratwohl et al. 1998; Hasford et al. 1998). Absehbar ist darüber hinaus, dass Genexpressionsanalysen und prospektiv validierte MRD-Diagnostik Einfluss auf den Stellenwert der allogenen Stammzelltransplantation bei malignen lymphohämatopoetischen Erkrankungen haben werden (Shipp et al. 2002). Jüngstes Beispiel für eine Änderung der Therapiealgorithmen und der Indikationsstellung zur allogenen Stammzelltransplantation ist die Einführung des Tyrosinkinaseinhibitors Imatinib zur Behandlung der BCR/ABL-positiven CML (Goldman u. Druker 2001). Empfehlungen zur Indikationsstellung sind daher stets vor dem Hintergrund aktueller Therapieentwicklungen zu werten (Goldman et al. 1998; Urbano-Ispizua et al. 2002; Indikationsliste der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Knochenmark und Blutstammzelltranplantation s. http://www.dag-kbt.de; . Tab. 26.5; s. auch Kapitel zu den jeweiligen Krankheitsentitäten). Nach EBMT-Registerdaten (Stand 2003) werden drei Viertel der allogenen Stammzelltransplantationen bei Patienten mit akuten und chronischen Leukämien (AML 31%, ALL 19%, CML 11%, CLL 2%) oder myelodysplastische Syndromen (10%) durchgeführt (Gratwohl et al. 2003; . Abb. 21.3 und . Tab. 21.5). Es folgen die malignen lymphoproliferativen Erkrankungen (NHL 7%, multiples Myelom 4%, M. Hodgkin 1%). Dritthäufigste Indikationsgruppe sind die nichtmalignen Erkrankungen (12%), zu denen die schwere aplastische Anämie sowie Hämoglobinopathien, Immundefektsyndrome und angeborene Stoffwechselanomalien wie Mukopolysaccharidosen, Leukodystrophien und lysosomale Speicherkrankheiten zählen (Cavazzana-Calvo u. Hacein-Bey-Abina 2001; Goldman et al. 1998; Gratwohl et al. 2001). Trotz ermutigender Ergebnisse beim metastasierten Nierenzellkarzinom (Childs et al. 2000) gilt die allogene Stammzelltransplantation bei soliden Tumoren als experimentell. 26.6.3 Patientenselektion
Die patientenseitigen Therapievoraussetzungen entsprechen weitgehend den unter 7 Abschn. 26.4.3 genannten Selektionskriterien für eine Hochdosistherapie mit autologer Stammzelltransplantation. Besonders kritisch für das Therapieergebnis nach allogener Stammzelltransplantation ist das Patientenalter. Bei klassischen Verfahren gilt als Obergrenze für die Stammzelltransplantation von einem HLA-identischen Geschwisterspender ein Alter von 65 Jahren, bei alternativen Spendern von 50‒55 Jahren. Durch Verbesserung der Supportivtherapie und die Einführung dosismodifizierter Konditionierungsregime verschieben sich die Altersgrenzen nach oben (McSweeney et al. 2001).
554
Kapitel 26 · Hochdosistherapie und Stammzelltransplantation
. Tab. 26.5. Indikationen zur allogenen Stammzelltransplantation bei lymphohämatopoetischen Erkrankungen (Erwachsene). Erkrankung
Krankheitsstatus
26
Spender HLA-ID Geschwisterspender
Alternativer Spender (verwandt, unverwandt)
CR1
+ (außer Niedrigrisiko?)
+ (nur Hochrisiko)
CR ≥2, beg. Rezidiv
+
+
Refraktär
(+)
(+)
+
+
CR1
+ (nur Hoch-/Höchstrisiko)
+ (nur Hoch-/Höchstrisiko)
CR ≥2, beg. Rezidiv
+
+
1. chronische Phase, i.d.R. nach Imatinib-Versagen
+
+
Akzelerierte Phase oder 2. chronische Phase
+
+
Blastenkrise (CS)
+
+
+
(+)
Fludarabin-refraktär
+
+
Lymphoblastisch
Entsprechend ALL
(+)
(+)
Aggressiv / indolent
Rezidiv nach autologer SZT oder wenn Gewinnung autologer HPC nach Rezidiv nicht möglich
(+)
(+)
M. Hodgkin
Rezidiv nach autologer SZT oder wenn Gewinnung autologer HPC nach Rezidiv nicht möglich
(+)
(+)
MM
Therapiebedürftig
(+) (Hochrisiko, jüngere Patienten)
(+) (Hochrisiko, jüngere Patienten)
SAA
Abhängig von Alter, Schweregrad und Ansprechen auf IT
+
+
AML
MDS ALL
CML
cMPS CLL NHL
AML akute myeloische Leukämie; MDS myelodysplastische Syndrome; ALL akute lymphatische Leukämie; CML chronische myeloische Leukämie; cMPS chronische myeloproliferative Syndrome außer CML; CLL chronische lymphatische Leukämie; NHL Non-Hodgkin-Lymphome; MM multiples Myelom; SAA schwere aplastische Anämie; IT immunsuppressive Therapie; CR komplette Remission; CS chemosensibel; HPC hämatopoetische Progenitorzellen; SZT Stammzelltransplantation; + etablierte Indikation; (+) indiziert im Rahmen von Studien oder in Einzelfällen bei günstiger Nutzen-Risiko-Konstellation
26.6.4 Spendersuche und -auswahl
Wichtigstes Kriterium der Spenderauswahl bei familiär- oder fremdallogener Stammzelltransplantation ist die Histokompatibilität zwischen Empfänger und Spender. Diese ergibt sich im Wesentlichen aus der Übereinstimmung humaner Leukozytenantigene (HLA) der Klasse I (HLA-A, B, C) und Klasse II (HLA-DR, DQ, DP), die im »major histocompatibility complex« (MHC) auf dem kurzen Arm von Chromosom 6 kodiert werden. Zur HLA-Typisierung werden eingesetzt: 4 konventionelle serologische Methoden mit hochselektiven HLA-spezifischen Alloantiseren oder monoklonalen Antikörpern,
4 molekulare PCR-basierte Typisierungsverfahren mit sequenzspezifischen Primern bzw. Oligonukleotiden (PCR-SSP bzw. PCR-SSOP), 4 die DNA-Sequenzierung von HLA-Loci (»sequence-based HLA-typing«, SBT; Ottinger et al. 2001). Während die serologische Typisierung Haupt- und Subgruppenantigene differenziert, erlauben die molekularen, DNA-basierten Verfahren eine hochauflösende HLA-Typisierung bis hin zur Identifizierung individueller Allele. Nach gegenwärtigem Stand gilt ein Spender als vollständig HLA-kompatibel (»HLA-matched donor«), wenn nach Typisierung mit hinreichendem Auflösungsvermögen die HLA-Anti-
555 26.6 · Allogene Stammzelltransplantation
gene A, B, DRB1 und DQB1 übereinstimmen (Ottinger et al. 2001). Standards für Suchstrategien, HLA-Typisierung und im Einzelfall akzeptable Mismatch-Konstellationen sind in nationalen und internationalen Konsensusempfehlungen festgelegt (Deutsche Gesellschaft für Immungenetik, Kommission für Knochenmarktransplantation 1999; Hurley et al. 1999; Ottinger et al. 2001). Bevorzugte Spender sind HLA-identische Geschwister, die bei der durchschnittlichen Familiengröße in Mitteleuropa nur für etwa 25% der Patienten zur Verfügung stehen. HLA-Identität setzt eine Übereinstimmung in allen klassischen HLA-Loci (9/10 bzw. 10/10 Allel-Match) voraus. Sie kann in der Regel nur angenommen werden, wenn durch Segregationsanalysen nachgewiesen ist, dass Empfänger und Spender dieselben maternalen und paternalen HLA-Haplotypen ererbt haben. Die Spendersuche in der Kernfamilie (»core family donor search«, CFDS) umfasst daher die HLA-Typisierung von Geschwistern und ggf. Eltern des Patienten. Ist die CFDS unergiebig, so kommen die Spendersuche in der erweiterten Familie (»extended family donor search«, EFDS) oder die Fremdspendersuche (»unrelated donor search«, UDS) in Betracht. Bei Patienten kaukasischer Abstammung ist die Fremdspendersuche heute in ca. 80% der Fälle erfolgreich, die EFDS nur in <10% der Fälle (Ottinger et al. 2001). Bei zunehmend besseren Ergebnissen der Fremdspendertransplantation u. a. aufgrund verbesserter HLA-Typisierung (Petersdorf et al. 1998) wird daher bei fehlendem Geschwisterspender umgehend eine Fremdspendersuche eingeleitet. Die Spendersuche in der erweiterten Familie ist Ausnahmefällen vorbehalten (Ottinger et al. 2001). Diese Strategie findet ihre Entsprechung in der anteiligen Zunahme der Fremdspendertransplantationen am allogenen Transplantationsaufkommen von 10% im Jahr 1990 auf knapp 35% im Jahr 2003 (Gratwohl et al. 2005). Der Anteil allogener Stammzelltransplantationen von nicht HLA-identischen Familienspendern blieb dagegen mit 5–7% stabil. Sonderfälle sind die syngene und die haploidentische Stammzelltransplantation. Bei der syngenen Transplantation von einem eineiigen Zwilling ist aufgrund des identischen genetischen Hintergrunds von Spender und Empfänger kaum mit GvH- bzw. HvGReaktionen zu rechnen, allerdings auch nicht mit den erwünschten GvL- bzw. GvT-Effekten (Horowitz et al. 1990). Findet sich kein HLA-kompatibler Familien- oder Fremdspender, so kann in Einzelfällen eine Stammzelltransplantation von einem haploidentischen Familienspender erwogen werden. Bei Identität eines HLA-Haplotyps werden dabei maximale Mismatch-Konstellationen der komplementären HLA-Allele in Kauf genommen. Durch intensivierte Konditionierung, T-Zell-Depletion des Transplantats und Übertragung großer Stammzellmengen (Megadosiskonzept) ist dieses Verfahren klinisch realisierbar geworden, allerdings mit höherem Risiko verbunden (Aversa et al. 2005). Bezüglich der Transplantation hämatopoetischer Stammzellen aus fetalem Nabelschnur- und Plazentarestblut wird auf 7 Abschn. 26.2.3 verwiesen. Minorhistokompatibilitätsantigene (mHA) Neben den HLA-Antigenen gibt es Histokompatiblitätsantigene, die nicht in der HLA-Region kodiert werden. Zu diesen gehören die mHA, die als Peptide von HLA-Antigenen präsentiert werden. Sie werden für die Transplantatabstoßungen und GvH-Reaktionen nach Stammzelltransplantation von HLA-identischen Geschwistern verantwortlich gemacht (Goulmy 1997; Tseng et al.
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1999). Obwohl zum Teil bereits charakterisiert und typisierbar, werden mHA bei der Spenderauswahl bisher nicht berücksichtigt (Ottinger et al. 2001). Zusätzliche Kriterien der Spenderauswahl Stehen mehrere Spender vergleichbarer HLA-Kompatibilität zur Verfügung, so sind zusätzlich folgende Kriterien bei der Spenderauswahl zu berücksichtigen (Ottinger et al. 2001): 4 Geschlecht: Ungünstig ist ein weiblicher Spender bei männlichem Empfänger. 4 Alter des Spenders: Jüngere Spender sind vorzuziehen. 4 CMV-Status: Für CMV-negative Patienten sind CMV-negative Spender vorzuziehen. 4 AB0-Blutgruppe: Sofern höherrangige Kriterien erfüllt sind, werden blutgruppenidentische Spender präferiert. Grundsätzlich gelten für Spender hämatopoetischer Stammzellen die Ausschluss- und Freigabekriterien nach den »Richtlinien zur Gewinnung von Blut und Blutbestandteilen und zur Anwendung von Blutprodukten (Hämotherapie)« der Bundesärztekammer in der jeweils geltenden Fassung (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 2005). 26.6.5 Klassische Konditionierung
Die klassische myeloablative Konditionierungstherapie bei malignen hämatologischen Erkrankungen besteht aus hochdosiertem Cyclophosphamid in Kombination mit fraktionierter Ganzkörperbestrahlung oder hochdosiertem Busulfan (. Tab. 26.4). Vergleichende Studien bei akuten und chronischen myeloischen Leukämien zeigten keinen signifikanten Vorteil im Zehnjahresüberleben zugunsten einer der beiden Kombinationen. Katarakte als Spätfolgen traten häufiger nach Ganzkörperbestrahlung auf, die Inzidenz persistierender Alopezie war bei Kombination von Cyclophosphamid mit Busulfan höher (Socie et al. 2001). In einer früheren Metaanalyse wurde ein 2,5-fach höheres Risiko einer Lebervenenverschlusskrankheit (VOD) als Akutkomplikation nach Konditionierung mit der Busulfankombination beschrieben (Hartman et al. 1998). Verbesserungen sind von einer intravenösen oder spiegeladaptierten Busulfanapplikation zu erwarten. Antithymozytenglobulin (ATG) wird insbesondere bei der Stammzelltransplantation von unverwandten Spendern im Rahmen der Konditionierung eingesetzt. Es trägt durch T-Zell-Depletion zur Immunablation des Empfängers bei, bewirkt durch seine lange Verweildauer im Organismus aber gleichzeitig eine In-vivo-T-Zell-Depletion des Transplantats. Durch die Vorbehandlung mit ATG konnte in einigen Studien eine Senkung der Abstoßungsrate und GvHD-Inzidenz erreicht werden (Bacigalupo et al. 2001). Dem steht ein möglicherweise erhöhtes Infektions- und Rezidivrisiko gegenüber. Ein günstiger Effekt der ATG-Behandlung auf das Langzeitüberleben ist bisher nicht gesichert (Bacigalupo et al. 2001). 26.6.6 Dosismodifizierte Konditionierung
Der gesicherte Nachweis von GvL/GvT-Effekten und die Erfolge der adoptiven Immuntherapie mit Spenderlymphozyten nach allogener Stammzelltransplantation bei malignen lymphohämato-
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. Abb. 26.4. Klassische und dosismodifizierte Konditionierungsregime vor allogener Stammzelltransplantation. Die Wahl des Konditionierungsregimes richtet sich nach der zumutbaren Toxizität, der zur Überwindung der HLA-Barriere zwischen Spender und Empfänger erforderlichen Immunsuppression und der notwendigen myelo- bzw. tumorzytotoxischen Aktivität. Letztere variiert mit dem Remissionsstatus der Tumorerkrankung, deren Therapiesensitivität und Ansprechen auf alloreaktive Graft-versus-
Tumor(GvT)-Effekte. HLA-ID HLA-identischer Geschwisterspender; MUD »matched unrelated donor«; MMD »mismatched donor«; TCD T-Zell-depletiertes Transplantat; Haplo haploidentischer Spender; CR komplette Remission; PD progrediente Erkrankung; ATG Antithymozytenglobulin; Bu8 bzw. Bu16 Busulfan 8 bzw. 16 mg/kg; Cy Cyclophosphamid; F Fludarabin; Flaglda Fludarabin/Cytosinarabinosid/Idarubicin; M Melphalan 140–180 mg/ m2; TBl Ganzkörperbestrahlung mit Dosisangabe in Gray; TT Thiotepa
poetischen Erkrankungen waren Anlass, den Stellenwert der myeloablativen Konditionierungstherapie in Frage zu stellen. Tierexperimentell und klinisch wurde das Prinzip der dosisreduzierten, d. h. primär immunsuppressiven Konditionierung vor allogener Stammzelltransplantation entwickelt mit der Intention, 4 den GvL/GvT-Effekt bei reduzierter Konditionierungstoxizität zu nutzen und damit das Therapieverfahren auch älteren oder komorbiden Patienten zugänglich zu machen, 4 über einen partiellen Spenderchimärismus genetische Defekte zu kompensieren bzw. die Grundlage für eine adoptive allogene Zelltherapie maligner Erkrankungen zu schaffen (Giralt et al. 2001; Slavin et al. 1998; Storb et al. 2001).
aggressive NHL und die ALL. Dazwischen werden u. a. die AML, das multiple Myelom, der M. Hodgkin und das Nierenzellkarzinom angesiedelt (Storb et al. 2001). Perspektivisch ist davon auszugehen, dass dosisadaptierte Konditionierungsregime entsprechend den Erfordernissen im Einzelfall angewendet werden (. Abb. 26.4; nach Storb et al. 2001). Wo immer möglich, sollte die Anwendung im Rahmen prospektiv kontrollierter Studien erfolgen. Dabei ist eine abgestimmte immunsuppressive Behandlung nach Transplantation kritischer Bestandteil der Therapiestrategie. 26.6.7 Stammzellpräparation und -transplantation
Für verschiedene dosisreduzierte Konditionierungsregime konnte inzwischen gezeigt werden, dass ein stabiles Engraftment der Spenderhämatopoese bei deutlich reduzierter Konditionierungstoxizität erreicht wird (Carella et al. 2000; Storb et al. 1997). Suggestive Begriffsprägungen wie »Mini- oder Mikrotransplantation« dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass trotz reduzierter Konditionierungstoxizität die klinischen Probleme durch GvHD und Rezidive bestehen bleiben. Zu berücksichtigen ist darüber hinaus, dass dosisreduzierte Konditionierungsregime in erster Linie bei Hochrisikopatienten eingesetzt werden, die aufgrund von Alter oder Begleiterkrankungen nicht für eine klassische Konditionierung in Betracht kommen. Voraussetzung für den Erfolg einer allogenen Stammzelltransplantation nach dosisreduzierter Konditionierung sind eine geringe Resttumoraktivität und die Tumorsensitivität gegenüber GvL/GvT-Effekten (Storb et al. 2001). Als sensitiv gelten CML, CLL sowie indolente und Mantelzell-NHL, als insensitiv
Knochenmark vs. periphere Blutstammzellen Zunehmend werden auch bei der allogenen Stammzelltransplantation G-CSF-mobilisierte PBPC anstelle von Knochenmark eingesetzt. Mobilisierte PBPC-Präparate enthalten im Vergleich zu Knochenmark 3- bis 4-mal mehr CD34+-Zellen bei ≥10-fach höherem Gehalt an T-Zellen, Monozyten und NK-Zellen, aber möglicherweise geringerem Anteil hämatopoetischer Stammzellen mit langfristigem Repopulationspotenzial (Korbling u. Anderlini 2001). Der Einfluss der Stammzellquelle auf das kurz- und mittelfristige Transplantationsergebnis wurde in randomisierten Studien und Registeranalysen untersucht (Korbling u. Anderlini 2001). Die in Teilaspekten noch inkongruenten Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: 4 Nach Transplantation mobilisierter PBPC sind die Zeiten bis zum Engraftment von Neutrophilen und Thrombozyten im Median um 5–6 Tage kürzer.
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4 Die Inzidenz der akuten GvHD ist nach Transplantation mobilisierter PBPC trotz höheren T-Zell-Gehalts nicht signifikant und allenfalls marginal erhöht. Eine höhere Rate chronischer GvHD ist bisher nicht ausgeschlossen. 4 Bei fortgeschrittenen Leukämien ist die behandlungsassoziierte Letalität (TRM) nach Transplantation von PBPC tendenziell geringer. 4 Ein signifikanter Effekt auf die Rezidivraten ist nicht gesichert. 4 Bei fortgeschrittenen Leukämien scheint sich die niedrigere TRM nach PBPC-Transplantation günstig auf das krankheitsfreie und Gesamtüberleben auszuwirken. 4 Die Immunrekonstitution verläuft nach PBPC-Transplantation schneller (Storek et al. 2001). Zur Klärung der Frage, welche Stammzellquelle bei welcher Indikation zu bevorzugen ist, besteht noch immer erheblicher Bedarf an vergleichenden klinischen Studien bei homogen definierten Patientengruppen. Als weitere Option ist die G-CSF-Stimulation vor Knochenmarkentnahme zu berücksichtigen. In einer kleineren randomisierten Studie führte die Transplantation von G-CSF-vorbehandeltem Knochenmark im Vergleich zu moblisierten PBPC zu praktisch identischer Engraftment-Kinetik bei geringerer GvHD-Inzidenz (Morton et al. 2001). Kritisch für dieses Vorgehen ist u. a. die Frage, ob einem Spender Knochenmarkentnahme und zusätzlich G-CSF-Behandlung zugemutet werden können. Zurzeit noch nicht abschließend geklärt ist, ob durch G-CSF-Stimulation nach allogener Stammzelltransplantation GvHD-Reaktionen induziert werden. Retrospektive Analysen deuten darauf hin, dass bei allogener Knochenmarktransplantation und anschließender G-CSF-Stimulation ein erhöhtes GvHD-Risiko besteht (Ringdén et al. 2004). Aufbereitung des Stammzellpräparats Zumindest bei der Knochenmarktransplantation ist bei AB0-Blutgruppeninkompatibilität zwischen Empfänger und Spender zur Vermeidung von Transfusionskomplikationen eine Erythrozytendepletion (Majorinkompatibilität) bzw. Plasmadepletion (Minorinkompatiblität) zwingend erforderlich. Hierzu werden alternativ oder komplementär die Erythrozytensedimentation, Buffy-Coat-Präparation, Zytozentrifugation oder Dichtegradientenzentrifugation eingesetzt (Law 2000). Bei PBPC-Präparaten sind die kritischen Grenzwerte (Erythrozytenvolumen ≤50 ml bzw. Plasmavolumen ≤500ml) aufgrund der herstellungsbedingten Zellpräparation in der Regel bereits unterschritten (Law 2000). Zu den Routineverfahren der Stammzellprozessierung gehört darüber hinaus die T-Zell-Depletion durch physikalische oder immunologische Methoden (Negativselektion). Eine maximale T-Zell-Abreicherung ist heute auch durch immunologische Anreicherung der CD34+-Zellen möglich (Positivselektion). Die T-Zell-Depletion gilt als effektivstes Verfahren zur Vermeidung der akuten und chronischen GvHD und wird vor allem bei Fremdspender- und Mismatch-Transplantationen eingesetzt. Nachteilig sind die höheren Abstoßungs- und Rezidivraten (fehlender GvL/GvT-Effekt), die verzögerte Immunrekonstitution und das erhöhte Infektionsrisiko (Ho u. Soiffer 2001). Stammzelldosis Für die Knochenmarktransplantation wird die Übertragung von minimal 2- bis 3-mal 108 nukleären Zellen pro kg Körpergewicht des Empfängers empfohlen (Goldman 1994; Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 1994).
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Bei der Transplantation von PBPC orientieren sich die Dosisangaben an der CD34+-Zellzahl im Präparat. Es besteht weitgehender Konsens, dass eine CD34+-Dosis von 2- bis 3-mal 106/kg nicht unterschritten werden sollte (Bahceci et al. 2000; Singhal et al. 2000). Um ein zeitgerechtes und stabiles Engraftment zu gewährleisten, wird eine Zieldosis von ≥4- bis 5-mal 106 CD34+-Zellen/kg angestrebt (Brown et al. 1997; Dreger u. Schmitz 2001). Unabhängig von der Zahl transfundierter T-Zellen nimmt die Inzidenz akuter und chronischer GvHD bei einer CD34+-Dosis von ≥8-mal 106/kg signifikant zu (Przepiorka 2001; Zaucha et al. 2001). Transfusion der Stammzellen Es gelten sinngemäß die Ausführungen zur Reinfusion von Stammzellen unter 7 Abschn. 26.4.6. Dabei ist zu beachten, dass bei der allogenen Stammzelltransplantation – derzeit noch überwiegend – nichtkryokonservierte Präparate ohne DMSO-Zusatz transfundiert werden. Darüber hinaus ist bei der allogenen Stammzelltransplantation eine mögliche Blutgruppeninkompatibilität zwischen Spender und Empfänger zu berücksichtigen und das Transplantat bzw. der Empfänger zur Vermeidung von Transfusionszwischenfällen entsprechend vorzubehandeln (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 1994, 1997). 26.6.8 Immunsuppressive Therapie
Nach allogener hämatopoetischer Stammzelltransplantation ist eine prolongierte, im Gegensatz zur Organtransplantation jedoch zeitlich limitierte immunsuppressive Therapie obligatorisch. Einzige Ausnahme ist die Transplantation T-Zell-depletierter Stammzellpräparate (s. oben). Ziel der immunsuppressiven Behandlung ist die Prophylaxe und ggf. Therapie der GvHD. Bei bestimmten dosisreduzierten Konditionierungsregimen sind Art und Dauer der immunsuppressiven Nachbehandlung darüber hinaus essenziell für ein stabiles Engraftment (Storb et al. 2001). Standard der GvHD-Prophylaxe ist die Kombination aus spiegeladaptiert dosiertem Ciclosporin A (CsA) und einem kurzen Behandlungszyklus mit Methotrexat (15 mg/m2 KO i. v. an Tag 1 sowie 10 mg/m2 KO i. v. an den Tagen 3, 6 und fakultativ 11 nach Transplantation). Der Ersatz von CsA durch den neueren Calcineurininhibitor FK506 (Tacrolismus) hat in randomisierten Phase-III-Studien zur einer Reduktion von Inzidenz und Schweregrad der akuten GvHD geführt. Ein Vorteil hinsichtlich Krankheitsfreiheit und Gesamtüberleben der Patienten wurde jedoch nicht nachgewiesen (Nash et al. 2000). Klinisch geprüft wird der Stellenwert von Mycophenolatmofetil, einem Inhibitor der für proliferierende Lymphozyten essenziellen De-novo-Synthese von Purinen (Vogelsang u. Arai 2001). Standard in der Primärtherapie der systemisch behandlungsbedürftigen akuten oder chronischen GvHD sind Kortikosteroide, in der Regel kombiniert mit CsA (Vogelsang 2001). Eine Optimierung der GvHD-Prophylaxe und -Therapie ist von der Entwicklung selektiver Strategien zur Hemmung von T-Zell-Funktionen zu erwarten (Goker et al. 2001; Murphy u. Blazar 1999). 26.6.9 Spenderlymphozytentransfusionen
Kolb und Mitarbeiter berichteten erstmals 1990 über die erfolgreiche Behandlung von CML-Rezidiven nach Knochenmarktrans-
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plantation durch Transfusion von Lymphozyten des Knochenmarkspenders (»donor lymphocyte transfusions«, DLT; Kolb et al. 1990). Inzwischen haben DLT ihren festen Stellenwert in der Rezidivbehandlung nach allogener Stammzelltransplantation. Die Ansprechraten variieren erheblich mit der Sensitivität der Grunderkrankung gegenüber GvL/GvT-Effekten (7 Abschn. 26.5.6 »Dosismodifizierte Konditionierung«) und der Tumorlast bzw. -aktivität bei Rezidivdiagnose (Collins et al. 1997; Kolb et al. 1995). So werden bei der CML im zytogenetischen Rezidiv Ansprechraten von 80–100% erreicht, im Rezidiv mit den zytologischen Kriterien einer chronischen Phase ca. 75%. Bei Zeichen der Transformation ist die Rezidivbehandlung nur noch in 12–28% der Fälle erfolgreich. Auch bei der AML und ALL liegen die Ansprechraten bei 20% bzw. darunter (Collins et al. 1997; Kolb et al. 1995). Nebenwirkungen der DLT sind vor allem die akute oder chronische GvHD (ca. 60% der Fälle) und eine verzögert einsetzende Knochenmarkaplasie (20–30% der Fälle; Collins et al. 1997; Kolb et al. 1995). Das GvHD-Risiko korreliert mit der TZell-Dosis (Schwellendosis: 1- bis 5-mal 107 CD3+-Zellen/kg) und nimmt mit zunehmender Zeitspanne zwischen Transplantation und DLT ab (Barrett et al. 1998; Mackinnon et al. 1995). In dem Bemühen, die Induktion von GvL/GvT-Effekten und GvHD zu trennen, wurde das Konzept der sequenziellen DLT mit Dosiseskalation entwickelt (Mackinnon et al. 1995). Die Knochenmarkaplasie nach DLT wird auf eine zelluläre Alloimmunreaktion gegen Minorhistokompatiblitätsantigene auf hämatopoetischen Zellen zurückgeführt. Ein niedriger Spenderzellchimärismus im CD34+-Kompartment korreliert mit einem erhöhten Aplasierisiko (Keil et al. 1997). Bei ca. zwei Drittel der Patienten mit DLT-induzierter Aplasie kommt es zu einer spontanen Regeneration der Spenderhämatopoese (Kolb et al. 1995). Neben entsprechender Supportivtherapie und Stimulation der Hämatopoese durch G-CSF kann die nochmalige Übertragung von Stammzellen des Spenders erforderlich werden. Zur Optimierung der Ergebnisse bei aggressiv verlaufenden Rezidiven werden Kombinationen von DLT mit adjuvanter Chemo- oder Zytokintherapie (z. B. IFN-α, IL-2) geprüft (Peggs u. Mackinnon 2001). Bei Philadelphia-Chromosom-positiven Leukämien bietet sich darüber hinaus eine Kombinationsbehandlung mit Imatinib an. Vielversprechende Resultate wurden mit einer Therapievariante erzielt, die nach zytoreduktiver Chemotherapie eine erneute Übertragung G-CSF-mobilisierter PBPC des Stammzellspenders und eine Nachbehandlung mit GM-CSF vorsieht (Platzbecker et al. 2001). Ein weiteres Ziel der Therapieoptimierung ist die Separation der durch DLT augmentierten GvL/GvT-Effekte von unerwünschten GvH-Reaktionen. Dazu werden neben sequenziellen DLT-Protokollen die selektive Depletion von T-Zell-Subpopulationen (z. B. CD8+-Zellen), die Anreicherung und In-vitro-Expansion tumorspezifischer T-Zellen sowie der Einsatz von T-Zellen mit induzierbaren Suizidtransgenen geprüft (Peggs u. Mackinnon 2001).
26.6.10
Komplikationen
Therapieassoziierte Toxizität Bereits in der Akutphase nach allogener Stammzelltransplantation ist das Toxizitätsprofil komplexer und schwerwiegender als nach einer Hochdosistherapie mit Reinfusion autologer Stammzellen (Bearman et al. 1988). Trotz angemessener Diagnostik ist
es in vielen Fällen schwierig, Organfunktionsstörungen als Toxizität der Konditionierung (»regimen-related toxicity«, 7 Abschn. 26.4.7 und . Tab. 26.3), als Nebenwirkung der Begleitherapie, insbesondere der immunsuppressiven Medikation, oder als Manifestation einer anlaufenden akuten GvHD oder Infektion und begleitender Entzündungsreaktion einzuordnen (Bearman et al. 1988). Das unterstreichen die erheblich variierenden Inzidenzangaben für die beispielhaft aufgeführten Komplikationen: 4 Venenverschlusskrankheit (VOD) der Leber: charakterisiert durch Hyperbilirubinämie, schmerzhafte Hepatomegalie, Flüssigkeitsretention, fakultativ Aszites. Inzidenzangaben 0–70%, im Mittel 2- bis 3-mal häufiger als nach autologer Stammzelltransplantation. Ätiologie unklar; Assoziation mit Hochdosis-Busulfan, Lebervorschädigung, vorangehender Bestrahlung des Abdomens (Carreras et al. 1998). 4 Thrombotische mikroangiopathische Syndrome: charakterisiert durch mikroangiopathische Hämolyse (Fragmentozytennachweis) und Thrombozytopenie, fakultativ renale und neurologische Funktionseinschränkungen sowie Fieber. Inzidenzangaben 2–76%, im Mittel 2- bis 3-mal häufiger als nach autologer Stammzelltransplantation. Ätiologie nach allogener Stammzelltransplantation unklar; Assoziation mit CsA-Behandlung, akuter GvHD und Infektionen (Holler et al. 1989; Roy et al. 2001). 4 Pulmonale Komplikationen: breites, zeitverlaufsabhängiges Spektrum infektiöser und nichtinfektiöser Manifestationen wie »periengraftment respiratory distress syndrome« (PERDS), diffuse alveoläre Lungenblutung (DAH), idiopathische Pneumonitis (IP), Brochiolitis obliterans ohne/mit organisierender Pneumonie (BO bzw. BOOP) und verzögerte pulmonale Toxizität (»delayed pulmonary toxicity syndrome«, DPTS, konditionierungsbedingt). Kumulative Inzidenzangaben 15–60%, im Mittel 2- bis 3-mal häufiger als nach autologer Stammzelltransplantation (Afessa et al. 2001). Transplantatversagen Als diagnostisches Kriterium wird überwiegend die absolute Neutrophilenzahl im Blut (ANC < oder ≥5-mal 108/l) herangezogen. Unterschieden werden das primäre Transplantatversagen, d. h. ausbleibende Etablierung der Spenderhämatopoese bis zu einem arbiträr definierten Zeitpunkt zwischen Tag 21 und 42 nach Stammzelltransplantation, und das sekundäre Transplantatversagen mit Abfall der Neutrophilen auf <5-mal 108/l nach initialem Engraftment (Chen et al. 2000; Davies et al. 2000). Zu den Risikofaktoren für ein Transplantatversagen nach allogener Stammzelltransplantation zählen in erster Linie die HLA-Disparität zwischen Spender und Empfänger, die T-ZellDepletion des Transplantats, inadäquate Konditionierung oder Stammzelldosis sowie vorangehende Alloimmunisierung des Empfängers (Chen et al. 2000). In diesen Fällen dominiert die Abstoßung als Ursache des in der Regel primären Transplantatversagens. Weitere auslösende Faktoren sind Stromadefekte, Infektionen und medikamentös induzierte Myelosuppression (Chen et al. 2000). Selbst nach allogener Stammzelltransplantation von nicht verwandten Spendern liegt die Transplantatversagensrate bei komplettem Allel-Match bzw. einzelner Mismatch-Konstellation von HLA-Antigenen der Klasse I bei <5% (Davies et al. 2000; Petersdorf et al. 1998). Mehrfache Mismatch-Konstella-
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tionen der Klasse I und II führen in 12–29% der Fälle zu Transplantatversagen bzw. -abstoßung (Petersdorf et al. 1998). Diese Zahlen beziehen sich auf nicht T-Zell-depletierte Stammzellpräparate. Mit einem sekundären Transplantatversagen ist nach fremdallogener Transplantation in bis zu 10% der Fälle zu rechnen, das jedoch in mehr als der Hälfte der Fälle transienter Natur ist (Davies et al. 2000). Risikofaktoren sind niedrige Stammzelldosis, DRB1-Mismatch-Konstellationen, CMV-Seropositivität des Empfängers, unterrepräsentierte ethnische Gruppen und verzögertes initiales Engraftment (Davies et al. 2000). Graft-versus-Host-Erkrankung (GvHD) Die GvHD ist neben Infektionen und Rezidiven die verlaufsdominierende und zugleich häufigste Komplikation nach allogener Stammzelltransplantation. Nach typischen klinischen Manifestationen und Zeitpunkt des Auftretens (vor bzw. nach Tag 100) werden die akute und die chronische GvHD unterschieden. Ursache der akuten GvHD ist eine Alloimmunreaktion von T-Zellen des Spenders gegen Major- oder Minorhistokompatibilitätsantigene, die von Zellen bestimmter Gewebe und Organe des Empfängers exprimiert werden. Proinflammatorische Zytokine, die z. B. im Rahmen konditionierungsbedingter Gewebeschädigung freigesetzt werden, triggern und verstärken die GvH-Reaktion (Ferrara et al. 1999; Goker et al. 2001). Die Pathogenese der chronischen GvHD ist weniger klar. Neben Alloimmunreaktionen werden zelluläre und humorale Autoimmunphänomene als Ursache angesehen (Nash et al. 2000; Ratanatharathorn et al. 1998). Bei klassischer Konditionierung und Standardprophylaxe (s. oben) liegt die Inzidenz der behandlungsbedürftigen akuten GvHD (Grad II–IV) bei 40–45% nach Stammzelltransplantation von HLA-identischen Geschwistern und bei 55–75% nach Fremdspendertransplantation (Ratanatharathorn et al. 1998). Wichtigste Risikofaktoren sind die HLA-Disparität zwischen Spender und Empfänger, Patientenalter, Konditionierungsintensität und Geschlechts-Mismatch (weiblicher Spender bei männlichem Empfänger; Goker et al. 2001). Betroffene Organe sind in erster Linie Haut, Leber und Gastrointestinaltrakt. Die prognostisch relevanten Schweregradeinteilungen basieren auf dem Stadium dieser Organmanifestationen und der Reduktion des Allgemeinzustands (Martino et al. 1999; Przepiorka et al. 1995). Nach Möglichkeit sollte die Diagnose einer GvHD vor Therapieeinleitung bioptisch gesichert werden. Die Inzidenz der chronischen GvHD variiert bei klassischen allogenen Transplantationsverfahren zwischen 50 und 75% (Nash et al. 2000; Ratanatharathorn et al. 1998). Risikofaktoren sind neben den oben genannten die initiale Manifestation einer akuten GvHD sowie möglicherweise die Stammzellquelle (PBPC anstelle von Knochenmark). Das klinische Bild der chronischen GvHD ähnelt dem einer Autoimmunerkrankung. Es dominieren: 4 sklerodermiforme und lichenoide Haut-, Schleimhaut- bzw. Weichteilmanifestationen, 4 Xerophtalmie, Xerostomie (Sicca-Syndrom), 4 entzündlich-desquamative und fibrosierende Manifestationen im Gastrointestinaltrakt bis hin zu Strikturen, Obstruktionen und Malabsorptionssyndromen, 4 cholestatisch verlaufende Leberdysfunktion, 4 Lungenbeteiligung, z. B. in Form der Bronchiolitis obliterans (Ratanatharathorn et al. 2001).
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Je nach Organbeteiligung werden limitierte und extensive Stadien der chronischen GvHD unterschieden (Ratanatharathorn et al. 2001). Prognostisch ungünstig sind: 4 extensive Hautbeteiligung (>50% der Körperoberfläche), 4 Thrombozytopenie (<100.000/μl), 4 Karnofsky-Index <50%, 4 direkter Übergang einer akuten in eine chronische GvHD (»progessive-type onset«; Akpek et al. 2001). Infektionen Das Risiko und das Spektrum infektiöser Komplikationen nach allogener Stammzelltransplantation sind erheblich größer als nach konventioneller Chemotherapie oder Hochdosistherapie mit Reinfusion autologer Stammzellen. Aufgrund des protrahierten zellulären und humoralen Immundefektes (verzögerte Immunrekonstitution, GvHD, immunsuppressive Therapie, T-Zell-Depletion, funktionelle Asplenie) besteht eine Infektionsgefährdung weit über die initiale Neutropeniephase hinaus. [Vgl. dazu die Ausführungen der Arbeitsgemeinschaft Infektiologie in der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie zum Thema »Epidemiologie und interventionelle Therapiestrategien infektiöser Komplikationen nach allogener Stammzelltransplantation« (Krüger et al. 2005; http://www. DGHO-Infektionen.de).] Nach Erholung der Immunreaktivität muss der Impfschutz durch Reimmunisation gemäß Standardempfehlungen wiederhergestellt werden (Avigan et al. 2001; Ljungman 1999; Singhal u. Mehta 1999). Lymphoproliferative Erankungen nach Transplantation Der über Monate persistierende zelluläre Immundefekt nach allogener Stammzelltransplantation prädisponiert nicht nur zu Infektionen, sondern aufgrund defekter T-Zell-Regulation auch zu B-lymphoproliferativen Erkrankungen (»posttransplant lymphoproliferative disorders«, PTLD; Curtis et al. 1999; Storek et al. 2001). PTLD entwickeln sich typischerweise in den ersten 6 Monaten nach Transplantation als aggressive, in der Regel EBVassoziierte Lymphome, die ihren Ursprung von B-Zellen des Spenders nehmen (Curtis et al. 1999). Die kumulative Inzidenz nach 10 Jahren liegt bei 1% (Curtis et al. 1999). Risikofaktoren sind Fremdspender- und Mismatch-Transplantationen, T-ZellDepletion des Transplantats, die Behandlung mit Antikörpern gegen T-Lymphozyten und chronische GvHD (Curtis et al. 1999). Neben EBV-gerichteter antiviraler Prophylaxe bzw. präemptiver Behandlung werden therapeutisch Spenderlymphozytentransfusionen, EBV-spezifische Spenderlymphozyten und monoklonale Antikörper gegen B-Lymphozyten eingesetzt (Benkerrou et al. 1998; Curtis et al. 1999). Die immunsuppressive Medikation sollte bei Auftreten einer PTLD möglichst schnell reduziert bzw. abgesetzt werden. Andere Sekundärmalignome Während PTLD zu 80% im ersten Jahr (Median 3 Monate) nach allogener Stammzelltransplantation auftreten (Curtis et al. 1999), nimmt das Risiko solider Zweittumoren über die Zeit zu. In einer IBMTR-Analyse an über 19.000 allogen transplantierten Patienten betrug die kumulative Inzidenz solider Tumoren nach 5, 10 und 15 Jahren 0,7%, 2,2% bzw. 6,7% und war damit um den Faktor 8,3 höher als in der Normalbevölkerung (Curtis et al. 1997). Tendenziell noch höhere Inzidenzen wurden für pädiatrische Patienten mitgeteilt, die im Alter von unter 10 Jahren eine allogene
560
26
Kapitel 26 · Hochdosistherapie und Stammzelltransplantation
Stammzelltransplantation erhielten (Socie et al. 2000). Anders als nach Hochdosistherapie mit Reinfusion autologer Stammzellen, scheint das MDS/AML-Risiko nach allogener Stammzelltransplantation kaum erhöht zu sein (Witherspoon et al. 1989). Spättoxizitäten Mit zunehmend besserem Langzeitüberleben gewinnen toxische Spät- und Langzeitmanifestationen an Bedeutung. Typische Spättoxizitäten sind die Kataraktbildung (Ganzkörperbestrahlung, Steroide) und avaskuläre Knochennekrosen (Steroide; Wiesmann et al. 1998). Hinzu kommen in der Regel irreversible Störungen der endokrinen und reproduktiven gonadalen Funktionen. Etwa 50% der Patienten entwickeln darüber hinaus eine subklinische, 20% eine manifeste Hypothyreose (Einsele u. Kanz 1999). Transplantationsbedingte Letalität Trotz erheblicher Fortschritte in den 90er Jahren mit nachweislicher Reduktion der transplantationsassoziierten Letalität (TRM; Gahrton et al. 2001) bleibt die allogene Stammzelltransplantation ein risikoreiches Therapieverfahren. Unter den Risikofaktoren für letale Komplikationen dominieren höheres Patientenalter, Komorbiditäten, Aggressivität und fortgeschrittenes Stadium der Grunderkrankung sowie die genetische Disparität zwischen Spender und Empfänger (Champlin et al. 2000; Gratwohl et al. 1998; Sorror et al. 2005). Abhängig davon ist nach myeloablativer allogener Stammzelltransplantation bei malignen hämatologischen Erkrankungen mit einer 1- bzw. 2-Jahres-TRM von durchschnittlich 10–40% zu rechnen (Bensinger et al. 2001; Champlin et al. 2000). Eine deutlich geringere TRM ist nach Anwendung von dosisreduzierten Konditionierungsprotokollen (»reduced intensity conditioning«, RIC) zu erwarten (Diaconescu et al. 2004). Diesem Vorteil steht jedoch ein höheres Rezidivrisiko nach RIC gegenüber. Da Spätkomplikationen einen erheblichen Anteil an der Gesamtmorbidität nach Stammzelltransplantationen ausmachen, besitzt die Nachsorge eine große Bedeutung für die Verbesserung des Gesamtüberlebens. Entsprechende Empfehlungen zur standardisierten Nachsorge wurden kürzlich durch die Fachverbände »European Group for Blood and Marrow Transplantation (EBMT)«, »Center for International Blood and Marrow Transplant Research (CIBMTR)« und »American Society for Blood and Marrow Transplantation (ASBMT)« formuliert (Rizzo et al. 2006).
26.6.11
Perspektiven
Die inzwischen etablierte Unterscheidung in GvL/GvT-sensitive und -insensitive Erkrankungen lässt unterschiedliche Optimierungsstrategien erwarten. Bei den GvL/GvT-sensitiven, d. h. immunogenen Tumorerkrankungen ist mit einer Fortentwicklung der allogenen Stammzelltransplantation in Richtung einer zunehmend spezifischeren allogenen Transplantation zu rechnen (Appelbaum 2001). Das beinhaltet eine angepasste, primär immunablative Konditionierung, hinsichtlich ihrer zellulären Zusammensetzung optimierte Transplantate, die präemptive oder MRD-basierte Behandlung mit tumorselektiven T- oder NK-Zellen (s. »Spenderlymphozytentransfusionen«) sowie tumorspezifische Vakzinierungsansätze. Hier und in der Behandlung seltener genetischer Defekte wird auch die Behandlung mit transgenen Spenderzellen ihren Platz finden.
Bei aggressiven und GvL/GvT-insensitiven Erkrankungen bietet sich eine Therapieintensivierung, z. B. durch sequenzielle autolog-allogene Transplantation oder allogene Stammzelltransplantation in der frühen Erholungsphase nach konventioneller Induktionstherapie an. Weitere Perspektiven eröffnet darüber hinaus die Integration spezifischer Antikörper, Immunkonjungate oder Tyrosinkinaseinhibitoren in die Konditionierungsphase. Das Potenzial der Transplantation mesenchymaler Stammzellen (Horwitz et al. 1999) und die Nutzung der Stammzellplastizität oder embryonaler Stammzellen zur Behandlung z. B. kardialer oder neurologischer Erkrankungen lässt auf neue Anwendungsperspektiven hoffen.
26.7
Gesetzliche Vorgaben, Richt- und Leitlinien
26.7.1 Gesetzliche Vorgaben
Autologe und allogene Blutstammzellpräparate sind Arzneimittel gemäß § 2 des Arzneimittelgesetzes (AMG; Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln 1998) in Verbindung mit § 2 Nr. 3 des Transfusionsgesetzes (TFG; Gesetz zur Regelung des Transfusionswesen 1998). Die Herstellung von Blutstammzellpräparaten ist nach § 67 AMG der zuständigen Behörde anzuzeigen. Bei Abgabe an andere ist nach § 13 AMG eine Herstellungserlaubnis erforderlich. Sofern es sich um Einzelherstellungen auf Anforderung für bestimmte Patienten handelt, sind Stammzellpräparate keine Fertigarzneimittel nach § 4 AMG und damit nicht zulassungspflichtig (§ 21 AMG). Die Präparation und Bearbeitung der Stammzellen unterliegt der Richtlinie und dem Leitfaden für gute Herstellungspraxis (GMP) der Europäischen Kommission [1999; Richtlinie der Kommission zur Festlegung der Grundsätze und Leitlinien der guten Herstellungspraxis (GMP) für zur Anwendung beim Menschen bestimmte Arzneimittel (91/356/EWG) vom 13.06.1991] und der Betriebsverordnung für pharmazeutische Unternehmer (PharmBetrV 1985). Dabei sind die Bestimmungen des TFG einzuhalten (s. insbesondere § 9 und § 8 Abs. 2–4, Gesetz zur Regelung des Transfusionswesen 1998). Für Zellseparatoren zur Gewinnung hämatopoetischer Stammzellen gelten die Vorschriften des Medizinproduktgesetztes (MPG, 1994). Der Hersteller der Stammzellpräparate haftet im Rahmen des AMG (16. Abschnitt) und ist zur Ersatzpflicht und Deckungsvorsorge verpflichtet [Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln: Arzneimittelgesetz (AMG, 1976)]. In Deutschland verbietet das Embryonenschutzgesetz (ESchG, 1990) die Erzeugung von Embryonen zu einem anderen Zweck als dem der Herbeiführung einer Schwangerschaft. Nach geltendem Recht dürfen auch Embryonen, die nicht mehr zur Einpflanzung in den Uterus vorgesehen werden, nicht der Stammzellforschung zugeführt werden. Der Umgang mit bereits existierenden humanen ESC-Linien wird durch das deutsche Stammzellgesetz (StZG, 2002) reguliert. Dies erlaubt die Einfuhr und Verwendung humaner ESC nur zu begründeten Forschungszwecken im Rahmen der Grundlagenforschung und nach Bewertung durch die Zentrale Ethikkommission und Genehmigung durch das Robert-Koch-Institut. Eingeführt werden dürfen nur solche ESC, die nachweislich im Herkunftsland vor dem 1. Januar 2002 nach Einverständnis und ohne finanziellen Vorteil der Spender aus überzähligen Embryonen der künstlichen Befruch-
561 26.7 · Gesetzliche Vorgaben, Richt- und Leitlinien
tung hergestellt wurden. Zu vermerken ist, dass innerhalb der einzelnen EU-Staaten derzeit unterschiedliche Regelungen zur Herstellung und Nutzung von ESC existieren. 26.7.2 Richt- und Leitlinien
Alle wesentlichen Verfahrensaspekte sind in den »Richtlinien zur Transplantation peripherer Blutstammzellen« des wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer und des Paul-EhrlichInstituts festgelegt (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 1997). Diese werden ergänzt durch die »Richtlinien zur Gewinnung von Blut und Blutbestandteilen und zur Anwendung von Blutprodukten (Hämotherapie)« (s. insbesondere Abs. 2.6, 2.7.7 und 4.7; Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 2005) und die »Empfehlungen zur Blutstammzellapherese« der Deutschen Gesellschaft für Transfusionsmedizin und Immunhämatologie (DGTI 1998). Bei der allogenen Stammzelltransplantation sind darüber hinaus die deutschen Konsensusempfehlungen für die immungenetische Spendersuche (Ottinger et al. 2001), die »Empfehlungen für die Spende von Knochenmark- und peripheren hämatopoetischen Stammzellen freiwilliger nichtverwandter Spender« der Deutschen Gesellschaft für Immungenetik (http://www.immungenetik.de) und die »Richtlinien für die allogene Knochenmarktransplantation mit nichtverwandten Spendern« der Bundesärztekammer (1994) zu berücksichtigen. Für die Transplantation von Stammzellen aus Nabelschnurblut gelten die einschlägigen Richtlinien der Bundesärztekammer (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 1999). Während die Richtlinien verbindlichen Charakter haben, sind die Leitlinien und Empfehlungen als Verfahrens- und Entscheidungshilfen zu verstehen. 26.7.3 Zertifizierung und Akkreditierung
von Transplantationszentren Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Knochenmark- und Blutstammzelltransplantation (DAG-KBT; http://www.dag-kbt.de), führt gemeinsam mit den hämatologisch-onkologischen
26
Fachgesellschaften und der EBMT ein Zertifizierungsverfahren von Transplantationseinheiten durch. Ziel ist die Sicherung und Verbesserung von Qualitätsstandards bei der Gewinnung, Manipulation und Transplantation hämatopoetischer Stammzellen. Grundlage der Zertifizierung sind die »Ausführungsbestimmungen zu den Richtlinien für die autologe Transplantation von peripheren Blutstammzellen und von Knochenmark. Diese basieren auf den Richtlinien der Bundesärztekammer (1997) und den »Standards for Blood and Marrow Progenitor Cell Collection, Processing and Transplantation« des »Joint Accreditation Committee« (JACIE) der EBMT und der »International Society for Hematotherapy and Graft Engineering« (ISHAGE-Europe). Bei der Zertifizierung für die allogene Transplantation werden die Richtlinien des »JACIE Accreditation Manual« zugrunde gelegt (JACIE »Standards« und »Manual of Accreditation« – http://www.ebmt.org). 26.7.4 Transplantationsregister
Unter Berücksichtigung der gesetzlichen Bestimmungen zum Datenschutz und mit schriftlichem Einverständnis der Patienten werden die essenziellen Daten autologer und allogener Stammzelltransplantationen an das Deutsche Register für Stammzelltransplantationen (DRST) gemeldet (http://www. drst.de/ bzw. http://www.uni-essen.de/drst/site). Aufgabe des DRST ist, klinische Daten aller ab dem 1.1.1998 in Deutschland durchgeführten Stammzelltransplantationen zu dokumentieren, auszuwerten und autorisierten Nutzern zur Verfügung zu stellen. Das DRST unterhält eine Geschäftsstelle am Universitätsklinikum Essen und eine Datenbank beim Zentralen Knochenmarkspenderregister Deutschland (ZKRD) in Ulm (http://www. zkrd.de). Die Meldepflicht an das DRST wird durch einen Registervertrag mit den einzelnen Transplantationseinheiten verankert. Zentren mit EBMT-Mitgliedschaft melden Transplantationsdaten darüber hinaus in elektronischer oder schriftlicher Form an das europäische Zentralregister der EBMT (http://www.ebmt. org). Die Datenerfassung für das nationale und das europäische Register ist weitgehend harmonisiert.
Zusammenfassung Die hämatopoetische Stammzelltransplantation ist Bestandteil moderner Tumortherapien und ermöglicht die Behandlung nichtmaligner Stammzell- und Immundefekte sowie hereditärer Stoffwechseldefekte. Hämatopoetische Stammzellen (HSC) besitzen die Fähigkeit zur Selbstreplikation, Proliferation und schrittweisen Differenzierung in jede Form terminal differenzierter Zellen des lymphohämatopoetischen Systems und sind durch Expression linienunspezifischer Antigene (CD34, Thy-1, AC-133) charakterisiert. Klassisches Stammzellreservoir für die Gewinnung von HSC zur Transplantation ist das Knochenmark. Für eine Knochenmarktransplantation werden in Allgemeinnarkose 10-20 ml Aspirat/kg Körpergewicht vorzugsweise aus dem Beckenkamm entnommen. Für die Gewinnung peripherer Stammzellen (PBPC) bei gesunden freiwilligen Stammzellspendern kommen hämatopoetische Wachstumsfaktoren wie re6
kombinanter humaner »granulocyte colony-stimulating factor« (G-CSF) zum Einsatz. Zur Mobilisation von PBPC bei Tumorpatienten wird überwiegend die Kombination aus transient myelosuppressiver Chemotherapie und anschließender Stimulation der regenerierenden Hämatopoese durch G-CSF eingesetzt. Surrogatmarker für den jeweiligen Stammzellapheresenbeginn ist die CD34-Zellzahl im peripheren Blut. Die Reinfusion autologer HSC/ PBPC ermöglicht eine rasche Rekonstitution der Hämatopoese nach myeloablativer Chemo- bzw. Chemoradiotherapie. Hierdurch wird eine Dosisteigerung einer systemischen zytostatischen Tumortherapie bis an die Toleranzgrenzen anderweitiger Organtoxizität möglich. Zu den wichtigsten etablierten Indikationen der Hochdosistherapie mit anschließender Gabe autologer HSC/PBPC zählen intermediär-/hochmaligne NHL im chemosensitiven Rezidiv, rezidivierte bzw. refraktäre Hodgkin-Lymphome
562
26
Kapitel 26 · Hochdosistherapie und Stammzelltransplantation
und das therapiebedürftige multiple Myelom. Als aussichtsreich gelten prognostisch ungünstige aggressive NHL in erster kompletter Remission, chemosensitive transformierte follikuläre Lymphome, Leukämien sowie metastasierte bzw. rezidivierte Keimzelltumoren beim Mann. Bei der allogenen Stammzelltransplantation wird das maligne und/oder funktionell defekte hämatopoetische System des Empfängers durch ein gesundes histokompatibles des Spenders ersetzt. Entscheidender Vorteil der allogenen gegenüber der autologen Stammzelltransplantation ist das Auftreten einer zellulären Alloimmunreaktion im Sinne der als Graft-versus-Leukemia-(GvL-) bzw. Graft-versus-Tumor-(GvT-)Effekt beschriebenen Tumorkontrolle. Neben T-Lympozyten und natürlichen Killerzellen sind Antigen präsentierende Zellen an GvL/GvT-Reaktionen beteiligt. Als immunologische Zielstrukturen für Spender-T-Lymphozyten kommen Haupt- und Minorhistokompatibilitätsantigene sowie linienspezifische, tumorspezifische und virusspezifische Antigene in Frage. Kriterien der Spenderauswahl sind HLA-Identität, Geschlecht, Alter des Spenders, CMV-Status und die AB0-Blutgruppe. Primär erfolgt eine Spendersuche in der Kernfamilie mit Typisierung von Geschwistern. Bei fehlendem Geschwisterspender erfolgt umgehend die Fremdspendersuche. Bei unergiebiger Spendersuche kann in Einzelfällen eine
haploidente Transplantation von einem Familienspender erwogen werden. Bei der klassischen myeloablativen Konditionierungstherapie für maligne hämatologische Erkrankungen werden hochdosiertes Cyclophosphamid in Kombination mit fraktionierter Gankörperbestrahlung oder hochdosiertem Busulfan verwendet. Im Rahmen von unverwandten Stammzelltransplantationen kann eine In-vivo-T-Zell-Depletion mittels Antithymozytenglobulin erfolgen und somit Abstoßungsrisiko und GvHD-Inzidenz verringern. Die transplantationsbedingte Letalität wird u. a. durch die Intensität des Konditionierungsprotokolls bestimmt. Der Erfolg einer dosisreduzierten Konditionierungstherapie ist dagegen abhängig von der Tumorsensitivität gegenüber GvL/ GvT-Effekten. Die Graft-versus-Host-Erkrankung (GvHD) ist die häufigste Komplikation nach allogener Stammzelltransplantation mit der höchsten Inzidenz nach Fremdspendertransplantation. Ursächlich für die GvHD werden zelluläre und humorale Autoimmunphänomene angesehen. Eine Optimierung der GvHD-Prophylaxe und -Therapie ist maßgeblich an der Senkung der Gesamtmorbidität nach allogener Stammzelltransplantation beteiligt. Perspektivisch kann die Nutzung der Stammzellplastizität sowie die Verwendung von Nabelschnurblut oder mesenchymaler und embryonaler Stammzellen neue Anwendungsgebiete z. B. in der regenerativen Medizin erschließen.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
27
27 Hyperthermie L.H. Lindner, P. Wust, R.D. Issels
27.1
Thermobiologische Grundlagen
27.2
Interaktion mit Radiotherapie und Chemotherapie – 565
27.3
Physikalische Grundlagen und technische Möglichkeiten – 567
27.4
Klinische Studien und Ergebnisse
27.5
Zukünftige Entwicklungen Literatur – 574
– 564
– 574
– 569
564
Kapitel 27 · Hyperthermie
> Einleitung
27
27.1
Die Hyperthermie mit einer kontrollierten Temperaturerhöhung (39–44°C) im Zielgebiet findet zunehmend Eingang in interdisziplinäre onkologische Behandlungskonzepte. Neben der direkten zytotoxischen Wirkung der Hyperthermie (Temperaturbereich ≥42,5°C) besteht zusätzlich ein strahlen- und chemosensibilisierender sowie indirekt immunmodulatorischer Effekt im hyperthermierten Gewebe, der bereits bei milder Temperaturerhöhung wirkt (39–42°C). Weiterhin lässt sich die Hyperthermie für die gezielte Anreicherung bzw. Aktivierung innovativer Wirkstoffe im Tumor nutzen. Definitionsgemäß bedeutet klinische Hyperthermie eine invasive oder nichtinvasive technische Energieankopplung mittels physikalischer Energieträger an den Körper des Patienten, die auf eine möglichst selektive Erwärmung des tumortragenden Gewebes abzielt. Die klinisch angewandten Hyperthermieverfahren richten sich nach dem Ausbreitungsmuster der onkologischen Erkrankung. Man unterscheidet demnach die lokale Oberflächenhyperthermie und die regionale Tiefenhyperthermie zur Überwärmung entsprechend lokalisierter Malignome. Die Teilkörperhyperthermie wird zur Behandlung einer tumortragenden Körperregion (z. B. Abdomen) mit einer regional metastasierten Erkrankung (z. B. Peritonealkarzinose) eingesetzt. Die Ganzkörperhyperthermie zielt auf die artifizielle Erhöhung der Körperkerntemperatur bei systemischer Metastasierung der Tumorerkrankung ab.
Thermobiologische Grundlagen
In-vitro-Ergebnisse der Grundlagenforschung zeigen, dass eine Temperaturerhöhung ≥42,5°C einen zytotoxischen Effekt zur Folge hat. Dieser Effekt der Hyperthermie folgt in Abhängigkeit von der jeweiligen Temperatur und der Einwirkungsdauer einem Dosis-Wirkungs-Prinzip und ist bei den bisher untersuchten tierischen und menschlichen Zelllinien generell nachweisbar. Gemessen an dem klonogenen Wachstum von Zellen zeigen die Überlebenskurven bei niedriger thermischer Dosis eine Schulter, um bei zunehmender Expositionsdauer in einen exponentiellen Abfall überzugehen. Auf der Basis des Multi-Target-, SingleHit-Modells, zur mathematischen Beschreibung derartiger Überlebenskurven nach Hyperthermieeinwirkung, ergibt sich für verschiedene Zelltypen bei grafischer Darstellung (Arrhenius-Analyse) eine charakteristische Schwellentemperatur (»breakpoint temperature«) im Bereich von ca. 42,5°C (Bauer u. Henle 1979). Die Überlebenskurven von Fibrosarkomzellen bei verschiedenen Temperaturen (41,5–45,5°C) zeigen diesen Effekt sehr deutlich (. Abb. 27.1). . Abb. 27.1. Überlebenskurven von Fibrosarkomzellen bei verschiedenen Temperaturen
Unterhalb dieses Temperaturbereichs behandelte Zellen verhalten sich gegenüber einer kontinuierlichen Temperatureinwirkung zunehmend resistent, d. h., sie entwickeln Thermotoleranz. Dieses Phänomen ist reversibel und der Thermotoleranzstatus der Zellen klingt nach Absetzen der Hyperthermie wieder ab. Das Phänomen der Thermotoleranz ist auch durch eine Hyperthermie bei Temperaturen >42°C induzierbar, benötigt aber für die Expression ein hyperthermiefreies Zeitintervall von 6–12 h bei 37°C. Auch nach fraktionierter Hyperthermie auftretende Thermotoleranz ist nach einem Zeitintervall von 24–48 h deutlich herabgesetzt. Für menschliche Tumorzelllinien besteht per se eine unterschiedliche Hitzeempfindlichkeit, wobei neben dem Tumorzelltyp insbesondere der jeweilige Temperaturbereich bzw. die Dauer der Einwirkung bei Vergleich mit tierischen Zellen den Ausschlag geben (Hahn et al. 1989, Armour et al. 1993). Trotz variabler Hitzeempfindlichkeit verschiedener Zelltypen ermöglicht das thermische Isoeffekt-Dosis-Konzept (TID) mithilfe der in vitro beobachteten Abtötungsraten der Zellen bei verschiedenen Temperaturen eine Berechnung von sog. thermischen
565 27.2 · Interaktion mit Radiotherapie und Chemotherapie
Äquivalenzdosen (Sapareto u. Dewey 1984; Oleson et al. 1993; Dewey 1994). Damit ist eine thermische Dosisberechnung für hyperthermiertes Gewebe unter klinischen Bedingungen grundsätzlich möglich. Die molekularen Mechanismen, die in der Zelle während der Temperaturerhöhung zu einer thermischen Stressantwort führen, sind teilweise aufgeklärt (Streffer 1995). Hyperthermie bewirkt bereits ab 40°C eine Proteindenaturierung in verschiedenen Zellkompartimenten. Konformationsänderungen beeinflussen die Stabilität, Fluidität und Transporteigenschaft von intrazellulären Membransystemen (z. B. endoplasmatisches Retikulum, Mitochondrien) und führen zu Beeinträchtigungen des Spindelapparates und des Zytoskeletts. Im Rahmen des Zellzyklus besteht eine erhöhte Wärmeempfindlichkeit und Hemmung der Zellproliferation während der Mitose und in der S-Phase. Für den hyperthermiebedingten Zelluntergang ist neben einer direkten zytotoxischen Wirkung mit Nekrose auch die Induktion von Apoptose (programmierter Zelltod) verantwortlich. Unter Hyperthermiebedingungen wird in der Zelle die Proteinsynthese zunächst gehemmt und nach einer Erholungsphase auf ein bevorzugtes Proteinmuster, die sog. »heat shock proteins« (HSP), umgestellt (Hendrick u. Hartl 1993). Das Auftreten von atypischen (denaturierten) Proteinen und deren Aggregation im Zellkern wird derzeit als Triggersignal für die HSP-Induktion durch Aktivierung von Hitzeschockfaktoren gesehen (Morimoto et al. 1992). Hierbei werden ein spezifischer Satz von Genen und die Synthese von HSP induziert (z. B. HSP-70, HSP-27, HSP-90). Die klinische Bedeutung der HSP-Expression für die Beurteilung der Thermoempfindlichkeit oder Immunogenität von Tumorgewebe per se oder deren Neuinduktion für die Effekte einer Hyperthermiebehandlung ist Gegenstand der Forschung. Grundsätzlich muss zwischen der Bedeutung einer bereits vorhandenen (konstitutiven) HSP-Expression (z. B. HSP-90) und der spezifischen Funktion hitzeinduzierter HSP (z. B. HSP-70) im Tumorgewebe unterschieden werden. Nach Ergebnissen verschiedener Arbeitsgruppen führt HSP in Tumorgeweben sowohl zu einer unspezifischen Immunantwort durch Stimulation von Antigen präsentierenden Zellen (APC) und natürlichen Killer (NK) Zellen als auch über die Bildung von HSP-PeptidKomplexen und deren Präsentation über APC zu einer spezifischen T-Zell-Antwort (. Abb. 27.2; Milani und Noessner 2006;
Tamura et al. 1997; Wells u. Malkowsky 2000; Multhoff 2006). Der Nachweis einer hitzeinduzierten Synthesesteigerung und Oberflächenexpression von HSP70 auf verschiedenen Tumorzellen (Multhoff et al. 1995, 1997) sowie die Aktivierung von NK-Zellen durch HSP70 auch in vivo bieten neue Ansatzpunkte der klinischen Anwendung (Krause et al. 2004). In vivo ist die Thermoempfindlichkeit der Zellen in hohem Maße von externen Milieufaktoren wie pH-Wert, Sauerstoffund Nährstoffversorgung abhängig (Vaupel u. Kelleher 1995). So weisen Zellen bei niedrigem pH-Wert eine größere Empfindlichkeit gegenüber einer Wärmebehandlung auf. Gleiches gilt auch für hypoxisches Gewebe und Zellen mit Nährstoffverarmung. Da sich solche Milieufaktoren bei soliden Tumoren in Abhängigkeit von ihrer Größe, Durchblutung und der Wachstumsgeschwindigkeit ändern, ist das Tumorgewebe für die Effektivität der Hyperthermie – in ähnlicher Weise wie Strahlen- und Chemotherapie – ein heterogenes Gewebe. Unabhängig von Screeningmethoden zur Thermoempfindlichkeit bzw. Thermotoleranz im Tumorgewebe (z. B. pO2-Messung, HSP-Analyse) wird die Hyperthermie derzeit klinisch bei fraktionierter Anwendung in zeitlichen Intervallen in den Therapiezyklus integriert, um potenzielle Thermotoleranzeffekte in Teilbereichen des Tumors möglichst gering zu halten. Verschiedene physiologische Phänomene bieten eine Rationale für den komplementären Charakter der Hyperthermie mit Strahlentherapie oder Chemotherapie (Vaupel 1990). Gerade die radio- und/oder chemoresistenten Tumorareale, die während der Hyperthermiebehandlung vermindert perfundiert und hypoxisch bleiben, sind besonders thermoempfindlich und in diesen Tumorbereichen werden aufgrund der schlechteren Durchblutung auch höhere Temperaturen erreicht. Typischerweise kommt es unter Hyperthermie in Teilbereichen auch zu einer Perfusionssteigerung, allerdings in geringerem Maße als im umgebenden Normalgewebe. Bei regionaler Perfusionssteigerung entsteht durch eine höhere Anflutung von Zytostatika oder durch eine verstärkte Reoxygenierung des Tumors zusätzlich ein positiver Effekt für die jeweilige Kombinationstherapie. Neben der bloßen Perfusionssteigerung konnten Kong et al. (2000, 2001) in einem Tumormodell zeigen, dass unter erhöhter Temperatur (40–42°C) die Extravasation von Nanopartikeln (100 nm Liposomen) in Tumorgewebe signifikant gesteigert ist. Damit ließe sich die regionale Hyperthermie zur gezielten Anreicherung von Nanopartikeln (z. B. Liposomen) nutzen.
27.2
. Abb. 27.2. Mögliche Immunantwort durch Hitzeschock: Induktion der Expression von HSP70 in Tumorgewebe. Die Oberflächenexpression führt zur Aktivierung von NK-Zellen. Aufgrund von lokalen Nekrosen können HSP70 und HSP70-Peptidkomplexe (HSP70-PC) freigesetzt werden. HSP70-PC binden an APC und induzieren eine Zytokinsekretion sowie APC-Aktivierung. Zusätzlich werden die transportierten tumorspezifischen Peptide über MHC-Klasse-I-Moleküle präsentiert (Cross-Präsentation) und führen so zu einer antigenspezifischen T-Zell-Aktivierung
27
Interaktion mit Radiotherapie und Chemotherapie
Die temperaturabhängige Verstärkung des zytotoxischen Effekts einer Strahlentherapie oder Chemotherapie beinhaltet zwei Komponenten: eine additive oder synergistische (»superadditive«) Interaktion an gemeinsamen Zielstrukturen in der Tumorzelle und einen kooperativen, räumlich getrennten Effekt im Tumorgewebe. Die erste Komponente lässt sich phänomenologisch in Zellkulturen durch einen Vergleich von Überlebenskurven beschreiben, die nach Bestrahlung oder Chemotherapie bei verschiedenen Temperaturen (Bereich 37–44°C) gewonnen werden. Die Verstärkungseffekte äußern sich bei semilogarithmischer Auftragung des klonogenen Überlebens (»survival fraction«) der Zellen vs. Strahlen- bzw. Chemothera-
566
Kapitel 27 · Hyperthermie
. Abb. 27.3. Interaktion von Chemotherapie (Cisplatin) und Hyperthermie. Abtötungsrate von Fibrosarkomzellen bei verschiedenen Temperaturen
27
piedosis durch eine Veränderung des Schulterbereichs und einen steileren, exponentiellen Abfall (verstärkte Abtötungsrate; Urano et al. 1999). Die synergistische Wirkung der Hyperthermie wird für den Temperaturbereich 37–43°C am Beispiel des Cisplatin deutlich. Im Vergleich zu dem alleinigen Temperatureffekt ist die Abtötungsrate der Fibrosarkomzellen bei Temperaturen unterhalb von 42,5°C bereits deutlich gesteigert (. Abb. 27.3). Die Effekte sind bei gleichzeitiger Kombination von Strahlen- und/oder Chemotherapie mit der Hyperthermie (Temperaturbereich 40–44°C) am stärksten ausgeprägt und verlieren sich bei zeitlicher Trennung (3–5 h) des jeweiligen Verfahrens. Im Falle der Strahlentherapie beruht der Verstärkungseffekt neben einer verbesserten Oxygenierung des Tumors durch erhöhten Blutfluss (Brizel et al. 1996; Vujaskovic u. Song 2004) ebenso auf einer thermischen Hemmung der Reparaturprozesse für strahleninduzierte DNA-Schäden (Iliakis et al. 1990). Auf molekularer Ebene kommt es zur Zunahme des nukleären Proteingehalts und einer Translokation von HSP in den Zellkern (Kampinga et al. 1989). Durch Proteinaggregate werden vermutlich die Anheftpunkte der Reparaturenzyme an den DNA-Strukturen gehemmt. Auch wurde eine herabgesetzte Aktivität der DNA-Polymerase β nachgewiesen. Neben verminderter Reparatur von letalen bzw. subletalen Strahlenschäden (z. B. DNA-Strangbrüchen) durch direkte Strahlenwirkung spielen die gesteigerte Generierung von Sauerstoffradikalen und die Änderung im Redoxstatus der Zellen mit Verminderung der antioxidativen Schutzfaktoren (z. B. Glutathion-System) eine wichtige Rolle bei der Strahlensensibilisierung unter Hyperthermie. Für die Wirkungspotenzierung von Zytostatika bei ihrer Interaktion mit Hyperthermie sind die Mechanismen vielgestaltig (Dahl 1994). Neben beschleunigtem Transport und gesteigerter metabolischer Aktivierung kommt es zu einer verstärkten Reaktivität bei der Interaktion mit zellulären Zielstrukturen (z. B. DNA-Alkylierung). Dosis-WirkungsUntersuchungen in Zellkulturen oder in Tiermodellen erlauben mithilfe der Isobologrammanalyse die Art der Interaktion (unabhängig, additiv oder synergistisch) für verschiedene Zytostatika mit Hyperthermie phänomenologisch zu beschreiben (s. Übersicht).
Interaktion von Hyperthermie und Zytostatika 4 Unabhängig – 5-Fluorouracil – Methotrexat – Actinomycin D – Cytarabin – Taxane 4 Additiv – Doxorubicin – Mitoxantron – Cyclophosphamid – Ifosfamid – Melphalan – BCNU – Gemcitabin 4 Synergistisch – Cisplatin – Carboplatin – Mitomycin C – Bleomycin
Auffallend ist, dass für antimetabolisch wirksame Zytostatika (z. B. 5-Fluorouracil, Methotrexat) meist keine oder nur eine geringe Wirkungssteigerung unter hyperthermen Bedingungen zu beobachten ist. Auch Taxane (Paclitaxel, Docetaxel) zeigen keine Wirkungsverstärkung (unabhängige Wirkung). Für alkylierende Substanzen (z. B. Cyclophosphamid, Ifosfamid) und Nitrosoharnstoffverbindungen (BCNU) sowie Anthrazykline tritt ein additiver Effekt der Wirkung mit Erhöhung der Temperatur auf. Für Doxorubicin ist dieser Effekt nur auf einen eng umschriebenen Bereich von 40–41°C (»Threshold«-effekt) beschränkt. Wichtig ist für einige Zytostatika, dass die Wirkungsverstärkung in Abhängigkeit von der sequenziellen Gabe (z. B. Gemcitabin) der Hyperthermie erfolgt (Havemann et al. 1995). Für andere Zytostatika (z. B. Cisplatin) lässt sich auch eine exponentielle Zunahme der zytostatischen Effektivität (synergistische Wirkung) nachweisen. Eine Thermotoleranzinduktion durch Hyperthermie führt zwar zu einer Abschwächung der Thermosensibilisierung in vitro, die Chemoempfindlichkeit der Tumorzellen, gemessen am
567 27.3 · Physikalische Grundlagen und technische Möglichkeiten
Effekt der Zytostatika bei 37°C, bleibt aber erhalten. Dies steht im Einklang mit einer fehlenden P170-Glykoproteininduktion durch Hyperthermie (Ciocca et al. 1992). Auch zeigen Zellen mit hoher MDR-Expression keine verminderte Thermoempfindlichkeit (Uckun et al. 1992). Inwieweit eine primär vorhandene HSPÜberexpression (z. B. HSP70, HSP27) in Tumorgeweben die Thermosensibilisierung und damit die Interaktion mit Zytostatika beeinflusst, ist Gegenstand der Forschung. Von besonderem klinischen Interesse ist die Beobachtung, dass auch primär chemoresistente Zellen eine unverändert hohe Thermosensibilisierung für Zytostatika aufweisen und eine chemisch induzierte Chemoresistenz (z. B. Mitomycin C, Cisplatin, Anthrazykline, BCNU) unter hyperthermen Bedingungen überwunden werden kann (Towle 1994). Zusammenfassend ergibt sich unter Berücksichtigung der experimentellen Daten eine fundierte Basis für die Applikation einer Radiotherapie und/oder Chemotherapie in Kombination mit Hyperthermie. Wesentliche Gründe für die Wirkungsverstärkung der Strahlentherapie sind die durch die Steigerung der Gewebeperfusion hervorgerufene Verbesserung der Gewebeoxygenierung (indirekter Effekt) sowie die Hemmung von DNA-Reparaturmechanismen (direkter Effekt) auf zellulärer Ebene. Steigerungsraten für die Strahlentherapie durch Hyperthermie in vivo liegen zwischen 1,2 und 5,0 (Stewart et al. 1978, Marino et al. 1992). Die Sequenz der Behandlung ist abhängig von der angestrebten Temperatur. Bei milder Temperatur ist eine Hyperthermiebehandlung vor Strahlentherapie möglich, während bei höherer Temperatur die Gefahr der Gefäßschädigung und daraus resultierender Hypoxie besteht. In diesem Fall sollte die Hyperthermiebehandlung ausschließlich nach der Strahlentherapie erfolgen. Reoxygenierungseffekte nach milder Hyperthermie dauern über 24 h an. Daher ist die bevorzugte Applikation der Hyperthermie vor der Bestrahlung, um die Reoxygenierungseffekte voll auszunutzen (Dewhirst et al. 2005). Bei der Chemotherapie spielen eine erhöhte intrazelluläre Wirkstoffaufnahme, eine gesteigerte DNA-Schädigung sowie eine durch die verbesserte Gewebeperfusion erhöhte intratumorale Wirkstoffkonzentration eine Rolle. Die Kombination der Hyperthermie mit Chemotherapie erfolgt simultan während der Zytostatikainfusion, wobei die Zeitdauer 1–2 h beträgt.
27.3
Physikalische Grundlagen und technische Möglichkeiten
Seit Mitte der 80er Jahre werden Hyperthermiesysteme in der Klinik eingesetzt, die ständig verbessert werden. Bei der nichtinvasiven Energieankopplung ist es möglich, die Wärme von außen gezielt auf den Tumor bzw. die tumortragende Region zu applizieren (Hand u. Hind 1986). Hierzu kommen im Wesentlichen zwei pyhsikalische Energieträger zur Anwendung: elektromagnetische Wellen und Ultraschall. Obwohl sich Ultraschall gut fokussieren lässt, gibt es größere Probleme in tieferen Körperregionen, in denen der Ultraschall Knochen und Luft passieren muss. Hierbei treten Phänomene der Absorption und Kavitation im Gewebe auf, die die klinische Anwendung einschränken. Die Erzeugung der Hyperthermie mit elektromagnetischen Wellen findet derzeit eine zunehmende Anwendung in der Klinik für eine lokale oder regionale Hyperthermie von oberflächlichen bzw. tieferliegenden Tumoren. Bei dieser Methodik erfolgt die Überwärmung durch eine Energieabsorption im Feldbereich des
27
Hyperthermieapplikators, während die Blutperfusion im Tumor und Normalgewebe durch Abtransport von Wärme der Hyperthermie entgegenwirkt (Wärmekonvektion). Aufgrund der unterschiedlichen Perfusionsverhältnisse kommt es zu einem heterogenen Temperaturprofil, das für das jeweilige Tumorgewebe mit seiner individuellen Gefäßversorgung charakteristisch ist. Im Gegensatz dazu erfolgt bei den Perfusionsverfahren (z. B. Extremitätenperfusion) die Zuführung der Wärme in das perfundierte Gewebe mittels eines isolierten Kreislaufs, wobei das Blut künstlich über einen Wärmeaustauscher extrakorporal überwärmt wird und mit hoher Flussrate mittels einer Rollerpumpe der isolierten Körperregion zurückgeführt wird. Einem ähnlichen Prinzip folgt die hypertherme Peritoneallavage, bei der eine überwärmte Lösung in das Abdomen gegeben wird. 27.3.1 Lokale Oberflächenhyperthermie
Die lokale Oberflächenhyperthermie (LHT) wird mit Applikatoren durchgeführt, die auf den oberflächlich liegenden Tumor aufgesetzt werden. In der Regel handelt es sich um Antennen im Radiowellen- (100–300 MHz) oder Mikrowellenbereich (>300 MHz). Da die Eindringtiefe elektromagnetischer Wellen in das Gewebe mit steigender Frequenz abnimmt, eignen sich diese Frequenzbereiche nur für oberflächlich liegende Tumorareale. Bei 915 MHz und 434 MHz beträgt die theoretische Eindringtiefe in das Muskelgewebe etwa 1 cm. Diese Eindringtiefe ist definiert als die Tiefe im Gewebe, an der noch 50% der applizierten Leistung vorhanden ist. Die therapeutisch nutzbare Eindringtiefe bei diesen Frequenzen liegt bei etwa 3–4 cm. Auch Ultraschall-Transducer (anstelle von Antennen) werden eingesetzt. Durch mehrere synchron geschaltete Applikatoren bzw. Antennen können die Steuerbarkeit und Eindringtiefe erhöht werden. 27.3.2 Regionale Tiefenhyperthermie
Technisch schwieriger ist die nichtinvasive regionale Hyperthermie (RHT) für tief liegende Tumoren des Beckens und Abdomens sowie für tief liegende Stamm- oder Extremitätentumoren. Aufgrund der erforderlichen Eindringtiefe werden hier Frequenzen gewählt, die unter 100 MHz liegen. Eine kapazitive Ankopplung der Wellen (<30 MHz) an den Körper kann mittels Kondensatorplatten (RF-8 Thermotron, Japan) erreicht werden. Eine bereits 1990 veröffentlichte Phase-II-Studie aus Japan (Kakehi et al. 1990) zeigt, dass mit dem Thermotron-RF-8-Gerät durch kapazitive Energieankopplung bei fortgeschrittenen Magen- (33 Patienten) und Pankreaskarzinomen (22 Patienten) Temperaturen im Bereich von 40,5–43°C im Tumor erreicht werden. Ein wesentlicher Fortschritt konnte in den letzten Jahren durch die Verwendung radiativer Antennen erzielt werden. Der Frequenzbereich der Geräte reicht von 27 MHz bis etwa 120 MHz. Die Energieeinstrahlung erfolgt über phasengesteuerte VielAntennen-Systeme, die um den tumortragenden Querschnitt zirkulär angeordnet werden (sog. »Annular-phased-array«-Systeme). Bei dem BSD-2000 (Sigma-Applikator, USA) umgeben 4 Antennenpaare den Körperquerschnitt, wobei durch die Phasensteuerung der Antennenpaare die Leistungsverteilung innerhalb des Zielgebiets fokussiert werden kann. Der Durchmesser des Fokus ist frequenzabhängig und beträgt bei 60 MHz
568
Kapitel 27 · Hyperthermie
plantation eines arteriovenösen Shunts war mit hohen Komplikationen belastet und ist nur in speziellen Zentren erprobt worden (Parks u. Smith 1983). Bei den derzeit zur Verfügung stehenden Ganzkörperapplikatoren wird der Patient mit Ausnahme des Kopfbereichs in ein Hohlraumsystem gelagert, in dem mittels verschiedener Energieträger (z. B. beheizte Kupferrohre, Infrarot) eine Überwärmung des Körpers herbeigeführt wird (Robins et al. 1997; Hildebrandt et al. 2005).
27
27.3.4 Thermometrie
. Abb. 27.4. MRT-integriertes Hyperthermiesystem (0,2 Tesla, Detektion von Hot Spots während der Teilkörperhyperthermie)
ca. 10–15 cm; bei 100 MHz ca. 5–8 cm. Durch Phasen- und Amplitudenverschiebung wird eine Fokussierung der Welleneinstrahlung auch auf exzentrisch gelegene, d. h. außerhalb der Körperachse liegende Tumoren erreicht (Gellermann et al. 2005a). Die neuere Entwicklung integriert 12 Antennenpaare in longitudinaler Anordnung (Sigma Eye), wodurch eine lokoregionale Tiefenhyperthermie sowie bei entsprechender Ansteuerung des Applikators auch eine Teilkörperhyperthermie (PBH, »part body hyperthermia«) im gesamten Abdomen möglich werden (. Abb. 27.4). Mithilfe eines integrierten MRT (Hybridsystem) lassen sich während der Behandlung Körperareale mit zu hoher Wärmezufuhr (Hot Spots) detektieren. Die RHT ist eine aufwendige Behandlungsform, die spezielle Kenntnisse und Ausbildung der ärztlichen und technischen Mitarbeiter voraussetzt. Neben den Lagerungsproblemen im Wasserbolus, der den Patienten umgibt, können vor allem lokale Missempfindungen durch die Einstrahlung der Radiowellen entstehen. Diese werden durch eine sorgfältige Behandlungsplanung mit Positionsänderungen des Patienten sowie Änderung der Energieeinstrahlparameter meist verhindert. Bei adäquater Vorgehensweise ist die klinische Durchführung der regionalen Hyperthermie eine risikoarme und verträgliche Therapie. Eine Sonderform der Tiefenhyperthermie für spezielle anatomische Lokalisationen (z. B. Gehirn, HNO-Bereich, Urogenitalbereich) wird mit multiplen interstitiellen Applikatoren erreicht, die mit invasiven Verfahren in das Tumorgewebe eingebracht werden müssen. Dies setzt eine präzise Bestimmung der Tumorgrenzen und eine danach ausgerichtete kontrollierte Implantation der Einzelkatheter voraus. Nach Implantation kann sowohl eine interstitielle Radiotherapie mit einer Iridiumquelle als auch eine interstitielle Thermotherapie mit Mikrowellenantennen über den jeweiligen Katheter durchgeführt werden (Emami et al. 1987).
Ein wichtiger Bestandteil der Hyperthermie ist die Messung der Temperaturverteilung im Tumor und umliegenden Normalgewebe, um eine effektive Feldeinstellung überprüfen zu können. Für die derzeit gültige invasive Temperaturmessung werden 1–2 dünne Kunststoffkatheter in den Tumor implantiert, in die Thermistoren für die Temperaturmessung eingeführt werden. Diese Temperaturfühler lassen sich entlang des Katheters automatisch verschieben, und auf diese Weise wird ein Temperaturprofil entlang der Verlaufsstrecke des Katheters erhalten (»thermal mapping«). Die Hohlkatheter (Durchmesser 0,9–1,3 mm) werden nach Möglichkeit entweder unter CT-Kontrolle perkutan oder während einer Inzisionsbiopsie (z. B. bei der Histologiegewinnung) bzw. intraoperativ implantiert und nach außen geleitet. Neben der direkten Thermometrie im Tumorgewebe wird häufig bei soliden Tumormanifestationen, die topografischanatomisch eine Beziehung zu Hohlräumen aufweisen (z. B. Blase, Rektum, Zervix, Ösophagus, Magen) ein endoluminaler Thermistor gelegt. Die Temperaturmessung in dem paratumoralen Hohlraum dient dabei als indirekte Referenzmessung während der Hyperthermiebehandlung. Eine Korrelation solcher Temperaturmessungen mit einem Ansprechen wurde für pelvine Tumoren (Prostata, Zervix, Rektum) gezeigt (Wust et al. 2006). Eine nichtinvasive Erfassung behandlungsinduzierter Veränderungen ist in tief liegenden Geweben mittels Magnetresonanzbildgebung (MRT) zur Kontrolle konsekutiver Hyperthermiebehandlungen möglich und wird künftig für die Temperaturmessung eingesetzt werden können (Carter et al. 1998). Ein MRT-integriertes Hyperthermiesystem bestehend aus einem 1,5Tesla-MRT und einem Sigma-Eye-Applikator (sog. Hybridsystem) ist in . Abb. 27.5 wiedergegeben. Mit diesem Hybridsystem werden eine simultane Tiefenhyperthermie und MRT-Thermografie im klinischen Bereich ermöglicht (Gellermann et al. 2005b, 2006).
27.3.3 Ganzkörperhyperthermie
Seit einigen Jahren wurden Systeme entwickelt, die eine relativ komplikationsarme Ganzkörperhyperthermie bei systemischen Temperaturen von 39–40°C ermöglichen und diesen potenziell effektiven Temperaturbereich im gesamten Zielgebiet gewährleisten. Das frühere Verfahren der Ganzkörperhyperthermie mittels extrakorporaler Ganzkörperperfusion nach chirurgischer Im-
. Abb. 27.5. MRT-integriertes Hyperthermiesystem (1,5 Tesla, Temperaturmessung im Hybridsystem)
27
569 27.4 · Klinische Studien und Ergebnisse
27.4
Klinische Studien und Ergebnisse
27.4.1 Hyperthermie in Kombination mit Radiotherapie
Aufgrund früher Ergebnisse aus der radiobiologischen Forschung, die eine Wirkungsverstärkung der Strahlentherapie durch Hyperthermie belegen (Hemmung von DNA-Reparatursystemen, Reoxygenierung, s. oben), wurden bereits seit Mitte der 80er Jahre zahlreiche klinischen Studien mit der Kombination von Hyperthermie und Strahlentherapie durchgeführt. Inzwischen liegen Ergebnisse von 14 Phase-III-Studien mit über 1.500 Patienten vor, von denen elf eine signifikante Verbesserung der lokalen Tumorkontrolle zeigen, während drei keinen signifikanten Vorteil für die Kombinationstherapie fanden (s. unten). In zwei Studien wurde sogar ein signifikanter Überlebensvorteil gezeigt. So war das 3-Jahres-Überleben bei Patientinnen mit Zervixkarzinom im Stadium IIb–IVa nach Thermoradiotherapie gegenüber der alleinigen Radiotherapie von 27 auf 51% verbessert (van der Zee 2000). Für das lokal fortgeschrittene Rektumkarzinom zeigte sich bei kleiner Fallzahl der Studie für die Kombinationsbehandlung eine Verbesserung des 5-Jahres-Überlebens von 6,6 auf 35,6% (Berdov u. Menteshashvili 1990). Oberflächenhyperthermie und Radiotherapie – Phase-III-Studien Für die Oberflächenhyperthermie sind insbesondere oberflächliche HNO-Tumoren, Melanome und lokale Mammakarzinomrezidive geeignet. Im Folgenden werden die wichtigsten Studienergebnisse aus randomisierten Phase-III-Studien mit Oberflächenhyperthermie und Strahlentherapie zusammengefasst (. Tab. 27.1). Die erste, 1981 initiierte randomisierte Multizenterstudie (RTOG 8104) aus den USA mit großer Fallzahl (n=218 Patienten) ergab für die Radiotherapie oberflächlicher Tumoren in Kombination mit Hyperthermie keinen signifikanten Unterschied in Bezug auf Tumoransprechen (CR 32 vs. 28%). Eine Analyse zeigte, dass gerade größere Tumoren (>3 cm) mit unzulänglichen Hyperthermietechniken sowie unzureichender Temperaturkontrolle behandelt worden waren (Perez et al. 1989, 1991). Im Gegensatz dazu konnte in einer randomisierten Studie (Datta et al.
1990) mit 65 Patienten bei lokal fortgeschrittenen HNO-Tumoren gezeigt werden, dass die kombinierte Thermoradiotherapie neben einer verbesserten kompletten Ansprechrate (CR 55 vs. 32%) auch zu einer Verlängerung des krankheitsfreien Überlebens nach 18 Monaten führt (DFS 33 vs. 19%). Eine randomisierte Studie (Valdagni et al. 1988) an N2/N3-positiven HNO-Plattenepithelkarzinomen (n=41 Patienten) ergab einen signifikant höheren Anteil an Tumoren mit kompletter Remission für die Kombinationstherapie (CR 83%) gegenüber der alleinigen Strahlentherapie (CR 41%). In der folgenden Nachbeobachtung (Valdagni u. Amichetti 1993) ergibt sich für die Thermoradiotherapie eine signifikant bessere lokale Tumorkontrolle (68 vs. 24%), die auch einen signifikanten Vorteil im 5-Jahres-Überleben zur Folge hat (p=0,02). Ebenso lag die Inzidenz der Fernmetastasen bei diesen lokal fortgeschrittenen Tumoren im Studienarm niedriger (12,5%) als im Kontrollarm (24%). Die European Society for Hyperthermic Oncology (ESHO) konnte zwei randomisierte, multizentrische Studien für lokal fortgeschrittene Tumoren mit exakten Richtlinien für die Qualitätskontrolle der angewandten Hyperthermietechnik und Temperaturmessung abschließen. Die Ergebnisse der randomisierten Melanomstudie (ESHO Protocol 3–85) zeigen für die Kombination von Strahlentherapie mit lokaler Hyperthermie gegenüber der alleinigen Strahlentherapie einen statistisch signifikanten Vorteil in Bezug auf die Rate kompletter Tumorremission (62 vs. 35%) und die Dauer des rezidivfreien Überlebens (46 vs. 28%; Overgaard et al. 1995). In einer internationalen Kooperation der ESHO mit dem UK Medical Research Council (MRC, England) und dem Princess Margaret Hospital (Ontario, Canada) wurden die Ergebnisse der Thermoradiotherapie vs. alleiniger Strahlentherapie von 306 randomisierten Patientinnen mit lokal fortgeschrittenen Mammakarzinomen (n=30) oder Rezidiven (n=276) gemeinsam veröffentlicht (Vernon et al. 1996). Die höhere Rate an Komplettremissionen (59 vs. 41%) für die Patientinnen nach Thermoradiotherapie führte auch zu einer statistisch verlängerten Dauer des rezidivfreien Überlebens (p=0,007). Aufgrund der hohen Inzidenz von Fernmetastasen (227 von 306 Patientinnen oder 74%) außerhalb des lokoregionalen Tumors führte aber die
. Tab. 27.1. Oberflächenhyperthermie in Kombination mit Radiotherapie: Phase-III-Studien Autor (Jahr)
Tumorart
Patienten
RT
RT + HAT
Ergebnis Signifikanz (p<0,05)
Perez et al. (1989, 1991)
HNO-Tumoren
218
28% CR
32% CR
-
Datta et al. (1990)
HNO-Tumoren
65
32% CR 19% DFS
55% CR 33% DFS
+ +
Valdagni et al. (1988, 1993)
HNO-Tumoren mit N2/N3
41
41% CR 24% LRFS 0% OS
83% CR 68% LRFS 53% OS
+ + +
Overgaard et al. (1995), ESHO-3
Melanom
71
35% CR 28% LRFS
62% CR 46% LRFS
+ +
Vernon et al. (1996), MRC/ESHO-5
Mammakarzinom
306
41% CR
59% CR
+
Jones et al. (2005)
Mammakarzinom
109
42% CR
66% CR
+
RT Radiotherapie; HT Hyperthermie; CR komplette Remission; DFS krankheitsfreies Überleben; LRFS lokalrezidivfreies Überleben; OS Gesamtüberleben
570
27
Kapitel 27 · Hyperthermie
verbesserte Tumor-/Rezidivkontrolle zu keinem Vorteil im Gesamtüberleben nach 2 Jahren Beobachtung. An der Duke University (Durham, USA) wurde eine prospektiv randomisierte Studie unter Berücksichtigung der applizierten kumulativen thermalen Dosis an 109 Patienten mit oberflächlichen Tumoren (vor allem Mammakarzinom) durchgeführt (Jones et al. 2005). Unter der Annahme, dass die minimale effektive thermale Dosis 10 CEM 43°C T901 beträgt (Ergebnis früherer Studien), wurde ein Studiendesign gewählt, das es erlaubt, den Parameter 10 CEM 43°C T90 als Prädiktor für das Ansprechen auf die Kombination aus Hyperthermie und Radiotherapie zu testen. Alle Patienten erhielten initial eine Testdosis Hyperthermie und nur Patienten, deren Tumoren innerhalb von 1 h eine thermale Dosis von mindestens 0,5 CEM 43°C T90 erreichten, wurden in die Studie eingeschlossen (89% aller Patienten). Bei maximal 10 Behandlungen mit einer maximalen Behandlungsdauer von 2 h lag somit die applizierte thermale Dosis zwischen 10 und 100 CEM 43°C T90. Für Patienten mit Thermoradiotherapie lag die Rate kompletter Remissionen signifikant über der für Patienten mit alleiniger Radiotherapie (66,1 vs. 42,3%). Noch deutlicher ist der Vorteil für bereits vorbestrahlte Patienten (68,2 vs. 23,5%, 1
10 CEM 43°C T90: Kumulative Äquivalenzdosis entsprechend 10 Minuten einer Temperatur von 43°C, die in 90% aller Messpunkte im Tumor nicht unterschritten wird. CEM 43°C = tR(43-T), t = Behandlungszeit, R = Konstante (für T> 43°C: r = 0,5; für T< 43°C: r = 0,25), T = Durchschnittstemperatur.
p=0,02). Ein Unterschied im Gesamtüberleben konnte nicht gezeigt werden. Regionale Tiefenhyperthermie und Radiotherapie Mithilfe spezieller Systeme lassen sich oberflächenferne Tumoren, wie die der Zervix, des Rektums, der Prostata, der Blase sowie auch Weichteilsarkome hyperthermieren. Eine randomisierte Studie mit 362 Patienten aus der Rotterdamer Arbeitsgruppe liegt mit dem BSD-2000-System vor (van der Zee 1997). Für lokal fortgeschrittene Rektumkarzinome (143 Patienten), Blasenkarzinome (104 Patienten) und Zervixkarzinome (115 Patientinnen) fand sich im Studienarm mit regionaler Hyperthermie (RHT) jeweils eine höhere Rate an kompletten Remissionen, die für die beiden zuletzt genannten Tumorentitäten statistisch signifikant waren. Die Nachbeobachtung nach 3 und 12 Jahren zeigt, dass die Verbesserung der lokalen Tumorkontrolle durch Thermoradiotherapie beim Zervixkarzinom zu einem signifikanten Überlebensvorteil führt. Für Patienten mit Rektumkarzinom oder mit Blasenkarzinom, die initial eine deutlich bessere lokale Tumorkontrolle nach RHT aufwiesen, zeigen die Gesamtüberlebenskurven dagegen keinen Unterschied (van der Zee et al. 2000; Franckena et al. 2008). Drei weitere randomisierte Studien mit kleineren Fallzahlen mit Patientinnen mit Zervixkarzinom im Stadium FIGO IIIB zeigen ebenfalls einen statistisch signifikanten Vorteil in Bezug auf das Tumoransprechen und die lokale Tumorkontrolle für die Radiothermotherapie gegenüber der alleinigen Radiotherapie (. Tab. 27.2, Datta et al.
. Tab. 27.2. Regionale Tiefenhyperthermie in Kombination mit Radiotherapie: Phase-III-Studien Autor (Jahr)
Tumorart
Patienten
RT
RT + HT
Ergebnis Signifikanz (p<0,05)
Datta et al. (1987)
Zervixkarzinom FIGO IIIB
52
58% CR 46% LRFS
74% CR 67% LRFS
+ +
Berdov u. Meteshashvili (1990)
Rektumkarzinom
51
2% CR 7% OS
16% CR 36% OS
+ +
Sharma et al. (1991)
Zervixkarzinom FIGO IIIB
50
50% LRFS
70% LRFS
+
Emami et al. (1996)
HNO-Tumoren, Beckentumoren
173
53% CR
55% CR
–
Sneed et al. (1998)
Glioblastom (postoperativ)
79
15% LRFS
31% LRFS
+
van der Zee et al. (2000); Franckena et al. (2008)
Rektumkarzinom
143
16% CR 22% OS
21% CR 13% OS
– –
Blasenkarzinom
104
51% CR 22% OS
74% CR 30% OS
+ –
Zervixkarzinom
114
57% CR 27% 3-Jahre OS 37% 12-Jahre LCR 20% 12-Jahre OS
83% CR 51% 3-Jahre OS 56% 12-Jahre LCR 37% 12-Jahre OS
+ + + +
Harima et al. (2001)
Zervixkarzinom FIGO IIIB
40
50% CR 48% OS 45% DFS 49% LRFS
80% CR 58% OS 64% DFS 80% LRFS
+ – – +
Vasanthan et al. (2005)
Zervixkarzinom
110
69% LRFS 73% OS
69% LRFS 73% OS
– –
RT Radiotherapie; HT Hyperthermie; CR komplette Remission; DFS krankheitsfreies Überleben; LRFS lokalrezidivfreies Überleben; OS Gesamtüberleben; TTLF Zeit bis zum Lokalrezidiv; LCR lokale Tumorkontrollrate
571 27.4 · Klinische Studien und Ergebnisse
1987; Sharma et al. 1991; Harima et al. 2001). Im Gegensatz zu den genannten Studienergebnissen für das Zervixkarzinom steht eine multizentrische randomisierte Studie aus Indien, Südkorea, der Ukraine und China mit 110 Patienten ab Stadium FIGO IIB. Unter Verwendung eines ThermotronRF-8 für die Kombinationstherapie zeigte sich kein signifikanter Unterschied hinsichtlich Gesamtüberleben oder lokaler Tumorkontrolle gegenüber der alleinigen Strahlentherapie. Für Patientinnen im Stadium FIGO IIB war das Gesamtüberleben sogar geringer im Kombinationsarm (Vasanthan et al. 2005). Die Studie weist jedoch erhebliche Mängel auf, sodass die Interpretation der Daten aus Sicht der ESHO in dieser Weise nicht vorgenommen werden darf. So wurden im Kombinationsarm Patientinnen mit einem deutlich größeren mittleren Tumorvolumen behandelt als im Standardarm (60,3 cm3 vs. 49,5 cm3). Weiterhin zeigen sich Fehler bei der technischen Durchführung der Hyperthermieapplikation, die eine ungenügende Erwärmung des Tumorgewebes vermuten lassen (van der Zee et al. 2005). Beim lokal fortgeschrittenen Rektumkarzinom zeigte sich bei 51 Patienten, die präoperativ eine Thermoradiotherapie oder eine alleinige Radiotherapie erhielten, ein signifikanter Vorteil in Bezug auf das Tumoransprechen und das Gesamtüberleben für die Kombinationsbehandlung (Berdov u. Meteshashvili 1990). In zwei randomisierten US-amerikanischen Studien wurde der Stellenwert der interstitiellen Thermotherapie mit Mikrowellenantennen in Kombination mit interstitieller Radiotherapie in Afterloading-Technik untersucht. In der 1996 von Emami publizierten Studie fand sich bei 173 Patienten mit HNO-Tumoren und einigen tief liegenden Beckentumoren in Bezug auf die Zahl der kompletten Remission kein Unterschied (Emami et al. 1996). In einer Studie an Glioblastomen erhielten die Patienten postoperativ eine konventionelle Schädelbestrahlung und wurden anschließend nach stereotaktischer Implantation von Afterloading-Kathetern randomisiert, wobei 39 Patienten eine alleinige Boost-Bestrahlung und 40 Patienten die Kombination dieser Bestrahlung mit interstitieller Hyperthermie erhielten. Im Ergebnis konnte das rezidivfreie Intervall sowie das Gesamtüberleben der Patienten, die adjuvant die Kombinationstherapie erhielten, signifikant verbessert werden (Sneed et al. 1998). Zusammenfassend können aus den Ergebnissen der PhaseIII-Studien zur Kombination von Radiotherapie und Hyperthermie folgende Schlüsse gezogen werden: Bei oberflächlich gelegenen, lokal fortgeschrittenen Halslymphknotenmetastasen von HNO-Tumoren, regionalen Hautrezidiven/Metastasen des malignen Melanoms, inoperablen primären Mammakarzinomen bzw. Lokalrezidiven im Brustwandbereich sowie bei tief liegenden, lokal fortgeschrittenen Blasentumoren, Zervixkarzinomen und bei Glioblastomen in adjuvanter Situation wurde eine signifikante Verbesserung der therapiebedingten Ansprechrate, gemessen an der Anzahl kompletter Remissionen, und eine Verlängerung des rezidivfreien Überlebens durch die zusätzlich applizierte Hyperthermie in der überwiegenden Anzahl beobachtet. Eine Verlängerung des Gesamtüberlebens bei verbesserter lokaler Tumorkontrolle wird durch die Ergebnisse der Studien nur zum Teil belegt. Dies ist trotz der lokoregionalen Therapieintensivierung durch die systemische Ausbreitung der Erkrankung erklärbar. Besonders hervorzuheben ist, dass in keiner Studie von den Autoren eine signifikante Verstärkung der Akut- bzw. Spättoxizität der Strahlentherapie zu beobachten war. Häufig wird neben der objektiven Tumoransprechrate nach Thermoradio-
27
therapie ein objektivierbarer Palliationseffekt in Bezug auf die lokale Symptomatik (z. B. Schmerzlinderung, funktionelle Besserung) beschrieben, der die Lebensqualität der Patienten positiv beeinflusst. 27.4.2 Hyperthermie in Kombination
mit Chemotherapie Erst mit Beginn der 90er Jahre wurden Phase-I/II-Studien zur systemischen oder regionalen Chemotherapie in Kombination mit lokaler bzw. regionaler Hyperthermie durchgeführt, wobei durch die technische Fortentwicklung im Bereich der regionalen Tiefenhyperthermie (RF-8-Thermotron, Japan; BSD 2000, USA) auch zunehmend Patienten mit Tumoren im Bereich des Abdomens und Beckens sowie tief liegenden Stamm- oder Extremitätentumoren in diese Studien rekrutiert wurden. In . Tab. 27.3 sind schwerpunktmäßig klinische Ergebnisse an soliden Tumoren aufgeführt, die im Rahmen eines multimodalen Konzeptes in kontrollierten Phase-III-Studien gewonnen wurden. Zusätzlich wurden ausgewählte Phase-II-Studien aufgenommen, die entweder in Phase-III-Studien weiter evaluiert werden oder eine unmittelbare therapeutische Implikation besitzen (pädiatrische Onkologie). Im Bereich der pädiatrischen Onkologie wurde an einigen Zentren das Konzept der Thermochemotherapie für therapierefraktäre Knochen- und Weichteiltumoren (Weichteilsarkome, Ewing-Sarkome, Chondrosarkome) sowie für therapierefraktäre Keimzelltumoren zur Verbesserung der lokalen Tumorkontrolle aufgenommen, nachdem erstmals erfolgreich die RHT bei Kindern am Hyperthermiezentrum in München durchgeführt werden konnte (Romanowski et al. 1993). Die Behandlungsergebnisse einer Pilotstudie bei Kindern und Jugendlichen (n=10) im Alter zwischen 1–23 Jahren mit lokoregionalen Rückfällen von abdominellen Keimzelltumoren zeigte, dass durch den kombinierten Einsatz von konventionellen Therapiemaßnahmen (Chemotherapie + Bestrahlung) mit RHT die lokale Tumorkontrolle und das rezidivfreie Überleben gegenüber einer Vergleichsgruppe mit 23 Patienten (»match cohort analysis«) signifikant verbessert wurde (Wessalowski et al. 1998). In einer weiteren Phase-IIStudie an 39 Kindern mit nicht-testikulären Keimzelltumoren (n=24) und Weichteilsarkomen oder Chondrosarkomen (n=15) wurde das Konzept der Thermochemotherapie weiter überprüft. Es lag entweder ein lokales Rezidiv (n=29) oder ein nach neoadjuvanter Chemotherapie irresektabler Tumor vor (n=10). Nach Thermochemotherapie (PEI-Schema, Cisplatin + Etoposid + Ifosfamid) konnte bei 20 Patienten eine komplette Remission und bei 10 Patienten eine partielle Remission erreicht werden (Wesssalowski et al. 2003). Bei 14 von 28 operierten Tumoren wurde die Operation signifikant vereinfacht. Im Bereich gynäkologischer Tumoren wurde von der Amsterdamer Gruppe bei Rezidiven von Zervixkarzinomen eine Phase-II-Studie abgeschlossen. Die wöchentliche Cisplatintherapie (CDDP 50 mg/m2) in Kombination mit RHT über 8 Wochen zeigte bei 52% (12 von 23 Patientinnen) ein objektives Tumoransprechen, das im Beobachtungszeitraum für 4–35 Monate anhielt (Rietbroek et al. 1997). Die Ergebnisse bei Sarkomen im Erwachsenenalter lassen sich in folgender Weise zusammenfassen: In einer Phase-II-Studie (RHT-86) bei 38 auswertbaren Patienten mit lokal fortgeschrittenen Weichteil- und Knochensarkomen, die sich gegenü-
572
Kapitel 27 · Hyperthermie
. Tab. 27.3. Hyperthermie in Kombination mit Chemotherapie – Phase-III-Studien und ausgewählte Phase-II-Studien
27
Autor (Jahr)
Tumorart
Patienten
Therapie
Ergebnis
Signifikanz (p<0,05)
Romanowski et al. (1993)
Pädriatrische Sarkome
34
VP 16 + IFO + Carbo
7CR (»best response«) Dauer: 7–64 Monate
Phase II
Sugimachi et al. (1994)
Ösphaguskarzinom präoperativ
40
Bleo + CDDP ±HT
1CR + 5PR + 4MR (50%) mit RHT (n=20)
+
Rietbroek et al. (1997)
Zervixkarzinom (Rezidive)
23
CDDP (wöchentlich)
2pCR/1CR + 9PR (52%)
Phase II
Wessalowski et al. (2003)
Pädriatrische Keimzelltumoren und Sarkome
39
CDDP + VP 16 + IFO (=PEI)
20CR + 10PR (77%)
Phase II
Verwaal et al. (2003)
Kolonkarzinom mit Peritoneal-karzinose
105
OS
+
Colombo et al. (2003)
Issels et al. (2007); Lindner et al. (2007)
Blasenkarzinom (Ta-T1)
Hochrisikoweichteilsarkome
Zytoreduktion + HIPEC
22,3 Monate
Palliative Chirurgie + Ctx
12,6 Monate
83
LRFS MMC + HAT
57,5%
MMC
17,1%
341
CR+PR EIA±HT 28,7% EIA 12,6%
+
DFS
LPFS
Early PD
31,7 Monate 16,2 Monate
45,3 Monate 23,7 Monate
5,4% 14%
+
RT Radiotherapie; HT Hyperthermie; CR komplette Remission; DFS krankheitsfreies Überleben; OS Gesamtüberleben; PR partielle Remission; LPFS lokal-progressionsfreies Überleben; Early PD Frühprogression innerhalb von 3 Monaten nach Therapiestart
ber einer vorausgegangenen Operation, Bestrahlung und/oder Chemotherapie refraktär verhielten, konnte mit RHT und simultaner Chemotherapie (Ifosfamid-Etoposid-Kombination) eine lokale Ansprechrate von 37% erzielt werden. In Bezug auf die erreichten Temperaturparameter im Tumor zeigten die Responder und Non-Responder einen signifikanten (p<0,001) Unterschied (Issels et al. 1990). Diese Interimsanalyse der RHT-86Studie konnte später an insgesamt 65 Patienten bestätigt werden, wobei bei Responder-Patienten auch eine langfristige Tumorkontrolle erzielt wurde (Issels et al. 1991). In der Folgestudie (RHT-91) wurden 59 Patienten mit Hochrisikoweichteilsarkomen im Erwachsenenalter (Tumorgröße ≥8 cm oder Rezidive, Grad II/III) einheitlich mit EIA (Etoposid, Ifosfamid, Adriamycin) plus RHT präoperativ behandelt. Die Pilotphase ergab, dass 4 EIA-Zyklen in Kombination mit RHT über 12 Wochen ohne schwere Toxizität und Steigerung der chemotherapiebedingten Nebenwirkungen bei ausreichender Dosisintensität präoperativ appliziert werden können (Issels et al. 1993). Nach Resektion wurde die Therapiekombination (EI + RHT) adjuvant fortgesetzt und durch eine – falls möglich – Strahlentherapie komplettiert.
Die Gesamtrate an radiografischen und pathologischen Remissionen lag bei 42%. Nach einer medianen Nachbeobachtungszeit (80 Monate) beträgt die 5-Jahres-Wahrscheinlichkeit des Gesamtüberlebens 49% (Issels et al. 1999). In einer anschließenden Studie (RHT-95) mit 54 Patienten wurde der Nachweis erbracht, dass auf die postoperative Hyperthermie nicht verzichtet werden kann (Wendtner et al. 2001). Zusätzlich konnte für Patienten mit retroperitonealem Weichteilsarkom erstmals gezeigt werden, dass ein Ansprechen auf die multimodale Therapie prädiktiv für das Überleben ist (Wendtner et al. 2002). Um den endgültigen Stellenwert der Hyperthermie im Gesamtkonzept von Weichteilsarkomen mit Hochrisiko weiter zu definieren, wurde 1997 eine prospektiv randomisierte Phase-III-Studie (EORTC 62961/ ESHO RHT-95) begonnen, in der identische Therapiekonzepte mit und ohne RHT verglichen werden (Präoperativ 4 Zyklen EIA ± RHT, gefolgt von Strahlentherapie, gefolgt von postoperativ 4 Zyklen EIA ± RHT). Diese Studie konnte inzwischen mit 341 Patienten abgeschlossen werden. Nach einer medianen Nachbeobachtungszeit von 24,9 Monaten zeigt sich ein signifikanter Vorteil sowohl im Tumoransprechen (CR+PR 28,7% vs.
27
573 27.4 · Klinische Studien und Ergebnisse
12,6%, p = 0,002), im krankheitsfreien Überleben (DFS 31,7 vs. 16,2 Monate, p = 0,003) als auch im lokal-progressionsfreien Überleben (LPFS 45,3 vs. 23,7 Monate) für Patienten, die zusätzlich zur Chemotherapie mit Hyperthermie behandelt wurden. Für Patienten mit Extremitätentumoren betrug das lokal-progressionsfreie Überleben nach 2 Jahren 84% vs. 64% (p < 0,02) und für Patienten mit stammnahen Tumoren 57% vs. 39% (p < 0,02) zugunsten der Kombinationstherapie (Issels et al. 2007). Das Risiko für eine lokale Tumorprogression noch während der 3-monatigen präoperativen Therapie war ebenfalls durch die Hinzunahme der Hyperthermie signifikant vermindert (5,4% vs. 14%, p = 0,008) (Lindner et al. 2007). Eine kontrollierte Phase-II/III-Studie (40 Patienten) wurde von der japanischen Arbeitsgruppe um Sugimachi bei Patienten mit Ösophaguskarzinomen durchgeführt, in der die präoperative Chemotherapie (Bleomycin + CDDP) mit einer lokoregionalen Hyperthermie mittels einer endoskopisch platzierten Thermosonde kombiniert wurde. Objektive Tumorregression, histopathologisches Ansprechen und palliative Effekte waren signifikant besser im Vergleich zur Gruppe von Patienten nach alleiniger Chemotherapie (Sugimachi 1994). Aktuelle Daten zur Behandlung der Peritonealkarzinose mithilfe von hyperthermer intraperitonealer Chemotherapie liegen von einer niederländischen Arbeitsgruppe vor (Verwaal et al. 2003). Hierbei wurden 105 Patienten mit histologisch gesicherter Peritonealkarzinose bei kolorektalem Karzinom randomisiert einem Therapiearm mit maximaler zytoreduktiver chirurgischer Therapie (d. h. makroskopisch tumorfrei oder residualer Tumor <2,5 mm Dicke) unter Entfernung des Peritoneums (nach Sugarbaker 1996) gefolgt von hyperthermer intraperitonealer Chemotherapie (HIPEC) mit Mitomycin C bei 40°C 90 Minuten (54 Patienten) oder einem Kontrollarm (51 Patienten) zugeführt. Hierbei wurde eine chirurgische Intervention nur vorgenommen, falls eine Symptomatik vorlag (Ileus, Subileus). Die Chemotherapie im Kontrollarm bestand zum Zeitpunkt der Studie entweder aus 5-FU/Folinsäure oder bei entsprechender Vorbehandlung aus Irinotecan. Nach einer medianen Verlaufsbeobachtung von 21,6 Monaten unterschied sich der experimentelle Studienarm mit einem medianen Überleben von 22,3 Monaten signifikant vom Standardarm mit 12,6 Monaten medianes Überleben (p=0,032). Allerdings betrug die behandlungsassoziierte Mortalität im experimentellen Arm 8%. Prognostisch ungünstig ist der Befall von mehr als sechs abdominellen Regionen. Ergebnisse für die kombinierte Behandlung oberflächlicher Blasentumoren mit einer intravesikal instillierten Chemothera-
pie (Mitomycin C) und lokaler Hyperthermie, die über ein spezielles Mikrowellenverfahren (Synergo101-1, Medical Enterprises, Amsterdam, Niederlande) verabreicht wird, wurden von der italienischen Arbeitsgruppe um Colombo erzielt (Colombo 2003). Hierbei wurden prospektiv randomisiert Patienten mit primären oder rekurrierenden Blasentumoren im Stadium Ta und T1 entweder mit Mitomycin C in Kombination mit Hyperthermie (n=41) oder mit Mitomycin C alleine behandelt (n=43). Es zeigte sich eine signifikante Senkung der Rezidivhäufigkeit von 57,5 auf 17,1% (p=0,0002; Log-Rank-Test). 27.4.3 Hyperthermie in Kombination
mit Radiochemotherapie Eine Erweiterung des multimodalen Therapiekonzepts stellt die Kombination der Hyperthermie mit Radiochemotherapie bei soliden Tumoren dar. In mehreren Phase-I/II-Studien wurde ein derartiger trimodaler Therapieansatz für Ösophaguskarzinome, HNO-Tumoren, Zervixkarzinome, Rektumkarzinome und Lokalrezidive des Mammakarzinoms untersucht. Die Ergebnisse der Radiochemotherapie kombiniert mit Hyperthermie erscheinen bei den genannten Tumorentitäten erfolgsversprechend und werden in prospektiven Studien überprüft. Ergebnisse prospektiv randomisierter Phase-III-Studien liegen bereits teilweise vor (. Tab. 27.4). Bei Ösophaguskarzinomen wurde mit der zusätzlichen Strahlensensibilisierung durch Bleomycin im Vergleich zur Kontrollgruppe ohne Hyperthermie eine höhere Anzahl an histopathologisch kompletten Remissionen erreicht (Sugimachi et al. 1992). Aufbauend auf den Phase-II-Ergebnissen der Berliner Arbeitsgruppe mit regionaler Tiefenhyperthermie und Strahlentherapie bei kolorektalen Rezidivtumoren (Rau et al. 1998) wird eine randomisierte multizentrische Studie zur Wirksamkeit einer präoperativen Radiochemotherapie + RHT vs. alleiniger Radiochemotherapie bei primären, lokal fortgeschrittenen Rektumkarzinomen (T3/T4) sowie Rezidiven durchgeführt. Dabei wird eine systemische Chemotherapie (5-Fluorouracil + Leucovorin) mit einer Strahlentherapie über 5 Wochen mit oder ohne RHT vor der chirurgischen Resektion appliziert und in Abhängigkeit von dem Resektionsergebnis eine systemische Chemotherapie mit lokaler Aufsättigung der Strahlendosis fortgeführt. Eine aktuelle Auswertung zeigte, dass die Hyperthermiebehandlung keine negative Auswirkung auf die Lebensqualität der Patienten hat (Schulze et al. 2006). Weitere Ergebnisse der Studie liegen nicht vor.
. Tab. 27.4. Hyperthermie in Kombination mit Radiochemotherapie Autor
Studie
Tumorart
Patienten
RHT
Radiochemotherapie
Ergebnis
Sugimachi et al. (1992)
Phase II/III
Ösophaguskarzinom (präoperativ)
53
Endoradiotherm 13–56 MHz
32 Gy (HD) + Bleo (3 Wochen)
7pCR (27%) mit RHT (n=27) 2pCR (8%) ohne RHT (n=20)
Rau et al. (1998)
Phase III
Rektumkarzinom (postoperativ)
123
BSD 2000 90 MHz
45 Gy (HD) + 5-FU/Lv (4 Wochen) ± RHT (randomisiert)
(offen)
RHT Hyperthermie; HD Herddosis; Bleo Bleomycin; p pathohistologisch; CR komplette Remission; CDDP Cisplatin; PR partielle Remission; 5-FU Fluorouracil; Lv Leucovorin
574
Kapitel 27 · Hyperthermie
27.4.4 Ganzkörperhyperthermie in Kombination mit
27.5
Zukünftige Entwicklungen
systemischer Chemotherapie
27
Zur Frage des Stellenwertes der Ganzkörperhyperthermie in Kombination mit systemischer Chemotherapie bei Patienten mit metastasierter Erkrankung liegen ausschließlich Phase-I/IIStudien vor. Die Erwärmung des gesamten Körpers auf Temperaturen von 39–40°C ist für Patienten mit disseminierten Tumorerkrankungen konzipiert und wird zusammen mit systemischer Chemotherapie durchgeführt (»moderate Ganzkörperhyperthermie«). Während der Ganzkörperhyperthermie ist der Patient entweder nur analgosediert oder bei höherer Temperatur (41°C) in Intubationsnarkose und bedarf der intensiven Überwachung (Hegewisch-Becker et al. 2002; Bull et al. 1992). Insgesamt gibt es für Ganzkörperhyperthermie in Kombination mit zytostatischer Chemotherapie noch keine gesicherte Indikation, weshalb sie nur in kontrollierten klinischen Studien vertretbar ist (Übersicht: Hildebrandt et al. 2005).
Neben der kontinuierlichen Weiterentwicklung der Applikatoren für die Hyperthermie, die eine Optimierung der individuellen Patienteneinstellungen bedeutet, ist durch die Hybridsysteme (Hyperthermiegerät mit MRT) eine nichtinvasive Temperaturüberwachung zu erwarten. Das Konzept der Thermochemotherapie wird sich dadurch auch auf andere Tumorentitäten im Abdomen (z. B. Pankreas-, kolorektale Karzinome und Magenkarzinome) in Phase II/III-Studien ausdehnen lassen. Mithilfe der Magnetfeldhyperthermie wird das Spektrum der interstitiellen Hyperthermie erweitert. Interventionell radiologisch eingebrachte ferromagnetische Nanopartikel werden mithilfe eines Wechselfeldes (z. B. 100 kHz) erwärmt. Dieses Verfahren wurde bei Patienten mit Glioblastomen und Prostatakarzinomen in Phase-I-Studien erprobt (Maier-Hauff et al. 2006; Johannsen et al. 2005) und wird in aktuell laufenden Phase-IIStudien weiter evaluiert. Thermolabile Liposomen öffnen sich bei Überschreiten einer kritischen Temperatur und können somit als Trägersysteme für »drug targeting« eingesetzt werden. Heat-Shock-Proteine (HSP) aktivieren Antigen präsentierende Zellen (APC) und immunkompetente Effektorzellen (T-, TK-Zellen). Diese Effekte werden im Rahmen von klinisch-immunologischen Studien weiter verfolgt (Vakzinierung, adoptive Zelltherapie).
Zusammenfassung Der klinisch innovative Therapieansatz Hyperthermie gründet sich auf Erkenntnisse der Grundlagenforschung. Der biologische Effekt der Temperaturerhöhung auf Tumorzellen folgt einem Dosis-Wirkungs-Prinzip und ist gemessen am klonogenen Wachstum in mathematischer Systembeschreibung auch quantifizierbar. Für die sowohl in vitro als auch in vivo nachweisbare Thermosensibilisierung von Tumorzellen mit Folge einer Effektivitätssteigerung der strahlenbiologischen Einwirkung oder synergistischen Interaktion mit definierten Zytostatika sind neben der Temperaturdosis insbesondere die Sequenz und das Zeitintervall von Bedeutung. Die molekularen Mechanismen reichen von der thermischen Hemmung der DNA-Reparatur nach Strahlentherapie bis zur temperaturabhängigen Steigerung der DNA-Alkylierungsrate von Zytostatika. Auf physiologischer Ebene führt die thermisch gesteigerte Perfusion in gefäßreichen Arealen des Tumorgewebes auch bei relativ niedrigen Temperaturen zu Milieuänderungen, die positiv inotrop die Thermosensibilisierung auf molekularer Ebene beeinflussen. Die Assoziierung hoher Temperatur in Tumorabschnitten mit geringer Gefäßdichte und verminderter Nährstoffversorgung bietet eine Erklärung für den
komplementären Effekt, da diese hypoxischen Abschnitte mit Strahlen- und Chemoresistenz zytotoxische Temperaturen (>42,5°C) erreichen. Die Induktion von Hitzeschockproteinen (HSP) unter klinisch relevanten Hyperthermiebedingungen bedeutet ein »danger signal« im Sinne einer proinflammatorischen Zytokinwirkung. HSP-Peptidkomplexe (HSP-PC) enthalten spezifisch gebundene Tumorantigene und verstärken die zellvermittelte Immunität in vitro. Technische Neuentwicklungen erlauben durch effiziente Systemsteuerung die selektive Überwärmung (40–44°C) auch tief liegender Tumoren oder definierter Teilkörperbereiche sowie eine Ganzkörperhyperthermie unter klinischen Bedingungen. Klinische Ergebnisse aus Phase-II/III-Studien zeigen für die Kombination mit Radiotherapie und/oder Chemotherapie zum Teil eine signifikante Verbesserung der lokalen Tumorkontrolle und in einigen Studien einen signifikanten Anstieg der rezidivfreien Überlebenszeit bei soliden Tumoren im Erwachsenen- und Kindesalter. Für bestimmte Indikationsbereiche sind Phase-IIIStudien bereits abgeschlossen oder neu aktiviert und definieren den Stellenwert der Hyperthermie im Fachbereich Onkologie.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
28
28 Somatische Gentherapie C.P. Pallasch, C.-M. Wendtner, M. Hallek
28.1
Definition
– 576
28.2
Geschichte der Gentherapie
28.3
Sicherheit und Zulassungsverfahren der Gentherapie
28.4
Vektoren: Werkzeuge für den Gentransfer
28.5
Viren als Vektoren zur Genübertragung
28.6
Targeting von Vektoren
28.7
Therapeutische Strategien zur Behandlung von Krebs – 580
28.8
Gen-Immuntherapien – 581
28.9
Einbringung therapeutischer Gene Literatur – 585
– 576 – 576
– 577 – 578
– 579
– 583
28
576
Kapitel 28 · Somatische Gentherapie
28.1
Definition
Die Gentherapie ist definiert als die Einbringung von Genen in Gewebe oder Zellen mit dem Ziel, durch die Expression und Funktion dieses Gens therapeutischen Nutzen zu erlangen. Die Gentherapie verändert die systemische Arzneimitteltherapie: Im Gegensatz zur systemischen Verabreichung eines Medikaments erlaubt das gezielte Einbringen von Genen in bestimmte Zellen oder Organe die Produktion eines Wirkstoffs (Proteins) an einem bestimmten Ort des Körpers. Nebenwirkungen, die durch die systemische Gabe des Medikaments entstehen, werden durch die regionale Applikation verringert. Stattdessen werden die erwünschten Effekte vorwiegend im Zielorgan hergestellt. Es besteht die Möglichkeit, die Expression der therapeutischen Gene an eine genaue, zeitlich begrenzbare Steuerung zu koppeln. Eine derartige Steuerung kann beispielsweise durch Wahl steuerbarer Promotoren erreicht werden. Die Gentherapie stellt also eine molekulare Form der Arzneimitteltherapie dar, die Störungen am Ort ihrer Entstehung zu korrigieren versucht. Gentherapie ist ein interdisziplinäres Fach, das von der Entwicklung innovativer Zelltherapien über die direkte In-vivoManipulation des Genotyps somatischer Zellen bis hin zu genetischen Vakzinierungsstrategien reicht. Das Feld vereinigt Forscher aus allen medizinischen Gebieten einschließlich der pharmakologischen, virologischen, bakteriologischen sowie zellund molekularbiologischen Grundlagenforschung. Den gemeinsamen Nenner bildet das Bestreben, Erkrankungen durch den Transfer von Genen in somatische Zellen (nicht: Keimbahnzellen) zu lindern oder zu heilen.
28.2
Geschichte der Gentherapie
1990 wurde die erste Gentherapie an Patienten durchgeführt. Mehr als 10 Jahre nach Beginn erster klinischer Prüfungen konnten in jüngster Zeit bedeutende Fortschritte erzielt werden. Beispielhaft zu nennen sind insbesondere die teilweise spektakulären Erfolge in der Behandlung schwerer angeborener Formen der kombinierten Immundefizienz (Adenosin-Deaminase-Defizienz, Defizienz der γ-Kette des Interleukin-2-Rezeptors), aber auch erste Erfolg versprechende klinische Ergebnisse in der Behandlung der Hämophilie B (Cavazzana-Calvo et al. 2000; Kay et al. 2000; Hacein-Bey-Abina et al. 2002). Präklinisch vielversprechende Daten existieren bei der rekombinanten Expression von
Erythropoetin zur Therapie der renalen Anämie oder Thalassämie, bei der Behandlung des Gerinnungsfaktor-VIII-Mangels unter Verwendung adenoassoziierter Virusvektoren und bei der genetischen Vakzinierung in der Onkologie und Infektiologie. In den USA und Europa sind bislang mehr als 10.000 Patienten gentherapeutisch behandelt worden, überwiegend in der Onkologie. Bis Anfang letzten Jahres wurden alleine in Deutschland 50 Studien bei der zuständigen Kommission »Somatische Gentherapie der Bundesärztekammer« (KSG-BÄK) angezeigt, die sich ebenfalls überwiegend onkologischen Indikationen widmen (. Abb. 28.1a). Die Mehrzahl dieser Studien befindet sich in einer frühen Phase der klinischen Prüfung (. Abb. 28.1b), was bedeutet, dass in der unmittelbaren Zukunft nur sehr wenige gentherapeutische Strategien – insbesondere in der Onkologie – zur Zulassungsfähigkeit gelangen werden. Die Gentherapie bleibt trotz gewisser Rückschläge in den 90er Jahren eines der dynamischsten Forschungsgebiete der Medizin und der Onkologie. Es wird aber weitere Jahre oder Jahrzehnte dauern, bis ausgereifte Gentherapieverfahren für Krebserkrankungen zur Verfügung stehen werden.
28.3
Sicherheit und Zulassungsverfahren der Gentherapie
Das Spektrum der verwendeten Gentransfermethoden (7 Abschn. 28.4) ist sehr groß und reicht von retro- und adenoviralen Vektoren über andere virale Verfahren bis hin zur Applikation nackter DNA. Deshalb muss bei den mit der Zulassung von Gentherapiestudien befassten Institutionen eine sehr breite Expertise bestehen, die dem Spektrum der eingangs erwähnten klinischen und präklinischen Disziplinen entsprechen sollte. Die Zulassung klinischer Gentherapiestudien ist in Deutschland wie bei anderen klinischen Studien bisher eine Aufgabe der lokalen Ethikkommissionen – unter Beachtung der Gesetzgebung zur Gentechnik. Da dies oft eine fachliche Überforderung der lokalen Ethikkommissionen darstellt, wurde von der Bundesärztekammer eine beratende Kommission für Somatische Gentherapie (KSG-BÄK) eingerichtet, die sich in hervorragender Weise und mit hoher fachlicher Expertise um die Beratung der Ethikkommissionen bemüht. Die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Gentherapie e.V. (DGGT), der größten deutschsprachigen Organisation für in der Gentherapie tätige Wissenschaftler, verpflichten sich per Satzung, ihre Studien der KSG-BÄK und dem Deutschen
. Abb. 28.1a,b. Angemeldete Gentherapiestudien weltweit, Stand Januar 2006
577 28.4 · Vektoren: Werkzeuge für den Gentransfer
Register für Gentherapie-Studien (DeReG) zu melden. Aufgrund der Komplexität der Forschungs- und Entwicklungsaufgaben ist das Engagement der Wissenschaftler in den Fachgesellschaften und verwandten Gremien unverzichtbar, um das Feld mit höchstmöglicher Sicherheit und Effizienz voranzubringen. International wird die Zulassung von Gentherapiestudien noch höchst unterschiedlich gehandhabt. Die größten Erfahrungen bestehen in den USA, wo eine nationale Behörde an der Food and Drug Administration (FDA) die Zulassung regelt. Im Zuge der auf diesem Gebiet dringend erwünschten europäischen Harmonisierungsbemühungen werden wohl auch in Europa in den kommenden Jahren vergleichbare Institutionen entstehen. Diese müssen ebenfalls den möglichen Risiken der Gentransfertechnologien Rechnung tragen und möglichen Missbrauch, beispielsweise Steigerung der Fitness (Doping, Kosmetik), Keimbahnmanipulation oder gar Biowaffenentwicklung, mit höchster Wachsamkeit verhindern. Zusätzliche und ständig aktualisierte Informationen zur Zulassung von Gentherapiestudien und zur Thematik der Sicherheit werden auf den Internet-Plattformen der KSG-BÄK, des Paul-Ehrlich-Instituts (http: //www.pei.de/ themen/gentherapie/gentherapie_infos. htm), der Deutschen Gesellschaft für Gentherapie e.V. (DGGT; http://www.daggt.web. med.uni-muenchen.de), der European Society of Gene Therapy (ESGT; http: //www.esgt.org) und der American Society of Gene Therapy (ASGT; http://www.asgt.org) dargestellt. Daneben wurde auf Drängen der Deutschen Gesellschaft für Gentherapie ein Deutsches Register für somatische Gentransferstudien (DeReG; http://www.dereg.de) installiert, um die Transparenz für die Öffentlichkeit und die Forschung zu steigern. Weltweit durchgeführte Studien sind über das Office of Biotechnology Activities OBA (http://www4.od.nih.gov/oba/rac/clinicaltrial. htm) sowie das Journal of Gene Medicine (http://www.wiley. com/legacy/wileychi/genmed/clinical/) erfasst. Mit zunehmender Effizienz der Verfahren ist in jüngerer Zeit die Wachsamkeit für mögliche Nebenwirkungen deutlich gestiegen. Eine in Frankreich mithilfe eines retroviralen Vektors durchgeführte Studie zur Behandlung der »severe combined immunodeficiency disease« (SCID) wurde nach dem Auftreten von Leukämien bei Patienten unterbrochen. Bei der zwischenzeitlichen Fortsetzung der Studie ist mittlerweile ein dritter Fall einer lymphoproliferativen Erkrankung aufgetreten. Eine vergleichbare SCID-Gentherapiestudie wies hingegen kein Auftreten von lymphoproliferativen Erkrankungen auf. Als Ursache der aufgetretenen klonalen Expansion eines leukämischen T-Zellklons konnte die Integration des retroviralen Vektors in die Nähe des Promotors des LMO2-Protoonkogens identifiziert werden (Hacein-Bey-Abina et al. 2003). Im Rahmen einer erfolgreichen gentherapeutischen Studie zur Behandlung der chronischen Granulomatose (Ott et al. 2006) kam es 2 Jahre nach erfolgreicher Therapie bei infektionsfreiem Intervall zu einem Todesfall infolge einer generalisierten Sepsis. Dies wird vor allem auf eine zunehmende Insuffizienz des gentherapeutischen Konstruktes zurückgeführt. Für die ersten gentherapeutischen Studien liegen mittlerweile die ersten ermutigenden Langzeitbeobachtungen zu retroviralen Systemen vor (Muul et al. 2003) Bei einer klinischen Prüfung von rekombinanten Adenoviren zur Therapie einer angeborenen Stoffwechselerkrankung ist es 1999 in den USA zu dem bislang einzigen fatalen Zwischenfall mit tödlichem Ausgang gekommen. In der nachfolgenden Ursachenforschung wurde deutlich, dass die behandelnden Ärzte
28
mehrere Grundregeln der »guten klinischen Praxis« (»good clinical practice«, GCP) verletzt hatten und somit der Zwischenfall nicht allein auf ein spezifisches Problem der Gentherapie zurückzuführen war. Aufgrund dieses Sachverhalts haben sowohl die Amerikanische Gesellschaft für Gentherapie (ASGT) als auch die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Gentherapie (DAG-GT) ihre Mitglieder aufgefordert, nicht mehr an der Patientenrekrutierung und -betreuung in Studien von Firmen teilzunehmen, von denen sie (Aktien-)Anteile halten. Der positive Aspekt dieses tödlichen Zwischenfalls war, dass seit dem Jahr 2000 weltweit die Bemühungen intensiviert wurden, die Gentransfersysteme zu verbessern und präklinisch einer eingehenden pharmakologisch-toxikologischen Analytik zuzuführen. Denn wie für die klassische Pharmakologie gilt auch für die Gentherapie: Die Dosis macht das Gift. Allerdings ist anders als bei der Anwendung definierter Chemikalien das Spektrum der zugrunde liegenden pathophysiologischen Mechanismen und Interaktionen vielfältiger, zumal einige gentherapeutische Verfahren zu permanenten Modifikationen des Genoms sehr langlebiger und expansionsfähiger Zelltypen führen können. Es kann an dieser Stelle nicht genug betont werden, dass es weiterhin dringend notwendig ist, gute Grundlagenforschung auf den Gebieten des Vektor-Engineerings sowie der gentherapeutischen Toxikologie durchzuführen und zu finanzieren. Daneben muss die Infrastruktur gestärkt werden, um bei klinischen Prüfungen für eine geeignete Vektorherstellung und Zellmanipulation nach den Richtlinien der »guten Herstellungspraxis« (»good manufacturing practice«, GMP) zu sorgen. Zuletzt gilt es, die Interaktion zwischen Grundlagenforschung, GMP-Einheiten, Klinik und Regulationsbehörden weiter nachhaltig zu verbessern. Zunehmende Professionalität sollte allmählich die aktuell nicht selten anzutreffende Unsicherheit der Einschätzung neuer Therapiemodalitäten ablösen (s. Stellungnahme der DFG-Senatskommission für Grundsatzfragen der Genforschung 2006).
28.4
Vektoren: Werkzeuge für den Gentransfer
Bei der Gentherapie wird genetisches Material in Zellen eingebracht. Diesen Vorgang nennt man Gentransfer (. Abb. 28.2). Hierfür benötigt man ein Vehikel, das das Gen trägt, den Vektor. Die Wahl geeigneter Vektoren ist für die Effizienz der Gentherapie entscheidend. Dabei können unterschiedliche Therapieziele verschiedenartige Vektoren erfordern (. Abb. 28.3). Die Auswahl hängt z. B. davon ab, ob der Gentransfer im Patienten (in vivo) oder in der Zellkulturschale (in vitro) stattfindet, was unterschiedliche Anforderungen an die Sicherheit und Zielgenauigkeit des Vektors stellt. Ein optimaler Vektor sollte die folgenden Eigenschaften haben: 4 ausreichende Effizienz (Einbringen des Therapiegens in genügend viele Zielzellen), 4 hohe Selektivität (Einbringen des Therapiegens ausschließlich in die Zielzellen, aber nicht in andere Zellen; dies gilt vor allem bei Durchführung des Gentransfers am Patienten, in vivo), 4 Möglichkeit des Gentransfers in nichtteilende Zellen (in fast allen menschlichen Geweben ist die Teilungsaktivität gering), 4 ausreichend hohe Genaufnahmekapazität (vor allem bei gleichzeitigem Transfer mehrerer Gene),
578
Kapitel 28 · Somatische Gentherapie
28
. Abb. 28.2. Das Prinzip des Gentransfers. Ein menschliches Gen wird aus dem Genom einer Zelle isoliert und mittels molekularbiologischer Methoden in einen Vektor eingebracht. In diesem Vektor ist das Gen hinter einen geeigneten Promotor gesetzt, der später die dauerhafte oder regulierte Synthese von Proteinen aus diesem Gen erlaubt. Dieser Vektor wird dazu benutzt, das Gen in eine beliebige andere Zelle oder in ein
anderes Organ zu übertragen. Diesen Vorgang nennt man Gentransfer. Er ist der zentrale Schritt der Gentherapie. Nach dem Gentransfer kommt es über die normalen Schritte der Proteinbiosynthese zur Herstellung von Proteinen in der Zielzelle. Proteine sind die eigentlichen Wirkstoffe dieses Therapieprinzips
. Abb. 28.3. Die verschiedenen Möglichkeiten der Gentherapie. Gene können außerhalb des Körpers (ex vivo) in Zellen eingebracht werden, indem sie in der Zellkulturschale mit einem Vektor behandelt werden. Die veränderten Zellen werden anschließend gereinigt und in den Kör-
per zurückgebracht, beispielsweise durch Injektion. Eine andere Methode ist das direkte Einbringen von Vektoren in den Patienten (in vivo), beispielsweise als Injektion
4 Erzielen einer ausreichend langen Genexpression (besonders bei Erbkrankheiten ist ein stabiler Gentransfer zur dauerhaften Korrektur des Erbdefekts erwünscht), 4 hohe Sicherheit (eine direkte krankmachende Wirkung des Vektors ist auszuschließen, schädliche Langzeitwirkungen sollen fehlen), 4 fehlende Immunogenität.
mittels vorübergehender Permeabilisierung der Zellmembran durch Stromstoß), liposomenverpackte DNA oder die Kopplung der DNA an Goldpartikel und Beschuss des Zielgewebes mit diesen Partikeln (. Tab. 28.1). Vorteile dieser nichtviralen Vektoren bestehen in ihrer einfacheren Herstellung und den daraus resultierenden geringeren Kosten, außerdem gelten sie als vergleichsweise sicher. Der Nachteil dieser nichtviralen Gentransferverfahren liegt in der vielfach für die klinische Anwendung doch zu geringen Effizienz. Generell gelten die viralen Vektoren im Vergleich zu den nichtviralen Vektoren als effizienter. Daher werden virale Vektoren derzeit in mehr als 70% aller klinischen Gentherapiestudien eingesetzt (Anonymus 2001), in der Mehrzahl retrovirale und adenovirale Vektoren. Diese Verteilung gilt sowohl auf internati-
28.5
Viren als Vektoren zur Genübertragung
Man unterscheidet virale und nichtvirale Vektoren. Die nichtviralen Vektoren beinhalten chemische oder physikalische Verfahren, wie die Elektroporation (Einbringen von DNA in die Zellen
28
579 28.6 · Targeting von Vektoren
. Tab. 28.1. Eigenschaften der wichtigsten Gentransfervektoren Vektor
Effizienz
Selektivität
Kapazität
Genexpression
Integration ins Genom
Applikation
Retroviren
Teilweise hoch, von Zellteilung z. T. abhängig (nicht bei Lentiviren)
Gering
ca. 10 kb
Stabil
Zufällige Integration
Ex vivo
Adenoviren
Hoch, proliferationsunabhängig
Gering
7,5 kb und mehr
Vorübergehend
Episomal
Ex vivo und in vivo
Adeno-assoziiertes Virus (AAV)
Hoch, auch bei teilungsinaktiven Zellen
Gering
5 kb
Stabil
In Anwesenheit des viralen REP-Gens spezifisch
Ex vivo und in vivo
Vaccinia-Virus
Hoch, besonders immunogen
Gering
<25 kb
Stabil
Keine
In vivo
Herpes-simplexVirus
Hoch
Insbesondere ZNS
<50 kb
Transient
Episomal
Ex vivo und in vivo
Liposomen
Relativ gering
Gering
Ohne Limit
Vorübergehend
Keine
In vivo und ex vivo
Direkte DNA-Applikation (»gene gun«, Injektion)
Gering
Gering
Ohne Limit
Vorübergehend
Keine
In vivo und ex vivo
Viral
Nichtviral
onaler Ebene als auch in Deutschland (. Abb. 28.4). Bei Verwendung von Viren als Vektoren wird deren evolutionär erworbene Fähigkeit genutzt, Gene in die infizierten Wirtszellen einzubringen. Zur Vektorherstellung werden aus dem Genrepertoire des Virus mit molekularbiologischen Techniken die Gene entfernt oder zerstört, die zur Virusvermehrung notwendig sind. Die Viren werden dadurch vermehrungsunfähig. In die frei gewordenen Bereiche wird dann das Therapiegen eingesetzt. Es entsteht ein rekombinantes Virus, das zum Gentransfer verwendet wird. Die wesentlichen Unterschiede der in der Gentherapie eingesetzten Virusvektoren sind in . Tab. 28.1 dargestellt. Diese Vektoren befinden sich häufig in der zweiten oder dritten Entwicklungsgeneration und erlauben einen zunehmend effizienten Gentransfer.
28.6
. Abb. 28.4. Technologien angemeldeter Gentherapiestudien weltweit, Stand Januar 2006
Targeting von Vektoren
Fast allen Vektoren ist gemeinsam, dass sie eine relativ niedrige Selektivität für bestimmte Zielgewebe oder -organe haben. Daher wären sie bei einer Anwendung in vivo, z. B. per Injektion, nicht effizient genug, um Gene ausschließlich in Krebszellen, nicht aber in das umliegende Gewebe einzubringen. Dieser Nachteil der Vektoren gilt derzeit als eines der Hauptprobleme der Gentherapie bzw. der Vektortechnologie im Bezug auf Krebserkrankungen (Deisseroth 2001). Aus diesem Grund beschäftigen sich viele Forschungsgruppen mit dem gezielten Retargeting viraler Vektoren. Dieser Ansatz hat zum Ziel, durch gezielte Modifikation der Virushülle solche Liganden einzusetzen, die spezifisch an bestimmte Zellen oder Organe binden und dorthin die Gene übertragen. . Abb. 28.5 veranschaulicht am Beispiel des adeno-
580
Kapitel 28 · Somatische Gentherapie
. Tab. 28.2. Anforderungen an einen Genvektor in Abhängigkeit von der therapeutischen Strategie
28
. Abb. 28.5. Rezeptor-Targeting von Vektoren am Beispiel des adenassoziierten Virus (AAV). Der Tropismus vieler Viren wird durch die Bindung an bestimmte Zelloberflächenrezeptoren bestimmt. Nach Bindung des Virus an seinen Rezeptor tritt das Virus in die Zelle ein. Es kommt zur Infektion, in deren Verlauf virale Gene in der Zelle deponiert und exprimiert werden. Beim Retargeting von Viren oder Virusvektoren werden Eiweißsequenzen in die Virushülle eingeführt, die die Bindung an nichtvirale Rezeptoren vermitteln. Dadurch wird der Tropismus des Virus verändert. Das Virus bindet nun an neue, erwünschte Zielzellen. Im idealen Fall erfolgt dies so gezielt, dass nur noch die Zielzellen infiziert werden. Werden diese Eigenschaften auf einen Vektor übertragen, so wird ein Retargeting des Gentransfers möglich. Dadurch kann der Gentransfer auf ganz bestimmte Zielzellen begrenzt werden. Dieses Verfahren erhöht also die Zielgenauigkeit, Effizienz und Sicherheit von Vektoren
assoziierten Virus Serotyp 2 (AAV2), wie sich durch gezielte Modifikation des Viruskapsids ein neuer Tropismus erschließen lässt. Erst durch Insertion eines Oligopeptids in das Viruskapsid ist eine Infektion wildtypresistenter Zielzellen möglich, die den entsprechenden Rezeptor auf ihrer Oberfläche exprimieren (Girod et al. 1999). Ein solches Retargeting viraler Vektoren gelang auch bei Rhabdoviren, Retroviren, Adenoviren und adenoassoziierten Virusvektoren (Buchholz et al. 1999; Curiel 1999; Gunzburg et al. 1996; Mebatsion et al. 1995; Roelvink et al. 1999; Russell u. Cosset 1999; Wickham et al. 1995).
28.7
Therapeutische Strategien zur Behandlung von Krebs
In den bisherigen Gentherapiestudien stellen Untersuchungen zur Behandlung von Neoplasien den bei weitem größten Anteil (Anonymus 2001). Das ideale Ziel in der Krebstherapie wäre die möglichst zelltypspezifische, vollständige und nebenwirkungsarme Eliminierung aller Tumorzellen oder alternativ die gezielte Korrektur aller aufgetretenen genetischen Aberrationen in allen Tumorzellen. Die bisherigen Ansätze der gentherapeutischen Studien in der Krebsbehandlung sind von diesem Ideal noch sehr weit entfernt. Aufgrund der Limitationen der Vektortechnologie konzentriert sich die überwiegende Mehrzahl heutiger gentherapeutischer Strategien auf eine gentechnisch unterstützte Stimulation des Immunsystems (Immungentherapie): Mithilfe von immunstimulierenden Genen werden Krebszellen so verändert, dass sie das Immunsystem gegen die neoplastischen Zellen stimulieren und so eine dauerhafte Beseitigung von residualen Tumorzellen ermöglichen sollen. Der Gentransfer mit dem Ziel des Gen-Targeting (Gen-
Anforderungen
Strategien der Krebsgentherapie
Genkorrektur
Zytotoxischer Gentransfer
Immuntherapie
Genauigkeit
+
++++
Effizienz
++++
++++
Stabilität
+++
++
korrektur) der für den jeweiligen Krebs verantwortlichen Onkogene, aber auch der Gentransfer von potenziell zytotoxischen Genen in den Tumor erfordert eine sehr hohe Zielgenauigkeit der Vektoren und im Falle des Gen-Targeting darüber hinaus eine sehr hohe Stabilität des Gentransfers. Derartige Vektoren sind derzeit nicht verfügbar (Anderson 1998). Daher beschränkt man sich in vielen Fällen auf den Immungentransfer (s. unten), da hier die Anforderungen an die Vektortechnologie erheblich geringer sind (. Tab. 28.2): Es genügt der Gentransfer in einige wenige Zellen, die zur Stimulation der Immunantwort verwendet werden. Die Erkennung von und Antwort auf bestimmte Tumorantigene durch das Immunsystem soll dann für die erforderliche Spezifität der Therapie und die Verstärkung der Antitumorantwort sorgen. Die meisten Vektorsysteme eignen sich aufgrund der ungenügenden Zelltypspezifität bisher nur für einen Ex-vivo-Ansatz, dabei werden die Zielzellen aus einer primären Gewebeprobe isoliert, ex vivo mit dem rekombinanten viralen Vektor infiziert und dann autolog oder allogen einem Patienten retransplantiert. Alternativ wird derzeit eine direkte intratumorale Injektion von Vektoren zur Behandlung von Tumoren entwickelt. Ansätze zur Gentherapie maligner Erkrankungen konzentrieren sich auf unterschiedliche Zielzellen; neben den Tumorzellen sind auch die Zellen des Immunsystems sowie hämatopoetische Stammzellen Ziel für einen therapeutischen Gentransfer. Die Vielfalt unter den gentherapeutischen Strategien ist groß. Die folgende Übersicht zeigt die drei Hauptvertreter unter ihnen.
Gentherapeutische Strategien zur Behandlung von Neoplasien Stimulation der Immunantwort durch Gentransfer 4 Aktive Immunisierung – Verstärkung der Immunogenität von Tumorzellen 4 Vakzinierung mit Tumorantigenen oder dendritischen Zellen, die Tumorantigene präsentieren 4 Genetische Modifikation von Immuneffektorzellen – Gentransfer von Zytokingenen zur autokrinen und parakrinen Immunstimulation – Gentransfer von Suizidgenen zur Kontrolle von Immunreaktionen gegen den Empfänger – Gentransfer neuer Rezeptorgene zur spezifischen Tumorerkennung Einbringung therapeutischer Gene in die Tumorzelle 4 Gentransfer von Suizidgenen 4 Gentransfer von Antisense-Genen und Ribozymen 6
28
581 28.8 · Gen-Immuntherapien
4 Gentransfer von Tumorsuppressorgenen 4 Induktion von DNA-Reparaturmechanismen Einbringung protektiver Gene in Normalgewebe 4 Transfer von Genen, die eine Resistenz gegenüber Chemotherapeutika vermitteln, in hämatopoetische Stammzellen
28.8
Gen-Immuntherapien
28.8.1 Aktive Immunisierung durch Verstärkung
der Immunogenität von Tumorzellen Zytotoxische T-Zellen sind nach vorausgegangener Aktivierung in der Lage, autologe Tumorzellen zu lysieren. Deshalb konzentrieren sich derzeit die Forschungsanstrengungen in der immunologischen Tumortherapie einerseits auf die Identifikation geeigneter Tumorantigene, andererseits auf optimale In-vivo-Bedingungen für die Stimulation zytotoxischer T-Zellen. Das Einbringen von Zytokingenen, die die Migration und die Differenzierung Antigen präsentierender Zellen fördern, wie z. B. GM-CSF (»granulocyte-monocyte-colony-stimulating factor«), in Tumorzellen kann eine tumorspezifische Effektorzellantwort auslösen (Dranoff et al. 1993). Ein weiterer Ansatz basiert auf dem Transfer von Gensequenzen, die für kostimulatorische Moleküle kodieren. Neben der Interaktion des Peptid/MHC-Komplexes mit dem T-Zell-Rezeptor (Signal 1) ist für die Induktion einer klonalen T-Zell-Expansion ein zweites, sog. kostimulatorisches Signal erforderlich. Diese kostimulatorischen Signale werden vor allem durch die Interaktion der auf Seite der Antigen präsentierenden Zellen exprimierten Oberflächenmoleküle B7-1 und B7-2 mit den Rezeptoren CD28 und CTLA-4 auf T-Zellen geliefert; weitere kostimulatorische Molekülpaare sind die Komplexe aus CD70/CD27 und CD40/CD40L. Fehlt
dieses kostimulatorische Signal, kommt es zur klonalen Anergie und Apoptose des antigenspezifischen T-Zell-Klons in vitro (Jenkins et al. 1987) bzw. peripheren T-Zell-Toleranz in vivo (Eynon u. Parker 1992). Die Immunogenität von Tumorzellen, die MHCMoleküle (»major histocompatibility complex«) exprimieren, lässt sich durch Transfer der Gensequenzen für das B7-l-Molekül deutlich steigern (Townsend u. Allison 1993). Ein gentherapeutischer Ansatz ex vivo wird derzeit in Studien für die chronische lymphatische Leukämie (CLL) evaluiert. Durch Transfer von CD40-Ligand, einem Molekül aus der Familie der Tumornekrosefaktorliganden, werden CLL-Zellen in die Lage versetzt, sich gegenseitig zu stimulieren. CD40-Ligand wird physiologisch von CD4-positiven T-Lymphozyten exprimiert, die Aufregulation erfolgt transient nach Ligation des T-Zell-Rezeptor-CD3Komplexes. Durch Ligation des Rezeptormoleküls CD40 auf B-Lymphozyten, Makrophagen oder dendritischen Zellen werden diese Antigen präsentierenden Zellen zur Expression wichtiger kostimulatorischer Moleküle stimuliert. Auch auf CLL-Zellen kann über Ligation des CD40-Rezeptormoleküls eine Aufregulation wichtiger kostimulatorischer Moleküle induziert werden. Erst dadurch werden sie in die Lage versetzt, autologe T-Zellen zu stimulieren (Wendtner et al. 2002). Im In-vitro-Modell konnte auch gezeigt werden, dass sich durch Stimulation allogener T-Lymphozyten CLL-spezifische zytotoxische T-Zellen generieren lassen (Buhmann et al. 1999). Bei der Transduktion von CLL-Zellen mit rekombinantem adenoassoziierten Virusvektoren, die für CD40Ligand kodieren, konnte deren erhöhte Kapazität zur Expansion autologer Tumorantigen-spezifischer T-Zellen nachgewiesen werden (Mayr et al. 2005). Erste klinische Daten zeigen, dass durch Reinfusion autologer, transgener, CD40-Ligand exprimierender CLL-Zellen eine transiente Reduktion peripherer Lymphozyten und damit leukämischer Zellen erzielt werden kann, die auch mit einem Rückgang einer klinisch manifesten Lymphadenopathie bei einem Teil der Patienten assoziiert war (Wierda et al. 2000). Zur Verstärkung der spezifischen Immunantwort gegen Tumorantigene kann die Auswahl des Vektorsystems einen we-
. Tab. 28.3. Auswahl Klinischer Studien Gen-Immuntherapie Entität
Vektor
Target-Gen
Applikation
Klinische Response
Immunmonitoring
Anzahl Patienten
Referenz
Melanom
Vaccinia Virus
B7.1
Intratumorale Injektion
1 PR, 2 SD
T-zelluläre Reaktion gegen Melan-A
12
Kaufman et al. (2005)
Mamma- und Pankreas karzinom
Liposomale DNA
MUC1
Subkutane Injektion Dendritischer Zellen
1 SD
MUC1-spez. CD8+T-Zellen
10
Pecher et al. (2002)
Kolorektales Karzinom (SCLC)
Fowlpox
CEA-B7ICAM-LFA
Subkutane Injektion Dendritischer Zellen
6 SD
CEA-spez. CD8+T-Zellen
14
Morse et al. (2005)
Nierenzellkarzinom
Leuvectin
IL-2
Intratumorale Injektion
1 CR, 2 PR, 7 SD, 10% Overall Response
-
31
Galanis et al. (2004)
Prostatakarzinom
Adenovirus
IL-2
Intratumorale Injektion
Signifikante PSA-Reduktion
Anti-Adenovirusantikörper
12
Trudel et al. (2003)
CLL
Adenovirus
CD40Ligand
Ex vivo Transduktion autologer Zellen
Reduktion der Gesamtleukozyten
IL-12 und IFN-γ T-Zellen
11
Wierda et al. (2000)
582
Kapitel 28 · Somatische Gentherapie
sentlichen Einfluss auf die Immunogenität des Transgens haben (. Tab. 28.3). So wurden Pox-Viren zur Administration von CEA als Antigen verwendet (Marshall et al 1999). Gleichzeitig beinhaltet diese Strategie die Gefahr der Eliminierung des Vektors durch neutralisierende Antikörper. Hier bietet möglicherweise die Kombination verschiedener Vektorsysteme eine optimale Applikation des spezifischen Transgens (Marshall et al 2000).
28
28.8.2 Vakzinierung mit rekombinanten
Tumorantigenen Vakzinierung mit definierten Antigenen in Form von Proteinen, Peptiden oder rekombinanter DNA erlaubt die größtmögliche Kontrolle einer Immunstimulation durch eine Vakzine. Mit den unterschiedlichen Impfstoffen lassen sich, abhängig von der Verabreichungsform, unterschiedliche Antigenprozessierungswege ansteuern. Ein möglicher Vorteil einer Vakzinierung mit rekombinanter DNA liegt darin, dass die Antigene intrazellulär exprimiert werden und so wie andere intrazytoplasmatische Proteine einer Präsentation durch MHC-Klasse-I-Moleküle zugeführt werden. Dadurch ist eine antigenspezifische, sog. MHC-KlasseI-restringierte Antigenpräsentation für CD8-positive zytotoxische T-Zellen möglich. Dagegen wird eine Protein- oder Peptidvakzine von den Antigen präsentierenden Zellen aus dem Extrazellulärraum über Endozytose aufgenommen und aufgrund der durchwanderten zellulären Kompartimente vor allem der MHC-Klasse-II-restringierten Präsentation zugeführt. Komplexe aus MHC-Klasse II und einem Peptid interagieren mit dem T-Zell-Rezeptor auf CD4-positiven T-Helferzellen. Mittlerweile weiß man allerdings, dass die Trennung dieser beiden Prozessierungswege nicht so strikt ist und dass Antigen präsentierende Zellen auch extrazelluläre Antigene an zytotoxische T-Zellen präsentieren können (»cross priming«). DNA-Impfstoffe werden meist intradermal mittels ballistischer Methoden (»gene gun«) verabreicht. Dabei werden Goldpartikel injiziert, die auf ihrer Oberfläche DNA-Präzipitate tragen. Rekombinante Impfstoffe wurden bereits in unterschiedlichen Formen für eine Vielzahl von Tumoren getestet. Als attraktives Modell zur Durchführung klinischer Studien haben dabei auch die von B-Zellen abgeleiteten Tumoren gedient. Aufgrund ihrer Abstammung exprimieren die Zellen des malignen Klons ein bestimmtes Oberflächenimmunglobulin, den Idiotyp. Idiotypen sind die am besten charakterisierten Tumorantigene, die von Lymphomzellen prozessiert und in Form von Peptiden gebunden an MHC-Klasse-I-Molekülen präsentiert werden (Weiss u. Bogen 1989). Heterohybridomtechniken erlauben die recht aufwendige Isolierung des charakteristischen Immunglobulins, das, gekoppelt an KLH (»keyhole limpet hemocyanin«), als Adjuvans bereits als Proteinvakzine in klinischen Studien evaluiert wurde. Daten aus den klinischen Studien belegen, dass eine solche Vakzine eine humorale als auch zytotoxische T-Zell-Antwort induziert. Mit einer simultanen Verabreichung von GM-CSF konnte bei 8 von 11 Patienten mit follikulärem Lymphom eine anhaltende, komplette, molekulare Remission erzielt werden (Bendandi et al. 1999). Bei Patienten mit B-Zell-Lymphomen in Remission nach Polychemotherapie konnte durch Vakzinierung des Idiotyps in einem Plasmidvektor eine humorale und T-zelluläre Immunantwort generiert werden (Timmerman et al. 2002). Durch die Entwicklung von DNA-Idiotyp-Impfstoffen erhofft man, zukünftig die aufwendige Proteinexpression in vitro umgehen zu können. Dabei
werden zunächst die Genabschnitte der variablen Domänen des Idiotyps durch PCR amplifiziert und auf einen Vakzinierungsvektor übertragen. Durch eine vorangestellte Steuersequenz erfolgt in der Zielzelle ein Eintritt ins endoplasmatische Retikulum und letztlich die Sekretion eines aus nur einer Kette bestehenden variablen Idiotypfragments (»single chain variable fragment«, scFv; Stevenson et al. 1995). In vivo werden die sezernierten Proteine durch professionelle Antigen präsentierende Zellen aufgenommen, prozessiert und naiven und aktivierten T-Lymphozyten präsentiert. Zur Steigerung der Immunogenität dieser Produkte wurden verschiedene Fusionskonstrukte, basierend auf dem scFv-Fragment, getestet, u. a. Fragment C von Tetanustoxin, ein Interleukin-1β-Nonapeptid und verschiedene Chemokine (Stevenson 1999). Erste klinische Studien zur Evaluation der Immunogenität dieser Fusionskonstrukte wurden initiiert, nachdem im Mausmodell für das A20-Lymphom beispielhaft eine protektive Immunität erzielt werden konnte (King et al. 1998). 28.8.3 Vakzinierung mit dendritischen Zellen,
die Tumorantigene präsentieren Dendritische Zellen spielen eine zentrale Rolle in der Aktivierung naiver T-Zellen. Sie zeichnen sich aus durch eine starke Expression kostimulatorischer Moleküle sowie MHC-Klasse-I- und -Klasse-II-Moleküle. Eine weitere Besonderheit ist ihre Fähigkeit, Antigene aus apoptotischen Zellen aufzunehmen und einer MHC-Klasse-I-restringierten Präsentation zuzuführen (»cross priming«; Albert et al. 1998; Kovacsovics-Bankowski u. Rock 1995). Für den klinischen Einsatz lassen sich dendritische Zellen in ausreichender Zahl für eine Vakzinierung aus CD14-positiven Vorläuferzellen im peripheren Blut generieren, als Reifungsfaktoren dienen dabei GM-CSF und IL-4, wobei IL-4 die Ausdifferenzierung von bipotenten Vorläuferzellen in Monozyten unterbinden kann (Romani et al. 1994). Dendritische Zellen durchlaufen in vivo nach Antigenaufnahme in der Peripherie einen Reifungsprozess, in deren Verlauf sie ihre Kapazität zur Antigenpräsentation ausbauen. Nach Migration in die parafollikulären Zonen eines Lymphknotens sind sie schließlich für eine maximale Stimulation ruhender und naiver T-Zellen ausgestattet. Diese Reifung simuliert man in vitro durch Zugabe verschiedener Zytokine (Tumornekrosefaktor α, »monocyte-conditioned medium«, löslicher CD40). Um dendritische Zellen als therapeutische Vakzine einsetzen zu können, müssen sie Tumorantigene präsentieren. Eine Möglichkeit zur Modifikation der dendritischen Zellen besteht in der Inkubation mit Tumorzelllysat oder definierten Peptiden. Antigene können aber auch durch Transfer von DNA oder RNA in dendritischen Zellen zur Expression gebracht werden. Klinische Studien zur Vakzinierung mit dendritischen Zellen an Melanompatienten und Patienten mit B-Zell-Lymphomen konnten das therapeutische Prinzip durch den Nachweis tumorspezifischer T-Zellen belegen (Hsu et al. 1996; Nestle et al. 1998). Mittlerweile sind mehrere klinische Studien u. a. im Prostatakarzinom (Heiser et al. 2002; Su et al. 2005), malignen Melanom (Tsao et al. 2002; Di Nicola et al. 2004), sowie Bronchial-, Ko lon- , Mamma- und Pankreaskarzinomen (Pecher et al. 2002; Morse et al. 2003, 2005) mit gentechnisch modifizierten dendritischen Zellen durchgeführt worden. Hierbei konnten im Rahmen des begleitend durchgeführten Immunmonitorings meist eine Verstärkung spezifischer T-Zellantworten im ELISPOT-Assay nachgewiesen werden.
28
583 28.9 · Einbringung therapeutischer Gene
28.8.4 Genetische Modifikation
Konzept bereits validiert werden (Hwu et al. 1995). Daten aus klinischen Studien liegen zu diesem Ansatz jedoch derzeit noch nicht vor.
immunologischer Effektorzellen Einen attraktiven Ansatz zur Therapie von Krebs stellt der adoptive T-Zell-Transfer da. Die Identifikation von Tumorantigenen, die von zytotoxischen T-Zellen erkannt werden können, sowie die Verfeinerung von Methoden zur T-Zell-Stimulation und Invitro-Expansion haben die Anwendung der adoptiven Immuntherapie in einigen Modellsystemen ermöglicht. Die Möglichkeit des Gentransfers erweitert das Anwendungspotenzial der Methode beträchtlich. So können retroviral eingebrachte Markergene helfen, tumorspezifische T-Lymphozyten nach Applikation in vitro aufzuspüren und damit ihre Aktivität zu belegen. Andere Autoren haben die infundierten Spender-T-Zellen mittels retroviralem Gentransfer mit dem Thymidinkinase-Suizidgen ausgestattet, das die Zellen gegen Ganciclovir sensibilisiert, und so erfolgreich eine Graft-versus-Host-Erkrankung bei zwei Patienten behandelt (Bonini et al. 1997). Mittels Gentransfer können die T-Zellen mit neuer Rezeptorspezifität ausgestattet werden. Ein sehr eleganter Ansatz ist dabei der Transfer chimärer Rezeptoren, bestehend aus einem Single-Chain-Antikörper, der an Signaltransduktionselemente des T-Zell-Rezeptors gekoppelt ist (Hombach et al. 2005, Lamers et al. 2002). Diese Chimäre erlauben eine T-Zell-Stimulation unter Umgehung der sonst zwingend erforderlichen MHC-Restriktion. Dadurch werden auch Tumorzellen erkannt, die durch MHC-Herunterregulierung oder Defekte in der Antigenprozessierung eine gegen den Tumor gerichtete Immunantwort unterlaufen. Im Mausmodell konnte das
28.9
Einbringung therapeutischer Gene
28.9.1 Elimination von Tumorzellen durch Einführung
eines Suizidgens Suizidgene kodieren für Enzyme, die nichttoxische Vorläufersubstanzen (Prodrugs) zu toxischen Metaboliten konvertieren. Die Verabreichung dieser Substanzen führt so zum selektiven Tod der Zellen, die das Suizidgen tragen. Um das gesunde Gewebe dabei zu schonen, muss entweder der Vektor oder die Vorläufersubstanz tumorzellspezifisch verabreicht werden. Beispielsweise wird Ganciclovir von der herpesviralen Thymidinkinase (TK) zu einem toxischen Metaboliten phosphoryliert und bewirkt den Zelltod von Tumorzellen nach Verabreichung von Ganciclovir, wenn zuvor die Gensequenz des Enzyms in die Tumorzellen transduziert wurde. In einer ersten klinischen Studie wurde das TK-Gen retroviral in Hirntumoren zur Expression gebracht. Die verwendeten murinen Retroviren eignen sich für einen selektiven Gentransfer in die Tumorzellen, da sie nur proliferierende Zellen transduzieren; nichtproliferierendes, neuronales Gewebe wird daher verschont (Culver et al. 1994). In präklinischen Studien hat sich gezeigt, dass für einen solchen Ansatz mitunter eine geringe Transduktionseffizienz genügt, um nahezu
. Tab. 28.4. Auswahl klinischer Studien unter Verwendung von Suizidgenen Entität
Vektor
Therapeutisches Gen
Applikation
Prodrug
Klinische Response
Anzahl Patienten
Referenz
Glioblastom
Herpessimplex-Virus
Thymidinkinase
Intratumorale Injektion
Gancyclovir
BystanderEffekte
27
Floeth et al. (2001)
Glioblastom
Herpessimplex-Virus
Thymidinkinase
Intratumorale Injektion
Gancyclovir
Verlängerte Überlebenszeit
36
Immonen et al. (2004)
Glioblastom
Herpessimplex-Virus
Thymidinkinase
Intratumorale Injektion
Gancyclovir
Nicht signifikant
248
Rainov (2000)
Kolorektales Karzinom
Adenovirus
Thymidinkinase
Injektion von Lebermetaastasen
Gancyclovir
Geringe Toxizität
16
Sung et al. (2001)
Retinoblastom
Adenovirus
Thymidinkinase
Intratumorale Injektion
Gancyclovir
1 PR
8
Chevez-Barrios et al. (2005)
Ovarialkarzinom
Adenovirus
Thymidinkinase
Intraperitoneal
Gancyclovir
5 SD
13
Alvarez et al. (2000)
Prostatakarzinom
Herpessimplex-Virus
Thymidinkinase
Intratumorale Injektion
Gancyclovir
Signifikante Verlängerung der PSA-Verdoppelungszeit
36
Miles et al. (2001)
Prostatakarzinom
Adenovirus
Thymidinkinase/ Cytosindeaminase
Intratumorale Injektion
Valgancyclovir/ 5-Fluocytosine
Verkürzte PSAHalbwertszeit
15
Freytag et al. (2003)
Mammakarzinom
Retrovirus
CYP2B6
Injektion in Cutane Metastasen
Orales Cyclophosphamid
1 PR; 4 SD
12
Braybrooke et al. (2005)
584
Kapitel 28 · Somatische Gentherapie
. Tab. 28.5. Klinische Studien zur Tumor-Gentherapie Entität
Vektor
TargetGen
Applikation
Mechanismus
Klinische Response
Anzahl Patienten
Referenz
NSCLC
Adenovirus
P53
Intratumorale Injektion
Tumorsuppressor
Kein Vorteil gegenüber First-line Chemotherapie
25
Schuler et al. (2001)
NSCLC
Adenovirus
P53
Intratumorale Injektion
Tumorsuppressor
12 Responder, Induktion p53-regulierter Gene
19
Swisher et al. (2003)
Melanom
Adenovirus
MDA-7/IL24
Intratumorale Injektion
Tumorsuppressor
Immunologische Reaktion
22
Tong et al. (2005)
28
den gesamten Tumor zu zerstören. Durch den Austausch des aktivierten Wirkstoffes oder apoptotischer Signale der Zellen untereinander kommt es auch zur Zytolyse nichttransduzierter Zellen (Bystander-Effekt; Culver et al. 1992). Mittlerweile steht eine große Zahl an Suizidgenen zur Verfügung (. Tab. 28.4). Ein weiteres weit verbreitetes Suizidgen kodiert die Cytosindeaminase (CDA), die Fluorcytosin zum toxischen 5-Fluorouracil metabolisiert. Interessant für zukünftige klinische Anwendungen sind z. B. das P450-2B1, das die Metabolisierung von Cyclophosphamid zu 4-Hydroperoxy-Cyclophosphamid katalysiert, und eine bakterielle Nitroreduktase, die CB 1954 in das tumorizide 4-Hydroxylamin reduziert. Voraussetzung für klinische Erfolge dieser Strategie ist jedoch ein tumorzellspezifischer Gentransfer bzw. die tumorzellspezifische Genexpression, die mit den derzeit verfügbaren Vektorsystemen in vivo in der Regel noch nicht zu erzielen ist. 28.9.2 Direkte Übertragung von Tumorsuppressorgenen
in den Tumor Im Verlauf der neoplastischen Transformation sammeln die Tumorzellen mehrere genetische Aberrationen an. Da eine gezielte und vollständige Korrektur aller angesammelten Mutationen aus praktischen und technischen Gründen derzeit nicht möglich ist, erhofft man sich einen therapeutischen Erfolg durch Korrektur einzelner mutierter Gene zu erzielen, die essenziell für die Ausbildung des malignen Phänotyps sind. Am besten eignen sich dafür mutierte Gene, die mit einem Funktionsverlust einhergehen und deshalb durch Gentransfer potenziell ersetzt werden können. Ein Beispiel für diesen Ansatz ist das in vielen Tumorzellen mutierte Tumorsuppressorgen P53 (Roth 2001). Eine stabile Transfektion des Wildtyp-P53-Gens führt in den behandelten Zellen zu einem Zellzyklusarrest in der G1-Phase oder zur Apoptose der Tumorzelle. Durch Injektion eines replikationsinkompetenten Adenovirusvektors konnte das P53-Gen im Tumor exprimiert werden. Die Ergebnisse dieser intratumoralen P53-Gentherapie wurden mittlerweile in mehreren Phase-I- und Phase-II-Studien untersucht (Roth 2001). Die meisten Studien wurden an Patienten mit nichtkleinzelligem Bronchialkarzinom (NSCLC) durchgeführt. Dabei ließ sich bei 80% der untersuchten Patienten ein erfolgreicher Gentransfer nachweisen. Die P53-Gentherapie scheint sicher mit einer Cisplatinchemotherapie oder Bestrahlung kombiniert werden zu können. Die berichteten Remissionsraten mit dieser kombinierten Therapie bei NSCLC sind ermutigend (Roth 2001). Auch bei Kopf-Hals-Tumoren wurden bisher über 200 Patienten in
Studien mit Adenovirus P53 eingeschlossen. Die Ansprechraten lagen bei 10% (Roth 2001). Da die Bewertung der therapeutischen Effekte dieser Therapiemodalität in anderen Studien eher zurückhaltend ausfiel (Schuler et al. 1998), müssen weitere klinische Ergebnisse abgewartet werden, bevor diese Strategie weiter verfolgt wird. 28.9.3 Übertragung von Resistenzgenen in
hämatopoetische Stammzellen Die Aufklärung verschiedener Resistenzmechanismen gegenüber zytotoxischen Substanzen hat zu gentherapeutischen Ansätzen geführt, die eine Reduzierung der Toxizität nachfolgender Chemotherapien zum Ziel haben (. Tab. 28.6). Das Einbringen eines solchen Resistenzmechanismus in hämatopoetische Stammzellen würde es erlauben, die Dosierung des Chemotherapeutikums zu erhöhen und so möglicherweise die Heilungsraten verbessern. Beispiele für derartige Resistenzmechanismen sind die DNA-Ethylguanin-Methyltransferasen (MGMT), die nach Therapie mit Nitroharnstoffverbindungen DNA-Schäden beheben oder das MDR-Genprodukt (»multiple drug resistance«), das als Moleküleffluxpumpe chemoprotektiv wirkt. Aufgrund der Unzulänglichkeiten verfügbarer Vektorsysteme waren bisherige Anstrengungen jedoch zum Scheitern verurteilt: Die erzielte Transduktionseffizienz in hämatopoetische Vorläuferzellen und die erreichte Transgenexpression waren ungenügend. Es verwundert deshalb nicht, dass in klinischen Studien bisher keine In-vivo-Selektion resistenter Stammzellen erzielt werden konnte (Hanania et al. 1996; Hesdorffer et al. 1998). Eine neue Generation retroviraler Vektoren, basierend auf Lentiviren oder Onkoretroviren, verspricht bessere Transduktionseffizienz. Lentivirale Vektoren haben durch ihre Fähigkeit zur Transduktion nichtproliferierender Zellen einen gewissen Vorteil. Weitere Limitationen ergeben sich aus dem Ansatz selbst. Prinzipiell besteht die Gefahr, dass neoplastische Zellen mit einer Resistenz ausgestattet und dem Patienten reinfundiert werden. Der zentrale Einwand gegen dieses Therapieprinzip ist aber die Tatsache, dass mit zunehmender Erfahrung in der Anwendung der Hochdosistherapien gefolgt von hämatopoetischem Progenitorzellersatz eigentlich nicht die Hämatotoxizität, sondern die sonstige systemische Toxizität der Hochdosistherapie (kardiale, renale, hepatische oder pulmonale Nebenwirkungen) im Vordergrund steht. Bemühungen um eine weitere Zunahme der therapeutischen Breite der Hochdosistherapie bezüglich des hämatopoetischen Systems erscheinen somit weniger wichtig.
28
585 28.9 · Einbringung therapeutischer Gene
. Tab. 28.6. Auswahl laufender Phase-II/III und Phase-III-Studien (Quelle: Journal of Gene Medicine, http://www.wiley.com/legacy/wileychi/genmed/clinical) Tumor
Gen
Wirkmechanismus
Vektor
Therapiekombination
Administration
Principle Investigator
Plattenepithelkarzinome Kopf und Hals
P53
Tumorsuppressor
Adenovirus
Chemotherapie
Intratumoral
Dietz
Plattenepithelkarzinome Kopf und Hals
P53
Tumorsuppressor
Adenovirus
Chemotherapie
Intratumoral
Hamm
NSCLC
P53
Tumorsuppressor
Adenovirus
Radiochemotherapie
Intratumoral
Swisher
Prostatakarzinom
GM-CSF
Zytokin
Adeno-associated Virus
Docetaxel und Prednison
Intratumoral
Royal Marsden Hospital
Pankreaskarzinom
CEA B7.1 ICAM1 LFA-3 MUC-1
Tumorantigene und Kostimuli
Poxvirus + Vaccinia-Virus
GM-CSF
Subkutan
Marshall
Melanom
Allovectin-7
Tumorantigene und Kostimuli
Lipofektion
Intratumoral
Gonzalez
Melanom
IL-7 IL-12 GM-CSF
Zytokine
Gene Gun (in vitro)
Subkutan
Schadendorf
Glioblastom
Thymidinkinase
Suizidgen
Herpes-simplexVirus
Intratumoral
Voges
Zusammenfassung Genetische Verfahren zur Behandlung von Krebserkrankungen befinden sich meist noch im präklinischen Stadium. In klinischer Erprobung (Phase-I-,-II- oder -III-Studien) sind vor allem Verfahren zur Genimmuntherapie, zum Gentransfer von P53 sowie von Suizidgenen. Die Übertragung von Laborergebnissen ans Krankenbett erfordert noch einige Jahre. Es gilt vor allem, die Effizi-
enz, Spezifität und Sicherheit des Gentransfers zu verbessern. Die Leistungsfähigkeit der Vektoren entspricht noch nicht den klinischen Ansprüchen für eine korrektive oder zytotoxische Gentherapie von Krebserkrankungen. Erst wenn diese methodischen Probleme gelöst sind, wird die Gentherapie bei Krebserkrankungen einen festen Platz einnehmen.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
29 Unkonventionelle Verfahren in der Onkologie M. Horneber, G. Büschel, G. Dennert, M. Wilhelm
29.1
Definition und Abgrenzung – 587
29.2
Verfahren – Eine Übersicht – 588
29.3
Erfolg: Anspruch und Belege
29.4
Beweggründe der Betroffenen
29.5
Anbieter – 604
29.6
Hilfe oder Risiko
29.7
Zum Umgang mit unkonventionellen Verfahren Literatur – 611
– 598 – 601
– 606 – 609
587 29.1 · Definition und Abgrenzung
> Einleitung
29.1
29
Verfahren der sog. »Alternativmedizin«, im Folgenden »unkonventionelle Verfahren« genannt, sind in der Onkologie weit verbreitet. Umfragen unter Patienten in Deutschland legen nahe, dass bis zu 80% aller Krebskranken zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Krankheitsverlaufs unkonventionelle Verfahren anwenden. Die Vielfalt dieser Verfahren ist groß, sie reicht von medikamentösen Präparaten über biotechnologische Methoden bis zu spirituellen Praktiken. In Deutschland lagen im Jahr 2007 die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen für Medikamente mit umstrittener Wirksamkeit bei etwa 600 Mio. Euro (Schwabe u. Paffrath 2008). Die meisten dieser Medikamente werden zeitgleich zur konventionellen onkologischen Behandlung eingesetzt, was nicht zuletzt zu pharmakologischen Wechselwirkungen führen kann. Es ist daher für jeden onkologisch tätigen Arzt nicht nur von akademischem Interesse, sich mit unkonventionellen Verfahren zu beschäftigen. Viele Patienten erwarten von ihrem Arzt, dass er über diese Maßnahmen informiert ist. Ein von onkologisch kompetenter Seite sachkundig und offen geführtes Gespräch über unkonventionelle Verfahren kann für die Betroffenen eine wertvolle Entscheidungshilfe sein. Wer sich mit diesem Thema eingehender beschäftigt, erfährt darüber hinaus eine Sensibilisierung für die Beweggründe und Bedürfnisse der Krebskranken und ihrer Angehörigen ebenso wie der Therapeuten, die zur weiten Verbreitung solcher Verfahren beitragen. Die folgende nähere Betrachtung unkonventioneller Verfahren und ihrer Begleitumstände in der Onkologie vermittelt einen phänomenologisch orientierten Überblick, trägt zu einem tieferen Verständnis bei und skizziert Möglichkeiten, wie konstruktiv mit dem Thema umgegangen werden kann.
Definition und Abgrenzung
In den vergangenen Jahren wurden viele Versuche gemacht, eindeutig zu definieren, was unter dem schillernden Begriff der »Alternativmedizin« zu verstehen ist (. Tab. 29.1). Allerdings ist es nicht gelungen, mit einer Definition das ganze Gebiet umfassend zu charakterisieren (Panel on Definition and Description 1997). Zu vielzählig und unterschiedlich sind die eingeschlossenen Diagnose- und Behandlungsverfahren und zu unscharf die Abgrenzung zur konventionellen und experimentellen Medizin (Kaptchuk u. Eisenberg 2001; Kaiser et al. 1998). Verwirrend ist, dass Bezeichnungen wie Erfahrungsmedizin, Ganzheitsmedizin, Naturheilkunde, traditionelle Medizin, biologische Medizin, komplementäre Medizin, unkonventionelle Heilverfahren, Außenseitermedizin oder Paramedizin einmal als gleichbedeutende Oberbegriffe gebraucht werden, ein anderes Mal als unterscheidende Kategorien und dann wiederum nur unscharf beschreibend verwendet werden. Beim Suchen nach einer allgemein akzeptierten Definition hat über die letzten Jahre ein Wandel der Wortwahl stattgefunden. Trugen in den 80er Jahren Begriffe wie »unwissenschaftlich«, »unbewiesen«, »paramedizinisch« und »unorthodox« zur Schärfe der Diskussion bei, betonen inzwischen Begriffe wie »komplementär« oder »integrativ« eher verbindende Aspekte. Neuere Definitionsversuche aus dem angloamerikanischen Sprachraum weisen auf die Möglichkeit einer konzeptuellen Erweiterung der Medizin hin, als Ausdruck einer zunehmenden Beachtung und eines offeneren Umgangs mit unkonventionellen Verfahren (Caspi et al. 2003). Eine Definition, die von charakteristischen Merkmalen ausgeht, die mit dem Einsatz unkonventioneller Verfahren verbunden sind, war und ist die Arbeitsgrundlage einer langjährigen praktischen und konzeptuellen Auseinandersetzung mit dem Thema:
Unkonventionelle Verfahren sind dadurch gekennzeichnet, dass die behauptete therapeutische Wirksamkeit (oder diagnostische Treffsicherheit), die Anwendern und Betroffenen bedeutsam erscheint, nicht oder nicht ausreichend durch wissenschaftlich anerkannte Untersuchungen belegt ist. (Horneber et al. 2003a)
Mit dieser Definition hängt es weniger von der Art des Verfahrens ab, sondern mehr von dem Spannungsfeld zwischen erhobenem Erfolgsanspruch und den dafür verfügbaren, aussagefähigen Belegen (Kaiser et al. 1998). Als »unkonventionell« muss demnach auch ein Vorgehen bezeichnet werden, bei dem Behandlungen, deren Wert für spezielle Krankheitssituationen nachgewiesen ist, unter anderen Bedingungen und mit anderen Erfolgsbehauptungen angewendet werden. So ist es auch von Dosis, Applikation, Kombination mit anderen Medikamenten, Zeitpunkt und nicht zuletzt dem Therapeuten selbst abhängig, ob eine Behandlung oder Diagnostik als unkonventionell anzusehen ist oder nicht. Etwaige andere belegbare positive Wirkungen des Verfahrens, die eventuell gar nicht erwähnt werden, bleiben davon unberührt. Durch diese Definition erfolgt eine Abgrenzung zum konventionellen Vorgehen in der Medizin, der sog. »Schulmedizin«. Unter konventionellem Vorgehen wird dabei ein auf dem aktuellen Kenntnisstand der Wissenschaft – nicht allein der Naturwissenschaft – begründetes System von Krankheits- und Therapiekonzepten, das in der Ausbildung gelehrt und in Forschung und der praktischen Versorgung weiterentwickelt wird, verstanden. Die oben genannte Definition grenzt unkonventionelle Verfahren aber auch zu solchen ab, die zur jeweiligen Zeit in Studien auf ihre Wirksamkeit geprüft werden. Werden solche experimentellen Verfahren allerdings schon vorzeitig und in übertriebener Form als z. B. »vielversprechende Chance« in der Öffentlichkeit angepriesen oder in unkontrollierter Form außerhalb klinischer
588
Kapitel 29 · Unkonventionelle Verfahren in der Onkologie
. Tab. 29.1. Überblick über verschiedene Definitionen
29
Bolt et al. (1984)
Unter paramedizinischen Behandlungsverfahren werden in der Onkologie alle Medikamente verstanden, deren Wirksamkeit in Bezug auf das Tumorleiden fraglich ist. Dies sind Medikamente, die von der Schulmedizin, die ihre Lehrmeinung auf wissenschaftlich begründete Argumente und Daten stützt, nicht anerkannt oder nicht empfohlen werden.
Nagel (1998)
Unkonventionelle Mittel in der Krebsmedizin sind solche, die von der Schulmedizin nicht anerkannt sind. Sie stammen aus der Homöopathie und Anthroposophie sowie aus anderen Medizinschulen (z. B. Traditionelle Chinesische Medizin) oder sind bei uns als eigenständige Therapeutika verbreitet und können wissenschaftlich überprüft werden. Nicht zu diesen Methoden rechnen wir Mittel und Verfahren, deren Wirkungen nicht überprüfbar sind und/oder der Paramedizin im engeren Sinne, d. h. der Quacksalberei, Scharlatanerie, religiösen und magischen Heilkunde, der Esoterik oder dem therapeutischen Autismus zugeordnet werden müssen.
Hager (1996)
Komplementäre Methoden sind ergänzende Maßnahmen in einer erweiterten Medizin, die biologische, naturheilkundliche und neuroimmunologische Methoden zur Aktivierung selbstregulierender Prozesse des menschlichen Organismus anwenden.
Jütte (1996)
Alternative Heilweisen sind solche, die in einer medizinischen Kultur, die selbst einem Wandlungsprozess unterworfen ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt oder über einen längeren Zeitraum von der etablierten medizinischen Richtung in unterschiedlichem Ausmaß abgelehnt werden, da sie diese teilweise oder völlig in Frage stellen bzw. auf eine unmittelbare und grundlegende Änderung des medizinischen Systems abzielen.
Ernst et al. (1995)
Complementary medicine is diagnosis, treatment and/or prevention which complements mainstream medicine by contributing to a common whole, by satisfying a demand not met by orthodoxy or by diversifying the conceptual frameworks of medicine.
Panel on Definition and Description (1997)
Complementary and alternative medicine is a broad domain of healing resources that encompasses all health systems, modalities, and practices and their accompanying theories and beliefs, other than those intrinsic to the politically dominant health system.
Kleinman (1984)
Alternate health care is considered to encompass all health-related practices initiated or prescribed by patients, their family or friends or an alternate healthcare healer.
Eisenberg et al. (2001)
Alternative therapies are defined as treatments that that are used specifically to influence the course of cancer and that are not used as standard medical treatments because of their non-medical character or the lack of proven efficacy; complementary therapies are treatments aimed at symptom control or enhancing the quality of patients’ lifes.
Studien eingesetzt – was nicht selten vorkommt – sind sie ebenfalls als unkonventionell zu bezeichnen (Gallmeier 2002).
