JAN WILHELM
Die neunzehnte Attacke
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.-60. Tausend Die Tatsachenre...
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JAN WILHELM
Die neunzehnte Attacke
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.-60. Tausend Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Deutscher Militärverlag • Berlin-1967 Lizenz-Nr. 5 Umschlag: Karl Fischer Lektor: Rolf-Dieter Burgdorff Vorauskorrektor: Johanna Pulpit Hersteller: Lydia Herkt Gesamtherstellung: III/9/1 Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
Eine große Fahrt fällt aus Die Gesichter der Soldaten sind vom Schweiß verklebt und mit Staub überkrustet. Schwer ist der Tritt der Männer in den feldgrauen Uniformen der wilhelminischen Armee, die seit Mitte August 1914 in langen Kolonnen über die Straßen und Wege Belgiens marschieren. Mit zusammengebissenen Zähnen stapft auch Paul Krüger durch fremdes Land. Seine Füße sind wund, aber den zwanzigjährigen breitschultrigen Burschen plagt ein noch größerer Schmerz. In Gedanken hängt er noch immer seinem Kindheitstraum nach, der sich beinahe erfüllt hätte. Im Oktober, nur knapp zwei Monate später, sollte er eigentlich auf einem Passagierschiff in Hamburg anheuern; als Schiffsbäcker. Schon als Kind ließ ihn die Sehnsucht in die weite Welt nicht los, und oft gab er sich seinen Träumereien hin. Seinem Vater - einem Haltestellenaufseher bei der Eisenbahn - hatte er oft bei der Arbeit zugeschaut. Wenn die großen Züge an dem kleinen Dorf bei Nordhausen vorbeiratterten, hatte er sich oft danach gesehnt, in einem der Wagen zu sitzen und in ein unbekanntes fernes Land zu reisen. Das Leben mußte dort einfach schöner sein, als es ein kleiner Eisenbahnbeamter seinen Kindern im kaiserlichen Deutschland bieten konnte. Damit es auch immer zu Hering und Pellkartoffeln langte, mußte Paul schon als achtjähriges Kind auf den Feldern des Gutshofes arbeiten.
Als er mit vierzehn Jahren die Schule beendet hatte, schickten ihn die Eltern nach Nordhausen in die Lehre. „Lerne Bäcker", hatte der Vater zu ihm gesagt und dabei wohl auch an den Magen gedacht, „es ist ein solides Handwerk." Nach Abschluß der Lehrzeit wollte Paul Krüger ein Stück von der Welt kennenlernen. Doch er mochte nicht sein Bündel schnüren, um als Handwerksbursche durch die Lande zu wandern, wo es nicht viel anders als in Nordhausen und in seinem Heimatdorf sein konnte. Er bewarb sich bei der Hamburg-Amerika-Linie, bei der Hapag, als Schiffsbäcker. Weil der Bäckergeselle noch nicht seine Militärzeit absolviert hatte, erhielt er abschlägigen Bescheid: Eine Anstellung wäre erst nach dem „Dienst für Kaiser und Vaterland" möglich. Um schnell auf sein Traumschiff zu gelangen, meldete sich Paul Krüger freiwillig zum 74. Infanterieregiment in Hannover. Im Frühjahr 1914, kurz vor seiner Entlassung im Sommer, erhielt er aus Hamburg die Zusage, daß er im Oktober anheuern könne. Wie oft hatte er sich während der letzten Monate beim Kommiß ausgemalt, wie „sein" weißer Ozeanriese die Anker zur großen Fahrt lichten und eine Kapelle dazu „Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus" spielen würde. In diesen Traum war vor wenigen Tagen der Weltkrieg geplatzt. Paul Krüger wird jetzt auch andere Länder sehen; Belgien und Frankreich. Aber sein Reisegepäck hat er sich anders vorgestellt. Ohne den „Affen" auf dem Rücken, ohne den Karabiner über der Schulter und ohne die preußischen Kommißstiefel an den Füßen, die jetzt so schmerzen. Tagaus, tagein geht es in Eilmärschen durch das tand, in dem die Ernte, die
gerade eingebracht werden sollte, zertreten und niedergewalzt wird. Friedliche Bauern werden um die Früchte ihrer Arbeit gebracht. Paul Krügers Kompanieführer, Hauptmann von Beschar, reitet ein Pferd, das unter den Strapazen der langen Märsche bereits gelitten hat. Es besitzt zum Leidwesen des Hauptmanns keine Ausdauer. Vor einem Dorf trifft die Kompanie einen belgischen Bauern mit einem prächtigen Fuchs. Selbstverständlich hat auch von Beschar das Tier erblickt. Der Offizier schnalzt anerkennend mit der Zunge und reitet schnurstracks auf den Belgier zu. Der Mann scheint von einer Vorahnung erfüllt. Eilig will er mit dem Pferd auf einem Seitenpfad die Straße verlassen. „He, sofort stehengeblieben", brüllt der Hauptmann, als er die Absicht des Belgiers erkennt. Seinem eigenen Pferd gibt er die Sporen und reitet auf den verängstigt dreinschauenden Mann zu, der immer noch auszuweichen versucht. „Los, gib den Gaul her", forderte ihn von Beschar auf und fügte hinzu: „Verstanden, der ist requiriert!" Der Mann gestikuliert und hält seinen Fuchs am Zaumzeug fest. Paul Krüger und seine Kameraden, die am Straßenrand Zeugen des Raubes werden, verstehen nicht, was der Bauer verzweifelt auf den Offizier einredet. „Na, wird's bald", schreit der vor Wut bebende Hauptmann. Als der Bauer noch immer nicht gewillt ist, ihm das Pferd zu überlassen, zieht von Beschar seine Pistole und schießt den Mann nieder. Angeekelt und erregt über die ungeheuerliche Tat des Offiziers wenden sich viele Soldaten ab. Neben Paul
Krüger marschiert ein älterer Mann mit hochgezwirbeltem Schnurrbart, ein Metallarbeiter, der erst kurz vor Ausbruch des Krieges mobilisiert worden war. Verächtlich zischt er durch die Zähne. „Das ist also unser Krieg mit Gott für Kaiser und Vaterland. Räuber und Mörder sind wir." Erschrocken sieht Paul Krüger den Kameraden an und knufft ihn in die Rippen. „Mensch, wenn sie dich hören!" Der Mann verstummt. In der Kompanie ist der Mord noch lange Gesprächsstoff. Unter den Soldaten sind zwei Sozialdemokraten, dabei auch der Schnurrbärtige, der so unmißverständlich auf die Tat seines Vorgesetzten reagiert hatte. Sie scharen um sich eine Gruppe, in die auch Paul Krüger aufgenommen wird. Die Soldaten schwören sich einander, daß sie nicht auf die Bauern und Arbeiter Belgiens und Frankreichs schießen wollen. Sie versuchen, auch andere Soldaten von der Sinnlosigkeit des Krieges zu überzeugen; besonders nach der im September 1914 verlorenen Marneschlacht, als der Blitzkriegsplan des deutschen Generalstabes gegen Frankreich gescheitert war. Ein Feldwebel, der sich das Vertrauen der beiden Sozialdemokraten erschlichen hat, verrät sie und läßt die Gruppe auffliegen. Mit den Männern wird nach preußischem Recht kurzer Prozeß gemacht. Sie kommen vor das Kriegsgericht und werden für schuldig befunden. Der Vorsitzende des Tribunals verkündet drakonische Strafen: „Soldat Paul Krüger erhält wegen Agitation gegen den Krieg und Zersetzung der Armee achteinhalb Jahre Zuchthaus."
Auf der Festung Graudenz soll er seine Strafe verbüßen.