29.2
Verfahren – Eine Übersicht
Die Vielfalt unkonventioneller Verfahren ist groß und Zahl und Art der jeweils anzutreffenden Verfahren zeitgeistabhängig und regional unterschiedlich. Sie umfasst Nahrungsergänzungsmittel und diätetische Empfehlungen, Medizinprodukte und Arzneimittel, technische und biotechnologische Verfahren, psychologische und spirituelle Methoden sowie komplexe Behandlungsverfahren fremder Kulturkreise (Horneber et al. 2008a; Verhoef et al. 2005). Medikamenten, die in Deutschland zugelassen sind und zu denen Fachinformationen, Anwendungserfahrungen und z. T. auch Kenntnisse aus Fallserien und klinischen Studien verfügbar sind, stehen zahllose Präparate gegenüber, die unreguliert über internationale Vertriebswege bezogen werden können und deren Inhaltsstoffe, Wirkungen und Nebenwirkungen weitgehend unbekannt sind. Der folgende Überblick orientiert sich an den Ergebnissen verschiedener Institutionen, die sich ähnlich wie die Arbeitsgruppe »Biologische Krebstherapie« der Deutschen Krebshilfe der Untersuchung dieser Verfahren gewidmet haben (NCCAM: http://www.nccam.nih.gov; SKAK: http://www.swisscancer.ch/ scac; CAM-Cancer: http://www.cam-cancer.org). Trotz der Schwierigkeiten, eine einheitliche Definition für das breite Spektrum an unkonventionellen Verfahren zu finden, ist es aus praktischen Gründen und für Forschungszwecke erfor-
derlich, diese zu kategorisieren. Dies ist unter verschiedenen Gesichtspunkten möglich, z. B. 4 nach der zugrunde gelegten Hypothese des Wirkungsmechanismus (z. B. biochemisch – psychologisch), 4 nach der behaupteten Wirkung (z. B. kurativ – supportiv), 4 nach der Schwere möglicher Nebenwirkungen (z. B. gering – hoch), 4 nach der Position im Verhältnis zur konventionellen Behandlung (z. B. ergänzend – alternativ), 4 nach der Art der Anbieter und des Umfelds (z. B. professionell – Selbsthilfe), 4 nach der Art der Methode. Die folgende Darstellung orientiert sich in erster Linie an der Art der Methode (. Tab. 29.2). 29.2.1 Häufigkeit und Kennzeichen der Inanspruchnahme
Umfragen unter Betroffenen haben ergeben, dass sich weltweit ein beträchtlicher Anteil aller Krebskranken zu irgendeinem Zeitpunkt des Krankheitsverlaufs für unkonventionelle Verfahren interessiert oder sie anwendet. Je nachdem, welche Gruppe von Patienten befragt wurde, in welchen Krankheitssituationen diese waren, auf welchen Zeitraum sich die Fragen bezogen oder welche unkonventionellen Verfahren eingeschlossen waren, variiert der Anteil jedoch erheblich (Horneber et al. 2008a). In Umfragen, die in Deutschland durchgeführt wurden, hatten zwischen 21% (Muthny u. Bertsch 1997) und 78%
589 29.2 · Verfahren – Eine Übersicht
29
. Tab. 29.2. Übersicht unkonventioneller Verfahren Kategorien
Beispiele
Medikamentöse Verfahren
Mistelextrakte, Thymusextrakte, Enzyme, Megamin, Ukrain, Factor AF2
Empfehlungen zur Ernährung
»Krebsdiäten«, Vitamine, Spurenelemente, Nahrungsergänzungsmittel, Kombucha, orthomolekulare Medizin
Technische Verfahren
Hyperthermie, Magnetfeld, Ozonbehandlung, systemische Krebsmehrschritttherapie (v. Ardenne), Galvanotherapie
Psychologische Verfahren
Visualisierung, Hypnotherapie, Geistheilung, Reiki, Biofeedback, Qi Gong
Manuelle Verfahren
Chirotherapie, Kinesiologie, Reflexzonenmassage, Osteopathie, Kraniosakraltherapie
Komplexe/traditionelle Konzepte
Homöopathie, anthroposophische Medizin, Hildegard-Medizin, Ayurveda, traditionelle chinesische Medizin, Akupunktur
Diagnostische Verfahren
Irisdiagnostik, Elektroakupunktur nach Voll, Auraskopie, optischer Erythrozytentest, Kirlian-Fotografie, Bioresonanzmessungen
. Tab. 29.3. Häufigkeit der Inanspruchnahme unkonventioneller Verfahren bei Krebspatienten in Deutschland Umfrage
Anzahl Patienten
Diagnosen
Inanspruchnahme
Am häufigsten angewendete Verfahren
Münstedt et al. (1996)
206
Gynäkologische Tumoren (Mammakarzinom 25%)
39%
Mistelpräparate Spurenelemente Vitamine (hochdosiert)
Muthny u. Bertsch (1997)
304
Lungenkarzinom Leukämien/Lymphome Kolorektalkarzinom
21%
Mistelpräparate Pflanzenpräparate Thymusextrakte
Grothey et al. (1998)
103
Verschiedene Tumoren
45%
Vitamine Mistelpräparate Naturheilkunde
Weis et al. (1998)
250
Verschiedene Tumoren
36%
Mistelpräparate Vitamine Spurenelemente
Kullmer et al. (1999)
170
Gynäkologische Tumoren
45%
Mistelpräparate Spurenelemente Vitamine (hochdosiert)
Fuhljahn u. Trams (1999)
119
Gynäkologische Tumoren
44%
Mistelpräparate Homöopathie Autogenes Training
Sehouli et al. (2000)
445
Gynäkologische Tumoren (Mammakarzinom 55%)
44%
Mistelpräparate Vitamine Selen
Kappauf et al. (2000)
128
Verschiedene Tumoren
32%
Diäten Mistelpräparate Vitamine
Schönekaes et al. (2003)
203
Mammakarzinom
78%
Vitamine Mistelpräparate Spurenelemente
Nicolaisen-Murmann et al. (2004)
1030
Gynäkologische Tumoren
49%
Mistelpräparate Vitamine/Spurenelemente Enzymtherapie
Nagel et al. (2004)
263
Mammakarzinom
31%
Vitamine (hochdosiert) Mistelpräparate Ozontherapie
Bruns et al. (2006)
1013
Verschiedene Tumoren
59%
Vitamine Mistelpräparate Selen
Hensel et al. (2008)
247
Lymphome (CLL)
44%
Vitamine/Spurenelemente Homöopathie Mistelpräparate
590
29
Kapitel 29 · Unkonventionelle Verfahren in der Onkologie
(Schönekaes et al. 2003) der Befragten unkonventionelle Verfahren eingesetzt, am häufigsten Mistelpräparate, Vitamine und Spurenelemente (. Tab. 29.3). Entgegen der weit verbreiteten Annahme weisen die Untersuchungen keineswegs darauf hin, dass Krebskranke mit weit fortgeschrittener Erkrankung und infauster Prognose häufiger auf unkonventionelle Verfahren zurückgreifen als Patienten in frühen Krankheitsstadien vor, während oder nach einer kurativen Behandlung (Wolf et al. 2008). In einzelnen Untersuchungen fanden sich Hinweise, dass jüngere Patienten mit höherem Bildungsniveau, beruflich Selbstständige und Frauen häufiger unkonventionelle Verfahren anwenden. Für andere Faktoren wie Religion, Familienstand, Krankheitsstadium, Symptome, angewandte Therapieart und subjektive Krankheitseinschätzung bestanden dagegen nur geringe oder keine Unterschiede (Verhoef et al. 2005). 29.2.2 Diagnostische Verfahren
Unkonventionelle Diagnoseverfahren sind für Betroffene attraktiv, da durch die Anbieter der Anspruch erhoben wird, Krebserkrankungen schon in einem sehr frühen Stadium erkennen zu können (Oepen 1993). Die mit diesen Verfahren diagnostizierten »Präkanzerosen« sind dabei nicht zu verwechseln mit den eindeutig definierten Präkanzerosen der konventionellen Onkologie. Diagnostische Tests dieser Art sind weniger auf wissenschaftliche Untersuchungen gestützt, als auf Hypothesen der Anbieter zur Kanzerogenese. Mit ihnen sollen häufig biochemische Störungen nachgewiesen werden, die aus Veränderungen des Zellstoffwechsels resultieren, die wiederum am Beginn einer malignen Entartung der Zelle stehen (Oepen 1993). Dieses »Vorstadium«, das im Durchschnitt 7–12 Jahre dauern soll, biete, so die Angaben der Anbieter, besonders günstige Aussichten auf Heilung. Um diese zu erreichen, wird in der Regel zu einem Zeitpunkt, an dem mit konventionellen Methoden kein Nachweis einer Krebserkrankung vorliegt, die Anwendung einer oder mehrerer unkonventioneller Behandlungen empfohlen (Leibold 1996). Zur Attraktivität solcher Test trägt zusätzlich bei, dass sie in den meisten Fällen wenig aufwendig und invasiv sind und nach dem Anspruch der Anbieter einfach und schnell zu einem eindeutigen Ergebnis führen (Oepen u. Seichert 1995). Der Einsatz dieser sog. »Krebstests« und anderer diagnostischer Verfahren wird von kompetenten Untersuchern als unkonventionell bezeichnet, da deren behauptete diagnostische Treffsicherheit nicht durch entsprechende Studien belegt oder sogar widerlegt ist (Kap. 8 in Saller u. Feiereis 1997). In diesem Zusammenhang berichtet z. B. eine aktuelle Studie zur Dunkelfeldmikroskopie nach Enderlein, einer Methode mit der Krebserkrankungen frühzeitig im Blut zu entdecken sein sollen und die in Deutschland und den USA in den letzten Jahren von zahlreichen Ärzten und Heilpraktikern eingesetzt wurde, dass mit diesem Verfahren keine verlässliche Diagnostik von Krebserkrankungen möglich war: Der Test wies in dieser Untersuchung eine Sensitivität von 0,25 und Spezifität von 0,64 auf (Rutten et al. 2006). Auch andere Untersucher bestätigten die unzureichende Diskriminationsfähigkeit dieses Tests (Teut et al. 2006). Häufiger als die Anwendung solcher, wissenschaftlich kaum oder nicht begründeter Diagnoseverfahren ist allerdings der unkonventionelle Einsatz von Verfahren aus der aktuellen klinischen Forschung, deren Validität noch nicht ausreichend gesichert ist.
So werben große Laborarztpraxen z. T. in Zusammenarbeit mit Universitäten unter den Schlagwörtern »molekulare Onkologie« und »Tumorfrüherkennung« für den Nachweis von Tumorzellen im Blut und Knochenmark, ohne dass die diagnostische Zuverlässigkeit dieser Untersuchungen gesichert ist (Zach u. Lutz 2006). Damit wird wiederum deutlich, dass auch die Anbieter unkonventioneller diagnostischer Verfahren sich nicht durch ihre Berufszugehörigkeit von der »Schulmedizin« abgrenzen lassen. 29.2.3 Ernährungsempfehlungen
und Nahrungsergänzungsmittel Mit unkonventionellen Diätanweisungen, sog. »Krebsdiäten«, wird der Anspruch verbunden, den Krankheitsverlauf bis hin zur Heilung günstig beeinflussen zu können oder eine Rezidivprophylaxe zu ermöglichen (Ollenschläger 1995; Maritess et al. 2005). Sie sind in der Regel durch Empfehlungen und Verbote bestimmter Nahrungsmittel, Supplemente und Zubereitungsformen gekennzeichnet und werden von Grossenbacher u. Hauser 1992) in folgende Gruppen eingeteilt: 4 Diätformen, bei denen Fasten im Vordergrund steht (z. B. Heilfasten nach Buchinger) 4 Saftkuren mit Eiweißrestriktion (z. B. Krebskur-total nach Breuss) 4 Rohkostdiäten (z. B. nach Burger), 4 vegetarisch-vollwertige Kostformen (z. B. Gerson-Diät), 4 spezielle Kuren und Diäten (z. B. nach Moermann), sowie 4 Ernährungsrichtlinien im Rahmen eines eigenständigen Medizinkonzeptes (z. B. Homotoxinlehre nach Reckeweg). Für keine dieser Diätformen oder Supplemente konnte bisher überzeugend gezeigt werden, dass sie zu Remissionen von Krebserkrankungen oder einer Verlängerung der rezidivfreien oder Gesamtüberlebenszeit führen, wie das viele ihrer Befürworter immer wieder behaupten (Ritter 2002). Die aufgeführten Ernährungsvorschriften unterscheiden sich z. T. erheblich. Dabei handelt es sich bei vielen dieser Diäten um laktovegetabile Kostformen, bei denen vor Fleisch und übermäßigem Kochsalzkonsum gewarnt wird und die – auch wenn ihnen häufig unbewiesene Hypothesen zugrunde liegen – den vorsichtig formulierten Empfehlungen wissenschaftlicher Fachgesellschaften, wie z. B. denen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (http://www.dge.de), oder des Weltkrebsfonds (http: //www.wcrf-de.org) durchaus nahe kommen (Weitzman 1998). Andere Diätformen dagegen, wie z. B. die »Krebskur-total nach Breuss« oder die »Gerson-Diät« sind abzulehnen, da sie durch die extremen Diätvorschriften die Gefahr bergen, krankheitsbedingte Malnutrition zu verstärken und die Betroffenen dadurch zu gefährden (CAM-Cancer Consortium 2005; Imoberdorf 2001). Die Ergebnisse von Umfragen zeigen, dass nur wenige Tumorpatienten eine eigentliche »Krebsdiät« suchen, sondern dass viele Betroffenen das Bedürfnis haben, ihre Ernährung umzustellen und durch Supplemente zu ergänzen (. Tab. 29.3; Horneber et al. 2008a). Eine wissenschaftlich fundierte Ernährungsberatung, die sich individuell an den Beschwerden und Bedürfnissen der Betroffenen orientiert, die krankheits- oder therapiebedingte Defizite an Nährstoffen berücksichtigt und die ggf. ernährungstherapeutisch tätig wird, ist nicht nur deshalb für Krebspatienten von großem praktischen Wert (Ravasco et al. 2005; Rock 2005; Bass u.
591 29.2 · Verfahren – Eine Übersicht
Cox 1995; Champetier et al. 2000; Schiller et al. 1998). Hierdurch kann die Hoffnung der Betroffenen, mit diätetischen Maßnahmen positiv auf den Krankheitsverlauf einzuwirken, auf gesicherte Empfehlungen und Maßnahmen gerichtet und so die Anwendung risikoreicher Krebsdiäten und Einnahme überflüssiger Nahrungsergänzungsmittel vermieden werden (Reedy et al. 2005). Antioxidanzien Zu den häufig genannten, natürlichen Antioxidanzien in der Ernährung zählen Vitamin C, die Tocopherole der Vitamin-EFamilie und zahlreiche sekundäre Pflanzenstoffe, wie z. B. das zu den Carotinoiden gehörende Lycopin, aber auch das Spurenelement Selen. Aktuellen Umfragen zufolge nehmen zahlreiche Krebspatienten Vitamin- und Spurenelementpräparate ein (. Tab. 29.3), nicht selten in Dosierungen, die mehr als das 10fache des empfohlenen Tagesbedarfs betragen (Kullmer et al. 1999; Kummer 1997) und zumeist zusätzlich zu ihrer konventionellen Krebstherapie (Schönekaes et al. 2003). Die Motivationen der Betroffenen hierfür sind, Nebenwirkungen der Chemo- oder Strahlentherapie zu mindern, Funktionen des Immunsystems zu stärken oder auch die Krebserkrankung direkt zu beeinflussen. Da Labor- und Tierversuchsdaten zeigen, dass Vitamine und andere Stoffe mit antioxidativen Wirkungen Zellen tatsächlich vor Schäden durch ionisierende Strahlen oder Zytostatika schützen können, erscheinen die häufigen Behauptungen naheliegend, dass mit Antioxidanzien toxische Nebenwirkungen der Bestrahlung und Chemotherapie gemindert werden können. Die Ergebnisse vorklinischer Studien zu dieser Thematik ergeben allerdings kein einheitliches Bild (Dennert u. Horneber 2004). Aus ihnen kann sogar auch gefolgert werden, dass Stoffe mit antioxidativen Wirkungen maligne entartete Zellen in gleicher Weise vor den Effekten von Chemotherapeutika und ionisierenden Strahlen schützen könnten, was zu einer Verminderung der Wirksamkeit dieser Therapien führen würde (Seifried et al. 2003). Trotz zahlreicher kritischer Stimmen, die eine solche Abschwächung der Wirksamkeit befürchten, wird die Einnahme von Antioxidanzien während der Strahlen- und Chemotherapie, nicht selten in hochdosierter Form, von vielen Stellen (z. B. http://www.biokrebs-heidelberg.de) und in zahlreichen Büchern (Beuth 2004; Beyersdorff 1997) unkritisch empfohlen, z. T. mit dem Hinweis auf eine selektiv protektive Wirkung, die auf nicht bösartige Zellen begrenzt sein soll (Gröber 2000). Und das, obwohl die Ergebnisse einiger Untersuchungen durchaus nahelegen, dass die Effektivität zytotoxischer Substanzen, z. B. durch Vitamin C gemindert werden könnte: Vitamin C wird z. B. in seiner oxidierten Form, dem Dehydroascorbat, über einen membranständigen Glukosetransporter in die Zelle aufgenommen und akkumuliert intrazellulär. In maligne entarteten Zellen findet sich nicht selten eine vermehrte Aktivität dieser Glukosetransporter, und somit auch eine erhöhte Konzentration intrazellulärer Glukose und Ascorbinsäure (Vera et al. 1995, 1993). Aus diesen Ergebnissen könnte die Schlussfolgerung gezogen werden, dass Vitamin C Krebszellen stärker als nicht entartete Zellen vor den oxidativen Schäden einer Strahlenund/oder Chemotherapie schützt. Empirische Daten hierzu stammen allerdings aus vorklinischen Untersuchungen und sind noch uneinheitlich. Doch auch die Ergebnisse klinischer Studien lassen Bedenken gegenüber einem unkritischen Einsatz von Antioxidanzien aufkommen (Moss 2006). Die randomisierten Studien, in denen geprüft wurde, ob Vitamin C eine gegenüber Placebo überlegene Wirksamkeit auf das Überleben von Menschen mit fortgeschrittenen Tumorer-
29
krankungen hat – eine der von Cameron, Campbell und Pauling behaupteten positiven Wirkungen von Vitamin C –, bestätigten die mit diesem Vitamin verbundenen therapeutischen Hoffnungen nicht. Die Ergebnisse einer Kohortenstudie mit Brustkrebspatientinnen ließen sogar Bedenken aufkommen, dass die Einnahme hochdosierter, antioxidativ wirksamer Vitamine und Spurenelemente auch negative Auswirkungen auf das krankheitsspezifische Überleben und die Rückfallhäufigkeit haben könnte (Lesperance et al. 2002). Auch zwei große Studien zur Prävention von Lungenkrebs zeigten Ergebnisse, die schädliche Effekte antioxidativer Substanzen (β-Karotin, Retinol und Vitamin E) auf die Erkrankungshäufigkeit zumindestens möglich erscheinen lassen (ATBC/CARETStudien). Eine systematische Übersichtsarbeit, die die Auswirkungen von Antioxidanzien auf die Erkrankungshäufigkeit an gastrointestinalen Malignomen untersuchte, konnte weder positive Effekte zeigen, noch die Bedenken zerstreuen, dass antioxidative Supplemente nicht auch nachteilige Auswirkungen haben könnten (Bjelakovic et al. 2004b; Bjelakovic et al. 2004a). Nimmt man zu diesen Ergebnissen noch die zweier kürzlich veröffentlichter, randomisierter Interventionsstudien hinzu, in denen zwar positive Effekte auf die Rate unerwünschter Strahlentherapie-, bzw. Chemotherapiewirkungen gezeigt wurden, aber die auch von kürzeren Überlebenszeiten und höheren Rückfallraten in den Gruppen berichteten, die antioxidative Vitamine und Spurenelemente eingenommen hatten, so verdichten sich die Hinweise dafür, dass auch schädliche Auswirkungen durch die Einnahme von Antioxidanzien möglich sind (Bairati et al. 2005a; Camphausen et al. 2006; Bairati et al. 2005b; Pace et al. 2003). Nicht unerwähnt darf bleiben, dass alle diese Ergebnisse kontrovers diskutiert wurden (Prasad u. Cole 2006; Bairati u. Meyer 2006). Angesichts der Komplexität des Themas, der bisherigen Kenntnisse und der zahlreichen offenen Forschungsfragen mahnen die Ergebnisse zumindestens zur Zurückhaltung bei der Empfehlung von hochdosierten Nahrungsergänzungsmitteln, insbesondere während Chemo- und Strahlentherapie. 29.2.4 Medikamente
Pflanzliche Präparate und solche aus Organextrakten zählen, neben Änderungen der Ernährungsgewohnheiten und der Einnahme verschiedenster Nahrungsergänzungsmittel (7 Abschn. 29.1.), zu den am weitesten verbreiteten unkonventionellen Verfahren (. Tab. 29.3). Viele Präparate dieser Gruppen sind für unterschiedlichste Indikationen zugelassen, manche frei in jeder Apotheke käuflich, und die Kosten werden teilweise von den Krankenkassen erstattet. Als »Therapieziele« vieler dieser medikamentösen Behandlungen werden bei Krebspatienten neben einer direkten tumorspezifischen Wirksamkeit eine »Stärkung des Immunsystems«, die Verminderung der Nebenwirkungen der konventionellen Therapie oder eine Verbesserung der »Lebensqualität« angeführt. Mistelpräparate Mistelpräparate gehören in Deutschland zu den am häufigsten bei Krebserkrankungen eingesetzten Behandlungsverfahren (. Tab. 29.3; Kaiser 2001). Sie lagen in den vergangenen Jahren in der Reihenfolge der meistverkauften Medikamente auf Rängen, die von kaum einem in der Onkologie eingesetzten antineoplastischen Medikament, erreicht wurden (Schwabe u. Paffrath 2005).
592
29
Kapitel 29 · Unkonventionelle Verfahren in der Onkologie
Und das, obwohl die Mehrzahl der systematischen Übersichtsarbeiten zur Misteltherapie deren klinische Wirksamkeit als bisher nicht ausreichend durch entsprechende klinische Studien gesichert einstuft (Kleijnen u. Knipschild 1994; Kienle et al. 2003; Ernst et al. 2003; Horneber et al. 2008b) Zur Misteltherapie sind im Jahr 2008 auf dem deutschen Arzneimittelmarkt acht verschiedene Präparate verfügbar (ABNOBAViscum, Cefalektin, Eurixor, Eurixor Loges, Helixor, Iscador, Iscucin, Lektinol). Mistelpräparate werden aus wässrigen Auszügen oder Presssäften der Frischpflanze gewonnen. Jeder Hersteller produziert nach eigenen pharmazeutischen Richtlinien, sodass sich die einzelnen Mistelpräparate als Vielgemischsubstanzen in ihren Zusammensetzungen z. T. erheblich unterscheiden. Anthroposophische Anbieter differenzieren bei den Präparaten nach den Wirtsbäumen, von denen die Mistel gewonnen wurde (ABNOBAViscum, Helixor, Iscador, Iscucin), während die anderen Hersteller Misteln verwenden, die auf Pappeln gewachsen sind (Cefalektin, Eurixor, Eurixor Loges, Lektinol). Typischerweise werden Mistelpräparate mehrmals wöchentlich subkutan injiziert, wofür von anthroposophischen Anbietern Serienpackungen mit ansteigenden Konzentrationen der Mistelextrakte zur Verfügung stehen und individuelle Dosierungen empfohlen werden, die sich nach der Reaktion des Patienten richten. Demgegenüber sind die Präparate Eurixor und Lektinol auf den Gehalt an Mistellektin normiert und werden, nach anfänglich einschleichender Dosierung, in gleichbleibender Dosis appliziert. Die Unterschiede in Herstellung, Zusammensetzung, Konzentration und Dosierung der Präparate bedingen eine Vielfalt, die die Bewertung der vorklinischen und klinischen Forschungsergebnisse, die mit verschiedenen Präparaten erzielt wurden, enorm erschwert. Eine monografische Darstellung der Forschungsarbeiten zur Misteltherapie findet sich bei Kienle u. Kiene (2003). In . Tab. 29.4 und 29.5 sind alle randomisierten Studien, die in eine aktuelle systematische Übersichtsarbeit eingeschlossen wurden, aufgeführt (Horneber et al. 2008b). Von 21 randomisiert-kontrollierten Studien berichteten 13 Ergebnisse zur Überlebenszeit der Patienten, sieben zum Ansprechen der Tumoren auf die Therapie, 16 zur Lebensqualität, zu psychologischen Faktoren, Symptomskalen oder zum KarnofskyIndex. Zwölf Studien berichteten über Nebenwirkungen der Misteltherapie. Fünf der sechs Studien, die von einem Überlebensvorteil für Patienten berichteten, die Mistelextrakte erhalten hatten, weisen in Aufbau, Durchführung und Bericht schwerwiegende Mängel auf, sodass die Ergebnisse nur sehr eingeschränkt beurteilbar sind und Empfehlungen für die Behandlungspraxis daraus nicht abgeleitet werden können (Cazacu et al. 2003; Douwes et al. 1986; Grossarth-Maticek et al. 2001; Lenartz et al. 2000). Sieben Studien fanden keinen gesicherten Überlebensvorteil (Dold et al. 1991; Goebell et al. 2002; Heiny u. Albrecht 1997; Kleeberg et al. 2004; Lümmen et al. 2001; Salzer et al. 1991; Steuer-Vogt et al. 2001). Vier dieser Studien geben aufgrund der methodischen Qualität ausreichend Hinweise, dass die jeweils eingesetzten Mistelextrakte in der gewählten Dosis und Applikation keine überzeugende Wirksamkeit auf das Überleben der Patienten in den untersuchten Krankheitssituationen haben (Dold et al. 1991; Goebell et al. 2002; Kleeberg et al. 2004; Steuer-Vogt et al. 2001). Drei Studien berichteten höhere Tumoransprechraten in den Gruppen, die Mistelextrakte erhalten hatten (Borrelli 1999; Douwes et al. 1986; Lange et al. 1993), drei fanden keine Unterschiede
(Dold et al. 1991; Heiny u. Albrecht 1997; Piao et al. 2004) und eine berichtete von geringeren Ansprechraten (Lümmen et al. 2001). Acht Studien berichteten von Behandlungsvorteilen für Patienten, die Mistelextrakte während der Chemotherapie erhalten hatten (Cazacu et al. 2003; Douwes et al. 1986; Heiny 1991; Heiny u. Albrecht 1997; Lange et al. 1993; Piao et al. 2004; Steuer-Vogt et al. 2001; Semiglasov et al. 2006). Die methodischen Mängel in Aufbau, Durchführung und Bericht lassen nur bei zwei der Studien Aussagen zu, die für die aktuelle Behandlungspraxis relevant sein könnten (Semiglasov et al. 2004; Semiglasov et al. 2006). Beide Studien wurden von einem Anbieter von Mistelpräparaten durchgeführt. Die Autoren dieser Arbeiten hatten in der ersten Studie die Wirksamkeit von unterschiedlich dosierten Mistelextrakten auf Faktoren der Lebensqualität von Brustkrebspatientinnen während einer adjuvanten Chemotherapie untersucht (Semiglasov et al. 2004). Der berichtete Behandlungsvorteil für die mit Mistelextrakten in mittlerer Dosierung behandelten Patientinnen wurde in der Folgestudie (Semiglasov et al. 2006) bestätigt (. Tab. 29.4). Obwohl die tatsächlichen Unterschiede in der gemessenen Lebensqualität zwischen den Behandlungsgruppen gering waren, legt die statistische Untersuchung einen positiven Effekt der Misteltherapie nahe. Allerdings müssen auch diese Ergebnisse mit Zurückhaltung interpretiert werden, da in beiden Studien von einer nicht unerheblichen Rate von Entblindungen berichtet wurde, die durch Hautreaktionen bedingt waren. Die häufigste Nebenwirkung, die bei der Anwendung von Mistelpräparaten berichtet wird, ist eine Rötung der Haut an der Einstichstelle, z. T. verbunden mit Prurigo und leichter Induration. Diese Reaktion ist abhängig von der Konzentration der Mistelinhaltsstoffe und tritt bei ca. 10–20% der Patienten auf, die Präparate mit geringem Gehalt an Mistellektinen anwenden und bei nahezu allen Patienten, die solche mit höherem Gehalt anwenden (Typ-III-Reaktion; Stein u. Berg 1999). Auch eine vorübergehende leichte Erhöhung der Körpertemperatur (+0,5-1°C) kann, ebenfalls abhängig von der Konzentration der Mistelextrakte, inbesondere zu Beginn der Behandlung auftreten. Diese Nebenwirkungen werden von den Vertretern einer anthroposophisch-medizinischen Misteltherapie als erwünschte Wirkungen gesehen, nach denen die Dosierung angepasst wird. Schwere allergische Reaktionen sind beschrieben, treten aber selten auf (Stein u. Berg 2000; Saller et al. 2005; Hutt et al. 2001). In den 21 aufgeführten klinischen Studien wurde als schwere unerwünschte Wirkung ein Verlauf mit Urtikaria und einer mit generalisiertem Angioödem beschrieben (Hutt et al. 2001). In den vergangenen Jahren wurde wiederholt diskutiert, ob Mistelextrakte oder einzelne Inhaltsstoffe mögliche wachstumsfördernde Wirkungen auf Tumorerkrankungen haben. Anlass hierfür waren Ergebnisse aus Studien an Zellkulturen und Tiermodellen, in denen isoliertes Mistellektin zu Proliferationssteigerungen geführt hatten (Timoshenko et al. 2001). Diese Ergebnisse konnten allerdings in darauffolgenden Arbeiten ausnahmslos nicht bestätigt werden (Pryme et al. 2006; Thies et al. 2005; Burger et al. 2003; Büssing et al. 2004). Die Daten der klinischen Studien zeigen keine verlässlichen Hinweise auf ein mit der Misteltherapie verbundenes Risiko dieser Art. Auf einem internationalen Kongress (ASCO 2001) wurden vor der Publikation der Gesamtergebnisse einer EORTC-Studie zur Behandlung des Melanoms die Ergebnisse einer retrospektiven Subgruppenanalyse so dargestellt, dass der Eindruck erweckt wurde, dass die Behandlung mit Mistelextrakten das Risiko für die Entwicklung zerebraler Metastasen erhöhte (Zitat) (Eggermont et al. 2001). Diese
29
593 29.2 · Verfahren – Eine Übersicht
. Tab. 29.4. Randomisiert-kontrollierte Studien zur Misteltherapie (Studien mit Mistelextrakten, die für den Gehalt an Mistellektin normiert wurden; Studienautoren in alphabetischer Reihenfolge) Studie/Design
Diagnose
Teilnehmera
Behandlung
Ergebnisse
QWb
Borrelli (1999) einseitig verblindet, 2-armig
Mammakarzinom, metastasiert
30/30 (IG: 20 Patientinnen, KO: 10 Patientinnen)
Intervention (IG): Lektinstandardisierter Mistelextrakt, s.c. (1 ng ML-1/kg KG), 3x wöchentl. über 3 Monate Kontrolle (KO): Placebo (destilliertes Wasser)
Lebensqualität-Index (QLI Spitzer): höherer QLI nach 3 Monaten in IGc Tumoransprechen: 4/20 partielle Remissionen in IG vs. 0/10 in KO
4/3d
Goebell et al. (2002) offen, 2-armig
Harnblasenkarzinom, transurethral reseziert [pTa G1-2; stage 0a (AJCC)]
45/44
IG: Eurixor, s.c., 2× wöchentl. für 3 Monate, dann 3 Monate Pause (1 Kurs), max. 3 Kurse. KO: keine Behandlung
Krankheitsfreies Überleben und Rezidivrate: keine sign. Unterschiede
6/3
Heiny (1991) offen, 2-armig
Mammakarzinom (fortgeschrittene Stad.)
46/40
IG: Eurixor, i.v. (1 ng ML-I per kg KG) in 100 ml NaCl (Tag 1,2,4,5 der Cx) dann s.c. 1–2× wöchentl. KO: 100 ml NaCl Beide Gruppen: VEC, 6 Kurse
Lebensqualität (Befindlichkeitsindexe): bessere Werte in IG (Vergleich vor Beginn und nach Abschluss der Chemotherapie)c Angst (Angstindexe): geringere Werte in IG (Vergleich vor Beginn und nach Abschluss der Chemotherapie)c Chemotherapie-Toxizität: höhere Leukozytenwerte in IG (MW ohne STD, Messzeitpunkt unklar)
2/2
Heiny u. Albrecht (1997) offen, 2-armig
Kolorektalkarzinom metastasiert
107/79
IG: Eurixor, s.c. (0,5–1 ng ML-I per kg KG), 2× wöchentl. über 8 Wochen, nach 2 Wochen Pause, wiederholt KO: keine zusätzliche Behandlung Beide Gruppen: 5-FU 600 mg/m2 + FA 200mg/m2 (Tag 1–5, alle 4 Wochen wiederholt)
Lebensqualität (FACT): ab 12. Behandlungswoche bessere Werte in IGc Gesamtüberleben, krankheits- und progressionsfreies Überleben und Tumoransprechen: keine sign. Unterschiede Symptomskalen: keine sign. Unterschiede
4/1
Lenartz et al. (1996) offen, 2-armigh
Astrozytome (Grad III/IV), postoperativ
35/26
IG: Eurixor, s.c. (1 ng ML-1 per kg KG), 2× wöchentl. für 3 Monate KO: keine zusätzliche Behandlung Beide Gruppen: Dexamethason (24 mg/Tag, Dauer unklar), Radiotherapie (60 Gy)
Lebensqualität (QLU Spitzer): besserer Wert in IG f
1/1
Lenartz et al. (2000) offen, 2-armigh
Astrozytome (alle Stad.), postoperativ
38/29
Siehe Lenartz (1996)
Gesamtüberleben: 21,7 Monate in IG vs. 17,3 in KOg, Subgruppe mit Stad. III/IV (Anzahl der Pat. unklar) in IG lebte 20,1 vs. 9,9 in KOc krankheitsfreies Überleben: 14,4 Monate in IG vs. 14,8 in KO, Subgruppe mit Stad. III/IV (Anzahl der Pat. unklar) in IG 17,4 Monate vs. 10,5 Monate in KO
1/1
594
Kapitel 29 · Unkonventionelle Verfahren in der Onkologie
. Tab. 29.4 (Fortsetzung)
29
Lümmen et al. (2001) offen, 2-armig
Nierenzellkarzinom, metastasiert
176/176
Misteltherapie : Eurixor, s.c., 1 ml 2× wöchentl. KO: IFN-α, s.c 4,5 MU/m2 d1 Woche 1+4 und d1, 3, 5 Woche 2+3, 9 MU/m2 d1, 3, 5 Woche 5–8; IL-2 9MU/m2 d3, 4, 5 Woche 1+4; 4,5 MU/m2 d1, 3, 5 Woche 2+3; 5-FU 750 mg/m2 i.v. d1 Woche 5– 8; 2 Kurse, bei Ansprechen 3
Gesamtüberleben: 21 Monate in IG vs. 13 Monate in KOg Tumoransprechen: 2 partielle Remissionen in IG vs. 7 komplette und 15 partielle in KO Behandlungstoxizität: WHO III UAW in 7% der IGvs. 30% in KO
3/2
Schwiersch et al. (1999) (unveröffentlicht) doppelblind, 2-armig
Mammakarzinom (Stad. I-III) adjuvante Behandlung abgeschlossen
171/166
IG: Lektinol, s.c. (2.5μl per kg KG), 2× wöchentl. für 4 Wochen KO: Placebo Beide Gruppen: onkologisches Rehabilitationsprogramm
Psychosoziale Belastung, Lebensqualität und Karnofsky-Index: keine sign. Unterschiede Höhere Werte für IG in Subskalen
5/4d
Semiglasov et al. (2004) doppelblind, 4-armig
Mammakarzinom (Stad. II-III), adjuvant
272/261
IG-A: Lektinol, s.c. (0,5 ml mit 5 ng ML-I), IG-B: Lektinol, s.c. (0,5 ml mit 15 ng ML-I), Ig-C: Lektinol, s.c. (0,5 ml mit 35ng ML-I), 2× wöchentl. für 15 Wochen KO: Placebo Beide Gruppen: 4 Kurse CMF
Lebensqualität (GLQ-8, Spitzer’s QLU): bessere Werte in IG-B verglichen mit Placebo (Vergleich: vor Beginn und nach Abschluss der Chemotherapie)c Lebensqualität (QLQ-C30): keine sign. Unterschiede
4/4d
Semiglasov et al. (2006) doppelblind, 2-armig
Mammakarzinom (Stad. I-III), adjuvant
352/337
IG: Lektinol, s.c. (0,5 ml mit 15ng ML-I) 2× wöchentl. für 16–24 Wochen während Chemotherapie und 8 Wochen danach KO: Placebo Beide Gruppen: 4–6 Kurse CMF
Lebensqualität: bessere Werte in IG (Vergleich: vor Beginn und nach Abschluss der Chemotherapie, bzw. 2-monatige Nachfolgeuntersuchung)c
4/4d
Steuer-Vogt et al. (2001) offen, 2-armig (4 Strata)
HNO Plattenepithelkarzinom (Stad. I-IV), postoperativ
495/450
IG (beide Strata): Eurixor, s.c., (1 ng ML-1 per kg KG), 2× wöchentl. für 60 Wochen, alle 12 Wochen, 4 Wochen Pause. KO: Stratum A: keine Behandlung; Stratum B: Strahlentherapie)
Krankheitsfreies Überleben, krankheitsspezifisches Überleben, Gesamtüberleben und Lebensqualität (QLQ-C30): keine sign. Unterschiede
6/3
a b
c d
e f g h
randomisiert/ausgewertet QW (Qualitätswerte) = Punktzahl der Delphi-Liste (Punkte für: Randomisation, Verblindung, Vergleichbarkeit der Gruppen, Nennung der Ein-/ Ausschlusskriterien, Angabe der Schätzwerte mit Streumaßen, Durchführung einer »Intention-to-treat«-Analyse; maximaler Wert=9; Verhagen et al. 1998) / Punktzahl des Jadad Scores (Punkte für Randomisation, Verblindung, Bericht von Studienabbrechern; maximaler Wert=5; Jadad et al. 1996) p ≤ 0,05 Bei allen verblindet angelegten Studien kam es zu teilweiser bzw. vollständiger Entblindung, z. B. durch Hautreaktionen auf Mistelextrakte und Abwertung für »Verblindung« in QW selbst erstellte Indizes, Bewertung durch Behandler keine statistische Analyse durchgeführt nicht signifikant Lenartz et al. (1996) und Lenartz et al. (2000) berichten über unterschiedliche Zielparameter und Beobachtungszeiten der gleichen Studie
29
595 29.2 · Verfahren – Eine Übersicht
. Tab. 29.5. Randomisiert-kontrollierte Studien zur Misteltherapie (Studien mit Mistelextrakten, die prozessstandardisiert hergestellt und nicht für den Gehalt an Mistellektin normiert wurden; Studienautoren in alphabetischer Reihenfolge) Studie/Design
Diagnose
Teilnehmera
Behandlung
Ergebnisse
QWb
Auerbach et al. (2005) doppelblind, 2-armig (Pilotstudie)
Mammakarzinom (T1-2, N0-1, M0), pre- und postmenopausal, adjuvant
23/16
IG: Helixor A, s.c., 3× wöchentl. über 6 Monate KO: Placebo Beide Gruppen: 6 Kurse CMF + Strahlenth. bei brusterhaltender OP (50 Gy, 13 Pat.)
Lebensqualität (QLQ C30) und Karnofsky-Index: keine Unterschiede
3/3d
Cazacu et al. (2003) offen, 3-armig
Kolorektalkarzinom (Dukes C und D), postoperativ
64/64
IG: Isorel 5 mg/kg in NaCl, i.v., 3× wöchentl. Ko-A und IG: 6 Kurse 5-FU (DeGramont-oder Mayo-Schema) KO-B: keine Behandlung
Gesamtüberleben:Dukes C: 757 Tage in IG vs. 547 in KO-Ac und 502 in KO-B. Dukes D: 505 Tage in IG vs. 214 in KO-A und 451 in KO-Bc
2/2
Dold et al. (1991) offen, 3-armig
NSCLC (alle Stadien), inoperabel, unbehandelt
408/337
IG: Iscador (Ulmi cum Hydrarg.) und Iscador (Querci cum Hydrarg.) in verschiedenen Konzentrationen, 3× wöchentl., Behandlungsdauer unbegrenzt KO-A: ‚Polyerga Neu‘ (1 ml, enthält 30 μl Glykopeptide aus Milzextrakt), i.m. 1× wöchentl. KO-B: ‚BVK Roche‘ (7 Vitamine der B-Gruppe), 1 Amp. i.m., 1x wöchentl.
Gesamtüberleben: 9,1 Monate in IG vs. 9,0 in KO-A vs. 7,6 in KO-Bf Tumoransprechen: keine sign. Unterschiede Befinden: Besserung bei 59% der Pat. in IG vs. 43% in KO-A vs. 45% in KO-Bc Karnofsky-Index: keine sign. Unterschiede Symptomskalen: keine sign. Unterschiede
6/3
Douwes et al. (1986) offen, 3-armig
Kolorektalkarzinom, metastasiert (teilweise vorbehandelt)
60/60
IG: Helixor, s.c., täglich, langsam ansteigende Konzentration bis 200 mg, dann 200 mg weiter. KO- A: NeyTumorin (Organextrakt), i.v. or s.c., 2× wöchentl., langsam ansteigende Konzentration bis 30 mg, dann 30 mg weiter KO-B: keine zusätzliche Behandlung Alle Gruppen: 5-FU (Mayo Schema)
Tumoransprechen: keine sign. Unterschiede Gesamtüberleben: Pat. mit PR/CR/MR) in IG lebten 26,7 Monate vs. 23,7 in KO-A vs. 13,6 in KO-B.ePat. mit NC/PD in IG lebten 11,9 Monate vs. 12,4 in KO-A vs. 4,8 in KO-Be
4/2
Grossarth-Maticek et al. (2001a) offen, 2-armig, eingefügt in Kohortenstudie
Verschiedene Karzinome (alle Stadien)
98/78
IG: Patienten wurden aufgefordert, sich mit Iscador behandeln zu lassen KO: keine Aufforderung
Gesamtüberleben (MW): 3,49 Jahre in IG vs. 2,45 Jahre in KOc Selbstregulation: bessere Selbstregulation in IG nach 3 Monatenc
3/2
Grossarth-Maticek et al. (2001b) offen, 2-armig, eingefügt in Kohortenstudie
Mammakarzinom, Stad. IIa-IIIb
34/34
Siehe Grossarth-Maticek (2001a)
Gesamtüberleben (MW): 4,79 Jahre in IG vs. 2,41 Jahre in KOc Selbstregulation: bessere Selbstregulation in IG nach 3 Monatenc
4/2
Kleeberg et al. (2004) offen, parallel, 2-armig (DKG 80-1 Studie)
Melanom (Stad. II-III), reseziert, adjuvant
204/204
IG (DKG 80-1): Iscador M, s.c., 2× wöchentl., Start mit Serie 0 für 2 Wochen, 3 Tage Pause, Serie II für 12 Monate (7 Tage Pause nach jeweils 4 Behandlungswochen). KO: keine Behandlung
Krankheitsfreies Überleben und Gesamtüberleben: keine sign. Unterschiede
6/3
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Kapitel 29 · Unkonventionelle Verfahren in der Onkologie
. Tab. 29.5 (Fortsetzung) Lange et al. (1993) offen, 2-armig
Plattenepithelkarzinom, NSCLC, Ovarialkarzinom, alle inoperabel
68/44
IG: Helixor, s.c., Wo 1+2: tägl. ansteigend Dosis bis 30 mg, in Woche 3: tägl. 50 mg, in Woche 4 ansteigend bis 150 mg, ab Woche 5: 2 Tage 100 mg, 2 Tage 150 mg, 2 Tage 200 mg, dann 1 Tag Pause, dann Wiederh. KO: keine zusätz. Behandlung Beide Gruppen: Ifosfamid + Cisplatin, wiederholt nach 4 Wo., max. 3 Kurse. Strahlentherapie: 40 Gy (Ovarialkarzinom), 60 Gy (HNO-Ca und NSCLC)
Karnofsky-Index: Anstieg des Index von 67% auf 76% vor dem 2. Behandlungskurs in IG vs. 70% auf 74% in KOf Chemotherapie: 85% der geplanten Dosis konnte im 1. Kurs 12/17 Patienten in IG und 9/14 in KO gegeben werden, im 2. Kurs 11/14 in IG und 6/9 in KO Tumoransprechen: nach 2 Behandlungskursen 35% komplette und 44% partielle Remissionen in IG vs. 48% und 14% in KO Symptomskalen: geringere Schmerzen und Übelkeit in IGc
5/3
Piao et al. (2004) offen, 2-armig
Mammakarzinom, Ovarialkarzinom, NSCLC, alle Stadien
233/224
IG: Helixor A, s.c., langsam ansteigend von 1 mg bis 200 mg, 3× wöchentl. KO: Lentinan, tgl. 4 mg i.m. (Dauer unklar) Beide Gruppen: Chemotherapie CAP oder CAF (Mammakarzinom), NVB + PDD oder MVP (NSCLC), CP oder CBP+IFO/ PDD (Ovarialkarzinom)
Chemotherapietoxizität: niedrigere Rate von UAW in IG Karnofsky-Index: Verbesserung des Index >10% in 51% der Patienten in IG vs. 32% in KO Tumoransprechen: keine sign. Unterschiede Lebensqualität (FLIC und TCM): bessere Werte in IGc
4/2
Salzer u. Denck (1979)g offen, 3-armig
Magenkarzinom (alle Stadien) postoperativ
271/238
IG: Iscador, s.c, wechselnde Konzentrationen (1%-5%), 3× wöchentl. für 1 Jahr, dann weiter 2× wöchentl. Für 1 Jahr (Dauer unbegrenzt) KO-A: keine Behandlung KO-B: 5-FU, i.v., 120 mg/kg KG, 1× wöchentl. für 7 Wochen, Wiederholung alle 6 Wochen
Gesamtüberleben: nach 3 Jahren, IG und KO-A Median noch nicht erreicht, KO-B 1,9 Jahre.e Nach 4 Jahren, IG Median noch nicht erreicht, KO-A 3,1, KO-B 1,1 Jahree
4/3
Salzer u. Havelec (1983) offen, 3-armig
Magenkarzinom (nur Stad. II+III berichtet), postoperativ
359/137
Siehe Salzer (1979) KO-A: keine Behandlung KO-B: s. Salzer (1979)
Gesamtüberleben (Median): Patienten der Stad. II/III mit Lymphknotenbefall in IG lebten 660 Tage vs. 324 Tage in KO-Ac. Patienten ohne LKBefall in IG hatten Median noch nicht erreicht vs. 1201 Tage in KOf Keine Ergebnisse zu KO-B berichtet
4/3
Salzer et al. (1991) offen, 2-armig
NSCLC (alle Stadien)
218/183
IG: Iscador, s.c. (keine weiteren Details), 3× wöchentl. für 6 Monate, dann weiter 2× wöchentl. KO: keine Behandlung
Gesamtüberleben: 33 Monate in IG vs. 31 in KO. In Subgruppe mit Lymphknotenbefall (Stad. II-III): medianes Gesamtüberleben 31 Monate in IG vs. 24 in KO. und Überlebensrate nach 5 Jahren: IG 38%, KO 20%. In Subgruppe ohne Lymphknotenbefall (Stad. I-II) Überlebensrate nach 6 Jahren: IG 48%, KO 27%
4/3
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a b c d
e f g h
randomisiert/ausgewertet QW=Qualitätswerte (siehe Tabelle 29.4a) p ≤ 0,05 Bei allen verblindet angelegten Studien kam es zu teilweiser bzw. vollständiger Entblindung, z. B. durch Hautreaktionen auf Mistelextrakte und Abwertung für »Verblindung« in QW keine statistische Analyse durchgeführt nicht signifikant Salzer u. Denck 1979) berichtet von Zwischenauswertung aller drei Studienarme von Salzer (1983) nach 3 und 4 Jahren Beobachtungszeit Grossarth-Maticek et al. (2001a) und Grossarth-Maticek et al. (2001b) sind zwei unabhängige Studien, die in Grossarth-Maticek et al. (2001) publiziert sind
597 29.2 · Verfahren – Eine Übersicht
Vorgehensweise ist durchaus ein Beispiel für einen im obigen Sinn des Wortes »unkonventionellen« Umgang mit Daten klinischer Forschung, da Behauptungen aufgestellt wurden, die nicht durch entsprechende Ergebnisse belegt waren. Eine kürzlich veröffentlichte Beobachtungsstudie fand nicht nur keine Hinweise für das von Eggermont et al. formulierte Risiko, sondern beschrieb eine deutlich geringere Rate von zerebralen Metastasen in der Beobachtungsgruppe, die Mistelextrakte erhalten hatten (Augustin et al. 2005). Auch bei hämatologischen Systemerkrankungen wird eine proliferationssteigernde Wirkung als mögliches Risiko einer Behandlung mit Mistelextrakten diskutiert. Ausgangspunkte dieser Diskussion sind grundsätzliche Überlegungen zur Zytokinwirkung auf hämatologische Systemerkrankungen. Empirische Ergebnisse, die die Wahrscheinlichkeit einer solchen Wirkung abschätzen lassen, liegen allerdings bisher nicht vor. Auch Laborergebnisse gestatten bislang hierzu keine abschließende Aussage (Kovacs u. Kuehn 2002; Pryme et al. 2004; Gorter et al. 2003; Hallek 2005; Hugo et al. 2005). Aufsehen erregt hatte in diesem Zusammenhang die Publikation eines Krankheitsverlaufs eines Patienten mit therapierefraktärem zentrozytischem Non-Hodgkin-Lymphom, bei dem während einer leukämischen Dissemination des Lymphoms an den Stellen, an denen Mistelextrakt injiziert worden war, von Lymphomzellen infiltrierte Indurationen auftraten. Auch wenn der Zusammenhang zwischen der subkutanen Infiltration des Lymphoms und der lokalen Applikation des Mistelextrakts eindeutig war und Wirkungen der Mistelinhaltsstoffe auf die Lymphomzellen nahelegte, war nicht die von den Autoren gefolgerte »proliferationssteigernde Wirkung« die wahrscheinliche Ursache für die Infiltration, sondern ein chemotaktischer Reiz. Fasst man diesen Fallbericht einer unerwünschten Wirkung und die Berichte positiver Langzeitverläufe von Patienten mit Non-Hodgkin-Lymphomen unter Behandlung mit Mistelextrakten (Kuehn 1999, 2005) in dem Sinn auf, den Fallberichte im Rahmen einer evidenzbasierten Medizin spielen sollten (Vandenbroucke 1999), bieten sie die Chance, auf unerwartete positive wie negative Auswirkungen einer Behandlung mit Mistelextrakten aufmerksam zu werden. Für die Formulierung von verlässlichen Behandlungsindikationen oder Kontraindikationen reicht die »Evidenz« aus Fallberichten oder -serien dagegen nicht aus. Auch mit den Ergebnissen einer retrospektiven Beobachtungsstudie zur Behandlung von hämatologischen Systemerkrankungen mit Mistelextrakten können, wie von den Autoren zu Recht diskutiert, weder die Wirksamkeit noch die Unbedenklichkeit dieser Behandlung nachgewiesen werden (Stumpf et al. 2000). Zusammengefasst zeigen randomisierte kontrollierte Studien keine Ergebnisse, die den Einsatz von Mistelextrakten in der onkologischen Regelversorgung rechtfertigten. Allerdings weisen die Ergebnisse einiger Studien auf einen möglichen positiven Effekt auf die Lebensqualität von Patienten während der Chemotherapie hin und andere könnten als Grundlage für die Planung neuer klinischer Studien herangezogen werden. Hierbei sollten auch die positiven Ergebnisse der Beobachtungsstudien berücksichtigt werden (Beuth et al. 2008; Augustin et al. 2005; Bock et al 2004). Allerdings ist aber auch davon auszugehen, dass z. B. Patienten mit HNO-Tumoren und solche mit frühen Stadien des Harnblasenkarzinoms nicht von lektinstandardisierten Mistelextrakten in der typischen Applikation (s. c.) und Dosierung (1 ng/kg KG Mistellektin) profitieren.
29
29.2.5 Psychologische Verfahren
Auch psychologische Verfahren werden immer wieder mit der Behauptung verbunden, dass durch sie Heilungen, Tumorremissionen und Verlängerungen der Überlebenszeiten erreicht werden können (Cunningham u. Watson 2004). Dies trifft durchaus die Hoffnungen einiger Patienten, die von psychologischen Verfahren unmittelbare Auswirkungen auf ihre Krebserkrankung und eine Verstärkung der Wirksamkeit konventioneller Therapien erwarten (Verhoef et al. 2005). Die Ergebnisse kontrollierter klinischer Studien zeigen zahlreiche günstige Wirkungen auf das Befinden Krebskranker durch die Anwendung psychologischer Verfahren, allerdings bestätigen sie bisher nicht den mit ihnen teilweise verbundenen Anspruch, die Krankheitsausdehnung bzw. Überlebenszeit positiv beeinflussen zu können (Newell et al. 2002). Der unkonventionelle Umgang mit psychologischen Verfahren im Sinn oben genannten Definition beruht auf der Grundlage psychogenetischer Krebstheorien, die in zahlreichen Büchern – bevorzugt für Laien – publiziert werden. Die Ergebnisse jahrzehntelanger Forschung zur Frage, ob Persönlichkeitseigenschaften, Verhaltensweisen oder belastende Lebensereignisse ursächlich mit Krebserkrankungen verbunden sind, bestätigen keine dieser Theorien und weisen auf bestenfalls sehr schwache Zusammenhänge hin (Patterson et al. 2003; Garssen 2004; Petticrew et al. 2002; Dalton et al. 2002). Insbesondere sog. Geistheilungen und Reinkarnationstherapien beruhen auf einem über das übliche hinausgehenden Weltbild. Der eigentliche Hintergrund für Erkrankungen wird hier in einem physisch nicht erfassbaren, seelischen oder geistigen Wesenskern der Betroffenen gesehen oder soll aus früheren Leben des Betroffenen herrühren. Kranksein und Gesundwerdenerhalten damit einen spirituellen Sinn. Deswegen werden für diese Ansätze andere Zielsetzungen im Sinne eines seelischen oder geistigen »Heil-« oder »Ganzwerdens« in Anspruch genommen als bei konventionellen Psychotherapien (Grof 2002; Hardo 1998; Hardo 2002; Newton 2001). 29.2.6 Gesamtkonzepte und Sonstige
Unkonventionelle Gesamtkonzepte enthalten eine Kombination aus mehreren Ansätzen, z. B. Ernährungsempfehlungen, physikalische oder instrumentelle Anwendungen wie die Akupunktur. Folgende Gesamtkonzepte kommen laut verschiedenen Untersuchergruppen zum Einsatz: anthroposophische Medizin, Homöopathie nach Hahnemann, Hildegard-Medizin, Homotoxikologie nach Reckeweg, Wasser-Erd-Element-Theorie nach Kappler, traditionelle chinesische Medizin, Ayurveda (Indien) und andere. Diese Gesamtkonzepte haben z. T. komplexe historische oder kulturelle Hintergründe, mit denen das, was heute unter dem Namen solcher Konzepte verbreitet wird, nicht immer übereinstimmt (Jütte 1996). Einige der damit verbundenen medikamentösen oder diätetischen Empfehlungen wurden bereits in den vorausgegangenen Kapiteln erwähnt. Das therapeutische Angebot vieler Einrichtungen, in denen anthroposophische, traditionelle chinesische oder ayurvedische Medizin betrieben wird, umfasst auch Elemente, die sich auf die psychosoziale Betreuung der Patienten im Sinne einer besseren Krankheitsverarbeitung beziehen, wie es ebenso Anliegen der modernen Psychoonkologie ist. So wird in der anthroposophischen Medizin z. B. eine vertiefte ärztliche und pflege-
598
29
Kapitel 29 · Unkonventionelle Verfahren in der Onkologie
rische Zuwendung zum Patienten hervorgehoben (Glöckler u. Schürholz 1996). Im Programm »Evaluation der Komplementärmedizin« wurde im Auftrag des Schweizer Bundesamtes für Sozialversicherung die Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der anthroposophischen Medizin systematisch untersucht und die Ergebnisse als HTA (Health Technology Assessment) veröffentlicht. Die Autoren kommen zum Schluss, dass anthroposophische Medizin als Gesamtkonzept, aber auch in Einzel- und Kombinationsbehandlungen bei einer Vielzahl von Erkrankungen zu medizinisch guten, für die Patienten zufriedenstellenden, sicheren und vermutlich auch kostengünstigen Behandlungsergebnissen führt (Kienle et al. 2004). Es gibt noch eine Vielzahl weiterer Maßnahmen, die sich nicht in eine der vorherigen Kategorien einteilen lassen, wie z. B. die Ausschaltung sog. Erdstrahlen durch Wünschelrutengänger oder durch Abschirmgeräte, die Arbeit mit atmosphärischer, kosmischer oder animalischer Strahlung nach Hartmann, Curry, Reich und Mesmer, Neuraltherapie und Entherdung nach Huneke, Magnetfeldanwendung nach Ginsberg, Sauerstoff-Mehrschritt-Immunstimulation nach v. Ardenne oder hämatogene Oxidationstherapie nach Wehrli (HOT). Das Buch des Psychoanalytikers Reich über die Rolle der »OrgonEnergie« bei der Entstehung und Therapie von Krebserkrankungen wurde erst 1994 wieder neu herausgegeben. Alle diese Verfahren gelten bisher als solche ohne überprüfbar nachgewiesene Wirksamkeit bei der Behandlung von Menschen mit Krebserkrankungen. Besondere Erwähnung verdient an dieser Stelle die Ganzkörperhyperthermie, deren Wirksamkeit, allein oder in Kombination mit Chemo- und/oder Strahlentherapie, seit vielen Jahren in klinischen Studien geprüft wird. Die Durchführbarkeit und Sicherheit, entsprechend Expertise und technische Ausstattung vorausgesetzt, ist in zahlreichen Phase-I-Studien nachgewiesen worden (Hildebrandt et al. 2005). Kenntnisse zur Wirksamkeit, insbesondere bei fortgeschrittenen bzw. therapierefraktären Tumorerkrankungen, stammen aus Phase-II-Studien (Übersicht bei Hildebrandt et al. 2005 und Wust et al. 2002). Obwohl eine Überprüfung dieser Ergebnisse an größeren Patientengruppen in Phase-III-Studien noch aussteht, wird diese Methode aber seit vielen Jahren an zahlreichen Kliniken und Praxen außerhalb von klinischen Studien, z. T. mit übertriebenen Erfolgsbehauptungen, angeboten (s. z. B. Informationsblatt zur Hyperthermie der Gesellschaft für biologische Krebsabwehr, http://www.biokrebs.de). Ähnliches gilt für die Kombination der Ganzkörperhyperthermie mit Hyperglykämie und Hyperoxie, der nach dem Erfinder benannten von Ardenne’schen systemischen Krebs-MehrschrittTherapie (sKMT). Trotz der Hinweise auf die Wirksamkeit des Verfahrens aus Kasuistiken und frühen klinischen Studien muss aufgrund der Ergebnisse einer Bestfallanalyse, die keine überzeugenden Hinweise für die Wirksamkeit dieses Behandlungsansatzes gefunden hatte (Weigang-Köhler et al. 1997), und aufgrund der Ergebnisse weiterer Studien vom »Scheitern eines innovativen Ansatzes«, wie es der Autor einer Übersichtsarbeit formulierte, ausgegangen werden (Barkleit 2005). Eine Beratung des Verfahrens durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (gemäß § 135 Abs. 1 SGB V) führte dementsprechend zu folgender Einschätzung: »Therapeutischer Nutzen, Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit einer alleinigen oder begleitenden sKMT sind bei keiner onkologischen Indikation belegt. Zudem gibt es eindeutige Hinweise auf gravierende und lebensbedrohliche Komplikationen.« Der Gemeinsame Bundesausschuss beschloss deshalb, die sKMT der Anlage II der Richt-
linien-Methoden vertragsärztliche Versorgung (früher B der BUBRichtlinien – »nicht anerkannte Methoden«) zuzuweisen. Der Beschluss wurde im Bundesanzeiger und Deutschen Ärzteblatt bekannt gemacht (Gemeinsamer Bundesausschuss 2005). Der Beschluss ist seitdem in Kraft. Dennoch wird die Methode weiter propagiert (s. z. B. http://www.ardenne.de/med_de). Demgegenüber ist z. B. das therapeutische Risiko einer homöopathischen Behandlung als gering einzuschätzen, nicht zuletzt deshalb, da im Gegensatz zu den sehr optimistischen Berichten der älteren Literatur die Möglichkeiten der Homöopathie bei Krebserkrankungen in der aktuellen Literatur von ihren Anwendern selbstkritischer und überwiegend als symptomatisch-palliativ dargestellt werden (Kuno 2001).
29.3
Erfolg: Anspruch und Belege
In der Auseinandersetzung mit Anbietern unkonventioneller Verfahren ist die Diskussion über den Nutzen der Verfahren häufig deshalb so schwierig, weil Behandlungsziele nicht eindeutig festgelegt und keine aussagefähigen Kriterien für die Beurteilung des Erfolgs einer Diagnostik oder Behandlung definiert werden. So orientieren Vertreter unkonventioneller Verfahren ihr Vorgehen häufig nicht an überprüfbaren Zielen wie Heilung, Tumorremission, Verlängerung der Überlebenszeit oder Symptomlinderung, sondern berichten in allgemeiner Form von »Erfolgen« oder »guten Erfahrungen«. Die in der Onkologie in den letzten Jahrzehnten erarbeiteten Beurteilungskriterien für die Wirksamkeit einer Behandlung werden meist nicht korrekt oder gar nicht angewandt, dafür werden z. B. Surrogatmarker von fraglicher Relevanz als Erfolgskriterien herangezogen oder eigene Remissionskriterien festgelegt. Auf diese Weise kommt es dazu, dass selbst eindeutig erscheinende Fakten über die Behandlungsergebnisse eines Verfahrens z. T. völlig unterschiedlich bewertet werden (Büschel et al. 1998). 29.3.1 Methodenstreit
Immer wieder ist in diesem Zusammenhang von einem »Methodenstreit« die Rede. Es wird also nicht nur über die jeweiligen Verfahren selbst, sondern ebenso über die angewandten Beurteilungsmethoden diskutiert und es wird in dieser Diskussion nicht selten übersehen, dass es für die Beurteilung des Nutzens eines Diagnose- oder Behandlungsverfahrens in der Medizin, nicht zuletzt aus ethischen Gründen, keine unterschiedlichen Standards geben darf (Baum et al. 2006). Paradoxerweise zeigt ein solcher Methodenstreit, insbesondere wenn er öffentlich oder gar vor Gericht ausgetragen wird eine z. T. erhebliche Werbewirksamkeit. Anbieter unkonventioneller Verfahren verstehen es gelegentlich meisterhaft, z. B. als Gast im Fernsehen, durch geschickte Präsentation scheinbar von ihnen geheilter Patienten Hoffnung zu wecken. Schon mancher renommierte Vertreter der konventionellen Onkologie hat am eigenen Leib erfahren, wie schwer es ist, in einer Fernsehsendung vor Millionen Zuschauern diesen (falsch-positiven) Eindruck zu erschüttern und klar zu machen, dass »Erfolge«, also etwa Heilungen oder Rückbildungen von Tumoren, keine beliebig interpretierbare Ergebnisse sind, sondern transparent dokumentiert und durch zuverlässige und vom Behandler unabhängige Methoden überprüfbar sein müssen.
599 29.3 · Erfolg: Anspruch und Belege
29.3.2 Studien
Sowohl von Vertretern konventioneller als auch unkonventioneller Vorgehensweisen wird immer wieder dafür plädiert, dass »doch endlich« geeignete klinische Studien in ausreichender Zahl durchzuführen seien, um den Streit um die Wirksamkeit und Sicherheit unkonventioneller Verfahren beilegen zu können. Damit müsse doch zu klären sein, so der Appell der Beteiligten, ob die einzelnen Verfahren halten, was versprochen wird. Bei dieser Forderung wird von den Beteiligten jedoch eine Vielzahl von Schwierigkeiten übersehen, die sich grundsätzlich bei der sorgfältigen Planung klinischer Studien ergeben: Klinische Studien können nur Klärung für eine begrenzte, eindeutig formulierte Fragestellung in Bezug auf klar definierte diagnostische oder therapeutische Maßnahme erbringen, für deren Anwendung ein weithin anerkannter Konsens bestehen muss. Sind solche Voraussetzungen nicht erfüllt, etwa weil Untersuchungsziele nicht eindeutig formuliert werden, keine oder unterschiedliche Behandlungsstandards existieren, fehlende Vorkenntnisse zur klinischen Wirksamkeit eine exakte Fallzahlschätzung erschweren, unzuverlässige Zielparameter zur Kontrolle des Behandlungserfolgs gemessen werden und die Therapie außerhalb der Studie in der Praxis eingesetzt wird, bieten auch groß angelegte klinische Studien weniger die Chance einer Klärung, sondern tragen sogar mehr zur allgemeinen Verwirrung bei. Weiterhin sind eine Vielzahl arzneimittelrechtlicher und ethischer Grundsätze für die Initiierung einer klinischen Studie zu beachten, die bei unkonventionellen Verfahren häufig nicht gegeben sind (Nagel 1998). Anbieter unkonventioneller Verfahren sind – wie alle anderen auch – zunächst selbst in der Pflicht, durch entsprechende Untersuchungen den Nachweis zu führen, dass ihr Vorgehen ihrem Erfolgsanspruch gerecht werden kann. Viele sind davon jedoch auch ohne das Vorliegen von Ergebnissen angemessener Untersuchungen überzeugt und der Erfolg auf dem Gesundheitsmarkt ist für sie unter dem Schlagwort »wer heilt hat Recht« Beweis genug. Hält man diesem Schlagwort entgegen, dass der »Weg zur Heilung« nachvollziehbar sein muss, damit daraus verlässliche Informationen für andere entstehen können, wird von den Befürwortern nicht selten in fälschlicher Weise gefordert, dass dann den Kritikern die Aufgabe zukomme, nachzuweisen, dass die jeweilige Methode halte, was versprochen wird. Wenden diese nun die Methode im Rahmen einer Studie an und erzielen negative Ergebnisse, wird dagegen argumentiert, das Verfahren sei nicht richtig angewandt worden. In einer solchen Auseinandersetzung tragen Vorurteile und Missverständnisse bei allen Beteiligten dazu bei, dass eine Lösung des Problems, d. h. die Klärung, ob ein Verfahren den betroffenen Patienten nützt, enorm erschwert und häufig sogar verunmöglicht wird. Jüngste Arbeiten zeigen allerdings auch, dass viele Forschungsgruppen sich mit Erfolg darum bemühen, aussagefähige klinische Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit unkonventioneller Verfahren durchzuführen (Lawson et al. 2005; Klassen et al. 2005). 29.3.3 Bestfalluntersuchungen
Bei Verfahren, die schon bei zahlreichen Patienten unkonventionell zum Einsatz kamen und dabei, nach den Angaben der Anwender, zu Tumorremissionen führten, kann durch die Methodik der sog. Bestfalluntersuchung ein orientierender Eindruck über deren mögliche tumorspezifische Wirksamkeit gewonnen werden (Office of Technology Assessment 1990).
29
Bestfallanalysen sind retrospektive Untersuchungen von Krankheitsverläufen von Patienten, die von einer Behandlung profitiert haben sollen. Der Anbieter trifft dafür eine Auswahl besonders erfolgreicher Behandlungsverläufe. Diese werden dann anhand von Originalunterlagen durch ein Fachgremium und gemeinsam mit dem Anbieter ausgewertet. Bestfallanalysen sind ein möglicher erster Schritt zur Untersuchung unkonventioneller Verfahren (Office of Technology Assessment 1990). Das Ziel dabei ist, Hinweise für die behauptete tumorbezogenen Wirksamkeit von Verfahren zu finden, für die kaum oder keine Ergebnisse aus klinischen Untersuchungen vorliegen. Seit 1991 bietet das Nationale Krebsforschungsinstitut der USA mit dem sog. »NCI Best Case Series (BCS) Program« offiziell eine wissenschaftlich stringente Methode an, mit der Ergebnisse von Anbietern unkonventioneller Verfahren durch eine unabhängige Institution untersucht werden können. Da es sich bei Fallserien nicht um kontrollierte Studien handelt, ist nicht die Überlebenszeit, sondern das Ansprechen des Tumors auf die Behandlung der Endpunkt, auf den sich die Auswertung richtet. Hierbei müssen auch die Kenntnisse zu Spontanremission von Tumorerkrankungen berücksichtigt werden (Nahin 2002). Den Chancen, die Bestfalluntersuchungen im Umgang mit der Evaluation unkonventioneller Verfahren bieten, stehen jedoch zahlreiche Schwierigkeiten gegenüber. Häufig scheitert diese Art von Untersuchung bereits am fehlenden Interesse und mangelnder Kooperation der Anbieter, wie die Erfahrungen der Arbeitsgruppe »Biologischen Krebstherapie« der Deutschen Krebshilfe zeigen (Büschel et al. 1998). In den Fällen, in denen von dieser Gruppe Bestfalluntersuchungen durchgeführt werden konnten, kam es zwischen Untersuchern und Anbietern bei der Bewertung der Behandlungsergebnisse regelmäßig zu weit voneinander abweichenden Einschätzungen (Büschel et al. 1998). Die Ursachen dafür lagen darin, dass Anbieter, neben der fehlerhaften Anwendung gängiger Beurteilungskriterien zum Ansprechen von Tumorerkrankungen, wenig aussagefähige Surrogatparameter heranzogen oder Befunde unkonventioneller diagnostischer Untersuchungen zur Beurteilung des Verlaufs verwendeten. Wiederholt kam es allerdings auch zu eklatanten Fehlinterpretationen von an sich eindeutig erscheinenden Befunden durch die Behandler (Büschel et al. 1997; Kaiser et al. 1993; Weigang-Köhler et al. 1997). Als weitere Schwierigkeit kam es bei der Publikation der Ergebnisse von Bestfalluntersuchungen zum Streit mit den Anbietern, die im Stolz auf die vermeintliche Errungenschaft ihre »therapeutischen Lebenswerke« in Gefahr sahen (Büschel et al. 1997). Gerade kooperative Anbieter gehen in der Hoffnung auf Anerkennung das Risiko ein, sich durch die externe Evaluation ihrer Behandlungspraxis durch eine Bestfalluntersuchung verstärkter Kritik auszusetzen. Ein Umstand, der die Bereitschaft zu solchen Untersuchungen nicht eben begünstigt. Dennoch kommt gerade qualitativ hochwertigen Untersuchungen von Fallberichten und -serien eine besondere Bedeutung auch im Rahmen der »evidenzbasierten Medizin« zu (Vandenbroucke 2001). Mit einer internationalen Kooperation wird zurzeit eine Datenbank für besondere Krankheitsverläufe, sog. »exceptional cases«, während der Behandlung mit unkonventionellen Verfahren aufgebaut (Launso et al. 2006). 29.3.4 Lebensqualität
Aktuell und wert, hinterfragt zu werden, ist das häufig geäußerte Postulat der Anbieter unkonventioneller Verfahren, es könne
600
Kapitel 29 · Unkonventionelle Verfahren in der Onkologie
. Tab. 29.6. Übersicht über Studien, in denen Auswirkungen unkonventioneller Verfahren auf Faktoren der Lebensqualität untersucht wurden
29
NCCAMKategoriena
Beispiele für untersuchte Therapieverfahren
Anzahl Studien
Anzahl Patienten
Zielparameter
Beispiele für Messinstrumente
Studien mit Behandlungsvorteil
»Alternative medical systems«
Akupunktur Homöopathie Tai Chi
6
1013
Progressive Muskelrelaxation Meditation Visualisierung Hypnotherapy
14
1377
»Biologically based therapies«
Phytoöstrogene Mistelextrakte Cimicifuga Aloe vera Anitoxidanzien
15
2195
»Manipulative and bodybased methods«
Reflexzonenmassage Aromatherapie Massage
7
238
Brief Fatigue Inventory CES-D EORTC QLQ-C30 FACIT-F FACT-G FLIC GHHOS HADS Kupperman-Menopausen-Index McGill-Schmerzfragebogen Pittsburgh Schlafqualitätsindex POMS Rosenberg Selbstwertskala RSCL SF-36 STAI
5
»Mind body interventions«
Angst Aktivitätsscore Depression Erbrechen Fatigue Hitzewallungen Klimakterische Beschwerden LQ Schlafqualität Schmerzen Selbstwert Stimmung Stress Übelkeit Wohlbefinden Zufriedenheit
»Energy therapies«
Magnetbänder Handauflegen
2
89
10
6
5
1
a
Fünf Kategorien denen das National Center for Complementary and Alternative Medicine (NCCAM) die verschiedenen unkonventionellen Verfahren zuordnet (http://nccam.nih.gov/health/whatiscam/) CES-D Center for Epidemiologic Studies Depression Scale; EORTC QLQ-C30 European Organisation for Research and Treatment of Cancer Quality of Life Questionnaire-Core 30; FACIT Functional Assessment of Chronic Illness Therapy; FACT-G Functional Assessment of Cancer Therapy Scale-General; FLIC Functional Living Index-Cancer; GHHOS Glasgow Homeopathic Hospital Outcome Scale; HADS Hospital Anxiety and Depression Scale; HFRDIS Hot Flash-Related Daily Interference Scale; MANE Morrow Assessment of Nausea and Vomiting; POMS Profile of Mood States; RSCL Rotterdam Symptom Checklist; SF-36 Medical Outcome Study 36-Item Short Form; STAI State Trait Anxiety Inventory
durch die Behandlung die »Lebensqualität« der Betroffenen verbessert werden. Behauptungen dieser Art knüpfen an eine Diskussion an, die in der konventionellen Onkologie seit vielen Jahren ernsthaft geführt wird. Da in den letzten Jahrzehnten die Wirksamkeit kurativer und palliativer Behandlungsansätze in der Onkologie so verbessert wurde, dass die Sterblichkeitsraten vieler bösartiger Erkrankungen beständig gesunken sind, orientiert sich die Beurteilung der Qualität einer Krebsbehandlung nicht mehr nur an objektiven Parametern wie Überlebenszeit oder Rezidivfreiheit, sondern auch an subjektiven Faktoren wie der von den Betroffenen empfundenen und selbst eingeschätzten Lebensqualität. Nicht »therapieren um jeden Preis« ist das Ziel moderner onkologischer Behandlungsstrategien, sondern die Behandlung so zu wählen, dass die bestmögliche Lebensqualität erhalten wird (Beitz et al. 1996). Das Einbeziehen von psychosozialen Faktoren und solchen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität wird seit vielen Jahren als wichtiges Kriterium bei der Evaluation des Nutzens einer Behandlung in klinischen Studien angesehen (Anderson et al. 1996). Allerdings ist eine einheitliche und allgemein akzeptierte Definition des Begriffs »Lebensqualität« bislang nicht gelungen. Trotz umfangreicher Bemühungen erscheinen die Begriffe und Konzepte weiterhin unpräzise definiert und empirische Überprüfungen der Zusammenhänge von Dimensionen der Lebens-
zufriedenheit und globaler Lebensqualität sind kaum vorhanden. Ein Konsens besteht hingegen darin, dass Lebensqualität ein mehrschichtiges Konstrukt ist, das körperliche, psychologische, soziale und spirituelle Faktoren einschließt, die von den Betroffenen selbst bewertet werden müssen. Bei der Erfassung und Bewertung des Einflusses einer Behandlung auf die empfundene Lebensqualität von Krebskranken müssen zahlreiche methodische Anforderungen beachtet und sich daraus ergebende Schwierigkeiten berücksichtigt werden (Osoba 1994). Diese Anforderungen sind prinzipieller methodischer Art und gelten weitestgehend unabhängig davon, welche Behandlung eingesetzt wird. Eine aktuelle Übersichtsarbeit hat die Qualität der Erfassung von Wirkungen unkonventioneller Verfahren auf Faktoren der Lebensqualität bei Patienten mit Krebserkrankungen untersucht (Efficace et al. 2006). Die Autoren untersuchten 44 randomisierte klinische Studien, die in den Jahren 2000 bis 2005 veröffentlicht worden waren (. Tab. 29.6) und berichten, dass bei etwa zwei Drittel der Studien erhebliche methodische Fehler in der Erfassung der Lebensqualität gemacht wurden. Hierdurch war die Aussagefähigkeit der Ergebnisse der Studien mehr oder weniger stark eingeschränkt. Demgegenüber wurde bei etwa einem Drittel der Studien die methodische Qualität der Lebensqualitätsuntersuchung für so gut erachtet, dass aus den Ergebnissen Ent-
601 29.4 · Beweggründe der Betroffenen
scheidungen für die klinische Praxis gefolgert werden können (Efficace et al. 2006). Insgesamt zeigt die Forschung in diesem Bereich deutlich, dass Äußerungen, in denen behauptet wird, ein Medikament verbessere die Lebensqualität eines Betroffenen, eine verkürzte Sicht der klinischen Wirklichkeit darstellen. Solchen Äußerungen kann entgegnet werden, dass die Beschreibung der Wirkungen eines Medikaments auf das vielschichtige, veränderliche und individuelle Konstrukt »Lebensqualität«, mit simplen, aber schlagkräftigen Attributen mehr einer Werbestrategie folgt als einem Konzept, das auf verlässliche Information in der Arzt-PatientenBeziehung gründet. 29.3.5 Immunsystem
Eine im Zusammenhang mit unkonventionellen Verfahren viel diskutierte Frage ist die über die Stimulation von Funktionen des menschlichen Immunsystems. Wenngleich motivierend formuliert, sind Schlagworte von der »Stärkung der körpereigenen Abwehrkräfte« wissenschaftlich noch kaum zu begründen. Summenformeln für die »Immunabwehr« sind bisher ebenso wenig definiert wie der unmittelbare Zusammenhang zwischen einer Stimulation des Immunsystems und der Verbesserung der Lebensqualität. Unter einer »biologischen« Therapie kann es wie auch unter einer chemotherapeutischen Behandlung zur Veränderung einer Vielzahl immunologischer Parameter kommen. Die Bedeutung dieser Immunparameter für das Befinden der Betroffenen und für den Verlauf einer Krebserkrankung ist entsprechend gesicherter Beurteilungskriterien wie Remission, Überlebenszeit, Rezidivfreiheit oder gar Heilung bislang nicht belegt. Auch die ohne Zweifel wertvollen Erkenntnisse der Psychoneuroimmunologie (Schulz u. Gold 2006; Kiecolt-Glaser u. Glaser 1999) lassen sich bisher keineswegs so unmittelbar in klinische Erfolge umsetzen, wie das manche Vertreter unkonventioneller Vorgehensweisen glauben machen wollen. Auch die Aussagekraft der vielzähligen Laboruntersuchungen, mit denen einzelne Funktionen des Immunsystems abgebildet werden können, ist im Hinblick auf die tumorspezifische Abwehrleistung des Immunsystems und den individuellen Verlauf von Krebserkrankungen noch keineswegs so gut geklärt, als dass der Einsatz zur Verlaufskontrolle oder zur Begründung von therapeutischen Intervention zu rechtfertigen wäre. Damit haben sog. »Immuntests« für die onkologische Praxis bisher nur einen sehr begrenzten Wert. 29.3.6 Spontanremission
Auch ohne therapeutische Maßnahmen kommt es bei nahezu allen Tumorarten immer wieder zu unerwartet günstigen Krankheitsverläufen bis hin zu sog. Spontanremissionen, d. h. zu Tumorrückbildungen oder sogar andauernden Heilungen ohne vorausgegangene therapeutische Interventionen, die diese erklären könnten. Spontanremissionen sind zwar ein seltenes, aber dennoch gut dokumentiertes Phänomen (Kappauf 2006). Wenn daher unter einer bestimmten Therapie unter Hunderten oder gar Tausenden von behandelten Patienten einzelne Tumorremissionen auftreten, ist dies nicht notwendigerweise auf das eingesetzte Medikament zurückzuführen (Kappauf 2003). Manche Vertreter unkonventioneller Vorgehensweisen nehmen nicht zur
29
Kenntnis, dass sich der schlüssige Zusammenhang zwischen verabreichtem Arzneimittel und beobachtetem Behandlungserfolg erst durch eine ausreichend hohe Remissionsrate und deren Reproduzierbarkeit in Folgestudien ergibt. Für viele Krebskranke ist allerdings das Phänomen der spontanen Rückbildung bösartiger Erkrankungen eines, auf das sie ihre Hoffnungen richten. Daher kommt einer zugewandten Haltung der Therapeuten und einem wahrhaftigen Umgang mit dem Thema eine wichtige Bedeutung zu (Kappauf 1997).
29.4
Beweggründe der Betroffenen
Der Umgang mit unkonventionellen Verfahren spielt für viele Krebspatienten eine wichtige und hilfreiche Rolle in der Auseinandersetzung mit Krankheit und Kranksein. Unabhängig davon, wie diese Verfahren eingeteilt oder definiert werden, findet sich in ihnen etwas, das A. Kleinman folgendermaßen ausdrückt: »In it there are pathways of words, feelings, values, expectations [and] beliefs that reorder and organize the illness experience« (Kleinman et al. 1978). Häufig geäußerte Motive in diesem Zusammenhang sind: »die Abwehr stärken«, »selbst etwas zur Gesundung beitragen«, »sich positiv spüren«, »nach eigenen Überzeugungen handeln«, »jede Chance nutzen« und »nichts unversucht lassen«. Diese Motive drücken in bildhafter Form zentrale Handlungsziele der Krankheitsverarbeitung aus: die Sinnfindung, das Wiedergewinnen eines Gefühls von Kontrolle und das Wiederherstellen des Selbstwerts. Aus dieser Sicht lässt der Umgang mit unkonventionellen Verfahren in besonderer und unmittelbarer Form die Anpassungsvorgänge der Betroffenen im Rahmen der Krankheitsauseinandersetzung und des Gesundungsprozesses gewahr werden.
Auswahl an Gründen für die Verbreitung unkonventioneller Verfahren (nach Goldstein 2000) 4 Misserfolge bei der Behandlung chronischer Krankheiten 4 Entmündigung und Depersonalisierung von Patienten 4 Zunehmende Professionalisierung, Verwissenschaftlichung und Technisierung der Medizin 4 Wunsch nach ganzheitlicher und personenbezogener Behandlung 4 Wunsch nach Spiritualität und die Abgrenzung der Schulmedizin von der Religion 4 Ähnlichkeit zwischen den theoretischen Grundlagen alternativer Heilverfahren und den Alltagstheorien 4 Angst vor Verstümmelung, Organverlust, Körperzerstörung 4 Interesse der Medien an »alternativen« Therapieformen 4 Expandierender Markt alternativer Heilmethoden
29.4.1 Informationssuche und Entscheidungsfindung
Das Suchen nach krankheits- und behandlungsbezogenen Informationen dient in einer bedrohlich erlebten Krankheitssituation nicht nur dem »Informiertsein«, sondern kann für sich genommen bereits eine Bewältigungshilfe sein (van der Molen 1999). Es vermittelt ein Gefühl der Kontrolle und erlaubt dadurch besser mit Angst und Unsicherheit umzugehen (Henman et al. 2002). Besonders anziehend sind dabei Informationen, die
602
29
Kapitel 29 · Unkonventionelle Verfahren in der Onkologie
Krankheit und Therapie nicht allein mit wissenschaftlichen Fakten beschreiben, sondern sie in einen bedeutungsvoll wirkenden Lebens- und Erlebniskontext einbetten, wie es bei unkonventionellen Verfahren häufig der Fall ist, werden diese doch typischerweise als »sinnvolle zusätzliche« oder sogar »alternative« Möglichkeiten propagiert (Kappauf et al. 1994; Kaptchuk u. Eisenberg 1998). Gerade wenn unkonventionelle Verfahren ergänzend zur konventionellen Behandlung propagiert werden, verringert sich für Betroffene die Entscheidungsnot. Sie müssen sich nicht gegen eine hoffnungsvoll erwartete und als hilfreich vorgestellte Therapieoption entscheiden, sondern lediglich für ein »zweites Standbein«, und erhalten damit das Gefühl, eine »zusätzliche Chance zu nutzen«. Das Suchen nach Informationen kann allerdings rasch zu einem paradoxen Ergebnis führen: Der Versuch, Unsicherheit und Hilflosigkeit zu mindern, führt zu neuer, noch größerer Unsicherheit: Betroffene werden von allen Seiten mit (vermeintlich) hilfreichen Tipps etc. »versorgt«. Sie sehen sich einer Vielzahl von Ratschlägen und Meinungen zu unkonventionellen Verfahren ausgesetzt, einmal höchst hoffnungsvoll, ein anderes Mal abwertend dargestellt. Die Patienten erleben damit nicht nur ihren »Mangel an Wissen«, sondern werden – aufgrund des Umfangs der Informationen, der fehlenden Maßstäbe für deren Beurteilung und des empfundenen Zeitdrucks – auch noch mit der Unfähigkeit konfrontiert, diesen Mangel zu beheben. Ähnlich wie die Suche der Patienten nach Informationen nicht allein der Vermehrung des Wissens dient, fällen Betroffene Entscheidungen für oder gegen eine Behandlung typischerweise nicht nach abstrakten Kriterien. Sie richten sich nach einer Vielzahl von subjektiven Faktoren: Nach eigenen Wertvorstellungen, der Erlebnis- und Gefühlswelt, nach dem Gefühl, nicht schuldhaft gehandelt zu haben, eine Entscheidung nicht bereuen oder auch einer Rolle gerecht werden zu müssen (Degner et al. 1997). Patienten treffen in diesem Sinne immer »persönliche Entscheidungen«. In diese fließen Erfahrungen mit ein, die in der Vergangenheit gemacht wurden, und der Wunsch, das jeweils aktuelle Selbstbild und den gegenwärtigen Zukunftsentwurf beizubehalten (Kelly-Powell 1997). Die persönliche, subjektive Bewertung des Nutzens einer Therapie ist dabei häufig entscheidender als objektive Daten (Steginga et al. 2002). 29.4.2 Krebsangst
Ängste in Verbindung mit einer Krebserkrankung und die daraus resultierenden psychodynamischen Folgen haben bei der Inanspruchnahme unkonventioneller Verfahren eine große Bedeutung. Sie sind den Beteiligten manchmal gar nicht bewusst, aber dennoch sehr wirksam (Kappauf 1991; Alferi et al. 2001). Wenn die medizinische Realität sehr bedrohlich ist, dann ist das Nichtwahrhabenwollen dieser Realität eine Form der Angstabwehr, also eine »Alternative« dazu. Daraus folgt konsequenterweise das Suchen nach einer »Alternativmedizin« (Kappauf u. Gallmeier 1989). In der Bevölkerung sind Krebserkrankungen die am meisten gefürchteten Krankheiten, häufig gekoppelt mit der Angst vor dem Tod (Henney 1985; Holland 1998). Dies kann zur, Verzögerung der Diagnose oder Verleugnung einer bestehenden Krebserkrankung führen oder zur Behandlung einer befürchteten »Krebsdisposition« oder behaupteten »Präkanzerose« (7 Abschn. 29.2.2) führen. Hinzu kommt die Angst vor den Fol-
gen konventioneller Krebsbehandlung, d. h. vor bleibender Verstümmelung durch die Operation auch im Falle der Heilung, der nicht wahrnehmbaren Strahlentherapie und den bekannten Nebenwirkungen der Chemotherapie. Schließlich bleibt auch nach vollständig entferntem Tumor die Angst vor dem Rezidiv, auch als »Damokles-Syndrom« bezeichnet (Bentzen u. Dische 2001; Muzzin et al. 1994; Zebrack u. Zeltzer 2001). 29.4.3 Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit
Durch eine Krebserkrankung entsteht das Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber einer existenziellen Bedrohung, verbunden mit dem Gefühl einem rationellen, technischen Medizinbetrieb ausgeliefert zu sein. Dies führt bei einem Teil der Patienten zu Ängsten, Niedergeschlagenheit und Regression bis hin zu frühkindlichen Verhaltensweisen. Die Behandlung wird passiv »erduldet« und die Betroffenen klammern sich an den zunehmend an Autorität gewinnenden Arzt (Jonasch 1983). Dabei wird die Entwicklung des Arztes in der Neuzeit weg vom magischen Medizinmann hin zum Partner wieder rückwärts durchlaufen auf der Suche nach einer wundersamen, schmerzlosen Heilung durch Menschen, denen auch Mittel, die wie Zauberei anmuten, erlaubt werden (Mäckel 1989; Nüchtern 1995). Das Ideal ist in diesem Fall die Heilung ohne eigenes Zutun (Gallmeier 1989). Demgegenüber gibt es andere Patienten, die sich dieser Dynamik durch betont aktives oder gar aggressives Verhalten gegenüber Verwandten und Betreuern entziehen wollen. Eine große Zahl von Umfragen zeigt, dass viele Betroffene den Wunsch haben, selbst etwas beizutragen, um das Gefühl der Selbstständigkeit, Kontrolle und Unabhängigkeit über verstärkte Eigenaktivität wieder zurückgewinnen zu können (Berger et al. 1989; Morant et al. 1991; Moschen et al. 2001; Weis et al. 1998). Auch bei eindeutiger Tumorprogression und subjektiver Verschlechterung werden Behandlungsverfahren, die aus diesem Bedürfnis heraus begonnenen wurden nicht abgesetzt, sondern z. T. bis in die präterminale oder Sterbephase hin unverändert weitergeführt, obwohl doch die »objektive« Unwirksamkeit aufgrund der Krankheitsentwicklung unverkennbar erscheint. Auch in diesem Sinne ist die Hinwendung zu unkonventionellen Verfahren oder Therapeuten als ein Teil der Krankheitsbewältigung der Patienten zu verstehen (Montazeri et al. 2005). 29.4.4 Krankheitsparadigmen
Die Vorstellungen und Paradigmen darüber, welche Faktoren die Krankheit herbeigeführt haben oder deren Verlauf beeinflussen könnten, weichen bei den meisten Patienten mehr oder weniger deutlich von denjenigen der derzeitigen naturwissenschaftlich orientierten Medizin ab (Kappauf u. Gallmeier 1989; Maskarinec et al. 2001). Dies kann bis zu eigenen »Krebstheorien« führen. Unter anderem wird inneren Noxen eine größere Bedeutung als äußeren beigemessen, und bei der Behandlung wird von einer Stärkung der Abwehrkräfte nicht selten mehr erwartet als von einem direkten Angehen des Tumors (Henderson u. Donatelle 2003). »Die Krebserkrankung« oder »der Krebs« wird als eine generell systemische Erkrankung betrachtet, im Gegensatz zur immer stärkeren Differenzierung verschiedener Krebsformen in der modernen Onkologie. Hierdurch entsteht dann der
603 29.4 · Beweggründe der Betroffenen
Wunsch nach einer ganzheitlichen Betrachtungsweise durch den Therapeuten und nach sanften Behandlungsmethoden, die die vermeintliche Ursache der Erkrankung, nämlich die »versagenden Abwehrkräfte«, nicht noch weiter schwächen, sondern stärken sollen (Correa-Velez et al. 2005). 29.4.5 Innere Desintegration
Häufig erfolgt eine scharfe Grenzziehung zwischen der »Schulmedizin« als »aggressiver Reparaturmedizin« mit »Stahl, Strahl und Chemie« und der »Alternativmedizin« als »sanfter Ganzheitsmedizin«. Diese Polarisierung kann als eine Projektion der inneren Desintegration des Krebspatienten nach außen angesehen werden: Das »innere Staging«, die Aufspaltung des bisher intakten Selbstbildes in jetzt gesunde und kranke, vom Krebsgeschehen betroffene, »bösartige« Anteile, spiegelt sich wieder in der äußeren Aufspaltung in eine »sanfte, die Selbstheilungskräfte fördernde Medizin« und eine »aggressive, dem Körper schadende Medizin«. Die Betonung von Ganzheitlichkeit zeigt, wie sehr die Betroffenen sich als therapeutisches Ziel wünschen, dass diese innere Aufspaltung, die das Selbstbild gefährdet, aufgehoben wird (Kappauf et al. 1994). 29.4.6 Vertrauensverlust
Krebserkrankungen erschüttern das Vertrauen in die eigene Integrität ebenso wie das in die Medizin, insbesondere dann, wenn die Erkrankung trotz regelmäßiger Vorsorgeuntersuchungen aufgetreten ist oder mit der Behandlung die erwünschten Ziele nicht erreicht wurden (Sharf et al. 2005). Auch die in die Öffentlichkeit getragene Fachdiskussion über die angebliche Erfolglosigkeit der Onkologie (Anonymous 2004) und der uneinlösbare Anspruch, durch die naturwissenschaftlich-medizinische Forschung in absehbarer Zeit einen Großteil der Krebskranken heilen zu können, tragen hierzu bei (Lerner 1984). Die fortwährende, schrittweise Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten und Erfolgsaussichten bei bestimmten Krebserkrankungen spielen dabei im Bewusstsein der Öffentlichkeit nur eine untergeordnete Rolle. Auf der Suche nach der »letzten Hoffnung«, dem »Griff nach dem rettenden Strohhalm«, wird schließlich jeder Therapieversuch als berechtigt angesehen, unabhängig von den zu erwartenden Erfolgschancen, den Kosten und dem Aufwand (Wein 2000). Dies trifft vor allem dann zu, wenn Patienten den Eindruck gewinnen, dass sie von ihren behandelnden Ärzten aufgegeben worden sind und diese sich zurückziehen (Holohan 1987; Henney 1985). Je hoffnungsloser die Krankheitssituation erlebt wird, desto mehr erfährt die Beziehung zwischen Patient und Arzt ihre Tragfähigkeit nicht nur auf der Sachebene, sondern durch Vertrauen. Vertrauen beruht in diesem Zusammenhang eher auf Glauben als auf wissentlich fundiertem Verstehen. Es ist immer zuerst in persönlich-sozialen Beziehungen verankert und es sind Personen, die das Vertrauen zu den »abstrakten Systemen« des Wissens vermitteln (Giddens 1996). Damit ist der Arzt nicht nur selbst Vertrauenssubjekt, sondern auch Vermittler von Vertrauen in die Medizin als Ganzes und die Akzeptanz der Medizin hängt in hohem Maß von dem Verhalten und der Haltung ihrer Vertreter ab (Rotter 1980). Negative Erfahrungen, die Patienten mit Vertretern einer »Schulmedizin« machen, z. B. in der Auseinandersetzung um unkonventionelle Verfahren, führen deshalb nicht selten zur
29
Abwertung und zum Vertrauensverlust gegenüber der gesamten »Schulmedizin« (Verhoef u. White 2002). Die Mehrzahl der Umfragen zeigt, dass die Enttäuschung über die Schulmedizin und die betreuenden Ärzte durchaus eine Rolle spielt, aber eine geringere als häufig angenommen (Ponholzer et al. 2003; Obrist et al. 1986; Münstedt et al. 1996; Muthny u. Bertsch 1997; Söllner et al. 2000). Dies kommt auch darin zum Ausdruck, dass unkonventionelle Therapieverfahren häufiger ergänzend zur konventionellen Behandlung als anstelle dieser eingesetzt werden (Horneber et al. 2008a). 29.4.7 Individuelle Erlebnisorientierung
Als aktuelles kulturelles Phänomen unserer Gesellschaft hat die Individualität einen hohen Stellenwert. Ihre Weiterentwicklung gilt als lebenslange Aufgabe für jeden Einzelnen. Sie führt zur Differenzierung und Pluralität in allen Bereichen der Gesellschaft. So möchten viele Krebskranke aus einer Vielfalt von Methoden die richtigen Möglichkeiten selbst wählen können und sich nicht einfach der Autorität und Hierarchie des Arztes und der Medizin unterwerfen. Dieser Wunsch nach freier Wahl und aktiver Mitgestaltung bezieht sich nicht nur auf die Behandlungsart, sondern auch auf die Beziehung, die Wahl des Therapeuten und der behandelnden Institution (Lerner 1994). In unserer »Erlebnisgesellschaft« schieben sich die Bedürfnisse nach »Erleben« in den Vordergrund, wenn die Grundbedürfnisse, die Mittel zum »Überleben«, gesichert sind (Schulze 1992). Auch Krebskranke wünschen, am eigenen Leib zu spüren, zu »erleben«, ob sie die eine oder andere unkonventionelle Methode nicht doch als hilfreich empfinden. Eine solche Therapie muss gar nicht unbedingt ein objektives Ziel im Sinne der Onkologie haben, sie wird mehr zum Weg, den der eine oder andere als höhere, weil erlebte Realität wahrnimmt im Vergleich zu den objektiven, jedoch oftmals nicht zu spürenden »Fakten« (Nüchtern 1995). Eine als angenehm und wohltuend erlebte Therapie wird demzufolge auch als »heilsam« empfunden, unabhängig von ihrer objektiven Wirksamkeit. 29.4.8 Einfluss des sozialen Umfelds
Bei Auftreten einer Krebserkrankung empfinden viele Betroffene im Umgang mit unkonventionellen Verfahren einen starken Druck durch das gesellschaftliche und persönliche Umfeld. Verwandte, Freunde und Mitpatienten haben im Internet recherchiert, berichten von eigenen »guten Erfahrungen« oder wissen von erfolgreichen Behandlungen anderer zu berichten, die der Betroffene doch unbedingt auch ausprobieren solle (Andritzky 1997). Nicht selten entsteht dieses Mitteilungsbedürfnis aus der Schwierigkeit der Angehörigen, mit den eigenen Ängsten und Ohnmachtsgefühlen umzugehen, die durch die Krebserkrankung einer Bezugsperson oder eines Freundes ausgelöst werden. Eindeutig sind die Angaben, von wem die unkonventionellen Verfahren empfohlen oder wie Betroffene auf diese aufmerksam wurden: Familie und Freunde werden am häufigsten genannt, gefolgt von Berichten aus den Medien. In Deutschland sind allerdings auch die behandelnden Ärzte selbst eine häufige Informationsquelle (Kalder et al. 2001).
604
Kapitel 29 · Unkonventionelle Verfahren in der Onkologie
29.5
Anbieter
Eine Betrachtung unkonventioneller Verfahren wäre unvollständig ohne die Darstellung der Umstände, unter denen diese den Betroffenen angeboten werden. 29.5.1 Ärzte
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Unkonventionelle Behandlungsverfahren werden keineswegs nur von »Quacksalbern« oder »Außenseitermedizinern« eingesetzt (Kalder et al. 2001). Gerade in der Palliativsituation wenden auch viele Ärzte, vor allem in freier Praxis, derartige Verfahren an, teilweise unter erheblichem Druck vonseiten des Patienten und seiner Angehörigen (Scrace 2003). In der häufig vorliegenden Hilflosigkeit ist es oft leichter, irgendetwas zu tun, und sei es eine fragwürdige Behandlungsmethode zu verordnen, als die ganze Last des »Nichtheilen-Könnens« zu ertragen (Verres 1995). Hier läuft der Arzt vor der Realität ebenso davon wie sein Patient. Die überzogene Erwartung der Betroffenen und auch der Ärzte an die Rolle des Arztes als Heiler, an seine »Magie und Macht in der Gesellschaft«, kollidiert mit der Erkenntnis, dass eben viele Patienten nicht geheilt werden können (Dörner 2003). Darüber wird dann vergessen, dass Ärzte auch als Helfer, Begleiter und nicht nur als Heiler von großem Nutzen für den Patienten sein können (Gallmeier 1989). So sind Ärzte in eine ähnliche Psychodynamik wie die Betroffenen verstrickt, d. h., ähnliche Beweggründe werden wirksam. Auch der finanzielle Aspekt spielt eine Rolle und die Notlage der Patienten wird dabei ausgenutzt (Aumiller 1983, 1989). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der behandelnde Arzt nicht nur die Kosten für die individuelle Behandlung erstattet bekommt, sondern persönlich am Umsatz des Medikaments beteiligt ist. Nur wenige Ärzte, die unkonventionelle Behandlungsmethoden einsetzen, bezeichnen sich als Außenseiter. Eine Abgrenzung zwischen sog. »Alternativmedizinern« und »Schulmedizinern« fällt daher nur leicht, wenn ein Arzt selbst Wert darauf legt, als »Außenseiter« betrachtet zu werden (Henney 1985). Ansonsten liegt meist eine untrennbare Vermischung mehrerer, z. T. unbewusster Motive wie z. B. Helferimpuls, Forscherdrang, Größenphantasien oder finanzielles Interesse vor. Letztlich gibt daher nur die kritische Betrachtung der Handlungen und Beweggründe jedes einzelnen Arztes Auskunft darüber, ob ihm die Frage nach dem Nutzen einer Behandlung für den Betroffenen und die Reflexion über das eigene Tun ein wesentliches Anliegen sind. In diesem Zusammenhang sind es immer wieder auch Zahnärzte, Tierärzte und Mediziner aus nichtklinischen Institutionen, darunter auch wissenschaftliche Mitarbeiter von Universitäten, die sich an der Beratung und Behandlung von Tumorpatienten durch Ausgabe von Medikamenten, Stellungnahmen in der Öffentlichkeit und Einsatz über Spezialinstitute, Firmen oder Gesellschaften beteiligen und damit zur Verbreitung unkonventioneller Verfahren beitragen, ohne dass sie jemals eine Weiterbildung oder eingehende klinische Erfahrung in der Betreuung von Krebskranken erworben haben.
29.5.2 Heilpraktiker
Eine Befragung von Heilpraktikern ergab, dass über die Hälfte von ihnen Krebs für beeinflussbar und gut kontrollierbar hielten, und sie schätzten ihre diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten unrealistisch optimistisch ein (Alting 1987; Kuno 2001). Dies hat besonderes Gewicht in Anbetracht der Tatsache, dass Heilpraktikern die wirksamen tumorspezifischen Behandlungsmethoden gar nicht zur Verfügung stehen. So treffen hier die Vorstellungen vieler Patienten von einer »sanften, biologischen und ganzheitlichen« Behandlung und die begrenzten Möglichkeiten einer Berufsgruppe in eigentümlicher Weise zusammen. Der Umstand, dass Heilpraktiker im Gegensatz zu Ärzten den Begriff der »Heilung« offiziell in ihrer Berufsbezeichnung führen dürfen (Murray u. Rubel 1992) weist darauf hin, dass mit Heilung in diesem Sinne nicht die Kuration nach den Kriterien der Onkologie gemeint sein kann, sondern hiermit eine von Laien und Therapeuten geteilte Vorstellung des »Heilwerdens« gemeint ist, die sich stärker an therapeutischen Ritualen und positiv erlebten Effekten orientiert, als an objektiven Befunden. 29.5.3 Medien
Berichte über Behandlungserfolge durch unkonventionelle Verfahren spielen in den Massenmedien eine wichtige Rolle (Aumiller 1983). Sie sind ideal geeignet, ein Verfahren und darüber hinaus den Therapeuten bekannt zu machen und gleichzeitig mit Darstellungen von solchen »Wunderheilmitteln« die Auflage zu steigern (Büschel et al. 1997; Ringelmann 1991; Jazbinsek 2002). Auch bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens schrecken nicht davor zurück, Reklame für unseriöse Behandlungsverfahren zu machen (Anonymous 1996). Damit wird die Neugier gesunder Leser ebenso wie die Hoffnung Krebskranker ausgenutzt (Mäckel 1989). Ein aufschlussreiches Beispiel hierfür ist die Berichterstattung zu Galavit, einem im Jahr 2000 als »Wundermittel gegen Krebs« angepriesenen Präparat. Ein Schauspieler war von der sog. Regenbogenpresse in einem zu Herzen gehenden Bericht als Krebspatient präsentiert worden, der durch den »Krebskiller Galavit geheilt worden sei« (Meißner 2000). Der Schauspieler gab Monate später zu, »er habe damit lediglich einem Freund helfen wollen, ein Medikament zu promoten«, eine Prostatakrebserkrankung habe nie vorgelegen (Anonymous 2001). In der Zwischenzeit hatten sich hunderte von krebskranken Menschen mit einer aus der Labordiagnostik stammenden Substanz unklarer Toxizität und ohne nachgewiesene tumorspezifische Wirksamkeit für viel Geld (durchschnittliche Behandlungskosten ca. 10.000 €) behandeln lassen (Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft 2001). Allerdings nehmen zahlreiche Berichte zu Medizinthemen in den Medien immer wieder auch ein wichtige »aufklärerische, problemgerechte und handlungsrelevante Funktion« ein, wie eine Analyse von Muthny und Bechtel (1988) zeigt, und ermöglichen Betroffenen dadurch eine realistische Einschätzung der Grenzen unkonventioneller und der Möglichkeiten etablierter Diagnose- und Behandlungsverfahren (Jazbinsek 2002). War medizinische Fachliteratur für Laien noch vor wenigen Jahren nahezu unzugänglich, so hat sich durch das Internet dieser Weg enorm verkürzt. Die Mehrzahl der Interessierten findet im Internet die gewünschten Informationen und berücksichtigt die-
605 29.5 · Anbieter
se bei der Entscheidungsfindung. Nicht selten werden ärztlich empfohlene Behandlungen nicht zuletzt aufgrund von Internetinformationen nicht begonnen (Krischning et al. 2004). Leider hat die Qualität der im Internet zugänglichen Informationen zu unkonventionellen Verfahren nicht in allen Fällen mit deren Verfügbarkeit Schritt gehalten (Walji et al. 2004; Schmidt u. Ernst 2004) und Gesetzgeber und Kontrollbehörden sind mit dem Medium Internet überfordert (Ziegler 2001). Für Patienten und sogar Fachpersonen, die sich im Internet informieren wollen, ist es oftmals schwer, die Zuverlässigkeit und Relevanz von Informationen aus dem Internet zu beurteilen. Um die Aktualität und Qualität medizinischer Informationen im Internet zu verbessern und Informationsquellen für die Nutzer transparenter zu gestalten, können Anbieter von Webseiten seit einigen Jahren an einer freiwilligen Qualitätskontrolle teilnehmen und sich ihre Seiten z. B. durch die Health on the Net Foundation (http://www. hon.ch) zertifizieren lassen. 29.5.4 Medizinische Laien
Die Medizin ist ein Spiegel unserer Zeit und unserer Gesellschaft. Die in unserer Gesellschaft weit verbreitete Meinung, alles sei machbar und nur eine Frage des Geldes oder technischer Mittel, lässt die gegenteilige Erkenntnis bei eingetretener Krebserkrankung kaum zu. Je umfangreicher das Rüstzeug der heutigen Medizin ist, desto mehr tritt die Forderung an den Arzt heran »Tun Sie alles!«und eine Begrenzung im Tun wird nur schwerlich akzeptiert (Gallmeier 1989; Earle 2006). Paradoxerweise geht dabei eine Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten keineswegs mit einer größeren Zufriedenheit mit der Medizin und medizinischer Betreuung einher (Barsky 1988). Selbst das Ansehen von Nobelpreisträgern in der Öffentlichkeit wird gelegentlich benutzt, um unkonventionellen Krebstherapien zur Verbreitung zu verhelfen, wie im Falle von Otto Warburg und Linus Pauling, beide medizinische Laien auf dem Sektor der praktischen Onkologie. 29.5.5 Rechtsprechung und Politik
Die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens haben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Spektrum und die Verbreitung unkonventioneller Verfahren. Bei politisch gewolltem Methodenpluralismus wurde in Deutschland die Berücksichtigung spezifischer Aspekte der sog. »besonderen Therapierichtungen« (anthroposophische Medizin, Homöopathie und Phytotherapie) im Sozialgesetzbuch (SGB V) und im Arzneimittelgesetz (AMG) festgeschrieben und für Medikamente der besonderen Therapierichtungen wurden erleichterte Zulassungsbedingungen geschaffen. Durch die Arbeit der in diesem Rahmen tätigen besonderen Zulassungskommissionen (Kommission C für anthroposophische Arzneimittel, Kommission D für homöopathische Arzneimittel und der Kommission E für pflanzliche Arzneimittel) entstanden Anfang der 90er Jahre umfangreiche Monografien, die die Datenlage zu einer Vielzahl von Arzneimitteln der besonderen Therapierichtungen in weltweit einzigartiger Weise zusammenfassen. Die Verkehrsfähigkeit von Medikamenten, deren Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und pharmazeutischer Qualität nicht ent-
29
sprechend moderner arzneimittelrechtlicher Kriterien belegt ist, hängt in Deutschland darüber hinaus mit dem Umstand zusammen, dass für einen Teil der bereits bei Inkrafttreten des AMG 1978 auf dem Markt befindlichen Arzneimittel die Nachzulassungsverfahren noch immer nicht abgeschlossen sind und für diese damit weiterhin fiktive Zulassungen bestehen. Während die angeführten arzneimittelrechtlichen Rahmenbedingungen die Anwendung unkonventioneller Arzneimittel sicherlich befördert haben, wurde gleichzeitig durch gesetzliche Vorgaben der Politik sowie deren Ausgestaltung durch die Gremien der Selbstverwaltung und durch die Rechtsprechung die Erstattungsfähigkeit von unkonventionell eingesetzten Medikamenten und Methoden im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eingeschränkt: Bei Fertigarzneimitteln setzt die Verordnungsfähigkeit zusätzlich zu ihrem indikationsgerechten Einsatz, auf den durch Krankenkassen und Prüfgremien vermehrt geachtet wird, seit 2004 auch eine Verschreibungspflichtigkeit voraus. Nichtmedikamentöse Verfahren stellen in der Regel nur dann eine vertragliche Leistung dar, wenn sie in der aktuellen kassenärztlichen Gebührenordnung bzw. im pauschalierenden Entgeltsystem für die Krankenhäuser gelistet sind. Angesichts der Vielzahl gesetzlicher Regelungen und untergesetzlicher Normen, die beim Umgang mit unkonventionellen Verfahren einschlägig sein können, und einer für Nichtjuristen teilweise verwirrenden Rechtsprechung verwundert es nicht, dass der Streit um die Erstattungsfähigkeit unkonventioneller Verfahren regelmäßig auch die Gerichte beschäftigt. Es geht bei diesen Auseinandersetzungen häufig nicht nur um medizinische Sachverhalte, sondern auch um die Auslegung von Rechtsgrundlagen, die das Leistungsspektrum der GKV einschränken. Die Rechtsprechung im Zusammenhang mit unkonventionellen Verfahren erregt dabei immer wieder den Ärger, den Sewing in einem Kommentar unmissverständlich äußert und nachvollziehbar begründet, dass sie einem »falsch verstandenen und fehlinterpretierten Wettbewerbsrecht ein höheres Rechtsgut [einräumt] als einer angemessenen medizinischen Betreuung schwerstkranker Patienten« (Sewing 1996). Um den Anforderungen und Schwierigkeiten zu begegnen, die aus den Unterschieden zwischen den länderspezifischen und europäischen Rechtsnormen im Bereich unkonventioneller Verfahren entstehen, hat das Projekt »Concerted Action for Complementary and Alternative Medicine Assessment in the Cancer Field« der EU-Kommision umfangreiche Informationen erarbeitet (http://www.cam-cancer.org). 29.5.6 Krankenkassen
Grundsätzlich bietet die Kostenerstattung unkonventioneller Verfahren den Krankenkassen eine Möglichkeit, sich im politisch gewollten Wettbewerb um die Versicherten zu positionieren. Im Vergleich zu den privaten haben die gesetzlichen Krankenkassen dabei allerdings einen nur begrenzten Ermessensspielraum: Das Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist durch eine Vielzahl gesetzlicher Vorgaben und untergesetzlicher Normen inzwischen in einer Weise geregelt, dass die Kosten für das Gros der unkonventionell zum Einsatz kommenden Medikamente und Methoden nicht übernommen werden können.
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29
Kapitel 29 · Unkonventionelle Verfahren in der Onkologie
Spielraum bei der Leistungsentscheidung haben die gesetzlichen Krankenkassen im Wesentlichen bei Behandlungsmethoden, Arznei- und Heilmittel aus dem Bereich der sog. »Besonderen Therapierichtungen« – insbesondere der anthroposophischen Medizin und Homöopathie, da diese sowohl im Sozialgesetzbuch V als auch in den vom Gemeinsamen Bundesausschuss formulierten Arzneimittelrichtlinien weiterhin als »nicht ausgeschlossen« hervorgehoben werden. Einzelne Krankenkassen, die sich aufgrund dieser unscharfen Formulierung durch eine sehr offene Haltung im Bezug auf die Kostenübernahme für unkonventionelle Medikamente und Methoden zu profilieren versuchten, wurden allerdings vom Bundesversicherungsamt gerügt (Bock 1999; Rieser 2001). Angesichts dieses Umstandes und des allgemeinen Kostendrucks im Gesundheitswesen verhalten sich die meisten Krankenkassen bezüglich der Bezahlung zusätzlich erbrachter, außervertraglicher Leistungen inzwischen restriktiv. Die Gesellschaft kann heute in der Medizin nicht mehr alles bezahlen. Wer als Patient eindeutig als unkonventionell zu erkennende Verfahren den bewährten und anerkannten vorzieht, sollte sich der Risiken bewusst sein. Übernimmt er die Verantwortung für sich und trägt die Kosten selbst, hat er alle Freiheit für seine Entscheidungen. Sind jedoch Mittel der Solidargemeinschaft betroffen, ist eine eingehende Prüfung der Kostenübernahme unerlässliche Pflicht.
29.6
Hilfe oder Risiko
29.6.1 Hilfe
Viele Krebskranke setzen sich im Rahmen ihrer Krankheitsbewältigung mit unkonventionellen Verfahren auseinander und erleben dies als Hilfe, unabhängig davon, ob auch der Verlauf ihrer Krebserkrankung günstig beeinflusst wird (Kaiser et al. 1992). Zum Beispiel kommen Betroffene durch eine Ernährungsumstellung zu der Überzeugung, selbst etwas zur Behandlung beitragen zu können, und mindern damit Gefühle der Hilf- und Hoffnungslosigkeit. Wie bereits dargestellt ist es ein typisches Kennzeichen unkonventioneller Verfahren, dass deren klinische Wirksamkeit nicht bewiesen ist (Kaiser et al. 1998). Paradoxerweise kann jedoch gerade das »Unbewiesene« dieser Verfahren eine besondere Faszination ausüben (Salander 2000; Wein 2000), da es doch scheinbar die Chance bietet, die bedrohliche, »wissenschaftlich determinierte« Realität der Krankheitssituation anzuzweifeln, zu »umgehen« und dadurch empfundene Freiräume des Handelns ohne festgelegtem Ausgang zu schaffen (Sontag 2001). Dass viele Patienten dieses als hilfreich erleben, wird von konventioneller Seite dem Placeboeffekt zugeschrieben. Gerade in der palliativen Therapiesituation werden Medikamente in dem Wissen ihrer fraglichen Wirksamkeit auch außerhalb von Studien eingesetzt, da zumindest die Chance auf einen Effekt als »logisches« Placebo besteht. Dieser Ansatz wird verstärkt, wenn der vom Anbieter postulierte, scheinbar einleuchtende Wirkmechanismus, z. B. »Unterstützung der Abwehrkräfte«, gut mit der Krankheitstheorie des Krebskranken oder gar des behandelnden Arztes übereinstimmt. Dementsprechend kümmert es verständlicherweise viele Krebskranke wenig, ob die von ihnen verspürte Besserung Folge einer spezifischen Wirksamkeit oder eines so bezeichneten Placeboeffekts ist. Damit stellt sich die Frage, ob nicht auch bei der konventionellen Anwendung von Maßnahmen mit nachgewiesener Wirksamkeit gezielter auf eine Ausnutzung
des vielschichtigen Wissen um nichtspezifische Effekte auf das Befinden von Patienten hingearbeitet werden sollte (Moerman u. Jonas 2000; Walach u. Sadaghiani 2002). Bei der Bewertung unkonventioneller Verfahren müssen auch die unspezifischen Begleitwirkungen betrachtet werden, die in der Regel den »Zauber«, die Magie und die subjektiv erlebte Hilfe einer solchen Behandlung ausmachen (Moerman u. Jonas 2000). Neben der »Droge Arzt« in der Beziehung spielt die »Droge« des therapeutischen Umfelds, des äußeren Bildes und der menschlichen Betreuung eine erhebliche Rolle (Kaptchuk 2002). Es geht nicht allein darum, was angeboten, sondern häufiger, wie etwas vermarktet wird. Wie in anderen Branchen, z. B. der Nahrungsmittelindustrie, wird mehr nach der Attraktivität der Verpackung und den Aussagen der Werbung als nach der Qualität des Inhalts gefragt. In diesem Sinne dürfte die Art der Präsentation bei jedem medizinischen Angebot bereits eine mehr oder weniger große Hilfe darstellen, selbst wenn später – sofern sich dies überhaupt unterscheiden lässt – der Inhalt nicht das hält, was das Aussehen und die Werbung versprochen haben. In der konventionellen Onkologie wird unter Heilung bzw. Kuration die vollständige und anhaltende Beseitigung einer Krebserkrankung verstanden, die zu einer dem Alter entsprechenden normalen Lebenserwartung führt. Im Rahmen von unkonventionellen Vorgehensweisen wird ebenfalls häufig von Heilungen gesprochen. Darüber hinaus lassen sich viele unkonventionelle Therapeuten »Heiler« nennen; dies ist bei konventionell arbeitenden Ärzte absolut unüblich. Mit diesem Heilungs- und Heilerbegriff ist etwas ganz anderes gemeint als in der konventionellen Medizin. Es geht um die Beschreibung eines innerlichen Heilwerdens, mit sich selbst »eins« oder »ganz« werden, nach dem Motto »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«. Daher wird auch oft von der Ganzheits- oder holistischen Medizin gesprochen (Cassileth 1986; Fulder u. Munro 1985; Nüchtern 1998). Damit ist in diesem Fall nicht die ebenfalls weit verbreitete polypragmatische Anwendung einer Vielzahl unkonventioneller Verfahren gleichzeitig gemeint, sondern eine therapeutische Begegnung mit einer »Heilerpersönlichkeit«, deren wichtigstes Kapital der »Ruf als Heiler« ist. 29.6.2 Risiko
Das größte Risiko in der Anwendung unkonventioneller Verfahren ist darin zu sehen, dass potenziell kurative bzw. palliativ wirksame konventionelle Behandlungen verzögert oder versäumt werden (Malik u. Gopalan 2003; Davis et al. 2006). Diese Gefahr besteht besonders bei den unkonventionellen Therapeuten, die ihr Vorgehen als einzig richtige »Alternative« darstellen und die konventionellen Verfahren als obsolet und schädlich erklären. Unerwünschte Wirkungen Von den Anbietern unkonventioneller Methoden wird häufig die vermeintliche Nebenwirkungsfreiheit postuliert und Betroffene handeln oft gemäß dem Ausspruch: »Wenn es auch nicht hilft, schadet es zumindest nicht«. Auch wenn akute Nebenwirkungen unter unkonventionellen Verfahren im Vergleich zu den etablierten onkologischen Therapien in der Regel eher selten auftreten, gilt es doch, folgende drei Aspekte zu berücksichtigen: 4 Unerwünschte Wirkungen sind nur zu finden, wenn man ausreichend auf sie achtet.
607 29.6 · Hilfe oder Risiko
4 Die Deutung, was erwünschte und unerwünschte Wirkungen einer Behandlung sind, hängt von der Perspektive des Therapeuten und des Patienten ab. 4 Eine Behandlungsmethode, von der behauptet wird, sie habe keine unerwünschten Wirkungen, muss immer in den Verdacht geraten, dass sie auch die erwünschten nicht hat. Obwohl bei vielen unkonventionellen Verfahren keine ausreichenden Untersuchungen im Hinblick auf Nebenwirkungen vorliegen, ist dennoch das Auftreten schwerer unerwünschter Ereignisse unter der Anwendung einzelner dieser Verfahren gut dokumentiert (Coon u. Ernst 2002; De Smet 2002; Ernst 2002; Mathijssen et al. 2002; Palmer et al. 2003) Wechselwirkungen Werden Behandlungsverfahren, zu denen keine ausreichenden Kenntnisse zu Wirksamkeit und Sicherheit vorliegen, außerhalb von Studien ergänzend zu konventionellen Methoden angewandt, können weder die behauptete Wirksamkeit noch das Risiko einer ungünstigen Beeinflussung, wie z. B. Symptomverstärkung, Verkürzung der Überlebenszeit oder Verminderung der Effizienz, einer gleichzeitigen konventionellen Behandlung, ausreichend eingeschätzt werden. Bei der Vielzahl pflanzlicher Präparate, die frei verkäuflich sind oder als Einzel- oder Kombinationspräparate der traditionellen chinesischen oder indischen Medizin über das Internet bezogen werden, sind bei gleichzeitiger Anwendung mit onkologischen Therapien wechselseitige Beeinflussung der Wirksamkeit möglich. Dies kann zur Wirkungsverstärkung oder -abschwächung beider Behandlungen führen (Taschlar et al. 2006). Interaktionen sind dabei sowohl auf der Ebene der intestinalen Absorption, der Verteilung im Körper, des Metabolismus und der Ausscheidung möglich. Die am besten dokumentierten Wechselwirkungen zwischen pflanzlichen Substanzen und Arzneimitteln sind durch Veränderung des hepatischen Metabolismus bedingt. Hierbei kommt der Modifikation der Expression und/oder Funktion der Enzyme der Zytochrom-P450-Familie (CYP) durch die Pflanzenextrakte eine besondere Bedeutung zu (. Tab. 29.7; mod. nach Taschlar et al. 2006 und Izzo u. Ernst 2001). Die Hämproteine der Zytochrom-P450-Familie, insbesondere die Isoformen CYP3A4 und 2D6, spielen eine zentrale Rolle im Metabolismus zahlreicher Pharmaka. Ihre Aktivität
hat damit auch entscheidenden Einfluss auf die Pharmakokinetik zahlreicher Chemotherapeutika und Zytostatika (Scripture et al. 2005). Pflanzensubstanzen können sowohl zu einer Induktion als auch zu einer Inhibition der Aktivität dieser Zytochrome führen. Als besonders starke Induktoren des Isoenzyms CYP3A4 sind Inhaltsstoffe des Johanniskrautextrakts bekannt. So fanden Mathijsen et al. (2002) heraus, dass eine zeitgleiche Einnahme von Johanniskrautextrakten und Irinotecan zu einer deutlichen Reduktion (42%) der Plasmaspiegel der aktiven Metaboliten von Irinotecan führte und in Folge dessen auch die hämatologische Toxizität vermindert war. Demgegenüber inhibieren Extrakte aus Gingko biloba, Echinacea purpurea und Serenoa repens, auch dies häufig eingesetzte Phytotherapeutika, die Isoenzyme CYP3A4, 2D6 und 2C9 (Yale u. Glurich 2005). Veränderungen der Plasmaspiegel von Chemotherapeutika als Folge solcher Enzyminduktion oder -inhibition sind beschrieben. Auch auf der Ebene der zellulären Transportvorgänge, z. B. durch Interaktion pflanzlicher Substanzen mit Membrantransportproteinen (z. B. ABC-Transporter) sind Beeinflussungen der Wirksamkeit von Arzneimitteln möglich (Kruijtzer et al. 2002). Neben diesen pharmakokinetischen Wechselwirkungen besteht z. B. bei Cannabinoiden auch die Möglichkeit einer direkten pharmakodynamischen Interaktion mit Analgetika oder Antiemetika oder auch potenzieller Interaktionen von Anitoxidanzien mit Strahlentherapie (7 Abschn. 29.1.3). Gerade da manche Behandlungskonzepte unkonventioneller Therapeuten dadurch gekennzeichnet sind, dass zahlreiche Verfahren, insbesondere Medikamente, gleichzeitig eingesetzt werden – in einzelnen Fällen über 100 innerhalb weniger Monate – ist das Risiko möglicher Arzneimittelwechselwirkungen in besonderer Form zu berücksichtigen. Dabei sollte beachtet werden, dass häufig erst die aktive Nachfrage vonseiten der Ärzte offenlegt, wie viele Patienten tatsächlich unkonventionelle Verfahren einsetzen (Metz et al. 2000). Kosten und Belastungen Neben den genannten gesundheitlichen Risiken sind bei unkonventionellen Verfahren auch die finanziellen Belastungen zu beachten. Auch wenn sich die Kosten für viele Verfahren in Grenzen halten und eine systematische Übersichtsarbeit zum KostenNutzen-Verhältnis für einige Verfahren sogar zu einer positiven Bewertung kommt (Herman et al. 2005), werden doch immer
. Tab. 29.7. Mögliche Wechselwirkungen zwischen häufig eingesetzten Pflanzenextrakten und antitumorösen Medikamenten. Name
29
Wechselwirkungen mit folgenden Substanzen möglich, aufgrund von … Enzyminhibition
Enzyminduktion
antioxidativer Wirkung
Rezeptorinteraktion
Baldrian (Valeriana officinalis)
≈ Cyclophosphamid3 Teniposid3 Tamoxifen4
–
–
–
Ginseng (Panax ginseng)
≈ Camptothecine1 Cyclophosphamid1 EGFR-TK Inhibitoren1 Epipodophyllotoxine1 Taxane1 Vinca Alkaloide1
–
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≈8,9 Tamoxifen
608
Kapitel 29 · Unkonventionelle Verfahren in der Onkologie
. Tab. 29.7 (Fortsetzung)
29
–
⊗ Alkylanzien Antibiotika Platinderivate
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⊗⊗ Alle Chemotherapeutika und Zytostatika1–6
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–
Knoblauch (Allium sativum)
⊗ Dacarbazin2
–
–
–
Mariendistel (Silybum marianum)
Keine Wechselwirkungen zu erwarten
Moosbeere (Vaccinium macrocarpon)
Keine Wechselwirkungen zu erwarten
Nachtkerze (Oenothera biennis)
Keine Wechselwirkungen zu erwarten*
Rauschpfeffer (Piper methysticum)
–
≈/⊗7 Camptothecine1 Cyclophosphamid1 EGFR-TK Inhibitoren1 Epipodophyllotoxine1 Taxane1 Vinca Alkaloide1
–
–
Sägezahnpalme (Serenoa repens)
Keine Wechselwirkungen zu erwarten
Soja (Glycine max)
–
–
–
⊗8,9 Tamoxifen
Sonnenhut (Echinacea purpurea)
–
⊗ Camptothecine1 Cyclophosphamid1 EGFR-TK Inhibitoren1 Epipodophyllotoxine1 Taxane1 Vinca Alkaloide1
–
–
Traubensilberkerzenwurzel (Cimicifuga racemosa)
Keine Wechselwirkungen zu erwarten
Traubenkerne (Vitis vinifera)
–
≈ Camptothecine1 Cyclophosphamid1 EGFR-TK Inhibitoren1 Epipodophyllotoxine1 Taxane1 Vinca Alkaloide1
≈ Alkylanzien Antibiotika Platinderivate
–
Ginkgo (Ginkgo biloba)
≈ Camptothecine1 Cyclophosphamid1 EGFR-TK Inhibitoren1 Epipodophyllotoxine1 Taxane1 Vinca Alkaloide1
Heidelbeere (Vaccinium myrtillus)
Keine Wechselwirkungen zu erwarten
Johanniskraut (Hypericum perforatum)
⊗ ⊗ Wechselwirkungen bekannt, daher keine gleichzeitige Anwendung ⊗ Wechselwirkungen wahrscheinlich, daher gleichzeitige Anwendung vermeiden ≈ Wechselwirkungen möglich, daher Zurückhaltung bei gleichzeitiger Anwendung * bei hochkonzentrierten Extrakten Auswirkungen auf Serumspiegel von Pharmaka möglich durch Verdrängung aus der Eiweißbindung 1 Zytochrom P450 Isoenzym CYP3A4, 2 CYP2E1, 3 CYP2C19, 4 CYP2C9, 5 CYP2B6, 6 Glykoprotein-P 7 bei vorbestehenden Lebererkrankungen 8 Wirkungsabschwächung durch Rezeptorblockade möglich 9 Tumorstimulation bei Östrogen-abhängigen Tumoren möglich
609 29.7 · Zum Umgang mit unkonventionellen Verfahren
wieder Fälle bekannt, in denen Patienten und ihre Familien hohe Summen – in Einzelfällen mehr als 50.000 € – für solche Maßnahmen und für den Rechtsstreit um deren Kostenerstattung ausgeben (Redler-Hasford et al. 1985; Kappauf et al. 2000). Häufig wird auf der Suche nach »alternativen« Behandlungswegen sehr viel Zeit und Energie aufgewandt, insbesondere wenn die verständlicherweise und gelegentlich auch sinnvolle Einholung einer »zweiten oder dritten Meinung« dem Patienten oder den Angehörigen noch nicht ausreicht und Anbieter unkonventioneller Verfahren konsultiert werden. Dazu kommen die Wegstrecken und Wartezeiten, die manche Patienten für die Behandlung auf sich nehmen. Die dadurch stattfindende Trennung vom familiären und sozialen Umfeld mag einem Teil der Patienten den Umgang mit ihrer Krankheit erleichtern, für die anderen wird sie einen zusätzlichen Verlust bedeuten, den sie nur wegen leichtfertig geweckter Hoffnungen in Kauf nimmt. Mancher bewusste Abschied wird dadurch versäumt.
29
Behandlung ablehnen (Adler u. Fosket 1999; Montbriand 1998; Tasaki et al. 2002). Die Motivation für einen konstruktiven Umgang mit dem Thema unkonventionelle Verfahren kann sich auch aus der Reflexion der Tatsache ergeben, dass deren weite Verbreitung auch Ausdruck einer Unzufriedenheit vieler Patienten mit der etablierten onkologischen Praxis ist, die durchaus nicht immer bewusst wahrgenommenen wird (Münstedt et al. 1996; Paltiel et al. 2001; Muthny u. Bertsch 1997; Tough et al. 2002; Ponholzer et al. 2003; Hedderson et al. 2004). Hier spielen neben den noch immer in vielen Krankheitssituationen begrenzten Möglichkeiten konventioneller Therapien und deren nicht selten beträchtlichen Nebenwirkungen auch Defizite bei der Patientenbetreuung eine wesentliche Rolle. 29.7.1 Qualität der Beziehung
und Entscheidungsfindung 29.7
Zum Umgang mit unkonventionellen Verfahren
Kompetenz im Umgang mit dem Thema unkonventionelle Verfahren bietet die Chance, die therapeutische Beziehung vertrauensvoll zu stärken und Authentizität und Integrität des ärztlichen Handelns erlebbar werden zu lassen (Horneber et al. 2003a). Im Behandlungsalltag bedeutet die Auseinandersetzung mit dem Thema allerdings eine kommunikative Herausforderung: Sie betrifft zentrale Aspekte der Qualitätssicherung in der Medizin und des Verbraucherschutzes, sie konfrontiert unmittelbar und in besonderer Weise mit der Erlebnis- und Vorstellungswelt kranker Menschen und ihrer Bezugspersonen und mit Bedürfnissen und Hoffnungen, die nicht selten mit unrealistischen Erwartungen an Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten von Krebserkrankungen verknüpft sind. Darüber hinaus berührt sie Fragen nach Wahrhaftigkeit und Respekt in der therapeutischen Beziehung und nicht zuletzt berührt sie auch das professionelle Selbstverständnis des Behandlers (Verres 1986; Cassileth u. Berlyne 1989). In dieser Auseinandersetzung kommt einer zugewandten, aber kritischen Haltung des Arztes eine wichtige Rolle zu. Sie kann von den Betroffenen als verständnisvolle Aufforderung zur Reflexion der eigenen Wünsche und Vorstellungen angenommen werden. »Anerkennung ist die unverzichtbare Bedingung jeglicher Veränderung« sagt Achenbach zu Recht (Achenbach 1984). Den abfälligen Alltagsskeptizismus, der unkonventionellen Verfahren häufig entgegengebracht wird, erleben Patienten als Abwertung ihrer Person und ihrer Bewältigungsbemühungen (Adler u. Fosket 1999). Verhaltensweisen, die im Umgang mit unkonventionellen Verfahren von Betroffenen als nicht hilfreich empfunden werden, sind (Tasaki et al. 2002): 4 die Äußerung von Gleichgültigkeit, 4 die alleinige Betonung des fehlenden wissenschaftlichen Nachweises der Wirksamkeit und 4 das Durchscheinen einer grundsätzlich ablehnenden Haltung. Untersuchungen zeigen, dass eine stark ablehnende oder abwertende Haltung der Behandler gegenüber unkonventionellen Verfahren die Hinwendung zu solchen Verfahren sogar verstärken und das Risiko erhöhen kann, dass Krebskranke konventionelle
Obwohl die hohe fachliche Kompetenz des Arztes unverzichtbare Grundlage einer tragfähigen therapeutischen Beziehung ist und trotz der gezielt einsetzbaren spezifischen Wirksamkeit moderner Medikamente, hängt das Gelingen ärztlicher Tätigkeit in unverändert hohem Maß davon ab, wie diese Tätigkeit von den Betroffenen erlebt wird und welche Bedeutung sie für Auseinandersetzung mit der Krankheit und die Gesundungsprozesse gewinnt. Krebskranke, die das Thema unkonventionelle Verfahren ansprechen, wünschen sich von ihrem Arzt, dass ihre Fragen hierzu genauso ernstgenommen werden wie die zu konventionellen Therapien (Tasaki et al. 2002). Wenn der Therapeut zeigt, dass er das Anliegen des Patienten ernst nimmt, kann darüber der Weg geebnet werden, über die bestehenden Erwartungen und Befürchtungen im Hinblick auf den weiteren Krankheitsverlauf zu reden und die Ängste, Motivationen und Krankheitsparadigmen der Betroffenen besser zu verstehen. Die wichtigste ärztliche Gesprächstechnik besteht hierbei aus Zuhören und feinfühligem Wahrnehmen. Nicht selten sind es »einfache« Fragen wie z. B. die nach der Ernährung, die die existenzielle Verunsicherung und das Bedürfnis aufzeigen, die »Kontrolle über die Normalität« nach einer Krebsdiagnose wiederzufinden. Erst wenn der Arzt die Situation des Patienten und dessen Vorstellungen und Wünsche wahrgenommen und vorurteilsfrei zu verstehen versucht hat, kann er diesen seine Sicht und Einschätzung gegenüberstellen, sodass dann eine »gemeinsame Wirklichkeit« als Voraussetzung für eine tragfähige Beziehung entsteht (Gallmeier 1989). Erst das Bemühen, eine gemeinsame Wirklichkeit herzustellen, ermöglicht eine Verständigung über das weitere therapeutische Vorgehen und die damit verbundene verantwortliche Begleitung des Patienten (s. Übersicht »Vorgehensweise des Arztes«). Das Gefühl, vertrauensvoll in die Entscheidungsfindung einbezogen und in der eigenen Art, mit der Situation umzugehen ernst genommen zu werden, wird dabei das Vertrauen der Patienten bestätigen und damit die Arzt-PatientenBeziehung stärken, gleich, ob der Arzt ein unkonventionelles Verfahren begründet ablehnt, mit entsprechenden Therapeuten in Kontakt tritt, zu diesen überweist oder die Behandlung selber durchführt (Henman et al. 2002).
610
Kapitel 29 · Unkonventionelle Verfahren in der Onkologie
Vorgehensweisen des Arztes, die in der Auseinandersetzung über unkonventionelle Verfahren als hilfreich erlebt werden (Cassileth u. Berlyne 1989) 4 Unterstützung bei der Suche nach verlässlichen Informationen 4 Sachliche und vorurteilsfreie Bewertung der Wirksamkeit und Sicherheit 4 Erläuternde und aus der Sicht des Arztes wertende Stellungnahme, die die Situation des Patienten einbezieht
29 Je mehr ein Therapeut sich seiner eigenen Ängste und Beweggründe im Zusammenhang mit der Betreuung Krebskranker bewusst ist, z. B. der Ohnmachtsgefühle anlässlich der Not des Nicht-heilen-Könnens, und mit ihnen umzugehen lernt, desto eher wird er auf den Einsatz fragwürdiger Heilmaßnahmen verzichten können. Gelingt es dem Arzt, wissenschaftlich fundierte Medizin nach den Bedürfnissen des Kranken zu praktizieren und diese nicht als verstümmelnd, verbrennend oder vergiftend zu begreifen, wird das Bedürfnis abnehmen, ungeprüfte »komplementäre« Maßnahmen einzusetzen, mit denen die unerwünschten Wirkungen konventioneller Therapien wieder ausgeglichen werden sollen. Ein übertriebener therapeutischer Aktivismus und Polypragmatismus ist für den Patienten in der Regel genauso wenig hilfreich wie der emotionale Rückzug in die »objektive« Distanzierung (Verres 1995). Mit der begründeten Ablehnung einer Behandlung vermittelt der Arzt auch Authentizität und Integrität und zeigt, dass sein therapeutisches Handeln persönliche und fachliche Grenzziehungen sowie ethische Entscheidungen beinhaltet. 29.7.2 Hilfreiche Information
Neben der verstärkten Berücksichtigung der Beziehungsdimension im therapeutischen Bündnis (Gallmeier 1989) ist die Vermittlung verlässlicher und den Bedürfnissen entsprechender Information wichtig für die Krankheitsbewältigung (Rutten et al. 2005; van der Molen 1999). Unabhängig vom Thema ist das Prinzip der Wahrhaftigkeit am Krankenbett dabei die Basis für ein dauerhaftes Vertrauensverhältnis. Die Vermittlung zutreffender und konsistenter Informationen erfordert allerdings nicht nur Fachkenntnisse, sondern auch Einfühlungsvermögen und einen angemessen Umgang mit den »therapeutischen« Prinzipien Hoffnung und Trost. Dies stellt ähnlich hohe Anforderungen an die praktische Erfahrung des onkologisch tätigen Arztes wie die Auswahl einer geeigneten tumorspezifischen Therapie und bezieht alle an der Behandlung Beteiligen ein (Buchholz 1990). Wer in diesem Rahmen das Informationsbedürfnis und die Fragen der Betroffenen zu unkonventionellen Verfahren und deren Inanspruchnahme auch als Teil der Krankheitsverarbeitung erkennt und respektiert, wird dies als Angebot und Anlass zu einem offenen Gespräch ansehen (Horneber et al. 2003b). Es ist allerdings ein weit verbreiteter Trugschluss, dass Patienten, die mehr Informationen wünschen, dies auch wirklich ansprechen. Erst die aktive Nachfrage vonseiten des Arztes legt offen, wie groß das Interesse an unkonventionellen Verfahren ist und welche Patienten bereits entsprechende Verfahren einsetzen (Metz et al. 2000).
Im Umgang mit der Frage der Betroffenen »Was kann ich sonst noch tun?« sollte im Sinne eines salutogenetischen Konzeptes besonderer Wert darauf gelegt werden, welche Möglichkeiten der Patient in der Zukunft in allen Lebensbereichen noch zur Verfügung hat oder sogar neu zu entdecken vermag. Mit der Frage »Was hält Sie im Leben?« gilt es, individuelle Ressourcen zu entdecken und zu stärken (Kappauf u. Gallmeier 2000). Hier kann beispielsweise eine fundierte Beratung über Ernährung und Nahrungsergänzung, körperliches Training und Entspannungsmöglichkeiten und über Möglichkeiten der psychosozialen Unterstützung helfen, vorhandene Möglichkeiten besser zu nutzen und herauszufinden, in welchen Bereichen die Betroffenen und Angehörige selbst etwas beitragen, d. h. sich aktiv beteiligen können. Eine solche Beratung sollte nicht unterlassen werden, nur weil die Komplexität der Themen es schwer macht, für jeden Einzelnen den richtigen Weg zu finden. Diese Fragen sind, im Gegensatz zur Gabe von Medikamenten, unausweichlicher Bestandteil des Lebens. Durch Empfehlungen geeigneter Bücher (Kappauf u. Gallmeier 2000; Pelzl 2005; Verres 2005; Nagel et al. 2007) und Informationsbroschüren (z. B. Blaue Ratgeber der Deutschen Krebshilfe, Ernährungsratgeber der DGE u. a.) kann die meist knappe Zeit für Gespräche effektiver genutzt werden. Gelingt die kongruente Informationsvermittlung und der Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung (s. Übersicht »Vorgehensweise des Arztes«), kann dies den Betroffenen helfen, aufgrund des erworbenen Vertrauens und Wissens die Flut an oberflächlichen Behauptungen und Versprechungen aus den Medien und aus der Umgebung besser einzuordnen und dadurch ein Stück Selbstständigkeit zurückzugewinnen. Angesichts des Ausmaßes der Pseudoaufklärung zu gesundheits- und krankheitsbezogenen Themen, die teilweise eigengesetzlich, teilweise jedoch auch interessengeleitet abläuft, sind onkologisch kompetente Ärzte gefordert, neben einer guten Patientenbetreuung für eine fundierte und realistische Darstellung der aktuellen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten der modernen Onkologie in der Öffentlichkeit einzutreten und so einen Beitrag zum »Konsumentenschutz« zu leisten, auch wenn ihnen dies durch die Rechtsprechung (z. B. Wettbewerbsschutz) nicht immer leicht gemacht wird. 29.7.3 Entwicklungsmöglichkeiten und Ausblick
Die skizzierte Haltung, die im Sinne W.M. Gallmeiers von einer kompetenten und realistischen Medizin ausgeht (Gallmeier 1989) und für eine Integration von Erkenntnissen der modernen Psychoonkologie plädiert, stellt einen praktikablen Weg für onkologisch tätige Ärzte dar, mit der Vielzahl unkonventioneller Verfahren umzugehen. Sie bietet nicht nur die Chance für eine Intensivierung des therapeutischen Bündnisses, sondern regt auch zum Überdenken eigener Vorstellungen und Motivationen an. Darüber hinaus kann sie Argumente für die notwendige Diskussion über Defizite in der gängigen medizinischen Praxis und in unserem Medizinsystem als Ganzes liefern (Fulder u. Munro 1985; Böker 2003; Kornblith et al. 2006). Die unvoreingenommene Beschäftigung mit dem Grenzgebiet »unkonventionelle Verfahren« kann somit letztlich sogar wertvolle Anstöße für Weiterentwicklungen und Verbesserungen im Fachgebiet geben. Allerdings ist hier ein differenzierteres Vorgehen nötig, als dies von manchen Anbietern unkonventioneller Verfahren unter Schlagworten wie »Paradigmenwechsel« oder »Ganzheitlichkeit« immer wieder behauptet wird.
611 29.7 · Zum Umgang mit unkonventionellen Verfahren
Unkonventionelles Vorgehen im Sinne der oben genannten Definition wird auch in Zukunft in der Onkologie weit verbreitet bleiben, und dies nicht allein deshalb, weil viele Tumorpatienten nicht geheilt werden können. Daher bleibt es weiterhin erforderlich, dass sich kompetente Arbeitsgruppen mit unkonventionell eingesetzten Verfahren auseinandersetzen. Dies gilt umso mehr, da angesichts verschiedener Zeitgeistphänomene und der damit einhergehenden schwieriger werdenden Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen die Verbreitung unkonventioneller Verfahren sogar noch weiter zunehmen könnte, nicht zuletzt aufgrund des aktuell verstärkten Zeit- und Konkurrenzdruckes im
29
Rahmen unseres Sozialversicherungssystems, das die Ausübung einer Beziehungsmedizin, die sich an der Gesamtsituation der Betroffenen und deren Bezügen orientiert, zunehmend erschwert. Trotz dieser Schwierigkeiten sollte kein konventionell onkologisch tätiger Arzt vergessen, dass eine von Empathie und Wahrhaftigkeit getragene Haltung den Betroffenen gegenüber immer schon eine Hilfe per se bedeutet, insbesondere wenn diese selbst dann noch gelingt, wenn eine angemessene konventionelle Betreuung abgelehnt und stattdessen eine alleinige »alternative« Behandlung in Anspruch genommen wird (Dörner 2001).
Zusammenfassung Ein typisches Merkmal unkonventioneller Verfahren in der Krebstherapie ist, dass eine klinische Wirksamkeit behauptet wird, die nicht oder nicht ausreichend belegt, und die Sicherheit vielfach nicht geprüft ist. Die Vielfalt unkonventioneller Verfahren ist groß und Zahl und Art der jeweils anzutreffenden Verfahren zeitgeistabhängig und regional unterschiedlich. Sie umfasst Nahrungsergänzungsmittel, Empfehlungen zur Ernährungsumstellung, pflanzliche Präparate, Extrakte aus tierischen Organen, biotechnologische Verfahren, psychologische und spirituelle Methoden sowie komplexe Behandlungsverfahren fremder Kulturkreise. Umfragen unter Patienten in Deutschland legen nahe, dass bis zu 80% aller Krebskranken zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Krankheitsverlaufs unkonventionelle Verfahren anwenden. Pflanzliche Präparate, insbesondere aus der Mistel, aber auch Vitamine und Spurenelemente werden dabei am häufigsten eingesetzt. Diesen Produkten, zu denen Kenntnisse aus Forschung und Anwendung verfügbar sind, stehen zahllose Präparate gegenüber, die unreguliert über internationale Vertriebswege bezogen werden können, und deren Inhaltsstoffe, Wirkungen und Nebenwirkungen weitgehend unbekannt sind. Das größte Risiko in der Anwendung unkonventioneller Verfahren besteht darin, dass sinnvolle konventionelle Behandlungen verzögert oder versäumt werden. Da allerdings viele, gerade pflanzliche Präparate begleitend zu den konventionellen Krebsbehandlungen eingesetzt werden, muss gleichermaßen das Risiko pharmakologischer Wechselwirkungen beachtet werden. Viele Ärzte in Deutschland, vor allem in freier Praxis, wenden unkonventionelle Verfahren an, teilweise unter erheblichem Druck vonseiten des Patienten und seiner Angehörigen. Insgesamt weisen die bisherigen Untersuchungen keineswegs darauf hin, dass Krebskranke mit fortgeschrittener Erkrankung und infauster Prognose häufiger auf unkonventionelle Verfahren zurückgreifen als Patienten in frühen Krankheitsstadien vor, während oder nach kurativer Behandlung. Vielmehr finden sich
Dieses Kapitel ist eine vollständig überarbeitete und in vielen Teilen neu gefasste Version des Kapitels »Unkonventionelle, alternative Methoden in der Onkologie« von G. Kaiser, S. Birkmann, G. Büschel, M. Horneber, H. Kappauf und W. M. Gallmeier der ersten Auflage des Buches.
Hinweise, dass jüngere Patienten, solche mit höherem Bildungsniveau, beruflich Selbstständige und Frauen ein größeres Interesse an diesen Verfahren haben. Der Umgang mit unkonventionellen Verfahren spielt für einen erheblichen Teil der Betroffenen eine wichtige Rolle in der prozesshaften und mehrdimensionalen Auseinandersetzung mit Krankheit und Kranksein. Somit erfahren onkologisch tätige Ärztinnen und Ärzte, die sich mit diesem Thema eingehender beschäftigen, eine Sensibilisierung für die Beweggründe und Bedürfnisse der Krebskranken und ihrer Angehörigen. Viele Krebskranke möchten in dieser Auseinandersetzung selbst etwas zur Heilung beitragen, am eigenen Leib erleben, was hilft, und dabei die wohlmeinenden, wenn auch nicht immer nützlichen Vorschläge aus dem sozialen Umfeld mit einbeziehen. Angst, Hilf- und Hoffnungslosigkeit, aber auch der Verlust von Vertrauen spielen hier ebenso eine Rolle, wie das Bedürfnis etwas zu finden, was Kontrolle ermöglicht und den eigenen Vorstellungen über Krankheit und Gesundheit entspricht. Ärztliche Beratung zu unkonventionellen Verfahren stellt eine vielschichtige kommunikative Herausforderung dar. Sie liegt in einem Spannungsfeld zwischen Gemeinwohl, Patientenautonomie und dem ärztlichen Bemühen, den Betroffenen zu nutzen oder zumindest nicht zu schaden. Weder eine paternalistisch intendierte, pauschale Ablehnung, noch eine auf »autistischem Denken« im Sinne Bleulers oder ökonomischer »Kundenorientierung« basierende unkritische Akzeptanz genügen dieser Herausforderung. Für den Zeitaufwand, den der Umgang mit den Wünschen Betroffener nach unkonventionellen Verfahren erfordert, gibt es keine Abrechnungsziffer. Das einfühlsame, beratende Gespräch über dieses Thema lässt jedoch nicht selten Ängste, Bedrängnisse und Wünsche von Krebskranken sichtbar werden, die in der medizinischen und psychosozialen Betreuung nicht ausreichend berücksichtigt worden sind, und kann so zu einer vertieften Arzt-PatientBeziehung und zu neuen therapeutischen Perspektiven führen.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-54079724-1
30 Blutersatz in der Onkologie – Anwendung, Komplikationen, Nebenwirkungen und Risiken W. Sibrowski, P. Krakowitzky
30.1
Anwendung von Erythrozytenkonzentraten (EK) – 613
30.2
Anwendung von Thrombozytenkonzentraten (TK) – 615
30.3
Anwendung von Granulozytenkonzentraten – 617
30.4
Anwendung von Plasma (GFP) und Plasmaderivaten – 617
30.5
Spezielle Indikationen: Bestrahlen und Waschen von Blutkomponenten
– 618
30.6
Infektionen durch Blut- und Plasmapräparate – 619
30.7
Dokumentation und Qualitätssicherung Literatur – 621
– 620
30
613 30.1 · Anwendung von Erythrozytenkonzentraten (EK)
> Einleitung
Die Therapie mit Blutprodukten ist eine wichtige supportive Maßnahme bei der Behandlung onkologischer Erkrankungen. Obwohl neue Arzneimittel und Therapieverfahren wie die Gabe rekombinanter Wachstumsfaktoren (Erythropoetin, GM-CSF, G-CSF) und die Sammlung und Retransfusion autologer, peripherer Blutstammzellen zur beschleunigten Regeneration der Hämatopoese zur Verfügung stehen, haben die intensivierten und erweiterten chemotherapeutischen Möglichkeiten dazu beigetragen, dass der Verbrauch an Blutprodukten in der Onkologie nicht gesunken ist. Seit dem Inkrafttreten des Transfusionsgesetzes unterliegt das ärztliche Handeln in diesem Bereich definierten behördlichen Regelungen. Weitere Richtlinien, u. a. der Bundesärztekammer, sind ebenfalls etabliert und werden regelmäßig überarbeitet (»Richtlinien zur Gewinnung von Blut und Blutbestandteilen und zur Anwendung von Blutprodukten«, Bundesärztekammer 2005; »Leitlinien zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten«, Bundesärztekammer 2003; »Guide to the Preparation, Use and Quality Assurance of Blood Components«, Council of Europe Publishing 2006). Die Qualität der Blutpräparate wurde in den letzten Jahren deutlich verbessert. Insbesondere Maßnahmen wie die flächendeckende Einführung der herstellerseitigen Leukozytenfiltration im Jahr 2001 haben zu einer geringeren Belastung mit unerwünschten Bestandteilen wie Spenderleukozyten geführt und damit zu einer besseren langfristigen Verträglichkeit bei chronisch transfusionspflichtigen Patienten. Während die Substitution von Erythrozyten und Thrombozyten bei Patienten in der Knochenmarkaplasie nach Chemotherapie tägliche Routine darstellt, ist die Granulozytentransfusion zur Behandlung von Infekten erst seit wenigen Jahren wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Die in . Tab. 30.1 aufgeführten Standardpräparate stehen für die Hämotherapie zur Verfügung (Bundesärztekammer 2005). Durch aufeinander abgestimmte Gabe der einzelnen Komponenten lassen sich alle Formen des akuten oder chronischen Blutverlustes sicher behandeln. Im Folgenden sollen die Anwendung und die Nebenwirkungen der einzelnen Präparate kurz dargestellt werden.
. Tab. 30.1. Übersicht der wichtigsten Blutkomponenten. (Nach Bundesärztekammer 2003) Art
Präparation
Volumen [ml]
HK
Thrombozyten
Leukozyten
Plasma [ml]
Haltbarkeit
EK
Leukozytendepletiert
ca. 250
50–70
<107
<106
<25
28–49 Tage
<106
<1
ca. 12 h
EK
Gewaschen
ca. 200
50–70
<107
TK
Gepoolt
ca. 250
<1
>2 × 1011
<106
250
5 Tage
TK
Thrombozytapherese
ca. 250
<1
>2 × 1011
<106
ca. 250
5 Tage
<1
<1010
<108
ca. 220
Bis zu 36 Monate
<106
ca. 220
Bis zu 36 Monate
GFP
Quarantänegelagert
ca. 220
GFP
Quarantänegelagert Leukozytendepletiert
ca. 220
<1
<5 × 1010
GFP
SD-behandelt
200
<1
<5 × 1010
<106
200
Bis zu 2 Jahre
<1
<5 × 1010
<106
200
Bis zu 2 Jahre
FP
Lyophilisiert
200
EK Erythrozytenkonzentrat; TK Thrombozy tenkonzentrat; GFP gefrorenes Frischplasma; FP Frischplasma
30.1
Anwendung von Erythrozytenkonzentraten (EK)
30.1.2 Indikation und Durchführung
von Erythrozytentransfusionen 30.1.1 Vorbemerkung
Für die Transfusion von Vollblut gibt es grundsätzlich keine klinische Indikation mehr, weil Erythrozyten, Thrombozyten und Plasma als Einzelkomponenten zur Verfügung stehen.
Die Indikation zur Erythrozytentransfusion sollte nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung und immer unter Beachtung der gesamten klinischen Situation des Patienten erfolgen. Für die Indikation zur Erythrozytengabe ist kein fester unterer Hämo-
614
30
Kapitel 30 · Blutersatz in der Onkologie – Anwendung, Komplikationen, Nebenwirkungen und Risiken
globingrenzwert definierbar, sondern es müssen Dauer, Schwere und Ursache der Anämie im Zusammenhang mit klinischem Zustand, Alter und Begleiterkrankungen des Patienten in die Entscheidung zur Transfusion einbezogen werden. Bei akuten Blutungen sollte die Erythrozytengabe ernsthaft in Betracht gezogen werden, wenn ein Verlust von über 25% des Blutvolumens auftritt oder der Hb-Wert 10 g/dl unterschreitet. Bei chronischen Anämien und adaptierten Patienten werden oft sehr niedrige HbWerte toleriert. Hier kann ein Hb-Wert unter 7 g/dl als unterer kritischer Schwellenwert angenommen werden, dessen Unterschreitung in der Regel eine Erythrozytentransfusion erfordert (Levine et al. 1990; Viele et al. 1994). Neuere Studien konnten zeigen, dass ein restriktives Transfusionsregime nicht mit einer Zunahme von Komplikationen verbunden ist; für selektierte Patientenkollektive wurde sogar ein besserer klinischer Verlauf belegt (Hebert et al. 1999). Als (relative) Kontraindikationen sind vor allem irreguläre, erythrozytäre Antikörper sowie schwere allergische Reaktionen auf EK zu nennen. Ferner sind die Volumenbelastung (ca. 250 ml Gesamtvolumen des EK) und die Kaliumbelastung (vor allem durch länger gelagerte EK) bei herz- oder niereninsuffizienten Patienten zu beachten. Die zu transfundierenden Erythrozyten müssen im AB0-System und bezüglich des Rhesusfaktors D verträglich sein. Eine Transfusion von Rhesus-D-positiven EK auf D-negative Empfänger ist im Notfall möglich, muss aber die absolute Ausnahme bleiben, da diese Exposition mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Bildung von Anti-D führt. Die weiteren Rhesusmerkmale und das Kell-Merkmal sollten bei häufig transfundierten oder absehbar länger transfusionspflichtigen Patienten ebenfalls berücksichtigt werden, um eine Sensibilisierung in diesen Systemen zu vermeiden. Für Mädchen und Frauen im »gebärfähigen Alter« wird in den Richtlinien der Bundesärztekammer die Versorgung mit Erythrozytenkonzentraten, die nicht zu einer Immunisierung im Rh- oder Kell-System führen kann, explizit gefordert. Die serologische Verträglichkeitsprüfung (Kreuzprobe) darf im Regelfall nicht älter als 3 Tage plus Entnahmetag sein. Ein zusätzlicher Antikörpersuchtest wird anlässlich jeder Verträglichkeitsprobe wiederholt, sofern die letzte Untersuchung mehr als 3 Tage zurückliegt. Bei einer Transfusionswahrscheinlichkeit >10%, insbesondere vor invasiven Maßnahmen, müssen bereits im Vorfeld die Blutgruppenbestimmung und ein Antikörpersuchtest bei dem Patienten durchgeführt werden. Dies beschleunigt die spätere Bereitstellung verträglicher Erythrozytenkonzentrate und stellt sicher, dass keine erythrozytären Antikörper vorliegen, die die Bereitstellung kompatibler Präparate unter Umständen erheblich verzögern können. Wenn erythrozytäre Antikörper festgestellt werden (positiver Antikörpersuchtest), müssen sie identifiziert und – sofern sie klinisch relevant sind – Erythrozytenkonzentrate ausgewählt werden, die für das betreffende Antigen negativ sind. Bei absehbarem Transfusionsbedarf, z. B. vor Elektiveingriffen, muss vorab eine ausreichende Anzahl verträglicher Blutpräparate ausgetestet werden. Sind bei einem Patienten Antikörper außerhalb des Rhesussystems bekannt, sollte die Planung weiterer hämotherapeutischer Maßnahmen in enger Kooperation mit der transfusionsmedizinischen Einrichtung erfolgen. Für die Wirksamkeit eines Erythrozytenkonzentrats (EK) gilt näherungsweise: 1 EK bei normalgewichtigen erwachsenen Patienten (70 kg) kann den Hb-Wert um 1–1,5 g/dl bzw. den Hk um 3–4 % anheben. Die Qualitätssicherung in der Hämothera-
pie verlangt nach Transfusion die Kontrolle des Hb- bzw. HktWertes, um den Transfusionserfolg zu bestimmen. Weitere Forderungen der Richtlinien der Bundesärztekammer (Bundesärztekammer 2005) sind insbesondere: 4 Chargendokumentation in den Krankenunterlagen für den Fall einer Rückverfolgung (gesetzlich vorgeschrieben); 4 schriftliche Aufklärung des Patienten über die Transfusion; 4 Bedside-Test zur Identitätssicherung (Patientenblut im AB0System) unmittelbar vor der Transfusion, um Verwechslungen auszuschließen; die Testung einer Probe des Erythrozytenkonzentrats ist nur noch für Eigenblutspenden in den Richtlinien vorgeschrieben; 4 Beachtung der Temperatur des EK: unter Umständen, z. B. beim Vorliegen von Kälteagglutininen und Massivtransfusionen, kann die Verwendung eines Blutwärmers angezeigt sein; 4 Anpassung der Transfusionsgeschwindigkeit an den klinischen Zustand (bei hochgradiger Anämie bei kreislaufstabilen Patienten max. 4 EK in 3–4 h, bei Herz- oder Niereninsuffizienz max. 70–120 ml/h); 4 Verwendung eines Transfusionsbestecks mit Standardfilter (170–230 μm, DIN 58360). 30.1.3 Nebenwirkungen der Erythrozytentransfusion
Auch wenn alle Vorsichtsmaßnahmen bei der Durchführung der Erythrozytentransfusion beachtet wurden, kann es zu unerwünschten Nebenwirkungen kommen, von denen die Folgenden klinisch von Bedeutung sind und ggf. ein spezielles diagnostisches und therapeutisches Handeln erforderlich machen: 4 Gelegentlich kann bei der Transfusion eine urtikarielle Hautreaktion beobachtet werden. Ein Abbruch der Transfusion ist in der Regel nicht erforderlich; ggf. kann die Urtikaria durch Einsatz von H1- und H2-Blockern oder Kortikoiden gemildert werden. 4 Nichthämolytische, febrile Transfusionsreaktionen treten während oder kurz nach der Transfusion auf. Neben Antikörpern im Spender- oder Patientenblut gegen Leukozyten (HLA-Antikörper), Thrombozyten oder Plasmaproteine können Zytokine und/oder eine bakterielle Kontamination ursächlich sein. 4 Hämolytische Transfusionsreaktionen vom Soforttyp sind selten und werden in der Regel durch AB0-unverträgliche Transfusionen verursacht, die wiederum häufig die Folge von Verwechslungen sind (Risiko etwa 1:30.000). Die Risikoeinschätzung für eine tödliche hämolytische Transfusionsreaktion liegt bei etwa 1:500.000 bis 1:1 Mio. Der AB0-Transfusionszwischenfall führt über eine akute intravasale Hämolyse (Hämoglobinurie) zu akutem Nierenversagen und zur Gerinnungsaktivierung. Er erfordert die unverzügliche intensivmedizinische Behandlung des Patienten. Für das weitere Vorgehen ist es unerlässlich, dass Spender- und Empfängerblut blutgruppenserologisch nachuntersucht und der verdächtige Transfusionsbeutel für eine mikrobiologische Untersuchung sichergestellt wird (Bundesärztekammer 2005). Hämolysen können auch durch unsachgemäße Lagerung des EK hervorgerufen werden, z. B. durch akzidentelles Einfrieren. 4 Verzögerte hämolytische Transfusionsreaktionen können häufig erst Tage nach Erythrozytentransfusion beobachtet
615 30.2 · Anwendung von Thrombozytenkonzentraten (TK)
werden und äußern sich in einem klinisch nicht erklärbaren langsamen Hb-Abfall und Bilirubinanstieg. Häufig sind Rhesus-, Kell- oder andere Immunantikörper verantwortlich. Die verzögerte Hämolyse läuft bevorzugt extravasal ab und ist meist nicht therapiepflichtig. Aus Sicherheitsgründen ist – insbesondere bei Rh-unverträglichen Transfusionen – zu empfehlen, dass beim Patienten 2–4 Monate nach Transfusion eine serologische Untersuchung (Antikörpersuchtest) durchgeführt wird, damit transfusionsmedizinisch relevante Blutgruppenantikörper aufgedeckt bzw. für zukünftig erforderliche Transfusionen rechtzeitig verträgliche Erythrozyten bereitgestellt werden können (Bundesärztekammer 2003). Besonders erschwert wird die Transfusion immer dann, wenn zwei oder mehr blutgruppenspezifische Antikörper vorliegen. Die Vorbereitung von therapeutischen Maßnahmen, für die Erythrozytentransfusionen ernsthaft in Betracht kommen, muss rechtzeitig zusammen mit dem blutgruppenserologischen Labor und dem Blutdepot erfolgen. Die Planung von operativen Eingriffen ist mit besonders großer Sorgfalt durchzuführen. 4 Bei chronischem Transfusionsbedarf (>100 EK) ist dem Auftreten einer Transfusionschromatose durch rechtzeitige Gabe von Deferoxamin vorzubeugen. 4 Grundsätzlich können alle humanpathogenen Viren sowie Bakterien und Parasiten durch EK übertragen werden. Virusinaktivierungsverfahren für EK und andere zelluläre Blutprodukte sind für den Routineeinsatz noch nicht verfügbar. 4 In Großbritannien sind Verdachtsfälle aufgetreten, in denen eine Übertragung von Prionen durch Blutkomponenten nicht ausgeschlossen werden kann (Llewelyn 2004; Ironside 2006). Inwieweit die in Deutschland getroffenen Vorsichtsmaßnahmen (Leukozytendepletion von Blutkomponenten, Spenderausschluss nach längerem Großbritannienaufenthalt oder Transfusionen in Großbritannien) eine Übertragung von Variante Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (vCJK) durch Blutkomponenten zu verhindern mag, wird erst die Zukunft zeigen können. Im Moment ist das Risiko als sehr gering einzustufen. Das Votum V33 des Arbeitskreises Blut (Bundesministeriums für Gesundheit 2006) schreibt vor, dass der behandelnde Arzt, der bei seinem Patienten eine wahrscheinliche oder gesicherte vCJK feststellt, zu ermitteln hat, ob dieser Patient Blut, Plasma oder andere Komponenten aus Blut gespendet hat oder Blut oder Blutprodukte erhalten hat. 30.1.4 EK-Gabe bei Autoimmunhämolysen (AIHA)
Bei Autoimmunhämolysen, insbesondere solchen vom Wärmetyp (IgG-Beteiligung) sind im Serum des Patienten häufig polyspezifische Antikörper vorhanden, die gegen ubiquitär vorkommende erythrozytäre Antigene gerichtet sind. Sie zerstören sowohl die patienteneigenen als auch transfundierte Erythrozyten. Die Auswahl verträglicher EK stößt daher auf zwei Probleme: 4 Alle vorhandenen EK reagieren in der Kreuzprobe im indirekten Coombs-Test positiv und wären damit als unverträglich zu bewerten, 4 zusätzlich vorhandene (Allo-)Antikörper des Patienten können nicht sicher ausgeschlossen werden. Durch Antikörperabsprengung und Autoabsorption kann versucht werden, spezifische Alloantikörper auszuschließen. Den-
30
noch können verträgliche EK im engeren Sinne (d. h. mit negativer Kreuzprobe) in der Regel nicht bereitgestellt werden. Folgendes ist daher zu bedenken: 4 AIHA-Patienten sind oft an sehr niedrige Hb-Werte adaptiert. 4 Die in vitro unverträglichen Konserven können zwar die Hämolyse verstärken, werden aber in aller Regel ohne akute Transfusionsreaktionen vertragen. 4 Transfusionen ohne Therapie der Grunderkrankung oder immunsuppressive Maßnahmen sind in aller Regel nur kurzfristig wirksam. Beim dringend transfusionspflichtigen Patienten mit autoimmunhämolytischer Anämie sollte die Erythrozytengabe auf keinen Fall unnötig verzögert werden. Es sollte immer unter direkter ärztlicher Aufsicht transfundiert werden, wobei die Transfusion nach wenigen Minuten unterbrochen werden sollte, um die Wirkung auf den Patienten zu beobachten (ggf. Prüfung des Serums auf Hämolyse). Die Rhesusformel und das Kell-Merkmal – soweit bestimmbar – müssen immer berücksichtigt werden, damit eine Alloimmunisierung gegen weitere Blutgruppenfaktoren nicht zusätzlich provoziert wird (Salama et al. 1992).
30.2
Anwendung von Thrombozytenkonzentraten (TK)
30.2.1 Vorbemerkung
Die Herstellung von Thrombozytenkonzentraten zur Thrombozytensubstitution kann auf zwei unterschiedlichen Wegen erfolgen: entweder durch maschinelle Zytapherese oder durch Gewinnung der Thrombozyten aus einer Vollblutspende. Da für eine therapeutische Dosis die Thrombozyten aus 4–6 Vollblutspenden benötigt werden, kommen die Thrombozytenkonzentrate aus Vollblutspenden als »gepoolte« Präparate zum Einsatz. Die mittels Thrombozytapherese gewonnenen Präparate bieten gegenüber den TK aus Vollblutspenden deutliche Vorteile hinsichtlich der Sicherheit für den Patienten, da pro therapeutischer Einheit nur ein Spender benötigt wird. Dies vermindert sowohl die Gefahr der Übertragung von Infektionskrankheiten vom Spender auf den Empfänger als auch die immunologische Belastung durch Fremdantigene. Das aufwendigere Verfahren der Thrombozytapherese gewährleistet eine höhere und konstantere Qualität der Präparate. Eine bakterielle Kontamination stellt bei Thrombozytenkonzentraten ein besonderes Problem dar, weil sie bei Raumtemperatur gelagert werden und sich unter diesen Bedingungen evtl. kontaminierende Bakterien rasch vermehren können (Caspari et al. 1996). Ein weiterer wesentlicher Vorteil der Thrombozytapherese, insbesondere im Bereich der Onkologie, ist die Möglichkeit, gezielt Thrombozytenkonzentrate von HLA-ähnlichen Spendern zu gewinnen. Diese werden benötigt, um Patienten zu therapieren, die nach multiplen Transfusionen Antikörper gegen fremde HLA-Merkmale gebildet haben und deshalb auf Gabe unausgewählter Thrombozytenkonzentrate keinen adäquaten Anstieg mehr zeigen (sog. Therapierefraktärität). Diese Möglichkeit besteht jedoch nur in Zentren mit einem festen Stamm kurzfristig verfügbarer und HLA-typisierter Spender. Ein solcher Spenderstamm ermöglicht auch die Bereitstellung kompatibler Thrombozytenkonzentrate im Falle einer Bildung von Antikörpern ge-
616
Kapitel 30 · Blutersatz in der Onkologie – Anwendung, Komplikationen, Nebenwirkungen und Risiken
gen thrombozytäre Antigene (»human platelet antigens«, HPASysteme), die jedoch im Vergleich zu den HLA-Antikörpern eine untergeordnete Rolle spielen. 30.2.2 Indikation und Durchführung
von Thrombozytentransfusionen
30
Eine Übersicht über die Indikation zur Thrombozytentransfusion gibt . Tab. 30.2. Allgemein gilt, dass bei chronischer Thrombozytopenie niedrigere Werte symptomloser toleriert werden, als bei sich rasch entwickelndem Thrombozytenmangel. Außerdem ist zu bedenken, dass Thrombozytenzahlen unter ca. 20.000/μl von den üblichen Laborautomaten nicht mehr valide gemessen werden. Bei Thrombozytenwerten <10.000/μl sollte eine manuelle Nachzählung veranlasst werden. Auch bei der Indikation zur Thrombozytentransfusion sind restriktivere Regimes ohne eine wesentliche Erhöhung des Blutungsrisikos einsetzbar (Navarro et al. 1998). Für die sichere Anwendung der Thrombozytenkonzentrate und die Durchführung der Transfusion wird folgendes Vorgehen empfohlen (Beutler 1993; NIH-Consensus Conference 1987): 4 TK sollten möglichst blutgruppengleich im AB0-System eingesetzt werden. Stehen blutgruppengleiche TK nicht zur Verfügung, so ist die Transfusion von TK der Blutgruppe 0 angezeigt. Dabei muss die Minorunverträglichkeit von 0Plasma (enthält Anti-A, -B und -AB) in Kauf genommen werden, dies führt jedoch in der Regel nicht zu Komplikationen. Wichtige Ausnahme: Bei Kindern mit einem Körpergewicht unter 25 kg dürfen Thrombozytenkonzentrate ausschließlich AB0-gleich angewendet werden, da bei dieser Patientengruppe der Gehalt an Isoagglutininen in minorunverträglichen TK zu Hämolysen führen könnte. In einigen Blutbanken wird als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme der Hämolysingehalt des Spenderplasmas bestimmt. Thrombozytenkonzentrate mit einem hohen Hämolysingehalt werden nicht für blutgruppenungleiche Transfusionen ausgegeben. Eine serologische Verträglichkeitsprobe (Kreuzprobe) ist für TK nicht erforderlich. 4 Das Rhesusmerkmal D (Rhesusfaktor) sollte ebenfalls berücksichtigt werden, da im TK enthaltene D-positive Erythrozyten eine Sensibilisierung D-negativer Empfänger bewirken können. Da Thrombozytenkonzentrate normalerweise nur noch sehr wenige Erythrozyten enthalten, ist das . Tab. 30.2. Thrombozytenzahlen – Interventionstrigger Thrombozyten/μl Blut
Thrombozytengabe erforderlich bei
<10.000
Immer
<20.000
Fieber, plasmatische Gerinnungsstörungen, Infektionen
<50.000
Chirurgische Eingriffe, neonatale Immunthrombopenie, schwerwiegende Blutung
<80.000
Neurochirurgische Operationen, Eingriffe am Auge, nach Massivtransfusionen
Risiko allerdings gering. Ist für einen rhesusnegativen Empfänger kein gleichartiges Präparat verfügbar und soll eine Immunisierung sicher ausgeschlossen werden (z. B. bei Frauen im gebärfähigen Alter oder bei Kindern), so sollte eine Prophylaxe mit i. v. Anti-D (300 μg innerhalb von 72 h) durchgeführt werden (Zeiler et al. 1994). Eine i. m. Gabe ist bei thrombozytopenischen Patienten kontraindiziert. 4 Die Transfusion einer therapeutischen Einheit führt bei einem Erwachsenen normalerweise zu einem Anstieg der Thrombozytenzahl um etwa 30.000/μl. Die Kontrolle der Thrombozytenzahl nach 1 bzw. 24 h ist zu empfehlen, um ggf. Refraktärzustände durch immunologische (HLA-, Thrombozytenantikörper) bzw. nichtimmunologische (Fieber, Sepsis, Splenomegalie) Ursachen zu erkennen. 4 Thrombozytenkonzentrate dürfen in der Blutbank maximal 5 Tage bei 20–24 °C gelagert werden. Hierbei werden sie ständig bewegt, um eine Aggregation der Thrombozyten zu verhindern. Die Wirksamkeit mehr als 2 Tage alter Präparate kann erheblich reduziert sein, sodass die Dosierung entsprechend angepasst werden muss. Auf keinen Fall dürfen TK im Kühlschrank zwischengelagert werden. Die Transfusion sollte in der Klinik mittels eines normalen Transfusionsbestecks über etwa 30 min erfolgen. 4 Die Chargendokumentation in den Krankenunterlagen für den Fall einer Rückverfolgung ist gesetzlich vorgeschrieben. 30.2.3 Nebenwirkung der Thrombozytentransfusion
Im Zusammenhang mit der Transfusion von Thrombozytenkonzentraten können im Prinzip die gleichen Nebenwirkungen auftreten, wie bei der Erythrozytengabe. Am häufigsten werden folgende Transfusionsreaktionen beobachtet: 4 Schüttelfrost, Fieber und Urtikaria; 4 Alloimmunisierung gegen verschiedene HLA-Antigene. Dieses Risiko wird durch die Verwendung leukozytenarmer Thrombozytenpräparate verringert; 4 Sensibilisierung gegen thrombozytäre Antigene, wie sie etwa dem Mechanismus der Posttransfusionspurpura zugrunde liegt. 4 Die transfusionsassoziierte akute Lungeninsuffizienz (TRALI) tritt überwiegend nach Gabe von TK oder Plasma auf und ist klinisch durch Dyspnoe mit röntgendiagnostisch nachweisbaren Lungeninfiltraten charakterisiert, wobei Hypervolämie, Herzinsuffizienz und Infekte fehlen. Die Ursache für das Lungenödem sind granulozytäre Antikörper beim Spender oder seltener auch beim Patienten (Engelfriet u. Reesink 2001). Das Risiko pro transfundierter Einheit liegt bei 1:10.000 bis 1:100.000. 4 Anti-IgA bei Patienten mit selektivem IgA-Mangel kann bei der Transfusion von plasmahaltigen Blutkomponenten zum Auftreten schwerer allergischer Transfusionsreaktionen bis hin zum anaphylaktischen Schock führen. 4 Grundsätzlich können alle humanpathogenen Viren sowie Bakterien durch TK übertragen werden. Die Gefahr einer bakteriellen Kontamination ist durch die Lagerung bei Raumtemperatur größer als bei anderen Präparaten. Transfusionsreaktion und Refraktärzustände sollten abgeklärt werden, um spezifische und für weitere Transfusionen vermeid-
617 30.4 · Anwendung von Plasma (GFP) und Plasmaderivaten
bare Ursachen (z. B. Antikörper) zu erkennen (Bundesärztekammer 2005).
30.4
30
Anwendung von Plasma (GFP) und Plasmaderivaten
30.4.1 Vorbemerkung 30.3
Anwendung von Granulozytenkonzentraten
30.3.1 Vorbemerkung
Durch Leukozytapherese von gesunden Spendern, die zuvor mit Zytokinen und/oder Steroiden stimuliert wurden, ist es möglich, Leukozytenkonzentrate mit einem hohen Gehalt an Granulozyten herzustellen. Dadurch wird seit einigen Jahren die Transfusion von Granulozyten wieder stärker propagiert (Atallah u. Schiffer 2006; Stanworth et al. 2005; Mousset et al. 2005). Die Herstellung von Granulozytenkonzentraten ist sehr aufwendig und wenigen spezialisierten Zentren vorbehalten. Einschließlich des Spenderscreenings, der Einhaltung der gesetzlichen Spenderaufklärungsfristen und der -mobilisierung ist mit einem Vorlauf von etwa 48 h bis zur Bereitstellung des Produktes zu rechnen. Die AB0-Blutgruppe, die HLA-Merkmale und ggf. die Granulozytenmerkmale des Patienten müssen bei der Spenderauswahl berücksichtigt werden. Besteht das Risiko einer CMV-Erkrankung, sind CMV-negative Spender auszuwählen. 30.3.2 Indikation und Durchführung
von Granulozytentransfusionen Das Einsatzgebiet wird bei stark neutropenischen Patienten mit lebensbedrohlichen Infektionen durch Bakterien oder Pilze gesehen, die auf medikamentöse Behandlung nicht mehr ansprechen. Da die Funktion der Granulozyten im Präparat abnimmt, müssen die Konzentrate innerhalb von 24 h nach der Entnahme transfundiert werden (Bundesärztekammer 2005). Die Dosis der übertragenen Granulozyten sollte mindestens einmal 1010 Granulozyten pro m2 Körperoberfläche des Empfängers betragen. Typische Präparationen enthalten 4 bis 8–1010 Granulozyten. Aufgrund der Beimengung von Erythrozyten muss das Granulozytenkonzentrat blutgruppenverträglich im Sinne einer Erythrozytentransfusion ausgewählt werden, die Durchführung einer serologischen Verträglichkeitsprobe ist ebenfalls notwendig. Vor Gabe eines Granulozytenkonzentrats muss ein Bedside-Test erfolgen. Granulozytenkonzentrate müssen vor Transfusion unbedingt mit 30 Gy bestrahlt werden, um eine GvH-Erkrankung zu vermeiden. 30.3.3 Nebenwirkungen der Granulozytentransfusion
Die allgemein möglichen Komplikationen wurden bereits in den Kapiteln zur EK- und TK-Transfusion behandelt (s. oben). Spezielle Nebenwirkungen der Granulozytentransfusion sind nicht bekannt, es besteht allerdings eine höhere Wahrscheinlichkeit der Ausbildung von Antikörpern im HLA-System sowie gegen granulozytenspezifische Antigene. Bei den üblichen Blutprodukten (EK, TK) wird daher auf eine möglichst leukozytenarme Präparation Wert gelegt, um diese Immunisierung zu vermeiden. Relativ häufiger als bei anderen Präparaten wurde nach der Granulozytentransfusion außerdem die Ausbildung einer transfusionsassoziierten Lungeninsuffizienz (TRALI) beobachtet (Karp et al. 1982).
Plasma kann, analog zu Thrombozytenkonzentraten, durch Auftrennung aus einer Vollblutspende oder durch Plasmapherese gewonnen werden. Für die Qualität der labilen Gerinnungsfaktoren ist ein möglichst kurzer Zeitraum zwischen der Entnahme und der Tieffrierung entscheidend. Unabhängig von der Art der Gewinnung werden derzeit aus Plasma zwei verschiedene Präparate hergestellt werden: gefrorenes Frischplasma (GFP) oder lyophilisiertes SD-Plasma (LyoPlas). Bei gefrorenem Frischplasma wird zur Verbesserung der Virussicherheit eine Quarantänelagerung durchgeführt, d. h., der betreffende Spender muss frühestens 4 Monate nach der Spende erneut auf die vorgeschriebenen Infektionsparameter untersucht werden und negativ sein. Erst danach wird das GFP freigegeben. GFP kann maximal 3 Jahre (bei –40°C) gelagert werden (Bundesärztekammer 2005). Das virusinaktivierte Plasma wird einem sog. Solvent-Detergent-Verfahren unterzogen. Dazu werden über 1.000 Spenden »gepoolt«. Da dieses Verfahren nur Viren mit Lipidhülle erfasst, wird die Übertragung von Hepatitis-A-, Parvo-B19- und Coxsackie-Viren nur durch zusätzliche Maßnahmen der Hersteller verhindert. Nach der Behandlung wird das Plasma wieder in Volumina von ca. 200 ml zur Transfusion portioniert und lyophilisiert. Vor Anwendung muss das Pulver in Wasser für Injektionszwecke resuspendiert werden. Die Aktivität der Gerinnungsfaktoren ist bei lyophilisiertem Plasma bis zu 25% niedriger als bei gefrorenem Frischplasma. Allerdings ist die Bereitstellungszeit für lyophilisiertes Plasma deutlich geringer, da ein Zeitaufwand von etwa 4 Minuten ausreicht, um ein fertiges Produkt zu erhalten, verglichen mit den ca. 30–40 Minuten, die der Auftauvorgang des gefrorenen Frischplasmas in Anspruch nimmt. 30.4.2 Indikation und Durchführung
von Plasmatransfusionen Die Indikation für die Gabe von Frischplasma wurde in der Vergangenheit eher großzügig gestellt. Die Einsicht, dass durch Plasma Hepatitis und HIV übertragen werden kann, hat in den letzten Jahren dazu geführt, die Indikationen für die Frischplasmagabe auf ausgewählte klinische Situationen einzugrenzen (NIH-Consensus Conference 1985; Hiller u. Heim 1989), so z. B.: 4 komplexe Störungen des Hämostasesystems, 4 Leberparenchymschäden bei disseminierter intravasaler Koagulation, 4 Verlust- und/oder Verdünnungskoagulopathie, 4 Faktor-V- oder Faktor-XI-Mangel, 4 thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP), 4 Austauschtransfusion und extensive Plasmapherese. Nicht indiziert ist Frischplasma als ausschließlicher Volumenersatz sowie als Ersatz für Gerinnungsfaktoren, die einzeln als virusinaktivierte Hochkonzentrate verfügbar sind. Es besteht heute Einvernehmen darüber, dass die Frischplasmagabe ohne klinische Indikation als Kunstfehler gewertet werden muss.
618
30
Kapitel 30 · Blutersatz in der Onkologie – Anwendung, Komplikationen, Nebenwirkungen und Risiken
Folgende Gesichtspunkte sollten bei Anwendung und Dosierung von Frischplasma beachtetet werden: 4 Gabe kompatibel im AB0-System nach der Minorregel (ABPlasma für alle Blutgruppen, A- und B-Plasma auch für Blutgruppe 0); 4 rasches Auftauen und unverzügliche Transfusion wegen der Labilität der Gerinnungsfaktoren; für das Auftauen sollten zugelassene Auftaugeräte verwendet werden; 4 Dosierung: 1 ml GFP pro Kilogramm Körpergewicht erhöht den Faktorengehalt im Patientenplasma um 1–2%, beim Erwachsenen sind daher 3–4 Einheiten als Mindestdosis anzusehen; 4 Gabe über ein normales Transfusionsbesteck; 4 Chargendokumentation in der Patientenakte für den Fall einer Rückverfolgung.
durchführen zu können, ist es notwendig, dass 1.000–2.000 Plasmaspenden zu je 200–500 ml in einem großen »Plasmapool« zusammengeführt werden. Dies bringt die Gefahr der Verunreinigung einer ganzen Charge durch pathogene Viren mit sich. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass auch virenspezifische Antikörper von klinisch gesunden Spendern nach einer ausgeheilten Virusinfektion in den Pool gelangen. Insbesondere beim Zytomegalievirus (CMV), Hepatitis-A-Virus (HAV) und Parvovirus B19 könnten solche schützenden Antikörper aus dem Spenderpool eine gewisse Bedeutung haben. Neben der SD-Behandlung werden z. T. weitere Virusinaktivierungsschritte (Enzymbehandlung, Filtration) eingesetzt (Heimburger u. Haupt 1996; Rollag et al. 1998).
30.5
Spezielle Indikationen: Bestrahlen und Waschen von Blutkomponenten
30.4.3 Nebenwirkungen der Plasmatherapie 30.5.1 Bestrahlen
Unerwünschte Wirkungen speziell der Plasmatherapie sind die Volumenbelastung, die Intoxikation mit Zitrat, das dem Plasma als Gerinnungshemmer zugesetzt wird und anaphylaktoide Reaktionen auf spezifische Plasmabestandteile. Daneben spielt auch die transfusionsinduzierte akute Lungeninsuffizienz eine Rolle (Palfi et al. 2001). Eine mögliche langfristige Nebenwirkung der GFP-Transfusion ist die Bildung von Antikörpern gegen Gerinnungsfaktoren (sog. Hemmkörper) bei Patienten, die an einem angeborenen Mangel des betreffenden Faktors leiden. Das Risiko einer Übertragung von Infektionen wurde durch Einführung der Quarantänelagerung für GFP wahrscheinlich weiter verringert, da anders als bei EK oder TK eine zweite infektionsserologische Untersuchung des Spenders vor der Freigabe des Präparats zur Transfusion durchgeführt wird (Caspari et al. 1996). Kontraindikationen für die Therapie mit Plasma fasst die folgende Übersicht zusammen.
Therapie mit Plasma – Kontraindikationen 4 Relative Kontraindikation – Kardiale Dekompensation, Lungenödem – Volumenersatz ohne Gerinnungsstörung – Plasmaeiweißallergie – IgA-Mangel 4 Absolute Kontraindikation – Anti-IgA-Antikörper
30.4.4 Virussicherheit von Poolplasma
Das Bestrahlen von Blutpräparaten ist nach dem Arzneimittelrecht grundsätzlich verboten (Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln 1994). Nur in engen Grenzen ist es dem Hersteller und Anwender von Blutprodukten erlaubt, Blutkonserven zu bestrahlen (Verordnung über radioaktive oder mit ionisierenden Strahlen behandelte Arzneimittel 1987). Die Erlaubnis setzt in der Regel die Zulassung der bestrahlten Blutprodukte durch das PaulEhrlich-Institut voraus. Das Bestrahlen von EK und TK hat zum Ziel, die enthaltenen Spenderleukozyten zu inaktivieren. Hierzu wird typischerweise eine Dosis von 30 Gy eingesetzt. Bei immuninkompetenten Patienten, z. B. nach Chemotherapie, oder bei Übertragung von Blutprodukten von HLA-angepassten Spendern oder von Verwandten 1. Grades (HLA-Teilidentität) können proliferationsfähige Lymphozyten des Spenders im Empfänger überleben und zur Graft-versus-Host-Erkrankung führen (Grishaber et al. 1993). Die transfusionsassoziierte GvH-Erkrankung (tGvHD) hat im Gegensatz zur GvHD nach Knochenmarktransplantation eine schlechte Prognose. Bei Erythrozytenkonzentraten führt die Bestrahlung zu einem deutlichen Anstieg des Gehaltes an freiem Kalium. Da dieser Effekt bei länger gelagerten EK kumuliert, sollten zur Bestrahlung vorgesehene EK nicht zu alt (<15 Tage) sein. Bei Thrombozytenkonzentraten wurden in verschiedenen Studien keine wesentlichen, nachteiligen Einflüsse der Bestrahlung festgestellt (Williamson 1995; Salama et al. 1992). Granulozytenkonzentrate sollten in jedem Fall bestrahlt werden. Die Bestrahlung von GFP ist grundsätzlich nicht erforderlich. Nur Patienten, die eine Knochenmark- oder Stammzelltransplantation erhalten, sollten ausschließlich mit bestrahlten Plasmen behandelt werden (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 1997).
und Plasmaderivaten Die Virussicherheit von industriell aufbereitetem Poolplasma (SD-Verfahren) ist in erster Linie an die Qualität der Spenderauswahl und erst in zweiter Linie an die Plasmaverarbeitung gebunden. Plasmaderivate, wie Humanalbumin, Immunglobuline oder Gerinnungsfaktoren, können zusätzlich hitzeinaktiviert werden und sind als weitgehend sicher einzustufen, sofern beim Herstellungsprozess keine Fehler unterlaufen. Um therapeutisch verwertbare Mengen der einzelnen Plasmafraktionen zu erhalten und die Plasmafraktionierung technisch und wirtschaftlich
30.5.2 Waschen
Das Waschen von zellulären Blutkonserven dient der Entfernung des restlichen, noch vorhandenen Spenderplasmas. Erythrozytenkonzentrate werden heute normalerweise mit sog. Additivlösungen hergestellt und sind schon weitgehend plasmafrei. Zudem bedingt das Waschen mit steriler NaCl-Lösung das Risiko einer bakteriellen Kontamination, da die Präparate hierzu eröffnet werden müssen. Das Waschen von EK ist daher nur noch bei nachge-
619 30.6 · Infektionen durch Blut- und Plasmapräparate
wiesenen allergischen Reaktionen auf Fremdplasma indiziert (Bundesärztekammer 2003). Dies ist z. B. bei einem angeborenen IgA-Mangel der Fall, wenn der Empfänger durch Tranfsusionen Anti-IgA gebildet hat. Durch Apherese gewonnene Thrombozytenkonzentrate enthalten etwa 200 ml Spenderplasma. Bei der neonatalen Immunthrombozytopenie muss gelegentlich auf die Gabe mütterlicher Thrombozyten zurückgegriffen werden, wenn kompatible Thrombozytenkonzentrate von Fremdspendern nicht zur Verfügung stehen. In diesem Fall muss das mütterliche Plasma und mit ihm der gegen die kindlichen Thrombozyten gerichtete Antikörper durch Waschen entfernt werden. Die Indikation zum Waschen bei paroxysmaler nächtlicher Hämoglobinurie (Problem: Komplementzufuhr) besteht wegen des geringen Plasmagehalts der EK nicht mehr. Gewaschene Präparate sind zum sofortigen Verbrauch bestimmt (Sachs et al. 1988)!
30.6
Infektionen durch Blut- und Plasmapräparate
30.6.1 HIV-Infektionen
Das Risiko der HIV-Infektion durch eine Blutkonserve liegt seit einigen Jahren unter 1:1 Mio. Die Reduktion dieses Risikos seit Mitte der 80er Jahre beruht u. a. auf der stetig weiter verbesserten Labordiagnostik, einer restriktiven Spenderauswahl und darauf, dass die HIV-Prävalenz in Deutschland mit 0,06% im internationalen Vergleich nach wie vor sehr gering ist. Von ca. 100.000 Spendewilligen stellt sich einer als HIV-positiv heraus und wird durch die ärztliche Spenderuntersuchung und das infektionsserologische Virusscreening aufgedeckt.
30
tion. Je nach Immunstatus des Virusträgers kann es zur Reaktivierung kommen. Beim Gesunden (außerhalb der Neugeborenenperiode) verläuft die Infektion meist asymptomatisch. Bei Patienten mit zellulären Immundefekten (Aids, Leukämien, Lymphome) kann insbesondere die Erstinfektion mit CMV zu Hepatitis, Pneumonie, Chorioretinitis und hämatologischen Störungen (Lymphozytose, Thrombozytopenie, hämolytischer Anämie) führen. CMV lässt sich im Blut besonders in Granulozyten nachweisen. Die Möglichkeit der Übertragung durch zelluläre Blutkomponenten ist gesichert. Als Standardtest zum Ausschluss einer CMV-Infektiosität des Spenders stehen zurzeit nur CMV-Antikörpertests (EIA) zur Verfügung. Die Durchseuchung ist jedoch sehr hoch (in Deutschland bis 70% der Erwachsenen), sodass die Versorgung mit AntiCMV-negativen Blutpräparaten schwierig sein kann. Andererseits ist die Übertragungsrate von CMV durch Anti-CMV-positive Präparate gering (Bowden et al. 1995). Die Entfernung der Leukozyten durch spezielle Filter bietet eine weitere Möglichkeit zur Reduktion des CMV-Risikos. Mit modernen Leukozytenadhäsionsfiltern lässt sich die Anzahl der vorhandenen weißen Zellen nochmals um mehr als 99,9% auf Werte unter 106 je Präparat senken. In neueren Studien zeigten sich solche gefilterten Präparate den CMV-seronegativen Präparaten nahezu gleichwertig (Bowden et al. 1995). Dennoch gibt es Hinweise, dass in folgender Übersicht gelistete Patientengruppen von einer Versorgung mit seronegativen Präparaten profitieren (Reesink u. Engelfriet 2002; Vamvakas 2005).
CMV-Risiko durch Blutprodukte 30.6.2 Hepatitisinfektionen
Zurzeit liegt die Durchseuchung von Erstblutspendern mit dem Hepatitis-B-Antigen (HbsAg) bei etwa 0,3%. Durch den HbsAgTest sowie die Einführung von Nukleinsäureamplifikationstechniken bei der Spenderuntersuchung wurde das Risiko einer transfusionsbedingten HBV-Infektion auf 1:1,5 Mio bis 1:1 Mio. abgesenkt. Das Risiko der Übertragung von Hepatitis C liegt in Deutschland heute wegen der insgesamt geringeren HCV-Prävalenz und der sehr sensitiven Testung mittels Anti-HCV-ELI-SA und Nukleinsäureamplifikationstechniken für HCV-Genom im Blut bei weniger als 1:1 Mio. Die transfusionsmedizinische Bedeutung der Hepatitis C als ernster Risikofaktor zeigt sich auch am klinischen Verlauf der Infektion: 40–60% der Fälle werden chronisch und können – wie die Hepatitis B – zu Leberzirrhose, vor allem aber auch zur Entwicklung eines hepatozellulären Karzinoms führen. Hepatitis A kann durch Blutprodukte übertragen werden, ist aber wegen des akuten Verlaufes, der einer Blutspende in der Regel entgegensteht, insgesamt transfusionsmedizinisch von geringerer Bedeutung. 30.6.3 CMV-Infektionen
Zytomegalieviren (CMV) können mit allen zellulären Blutprodukten übertragen werden. Das Zytomegalievirus führt, wie die übrigen Herpesviren, zu einer subklinisch persistierenden Infek-
4 4 4 4 4 4
CMV negative Schwangere Intrauterine Transfusionen Frühgeborene Empfänger allogener Stammzellpräparate CMV-negative HIV-infizierte Patienten Empfänger mit schweren angeborenen Immundefekten (SCID)
30.6.4 Parvovirus B19
Die Infektion mit dem Parvovirus B19, dem Erreger der relativ harmlosen Ringelröteln, kommt in der Bevölkerung sehr häufig vor (etwa 60–70% der Erwachsenen). Gleichwohl ist das Risiko der B19-Infektion für Blutempfänger sehr gering (Seitz u. Ludwig 2000). Blutspender sind nur sehr selten Virusträger. Nach der Infektion, die mit einer sehr kurzen Inkubationszeit beginnt und die nach Abklingen der Krankheitszeichen in der Regel mit lebenslanger Immunität vollständig ausheilt, geht von dem gespendeten Blut keine Infektionsgefahr für Parvovirus B19 aus. Höchstens in Pool-Präparaten kann es zu einer bedenklichen Ansammlung von Parvoviruspartikeln kommen, die intrauterine Pränatalinfektionen verursachen können. Grundsätzlich können alle Patienten, für die CMV-haltige Blutpräparate Risiken beinhalten, auch von parvoviruskontaminierten Blutpräparaten gefährdet werden. Industriell hergestellte Blutplasmapräparate werden deshalb heute schon auf den Gehalt von Parvovirus B19 untersucht.
620
Kapitel 30 · Blutersatz in der Onkologie – Anwendung, Komplikationen, Nebenwirkungen und Risiken
30.6.5 Bakterielle Infektionen
30
Die Übertragung von Bakterien durch EK oder TK kann sehr unterschiedliche klinische Auswirkungen haben: 4 In TK sind gelegentlich Hautkeime zu finden, die sich wegen der Lagerung bei Raumtemperatur dort vermehren können. Sie können – insbesondere beim abwehrgeschwächten Patienten – zu einer Sepsis führen, die klinisch kaum von einer katheterassoziierten Sepsis zu unterscheiden ist. 4 In EK können sich besonders gramnegative Bakterien (Yersinien, Pseudomonaden) vermehren und einen oft tödlichen Endotoxinschock auslösen (Höher 1996; Morduchowicz et al. 1994). Die Häufigkeit solch schwerer Komplikationen wird in der Literatur jedoch nur bei etwa 1:6 Mio. angenommen (Wagner et al. 1994). 4 Die Übertragung von Treponema pallidum ist bei frischen Präparaten möglich, aber durch Ausschluss von Risikogruppen und Durchführung des TPHA-Tests eine extreme Rarität. 30.6.6 Übertragung sonstiger Mikroorganismen
Die Übertragung von Malariaplasmodien durch EK ist möglich; das Risiko wird für die USA mit etwa 1:4 Mio. (Höher 1996) als sehr gering angegeben und spielt derzeit – wie die Übertragung von anderen Parasiten wie Trypanosomen, Leishmanien u. a. – in unseren Breiten keine Rolle. Insgesamt könnte aber in Zukunft eine Steigerung des Risikos eintreten, bedingt durch die steigende Reiseaktivität der Bevölkerung und damit auch der Blutspender insbesondere in Endemiegebiete entsprechender Parasiten. Derzeit ist das Gesamtrisiko einer transfusionsassoziierten Parasitose mit unter 1:1 Mio. in Deutschland anzunehmen.
30.7
Dokumentation und Qualitätssicherung
Mit die wichtigste Gefahrenquelle bei der Hämotherapie stellen Fehlleistungen bei Gewinnung, Herstellung, Bereitstellung und Transfusion von Blut und Blutkomponenten dar. Das genaue Ausmaß des vermutlich häufigsten Fehlers, nämlich der AB0Verwechslung von Blutkonserven, speziell EK, vor Transfusion, kann nur durch eine grobe Schätzung erfasst werden. Für die Bundesrepublik Deutschland wird das Risiko mit etwa 1:33.000
angegeben (Caspari et al 2002). Untersuchungen aus den USA und dem europäischen Ausland zeigten, dass die Fehlerquote bei etwa 1:19.000 bis 1:50.000 liegen dürfte (Linden et al. 2000; Andreu et al. 2002; SHOT Report 2004). Demzufolge kommt es bei 1‒2 von 200.000 Transfusionsempfängern zu tödlichen transfusionsbedingten Komplikationen, die in keinem Zusammenhang zur HIV-Infektion stehen. Für die Vereinigten Staaten kann z. B. jährlich mit 30–40 Todesfällen durch Bluttransfusionen gerechnet werden. Der größte Anteil (rund 50%) tödlicher Transfusionszwischenfälle wird durch AB0-Verwechslungen verursacht. In den vergangenen Jahren wurden nicht zuletzt aus diesem Grunde erhebliche Anstrengungen unternommen, die Abläufe bei der Gewinnung und Transfusion von Blutkomponenten zu verbessern und strukturellen Fehlern durch Qualitätskontrollmaßnahmen zu begegnen. Hinzu kommt eine umfassende Dokumentationspflicht bei der Anwendung von Blut und Blutprodukten. Gentechnisch hergestellte Gerinnungspräparate, obwohl nichthumanen Ursprungs, werden ebenfalls dieser Dokumentationspflicht unterworfen. Die entsprechenden Regelungen finden sich im Transfusionsgesetz (TFG) sowie in den Richtlinien und Leitlinien der Bundesärztekammer (Bundesärztekammer 2005). Mit Inkrafttreten des Transfusionsgesetzes wurden Einrichtungen der Krankenversorgung (Kliniken und Praxen) verpflichtet, ein Qualitätssicherungssystem für die Anwendung von Blutprodukten einzurichten. Für die Dokumentation ist insbesondere zu beachten, dass nicht nur, wie allgemein üblich, die Anwendung von Produkten mit Produkt- bzw. Chargennummer in der Patientenakte zu dokumentieren ist, sondern auch eine Dokumentation vom Produkt her geleistet werden muss, d. h. es muss, z. B. im Falle eines Chargenrückrufes, nachvollziehbar sein, ob Produkte dieser Charge bei Patienten der betreffenden Einrichtung verabreicht wurden. Auch der Verfall und die Vernichtung von nicht angewendeten Produkten sind festzuhalten. Dies impliziert die Führung von »Blutbüchern« bzw. eine EDV-gestützte Dokumentation. Auch Humanalbumin, das bisher als virussicher galt und daher von der Chargendokumentationspflicht ausgenommen war, fällt inzwischen unter diese Dokumentationspflicht. Schließlich sind die Indikation zur Gabe von Blutkomponenten und die anwendungsbezogenen Wirkungen durch geeignete Parameter (Hämatokrit, Thrombozytenzählung) zu dokumentieren. Für weitere Einzelheiten sei auf die Richtlinien der Bundesärztekammer verwiesen (Bundesärztekammer 2005).
Zusammenfassung Onkologische Therapieverfahren sind auf eine umfassende, hämotherapeutische Unterstützung angewiesen. Gleichzeitig besteht bei der Gruppe der hämatologisch-onkologischen Patienten häufig ein erhöhtes Transfusionsrisiko. In der Regel erhalten diese Patienten über einen längeren Zeitraum eine größere Anzahl von Blutprodukten; damit steigt das Risiko einer Immunisierung gegen Fremdantigene. Oft besteht auch eine erhebliche Immunsuppression durch die Grundkrankheit oder infolge der Therapie, dies bringt die Gefahr einer transfusionsassoziierten Graft-versusHost-Erkrankung mit sich. Durch die Immunsuppression können außerdem opportunistische Infektionen, die gelegentlich durch Blutprodukte übertragen werden und für immunkompetente 6
Empfänger unproblematisch sind, den Patienten gefährden. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass in aktuellen Studien Patienten, die unter einem restriktiven Transfusionsregime geführt wurden, häufig einen besseren oder gleich guten Verlauf zeigten wie Patienten, bei denen eine extensivere Hämotherapie eingesetzt wurde (Hebert et al. 1999; Navarro et al. 1998). Ein Grenzwert, ab dem eine Substitutionstherapie für eine bestimmte Blutkomponente indiziert ist, lässt sich in der Regel nicht angeben, vielmehr ist die Gesamtsituation des Patienten zu bewerten. Dies gilt besonders für die Erythrozytensubstitution, denn chronisch anämische Patienten sind oft an niedrige Hb-Werte gut adaptiert.
621 30.7 · Dokumentation und Qualitätssicherung
Bei allen Patienten, die voraussichtlich eine Transfusion benötigen, muss im Vorfeld eine Blutgruppenbestimmung, die auch einen Suchtest auf erythrozytäre Antikörper enthält, veranlasst werden. Dies beschleunigt die Bereitstellung verträglicher Erythrozytenkonzentrate und ist auch für die blutgruppenkompatible Versorgung mit Thrombozytenkonzentraten und Blutplasma erforderlich. Erythrozytenkonzentrate für die Versorgung chronisch substitutionspflichtiger Patienten sollten möglichst weitgehend kompatibel im Rhesus- und Kell-System sein, um eine Immunisierung des Patienten zu vermeiden. Außerdem sollten die Produkte frisch sein, um eine möglichst lange In-vitro-Überlebenszeit der transfundierten Erythrozyten zu gewährleisten. Einen deutlichen Sicherheitsgewinn bei der Vermeidung einer Alloimmunisierung, insbesondere gegen HLA-Antigene, hat die Einführung leukozytendepletierter Präparate als Standardprodukt im Jahre 2001 mit sich gebracht. Auslöser dieser gesetzlichen Regelung war die Vorstellung, durch die Leukozytendepletion die Immunsuppression durch Transfusionen zu verringern. Gleichzeitig wurde die Gefahr der transfusionsassoziierten CMV-Übertragung dadurch verringert. Inwieweit das Risiko einer Übertragung von Prionenkrankheiten durch die Leu-
30
kozytendepletion verringert werden kann, ist zurzeit noch völlig offen. Werden zelluläre Blutprodukte bei hochgradig immunsupprimierten Patienten angewendet, so sind die Produkte zur Vermeidung einer transfusionsassoziierten GvH-Erkrankung mit 30 Gy zu bestrahlen. Für die Thrombozytensubstitution bieten Präparate, die durch Zellseparation von einem einzelnen Spender hergestellt werden, Vorteile vor Thrombozytenkonzentraten aus aufgearbeiteten Vollblutspenden. Bei Letzteren werden 4–6 Produkte für eine therapeutische Dosis benötigt, was eine Vervielfachung der Spenderexposition und ein dementsprechend erhöhtes Risiko einer Infektionsübertragung oder Alloimmunisierung gegen Fremdantigene mit sich bringt. Das Hauptrisiko der Transfusion von Blutkomponenten ist die Verwechslung von Blutpräparaten. Verwechslungen im AB0-System bei der Gabe von Erythrozytenkonzentraten stellen eine akut lebensbedrohliche Situation für den Patienten dar. Das Risiko von Verwechslungen liegt weltweit im Bereich von 1:19.000 bis 1:50.000. Die Gefahr der Übertragung von gefährlichen Virusinfektionen (Hepatitis B, C und HIV) konnte dagegen durch die Einführung sensitiver Testverfahren weiter gesenkt werden und ist heute in einer Größenordnung von 1:500.000 bis 1:1 Mio. anzusiedeln.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
31 Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin G.G. Hanekop, M.T. Bautz, F.B.M. Ensink
31.1
Grundlagen
– 623
31.2
Gastrointestinale Symptome
31.3
Respiratorische Symptome
31.4
Hyperkalzämie
31.5
Lymphödem
31.6
Neurologische und psychiatrische Symptome
31.7
Tumormodifizierende Verfahren in der Palliativmedizin – 664
31.8
Physikalische Behandlung in der Palliativmedizin – 668
31.9
Psychologische und psychosoziale Aspekte der Palliativmedizin – 669
31.10
Rahmenbedingungen interdisziplinärer Arbeit in der Palliativmedizin – 672
31.11
Das Recht des Patienten auf bestmögliche palliativmedizinische Behandlung – 673
– 630 – 642
– 648 – 650
Literatur – 674
– 651
623 31.1 · Grundlagen
> Einleitung
31.1
31
Palliativmedizin steht in einer langen Tradition (lat. »palliare« = mit einem Mantel bedecken, im übertragenen Sinn also: Geborgenheit, Schutz und Hilfe geben, im Sinne einer umfassenden Versorgung schwerkranker und sterbender Patienten). Über Jahrhunderte hinweg war es Ärzten nicht möglich, Erkrankungen wie Krebs oder andere chronisch-progrediente Leiden zu heilen. Daher musste sich die Behandlung auf die Begleitung des Patienten und die bestmögliche Linderung einzelner belastender Krankheitssymptome beschränken. Während der Entwicklung naturwissenschaftlicher Ansätze in der Medizin im 19. Jahrhundert ging dann die begleitende und umsorgende Funktion des Arztes weitgehend verloren. Seit dieser Phase orientierte sich die Medizin an der Behandlung von Krankheiten und nicht an der Therapie von Symptomen.
Grundlagen
Durch Fortschritte bei der Behandlung infektiöser und degenerativer Erkrankungen kommt es vermehrt zu chronischen Verlaufsformen nicht kurabler Leiden und – im Gefolge dieser Entwicklung – auch zu einer »Renaissance« von Modellen ganzheitlicher Patientenbetreuung. Dieses Umdenken – speziell die Abkehr von einer ausschließlich naturwissenschaftlichen Prinzipien unterworfenen, organbezogenen Medizin zu einer auch psychosozialen Zusammenhängen verpflichteten Heilkunde – spiegelt sich in den nachfolgenden Definitionen von Palliativmedizin wider. Die European Association for Palliative Care (EAPC) definiert Palliativmedizin als »die angemessene medizinische Versorgung von Patienten mit fortgeschrittenen und progredienten Erkrankungen, bei denen die Behandlung auf die Lebensqualität zentriert ist, und die eine begrenzte Lebenserwartung haben (obwohl die Lebenserwartung gelegentlich mehrere Jahre betragen kann). Palliativmedizin schließt die Bedürfnisse der Familie vor und nach dem Tod des Patienten ein« (zit. nach Radbruch u. Zech 1997). Eine etwas andere Akzentuierung wählte die WHO (1990): »Palliativmedizin ist die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten, weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf eine kurative Behandlung anspricht, und die Beherrschung von Schmerzen, anderen Krankheitsbeschwerden, psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen höchste Priorität besitzt.« Im Jahr 2002 wurde die WHO-Definition von Palliative Care neu gefasst: »Palliativmedizin ist ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit den Problemen konfrontiert sind, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen, und zwar durch Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen, Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art« (Fittkau-Tönnesmann 2002). Eine inhaltlich ähnliche Definition gibt eine »working group« der European School of Oncology (ESO): »Palliative Care is the person-centered attention to symptoms, psychological, social and existential distress in patients with limited prognosis, in order to optimise the quality of life of patients and their families or close friends« (Ahmedzai et al. 2004). Insbesondere im terminalen Stadium ihrer Erkrankung treten bei vielen Tumorpatienten neben starken Schmerzen auch
eine Vielzahl anderer Symptome auf, wie z. B. chronisches Erbrechen und fortschreitender Gewichtsverlust, Obstipation, Atemnot, Angst, die sowohl zusammen, aber auch jedes für sich zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität der Betroffenen führen können. Einen orientierenden Überblick zur Prävalenz von Tumorschmerzen im Vergleich zur Häufigkeit, mit der andere Symptome auftreten, liefert . Tab. 31.1. Bezüglich der symptomatischen Behandlungsmöglichkeiten dieser unterschiedlichen Begleiterscheinungen von progredienten Erkrankungen sind in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht worden. Ein wesentlicher konzeptioneller Unterschied zwischen Palliativmedizin und den meisten anderen medizinischen Disziplinen besteht darin, dass zumeist nicht ein einzelner Arzt oder eine Gruppe von Ärzten tätig wird, sondern ein multidisziplinäres Team von Ärzten, Pflegekräften, Angehörigen sonstiger Heilberufe, aber auch von Seelsorgern, Psychologen und Sozialarbeitern. Palliativmedizin stellt somit ein integriertes Therapiekonzept dar, das sowohl für die Behandlung als auch für die Betreuung und Begleitung von Patienten mit inkurablen Leiden ein interdisziplinäres Vorgehen propagiert und dabei alle Faktoren – auf der physischen, psychischen, sozialen und spirituellen Ebene gleichermaßen – zu berücksichtigen sucht, die zum Leiden des Patienten beitragen, seine Lebensqualität beeinträchtigen und einen Tod in Ruhe und Würde verhindern können. Folglich beinhaltet Palliativmedizin einen grundsätzlichen Teil klinischer Arbeit bei Patienten mit chronischen, die Lebensspanne limitierenden Erkrankungen und ist somit quasi ein »parallel universe« zu jenen Therapieverfahren, die auf Heilung und Lebensverlängerung ausgerichtet sind (Portenoy et Bruera 1997). Nach Klaschik (1998) ist es »die Einstellung gegenüber der Symptomkontrolle, die die Palliativmedizin von der klassischen Medizin unterscheidet. Die Befreiung und Linderung von Symptomen wird zum alles überragenden Mittelpunkt der Therapie.« Oberste Priorität in der Palliativmedizin soll in diesem Kontext die Erzielung einer – unter den gegebenen Bedingungen – möglichst weitgehenden Autonomie des Patienten bei Erhalt bzw. Verbesserung von Hoffnung und Lebensqualität haben (Beste 2005). Dass gegen diese Aussage immer wieder verstoßen wird, ist im Schrifttum vielfach dokumentiert (Penson et al. 2006). Die Wahrung der Interessen des Patienten wird am besten durch eine Kombination unterschiedlicher Behandlungsansätze erreicht. An dieser Stelle gilt es, die Nomenklatur genauer zu fassen, gibt diese doch oftmals Anlass zu Missverständnissen und Meinungsverschiedenheiten bei der Behandlung von Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen. In Übereinstimmung
624
Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
. Tab. 31.1. Prävalenz der häufigsten Symptome bei fortgeschrittenen Tumorleiden
31
Twycross u. Fairfield (1982)
Baines (1988)
Pichlmaier et al. (1988)
Grond et al. (1994)
Donnelly u. Walsh (1995)
BMG (Hrsg) (1997)
Conill et al. (1997)
Gesamt
n
6.677
722
235
1.635
1000
803
176
11.248
Schmerzen [%]
71
62
83
(100)
82
77
52,3
72,0
Inappetenz/Anorexie [%]
67
76
66
48
64
75
68,2
65,1
Schwäche [%]
47
91
85
?
67
94
76,7
57,8
Dyspnoe [%]
51
51
35
24
51
38
39,8
45,6
Husten [%]
50
45
31
?
37
30
27,8
45,7
Obstipation [%]
47
51
49
33
51
42
49,4
45,2
Übelkeit [%]
40
44
45
47
36
40,5
26,1
40,8
Schlafstörung [%]
?
24
46
59
47
48
34,7
47,5
mit Klaschik u. Nauck (1997) gehen wir von folgenden Definitionen aus: »Palliativtherapie wird heute überwiegend als die Behandlung von Patienten mit einer nicht kurativ behandelbaren Erkrankung angesehen, wobei die therapeutischen Strategien durch Einfluss auf das Tumorgeschehen mittels Operation, Chemotherapie, Hormon- oder Strahlentherapie auf eine Symptomlinderung, Verbesserung der Lebensqualität und, wenn möglich, auf Lebensverlängerung abzielen.« »Palliativmedizin ist die Behandlung von Patienten mit einer nicht heilbaren, progredienten, weit fortgeschrittenen Erkrankung und begrenzter Lebenserwartung, für die das Hauptziel die Lebensqualität ist. Die Palliativmedizin zielt auf die Linderung von Leiden im Endstadium einer Erkrankung ab, wenn sich das Augenmerk der Behandlung ganz auf die Verbesserung und Erhaltung von Lebensqualität richtet und nicht auf Lebensverlängerung. Die Palliativmedizin schließt die oben erwähnten Interventionen der Palliativtherapie nicht aus, Voraussetzung ist aber, dass die Vorteile dieser Maßnahmen größer sind als deren potentielle Nachteile.« Die beschriebenen Unterschiede spiegeln sich auch in den Begriffen tumororientierte Behandlung für die Palliativtherapie und symptomorientierte Behandlung für die Palliativmedizin wider. Die Entwicklung einer Subspezialität »Palliativmedizin« darf aber nicht dazu führen, dass die vorrangig von dieser Spezialität propagierte symptomorientierte Therapie nur von speziellen Palliativmedizinern durchgeführt wird, denen man die Patienten in ihrer letzten Lebensphase zuweist. Vielmehr ist es die originäre Aufgabe eines jeden Arztes, der mit onkologischen Patienten Umgang hat, diese entsprechend der oben dargestellten Ziele zu behandeln. Um dieses zu erreichen, müssen die Inhalte der Palliativmedizin vermehrt sowohl in der Krankenpflegeausbildung als auch in der ärztlichen Aus-, Weiter- und Fortbildung etabliert werden, wie vom Deutschen Ärztetag 2003 ausdrücklich gefordert. Am 22. Mai 2003 hat der 101. Deutsche Ärztetag die »Palliativmedizin« in die Musterweiterbildungsordnung aufgenommen, sodass die Landesärztekammern entsprechende Zusatzbezeichnungen vergeben können. Die Umsetzung durch die einzelnen
Landesärztekammern ist aktuell unterschiedlich weit gediehen: Während in einigen Bundesländern schon zahlreiche Zusatzbezeichnungen vergeben worden sind (z. B. in Bayern, Hamburg, Niedersachsen, Westfalen-Lippe) befinden sich andere noch im Genehmigungsverfahren und stehen somit erst kurz vor der Umsetzung. Bereits im Jahre 2002 wurde im Rahmen der Novellierung der Ärztlichen Approbationsordnung die Integration der Palliativmedizin in das Studium der Humanmedizin ermöglicht; eine Umsetzung in entsprechende Kursangebote ist bisher aber nur sehr eingeschränkt erfolgt. Aktuell soll nun durch eine Verordnung zur Änderung der Approbationsordnung für Ärzte erreicht werden, dass die Palliativmedizin als Pflichtlehr- und Prüfungsfach in den Kanon der Ausbildungsfächer aufgenommen wird (Bundesrat 2006, Drucksache 168/06; die Bundesdrucksache 168/06 findet sich zum Download unter http://dip.bundestag.de/extrakt/16/021/16021169.htm). Allerdings rechtfertigen alle bisherigen Erfahrungen in Bezug auf die Verbesserung der Symptomkontrolle durch edukative Anstrengungen diesbezüglich keinen Optimismus. Allard et al. (2001) konnten in einer systematischen Übersicht zeigen, dass durch Aus-, Fort- und Weiterbildung zwar das Wissen über symptomorientierte Methoden bei Angehörigen von Heilberufen verbessert werden kann, dass dies jedoch in der Regel keine Auswirkung auf die konkrete Versorgung von Tumorpatienten hat. Erst durch Offenlegung einer unzureichenden symptomorientierten Versorgung, z. B. hinsichtlich Schmerztherapie (nur für diesen Bereich liegen systematische Untersuchungen vor), durch Einsatz entsprechend validierter Instrumente, kam es zu einer Verbesserung des Behandlungsergebnisses (z. B. de Wit et al. 1999). Palliativmedizin wird heute unter sehr differenten Rahmenbedingungen betrieben. In Deutschland ist ein Zweisäulenmodell von Hospizen und Hospizinitiativen auf der einen und Palliativstationen auf der anderen Seite entstanden. Die Betreuung Sterbender durch Hospizinitiativen erfolgt ambulant oder – falls vorhanden – auch in stationären Einrichtungen. Hospize als Institutionen einer umfassenden Spezialpflege verfügen über kein eigenes ärztliches Stammpersonal; die ärztliche Betreuung der einzelnen Patienten erfolgt üblicherweise durch den jeweiligen
625 31.1 · Grundlagen
vorbehandelnden Hausarzt. Der Hospizpatient ist idealerweise in Bezug auf die Symptomkontrolle stabil eingestellt; der Schwerpunkt seiner Betreuung liegt auf der zugewandten, qualifizierten Pflege und Begleitung. Anders verhält es sich mit den ebenfalls der Hospizidee verbundenen Palliativstationen, die sich jedoch zumeist als spezialisierte Einrichtungen im Krankenhaus verstehen. Der Palliativpatient bedarf kontinuierlicher ärztlicher Betreuung sowie akuter Interventionsmöglichkeiten zur Linderung quälender Symptome. Auf einer Palliativstation steht das gesamte Behandlungsrepertoire eines Akutkrankenhauses zur Verfügung. So gehören neben den symptomorientierten Behandlungsmaßnahmen auch tumormodifizierende, wie Chemo- und Hormontherapie, Strahlentherapie und Operationen, zum palliativmedizinischen Methodenspektrum wie bisweilen auch intensivmedizinische Interventionen. Der Einsatz der genannten Verfahren orientiert sich dabei allerdings an den Wünschen und dem Zustand des Patienten sowie an einer positiven Nutzen-Risiko-Relation der einzusetzenden Methoden. Neben vollstationären Einrichtungen mit palliativmedizinischer Ausrichtung gibt es auch entsprechend orientierte Tageskliniken sowie ambulante Palliativarbeit, z. B. in Form sog. »Palliative-Care-Teams« (vgl. Ensink et al. 2002, Kreisel-Liebermann et al. 2003). Ein solches Palliative-Care-Team wurde etabliert im Rahmen der Modellmaßnahme SUPPORT der Ärztekammer Niedersachsen zur Qualitätssicherung der palliativmedizinisch orientierten Versorgung von Patienten mit Tumorschmerzen. Dieses in der Modellregion Südniedersachsen angesiedelte Projekt wurde von 1996 bis 2003 gefördert durch das Bundesministerium für Gesundheit (AZ: FB 2-43332-50/11); weitere Informationen zum Modellprojekt SUPPORT finden sich im Internet unter http://wwwuser.gwdg.de/~pctgoe/. Zum Thema integrierte Versorgung und innovative Formen der ambulanten Palliativmedizin sei verwiesen auf Rabbata u. Rieser (2005).
31
31.1.1 Prävalenz von Symptomen
Mit der in den vergangenen Jahrzehnten beobachteten Zunahme der allgemeinen Lebenserwartung und des damit einhergehend steigenden Anteils von Menschen in höherem Lebensalter ist auch eine deutliche Zunahme der Häufigkeit von Krebserkrankungen verbunden. Derzeit erkranken in Deutschland pro Jahr ca. 350.000 Menschen neu an Krebs. Da für die Mehrzahl der quantitativ bedeutsamen Tumorarten aber die Aussicht auf Heilung nicht nennenswert verbessert wurde, wohl aber durch Fortschritte in der Therapie verlängerte Remissionen erreicht werden konnten (Schlesinger-Raab et al. 2005), erhöht sich die Zahl derjenigen Personen, die unter diversen tumor- bzw. therapieinduzierten Symptomen leiden. Zur Ermittlung der Prävalenz von Symptomen wurden zahlreiche Untersuchungen durchgeführt (. Tab. 31.1). Ein entscheidender Mangel dieser Publikationen liegt in dem Umstand, dass die Daten keinem repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt entstammen, sondern dass sie zumeist auf ausgewählten Krankenhauspopulationen oder Patientenkollektiven ambulanter Palliative-Care- bzw. Hospizdienste basieren. Zudem sind auch unterschiedliche Krankheitsstadien miteinander vermischt. Allgemeingültige Aussagen sind aus diesen Befunden folglich nicht abzuleiten, sie können lediglich einen Orientierungsrahmen darstellen. In allen Tumorstadien wird von den Patienten über eine Vielzahl von Symptomen geklagt (z. B. Conill et al. 1997; Donnelly u. Walsh 1995; Grond et al. 1994; Portenoy et al. 1994). Geben Walsh et al. (2000) einen Median von 11 Symptomen (Range: 1–27) bei palliativmedizinisch betreuten Patienten an, der gut mit der Angabe von 11,5±6,0 Symptomen (Range: 0–25) bei Portenoy et al. (1994) korreliert, so berichten Chang et al. (2000) über 8 (Range: 0–30) und Grond et al. (1994) sogar nur über eine Symptomenhäufigkeit von 3,3±2,1 Symptomen je Patient. Dabei ließ sich
. Abb. 31.1. Relative Häufigkeit der Ausprägungsgrade (schwach, mittel und stark) diverser Symptome, die häufig im Gefolge einer Tumorerkrankung auftreten
626
31
Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
keine Beziehung des Auftretens von Symptomen zu Alter, Geschlecht oder Tumorstadium ermitteln, wohl aber zur Tumorart. Neubildungen in Haut, Knochen und Bindegewebe waren seltener mit einer Vielzahl an Symptomen verbunden als Lungentumoren oder gynäkologische Karzinome. Bei stationär behandelten Patienten fand sich eine signifikant größere Zahl an Symptomen (13,5±5,4 vs. 9,7±6,0; p<0,005) als bei ambulanten (Portenoy et al. 1994). Rückschlüsse auf die Beeinträchtigung des täglichen Lebens sind aus der Mehrzahl der Studien nicht möglich, da nicht die Quantität der Symptome allein für die Einschränkung der Lebensqualität verantwortlich ist, sondern vor allem deren wahrgenommene Intensität. . Abb. 31.1 zeigt die divergierenden Häufigkeitsverteilungen der Intensitäten verschiedener Symptome (nach Donnelly u. Walsh 1995). Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass bei einem Patienten parallel bestehende Symptome sich gegenseitig beeinflussen können, was oft zu einer verstärkten Wahrnehmung einzelner Beschwerden führt (Desbiens et al. 1997). 31.1.2 Prinzipien der Palliativmedizin
Im Mittelpunkt palliativmedizinischer Konzepte steht neben der Hilfestellung zur Krankheitsverarbeitung und -bewältigung die kompetente und konsequente Behandlung quälender Symptome mit dem Ziel einer Verbesserung, zumindest aber der langfristigen Erhaltung der noch vorhandenen Lebensqualität (s. oben); dabei sind geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Krankheitsverarbeitung und -bewältigung (Coping) zu beachten (Hjorleifsdottir et al. 2006). Dazu ist es zunächst notwendig, sämtliche die Patienten belastenden Symptome suffizient zu therapieren (Cella 1995), denn fehlende bzw. insuffiziente Symptomkontrolle behindert in der Regel das Gelingen von Coping-Strategien. Folgende Faktoren auf Ebene der Betreuenden und des Behandlungskonzeptes sind Voraussetzungen für den Erfolg einer palliativmedizinischen Therapie: 4 Umsetzung eines multidisziplinären Behandlungsansatzes; 4 Angebot einer hochqualifizierten Pflege; 4 individuelle Beurteilung der Situation des Patienten unter Beachtung aller relevanten Details. 4 Behandelnde müssen 5 über einen profunden medizinischen Sachverstand und ausgeprägte diagnostische Fähigkeiten verfügen, 5 solide Kenntnisse und weitreichende Fertigkeiten hinsichtlich Schmerztherapie und Symptomkontrolle aufweisen. 4 Für eine suffiziente Symptomkontrolle müssen sämtliche Aspekte des Leidens (Schmerz, physische Symptome, psychologische Probleme, soziale Schwierigkeiten, kulturelle Faktoren und spirituelle Bedürfnisse) beachtet werden (Twycross 1984), und zwar 5 sowohl aufseiten des Patienten, 5 als auch bei den Angehörigen, deren Bedürfnissen sollte über die eigentliche Behandlungsphase hinaus auch noch für die sich anschließende Trauerphase entsprochen werden. 4 Die im Rahmen eines palliativmedizinischen Konzeptes Tätigen sollten über profunde verbale und nonverbale kommunikative Fähigkeiten (s. unten), insbesondere über die zum
4 4
4 4
aktiven Zuhören sowie über ethische Kompetenz verfügen (Husebø 1997). Außerdem sollten die Betreuenden sich der Grenzen ihrer eigenen physischen und psychischen Belastbarkeit bewusst sein (Ramsay 1994). Für palliativmedizinische Leistungserbringer muss die Möglichkeit zu einer professionellen Supervision bestehen (unverzichtbare Maßnahme zur Vermeidung eines vorzeitigen Burn-outs unter den Betreuenden). Alle im Rahmen der Symptomkontrolle eingeleiteten Maßnahmen und veranlassten Abläufe sind regelmäßig auf ihre Sinnhaftigkeit und Effektivität zu überprüfen. Der Tod wird als ein integraler Teil des Lebens verstanden. Durch diese Bejahung soll der Tod weder beschleunigt noch hinausgezögert werden. Von daher gibt es in einem palliativmedizinischen Behandlungskonzept keinen Platz für aktive Sterbehilfe.
Wie schwierig der letztgenannte Aspekt der Palliativmedizin ist, zeigt die intensive Debatte über die »terminale« bzw. »palliative Sedierung«. Hier wird mit der »Doktrin des Doppeleffektes« argumentiert, wonach die Anwendung von Pharmaka so lange gerechtfertigt sei, wie die Intention zu deren Einsatz auf die Linderung von Leiden ausgerichtet ist und nicht auf eine Lebensbeendigung (im Sinne aktiver Sterbehilfe). Diese Sichtweise ist nicht unproblematisch, wie von Truog (2006) in einem Editorial kritisch angemerkt wird. Kommunikation Multidisziplinäres und professionelles Arbeiten setzt die gegenseitige Achtung und Anerkennung der Kompetenz anderer Berufsgruppen voraus. Ein wesentliches Hilfsmittel bei der palliativmedizinischen Arbeit ist die Kommunikation (Maguire u. Faulkner 1988). Profunde kommunikative Fähigkeiten (sowohl verbal als auch nonverbal) sind daher von besonderem Nutzen. Kommunikationsprobleme im Umgang mit Tumorpatienten sind häufig (Annunziata et al. 1996); oft sind sie zugleich die Ursache für eine unzureichende Krankheitsbewältigung des Patienten und damit auch für unbefriedigende Behandlungsresultate verantwortlich (Kappauf 2001). Schwierigkeiten können sowohl in der Kommunikation mit dem Patienten und seinen Angehörigen als auch innerhalb des betreuenden Teams auftreten. Es ist auch Aufgabe des behandelnden Arztes, solche Störungen zu erkennen und zu beheben sowie im Bedarfsfall kompetente Hilfe (z. B. in Form einer professionellen Supervision) zu suchen (Stagno et al. 2000). Ärzte haben häufig nicht ausreichend gelernt, wie Probleme und kritische Sachverhalte mitzuteilen sind. Die Gründe hierfür sind dieselben, die allgemein im Umgang mit dem Thema »Krebs« zu beobachten sind: 4 Angst, 4 Abwehr, 4 Vermeidungsverhalten. Begriffe wie »Tod« und »Sterben« rufen bei nahezu jedem in unserer Gesellschaft negative Emotionen und Stress hervor, bei Betroffenen oftmals mit der Folge von körperlichen Begleitsymptomen wie z. B. Schlafstörungen und Gewichtsverlust (Espinosa et al. 1996). Zudem besteht eine »Tabuisierung von Unheilbarkeit in der Arzt-Patienten-Beziehung«, die zumeist »ethisch begründet« und »mit barmherzigen Lügen verfestigt« wird (Kappauf 2001). Durch den sozialen Wandel (z. B. »Landflucht«, Verstäd-
627 31.1 · Grundlagen
terung, Zunahme der Ein-Personen-Haushalte) haben wir heute nur noch wenig Übung, mit solchen belastenden Erfahrungen unbefangen umzugehen. Dieses führt bei Kontakt mit Tumorpatienten bzw. Personen mit chronisch-progredienten Leiden leicht zu: 4 Ablehnung, 4 emotionaler Kälte, 4 fehlender Anpassung an Veränderungen, 4 Missverständnissen, 4 Verhaltensauffälligkeiten. Eine weitere Verhaltensweise in diesem Kontext ist die Kollusion (»Bitte erzählen Sie aber nichts ...«). In vielen Familien herrscht eine große Furcht davor, tumorkranken Angehörigen die Wahrheit bezüglich ihrer Diagnose zu erzählen, weil sie fürchten, ihnen so die Hoffnung zu nehmen. Kollusion führt aber dazu, dass jegliche Kommunikation in der Familie unterbleibt, da jedermann fürchtet, »das Falsche« zu sagen (Maguire 1985). Um in einer solchen Situation sinnvoll palliativmedizinisch arbeiten zu können, müssen die Ursachen solchen Verhaltens innerhalb der Familie wie auch in der therapeutischen Beziehung untersucht und verändert werden. Erst nach Überwindung dieser mangelhaften Kommunikation ist es möglich, ein sinnvolles und zielgerichtetes palliativmedizinisches Konzept umzusetzen. Nach Aussagen der American Geriatrics Society sollen Gespräche über Tod und Sterben zumeist keine negativen Auswirkungen auf die Patienten haben (Cotton 1993). Fast alle Patienten wünschen bei Vorliegen lebensbedrohlicher Erkrankungen Offenheit von ihren Behandelnden (z. B. Volker et al. 2004a,b). Eine konkrete Hilfe in solchen Situationen können Erklärungen über die Erkrankung und die Möglichkeiten therapeutischer Interventionen bieten. Solche Gespräche transportieren Informationen, bauen Unsicherheit ab und bilden Vertrauen. Zu beachten ist allerdings, dass die Erklärungen einfach und gegenstandsbezogen sein müssen und möglichst durch Bildmaterial unterstützt werden sollten. Zwar sind durch die reine Faktenvermittlung Ängste in der Regel nicht zu beseitigen, jedoch können die Erklärungen einen Prozess der Rückversicherung in Gang setzen. Es stellt eine nahezu regelhafte Erfahrung von in der Palliativmedizin Tätigen dar, dass Patienten auch nach adäquater Aufklärung über ihre Erkrankung und deren weiteren Verlauf in ihren Gedanken und Vorstellungen aber auch in ihrem Kommunikationsverhalten mit Dritten zwischen den beiden ambivalenten Polen schwanken, leben zu wollen bzw. den nahenden Tod zu akzeptieren. Diese Inkonstanz manifestiert sich auch kurzfristig, indem die Patienten sich in einem Augenblick realitätsnah mit dem bevorstehenden eigenen Sterben auseinandersetzen, kurze Zeit später aber über Perspektiven und Lebenshoffnungen sprechen, die angesichts ihrer aktuellen Situation objektiv als unrealistisch zu bewerten sind (SchmelingKludas 1997). Solche Gedankensprünge scheinen für das Verhalten von Menschen nicht ungewöhnlich zu sein; vermutlich sind sie Ausdruck einer »Hoffnung erhaltenden« Strategie, die zu akzeptieren ist und nur dann interventionsbedürftig wird, wenn die Lebensqualität des Patienten darunter leidet. Diagnose- bzw. Befundübermittlungen im Rahmen einer Tumorerkrankung sollten immer persönlich, d. h. beispielsweise nicht per Telefon erfolgen. Bei Mitteilungen über ernste Befunde sollte das Gespräch mit dem Patienten möglichst – das entsprechende Einverständnis des Betroffenen vorausgesetzt – im
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Beisein eines Angehörigen oder Freundes, in einer ruhigen Atmosphäre stattfinden, die weder verbal noch nonverbal Zeitdruck vermittelt. Nach einer Untersuchung von Peteet et al. (1991) scheint die geforderte Gesprächssituation im onkologischen Umfeld in der Regel gegeben. Die Autoren ermittelten in einem semistrukturierten Interview, dass 84% der Betroffenen über ihre Tumordiagnose persönlich und 75% auch in einer ruhigen und ansprechenden Umgebung informiert wurden. Darüber hinaus sollten die relevanten Informationen in einer einfühlsamen und verständnisvollen Weise und in solchen Worten gegeben werden, die für den Patienten verständlich sind (Tattersall et al. 2002). Parker et al. (2001) untersuchten die Präferenz von Patienten, welche Informationen wie mitgeteilt werden sollten. Am höchsten bewertet wurden von Patienten Informationen über die neuesten Erkenntnisse und Therapieoptionen zur Behandlung ihres Tumorleidens (»Quelle für Hoffnung auf Besserung«). Den vorstehenden Befund muss man vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Sardell und Trierweiler (1993) betrachten. Diese Autoren haben gezeigt, dass generell von Patienten solche Informationen am höchsten eingestuft werden, die der Aufrechterhaltung von Hoffnung dienen. Diese Feststellung offenbart insofern aber ein Dilemma, als Patienten mit den ihnen erläuterten Therapieoptionen oftmals unrealistische Erwartungen assoziieren, nämlich die Hoffnung auf Heilung. Diese Einschätzung wird durch die oben genannten Befunde von Parker et al. (2001) gestützt. Dieses Verhalten ist von denjenigen zu berücksichtigen, die Patienten über eine infauste Erkrankung aufklären müssen. Zwar sollten auch bei weit fortgeschrittener Erkrankung Hoffnungen erhalten bleiben; nicht jedoch Hoffnung auf Heilung, wohl aber auf Unterstützung, Begleitung und Symptomlinderung. In diesem Sinne schließt die Information über eine lebensbedrohliche Erkrankung Hoffnung nicht aus, sie verleiht ihr lediglich einen Rahmen (Friedrichsen et al. 2000). Der Arzt sollte den Patienten und ggf. auch die Angehörigen ausdrücklich dazu ermuntern, Fragen zu stellen. Dadurch erhalten beide Seiten die Möglichkeit, weitergehende Informationen zu erlangen, soweit dieses erwünscht ist. Außerdem erlaubt ein solches Nachfragen durch den Patienten dem Arzt eine Einschätzung, ob seine Erläuterungen auch verstanden wurden; zudem erhält er Informationen über die innere Realität des Patienten und seiner Angehörigen sowie über deren subjektive Krankheitssicht. In diesem Kontext gilt es zu bedenken, dass Kommunikation zwischen Menschen in der Regel eher emotional als kognitiv geleitet ist. Die kommunikative Kompetenz von Ärzten korreliert keineswegs mit der Länge der Berufserfahrung, sie ist auch nicht persönlichkeitsgebunden. Bereitschaft zur Einsicht in eigene Defizite vorausgesetzt, lässt sich kommunikative Kompetenz jedoch sehr wohl erlernen (Kappauf 2001). Grundlegende Aspekte der Symptomkontrolle Bezüglich sämtlicher Aspekte von Symptomkontrolle gilt folgender Grundsatz, der Mary Baines zugeschrieben wird: »Surely the most important principle of symptom control must be to get on and do it.« Bei der Erhebung des Symptomenspektrums muss daran gedacht werden, dass Patienten nicht über alle Symptome spontan berichten. Eine aus diesem Umstand resultierende unvollständige Erfassung der bei einem Patienten vorhandenen Symptome kann dadurch umgangen werden, dass bei der Ersterhebung routinemäßig geeignete Fragebögen verwendet
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Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
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. Abb. 31.2. »Queensway-Carleton Hospital Questionnaire of Concurrent Symptoms« zur Erfassung des Vorhandenseins und des Ausprägungsgrades verschiedener Symptome bei terminalen Tumorpatienten
und die entsprechenden Ergebnisse standardisiert dokumentiert werden. Als Idealanforderungen für routinetaugliche Inventarien gelten die nachfolgenden Kriterien: Fragebögen sollten kurz, leicht verständlich und möglichst selbsterklärend sein, damit sie vom Patienten ohne fremde Hilfe ausgefüllt werden können. Selbst wenn diese Kriterien erfüllt sind, können präfinale Patienten aufgrund ihres reduzierten Allgemeinzustandes oft entsprechende Instrumente nicht mehr bearbeiten. Eine kurze Checkliste zur Erfassung eines bestehenden Symptomenspektrums findet sich in . Abb. 31.2. Bei diesem »Questionnaire of Concurrent Symptoms« handelt es sich um eine modifizierte Version eines Fragebogens des QueenswayCarleton Hospitals in Kanada, der allerdings bislang noch nicht validiert worden ist (nach Farncombe 1997). Ein weiteres Beispiel für einen solchen Fragebogen ist das in . Abb. 31.3 in englischer Originalversion wiedergegebene »Edmonton Functional Assessment Tool«, das allerdings nicht auf die Erhebung des Symptomenspektrums, sondern auf die Erfassung der resultierenden Beeinträchtigung im Bereich der sog. »Activities of Daily Living« (ADL) abzielt (Kaasa et al. 1997). Dieses Instrument, von dem nach Kenntnis der Autoren bisher keine validierte deutsche Fassung verfügbar ist, erfasst nicht nur die Beschwerden des Patienten weitgehend vollständig, sondern erlaubt zugleich die Einschätzung ihrer Intensität. Beide Fragebögen können auch repetitiv zur Dokumentation des Symptomenspektrums und der Beeinträchtigung im weiteren Krankheitsverlauf eingesetzt werden.
Eine Möglichkeit zur standardisierten Dokumentation – gerade auch bei Patienten in fortgeschrittenen Stadien einer Tumorerkrankung – stellt das computerunterstützte System MIDOS (»Minimales Dokumentationssystem für die palliative Medizin«) dar. Dieses wurde von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kölner Schmerzambulanz entwickelt und zeichnet sich durch Kürze, Reproduzierbarkeit und Multidimensionalität aus (Radbruch et al. 2000). Maßnahmen einer palliativmedizinischen Behandlung sollten schon zu einem Zeitpunkt einsetzen, an dem der Patient noch in einem ausreichenden Allgemeinzustand ist. Tumororientierte Verfahren werden simultan neben symptomorientierten Maßnahmen eingesetzt (. Abb. 31.4; mod. nach WHO 1990). Palliativmedizin ist aktive Therapie; in vielen Fällen ist sie in ihrer Intensität den Behandlungsmaßnahmen auf Intensivstationen vergleichbar. Der in . Abb. 31.5 (nach Woodruff 1993) skizzierte Algorithmus stellt die Integration symptomorientierter Therapieansätze in das Gesamtkonzept der Behandlung von Krebserkrankungen dar. Folgende Grundsätze gilt es nach einem Vorschlag von Aulbert et al. (1997) bei der Behandlung von Symptomen zu beachten: 4 Die Ursache der Symptome sollte, soweit vertretbar, differenzialdiagnostisch abgeklärt werden; die Erfassung der Ursachen eröffnet eventuell Möglichkeiten einer kausalen Therapie. 4 Die kausale Therapie ist Mittel der ersten Wahl; es sollte allerdings eine Abwägung zwischen Nutzen und Risiko der entsprechenden Intervention erfolgen.
629 31.1 · Grundlagen
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. Abb. 31.3. »Edmonton Functional Assessment Tool« zur Beurteilung der Beeinträchtigung bei der Ausführung von Alltagsaktivitäten, sog. »Activities of Daily Living« . Abb. 31.4. Ist- und Soll-Zustand bei der palliativmedizinischen Behandlung von Tumorpatienten. Derzeit werden palliativmedizinische Interventionen erst viel zu spät eingesetzt (oben). Optimal dagegen wäre der bedarfsgesteuerte, gezielte Einsatz ab Zeitpunkt der Diagnosestellung über den gesamten Krankheitsverlauf (unten)
4 Der Einsatz einer Begleittherapie sollte auch bei kausalen Behandlungsansätzen erwogen werden, um die Durchführung der tumororientierten Therapie zu unterstützen, Nebenwirkungen zu reduzieren und in Einzelfällen eine solche Behandlung überhaupt erst zu ermöglichen. 4 Die Therapie sollte individuell durchgeführt werden; Leitlinien und Stufenpläne stellen lediglich einen therapeutischen
Rahmen dar, der nach den Gegebenheiten des Patienten ausgestaltet werden muss. 4 Es sollten nur die belastenden Symptome behandelt werden. 4 Die Lebensqualität hat bei allen therapeutischen Entscheidungen an erster Stelle zu stehen; die zu treffenden Maßnahmen sollen dem Patienten eine maximale Unabhängigkeit bei größtmöglicher physischer und geistiger Aktivität ermöglichen.
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Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
4 Die Behandlung sollte in der Regel als multimodaler Therapieansatz realisiert werden; so soll gewährleistet werden, dass durch Kombination unterschiedlicher Verfahren bzw. Medikamente eine Optimierung des therapeutischen Effektes bei gleichzeitiger Reduktion der Nebenwirkungsrate erreicht wird. 4 Bei den Therapieentscheidungen sind der Patient und seine Angehörigen mit einzubeziehen; dazu ist eine ausführliche und einfühlsame Aufklärung über die Behandlungsoptionen erforderlich.
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Schmerzen zählen zu den von Tumorpatienten am meisten gefürchteten Begleiterscheinungen ihrer Erkrankung. Da diese Beschwerden zugleich zu den von Betroffenen am häufigsten wahrgenommenen Symptomen gehören, wird der zentrale Stellenwert von Tumorschmerztherapie bei der palliativmedizinischen Symptomkontrolle leicht nachvollziehbar. Deswegen ist den Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie auch ein eigenes Kapitel (7 Kap. 32) gewidmet. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass mit einer analgetischen Therapie von Tumorschmerzen allein in Bezug auf die Lebensqualität kein Gewinn für den Patienten erzielt wird, wenn dadurch erhebliche Nebenwirkungen induziert bzw. bereits vorhandene andere Symptome verstärkt werden. Für eine suffiziente ganzheitliche Behandlung sind deshalb alle beeinträchtigenden Symptome (ggf. antizipierend) in die Therapieplanung einzubeziehen. In den nachfolgenden Abschnitten dieses Kapitels sollen die wesentlichen Symptome fortgeschrittener Tumorleiden und An. Abb. 31.5. Integration des palliativmedizinischen Therapieansatzes im Behandlungskonzept von Krebserkrankungen
sätze zu deren symptomspezifischer Behandlung (7 Kap. 31.2 bis 31.6) sowie die Möglichkeiten tumorspezifischer (7 Kap. 31.7) und unterstützender Verfahren (7 Kap. 31.8 bis 31.9) unter palliativmedizinischem Aspekt dargestellt werden. Ein Versuch, zu allen im Rahmen der Palliativmedizin auftretenden Symptomen Stellung zu nehmen und alle relevanten Behandlungsmaßnahmen abzuhandeln, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen; daher kann hier nur eine Auswahl häufiger Beschwerden und der zugehörigen Behandlungsansätze erörtert werden. Bezüglich der Therapiemöglichkeiten anderer hier nicht abgehandelter Symptome sei auf entsprechende Hand- und Lehrbücher verwiesen (Aulbert et al. 2007; Bausewein et al. 2006; Doyle et al. 2005; Woodruff 1993). Im palliativmedizinischen Kontext wird häufig eine Pharmakotherapie angewendet, wobei die verwendeten Substanzen oft für die betreffende Indikation keine Zulassung besitzen (sog. »Off-Label Use«, s. Textkasten).
31.2
Gastrointestinale Symptome
In fortgeschrittenen Stadien einer Krebserkrankung sind nahezu 40% der auftretenden, die Lebensqualität besonders beeinträchtigenden Symptome gastrointestinaler Natur (. Tab. 31.1). Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass bei der palliativmedizinischen Behandlung mehr als 50% aller verordneten Medikamente der Kontrolle gastrointestinaler Symptome dienen, wie in einer prospektiven Untersuchung dokumentiert werden konnte (Curtis u. Walsh 1993). Dabei zeigen gerade die gastrointesti-
631 31.2 · Gastrointestinale Symptome
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Off-Label Use 4 Werden zugelassene Arzneimittel außerhalb der von den zuständigen Zulassungsbehörden genehmigten Anwendungsgebiete eingesetzt, spricht man vom sog. Off-Label Use. Ein solcher Einsatz gilt als »risikoreich« sowohl für die Patienten als auch die verordnenden Ärzte. Zum einen stellt sich die Frage der Arzneimittelsicherheit, wenn Medikamente außerhalb derjenigen Indikation eingesetzt werden, für die sie auf Sicherheit und Unbedenklichkeit geprüft wurden. Zum anderen stellt sich die Frage der Kostenübernahme. Grundsätzlich dürfen Arzneimittel zulasten der gesetzlichen Krankenkassen nur zur Behandlung derjenigen Erkrankungen eingesetzt werden, für die eine arzneimittelrechtliche Zulassung besteht. Im ungünstigsten Fall bleibt der gesetzlich Versicherte auf den Kosten seiner Behandlung sitzen oder dem Arzt droht ein Regress. Außerdem kann er haftbar gemacht werden, wenn ein Patient beim nicht bestimmungsgemäßen Einsatz eines Medikamentes zu Schaden kommt. Der Arzneimittelhersteller haftet nur für Schäden, die beim bestimmungsgemäßen Gebrauch entstehen. 4 Das Dilemma besteht darin, dass eine sinnvolle Therapie in Fachgebieten wie der Onkologie (…) ohne den Off-Label Use oft nicht möglich ist. Vielfach hält der Zulassungsstatus mit der Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht Schritt. Will man den meist schwer kranken Patienten eine wirksame Therapie nicht vorenthalten, muss der Arzt off label verordnen (Korzilius 2006). Diese Aussage gilt nicht nur für die Onkologie im Allgemeinen sondern auch für den Bereich der Palliativmedizin im Speziellen (Davis 2000; Diaz 2008). 4 Für einen großen Teil der in diesem Kapitel dargestellten Behandlungsansätze gilt, dass der Einsatz von Medikamenten für Indikationen empfohlen wird, für die diese Substanzen (z. T. nur in Deutschland, z. T. aber auch international) keine Zulassung besitzen. Bis zu 40% aller Verordnungen für die fünf häufigsten Symptome sind Off-Label (Verhagen et al. 2008). Ärzte, die in Deutschland eine entsprechende Verordnung von Arzneimitteln außerhalb der von den Zulassungsbehörden genehmigten Anwendungsgebiete vornehmen, müssen sich sowohl der haftungsrechtlichen als auch der sozialrechtlichen Probleme bewusst sein, die mit dem Off-Label-Use einhergehen (können). 4 Seit Inkrafttreten des GKV-Modernisierungsgesetzes am 1. Januar 2004 spielt der Gemeinsame Bundesausschuss
nalen Beschwerden bei Tumorpatienten einige Gemeinsamkeiten, was u. a. darauf zurückgeführt wird, dass 4 die unterschiedlichen gastrointestinalen Symptome eine ähnliche Ätiologie aufweisen, 4 oftmals ein Symptom zugleich Ursache für ein anderes ist, 4 Symptome z. T. nicht eindeutig voneinander zu trennen sind. Diese Aussagen werden zudem dadurch gestützt, dass die Therapie eines Symptoms oft auch zur Besserung eines anderen führt (Komurcu et al. 2000).
Ärzte-Krankenkassen »eine entscheidende Rolle beim Umgang mit dem zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln. Er beauftragte (…) Expertengruppen, (…) Bewertungen zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis über den Off-Label Use bei bestimmten Indikationen zu erarbeiten« (Korzilius 2006). Leider gehört der Bereich der Palliativmedizin bislang nicht zu den Gebieten, für die diese (verschiedenen) Expertengruppen bislang einen Arbeitsauftrag erhalten haben. 4 Zur Verdeutlichung des Problems sei beispielhaft auf eine Übersichtsarbeit von Fonzo-Christe et al. (2005) verwiesen, in der der Einsatz der subkutanen Applikation von Medikamenten in einem geriatrischen Umfeld untersucht wurde. Dabei wurden 34 Einzelsubstanzen evaluiert, von denen nur 13 (38%) für die Indikation »Subkutangabe« zugelassen waren. Lediglich für Morphin war eine hochwertige Evidenz zu konstatieren, während für die Mehrzahl der anderen Substanzen überhaupt keine Daten verfügbar waren. 4 Von daher muss in Deutschland der Off-Label Use der in diesem Kapitel abgehandelten Medikamente unter der »Generalklausel« erfolgen, die das Bundessozialgericht (BSG) in einer diesbezüglichen Entscheidung vom 19. März 2002 aufgestellt hat (Az.: B 1 KR 37/00 R). »Darin erkannte das Gericht die Notwendigkeit des Off-Label Use unter engen Voraussetzungen an. Ein solcher Gebrauch komme nur in Betracht, wenn es ›um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn keine andere Therapie verfügbar ist und wenn auf Grund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann‹. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte am 6. Dezember 2005 diese Linie der Rechtsprechung« (Korzilius 2006). Das BSG entschied außerdem, dass eine Kostenübernahme durch die GKV in jedem Fall eine auf den einzelnen Patienten bezogene Abwägung des Nutzens und Risikos voraussetzt. Zudem müsse die Behandlung »den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechen« und dokumentiert werden. Zu der vom BSG geforderten individuellen NutzenRisiko-Abwägung liefert dieser Beitrag umfassende Hinweise auf die aktuelle Datenlage (ggf. sogar unter ausdrücklicher Erwähnung des jeweils bestehenden Evidenzlevels der jeweiligen Untersuchung). Die vom BSG geforderte Dokumentation ist allerdings vom betreffenden Anwender selbst sicherzustellen.
31.2.1 Anorexie und Kachexie
Anorexie (im Sinne von Appetitlosigkeit oder herabgesetztem »Trieb« zur Nahrungsaufnahme) bzw. Inappetenz (im Sinne von fehlendem Verlangen, z. B. nach Nahrung) sowie Kachexie sind bei fortgeschrittener Tumorerkrankung häufig zu beobachtende Symptome: Wie aus . Tab. 31.1 ersichtlich, tritt eine Anorexie bei etwa zwei Drittel der Patienten auf. Von Roenn u. Paice (2005) gehen davon aus, dass ca. 15–48% der Tumorpatienten über Gewichtsabnahmen berichten, wobei diese Rate in fortgeschrittenen Erkrankungsstadien auf bis zu 80% ansteigen kann. Die
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Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
Kachexie führt bei bis zu 20% der Tumorpatienten direkt zum Tode, wenn die Betroffenen etwa 30% ihres prämorbiden Körpergewichts verloren haben; zudem sprechen kachektische Tumorpatienten schlechter auf Chemotherapien an und leiden verstärkt unter den toxischen Nebenwirkungen (Gordon et al. 2005a). Bruera u. Fainsinger (1998) sowie Gordon et al. (2005a) beschreiben die Anorexie bzw. Kachexie als multikausale bzw. faktorielle Syndrome, die sowohl teilweise Ursache als auch Folge der metabolischen Veränderungen und der Mangelernährung bei fortgeschrittenen Tumorerkrankungen sind.
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Pathophysiologie der Anorexie Eine Übersicht über die pathophysiologischen Effekte bei Anorexie bzw. Kachexie findet sich bei Laviano et al. (2005). Neben bekannten gastrointestinalen Hormonen und Neurotransmittern wie Kalzitonin, Cholezystokinin und Glukagon werden vor allem Zytokine wie TNF oder IL-1 für die Anorexie verantwortlich gemacht (z. B. Dunlop u. Campbell 2000). Dabei ist der Einfluss spezifischer Hormone bzw. Zytokine nicht linear: So konnten z. B. Wolf et al. (2006) keinen Zusammenhang zwischen Ghrelin-, Leptin- sowie Adiponectin-Plasmaspiegeln und dem Gewichtsverlust von Tumorpatienten finden. Hingegen konnten Gilg u. Lutz (2006) tierexperimentell demonstrieren, dass Ghrelin bei einmaliger Gabe keine bzw. nur moderate Effekte (abhängig vom Alter der Versuchstiere) zeigt, während bei wiederholter Gabe Effekte konsistent nachweisbar waren. Neben Hormonen und Mediatoren sollen an der Pathogenese der Anorexie auch Schluck- bzw. gastrointestinale Motilitätsstörungen, Übelkeit und Erbrechen sowie depressive Verstimmungen beteiligt sein (z. B. Bruera 1998). Ob die letztgenannten Symptome direkt involviert sind oder nur indirekt – wiederum über Zytokine vermittelt – ist noch nicht eindeutig entschieden (z. B. Ericsson et al. 1994). Ähnliches gilt auch für die psychischen Beeinträchtigungen: Es ist nicht geklärt, ob diese nur reaktiv infolge der Diagnose entstehen oder ob humorale Veränderungen im Rahmen der Tumorerkrankung die neuropsychiatrischen Störungen auslösen (z. B. Breitbart et al. 1998). Gleichwohl kann man festhalten, dass es sich bei der Anorexie um ein multifaktoriell bedingtes Symptom handelt (Muscaritoli et al. 2006). Therapie der Anorexie Therapeutisch kommen neben der Behandlung der Grunderkrankung auch unspezifische Maßnahmen, wie z. B. Verabreichung mehrerer kleiner Mahlzeiten, abwechslungsreiche wohlschmeckende »Wunschkost«, Schutz vor unangenehmen Gerüchen (Ollenschläger 2000), eine begleitende und stützende Gesprächstherapie, die Gabe von stimmungsaufhellenden Pharmaka (z. B. Antidepressiva, Benzodiazepine) sowie die Applikation von Medikamenten mit antiemetischer, appetit- bzw. motilitätsstimulierender Wirkung zum Einsatz. Folgende Substanzen wurden für die letztgenannten Indikationen eingesetzt: 4 Cannabinoide (Jatoi et al. 2002): den Progesteronanaloga signifikant unterlegen (Evidenzlevel IIa)1, 4 Kortikosteroide (z. B. Loprinzi et al. 1999): wirksam, dabei den Progesteronanaloga nicht signifikant unterlegen (Evidenzlevel IIa), 4 Cyproheptadin (Kardinal et al. 1990): keine Besserung (Evidenzlevel III), 4 5-HT3-Rezeptorantagonisten (Edelman et al. 1999): keine Besserung, insgesamt von zweifelhaftem Wert (Evidenzlevel V),
4 Metoclopramid (Bruera et al. 1994): wirksam (Evidenzlevel IIa), 4 Progesteronanaloga (z. B. Berenstein u. Ortiz 2005): wirksam (Evidenzlevel I). Die in den genannten Studien erzielten Resultate waren in Folgestudien aber nicht immer reproduzierbar, oftmals nicht von Dauer bzw. unter Kosten-Nutzen-Aspekten von zweifelhaftem Wert. Pathophysiologie der Kachexie Von einer Kachexie wird ausgegangen, wenn ein Gewichtsverlust >5% innerhalb eines Zeitraumes von 6 Monaten auftritt, speziell durch den Verlust von Muskelmasse. Klinische Parameter zur Überprüfung sind das Körpergewicht, die Dicke von Hautfalten und der Umfang in Oberarmmitte (Inui 2002). Auch bei der Tumorkachexie wird eine ähnlich komplexe Ätiologie wie bei der Anorexie vermutet (z. B. Tisdale 1997). Neben einer verminderten Substrataufnahme (infolge von Anorexie und Erbrechen) kommt es auch zu einer unvollständigen Substratverwertung sowie zu einer Steigerung des Grundumsatzes (s. Mattox 2005). Ursächlich werden auch hier Zytokine für die Änderungen in der Homöostase verantwortlich gemacht (z. B. Yasumoto et al. 1995). Therapie der Kachexie Die Behandlung der Tumorkachexie kann auf drei Ebenen erfolgen (Bruera 1998): 4 am Tumor: Hier wird eine Reduktion der die Zytokinbildung stimulierenden Abbauprodukte angestrebt. Tierexperimentell konnten Takahashi et al. (2005) zeigen, dass eine an Ernährungsstatus (Kachexie vs. Non-Kachexie) adaptierte Chemotherapie einer Standardbehandlung überlegen war; 4 am Immunsystem des Patienten: Ziel ist hier eine Reduktion der Zytokinbildung bzw. eine Antagonisierung ihres physiologischen Effektes; 4 am ZNS des Patienten: Dabei geht es um eine Verhinderung der Anorexie und eine Steigerung des Appetits. [Hier greift auch die Pharmakotherapie der Symptome »Übelkeit« und »Erbrechen« mit den bereits oben vorgestellten Medikamentengruppen an (Bruera u. Fainsinger 1998).] Insgesamt ist eine ursachenorientierte medikamentöse Behandlung der Tumorkachexie derzeit noch nicht möglich, wohl aber lassen sich die verfügbaren Therapieoptionen auch heute schon zu einem medizinisch sinnvollen und gesundheitsökonomisch verträglichen »Stufenkonzept« kombinieren (Borghardt 2001). Neben den vorstehend genannten, etablierten Maßnahmen werden auch Therapieansätze verfolgt, für die ein zytokinantagonistischer bzw. symptomlindernder Effekt postuliert wird: 4 Anabolika (Loprinzi et al. 1999): wirksam, jedoch den Kortikosteroiden und Progesteronanaloga unterlegen (Evidenzlevel IIb); (Storer et al. 2005): gleich wirksam wie Wachstumshormon, jedoch besser verträglich; 1
Soweit im weiteren Verlauf dieses Lehrbuchbeitrags eine Aussage zum Evidenzlevel (»type of evidence«) der zitierten Studien getroffen wird, geschieht diese Klassifizierung in Anlehnung an das von der Ärztlichen Zentralstelle Qualitätssicherung (2001) vorgeschlagene Bewertungssystem der AHCPR (1994).
633 31.2 · Gastrointestinale Symptome
4 β-Sympathomimetika hierzu liegen bislang lediglich tierexperimentelle Arbeiten vor (z. B. Pinto et al. 2004); 4 Eicosapentaensäure (z. B. Persson et al. 2005): eingeschränkt wirksam, den Progesteronanaloga signifikant unterlegen (Evidenzlevel IIb); 4 Melatonin (Lissoni 2002): (Evidenzlevel III); 4 Pentoxifyllin (Goldberg et al. 1995): keine Besserung (Evidenzlevel IIa); 4 Thalidomid (z. B. Gordon et al. 2005b): wirksam (Evidenzlevel IIb); 4 Wachstumshormon (Storer et al. 2005): gleich wirksam wie Anabolika, jedoch mehr Nebenwirkungen; 4 Zyklooxigenase-Hemmstoffe (Lundholm et al. 2004): wirksam (Evidenzlevel V).
31
. Tab. 31.2. Medikamente, die bekanntermaßen eine Xerostomie verursachen bzw. verstärken können. Medikamentenklasse
Wirksubstanzen (ausgewählte Beispiele)
ACE-Hemmer
Enalapril Lisinopril
Antidepressiva
Amitriptylin Desipramin Doxepin Fluoxetin
Infolge der unzureichenden Datenlage ist zur Behandlung von Anorexie bzw. Kachexie derzeit noch keine routinemäßige Indikation für die genannten Substanzen bzw. Substanzgruppen gegeben. Wegen der positiven Befunde scheint deren Einsatz im Rahmen kontrollierter Studien jedoch durchaus gerechtfertigt (Desport et al. 2000). Vor einem Einsatz entsprechender Substanzen ist zu klären, ob das Symptom für den Patienten störend ist. In diesem Fall kann dann – zusammen mit psychosozialen Maßnahmen – eine entsprechende Pharmakotherapie unterstützend eingesetzt werden. Da es sich bei Anorexie bzw. Kachexie um multifaktoriell bedingte Symptome handelt, sollte die Therapie nicht auf einzelne Substanzklassen beschränkt bleiben, sondern – wie bereits erwähnt – als Kombinationsbehandlung in einem »Stufenkonzept« etabliert werden. Deutsch u. Kolhouse (2004) weisen aber darauf hin, dass bei zahlreichen Tumorpatienten neben den durch die Tumorerkrankung bedingten allgemeinen Veränderungen (z. B. im ZNS und im Immunsystem) auch direkte Störungen im Gastrointestinum den Erfolg der gegen die Anorexie bzw. Kachexie gerichteten therapeutischen Interventionen beeinflussen können. Da die Datenlage derzeit nicht eindeutig ist, sollte es künftigen prospektiven, randomisierten Studien vorbehalten bleiben, die Effektivität solcher kombinierter Therapieansätze zu evaluieren (z. B. Yavuzsen et al. 2005). 31.2.2 Xerostomie
Sertralin Antiemetika
Metoclopramid
Antihistaminika
Chlorphenoxamin Diphenhydramin
Antikonvulsiva
Carbamazepin
Benzodiazepine
Alprazolam Diazepam Triazolam
β-Rezeptorenblocker
Metoprolol Propranolol
Diuretika
Furosemid Hydrochlorothiazid Spironolacton
Herzglykoside
Digoxin
Kalziumkanalblocker
Nifedipin
Neuroleptika
Chlorpromazin Thioridazin
Mit diesem Begriff wird eine das Allgemeinbefinden wesentlich beeinträchtigende, oft als sehr quälend empfundene Mundtrockenheit bezeichnet. Pathophysiologie Eine Xerostomie tritt bei Tumorpatienten oft nach Chemo- bzw. Strahlentherapie oder als Folge von Dehydratation bzw. Infektionen (vor allem Pilzinfektionen) auf. Daneben kommen aber auch Medikamente (vor allem Opioide und Psychopharmaka) als Ursache in Betracht; eine Zusammenstellung der Medikamente, die bekanntermaßen eine Xerostomie auslösen, findet sich in . Tab. 31.2 (Mod. nach Jackson u. Chambers 2000). Da Speichel eine Schutzfunktion (im Sinne von Verdünnung und Zerstörung bakterieller Spaltprodukte und kariogener Substanzen) für die Mundhöhle hat (Aagaard et al. 1992) kann Xerostomie – besonders in Verbindung mit mangelnder oraler Hygiene sowie bei zerfallenden Tumoren in Mundhöhle und Nasen-Rachen-Raum – zu massiv belästigendem Mundgeruch
NSAID
Ibuprofen
Opioide
Fentanyl Methadon Morphin Oxycodon
führen. Daneben ist zu bedenken, dass Mundtrockenheit bei älteren Menschen auch ohne Tumorerkrankung ohnehin weit verbreitet ist (Sreebny u. Valdini 1987). Therapie Bei Mundtrockenheit als unerwünschter Medikamentenwirkung sollte ein Wechsel des verursachenden Präparates erwogen wer-
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Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
den. Ansonsten bilden allgemeine Maßnahmen wie Rehydratation und sorgfältige Mundhygiene die Basistherapie; unspezifische Maßnahmen wie lokale Anwendungen (z. B. häufiges Mundausspülen und Lutschen von Zitronensticks, Eiswürfeln, sauren Drops oder durch Kaugummikauen), ausreichende Trinkmenge sowie die Anwendung von künstlichem Speichel (z. B. Bots et al. 2005) kommen hinzu. Dabei haben kontrollierte klinische Studien ergeben, dass eine Stimulation der natürlichen Speichelsekretion – sofern überhaupt möglich – eine bessere Symptomkontrolle der Xerostomie ergibt, als die Anwendung künstlichen Speichels (z. B. Atkinson u. Fox 1993). Eine Stimulation der Speichelsekretion kann mit der Gabe von Parasympathomimetika versucht werden. Während z. B. Gorsky et al. (2004) durch die Gabe von Pilocarpin positive Einflüsse auf die Xerostomie nachweisen konnten, fanden Sangthawan et al. (2001) in einer randomisierten kontrollierten Studie bei Bestrahlungspatienten keine signifikante Verbesserung der Speichelsekretion. Zu beachten sind die oftmals limitierenden Nebenwirkungen von Pilocarpin wie Schwitzen, Flush, Harndrang, aber auch unerwünschte kardiale und pulmonale Effekte. Liegt eine Infektion der Mundschleimhaut vor, sollte diese durch lokale bzw. systemische Anwendung von Antibiotika bzw. Antimykotika behandelt werden. Darüber hinaus lassen sich bei Schmerzen in der Mundhöhle Lokalanästhetikalösungen topisch anwenden. Bei Patienten mit vorbestehenden Schluckstörungen und/oder eingeschränkter Bewusstseinslage ist bei der Anwendung solcher Lösungen im Bereich des Hypopharynx jedoch das durch Suppression der Schutzreflexe erhöhte Aspirationsrisiko zu berücksichtigen. Von größter Wichtigkeit bei Vorliegen einer Mundtrockenheit ist eine gezielte Edukation des Patienten zur Durchführung einer mehrmals täglichen Mundhygiene: In einigen plazebo-
. Abb. 31.6. Schema der Afferenzen und Efferenzen des Brechzentrums
kontrollierten Studien konnte eindeutig eine Besserung der Xerostomie durch diese Maßnahme belegt werden (z. B. Warde et al. 2000; Evidenzlevel IIa). 31.2.3 Übelkeit und Erbrechen
Übelkeit und Erbrechen sind bei Patienten in fortgeschrittenen Stadien einer Tumorerkrankung weit verbreitet und haben vielfältige Ursachen und Auslöser (Allan 1988). Bei der Mehrheit der Tumorpatienten findet sich zumeist mehr als eine Ursache; zu den allgemeinen Mechanismen treten einige spezifische Faktoren (z. B. zytostatikainduziertes Erbrechen) hinzu (z. B. Schröder u. Schütte 1996). Pathophysiologie Bei der Übelkeit kann es sich sowohl um ein Begleitsymptom als auch um ein Vorstadium des Erbrechens handeln (Huchzermeyer 1997). Wie in . Tab. 31.1 dokumentiert, tritt Übelkeit bei etwa 40% der Patienten mit fortgeschrittenem Tumorleiden auf, allerdings finden sich in der Literatur auch Häufigkeitsangaben bis zu 70% (Fainsinger et al. 1991). Beim Erbrechen kommt es zu einem komplexen Zusammenspiel diverser Areale im Hirnstamm, Area postrema, Nucleus tractus solitarius, Nucleus vestibularis etc. (Brunton 1995), und den oberen Abschnitten des Gastrointestinaltraktes. Als Verbindungen zwischen beiden Regionen fungieren der N. vagus mit 80–90% darin verlaufenden viszeralen Afferenzen und der Sympathikus mit etwa 40–50% darin verlaufenden viszeralen Afferenzen (z. B. Sengupta u. Gebhart 1994). Das enterische Nervensystem (lokalisiert im Plexus myentericus et submucosus) ist ein sehr diffuses System mit sehr unterschiedlichen Typen von
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635 31.2 · Gastrointestinale Symptome
Neuronen und mit derzeit mehr als 25 bekannten Neurotransmittern (McConalogue u. Furness 1994). Als chemische Übertragungssubstanzen im elektrophysiologischen Prozess der Auslösung bzw. Hemmung von Übelkeit und Erbrechen sind vorrangig Azetylcholin, Dopamin, Histamin und Serotonin beteiligt. Eine Übersicht der pathophysiologischen Zusammenhänge auf der afferenten Seite sowie der vom Brechzentrum induzierten Effekte findet sich in . Abb. 31.6. Diagnostik und Therapie Werden von einem Patienten die Symptome Übelkeit und/oder Erbrechen geklagt, so gilt es vor Einleiten einer gezielten Therapie mithilfe einer systematischen Anamnese und einer eingehenden klinischen Untersuchung eventuell unter Einbeziehung von klinisch-chemischer Analytik (Elektrolyte, Harnstoff, Glukose, ionisiertes Kalzium und Albumin, ggf. auch Bestimmung von Digoxin- und Antikonvulsivaspiegel; Davis u. Walsh 2000) sowie mikrobiologischen, röntgenologischen, sonografischen und endoskopischen Untersuchungstechniken, die potenziellen Auslösemechanismen möglichst genau einzugrenzen. Auslöser, Intensitätsschwankungen über den Tag und Begleitsymptome sollten eruiert und dokumentiert werden. Danach gilt es, alle Befunde zusammenzufassen, zu gewichten und in einem umfassenden Therapiekonzept gezielt anzugehen. Generell sollte beachtet werden, dass Übelkeit und Erbrechen im Allgemeinen zwei differente Symptome darstellen. Zuallererst sollten die gesicherten oder vermuteten Ursachen dem Patienten und seinen Angehörigen erklärt werden; dies erhöht die Sicherheit der genannten Personen und damit zumeist auch die Compliance für weitere Therapiemaßnahmen. Unspezifische Reize (unangenehme Gerüche, Geschmacksstoffe etc.) sowie andere quälende Symptome, die ihrerseits Übelkeit hervorrufen können (z. B. Schwindel, Husten, Aszites, Hirndruck,
Hyperglykämie, Hyperkaliämie, Hyponatriämie, Mundsoor, Obstipation und Urämie) sollten – soweit es geht – ausgeschaltet bzw. adäquat therapiert werden. Auch durch Änderung der Essgewohnheiten (z. B. kleinere, dafür aber häufigere Mahlzeiten, »Wunschkost«, ruhige entspannte Atmosphäre beim Essen) lässt sich eventuell die Häufigkeit von Übelkeit und Erbrechen reduzieren. Zudem sollte die Medikation des Patienten gezielt hinsichtlich ihres emetogenen Potenzials untersucht werden, damit ggf. diesbezüglich problematische Substanzen durch verträglichere ersetzt werden können. Ebenso komplex wie das Ursachenspektrum ist auch die Liste der Medikamente zur Pharmakotherapie von Übelkeit und Erbrechen. Zwar steht in der Palliativmedizin die medikamentöse Behandlung an erster Stelle; trotzdem haben psychotherapeutische Techniken (vor allem verhaltenstherapeutische Interventionen) gerade bei antizipativem Erbrechen ihren Stellenwert (Morrow u. Dobkin 1988). Generell sollte versucht werden, Übelkeit und Erbrechen durch prophylaktische Maßnahmen zu vermeiden. Bestehen bereits entsprechende Beschwerden, sollte zu Beginn eine rektale oder parenterale Behandlung erfolgen, bis beide Symptome sistieren. Nach Stabilisierung der Situation kann dann üblicherweise für die weitere Therapie auf einen oralen Applikationsmodus übergegangen werden. In sehr hartnäckigen Fällen ist die Kombination mehrerer Medikamente mit unterschiedlichem Angriffspunkt angezeigt. Eine Zusammenstellung der Möglichkeiten für die medikamentöse Antiemesis findet sich in . Tab. 31.3 (mod. nach Bausewein 2000; Chesher u. Hall 1999; Huchzermeyer 1997, Jackson u. Tavernier 2003). Gelingt es, die Ursache für eine chronische Übelkeit oder rezidivierendes Erbrechen festzustellen und ein geeignetes Antiemetikum bzw. eine Substanzkombination zu finden, so lassen sich nach Befunden von Lichter (1993) ca. 90% der Betroffenen zufriedenstellend behandeln.
. Tab. 31.3. Präparate zur Antiemesis in der Palliativmedizin mit den substanzspezifischen Rezeptoraffinitätsprofilen; die unter Position 1–5 verzeichneten Präparate werden routinemäßig, die übrigen (Position 6–8) nur in Ausnahmefällen zur Antiemesis eingesetzt. Rezeptorsubtyp 1.
2.
3.
D1
D2
M2
H1
5HT1
5HT2
5HT3
5HT4
α1
μ
CB1
GABA
Wirkort
Scopolamin
o
o/+
+++
o/+
o
o
o
o
o
o
o
o
Brechzentrum (?)
Glykopyrollat
o
o/+
+
o/+
o
o
o
o
o
o
o
o
via Vestibulariskerne
Diphenhydramin
o
++
++
+++
o
o
o
o
o
o
o
o
Brechzentrum (?)
Dimenhydrinat
o
o/+
++
+++
o
o
o
o
o
o
o
o
via Vestibulariskerne
Granisetron
o
o
o
o
o
o
+++
o
o
o
o
o
CTZ
Ondansetron
o
o
o
o
+
o
+++
o
o
+
o
o
+ gastrointestinale
Tropisetron
o
o
o
o
o
o
+++
+
o
o
o
o
Submukosa
Anticholinergika
Antihistaminika
5HT3-Antagonisten
636
Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
. Tab. 31.3 (Fortsetzung) 4.
Neuroleptika Phenothiazine z. B. Chlorpromazin
o
+
+++
+
+
+
o
o
+
o
o
o
CTZ
Levomepromazin
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++
++
+++
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+++
o
o
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o
o
o
CTZ
atypische: z. B. Olanzapin
++
++
++
+++
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+++
++
o
o
o
o
o
CTZ
+
+++
o/+
o/+
o
+
o
o
+
o
o
o
CTZ
Metoclopramid
+
+++
o/+
o/+
o
o
++ (> 120 mg/die)
+/++
o
o
o
o
CTZ + Plexus myentericus
Domperidon
?
+++
o
?
o
o
++
?
o
o
o
o
Plexus myentericus
Diazepam
o
o
o
o
o
o
o
o
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o
o
++
Brechzentrum (?)
Midazolam
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o
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o
o
+++
via zentrale Dämpfung
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o
++
o
o
o
o
o
o
+/++
+++
o
Brechzentrum (?)
Dexamethason
o
o
o
o
o
o
o
o
o
o
o
o
Brechzentrum (?)
Prednisolon
o
o
o
o
o
o
o
o
o
o
o
o
+ CTZ (?)
Butyrophenone Haloperidol
31
5.
6.
7.
Prokinetika
Benzodiazepine
Cannabinoide z. B. Nabilon
8.
Kortikosteroide
+++ hohe Affinität; ++ mittelstarke Affinität; + geringe Affinität; o keine Affinität; ? keine Angaben CTZ Chemorezeptoren-Trigger-Zone
31.2.4 Obstipation
Dieser Begriff wird sowohl zur Beschreibung einer erschwerten Defäkation verwendet als auch zur Charakterisierung einer reduzierten Stuhlfrequenz; er basiert im Wesentlichen auf einem »subjektiven Eindruck« (Krammer et al. 2005). Es ist allerdings nicht einfach festzulegen, ab wann von einer Obstipation gesprochen werden kann, da zur Beurteilung auch die bisher übliche Stuhlfrequenz des betroffenen Patienten zu berücksichtigen ist. Diesen Aspekt sucht die nachfolgende Definition zu integrieren, derzufolge Obstipation als eine signifikante Reduktion der normalen Stuhlfrequenz des betroffenen Patienten aufgefasst wird. Wie bei anderen im Rahmen dieses Kapitels diskutierten Symptomen, handelt es sich bei der Obstipation
ebenfalls um ein multifaktorielles Phänomen (s. Übersicht »Faktoren, die an der Pathogenese einer Obstipation ursächlich beteiligt sein können«). Die Obstipation ist ein bei Tumorpatienten häufig anzutreffendes Symptom. Inzidenzangaben schwanken zwischen 33% und 51% (z. B. Conill et al. 1997; Donnelly u. Walsh 1995; Grond et al. 1994). Die zugrunde liegenden Pathomechanismen können sowohl tumor- als auch therapiebedingt sein, aber auch unabhängig von Tumorerkrankung oder Therapie auftreten. So findet sich die Obstipation auch in der Normalbevölkerung als häufige Störung, die mit einer reduzierten Lebenszufriedenheit einhergeht (Glia u. Lindberg 1997). In einer prospektiven Erhebung an 498 konsekutiven Hospizpatienten mit fortgeschrittener Tumorerkrankung konnte Sykes (1998) ermitteln, dass 87% derjenigen, die mit star-
637 31.2 · Gastrointestinale Symptome
Faktoren, die an der Pathogenese einer Obstipation ursächlich beteiligt sein können 4 Allgemeine Ursachen – Immobilität, Inaktivität – Muskelschwäche – Sedierung – Reflektorische bzw. psychogene Störungen – Andere Erkrankungen 4 Neurologische Faktoren – Diabetische Neuropathie – Hirntumoren – Rückenmarkaffektionen – Infiltration der Sakralnerven 4 Psychiatrische Faktoren – Verwirrtheit – Depression – Stupor – Debilität 4 Ernährungsbedingte Faktoren – Reduzierte Nahrungszufuhr – Mangel an Ballaststoffen – Obstipationsfördernde Nahrungsbestandteile – Dehydratation durch: zu geringe Flüssigkeitsaufnahme, Erbrechen, Fieber, Polyurie, Diuretika 4 Kolorektale Faktoren – Obstruktion – Tumormassen im kleinen Becken – Strahlenfibrose – Schmerzhafte anorektale Veränderungen, z. B. Analfissuren, Hämorrhoiden, perianale Abszesse 4 Funktionelle Transporthemmung – Ischämisch bedingt – Neurogen – Myogen – Medikamentös (vgl. Medikamente) – Metabolisch (vgl. Metabolische Faktoren) 4 Metabolische Faktoren – Diabetes – Leberfunktionsstörungen – Urämie – Hyperkalzämie – Hypokaliämie 4 Medikamente – Opioide – Anticholinerge Substanzen: Anticholinergika, Spasmolytika, Antidepressiva, Neuroleptika, Antazida – Antiemetika: HT3-Antagonisten – Chemotherapeutika: Vinka-Alkaloide – Diuretika – Andere: Eisen, chronischer Laxanzienabusus
ken Opioiden behandelt wurden, ein Laxans benötigten, verglichen mit 74% von Patienten unter Behandlung mit mittelstarken Opioiden und 64% von Patienten ohne Opioidmedikation. Aus diesen Daten folgert der Autor, dass Opioide lediglich für etwa 25% aller Obstipationen bei Tumorpatienten verantwortlich sind.
31
Pathophysiologie Das Gastrointestinum wird – neben einer modulierenden Innervation durch das ZNS über den N. vagus und den Sympathikus – auch durch ein intrinsisches Nervensystem (ENS, enterisches Nervensystem) versorgt, dessen Zellkörper in den Plexus myentericus et submucosus lokalisiert werden. Die Gesamtzahl der beteiligten Neurone wird auf bis zu 100 Mio. geschätzt (Wood 1987). Aufgabe des ENS ist die Steuerung einer geordneten motorischen Aktivität des Gastrointestinaltraktes. Wesentliche Teile des viszeroviszeralen Reflexbogens sind sensorische und motorische Neurone sowie Interneurone (Ekblad u. Bauer 2004), die miteinander kommunizieren und dabei einer Modulation ihrer Aktivität durch eine Vielzahl von Mediatoren wie Neurotransmittern, gastrointestinalen Hormonen bzw. Peptiden unterliegen (Gershon et al. 1993). Diese Mediatoren (s. Übersicht) können die Motilität des Magen-DarmTraktes über zwei differente Mechanismen beeinflussen: entweder direkt durch Modulation der cholinergen Innervation der glatten Muskulatur oder indirekt durch Modifikation der Aktivität von Interneuronen (Burks 1994).
Auswahl von Mediatoren im enteralen Nervensystem (ENS) 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Azetylcholin Adeninnukleotide (ATP, ADP, AMP) CGRP (»calcitonin gene related peptide«) Cholecystokinin Dynorphin Endorphin Galanin GIP (gastrointestinales inhibitorisches Peptid) GABA (γ-Aminobuttersäure) Motilin NPY (Neuropeptid Y) Neurotensin Noradrenalin Prostaglandine (PGI2, PGF2α) Serotonin Somatostatin Stickstoffmonoxid (NO) Substanz P VIP (vasoaktives intestinales Polypeptid)
Die auftretenden Bewegungsmuster im Gastrointestinum sind zumeist komplexer Natur. Von essenzieller Bedeutung ist dabei die propulsive Peristaltik, die den Transport des Darminhaltes von oral nach aboral bewerkstelligt und von der Längsmuskulatur geleistet wird. Daneben kommen aber auch Kontraktionen der Ringmuskulatur vor, die wohl vorrangig der Durchmischung dienen. Als pathophysiologischer Mechanismus liegt bei Tumorpatienten vor allem eine reduzierte Aktivität der propulsiven Motorik mit Zunahme der segmentalen Pendelmotorik vor; hierbei handelt es sich um eine Konstellation, wie sie sowohl für die medikamenteninduzierte Obstipation als auch für die durch eine Peritonealkarzinose ausgelöste Hemmung der Peristaltik bis hin zur vollständigen Paralyse charakteristisch ist.
638
Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
Diagnostik Vor der Einleitung einer Therapie sollten eine gezielte Anamnese erhoben und eine körperliche Untersuchung durchgeführt werden. Folgende Punkte sind anamnestisch unbedingt abzuklären: 4 Ernährungsgewohnheiten, 4 Stuhlfrequenz und -konsistenz, 4 Begleitsymptome, 4 Einnahme von Laxanzien und anderen Medikamenten.
31
Bei der körperlichen Untersuchung ist während der Palpation auf tastbare Resistenzen und schmerzempfindliche Areale zu achten. Des weiteren sollte nach Darmgeräuschen auskultiert und wenn notwendig eine digitale rektale Untersuchung durchgeführt werden. Als Ergänzung kommen eine Abdomenübersichtsaufnahme (möglichst im Stehen, alternativ aber auch in Linksseitenlage) und eine Sonografie des Abdomens in Frage. Zum Ausschluss metabolischer Ursachen kann eine klinisch-chemische Analyse des Elektrolytstatus indiziert sein. Therapie Therapeutisch bietet sich bei Vorliegen einer Obstipation als erste Maßnahme eine dietätische Umstellung an. Dabei sollte jedoch nur vorsichtig mit einer Steigerung des Faseranteils in der Nahrung begonnen werden, denn wenn keine weitere Verstärkung der Obstipation resultieren soll, müssen die Patienten animiert werden, ausreichend zu trinken. Beide Maßnahmen führen aber nicht zwingend zu einer Besserung der Stuhlfrequenz (Krammer et al. 2005). Zudem bereitet eine der Ernährung angemessene Flüssigkeitsaufnahme gerade bei älteren Menschen oft erhebliche Probleme (Evans et al. 1998). Am besten geeignet sind Fruchtsäfte, die eine leicht laxierende Wirkung haben. Käse und Milchprodukte sind für diesen Zweck nach Möglichkeit zu meiden, da sie einen die Obstipation verstärkenden Effekt zeigen. Neben diesen allgemeinen diätetischen Maßnahmen und dem Versuch einer Steigerung der körperlichen Aktivität im Rahmen der dem Tumorpatienten verbleibenden Möglichkeiten, stützt sich die Therapie der Obstipation vor allem auf den Einsatz von Laxanzien. Eine Einteilung der verfügbaren laxierenden Substanzen findet sich in der folgenden Übersicht (Krammer et al. 2005); ggf. können auch unterschiedliche Wirkstoffe mit differenten Wirkprinzipien kombiniert werden: 1. Bindung von Wasser an schwer resorbierbare Substanzen, 2. Hemmung der Wasser- und Elektrolytresorption aus dem Darmlumen, 3. Steigerung der Flüssigkeitssekretion in das Darmlumen, 4. Steigerung der propulsiven Motorik in den unteren Darmabschnitten. Als weitere Möglichkeit zur Beseitigung von hartnäckigen Verstopfungen bieten sich Einläufe an; notfalls muss der Enddarm auch manuell ausgeräumt werden. Wegen der sowohl psychischen als auch physischen Belastung sollten die letztgenannten Interventionen nur nach sorgfältiger Abwägung und Ausschöpfung alternativer pharmakologischer Maßnahmen eingesetzt werden.
Klassifikation der Laxanzien 4 4 4 4
4
4
4 4 4 4
Faserstoffe: Methylzellulose, Ballaststoffe Gleitmittel: Paraffin Antracene: Senna Osmotische Laxanzien – Mineralsalze: Mg-Sulfat, Mg-Hydroxid, Na-Sulfat, Na-Phosphat – Nichtresorbierbare Zucker: Laktulose – Alkohole: Glyzerin, Macrogol, Mannitol, Sorbitol, Polyäthylenglykol Kontaktlaxanzien – Rizinusöl (für die Behandlung von Tumorpatienten nicht empfohlen) – Docusat – Na-Picosulfat – Bisacodyl – Phenolphtalein (in Deutschland kein Monopräparat verfügbar) Opioidantagonisten – Naloxon (Off-Label Use) – Naltrexon (Off-Label Use) – Methylnaltrexon Kontrastmittel: z. B. Megluminamidotrizoat (Off-Label Use) Prokinetika Prostaglandine: Misoprostol (Off-Label Use) Serotoninagonisten
Bei der Behandlung von Tumorschmerzpatienten mit Opioiden ist regelhaft von der Entwicklung einer Obstipation auszugehen; deshalb ist parallel mit dem Beginn einer solchen Therapie auch eine entsprechende Obstipationsprophylaxe durch Laxanziengabe einzuleiten. Hierbei hat sich als Therapie der ersten Wahl die Gabe von Polyäthylenglykol bewährt, da es im Gegensatz zur Anwendung von nicht resorbierbaren Zuckern und Alkoholen seltener zur Entwicklung von Meteorismus und nachfolgenden Schmerzen kommt (Attar et al. 1999, Evidenzlevel IIb). Außerdem scheint Polyäthylenglykol die Kolontransitzeit stärker zu verkürzen als resorbierbare Zucker und Alkohole (Fritz et al. 2005). Bei einem nicht ausreichenden Effekt einer Monotherapie sollte eine Kombination aus einem osmotischen und einem Kontaktlaxans versucht werden. Ist durch die Kombination der vorgestellten Substanzen keine ausreichende Darmtätigkeit zu erzielen, sind auch in diesem Kontext Suppositorien und Einläufe indiziert, speziell bei rektal impaktierten Stuhlmassen. Hier sollte jedoch bedacht werden, dass rektale Abführmaßnahmen von vielen Patienten als entwürdigend oder zumindest als peinlich erlebt werden. Bei gegebener Indikation für ein derartiges Vorgehen sollte dieses deshalb dem Patienten erläutert und sein ausdrückliches Einverständnis erwirkt werden. Eine bisher wenig genutzte Therapieoption für die opioidinduzierte Obstipation stellt die orale Verabreichung von reinen μ-Antagonisten dar (z. B. Yuan 2004). In tierexperimentellen Arbeiten konnten Jurna et al. (1992) den obstipationsreduzierenden Effekt von oralem Naloxon bei Aufrechterhaltung bzw. nur geringgradiger Reduktion der Analgesie nachweisen. In einer ersten klinischen Studie an drei Opioidabhängigen fanden Culpepper-Morgan et al. (1992), dass durch die orale Gabe von Nalo-
639 31.2 · Gastrointestinale Symptome
xon eine dosisabhängige, laxierende Wirkung zu erzielen war. Die Autoren konnten allerdings keine Beziehung zwischen den Naloxon-Plasmaspiegeln und dem Auftreten von Entzugssymptomen herstellen; wohl aber korrelierten die Maxima der Konzentrations-Zeit-Kurven und das Dosierungsintervall. Sobald dieses 3 Stunden unterschritt, kam es dosisabhängig zu Entzugserscheinungen. Culpepper-Morgan et al. (1992) empfehlen deshalb, ein Dosierungsintervall von mindestens 6 h einzuhalten, bei sukzessiver Titration bis zu einer Maximaldosis von 12 mg Naloxon je Einzeldosis (Evidenzlevel V). Sykes (1996) empfiehlt, initial nicht mehr als 5 mg Naloxon als Einzeldosis zu verwenden. In der sich anschließenden Titrationsphase kann seiner Meinung nach die Dosis dann entsprechend der Wirkung gesteigert bzw. reduziert werden. Für die von ihm behandelten Patienten (Morphindosierung 40–600 mg/die) benötigte der Autor zwischen 1 mg und 20 mg Naloxon 4- bis 6-stündlich, um einen ausreichenden laxierenden Effekt zu erzielen (Evidenzlevel V). Auch von anderen Autoren (Latasch et al. 1997) wurden die zu verabreichenden Naloxonmengen an der aktuell verordneten Morphindosierung orientiert. Die publizierten Empfehlungen reichen von 0,5% bis zu 60% der täglichen Morphinmenge. Nach oraler Gabe von Naloxon entfaltet sich in der Regel der laxierende Effekt innerhalb von 1–4 h; dabei stellten die Autoren eine Abnahme der Analgesie um 10–15% fest; diese Reduktion konnte durch eine entsprechende Erhöhung der Morphindosis weitgehend ausgeglichen werden, ohne dass der laxierende Effekt verloren ging. Latasch et al. (1997) konnten bei 3 ihrer 15 Patienten durch Naloxon keine Verbesserung des Stuhlgangs erreichen; bei diesen Personen lag allerdings auch keine opioidinduzierte Obstipation vor. Dieser Befund deckt sich mit Erkenntnissen von Sanger u. Wardle (1994), die im Tierexperiment keinen intrinsischen laxierenden Effekt von Naloxon nachweisen konnten. Als weitere Opioidantagonisten zur Therapie einer opioidinduzierten Obstipation wurden Naltrexon und vor allem Methylnaltrexon beschrieben (z. B. Yuan 2004). Da Methylnaltrexon aufgrund seiner Struktur mit einem geladenen quarternären Ammoniumrest nicht in der Lage ist, die Blut-Hirn-Schranke zu durchdringen und folglich auch kein zentrales Opioidentzugssyndrom auslösen kann, erscheint speziell dieser reine Antagonist für die Indikation »opioidinduzierte Obstipation« geeignet. Die Arbeitsgruppe von Yuan und Foss hat Untersuchungen zu Sicherheit und Effektivität dieses Therapieansatzes vorgelegt (z. B. Yuan u. Foss 2000; Evidenzlevel IIb). Methylnaltrexon ist in Deutschland seit 2008 zugelassen. Mit den vorgestellten Methoden sollte bei antizipierendem, ggf. auch kombiniertem Einsatz eine Obstipation bei Patienten mit fortgeschrittenem Tumorleiden und entsprechender Pharmakotherapie in der Regel zufriedenstellend behandelt werden können. In den Einzelfällen, bei denen auch durch eine enterale Drei- bzw. Vierfachkombination unterschiedlich angreifender Laxanzien keine ausreichende Linderung der Obstipation zu erzielen ist, stellt die Anwendung cholinerg wirkender Pharmaka (Carbachol, Ceruletid oder Cholinesterasehemmstoffe, z. B. Neostigmin) eine weitere Option dar. Die genannten Substanzen sollten allerdings als Ultima Ratio betrachtet werden, die verteilt über mehrere Stunden per infusionem unter entsprechender Überwachung zu verabreichen sind, da ansonsten für den Patienten unangenehme und belastende Symptome (speziell abdominale Krämpfe) auftreten können.
31
31.2.5 Intestinale Obstruktion
Darmverschlüsse stellen ein häufiges und für Patienten mit intraabdominalen Tumoren sehr belastendes Ereignis dar; solche intestinalen Obstruktionen treten aber auch bei extraabdominalen Tumoren auf. Angaben zur Inzidenz schwanken je nach Tumorart, -lokalisation und -stadium zwischen 2,5 und 42% (z. B. Fainsinger et al. 1994; Lund et al. 1989; Ripamonti 1994a). Pathophysiologie Die intestinale Obstruktion wird vorrangig durch zwei Mechanismen ausgelöst: 4 Mechanische Verlegung der Darmpassage: 5 Verschluss des Lumens von außen durch Tumor, Adhäsionen oder Strahlenfibrose, 5 intraluminärer Verschluss durch polypöse Veränderungen oder annuläres Tumorwachstum, 5 intramuraler Verschluss durch die intestinale Linitis plastica; 4 Verlust bzw. Einschränkung der propulsiven Motorik: 5 Infiltration der Mesenterialwurzel mit Beeinträchtigung der Perfusion, 5 Infiltration des efferenten Nervensystems, z. B. des Plexus coeliacus (Addison 1983), 5 Medikamentenwirkung (insbesondere durch Opioide, Antidepressiva etc.), 5 paraneoplastische Neuropathie (Schuffler et al. 1983). Ripamonti et al. (2001) konnten in einer systematischen Übersichtsarbeit zeigen, dass intestinale Obstruktionen in den untersuchten Studienpopulationen von Patientinnen mit Ovarialkarzinomen bei 5–42% der Betroffenen auftreten, verglichen mit einer Inzidenz von 4–24% bei Patienten mit fortgeschrittenen kolorektalen Tumoren. Dabei können die intestinalen Obstruktionen als partielle oder als komplette Verschlüsse und an einzelnen oder multiplen Lokalisationen auftreten. Intestinale Obstruktionen kommen häufiger am Dünndarm (61%) als am Dickdarm (33%) vor; bei mehr als 20% der Patienten sind beide Darmabschnitte betroffen. In der überwiegenden Zahl der Fälle entwickelt sich der Darmverschluss allmählich und wird von weiteren Symptomen begleitet (z. B. Ventafridda et al. 1990): 4 Dauerschmerz (in 92%), 4 kolikartige Schmerzen (in 72–76%), 4 Übelkeit und Erbrechen (in 68–100%). Das Auftreten dieser Symptome stellt ein Frühzeichen gastraler, duodenaler und anderer Dünndarmstenosen dar bzw. ein Spätzeichen bei Dickdarmverschlüssen. Besteht eine vollständige Verlegung der intestinalen Passage, tritt neben den oben genannten Symptomen (in ca. 13%) auch noch eine Obstipation auf. Gelegentlich (in ca. 34%) kommt es aber auch zu Durchfällen, die dann als »Überlaufphänomen« gedeutet werden müssen (Ripamonti 1994a). Mulcahy u. O’Donoghue (1997) untersuchten die Beziehung zwischen der Auftretenscharakteristik dieser Symptome und der Überlebenszeit. Bei plötzlichem Auftreten der Symptome in fortgeschrittenen Tumorstadien erwies sich die Prognose für die Patienten eher als schlecht; demgegenüber zeigten Patienten mit einer langsamen Entwicklung der Symptomatik in der Regel eine deutlich längere Überlebenszeit.
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31
Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
Therapie Die optimale Behandlung der intestinalen Obstruktion bei Patienten mit fortgeschrittenem Tumorleiden wird kontrovers diskutiert. Während manche Autoren in der chirurgischen Therapie die bessere Alternative sehen (z. B. Turnbull et al. 1989), konnten andere Arbeitsgruppen mit einer konservativen Behandlung gleich gute Überlebensraten erzielen (z. B. Lund et al. 1989). In einer retrospektiven Auswertung von 47 Patientinnen mit Ovarialkarzinom konnten Mangili et al. (2005) eine vergleichbare Symptomkontrolle durch operative bzw. pharmakotherapeutische Interventionen erzielen. In Bezug auf die Überlebenszeit war allerdings die chirurgische Therapie (max. >400 Tage) der konservativen Behandlung (max. 100 Tage) hochsignifikant überlegen (p<0,001). Pameijer et al. (2005) fanden in einer retrospektiven Erhebung für beide Vorgehensweisen eine vergleichbare mediane Überlebenszeit von 3 Monaten. In ihrem Cochrane-Review kamen Feuer et al. (2000) zu keinen sicheren Schlussfolgerungen bezüglich dieser Therapiealternativen, da meist unklar blieb, mit welchen Instrumenten die Symptomreduktion in den einzelnen Studien bestimmt worden war. Auch eine Arbeitsgruppe der EAPC konnte sich diesbezüglich auf keine Empfehlung einigen (Ripamonti et al. 2001), weist aber zurecht darauf hin, dass bei Patienten im Finalstadium einer Tumorerkrankung bei Vorliegen eines Ileus nicht routinemäßig eine Operation durchgeführt werden sollte, insbesondere vor dem Hintergrund einer operativen Mortalität von 9–40% und bei Komplikationsraten von 9–90%. Beim Vergleich zwischen der konservativen und der operativen Therapie einer intestinalen Obstruktion berichten Woolfson et al. (1997), dass von 46 operierten Patienten 22% perioperativ verstarben, eine Rate, die auch von Rault et al. (2005) ermittelt wurde. Letztere Autoren konnten aber zeigen, dass das Alter der Patienten ein wesentlicher Faktor für die Mortalität war, denn bei den über 75-Jährigen verstarben etwa 44%. Die Bedeutung des Lebensalters wurde auch von Alvarez et al. (2005) bestätigt. Für die operative Behandlung der intestinalen Obstruktion werden sonst allgemein Erfolgsraten zwischen 68 und 80% angegeben (z. B. Chan u. Woodruff 1992; Miner et al. 2003). Von den entlassenen Patienten gaben 53% an, nach dem Eingriff eine gute bis exzellente Lebensqualität zu haben; die mittlere Überlebenszeit dieser Patienten betrug 7±6 Monate. Bei den konservativ Behandelten betrug die Hospitalmortalität 38% (6 von 16 Patienten); 37% berichteten nach der Entlassung über eine gute bis exzellente Lebensqualität; die mittlere Überlebenszeit dieser Gruppe betrug 13±9 Monate. Über deutlich kürzere Überlebenszeiten nach konservativer Behandlung einer intestinalen Obstruktion berichteten Chan u. Woodruff (1992). Deren Patienten hatten eine mittlere Überlebenszeit von 46 Tagen (Range: 6–709 Tage); eine Subpopulation von Patienten, die ausschließlich konservativ therapiert wurde, überlebte im Mittel 57 Tage (Range: 14–709 Tage). Die Patienten, die chirurgisch behandelt wurden, hatten eine mittlere Überlebenszeit von 62 Tagen (Range: 8–429 Tage). Wesentlich längere Überlebenszeiten ermittelten Rault et al. (2005), deren operierte Patienten eine mediane Überlebenszeit von 24 Monaten hatten; 47% der Patienten überlebten sogar länger als 5 Jahre. Bei speziellen Tumorentitäten (Ovarialkarzinom) zeigte der Vergleich von chirurgischer Intervention und systemischer Che-
motherapie in Bezug auf intestinale Obstruktionen ein nahezu vergleichbares symptomfreies Intervall von 5,1 bzw. 6,4 Monaten (Bryan et al. 2006). Über ein abgestuftes Vorgehen berichteten Arvieux et al. (2005). Sie prüften ein Protokoll mit eskalierenden Maßnahmen an 75 Patienten mit 80 Episoden intestinaler Obstruktion infolge einer Peritonealkarzinose. Als erste Stufe wurden über 5 Tage Kortikosteroide mit Antiemetika, Anticholinergika und Analgetika kombiniert. Trat hierunter keine Besserung der Symptomatik auf, wurde in der zweiten Stufe über 3 Tage mit Somatostatinanaloga therapiert. Sistierte die Symptomatik auch unter dieser Medikation nicht, wurde in der Stufe 3 eine Gastrostomie angelegt. Die mediane Überlebenszeit betrug 31 Tage; mit der Stufe 1 konnten 63% der Patienten gebessert werden, 14% zusätzlich mit Stufe 2. 13% der Patienten benötigten zur Beseitigung von Übelkeit und Erbrechen eine dauerhafte gastrointestinale Ableitung. Morbidität und Mortalität bei der operativen Therapie der intestinalen Obstruktion haben sich seit Jahrzehnten nicht verbessert, woraus die Arbeitsgruppe der EAPC schließt, dass zwischenzeitliche Innovationen hinsichtlich der chirurgischen Technik und der perioperativen Versorgung hier offenbar nicht wirksam werden konnten. Wird bei Vorliegen einer Ileussymptomatik vor dem Hintergrund, dass 6–50% aller Patienten mit einem Tumorleiden und intestinaler Obstruktion als inoperabel angesehen werden (Mangili et al. 2005), überhaupt ein operatives Vorgehen erwogen, sollten bei der Indikationsstellung die von Baines (1987) aufgestellten Kriterien berücksichtigt werden: 4 Einverständnis des Patienten mit dem operativen Vorgehen, 4 Obstruktion als Folge eines unilokulären Geschehens, 4 guter Allgemeinzustand des Patienten, 4 keine größeren intraabdominalen Tumormassen, 4 ausgeprägte Überblähung der Darmschlingen. Als Kriterium für die Wahl eines operativen Verfahrens bei Nachweis einer Peritonealkarzinose und eines begleitenden Ileus wurde von Higashi et al. (2003) das Vorliegen eines Aszites herangezogen. Lag dessen Flüssigkeitsmenge unter 100 ml, fand sich ein symptomfreies Intervall von 61 Tagen verglichen mit nur 9 Tagen bei einer Aszitesmenge von mehr als 100 ml. Als weitere Therapievariante haben sich in den zurückliegenden Jahren endoskopisch-interventionelle Techniken etabliert. Durch die Platzierung von Stents konnte ein offen-chirurgisches Vorgehen in mehr als 90% der Fälle vermieden werden, bei einer vergleichsweise niedrigen Rate an Komplikationen (22%) und einer vergleichsweise geringen Mortalität (3%; Spinelli u. Mancini 2001; Evidenzlevel III). Die angegebenen Erfolgsraten liegen meist bei 80–90% (z. B. Bertelsen et al. 2006), mit Langzeitergebnissen von im Mittel 5,3 Monaten (Range: 5–15 Monate). Bei Patienten mit weit fortgeschrittenem Tumorleiden scheidet die operative Sanierung oftmals aus (z. B. Chan u. Woodruff 1992); hier ist als erste Wahl die Indikation zur konservativen Therapie gegeben. Mystakidou et al. (2002) konnten bei Vorliegen eines Ileus zeigen, dass eine medikamentöse Behandlung die Begleitsymptome dieser Passagestörung, wie z. B. Übelkeit, Erbrechen, Fatigue und Anorexie effektiv kontrollieren kann. Für diesen Zweck werden unterschiedliche Einzelsubstanzen und Kombinationen derselben eingesetzt:
641 31.2 · Gastrointestinale Symptome
Pharmakotherapeutische Interventionen bei intestinaler Obstruktion (alle Medikamente sollten möglichst kontinuierlich appliziert werden) 4 Anticholinergika: zur Herabsetzung der gastrointestinalen Sekretion, z. B. Hyoscine Butylbromid 40–120 mg/ die oder N-Butylscopolamin 40–120 mg/die. Die genannten Substanzen können subkutan oder intravenös verabreicht werden. 4 Antiemetika: zur symptomatischen Behandlung von Übelkeit und Erbrechen; dabei werden vor allem zentralwirksame Antiemetika eingesetzt. Über den Stellenwert der Prokinetika (. Tab. 31.3) besteht keine Einigkeit, da sie wegen ihres peristaltikfördernden Effekts prinzipiell kolikartige Schmerzen auch verstärken können. Es werden empfohlen: – Haloperidol 5–20 mg/die s. c. oder i. v. bzw. – Metoclopramid 60–240 mg/die s. c. oder i. v. Sollten sich unter der Applikation von Metoclopramid die kolikartigen Schmerzen verstärken bzw. sollten diese neu auftreten, so ist die Gabe dieser Substanz sofort abzubrechen (z. B. Fainsinger et al. 1994). 4 Kortikosteroide: Unsicherheit bzgl. Effektivität, NW, Dosis und Applikationsart; NNT 6; am ehesten in Frage kommt die i.v. Gabe von 6–16 mg/die Dexamethason (Feuer u. Broadley 2000). NW: Candidose, Myopathie (Hardy et al. 2001). 4 Opioide: zur Schmerzkontrolle Einsatz von Opioiden der WHO-Stufe 3. Neben der medikamentösen Schmerztherapie wird ggf. auch die Durchführung einer Plexus-coeliacus-Neurolyse (Ripamonti 1994b; Evidenzlevel IIb) empfohlen. 4 Octreotid: Somatostatinanalogon, das sich in der konservativen Behandlung der intestinalen Obstruktion bewährt hat; es bewirkt eine »Ruhigstellung« des Darms und eine ausgeprägte Sekretionshemmung. Die empfohlenen Dosierungen liegen zwischen 0,2 und 0,9 mg/ die (Kosten!). Die Applikation erfolgt subkutan oder intravenös, am besten kontinuierlich (z. B. Mangili et al. 1996). Über die Anwendung einer Depotpräparation liegt der Bericht einer Pilotstudie vor (Matulonis et al. 2005).
Diese pharmakotherapeutischen Interventionen sind eventuell durch Drainageverfahren zu ergänzen. Dabei sollte eine transnasale Magensonde nur kurzfristig als überbrückende Maßnahme verwendet werden, da sie die Lebensqualität des Patienten negativ beeinflusst; für eine längerfristige Ableitung ist eine Sonde besser geeignet, die mittels perkutaner endoskopischer Gastrostomie (PEG) gelegt wird (Watson et al. 1997). Die Effektivität der PEG-Sonde untersuchten Cannizzaro et al. (1995) an 22 Frauen mit intestinaler Obstruktion. Die Platzierung der Drainage gelang bei 21 Frauen, die danach in Bezug auf die Symptome Übelkeit und Erbrechen alle eine Besserung zeigten; bei 20 der Patientinnen kam es konsekutiv auch zu einer Besserung der abdominalen Schmerzen (Cannizzaro et al. 1995). Eine solche Ableitung sollte daher immer dann erwogen werden, wenn eine operative oder interventionelle Revision nicht in Frage kommt und die medikamentöse Behandlung allein zu keiner ausreichenden Besserung der Symptomatik führt.
31
Feuer u. Shepherd (2002) weisen allerdings darauf hin, dass es sich bei Obstruktionen im Gastrointestinum um dynamische Phänomene handelt, die sich – unabhängig von einer durchgeführten Therapie – in kurzer Zeit bessern oder verschlechtern können. Da anhand der vorgestellten Studienresultate keine objektive Entscheidung darüber getroffen werden kann, welche Maßnahmen zur Therapie einer intestinalen Obstruktion am besten geeignet sind und zudem nicht immer eine mechanische Ursache für die Behinderung der Passage verantwortlich ist bzw. eindeutig identifiziert werden kann, sollte stets ein erfahrener Chirurg bzw. Endoskopiker in die Entscheidungsfindung einbezogen werden, die stets individuell an den Wünschen des Patienten und an seinem Allgemeinzustand orientiert getroffen werden sollte. 31.2.6 Aszites
Die Bildung von Aszites im Rahmen einer Tumorerkrankung ist zumeist Ergebnis von hepatischen oder peritonealen Metastasen; etwa 10% aller Fälle von Aszites sollen durch maligne Tumoren bedingt sein (Hartenstein et al. 1997). Das Auftreten einer Flüssigkeitsansammlung innerhalb des Peritoneums gilt als negatives prognostisches Zeichen mit einer mittleren Überlebenszeit von bis zu 20 Wochen (Loughlin 1997). Bei den folgenden Karzinomlokalisationen tritt Aszites gehäuft auf: 4 Kolon, 4 Pankreas, 4 Magen, 4 Ovarien, 4 Uterus. Pathophysiologie Als auslösender Mechanismus für die Aszitesbildung wird eine Kombination von lymphatischer Abflussstörung und gesteigerter Sekretion des Peritoneums angesehen (Coates et al. 1973); daneben ist wohl auch eine Erhöhung des Druckes im Portalkreislauf sowie eine reduzierte Albuminsynthese an der Genese des Aszites beteiligt. Tierexperimentell konnte zudem die Beteiligung des »vascular permeabilty factor« (VPF; synonym: VEGF, »vascular endothelial growth factor«) belegt werden (z. B. Rudlowski et al. 2006). Die Aszitesbildung ist im Rahmen von Tumoren des intraabdominalen Raumes im Allgemeinen ein spät auftretendes Symptom; bei Ovarialkarzinomen hingegen kann das Auftreten von Aszites zu den ersten Zeichen zählen. Nach Bain (1998) lassen sich die zur Aszitesbildung führenden Mechanismen folgendermaßen einteilen: 4 zentrale Form (Inzidenz ca. 15%): Leberinfiltration mit portaler Hypertension und Behinderung des Lymphabflusses, 4 periphere Form (Inzidenz ca. 50%): Blockade des Lymphabflusses durch Peritonealkarzinose, erhöhte Gefäßpermeabilität (durch z. B. VPF), 4 Mischform (Inzidenz ca. 15%): beide zuvor genannten Mechanismen vorhanden, 4 chylöse Form (Inzidenz ca. 20%): Blockade des retroperitonealen Lymphabflusses durch Tumorinvasion mit Drainage der Lymphe in die Bauchhöhle. Krankheitswert gewinnt die Aszitesbildung vor allem dadurch, dass es zur Auslösung von Übelkeit, frühem Sättigungsgefühl
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Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
mit nachfolgender Anorexie und Einschränkungen der Atmung, aber auch zur Ödembildung in den unteren Extremitäten kommen kann. Dabei konnten Gotlieb et al. (1998) zeigen, dass der Schweregrad der Symptome mit dem resultierenden intraperitonealen Druck, nicht aber mit dem Aszitesvolumen korrelierte.
31
Diagnostik Im Vordergrund der Diagnostik steht die körperliche Untersuchung mittels Palpation, in der Regel ergänzt durch eine Sonografie des Abdomens. Sonografisch sind bereits Flüssigkeitsmengen von 50–100 ml zu detektieren. Bei Nachweis einer Flüssigkeitsansammlung ist eine diagnostische Parazentese indiziert. Die dabei gewonnene Flüssigkeit sollte biochemisch (z. B. auf Proteingehalt), mikrobiologisch und zytologisch untersucht werden. Differenzialdiagnostisch sind voneinander abzugrenzen: 4 maligner Aszites, 4 Aszites infolge portaler Hypertension nichtmaligner Genese, 4 Aszites als Folge eines Proteinmangelzustandes, 4 entzündlich bedingter Aszites, z. B. durch bakterielle Peritonitis oder Pankreatitis. Therapie In Frühstadien sollte vor allem die Behandlung der Grunderkrankung versucht werden. Bei Patienten in weit fortgeschrittenen bzw. terminalen Stadien ihrer Erkrankung liegt der Schwerpunkt der Aszitesbehandlung auf einer symptomatischen Linderung der Begleitsymptome. Die Therapieoptionen lassen sich gliedern in: 4 konservative Maßnahmen, 4 pharmakologische Interventionen, 4 invasive Methoden. Bei den konservativen Maßnahmen kommen hauptsächlich Bettruhe und Kochsalzrestriktion in Betracht. Pharmakologisch lassen sich diese Interventionen durch den Einsatz von Spironolacton (initial 50–100 mg/die, nach 5–7 Tagen zu steigern auf maximal 400 mg/die; Kaye 1989) und Schleifendiuretika (Furosemid in einer Dosierung von 40–120 mg/die) weiter potenzieren, mit dem Ziel einer Ausschwemmung des Aszites von ca. 300–500 ml/die. Der Effekt dieses Vorgehens ist für Patienten mit Leberzirrhose belegt (z. B. Ljubicic et al. 1998; Evidenzlevel III). Für die tumorbedingte Aszitesbildung sind randomisierte Studien nicht bekannt; aus Phase-II-Untersuchungen lässt sich aber eine Wirksamkeit bei etwa einem Drittel der Betroffenen ableiten (Smith u. Jayson 2003). Eine derartige Diuretikatherapie ist engmaschig zu überwachen, um eine sich evtl. entwickelnde Dehydratation frühzeitig zu erkennen und ggf. entsprechend behandeln zu können. Ähnlich wie bei Pleuraergüssen hat es bei Auftreten von Flüssigkeitsansammlungen intraperitoneal nicht an Versuchen gemangelt, durch Instillation von Pharmaka ein Sistieren der Aszitesbildung zu erreichen. Es liegen Fallberichte vor für die intraperitoneale Gabe von Phosphor-32-Chromophosphat (P-32 CP; Balink et al. 2003), Mitoxantron (Link et al. 2003) sowie Interferon (Khabele et al. 2003), mit denen sich länger anhaltende Unterbrechungsphasen der Aszitesbildung (bis zu 1 Jahr) erreichen ließen. Da wie beschrieben VPF an der Aszitesbildung beteiligt sein soll, konnte tierexperimentell mit der Applikation von monoklonalen VPF-Antikörpern bzw. mit Decoy-Technologien ein Sis-
tieren der Aszitesbildung erzielt werden (Hu et al. 2005); bei den Versuchstieren wurden keinerlei Nebenwirkungen der Therapie beobachtet, sodass sich hiermit in Zukunft eine weitere Option zur Behandlung maligner intraabdominaler Flüssigkeitsansammlungen bieten könnte. Sind konservative bzw. pharmakologische Therapieoption nicht bzw. nicht ausreichend wirksam oder hat der Patient nur noch eine kurze Lebenserwartung, so ist die Parazentese der abdominalen Flüssigkeitsansammlung derzeit die Therapie der Wahl. Die Durchführung einer solchen Punktion ist sowohl ambulant als auch stationär möglich. Als Punktionsorte bieten sich entweder die Region zwischen Umbilikus und Symphyse in der Mittellinie (soweit hier keine Operationsnarben vorhanden sind!) oder alternativ die vordere Axillarlinie im rechten bzw. linken Unterbauch an. Über die Quantität der Entlastung liegen sehr unterschiedliche Angaben vor. Während Cremer et al. (2000) empfehlen, lediglich um 2–3 l/die zu entlasten, schlägt Kaye (1989) vor, die ersten 4 l zügig und danach noch einmal 6 l mit einer Rate von 2 l/Stunde abzulassen. Der Nachteil der Parazentese liegt in der passageren Wirkung mit oftmals raschem »Nachlaufen« des Aszites und in der Gefahr des konsekutiven Auftretens einer Hypalbuminämie. Bei Patienten in gutem Allgemeinzustand und mit längerer Lebenserwartung besteht noch die Option einer operativen Shunt-Anlage (z. B. Denver- bzw. LeVeen-Shunt); allerdings muss bei einem Viertel der Patienten mit einem Verschluss des Shunt-Systems gerechnet werden (Smith u. Jayson 2003). In einer randomisierten Untersuchung an Patienten mit einer Leberzirrhose verglichen Lenaerts et al. (2005) den Effekt einer Parazentese mit dem einer pharmakologischen Intervention (Clonidin 150 μg/die + Spironolacton 200–400 mg/die). Sie kommen zu dem Schluss, dass die Entlastung zwar bei kurzfristig notwendigen Interventionen der pharmakologischen Therapie überlegen ist, langfristig jedoch mit der medikamentösen Behandlung bessere Resultate zu erzielen sind. Für die Palliativmedizin lässt sich daraus ableiten, dass eine Entscheidung stets individuell erfolgen sollte, orientiert an Allgemeinzustand und Prognose des Patienten.
31.3
Respiratorische Symptome
Respiratorische Störungen treten bei einer Vielzahl von Tumorerkrankungen auf; palliativmedizinisch relevante Symptome wie Dyspnoe, Husten und Hämoptysen sind aber speziell bei Patienten mit Bronchialkarzinom nachweisbar. Bei nichtkleinzelligen Lungentumoren (NSCLC) fanden sich die drei genannten Symptome in 87, 86 bzw. 41% der Fälle (Hollen et al. 1999). Respiratorische Störungen können sowohl durch den Tumor selbst als auch durch gegen den Tumor gerichtete therapeutische Interventionen ausgelöst werden oder durch andere, von der Tumorerkrankung unabhängige Faktoren. Als morphologische Strukturen, die an der Pathogenese respiratorischer Symptome beteiligt sein können, sind zu nennen: die Atemwege, die Pulmonalgefäße, das Lungenparenchym und die Grenzen zwischen Viszera und Pleura. Eine Parallele der respiratorischen Störungen zum Symptom Schmerz ist die oftmals begleitende psychische Komponente, die bei Dyspnoe und Hämoptysen besonders imponiert. Aus diesem Grund sollte die Therapie respiratorischer Symptome immer als
643 31.3 · Respiratorische Symptome
ganzheitlicher Behandlungsansatz erfolgen, der die entsprechenden biopsychosozialen Faktoren berücksichtigt. 31.3.1 Dyspnoe
Bei der Dyspnoe handelt es sich laut einer Definition der American Thoracic Society um: »a subjective experience of breathing discomfort that consists of qualitatively distinct sensations that vary in intensity. The experience derives from interaction among multiple physiological, psychological, social, and environmental factors, and may induce secondary physiological and behavioral responses« (American Thoracic Society 1999). Kurzatmigkeit bzw. eine mit subjektiver Atemnot einhergehende Erschwerung der Atemtätigkeit ist zumeist multikausaler Natur (z. B. Kouroukis u. Hings 1997). Prävalenzangaben in der Literatur schwanken in weiten Grenzen zwischen 21–87% (z. B. Bundesministerium für Gesundheit 1997; Conill et al. 1997; Dudgeon et al. 2001; Farncombe 1997; Smith et al. 2001). Dudgeon et al. (2001) zeigten, dass zwar 46% der von ihnen untersuchten Tumorpatienten über Atemnot klagten, jedoch nur 4% der Betroffenen einen Lungentumor hatten und lediglich 5,4% Lungenmetastasen aufwiesen. Als wesentliche Risikofaktoren für das Auftreten einer Dyspnoe fand diese Autorengruppe eine positive Raucheranamnese, Asthmaerkrankung, COPD, Bestrahlung der Lunge und eine prämorbide Belastung durch längerfristige Exposition mit beispielsweise Asbest-, Kohlen- oder Mehlstaub. In einer früheren Studie hatte die gleiche Arbeitsgruppe bereits eine positive Raucheranamnese, einen erhöhten pCO2 und das Bestehen von Angstzuständen als wesentliche Risikofaktoren für eine Dsypnoe ermittelt; in der damals untersuchten Studienpopulation litten allerdings 49% der Patienten an einem Lungenkarzinom (Dudgeon u. Lertzman 1998). Diese Befunde deuten schon in die Richtung einer multidimensionalen Pathogenese der Dyspnoe, die auch als eine subjektive Empfindung mit biopsychosozialen Faktoren beschrieben wird (z. B. Corner u. O’Driscoll 1999); dies bedeutet, dass sowohl physiologische als auch psychische und soziale Anteile an der Entstehung und Aufrechterhaltung von Dyspnoe beteiligt sein können. Pathophysiologie Die pathophysiologischen Mechanismen, die zur Entstehung der Dyspnoe beitragen, sind bisher noch nicht eindeutig geklärt (z. B. Palange et al. 1995). Jedoch scheinen die wesentlichen Veränderungen bei der Dyspnoe mit folgenden Mechanismen korreliert zu sein: 4 erhöhter respiratorischer Bedarf, wie unter Belastung, 4 erhöhte ventilatorische Impedanz, bei Bronchokonstriktion und Pleuraerguss, 4 pathologische Veränderungen an der respiratorischen Muskulatur (LeGrand 2002). Speziell eine reduzierte Kraftentwicklung in der respiratorischen Muskulatur (auch als »Fatigue« bezeichnet) soll direkt oder indirekt zu der Empfindung von Dyspnoe führen; diese Konstellation konnte von Bruera et al. (2000) für Tumorpatienten in fortgeschrittenen Stadien sowie von Baydur et al. (2001) für Sarkoidosepatienten nachgewiesen werden. Über den Einfluss von Pleuraergüssen auf das Symptom Dyspnoe liegen zahlreiche Übersichten vor (z. B. Lee u. Light 2004).
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Unabhängig von den jeweiligen individuellen Ursachen soll die Dyspnoe stets mit folgenden Auffälligkeiten einhergehen (Ripamonti u. Bruera 1997): 4 vermehrte Anstrengung zur Gewährleistung der erforderlichen Atemarbeit (z. B. bei obstruktiver oder restriktiver Lungenerkrankung, Pleuraerguss), 4 Einsatz (Recruitment) zusätzlicher Muskelfasern, um die normale Atemarbeit zu leisten, sowie 4 Zunahme der Atemtätigkeit aufgrund von Abweichungen von den physiologischen Sollgrößen (Hypoxämie, Hyperkapnie, metabolische Azidose, Anämie etc.). Da beim Vorliegen einer Dyspnoe wiederholt über die lindernde Wirkung vernebelten Morphins berichtet wurde (z. B. Tanaka et al. 1999), hat es nicht an Vermutungen über die Bedeutung von Opioidrezeptoren im Kontext einer Atemnot gefehlt. Zebraski et al. (2000) berichteten über eine hohe Dichte von Opioidrezeptoren innerhalb des Respirationstraktes, wobei das Gros der Bindungsstellen innerhalb der Alveolarwand lokalisiert zu sein scheint und sich ein deutliches Gefälle der Rezeptordichte von zentral nach peripher findet. Der Nachweis solcher Bindungsstellen macht zwar die vielfach beschriebene lindernde Wirkung von aerosolischem Morphin plausibel, kann aber die eigentlichen pathophysiologischen Mechanismen der Dyspnoe bis dato auch nicht erklären. Neben den rein physiologischen Faktoren lassen sich auch andere Einflussgrößen isolieren, die einen modulierenden Effekt auf die subjektive Wahrnehmung der Kurzatmigkeit haben sollen, wie z. B. kultureller Hintergrund, Umwelteinflüsse, Lebenserfahrung oder psychischer Zustand (z. B. Tanaka et al. 2002). Corner u. O’Driscoll (1999) weisen auf die enge Beziehung hin, die bei Lungenkarzinompatienten zwischen dem Auftreten von Atemnot einerseits und der bewussten Wahrnehmung ihrer lebensbedrohlichen Erkrankung andererseits besteht. Die Autoren zitieren in diesem Zusammenhang Bailey, der ausführte: »breathlessness is not a symptom, a commodity, it is a lived experience«. Diagnostik Neben der allgemeinen Anamnese sollte bei Patienten mit Dyspnoe nach Rauchgewohnheiten, beruflicher Exposition, Medikamenteneinnahme und bereits erfolgter tumororientierter Behandlung gefragt werden. Die psychosozialen Konsequenzen sollten ebenfalls erfasst werden, speziell die Fragen: »Was bedeutet die Kurzatmigkeit für Sie?« und »Wie beeinflusst sie Ihr tägliches Leben?« (Thomas u. von Gunten 2003). Mahler et al. (1987) ermittelten bei Patienten mit obstruktiver Lungenerkrankung eine gute Korrelation zwischen der subjektiv wahrgenommenen Atemnot und durchgeführten Lungenfunktionstests. Dieser Zusammenhang wurde von anderen Untersuchern allerdings nicht bestätigt (z. B. Burdon et al. 1994). Unter 120 ambulanten Patienten mit Lungentumoren (Stadium I–IV) fanden Smith et al. (2001) bei 87% Dyspnoe in unterschiedlichen Graden, wobei höhergradige Beschwerden mit einer signifikant reduzierten Lebensqualität einhergingen. Ähnlich wie bei der Quantifizierung des Schmerzes, werden auch für die Intensitätsmessung der Dyspnoe unidimensionale Schätzskalen wie z. B. die VAS (Aitken 1969) verwendet. Diese Dyspnoe-VAS ist inzwischen sowohl für Normalpersonen als auch für Patienten mit Atemwegs- bzw. Tumorerkrankungen validiert und die Kurzzeitreproduzierbarkeit des Instruments
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Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
nachgewiesen (z. B. Adams et al. 1985), nicht jedoch die Reproduzierbarkeit über längere Zeiträume (z. B. Mador u. Kufel 1992). Im englischen Sprachraum wird das Instrument auch für Studienzwecke eingesetzt (z. B. Adams et al. 1985). Neben der VAS werden zur Messung der Dyspnoe auch verbale Ratingskalen (VRS) verwendet (z. B. Lansing et al. 2003). Die VRS hat den Vorteil, dass sie aufgrund der geringen Zahl an Items (z. B. keine, leichte, mäßige, schwere, unerträgliche Dyspnoe) leichter zu verstehen ist und deshalb auch von älteren Menschen besser genutzt werden kann. Beide Skalen sind geeignet, die Effektivität einer Therapie bei bestehender Kurzatmigkeit zu beurteilen. Das Lebensqualitätsinventar (QLQ-C30) des European Oncology Research and Trial Committee erfasst mehrdimensional unterschiedliche Aspekte der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Für dieses Erhebungsinstrument gibt es auch ein spezielles Ergänzungsmodul für Patienten mit Lungentumoren (QLQLC13). Bei diesem Inventar zur Beurteilung der Kurzatmigkeit ist eine aus mehreren Items aggregierte Dyspnoeskala integriert, die sich als reliabel erwiesen hat (Bergman et al. 1994). Weitere mehrdimensionale Inventarien sind verfügbar; eine Übersicht findet sich bei Mancini u. Body (1999). Therapie Die Behandlung der Dyspnoe sollte nach folgenden Prinzipien erfolgen (Ahmedzai 1998): 4 Ursache ermitteln und – sofern möglich – beseitigen, ohne weitere Einschränkungen für den Patienten hervorzurufen. 4 Atemnot lindern, ohne neue belastende Symptome zu erzeugen. 4 Behandlung sollte nach Ansicht des Patienten und seiner Angehörigen lohnend sein. 4 Mögliche Behandlungsoptionen sollten mit dem Patienten und seinen Angehörigen besprochen werden, sodass sie eine auch aus ihrer Sicht akzeptable Entscheidung treffen können. Als optimale Therapie einer Dyspnoe gilt die Bekämpfung der auslösenden Mechanismen; hier gibt es drei differente Angriffspunkte: 4 Reduktion des ventilatorischen Bedarfs, 4 Verbesserung der Kontraktionskraft der respiratorischen Muskulatur, 4 Senkung der ventilatorischen Impedanz. Theoretisch kommen für die ersten beiden Interventionen Übungs- bzw. Trainingseinheiten in Frage, die die Leistungsfähigkeit der Atemmuskulatur steigern sollen. Einzelne Studien für derartige Therapieansätze bei Tumorpatienten (Corner et al. 1996) sowie bei Patienten mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (Harver et al. 1989) liegen zwar vor, jedoch konnte eine Metaanalyse im Hinblick auf eine Verbesserung der Kontraktionskraft keinen Benefit eines solchen Vorgehens bei Obstruktion zeigen (Smith et al. 1992). Bezüglich des dritten Ansatzpunktes wird vorrangig auf pharmakologische Interventionen (z. B. Anticholinergika, β2-Sympathomimetika) zurückgegriffen. Die kausalen Therapieansätze (. Tab. 31.4) ergeben sich aus den zugrunde liegenden Ursachen der Dyspnoe. Bei Obstruktion werden vor allem tumorreduzierende Verfahren (Morice et al. 2001), z. T. auch in Kombination mit kontinuitätserhaltenden bzw. -verbessernden Maßnahmen eingesetzt, wie z. B. Stenteinlagen (Dutau et al. 2004, Monnier et al. 1996). Wenn Ergussbildungen in Pleura oder Perikard symptomatisch werden, sind
. Tab. 31.4. Kausale Behandlungsmöglichkeiten der Dyspnoe Indikation
Therapieoptionen
Obstruktion
Endoskopische Laserresektion Stenteinlage via Endoskop Externe Strahlentherapie Endobrachytherapie Systemische Chemotherapie (bei entsprechend sensiblen Tumoren) Chirurgische Dekompression bei trachealer Einengung von außen
Ergussbildung
Drainage Sklerosierung
Metastasen Solitär
Operation, Kortikosteroide, Chemo-, Strahlentherapie (soweit sensibel!)
Multipel
Kortikosteroide, Chemotherapie (soweit sensibel!)
Lymphangitis
Kortikosteroide, Chemotherapie (soweit sensibel!)
Pneumonitis Bestrahlungsfolge
Kortikosteroide
Chemotherapieinduziert
Beendigung der Chemotherapie, Kortikosteroide
Pneumonie
Antibiose
Hämorrhagie
Behandlung der hämorrhagischen Diathese Strahlentherapie
Entlastungen (Punktion, Thoraxdrainage) angezeigt. Insbesondere die letztere Maßnahme kann eine erhebliche psychische Belastung darstellen. Von daher sollte die Indikationsstellung für diese invasive Behandlung kritisch hinsichtlich ihres Nutzens abgewogen werden. Dabei hat sich die Anlage eines flexiblen Pleurakatheters zur diskontinuierlichen Drainage perkutan bzw. über ein Port-a-Cath-System auch bei ambulanter Betreuung von Tumorpatienten mit rezidivierenden bzw. gekammerten Pleuraergüssen als praktikabel erwiesen (z. B. Tremblay u. Michaud 2006). Alternativ kann bei Wiederauftreten eines solchen Pleuraergusses die Indikation zur Durchführung einer Pleurodese (z. B. mit Talkum, Tetrazyklin, Bleomycin, Mitoxantron) gestellt werden (z. B. Turler et al. 1997). Die Erfolgsraten dieser Maßnahme zur Linderung einer Dyspnoe liegen zwischen 44 und 95% (z. B. Gasparri et al. 2006, Kvale et al. 2003), wobei antineoplastische Medikamente mit 44% die schlechteste Wirksamkeit zeigten, verglichen mit 75% für fibrosierende Substanzen und 95% für die Talkuminstillation. Diesen mehr spezifischen Behandlungsformen einer Dyspnoe stehen die ausschließlich symptomorientierten Therapieansätze gegenüber (s. Übersicht), wobei sich diese Behandlungsmöglichkeiten unterteilen lassen in allgemeine Maßnahmen
645 31.3 · Respiratorische Symptome
und ergänzende Pharmakotherapie. Kontrovers diskutiert wird die Gabe von Sauerstoff bei Kurzatmigkeit. Neben Befunden, die einen positiven Effekt der Sauerstoffgabe belegen (z. B. Bruera et al. 1992b), wurden auch Untersuchungen mit konträrem Resultat (Booth et al. 1996) publiziert. Beide zitierten Untersuchungen waren randomisiert und verblindet (jeweils Evidenzlevel IIb); eine abschließende Beurteilung ist bei derzeitiger Datenlage nicht möglich, wenngleich von zahlreichen Autoren die Sauerstoffgabe bei Dyspnoe empfohlen wird (z. B. Kvale et al. 2003). Von Roenn u. Paice (2005) geben eine differenziertere Indikationsempfehlung für Sauerstoff: In Fällen, bei denen eine Dyspnoe durch eine begleitende Hypoxie mitbedingt ist, empfehlen die Autoren die O2-Gabe, während sie diese bei Patienten, die nicht unter einer Hypoxie leiden, als ineffektiv bewerten.
Symptomatische Behandlungsmöglichkeiten der Dyspnoe 4 Allgemeine Maßnahmen – Lagerung des Patienten in einer für ihn angenehmen Position – Für ausreichende Frischluftzufuhr sorgen – O2-Gabe nur bei Patienten mit nachgewiesener Hypoxämie – Atemtechniken – Unterstützung beim Abhusten: Vernebeln von NaCl, Gabe von Mukolytika, Verordnung von Expektoranzien, Physiotherapie – Übermäßige Sekretion in den Luftwegen pharmakologisch unterdrücken – Entspannungsübungen – Ablenkung 4 Ergänzende medikamentöse Therapiemaßnahmen (auch . Tab. 31.5) – Bronchodilatatoren (Cave: Präparate können bei Auslösung von Tachykardien Atemnot verstärken!) – Opioide als Antitussiva – Mukolytika – Benzodiazepine zur Anxiolyse – Kortikosteroide – Vernebelung von Lokalanästhetika (Cave: wegen reduzierter Schutzreflexe Aspiration möglich, daher Nahrungskarenz!)
Ähnlich kontrovers wird auch der Einsatz bestimmter Pharmaka für diese Indikation beurteilt. Opioide und hier speziell Morphin werden von einigen Autoren wegen ihrer guten Wirksamkeit für die Behandlung der Kurzatmigkeit empfohlen (z. B. Cohen et al. 1991), während andere diese Substanzen wegen Unwirksamkeit für diese Indikation ablehnen (z. B. Smith et al. 2001). Mazzocato et al. (1999) konnten in einer randomisierten Untersuchung die Effektivität von Morphin bei der Dyspnoe belegen (Evidenzlevel IIb). Insgesamt ist die Datenlage zur »Besserung« einer Dyspnoe durch Opioide widersprüchlich; die Substanzgruppe wird dennoch oft für diese Indikation empfohlen (von Roenn u. Paice 2005). Allerdings gilt es, initial die respiratorischen Nebenwirkungen (Hypoventilation und Hyperkapnie) zu beachten und die Effektivität des Opioideinsatzes bei der Linderung der Dyspnoe engmaschig zu überprüfen; bei unzureichender Wirksamkeit sollten andere Therapieoptionen ergriffen werden.
31
Neben der Frage, ob Opioide überhaupt für die Indikation Dyspnoe verwendet werden sollten, gibt es auch Kontroversen über den geeigneten Applikationsmodus: oral, parenteral oder per inhalationem. Belegt ist eine Wirksamkeit sowohl für die orale Morphingabe (Boyd u. Kelly 1997) als auch für die Vernebelung (z. B. Zeppetella 1997), wenngleich die Bioverfügbarkeit bei beiden Applikationsformen mit 24 bzw. 5,5% gering ist (Masood u. Thomas 1996). Gerade die Vernebelung von Morphin wird nicht einheitlich bewertet: Während in Falldarstellungen und nicht kontrollierten Studien immer wieder über die erfolgreiche Anwendung berichtet wurde (z. B. Cohen u. Dawson 2002; Tanaka et al. 1999), konnten Polossa et al. (2002) in einer Metaanalyse lediglich eine randomisierte Studie mit geringer Power identifizieren, die allerdings keinen Effekt der Vernebelung auf eine Belastungsdyspnoe finden konnte (Evidenzlevel IIb). Neben Morphin liegen Fallberichte auch für den erfolgreichen Einsatz von vernebeltem Hydromorphon (Sarhill et al. 2000) und vernebeltem Fentanyl (Coyne et al. 2002) vor (Evidenzlevel V). Die Empfehlungen zur Dosierung der Opioide bei der Therapie von Dyspnoe orientieren sich an jenen, die für die Schmerztherapie allgemein gelten. So lange keine umfangreichen und randomisierten Studien die Effektivität der Opioidgabe bei Dyspnoe belegen, sollte deren Anwendung stets eine Nutzen-Risiko-Abwägung vorangehen, zumal bei anderen, nichtmalignen Erkrankungen (z. B. COPD) von der Anwendung vernebelter Opioide ausdrücklich abgeraten wird (Foral et al. 2004). Eine Zusammenstellung weiterer zur medikamentösen Therapie der Dyspnoe verwendeter Substanzen findet sich in . Tab. 31.5.
Für den Einsatz von Kortikosteroiden bei Dyspnoe gelten die folgenden Indikationen: 4 obstruktive Ventilationsstörung, 4 Stridor infolge trachealer oder bronchialer Einengung durch Tumorwachstum, 4 obere Einflussstauung, 4 Lymphangiosis carcinomatosa, 4 Pneumonitis z. B. infolge Strahlentherapie. Zusätzlich zur Gabe der in . Tab. 31.5 aufgeführten Medikamente gibt es auch die Möglichkeit zur Vernebelung von Lokalanästhetika (z. B. Hall 1989); bei dieser Darreichung besteht allerdings neben der Gefahr einer Auslösung von Bronchospasmen auch ein erhöhtes Aspirationsrisiko durch Ausfall der entsprechenden Schutzreflexe. Unter speziellen Umständen, z. B. bei starker Verschleimung, können auch Mukolytika indiziert sein. Allerdings kann es dadurch bei fehlendem Hustenstoß zu einer Verschlechterung der Dyspnoe und einer eventuell bestehenden Hypoxämie kommen. Sehr kontrovers wird auch der Einsatz von Cannabinoiden zur Bronchodilatation beurteilt (z. B. Ahmedzai 1998). Keine der genannten Substanzgruppen ist uneingeschränkt zu empfehlen (zumeist Evidenzlevel V); daher sollten die entsprechenden Präparate prinzipiell nur unter strenger Indikationsstellung und sorgfältiger engmaschiger Kontrolle des Effektes eingesetzt werden. Mithilfe eines Physiotherapeuten kann der Patient auch spezielle Atemtechniken erlernen, die ihm in Situationen gesteigerter Kurzatmigkeit helfen können, die Verschlechterung zu kupieren und mit der Situation verbundene Angstzustände zu überwinden (z. B. Corner et al. 1996). Auch psychologische Verfahren wie Verhaltenstherapie, Entspannungsübungen und Ablenkung
646
Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
. Tab. 31.5. Zusammenstellung gebräuchlicher Präparate zur Pharmakotherapie der Dyspnoe Pharmakon
Einzeldosis
Dosierungsintervall/Anwendungshinweise
p. o.
200–400 mg
8-stündliche Gabe; individuelle Dosistitration erforderlich!
i. v., s. c.
200–400 mg
Initialdosis: 3–6 mg/kg KG/die; Erhaltungsdosis: 10–20 mg/kg KG/die
p. o.
8 mg
12-stündliche Gabe
i. v., s. c.
250–500 μg
Die i. v.-Gabe sollte über 10–15 min erfolgen; 6- bis 8-stündliche Gabe
besser: Spray!
100–200 μg
6- bis 8-stündliche Gabe; maximal 6 Einzeldosen pro Tag
p. o.
10 mg
6- bis 8-stündliche Gabe
i. v., s. c.
250–500 μg
Die i. v.-Gabe sollte über 10–15 min erfolgen
besser: Spray!
20–40 μg
–
Codein p. o.
10–60 mg
4-stündliche Gabe
Morphin p. o.
initial 5–10 mg
4-stündliche Gabe; individuelle Dosistitration gegen Dyspnoe; über die Wirkung retardierter Präparate für diese Indikation liegen bisher keine Erfahrungen vor.
p. o.
initial 5 mg
8- bis 12-stündliche Gabe; individuelle Dosistitration gegen Dyspnoe
s. c.
7,5–15 mg
8- bis 12-stündliche Gabe
200–300 mg
6- bis 8-stündliche Gabe; auf ausreichende Flüssigkeitszufuhr achten! Cave: Patienten mit reduziertem Hustenstoß
2,5–10 mg
8- bis 12-stündliche Gabe
Spray
4–6 Aerosolstöße á 50 μg (= 200–300 μg)
12-stündliche Gabe; maximale Tagesdosis 1000 μg
Pulver (zum Inhalieren)
200–800 μg
12-stündliche Gabe; maximale Tagesdosis 2000 μg, zur Verwendung über spezielle Inhaler (z. B. Easyhaler oder Rotadisk)
Dexamethason p. o.
8–12 mg
(12-) 24-stündliche Gabe
Prednisolon p. o.
40–60 mg
(12-) 24-stündliche Gabe
initial 0,1–0,5 mg
12-stündliche Gabe/Steigerung der Einzeldosis auf 1–2 mg möglich. Marihuanaderivat mit anticholinerger Wirkung. Amerikanisches Präparat, in Deutschland nicht zugelassen; bei Verordnung in Deutschland nach BtMVV Verschreibungshöchstmenge von 36 mg pro Rezept beachten! Nebenwirkungen: Hypotension, Reflextachykardie, Sedierung, Dysphorie, Verwirrtheit
Bronchodilatatoren Aminophyllin
Salbutamol
31
Ipratropiumbromid
Antitussiva
Hydrocodon
Mukolytika Azetylzystein (ACC) p. o.
Anxiolytika Diazepam p. o. Kortikosteroide Beclometason
Sonstige Nabilon p. o.
647 31.3 · Respiratorische Symptome
(z. B. durch Musik) können in Situationen gesteigerter Kurzatmigkeit hilfreich sein (Ryan 1996). In Fällen unzureichend therapierbarer unerträglicher Dyspnoe kann als letzte Therapieoption eine palliative Sedierung erwogen werden (s. Lo u. Rubenfeld 2005).
31
. Tab. 31.6. Ursachen für Husten bei Tumorpatienten. Nicht tumorbedingte Auslöser Akute Infektionen (viral, bakteriell, mykotisch, parasitär)
Laryngitis Tracheitis Bronchitis
31.3.2 Husten
Bronchopneumonie
Hierbei handelt es sich um einen physiologischen Schutzmechanismus, der normalerweise dazu dient, Fremdkörper oder sonstige irritierende Stoffe aus den Atemwegen zu entfernen. Husten kann willkürlich oder als Reflex ausgelöst werden (Hagen 1991). Die Trigger des Hustenreflexes finden sich auf allen Etagen des Atemweges; es handelt sich um Chemo-, Mechano- und Thermorezeptoren. Die Nervenfasern des afferenten Schenkels des Hustenreflexes verlaufen in den Nn. laryngeus et vagus. Das koordinierende Netzwerk des Reflexes befindet sich in der Medulla oblongata und der Pons. Die efferenten Nervenfasern versorgen die Atemmuskulatur: Diaphragma, Bauchwand- und Interkostalmuskulatur, Atemhilfsmuskulatur der lateralen Thoraxwand sowie die Stellmuskulatur der Stimmbänder. Speziell bei Patienten mit Lungentumoren ist Husten ein häufiges Symptom. Bei denjenigen, die palliativmedizinisch behandelt werden, wird über eine Prävalenz von Hustenattacken zwischen 30 und 95% berichtet (z. B. Bundesministerium für Gesundheit 1997), wobei die letztgenannten Autoren zwischen Reizhusten (68%) und produktivem Husten (27%) unterscheiden. Unterschiedliche Ursachen für ein gehäuftes Auftreten von Husten bei Tumorpatienten sind in . Tab. 31.6 (Mod. nach Davis 1997) zusammengefasst. Lutz et al. (2001) fanden in einer Untersuchung an 52 Patienten 75%, die über Husten berichteten, wobei 9 Patienten (17%) über eine sehr starke Symptomintensität klagten. Dabei zeigte sich eine deutliche Abhängigkeit der Hustenintensität zur Prognose. Während bei 90% derjenigen Patienten mit einem Überlebenszeitraum von weniger als 3 Monaten Husten ein auch objektiv belastendes Symptom war, betrug die Symptomprävalenz bei denjenigen, die noch 4‒6 Monate überlebten, 50%.
Pneumonie Chronische Infektionen
Mukoviszidose Bronchiektasien
Erkrankungen der Luftwege
Asthma COPD
Irritationen der Schleimhäute
Fremdkörper Chronische Aspiration: Multiple Sklerose ALS Tracheoösophageale Fistel Stimmlippenparalyse Rauch, Dampf, trockene Luft
Kardial
Herzinsuffizienz, Perikarderguss
Medikamenteninduziert
ACE-Hemmer
Tumorbedingte Auslöser Verlegung der Luftwege
Endobronchiales Wachstum Kompression von außen
Interstitielle Ursachen
Lymphangiosis Multiple Metastasen Pneumonitis:
Therapie Auch die Behandlung von Hustensymptomen lässt sich im Prinzip unterteilen in kausale und symptomatische Maßnahmen. Bei Durchführung einer Strahlentherapie als tumororientierter Behandlungsform werden für die Linderung des Symptoms Husten Ansprechraten von 50% bis etwa 80% angegeben (Kvale 2006). Neben der Strahlentherapie kommen aber auch Chemotherapie und chirurgische wie endobronchiale Interventionen zur Anwendung, Letztere vorrangig bei endobronchialem Tumorwachstum. Die Ansprechraten des Symptoms Husten liegen zwischen 44 und 90% (Kvale 2006). Da die verwendeten Pharmakotherapien sich kaum von jenen unterscheiden, die zur Behandlung der Kurzatmigkeit eingesetzt werden, sei hier auf . Tab. 31.4 und die Übersicht »Symptomatische Behandlungsmöglichkeiten der Dyspnoe« (S. 23) verwiesen. Neben den in dieser Übersicht verzeichneten allgemeinen medikamentösen Maßnahmen zur symptomatischen Behandlung sollte auch auf die Möglichkeit zum Einsatz speziell von Cromoglizinsäure zur Symptomkontrolle von Husten hingewiesen werden. Moroni et al. (1996) berichteten, dass sie durch die Inhalation von Cromoglizinsäure bei Lungenkarzinompatienten mit ansonsten therapierefraktärem Husten die Hustenfrequenz
Strahlentherapiefolge Chemotherapiefolge Lungenfibrose Pleurale Ursachen
Pleuraerguss Mesotheliom
Hiläres Tumorwachstum oder Lymphadenopathie
hochsignifkant reduzieren konnten (Evidenzlevel III). In einer Übersichtsarbeit weist Chung (2003) darauf hin, dass aufgrund pathophysiologischer Erwägungen neben den Opioiden als derzeit effektivsten Antitussiva auch andere Substanzklassen für diese Indikation in Frage kommen, allerdings bislang nicht dafür getestet wurden. Potenzielle Kandidaten sind z. B. Neurokinin- und Bradykinin-Rezeptorantagonisten, Vanilloid-Rezeptorantagonisten, Na+-Kanal-Blocker sowie Nozizeptin-Antagonisten.
648
Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
31.3.3 Hämoptysen
31
In einer Untersuchung über die Lebensqualität von Patienten mit Lungentumoren ermittelten Lutz et al. (2001), dass lediglich 7 von 52 Patienten (13,5%) über Hämoptysen berichteten, die bei einem Patienten leichte, bei einem mäßige und bei 5 Patienten (10%) starke Ausprägung zeigten. Dabei fand sich dieses Symptom ausschließlich bei Personen, die (bei einer retrospektiven Gruppierung!) eine Überlebenszeit von weniger als 3 Monaten hatten. Allerdings darf nicht außer Acht gelassen werden, dass bei bis zu 50% der Patienten Hämoptysen das erste Zeichen einer Krebserkrankung der Lunge sein können (Ripamonti u. Fusco 2002). Primäre Lungentumoren sind häufiger der Auslöser von Hämoptysen als pulmonale Metastasen anderer Karzinome. Prävalenzangaben schwanken zwischen 24% bei Metastasen und 47–70% bei primären Lungentumoren (Lung Cancer Working Party 1991). Auslöser von Hämoptysen können der Tumor selbst, aber auch begleitende Infektionen sein (z. B. bakterielle oder mykotische Pneumonie, TBC etc.). Massive Hämoptysen (ca. 3–5% aller Fälle) sind nach Aurora et al. (2000) definiert als: 4 ≥600 ml Blutauswurf/24 h, 4 Blutung mit lebensbedrohenden Symptomen (Hypoxämie, Hyperkapnie etc. ). Hämoptysen gehen oftmals mit starken Hustenanfällen und einer ausgeprägten Kurzatmigkeit einher. Diese Kombination löst ähnlich wie das Einzelsymptom bei den meisten Betroffenen starke Angstzustände aus (Oi-Ling et al. 2005). Diagnostik Hauptziel ist hier die Ermittlung der Blutungsursache und deren Lokalisation. Diagnostisch kommen dafür in Frage: Sputumuntersuchung, Thoraxröntgen, Bronchoskopie (flexibel oder starr), CT bzw. MRT. Bezüglich der Vor- und Nachteile der genannten Verfahren sei auf die Übersichtsarbeit von Ripamonti u. Fusco (2002) verwiesen. Differenzialdiagnostisch müssen Hämoptysen von gastrointestinalen oder nasopharyngealen Blutungen unterschieden werden. Therapie Die Behandlung richtet sich nach der zugrunde liegenden Ursache. Bei der Überlegung, welche Therapieoptionen im konkreten Fall angemessen sind, müssen die körperliche Verfassung des Patienten ebenso wie sein psychischer Zustand und seine persönliche Einstellung zum Geschehen sowie das Tumorstadium und die Prognose der Erkrankung berücksichtigt werden; unangemessene Behandlungsoptionen sollten strikt vermieden werden. Bei eindeutig tumorbedingten Hämoptysen bietet sich eine Strahlentherapie (in Form der konventionellen perkutanen Bestrahlung bzw. der Endobrachytherapie) an, für die Ansprechraten zwischen 69 und 100% angegeben werden (z. B. Corsa et al. 1997; Lung Cancer Working Party 1991; Evidenzlevel III). Bei Ansprechen der Hämoptysen auf die Strahlentherapie führen diese Maßnahmen in vielen Fällen zu einem Sistieren der Beschwerden über etliche Monate. Ist eine Radiatio nicht möglich, kann eine lokale Behandlung (z. B. Laserkoagulation via Bronchoskop) eine passagere Besserung bewirken. Alternativ zur endobronchialen Laserkoagulation kann eine endobronchiale Tamponade auf Ebene eines Segment- bzw. Subsegmentbronchus mittels eines Fogarty-Katheters versucht
werden, der für 24–48 h in situ belassen wird. Aurora et al. (2000) berichten über Erfolgsraten von 50–60% für diese Maßnahme, wobei die Besserung bis zu 9 Monaten anhalten soll (Evidenzlevel V). Weitere Therapieoptionen sind lokale Eiswasserspülungen bzw. topische Applikationen von Adrenalin, Thrombin oder Fibrinkleber via Bronchoskop, die aber meist nur passagere Effekte erzielen (Evidenzlevel V). Interventionell besteht zudem die Möglichkeit der Embolisation von Bronchialarterien, die akut in bis zu 100% der behandelten Patienten und in der Langzeitbeobachtung (bis zu 60 Monaten Follow-up) bei bis zu 80% der Fälle zu einem Sistieren der Blutung führen soll (Fernando et al. 1998; Evidenzlevel V). Massive Hämoptysen können zu akutem Ersticken führen. In einer solchen Situation sollten die Patienten nicht alleingelassen werden, d. h., eine lückenlose Begleitung durch Angehörige bzw. durch Ärzte und Pflegepersonal muss gewährleistet sein. Ist durch beruhigenden Zuspruch und Erklären der Situation keine ausreichende Angstreduktion bzw. Minderung der Todesangst zu erreichen, muss der Patient ggf. mittels Opioiden und Benzodiazepinen tief sediert werden, um vor allem ihm, aber auch seinen Angehörigen bzw. Betreuenden die mit der Situation einhergehenden Qualen zu lindern. Für eine solche palliative Sedierung (vgl. Lo u. Rubenfeld 2005) liegt die übliche Initialdosierung über 24 h bei 30–40 mg Morphin i. v. und 30–60 mg Midazolam i. v. (McNamara et al. 1991). Bei reduziertem Allgemeinzustand der Patienten kann es gelegentlich notwendig werden, mit niedrigerer Dosis zu beginnen; in jedem Fall ist im weiteren Verlauf nach Wirkung zu titrieren. Alternativ kann eine Sedierung auch mit Propofol durchgeführt werden (Mercadante et al. 1995); die Initialdosierung beträgt in diesem Fall 1–2 mg/kg KG/h, ggf. kann die Dosis bis zum Erreichen des gewünschten Sedierungsgrades gesteigert werden; als wesentliche Nebenwirkungen tritt eine Hypotension auf.
31.4
Hyperkalzämie
Etwa 60% aller Hyperkalzämien werden durch Tumoren verursacht (Fisken et al. 1981). Die Auftretenswahrscheinlichkeit variiert je nach Tumorart und Tumorstadium (Heath 1989); insgesamt findet sich bei etwa 10–15% aller Tumorpatienten eine paraneoplastische Hyperkalzämie (z. B. Heath 1990a). Vorzugsweise tritt diese Komplikation bei Bronchialkarzinom, Hypernephrom, Mammakarzinom, Plasmozytom, multiplem Myelom, aber auch bei Tumoren im Kopf-/Halsbereich sowie beim T-Zell-Lymphom auf (z. B. Theriault 1993). Meist weisen Patienten, die unter paraneoplastischen Hyperkalzämien leiden, Knochenmetastasen auf; bei 20% der solchermaßen betroffenen Patienten sind allerdings keine Metastasen nachweisbar (Bower et al. 1998). Pathophysiologie Die pathogenetischen Prozesse, die zu einer Hyperkalzämie führen, sind komplex; derzeit werden drei wesentliche Mechanismen diskutiert: 4 progrediente Knochendestruktion – lokal oder generalisiert – führt zu einer verstärkten Freisetzung von Kalzium in den extrazellulären Raum; 4 verstärkte tubuläre Absorption von Kalzium – als Auslöser wird hier vor allem eine tumorseitige Produktion von »parathormone-related peptide« (PTHrP) mit parathormonähnlicher Wirkung angenommen;
649 31.4 · Hyperkalzämie
4 Dehydrierung als Folge einer Hyperkalzämie – der erhöhte Ca++-Plasmaspiegel führt zu einer Zunahme der Na+-Ausscheidung mit konsekutivem Wasserverlust und damit wiederum zu einem weiteren Anstieg des Ca++-Spiegels. Aber auch jede andere Dehydrierung kann zu einer Hyperkalzämie beitragen.
31
. Tab. 31.7. Die wichtigsten klinischen Symptome der Hyperkalzämie. Manifestationsbereich
Einzelsymptom
Allgemein
Dehydratation, Durst Polydipsie
Als Auslöser für diese endokrinologische Entgleisung werden Prostaglandine, diverse Mediatoren (z. B. IL-1, IL-6, PDGF, TNFα und TNFβ bzw. α- oder β-TGF) angeschuldigt (z. B. Bertolini et al. 1986); außerdem das von den Tumorzellen gebildete »parathormone-related peptide« (z. B. Clines u. Guise 2005), welches für etwa 80% der Fälle verantwortlich gemacht wird. Bei etwa 20% der Fälle sind lokale osteolytische Faktoren als Auslöser zu identifizieren (Kovacs et al. 1995). Nach derzeitigem Kenntnisstand scheinen die pathophysiologischen Mechanismen bei unterschiedlichen Tumorarten zu differieren (z. B. Fukumoto et al. 1988). Während der humorale Pathomechanismus bei den hämatologischen Tumoren sowie bei metastasierenden Tumorleiden von vorrangiger Bedeutung ist, findet sich der osteolytische Prozess vor allem bei soliden Tumoren, insbesondere solchen der Lunge; oftmals sind aber auch beide Mechanismen am Auftreten einer Hyperkalzämie beteiligt (Fleisch 2000).
Polyurie Pruritus Lethargie, Schwäche Gastrointestinal
Übelkeit Erbrechen Gewichtsverlust Anorexie Obstipation Ileus
Neurologisch
Hyperreflexie (z. T. auch Hyporeflexie) Krampfanfälle
Diagnostik und Therapie Eine Zusammenstellung der führenden klinischen Symptome der Hyperkalzämie findet sich in . Tab. 31.7, mod. nach Bower et al. 1998; Heath 1989). Die Intensität der genannten Symptome ist von der Höhe des absoluten Kalziumspiegels im Plasma sowie der Geschwindigkeit seines Anstiegs abhängig. Differenzialdiagnostisch gilt es Hirnmetastasen, Medikamentenintoxikationen, Hypokaliämie und Hypoproteinämie abzugrenzen (Bourke u. Delaney 1993). Die Behandlung der Hyperkalzämie erfolgt auf zwei Ebenen: zum einen durch gegen den Tumor gerichtete Maßnahmen, zum anderen symptomatisch. In der akuten symptomatischen Behandlung steht eine forcierte Diurese mit Infusion von 4.000– 5.000 ml NaCl 0,9%/die (Adami u. Rossini 1992) in Kombination mit der Gabe von Furosemid (20–60 mg/h) an vorderster Stelle. Furosemid wird deshalb besonders zur Anwendung empfohlen, weil es in höheren Dosierungen eine kalziuretische Wirkung besitzt, die durch die Gabe von Kochsalzlösung weiter gefördert wird (z. B. Heath 1989, 1990b). Die alleinige Volumentherapie mit forcierter Diurese ist aber nicht in der Lage den Kalziumspiegel zu normalisieren. Als Therapie der Wahl für die Korrektur des Kalziumhaushalts hat sich in den letzten Jahren die Gabe von Bisphosphonaten etabliert. Speziell die Bisphosphonate der 3. Generation (Ibandronat, Pamidronat, Zolendronat) haben wegen ihrer hohen Potenz und der langen Wirkungsdauer ihren Platz in der Therapie der Hyperkalzämie gefunden (Purohit et al. 1995). In kontrollierten Studien kam es nach nur einmaliger Verabreichung dieser Substanzen bei etwa 75% aller Behandelten innerhalb von 3–5 Tagen zu einer Normalisierung des Serumkalziumspiegels (z. B. Ralston et al. 1997), die bis zu 30 Tagen anhielt (Evidenzlevel IIb). Obwohl der Einsatz der Bisphosphonate für die Therapie der Hyperkalzämie unumstritten ist, wird wegen der hohen Therapiekosten immer wieder die »cost-effectiveness« einer chronischen prophylaktischen Behandlung mit diesen Substanzen kritisch hinterfragt. Ross et al. (2004) konnten in ihrem systema-
Verwirrtheit Depression Psychosen Koma Kardial
Arrhythmie Bradykardie Verkürztes QT-Intervall Weite T-Welle
tischen Review keine Studie identifizieren, die dieser Frage nachgegangen wäre. Aus einer Langzeituntersuchung von Saad et al. (2004) ergeben sich Hinweise, warum eine solche »cost-effectiveness« zumindest für die Verhinderung einer Hyperkalzämie nur schwer zu erreichen sein wird. Bei ihrer Untersuchung skeletaler Komplikationen bei Patienten mit hormonrefraktärem Prostatakarzinom fand sich unter den 422 in die Auswertung eingegangenen Patienten lediglich ein Fall einer Hyperkalzämie, d. h. für entsprechende ökonomische Analysen wären sehr viel größere Patientenkollektive erforderlich. Ross et al. (2004) kommen aber aufgrund von Expertenmeinung zu dem Schluss, dass es kostengünstiger sei, eine Hyperkalzämie zu vermeiden, als sie zu behandeln. In ihrer Übersichtsarbeit zum Einsatz von Bisphosphonaten geben Clemons et al. (2006) eine Reduktion der »Odds Ratio« von 0,43 (CI 95%: 0,29–0,63) für das Auftreten von Hyperkalzämien bei Mammakarzinom an. Da der therapeutische Effekt von Calcitonin weniger zuverlässig und zumeist nur von kurzer Dauer ist (z. B. Heath 1990a) ist diese Substanz in ihrer Bedeutung hinter die potenteren Bisphosphonate zurückgetreten. Auch die Verabreichung von Kortikosteroiden hat – bis auf wenige Spezialindikationen – keinen Stellenwert mehr in der symptomatischen Therapie der Hyperkalzämie.
650
Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
31.5
Lymphödem
Ein Lymphödem ist eine Gewebeschwellung durch die Einlagerung eiweißreicher Lymphflüssigkeit infolge des Versagens der physiologischen Lymphdrainage. Im Unterschied zu anderen Ödemen, bei denen es sich meist um eine reine Ansammlung von Wasser im Gewebe handelt, finden sich beim Lymphödem neben der Flüssigkeitskomponente auch Protein- und Fettansammlungen sowie begleitende fibrotische und entzündliche Prozesse (British Lymphology Interest Group 1995).
31
Pathophysiologie Ursächlich besteht bei Tumorpatienten zumeist eine Obstruktion bzw. Unterbrechung lymphatischer Gefäße durch Operation, Bestrahlung oder Tumorwachstum, wobei Adaptationsvorgänge stattfinden, die zu einem neuen Gleichgewicht zwischen Plasmaextravasation und Abtransport führen (Alitalo et al. 2005). Über die Inzidenz von Lymphödemen liegen keine einheitlichen Daten vor, da in den bisher publizierten Untersuchungen die diagnostischen Kriterien und die gewählten Follow-up-Zeiten zu sehr differierten. Wie stark die jeweils gewählten diagnostischen Kriterien die resultierende Inzidenzrate eines Lymphödems beeinflussen, zeigten Armer u. Stewart (2005), die vier unterschiedliche diagnostische Parameter zugrunde legten und dabei Inzidenzen zwischen 8 und 70% (Range: 2–79%) ermittelten. Bei einem Vergleich diverser Messmethoden fanden Taylor et al. (2006), dass mit einer an anatomischen Kriterien orientierten Umfangsmessung das Armvolumen mit hoher Validität und Reliabilität bestimmt werden kann. Als Risikofaktoren für die Entstehung eines Lymphödems konnten Williams et al. (2005) stattgehabte Strahlentherapie, Ausmaß der Axilladissektion, Kombinationstherapie, überhöhtes Körpergewicht sowie Wundinfektion ermitteln. Mortimer (1990) beschreibt das Auftreten eines Lymphödems bei 11% der Patientinnen, wenn ausschließlich eine Mastektomie durchgeführt wurde. Erfolgte gleichzeitig auch noch eine adjuvante Strahlentherapie, so erhöhte sich die Inzidenz auf 46%. Schünemann u. Willich (1997) fanden in einer retrospektiven Erhebung unter 5.868 Frauen nach Operation eines Mammakarzinoms 1.405 Patientinnen (24%) mit Lymphödem (operationalisiert als Zunahme des Armumfangs um mehr als 2 cm). Nach Durchführung einer radikalen Mastektomie ohne Radiotherapie betrug die Inzidenz 22,3%, mit Bestrahlung dagegen 44,4%. Bei einer modifizierten radikalen Mastektomie ohne Radiatio entwickelte sich in 19,1% und mit Radiatio in 28,9% der Fälle ein Lymphödem. Nach brusterhaltender Operation betrug die Rate an Lymphödemen 6,7% ohne und 10,1% mit Bestrahlung. Die Autoren folgerten, dass die Inzidenz an Lymphödemen nach tumorbedingter Mammachirurgie positiv mit der Radikalität des Eingriffes korreliert. Pain et al. (2005) gingen anhand physiologischer Untersuchungen an 16 Patientinnen der Frage nach, warum trotz vergleichbarer chirurgischer Vortherapie (hier: axilläre Lymphknotenresektion) nur einige der betroffenen Frauen ein Lymphödem entwickeln. Die Autoren interpretieren ihre Ergebnisse dahingehend, dass eine gesteigerte Aufnahme sequestrierter Proteine in die lokale Blutbahn und/oder eine vermehrte Proteolyse in der betroffenen Extremität protektiv wirksam sein könnten. Lymphödeme können sich innerhalb von Tagen und Wochen entwickeln, aber auch erst nach Monaten oder Jahren (Median: 18–39 Monate) manifest werden (Brennan 1992, Williams et al.
. Tab. 31.8. Häufigkeit subjektiver Beschwerden bei Lymphödemen Symptom
Relative Häufigkeit [%]
Spannungsgefühl
62,1
Schweregefühl
61,4
Schmerzen
47,5
Bewegungseinschränkungen
37,2
Taubheit, Dysästhesien
34,2
Paresen, Kraftminderung
13,2
2005). Sie können also zu jeder Zeit auftreten und werden zumeist durch Verletzungen oder lokale Infektionen getriggert, in deren Folge eine chronische Entzündungsreaktion einsetzt, die dann die gesamte Extremität erfassen kann (Marcks 1997). Die Bedeutung der Infektion als Triggerfaktor konnten auch Ferrandez et al. (1996) in einer retrospektiven Analyse der Krankheitsverläufe von 683 Patientinnen aufzeigen: War eine solche Infektion nachweisbar, erhöhte sich das Risiko einer Lymphstauung um den Faktor 1,7. Die drei Phasen der Entwicklung eines Lymphödems sind (nach Farncombe et al. 1994): 4 Frühphase: eindrückbare Schwellung, Besserung auf Hochlagerung, 4 2. Phase: Ablagerung von Plasmaproteinen, Entwicklung einer chronischen Entzündung mit nachfolgender Fibrose und Sklerose, 4 Spätphase: überschießende Bindegewebsvermehrung, Sklerosierung der Haut, Entwicklung einer »Elephantiasis lymphostatica«. Prinzipiell können Lymphödeme an jeder Körperstelle auftreten, bevorzugt betroffen sind die Extremitäten. Eine Zusammenstellung der häufigsten Begleitsymptome bei Lymphödemen findet sich in . Tab. 31.8 (nach Albrecht 1997). Therapie An erster Stelle bei der Behandlung des Lymphödems steht die Aufklärung der Patienten. Dabei muss den Betroffenen verdeutlicht werden, dass aufgrund des chronischen Charakters einer Lymphstauung die entsprechenden Therapiemaßnahmen lebenslang durchgeführt werden müssen. Darüber hinaus sollten die Patienten zu Vorsichtsmaßnahmen angehalten werden, die das Risiko einer Verletzung bzw. Entzündung minimieren, da es durch beide Vorgänge zu einer Verschlechterung des Lymphödems kommen kann. Für den klinischen Bereich ist zu bedenken, dass an Extremitäten, die von einem Lymphödem betroffen sind, kein Blut entnommen, keine Injektion verabreicht, kein Venenkatheter platziert und auch keine Blutdruckmessung vorgenommen werden sollte. Da eine kausale Behandlung des Lymphödems nicht möglich ist und pharmakologische Maßnahmen ebenfalls nicht greifen, wird vorrangig eine multimodale Behandlung propagiert. Neben Lagerungsmaßnahmen gilt dabei vor allem die komplexe physikalische Entstauungstherapie (KPE) als wesentliches Therapieprinzip (Földi u. Kubik 1993). Die KPE ist ambulant durchführ-
651 31.6 · Neurologische und psychiatrische Symptome
bar, erfordert aber geschultes Personal sowie viel Geduld und Motivation aufseiten der Patienten. Sie setzt sich aus folgenden Bestandteilen zusammen (modifiziert nach Albrecht 1997): 4 intensive Hautpflege, 4 manuelle Lymphdrainage, 4 Kompressionsbehandlung durch Bandagierung nach der Drainage, um erneuten Flüssigkeitsansammlungen vorzubeugen; eventuell können auch speziell angefertigte Kompressionsverbände (z. B. Strümpfe, Handschuhe mit verlängertem Arm) eingesetzt werden (Johnson et al. 1982), 4 Gymnastik der bandagierten Extremität unter Vermeidung übermäßiger Belastung (entstauende Bewegungstherapie), 4 Hochlagerung (über Herzniveau) der betroffenen Extremität in Ruhe. Auftretende Infektionen müssen umgehend antibiotisch behandelt werden; diese Therapie muss oftmals über einige Wochen aufrechterhalten werden. Kontraindiziert ist die Gabe von Diuretika, da diese die Eiweißablagerungen in der betroffenen Extremität verstärken. Es hat in der Vergangenheit nicht an Versuchen gefehlt, durch mikrochirurgische Techniken die Kontinuität von Lymphgefäßen wiederherzustellen bzw. durch Absaugen oder Kürettieren die überschießende Bindegewebsproliferation zu reduzieren (Brorson u. Svensson 1997). Dabei soll gerade eine kombinierte Therapie aus »Liposuktion« und Kompression das erhöhte Armvolumen um im Median 115% (Range: 92–179%; gemessen am Volumen der gesunden Seite) reduzieren können; zudem soll dabei die Hautdurchblutung auf Werte wie bei der nicht betroffenen Extremität angeglichen werden (Brorson 2000). Nakajima et al. (2006) führten eine gestielte Omentumplastik zur »Drainage« der Axilla durch; auch hierbei kam es zu einer signifikanten Abnahme des Volumens speziell des Oberarms. Eine mikrochirurgische Transplantation von Lymphknoten aus der Leistenregion in die Axilla beschrieben Becker et al. (2006). Von 24 Patientinnen wurden 10 als geheilt und 12 als deutlich gebessert klassifiziert; lediglich bei 2 Patientinnen war kein Effekt zu erkennen. Alitalo et al. (2005) berichteten über innovative Verfahren zur Behandlung eines Lymphödems, die Gentransfer für lymphangiogenetische Wachstumsfaktoren einsetzen (vgl. Yla-Herttuala u. Alitalo 2003). Klinische Relevanz und Realisierbarkeit derartiger Therapieansätze sind noch mit Vorsicht zu bewerten, wenngleich sie sicher schon jetzt als vielversprechender einzustufen sind, als der Vorschlag, quasi als Ultima Ratio bei extremer Ausprägung eines Lymphödems mit vollständigem Funktionsverlust und starker körperlicher sowie psychischer Belastung die Amputation der betroffenen Extremität vorzunehmen (Brennan 1992). Solche Therapieversuche sind in der palliativmedizinischen Versorgung terminal kranker Patienten sicher nicht indiziert. Auch bei weniger weit fortgeschrittenen Tumorleiden sollten sich durch eine ausführliche Information und Edukation sowie kontinuierliche Kommunikation mit den Betroffenen sowie durch frühzeitigen Einsatz konservativer Behandlungsmaßnahmen derartig radikale operative Eingriffe vermeiden lassen.
31.6
Neurologische und psychiatrische Symptome
Im Verlauf zahlreicher Tumorerkrankungen treten insbesondere in fortgeschrittenen Krankheitsstadien oft auch neuropsychiatrische Symptome auf, die einer palliativmedizinischen Behand-
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lung bedürfen. Besonders häufig werden bei Tumorpatienten Myoklonien, zerebrale Krampfanfälle, epidurale spinale Kompression, Spastik, Paresen und Dystonien, Angst, Depression, delirantes Syndrom sowie Fatigue und Schlafstörungen beobachtet. Wie bei anderen in diesem Kapitel abgehandelten Symptomen können die vorstehend genannten Störungen sowohl tumor- als auch therapiebedingt oder auch völlig unabhängig von Tumor und Therapie auftreten. Psychiatrische (nach DSM-IV klassifizierbare) Störungen sollen einer Untersuchung von Kadan-Lottick et al. (2005) zufolge allerdings bei Patienten mit einem weit fortgeschrittenen Tumorleiden nicht häufiger auftreten als in der Normalbevölkerung und wären daher wohl eher als unabhängig von Tumorerkrankung und Therapie anzusehen. Epidurale spinale Kompression und Paresen erweisen sich in der Regel als tumorbedingt; hingegen werden Myoklonien oft durch hochdosierte Opioide ausgelöst und sind somit vorrangig als therapiebedingt anzusehen. Charakteristisch sind für die genannten neuropsychiatrischen Symptome ihre ausgeprägte Progredienz bei unzureichender Therapie, die starke von den Symptomen hervorgerufene Beeinträchtigung der Lebensqualität der Betroffenen sowie die oftmals limitierten kausalen Therapiemöglichkeiten. Gleichwohl kann eine frühzeitige antizipierende bzw. gezielte Behandlung entsprechender Symptome oft eine zufriedenstellende Linderung, gelegentlich auch eine passagere Remission bewirken. Aus Platzgründen kann nachfolgend nur eine subjektive Auswahl besonders relevanter neuropsychiatrischer Symptome behandelt werden, für die auch palliativmedizinische Behandlungsoptionen existieren. Insbesondere Fatigue und Schlafstörungen stellen im Verlauf einer Tumorerkrankung hochrelevante Symptome dar. Eine angemessene Behandlung dieser Themen würde den Rahmen dieses Kapitels aber überschreiten; von daher sei an dieser Stelle auf vorhandene Übersichtsarbeiten verwiesen (z. B. Coackley et al. 2002, Prue et al. 2006). 31.6.1 Myoklonie
Bei den Myoklonien im Rahmen einer Tumorerkrankung können prinzipiell zwei Formen unterschieden werden: 4 Myoklonien als paraneoplastisches Syndrom (selten), 4 Myoklonien als therapiebedingte Nebenwirkung (Lauterbach 1999), entweder 5 als Folge einer Kumulation neurotoxischer Metaboliten oder 5 als Entzugserscheinung. Das Auftreten von Myoklonien ist als behandlungsbedingte Komplikation einer Opioidtherapie bei Tumorpatienten seit Langem bekannt (z. B. Hagen u. Swanson 1997; Jacobsen et al. 1995; Sjögren u. Erikson 1994). Vor allem in hohen Dosisbereichen und bei Bestehen einer Niereninsuffizienz tritt diese unerwünschte Wirkung gehäuft auf (z. B. Sjögren et al. 1993); sie soll unabhängig vom Applikationsmodus der Opioide sein (Jacobsen et al. 1995). Pathophysiologie Die den opioidbedingten Myoklonien zugrunde liegenden pathophysiologischen Mechanismen und deren Behandlung durch Gabe von Opioidantagonisten werden in der Literatur nicht einheitlich bewertet. So berichteten Gilbert u. Martin (1975), dass die exzitatorische Wirkung von Opioiden auf die Motoneurone
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31
Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
nicht oder zumindest nur partiell Naloxon-reversibel sei. Demgegenüber fanden Lauretti et al. (1994), dass im Tiermodell Opioide wie Morphin, Fentanyl und Meperidin einen biphasischen Effekt auf die Exzitation zeigen: Demzufolge sollen geringe Dosen einen hemmenden, hohe Dosen hingegen einen fördernden Effekt aufweisen. Die Steigerung der Erregbarkeit durch hohe Opioiddosierungen war in dem Modell von Lauretti und Mitarbeitern durch Naloxon vollständig reversibel. Dieser Effekt wurde zwar auch von anderen Autoren beschrieben (z. B. Thomas et al. 1993); es existieren allerdings auch Fallberichte über fehlende Naloxon-Antagonisierbarkeit des opioidinduzierten proexzitatorischen Effekts (z. B. Shohami und Evron 1985). Bei chronischer Opioidgabe soll die zentrale Exzitation durch Metabolite der Agonisten an Nichtopioidrezeptoren ausgelöst werden. Ein solcher Mechanismus ist verständlicherweise nicht Naloxon-reversibel (Sjögren u. Erikson 1994). Unter derartigen Bedingungen könnte Naloxon sogar die Exzitationsschwelle senken und damit die Rate an Myoklonien erhöhen (z. B. Koide et al. 1993). Einen weiteren Mechanismus beschrieben Werz u. MacDonald (1982). Sie ermittelten, dass Opioide auf Ebene des Rückenmarks in der Lage waren, die postsynaptische Hemmung der Motoneurone durch die Renshaw-Zellen zu antagonisieren. Es erscheint vorstellbar, dass durch Unterdrückung der sog. Renshaw-Hemmung die Wahrscheinlichkeit des Auftretens unwillkürlicher Muskelkontraktionen zunimmt. Es ist bisher nicht eindeutig nachgewiesen, ob diese Wirkung auf einem ähnlichen Mechanismus beruht, wie die Auslösung einer Hyperalgesie bei rückenmarknaher Gabe von hohen Opioiddosierungen (z. B. DeConno et al. 1995); es handelt sich jedoch auch um einen Mechanismus, der über Nichtopioidrezeptoren vermittelt wird (Yaksh et al. 1986). Vor dem Hintergrund vorstehender Ausführungen sollte man bei der Anwendung hoher Opioiddosen auf das Auftreten entsprechender Nebenwirkungen vorbereitet sein. Wird bei einem Patienten wegen unzureichender analgetischer Wirkung eine schnelle Dosiseskalation notwendig, sollten eine Änderung der Opioidapplikationsform bzw. eine Opioidrotation (7 Kap. 32) sowie der Einsatz adjuvanter Therapeutika (7 Kap. 32) als Alternativen geprüft werden, um nach Möglichkeit die neurotoxischen Effekte hoher Opioiddosierungen zu vermeiden. Eine Auslösung von Myoklonien durch schnelle Dosissteigerung scheint vor allem bei den mehr hydrophilen Opioiden Morphin und Hydromorphon von Bedeutung (z. B. MacDonald et al. 1993), die vor allem in Form von Glukuroniden eliminiert werden. Für Methadon soll dieser Mechanismus vermutlich keine nennenswerte Rolle spielen, da dieser Substanz neben ihrem opioidagonistischen Effekt auch noch eine NMDA-antagonistische Wirkung nachgesagt wird (z. B. Shimoyama et al. 1997), die einer erhöhten neuronalen Aktivität entgegenwirken soll, wenngleich auch für dieses Opioid Berichte über das Auftreten von Myoklonien vorliegen (z. B. Sarhill et al. 2001). Diagnostik und Therapie Differenzialdiagnostisch müssen opioidbedingte von paraneoplastischen bzw. therapiebedingten Veränderungen der motorischen Aktivität unterschieden werden. In der Regel wird diese Differenzierung keine Probleme bereiten, da bei den paraneoplastischen Syndromen zumeist andere neurologische Auffälligkeiten wie Ataxien, Enzephalopathien etc. hinzutreten (z. B. Jaeckle 1996).
Für die Therapie neurotoxischer Nebenwirkungen nach Opioidgabe wurden zahlreiche Empfehlungen publiziert. Neben einem Wechsel des Opioids (z. B. Jacobsen et al. 1995) wurde vor allem der Einsatz von Benzodiazepinen (z. B. Eisele et al. 1992; Hagen u. Swanson 1997) und Ketamin (Kolesnikov et al. 1997) empfohlen. Unter den Benzodiazepinen haben sich wegen ihrer kurzen Halbwertszeit, günstiger Applikationsbedingungen und eines guten antikonvulsiven Effektes (z. B. Hagen u. Swanson 1997) vor allem Midazolam in einer Dosierung von im Median 35 mg/die s. c. (Range: 10–240 mg/die s. c. ; McNamara et al. 1991) sowie Clonazepam (Eisele et al. 1992) in einer Dosierung von 0,5 mg oral alle 8 h bewährt. Parallel zur Benzodiazepingabe sollte auch ein Wechsel des Opioids erfolgen, um die Ursache der Myoklonien zu eliminieren. Nach erfolgter Umstellung des Opioids kann probatorisch ein Ausschleichen der Benzodiazepine begonnen werden; dieses sollte aber sehr langsam über mehrere Tage erfolgen, da ein hohes Risiko zur Auslösung von Entzugserscheinungen besteht (Busto et al. 1986). Tierexperimentell konnten Kolesnikov et al. (1997) zeigen, dass die durch hochdosierte intrathekale Opioidgabe ausgelöste myoklonische Aktivität durch intrathekales Ketamin dosisabhängig antagonisiert werden konnte (zur Problematik der intrathekalen Ketaminapplikation s. Hanekop u. Beck 2006). Auch durch Anwendung anderer NMDAAntagonisten war die opioidinduzierte erhöhte Exzitabilität herabzusetzen; die Wirkung war jedoch schwächer ausgeprägt als bei Ketamin. 31.6.2 Zerebrale Krampfanfälle
Zerebrale Krampfanfälle treten häufig im Gefolge von Hirntumoren und bei zerebraler Metastasenbildung bzw. -absiedlung auf. Zerebrale Krampfanfälle können zudem durch zentralnervöse Infektionen, metabolische Störungen (insbesondere Hyperkalzämie) und bestimmte Medikamente induziert werden und zwar sowohl durch deren Applikation, z. B. von Pethidin, trizyklischen Antidepressiva, Antibiotika, Neuroleptika und Lokalanästhetika (Karadeniz et al. 2000), als auch durch den Entzug bestimmter Substanzen, z. B. von Alkohol, Benzodiazepinen, Barbituraten. [Auch Pethidin ist im Prinzip der Gruppe der starken Opioide zuzurechnen. Da Norpethidin (Normeperidin), ein Metabolit der Substanz, signifikante neurotoxische Wirkungen entfalten kann (Cowan et al. 1979), ist Pethidin wegen der Kumulationsgefahr bei chronischer Anwendung für Tumorschmerzpatienten nicht geeignet.] In einer Übersichtsarbeit berichten Stefan et al. (2005), dass Krampfanfälle bei ca. 35–50% der Patienten mit Hirntumoren auftreten. Dabei zeigt sich eine deutliche Abhängigkeit der Inzidenz von der Tumorpathologie: 4 bei langsam wachsenden Tumoren, z. B. Gliomen, Krampfanfälle bei ca. 70–88%, 4 bei schnell wachsenden Tumoren, z. B. Glioblastomen, Krampfanfälle bei ca. 37%, 4 bei Metastasen finden sich Krampfanfälle in ca. 20% der Fälle. Als mögliche pathogenetische Mechanismen werden genannt: 4 Denervierungshypersensibilität, 4 Störungen der exzitatorischen und inhibitorischen Transmitterbalance,
653 31.6 · Neurologische und psychiatrische Symptome
4 Einfluss von Hämorrhagien (Hämosiderin) und Ischämie, 4 Immunmechanismen, Zellzyklusregulation, Angiogenese und Invasion, 4 »klassische Narbenepilepsie«. Diagnostik und Therapie Die Symptomatik von zerebralen Krampfanfällen stellt sich bei Tumorpatienten nicht anders dar als bei zerebraler Krampfaktivität aufgrund sonstiger neurologischer Ursachen. Ist bei einem Tumorpatienten eine zerebrale Tumorbeteiligung nicht bekannt bzw. gesichert, besteht mit der Erstmanifestation eines zerebralen Krampfanfalls die Indikation zur weiteren diagnostischen Abklärung; ansonsten wird lediglich symptomatisch behandelt. In einer Metaanalyse konnten Sirven et al. (2004) bei Patienten mit Hirntumoren (primär oder Metastasen) im Hinblick auf Krampfanfälle keinen vorbeugenden Effekt von Antikonvulsiva feststellen und bewerten eine prophylaktische Therapie deshalb als nicht sinnvoll. Therapeutisch werden zerebrale Krampfanfälle bei Tumorerkrankungen wie sonstige Krampfaktivitäten auch angegangen (. Tab. 31.9): Solange ein Krampfanfall nicht länger als 15–30 min anhält bzw. sich nicht in kurzen Abständen wiederholt, kann zugewartet werden, wobei jedoch geeignete Lagerungsmaßnahmen zur Vermeidung sekundärer Verletzungen zu ergreifen sind. Falls aber das spezifizierte Zeitintervall überschritten wird bzw. die Krampfanfälle sich in rascher Folge wiederholen, ist eine notfallmäßige Akuttherapie sowie ggf. die umgehende Einleitung einer entsprechenden medikamentösen Anfallsprophylaxe indiziert (. Tab. 31.9). Bei der antikonvulsiven Therapie sollte beeachtet werden, dass zahlreiche Chemotherapeutika die Wirksamkeit von Antikonvulsiva herabsetzen, z. B. BCNU (Carmustin), Carboplatin, Cisplatin und Taxol (Stefan et al. 2005). Andererseits verringern zahlreiche Antiepileptika die Bioverfügbarkeit von Dexametha-
. Tab. 31.9. Medikamentöse Therapie zerebraler Krampfanfälle bei Tumorpatienten Medikament
Dosis
Therapeutischer Bereich
31
son und diversen Chemotherapeutika (Vecht et al. 2003). Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die potenzielle Entwicklung einer Resistenz gegen antikonvulsive Medikamente, da viele Substrate für Multidrug-Transporter (z. B. P-Glykoprotein) darstellen (Löscher 2002). Zu berücksichtigen ist ferner die psychogene Wirkung von Antikonvulsiva, wie sie z. B. von Keller et al. (1999) differenziert wurde: Eher GABAerge Substanzen, wie Benzodiazepine, Gabapentin, Phenobarbital, Primidon, Tiagabin, Valproat und Vigabatrin, zeichnen sich vorrangig durch sedierende, antimanische und anxiolytische Wirksamkeit aus; antiglutamaterge Substanzen, wie z. B. Lamotrigin, sollen eher antidepressiv wirken. 31.6.3 Epidurale spinale Kompression
Klinische Zeichen einer epiduralen spinalen Kompression bedeuten immer, dass akut die Gefahr einer kompletten Querschnittslähmung droht. Folglich stellt diese Konstellation in der Palliativmedizin eine der neurologischen Störungen mit allerhöchster Behandlungspriorität dar. Die neurologischen Zeichen und Symptome entwickeln sich dabei in der Regel plötzlich. Werden beim ersten Auftreten solcher Symptome nicht sofort geeignete therapeutische Konsequenzen gezogen, kann es zu irreversiblen neurologischen Schädigungen kommen. Epidurale spinale Kompressionen sollen bei ca. 2,5–5% aller Tumorpatienten auftreten (z. B. Loblaw et al. 2003). Prinzipiell können alle Tumorarten diese Symptomatik auslösen. Abhängig von der Tumorart variiert die Inzidenz zwischen 7,9% für Myelome und 0,2% für das Pankreaskarzinom (Loblaw et al. 2003). Pathophysiologisch soll eher eine durch das Tumorwachstum im Spinalkanal ausgelöste Durchblutungsstörung als eine direkte Rückenmarkkompression für die Symptomatik verantwortlich sein (Mut et al. 2005). Im Bereich der Wirbelsäule ist am häufigsten der thorakale Abschnitt betroffen, gefolgt vom lumbosakralen Bereich und dem zervikalen Wirbelsäulenabschnitt (Ulmar et al. 2005). Dabei sind mehrere Arten der Tumorausbreitung im epiduralen Raum möglich (Grisold 1989): 4 direkte Infiltration von Wirbelkörpermetastasen (>75%), 4 Einwachsen von außen durch die Foramina intervertebralia (ca. 10%), 4 primäre spinale Metastase (1–5%), 4 hämatogene Ausbreitung nach epidural (ca. 1%).
Prophylaktische Behandlung Carbamazepin
800–1.600 mg p. o./ i. v./die
4–10 μg/ml
Phenytoin*
200–400 mg p. o./ i. v./die
10–20 μg/ml
Valproinsäure
800–1.600 mg p. o./ i. v./die
40–120 μg/ml
Gabapentin
– 2.400 mg p. o./ i. v./die
?
Diazepam
10–20 mg i. v.
–
Clonazepam
1–2 mg i. v.
–
Midazolam
3–5 mg i. v.
–
Akuttherapie
*Loading dose am 1. Tag: 15–20 mg/kg KG
Diagnostik Bei 88–96% aller von einem spinalen Kompressionssyndrom betroffenen Tumorpatienten sollen Schmerzen das erste Zeichen darstellen (Gilbert et al. 1978, Helweg-Larsen u. Sörensen 1994); sie sollen den anderen neurologischen Symptomen zeitlich um Stunden bis Monate (Median: 7 Wochen) vorausgehen (Quinn u. DeAngelis 2000). Die Schmerzsymptomatik wird durch Bewegung, Husten, Valsalva- bzw. Lasègue-Manöver sowie durch Beugung in der HWS verstärkt. Der Charakter der induzierten Schmerzen ist entweder hell und einschießend (radikulärer Schmerz) oder dumpf und andauernd (faszikulärer Schmerz). Für die Diagnostik epiduraler spinaler Kompressionen hat die Kernspintomografie die größte Aussagekraft (s. Loblaw et al. 2005). Neben den Schmerzen ist das Auftreten einer motorischen Schwäche das zweithäufigste Symptom; sie geht den sensorischen Ausfällen normalerweise zeitlich voraus (Gilbert et al. 1978). Die motorische Schwäche tritt dabei meist im Bein auf, unabhängig von der tatsächlichen Lokalisation der epiduralen Kompression.