Festung und „Frontbewährung" In der Haft überkommt den einundzwanzigjährigen Bäckergesellen so etwas wie Reue über die Tat. Nicht, daß er jetzt den Krieg billigen würde. Doch wenn er daran denkt, daß er achteinhalb Jahre in diesem grauen und kalten Gemäuer sitzen soll, fröstelt es ihn. Er ist völlig mutlos geworden. Wenn er älteren Leidensgenossen seine Verzweiflung mitteilt, kommen ihm die Tränen. „Was flennst du nur?" wundert sich ein Häftling, der ebenfalls wegen seines Widerstandes gegen den Krieg eine mehrjährige Strafe abbüßen muß. „Draußen werden den Soldaten die Knochen zerschossen. Freu dich doch, daß dich hier keine Kugeln erreichen. Sei nicht dumm, halte aus, bis der Krieg vorbei ist." Sie reden Paul Krüger Mut zu, sprechen von einer Revolution, die kommen, den Kaiser mit seinen Generalen hinwegfegen und den Frieden bringen wird. Der Trost ist nicht von langer Wirkung. Aus seinem Elternhaus trifft ein Brief ein, und darin fehlt es nicht an Vorwürfen gegen den Sohn. Der Vater, als Eisenbahner im Staatsdienst, ist nach der Verurteilung seines Sohnes Paul entlassen worden; nach einundvierzig Jahren Dienstzeit. Und er soll auch nicht die Rente bekommen, die ihm als kleinen Beamten zusteht. Paul Krüger glaubt, dem alten, schon lange krän-
kelnden Vater großes Unrecht angetan zu haben. Wieder überfällt ihn eine abgrundtiefe Mutlosigkeit. Wie kann er seine Schuld, die er dem Vater gegenüber auf sich geladen hat, wieder gutmachen? Nach einem Monat Festungshaft sieht er eine Gelegenheit. Den Gefangenen wird verkündet: Wer freiwillig an die Front geht und sich bewährt, wird begnadigt! In seinem Gewissenskonflikt verwirft er alle guten Ratschläge seiner Kameraden. Paul Krüger weiß und fühlt selbst, daß er wider die Vernunft handelt, wenn er diese Entscheidung trifft. Doch er meldet sich zur „Frontbewährung" nach Frankreich. In der Hoffnung, seinen Vater zu retten, begeht er jetzt „Heldentaten". Er beteiligt sich an waghalsigen Patrouillen; Himmelfahrtkommandos. Viele seiner Kameraden kommen nicht zurück, viele von ihnen nur als Krüppel. Den Heldentod gestorben für das Vaterland. Wie ein bitterer Hohn klingt für Paul Krüger diese Phrase, die umschreibt, daß ein Vater, ein Sohn oder ein Bruder für einen unsinnigen Raubkrieg ihr Leben lassen mußten. Paul Krüger übersteht die Einsätze. Schließlich wird er begnadigt; sogar wegen der gezeigten Tapferkeit zum Unteroffizier befördert. Er weiß inzwischen, daß die kaiserlichen Generale mit jedem Soldaten rechnen müssen. Nach wenigen Wochen wird Paul Krüger von einem Feldwebel angesprochen. Leutselig klopft ihm dieser auf die Schulter, als er so nebenbei fragt: „Hören Sie mal, Sie waren doch in der Festung Graudenz?" „Warum wollen Sie es wissen?" erwidert Paul Krüger.
„Sie können es ruhig sagen, ich weiß ja alles", meint ermunternd der Feldwebel. „Na, wenn Sie alles wissen, dann brauchen Sie mich doch nicht zu fragen!" „Das interessiert mich weniger. Aber, was spricht man in Graudenz über den Krieg und so?" Nach anfänglichem Zögern redet sich Paul Krüger in Hitze: „Sie sagen, daß wir Dummköpfe sind, wenn wir unsere Knochen für den Kaiser kaputtschießen lassen. Das große Leid wird erst ein Ende haben, wenn der Kaiser abdankt. Da er nicht von allein gehen wird, müssen wir Soldaten uns mit den Arbeitern in den Rüstungsfabriken gegen den Krieg erheben. Eine Revolution wird kommen!" „So, eine Revolution wird kommen", wiederholt der Feldwebel langsam die letzten Worte. Als Paul Krüger den merkwürdigen Unterton in der Stimme seines Gesprächspartners hört, schimpft er sich in Gedanken einen großen Schafskopf. Zu spät hat er gemerkt, daß er einem Provokateur aufgesessen ist, der den Auftrag hatte, noch einmal die Meinung des ehemaligen politischen Häftlings zu erfahren. Wieder steht er vor dem Kriegsgericht und wird für schuldig befunden. Diesmal lautet das Urteil: Fünf Jahre Zuchthaus, zuzüglich der nichtverbüßten Jahre, Wieder in der Festung Graudenz. Mehr als ein Jahrzehnt im Zuchthaus. Bei diesem Gedanken packt ihn die Verzweiflung. Als kranker und gebrochener Mann werde ich erst frei sein, überlegt er die schreckliche Konsequenz. Paul Krüger ist nicht allein. Denn je länger der Krieg dauert, desto mehr Menschen empören sich gegen das
Völkermorden. Der Hurrapatriotismus der Verblendeten und Getäuschten in den ersten Stunden, Wochen und Monaten verblaut vor der schrecklichen Wirklichkeit des Krieges. Die Zuchthäuser im kaiserlichen Deutschland sind mit zahlreichen Kriegsgegnern überfüllt. Wegen des gleichen „Delikts", den Krieg verurteilt und bekämpft zu haben, sitzt auch der Arbeiterführer und sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht in Festungshaft. Sozialdemokratische Genossen, die dem standhaften Karl Liebknecht folgen, kümmern sich um den jungen Paul Krüger, helfen ihm in den Augenblicken tiefster Mutlosigkeit. „Nimm, Paul, und lies", sagen sie und stecken ihm das eingeschmuggelte „Kommunistische Manifest", andere politische Literatur und Flugblätter zu. Zum erstenmal beschäftigt sich der ehemalige Bäckergeselle mit den Ideen des Sozialismus. Er beginnt zu begreifen, wofür Karl Liebknecht und andere aufrechte sozialdemokratische Genossen kämpfen und wofür sie eingekerkert sind. Beim Rundgang in der Festung beteiligt sich Paul Krüger an Sprechchören: „Nieder mit dem Krieg!" -„Es lebe Karl Liebknecht!" Er fühlt sich mit seinem Schicksal nicht mehr allein. Der Mut der anderen gibt auch ihm Kraft zur Auflehnung. Er beginnt offen gegen den Krieg zu agitieren. Sollen sie mir ruhig noch zehn Jahre aufbrummen - na, wenn schon, denkt er bei sich. Es gibt Zeichen der Hoffnung. Die Nachricht von der Oktoberrevolution 1917 in Rußland dringt auch durch Kerkermauern. Da Einzelhaft, Essenentzug und andere Strafen bei
Krüger nicht fruchten, entschließt sich die Zuchthausdirektion zu einer anderen Maßnahme. Paul Krüger soll im Frühjahr 1918 in das Zuchthaus von Torgau gebracht werden.
Sprung in die Freiheit An einem warmen Maientag steigt er, eskortiert von zwei Feldgendarmen, aber ungefesselt, in den Zug. Für ihn und seine Begleiter ist ein Abteil reserviert. Das Zugfenster ist geöffnet. In vollen Zügen atmet der Gefangene die milde Frühlingsluft. Er kann sich nicht sattsehen an den vorbeiziehenden grünen Weiden und Feldern, an den Wäldern. Bei diesem Anblick hätte er fast den Krieg vergessen. Nur die abgezehrten Gesichter der Menschen, die den Kohlrübenwinter der Jahre 1917 und 1918 überstanden haben, die Kriegsinvaliden, die er auf den Bahnsteigen sieht, und nicht zuletzt sein eigenes Schicksal holen ihn in die Wirklichkeit zurück. Seine Wächter lesen in der Zeitung. Nur manchmal werfen sie einen Blick auf die gegenüberliegende Bank, wo der ihnen anvertraute Sträfling schläfrig in die Sonne blinzelt. In diesen Minuten reift in Paul Krüger ein Plan. Er will flüchten. Eisenbahnzüge haben für den Sohn des Haltestellenaufsehers etwas Vertrautes. Am Schienenstrang und mit Eisenbahnzügen ist er aufgewachsen. Er will es wagen. Sein Denken beherrscht ein Gedanke: Flucht! Es gilt, nur den günstigsten Augenblick abzupassen. Vor einer Kurve, als der ohnehin nicht auf Hochtouren