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Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
Autonome Symptome kommen im Allgemeinen erst spät im Verlauf der Kompression vor, z. B. als Blasen- und/oder Mastdarmstörungen. Von Talcott et al. (1999) werden sechs Risikofaktoren angegeben, denen ein prädiktiver Wert für die Diagnsoe einer epiduralen spinalen Kompression zukommen soll: 4 Verlust der Gehfähigkeit, 4 gesteigerte tiefe Schmerzreflexe, 4 Kompressionsfrakturen im Nativröntgen, 4 bekannte Knochenmetastasen, 4 Diagnose der Knochenmetastasen >1 Jahr, 4 Patientenalter <60 Jahre. Die Autoren ermittelten ein Risiko von 4% für eine spinale Kompression, wenn keiner dieser Faktoren vorlag, verglichen mit einem Wert von 87% bei Zutreffen aller sechs Risikofaktoren.
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Therapie Über die »beste« Behandlung der epiduralen spinalen Kompression bzw. drohenden Querschnittslähmung besteht derzeit keine Einigkeit. Daher beruhen die in der Literatur vorzufindenden Therapieempfehlungen zumeist auf persönlichen Erfahrungen und Präferenzen der jeweiligen Autoren. Als wesentliche therapeutische Interventionen bei epiduraler spinaler Kompression haben sich folgende Maßnahmen bzw. Verfahren erwiesen: 4 Kortikosteroidapplikation, 4 Radiatio, 4 operatives Vorgehen. Die derzeit beste Entscheidungsgrundlage für die Auswahl einer geeigneten Therapieoption ergibt sich aus einem systematischen Review von Loblaw et al. (2005). Eine Chemotherapie wird zumeist nur in Ergänzung zu den vorstehenden Interventionen eingesetzt. Das konkrete Vorgehen im palliativmedizinischen Setting sollte sich im Wesentlichen am Allgemeinzustand des Patienten, seinen Wünschen und Vorstellungen sowie am erwarteten Nutzen-Risiko-Verhältnis des geplanten Vorgehens orientieren. Bei Patienten in weit fortgeschrittenen Krankheitsstadien bzw. in der Terminalphase sollte konservativen Therapieoptionen die höchste Priorität zukommen, dementsprechend wird – neben einer angemessenen Schmerztherapie und sonstigen Maßnahmen zur Stabilisierung der Lebensqualität – vor allem die Gabe von Kortikosteroiden empfohlen. Zumeist wird in diesem Kontext wegen seiner fehlenden mineralokortikoiden Effekte die Verordnung von Dexamethason präferiert (Loblaw u. Laperriere 1998). Die Kortikosteroiddosierungen sind individuell festzulegen; die empfohlenen Dosierungen bewegen sich zwischen 16–100 mg/ die (mit bzw. ohne Applikation eines initialen Bolus). Delattre et al. (1989) konnten in einer retrospektiven Untersuchung zeigen, dass höhere im Vergleich zu niedrigen Dosen schneller und effektiver zu einer Reduktion bestehender Schmerzen führen; allerdings ist auch die Nebenwirkungsrate dosisabhängig, was vor Therapiebeginn abzuwägen ist (Sörensen et al. 1994). Als weitere Therapieoption steht die Radiatio zur Verfügung (zur Bewertung s. Loblaw et al. 2005). Im Gegensatz zur konservativen Behandlung mit Kortikosteroiden setzt dieses Verfahren am symptomverursachenden pathologischen Prozess an und ist prinzipiell in der Lage, eine längerfristige Besserung der Symptomatik zu bewirken. Wegen der größeren körperlichen Belastung ist diese Behandlungsoption stets vom Allgemeinzustand des
Patienten, seinen Wünschen und Vorstellungen sowie vom Stadium der Tumorerkrankung abhängig zu machen. Im Allgemeinen werden bei dieser Indikation fraktionierte Dosen von 2–4 Gy in 10–20 Sitzungen verabreicht (z. B. Schiff et al. 1998), mit Gesamtdosen von 30–40 Gy. Durch eine solche Strahlentherapie sollen 50–95% der Betroffenen eine Besserung ihrer neurologischen Symptomatik erreichen können; in 60–80% der Fälle bleibt die Gehfähigkeit erhalten, bei 30% wird sie wiederhergestellt (Seegenschmiedt 2000). Die Option zur operativen Revision tumorbedingter spinaler Kompressionssyndrome wird nicht einheitlich beurteilt. Als wesentliche Nachteile werden die beträchtliche Mortalitätsrate von 6–10% sowie die hohe Morbiditätsrate bis zu 48% (Massentransfusion, verlängerte Intensivtherapie etc.) angesehen (Schiff et al. 1998). Von Klimo et al. (2005) wurde eine Metaanalyse durchgeführt, in der die operative Behandlung mit konsekutiver Radiatio verglichen wurde mit alleiniger Strahlentherapie. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass mit dem chirurgischen Vorgehen die Wahrscheinlichkeit, kein neurologisches Defizit aufzuweisen, 1,3-mal so hoch ist, wie nach ausschließlicher Bestrahlung. Bei bereits eingetretener neurologischer Kompromittierung war die Chance, wieder Funktionsfähigkeit zu erlangen, sogar doppelt so hoch. Über die perioperativen Mortalitäts- und Morbiditätsrisiken machen die Autoren allerdings keinerlei Angaben. Eine Alternative zum offenen chirurgischen Vorgehen stellt die perkutane Kypho- bzw. Vertebroplastie dar (z. B. Shimony et al. 2004), die eine Aufrichtung zusammengesinterter Wirbelkörper und eine Stabilitätsverbesserung, bei reduzierten Mortalitäts- und Morbiditätsraten bewirken kann. 31.6.4 Angst
Wird die Diagnose »Krebs« gestellt, so erleben die Betroffenen diese Situation in der Regel als stresshaft, oftmals sogar als traumatisierend und angstauslösend. Die dadurch induzierten negativen Emotionen und Kognitionen müssen von den Patienten verarbeitet werden – zusätzlich zu eventuell vorhandenen belastenden physischen Symptomen, Dysfunktionen und Veränderungen des körperlichen Erscheinungsbildes. Darüber hinaus sind die Tumorkranken oft auch in ihrer Fähigkeit beeinträchtigt, die individuelle soziale Rolle zu erfüllen und zwischenmenschliche Beziehungen aufrechtzuerhalten. Vorbestehende psychische bzw. psychosoziale Störungen können unter derartigen Bedingungen exazerbieren. Im Allgemeinen bessern sich stressinduzierte psychische Symptome innerhalb von 7‒10 Tagen (Massie et al. 1989); bei Tumorpatienten können Angststörungen jedoch persistieren und dann zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Lebensqualität führen. Gattellari et al. (2002) untersuchten an 118 Patienten mit inkurablem Tumorleiden, inwieweit diese über ihre Erkrankung aufgeklärt und bereit waren, bei der Therapieplanung zu partizipieren. Die überwiegende Mehrheit der Patienten fühlte sich informiert über die Ziele der gegen den Tumor gerichteten Therapie (ca. 85%) sowie über ihre infauste Prognose (ca. 75%) und die dadurch begrenzte Lebenserwartung (ca. 58%). Zwar ließ sich kein Zusammenhang zwischen Umfang der Aufklärung und Auftreten sowie Ausmaß von Angststörungen feststellen; nachweisbar war jedoch eine hoch signifikante positive Korrelation zwischen dem Umfang der Teilhabe an Therapieentscheidungen
655 31.6 · Neurologische und psychiatrische Symptome
und dem Ausmaß von Angststörungen (p<0,0005); dieser Befund persistierte noch 14 Tage später bei Follow-up-Untersuchungen. In einer Untersuchung von Hyodo et al. (1999) fanden sich in der Subskala für Angst der »Hospital Anxiety and Depression Scale« (s. unten) auffällige Werte, die nach einer Aufklärung über die Tumorerkrankung und therapeutischen Optionen noch signifikant weiter anstiegen. Im weiteren Betreuungsverlauf waren die Angstwerte dann zwar wieder rückläufig, lagen jedoch 2 Wochen später immer noch über dem Ausgangsniveau vor dem Aufklärungsgespräch. Diese Befunde verdeutlichen, dass es nicht ausreicht, Patienten mit möglichst umfangreichen Informationen über ihre Erkrankung und sinnvolle Therapieoptionen zu versorgen; entscheidend ist vielmehr, wie diese Informationen vermittelt werden. Ärzte sollten sich dieser Problematik bewusst sein und deshalb dem wahrscheinlichen Auftreten stressinduzierter psychischer Symptome bei ihren Tumorpatienten besondere Beachtung schenken, um ggf. adäquat darauf eingehen zu können. Nicht eindeutig bestimmbar ist der Stellenwert der DSM-IV Kriterien zur Diagnostik von Angststörungen bei organisch kranken Patienten (vgl. folgende Übersicht). Bei vielen Tumorpatienten finden sich Adaptationsstörungen, die im DSM-IV allerdings nicht abgebildet werden. Bei Tumorpatienten ist akut auftretende Angst von höheren Graden autonomer Hyperaktivität begleitet als bei Patienten mit chronischen Angststörungen; zudem kommen bei Tumorpatienten oftmals auch Mischformen von Angst und depressiven Symptomen vor. Als pathologisch werden Angstzustände bezeichnet, die insgesamt länger als 2 Wochen anhalten, wobei eine bestimmte Anzahl diagnostischer Kriterien über mindestens die Hälfte dieser Zeit nachweisbar sein muss (Maguire et al. 1993b). Allerdings ist die Diagnostik von Angststörungen bei Patienten mit zusätzlichen Begleiterkrankungen (vor allem Tumorleiden) nicht unproblematisch, da zahlreiche Organsysteme gleichermaßen von der Angststörung wie von den sonstigen Erkrankungen betroffen sein können.
Kriterien einer »Angststörung aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors« nach DSM-IV (mod. nach Saß et al. 1996) Diagnostische Kriterien für 293.89 (F06. 4) (zum diagnostischen Vorgehen und zur Kodierung vgl. Saß et al. 1996) A Ausgeprägte generalisierte Angstsymptome, Panikattacken oder Zwangsgedanken bzw. Zwangshandlungen, die im Vordergrund des klinischen Beschwerdebildes stehen B Hinweise aus Anamnese, körperlicher Untersuchung oder Laboruntersuchungen zeigen, dass das Störungsbild die direkte Folge eines medizinischen Krankheitsfaktors ist C Das Störungsbild kann nicht besser durch eine andere psychische Störung (z. B. Anpassungsstörung mit Angst) erklärt werden D Das Störungsbild tritt nicht ausschließlich im Verlauf eines Delirs auf E Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen
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Tumorpatienten neigen dazu, die eigene psychische Anspannung als normale Reaktion auf ihre Erkrankung zu betrachten. Wird diese Fehleinschätzung von den behandelnden Ärzten geteilt, führt dieses in der Regel zu einer Fixierung und Perpetuierung des Zustandes und damit zu einer eigentlich vermeidbaren Beeinträchtigung der Lebensqualität der Betroffenen. Im Rahmen palliativmedizinischer Interventionen sollte möglichen Angstzuständen aber nicht nur aufseiten der Patienten, sondern auch bei deren Angehörigen, Betreuern und Freunden Beachtung geschenkt werden. Als bedeutende Prädiktoren für das vermehrte Auftreten von Angstzuständen bei Angehörigen von Tumorpatienten wurden von Higginson u. Priest (1996) folgende Faktoren identifiziert: Tumorkranker als Lebenspartner, Mammakarzinom als Diagnose, geringes Alter des Patienten, kürzere Zeit seit der Diagnosestellung sowie reduzierte Mobilität des Patienten. Diese Aussagen werden durch Befunde von Axelsson u. Sjoden (1998) gestützt. Die Autoren konnten zeigen, dass Angst bei den Angehörigen und Betreuenden in der Regel (noch) stärker ausgeprägt ist als bei den Patienten selbst; diese Konstellation beeinträchtigt letztendlich auch die Bewältigungsmöglichkeiten der Betroffenen. Diagnostik Zur Erfassung des Symptoms »Angst« sollten bevorzugt standardisierte Instrumente eingesetzt werden, um keine wesentlichen Symptomkonstellationen zu übersehen (Stromgren et al. 2001). Dass diese Gefahr besteht, zeigt eine vergleichende Untersuchung von Lammi et al. (2001). Die Autoren konnten nachweisen, dass Angst und Depression bei hospizlich betreuten Tumorpatienten häufiger dokumentiert wurden als bei gleichartigen Patienten, die auf einer Normalstation behandelt wurden, auf der keine standardisierte Dokumentation erfolgte. Zur generellen Diagnostik von Angst bzw. Angststörungen in einer Normalpopulation existieren zahlreiche Instrumente und Inventarien, z. B. das »State-Trait-Anxiety-Inventory« (STAI; Spielberger 1975). Einige dieser allgemeinen Verfahren wurden bereits auch bei Tumorpatienten eingesetzt (z. B. Fallowfield et al. 1990). Für die Anwendung bei Tumorpatienten haben sich in den zurückliegenden Jahren jedoch vorrangig drei Instrumente durchgesetzt: die »Edmonton Symptom Assessment Scale« (ESAS; Bruera et al. 1991) die »Hospital Anxiety and Depression Scale« (HADS; Zigmond u. Snaith 1983) und die »Rotterdam Symptom Check List« (RSCL; de Haes et al. 1990), wobei die RSCL gezielt für diese Patientengruppe entwickelt wurde. Die HADS ist ein kurzes Instrument zur Selbsteinschätzung mit je 7 Items für die Subskalen »Angst« und »Depression«, die jeweils auf einer linearen 4-Punkte-Skala von 0–3 bewertet werden. Dieses Inventar soll auch für Screeningzwecke geeignet sein. Die getrennt für beide Subskalen berechneten Punktwerte sollen Hinweise auf das Vorhandensein und ggf. den Schweregrad des betreffenden Symptoms (Zigmond u. Snaith 1983) liefern: 4 Subskalen-Score von ≤7: kein Anhalt für manifestes Symptom, 4 Subskalen-Score von 8–10: Borderline-Fälle, 4 Subskalen-Score von ≥11: Vorliegen des entsprechenden Symptoms. Hopwood et al. (1991) fanden eine Sensitivität von 0,75, eine Spezifität von 0,90 und eine Fehlklassifizierung von 0,12 bei einem Cut-off-Score von 11. Etwas ungünstigere Werte stellten Le Fevre
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Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
et al. (1999) fest, mit einer Sensitivität von 0,31 und einem positiv prädiktiven Wert von 0,74 (bei einem Cut-off-Score von 11). Auch in einer Studie von Lloyd-Williams et al. (2001) zum Einsatz der HADS als Screeningtool fielen die Kennwerte schlechter aus, hier ergaben sich bei einem Cut-off-Score von ebenfalls 11 eine Sensitivität von 0,54, eine Spezifität von 0,82 sowie ein positiv prädiktiver Wert von 0,46. Inzwischen liegt die HADS auch in diversen validierten fremdsprachlichen Versionen vor (z. B. Costantini et al. 1999). In einer retrospektiven Überprüfung der Screeningfunktion der ESAS ermittelten Vignaroli et al. (2006) bei einem Cut-offWert von 2 aus 10 eine Sensitivität von 86 bzw. 97% und eine Spezifität von 56 bzw. 43% dieses Instruments für Angst bzw. schwere Angst. Die RSCL ist ein explizit zur Erfassung von psychischen und körperlichen Belastungen bei Tumorpatienten entwickeltes Selbsteinschätzungsinstrument (»self administered questionnaire«). Es besteht aus 30 Items, deren Ausprägungsgrad jeweils auf einer linearen 4-Punkte-Skala von »nicht vorhanden« bis »sehr viel« bewertet wird. Acht Items betreffen psychologische und 22 Items körperliche Symptome. Der Zeitbedarf zum Bearbeiten des Tests aufseiten des Patienten beträgt etwa 5–10 min. Als Maximalscore können im RSCL 120 Punkte erreicht werden, ein Cut-off-Wert – wie bei der HADS – ist nicht definiert; es werden lediglich die Verläufe der Skalenwerte miteinander verglichen (vgl. Hardy et al. 1999). Die Prädiktionsleistung der RSCL soll mit derjenigen der HADS vergleichbar sein (Hopwood et al. 1991). Allerdings ist das Instrument nur bedingt für Verlaufsbeobachtungen geeignet, da mit zunehmendem Tumorprogress erfahrungsgemäß immer weniger Patienten den Bogen ausfüllen können (Hardy et al. 1999). Während sich im »National Comorbidity Survey« der USA in der Allgemeinbevölkerung für Angststörungen eine Jahresprävalenz von 17% fand (Kessler et al. 1994), ermittelte Ziegler (1991) bei Tumorpatienten eine entsprechende Prävalenzrate von 40%. Nach einer Übersichtsarbeit von Noyes et al. (1998) schwanken die Angaben zur Prävalenz von Angststörungen bei Tumorpatienten zwischen 1 und 44%; in der Mehrzahl der referierten Studien lagen die gefundenen Prävalenzraten zwischen 15 und 28%. Bei Zugrundelegung einer konservativeren Definition für den Cut-off-Wert in der Subskala »Angst« der HADS ergaben sich Prävalenzen zwischen 9 und 19%. Walsh et al. (2000) fanden bei einer prospektiven Untersuchung an 1.000 Tumorpatienten bei 24% der Untersuchten Anzeichen für klinisch relevante Angstzustände. Damit lag Angst in der Häufigkeit der Symptome an 18. Stelle. Als Nebenbefund stellten die Autoren fest, dass Angst bei Patienten über 65 Jahren (29% vs. 19% bei Jüngeren) sowie bei Frauen (29% vs. 20% bei Männern) deutlich häufiger nachweisbar war. Aus den vorliegenden Befunden lässt sich folgern, dass Angst bei Tumorpatienten ein relevantes Symptom ist und dass dabei Anpassungsstörungen mit ängstlicher Stimmung überwiegen. Hinsichtlich der Prävalenz von Angststörungen bei Patienten mit unterschiedlichen Tumorentitäten lassen sich aus den vorliegenden Daten zwar keine sicheren Schlüsse ableiten: Jedoch kann man resümieren, dass es derzeit keinen Anhalt für systematisch divergierende Angstprävalenzen bei Patienten mit verschiedenen Tumordiagnosen bzw. in unterschiedlichen Tumorstadien gibt. Methodisch gesichert scheint allerdings der Befund, dass Tumorpatienten häufiger unter Angststörungen leiden als
eine altersentsprechende Vergleichsgruppe mit Probanden ohne Tumorerkrankung. Angstsymptome bzw. -störungen stellen einen häufigen Grund für psychiatrische bzw. psychologische Konsultationen dar: Unter denjenigen, die einen entsprechenden Therapeuten aufsuchten, finden sich nach Angaben in der Literatur zwischen 16% (Massie u. Holland 1987) und 21% (Hinton 1972) Patienten mit einer manifesten Angststörung. Unbefriedigend an den vielen Erhebungen zur Prävalenz von Angststörungen in der Bevölkerung im Allgemeinen sowie bei Tumorpatientinnen und -patienten im Speziellen, sind deren methodische Unzulänglichkeiten. Die bislang durchgeführten Untersuchungen zu dieser Fragestellung wurden mit divergierenden Patientenpopulationen, uneinheitlichen Einschlusskriterien, an Patienten mit unterschiedlichen Tumorarten bzw. -stadien, sowie z. T. gleichzeitig an Patienten durchgeführt, die sich vor, während und nach einer spezifischen Tumortherapie befanden. Auch die eingesetzten diagnostischen Verfahren (z. B. klinische Untersuchung, DSM-Kriterien, HADS etc.) sind zwischen den einzelnen Untersuchungen oft nicht vergleichbar. Vor diesem Hintergrund bleibt die definitive Häufigkeit des tumorbezogenen Auftretens von Angststörungen unsicher. In der Mehrzahl der Fälle von Angstzuständen bei Tumorpatienten handelt es sich um akute Reaktionen auf die Krebserkrankung und deren Behandlung bzw. um eine Exazerbation einer bereits vorbestehenden Psychopathologie. Unabhängig von individuellen Ursachen sind die auftretenden dysphorischen Symptome bei den Betroffenen meist ähnlich: 4 ängstliche Grundstimmung, 4 Beunruhigung, Unbehagen, innere Unruhe, 4 negative Vorahnungen, unheilvolle Vorzeichen, 4 Gefühl eines drohenden Schicksals oder Verderbens. Diese Stimmungen gehen meist einher mit unangenehmen Gefühlen wie Erregung, Anspannung, Gereiztheit. Die Betroffenen sind irritabel und zeigen eine Tendenz zur Schreckhaftigkeit. Sie sind zumeist unfähig, sich zu entspannen und leiden gehäuft unter Einschlafstörungen. Viele Tumorpatienten zeigen Verhaltensauffälligkeiten: Sie sind nervös, emotional labil, außer sich, bestürzt, unruhig und können nicht still sitzen. Neben diesen psychiatrisch und psychologisch relevanten Symptomen treten auch autonome Veränderungen auf. Die Patienten klagen vorrangig über Störungen im kardiovaskulären und respiratorischen System, z. B. über Tachykardien, Hypertonus, Kurzatmigkeit und Benommenheit, aber auch über Parästhesien sowie über gastrointestinale Störungen, z. B. Übelkeit, Durchfälle und Appetitlosigkeit (Kaasa et al. 1993). Auch andere organische Befunde werden mit Angststörungen in Verbindung gebracht. So sind z. B. nicht oder nicht adäquat behandelte Schmerzzustände ein häufiger Grund für das Auftreten von Angst, ebenso wie metabolische Störungen (Dietch 1981). Angst und Unruhe können Frühzeichen eines beginnenden Delirs sein (Massie et al. 1983). Sie können sowohl im Rahmen eines paraneoplastischen Syndroms (z. B. bei Pankreas- oder Lungenkarzinom) als auch durch Medikamente (z. B. bei hochdosierter Kortikosteroidgabe mit einer beschriebenen Inzidenz von 5–10%) induziert auftreten (Stiefel et al. 1989). Ebenso sind Antiemetika, Bronchodilatatoren und β2-Mimetika, Koffein, bestimmte Antidepressiva, Methylphenidat und Amphetamine als Angst und Unruhe verursachende Pharmaka beschrieben.
657 31.6 · Neurologische und psychiatrische Symptome
Neben der Verabreichung von Medikamenten kann auch der unvermittelte Entzug von bestimmten Substanzen schwere Angstreaktionen auslösen; belegt ist dieses Phänomen für die abrupte Abstinenz von Alkohol, Benzodiazepinen und Opioiden (z. B. Noyes et al. 1988). Therapie Angstzustände werden am besten dadurch behandelt, dass Betreuer und Therapeuten emotionale Unterstützung anbieten und angemessene Informationen vermitteln über die Tumorerkrankung selbst, ihren wahrscheinlichen Verlauf sowie über die Behandlungsoptionen, deren Erfolgsaussichten und potenzielle Nebenwirkungen (Massie u. Shakin 1993). Zudem gilt es, beim Auftreten von Angstzuständen nach eventuellen anderen Gründen zu forschen (Craig u. Abeloff 1974; Maguire et al. 1993b), wie z. B.: 4 finanzielle Sorgen, 4 körperliche Leiden, 4 Unsicherheit über die Zukunft, 4 Angst vor Abhängigkeit und Verlust der sozialen Rolle bzw. Stellung, 4 Angst, anderen zur Last zu fallen, 4 Angst vor dem Tod. Durch einfühlsames und verständiges Zuhören sowie eine entsprechende Beratung lassen sich Ängste meist reduzieren (Maguire et al. 1993a). Ziel psychotherapeutischer Verfahren in der Palliativmedizin ist es, Stress, therapieinduzierte Missempfindungen bzw. Beschwerden sowie akute Angstzustände zu reduzieren. Dabei kommen vor allem die folgenden vier Formen psychotherapeutischer Interventionen zur Anwendung: 4 edukative Maßnahmen, 4 verhaltenstherapeutische Techniken, 4 individuelle Psychotherapie, 4 Gruppentherapie. Eine Übersicht über die genannten Verfahren findet sich u. a. bei Fawzy et al. (1995). Allerdings wurden bislang nur einzelne Techniken speziell hinsichtlich ihrer Tauglichkeit für die Reduktion von Angstzuständen bei Tumorpatienten getestet. Bei der Edukation geht es vorrangig darum, das oft bei den Patienten auftretende und aversiv erlebte Gefühl der Hilflosigkeit durch die positive Überzeugung zu ersetzen, die eigene Situation wieder besser zu beherrschen. Neben älteren Befunden über den erfolgreichen Einsatz dieser Strategien (z. B. Jacobs et al. 1983) finden sich aber auch Untersuchungen, die nur eine passagere Angstreduktion durch edukative Maßnahmen nachweisen konnten (z. B. Walsh et al. 2004). Deutlich mehr positive Berichte finden sich dagegen zum erfolgreichen Einsatz verhaltenstherapeutischer Interventionen, z. B. PMR, Hypnose, Meditation, Biofeedback und geleitete Imagination (z. B. Baider et al. 1994). Speziell die diversen Entspannungstechniken haben in der psychotherapeutischen Behandlung von Tumorpatienten große Bedeutung. Beherrscht der Patient derartige Techniken, kann er selbst aktiv dazu beitragen, in akuten Belastungssituationen Angst und körperliche Anspannung zu lindern (Ratsak 1997). Autogenes Training ist die wohl bekannteste Methode, gefolgt von der progressiven Muskelrelaxation nach Jacobsen (PMR). Eine passive Technik ist die Entspannung mit Verankerung eines Ruhebildes nach Redd
31
(z. B. Redd et al. 2001). Bei allen genannten Techniken sind ca. 20–30 min für eine Sitzung/Übung zu veranschlagen. Neben der allgemeinen Anwendung verhaltenstherapeutischer Interventionen zur Angstreduktion liegen positive Befunde für spezielle Indikationen vor: So konnte Wilson-Barnett (1992) bei Tumorpatienten therapiebedingte Angstzustände beispielsweise durch Relaxations- und Desensitivierungstechniken abbauen. Positive Ergebnisse liegen auch für die Anwendung individueller Psychotherapie in Bezug auf Stressreduktion, Angstabbau und besseren Umgang mit der Krankheitssituation vor (z. B. Moorey et al. 1994). Als wirksam ist auch der Einsatz gruppentherapeutischer Interventionen belegt. Am besten bekannt sind die Untersuchungen von Spiegel et al. (1981) bei Patientinnen mit Mammakarzinom. In einer randomisierten Studie verglichen Arving et al. (2006) psychosoziale Interventionen durch entsprechend ausgebildete Krankenschwestern gegen solche durch Psychologen. In beiden Fällen profitierten die Patienten; wenn es jedoch primär um somatische Belange ging, waren die Ergebnisse in der von den Pflegekräften betreuten Patientengruppe besser. Neben den psychotherapeutischen Interventionen können bei Angstzuständen auch pharmakologische Maßnahmen eingesetzt werden. In Untersuchungen an Patienten mit fortgeschrittener Tumorerkrankung fanden sich etwa 25–33% der Patienten mit einer Medikation von Anxiolytika (z. B. Stiefel et al. 1990). Am häufigsten werden für diese Indikation Benzodiazepine verwendet. Diese Substanzen setzen als Liganden am GABAChlorid-Rezeptorkomplex an; sie verstärken die dämpfende Wirkung des inhibitorischen Neurotransmitters GABA auf den Erregungszustand des ZNS, speziell auf den Ebenen des limbischen Systems, der Formatio reticularis und des Kortex (Stiefel et al. . Tab. 31.10. Indikationen für den Einsatz von Benzodiazepinen in Palliativmedizin bzw. Supportivtherapie. Indikation
Wissenschaftlicher Nachweis der Wirksamkeit
Einsatz sinnvoll?
Psychischer Stress
++
Bedingt ja, Anwendung nur für kurze Zeit
Angst und andere psychosoziale Probleme
++
Bedingt ja, zuvor psychologische Abklärung erforderlich
Alkoholentzug
++
Ja, Anwendung nur für kurze Zeit
Status epilepticus
++
Ja, als Anfallstherapie
Sedierung
++
Ja, Anwendung nur für kurze Zeit, parenterale Applikation
Schlafstörungen
++
Einsatz wird wegen rascher Toleranzentwicklung kontrovers diskutiert
Dyspnoe
+/–
Einsatz wird kontrovers diskutiert, eher nein
Schmerz
+/–
Einsatz wird kontrovers diskutiert, eher nein
658
Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
. Tab. 31.11. Dosierung von Benzodiazepinen bei Angststörungen Pharmakon
Mittlere Dosierung
Applikationsweg
Midazolam
10–60 mg/24 h
i. v., s. c.; Bolus oder kontinuierlich
Alprazolam
0,25–2,0 mg/6–8 h
p. o., s. l.
Lorazepam
0,5–2,0 mg/6–8 h
p. o., s. l., i. v.
Oxazepam
10–20 mg/6–8 h
p. o.
10–50 mg/6–8 h
p. o.
Diazepam
10–20 mg/8 h
p. o., rektal, i. v.
Clonazepam
0,5–2,0 mg/8 h
p. o., i. v.
Dikaliumclorazepat
10–30 mg/8 h
p. o.
Kurz wirksam
Mittellang wirksam Chlordiazepoxid
31
Lang wirksam
1999). Sowohl die gesicherten als auch die kontrovers diskutierten Indikationen für die Anwendung von Benzodiazepinen im palliativmedizinischen Setting sind . Tab. 31.10 (mod. nach Stiefel et al. 1999) zu entnehmen; für die meisten der dort genannten Indikationen existiert zwar wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit des Einsatzes, die jedoch zumeist nicht aus Untersuchungen an Tumorpatienten stammt. Die Dosierungen ausgewählter Benzodiazepine zur Behandlung einer manifesten Angststörung bei Tumorpatienten sind . Tab. 31.11 (mod. nach Breitbart et al. 1998) zu entnehmen. Vor Beginn einer Therapie mit Psychopharmaka sollte beim Vorliegen von Angst bzw. anderen psychischen Störungen obligatorisch eine psychologische bzw. psychiatrische Exploration sowie eine kritische Abwägung von psychotherapeutischen Alternativen erfolgen. So konnten Holland et al. (1991) bei Tumorpatienten mit Angstzuständen und depressiver Verstimmung nachweisen, dass der Einsatz von Benzodiazepinen (Alprazolam 0,5 mg p. o. 3-mal täglich) nicht wirksamer war als die Anwendung der PMR. In dieser Untersuchung führte die Gabe der Benzodiazepine zwar schneller zum gewünschten Effekt und auch die Abnahme der depressiven Verstimmung war unter der Pharmakotherapie ausgeprägter; die Benzodiazepine bedingten jedoch gleichzeitig auch eine stärkere Sedierung der Patienten. Speziell ältere Menschen und solche mit reduziertem Allgemeinzustand klagen nach regelmäßiger Medikation mit Benzodiazepinen gehäuft über Sedierung, gestörte Muskelkoordination, Störungen des Gleichgewichtssinns und der Sexualfunktion sowie vermehrte Inkontinenz. Aufgrund der Erkenntnisse aus vorliegenden Untersuchungen zum Einsatz von Benzodiazepinen ist zu fordern, vor jedem Einsatz eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung vorzunehmen. Diese muss im Wesentlichen auf klinische Erfahrungen zurückgreifen, da zur Anwendung von Benzodiazepinen bei Tumorpatienten bislang nur wenige Studien vorliegen (Lader 1990). Bei Bestehen einer klaren Indikation gilt diese Substanzklasse jedoch als sehr sicher und effektiv. Als wesentliches Problem bei der palliativmedizinischen und supportivtherapeutischen Verordnung von Benzodiazepinen sehen Stiefel et al. (1999) daher
auch nicht das bekannte Missbrauchspotenzial dieser Substanzklasse, etwaige Entzugssymptome oder Medikamenteninteraktionen; kritisch bewerten die Autoren vielmehr den »Missbrauch durch den Arzt«, wenn dieser ohne klare Indikation Benzodiazepine verschreibt oder sie einsetzt, um sich von einem Patienten zurückzuziehen, anstatt sich seiner anzunehmen. 31.6.5 Depression
Negative Emotionen, Stimmungsschwankungen sowie emotionaler Distress sind normale Reaktionen auf die lebensbedrohende Erkrankung »Krebs« und die damit einhergehenden Belastungen für den Betroffenen. Depressionen, wie sie bei Tumorpatienten durchaus häufig zu beobachten sind, stellen jedoch eine maladaptive und pathologische Reaktion mit eigenem Krankheitswert dar. Es ist allgemein anerkannt, dass Depressionen bei terminal Kranken häufig nicht diagnostiziert und somit auch nicht bzw. nicht adäquat behandelt werden (z. B. Keller 1997, Lees u. LloydWilliams 1999). Als Problem erweist sich bei Tumorpatienten, dass die Kriterien zur Diagnose einer Depression nicht eindeutig sind (s. Abschn. »Diagnostik«). Darüber hinaus ist es nicht trivial, eine manifeste Depression von bloßer Traurigkeit zu differenzieren (Angelino u. Treisman 2001), da für die gedrückte Stimmung des Patienten in der Regel vielfältige Ursachen in Frage kommen. Bei allen Tumorpatienten lassen sich Ängste nachweisen, unselbstständig und somit von anderen abhängig zu werden, Körperfunktionen einzubüßen, das für Tumorkranke charakteristische kachektische Erscheinungsbild zu entwickeln und/oder von körperlicher Entstellung betroffen zu sein. Zudem wird der Verlust von Freundschaften, Beziehungen, Sozialkontakten und nicht zuletzt auch des Arbeitsplatzes angstvoll antizipiert. Solche Befürchtungen finden sich bei jedem Tumorpatienten in mehr oder weniger ausgeprägter Form. Die Unterschiede hinsichtlich Ausprägungsgrad und Häufigkeit solcher Ängste beruhen auf medizinischen (z. B. Tumorstadium, -lokalisation und -verlauf sowie Therapiemöglichkeiten), psychologischen (Anpassungsfähigkeit, Coping-Möglichkeiten, emotionale Stabilität) oder sozialen Faktoren (Familienstand, soziale Unterstützung, finanzielle Rahmenbedingungen). In diesem Kontext ist es entscheidend, zwischen »normalen« und pathologischen Reaktionen zu unterscheiden. In einer älteren Studie fanden Derogatis et al. (1983) nach den Kriterien des DSM-III-R unter 215 randomisiert ausgewählten (stationär und ambulant behandelten) Tumorpatienten bei 47% psychische Auffälligkeiten. Von diesen zeigten mehr als zwei Drittel reaktive Angststörungen bzw. depressive Zustände, 13% wiesen Zeichen einer manifesten Depression auf, 8% erfüllten die diagnostischen Bedingungen eines organischen Psychosyndroms, 7% hatten Persönlichkeitsstörungen und 4% ein Angstsyndrom. Ziegler (1991) ermittelte bei Tumorpatienten eine Prävalenzrate von 32% für depressive Symptome. Sachs et al. (1995) fanden bei Patientinnen mit Brustkrebs in 46% Anzeichen für eine akute oder zurückliegende Depression (»major depressive disorder« nach DSM-III-R-Kriterien). In einer Literaturübersicht beschreibt Payne (1998) unter Tumorpatienten Prävalenzraten für eine manifeste Depression zwischen 3 und 69% mit einem Mittelwert von 25%. Diese Angaben entsprechen in etwa vergleichbaren Zahlenangaben von Chochinov et al. (1994) sowie von Minagawa et al. (1996).
659 31.6 · Neurologische und psychiatrische Symptome
Dabei wird die Prävalenz psychiatrischer Störungen auch durch andere Symptome wesentlich mitbeeinflusst: So fanden sich bei Patienten mit Schmerzsyndromen derartige Auffälligkeiten mehr als doppelt so häufig wie bei Patienten ohne Schmerzen (39 vs. 19%). Bislang ist allerdings noch nicht schlüssig zu entscheiden, welches der beiden Symptome in diesem Zusammenhang Ursache und welches Wirkung darstellt. So berichtet Portenoy (1989) bei Tumorpatienten mit Depression über Prävalenzraten für Schmerzzustände von 15–70%. Diese Patientengruppe hat oftmals doppelt zu leiden, denn wie Maguire (2000) bemerkt, werden Depressionen meist nicht diagnostiziert und deswegen auch nicht therapiert. Häufig erfahren die betroffenen Tumorpatienten aber auch trotz einer eindeutigen Diagnose keine adäquate Behandlung, was speziell für Patienten mit Schmerzsyndromen Gültigkeit hat. Als Konsequenz sollte zuerst das Schmerzsyndrom suffizient behandelt und im Anschluss daran erneut eine Evaluation des psychischen Status des Patienten vorgenommen werden (American Pain Society 1990). Höhere Raten an manifesten Depressionen finden sich in solchen Untersuchungen an Patienten, die im Rahmen ihrer Tumorerkrankung zu psychologisch/psychiatrischen Konsultationen überwiesen wurden. Hier wird über Prävalenzraten zwischen 9 und 58% berichtet (z. B. Hinton 1972; Razavi et al. 1990). Auch von den Autoren der letztgenannten Studien werden die stark divergierenden Prävalenzraten auf unterschiedliche Tumorarten und -stadien, differierende diagnostische Kriterien und fehlende Standardisierung der Erhebungsinstrumente zurückgeführt. Die o. g. Prävalenzraten stimmen gut überein mit Angaben aus einem Review von DeFlorio u. Massie (1995), die über Depressionen bei 1–53% der untersuchten Patienten berichten; auch hier scheint die starke Varianz der gefundenen Prävalenzraten durch ähnliche Faktoren bedingt zu sein, wie in den zuvor zitierten Arbeiten. Die Frage, ob das Geschlecht einen Einfluss auf die Auftretenshäufigkeit von Depressionen bei Tumorpatienten hat, wird kontrovers diskutiert; DeFlorio u. Massie (1995) haben einen derartigen Effekt in den von ihnen gesichteten Untersuchungen nicht nachgewiesen. Keinen Einfluss auf die Prävalenz von Depressionen scheint das Setting zu haben, also ob sich die untersuchten Patienten in einer stationären oder ambulanten Betreuung befanden. Hingegen übt das individuelle Tumorstadium, wie bereits erwähnt, einen deutlichen Einfluss aus: In fortgeschrittenen Stadien ergaben sich Prävalenzen für Depression zwischen 23% (Plumb u. Holland 1977) und 53% (Craig u. Abeloff 1974). Bukberg et al. (1984) ermittelten eine mittlere Depressionsprävalenz von 42%, wobei Patienten mit einem Score im Karnofsky-Index von >60 in 23% und solche mit Scores <40 in 77% der untersuchten Fälle Symptome einer Depression aufwiesen. Diagnostik Bei Nichttumorpatienten gründet sich die Diagnose einer Depression im Wesentlichen auf das Vorliegen somatischer Symptome, wie Anorexie, Gewichtsverlust, Schlafstörungen und Schwäche. Da diese unspezifischen Symptome bei Tumorpatienten allgemein nachweisbar und von den Effekten der Grunderkrankung kaum zu differenzieren sind (Barraclough 1997), muss sich hier die Diagnose vorrangig auf psychologische und nichtsomatische Symptome stützen: Dysphorie, Gefühle von Hilf- und Hoffnungslosigkeit, Schuld und Wertlosigkeit bzw. Verlust des Selbstwertgefühls sowie Todessehnsucht und Suizidgedanken (Massie 1989).
31
. Tab. 31.12. Ursachen für Depressionen bei Tumorpatienten Manifestationsbereich
Einzelsymptom
Endokrinologische Störungen
Hyper- bzw. Hypothyreose Nebenniereninsuffizienz
Medikamente
Antibiotika Antimykotika Barbiturate β-Rezeptorenblocker Chemotherapeutika Interferone und Interleukine Methyldopa Reserpin Steroide
Metabolische Störungen
Anämie Folsäuremangel Hyperkalzämie Normabweichungen von Na+, K+, Mg++ Urämie Vitamin-B12-Mangel
Neoplasmen
Leukämie Lymphome Pankreaskarzinom ZNS-Tumoren
Unbehandelte bzw. unzureichend behandelte Schmerzzustände
Das DSM-IV bezeichnet solche depressiven Syndrome, die durch direkte Effekte der Tumorerkrankung ausgelöst werden, als »Stimmungsstörung mit depressiven Merkmalen aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors«. Diagnostisch auszuschließen sind delirante Zustände (Enzephalopathie), da bei deren Vorliegen die Diagnose Depression explizit nicht gestellt werden soll. Problematisch kann die Ermittlung des Auslösers einer Depression gelegentlich bei Patienten mit einem Pankreaskarzinom sein: Depressive Störungen können hier sowohl durch die Tumorerkrankung selbst (bzw. die von ihr induzierte Alteration des serotoninergen Systems) als auch durch die aus der infausten Prognose resultierende psychische Belastung bedingt sein (Green u. Austin 1993). Die Ursachen von Depressionen bei Tumorpatienten sind vielfältig (. Tab. 31.12); bei der Anamneseerhebung und Untersuchung der Patienten ist stets auf derartige Symptomkonstellationen zu achten. Zusätzlich sollte auch die individuelle kognitive Kapazität des jeweiligen Patienten ermittelt werden. Dazu eignen
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Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
sich – trotz ihrer prinzipiell eingeschränkten Aussagefähigkeit – standardisierte Inventarien, wie z. B. die »Mini Mental Status Examination« (MMSE) von Folstein et al. (1975). Problematisch wird die Diagnostik, wenn neben depressiven Symptomen auch Anzeichen für psychotische Störungen vorliegen; hier sollte eine psychiatrische Konsultation veranlasst werden. Als schwierig erweist sich oftmals die Differenzialdiagnostik depressiver Verstimmungen. Für den palliativmedizinisch Tätigen sind diese Störungen jedoch zumeist nur von nachrangiger Wichtigkeit; primär gilt es abzuklären, ob bei den behandelten Tumorpatienten eine manifeste Depression vorliegt. Deren positive Diagnose stützt sich auf den Nachweis von Dysphorie und Anhedonie sowie dreier anderer Störungen aus der Liste der Indikatorsymptome der Depression nach DSM-IV über einen Zeitraum von mindestens 2 Wochen (s. Übersicht).
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Kriterien einer »Affektiven Störung aufgrund eines Medizinischen Krankheitsfaktors« nach DSM-IV (Saß et al. 1996) Diagnostische Kriterien für 293.83 (F06.3x) (zum diagnostischen Vorgehen und zur Kodierung vgl. Saß et al. 1996) A Klinisches Bild bestimmt durch ausgeprägte und anhaltende Störung des Affekts, die sich in einem oder beiden der folgenden Merkmale zeigt: 1. Depressive Verstimmung oder deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Freude an allen oder fast allen Aktivitäten 2. Gehobene, expansive oder reizbare Stimmung B Nach Anamnese, körperlicher Untersuchung und Laborbefunden ist die Störung als direkte Folge eines medizinischen Krankheitsfaktors belegt C Das Störungsbild kann nicht besser durch eine andere psychische Störung erklärt werden (z. B. Anpassungsstörung mit depressiver Stimmung als Reaktion auf die Belastung, den medizinischen Krankheitsfaktor zu haben) D Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf eines Delirs auf E Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen
Von einer manifesten Depression abzugrenzen sind Trauer- bzw. Verlustreaktionen: Diese im Verlauf einer Tumorerkrankung normalen Reaktionen sind im Wesentlichen geprägt durch Traurigkeit sowie gelegentliche Phasen von Schlaflosigkeit, Appetitund Gewichtsverlust. Dagegen sind im Rahmen normaler Trauer- bzw. Verlustreaktionen nur selten massive Konzentrationsstörungen, Anhedonie und der Abbruch von sozialen Kontakten zu beobachten (Berney et al. 2000). Ebenfalls abzugrenzen sind Anpassungsstörungen: Hierbei handelt es sich um angemessene Reaktionen auf eine extreme Belastung, die zu Beeinträchtigungen von Arbeitsfähigkeit und sozialen Kontakten führt; die Ausprägung der Symptome ist dabei deutlich geringer als bei einer manifesten Depression, deren Häufigkeit jedoch höher (Kirsh et al. 2004). Der Einsatz psychometrischer Verfahren, z. B. der »Hospital Anxiety and Depression Scale« (HADS, 7 Abschn. 31.6.4) oder der »Hamilton Depression Rating Scale« (HAMD), zur Diagnos-
tik einer manifesten Depression bei Tumorpatienten wird kontrovers diskutiert. Von Berney et al. (2000) wird diesen Instrumenten in diesem Kontext nur ein geringer diagnostischer Nutzen zuerkannt. Angelino u. Treisman (2001) betrachten die Anwendung solcher Inventarien dagegen differenzierter: Die Autoren erachten bei Tumorpatienten den Einsatz der HAMD sowie des »Beck Depression Inventory« (BDI) und der »MontgomeryAsberg Depression Rating Scale« (MADRS) als wenig nützlich und sinnvoll, weil die Ergebnisse aller genannten Inventarien durch die somatischen Symptome einer Tumorerkrankung beeinflusst bzw. verfälscht werden können; einen eindeutigen Stellenwert für die Anwendung in der Diagnostik von Depressionen bei Tumorpatienten sehen sie dagegen für die HADS. Die Autoren begründen diese Bewertung mit entsprechenden Ergebnissen aus der einschlägigen Literatur (z. B. Le Fevre et al. 1999). Le Fevre und Mitarbeiter fanden beispielsweise bei einem Cut-offScore von 20 Punkten in der Subskala »Depression« der HADS eine Sensitivität von 0,77, eine Spezifität von 0,85 und einen positiv prädiktiven Wert von 0,48. Diese Ergebnisse entsprechen jenen Werten, die Razavi et al. (1990) zuvor schon mit der französischen Version der HADS ermittelt hatten. Vor diesem Hintergrund kann die HADS als brauchbares Screeninginstrument für die Diagnostik von Depressionen bei Tumorpatienten angesehen werden. Einen weiteren interessanten Befund beschreiben Holtom u. Barraclough (2000), die die HADS als Screeninginstrument mit einem definierten Cut-off-Score von 11 Punkten einsetzten: Die Autoren fanden bei 62% derjenigen Patienten, die im Laufe des weiteren stationären Aufenthaltes verstarben, HADS-Scores, die über dem definierten Cut-off lagen, verglichen mit nur 18% bei denjenigen, die wieder nach Hause entlassen werden konnten. Eine Expertengruppe der EAPC hingegen sieht die Validität der HADS für die Anwendung bei Tumorpatienten eher kritisch (Stiefel et al. 2001), ebenso wie Lloyd-Williams et al. (2001). In einer vergleichenden Untersuchung an terminalen Tumorpatienten ermittelten die letztgenannten Autoren eine eher geringe Aussagefähigkeit der HADS als Screeninginstrument: Bei einem Cut-off-Score von 15 Punkten in der kombinierten HADS-Subskala für »Angst« und »Depression« ergab sich eine Sensitivität von 0,68 und eine Spezifität von 0,67. Die Ursache für den sich somit ergebenden unzureichenden prädiktiven Wert bei der Anwendung der HADS sehen die Autoren darin, dass das Konstrukt der »Anhedonie«, welches der Entwicklung der HADS zugrunde lag, auf diese Patientengruppe nicht anwendbar sei, weil die wesentlichen diagnostischen Merkmale dieses Zustandes (vgl. Übersicht »Kriterien einer ‚Affektiven Störung aufgrund eines Medizinischen Krankheitsfaktors’ nach DSM-IV«) im Verlauf einer Tumorerkrankung bei der Mehrzahl der Patienten üblicherweise ohnehin auftreten. Aktuelle Befunde von Akechi et al. (2006) sprechen allerdings doch dafür, dass die HADS ein nützliches Screeninginstrument darstellen kann, wenn es um die Erfassung von Anpassungsstörungen und Depressionen geht. Im Gegensatz zu den o. g. Ausführungen von Angelino u. Treisman (2001) berichteten Kugaya et al. (1999) über die sinnvolle Anwendung der HAMD bei Tumorpatienten. Die Autoren fanden, dass bei den von ihnen untersuchten Tumorpatienten ein HAMD-Score >15 eng mit der klinischen Diagnose einer Depression korrelierte. Chochinov et al. (1997) empfehlen nach einer Untersuchung an 197 terminal kranken Tumorpatienten zur Diagnose einer Depression den Einsatz einer Short Form des BDI kombiniert mit
661 31.6 · Neurologische und psychiatrische Symptome
einer VAS zur Abschätzung der Veränderung im Schweregrad. Diese Kombination soll sich speziell für jene Patienten eignen, bei denen eine Anamnese bzw. ein Interview nicht möglich ist. Therapie Liegen Verdachtsmomente dafür vor, dass die Depression durch somatische Störungen oder Medikamente verursacht wird, die im Rahmen der tumororientierten kausalen bzw. der symptomorientierten palliativmedizinischen Therapie eingesetzt werden, sollte zunächst versucht werden, die fraglichen Störungen zu korrigieren bzw. die entsprechenden Medikamente um- oder abzusetzen. Ansonsten werden Depressionen auch bei Tumorpatienten im Allgemeinen mit einer Kombination aus psychotherapeutischer Intervention und Verabreichung antidepressiv wirksamer Medikamente behandelt, obwohl Williams u. Dale (2006) in einer systematischen Übersichtsarbeit keine überzeugenden Belege dafür finden konnten, dass Depressionen bei Tumorpatienten mit Antidepressiva und psychotherapeutischen Interventionen wirksam reduziert werden können, eine Aussage, die allerdings nicht unwidersprochen geblieben ist. Die seit langer Zeit äußerst kontrovers bewertete Elektrokrampftherapie zur Behandlung vor allem katatoner und stuporöser Zustände bei manifester Depression erfährt zwar eine gewisse Renaissance in der Psychiatrie, kommt im palliativmedizinischen Kontext dagegen nur selten und dann nur als Ultima Ratio zum Einsatz (Massie 1989; Massie et al. 1989). Trotz der zurückhaltenden Bewertung durch Williams u. Dale (2006) stellt Psychotherapie eine Komponente in der Behandlung depressiver Verstimmungen dar. Diese Intervention verfügt hinsichtlich ihrer Wirksamkeit über einen Evidenzlevel I, d. h., es liegen zumindest zwei sorgfältig durchgeführte Metaanalysen vor (Barsevick et al. 2002). Ausgehend von der Dynamik der Stimmungsveränderung zeigen Methoden der Krisenintervention eine gute Effektivität. Allein schon das aufmerksame Zuhören kann therapeutisch wirken (Martin und Jackson 1999). Psychotherapeutische Interventionen zielen ab auf die Reduktion emotionaler Belastungen, die Verbesserung von Stimmung, Selbstwertgefühl und Coping-Fähigkeit sowie auf die Stärkung bzw. Wiederherstellung der Überzeugung, die persönlichen Umstände zumindest bis zu einem gewissen Grad unter Kontrolle zu haben (Wood u. Mynors-Wallis 1997). Insbesondere der letzte Aspekt ist bei Tumorpatienten wichtig, die durch den erlebten Kontrollverlust und das Gefühl, der Tumorerkrankung sowie der ärztlich angeordneten Diagnostik und Therapie ohnmächtig ausgeliefert zu sein, leicht Gefahr laufen, eine reaktive Depression zu entwickeln (vgl. z. B. Lakomy 1988). Zur psychologischen Therapie von Depressionen existieren diverse Interventionsansätze: 4 kognitive Verhaltenstherapie (z. B. Levenson u. Hales 1993), 4 zeitlich limitierte dynamische Psychotherapie bzw. dynamische Kurzzeittherapie mit jeweils 4–15 Sitzungen. Hilfreich sind außerdem einfache kognitive Techniken sowie auch edukative Maßnahmen, d. h. Aufklärung über die Erkrankung und mögliche emotionale Reaktionen bei Patienten und Angehörigen. Die Aufklärung sollte stets realistisch und situationsadäquat erfolgen. Solche Interventionen sind geeignet, den Betroffenen das Gefühl zu vermitteln, wieder »Herr der Lage« und der eigenen Reaktionen zu sein.
31
Eine emotionale Unterstützung der Patienten sollte selbstverständlich sein. Darüber hinaus ist die soziale Hilfestellung durch Familie, Freunde und soziale Einrichtungen von unschätzbarem Wert für das Gelingen der Krankheitsverarbeitung bzw. -bewältigung. Neben den psychotherapeutischen Interventionsmaßnahmen spielt die medikamentöse Therapie eine wesentliche Rolle in der Behandlung der Depression bei Tumorpatienten. Die Dosierungen ausgewählter Antidepressiva sind . Tab. 31.13 (mod. nach Massie u. Popkin 1998) zu entnehmen. Die therapeutische Wirksamkeit wird ihrer Fähigkeit zugeschrieben, auf der Ebene der neuronalen Transmission an noradrenergen, serotonergen und dopaminergen Synapsen die Signalübertragung zu erleichtern. Dabei verlängern diese Medikamente die Wirkungszeit der entsprechenden Neurotransmitter entweder dadurch, dass sie deren Wiederaufnahme in präsynaptische Vesikel hemmen (sog. Reuptake-Hemmer) oder indem sie deren Abbau durch die Monoaminooxidase verzögern (sog. MAO-Hemmer). Die daraus an den neuronalen Schaltstellen resultierenden sekundären Effekte werden bislang nur unzureichend verstanden (z. B. Hyman u. Nestler 1996). Zusätzlich zu dem eigentlichen antidepressiven Effekt entfalten Antidepressiva auch analgetische Wirkungen. Als Koanalgetika finden dabei vorrangig die trizyklischen Antidepressiva Verwendung, die im Vergleich zu Serotonin-Reuptake-Hemmern und tetrazyklischen Wirkstoffen eine deutlich unspezifischere Wirkung auf die unterschiedlichen Transmittersysteme des ZNS ausüben und vermutlich deshalb ausgeprägtere analgetische Effekte induzieren. Bei den Antidepressiva handelt es sich um lipophile Substanzen mit hoher Plasmaeiweißbindung und großem Verteilungsvolumen. Trizyklische Antidepressiva unterliegen einem ausgeprägten hepatischen First-pass-Metabolismus, wodurch bei oraler Gabe eine Bioverfügbarkeit von unter 50% resultiert.
. Tab. 31.13. Dosierung von Antidepressiva. Pharmakon
Startdosis
Angestrebte Tagesdosis
Trizyklische Antidepressiva Amitriptylin
25 mg p. o.
50–150 mg
Doxepin
25 mg p. o.
50–200 mg
Imipramin
25 mg p. o.
50–200 mg
Desipramin
25 mg p. o.
50–150 mg
Serotonin-Reuptake-Hemmer Fluoxetin
10 mg p. o.
20–60 mg
Sertralin
25 mg p. o.
50–200 mg
Paroxetin
10 mg p. o.
20–60 mg
Andere Antidepressiva Maprotilin
25 mg p. o.
75–200 mg
Venlafaxin
37,5 mg p. o.
75–375 mg
2,5 mg p. o.
5–30 mg
Psychostimulanzien Methylphenidat
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31
Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
Bei Leberfunktionsstörungen ist deswegen mit einer deutlich höheren Bioverfügbarkeit zu rechnen! Da die Halbwertszeit der meisten Antidepressiva mehr als 24 h beträgt, ist in den ersten Tagen einer medikamentösen antidepressiven Therapie ein Kumulationseffekt zu erwarten. Zusätzlich muss beachtet werden, dass etwa 7–10% der Europäer sog. »slow metabolizer« sind, was den erwähnten Kumulationseffekt noch zusätzlich verstärken kann. Dieses Phänomen ist zurückzuführen auf einen Polymorphismus des Enzymsystems der Zytochromoxydase P450 (CYP2D6), das die Mehrzahl der antidepressiven Wirkstoffe metabolisiert. Andererseits gibt es auch sog. »supermetabolizer«, die Antidepressiva sehr viel schneller abbauen und deshalb einen geringeren therapeutischen Effekt aufweisen können (Dalén et al. 1998). Der Wirkmechanismus der verschiedenen Antidepressiva bedingt auch deren Nebenwirkungspotenzial. Trizyklische Antidepressiva können antihypertensive Effekte anderer Pharmaka ebenso verstärken wie die anticholinergen Wirkungen von Neuroleptika bzw. Antihistaminika. Zudem können Trizyklika aufgrund ihrer eigenen anticholinergen und antihistaminergen Effekte auch Obstipation, Mundtrockenheit, Benommenheit, Schwindel, Sedierung, Gedächtnisstörungen und akute Verwirrtheitszustände hervorrufen. Besonders gefürchtet ist der chinidinartige Effekt, der speziell bei Kumulation der trizyklischen Antidepressiva zu therapierefraktären Rhythmusstörungen führen kann (Pentel u. Benowitz 1986). Der ebenfalls vorhandene antiadrenerge Effekt der Trizyklika kann auch orthostatische Dysregulationen auslösen bzw. verstärken. Wie Edwards und Anderson (1999) ausführen, erhöhen die sog. »selective serotonin re-uptake inhibitors« die intestinale Motilität, führen über Aktivierung des 5HT3-Rezeptors vermehrt zu Übelkeit und Erbrechen und können über Erregung des 5HT2- Rezeptors auch Angstzustände und Unruhe auslösen bzw. verstärken. Zudem haben diese Inhibitoren auch das Potenzial, ein sog. serotoninerges Syndrom auszulösen (z. B. Kaneda et al. 2002). 31.6.6 Delirantes Syndrom
Bei deliranten Zuständen handelt es sich zumeist um reversible organische Störungen der Hirnfunktion. Charakteristisch für derartige Zustände sind ein akuter Beginn, eine gestörte Aufmerksamkeit und eine beeinträchtigte Kognition (speziell im Bereich des Kurzzeitgedächtnisses), psychomotorische Auffälligkeiten und eine eingeschränkte Perzeption (Ingham u. Breitbart 1997). Derartige Störungen werden vielfach nicht ausreichend diagnostiziert. Wird deshalb keine adäquate Therapie eingeleitet, kann dies konsekutiv zu Konflikten zwischen Patienten, Familie und Betreuern führen, wenn die therapeutischen Interventionen nur unbefriedigend wirksam sind. Die Prävalenz von Delir und Verwirrtheitszuständen beträgt bei älteren, hospitalisierten Patienten ca. 10% (Levkoff et al. 1992) und bei stationären Tumorpatienten ca. 8–40% (z. B. Stiefel et al. 1992). Diese stark differierenden Prävalenzraten dürften vorrangig durch unterschiedliche diagnostische Kriterien bedingt sein, die den jeweiligen Studien zugrunde lagen. Während also die diagnostischen Kriterien für delirante Zustände in verschiedenen Studien schon erheblich divergieren, ist die Situation bei der Beurteilung von Verwirrtheitszuständen noch problematischer, weil diese Störungen in der Regel noch weniger präzise definiert sind: So werden von einigen Autoren
Verwirrtheitszustände mit deliranten Zuständen gleichgesetzt, von anderen dagegen als eigenständiges Krankheitsbild betrachtet. Bei Tumorpatienten wurde die Inzidenz der Verwirrtheit im Gegensatz zur Prävalenz nur selten untersucht. Bruera et al. (1992a) fanden bei terminal kranken Tumorpatienten Prävalenzraten bis zu 80%; eine Auftretenshäufigkeit in dieser Größenordnung wird auch durch eine neuere Untersuchung von Fainsinger et al. (2000a) bestätigt. Auch soziodemografische bzw. krankheitsspezifische Faktoren, die evtl. zur Entwicklung kognitiver Störungen bei Tumorpatienten beitragen, sind für diese Patientengruppe bisher nicht dokumentiert worden. Aus Untersuchungen an anderen Patientengruppen sind aber folgende prädisponierende Faktoren bekannt: Höheres Lebensalter, vorangegangene kognitive Störungen, symptomatische Infektionen, schwere Begleiterkrankungen, Sehstörung, Alkoholabusus sowie positive Medikamentenanamnese für Neuroleptika, Opioide, anticholinerge Substanzen und Kortikosteroide. Diagnostik Die Symptomatik eines deliranten Syndroms und von Verwirrtheitszuständen kann in weiten Grenzen schwanken. Die Diagnose eines Delirs orientiert sich am DSM-IV. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die dort genannten Kriterien nicht vollständig auf kontrollierten Untersuchungen basieren, sondern dass sie einen Konsensus darstellen, der das derzeitige Wissen zusammenfasst (Ingham u. Breitbart 1997). Nach DSM-IV gelten folgende diagnostische Kriterien: 4 Reduktion des Bewusstseins, 4 Perzeptionsstörungen, 4 Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, 4 fehlende Orientierung zu Zeit, Ort und/oder Person, 4 Gedächtnisstörungen. Da bestimmte Medikamente bzw. das Vorhandensein von Organinsuffizienzen, Elektrolytstörungen, Mangelzuständen (von z. B. Vitaminen und Energieträgern) sowie das Vorliegen eines paraneoplastischen Syndroms für das Auftreten eines deliranten Syndroms als ätiologisch relevante Kofaktoren angesehen werden, sind solche Faktoren gezielt zu eruieren (. Tab. 31.14; mod. nach Morita et al. 2001). Von Ingham u. Breitbart (1997) wurden Klassifikationskriterien vorgeschlagen, mit deren Hilfe die Differenzierung deliranter Syndrome in eine hyper- bzw. eine hypoaktive Form möglich ist (. Tab. 31.15, nach Ingham und Breitbart 1997); darüber hinaus geben die Autoren Instrumente an, die für Untersuchungen wissenschaftlicher Art im Rahmen der Palliativmedizin bei der Diagnose eines deliranten Syndroms hilfreich sein können. Beispielhaft seien hier die »Memorial Delirium Assessment Scale« (MDAS; Breitbart et al. 1997) sowie die »Delirium Rating Scale« (DRS; Trzepacz et al. 1998) genannt. Während die DRS speziell als Observer-Ratingskala konzipiert ist, eignet sich die MDAS nur bedingt zur Fremdbeurteilung, da 3 von 10 Items die Mitwirkung des Patienten erfordern. Differenzialdiagnostisch müssen das Delir oder Verwirrtheitszustände von Demenzen unterschiedlicher Genese, amnestischen Störungen und medikamentös induzierten psychischen Alterationen abgegrenzt werden. Tuma u. DeAngelis (2000) ermittelten die Häufigkeit, mit der bei Tumorpatienten bestimmte Faktoren delirante Zustände auslösen bzw. mitverursachen (. Tab. 31.16, nach Tuma u. DeAngelis 2000).
663 31.6 · Neurologische und psychiatrische Symptome
. Tab. 31.14. Definierte biologische Ursachen für das Auftreten eines Delirs bei Tumorpatienten, die labortechnisch zu erfassen sind. Biologische Ursachen
Laborparameter
Leberversagen
Gesamt-Bilirubin ≥43 μmol/l oder Ammoniak ≥47 μmol/l
Nierenversagen (intrinsisch)
BUN ≥8 mmol/l und BUN/Kreatinin <0,037 *
Prärenales Nierenversagen
BUN ≥8 mmol/l und BUN/Kreatinin ≥0,037 *
Hyperosmolalität
Osmolalität ≥300 mOsmol/kg
Hypernatriämie
Na+ ≥160 mmol/l
Hyponatriämie
Na+ ≤125 mmol/l
Hyperkalzämie
Korrigiertes Ca++ ≥2,9 mmol/l
Hypoxie
SaO2 ≤90%, pO2 ≤60 mmHg
. Tab. 31.15. Klassifikationskriterien der hyperaktiven (bzw. hyperalerten) und der hypoaktiven (bzw. hypoalerten) Form des Delirs; von anderen Autoren wird noch ein Intermediartyp des Delirs differenziert (Smith et al. 1995) Psychischer Zustand des Patienten
Agitiert
Lethargisch
Symptome
Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Übererregung
Schläfrigkeit, Verlangsamung, Rückzug
Pathophysiologie
Normaler oder erhöhter zerebraler Metabolismus
Reduzierter globaler zerebraler Metabolismus
Normale oder schnelle Frequenzmuster im EEG
Diffuse Verlangsamung im EEG
Reduzierte Aktivität des GABAergen Systems
Überstimulation des GABAergen Systems
Entzugssyndrome: Benzodiazepine, Alkohol
Enzephalopathien: hepatisch, metabolisch
oder O2-Bedarf ≥2 l/min Hyperkapnie
pCO2 ≥75 mmHg
Anämie
Hb ≤6,0 g/dl
Hyperglykämie
Glukose ≥25 mmol/l
Hypoglykämie
Glukose ≤2,8 mmol/l
* Diese Parameter haben bei Vorliegen einer gastrointestinalen Blutung keine Aussagekraft
Die Bedeutung einer sorgfältigen Diagnose deliranter Zustände belegen die Arbeiten von Bruera et al. (1992a) sowie von Tuma et DeAngelis (2000). Die letztgenannten Autoren konnten zeigen, dass trotz einer 30-Tages-Mortalität von 31% bei deliranten oder verwirrten Patienten bei mehr als zwei Drittel der insgesamt betroffenen Tumorpatienten sich die Symptomatik unter adäquater Therapie besserte, wohingegen in der Untersuchung von Bruera et al. (1992a) lediglich ein Drittel der Betroffenen eine solche Besserung zeigte. Noch ungünstiger waren die Ergebnisse von Morita et al. (2001): Diese Autoren beschreiben eine 30-Tages-Mortalität von 83%. Zu einer Besserung des deliranten Zustandes kam es im Mittel bei 20% der Betroffenen. Eine günstigere Besserungsrate zeigten Patienten mit medikamenteninduziertem (37%) bzw. durch Hyperkalzämie verursachtem Delir (38%); am schechtesten war die Aussicht auf Besserung bei deliranten Zuständen nach Infektionen (12%) und Organinsuffizienzen (<10%). Caraceni et al. (2000) konnten in einer prospektiven, multizentrischen Studie nachweisen, dass Patienten mit deliranten Symptomen signifikant früher verstarben als solche ohne (mittleres Überlebensintervall 21 vs. 39 Tage). Als Risikofaktoren für das Auftreten eines deliranten Syndroms fanden diese Autoren männliches Geschlecht, ZNS-Metastasen, geringerer KarnovskyIndex, schlechtere klinische Prognose sowie bei Frauen eine vorangegangene Hormonbehandlung mit Progesteron. Gagnon et al. (2000) ermittelten in einer prospektiven Kohortenstudie, dass bei der Aufnahme in die Klinik bereits bei 20% der terminalen Patienten die diagnostischen Kriterien eines deliranten Syndroms erfüllt waren; im Verlauf der stationären Be-
31
Beispiele
Benzodiazepinintoxikation
. Tab. 31.16. Häufigkeiten bestimmter Faktoren als mitverursachende bzw. auslösende Komponente von delirantem Syndrom und Verwirrtheitszuständen bei Tumorpatienten. Faktoren
Mitverursacher [%]
Primäre Ursache [%]
Metabolische Faktoren
89
44
Medikamente
97
29
DIC
11
?
Fieber
51
?
ZNS-Metastasen
32
32
treuung kam es dann bei weiteren 32,8% der Patienten zum Auftreten deliranter Zustände, wobei in der letztgenannten Gruppe eine höhere Morphindosis verwendet wurde als bei den symptomfreien Patienten (72 mg vs. 41 mg/die). Lawlor et al. (2000) beschreiben in einer ebenfalls prospektiven Kohortenstudie in 42% der Fälle ein delirantes Syndrom bereits bei stationärer Aufnahme; bei 45% der initial symptomfreien Patienten entwickelten sich im Verlauf der Betreuung Anzeichen für ein Delir. Von den 52 während ihres Aufenthaltes auf der Palliativstation verstorbenen Patienten ließen sich bei 88% Zeichen deliranter Zustände in der letzten Lebensphase nachweisen (sog. terminales Delir). Als Faktoren, die häufig mit einem solchen Delir korreliert waren, erwiesen sich die Einnahme von Opioiden (Hazard Ratio: 8,85) und das Vorhandensein einer Dehydratation (Hazard Ratio: 2,35). Auch hier zeigten die Patienten mit delirantem Syndrom eine hochsignifikant erhöhte Sterblichkeit.
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Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
Therapie Aus der deutlich erhöhten Mortalität von Patienten mit deliranten Zuständen ergibt sich die Notwendigkeit, umgehend eine adäquate Intervention einzuleiten. Nach Untersuchungen von Fainsinger et al. (2000a) ist zur Behandlung eines Delirs auf einer Palliativstation bei nahezu 80% der Betroffenen eine pharmakologische Therapie erforderlich, bei ambulanter Betreuung aber nur bei 40%. Eine angemessene Therapie des deliranten Syndroms bei Tumorpatienten beinhaltet Maßnahmen, die sich an den zugrunde liegenden Ursachen und an den bestehenden Symptomen orientieren; bei Patienten in weit fortgeschrittenen Stadien mit stark limitierter Lebenserwartung sollten in der Regel die symptomorientierten Maßnahmen im Vordergrund stehen (z. B. Fainsinger et al. 2000b). Empirische Studien zeigen allerdings, dass es keineswegs regelhaft gelingt, die zugrunde liegenden Ursachen für das Delir zu identifizieren (Olofsson et al. 1996; Stiefel et al. 1992); so konnten Bruera et al. (1992a) lediglich bei 44% der Betroffenen eine gesicherte Ursache nachweisen. Generell gilt, dass behandelbare Störungen korrigiert und im Fall eines opioidinduzierten deliranten Syndroms durch Umstellung der Medikation (sog. Opioidrotation; 7 Kap. 32) bzw. durch symptomatische Behandlung eine Verbesserung der Situation versucht werden sollte. Morita et al. (2003) konnten allerdings durch einen Wechsel des Opioids (Fentanyl anstelle von Morphin) und eine prophylaktische moderate Hydratation keine Senkung der Rate an deliranten Zuständen bei finalen Tumorpatienten erzielen. Dieses Ausbleiben eines Therapieeffektes durch parenterale Hydratation fanden auch Bruera et al. (2005) in einer randomisierten Untersuchung. Weitere Optionen zur symptomatischen Behandlung sind: 4 Aufklärung über Ursachen und möglichen Verlauf des deliranten Zustandes mit dem Ziel einer verbesserten Akzeptanz vor allem bei den Angehörigen, 4 Angebot professioneller psychologischer, psychiatrischer und pflegerischer Unterstützung an Patient und Familie, 4 Optimierung der Versorgungssituation durch Schaffung von Orientierungspunkten für den Patienten mittels: 5 gut sichtbare Uhr bzw. Kalender, 5 persönlicher Gegenstände im Zimmer, 5 regelmäßige Besuche von Freunden, Bekannten, Angehörigen, 4 angemessene Pharmakotherapie. Substanzen der Wahl zur Behandlung eines deliranten Syndroms sind die Neuroleptika; akut agitierte Patienten benötigen eine sedierende Medikation. Treten extrapyramidale Störungen auf, ist die Gabe von Anti-Parkinson-wirksamen Substanzen (z. B. Diphenhydramin, Biperiden, Trihexyphenidyl) indiziert (Breitbart u. Jacobsen 1996; Evidenzlevel IIb). Das eher seltene maligne neuroleptische Syndrom mit Hyperthermie, zunehmender Verwirrtheit, Leukozytose, Muskelrigidität, massiver Erhöhung der CK und Myoglobinurie, das bei 0,02–0,2% aller Behandlungen mit Neuroleptika auftritt und eine Letalität von 5–22% aufweist (Henze u. Zielmann 2001), wird durch Absetzen aller potenziellen Auslöser (z. B. Neuroleptika, Antidepressiva, Lithium, Carbamazepin), durch Verabreichung von Benzodiazepinen (z. B. Clorazepam 1–2 mg p. o. bzw. Diazepam 5–10 mg p. o./i. v. 8-stündlich) sowie durch die Gabe von Dantrolen behandelt (initial 1–2,5 mg/kg i. v. über 15 min, danach kontinuierlich 7,5 mg/ kg KG/die i. v.).
Bei finalen Patienten ist eine Behandlung mit Neuroleptika oftmals nicht indiziert, da der allgemeine Zustand des Patienten eine Verbesserung seines kognitiven Zustandes nicht mehr erwarten lässt. Ist bei derartigen Patienten alternativ eine Sedierung angezeigt, kann diese mit Lorazepam oder Midazolam erreicht werden (z. B. Moyle 1995; Evidenzlevel V).
31.7
Tumormodifizierende Verfahren in der Palliativmedizin
31.7.1 Chemo- und Hormontherapie
Palliativmedizin oder im Englischen »palliative care« fokussiert auf den Patienten, nicht auf die Erkrankung. Bereits 1993 hatten Porzsolt u. Tannock festgestellt: »critical endpoint of anticancer therapies when applied in incurable situations is relief of suffering rather than prolongation of existence.« Diese aus Sicht der Verfasser durchaus zutreffende Einschätzung wird gleichwohl in der Onkologie unterschiedlich ausgelegt, z. B. 4 Rothenbacher et al. (1997): »alleviation of existing symptoms or the prevention of impending problems.« 4 Detmar et al. (2001): »prolong the patients life and to alleviate debilitating symptoms of the disease.« 4 Koedoot et al. (2002): »ensure an optimal quality of life and/ or sometimes increase their length of survival.« In diesem Spannungsfeld sind die Konzepte »palliativer« chemotherapeutischer Ansätze zu bewerten. In einer Untersuchung an Allgemeinmedizinern und Onkologen ermittelten van Kleffens et al. (2004), dass Allgemeinmediziner unter »palliativ« vorrangig Palliativmedizin mit Unterstützung, Begleitung, Linderung von Schmerzen und Symptomkontrolle verstanden, während Onkologen sowohl diesen Aspekt als auch antitumoröse Behandlung jeglicher Art (also Chemo-, Radiotherapie etc.) darunter subsumierten. Die American Society of Clinical Oncology (ASCO) hat bereits 1998 darauf hingewiesen, dass der Umschlag im therapeutischen Konzept von kurativ nach palliativ von besonderer Bedeutung ist. Sie betont, dass Onkologen diesen qualitativen Wechsel erkennen müssen und von einer erkrankungsorientierten antitumorösen Therapie zu einer symptomorientierten palliativen Behandlung wechseln sollten. Diese qualitative Änderung des therapeutischen Konzepts muss den Patienten und ihren Angehörigen erklärt werden, können diese doch oftmals den fundamentalen Unterschied in der Zielsetzung nicht erkennen. Dass hier immer noch eine Quelle für »Missverstände« liegt, konnte eine Unteruchung von Doyle et al. (2001) zeigen. Bei Patientinnen mit Ovarialkarzinom wurde eine palliative Zweit- oder Drittlinien-Chemotherapie angeboten. Bei Erfassung der Erwartung der Betroffenen an diese Therapie gaben zwei Drittel eine Lebensverlängerung, und 40% eine Heilung als wesentliches Ziel an. Dass große Teile dieser »Missverstände« durch die Kommunikation zwischen Arzt und Patient mitbedingt sind, konnten Gattellari et al. (2002) sowie Tattersall (2002) wahrscheinlich machen. Klinische Studien über palliative chemotherapeutische Konzepte wurden bisher im Wesentlichen mit dem Endpunkt »Tumorremission« bzw. »Verlängerung der Überlebenszeit« durchgeführt. Beide Parameter sind untauglich, die Eignung von Behandlungsformen für palliativmedizinische Zwecke zu beurteilen. Andere Variablen, die palliativmedizinisch von größerer Bedeu-
665 31.7 · Tumormodifizierende Verfahren in der Palliativmedizin
tung sind, wie z. B. potenzielle Nebenwirkungen oder Verträglichkeit der Therapie in Relation zum gegebenen Wirkeffekt, werden nur selten erfasst (Aulbert 1997), wenngleich in dieser Beziehung ein Wandel zu beobachten ist. Unter palliativmedizinischen Gesichtspunkten eingesetzte Chemotherapien sollen einen wichtigen Beitrag zur lokalen Tumor- bzw. Symptomkontrolle und zur Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität leisten. Als Argument gegen den Einsatz werden oft die typischen medikamenteneigenen Nebenwirkungen der Chemotherapeutika angeführt. Untersuchungen über Lebensqualität bei Tumorerkrankungen zeigen aber, dass in vielen Fällen die Symptombelastung durch die Krebserkrankung selbst gravierender einzuschätzen ist, als jene durch die Chemotherapie (Coates et al. 1987). So konnte für einige Chemotherapieregime, die im Rahmen palliativer Behandlungen eingesetzt werden – trotz des Auftretens von Nebenwirkungen sowie einer z. T. fehlenden Lebensverlängerung – eine Steigerung der Lebensqualität nachgewiesen werden (z. B. Gunnars et al. 2001). Inzwischen können einige der typischen, durch Chemotherapien induzierten Nebenwirkungen wirkungsvoll medikamentös bekämpft werden (. Tab. 31.17). Für andere unerwünschte Wirkungen, z. B. Neuropathien, gibt es jedoch bislang kaum therapeutische Optionen (Cascinu et al. 1995). Mit dem Tumorwachstum einhergehende Symptome, wie z. B. Schmerz oder Dyspnoe, lassen sich oftmals durch gegen den Tumor gerichtete Therapien reduzieren, wenn es durch diese Be-
31
handlung zu einer Abnahme der Tumormasse kommt. Dass Symptome durch derartige Therapien auch dann gelindert werden, wenn eine Tumorregression nicht nachweisbar ist, wird zwar vermutet, ist derzeit aber nicht zweifelsfrei belegt. Denkbar ist in diesem Zusammenhang, dass es unter Einsatz einer antitumorösen Therapie, zu einer Abnahme der Mediator- bzw. Zytokinfreisetzung kommt, ohne dass eine nennenswerte Zerstörung von Tumorzellen auftritt. Johnsson et al. (1988) konnten zeigen, dass Chemotherapeutika die Freisetzung von Zytokinen blockieren; so bewirkt beispielsweise Methotrexat eine Drosselung der Synthese von Interleukin 1 mit nachfolgender Abnahme der Produktion von Leukotrienen und Prostaglandinen. Eine systematische Untersuchung der symptomlindernden Wirkung von Zytostatika erfolgte bisher nur in wenigen Studien, obwohl solche Wirkungen in zahlreichen Untersuchungen als Begleiteffekte beobachtet wurden (z. B. Wedding u. Höffken 2000). Die Voraussetzungen, wann eine kurative bzw. adjuvante Chemotherapie durchgeführt werden sollte, sind zumeist gut definiert. Anders liegen die Dinge für einen symptomorientierten Einsatz von Zytostatika, denn für diese Indikation sind etablierte Protokolle nur vereinzelt vorhanden (Sauer 1996). In der individuellen Krankheitssituation ist es wichtig zu klären, ob die Lebensverlängerung, die Verbesserung der Lebensqualität oder eine Kombination beider Therapieziele in Frage kommen (. Abb. 31.5). Dabei ist das therapeutisch Machbare (. Tab. 31.18, nach Kaye 1994) und das mit der jeweiligen Therapie verbundene Neben-
. Tab. 31.17. Symptome und Behandlungsansätze chemotherapieinduzierter Nebenwirkungen Symptome chemotherapieinduzierter Nebenwirkungen
Chemotherapeutika mit hoher Inzidenz dieser Nebenwirkungen
Generika zur symptomatischen Therapie der NW
Handelsnamen (Beispiele)
Besonderheiten
Übelkeit, Erbrechen
–
Metoclopramid
Paspertin
–
5-HT3-Antagonisten: Granisetron,
Kevatril, Zofran,
–
Ondansetron, Tropisetron
Navoban
Dexamethason
Fortecortin
In Kombination mit 5-HT3-Antagonisten
Cesamid
Nabilon
Marihuanaderivat (. Tab. 31.3)
Infektion durch Knochenmarkschädigung
Alkylierende Substanzen, Mitomycin
Molgramostim
Leukomax
Hoher Preis
Neuropathie
Cisplatin, Procarbazin, Vinca-Alkaloide, Etoposid, Suramin, Paclitaxel
–
–
Bisher keine Therapie bekannt
Dyspnoe durch toxische Lungenfibrose
Busulfan, Melphalan, Lomustin, Carmustin, Mitomycin, Bleomycin
–
–
Bisher keine Therapie bekannt
Kardiomyopathie
Anthrazykline (Dosisproportionalität), Mitomycin, Mitoxantron
–
–
Bisher keine Therapie bekannt
Sterilität
Alkylierende Substanzen
–
–
–
Libidoverlust
Alle Zytostatika
–
–
–
Sexualfunktion
666
Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
. Tab. 31.18. Lebensqualitätsverbesserung durch palliative Chemotherapie bei verschiedenen Tumorarten.
31
Tumorart
Besserung [%]
Kleinzelliges Bronchialkarzinom
75
Mammakarzinom
50
Ovarialkarzinom
40
Kolorektale Karzinome
20
Magenkarzinom
20
Kopf- und Halstumoren
20
Zervixkarzinom
15
Blasenkarzinom
15
Melanom
5–10
Sarkom
5–10
wirkungsprofil so weit wie möglich mit den Zielen und Wünschen des Patienten zur Deckung zu bringen und mit ihm zu diskutieren (Cella 1995; McGrath 1995). Spricht ein Patient nach zwei vollständigen Chemotherapiezyklen nicht auf die Behandlung an, so ist die Wahrscheinlichkeit einer dann noch zu erzielenden, erfolgreichen Symptomlinderung gering und der Versuch sollte beendet werden. Ein Überwiegen der Nebenwirkungen gegenüber den positiven Effekten wäre ebenfalls ein Grund, eine unter palliativmedizinischen Aspekten durchgeführte Chemotherapie abzubrechen. Von Browner u. Carducci (2005) wird hervorgehoben, dass die Entscheidung zur Durchführung einer palliativen Chemotherapie vorrangig auf die Wünsche des Patienten gegründet werden sollte sowie auf deren antizipierte Fähigkeit, eine Symptomkontrolle und/oder Verbesserung der Lebensqualität zu erreichen. Der Einsatz palliativer Therapie soll durch einen Paradigmenwechsel in der Onkologie, weg von zytostatischen chemotherapeutischen Substanzen, hin zu »new substances for single targeted therapies« deutlich verbessert werden, wie Alt-Epping et al. (2006) in einer Übersicht über Möglichkeiten tumorspezifischer Therapien auf Palliativstationen ausführen. Ob diese »neuen« Medikamente mit »gute(n) symptomkontrollierende(n) Wirkungen« zu neuen Entwicklungen in der Palliativmedizin führen werden, bleibt allerdings abzuwarten. Sie werden aktuell überwiegend nicht mit palliativmedizinischer Intention genutzt (z. B. Verbeek u. Graeven 2005), sondern zumeist mit lebensverlängernder Intention, wie de Kort et al. (2006) zeigten. Palliativmediziner sollten sich jedoch nicht scheuen, derartige Substanzen bei gegebener Indikation in Zusammenarbeit mit Onkologen einzusetzen, wenn sich für die Patienten neue Chancen auf eine Verbesserung in der symptomatischen Therapie und in ihrer Wahrnehmung von Lebensqualität eröffnen. 31.7.2 Strahlentherapie
Im Rahmen der Symptomkontrolle bei fortgeschrittener Tumorerkrankung ist die Radiatio eine wesentliche Therapieoption
(McQuay et al. 1997). Dabei sind folgende Grundsätze zu beachten (Hess et al. 1996): 4 Die Bestrahlung ist auf die symptomatischen Tumormanifestationen zu konzentrieren. 4 Die Anzahl der Fraktionen sowie die Gesamtdosis ist gegenüber der kurativen Radiatio zu reduzieren. 4 Die Therapie sollte stets so früh wie möglich begonnen werden. Oberstes Ziel für die palliativmedizinische Indikationsstellung zur Strahlentherapie ist die Verbesserung der Lebensqualität des Patienten, d. h. durch ihren Einsatz wird immer eine Linderung bereits bestehender bzw. eine Abwendung unmittelbar drohender Symptome angestrebt. Die folgenden Beschwerdebilder stellen dabei die wesentlichen Indikationen für eine palliative Radiatio dar: 4 Schmerzen, 4 drohender Querschnitt, 4 Bewegungseinschränkungen durch Knochen- und Weichteilmetastasen, 4 Druckgefühl durch Raumforderung, 4 Störungen der Sensibilität und Motorik durch Gefäß- bzw. Nervenkompression, 4 Hirndruck (Kopfschmerzen, Hirnnervenausfälle), 4 Sehstörungen (Visusminderung, -verlust), 4 Kompression von Gefäßen und Hohlorganen mit Einflussstauung, 4 Dyspnoe, Husten, 4 Tumorblutung, 4 Exulzeration. Kompressionen des Rückenmarks und Bronchialobstruktionen sind ebenso wie eine obere Einflussstauung strahlentherapeutische Notfallsituationen, die umgehend (i. e. innerhalb von 24 h) behandelt werden müssen! Der Eintritt des Effekts hängt dabei stark von der Art des zu bestrahlenden Tumors ab. Während Lymphome und kleinzellige Bronchialkarzinome relativ schnell ansprechen, benötigen andere Tumoren (wie z. B. Sarkome) unter Umständen sehr viel Zeit. Ein Überblick der symptombezogenen Ansprechraten für den Einsatz der Strahlentherapie unter palliativmedizinischen Gesichtspunkten ergibt sich aus . Tab. 31.19 (Hess et al. 1996). Die Wahl des Bestrahlungsverfahrens und die Fraktionierung hängen von der Größe und der Lokalisation der Tumormasse sowie vom Zustand des Patienten ab (Ciezki u. Macklis 1995). Wesentliche Unterschiede zwischen kurativer und palliativer Strahlentherapie . Tab. 31.19. Übersicht über die wesentlichen Indikationen der symptomorientierten perkutanen Strahlentherapie Indikation
Ansprechraten [%]
Schmerzen
80–90
Neurologische Ausfälle
80–90
Einflussstauung
70–95
Dyspnoe
60–90
Schluckstörung
60–90
Tumorblutung
75
667 31.7 · Tumormodifizierende Verfahren in der Palliativmedizin
liegen somit in der verwendeten Strahlendosis, der Fraktionierung, der Dauer der Behandlung sowie in Art und Ausmaß der tolerierten Nebenwirkungen. Die Behandlung von schmerzhaften und frakturgefährdeten Skelettmetastasen ist eine Domäne der palliativen Strahlentherapie, wobei schon eine Low-dose-Kurzbestrahlung bei 90% der Patienten zu einer Schmerzlinderung führen soll (Hoegler 1997). Dabei sind sowohl die Dauer der Therapie als auch die zu verabreichende Gesamtdosis Gegenstand kontroverser Diskussionen. Für die äußere Bestrahlung werden unterschiedliche Protokolle angegeben, mit differierenden Einzeldosen (2–15 Gy/Einzelbestrahlung) und Fraktionen (1–43) sowie mit in weiten Grenzen schwankenden Ansprechraten (28–83%; zur Übersicht s. Konski et al. 2005, Williams et al. 2006). Während sich in Untersuchungen der nordamerikanischen Radiation Therapy Oncology Group (RTOG) Hinweise auf eine bessere Ansprechrate der genannten Symptome fanden (Blitzer 1985), konnten insbesondere europäische Folgestudien diesen Befund nicht erhärten (z. B. Nielsen et al. 1998). Unter Kostengesichtspunkten scheint die Behandlung mittels Einzeldosis deutlich kosteneffektiver zu sein, als ein multifraktioniertes Vorgehen (5.000 US $/QALY); andererseits gab es in der Gruppe mit Einzelbestrahlung eine deutlich höhere Rate von Fällen, die wegen rezidivierender Beschwerden eine erneute Radiatio benötigten (van den Hout et al. 2003). Einen Kostenvergleich von Bestrahlung, Chemotherapie und alleiniger Schmerztherapie in Relation zum Überleben stellte Konski (2004) für Patienten mit Prostatakarzinom an. Für die unterschiedlichen Behandlungsstrategien ergaben sich die folgenden Kosten/QALY: 4 Chemotherapie; 37.240 US $/QALY, 4 multifraktionelle Bestrahlung: 36.000 US $/QALY, 4 Schmerztherapie: 24.420 US $/QALY, 4 singuläre Bestrahlung: 6.860 US $/QALY. Liegt eine diffuse Knochenmetastasierung vor, soll mit einer Halbkörperbestrahlung eine Schmerzreduktion bis zu 73% und eine verzögerte Progredienz der Erkrankung zu erzielen sein (Scarantino et al. 1996). Als Alternative zur Halbkörperbestrahlung bietet sich für diese Indikation auch der Einsatz von Radionukliden an. Durch ihre spezielle Affinität zu stoffwechselaktiven Bereichen kommt es um Metastasen herum zu einer Anreicherung, die um den Faktor 4–50 höher ist, als im normalen Knochengewebe (vgl. Biersack et al. 2005). Diverse Nuklide finden therapeutische Anwendung bei der Behandlung von Knochenschmerzen infolge einer intraossären Metastasierung: Phosphor (P-32-Orthophosphat), Strontium-89 Chlorid (Sr-89), Samarium-153 Lexidronam (Sm-153 EDTMP) und Rhenium-186 Etidronat (Rh-186 HEDP bzw. Rh-188 HEDP; zu Wirkmechanismen, Dosisangaben und physikochemischen Daten s. Navani et al. 2005); dabei werden von einigen Autoren analgetische Ansprechraten bis zu 90% berichtet (z. B. Konski et al. 2005). Diese sehr optimistischen Erfolgsraten werden jedoch durch einen entsprechenden Cochrane-Review von Roque et al. (2003) sowie einen systematischen Review von Bauman et al. (2005) nicht bestätigt. Die beiden letztgenannten Autorengruppen kommen zu dem Schluss, dass der analgetische Effekt von Radionukliden nur gering ausgeprägt und zudem zeitlich begrenzt sei (1–6 Monate); zum Wirkungsverlauf über längere Zeiträume gibt es wegen fehlender Daten keine Angaben.
31
Auch die Frage, ob eine Radionuklidtherapie die Progression der zugrunde liegenden Tumorerkrankung verlangsamen kann, wird bislang kontrovers beurteilt (z. B. Biersack et al. 2005). Als ökonomisches Argument für die Radionuklidtherapie wird deren Kosteneffektivität im Vergleich zur konventionellen Strahlentherapie (5.600 € vs. 12.500 €) hervorgehoben (VelascoLatras et al. 2005). Neben Knochenmanifestationen können die Methoden der Radioonkologie auch zur palliativmedizinischen Behandlung von Hirnmetastasen, Rückenmarkkompressionen, intrapulmonalen Symptomen (Hämoptysen, Obstruktionen etc.), Ösophagusstenosen sowie weiteren symptomatischen Tumormanifestationen eingesetzt werden; eine Übersicht findet sich bei Konski et al. (2005). Besonders erwähnt werden sollte die Endobrachytherapie, die sowohl intrabronchial als auch im Bereich des Ösophagus ihre wesentlichen Indikationen hat. So konnten z. B. Homs et al. (2005) zeigen, dass die singuläre Anwendung der Brachytherapie (12 Gy) im Vergleich zu selbstexpandierenden Metallstents eine länger anhaltende Besserung der Dysphagie bei signifikant selteneren Komplikationen zur Folge hatte. Das Outcome der Patienten wurde dabei wesentlich dadurch bestimmt, ob zur Durchführung der Brachytherapie eine Dilatation des Ösophagus erforderlich war und ob die Patienten zuvor mit einer Chemotherapie behandelt worden waren. Beide Faktoren erhöhten das Risiko für ein negatives Behandlungsergebnis (Odds Ratio: 4,1; Range: 1,3–12 bzw. Odds Ratio: 3,2; Range: 0,81–12) bei tumorbedingten Ösophagusstenosen (Homs et al. 2006). Die Kombination von Stent und Brachytherapie (3 × 6 Gy in wöchentlicher Abfolge) konnte bei Patienten, die auf eine kombinierte Radiochemotherapie nicht angesprochen hatten, eine umgehende, bis zum Tode der Patienten anhaltende Palliation ihrer pulmonalen Symptomatik (O2-abhängige Dyspnoe, Hämoptysen) bewirken (Allison et al. 2004). Dieser Befund korrespondiert mit Ergebnissen von Escobar-Sacristan et al. (2004), die in einer prospektiven Studie zeigen konnten, dass 85% der von ihnen untersuchten Symptome (Auswurf, Dyspnoe, Hämoptysen, Husten, Stridor) unmittelbar sistierten, eine deutlich höhere Erfolgsrate als jene von 66%, die Kelly et al. (2000) retrospektiv ermitteln konnten. Die mit den diversen Formen der Strahlentherapie verbundenen Nebenwirkungen lassen sich differenzieren in akute und solche, die mit einer gewissen Latenz auftreten. Bei Patienten, die unter palliativmedizinischen Gesichtspunkten bestrahlt werden, sollte das Auftreten akuter Nebenwirkungen möglichst vermieden werden, da es unter dem Aspekt einer Verbesserung der Lebensqualität in der Regel nicht sinnvoll erscheint, ein belastendes Symptom (z. B. Knochenschmerzen) durch ein anderes (z. B. Diarrhöen) zu ersetzen. Demgegenüber sind Spätfolgen (z. B. Atrophien, Lymphödeme, Ulzera, Nekrosen, radiogene Knochennekrosen) in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium eher zu vernachlässigen. Trotzdem muss unter dem Aspekt einer mittelfristigen Besserung der Lebensqualität gelegentlich das Auftreten von Nebenwirkungen hingenommen werden. In solchen Fällen ist es vor dem Einsatz einer palliativen Radiatio unbedingt erforderlich, mit dem Betroffenen potenzielle Alternativen ausführlich zu besprechen, um dem Patienten somit eine möglichst autonome Entscheidung über das weitere therapeutische Vorgehen zu ermöglichen.
668
Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
31.7.3 Operative Interventionen
31
McCahill et al. (2002) stellten in einer Untersuchung zur Entscheidungsfindung in der palliativen Chirurgie fest, dass unter nordamerikanischen Chirurgen keine Einigkeit darüber besteht, was genau unter palliativer Chirurgie zu verstehen ist. Diese Einschätzung gilt in ähnlicher Weise sicher auch für den deutschsprachigen Raum. Trotzdem hat in den chirurgischen Disziplinen ein Umdenken stattgefunden: Nachdem sich die kurativen Therapieergebnisse bei den meisten soliden Tumoren über die letzten Jahrzehnte hinweg kaum verbessert haben, wurde die Radikalität der Eingriffe in vielen Bereichen reduziert zugunsten funktionserhaltender Eingriffe in Kombination mit anderen tumororientierten Verfahren (Ok 2005). Wie Miner (2005) betont, wird die Indikationsstellung für einen operativen Eingriff nicht nur von Morbidität und Mortalität bestimmt, sondern vermehrt auch durch die Wahrscheinlichkeit für eine Symptomverbesserung, den erwarteten Einfluss auf die Lebensqualität und nicht zuletzt auch durch Fragen der Kosteneffizienz. Milch (2005) plädiert dafür, anstelle von »palliativer Chirurgie« besser den Begriff »chirurgische Palliativmedizin« (»surgical palliative care«) zu verwenden, da er über die rein technisch-funktionale Rolle des eigentlichen Eingriffes hinausgehen und mehr auf Interdisziplinarität sowie auf die multidimensionale Natur von Krankheit hinweisen soll. Die Aufgaben der Chirurgie im Kontext der Palliativmedizin sollen vielfältig sein (s. Übersicht).
Chirurgische Interventionen in der Palliativmedizin Supportive Intervention (als Bestandteil eines multidisziplinären Vorgehens) 4 Gewebegewinnung 4 Gefäßzugänge – venös – Broviac, Sheldon etc. – Port – arteriell 4 Ernährungssonden Palliative Intervention (zur Behandlung von Symptomen) 4 Drainagen – Aszites – Perikard – Pleura 4 Obstruktionen – respiratorisch – Laserresektion – Stent – gastrointestinal – Umgehungsoperation – Stent – neurologisch – Schienen – Stent Palliative Tumorresektion (offen oder minimalinvasiv) 4 wegen Blutung 4 wegen Fistelbildung 4 »Toiletten«-Resektion Wiederherstellung von Stabilität und/oder Funktion 4 offen (z. B. bei Querschnittssymptomatik) 4 Kypho- oder Vertebroplastie
Prinzipiell muss immer abgeklärt werden, ob nicht auch alternative konservative Behandlungsoptionen zur Verfügung stehen, die bei geringerem Risiko ein vergleichbares Ergebnis bieten (Markman 1995). In einer retrospektiven Analyse chirurgischer Interventionen im palliativmedizinischen Kontext konnten Krouse et al. (2001) für ein großes »comprehensive cancer center« in den USA zeigen, dass 12,5% aller chirurgischen Interventionen eines Jahres palliativen Charakter hatten, wobei der Anteil in den einzelnen Fachgebieten sehr unterschiedlich ausgeprägt war. Während in der Neurochirurgie 46% aller Eingriffe palliativ waren, fanden sich in der Orthopädie 31% und in der Thoraxchirurgie 22% derartige Interventionen. Die Dauer der Hospitalisation betrug im Mittel 12,4 Tage (Range: 0–99 Tage), was bei einer Indikationsstellung berücksichtigt und zur mutmaßlichen Lebenserwartung des Patienten in Relation gesetzt werden sollte. Die 30-Tage-Mortalität der untersuchten Patienten lag bei 12%, die Gesamtletalität bei 23%, wobei Letztere von Ausmaß und Schwere des jeweiligen Eingriffes abhängig war. Leider gibt es bis dato keine Untersuchungsergebnisse zu prognostischen Faktoren, die die Indikationsstellung für palliative chirurgische Interventionen erleichtern könnten (Legendre et al. 2001).
31.8
Physikalische Behandlung in der Palliativmedizin
Patienten auf Palliativstationen, in Hospizen und in ambulanter palliativmedizinischer Betreuung zeigen einen hohen Grad an funktionellen Einschränkungen, ausgelöst durch die Grunderkrankung und deren Verlauf. Diese Funktionseinbußen auf allen Ebenen (physisch, psychisch, sozial) tragen wesentlich zu einer Reduktion der Lebensqualität der Betroffenen bei (Morris et al. 1986). Die Mehrzahl der Tumorpatienten wünscht sich, so lange wie möglich körperlich unabhängig zu sein. Durch eine große Zahl an Publikationen wird der positive Beitrag von physikalischen Behandlungen bzw. Physiotherapie inzwischen belegt. So konnte Yoshioka (1994) anhand des »Barthel-Mobilitätsindex« zeigen, dass physiotherapeutische Interventionen in der Lage sind, bei Tumorpatienten die Fähigkeiten zur Ausübung von »Aktivitäten des täglichen Lebens« deutlich zu verbessern. Ein solches Ergebnis konnten auch Scialla (2000) sowie Garrard et al. (2004) bestätigen. In einer retrospektiven Erhebung stellten Montagnini et al. (2003) fest, dass es bei mehr als der Hälfte der Teilnehmenden an Maßnahmen physikalischer Therapie zu Verbesserungen der funktionellen Leistungsfähigkeit kommt, dass aber lediglich bei einem Drittel diese positiven Effekte über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten waren. Dass es durch Trainingsprogramme auch bei Tumorpatienten zu Verbesserungen physiologischer Leistungsparameter kommen kann, wurde mehrfach dokumentiert (z. B. Crevenna et al. 2003). Auch für Tumorkranke kann die Verbesserung der körperlichen Aktivität und Leistungsfähigkeit ein wichtiges Ziel darstellen, wie Mackey u. Sparling (2000) ermittelt haben. Es sollte daher ein besonderes Anliegen auch der Palliativmedizin sein, den an einer Tumorerkrankung Leidenden den ihrem Leistungsvermögen angemessenen Grad an körperlicher Aktivität zu ermöglichen. Die physikalische Behandlung und Physiotherapie bietet hierfür vielfältige palliativmedizinisch ausgerichtete Konzepte an (Marcant u. Rapin 1993):
669 31.9 · Psychologische und psychosoziale Aspekte der Palliativmedizin
4 Atemtherapie: 5 Verbesserung der Atemtechnik, 5 Vibration, 5 Drainagetechniken (z. B. durch gezielte Lagerung), vgl. Basser et al. (1989); 4 Mobilisierung: 5 angepasste aktive und passive Bewegung, 5 Aufbau eines Trainingsprogramms, 5 Abklärung der Rehabilitationsmöglichkeiten (Hockley 1993); 4 physikalische Therapie: 5 Massage, Aromatherapie (Wilkinson et al. 1999), 5 Kälte-Wärme-Anwendung, 5 Bäder und Güsse; 4 Lymphdrainage (7 Abschn. 31.5; erfordert spezifische Kenntnisse!); 4 Reflexzonenmassage; 4 Entspannungsübungen. Die Tätigkeit des Physiotherapeuten beschränkt sich somit nicht nur auf den Bereich der Schmerztherapie, sondern erstreckt sich auf das gesamte Gebiet der Symptomkontrolle. Dabei steht auch für den Physiotherapeuten die Erhaltung der bestmöglichen Lebensqualität für den Patienten an erster Stelle. Gerade in Anbetracht des auch in den kommenden Jahrzehnten zu erwartenden Anstiegs palliativ zu behandelnder Tumorpatienten werden die Möglichkeiten physikalischer und bewegungstherapeutischer Verfahren im palliativmedizinischen Umfeld bisher noch zu wenig einbezogen (z. B. Cheville 2005). Neben den klassischen Verfahren der physikalischen Medizin (Bewegungsübung, Gymnastik, körperliche Kräftigung) haben auch andere Verfahren Einzug in die Palliativmedizin gehalten, speziell die Massage und die Aromatherapie sind hier zu erwähnen. Die Beurteilung der beiden letztgenannten Verfahren ist aber widersprüchlich. In einem Cochrane-Review stellen Fellowes et al. (2004) fest: »Ten reports met … inclusion criteria … represented 8 RCTs (357 patients). The most consistently found effect of massage or aromatherapy massage was on anxiety. Four trials (207 patients) … detected a reduction … benefits of 19 to 32% reported … evidence for the impact … on depression was variable … three trials (120 patients) … only one found any significant differences … three studies (117 patients) found a reduction in pain … two (71 patients) … a reduction in nausea.« Den Einfluss von Aromatherapie und Fussreflexzonenmassage auf die Entwicklung von Fatigue untersuchten Kohara et al. (2004); in einem Prä-post-Vergleich konnten sie eine hochsignifikante Abnahme der Werte auf der »Cancer-Fatigue-Scale« dokumentieren. Cassileth u. Vickers (2004) sowie Polubinski u. West (2005) belegten klinisch relevante Verbesserungen von Schmerzwahrnehmung und Angst durch Massage. Bei Überprüfung in einer randomisierten Pilotstudie fanden Wilcock et al. (2004) vergleichbare Effekte, allerdings zeigte sich derselbe Effekt auch in der unbehandelten Kontrollgruppe. Soden et al. (2004) konnten zwar keinen Effekt von Massage auf die anhand einer VAS objektivierte Schmerzwahrnehmung detektieren, allerdings kam es zu einer signifikanten Abnahme der Depressionsscores (HADS). Abschließend bleibt daher festzustellen, dass Massage und Aromatherapie von den Patienten zwar subjektiv als angenehm erlebt werden, konsistente Verbesserungen von körperlichen Symptomen aber bislang nicht nachgewiesen sind. Inwiefern die Intensivierung der Körperwahrnehmung für die positive
31
Wirkung auf psychische Variablen verantwortlich ist, kann derzeit nicht abschließend beurteilt werden.
31.9
Psychologische und psychosoziale Aspekte der Palliativmedizin
Werden Krebskranke erstmals als Patienten einer Palliativstation aufgenommen, beginnt für sie in der Regel eine neue Phase ihrer Krankheitsverarbeitung. Dabei bedeutet die Tatsache, dass ein Patient auf einer Palliativstation behandelt wird, nicht zwangsläufig, dass er in jedem Fall kurzfristig sterben wird. Oft werden Patienten zur medizinischen und/oder psychologischen Krisenintervention aufgenommen, wobei als therapeutisches Ziel eine Rückkehr in die häusliche Umgebung bei möglichst hoher Lebensqualität angestrebt wird. Stehen bei diesen Kriseninterventionen üblicherweise die körperlichen und psychosozialen Aspekte im Vordergrund, dürfen aber auch die spirituellen Bedürfnisse der Palliativpatienten nicht vernachlässigt werden, die z. T. eine gezielte seelsorgerliche Betreuung erfordern (vgl. z. B. KreiselLiebermann et al. 2003). Terminal kranke Tumorpatienten werden durch die Einleitung einer palliativmedizinischen Behandlung aber in jedem Fall damit konfrontiert, dass sie ihr eigentliches Ziel, die Heilung ihrer Krebskrankheit, nicht erreicht haben und auch nicht mehr erreichen können. Folglich muss der Patient die Erkenntnis verarbeiten, dass scheinbar alle Anstrengungen und Bemühungen sowie alles erduldete Leid »vergeblich« waren. Diese Phase des Übergangs ist für den Patienten und seine Angehörigen mit großer Ungewissheit (vor allem über den weiteren Krankheitsverlauf) verbunden (Jeffrey 1995). Gleichzeitig nimmt das Gefühl des nahenden Todes für die Patienten spürbar zu (Ochsmann 1993). Damit steigt der Grad der seelischen Belastung und konsekutiv machen sich oft Gefühle der Resignation breit. Dadurch wird seitens der Patienten ein Neuanpassungsprozess im Sinne von Lazarus notwendig, um ihre emotionale Befindlichkeit zu stabilisieren (Lazarus u. Folkman 1993). Gelegentlich werden in dieser Phase bei den Betroffenen auch Fragen nach einer falschen Einschätzung ihres Krankheitsverlaufs durch die Ärzte laut. 31.9.1 Spezielle Aspekte der Befindlichkeit
und Bedürfnislage von Palliativpatienten In einer Zeit, in der das Behandlungsziel nicht mehr in der Curatio besteht und folglich kein therapeutischer Aktionismus mehr gefragt ist, müssen die individuellen Bedürfnisse und Interessen der Patienten, ihre persönlichen Neigungen und Wünsche im Rahmen der Behandlung und Betreuung besondere Berücksichtigung finden. Verres (1994) führt hierzu aus, dass der Patient darin unterstützt werden muss, trotz seiner begrenzten Lebenserwartung mit der ihm verbleibenden Zeit ohne Panik umzugehen, dem Zeitdruck zu widerstehen und angesichts des nahenden Sterbens nicht unter erneuten Handlungsdruck zu geraten. Die gleichzeitige Bewältigung der krankheitsbedingten Einschränkungen und Belastungen stellt dabei eine kontinuierliche Herausforderung für den Patienten dar und resultiert bei erfolgreichem Coping auch in einem stabileren Selbstwertgefühl. Eine solche Stabilisierung bildet die Grundlage, um die Zunahme körperlicher und seelischer Beschwerden sowie das
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31
Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
Erleben der aktuellen Todesbedrohung zu verarbeiten, damit der seelische Tod nicht dem physischen vorangeht (Köhle 1997). Leider ist viel zu häufig festzustellen, dass in der vorausgehenden Behandlung eine offene Kommunikation und eine mit dem Patienten gemeinsam zu führende Auseinandersetzung über die objektiven (z. B. tumorbedingten Veränderungen) und subjektiven Auswirkungen (Lebensqualität) seiner Krebskrankheit nicht stattgefunden haben (7 Abschn. 31.9.2). Bei unzureichender zwischenmenschlicher Interaktion kann sich eine hilfreiche und unterstützende Beziehung zwischen Behandler und Patient gar nicht erst entwickeln, wie sie seitens der Betroffenen in den meisten Fällen wohl erwünscht ist. Buckman (1998) postuliert hierzu ganz dezidiert, dass eine gute palliativmedizinische Symptombehandlung nur gelingen kann, wenn gleichzeitig Rahmenbedingungen realisiert werden, die eine effektive und empathische Kommunikation gewährleisten. Doch dieses allein ist nicht ausreichend. Ärzten gelingt es oft nicht, die psychischen Belastungen, unter denen ihre Patienten leiden, zu erkennen, weil ihr kommunikatives Rüstzeug ungenügend ist. Obwohl in zahlreichen randomisierten Untersuchungen gezeigt werden konnte, dass auch die Fertigkeiten einer gelingenden Kommunikation gelehrt werden können (z. B. Tulsky 2005), finden sich auch dem widersprechende Befunde (z. B. Merckaert et al. 2005). Neben den krankheitsbedingten körperlichen Einschränkungen und den direkten Behandlungsfolgen sind es die mit Gefühlen der Hilflosigkeit, Niedergeschlagenheit, Angst, Enttäuschung, Wut und Ohnmacht verbundenen emotionalen Reaktionen, die einen Palliativpatienten zusätzlich belasten. Der (vermeintlich) definitive Verlust seiner persönlichen Lebensperspektive, seiner langfristigen Ideen und Wünsche sowie seiner zukünftigen Hoffnungen trifft den terminal Kranken schwer und unvorbereitet, werden doch solche Verluste in der Regel weder gedanklich noch emotional antizipiert (Bowman 1997). In der persönlichen Auseinandersetzung mit seinem Schicksal stellt sich vielen Betroffenen immer wieder die Frage »Wie soll es mit mir weitergehen?« Ausreichende und möglichst kontinuierliche physische und psychische Zuwendung sind hilfreich, um diesen hier deutlich spürbaren körperlichen und seelischen »Substanzverlust« zu verarbeiten. Das Angebot vonseiten der Therapeuten, sich in solchen Situationen auf persönliche Gespräche einzulassen, wird von den Patienten zumeist dankbar angenommen, weil sie durch die ihnen zuteil werdende Aufmerksamkeit (oft das erste Mal) die Möglichkeit bekommen, Fragen nach der eigenen Endlichkeit anzusprechen. Will man Palliativpatienten mit ihren teils komplexen, teils aber auch sehr elementaren Bedürfnissen gerecht werden, erscheint deshalb ein kontinuierlicher Gedankenaustausch zwischen Betreuern und Betroffenen unverzichtbar (Aulbert 1997). Dabei empfinden die Patienten die Versicherung als sehr beruhigend, dass man ihnen auch bei Fortschreiten ihrer Erkrankung helfen kann, insbesondere bei den u. U. damit einhergehenden, stark belastenden Symptomen, denn gerade bei Patienten mit einer Tumorerkrankung ist der Wunsch besonders groß, Hoffnung aufrechtzuerhalten (Curtis et al. 2002). Es ist auch Aufgabe von Ärzten, diese Hoffnung neu zu fokussieren, weg von der verbleibenden Lebenszeit hin zu begrenzteren Zielen, zu Lebensqualität und einem würdevollen Sterben.
31.9.2 Therapeutisches Setting
Die meisten Palliativpatienten betonen ihr Bedürfnis nach Ruhe, lehnen jegliche lebensverlängernden Maßnahmen ab und wollen bei Komplikationen nicht mehr intensivmedizinisch behandelt werden. Trotzdem möchten sie aber sehr wohl ihre Angehörigen um sich wissen, wünschen Besuche und können sich trotz aller Einschränkungen auf den nächsten Tag freuen. Andererseits gibt es auch Patienten, die um aktive Abkürzung des Sterbevorgangs bitten. Diese Patienten haben das Ziel, so schnell wie möglich zu sterben. An dieser Stelle darf man sich als Therapeut nicht hinter Paragrafen und Vorschriften »verstecken«. Vielmehr gilt es, sich diesem Wunsch zu stellen und gemeinsam herauszufinden, warum der Todeswunsch so ausgeprägt ist (Parkes 1998). Wie Mystakidou et al. (2005) zeigen konnten, sind bei Tumorpatienten psychologische Faktoren wie Angst, Depression, Niedergeschlagenheit und Schmerz überproportional häufig mit dem Wunsch nach Lebensbeendigung verbunden. Für die weitere Behandlung und Betreuung solcher Patienten ist es unerlässlich, ehrlich die eigene Position zu vertreten. Ein offen geführtes Gespräch über einen phantasierten Suizid kann dem Patienten offenbaren, dass er auch dieses Tabuthema ansprechen darf, ohne dass es zu negativen Konsequenzen führt. Nach Seligman (1978) hat ein solches Gespräch über diese vermeintlich »letzte eigene Kontrollmöglichkeit« bei einer sich verschlechternden Symptomlage einen psychisch stabilisierenden Effekt, wird dem Patienten doch deutlich, dass die letzte Stufe seiner Hilflosigkeit derzeit noch gar nicht erreicht ist. Im Rahmen eines individuellen Bewältigungsprozesses können also offen ausgesprochene Suizidgedanken auch als sinnvoller Beitrag zur Krankheitsverarbeitung im Sinne einer Adaptation und der psychischen Stabilisierung verstanden werden. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass zahlreiche Palliativpatienten nicht andauernd über ihre Symptome wie Schmerzen, Schlafstörungen, Ängste etc. sprechen möchten und sich auch in ihrer letzten Lebensphase nicht fortwährend mit dem nahenden Tod auseinandersetzen wollen. Insofern erscheint es einleuchtend, dass die Begleitung Sterbender verlangt, auch ans Leben zu denken: Gerade der Palliativpatient hat noch den Wunsch nach Normalität und Unbeschwertheit! Diese scheinbare »Verdrängung« ist als Ausdruck einer sinnvollen Selbstregulation psychischer Verarbeitungsmechanismen zu sehen. Wird diesem Aspekt nicht ausreichend Rechnung getragen, kommt es leicht zur psychischen Dekompensation. Dieser Umstand ist umso wichtiger, als es beim terminal Kranken durch die ohnehin fast zwangsläufige Reduktion seiner gewohnten sozialen Aktivitäten zu einer Abnahme positiver Verstärker und damit vermehrt zu einer Anfälligkeit für depressive Verstimmungen im Sinne von Lewinsohn (1974) und Blöschl (1978) kommt. Die depressive Verstimmung basiert bei finalen Tumorpatienten vorrangig auf psychischen Faktoren wie Dysphorie, Gefühlen von Hilf- und Hoffnungslosigkeit, Verlust des Selbstwertgefühls, Schuldgefühl, Gedanken an Tod oder Selbstmord (Payne u. Massie 1998). Dennoch erhoffen sich viele Palliativpatienten, dass man ihnen mit Verständnis, Fürsorge und ausreichend Zeit für offene Zuwendung begegnet. So legen sie Wert darauf, dass ihre aktuellen, ganz realen Gefühle, insbesondere auch ihre Angst vor dem Tod (Ratsak 1997), nicht »zugeschüttet« werden. Sie wollen vielmehr mit ihrer inneren Unruhe, ihrer Depressivität und ihrer Trauer vor dem Hintergrund der eigenen Hilflosigkeit, dem Verlust der eigenen Gesundheit und der sozialen Stellung, dem Verlust von Beruf, Aner-
671 31.9 · Psychologische und psychosoziale Aspekte der Palliativmedizin
kennung, Einkommen, dem Verlust der Rolle in der Familie, angesichts einer chronischen Müdigkeit und Schläfrigkeit sowie einer eventuell drohenden physischen Entstellung ernst genommen werden. Außerdem wünschen sie Unterstützung bei dem Versuch, sich neu zu orientieren, bei ihren Bemühungen, mit ihrer Furcht vor dem fortschreitenden Verlust eigener Würde und Körperkontrolle umzugehen. Eine Möglichkeit der Unterstützung stellten Lindemalm et al. (2005) in Form einer Gruppentherapie mit anderen Tumorpatienten vor, was zu einer deutlichen Verbesserung der psychischen Befindlichkeit führte. Das Bedürfnis von Palliativpatienten nach Nähe, Zärtlichkeit und Sexualität bleibt auch in fortgeschrittenen Krankheitsstadien meist bestehen (Yaniv 1997). Vor diesem Hintergrund sind die im Krankenhaus sonst selbstverständlichen Tabus zu hinterfragen (Howlett et al. 1997). Der Patient darf erwarten, dass vonseiten des Behandlungsteams Verständnis für seine diesbezüglichen individuellen Bedürfnisse aufgebracht wird. Praktisch bedeutet dies, dass man dem gesunden Partner die Übernachtung im Patientenzimmer ermöglicht, ohne durch übliche Krankenhausroutinen zu stören. Ein solches Vorgehen ist ohne großen organisatorischen Aufwand möglich und setzt nur eine angstfreie, akzeptierende Atmosphäre voraus, die dem Patienten keine Rechtfertigung seiner individuellen Bedürfnisse abverlangt. Hat ein Palliativpatient sich – möglicherweise sehr mühsam – auf seine veränderte Situation eingestellt, so bedeutet jede neu auftretende größere körperliche Veränderung zugleich auch eine erneute akute emotionale Krise. Die zunehmende Bedrohung des eigenen Lebens konfrontiert die Patienten immer deutlicher mit ihren eigenen Todesängsten. Aus diesen belastenden Situationen ergibt sich stets aufs Neue die Notwendigkeit eines kontinuierlichen Austauschs mit dem Patienten. Nur so kann man ihm dabei helfen, sich an eine nächste, bisher unbekannte Ebene mit den noch verbleibenden Möglichkeiten neu anzupassen. Dabei läuft ein Coping-Prozess im Sinne von Lazarus (Lazarus u. Folkman 1993) ab. Nuland (1994) hat formuliert, dass ein Sterben in Würde am ehesten dann möglich ist, wenn ein würdevolles Leben vorangegangen ist. Um diese Vorgabe einzulösen, versucht die Palliativmedizin, den Patienten die Last seiner Erkrankung nicht allein tragen zu lassen und seinen Wunsch nach möglichst weitgehender Autonomie und umfassendem Mitspracherecht bei allen wichtigen Therapieentscheidungen zu erfüllen (Roy 1997). Dies bedeutet vor allem, die Vorstellungen des Patienten zu respektieren, wen er sich an seinem Sterbebett als Beistand wünscht. Doch bereits zuvor sollte man dem Patienten versichern, dass man ihn auf seinem Wege begleiten und bei den entstehenden physischen, psychischen, spirituellen und emotionalen Problemen unterstützen wird (Chochinov 2006). In zahlreichen Untersuchungen konnten Belege dafür erbracht werden, dass psychotherapeutische Intervention und Beratung die Anpassung des Patienten an die krankheitsinduzierten Veränderungen positiv beeinflussen und seine emotionale Verfassung stabilisieren können (Solà et al. 2004). 31.9.3 Familie und Freunde
Eine regelmäßige und umfassende Mitbetreuung der Angehörigen von Langzeitpatienten wirkt sich auf das Wohlbefinden der Kranken in der Regel positiv aus (Brewin 1996). Deswegen sollte auf Palliativstationen der Kontakt zu den Angehörigen aktiv ge-
31
sucht werden (Kettler et al. 1997). Bei längerfristiger Betreuung von Tumorpatienten entwickeln Angehörige jedoch auch eigene Bedürfnisse und Nöte, die es zu beachten und, wenn nötig, auch zu behandeln gilt (Strittmatter 1997). Oft haben die Angehörigen das Gefühl, nicht genug zu tun bzw. nicht genug tun zu können. Eine offene Kommunikation (Aulbert 1997) und die Bereitschaft, sich vonseiten der Therapeuten auch mit diesen Nöten auseinanderzusetzen, macht den Angehörigen Mut und motiviert sie, die Kranken weiter intensiv zu begleiten. Um das Engagement längerfristig erbringen zu können, brauchen die involvierten Familienmitglieder und Freunde die Anerkennung ihres emotionalen und körperlichen Arbeitsaufwandes auch vonseiten des Behandlungsteams (Qaseem et al. 2008). Da ambitionierte Angehörige dazu neigen, sich bis hin zur vollständigen Selbstaufgabe zu überfordern, ist ggf. in regelmäßig stattfindenden Gesprächskontakten einer kritischen Wahrnehmung entsprechend Ausdruck zu verleihen. Ein sinnvoller vorbeugender Ansatz bestünde z. B. in der konsequenten Umsetzung des sog. »Respite-Care-Konzeptes« (Schachter u. Coyle 1998). Auch eine von vornherein nur als passagere Entlastungsmaßnahme intendierte, kurzfristige Aufnahme eines Patienten auf eine Palliativstation kann den Angehörigen die oftmals erforderliche Gelegenheit zur Erholung bzw. zur Erledigung eigener, ihnen wichtiger Angelegenheiten verschaffen, ohne dass sie deswegen ein »schlechtes Gewissen« haben müssen. Freunde und Familienangehörige bringen durch ihre regelmäßigen Besuche auch Lebendigkeit ins Krankenzimmer, sind Boten zwischen der »alten Lebenswelt« und dem Krankenbett und verkörpern somit zumindest partiell die Alltagsrealität. Diese zwischenmenschliche Kontinuität ist für die individuelle Lebensqualität sehr bedeutsam, da neben den üblichen Sozialkontakten auch viele andere Selbstverständlichkeiten mit der Aufnahme im Krankenhaus abrupt beendet werden. Bei der gegebenen Komplexität von Krebsschmerzen mit ihren stets vorhandenen Wechselwirkungen zwischen somatischer und psychischer Ebene (z. B. Eggebrecht 1996) kann gelegentlich selbst eine hochdosierte Opioidtherapie ohne den erwünschten analgetischen Effekt bleiben, wenn neben den organischen Beschwerden unbearbeitete zwischenmenschliche oder intrafamiliäre emotionale Konflikte bestehen, die bislang scheinbar nicht zu lösen waren. Dadurch kann der körperliche Schmerz von einer seelischen Schmerzkomponente überlagert, verstärkt und unterhalten werden. Darüber hinaus haben sich neben dem regelmäßigen Angebot emotional entlastender Gespräche für die Familienangehörigen und Freunde eines Palliativpatienten, auch sog. »Familienkonferenzen« zu Beginn eines stationären Aufenthaltes bewährt. Dabei wird nach Erteilung des Patienteneinverständnisses mit den am meisten in die Betreuung involvierten Personen ein Gespräch über die vorhandenen Ressourcen zur weiteren Begleitung geführt. Selbstverständlich wird in diesem Rahmen auch nochmals über die Diagnose Krebs, die ursprünglichen Hoffnungen der Angehörigen sowie ihren Umgang mit der Enttäuschung gesprochen, zu der es fast regelhaft mit dem Nachweis einer Metastasierung kommt. Dieses Vorgehen schafft für die Angehörigen die Basis für einen entlastenden Gedankenaustausch während der Behandlung des Betroffenen auf der Palliativstation (Yennurajalingam et al. 2008). Das vorstehend beschriebene Betreuungskonzept hat sich unter mehreren Aspekten bewährt. Einerseits bringt das gemeinsame Familiengespräch oft zum ersten Mal eine umfassende psy-
672
31
Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
chische Entlastung für die Angehörigen mit sich. Darüber hinaus schätzen Angehörige die offene Atmosphäre, die es ihnen erlaubt, vorbehaltslos Fragen zu stellen. Andererseits erfahren die Behandelnden bei dieser Gelegenheit viele persönliche Details über den Patienten, die häufig nicht aktenkundig, für eine optimale Betreuung aber gleichwohl relevant sind. Die klinische Erfahrung zeigt, dass Hinterbliebene, die in die Betreuung und Pflege ihres angehörigen Kranken eingebunden waren, »post mortem« sowohl den akuten Verlust besser bewältigen als auch langfristig psychisch stabiler reagieren. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Sie haben sich »nichts vorzuwerfen«, sind angesichts einer lebensbedrohlichen Erkrankung ihres Angehörigen physisch und psychisch nicht zurückgewichen, haben seinen körperlichen und seelischen Schmerz »mit ausgehalten« und haben sich – idealerweise im gemeinsamen Gespräch mit dem Kranken – über dessen baldiges Sterben auseinandergesetzt. Dadurch dass sie die Ängste des Kranken vor dem Tod und seine diesbezüglichen Phantasien zugelassen haben, konnten sie bewusst oder unbewusst das zukünftige Leben ohne den geliebten Menschen gedanklich und emotional bereits antizipieren; partiell kann so der unausweichliche Verlust auch schon vor seinem definitiven Eintritt verarbeitet werden. Der offene Umgang mit dem Thema »Sterben und Tod« in der Familie ermöglicht für alle Beteiligten, eine Bilanz des bisherigen Zusammenlebens zu ziehen. Dies kann im Kreis der Angehörigen beispielsweise durch das Anschauen von alten Familienfotos und durch das Erzählen gemeinsamer Erlebnisse geschehen. Meist sind dies Momente der Freude und Trauer zugleich; in jedem Fall schaffen sie große emotionale Nähe und vermeintlich Vergessenes taucht in der gemeinsamen Erinnerung wieder auf. Schwierig wird es jedoch für Angehörige besonders dann, wenn die Zeit zum Abschiednehmen z. B. durch rapide Tumorprogression sehr eng limitiert ist (Kissane et al. 1997). Familiäre Probleme werden immer dann evident, wenn Angehörige sich im Zusammenhang mit der Krebserkrankung oder schon vorher von dem Kranken zurückgezogen haben und somit die oben beschriebenen psychosozialen Unterstützungsmöglichkeiten gar nicht bestehen. In solchen Fällen ist es wichtig, diese Verlustsituation zu hinterfragen und ggf. auf Wunsch des Patienten den Kontakt mit Unterstützung der Behandler wiederherzustellen oder alternativ die psychosozialen Unterstützungsangebote der Palliativstation im Sinne einer Substitution noch weiter zu intensivieren. Gehören kleine Kinder bzw. Heranwachsende zur Kernfamilie und ist abzusehen, dass ein Elternteil verstirbt, sollte schon frühzeitig daran gedacht werden, dass diese zurückbleibenden Angehörigen in der Regel eine spezielle Hilfestellung bei der Verlustund Trauerbewältigung benötigen (vgl. z. B. Weiland 2006).
31.10
Rahmenbedingungen interdisziplinärer Arbeit in der Palliativmedizin
Das gemeinsame Ziel der Palliativmedizin und der Hospizbewegung ist die Versorgung terminal Kranker in einer für sie angenehmen Umgebung unter humanen Bedingungen, wobei einer Behandlung zu Hause erste Priorität eingeräumt wird. In dieser vertrauten Umgebung kann der Patient noch am ehesten selbstbestimmt seine sozialen Kontakte wahrnehmen, liebgewordene Gewohnheiten ausüben und somit ein weitgehend normales Leben führen.
Leider gibt es aber immer wieder Situationen, in der die Intensität und/oder Komplexität der Beschwerden eine Hospitalisierung des Palliativpatienten erforderlich machen, da eine adäquate ambulante Betreuung mit den aktuellen Versorgungsstrukturen nicht zu gewährleisten ist. Im Routinebetrieb konventioneller Krankenhausabteilungen sind angemessene Rahmenbedingungen, wie sie für das Gelingen palliativmedizinischer Behandlung bis zu einem Sterben in Würde unabdingbar erscheinen, nur schwerlich zu realisieren (Schölmerich 1987). Deshalb war es erforderlich, zur Realisierung palliativmedizinischer Zielsetzungen spezielle Beratungs- und Behandlungsangebote einzurichten, von denen sich Patienten in ihrer letzten Lebensphase besser betreut fühlen (Jones et al. 1993). Die Arbeit auf solchen Stationen findet in einem multiprofessionellen Behandlungsteam statt und ist in gewisser Weise mit der Tätigkeit auf Intensivpflegestationen vergleichbar. Dabei arbeiten Ärzte, Pflegepersonal und Vertreter psychosozialer Berufsgruppen eng zusammen; Interdisziplinarität wird durch enge Kooperation unterschiedlicher medizinischer Fachrichtungen hergestellt. Es ist vielfach belegt, dass ein multiprofessioneller Ansatz Vorteile bietet. Andererseits lassen sich empirisch immer wieder Schwierigkeiten in der Teamkommunikation nachweisen, die die Behandlungsergebnisse beeinträchtigen können. Solche Störungen gilt es frühzeitig zu erkennen und zu beheben, damit nicht der Patient und seine Angehörigen darunter zu leiden haben (O’Connor et al. 2006). Der Behandlungsansatz auf Palliativstationen ist ganzheitlich; Entscheidungen über medizinische Maßnahmen werden im Behandlungsteam unter enger Einbindung von Patienten und Angehörigen getroffen. Innerhalb des Behandlungsteams wird ein positives Arbeitsklima angestrebt. Die Einlösung dieser Vorgabe wird von Patienten und ihren Familien explizit gewünscht und aufmerksam registriert (Jens u. Küng 1995). Eine Kombination des Versorgungsangebots von Palliativstation und Hausbetreuungsdienst (z. B. in Form der sog. Palliative-Care-Teams) ist am ehesten geeignet, die Vorstellungen der Patienten darüber, wo sie behandelt werden möchten, mit den für ihre optimale Versorgung erforderlichen medizinischen Voraussetzungen in Einklang zu bringen. Durch eine derartige »Verzahnung« ambulanter und stationärer palliativmedizinischer Versorgung (Ensink et al. 2002, Kreisel-Liebermann et al. 2003) kann es gelingen, Patienten nach einer stationären Behandlung frühzeitig wieder zu entlassen und eine stationäre Wiederaufnahme hinauszuzögern bzw. zu vermeiden (Klaschik u. Husebø 1997). Hierzu ist es aber notwendig, die Arbeit von ambulantem Pflegedienst, Hausarzt, niedergelassenem Facharzt und behandelndem Krankenhausarzt sowie eventuell weiteren beteiligten medizinischen Heil- und Hilfsberufen zu koordinieren, um der heute vielfach anzutreffenden »Diffusion von Verantwortlichkeit« entgegenzuwirken. Ist durch optimierte Kooperation aller Beteiligten auch für die Patientenversorgung im häuslichen Umfeld eine bestmögliche Behandlungsqualität gewährleistet, wird es möglich werden, vermehrt auch dem letzten Wunsch vieler Patienten zu entsprechen, ihr Leben unter würdevollen Bedingungen in der gewohnten Umgebung zu Hause beschließen zu können. Ein solches Konzept wird aktuell in Niedersachsen unter der Moderation und mit finanzieller Unterstützung des zuständigen Ministeriums für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit mit der flächendeckenden Einrichtung von sog. »Palliativstützpunkten« als Zusammenschluss von Leistungserbringern der Basisund Spezialversorgung realisiert.
31
673 31.11 · Das Recht des Patienten auf bestmögliche palliativmedizinische Behandlung
31.11
Das Recht des Patienten auf bestmögliche palliativmedizinische Behandlung
Fragen über die Grenzen medizinischer Behandlungen und über Sterbehilfe rücken zunehmend in den Blickpunkt medizinethischer und medizinrechtlicher Betrachtungen (z. B. Ensink et al. 2002; Winkler et al. 2009). In der Palliativmedizin wird akzeptiert, dass der eigenverantwortliche Mensch die Chance und das Recht haben muss, die ihm verbleibende Zeit seines Lebens auf dem Boden seiner Überzeugungen zu gestalten und eine innere Einstellung zum Tode zu gewinnen. Angesichts dieses Postulats ist eine Haltung von Offenheit und Ehrlichkeit im Umgang mit dem Patienten zu fordern (Klaschik u. Husebø 1997). In der resultierenden Vertrauensatmosphäre kann dann auch der Patient das offene Gespräch über seine Erkrankung suchen (7 Abschn. 31.9.3). Ein solcher Meinungsaustausch wird die aus den bisher durchlebten Krankheitsstadien stammenden Vorstellungen des Patienten hinsichtlich seiner Prognose modifizieren und abrunden. Wie aus . Tab. 31.20 für acht häufige Tumorarten zu ersehen ist, umfassen die Kontrollstrategien im Problemkreis onkologischer Erkrankungen die Bereiche Krankheitsprävention und Frühdiagnose, sowie Bemühungen um kurative und palliative Therapie. Während die erstgenannten Maßnahmen oft nur begrenzte Erfolgsaussichten haben, ist palliative Therapie in den meisten Fällen effektiv (Stjernsward 1988). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass in der höchstrichterlichen Jurisdiktion Amerikas Patienten mit stark belastenden Symptomen Palliativbehandlung als verfassungsmäßiges Recht zugebilligt worden ist. Die Richter stellten heraus, dass zwar kein Rechtsanspruch auf Beihilfe zum Suizid oder aktive Sterbehilfe bestünde, wohl aber jeder Patient ein Recht auf größtmögliche Symptomarmut im Sterben habe (Burt 1997). Dass eine unbefriedigende Situation auch durch den Gesetzgeber positiv beeinflusst werden kann, wird am Beispiel Frankreichs deutlich: Dort hat – vermutlich in Folge der Tumorerkrankung seines ehemaligen Staatspräsidenten – das französische Parlament 1999 ein Gesetz erlassen, mit dem das Recht des Kranken auf palliativmedizinische Versorgung festgeschrieben wurde. Besagtes Gesetz verpflichtet alle Krankenhäuser des Landes, ihre Patienten auch palliativmedizinisch zu behandeln – unter ausdrücklichem Einschluss des Anspruchs der Patienten auf eine adäquate Schmerztherapie. Ebenso regelt das Gesetz die Bedingungen für die Mitarbeit ehrenamtlicher Helfer, und – in diesem Zusammenhang ganz besonders wichtig – Angehörige, die erkrankte Familienmitglieder betreuen, haben seither ein ge-
. Tab. 31.20. Effektivität von Kontrollstrategien für acht häufige Krebsarten. (Nach Stjernsward 1988) Krebsart
Prävention
Frühdiagnose
Kurative Therapie
Palliative Therapie
Magen
+
–
–
++
Lunge
++
–
–
++
Brust
–
++
++
++
Kolorektal
+
+
+
++
Zervix
+
++
++
++
Mund/ Pharynx
++
++
++
++
Ösophagus
–
–
–
++
Leber
++
–
–
++
++ effektiv bzw. realistisch; + eingeschränkt effektiv bzw. eingeschränkt realistisch; – nicht effektiv bzw. unrealistisch
setzlich verbrieftes Anrecht auf einen dreimonatigen unbezahlten Urlaub zur Wahrnehmung dieser Aufgabe. Es steht zu hoffen, dass auch in der Bundesrepublik Deutschland der Rechtsanspruch terminal kranker Patienten auf adäquate palliativmedizinische Betreuung durch die Legislative formuliert wird, ohne dass Patienten dafür erst Gerichte bemühen müssen. In Deutschland wie auch in den meisten anderen europäischen Ländern gibt es eine öffentliche Debatte über das Thema »Sterbehilfe«. Befürworter der Beihilfe zum Suizid stellen den Anspruch auf individuelle Selbstbestimmung über das eigene Leben und den eigenen Tod – insbesondere in unerträglichen Situationen am Lebensende – in den Mittelpunkt. Den Argumenten der Gegenseite zufolge muss der freie Wille dort seine Grenze finden, wo von gesellschaftlichem Konsens getragene Werte wie der Schutz des menschlichen Lebens in Mitleidenschaft gezogen werden (Roy u. Rapin 1994). Für jeden Arzt sollte es in dieser Situation selbstverständlich sein, den sowohl aus rechtlicher, vor allem aber aus ethischer Sicht gegebenen Anspruch terminal kranker Tumorpatienten auf bestmögliche Symptomkontrolle einzulösen und dazu im Bedarfsfall auch Kollegen anderer medizinischer Fachgebiete bzw. Kooperationspartner aus dem Bereich der Pflege, Physiotherapie, Psychoonkologie und ggf. der Seelsorge hinzuzuziehen.
Zusammenfassung Palliativmedizin zielt auf die Linderung von Leiden im Endstadium einer Erkrankung ab, wenn sich bei Patienten mit einer nicht heilbaren, progredienten, weit fortgeschrittenen Erkrankung und begrenzter Lebenserwartung das Augenmerk der Behandlung ganz auf die Verbesserung und den Erhalt der Lebensqualität konzentriert. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es notwendig, sämtliche den Patienten belastenden Symptome (wie Schmerzen, gastrointestinale, respiratorische oder metabolische Störungen, Lymphödem sowie neurologische und psychiatrische Symptome) suffizient zu therapieren. Dies geschieht berufs6
gruppenübergreifend in Form eines multidisziplinären Behandlungsansatzes, der bei allen Beteiligten neben hoher fachlicher Qualifikation in besonderem Maße auch soziale, kommunikative und ethische Kompetenz erfordert. Voraussetzung einer erfolgreichen Symptomkontrolle ist die standardisierte Erhebung und Dokumentation der den Patienten belastenden Symptome sowie die regelmäßige Wiederholung dieser Erfassung im weiteren Behandlungsverlauf. Zur Therapie stehen oft sowohl tumororientierte Verfahren als auch symptomorientierte Maßnahmen nebeneinander. Diese Behandlungsop-
674
31
Kapitel 31 · Grundlagen der Symptomkontrolle in der Palliativmedizin
tionen schließen sich in der Regel nicht aus; die entsprechende Indikationsstellung hat in Absprache mit dem Patienten unter sorgfältiger Abwägung zwischen Nutzen und Risiko zu erfolgen. Durch die Einleitung palliativmedizinischer Behandlungsmaßnahmen wird der terminal Kranke damit konfrontiert, dass er das eigentliche Behandlungsziel, die Heilung seiner Krebskrankheit, nicht erreicht hat. Diese Phase des Übergangs ist angesichts des nahenden Todes sowohl bei dem Patienten als auch bei seinen Angehörigen mit großer Ungewissheit verbunden; dadurch steigt die seelische Belastung bei allen Beteiligten, die oft zu Gefühlen von Hilflosigkeit, Niedergeschlagenheit, Angst, Enttäuschung, Wut und Ohnmacht führt. Um hier zu einer Stabilisierung der Situation zu kommen, ist seitens der Behandler eine offene, empathische Kommunikation zu gewährleisten sowie auch den psychosozialen und spirituellen Bedürfnissen des Patienten Rechnung zu tragen.
Das Recht des Patienten auf eine suffiziente palliativmedizinische Behandlung wurde in den USA bereits durch die Gerichte, in Frankreich durch den Gesetzgeber festgeschrieben. Auch ohne diesen juristischen Hintergrund sollte es in Deutschland für jeden Arzt selbstverständlich sein, den Anspruch seines Patienten auf bestmögliche Symptomkontrolle einzulösen, sich dazu selbst ausreichend fortzubilden und – soweit erforderlich – im Bedarfsfall auch Kollegen anderer medizinischer Fachgebiete bzw. Kooperationspartner aus dem Bereich der Pflege, Physiotherapie, Psychoonkologie und ggf. der Seelsorge hinzuzuziehen. Darüber hinaus bedürfen die in Deutschland streng sektoral gegliederten Versorgungsstrukturen einer gezielten Weiterentwicklung (im Sinne einer institutionalisierten Verzahnung zwischen dem stationären und ambulanten Bereich), damit dem Wunsch der meisten terminal kranken Tumorpatienten, in angemessen symptomgelindertem Zustand zu Hause sterben zu können, vermehrt entsprochen werden kann.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
32
32 Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie G.G. Hanekop, M.T. Bautz, F.B.M. Ensink
32.1
Epidemiologische Aspekte von Tumorschmerzen
32.2
Pathophysiologische Aspekte von Tumorschmerzen
32.3
Schmerzdiagnostik und -messung
32.4
Konzepte zur Schmerztherapie bei Tumorpatienten – 683 Literatur
– 708
– 676 – 677
– 679
676
Kapitel 32 · Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie
> Einleitung
Es besteht weltweiter Konsens, dass neben der im letzten Jahrhundert erfolgten bevorzugten Fokussierung ärztlichen Handelns auf das Heilen von Erkrankungen in Zukunft auch wieder das Lindern von Leiden und Schmerzen gleichrangiges Leitmotiv in der Medizin werden muss (Bajwa u. Borsook 1996). Es wird geschätzt, dass trotz aller zu konzedierenden Fortschritte in der Schmerztherapie während der vergangenen Jahrzehnte noch immer 40–80% der Tumorpatienten keine bzw. eine unzureichende Schmerztherapie erhalten (Felleiter et al. 2005; Gutgsell et al. 2003; Niekrens 2006). Die Ursachen für diese unzulängliche Versorgung von Schmerzpatienten sind vielschichtig und wurden mehrfach empirisch untermauert (z. B. Elliott et al. 1997; Weissman 1996). Im Jahr 1994 führte die »Agency for Health Care Policy and Research« (AHCPR) über die Bedeutung der Schmerztherapie aus: »(the) ethical obligation to manage pain and relieve the patient’s suffering is at the core of a health care professional’s commitment«. Aber trotz dieser Vorgabe währt bei Tumorschmerzpatienten in den meisten westlichen Industrienationen eine unzureichende Behandlung fort. Unmissverständlich stellte die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft im Jahr 2000 dazu fest: »Jeder tumorbedingte Schmerz verpflichtet zur therapeutischen Intervention. Eine unterlassene Schmerztherapie erfüllt den Tatbestand der Körperverletzung.« (Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft 2000).
32 32.1
Epidemiologische Aspekte von Tumorschmerzen
Schmerzen zählen zu den von Tumorpatienten am häufigsten wahrgenommenen und am meisten gefürchteten Symptomen (Bonica 1985). Einen orientierenden Überblick zur Häufigkeit von Tumorschmerzen im Vergleich zu jener anderer Symptome liefert . Tab. 32.1. Allerdings besteht ein entscheidender Mangel der zugrunde liegenden Publikationen darin, dass die jeweiligen Daten keinem repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt entstammen, sondern dass sie zumeist auf ausgewählten Krankenhauspopulationen bzw. Patientenkollektiven ambulanter Palliative-Care- oder Hospizdienste basieren. Aus der Zusammenfassung der in . Tab. 32.1 dargestellten Resultate ergibt sich eine Häufigkeit an Tumorschmerzen von im Mittel 72%. Die hier bestimmte mittlere Rate an Schmerzzuständen liegt damit in einer Größenordnung, wie sie auch von anderen Autoren gefunden wurde (z. B. Chin et al. 2000; Daut u. Cleeland 1982).
Eine deutlich niedrigere Auftretenswahrscheinlichkeit ermittelten Hiraga et al. (1991). Diese Autoren bestimmten in der bisher größten zu diesem Thema publizierten Studie – in die über 35.500 Patienten aller Tumorstadien eingeschlossen wurden – lediglich eine Prävalenz an Schmerzzuständen von 33%. Diese Rate entspricht in etwa den Befunden, wie sie auch von anderen Autoren für die Schmerzprävalenz in frühen Krankheitsstadien berichtet wurden (. Tab. 32.2). Insgesamt fällt bei den Angaben in der Literatur also eine beträchtliche Streuung der berichteten Prävalenzraten von Krebsschmerzen auf (vgl. McGuire 2004). Liu et al. (2001) ermittelten die Prävalenz von Tumorschmerzen, indem sie eine randomisierte Stichprobe aus allen Provinzen Chinas untersuchten: 958 von 1.555 in die Erhebung eingeschlossenen Patienten (61,1%) berichteten über Schmerzen; bei denjenigen Patienten, die sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium ihrer Tumorerkrankung befanden, klagten sogar 85,1% über Schmerzen.
. Tab. 32.1. Prävalenz der häufigsten Symptome bei fortgeschrittenen Tumorleiden Twycross u. Fairfield (1982)
Baines (1988)
Pichlmaier et al. (1988)
Grond et al. (1994)
Donnelly u. Walsh (1995)
BMG (Hrsg) (1997)
Conill et al. (1997)
Gesamt
n
6.677
722
235
1.635
1.000
803
176
11.248
Schmerzen [%]
71
62
83
(100)
82
77
52,3
72,0
Inappetenz [%]
67
76
66
48
64
75
68,2
65,1
Schwäche [%]
47
91
85
—
67
94
76,7
57,8
Dyspnoe [%]
51
51
35
24
51
38
39,8
45,6
Husten [%]
50
45
31
—
37
30
27,8
45,7
Obstipation [%]
47
51
49
33
51
42
49,4
45,2
Übelkeit [%]
40
44
45
47
36
40,5
26,1
40,8
Schlafstörung [%]
—
24
46
59
47
48
34,7
47,5
32
677 32.2 · Pathophysiologische Aspekte von Tumorschmerzen
. Tab. 32.2. Schmerzprävalenz in Abhängigkeit vom Tumorstadium
. Tab. 32.4. Schmerzprävalenz bei Krebserkrankungen in Abhängigkeit von der Schmerzursache
Krankheitsstadium
Patientenzahl
Schmerzprävalenz [%]
Alle Stadien
46.131
37,2
Schmerzgenese
Adler u. Hürny (1988)
Banning et al. (1991)
Zech u. Buzello (1991)
Früh
999
35,7
Tumorbedingt
78,0%
84,9%
62–91%
Fortgeschritten
2.753
69,7
62,4%
12–25%
10.087
77,7
Therapiebedingt
19,0%
Terminal
Tumor- und therapieunabhängig
3,0%
17,7%
3–10%
Betrachtet man die Häufigkeit von Schmerzen in Abhängigkeit vom ursprünglichen Tumorleiden, variieren die Angaben je nach Tumorart (und -stadium) ebenfalls erheblich (. Tab. 32.3). Vergleichsangaben in der Literatur beziehen sich fast immer auf eine Übersichtsarbeit von Bonica (1990), der die Daten aller damals verfügbaren Untersuchungen zusammengefasst hatte. Die für die gleiche Tumorart gefundenen, stark divergierenden Prävalenzen von Schmerzzuständen erklären sich aus den oftmals sehr kleinen und – in Bezug auf die Tumorart, den Metastasierungsgrad der Krebserkrankung (Krankheitsstadium) sowie die verschiedenen Schmerzursachen und psychosozialen Bedingungen – inhomogenen Stichproben.
. Tab. 32.3. Prävalenz von Tumorschmerzen bei fortgeschrittenem Leiden Tumorart und Lokalisation
Patienten mit Schmerzen [%]
Mittelwert [%]
Ösophagus
80–93
87
Sarkome
75–89
85
Knochen (Metastasen)
55–96
83
Pankreas
72–100
81
Knochen (primär)
70–85
80
Leber/Galle
65–100
79
Magen
67–93
78
Gebärmutter
40–100
75
Mamma
56–100
74
Lunge
57–88
73
Ovar
49–100
72
Prostata
55–100
72
Kolorektal
47–95
70
ZNS
55–83
70
Niere/Harnwege
62–100
69
Oro-Pharynx
54–80
66
Weichteile
50–82
60
Lymphome
20–69
58
Leukämie
5–76
54
Neben der Zuordnung von Schmerzzuständen zu Tumorart und -stadium, lassen sich auch Beziehungen zur Schmerzursache finden. So ermittelten Twycross und Fairfield (1982), dass von den Schmerzzuständen 67,3% tumorbedingt, 5% therapiebedingt, 6,3% tumorassoziiert und 21,5% tumor- und therapieunabhängig waren. Gutgsell et al. (2003) berichteten, dass 68% ihrer Patienten unter tumorbedingten Schmerzen litten; 88% dieser Patienten gaben maximal zwei Schmerzlokalisationen an. Bei Twycross und Fairfield (1982) klagten mehr als 80% aller Patienten über mehr als eine Schmerzlokalisation. In ähnlichen Größenordnungen bestimmten andere Untersuchergruppen begleitende Schmerzzustände bei Krebserkrankungen (. Tab. 32.4). Während Adler und Hürny (1988) sowie Zech und Buzello (1991) ihre Angaben auf die Hauptursache der Schmerzen bezogen, ermittelten Banning et al. (1991) die patientenbezogene Häufigkeit der jeweiligen Schmerzursachen. Bedeutsam ist diese Differenzierung vor allem für die Entscheidung, welche symptomorientierten Maßnahmen zur Behandlung bzw. Linderung der Beschwerden ergriffen werden sollen. Aussagekräftige epidemiologische Studien über die Prävalenz von Tumorschmerzen liegen weder für die alten noch für die neuen Länder der Bundesrepublik Deutschland vor. In Ermangelung gesicherter epidemiologischer Daten unternahm Heidemann (1999) eine Schätzung der Schmerzprävalenz bei Tumorerkrankungen für Deutschland. Unter Zugrundelegung lokalisationsbezogener medianer Überlebenszeiten – wie sie in der Literatur beschrieben wurden – sowie damals verfügbarer Angaben über die Mortalität dieser Tumorentitäten in Deutschland kam die Autorin zu dem Schluss, dass an jedem Tag in Deutschland etwa 220.000 Tumorpatienten unter behandlungsbedürftigen Schmerzen leiden. Jährlich ergeben sich somit allein für den Bereich der Bundesrepublik Deutschland mehr als 80 Mio. »Tumorschmerzpatiententage«. Neben der Häufigkeit, mit der Schmerzzustände auftreten, ist auch deren Intensität von Bedeutung. So ermittelten Klepstad et al. (2005) im Rahmen einer Untersuchung des Research Network der EAPC (European Association for Palliative Care), dass von 3.030 in die Studie einbezogenen Tumorpatienten aus 21 europäischen Ländern 32% über mäßige bis starke Schmerzen klagten.
32.2
Pathophysiologische Aspekte von Tumorschmerzen
Die Verbindung zwischen Nozizeption – als physiologischer Reaktion auf eine Verletzung – und der Schmerzwahrnehmung – als
678
Kapitel 32 · Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie
dem biopsychosozialen Konstrukt, das die betroffene Person aus einer tatsächlichen bzw. angenommenen Schädigung macht – kommt in der Definition des Schmerzes durch die International Association for the Study of Pain (IASP) zum Ausdruck: »Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird« (nach Mersky et al. 1979). Aus dieser Definition lassen sich einige wichtige Konsequenzen ableiten: 4 Die affektiv-emotionale Komponente steht gleichberechtigt neben der sensorischen. 4 Schmerz ist eine subjektive Empfindung, d. h. objektivierbare Läsionen können fehlen. 4 Schmerzreaktion und Gewebeschädigung müssen nicht kausal verknüpft sein (Derra u. Egle 1995).
32
Bezogen auf die Pathophysiologie der Schmerzen lassen sich drei unterschiedliche Schmerzarten differenzieren: 4 Nozizeptorschmerz, 4 neuropathischer Schmerz, 4 psychogener Schmerz. Diese drei Schmerzarten stehen nicht unbedingt als sich gegenseitig ausschließende Alternativen nebeneinander; vielmehr können sie als Mischformen auftreten und sich untereinander verstärken. Eine Differenzierung der Schmerzen im Sinne dieser . Tab. 32.5. Ursachen mangelner Wirksamkeit von Opioiden Pseudoresistente Schmerzen
Semiresistente Schmerzen
Resistente Schmerzen
Unterdosierung von Analgetika
Knochenmetastasen
Muskelspasmen
Ungünstige Resorptionsbedingungen
Plexus-, Wurzelkompression
Neuropathie
Erbrechen
Neuropathie
Psychosoziale Gründe
Erhöhter Hirndruck
Mangelnde Compliance
Bewegungsabhängiger Schmerz
. Abb. 32.1. Konzept des »Total Suffering«. Zusammenwirken verschiedener Einflussebenen auf das Schmerzerlebnis. Unzureichende Schmerzkontrolle kann Probleme in allen übrigen Bereichen des Leidensspekt-
Einteilung ist aber insofern von Bedeutung, als bei bestimmten Konstellationen z. T. nur spezielle Therapieoptionen wirksam sind. Eine gute Übersicht über die molekularen Mechanismen der Nozizeption geben Julius und Basbaum (2001) sowie Wood (2005). Neben neuropathischen Schmerzen können aber noch andere Faktoren dazu beitragen, dass Nichtopioide und Opioide unzureichend analgetisch wirken. In Anlehnung an Twycross (1993) lassen sich die möglichen Ursachen einer mangelnden Opioidwirksamkeit wie in . Tab. 32.5 dargestellt systematisieren. Können die pseudoresistenten Schmerzzustände durch eine Optimierung der Opioidanwendung unter Beachtung des WHOStufen-Schemas (WHO 1990; 7 Abschn. 32.4.1) und durch Berücksichtigung der psychosozialen Bedürfnisse des Patienten gebessert werden, so erfordern semiresistente und resistente Schmerzen in der Regel die Anwendung adjuvanter Maßnahmen, wie z. B. die zusätzliche Verordnung von Antidepressiva bzw. Antikonvulsiva, α2-Agonisten, Ketamin (7 Abschn. 32.4.1) oder den Einsatz invasiver Therapieverfahren unter Einschluss der Gabe von Lokalanästhetika (7 Abschn. 32.4.2). Bezüglich der Pathogenese von Schmerzen bei Tumorerkrankungen bestehen weiterhin große Wissensdefizite. Durch die Etablierung geeigneter Tiermodelle, die eine Überprüfung zugrunde liegender Mechanismen und deren therapeutischer Beeinflussbarkeit unter kontrollierten Bedingungen erlauben, wurden in den zurückliegenden 10 Jahren bedeutende Fortschritte erzielt (Cain et al. 2001; Mantyh 2005; Shimoyama et al. 2002; Wacnik et al. 2000). Hinsichtlich der Frage, wie häufig den zu beobachtenden Schmerzen ein bestimmtes pathophysiologisches Geschehen zugrunde liegt, stellten Grond et al. (1996) fest, dass 66% der von ihnen untersuchten Schmerzzustände nozizeptiven und 34% neuropathischen Ursprungs waren. Eine davon etwas abweichende Verteilung fanden Minotti et al. (1998), deren Patienten zu 75,5% unter nozizeptiven und nur zu 24,5% unter neuropathischen Schmerzen litten. Bei der Planung einer Schmerztherapie darf neben den physiologischen Grundlagen aber auch die Bedeutung psychosozialer Faktoren auf die Schmerzwahrnehmung nicht vernachlässigt werden (. Abb. 32.1; nach Woodruff 1993). Psychische, soziale und spirituelle Faktoren können bei einzelnen Patienten einen derart großen Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung haben, dass auch in hohen Dosen verabreichte Opioide plus adjuvante Medikamente keine wesentliche Besserung der Schmerzsymptomatik
rums verursachen oder verstärken. Ungelöste Probleme in irgendeinem der übrigen Bereiche des Leidensspektrums kann Schmerzen auslösen oder die Schmerzwahrnehmung verstärken
679 32.3 · Schmerzdiagnostik und -messung
erbringen (Strasser et al. 2005). Frühzeitig einsetzende psychologische und psychotherapeutische Unterstützung kann hier zu einer Linderung des Leidens führen bzw. überhaupt erst einen Weg eröffnen, um den Patienten adäquat behandeln zu können (Turk u. Feldman 1992).
32.3
Schmerzdiagnostik und -messung
Das Prozedere zur Erfassung von Schmerzen bei Tumorpatienten unterscheidet sich nicht von jenem, das auch bei Patienten mit chronischen Schmerzzuständen benigner Art angewendet wird. In beiden Fällen ist das Ziel der Diagnostik, die dem Schmerzgeschehen zugrunde liegenden Ursachen zu bestimmen und den Einfluss des Schmerzes auf die unterschiedlichen Reaktionsebenen des Individuums zu erfassen. Erst auf der Grundlage einer sorgfältigen gezielten Diagnostik wird die Einleitung einer suffizienten Schmerztherapie möglich. Deswegen ist dringend eine standardisierte schriftliche Dokumentation der Untersuchungsbefunde anzuraten. Die sog. Kerndokumentation HOPE (Hospiz- und Palliativerhebung, früher Palli-Dok) ist seit Jahren ein fester Bestandteil der deutschen Palliativmedizin. Das Projekt HOPE wird jährlich an Palliativstationen und Hospizen, onkologischen Abteilungen, sowie von palliativärztlichen und -pflegerischen ambulanten Diensten durchgeführt. Die dabei verwendeten Instrumente beruhen im Wesentlichen auf dem MIDOS, dem »Minimalen Dokumentations-System für die palliative Medizin« (Radbruch et al. 2000a; vgl. 32.3.3) und sind für eine standardisierte Dokumentation bestens geeignet. Weiterführende Informationen zu HOPE, ein Anmeldeformular sowie die aktuellen Dokumentationsbögen finden sich unter http://www.dgpalliativmedizin.de/ag-forhope.html zum Download. 32.3.1 Anamnese und körperliche Untersuchung
Bei der Untersuchung eines Tumorschmerzpatienten ist neben einer allgemeinen Anamnese auch eine spezielle Tumoranamnese zu erheben sowie eine ausführliche Exploration der psychosozialen Situation des Patienten vorzunehmen. Routinemäßig sollte die ärztliche körperliche Untersuchung, die in diesem Zusammenhang einen hohen Stellenwert besitzt (Portenoy 1997a), auch eine orientierende neurologische sowie orthopädische Exploration umfassen und darüber hinaus auch mit psychologisch-evaluativen Verfahren kombiniert werden. Jede einzelne Schmerzlokalisation sollte möglichst genau beschrieben werden (7 Abschn. 32.3.3). Neben Schmerzintensität und Schmerzcharakter sind jeweils auch der zeitliche Verlauf der Schmerzen (7 Abschn. 32.3.2) sowie verstärkende und hemmende Faktoren zu dokumentieren. Ergänzend sollten wegen der engen Verflechtung und möglichen Beeinflussung auch andere Symptome (7 Kap. 31) erfasst und gegebenenfalls quantifiziert werden. Die gegenseitige Beeinflussung in der Wahrnehmung von Symptomen ist allerdings bislang kaum systematisch untersucht worden (Fleishman 2004; Tishelman et al. 2005). Das Auftreten bzw. Vorhandensein von neurologischen Störungen in schmerzhaften Arealen, wie z. B. Allodynie, Anästhesie, Dysästhesie, Hypästhesie, motorisches Defizit sollte ebenfalls bestimmt werden. Das Bestehen solcher Phänomene ist ein wichtiges Indiz für eine neuropathische Genese von Schmerzen und grenzt sie gegen den Nozizeptorschmerz ab. Diese Differenzie-
32
rung hat Implikationen für die medikamentöse Therapiestrategie (Leng u. Finnegan 1994). Im Rahmen der Schmerzdiagnostik empfiehlt sich zudem eine Einschätzung, ob die Schmerzen durch den Tumor, dessen Therapie oder durch Faktoren bedingt sind, die von beidem unabhängig sind. Diese Zuordnung ist vor allem auch im Hinblick auf die Indikationsstellung für den Einsatz unterschiedlich invasiver Behandlungsmaßnahmen (7 Abschn. 32.4.2) hilfreich. Gerade bei komplexen Schmerzproblemen (vgl. Turk et al. 1998) führt in der Regel nur ein multimodaler Therapieansatz zu einer erfolgreichen Behandlung. 32.3.2 Mehrdimensionalität von Tumorschmerzen
Im Kontext der bereits angesprochenen relevanten Reaktionsebenen sind neben der verhaltensorientierten (behavioralen) Ebene sowie der schmerzbedingten Beeinträchtigung von Aktivitäten des täglichen Lebens u. a. die kognitive, die affektiv-emotionale und die physiologische Ebene zu beachten. Kognitive Ebene Depressionen bzw. depressive Verstimmungen treten bei Tumorpatienten gehäuft auf; sie gehen meist mit einer eingeschränkten Lebensqualität (QoL) einher (Smith et al. 2003). Für diese Beobachtungen kann die individuelle Schmerzintensität nur z. T. verantwortlich gemacht werden. Bereits bei der ärztlichen Erstuntersuchung von Tumorpatienten sollten deshalb irrationale Kognitionen – wie z. B. »Eine Kontrolle meiner Schmerzen ist nicht möglich!« oder »Schmerzen sind unvermeidlich … ich muss sie einfach akzeptieren!« – exploriert und dokumentiert werden: Nur wenn solche »dysfunctional beliefs« eines Patienten und die daraus von ihm abgeleiteten Befürchtungen und antizipierten negativen Konsequenzen identifiziert werden, kann ihnen möglichst frühzeitig entgegengewirkt werden (Payne 2000). Äußerst bedenklich ist in diesem Zusammenhang, dass ähnlich irrationale Einstellungen und Vorurteile – insbesondere hinsichtlich der Therapie von starken Tumorschmerzen mit Opioiden – nicht selten auch aufseiten der behandelnden Ärzte und Pflegekräfte anzutreffen sind (vgl. z. B. Weinstein et al. 2000). Weiterhin zeigte sich in Untersuchungen bei Tumorpatienten, dass die Entwicklung kognitiver Defizite einen Hinweis auf das Vorliegen einer insgesamt höheren Symptomenlast darstellte, verglichen mit Patienten ohne solche Defizite (Klinkenberg et al. 2004). Affektiv-emotionale Ebene Obwohl inzwischen das Wissen um die physiologischen und sensorischen Grundlagen von Tumorschmerzen deutlich zugenommen hat (7 Abschn. 32.2), liegen über die affektiv-emotionale Dimension der Schmerzwahrnehmung deutlich weniger Befunde vor: Beispielsweise ist derzeit nicht genau bekannt, ob eine Schmerzzunahme zwingend zu gesteigerten emotionalen Reaktionen führt oder ob Veränderungen auf der affektiven Ebene immer gleichgerichtete Veränderungen der Schmerzwahrnehmung nach sich ziehen (Sela et al. 2002). Einen möglichen Hinweis auf derartige Wechselwirkungen lieferten Schou et al. (2005), die in einer longitudinal konzipierten Untersuchung an 165 Brustkrebspatientinnen eindeutige Korrelationen fanden zwischen der empfundenen Lebensqualität der Frauen einerseits und ihrer emotionalen Grundeinstellung (optimistisch vs. pessimistisch) sowie ihrer Coping-Strategie (kämpferisch vs. hoffnungs-/hilf-
680
32
Kapitel 32 · Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie
los) andererseits: Optimistinnen agierten nach der Diagnosestellung und während der Therapie kämpferisch, was einen positiven Einfluss auf ihre Lebensqualität hatte, während die pessimistischen Frauen mit Passivität, Hoffnungs- und Hilflosigkeit reagierten, was sich eher negativ auf ihre Lebensqualität auswirkte. Für die Dokumentation des Schmerzverhaltens folgt daraus, dass sowohl verbale und mimische Schmerzäußerungen (z. B. Stöhnen, Grimassieren, Klagen), als auch das Aktivitätsniveau des Patienten (z. B. täglich im Bett verbrachte Zeit sowie Zeit, in der der Patient selbst bzw. mit fremder Hilfe aktiv ist) registriert werden sollten. In der Regel sind bei der Dokumentation solcher Befunde Selbsteinschätzungen des Patienten zu präferieren. In diesem Zusammenhang mahnt allerdings eine Untersuchung von Klepstad et al. (2002) zur Vorsicht, denn einige Symptome sind einer Selbsteinschätzung des Patienten nur sehr bedingt zugänglich: So konnten die Autoren bei 29 Tumorpatienten für die Faktoren Sedierung und Gedächtnisstörungen keine Korrelation finden zwischen der Selbsteinschätzung mittels EORTC QLQC30 und einer Fremdüberprüfung mit dem »Mini Mental State Examination-Inventar« (MMS), einem VRS-Sedierungsscore sowie mit dem »Observer’s Assessment of Alertness/Sedation« (OAA/S). Grundsätzlich wird die Verwendung validierter, standardisierter Instrumente empfohlen; diese sollten aber unbedingt einfach konzipiert, leicht verständlich und nicht zu umfangreich sein, damit sie auch von Patienten mit eingeschränkter Wahrnehmungs- und Äußerungsfähigkeit verstanden und ausgefüllt werden können. Physiologische Ebene Die durch Schmerzreize induzierte neuronale Aktivierung kann prinzipiell auch durch andersartige Stressoren verursacht werden und ist somit von der Art her unspezifisch. Aus diesem Grund existieren bisher leider keine standardisierten objektiven Messparameter zur Erfassung der physiologischen Korrelate der subjektiven Schmerzwahrnehmung. Deswegen ist die Einschätzung der Beschwerden durch den Patienten selbst von großer Bedeutung. Die hier interessierenden Dimensionen umfassen die Schmerzlokalisation, die Schmerzqualität, den zeitlichen Verlauf des Schmerzes (sowohl die zirkadiane Rhythmik als auch die Entwicklung der Schmerzen im Verlauf der Erkrankung) sowie die Schmerzintensität. Während die erstgenannten Punkte schon im Zusammenhang mit der Erhebung von Anamnese und körperlichem Status (7 Abschn. 32.3.1) angesprochen wurden, ist gerade der Schmerzintensität besondere Aufmerksamkeit zu schenken (7 Abschn. 32.3.3), da die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Intensität der empfundenen Schmerzen als das wesentliche Indikations- und Steuerungskriterium für die Durchführung einer analgetischen Pharmakotherapie empfiehlt (WHO 1986, 1990). 32.3.3 Instrumente zur Erfassung und Dokumentation
von Schmerzen Neben der Schmerzintensität können zur Beschreibung des Schmerzgeschehens noch weitere Charakteristika herangezogen werden. Beispielsweise können in Bezug auf den zeitlichen Verlauf des Schmerzes auch die Frequenz, Intensität und Dauer von Schmerzattacken sowie schmerzverstärkende bzw. schmerzlindernde Faktoren dokumentiert werden.
Komplexe Verfahren zur mehrdimensionalen Erfassung der Schmerzwahrnehmung Für die Beschreibung der Schmerzlokalisation bietet sich die Verwendung einfacher grafischer Körperschemata an, auf denen der Patient die Topografie und Ausstrahlung seiner Schmerzen einzeichnen kann. Aus solchen Schmerzzeichnungen sind oftmals wichtige Informationen für die Schmerztherapie abzuleiten: Zum Beispiel lassen sich gelegentlich schon aus der Lokalisation Rückschlüsse auf zugrunde liegende Schmerzmechanismen und Störungen ziehen. Speziell zur Dokumentation der Schmerzqualität existieren sog. Adjektivskalen. Am weitesten verbreitet sind: 4 das »McGill Pain Questionnaire« (MPQ; Melzack 1975), dessen englische Originalversion in zahlreichen Arbeiten validiert wurde (Übersicht bei Radbruch u. Zech 1997), sowie 4 das »Wisconsin Brief Pain Inventory« (BPI; Daut et al. 1983), das zur Erfassung sensorischer und reaktiver Komponenten des Schmerzerlebens entwickelt wurde. Der BPI kombiniert die Messung unterschiedlicher Schmerzintensitäten (7 Abschn. 32.3.3), d. h. der aktuellen sowie der mittleren und der stärksten täglichen Schmerzintensität, mit Fragen nach reaktiven Komponenten und anderen Symptomen. Beide Instrumente sind aussagekräftige Inventarien, die auch in deutschen Versionen vorliegen (z. B. Radbruch et al. 1999). Als gravierender Nachteil von MPQ und BPI erweist sich allerdings der doch erhebliche Umfang und die prinzipbedingte Komplexität beider Inventarien. Für die Exploration chronischer Schmerzpatienten stellt dieser Umstand nur selten ein Problem dar; bei Tumorpatienten mit ihren oftmals eingeschränkten Leistungsund Konzentrationsreserven führen diese Faktoren jedoch häufig zu unvollständigen und damit nicht verwertbaren Angaben. Deshalb wurde von dem BPI speziell für die Anwendung bei Tumorpatienten eine Kurzversion erarbeitet, die auch wesentlicher Bestandteil von MIDOS ist, dem »Minimalen Dokumentations-System für die palliative Medizin«. Dieses Computer-unterstützte System wurde von den Mitarbeitern der Kölner Schmerzambulanz entwickelt sowie validiert und zeichnet sich durch Kürze, Reproduzierbarkeit und Multidimensionalität aus (Radbruch et al. 2000a). Als problematisch ist jedoch die Verlaufserfassung mit solchen Inventarien anzusehen, weil sie für diesen Zweck meist nicht validiert sind (Caraceni 2001). Einfache Skalen zur Erfassung der Schmerzintensität Obwohl es sich beim Schmerz um ein multidimensionales Phänomen handelt, ist es in der Regel für die klinische Routine, insbesondere zur Durchführung einer regelmäßigen Verlaufskontrolle, ausreichend, nur die Schmerzintensität zu erfassen. Als validierte Instrumente zu deren Quantifizierung haben sich die verbale Ratingskala sowie die numerische und die visuelle Analogskala (7 unten) etabliert. Die Messung der Schmerzintensität ist möglichst zeitnah durchzuführen, da es leicht zu Überschätzungen kommt, wenn die Erfassung erst nach mehreren Tagen erfolgt. Zudem ist belegt, dass die Reproduzierbarkeit der Angaben unter medikamentöser Therapie deutlich unzuverlässiger wird; analog gilt dies auch beim Vorliegen von emotionalen Belastungen, Konflikten in der Familie etc. Zur Quantifizierung der Schmerzintensität haben sich die folgenden einfachen Skalen bewährt: 4 Verbale bzw. deskriptive Schmerzskala (VRS; »verbal rating scale«): Dieses Instrument weist eine diskrete Ordinalskalierung mit entsprechenden verbalen Deskriptoren auf
681 32.3 · Schmerzdiagnostik und -messung
(z. B. bei einer 5-stufigen Graduierung: »kein Schmerz«, »leichter Schmerz«, »mäßiger Schmerz«, »starker Schmerz«, »unerträglicher Schmerz«). Aus diesen Alternativen wählt der Patient zu vorgegebenen Zeitpunkten – ein- oder mehrmals täglich – diejenige Skalierungsangabe aus, die sein aktuelles Schmerzniveau am besten beschreibt und notiert den Wert in einem Schmerztagebuch bzw. Schmerzkalender. Vorteilhaft an deskriptiven Skalen ist deren einfache Verständlichkeit. 4 Numerische Analogskala (NAS): Bei dieser stetigen Skalierung von 0–10 bzw. 0–100 wählt der Patient die Intensitätsbeschreibung aus, die einer relativen Bewertung seiner aktuell empfundenen Schmerzen zwischen den Extrempunkten »kein Schmerz« (= 0) und »maximal vorstellbarer Schmerz« (= 10 bzw. 100) entspricht (ein Anwendungsbeispiel findet sich in . Abb. 32.4). 4 Visuelle Analogskala (VAS): Dieses Instrument (. Abb. 32.2) weist ebenso wie die NAS eine stetige Skalierung auf; auch die Extrempunkte sind identisch mit denen der NAS. Im Gegensatz zur NAS gibt der Patient aber keine Zahl an, sondern markiert die von ihm empfundene Schmerzintensität auf einer 100 mm langen Linie mit einem Kreuz. Zur Auswertung wird die Länge der so vom Nullpunkt aus definierten Strecke in Millimeter bestimmt und quasi als »prozentuale«Intensitä tsangabe gewertet. Nachteil der stetigen Skalen (z. B. NAS und VAS) ist, dass ihre Anwendung bei den Patienten ein gewisses Abstraktionsvermögen sowie auch ein intellektuelles Verständnis der diesen Instrumenten zugrunde liegenden messtheoretischen Analogie voraussetzt. Diese Fähigkeiten sind jedoch gerade bei alten Menschen sowie bei terminal kranken Patienten oftmals reduziert bzw. gar nicht mehr gegeben. Deshalb hat sich bei diesen Patientengruppen der Einsatz der oben genannten VRS besser bewährt, alternativ lassen sich hier auch sog. »Smiley-Skalen« einsetzen (Herr et al. 1998). Dabei handelt es sich um ein primär in der Kinderheilkunde entwickeltes und in vielen pädiatrischen Institutionen routinemäßig eingesetztes Instrument. Die Schmerzintensität wird dabei durch unterschiedlich viele (zwischen 5 und 11) schematisch dargestellte Gesichter symbolisiert, deren Ausdruck von lächelnd (= »kein Schmerz«) bis hin zu weinend (= »maximal
32
vorstellbarer Schmerz«) variiert (. Abb. 32.3). Zwischen den mit Smiley-Skalen erzielten Resultaten und den mit stetigen Skalen gemessenen Werten finden sich positive, für die Validität der symbolischen Skalen sprechende Korrelationen (Rodriguez et al. 2004). Im klinischen Bereich werden vor allem die VAS oder die VRS breit eingesetzt. Aus zahlreichen Vergleichsstudien ist bekannt, dass diese Verfahren zwar eine gute Sensitivität und befriedigende Reproduzierbarkeit aufweisen, die Ergebnisse jedoch aufgrund des geringen messtheoretischen Skalenniveaus statistisch nur bedingt interpretationsfähig sind (Skovlund et al. 2005). Obwohl diese Einschränkung bei der Anwendung im Rahmen wissenschaftlicher Studien ein Problem darstellt, sind die VAS und die VRS als Instrumente zur routinemäßigen Verlaufskontrolle einer analgetischen Therapie in der klinischen Praxis durchaus geeignet (Koshy et al. 2004). In diesem Kontext sei auf eine Untersuchung zum Kriterium einer aus Patientensicht »ausreichenden« Schmerzlinderung verwiesen. Bei 1268 explorierten Schmerzepisoden stellten Farrar et al. (2000) fest, dass: 4 bei Anwendung einer stetigen Skala (z. B. NAS und VAS) eine Reduktion der vorbestehenden Schmerzintensität um wenigstens 33%, bzw. 4 bei Anwendung einer diskreten Skala (z. B. VRS) ein Rückgang des vorbestehenden Schmerzniveaus um wenigstens zwei Stufen, einen verlässlichen Prädiktor für eine vom Patienten als ausreichend empfundene Analgesie darstellt; dieses Postulat ist jedoch nicht unwidersprochen geblieben (McQuay et al. 2003). Schmerztagebücher Zur Schmerzdokumentation durch den Patienten haben sich sog. Schmerztagebücher (. Abb. 32.4) bewährt; darin werden die jeweils aktuell bestimmten Werte der von ihm geklagten Schmerzintensität zeitnah vermerkt. Nur mithilfe eines solchen Instruments ist es möglich, den Effekt einer Schmerztherapie eindeutig zu beurteilen; somit stellt ein Schmerztagebuch zugleich eine gute Grundlage dar, die analgetische Therapie den Bedürfnissen des Patienten anzupassen. Auch stark schwankende Schmerzintensitäten bzw. sog. Durchbruchschmerzen (7 Abschn. 32.4.1), wie sie bei Tumorpatienten nicht selten vorkommen, lassen sich so verlässlich erfassen.
. Abb. 32.2. Beispiel einer sog. visuellen Analogskala (VAS) zur Erfassung der Schmerzintensität
. Abb. 32.3. Beispiel einer sog. »Smiley«-Skala, die sich sowohl in pädiatrischen wie in geriatrischen Settings zur Erfassung der Schmerzintensität bewährt hat
. Abb. 32.4. Schmerztagebuch für Patienten für den Zeitraum eines Kalendermonats. Als Beispiel sind hier verkleinert nebeneinander wiedergegeben die Vorder- und Rückseite des beispielsweise im Rahmen von SUPPORT routinemäßig eingesetzten Erfassungsinstruments. Die Patienten sind angehalten, einmal täglich abends ihren stärksten, ihren geringsten sowie ihren durchschnittlichen Schmerz während der zurückliegenden 24 h zu dokumentieren, indem sie im entsprechenden Feld diejenige Zahl notieren, die auf der abgedruckten 10-stufigen numerischen Analogskala (NAS) ihre je-
weilige Schmerzintensität am besten beschreibt. Patienten sollten ihre Beschwerden mithilfe eines solchen standardisierten Inventars über den Verlauf der Schmerztherapie regelmäßig protokollieren. Nur eine zuverlässige, routinemäßige Schmerzdokumentation ermöglicht eine adäquate Steuerung der analgetischen Therapie. Zudem lassen sich stark schwankende Schmerzintensitäten sowie Schmerzspitzen (sog. »Durchbruchschmerzen«), wie sie bei Tumorpatienten häufig vorkommen, so besser erfassen
682 Kapitel 32 · Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie
683 32.4 · Konzepte zur Schmerztherapie bei Tumorpatienten
32.4
Konzepte zur Schmerztherapie bei Tumorpatienten
. Tab. 32.6. Substanzklasse sowie Referenzpräparat und Alternativpräparate auf den drei Stufen der WHO-Behandlungsempfehlung mit der jeweiligen Indikation
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erkannte Anfang der 80er Jahre, dass die Therapie von Schmerzen im Rahmen einer Tumorerkrankung ein wichtiges, oftmals vernachlässigtes Problem sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländern darstellt. Daraufhin wurde die Kampagne »Freedom from Cancer Pain« initiiert, in deren Verlauf 1986 die Broschüre »Cancer Pain Relief« veröffentlicht wurde (WHO 1986). In dieser Anleitung wurde erstmals ein umfassendes 3-Stufen-Schema empfohlen, das unabhängig von der Tumor- und Schmerzart, einzig orientiert an der Schmerzintensität, eine suffiziente analgetische Therapie gewährleisten sollte, wobei das Primat der Behandlung von Schmerzen bei Krebspatienten eindeutig aufseiten der analgetischen Pharmakotherapie lag. Eine detailliertere Schilderung der Historie des WHO-Stufen-Schemas findet sich bei Ventafridda et al. (1997). 32.4.1 WHO-3-Stufen-Schema zur
Tumorschmerztherapie In der ursprünglichen Fassung des WHO-Stufen-Schemas wurden lediglich drei Medikamente als Mittel der ersten Wahl propagiert: Azetylsalizylsäure, Codein, Morphin. Dieses Stufenschema war auf einer Konsultationskonferenz in Genf 1984 verabschiedet und am WHO-Referenz-Zentrum in Saitama (Japan) an 156 Tumorschmerzpatienten erfolgreich (Evidenzlevel1 IV) getestet worden (Takeda 1986). Unter Beibehaltung des Prinzips, Tumorschmerzpatienten nur mit einer streng limitierten Anzahl anerkannt wirksamer Medikamente zu behandeln, wurde dieses Therapieschema seither weiterentwickelt (WHO 1990, 1996). . Abb. 32.5 zeigt den aktuellen Stand des von der WHO propagierten Handlungsalgorithmus. Durch einen Wechsel zur jeweils nächsthöheren Stufe erleichtert die Therapieempfehlung der WHO auch eine gezielte Anpassung der Behandlung bei Nichtansprechen der Schmerzen auf die zunächst verordnete Medikation. In zahlreichen Feldstudien (Evidenzlevel III) konnte die Wirksamkeit des WHO-Stufen-Schemas belegt (Twycross 1993)
Stufe 2: mittelstarke Opioide ± Adjuvanzien
WHO-Stufe
Substanzklasse
Referenzpräparat
Alternativpräparate
Stufe 1: anzuwenden bei leichten bis mäßigen Schmerzen
Nichtopioide Analgetika
ASS
Metamizol NSAID Paracetamol
Stufe 2: anzuwenden bei mäßigen bis starken Schmerzen
Mittelstarke Opioide
Codein
Buprenorphin Dihydrocodein Dextropropoxyphen Tilidin (+Naloxon) Tramadol
Stufe 3: anzuwenden bei starken bis sehr starken Schmerzen
Starke Opioide
Morphin
(Buprenorphin) Fentanyl Hydromorphon Levomethadon Oxycodon
und seine Erfolgsrate mit 75–90% dokumentiert werden (7 auch Felleiter et al. 2005). Kritisch wird allerdings von einigen Autoren angemerkt, dass keine der erwähnten Studien über eine Kontrollgruppe verfügte (Jadad u. Browman 1995). Trotz dieser berechtigten Kritik an der Validierung des von der WHO propagierten Vorgehens gibt es derzeit keine erprobte Alternative, die gerade dem in der Schmerztherapie wenig erfahrenen Arzt eine ähnlich große Hilfe bei der Behandlung von Patienten mit tumor- bzw. therapiebedingten Schmerzen geben könnte wie das besagte WHO-Stufenschema. Trotzdem gibt es immer wieder Diskussionen über die Sinnhaftigkeit der drei Stufen, wobei insbesondere die Stufe 2 hinterfragt wird (z. B. Freynhagen et al. 1994; Minotti et al. 1998). Maltoni et al. (2005) führten eine randomisierte Untersuchung an 54 Patienten durch. Dabei wurden in der Kontrollgruppe 24 Patienten entsprechend der WHO-Empfehlungen in drei Stufen behandelt, während in der Experimentalgruppe 30 Patienten von der WHO-Stufe 1 sofort auf Stufe 3 umgestellt wurden. Das maximale Follow-up betrug 90 Tage. Als Kriterium diente die Anzahl der Tage, an denen starke bis stärkste Schmerzen (≥5 oder ≥7 auf einer 10-Punkte-VAS) angegeben wurden, sowie das Ausmaß therapiebedingter Nebenwirkungen. In beiden Schmerzkategorien war eine zwar statistisch signifikante, klinisch aber nur bedingt relevante Abnahme der Schmerzhäufigkeit zugunsten des 2-Stufen-Therapiemodells zu ermitteln. Diese Ergebnisse sind zwar geeignet, den Nutzen der WHO-Stufe 2 zu hinterfragen, nicht aber die Empfehlungen der WHO zur Tumorschmerztherapie insgesamt, denn die im Rahmen der Untersuchung erzielten Verbesserungen der Analgesie waren nur marginal; zudem fanden sich in der Experimentalgruppe signifikant häufiger Nebenwirkungen, speziell Obstipation, was unter dem Aspekt der Lebensqualität sicher keine Optimierung darstellt. 1
. Abb. 32.5. WHO-3-Stufen-Schema zur Tumorschmerztherapie. Bezüglich Referenz- und Alternativpräparaten zu den drei Stufen vgl. . Tab. 32.6; hinsichtlich infrage kommender Adjuvanzien vgl. . Tab. 32.16
32
Soweit im weiteren Verlauf dieses Lehrbuchbeitrags eine Aussage zum Evidenzlevel (»type of evidence«) der zitierten Studien getroffen wird, geschieht diese Klassifizierung in Anlehnung an das von der Ärztlichen Zentralstelle Qualitätssicherung (2001) vorgeschlagene Bewertungssystem der AHCPR.