laufende Zug sein Tempo noch verringert, riskiert er es. Egal, ob ich im Zuchthaus kaputtgehe oder mir das Genick breche, geht es ihm durch den Kopf. Du mußt in Fahrtrichtung hinausspringen, damit der Aufprall sanfter wird, hämmert er sich letztmals ein. Mit einem Satz stürzt Paul Krüger an seinen überraschten Wächtern vorbei an die Tür, reißt sie auf und läßt sich nach draußen fallen. Er hat Glück. Auf den Rasen der Böschung schlägt er auf und rollt diese langsam hinunter. Er bemerkt nicht einmal die Hautabschürfungen, die er sich zugezogen hat. Atemlos keucht er in den nahen Wald, während er hinter sich die Bremsen des Zuges quietschen hört. Kaum hat er die schützenden Baumreihen erreicht, da knallen die ersten Schüsse, pfeifen Kugeln über seinem Kopf. Im Zickzack rennt er immer tiefer in den Mischwald, bis er an einer Eiche völlig außer Atem stehenbleibt und sich an ihrem Stamm festhält. Der Gedanke an die nahen Verfolger gibt dem Verzweifelten wieder neue Kraft. Er klettert auf die Eiche und versteckt sich in ihrem dichten Laub. Einmal vernimmt er in seiner Nähe Stimmen, die sich aber wieder entfernen. Erleichtert atmet er auf. Längst ist der Zug abgefahren und die Nacht angebrochen, ehe der Flüchtling sein Versteck verläßt. Die Maiennacht zeigt sich unerwartet kühl. Paul Krüger zittert vor Kälte und Erschöpfung, hat Hunger und würde sich am liebsten auf der Stelle fallen lassen und schlafen. Doch er muß damit rechnen, daß er noch gesucht wird. Es muß ihm schnell gelingen, in eine andere Gegend zu entkommen, wo man ihn nicht vermuten wird. Ziellos irrt er durch den Wald. Bisweilen bleibt er
stehen und lauscht erschrocken, wenn Äste knacken. Schließlich vernimmt er in der Ferne das Pfeifen einer Lokomotive. Er schlägt sich bis zu der Eisenbahnstrecke durch und stellt fest, daß er unweit davon aus dem Zug gesprungen sein muß. So hält er sich in der Nähe der Schienenstränge, immer bereit, bei Gefahr in den nahen Wald zu verschwinden. Unablässig beschäftigt ihn der Gedanke: Wohin soll er sich wenden, wer könnte ihm helfen? Schließlich fällt ihm der Name eines Genossen aus der Festung ein. Paul Krüger will sich nach Halle durchschlagen. Die Frau wird ihn vielleicht zu anderen Genossen bringen, die ihn in den Wirren der ersehnten letzten Kriegstage verstecken können. Unterwegs stößt er an der Bahnstrecke auf ein kleines unbeleuchtetes Häuschen. Die Tür ist verschlossen. Er steigt durch ein Fenster ein. In dem Raum findet er Leuchten und andere Geräte von Rangierern. An der Wand hängen feuchte Sachen. Paul Krüger nimmt sie mit ins Freie. Er wirft seine verräterische Kleidung ab und schlüpft in die klamme und auch für ihn etwas zu knapp geratene Hose und in die Jacke. Seine Sträflingskleidung versteckt er in einem Dickicht im Wald. Später klettert er auf einen haltenden Güterzug und hockt sich in ein leeres Bremserhäuschen. Über Wittenberg und Bitterfeld gelangt er nach Halle. Im Schutz der Dunkelheit sucht er die Frau des Genossen auf. Sie gewährt ihm Unterkunft und benachrichtigt andere Genossen ihres Mannes, alte Sozialdemokraten, die aus Enttäuschung und Verbitterung über den Verrat ihrer rechten Führer zur USPD gekommen sind. Mit ihnen arbeitet der geflohene Häftling fortan zusammen.
Sie kümmern sich um Paul Krüger und behandeln ihn als einen, der zu ihnen gehört. Er bekommt einen Anzug von dem Mann. Und was das wichtigste ist, sie besorgen ihm ein neues „Ich" -einen Ausweis auf den Namen Paul Hoffmann. Mit einer Empfehlung in der Tasche reist er nach Wittenberg, wo er im Stickstoffwerk Piesteritz als Rangierer unterschlüpft.