684
32
Kapitel 32 · Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie
Grundlagen des WHO-3-Stufen-Schemas Schmerztherapie muss stets Teil eines Gesamtbehandlungskonzeptes sein; sie stellt keine Alternative zur Therapie der Grunderkrankung dar, sondern will diese gezielt unterstützen. Alle Maßnahmen bei der Tumorschmerztherapie erfolgen patientenzentriert, deshalb sind Aufklärung, Erläuterung der Zielsetzung und Mitsprache des Patienten im Sinne eines »shared decision making« wesentliche Aspekte der Therapieplanung (Ärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung 2001) und helfen die Compliance von Patient und Angehörigen zu verbessern. Von unterschiedlichen Organisationen und Einrichtungen liegen Empfehlungen für die Tumorschmerztherapie vor (AHCPR 1994; Ärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung 2001; Deutsche Krebsgesellschaft 2000; WHO 1986, 1990, 1996, 1998), wobei das 3-Stufen-Schema der WHO sicherlich die weiteste Verbreitung gefunden hat. In ihrem Behandlungskonzept formuliert die WHO fünf wesentliche Prinzipien (WHO 1996): 4 das Primat der oralen Applikation (»by the mouth«), 4 die Verordnung gemäß der Wirkzeit der Substanz (»by the clock«), 4 die Orientierung am Stufenschema der WHO (»by the ladder«), 4 die Anpassung der Therapie auf jeden einzelnen Patienten (»for the individual«) und 4 die sorgfältige Beachtung von Besonderheiten (»attention to detail«). Aus diesen Vorgaben resultiert die Empfehlung einer zeitkontingenten, an einer Maßnahmeneskalation (sowohl bezüglich der Dosis als auch der Auswahl der verwendeten Pharmaka) ausgerichteten, individuellen Pharmakotherapie mit Präferenzierung der oralen Verabreichung als wichtigstem Applikationsweg. Neben der, von der Mehrzahl der Tumorpatienten positiv erlebten Unabhängigkeit von fremder Hilfe, bietet die orale Applikation, verglichen mit der parenteralen Gabe, auch noch den Vorteil einer relativ langen Wirkung bei Reduktion der Inzidenz toxischer Nebenwirkungen. Wesentlichstes Kriterium für die Auswahl der primär einzusetzenden analgetisch wirksamen Medikamente ist die Schmerzintensität (. Tab. 32.6). Liegen Dauerschmerzen vor, erfolgt die regelmäßige Gabe von Analgetika entsprechend ihrer Wirkungszeit; eine Gabe der Analgetika nach Bedarf ist in diesem Fall obsolet. Durch die Entwicklung von Retardpräparationen haben sich die Therapiemöglichkeiten insofern verbessert, als nur noch eine ein- bis maximal dreimal tägliche Medikamenteneinnahme notwendig ist. Zudem hat die Einführung von therapeutisch-transdermalen Systemen (Buprenorphin TDS, Fentanyl TTS) die Behandlungsmöglichkeiten erweitert, weil bei Anwendung einer solchen Zubereitungsform ein Wechsel des Applikationssystems nur noch alle 2–3 Tage erfolgen muss. Die alleinige Verordnung von Retardpräparaten bzw. von transdermalen Systemen ist nur bei Vorliegen eines konstanten Schmerzniveaus sinnvoll. Nach einer Einstellungsphase mittels schnell verfügbarer Zubereitungen – theoretisch erlauben diese aufgrund pharmakokinetischer Gegebenheiten ein schnelleres Erreichen eines Steady State – wird auf der Basis identischer Wirkstoffmengen pro 24 h auf ein entsprechendes Retardpräparat umgestellt. Bei wechselnder Schmerzintensität mit Auftreten von Schmerzspitzen bzw. bewegungsabhängigen Schmerzen ist eine
. Tab. 32.7. Inzidenz der opioidbedingten Symptome Übelkeit und Erbrechen Generikum
Relative Häufigkeit [%]
Buprenorphin
8,3–22,7
Morphin
18,3–28,0
Codein
16,2–29,7
Oxycodon
10,0–40,0
zusätzliche Rezeptierung schnell verfügbarer Opioide obligat (weiterführende Erläuterungen im Textkasten »Durchbruchschmerz«, S. 17/18). Die schnell verfügbaren Opioide dürfen »nach Bedarf« (»Rescue«-Medikation) verordnet und vom Patienten in eigener Regie eingenommen werden. Der Patient sollte aber angewiesen werden, die zusätzlich konsumierten Opioide mit Dosis und Zeitpunkt der Einnahme in seinem Schmerztagebuch (. Abb. 32.4) zu vermerken. Damit wird dem behandelnden Arzt die Möglichkeit gegeben, aus den Befunden weitere therapeutische Konsequenzen zu ziehen. Da die Therapie von Tumorschmerzen in der Regel eine chronische Behandlung darstellt, macht das z. T. unvermeidliche Auftreten von Nebenwirkungen eine umgehende bzw. besser noch eine vorbeugende Behandlung notwendig, um das angestrebte Ziel einer Verbesserung der Lebensqualität zu erreichen. Für die Opioide sind besonders die folgenden typischen Nebenwirkungen zu beachten (. Tab. 32.7; nach Campora et al. 1991): 4 Obstipation, die während der gesamten Einnahmedauer bestehen kann und die durch die obligate Verordnung von Laxanzien behandelt wird, 4 Auftreten von Übelkeit und/oder Erbrechen. Beiden Symptomen ist eigen, dass sie in der Regel nur initial (zumeist innerhalb der ersten Woche) vorhanden sind und von daher auch nur zu Beginn therapiert werden müssen. Typische, besonders zu beachtende Nebenwirkungen von nichtopioiden Analgetika sind: 4 Bei der Anwendung nichtsteroidaler Antirheumatika vor allem das Auftreten von gastrointestinalen Ulzerationen und Einschränkungen der Nierenfunktion. Durch die Gabe von Prostaglandinanaloga (Misoprostol 400–800 μg/die) und Protonenpumpenhemmern (z. B. Omeprazol 10–40 mg/die) kann man den NSAID-bedingten Nebenwirkungen im Bereich des Gastrointestinaltraktes wenigstens in gewissem Umfang vorbeugen. Dass in diesem Kontext zumindest partiell wirksame Strategien verfügbar sind, ist durch randomisierte klinische Studien (Evidenzlevel Ib) belegt (z. B. Langtry u. Wilde 1998). Hingegen ist die Beeinträchtigung der Nierenfunktion – gerade bei alten Menschen – nur bedingt zu vermeiden. Allerdings sollte konsequent symptomatisch einer Hypovolämie vorgebeugt werden; eine aktive Prophylaxe gegen das Auftreten einer Niereninsuffizenz durch ausreichende Flüssigkeitssubstitution ist bei der genannten Patientengruppe in der Praxis allerdings nur eingeschränkt möglich. Bei bereits manifester Nierenfunktionsstörung sollte diese Substanzklasse deshalb gemieden werden. 4 Beim Einsatz von Paracetamol vor allem die Lebertoxizität, die speziell bei Patienten mit Lebermetastasen von Bedeu-
685 32.4 · Konzepte zur Schmerztherapie bei Tumorpatienten
tung sein kann. Hier ist eine Prophylaxe durch die kombinierte Gabe mit Azetylzystein wirksam. Die Dosierung der Analgetika sollte nicht schematisch, sondern am Allgemeinzustand, am Risikoprofil und am Schmerzcharakter bzw. der Schmerzintensität des Patienten orientiert erfolgen. Auch die Möglichkeiten einer Kombination der Analgetika mit Adjuvanzien und Ko-Analgetika sollten routinemäßig erwogen werden. Grundlage für eine suffiziente Therapie von Tumorschmerzen ist die regelmäßige Überprüfung des Behandlungseffektes. Zu Beginn der Schmerztherapie ist eine zumindest einmal tägliche Messung des Schmerzniveaus und eine Einschätzung des Nebenwirkungsprofils erforderlich. Bei stark wechselnder Schmerzintensität kann auch eine mehrmals tägliche Bestimmung notwendig werden; als Instrumente bieten sich dazu die bereits erwähnten Skalen (7 Abschn. 32.3.3) an. Liegt das akute Schmerzniveau über einem VAS- bzw. NASWert von >30% des Skalenmaximums bzw. ergibt die VRS-Messung immer noch »mäßige« Schmerzen, sollte umgehend eine Optimierung der analgetischen Behandlung eingeleitet werden. Diese Forderung gilt gleichermaßen, wenn Nebenwirkungen einer eingeleiteten medikamentösen Schmerztherapie die durch die Analgesie gewonnene Lebensqualität vollständig konterkarieren. Folgende Schritte bieten sich für eine solche Behandlungsoptimierung an: 1. Wurden nichtopioide Analgetika (entsprechend WHO-Stufe 1) bereits in empfohlener Maximaldosierung verabreicht, ohne dass eine ausreichende Analgesie erzielt werden konnte, so sollte die Therapie gemäß den Empfehlungen der WHOStufe 2 fortgesetzt, d. h. zusätzlich mittelstarke Opioide verordnet werden. Treten auf der WHO-Stufe 1 unerträgliche Nebenwirkungen auf (z. B. Ulkusentwicklung unter der Gabe nichtsteroidaler Antirheumatika trotz entsprechender prophylaktischer Maßnahmen), so wird auf ein besser verträgliches Medikament der Stufe 1 gewechselt (z. B. Metamizol). Alternativ kann zur Reduktion solcher Nebenwirkungen auch auf Präparate der Stufe 1 verzichtet und die Therapie gemäß den Empfehlungen der WHO ausschließlich mit Präparaten der WHO-Stufe 2 fortgesetzt werden (Pace 1995). 2. Erfolgte auch die Gabe mittelstarker Opioide (entsprechend WHO-Stufe 2) bereits in Maximaldosierung, so wird auf ein Opioid der WHO-Stufe 3 gewechselt (Evidenzlevel III). (Bezüglich der im Rahmen der Therapieumstellung erforderlichen »Dosisumrechnung« wird auf die ergänzenden Ausführungen zu »Opioidrotation und Äquipotenzdosierungen starker Opioide« in 7 Abschn. 32.4.1 verwiesen.) Nebenwirkungen des verordneten Opioids werden symptomatisch behandelt. Zur Prophylaxe der Obstipation ist fast immer ein Laxans erforderlich; besteht eine Übelkeit, wird diese antiemetisch therapiert. Die Verordnung des nichtopioiden Analgetikums wird in der Regel beibehalten, sofern dies keine gravierenden Nebenwirkungen hervorgerufen hat. 3. Bei unzureichender Analgesie unter einer Therapie mit starken Opioiden (entsprechend WHO-Stufe 3) wird die Dosierung so lange gesteigert, bis eine ausreichende Schmerzlinderung erzielt ist. Als Ursache für die Notwendigkeit einer Dosisanpassung wird in den meisten Fällen ein Fortschreiten der Grunderkrankung angesehen. Die zwar grundsätzlich
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mögliche Entwicklung einer Toleranz hat dagegen meist nur sekundäre Bedeutung. Das Ausmaß einer Dosiserhöhung sollte in der Regel im Bereich von 50% der aktuell verabreichten täglichen Substanzmenge liegen. Unter ambulanten Bedingungen sollte jede weitere Dosisanpassung erst nach Erreichen eines neuen Steady State vorgenommen werden; dieses ist im Allgemeinen nach Ablauf von 5–6 Halbwertszeiten gegeben. Für die meisten Analgetika bedeutet dies, dass erst 24–48 h nach Erhöhung der pro Zeiteinheit zu applizierenden Substanzmenge eine erneute Dosisanpassung erfolgen sollte. 4. Die Behandlung opioidbedingter Nebenwirkungen erfolgt symptomatisch (wie unter Punkt 2 dargestellt). Treten dabei nicht mehr ausreichend therapierbare Nebenwirkungen auf, sollte entweder ein Wechsel der Applikationsform oder eine Änderung des Opioids erwogen werden (vgl. Punkt 5). 5. Wegen großer interindividueller Wirkunterschiede bei der Opioidmedikation kann bei unzureichendem Effekt unter der Gabe eines speziellen Opioids auch eine Umstellung auf ein anderes Opioid erwogen werden. Eine solche »Opioidrotation« kann durchaus zu einem befriedigenden Behandlungsresultat führen, obwohl die Effektivität dieser Maßnahme bislang nicht durch kontrollierte randomisierte Studien belegt ist. Die Dosis der zu verabreichenden Alternativmedikation wird mithilfe sog. »Äquipotenztabellen« berechnet. Bei der Verwendung solcher Tabellen ist allerdings eine gewisse Vorsicht angebracht, da die »Äquipotenzrelation« zumeist an Freiwilligen in niedrigen Dosisbereichen ermittelt wurde (Bruera et al. 1996a). Es wird ausdrücklich auf die jeweiligen ergänzenden Ausführungen zu den Äquipotenzdosierungen mittelstarker bzw. starker Opioide in 7 Abschn. 32.4.1 verwiesen. 6. Überprüfung, ob die Verabreichung von Adjuvanzien bzw. Ko-Analgetika eine Verbesserung der Analgesie bewirken kann bzw. ob nicht andere (z. B. psychosoziale) Faktoren für das Nichtansprechen auf die Therapie verantwortlich sind. Dosislimitierend bei der Behandlung mit starken Opioiden sind lediglich zu starke und damit nicht akzeptable Nebenwirkungen. In solchen Fällen können mehrere Therapiealternativen ergriffen werden: 1. Gelegentlich ist nur durch einen Wechsel des Applikationsweges eine ausreichende Verbesserung des Wirkungs-Nebenwirkungs-Spektrums möglich. 2. Ansonsten soll durch eine Opioidrotation bzw. einen Opioidwechsel eine Reduktion der Nebenwirkungen bei gleich guter oder sogar besserer Analgesie bewirkt werden können (Fallon 1997). 3. Es kann eine Kombination mit anderen analgetisch wirkenden Substanzen versucht werden (z. B. Clonidin, Ketamin; 7 Abschn. 32.4.1). 4. Die zuvor genannten Therapieoptionen können im Bedarfsfall auch kombiniert werden. Nichtopioide Analgetika Das WHO-Stufen-Schema orientiert sich bei der Auswahl der Analgetika primär an der Intensität der vorhandenen Schmerzen. Dies bedeutet, dass bei leichten bis mäßigen Schmerzen gemäß WHO-Stufe 1 nichtopioide Analgetika zum Einsatz kommen (. Abb. 32.5). Unter diesem Sammelbegriff werden neben Subs-
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Kapitel 32 · Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie
tanzen aus dem Bereich der nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAID, »non-steroidal anti-inflammatory drugs«) noch Paracetamol und Metamizol subsumiert, deren primärer Wirkmechanismus z. T. sehr unterschiedlich ist. Die angegebenen Dosierungen und Applikationsintervalle für die nachfolgend diskutierten nichtopioiden Analgetika stellen lediglich einen Orientierungsrahmen dar. Sie beziehen sich alle auf die orale Darreichungsform. In einer systematischen Übersicht konnte bei Studien mit repetitiver Medikamentengabe keine Überlegenheit einer Substanz der WHO-Stufe 1 über eine andere gefunden werden (McNicol et al. 2005; Evidenzlevel Ia). Die Frage, ob durch steigende Dosen von nichtopioiden Analgetika eine Verbesserung der Analgesie bei Tumorpatienten zu erzielen ist, lässt sich anhand der vorhandenen klinischen Daten ebensowenig entscheiden, wie jene, ob diese Substanzklasse bei Knochenschmerzen eine besondere Wirksamkeit besitzt. Hinweise zur Beantwortung dieser Fragen lassen sich vorerst nur aus tierexperimentellen Untersuchungen ableiten (Saito et al. 2005). An einem Mausmodell (Injektion osteolytischer Sarkomzellen in den Mausfemur) konnten die Autoren zeigen, dass sowohl klassische NSAID (hier: Indomethacin) als auch Paracetamol eine dosisabhängige Reduktion schmerzbedingter Verhaltensweisen bei diesen Tieren induzierte; gleichwohl fanden sie die effektivste Analgesie bei Kombination von Paracetamol mit einer subanästhetischen Dosis von Morphin. Azetylsalizylsäure (ASS) Wegen seines verglichen mit anderen NSAID relativ hohen Nebenwirkungspotenzials (gastrointestinale Blutungen bis zur Perforation, Auslösung von Niereninsuffizienzen, Thrombozytenaggregationshemmung mit Auslösung von akuten Blutungen; Evidenzlevel IV) besitzt ASS in Deutschland zur Behandlung von Tumorschmerzen nur eine marginale Bedeutung. Azetylsalizylsäure Einzeldosis:
500–1000 mg
Einzeldosierung bezogen auf das Körpergewicht:
10–15 mg/kg
Applikationsintervall:
4h
Zeit bis zum Erreichen des maximalen Wirkspiegels:
ca. 30 min
Paracetamol Trotz einer zumindest für den Bereich der postoperativen Analgesie von McQuay und Moore (1997) beschriebenen Vergleichbarkeit des analgetischen Effektes nach Einzeldosen handelt es sich nach eigenen Erfahrungen bei Paracetamol (oder Acetaminophen) um ein schwaches Analgetikum. In tierexperimentellen Untersuchungen an einem Mausmodell des tumorbedingten Knochenschmerzes (Saito et al. 2005) zeigten nichtopioide Analgetika eine zwar dosisabhängige, aber lediglich eingeschränkte analgetische Wirksamkeit: Hier war das Paracetamol den NSAID ebenbürtig, beide aber dem Morphin unterlegen. In einer placebokontrollierten klinischen Untersuchung an 30 Tumorpatienten konnten Stockler et al. (2004) zeigen, dass Paracetamol als »Add-on«-Therapie bei Patienten unter Opioidtherapie (mediane Dosierung 200 mg Morphinäquivalent; Morphin: n=23; Hydromorphon: n=7) sowie paralleler Einnahme von NSAID und/oder Kortikosteroiden (n=16) eine statistisch
knapp signifikante Verbesserung der Analgesie ohne Zunahme von Nebenwirkungen bewirkte. Die Schmerzreduktion im Vergleich zur Placebogabe war aber insgesamt nur gering ausgeprägt mit 0,4 (Range: 0,1–0,8) gemessen auf einer verbalen numerischen Skala bzw. 0,6 (Range: –0,1–1,3) gemessen auf einer visuellen Analogskala, sodass die praktische Signifikanz bzw. klinische Relevanz der Ergebnisse eher fraglich erscheint. Die von den Autoren trotzdem vorgenommene positive Bewertung von Paracetamol ist – insbesondere wegen seiner potenziellen Lebertoxizität (7 unten) – auch nicht unwidersprochen geblieben (Hardy et al. 2005). Paracetamol Einzeldosis:
500–1000 mg
Einzeldosierung bezogen auf das Körpergewicht:
10–15 mg/kg
Applikationsintervall:
4h
Zeit bis zum Erreichen des maximalen Wirkspiegels:
ca. 30 min
Bei Patienten mit eingeschränkter Leberfunktion (z. B. Lebermetastasen) besteht für Paracetamol eine erhöhte Lebertoxizität; auch bei normaler Funktion ist bei Tagesdosen größer als 8 g mit einer akuten Lebertoxizität zu rechnen. Bei vorbestehender Niereninsuffizienz ist durch Paracetamol eine zusätzliche Verschlechterung der renalen Funktion zu erwarten; die gastrointestinalen Nebenwirkungen sind bei dieser Substanz eher gering ausgeprägt. Metamizol Metamizol gilt unter den nichtopioiden Analgetika als sehr potente Substanz (Evidenzlevel IV) mit ebenfalls geringen gastrointestinalen Nebenwirkungen. Auch die Leberfunktion wird durch Metamizol nicht negativ beeinflusst. Metamizol Einzeldosis:
500–1000 mg
Einzeldosierung bezogen auf das Körpergewicht:
10–15 mg/kg
Applikationsintervall:
4h
Zeit bis zum Erreichen des maximalen Wirkspiegels:
1–2 h
Allerdings kann Metamizol, wie auch Paracetamol, eine vorbestehende Niereninsuffizienz verschlechtern. Weiterhin besteht ein Risiko zur Auslösung einer Agranulozytose von 1:106 (d. h. 1 Erkrankung auf 1 Mio. Anwendungen; Evidenzlevel Ib). Bei schneller intravenöser Injektion kann darüber hinaus eine Hypotension auftreten; deshalb empfiehlt sich die Applikation der Substanz in Form einer Kurzinfusion über 10–20 min. Gelegentlich wird über die Auslösung einer Hyperhidrosis durch Metamizol berichtet. Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAID) Der Nachweis analgetischer Wirksamkeit liegt für eine große Zahl von NSAID vor. Alle gebräuchlichen NSAID sind mit wenigen Ausnahmen schwache organische Säuren (pKa-Wert: 3–5), welche in wesentlichem Maße die Prostaglandinsynthetase hemmen. Dennoch lassen experimentelle und klinische Befunde eine
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ausschließliche Inhibition der Prostaglandinsynthetase als wesentliches Wirkprinzip der NSAID unwahrscheinlich erscheinen (z. B. Brune et al. 1993). Alle NSAID zeigen antiinflammatorische, antipyretische und analgetische Wirkung bei vergleichbarem Ausmaß an Nebenwirkungen auf Gastrointestinaltrakt, ZNS und Nieren. Nach einer Metaanalyse von Dertwinkel und Gehling (1996) weisen die unterschiedlichen NSAID aber sehr differente Nebenwirkungsprofile auf. Auch für die nachfolgend besprochenen Vertreter aus der Gruppe der NSAID gilt, dass sich bislang keine der Substanzen als den anderen eindeutig überlegen erwiesen hat (McNicol et al. 2005). Die Auswahl eines Präparates sollte sich primär an der Vertrautheit des Therapeuten mit der jeweiligen Substanz orientieren. Zusätzlich könnte eine lange Wirkungsdauer bei vergleichbarer analgetischer Potenz bzw. die Verfügbarkeit einer retardierten Präparation ein Kriterium zur Auswahl eines speziellen Medikamentes sein, wenngleich die Verordnung von retardierten Präparationen nicht von allen Therapeuten als sinnvoll angesehen wird (Steigerung der Nebenwirkungen). Diclofenac Einzeldosis:
50–75 mg
Einzeldosierung bezogen auf das Körpergewicht:
1 mg/kg
Applikationsintervall:
8–12 h
Zeit bis zum Erreichen des maximalen Wirkspiegels:
1–12 h
Flurbiprofen Einzeldosis:
50–100 mg
Einzeldosierung bezogen auf das Körpergewicht:
0,7–1,5 mg/kg
Applikationsintervall:
4–6 h
Zeit bis zum Erreichen des maximalen Wirkspiegels:
1,5–3 h
Ibuprofen Einzeldosis:
600–800 mg
Einzeldosierung bezogen auf das Körpergewicht:
10 mg/kg
Applikationsintervall:
6–8 h
Zeit bis zum Erreichen des maximalen Wirkspiegels:
0,5–2 h
Naproxen Einzeldosis:
250–500 mg
Einzeldosierung bezogen auf das Körpergewicht:
5–7 mg/kg
Applikationsintervall:
8–12 h
Zeit bis zum Erreichen des maximalen Wirkspiegels:
2–4 h
Von vielen Autoren wird als Argument für den Einsatz von NSAID in der Tumorschmerztherapie ihre besondere Wirksamkeit bei Knochenschmerzen hervorgehoben (z. B. Jage 1998). Diese Behauptung ist jedoch durch keine kontrollierte klinische Studie gedeckt (Mercadante 1997) und die oben genannten tierexperi-
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mentellen Befunde stützen diese These ebenfalls nicht. Diese Frage ist aber insofern von Bedeutung, als zwischen 17 und 31% aller Patienten aus Hospizen (Twycross u. Fairfield 1982) und 34% einer Schmerzambulanz (Banning et al. 1991) über Knochenschmerzen klagten. Zudem konnten Eisenberg et al. (1994) in einer Metaanalyse keine Überlegenheit von NSAID gegenüber Opioiden für diese Indikation nachweisen (Evidenzlevel Ib). Betrachtet man zudem das breite und potenziell lebensbedrohliche Nebenwirkungsspektrum, so kann nur empfohlen werden, NSAID ausschließlich bei nachgewiesener Wirksamkeit (individuelle Austestung) und mit Vorsicht zur langfristigen Behandlung von Tumorschmerzen einzusetzen. Die erwünschten analgetischen aber auch die unerwünschten Wirkungen von NSAID zeigen zumindest im unteren bis mittleren Dosisbereich eine lineare Dosis-Wirkungs-Kurve. Die zu applizierende Höchstdosis sollte sich an den auftretenden Nebenwirkungen orientieren, da eine Zunahme des analgetischen Effektes im höheren Dosisbereich zumeist auch von einer noch stärkeren Steigerung der unerwünschten Wirkungen begleitet wird. Die Mahnung zur Vorsicht bei der Anwendung von NSAID gilt vor allem für den Einsatz bei alten Menschen und Tumorpatienten in schlechtem Allgemeinzustand, da bei beiden Patientengruppen das Nebenwirkungsrisiko deutlich erhöht ist (Hernandez-Diaz u. Rodriguez 2000; Evidenzlevel Ib). In einer systematischen Übersichtsarbeit stellten die beiden Autoren bei Vorliegen der drei Risikofaktoren »fortgeschrittenes Lebensalter«, »positive Ulkusanamnese« und »männliches Geschlecht« eine Erhöhung des relativen Risikos um das 3,8-fache fest. Eine noch ausgeprägtere Steigerung des relativen Risikos, bei Einnahme von NSAID eine gastrointestinale Komplikation zu erleiden, fand sich bei Patienten mit einem Alkoholabusus; bei diesen ergab sich ein relatives Risiko von 10,2 (Neutel u. Appel 2000) – dieser Aspekt muss besonders bei der Behandlung von Patienten mit Tumoren im Kopf-Hals-Bereich beachtet werden. Gründe für die erhöhte Anfälligkeit liegen vermutlich in der bei diesen Personen eingeschränkten Mikrozirkulation (Graham u. Lacey-Smith 1988). Für Diclofenac warnt die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (2000) speziell vor der möglichen Auslösung anaphylaktoider Reaktionen bei intramuskulärer Gabe. Alle NSAID erhöhen die Toxizität von Methotrexat (Evidenzlevel IIa). Durch Einnahme von NSAID kann auch die Leberfunktion negativ beeinflusst werden; ebenso wird eine vorbestehende Niereninsuffizienz deutlich verschlechtert; speziell Patienten mit Herzinsuffizienz, portaler Hypertension mit Aszites, schwerer Hypovolämie und Blutung sind hier gefährdet (Simon 1993). Von daher stellen solche Vorerkrankungen eine Kontraindikation für die Verordnung von NSAID dar. Bezüglich der Möglichkeiten zur vorbeugenden Behandlung von häufig zu erwartenden Nebenwirkungen nach Verabreichung von NSAID wird auf entsprechende Ausführungen in 7 Abschn. 32.4.1 verwiesen. Mittelstarke Opioide Die Differenzierung der Opioide in mittelstarke bis starke ist pharmakologisch kaum zu begründen, es ist mehr eine Frage der Konvention. Als operationales Unterscheidungskriterium traf bis zum 31. Januar 1998 zu, dass die mittelstarken Opioide (Stufe 2) nicht der in Deutschland geltenden Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) unterliegen. Auch Codein, das als eine Substanz mit niedriger analgetischer Potenz anzusehen ist, gehört zu den Stufe-2-Opioiden; am 1. Februar 1998 wurde Codein allerdings der BtMVV unterstellt.
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Kapitel 32 · Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie
Mittelstarke Opioide nach WHO-Stufe 2 sollen immer dann zum Einsatz kommen, wenn die nichtopioiden Analgetika der Stufe 1 keinen ausreichenden Effekt (mehr) zeigen oder bei ihrer Anwendung zu starke Nebenwirkungen auftreten (7 Abschn. 32.4.1). In Einzeldosisuntersuchungen bei leichten bis mäßigen postoperativen Schmerzen waren mittelstarke Opioide in ihrer analgetischen Wirkung NSAID deutlich unterlegen; die Kombination von Paracetamol und Stufe-2-Opioid war nur grenzwertig effektiver als Paracetamol allein (Eisenberg et al. 1994; Evidenzlevel Ib). McNicol et al. (2005) kommen in ihrem Cochrane-Review zu dem Schluss: »there is insufficient evidence to either confirm or refute the WHO recommendation that an NSAID should be combined with a ‘weak‘ opioid for the management of moderate cancer pain«. Bei der Mehrzahl der gebräuchlichen Substanzen der Stufe 2 handelt es sich um μ-Agonisten (Ausnahme: Buprenorphin, 7 S. 15). Alle diese Substanzen können die klassischen opioidtypischen Nebenwirkungen aufweisen (Obstipation, Auslösung von Übelkeit und Erbrechen, Zunahme des Tonus an der glatten Muskulatur, Blasenentleerungsstörungen, Verwirrtheit, Halluzination, Myoklonie, Sedierung, Pruritus). Die Auftretenswahrscheinlichkeit und der Ausprägungsgrad dieser Nebenwirkungen sind nicht für alle Opioide der Stufe 2 identisch. Dieser Sachverhalt bestätigt sich auch in einer (weder verblindeten noch randomisierten) Vergleichsstudie von Grond et al. (1999a; Evidenzlevel III). Dort ergab sich hinsichtlich der erzielbaren Analgesie kein klinisch relevanter Unterschied zwischen der Gabe mittelstarker Opioide (i.e. Tramadol) und niedrig dosiertem Morphin, jedoch führte Morphin signifikant häufiger zu Obstipation, neuropsychologischen Symptomen und Pruritus (Grond et al. 1999a). Diese Beobachtung stützt die Sinnhaftigkeit der von der WHO empfohlenen Stufe 2, auf die nach Versagen der Stufe 1 vor einem Wechsel auf die Stufe 3 übergegangen werden sollte, obwohl die Behandlung mit Opioiden der Stufe 2 nicht unumstritten ist (Freynhagen et al. 1994; Minotti et al. 1998). Bis dato liegen keine prospektiven randomisierten Langzeitstudien mit Opioiden der Stufe 2 vor. Ventafridda et al. (1987) berichteten lediglich von einer retrospektiven Untersuchung an 1.229 Tumorpatienten, derzufolge ca. 70% der in dieser Studie nach dem WHO-Stufen-Schema behandelten Patienten so weit schmerzgelindert wurden, dass sie keiner zusätzlichen Therapie bedurften (Evidenzlevel IV). Allerdings gibt es bisher keine Untersuchungen, die innerhalb der Stufe-2-Präparate eindeutig die Überlegenheit eines der mittelstarken Opioide belegen würden (McNicol et al. 2005). Es bleibt deshalb der Erfahrung und Kenntnis des einzelnen Arztes überlassen, das ihm vertrauteste Medikament für die Behandlung seiner Tumorschmerzpatienten auszuwählen. Codein Codein zeigt bei oraler Einnahme mit ca. 75% eine gute Bioverfügbarkeit. Wie bei nahezu allen Opioiden ist auch für Codein eine Retardpräparation entwickelt worden (Chary et al. 1994), die allerdings in Deutschland nicht zugelassen ist. Codein Einzeldosis:
50–100 mg
Einzeldosierung bezogen auf das Körpergewicht:
0,5–1,0 mg/kg
Applikationsintervall:
4h
Zeit bis zum Erreichen des maximalen Wirkspiegels:
1–2 h
Der wesentliche Anteil des analgetischen Effektes von Codein entfällt auf Morphin, welches unter Einfluss der Cytochromoxidase P450 IID6 (entsprechend neuer Nomenklatur: CYP2D6) durch O-Demethylierung in der Leber entsteht. Infolge einer genetischen Variante können 5–10% der Mitteleuropäer Codein nicht zu Morphin metabolisieren (Yue et al. 1991) und damit vermutlich auch keinen oder bestenfalls einen unzulänglichen analgetischen Nutzen aus der Codein-Einnahme ziehen. Dihydrocodein Dihydrocodein (DHC) soll eine etwa zweifach höhere analgetische Potenz aufweisen als Codein. Es ist sowohl als schnell verfügbare Präparation (z. B. Paracodin) als auch in retardierter Zubereitung (DHC Mundipharma) erhältlich. Dihydrocodein Einzeldosis:
60–120 mg
Einzeldosierung bezogen auf das Körpergewicht:
1,0–1,5 mg/kg
Applikationsintervall:
8–12 h
Zeit bis zum Erreichen des maximalen Wirkspiegels:
1h
Analog zur Metabolisierung des Codein zu Morphin wird DHC teilweise zu Dihydromorphin umgewandelt; ob der unter Codein dargestellte genetische Polymorphismus auch bei der Metabolisierung von DHC zum Tragen kommt, ist derzeit noch nicht endgültig geklärt. Nach tierexperimentellen Befunden erscheint fraglich, ob dieser Schritt für die analgetische Wirkung von DHC überhaupt relevant ist (Jurna et al. 1997). Die obstipierende Wirkung von DHC ist deutlich stärker ausgeprägt als die von Codein und allen anderen Opioiden der Stufe 2. Bei Leberund Niereninsuffizienz besteht eine erhöhte Gefährdung für die Kumulation aktiver Metaboliten (Rowell et al. 1983). Tilidin-Naloxon Tilidin ist in Deutschland nur in Kombination mit dem reinen μAntagonisten Naloxon erhältlich (50 mg Tilidin sind dabei je 4 mg Naloxon zugesetzt). Die orale Bioverfügbarkeit des Wirkstoffs ist mit fast 99% sehr hoch. Von allen oral zu verabreichenden Opioiden ist Tilidin am schnellsten wirksam. Ursächlich hierfür ist, dass es nach oraler Applikation durch die hohe hepatische Extraktionsrate von ca. 90% zu einem ausgeprägten »First-pass«-Effekt kommt. In der Leber erfolgt die Metabolisierung von Tilidin zu Nortilidin, der eigentlichen analgetischen Wirkkomponente; gleichzeitig wird dort auch der Antagonist Naloxon weitgehend zu inaktiven Metaboliten verstoffwechselt. Dieser hepatische Mechanismus bildet die Grundlage für den klinischen Befund, dass Tilidin-Naloxon bei oraler Applikation zumindest genauso schnell wirkt wie nach parenteraler Gabe und dabei einen gleich guten analgetischen Effekt zeigt; häufig tritt die analgetische Wirkung sogar schneller ein. Tilidin (+Naloxon)
schnell verfügbar
retardiert
Einzeldosis:
50–100 mg
100–200 mg
Einzeldosierung bezogen auf das Körpergewicht:
1–1,5 mg/kg
2–3 mg/kg
Applikationsintervall:
4h
8–12 h
Zeit bis zum Erreichen des maximalen Wirkspiegels:
20–30 min
180–300 min
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689 32.4 · Konzepte zur Schmerztherapie bei Tumorpatienten
Neben der früh (nach ca. 10 min) einsetzenden Analgesie soll sich Tilidin-Naloxon auch durch eine geringere obstipierende Wirkung sowie durch ein reduziertes Auftreten von Miktionsstörungen und Müdigkeit auszeichnen (Evidenzlevel IV). Nachteilig ist allerdings die kurze Wirkzeit von nur etwa 2–3 h, die eine regelmäßige Applikation in maximal 4-stündlichen Intervallen zur Erzielung eines konstanten plasmatischen Wirkspiegels erforderlich macht. Bei Leberfunktionsstörungen kann sich über eine Abnahme des »First-pass«-Metabolismus (7 oben) die analgetische Wirkung abschwächen (Güttler 1994). Seit einigen Jahren ist für diese Substanzkombination auch eine retardierte Präparation verfügbar; diese muss dann nur noch 2- bis 3-mal täglich eingenommen werden. Als Vorteil dieser Galenik wird vor allem die gegenüber anderen retardierten Opioiden reduzierte Häufigkeit an Obstipation betont, bei einer bezogen auf die Vergleichssubstanzen zumindest ebenbürtigen Analgesie. Es liegen derzeit noch keine kontrollierten Studien zum Einfluss von Leberund Nierenfunktionsstörungen auf die Wirkung von Tilidin-Naloxon vor. Da aber mehr als 90% der Substanz renal eliminiert werden, ist beim Vorliegen entsprechender Einschränkungen beim Patienten zumindest bei der Dosierung Vorsicht angebracht.
Bei der Biotransformation in der Leber entsteht neben einer großen Zahl inaktiver Metaboliten auch ein aktives Produkt (Mono-O-Desmethyl-Tramadol = M1). Die Wirkungsdauer dieses aktiven Metaboliten entspricht derjenigen der Muttersubstanz. Bei alten Menschen liegen die Plasmaspiegel nach oraler Gabe von Tramadol um nahezu 45% über jenen bei jüngeren Personen. Diese höheren maximalen Plasmaspiegel gehen mit einer Wirkungsverlängerung um ca. ein Drittel einher (Abel 1995); dieser Umstand sollte bei der Dosierung bedacht werden. Treten bei einem Patienten Leber- und Nierenfunktionsstörungen auf, empfiehlt sich deshalb eine Reduktion der zuvor für eine suffiziente Analgesie ausreichenden Dosierung um 50–70%. Petzke et al. (2000) zeigten in einer offenen Multizenterstudie, dass mit retardiertem Tramadol bei Patienten mit Tumorschmerzen auch über einen längeren Zeitraum eine zufriedenstellende Analgesie erzielt werden kann (Evidenzlevel IV). Eine gute bzw. komplette Schmerzlinderung gaben 43% der Teilnehmer in der ersten und 71% in der letzten Woche an. Bei 86% der Studienteilnehmer traten Nebenwirkungen wie Schwäche, Müdigkeit und Obstipation auf; diese Symptome zeigten im Studienverlauf allerdings eine abnehmende Tendenz.
Tramadol Bei dieser Substanz handelt es sich um einen μ-Agonisten, der allerdings seine analgetische Wirkung z. T. auch über andere Effektorsysteme entfaltet (Driessen et al. 1993): So sollen vor allem eine Hemmung der Noradrenalin- und Serotonin-(5-HT-)Aufnahme in die Neurone des Rückenmarks und auch eine Potenzierung der 5-HT-Freisetzung für die schmerzstillende Wirkung verantwortlich sein (Raffa et al. 1992). Da aber der 5-HT3-Rezeptor auf Rückenmarksebene eine Schlüsselfunktion bei der Schmerzwahrnehmung hat (Alhaider et al. 1991), wurde postuliert, dass die Applikation von 5-HT3-Antagonisten die analgetische Wirksamkeit von Tramadol reduzieren könnte. De Witte et al. (2001) konnten einen derartigen Effekt in einer randomisierten, placebokontrollierten Doppelblindstudie an postoperativ behandelten Patienten nachweisen. Da Tumorschmerzpatienten oftmals über Übelkeit und Erbrechen klagen, also über Symptome, die auch mit 5-HT3-Antagonisten behandelt werden, ist dieser Umstand bei der analgetischen Therapie zu berücksichtigen. Aufgrund seiner schwachen μ-agonistischen Wirkung sind die opioidtypischen Nebenwirkungen bei Tramadol schwächer ausgeprägt als bei den anderen Substanzen dieser Gruppe (Fechner et al. 1985). Vorteilhaft ist die große Zahl an Präparationen und Applikationsformen; auch Retardzubereitungen von Tramadol sind verfügbar. Die analgetische Potenz von Tramadol wird mit etwa 1/12–1/25 derjenigen von intramuskulär verabreichtem Morphin angegeben; allerdings ist eine eindeutige Dosis-Wirkungs-Beziehung nicht nachgewiesen (Abel 1995).
Buprenorphin Pharmakologisch ist diese Substanz als μ-Partialagonist zu klassifizieren, die sich durch eine eingeschränkte sublinguale Bioverfügbarkeit (ca. 33%), eine gute analgetische Wirksamkeit und eine lange Wirkungsdauer bei großer therapeutischer Breite auszeichnet (Johnson et al. 2005). Die Gefahr der Entwicklung physischer Abhängigkeit soll bei diesem Opioid sehr viel geringer sein als bei reinen Agonisten (Lewis 1986; Evidenzlevel V). Stellenwert und Einordnung von Buprenorphin werden kontrovers diskutiert; die WHO (1998) zählt Buprenorphin in niedriger Dosierung (≤ 0,2 mg/8 h) zu den mittelstarken, in höherer Dosis (bis zu 1 mg/8 h) jedoch zu den starken Opioiden. Zur Vermeidung von Redundanzen wird Buprenorphin im Wesentlichen hier im Abschnitt über die mittelstarken Opioide abgehandelt.
Tramadol
schnell verfügbar
retardiert
Einzeldosis:
50–100 mg
50–200 mg
Einzeldosierung bezogen auf das Körpergewicht:
1–1,5 mg/kg
1–3 mg/kg
Applikationsintervall:
4h
8–12 h
Zeit bis zum Erreichen des maximalen Wirkspiegels:
30–45 min
180–360 min
Buprenorphin Einzeldosis:
0,2–0,4 mg
Einzeldosierung bezogen auf das Körpergewicht:
3–9 μg/kg
Applikationsintervall:
6–8 h
Zeit bis zum Erreichen des maximalen Wirkspiegels:
3–4 h
Als Nachteil wird ein ausgeprägter »Ceiling«-Effekt2 von Buprenorphin betrachtet, der sich aber erst ab einer Tagesdosis von ca. 32 mg sublingual manifestieren soll, sowie der deutlich verzögerte Wirkungseintritt mit einem Maximum des analgetischen Effektes nach etwa 3–4 h (Davis 2005). Darüber hinaus zeichnet sich Buprenorphin durch eine hohe Rezeptoraffinität aus, die eine Diskrepanz zwischen der Dauer des klinischen Effektes (>8 h) und der zu beobachtenden Plasmakonzentration zur Folge hat (Plasmahalbwertzeit: lediglich 2–3 h).
2
Als »Ceiling«-Effekt bezeichnet man das pharmakodynamische Phänomen, dass ab einer bestimmten individuellen Dosierung eine Steigerung der Dosis keine weitere Verbesserung der Analgesie bewirkt, wohl aber eine Zunahme der Nebenwirkungen.
690
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Kapitel 32 · Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie
Umstritten ist derzeit noch, ob Buprenorphin in der Lage ist, bei Patienten, die unter einer Dauerbehandlung mit reinen Agonisten stehen, eine akute Entzugssymptomatik auszulösen. In einer offenen Cross-over-Studie bei Patienten unter MethadonDauertherapie konnten Bickel et al. (1988) keine solche Buprenorphin-induzierte Entzugssymptomatik nachweisen; Atkinson et al. (1990) bestätigten diese Aussage auch für Patienten, die zuvor mit Morphin behandelt wurden. Andere Arbeitsgruppen (z. B. Gourarier et al. 1996) haben im Gegensatz dazu bei Personen, die zuvor mit reinen Agonisten behandelt worden waren, das Auftreten einer entsprechend induzierten akuten Entzugssymptomatik zeigen können. Davis (2005) beschreibt in seiner Übersichtsarbeit über Buprenorphin, dass Entzugssymptome nicht ausgelöst wurden, solange die Patienten weniger als 120 mg Morphin parenteral bzw. weniger als 30 mg Methadon oral erhalten hatten. Seit einigen Jahren liegt Buprenorphin auch als transdermales Therapiesystem (Transtec) in drei unterschiedlichen Stärken von 35, 52,5 und 70 μg/h Wirkstoffabgabe vor, was Buprenorphin-Tagesdosen von 0,8, 1,2 und 1,6 mg entspricht. Angaben über konkrete Äquipotenzrelationen sind den Autoren nicht bekannt, obwohl zahlreiche multizentrische, randomisierte, doppelblinde und placebokontrollierte Untersuchungen auch unter Einschluss von Tumorpatienten durchgeführt wurden (z. B. Sittl et al. 2003). Äquipotenzdosierungen mittelstarker Opioide Zur Reduktion von spezifischen Nebenwirkungen oder zur Verbesserung der Analgesie kann es gelegentlich notwendig werden, im Sinne einer sog. »Opioidrotation« von einem Opioid auf ein anderes innerhalb der gleichen WHO-Stufe umzustellen. Um das neue Präparat nach einem solchen Wechsel der Therapie von Anfang an in adäquater Dosierung zu verordnen, bedarf es einer
»Dosisumrechnung« (bezüglich der im Rahmen einer Therapieumstellung auf ein starkes Opioid erforderlichen »Dosisumrechnung« wird auf entsprechende Ausführungen zu den Äquipotenzdosierungen starker Opioide im 7 Abschn. 32.4.1 verwiesen). Mithilfe einer sog. »Äquipotenztabelle« (. Tab. 32.8; mod. nach Donner et al. 1996) wird zunächst die Dosierung des bisher verordneten Opioids auf die Vergleichsgröße »intramuskuläres Morphinäquivalent« bezogen, um dann in einem zweiten Schritt entsprechend der Äquipotenzdosierung des künftig zu verabreichenden Stufe 2-Opioids gegen das Morphinäquivalent umgerechnet zu werden. Diese rechnerisch ermittelten Äquipotenzdosierungen können aber nur Näherungswerte darstellen; in jedem Fall ist der klinischen Überwachung des Patienten entsprechende Beachtung zu schenken. Es sei in diesem Zusammenhang auch auf die publizierte Empfehlung verwiesen, im Rahmen des Therapiewechsels zwischen zwei Opioiden die sog. 50%-Regel anzuwenden (Deutsche Krebsgesellschaft 2000; Evidenzlevel V). Diese Regel besagt, dass die unter Zugrundelegung der Angaben aus der Äquipotenztabelle ermittelte Tagesdosis des »neuen« Opioids aus Sicherheitsgründen zunächst um 50% reduziert wird und danach mit dieser alternativen Substanz erneut eine Titration gegen den Schmerz bis zum Erreichen eines neuen Steady State erfolgen sollte. Starke Opioide Bestehen bei einem Patienten starke bis sehr starke Schmerzen, sind in der Regel Opioide der Stufe 3 des WHO-Stufen-Schemas (. Tab. 32.15) indiziert. Ebenso sollte auf die Substanzen dieser Gruppe auch immer dann zurückgegriffen werden, wenn mit den empfohlenen Maximaldosen der Stufe-2-Opioide keine befriedigende Schmerzlinderung erzielt werden kann: In einem solchen Fall wird das Stufe-2-Opioid abgesetzt und stattdessen ein Opioid der Stufe 3 des WHO-Stufen-Schemas verordnet. Eine paral-
. Tab. 32.8. Äquipotenzdosierungen gebräuchlicher mittelstarker Opioide; Bezugsgröße der jeweils angegebenen Vergleichsdosierung ist das sog. »intramuskuläre Morphinäquivalent«, das in der ersten Zeile der Tabelle aufgeführt ist Substanz
Applikation
Äquipotenzdosis
Bemerkung
Morphin
intramuskulär
10 mg
»Intramuskuläres Morphinäquivalent« als Bezugsgröße für die nachfolgenden Vergleichsdosierungen. Es ist allerdings zu beachten, dass Morphin tatsächlich den starken Opioiden zuzurechnen ist; außerdem ist die intramuskuläre Gabe von Analgetika bei Tumorpatienten obsolet!
Codein
oral
300 mg
Von der WHO empfohlene Referenzsubstanz für die Stufe 2 mit ausgeprägt obstipierender Wirkung
Dihydrocodein
oral
300 mg
Alternativsubstanz mit ausgeprägt obstipierender Wirkung. Auch als retardierte Zubereitung erhältlich
Dextropropoxyphen
oral
300 mg
Nur als retardierte Zubereitung erhältlich; geringe therapeutische Breite
Tilidin (+Naloxon)
oral
300 mg
Alternativsubstanz in Kombination mit einem Opiodantagonisten. Wegen des Wirkungsantagonismus ist eine parallele Anwendung mit anderen μAgonisten obsolet
Tramadol
oral
300 mg
Alternativsubstanz, die auch als retardierte Zubereitung sowie in zahlreichen Darreichungsformen verfügbar ist, daher gute Anpassung an die individuellen Bedürfnisse des Patienten möglich
Buprenorphin
sublingual
0,4 mg
Mittelstarker bis starker Partialagonist, von einigen Autoren auch der WHOStufe 3 zugeordnet; darf nicht mit reinen Opioid-Agonisten kombiniert werden! Einsatz nur vor den Agonisten der Stufe 3 sinnvoll. Buprenorphin verfügt insgesamt über ein günstigeres Nebenwirkungsspektrum als die anderen reinen Opioidagonisten
691 32.4 · Konzepte zur Schmerztherapie bei Tumorpatienten
lele Anwendung von Stufe 2- und Stufe 3-Opioiden ist nicht angezeigt. In den angelsächsischen Ländern ist die Therapie mit schnell verfügbaren Opioiden zur Linderung starker bis stärkster Tumorschmerzen seit vielen Jahren etabliert (z. B. Health and Public Policy Committee 1983). Die Pharmakokinetik entsprechender Substanzen macht allerdings eine 4-stündliche Gabe »nach der Uhr« erforderlich, um eine gleichbleibende Wirkung zu erzielen. Ein solcher Rhythmus ist im täglichen Leben jedoch nicht ohne Weiteres einzuhalten, sodass es immer wieder zu unregelmäßiger Einnahme und damit zum Wiederauftreten von Schmerzen kommen kann (Sbarbaro 1985). Diese Erkenntnis führte zur Entwicklung länger wirksamer Opioidpräparationen (orale und rektale Retardformen des Morphins, retardiertes Oxycodon und Hydromorphon, transdermales Buprenorphin und Fentanyl), die verlängerte Einnahmeintervalle ermöglichen und damit die Compliance der Patienten verbessern helfen (Arkinstall et al. 1989). Bei der Verordnung von lang wirksamen Opioidzubereitungen (mit 12 bzw. 24 h Wirksamkeit) sollte bedacht werden, dass bei entsprechenden Darreichungsformen sich die Veränderung des Wirkeffekts nach Dosiserhöhungen insbesondere aber auch nach Dosisreduktion nur recht träge einstellt. Voraussetzung für die Therapie mit stark retardierten Präparaten ist somit ein weitgehend stabiles Schmerzniveau. Stark schwankende Schmerzintensitäten sind mit solchen lang wirksamen Präparationen nicht gut zu behandeln; bezüglich der Behandlungsmöglichkeiten bei sog. Durchbruchschmerzen wird auf den entsprechenden Textkasten verwiesen. Auch für die Stufe-3-Opioide gilt, dass – neben der transdermalen Applikationsform – die oralen Darreichungsformen allgemein zu präferieren sind. Vorteile der oralen Opioidmedikation sind: 4 einfache Handhabung mit guter Titrationsmöglichkeit und problemloser Dosisanpassung,
32
4 Patient ist aktiv in die Therapie einbezogen, 4 kaum Einschränkungen in der Lebensführung des Patienten durch die Medikation, 4 klinisch und experimentell gut untersucht, 4 Sicherheit bestens dokumentiert. Diesen positiven Aspekten stehen als Nachteile der oralen Opioidmedikation gegenüber: 4 unzuverlässige Wirkung bei Übelkeit und Erbrechen, 4 unzuverlässiger Effekt bei gastrointestinaler Funktionsstörung oder Obstruktion, 4 reduzierte Patienten-Compliance bei kurzen Einnahmeintervallen. Diese Gegenüberstellung der Vor- und Nachteile einer oralen Opioidmedikation gilt selbstverständlich nicht nur für Opioide der Stufe 3, sondern ebenso für jene der Stufe 2. Zu beachten ist, dass ältere Menschen und Patienten in reduziertem Allgemeinzustand empfindlicher als Jüngere bzw. als Kranke in normalem Allgemeinzustand auf Opioide ansprechen können und diese Aussage auch auf die oral zu applizierenden Darreichungsformen zutrifft (z. B. Baillie et al. 1989). Dieser Feststellung ist jedoch auch widersprochen worden. In einer von Loick et al. (2000) betreuten Studienpopulation hatten nämlich Patienten mit einem Alter >74 Jahre deutlich höhere Opioiddosierungen als die Jüngeren erhalten, ohne dass bei den Älteren eine erhöhte Rate an Nebenwirkungen zu beobachten gewesen wäre. Ernährungsgewohnheiten führen nicht zu einer Beeinflussung der Opioidwirkung, wie Kaiko et al. (1990) in einer randomisierten Cross-over-Studie an Gesunden speziell für Morphin belegen konnten. Dieser Befund hat für die häufig unter Appetitlosigkeit leidenden Tumorpatienten klinische Relevanz.
Durchbruchschmerz Bei dieser Bezeichnung handelt es sich um die deutsche Übersetzung des von Portenoy und Hagen (1990) geprägten Begriffs »breakthrough pain«. Sie beschrieben damit eine »transitory exacerbation of pain that occurs on a background of otherwise stable pain in a patient receiving chronic opioid therapy«. Es werden drei Subtypen von Durchbruchschmerz beschrieben (Zeppetella u. Ribeiro 2006): 4 der sog. »incident pain«, welcher z. B. an statisch belasteten Körperpartien durch Bewegung ausgelöst wird (Kalkner et al. 1998), 4 der »Spontanschmerz«, welcher ohne Bezug zu irgendeinem Auslöser auftritt, und 4 »end of dose failure«, ein Schmerz, der aus einer inadäquaten Dosis bzw. einem nicht angepassten Dosisintervall der Basismedikation resultiert. Von der EAPC wird anstelle des Begriffes »breakthrough pain« vorgeschlagen, diese Form plötzlich auftretender Schmerzen als »episodic pain« zu bezeichnen (Mercadante et al. 2002). Eine Übersicht über Mechanismen und Charakteristika von Durchbruchschmerzen findet sich bei Svendsen et al. (2005). Derartige Schmerzexazerbationen gehen mit einer erhöhten Schmerzwahrnehmung der betroffenen Patienten einher (Caraceni u. Portenoy 1999). Über die Häufigkeit von Breakthrough6
Pain-Episoden liegen – bedingt durch unterschiedliche Studienpopulationen und divergierende Aufnahmekriterien – differierende Angaben vor: Zeppetella und Ribeiro (2006) geben eine Spanne von 19–95% aller Tumorpatienten an. In einer großen internationalen Untersuchung in 24 Ländern fand sich bei 64,8% der Tumorpatienten ein Durchbruchschmerz (Caraceni et al. 2004). Auch die Bedingungen, unter denen Breakthrough-Pain-Episoden auftreten sowie deren Charakteristika und Konsequenzen wurden analysiert (Portenoy et al. 1999; Zeppetella et al. 2000), wobei sich als wesentliche Faktoren fanden: 4 metastasierende Tumorerkrankung (75%) 4 tumorbedingte Genese der Schmerzen (65%). Die Häufigkeit von Breakthrough Pain lag im Mittel bei 7 Episoden/ die (Range: 1–60), die zumeist plötzlich und ohne Vorzeichen auftraten. Das mediane Intervall bis zum Schmerzmaximum lag bei 3 min (Range: 1 sec–30 min; Hwang et al. 2003). Bei 72% der Betroffenen betrug die Dauer der Schmerzexazerbation weniger als 30 min. Etwa 62% der Patienten konnten zwar einen mutmaßlichen »Auslöser« angeben, in der Mehrzahl der untersuchten Fälle (59–78%) war das Auftreten der akuten Schmerzeskalation jedoch nicht vorhersagbar (Hwang et al. 2003).
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Kapitel 32 · Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie
Als Konsequenz der akuten Schmerzexazerbationen bei den von ihnen untersuchten Patienten fanden Portenoy et al. (1999) signifikant häufiger eine erhebliche funktionelle Beeinträchtigung (ermittelt mit dem BPI), eine schlechtere Stimmungslage sowie vermehrte Angstzustände (ermittelt mit dem »Beck Anxiety Inventory«) als bei Patienten ohne derartige akute Schmerzattacken. Die erhöhte Morbidität der an Durchbruchschmerzen Leidenden macht eine umgehende pharmakologische, aber auch psychosozial stützende Interventionen erforderlich. Zur Behandlung dieser Schmerzen werden schnell verfügbare Opioidpräparationen empfohlen (Hanks et al. 2001). Die Arbeitsgruppe der EAPC hat vorgeschlagen, das gleiche Opioid für die Therapie der Durchbruchschmerzen zu verwenden, das auch für die Basisanalgesie eingesetzt wird (Hanks et al. 2001). Zur Therapie der Durchbruchschmerzen wurden auch schnell verfügbare Fentanylzubereitungen (OTFC, »oral transmucosal fentanyl citrate« bzw. sublingual zu applizierendes Fentanyl) erfolgreich eingesetzt (z. B. Coluzzi et al. 2001; Lennernas et al. 2005; Shaiova et al. 2004; Evidenzlevel Ia). Während die medikamentöse Basistherapie chronischer Schmerzen bei Tumorerkrankungen stets nach einem festen Zeitplan durchzuführen ist, sollte im Gegensatz dazu die zusätzliche Behandlung von Durchbruchschmerzen zumeist nach Bedarf erfolgen (Portenoy 1997b). Die Arbeitsgruppe der EAPC gibt als Anhalt für die Dosierung einer »Rescue«-Medikation 10– 16,6% (bzw. 1/10 bis 1/6) der täglichen Opioid-Gesamtdosis an (Hanks et al. 2001); Indelicato und Portenoy (2003) empfehlen 10–15%. Kontrollierte Studien zur Absicherung dieser Empfehlungen existieren für die Mehrzahl der Opioide allerdings nicht; lediglich OTFC-Fentanyl ist für diese Indikation ausreichend untersucht worden.
Morphin Orales Morphin ist immer noch das Opioid und die Darreichungsform der Wahl in der Schmerztherapie bei Tumorpatienten (Cherny et al. 1995a), an dem alle anderen Opioide und Applikationswege gemessen werden müssen (. Tab. 32.9; in Anlehnung an Hull 1991, ergänzt um Daten aus weiteren Literaturquellen: Khojasteh et al. 1987; Portenoy et al. 1992; Säwe et al. 1985; Wilkinson et al. 1992); deswegen wird Morphin auch von der Weltgesundheitsorganisation als das Referenzopioid der Stufe 3 empfohlen (WHO 1996; Evidenzlevel III). Morphin in wässriger Lösung ist in Deutschland sowohl als Fertigarzneimittel (Oramorph, Morphin Merck-Tropfen 0,5 und 2%) als auch in einer vom Apotheker herzustellenden Präparation verfügbar. Wässrige Morphinlösung sowie Morphin in nicht retardierter Tablettenform (Sevredol) eignen sich wegen ihres schnellen Wirkungseintrittes (. Tab. 32.9) besonders zur Neueinstellung und Dosisfindung bei Tumorschmerzpatienten. In der Langzeittherapie wird die Morphinlösung noch bei Patienten mit Schluckstörungen eingesetzt, obwohl sie zunehmend auch bei dieser Patientengruppe durch Granulate (z. B. MST Retard-Granulat) und mikroverkapselte Zubereitungen (z. B. Capros, Mlong) verdrängt wird. Es gibt nur eine geringe Zahl an aussagekräftigen Studien, in denen die Wirkung schnell verfügbaren Morphins mit der retardierten Morphins verglichen wurde (z. B. Arkinstall et al. 1989; Thirlwell et al. 1989). Hanks (1989) fasste die Erfahrungen zusammen, die in Europa mit diesen beiden Präparationen gesam-
Daneben liegen Berichte über den Einsatz von subkutan verabreichtem Hydromorphon, Morphin und Sufentanil vor, die in 98% der Fälle eine gute bis befriedigende Analgesie erbrachten (Enting et al. 2005). In einer offenen, nicht randomisierten Cross-over-Studie wurde die orale Anwendung von Methadon zur Therapie von Durchbruchschmerzen im Vergleich zu Fentanyl (s. c. und i. v.), Morphin (p. o.) und Hydromorphon (s.c.) untersucht. Der erste analgetische Effekt von Methadon war nach ca. 10 min nachweisbar; es fand sich keinerlei Unterschied zwischen den untersuchten »Rescue«-Medikationen (Fisher et al. 2004). Zeppetella und Ribeiro kommen im Rahmen ihres Cochrane-Review (2006) zu dem Schluss, dass es zwischen den Dosierungen der Basis- und jenen der »Rescue«-Medikation keinen erkennbaren Zusammenhang gibt und dass von daher eine Titration auch für die »Rescue«-Medikation sinnvoll erscheint; hier geben die Empfehlungen, 1/10 bis 1/6 der täglichen Opioid-Gesamtdosis als Einzeldosis zu verwenden aber einen Anhalt, mit welcher Opioidmenge die Titration zu beginnen ist. Erfolgt bei einem Patienten im Rahmen einer sog. patientenkontrollierten Analgesie (PCA) mittels einer programmierbaren Pumpe eine kontinuierliche subkutane bzw. intravenöse Opioidapplikation, werden bei Schmerzexazerbationen dem Betroffenen zusätzliche Bolusgaben ermöglicht, die ebenfalls jeweils etwa 1/10 bis 1/6 der Tagesdosis betragen können. Eine Ausnahme von der Empfehlung, Durchbruchschmerzen »nach Bedarf« zu behandeln, trifft auf den dritten der oben genannten Subtypen von Durchbruchschmerzen zu, den »end of dose failure«. Hier ist es angezeigt, die Dosis und/oder das Dosisintervall an die Schmerzintensität anzupassen; folglich ist die Einzeldosis zu erhöhen und/oder der Applikationsabstand zu verkürzen.
melt wurden. Danach fand sich kein Unterschied in der Effektivität der Analgesie zwischen retardiertem und wässrigem Morphin, sodass beide Präparationen als gleich wirksam eingestuft wurden (Evidenzlevel IIa). Kaiko et al. (1989) berichteten über Erfahrungen mit beiden genannten Zubereitungen in Amerika. Im Gegensatz zu den europäischen waren die amerikanischen Untersuchungen nicht doppelblind, sondern lediglich als offene Cross-over-Studien angelegt. Bei 218 auswertbaren Verläufen zeigten sich signifikant bessere Effekte bei gleichzeitig signifikant weniger Nebenwirkungen (p < 0,05) zugunsten der Retardpräparation. Nach pharmakokinetischen Vergleichsstudien zwischen schnell verfügbarer und retardierter Form von oralem Morphin berichteten McQuay et al. (1984) über eine größere Bioverfügbarkeit des retardierten Morphins. Thirlwell et al. (1989) konnten solche Unterschiede zwischen beiden Zubereitungen jedoch nicht bestätigen. Eine schlechtere Bioverfügbarkeit (nur 80–89%) retardierter Morphine im Vergleich zur wässrigen Lösung fanden dagegen Khojasteh et al. (1987) sowie Poulain et al. (1988). Auch die Nebenwirkungsprofile von schnellverfügbaren und retardierten Morphinpräparationen sollen sich nicht signifikant von einander unterscheiden (Broomhead et al. 1997). Fatale Zwischenfälle unter oralem Morphin sind äußerst selten (z. B. Hanks u. Hoskins 1987) und dürften in der Regel ohnehin nur schwer als eindeutige Folge der Tumorschmerztherapie vom schicksalhaften Verlauf im Rahmen der Grunderkrankung zu differenzieren sein.
693 32.4 · Konzepte zur Schmerztherapie bei Tumorpatienten
32
. Tab. 32.9. Pharmakokinetische Parameter von Morphin Parameter
Einheit
Eliminationshalbwertszeit
[h]
1,75–3,0
Verteilungsvolumen
[l/kg]
0,6–4,7
Clearance
[ml/min]
300–1200
Wirkungsdauer
[h]
Zeit bis zum Erreichen des maximalen Effektes
Bioverfügbarkeit
[min]
[%]
Die Ansprechbarkeit von Schmerzen auf Morphin zeigt große interindividuelle Variabilität; diese wird auf molekularer Ebene auf strukturelle Unterschiede (Polymorphismen) bei den abbauenden Enzymen, den Rezeptorsystemen und den Transportproteinen zurückgeführt (Hirota et al. 2003). Derartige Polymorphismen sind vielfältig nachweisbar: Holthe et al. (2002) untersuchten an 70 Tumorpatienten unter analgetischer Therapie mit retardiertem Morphin die UDP-glucuronosyl-transferase (UGT) 2B7, die wesentlich für die Glucuronidierung des Morphins zu M-3-G und M-6-G verantwortlich ist. Obwohl die Verhältnisse der Plasmaspiegel von M-3-G/Morphin, M-6-G/Morphin und M-3-G/M-6-G um die Faktoren 16, 42 und 7 variierten, ließ sich keine Korrelation zu den UGT2B7 H268Y und UGT1A1*28 Polymorphismen feststellen, sodass diese nicht als Ursache für die ausgeprägte interindividuelle Variabilität bei den Glucuronid-Morphin-Ratios in Frage kommt. Anders verhält es sich mit Polymorphismen am μ-Opioid-Rezeptor-Gen und an der Katecholamin-O-Methyltransferase (COMT): Hier ließ sich eine resultierende unterschiedliche Empfindlichkeit für Morphin demonstrieren (Klepstad et al. 2004; Rakvag et al. 2005). Methadon In einer randomisierten multizentrischen Untersuchung konnten Bruera et al. (2004) bei Tumorpatienten im Vergleich von oralem Methadon zu retardiertem Morphin keinen Unterschied im Grad der Analgesie feststellen; auch der Grad der Dosissteigerung in dieser auf 28 Tage angelegten Studie zeigte keinerlei Unterschiede, ebensowenig wie das Nebenwirkungsprofil. Ein Ergebnis, wie es auch von Nicholson (2004) in einem Cochrane-Review ermittelt wurde. Methadon kann insbesondere in Fällen einer unzureichenden Analgesie bzw. nicht akzeptabler Nebenwirkungen unter einer
Applikationsroute
Wert
epidural, intrathekal
8–(mehr als) 12
intramuskulär, subkutan
2,5–4
oral, rektal
4
retardiert oral, retardiert rektal
8–12
intramuskulär, subkutan
10–30
oral
30–102
rektal
45–65
retardiert oral
60–240
retardiert rektal
185–430
intramuskulär
90–100
subkutan
50
oral
20–33
rektal
30
Therapie mit starken Opioiden als sinnvolle Alternative versucht werden (z. B. Mercadante et al. 2001a; Evidenzlevel III), allerdings setzt die sichere Anwendung der Substanz einige Erfahrung voraus. Wesentliche Vorbedingungen für den gefahrlosen Einsatz von Methadon sind eine vorsichtige Dosistitration (mit Anfangsdosen von 2,5–5 mg Levomethadon maximal alle 3–6 h) sowie eine regelmäßige gute klinische Beobachtung des Patienten mit einer gezielten engmaschigen Überwachung auf unerwünschte Nebenwirkungen (Hansen et al. 1982). In Fallberichten wurde für Levomethadon verglichen mit Morphin über eine geringere Rate an Obstipation bzw. einen reduzierten Verbrauch an Laxanzien berichtet (z. B. Mancini u. Bruera 1998; Evidenzlevel V). Methadon wird im Rahmen der Schmerztherapie bei Tumorpatienten oftmals bei Vorliegen therapierefraktärer neuropathischer Schmerzen empfohlen, da diese als wenig opioidempfindlich angesehen werden (Hanks u. Reid 2005). Am Zustandekommen dieser reduzierten Opioidwirksamkeit sollen NMDA-Rezeptoren im Rückenmark wesentlich beteiligt sein (Dickenson 1994). Von daher ist es verständlich, dass bei derartigen Schmerzsyndromen Methadon empfohlen wird, soll es doch als Antagonist am NMDA-Rezeptor wirksam sein. (NMDA steht für N-Methyl-D-Aspartat, ein spezifischer Agonist für einen Subtyp der ionotropen Glutamatrezeptoren, die sog. NMDARezeptoren. NMDA kommt im Körper normalerweise nicht vor, führt aber im Experiment zur Öffnung der Ionenkanal-Untereinheit des NMDA-Rezeptors.) Indelicato und Portenoy (2002) weisen jedoch zurecht darauf hin, dass das α-Isomer von Methadon diesen Effekt bewirkt. In Deutschland, wie in vielen anderen Ländern auch, ist aber zumeist nur das l-Isomer als Levomethadon verfügbar. Von daher ist auch das Fazit eines systematischen Reviews von Nicholson
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32
Kapitel 32 · Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie
(2004) nachvollziehbar, der keinerlei Evidenz für die häufig postulierte besondere Wirksamkeit von Methadon bei neuropathischen Schmerzen finden konnte. Bei der Umstellung von Morphin auf Methadon bzw. Levomethadon3 empfiehlt sich in Abweichung von dem weiter unten allgemein beschriebenen Verfahren ein spezielles sukzessives Vorgehen. Dabei wird die Dosis des »alten« Opioids schrittweise um täglich 50% reduziert und mit Levomethadon beginnend in einer Initialdosis von 2,5–5 mg/3 h neu gegen den Schmerz titriert. Nach 3 Tagen wird die in den letzten 24 h verabreichte Levomethadonmenge ermittelt und die Medikation zeitkontingent – auf 2 bis 3 gleiche Tagesdosen verteilt – umgestellt. Alternativ dazu kann eine Umrechnung des Morphinäquivalents auf der Basis einer modifizierten Äquipotenztabelle erfolgen (. Tab. 32.15). Insbesondere bei Patienten mit hohem Opioidbedarf sollte die Umstellung auf Methadon möglichst unter stationären Bedingungen durchgeführt werden. Zwar wurde unter Studienbedingungen auch die Durchführbarkeit einer ambulanten Umstellung der Medikation auf Methadon dokumentiert; der dabei angeblich erforderliche Zeitraum von im Mittel 32 Tagen (Hagen u. Wasylenko 1999) erscheint für palliative Patienten deutlich zu lang und damit inakzeptabel; nach eigenen Erfahrungen lässt sich eine suffiziente Umstellung auch unter ambulanten Bedingungen wesentlich zügiger durchführen. Speziell in Situationen mit Ausgangsdosierungen von >100 mg Morphin/die ist bei der Umstellung auf Methadon bzw. Levomethadon erhöhte Vorsicht angebracht, da der Faktor zur Umrechnung von Morphin in Methadon dosisabhängig zwischen 2,5:1 und 14,3:1 (mittlere Relation: 7,75:1) schwanken kann (Ripamonti et al. 1998b). Neben dem Problem der Berechnung der initialen Umstellungsdosis besteht bei einem Wechsel auf die Substanz auch noch die Schwierigkeit, dass Methadon eine interindividuell stark variable Eliminationshalbwertszeit4 hat (. Tab. 32.10; in Anlehnung an Hull 1991, ergänzt um Daten aus weiteren Literaturquellen: Dale et al. 2004; Gourlay et al. 1982; Inturrisi et al. 1987) und damit potenziell lebensbedrohliche Nebenwirkungen auszulösen vermag (Hunt u. Bruera 1995). Es wird angenommen, dass für diese Variabilität ein genetischer Polymorphismus der Cytochromoxidase P450 IID6 verantwortlich ist; nach den vorliegenden Daten erscheint diese Möglichkeit wahrscheinlich (Eap et al. 2001). Außer den typischen opioidbedingten Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Obstipation etc. sind auch neuropsychiatrische Symptome unter Methadon beschrieben worden, z. B. Myoklonie, Verwirrtheit (Sarhill et al. 2001). Auf eine eher seltene Problematik soll noch hingewiesen werden: Tarumi et al. (2002) berichteten über einen 60-jährigen Patienten, der unter stabiler
3
Über die äquivalente Dosierung von Methadon gegenüber Morphin liegen sehr widersprüchliche Angaben vor. Während Ripamonti et al. (1998a) die Abhängigkeit von der zuvor verabreichten Opioiddosierung hervorheben (im Sinne von je höher die frühere Morphindosis, desto größer die Wirksamkeit von Methadon), kommen Mercadante et al. (1999) zu dem Schluss, dass mit einer Äquipotenzrelation von 5:1 (d. h. 5 mg Morphin entsprechen 1 mg Methadon) eine »sichere« Umstellung vorgenommen werden kann. Mit einer Relation von 10:1 (d. h. 10 mg Morphin entsprechen 1 mg Methadon) konnten Scholes et al. (1999) ihre Patienten auf der Palliativstation innerhalb von durchschnittlich 3 Tagen (Range: 2–18 Tage) von Morphin, Heroin oder Fentanyl auf Methadon umstellen.
. Tab. 32.10. Pharmakokinetische Parameter des Levomethadon Parameter
Einheit
Eliminationshalbwertszeit
[h]
4–130
Verteilungsvolumen
[l/kg]
3,6–5,9
Clearance
[ml/min]
16–2.390
Wirkungsdauer
[h]
Zeit bis zum Erreichen des maximalen Effektes
Bioverfügbarkeit
[min]
[%]
Applikationsroute
Wert
rektal
10
epidural
8
intramuskulär
6–8
oral
6–8
rektal
50–100
intramuskulär, subkutan
10–60
intravenös
2–5
oral
120–240
rektal
70–81
oral
79–90
Einstellung mit Methadon und unter einer Begleittherapie mit Fluconazol wegen einer oralen Candidose eine lebensbedrohliche Atemdepression entwickelte. Methadon bzw. Levomethadon werden vorzugsweise oral verabreicht; allerdings ist auch eine parenterale Gabe möglich. Die intravenöse Applikation – sowohl intermittierend als Bolus als auch kontinuierlich – ist dabei unproblematisch. Die in der Palliativmedizin oftmals genutzte subkutane Gabe von Methadon wird jedoch nicht unkritisch gesehen: Eine kontinuierliche subkutane Applikation wird nicht toleriert und führt innerhalb kurzer Zeit zu Hautrötung und Schmerzen. Centeno und Vara (2005) berichteten über die Bolusgabe von Methadon an 10 Tumorpatienten, die zuvor stabil oral auf Methadon eingestellt waren. Bei Umstellung 1:1 (mittlere Dosis: 30 mg, Range: 10– 120 mg/die) oral : subkutan wurden über einen Zeitraum von 7 Tagen alle Applikationen dokumentiert und auf Zeichen einer Hautirritation überprüft. Bei 182 subkutanen Methadondosen traten 7-mal Hautveränderungen auf, die einen Wechsel des Injektionsortes erforderlich machten. Die Autoren resümierten, dass die intermittierende subkutane Gabe von Methadon eine brauchbare Alternative darstellt, wenn eine orale Applikation nicht möglich ist.
4
Es liegt auf der Hand, dass die Eliminationshalbwertszeit auch von einer bestehenden Leber- und/oder Niereninsuffizienz beeinflusst werden kann; allerdings sind die diesbezüglichen Befunde in der Literatur widersprüchlich. Während ältere Studien keine Veränderungen der Pharmakokinetik von Methadon bei Patienten mit kompensierter Leberzirrhose nachweisen konnten (Novick et al. 1981), wird von neueren Quellen dem Methadon bei Bestehen von Leber- und Niereninsuffizienz eine verstärkte und verlängerte Wirkung nachgesagt (Allgaier et al. 2001).
695 32.4 · Konzepte zur Schmerztherapie bei Tumorpatienten
Fentanyl Fentanyl zeichnet sich durch eine hohe analgetische Potenz, raschen Wirkungseintritt (bei intravenöser Gabe), kurze Wirkungsdauer sowie einen hohen therapeutischen Index aus (Lehmann 1990). Bis vor wenigen Jahren wurde Fentanyl vorrangig für Narkosezwecke verwendet. Mit der Etablierung der rückenmarknahen Opioidanalgesie wurde es zunehmend auch in der Tumorschmerztherapie eingesetzt. Verglichen mit Morphin ist die Wirkungszeit von Fentanyl bei rückenmarknaher Gabe aber relativ kurz. Die analgetische Wirkung der rückenmarknahen Gabe soll dabei aber nicht potenter sein als jene der intravenösen Applikation (Eisenach 1997; Evidenzlevel IIb). Einige physikochemische und pharmakologische Eigenschaften, wie hohe Lipophilie, große analgetische Potenz (Fentanyl ist 75- bis 100-mal wirksamer als Morphin) und niedriges Molekulargewicht (336,46 D) sind Voraussetzung für die Eignung von Fentanyl zur transdermalen Applikation (Waldman u. Patt 1992). Da der transdermale Zugang jedoch erst innerhalb von 12–24 h (. Tab. 32.11; in Anlehnung an Hull 1991) zu wirksamen Plasmaspiegeln führt (z. B. Varvel et al. 1989), die dann allerdings für 48–60 h aufrechterhalten bleiben (Larijani et al. 1988; Evidenzlevel IIb), ist dieses Therapiesystem nicht dazu tauglich, akute Schmerzattacken oder Schmerzsyndrome mit wechselnder Schmerzintensität effektiv zu behandeln. In einer solchen Situation ist es notwendig, zusätzlich zur Ergänzung der Basismedikation schnell wirkende Opioide (z. B. Fentanyl-OTFC, Morphinlösung bzw. -tabletten ) einzusetzen (weiterführende Erläuterungen zur Behandlung von Schmerzsyndromen mit wechselnder Schmerzintensität finden sich im Textkasten »Durchbruchschmerz«; S. 17/18). Auch zur schnellen Dosistitration ist die transdermale Applikation nicht geeignet. Dieses ist nur durch Vorschalten einer intravenösen Fentanylgabe über PCA (z. B. Zech et al. 1992) bzw. durch Titration mit Morphin und nachfolgender Umstellung entsprechend einer Konversionstabelle (. Tab. 32.12) möglich (Donner et al. 1996; Evidenzlevel IIa). Hierbei wird die mittels PCA über 24 h abgerufene Fentanyldosis bestimmt und auf einen Zeitraum von 3 Tagen extra. Tab. 32.11. Pharmakokinetische Parameter des Fentanyl Parameter
Einheit
Eliminationshalbwertszeit
[h]
3–16
Verteilungsvolumen
[l/kg]
3,7–6,0
Clearance
[ml/min]
275–1.530
Wirkungsdauer
[h]
Zeit bis zum Erreichen des maximalen Effektes
Bioverfügbarkeit
[min]
[%]
Applikationsroute
Wert
intravenös, epidural
dosisabhängig
transdermal
48–72
epidural
10–15
intravenös, subkutan
weniger als 1
transdermal
12–24
transdermal
85–90
32
. Tab. 32.12. Konversionstabelle zur Umrechnung von oralen Morphindosierungen in äquipotente Dosierungen von transdermalem Fentanyl. Orales Morphin (mg/die)
Fentanyl TTS (mg/die)
Fentanyl TTS (μg/h)
30–90
0,6
25
91–150
1,2
50
151–210
1,8
75
211–270
2,4
100
271–330
3,0
125
je weitere 60
+ 0,6
+ 25
poliert; daraus ergibt sich dann die Auswahl des zu applizierenden Fentanyl TTS-Pflasters. Darüber hinaus ist die Behandlung von Intoxikationserscheinungen bei Anwendung eines transdermalen Systems nicht unproblematisch, da die entsprechenden Symptome die Entfernung des Fentanylpflasters um 12–24 h überdauern können. Wenn Anzeichen einer relevanten Intoxikation registriert werden, wird als Sofortmaßnahme das Entfernen des transdermalen Systems empfohlen, wodurch eine weitere Medikamentenzufuhr von extern unterbrochen wird. Darüber hinaus empfiehlt sich eine konsequente lokale Kühlung des Hautareals, auf dem das transdermale System bislang platziert war (z. B. mit einer sog. »Eisblase«), um eine Verzögerung der Medikamentenresorption aus dem vorhandenen Hautdepot und somit ein schnelleres Absinken kritischer Medikamentenspiegel im Blut zu erreichen. Für stabile Schmerzzustände ist das Therapieintervall von 48–72 h aber als ausgesprochen vorteilhaft anzusehen (Zech et al. 1991). Zudem ist gerade bei Patienten mit geringer oder fehlender »Compliance« in der analgetischen Therapie durch das Applikationsintervall von 3 Tagen ein weiterer positiver Gesichtspunkt vorhanden (Evidenzlevel V). Das Fentanylpflaster wird in fünf unterschiedlichen Größen mit Wirkstofffreisetzungsmengen von 12,5 μg/h, 25 μg/h, 50 μg/ h, 75 μg/h und 100 μg/h angeboten5. Aus Bioverfügbarkeitsstudien ist bekannt, dass im Verlauf der bestimmungsgemäßen Anwendungszeit etwa 92% des im TTS enthaltenen Fentanyls in die systemische Zirkulation gelangen (Varvel et al. 1989). Erfolgt die Einstellung eines Tumorpatienten auf transdermales Fentanyl, ohne dass bisher ein anderes starkes Opioid benutzt wurde, so empfiehlt es sich, die Behandlung stets mit der kleinsten Pflastergröße zu beginnen (Evidenzlevel V). Wurde der Patient zuvor bereits mit anderen starken Opioiden behandelt, bietet sich die Umstellung auf Fentanyl mittels
5
Es ist darauf hinzuweisen, dass unter dem Sammelbegriff »transdermales Medikamenten-Applikationssystem« unterschiedliche Technologien zusammengefasst werden. Das Fentanyl TTS-Pflaster besitzt ein Reservoir, aus dem die Medikamentenfreisetzung über eine spezielle Diffusionsregulationsmembran gesteuert wird. Das transdermale Therapiesystem, mit dem Buprenorphin als Transtec verfügbar ist, ist eine Weiterentwicklung zu einem sog. Matrixpflaster, das einen deutlichen Zuwachs an Patientenssicherheit (vor allem auch bei Fehlanwendung mit Zuschneiden der Pflastergröße) mit sich bringt. Inzwischen wird auch Fentanyl mit dieser innovativen sichereren Matrixpflastertechnologie angeboten.
696
32
Kapitel 32 · Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie
einer Konversionstabelle (. Tab. 32.12) an. In der Literatur finden sich allerdings Berichte über das Auftreten von Entzugssymptomen trotz vorhandener Analgesie nach Umstellung von Morphin auf transdermales Fentanyl (z. B. Higgs u. Vella-Brincat 1995). Für solche Situationen und zur Behandlung von Durchbruchschmerzen sollten als additive Zusatzmedikation schnellverfügbare Opioide verordnet werden. Wirkung und Nebenwirkungen von transdermalem Fentanyl wurden in zahlreichen Studien mit denen von Morphin verglichen. In Bezug auf die Analgesie fand sich kein Unterschied zwischen beiden Opioiden, wobei unter Fentanyl signifikant häufiger eine »Rescue«-Medikation erforderlich war (Ahmedzai u. Brooks 1997; Radbruch et al. 2000b). Widersprüchliche Befunde sind hinsichtlich des Auftretens einer Obstipation beschrieben worden: Ahmedzai und Brooks (1997) wiesen eine signifikante Abnahme unter Fentanyl nach; dieses Ergebnis wird auch durch Daten von Grond et al. (1997) bestätigt. Dieser Befund konnte allerdings später nicht nachvollzogen werden (Radbruch et al. 2000b); bei dieser Untersuchung beobachteten die Autoren, zu denen auch Grond selbst gehörte, lediglich eine klinisch relevante Abnahme des Laxanziengebrauchs. Neben einer Abnahme der Obstipation konnten Grond et al. (1997) auch eine Reduktion von Übelkeit und Erbrechen belegen; die Auftretenswahrscheinlichkeit des Symptoms Müdigkeit blieb bei der Umstellung des Opioids unbeeinflusst. Dieses Ergebnis steht im Widerspruch zu Befunden von Yeo et al. (1997), welche eine signifikante Abnahme der Müdigkeit unter transdermal appliziertem Fentanyl beschrieben. Von Nugent et al. (2001) wurde in einer Beobachtungsstudie, bei einer mittleren Behandlungszeit von 5,5 Monaten (Range: 1–29 Monate) nur eine mäßige Steigerung des Dosisbedarfs an transdermalem Fentanyl von im Median 75 μg/h (Mittel 87,3 μg/ h) zu Beginn auf einen Medianwert von 100 μg/h (Mittel 124,3 μg/ h) in der letzten Lebenswoche registriert. Nur bei drei Patienten kam es im Beobachtungsverlauf zu einem Anstieg des Dosisbedarfs auf >300 μg/h Fentanyl. Im Nebenwirkungsspektrum waren keine wesentlichen Veränderungen zu verzeichnen, jedoch fand sich im Gegensatz zu den Ergebnissen von Grond et al. (1997) im Behandlungsverlauf eine Zunahme der unerwünschten Wirkungen. Neben der rückenmarknahen Gabe und der transdermalen Applikation von Fentanyl wurde von Paix et al. (1995) auch über die kontinuierliche subkutane Zufuhr berichtet. Der Applikationszeitraum betrug 3–70 Tage und die initialen Dosierungen schwankten zwischen 100–1.000 μg/24 h; daraus errechnete sich eine Äquivalenzrelation zur subkutanen Morphingabe von 50– 68 : 1. Als Vorteile der subkutanen gegenüber der transdermalen Applikation von Fentanyl heben die Autoren die gute Steuerbarkeit und Flexibilität bei der Anpassung der Medikation an schwankende Schmerzniveaus hervor; andererseits weisen sie zu Recht darauf hin, dass Fentanyl subkutan für die Indikation Schmerztherapie nicht zugelassen ist und die Tagestherapiekosten bei äquipotenter Dosierung ein Mehrfaches derjenigen von Morphin betragen. Bruera und Pereira (1997) berichteten über einen Patienten, der unter einer subkutanen Fentanylinfusion von 100 μg/h mit zuvor exzellenter Analgesie plötzlich Verwirrtheit, Ruhelosigkeit, Myoklonus und Halluzinationen entwickelte. Als Ursache wurde eine akzidentelle Infusion der Substanz mit einer etwa 50-fachen Überdosis ermittelt. Vor diesem Hintergrund weisen die Autoren darauf hin, dass zentralnervöse Nebenwirkungen als Warnhin-
weis für eine Überdosierung hochpotenter Opioide gewertet werden müssen, solange keine anderen Ursachen die Symptomatik hinlänglich erklären. Verwirrtheit, Myoklonie und Halluzinationen können aber auch ohne akzidentelle Überdosierungen auftreten. Han et al. (2002) berichteten über einen Patienten, der nach Beendigung einer transdermalen Fentanylgabe Myoklonien entwickelte. Santiago-Palma et al. (2001) stellten 6 Patienten, die unter intravenöser Fentanylgabe neuropsychiatrische Symptome entwickelten, auf intravenöses Methadon um, das mittels PCA (»patient controlled analgesia«; Lehmann et al. 2005) verabreicht wurde. Als Konversionsrate wählten sie 100 μg/h Methadon für 25 μg/h Fentanyl. Eine andere Untersuchung zur Umstellung von transdermal verabreichtem Fentanyl auf orale Gabe von Methadon stellten Benitez-Rosario et al. (2004) vor. Hier wurde abhängig von der Fentanyldosis 8–24 h nach Entfernen des Pflasters mit der oralen Methadongabe begonnen. Berechnung der Tagesdosis: Fentanyl transdermal : Morphin oral = 1:100, Morphin oral : Methadon oral = 5:1. Die mediane Methadondosis an Tag 7 betrug 75 mg (Range: 30-135 mg/die). Es fand sich eine lineare Korrelation zwischen der ursprünglichen Fentanyldosierung und der abschließenden Dosis von Methadon (p<0.0001); die Ausgangsdosierung von Fentanyl zeigte allerdings keine Korrelation zur Äquipotenz Fentanyl/Methadon, die sich zwischen 1:6 und 1:30 bewegte. Hydromorphon Dieses Opioid wurde 1921 synthetisiert und seit 1926 in der Klinik eingesetzt. Speziell im Rahmen einer Opioidrotation wird Hydromorphon bei nicht akzeptablen und nur bedingt therapierbaren Nebenwirkungen als ein gut geeignetes Opioid für die Substitution von Morphin angesehen (z. B. Bruera et al. 1996a; Evidenzlevel V). Berichte über die Anwendung von Hydromorphon liegen für orale, rektale, subkutane, intravenöse und rückenmarknahe Applikationen vor (Bruera et al. 1993, 1996b; Coda et al. 1997; Hagen et al. 1995; Hays et al. 1994; Lawlor et al. 1997; Moulin et al. 1991; Vanier et al. 1993). In diesen Untersuchungen konnte die sichere Anwendung und analgetische Wirksamkeit von Hydromorphon auch bei Tumorschmerzpatienten belegt werden (Evidenzlevel IIa). Die in der Literatur angegebenen Hydromorphondosierungen für Tumorschmerzpatienten schwanken in beträchtlichem Ausmaß: Für die subkutane Darreichungsformen finden sich Werte zwischen 27 mg/die (Vanier et al. 1993) und 216 mg/die (Bruera et al. 1993), für die orale Applikation solche zwischen 6 mg/die und 768 mg/die (Hagen et al. 1995; Hays et al. 1994; Evidenzlevel III). Hydromorphon (. Tab. 32.13; in Anlehnung an Hull (1991), ergänzt um Daten aus weiteren Literaturquellen; Bruera et al. 1996b; Hagen et al. 1995; Moulin et al. 1991) hat physikochemische und pharmakokinetische Ähnlichkeiten mit Morphin (Murray u. Hagen 2005). Es unterliegt ebenso wie Morphin einem ausgeprägten »First-pass«-Effekt; die orale Bioverfügbarkeit wird mit 12,5–50% angegeben. Der analgetische Effekt soll nach ca. 30 min einsetzen und etwa 4 h (bei normal freisetzender Präparation) bzw. 12–24 h (bei retardierter Zubereitung) anhalten. Für die subkutane Applikation wird eine Bioverfügbarkeit von 75–80% angegeben (Moulin et al. 1991). Als vorteilhaft wird die Möglichkeit zur Herstellung hoch konzentrierter Lösungen von Hydromorphon (bis 100 mg/ml) angesehen (Fudin et al. 2000).
32
697 32.4 · Konzepte zur Schmerztherapie bei Tumorpatienten
. Tab. 32.13. Pharmakokinetische Parameter des Hydromorphon Parameter
Einheit
Applikationsroute
Wert
Eliminationshalbwertszeit
[h]
intravenös
ca. 3
Verteilungsvolumen
[l/kg]
intravenös
4,2
Clearance
[ml/min]
Wirkungsbeginn
[min]
Wirkungsdauer
Zeit bis zum Erreichen des maximalen Effektes
Bioverfügbarkeit
1.660 intravenös
5
oral
15–30
intravenös
4–5
oral, nicht retardiert
4–5
oral, retardiert
12
[min]
intravenös
10–20
[h]
oral, nicht retardiert
1,47 ± 0,22
[h]
oral, retardiert
4,78 ± 0,78
[%]
subkutan
78
oral
60
[h]
Verglichen mit anderen starken Opioiden sind Hydromorphon und Morphin eher hydrophil; diese Eigenschaft gilt es besonders bei rückenmarknaher Anwendung zu beachten (Payne et al. 1996). Für die Umstellung von Morphin auf Hydromorphon wird ein Umrechnungsfaktor von 7:1 angegeben (AHCPR 1994), andere Untersuchungen nennen 3:1 (Dunbar et al. 1996), 5:1 (Coda et al. 1997; Lawlor et al. 1997) bzw. 8:1 (Weinstein et al. 2006), wobei die Arbeitsgruppe von Lawlor unterschiedliche Äquipotenzrelationen für subkutane und oral Gabe bestimmt hat (4,9 bei subkutaner versus 5,8 bei oraler Applikation). Die äquianalgetische Potenz von Hydromorphon zwischen der oralen und der parenteralen Gabe wird mit 5:1 angegeben (Murray und Hagen 2005), wobei aber auf große interindividuelle Schwankungen hingewiesen wird. Die Nebenwirkungen werden als ähnlich zu jenen von Morphin beschrieben. Beim Menschen wird Hydromorphon auch zu Hydromorphon-3-Glucuronid (H-3-G) metabolisiert, welches analog zu Morphin-3-Glucuronid dosisabhängige neuroexzitatorische Wirkungen hat, wie tierexperimentell gezeigt werden konnte (Wright et al. 2001). Auch am Menschen sind derartige neurotoxische Effekte belegt, die mit Agitation, Myoklonien und Krampfanfällen einhergingen (Thwaites et al. 2004) und eine Korrelation zu Dosis und Applikationsdauer von Hydromorphon aufwiesen. Da auch im Hydromorphonmetabolismus aktive Metabolite auftreten, muss bei bekannter Organinsuffizienz auf Zeichen einer Überdosierung geachtet und die Dosis ggf. entsprechend reduziert werden (Babul et al. 1995). Oxycodon Oxycodon ist ein dem Morphin verwandtes, strukturell modifiziertes Opioid, welches bereits 1917 synthetisiert wurde und seit-
dem in der Klinik Verwendung findet. Die strukturellen Änderungen am Molekül haben Einfluss auf die pharmakokinetischen Parameter von Oxycodon; vor allem die Methylierung der Hydroxylgruppe an C3 führt zu einer Reduktion des »First-pass«Metabolismus mit der Folge einer gegenüber Morphin erhöhten oralen Bioverfügbarkeit (ca. 60–87% vs. 15–50%; Lugo und Kern 2004). Für Oxycodon ist zudem ein ähnlicher Polymorphismus des abbauenden Enzyms (Cytochromoxidase P450 IID6) bekannt, wie er für Codein beschrieben wurde. Ob diese genetische Variabilität für die analgetische Wirkung von Oxycodon relevant ist, wird kontrovers diskutiert (Heiskanen et al. 2000; Maddocks et al. 1996). Neben dem genetischen Aspekt sollen aber auch noch andere Faktoren am Auftreten stark schwankender Serumkonzentrationen bei vergleichbaren Dosierungen beteiligt sein: z. B. Geschlecht (Frauen: um 25–30% höher), Alter (Senioren: um 15% erhöht) sowie Dysfunktionen von Leber und Nieren (um bis zu 50% erhöht; Allgaier et al. 2001; Kaiko et al. 1996). Deswegen wird allgemein empfohlen, den Einsatz von Oxycodon bei Patienten mit gestörter Leber- und/oder Nierenfunktion prinzipiell sehr vorsichtig durchzuführen. Es ist anzuraten, die Oxycodondosis bei der Ersteinstellung auf eine Drittel bis die Hälfte der gemäß Äquipotenztabelle errechneten Dosis zu reduzieren, falls im konkreten Fall einer der oben genannten Faktoren zutrifft bzw. eine Organinsuffizienz vorliegt. Auch sollten weitere Dosisanpassungen entsprechend vorsichtig erfolgen (Lugo u. Kern 2004). Es ist derzeit noch unklar, ob für die größere Empfindlichkeit von Patienten mit Leber- oder Niereninsuffizienz die Verlängerung der Eliminationshalbwertszeit (bis ca. 26 h) oder aber der Metabolit Oxymorphon (bis zu 6,5-fach wirksamer als Oxycodon; Beaver et al. 1978) oder beides zugleich verantwortlich ist. Zudem ist auch strittig, in welchem Umfang Oxymorphon beim Abbau von Oxycodon entsteht (Anderson et al. 2001). Hinsicht-
. Tab. 32.14. Pharmakokinetische Parameter des Oxycodon Parameter
Einheit
Applikationsroute
Wert
Eliminationshalbwertszeit
[h]
intravenös
3,01 ± 1,37 bis 3,70 ± 2,32
Verteilungsvolumen
[l/kg]
intravenös
2,6 ± 0,52 bis 3,0 ± 2,7
Clearance
[ml/min]
Wirkungsbeginn
[min]
oral, nicht retardiert
10–15
Wirkungsdauer
[h]
intravenös
4
oral
4
oral, nicht retardiert
30–60
oral, retardiert
60
intramuskulär
67 ± 24
oral
60–87
Zeit bis zum Erreichen des maximalen Effektes
Bioverfügbarkeit
[min]
[%]
780 ± 330 bis 810 ± 442
698
32
Kapitel 32 · Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie
lich der allgemeinen pharmakokinetischen Parameter von Oxycodon wird auf . Tab. 32.14 (in Anlehnung an Hull (1991), ergänzt um Daten aus weiteren Literaturquellen; Jage 1998; Pöyhiä et al. 1993) verwiesen. Als ein potenzieller Vorteil von Oxycodon im Vergleich zu Morphin wird die fehlende immunsuppressive Wirkung angesehen, die bislang allerdings nur tierexperimentell belegt ist (Sacerdote et al. 1997). Die klinische Bedeutung dieses Effektes muss erst noch in entsprechenden Humanstudien ermittelt werden (Kalso 2005). Bei der Behandlung von Tumorpatienten erwies sich die nicht retardierte Präparation von Oxycodon in Dosierungen bis 60 mg/4 h als gut wirksam; die Verträglichkeit wurde dabei insgesamt als gut eingeschätzt (Glare u. Walsh 1993). Seit einigen Jahren ist auch eine retardierte Präparation von Oxycodon verfügbar. Diese Galenik wurde bei Tumorpatienten im Rahmen kontrollierter randomisierter und doppelblinder Studien mit Erfolg eingesetzt, wobei sich in Bezug auf Wirkung und Nebenwirkungen zwischen retardierter und nicht modifizierter Präparation ein vergleichbares Profil zeigte (Stambaugh et al. 2001). Auch hinsichtlich der Dosistitration ergab sich zwischen beiden Präparationen kein Unterschied (z. B. Salzman et al. 1999); innerhalb von 1–2 Tagen konnten die genannten Autoren mit beiden Applikationsformen eine stabile Schmerzeinstellung erzielen (Evidenzlevel IIa). Zwar erwies sich der Anteil der erfolgreich behandelten Patienten mit der Retardzubereitung (>90%) als etwas höher als derjenige mit der schnell freisetzenden Form (75%), jedoch war dieser Unterschied nicht statistisch signifikant. In einer randomisierten, doppelblinden Untersuchung verglichen Mucci-LoRusso et al. (1998) retardierte Zubereitungen von Oxycodon (n=48) und Morphin (n=52), welche zweimal täglich für 12 Tage verabreicht wurden. Hinsichtlich Analgesie und Nebenwirkungen zeigten sich beide Opioide vergleichbar; neuropsychiatrische Symptome (hier: Halluzinationen) traten lediglich bei zwei Patienten der Morphingruppe auf. Im Rahmen einer Therapieumstellung von Oxycodon auf ein anderes Opioid können insofern Schwierigkeiten auftreten, als in der Literatur widersprüchliche Angaben zur Äquipotenz gemacht werden (. Tab. 32.15). Curtis et al. (1999) geben für die orale Zubereitung von Oxycodon im Vergleich zu Morphin ein Verhältnis von 1,8:1 an. Glare und Walsh (1993) fanden ein solches von 1:1, ähnliches berichten Zhukovsky et al. (1999). Abweichend davon bestimmten Heiskanen und Kalso (1997) ein Äquipotenzverhältnis von 1,5:1, wenn zuerst Oxycodon eingenommen wurde; erfolgte jedoch zunächst eine Einnahme von Morphin, wurde für dieses Äquipotenzverhältnis eine Relation von 1,33:1 ermittelt. Bruera et al. (1998) bestimmten eine mittlere Dosisrelation zu Morphin von 1,5:1, wobei das im Einzelfall gefundene Äquipotenzverhältnis allerdings stark schwankte (Range 1:1 bis 2,3:1). Nach Untersuchungen von Silvasti et al. (1998) ergibt sich für die parenterale Applikation von Oxycodon ein Äquipotenzverhältnis von 1:1, nach Kalso und Vainio (1990) ein solches von 1,3:1 im Vergleich zu Morphin. Für das Äquipotenzverhältnis zwischen Oxycodon und anderen Opioiden gelten folgende Relationen
Substanzspezifische Äquipotenzverhältnisse von Oxycodon (Salzman et al. 1999) 4 Hydromorphon : Oxycodon – 4:1 4 Methadon : Oxycodon – 1,5:1
Opioidrotation bzw. -wechsel und Äquipotenzdosierungen starker Opioide Auch innerhalb der WHO-Stufe 3 kann es gelegentlich notwendig werden, zur Reduktion von spezifischen Nebenwirkungen (Ashby et al. 1999; Evidenzlevel IV) oder zur Verbesserung der Analgesie im Sinne einer sog. »Opioidrotation« von einem Opioid auf ein anderes innerhalb der gleichen WHO-Stufe umzustellen (Cherny et al. 2001). Um das neue Präparat nach dem Wechsel der Therapie von Anfang an in adäquater Dosierung zu verordnen, bedarf es auch hier einer »Dosisumrechnung«. Wie schon zuvor geschildert, erfolgt diese Umrechnung mithilfe der in . Tab. 32.15 genannten Äquipotenzdosierungen; wobei zunächst die Dosierung des bisher verordneten Opioids auf die Vergleichsgröße »intramuskuläres Morphinäquivalent« bezogen wird, um dann in einem zweiten Schritt entsprechend der Äquipotenzdosierung des künftig zu verabreichenden Stufe-3-Opioids gegen das Morphinäquivalent umgerechnet zu werden. Bei paralleler Anwendung der Äquipotenzdosierungen für mittelstarke und starke Opioide (. Tab. 32.8 und . Tab. 32.15; mod. nach Donner et al. (1996), ergänzt um Daten aus weiteren Literaturquellen; AHCPR 1994; Brune u. Beck 1994; Coda et al. 1997; Dunbar et al. 1996; Lawlor et al. 1997, 1998; Portenoy et al. 1992), kann über die gemeinsame Bezugsgröße »intramuskuläres Morphinäquivalent« auch eine Dosisumrechnung zwischen Präparaten der WHO-Stufen 2 und 3 erfolgen. Vor der unkritischen Anwendung solcher Tabellenwerte bei der Umrechnung zwischen zwei verschiedenen Opioiden wird ausdrücklich gewarnt (Gordon et al. 1999); speziell in höheren Dosisbereichen (mehr als das 3-fache der initialen Dosierungen) ist Vorsicht bei der Umstellung gemäß dieser Tabellen angebracht, wie zahlreiche Fallberichte belegen (Hunt u. Bruera 1995; Evidenzlevel V). Gerade für die Umstellung von diversen Opioiden auf Methadon wird auf ein dosisabhängiges Äquipotenzverhältnis hingewiesen (Bruera et al. 1996a; Lawlor et al. 1998; Ripamonti et al. 1998a; Toombs u. Kral 2005; Evidenzlevel IIa). Auch sollte berücksichtigt werden, dass die Äquipotenzverhältnisse zumeist nur auf Fallberichten und Beobachtungsstudien beruhen und nicht auf kontrollierten, randomisierten Untersuchungen (Kloke 2004; Pereira et al. 2001). Für eine Opioidrotation innerhalb der Stufe 3 ebenso wie für einen Opioidwechsel zwischen Substanzen der WHO-Stufen 2 und 3 sei auf die Empfehlung verwiesen, bei einer entsprechenden Therapieumstellung die bereits in 7 Abschn. 32.4.1 dargestellte 50%-Regel anzuwenden (Deutsche Krebsgesellschaft 2000; Evidenzlevel V). Bezüglich einiger Besonderheiten bei der Ein- bzw. Umstellung auf Methadon resp. bei der Umstellung von Oxycodon sei auf die entsprechenden Ausführungen im Zusammenhang mit der Besprechung der jeweiligen Substanz weiter oben in diesem Abschnitt verwiesen. Opioideinsatz unter dem Aspekt der Fahrtüchtigkeit Fahrtüchtigkeit wird als ein multidimensionales Konstrukt aus intellektuellen, psychomotorischen und sozialen Funktionen angesehen; wobei das Führen eines Kraftfahrzeuges vom Fahrer die Wahrnehmung der wesentlichen Determinanten der jeweiligen Verkehrssituation sowie deren richtige und zeitgerechte Verarbeitung und Umsetzung in die notwendigen Steuerbewegungen erfordert. In einer strukturierten Metaanalyse fanden Fishbain et al. (2002) keinen Anhalt für die Vermutung, dass die Verkehrssicherheit unter Einnahme einer stabilen Opioiddosis ohne zusätzliche sedierende Komponenten beeinträchtigt sein könnte;
699 32.4 · Konzepte zur Schmerztherapie bei Tumorpatienten
32
. Tab. 32.15. Äquipotenzdosierungen gebräuchlicher starker Opioide; Bezugsgröße der jeweils angegebenen Vergleichsdosierung ist das sog. »intramuskuläre Morphinäquivalent«, das in der ersten Zeile der Tabelle aufgeführt ist Substanz
Applikation
Äquipotenzdosis
Bemerkung
Morphin
intramuskulär
10 mg
»Intramuskuläres Morphinäquivalent« als Bezugsgröße für die nachfolgenden Vergleichsdosierungen. Tatsächlich ist die intramuskuläre Gabe von Analgetika bei Tumorpatienten obsolet!
Morphin
oral
30 mg
Von der WHO empfohlene Referenzsubstanz für die Stufe 3; ideal zur Ersteinstellung, da Steady State bereits nach 24 h erreicht ist. Verfügbar als Lösung oder Tablette
Morphin
rektal
30 mg
Alternative zur oralen Gabe. Nicht von allen Patienten akzeptiert, aber Plasmaspiegel zumeist vergleichbar
Morphin retard
oral
30 mg
Bei konstantem Dauerschmerz Mittel der Wahl zur Langzeittherapie. Verfügbar als Retardtablette, -dragee, Granulat
Morphin
subkutan
10 mg
Ist eine orale Gabe nicht mehr durchführbar bzw. sind die Nebenwirkungen zu stark, ist die subkutane Gabe 1. Wahl eines kontinuierlichen invasiven Verfahrens
Morphin
intravenös
10 mg
Schneller Wirkungseintritt, allerdings nur kurze Wirkungsdauer, deshalb ist bei chronischer Therapie eine kontinuierliche Zufuhr notwendig
Methadon
oral
20 mg
Alternativsubstanz bei unzureichendem Effekt von Morphin (Opioidrotation!). Erfordert wegen sehr variabler Halbwertszeit einige Erfahrung in der Anwendung
Fentanyl
transdermal
0,2–0,3 mg
Sehr potenter μ-Agonist. Durch das transdermale Applikationssystem (TTS) wird eine konstante Wirkstoffabgabe über 2–3 Tage erreicht. Ein Wechsel des Pflasters sollte frühestens nach 48 h erfolgen, in der Regel wird es 72 h belassen
Hydromorphon
oral
1,5–3,5 mg
Sehr differierende Angaben in der Literatur. Opioid der Wahl bei nicht akzeptablen Nebenwirkungen unter Morphingabe
Hydromorphon
subkutan
2 mg
Sehr differierende Angaben in der Literatur
Oxycodon
oral
20–30 mg
Alternativsubstanz bei nicht akzeptablen Nebenwirkungen unter Morphingabe
Oxycodon
subkutan
10–15 mg
Alternativsubstanz bei nicht akzeptablen Nebenwirkungen unter Morphingabe
Oxycodon
intravenös
10–15 mg
Alternativsubstanz bei nicht akzeptablen Nebenwirkungen unter Morphingabe
zur gleichen Schlussfolgerung gelangten auch Lenné et al. (2003) aufgrund der Ergebnisse ihrer experimentellen Studie zur Fahrtüchtigkeit von Probanden, die unter einer stabilen Substitutionstherapie mit verschiedenen Opioiden standen. Eine Übersicht zum Thema Opioideinsatz unter dem Aspekt der Fahrtüchtigkeit findet sich bei Saur et al. (2000). Juristische Aspekte der Fahrtüchtigkeit unter Opioidwirkung Nach juristischer und ärztlicher Auffassung haben zu Therapiezwecken verordnete und eingenommene Arzneimittel oder Betäubungsmittel einen geringeren Einfluss auf die Fahrtüchtigkeit als missbräuchlich eingenommene Substanzen, bleiben aber dennoch berauschende Mittel im Sinne der Vorschriften der §§ 315c, 316 StGB (Gebert 1994; Hentschel 1999). Zu diesen berauschenden Mitteln wird im Straßenverkehrsrecht neben Cannabis, Heroin, Kokain, Amphetamin und Designer-Amphetamin auch Morphin gezählt. Nach dem Straßenverkehrsrecht handelt prinzipiell ordnungswidrig, wer unter Einwirkung eines solchen berauschenden Mittels im Straßenverkehr ein Kraftfahrzeug führt. Aus rechtlicher Sicht reicht allein der Nachweis einer derartigen Substanz in der Blutprobe zur Annahme der berauschenden Wirkung aus. Weitere Kriterien werden zur Feststellung der konkreten Beein-
trächtigung der Fahrsicherheit nicht benötigt. Wenn die nachgewiesene Substanz allerdings aus der bestimmungsgemäßen Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels herrührt, scheidet eine Ordnungswidrigkeit aus, § 24a Abs. 2 Satz 2 StVG. Aber auch wenn ein Patient im konkreten Krankheitsfall ärztlich verschriebene Opioide bestimmungsgemäß eingenommen hat, stellt die aktive Teilnahme am Straßenverkehr unter Opioidwirkung dann einen Straftatbestand dar, der eine Verurteilung gemäß §§ 315c, 316 StGB nach sich ziehen kann, wenn eine Fahrunsicherheit oder geminderte Fahrtüchtigkeit nachgewiesen wird. Damit allerdings die für eine Strafbarkeit erforderliche Fahruntüchtigkeit unter Opioidwirkung anzunehmen ist, müssen bei einer Person, die ärztlich verschriebene Opioide bestimmungsgemäß eingenommen hat, Fahrfehler oder Fahrauffälligkeiten hinzukommen (Hentschel 1999). Haftungsrechtliche Situation Aus dem ärztlichen Behandlungsvertrag folgt eine umfassende Pflicht zur Aufklärung über die Wirkungsweise von Opioiden und die Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit. Die Opioidverabreichung ist im Rahmen des § 13 BtMG eine erlaubte medizinische Therapieform, wenn ihre Anwendung am oder im Körper be-
700
Kapitel 32 · Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie
gründet ist. Ärzte müssen erst dann eingreifen, wenn der Patient den Eindruck vermittelt, nicht mehr eigenverantwortlich handeln zu können. Sie sind nicht verpflichtet, den Patienten daraufhin zu überwachen, ob er ein KFZ benutzt oder nicht (Gebert 1994).
32
Konsequenzen für die ärztliche Praxis Nach eingehender Aufklärung durch den Arzt muss von der Fahrzeugführung abgeraten werden in der Einstellungsphase auf Opioide, bei Dosiskorrekturen (Erhöhung, Reduktion), bei Wechsel des Opioids, bei zusätzlich sedierender Begleitmedikaton und – unabhängig von einer Opioidtherapie – bei schlechtem Allgemeinzustand des Patienten. Die Fahrzeugführung ist aus ärztlicher Sicht unbedenklich, wenn ein stabiler Therapieverlauf und ein guter Allgemeinzustand vorliegen und der Patient auf seine Pflicht zur kritischen Selbstprüfung hingewiesen wurde. Vor diesem Hintergrund wird jedem Arzt, der seinen Tumorpatienten Opioide verschreibt, dringend angeraten, eine sorgfältige schriftliche Dokumentation über den physischen und psychischen Zustand des jeweiligen Patienten, über Inhalt und Durchführung des gebotenen Aufklärungsgesprächs sowie über die Vermittlung der juristisch relevanten Hinweise vorzunehmen. Adjuvante Medikamente Die Anwendung von Adjuvanzien zur Tumorschmerztherapie ist zumeist nicht durch kontrollierte Studien abgesichert, jedoch weit verbreitet (Bruera u. Ripamonti 1993; Cherny et al. 1995b; Lussier et al. 2004).
Anwendungshäufigkeiten für typische Substanzgruppen innerhalb der Adjuvanzien (nach Bruera u. Ripamonti 1993) 4 4 4 4
Antiemetika: 49–54% Kortikosteroide: 8–14% Laxanzien: 65–69% Psychoaktive Medikamente: 22–39%
Für den deutschsprachigen Raum fanden Zech et al. (1995), dass in Abhängigkeit vom Tumorstadium zwischen 38–79% der Patienten mit Adjuvanzien und zwischen 17–37% mit Ko-Analgetika behandelt wurden und die Mehrzahl der Patienten gleichzeitig mehr als eine adjuvante Medikation erhielt. Nach der Unterscheidung dieser Autoren handelt es sich bei: 4 Ko-Analgetika um Substanzen mit eigenständiger, nicht opioider analgetischer Wirkung, z. B. Antidepressiva, Antikonvulsiva, Bisphosphonate, Kortikosteroide, Ketamin, Clonidin, sowie Kalziumantagonisten (für eine spezielle Rezeptorsubpopulation) 4 Adjuvanzien um Pharmaka zur Behandlung von analgetikabedingten Nebenwirkungen oder anderen tumor- bzw. therapiebedingten Symptomen. Eine deutlich geringere Häufigkeit des Einsatzes von Adjuvanzien (2–39%) fanden Klepstad et al. (2005) in ihrem Survey für das Research Network der EAPC, welcher insgesamt 3.030 Patienten aus 21 europäischen Ländern einschloss. Im nachfolgenden Abschnitt werden in Anlehnung an die Definitionen von Bruera und Ripamonti (1993) sowie Levy (1996) unter dem Begriff Adjuvanzien alle Pharmaka zusammengefasst, die bei Tumorpatienten:
4 zur Verbesserung des analgetischen Effektes von Opioiden beitragen (z. B. Bisphosphonate, Clonidin, Ketamin), 4 über differente Hemmsysteme bzw. Wirkmechanismen eine eigenständige Analgesie bewirken können (z. B. Antidepressiva, Antikonvulsiva, Ketamin, Kortikosteroide). Zahlreiche der in . Tab. 32.16 zusammengefassten Adjuvanzien bzw. Ko-Analgetika sind für diesen Zweck nicht zugelassen. Eine Anwendung im Rahmen der Tumorschmerztherapie erfolgt also stets unter Verantwortung des behandelnden bzw. verordnenden Arztes. Einige der in . Tab. 32.16 aufgeführten Medikamente (Antiemetika, Laxanzien, Prostaglandinanaloga) werden im Kapitel über die palliativmedizinische Symptomkontrolle behandelt; deshalb wurde auf eine Darstellung im nachfolgenden Abschnitt »Adjuvanzien« verzichtet. Antiarrhythmika haben im Rahmen der klinischen Routinebehandlung von Tumorschmerzen keinen wesentlichen Stellenwert; deshalb wird auf diese Substanzen hier nicht weiter eingegangen. Antidepressiva Die Substanzklasse der trizyklischen Antidepressiva wird vorrangig bei neuropathischen Schmerzzuständen, bei Schlafstörungen und bei Vorliegen depressiver Verstimmungen im Rahmen einer Tumorerkrankung eingesetzt (z. B. Magni et al. 1987). Als KoAnalgetika haben sich Antidepressiva vor allem beim Auftreten von Dysästhesien und Brennschmerzen bewährt. Nur wenige, ausschließlich nicht kontrollierte Studien liegen über den Einsatz von Antidepressiva für die Indikation Tumorschmerz vor. Verwendet wurden in diesen Untersuchungen Amitriptylin (Bruera u. Ripamonti 1993) sowie Imipramin und Clomipramin (Magni et al. 1987). Gleiches gilt für Doxepin, das wegen seines günstigen Nebenwirkungsprofils auch in der Behandlung von Tumorschmerzen eingesetzt wird. Über den genauen Wirkmechanismus der Antidepressiva bei Tumorschmerzen bestehen keine exakten Vorstellungen, jedoch wird eine Erhöhung der Spiegel inhibitorischer Transmitter an deszendierenden schmerzmodulierenden Bahnen vermutet (z. B. Cherny et al. 1995b). Schmerzlindernde Effekte sind vorwiegend für Antidepressiva mit noradrenerger Aktivität belegt und nur in geringem Ausmaß bzw. gar nicht für Präparate mit serotonerger Wirkung (Maizels u. McCarberg 2005). Die analgetische Wirkung ist dabei unabhängig von der antidepressiven, womit auch die unterschiedlichen Dosierungen für diese beiden Indikationen verständlich werden. Analgetische Effekte werden bereits bei niedrigen Dosierungen ausgelöst, während die antidepressive Wirkung erst bei mehr als der 2- bis 4-fachen analgetisch wirksamen Dosis erkennbar wird (Max et al. 1987). Als weitere analgesieverstärkende Wirkung konnte für Amitriptylin und Clomipramin eine Erhöhung der Serum-Morphinspiegel nachgewiesen werden (z. B. Ventafridda et al. 1979). Dosisabhängige Nebenwirkungen (wie z. B. Mundtrockenheit, Müdigkeit, Obstipation) treten als Besonderheit von Antidepressiva auch bei niedrigen Dosierungen auf (Preskorn u. Irwin 1982). In Abhängigkeit davon, ob ein dämpfendes oder stimmungsaufhellendes Antidepressivum eingesetzt wird, empfiehlt sich initial eine abendliche bzw. morgendliche Gabe (. Tab. 32.16).
701 32.4 · Konzepte zur Schmerztherapie bei Tumorpatienten
32
. Tab. 32.16. Zusammenstellung der gebräuchlichsten Adjuvanzien für die Tumorschmerztherapie, soweit die entsprechenden Substanzen in Deutschland zugelassen sind. Sofern nichts anderes vermerkt ist, sind die angegebenen Dosierungen jeweils Tagesdosen Pharmakon
Dosierung
Indikationen und Anwendungshinweise
Lidocain, i. v.
10–24 mg/kg/die
Neuropathische Schmerzen (Paroxysmen). Parenterale Gabe notwendig, für Schmerztherapie nicht zugelassen
Mexiletin, p. o.
450–800 mg
Neuropathische Schmerzen (Paroxysmen). Keine klinischen Studien vorhanden, nicht für diese Indikation zugelassen
Amitriptylin, p. o.
25–75–(150) mg
Neuropathische Schmerzen. Sedierend! Deshalb mit abendlicher Dosis beginnen, auch bei Schlafstörungen geeignet
Clomipramin, p. o.
10–50 mg
Neuropathische Schmerzen. Antriebssteigernd! Deshalb am Morgen verabreichen
Doxepin, p. o./i. v.
25–100–(150) mg
Neuropathische Schmerzen. Sedierend! Deshalb initial abendliche Dosierung
Domperidon, p. o.
30–120 mg
Übelkeit, Erbrechen. Extrapyramidale Bewegungsstörungen nicht zu befürchten (peripherer Dopaminantagonist)
Haloperidol, p. o., i. v./s. c.
1,5–5 mg
Übelkeit, Erbrechen. Zentraler antiemetischer Effekt. Gefahr extrapyramidaler Bewegungsstörungen
Metoclopramid, p. o., i. v./s. c.
30–60 mg
Übelkeit, Erbrechen. Gastrointestinale prokinetische Wirkung. NW: extrapyramidale Bewegungsstörungen
Carbamazepin, p. o.
200–1.200–(1.600) mg
Neuropathische Schmerzen (Paroxysmen). Initial sedierend, deshalb einschleichend mit abendlicher Dosis von 200 mg beginnen, danach Steigerung der Tagesdosis alle 4–6 Tage um 200 mg
Clonazepam, p. o.
0,3–1,0 mg
Neuropathische Schmerzen (Paroxysmen). Günstiges Wirkungs-Nebenwirkungs-Verhältnis
Gabapentin, p. o.
1.600–2.400–(3.600) mg
Neuropathische Schmerzen (sowohl Paroxysmen als auch dysästhetische Dauerschmerzen). Induktion einer Polyneuropathie beschrieben (Gould 1998)
Phenytoin, p. o.
300–500 mg
Neuropathische Schmerzen (Paroxysmen). Substanzspezifische eigene analgetische Wirkung?
Pregabalin, p. o.
150–1.200 mg
Neuropathische Schmerzen, einschleichend dosieren, Steigerung alle 3–7 Tage möglich
Valproinsäure, p. o.
750–2.400 mg
Neuropathische Schmerzen (sowohl Paroxysmen als auch dysästhetische Dauerschmerzen)
Clodronsäure, p. o./i. v.
1.040–3.200 mg
Knochenmetastasen, Hyperkalzämie. NW: Übelkeit (vorrangig bei oraler Einnahme)
Ibandronsäure, i. v.
2–4 mg (max. 6 mg) 3- bis 6-wöchentlich
Knochenmetastasen, Hyperkalzämie. Neben der Möglichkeit zur Applikation als Kurzinfusion kann dieses Präparat auch injiziert werden
Pamidronsäure, i. v.
60–90 mg/3-wöchentlich
Knochenmetastasen, Hyperkalzämie. Parenterale Gabe notwendig. Die Applikation muss stets als Infusion über mehrere Stunden erfolgen
Zoledronsäure, i. v.
4 mg/3- bis 4-wöchentlich
Knochenmetastasen, Prophylaxe skelettbezogener Ereignisse, Hyperkalzämie
Antiarrhythmika
Antidepressiva
Antiemetika
Antikonvulsiva
Bisphosphonate
702
Kapitel 32 · Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie
. Tab. 32.16 (Fortsetzung) Pharmakon
Dosierung
Indikationen und Anwendungshinweise
8–24–(96) mg
Hirndruck, Rückenmarkskompression, Leberkapselschmerz, Appetitsteigerung, Stimmungsaufhellung
Bisacodyl, p. o.
5–10 mg
Kontaktlaxans. Wirkung und Nebenwirkung wie bei Natriumpicosulfat. Nach Verwendung von Bisacodyl-Suppositorien Wirkungseintritt innerhalb von 15–60 min möglich
Lactulose, p. o.
15–45 ml
Osmotisches Laxans. NW: Verstärkung abdomineller Schmerzen, verstärkt Meteorismus. Wirkungseintritt nach etwa 1–2 Tagen, kostengünstigere Alternativen sind Sorbit bzw. salinische Laxanzien
Macrogol 3350 oder 4000
1–3 Beutel
Osmotisches Laxans. NW: Verstärkung abdominaler Schmerzen möglich
Natriumpicosulfat, p. o.
5 mg
Kontaktlaxans führt über Stimulation des Plexus myentericus zu verstärkter Peristaltik. NW: Auslösung kolikartiger Schmerzen möglich Wirkungseintritt nach 6–12 h
Paraffin, p. o./rektal
2,5–15 ml
Gleitmittel, stuhlerweichend. Cave: bei gehäuftem Erbrechen Gefahr einer Aspiration mit nachfolgender Lipidpneumonie. Wirkungseintritt nach 1–3 Tagen
3–20 mg/h
Kortikosteroide Dexamethason, p. o./i. v.
Laxanzien
32
Narkosemittel Ketamin, i. v. s. c.
150–400 mg/die
Bei höheren Dosierungen (>0,3 mg/kg KG/h) ist das Auftreten psychomimetischer NW möglich. Als Prophylaxe kann die Gabe von Benzodiazepinen erwogen werden, durch die sich diese NW weitgehend unterdrücken lassen
intrathekal
1–10 mg/die
Morphologische Veränderungen im Rückenmark
400–800 μg
Evtl. zur Prophylaxe von GI-Nebenwirkungen von NSAID. Cave: Diarrhoe. Schmerzauslösung im Oberbauch möglich
Lansoprazol, p. o.
15–30 mg
Prophylaxe von GI-Blutungen und -Ulzerationen, vor allem unter NSAID und Kortikosteroiden
Omeprazol, p. o.
20–40 mg
Prophylaxe von GI-Blutungen und -Ulzerationen, vor allem unter NSAID und Kortikosteroiden
Pantoprazol, p. o.
20 mg
Prophylaxe von GI-Blutungen und -Ulzerationen, vor allem unter NSAID und Kortikosteroiden
150–900 μg/die
Wesentliche NW: Hypotension, Bradykardie
Prostaglandinanaloga Misoprostol, i. v.
Protonenpumpenhemmer
α2-Sympathomimetika Clonidin, i. v.
Die wesentlichen Kontraindikationen dieser Substanzgruppe sind: 4 akutes Glaukom, 4 Obstipation, 4 Prostatahypertrophie, 4 Herzrhythmusstörungen. Grond et al. (1999b) konnten bei ihrer Patientenklientel zeigen, dass vorrangig Tumorschmerzpatienten mit neuropathischen bzw. gemischt nozizeptiven und neuropathischen Schmerzzuständen mit Antidepressiva behandelt werden (25% bzw. 19% vs. 8% bei rein nozizeptiven Schmerzen). Depressionen und depressive Zustände sind generell bei Frauen häufiger als bei Männern anzutreffen, dieses gilt auch für Patienten mit chronischen
Schmerzsyndromen. Anders verhält es sich bei Tumorschmerzen, hier sind Männer und Frauen etwa gleich häufig betroffen (Turk u. Okifuji 1999). Antikonvulsiva Pharmaka mit antikonvulsiver bzw. solche mit antiarrhythmischer Wirkung werden vorrangig für die Behandlung von einschießenden Paroxysmen verwendet; kontrollierte Studien für den Einsatz bei Tumorschmerzpatienten liegen für einzelne Substanzen vor (vgl. Caraceni et al. 2004). Antikonvulsiva sollen an unterschiedlichen Orten der nozizeptiven Afferenzen ansetzen; genauere Vorstellungen über die involvierten pathophysiologischen Mechanismen existieren derzeit nicht (Wiffen et al. 2001). Es wird aber davon ausgegangen, dass Antikonvulsiva die Erregbarkeit
703 32.4 · Konzepte zur Schmerztherapie bei Tumorpatienten
exzitativer Neurone hemmen und zudem inhibitorische Systeme aktivieren (Maizels u. McCarberg 2005). Als wesentliche Wirkorte werden spannungsabhängige Ionenkanäle (Na+, Ca++), ligandenabhängige Ionenkanäle (glutamaterge, NMDA) und die inhibierenden Rezeptoren für GABA und Glycin genannt (Ross et al. 2005). [GABA steht für Gamma-Amino-Buttersäure (»gamma-aminobutyric acid«) und wird im Körper wahrscheinlich aus der verwandten Gamma-Hydroxy-Buttersäure (GHB) metabolisiert, einer Carbonsäure mit der Summenformel C4H8O3, die zugleich ein eigenständiger Neurotransmitter ist.] Von den in . Tab. 32.16 in dieser Sektion genannten Substanzen sind Valproinsäure, Mexiletin, Lidocain und Gabapentin bei Tumorpatienten untersucht worden. Die gewählten Dosierungen bei Einsatz dieser Substanzen zur Schmerztherapie orientieren sich an denen der antikonvulsiven Therapie. Insbesondere die Antikonvulsiva sind mit starken Nebenwirkungen behaftet: Sedierung, Schwindel, Übelkeit und Gangunsicherheit. Das Auftreten dieser unerwünschten Effekte kann durch eine einschleichende Dosierung mit nachfolgender schrittweiser Steigerung weitgehend vermieden werden (Evidenzlevel V). Blutbildveränderungen bis hin zur aplastischen Anämie sind als schwerwiegende und therapielimitierende Nebenwirkungen von Antikonvulsiva bekannt (Hart u. Easton 1982). Von daher ist vor Beginn der Behandlung eine Untersuchung des Blutbildes vorzunehmen, die während der Therapie mit Antikonvulsiva im Abstand von längstens 3–4 Monaten bzw. bei Hinweiszeichen für eine solche Erkrankung wiederholt werden sollte. Eine Bereicherung in der Behandlung neuropathischer Schmerzen könnte sich durch die Anwendung von Gabapentin und Pregabalin ergeben (z. B. Caraceni et al. 2004; Evidenzlevel II). Diese Autoren fanden, dass unter Gabapentin zwar bei 51,6% der Verumgruppe eine Schmerzreduktion um mehr als 33% auftrat, was jedoch auch bei 37,8% der Placebogruppe der Fall war, ein Effekt, der statistisch nicht signifikant war. Eine abschließende Beurteilung der therapeutischen Effektivität von Gabapentin ist somit derzeit nicht möglich. Sist et al. (1997) sowie Caraceni et al. (1999) heben aber die Fähigkeit von Gabapentin hervor, sowohl andauernde als auch einschießende neuropathische Schmerzen zu lindern, einschließlich der Allodynien. Auch zur Therapie von opioidinduzierten Myoklonien wurde Gabapentin erfolgreich eingesetzt (Mercadante et al. 2001b; Evidenzlevel V). Bisphosphonate Diese Gruppe von Medikamenten hat in den letzten Jahren zunehmenden Stellenwert in der Behandlung von Tumorpatienten gewonnen. Der Haupteffekt der Bisphosphonate besteht in einer Hemmung der Knochenresorption (Rogers et al. 1997). Eine aktuelle Hypothese über den Wirkmechanismus der Bisphosphonate geht davon aus, dass sich diese Pharmaka selektiv im Knochen anreichern. Dort interferieren sie mit der Rekrutierung, Aktivierung und Differenzierung von Osteoklasten; sie sind ebenfalls in der Lage, eine Apoptose auszulösen (Sasaki et al. 1995). Alle Bisphosphonate haben ähnliche physikochemische Eigenschaften. Ihr Effekt auf die Knochenresorption (ermittelt am Modell der Ratte) unterscheidet sich aber zwischen den einzelnen Substanzen beträchtlich (. Tab. 32.17; nach Fleisch 2000). Eine ähnliche Abstufung gilt für die vorstehenden Substanzen auch hinsichtlich ihrer Wirkstärke bei Therapie einer tumor-
32
. Tab. 32.17. Relativer Hemmeffekt der klinisch eingesetzten Bisphosphonate auf die Knochenresorption Generikum
Relative Hemmung der Knochenresorption
Etidronsäure
1
Clodronsäure
10
Pamidronsäure
100
Alendronsäure
1000
Ibandronsäure
10.000
Zolendronsäure
10.000–85.000
bedingten Hyperkalzämie; jedoch liegt die Potenz der kalziumspiegelsenkenden Wirkung am Menschen um den Faktor 10 niedriger als jene des hemmenden Effektes auf die Knochenresorption an der Ratte (Fleisch 2000). Aufgrund ihrer geringen Lipophilie werden Bisphosphonate nur sehr schlecht aus dem Gastrointestinaltrakt resorbiert (Lin 1996). Sie zeigen keinerlei Metabolismus und werden ausschließlich über die Nieren eliminiert. Bei oraler Applikation von Alendronat und Pamidronat, beides Aminobisphosphonate, muss mit dem gehäuften Auftreten von gastrointestinalen Störungen (Ulzera, Blutungen etc.) gerechnet werden, wie Graham et al. (1997) in einer randomisierten, placebokontrollierten, doppelblinden Cross-over-Studie zeigen konnten (Evidenzlevel IIa). Deshalb hat sich in der klinischen Praxis die parenterale Gabe dieser Bisphosphonate durchgesetzt, wenngleich, wie De Cock et al. (2005) zeigen konnten, die orale Ibandronsäuregabe kostengünstiger ist als die parenterale Gabe von Pamidronat bzw. Zolendronat. Obwohl entsprechende Untersuchungen dazu bisher nicht vorliegen, ist die klinische Wirksamkeit beider Applikationsarten vermutlich vergleichbar. Der positive Effekt von Bisphosphonaten zur Tumorschmerztherapie bei osteolytischen Knochenmetastasen ist durch kontrollierte klinische Studien gut belegt (Evidenzlevel Ia); deswegen werden diese Substanzen bei gegebener Indikation zunehmend therapeutisch eingesetzt. Der Nutzen der Bisphosphonate gründet auf Befunden über folgende Mechanismen (vgl. Fleisch 2000): 4 die Entstehung und Ausbreitung insbesondere lytischer Knochenmetastasen wird inhibiert, 4 Knochenschmerzen werden reduziert, 4 das Risiko der Entwicklung einer Hyperkalzämie gemindert. Allerdings liegen auch Untersuchungen vor, die keinen analgetischen Effekt nach Gabe von Bisphosphonaten nachweisen konnten (z. B. Ernst et al. 1997). Bei der Beurteilung des Effektes von Bisphosphonaten gilt es den Tumor und die Art seiner Metastasierung mit zu bedenken. Positive Befunde liegen speziell für folgende Tumorarten vor: 4 Multiples Myelom: Berenson (1997) fand neben signifikanter Schmerzreduktion, einen geringeren Analgetikakonsum sowie einen besseren Allgemeinzustand (Evidenzlevel Ib); 4 Mammakarzinom: Lipton (1997) und Paterson et al. (1993) beschrieben für diese Indikation ebenfalls eine signifikante
704
Kapitel 32 · Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie
Schmerzreduktion, einen geringeren Analgetikakonsum sowie eine signifikante Verlängerung des Intervalls bis zum Auftreten pathologischer Frakturen (Evidenzlevel Ib); Allerdings hat ein »Experten-Panel« der ASCO (American Socitey of Clincal Oncology) im Jahr 2000 eine »Guideline« publiziert, in der eine quasi prophylaktische Gabe von Bisphosphonaten bei Patientinnen mit Mammakarzinom nicht empfohlen, sondern zu einer solchen Applikation erst bei Vorliegen skelettaler Manifestationen geraten wird. Zudem weisen die Autoren ausdrücklich darauf hin, dass die Gabe von Bisphosphonaten keinen Ersatz für die Anwendung etablierter Behandlungsregime (z. B. Durchführung einer Analgetikatherapie nach WHO–3-Stufenschema oder lokale Bestrahlung) darstellt (Hillner et al. 2000). 4 Prostatakarzinom: Adami (1997) beschreibt einen schmerzreduzierenden Effekt (Evidenzlevel V).
32
Absolute Kontraindikationen für den Einsatz von Bisphosphonaten wurden bisher nicht beschrieben. Bei Vorliegen einer Niereninsuffizienz sollte allerdings die Dosis reduziert bzw. das Applikationsintervall entsprechend verlängert werden. Operative Knochen stabilisierende Eingriffe stellen ebenfalls – soweit zurzeit beurteilbar – keine Kontraindikation für die Gabe von Bisphosphonaten dar. Vorsicht bei der oralen Applikation von Bisphosphonaten ist allerdings bei solchen Patienten geboten, die entzündliche Alterationen oder Motilitätsstörungen im oberen Gastrointestinaltrakt haben, da diese pathologischen Veränderungen durch Bisphosphonate verstärkt werden können (Fleisch 2000). Als weitere Nebenwirkungen einer oralen Gabe von Bisphosphonaten wurden beschrieben: Nausea, Dyspepsie, Erbrechen, Magenschmerzen und Durchfälle (Adami u. Zamberlan 1996), Kiefernekrose (Silverman u. Landesberg 2009). Kortikosteroide Pharmaka aus dieser Substanzgruppe gehören zu den am häufigsten verwendeten adjuvanten Medikationen (z. B. Ettinger u. Portenoy 1988; Klepstad et al. 2005). Indikationen sind zumeist Nervenkompressionsschmerz, Hirndruck, Leberkapselschmerz, Appetitverbesserung, Steigerung des Wohlbefindens (z. B. Bruera et al. 1985; Lussier et al. 2004; Evidenzlevel IV). Außer der möglichen Reduktion eines Begleitödems bei Hirn- und Lebermetastasen sowie Infiltrationen im Spinalkanal sind die Wirkmechanismen der Glukokortikoide nicht bekannt (Hayes 1991). Die Dosierungen der Glukokortikoide sind nicht durch klinische Studien ermittelt worden, sondern beruhen zumeist auf klinischer Erfahrung (Cherny et al. 1995b). Dexamethason wird wegen seiner geringen mineralokortikoiden Wirkung am häufigsten eingesetzt. Je nach Indikation können die Tagesdosierungen zwischen 2 mg und 100 mg schwanken. Während zur Appetitsteigerung und Stimmungsverbesserung im allgemeinen 2 mg/die ausreichen, kann zur Behandlung von Schmerzzuständen infolge Rückenmarkkompression die Applikation von 100 mg/die auch über mehrere Tage notwendig sein (Greenberg et al. 1980). Ein Beleg für die bessere Effektivität hoher Dosierungen liegt allerdings nicht vor; bei Langzeit- bzw. hoch dosierter Gabe von Glukokortikoiden ist mit dem Auftreten kortikoidtypischer Nebenwirkungen zu rechnen. Ketamin Exzitatorische Aminosäuren (EAA) sind an der Transmission von nozizeptiven Impulsen beteiligt. Glutamat ist eine solche
EAA, die am sog. NMDA -Rezeptor bindet (Coderre et al. 1993). NMDA-Rezeptoren sollen an der Pathogenese neuropathischer Schmerzen beteiligt sein (z. B. Stubhaug u. Breivik 1997). Eine Blockade dieser Rezeptoren führte bei Versuchstieren zu einer Abnahme nozizeptiven Verhaltens infolge von Nervenverletzungen (Mao et al. 1993) bzw. reduzierte die Hyperexzitabilität nozizeptiver Zellen (z. B. Dickenson u. Sullivan 1987). Der nicht kompetitive NMDA-Rezeptor-Antagonist Ketamin kann Schmerzen nach Nervenverletzung reduzieren (z. B. Backonja et al. 1994; Evidenzlevel IV). Über den Einsatz von Ketamin als Adjuvans in der Tumorschmerztherapie legten Bell et al. (2003) einen Cochran-Review vor. Sie konnten insgesamt vier randomisierte Studien zu dieser Fragestellung ermitteln, von denen aber nur zwei den Qualitätsanforderungen an derartige Untersuchungen genügten. Die beiden verbleibenden Studien konstatierten zwar eine analgetische Wirksamkeit bei neuropathischen Schmerzen, jedoch ließen sie wegen zu geringer Fallzahlen keine abschließende Beurteilung zu, sodass die klinische Wertigkeit von Ketamin auch weiterhin nicht zweifelsfrei geklärt ist. Hinsichtlich der pharmakokinetischen Parameter von Ketamin sei auf die . Tab. 32.18 (mod. nach Grant et al. 1983 und Hull 1991) verwiesen. Ketamin ist auch in subanästhetischen Dosen (<0,25 mg/ kg KG/Bolus i. v. oder s. c.) ein potentes Analgetikum, vor allem soll es bei neuropathisch ausgelösten und durch Opioide unzureichend behandelbaren Schmerzzuständen wirksam sein (z. B. Nikolajsen et al. 1996; Evidenzlevel IIb). Für diesen Effekt konnte ein nichtopioider Mechanismus nachgewiesen werden (Yamamura et al. 1990). Ketamin kann die unter langfristiger Opioidmedikation gelegentlich auftretende Toleranzentwicklung teilweise antagonisieren (Sosnowski 1993), zudem werden dem Ketamin antidepressive Eigenschaften zugeschrieben (Berman et al. 2000). In höheren Dosierungen (>0,5-1 mg/kg KG/Bolus) können unter ausschließlicher Ketamingabe ausgeprägte psychomimetische Wirkungen (Alpträume, Halluzinationen etc.) auftreten. Durch Parallelanwendung von Benzodiazepinen (z. B. Diazepam 2-10 mg/die oral bzw. Midazolam 0,1–3,5 mg/kg KG/die intravenös) können solche störenden Nebenwirkungen weitgehend vermieden werden. . Tab. 32.18. Pharmakokinetische Parameter des Ketamin. Parameter
Einheit
Applikationsroute
Wert
Eliminationshalbwertszeit
[h]
3,0
Verteilungsvolumen
[l/kg]
3,0
Clearance
[ml/ min]
1.300
Wirkungsdauer
[h]
Zu diesem Parameter liegen bisher keine Angaben zur analgetischen Wirkung, sondern nur zum anästhetischen Effekt vor
?
Zeit bis zum Erreichen des maximalen Effektes
[min]
oral intramuskulär
>30 22
Bioverfügbarkeit
[%]
oral intramuskulär
16 93
705 32.4 · Konzepte zur Schmerztherapie bei Tumorpatienten
Ketamin kann oral, subkutan, intramuskulär, intravenös oder rückenmarknah appliziert werden, wobei eine intramuskuläre Medikamentengabe bei Tumorpatienten allerdings als obsolet anzusehen ist. Die orale Applikation erfordert eine deutlich höhere Dosierung (ca. 3- bis 6-fach) als die parenterale Gabe (Hull 1991); die orale Bioverfügbarkeit wird mit wird mit 16,5% angegeben (Grant et al. 1981). Bislang fehlen gesicherte Dosierungsanleitungen für Ketamin in der Tumorschmerztherapie und Palliativmedizin. In Fallberichten mit intravenöser, subkutaner und oraler Ketamingabe (z. B. Fine 1999; Jackson et al. 2005; Mercadante et al. 1995; Nikolajsen et al. 1996; Prommer 2003) wurden folgende Dosierungen eingesetzt (Evidenzlevel V): 4 Intravenös: 250–500 mg/die bzw. 3–20 mg/h 4 Subkutan: 150–500 mg/die 4 Intrathekal: 1-10 mg/die Zum Beleg der Wirksamkeit liegen für die intrathekale, epidurale und orale Applikation auch randomisierte Studien vor (Lauretti et al. 1999a,b), jedoch wird die toxikologische Sicherheit der rückenmarknahen Applikation widersprüchlich beurteilt (Vranken et al. 2005). Bei der oralen Gabe von 1 mg/kg KG/ die ließ sich nach 14 Tagen eine deutliche Reduktion der erforderlichen Morphineinnahme belegen (Lauretti et al. 1999a; Evidenzlevel IIa). Die postulierte besondere Wirkung bei neuropathischen Schmerzen ist bislang klinisch nicht belegt. In einer Fall-Kontroll-Studie konnten Jackson et al. (2005) bei 23 von 43 Patienten eine Besserung solcher Schmerzen erzielen, was einer Ansprechrate von 53% entspricht. Gliedert man dieses Ergebnis nach unterschiedlichen Schmerzursachen auf, so ergeben sich ResponseRaten von 46% für neuropathische Schmerzen, 50% für Knochenschmerzen und 60% für andere somatische Schmerzursachen. Die Schmerzreduktion hielt bei ca. 30% der Responder über längere Zeit an; das Maximum lag bei 12 Wochen. Bei der Anwendung von Ketamin, gleich ob in Kombination mit anderen Analgetika oder als Monotherapie, wird eine lückenlose Überwachung während der Titrationsphase empfohlen (Grond u. Zech 1997). α2-Adrenozeptor-Agonisten Aus dieser Substanzgruppe wird im Wesentlichen das Clonidin therapeutisch eingesetzt; dabei handelt es sich um ein Pharmakon mit starker antinozizeptiver Wirkung, die sowohl im Tierexperiment (z. B. Eisenach et al. 1987) als auch am Menschen (Boico et al. 1988; Max et al. 1988) nachgewiesen werden konnte (Evidenzlevel IIb). Der analgetische Effekt soll auf unterschiedlichen Ebenen des ZNS ausgelöst werden (z. B. Howe et al. 1983). Der analgetische Effekt von Clonidin wurde an unterschiedlichen humanen Schmerzmodellen in zumeist offenen Studien untersucht: postoperativ (Boico et al. 1988), thermische Stimulation (Eisenach et al. 2000), postherpetische Neuralgie (Max et al. 1988), diabetische Polyneuropathie (Tan u. Croese 1986), Phantomschmerz bzw. andere Deafferenzierungsschmerzen (z. B. Petros u. Wright 1987), Tumorpatienten mit Schmerzen (z. B. Eisenach et al. 1989; Evidenzlevel III). Clonidin wird in unterschiedlichen Applikationsformen eingesetzt: oral, intravenös, transdermal, epidural, intrathekal (z. B. Eisenach et al. 2000). Eine analgetische Wirksamkeit ist für alle genannten Applikationsformen nachgewiesen; die Nebenwirkungsprofile sind wahrscheinlich dosisabhängig, bislang aber noch unzureichend charakterisiert.
32
Die Hauptindikation für Clonidin im Rahmen der Tumorschmerztherapie ist die Behandlung neuropathischer Schmerzen. In einer randomisierten, kontrollierten Untersuchung (mit thermischer Stimulation) an gesunden Freiwilligen konnten Eisenach et al. (1998) zeigen, dass bei Vergleich einer intravenösen mit einer intrathekalen Applikation bei akuten und neuropathischen Schmerzen (i. e. Capsaicin-induzierte Hyperalgesie und Allodynie) lediglich die intrathekale Gabe analgetisch wirksam war. In einer klinischen Studie mit neuropathischen Schmerzen sprachen weniger als 25% der Patienten auf die systemische Gabe von Clonidin an (Byas-Smith et al. 1995). Die empfohlenen Dosierungen für Clonidin variieren in weiten Grenzen; für die initiale intravenöse Zufuhr werden Dosen von 5 μg/kg KG/die genannt, bei epiduraler Gabe 6–8(–20) μg/ kg KG/die und bei intrathekaler Applikation 3 μg/kg KG/die. Oral werden 2–3 mal täglich 75–150 μg empfohlen (z. B. Jage 1998). Wesentliche Nebenwirkungen der Clonidinverabreichung sind Bradykardie, Hypotension und Sedierung, die alle sorgfältig beachtet werden sollten. Es kommen aber auch orthostatische Dysregulation, Mundtrockenheit, Miktionsstörungen und Obstipation vor. Zur Minimierung der unerwünschten Effekte ist eine einschleichende Dosierung empfehlenswert. Ebenso sollte das Absetzen des Clonidins schrittweise erfolgen, um ein mögliches Entzugssyndrom zu vermeiden. Als problematisch wird bei der Langzeitanwendung von Clonidin dessen lange Halbwertzeit angesehen, die potenziell das Risiko einer Akkumulation beinhaltet; in einer Untersuchung von Boswell et al. (1997) ergab sich dafür aber kein Anhaltspunkt. Kalziumantagonisten Spannungsabhängige Ca++-Kanäle sind an der Transmitterfreisetzung neuronaler Zellen und damit an der Verarbeitung elektrischer Signale im ZNS beteiligt (z. B. Bowersox et al. 1996). Ein solcher Mechanismus scheint auch für die Entwicklung prolongierter, speziell neuropathischer Schmerzzustände verantwortlich zu sein (z. B. Xiao u. Bennett 1995). Durch die Entdeckung spezifischer Antagonisten (z. B. ω-Conotoxin, ein Peptid aus der marinen Kegelschnecke Conus magus, sowie dessen synthetisches Äquivalent SNX-111 = Ziconotide), für diese zellulären Strukturen, die sog. N-Typ Ca++-Kanäle (z. B. Sher u. Clementi 1991), zeigen sich Perspektiven für eine lang anhaltende Analgesie mit deutlich reduzierter Tendenz zur Toleranzentwicklung (z. B. Malmberg u. Yaksh 1995). In tierexperimentellen Untersuchungen konnte die prinzipielle Effektivität und Verträglichkeit dieser Substanzen aufgezeigt werden (Bowersox et al. 1997; Wang et al. 2000). Inzwischen wurde die Wirksamkeit speziell von Ziconotide in klinischen Studien an mehr als 2.000 Patienten mit chronischen Schmerzen und unzureichender Analgesie unter konventioneller Therapie belegt (vgl. Miljanich 2004): Durch den Einsatz dieses Präparates konnte ein befriedigender schmerzstillender Effekt bei insgesamt akzeptablen Nebenwirkungen erzielt werden. Im Rahmen pharmakokinetischer bzw. pharmakodynamischer Untersuchungen an 22 Patienten mit chronischen Schmerzen fanden Wermeling et al. (2003) bei intrathekalen Ziconotidedosen von 1–10 μg eine Liquorhalbwertszeit von 4,5 h, eine mediane Clearance von 0,26 ml/min und eine lineare Kinetik, d. h., das Ausmaß der Analgesie korrelierte dosisabhängig mit den ermittelten Liquorspiegeln. Neben den bisher beschriebenen Substanzgruppen sind noch weitere Medikamente als Adjuvanzien im Einsatz bzw. in Erpro-
706
Kapitel 32 · Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie
bung, die hier nicht näher behandelt werden sollen und nur z. T. in . Tab. 32.16 aufgeführt sind. 32.4.2 Alternativen zur enteralen Pharmakotherapie
32
Invasive Techniken kommen immer dann zum Einsatz, wenn mit einer enteralen Pharmakotherapie keine angemessene Schmerzlinderung erreicht werden kann, bzw. wenn dabei nicht akzeptable Nebenwirkungen auftreten. Auch bei der Indikationsstellung für die invasiven Verfahren sollte eine Einbindung in ein Gesamtkonzept erfolgen, d. h., es gilt, dabei physische, psychische, soziale und spirituelle Aspekte und Bedürfnisse der Patienten zu berücksichtigen. Von daher empfiehlt sich auch hier ein multidisziplinäres Vorgehen. Da die Mehrzahl der invasiven Verfahren eine besondere Expertise erfordert, sollte zu deren Durchführung die Kooperation mit einem erfahrenen Schmerztherapeuten bzw. einer spezialisierten schmerztherapeutischen Einrichtung gesucht werden. Anhand ihres in der Abfolge ihrer Aufzählung zunehmenden Grades an Invasivität lassen sich die folgenden schmerztherapeutischen Verfahren unterscheiden: 4 parenterale Pharmakotherapie, 4 rückenmarknahe bzw. zerebroventrikuläre Medikamentenapplikation, 4 chemische bzw. neurochirurgische Nervenläsionen. Für die Indikationsstellung zu diesen Verfahren liegen derzeit nur vereinzelt gesicherte Daten aus kontrollierten klinischen Studien vor. Parenterale Pharmakotherapie Eine parenterale Applikation analgetisch wirkender Substanzen kommt immer dann in Betracht, wenn durch entsprechende Symptome, wie z. B. Dysphagie, Erbrechen, gastrointestinale Obstruktion, keine sichere enterale Verabreichung möglich ist. Prinzipiell sind zwei alternative Zugangswege sinnvoll: die intravenöse und die subkutane Applikation (s. Fonzo-Christe et al. 2005). Die ebenfalls mögliche intramuskuläre Gabe gilt dagegen heute wegen der damit verbundenen Schmerzen als obsolet. Als Entscheidungskriterium für die Wahl eines der beiden alternativen Zugangswege gilt das Vorhandensein eines sicheren und dauerhaften intravenösen Zuganges, wie z. B. Broviac- oder Hickman-Katheter bzw. Portsystem. Liegen keine derartigen Gefäßzugänge vor, ist die subkutane Analgetikaapplikation die Methode der Wahl.
Die vergleichbare analgetische Wirksamkeit beider Zugangswege – sowohl bei Bolus- als auch bei kontinuierlicher Applikation – ist durch zahlreiche klinische Studien belegt (vgl. z. B. Bruera et al. 1985; 1987; Lehmann 2005; Radbruch et al. 1991). Nach derzeitigem Kenntnisstand ist durch den Wechsel des Applikationsweges keine Verbesserung der Analgesie zu erzielen, wohl aber kann ein günstigeres Wirkungs-Nebenwirkungs-Verhältnis resultieren. Weitere Einzelheiten sowie ein Algorithmus für den Einsatz alternativer Applikationswege in der analgetischen Pharmakotherapie finden sich bei Glare (1997). Äquipotenzrelationen zur Umrechnung bisher enteral applizierter Opioide sind in . Tab. 32.15 wiedergegeben. Eine Zusammenstellung der Vorund Nachteile der subkutanen und intravenösen Opioidanalgesie findet sich in . Tab. 32.19. Rückenmarknahe bzw. zerebroventrikuläre Medikamentenapplikation Durch die rückenmarknahe bzw. zerebroventrikuläre Gabe von Opioiden, Adjuvanzien und Lokalanästhetika lassen sich mit vergleichsweise geringen Dosen ausgeprägte analgetische Effekte bei zumeist gut kalkulierbaren Nebenwirkungen erzielen. Als nachteilig ist die gesteigerte (technische) Abhängigkeit des Patienten von einem Therapeuten bzw. Team anzusehen. Alle hier eingesetzten Verfahren erfordern zudem eine profunde Erfahrung und sollten deshalb nur von versierten Schmerztherapeuten eingesetzt werden. Empfehlungen zur Indikationsstellung rückenmarknaher Schmerztherapie wurden publiziert (Stearns et al. 2005). Für Interessierte sei hier auf entsprechende weiterführende Literatur verwiesen (z. B. Ballantyne et al. 1996; DuPen u. Williams 1994; Hanekop u. Beck 2006; Hanekop et al. 1998). Chemische bzw. neurochirurgische Nervenläsionen Destruierende Eingriffe am peripheren und zentralen Nervensystem waren vor der Ära der enteralen Pharmakotherapie die wesentliche Behandlungsform chronischer tumorbedingter Schmerzen (Ventafridda 1989). Erfordern die zuvor genannten rückenmarknahen Medikamentenapplikationen schon eine besondere Expertise, so ist dieses bei den ablativen Verfahren von essenzieller Bedeutung, da diese definitive Nervenläsionen hinterlassen. Zu den wenigen destruierenden Verfahren, für die randomisierte Untersuchungen und Metaanalysen vorliegen, zählt die Neurolyse des Plexus coeliacus (Eisenberg et al. 1995; Kawamata et al. 1996; Wong et al. 2004). Dieses Verfahren ist in der Lage, bei
. Tab. 32.19. Vor- und Nachteile von subkutaner und intravenöser kontinuierlicher Opioidanalgesie bei Tumorschmerzen Vorteile
Nachteile
– Vermeidung eines »Boluseffektes«, wie er bei intermittierender Injektion gelegentlich auftritt – Weitgehende Vermeidung von Schmerzexazerbationen, wie sie unter oraler Medikation öfter auftreten
– Bedarf an technischen Hilfsmitteln (anfällig, angstauslösend) – Hilfestellung durch Fachleute erforderlich, die mit den Applikationssystemen umgehen können – Abhängigkeit von »Experten«, falls technische Probleme oder medizinische Notfälle auftreten – Infektionsrisiko (speziell bei intravenöser Applikation) – Abszessbildung (speziell bei subkutaner Applikation) – Thrombosegefährdung (nur bei intravenöser Applikation) – Blutungsrisiko bei Thrombozytopenie oder Gerinnungsstörungen
Sinnvolle Behandlungsoption bei – therapierefraktärem Erbrechen unter oraler Medikation – gastrointestinaler Obstruktion oder Funktionsstörung – Dysphagie – Stomatopharyngitis – Bewusstseinsstörung
707 32.4 · Konzepte zur Schmerztherapie bei Tumorpatienten
Patienten mit Pankreaskarzinom in 60–75% der Fälle eine weitgehende Schmerzreduktion zu bewirken (Evidenzlevel Ia). In der Regel wird diese Neurolyse über unterschiedliche Zugangswege perkutan durchgeführt (vgl. Hankemeier u. Hildebrandt 1998); sie kann aber auch intraoperativ ausgeführt werden (Lillemoe u. Pitt 1996). Als weiteres vorrangig von Neurochirurgen eingesetztes ablatives Verfahren ist die Chordotomie zu nennen (i. e. die irreversible Unterbrechung des Tractus spinothalamicus im Halsmark), die vor allem bei einseitigen, unterhalb von Th1 lokalisierten Schmerzen effektiv ist. Chordotomien können über zwei unterschiedliche Zugangswege ausgeführt werden: Entweder wird die Läsion in einem offenen operativen Prozedere gesetzt, das einen längeren Krankenhausaufenthalt zur Folge hat, oder es kommt das quasi ambulant durchführbare, perkutane Verfahren unter fluoroskopischer Kontrolle zum Einsatz. Die Erfolgsraten werden für beide Varianten mit 60–90% angegeben (z. B. Wiegand 1997). Probleme nach interventionellen Eingriffen bzw. Verfahren Wurde bei einem Patienten unter enteraler Pharmakotherapie ein interventionelles oder tumororientiertes Verfahren angewendet, so sind die Betroffenen im Anschluss sorgfältig zu überwachen, da eine Zunahme bedrohlicher (insbesondere opioidinduzierter) Nebenwirkungen der analgetischen Pharmakotherapie möglich ist (Broadbent u. Glare 2005). So kann es infolge derartiger Eingriffe u. a. plötzlich zu respiratorischen Störungen kommen, weil der ursprünglich als physiologischer Antagonist zur Atemdepression wirksame Schmerz nach einer erfolgreich ausgeführten Nervenläsion weggefallen ist. Aus diesem Grunde sollten die Opioide nach interventionellen Eingriffen reduziert werden, bis ein suffizientes Analgesieniveau ohne gravierende Nebenwirkungen erreicht ist. Um ein Entzugssyndrom zu vermeiden, muss die Dosisreduktion schrittweise erfolgen. 32.4.3 Akzeptanz der Empfehlungen
zur Tumorschmerztherapie An Krebs Erkrankte leiden in der Regel an einer Vielzahl von physischen und psychischen Funktionsstörungen, die bei unzureichender oder fehlender Behandlung zu einem deutlichen Verlust an Lebensqualität führen. Schmerzen sind dabei ein dominierendes Symptom mit entsprechend gravierenden Auswirkungen auf den Patienten und seine Angehörigen. Durch Umsetzung der von verschiedenen Organisationen empfohlenen Therapiekonzepte zur Behandlung von Tumorschmerzen lässt sich für die meisten Patienten das Ausmaß der durch Schmerzen bedingten Beeinträchtigung von Lebensqualität begrenzen. Leider werden die besagten Therapiekonzepte aber auch in den westlichen Industrieländern nicht flächendeckend und adäquat umgesetzt. Die Ursachen für diesen Missstand sind vielfältig: 4 Wissensdefizite der behandelnden Ärzte hinsichtlich der vorhandenen Möglichkeiten zur Symptomkontrolle, 4 Schmerztherapie und Symptomkontrolle haben im Verhältnis zur kurativen Behandlung nur einen geringen Stellenwert bei Ärzten und Patienten,
32
4 Neigung zu Dissimulation von Schmerzen aufseiten des Patienten, z. B. aus Angst vor der Realisierung eines Tumorprogresses, oder aufgrund irrationaler Ängste (z. B. »Nur wer bereits dem Tode nahe ist, bekommt Morphin!«) sowie 4 unzuverlässige Medikamenteneinnahme durch den Patienten aufgrund mangelnder Compliance bzw. wegen unzulänglicher Aufklärung, dass z. B. Dauerschmerzen auch eine Dauertherapie erfordern. Diese bei Patienten aber auch bei Ärzten häufig anzutreffenden irrationalen Einstellungen und Überzeugungen (z. B. Ensink et al. 1999; Hanekop et al. 1999; Potthoff u. Urbahn 1998; Twycross 1982) beruhen zum größten Teil auf mangelndem Fachwissen und ungeprüft tradierten Vorurteilen. Hier steht jeder Arzt, der Tumorpatienten behandelt, in der Pflicht, sich diesbezüglich auf dem neuesten Stand zu halten und die entsprechenden Fakten vorurteilsfrei auch seinen Patienten zu vermitteln. Ein wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang betrifft die kontroverse Diskussion um den Einfluss hochdosierter Opioidund Sedativagaben auf das Überleben von terminalen Tumorpatienten (z. B. Cherny u. Portenoy 1994). Immer wieder wird die Befürchtung geäußert, dass eine solche Medikation einen lebensverkürzenden Einfluss haben könnte. Tatsächlich konnte aber anhand einer retrospektiven Analyse der Daten von 209 Hospizpatienten plausibel dargelegt werden, dass sich in einem multiplen Regressionsmodell keine Anhaltspunkte für ein vorzeitiges Versterben in Abhängigkeit der in den finalen 48 h applizierten Opioid- und Sedativadosierungen ergeben (Morita et al. 2001). Mithin gibt es auch aus dieser Perspektive keine Rationale, den Patienten die Medikation vorzuenthalten, die sie aufgrund des Fortschreitens ihrer Erkrankung benötigen. Eine Verpflichtung der Ärzte zur Einlösung berechtigter Patientenerwartungen im Hinblick auf die Sicherung einer suffizienten Schmerztherapie ergibt sich aber nicht nur aus ethischen Überlegungen, sondern auch aus juristischer Perspektive6. Von der Rechtsprechung wurde inzwischen eindeutig normiert, dass ein Arzt sich nicht nur aufgrund eines unerlaubten Eingriffs einer Körperverletzung strafbar machen kann (§223 BGB), sondern dass dies ebenso für den Tatbestand einer Körperverletzung durch Unterlassung gilt. Die in der Rechtsprechung formulierte Garantenpflicht des Arztes, also die Pflicht zum Handeln, ergibt sich unmittelbar aus dem bestehenden Behandlungsverhältnis zwischen Arzt und Patient und besteht auch in Bezug auf eine hinreichende Schmerzbekämpfung. Dazu ist es nach der heutigen Rechtsprechung unverzichtbar, dass Ärzte sich kontinuierlich fortbilden müssen, um auf dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens (»state of the art«) zu bleiben. Aus der Garantenpflicht des Arztes ist darüber hinaus aber auch die Verpflichtung abzuleiten, dass ein Behandelnder sich in schwierigen Situationen ggf. konsiliarisch Rat bei erfahrenen Kollegen einholen bzw. eine Überweisung des Patienten zum Spezialisten veranlassen muss, um sich nicht dem Vorwurf unterlassener Hilfeleistung auszusetzen.
6
Die nachfolgenden Anmerkungen zu den juristischen Aspekten einer gebotenen Tumorschmerztherapie basieren auf Ausführungen des Medizinrechtlers H.-L. Schreiber (Göttingen) auf einem am 13. Juni 1998 in der Universitätsklinik Göttingen durchgeführten Workshop zum Thema »Palliativmedizinische Betreuung im häuslichen Bereich – Status Quo und Strategien zur Verbesserung aktueller Versorgungsstrukturen«.
708
Kapitel 32 · Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie in der Onkologie
Zusammenfassung Im fortgeschrittenen Krankheitsstadium maligner Erkrankungen leiden viele der Betroffenen unter z. T. sehr starken Schmerzen. Für die Erhaltung der Lebensqualität dieser Patienten ist eine effektive Schmerzbehandlung unverzichtbar. Zur Therapie tumorbedingter Schmerzzustände stehen sowohl kausal orientierte als auch symptomatische Behandlungsverfahren zur Verfügung. Leider muss die Umsetzung der symptomatischen Therapie von Schmerzzuständen bei Tumorerkrankungen in der Regel aber als unzureichend angesehen werden. Zur Behandlung von Tumorschmerzen haben verschiedene Fach- und Expertengremien Therapieempfehlungen ausgespro-
chen. Ein weltweit akzeptierter Handlungsalgorithmus stellt das von der Weltgesundheitsorganisation propagierte, an der Schmerzintensität orientierte, pharmakotherapeutische 3-StufenSchema zur Tumorschmerztherapie dar. Durch konsequente Umsetzung dieser Behandlungsempfehlung lässt sich für die Mehrzahl der Tumorschmerzpatienten ein weitgehend schmerzgelindertes Leben erreichen. Invasive Therapieverfahren stehen für diese Patienten als nachrangige Therapieoption zur Verfügung. Deren Anwendung beschränkt sich erfahrungsgemäß auf wenige »Problempatienten« und macht eine enge Kooperation mit schmerztherapeutischen Spezialisten erforderlich.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
32
33
33 Psychoonkologie W.-D. Gerber, J. Kowalski
33.1
Epidemiologie psychosozialer Belastungen bei Krebskranken
33.2
Ätiologie psychosozialer Störungen und Krebs
33.3
Psychotherapeutische Unterstützung von Krebskranken – 712
33.4
Aufgaben des Onkologen in der Behandlung
33.5
Sterbebegleitung Literatur – 717
– 715
– 710
– 711
– 713
710
Kapitel 33 · Psychoonkologie
> Einleitung
33
33.1
Falldarstellung. »Eine 60-jährige Patientin Frau P. bemerkte während einer Geburtstagsfeier ihrer Freundin plötzlich heftige Schmerzen im Unterbauch, die sie veranlassten, die Toilette aufzusuchen. Erschrocken stellte sie fest, dass in ihrem Stuhlgang viel Blut vorhanden war. Noch am gleichen Tag wurde sie von ihrer internistischen Hausärztin untersucht, die sie sofort in das Städtische Krankenhaus einwies. Eine am nächsten Tag durchgeführte Darmspiegelung erbrachte im Dickdarmbereich eine extrem ausgeprägte Entzündung, die zunächst ohne histologischen Befund für den betreuenden Internisten nicht erklärbar war. Die bis zu diesem Zeitpunkt sehr aktive, lebensbejahende, aber auch kontrolliert wirkende Frau zeigte nunmehr eine stark ausgeprägte Angst. Nach außen wirkte sie zunächst sehr gefasst. Den Familienangehörigen gegenüber zeigte sie jedoch starke emotionale Reaktionen wie leises Weinen und depressive Stimmungsschwankungen. Auf Empfehlung des betreuenden Internisten war eine weitere stationäre Versorgung zunächst nicht notwendig, sodass die Patientin bis zur Vorlage des histologischen Befundes zunächst nach Hause entlassen wurde. In den nächsten Tagen bemerkte sie eine zunehmend stärker werdende Unruhe, verbunden mit Schlafstörungen und immer stärker werdendes Grübeln. Ihr hilfloser Ehemann konnte ihr kaum Unterstützung geben, da dieser mit der neuen Situation selbst kaum umgehen konnte. Nach acht Tagen Warten wurde ihr in einem Gespräch mit dem Internisten offenbart, dass sich ein bösartiger Tumor im Dickdarm feststellen ließ. Diese Diagnose führte zu einem psychischen Zusammenbruch mit starker innerer Unruhe, lautem Weinen, Hilflosigkeit und Verzweiflung. Von nervenärztlicher Seite war eine pharmakotherapeutische Beruhigungsmaßnahme erforderlich.« Dieses Fallbeispiel macht deutlich, dass die Konfrontation mit der Diagnose Krebs mit sehr starken emotionalen Reaktionen, Verzweiflung, Angst und Panik verbunden sein kann. Häufig führt die Mitteilung, an Krebs erkrankt zu sein, bei vielen Menschen zu Schockreaktionen und Angstzuständen, die mit starken körperlichen Erregungen begleitet sind. In kaum einem anderen Bereich der Medizin sind daher psychologische bzw. psychosoziale Aspekte von größerer Bedeutung als in der Onkologie. Aus diesem Hintergrund hat sich etwa Mitte der 1970er Jahre mit dem Begriff Psychoonkologie (oder psychosoziale Onkologie) ein eigenständiges wissenschaftliches klinisches Fach etabliert hat. Die Psychoonkologie als interdisziplinäres Fachgebiet befasst sich mit den vielfältigen Wechselwirkungen zwischen körperlichen, psychischen und sozialen Einflüssen im Kontext von Tumorerkrankungen (Schumacher 2004). Forschungsthemen der Psychoonkologie sind vor allem psychologische Belastungen, subjektive Krankheitstheorien, soziale Unterstützung, Lebensqualität und Wirksamkeit psychologischer Interventionen bei Krebs. Im Einzelnen stehen folgende Fragen im Vordergrund: Welche Rolle spielen psychologische Faktoren (wie z. B. Stress) im Rahmen der Entstehung und des Verlaufs von Krebserkrankungen tatsächlich? Gibt es spezifische Persönlichkeitsfaktoren, die mit dem Auftreten und/oder Verlauf einer Krebserkrankung assoziiert sind? Inwieweit können Krebspatienten durch ihr Verhalten und/oder eine Veränderung der Lebensführung psychosoziale Risikofaktoren für bestimmte Krebserkrankungen beeinflussen? Können durch psychotherapeutische Maßnahmen die körperlichen Symptome und Einschränkungen des Patienten verbessert und sogar die Überlebenszeitrate verlängert werden? Wir möchten uns im Folgenden mit einigen dieser Fragen beschäftigen.
Epidemiologie psychosozialer Belastungen bei Krebskranken
In der Betrachtung psychosozialer Belastungen durch eine Krebserkrankung stellt sich nicht die Frage, ob bzw. wie häufig es zu massiven emotionalen Reaktionen kommt, da jeder Mensch per se von der Diagnosemitteilung Krebs emotional betroffen ist. Vielmehr steht auf dem Hintergrund des so genannten DiatheseStress-Modells (auch Vulnerabilitäts-Stress-Modell) die Frage im Vordergrund, wie Menschen nach der Diagnosemitteilung »Krebs« und im weiteren Behandlungsverlauf mit den Belastungen (Stress) umgehen werden (vgl. Gerber, 2007). Dabei wird
angenommen, dass prädisponierend (Diathese) manche Personen auf diese Belastungen stärker reagieren und über weniger Bewältigungsstrategien verfügen als andere. Die psychischen Belastungen von Krebspatienten umfassen, in Abhängigkeit von der Tumorart, körperliche Probleme und Schmerzen, Funktionsbeeinträchtigungen sowie psychische, familiäre und soziale Probleme durch die Erkrankung und ihrer Behandlung (Mehnert et al. 2004). Die Beeinträchtigung der Lebensqualität ist besonders durch belastende Ereignisse im Krankheitsverlauf geprägt, wie etwa die Mitteilung einer ungünstigen Diagnose und Prognose, das Fortschreiten der Erkrankung (Metatasierung) sowie ausgeprägte Nebenwirkungen verschiedener Behandlungsmaßnahmen
711 33.2 · Ätiologie psychosozialer Störungen und Krebs
(Chemotherapie). Jedoch verarbeiten Menschen diese Ereignisse unterschiedlich und entwickeln daher in der Folge je nach prämorbider Ausgangslage (Risiko) mehr oder weniger ausgeprägt psychische Störungen oder psychiatrische Erkrankungen (Letho et al. 2005). In einer Studie von Kadan-Lottick et al. (2005) erbaten 90% aller Patienten psychologische Hilfe nach der ersten Diagnosemitteilung, 12% der Patienten zeigten ausgeprägte psychiatrische Störungen. In einer Langzeitstudie mit 1.083 Brustkrebspatientinnen fanden Mehnert u. Koch (2008a) 4 Jahre nach der Erstdiagnosestellung bei 88% der Patienten leicht erhöhte Angstwerte und bei 22% leicht erhöhte Depressionswerte. Die psychologische Komorbidität für das Auftreten einer psychiatrischen Erkrankung wurde mit 26% geschätzt. Das Spektrum emotionaler und psychosomatischer Belastungsreaktionen nach der Diagnosemitteilung reicht bei den Patienten von Anpassungsstörungen, Angststörungen, Depressionen, vegetativen Symptomen (Nervosität, Übelkeit), Schlafstörungen bis hin zu sozialen Auffälligkeiten (z. B. Rückzug). Viele Autoren sehen als Folge der Diagnosemitteilung von Krebs eine akute Belastungsreaktion (ICD-10 F43.0), die durch einen Zustand von »Betäubtheit« (»numbing«), Depression, Verzweiflung, Überaktivität und Rückzug gekennzeichnet ist (Palmer et al. 2004). Bleibt diese Störung länger als 6 Monate bestehen, kann sie in eine sog. Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS; ICD-10 F43.1) übergehen, die wiederum u. a. durch lang andauernde unwillkürliche Rückerinnerung z. B. in Form von Albträumen, Angst und erhöhte Erregung (»hyperarousal«) gekennzeichnet ist (Maercker u. Ehlert 2001). Nach Mehnert u. Koch (2008b) fanden in einer prospektiven Studie mit 127 Brustkrebspatientinnen bei 18,5% postoperativ und 11,2–16,3% 6 Monate später eine PTBS-Diagnose. Bei den Anpassungsstörungen handelt es sich um Zustände von subjektivem Leiden, von emotionaler Beeinträchtigung sowie der Einschränkung sozialer Funktionen und Leistungen, die nach einem belastenden Lebensereignis oder nach schwerer körperlicher Krankheit auftreten. Die Prävalenz der Anpassungsstörungen schwankt in verschiedenen Studien zwischen 2 und 52%, diejenige von Angststörungen zwischen 8 und 20% (Härter et al. 2000). Als prognostisch ungünstig für die Entwicklung einer psychischen Erkrankung nach der Diagnosemitteilung »Krebs« (Prädiktoren) erwies sich eine zu lange Wartezeit zwischen Diagnosestellung und Einleitung der Behandlung, der Erkrankungsstatus, ungünstige Interaktionen, geringe soziale Unterstützung, eine geringere Bildung und jugendliches Alter (u. a. Mehnert u. Koch, 2008a). Patienten mit prämorbider Neigung zu psychischen Störungen in der Vorgeschichte (Ängste), haben ein höheres Risiko, nach der Krebsdiagnose ein PTBS zu entwickeln. Die Prävalenz der PTBS wird allerdings mit 3–7% als gering angegeben (Green et al. 1998; Lindberg u. Wellisch 2004). Häufiger treten im Verlauf der Krebserkrankung Depressionen auf, wobei die Prävalenzraten mit bis zu 20% angegeben werden (Tagay et al. 2005). Dabei handelt es sich ausschließlich um unipolare Depressionen. Die vorliegenden Studien verdeutlichen, dass der überwiegende Anteil der Krebspatienten massiv unter den psychischen Belastungen ihrer Erkrankung leidet, allerdings nur ein geringerer Anteil der Betroffenen eine psychiatrische Erkrankung entwickelt. Im Sinne des Diathese-Stress-Modells ist es für die klinische Arbeit mit den Patienten wichtig, prädisponierende Faktoren zu identifizieren, die mit einer ungünstigen und unzureichenden Bewältigung mit der Erkrankung (Coping) verbunden sind. Dabei spielen die Art des Tumors (weniger ausgeprägte psychiat-
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rische Störungen bei Brustkrebs) und prämorbide psychische Störungen für die Entwicklung der psychiatrischen Störungen eine wichtige Rolle (Palmer et al. 2004; Letho et al. 2005).
33.2
Ätiologie psychosozialer Störungen und Krebs
In der Psychoonkologie erfreute sich lange Zeit das Konzept der Krebspersönlichkeit einer stärkeren Beliebtheit. Es wurde angenommen, dass Menschen, die wiederholt ausgeprägten Lebensbelastungen, aber auch unterdrückte Ärger- und Aggressionsempfindungen aufwiesen, vermehrt für Krebs disponiert seien (vgl. Bernhard u. Ganz 1991). Insbesondere aus psychoanalytischer Sicht wird die Krebserkrankung als Abwehrdefekt im Sinne einer psychosomatischen Persönlichkeit betrachtet. Dies betrifft insbesondere die Bedeutung frühkindlicher erlittener Verlusterlebnisse; in Entstehung und Zusammenhang von Konversionssymptomen werden diese als mögliche Faktoren bei der Krebsentstehung genannt. In einer kritischen Zusammenstellung und Bewertung vorliegender Studien kommen Bernhard u. Gans (1991) zum Schluss, dass sich kein konsistentes psychologisches Muster bei Krebspatienten zeige und die empirische Evidenz für die Existenz einer Krebspersönlichkeit gering sei. Untersuchungen zur Krebspersönlichkeit werden meist aus methodischen Gründen kritisch bewertet. Mit wenigen Ausnahmen sind diese Untersuchungen retrospektiv angelegt. Bereits erkrankte Personen wurden befragt und psychologisch untersucht und mit Kontrollgruppen verglichen. Dabei ist nicht auszuschließen, dass die den Krebspatienten zugeschriebenen Persönlichkeitsmerkmale Resultate oder Begleiterscheinungen der Erkrankung sind. In einer Metaanalyse anhand von 46 Studien wurde der Zusammenhang zwischen psychosozialen Faktoren und der Entstehung von Brustkrebs überprüft. Es konnte gezeigt werden, dass eine mangelnde Krankheitsverarbeitung, Trennungserlebnisse, belastende Lebensereignisse und Angst/Depression signifikante Effektstärken aufwiesen. Insgesamt wird jedoch nur eine mäßiger Zusammenhang zwischen psychosozialen Faktoren und der generellen Krebsentstehung angenommen (McKenna et al.1999; Dalton et al., 2002; Bergelt et al., 2006). Zahlreiche Studien beschäftigten sich mit der Bedeutung von Bewältigungsstrategien (Coping) bei Krebspatienten, die letztendlich für die Entstehung von psychosozialen Störungen von Bedeutung sind. Der Krankheitsverlauf bei Krebs ist sehr von den individuellen Krankheitsbewältigungsstrategien abhängig. Der Begriff Coping stammt aus der Stressforschung. Coping wird allgemein definiert als das Bemühen eines Menschen, die vorhandenen oder antizipierten, bestehenden Belastungen kognitiv, emotional und durch Handeln aufzufangen, auszugleichen und zu meistern. Die Wahrnehmung der Krebserkrankung (Symptome; z. B. Ertasten eines Knotens in der Brust) löst gedankliche (kognitive, z. B. Grübeln), emotionale (z. B. Angst, Panik) und handlungsbezogene (z. B. Aufsuchen vieler Ärzte) Prozesse aus. Verschiedene Studien konnten zeigen, dass die Überlebenszeitrate (ÜZR) verlängert wird, wenn Patienten ein aktives Coping zeigen (. Abb. 33.1). Auch die Fähigkeit Gefühle auszudrücken, erhöht die ÜZR bei Lungenkarzinompatienten. Insgesamt scheinen sich folgende Faktoren auf die ÜZR nachteilig auszuwirken: hohe Depression, verminderte soziale Unterstützung, hoher psychosozialer Stress und ungünstige Copingstrategien. Faller u. Schmidt (2004) fanden aufgrund ihrer Studie mit
712
33
Kapitel 33 · Psychoonkologie
59 Lungenkrebspatienten, dass depressives Coping (Bewältigung) der Erkrankung, nicht jedoch eine klinisch manifeste Depression die ÜZR beeinflusst. Auch die japanische Arbeitsgruppe um Uchitomi konnte in einer prospektiven Kohortenstudie weder für die Depression noch für die oft postulierte soziale Unterstützung (»social support«) sowie den Familienstand einen Zusammenhang zur ÜZR finden (Nakaya et al. 2006; Saito-Nakaya et al. 2006). Oftmals wurde auch darauf hingewiesen, dass sich ein aktives Verhalten (Kampfgeist) günstig auf die ÜZR auswirken würde. Allerdings wird von einigen Autoren angemerkt, dass der Einfluss psychosozialer Faktoren auf die ÜZR eher auf eine verbesserte Compliance der Patienten bei der Nutzung der ihnen angebotenen Behandlungsmethoden (z. B. Chemotherapie) zurückgeführt werden kann (Faller 1997). Petticrew et al. (2002) kommen aufgrund ihrer Literaturübersicht von 26 Studien über den Zusammenhang zwischen ÜZR und »fighting spirit« zu dem Schluss, dass psychologische Copingstile eine wichtige Rolle beim Auftreten von Krebs spielen, jedoch weniger im Hinblick auf die Überlebensdauer der Patienten. Unbestritten ist der ätiologische Zusammenhang von Krebserkrankung und ungünstigem Gesundheitsverhalten im Hinblick auf das Rauchen, die Ernährung und eine intensive UVLicht-Exposition. So wurden für das Magenkarzinom eindeutige Belege für die spezifische Rolle der Ernährungsweise in der Ätiologie des Tumors nachgewiesen. Studien aus dem Bereich der Psychoneuroimmunologie weisen eindrucksvoll darauf hin, dass physiologische Veränderungen, die im Zusammenhang mit psychischen Belastungen auftreten, den Prozess des programmierten Zelltodes (Apoptosis) beeinflussen können (vgl. u. a. KiecoltGlaser u. Glaser 1991). Es konnte u. a. gezeigt werden, dass psy-
chische Belastungen (Stress) zu einer Reaktivierung latenter Viren (Herpes-Simplex-Virus, HSV, EPV und Zytomegalie-Virus, ZNV) führen können. Ärger- und Aggressionshemmung vermindern β-Endorphine, was die Immunabwehr schwächt. Kontrollverlust und Hilflosigkeit führen zu Immunsuppression und erhöhen die Wahrscheinlichkeit des Tumorwachstums. Auch die Art und Weise der Verarbeitung der Erkrankung scheint einen Einfluss auf das Immunsystem zu haben. So konnte gezeigt werden, dass das IgA-Niveau (als Maß für die Immunwirkung) bei Brustkrebspatientinnen erhöht war, die ihre Angst unterdrückten. Somit kann ein Zusammenhang zwischen psychischer Belastung und immunologischer Reaktion festgestellt werden, sodass angenommen werden kann, dass psychologische Prozesse zumindest indirekt zu einem erhöhten Krebsrisiko beitragen können (vgl. Stockhorst 2004). In einer prospektiven Studie bei 104 Brustpatientinnen untersuchten Sephton et al. (2001) das Zusammenwirken von Immunsystem, endokrinem System, psychischer Belastung und Überlebenszeitdauer (ÜZD) sowie Überlebenszeitrate (ÜZR) im Verlaufe von 7 Jahren. Die Autoren fanden bei Patientinnen mit einem flacherem Kortisolprofil (geringe Abnahme des Kortisols) eine signifikant geringere ÜZD (3,2 Jahre) und eine geringere ÜZR (23%) im Vergleich mit Patientinnen mit hohem Kortisolprofil (ÜZD = 4,5 Jahre; ÜZR = 40%). Die Daten weisen auf spezifische Risikogruppen hin, die einer gezielten psychologischen Intervention zugeführt werden sollten. Zusammenfassend konnte gezeigt werden, dass die Annahme der Existenz einer Krebspersönlichkeit obsolet ist, wohingegen der Zusammenhang zwischen belastenden Lebensereignissen (Stressoren) und einer Reihe von Immunfunktionen womöglich bei der Entstehung von Krebs, sicher jedoch im Verlauf der Krebserkrankung eine wichtige Rolle spielt. Insbesondere bei der Krankheitsbewältigung kommt daher der psychosozialen und psychotherapeutischen Intervention eine wichtige Bedeutung zu.
33.3
. Abb. 33.1. Einfluss von aktivem versus passivem Coping auf Überlebenszeitraten bei metastisierten Lungenkrebspatienten. (Aus Faller et al. 1997)
Psychotherapeutische Unterstützung von Krebskranken
Psychotherapeutische Interventionsstrategien sind darauf gerichtet, die Lebensqualität von Krebskranken zu steigern und ihre Krankheitsbewältigung zu unterstützen (Tschuschke 2006). Verhaltenstherapeutische Behandlungsstrategien sind besonders bei Patienten notwendig, die grundlegende emotionale Belastungen und Störungen im Rahmen der Krebserkrankung zeigen, die bereits durch prämorbid ungünstige Lebensstile auffallen oder die im Rahmen der medizinischen Behandlung erhebliche Nebenwirkungen zeigen (z. B. Schmerzen; Stockhorst 2003). Zudem konnte gezeigt werden, dass die gezielte Aufklärung (Edukation) des Patienten über die Erkrankung sowie die Art und den Ablauf der medizinischen Behandlungsmaßnahmen die Befindlichkeit des Patienten, seine Ängste und Depressivität verbessert und die Compliance zur Mitarbeit erhöht (Fawzy et al. 1995). Die verhaltenstherapeutischen Interventionsverfahren reichen von progressiver Muskelentspannung, Imaginationstraining, Hypnose, systematischer Desensibilisierung im Rahmen der Chemotherapie bis hin zum Stressmanagement und zur Anleitung zum Ausprobieren und Einüben adaptiver Bewältigungsstrategien durch kognitive Umstrukturierungstechniken. Behandlungsverfahren wie Hypnose und Entspannungsverfahren zielen auf die Abnahme akuter unerwünschter Begleiterscheinungen der medizinischen Therapie (wie Schmerz, Übelkeit,
713 33.4 · Aufgaben des Onkologen in der Behandlung
Erbrechen) ab. Luebert et al. (2001) konnten aufgrund einer Metaanalyse von 12 Studien zeigen, dass diese Verfahren eine signifikante Abnahme der Begleiterscheinungen bewirkten, wobei die kurzfristige Einleitung dieser Verfahren von besonderer Bedeutung ist (Grulke u. Larbig 2001). Psychoonkologische Interventionen bewirken nachweislich bedeutsame Reduzierungen von Angst, Verzweiflung, Depression, Stress und helfen häufig bei der Verbesserung der Lebensqualität und den sozialen kommunikativen Problemen bei an Krebserkrankten. Forschungen zu den komplexen Verbindungen zwischen Erlebens- und hormonellem und Immunsystem sind bislang kaum unternommen worden; sie versprechen aber weitergehende Aufschlüsse über den Wirkmechanismus der therapeutischen Einflussnahme auf Krebs. Mangels ausreichend guter methodischer Qualität von Studien ist die Frage derzeit noch unbeantwortet, ob adjuvante psychologische oder psychotherapeutische Maßnahmen dazu beitragen, dass Krebspatienten ihre Erkrankung länger überleben können. Studien, die diese Hypothese stützen, stehen gleich vielen gegenüber, die diese These zurückweisen (Tschuschke 2003). Das kognitiv-behaviorale Stressmanagement zielt auf die Identifikation und Entschärfung von Stressoren, eine Verbesserung der Befindlichkeit und auf eine Verbesserung der Copingstrategien ab. Diese meist als einzeltherapeutische Verfahren bezeichnete Techniken sind auf die Identifikation ungünstiger Stressverarbeitungsstrategien, kognitive Restrukturierung, Training von Stressreaktion, Training von Selbstsicherheit, Bewältigung von Ärger sowie Training von Fähigkeiten zur Inanspruchnahme sozialer Unterstützung gerichtet (Stockhorst 2003). Besonders effektiv erwiesen sich in mehreren Studien kognitivbehaviorale Verfahren, die auf das Erlernen von günstigen kognitiven und verhaltensmäßigen Bewältigungsstrategien abzielten. So konnten Savard et al. (2005a) zeigen, dass die kognitive Therapie besonders die Begleitsymptome wie Schlafstörungen, Depressivität und Ängstlichkeit signifikant reduzierte. Es fanden sich zudem Hinweise darauf, dass auch Veränderungen der immunologischen Parameter (höhere Sekretion von IFN-γ und geringere Vermehrung der Lymphozyten) nach der Behandlung zu erkennen waren (Savard et al. 2005b). Kissane et al. (2004) konnten hingegen keine Verlängerung der ÜLZ durch kognitive Therapie feststellen. Eine viel diskutierte Behandlungsstrategie, die supportiv-expressive Gruppentherapie (SEG), ist durch die Arbeitsgruppe um David Spiegel ab 1981 eingeführt geworden (Spiegel et al. 1999). Diese Therapieform zielt darauf ab, dass Brustkrebspatientinnen lernen, in einer Gruppentherapie ihre Angst auszudrücken, negative Emotionen zu bearbeiten sowie Ängste bezüglich Tod und Sterben thematisieren zu können (vgl. Fawzy et al. 1995). Das von Spiegel u. Classen (2000) vorgelegte Therapiemanual fokussiert auf sieben Prinzipien, die wie folgt zusammengefasst werden können (vgl. Tschuschke 2006): 4 (Ver)Bindung herstellen (Förderung sozialer Beziehung, Kohäsion in der Gruppe), 4 Ausdruck von Gefühlen (Katharsis, Entlastung durch Offenheit), 4 Entgiftung von Tod und Sterben (bewusste Auseinandersetzung und Aussprache), 4 Neubewertung von Lebensprioritäten (Entwerfen eines neuen, womöglich auch verkürzten Lebenskonzeptes), 4 Verbesserung der Unterstützung durch Freunde und Angehörige (Vermeidung von Rückzug und Isolierung),
33
4 Verbesserung der Arzt-Patient-Beziehung (aktive Compliance), 4 Verbesserung der Bewältigungsstrategien (durch Information, Emotionsförderung, Problemlöseprozesse). In mehreren Studien konnte die Arbeitsgruppe um Spiegel nachweisen, das die SEG signifikant das Ausmaß an Depressivität und Ängstlichkeit vermindert und insbesondere zur Verminderung der allgemeinen emotionalen Belastungen (Stress) beiträgt (Classen et al. 2001). Allerdings wird oftmals die supportive Arbeit von Gruppen in Gruppentherapien oder besonders in Selbsthilfegruppen kritisch bewertet. So wird etwa die Konfrontation mit der Erkrankung anderer oder dem Tod von Gruppenmitgliedern als zusätzliche emotionale Belastung gewertet. In einer eigenen Studie konnten wir feststellen, dass Krebspatienten in Selbsthilfegruppen ohne professionelle Unterstützung mit höheren Angst- und Depressionswerten reagieren (Kollenbaum et al. 1993). Von psychoonkologischer Seite ist daher stets zu prüfen, ob im individuellen Fall (bei starker emotionaler Belastung) eine einzeltherapeutische Betreuung zunächst vorzuziehen ist und von einem intendierten Besuch einer Selbsthilfegruppe oder auch von einer stationären psychoonkologischen Rehabilitationsmaßnahme abgeraten werden sollte. Zusammenfasssend ist festzuhalten, dass psychosoziale und psychotherapeutische Maßnahmen in der Onkologie ihren festen Stellenwert haben, wobei sich insbesondere die Begleitstörungen deutlich verringern lassen. Dagegen wird die Frage, ob psychotherapeutische Verfahren auch einen günstigen Einfluss auf die Überlebenszeitrate (ÜZR) haben könnte, unterschiedlich bewertet. Bei 7 von 12 entsprechenden Studien konnte kein Effekt festgestellt werden, wobei die Mehrzahl der Studien aufgrund unterschiedlicher Zielgruppen und Verfahren kaum vergleichbar ist (Tschuschke 2006). So sind prospektive Studien unter Einbeziehung standardisierter Designs und immunspezifischer Parameter für die weitere Forschung zu fordern.
33.4
Aufgaben des Onkologen in der Behandlung
Jeder Onkologe wird sich mit den psychologischen Verarbeitungsmechanismen seines Patienten auseinandersetzen müssen, sodass es wichtig ist, sinnvolle patientenzentrierte Strategien kennenzulernen. Eine tragfähige Beziehung zwischen Arzt und Patient ist somit von besonderer Bedeutung, die sich zunächst vorwiegend auch auf die Vorbereitung der Diagnosemitteilung richten sollte. Die Eröffnung der Diagnose ist zunächst die kritischste psychosoziale Belastung eines Patienten, besonders dann, wenn der histologische Befund die Befürchtung des Patienten, an einer lebensbedrohlichen Erkrankung zu leiden, bestätigt. Viele Kranke reagieren unmittelbar auf die Diagnose mit verschiedenen emotionalen Begleiterscheinungen. In einer Untersuchung von Faller (1998) reagierten Karzinompatienten wesentlich häufiger als Herzinfarktpatienten mit einem akuten Schockempfinden (. Abb. 33.2). Der Onkologe sollte daher die psychischen Folgen der Diagnosemitteilung kennen, die sich insbesondere beziehen auf: 4 Autonomieverlust: Die Patienten (insbesondere Männern) fällt es schwer, ihr Leben von jetzt auf nachher nicht mehr selbst bestimmen zu können, sondern von anderen (Ärzten) abhängig zu sein.
714
Kapitel 33 · Psychoonkologie
. Abb. 33.2. Der erste Gedanke nach der Diagnosemitteilung (vergleichende Untersuchung von Bronchialkarzinomkranken (dunkle Balken) und Herzinfarktpatienten (helle Balken). (Aus Faller 1998)
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4 Verlust von Aktivitäten: Häufig beginnt nach der Diagnosestellung ein Verlust an sozialen Aktivitäten in Beruf und Freizeit. 4 Soziale Isolierung: In vielen Fällen führt die Diagnose Krebs zu einem sozialen Rückzug und spezifischen subtilen Formen der Distanzierung, Unsicherheit im Kontakt, Befangenheit und Unfähigkeit zur Kommunikation. 4 Depression: Bei ca. 25% der Krebskranken entwickelt sich unmittelbar nach der Diagnosestellung eine psychiatrisch relevante depressive Erkrankung (vgl. Faller 1998). Wann immer möglich und erwünscht, sollte der Onkologe sicherstellen, dass der Patient eine vertraute Person zum Aufklärungsgespräch mitbringt. Da sozialer Rückhalt und soziale Unterstützung (»social support«) eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der Krebserkrankung spielen, sollte vor einem Aufklärungsgespräch eine gezielte soziale Anamnese durchgeführt werden. Sollte eine positive psychische Unterstützung und Integration im privaten Umfeld des Patienten nicht gegeben sein, so ist eine engmaschigere Terminvergabe zum nächsten Gespräch und die Ausstattung mit Kontaktadressen öffentlicher Beratungsstellen und Krisendienste wichtig. Außerdem sollte darauf geachtet werden, dass der Patient nach einem möglicherweise belastenden Aufklärungsgespräch nicht alleine die Klinik oder Praxis verlässt. Für den Onkologen ist weiterhin wichtig, dass er erkennt, ob die Krankheitsbewältigung aktiv oder passiv erfolgt. Ersteres ist auf das aktive Bemühen um Kontrolle und die Verfügbarkeit möglichst vieler Bewältigungsstrategien gerichtet, passive Bewältigung zeigt sich im Ertragen oder Verdrängen psychischer Belas-
tungen. In Studien bei Lungenkrebspatienten zeigten sich geschlechtsspezifische Unterschiede. Männer neigen allgemein dazu, ihre Gefühle zu kontrollieren und zurückzuhalten, nicht viel über ihre Probleme nachzudenken, sondern aktive Lösungsversuche zu unternehmen. Frauen hingegen bringen ihre Gefühle eher zum Ausdruck und suchen Hilfe bei vertrauten Beziehungspersonen. In der Beachtung von Copingstrategien des Patienten steht bei dem Onkologen vor allem das frühzeitige Erkennen einer akuten oder sich entwickelnden psychischen Störung im Vordergrund. Neben der klinischen Annamnese können hier als Screeningverfahren Depressionsskalen eingesetzt werden, wie z. B. der Despressionsfragebogen von Beck (BDI). Bei dem Verdacht einer psychischen Störung empfiehlt sich – auch zur Frage einer psychopharmakologischen Begleitmedikation – die Hinzuziehung eines psychiatrischen Konzils zur differenzialdiagnostischen Abklärung. Im Einzelfall sollte gemeinsam mit dem Psychiater abgeklärt und entschieden werden, ob aufgrund der vorliegenden psychischen Situation des Patienten und seiner persönlichen Ressourcen auf eine psychotrope Behandlung verzichtet werden kann oder diese eingeleitet werden sollte. Gegebenenfalls sollt die Vorstellung bei einem ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten erwägt werden. Der behandelnde Onkologe sollte somit unbedingt das soziale Umfeld des Patienten im Auge haben. Die Diagnose »Krebs« führt häufig zu erheblichen Veränderungen in den sozialen Beziehungen des Patienten. Die Unsicherheit der sozialen Umgebung im Umgang mit dem Erkrankten, sein häufig stark affektiv geprägtes Krankheitsverhalten und die beruflichen (Arbeitsverlust) und privaten (Freizeitverhalten) Änderungen bilden ein erhebliches Konfliktpotenzial. Eine Krebserkrankung kann in der
715 33.5 · Sterbebegleitung
33
. Tab. 33.1. Allgemeine Empfehlungen zum Umgang mit Krebspatienten vor, während und nach der Diagnosestellung Phasen Vor der Diagnose
Während des Diagnosegespräches
Nach dem Diagnosegespräch
Vorschläge 1. Machen Sie sich vor der Diagnosemitteilung ein Bild von dem Patienten (wie wirkt er im Verlauf der Untersuchungen, z. B. eher gelassen oder ängstlich, depressiv, fordernd? Suizidal, gibt es eine psychiatrische Vorgeschichte? Aktives vs. passives Coping etc.). 2. Geben Sie dem Patienten einen möglichst von Ihnen auch einzuhaltenden Zeitraum der diagnostischen Phase und erläutern Sie ihm die Ziele und die Inhalte der diagnostischen Maßnahmen. 3. Überprüfen Sie die soziale Einbindung und Unterstützung des Patienten (ist sie gesichert?). 4. Bereiten Sie das Diagnose-Aufklärungsgespräch vor (z. B. begleitender Angehöriger gewünscht, alle Untersuchungsergebnisse vorliegend, Therapiekonzept, mögliche Fragen des Patienten, Angebote zur psychosozialen Betreuung etc.). 1. Vergewissern Sie sich, dass der Patient zum Gespräch eine wichtige Bezugsperson mitbringt, die entsprechend dem Wunsch des Patienten beim Gespräch anwesend sein kann. 2. Beginnen Sie das Gespräch mit der Frage »welche Informationen möchten Sie von mir erhalten?« Orientieren Sie sich an dem Informationsbedürfnis des Patienten. 3. Erklären Sie so anschaulich wie möglich, was Sie diagnostisch erhoben haben, was dabei herausgekommen ist und welche Behandlungsmöglichkeiten vorliegen. 4. Verteilen Sie ggf. das volle Ausmaß der notwendigen Informationen auf mehrere Gespräche. So wird es auch möglich besonders angstbesetzte Begriffe wir Krebs, Sterben, Tod schrittweise einzuführen. Machen Sie diese »Unworte« aussprechbar. 5. Lassen Sie dem Patienten möglichst viel Spielraum für eigenes Handeln und Fragen. 6. Rechnen Sie mit emotionalen Reaktionen wie Wut, Trauer und Verzweiflung; zeigen Sie dafür Verständnis und versuchen Sie nicht, den Patienten mit Hoffnungsmache zu beruhigen. 7. Seien Sie zurückhaltend mit Zeitangaben auf die Frage des Kranken, wie lange er noch zu leben hat; stellen Sie auch realistische Zukunftsplanungen in Aussicht (Beruf, Freizeit etc.) und fördern Sie Aktivität. So unterstützen Sie die aktive Gestaltung dieser Lebensphase der Patienten. 8. Verdeutlichen Sie dem Patienten, dass Sie auch im weiteren Verlauf für ihn zur Verfügung stehen und ihm alle Fragen die Sie ihm beantworten können, auch beantworten werden 9. Vereinbaren Sie auf jeden Fall ein weiteres baldiges Gespräch 10. Nennen Sie dem Patienten mögliche Kontakttelefonnummern für Krisensituationen, Notfälle und Psychotherapeuten. 11. Motivieren Sie den Patienten zur Teilnahme an dem Behandlungsprogramm. 1. Erkundigen Sie sich ein paar Tage nach dem Aufklärungsgespräch nach dem Patienten (bei ihm selbst und den Angehörigen). 2. Leiten Sie gemeinsam mit dem Patienten möglichst bald konkrete Maßnahmen (Chemotherapie, Psychotherapie, Kur etc.) ein. 3. Vereinbaren Sie regelmäßige Gesprächstermine, bei denen Sie auch bereit sind zuzuhören.
Familie eines Patienten zu Verlustängsten, Zunahme der Distanz (emotionaler Rückzug), Kommunikationsproblemen (nicht sprechen zu können), vermehrten Einschränkungen der Lebensaktivitäten und der Konfrontation mit dem Leiden und der Auseinandersetzung mit dem Tode des Patienten (7 unten) führen. Andererseits kommt der wahrgenommenen sozialen Unterstützung (»perceived social support«) durch nahe Angehörige gerade bei Krebspatienten eine besondere Bedeutung zu. Es konnte gezeigt werden, dass weniger die unmittelbare alltagsbezogene Hilfe als vielmehr »das Gefühl einfach für mich da zu sein« gerade beim Ehepartner oder nahen Familienangehörigen gewünscht wird, während von Ärzten wichtige handlungsbezogene Informationen und Zukunftspläne erwartet werden (Tschuschke 2006). Als wenig hilfreich erleben Krebspatienten Versuche von Angehörigen und Ärzten, die Aus- und Nebenwirkungen der Erkrankung herunterzuspielen oder durch eine erzwungene Fröhlichkeit »aufgerichtet« zu werden. Grundsätzlich sind Patienten, die wenig soziale Unterstützung erfahren für psychische Störungen (wie z. B. Depressionen) anfälliger. Die psychosoziale Betreuung von onkologischen Patienten durch den Onkologen umfasst einen weiten Rahmen, der von der Diagnosemitteilung, das Aufklärungsgespräch über Behand-
lungsmöglichkeiten, die Betreuung in den verschiedenen Phasen der Erkrankung und deren psychologische Verarbeitungsstrategien sowie der Begleitung in der terminalen Phase der Erkrankung reicht (7 unten und . Tab. 33.1). Von besonderer Bedeutung ist dabei die situationsentsprechend einfühlsame Mitteilung der Diagnose, sofern der Patient diese wünscht. Zusammenfassend wird deutlich, dass das Erkennen psychosozialer Prozesse und Maßnahmen gerade in der Onkologie von großer Bedeutung sind. In keinem anderen Fach wie in der Onkologie sind emotionale Krankheitsverarbeitungsprozesse so wichtig, die Sensibilität und psychologische Professionalität des Arztes so gefordert.
33.5
Sterbebegleitung
Der Sterbeprozess bzw. das Sterbeerleben variiert von Mensch zu Mensch. Es ist abhängig von intrapsychischen und sozialen Bedingungen. Das Sterben ist somit ein individueller Prozess. Die Art und Weise, wie ein Mensch das Sterben erlebt, hängt davon ab, wie er sein zurückliegendes Leben bewertet und welche Strategien er für die Bewältigung von Krisen erworben hat. Etwa 70%
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Kapitel 33 · Psychoonkologie
der Sterbenden erleben ihren Tod in Institutionen (z. B. Krankenhaus). Die Angst vor Sterben und Tod nimmt mit steigendem Alter und konkreter Todesnähe eher ab. Sie ist bei Frauen und physisch Kranken, so auch bei Krebspatienten stärker ausgeprägt. Je mehr jedoch das Sterbeerleben von großen Einschränkungen und starken Schmerzen bestimmt ist, desto eher wird der Tod als Befreiung erlebt (Wittkowski 1990). Während die Diskussion um eine aktive oder passive Sterbehilfe seit vielen Jahren im Fokus des medizinischen und öffentlichen Interesses stand, wurde die Frage der ärztlichen Sterbebegleitung in der Forschung eher weniger beachtet. Erst durch die von der WHO Mitte der 1980er Jahre ins Leben gerufene Tumorschmerzinitiative zur Verbesserung der Tumorschmerzkontrolle entwickelten sich in den folgenden Jahren international palliative Versorgungskonzepte. Die WHO definierte »Palliative Care« als aktive und umfassende »Behandlung, Pflege und Fürsorge« zur Erzielung eines größtmöglichen Maßes an Lebensqualität für Menschen mit Erkrankungen, die kurativen Therapieansätzen nicht (mehr) zugänglich sind. Entsprechend stehen die ärztliche Schmerz- bzw. Symptomkontrolle und eine unterstützende Begleitung der betroffenen Menschen und ihrer primären Bezugspersonen im Vordergrund. Dabei wird von der WHO ausdrücklich auf die Berücksichtigung psychischer und sozialer Unterstützungsbedarfe und -bedürfnisse hingewiesen. Allerdings beklagen Gelfman u. Morrison (2008) auf der Grundlage einer Erhebung in den USA, dass die wissenschaftliche Forschung im Bereich Palliative Care nur wenig öffentliche finanzielle Unterstützung erfährt. So erhielten nur 109 von 2.197 wissenschaftliche Unterstützungen (z. B. durch die NIH). In einer Übersicht bezüglich spezialisierter und zertifizierter PalliativeCare-Zentren (PCZ) in 52 europäischen Ländern kommen Centeno et al. (2007) zu der Feststellung, dass die PCZ nur in Irland und in Großbritannien einen speziellen eigenständigen Status haben. Allerdings wurde durch den Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Erstfassung der Richtlinie zur Verordnung von spezialisierter ambulanter Palliativversorgung (SAPV) vom 20. Dezember 2007 auch in Deutschland eine gesetzliche Basis zur ärztlichen Betreuung von Sterbenden geschaffen (Deutsches Ärzteblatt, 2008). Die Richtlinie besagt, dass die spezialisierte ambulante Palliativversorgung gemäß § 37 b SGB V (SAPV) dem Ziel dient, die Lebensqualität und die Selbstbestimmung schwerstkranker Menschen zu erhalten, zu fördern und zu verbessern und ihnen ein menschenwürdiges Leben bis zum Tod in ihrer vertrauten häuslichen Umgebung oder in stationären Pflegeeinrichtungen zu ermöglichen. Die SAPV ergänzt das bestehende Versorgungsangebot, insbesondere das der Vertragsärzte, Krankenhäuser und Pflegedienste. Damit wurde auch für den Onkologen eine gesetzliche Basis für seine Arbeit mit Sterbenden geschaffen. Die psychologische Sterbebegleitung wird bislang meist als eine Aufgabe der Pflege, der Seelsorge und/oder der Psychologie verstanden (Greer 2002). Die Übertragung der Arbeit der psychologischen Sterbebegleitung an Pflegedienst und psychologische Begleiter wird häufig mit mangelnder Kompetenz und Zeit von Ärzten begründet. Dabei kommt der ärztlich-psychologischen Begleitung gerade bei onkologischen Patienten eine besondere Rolle zu. In der Regel ist der Arzt von Beginn der Diagnosestellung Krebs bis zum Tode des Patienten unmittelbar in dessen Beratung und Behandlung eingebunden und wird daher als primär verantwortliche und kompetente Bezugsperson vom Patienten erlebt. Die psychologische Begleitung bei Ster-
benden durch den Onkologen richtet sich demnach auf folgende Ziele: 4 grundsätzliche Bereitschaft zum »Sterbegespräch« (d. h. das Thema Sterben nicht auszublenden, sondern sich aktiv einbringen), 4 den Willen des Sterbenden erkennen, respektieren und seine Verfügungen beratend besprechen (Lindern von Schmerzen, Patientenverfügungen etc.), 4 den individuellen psychologischen Sterbeprozess des Patienten erkennen, verstehen und akzeptieren (die jeweilige psychologische Sterbephase erkennen, Trauer, Verzweiflung empathisch begegnen etc.), 4 den individuellen psychologischen Bedürfnissen des Sterbenden nachkommen (Zuhören, eventuell Körperkontakt, Einbindung von Angehörigen etc). Für die Begleitung von Sterbenden ist die Beachtung der individuellen Bedürfnisse wichtig. Die Bewältigung von Schmerzen, das Bedürfnis nach Informiertsein sowie das Vertrauen in die Umgebung hängt in einem großen Ausmaß von dem Sterbenden selbst ab, aber auch von der sozialen Kompetenz der Pflegenden. Kruse (1987) betont, dass der Patient die Gelegenheit erhalten muss, zunächst über seine gegenwärtige Situation, dann über sein zurückliegendes Leben und anschließend auch vorausblickend über seine Ängste sprechen zu können. Gerade bei Patienten, die eine lebensbedrohliche Diagnose und Nachricht von ihrem Arzt erhalten haben oder bei sterbenden Patienten, ist die Anwendung der Techniken der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie durch den Onkologen sehr hilfreich und für den Patienten sehr entlastend (Tausch u. Tausch 1981). Diese psychotherapeutische Technik bezieht die drei Basisvariablen Empathie (aktives einfühlendes Zuhören), Echtheit (der Arzt ist er selbst und spielt dem Patienten nichts vor) und Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte (VEE, der Arzt fokussiert sich auf die Emotionen des Patienten und gibt diese verbalisierend zurück) mit ein. Jeder Mensch kennt im Alltag das Gefühl, dass es manchmal genügt von dem Gegenüber verstanden und gehört zu werden, was eine deutliche emotionale Entlastung bedeuten kann. Auch wenn eine entsprechende psychotherapeutische Schulung in diese Technik sehr sinnvoll ist, so konnte nachgewiesen werden, dass viele Menschen per se in der Lage sind, diese Basisvariablen zu verwirklichen (Biermann-Ratjen et al. 1997). Allerdings erschwert die berufliche Sozialisation des Arztes (seine »handwerkliche Tätigkeit«), die auf die direktive Wiederherstellung der Gesundheit des Patienten gerichtet ist, oftmals diese »natürliche psychologische« Sterbebegleitung. Wichtige Voraussetzung für die Begleitung des Sterbenden durch den Onkologen ist die Kenntnis des Sterbeprozesses, der idealtypisch von Kübler-Ross (1977, 2004) beschrieben wurde. Danach können fünf verallgemeinernde Phasen der Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben unterschieden werden: 4 Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens (»Das kann nicht sein!«; Zurückweisen der Realität, Ausreden), 4 Phase des Zorns (»Warum gerade ich? Ihre Diagnose ist falsch!«; Aggressionen), 4 Phase des (Ver)Handelns (»Ich mache eine Wallfahrt, wenn ich wieder gesund werde!«; Versuche das Schicksal abzuwenden), 4 Phase der depressiven Annahme (»Ich will nicht mehr leben!«, Resignation, Trauern), 4 Phase der Zustimmung (»Es ist jetzt gut, wenn ich gehe«, Akzeptieren, Erlösung).
717 33.5 · Sterbebegleitung
Meist bezieht sich der unmittelbare Sterbeprozess auf die Phasen 4 und 5, in denen die oben beschriebene nondirektive Vorgehensweise vorwiegend zum Tragen kommen kann. . Tab. 33.2 stellt einige wichtige psychologische Vorgehensweisen in der ärztlichen Sterbebegleitung dar. Viele Sterbenden sind entlastet, wenn sie das Gefühl haben, dass sich jemand um die Angehörigen kümmert. Daher ist es auch eine wichtige Aufgabe des Onkologen den Angehörigen die Möglichkeiten einer psychosozialen Begleitung nach dem Tode des Patienten aufzuzeigen. Greer (2002) hebt hervor, dass Sterbende keine »Psychotherapie«, sondern vielmehr eine aktive Unterstützung und Nähe benötigen. Die patientenzentrierte interdisziplinäre Zusammenarbeit des Onkologen mit einem Psychoonkologen erscheint in vielen Phasen des Krankheitsverlaufes eine richtungsweisende Voraussetzung für eine gute Lebensqualität des Krebspatienten zu sein.
33
. Tab. 33.2. Verhaltensmöglichkeiten des Arztes bei Sterbenden Im Sterbeprozess
Verhalten des Onkologen
Allgemeine Grundhaltung
Ruhige Sprache, mimisch und gestisch zugewandt, geduldig, respektierendakzeptierend, einfühlend, stimmig sein
Patient ist verzweifelt, traurig, hat Angst
Angebot eines Gesprächs über das Sterben; Geduld, Zeit nehmen und Verständnis zurückmelden;
Patient ist zornig
Verständnis zeigen, eigene Empfindungen hintanstellen (nicht projizieren)
Patient sucht Gespräch
Den Willen des Pat. erkunden, respektieren; sein Bedürfnis nach Vergangenheitsbearbeitung unterstützen
Patient sucht im Tode Nähe
Körperlicher Kontakt (Hand streicheln)
Angehörige sind dabei
In den Hintergrund treten oder auf Wunsch des Patienten den Raum verlassen; sonst ruhige Unterstützung geben
Zusammenfassung Die Psychoonkologie ist ein junges, sich zunehmend in der Onkologie etablierendes wissenschaftliches und klinisches Fach, das sich mit den vielfältigen Wechselwirkungen zwischen körperlichen, psychischen und sozialen Einflüssen im Kontext von Tumorerkrankungen befasst. Im besonderen Maße konnten psychoneuroimmunologische Studien eindrucksvoll den Zusammenhang zwischen psychischen Belastungen, immunologischen Prozessen bei der Entstehung, vor allem aber beim Verlauf einer Tumorerkrankung deutlich machen. Die Diagnose Krebs wird von den Betroffenen per se als ein emotional höchst belastendes Lebensereignis bewertet, das in vielen Fällen psychische Störungen zur Folge hat, die sich auf vegetative Störungen, Angststörungen, Depressionen, Anpassungsstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen beziehen. Dabei zeigen insbesondere Patienten mit einer prämorbiden ungünstigen psychischen Disposition ein erhöhtes Risiko eine
psychiatrische Störung im Verlauf einer Krebserkrankung zu entwickeln. Die psychotherapeutischen Behandlungsverfahren, vor allem die Verhaltenstherapie, ist auf eine Verminderung der Begleitstörungen der pharmakologischen Behandlung der Krebserkrankung und insbesondere auf eine adäquate Bewältigung der Erkrankung gerichtet, mit dem Ziel die Lebensqualität des Patienten zu verbessern. Neben der psychoonkologischen Betreuung durch Psychotherapeuten steht auch der Onkologe vor vielfältigen psychosozialen Aufgaben, die sich auf die Beachtung der psychischen Verarbeitungsprozesse des Krebspatienten bei der Diagnosemitteilung, Begleitung der Behandlung und auch im Terminalstadium beziehen. Dabei sollte stets auf eine integrative und interdisziplinäre Zusammenarbeit der im psychosozialen Feld wirkenden Personen (Psychologen, Seelsorger, Pflegepersonal) unter Einbeziehung der Angehörigen geachtet werden.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
34 Versorgungsstandard, Qualitätsmanagement und klinische Studien U. Creutzig, R. Herold
34.1
Standardisierung und Qualitätssicherung in der Onkologie: Notwendigkeit und Grundlagen – 719
34.2
Standards in der Versorgung
34.3
Instrumente der Qualitätssicherung in der Onkologie
34.4
Klinische Studien
34.5
Krebsregister
34.6
Leitlinien
– 721
– 722
– 723
Literatur – 724
– 720 – 721
719 34.1 · Standardisierung und Qualitätssicherung in der Onkologie: Notwendigkeit und Grundlagen
34.1
Standardisierung und Qualitätssicherung in der Onkologie: Notwendigkeit und Grundlagen
Grundlagen für das Konzept der »Qualität« der medizinischen Versorgung wurden bereits 1966 gelegt (Donabedian 1966) und ihre Eigenständigkeit 1996 in einschlägigen medizinischen Zeitschriften formuliert (Schrappe 2001). Hinsichtlich der Gewährleistung dieser Versorgungsqualität besteht gegenwärtig noch eine deutliche Lücke zwischen den gesetzlichen Vorgaben zur Qualitätssicherung, die zuletzt im Jahr 2003 in §§ 135a und 137 SGBV verstärkt wurden, und der tatsächlichen Verbreitung von Qualitätsmanagementsystemen, die über einzelne qualitätssichernde Maßnahmen hinausgehen. Für Betroffene werden Teile der gesetzlichen Vorschriften durch den sog. Qualitätsbericht offensichtlich. Dieser Bericht für jedes Krankenhaus ist seit 2005 im Internet verfügbar. Dadurch kann jedoch für sich allein »Qualität« noch nicht sichergestellt werden, denn zunächst wird dadurch nur »die zunehmende Nutzung des Internet zur Marktorientierung die hochgradige Variabilität der ärztlichen Leistungen in den Vordergrund rücken« (Schrappe 2001). Dennoch kommt die Förderung der Transparenz bei der Behandlung und Leistungsfähigkeit von Kliniken den vordringlichsten Wünschen der Betroffenen entgegen. Die »Qualität« bedarf ‒ unabhängig von System, Methode und Indikatoren ‒ für den jeweiligen medizinischen Bereich zunächst eines konkreten Grundverständnisses der Definition, der Beteiligten und des Gegenstandes. Nach der allgemeinen Definition versteht man unter »Qualität« das »Vermögen einer Gesamtheit inhärenter Merkmale eines Produkts, Systems oder Prozesses zur Erfüllung von Forderungen von Kunden und anderen interessierten Parteien« (DIN EN ISO-Norm 9000: 2000-01). Daneben kommt es auch darauf an, die zutreffenden abstrakten und operativen Ebenen für ein Qualitätssicherungssystem zu finden und festzulegen. »Traditionelle« Verfahren der Qualitätssicherung sind bekannt und weit verbreitet (Selbmann 2001). Demgegenüber sind neuere Verfahren der Qualitätssicherung bisher nur in ausgewählten Bereichen oder bestimmten Untergruppen von Krankenhäusern etabliert. So erfolgen in den Leistungsbereichen der »Bundesgeschäftsstelle Qualitätssiche-
. Abb. 34.1. Qualitätszyklus »Externe Qualitätssicherung«. Die medizinischen Fachgruppen aus erfahrenen Ärzten und Pflegenden erarbeiten das Qualitätssicherungssystem in einem iterativen Prozess. Dieser reicht von der Indikatorentwicklung über die pilotmäßige Anwendung bis zur Festlegung von kontinuierlichen Messverfahren. Die Fachgruppen bewerten auch die Ergebnisse der Qualitätssicherung und kooperieren mit anderen Arbeitsgruppen
34
rung« (http://www.bqs-online.de/) im Wesentlichen einmalige Erfassungen mit sehr unterschiedlich komplexen Dokumentationen. Die Entwicklungsschritte dieses einzelfallbasierten Qualitätssicherungssystems sind in . Abb. 34.1 dargestellt. Weitergehend sind beispielsweise strukturbasierte Zertifizierungsverfahren für Krankenhäuser, wie vor allem KTQ und ISO. Neuere Verfahren der Qualitätssicherung gehen methodisch über diese Ansätze noch hinaus. Sie umfassen eine Sammlung von Modellen, Methoden und Prinzipien der Qualitätsverbesserung, die der »Bewältigung der Differenzierungs- und Integrationsherausforderungen« zur gleichzeitigen Verbesserung von Qualität und Organisation dient (Kock 2001). Als ein solches Qualitätsmanagementsystem und zur Qualitätsdarlegung hat sich das Modell der European Foundation for Quality Management (EFQM) sowohl in der Wirtschaft als auch in der medizinischen Versorgung bewährt. Diesbezüglich ist derzeit weder im Bereich der internistischen Onkologie noch in der pädiatrischen Onkologie ein solches umfassendes Qualitätssicherungssystem formuliert worden. Qualitätssichernde Maßnahmen werden auch von der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie im Wesentlichen durch die Studien umgesetzt, die jedoch durchschnittlich nur einen kleinen Teil der Patienten einschließen können. In den Kompetenznetzen »Akute und chronische Leukämien« sowie »Maligne Lymphome« wurden in den letzten Jahren Qualitätssicherungsprojekte begonnen, beispielsweise »Supportive Therapie«, »Ökonomische Evaluation der Leukämietherapie«, »Regelversorgung in hämatoonkologischen Schwerpunktpraxen«, »Versorgungsepidemiologie« und Metaanalysen. In der Kinder- und Jugendmedizin erfolgte im Jahr 1999 eine bundesweit angelegte, umfassende Befragung Betroffener und Mitarbeiter (Riegl 1999), der die Dimensionen der Qualitätserwartungen und die enorme Spannweite der Versorgungssituation zu entnehmen sind. Auch im Krankenhaus-Report 2003 finden sich zum »Schwerpunkt: Krankenhaus im Wettbewerb« Einzelbeispiele der Anwendung von Qualitätssicherungssystemen in Krankenhäusern (Matthes u. Wiest 2002). In den Vereinigten Staaten sind mehrere öffentliche Institutionen mit der Qualität der medizinischen Versorgung befasst, unter anderem die »Agency for Healthcare Research and Quality«. Während ihres Expertentreffens im Jahr 2002 (Dougherty u. Simpson 2004) wurden die Schaffung der erforderlichen IT-Infrastrukturen und das Erreichen öffentlicher Unterstützung für Qualitätsmanagement in der Pädiatrie mit großem Abstand als die beiden wichtigsten Prioritäten empfohlen. Es wird weiterhin hervorgehoben, dass insbesondere die multizentrischen Ansätze von Behandlungsverfahren für krebskranke Kinder zu den besonders positiven Entwicklungen im Bereich der Qualitätssicherung der medizinischen Versorgung von Kindern zählen. Konkrete Maßnahmen zur Qualitätssicherung im Bereich der pädiatrischen Onkologie sind bereits in England realisiert. Hier werden z. B. »peer audits« (syn. »site visits«) in Verbindung mit »self assessments« der pädiatrischen Onkologie und Hämatologie durchgeführt, zum Teil in Zusammenarbeit mit dem National Institute for Clinical Excellence (NICE, eine Einrichtung des NHS), mit deren Hilfe die erarbeiteten Struktur- und Organisationsvorgaben für maximalversorgende »paediatric oncology centers« und nachgeordnete »paediatric oncology shared-care units« umgesetzt werden (Kaatsch u. Spix 2004; Pinkerton 2002).
720
Kapitel 34 · Versorgungsstandard, Qualitätsmanagement und klinische Studien
34.1.1 Nationaler Konsens
34
Das Paradigma der Untrennbarkeit von Versorgung und Forschung, das für die pädiatrische Onkologie in besonderem Maße gilt, ist wiederholt herausgestellt worden: »Neben diesen allgemeinen qualitätsverbessernden Maßnahmen dienen insbesondere prospektive Studien der Qualitätsverbesserung, um auf wissenschaftlicher Basis eine Beantwortung klinischer Fragen zu erzielen« (Informationszentrum für Standards in der Onkologie (ISTO), Deutsche Krebsgesellschaft e.V. 2004). Außerdem wird die Beurteilung und Dokumentation des Therapieerfolgs, der unerwünschten Therapieeffekte sowie der Lebensqualität erwartet und die Bereitschaft des Tumortherapeuten, an einer Optimierung der Tumortherapie durch Teilnahmen an kontrollierten Studien mitzuwirken. Qualifikation des Therapeuten und Qualität der Therapie führen zu dem zu fordernden optimalen Behandlungserfolg. Dieser muss durch ein umfassendes Qualitätssicherungsprogramm einschließlich Zertifizierung von Behandelnden, Behandlungseinrichtung und kontinuierlicher Fortbildung sichergestellt werden (Informationszentrum für Standards in der Onkologie (ISTO), Deutsche Krebsgesellschaft e.V. 2004). Grundsätzlich teilt auch der Gemeinsame Bundesausschuss die Einschätzung, dass zuverlässig nur mithilfe randomisierter Verfahren über die Wirkung und den Nutzen neuer »medizinischer Verfahren« (Behandlungsmethoden) eine Beurteilung erreicht werden kann (Kunz 2003), die schließlich auch eine der Voraussetzungen für die Übernahme in die kostenträgerfinanzierte Versorgung ist.
34.2
Standards in der Versorgung
Versorgungsstandards betreffen in einem Zentrum für hämatologisch-onkologische Versorgung die fachlichen, organisatorischen und apparativen Voraussetzungen der Diagnostik und Therapie in der stationären und ambulanten Versorgung (Strukturqualität), die Anforderungen an die Durchführung (Prozessqualität) sowie die Anforderungen an die Ergebnisqualität. Dazu gehören im Bereich der Strukturqualität beispielsweise die folgenden Aspekte (Fortschreibung der Diskussion auf der Strukturtagung der GPOH 2005 über die strukturellen Voraussetzungen eines pädiatrisch-onkologischen Zentrums): 4 Die fachliche Befähigung der verantwortlichen Ärzte (Fachärzte mit Schwerpunktbezeichnung Hämatologie und internistische Onkologie mit ESMO-Zertifikat, resp. Kinderhämatologie und -onkologie) und die qualifizierte ärztliche Betreuung auch außerhalb der Regelarbeitszeit durch die oben genannten Fachärzte/-innen. 4 Vorhandensein und Sicherstellung eines eigenständigen Rufdienstes durch die oben genannten Fachärzte/-innen bzw. ggf. Weiterbildungsassistenten zum oben genannten Schwerpunkt im Zentrum für hämatologisch-onkologische Versorgung. 4 Enge Kooperation des Zentrums mit allen anderen Fachdisziplinen, die jeweils für die Behandlung eines Patienten erforderlich sind. 4 Durchführung der Pflege grundsätzlich durch ausgebildete (Kinder)/Krankenpflegende, möglichst mit Fachweiterbildung in der Onkologie.
4 Konstruktive Zusammenarbeit des multiprofessionellen Teams in der Behandlung der Patienten. Das multiprofessionelle Team besteht zumindest aus dem ärztlichen Dienst, Pflegedienst und Psychosozialdienst, ggf. Diät-/Ernährungsdienst und Physio-/Ergotherapeuten. 4 Gewährleistung einer spezifischen und quantitativ angemessenen psychologischen, onkopsychologischen, psychotherapeutischen, pädagogischen und sozialarbeiterischen Versorgung. 4 Durchführung der medizinischen Dokumentation und Qualitätssicherung durch adäquat qualifiziertes und spezifisch geschultes Personal. Dies betrifft die Dokumentationen für Therapieoptimierungsstudien und Qualitätssicherung, die protokollgerechte Biomaterial- und Bilddatenlogistik und die fachspezifische Kodierung amtlicher Diagnosen und Prozeduren.
Organisatorische Vorraussetzungen des onkologischen Zentrums 4 Gewährleistung, dass die gesamte apparative und personelle Infrastruktur verfügbar ist, die für die Behandlung der jeweiligen onkologischen Patienten erforderlich ist. 4 Empfehlung an den Patienten bzw. seinen Erziehungsberechtigten, dass, wenn immer möglich, die Behandlung im Rahmen einer von der Fachgesellschaft (GPOH/DGHO) durchgeführten klinischen Studie erfolgen sollte. 4 Verpflichtung zur regelmäßigen Dokumentation und Berichterstattung der Diagnostik und Therapie an die Studienleitungen der Therapieoptimierungsstudien. 4 Grundsätzliche Vorstellung jedes einzelnen Patienten in einer abteilungsinternen, ggf. auch in einer interdisziplinären Tumorkonferenz. 4 Gewährleistung, dass der hausärztliche Vertragsarzt regelmäßig über die Behandlung seiner Patienten informiert wird. Nach Abschluss der tumorspezifischen Therapie im Zentrum erhält der Hausarzt einen patientenbezogenen Nachsorgeplan. 4 Verpflichtung, dass das ärztliche Personal der onkologischen Fachabteilung regelmäßig an ärztlichen Fortbildungen in Onkologie und an der Weiterbildung für die Erlangung des Schwerpunktes für Kinder- bzw. Erwachsenenhämatologie und -onkologie teilnimmt. Dazu zählen auch die regelmäßigen Treffen der Studiengruppen der entsprechenden Therapieoptimierungsstudien und Fortbildungen in Pädiatrie, Hämatologie, Onkologie, Biometrie, Infektiologie oder Qualitätsmanagement. 4 Zur Gewährleistung eines kontinuierlichen Erfahrungseinsatzes und -zugewinns und damit grundlegender Qualitätsaspekte sollten für solche Zentren sachgemäße Mindestanzahlen an onkologischen Erstaufnahmen pro Jahr zur Diagnostik und Therapie ermittelt und festgelegt werden.
Die notwendige Infrastruktur für eine interdisziplinäre onkologische Versorgung ist in der Übersicht »Anforderungen an die Ausstattung von onkologischen Zentren« zusammengefasst.
721 34.4 · Klinische Studien
Anforderungen an die Ausstattung von onkologischen Zentren Abteilungen/Einrichtungen – jederzeit für die Versorgung verfügbar: 4 Einrichtung zur Intensivbehandlung im eigenen Haus (mit Möglichkeit zur maschinellen Beatmung, Hämofiltration, Dialyse, Blutaustausch und Leukapherese), 4 dem technischen Fortschritt entsprechende bildgebende Diagnostik, mit Möglichkeit zu Untersuchungen unter Narkose bzw. Sedierung 4 Labormedizin bzw. klinisch-chemisches Labor 4 Transfusionsmedizin 4 (Kinder-) Chirurgie 4 Neurochirurgie 4 Kardiologie 4 Nephrologie Einrichtungen – täglich dienstbereit: 4 Apotheke mit zentraler, bei Bedarf täglich verfügbarer Zytostatikazubereitung 4 Institut für Mikrobiologie Abteilungen/Einrichtungen – werktäglich verfügbar 4 Hämatologisches Labor, einschließlich der Möglichkeit zu zytologischen Blut- und Knochenmarkuntersuchungen mit zytochemischen Spezialfärbungen 4 Institut für Pathologie 4 Krankenhaushygiene 4 Radiotherapie mit dem technischen Fortschritt entsprechenden radioonkologischen Verfahren 4 Orthopädie 4 Klinik für Nuklearmedizin 4 Qualitätsmanagement/Medizincontrolling
34.2.1 Zertifizierung von Einrichtungen
34
erstmalig überregional in Deutschland erfolgen (Schmalenberg u. Höffken 2003).
34.3
Instrumente der Qualitätssicherung in der Onkologie
Der wichtigste Parameter, an welchem sich die onkologische Versorgung messen lässt, ist das Überleben der betroffenen Patienten. Übergreifende und umfassende Qualitätsberichte darüber gibt es in der pädiatrischen Onkologie zurzeit als jährlich fortgeschriebenen Bericht des Deutschen Kinderkrebsregisters (Kaatsch u. Spix 2004). Weitere übergreifende Berichte zu Leistungen und Ergebnissen werden unregelmäßig veröffentlicht (Creutzig et al. 2003). Demnach liegen als »Globalparameter« die 5-Jahres-Überlebensraten zwischen 59% (AML) und 92% (Lymphome), wobei die Rekrutierungsraten in Therapieoptimierungsstudien zwischen 74% (Hirntumoren) und 100% (Leukämien, Neuroblastome) betragen. Als Instrumente für die Qualitätssicherung in der pädiatrischen Onkologie und Hämatologie werden seit geraumer Zeit die Therapieoptimierungsstudien betrachtet (Göbel et al. 1997). Sie dienen sowohl der Patientenversorgung als auch der Forschung und entsprechen einer strukturierten Umsetzung der jeweiligen Leitlinien. Eine Koordination der Leitlinienentwicklung findet statt (Creutzig u. Henze 2006). In 35 von 43 Behandlungseinrichtungen existieren eigene interne Qualitätssicherungsvorhaben. Im Zusammenhang mit einer bisher einmaligen Zertifizierung des psychosozialen Teams nach DIN EN ISO 9000 ist von den Ärzten und Psychologen der zertifizierten Klinik ein umfassender, überwiegend theoretischer Überblick über das zur Verfügung stehende Methoden- und Begriffsarsenal zum »Qualitätsmanagement und Versorgungsmanagement« entwickelt und publiziert worden (Kusch et al. 1998). Grundlegende Anforderungen an Strukturmerkmale pädiatrisch-onkologischer Einrichtungen wurden veröffentlicht (Niethammer 1987; Göbel et al. 1991).
in der Onkologie Für eine Zertifizierung müssen »checklistenfähige« wissenschaftliche Kriterien zum Strukturprozess und über die Voraussetzungen zur Erhebung der Ergebnisqualität erstellt werden. Dies ist eine Aufgabe, die Arbeitsgruppen im Auftrag der Zertifizierungskommission der Deutschen Krebsgesellschaft erfüllen. Checklisten für Brustkrebszentren werden bereits bei einer bundesweiten Zertifizierung von Brustkrebszentren eingesetzt (Schulenberg 2003). Für den Bereich der internistischen Onkologie liegt eine erste Fassung des fachlichen Anforderungskatalogs vor, der auch bereits im ambulanten und stationären Bereich evaluiert wurde. Die fachlichen Anforderungen orientieren sich im Bereich der Strukturqualität an den Empfehlungen der Fachgesellschaften und beruhen auf einer Umfrage zur bestehenden Strukturqualität bei AIO-Mitgliedern in ganz Deutschland. Durch die externe Überprüfung vor Ort (externes Audit) soll die Anwendung der Leitlinien bei der Mehrzahl der Patienten nachvollzogen werden. Wie auch bei den Anforderungen für Brustkrebszentren, werden EDV-gestützte Erfassungssysteme für die Behandlungsqualität gefordert. Im Rahmen dieses Zertifizierungsverfahren soll die Erfassung und Vergleichbarkeit der Behandlungsqualität
34.4
Klinische Studien
34.4.1 Beispiel: Pädiatrische Onkologie
Therapieoptimierungsstudien werden als Instrumente für eine umfassende Qualitätssicherung flächendeckend und für fast alle Krankheitsbilder in der pädiatrischen Onkologie und Hämatologie durchgeführt. Der Aufwand für die Qualitätssicherung hängt ab von der Bedrohung durch die behandelte Krankheit, der Gefährdung durch die Therapiemaßnahmen, der Abhängigkeit des Patienten von der Therapiemaßnahme und der Häufigkeit, mit der das Behandlungsziel erreichbar ist; so wird der Aufwand für die Qualitätssicherung bei einer Überlebenswahrscheinlichkeit von 50% größer sein als bei Überlebenswahrscheinlichkeiten von nahe 100% oder nahe 0%. Die einzelnen qualitätssichernden Maßnahmen im Rahmen von Therapieoptimierungsstudien sind in der folgenden Übersicht aufgelistet.
722
Kapitel 34 · Versorgungsstandard, Qualitätsmanagement und klinische Studien
Qualitätssichernden Maßnahmen im Rahmen von Therapieoptimierungsstudien 4 Erstellung eines Behandlungsprotokolls, das nach fachlichen und ethischen Kriterien und auch hinsichtlich ihrer GCP-Konformität begutachtet wird 4 Referenzzentren zur Bestätigung der Diagnose 4 Dokumentation von Daten, einschließlich der Erfassung von Akut- und Spätfolgen, Meldung und Auswertung von unerwünschten Ereignissen (SAE) und schweren, unerwarteten Reaktionen (SUSAR) zur Erhöhung der Sicherheit von Patienten 4 Konsiliardienst zur Beratung im Einzelfall und als Referenzzentrum – Referenzbefunde werden von ausgewählten Laboratorien erhoben, Pläne für besonders kritische Therapien (z. B. Strahlentherapie) werden teilweise zentral erstellt. 4 Regelmäßiger Erfahrungsaustausch und externe Kontrolle (Creutzig u. Winkler 1994)
34
Studienzentralen haben sich zu Kompetenzzentren entwickelt. Der Wissensstand wird durch vielfältigen nationalen und internationalen Austausch stetig vergrößert und an die pädiatrischonkologisch tätigen Ärzte weitervermittelt. Durch Studienleitungen und Kinderkrebsregister wird versucht, den Kontakt zu Patienten langfristig aufrecht zu erhalten, um Spätfolgen systematisch zu erfassen und Empfehlungen zu ihrer Erkennung und ggf. zur Behandlung durch niedergelassene Ärzte zu erarbeiten (Langer et al. 2000; Langer et al. 2004). Langfristige Nachsorgepläne werden krankheitsspezifisch erarbeitet (http://www.kinderkrebsinfo.de/nachsorge). Die pädiatrischen Studien werden wie auch Studien aus anderen onkologischen Bereichen begutachtet. Die »Kommission Klinische Studien in der Onkologie« der Deutschen Krebsgesellschaft vergibt ein Gütesiegel für Studienprotokolle nach positivem Begutachtungsverfahren. Die Versorgungsqualität für krebskranke Kinder und Jugendliche konnte durch die Einführung von Tageskliniken effizient verbessert und die Zufriedenheit der Patienten gesteigert werden (Klaes u. Riedel 1996). Neben dem frühen Zusammenschluss und der kontinuierlichen Zusammenarbeit pädiatrischer Onkologen unter Einbeziehung aller beteiligten Fachdisziplinen hat die Gründung zentraler Register und die Durchführung multizentrischer prospektiver Therapiestudienreihen zur Organisation einer optimalen Versorgung krebskranker Kinder und Jugendlicher in Deutschland geführt. Im Sinne der Patienten ist hier ‒ überwiegend gefördert durch den damaligen Bundesminister für Forschung und Technologie (BMFT) und die Deutsche Krebshilfe ‒ ein studienbasiertes System der Qualitätssicherung und Qualitätsverbesserung entstanden.
Studiengruppen zur akuten lymphatischen Leukämie (GMALL), der akuten myeloischen Leukämie (AML-CG; AML-SG; DSIL; AML-OSHO), der deutschen MDS-Studiengruppe, der deutschen CML-Studiengruppe, der deutschen Hodgkin-Lymphom Studiengruppe (GHSG). Hier wurde in randomisierten und nicht randomisierten Studien eine zügige Verbesserung der Therapie von bösartigen Erkrankungen erreicht. Studien bei Erwachsenen und Kindern mit dem Ziel der Therapieoptimierung werden in den meisten Fällen von umfangreichen Begleitforschungsprogrammen zur Verbesserung des Verständnisses über die Biologie maligner Tumore und Leukämien begleitet. Die deutschen Studiengruppen für Patienten im Erwachsenenalter sind auch begehrte Ansprechpartner für pharmazeutische Konzerne, um Zulassungsstudien durchzuführen.
34.5
Krebsregister
Die vollständige Erfassung von Krebsneuerkrankungen in der Bevölkerung ist eines der zentralen Ziele epidemiologischer Krebsregister, denn erst bei einem ausreichend hohen Erfassungsgrad von mindestens 90% sind die Daten valide verwendbar. In Deutschland gibt es in verschiedenen Bundesländern eine flächendeckende Erfassung, z. B. im Saarland und in den Stadtstaaten. Die Erfassung ist jedoch keinesfalls in allen Bundesländern vollständig (Batzler 2000) und ist auch nach der Wende in dem zuvor hervorragend geführten Gemeinsamen Krebsregister in den Neuen Bundesländern (GKR) deutlich zurückgegangen (Eisinger 2000). Inzwischen konnte durch Klärung der rechtlichen Bestimmungen die Weiterarbeit des GKR gesichert werden. Seit Jahren gibt es Bemühungen, die Qualität der Krebsregistrierung in Deutschland auf allen Ebenen zu verbessern. Ursachen für die Unvollständigkeit liegen vor allem in der Heterogenität der vorhandenen Verfahren und in den Auflagen des Datenschutzes. Zur Verbesserung der Situation sind 1. Strukturen zu etablieren: Institutionalisierung von Krebsregistern, finanzielle Ausstattung, Festlegung von Meldewegen, Definition von Zuständigkeiten. Hierzu ist die Unterstützung durch Politiker und Schlüsselpersonen des Gesundheitssystems notwendig. 2. Prozesse durchzuführen: Meldeprozeduren, Vorgabe von Kerndaten, Festlegung von Zuständigkeiten und Weitergabe von Daten. Akteure sind hier die behandelnden Ärzte, Kliniker, pathologische Institute und Tumorzentren. 3. Ergebnisse zu verbreiten. Für die Auswertung und Verbreitung der Ergebnisse sind die Mitarbeiter im Krebsregister, Epidemiologen und Journalisten zuständig (Bellach 2000). Im Jahr 2004 (Kurth et al. 2004) wurde über eine Verbesserung bei der Krebsregistrierung berichtet. Der flächendeckende Aufbau von Krebsregistern ist in allen Bundesländern nahezu abgeschlossen und die Vollzähligkeit der Erkrankungsmeldungen deutlich angestiegen.
34.4.2 Internistische Onkologie
Therapiestudiengruppen aus der Internistischen Onkologie sind wichtige Plattformen für nationale Forschungsprogramme. Sie nehmen aufgrund ihrer Nachhaltigkeit und Effizienz international eine Sonderrolle ein. Jährlich werden mehrere tausend Patienten in diese Studien eingeschlossen. Hervorzuheben sind die
34.5.1 Deutsches Kinderkrebsregister
Das Deutsche Kinderkrebsregister am Institut für Medizinische Statistik und Dokumentation in Mainz (damals unter der Leitung von J. Michaelis) erfasst seit 1980 bevölkerungsbezogen die In-
723 34.6 · Leitlinien
34
. Abb. 34.2. Informationsaustausch zwischen Kliniken, Studienleitung und Kinderkrebsregister
formationen über etwa 95% aller unter 15-jährigen pädiatrischonkologischen Patienten. Es ist heute das größte seiner Art. Seitdem im Jahre 1991 mit der Deutschen Wiedervereinigung die Erfassung ausgedehnt wurde, kommen jährlich bei einer Bevölkerung von 13 Mio. Kindern etwa 1.800 Neuerkrankungen hinzu (Kaatsch u. Spix 2004). Zwischen Studienleitung und Register findet ein regelmäßiger Informationsaustausch statt (. Abb. 34.2). Dieser umfasst auch die Verlaufsdaten. Der Datenaustausch ist ein wichtiges Element der Kooperation und Qualitätssicherung. Das spezifische Fachwissen und nicht zuletzt die Autorität einer Studienleitung bewirkt, dass die im Rahmen der Studien erfassten Daten eine hohe Qualität aufweisen und dadurch die Aussagekraft des Kinderkrebsregisters verbessert wird. Die wesentliche Aufgabe des Kinderkrebsregisters besteht in der Beantwortung epidemiologischer Fragestellungen und in der objektiven Ermittlung der Ergebnisqualität der Behandlung von Kindern mit Malignomen. Als Projekt von hoher gesundheitspolitischer Relevanz und beispielhaftem Charakter für die Vorsorgemedizin ist das Neuroblastom Screeningprojekt zu nennen (Schilling et al. 2002). Es wurde in Kooperation zwischen Therapieoptimierungsstudien und Deutschem Kinderkrebsregister
durchgeführt. Ein anderes viel beachtetes Projekt ist die Fallkontrollstudie zum Auftreten von Leukämien in der Nähe deutscher Kernkraftwerke (Kaatsch et al. 1998). Weitere Publikationen des Kinderkrebsregisters betreffen relevante, vorwiegend epidemiologischen Fragen, darunter zu angeborenen und erworbenen Risikofaktoren, zum Langzeitüberleben, zu Sekundärmalignomen und zu methodischen Entwicklungen (s. auch http://www.kinderkrebsregister.de).
34.6
Leitlinien
Leitlinien sind Voraussetzungen für qualitätsgesicherte Diagnostik und Therapie. Seitens der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) werden die interdisziplinären Leitlinien in der Onkologie entwickelt, wobei dem Konsensusverfahren innerhalb der verschiedenen Fachgesellschaften ein großer Stellenwert zukommt. Die Anhebung von Stufe-1-Leitlinien auf S2- und S3-Niveau ist in verschiedenen Bereichen geplant und ist für die Stufe 3 für 6 Leitlinien gelungen (z. B. Mammakarzinom und Hauttumoren, s. auch http://www.krebsgesellschaft.de).
Zusammenfassung Krebserkrankungen erfordern grundsätzlich eine qualifizierte Diagnostik und stadiengerechte Kombinationstherapie, die häufig aus einer Verknüpfung von Operation, Radiotherapie und Chemotherapie besteht. Die Behandlung ist überwiegend hoch spezialisiert und kostenintensiv. Eine Sicherung der Qualität der Versorgung ist unabdingbar; andererseits sind neue 6
Verfahren der Qualitätssicherung bisher nur in ausgewählten Bereichen oder bestimmten Subgruppen von Einrichtungen etabliert. Neuere Verfahren der Qualitätssicherung enthalten neben der Qualitätssicherung im Einzelfall (Qualitätszyklus) weitere Methoden, die der Verbesserung von Qualität und Organisation dienen (z. B. EFQM-Modell).
724
Kapitel 34 · Versorgungsstandard, Qualitätsmanagement und klinische Studien
Im Bereich der pädiatrischen und internistischen Onkologie werden qualitätssichernde Maßnahmen im Wesentlichen durch Therapieoptimierungsstudien umgesetzt, die in der Pädiatrie fast alle Patienten einschließen. Für die pädiatrische Onkologie gilt auch das Paradigma der Untrennbarkeit von Versorgung und Forschung. Die prospektiven Studien dienen der Qualitätsverbesserung durch die Beantwortung klinischer Fragen auf wissenschaftlicher Basis. Die Dokumentation des Therapieerfolges, der unerwünschten Therapieeffekte und der Lebensqualität sind Qualitätsmaßnahmen. Die Qualifikation des Therapeuten
und die Qualität der Therapie sind die Basis für einen optimalen Behandlungserfolg. Dieser kann nur durch ein umfassendes Qualitätssicherungsprogramm, das auch die Zertifizierung von behandelnden Ärzten und Behandlungseinrichtungen und eine kontinuierliche Fortbildung enthält, sichergestellt werden. Standards der Versorgung im Bereich der Strukturqualität werden dargestellt, ebenso die qualitätssichernden Aspekte von Therapieoptimierungsstudien. Letztlich sind im Konsens erarbeitete Leitlinien Voraussetzungen für die qualitätsgesicherte Diagnostik und Therapie.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
34
35
35 Ethische Fragen in der Onkologie J.G. Meran
35.1
Was bedeutet Ethik in der Onkologie?
35.2
Was muss der Arzt wissen, um ethische Fragen und Probleme analysieren zu können? – 726
35.3
Gibt es eine ethische Methodik?
35.4
Arzt-Patient-Beziehung – 726
35.5
Prinzip der Menschenwürde
35.6
Ambivalenzen zwischen Hochtechnologie und Schamanentum. – 727
35.7
Paternalismus und Autonomie
35.8
Aufklärung, Begleitung und Entscheidungsfindung – 730
35.9
Ethische Fragen am Lebensende
35.10
Therapiemodifikation in der Onkologie
35.11
Verteilungsgerechtigkeit – Gerechte Allokation in der Onkologie
35.12
Patientenverfügungen – 739
35.13
Ethische Fragen bei klinischen Studien
35.14
Fortbildung und Perspektiven von Ethik in der Onkologie Literatur – 741
– 726
– 726
– 727
– 727
– 734 – 737
– 740 – 741
– 737
726
Kapitel 35 · Ethische Fragen in der Onkologie
35.1
Was bedeutet Ethik in der Onkologie?
Jede ärztliche Tätigkeit geht über naturwissenschaftliche Probleme weit hinaus und erfordert immer wieder moralische Bewertungen. Ethik ist die »Theorie der Moral«, also die argumentative Auseinandersetzung mit Moral, die ihrerseits soziokulturell geprägte Regeln widerspiegelt (Schockenhoff 2007). Aufgabe der Ethik ist daher die Begründung des sittlichen, guten Handelns. Der verantwortliche Arzt in Klinik und Praxis steht täglich vor wertenden Entscheidungen, bei denen er neben den rein medizinisch-physiologischen Daten vor allem Nutzen und Risiko, Wirkungen und Nebenwirkungen im Interesse der ihm anvertrauten Patienten abwägen muss. Eine medizinische Ethik kann dem Arzt keine Entscheidungen abnehmen, aber Grundlagen liefern um schwierige Entscheidungsprozesse konsistent, durchdacht und letztlich nach bestem Wissen und Gewissen zu gestalten.
35.2
35
Was muss der Arzt wissen, um ethische Fragen und Probleme analysieren zu können?
In der Praxis wird eine systematische Reflexion von ärztlichen Handlungen meist nur dann erfolgen, wenn Konflikte, Meinungsverschiedenheiten oder einfach ein Unbehagen mit der Situation auftreten. Die Grundvoraussetzung für ethische Überlegungen ist die Bereitschaft zur Reflexion – zum Nachfragen nach Gründen und Argumenten für eine Entscheidung. Ethische Kompetenz ist zu einem großen Teil reflexive und kommunikative Kompetenz. Es geht also nicht so sehr um ein philosophisches Fachwissen, sondern um die Bereitschaft sich und sein Handeln in Frage zu stellen, kritisch zu überprüfen und zu durchdenken. Verschiedene Modelle zur Vereinfachung der ethischen Analyse haben sich entwickelt. Es gibt Prinzipien und Regeln, an denen man sich orientieren kann. Die bekannteste ist die sog. goldene Regel: »Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem andern zu«. Den meisten Medizinern sind die hippokratischen Maximen »primum non nocere« und »primum utilis esse« bekannt. In neuerer Zeit kamen noch die Maximen »salus aegroti suprema lex« und »voluntas aegroti suprema lex« (»das Heil bzw. der Wille des Kranken ist oberstes Gesetz«) hinzu (Koslowski 1987). In der jüdisch-christlichen Tradition war die medizinische Ethik fest verwurzelt und im Wesentlichen auf normativen Pflichten aufgebaut, die das Handeln leiten sollten. Dieser deontologischen Normenethik (griech. »deon« = Pflicht), wurde die teleologische Ethik (griech. »telos« = Ziel) mit zielorientierten Maximen und dem Utilitarismus als prominentestem Vertreter gegenübergestellt. Diese Gegenüberstellung ist theoretisch, da in der praktischen Anwendung sowohl absolute Normen, als auch eine Orientierung an den Folgen die Handlungen bestimmen. In den letzten Jahrzehnten kam es im Zuge der allgemeinen Demokratisierung und der neuen Kommunikationsstrukturen zu größerem Laienwissen und zu wachsender Selbstbestimmung. Die Autonomie, das Selbstbestimmungsrecht bekam zunehmend Bedeutung und das Prinzip des »Informed Consent« wurde zu einem Schlüsselbegriff, der bis heute unverändert ein zentrales Element der Medizinethik darstellt. Geprägt wurde dieser Begriff von der Rechtsprechung, und es wird nicht zuletzt an diesem Beispiel die enge Verflechtung deutlich, die zwischen Recht und Ethik besteht. Mit zunehmender Komplexität der medizinethischen Fragestellungen wächst auch die interdisziplinäre Aufgabe zwischen Medizinern, Juristen, Philosophen, Theologen, Sozialwissenschaftern, Pflegepersonal, Ökonomen und Politikern.
35.3
Gibt es eine ethische Methodik?
Als neue methodische Grundlage für ethische Überlegungen wurden von Philosophen der US-amerikanischen President’s Commission die »Principles of Biomedical Ethics« entwickelt, die großen Einfluss auf die ethische Diskussion bekamen. Autonomie, Benefizenz (Gutes tun), Nonmalefizenz (Nicht schaden) und Gerechtigkeit gelten als die wesentlichen vier Prinzipien, in deren Zusammenhang sich ethische Fragen diskutieren und analysieren lassen (Beauchamp u. Childress 1979). In vielen Krankenhäusern entwickelte sich eine Praxis der Fallanalyse, die direkt und pragmatisch umgesetzt wurde: »Was ist in der konkreten Situation zu tun?« Eine solche Problemanalyse beginnt mit dem Sammeln der moralisch relevanten Fakten. Hierbei werden ein kurzer Abriss der medizinischen Epikrise, aber auch die Wünsche und Präferenzen der Patienten und die problematischen Entscheidungspunkte aufgezeigt. Mit diesem Grundmaterial werden die einzelnen Entscheidungsschritte und deren Alternativen vor dem Hintergrund der vier Prinzipien durchleuchtet. Die ethischen Probleme werden aus dem Kontext herauskristallisiert und zu den Entscheidungsalternativen in Beziehung gesetzt. Es wird bei solch einem Prozess rasch deutlich, dass medizinische Daten und Fakten nur das Rohmaterial und die Grundlage bieten können, während die problematischen Entscheidungen von Prinzipien und Maximen, letztlich von Grundhaltungen und Menschenbildern abhängen. Daher werden auch von den ärztlichen Standesvertretungen Positionspapiere (u. a. Deklaration von Helsinki) bis hin zu spezifischen Richtlinien (z. B. Grundsätze der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung 2004) verlautbart, die in Konfliktfällen eine Orientierung erlauben.
Ethische Fallanalyse 1. 2. 3. 4.
Ethisch relevante Fakten sammeln Ethische Probleme, Konflikte benennen Prinzipien, Maximen oder Richtlinien anwenden Lösungsalternativen nach Prioritäten ordnen
In der konkreten Fallanalyse werden oft sog. »Extremfälle« auftreten, die sich dadurch auszeichnen, dass keine Lösung ideal erscheint und jede Entscheidung auch Nachteile in Kauf nehmen muss. Oft sind es einfach Grauzonen, die in der ärztlichen Situation als Realität bestehen bleiben, ebenso wie die Schwierigkeit, dass unser Einblick in die medizinische Situation nur eingeschränkt ist, manche Fragen offen bleiben müssen und Prognosen immer unsicher sind. Den Ärzten bleibt also nicht erspart, wertende Entscheidungen zu treffen, oft aufgrund von Abwägungen und Wahrscheinlichkeiten. Wichtig erscheint hierbei, dass diese Entscheidungen transparent bleiben, denn die Wertentscheidung ist im Gegensatz zur rein medizinisch-fachlichen Entscheidung kein ärztliches Privileg. Vielmehr sollte sie soweit als möglich die Wünsche und Präferenzen der Patienten widerspiegeln.
35.4
Arzt-Patient-Beziehung
Innerhalb der Arzt-Patient-Beziehung werden die Entscheidungen getroffen, die Anlass zu einem ethischen Konflikt geben können. Häufig wird übersehen, dass diese Beziehung nicht isoliert steht, sondern eingebettet und verflochten ist mit der Realität der Kran-
727 35.7 · Paternalismus und Autonomie
kenversorgung und im weiteren Sinne mit unserer Gesellschaftsstruktur. Hierzu gehört die Pflegesituation mit den aktuellen Spannungen und Abgrenzungsversuchen zwischen Pflege und ärztlicher Tätigkeit, die Hierarchien und Machtbereiche der verschiedenen Berufsgruppen und nicht zuletzt die angespannte ökonomische Situation. Diese Faktoren rücken den Patienten manchmal aus dem Mittelpunkt. Ein weiteres ethisches Spannungsfeld, das zunehmend an Bedeutung und Problematik gewinnt, liegt in der wachsenden Pluralität der Menschenbilder, Weltanschauungen, Religionen und Ideologien. Der theoretische Philosophenstreit über Letztbegründungen wurde längst überholt von der Realität, in der nebeneinander die unterschiedlichsten Positionen ganz konkret zum Ausdruck kommen. Das breite Themenfeld der Sterbehilfe ist hierfür paradigmatisch, wo neben den Bestrebungen zu maximalem Lebenserhalt, eine hoch entwickelte Palliativmedizin und die Gründung von Hospizen genauso Zuspruch finden, wie die Frage nach aktiver Euthanasie, die zumal in den Niederlanden und Belgien auch rechtlich erlaubt praktiziert wird. Damit steht heute im medizinischen Kontext eines der ältesten Tabus zur Diskussion, und zwar, ob es dem Menschen erlaubt sein soll, absichtlich Leben zu beenden. In direktem Zusammenhang steht die Frage, ob Leben ein Wert an sich ist oder erst durch die Realisierbarkeit bestimmter minimaler Qualitäten lebenswert wird.
Leben und Tod, die neuen Möglichkeiten lösen aber auch immer mehr Ängste aus. Auch die entsprechende Gegenbewegung, der Ruf nach einer verstehenden und menschlichen Medizin, möglichst persönlich und manchmal verzerrt bis hin zu Wunderheilermethoden ist ungebrochen populär. Während auf der einen Seite die Medizin in die molekularbiologische Ebene der Erkrankungen vordringt und neue revolutionäre Erkenntnisse gewinnen konnte, hat sie andererseits viel Vertrauen verloren. Patienten fürchten Anonymität und Studienmedizin und wenden sich an manchmal zweifelhafte Helfer, die es besser verstehen die individuellen Nöte und Ängste anzusprechen. Es ist dies ein parallel erscheinendes Paradox zu unserer modernen Kommunikationswelt, in der wir binnen kürzester Zeit mit Menschen auf einem anderen Erdteil verbunden sein können, aber trotzdem wachsenden Tabus und offensichtlicher Sprachlosigkeit ausgesetzt sind. Krankheiten wie Krebs, Aids und Suchtkrankheiten sind unverändert mit Vorurteilen verbunden, rufen metaphorische Vorstellungen hervor und haben keinen Platz in einer Leistungsgesellschaft. »Der soziale Tod eilt dem physiologischen Tod schon weit voraus« (Engelke et al. 1979). Dieses leider häufig zu beobachtende Phänomen ist eine große Aufgabe für die Praxis der Ethik in der Medizin.
35.7 35.5
Paternalismus und Autonomie
Prinzip der Menschenwürde
Die Würde des Menschen als ein Grundwert wird von mehreren Verfassungen europäischer Staaten garantiert und an prominente Stelle gerückt. Das deutsche Grundgesetz bestimmt in Art. 1 Abs. 1: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Diese Verfassungsgarantie wird durch Art. 79 Abs. 3 (Verfassungsänderungsverbot bezüglich der Grundsätze des Art. 1) weiter auch gegenüber dem Gesetzgeber abgesichert. Auch die Verfassungen von Irland, Italien, Schweden, Portugal, Spanien und Griechenland beinhalten »Menschenwürde«. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) der United Nations konstatiert in Art. 1: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Die EG Charta des Krankenhauspatienten (1979) führt in ihrem Art. 2 an: »Der Krankenhauspatient hat das Recht auf eine rücksichtsvolle Betreuung unter Respektierung seiner menschlichen Würde. Diese Betreuung umfasst nicht nur medizinische, pflegerische und verwandte Dienstleistungen, sondern auch angemessene Beratung, Unterbringung, Amtshilfe und technische Hilfe.« Diese auch in vielen weiteren Dokumenten genannte Menschenwürde meint die individuelle Würde jedes Menschen, die ihm nicht aufgrund irgendwelcher Leistungen, sondern allein wegen der Zugehörigkeit zur Gattung Mensch eigen ist (sog. Mitgiftwürde). Der Schutz von Menschenwürde ist öffentliche und individuelle Aufgabe. Menschenwürde gilt mehr als ein Leitprinzip, denn als Argument in der Ethikdebatte, und erlaubt noch keine normative Regelung der offenen Fragen, soll aber die unbedingt zu respektierende Subjektstellung des Menschen hervorheben (Höffe 2002).
35.6
35
Ambivalenzen zwischen Hochtechnologie und Schamanentum.
Gerade in der modernen Onkologie faszinieren technisches Können und Machbarkeit, die trügerische Scheinherrschaft über
Im Bereich der Onkologie werden manche ethische Fragen besonders drängend. Hierzu gehört die Problematik der Selbstbestimmung, die gerade bei schwerstkranken und älteren Patienten auch zu einer Überforderung werden kann. In den letzten Jahrzehnten kam es langsam, doch stetig zu einem Paradigmenwechsel vom sog. Paternalismus zur Patientenautonomie. Gemeint ist damit die Entwicklung von einer zwar fürsorglichen, doch bevormundenden ärztlichen Haltung nach dem Motto: »doctor knows best« – hin zu einem partnerschaftlichen Verhältnis, in dem nach gemeinsamer Überlegung zwischen dem Experten und dem Betroffenen eine gemeinsame Entscheidung getroffen wird, bei der das letzte Wort immer der Patient behält. Dieses »shared decsion making« entspricht unserem Demokratieverständnis und dem Bestreben nach eigenständigen Entscheidungen. Katalysiert wurde diese Entwicklung durch rechtliche Regelungen, genauer durch das Strafgesetz welches in Deutschland Behandlung ohne rechtfertigendes Einverständnis nach § 223 StGB als »Körperverletzung«, in Österreich nach § 110 StGB als »eigenmächtige Heilbehandlung« ahndet. Neben diesen gesetzlichen Vorgaben ist aber auch die moderne Kommunikationswelt mit einem enorm gewachsenen Laienwissen und durch zunehmendes populärwissenschaftliches Interesse an medizinischen Themen mitverantwortlich für die wachsende Selbstständigkeit von manchen Patienten. In den letzten Jahren war es vor allem das Internet, das praktisch jedem Benutzer ein Fenster in die Welt der Medizin öffnet und es ermöglicht die aktuellsten Entwicklungen und Fortschritte zu verfolgen. Ein Prüfstein für paternalistische Einstellungen sind Aufklärungsgespräche, die manchmal noch ein Generationsproblem deutlich machen können. Obwohl gerade in der Onkologie vielfältige psychologisch-empirische Studien gezeigt haben, dass die Frage nicht lauten kann, ob, sondern nur wie man den Patienten aufklären sollte, wird das gnädige Verschweigen selten, aber doch noch praktiziert. Rechtlich ist das sog. »therapeutische Privileg« auf Situationen beschränkt, in denen die Aufklärung wegen ernstlicher Gesundheits- oder Lebensgefahr
728
35
Kapitel 35 · Ethische Fragen in der Onkologie
für den Patienten kontraindiziert ist (Laufs u. Uhlenbruck 1992). Nur in diesen seltenen Ausnahmefällen dürfte man die Aufklärung über Diagnose, Verlauf und Therapie zurückhalten. Alles andere wäre eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes, der Autonomie des Patienten. Autonomie entstammt der griechischen Wurzel »autos« (selbst) und »nomos« (Gesetz) und bedeutet Selbstbestimmung. Während der Begriff in der Antike politisch geprägt war, erlangte er im 18. Jahrhundert durch die Werke Immanuel Kants eine zentrale Position in der ethischen Diskussion. Für Kant besteht die Autonomie des Menschen darin, die eigenen Normen und Regeln kritisch zu überprüfen und nicht subjektiven Interessen und Wünschen zu folgen, sondern sich den durch eigene Urteilskraft erkennbaren, allgemein verbindlichen Regeln zu unterwerfen. »Moralität ist also das Verhältnis der Handlungen zur Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit ... Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen, als so, dass die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien« (Kant 1956). Diese Autonomie, die sich den Regeln des Sollens und nicht des Wollens unterwirft, ist auch die Basis der Menschenwürde. »Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur«. Selbstbestimmung ist jedoch nicht nur im Sinne der auf Kant zurückgehenden deontologischen ethischen Theorien ein zentrales Argument. Autonomie in einem anderen Sinne spielt auch bei teleologischen Handlungstheorien, wie dem Utilitarismus, der die moralische Qualität ausschließlich anhand der Folgen von Handlungen festmacht, eine wesentliche Rolle. So fordert etwa John Stuart Mill die Freiheit der Selbstbestimmung, um das größte Glück der größten Zahl zu erreichen (Mill 1962). Autonomie wird damit zu einem »mittleren ethischen Prinzip« (Meran 1990), das sich aus verschiedenen Moralsystemen ableiten lässt und, als solches die strittige Letztbegründungsfrage umgehend, von der modernen amerikanische Bioethik als ein »principle of respect for autonomy« schlechthin übernommen wurde (Beauchamp u. Childress 1979) Breiter Konsens aller Autonomiekonzepte im Hinblick auf die Patientensituation scheint zu sein, dass grundsätzlich die berechtigte Freiheit eines Menschen nicht eingeschränkt werden darf und Möglichkeiten zur freien Wahl unter medizinischen Behandlungsoptionen gegeben sein sollten. Man kann Autonomie betrachten als Fähigkeit, das Leben selbst zu führen, als Fähigkeit zur Selbstbestimmung oder zu einer unabhängigen Wahl, als autonome Entscheidungsgewalt im Sinne eines autonomen Zustandes oder als ein Recht, Entscheidungen zu treffen. In der Praxis des medizinischen Kontextes hat Autonomie Voraussetzungen, zu denen Kommunikationsfähigkeit, Wachheit, Sprachvermögen sowie Entscheidungsfähigkeit und eine gewisse Willensfähigkeit gehören. Von Harry Frankfurt stammt die Einteilung in »first und second order desires«, womit er aufzeigen möchte, dass wir Wünsche erster Ordnung haben, wie etwa das Begehren eines Alkoholikers zu trinken, aber auch Wünsche von übergeordneter Bedeutung, also zweiter Ordnung, wie den Wunsch von der Sucht loszukommen um ein harmonisches Familienleben führen zu können (Frankfurt 1982). Eine autonome Entscheidung würde voraussetzen, dass man in der Lage ist solch eine Ordnungsstruktur rational zu erkennen und basierend auf entsprechenden Wertungen letztlich Entscheidungen zu treffen. So muss z. B. ein Patient seine Angst vor Nadeln überwinden, um notwendige Informationen über das Blutbild zu erhalten und dem übergeordneten Ziel der Behandlung
zu dienen. Oder der verständliche Wunsch, die Haare zu behalten, wird sich in manchen Fällen dem höheren Ziel, das Leben durch eine hochdosierte Chemotherapie zu retten, unterordnen. Problematisch dabei ist, dass manchmal ein Wunsch zwar rational als untergeordnet erkannt wird, aber einfach stärker ist als vernünftige weiter blickende Perspektiven. Doch stellt sich die Frage, ob es nicht gerade auch Ausdruck einer geänderten Struktur von Präferenzen sein kann, wenn man vordergründige Wünsche für wichtiger erachtet und vielleicht gerade damit Selbstbestimmung ausübt. Es könnte sein, dass einer Frau mit einem Malignom die vielleicht noch kurze verbleibende Zeit mit unveränderten Haaren (als Ausdruck ihres Selbstbildes) wichtiger ist, als eine Chance auf längeres Leben. Letztlich ist die Frage nach dem Grad der Entscheidungsfähigkeit, die ihrerseits auf graduellen Fähigkeiten beruht wie Einsichtsfähigkeit, Intelligenz, Verstand, Willensfähigkeit etc. eine normative, also wertende Frage. Es wird hier eine Schwelle in graduelle Fähigkeiten gesetzt und der Arzt oder in seltenen Zweifelsfällen der Vormundschaftsrichter muss entscheiden, ob ein Patient ausreichend entscheidungsfähig ist oder nicht. Der Respekt vor der Autonomie sollte unverfügbar sein – also auch dem bewusstlosen oder dementen Patienten zukommen –, die Ausübung von Selbstbestimmung wird ermöglicht, wenn Entscheidungsfähigkeit zuerkannt wird. Die Anerkennung der Entscheidungsfähigkeit hängt von Kriterien ab, über die es keinen Konsens gibt. Verständnis der Sachlage und Fähigkeit zu einer vernünftigen Überlegung kann von einem Ideal bis hin zu minimalen Äußerungen von Präferenzen etwa eines dementen Patienten gehen, die nur noch erahnen lassen, was er wirklich möchte. So stellt sich die Frage, ob die anhaltende Trinkund Nahrungsverweigerung bei Patienten mit fortgeschrittenen demenziellen Syndromen als nonverbale Willensäußerung zu werten ist und ob dieser mutmaßiche Wille zu achten ist (Kolb 2001). Auch die Forderung, dass die autonome Entscheidung frei von kontrollierenden Einflüssen sein muss, kann sich der Realität von Lebensbezügen, verwandtschaftlichen Einflüssen, religiösen Prägungen bis hin zu extremen Vorgaben, wie sie von Zeugen Jehovas gemacht werden, nicht entziehen. Es bleibt immer die wertende Einschätzung, ob sich jemand innerhalb oder außerhalb des akzeptablen Rahmens bewegt. Man sollte dabei nicht vergessen, dass die Schwellenwerte am Ergebnis gemessen werden. Sofern das Ergebnis einer Entscheidung mit unseren Vorstellungen übereinstimmt, wird es als vernünftig anerkannt. Liegt es außerhalb unserer Vorstellungen, muss der Patient in der Regel weit mehr an Begründungsarbeit leisten. 35.7.1 Grenzen der Autonomie
Neben Voraussetzungen hat Autonomie auch Grenzen (Callahan 1992). Es ist zwar möglich, alles zu wünschen, aber der rechtliche Rahmen begrenzt die Erfüllung mancher Wünsche. So ist der Wunsch nach aktiver, beabsichtigter Sterbehilfe außerhalb des Erlaubten. Die Erfüllbarkeit anderer Behandlungswünsche ist an die Verfügbarkeit von Mitteln oder Möglichkeiten gebunden. So fehlt manchmal ein entsprechend passendes Knochenmark für eine Transplantation. In diesem Zusammenhang werden sog. Teilhaberechte von Defensivrechten unterschieden. Ein Teilhaberecht bedeutet, dass der Inhaber auf etwas (eine Behandlung ect.) ein Recht hat. Diese Art von Recht setzt die Verfügbarkeit voraus und ist auch noch an weitere Bedingungen oder ethische Prinzipien gebunden. Hierzu gehört die Gerechtigkeit, das Nicht-
729 35.7 · Paternalismus und Autonomie
Schadens-Prinzip und das Fürsorgeprinzip. Das Defensivrecht eines autonomen Patienten – also das Recht, in Ruhe gelassen zu werden – besteht praktisch immer. Korrespondierend kann man auch positive und negative Freiheiten formulieren als Freiheit zu bestimmten Möglichkeiten oder Freiheit von etwas. 35.7.2 Abhängigkeiten von onkologischen Patienten
Die Gruppe der onkologischen Patienten passt meist nicht gut in das Bild des selbstständigen und autonomen Partners, der nach ausführlicher Konsultation des Internets eine freie, wohlüberlegte Wahl zwischen rational ausbalancierten Alternativen trifft. Die natürliche Asymmetrie des Arzt-Patient-Verhältnisses kann gerade bei dieser Patientengruppe besonders ausgeprägt sein. Gründe für diese Einschränkung der Autonomie liegen häufig in Kommunikationsproblemen, die vonseiten der Patienten wie auch der Ärzte ausgehen. Von Patientenseite liegt die einfachste Erklärung einer gestörten Kommunikation z. B. im altersgemäß eingeschränkten Hörvermögen. Weiter ist die Aufnahmekapazität eingeschränkt und auch die Konzentrationsfähigkeit nicht immer für ein längeres Gespräch vorhanden. Die Übergänge von leichter Vergesslichkeit und Verwirrungszuständen bis hin zu klinisch manifester Demenz sind fließend und mit dem Alter zunehmend. Manchmal bestehen Gesprächsbarrieren inhaltlicher Natur im Sinne von vorgefassten, teils überholten Meinungen, wie z. B. Laientheorien, dass bei Tumoroperationen die Gefahr besteht den Krebs mit Sauerstoff zu größerem Wachstum zu bringen oder dass erst durch eine Operation die Verschleppung von Tumorzellen ausgelöst wird.
35
schwerwiegenden Folgen, wie dem drohenden (und abwendbaren) Tod, ist eine paternalistische Haltung, die eine spätere Berücksichtigung des Patientenwillens vielleicht erst ermöglicht, anders zu bewerten als eine aufschiebbare Entscheidung, die nur eine geringfügige Verbesserung des Patientenwohles bewirkt. Es ergibt sich ein Spektrum von Missbrauch der Abhängigkeit bis hin zu einer möglicherweise rechtfertigbaren, vorübergehenden »Führung der Geschäfte«. Die Diskussion, ob das Fürsorgeprinzip oder die Autonomie im Konfliktfall Priorität haben soll, ist zu einem zentralen Diskussionsfeld in der medizinischen Ethik geworden (Beauchamp u. Faden 1986). Joel Feinberg prägte die Unterscheidung von starkem und schwachem bzw. hartem und weichem Paternalismus (Feinberg 1986). Schwacher oder weicher Paternalismus bedeutet, dass Interventionen durch den Arzt erfolgen, um einen Patienten zu schützen, der nicht ausreichend entscheidungsfähig ist, sei es, dass die Information nicht adäquat war, die Willensfreiheit durch depressive Verstimmung eingeschränkt ist oder irgend eine andere substanzielle Form von Beeinträchtigung der freien selbstbestimmten Entscheidungsfähigkeit vorliegt. Harter oder starker Paternalismus bedeutet, dass trotz informierter und autonomer ablehnender Entscheidung des Patienten eine ärztliche Intervention stattfindet (z. B. Bluttransfusion bei erwachsenen Zeugen Jehovahs). Während der weiche Paternalismus als weitgehend gerechtfertigt angesehen wird und im Sinne einer verantwortlichen therapeutischen Beziehung beinahe zu fordern ist, gibt es kaum Rechtfertigungen des sog. starken Paternalismus. Gleiches gilt für die Behandlung oder die Einbringung von Patienten in klinische Studien ohne deren Zustimmung. Auch die kurz angebundene Abnötigung von Unterschriften auf diversen Aufklärungsformularen ist weder rechtlich wirksam, noch ethisch vertretbar.
35.7.3 Paternalismusproblem
Der vor allem im angloamerikanischen Sprachraum verwendete Begriff Paternalismus (lat. »pater« = Vater) beschreibt analog der Eltern-Kind-Beziehung ein asymmetrisches Verhältnis einer übergeordneten, verantwortlichen Person zu einer der Fürsorge anvertrauten Person. Paternalismus im Arzt-Patient-Verhältnis ist die Übernahme von Entscheidungen und Verantwortung zum Wohle des Patienten, und sei es auch gegen seinen Willen. Paternalismus charakterisiert aber nicht nur die sog. traditionelle Haltung des väterlich-autoritären Arztes, sondern lässt sich weiter differenzieren. Hinsichtlich der Ziele unterscheidet man Schadensabwendungspaternalismus (»harm-paternalism«) von Nützlichkeitspaternalismus (»benefit-paternalism«) und hinsichtlich der Entscheidungsfähigkeit der Patienten zwischen entscheidungsfähigem Patient, eingeschränkt entscheidungsfähigem Patient, nicht entscheidungsfähigem Patient. Die Bewertung der paternalistischen Haltung sollte daher verschiedene mögliche Fälle unterscheiden. Auf die einfachste Formel gebracht ist Paternalismus Bevormundung aufgrund von Sachkompetenz. Doch kann diese Bevormundung unterschiedliche Rechtfertigungsgründe haben. Eine gewisse Fürsorge und Übernahme von Verantwortung konstituiert sich bereits aus der Grundfigur des hilfesuchenden Patienten und des hilfsbereiten Arztes. Die Grenzen der möglicherweise zulässigen Übernahme von Entscheidungen ergeben sich, wie bereits oben angeführt, aus dem Grad der Entscheidungsfähigkeit der Patienten, der Willensfreiheit und der Dringlichkeit in der individuellen Situation. In Notfallsituationen mit irreversiblen,
35.7.4 »Autonomiefalle«
Die Bekämpfung der paternalistischen Haltung hat nicht nur in der angloamerikanischen Rechtsprechung Spuren hinterlassen. Paternalismus wird inzwischen auch im deutschsprachigen Raum als eine überkommene, altmodische Haltung angesehen, wobei auf die Differenzierungen und möglichen Rechtfertigungen leider nicht immer geachtet wird. Teils aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen, teils aus Gedankenlosigkeit droht heute eine Art »Autonomiefalle«, insofern als manche Patienten nicht die Voraussetzungen für autonome Entscheidungen mitbringen. Es gibt heute vielerorts eine Art von Defensivaufklärung, die weniger das Wohl des Patienten als die Absicherung der Ärzte oder Pharmafirmen im Sinn hat. Ein Beispiel sind die Produktinformationen von Medikamenten, in denen jede noch so seltene Nebenwirkung aufgelistet wird, um sich vor Regressforderungen zu schützen. Ähnliches gilt für viele invasive Maßnahmen, für die spezielle meist mehrere Seiten umfassende Formblätter entwickelt wurden. Diese Praxis hängt zum Teil mit dem unglücklich geregelten Schadenersatzrecht zusammen, das die Beweislast für Fehler dem Patienten aufbürdet. Daher bietet sich im Schadensfall der Rechtsweg über die sog. Mangelaufklärung an, da hier die Beweislast beim Arzt liegt. Bei fehlender oder mangelhafter Aufklärung ist die (zu einem Schaden führende) Behandlung auch rechtswidrig. Was geschieht nun, wenn autonome Entscheidungen von Patienten verlangt werden, die aufgrund ihrer Situation und ihrer Kapazitäten diese schwierigen Fragen nicht
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Kapitel 35 · Ethische Fragen in der Onkologie
lösen können? Gerade die Gruppe der onkologischen Patienten wird den Anforderungen der autonomen Entscheidung nicht immer gewachsen sein und sich verlassen vorkommen. Es mag manchen Patienten erscheinen, als ob der Arzt ihnen gerade in der größten Not auch noch die Last der Entscheidung aufbürdet. Häufig sind Patienten irritiert, dass sie quasi einen Revers unterschreiben müssen, der den Arzt (scheinbar) von jeder Verantwortung befreit. In solchen Fällen kann die vom Gesetzgeber gut gemeinte Stärkung des Selbstbestimmungsrechtes zu einer »Autonomiefalle« für den Patienten werden, die bestenfalls zu Irritation, schlechtestenfalls zu Vertrauensverlust und möglicherweise falschen Entscheidungen führt.
35.8
Aufklärung, Begleitung und Entscheidungsfindung
Hier liegt eine große Herausforderung in einer sensiblen und adäquaten Aufklärung. Nicht alle Aspekte einer Erkrankung und deren Behandlung sind leicht in Worte zu fassen. Die Mitteilung der Diagnose, die gemeinsame Therapieentscheidung und die längerfristige Betreuung benötigen jeweils unterschiedliche, individuelle Aufklärungsinhalte. Am Beginn der Beziehung ist es essenziell ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, um nach dem ersten Schock einen gemeinsamen therapeutischen Weg zu finden.
35 35.8.1 Was sind Besonderheiten der ärztlichen
Aufklärung in der Hämatoonkologie? Trotz medizinischer Erfolge und vielfältiger Behandlungsmöglichkeiten lösen Tumorerkrankungen mehr als die meisten anderen Krankheiten existenzielle Ängste aus. Von dem Betroffenen wird die Mitteilung, dass er an einem Tumor erkrankt ist, oft als eine Art Todesurteil empfunden. Am Beginn einer therapeutischen Beziehung zwischen Tumorpatient und Arzt steht ein kommunikativer Prozess, der von einer umfassenden Anamnese zur Klärung der Beschwerden ausgeht. Bereits in der ersten Phase des Kontaktes entsteht eine komplexe Interaktion, die über einen unidirektionalen Informationsfluss weit hinausgeht. Obwohl es selbstverständlich erscheinen mag, wird manchmal der Einleitung des Gespräches nicht genug Aufmerksamkeit zuteil. Doch kann man mit wenigen Sekunden, die erforderlich sind, um das »Setting« zu optimieren, häufig ein Grundvertrauen gewinnen, das für den weiteren Fortgang des Gespräches entscheidend ist. Jeder Patient möchte wissen, wen er vor sich hat und ob er bei jemandem gelandet ist, der für ihn zuständig ist. Es ist daher wichtig den Patienten möglichst mit einem Händedruck zu begrüßen, den Namen und die Funktion deutlich zu sagen – und den Patienten zum Gespräch und Hinsetzen einzuladen. Ziel ist es, dem Patienten zu signalisieren, dass er willkommen ist und der Arzt Zeit für ihn und seine Probleme hat. Sofern es möglich ist, sollte man dem Patienten nicht frontal, sondern leicht schräg gegenüber sitzen, eine für beide angenehme Gesprächsdistanz finden und auch durch die Körperhaltung Zuwendung zeigen. Nach der Begrüßung empfiehlt sich, eine »offene« Einleitungsfrage zu stellen, die dem Patienten Gelegenheit gibt, seine aktuellen Beschwerden oder Fragen anzusprechen. Gelingt dies gut, kann man den Patienten »dort abholen, wo er gerade steht«.
35.8.2 Strukturelle Rahmenprobleme der Aufklärung
In der ärztlichen Praxis ergibt sich, bedingt durch die Betriebsamkeit, der Eindruck von Zeitnot und dieser wird verstärkt durch Störungen wie Unterbrechungen und Telefonanrufe. Zweifellos bestehen die organisatorischen Voraussetzungen für eine gute Aufklärung in einem geeigneten Raum und Sitzgelegenheiten, die es Patient und Arzt erlauben in sog. weiter persönlicher Distanz (ca. 90–150 cm) auf gleicher Augenhöhe zu sitzen. Weiter muss für ein gelungenes Gespräch ein Mindestmaß an Ruhe und ausreichend Zeit gegeben sein. Es gibt aber auch persönliche Voraussetzungen wie Verständnis, Empathie und die Bereitschaft zuzuhören. Es sind also drei Faktoren, die eine Rolle spielen: die räumlichen Verhältnisse, der Zeitfaktor und das Gesprächsklima. Zunächst benötigt der Patient ausreichend Gelegenheit, um die ihn am meisten bedrückenden Probleme zu schildern. Die Bedeutung des »ersten Satzes« für die Diagnosefindung wurde von dem Internisten Fritz Hartmann immer wieder hervorgehoben (Hartmann 1987). Danach empfiehlt es sich, in sensibler Weise die Gesprächsführung zu übernehmen und das Gespräch nach medizinischen Kriterien sorgfältig zu strukturieren. Hierbei darf die Anamnese nie zu einem Verhör werden, sondern der Patient sollte durch offene Fragen angeregt werden, zu den (für den Arzt) geordneten Bereichen jeweils in eigenen und damit authentischen Worten seine Empfindungen mitteilen zu können. Es bedarf Fingerspitzengefühl und Erfahrung, um die wesentlichen Informationen vom Patienten zu erhalten, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und Abschweifungen vorsichtig zurückzuführen und dabei immer das Gefühl zu vermitteln, dem Patienten ungeteilt aufmerksam zuzuhören. Hierzu gehört, dass man den Augenkontakt hält, dem Patienten mit Nicken, Rückfragen oder kurzen Bestätigungen signalisiert, dass man verstanden hat, was er meint. Manchmal sollte man auch Pausen aushalten können, um Gelegenheit zu geben, Inhalte, deren Formulierung dem Patienten schwer fällt oder die ihn eine Überwindung kosten, in Ruhe sagen zu können. Oft bedarf es auch gezielten Hinterfragens von Symptomen und Beschwerden, von Vorerkrankungen, von der sog. vegetativen Anamnese und der Familien- sowie der Sozialanamnese. Die Schilderung all dieser Informationen sollte ein zunehmend genaueres Bild ergeben, aus dem in Zusammenschau mit weiteren Befunden die Probleme des Patienten und die medizinische Diagnose erkennbar werden. 35.8.3 Aufklärung ist mehr als Information
Es ist offensichtlich, dass das ärztliche Gespräch nicht durch das simple Modell der Informationsvermittlung zwischen SENDER und EMPFÄNGER ausgedrückt werden kann. Viel näher kommen die ursprünglich von dem Österreicher Paul Watzlawick entworfenen Ebenen der Kommunikation (Watzlawick 1969), die von Friedemann Schulz von Thun sehr anschaulich in vier Ebenen gegliedert wurden (Schulz von Thun 1981). Neben der im Vordergrund stehenden Sachebene, die im Rahmen der Anamnese dem strukturierten Informationsaustausch dient, gilt es besonderen Wert auf die Beziehungsebene zu legen, die für eine tragfähige therapeutische Beziehung enorm wichtig ist. Der Arzt muss dem Patienten verbal aber auch nonverbal signalisieren, dass er für ihn und seine Probleme da ist, Zeit und Ruhe hat zuzuhören, bereit ist zu helfen und auf die Nöte einzugehen.
731 35.8 · Aufklärung, Begleitung und Entscheidungsfindung
Dann kann sich ein Vertrauensverhältnis aufbauen und eine gute therapeutische Beziehung entstehen. Wichtig ist es auch, auf die Appellebene zu achten, denn der Patient wird Signale und Hilferufe aussenden, die man nicht überhören darf. Der Arzt muss seinerseits vorsichtig sein, dass Fragen wie nach dem Nikotin- und Alkoholkonsum nicht als Vorwurf oder Appell interpretiert werden. Beide Gesprächsteilnehmer geben auch bewusst oder unbewusst etwas von Ihren persönlichen Einstellungen und Meinungen preis – die sog. Selbstkundgebungsebene. Aufklärung ist also eine sensible und äußerst komplexe Kommunikationsform. 35.8.4 Grundlage der Aufklärung ist die Beziehung zwi-
schen Arzt und Patient Bevor es also zur eigentlichen Aufklärung über eine bösartige Erkrankung, konkret zu der Vermittlung einer Diagnose kommt, besteht bereits eine kommunikative Beziehung und eine gegenseitige Einschätzung. Verständlicherweise ist es für den Patienten extrem wichtig Vertrauen in den Arzt setzen zu können, da er auf Hilfe angewiesen ist. In jedem Aufklärungsgespräch drückt sich auch das gegenseitige Rollenverständnis aus. Es ist ein Charakteristikum der Arzt-Patient-Beziehung, dass sie asymmetrisch angelegt ist. Während der Arzt als Experte seiner alltäglichen Arbeit nachgeht, steht vor ihm ein Laie in einer Ausnahmesituation. Der gesunde Helfer trifft auf einen kranken Betroffenen, der aufgrund der Krankheitssituation und Ungewissheit zweifellos Angst hat und zusätzlich unter dem Stress steht, sich einer unbekannten neuen Umgebung stellen zu müssen. 35.8.5 Verschiedene Voraussetzungen führen zu
verschiedenen Perspektiven und verschiedenen Wirklichkeiten Mithilfe der Anamnese sollte sich der Arzt bereits ein Bild von den Voraussetzungen des Patienten gemacht haben, von seiner Angst, seinen Vorahnungen, aber auch von seinem Bildungsstand, seiner Auffassungsgabe und der familiären sowie psychosozialen Situation. Berücksichtigt man diese Vorbedingungen nicht, so besteht die Gefahr, dass es zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen kommt. Solche Missverständnisse, die während der ersten Kontakte entstehen, können eine therapeutische Beziehung belasten und dazu führen, dass eine tragfähige Vertrauensbasis nicht aufgebaut werden kann. Um herauszufinden, wie der aktuelle Wissensstand des Patienten ist, empfiehlt es sich Fragen zu stellen wie: »Was ist Ihnen über Ihre Erkrankung bekannt? Was wurde Ihnen bisher gesagt und was vermuten Sie?« Nur bei Kenntnis des Vorwissens kann man den Patienten adäquat aufklären und ihn mit einem Gespräch dort abholen, wo er sich wissensmäßig und emotional gerade befindet. Manchmal geben zugewiesene Patienten an, (noch) gar nicht informiert worden zu sein. Dies kann zwar in Ausnahmefällen tatsächlich sein, muss aber nicht stimmen und es ist kaum hilfreich, darauf mit Entrüstung über den vermeintlich nachlässigen Kollegen zu reagieren. Meistens steckt der Wunsch dahinter, nochmals genau informiert zu werden, oder das Unfassbare der Diagnose wurde verdrängt bzw. nicht akzeptiert.
35
35.8.6 Überbringung schlechter Botschaften
Es ist ein bekanntes Phänomen, dass gute Nachrichten gerne mitgeteilt werden. Über leichte und gut behandelbare Erkrankungen wird eher und bereitwilliger gesprochen als über unheilbare Verläufe. In der Antike wurden die eigentlich unschuldigen Boten einer Niederlage getötet, weil man ihnen einen Teil der Verantwortung zuordnete und wahrscheinlich die Wut und den Ärger kompensieren wollte. Ein ähnliches Empfinden mag eine Rolle spielen, wenn man einem Patienten eine schlechte Nachricht überbringen muss. Die Mitteilung der Diagnose einer bösartigen Erkrankung ist auch für den Überbringer immer belastend. Dies gilt für die Erstmitteilung ebenso wie für die Mitteilung über eine Verschlechterung der Gesundheitssituation, über die meist nur zögernd und ungern gesprochen wird. Während gute Nachrichten freudig aufgenommen und dem Arzt herzlich gedankt wird (obwohl er vielleicht gar nichts dazu beigetragen hat), wird die schlechte Nachricht zwar intellektuell nicht mit einem schuldhaften Verhalten des Arztes verknüpft, aber es bleibt eine Erinnerung an den Schock, den man als Patient durch einen bestimmten Arzt erfahren hat. Hinzu kommt, dass Krebs – also Tumorerkrankungen per se – metaphorischen Charakter haben und in gewisser Weise tabuisiert sind. Susan Sontag erklärte dies, indem Sie auf die letztlich ungeklärt bleibende und komplexe Natur von Neoplasien hinwies, die einfach wachsen und sich einer physiologischen Kontrolle entziehen – während das mechanische Pumpversagen des Herzens, selbst die Gefäßverkalkung und der Herzinfarkt einfacheren, auch allgemein verständlichen Erklärungsmustern folgen (Sontag 1991). Das Tabu wurde häufig von beiden Seiten (Arzt und Patient) trotz besserem Wissen akzeptiert und es war vor einigen Jahren noch keine Seltenheit, dass man Patienten unaufgeklärt ließ, um sie zu »schonen«. Inzwischen ist durch empirische Studien eindeutig belegt, dass ein großes Informationsbedürfnis besteht. Nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz gibt an, über eine unheilbare Krankheit lieber nicht informiert werden zu wollen. Eine heikle, aber wichtige Aufgabe ist es also herauszufinden, wie detailliert ein Patient informiert werden möchte. In der modernen Hämatoonkologie ist es weitgehend Konsens, dass weder Verschweigen noch die Konfrontation mit Krankheitsfakten einem gangbaren Weg entspricht. Es geht vielmehr um einen patientenorientierten und phasenadaptierten Mitteilungsprozess. Aufbauend auf dem Vorwissen des Patienten hat es sich bewährt zunächst die Symptome oder Beschwerden zu erklären, die den Patient in ärztliche Betreuung gebracht haben. Es ist auch wichtig, dem Patienten zu versichern, dass es gut war, zu einem Arzt zu gehen, und dass man gemeinsam mit ihm die nötigen Schritte tun wird. Je nach individuellem Informationsbedürfnis werden dann die wichtigen Fakten und auch eine verständliche Bezeichnung der Erkrankung mitzuteilen sein. Immer muss aber zu der Diagnose auch eine Perspektive gegeben werden: »Sie haben eine ernste Erkrankung – aber wir können Sie behandeln«. Es ist umstritten, ob bereits beim Erstgespräch immer die genaue Diagnose mitgeteilt werden sollte. Häufig ist diese ja noch nicht abgesichert. Doch früher oder später wird man in möglichst einfachen und verständlichen Worten auch einen Namen der Erkrankung sagen. Es ist für die Krankheitsverarbeitung nicht unwichtig, ein Bild und damit verbunden auch eine Bezeichnung der Erkrankung zu haben. Nur dann kann man darüber sprechen, sich damit auseinandersetzen. Zur Art und Weise wie man aufklären sollte, passt ein Bild von Max Frisch am bes-
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Kapitel 35 · Ethische Fragen in der Onkologie
ten, der sagt: Man möge »die Wahrheit wie einen Mantel hinhalten, sodass der andere hineinschlüpfen kann, und sie nicht wie einen nassen Fetzen um die Ohren schlagen.«
35.8.7
Keine Diagnose ohne Perspektive
Unumstritten ist, dass man immer eine Perspektive, eine Hoffnung anbieten muss. Diese kann in einer Therapie oder auch in der Zusicherung der weiteren Betreuung und Unterstützung bestehen. Sofern rascher Therapiebedarf wie etwa bei akuten Leukämien besteht, muss auch ohne Verzug über die Therapie, ihre Ziele, Wirkungsweisen, Risiken und Alternativen gesprochen werden. Da gerade in der Stresssituation nur eine beschränkte Aufnahmekapazität besteht, sollten Hilfen wie Zeichnungen, Skizzen, einfache Therapieschemata mit Zeitabläufen und nicht zuletzt schriftliche Aufklärungsblätter angeboten werden, auf die der Patient später als Gedächtnisstütze zurückgreifen kann.
35.8.8
35
Aufklärung ist ein Prozess
Eine wichtige Frage der Aufklärung bei Tumorpatienten lautet: »Alles auf einmal sagen oder Schritt für Schritt aufklären?« Viele Onkologen empfehlen ein phasenangepasstes Aufklären in verdaulichen und aktuellen Portionen, um dem Patienten in seiner speziellen Situation gerecht zu werden (Schnorr u. Meran 1994). Weder sollte man ihn durch die Fülle und die Intensität der Information überfordern, noch wichtige Dinge unerwähnt lassen. Nicht alle Aspekte einer Erkrankung und deren Behandlung sind leicht in Worte zu fassen. Die Mitteilung der Diagnose, die gemeinsame Therapieentscheidung und die längerfristige Betreuung benötigen jeweils unterschiedliche, individuelle Aufklärungsinhalte. Die Angabe eines prozentualen Risikos ist für den betroffenen Patienten wenig hilfreich und kaum zu gewichten. Viel wichtiger ist die Frage: Wie viel Information kann der Patient aufnehmen? Und welche Information ist für ihn jetzt wichtig? Unabhängig von der Art des Tumors stürzt die Diagnose »Krebs« den Patienten in eine psychische Ausnahmesituation. Angst, Stress, Hilflosigkeit und körperliche Einschränkungen wie Schmerzen, Luftnot etc. erschweren dem Patienten die Aufnahme von Informationen, deren Verarbeitung und daraus abzuleitende Entscheidungen. Wie im Rahmen einer empirischen Studie zur Lebensqualität von chemotherapeutisch behandelten Hodentumorpatienten gezeigt werden konnte, machen diese Patienten verschiedene Phasen der Angst durch, die sich im Inhalt unterscheiden – und ein differenziertes phasenadaptiertes Vorgehen des Arztes erfordern. Im ersten Gespräch vor Chemotherapie, also dem Gespräch das in kurzem zeitlichen Abstand (maximal 1–2 Tage) nach dem Aufklärungsgespräch über die Therapie stattfand, stand vor allem anderen die Existenzangst im Vordergrund. Hinzu kam die Angst vor ungewisser Therapie, vor dem Verlust der Kontrolle über das Leben und vor der Ungewissheit. Das zweite Gespräch der Untersuchung wurde während der Chemotherapie geführt. In diesem Gespräch bestanden statt einer diffusen Existenzangst konkretere Sorgen, insbesondere Zweifel, ob die Therapie entsprechend wirkt. Auch hatten viele der Patienten Angst vor Verheimlichung von medizinischen Fakten durch das ärztliche Personal. Es gab aber auch Ängste, die sich quasi nach Überwindung der ersten existenziellen Angst mit den Veränderungen des psychosozialen
Umfeldes beschäftigten. Hierzu zählten die Angst vor Störungen von persönlichen Beziehungen und Partnerschaften durch die Krankheit und damit verbundene Trennung oder Veränderungen. Es gab auch die konkreten Sorgen, ob der Betrieb, z. B. ein Bauernhof, ausreichend versorgt ist oder durch die Abwesenheit einen wirtschaftlichen Schaden nimmt. Da es sich um stationäre und teils hoch dosierte Therapien handelte, wurde von vielen auch ein Gefühl des Eingesperrtseins, der Isolation im Krankenhaus beklagt. In dem dritten Gespräch, welches nach der Therapie geführt wurde, stand die Rezidivangst an erster Stelle. Alle Patienten konstatierten den Verlust eines Gefühls von »selbstverständlicher Gesundheit« und damit verbunden eine Steigerung der Angst vor Nachsorgeterminen. Das Warten auf Ergebnisse wurde als quälend beschrieben. Gegenüber der Familie und dem Freundeskreis bestand Angst vor Begegnungen mit dem Klischee Krebskrankheit, das automatisch Mitleid und dunkle Gedanken erzeuge. Manche fühlten sich durch Familie und Freunde mehr belastet als erleichtert (Schnorr 1994).
35.8.9
Ärztliche Emotionen
Auch die eigene ärztliche Perspektive kann die Kommunikation erschweren. Der Arzt ist selbst nicht frei von Angst und ist vielleicht von Erfahrungen mit früheren Patienten geprägt. Alleine die Tatsache einem Patienten gegenüber zu sitzen, der eine todbringende Erkrankung hat, ist belastend. Kaum jemand wird in solchen Situationen indifferent bleiben, sondern in gewisser Weise mitleiden. Häufig entstehen Assoziationen mit früheren Patienten oder aus dem eigenen Familien- bzw. Bekanntenkreis, die unbewusst in das Gespräch und die Beziehung einfließen. Als Arzt kann und darf man Emotionen in gewissem Rahmen auch zeigen. Carl Rogers sprach von Echtheit und zeigte auf, dass ein krampfhaftes Verbergen von Gefühlen auch als Kälte ausgelegt werden könnte (Rogers 1983).
35.8.10
»Schwierige Patienten«
Manche Patienten gelten als »schwierig« und unbeliebt. Ein erfolgreiches Aufklärungsgespräch erfordert zunächst Überlegungen, was den Patienten von anderen unterscheidet. Während sich ein »Idealpatient« den arbeitsspezifischen Bedürfnissen des Personals anpasst, auf »störende« Eigenarten verzichtet, dankbar und ohne Widerspruch alle Anordnungen befolgt und vor allem mit dem Maß an Aufklärung bzw. Kommunikation zufrieden ist, das ihm zugebilligt wird, verhält sich ein schwieriger Patient ganz anders. Der »schwierige Patient« fragt »zu viel«, ist überkritisch, unzufrieden, vielleicht sogar aggressiv, misstrauisch und uneinsichtig. Er fordert mehr an Zuwendung und Zeit als man ihm zugemessen hat und behindert dadurch den normalen Ablauf der Arbeit. J.E. Groves (1978) unterscheidet vier Gruppen von »hateful patients«, die sich durch ihre je eigenen stereotypen Verhaltensweisen unterscheiden: 4 »dependent clingers« (abhängige Patienten, die ein unstillbares Informations- und Zuwendungsbedürfnis haben), 4 »entitled demanders« (fordernde Patienten, die ständig das Gefühl haben, nicht ausreichend und qualitativ nicht entsprechend behandelt zu werden), 4 »manipulative help rejectors« (Patienten, die immer neue Symptome angeben, sobald ein Problem behandelt ist) und
733 35.8 · Aufklärung, Begleitung und Entscheidungsfindung
4 »self-destructive deniers« (Patienten, die gegen sich und ihre Umwelt inklusive Ärzte und Pflegepersonal aggressiv und ablehnend reagieren). Zwischen diesen Formen sind Übergänge möglich und auch verdeckte, maskierte Formen. Ein wichtiger Schritt im Umgang und in Gesprächen mit »schwierigen Patienten« ist die Frage: Warum wird ein Patient als schwierig erlebt? In vielen Fällen handelt es sich um unterschiedliche Erwartungshaltungen. Nach Linus Geisler sollte man versuchen, zunächst den Patienten zu akzeptieren, seine Gründe für das unerwartete, »schwierige« Verhalten zu analysieren, besonders auf Ängste zu achten und einen besonders höflichen und zuvorkommenden Umgangston zu suchen (Geisler 1987). Manchmal hilft es, mittels Metakommunikation eine Entspannung herzustellen – also die Problematik der unterschiedlichen Erwartungen im Gespräch vorsichtig, aber direkt anzusprechen. »Ich habe den Eindruck, dass Sie mit meiner Arbeit unzufrieden sind – was können wir gemeinsam verbessern?« Meist kommt dann zur Sprache, was den Patienten wirklich belastet – und oft gelingt es, daraus eine neue Gesprächsbasis zu finden.
35.8.11
Rolle der Angehörigen
Angehörige können Unterstützung aber auch Belastung sein. Nicht immer verstehen sie die Situation des Patienten. Statistische Untersuchungen zeigen, dass Angehörige den Willen und die Präferenzen des Patienten kaum besser einschätzen können als die zufällige Verteilung, das gilt auch für Ärzte. Liebe, Sorge aber auch Schuldgefühle können sogar zum Versuch der Entmündigung des Patienten führen. Wichtig ist, dass der Patient für den Arzt im Vordergrund bleibt und selbst bestimmt, ob und wie weit seine Angehörigen informiert werden. Es erscheint nicht akzeptabel, wenn Angehörige fordern, dass man einen entscheidungsfähigen, erwachsenen Patienten »verschont« und ihm seine Diagnose verschweigt. Überhaupt ist es meist problematisch und führt zu Spannungen, wenn unterschiedliche Informationsniveaus bestehen. Immer ist aber die Familie mit ihren Sorgen und Wünschen ernst zu nehmen. Eine gute Patientenbetreuung schließt auch die Betreuung der Angehörigen mit ein. Besonders schwierig und anspruchsvoll ist die Aufklärung von Angehörigen, die zugleich Stellvertreter oder Sachwalter der Patienten sind, wie beispielsweise bei Kindern oder nicht entscheidungsfähigen Patienten.
35.8.12
Aufklärung – Eine Rechtspflicht
Jede medizinische Behandlung ohne Einwilligung kommt juristisch einer eigenmächtigen Heilbehandlung (§ 110 StGB) bzw. in Deutschland einer Körperverletzung (§ 223 StGB) gleich. Daher kommt der Aufklärung und auch der Dokumentation der Zustimmung nach Aufklärung (Informed Consent) große Bedeutung zu. Leider hat sich durch die juristischen Schwierigkeiten, eine Kompensation zu erhalten, denen geschädigte Patienten gegenüberstehen, eine unerfreuliche Praxis im Rahmen von Schadenersatzprozessen breit gemacht. Die Beweislast für einen Kunstfehler, der zur Schädigung geführt hat, und für die Schuldhaftigkeit des Arztes liegt bei dem Kläger, der einen mühsamen Weg beschreiten muss, um zu seinem Recht zu kommen. Daher
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ist es für einen Geschädigten manchmal einfacher über den Umweg eines »Aufklärungsmangels« zu klagen. Denn die Beweislast für eine erfolgte, adäquate und ausreichende Aufklärung liegt in der Verantwortung des Arztes. Diese auch im angloamerikanischen Recht bestehende Verteilung hat zu einer Praxis der Defensivaufklärung geführt, die statt einer Vertrauensbasis und empathischen Beziehung eher einer Vertragsbeziehung mit möglichst großer Absicherung gegen zukünftigen Klagen entspricht. Eine gültige Einwilligung (Valid Informed Consent) erfordert in der Regel vier Bedingungen: die adäquate Aufklärung vonseiten des Arztes, Entscheidungsfähigkeit und Freiwilligkeit vonseiten des Patienten, der den Sachverhalt ausreichend verstehen muss. Das Ausfüllen eines Formulars ist zwar ein schriftlicher Beleg, kann aber niemals die mündliche und tatsächlich erfolgte Aufklärung ersetzen. Für die Teilnahme an klinischen Studien wird gemäß deutschen und österreichischen Arzneimittelgesetzen sowohl eine mündliche als auch eine schriftliche Aufklärung gefordert. Ein verantwortungsvolles Vorgehen wird immer drei Bereiche berücksichtigen, die in der Hämatoonkologie untrennbar miteinander verbunden sind: Aufklärung, Begleitung und Entscheidungshilfe.
Praktische Hilfen zu Aufklärungsgesprächen 4 Vorwissen und Vorahnungen berücksichtigen 4 Akzeptieren und Verstehen der Ängste und Emotionen 4 Klare und empathische Aufklärung in verdaulichen Portionen 4 Nicht weiter aufklären, als der Patient es will und folgen kann 4 Klare Darstellung der Behandlungsmöglichkeiten 4 Möglichst gleicher Stand der Aufklärung bei Patient und Angehörigen 4 Wiederholte Aufklärungsgespräche und Angebote 4 Rückfragen nach der Verständlichkeit 4 Hoffnung signalisieren, Teilziele formulieren
Eine fundierte Ausbildung in Aufklärung findet kaum statt. Es darf daher nicht verwundern, dass viele ethische Probleme in der klinischen Praxis auf Kommunikationsschwierigkeiten zurückzuführen sind. Es wird und wurde in der ärztlichen Ausbildung zu wenig vermittelt, wie man mit Ängsten, Leiden und Tod umgehen kann. Es fehlen auch oft Hilfen im Auffangen von Aggressionen, von Verzweiflung und dem häufigen Gefühl des Ausgeliefertseins. In diesen Bereichen sind die neuen Ausbildungscurricula der Universitäten gefordert. Bewährt haben sich die bisher nur im kleinen Rahmen eingesetzten Rollenspiele zur Aufklärung, die vermitteln können, wie man sich als Patient fühlt, und (angehenden) Ärzten erlauben, geeignete Worte zur Aufklärung zu üben. Eine entsprechende Supervision und ein wertschätzendes Feedback sind hierbei voraussetzende Bedingungen.
35.8.13
Aufklärungspflicht bei medizinischen Fehlern
Es stellt sich manchmal die Frage, ob auch eine Aufklärungsverpflichtung nach einer Behandlung besteht, insbesondere dann, wenn im Zuge der Behandlung ein Fehler aufgetreten ist. Sofern der Behandlungsfehler nicht ohnehin offensichtlich ist, bleibt die Frage, ob man den fehlerhaft behandelten Patienten unaufgefor-
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Kapitel 35 · Ethische Fragen in der Onkologie
dert informieren muss. Für eine Offenbarungspflicht spricht die Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient und die Angewiesenheit des Patienten auf Hilfe. Auch gibt es für Patienten kaum die Möglichkeit einer fachlichen Kontrolle. Interessanterweise besteht aus juristischen Gründen keine generelle Verpflichtung, eigenes Fehlverhalten unaufgefordert zu offenbaren. Während in der akademisch-rechtswissenschaftlichen Literatur tendenziell für eine spontan zu erfüllende Offenbarungspflicht argumentiert wird, gibt es nur wenige juristische Entscheidungen zu diesem Thema. Im Gegensatz zur Selbstbestimmungsaufklärung vor einer Behandlung, die eine autonome Entscheidung des Patienten ermöglichen soll (ein hochgradig geschütztes Rechtsgut GG Art.2), geht es bei der Fehleraufklärung um eine rückblickende Beurteilung von Vergangenem. Hierbei wird die Abweichung eines Seins von einem Sollen als Fehler bewertet. Problematisch sind in vielen Fällen Standards des kunstgerechten Verhaltens festzulegen. Die Frage ist, ob es eine Rechtspflicht gibt, eigenes Fehlverhalten unaufgefordert zu offenbaren? Das im Zentrum des Behandlungsvertrages stehende körperliche Wohl des Patienten wird durch die nachträgliche Information über einen Fehler meist nicht (mehr) gefördert. »ob ein Krankheitszustand schicksalhaft eingetreten oder vom Arzt zu verhindern gewesen wäre, spielt für die weitere Behandlung zumeist keine Rolle« (Taupitz 1992). Drei Fälle sind zu unterscheiden: 4 Eine Pflicht zur Fehleraufklärung besteht im Rahmen der therapeutischen Beratung oder Sicherungsaufklärung nur dann, wenn die Information dem Schutz des Patienten vor (weiteren) vermeidbaren Gesundheitsschäden dient (Laufs Arztrecht 1988; § 117; OLG Düsseldorf, VersR 1988,1297). Misslingt ein Eingriff oder bestehen Zweifel über den Erfolg, so muss der Arzt den Patienten oder dessen (einweisenden) Hausarzt aufklären, um die anschließende sachgerechte Behandlung zu ermöglichen (OLG Hamm ArztR 1984, 174; OLG Stuttgart, VersR 1989, 632 abgebrochene Bohrerspitze). 4 Im Rahmen der Selbstbestimmungsaufklärung besteht Informationspflicht über zurückliegende Fehler, so weit zur Erlangung der gültigen Einwilligung für einen (weiteren) bevorstehenden Eingriff diese offenbart werden müssen (z. B. Reoperation; Taupitz 1992). 4 Im Rahmen der Vermögensbetreuungspflicht des Arztes ist eine Forderung nach unaufgeforderter Offenbarung von Fehlverhalten, um dem Patienten eine Grundlage für einen Schadensersatzanspruch zu geben, kaum gerechtfertigt. Im Gegensatz zu anderen Berufsgruppen (Rechtsanwalt, Steuerberater, Architekt) ist die Vermögensbetreuungspflicht des Arztes allenfalls eine untergeordnete, dem eigentlichen Aufgabengebiet sehr weit entrückte Nebenpflicht des Behandlungsvertrages (Taupitz 1992; OLG Köln NJW 1987, 2304). »Nemo tenetur se accusare« – Der Grundsatz der Selbstbezichtigungsfreiheit gilt insbesondere auch für den Arzt. Die Offenbarung von Fehlverhalten bedeutet das Risiko, eine strafrechtliche Verfolgung einzugehen. Selbst in den oben angeführten Fällen wird nur bei grober Pflichtverletzungen die unaufgeforderte Selbstbezichtigung zu fordern sein und auch nur dann, wenn »höherrangige Interessen des Patienten eine Informationserteilung zwingend erfordern« (Taupitz 1992). In diesem Zusammenhang wird ein strafprozessuales Verwertungsverbot diskutiert, welches verhindern soll, dass ein Arzt, dem im Interesse des Patienten eine Informationspflicht zugemutut wird, zu seiner eige-
nen Verurteilung beiträgt. Rechtlich gesehen ist die Situation komplex. Es steht außer Zweifel, dass immer dann über eigene Behandlungsfehler berichtet werden muss, wenn die Information erforderlich ist, um weiteren Schaden vom Patienten abzuhalten bzw. um einen entstandenen Schaden wieder gut zu machen. Soferne zur Schadensbehebung weitere therapeutische Maßnahmen erforderlich sind, muss eine gültige Zustimmung eingeholt werden, deren Voraussetzung wiederum die ausreichende Aufklärung ist. Weiterhin ist der Arzt verpflichtet die Wahrheit zu sagen, wenn ein Patient ihn befragt, ob und ggf. was geschehen ist. Von diesen Situationen abgesehen, besteht aus juristischen Gründen keine generelle Verpflichtung unaufgefordert Behandlungsfehler einzugestehen. Die Rechtsregel »nemo tenetur se accusare« kann gleichermaßen auch auf die Arzt-Patient-Beziehung angewandt werden. Aus ethischen Gründen ist die Übernahme der Verantwortung für eigenes Fehlverhalten sicherlich begrüßenswert und, wie von vielen Patienten angesprochen, eine Frage der therapeutischen Beziehung. Das ärztliche Standesrecht hat bislang keine klaren Richtlinien vorgegeben. Es scheint uns an der Zeit diese Fragen zu diskutieren und neben einem ärztlichen Verhaltenskodex auch unbürokratische Lösungen für geschädigte Patienten zu suchen. Ein Beispiel ist der Wiener Härtefallfond, verwaltet vom jeweiligen Patientenanwalt, der eine beträchtliche Geldsumme pro Jahr für Patientenschäden im Rahmen einer verschuldensunabhängigen Kompensation (ohne Gerichtsverhandlungen) in Wiener Spitälern zur Verfügung stellt. Ein weiteres interessantes Modell von H. Barta aus Innsbruck schlägt vor, die Individualhaftung des Arztes in eine Medizinhaftung für alle Dienstleistungen umzuwandeln und damit das problematische Privatrecht zu verlassen (Barta 1995).
35.9
Ethische Fragen am Lebensende
Sterben und Leid sind menschliche Realitäten, die uns immer wieder vor umstrittene ethische Fragen stellen. Zum einen die Frage, ob menschliches Leben wertvoll ist, unabhängig von seiner Qualität, oder ob Leben erst durch die Realisierung bestimmter (minimaler) Qualitäten lebenswert wird und bleibt. Damit verknüpft ist die zweite Frage, ob es prinzipiell falsch ist, menschliches Leben zu töten oder ob es erlaubt sein kann in Abhängigkeit vom Wunsch der Patienten und der von ihnen empfundenen Lebensqualität. Die zweite Frage ist verknüpft mit dem Verständnis und der moralischen Bedeutung des Prinzips der Autonomie. Die traditionelle Moral, unser Rechtssystem und die Richtlinien vieler ärztlicher Standesorganisationen beantworten diese Grundfragen zum einen mit dem kategorischen Verbot der beabsichtigten Beendigung von menschlichen Leben und zum anderen mit der Grundregel, dass jedes menschliche Leben als gleichwertig und schützenswert anzusehen ist. Doch gibt es Stimmen, die solch eine kategorische Position ablehnen und in letzter Konsequenz auch für inhuman halten (Kuhse 1987; Harris 1992; Glover 1990; Rachels 1975). Denn auf die schwierigen Fragen, ob und wann bei schwerstkranken Patienten ein Punkt erreicht ist, von dem an es nicht mehr darum geht, einen Lebenskampf fortzusetzen, sondern nur noch um Leidensminderung geht, würden nicht beantwortet: »medical decision-making is frequently based on morally irrelevant grounds, is inconsistent and idiosyncratic, and results in much unnecessary suffering and the wasting of limited resources« (Kuhse 1987). Zwei Stoßrichtungen dieser Kritik sind hierbei zu unterscheiden, einmal die Kritik an einer (kaum je
735 35.9 · Ethische Fragen am Lebensende
vertretenen) vitalistischen Position, die maximalen Lebenserhalt und radikalen Pazifismus voraussetzt. Die zweite Stoßrichtung der Kritik behauptet, dass die traditionelle Moral zwar offiziell an den absoluten Prinzipien festhalte, aber trotz diverser Hilfskonstruktionen, wie dem Prinzip der doppelten Wirkung und der Unterscheidung in »verhältnismäßige« und »unverhältnismäßige« Heilmittel, kein konsistentes Gebäude mehr darstellt. Der Vorwurf von Inkonsistenz greift sowohl verschiedene Aspekte des Tötungsverbotes an, als auch die traditionelle Forderung, dass die Schutzwürdigkeit des Lebens unabhängig von seiner Qualität und Art zu sehen ist. Es wird jedoch menschliches Leben auch von der traditionellen Moral und dem geltenden Recht nicht absolut gesetzt. Lebensrecht ist ein Defensivrecht und jeder hat das Recht, nicht getötet zu werden, während der Anspruch auf Hilfe und deren Ausmaß von den Umständen abhängig ist. Es besteht also das absolute Verbot, gezielt und beabsichtigt ein unschuldiges Leben zu nehmen. 35.9.1 Handeln und Unterlassen sind nicht immer
hilfreiche Unterscheidungen Es ist weithin akzeptiert, dass zwischen Töten und Sterbenlassen ein Unterschied besteht, wobei meist der eine Fall mit Handeln und der andere mit Unterlassen gleichgesetzt wird und es generell gilt, dass Töten moralisch verwerflicher ist als Sterbenlassen. In medizinischen Zusammenhängen wird von aktiver und passiver Sterbehilfe gesprochen. Diese Unterscheidung und ihre generelle moralische Bewertung stießen auf Kritik. Ein viel diskutiertes Beispiel stammt von James Rachels (1975). Er versuchte zu zeigen, dass Töten und Sterbenlassen in manchen Fällen moralisch nicht zu unterscheiden ist. Hierzu verglich er einen sog. Parallelfall, der sich nur durch empirische Aktivität, respektive Passivität unterscheidet: Im ersten Fall handelt Smith direkt, aus Gier nach einer großen Erbschaft, indem er seinen 6-jährigen Neffen aktiv in der Badewanne ertränkt und anschließend einen Unfall vortäuscht. Im zweiten Fall geht Jones mit derselben bösen Absicht ins Badezimmer, kann aber zu seiner Freude beobachten, wie das Kind ausrutscht und unter das Wasser kommt. Ohne etwas tun zu müssen, beobachtet er das Ertrinken und lässt den Neffen sterben, jederzeit bereit dem »Unglück« nachzuhelfen, sollte es nötig sein. Beide Verhaltensweisen erscheinen moralisch verwerflich – und die Unterscheidung, dass es sich einmal um aktives Handeln im anderen Fall um eine Unterlassung handelt, ist offensichtlich für die moralische Beurteilung nicht ausreichend. Mit diesem Beispiel wird berechtigterweise die simplifizierende Gleichsetzung von aktiver mit verbotener und passiver mit erlaubter Euthanasie kritisiert. Wie aber der zweite Fall (Jones) zeigt, gibt es auch Formen von Sterbenlassen, also Unterlassungen, die moralisch falsch erscheinen. 35.9.2 Unterlassung und Handlungspflichten
Es sind aber nicht alle Unterlassungen moralisch problematisch. Wo liegt der Unterschied? Eine Mutter, die ihr Kind verhungern lässt, begeht sicherlich eine schuldhafte Unterlassung, während im Grunde die meisten Bewohner Deutschlands eine Unterlassung von möglichen Spenden zur Abwehr des Hungertodes in einem der vielen Welt-Krisengebiete begehen. Die Schuld am Tod des verhungerten eigenen Kindes erscheint größer als die Schuld
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an den ungezählten verhungerten Kindern, zu denen keine direkte Relation bestand. Unterlassungen sind also dann schuldhaft, wenn eine Pflicht zur Handlung besteht. Nun kann man argumentieren, dass ein Arzt praktisch immer unter einer speziellen Handlungspflicht steht, die sich aus der Arzt-Patient-Beziehung ergibt und geradezu seine genuine Aufgabe darstellt. Neben der allgemeinen, jedermann bei Unglücksfällen treffenden Pflicht zum Helfen, besteht für einen Arzt, der eine Behandlung übernommen hat, eine besondere Hilfsleistungspflicht. »§ 323c StGB bestraft das bloße Untätigbleiben bei Unglücksfällen trotz möglicher, notwendiger und zumutbarer Hilfeleistung, ohne dass es auf dessen Folgen für das Unfallopfer oder den Kranken ankommt« (Laufs u. Uhlenbruck 1992). Hier besteht ein wesentlicher Unterschied zum angloamerikanischen Recht, welches diese allgemeine Hilfspflicht überhaupt nicht kennt und nur im Falle einer besonderen Pflichtkonstellation wie etwa Eltern–Kind oder Arzt–Patient eine Unterlassung verfolgt. Juristen sprechen von einer Garantenstellung, aus der besondere sog. Erfolgsabwendungspflichten für eine anvertraute Person erwachsen. »Sowohl vertraglich als auch aus der ärztlichen Garantenstellung nach § 13 StGB ist der Arzt verpflichtet, lebensverlängernde Maßnahmen durchzuführen, soweit sie bestimmt und geeignet sind, den Todeseintritt beim Patienten hinauszuzögern« (Laufs u. Uhlenbruck 1992). Handelt es sich also immer um eine schuldhafte Unterlassung, wenn man einen Patienten sterben lässt? Die Pflichten des Arztes sind nicht unbegrenzt, sondern durch einige Bedingungen eingeschränkt: 4 Handlungsvoraussetzungen: Die Handlungen müssen als notwendig erkennbar, zumutbar und durchführbar sein. Weder muss der Arzt sein eigenes noch das Leben seiner Mitarbeiter (über ein zumutbares Berufsrisiko hinaus) aufs Spiel setzen. Auch kann er nur zu menschenmöglichen und für ihn als notwendig oder sinnvoll erkennbaren Handlungen verpflichtet sein (Laufs u. Uhlenbruck 1992). 4 Pflichtbegrenzungen: a) Die Pflicht hört dort auf, wo ein Arzt wirksam von der Pflicht entbunden wird. Sofern ein erwachsener Patient, bei klarem Bewusstsein und in Kenntnis seiner Situation, der therapeutischen Möglichkeiten und Risiken, eine Behandlung ablehnt, ist die Pflicht diese Handlung auszuführen nicht mehr gegeben. Die ärztliche Behandlungspflicht findet ihre Grenzen in dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Die ärztliche Verpflichtung zu einer ausreichenden Aufklärung, auch über Alternativen, bleibt hierbei Voraussetzung. »Bei urteilsfähigen Patienten hat er [der Arzt] dabei den Willen des angemessen aufgeklärten Patienten zu respektieren« (Bundesärztekammer Deutschland 1993). Allerdings weist Uhlenbruck unter Bezugnahme auf das Urteil des BGH im Fall Dr. Wittig (BGHSt 32, 367) auf Folgendes hin: »Teilweise wird das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und das Recht auf einen »natürlichen« oder »würdigen Tod« durch eine ärztliche Hilfspflicht nach § 323c StGB oder durch eine ärztliche Garantenpflicht unterlaufen« (Laufs u. Uhlenbruck 1992). b) Die Handlungspflicht ist sicherlich auch dort eingeschränkt, wo durch eine Maßnahme – rein physiologisch gesehen – keine Veränderung zu erwarten ist. Das sog. »(aussichtslose) futile medical treatment« ist aber ein umstrittener Begriff, der, sobald die Bezeichnung sinnlose Therapie über rein physiologisch belegbare Zusam-
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Kapitel 35 · Ethische Fragen in der Onkologie
menhänge geht, Wertungen erfordert. Es darf nicht übersehen werden, dass sich hinter dem Begriff »sinnlose« Behandlung eben ein ganz bestimmtes Verständnis von Sinn verbirgt. Es bleiben aber trotz dieser Einschränkungen eine Reihe von Handlungen und Maßnahmen, zumal im Repertoire der modernen Medizin, die zweifellos Einfluss auf den Todeszeitpunkt haben und in vielen, wenn nicht den meisten Fällen das Leben zumindest um kurze Zeit verlängern können. Andererseits ist es zweifellos breiter Konsens, dass nicht alle erdenklichen Maßnahmen unter allen Umständen ergriffen werden müssen, um schwerst leidende Patienten am Leben zu erhalten. Die Behandlungspflicht des Arztes (und moralisch gesehen die Pflicht des Patienten sich behandeln zu lassen) sind zumindest durch zwei Elemente eingeschränkt: die Angemessenheit der Mittel und die konkrete Situation mit ihrer Perspektive. So etwa in den Grundsätzen der deutschen Bundesärztekammer: »Maßnahmen zur Verlängerung des Lebens dürfen in Übereinstimmung mit dem Willen des Patienten unterlassen oder nicht weitergeführt werden, wenn diese nur den Todeseintritt verzögern und die Krankheit in ihrem Verlauf nicht mehr aufgehalten werden kann.« In dieser wie in anderen ähnlichen Erklärungen geht es um Einschätzung bzw. Bewertung der Lebensqualität ohne oder mit bestimmten therapeutischen Maßnahmen.
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35.9.3 Lebensqualität oder Lebenswert?
Lässt sich eine Lebensbewertung aus der Überlegung heraushalten? Beurteilt wird jedenfalls ein zu erwartender Zustand, der mittels einer Behandlung herbeigeführt werden soll, es wird nicht beurteilt, ob das Leben lebenswert ist. Grundsätzlich ist die Entscheidung eines Patienten, sich einer bestimmten Behandlung nicht zu unterziehen, weil sie zu viele Beschwerden und zu wenig Nutzen bringt, unbedenklich und alltägliche Praxis. Im Gegenteil, jede Behandlung muss durch die (zumindest mutmaßliche) Zustimmung des Patienten legitimiert sein. Eine Behandlung bei fehlendem Einverständnis wird rechtlich als Körperverletzung angesehen. Daher ist eine Ablehnung auch von lebenserhaltender Therapie nur als eine Variante der »Zustimmungsverweigerung« anzusehen. Insofern liegt eine Asymmetrie zwischen Behandeln und Nichtbehandeln vor, als Erstere immer, Letztere nur unter bestimmten Voraussetzungen rechtfertigungsbedürftig ist. Das Problem dabei ist, dass die Entscheidung zwischen Behandeln oder Nichtbehandeln (zumindest in manchen Fällen) mit der Entscheidung Lebensverlängerung oder Tod sehr eng zusammenhängt. Nun kann man argumentieren, dass ein Patient ja nicht den Tod wählt, sondern sich zwischen der Option Behandlung mit für ihn schrecklichen Folgen und der Option keine Behandlung mit der Folge des rascheren Todes entscheiden muss. In der Hämatoonkologie wird es oft eine Entscheidung zwischen einer aggressiven und einer milderen Variante der Behandlung sein. Ob eine alte, multimorbide Patientin mit akuter Leukämie und Zeichen von fortgeschrittener Niereninsuffizienz noch einer riskanteren myeloablativen Chemotherapie zugeführt oder mit einem ambulant durchführbaren milderen Therapieregime behandelt wird, ist solch eine Frage. Die Entscheidung gegen aggressivere Behandlung resultiert zwar voraussichtlich in einem Zustand, dem der Tod näher ist, jedoch nicht notwendigerweise unmittelbar dem Tod entspricht. Auch können Komplikationen der aggressiven Therapie rascher zum Tode führen.
Diese so gering scheinende Unterscheidung wahrzunehmen und zu akzeptieren hat wesentliche moralische Bedeutung. Der Gedankengang hierbei ist folgender: Eine Patientin entscheidet sich gegen eine potenziell lebensverlängernde Therapie, wissend, dass sie sich damit für einen Verlauf entscheidet, dem bald der Tod folgen wird. Sie entscheidet sich aber nicht für den Tod, sondern nimmt lieber den möglicherweise früheren Tod in Kauf, als sich der zusätzlichen Belastung zu unterziehen. Sie bewertet die Therapie und ihre Folgen auf das Leben, nicht das Leben selbst und nicht den Tod. Die Unterscheidung ist umso deutlicher, je weiter entfernt der Tod von der unmittelbaren Situation ist. Eine Mutter, die nicht wegfährt, um vielleicht drei Monate Lebens durch eine Behandlung in einem Spezialzentrum zu gewinnen, und statt dessen noch vier Wochen bei ihren Kindern leben möchte, wählt nicht den Tod, sondern entscheidet sich gegen eine ihr unerträgliche Belastung der Therapie bzw. gegen eine für sie weniger wertvolle therapeutische und soziale Option. Genauso ein Tumorpatient, der im Endstadium weitere aggressive Chemotherapie ablehnt, wählt nicht den Tod, sondern entscheidet sich gegen die erneuten Belastungen der Behandlung und nimmt in Kauf, dass sein Leben dafür früher endet. Beide beabsichtigen den Tod nicht, sondern wägen die Last der Therapie gegen die Alternative ohne (respektive mit milderer) Therapie ab. Beide unterscheiden sich daher von einem Selbstmörder, der den Tod direkt beabsichtigt und sich entsprechend seiner Absicht verhält. Ist solch eine Argumentation auch in den Fällen aufrechtzuerhalten, in denen die Belastung nicht in der Therapie, sondern in der unzumutbaren Verlängerung des leidvollen Lebens selbst besteht? Ein Beispiel wäre der sterbende Tumorpatient, dessen Pneumonie nicht weiter behandelt wird, obwohl durch effektive Antibiotikagabe das Leben noch um ein paar Tage verlängert werden könnte. Hier scheint es schwierig, die Unterscheidung aufrechtzuerhalten. Denn je unmittelbarer auf die Entscheidung gegen eine Behandlung der Tod folgt (obwohl nicht gewünscht), desto schwieriger ist es, den Unterschied zwischen Bewertung der Therapie und Bewertung des Lebens deutlich zu machen. Das Abstellen eines Beatmungsgerätes oder der Verzicht auf (bzw. der Abbruch) kardiopulmonale Reanimation sind hier wohl die schwierigsten Beispiele. Die Ansicht der philosophischen Vertreter des Konsequenzialismus ist, dass jede Entscheidung gegen lebensverlängernde Therapie immer auch eine Entscheidung für den Tod ist. Die Möglichkeit, dass der Tod als Nebenfolge in Kauf genommen wird, ist für ein konsequenzialistisches Kalkül, das ausschließlich die Resultate im Blick hat, nicht einsichtig. Nun ist nichts dagegen einzuwenden, dass zwar Verantwortung für eine wissentliche Unterlassung besteht; damit ist aber weder Schuldhaftigkeit für den Tod, noch Gleichsetzung mit aktiver Tötung zwingend impliziert. Es darf in diesen Fällen nicht übersehen werden, dass der Mensch auch eine Zeitgestalt hat. Der Tod ist eine unabänderliche Realität, die jeden Menschen betrifft. Ob er beabsichtigt wird oder nicht, er wird eines Tages unvermeidlich eintreten. Ganz im Gegensatz zur aktiven Tötung ist es daher auch möglich, Entscheidungen hinsichtlich einer Behandlung auf Abwägungen zu gründen, die den Tod zwar als Folge in Kauf nehmen, aber keineswegs beabsichtigen. 35.9.4 Sterben ist Teil des Lebens
Hans Jonas hat darauf aufmerksam gemacht, dass Sterben zum Leben gehört und daher ein würdiges Sterben auch nicht verhindert werden soll (Jonas 1985). Folgt man dieser Argumentation,
737 35.11 · Verteilungsgerechtigkeit – Gerechte Allokation in der Onkologie
könnte man die Entscheidung gegen eine lebensverlängernde Therapie als eine Entscheidung für den letzten Lebensvollzug – nämlich das Sterben – ansehen. Die Annahme des Sterbens und Ablehnung einer lebenserhaltenden Therapie wäre dann nicht als Option für den Tod, sondern im Gegenteil als Option für diesen letzten Teil des Lebens zu verstehen. Die Konsistenz der traditionellen Position ist meines Erachtens aufrechtzuerhalten, wenn das Konzept der Intention akzeptiert wird und die Handlungspflichten des Arztes durch folgende Bedingungen eingeschränkt gesehen werden: 4 durch den Patientenwunsch und Patientenautonomie, 4 durch die medizinische (physiologische) Indikation, 4 durch Proportionalität von Behandlung zu Leiden und Belastung. Man sollte die vordergründige Unterscheidung in aktive und passive Euthanasie aufgeben. Eine deutlich präzisere Unterscheidung ist möglich, wenn die (ohnehin häufig angewandte) Formulierung »beabsichtigtes Töten« gebraucht wird, die sowohl Handeln als auch Unterlassen einschließt. So ist etwa in den Erklärungen der Amerikanischen Medical Association (1973, 1986) festgehalten, dass ein Arzt nicht absichtlich den Tod herbeiführen darf. Auch in den Grundsätzen der deutschen Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung wird die Absicht hervorgehoben: »Eine gezielte Lebensverkürzung durch Maßnahmen, die den Tod herbeiführen oder das Sterben beschleunigen sollen, ist als aktive Sterbehilfe unzulässig und mit Strafe bedroht« Die rein empirische Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen ist, wie gezeigt wurde, nicht ausreichend, um eine moralische Unterscheidung in erlaubte und unerlaubte Verhaltensweisen zu treffen. Explizit spricht daher auch die Kongregation für die Glaubenslehre nicht von einem »aktiven« Tötungsverbot, sondern berücksichtigt diese präzisere (und umfassendere) Unterscheidung: »Unter Euthanasie wird hier eine Handlung oder Unterlassung verstanden, die ihrer Natur nach oder aus bewusster Absicht den Tod herbeiführt, um so jeden Schmerz zu beenden. Euthanasie wird also auf der Ebene der Intention wie auch der angewandten Methoden betrachtet« (Kongregation für die Glaubenslehre 1980). 35.9.5 Sterbebegleitung statt Sterbehilfe
Zwar müssen wir den Tod als Realität akzeptieren, und es ist meine Überzeugung, dass ärztliches Handeln den Tod nicht beabsichtigen soll, da Leid nicht durch Beseitigung der Leidenden abgeschafft werden kann. In der klinischen Praxis ist die konkrete, empathische Begleitung der sterbenden Patienten die eigentliche Aufgabe. Ethische Reflexionen sind notwendige Voraussetzungen – das Wichtigste ist aber Beistand, bestmögliche Pflege, Schmerzlinderung und menschliche Zuwendung.
sichtslosigkeit« liegt in seiner Spannbreite, die einerseits quantitativ den Übergang von wenig Erfolg versprechend bis absolut wirkungslos umfasst, andererseits qualitativ eine Bewertung durch Setzen eines normativen Therapiezieles impliziert. Letzteres entspricht einer Spielart der unlösbaren Frage nach dem »lebenswerten« Leben. Die Spannung dieser Entscheidung liegt meist zwischen möglicher Lebensverlängerung und hohen Belastungen durch eine Therapie. Die zugrunde liegende Bewertung besteht aus medizinischen Sachverhaltsanteilen und individuellen, persönlichen Anteilen, die keinen medizinischen Sachverstand erfordern. Vielmehr sind diese Einschätzungen von Nutzen und Risiko im Wesentlichen nur durch und mithilfe der Binnensicht des Patienten zu treffen. Die »Berechnung« von aussichtsloser Therapie, wie sie etwa von Schneiderman und Kollegen (Schneiderman 1990) vorgeschlagen wird (z. B. kein Erfolg in den letzten 100 Fällen), wird weder einer individuellen Wertung gerecht, noch berücksichtigt solch eine Regel die abgestuften Therapieziele in der Onkologie. Denn die Argumentation »Aussichtslosigkeit« (»futility«) suggeriert die Entscheidung zum Therapieabbruch oder, wie manche Autoren fordern, sogar den Verzicht auf ein Therapieangebot. Doch gilt es in diesem Zusammenhang sehr sorgfältig auf die Sprache zu achten. Die Formulierung Abbruch signalisiert Aufgabe und Kapitulation und wird von Patienten auch sehr negativ erlebt. Es kann aber nie um einen Abbruch der Behandlung gehen, sondern um eine Änderung der Therapieziele – somit um eine Behandlungsmodifikation. War zunächst ein kuratives Ziel im Blick, so kann sich dieses Behandlungsziel wandeln und die Therapie der Symptome vorrangige Bedeutung erlangen. Für einige Patienten kann sogar das Ziel eines würdigen und schmerzlosen Sterbens ein akzeptiertes und gutes Ziel werden, das anzustreben sich lohnt. Die palliative Behandlung versucht daher dem Kalkül eines Behandlungsnutzens eine grundsätzlich andere, patientenorientierte Perspektive gegenüberzustellen. Auch die sprachliche Formulierung unterstützt und lindert: statt Therapieabbruch die bereits erwähnte Therapiemodifikation und statt Verzicht auf medizinische Maßnahmen geht es nicht zuletzt um intensive menschliche Begleitung. Dem Tabu des Sterbens wird hierbei nicht durch »Aufgeben«, sondern durch sorgsame Aufmerksamkeit und Betreuung begegnet. Voraussetzungen einer guten palliativen Behandlung sind professionelles Engagement und interdisziplinäre Zusammenarbeit. Persönliche Voraussetzungen sind Sensibilität, Empathie und ein hohes Maß an Kommunikationsfähigkeit. Jedenfalls erscheint »Futility«, medizinische »Aussichtslosigkeit« nicht als verwendbares, richtungsweisendes Konzept zur Versorgung von onkologischen Patienten. Vielmehr kann eine gute palliative Behandlung in diesen Grenzsituationen eine sensible, aber aktive Antwort auf Angst und Verlassenheit in der schweren Krankheit geben.
35.11 35.10
35
Verteilungsgerechtigkeit – Gerechte Allokation in der Onkologie
Therapiemodifikation in der Onkologie
Durch die zunehmende Bedeutung des Selbstbestimmungsrechtes, wurde auch die Frage nach Grenzen der Behandlungspflicht erneut aufgeworfen – dort wo eine Behandlung medizinisch aussichtslos erscheint, aber vom Patienten oder seinen Angehörigen gefordert wird. Entscheidend ist aber die vorausgehende Präzisierung der Therapieziele. Denn die Brisanz des Begriffes »Aus-
Die Versorgung von Patienten mit malignen Erkrankungen ist in den letzten Jahren infolge der demografischen Entwicklung auch in den Mittelpunkt von Planungsüberlegungen im Gesundheitswesen gerückt. Die Lebenserwartung steigt und die Häufigkeit der Krebserkrankungen im Alter nimmt zu. Nach epidemiologischen Berechnungen kann man davon ausgehen, dass im Jahr 2020 rund 70% aller Krebserkrankungen bei Patienten über
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Kapitel 35 · Ethische Fragen in der Onkologie
65 Jahren auftreten werden (Balducci 2000). In diesem Zusammenhang stellt sich die ethische Frage nach der gerechten Mittelverteilung. Diese sog. »Allokation« von begrenzten Ressourcen spielt aus zwei Gründen eine herausragende Rolle. Erstens gehören die onkologischen Therapien zu den teuersten und durch Etablierung neuer Konzepte wie der modernen Therapie mit Antikörpern werden Grenzen der Finanzierbarkeit erreicht. Zweitens ist die kurze Zeit der letzten Lebensmonate statistisch gesehen die teuerste, womit die Frage des möglicherweise geringen Nutzens bei sehr hohem Aufwand aufgeworfen wird. Ressourcenknappheit entsteht, wenn der Bedarf oder zumindest der Wunsch nach einem Bedarf größer ist, als die vorhandenen Mittel. Mittel im Gesundheitswesen sind nicht nur finanzielle Einheiten, sondern auch Expertise, Arbeitskraft, räumliche Möglichkeiten, Pflegebedarf und Sachmittel wie vorhandene Medikamente, bis hin zu Körperbestandteilen wie Blutkonserven und Organen. Man kann eine absolute Knappheit, bei der trotz Aufbringung aller Möglichkeiten eine Ressource nicht zur Verfügung steht (Beispiel: passende Organressourcen), von relativer Knappheit unterscheiden, die zur Beschaffung eine Verteilung oder Umschichtung von anderweitig eingesetzten Mitteln erforderlich macht. Das Gesundheitswesen ist durch verschiedene Eigenheiten charakterisiert, die es von anderen ökonomisch orientierten Systemen grundlegend unterscheidet. Folgt man dem Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die einen »Zustand des vollkommenen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht bloß das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen« definiert, so scheint der Bedarf so gut wie unbegrenzt. Dem entspricht auch eine Erwartungshaltung, die mit einer weiteren Eigenheit – dem staatlichen Gesundheitswesen – gepaart, die sonst übliche Regelung von Angebot, Nachfrage und Kosten umgeht. Das Prinzip der Solidargemeinschaft, die immer einspringt, wenn eine Leistung zur Erhaltung oder Wiederherstellung von Gesundheit benötigt wird, hat zu einem Verlust der Preissensitivität bei den Konsumenten von Gesundheitsleistungen geführt. Dies ist einerseits sehr begrüßenswert, da sich beispielsweise ein Tumorpatient nicht mit den Kosten seiner Behandlung beschäftigen muss, es bedeutet aber auch die Notwendigkeit von Verteilungsentscheidungen auf verschiedenen Ebenen.
Modell der Allokationsebenen (Engelhardt 1988) 4 Makroallokation I: Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt 4 Makroallokation II: Verteilung innerhalb des Gesundheitswesens 4 Mikroallokation I: Verteilung nach Patientengruppen 4 Mikroallokation II: Verteilung an den einzelnen Patienten
Ein hilfreiches Modell um die Entscheidungs- und Handlungsebenen zu unterscheiden stammt von dem amerikanischen Bioethiker Engelhardt, der vier Ebenen voneinander trennt (Engelhardt, 1988; s. Übersicht). Während die Makroallokation auf obere Ebene die Verteilungsentscheidungen innerhalb des gesamten Budgets oder Bruttosozialproduktes zugunsten des Gesundheitsbudgets betrifft, wird mit Makroallokation auf unterer Ebene die Verteilung innerhalb des Gesundheitsbudgets gemeint. Diese Entscheidungen sind weitgehend politischer
Natur und werden in einem demokratischen System durch gesellschaftlichen Konsens bzw. durch Legitimation der politischen Entscheidungsträger getroffen. Die Ebene der Mikroallokation beschäftigt sich mit Verteilungsentscheidungen für Patientenkollektive nach verschiedenen Kriterien wie Alter, Erkrankungsart, Lebenserwartung und Lebensqualität. Auf der vierten Stufe, der unteren Ebene der Mikroallokation, werden die Entscheidungen innerhalb der konkreten Arzt-PatientBeziehung getroffen, z. B. welche diagnostischen oder therapeutischen Mittel für einzelne Patienten eingesetzt werden. Die einzelnen Ebenen stehen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis, wobei die jeweils höhere Ebene den Entscheidungsrahmen der unteren Ebene abgrenzt. Die Aufgliederung der Ebenen löst zwar nicht die Probleme der gerechten Güterverteilung und gibt auch keine Hilfen für Entscheidungskriterien – sie erlaubt aber Verantwortungen und Konfliktsituationen zuzuordnen. So kann der einzelne Arzt nicht für das Gesamtbudget verantwortlich gemacht werden. Die Frage nach Entscheidungskriterien innerhalb der jeweiligen Ebene ist eine der schwierigsten Problemfelder unserer Zeit. Rein ökonomische oder rechtliche Regulationen können zu kontraintuitiven und offensichtlich ungerechten Situationen führen, die wiederum politisch nicht haltbar sind. Neben der Forderung einer gerechten Verteilung werden an ein Gesundheitssystem aber noch weitere Forderungen gestellt (Zitter 2001): 4 Anspruch auf bestmögliche medizinische Versorgung entsprechend dem aktuellen Stand der Wissenschaft, 4 gleicher Zugang zu den Leistungen für alle Menschen, unabhängig von sozialen oder ökonomischen Voraussetzungen, 4 Anerkennung von Selbstverantwortung und Selbstbestimmung von erwachsenen, entscheidungsfähigen Patienten, 4 Kosteneffizienz und Verschwendungsverbot. Es handelt sich daher um ein sehr komplexes Anforderungsprofil, das auf allen oben angeführten Ebenen wertende Entscheidungen verlangt. Letztlich kann sich keine Ebene bzw. können die Verantwortungsträger keiner Ebene sich aus der Notwendigkeit von wertenden Entscheidungen zurückziehen. Im eigenen Entscheidungsbereich, so weit der zu verantwortende Spielraum reicht, müssen die Verteilungsentscheidungen getroffen werden. Das Versorgungsangebot bewegt sich zwischen dem Maximum als der Gewährleistung aller medizinisch möglichen Maßnahmen unter Berücksichtigung der Selbstbestimmung des Patienten und einer schwer zu definierenden Minimalversorgung. Das ethische Prinzip der Gerechtigkeit erfordert die gleichberechtigte Anerkennung der Teilnehmer am staatlichen und verpflichtenden Solidarsystem, in das gerade ältere Patienten länger eingezahlt haben. Daher muss einerseits jede Tendenz eines sozialen Druckes auf alte Patienten zur Einsparung von erforderlichen Behandlungen verhindert werden, andererseits sollen aber auch unsinnige, womöglich vom Patienten ungewünschte, therapeutische Maßnahmen vermieden werden. Die Problematik der Bewertung, was für einen Patienten am Ende seines Lebens sinnvolle Therapie ist und was nicht, kann durch Alterslimits nicht gelöst werden, wie die im Ergebnis nicht zufriedenstellende Diskussion dieser Fragen in Großbritannien gezeigt hat (Gormally 1992). Auch in Deutschland und Österreich sind die sozialpolitischen Entwicklungen angesichts einer drängenden Rationalisierung des Sozial- und Gesundheitssystems genau zu beobachten. Die Vulnerabilität der Tumorpatienten erfordert auch auf versteckte Selektionskriterien und
739 35.12 · Patientenverfügungen
Hürden zu achten, wie z. B. aufwendige Bewilligungsverfahren, die für gebrechliche Menschen physisch nicht machbar sind. So gesehen ist die Versorgung von Tumorpatienten auch eine gesellschaftspolitische Frage, die nicht zuletzt das jeweilige Menschenbild unserer Zeit widerspiegelt.
35.12
Patientenverfügungen
Bei vielen Menschen besteht die Furcht, in einer Zeit schwerer Krankheit ärztlichen Entscheidungen ausgeliefert zu sein. Diese Sorge wird noch verstärkt durch eine unter Ärzten und Laien verbreiteten Skepsis gegenüber hochtechnisierter sog. »Apparatemedizin«, die ein würdevolles Sterben verhindern könnte. Aus dem verständlichen Wunsch, Einfluss auf eine zukünftige, medizinische Behandlung zu nehmen, insbesondere Maßnahmen wie maschinelle Beatmung und Reanimation in Extremfällen auch abzulehnen, entstanden Patientenverfügungen. Diese Vorausverfügungen, auch Patiententestamente genannt, sollen Richtlinien für zukünftige Situationen festlegen, in denen ein Patient selbst nicht mehr medizinische Behandlung autorisieren oder ablehnen kann. Man kann sie daher als Kommunikationsbrücken verstehen, die Zustände erreichen sollen, in denen eine direkte Kommunikation nicht mehr möglich ist. Die zugrunde liegende Idee der Patientenverfügung erscheint sehr attraktiv, da eine Reihe der schwierigen Entscheidungen, etwa bei komatösen Patienten, zumindest theoretisch entsprechend den persönlichen Wünschen der Patienten getroffen werden könnten (Simon et al. 2004). Neben der schriftlichen Form, die 1969 von Luis Kutner erstmals erwähnt und »living will« genannt wurde, gibt es auch den Vorschlag einen nahe stehenden Menschen mit dieser Aufgabe zu betrauen. Solch ein Stellvertreter (»proxy«) soll, im Falle dass man selbst nicht mehr entscheiden kann, entsprechenden Einfluss auf die ärztliche Behandlung nehmen. In Österreich gibt es seit Kurzem eine spezifische Gesetzesregelung, die verbindliche von beachtlichen Patientenverfügungen aufgrund von klaren Kriterien und Bedingungen abgrenzt [Bundesgesetz über Patientenverfügungen (PatVG) BGBl I 55/2006]. In der Praxis existiert eine ganze Palette von unterschiedlichen Formularen meist privater Organisationen (z. B. Hospiz Österreich), die fast ausschließlich beachtlichen Charakter haben und damit einen gewissen Ermessensspielraum in der Interpretation zulassen. Nur wenige Situationen erscheinen für die verbindlichen Verfügungen auch sinnvoll, da dann keine Änderung und Anpassung an die dynamische Entwicklung mehr erlaubt ist. Zu berücksichtigen ist, ob der Patient die in Frage stehende Situation sowie die möglichen medizinischen Maßnahmen klar vorhergesehen hat. Dies ist bei kurzer zeitlicher Distanz zwischen Errichtung und Wirksamwerden eher anzunehmen. Voraussetzung von Verfügungen sind einerseits die prinzipielle Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Patienten und zweitens die Möglichkeit, dass ein Patient medizinische Behandlung nicht nur hic et nunc bestimmen kann, sondern dass seine Autonomie auch in spätere bewusstlose, inkompetente Zustände hineinreicht; dass es also prinzipiell möglich und wünschenswert sei, auch für zukünftige, letztlich unvorhersehbare Situationen verbindliche Direktiven festzulegen. Diese zweite Bedingung verursacht die meisten ethischen Fragen und praktischen Probleme. Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Direktiven im Zusammenhang mit der negativen Freiheit in Ruhe gelassen zu werden (also eine Therapie ablehnen zu können), und der positiven Freiheit auf
35
bestimmte Behandlungsoptionen. Auch hier gibt es Defensivrechte im Gegensatz zu Teilhaberechten (Meran et al. 2002). Eine weitere wesentliche Begrenzung des Selbstbestimmungsrechtes besteht darin, dass es an bestimmte Bedingungen wie Entscheidungsfähigkeit geknüpft ist. Neben der Frage, ob eine gänzlich veränderte Situation, die im Falle einer schweren Erkrankung anzunehmen ist, die Interessen und Bedürfnisse eines Patienten so radikal ändert, dass frühere, in Gesundheit getroffene, Verfügungen nicht mehr entsprechen, wurde auch die provokante Frage gestellt, ob die personale Identität überhaupt als unverändert fortbestehend in Lebenslagen gedacht werden kann, die keine mentalen Fähigkeiten mehr erlauben. Denn ginge man davon aus, dass etwa eine Patientin im irreversiblen Koma gar nicht mehr dieselbe Patientin ist, die früher eine Verfügung getroffen hat, dann wird die moralische Autorität ihrer Verfügung fraglich. Ein weiteres Problem ist die offene Frage, ob ausreichend Informationen für mögliche zukünftige Situationen samt dem Spektrum der Behandlungsoptionen im Rahmen der vor Erstellung erforderlichen ärztlichen Aufklärung übermittelbar sind und damit die Grundlage für eine verbindliche Entscheidung gegeben ist. Es darf auch nicht übersehen werden, dass die meisten der Entscheidungen letztlich normativen Charakter haben und sich aus subjektiven Bewertungen bestimmter Zustände oder Lebenssituationen ergeben. Weiter besteht eine Reihe von praktischen Einschränkungen, wie die Schwierigkeiten der rechtzeitigen Verfügbarkeit und die unumgängliche Interpretation der Patientenverfügung durch die behandelnden Ärzte. Es bestehen wesentliche Unterschiede der Rechtsverbindlichkeit solcher Verfügungen in verschiedenen Ländern. Dieser liegt insbesondere darin, dass eine gültig abgefasste Patientenverfügung in England, sowie unter bestimmten Bedingungen auch in Österreich rechtsverbindlich ist, während die Rechtsverbindlichkeit in Deutschland noch nicht endgültig geklärt ist. Aus klinischer Sicht spielen Patientenverfügungen derzeit eine untergeordnete Rolle, werden jedoch von den meisten Medizinern als eine positive, zusätzliche Informationsquelle für schwierige Entscheidungen angesehen. Patientenverfügungen lösen nicht die schwierigen Probleme mit entscheidungsunfähigen Patienten, können aber eine sinnvolle Hilfe sein. Doch wird ihr Wert für die konkrete Entscheidungsfindung davon abhängen, ob sie durchdacht und sorgfältig produziert wurden. Sie sollten daher eingebunden werden in den Prozess der Aufklärung. Es ist aus dem oben Diskutierten zu folgern, dass ein Patient nicht nur über verschiedene Verläufe und die therapeutischen Möglichkeiten informiert werden sollte, sondern auch über die Risiken, die damit verbunden sind, dass Handlungsanweisungen für die Zukunft fixiert werden. Wahrscheinlich ist die Information über mögliche Konflikte zwischen festgelegten Wünschen und aktuellen Bedürfnissen ein Kriterium für die Gültigkeit der Verfügung. In diesem Sinn kann auch die Angabe hilfreich sein, ob dem Arzt ein abgegrenzter Entscheidungsspielraum gelassen wird. Zwar werden Patientenverfügungen den Ärzten kaum jemals ersparen, schwierige, wertende Entscheidungen für ihre entscheidungsunfähigen Patienten zu treffen, doch sollten Präferenzen, die in einer Patientenverfügung Ausdruck finden, nicht ohne Grund missachtet werden. In den meisten Fällen wird sich die aktuelle Situation mit den geäußerten Wünschen in Einklang bringen lassen und so der Wille des Patienten geachtet werden. Somit können Patientenverfügungen hilfreich sein, sofern diese sorgfältig erstellt wurden, und die Ermittlung des mutmaßlichen Willens der Patienten erleichtern (Meran 1996).
35
740
Kapitel 35 · Ethische Fragen in der Onkologie
35.13
Ethische Fragen bei klinischen Studien
Klinische Studien wurden entwickelt um wissenschaftlich fundierte Ergebnisse erheben zu können. Speziell die Randomisierung soll mögliche Einflüsse und Vorurteile unmöglich machen. Jede therapeutische Intervention kann den sog. Placeboeffekt auslösen. Daher sollte idealerweise eine klinische Studie so ausgelegt sein, dass eine Gruppe Behandlung mit Inhalt und eine Gruppe Behandlung ohne Inhalt – eben ein Placebo – erhält. Gerade im onkologischen Bereich ist immer dann, wenn eine effektive Therapie möglich wäre, eine placebokontrollierte Studie kaum zu rechtfertigen, denn man würde die Hälfte der Patienten unbehandelt lassen. Daher wird im onkologischen Bereich meist die bewährte Standardbehandlung mit einer neuen, alternativen Methode verglichen. Um der Problematik einer Präselektion aufgrund von Vorurteilen und Vorerfahrungen durch Kliniker zu umgehen, werden idealerweise die beiden Gruppen randomisiert. Doch selbst die Randomisation alleine hat nicht immer zu verlässlichen Ergebnissen frei von Beeinflussung geführt, sodass eine Studie zusätzlich verblindet sein sollte. Verblindet meint, dass der Patient nicht weiß, ob er das wahre Präparat oder das Placebo bzw. die Standardtherapie oder die experimentelle Therapie erhält. Eine Studie wird als doppelblind bezeichnet, wenn sowohl die Patienten, als auch die behandelnden Ärzte nicht wissen, was jeweils gegeben wird. Patienten vertrauen darauf, dass ihre Ärzte sie mit der bestmöglichen Therapie versorgen. Auch rechtlich gesehen schuldet der Arzt dem Patienten eine Versorgung nach dem aktuellen medizinischen Standard. Der Arzt hat also die Verpflichtung den Patienten nach dem Stand der Kunst zu behandeln und ihn entsprechend sorgfältig über alle Möglichkeiten und auch Alternativen aufzuklären. Die Aufklärungspflicht bezieht sich auch auf Behandlungsrisiken und Gefahren, wenn eine Behandlung unterbleibt. Allein daraus ist ersichtlich, dass eine Studie die aus einem Verum und einem Placebo besteht, äußerst problematisch ist, da die Hälfte der Patienten überhaupt keine Behandlung erfährt. Einzige Rechtfertigung gegenüber einem individuellen Patienten, könnte die sein, dass der Arzt tatsächlich annimmt, dass auch das Verum keinen wirklichen Effekt hat. Nur dann wären beide Behandlungsarme vergleichbar und eine Randomisation aus rechtlicher und ethischer Sicht erlaubt. Andernfalls wäre solch eine Studie gegen die Deklarationen der World Medical Association (Declaration von Helsinki, zuletzt modifiziert in Tokyo 2004). Sobald eine Studie randomisiert wird, ist es aus ethischer Sicht erforderlich, dass die miteinander verglichenen Arme ausgeglichen sind (Markmann u. Meran 2006). Der Begriff Equipoise bezeichnet diesen Zustand der Unsicherheit seitens des Untersuchers in Bezug auf die Wertigkeit der verschiedenen Untersuchungsarme (Freedman 1987). Eine tatsächlich klare Ausgeglichenheit zweier Behandlungsarme wird die großen Anstrengungen und Kosten einer randomisierten klinischen Studie kaum rechtfertigen. In der klinischen Praxis ist daher echte Equipoise – echte Ausgeglichenheit zwischen zwei Behandlungsarmen – eine eher seltene Konstellation. Auf Ebene des einzelnen Patienten repräsentiert jeder ein unterschiedliches physiologisches System und hat auch persönliche unverwechselbare Werte und Einstellungen. Daher ist es für den einzelnen Patienten, selbst wenn zwei Behandlungsarten ähnliche klinische Ergebnisse bringen, häufig so, dass er eine Behandlungsform bevorzugen würde. So ist es beispielsweise für ältere Patienten eher akzeptabel niedrige Risiken in einem kurzzeitigen Bereich und dafür etwas höhere Risiken im
langfristigen Bereich zu akzeptieren. Ein anderes Beispiel wären Frauen, die beispielsweise absolut gegen Behandlungsformen sind, die ihre Körperlichkeit beeinträchtigen, wie z. B. Mastektomie oder Haarverlust (Botros 1990). Daher würde idealerweise jeder Patient eine maßgeschneiderte Behandlung erhalten, die auf seine Physiologie, seine spezifische Erkrankungsform, seine Wünsche und Lebensumstände Rücksicht nimmt. Damit wären klinische Studien und damit der Erwerb von Evidenz-basierten Daten praktisch unmöglich. Der einzige Weg um verlässlich Vorteile einer bestimmten Behandlung beweisen zu können, besteht eben in der wissenschaftlichen Untersuchung durch standardisierte klinische Studien. Unter diesen sind die randomisierten klinischen Studien der Goldstandard. Das bedeutet aber, dass mithilfe der Patienten Information gewonnen wird und sich manche Entscheidungen an den Regeln der Studie und nicht sosehr an den Umständen des Patienten orientieren. Dies könnte im Extremfall einzelne Patienten benachteiligen, weil sie eben zufällig einer Therapie zugeordnet werden, die sie, könnten sie wählen, nicht ausgesucht hätten. Um solche Fälle möglichst gering zu halten, haben randomisierte klinische Studien klare Einschluss- und Ausschlusskriterien. Verschiedene Versuche wurden unternommen, um das Paradox – einerseits Ausgeglichenheit der Therapiearme zu haben und andererseits eben gerade Unterschiede herausfinden zu wollen – aufzulösen. Benjamin Freedman hat vorgeschlagen, dass es nicht um eine individuelle Art von Ausgeglichenheit gehen sollte, sondern dass randomisierte klinische Studien auch dann gerechtfertigt sind, wenn in der wissenschaftlichen Gesellschaft ausgeglichene Meinungen zu den verschiedenen Armen vorherrschen und nannte dies Community-Equipoise (Freedman 1987). Dieses und andere Konzepte werden kontrovers beurteilt (Markmann u. Meran 2006). Aus ethischer Sicht sollte bei der Beurteilung von randomisierten Vergleichstudien ein Mindestmaß an Equipoise zur Anwendung kommen, welches sich auf zumindest eine publizierte wissenschaftliche Studie mit für den Kontext angemessener Aussagekraft bezieht. Die Frage, was angemessen ist, bleibt der jeweiligen Ethikkommission in der Praxis nicht erspart und kann nicht völlig formalisiert werden. Der medizinische Fortschritt, wie auch die jeweiligen Studiensituationen sind zu variabel, um längerfristig gültige Regeln sinnvoll aufstellen zu können. Zusätzlich gilt als Voraussetzung für klinische Studien dass Patienten im Rahmen der Studie zumindest keine schlechtere Therapie erhalten als in der klinischen Praxis üblich ist (Daugherty 2006). Weitere wichtige ethische Fragen betreffen die Abbruchkriterien, die in jeder gut vorbereiteten Studie im Protokoll vorab festgelegt sind. Doch es bleiben wertende Entscheidungen, die man auch anders treffen könnte (Gifford 1995). Zur Erreichung des sog. »policy level«, damit meint man eine Qualität von Resultaten, die von der medizinischen Fachwelt als ausreichend angesehen werden, um die gängige Praxis (»state of the art«) zu verändern, wird ein entsprechend hoher Grad von Signifikanz gefordert. In kritischen Fällen werden unabhängige Komitees (»independent data and safety monitoring boards«) aus einem Team von klinischen Experten, Statistikern und Ethikern mit der Prüfung der Frage beauftragt, ob eine Studie eventuell geschlossen und die Daten bereits öffentlich gemacht werden dürfen, wenn eine Zwischenanalyse für die Überlegenheit eines Studienarmes spricht. Gründe für den Abbruch einer Studie sind neben der früher als geplant erkennbaren Überlegenheit eines Studienarmes auch unerwartete Toxizitäten oder absehbare Ergebnislosigkeit (Partridge et al. 2005). Andererseits trägt die Entschei-
741 35.14 · Fortbildung und Perspektiven von Ethik in der Onkologie
dung, eine Studie frühzeitig abzubrechen das Risiko, dass die Ergebnisse noch instabil sind und sich weiter verändern können, langzeitige Folgen noch nicht absehbar sind und letztlich die Studienfrage nie definitiv mit ausreichender Sicherheit beantwortet wird. Im Zusammenhang mit dem Abbruch der großen MA-17Studie wurden die Folgen des frühzeitigen Beendens einer Studie diskutiert (Partridge et al. 2005). In dieser Studie erhielten Patientinnen mit hormonrezeptorpositivem Brustkrebs nach Operation und 5 Jahren Behandlung mit Tamoxifen entweder eine weitere adjuvante Therapie mit Letrozole oder Placebo. Nach 2,4 Jahren wurde die Studie gestoppt, da ein statistisch signifikanter Vorteil für den Letrozol-Arm zu sehen war (Goss et al. 2003). Kritisiert wurde der Abbruch, da keine Ergebnisse für Langzeitfolgen vorliegen und letztlich die notwendige Dauer der Behandlung offen blieb (Bryant et al. 2003). An diesem Beispiel wird deutlich, dass verschiedene Interessen vorliegen. Die Studie wurde geschlossen, nachdem vorgegebene statistische Grenzen der Effizienz bei einer Zwischenanalyse überschritten waren, um den Patienten mit Placebo die wirksame Therapie nicht vorzuenthalten. Die wissenschaftliche Fragestellung zu den Langzeitfolgen hätte ein höheres Signifikanzniveau und damit eine längere Studiendauer (wie anfangs geplant) erfordert. Der Grund für unterschiedliche Signifikanzschwellen liegt in den verschiedenen Zielen. Einmal geht es um die bestmögliche Behandlung für den individuellen Patienten und im anderen Fall um das breitere Ziel, eine wissenschaftliche Frage so sicher wie möglich zu beantworten. Die Spannung zwischen diesen Zielen wird verbleiben und entspricht der Spannung zwischen Kollektiv und Individuum.
35.13.1
Informed Consent bei klinischen Studien
Eine adäquate Information über Ziele und Ablauf jeder Studie ist verpflichtend und im Arzneimittelgesetz festgeschrieben. Im Zusammenhang mit klinischen Prüfungen ist das sog. therapeutische Privileg, also das Verschweigen von Fakten im Interesse des Patienten inakzeptabel. Andererseits ist bekannt, dass eine besonders ausführliche Information über Risiken die Zahl der rekrutierten Patienten reduziert. Kein Patient ist verpflichtet, an einer Studie teilzunehmen. Daher ist immer eine valide Zustimmung und Autorisierung durch den Patienten erforderlich (Meran 1995). Auch das Sammeln und der Gebrauch von Patientendaten muss durch die Einwilligung der Patienten autorisiert werden. Die Wissenschaftler besitzen zwar geistiges Eigentum an
35
ihren Ideen, doch die Daten der Patienten, auch in anonymisierter Form, dürfen erst nach Zustimmung verwendet werden. Letztlich ist die Zustimmung nicht nur zu den Risiken der Behandlung erforderlich, sondern auch zum Randomisationsprozess. Denn die Einwilligung in diesen Prozess bedeutet, dass der Patient auf sein Recht auf die Wahl zwischen zwei Optionen verzichtet. Die medizinische Wissenschaft braucht randomisierte klinische Studien, als Ärzte sollten wir jedoch ehrlich genug sein, die inhärenten Grenzen und auch den letztlich nicht zu eliminierenden Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv im Interesse der zukünftigen Patienten im Auge zu behalten (Meran 2003).
35.14
Fortbildung und Perspektiven von Ethik in der Onkologie
Eine angewandte, klinische Ethik setzt in erster Linie Reflexionsfähigkeit und Kommunikation voraus. Daher erscheint es wichtig, dass Gelegenheit und Raum für die Entfaltung ethischer Überlegungen gegeben wird. Institutionalisierte Besprechungen, interdisziplinäre Konferenzen, Stationsbesprechungen, Zeit für Gespräche mit Patienten und Angehörigen, Supervisionsrunden, Balint-Gruppen und Patientenforen bieten sich an. Doch sollten medizinethische Themen auch integrativer Teil der Ausbildung und Fortbildung sein. Viele ethische Fragen werden in allgemeinmedizinischen Zeitschriften praxisnah behandelt. Die spezifische Literatur ist beinahe unüberschaubar geworden und jede Auswahl wäre willkürlich und persönlich gefärbt. Die theoretische Beschäftigung mit Ethik in der Medizin ist aber unzureichend. Sie ist nur so viel wert, wie sie in der Praxis an Hilfen und Orientierung zu geben vermag. Die Aufgabe von Ethikkomissionen liegt derzeit eher im Bereich der klinischen Studien und deren ethischer sowie formaler Bewertung. Zusätzlich gibt es erfreulicherweise auch einige Komissionen, die bei der praktischethischen Diskussion, teils sogar vor Ort am Krankenbett Hilfestellungen anbieten. Wesentlich erscheint, dass es sich um ein Beratungsangebot handelt – die Entscheidungen müssen bei den betreuenden und verantwortlichen Ärzten bleiben. Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
36 Geriatrische Onkologie U. Wedding, L. Pientka
36.1
Demografie und Epidemiologie
36.2
Alterungsprozesse
36.3
Aktuelle Behandlungssituation und Teilnahme an klinischen Studien – 745
36.4
Therapieentscheidungen – 745
36.5
Unterschiede zwischen alten und jungen Patienten mit Krebserkrankungen – 745
36.6
Geriatrisches Assessment
36.7
Primäre Prävention – 750
36.8
Sekundäre Prävention
36.9
Therapie – 750 Literatur – 753
– 743
– 744
– 747
– 750
36
743 36.1 · Demografie und Epidemiologie
> Einleitung
36.1
Aufgrund der demografischen Entwicklung wird in den nächsten Jahrzehnten die Zahl alter Menschen zunehmen. Die Inzidenz- und Mortalitätsrate der meisten bösartigen Neubildungen steigt altersabhängig deutlich an. Beide Entwicklungen gemeinsam führen dazu, dass sich die Zahl alter Menschen mit Krebserkrankungen in den nächsten Jahrzehnten voraussichtlich verdoppeln wird (Edwards et al. 2002). Ziel dieses Kapitels ist es, alterstypische Veränderungen des Patienten und des Tumors, die im Rahmen onkologischer Entscheidungsprozesse relevant sein können, darzustellen, nicht aber für einzelne Entitäten die jeweiligen Behandlungsstrategien für alte Patienten.
Demografie und Epidemiologie
Die Zahl alter Menschen wird in der Bundesrepublik Deutschland wie auch in allen anderen Ländern der westlichen Welt erheblich zunehmen. Diese Entwicklung hat verschiedene Ursachen: 4 Die geburtenstarken Jahrgänge vor dem sog. Pillenknick, ca. um 1965, erreichen in den nächsten Jahrzehnten das Rentenalter. 4 Die Lebenserwartung nimmt kontinuierlich zu. Dies betrifft auch die sog. ferne Lebenserwartung, also die durchschnittlich verbleibenden Jahre, dann wenn eine Person bereits 65, 70, 75 oder 80 Jahre alt geworden ist. Aktuelle Zahlen zur durchschnittlichen Lebenserwartung bei Erreichen eines bestimmten Alters, getrennt für beide Geschlechter, sind anhand der Daten des Statistischen Bundesamtes für die Bundesrepublik Deutschland in . Tab. 36.1 wiedergegeben. 4 Die Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung beträgt derzeit ca. 2–3 Monate pro Jahr für die allgemeine Bevölkerung und ca. 1 Monat pro Jahr für die über 80-Jährigen.
. Abb. 36.1. Entwicklung der Bevölkerungszahl in der Bundesrepublik Deutschland
4 Die jährliche Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung in dem jeweiligen Land mit der höchsten durchschnittlichen Lebenserwartung ist seit Existenz exakter Register um 1840 konstant (Oeppen u. Vaupel 2002). Ein allmähliches Abflachen des Anstiegs ist bisher nicht zu registrieren. 4 Verstärkt wird das Problem der absoluten Zunahme der Zahl alter Menschen durch die darüber hinausgehende relative Zunahme der Zahl aufgrund der seit Jahrzehnten geringen Geburtenrate in Deutschland von derzeit ca. 1,4 bzw. 8,5/1.000 Einwohner im Jahr 2004. Das ist die niedrigste im EU-Durchschnitt.
. Tab. 36.1. Lebenserwartung (Daten des Statistischen Bundesamtes 2004) Alter (Jahre)
Neugeborene
65
70
75
80
85
90
Frauen
80,4
19,2
15,2
11,6
8,5
6,0
4,3
Männer
74,8
15,6
12,3
9,4
7,0
5,2
4,1
744
Kapitel 36 · Geriatrische Onkologie
. Abb. 36.2. Schätzung der altersspezifischen Inzidenz bösartiger Neubildungen in Deutschland 2000 (Erkrankungen pro 100.000 in Altersgruppen)
Die in . Abb. 36.1 wiedergegebenen Zahlen des Statistischen Bundesamtes der Bundesrepublik Deutschland zeigen, dass sich die Zahl der über 65- bis 90-jährigen Menschen innerhalb dieses Zeitraums verdoppeln und der über 90-jährigen Menschen verfünffachen wird (http://www.destatis.de).
bei normal ablaufendem Zellzyklus« angesehen (Ferbeyre u. Lowe 2002; Partridge u. Gems 2002). Von der Vielzahl der Alterungstheorien sind zwei für die Onkologie von besonderer Bedeutung (Anisimov 2003), die Abnutzungstheorie und die Programmtheorie.
. Abb. 36.2 zeigt den altersabhängigen Anstieg der Inzidenzrate der malignen Erkrankungen anhand der Daten des RobertKoch-Instituts in Berlin (http://www.rki.de).
Abnutzungstheorie. Sie geht davon aus, dass Ursache des Alterns eine im Verlauf des Lebens zunehmende Schädigung des Organismus und seiner Strukturen ist. Extrinsische und/oder intrinsische Faktoren führen zu einer Schädigung intra- und/ oder extrazellulärer Moleküle. Diese setzt sich in einer Schädigung der Zelle, des Organs und schließlich des Gesamtorganismus fort. Die Abnutzungstheorie lässt sich auf die Aussage »Altern ist passiv – das Leben selbst bewirkt das Altern« fokussieren.
36.2
Alterungsprozesse
36 Altern ist der Hauptrisikofaktor für die Entstehung bösartiger Neubildungen. Nachfolgend werden daher Modelle des Alterungsprozesses allgemein dargestellt, bevor auf zelluläre und molekulare Zusammenhänge zwischen dem Alterungsprozess und der Karzinogenese eingegangen wird. 36.2.1 Alterungsprozesse allgemein
Kriterien des Alterns sind das universelle Auftreten – in Abgrenzung gegen Krankheit – und der irreversible zeitabhängige Verlauf. Altern führt zu Veränderungen von Strukturen und Funktionen im Organismus. Es ist verbunden mit einer Abnahme der Adaptationsfähigkeit des Organismus gegenüber Umwelteinflüssen. Teilungsfähige Zellen können als Reaktion auf Stress, Telomerdysfunktion, DNA-Schädigung, starke mitogene Reize und Chromatinunterbrechungen permanent in einen Zustand der Nichtteilungsfähigkeit übergehen. Die zelluläre Seneszenz wird auf molekularer Ebene von den P53-und RB-Tumorsuppressorgenen kontrolliert. Es handelt sich dabei um einen wirksamen Schutz gegen einen Übergang dieser Zellen in eine maligne Zelle. Seneszente Zellen tragen jedoch zum Alterungsprozess und zu altersassoziierten Krankheiten bei, eingeschlossen Krebserkrankungen. Die zelluläre Seneszenz nimmt damit eine doppelte Stellung ein. Zum einen stellt sie in jungen Jahren einen Schutz dar, damit aus geschädigten Zellen keine malignen Zellen entstehen, zum anderen führt sie über die Akkumulation von dysfunktionalen Zellen zur Alterung und Begünstigung der Krebsentstehung im späteren Leben. Judith Campisi bezeichnet dies als »doble edged sword« der Seneszenz (Campisi 2005). Altern wird als »letaler Nebeneffekt« bzw. als »Preis für die Tumorsuppression
Programmtheorie. Sie geht davon aus, dass Ursache des Alterns eine programmierte oder epigenetisch festgelegte Veränderung der Genexpression mit Akkumulation nicht teilungsfähiger Zellen ist, die zum Verlust der Proliferationsfähigkeit führt und zum Übergang der Zellen in einen Zustand der replikativen oder zellulären Seneszenz. Die Programmtherapie lässt sich auf die Aussage »Altern ist aktiv – der Alterungsprozess ist determiniert« fokussieren. Für beide Theorien gibt es experimentelle Hinweise. Sie müssen sich nicht ausschließen, sondern können beide nebeneinander verschiedene Aspekte des Alterns erklären. 36.2.2 Alterungsprozesse und Karzinogenese
Krebserkrankungen entstehen durch Veränderungen in kritischen Genen der Zellvermehrung und der Apoptose. Bis aus ersten genetischen Veränderungen eine klinisch manifeste Krebserkrankung wird, bedarf es der Anhäufung einer kritischen Zahl genetischer Veränderungen. Liegt keine genetische Disposition vor, so verläuft dieser Prozess meist über Jahre bis Jahrzehnte. Seneszente Zellen enthalten einen Inhibitor für den Eintritt in die S-Phase des Zellzyklus. Zellfusionsstudien zeigten, dass der seneszente Phänotyp dominant gegenüber einer nicht maligne transformierten Zelle ist. Fusioniert man dagegen seneszente Zellen mit transformierten Zellen, werden die DNA-Synthese und der Übergang in die S-Phase induziert (Anisimov 2003).
745 36.5 · Unterschiede zwischen alten und jungen Patienten mit Krebserkrankungen
36.3
Aktuelle Behandlungssituation und Teilnahme an klinischen Studien
Für alte Menschen gilt: 4 es wird weniger Wert auf Prävention gelegt, 4 sie werden zu einem geringeren Ausmaß in Screeningprogramme integriert, 4 es wird seltener eine definitive histologische Diagnose gestellt, 4 die Erkrankung wird häufiger in einem fortgeschrittenen Stadium erstdiagnostiziert, 4 es erfolgt häufiger keine definitive Stadienzuordnung, 4 und sie werden häufiger unterbehandelt (Turner et al. 1999). Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Sie sind zu suchen beim Patienten, beim behandelnden Arzt und im Gesundheitssystem. Eine Ursache ist aber auch der Mangel an soliden klinischen Daten (Trimble et al. 1994). Alte Patienten sind bisher in klinischen Studien unzureichend berücksichtigt worden (Lewis et al. 2003; Hutchins et al. 1999; Monfardini et al. 1995). Traditionell sind in Studien sowohl zur tumorspezifischen, als auch zur supportiven Therapie meist willkürliche obere Altersgrenzen festgesetzt worden. Das National Cancer Institute (NCI) der USA hat daher beschlossen, Studien, die willkürliche obere Altersgrenzen festlegen, nicht mehr zu fördern. Eine vergleichbare Organisation und Empfehlung fehlt in Deutschland. Viele Therapieentscheidungen für alte Patienten mit Krebserkrankungen lassen sich daher nicht basierend auf Daten mit hoher Evidenz treffen. Das Alter eines Patienten ist häufig ein Grund, ihn nicht in ein onkologisches Zentrum zu überweisen, in dem entsprechende Studien angeboten werden können (Townsley et al. 2003). Nur ein Teil der Patienten wird aufgrund eng gefasster Ein- und Ausschlusskriterien nicht in Studien eingeschlossen. Die Notwendigkeit der einzelnen Ein- und Ausschlusskriterien hat keinen hohen Evidenzlevel. Selbst wenn Patienten die Ein- und Ausschlusskriterien erfüllen, ist ein fortgeschrittenes Alter der Hauptgrund, ihnen eine Teilnahme an einer klinischen Studie nicht anzubieten (Harter et al. 2005). Wird alten Patienten die Teilnahme an einer Studie angeboten, so ist der Anteil der Patienten, die mit einer Teilnahme nicht einverstanden sind, nicht höher als bei jungen Patienten (Kemeny et al. 2003).
36.4
Therapieentscheidungen
Therapieentscheidungen in der Onkologie basieren auf Parametern der Erkrankung, der Therapie und des Patienten. Die aktuellen Algorithmen zur Therapie der jeweiligen Erkrankung berücksichtigen im Wesentlichen Parameter der Erkrankung, wie die Histologie, das Stadium und weitere tumorbezogene Faktoren, wie z. B. den Rezeptorstatus oder die Zytogenetik. Während Therapieentscheidungen bei jungen Patienten im Wesentlichen auf Parametern der Krebserkrankung basieren und der therapeutischen Belastbarkeit in der Regel kaum individuelle Grenzen gesetzt sind, wird diese Entscheidung bei alten Patienten häufig aufgrund prognostischer Einschätzungen getroffen, die vor allem am kalendarischen Alter und in zweiter Linie an Komorbiditäten orientiert sind.
36.5
36
Unterschiede zwischen alten und jungen Patienten mit Krebserkrankungen
Unterschiede zwischen alten und jungen Patienten mit Krebserkrankungen lassen sich in den Bereichen Tumorbiologie, somatische Situation und psychosoziale Situation finden. 36.5.1 Tumorbiologie
Geriatrische Onkologie interessiert sich in besonderem Maße für die Frage, ob sich ein in einem alten Organismus entstandener maligner Tumor biologisch anders verhält als ein in einem jungen Organismus entstandener, ob also das Alter des Organismus Einfluss auf das Wachstums- und Metastasierungsverhalten der Krebserkrankung hat. Sind Unterschiede in der Biologie der Erkrankung zu sehen, so können diese sowohl auf Unterschieden der Tumoren selbst beruhen (engl. »seed« = Same), als auch durch solche des Organismus bzw. Wirts bedingt sein (engl. »soil« = Boden). »Seed-and-Soil«-Theorie Identische Tumorzelllinien, die auf jüngere bzw. ältere Mäuse übertragen wurden, zeigten besonders dann ein langsameres Wachstum in den älteren Mäusen, wenn es sich um immunogene Tumorzelllinien handelte. Es spielen also nicht nur die Zelllinien (= »seed«) selbst eine Rolle, sondern auch die Interaktion zwischen Tumorzelle und Organismus (= »soil«) (Ershler et al. 1984). Es existieren Krebserkrankungen, bei denen das Alter des Patienten einen günstigen prognostischen Faktor darstellt (z. B. Mammakarzinom), solche, bei denen das Alter des Patienten keinen Einfluss auf die Tumorbiologie hat (z. B. kolorektales Karzinom), und solche, bei denen das Alter ein prognostisch ungünstiger Faktor ist (z. B. akute myeloische Leukämien). Mammakarzinom. Bei älteren Patientinnen mit Mammakarzinom finden sich häufiger Hormonrezeptor-positive Tumoren, die Konzentration an Hormonrezeptoren ist höher, die Proliferationsrate geringer, die Rate an Tumoren mit diploidem Karyotyp ist höher, jene mit BCL2 oder P53 überexprimierenden Tumoren ist geringer. All dies sind prognostisch günstige Eigenschaften der Tumorbiologie (Daidone et al. 2003). Akute myeloische Leukämie. Bei älteren Patienten finden sich häufiger akute myeloische Leukämien, die aus einem myelodysplastischen Syndrom hervorgegangen sind, und häufiger sekundäre Leukämien nach chemo- oder strahlentherapeutischer Vorbehandlung. Die Rate an Leukämien mit günstigem Karyotyp ist geringer, jene mit ungünstigem Karyotyp höher. Es finden sich häufiger Zellen mit Überexpression von p-Glykoprotein, einem Multidrug-Resistenz-Protein. All dies sind prognostisch ungünstige Eigenschaften der Leukämiezellen (Wedding et al. 2004). 36.5.2 Somatische Situation
Altern ist ein progredienter Prozess. Er verläuft aber interindividuell sehr unterschiedlich. Zunehmendes Alter führt zu: 4 einer reduzierten Restlebenserwartung (. Tab. 36.1), 4 einer altersabhängigen Einschränkung der Reservekapazität und der physiologischen Organfunktionen,
746
4 4 4 4
Kapitel 36 · Geriatrische Onkologie
einer Einschränkung des funktionellen Status, dem Vorliegen von Komorbiditäten, häufig notwendiger Begleittherapie und Veränderungen pharmakokinetischer und pharmakodynamischer Parameter (. Tab. 36.2).
Altersabhängige Einschränkung der Reservekapazität und der physiologischen Organfunktionen Die altersbedingte Einschränkung der Organfunktion ist aus verschiedenen Gründen bedeutsam. Sie kann zu einer Veränderung des Stoffwechsels von Medikamenten führen, die im Rahmen der Tumortherapie eingesetzt werden, sie kann dazu führen, dass sich unerwünschte Wirkungen der Therapie (Toxizität) verstärkt auswirken. Nachfolgend werden daher für einige Organsysteme die altersabhängigen Veränderungen beschrieben.
36
Nierenfunktion Die wohl wichtigste Altersveränderung ist die Abnahme der renalen Funktion. Der Parameter, welcher relativ gut die Nierenfunktion einschätzt – die Kreatininclearance – nimmt bereits ab dem 30. Lebensjahr bei zwei Dritteln der Bevölkerung um ungefähr 8 ml/min/1,73 m2 pro Dekade ab. Alte Menschen synthetisieren aufgrund geringerer Muskelmasse weniger Kreatinin, sodass die Konzentration im Serum trotz Verschlechterung der Nierenfunktion unverändert bleiben kann. Damit ist sie kein geeigneter Funktionsparameter. Insbesondere bei Zytostatika mit geringer therapeutischer Breite, deren Wirkdauer im Wesentlichen von der renalen Ausscheidungsgeschwindigkeit abhängt, muss die Dosierung entsprechend angepasst werden. Hepatische Funktion Von Bedeutung ist die abnehmende metabolische Kapazität und Durchblutung der Leber. Pharmaka, deren Wirksamkeitsdauer im Wesentlichen von der mikrosomalen Umwandlung bestimmt ist, werden verzögert eliminiert und wirken damit länger. Die Elimination durch Konjugation (Glukuronidierung, Azetylierung, Sulfatierung) scheint sich mit zunehmendem Lebensalter kaum zu verändern. Bei Pharmaka mit einer hohen präsystemischen Metabolisierung (»First-pass«-Effekt) nach oraler Gabe nehmen die Serumkonzentration und damit die Bioverfügbarkeit ab. Hämatopoese Der Funktion der Hämatopoese kommt im Rahmen der internistisch-onkologischen Therapie eine entscheidende Rolle zu. Eine altersabhängige Reduktion der Zahl der Leukozyten, Erythrozyten oder Thrombozyten findet nicht statt. Tritt jedoch ein erhöhter Bedarf an Blutzellen auf, so ist die Nachbildung von Blutzellen in alten Organismen geringer als in jungen. Veränderungen im Mikroenvironment des Knochenmarkstromas und Dysregulation von Zyto- und Chemokinen werden als Ursache für diese im Alter gehäuft zu beobachtende relative Knochenmarkinsuffizienz angesehen. Altersabhängig ist zudem eine Einschränkung der Granulozytenfunktion festzustellen. Einschränkung des funktionellen Status Altern ist typischerweise mit einer zunehmenden Einschränkung des funktionellen Status verbunden. Bei ca. 10% der 70- bis 84Jährigen und bei 40–50% der über 85-Jährigen ist mit einer teilweisen oder kompletten Abhängigkeit in den basalen Aktivitäten des täglichen Lebens zu rechnen. In den instrumentellen Aktivi-
täten des täglichen Lebens weisen ca. 20% der 70- bis 84-Jährigen und 70% der über 85-jährigen Hilfebedürftigkeit auf. Frauen sind jeweils stärker betroffen als Männer (Mayer u. Baltes 1996). Vorliegen von Komorbiditäten 96% der über 70-Jährigen leiden an mindestens einer Erkrankung. Bei 30% dieser Bevölkerungsgruppe liegen fünf oder mehr Erkrankungen vor. Hierbei stehen Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Vordergrund. Bei 36% liegt eine mittel- bis schwergradige Gefäßerkrankung (koronare Herzerkrankung, periphere arterielle Verschlusserkrankung, zerebrovaskuläre Insuffizienz) und bei 24% eine mitttel- bis schwergradige Herzinsuffizienz vor (Mayer u. Baltes 1996). Begleittherapie Das Vorliegen von Komorbiditäten führt dazu, dass viele alte Patienten Medikamente einnehmen müssen. 34% aller definierten Tagesdosen werden bei über 70-Jährigen verordnet. Ihr Bevölkerungsanteil beträgt jedoch nur ca. 12%. 96% der 70-Jährigen nehmen mindestens ein Medikament regelmäßig ein. 56% nehmen fünf oder mehr Medikamente ein. An erster Stelle der Verordnung stehen Kardiaka, gefolgt von Diuretika, Ophthalmika, Kalziumantagonisten und Analgetika (Mayer u. Baltes 1996). Die Multimorbidität im Alter führt dazu, dass oft die gleichzeitige Gabe mehrerer Arzneimittel notwendig ist und so die Gefahr der exponentiellen Zunahme unerwünschter Wirkungen besteht. Bedingt durch physische und geistige Funktionseinschränkungen können Probleme bei der Beachtung von Einnahmebedingungen (Lesen und Erfassen der Gebrauchsanweisungen, Öffnen von Packungen usw.) entstehen, die eine effektive und sichere Arzneitherapie gefährden. Veränderungen pharmakokinetischer und pharmakodynamischer Parameter Die Wirkung von Medikamenten wird von der Art der Wechselbeziehungen eines biologischen Systems (z. B. Rezeptor) und der physiologischen Gegenregulation im Organismus geprägt. Bedingt durch physiologische Veränderungen im Laufe des Alterns können sich die Art der Wechselbeziehungen (Pharmakodynamik) sowie die Konzentration infolge der Funktionseinbuße von Aufnahme- und Eliminationsorganen (Pharmakokinetik) ändern. . Tab. 36.2 beschreibt die altersabhängigen Veränderungen der Pharmakokinetik (Wedding et al. 2003). Aus der Abnahme des Gesamtkörperwassers und der Zunahme des Fettanteils resultieren veränderte Verteilungsverhältnisse. Das Verteilungsvolumen von lipophilen Pharmaka nimmt zu, dies führt zu einer verlängerten Verweildauer. Aufgrund der Veränderungen in der Zusammensetzung von Plasmaeiweißen kann sich die freie Arzneimittelkonzentration ändern. 36.5.3 Psychosoziale Situation
Je älter über 60-jährige Menschen sind, desto häufiger leben sie in Einpersonenhaushalten. 50% der 75- bis 79-Jährigen und knapp 70% der über 80-Jährigen sind verwitwet. Das soziale Netzwerk wird aufgrund der Verwitwung, des Sterbens gleichaltriger Freunde und aufgrund von Mobilitätseinschränkungen kleiner. Die meisten alten Menschen möchten nicht mit ihren Kindern zusammen, wohl aber in deren Nähe wohnen. Alte Patienten mit Krebserkrankungen sind psychisch durch die Erkran-
747 36.6 · Geriatrisches Assessment
. Tab. 36.2. Altersabhängige Veränderungen der Pharmakokinetik Resorption
Unverändert
Magensäuresekretion
Vermindert
pH des Magensafts
Erhöht
Gastrointestinale Motilität
Reduziert
Gastrointestinaler Blutfluss
Reduziert
Verteilung Erhöht
Gesamtkörperwasser
Reduziert
Plasmaproteingehalt
Reduziert
Organ- und Gewebeperfusion
Vermindert
Metabolismus Lebermasse
Reduziert
Hepatischer Blutfluss
Reduziert
Renale Funktion Glomeruläre Filtrationsrate
Reduziert
Renaler Plasmafluss
Reduziert
Tubuläre Funktion
Reduziert
kung geringer belastet als junge Patienten. So fanden sich bei jüngeren Patienten häufiger Depressivität, Angstsymptome und allgemeine Zeichen von psychischem Stress (Pinquart 2002). Geriatrisches Assessment
In der Geriatrie wurde das geriatrische Assessment etabliert. Es hilft, Bereiche, in denen bei alten Menschen häufig Defizite zu
. Tab. 36.3. Kategorien des geriatrischen Assessments und geeignete Instrumente zur Erfassung Kategorie
Instrumente zur Erfassung
Funktioneller Status
Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) Instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL) Erweiterte Aktivitäten des täglichen Lebens (AADL)
Depression
Geriatric Depression Scale (GDS)
Demenz
Uhr-Zeichen-Test Geld-Zähl-Test Mini-Mental-Status-Examination (MMSE)
Ernährung
Mini-Nutritional-Assessment (MNA)
Mobilität
Tinetti-Test Timed up and go-Test
Soziale Situation
finden sind, systematisch zu untersuchen, da diese der etablierten Anamneseerhebung und der klinischen Untersuchung häufig entgehen. Es ist ein diagnostisches und therapeutisches Instrument und dient der Qualitätssicherung. Zunächst werden die Inhalte und Methoden dieses geriatrischen Assessments beschrieben, bevor auf die derzeit für alte Patienten mit Krebserkrankungen vorliegenden Daten eingegangen wird. 36.6.1 Geriatrisches Assessment in der
allgemeinen Geriatrie
Anteil Fettgewebe
36.6
36
Sozialassessment
. Tab. 36.3 (nach Friedrich et al. 2003) nennt Bereiche, die im geriatrischen Assessment systematisch erfasst werden, sowie Methoden zu ihrer Erfassung. Die Instrumente des geriatrischen Assessments sind validiert bezüglich in der Geriatrie relevanter Endpunkte. Dazu zählen z. B.: 4 Ist der Patient in der Lage, ohne fremde Hilfe in der häuslichen Umgebung zu leben? 4 Auf welche Hilfe ist er ggf. angewiesen? 4 Ist eine institutionalisierte Pflege erforderlich? 4 Mit welchen Ressourcen ist eine Rehabilitation mit dem Ziel, Selbstständigkeit im Bereich der Aktivitäten des täglichen Lebens zu erlangen, durchzuführen?
Diese Endpunkte unterscheiden sich von Fragestellungen der Onkologie im Rahmen der Behandlung älterer Patienten mit Krebserkrankungen (7 Abschn. 36.6.2). Funktioneller Status Die Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) fragen, ob der Patient in der Lage ist, selbstständig zu essen, einen Bett-Stuhl-Transfer zu bewältigen, sich zu waschen, die Toilette zu benutzen, zu baden, auf der Ebene zu gehen, Treppen zu steigen, sich an- und auszukleiden und Stuhl und Urin zu kontrollieren (Mahoney u. Barthel 1965). Die instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL) ermitteln weitergehende Leistungen, wie telefonieren, kochen, einkaufen, Haushalt führen, Wäsche waschen, nutzen von Transportsystemen, Umgang mit Medikamenten und erledigen finanzieller Dinge (Lawton u. Brody 1969). Demenz Demenzerkrankungen zeigen einen deutlichen altersabhängigen Anstieg der Inzidenzrate. Leicht- bis mittelgradige Demenzen entgehen einer klinischen Routineuntersuchung häufig. Es ist daher erforderlich, systematisch Testverfahren zur diagnostischen Evaluation der Patienten einzusetzen. Ein weit verbreiteter Screeningtest ist die »Mini-Mental-Status-Examination« nach Folstein (MMSE; Folstein et al. 1975). Depression Die Prävalenz von Depressionen steigt altersabhängig an und beträgt bei über 65-Jährigen ca. 10%. Die systematische Erfassung sollte bei alten Patienten mit Krebserkrankungen daher Teil des geriatrisch-onkologischen Assessments sein. Der »Geriatric Depression Scale« (GDS) kann als Screeninginstrument empfohlen werden (Yesavage et al. 1982). Mobilität Der »Timed-up & go-Test« (Podsiadlo u. Richardson 1991) und der »Tinetti« (Tinetti 1986) sind Performance-Tests, bei denen
748
Kapitel 36 · Geriatrische Onkologie
die Gangsicherheit, das Gangbild und die Geschwindigkeit bewertet werden. Sie dienen der Beurteilung der Mobilität und des Sturzrisikos eines Patienten. Stürze sind eine wesentliche Ursache zunehmender Immoblilität alter Menschen. Soziale Situation Alte Patienten sind häufig alleinstehend, verwitwet. Häufig ist soziale Unterstützung erforderlich, um diagnostische und therapeutische Maßnahmen wahrnehmen zu können. Nikolaus et al. (1994) etablierten ein Assessmentinstrument, um die soziale Unterstützung systematisch zu erfassen. Komorbiditäten Eine Komorbidität ist das Vorliegen einer oder mehrerer zusätzlicher Erkrankungen im Rahmen einer Indexerkrankung (Feinstein 1970). Es sind eine Reihe von Skalen etabliert worden, mit denen eine systematische Erfassung von Komorbiditäten erfolgen kann. Es wird unterschieden zwischen Skalen, die lediglich eine Diagnosenliste bilden, und solchen, die eine prognostisch relevante Gewichtung der unterschiedlichen Diagnosen vornehmen. Die verbreitetste Skala ist der von Mary Charlson 1987 publizierte Charlson-Score. Er ist u. a. für Patientinnen mit Mammakarzinom validiert worden (Charlson et al. 1987). Eine Übersicht über unterschiedliche Komorbiditätsskalen findet sich bei Extermann (2000).
. Tab. 36.4. Anteil der Patienten mit funktionellen Einschränkungen in Abhängigkeit vom Alter und der verwendeten Skala Altersgruppe [Jahre]
ADL <100
IADL <8
KI <80
WHO >1
<60
13,5
17,9
18,3
29,0
60–69
19,6
24,3
17,4
28,1
70–79
35,0
43,9
37,7
53,1
≥80
48,5
64,7
47,4
60,5
ADL Aktivitäten des täglichen Lebens; IADL Instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens; KI Karnofsky-Index; WHO World Health Organisation Performance-Status
ECOG-Performance-Status ist gleichwertig (Buccheri et al. 1996). Zwar korrelieren die in der Onkologie etablierten Skalen zur Ermittlung des funktionellen Status, wie Karnofsky-Index oder WHO-Performance-Status, mit den in der Geriatrie etablierten, die Informationen sind aber nicht identisch (Extermann et al. 1998). Die geriatrischen Skalen sind sensitiver für altersabhängige Veränderungen. . Tab. 36.4 zeigt den Anteil der Patienten mit funktionellen Einschränkungen in Abhängigkeit vom Alter und der verwendeten Skala.
36.6.2 Geriatrisches Assessment in der Onkologie
36
In der Onkologie sind zentrale Fragen im Rahmen der Behandlung älterer Patienten mit Krebserkrankungen: 4 Bestimmt die neu diagnostizierte Krebserkrankung die Prognose des Patienten? 4 Wird diese Erkrankung dem Patienten im Verlauf voraussichtlich Beschwerden verursachen und seine Lebensqualität einschränken? 4 Ist der Patient in der Lage, eine tumorspezifische Therapie ohne eine erhöhte, ihn gefährdende Toxizität zu tolerieren, um von ihr zu profitieren? Parallel zur Erfassung der prognostischen Parameter der Krebserkrankung – Staging (= Tumorassessment) – wird daher bei alten Patienten mit Krebserkrankungen ein zusätzliches geriatrisches Assessment (= Patientenassessment) empfohlen, um im Alter gehäuft auftretende Veränderungen zu erkennen. Bisher konnte gezeigt werden, dass die Verwendung eines geriatrischen Assessments bei alten Patienten mit Krebserkrankungen zur Erkennung von Veränderungen führt, die ohne dieses Vorgehen nicht erkannt worden wären (Repetto et al. 1998; Extermann et al. 1998), dass diese Veränderungen zu einer Änderung der Therapieentscheidungen führen können und dass sie prognostisch für die Endpunkte Therapieabbruch (Extermann et al. 2004), schwere Toxizität und Überleben (Freyer et al. 2005) relevant sind. Die Assessmentinstrumente und ihre Bedeutung in der Onkologie sind nachfolgend detailliert beschrieben. Funktioneller Status Traditionell wird in der Onkologie der funktionelle Status eines Patienten anhand des 1948 von David Karnofsky publizierten Index bestimmt (Karnofsky et al. 1948). Er ist ein validiertes Instrument (Mor et al. 1984). Die Bestimmung des WHO- oder des
Demenz Die Kenntnis der kognitiven Situation ist im Rahmen der onkologischen Therapie von herausragender Bedeutung, um über die Fähigkeit zur Einwilligung in die Therapie und die Möglichkeit zur Compliance im Rahmen der oft komplexen Therapie zu entscheiden. Repetto et al. (1998) fanden, dass der Anteil der Patienten ohne kognitive Einschränkung mit zunehmendem Alter deutlich abnahm. 81% der 65-bis 74-Jährigen, 60% der 75- bis 84-Jährigen und 32% der 85-Jährigen und älteren Patienten wiesen keine kognitiven Einschränkungen im MMSE auf. Depression In Screeninguntersuchungen auf das Vorliegen von Depressionen von über 65-jährigen Patienten mit Krebserkrankungen fanden Repetto et al. (1998) eine Prävalenz von 30%. Die Diagnostik der Depression ist jedoch bei Patienten mit Krebserkrankungen schwierig, da viele Zeichen der Depression auch durch die Tumorerkrankung und die Therapie verursacht sein können. Das Vorliegen von Depressionen erwies sich bei Patientinnen im Alter von über 70 Jahren mit Ovarialkarzinom als unabhängiger Prädiktor für eine schwere Toxizität, neben Einschränkungen im funktionellen Status (ECOG 0–1 vs. 2–4) und Abhängigkeiten in den Aktivitäten des täglichen Lebens, und des medianen Überlebens, neben dem Stadium (
6 Medikamente; Freyer et al. 2005). Mobilität In die Skalen zur Erfassung des funktionellen Status fließt auch die Mobilität der Patienten ein. Spezielle Daten über die Prävalenz von Veränderungen in Mobilitätsscores und deren prognostische Relevanz für die Verträglichkeit einer Therapie und das Überleben stehen bisher nicht zur Verfügung.
749 36.6 · Geriatrisches Assessment
36
. Abb. 36.3. Abhängigkeit des 1-Jahres-Überlebens unterschiedlicher Tumorerkrankungen vom Tumorstadium und dem Vorliegen von Komorbiditäten. (Nach Read 2004)
Soziale Situation Soziale Unterstützung ist ein prognostisch für das Überleben relevanter Parameter bei alten Patienten mit Krebserkrankungen (Goodwin et al. 1996). Komorbiditäten Die Häufigkeit von Komorbiditäten zeigt einen deutlichen altersabhängigen Anstieg. Die Bedeutung der systematischen Erfassung von Komorbiditäten liegt zum einen in der Notwendigkeit der Abschätzung der Prognose und zum anderen in der Risikoabschätzung, ob eine onkologisch-medikamentöse Therapie ohne erhöhte Komplikationsrate durchgeführt werden kann. Die Bedeutung der Komorbiditäten für das 1-Jahres-Überleben von Patienten mit unterschiedlichen Krebserkrankungen hängt von der Art der jeweiligen Erkrankung und ihrem Stadium ab (Read et al. 2004; . Abb. 36.3). In einer Feldstudie zum Mammakarzinom . Abb. 36.4. Therapieentscheidung bei älteren Patienten: Eingruppierung der Patienten basierend auf einem geriatrischen Assessment
konnten wir zeigen, dass bei Patientinnen mit postmenopausalem Mammakarzinom den Komorbiditäten eine ähnlich hohe prognostische Relevanz für das 3-Jahres-Überleben zukam wie dem Lymphknotenstatus (Nagel et al. 2004). Bei über 70-jährigen Patienten mit fortgeschrittenem nicht kleinzelligem Bronchialkarzinom (NSCLC) brachen Patienten mit einem Charlson-Score von >2 Punkten die Chemotherapie vor Abschluss des zweiten Therapiekurses zu über 80% ab (Frasci et al. 2000). Allerdings steht die Validierung von Therapiealgorithmen, die der großen Bedeutung der Komorbiditäten Rechnung tragen, noch aus. 36.6.3 Praktisches Vorgehen
Schon jetzt erfolgt basierend auf klinischer Erfahrung die Gruppierung der alten Patienten in drei Gruppen (. Abb. 36.4). Pati-
750
Kapitel 36 · Geriatrische Onkologie
enten ohne deutliche Einschränkungen des funktionellen Status und ohne schwerwiegende Komorbidäten, Patienten mit leichtbis mittelgradigen Einschränkungen des funktionellen Status und leicht- bis mittelgradigen Begleiterkrankungen und solche Patienten mit schweren funktionellen Einschränkungen und schweren Begleiterkrankungen. Ab einem Alter von ca. 70 Jahren steigt die Prävalenz von funktionellen Einschränkungen und schweren Komorbiditäten deutlich an, sodass bei Patienten dieser Altersgruppe das konventionelle onkologische Vorgehen um ein systematisches geriatrisches Assessment erweitert werden sollte (Friedrich et al. 2003; Extermann et al. 2005).
36.7
Primäre Prävention
Der Effekt primär präventiver Maßnahmen ist ein langfristiger. Alte Menschen mit reduzierter verbleibender Lebenserwartung erleben daher ggf. die positiven Auswirkungen primär präventiver Maßnahmen nicht. Altersabhängige Empfehlungen existieren derzeit jedoch nicht.
36.8
36
Sekundäre Prävention
Ziel der sekundären Prävention ist das Erkennen der jeweiligen Zielerkrankung in einer prämalignen Vorstufe oder in einem Stadium, in dem eine Heilung häufiger möglich ist, als wenn die Erkrankung erst bei Auftreten klinischer Symptome festgestellt worden wäre. Alte Menschen erleben durch die zusätzlichen Sterberisiken durch andere Erkrankungen ggf. eine maligne Erkrankung nicht mehr. Es besteht daher zum einen die Gefahr einer Überdiagnostik mit den damit verbundenen diagnostischen und therapeutischen Belastungen und Risiken, andererseits jedoch die Gefahr, alten Menschen effektive Maßnahmen der sekundären Prävention vorzuenthalten. . Tab. 36.5. Rate der Teilnahme an den durch die gesetzlichen Krankenkassen finanzierten Maßnahmen zur sekundären Prävention von Krebserkrankungen in der Bundesrepublik Deutschland in Abhängigkeit vom Alter und vom Geschlecht. (Quelle: http://www.ziberlin.de) Altersgruppe [Jahre]
Männer [%]
Frauen [%]
20–24
0
28
25–29
0
34
30–34
0
36
35–39
0
36
40–44
0
36
45–49
9
38
50–54
11
40
55–59
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13
9
Die Beteiligung alter Menschen an Maßnahmen zur sekundären Prävention ist geringer als die junger Menschen (. Tab. 36.5). Die absoluten Häufigkeitsmaxima der meisten Zielkrebserkrankungen liegen jedoch um das 60. Lebensjahr (Mammakarzinom) oder weit darüber (kolorektales Karzinom und Prostatakarzinom). Die relativen Häufigkeitsmaxima liegen außer für das Zervixkarzinom jenseits des 70. Lebensjahrs. Von den gesetzlichen Krankenkassen werden derzeit in der Bundesrepublik Deutschland Maßnahmen zur Früherkennung von Zervixkarzinomen, Melanomen, Mammakarzinomen, kolorektalen Karzinomen und Prostatakarzinomen gefördert. Mammakarzinom Die Inzidenzrate des Mammakarzinoms nimmt bis in die 8. Lebensdekade zu. Diagnostische Maßnahmen für die sekundäre Prävention sind die Untersuchung der Brust und die Mammografie. Eine bei einer alten Frau zu tastende Raumforderung ist häufiger maligner Genese als eine bei einer jungen Frau zu tastende. Mammografische Untersuchungen zeigen in der kleinen, weniger dichten Brust alter Frauen eher abnorme Veränderungen als bei jungen Frauen. Die Früherkennung von Mammakarzinomen mittels Mammografie wird bis zum Alter von 70 Jahren gefördert, einem Zeitraum, in dem eine gesunde Frau im Mittel noch 15 Lebensjahre vor sich hat. Die S3-Leitlinie der Fachgesellschaften führt hierzu aus: »Aufgrund der randomisierten Studien ist eine Wirksamkeit der Früherkennungsmammografie für Frauen zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr, neuerdings auch zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr, belegt, aber auch nach dem 70. Lebensjahr anzunehmen« (http://www.dkg.de). Kolorektales Karzinom Ergänzend zur rektalen Untersuchung und zur Bestimmung von okkultem Blut im Stuhl wird als Maßnahme zur sekundären Prävention von kolorektalen Karzinomen die Durchführung einer Koloskopie, erstmals frühestens im 55. Lebensjahr, einmalig wiederholt im Abstand von mindestens 10 Jahren, gefördert. Gegebenenfalls führt dies dazu, dass ab dem 65. Lebensjahr keine koloskopische Früherkennungsuntersuchung mehr erfolgt. In diesem Alter beträgt für Frauen allerdings die verbleibende Lebenserwartung 19,2 und für Männer 15,6 Jahre und übersteigt damit die für die Adenom-Karzinom-Sequenz anzunehmende Zeitspanne. Die von den gesetzlichen Krankenkassen geförderten Maßnahmen zur Früherkennung von Zervixkarzinomen, Melanomen und Prostatakarzinom beinhalten keine oberen Altersgrenzen. Entsprechend der S3-Leitlinien zur sekundären Prävention von Prostatakarzinomen wird eine PSA-Untersuchung in einjährigem Intervall bei Patienten zwischen 50 und 75 Jahren mit Wunsch zur Prostatakarzinom-Früherkennung und einer Lebenserwartung von mindestens 10 Jahren empfohlen. Dies ist von den gesetzlichen Krankenkassen allerdings nicht in den Katalog der geförderten Maßnahmen aufgenommen worden.
36.9
Therapie
Onkologie erfolgt interdisziplinär. Häufig ist, um gute Behandlungsergebnisse zu erzielen, die Beteiligung vieler Disziplinen erforderlich. Im Folgenden wird mit Schwerpunkt bei der internistisch-onkologischen Therapie auf die speziellen Aspekte der chirurgischen, radioonkologischen und internistisch-onkolo-
751 36.9 · Therapie
gischen Therapie im Rahmen der Behandlung alter Patienten eingegangen. 36.9.1 Chirurgische Therapie
Schonendere, präzisere Operationstechniken und die Entwicklungen in der peri- und postoperativen Anästhesiologie und Intensivmedizin ermöglichen es, auch alte und sehr alte Menschen radikal und sicher zu operieren. Für die meisten elektiven Eingriffe stellt das Alter selbst keinen Risikofaktor dar. Eine deutlich erhöhte postoperative Morbidität und Mortalität ist bei alten Patienten im Rahmen von Notfalleingriffen zu beobachten. Als Prädiktoren einer postoperativen Morbidität und Mortalität sind Parameter des geriatrischen Assessments der traditionell genutzten Klassifikation der American Societiy of Anesthesiology (ASA) überlegen (Audisio et al. 2005).
36
worden (Wunderlich et al. 2003; Niell et al. 2005; Engert et al. 2005). Gute klinische Untersuchungen, die klären, ob dieser beschriebene Zusammenhang tatsächlich auf das Alter selbst oder nicht vielmehr auf altersabhängige Einschränkungen, wie z. B. des funktionellen Status, einem bekannten Prädiktor für höhere Toxizität, und auf die im Alter häufiger vorliegende Komorbiditäten oder ggf. nur subklinisch vorliegende Einschränkungen von Organfunktionen zurückzuführen ist, fehlen. Der altersabhängige Anstieg der Toxizitäten einer zytostatischen Therapie kann unterschiedliche Ursachen haben. Zum einen kann er auf eine Verringerung der Elimination aufgrund eingeschränkter Nieren- und/oder Leberfunktion zurückzuführen sein, zum anderen kann die Toleranz gesunder Gewebe, z. B. durch Verringerung der Aktivität von Reparaturenzymen, die Ursache sein. 36.9.4 Adjuvante Therapie
36.9.2 Radioonkologische Therapie
Die Strahlentherapie ist auch bei älteren Patienten eine effektive Behandlung solider Tumoren sowohl in der kurativen als auch in der palliativen Situation. Remissions- und Tumorkontrollraten unterscheiden sich nicht von denjenigen jüngerer Patienten. Unterschiede in der Ausprägung der Akuttoxizität und unterschiedliche Toleranzen gegenüber radiogenen Nebenwirkungen weisen auf die Bedeutung engmaschiger supportiver Maßnahmen während der Strahlenbehandlung hin. Aufgrund der fehlenden Mortalität und der Möglichkeit des Erhalts der Organfunktion kann die Strahlentherapie in ausgewählten klinischen Situationen eine Alternative zur Operation darstellen. Bei der Indikationsstellung und Bestrahlungsplanung muss die Einschränkung der Funktionsreserve von Normalgewebe und Organen berücksichtigt werden. Eine Modifikation standardisierter Behandlungsprotokolle für ältere multimorbide Tumorpatienten ist prognoseadaptiert anzustreben (Liesenfeld u. Wendt 2005). 36.9.3 Internistisch-onkologische Therapie
In der medikamentösen onkologischen Therapie werden Substanzen mit sehr unterschiedlicher therapeutischer Breite eingesetzt. Oft treten aber bereits bei der standarddosierten Therapie erhebliche Nebenwirkungen auf. Dies führt dazu, dass Patienten traditionell für unterschiedliche Therapien als zu alt angesehen wurden. In der klassischen Knochenmarktransplantation galten Patienten im Alter von über 40 Jahren als alt. In den Studien zur akuten Leukämie wurden 55–60 Jahre als Kriterien für alt angesehen, Hochdosistherapien mit autologem Stammzellsupport wurden bei Patienten bis zu einem Alter von 60–65 Jahren durchgeführt. Andererseits gab und gibt es für Hormontherapien keine Altersgrenzen. Eine Reihe von Studien postuliert, dass es keinen altersabhängigen Anstieg der Toxizitätsrate zytostatischer Behandlungen gebe (Monfardini et al. 1995; Giovanazzi-Bannon et al. 1994; Begg u. Carbone 1983; Borkowski et al. 1994; Christman et al. 1992). Dem ist zu widersprechen. Die in diesen Studien behandelten Patienten stellen ein hoch selektioniertes Patientengut dar. Für eine Reihe von Therapieprotokollen sind bei älteren Patienten in den letzten Jahren höhere Toxizitätsraten beschrieben
Für eine Reihe onkologischer Erkrankungen ist die Wirksamkeit einer die definitive chirurgische oder strahlentherapeutische Therapie ergänzenden Therapie dokumentiert. Diese kann präoder postoperativ erfolgen. In der Regel profitiert nur ein kleiner Teil der adjuvant behandelten Patienten von dieser Therapie. Aufgrund der erhöhten Nebenwirkungsrate und der anderen Sterberisiken ist für alte Patienten speziell die Frage nach dem Nutzen einer adjuvanten Therapie zu stellen. Beispielhaft erfolgt dies für das Kolonkarzinom und das Mammakarzinom. Kolonkarzinom Rezidive nach R0-Resektion eines kolorektalen Karzinoms treten zu 80% innerhalb der ersten drei Jahre nach Operation auf. Rezidive lassen sich nur selten erneut kurativ behandeln und verursachen meist erhebliche Symptome. Epidemiologische Daten zeigen, dass ältere Patienten mit kolorektalem Karzinom seltener als junge Patienten behandelt werden, die behandelten Patienten aber in gleichem Umfang bezüglich des Endpunktes Überleben von der Therapie profitieren wie jüngere Patienten (Jessup et al. 2005). Die durch 5-Fluorouracil verursachten Toxizitäten Leukopenie und Mucositis werden bei alten Patienten häufiger als bei jungen Patienten beobachtet (Sargent et al. 2001). Mammakarzinom Die Empfehlungen zur adjuvanten Therapie des Mammakarzinoms basieren auf der Einordnung der Patientinnen in »endocrine-responsive« und »endocrine-nonresponsive« und auf der Einordnung in Risikogruppen, nodal negative Patientinnen mit minimalem oder niedrigem Risiko, nodal negative Patientinnen mit durchschnittlichem oder hohem Risiko und nodal positive Patientinnen. Aufgrund der geringen Toxizität einer Hormontherapie sollte der Einsatz unabhängig vom Alter oder altersassoziierten Veränderungen bei Patientinnen erfolgen, die »endocrine-responsive« sind. Die alleinige – wenn »endocrinenonresponsive« – oder ergänzende – wenn »endocrine-responsive« – Chemotherapie wird bei Patientinnen empfohlen, die nodal negativ sind und ein durchschnittliches oder hohes Rezidivrisiko haben, und bei Patientinnen, die nodal positiv sind (Goldhirsch et al. 2005). Die Auswertungen der Early Breast Cancer Trial Collaborative Group (EBCTCG) zeigen, dass der Nutzen der Chemotherapie mit zunehmendem Alter der Patientinnen abnimmt und dass nur wenige Patientinnen im Alter von über
752
Kapitel 36 · Geriatrische Onkologie
70 Jahren in Studien zur adjuvanten Chemotherapie eingeschlossen wurden. Insbesondere die Frage, wie die therapeutische Belastbarkeit und die zu erwartende verbleibende Lebenserwartung besser als anhand des kalendarischen Alters ermittelt werden können, ist offen (Biganzoli et al. 2004). Der Stellenwert des geriatrischen Assessments wird hierfür zurzeit in klinischen Studien untersucht. 36.9.5 Palliative Therapie
36
Häufig ist das Ziel einer internistisch-onkologischen Behandlung nicht die Heilung (kuratives Therapieziel), sondern eine Lebensverlängerung, eine Symptomkontrolle, eine Verbesserung der Lebensqualität oder das Verzögern des Auftretens von Symptomen oder der Einschränkungen der Lebensqualität (palliatives Therapieziel). Alten Patienten sind die Auswirkungen der Therapie auf die Lebensqualität vergleichsweise wichtiger als jungen Patienten, für die stattdessen Effekte auf die Lebensverlängerung bedeutsamer sind. Allerdings ist nur wenigen älteren Patienten ausschließlich der Effekt auf die Lebensqualität wichtig und nur wenigen jüngeren Patienten ausschließlich die Effekte auf die Lebenslänge (Pinquart u. Duberstein 2004). Häufig stehen im Rahmen der palliativen Therapie unterschiedliche Therapieprotokolle zur Verfügung. Sie unterscheiden sich in ihrem Toxizitätsprofil, d. h., an welchen Organen überwiegend Nebenwirkungen zu beobachten sind, und in ihrer Toxizitätsrate, d. h., wie häufig Nebenwirkungen auftreten. Therapieentscheidungen sollten sich in dieser Situation am funktionellen Status des Patienten, der ein gutes Maß für die Toxizitätsrate ist, und an den Komorbiditäten orientieren. Wenn Komorbiditäten vorliegen, sollte möglichst auf solche Substanzen verzichtet werden, deren Nebenwirkungen typischerweise an bereits von Komorbiditäten betroffenen Organen auftreten.
36.9.6 Supportive Therapie
Nur wenige Leitlinien zur supportiven Therapie von Patienten mit onkologischen Erkrankungen berücksichtigen Altersaspekte. 36.9.7 Palliativmedizin
Die palliativmedizinische Betreuung onkologischer Patienten ist Teil einer qualifizierten supportiven Therapie. Das Durchschnittsalter der auf palliativmedizinischen Stationen versorgten Patienten liegt deutlich unter dem mittleren Sterbealter onkologischer Patienten. Auch im Bereich der Palliativmedizin sind alte Patienten mit Krebserkrankungen unterversorgt. In den existierenden Algorithmen zu Diagnostik und Therapie im Bereich der Palliativmedizin ist Alter kein Kriterium. Palliativmedizinische Probleme, die sich im Alter gehäuft stellen, sind u. a. der Umgang mit Patienten, die eine vorbestehende oder eine neu aufgetretene Verwirrtheit (Delir) aufweisen. Die Erfassung von Symptomen und die Bewertung im Verlauf sind bei diesen Patienten besonders schwierig. In der Erfassung von Schmerzen wird auf Schmerzskalen mit sog. »Smileys« zurückgegriffen. Zudem muss auf indirekte Schmerzzeichen, wie angespannter Gesichtsausdruck, verkrampfte Haltung, Schonhaltung, Veränderung des Atemrhythmus, Appetitlosigkeit, beschleunigter Puls, Unruhe, Schreien, Anklammern, ständiges Läuten, Ratlosigkeit, Verwirrtheit, Schlaflosigkeit und Verschlechterung des Allgemeinzustands geachtet werden. Typisch für alte Patienten ist auch ein »underreporting«, Schmerzen gehörten zum Altwerden einfach dazu, sie werden nicht aktiv benannt. Umso wichtiger ist es, dass der Behandler sich strukturiert danach erkundigt. Für den Umgang mit Patienten mit vorbestehender Verwirrtheit, meist auf dem Boden eines demenziellen Syndroms, hat sich die Methode der Validation bewährt. Die Aufgabe ist, den Patienten in seiner jeweiligen Wirklichkeit ernst zu nehmen, seine Gefühle aufzugreifen und nicht die eigene Wirklichkeit entgegenzusetzen (Kojer 2002).
Zusammenfassung Aufgrund der demografischen Entwicklung wird in den nächsten Jahrzehnten die Zahl alter Menschen zunehmen. Die Inzidenz- und Mortalitätsrate der meisten bösartigen Neubildungen steigt altersabhängig deutlich an. Beide Entwicklungen gemeinsam führen dazu, dass sich die Zahl alter Menschen mit Krebserkrankungen in den nächsten Jahrzehnten voraussichtlich verdoppeln wird. Die verbleibende durchschnittliche Lebenserwartung von 70-, 80-, oder 90-jährigen Frauen beträgt derzeit 15,2, 8,5, bzw. 4,3 Jahre, die von Männern in diesen Altergruppen 12,3, 7,0 bzw. 4,1 Jahre. Alte Patienten mit Krebserkrankungen sind bisher in klinischen Studien unzureichend berücksichtigt worden. Für viele Therapieentscheidungen fehlt daher eine rationale Datenbasis. Unterschiede zwischen alten und jungen Patienten mit Krebserkrankungen lassen sich in den Bereichen Tumorbiologie, somatische Situation und psychosoziale Situation finden. Altern führt zu Veränderungen von Strukturen und Funktionen im Organismus. Es ist verbunden mit einer Abnahme der Adaptationsfähigkeit des Organismus. Belastungen, seien sie durch die Erkrankung oder die Therapie bedingt, werden daher von alten Pati6
enten schlechter toleriert als von jungen Patienten. Die altersbedingte Einschränkung der Organfunktion ist aus verschiedenen Gründen bedeutsam. Sie kann zu einer Veränderung des Stoffwechsels von Medikamenten führen, die im Rahmen der Tumortherapie eingesetzt werden, und damit dazu führen, dass sich unerwünschte Wirkungen der Therapie (Toxizität) verstärkt auswirken. Altern ist typischerweise mit einer zunehmenden Einschränkung des funktionellen Status verbunden. Bei ca. 10% der 70- bis 84-Jährigen und bei 40–50% der über 85-Jährigen ist mit einer teilweisen oder kompletten Abhängigkeit in den basalen Aktivitäten des täglichen Lebens zu rechnen. In den instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens weisen ca. 20% der 70- bis 84Jährigen und 70% der über 85-Jährigen Hilfebedürftigkeit auf. 96% der über 70-Jährigen leiden an mindestens einer Erkrankung. Bei 30% dieser Bevölkerungsgruppe liegen fünf oder mehr Erkrankungen vor. Hierbei stehen Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Vordergrund. Die Bedeutung der systematischen Erfassung von Komorbiditäten liegt zum einen in der Notwendigkeit der Abschätzung der Prognose und zum anderen in der Risikoabschätzung, ob eine onkologisch-medikamentöse Therapie ohne erhöhte Komplikationsrate durchgeführt werden kann.
753 36.9 · Therapie
Parallel zur Erfassung der prognostischen Parameter der Krebserkrankung – Staging (= Tumorassessment) – wird daher bei alten Patienten mit Krebserkrankungen ein zusätzliches geriatrisches Assessment (= Patientenassessment) empfohlen, um im Alter gehäuft auftretende Veränderungen zu erkennen. Bisher konnte gezeigt werden, dass die Verwendung eines geriatrischen Assessments bei alten Patienten mit Krebserkran-
36
kungen zur Erkennung von Veränderungen führt, die ohne dieses Vorgehen nicht erkannt worden wären, dass diese Veränderungen zu einer Änderung der Therapieentscheidungen führen können und dass sie prognostisch für die Endpunkte Therapieabbruch, schwere Toxizität und Überleben relevant sind.
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
IV
IV Komplikationen des malignen Wachstums 37
Paraneoplastische Syndrome
– 757
H.-J. Stemmler, U. Kaboth, W. Hiddemann
38
Infektionen bei malignen Erkrankungen
– 768
G. Maschmeyer
39
Hämorrhagische und thromboembolische Komplikationen bei malignen Erkrankungen – 782 H. Riess
37
37 Paraneoplastische Syndrome H.-J. Stemmler, U. Kaboth, W. Hiddemann
37.1
Definition und Ätiologie
37.2
Manifestation paraneoplastischer Syndrome Literatur – 767
– 758 – 758
758
Kapitel 37 · Paraneoplastische Syndrome
37.1
Definition und Ätiologie
Der Begriff der paraneoplastischen Syndrome geht zurück auf Boudin (1961) und beschreibt Symptome, die auf den ersten Blick nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit einer malignen Tumorerkrankung zu stehen scheinen, wohl aber mit einer solchen Erkrankung assoziiert sind. Es handelt sich hierbei um eine Vielzahl von metabolischen, dystrophen und/oder degenerativen Veränderungen, die nicht direkt vom Tumor selbst, sondern indirekt über vom Tumor freigesetzte Signalstoffe wie Hormone, Hormonanaloga, Zytokine, Autoantikörper und Paraproteine, sowie durch eine Vielzahl von z. T. nicht näher bekannten Mechanismen vermittelt werden, und prinzipiell jedes Organsystem betreffen können (Boudin 1962a,b). Zur Definition des paraneoplastischen Syndroms gehört, dass es in der Regel parallel zum Verlauf der Tumorerkrankung auftritt (in seltenen Fällen aber auch Monate bis Jahre einer manifesten malignen Tumorerkrankung vorausgehen kann) und sich bei deren effektiver Behandlung zurückbildet bzw. ganz verschwindet. Eine gewisse Ausnahme bilden die neurologischen Manifestationen paraneoplastischer Syndrome, da diese oft nur partiell reversibel sind. 37.1.1 Inzidenz und klinische Relevanz
37
Die Inzidenz paraneoplastischer Syndrome beträgt zwischen 7– 15% (Abeloff 1987; Agarwala 1996). Diese Angabe ist mit Vorbehalt zu interpretieren, da aufgrund einer uneinheitlichen Definition und der hohen Dunkelziffer der nicht erkannten oder nicht richtig interpretierten Befunde eine genaue Bestimmung der Inzidenz schwierig sein dürfte. Insbesondere dürfte die Inzidenz dann deutlich höher liegen, wenn Allgemeinsymptome wie Gewichtsverlust, Tumoranämie, -kachexie und -fieber mit einbezogen werden. Unabhängig von der Häufigkeit ist die Kenntnis dieser Syndrome von klinischer Relevanz: Sie können Früh- oder Erstsymptom einer malignen Erkrankung sein, bzw. deren Progression oder Rezidiv anzeigen. In Einzelfällen sind diese Syndrome so charakteristisch für eine Tumorentität, dass die Diagnostik ohne Zeitverlust in eine entsprechende Richtung gelenkt werden kann. Andererseits kann das Nichterkennen eines paraneoplastischen Syndroms dazu führen, dass eine für sich gut therapeutisch angehbare Akutproblematik im Rahmen einer Tumorerkrankung unterbleibt. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Hyperkalzämie, die mit einer Bewusstseinsstörung einhergehen kann und dadurch eine präterminale Situation bei einem u. U. sogar noch kurativ behandelbarem Tumorpatienten vortäuschen kann.
37.2
Manifestation paraneoplastischer Syndrome
Die einzelnen paraneoplastischen Syndrome werden nachfolgend geordnet nach Manifestationsbereichen in gewisser Auswahl erläutert, und zwar unter Berücksichtigung sowohl ätiologischer wie auch klinisch-diagnostischer oder therapeutischer Besonderheiten. 37.2.1 Paraneoplastische Allgemeinsymptome
Gewichtsverlust und Kachexie sind Leitsymptome maligner Tumorerkrankungen (Agarwala 1996; Martinez Bruna et al. 1989;
Wormann et al. 1990). Am häufigsten werden sie bei Magen- und Pankreaskarzinomen beobachtet (80–90%). Ursächlich sind neben einer verminderten Nahrungsaufnahme oder einem erhöhten Energiebedarf, Zytokine wie beispielsweise IL-1, IL-6 und TNF (Cachectin) (Dinarello et al. 1985; Wormann u. van de Loo 1990). Fieber und Nachtschweiß (B-Symptome bei Lymphomen) treten bei 5–10% aller betroffenen Patienten als Primärsymptom einer Tumorerkrankung auf, sie sind ebenfalls zytokinvermittelt (Wormann u. van de Loo 1990). Dennoch sollte bei allen betroffenen Patienten eine Infektion ausgeschlossen werden, bevor Fieber als paraneoplastisch eingeordnet wird. Eine auffallende Blässe als Zeichen der Tumoranämie tritt meist erst im fortgeschritteneren Stadium einer Tumorerkrankung auf. 37.2.2 Paraneoplastische Endokrinopathien
Unter den vor allem endokrinologischen Manifestationen sind die obligat das Hormon der Ursprungszelle produzierenden und ganz überwiegend benignen Adenome (z. B. der Schilddrüse, Nebenschilddrüse, Hypophyse, Nebennierenrinde, des Inselzellapparates) von den fakultativ Hormone, Hormonanaloga oder auch andere Botenstoffe produzierenden malignen Tumoren und den dadurch bedingten paraneoplastischen Syndromen im engeren Sinne abzugrenzen. Die benignen hormonproduzierenden Adenome werden nicht den eigentlichen paraneoplastischen Hormonen zugerechnet; sie werden daher der Vollständigkeit halber nur in der tabellarischen Zusammenstellung (. Tab. 37.1) gesondert aufgeführt (systemische distale Manifestationen überwiegend benigner Adenome). Hyperkalzämie Mit einer Inzidenz von 10–20% gehört die Hyperkalzämie zu den häufigen paraneoplastischen Syndromen (Rosol et al. 1992). Die Hyperkalzämie, die direkt durch eine osteolytische Metastasierung verursacht wird, scheint bei Mamma- und Bronchialkarzinomen am häufigsten zu sein (Rosol u. Capen 1992). Humorale Mechanismen sind die unter dem Begriff osteoklastenaktivierende Faktoren zu subsumierenden Mediatoren wie beispielsweise TNF-α, TNF-β, IL-1, IL-6 sowie TGF-β (Agarwala 1996). Neben dieser, durch lokal destruktive Prozesse vermittelten Hyperkalzämie (20%), ist der überwiegende Grund einer Tumorhyperkalzämie ein paraneoplastisches Syndrom im engeren Sinne (80%) (Rosol u. Capen 1992). Der gut charakterisierte zugrunde liegende pathogenetische Mechanismus ist die Tumorzellsekretion des »parathormone-related peptide« (PTHrP), das an denselben Rezeptor wie das Parathormon bindet, aber auf dem Chromosom 12 anstatt 11 kodiert wird (Horwitz et al. 2003; Ratcliffe et al. 1992). Durch die sich nur auf die ersten 13 Aminosäuren beschränkende Homologie der beiden Hormone erklärt sich die fehlende immunologische Kreuzreaktion (Horiuchi et al. 1987). Der Serumkalzium-PTH-Regelkreis bleibt bei der Tumorhyperkalzämie somit erhalten (Fraher et al. 1992). Die Symptomatik der Tumorhyperkalzämie unterscheidet sich nicht von nicht paraneoplastischen Hyperkalzämien bzw. dem durch ein Nebenschilddrüsenadenom verursachten Hyperparathyreoidismus. Je nach Höhe des Serumkalziums umfasst die Symptomatik Durst und Polyurie, Übelkeit und Erbrechen, un-
759 37.2 · Manifestation paraneoplastischer Syndrome
klare Bewusstseinsstörung mit Desorientiertheit bis hin zum Koma. Die Therapie besteht neben der möglichst raschen Behandlung der zugrunde liegenden Erkrankung (kausale Therapie) in der Durchführung einer forcierten Diurese mit kalziumfreien Infusionslösungen sowie der Gabe von Bisphosphonaten (Clines et al. 2005; Florez et al. 2005; Stewart 2005; Wynn 2005). Ektopes ACTH-Syndrom (Cushing-Syndrom) Das ektope ACTH-Syndrom tritt überwiegend bei Tumorentitäten wie dem kleinzelligen Bronchialkarzinom (SCLC), dem Karzinoid, und dem C-Zell-Karzinom der Schilddrüse auf. Dieses Syndrom beruht auf der Reaktivierung des sonst abgeschalteten, für das Pro-Opiomelanocortin (POMC) zuständigen Gens, wodurch die Vorstufe (POMC) in das biologisch aktive ACTH umgewandelt wird (Amsler et al. 1994). Die Differenzierung eines ACTH-unabhängigen, primär adrenalen Cushing-Syndroms versus eines ACTH-sekretorischen Tumors (Hypophysenadenom oder ACTH-sekretorischer Tumor) gelingt zuverlässig mit der Bestimmung des Plasma-ACTH-Spiegels mittels eines Radioimmunoassays (Raff et al. 1989). Die Sekretion von ACTH und Kortison bei Patienten mit Cushing-Syndrom ist unabhängig von der zugrunde liegenden Ursache episodisch und muss daher gegebenenfalls mehrfach bestimmt werden (Van Cauter et al. 1985). Dabei sind die ACTH-Spiegel beim ektopen ACTH-Syndrom häufig höher als bei Patienten mit Hypophysenadenomen. Eine genauere Differenzierung erlaubt hier der DexamethasonHemmtest, da Hypophysenadenome nur partiell resistent sind und der Regelkreis im Gegensatz zu den ektopen ACTH-Syndromen zumindest partiell erhalten ist (Liddle 1960). Die fehlende Blockierbarkeit durch Dexamethason wird in den Laboranalysen oft durch eine ausgeprägte Hypokaliämie sowie eine metabolische Alkalose begleitet. Die klinische Symptomatik besteht in den charakteristischen Zeichen des Cushing-Syndroms. Der klassische cushingoide Aspekt wird allerdings oft durch die sich entwickelnde Tumorkachexie überlagert. Die Behandlung der zugrunde liegenden Erkrankung ist kausal, eine symptomatische, adrenalytische Therapie besteht in der Gabe von Aminogluthetimid, Metopiron oder Ketoconazol vorsichtshalber unter Substitution mit Hydrocortison (Winquist et al. 1995). Schwartz-Bartter-Syndrom (SIADH-Syndrom) Das Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion tritt bevorzugt beim kleinzelligen Bronchialkarzinom auf und beruht pathogenetisch auf der ektopen Sekretion von Arginin-Vasopressin (AVP; Agarwala 1996; Bartter et al. 1967). Gelegentlich kann dieses Syndrom auch durch die ektope Produktion des atrialen natriuretischen Peptids (ANP) verursacht werden (Gross et al. 1993). Immer dann wenn eine Hyponatriämie und Serumhypoosmolalität in Verbindung mit einer erhöhten Urinosmolalität (>100 mosmol/kg) und relativ erhöhter Natrium-Urinkonzentration vorliegt, muss von einem SIADH ausgegangen werden. Differenzialdiagnostisch muss das SIADH von einer Hypervolämie, die im Rahmen anderer internistischer Erkrankungen auftreten kann, wie beispielsweise eines nephrotischen Syndroms oder einer Herzinsuffizienz, abgegrenzt werden. Auch können einige Medikamente wie beispielsweise Vincristin oder Cyclophosphamid ein SIADH-Syndrom induzieren. Die klinische Symptomatik ist charakterisiert durch eine oft bedrohliche Wasserintoxikation des ZNS mit Bewusstseins-
37
trübung bis zum Koma. Neben der kausalen Therapie der Grunderkrankung besteht die Basistherapie in einer Wasserrestriktion, um so durch eine negative Wasserbilanz eine Normalisierung des Serum-Natriumspiegels zu erreichen. Schwere oder therapierefraktäre Hyponatriämien mit neurologischen Symptomen (Krämpfe, Koma) erfordern oft die Substitution von Natrium. Um effektiv zu substituieren, muss hierbei die Osmolalität der Substitutionslösung über der der Urinosmolalität liegen (Rose 1986). Üblicherweise wird 50% des geschätzten Na-Defizits in den ersten 24 Stunden mit hypertoner, 3%-iger NaCl-Lösung so substituiert, dass der Anstieg des Serumnatriums 1 mmol/h bzw. 10 mmol täglich nicht übersteigt. Der Effekt kann durch die gleichzeitige Gabe eines Schleifendiuretikums verstärkt werden (Decaux et al. 1981). Demeclocycline, das den Effekt von AVP auf die Niere hemmt, sollte Patienten mit schweren, refraktären Hyponatriämien vorbehalten bleiben (Forrest et al. 1978). Obwohl derzeit noch nicht verfügbar, scheinen ADHRezeptorantagonisten, die eine selektive Wasserdiurese verursachen, eine mögliche Therapiealternative in der Zukunft zu eröffnen. In ersten klinischen Studien konnte hierbei eine rasche Normalisierung des Serumnatriums erreicht werden (Saito et al. 1997). Sonstige paraneoplastische Endokrinopathien Selten ist die ektope tumorzellbedingte Produktion von hypothalamischen Releasing-Hormonen mit den daraus resultierenden klinischen Symptomen. . Tab. 37.1 fasst die paraneoplastischen Manifestationsformen des endokrinen Systems zusammen. 37.2.3 Paraneoplastische Veränderungen
der Hämatopoese Paraneoplastische Veränderungen der Erythropoese Die Anämie ist eines der am häufigsten diagnostizierten Symptome bei Tumorpatienten und kann neben Blutverlusten, Eisen-, B12-, oder Folsäuremangel, Knochenmarkinfiltration, Chemo- oder Strahlentherapie, auch als eigenständiges paraneoplastisches Syndrom, als Tumoranämie auftreten (Synonym: »anemia of chronic disease«, ACD). Diese häufige Form der Anämie ist typischerweise normozytär und normochrom, aber hypoproliferativ, dies bedeutet, dass pathogenetisch dieser Anämieform eine Verminderung der Erythrozytenproduktion im Knochenmark zugrunde liegt (Means et al. 1992). Diese These wird im Wesentlichen durch drei Befunde gestützt: 4 »trapping« des Eisens in Makrophagen, das der Hämoglobinsynthese damit nicht mehr zur Verfügung steht (Means 1999); 4 Ineffektivität des morphologisch unauffälligen Knochenmarks, auf eine Anämie adäquat zu reagieren (Means et al. 1993); 4 relativer Mangel an Erythropoetin (EPO); Patienten mit Tumoranämie haben niedrigere EPO-Spiegel als vergleichbar anämische Patienten mit nachgewiesenem Eisenmangel (Means u. Krantz 1992). Es spricht daher viel für die Hypothese, dass analog zur Infektanämie, die zytokinvermittelte Abwanderung des Eisens in das RES pathogenetisch eine Rolle spielt (Faquin et al. 1992; Weiss et al.
760
Kapitel 37 · Paraneoplastische Syndrome
. Tab. 37.1. Paraneoplastische Endokrinopathien Manifestation
(Bevorzugtes) Vorkommen
Hyperkalzämie
Lunge (überwiegend SCLC), Mamma-, Nierenzellkarzinom, Plasmozytom, Non-HodgkinLymphom (besonders HTLV-I-assoziiertes T-Zell-NHL; Bunn et al. 1983; Rose 1986)
Cushing-/ektopes ACTH-Syndrom
SCLC > NSCLC, Karzinoid, Pankreas-, Thymus-, Schilddrüsenkarzinom
Gynäkomastie
β-HCG produzierender Hodentumor
Amenorrhö
β-HCG produzierender Tumor (Uterus, Ovar)
Hyponatriämie (SIADH)
SCLC
Flush-Syndrom, Diarrhö
Karzinoid
Hypoglykämie
Insulinom, mesenchymale Tumoren (Sarkom, Mesotheliom; Werner et al. 1997)
Hyperglykämie
Glukagonom (begleitend oft nekrolytisches Erythema migrans)
Rezidivierende peptische Ulzera (Zollinger-Ellison-Syndrom)
Gastrinom (Ellison 1964)
Wässrige Durchfälle (Verner-Morrison-Syndrom)
Vipom (»vasoactive-intestinal-peptide« produzierender Tumor)
Systemische distale Manifestationen überwiegend benigner Adenome
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Hyperthyreose
Adenom der Schilddrüse (fT3, fT4)
Hyperkalzämie
Adenom der Nebenschilddrüse (Parathormon)
Cushing-Syndrom
Adenom der Nebennierenrinde (Cortisol)
Hypertonus (Conn-Syndrom)
Adenom der Nebennierenrinde (Aldosteron, Elektrolyte)
Hypertonus (Phäochromozytom)
Adenom des Nebennierenmarks (Katecholamine, Vanillinmandelsäure)
Hypoglykämie
Insulinom (5–10% maligne, Insulinspiegel, C-Peptid)
Akromegalie
Eosinophiles Adenom des Hpophysenvorderlappens (Wachstumshormonspiegel)
SCLC »small-cell lung cancer«, kleinzelliges Bronchialkarzinom; NSCLC »non-small-cell lung cancer«, nicht kleinzelliges Bronchialkarzinom
. Abb. 37.1. Tumoranämie
761 37.2 · Manifestation paraneoplastischer Syndrome
2005). . Abb. 37.1 veranschaulicht die wahrscheinlichen Mechanismen der Tumoranämie. 4 T-Zellen und Monozyten werden durch Tumorzellen aktiviert. Diese nun aktivierten Zellen induzieren eine Vielzahl von Immuneffektormechanismen über die Produktion von verschiedenen Zytokinen (Interferon-γ,Tumornekrosefaktorα, Interleukin-1, -6, -10). 4 IL-6 stimuliert die Expression des Akutphaseproteins Hepcidin, das seinerseits die Eisenresorption im Duodenum hemmt (Nemeth et al. 2004). 4 Interferon-γ führt zur vermehrten Expression des divalenten Metall-Transporters-1 (DMT1) auf Makrophagen, sodass vermehrt Eisen in den Makrophagen aufgenommen wird (Ludwiczek et al. 2003). Zusätzlich führt Interferon-γ zu einer Herunterregulation des Eisentransporters Ferroportin-1, mit der Konsequenz, dass der Eisenexport aus den Makrophagen erschwert ist. Dieser Effekt wird auch durch Hepcidin verursacht (Pietrangelo 2002). 4 Durch die IL-10-induzierte Expression des Transferrinrezeptors wird vermehrt transferringebundenes Eisen in die Makrophagen aufgenommen. Durch TNF-α, IL-1, IL-6 und IL-10 wird vermehrte Ferritin produziert, sodass vermehrt Eisen in den Makrophagen gespeichert und retiniert wird (Torti et al. 2002). All diese Effekte führen in ihrer Gesamtheit zu einer Verminderung des frei zirkulierenden Eisens, das damit der Erythropoese nicht mehr in ausreichendem Maße zur Verfügung steht. Aggravierend kommt hinzu, dass Interferon-γ, TNF-α und Interleukin-1 die Erythropoetinproduktion in der Niere inhibieren. Zusätzlich stimuliert TNF-α die Erythrozyten Degradation sowie die Phagozytose von Erythrozyten (Weiss u. Goodnough 2005). Therapeutische Ansätze der Tumoranämie bestehen zum einen in der Substitution mit Erythrozytenkonzentraten, zum anderen in der Möglichkeit der Verabreichung von Erythropoetin, das in Studien neben einer Reduktion der Transfusionsbedürftigkeit auch zu einer Steigerung der Lebensqualität und sogar zu einer Prognoseverbesserung geführt hat (Littlewood et al. 2001). Die Substitution von Erythropoetin (EPO) ist aber an einige Bedingungen geknüpft (s. Übersicht »Aktuelle ASCO/ASHRichtlinien«; Rizzo et al. 2002).
Aktuelle ASCO/ASH-Richtlinien zur Substitution mit EPO Generelle Empfehlung (ASCO/ASH) 4 Jeder andere Grund einer Anämie muss vor Beginn einer Substitutionstherapie mit EPO ausgeschlossen werden. Hierzu gehört neben dem Ausschluss einer Blutungsanämie, eine sorgfältige Medikamentenanamnese, die Anfertigung eines Blut- und ggf. Knochenmarkausstrichs sowie der Ausschluss eines Eisen-, B12- oder Folsäuremangels.
Spezielle Empfehlungen (ASCO/ASH) 4 In Abhängigkeit von der klinischen Situation (Komorbidität etc.) kann EPO, alternativ zur Erythrozytentransfusion, ab einem Hämoglobinwert (Hb) <10 g/dl verab6
37
reicht werden. Bei einem Hb von 10–12 g/dl sollte die Entscheidung zur EPO-Gabe von den klinischen Begleitumständen abhängig gemacht werden. 4 Die empfohlene EPO-Dosis beträgt 150 U/kg s. c. 3-mal/ Woche über einen Zeitraum von mindestens 4 Wochen, und kann um weitere 4–8 Wochen verdoppelt werden, wenn initial kein Hb-Anstieg erfolgt (Alternative 40.000 U s. c. 1-mal/Woche). 4 Eine Fortsetzung der EPO-Therapie bei Nonrespondern (Hb-Anstieg <1–2 g/dl) über den oben genannten Zeitraum hinaus ist nicht hilfreich. Ein Eisenmangel muss dabei ausgeschlossen sein! 4 Die EPO-Dosis sollte so titriert werden, dass ein Hb-Wert von 12 g/dl gehalten wird.
Eine mikroangiopathische hämolytische Anämie (MAHA) mit dem Nachweis der charakteristischen Fragmentozyten kann gelegentlich in Assoziation mit verschiedenen metastasierenden soliden Tumoren auftreten. Diese Anämieform ist üblicherweise Coombs-negativ (Lin et al. 1995). Bei der aplastischen Anämie (»pure red cell anemia«) wird bei etwa 1–15% der betroffenen Patienten ein Thymom, und eher selten ein metastasierter solider Tumor diagnostiziert (Charles et al. 1996; Guthrie et al. 1983). Häufiger ist die sekundäre Form der autoimmunhämolytischen, Coombs-positiven Anämie (AIHA), die überwiegend durch IgG-Wärme-, z. T. aber auch durch IgM-Kälteautoantikörper induziert wird und vor allem im Rahmen von B-Zell-Lymphomen, speziell der chronisch-lymphatischen Leukämie (10– 20% der Betroffenen) diagnostiziert wird. Gelegentlich tritt eine AIHA mit einer Immunthrombozytopenie auf und wird dann als Evans-Syndrom bezeichnet (Byrd et al. 1995; Evans et al. 1961; Evans et al. 1951). Eine Polyglobulie als paraneoplastisches Syndrom soll auch durch die EPO-Produktion von Tumorzellen entstehen können. So wurden in einer Übersicht von 340 Fällen tumorassoziierter Erythrozytosen (35% Nierenzell-, 19% Leberzellkarzinom, 15% Hämangioblastom) bei 36% der Patienten erhöhte EPO-Spiegel im Tumorgewebe gemessen (Hammond et al. 1974). In einer Folgeuntersuchung konnten Gross et al. jedoch von 49 Patienten mit Nierenzellkarzinom nur in vier Fällen erhöhte EPO-Spiegel nachweisen (Gross et al. 1994). Paraneoplastische Veränderungen der Leukozytopoese Eine zytokinvermittelte Granulozytose, Monozytose oder eine Eosinophilie werden im Rahmen maligner Tumoren beobachtet. Die Eosinophilie wird bei 1% aller Tumorpatienten und bei bis zu 10% aller Patienten mit malignen Lymphomen, ferner auch bei der Mastozytose gefunden (Hocking et al. 1983; Pardanani 2005; Tefferi 2005). Paraneoplastische Veränderungen der Megakaryopoese Neben der zytokinvermittelten Thrombozytose gibt es die ITPartige Immunthromboytopenie (»ITP-like-syndrome«) oder deren Kombination mit einer autoimmunhämolytischen Anämie (Evans-Syndrom, s. oben), die im Rahmen von Hodgkin- und Non-Hodgkin-Lymphomen, aber auch bei soliden Tumoren auftreten können (Bellone et al. 1983; Frenkel et al. 1996; Hocking et al. 1983).
762
Kapitel 37 · Paraneoplastische Syndrome
. Tab. 37.2. Paraneoplastische Manifestationen im hämostaseologischen System Manifestation
(Bevorzugtes) Vorkommen
Hyperkoagulobilität Rezidivierende Phlebothrombosen (Thrombophlebitis migrans)
Pankreas-, Kolonkarzinom, SCLC
Disseminierte intravasale Gerinnug (DIC) mit konsekutiver Verbrauchskoagulopa thie
Akute Promyelozytenleukämie (FAB M3)
Hämorrhagische Diathese Verbrauchskoagulopathie (DIC)
Akute Promyelozytenleukämie (FAB M3)
Thrombozytenfunktionsstörung durch Paraproteine
Paraproteinämische Hämoblastosen
Hemmung von Gerinnungsfaktoren durch Paraproteine (z. B. der Fibrinpolymerisation)
Paraproteinämische Hämoblastosen
Hemmkörperhämophilie (Autoantikörper)
Verschiedene Tumoren
Erworbenes von-Willebrand-Jürgens-Syndrom
Verschiedene Tumoren
Moschcowitz-Syndrom
Verschiedene Tumoren (häufig Magenkarzinome)
SCLC »small-cell lung cancer«, kleinzelliges Bronchialkarzinom
37.2.4 Paraneoplastische Veränderungen des
hämostaseologischen Systems Paraneoplastische Störungen der Hämostase können sich sowohl in einer Hyperkoagulobilität (Thrombophilie), als auch in einer gesteigerten Blutungsneigung (hämorrhagische Diathese) manifestieren (. Tab. 37.2; Agarwala 1996).
37
Hyperkoagulobilität Eine Thrombophilie findet sich insbesondere beim Pankreasund Kolonkarzinom aber auch bei anderen soliden Tumoren. Pathogenetisch beruht dies überwiegend auf der Freisetzung von Gewebsthromboplastin und Faktor-X-Aktivatoren (»cancer procoagulant«), und kann durch weitere Faktoren wie beispielsweise Operationen, therapieinduzierte Tumorlyse, antihormonelle oder Hormontherapie, Venenverweilkatheter oder die Induktion von Antiphospholipidantikörpern verstärkt werden. Weitere Faktoren wie die im Rahmen der Akutphasereaktion ausgelöste Hyperfibrinogenämie, Faktor-VIII-Vermehrung, reaktive Thrombozytose, tumorinduzierte Thrombozytenaktivierung und die Erhöhung des Plasminogenaktivator-Inhibitor-Spiegels (PAI) dürften zusätzlich eine Rolle spielen. Bei 5–15% aller Tumorpatienten wird zu Lebzeiten eine Thrombose diagnostiziert, in Autopsiestudien liegt die Inzidenz jedoch mit bis zu 50% deutlich höher (Monreal et al. 1997). Vor allem bei scheinbar idiopathischen Thromboembolien an ungewöhnlichen Lokalisationen und bei Thromboserezidiven trotz therapeutischer Antikoagulation (Trousseau-Syndrom) muss an ein Malignom gedacht werden. Bei bis zu 12% dieser spontan auftretenden Thrombosen findet sich in der Folge eine Tumorerkrankung (Monreal et al. 1997). Prinzipiell kann die Therapie venöser Thrombosen auch bei Tumorpatienten mit oralen Antikoagulanzien (OAC) durchgeführt werden, jedoch sind zahlreiche Wechselwirkungen und Kontraindikationen zu beachten. Bei exulzerierten Tumoren, Hirn- oder Lebermetastasen mit eingeschränkter Lebersyntheseleistung, Thrombozytopenie (tumor- oder therapieassoziiert) oder auch bei einer OAC-Resistenz sollte die Antikoagulation mit
Heparin durchgeführt werden. Darüber hinaus konnte in einigen Studien gezeigt werden, dass niedermolekulare Heparine selbst einen antineoplastischen Effekt aufweisen (Zacharski et al. 1998). Hämorrhagische Diathese Eine Blutungsneigung bei Tumorpatienten kann durch Autoantikörper, z. B. gegen Thrombozyten (Autoimmunthrombozytopenie) oder auch Gerinnungsfaktoren wie beispielsweise bei der erworbenen Hemmkörperhämophilie A oder dem erworbenen von-Willebrand-Syndom (Autoantikörper gegen Faktor VIII bzw. den von-Willebrand-Faktor) auftreten (Scharrer et al. 2000). Durch Paraproteinämien kann es bei hämatologischen Systemerkrankungen (z. B. multiples Myelom) zu einer Funktionsbeeinträchtigung von Thrombozyten und Gerinnungsfaktoren mit konsekutiven Blutungskomplikationen kommen. Die Freisetzung von Plasminogenaktivatoren (z. B. Prostatakarzinom) kann zu hyperfibrinolytischen Blutungen bis hin zur schweren Verbrauchskoagulopathie führen, wie sie besonders für die Promyelozytenleukämie charakteristisch ist. Beim paraneoplastischen Moschcowitz-Syndrom finden sich Autoantikörper gegen die von-Willebrand-Faktor-spaltende Protease, sodass abnorm große von-Willebrand-Faktor-Multimere zur Thrombozytenaggregation mit konsekutiver Mikroangiopathie führen und sich dies in der klassischen Symptomtrias von thrombozytopenischer Purpura, hämolytischer Anämie und neurologischen Symptomen manifestiert (Furlan et al. 1998). Die Therapie von Blutungskomplikationen besteht bei Thrombozytopenien in der Substitution von Thrombozytenkonzentraten, bei Thrombozytopathien ggf. in der Verabreichung des synthetischen Vasopressinanalogons Desmopressin (Minirin). Bei plasmatischen Gerinnungsdefekten werden Gerinnungsfaktoren mittels Frischplasma (FFP) oder Faktorenkonzentraten substituiert. Zur Elimination von Autoantikörpern werden Immunsuppressiva, Immunadsorption, Plasmaaustausch und die Gabe von Immunglobulinen oder neuerdings auch monoklonale Antikörper (Anti-CD20-Antikörper Rituximab) eingesetzt (Furlan u. Lammle 1998; Kosugi et al. 2005; Narat et al. 2005; Scott et
763 37.2 · Manifestation paraneoplastischer Syndrome
al. 2005; Zacharski u. Ornstein 1998). Bei hyperfibrinolytischen Blutungen kommen Antifibrinolytika (z. B. Tranexamsäure, Aprotinin) zur Anwendung. . Tab. 37.2. gibt einen Überblick über die paraneoplastischen Manifestationen im hämostaseologischen System. 37.2.5 Paraneoplastische Veränderungen
des neuromuskulären Systems Paraneoplastische neurologische Syndrome sind eine heterogene Gruppe von neurologischen Störungen, die weder durch den Tumor oder dessen Metastasen selbst noch durch metabolische oder nutritive Defizite, Infektionen, Koagulopathien oder Nebenwirkungen der antineoplastischen Therapie verursacht werden. Diese Syndrome können prinzipiell jeden funktionellen Bereich des neuromuskulären System betreffen (zentrales Nervensystem – peripheres Nervensystem – neuromuskulärer Übergang und Muskulatur). Die mit am häufigsten beobachteten paraneoplastischen neuromuskulären Syndrome sind chronische sensomotorische Neuropathien (10–15% aller Tumorpatienten), das LambertEaton-Myasthenie-Syndom (LEMS), das bei 3% aller Patienten mit SCLC diagnostiziert wird, sowie die Myasthenia gravis, die bei 15% aller Patienten mit Thymomen beobachtet wird. Für alle anderen soliden Tumoren beträgt die Inzidenz weniger als 1% (Rudnicki et al. 2000). Der zugrunde liegende Pathomechanismus der paraneoplastischen, neuromuskulären Syndrome ist nur ungenügend aufgeklärt, auch wenn es Hinweise auf einen immunologisch getriggerten Mechanismus zu geben scheint, da sowohl Antikörper als auch eine T-Zell-Reaktivität bei vielen dieser Erkrankungen nachgewiesen werden konnte (Dalmau et al. 1992; Dalmau et al. 1999; Dalmau et al. 1999). Der zunehmende Nachweis von Autoantikörpern gegen bestimmte Zielantigene des neuromuskulären Systems, z. T. wohl auch kreuzreagierend mit Antigenen des zugrunde liegenden Tumors, weist auf deren pathogenetische Relevanz hin. Eine unmittelbare pathogenetische Relevanz dieser Antikörper konnte jedoch bislang nur bei vier Syndromen nachgewiesen werden: 4 Antikörper gegen spannungsabhängige Kalziumkanäle (VGCC; »voltage gated calcium channels«) beim LambertEaton Myasthenie-Syndrom (LEMS) (O’Neill et al. 1988); 4 Antikörper gegen Azetylcholinrezeptoren (AChR) bei der Myasthenia gravis (Wirtz et al. 2003); 4 Antikörper gegen spannungsabhängige Kaliumkanäle (VGKC, »voltage gated potassium channels«) bei der Neuromyotonie (Isaacs-Syndrom) (Sinha et al. 1991) 4 Antikörper gegen Azetylcholinrezeptoren bei der autonomen Neuropathie (Vernino et al. 2000). Basierend auf einem immunologischen, pathogenetischen Hintergrund gibt es zwei generelle therapeutische Ansätze: 1. Eliminierung der entsprechenden Antigenquelle durch effektive Behandlung der zugrunde liegenden Tumorerkrankung (kausale onkologische Therapie), 2. Unterdrückung (Immunsuppression) oder Modulation der Immunantwort. Eine immunsuppressive Therapie ist beispielsweise beim Lambert-Eaton-Myasthenie-Syndrom (LEMS) oder bei der Myasthenia gravis indiziert, da therapeutische Maßnahmen wie
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eine Plasmapherese oder die Gabe von Immunglobulinen (0,4 g/kg täglich für 5 Tage) zwar häufig, meist aber nur kurzfristig zu einer Verbesserung des neurologischen Status führen. Auch bei demyelinisierenden Syndromen kann die Plasmapherese, eine Immunsuppression oder die Gabe von Immunglobulinen effektiv sein. Basis bildet aber immer die rasche onkologische, d. h. kausale Therapie, möglicherweise in Kombination mit einer Immunmodulation oder Immunsuppression, die deshalb vordringlich ist, um das Vollbild des neurologischen Syndroms mit der irreversiblen Zerstörung neuronaler Strukturen und den damit persistierenden neurologischen Defiziten zu verhindern (Keime-Guibert et al. 2000; Rosenfeld et al. 2003; Vernino et al. 2004). ZNS- und spinale Syndrome Die paraneoplastische Enzephalomyelitis ist dadurch gekennzeichnet, dass verschiedene Areale des ZNS involviert sein können (Hirnstamm, limbisches System, Kleinhirn; Dalmau et al. 1992). Die Klinik variiert daher stark in Abhängigkeit von den betroffenen Hirnregionen. Beim Großteil der betroffenen Patienten können Anti-HU-Antikörper nachgewiesen werden; bei 75% liegt ein kleinzelliges Bronchialkarzinom zugrunde (Dalmau et al. 1992; Graus et al. 2001). Auch die paraneoplastische Myelitis ist überwiegend mit kleinzelligen Bronchialkarzinomen assoziiert und äußert sich klinisch häufig in einer sensiblen Neuropathie. Auch hier können häufig Anti-HU-Antikörper nachgewiesen werden (Dalmau et al. 1992; Graus et al. 2001). Stimmungsschwankungen, Störungen des Kurzzeitgedächtnisses, komplex-partielle Anfälle und kognitive Störungen charakterisieren die limbische Enzephalitis. Auch hierbei liegt häufig ein kleinzelliges Bronchialkarzinom zugrunde, seltener werden Hodentumoren, Thymome, Mammakarzinome und Hodgkin-Lymphome diagnostiziert. Bei Patienten mit SCLC werden häufig Anti-HU-Antikörper, und bei Patienten mit Hodentumoren häufig Anti-Ma2-Antikörper gefunden, deren korrespondierendes Ma2-Antigen selektiv in neuronalen Strukturen und Hodengewebe nachgewiesen werden kann (Alamowitch et al. 1997; Lawn et al. 2003; Voltz et al. 1999). Im Rahmen der oben genannten paraneoplastischen, neurologischen Syndrome kann es zu einer Beteiligung des Hirnstamms, Hirnstammenzephalitis mit den klinischen Symptomen Nystagmus, Dysphagie, Dysarthrie, Schwindel u. a. kommen (Dalmau et al. 1992; Pillay et al. 1984). Patienten mit einer zerebellären Degeneration zeigen die klinischen Symptome Übelkeit, Erbrechen, Diplopie, Dysarthrie und Dysphagie. Viele Patenten entwickeln aber neben der isolierten Kleinhirnaffektion weitere neurologische Symptome. Häufig ist die zugrunde liegende Ursache ein kleinzelliges Bronchialkarzinom (80%) (Mason et al. 1997). Die bei diesem Syndrom nachweisbaren Antikörper sind vielfältig und sind in . Tab. 37.3 zusammengefasst. Eine Störung der okulären Motilität mit spontanen, arhythmischen, sakkadenartigen Bulbusbewegungen kennzeichnet das Opsoklonus-Myoklonus-Syndrom. Am häufigsten wird dieses Syndrom bei Kindern in Assoziation mit einem Neuroblastom beobachtet (Antunes et al. 2000; Rudnick et al. 2001). Paraneoplastische visuelle Syndrome sind die tumor- (CAR; »cancer associated retinopathy«) bzw. melanomassoziierte Retinopathie (MAR, »melanoma associated retinopathy«) und
764
Kapitel 37 · Paraneoplastische Syndrome
. Tab. 37.3. Paraneoplastische Syndrome des neuromuskulären Systems Manifestation
Nachweisbare Antikörper
Assoziierte Tumorerkrankungen
Enzephalomyelitis
Anti-HU, Anti-CV2, Anti-Amphiphysin, PCA2, ANNA-3
SCLC (75%), Thymome (Dalmau et al. 1992; Graus et al. 2001)
Myelitis
Anti-HU
SCLC (Dalmau et al. 1992)
Limbische Enzephalitis
Anti-HU, Anti-CV2 (SCLC), Anti-Ma1, -Ma2 (Hodentumoren), Anti-VGKC
SCLC, Hodentumoren, Thymome, Mamma, M. Hodgkin (Lawn et al. 2003)
Hirnstammenzephalitis
Anti-HU (SCLC), Anti-Ri, Anti-Ma1, -Ma2 (Hodentumoren)
SCLC, Mamma, Ovar, Hodentumoren, andere (Dalmau et al. 1992; Voltz et al. 1999)
Zerebelläre Degeneration
Anti-HU (SCLC), Anti-Yo (Ovar, Mamma), Anti-Ri, Anti-Tr (M. Hodgkin), Anti-CV2 (Ovar, Uterus), Anti-Ma1, -Ma2 (Mamma, Kolon, Parotis), Anti-Zic4 (SCLC), mGluR1 (M. Hodgkin), PCA2
SCLC (80%), Mamma, Ovar, Hodentumoren, Thymome, Kolon, M. Hodgkin (Graus et al. 2001; Mason et al. 1997; Vernino et al. 2000)
Opso-/Myoklonus-Syndrom
Anti-Ri (Mamma)
SCLC, Mamma, Ovar, Neuroblastom (50%) (Rudnick et al. 2001)
Tumorassoziierte Retinopathie, melanomassoziiert Retinopathie
Anti-Recoverin, Anti-bipolare Zellen der Retina (Melanom)
SCLC, Mamma, Ovar, Melanom, andere (Polans et al. 1993; Polans et al. 1995; Thirkill et al. 1989)
Nekrotisierende Myelopathie
Anti-HU
SCLC, Lymphome, andere (Ojeda 1984)
Motorneuron-Syndrome
Anti-HU
Lymphome (Schold et al. 1979)
Stiff-Man-Syndrom
Anti-Amphiphysin
SCLC, Mamma (Shaw 1999)
Subakute sensible Neuropathie
Anti-HU (SCLC), Anti-CV2
SCLC (80%), Mamma, Prostata, Kolon, Lymphome, Uterussarkome (Antoine et al. 2001; Dalmau et al. 1992)
Akute, sensomotorische Neuropathie (Guillain-Barré-Syndrom)
Anti-HU, Anti-CV2
M. Hodgkin (Julien et al. 1980)
Chonische, sensomotorische Neuropathie
(Anti-MAG)
Monoklonale Gammopathien (multiples Myelom, M. Waldenström, MGUS), pri. Amyloidose (Ropper u. Gorson 1998)
Autonome Neuropathie
Anti-HU (SCLC), Anti-AchR
SCLC, Pankreas, Schilddrüse, Rektum, M. Hodgkin, Karzinoid (Veilleux et al. 1990; Vernino et al. 1998)
Zentrales Nervensystem
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Peripheres Nervensystem
Neuromuskulärer Übergang – Muskelsystem Myasthenia gravis
Anti-AchR, Anti-Titin
Thymushyperplasie (75%), Thymome (10%), SCLC, Schilddrüse, Mamma, M. Hodgkin (Voltz et al. 1999; Wirtz et al. 2003)
Lambert-Eaton-MyasthenieSyndrom (LEMS)
Anti-VGCC
70% Tumoren, SCLC (überwiegend) (Lennon et al. 1995; O‘Neill et al. 1988)
Dermatomyositis, Polymyositis
Anti-Yo, (CK Kreatinkinase)
15% entwickeln Tumoren: Lunge, Mamma, Ovar, Magen, Lymphome (Sigurgeirsson et al. 1992)
Neuromyotonie (Isaacs-Syndrom)
Anti-VGKC
Thymome, SCLC, M. Hodgkin (Newsom-Davis et al. 1993)
Paraneoplastische Manifestation
Nachweisbare Antikörper
Assoziierte Tumorerkrankungen
SCLC »small-cell lung cancer«, kleinzelliges Bronchialkarzinom; VGCC spannungsabhängige Kalziumkanäle; VGKC spannungsabhängige Kaliumkanäle
765 37.2 · Manifestation paraneoplastischer Syndrome
überwiegend mit kleinzelligen Bronchal- oder Mammakarzinomen assoziiert. Über 15 verschiedene Antikörper konnten bislang identifiziert werden, von denen der Nachweis von Anti-Recoverin am charakteristischsten ist (Polans et al. 1993; Polans et al. 1995; Thirkill et al. 1989). Eine Übersicht über die wichtigsten zentralen- bzw. spinalen paraneoplastischen neuromuskulären Syndrome zeigt Tabelle . Tab. 37.3.
Syndrome des peripheren Nervensystems Eine chronische sensomotorische Polyneuropathie ist häufig bei Tumorpatienten. So zeigen 10–15% der Patienten mit soliden Tumoren klinische Zeichen der Polyneuropathie, mit meist milden bis moderaten symmetrischen sensomotorischen Defiziten, und sogar 35–50% zeigen bei subklinischen Verläufen pathologische Befunde im Rahmen von elektrophysiologischen Untersuchungsverfahren (Gomm et al. 1990; Oh et al. 1997; Paul et al. 1978; Trojaborg et al. 1969). Bei ungefähr 10% der Patienten liegt eine monoklonale Gammopathie (MGUS, M. Waldenström, multiples Myelom) oder eine primäre Amyloidose zugrunde (Ropper et al. 1998). Eine Übersicht über die wichtigsten peripheren Neuropathien im Rahmen paraneoplastischer Syndrome zeigt . Tab. 37.3. (Neuro-) Muskuläre Syndrome Bei der Myasthenia gravis finden sich Autoantikörper gegen Azetylcholinrezeptoren (AChR). 75% der betroffenen Patienten, die typischerweise okulobulbäre Symptome zeigen, leiden an einer Erkrankung des Thymus, meist einer Thymushyperplasie, bei 10% findet sich aber ein maligner, epithelialer Tumor des Thymus (Drachman 1994). Darüber hinaus tritt eine Myasthenie gelegentlich auch im Rahmen von anderen Tumoren auf (SCLC, Schilddrüsen- und Mammakarzinome, M. Hodgkin; Abrey 1995; Fujita et al. 1994). Antikörper gegen spannungsabhängige Kalziumkanäle (VGCC) sind charakteristisch für das Lambert-EatonMyasthenie-Syndom (LEMS); sie können bei bis zu 95% der betroffenen Patienten (meist mit SCLC) nachgewiesen werden (Lennon et al. 1995). Die Patienten zeigen eine progrediente Schwäche der Hüftmuskulatur, die das Aufstehen aus dem Sitzen erschwert. Treten Störungen der okulobulbären Muskulatur auf, so sind sie meist schwächer ausgeprägt als bei der Myasthenie (Burns et al. 2003; O‘Neill et al. 1988).
. Abb. 37.2. Dermatomyositis. (Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Frau Prof. Dr. Christine Neumann, Universitäts-Hautklinik Göttingen
37
Darüber hinaus sind zwei inflammatorische Myopathien unbedingt zu erwähnen, da beide einer Tumorerkrankung oft um Jahre vorausgehen können und mit einer hohen Inzidenz der Entwicklung eines Malignoms assoziiert sind. Ungefähr 9% aller Patienten mit einer Polymyositis und 15% aller Patienten mit einer Dermatomyositis entwickeln ein Malignom (. Abb. 37.2; Sigurgeirsson et al. 1992). Das höchste Risiko besteht dabei innerhalb der ersten beiden Jahre nach Diagnosestellung und Frauen scheinen etwas häufiger betroffen zu sein (Sigurgeirsson et al. 1992). Die mit beiden Syndromen am häufigsten assoziierten Tumoren sind Mamma-, Lungen-, Ovarial-, und Magenkarzinome sowie Non-Hodgkin-Lymphome. Eine Übersicht über paraneoplastische, neurologische Syndrome gibt . Tab. 37.3. 37.2.6 Kutane Manifestationen paraneoplastischer
Syndrome Eine Vielzahl von Hautveränderungen wird bei Tumorerkrankungen beobachtet. Diese Veränderungen können der Tumorerkrankung selbst vorausgehen, sodass diese Symptome bei der Diagnosefindung eines Malignoms hilfreich sein können. Bei den kutanen Manifestationen paraneoplastischer Syndrome sind solche ohne Infiltration der Haut durch Tumorzellen von den durch direkte Tumorzellinfiltrationen bedingten Hautveränderungen abzugrenzen (z. B. Leukämien, kutane T-Zell-Lymphome). Metabolisch bedingte Hautveränderungen Eine Hyperpigmentation der Haut und der Schleimhäute tritt am häufigsten beim kleinzelligen Bronchialkarzinom im Rahmen des ektopen ACTH-Syndroms, durch die Sekretion des ProOpiomelanocortins (POMC), eines die Melanozyten stimulierenden Hormons auf (Amsler et al. 1994). Das Erythema necrolyticum migrans (Glukagonom-Syndrom), ein ekzematöses, psoriasiformes, eruptives Exanthem, das überwiegend um Körperöffnungen herum lokalisiert ist, hat eine pathognomonische Relevanz beim Glukagonom. Subkutane Fettgewebsnekrosen aufgrund einer Enzymfreisetzung mit hoher lipolytischer Aktivität werden selten bei Pankreastumoren beobachtet (Dahl et al. 1995; Heykarts et al. 1999). Diese als pankreatische Pannikulitis beschriebenen Hautveränderungen manifestieren sich mit gespannten, erythematösen bis violetten, teilweise exulzerierenden subkutanen Knoten. Eine periorbitale Purpura oder eine Makroglossie kann im Rahmen einer Amyloidose, beispielsweise bei monoklonalen Gammopathien, auftreten. Ein generalisierter, diffus dunkelgrauer Aspekt der gesamten Haut wird gelegentlich bei ausgeprägt metastasierten malignen Melanomen beobachtet und als generalisierte Melanosis bezeichnet (Bohm et al. 2001; Murray et al. 1999). Das im Rahmen eines Karzinoids gelegentlich beobachtete Flush-Syndrom ist Ausdruck der Sekretion von vasoaktiven Substanzen wie beispielsweise Serotonin, und führt zu einer anfallsartigen Rötung der Haut verbunden mit Hitzewallungen (. Abb. 37.3). Epidermale Hautveränderungen Die Akanthosis nigricans fällt durch eine progrediente Vergröberung und Verdickung mit leichter Hyperpigmentierung der Haut auf und betrifft insbesondere die Axillen und die Hals- und
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Kapitel 37 · Paraneoplastische Syndrome
Inguinalregion. Die Veränderung ist am häufigsten mit Magenkarzinomen assoziiert (55%), wird aber auch bei anderen Tumoren des Gastrointestinaltrakts und der Lunge beobachtet (. Abb. 37.4; Rigel et al. 1980). Die erworbene Ichtyosis, eine schuppende, trockene Hautveränderung wird am häufigsten beim M. Hodgkin, aber auch bei kutanen T-Zell-Lymphomen und soliden Tumoren (Mamma, Lunge, Harnblase) beobachtet (Spelman et al. 1996).
Eine gelbliche, symmetrische Verdickung der Epidermis im Bereich der Hand- und Fußflächen ist assoziiert mit Plattenepithelkarzinomen des Ösophagus und wird als palmare Hyperkeratose bezeichnet (Ratnavel et al. 1997). Treten erythematöse, psoriasiforme Plaques überwiegend an den Akren auf, so wird diese Form als Bazex-Syndrom bezeichnet. Nageldystrophien, palmoplantare Keratosen und Alopezie sind häufig mit vergesellschaftet. Plattenepithelkarzinome des HNO-Trakts, aber auch der M. Hodgkin sind mit diesem Syndrom assoziiert (Bolognia 1995; Lucker et al. 1995; Richard et al. 1987). Eine Erythrodermie, eine mindestens 90%-ige Rötung der Hautfläche, ist bei ca. 10% der betroffenen Patienten mit einem Malignom, meist mit kutanen T-Zell-Lymphomen assoziiert (Bagot 1998; Fouchard et al. 1998; Sigurdsson et al. 1997). Obwohl insgesamt eher selten, treten Vaskulitiden, vor allem die nekrotisierende, leukozytoklastische Form mit palpablen rötlichen Papeln, meist bei hämatologischen Neoplasien auf (Wooten et al. 1996). Systemische Vaskulitiden treten darüber hinaus infolge von Kryoglobulinämien, so beispielsweise beim M. Waldenström oder beim multiplen Myelom auf (. Abb. 37.5; Bloch et al. 1982; Wooten u. Jasin 1996). Bullöse Epidermiolysen treten als paraneoplastischer Pemphigus, typischerweise bei Non-Hodgkin-Lymphomen wie der chronisch lymphatischen Leukämie, dem M. Waldenström sowie bei M. Castleman und Thymomen auf. Darüber hinaus gibt es etliche kutane Manifestationen, die als sog. autosomal-dominante oder -rezessive Genodermatosen auf Tumoren oder aber auf eine eventuell erst später auftretende Tumorerkrankung hinweisen und daher entsprechende Vorsorgeuntersuchungen sinnvoll erscheinen lassen. Hierzu gehören: 4 Gardener-Syndrom (Epidermoidzysten, Fibrome, Osteome, pigmentierter Augenhintergrund) – assoziiert mit familiärer Polyposis und intestinalen Adenokarzinomen; 4 Peutz-Jeghers-Syndrom (mukokutane Hyperpigmentation, vor allem der Lippen) – assoziiert mit intestinalen Adenokarzinomen; 4 Torre-Muir-Syndrom (multiple Talgdrüsentumoren) – assoziiert mit viszeralen malignen Tumoren; 4 Cowden-Syndrom (multiple Hamartome) – assoziiert mit frühen Mammakarzinomen und Schilddrüsenkarzinomen; 4 M. Recklinghausen (kutane und subkutane Neurofibrome, Café-au-lait-Flecken) – assoziiert mit Gliomen und anderen Tumoren des Nervensystems.
. Abb. 37.4. Akanthosis nigricans bei Adenokarzinom des Gastrointestinaltrakts. (Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Frau Prof. Dr. Christine Neumann, Universitäts-Hautklinik Göttingen)
. Abb. 37.5. Hautnekrosen als Erstmanifestation eines IgA-Plasmozytoms mit Kryoglobulinämie (nach Kälteexposition im Garten), Remission nach Plasmapherese und Chemotherapie
. Abb. 37.3. Flush-Syndrom – Unangenehme Hitzewallung mit Rötung des Gesichts bei Dünndarmkarzinoid. (Aus Gerok, Huber, Meinertz, Zeidler, Die Innere Medizin, 11. Aufl. Stuttgart, New York: Schattauer 2007: 597)
767 37.2 · Manifestation paraneoplastischer Syndrome
Sonstige Hautveränderungen Ein quälender, generalisierter, häufig therapierefraktärer Pruritus tritt häufig bei hämatologischen Neoplasien, insbesondere bei Lymphomen (vor allem M. Hodgkin), multiplen Myelomen, Leukämien, der Polyzythämia vera (bis zu 50%) und bei Karzinoiden auf (Kaboth et al. 1994; Paul et al. 1987). Konzentrische, unscharf begrenzte, zerfließende, vielgestaltig-girlandenförmige und rasch migrierende baumrindenartige, erythematöse Plaques werden als Erythema gyratum repens (Gammel-Syndrom) bezeichnet und treten häufig in Assoziation mit Bronchialkarzinomen, weniger häufig bei Ösophagus- oder Mammakarzinomen auf (Appell et al. 1988; Eubanks et al. 2001). Die Hypertrichosis lanuginosa ist charakterisiert durch eine feine, dünne Behaarung vor allem im Bereich der Kopf-Hals-Region, kann aber prinzipiell den ganzen Körper betreffen. Eine Assoziation mit Kolon-, Mamma-, Lungen-, und Nierenzellkarzinomen ist beschrieben (Hovenden 1993). Das explosionsartige Auftreten multipler, juckender seborrhoischer Keratosen mit inflammatorischer Basis wird gehäuft bei gastrointestinalen, aber auch bei Mamma-, und Bronchialkarzinomen beobachtet und als Leser-Trelat-Zeichen bezeichnet (Heaphy et al. 2000). Die Trias aus Knochenanbau an Phalangen, Radius oder Tibia, Verdickung der Haut und Trommelschlegelfingern wird als hypertrophe Osteoarthropathie bezeichnet und tritt überwiegend bei Bronchialkarzinomen auf (Martinez-Lavin et al. 1993; Martinez-Lavin et al. 1993). Die Kombination aus Fieber, Neutrophilie und einer nicht vaskulitischen, kutanen neutrophilen Infiltration mit gespannten, brennend-schmerzhaften, erythematösen Papeln oder Plaques mit irregulärer Oberfläche (zentrale gelbliche Verfärbung) wird als Sweet-Syndrom bezeichnet. Ungefähr 10% der betroffenen Patienten haben eine Tumorerkrankung, meist akute myeloische Leukämien, aber auch Lymphome und Karzinome (Cohen et al. 1988). Xanthome, gelbliche, leicht erhabene Maculae, treten in Assoziation mit multiplen Myelomen auf (Marien et al. 1975). Im
37
Gegensatz zu Xanthelasmen sind sie weniger erhaben und selten im Bereich der Periorbitalregion lokalisiert. Wachsartige, gelbliche Papeln im Bereich des Kopfs, Hals, Nacken, Arme und Mamma, mit einer Verdickung der darunter liegenden Haut werden als Skleromyxödem bezeichnet. Häufig wird eine monoklonale Gammopathie, z. B. im Rahmen eines multiplen Myeloms oder Lymphoms diagnostiziert (Gabriel et al. 1988). 37.2.7 Andere, seltene Manifestationen
Abschließend wird noch eine heterogene Restgruppe von paraneoplastischen Syndromen erwähnt, die sich den anderen Manifestationsbereichen nicht ohne Weiteres zuordnen lassen. Es handelt sich dabei um seltene, am ehesten über Immunmechanismen induzierte, überwiegend empirisch belegte Syndrome. Die konsekutive Nephropathie im Rahmen von monoklonalen Gammopathien, insbesondere mit alleiniger oder begleitender Bence-Jones-Proteinurie beim multiplen Myelom oder der monoklonalen Gammopathie unklarer Signifikanz (MGUS) ist als paraneoplastisches Syndrom zu definieren. Auch Glomerulonephritiden mit der klinischen Manifestation eines nephrotischen Syndroms können mit Tumorerkrankungen, überwiegend mit M. Hodgkin, aber auch mit Non-Hodgkin-Lymphomen oder Leukämien assoziiert sein (Alpers et al. 1986; Dabbs et al. 1986). Eine Laktatazidose ist im Rahmen von hämatologischen Neoplasien (Leukämien, Lymphome) beschrieben worden. Ebenso wurde über eine Assoziation von Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis, wie beispielsweise Arthritiden oder Lupus erythematodes im Rahmen von Tumorerkrankungen berichtet (Dalmau u. Posner 1999). Unklar ist bisher das Zustandekommen der, zwar seltenen, aber dennoch typischen Alkoholunverträglichkeit (Alkoholschmerz) und des gelegentlichen Symptoms Pruritus beim M. Hodgkin sowie die Genese der paraneoplastischen Hepathopathie beim Nierenzellkarzinom (Stauffer-Syndrom) (Dalmau u. Posner 1999; Wormann u. van de Loo 1990).
Zusammenfassung Paraneoplastische Syndrome sind eine sehr heterogene Gruppe von einzeln oder in Kombination bei Tumorerkrankungen auftretenden Symptomen, die nicht direkt vom Tumor selbst, sondern indirekt über vom Tumor freigesetzte Signalstoffe wie Hormone, Hormonanaloga, Zytokine, Autoantikörper, gerinnungsaktive Proteine, Paraproteine oder auch über andere, z. T. noch nicht näher bekannte Mechanismen vermittelt werden. Die hohe klinische Relevanz der paraneoplastischen Syndrome, deren Inzidenz mit 7–15% angegeben wird, unter der Einbeziehung von Allgemeinsymptomen wohl aber deutlich höher liegen dürfte, liegt vor allem darin, dass die Kenntnis ihrer vielgestaltigen Manifestationen bei der Primärdiagnostik hilfreich sein kann, und so bei potenziell kurativen Tumorerkrankungen sogar zu einer Prognoseverbesserung beitragen kann. Dabei ist wichtig anzumerken, dass diese Syndrome der Diagnose einer Tumorerkrankung lange Zeit, u. U. oft Monate bis Jahre, vorausgehen können. Darüber hinaus kann die Primärdiagnostik bei der Präsenz pathognomonischer Veränderungen zielgerichteter und damit
effizienter gestaltet werden, wobei einschränkend erwähnt werden muss, dass es nur in relativ seltenen Fällen eine strenge Assoziation, wie beispielsweise Gynäkomastie – β-HCG-positiver Hodentumor, gibt. Im Gegensatz hierzu kann die Fehldeutung eines paraneoplastischen Syndroms, wie beispielsweise die Bewusstseinsstörung im Rahmen der Tumorhyperkalzämie, zu einer Fehleinschätzung der klinischen Situation und Prognose des betroffenen Tumorpatienten führen, sodass adäquate diagnostische und therapeutische Maßnahmen eventuell unterbleiben. Zur Definition des paraneoplastischen Syndroms gehört ferner eine im Verlauf deutliche Parallelität von Progression oder auch Remission der Tumorerkrankung einerseits mit der Zunahme bzw. Rückbildung des paraneoplastischen Syndroms andererseits, wobei Remissionen paraneoplastischer Manifestationen im Bereich des neuromuskulären Systems hier sicherlich eine Ausnahme bilden. Wichtigstes therapeutisches Prinzip ist die möglichst rasche, effektive Therapie der zugrunde liegenden Tumorerkrankung (kausale Therapie).
Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
38 Infektionen bei malignen Erkrankungen G. Maschmeyer
38.1
Grundlagen
– 769
38.2
Ansätze zur Verminderung der infektionsbedingten Morbidität neutropenischer Patienten – 770
38.3
Klinische Diagnostik vor Therapiebeginn
38.4
Antimikrobielle Therapie – 772
38.5
Infektionen bei Patienten nach Splenektomie und bei funktioneller Asplenie – 780
38.6
Dosisrichtlinien Literatur – 781
– 781
– 771
769 38.1 · Grundlagen
38.1
Grundlagen
Infektionen sind die häufigsten Komplikationen bei Patienten mit malignen Erkrankungen. Sie stellen insbesondere bei Patienten mit akuten Leukämien die Haupttodesursache dar. Der Grund für diese ausgeprägte Infektionsanfälligkeit liegt darin, dass einerseits die klassischen Säulen der Immunabwehr, nämlich Granulozyten und andere Elemente der zellulären und der humoralen Immunität, durch die Erkrankung selbst und die Chemo- und Strahlentherapie in vielfältiger Weise geschädigt werden und andererseits natürliche Abwehrbarrieren wie Haut und Schleimhäute, Peristaltik, mukoziliare Aktivität oder intakte körpereigene mikrobielle Flora iatrogen beeinträchtigt werden.
Faktoren, die die Entstehung infektiöser Komplikationen begünstigen 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
38
Granulozytopenie (Neutropenie) Granulozytenfunktionsstörung T-Zell-Suppression Immunglobulinmangel Splenektomie oder funktionelle Asplenie Hautläsionen (Venenkatheter und Wunden) Schleimhautverletzungen (Mucositis) Blutungen/Hämatome Organfunktionsstörungen (Stenosen, Störungen der Peristaltik, Harnverhalt u. a.) Zerstörung der körpereigenen mikrobiellen Homöostase, z. B. durch Antibiotika Mangelernährung Eisenüberladung Gewebsazidose Immobilisierung Endogene (z. B. Zahnwurzelgranulome) und exogene Infektionsherde (z. B. mikrobiell kontaminierte Nahrung, Aspergillussporen)
Ausmaß und Dauer der Granulozytopenie infolge einer Chemotherapie sind eng korreliert mit dem Risiko des Auftretens infektiöser Komplikationen sowie des letalen Verlaufes dieser Infektionen (Bodey et al 1966). Es ist jedoch am Beispiel von Patienten mit lang dauernder Granulozytopenie ohne wesentliche Beeinträchtigung anderer Elemente der Infektionsabwehr, etwa Patienten mit aplastischer Anämie oder myelodysplastischem Syndrom, erkennbar, dass die Neutropenie nicht allein für die hohe Inzidenz schwerer Infektionen bei Patienten mit malignen Erkrankungen verantwortlich gemacht werden kann. Zugleich weisen Patientengruppen mit unterschiedlichen prädominanten Beeinträchtigungen ihrer Immunabwehr auch durchaus Überschneidungen im Spektrum der jeweils assoziierten typischen Infektionserreger auf.
Typische Infektionserreger bei verschiedenen prädisponierenden Faktoren 4 Granulozytopenie (Neutropenie): – Gramnegative Aerobier (Enterobacteriaceen und Glukose-Nonfermenter wie Pseudomonas aeruginosa und Stenotrophomonas maltophilia) 6
4
4
4
4
4
– Staphylococcus aureus – Koagulasenegative Staphylokokken (z. B. Staphylococcus epidermidis) – Alpha-hämolysierende Streptokokken (z. B. Streptococcus mitis) – Pilze, vor allem Aspergillus- und Candida-Spezies T-Zell-Defekt: – Viren (Zytomegalie, Herpes simplex, Varicella zoster) – Pilze (s. oben, sowie Kryptokokken, Pneumocystis jiroveci) – Mykobakterien, vor allem M. tuberculosis – Parasiten (z. B. Toxoplasma gondii) – Bakterien (s. oben), zudem Listeria monocytogenes und Nocardien Antikörpermangel: – Bakterien (s. oben), z. B. Pneumokokken, Haemophilus influenzae – Viren (s. oben) – Seltener: Pilze Mucositis: – Alpha-hämolysierende Streptokokken (s. oben) – Enterokokken – Capnocytophaga spp. – Stomatococcus mucilaginosus – Candida-Spezies – Herpes simplex Hautläsion/Venenkatheterinfektion: – Koagulasenegative Staphylokokken – Staphylococcus aureus – Pseudomonas aeruginosa – Stenotrophomonas maltophilia Splenektomie/funktionelle Asplenie: – Streptococcus pneumoniae – Haemophilus influenzae – Neisseria meningitidis
Für die klinische Betreuung immunsupprimierter Patienten ist es wichtig, sowohl die für die jeweilige Art der Immunsuppression charakteristischen Infektionserreger als auch das breite Spektrum der darüber hinaus in Frage kommenden Mikroorganismen im Auge zu haben. Ein Beispiel hierfür sind Lungeninfiltrate bei Patienten nach allogener Knochenmark- oder Blutstammzelltransplantation. Obwohl hier Zytomegalieviren und opportunistische Pilze (insbesondere Aspergillus-Spezies) als charakteristische Erreger bekannt sind (Einsele et al. 2003), darf die Diagnostik und antimikrobielle Therapie keinesfalls auf diese Infektionen beschränkt werden. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich die Epidemiologie der Infektionen bei Patienten mit schwerer Granulozytopenie verändert (DePauw u. Meunier 2000). Während in den 1970er Jahren gramnegative Aerobier (Enterobacteriaceen und Pseudomonas aeruginosa) die häufigsten und bedrohlichsten Infektionserreger bei diesen Patienten waren (Valdivieso 1976), stehen heute grampositive Erreger im Vordergrund (Maschmeyer 2000; Wisplinghoff et al. 2003; . Tab. 38.1). Schlüsselt man die nachgewiesenen Infektionserreger aus umfangreichen klinischen Studien genauer auf, so wird deutlich, dass insbesondere koagulasenegative Staphylokokken wie Staphylococcus epidermidis, d. h. Keime der normalen Bakterien-
770
Kapitel 38 · Infektionen bei malignen Erkrankungen
. Tab. 38.1. Blutkulturisolate bei febrilen neutropenischen Patienten. Anzahl der Patienten, pro Jahr [%] 1995
1996
1997
1998
1999
2000
Pathogen
(n=390)
(n=556)
(n=508)
(n=451)
(n=336)
(n=411)
Grampositive Organismen
241 (61,8)
339 (61,0)
267 (52,6)
251 (55,7)
201 (59,8)
312 (75,9)
Gramnegative Organismen
84 (21,5)
154 (27,7)
145 (28,5)
164 (36,4)
100 (29,8)
59 (14,4)
Anaerobe Organismen
7 (1,8)
13 (2,3)
48 (9,4)
10 (2,2)
8 (2,4)
6 (1,5)
Pilze
58 (14,9)
50 (9,0)
48 (9,4)
26 (5,8)
27 (8,0)
34 (8,3)
flora der Haut, sowie alpha-hämolysierende Streptokokken wie Streptococcus mitis, also Keime der normalen Bakterienflora des Oropharynx, stark zugenommen haben. Die Ursachen hierfür liegen a) in der weit verbreiteten Verwendung perkutaner Venenverweilkatheter, b) in einer ausgeprägten Schädigung der Schleimhäute mit Stomatitis und Mucositis infolge der Verabreichung aggressiver Chemotherapieregime, c) in dem häufigen Einsatz oraler, gegen gramnegative Aerobier gerichteter Antibiotika zur Infektionsprophylaxe (»selektive Dekontamination«) d) im frühzeitigen Einsatz hochwirksamer, gegen gramnegative Aerobier gerichtete Breitspektrumantibiotika in der empirischen Initialtherapie febriler Komplikationen bei neutropenischen Patienten und e) in der breiten Anwendung von Protonenpumpeninhibitoren zur Magenulkusprophylaxe (Cordonnier et al. 2003)
38
Obwohl grampositive Erreger in den vergangenen zwei Jahrzehnten die häufigste Ursache bakterieller Infektionen bei neutropenischen Patienten geworden sind, ist hieraus nicht der Schluss zu ziehen, dass Antibiotika mit möglichst breiter Wirksamkeit gegen grampositive Bakterien Mittel der ersten Wahl bei der Behandlung febriler neutropenischer Patienten seien. BetaLactam-Antibiotika, die heute als geeignet für die empirische Initialtherapie febriler neutropenischer Patienten anerkannt sind (pseudomonaswirksame Penicilline, Cephalosporine oder Carbapeneme, s. unten) weisen in der Regel durchaus eine gute Wirksamkeit gegen Streptokokken und Staphylococcus aureus auf. Zudem ist zu bedenken: 4 Trotz der zahlenmäßigen Dominanz grampositiver Kokken bei mikrobiologisch gesicherten Infektionen führen gramnegative Erreger wie Pseudomonas aeruginosa weiterhin die Liste der letalen bakteriellen Infektionen bei neutropenischen Patienten an (Rolston u. Tarrand 1999; Maschmeyer u. Braveny 2000) 4 In prospektiven klinischen Studien, die die Effektivität unterschiedlicher antimikrobieller Therapiestrategien in der empirischen Therapie febriler Komplikationen bei granulozytopenischen Patienten geprüft haben, konnte für Kombinationen unter Einschluss von Glykopeptid-Antibiotika (Vancomycin oder Teicoplanin) kein Vorteil gegenüber Standardregimen (pseudomonaswirksames Beta-Lactam-Antibiotikum mit oder ohne Zusatz eines Aminoglykosids) nach-
gewiesen werden (Erjavec et al. 2000; Cometta et al. 2003; EORTC 1991) Die wichtigste Herausforderung im Hinblick auf die Epidemiologie infektiöser Komplikationen bei Patienten mit lang dauernder Neutropenie und nach allogener Knochenmark- bzw Blutstammzelltransplantation ist die deutliche Zunahme invasiver Mykosen. Während bis zum Beginn der 1960er Jahre nur eine kleine Zahl letaler Pilzinfektionen in der Literatur beschrieben wurde (Baker 1962), stehen insbesondere Aspergillusinfektionen heute an der Spitze der Todesursachen dieser Patienten (Bodey et al. 1992; Donhuijsen et al. 1991; Groll et al. 1996; Wald et al. 1997). Für diese Entwicklung sind vor allem drei Faktoren von Bedeutung: 4 Die Intensivierung antineoplastischer Therapie führt durch ausgeprägte Schleimhauttoxizität und prolongierte Immunsuppression zu einer höheren Anfälligkeit für Pilzinfektionen. 4 Bakterielle Infektionen können durch systematischen Einsatz hocheffektiver Antibiotika heute in den meisten Fällen erfolgreich überwunden werden. 4 Vor allem durch unzureichend abgeschirmte Baumaßnahmen treten phasenweise stark gehäufte Aspergillusinfektionen auf. Der gestiegenen Bedeutung invasiver Pilzinfektionen wird durch den frühzeitigen Einsatz einer breit wirksamen antimykotischen Therapie bei febrilen neutropenischen Patienten, insbesondere wenn diese nicht auf eine antibakterielle Therapie ansprechen und/oder pulmonale Infiltrate entwickeln, Rechnung getragen (s. unten).
38.2
Ansätze zur Verminderung der infektionsbedingten Morbidität neutropenischer Patienten
Auch wenn durch Breitspektrumantibiotika heute die Mehrzahl bakterieller Infektionen bei immunsupprimierten Patienten beherrscht werden kann, basiert das Infektionsmanagement bei diesen Patienten keineswegs nur auf dem Einsatz dieser Medikamente. Vielmehr sind sowohl die Grundsätze der Krankenhaushygiene als auch gezielte prophylaktische Maßnahmen, die tägliche sorgfältige Überwachung der Risikopatienten und eine konsequente und stets verfügbare klinische, bildgebende und mikrobiologische Infektionsdiagnostik für ihre Betreuung unverzichtbar.
771 38.3 · Klinische Diagnostik vor Therapiebeginn
Elemente des Infektionsmanagements bei immunsupprimierten Patienten 4 Klinikhygiene, z. B. – Adäquate Patientenunterbringung – Vermeidung unkontrollierter Bauarbeiten – Keimarme Ernährung – Sorgfältige Händedesinfektion – Professionelle Pflege, insbesondere von Haut- und Schleimhautdefekten – Umkehrisolation mit hocheffektiver Luftfilterung 4 Antimikrobielle Prophylaxe 4 Verkürzung der Neutropeniedauer 4 Prophylaktische Vakzinierung, z. B. gegen Pneumokokken 4 Frühdiagnostik infektiöser Komplikationen 4 Prompte empirische antimikrobielle Therapie bei Fieber – Primäre Modifikation bei Lungeninfiltraten, ZVK-/Hautinfektionen und abdominellen/perianalen Infektionen – Systematische Eskalation bei Nichtansprechen
Eine orale antimikrobielle Prophylaxe, etwa mit Fluorochinolonen oder hochdosiertem Trimethroprim-Sulfamethoxazol (Cotrimoxazol) in Kombination mit Colistin/Polymyxin B, hat bei Patienten mit akuten Leukämien, die nach intensiver Chemotherapie eine lang anhaltende Neutropeniephase durchlaufen, eine Verminderung von Infektionen mit Nachweis gramnegativer Aerobier und eine Reduktion febriler Episoden zur Folge (Bucaneve et al. 2005; Cruciani et al 1996; Engels et al. 1998; Gafter-Gvili et al. 2005). Durch konsequente Einnahme dieser Antibiotika gelingt es bis zu 30% dieser Patienten, die Neutropeniephase nach intensiver Chemotherapie bei akuter Leukämie ohne Fieber und Notwendigkeit einer antimikrobiellen Interventionstherapie zu überstehen (Donnelly et al. 1992). Angesichts der teilweise deutlichen Belastung durch die Nebenwirkungen einer solchen oralen Langzeit-Antibiotikagabe, der Ausbreitung einer Resistenz gegen diese Substanzen unter den gramnegativen Zielkeimen und dem damit einhergehenden Verlust der Möglichkeit, Fluorochinolone intravenös für die empirische antimikrobielle Therapie zu verwenden, ist deshalb die Indikation zur Gabe solcher prophylaktischer Antibiotika kritisch zu diskutieren. In der entsprechenden Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft Infektionen der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (http://www.dgho-infektionen.de) wird eine antibakterielle Prophylaxe generell nur für Hochrisikopatienten, beispielsweise solche mit akuten Leukämien, in Betracht gezogen. – Unabhängig davon ist allerdings bei Patienten mit lang anhaltender Immunsuppression, beispielsweise Patienten mit akuter lymphatischer Leukämie unter Chemotherapie sowie Patienten nach Behandlung mit Nukleosidanaloga oder Alemtuzumab eine intermittierende Prophylaxe mit Cotrimoxazol zur Vermeidung einer Pneumocystis-jiroveci-Infektion anzuraten. Eine effektive Prophylaxe gegen invasive Pilzinfektionen ist bei Patienten nach allogener Knochenmark-bzw. Blutstammzelltransplantation erzielt worden. Hier konnten durch tägliche Gabe von 400 mg Fluconazol sowohl die Inzidenz gesicherter Pilzinfektionen als auch die Gesamtmortalität verbessert werden (Goodman et al. 1992). Bei Patienten mit akuten Leukämien lässt sich durch Fluconazol-Prophylaxe die Inzidenz von Pilzinfektionen reduzieren (Rotstein et al. 1999), aber ein signifi-
38
kanter Einfluss auf die Überlebensrate ist dadurch nicht zu erzielen (Winston et al. 1993). Itraconazol ist effektiver gegen Aspergillusinfektionen als Fluconazol, aber auch deutlich schlechter tolerabel (Marr et al. 2000; Winston et al. 2003; Glasmacher et al. 2003), die klinische Wirksamkeit scheint abhängig zu sein von einer ausreichend hohen Dosierung, die einen Talspiegel von >500 ng/ml sicherstellen sollte (Glasmacher et al. 2003). Als besonders effektiv scheint sich eine antimykotische Prophylaxe mit Posaconazol zu erweisen. Hier konnte sowohl bei Patienten mit akuten Leukämien (Cornely et al 2007) als auch bei allogen Transplantierten mit Transplantatgegen-Wirt-Reaktion (Ullmann et al. 2007) eine signifikante Reduktion von Hefe- und Fadenpilzinfektionen erzielt werden. Es herrscht Konsens darüber, dass eine wirksame Vermeidung von Schimmelpilzinfektionen, insbesondere invasiver pulmonaler Aspergillosen, durch konsequente Patientenisolation mit hocheffektiver Luftfilterung erreichbar ist (Sherertz et al. 1987; Oren et al. 2001; Passweg et al. 1998). Allerdings liegen hierzu keine randomisierten klinischen Studien vor. Zudem ist zu betonen, dass der Effekt der Isolation und Luftfiltration nur so lange anhält, wie sie strikt eingehalten wird. Dies bedeutet jedoch eine sehr weitgehende Einschränkung der Bewegungsfreiheit, der Kontakte mit Besuchern sowie der Möglichkeit, medizinische Diagnostik wie Computertomografien, Echokardiografien etc. außerhalb des Patientenzimmers vorzunehmen. Für Patienten nach allogener Knochenmark- bzw. Blutstammzelltransplantation ist zudem nachgewiesen worden, dass ein großer Teil der Schimmelpilzinfektionen erst jenseits der akuten Posttransplantationsperiode auftritt (Wald et al. 1997; Marr et al. 2004), womit auch die Option einer Isolation und Luftfiltration entfällt. Ein weiterer kritischer Aspekt der antimykotischen Prophylaxe durch langfristige Gabe von Azolen sind die breiten pharmakologischen Interaktionen mit anderen Medikamenten über das Zytochrom-P450-Isoenzymsystem und die Selektion azolresistenter Candida-Spezies (Marr et al. 2000), die konsekutiv zu bedrohlichen invasiven Mykosen führen können (Viscoli et al. 1999).
38.3
Klinische Diagnostik vor Therapiebeginn
Bei Patienten, die in der Neutropenie Fieber entwickeln, ist eine sorgfältige klinische Diagnostik erforderlich. Die folgende Übersicht zeigt eine Liste von Maßnahmen, die vor Einleitung einer antimikrobiellen Therapie als Standardprogramm empfohlen werden (Link et al 2003).
Prätherapeutische Diagnostik bei febrilen neutropenischen Patienten 4 Klinische Untersuchung – Haut- und Schleimhautveränderungen – Eintrittstellen zentraler oder peripherer Venenzugänge, Punktionsstellen – Obere und tiefe Atemwege – Urogenitalsystem – Abdomen und Perianalregion – Blutdruck, Puls- und Atemfrequenz 4 Röntgenaufnahme der Thoraxorgane in zwei Ebenen 6
772
Kapitel 38 · Infektionen bei malignen Erkrankungen
38.4 4 Mikrobiologische Initialdiagnostik – ≥1 Paar (aerob/anaerob) Blutkulturen aus periphervenösem Blut, bei liegendem Venenkatheter, ein weiteres Paar aus dem Katheter 4 Weitere mikrobiologische Diagnostik (nur bei entsprechender Infektionssymptomatik) – Urinkultur; Stuhlkultur einschließlich Nachweis von Clostridium-difficile-Enterotoxin bei Verdacht auf Enteritis oder Colitis; Wundabstrich (Nasopharynx, Analregion); Liquorkultur (Bakterien, Pilze); Punktionsmaterial 4 Klinisch-chemische Diagnostik – Leukozyten, Differenzialblutbild, Hämoglobin, Thrombozyten, SGOT, SGPT, LDH, alkalische Phosphatase, Gamma-GT, Bilirubin, Harnsäure, Kreatinin, Natrium, Kalium, Quick, aPTT, C-reaktives Protein; bei Hinweis auf Sepsis: Lactat, je nach Verfügbarkeit: Interleukin-6
Die eingehende körperliche Untersuchung ist unverzichtbar, weil sie wertvolle Hinweise auf einen möglichen Infektionsfokus geben kann. Dies erlaubt ggf. eine gezielte Modifikation der initialen antimikrobiellen Therapie, da einige klinische Befunde charakteristischerweise mit einem bestimmten Spektrum von Infektionserregern assoziiert sind (. Tab. 38.2). Die prätherapeutische Diagnostik sollte zeitlich so stringent organisiert werden, dass die Einleitung einer empirischen antimikrobiellen Therapie keinesfalls später als 2 Stunden nach Fieberbeginn erfolgt. . Tab. 38.2. Infektionserreger bei charakteristischen klinischen Befunden
38
Klinische Befunde
Typische Erreger
Rötung/Schmerz am Venenkatheter
Koagulasenegative Staphylokokken
Schleimhautulzera
Alpha-hämolysierende Streptokokken, Candida spp., Herpes-simplex-Viren
Flohstichartige Hautrötungen
Grampositive Kokken, Candida spp.
Nekrotisierende Hautläsionen
Pseudomonas aeruginosa, Aspergillus spp.
Retinainfiltrate
Candida spp.
Diarrhoe, Meteorismus
Clostridium difficile, Norwalk-Viren
Enterocolitis, perianale Läsionen
Polymikrobiell (inkl. Anaerobier und Pseudomonas aeruginosa)
Zentral betonte Lungeninfiltrate
Pneumocystis jiroveci
Lungeninfiltrate ± Sinusitis
Aspergillus spp., Zygomyzeten
Lungeninfiltrate + Retinablutung
Zytomegalovirus
Antimikrobielle Therapie
38.4.1 Ergebnisse klinischer Studien
Prospektiv-randomisierte klinische Studien zum Stellenwert bestimmter Therapieprinzipien und zur Effektivität und Verträglichkeit antimikrobieller Substanzen bilden die Grundlage für Empfehlungen und Leitlinien zur Behandlung infektiöser Komplikationen bei Patienten mit malignen Erkrankungen (Hughes et al. 2002). Dabei zeigen antimikrobielle Substanzen in unterschiedlichen Studien teilweise stark divergierende Ergebnisse. Die Ursache hierfür kann in der unterschiedlichen Infektionsepidemiologie und Unterschieden in der lokalen Resistenzlage relevanter Infektionserreger liegen, wie dies beispielsweise für Pseudomonas-aeruginosa-Infektionen gilt (Maschmeyer u. Braveny 2000). Oft liegt die Ursache für die Diskrepanz der Studienergebnisse jedoch in methodischen Differenzen. So ist beispielsweise von großer Bedeutung, ob eine antimikrobielle Therapie rein empirisch, also ohne Keimnachweis und ohne klinisch eruierbaren Infektionsherd, oder gezielt bei mikrobiologisch und/oder klinisch gesicherter Infektion eingesetzt wird. Daneben hat sich als drittes Prinzip die präemptive Therapie etabliert. Damit wird der Einsatz bestimmter antimikrobieller Substanzen aufgrund klinischer Befunde, die ein entsprechendes Erregerspektrum erwarten lassen, bezeichnet. Ein Beispiel dafür ist der Einsatz Aspergillus-wirksamer Antimykotika bei Patienten mit lang dauernder Neutropenie und Lungeninfiltraten (Maschmeyer et al. 2003, 1994). Ein weiterer relevanter Unterschied betrifft die Auswahl von Patienten, die in die jeweiligen Studien einbezogen wurden. So haben Patienten mit einer mehr als 10 Tagen anhaltenden schweren Neutropenie sowie Patienten nach allogener Knochenmark- oder Blutstammzelltransplantation ein deutlich höheres Risiko, eine komplikationsreiche Infektion zu entwickeln und nicht auf eine initiale empirische Antibiotikatherapie anzusprechen als Patienten mit einer Neutropeniedauer von weniger als 6 Tagen (Freifeld et al. 1999; Kern et al. 2000). Man spricht deshalb von Hochrisikopatienten und Niedrigrisikopatienten. Patienten mit einer Neutropeniedauer von 6–9 Tagen kann man als Patienten mit einem intermediären oder Standardrisiko bezeichnen (Link et al. 2003). Schließlich ist ein wichtiger Punkt in der Methodik klinischer Studien die Definition der Erfolgskriterien sowie der Zeitpunkte zur Beurteilung des Therapieergebnisses. Von entscheidender Bedeutung ist die Darstellung des Ansprechens auf eine Therapie ohne Supplementierung oder Modifikation derselben sowie unter Einbeziehung aller für diese Therapie rekrutierten Studienpatienten (»intent to treat«). Das endgültige Ergebnis einer antimikrobiellen Behandlung einschließlich aller Supplementierungen und Modifikationen ist wichtig zur Bewertung eines Therapiekonzeptes, sollte aber nicht zur Darstellung der Effektivität einer Substanz herangezogen werden, die lediglich zu Anfang einer solchen Behandlung eingesetzt worden ist. Auch die Frage, ob nur eine partielle oder komplette Beseitigung aller klinischer Zeichen der zu behandelnden Infektion als Erfolg gewertet wird, kann sich erheblich auf die Bewertung der Effektivität einer antimikrobiellen Substanz auswirken. Dies ist beispielsweise bedeutsam für die Behandlung pulmonaler Aspergillosen, die auch unter effektiver antimykotischer Therapie in der Regel über 1–2 Wochen in ihrer Ausdehnung auf Röntgen- und Computertomografieaufnahmen der Lungen zunehmen, ohne dass dies ein Versagen des entsprechenden Antimykotikums bedeuten muss (Caillot et al. 2001).
773 38.4 · Antimikrobielle Therapie
38.4.2 Subtypen infektiöser Komplikationen bei
neutropenischen Patienten Zu Beginn einer febrilen Komplikation bei neutropenischen Patienten lässt sich in ca. 50% aller Fälle kein klinischer oder mikrobiologischer Nachweis für eine Infektion erbringen (Fieber unklarer Genese). Eine positive Blutkultur ohne klinischen Infektionsherd (primäre Bakteriämie oder Fungämie) findet sich bei 14% der Patienten, während ein klinischer Fokus mit oder ohne Keimnachweis bei den übrigen Patienten erkennbar ist. Auf die antimikrobielle Therapie sprechen Patienten mit Fieber unklarer Genese zu 60–70% innerhalb von 4 Tagen an (Link et al. 1994). Bei Therapieversagern gelingt z. T. im weiteren Verlauf noch der Nachweis eines Infektionsherdes oder eines relevanten Infektionserregers, sodass die antimikrobielle Behandlung gezielt modifiziert werden kann.
38
klassischen intravenösen Antibiotikatherapie behandelt werden können (Freifeld et al. 1999; Kern et al. 1999; Rubenstein et al. 1993). Problematisch ist allerdings die sichere Einordnung dieser Patienten in die Niedrigrisikogruppe zum Zeitpunkt der Entscheidung über die antimikrobielle Therapie. Kommt es wider Erwarten doch zu einer längeren Neutropeniephase, sinkt die Erfolgsrate einer oralen antibiotischen Therapie stark ab (Kern et al. 1999). Auch muss berücksichtigt werden, dass vor allem bei Kindern eine orale Antibiotikagabe mit einer Unverträglichkeitsrate von ca. 20% verbunden sein kann (Freifeld et al. 1999). Auch andere infektionsassoziierte Umstände wie Dehydratation oder Kreislaufinstabilität, Nierenfunktionseinschränkung oder Erbrechen müssen bei dieser Entscheidung in Rechnung gestellt werden. Hinzu kommen schließlich noch die psychosozialen Bedingungen. Die folgende Übersicht enthält eine Auflistung von Kriterien, die die Einordnung febriler neutropenischer Patienten in eine Niedrigrisikogruppe und eine primär orale, ambulante antimikrobielle Therapie erlauben.
38.4.3 Prinzip der empirischen
antimikrobiellen Therapie Von entscheidender Bedeutung für die Prognose infektiöser Komplikationen bei febrilen neutropenischen Patienten ist die konsequente Einleitung einer empirischen antimikrobiellen Therapie ohne Abwarten mikrobiologischer Untersuchungsergebnisse. Die Kriterien zur Einleitung einer solchen Therapie sind in der folgenden Übersicht zusammengefasst.
Indikationen zur Einleitung einer empirischen antimikrobiellen Therapie 4 Granulozytenzahl <500/μl oder <1.000/μl mit erwartetem Abfall auf 500/μl 4 Einmalige orale Temperatur >38,3°C oder 38,0°C × 2 innerhalb 12 h oder 38,0°C über 1 h 4 Keine offensichtlich nichtinfektiöse Ursache, z. B. Reaktion auf Blutprodukte oder Medikamente ⇒ Therapieeinleitung innerhalb max. 2 h!
38.4.4 Differenzierung febriler neutropenischer
Patienten in Risikogruppen Bevor über die Auswahl der antimikrobiellen Substanz(en) und über die Notwendigkeit der stationären Behandlung (bei Patienten, die vor Eintritt des Fiebers ambulant behandelt wurden) entschieden wird, ist zu empfehlen, die Patienten hinsichtlich ihres Risikos für eine kompliziert verlaufende oder gar letale Infektion zu differenzieren. Patienten, die zur Behandlung eines soliden Tumors eine milde Chemotherapie mit kurz dauernder therapiebedingter Neutropenie durchlaufen, haben nur ein minimales Risiko, eine fulminante, lebensbedrohliche Infektion zu erleiden. Daneben können weitere patientenspezifische Faktoren zur Einordnung eines Infektionsrisikos herangezogen werden, woraus die multinationale Assoziation für Supportivtherapie bei Tumorpatienten (MASCC) einen mittlerweile validierten Risikoscore entwickelt hat (Klastersky et al. 2000; Talcott et al. 1992; Cherif et al. 2006). In prospektiv-randomisierten klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass Patienten mit einem niedrigen Risiko für einen fulminanten Infektionsverlauf ebenso gut mit einer oralen wie mit einer
Kriterien für die Einordnung in die Niedrigrisikogruppe 4 Bedrohlicher Infektionsverlauf nicht zu befürchten – Erwartete Neutropeniedauer maximal 5 Tage – Keine Hinweise auf ZNS-Infektion, schwere Pneumonie, Venenkatheterinfektion – Allgemeinzustand nicht schwer beeinträchtigt (Karnofsky-Index >60%) – Keine Zeichen von Sepsis oder Schock – Keine ausgeprägten abdominellen Beschwerden (± Diarrhoen) – Keine Dehydratation – Keine Notwendigkeit der ständigen oder engmaschigen Überwachung (z. B. entgleister Diabetes mellitus, Hyperkalzämie) oder intravenösen Supportivtherapie 4 Orale Antibiotika möglich – Kein rezidivierendes Erbrechen – Keine Chinolonprophylaxe oder -therapie innerhalb der letzten 4 Tage – Compliance mit oraler Medikation zu erwarten 4 Ambulante Behandlung möglich – Medizinische Betreuung sichergestellt: – Patient lebt nicht allein – Patient/Mitbewohner haben Telefon – Patient kann innerhalb 1 h eine Klinik erreichen, die Erfahrung in der Behandlung neutropenischer Patienten hat – Patient bewusstseinsklar, kennt und versteht die Risiken
Empirische Initialtherapie bei Niedrigrisikopatienten (Neutropeniedauer bis zu 5 Tage) mit Fieber unklarer Genese Patienten der Niedrigrisikogruppe können mit einer Kombination aus Ciprofloxacin (oder Levofloxacin) und AmoxicillinClavulansäure (Kern et al. 2000 ; Freifeld et al. 1999; Cherif et al. 2006) behandelt werden. Bei Patienten mit einer gesicherten Allergie gegen Aminopenicilline kann Amoxicillin-Clavulansäure durch Clindamycin (Rubenstein et al. 1993) ersetzt werden.
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Kapitel 38 · Infektionen bei malignen Erkrankungen
38
. Abb. 38.1. Algorithmus zur antimikrobiellen Therapie febriler neutropenischer Niedrigrisikopatienten mit einer zu erwartenden Neutropeniedauer von bis zu 5 Tagen
. Abb. 38.1 zeigt einen grafischen Algorithmus zur Behandlung
neutropenischer Niedrigrisikopatienten mit Fieber unklarer Genese. Empirische Initialtherapie bei Hochrisikopatienten (Neutropeniedauer mindestens 10 Tage) mit Fieber unklarer Genese Die Erforschung der Effektivität und Verträglichkeit verschiedener Breitspektrumantibiotika für die empirische Initialtherapie febriler neutropenischer Patienten war seit den 1970er Jahren Gegenstand umfangreicher prospektiv randomisierter klinischer Studien. Die darauf basierenden Empfehlungen von Fachgruppen zählen deshalb zu den am besten abgesicherten Leitlinien der klinischen Medizin (Hughes et al. 2002; Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft Infektionen: http:// www.dgho-infektionene.de). Die folgende Übersicht gibt die Grundprinzipien der Therapieempfehlungen bei febrilen neutropenischen Hochrisikopatienten wieder.
Prinzipien der antimikrobiellen Therapie bei febrilen neutropenischen Hochrisikopatienten 4 Fieber unklarer Genese (FUO) – Pseudomonaswirksames Betalactam-Antibiotikum ± Aminoglykosid (Auswahl des Aminoglykosides nach lokaler Resistenzlage von Staphylococcus aureus und Pseudomonas aeruginosa) – Monotheapie mit Cefepim, Piperacillin-Tazobactam, Imipenem oder Meropenem 4 Bei gesicherter Allergie gegen alle Klassen von Betalactam-Antibiotika – Fluorochinolon i. v. plus Glykopeptid (sofern nicht zuvor eine orale Infektionsprophylaxe mit einem Chinolon durchgeführt wurde) 6
Ciprofloxacin Levofloxacin Amoxicillin Clavulansäure Piperacillin Tazobactam Imipenem Meropenem Aminoglykosid
775 38.4 · Antimikrobielle Therapie
38
. Abb. 38.2. Algorithmus zur antimikrobiellen Therapie febriler neutropenischer Standardrisikopatienten mit einer zu erwartenden Neutropeniedauer von 7–10 Tagen L-AMB = Liposomales Amphotericin B Caspo = Caspofungin Itra = Itraconazol Vori = Voriconazol
(Bei Allergie gegen Aminopenicilline und Cephalosporine kann in der Regel noch Imipenem oder Meropenem ohne Probleme eingesetzt werden) 4 Haut- oder Venenkatheter-assoziierte Infektion – Zusatz eines Glykopeptid-Antibiotikums (Vancomycin oder Teicoplanin) 4 Lungeninfiltrate – Frühe Zugabe eines Aspergillus-wirksamen Antimykotikums (z. B. Voriconazol oder liposomales Amphotericin B) 4 Abdominelle oder perianale Infektion – Antibiotika gegen gramnegative Aerobier, Enterokokken und Anaerobier (z. B. Piperacillin-Tazobactam, Imipenem oder Meropenem, Kombination eines Betalactam-Antibiotikums mit Metronidazol)
Imipenem Meropenem Glykopeptid
Bei Fieber unklarer Genese (»fever of unknown origin«; FUO) wird die empirische Initialtherapie bei 60–65% der Patienten bereits zu einer anhaltenden Entfieberung führen (Link et al. 1994). Ein signifikanter Unterschied zwischen den in der Übersicht angeführten Substanzen war in randomisierten klinischen Studien nicht nachzuweisen. Allerdings muss diese Auswahl jeweils vor Ort anhand der lokalen Epidemiologie und Resistenzsituation gezielt erfolgen. Dabei sollten folgende Kriterien sorgfältig geprüft werden: 4 Welche Erreger werden am häufigsten bei mikrobiologisch gesicherten Infektionen nachgewiesen? 4 Welche davon sind mit besonders hoher Morbidität und Mortalität assoziiert? 4 Wie ist das lokale Resistenzspektrum? . Abb. 38.2 und . Abb. 38.3 zeigen die von der Arbeitsgemein-
schaft Infektionen der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie und der Arbeitsgemeinschaft Supportivtherapie
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Kapitel 38 · Infektionen bei malignen Erkrankungen
. Abb. 38.3. Algorithmus zur antimikrobiellen Therapie febriler neutropenischer Hochrisikopatienten mit einer zu erwartenden Neutropeniedauer von über 10 Tagen L-AMB = Liposomales Amphotericin B Caspo = Caspofungin Itra = Itraconazol Vori = Voriconazol
38 der Deutschen Krebsgesellschaft erarbeiteten Algorithmen zur antimikrobiellen Therapie neutropenischer Standardrisiko- und Hochrisikopatienten (Neutropeniedauer 6–9 Tage bzw. mindestens 10 Tage) mit Fieber unklarer Genese. Ergibt die bildgebende Diagnostik der Thoraxorgane den Nachweis von Lungeninfiltraten, sollte die antimikrobielle Therapie entsprechend den im Folgenden beschrieben Empfehlungen modifiziert werden. 38.4.5 Therapiemodifikation bei klinisch gesicherten
Infektionen ohne Keimnachweis Bei bestimmten klinisch gesicherten Infektionen ist es aufgrund des typischen Erregerspektrums ratsam, die zur empirischen Initialtherapie üblicherweise verabreichte(n) antimikrobielle(n) Substanz(en) auf ihre Effektivität gegen dieses Erregerspektrum zu hinterfragen und die Behandlung eventuell zu modifizieren oder zu erweitern (»präemptive Therapie«). Bei Haut- und Venenkatheter-assoziierten Infektionen sind unter den verantwortlichen Erregern koagulasenegative Staphylokokken dominant. Da diese häufig primär resistent gegen die zur empirischen Initialtherapie von Fieber unklarer Genese (FUO) geeigneten Betalactam-Antibiotika sind, wird bei Patienten mit diesen Infektionen häufig empfohlen, ein Glykopeptid-
Antibiotikum (Vancomycin oder Teicoplanin) zuzusetzen. Es liegen jedoch keine Studien vor, die einen Einfluss dieser Modifikation auf die Überlebenswahrscheinlichkeit der Patienten gezeigt hätten. Angesichts der Kosten von Glykopeptid-Antibiotika, ihrem Nebenwirkungspotenzial und der Gefahr der Entwicklung einer Glykopeptidresistenz unter Enterokokken und Staphylokokken kann auch bei Haut- und Venenkatheter-assoziierten Infektionen zunächst der Effekt der Standardtherapie mit Betalactam-Antibiotika abgewartet und erst bei Therapieversagen bzw. dem Nachweis resistenter Erreger das Glykopeptid-Antibiotikum zugefügt werden (Fätkenheuer et al. 2001). Eine ausschließlich gegen grampositive Erreger gerichtete Therapie von Haut- oder Venenkatheter-assoziierten Infektionen ist nicht ratsam, da neben den typischen grampositiven Erregern auch gramnegative Enterobacteriaceen oder Glucose-Nonfermenter wie Pseudomonas aeruginosa oder Stenotrophomonas maltophilia beteiligt sein können. Bei der Entscheidung über die Entfernung eines infizierten Venenkatheters ist zu bedenken, dass Infektionen durch Staphylococcus aureus oder auch Candidaspezies, wenn der Katheter nicht unverzüglich entfernt wird, ein hohes Risiko der Sekundärkomplikation wie Osteomyelitis oder Endokarditis mit sich bringen. Die folgende Übersicht nennt die Indikationen zur primären oder sekundären Katheterentfernung.
777 38.4 · Antimikrobielle Therapie
38
38.4.6 Patienten nach Hochdosischemotherapie und
autologer Stammzelltransplantation
Indikationen zur Entfernung des Katheters bei Venenkatheter-assoziierter Infektion 4 Primäre Katheterentfernung – Bakteriämie durch Staphylococcus aureus – Bakteriämie durch Bacillus species – Candidämie durch infizierten Katheter – Tunnel- oder Tascheninfektion – Septische Thrombose/Embolie – Lokale Abszedierung 4 Sekundäre Katheterentfernung (nach primärer antimikrobieller Therapie unter Belassung des Katheters) – Persistierend positive Blutkulturen nach 3 Tagen adäquater antibiotischer Therapie – Wiederauftreten von Fieber unmittelbar nach Absetzen der antimikrobiellen Therapie
Patienten mit Lungeninfiltraten haben unter standardmäßiger Therapie mit Breitspektrumantibiotika nur zu knapp 30% einen Therapieerfolg zu erwarten (Maschmeyer et al. 1994; Raad et al. 1996). Die Ursache hierfür liegt in der hohen Zahl okkulter Schimmelpilzinfektionen (Commers et al. 1984). Deshalb hat es sich als effektiv erwiesen, neutropenische Hochrisikopatienten mit Lungeninfiltraten so früh wie möglich zusätzlich mit einem Aspergillus-wirksamen Antimykotikum zu behandeln (Maschmeyer et al. 2003). Dies gilt nicht für Patienten, bei denen die Blutkultur oder die Aufarbeitung einer bronchoalveolären Lavage einen plausiblen Keimnachweis, etwa Pneumocystis jiroveci oder Haemophilus influenzae, ergeben hat. Bei abdominellen und perianalen Infektionen ist grundsätzlich mit einem gemischten Keimspektrum zu rechnen. Dies ist auch dann der Fall, wenn die mikrobiologische Diagnostik eine vermeintlich monobakterielle Infektion ergibt. Art des Untersuchungsmaterials, Zeit bis zur Verarbeitung des Materials, eingesetzte Nachweismethode und nicht zuletzt die Fragestellung des Einsenders können das Ergebnis der mikrobiologischen Diagnostik entscheidend beeinflussen.
Patienten, die eine Hochdosischemotherapie mit anschließender Rückgabe autologer hämatopoetischer Blutstammzellen erhalten, durchlaufen in der Regel nur eine kurze Phase der Neutropenie. Die Granulozytenzahlen liegen meist nur ca. 8 Tage lang unter 500/μl (Bertz et al. 2003; Reich et al. 2001). Das Risiko einer schweren, durch antibiotische Standardtherapie nicht beherrschbaren Infektion ist bei diesen Patienten gering, und die therapieassoziierte Gesamtsterblichkeitsrate liegt heute unter 2%. Arbeiten zur Epidemiologie infektiöser Komplikationen nach autologer Stammzelltransplantation (Kolbe et al. 1997; Krüger et al. 1999; Metzner et al. 1999; Mossad et al. 1996; Reich et al. 2001; Salazar et al. 1999; Salutari et al. 1998; Weaver et al. 1997) zeigen, dass koagulasenegative Staphylokokken und alpha-hämolysierende Streptokokken, begünstigt durch die Schädigung der Hautund Schleimhautbarrieren (Venenkatheter, Mukositis), die häufigsten Infektionserreger bei diesen Patienten sind. Als klinisch dokumentierter Infektionsherd steht die Eintrittsstelle zentraler Venenverweilkatheter im Vordergrund. Die Mehrzahl der febrilen Episoden bleibt jedoch klinisch und mikrobiologisch ungeklärt (»fever of unknown origin«, FUO). Insgesamt liegt die Rate febriler Episoden mit antimikrobieller Behandlungsbedürftigkeit bei 60–65% aller Patienten nach Hochdosistherapie und autologer Stammzelltransplantation (. Tab. 38.3; nach Reich 2001). Es ist angesichts dieser epidemiologischen Daten nicht sinnvoll, antimikrobielle Therapiekonzepte, wie sie für Patienten nach allogener Knochenmark- oder Blutstammzelltransplantation entwickelt wurden (Einsele et al. 2003), auf Patienten nach autologer Stammzelltransplantation zu übertragen. Die Ergebnisse einer prospektiv randomisierten Studie zur antimikrobiellen Behandlung dieser Patientengruppe zeigen, dass eine initiale Monotherapie mit Piperacillin-Tazobactam (3-mal 4,5 g) oder mit Meropenem (3-mal 1 g) bei 50 bzw. 64% der Patienten zu einer dauerhaften Entfieberung führt. Nach Supplementierung bzw. Modifikation der Therapie bei nicht ansprechenden Patienten, zumeist mit einem Glykopeptid-Antibiotikum, liegt die An-
. Tab. 38.3. Charakteristik febriler Episoden nach Hochdosistherapie und autologer Stammzelltransplantation. n
Prozentwerte aller HDT-Zyklen (n = 178)
Prozentwerte aller febrilen Episoden (n = 112)
Febrile Episode
112
63
100
Fieber unklarer Genese (FUO)
63
35,4
56,3
Pneumonie
6
3,4
5,4
Bakteriämie Koagulasenegative Staphylokokken Streptokokken Staphylococcus aureus Gramnegative Aerobier
38 15 14 2 7
21,3 8,4 7,9 1,1 3,9
33,9 13,4 12,5 1,8 6,3
Hautinfektion
2
1,1
1,8
Invasive Pilzinfektion
3
1,7
2,7
Schwere Enterokolitis
1
0,6
0,9
Todesfälle
3
1,7
2,7
HDT Hochdosistherapie
778
Kapitel 38 · Infektionen bei malignen Erkrankungen
sprechrate bei 95%. Der empirische Einsatz systemischer Antimykotika ist bei dieser Patientengruppe nicht indiziert. Eine tödliche Infektion trat in dieser Studie nur bei einem Patienten, entsprechend <0.5% aller Patienten, auf (Reich et al. 2005). Eine antibakterielle Prophylaxe scheint bei diesen Patienten nicht sinnvoll zu sein, da ein Einfluss auf die Inzidenz von Fieber und Infektionen bislang nicht gezeigt werden konnte (Reich et al. 2001). 38.4.7 Therapie bei mikrobiologisch
(ESBL), auch zu Veränderungen der empirisch eingesetzten Primärtherapie führen und muss klinikhygienische Maßnahmen zur Vermeidung der Ausbreitung nach sich ziehen. Steht ein ätiologisch plausibler Keimnachweis zur Verfügung, wird die Auswahl der antimikrobiellen Therapie erleichtert. Allerdings ist es auch dann nicht sinnvoll, ausschließlich das Resistenzspektrum aus der In-vitro-Testung zur Therapieentscheidung heranzuziehen. Kriterien, die bei der Auswahl antimikrobieller Substanzen bei Keimnachweis mit oder ohne klinisch gesicherten Infektionsfokus Verwendung finden sollten, sind in der folgenden Übersicht aufgelistet.
gesicherten Infektionen Der Nachweis potenziell oder obligat pathogener Mikroorganismen durch gezielte mikrobiologische Diagnostik kann ausgesprochen hilfreich sein und sollte deshalb immer vor Einleitung einer antimikrobiellen Therapie angestrebt werden. Es ist jedoch unbedingt davor zu warnen, einen solchen Keimnachweis »blind« zur Grundlage einer Entscheidung über die Auswahl der Antibiotika oder Antimykotika zu machen. Vielmehr ist zu fordern, dass die ätiologische Plausibilität kritisch geprüft wird. Einige der typischen Fehler bei der Interpretation mikrobiologischer Keimnachweise sind in der folgenden Übersicht aufgeführt.
Typische Fehler bei der klinischen Interpretation mikrobiologischer Befunde
38
4 Bewertung kolonisierender Mikroorganismen wie alphahämolysierender Streptokokken und koagulasenegativer Staphylokokken aus Mundhöhle oder Oropharynx als Erreger pulmonaler Infiltrate; 4 Einordnung von Mikroorganismen aus Überwachungskulturen unter Antibiotikatherapie (z. B. Candida spp. oder Enterokokken unter Cephalosporin- oder Chinolontherapie) als ätiologisch relevante Infektionserreger; 4 Bewertung von Kontaminanden in Blutkulturen (vor allem singulärer Nachweis von Corynebakterien oder koagulasenegativen Staphylokokken) als Bakteriämieerreger, insbesondere bei Abnahme solcher Blutkulturen aus liegenden Venenkathetern; 4 Herstellung falscher Kausalzusammenhänge zwischen Keimnachweis und manifester Infektion (z. B. Nachweis koagulasenegativer Staphylokokken in der Blutkultur bei gleichzeitig bestehenden Lungeninfiltraten) 4 Interpretation einer typischerweise durch eine Mischflora verursachten Infektion (vor allem abdominell oder perianal) als monobakterielle Infektion aufgrund einer unzureichenden Diagnostik.
Keimnachweise aus Überwachungskulturen, etwa aus Stuhlproben, Hautabstrichen oder liegenden Drainagen, sollten nicht zur Entscheidung über die Initialtherapie bei Auftreten von Fieber oder anderen ersten Infektionssymptomen in der Neutropenie herangezogen werden. Bedeutsam können solche Befunde allerdings sein, wenn man einen Überblick über die aktuelle Resistenzlage pathogener Mikroorganismen in einer stationären Behandlungseinheit gewinnen will. Dies kann, beispielsweise bei wiederholtem Nachweis Methicillin-resistenter Staphylokokken (MRSA), Vancomycin-resistenter Enterokokken (VRE) oder Breitspektrum-Betalactamase bildender gramnegativer Aerobier
Kriterien zur Auswahl der antimikrobiellen Substanzen bei Infektionen mit gesichertem Erreger 4 Resistenzspektrum der nachgewiesenen Erreger in vitro 4 Pharmakokinetische Eigenschaften der Antibiotika (Resorption; ausreichende Penetration zum Infektionsort) 4 Pharmakologische Interaktionen mit anderen relevanten Medikamenten 4 Toxizitätsprofil der zur Auswahl stehenden Substanzen 4 Individuelle Kontraindikationen (z. B. Allergie, eingeschränkte Organfunktionen) 4 Pharmakoökonomische Gesichtspunkte
Bei den pharmakoökonomischen Gesichtspunkten ist zu berücksichtigen, dass die Gesamtkosten einer antimikrobiellen Therapie nicht allein über den Tagestherapiepreis, sondern beispielsweise auch über Kosten für Diagnostik, Folgekosten von Nebenwirkungen und Therapieversagen und die erforderliche Therapiedauer bis zum klinischen Ansprechen beeinflusst werden. Hierzu liegen bis heute aus dem Bereich febriler neutropenischer Patienten noch kaum solide Analysen vor. Das Mittel der Wahl bei Patienten mit invasiver Aspergillose oder Candidainfektion war über mehrere Jahrzehnte konventionelles Amphotericin B. Dies ist aufgrund der Ergebnisse prospektiv-randomisierter klinischer Studien nun nicht mehr der Fall. Liposomales Amphotericin B hat sich im Vergleich mit konventionellem Amphotericin B bei Patienten mit antibiotikarefraktärem Fieber oder mit vermuteter oder gesicherter Aspergillose als mindestens gleich effektiv, jedoch signifikant besser verträglich erwiesen (Leenders et al. 1998; Walsh et al. 1999). Die Zulassung basiert auf einer Tagesdosis von 3 mg/kg Körpergewicht. Eine Steigerung dieser Dosis bis auf 12,5 mg/kg täglich ist ohne Erreichen der dosislimitierenden Toxizität studiert worden (Walsh et al. 2001), es hat sich jedoch in einer prospektiv randomisierten Studie bei neutropenischen Patienten mit vermuteter oder gesicherter Aspergillose kein klarer Vorteil einer Steigerung der Tagesdosis von 3 mg/kg auf 10 mg/kg gezeigt (Cornely et al. 2007). Bei liposomalem Amphotericin B ist zu beachten, dass trotz besserer Verträglichkeit mit einer gravierenden Rate von Nebenwirkungen wie Nephrotoxizität (ca. 15%), Schüttelfrost (45–50%), Diarrhoe, Übelkeit und Erbrechen (30–40%) sowie Hautreaktionen (ca. 25%) zu rechnen ist. In der Primärtherapie invasiver Aspergillosen hat sich Voriconazol im randomisierten Vergleich mit konventionellem Amphotericin B als signifikant überlegen erwiesen und als Standardtherapie dieser schweren Pilzinfektion bei Krebspatienten und transplantierten Patienten etabliert (Böhme et al. 2003; Walsh et al. 2008). Die hohe Rate transienter Sehstörungen (um 30%) und das erhebliche pharma-
779 38.4 · Antimikrobielle Therapie
kologische Interaktionspotenzial sind bei der Entscheidung über den Einsatz von Voriconazol zu berücksichtigen. Bei invasiven Candidainfektionen nicht neutropenischer Patienten stellt Fluconazol (6 mg/kg Körpergewicht täglich) eine gleich wirksame und besser verträgliche Alternative zu Amphotericin B dar (Rex et al. 1994). Es ist zu empfehlen, Fluconazol bei Candidämie oder einer anderen invasiven Candidainfektion einzusetzen, wenn der Erregernachweis eine in vitro Fluconazolempfindliche Candidaspezies zeigt. Die ungezielte Gabe von Fluconazol ist insbesondere nach oraler Gabe von Fluconazol zur antimykotischen Prophylaxe problematisch, da Fluconazol-resistente Candidastämme unter dieser Prophylaxe deutlich zunehmen (Marr et al. 2000). Caspofungin hat in einer randomisierten Studie bei Patienten mit invasiver Candida-Infektion ein mindestens ebenso gutes Ansprechen wie Amphotericin B bei signifikant besserer Verträglichkeit gezeigt (Mora-Duarte et al. 2002). Eingeschlossen waren hierbei auch einige neutropenische Patienten. Auch Voriconazol hat sich im randomisierten Vergleich zu Amphotericin B (gefolgt von oralem Fluconazol) als gleich wirksam und signifikant besser verträglich in der Behandlung von Candidämien bei nicht neutropenischen Patienten erwiesen (Kullberg et al. 2005). Liposomales Amphotericin B und Micafungin haben in einer randomisierten Studie bei Patienten mit invasiver Candidainfektion ein Ansprechen bei jeweils knapp 90% der protokollgerecht behandelbaren Patienten gezeigt (Kuse et al. 2007). 38.4.8 Dauer der Therapie
Die Frage, wie lange die antimikrobielle Therapie nach Eintreten der Entfieberung noch fortgeführt werden muss, ist nicht in prospektiv randomisierten klinischen Studien untersucht worden. Das stellenweise anzutreffende Prinzip, dass eine erfolgreiche Therapie bis zum Ende der Neutropenie weitergegeben werden sollte, ist mit hohen Kosten und der Gefahr der Resistenzentwicklung bzw. der Selektion primär resistenter Mikroorganismen verbunden. Es konnte durch die konsekutiven Studien der Paul-Ehrlich-Gesellschaft gezeigt werden, dass eine solche Therapie auch beendet werden kann, bevor die Granulozytenzahl wieder angestiegen ist, sofern die Patienten zuvor über 7 Tage anhaltend fieberfrei geblieben sind. Bei Patienten, deren Granulozytenzahlen bereits wieder über 1.000/μl angestiegen sind, reicht eine stabile Entfieberung über 2 Tage aus. Bei Patienten mit einer klinisch und/oder mikrobiologisch dokumentierten Infektion gilt der Grundsatz, dass bei ihnen außer der Entfieberung auch ein Abklingen der anderen infektionsassoziierten Befunde zu fordern ist. Dies kann in manchen Fällen problematisch sein, beispielsweise bei Patienten mit Lungeninfiltraten. Sprechen diese auf eine Antibiotikatherapie an, so kann das Thoraxröntgenbild noch Tage bis Wochen später die Residuen entzündlicher Infiltrate aufweisen, also der klinisch klar erkennbaren Überwindung der Infektion »nachhängen«. Hier ist es nicht sinnvoll, Antibiotika bis zum gänzlichen Verschwinden aller radiologischen Auffälligkeiten weiter zu verabreichen. Anders ist dies bei gesicherten oder wahrscheinlichen pulmonalen Pilzinfektionen. Hier ist nach klinischem und radiologischem Ansprechen (vorzugsweise durch Computertomografien der Lungen dokumentiert) eine langfristige Weiterbehandlung mit Aspergillus-wirksamen Antimykotika erforderlich, um eine Reaktivierung der Pilzinfektion zu vermeiden. In diesen Fällen wird
38
über die Fortführung der antimikrobiellen Behandlung je nach Konzept der weiteren immunsuppressiven Behandlung der Grunderkrankung individuell entschieden. Patienten mit einer durch Untersuchung von Bronchialsekret oder Lungenbiopsie nachgewiesenen Pneumocystis-jiroveci-Pneumonie müssen nach hochdosierter intravenöser Behandlung mit Cotrimoxazol (Trimethoprim-Sulfamethoxazol) über 2–3 Wochen anschließend zur Sekundärprophylaxe intermittierend orales Cotrimoxazol oder monatliche Pentamidin-Inhalationen erhalten (Kern et al. 2000). Patienten mit einer invasiven Infektion durch Staphylococcus aureus bedürfen einer systemischen staphylokokkenwirksamen Therapie über einen Zeitraum von mindestens 14, eher sogar 21 Tagen, um die Gefahr septischer Absiedelungen wie Endokarditis oder Osteomyelitis zu vermindern. Auch im Falle einer chronischen disseminierten Candiainfektion (hepatolienale Candidiasis) ist eine lang dauernde antimykotische Behandlung erforderlich, die bis zur Kalzifizierung der Läsionen, auf jeden Fall aber bis zur Überwindung weiterer Episoden der Neutropenie und/oder anderer Immunsuppression fortgesetzt werden sollte (Böhme et al. 2003; Pappas et al. 2004). 38.4.9 Kontrolle des lokalen Resistenzspektrums
Es ist zu fordern, dass in jedem Zentrum zur Therapie maligner Neoplasien eine regelmäßige Überwachung des vorherrschenden Erregerspektrums hinsichtlich der Resistenzlage der wichtigsten und bedrohlichsten Infektionserreger, die bei mikrobiologisch gesicherten Infektionen isoliert wurden, erfolgt. Die folgende Übersicht zeigt eine Liste von Kriterien, die dabei in enger Kooperation mit den Kollegen der Mikrobiologie bzw. Klinikhygiene überprüft werden sollten.
Kriterien zur epidemiologischen Überwachung bei Infektionen febriler neutropenischer Patienten 4 Pseudomonas-aeruginosa-Resistenz gegen Fluorochinolone, pseudomonaswirksame Betalactam-Antibiotika und Aminoglykoside 4 E.-coli-Resistenz gegen Fluorochinolone und BetalactamAntibiotika (und, falls zur Infektionsprophylaxe verwendet, gegen Cotrimoxazol) 4 Enterobacteriaceen mit Ausbildung einer Multiresistenz gegen Betalactam-Antibiotika (»extended spectrum beta-lactamases«, ESBL) 4 Streptokokkenresistenz gegen Penicilline und MakrolidAntibiotika 4 Vancomycin-resistente Enterokokken (VRE) 4 Methicillin-(Oxacillin-)resistente Staphylococcus aureus (MRSA) 4 Fluconazolresistenz unter Candida albicans 4 Inzidenz von Non-albicans-Candida spp. (vor allem C. glabrata und C. krusei)
Dabei sollten im Falle beunruhigender epidemiologischer Veränderungen grundsätzlich zunächst eine Diskussion unter Einbeziehung der Hygienekommission und ggf. eine nochmalige Kontrolle über einige Wochen oder Monate erfolgen, bevor Än-
780
Kapitel 38 · Infektionen bei malignen Erkrankungen
derungen bewährter Therapiekonzepte vorgenommen werden. Vor übereilten »Schnellschüssen« ist zu warnen. – Darüber hinaus ist zu beachten, dass das seit Anfang 2001 anstelle des Bundesseuchengesetzes in Kraft befindliche Infektionsschutzgesetz Vorschriften zur Erfassung und Meldung nosokomialer Infektionen enthält, die auch für die Hämatologie und Onkologie verbindlich sind. Hilfreich kann hier das vom Nationalen Referenzzentrum für Krankenhaushygiene entwickelte Onko-KISS-System sein (http://www.nrz-hygiene.de).
38.4.10
Begleitmaßnahmen bei schweren Infektionen
Immunoglobuline Die prophylaktische oder interventionelle Gabe von Immunoglobulinen zur Reduktion des Infektionsrisikos oder zur Verbesserung der Prognose septischer Infektionen hat lediglich bei kleinen Subgruppen von Patienten mit gesichertem Immunglobulinmangel und einzelnen Patienten mit hohen Endotoxinspiegeln eine klinische Effektivität gezeigt (Schedel et al. 1991). Eine aktuellere randomisierte klinische Studie hat jedoch einen positiven Einfluss von Immunglobulinen auf den klinischen Verlauf bei Infektionen neutropenischer Patienten nicht bestätigt (Hentrich et al. 2006).
38
Hämatopoetische Wachstumsfaktoren Obwohl Ausmaß und Dauer der Neutropenie der entscheidende prognostische Faktor bei febrilen neutropenischen Patienten sind, hat sich der additive Einsatz rekombinanter hämatopoetischer Wachstumsfaktoren wie G-CSF (Filgrastim oder Lenograstim) oder GM-CSF (Molgramostim, Sargramostim; in Deutschland nicht mehr im Handel) in Kombination mit Antibiotika in klinischen Studien nicht als überlegen gegenüber einer alleinigen antimikrobiellen Therapie erwiesen und kann somit angesichts der damit verbundenen Kosten und möglichen Nebenwirkungen nicht für den klinischen Alltag empfohlen werden (Smith et al. 2006). Bei Patienten, die bereits prophylaktisch G-CSF zur Verkürzung der Neutropeniedauer erhalten haben, sollte die Gabe allerdings parallel zur antimikrobiellen Therapie weitergeführt werden. Granulozytentransfusionen Da Inzidenz und Prognose von Infektionen bei Tumorpatienten eng korreliert sind mit Ausmaß und Dauer der Neutropenie, ist die therapeutische Gabe von Spendergranulozyten seit den frühen 1970er Jahren intensiv studiert worden (Clift u. Buckner 1984; EORTC 1983; Winston et al. 1982). Aufgrund der geringen Effektivität und des hohen logistischen Aufwandes, aber auch wegen möglicher transfusionsbedingter pulmonaler Komplikationen sind Granulozytentransfusionen allerdings für lange Zeit verlassen worden. Die Verfügbarkeit rekombinanter hämatopoetischer Wachstumsfaktoren, die zu einer deutlich höheren Ausbeute an Granulozyten bei der Leukapherese führen, hat zu einer Wiederbelebung klinischer Studien zum Einsatz von Granulozytentransfusionen bei bedrohlichen Infektionen in der Neutropenie geführt (Bishton u. Chopra 2004; Peters et al. 1999). Ergebnisse randomisierter Studien mit ausreichenden Patientenzahlen liegen bislang nicht vor.
38.5
Infektionen bei Patienten nach Splenektomie und bei funktioneller Asplenie
Die Milz spielt in der Immunabwehr eine bedeutende Rolle, beispielsweise in der Affinitätsreifung differenzierter B-Lymphozytenpopulationen, der Produktion von B- und T-Memoryzellen, der Complement-Produktion und der Phagozytose zirkulierender Immunkomplexe. Auch die Phagozytose von Mikroorganismen wie die Beseitigung geschädigter und überalterter Blutzellen findet in der Milz statt. Eine wichtige Funktion der Milz ist die Opsonisierung, also die Markierung zirkulierender Mikroorganismen mit Immunglobulinen (vor allem IgG2) und/oder Komplementfaktoren, um damit ihre Phagozytose zu verstärken. Dennoch ist bekanntermaßen die Milz als Element der Immunabwehr nicht unverzichtbar, da viele ihrer Funktionen von anderen lymphatischen Geweben wie der Leber, den Lymphknoten und dem Knochenmark übernommen werden können. Neben der Splenektomie gibt es eine große Zahl von Erkrankungen, die zu einem partiellen oder kompletten Funktionsverlust der Milz, einer funktionellen Asplenie, führen können.
Mögliche Ursachen einer funktionellen Asplenie 4 Autoimmunerkrankungen – Systemischer Lupus erythematodes – Immunvaskulitis – Sjögren-Syndrom – Primäre biliäre Zirrhose – Andere 4 Chronisch-aggressive Hepatitis 4 Hämatologische Erkrankungen – Myeloproliferatives Syndrom – Fanconi-Syndrom – Sichelzellanämie – Thalassämie – Amyloidose – Andere 4 Andere – Frühgeborene – Graft-versus-Host-Reaktion – Milzbestrahlung – Milzvenenthrombose
Die gefürchtetste Komplikation nach einer Splenektomie ist die Postsplenektomiesepsis (PSS), auch als OPSI (»overwhelming post-splenectomy infection«) bekannt. Ihre Inzidenz liegt nach operativer Milzentfernung bei 1–3%. Bei Verlust der Milz(-funktion) im Rahmen anderer Erkrankungen, die ihrerseits mit einer höheren Infektionsanfälligkeit assoziiert sind, etwa beim Morbus Hodgkin oder bei der Thalassämie, kann diese Inzidenzrate 10% überschreiten (Singer 1973; Styrt 1990). Haupterreger sind Pneumokokken (ca. zwei Drittel aller Fälle), daneben kommen auch Meningokokken, Staphylococcus aureus und gramnegative Aerobier wie Haemophilus influenzae vor. Die Mortalität bei PSS ist mit 30–60% (bei Pneumokokkensepsis 50-60%) sehr hoch (Holdsworth et al. 1991), und die Infektionen verlaufen typischerweise fulminant mit Entwicklung eines septischen Schocks und einer disseminierten intravasalen Gerinnung. Die Blutkulturen können eine außergewöhnlich hohe Keimzahl aufweisen, da die Clearance-Funktion der Milz fehlt.
781 38.6 · Dosisrichtlinien
38
. Tab. 38.4. Dosierungsrichtlinien für antimikrobielle Substanzen und hämatopoetische Wachstumsfaktoren Substanz
Tagesdosierunga
Substanz
Tagesdosierunga
Piperacillin
3- bis 4-mal 4,0 g
Teicoplanin
2-mal 0,4 g Tag 1, anschließend 1-mal 0,4 g
Piperacillin/Tazobactam
3- bis 4-mal 4,5 g
Amoxicillin/Clavulansäure
2-mal 1 ,0 g p.o.
Clindamycin
3- bis 4-mal 0,6 g
Ceftazidim
3-mal 2,0 g
Metronidazol
3-mal 0,5 g
Cefotaxim
3-mal 2,0 g
Cotrimoxazol (Trimethoprim + Sulfamethoxazol)
20 + 100 mg/kg/d verteilt auf 3–4 Dosen
Ceftriaxon
1-mal 2,0 g
Amphotericin B
1-mal 0,7–1,0 mg/kg
Cefepim
2- bis 3-mal 2,0 g
Liposomales Amphotericin B
1-mal 3,0 (bis 5,0) mg/kg
Cefuroximaxetil
2-mal 0,5 g p.o.
Amphotericin-B-Lipid-Komplex
1-mal 3,0 (bis 5,0) mg/kg
Imipenem
4-mal 0,5 g bis 3-mal 1,0 g
Fluconazol
1-mal 0,4 g bis 6 mg/kg
Meropenem
3-mal 1,0 g
Itraconazol
Ertapenem
1-mal 1,0 g
1-mal 0,4 (-0,8) g (Talspiegel >500 ng/ml)
Linezolid
2-mal 0,6 g
Voriconazol
2-mal 6 mg/kg Tag 1, 2-mal 4 mg/kg ab Tag 2 p.o.
Ciprofloxacin
2-mal 0,4 g i.v., 2-mal 0,5 g p.o. Posaconazol
Levofloxacin
1-mal 0,5 g
Moxifloxacin
1-mal 0,4 g
2-mal 0,4 g p.o. (mit fetthaltiger Nahrung) 4-mal 0,2 g p.o. (ohne fetthaltige Nahrung)
Gentamicin
3,0–5,0 mg/kg
Caspofungin
Tobramycin
3,0–5,0 mg/kg
1-mal 70 mg Tag, anschließend 1-mal 50 mg
Netilmicin
4,0–7,5 mg/kg
Aciclovir
3-mal 10 mg/kg i.v.
Amikacin
15,0 mg/kg
Valaciclovir
3-mal 1,0 g p.o.
Erythromycin
4-mal 1,0 g
Ganciclovir
2-mal 5 mg/kg i.v.
Azithromycin
1-mal 0,5 g
Valganciclovir
2-mal 0,9 g p.o.
Clarithromycin
2-mal 0,5 g
Foscarnet
3-mal 60 mg/kg i.v.
Vancomycin
2-mal 1,0 g
G-CSF
1-mal 5 μg/kg
a
Bei fehlender Angabe in mg/kg bezogen auf ein Körpergewicht von ca. 75 kg
Therapeutisch ist eine unverzügliche systemische Antibiotikagabe vordringlich. Effektiv ist hier die Gabe von Ceftriaxon, da es die dominanten Erreger der Postsplenektomiesepsis zuverlässig erfasst. Penicilline und Makrolid-Antibiotika können im Einzelfall problematisch sein, da die Resistenz von Streptococcus pneumoniae gegen Penicilline in einigen Gegenden Europas weit über 20% beträgt (in Deutschland derzeit 4–5%, Nationales Referenzzentrum für Streptokokken, Institut für Medizinische Mikrobiologie der RWTH Aachen, http://www.klinikum-aachen.de/webpages/STREPTO/index.html) und gegen Makrolid-Antibiotika um über 10% (in Deutschland um 10%, ebd.) beträgt. Die zusätzliche Gabe von Immunglobulinen bei Postsplenektomiesepsis wird z. T. empfohlen, gilt jedoch nicht als gesicherter Standard. Zur Verhütung einer Pneumokokkensepsis wird eine Impfung mit polyvalenter Pneumokokkenvakzine empfohlen. Eine Auffrischung alle 6 Jahre ist bei anhaltender Infektionsanfälligkeit durch dauerhaften Verlust der Milzfunktion erforderlich. In
den 2005 aktualisierten Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) wird auch die Durchführung der Diphtherie-, Tetanus-, Pertussis- und Hepatitis-B-Impfung nach allgemein gültigen Kriterien sowie eine Impfung gegen Haemophilus influenzae B, gegen Meningokokken und die jährliche InfluenzaSchutzimpfung empfohlen (STIKO 2005).
38.6
Dosisrichtlinien
Die empfohlene Dosierung der in diesem Kapitel angesprochenen antimikrobiellen Substanzen ist in . Tab. 38.4 aufgeführt. Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
39 Hämorrhagische und thromboembolische Komplikationen bei malignen Erkrankungen H. Riess
39.1
Hämorrhagische Komplikationen – 784
39.2
Thromboembolische Komplikationen – 787
39.3
Verbrauchskoagulopathie bzw. disseminierte intravasale Gerinnung bei Tumorpatienten – 791
39.4
Antikoagulation und malignomassoziiertes Überleben Literatur – 792
– 791
783 39 · Hämorrhagische und thromboembolische Komplikationen bei malignen Erkrankungen
> Einleitung
39
Die Aufrechterhaltung der normalen Hämostase zwischen den Extremen der Thromboembolie und Blutung wird durch das komplexe Zusammenwirken von Gefäßwand, Blutzellen und Plasmafaktoren im strömenden Blut gewährleistet. Maligne Erkrankungen führen oft zu erheblichen Veränderungen der verschiedenen Hämostasekomponenten mit der Folge, dass die Kompensationsfähigkeit des komplex regulierten Hämostasesystems überfordert wird. Dabei sind vielfältige Interaktionen zwischen »Tumorzelle« und Hämostasesystem beschrieben (. Abb. 39.1), die in individuell sehr unterschiedlichem Ausmaß am Auftreten klinischer Erscheinungen beteiligt sein können. In der Folge treten hämorrhagische bzw. thromboembolische Komplikationen auf, die ihrerseits wesentliche Bedeutung als letztlich kausale Todesursache bei Malignomerkrankungen erlangen können. Tatsächlich werden thromboembolische und/oder hämorrhagische Komplikationen als zweithäufigste Todesursache bei Tumorpatienten angegeben (Belt et al. 1978; Chew et al. 2006; Klastersky et al. 1972; Kniffin et al. 1994; Noble u. Finlay 2005; Sommerkamp 1998). Verallgemeinernd lässt sich festhalten, dass – meist venöse – thromboembolische Komplikationen bevorzugt bei soliden Tumoren, hämorrhagische Manifestationen bei hämatologischen Neoplasien beobachtet werden. Dabei ist das individuelle relative Risiko sowohl von thromboembolischen als auch hämorrhagischen Ereignissen wesentlich von Art und Stadium der malignen Grunderkrankung, aber auch von malignomunabhängigen und malignomassoziierten Begleiterkrankungen abhängig. Neben der zugrunde liegenden malignen Erkrankung und weiteren, patientenspezifischen dispositionellen Faktoren (s. Übersicht) spielen zusätzlich Effekte der spezifischen, gegen das Malignom gerichteten Therapie beim Manifestwerden hämostaseologischer Komplikationen eine wesentliche Rolle. In den zurückliegenden Jahren wurde darüber hinaus deutlich, dass insbesondere thromboembolische, deutlich seltener hämorrhagische Komplikationen erste klinische Zeichen eines sonst »asymptomatischen« zugrunde liegenden Malignoms sein können.
. Abb. 39.1. Schema der Tumorzell-Hämostase-Interaktion. I. Veränderungen der Tumorzelloberfläche mit vermehrter Expression von Gewebethromboplastin (»tissue factor«, TF) und Adhäsionsmolekülen (AM) sowie Freisetzung von Zytokinen, Wachstumsfaktoren, Proteasen, sogenannten Cancer-Prokoagulanzien (CP) und Membranbestandteilen (Mikrovesikel, MV) führen direkt zur Modulation verschiedener Hämos-
tasekomponenten. II. Indirekt werden diese Komponenten durch die (Immun-)Reaktion des Körpers auf den Tumor (Host-Response) moduliert. Dabei kommt neben Proteasen und Faktoren der plasmatischen Gerinnung dem Endothel eine wichtige Funktion auch in der Regulation der Fibrinolyse zu. III. Letztendlich können Thromboembolien, DIC (»disseminated intravascular coagulation«) und/oder Blutungen resultieren
784
Kapitel 39 · Hämorrhagische und thromboembolische Komplikationen bei malignen Erkrankungen
Risikofaktoren für venöse Thromboembolien 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Trauma Operation Schwangerschaft und Wochenbett Hormonsubstitution (»Pille«, postmenopausale Hormonersatztherapie) Alter Genetische Disposition Thromboembolie in der Familie (Familienanamnese) Adipositas Malignom Venenerkrankung (z. B. Krampfadern) Herzinsuffizienz COPD
Prothrombogene Risikofaktoren 4 4 4 4 4 4 4
Solider Tumor Thrombozytose Lupus anticoagulans Chemotherapie Hormontherapie Immobilisation Akutphasereaktion (Hyperfibrinogenämie)
Prohämorrhagische Risikofaktoren 4 4 4 4 4 4 4
39.1
39
Hämatologische Neoplasie Thrombozytopenie Faktorenspezifischer Inhibitor Chemotherapie Asparaginasetherapie Leberinsuffizienz Hyperfibrinolyse
Hämorrhagische Komplikationen
Hämorrhagische Komplikationen im Kontext solider Tumoren, hämatologischer Neoplasien und/oder malignomspezifischer Therapien, sind seltener als thromboembolische Komplikationen und zeigen jeweils eine pathophysiologisch differente Genese (Belt et al. 1978; Dally et al. 2005; Dutcher et al. 1984; Lee et al. 2003). 39.1.1 Hämorrhagische Komplikationen bei Patienten
mit soliden Tumoren Beim Auftreten von Blutungen im Bereich des Gastrointestinal-, Urogenital-, bzw. Bronchialtraktes ist stets ein zugrunde liegendes Tumorleiden in Betracht zu ziehen und durch geeignete Diagnostik zu beweisen bzw. auszuschließen. In aller Regel liegt keine Störung des Hämostasesystems im Sinne einer Hypokoagulabilität zugrunde. Ursächlich ist meist die lokale Tumorausbreitung mit Arrosion kleinster Gefäße, wobei die hohe fibrinolytische Aktivität in Schleimhautsekreten hämorrhagischen Manifestationen Vorschub leistet. Derartige Blutungen sind daher eher ein hinweisendes Symptom, denn ein therapeutisches Problem. Prohämorrhagische Störungen der Hämostase im Sinne einer Hypokoagulabilität, Thrombozytopenie oder Ähnlichem finden sich vergleichsweise selten (Allum et al. 1990; Belt et al. 1978; Imbesi u. Kurtz 2005; Jensen u. Machicado 1988).
Im fortgeschrittenen Tumorstadium können die Infiltration großer Gefäße, zentrale ischämische Tumornekrosen, portaler Hypertonus bei Lebermetastasen sowie das mit fortgeschrittener Lebermetastasierung einhergehende Leberversagen mit Hypokoagulabilität (nicht selten mit Thrombozytopenie assoziiert) zum Auftreten schwerer, z. T. tödlicher Blutungskomplikationen beitragen. Tödliche Arrosionsblutungen der großen Gefäße sind sehr selten; sie kommen insbesondere bei lokal fortgeschrittenen Tumoren im Kopf-Hals-Bereich vor (Frawley u. Begley 2005; Scappaticci et al. 2005). Ihre Vermeidung durch gefäßchirurgische Maßnahmen bzw. Akutbehandlung ist komplikationsträchtig und nur unter Berücksichtigung der individuellen Patientenprognose zu erwägen. Auch bei Patienten mit soliden Tumoren finden sich – vergleichsweise seltener als bei hämatologischen Neoplasien – tumorassoziierte Gerinnungsstörungen als kausale Ursache komplizierender Hämorrhagien. So sind Autoimmunthrombozytopenien bei Patienten mit soliden Tumoren häufiger anzutreffen als aufgrund der Inzidenz zu erwarten. Eine schwere Thrombozytopenie in Verbindung mit hämolytischer Anämie sowie neurologischen Veränderungen und/ oder Nierenfunktionseinschränkungen kann das Vorliegen eines mikroangiopathischen Syndroms im Sinne einer thrombotisch thrombozytopenischen Purpura (TTP) oder eines hämolytisch urämischen Syndroms (HUS) anzeigen. Diese Konstellation findet sich insbesondere bei Patienten mit Adenokarzinomen vorrangig des Magens, der Brust oder der Lunge und ist im Einzelfall nicht selten assoziiert mit dem Einsatz bestimmter Zytostatika (s. unten; Belt et al. 1978; Dutcher et al. 1984; Gordon u. Kwaan 1997). Durch den Nachweis von Fragmentozyten im peripheren Blut, zusammen mit den laboranalytischen Zeichen der Hämolyse und in Kombination mit der Klinik ist diese Diagnose zu stellen, nur im seltenen Einzelfall ist eine Gewebsbiopsie (Niere, Gingiva u. a.) zum Nachweis typischer Veränderungen notwendig. Therapeutisch stehen – wenn möglich – die Behandlung der Grunderkrankung sowie Plasmapherese mit Volumenersatz durch gefrorenes Frischplasma (FFP) zur Verfügung. Im fortgeschrittenen Stadium solider Tumoren kann es durch Knochenmarkskarzinose oder multiple Knochenmetastasen, insbesondere bei Mamma-, kleinzelligem Bronchial- und Prostatakarzinom zur Verdrängung der normalen Hämatopoese kommen, wobei in der Regel hyporegeneratorische (erniedrigte Retikulozytenzahlen), nicht-hämolytische Anämie (Normalwerte für Haptoglobin und Bilirubin sowie LDH – sofern nicht tumorbedingte Veränderungen dieser Parameter vorliegen), Thrombozytopenie und erythroleukämisches Differenzialblutbild (mit Erythroblasten und pathologischer Linksverschiebung der Granulozyten) charakteristisch sind. Die periphere Zytopenie schränkt die Möglichkeiten der kausalen Tumortherapie stark ein, u. U. können fraktionierte Zytostatikagaben (Antrazykline, Taxane, wöchentlich) in Betracht kommen. Symptomatisch kann die prophylaktische bzw. therapeutische Gabe von Thrombozytenkonzentraten angezeigt sein. Neben der Hypokoagulabilität bei fortgeschrittener Lebermetastasierung kommen selten schwere, z. T. letale Blutungen durch erworbene Hemmkörper, insbesondere gegen den Faktor VIII auch bei Patienten mit soliden Tumoren vor (Harada et a.1998). Es handelt sich dabei um Autoantikörper, die mit einzelnen Gerinnungsfaktoren interagieren, sie funktionell neutralisieren und ihre Halbwertszeit reduzieren. Laboranalytisch hinwei-
785 39.1 · Hämorrhagische Komplikationen
send ist die fehlende Normalisierung der aktivierten partiellen Thromboplastinzeit im Plasmatauschversuch (Messung der aPTT in Proben mit schrittweiser Verdünnung des Patientenplasmas durch Normalplasma) bei 50%-igem Anteil an Normalplasma. Die Einzelfaktorenanalyse mit unterschiedlichen Probenvorverdünnungen sichert die Diagnose. Schließlich wird bei Patienten mit bestimmten Tumoren häufiger als bei anderen, insbesondere bei Prostatakarzinomen, eine zur Blutung führende Hyperfibrinolyse beobachtet (Byar 1970), deren pathophysiologische Grundlage die Freisetzung von Plasminogenaktivatoren aus den Tumorzellen darstellt. Laboranalytisch ist die dysproportionale Hypofibrinogenämie zusammen mit stark erhöhten Fibrin(ogen)-Spaltprodukten diagnostisch hinweisend, eine Substitutionstherapie mit Fibrinogenkonzentraten führt nur kurzfristig zur Besserung der Hämostaseparameter. Die zusätzliche Gabe von Aprotinin zur Hemmung der Hyperfibrinolyse ist der Gabe von synthetischen Antifibrinolytika wie Tranexamsäure in der Regel vorzuziehen, da Letztere bei der zugrunde liegenden komplexen Hämostasestörung mit dem vermehrten Auftreten von venösen Thromboembolien vergesellschaftet sein können. 39.1.2 Hämorrhagische Komplikationen bei Patienten
mit hämatologischen Neoplasien Hämorrhagien treten bei hämatologischen Neoplasien sowohl häufiger als bei soliden Malignomen, aber auch häufiger als thromboembolische Komplikationen auf (Belt et al. 1978; Dally et al. 2005; Hersh et al. 1965). Führende Ursache ist dabei meist eine mehr oder minder ausgeprägte Thrombozytopenie aufgrund einer gestörten Megakaryozytopoese, insbesondere im Zusammenhang mit myelodysplastischen Erkrankungen, akuten und chronischen Leukämien sowie einzelnen myeloproliferativen Erkrankungen (s. Übersicht »Differenzialdiagnose der Thrombozytopenie bei Tumorpatienten«). Zusätzlich zu Thrombozytenzahlerniedrigung können funktionelle Thrombozytendefekte wesentlichen Anteil am Auftreten von Blutungen haben (Chim etz al. 2005).
Differenzialdiagnose der Thrombozytopenie bei Tumorpatienten 4 Verminderte Plättchenproduktion – Verdrängung der Thrombozytopoese durch Knochenmarkskarzinose, Leukämie, Lymphom, Plasmozytom – Chemotherapie – Strahlentherapie 4 Vermehrter peripherer Plättchenverbrauch – Medikamente – Infektion/Sepsis – Disseminierte intravasale Gerinnung – Mikroangiopathische Hämolyse (thrombotische thrombozytopenische Purpura, TTP; hämolytisch urämisches Syndrom HUS) – Immunthrombozytopenie (ITP) – Medikamenteninduzierte Immunthrombozytopenie (z. B. heparininduzierte Thrombozytopenie Typ II) 6
39
4 Verteilungsstörung (Sequestration in der Milz) – Myeloproliferative Syndrome – Lymphome – Portale Hypertonie bei Pfortaderthrombose, – Fortgeschrittene Lebermetastasierung
Bei bestimmten myeloproliferativen Erkrankungen, insbesondere bei der essenziellen Thrombozytämie, der Polycytämia vera und der idiopathischen Myelofibrose findet sich ein Nebeneinander von thromboembolischen (s. unten) und hämorrhagischen Symptomen, wobei bei Letzteren häufig zusätzliche auslösende Faktoren wie perioperative Situation, Einnahme nicht steroidaler Analgetika oder intramuskuläre Injektionen eruierbar sind. Vergleichsweise selten finden sich bei hämatologischen Neoplasien gut charakterisierbare laboranalytische Störungen der Thrombozytenfunktion, z. B. der Thrombozytenaggregation, am häufigsten im Sinne eines erworbenen von-WillebrandSyndroms. Noch seltener sind Störungen der thrombozytären Freisetzungsreaktion im Sinne eines erworben »aspirin-likedefect« oder einer »storage-pool disease«. Insbesondere für Paraproteine lassen sich dabei Störungen im Sinne eines Coating, aber auch spezifische Interaktion mit Plättchenbestandteilen nachweisen. Bei einzelnen Patienten, typischerweise bei hohen Leukozytenzahlen bei Leukämie wie bei Promyelozytenleukämie, tritt komplizierend eine malignomassoziierte plasmatische Gerinnungsstörung hinzu, die bei zytoreduktiver Chemotherapie exazerbiert (⇒ Tumorlysesyndrom) und klinisch manifest werden kann (Hersh et al. 1965; Lee et al. 2003). Paraproteine können individuell unterschiedlich mit verschiedenen Hämostasekomponenten interagieren und dabei prothrombogene (s. unten), aber auch prohämorrhagische Wirkungen entfalten. Neben dem Auftreten von Inhibitoren gegen Faktor VIII (s. oben) oder andere Faktoren werden Störungen der Fibrinpolymerisation, der Plättchenfunktion (s. oben) und der Endothelfunktion berichtet. 39.1.3 Hämorrhagische Komplikationen bei malignom-
spezifischer Therapie Die Myelotoxizität vieler zur Chemotherapie benutzter Zytostatika kann zu schwerwiegenden, z. T. lang anhaltenden Thrombozytopenien führen, wobei die prolongierten Thrombozytopenien, z. B. im Gefolge der myeloablativen Knochenmarkstransplantation oder der Behandlung akuter Leukämien, von den in aller Regel kurz dauernden, passageren, z. T. mit kumulativer Chemotherapiedosis progredienten Thrombozytopenien unterschieden werden müssen. Neben diesen im Prinzip von der Wahl des Zytostatikums und seiner Dosis sowie des zugrunde liegenden Malignoms abhängigen Thrombozytopenien finden sich bei bestimmten Medikamenten, insbesondere bei Mitomycin C, Bleomycin, Cisplatin, Vincaalkaloiden, Gemcitabin und Tamoxifen sowie nach Knochenmarkstransplantation, mikroangiopathische Formen der Thrombozytopenie (Gordon u. Kwaan 1997). Die Anwendung von L-Asparaginase führt durch Depletion der entsprechenden Aminosäure zur Hemmung der zellulären Proteinsynthese. Daher führt der Einsatz von L-Asparaginase zur
786
Kapitel 39 · Hämorrhagische und thromboembolische Komplikationen bei malignen Erkrankungen
Chemotherapie von akuten lymphatischen Leukämien, zur Hemmung der Proteinsynthese mit Mangelzuständen von verschiedenen Plasmaproteinen, wobei der Abfall der Gerinnungsfaktoren II, V, VII, VIII, XI, X und XI sowie von Fibrinogen mit einer entsprechenden Verlängerung der aPTT, der Prothrombinzeit (Abfall des Quickwertes) und Thrombinzeit verbunden ist. Diese Veränderungen können insbesondere aufgrund der nicht selten ausgeprägten Hypofibrinogenämie zu Blutungskomplikationen führen, doch werden auch thromboembolische Komplikationen beobachtet, die auf den Abfall an Antithrombin, Protein C, Protein S und Plasminogen zurückgeführt werden. 39.1.4 Therapeutische Optionen
39
Insgesamt kann man davon ausgehen, dass etwa 10% der Patienten mit fortgeschrittenen Tumorleiden Blutungskomplikationen erleiden, die lebenslimitierend sein können, aber auch häufig eine schwere symptomatische Belastung der betroffenen Patienten darstellen. Neben direkterer Malignom- oder Medikamentenassoziation ist auch an Mallory-Weiss Risse bei krankheits- oder therapieassoziiertem Erbrechen (Enck 1977; Fishman et al. 1983; Levi 2001) zu denken. Schließlich kann die Belastungssituation und die Medikation (insbesondere Kortikosteroide und nicht steroidale Analgetika) zu erosiver Gastritis und gastroduodenalen Ulcera beitragen (Klein et al. 1973; Levi 2001). Die Behandlung dieser Blutungskomplikationen erfordert oft eine interdisziplinäre Zusammenarbeit (Imbesi u. Kurtz 2005; Levine et al. 1988; Pereira u. Phan 2004), wobei im Weiteren exemplarisch einige Möglichkeiten dargestellt werden sollen. Die Häufigkeit und Schwere von Blutungskomplikationen nimmt bei Thrombozytenzahlen unter 20.000/μl zu, doch treten schwere, lebensbedrohende Blutungen in aller Regel erst bei Plättchenzahlen unter 5.000 bis 10.000/μl auf. Bei den hier nicht weiter berücksichtigten Immunthrombozytopenien ist das Blutungsrisiko geringer einzuschätzen. Für die früher geübte Praxis, generell bei Thrombozytenzahlen unter 20.000/μl prophylaktisch Thrombozytenkonzentrate (TK) zu verabreichen, fehlen höhergradige Evidenzen. Für die Indikationsstellung zur prophylaktischen TK-Gabe ist eine Einzelfallabwägung auch unter Berücksichtigung von vermutlicher Thrombozytopeniedauer, der Patientenprognose und Alloimmunisierungsrisiko mit konsekutiver Refraktärität gegenüber transfundierten Plättchen notwendig. Auch beim blutenden Patienten mit Thrombozytopenie sollten die Patientenprognose sowie die Möglichkeiten alternativer Verfahren der Blutstillung bei Indikationsstellung zur TK-Gabe berücksichtigt werden. Lokoregionäre Tumorblutungen sollten wenn immer möglich lokalisiert behandelt werden. Kompression und Tamponaden nicht selten in Kombination mit der Applikation vasokonstriktiver (z. B. Adrenalin) und/oder hämostyptischer Medikamente (z. B. Fibrinkleber, Tranexamsäure) sind insbesondere bei Epistaxis, aber auch bei vaginalen und rektalen Blutungen hilfreich. Insbesondere bei diffusen Blasenblutungen (Ferry u. Socie 2003; Siegal et al. 1978) nach Strahlentherapie, Oxazaphosphorintherapie oder bei therapierefraktärer viraler Zystitis bei Immunsuppression kann zusätzlich zur Blasenspülung zur Vermeidung einer Blasentamponade die Instillation von Formalin (1- bis 4%-ige Lösung) oder der Prostaglandine E2 und F2 sinnvoll sein. Vereinzelt werden die Laserkoagulation, Unterspritzung mit Epinephrin und Gefäßligatur notwendig.
Letztere Verfahren werden häufig im Rahmen der interventionellen Endoskopie für Blutungen des – insbesondere oberen – Gastrointestinaltraktes, der Lunge und der Blase erfolgreich eingesetzt. Lokoregionäre Tumorblutungen, die einer lokalen, gegebenenfalls auch operativen Therapie – meist durch Resektion des blutenden Gewebes – nicht zugänglich sind, oder wenn der Allgemeinzustand des Patienten eine entsprechende Operation nicht zulässt, können durch lokale Strahlentherapie zum Sistieren gebracht werden. Positive Berichte betreffen insbesondere Hämorrhagien im Bereich der Lunge, der Zervix uteri, des Rektums, der Blase oder eines exulzerierten Mammakarzinoms. Bei regional lokalisierter, einer lokalen Blutstillung allerdings nicht zugängigen Blutungsquelle, ist die transkutane, arterielle Embolisation eine wirksame Therapiemaßnahme. Im Rahmen einer Angiografie wird versucht die Blutungsquelle zu lokalisieren, um dann das versorgende Gefäß mittels Katheterintervention zu embolisieren. Insbesondere bei regional limitierten Blutungen im Oropharynx, im Gastrointestinaltrakt, im Bereich des Beckens oder der Blase sowie von Lunge und Leber hat sich dieses Verfahren bewährt. Diffuse Schleimhautblutungen im Bereich des Oropharynx und Gastrointestinaltraktes bei medikamentös, infektassoziierter oder radiogener Mukositis, insbesondere im Zusammenhang mit Thrombozytopenie und/oder Thrombozytopathie (z. B. bei Niereninsuffizienz mit deutlicher Harnstofferhöhung) sind aufgrund des diffusen Charakters einer lokalisierten Therapie häufig nicht zugänglich. Neben der symptomatischen Anhebung der Thrombozytenzahl durch Konzentratgabe, bzw. der Absenkung des Harnstoffwertes durch Dialyse, kann die Applikation von Tranexamsäure systemisch mit 3-mal 0,5–1 g/ Tag – u. U. auch topisch (500 mg Tranexamsäure ad 20–50 ml mit 0,9%-igem NaCl, z. T. zusammen mit Panthenol) – hilfreich sein, um die sekretassoziierte fibrinolytische Aktivität zu blockieren. Eine weitere wirksame symptomatische Maßnahme stellt die Gabe von DDAVP (Desmopressin, 0,3–0,4 μg/kg KG/30 min i. v.) dar, die zu einer passageren Erhöhung der Plasmaspiegel an Faktor VIII und von-Willbrand-Faktor führt. Vasopressin kommt nur noch selten, insbesondere zur Blutstillung bei Varizenblutungen in Ösophagus und Magen, zur Anwendung, da hier die endoskopischen Verfahren in der Regel erfolgreicher sind. Insbesondere bei diffusen Blutungen im oberen und unteren Gastrointestinaltrakt kann die Gabe von Somatostatinanaloga wie Octreotid durch Reduktion des Blutflusses im Splanchnikusgebiet blutstillend wirken. Auch Kälteapplikation z. B. durch Lutschen von Eis bei oropharyngaler Blutung kann hilfreich sein. Das zur Behandlung von Blutungskomplikationen bei Patienten mit spontaner bzw. im Rahmen der zugrunde liegenden Hämophilie erworbenen Inhibitoren gegen die Faktoren VIII oder IX zugelassene Konzentrat aus rekombinantem humanem Faktor VIIa zeigt in einer Vielzahl von Fallberichten auch außerhalb der zugelassenen Indikation eine gute hämostyptische Wirksamkeit bei sonst nicht kontrollierbaren Blutungen. Häufig wird parallel Tranexamsäure gegeben, um eine Rezidivblutung nach erfolgreicher Blutstillung möglichst zu verhindern Das damit und mit der Anwendung dieses aktivierten Gerinnungskonzentrates verbundene prothrombotische Risiko ist nach gegenwärtigem Kenntnisstand als gering einzuordnen.
787 39.2 · Thromboembolische Komplikationen
39.2
Thromboembolische Komplikationen
Thromboembolische Komplikationen sind bei Patienten mit Malignomen, insbesondere solchen mit soliden Tumoren im klinischen Alltag wesentlich häufiger als Blutungskomplikationen und häufig kausal am Ableben von Tumorpatienten beteiligt (Elting et al. 2004; Falanga u. Zacharski 2005; Kakkor et al. 1970; Khorana 2003; Lengfelder et al. 2005; Lip et al. 2002; Moser 1990; Sorensen et al. 2000; Svendsen u. Karwinski 1989). 39.2.1 Malignom und prothrombogen veränderte
Hämostase Die Pathogenese der malignomassoziierten Thromboembolien ist vielfältig und komplex (Falanga u. Zacharski 2005, Khorana 2003; Koiker et al. 1976; Lightdale et al. 1973) . Sämtliche Komponenten der Virchow-Trias können in Mitleidenschaft gezogen sein (. Tab. 39.1). Im Vordergrund scheint die Entwicklung einer Hyperkoagulabilität bei Malignompatienten zu stehen, die sich in einer Vielfalt veränderter hämostaseologischer Parameter ausdrücken kann. Dies beinhaltet die Verkürzung von Gerinnungszeiten wie der aPTT, die Erhöhung von einzelnen Gerinnungsfaktoren, insbesondere Fibrinogen, Faktor VIII, Faktor V, Faktor IX und Faktor XI, die Ausbildung einer Thrombozytose, ein erhöhter Umsatz an Fibrinogen mit erhöhten Spiegeln an Fibrin- bzw. Fibrinogenabbauprodukten sowie erworbene Mangelzustände an Antithrombin, Protein C und insbesondere Protein S. Ursächlich für diese Veränderungen sind einerseits das Freiwerden von tumorspezifischen, gerinnungsfördernden Substanzen (»cancer procoagulant«). Besondere Beachtung fand dabei eine Zysteinprotease, die direkt den Faktor X zu Faktor Xa und damit die Initiierung einer Fibrinbildung unabhängig von Tissue Factor und Faktor VII ermöglicht. Derartige Zysteinproteasen wurden sowohl bei Patienten mit soliden Tumoren (malignes Melanom, Adenokarzinome des Urogenital- und Gastrointestinaltraktes) als auch bei hämatologischen Neoplasien (z. B. akute myeloische Leukämie, AML) gefunden.
39
Die Faktor-X-Aktivierung kann auch durch gewebsthromboplastinartige (»tissue-factor-like procoagulance«) Substanzen in Anwesenheit von Faktor VII erfolgen, diese Substanzen wurden insbesondere in Leukozyten von Patienten mit akuten myeloischen Leukämien (vorrangig Promyelozytenleukämie), aber auch in soliden Tumorzellen gefunden (Kakkar et al. 1995). Neben dieser direkten prokoagulabilen Wirkung von Tumorzellen bzw. Tumorfreisetzungsprodukten finden sich Veränderungen der Akutphase, die wesentlich auf die Immunreaktion des Körpers in der Auseinandersetzung mit dem Malignom zurückgeführt werden. Dies betrifft einerseits die vermehrte Expression von Tissue Factor durch zirkulierende Monozyten bei Tumorpatienten, die prothrombogene Wirkung von Zytokinen, aktivierten T-Zellen und verschiedene freigesetzte Lipoproteine. Neben diesen Veränderungen der plasmatischen Gerinnungskomponenten fand sich, dass aus Tumoren freigesetzte Substanzen direkt die Plättchen zur Aggregation aktivieren können. Endothelveränderungen exemplarisch ausgelöst durch Tumornekrosefaktor α oder Interleukin 1, führen zu einem Anstieg der Gewebsthromboplastinexpression auf Endothelzellen, der Reduktion der Thrombomodulinexpression mit verminderter Protein-C-Aktivierung und einer Reduktion der endothelialen fibrinolytischen Aktivität, sodass antithrombogene Endotheleigenschaften in den Hintergrund treten und durch prothrombogene Eigenschaften ersetzt werden können. Zu diesen malignombedingten Veränderungen der Blutzusammensetzung kommen weitere prothrombogene vorbestehende dispositionelle oder expositionelle Risikofaktoren sowie die tumorbedingten Auswirkungen auf den Blutfluss und die Gefäßintegrität. Innerhalb einer systematischen Tumorentität sind diese Veränderungen von Patient zu Patient unterschiedlich ausgeprägt (Kakkar et al. 1995), sie nehmen mit dem Stadium der Tumorerkrankung zu. Zudem scheint das Ausmaß der Hämostaseveränderungen in Beziehung zu dem weiteren Verlauf der Tumorerkrankung zu stehen, da Patienten mit malignomassoziierter venöser Thromboembolie eine ungünstigere Prognose zu haben scheinen als Patienten mit gleicher, stadiengematchter Tumorerkrankung ohne venöse Thromboembolie (Bymess u. Hussein 1996; Skillings et al. 2005). 39.2.2 Venöse Thromboembolie und manifestes bzw.
. Tab. 39.1. Virchow-Trias der Thrombogenese und Malignom Virchow-Komponente
Malignomassoziierte Beispiele
Störungen des Blutflusses
Malignombedingte Gefäßkompression Zellulär (Leukozytose, Erythrozytose) bzw. plasmatisch (Paraprotein) bedingte Hyperviskosität Krankheitsbedingte Immobilisation
Veränderung der Gefäßwandbeschaffenheit
Tumorinfiltration Atypische Gefäßstruktur der Tumorgefäße Zytokinbedingte Endothelveränderungen Zentralvenöse Zugänge
Hyperkoagulabilität
Leukozytose Thrombozytose Paraproteine Akutphasereaktion (Erhöhung von Faktor VIII, Fibrinogen) Lupus anticoagulant Cancer procoagulant
okkultes Malignom Betrachtet man das Gesamtkollektiv der Patienten mit erstmaliger Manifestation einer venösen Thromboembolie, so muss davon ausgegangen werden, dass bei etwa 10% der Patienten zu diesem Zeitpunkt ein Malignom bekannt ist. Bei weiteren etwa 10% der Patienten, findet sich im Rahmen der Eingangsuntersuchung ein bis dahin nicht diagnostiziertes Malignom. Schließlich finden sich bei weiteren bis zu 10% der Patienten durch ein intensiviertes Screening zum Zeitpunkt der venösen Thromboembolie bzw. eine mehrmonatige Nachbeobachtung sog. »okkulte Malignome«, die im klinischen Alltag einer Diagnose zum Zeitpunkt der venösen Thromboembolie häufig entgehen (Aderka et al. 1986; Dalen u. Alpert 1975; Falanga u. Zacharski 2005; Gore et al. 1982; Hach-Wunderle 2005; Kniffin et al. 1994; Lightdale et al. 1974) . Diese Häufigkeiten gelten bei sog. idiopathischer tiefer Venenthrombose; bei »sekundärer« venöser Thromboembolie sind diese Zahlen deutlich geringer. Die sich daraus ableitenden Frage, die hier nicht ausführlicher erörtert werden kann, wie
788
Kapitel 39 · Hämorrhagische und thromboembolische Komplikationen bei malignen Erkrankungen
ausgedehnt und umfangreich das Screening bei Patienten mit (idiopathischen) Erstthrombosen sein soll, wird kontrovers diskutiert. Vorliegende Untersuchungen zeigen häufiger das Vorliegen lokal bzw. lokoregionär beschränkter Tumorstadien mit potenziell kurativer Behandlungsmöglichkeit zum Zeitpunkt der Venenthrombose im Vergleich zu einer »spontan« im weiteren Verlauf manifest werdenden Tumorerkrankung. Gegenwärtig wird daher zumindest die Aktualisierung der alters- und geschlechtsspezifischen Krebsfrüherkennungsmaßnahmen empfohlen (Hach-Wunderle 2005). 39.2.3 Thromboembolische Komplikationen bei
Patienten mit hämatologischen Neoplasien
39
Thromboembolische Komplikationen treten bei hämatologischen Neoplasien seltener als bei Patienten mit soliden Tumoren auf. Im Rahmen von akuten Leukämien treten im Spontanverlauf nur selten thromboembolische Komplikationen auf, diese sind dann meist lokal bedingt z. B. durch Kompression bei malignen Lymphomen, zentralvenöse Zugänge und nicht selten (s. unten) behandlungsassoziiert (Adelstein et al. 1988; Brooks u. Enterline 1983; Cortelezzi et al. 2005). In diesen Kontext muss man vermutlich auch die Genese des hepatischen Venenverschlusssyndroms (»vena occlusive disease«), das insbesondere im Rahmen der myeloablativen allogenen Knochenmarkstransplantation auftritt, einordnen (Ferry u. Socie 2003). Bevorzugt bei Patienten mit malignen Lymphomen, aber vereinzelt auch bei Patienten mit soliden Tumoren treten Autoantikörper gegen Phospholipidstrukturen auf, sog. Antiphospholipid-Antikörper, die z. T. ex vivo zu einer Verlängerung von Gerinnungsgruppentesten – überwiegend der aktivierten partiellen Thromboplastinzeit (aPTT) – führen (⇒ Lupusantikoagulans) und pathophysiologisch mit zum Auftreten von arteriellen und venösen Thrombosen aber auch Immunthrombozytopenien beitragen. Die im Rahmen von hämatologischen Neoplasien und ihrer Therapie beobachteten prolongierten Thrombozytopenien sind kein verlässlicher Schutz vor dem Auftreten komplizierender venöser Thromboembolien. Bei Patienten mit myeloproliferativen und myelodysplastischen Syndromen, bevorzugt bei Subtypen mit begleitender Thrombozytose (Chim et al. 2005), treten arterielle aber auch venöse thromboembolische Ereignisse gehäuft auf, wobei zunehmendes Alter und präexistente Risikofaktoren für Thrombosen das Risiko erhöhen. 39.2.4 Thromboembolische Komplikationen
bei Patienten mit soliden Tumoren Das Thromboembolierisiko für Patienten mit unterschiedlichen Tumorentitäten ist different (Chew et al. 2006; Lee 2003; Thdiyil u. Kakkar 2002; Masci et al. 2003), auch wenn die Methodik zur Abschätzung des malignomtypischen Thromboserisikos schwierig ist. Adenokarzinome scheinen mit einem höheren Thromboembolierisiko belastet zu sein als andere Tumortypen. Insbesondere bei Pankreas-, Bronchial-, Ovarial- oder Magenkarzinomen scheinen thromboembolische Komplikationen häufiger. Für die hohe Rate an thromboembolischen Komplikationen bei Patienten mit Hirntumoren könnte die antiödematöse Therapie mit
hochdosierten Kortikosteroiden bedeutsamer als der zugrunde liegende Tumortyp sein. Diese thromboembolischen Komplikationen treten am häufigsten in Form von »klassischen« tiefen Venenthrombosen im Bereich der unteren Extremitäten aber auch im Bereich liegender Zentralvenenkatheter auf, nicht selten ist die Lungenembolie das erste klinische Symptom (Cunningham et al. 2006; Falanga u. Zacharski 2005; Khorana 2003). Die Thrombophlebitis migrans, nach ihrem Erstbeschreiber auch Trousseau-Syndrom genannt (Khorana 2003; Trousseau 1985), ist durch eine chronisch rezidivierende oberflächliche Thrombophlebitis ohne erkennbar prädisponierende Faktoren, wie z. B. varikös erweiterte Venen, charakterisiert. Zudem unterscheidet sich auch die Lokalisation dieser paraneoplastischen Thrombophlebitis von der anderer oberflächlicher Thrombophlebitiden insofern, als dass oberflächliche Venen der Thoraxwand, des Abdomens oder auch der Arme einzeln oder gleichzeitig an mehreren Stellen betroffen sind, häufig spontan abheilen und mit einer hohen Rezidivrate belastet sind. Häufig liegt dieser Thromboseform ein Adenokarzinom des Magens oder des Pankreas zugrunde. Die nicht bakterielle thrombotische Endokarditis ist mit Abstand am häufigsten bei Malignompatienten zu beobachten (Deppisch u. Fayemi 1976). Sie ist charakterisiert durch rezidivierende arterielle Thromboembolien aufgrund von thrombotischen Auflagerungen auf der Aorten- oder Mitralklappe und u. U. mit einer zunehmenden Funktionseinschränkung der Herzklappen verbunden. Embolische Gefäßverschlüsse werden am häufigsten in zerebrovaskulären und peripheren Arterien gefunden, doch können auch die Koronararterien betroffen werden (Fayemi u. Deppisch 1977; Koiker et al. 1976). Die nicht bakterielle thrombotische Endokarditis tritt nur ausnahmsweise im Frühstadium einer Tumorerkrankung auf, sie ist insgesamt ein Zeichen des fortgeschrittenen Tumorstadiums. Im Gegensatz zur bakteriellen Endokarditis fehlt Fieber, Blutkulturen sind negativ, der Verdacht wird durch die Auskultation, der Beweis meist durch echokardiografische Verfahren geführt. Insbesondere bei abdomineller Primariuslokalisation, vorzugsweise bei Patienten mit Pankreaskarzinom, Nierenzellkarzinom oder Nebennierentumoren, werden thrombotische Verschlüsse von Mesenterialvenen, Pfortader oder Lebervenen angetroffen. 39.2.5 Thromboembolische Komplikationen
bei malignomspezifischer Therapie Perioperative venöse und arterielle Thromboembolien treten bei Patienten mit Malignom häufiger auf als bei Patienten mit vergleichbar lang andauernden und großen Eingriffen ohne zugrunde liegendes Malignom (Falanga u. Zacharski 2005). Die Anlage von peripheren oder zentral venösen Verweilkathetern führt ebenfalls bei Tumorpatienten, verglichen mit anderen Patienten, deutlich häufiger zu Thrombosen im Bereich der Katheter führenden Venen (Cunningham et al. 2006). Insbesondere bei Einschränkung des Blutflusses im Bereich der V. cava superior, z. B. durch Mediastinaltumoren, sind zentralvenöse Katheter mit einer hohen Thromboserate belastet (Adelstein et al. 1988). Auch die Chemotherapie selbst – weitgehend unabhängig von der eingesetzten Substanz – ist ein inzwischen gut belegter unabhängiger Risikofaktor für die Thromboseentstehung (Baum
789 39.2 · Thromboembolische Komplikationen
. Abb. 39.2. Thromboserate in Abhängigkeit vom Tumorstadium und Chemotherapie bei Patientinnen mit Brustkrebs; I, II, IV Stadium; Tam Tamoxifen; AI Aromataseinhibitor; CMF Cyclophosphamid/Methotrexat/5-FU; CMFVP Cyclophosphamid/Methotrexat/Fluorouracil/Vincristin/Prednison
et al. 2002; Baz et al. 2005; Blackard et al. 1970; Bushnell 2005; Goodnough et al. 1984; Goss et al. 2003; Levine et al. 1988; Wall et al. 1989). Die zugrunde liegenden pathophysiologischen Zusammenhänge sind nicht ausreichend klar. Bei Patienten mit metastasiertem Magenkarzinom fand sich z. B. eine Rate von nahezu 18% venöser Thromboembolien während der Chemotherapiephase. Die naheliegende Erklärung, dass der chemotherapieinduzierte Tumorzelluntergang zur vermehrten Freisetzung prothrombogener Mediatoren führt, kann nicht ausschließlich für die erhöhte Thromboseinzidenz herangezogen werden. Auch bei adjuvanter Therapieindikation wurden beispielsweise in einer Studie zur adjuvanten Chemotherapie bei Mammarkarzinompatientinnen im Stadium II im Chemotherapiearm mit Cyclophosphamid, Methotrexat und Fluorouracil (CMF) in 5% der Patienten symptomatische Venenthrombose gefunden (. Abb. 39.2). Für andere Erkrankungsentitäten ist der Zusammenhang mit adjuvanter Chemotherapie nicht so eindeutig nachgewiesen. Neben Verminderungen von Hämostaseinhibitoren, insbesondere Protein C, werden Endothelschädigungen berichtet. Hinweisend auf Gefäßalterationen ist auch das vermehrte Auftreten des Raynaud-Phänomens bei Chemotherapie, insbesondere im Zusammenhang mit Bleomycin, Vincaalkaloiden und Platinverbindungen. Derartige Gefäßschäden werden auch zur Erklärung einer vermehrten Rate an kardiovaskulären Komplikationen, insbesondere von Myokardinfarkten herangezogen, die unter Vincaalkaloiden, Bleomycin, Platinverbindungen und 5-FU berichtet wurden. Die im Rahmen der myeloablativen allogenen Knochenmarkstransplantation vermehrt beobachtete Verschlusskrankheit kleiner Lebervenen (»veno occlusive disease«) sowie der großen Lebervenen (Budd-Chiari-Syndrom) werden im Zusammenhang mit bestimmten Chemotherapeutika vermehrt beobachtet (Ferry u. Socie 2003). Dies betrifft BCNU, Mitomycin C, Adriblastin, Ara-C und DTIC, sie können aber auch im Rahmen der Strahlentherapie der Leber, z. B. bei Ganzkörperbestrahlung im Rahmen der Knochenmarkstransplantation sowie Gesamtabdomenbestrahlung, z. B. bei Ovarialkarzinompatientinnen, beobachtet werden.
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Die Strahlentherapie von pelvinen Tumoren ist ebenfalls von einer erhöhten Rate tiefer Venenthrombosen der Becken- und Beinvenen begleitet, wobei direkte radiogene Schädigungen der Gefäße, lokoregionäre therapieinduzierte Entzündungsreaktionen sowie vermehrte Ödembildung mit passagerer Tumorvolumenzunahme verantwortlich sein könnten. Auf die tumor- und medikamentenassoziierte mikroangiopathische Hämolyse, die mit vermehrter Thrombenbildung im Bereich der Mikrozirkulation verbunden ist, wurde in 7 Abschn. 39.2.3 bereits hingewiesen. Hormontherapien bei Brustkrebs oder Prostatakarzinom sind ebenfalls mit einer vermehrten Inzidenz thromboembolischer Komplikationen belastet (Baum et al. 2002; Blackard et al. 1970; Bushnell 2005; Goss et al. 2003). Sowohl im adjuvanten als auch im palliativen Setting führt Tamoxifen zu einer Zunahme venöser Thromboembolien, wobei eine zusätzliche Chemotherapie diese unerwünschte Wirkung weiter verstärkt. In den letzten Jahren wurde deutlich, dass die prothrombogene Wirkung von Aromatasehemmern geringer als die von Tamoxifen einzuordnen ist (. Abb. 39.2). Die neue Therapieoption der »targeted therapies« ist durch eigene durchaus substanzspezifische unerwünschte Nebenwirkungen begleitet. Dabei werden insbesondere bei antiangiogenetisch wirksamen Medikamenten neben Wundheilungsstörungen (Gordon u. Cunningham 2005; Scappaticci et al. 2005) vermehrt Thromboembolien aber auch Blutungen (Baz et al. 2005; Hambleton et al. 2005; Kindler et al. 2005; Skillings et al. 2005) beobachtet. Wenn aussagekräftige Untersuchungen in der adjuvanten Behandlungssituation vorliegen, kann das entsprechende »tumorunabhängige« Risiko besser eingeschätzt werden. 39.2.6 Therapeutische Optionen
Eine medikamentöse Thromboembolieprophylaxe (. Abb. 39.3) in Hochrisikodosierung wird generell für Patienten, die sich einer Tumoroperation unterziehen, empfohlen (Bergqvist 2005). Dabei wird in der Regel die einmalige tägliche Applikation eines für Hochrisikosituationen zugelassenen niedermolekularen Heparins oder von Fondaparinux empfohlen. Zusätzlich sollten die Möglichkeiten der physikalischen und krankengymnastischen Maßnahmen ausgeschöpft werden. Die Dauer der medikamentösen Thromboembolieprophylaxe sollte über die ersten 6 bis 10 Tage postoperativ hinausgehen, da in multizentrischen, doppelblind kontrollierten Untersuchungen die Überlegenheit einer 4- bis 6-wöchigen postoperativen Applikation eines niedermolekularen Heparins gegenüber einer 6- bis 10-tägigen Applikation nachgewiesen wurde (Bergqvist et al. 2002). Es fand sich eine relative Risikoreduktion um mehr als 50% für das Auftreten von venösen Thrombosen, wobei eine Zunahme relevanter Blutungskomplikationen in weniger als 0,5% der Patienten beobachtet wurde. Die 3- und 12-Monats-Mortalität war in beiden Gruppen vergleichbar. Auch bei neurochirurgischen Malignomeingriffen, die mit einer hohen Rate an venösen Thromboembolien belastet sind, ist 18–24 Stunden postoperativ der Beginn einer medikamentösen Thromboembolieprophylaxe mit niedermolekularem Heparin wirksam und ausreichend sicher (Gerber et al. 2006). Im Gegensatz zu den hochgradigen Evidenzen für die klinische Wirksamkeit einer medikamentösen Thromboembolieprophylaxe bei malignomchirurgischen Eingriffen, ist die Rolle
790
39
Kapitel 39 · Hämorrhagische und thromboembolische Komplikationen bei malignen Erkrankungen
. Abb. 39.3. Hämostase und Antikoagulation zu Prophylaxe und Therapie von venösen Thromboembolien. Durch die Gabe von Antikoagulanzien wird versucht, die durch hereditäre und erworbene Faktoren (z. B. Malignomerkrankung und -therapie) prothrombotisch aus dem Lot gera-
tene Hämostase wieder »ins Lot zu bringen«. Dies ist mit einem gewissen Blutungsrisiko verbunden. Zudem bedürfen die medikamentenspezifischen Nebenwirkungen (z. B. heparininduzierte Thrombozytopenie Typ II) der Beachtung
der prophylaktischen Antikoagulation bei konservativen Tumorpatienten, insbesondere während Chemotherapie, nur unzureichend untersucht. Die ambulante Applikation von niedrig dosiertem Warfarin unter INR-Kontrollen (Zielbereich 1,3–1,9) führte ohne Erhöhung der Blutungsrate zu einer über 80%-igen relativen Risikoreduktion bei chemotherapeutisch behandelten Patientinnen mit metastasiertem Mammakarzinom (Falanga u. Zarcharski 2005). Im stationären Umfeld wurden bisher keine Studien abgeschlossen, die ausschließlich Tumorpatienten einschlossen. Allerdings waren in mehreren großen randomisierten Studien zur medikamentösen Thromboembolieprophylaxe mit niedermolekularem Heparin oder Fondaparinux Tumorpatienten mit eingeschlossen, ohne dass bisher eine entsprechende aussagekräftige Subgruppenanalyse für die verschiedenen Studien vorliegt. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass bettlägerige Tumorpatienten (meist im fortgeschrittenen Lebensalter und mit prothrombogenen Begleiterkrankungen) von einer medikamentösen Thromboembolieprophylaxe profitieren (Zakai et al. 2004). Für die Sinnhaftigkeit einer generellen medikamentösen Thromboembolieprophylaxe bei Patienten mit zentralvenösen Kathetern oder implantierten Portsystemen fehlt gegenwärtig eine überzeugende Datenlage. Methodisch aufwendige Untersuchungen zeigen eine Reduktion von in der Regel subklinischen Thrombosen im Bereich des Katheterverlaufes unter niedrig dosierter Therapie mit Warfarin (Masci et al. 2003) oder niedermolekularem Heparin in Prophylaxedosis. Prospektiv randomisierte Untersuchungen mit klinischen venösen Thromboembolien als Studienendpunkt zeigen keine überzeugende Risikoreduktion durch medikamentöse Thromboembolieprophylaxe (Verso et al. 2005). Insbesondere in der Frühphase nach Implantation von Hickman- bzw. Broviac-Kathetern, aber auch nach Implantation von Port-Kathetern, kann eine medikamentöse Thromboembolieprophylaxe unter individueller Würdigung weiterer vorliegender thrombogener Risikofaktoren sinnvoll sein. Bei manifester venöser Thromboembolie hat sich generell die Initialtherapie mit niedermolekularen Heparinen oder Fondaparinux als überlegen gegenüber unfraktioniertem Heparin erwiesen
(Hach-Wunderle 2005). Das unter der sich anschließenden Sekundärprophylaxe mit Vitamin-K-Antagonisten erhöhte Blutungs- und gleichzeitig Thromboembolierisiko bei Tumorpatienten, wird durch eine prolongierte Fortführung der Therapie mit niedermolekularen Heparinen signifikant gesenkt, sodass regelhaft die Fortführung der initialen Antikoagulation mit niedermolekularen Heparinen empfohlen wird (Hach-Wunderle 2005; Nicto et al. 2005; Noble u. Finlay 2005; Prandoni 2005). Dieses Vorgehen scheint auch beim Vorliegen einer akuten Leukämie ausreichend sicher zu sein (Herishanu et al. 2004; Imberti et al. 2004) insbesondere, wenn man die Antikoagulanziendosis bei zunehmender Thrombozytopenie (<50.000/μl) reduziert oder (<20.000/μl) pausiert. Ob dabei langfristig voll dosierte therapeutische Dosen eines niedermolekularen Heparins oder dreiviertel- bzw. halbtherapeutische Dosen ausreichend sind, wird gegenwärtig diskutiert (Noble u. Finlay 2005; Prandoni 2005). Bis zum Vorliegen aussagekräftiger Vergleichsstudien sollte regelhaft eine 75%-Dosis oder nach einer individuellen Abwägung des patientenbezogenen Blutungs- bzw. Thromboembolierisikos eine höhere oder niedrigere Dosis des niedermolekularen Heparins gewählt werden. Deutlich weniger verbindlich sind Empfehlungen zur Dauer der therapeutischen Antikoagulation nach venöser Thromboembolie bei Tumorpatienten (Noble u. Finlay 2005; Schwartz 2005). Prinzipiell ist von einem fortbestehenden Thromboembolierisiko bis zur Heilung der Tumorerkrankung bzw. bis zum tumorbedingten Ableben des Patienten auszugehen. Hier ist eine individuelle Festlegung unter Berücksichtigung der jeweiligen Risikosituation des Patienten sinnvoll. Bei Tumorpatienten mit Kontraindikationen zur therapeutischen Antikoagulation oder bei symptomatischen venösen Thromboembolierezidiven unter ausreichend dosierter Antikoagulation ist die Platzierung eines Cava-Schirm-Filters zur Reduktion von lebensbedrohenden Lungenembolien zu erwägen. Retrospektive Auswertungen zeigen, dass die gegenwärtig zur Verfügung stehenden Filter bei entsprechender Expertise mit geringem Risiko interventionell platziert werden können und tödliche Lungenembolien effektiv reduzieren (Wallace et al. 2004). Die Indikationsstellung muss individuell, am besten interdisziplinär erfolgen.
791 39.4 · Antikoagulation und malignomassoziiertes Überleben
39.3
Verbrauchskoagulopathie bzw. disseminierte intravasale Gerinnung bei Tumorpatienten
Abhängig von der lange Zeit sehr unterschiedlich gehandhabten Definition der Begriffe »Verbrauchskoagulopathie« und »disseminierte intravasale Gerinnung« (»disseminated intravascular coagulation«, DIC) findet man bei bis zu 20% der im Krankenhaus behandelten Malignompatienten Zeichen der DIC (AlMondhiry 1975; Levi 2001). Insbesondere der Verlauf bei Patienten mit Adenokarzinomen (Sallah et al. 2001; Ueda et al. 2001) oder hämatologischer Neoplasie (Sarris et al. 1991) wird bevorzugt durch das Auftreten einer DIC kompliziert. Dabei unterscheidet sich die DIC bei Tumorpatienten, wenn sie nicht durch infektiöse Komplikationen (Sepsis) oder Schockzustände wesentlich mitbestimmt wird, indem meist mehr chronische Formen einer systemischen Gerinnungsaktivierung vorliegen (Sallah et al. 2001; Trappe u. Riess 2006). Klinisch stehen dabei meist Mikro- und Makrothrombosen im Vordergrund, im Rahmen der verschiedenen Grade des Tumorlysesyndroms als auch bei febriler Neutropenie kann diese »chronische DIC« in eine akute dekompensierte Hämostasestörung übergehen, die durch Organdysfunktion und Blutungen charakterisiert ist. Die chronische malignomassoziierte DIC ist Folge der chronischen, kompensierten Thrombingeneration als Folge der verschiedenen prokoagulatorischen Substanzen und Mechanismen (s. oben). Zusammen mit der bei Tumorerkrankungen häufig beobachteten Verminderung der plasmatischen Gerinnungsinhibitoren resultiert eine Labilität des Hämostasesystems, die laboranalytisch durch erhöhte Werte an Faktor VIII, Fibrinogen und Thrombozytose sowie verkürzte aPTT und verminderte Werte an Antithrombin und Protein C charakterisiert ist. Marker des Hämostaseumsatzes wie D-Dimere sind in der Regel erhöht, obwohl laboranalytisch meist eine Hyperfibrinolyse nicht dokumentiert werden kann. Zum Teil überlappend, häufig aber assoziiert mit bestimmten Tumorentitäten, klassischerweise mit dem Prostatakarzinom und der Promyelozytenleukämie, findet sich eine zunächst kompensierte gesteigerte Fibrinolyse, an die insbesondere bei niedrigen Fibrinogenwerten mit oder ohne Blutungszeichen gedacht werden muss (. Tab. 39.2). Auch hier handelt es sich meist um chronische, grenzwertig kompensierte Zustände, die durch vermehrten Mediatorfreisatz aus Tumorzellen im Rahmen der Therapie, durch Hämostasealterationen bei Infektionen oder perioperativ dekompensieren und zu schwer kontrollierbaren und profusen Blutungen führen können. . Tab. 39.2. Laboranalytische Differenzierung zwischen DIC bzw. Verbrauchskoagulopathie und im Vordergrund stehender Hyperfibrinolyse Laborparamtera
DIC
Hyperfibrinolyse
Fibrinogen
Abfallend
Stark abfallend
Thrombozyten
Abfallend
Stabil
Antithrombin Protein C
Abfallend
Stabil
Quick-Wert
Abnehmend
Abnehmend
aPTT
Verlängert
Verlängert
a
»Verlaufskontrollen«
39
Die laboranalytische Abgrenzung einer führenden Hyperfibrinolyse von einer klassischen, akuten dekompensierten DIC (. Tab. 39.2) bestimmt die therapeutischen Schritte, die durch regelmäßige Laborwertkontrollen und Therapieadaptation optimiert werden sollten (Siegal et al. 1978; Trappe u. Riess 2006). Das therapeutische Vorgehen unterscheidet sich nicht von dem bei Nichtmalignompatienten (Trappe u. Riess 2006) und reicht von einer individuell angepassten prophylaktischen Antikoagulation über Substitution mit gefrorenem Frischplasma und Antithrombin bis zur Therapie mit weiteren Faktoren- und Thrombozytenkonzentraten unter Einschluss von aktiviertem Faktor VIIa (Sallah et al. 2004). Auch hier – und ganz besonders hier – muss die individuelle Patientensituation unter vorrangiger Berücksichtigung der weiteren Tumorprognose in die Therapieentscheidungen und Therapielimitiationen Eingang finden.
39.4
Antikoagulation und malignomassoziiertes Überleben
Vielfältige präklinische und tierexperimentelle Daten legen einen hemmenden Effekt antithrombotischer Medikamente auf Tumormetastasierung und Tumorwachstum nahe. Ältere Studien mit Warfarin bzw. unfraktioniertem Heparin gaben z. T. Hinweise auf einen positiven Effekt der Antikoagulation auf das Überleben von Malignompatienten. Nachdem sich in mehreren Metaanalysen ein verbessertes Überleben von initial mit niedermolekularem Heparin behandelten Patienten mit tiefen Venenthrombosen im Vergleich zu unfraktioniertem Heparin gezeigt hatte (Conti et al. 2003; Hettiarachchi et al. 1999), legten Subgruppenanalysen nahe, dass dies weitestgehend auf einen Überlebensvorteil von initial mit niedermolekularen Heparinen behandelten Tumorpatienten zurückzuführen ist. Kritisch ist dabei anzumerken, dass in den zugrunde liegenden Studien das Charakteristikum »Malignompatient« kein Stratifizierungsmerkmal war, zudem lagen verschiedenste Tumorentitäten bei den einzelnen Patienten mit tiefer Venenthrombose vor. Prospektive Untersuchungen zur Behandlung von Patienten mit tiefen Venenthrombosen mittels Warfarin oder niedermolekularem Heparin in therapeutischer Dosis sowie randomisierte Untersuchungen zur Prognosemodulation durch prophylaktisches niedermolekulares Heparin bei Tumorpatienten ohne initiale venöse Thromboembolie zeigten keinen eindeutigen Überlebensvorteil für die Gesamtheit der mit niedermolekularem Heparin behandelten Patienten. In Post-hoc-Subgruppenanalysen zeigten sich allerdings positive Effekte des niedermolekularen Heparins auf das Langzeitüberleben. Die 2005 publizierte MALT-Studie (Klerk et al. 2005) zeigt nach einjährigem Follow-up für das Gesamtkollektiv von 148 Patienten unter niedermolekularem Heparin einen signifikanten Vorteil für das Patientenüberleben durch eine einmalige, 6-wöchige Antikoagulationsphase mit Nadroparin (2 Wochen volltherapeutisch, 4 Wochen halbtherapeutisch dosiert). Das mediane Überleben nahm von 6,6 Monaten in der Placebogruppe auf 8,0 Monate in der Verumgruppe zu. Dieser Effekt war für die a priori definierte Subgruppe von Patienten mit einer initial geschätzten Lebenserwartung von mehr als 6 Monaten deutlicher ausgeprägt und resultierte in einer Verbesserung des medianen Überlebens von 9,4 auf 15,4 Monate. Kritisch ist bei dieser Studie anzumerken, dass in den beiden Studiengruppen eine Vielzahl unterschiedlicher Tumorentitäten z. T. in differenter Anzahl und
792
Kapitel 39 · Hämorrhagische und thromboembolische Komplikationen bei malignen Erkrankungen
mit unterschiedlichen Tumorstadien eingebracht wurde. Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass andere große Studien, insbesondere zur prophylaktischen Gabe niedermolekularer Heparine bei einzelnen Entitäten (z. B. Mammakarzinom, Bronchialkarzinom) keinen Einfluss auf das Überleben der behandelten Patienten nachweisen konnten. Gegenwärtig aktivierte Studien bei spezifischen Tumorentitäten werden mit dazu beitragen, diese Frage zu beantworten. Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die überlegene Wirksamkeit der initialen und prolongierten Therapie mit niedermolekularem
39
Heparin auf venöse Thromboembolierezidive und Blutungskomplikationen aufgrund der hier geschilderten Studien sicher und ohne nachteiligen Einfluss auf den Tumorverlauf durchgeführt werden kann. Literatur Die Literatur finden Sie unter http://www.springer.de/978-3-540-79724-1
A Stichwortverzeichnis A A. mesenterica inferior 876 abdominoperineale Rektumexstirpation 876 11q23-Aberrationen 1643, 1676 Aberration – chromosomal 1591, 1592, 1593 ABL-BCR-Fusionsgen 1704 ABL-Tyrosinkinase 1705 abl-Tyrosinkinase-Inhibitor Imatinib 1676 abnorme Chromatinverklumpung 1617 Abnutzungstheorie 744 Aborte 1022, 1024, 1025, 1027 Abszesse 1437 ABT-737 160 Abtropfmetastasen 1281 – spinale 1281 ABVD 1637 Abwehrdefekt 711 AC 985 Ackerman-Karzinom 1328 Acrylamid 9 ACTH 1442 Addukte 63 adenoassoziiertes Virus Serotyp 2 579 Adenokarzinom 26, 27, 31, 32, 275, 788, 843, 920, 1110 – des ösophagogastralen Übergangs 799, 810 – muzinös 27 – Staging-Laparoskopie 804 – tubulär 26 Adenom 26 – der Papilla Vateri 489 – pleomorph 26 Adenom-Karzinom-Sequenz 852 Adenosin-Deaminase-Defizienz 576 Adenosindesaminase (ADA)-Inhibitoren 421 adenosquamöse Karzinome 33 Aderhautläsionen 1293 Aderhautmelanom 1290 – Differenzialdiagnose 1291 Aderlassbehandlung 1748 adjuvante Behandlung 881 adjuvante Chemotherapie 405, 894, 1125 adjuvante Medikamente (Adjuvanzien) 700 – Antiemetika 700 – Kortikosteroide 700 – Laxanzien 700 – psychoaktive Medikamente 700 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
Adjuvanzien 336, 700, 701 – Antiarrhythmika 701 – Antidepressiva 701 – Antiemetika 701 – Antikonvulsiva 701 – Bisphosphonate 701 – Kortikosteroide 702 – Laxanzien 702 – Narkosemittel 702 – Prostaglandinanaloga 702 – Protonenpumpenhemmer 702 – α2-Sympathomimetika 702 adoptiver T-Zell Transfer 1431 Adrenalektomie 1452, 1454 – endoskopische (geschlossene) 1454 – konventionelle (offene) 1454 Adrenalin 1444 Adrenalome 1437 adrenogenitales Syndrom (AGS) 1441 adrenokortikale Tumore 1439 adrenolytische Therapie 1457 adrenomedulläre Tumore 1439 Adriamycin 204 adulte T-Zell-Leukämie/-Lymphom (ATLL) 235 AEG (adenocarcinoma of the esophagogastric junction) 828 AF10 1643 AF6 1643 AF9 1643 Aflatoxin B1 95, 188, 202 Aflatoxine 239 AFP 392, 394 – HCC 392 – Keimzelltumore 394 – nichtseminomatöse Keimzelltumore 392 Afterloading-Geräte 440 AID 87 AIO 886 Akanthosis nigricans 765 akrolentiginöses Melanom 1418 Akromegalie 261 Aktinzytoskelett 320 Aktivierung von T-Zellen 328 – DC 329 – MHC-I 328 – Peptide 328 – T-Zell-Rezeptor 328 – zweites Signal 329 Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) 747 akute GvHD 559 akute Leukämie 35 akute myeloische Leukämie 745, 1391
akute Promyelozytenleukämie 116, 1665 akute Reaktionen 451 akute Toxizität 453 Akzelerationsphase 1718 akzelerierte Strahlentherapie 452 Albinismus 1410 Albumin 1594, 1596 Aldosteron 1443 Aldosteron-Kortisol-Quotient 1446 Aldosteron-Renin-Quotient 1443 Aldosteronantagonisten 1443 Aldosteronom 1443 Alemtuzumab 432, 771, 1738 ALH 979 ALIP 1618 alkalische Leukozytenphosphatase 1761 Alkohol (7 Ethanol) 218, 850 Alkoholablation 500 Alkoholkonsum 276, 858 Alkoholschmerz 1581 Alkylanzien 414, 419, 549 – Aziridine 414 – Bismethanosulfonate 414 – N- Lost-Abkömmlinge (Bischlorethylamine) 414 – Nitrosoharnstoffe 414 – platinhaltige Verbindungen 414 – sonstige alkylierende Verbindungen 414 – substituierte N-Lost DerivateOxazaphosphorine 414 – Triazene 414 ALL (7 auch akute lymphatische Leukämie) 13, 88, 106 All-trans-Retinoalsäure (ATRA) 1653, 1665 ALL1-AF4 1680 Allgemeinzustand oder Leistungsstatus (performance status) (7 auch ECOGPerformance-Status und Karnofsky-Index) 367 allogene Knochenmark- und Blut-Stammzelltransplantation 1663 allogene Knochenmarktransplantation 1737 allogene Stammzelltransplantation 552, 1659, 1715, 1716 allogene SZT 1691, 1692 – Chimärismus 1692 – Familienspender 1691 – Graft-versus-Host-Erkrankung (GvHD) 1691 – GvL-Effekte 1692 – Spenderlymphozyten 1692 allogene Transplantation 541
Stichwortverzeichnis
Allokationsebenen 738 – Engelhardt 1988 738 Alopezie 894, 985, 1441 Alpha-Fetoprotein (AFP) 392 Alpharezeptorblocker 1454 ALT 110, 126 Altern 744 Alternativmedizin 587 – Anbieter 604 – Ärzte 604 – Definition 587, 588 – finanzielle Belastung 607 – Haltung der Behandler 609 – Häufigkeit 589 – Heilpraktiker 604 – komplementäre Medizin 587 – Krankheitsverarbeitung 601 – Medien 604 – Risiko 606 – soziales Umfeld 603 – Verordnungsfähigkeit 605 – Vertrauensverlust 603 Alterungsprozess 744 Alterungstheorie 744 5-am-Tag-Kampagne 352 Ames-Test 221 Amifostin 1319, 1626 Aminoglykosid 774 AML (7 auch akute myeloische Leukämie) 13 AML1-ETO 1640, 1651 AML1/ETO 1653 AML M0 1647 AML M1 1647 AML M2 1647 AML M3 1648 AML M3v 1648 AML M4 1648 AML M4Eo 1649 AML M5 1649 AML M6 1649 AML M7 1649 AML mit komplex aberrantem Karyotyp 1656 AML mit sekundärer Genese 1657 Amoxicillin 774 Amphotericin B 778 Amplifikation 992 – H-RAS 992 – HER-2/NEU-Onkogen 992 – MYC 992 – Protoonkogene 992 – von Rezeptoren 1227 Amsterdam-Kriterie 21, 358, 853 Amyloidose 37, 765, 1591, 1597, 1598, 1600 – sekundäre 1094 Anagrelid 1750, 1753, 1754 Analgosedierung 501 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
Analkarzinom 899 – abdominoperineale Rektumexstirpation (APR) 902 – anorektale Manometrie 904 – Condylomata accuminata 899 – endorektale Sonografie 901 – High-grade In-situ-Karzinom (AIN) 899 – Papillomavirus 899 Analrandkarzinom 905 Anämie 761, 1591, 1595, 1596, 1599, 1600, 1606, 1607 – aplastisch 761 – autoimmunhämolytisch 761 – Coombs-positiv 761 – hämolytisch 761 – mikroangiopathisch 761 Anamnese 371 anamnestisches Gespräch 366 anaphase promoting complex 170 anaplastisches (undifferenziertes) Schilddrüsenkarzinom 1339 Anastomosenrezidiv 895 Anastrozol 976, 981, 982, 983 Anbieter 604 Ancestim 543 Änderung der Therapieziele 737 Androgenblockade 1148, 1149 Androgene (Testosteron) 1147, 1443, 1758 Androgenentzug 1147 Androgen produzierende Tumore 1441 Androgenresistenz 1135 Androgenrezeptor 1135, 1147 Androgenunsensitivitätssyndrom 1160 anemia of chronic disease (ACD) 759 Aneuploidie 163, 178 Aneurysma spurium 508 aneurysmatische Knochenzyste 508 Anfallsharn 1444 angiogener Switch 294 Angiogenese 291, 295, 936, 988 – Intussuszeption 295 – sprossende Angiogenese 295 Angiogeneseinduktoren 298 Angiogeneseinhibitoren 301 angioimmunoblastisches T-Zell-Lymphom (AITL) 1561 Angiopioetin-1 300 Angiopoietin-2 300 Angst 654 – Edmonton Symptom Assessment Scale (ESAS) 655 – Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS) 655 – Rotterdam Symptom Check List (RSCL) 655 Aniridie 1497, 1503, 1504 Anitiandrogene 1153 anorektales Melanom 905 anorektisches Syndrom 284
Anorexie 632 – Cannabinoide 632 – Kortikosteroide 632 – Metoclopramid 632 – Progesteronanaloga 632 Anpassungsstörung 656, 660, 711 Antagomirs 99 anteriore Rektumresektion 876 Anthracendione 428 Anthrazyklin-haltiges Therapieschema (AC) 975 Anthrazykline 428, 984, 985, 987, 1258 anthroposophische Medizin 597 Anti-EGF-Rezeptor Antikörper 432 Anti-GD2-Antikörper 1491 Anti-VEGF-Antikörper 1240 Antiandrogene 267, 268, 271, 429, 1148, 1149 – Flutamid 267 – Zyproteronazetat 267 Antiangiogenesesubstanz 999 – Bevacizumab 999 antiangiogene Tumortherapie 303 Antidepressiva 661, 700 – andere Antidepressiva 661 – Psychostimulanzien 661 – Serotonin-Reuptake-Hemmer 661 – trizyklische Antidepressiva 661 Antifolate 420 Antihypertensiva 1444 Antikarzinogene 282 Antikoagulation – therapeutisch 790 Antikörper 330, 890 – gegen CD20 1775 Antikörpermangel 769 Antilymphozytenglobulin 1627 Antimetabolite 414, 420, 892 – Antifolate 414 – Pseudo-Pyrimidine-Triazene 415 – Purinanaloga 414 – Pyrimidinanaloga 415 antimikrobielle Prophylaxe 771 antimikrobielle Therapie 771 Antimykotika 779 antineoplastische Substanzen 413 – Einteilung 413 Antiöstrogen 190, 429, 983 Antiphlogistika 858 Antiphospholipid-Antikörper 788 Antipromotion 189, 190 Antipromotoren 282 Antithymozytenglobulin 555 Antitumortherapeutika 412 – Wirkungsmechanismen 412 APAF-1 156 APC 103, 327 APC-Gen 188, 855 APC/C 170
A–B
Stichwortverzeichnis
aplastische Anämie 109 Apopotose 227 Apoptose 89, 92, 118, 152, 187, 247, 278, 444, 565, 1676 Apoptosom-Komplex 158 Apparatemedizin 739 Appellebene 731 APUDom 1460 Äquipotenzdosierungen 690 Äquivalenzdose 565 Ara-C 1714 Arabinosylcytosin-Ara-C 1713 Argon-Laser-Koagulation 1292 Argonplasmakoagulation (APC) 492 Aristolochiasäure 203 Aromatase 266 Aromatasehemmer 429, 981 aromatische Amine 199 Arsen 207 Arsen-Trioxid (ATO) 1641, 1667 Arsentrioxid 1627 Arteriogenese 295 arteriovenöse Fisteln 508 Arzneimittelgesetz (AMG) 560 Arzt-Patient-Beziehung 731 Arzt-Patienten-Verhältnis 371 Ärzte 604 ärztliche Emotionen 732 – Carl Rogers 732 ärztliche Sterbebegleitung 716 Asbest 216, 275, 1251 Askin-Tumor 1379 Asparaginase 428 Aspergillose 778 Aspergillus 777 Aspirin 1748, 1749, 1753 aspirin-like-defect – erworbenes 785 Asplenie, funktionelle 769, 780 Astler und Coller 863 Aszendorektostomie 874 Aszites 641 – Parazentese 642 – Schleifendiuretika 642 – Shunt-Anlage 642 – Spironolacton 642 Ataxia-Teleangiectasia (AT) 959 Ataxia teleangiectasia 124 Ataxia teleangiectatica 150 Ataxie-Opsomyoklonus-Syndrom 1491 ATG 1627 Ätiologie 1105, 1529 – Autoimmunerkrankung 1530 – Chlamydia psitacii 1531 – Epstein-Barr-Virus 1531 – familiäre Disposition 1106 – Helicobacter-pylori-Infektion 1531 – Hepatitis C 1531 – HIV 1531 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
– Infektion 1106, 1531 – Kanzerogen 1105 – medikamentöse Immunsuppression 1529 – Pestizid 1531 – Zigarettenrauch 1105 Ätiologie und Risikofaktoren 1673 ATM 92, 122, 124, 1724 ATRA 1641 – -Syndrom 1665 atriales natriuretisches Peptid (ANP) 759 Atypien mit unklarer Bedeutung 1109 atypische Leberresektion 502 atypische lobuläre Hyperplasie 979 Aufklärung 483 Augenmuskelparese 1275 Ausscheidungsurogramm 1115 Aussichtslosigkeit 737 autoimmunhämolytische Anämie 1726, 1728, 1731, 1737 Autoimmunthrombozytopenie 784, 1726, 1728 Autoimmunzytopenien 1737 autologe Knochenmark- und Stammzelltransplantation 1661 autologe Knochenmarktransplantation 1663 autologe Stammzellentransplantation 1713 autologe Stammzelltransplantation 547, 1638, 1738 autologe SZT 1692 Autonomie 728 – Immanuel Kant 728 – John Stuart Mill 728 – Wünsche erster Ordnung 728 – Wünsche zweiter Ordnung 728 Autonomie des Patienten 623 Autonomiefalle 729 Autopsiestudien 1437 Axilladissektion 1424 Ayurveda 597 5-Aza-2’Desoxycytidin (Decitabine) 1625 5-Azacytidin 1625 Azacytidin 1633, 1670 Azetaldehyd 218, 1303 Azetylierung 200 Azetylsalizylsäure 1605 Azofarbstoffe 199
B B-ALL 1679 B-RAF-Gen 1412 B-RAF-Mutation 1431 B-Symptome 367 B-Vorläufer-ALL 1679 – Asparaginase 1679 – Hochdosis-Methotrexat 1679 – monoklonaler Antikörper 1679
B-Zell-Lymphom 232, 234 B-Zelle 1591, 1592, 1607 BAALC 1645 BAK 156 Balanitis xerotica et obliterans 1214 Balanitis xerotica obliterans 1212 Baldrian (Valeriana officinalis) 607 – Wechselwirkungen 607 Ballondilatation 492, 505 ballonexpandierbare Stents 506 Bariumbreischluck 378 Bariumkontrasteinlauf 859 Barrett-Ösophagus 487, 797, 799, 801 – Überwachungsprogramm 801 Basaliome 30 Basalzell-Nävus-Syndrom (7 GorlinSyndrom) 149 Basenexzisionsreparatur 121 Basophile 1707 BAX 156 BCL-2 153 – BAX 154 – CED-3 153 – CED-4 153 – CED-9 153 BCL-2-Antagonisten 160 BCL-xS 156 BCL2 89 BCR-ABL 1704 BCR-ABL-negative CML 1719 BCR-ABL-Punktmutationen 1714 BCR-ABL-Rekombination 81 BEAC 550 BEACOPP 1637 BEAM 550 Beckenexenteration 896 Beckwith-Wiedemann-Syndrom 117, 1439, 1497, 1503 Becquerel 440 Begleitinfiltrat 21 Behandlungen mit nachgewiesener Wirksamkeit 1633 Behandlungsfehler 733 Behandlungspflicht 737 belassener Tumorherd 994 – Überlebensprognose 994 Bence-Jones-Protein 1596 Bendamustin 984, 1602, 1736 Benz(a)pyren 182, 197 Benzo(a)pyren 95, 279 Benzodiazepine 658 Benzol 201, 277, 1638 BEP-Schema 1033 Beschleuniger 439 Beschwerdesymptomatik 366 – pertinent negatives (Auftreten von Symptomen) 366 – pertinent positives (Auftreten von Symptomen) 366
Stichwortverzeichnis
besondere Therapierichtung 605 – Arzneimittelgesetz 605 – Sozialgesetzbuch 605 Bestfallanalyse 599 Bestrahlung 505, 1001, 1082, 1638 – Dosierung 1001 – Ganzabdomenbestrahlung 1001 Bestrahlung beim Ovarialkarzinom 1001 Bestrahlungsplanung, rechnergestützte 440 best supportive care 1430 Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) 687 Bethesda-Kriterie 853 Bevacizumab (Avastin) 295, 432, 891, 988, 1101, 1103, 1432 Bevölkerungszahl 743 Bewältigungsstrategien 713 Beziehungsebene 730 bias 49 BID 155 Bildgebung 374 biliodigestive Anastomose 926 Bilirubin 924 Bindehautmelanom 1298 Bindehautmelanose 1298 Binet 1726, 1727, 1731 Bioaktivierung 197 – erbliche Variation 210 – genetischer Polymorphismus 210 – kanzerogenes Risiko 210 biologische Targets 1001 – Anti-VEGF-Antikörpers Bevacizumab 1001 – antiidiotypischer Antikörper 1001 – Lonarfarnib 1001 – Vakzinierung 1001 Biomarker 63, 302 – für Exposition und interne Wirkung 63 – für Suszeptibilität 63 Biomonitoring 220 Biopsie 1388 Biopsieentnahme 376 BIRADS 356 Birt-Hogg-Dube Syndrom 1090 Bismuth-Klassifikation 926 Bisphosphonat 974, 988, 1150, 1155, 1606, 1607 BK-Mole-Syndrom 1409 Blasenkarzinom 570 Blasenmole 1022, 1025, 1027, 1028, 1029, 1030, 1036 – Diagnostik 1028 – invasiv destruierende 1023, 1024 – invasive 1029, 1031, 1037 – – Mole 1022 – komplette 1022, 1023, 1024, 1027, 1028, 1030, 1031, 1035, 1036, 1037 – Nachsorge 1035 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
– partielle 1022 – Symptomatik 1027 – Therapie 1029, 1035 Blastenkrise 1707, 1718 Bleomycin 204, 428 Bloom-Syndrom 126, 150 Blut-Hirn-Schranke 987 Bluthochdruck 1438 Blutkomponente 613 – Übersicht 613 Blutkultur 772 Blutleere 509 Blutstammzellapherese 544 Bluttransfusion 865 Blutung 783, 1751 – irregulär 1080 – postmenopausale 1080 – uterine 1028 – vaginale 1027, 1028, 1036 Blutungs- und Infektionsprophylaxe 1687 – APC-Resistenz 1687 – bakterielle Infektion 1687 – fungale Infektion 1687 – Gerinnungsparameter 1687 – Granulozytopenie 1687 – Thrombozytentransfusion 1687 Blutungsneigung (hämorrhagische Diathese) 762 Blutverlust 511 Blutviskosität 1747 BMI-1 1620 Boostkonzept 882 Borrmann-Klassifikation 821 Bortezomib 1600, 1601, 1602, 1603, 1605, 1606, 1607 bösartiger Lungentumor 274 Bougierung 492 Bowenoide Papulose 1070 Brachytherapie 440, 466, 492, 902, 905, 1080, 1237, 1293 – HDR 466 – interstitiell 466 – intrakavitär 466 – intraluminal 466 – intravaginale 1082 – LDR 466 BRCA1 71, 122, 125, 259, 264, 267, 957, 968 BRCA1-Gen 6, 955, 1131 BRCA1/2-Mutation 349, 356 BRCA2 71, 122, 259, 264, 267, 955, 957 BRCA2-Gen 124, 1131 Brillenhämatom 1491 Bronchialkarzinom (7 Lungenkarzinom) 14, 27, 378, 394, 749 – kleinzellig 27 Bronchoskopie 1231 Brustkrebs, familiär (7 Mamma-/Ovarialkarzinom, familiär) 134 Brustkrebsmortalität 969
BSD-2000-System 570 Budd-Chiari-Syndrom 789 Büffelrücken 1440 bulbuserhaltende Therapie 1295 Burkitt-Lymphom 88, 232, 233, 1557, 1558 – Therapie 1558 Busulfan 1712, 1750 Busulphan 1389 BWS 1504
C C-11-Metomidat 1448 C-MYC 156 C-MYC-Aberrationen 1681 C/EBPα 1640 CA125 393 CA15-3 393 – Mammakarzinom 393 – Ovarialkarzinom 393 CA19-9 921 CA72-4 392 CAD 154 Cadherin-Gene 955 Cadmium 207 Calretinin 34 Campath-1H 1738 Camptothecin 885 Cancer-Control-Programm 347 Cancer-Testis-(CT-)Antigene 332 – BAGE 332 – GAGE 332 – MAGE 332 – Nicht-X-CT-Antigene 332 – NY-ESO-1 332 – X-CT-Antigene 332 Cancer Antigen 19-9 391 Cancer family syndrome (CFS) 6 Cancer of unknown origin (CUO) 1779 – ACUP 1779, 1783, 1785 – Antikörper 1785 – Basisdiagnostik 1784 – Genexpressionsanalyse 1780, 1786 – Hirnmetastase 1790 – NeCUP 1779, 1783, 1786, 1789 – Prognosefaktor 1781 – SqCUP 1779, 1783, 1786 – UCUP 1779, 1783, 1785 cancer procoagulant 787 Candidämie 777 Candidaspezies 776 Capecitabin (Xeloda) 424, 885, 889, 984, 985 Capecitabine 928 Carboplatin/Paclitaxel 999 Carcinoma in situ (CIS) 1044, 1109, 1163 carcinoma of unknown primary 1332
B–C
Stichwortverzeichnis
Caroli-Syndrom 920 Caspase-3 154 Caspase-8 154 Caspase-9 156 Caspase 153 Caspofungin 775, 779 Cast-Nephropathie 1596 Castleman-Krankheit 234 β-Catenin 103, 187 – -Signaltransduktionsweg 1411 Cava-Schirm-Filter 790 Cavografie 505 CBFβ/MYH11 1641, 1651, 1653 CD117 516 CD133 541 CD135 517 CD20-Antikörper (7 auch Rituximab) 12 CD34 541 CD40-Ligand 581 CD44 314 – variante CD44-Isoformen 314 CD44-Expression 1488 CD95 154 CD95-Ligand 155 CD99 1379 CDK 164, 165, 167, 168, 169, 170, 171, 172 CDK-Inhibitoren 171, 180 CDK1 166 CDKN2A-Gen 1414 CEA 390, 393, 394, 921 – kolorektales Karzinom 390, 393, 394 – Lungenkarzinom 394 – Mammakarzinom 393, 394 CEA-Wert 866 CEBPA 1645, 1655 Ceiling-Effekt 689 CEL 1762 Cervantes-Score 1756 Cetuximab 432, 1318 Cetuximab (IMC-C225, Erbitux) 890 CGH (comparative genomic hybridization) 105 ch14.18 1493 CHAMOCA-Schema 1035 Charakterisierung biologischer Mechanismen 1677 Charlson-Score 748 CHEK2 94 Chemical Shift Imaging (CSI 1446 Chemikalien 277 chemische und andere Kanzerogene 1674 – myelotoxische Chemikalien 1674 – Pestizide 1674 Chemoembolisation (TACE) 502 Chemoprävention 190, 353, 858 Chemotherapie 250, 880, 1237, 1359, 1386, 1687 – Cisplatin (DDP) 1360 – Doxorubicin (Adriamycin) 1359 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
– – – – – –
Erhaltungstherapie 1687 Ifosfamid (IFO) 1360 kleinzelliges Lungenkarzinom 1237 Konsolidierungszyklen 1687 Methotrexat (MTX) 1359 nicht kleinzelliges Lungenkarzinom 1238 – VAC 1389 – VAI 1390 – VIDE 1390 – ZNS-Prophylaxe 1687 Chemotherapie, adjuvant 1425 Chirurgie 1261 – extrapleurale Pneumonektomie 1261 – thorakoskopische Pleurodese 1262 chirurgische Behandlung 1052 – intraperitonealen Tumoraussaat 1052 – Lymphonodektomie 1052 – Sentinel-Lymphknoten 1052 chirurgische Onkologie 470 chirurgische Prävention 970 chirurgisches Staging 1051 – intra- und retroperitonealen Ausbreitung 1051 – Laparoskopie 1051 – Lymphknotenstatus 1051 – operatives Staging 1051 Chlorambucil 1725, 1730, 1732, 1733, 1734 Chlorom 1646 cholangioläres Karzinom 496 cholangiozelluläres Karzinom 26, 494 Cholangitis 494, 498 Choledochusstenose 495 Cholestase 494 Cholestaseparameter 924 Cholezystektomie 926 Chondrosarkom 26, 1373 – Chondrosarkomentitäten (nach WHO) 1373 – Geschlechtsverteilung 1373 – Lokalisation 1373 – prädisponierende Erkrankungen 1373 CHOP 1734 Chordotomie 707 Choriongonadotropien (HCG) – humanes 1028 Choriongonadotropin 263, 1023 Chorionkarzinom 1002, 1022, 1023, 1024, 1025, 1027, 1028, 1029, 1030, 1031, 1032, 1033, 1035, 1036, 1037 – Diagnostik 1028 – Nachsorge 1035 – primäre 1002 – schwangerschaftsassoziiert 1002 – Symptomatik 1027 – Therapie 1029, 1035 Chorionzotten 1023, 1024 Chrom 207 chromaffine Zelle 1440
Chromatidaustausch 1746 Chromogranin 1463 Chromogranin A 1469 Chromosom 12 279 chromosomale Aberration 1107, 1251 chromosomale Deletion 278 chromosomale Instabilität 100 chromosomale Translokation 1675 – MYC-Gen 1675 – Protoonkogen 1675 – somatische Mutationen 1675 Chromosomen-Rearragements 278 Chromosomenbruch 279 Chromosomenbrüchigkeit 126 Chromosomeninstabilität 102 Chromosomeninstabilitätssyndrom 150 Chromosomentranslokation 213 chronische eosinophile Leukämie (CEL) 1762 chronische GvHD 559 chronische idiopathische Myelofibrose 1755 chronische lymphatische Leukämie (CLL) 581 chronische myeloproliferative Erkrankungen 36 chronische Neutrophilenleukämie (CNL) 1760 CHRPE 861 Ciprofloxacin 774 Cisplatin 197, 502 Cisplatin und Analoga 1259 Cladribin 1734, 1736 Cladribin = 2-Chlordesoxyadenosin (2-CdA) 422 Clavulansäure 774 CLL 160 Clonidin-Suppressionstest 1444 Clusterbildung (7 Cluster) 62 CMF 975, 978, 985 CML (7 auch chronisch myeloische Leukämie) 12 CMML 1616, 1621, 1624 CNL 1760 CNV (copy number variation) 68 Cockayne-Syndrom 121 Coley’s Toxin 336 Colitis Crohn 851 Colitis ulcerosa 851, 859 Colon ascendens 872 Colon descendens 874 Colon transversum 873 colony-forming unit granulocyte (CFU-G) 519 common(c)-ALL 1679 Common Toxicity Criteria 408 Comparative-Genomic-Hybridization 1439 Compliance 371 Composite Phäochromozytome 1439
Stichwortverzeichnis
Computertomografie (CT) 374, 375, 481, 1115, 1384, 1437, 1598 Condylomata accuminata 226 Condylomata acuminata 1214 confounder 49 cord blood 545 core binding factor (CBF) Transkriptionsfaktor-Komplex 1639 Corticotropin-Releasing Factor (CRF) 1442 Cowden-Syndrom 148, 854 CRAB-Symptome 1601 CRF-Stimulationstest 1442 CRM (circumferential resection margin) 880 Cronkhite-Canada-Syndrom 854 Crotonöl 182 CT-Angiografie 505 CT-Fluoroskopie 482 CT-Kolonografie 859 CT-Koloskopie 377 CTLA-4 1431 CUP 395 – Tumormarker 395 CUP-Syndrom 1332 Cushing-Syndrom 759, 1440 Cutting Balloon 506 Cy/ATG 550 Cy/TBl 550 Cyber-Knife 1277 Cyclin 164, 165, 166, 167, 168, 169, 171, 172 cyclinabhängige Kinase (CDK) 163 Cycline 95 Cyclophosphamid 197, 204, 1730, 1732, 1733, 1736 cyclosome 170 Cyclosporin A 1627 CyEP 544 CYFRA21-1 394 CyPaclitaxel 544 Cystitis – hämorrhagische 1390 Cytarabin 425 Cytosinarabinosid 425 Cytosin Arabinosid (Ara-C) 1627, 1659 Cytosindeaminase 584
D Dacarbazin 1429 Dakryozyten 1756 DALM 860 Dancing-Eye-Syndrom 1491 Darbepoetin 528 Darmkrebs – Adenom-Karzinom-Sequenz 137 – familiär 137 darwinistisches Prinzip 184 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
Dasatinib 1714 Daunorubicin 1659 DC 327 death-inducing signalling complex 155 Debulking 1055 – Überlebensvorteil 1055 Decitabine 1633 Defensivrecht 728 definitive Operation 1365 – ablative Verfahren 1365 – extremitätenerhaltende Operationstechniken 1365 – Indikation zu einer extremitätenerhaltenden Tumorresektion 1365 – Resektionsgrenze 1365 – Zeitpunkt 1365 Degeneration 763 – zerebellär 763 5q-Deletion 1613 Deletion 239, 1676, 1723 – Chromosom 9, SIL-TAL1 auf 1p32 1677 – P15INK4B 1677 – P16INK4A 1677 – Retinoblastomsuppressorgen (RB) 1677 – 11q22-23 1724 – 13 (13q14) 1724 – 13q14 1724 – 17p 1610 – 20q 1620 – 5q 1614 – bei 5q31 1617 – Chromosom 11 1486 – Chromosom 11q 1486 – des kurzen Arms von Chromosom 1 (1p) 1486 – 7q, 5 (-5 oder 5q-) 1610 Delir 656, 752 delirantes Syndrom 662 – terminales Delir 663 Delta-Liganden 299 Demenz 747, 748 demethylierende Substanz 1714 demografische Entwicklung 743 dendritische Zelle 582, 1431 Denys-Drash-Syndrom 1497, 1498, 1504 deontologische Normenethik 726 Depression 658, 747, 748 – kognitive Technik 661 – Psychotherapie 661 Dermatomyositis 765 DES (7 Diäthylstilböstrol) 1079 Desmoide 852 Desmoplasie 313 desmoplastisches Melanom 1419 11-Desoxy-Cortisol 1443 Despressionsfragebogen 714 – BDI 714 Deszension 1164 – operative 1164
deterministische Strahlenwirkung 245 Deutsche Hodgkin-Lymphom Studiengruppe (DHSG) 1580 Dexamethason-Hemmtest 1442 Diagnostik 1342, 1537, 1622, 1683, 1685 – Anamnese und klinische Untersuchung 1342 – bildgebende 939 – – Verfahren 1538 – Biopsie 940 – Differenzialblutbild 1683 – FDG-PET-Untersuchung 1343 – Feinnadelpunktion 1344 – klinische Untersuchung 1538 – Labor 940 – Labordiagnostik 1342 – Laboruntersuchung 1538 – MRT 1343 – obligatorische Knochenmarkuntersuchung 1683 – Sonografie 1343 – Szintigrafie 1343 – Zytologie 1344 diagnostisches Verfahren 1049 – Aussagekraft 1049 – Prognose 1049 diagnostisches Vorgehen 1356, 1375 – Basisdiagnostik 1375 – Bildgebung 1356 – Biopsie 1356 – klinische Untersuchung 1356 – Labor 1356 – offene Probeexzision 1375 – spezielle Tumordiagnostik 1375 Diarrhö 772, 887 Diathese-Stress-Modell 710 Diäthylstilböstrol 1079 Dieselabgase 221 Differenzialblutbild und Laborwerte 1683 – Leukozytopenie 1683 – Leukozytose 1683 Differenzialdiagnose 1116, 1686 – biphänotypische Leukämie 1686 Differenzierung, neuroglial 1379 Differenzierungsantigene 333 – Autoimmunphänomene 333 – GP100 333 – Melan-A/MART-1 333 – Tyrosinase 333 Differenzierungsgrad 39, 865 diffuser Hyperinsulinismus 1472 diffuses großzelliges B-Zell-Lymphom 28, 1545 – allogene Stammzelltherapie 1554 – Chemotherapie 1548 – Dosisintensivierung 1549, 1553 – extranodaler Befall 1546 – Hochdosistherapie 1551, 1554 – – mit Stammzelltransplantation 1552
C–E
Stichwortverzeichnis
– International Prognostic Index (IPI) 1546 – PET-CT 1550 – prognostischer Faktor 1546 – Rezidivtherapie 1554 – Rituximab 1549 – seltene Subentität 1555 – Stammzelltransplantation 1551 – Strahlentherapie 1550, 1551 digitale Subtraktionsangiografie-Technik (DSA) 508 18F-Dihydroxyphenylalanin-(DOPA-)PET 1450 Dihydrotestosteron 1130, 1135, 1147 dirty bomb 251 DISC 155 disseminierte intravasale Gerinnung (DIC) 1646 disseminierte Tumorzellen 866 2’-Desoxycoformicin = Pentostatin 421 DNA 239 – Bindung an 196 DNA-Addukt 220, 279 DNA-Damage/Stress-Response 159 DNA-Doppelstrangbrüche 88 DNA-Ethylguanin-Methyltransferasen (MGMT) 584 DNA-Glykosylase 121 DNA-Methylierung 111, 856 DNA-Microarray-Studien 1439 DNA-Mismatch-Repair-Gen 853 DNA-Reparatur 92, 110, 118, 214 – Basenfehlpaarung (Mismatch) 121 DNA-Reparaturgen 188 DNA-Reparaturmechanismus 1673, 1676 DNA-Reparatursystem 130 – Basenexzisionsreparatur (BER) 130 – Basenfehlpaarungsreparatur (MMR) 132 – Doppelstrangbruchreparatur 132 – Nukleotidexzisionsreparatur (NER) 130 DNA-Replikation 108 DNA-Schaden 212, 443 DNA-Schädigung 278 DNA-Sequenzanalyse 863 DNA-Strangbruch 215 DNA-Transfektionsassay 73 DNA Hypomethylierung 115 Docetaxel 984, 1149, 1150 Donorlymphozyten (DLI) 1664 Dopamin 1441 Dopaminagonist 1444 Doppel- oder Single-Ballon-Endoskopie 489 Doppelinduktion 1660 Doppelstrangbruch 122 Doppeltransplantation 1604 Dosierung 1001 Dosis 249 Dosis-Volumen-Histogramm 460 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
Dosis-Wirkungs-Beziehung 246, 274, 404, 441 Dosisabfall 439 Dosisanpassung 408 – Leberfunktionsstörung 409 – Nierenfunktionsstörung 410 Dosisaufbau 439 Dosiseskalation 452 Dosisrate 252 Double-Stapling-Technik 876 double minutes 83 Down-Syndrom 1637 Doxorubicin 502, 975, 984 Drainagen 492 Droloxifen 981 DSA 501 Dukes 863 duktales Carcinoma in situ (DCIS) 978 Dunkelfeldmikroskopie nach Enderlein 590 Dünndarmkarzinom 493 Dünndarmtumor 842 – Adeno 843 – Adenokarzinom 844 – adenomatöse Polyposis (FAP) 844 – adjuvante Chemotherapie 846 – Ätiologie 842 – Chemotherapie 846 – CT-Untersuchung 845 – Dünndarmobstruktion 845 – Dünndarmpassage nach Sellink 845 – Dünndarmsarkom 844 – Epidemiologie 842 – FOLFIRI 846 – FOLFOX 846 – GIST 843, 844, 847 – gutartiger Tumor 842 – HNPCC 844 – Karzinoid 843, 845 – Lymphom 843, 846 – Prognosefaktor 844 – Risikofaktor 842 – Sarkom 843 – Stadieneinteilung 843 – Strahlentherapie 846 – Symptomatik 845 – Weichteilsarkom 847 Dünndarmtumor 489 Duodenaladenom 489, 852 Durchbruchschmerz 681 Dysästhesie 888 Dyserythropoese 1611 Dysgenesiesyndrom 1158 – testikuläre 1158 Dysgranulopoese 1612 Dyskeratosis congenita 109 Dyskinesie 888 Dysphagie 492, 1230 Dysplasie 228, 854, 1109, 1611
Dyspnoe 643 – Opioide 645 – Pleurakatheter 644 – Pleurodese 644 – Sauerstoff 645
E E-Cadherin-Gen 817 E2A-Gen 1676 EBUS 1232 EBV-Infektion 1774 EBV-spezifische zytotoxische T-Lymphozyten 1776 EC 985 Echinacea purpurea 607 Echtheit 716 ECOG-Performance-Status 367, 748 Edmonton Symptom Assessment Scale (ESAS) 655 EGF 258, 261, 265, 268 EGF-Rezeptor 1269 EGFR 956 EGIL-Gruppe 1658 Einflussstauung 505 Einverständnis 736 Eisbergtumor 1311 Eisenmangel 1749 Ekchymosen, periorbital 1491 ektopes ACTH-Syndrom 759, 1442 elektive Lymphadenektomie 1423 Elektroenzephalografie 1276 elektromagnetische Welle 567 Elektron 438 EMA/CO-EP 1035 EMA/CO-Regime 1033 EMA/CO-Schema 1034, 1036, 1037 – Fertilität 1036 EMA/CO-Therapie 1035 Embolisat 499, 508 Embolisation 507 embryonales Karzinom 28 embryonale Stammzelle 546 Embryonenschutzgesetz 560 Empathie 716 En-bloc-Resektion 472, 477 endodermale Sinustumore 993 endogener Faktor 1225 – Feldkanzerogenese 1225 – genetische Prädisposition 1225 – Mehrfachtumor 1225 endokriner Pankreastumor 937 Endokrinopathien 758 endoluminaler Thermistor 568 Endometriumhyperplasie 1007, 1014 – atypische 1007 – Therapie 1014, 1015, 1017
Stichwortverzeichnis
Endometriumkarzinom 379, 1007, 1078 – HNPCC 1018 – Lymphonodektomie 1015 – Strahlentherapie 1016 – Typ-1 1007 – Typ-2 1007 endoskopisch-palliative Therapie 492 endoskopische Drainage der Gallenwege 494 endoskopische Mukosaresektion (EMR) 484, 487 endoskopische Polypektomie 483 endoskopisches Stenting 495 endoskopische Submukosadissektion (ESD) 484, 487 endoskopisches Therapieverfahren 1240 – photodynamische Therapie (PDT) 1241 – therapeutische Bronchoskopie 1240 Endosonografie (EUS) 483, 484, 869 endosonografisch gesteuerte transgastrale Drainage 495 β-Endorphine 712 Endothelzelle 296 Endpunkt – klinischer 406 Endstadium 624 Energiedosis 439 Energiezufuhr 284 Enneking-Kriterium 1388 Entdifferenzierung 40 enterale Sondenernährung 503 Entgeltungssystem 15 Entzugssymptom 696 Entzündung 185 Enukleation 1293 Enzephalitis 763 – Hirnstammenzephalitis 763 – limbisch 763 Enzephalomyelitis 763 – paraneoplastisch 763 Eosinophile 1707 Eosinophilie 761, 1762 EP/EMA-Schema 1033, 1034, 1037 EPC (endothelial progenitor cells) 296 EpCAM 315 EphB-Rezeptoren 300 ephrinB-Liganden 300 Epidemiologie 44, 95, 279, 1673 – ätiologisch 44, 56 – deskriptiv 44, 46 – genetische 95 – molekulare 62 Epidermal Growth Factor (EGF) 259 epidermal growth factor receptor 1319 Epidermis 1416 Epidermodysplasia verruciformis 226 Epidermoidzysten 861 Epigenetik 111 epigenetische Mechanismen 188 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
epileptischer Anfall 1275 Epimutation 118 Epipodophyllotoxin 1638 Epirubicin 502, 984 Epitheldysplasie 860 epithelial-mesenchymale Transformation 309 epithelial-mesenchymale Transition 193 epitheliale Differenzierung 1252 epithelialer Ursprung 993 epitheliales Ovarialkarzinom 998 Epothilon 426 Epstein-Barr-Virus (EBV) 225, 231, 1303, 1577 – Genom 1303 Equipoise 740 erblich bedingte Krebserkrankung 129–130 erblicher Brust- und Eierstockkrebs 967 erbliche Tumorerkrankung 131 – humangenetische Beratung 133 – molekulargenetische Untersuchung 133 – Penetranz 132 – prädiktive Diagnostik 133 – Risikoperson 132 – Vererbung 132 Erbsubstanz 277 ERC 494 ERCP 925 erektile Dysfunktion 872, 1146 erektile Funktion 1144 Erfassung der Schmerzintensität 680 – numerische Analogskala (NAS) 681 – Schmerztagebuch 681 – Smiley-Skala 681 – verbale bzw. deskriptive Schmerzskala (VRS; verbal rating scale) 680 – visuelle Analogskala (VAS) 681 ERG-Gen 1380 Erhaltungstherapie 405, 1605, 1661, 1689, 1737 – 6-Mercaptopurin 1689 – Methotrexat (MTX) 1689 – MRD 1689 Ernährung 9, 259, 261, 263, 265, 266, 269, 271, 747 Ernährungs- und Umweltfaktoren 991 Ernährungsberatung 590 Ernährungsempfehlung zur Verminderung des Tumorrisikos 283 Ernährungsfaktor 991 Ernährungsstörung 283 Ernährungstherapie 284, 285 erweiterte Aktivitäten des täglichen Lebens (AADL) 747 erweiterte Cholezystektomie 926 Erwinase 428 Erythema gyratum repens 767 Erythema necrolyticum migrans 765
Erythrodermie 766 Erythromelalgie 1746, 1751 Erythroplasie Queyrat 1070, 1212, 1214 Erythropoese stimulierende Faktoren 528 Erythropoetin (EPO) 527, 759, 1094, 1596, 1606, 1626, 1748, 1758 Erythropoietinrezeptor 1745 Erythrozytenkonzentrat 613 – Autoimmunhämolyse 615 – Bedside-Test 614 – Grenzwert 620 – Hämoglobingrenzwert 613 – Indikation 613 – Kontraindikation 614 – Nebenwirkung 614 – Transfusionsgeschwindigkeit 614 Erythrozytose 1094 – idiopathische 1746 ESBL 778 essenzielle Thrombozythämie (7 Thrombozythämie, essentielle) 1748, 1750 Ethanol 194 Etoposid 188 ETS-Transkriptionsfaktorfamilie 1380 ETV1-Gen 1380 ETV4-Gen 1380 Euro-Ewing-99-Studie 1389 EUS 828, 1232 EUS-gesteuerte Feinnadelpunktion (EUS-FNA) 483 Euthanasie 727, 737 Evans-Klassifizierung 1489 Ewing’s sarcoma family of tumors 1379 Ewing-Sarkom 28, 1379 Ewing-Tumor 1379 – extraossär 1383 EWS-Gen 1380 Exanthem 371 Exemestan 976, 981, 982 existenzielle Angst 732 exogener Faktor 1224 – Asbest 1224 – ionisierende Strahlen 1224 – Nikotinkonsum 1224 – Passivrauchen 1224 Exon 1704 Exposition 63, 220 – endogen 63 – exogen 63 – Wirkung einer Exposition 63 Exposition 275 Expressions-Array 1488 Extended-field-Bestrahlung 1584 externe (Einwege-) biliäre Drainage 498 externe Kontamination 253 externe Strahlenexposition 242 extragonadales Keimzelltumor-Syndrom 1783, 1784 extramedulläre Hämatopoese 1756
E–F
Stichwortverzeichnis
extramedulläre Manifestation 1646 extramedulläre Blutbildung 1755 extranodales Marginalzonenlymphom (MALT-Lymphome) 1565 – Ann-Arbor-Stadieneinteilung der Magenlymphom 1567 – extragastrales Marginalzonenlymphom 1568 – Helicobacter-Eradikationstherapie 1568 – Helicobacter-pylori-Infektion 1566 – Marginalzonenlymphom des Magens (MALT-Lymphom des Magens) 1565 – molekulare Diagnostik 1566 – Operation 1567 – Strahlentherapie 1567 extrauterine Gravidität 1029 Extrauteringravidität 1024, 1030 Extravasation 309 extrazelluläre Matrix 312, 315 Exzisionsreparatur 121 – transkriptionsgekoppelte 121
F »Feed-forward«-Programm 311 F-18-Deoxyglukose (FDG) 377 F-DOPA-PET-CT 1450 FA-Komplex 124 FAB-(French-American-British-)Klassifikation 1647, 1677 – Subgruppe L1 1677 – Subgruppe L2 1677 – Subgruppe L3 1677 FAB-Klassifikation/WHO-Klassifikation 1615 FAC 985 Faggot-Zelle 1648 Fahrtüchtigkeit 698 Fall-Kontroll-Studie 350 Fallpauschale 15 – DRG (diagonosis related groups) 15 familiäre adenomatöse Polyposis (FAP) 10, 71, 137, 141 familiäre Gentestung 359 familiäre juvenile Polyposis coli 854 familiäres Schilddrüsenkarzinom 1337 – Carney’s Complex 1337 – Cowden’s Disease 1337 – familiäres PTC 1337 – Gardner’s Syndrom 1337 – Turcot’s Syndrom 1337 familiäre Thrombozytopenie 1639 Familie 671 Familienanamnese 369, 859 Familienspender 1664 Familienspender-SZT 1691 Fanconi-Anämie 124, 150, 1504, 1638 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
FAP 851 Färbemethode 484 Farnesyltransferase 1432 Farnesyltransferase-Inhibitoren 1670 Farnesyltransferaseinhibitoren 79 Faserstoff 849 Fast-Track-Chirurgie 878 Fazialisparese 1311 FDA (Food and Drug Administration) 367 18F-FDG-PET 1448 FEC 985 Feinnadel-Katheter-Jejunostomie (FKJ) 288 Feinnadelaspirationsbiopsie (FNAB) 481 Feinnadelaspirationszytologie (FNA) 1446 Feldkanzerisierung 1303 Fenestrierung 304 Fernmetastasierung 877, 1422 Ferrara, Napoleone 292 Fertilität 1037 α-Fetoprotein-(AFP) 912 FEV-Gen 1380 Fibrate 219 Fieber unklarer Genese 773 FIGO 1046 – klinische Stadieneinteilung 1046 Filgrastim 519, 780 Finsterid 1131 FIP1L1-PDGFRα 1762, 1763 Fischöl 285 FISH 1724, 1725 FISH-Technik 986 Fistel 1082 FLAMSA-RIC 1664 Flare-up Phänomen 1147 flat adenomas 855 Flavopiridol 1736 FLI-1-Gen 1380 FLT3 1655 FLT3 (D835) 1644 FLT3-Gen 1644 Flt3-Inhibitoren 1676 FLT3-ITD 1655 FLT3-ITD-Mutationen 1644 FLT3-Ligand 517 FLT3-LM 1642 FLT3-TKD 1645 FLT3-TKD-Mutation 1653 Fluconazol 771 Fludarabin 1725, 1732, 1734, 1735, 1736 Fludarabinphosphat 423 Fluoreszenz-Angiografie 1291 Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) 1704, 1724 Fluorochinolone 771 5-Fluorouracil (5-FU) 423, 502, 883, 984, 903 Fluoroskopie 501 Fluorouracil 927 Flush-Syndrom 765
fokaler Hyperinsulinismus 1472 FOLFIRI 889 FOLFOX 889 Folgen der Strahlentherapie 457 Folkman, Judah 292 follikuläres Lymphom 1541 – allogene Blutstammzelltransplantation 1545 – Chemotherapie 1542 – Follicular Lymphoma International Prognostic Index (FLIPI) 1542 – Immunhistologie 1541 – Interferon α 1543 – Inzidenz 1542 – Knochenmarkbefall 1542 – Kombination aus Chemotherapie und Rituximab 1542 – myeloablative Therapie mit autologer Stammzelltransplantation 1544 – Rezidivtherapie 1544 – Therapie begrenzter Stadien 1542 – Therapie fortgeschrittener Stadien 1542 – Translokation t(14; 18) 1541 – Vakzinationsverfahren 1545 follikuläres Schilddrüsenkarzinom 1338 Folstein 747 Formaldehyd 219 Fotemustin 1430 Fraktionierungsschemata 452 Frasier-Syndrom 1498 Frauen 265 freier PSA 395 Fremdspender 1664 Fremdspender-SZT 1691 – GvL-Effekte 1691 Fremdspendertransplantation 1693 – MRD-Hochrisiko 1693 – Rezidivpatient 1693 – Teilremission 1693 Frühdiagnose 279 Früheffekt 442 Früherkennung 64, 858, 859, 861, 1112, 1341, 1682 Frühmortalität 1689 – Blutung 1689 – Infektion 1689 – Organtoxizität 1689 – systematische Infektionsprophylaxe 1689 Frührezidiv 1000 Frühsymptom 995 FS-HAI 1664 FSH 261, 267 FSH follikelstimulierendes Hormon 265 5-FU 883 Fulvestrant 981, 983 funktioneller Status 746, 747, 748 funktionell nicht aktive endokrine Tumore 1468
Stichwortverzeichnis
Fürsorgeprinzip 729 Fusionsgen 1639 Fusionstranskript 1705 futility 737 FWT1 1498, 1501 FWT2 1501
G G-CSF 519, 520, 542, 780, 1668 Gallenblasenkarzinom 494, 919 Gallengangkarzinom 378, 919 Gallengangresektion 926 Gallengangstent 498 Gallengangsverschluss 498 Gallensäure 850 Gamma-Knife 1277, 1295, 1296 Gammaknife 463 Ganglioneuroblastom 1439 Ganglioneurom 1439, 1484, 1492 Ganzabdomenbestrahlung 1001 Ganzhautelektronenradiotherapie 465 Ganzhirnbestrahlung 1277 Ganzkörper-Strahlenbelastung 252 Ganzkörperbestrahlung 1389 Ganzkörperhyperthermie 568, 598 Ganzkörperphotonenradiotherapie 465 Gardner-Syndrom 137 Gastrinom 1467 gastrointestinaler Stromatumor (GIST) 33 gastrointestinales Symptom 630 Gatekeeper-Gene 22 Gaumenkarzinom 1316 Geburtenrate 743 gecoverte Stents 499 gefrorenes Frischplasma (GFP) 617 – Auftauen 618 – Indikation 617 – Nebenwirkung 618 – Quarantänelagerung 617 – virusinaktiviertes Plasma 617 Gelatine 499 Geld-Zähl-Test 747 Gemcitabin 425, 928, 984, 985 Gemtuzumab Ozogamizin (GOA-Anti CD33) 432, 1670 Gen-Umwelt-Interaktion 63 Genamplifikation 93, 213 Genamplikation 278 Gen 68 Genetik 1614 genetische Alteration 278 genetische Anamolie 274 genetischer Faktor 1673 – Ataxia teleangiectasia oder FanconiAnämie 1673 – Bloom-Syndrom 1673 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
– Trisomie 21 1673 – Zwillingspaar 1673 genetische Information 279 genetische Instabilität 192 genetische Randomisation 1692 genetischer Schaden 277 genetische Veränderung 1374 – hereditäre multiple Exostose 1374 – zytogenetische Veränderung 1374 Genexpression 1592, 1595 Genexpressionsanalyse 1613, 1652, 1677, 1786 – Microarrays 1677 Genexpressionsprofil 24, 107, 113, 1685 – Genexpressionsmuster 1685 Genfusion 1381 Genom 111 – androgenetisches 1023 – mitochondriales 111 genomic imprinting (7 Prägung, genomische) 1023 Genotyp-Phänotyp-Korrelation 71 Genpolymorphismen (7 Keimbahnmutation) 63 Gentherapie 576 gentoxisch 184 Gentransfer 577, 580 – aktive Immunisierung 580 – Antisense-Gen 580 – Rezeptorgen 580 – Suizidgen 580 – Tumorantigen 580 – Zytokingen 580 Geriatric Depression Scale (GDS) 747 geriatrische Assessment 747 geriatrische Onkologie 745 Gerinnungsstörung 784 German Multicenter Trials for Adult ALL (GMALL) 1693 – Alter 1693 – Immunphänotyp 1693 – initialer Leukozytenzahl 1693 – MRD 1693 – risikoadaptiertes Therapiekonzept 1693 – Risikostratifikation 1693 – Subgruppe 1693 – Therapieansprechen 1693 – Zytogenetik 1693 Gerson-Diät 590 Gesamt-Heilungsrate 1692 Gesamtdosis 882 Gesamtinzidenz 1673 Gesamtkrebsmortalität 275 Gesichtsfelddefekt 1275 Gesprächspsychotherapie 716 – klientenzentrierte 716 Gestagene 259, 260, 266, 271, 429, 982 – Chlormadinonazetat 260 – Megöstrolazetat 260
– Zyproteronazetat 260 Gesundheitsverhalten 712 Gewebekleber 509 Gewichtsverlust 283 Gewinnung von Blutstammzelle 522 Gingivahypertrophie 1646 Ginkgo (Ginkgo biloba) 607 – Wechselwirkung 608 Ginseng (Panax ginseng) 607 – Wechselwirkung 607 GIST 843 glatte Muskelzelle 300 Gleason 1143, 1146, 1150, 1152, 1154 Gleason-Score 1133, 1141, 1153 Glioblastom 571 Gliomatosis cerebri 1272 Gliome 104 Gliosarkom 1272 Glukagonom 1467, 1470 Glukokortikoid 1601, 1602, 1603, 1605, 1606, 1607 Glukokortikoidsubstitution 1442 Glutathiontransferase 210 Glykopeptid 775 GM-CSF 518, 542, 1668, 1670 GMALL-B-ALL/NHL-Studie 2002 (B-ALL) 1695 – Burkitt-like-NHL 1695 – Burkitt-NHL 1695 – Carboxypeptidase 1696 – Hämatotoxizität 1695 – Keratinozyten-Wachstumsfaktor 1695 – Leukovorin-Rescue 1696 – Mukositis 1695 – Mukositisprophylaxe 1695 – parallele intrathekale Therapie 1695 – Rituximab 1695 – Strahlentherapie 1695 – Therapieblöcke B und C 1695 – Urinalkalisierung 1696 – Vorphase mit C und PRED 1695 – Wässerung 1696 – Zyklen A und B 1695 GnRh-Analoga 970, 983, 1149 GnRh-Analogon 1147 GnRh-Antagonisten 1147 gonadale Stromatumor 35 Gonadendysgenesie 1497 Gonadotropine 991 – Östrogen 991 – ovarielle Androgenproduktion 991 – Progesteron 991 Gorlin-Syndrom (NBCCS) 149 Grading 39, 864 – genetisches 40 Graft-versus-Host-Erkrankung (GvHD) 559 Graft-versus-Leukemia-(GvL) 552 Graft-versus-Tumor-(GvT) 552 Granocyte 519
F–H
Stichwortverzeichnis
Granulopoetin 519 Granulosazelltumor 28, 994 Granulozytenkonzentrate 617 – Bereitstellung 617 – Indikation 617 – Nebenwirkung 617 Granulozytentransfusion 780 Granulozytopenie 769 Granulozytose 761 Granzyme B 158 Gray 439 Gray (Gy) 245 größter belassener Tumorherd 994 großzellige anaplastische Lymphome (ALCL) 1561 – Anaplastic-large-cell-lymphoma-Kinase (ALK) 1561 GTM-Klassifikation 1382 Guanethidin 1449 Gumprecht-Schollen 1728 GvH-Reaktion 1663 Gynäkomastie 1148, 1441
H H. pylori 816 HA-RAS-Gen 187 Hadronentherapie 466 Haemophilus influenzae 780 HAM 1660 Hämangioblasten 296 Hämangioblastom 1089 Hämangiom 842, 1089 Hamartom 1091 Hamartomatöse Polyposis 143 Hämatokrit 1748 Hämatom 1437 hämatopoetische Wachstumsfaktoren 1668 Hämatotoxizität 984 Hämaturie 509 hämolytisch urämisches Syndrom (HUS) 784 Hämophilie B 576 Hämoptysen 648 Hämorrhagie 784 Hämostase 762, 783 Hämotherapie 613 – Antikörpersuchtest 614 – Bestrahlen 618 – Blutgruppenbestimmung 614 – blutgruppengleich 616 – Dokumentation 620 – Infektion 619 – kompatibel im AB0-System 618 – Leitlinie 613 – Nebenwirkung 614, 616, 618 – Qualitätssicherung 614 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
– Rhesusfaktor 616 – Richtlinien 613 – Transfusionsgesetz 613 – Waschen 618 Hand-Fuß-Syndrom 890 Handlungspflicht 735 Hanteltumor 1311 haploidentische Mismatch-Transplantation 1692 haploidentische Nabelschnurbluttransplantation 1692 Haploinsuffizienz 91 Harnableitung 1118 – Colon conduit 1119 – Darmersatzblase mit kontinentem Urostoma 1119 – Ileum conduit (Bricker-Blase) 1118 – orthotope Darmersatzblase 1119 – Sigma-Rektum-Pouch (Mainz-Pouch II) 1119 – Ureterhautfistel (Ureterokutaneostomie) 1118 – Ureterosigmoidostomie (Coffey-Blase) 1119 Harnblase 275 Harnblasenkarzinom 379 Harnblasentumor 277 Harnblasenwandteilresektion 1120 Hasford-Score 1708 Hautatrophie 1441 Hautexanthem 891 Hautpapillom 78 Hautrötung 772 HCC 392, 503 – Tumormarker 392 HCC-Primärprävention 911 HCC-Risiko 908 HCC-Screening 912 HCC-Sekundärprävention 911 HCC-Stadieneinteilung 912 HCG (7 Choriongonadotropin) 394, 1023, 1024, 1025, 1026, 1027, 1028, 1029, 1030, 1031, 1035, 1036 – Hodentumor 394 HDAC 1691 HDMTX 1690, 1691 heat shock proteins (HSP) 565 Heilpraktiker 604 Heilung 406 Helicobacter pylori 816 Hemihepatektomie 926 Hemihypertrophie 1497, 1504 Hemikolektomie 872 – links 874 Hemiparese 1275 Hemmkörperhämophilie 762 Heparin 1593, 1605 hepatic arterial infusion (HAI) 503 Hepatikusgabelstenose 496
hepatische Funktion 746 hepatische Stammzelle 908 Hepatitis-B-Virus (HBV) 225 Hepatitis-C-Virus (HCV) 225 Hepatitis A 237 Hepatitis B 237 Hepatoblastom 28 Hepatotoxizität 1391 hepatozelluläres Karzinom (HCC) 27, 95, 378, 499 HER-2/NEU (ERBB2) 954, 955 HER-2/neu-shed-Antigen 393 HER2 83, 974, 986 HER2/neu 983 HercepTest 964 hereditäres (familiäres) endokrines Tumorsyndrom 1439 hereditäres kolorektales Karzinom 490 hereditäres nichtpolypöses kolorektales Karzinom (HNPCC) 10 Herpes-simplex-Virus 231 Herpesvirus Typ 8 (HHV-8) 225, 234 HES 1762, 1763, 1765, 1766 Heterogenie 72 Heteroplasmie 111 heterozyklisch aromatische Amine (HAA) 282 heterozyklische Amine 199 HIF (hypoxia-inducible factor) 299 High-dose-Interferon-α2b 1426 high-intensity focused ultrasound (HIFU) 1151 High-volume-Krankenhäuser 865 Hildegard-Medizin 597 HIPEC 573 hippokratische Maxime 726 Hirnstammenzephalitis 763 Hiroshima 252 Hirsutismus 1441 histogenetischer Differenzierungsmarker 30 histologische Begutachtung 481 histologische Typisierung 274 Histon-Code 112 Histon-Deacetylase-Inhibitoren 1667 Histon-Deacetylase 1 (HDAC1) 1640 Histonacetylierung 112 Histondeazetylaseinhibitor 116, 1432 Histonmodifikation 112, 115 Histopathologie 1225, 1338 – Adenokarzinome 1225 – diffuse idiopathische pulmonale neuroendokrine Zellhyperplasie (DIPNECH) 1226 – großzellige Karzinome 1225 – großzelliges neuroendokrines Karzinom 1225 – Karzinoide und atypische Karzinoide 1226
Stichwortverzeichnis
Histopathologie – kleinzellige Lungenkarzinom 1226 – neuroendokrine Morphologie 1226 – neuroendokriner Marker 1226 – Plattenepithelkarzinom 1225 – TTF 1 1225 Histoplasmose 1437 Hitzeschockprotein 565 HIV-assoziierte Neoplasie 1772 HIV-Infektion 1771 HLA-identer Familienspender 1663 HLA-kompatibel 554 HLA-Restriktion 1431 HLA-Typisierung 1647 HMBA 1625 HNO-Tumor 571 HNPCC (familiäres nichtpolypöses kolosekrales Karzinomsyndrom, hereditany non polyposis colorectal cancer) 6, 118, 122, 138, 849, 1006 HNPCC (7 Lynch-Syndrom) 137 HNPCC-Syndrom 358, 478 Hochdosis-Cytosin-Arabinosid 1690, 1691 – Induktionstherapie 1690 – Konsolidierungstherapie 1690 Hochdosis-Methotrexat 1690, 1691 – intensive Konsolidierungstherapie 1691 – Konsolidierungstherapie 1690 – Leukovorin-Rescue 1691 Hochdosischemotherapie 1638 Hochdosistherapie 549, 1592, 1595, 1601, 1602, 1603, 1604, 1605, 1606 Hochfrequenz-Ultraschallbehandlung (HIFU) 1155 Hochrisikopatient 1692 Höchstrisikopatient 1695 – allogene SZT 1695 Hodenatrophie 1441 Hodenhochstand (Kryptorchismus) 269 Hodenlymphom – primäre 1208 Hodentraumata 1164 Hodentumor 13, 394 – Tumormarker 394 Hodgkin-Lymphom 28, 36, 233 – Reed-Sternberg-Zelle 28 Hodgkin-Reed-Sternberg-(H-RS-)Zelle 1576 Holzstaub 1303 Homer-Wright-Rosetten 1381, 1482 Homing 546 Homoharringtonin 1625, 1714 homologe Rekombination 122 Homöopathie 597 Homoplasmie 111 Homotoxikologie 597 Homovanillinsäure 1492 Hormonantagonist 416 – Antiandrogen 416 – Antiöstrogen 416 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
– Aromatasehemmer 416 – Gestagen 416 – GnRH-Superagonisten 416 – Östrogene 416 Hormon 416 – Antiandrogen 416 – Antiöstrogen 416 – Aromatasehemmer 416 – GnRH-Superagonist 416 – Östrogen 416 Hormonersatztherapie 265, 266, 271 Hormonrezeptor 255, 256, 258 Horner-Syndrom 1230, 1491 Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS) 655 Hospize 624, 727 Hounsfield Units (HU) 1445 HOX-Familie 1677 HOX-Gen 1645 HPV (7 Human-Papilloma-Virus) 1070, 1079, 1303 HPV-Impfung 230 http://www. kompetenznetz-leukaemie.de 1700 Hughes-Grading 1483 Human-Papilloma-Virus (HPV) 1078 – Impfung 1079 humaner Papillomavirus 349 humanes T-Zell-Leukämievirus-Typ-1 235 Husten 647 Hybridsystem 568 Hybridvakzin 1431 Hydrokarbonsäure (PAH) 279 Hydroxyharnstoff 1749, 1753 5-Hydroxyindolessigsäure 1469 21-Hydroxylase-Mangel 1444 Hydroxyurea 428, 1712, 1754, 1758 Hydroxyureab,c 1748 hyperarousal 711 Hyperdiploidie 1592 hypereosinophiles Syndrom (HES) 1762, 1764 Hyperfibrinolyse 785 hyperfraktioniert akzelerierte Strahlentherapie 452 hyperfraktionierte Strahlentherapie 452 Hypergastrinämie 1469 Hyperinsulinismus 1466 Hyperkalzämie 648, 649, 758, 1094, 1214, 1591, 1596, 1599, 1600, 1601, 1606, 1607 – Bisphosphonate 649 – Furosemid 649 Hyperkeratose – palmar 766 Hyperkoagulabilität 787 Hyperkoagulobilität (Thrombophilie) 762 Hyperkortizismus 1442 Hyperleukozytose 1646, 1665 Hypermetabolismus 1441
Hypermethylierung 312 Hyperparathyreoidismus 80, 1470 hyperplastische Polypen 491 hyperplastisches Polyposis-Syndrom 491 hypertensive Krise 1441 hypertherme Extremitätenperfusion 1425 Hyperthermie 499 Hypertonie 891, 1441 Hypertrichosis lanuginosa 767 Hyperviskosität 1746 hypofraktionierte Strahlentherapie 453 Hypokaliämie 1441 Hypokoagulabilität 784 Hypolipidämika 269 hypomethylierende Substane 1670 Hypopharynx 277 Hypopharynxkarzinom 1324 hypophysärer Minderwuchs 261 hypoplastisches MDS 1617 Hypospadie 1497 Hypoxie 299, 443, 1748 Hysterektomie 1014 – laparoskopisch 1014
I IAP 154, 157 IAP Antagonisten 160 ICE 550, 1033 Ichtyosis – erworben 766 ICRU-Referenzpunkt 451 idiopatische Myelofibrose (IMF) 1755 Idiotyp 582 IFN-Typ I 530 IFN-Typ II 530 IFN-α 529, 532 IFN-β 529, 530, 532 IFN-γ 529, 530 IFNα 1097 Ig 330 – ADCC 331 – Effektorfunktion 330 – F(ab) 330 – Fc 330 – Komplementsystem 331 Ig-Hypermutation 1723 IGVH 1723, 1727 IGVH-Mutationsstatus 1723 IHC-Score 986 IL-1 536 IL-1R II 537 IL-2 534, 1101 IL-2-Rezeptor 533 IL-5 524 Ileus 868
H–I
Stichwortverzeichnis
Imagingtechnik 302 Imatinib 81, 1713 – Resistenz 82 IMiDe 436 Imipenem 774, 775 Immortalisierung 193, 226 Immundefizienz assoziierte Lymphome 1559 – HIV-assoziierte aggressive B-ZellLymphome 1559 – transplantationsassoziiertes Lymphom 1559 Immundefizienzsyndrom 1770 Immungentherapie 580 Immunglobulin 84, 1592 – monoklonales 1600 – polyklonales 1599, 1600 Immunglobulin-Enhancer-Gene 1676 Immunglobulingen 233 Immunglobulinsubstitution 1739 immunhistochemische Differenzierungsmarker 1252 immunmodulatorische Substanz (IMiDE) 417 Immunphänotypisierung 1683 – linien- und differenzierungsspezifisches Antigen 1683 immunsuppressive Therapie 557, 1770 – CD4-Zellzahl 1773 – Organtransplantation 1770 Immunsystem 326 – angeborenes (innate immunity) 326 – erworbenes (acquired immunity) 326 Immuntherapie 13, 332 Immunthromboytopenie (ITP-like-syndrome) 761 Immunthrombozytopenie 1737 Impfprogramme 349 Impotenz 1441 Imprinting 114 In-vivo-Modelle 279 Indextumor 1304 Indikationen 554 indirekte Splenoportografie 501 Indozyaningrün-Angiografie 1289 Induktionschemotherapie 404, 1316 Induktionstherapie 548, 1601, 1659, 1687, 1694 – 5-tägige Vorphasetherapie 1694 – 6-Mercaptopurin (MP) 1689 – 6-MP 1694 – AC 1694 – Anthrazyklinderivat 1687 – Anthrazykline 1689, 1694 – Asparaginase (ASP) 1687 – C 1694 – Cyclophosphamid (CP) 1689 – Cytosin-Arabinosid (AC) 1689 – Induktionsphase II 1694 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
– – – – –
Methotrexat (MTX) 1689 PEG-ASP 1694 Phase I 1694 PRED 1687 Substitution mit Gerinnungsfaktoren 1689 – VCR 1687 Induktionstherapie bei älteren Patienten 1668 Infektion 13, 185, 769 – abdominelle 777 – antimikrobielle Substanz 781 – Hochdosischemotherapie 777 – Hochrisikopatient 774, 776 – Niedrigrisikopatient 774 – perianale 777 – prophylaktische Maßnahme 770 – Resistenzentwicklung 779 – Risikogruppe 773 – Standardrisikopatient 775 – Ursache 770 Infektionserreger 772, 1674 – Epstein-Barr-Virus 1674 – HTLV-1-Virus 1674 Infektionsschutzgesetz 780 Infektiöse Mononukleose 232 Infertilität 1390 Informed Consent 726, 733, 741 Inhibitoren der FLT-3-Tyrosinkinase 1670 Initiation 182, 277 Initiierung 279 INK4A-Gen 1382 Inselzelltumor (APUDomen) 499, 503 INSS (International Neuroblastoma Stadiensystem) 1489 INSS (International Neuroblastoma Staging System) 1485 instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL) 747 Insuffizienz – renale 1599, 1606 Insulin-like Growth Factor I (IGF-I) 259 Insulinom 1465 intensitätsmodulierte Radiotherapie 463 intensitätsreduziertes Konditionierungsverfahren 1738 intensiviertes Früherkennungsprogramm 359 Intensivlichtdiaphanoskopie 1291 Intent-to-Treat-Vergleich 1692 Interaktion von Hyperthermie und Zytostatika 566 α-Interferon 1473, 1749 Interferon 1261, 1755, 1758 Interferon alpha 1748, 1749 Interferon 529 Interferon α (IFN) 1098, 1101, 1103, 1425, 1712, 1753 Interleukin 1261
Interleukin-2 (IL-2) 1099, 1670 Interleukin 1 536, 537 Interleukin 11 526 Interleukin 12 539 Interleukin 2 533, 535, 1097, 1425 Interleukin 3 516, 517 Interleukin 4 537, 538 Interleukin 5 (IL-5) 524 Interleukin 6 538 Intermediärtrophoblast 1023 Internationale Mesothelioma Interest Group (IMIG) 1253 Internationale Prognostische ScoringSystem (IPSS) 1620 International Ewing Sarcoma Study 1386 International Neuroblastoma Pathology Classification (INCP) 1483 International Prognostic Factors Project 1580 International Prognostic Scoring System (IPSS) 1619 International Staging System 1594 interne Kontamination 253 interne Strahlenexposition 243 Interphase-Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (iFISH) 1592 intersphinktäre Präparation 876 intersphinktäre Rektumresektion 876 interstitielle Radiotherapie 902 interstitieller Applikator 568 Intervention 713 – psychoonkologisch 713 Interventionsstudie 347 Interventionsverfahren 712 – verhaltenstherapeutisch 712 intestinaler neuroendokriner Tumor 1472 intestinale Obstruktion 639 intraepitheliale Neoplasie 854 intrahepatische Gallenwegsstenose 496 intraluminale Brachytherapie 927 intraokulares Hamartom 1292 Intraoperative Radiotherapie (IORT) 467, 882 intrapleurale Chemotherapie 1260 intravesikale Chemo-/Immunprävention 1126 – BCG 1126 – Doxorubicin 1126 – Mitomycin C 1126 intravesikale Chemo- und/oder Immuntherapie 1122 inv(16)(p13q22) 1641, 1653 inv(16)/t(16;16) 1651 Invasionstiefe – myometrane 1010 invasives Karzinom 1045 – Adenokarzinom 1045 – adenosquamöses Karzinom 1045
Stichwortverzeichnis
invasives Karzinom – kleinzelliges Karzinom 1045 – malignes Lymphom 1045 – Plattenepithelkarzinom 1045 – Sarkom 1045 – Stadieneinteilung 1045 invasives Urothelkarzinom 1110 Invasivität 41 invertiertes Papillom 1109 Involved-field-Bestrahlung 1584 Inzidentalome 1437 Inzidenz 46, 51, 931, 1105, 1224, 1528 Inzidenzrate 46, 47, 744 – altersspezifisch 47 – altersstandardisiert 47 Inzidenz von Schilddrüsenkarzinomen 1336 131I-19-Iodocholesterol 1447 131I-6β-iodo-methyl-Norcholesterol (NP-59) 1447 Ionisation 438 ionisierende Strahlung 242, 244 Ionisierung 245 Irinotecan (CPT-11) 885 Ischämieschmerz 509 Isobologrammanalyse 566 Isochromosom 12p 1163 Isochromosom 17 1707, 1710 Isotretinoin 1306 ISS-Stadieneinteilung 1594 ITP 761 Itraconazol 771, 775
J J-Pouch 862 JAK-STAT-Signalweg 1706 JAK2 1744 JAK2-Gen 1711 JAK2-Mutation 1744, 1752, 1753, 1755, 1760 japanische Klassifikation 939 JMML 1617 131Jod 207, 270 Jod 270 – 131Jod 270 – Jodmangel 270 – Kaliumjodid 270 Johanniskraut (Hypericum perforatum) – Wechselwirkungen 608 Johanniskrautextrakt 607 juvenile myelomonozytäre Leukämie (JMML) 1617
Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
K K-RAS-Onkogen 932, 934 Kachexie 632 – Anabolika 632 Kalium bei Thrombozytose 1752 Kalzium 850, 1594, 1596 Kanzerogen 273, 275, 278 – gentoxisch 196 – nicht gentoxisch 216 – Testverfahren 221 – – Ames-Test 221 – – Kleinkerninduktion 222 – – Tierversuch 221 kanzerogener Arzneistoffe 204 kanzerogenes Metall 205 Kanzerogenese 277, 280 Kanzerogenfingerabdruck 278 Kaposi-Sarkom 231, 234 Kardiakarzinom 493 Kardiomyopathie 1600 Kardiotoxizität 984, 1391 Karnofsky-Index 748 Karnofsky-Index Einfluss 367 Karzinogen 282 Karzinogenese 248, 744 Karzinogenkontaktzeit 348 Karzinoid 27, 31, 499, 503, 843, 845 – Adenokarzinom 843 – bösartiger Tumor 843 – Karzinoid 843 – Lymphom 4,0% 843 – Sarkom 12,2% 843 Karzinoidsyndrom 1467, 1469, 1783 Karzinom 1301, 1305 – Chutta 1301 – Khaini 1301 – neuroendokrin 1305 – verruköses 1305 Karzinom 30 Karzinomnachsorge 895 Karzinosarkom 34 Kastration – chemische 1147 – chirurgische 1147, 1149 Katecholaminmetaboliten 1492 Katecholamin produzierender Tumor 1438 Kattan-Nomogramm 1142 Kausalfaktor 279 Kehlkopfkarzinom 276, 277 Kehlkopfteilresektion 1313 Keimbahnmutation 63, 129, 852, 863, 1415 Keimbahntumor 35 Keimzelltumor 35, 571, 1187, 1781 – Cisplatin-Resistenz 1192 – desperation surgery 1201 – Hirnmetastase 1195
– Hochdosischemotherapie als Rezidivtherapie 1198 – konsolidierende Chemotherapie 1194 – Nachsorge 1201 – Residualtumorresektion 1187, 1193 – Spätrezidiv 1199 Keimzelltumorrezidiv 1196 – Prognosefaktoren 1196 Keratinozyten 228 Keratoakanthomen 77 Kern-Zytoplasma-Asynchronie 1598 Kernspintomografie 1115, 1598 Kernwaffe 252 Kinaseinhibitor (INIBE) 416 kindliche ALL 1696 – ALL-BFM 90 1696 – allogene Stammzelltransplantation 1697 – Alter 1696 – initiale Leukozytenzahl 1696 – Mittelrisikopatient 1696 – Prednison-Response 1696 – Standardrisikopatient 1696 Kinom 305 KIT-D816-Mutation 1653 KIT-Ligand 515 Klarzellensarkom 1501 – der Niere 1502 Klatskin-Tumor 920 klein-blau-rundzelliger Tumor 1381 kleinzelliges Karzinom 275 Klinikhygiene 771 klinische Studie 569, 740, 745, 1693 klinische Symptomatik 1341, 1682 – Anämie 1682 – Blutung 1682 – Granulozytopenie 1682 – Hepato- oder Splenomegalie 1682 – Infektion 1682 – Mediastinaltumor 1682 – Organbefall 1683 – progredientes Knochenmarkversagen 1682 – Thrombozytopenie 1682 – ZNS-Befall 1682 klinisches Symptom 1537 – B-Symptom 1537 – Lymphknotenvergrößerungen 1537 klinisches Zielvolumen 450 klonale Expansion 1745 klonogenes Überleben 565 Knoblauch (Allium sativum) – Wechselwirkung 608 Knochen- und Weichteiltumor 571 Knochenmarkaspiration 1710 Knochenmarkplasmozytose 1599 Knochenmarkshämatopoese 1676 Knochenmarktransplantation (KMT) 751, 789, 1691
I–L
Stichwortverzeichnis
– Konsolidationstherapie 1691 – Postremissionstherapie 1691 – Transplantationsverfahren 1691 Knochenmarkuntersuchung 1385, 1683 – Immunphänotypisierung 1683 – Molekulargenetik 1683 – morphologische Diagnostik 1683 – Punctio sicca 1683 – zytochemische Diagnostik 1683 – Zytogenetik 1683 Knochenmetastase 866 Knochenschmerz 687 Knudson-Hypothese 129 Ko-Analgetika 685, 700 – Antidepressiva 700 – Antikonvulsiva 700 – Bisphosphonate 700 – Clonidin 700 – Kalziumantagonist 700 – Ketamin 700 – Kortikosteroid 700 Koaxialtechnik 502 kognitive Umstrukturierung 712 Kohlenstoffion 244 Kohortenstudie 353 Koilozyten 228 Kollagen 502 Kollagenase 317 Kollaterale 508 Kolonkarzinom 102, 118, 390, 494, 751 – adjuvante Therapie 751 – erbliches 102 – Tumormarker 390 Kolonpolyp 490, 855 Kolontumor 489 kolorektales Karzinom 377, 390, 490, 499, 503, 750, 849 – Früherkennung 750 – sekundäre Prävention 750 Koloskopie 490, 859, 860 – virtuelle computertomografische 377 Koloskopiescreening 65 Kolpektomie – komplette 1080 – partielle 1080, 1082 – totale (7 komplette) 1082 Kombinationschemotherapie 1259, 1386 kombinierte externe/interne (Zweiwege-) biliäre Drainage 498 kombinierte Radiochemotherapie 445, 492 Kommission für Somatische Gentherapie 576 Kommunikation 626 Komorbidität 745, 746, 748, 749 komparative genomische Hybridisierung 1415 komplementäre Medizin (7 Alternativmedizin) 587 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
komplex aberranter Karyotyp 1643 Komplikation 489, 491, 493 Kondensat 276 Kondensatpneumopathie 276 Konditionierung 555 – mit reduzierter Intensität 1664 konfokale Laserendomikroskopie (CFE) 485 Konformationsbestrahlung 1296 3-D-Konformationsradiotherapie 463 kongenitale melanozytäre Nävi 1409 kongenital mesoblastisches Nephrom 1508 kongenitale Neutropenie 1639 Konsequenzialismus 736 Konsolidierungs-/Intensivierungstherapie 1689 – Amsacrine 1689 – ASP 1689 – Hochdosis-MTX 1689 – Hochdosischemotherapiezyklus 1689 – Idarubicin 1689 – Mitoxantron 1689 – Stammzelltransplantation 1689 – VP16 1689 Konsolidierungstherapie 405, 1661, 1694 – HDAC 1694 – HDMTX 1694 Kontaktblutung 1080 Kontinenz 1144 Kontrastmittel – hepatozelluläres 378 Kontrastmittel-Washout-Charakteristika 1446 Kontrastmittelspätserie 1446 kontrastverstärkte dynamische Kernspinangiografie (MRA) 505 Kontrazeption 1036 Kontrazeptiva 262, 264, 266 Kontrollendoskopie 895 Kontrollkoloskopie 490 konventionelle Bestrahlung 927 konventionell fraktionierte Strahlentherapie 452 Kopf-Hals-Tumoren 378 körperliche Untersuchung 369, 371 Korpuskarzinomtrias 1006 Kortikosteroiden 985 Kortisol 1442 kostimulatorische Moleküle 581 Kostmann-Syndrom 1639 Krampfanfall 652 Krankheitsbewältigungsstrategie 711 Kreatininclearance 746 Krebs 4 – Behandlungskosten 4, 14 – Erkrankung des höheren Lebensalters 4 – Ernährung 9 – Flugreisen 7 – Infektionskrankheit 10
– Lebenskrise 5, 16 – Mehrstufenmodell der Karzinogenese 10 – Relation zum Alter 6 – Übergewicht 10 – umweltbedingte Erkrankung 7 – umweltbedingte maligne Erkrankung 7 Krebsdiät 287, 590 Krebserkrankung 247, 252 krebserzeugende Substanz 279 Krebsfrüherkennungsuntersuchung 355 Krebskur-total nach Breuss 590 Krebspersönlichkeit 711 Krebsregister 45, 722 – Deutsches Kinderkrebsregister 722 – epidemiologisch 45, 46 – Kinderkrebsregister 723 – klinisch 45, 46 Krebsrisiko 276 Krebsrisikofaktor 62, 184 – Alkohol 59 – beruflicher Faktor 60 – Ernährung 58 – genetischer Faktor 60 – infektiöse Agenzien 59 – körperliche Aktivität 59 – Rauchen 57 – Übergewicht 59 – Umwelt 60 Krebsvorstadium 276 Krisenintervention 669 Kryochirurgie 1151 Kryokonservierung 545 Kryotherapie 1298 kryptische Translokation t(12;21)(p13;q22) 1676 Kryptorchismus 1161, 1497 KU 70/80 110 KU70/KU80 86, 122 kurativer Therapieansatz 1376 – Heilungsrate 1376 – weite Tumorresektion 1376 Kurzzeit-Radiotherapie 880 Kurzzeitbestrahlung 881 kutanes T-Zell-Lymphom 465 kutanes Syndrom – paraneoplastisch 765
L L-Asparaginase 785 Lambert-Eaton-Myasthenie-Syndom (LEMS) 763, 765 Laparoskopie (PLG/PLJ) 288, 471 laparoskopische Resektion 872 Laryngektomie 1327 Larynx 275
Stichwortverzeichnis
laserinduzierte Thermotherapie (LITT) 499, 509 Laurén-Klassifikation 816, 821, 822 Laxanzie 638 LCIS 979 LDL-Rezeptor 1447 Lebenserwartung 273, 743 – durchschnittliche 743 – ferne 743 Lebenskrise 16 Lebensqualität (QoL) 14, 679, 736 Leberbiopsie 482 Leberinsuffizienz 503 Lebermetastase 866 Leberteilresektion 926 Lebertransplantation (bridging) 497, 500, 914 Leberzellkarzinom 237, 238 Leichtkette 1594, 1596, 1597, 1600, 1607 – Kappa 1597 – Lambda 1597, 1600 Leiden 626 Leiomyosarkom 28 Leitlinien 723 Leitsymptom 1355 – Schmerz 1355 – Schwellung 1355 Lenalidomid 436, 1600, 1601, 1602, 1603, 1605, 1606, 1607, 1617, 1626, 1736, 1758 Lenograstim 519, 780 Lentigo-maligna-Melanom 1418 Lentigo maligna 1422 Lentiviren 584 letaler Schaden 443 Letrozol 976, 977, 981, 982, 983 Leukämie 251, 275, 277 – chronisch lymphatische 1600 Leukapherese 1719 Leukenzephalopathie 1690 leukoerythroblastisches Blutbild 1756 Leukopenie 751 Leukoplakie 1305 Leukozytose 1704 Levofloxacin 774 Leydig-Zell-Tumor 1204 LH 261, 267, 269 LH luteotropes Hormon 265 Li-Fraumeni-Syndrom 94, 146, 959, 1269, 1439 Lichen planus mucosae 1303 Lichen sclerosus et atrophicus 1212 Life Span Study (LLS) 251 Lille-Dupriez-Score 1756 Lille-Scoring-System 1620 linear-quadratisches Modell 441 Linearbeschleuniger 461, 1296 Lipiodol 499 Lipom 842 Liposarkom 26 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
– myxoid 26 Liposom 565 liposomales Amphotericin B 775 Lippenkarzinom 1331 LITT (laserinduzierte Thermotherapie) 511, 893 LK-Ratio 472 LMO2-Protoonkogen 577 LMP-Tumor 993 – endometrioide 993 – low malignant potential (LMP) 993 – muzinöse 993 – seröse 993 Lobektomie 1233 lobuläres Carcinoma in situ 979 LOH (loss of heterozygosity) 90 LOH-Analyse (loss of heterozygosity) 1677 lokal fortgeschrittenes Rektumkarzinom 571 Lokalisationsdiagnostik 1442 Lokalrezidiv 880, 1388 Lokalrezidivrate 878 Lonarfarnib 1001 loss of heterozygosity (LOH) 22, 188 loss of imprinting 118 Low-dose-Interferon α 1426 low-LET 246 low linear energy transfer 246 Lumbalpunktion 1685 – intrathekale (i.th.) Prophylaxe 1686 – ZNS-Befall 1685 – ZNS1 1686 – ZNS2 1686 – ZNS3 1686 Lunge 78, 275 – Adenokarzinome 78 Lungeninfiltrat 772 Lungenkarzinom 160, 394 – Tumormarker 394 Lungenkrebs 273 Lungenkrebsrisiko 275 Lungenmetastase 866, 1383 Lungenmetastasierung 105 Lungentumor 274 Lupusantikoagulans 788 Lymphadenektomie 472, 871, 1421 Lymphadenopathie 370, 1582 Lymphangiogenese 295 Lymphknoten 1083 – inguinaler 1083 – pelviner 1083 Lymphknotendissektion, inguinal axillär 1424 Lymphknotenmetastase 1422 Lymphknotenmetastasierung 857, 1421 Lymphknotensonografie 1433 Lymphödem 650 lymphoepitheliales Karzinom 27 Lymphokryptoviren 231
Lymphom 90, 160, 843 – follikuläres 90 Lynch-Syndrom (7 auch HNPCC) 6, 137, 138, 358 – Amsterdam-Kriterien 138 – Bethesda-Richtlinien 138 – DNA-Mismatch-Reparatursystem (MMR) 138 – Mikrosatelliteninstabilität 139 Lynch-Syndrom Typ II 1006
M M-BCR 1705 M-CSF 524 M-Gradient 1596, 1597, 1599 M. Bowen 1212 M. Paget 978 MAC-Schema 1034, 1035 MAC-Therapie 1033, 1037 MacFarlane 1456 Magen 275 Magen-, Dünndarm- und Kolonkarzinom 493 Magenfrühkarzinom 487, 821 Magenkarzinoid 1465 Magenkarzinom 392, 493, 817 – adjuvante Therapie 835 – Chemotherapie 832 – Chirurgie 830 – Diagnostik 829 – genetische Prädisposition 817 – intraperitoneale Therapie 836 – Lymphadenektomie 831 – Nachsorge 840 – neoadjuvante Chemotherapie 836 – palliative Chemotherapie 838 – Regressionsgrading 823 – Strahlentherapie 839 – Therapieschemata 834 – Tumormarker 392 Magenpolyp 819 Magenstumpfkarzinom 818 Magentumor 277, 487 magnetic drug targeting 1319 Magnetresonanz-Cholangiopankreatikografie (MRCP) 498 Magnetresonanztomografie (MRT) 374, 376, 481, 870, 1384, 1437, 1593 Makrophagen-koloniestimulierender Faktor (M-CSF) 523 makroskopisch abgrenzbares Tumorvolumen 450 Maldeszensus 1161 malignes Lymphom 36 maligner blauer Nävus 1419 malignes Melanom 28, 35, 1407
L–M
Stichwortverzeichnis
– Fernmetastasierung 1428 – klinisch-histologischer Subtyp 1416 – Krebsregisterdaten 1407 – Morbidität 1408 – Mortalität 1408 – Risikogruppe 1410 – Stadieneinteilung 1421 – UICC/AJCC-Klassifikation 1419 malignes Mesotheliom 27 Malignitätsgrad 40 Malignitätsrisiko 1455 Mamma 277 Mamma-/Ovarialkarzinom, familiär 134 Mammakarzinom 71, 83, 98, 105, 107, 379, 393, 569, 745, 749, 750, 952 – adjuvante Chemotherapie 974 – adjuvante endokrine Therapie 976 – adjuvante Radiotherapie 972 – adjuvante Therapie 751 – Aromatasehemmer 976 – axilläre Lymphknotendissektion 971 – Biopsie 970 – – Feinnadelaspirationsbiopsie 970 – – Stanzbiopsie 970 – brusterhaltender operativer Eingriff 973 – Cathepsin D 967 – erbliches 71 – Früherkennung 750, 968, 970 – Gefrierschnitt 971 – Gentestung 967 – Gesamtüberleben 975 – GnRH-Analoga 976 – Grading 978 – Grading-System 963 – HER2-Status 964 – histologische Gruppe 963 – – lobulär 963 – – medullär 964 – – muzinös 963, 964 – – nichtinvasiv (Carcinomata in situ) 963 – – papillär 964 – – tubulär 963, 964 – invasiv lobuläres Karzinom 964 – hochdosierte Chemotherapie 975 – inflammatorisches Mammakarzinom 972 – invasiv-duktal 963 – Inzidenz 952 – Knochenschmerz 988 – Komedonekrose 978 – komplette Tumorremission (pCR) 973 – körperliche Aktivität 968 – Lebensqualität 979, 983, 986, 988 – Lokalisation 965 – Metastase 988 – metastasierte Erkrankung 980 – metastasiertes Mammakarzinom 979 – Metastasierung 967 – minimal residual disease 967 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
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modifizierte radikale Mastektomie 971 Mortalität 952 Multizentrizität 964 Nachsorge 988, 989 okkultes 1783 oligometastatische Erkrankung 980 Östrogenrezeptor 964 Ovarektomie 976 pCR 973 Polychemotherapie 976, 986 – dosisdicht 976 – dosisintensiviert 976 – konventionell 976 postoperative adjuvante Therapie 973 prädiktive genetische Diagnostik 967 präoperative Chemotherapie 972, 973 Progesteronrezeptor 964 Prognosefaktor 965, 966 Quadrantenresektion 971 radikale Exzision 971 Rekonstruktion 971 Rezeptor für Östrogen und Progesteron 964 – Risikofaktor 952 – Risikogruppe 977 – – high risk (Hochrisiko) 978 – – intermediate risk (Mittelrisiko) 978 – – low-risk (Niedrigrisiko) 977 – Rückfallrate 974, 975 – Screeningintervall 970 – Selbstuntersuchung 968 – Sentinel-Lymphknotenentfernung 972 – Sentinel-Lymphodonektomie 979 – Stadieneinteilung 962 – Tamoxifen 976 – TNM-Klassifikation 959 – Überlebenszeit 974 – UICC 2002 960 Mammografie 969 Mammografiescreening 65 Mangelernährung 283, 285 Mantelzelllymphom 1555 – allogene Knochenmarktransplantation 1557 – autologe Stammzelltransplantation 1557 – Chemotherapie 1556 – Cyclin D1 (CCND1) 1556 – Interferon-α-Erhaltung 1557 – klinische Charakteristika 1556 – Translokation t(11;14)(q13;q32) 1555 MAP (7 MUTYH-assoziierte Polyposis) 143 Marginalzonenlymphom 1563 – extranodales 1563 – splenisches 1564, 1565 Mariendistel (Silybum marianum) – Wechselwirkung 608 Marker 73, 94 – molekulare 73, 78, 94
Markfibrose 1710 Master-Switch 311 Masterregulator 311 Mastodynie 1148 Matrix-CGH 105 Matumazumab 432 Maturation 300 Mayo-Klinik-Protokoll 894 MCL-1 160 MDCT-Angiografie 925 MDM 2 92, 93, 157 MDR-Genprodukt (multiple drug resistance) 584 MDR-Modulator 1670 MDR1-Gen 1658 MDS – bei Down-Syndrom 1617 – mit Markfibrose 1618 MEA-Schema 1034 Mechlorethamin 197 Mediastinalbestrahlung 1690 – Knochenmarktoxizität 1690 – protrahierte Zytopenie 1690 Mediastinaltumor 1580 Mediastinoskopie 1233 Medikamentenanamnese 368 Medroxyprogesteronacetat 983 medulläres (C-Zell-) Karzinom 1339 Megavoltradiotherapie 461 Megestrolacetat 982, 983 Mehrschrittkarzinogenese 933 Mehrschrittmodell der Krankheitsentstehung 10 MEK-Inhibitor 79 Melanocortin-1-Rezeptor-Gen 1414 Melanom 71 – amelanotisch 1292 – choroidale 1288 – erbliches 71 – extraokular 1287, 1298 – familiär 148, 1414 – Fernmetastasierung 1296 – intraokular 1287 – malignes 1306 – Prognosediagnostik 1288 – TNM-Klassifikation 1290 – uveale 1288 Melanoma Inhibitory Activity (MIA) 1296 Melanoma in situ 1417 melanomassoziiertes Antigen 1288 Melanomstudie 569 Melanosis 765 Melanosis oculi 1288 Melanozyt 1416 melanozytäre Nävi 1409 – atypische 1410 Melanozytom 1292 Melatonin 264
Stichwortverzeichnis
Melphalan 197, 1600, 1601, 1602, 1603, 1604 Membranrezeptor 1251 – Signaltransduktion 1251 – Tyrosinkinaseinhibitor 1251 MEN-1-Syndrom 1440 MEN-2 360 MEN-2a 360 MEN1-Gen 1439 Menarche – frühe 1005 Meningeomatose 1275 Meningeom 104 Meningeosis carcinomatosa 1276, 1278 Meningokokken 780 Menopause – späte 1005 Menschenwürde 727 menschliche Immundefizienzviren (HIV) 225 6-Mercaptopurin 421 Meropenem 774, 775 mesenchymaler Tumor 1437 Mesentericoportografie 501 mesoblastisches Nephrom 1502 Mesorektum 875 Mesotheliom der Tunica vaginalis testis 1264 Mesotheliom 33 Meta-iodo-benzyl-guanidin-(MIBG-)Szintigrafie 1448 Meta-iodo-benzylguanidin-(MIBI)-Szintigrafie 1444 metabolische Aktivierung 207 metabolische Alkalose 1441 metabolische Komplikation 1120 metaplastisches Karzinom 34 Metastase 1437 Metastasenchirurgie 477, 877 Metastasengen 310 Metastasierung 105, 107, 857, 939, 992, 1381 – hämatogene 992 – lymphogene 992 metastatische Erkrankung 1389 Metformin 369 Methode 46 methodisches Problem 63 Methotrexat (MTX) 420 metronome Chemotherapie 305 Metyrosin 1457 mIBG-Szintigrafie 1491 mIBG-Therapie 1493 MIC2-Gen 1379 Micro-RNA 98, 116, 232 Microarray 1652 – -Technologie 1685 microRNA 1652 mikrobiologische Diagnostik 772 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
Mikrogefäßdichte 301 β2-Mikroglobulin 1594, 1596 Mikroinvasion 1081 Mikrokatheter 502 Mikrolaryngoendoskopie (MLE) 1313 Mikrometastase 1424 Mikromilieu 105 Mikrosatelliteninstabilität 22, 100, 102, 116, 122 Mikrotransplantation 556 Mikrozirkulationsmuster 1288 Milieufaktor 565 Miltefosin 428 Milzbestrahlung 1719, 1759 Milzinfarkt 1747, 1756 Mini-Mental-Status-Examination (MMSE) 747 minimale Resterkrankung (MRD) 1697 – PCR-Untersuchung 1697 – Rezidivinzidenz 1697 minimalinvasives Nierenmalignom 508 minimalinvasive Tumorchirurgie 478 minimal residual disease (MRD) 87, 1659, 1681 – Durchflusszytometrie 1685 – Effektivitätskontrolle 1682 – Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) 1685 – Fusionsgen 1685 – hochsignifikanter Prognosefaktor 1681, 1685 – IgH- und TCR-Rearrangement 1681 – klonales Gen-Rearrangement 1685 – leukämietypische Kombination 1685 – MRD-adaptierte Therapie 1682 – MRD-Verlauf 1682 – PCR 1685 – quantitative Messung der MRD 1681 – Risikoklassifikation 1682 – Real-time-PCR 1685 – TCR-Rearrangement 1685 Minorhistokompatibilitätsantigen (mHA) 555 miRNA (7 Micro-RNA) 98 Mischgliom 1274 Mismatch-Reparatur (7 DNA-Reparatur) 121 Mistellektin 592 Misteltherapie 592 Mitochondrien 111 Mitomycin 927, 984 Mitomycin C (MMC) 428, 502, 903 Mitosehemmer 425 Mitosehemmer/Spindelgifte 415 – Tubulin destruierende Agenzien 415 – Tubulin stabilisierende Agenzien 415 Mitotan 429, 1457 mitotischer Zelltod 443 Mitoxantron 984, 1149, 1150
mittelstarkes Opioid 687 – Buprenorphin 689 – Codein 688 – Dihydrocodein 688 – Tilidin-Naloxon 688 – Tramadol 689 MLH1 103 MLL-Gen 1643, 1655, 1676 MLL-PTD 1645 Mobilisation hämatopoetischer Vorläuferzellen 521 Mobilisierungsversagen 544 Mobilisierung von PBPC 542 Mobilität 747, 748 Modifier-Gen 71 Molecular Imaging 933 molecular targeting drug 1788 Molekularbiologie 279, 1226, 1532 – BCL2 1535 – BCL6 1535 – CDKN2 (P16) 1227 – Chromosom 14 1534 – Chromosom 3 1227 – Cyclin D1 1535 – EGF-Rezeptor-Familie 1227 – EGFR-Tyrosinkinaseinhibitor 1227 – Erlotinib 1227 – Immunglobulin-Schwerkettengen 1534 – MALT1 1536 – MYC 1535 – MYC-Familie 1226 – NPM-ALK 1535 – Onkogenaktivierung 1226 – P53-Mutation 1227 – RAS-Mutation 1226 – RB-Gen 1227 – somatische Hypermutation 1534 – Tumorsuppressorgen 1227 molekulare Aberration 1684 molekulare Diagnostik 1536 – minimale Resterkrankung 1536 Molekulargenetik 1679, 1684 – BCR-ABL-Rearrangement 1684 – Familienspender-SZT 1679 – Fremdspender-SZT 1679 – Graft-versus-Leukemia-Effekt 1680 – Hyper-CVAD-Regime 1680 – Imatinib 1680 – minimale Resterkrankung 1680 – MLL-AF4-Rearrangement 1684 – MRD-positive Patient 1680 – Mutationsanalyse 1680 – Ph/BCR-ABL-positive ALL 1679 – RT-PCR 1684 – Stammzelltransplantation (SZT) 1679 molekular gezielte Therapie 1261 Molenschwangerschaft 1022 Molgramostim 518 Monitoring 339
M–N
Stichwortverzeichnis
– DTH 339 – ELISPOT 339 – Tetramere 339 – Zytotoxizitätsassay 339 monoklonale Antikörper 416, 430 monoklonale Gammopathie mit unbestimmter Signifikanz (M-GUS) 37 monoklonale Gammopathie unbestimmter Signifikanz 1599, 1607 monoklonaler Antikörper 1670 Mononukleose 1577 Monosomie-7-Syndrom 1617 Monosomie 5 1655 Monosomie 7 1609, 1610, 1613, 1655 Monozytose 761 Moosbeere (Vaccinium macrocarpon) – Wechselwirkung 608 Morbus Bowen 1070 Morbus Hirschsprung 1485 Morbus Hodgkin 249, 1576 – B-Symptom 1579 – diagnostische Laparotomie 1581 – Extranodalbefall 1579 – FDG-PET 1585 – gemischtzelluläre Form 1576 – lymphozytenprädominanter Subtyp 1576 – nodulär-sklerosierende Form 1576 – Stammzelltransplantation 1586 Morbus Waldenström 1600 Morphologie/Zytochemie 1683 – FAB-Klassifikation 1683 morphologische Veränderungen beim MDS 1611 Mortalität 46, 49, 51 – altersspezifische 51 Mortalitätsrate 46, 47, 1105 – altersspezifisch 47 – altersstandardisiert 47 Mortalitätsverhältnis, standarisiertes (7 Standardized Mortality Ratio) 47 Moschcowitz-Syndrom 762 mouse apobec-1 complementation factor (Acf ) 1164 MPA 983 MR-Cholangiopankreatikografie 924 MR-Cholangiopankreatikografie (MRCP) 378 MRD-Detektion 1651 MRSA 778 MRT-Kolonografie 859 MRT-Koloskopie 377 MSH2 103 MSI 863 mTOR 435 Mucosaresektion 831 Mucositis 751 Muir-Torre-Syndrom 137, 853 Mukositis 371 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
Müller-Gang 255, 260, 261, 269, 271 Müllerian Inhibiting Substance 260, 269 Multi-CSF 516 Multidetektor-Computertomografie 924, 1445 Multidrug-Resistance-(MDR)-Protein 1657 multifokales extraovarielles seröses Karzinom 1780, 1781, 1783, 1784, 1789 Multiple-endokrine-Neoplasie-(MEN-) 2A- (Sippel-Syndrom) 1439 Multiple-endokrine-Neoplasie-(MEN-) 2B- (Sippel-Syndrom) 1439 multiple endokrine Neoplasie 80, 1462 – Menin 1462 – RET-Protoonkogen 1462 multiple endokrine Neoplasie (MEN) 360 multiple endokrine Neoplasie Typ 1 144, 1461 multiple endokrine Neoplasie Typ 2 144 multiples Hamartom-(Cowden)-Syndrom 959 multiples Myelom 1590, 1595, 1596, 1599, 1605 – refraktäres 1605 – rezidiviertes 1605 Multiplikationsfaktor 275 Mundhöhle 275 Mundhöhlenkarzinom 1320 Mundhöhlentumor 277 Muskelentspannung 712 Muskelschwund 1440 Mutation 183, 213, 246, 278, 992, 1339 – der BRCA1- und BRCA2-Gene 991 – des AML1 1614 – follikuläres Karzinom 1339 – H-RAS 992 – HER-2/NEU-Onkogen 992 – medulläres Karzinom 1339 – MYC 992 – Protoonkogen 992 mutationsbedingtes Antigen 334 – BCR-ABL 335 – CDK4 334 – p53 334 – RAS 334 – β-Catenin 334 Mutationsmuster 187 Mutationsrate 100, 111 Mutatorphänotyp 100, 122, 184 Muttermilch 236 MUTYH-assoziierte Polyposis (MAP) 143 MUTYH Gen 121 muzinöser Charakter 933 muzinöses Karzinom 865 muzinöses nichtzystisches Adenokarzinom 937 Myasthenia gravis 763, 765 MYC 88, 98, 101, 954
MYCN-Amplifikation 1487 Myelitis 763 – paraneoplastisch 763 Myeloablation 549 myelodysplastische Syndrome (MDS) 35, 1391, 1609 Myelofibrose 1747, 1750, 1751, 1755 myelofibrosis with myeloid metaplasia (MMM) 1755 Myelom 1597 – asekretorisch 1597 – asekretorisches 1599, 1601 Myelopathie/tropische spastische Paraparese 236 myeloproliferative Erkrankung 1744 myeolodysplastisches Syndrom 523 Myofibroblasten 313 Myokardinfarkt 274 Myoklonie 651 Myopathie 765
N N-MYC 83 N-Nitrosamine 278 Nabelschnurblut 545 Nachsorge 476, 895, 897, 947, 1002, 1127, 1248, 1433, 1700, 1701 – aseptische Knochennekrose 1700 – Blutbildkontrolle 1700 – gynäkologische Untersuchung 1002 – hormonelle Störung 1700 – Infertilität 1700 – Knochenmarkkontrolle 1700 – MDS 1700 – psychische Erkrankung 1700 – Spätfolgen 1700 – spezifischer Tumormarker 1003 – transabdominale und vaginale Ultraschallkontrolle 1003 – Zweitmalignom 1700 Nachsorgestrategie 1370 – lokal 1370 – Organfunktion 1370 – systemisch 1370 – Ziele 1370 Nachsorgeuntersuchung 1083 Nachtkerze (Oenothera biennis) – Wechselwirkung 608 Nadeldurchmesser 481 Nagasaki 252 Nahrungsrestriktion 187 NALP7 1023 Nasopharynxkarzinom 233, 1322 Nativ-CT 1445 Nativsequenz 1445 natürliches Risiko 249
Stichwortverzeichnis
NB84 1482 NBI (narrow band imaging) 484 NCAM 1491 NCI-Kriterien (Toxizitätsskala der Common Terminology Criteria of Adverse Events des National Cancer Institute NCI CTCAE) (7 auch Toxizitätsskala) 367 Nebennierenmark 1437 Nebennierenmarkhyperplasie 1438 Nebennierenmetastase 1450 Nebennierenrinde 1437 Nebennierenrindenadenom 1437 Nebennierenrindenkarzinom 1438 Nebennierentumor 1437 Nebenwirkung 884 Neck Dissection 1313 – elektive 1314 – modifiziert-radikale 1313 – radikale 1313 – selektive 1313 Nekrose 152 Nelarabin 423 neoadjuvante Chemotherapie 405, 997, 1124, 1262 neoadjuvante Radiotherapie 879 neoadjuvante Therapie 880 Neodym-Yag-Laser 492 Neoplasie (VAIN) 1304 – intraepitheliale 1304 – vaginale intraepitheliale 1078 Nephrektomie 508 Nephroblastom 28, 1497, 1511 – Ätiologie 1497 – bilaterales 1511 – Epidemiologie 1497 – Erwachsene 1511 – hoch malignes Nephroblastom (ungünstige Histologie) 1510 – hoher Malignitätsgrad 1502 – intermediärer Malignitätsgrad 1502 – intermediär malignes Nephroblastom (Standardhistologie) 1509 – Nachsorge 1512, 1513 – Nachsorgeschema 1506 – niedriger Malignitätsgrad 1502 – NWTS-Studien 1510 – Operation 1507 – postoperative Therapie 1509 – präoperative Therapie 1509 – Rezidiv 1511 – SIOP-Studie 1509 – Strahlentherapie 1508 Nephroblastomatose 1501, 1511 nephrogener Rest 1501 Nephroureterektomie 1120 Nesidioblastose 1466 Neupogen 519 Neuroblastom 83, 118, 1439, 1479, 1481 – genetische Aberrationen 1486 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
– genetische Veränderungen 1486 – pränatale Diagnose 1491 – Regression 1484 – Screening 1488 Neurocristopathie 1485 neuroendokrines Karzinom 31 neuroendokriner Tumor 1460 – der Appendix 1464 – des Pankreas 1464 Neurofibromatose 1639 Neurofibromatose I 1268 Neurofibromatose II 1268 Neurofibromatose Recklinghausen 1497 Neurofibromatose Typ 1 147 Neurofibromatose Typ 2 147 Neurofibromatose Typ I 71 Neurofibromatosis Typ 1 (NF-1) 1439 neurokutane Melanozytose 1409 Neurolyse des Plexus coeliacus 706 neuronenspezifische Enolase 1463 Neuropathie 892 – periphere 1390, 1595, 1605 Neuropiline 299 neurotoxische Nebenwirkung 888 Neutron 244 Neutropeniedauer 780 Neutrophilenleukämie, chronische 1760 next generation sequencing 1653 nichtinvasives papilläres urotheliales Highgrade-Karzinom oder High-grade-PUC 1110 nichtinvasives papilläres urotheliales Low-grade-Karzinom oder Low-gradePUC 1109 nichtmyeloablative Stammzelltransplantation (NMSZT) 1692 – immunsuppressive Therapie 1692 – Spenderstammzelle 1692 nichtopioide Analgetika 685 – Azetylsalizylsäure (ASS) 686 – Metamizol 686 – Paracetamol 686 Nichtseminom CS I 1184 – vaskuläre Invasion 1184 nichtsteroidale antiinflammatorische Pharmaka (NSAID) 192 nichtsteroidale Antirheumatika (NSAID) 684, 686 – gastrointestinale Ulzeration 684 – Lebertoxizität 684 – Niereninsuffizenz 684 nicht thermisch ablatives Verfahr 492 Nickel 207 Niere 275 Nierenblutung 508 Nierenembolisation 509 Nierenfunktion 746, 1594, 1596, 1600, 1606
Nierentumor 277, 1497 Nierentumorerkrankung – familiär 148 – hereditäres papilläres Nierenkarzinom 148 – Von-Hippel-Lindau-Erkrankung 148 Nierenzellkarzinom 27, 379, 508, 1502 – klarzellig 27 – papillär 27 Nijmegen-Breakage-Syndrom 123, 150 Nikotin 191, 273, 276 Nikotinkonsum 7, 12 Nilotinib 1714 Nitrit 201 Nitrosamine 10, 201 NK-Zelle 329 – aktivierender Rezeptor 329 – inhibitorischer Rezeptor 329 No-Touch-Isolation-Methode 871 noduläres malignes Melanom 1417 Nomogramm nach Kattan 1150 Non-Hodgkin-Lymphom 36 nonsense mediated decay 69 Noradrenalin 1444 Normalisierung 306 normal tissue complication probability 443 Notch-Familie 1677 – Notch-Mutation 1677 – Notch-Rezeptor 299 Notfalleingriff 877 NOXA 160 Noxen – Alkohol 1301 – exogene 1301 – Tabak 1301 NPM1 1651, 1655 NPM1-Gen 1645 NSE 394, 1482, 1492 nuclear factor kappa B (NF-κB) 192 Nucleophosmin (NPM) 1644 Nucleophosmin-(NPM1) 1655 Nuklearterrorismus 244 Nukleosidanaloga 771 Nukleotidexzisionsreparatur 119 numerische Chromosomenaberration 1681 – hyperdiploider Chromosomensatz 1681 nv(3)(q21q26) 1655
O Oberflächenhyperthermie 567 oberflächlicher Blasentumor 573 oberflächlicher Tumor 569 Obstipation 636 Octreotidtherapie 503
N–P
Stichwortverzeichnis
Odds Ratio (7 Quotenverhältnis) 49 Off-Label Use 631 Off-label Use 412 Offenbarungspflicht 734 off label 14 Ohrenschmerz 1310 okkultes Blut 859 okkultes Melanom 1419 ökologische Korrelation 61 okuläres Melanom 499 Olfaktoriusneuroblastom 1305, 1381 Omega-3-Fettsäure 285 Ondine-Syndrom 1485 Onko-KISS 780 onkofetales Antigen 333 – CEA 333 onkofetaler Mechanismus 294 Onkogen 72, 83, 98, 129, 187, 225, 278, 855, 1023, 1107, 1780 – Amplifikation 83 Onkogenaktivierung 74, 116 onkologische Chirurgie 470 onkologisches Zentrum 720 Onkozytom 1091, 1092 Operabilität 1232 operative Abklärung 995 operative Behandlung 1053 – pelviner und paraaortaler Lymphknoten 1053 operatives Standardvorgehen 997 – Lymphonodektomie 997 – Radikaloperation 997 Opioid 678, 684 – Obstipation 684 – Übelkeit und/oder Erbrechen 684 Opioidrotation 685 Opsoklonus-Myoklonus-Syndrom 763 Opsonisierung 780 optische Kohärenztomografie (OCT) 485 orale Chemotherapie 889 orale Ernährung 286 orale Kontrazeptiva 970 Orchidopexie 1161 Oropharynxkarzinom 1320 ösophagotracheale Fistel 493 Ösophagus 275 Ösophaguskarzinom 378, 492, 573, 796 – Brachytherapie 808, 809 – Chemoradiotherapie 810, 811, 812, 813, 814 – Frühkarzinom 806 – Risikoeinschätzung 803, 804 – Risikofaktor 796, 797 – Tylosis 797, 798 Ösophagustumor 277, 486 ossäre Metastase 511 Osteoblasten 1593 osteogenes Sarkom 1391 Osteoklasten 1593, 1606 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
Osteolyse 1591, 1593, 1594, 1595, 1598, 1600, 1601, 1607 Osteome 861 Osteomyelitis 1385 Osteomyelofibrose (OMF) 1755 Osteomyelosklerose (OMS) 1755 Osteonekrosen 1606 Osteoporose 1441 Osteoradionekrose 1319 Osteosarkom 26, 1352 – Altersgipfel 1352 – Inzidenz 1352 – WHO-Klassifikation 1352 Osteosarkome älterer Patienten 1369 – Chemotherapie 1369 – chirurgische Maßnahme 1369 – Prognose 1369 – Therapieplan 1369 Östrogen 259, 263, 265, 266, 268, 269, 271, 429, 1149 – Diethylstilböstrol (DES) 260 – Katecholöstrogen 259 Östrogen (Östradiol) 1443 Östrogenersatztherapie (7 Hormonersatztherapie) 266 Östrogen produzierender Tumor 1441 Östrogenrezeptor 255, 256 Ovarialkarzinom 379, 393, 1078 – Tumormarker 393 Ovarialteratom 1023 Oxaliplatin 887, 928 Oxford Childhood Mortality Study 253 oxidativer Stress 205
P 32P
1750 P-32-Test 1291 P14 96 P15INK4b-Protein 1614 P16 96, 116 P53 91, 157, 584, 1725, 1727 P53-Gen 278, 955, 1382, 1645 P53-Mutation 1614 P53-Überexpression 1310 P63 93 P73 93 Paclitaxel 984 pädiatrische Onkologie 571, 721 Paget-Erkrankung 961 PAI-1 (Plasminogenaktivatorinhibitor) 967 palliative Behandlung 737 Palliative Care (EAPC) 623, 716 palliative Chemotherapie 405 palliativer chirurgischer Eingriff 1233 Palliative Performance Skala (PPS) 369 palliative Sedierung 648
palliative Therapie 1376 – Chemotherapie 1376 palliative Therapiemaßnahme 1247 Palliativmedizin 623, 727, 752 Palliativstation 625 Palliativtherapie 624, 1319 Palmaz-Stents 507 PAMP 328 – TLR 328 Pancoast-Tumor 1232, 1236 Panendoskopie 1311 Panitumumab 432 Pankreas 275, 277 Pankreasbiopsie 483 Pankreaskarzinom 77, 104, 277, 391, 1089 – Tumormarker 391 Pankreastumor 27 – endokrin 27 Pankreatikoduodenektomie 926 pankreatische intraepitheliale Neoplasie (PanIN) 933 Pannikulitis 765 – pankreatisch 765 papillärer Charakter 933 papilläres Schilddrüsenkarzinom 1338 papilläre urotheliale Neoplasie mit niedriger maligner Potenz oder PUNLMP 1109 Papillom 1109, 1330 – invertiertes 1330 Papillomavirus 277 Papillomvirus (HPV) 225, 226 Paragangliom-Syndrom 1439 Paragangliom 1438 paraneoplastische ACTH-Sekretion 1442 paraneoplastisches Syndrom paraneoplastisches Syndrom 758, 1231,1491 – Cushing-Syndrom 1231 – Hyperkalzämie 1231 – Lambert-Eaton-Myastheniesyndrom 1231 – Myastheniesyndrom 1231 – paraneoplastische Hyponatriämie 1231 – Retinopathie 1231 – SIADH 1231 parathormone-related peptide (PTHrP) 758 parenterale Ernährung 289 paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie 1638 Partialmole 1022, 1023, 1024, 1025, 1027, 1028, 1030, 1036, 1037 Partin-Tafeln 1142 passive Immuntherapie 339 – adoptiver Zelltransfer 339 – Antikörperkonjugate mit radioaktiven oder zytotoxischen Substanzen 343 – monoklonale Antikörper 340 Passivrauchen 273, 276, 1248
Stichwortverzeichnis
Paternalismus 729 – benefit-paternalism 729 – harm-paternalism 729 Paterson-Brown-Kelly-Syndrom 1303 Pathogenese 1106, 1674, 1675 – Differenzierungsblock 1674 – entartete lymphatische Stammzelle 1674 – maligner Klon 1674 – monoklonale 1106 – panendotheliale 1106 – Tumorsuppressorgen 1674 – zytogenetische Aberration 1674 Pathologie 937, 1225 – adenosquamöses Karzinom 937 – anaplastisches Karzinom 937 – Azinuszellkarzinom 937 – duktales Epithel 937 – gemischtes duktal-endokrines Karzinom 937 – maligner Pankreastumor 937 – maligne Transformation 1225 – muzinöses nichtzystisches Adenokarzinom 937 – muzinöses Zystadenokarzinom 937 – pleomorph-riesenzelliges Karzinom 937 – Siegelringkarzinom 937 pathologisch-anatomische Diagnose 274 Patientenassessment 748 Patientenverfügung 369, 739 PBPC-Mobilisation 542 PBX1-Gen 1676 PEComen 35 PEG-Asparaginase 428 PEG-rHuMGDF 525 PEG/J 504 Pegfilgrastim 523 Pemetrexed 421 Pemphigus – paraneoplastisch 766 Penetranz 71 Peniskarzinom 1212 – 5-Jahres-Überlebensrate 1216 – aktives Monitoring 1217 – externe Bestrahlung 1217 – Grading 1216 – interstitielle Brachytherapie 1217 – Klassifikation nach Jackson 1213 – Lymphknotendissektion 1215, 1216, 1217 – Lymphknotenstatus 1214 – Penektomie 1215 – Polychemotherapie 1218 – Präkanzerose 1214 – Prognose 1217 – Rezidivrate lokal 1215 – Sexualleben 1215 – TNM-Klassifikation 1213 – Zirkumzision 1212, 1215 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
Pentostatin 1734, 1736 Pentoxifyllin 1626 perforierende Verletzung 508 Perfusion 303 Perfusionssteigerung 565 Perfusionsverfahren 567 perianale Infektion 775 perikardiales Mesotheliom 1264 peripherer primitiver neuroektodermaler Tumor (pPNET) 1379 periphere Stammzelltransplantation (PBSZT) 1691 – Konsolidationstherapie 1691 – Postremissionstherapie 1691 – Transplantationsverfahren 1691 periphere T-Zell- und T/NK-Zell Lymphome 1559 – enteropathieassoziiertes T-Zell-Lymphom (EATL) 1559 – extranodales NK/T-Zell-Lymphom vom nasalen Typ 1559 – hepatosplenisches T-Zell-Lymphom 1559 – Hochdosistherapie 1560 – monoklonale Antikörper 1560 – Mycosis fungoides 1559 – Sézary-Syndrom 1559 – subkutanes, pannikulitisähnliches T-Zell-Lymphom 1559 – Therapie 1560 periphere T-Zell Lymphome, nicht weiter spezifiziert (NOS) 1562 peritoneale Chemotherapie 472 peritoneales Mesotheliom 1263 Peritonealkarzinose 573 Perizyten 300 perkutane Biopsie 481 perkutane endoskopische Gastrostomie (PEG) 288, 504 perkutane Ethanolinjektion (PEI) 502, 914 perkutane transhepatische Cholangiodrainage (PTCD) 495, 498 perkutane transhepatische Cholangiografie 925 perkutane transhepatische cholangiografische Drainage 926 perkutane transluminale Angioplastie (PTA) 505 Perlman-Syndrom 1497 persistierende hyperinsulinämische Hypoglykämie des Kindesalters (PHHI) 1466 Personendosimeter 441 Perspektive 732 Pertuzumab 432 PET 870 Peutz-Jeghers-Syndrom 143, 854 pflanzliches Präparat (7 Phytotherapie) 607
Pflichtbegrenzung 735 Pfortaderthrombose 501 Ph/BCR-ABL-positive ALL 1679, 1695 – Dasatinib 1695 – Imatinib 1695 – Imatinib-Monotherapie 1695 – Mutationsanalyse 1695 – Tyrosinkinaseinhibitor 1695 Phäochromozytom 80, 1089, 1438 Pharmakodynamik 746 Pharmakogenetik 108 Pharmakokinetik 746 Pharmakotherapie 706 Philadelphia-Chromosom 1704 Philadelphia-Translokation 81 Phosphoprotein P53 278 photodynamische Therapie (PDT) 496, 1122, 1425 Photonen 438 Phthalate 7 Weichmacher 269 Phytoöstrogene 257, 269, 270 Phytoöstrogen (7 Umweltöstrogen) 262 – Soja 262 Phytotherapie 607 – ABC-Transporter 607 – Zytochrom-P450 607 PI3K-AKT (AKT)-Signaltransduktionsweg 1411 PI3K/AKT-Signaltransduktionsweg 1432 pidermal-growth-factor-(EGF) 935 Piperacillin 774 Piperacillin-Tazobactam 777 Pipobroman 1749, 1754 Placeboeffekt 606, 740 3-D-Planung 460 Planungszielvolumen 450 PLAP 394 Plasmapherese 1607 Plasminogenaktivator-Inhibitor-Spiegel (PAI) 762 Plasmozytom 28, 37, 1591, 1593, 1599, 1600 platinrefraktär 1000 Plattenepithelkarzinom 27, 29, 275, 278, 1079, 1110 – verhornend 27 Plazenta 1023, 1024, 1036 Plazentabettknötchen 1022, 1024, 1025, 1030 Plazentabetttumor 1022, 1025 Plazentalaktogen – humanes 1029 Plethora 1746 Pleura 1251 Pleuraerguss 1383 pluripotente Keimzelle 993 Pluripotenz 546 PML/RARα 1653 Pneumocystis-jiroveci-Infektion 771
P
Stichwortverzeichnis
Pneumokokkenvakzine 781 Pneumonektomie 1233 Pneumothorax 481 Podophyllotoxinderivate 428 Poikilozytose 1756 Polonium 210 277 Polychemotherapie 1391, 1429 Polycythaemia (rubra) vera 1746 Polyglobulie 761, 1745 – sekundäre 1746, 1748 Polymorphismus 63, 259, 262, 268, 278 Polymyositis 765 Polyneuropathie 765, 1596, 1600, 1605, 1606 – chronisch 765 – sensomotorisch 765 Polypektomie 484, 859, 895 Polypen der Gallenblase 919 Polyploidisierung 168, 1163 Polyposis, familiäre adenomatöse (7 familiäre adenomatöse Polyposis) 141 Polyposissyndrom 849 Polyvinylalkoholpartikel (PVA) 499, 502 polyzyklische aromatische Hydrokarbonsäure (PAH) 278 polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoff 182, 188, 197, 263 polyzystische Ovarien 1005 Portsystem 790 Porzellangallenblase 919 Posaconazol 771 Positronenemissionstomografie (PET, PET-CT) 374, 377, 1116, 1232, 1385, 1598, 1786 Postembolisationssyndrom 501, 503, 509 postpolycythaemic myeloid metaplasia 1747 Postpolypektomie-Elektrokoagulationssyndrom 491 Postremissiontherapie 1659, 1663 Postsplenektomiesepsis 780 posttransplant lymphoproliferative disorders 559 posttraumatische Belastungsstörung 711 potenziell letale Schäden 443 PPMM 1747 prä-B-ALL 1679 prädiktiver Wert 65 Prägung – genomische 1023 Präkanzerose 228, 489, 1132, 1375 – andere Knochenerkrankung 1375 – atypische adenomatöse Hyperplasie (AAH) 1132 – definiertes Syndrom 1375 – gutartiger Tumor 1375 – prostatische intraepitheliale Neoplasie (PIN) 1132 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
praktische Hilfe zu Aufklärungsgesprächen 733 PRAME 1617 Präneoplasie 182, 187 Prävalenz 66 Prävention 858, 1230, 1682 pRb 1515 Prednison 1149, 1600, 1601, 1602, 1603, 1605 primäre Exenteration 1055 – palliative Exenteration 1055 primäres Hodenlymphom 1570 primäre Metastase 1366 – komplette Resektion 1366 – Überlebenswahrscheinlichkeit 1366 primärer Aldosteronismus (Conn-Syndrom) 1441, 1443 primärer kapillarer Plexus 295 primäres Leberzellkarzinom (7 HCC) 392 primäres ZNS-Lymphom (PCNSL) 1569 – Prognose 1569 – Therapie 1569 primär mediastinales großzelliges Lymphom 1562 – Klinik 1563 – Pathologie 1562 – Therapie 1563 Primärprävention 348 primär sklerosierende Cholangitis 919 Primärtumor 1332 – Sicherheitsabstand 1422 – unbekannter 1332 primordiale Keimzelle 546 pro-B-ALL 1679 – allogene Stammzelltransplantation 1679 – Hochdosis-Cytosin-Arabinosid 1679 Pro-Opiomelanocortin (POMC) 759 Progenitorzelle 541 Progesteronrezeptor 1012 Prognose 864, 931, 1341 Prognosefaktor 274, 1047, 1229, 1678, 1679, 1681 – 5-Jahres-Überlebensrate 1047 – ECOG Performance Score 1230 – leukämiefreies Überleben (LFS) 1678 – Stadium 1047 – Tumorgröße 1048 – Tumorstadium 1229 prognostischer Faktor 1367, 1618 – prätherapeutische Parameter 1367 – therapieabhängige Parameter 1367 prognostische Gruppe 1616 prognostisches Scoring-System 1619 Programmtheorie 744 Progression 182, 279 Progressionsmodell 1305 – molekulares 1305 ProGRP 394
Proktitis 1146 Proktokolektomie 860, 862 Prolaktin 261, 262, 263, 270 Prolymphozytenleukämie (PLL) 1729, 1730, 1741 Promotion 182, 277 Promotor 69, 282 – alternativer 69 Promyelozytenleukämie 785 prophylaktische Ovarektomie 970 prophylaktische Schädelbestrahlung 1690 prophylaktische ZNS-Bestrahlung 1690 Prophylaxe 771, 1043, 1230 – Effektivität 1043 – Impfung 1043 – Patientenisolation 771 – Sicherheit 1043 – Wirksamkeit 1043 prospektive Kohortenstudie 350 Prostaglandine 192 Prostatahyperplasie 269 Prostatakarzinom 27, 111, 115, 379, 394 – PSA 394 – Screening 394 prostataspezifisches Antigen (PSA) 1130 Prostatektomie 1143, 1144, 1150, 1151, 1152, 1153 Proteaseinhibitor 319 Proteasomeninhibitor 1606 Proteasominhibition 436 Proteasominhibitor 1432 Protein 1592, 1596 – monoklonales 1596, 1599, 1600, 1601, 1605, 1607 Proteindenaturierung 565 Proteinphosphatase 79 Protein S100-β 1434 Proteomik 1416 Prothesentrauma-Tumor-Kausalität 1303 Protonen 244 Protonenbeschleuniger 1295 Protonenbestrahlung 1295 Protoonkogen 225, 228, 246, 992 – Amplifikation 992 – Mutation 992 – Translokation 992 Pruritus 767 PSA 394, 1132, 1137, 1138, 1139, 1140, 1141, 1146, 1148, 1149, 1150, 1152, 1153, 1154 Pseudo-Pelger-Anomalie 1612 Pseudohermaphroditismus 1497 PSTT (7 Plazentabetttumor) 1022, 1030 Psychopharmaka 1444 psychosozialer Faktor 678 PT-LPD 1773 PTEN 935 PTK787/ZK222584 306 PTLD 559
Stichwortverzeichnis
PU.1 1640 pulmonale Funktionsreserven 1232 pulmonale Hypertonie 1756 Punctio sicca 1756 Punktmutation 278, 279, 1676 – P53 1677 – TAL1 1677 – Zellzyklusregulation 1677 Purinanaloga 421, 1730, 1731, 1732 Pyrimidinanaloga 423 Pyrimidinbase 278
Q 5q 1655 7q 1655 11q 1724 11q22.3 1724 11q23 1655 13q14 1723 Qualitätsmanagement 719, 721 Qualitätssicherung 65, 440, 719 – Instrument 721 – Qualitätsbericht 719, 721 – Qualitätsmanagement 719 – Qualitätszyklus 719 – Strukturqualität 720 – Versorgungsqualität 722 – Versorgungsstandard 720 quantitative Risikoabschätzung 61 quieszent 300 Quotenverhältnis 49
R R-Klassifikation 937 R-Status 25 RA 1616 Radikale 278 radikale Hysterektomie 1052 – pelvine Lymphadenektomie 1052 radikale Lymphknotendissektion 1233 – linksseitige Thorakotomie 1233 – rechtsseitige Thorakotomie 1233 radikale Zystektomie 1117 Radikaloperation 997 radioaktive Strahlen 7 Radiochemotherapie 250, 1055 – Akuttoxiztät 1058 – simultane Chemotherapie 1058 – Spättoxizität 1058 Radiochirurgie 464 radiofrequency interstitial tumor ablation (RITA) 1151 Radiofrequenz-Thermoablation (RFA) 914 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
Radiofrequenzablation (RFA) 487, 499 radiogene Nebenwirkung 457 – Auge 458 – Gehirn 458 – Harnblase 458 – Haut 457 – Herz 458 – hypothalamisch-hypophysäre Achse 458 – Kanzerogenese 458 – Lunge 457 – lymphatisches System 458 – myelopoetisches System 458 – Niere 458 – Ohr 458 – Oogenese 458 – Schilddrüsenfunktion 458 – Sexualhormonbildung 458 – Speicheldrüse 458 – Spermatogenese 458 – Testosteronproduktion 458 – Verdauungstrakt 457 Radioimmunotoxinkonjugat 433 Radioimmuntherapie 1571 Radiophosphor 1750 Radiosensitizer 444 Radiotherapie 878, 1234, 1316, 1331, 1365, 1386, 1425 – additive Therapie 1365 – intensitätsmodulierte 1331 – kleinzelliges Lungenkarzinom 1234 – nicht kleinzelliges Lungenkarzinom 1234 – postoperative 1316 – präoperative 1316 Radon 207 RAEB 1616 RAEB-T 1616 RAF 76 Rai 1726, 1727, 1731 Raloxifen 981 Raltitrexed 421, 888 Random-Biopsie 1163 RARS 1616 RAS 74 RAS-BRAF-Signaltransduktionsweg 1613 RAS-Gen (ratsarcoma) 6 RAS-Gen 278, 1644 RAS-Mutationen 77 RAS-RAF-MEK-ERK (MAPK) 1411 RAS-Signalweg 935 – Phosphatidylinositol-3-Kinase (PI3K) 935 Raucher 273 Raucherkrebs 275 Rauchertumor 277 Rauchverbot 273 Rauchverhalten 276 Rauschpfeffer (Piper methysticum) – Wechselwirkung 608 Raynaud-Phänomen 789
RB 97 RB1 176 reaktive (entzündliche) Atypie 1109 reaktive Sauerstoffspezies 185, 204 reaktive Stickstoffspezies 185, 204 Realisation 279 Rearrangement von RET 1339 RECIST 407 RECIST-Kriterien 1258 Recormon 527 RECQ-Helikasen 126 Redistribution 444 Reed-Sternberg-Zelle 28 referred otalgia 1310 Reflexion 726 Reflux 1303 – gastroösophagealer 1303 refraktäre ALL 1699 – allogene SZT 1700 – Frührezidive 1699 – Rostocker Rezidivstudie 1699 – Spätrezidive 1699 – SZT 1700 refraktäre AML 1664 10-er Regel 1440 regionale Chemotherapie 499, 893 regionale Zytostatikaapplikation 929 Regression, spontan 1484 Regressionszone 1416 Regression von Vorstufen und Tumoren 189 regulatorische T-Zelle 329 – CD4+CD25+ 329 reifzellige B-ALL 1679 – fraktioniertes hochdosiertes Cyclophosphamid/Ifosfamid 1679 – hochdosiertes Methotrexat 1679 – Hochdosis-Cytarabin 1679 – Rituximab 1679 rektal-digitale Untersuchung 868 Rektumkarzinom 494, 570, 573, 854 Rekurrensparese 1230 relatives Risiko (7 rate ratio) 48, 249 Remissionsdauer 407 Remissionsdefinition 1717 Remissionsrate 883, 886, 892 renale Laktatazidose 369 Renin 1443 Reoxygenierung 444 Reparatur 278 Reparaturmechanismus 443 Replikationsprotein 165 Repopulation 444 Resektion 914, 1388, 1389 – intraläsional 1389 – marginal 1389 – radikal 1389 – weit 1389 Residualtumorklassifikation 864
P–S
Stichwortverzeichnis
Resistenzbildung 304 respiratorisches Symptom 642 Response 1355 – Huvos (1991) 1355 – Salzer-Kuntschik 1355 Ressourcenknappheit 738 RET 80, 1339 RET-Gen 71, 1440 RET-Mutation 360 Retinoblastom 97, 146, 1515 – erblich 1515 – nicht erblich 1515 Retinoblastomaprotein RB1 (pRb) 164 Retinoblastomgen 1515 Retinoblastomprotein 227, 236 Retinoide 968 Retinsäure 1494 retroperitoneale Lymphknotendissektion, nervsparend (NS-RPLND) 1187 Retrovirus 225 reverse Transkriptase-Polymerase-Kettenreaktion (RT-PCR) 1382, 1704 Rezeptor-Tyrosinkinase Flt3 1676 Rezeptor-Tyrosinkinase 298 Rezidiv 1061 – massives peripheres 1061 – peripher begrenztes 1061 – zentrales 1061 Rezidivtherapie 998, 1003 – Frührezidiv 1003 – Spätrezidiv 1003 RFA (Radiofrequenzablation) 511, 893 Rhabdoidtumor 1501 – der Niere 1502 Rhabdomyosarkom – paratestikuläres 1206 Rhadinovirus 231, 234 Richter-Syndrom 1728 RICT 1738 Riechstörung 1310 Riesenkondylom (Buschke-Löwenstein) 1214 Riesenzellglioblastom 1272 Ringsideroblasten 1611, 1612 Risikoabschätzung 221 risikoadaptierte Therapie der AML 1664 Risikoerhöhung 279 Risikofaktor 56, 931, 1609 – exogene 1336 – – genetische Prädisposition 1336 – – Jodversorgung 1336 – – Selen 1336 – – Strahlung 1336 – FAMMM 932 – FAP 932 – FPC 932 – hereditäre Pankreatitis 932 – HNPCC 932 – Peutz-Jeghers Syndrom 932 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
Risikoorgan 451 Rituximab 432, 1732, 1738 RNA 69 – Micro 69 – nichtkodierende 69 Röntgendiagnostik 374 Röntgensimulation 460 Röntgenstrahlung 244 Röntgenuntersuchung 1383 Rotes-Fleisch-Aufnahme 351 Rotterdam Symptom Check List (RSCL) 655 Rous-Sarkom-Virus 10
S S-HAM 1660 S1 425 S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselerkrankung (DGVS) 489 Sachebene 730 Sägezahnpalme (Serenoa repens) – Wechselwirkung 608 Sanduhrtumor 1491 Sarcoma botryoides 1079 Sarkom 28, 33 – pleomorph 28 sarkomatoide Differenzierung 1252 Sarkom 30, 34, 843 – im Erwachsenenalter 571 Sauerstoffeffekt 443 Sauerstoffradikal (7 reaktive Sauerstoffspezies) 184 SCCA 394 3+7-Schema 1659 Schilddrüsenkarzinom 26, 71, 80, 508 – familiär medullär 71, 80 – follikulär 26 – papillär 26 – sporadisch papillär 81 Schleimhautblutung 786 Schleimhautmelanom 1419 Schleimhautulzera 772 Schmerzanamnese 369 – Schmerzmedikament 369 – Schmerzprofil 369 Schmerzart 678 – neuropathischer Schmerz 678 – Nozizeptorschmerz 678 – psychogener Schmerz 678 Schmerzdiagnostik 679 – Schmerzcharakter 679 – Schmerzintensität 679 – Schmerzlokalisation 679 – zeitlicher Verlauf der Schmerzen 679 Schmerz 676 Schmerzintensität 679
Schmerzlokalisation 679 schmerzloser Verschlussikterus 924 – dunkler Urin 924 – Pruritus 924 – Steatorrhö 924 Schmerzspitze 682 Schmerztherapie 676, 683 Schmerzursache 677 – therapiebedingt 677 – tumor- und therapieunabhängig 677 – tumorassoziiert 677 – tumorbedingt 677 Schmerzwahrnehmung 679 Schmetterlingsgliom 1280 Schneegestöber 1027, 1028 Schnellschnittuntersuchung 1009 Schnittbildverfahren 374 Schrotschussschädel 1595 Schutzimpfung 13 Schwangerschaft 1755 Schwangerschaft und Zervixkarzinom 1064 – Abortrisiko 1064 – Konisation 1064 Schwann-Zellen 1482 Schwartz-Bartter-Syndrom 759 schwarzes Adenom 1437 schwere aplastische Anämie 1638 Schwermetall 269 schwieriger Patient 732 – Metakommunikation 733 Screening (7 Screeningprogramm) 64, 489, 859, 1012, 1488 – Effektivitätsnachweis 65 – Endometriumkarzinom 1012 – Nebenwirkung 64 – Neuroblastom-Screening 1488 – Neuroblastomfrüherkennungsprogramm 1488 – Stadienverteilung 65 Screening des Kolonkarzinoms 489 Screeningprogramm 65 Screeninguntersuchung 1230 Seed-and-Soil-Theorie 745 SEER Data Base 1659 sekundäre Leukämie 1657 sekundäre Metastase 1366 – Diagnostik 1366 – kurativer Therapieansatz 1366 – prognostischer Faktor 1366 sekundäres Osteosarkom 1369 – Chemotherapie 1369 – Lokaltherapie 1369 – Prognose 1369 – Überlebenswahrscheinlichkeit 1369 sekundärer Pflanzenstoff 591 sekundäres MDS 1609, 1618 Sekundärmalignom 250, 551, 1391 Sekundärprävention 348 Selbstbestimmungsrecht 739
Stichwortverzeichnis
Selbstbezichtigungsfreiheit 734 selbstexpandierender Metallstent 495 selbstexpandierender Metall- und Plastikstent 492 selbstexpandierender Stent 499 selection bias 1081 Selektion 183 – negative 190 Selektionskriterium 738 Selektionsverfahren 64 selektiver Hormonrezeptormodulator 256, 270 – Droloxifen 256 – Idoxifen 256 – Toremifen 256 selektive interne Radiotherapie (SIRT) 914 selektive interne Strahlentherapie (SIRT) 499 selektiver Östrogenrezeptormodulator 980 Selen 591 Semaphorine 299 Seminom 26 – spermatozytisches 1204 Senescence 77, 93, 118 Seneszenz 744 – zelluläre 193 Senfgas 197 Sensitivität 65 Sentinel-Lymphknoten 1072 Sentinel-Lymphknotenbiopsie 871 Sentinel-Node-Konzept 1314 sentinel lymph node 472 Sequenz der Behandlung 567 Sequenziertechnologie 106 Serenoa repens 607 SEREX 330 SERM = Synonym zu selektiven Estrogen Rezeptor Modularen, oft verwendet 257, 265, 266, 269, 270, 271, 980 – Tamoxifen 266 serratiertes Adenom 491 Sertoli- und Granulosazelle 994 Sertoli-Zell-Tumor 28, 1205 Serum-Osteopontin 1255 Serumkalzium 1596, 1599, 1601 severe combined immunodeficiency disease (SCID) 577 SIADH-Syndrom 759 sideroachrestische Anämie 1611 Siegelringzellkarzinom 26, 865 Sigmaresektion 874 Sigmoidoskopie 859 Signalintensitäts-(SI-)Unterschied 1445 Signaltransduktion 278, 445 Signaltransduktionweg 310 Simpson-Golabi-Behmel-Syndrom 1504 simultane Strahlen- und Chemotherapie 405 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
Singletransplantation 1603 Skelettmetastase 667 – palliative Strahlentherapie 667 Skelettszintigrafie 1115, 1232, 1385 SKP1/Cullin/F-Box-Protein-(SCF-) Komplex 170 SMAC/DIABLO 157 smoldering CLL 1727, 1732 smoldering multiples Myelom 1594, 1598, 1599, 1600, 1607 SNP (single nucleotide polymorphisms) 68 SNP-Chip 106 social support 714 Soja (Glycine max) – Wechselwirkung 608 Sokal-Score 1708 Solidargemeinschaft 738 Somatostatinanaloga 1472 Somatostatinom 1468, 1470 Somatostatinrezeptor-Szintigrafie 1448, 1470 Sondenernährung 288 – nasale Sonde 288 – transkutane Sonde 288 Sonnenexposition 1411 Sonnenhut (Echinacea purpurea) – Wechselwirkung 608 Sonstige 415 – DNA-spaltende Agenzien 415 – Enzym 415 – Ribonukleotidreduktaseinhibitor 415 – Weitere 415 Sorafenib 1102, 1103, 1431 Sozialassessment 747 soziale Situation 747 soziale Unterstützung 714 Spätdumpingsyndrom 1469 Späteffekt 442 Spätrezidiv 1001 Spättoxizität 560 SPECT (Singlephotonenemissionstomografie) 374 SPECT-(Single-Photon-Emissions-Computertomografie-) Aufnahmen 1449 Speicheldrüsenkarzinom 1306, 1328 Speiseröhrenkarzinom 277 Spender-T-Lymphozyt 552 Spenderauswahl 555 Spenderlymphozyt 552 Spenderlymphozytentransfusion 557 Spendersuche 554 spezifisches biologisches Target 1001 Spezifität 65 spinale Kompression 653 – Dexamethason 654 – Radiatio 654 Spiral-CT 375 Spitz-Nävus 1412, 1419
Spleißen 68 – alternatives 69 Splenektomie 769, 1719, 1737, 1759 Splenomegalie 1707, 1746, 1756 sporadisches Karzinom 490 SRC-Kinase 1714 Ssmoldering multiples Myelom 1601 Stadieneinteilung 863, 994, 1228, 1539 – abdominelle Lavage 994 – Ann-Arbor-Staging-System 1540 – Biopsie 994 – E-Befall 1540 – extrapelvine Metastasierung 994 – retroperitoneale Metastasierung 994 – TNM-Deskriptoren 1228 – TNM-System 1228 – UICC 1228 Stadieneinteilung nach UICC 1340 Stadiengruppierung nach der UICC 937 stadienspezifische Therapie des kleinzelligen Lungenkarzinoms 1246 – Stadium I-III 1246 – Stadium IIIB 1247 – Stadium IV 1247 stadienspezifische Therapie des nicht kleinzelligen Lungenkarzinoms 1241 – adjuvante Chemotherapie 1241 – Chemotherapie 1246 – neoadjuvante Therapie 1243 – platinbasierte Kombinationschemotherapie 1246 – Radiotherapie 1246 – Stadium I/II/IIIA 1241 – Stadium III, inoperables 1244 – Stadium III, operables 1243 – Stadium IV 1245 – Tumorregression 1244 Staging 38, 374 – genetisches 39 stalk cells 296 Stammfettsucht 1440 Stammzelldosis 550, 557 Stammzelle 187, 1704 – Tumor 99 Stammzellfaktor 514, 516 Stammzellgesetz 560 Stammzellmobilisierung 544 Stammzellplastizität 546 Stammzellpräparation 549, 556 Stammzelltransplantation 554, 561, 1389, 1592, 1678 – allogene 1592 – autologe 1592, 1603, 1604 Standardrisikopatient 1692, 1694 – Antikörpertherapie 1695 – intensivierte Erhaltungstherapie 1695 – Konsolidierungszyklus 1695 – MRD-Kontrolle 1694 – Phase I 1695
S–T
Stichwortverzeichnis
– Phase II 1695 – Stammzelltransplantation 1695 – Stratifikation II 1695 – SZT 1695 Standardtherapie 1693 Stanzbiopsie 481 Staphylococcus aureus 776 starkes Opioid 690 – Fentanyl 695 – Hydromorphon 696 – Levomethadon 694 – Methadon 693 – Morphin 692 – Oxycodon 697 Stärkepartikel 502 Stent 926 Stentimplantation 498, 505 Sterbehilfe 673, 716, 735 – James Rachels 735 stereotaktische Radiotherapie 463 stereotaktische Serienbiopsie 1276 Steroidhormon 255, 258, 263, 269 Steroidhormonrezeptor 1012 Stickstofflost 197 stochastische Strahlenwirkung 245 storage-pool disease 785 Störfaktor 49 Störgröße (7 confounder) 49 Strahlenapplikator 1294 – Iod-125-Applikator 1294 – Ruthenium-106-Applikator 1294 Strahlenart 244 Strahlenempfindlichkeit 451 strahlenexponierte Person 243 Strahlenexposition 242, 1674 Strahlenopfer 253 Strahlenschutz 440 Strahlensyndrom 252 Strahlentherapie 243, 566, 666, 1121, 1236, 1262, 1425, 1637 – palliativ 1236 Strahlung 253 Strategie 713 – patientenzentriert 713 Streptococcus pneumoniae 781 Stress 711 – psychosozialer 711 Stressmanagement 713 – kognitiv-behavioral 713 Streustrahlung 248 Striae rubrae 1441 Stromareaktion 316 Stromazelle 105 Strontiumbestrahlung 1298 strukturelle Mutation 278 Studie 47, 720 – ätiologische 47 – der Qualitätsverbesserung 720 – Fall-Kontroll-Studie 49 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
– Follow-up-Studie 48 – Kohortenstudie 48 – Therapieoptimierungsstudien 721, 722 Studie (klinische) 11 – Phase I 11 – Phase II 11 – Phase III 11 Stuhlgewohnheit 867 subklinisches Cushing-Syndrom 1441 subletaler Schade 443 Subtyp 1374 – dedifferenziertes zentrales Chondrosarkom 1374 – histologische Graduierung 1374 – mesenchymales Chondrosarkom 1374 – periostales (Oberflächen-)Chondrosarkom 1374 – zentrales (medulläres) Chondrosarkom 1374 Suchterzeugung 273, 279 Suizid 670 Suizidgen 583 Sunitinib 1102, 1103 Superagonist 429 superfiziell spreitendes Melanom 1417 Supervision 733 supportiv-expressive Gruppentherapie (SEG) 713 supportive Maßnahme 459 – Gastrointestinaltrakt 459 – Lunge 460 – Mundhöhle 459 – spezielle supportive Therapieform 459 – Strahlentherapie 459 – systemische supportive Therapie 459 – Urogenitaltrakt 460 – ZNS 460 supportive Therapie 947 – Hauptkomplikation 947 – parenterale Ernährung 947 – psychoonkologisches Angebot 947 – Supportivbehandlung 947 Supportivtherapie 1319 Suppressorgen 187 SURVIVIN 154, 160 Suszeptibilität 63 Sweet-Syndrom 767 symptomatisches Wirbelkörperhämangiom 508 Symptomkontrolle 624, 627, 707 Symptomlinderung 666 Synaptophysin 1463 5q-Syndrom 1617 Syndrom – der abnormen Chromatinverklumpung 1617 – nephrotisches 1596, 1600 Synkanzerogenese 275 Synovialsarkom 34
Synzytiotrophoblast 1023, 1024 Systemanamnese 366, 367 systemische Chemotherapie 499, 1123 – CISCA-Schema 1123 – CMV-Schema 1123 – Gemcitabine und Cispaltin (GC) 1124 – MVAC/MVEC-Schema 1123 systemische Hochdosisblöcke 1690 systemische Krebs-Mehrschritt-Therapie 598 Szintigrafie 374
T t(11;17) 1641 t(11;17)(q23;q21) 1642 t(15;17) 1651 t(15;17)(q22;q11-12) 1641 t(15;17)(q22;q12) 1653 t(16;16)(p13;q22) 1641, 1653 t(3;3)(q21;q26) 1655 t(5;17) 1641 t(8;21) 1651 t(8;21)(q22;q22) 1653 T-LGL 1741 T-Linien-ALL 1678 – Arabinosyl-Guanosin 1678 – Asparaginase 1678 – Cladribine 1678 – CR-Rate 1678 – Cyclophosphamid 1678 – Cytosin-Arabinosid 1678 – early 1678 – Forodesin-Hydrochlorid 1678 – Hochdosis-Methotrexat 1678 – immunologischer Subtyp 1678 – leukämiefreies Überleben 1678 – MabCampath 1678 – mature 1678 – pre/pro 1678 – thymische T-ALL 1678 T-Lymphozyt 327 T-Zell-Defekt 769 T-Zell-Leukämievirus (HTLV-1) 225 T-Zell-Lymphom 233 T-Zell-Onkogen 1677 T-Zell-Rezeptor 84 Tabakabstinenz 275 Tabakkonsum 858 Tabakprävention 273 Tabakrauch 194, 850, 1248 Tabaksteuer 273 TAD-9 1660 Takakrauchen 273 Talkumpoudrage 1257 Tamoxifen 968, 977, 979, 980, 981, 982, 983, 1006
Stichwortverzeichnis
Target-Gen 581 – B7.1 581 – CD40-Ligand 581 – CEA-B7-ICAM-LFA 581 – IL-2 581 – MUC1 581 targeted therapy 434, 1240 Taxan-refraktärer Tumor 1000 Taxane (Docetaxel, Paclitaxel) 425, 975, 984, 985 Tazobactam 774 Teer 276 Tegafur 425 Teicoplanin 776 Teilhaberecht 728 Teilkörperhyperthermie 568 TEL-AML1 1676 Teletherapie 440 Telomerase 109, 193, 227 Telomerdysfunktion 744 Telomer 108 Temoporfin 1319 Temozolomid 1430 Temsirolimus 1102, 1103 Ter-Mutation 1164 Ter-Punktmutation 1164 Teratom 28 – reif 28 – unreif 28 terminale Differenzierung 1677 terminales Stadium 623 testikuläreintraepitheliale Neoplasie (TIN) 1163, 1167, 1173 testis germ cell tumour-gen 1 1161 Testosteron 255, 259, 267, 269, 1130, 1135, 1147 Test – diagnostischer 64 TGF-β 515, 936 Thalidomid 436, 1600, 1601, 1602, 1603, 1605, 1606, 1607, 1626, 1758 Theka- und Leydig-Zelle 994 Theorie der Moral 726 therapeutische Breite 442 therapeutische Impfung 1044 therapeutisches Vorgehen bei individuellem MDS-Patient 1634 Therapie 411, 940, 1319, 1344, 1686, 1687, 1689, 1691, 1693, 1695, 1697, 1699 – 5-FU 944 – adjuvante Chemotherapie 943 – älterer Patient 411 – Antimetabolite 944 – BFM-Studien 1687 – Biological 944 – Capecitabin 944 – Chemotherapie 1346 – – bei medullären Karzinomen 1347 – COALL-Studiengruppe 1687 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
– – – – –
CONKO-001 Studie 943 endoskopische Therapie 941 ESPAC-1-Studie 943 Gemcitabin 944 German Adult ALL Study Group, GMALL 1687 – Hochdosis 1389 – intensive Chemotherapie 1686 – intraoperative Strahlentherapie 942 – multimodale 1388 – neoadjuvant 1388 – Operation 1344 – operative 940 – palliative Bestrahlung 942 – palliative Chemotherapie 944 – palliative Chirurgie 941 – perkutane Strahlentherapie 1346 – photodynamische 1319 – Platinderivat 944 – postoperative (adjuvante) Strahlentherapie 942 – präoperative Strahlentherapie 941 – Radiochemotherapie 942 – Radiojodtherapie 1345 – Stammzelltransplantation (SZT) 1686 – Strahlentherapie 1686 – systemische 1386 – targeted therapy 946 – Topoisomeraseinhibitoren 944 – TSH-suppressive Therapie mit Thyroxin 1346 – Zweitlinientherapie 946 therapieassoziierte Leukämie 1657 Therapie des älteren Patienten 1697 – Abl-Kinase-Inhibitor Imatinib für Ph+-ALL 1698 – Antikörpertherapie 1698 – Erhaltungstherapie 1699 – Frühmortalität 1698 – geriatrischer Score 1699 – hämatologische Toxizität 1698 – Imatinib-Monotherapie 1699 – Induktionstherapie 1699 – innovative Therapiestrategie 1698 – Komorbidität 1698 – Komplikation 1698 – Konsolidationszyklus 1699 – Lebensqualität 1698 – palliative Therapie 1698 – prospektive Therapiestudie 1698 – Vorphasetherapie 1699 Therapieentscheidung 745 Therapiemonitoring 375, 377 Therapiesimulator 440 thermale Dosis 570 thermische ablative Verfahren 492 thermisches Isoeffekt-Dosis-Konzept 564 Thermoablation (Radiofrequenzablation, RFA) 509
thermoablative Maßnahme 893 Thermoabrasio 1298 Thermokoagulation 509 Thermometrie 568 Thermosensibilisierung 566 Thermotoleranz 564 Thermotron RF-8 571 6-Thioguanin 421 thorakoskopische Biopsie 1257 Thoriumdioxid 207 Thorotrast 243, 920 Thrombembolie 1605 Thromboembolie 783 Thromboembolieprophylaxe 789 Thrombopoetin 524, 526 Thrombopoietin-Rezeptor MPL 1755 Thrombose 1751 Thromboserisiko 1747, 1751, 1754 thrombotisches mikroangiopathisches Syndrom 558 thrombotisch thrombozytopenische Purpura (TTP) 784 Thrombozytenapherese 1755 Thrombozytenkonzentrat 615 – bakterielle Kontamination 615 – Herstellung 615 – Indikation 616 – Nebenwirkung 616 – Therapierefraktärität 615 Thrombozytopenie 784, 1591, 1600, 1602, 1731 Thrombozytose 761, 1745, 1752, 1753 Throphoblast – gestationsbedingter 1036 Thy-1 541 Thymidinkinase 583 Thymidinmonophosphat 883 Thymom 26 Thyreotropins (TSH) 270 Thyroxin 270 Tie 300 Tiefendosisverteilung 440 Tiefenhyperthermie 567 Timed-up & go-Test 747 Timed up and go-Test 747 Tinetti-Test 747 tip cells 296 Tipifarnib 1670 TLS-Gen 1380 TNF 535 TNFα 159 TNM-Klassifikation 863, 937, 1111, 1340, 1456 TNM-Stadium 274 TNM-System 38 Todesbescheinigung 44 Todesfall 279 Todesursache 274 Todesursachenstatistik 44
T
Stichwortverzeichnis
Tod und Sterben 626 Toleranzdosis 442 Toluidinblautest (Collins-Probe) 1074 Tonsillenkarzinom 1321 Topoisomerase-II-Hemmstoff 204 Topoisomerase-II-Inhibitor 1638 Topoisomerasehemmstoff 415, 426 – Hemmstoff der Topoisomerase I 415 – Hemmstoff der Topoisomerase II 415 Toremifen 981 Totalembolisation 509 totale mesorektale Exzision 875 Toxizität 746, 884 TP53 174, 177, 178 TP53-Gen 1643 Trachealkarzinom 1325, 1328 traditionelle chinesische Medizin 597 TRAIL 156, 159 – -Rezeptoren 156 Tränenform 1756 Tränentropfen 1747 transabdominale Sonografie 996 transarterielle (Chemo-)Embolisation [TA(C)E] 499 transarterielle Chemoembolisation 915 transarterielle Embolisation (TAE) 502 transdermales Medikamenten-Applikationssystem 695 transformierender Wachstumsfaktor α (TGF-α) 191 Transforming Growth Factor α (TGFα) 259 Transfusionsgesetz 560 Transkriptionsfaktor 227, 310 Translokation 233, 239, 992, 1595, 1675 – Apoptose 1676 – Fusionsprotein BCR-ABL 1676 – H-RAS 992 – HER-2/NEU-Onkogen 992 – IgH 1592, 1593 – IgL 1592 – minor breakpoint cluster region 1676 – MYC 992 – Protoonkogen 992 – Signaltransduktionsweg 1676 – t(1;19)(q23;p13) 1676 – t(9;22) 1675 – Zellzyklusregulation 1676 Translokation t(11;22)(q24;q12) 1380 Translokation t(4;11) 1680 – allogene SZT 1681 – Hochdosis-Cytosin-Arabinosid 1681 Translokation t(8;14) 1681 Translokation t(8;21)(q22;q22) 1640 transmurale EUS-geführte Drainage 497 Transplantationsregister 561 Transplantatversagen 551, 558 transplazentare Karzinogenese 260 transpupilläre Thermotherapie (TTT) 1293 transurethrale Resektion 1114 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
transurethrale Tumorresektion (TUR-Bt) 1117 transvaginale Dopplersonografie 996 Transversion 278 Trastuzumab 84, 265, 432, 978, 986, 987 Trastzuzumab (Herceptin) 974 Traubenkern (Vitis vinifera) – Wechselwirkung 608 Traubensilberkerzenwurzel (Cimicifuga racemosa) – Wechselwirkung 608 Trauerreaktion 660 Tretinoin 429 Triazine 425 Trimethroprim-Sulfamethoxazol 771 Trisomie 12 1724, 1725 Trisomie 8 1379, 1610, 1613, 1656, 1707, 1710 TrK-Rezeptor-Familie 1487 TrkA 1487 TrkB 1487 TrkC 1487 Trophoblast 1024, 1025, 1029, 1030, 1031 – Diagnostik 1028 – invasiver 1028 – Therapie 1029 Trophoblastembolie 1028 Trophoblasterkrankung 1022, 1033 – gestationsbedingte 1022 – nichtvillöse 1022 – villöse 1022 Trophoblasttumor 1023, 1026, 1027, 1032, 1035, 1036, 1037 – epitheloider 1022, 1025, 1030 – Nachsorge 1035 – Symptomatik 1027 – Therapie 1035 Tryptase 1762 Tschernobyl 244 TSH 261, 270 Tuberkulose 1437 tuberöse Sklerose 1089, 1091, 1268 Tumor 1305 – Ackerman 1305 – -Nekrose-Faktor α (TNFα) 192, 535, 536 Tumoranämie 759, 1094, 1136 Tumorantigen 330, 332 – gruppenspezifisch (shared) 332 – patientenspezifisch (unique) 332 Tumorassessment 748 tumorassoziiertes Antigen (7 Tumormarker) 382 Tumorausbreitung 1318 – extranodale 1318 Tumorbild 274 Tumorblutung 786 Tumorboard 470, 476 tumor control probability 443
Tumordiagnose 279 Tumordicke nach Breslow 1422 Tumordisposition 71 Tumorgenese – caretaker 130 – gatekeeper 130 – Mechanismen 130 Tumorgrading 274 Tumorheterogenität 184 Tumorhypoxie 1318 – Carbogen 1318 tumor immune surveillance 326 – Äquilibrium 326 – Elimination 326 – Entweichen 326 Tumorinitiation 186, 255, 259, 260, 261, 263, 264, 267 Tumorkachexie 283 Tumormarker 25, 382, 389, 390, 870, 995 – Cut-off 383 – Einflussgröße 386 – individueller Basiswert 388 – Nachsorge 390 – prädiktiver Wert 383 – Screening 389 – Sensitivität 382 – Spezifität 382 – Störgrößen 386, 387 – Therapiekontrolle 390 Tumormarkerbestimmung 996 – CA-125 996 – CA-19-9 996 – CA-72-4 996 – CEA 996 – präoperative 996 Tumorprogression 264, 265 Tumorpromotion 261, 262, 263, 264, 265, 266, 270, 271 Tumorremission 406 Tumorresistenz 403 Tumorrisiko 276 Tumorruptur 1507 Tumorschmerz 509, 677 Tumorschmerztherapie 630 tumorspezifische Antikörper 445 Tumorstaging (7 Staging) 374 Tumorstammzelle 19, 99, 1780 Tumorstroma 20, 193, 311 – Begleitinfiltrat 21 Tumorsuppressor 225 Tumorsuppressorgen 90, 98, 116, 129, 239, 247, 278, 312, 855, 933, 935, 1089, 1134, 1413 – CDKN2 935 – -Expression 1107 – SMAD4 935 – TP53 935 Tumorsuppressorgen P53 187, 1461 – Gatekeeper 188
Stichwortverzeichnis
Tumorvakzine 1097 Tumorvolumen 451 Tumorvorstufe 182, 187 Tumorzell-Purging 549 Tumorzellaussaat 871 Tumorzellkinetik 402 Tumorzellproliferation 452 Turcot-Syndrom 137, 853, 1269 Two-hit-Modell 91 Typ-I-Blasten 1647 Typ-II-Blasten 1647 Tyrosinhydroxylase 1491 Tyrosinkinase 79 Tyrosinkinasehemmer 915 Tyrosinkinaseinhibitor 81, 1240, 1431, 1714 Tyrosinkinase (Typ III) 516 Tyrosinkinaserezeptor 79
U Übelkeit und Erbrechen 634 Überbringung schlechter Botschaften 731 – Max Frisch 731 Überernährung 194 überexprimiertes Antigen 333 – EGFR 333 – HER-2/NEU 333 – p53 333 – Telomerase 333 Übergewicht 850, 1005 Überleben 406 – krankheitsfreies 406 – progressionsfreies 406 Überlebenskurve 564 Überlebensrate 407, 938 – Kohortenansatz 47 – Periodenansatz 47 – prospektiv (7 Kohortenansatz) 47 – relative 47 – retrospektiv (7 Periodenansatz) 47 Überlebenszeitdauer 712 Überlebenszeit 51 Überlebenszeitrate 712 Ubiquitin 170 UFT 890 Uhr-Zeichen-Test 747 UICC-Klassifikation 961 UICC-Stadium 39 UICC 2002 961 Ultraschall (US) 374, 481, 567, 1437 Ultraschallbiomikroskopie (UBM) 1291 Ultraschalluntersuchung 995 Umdrehplastik 1391 Umweltöstrogen (7 Phytoöstrogene) 255, 262, 270 Umweltöstrogen (7 Xenoöstrogene) 262 uniparentale Disomie (UPD) 106, 115 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
unkontrollierte Genexpression 1675 unkonventionelles Verfahren (7 Alternativmedizin) 587 Unruhe 656 Unterlassung 735 uPA (Plasminogenaktivator vom Urokinasetyp) 967 Urachus-Karzinom 1110 Urethrastriktur 1146 urinbasierte Tumormarker 1114 – Bladder-tissue-Antigen (BTA) 1114 – BTA-stat und BTA-trak 1114 – ImmunoCyt 1114 – nukleäres Matrix-Protein 22 (NMP22) 1114 Urinzytologie 1113 Urokinase 317 Urothelkarzinom 27 – papillär 27 Urothelkarzinom 31 UV-Strahlen 95 UV-Strahlung 1409, 1410
V V(D)J-Rekombination 84 Vaginalkarzinom 1078 Vakzine 1714 Vakzinierung 336, 1430 – DC 338 – für Tumorantigene kodierende DNA 338 – Heat-shock 339 – Impfstoff auch aus Tumorzelle 339 – Peptid 336 – Protein 337 Valproat 1625 Vancomycin 776 Vanillinmandelsäure 1492 vascular endothelial growth factor (VEGF) 988 vaskuläre Homöostase 298 vaskuläre Mimikry 305 vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor 1269 Vaskulitiden 766 Vaskulogenese 295 vasoaktives intestinales Peptid 1491 vasointestinales Peptid 1439 VEGF (vascular endothelial growth factor) 292 VEGF-Trap 306 Vektor 578 – Adeno-assoziiertes Virus (AAV) 579 – Adenovirus 579 – gene gun 579 – Herpes-simplex-Virus 579 – Liposome 579
– nichtviral 578, 579 – Retrovirus 579 – Vaccinia-Virus 579 – viral 578, 579 Vena cava 505 vena occlusive disease 788 Venenkatheter 772 veno occlusive disease 789 Venookklusionserkrankung 1391 venöse Thrombose 505 Ventrikeldrainage 1281 Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte 716 – VEE 716 verbesserte Oxygenierung 566 Verbrauchskoagolupathie 1665 Verbrauchskoagulopathie 791 Vererbung 72, 114 – epigenetische 114 – triallelische 72 Verknüpfung nichthomologer Enden (NHEJ) 122 Verlustreaktion 660 Verner-Morrison-Syndrom 1467 Vernetzung 12 – horizontale 12 – vertikale 12 Verschlusshydrozephalus 1281 Verzerrung (7 bias) 49 VIBE (volumetric interpolated breath-hold examination) 376 Vinca-Alkaloide 426 Vindesin 1430 Vinorelbin 984, 985 Vinylchlorid 201 VIP 1033, 1491 VIPom (Verner-Morrison-Syndrom) 1467, 1470 virales Antigen 333 – EBV 333 – HBV 333 – HPV 333 – HTLV-1 334 virales Glykoprotein 231 Virchow-Robin-Räume 1276 Virus 185 Virilisierung 1441 virtuelle Computertomografie-(CT-) basierte Kolonografie (CTC) 490 virtuelle Simulation 460 Vitalparameter 370 Vitamin-B12-Spiegel bei CNL 1761 Vitamin C 591 Vitamin E 591 VOD 558, 1512 Volkskrankheit 279 Vollmondgesicht 1440 Vollwandexzision 875 Volumeneffekt 443
T–Z
Stichwortverzeichnis
von-Hippel-Lindau-Erkrankung (VHL) 1088, 1089, 1268 Von-Hippel-Lindau-Syndrom (VHL) 1439 von-Willebrand-Syndom – erworbenes 762, 785, 1751 – sekundäres 1754 Voriconazol 775 Vorphase 1687 – Cyclophosphamid 1687 – Steroide 1687 Vorsorge 279 Vorsorgeuntersuchung 13, 1079 VRE 778 Vulva, Melanom 1071 Vulvakarzinom 1078 vulväre intraepitheliale Neoplasie (VIN) 1070
W Wachstumsfaktor 1687 – Dosis-Compliance 1687 – G-CSF 1687 – Induktionsphase II 1687 – Inzidenz febriler Episoden 1687 – Reduzierung der Neutropeniedauer 1687 – Zeit-Compliance 1687 Wachstumsfraktion 41 Wachstumshormon (Somatotropin, STH) 261 Wachstumsmuster 276 Wachstumsrate 41 Wachstumstransformation 231 Wächterlymphknotenbiopsie 1420, 1421, 1423 WAGR-Syndrom 1497, 1498 Wait-and-see-Strategie 1494 Waldmurmeltier 239 Wallstents 507 Wangenkarzinom 1316 Warburg-Effekt 80 Weibel-Palade-Körperchen 300 Weichmacher 7 Phthalate 269 weißes Fleisch 351 Weltgesundheitsorganisation (WHO) 273 Wermer Syndrom 1440 Werner-Syndrom 126 Whipple-Operation 926 WHO-Klassifikation 1109, 1528, 1532, 1650 WHO-Performance-Status 748 WHO-Stufen-Schema 369, 678, 683 – Stufe 1: nichtopioide Analgetika 683 – Stufe 2: mittelstarke Opioide ± Adjuvanzien 683 – Stufe 3: starke Opioide 683 Wilms-Tumor 117, 1497 Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790
Wilms-Tumorsuppressorgen WT1 1498 Wirbelkörperbiopsie 482 Wirkungspotenzierung von Zytostatika 566 Wirkungsverstärkung der Strahlentherapie 567 Wirtszelle 312 World Cancer Report 347 WT2 1498, 1499 WT3 1498, 1499 WT4 1498, 1501 WT5 1498
X X-Chromosom-Inaktivierung 114 X-Protein 238 Xanthom 767 Xenobiotika metabolisierendes Enzym 909 Xenoöstrogen (7 Umweltöstrogene) 262 – Dibenzofurane 262 – Dieldrin 262 – o,p’-Dichlordiphenyltrichlorethan 262 – p,p’-Dichlordiphenyldichlorethyle 262 – polychloriertes Biphenyl 262 – polychloriertes Dibenzodioxin 262 Xeroderma pigmentosum 120, 149, 1410 Xerostomie 633 XIAP 160 XIST-Gen 114
Y Yttrium90-Ibritumomab Tiuxetan 433
Z ZAP-70 1723, 1727 zeitlicher Verlauf der Schmerzen 679 Zell-Zell-Interaktion 194 Zellproliferation 278 Zellüberlebenskurve 441 zelluläre Seneszenz 744 Zellzyklus 164, 172, 744 – Checkpoint 164, 172, 173, 176, 177, 179 – G1-Phase 164 – G2-Phase 165 – Gatekeeper-Proteine 172, 176 – M-Phase 166 – Restriktionspunkt 164 – S-Phase 164 Zellzyklusprogression 1677
zentralvenöser Katheter 505, 790 zentralvenöse Stenose 505 Zertifizierung 721 zervikale intraepitheliale Neoplasien (CIN) 188, 1044 Zervix 275, 277 Zervixkarzinom 229, 378, 570, 571, 1039 – HPV 1039 – Risiko 1040 – Vorsorge und Früherkennung 1039 Ziduvudin-assoziierte Anämie 528 zielgerichteter (selektiver) Therapieansatz 434 Zigarette 273 Zigarettenkonsum 273, 274 ZNS-Bestrahlung 1690 – Standardprophylaxe 1690 ZNS-Metastase 866 ZNS-Prophylaxe 1689, 1695 – akute Neurotoxizität 1690 – Ara-C 1689, 1695 – chronische Neurotoxizität 1690 – Dexamethason 1695 – hochdosiertes Ara-C 1689 – intrathekal appliziertes liposomales Cytarabin 1690 – intrathekale Therapie 1690 – MTX 1689, 1695 – prophylaktische Schädelbestrahlung 1695 – prophylaktische ZNS-Bestrahlung 1690 – Steroid 1689 – ZNS-Bestrahlung 1689 Zollinger-Ellison-Syndrom 1467 Zungengrundkarzinom 1321 Zusammenfassung 1634 Zwei-Schritt-Hypothese 1515 Zwei-Treffer-Hypothese 129 Zweitmelanom 1433 Zweitneoplasie 1587 Zweittumor 249, 1587 Zyanoakrylate 509 Zyste 1437 Zystitis 1146 Zystoskopie 1113 Zyto- und Synzytiotrophoblast 1024 Zytochrom-P450-Metabolismus 409 – Interaktion 409 Zytochrom C 156 Zytochrom P450 204 Zytogenetik 1679, 1684 – FISH-Analyse 1684 – klassische Karyotypanalyse 1684 – Multicolor-FISH (MFISH) 1684 – numerische Aberration 1684 – Spektralkaryotypisierung (SKY) 1684 – strukturelle Aberration 1684 Zytokeratin 29 Zytokin-Protease-Chemokin-Achse 320
Stichwortverzeichnis
Zytokin 284, 445 Zytologie – Endometriumkarzinom 1011 zytologische Begutachtung 481 Zytomegalievirus 231 Zytoreduktion 997 Zytostatika 412, 998 – Anthrazykline 998 – Bevacizumab 999 – Carboplatin 998 – Carboplatin/Paclitaxel 999 – Dupletten (2 Zweierkombinationen in Folge) 999 – Einteilung 413 – Farnesyltransferasehemmer Lonafarnib 999 – Gemcitabin 999 – Paclitaxel 998 – Supportiva 998 – Topotecan 999 – Wirkungsmechanismus 412 zytotoxisches Zytokin 416, 430 – Interferon 416 – Interleukin 416 Zytotoxizität 185 Zytotrophoblast 1023
Teil I: Seiten 1–792 Teil II: Seiten 793–1790