Waffen für die Revolution Bald danach - Ende 1918 - meldet sich Paul Krüger alias Hoffmann als Telegrafist nach Bialystok. Über diesen wichtigen Verkehrsknotenpunkt wird der Rücktransport deutscher Truppen abgewickelt. In der Bahnhofsgaststätte von Bialystok macht Paul Krüger die Bekanntschaft eines Mannes in brauner Lederjacke und Schirmmütze. Der große Blonde stellt sich unter dem Namen Kruschinski vor. Er spricht verständlich Deutsch. Ist er ein Pole oder ein Russe? Sie unterhalten sich vorerst über das Wetter, sprechen aber bald über den Krieg und die Revolution. Aufmerksam prüft Kruschinski die Reaktion von Paul Krüger zu den Ereignissen in Rußland Er scheint befriedigt und gibt sich als Russe zu erkennen. Langatmig und breit erzählt er dem Deutschen, wie notwendig die russischen Arbeiter und Bauern Hilfe brauchen in ihrem Kampf. Kurz und gut: „Die Rote Armee braucht dringend Waffen und Munition Können Sie mir nicht die Transporte mitteilen?" Überrascht blickt Krüger auf. Er holt tief Luft. Es kommt etwas unerwartet für einen Mann, der mit Mühe
Paul Krüger aus Nordhausen heute den Mühlen der deutschen Justiz entkommen ist. „Gut, kommen Sie morgen abend wieder, dann weiß ich mehr." Am nächsten Tag teilt der Telegrafist dem sowjetischen Genossen mit, wann Waggons mit Kriegsmaterial eintreffen. Sie suchen gemeinsam solche Transporte aus, die Kruschinski mit seinen Leuten nachts heimlich entladen kann. Der Telegrafist weiß jede Bewegung der Züge, wieviel Soldaten den Transport begleiten und welche Waffen und Munition in den Waggons der Eisenbahnzüge lagern. Allein, das genügt nicht. Er muß seinen Kollegen Kurt Hartung, den Rangierer, für diese Sache gewinnen. Es gelingt ihm. Härtung sorgt dafür, daß bestimmte Waggons auf den letzten Gleisen des Rangierbahnhofs, wo die Be-
wachung durch deutsche Posten nicht mehr so stark ist, abgestellt werden. Nachts entlädt sie Kruschinski mit seinen Leuten. Verschiedentlich werden dabei Posten entwaffnet. Aber niemand schöpft Verdacht. Gelegentlich nehmen Paul Krüger und der Rangierer auch einzelne Maschinengewehre und Munition - in Kisten verpackt - in ihre Unterkunft mit. Von dort läßt sie Genösse Kruschinski abholen. Ein Maschinengewehr wird den beiden Helfern auch zum Verhängnis. Sie lassen es von einem Kutscher nach Hause fahren, tragen es in das von ihnen gemeinsam bewohnte Zimmer und verstecken es hinter dem Ofen. Dem Kutscher kommt die Fuhre seltsam vor. Er fährt zur deutschen Feldgendarmerie und berichtet von der geheimnisvollen Fracht. Sofort werden vier Gendarmen zu einer Haussuchung ausgeschickt. Kurt Härtung, der Nachtdienst hatte, liegt im Bett, als energisch gegen die Tür geklopft wird. Als er schlaftrunken öffnet, halten sie ihm barsch entgegen: „Haussuchung!" Die Gendarmen gucken unter die Betten, reißen die Schranktüren auf und werfen Mäntel, Hosen, Wäsche heraus. Hinter dem Ofen entdecken sie die Waffe. „Freundchen, nun rück mal mit der Sprache raus. Was geht hier eigentlich vor?" fragt der Anführer der Feldgendarmen. Bevor der überrumpelte Härtung antwortet, erhält er einen kräftigen Fausthieb ins Gesicht. Der Rangierer hat weder eine einigermaßen glaubhafte Ausrede noch den Willen, standhaft zu bleiben und zu leugnen. Er legt ein umfassendes Geständnis ab.
Paul Krüger wird in seiner Dienststelle verhaftet. Beim ersten Verhör merkt er, daß Hartung bereits alles gestanden hat. Trotzdem will er alles abstreiten. Sie schlagen ihn. „Willst du endlich gestehen, du roter Hund!" Im Februar 1919 stehen Paul Krüger alias Hoffmann und Kurt Hartung vor dem Kriegsgericht in Bialystok. Sie erhalten achteinhalb Jahre Zuchthaus - wegen Landesverrats und Diebstahls des Maschinengewehrs. Auf dem Transport nach Deutschland setzt Paul Krüger noch einmal alles auf eine Karte. Durch die revolutionären Kämpfe in Deutschland ist auch die preußische Militärordnung durcheinandergeraten, Die Bewachung ist nur sehr locker. Bei der Essenausgabe kann er erneut fliehen. In der Todeszelle Paul Krüger gelangt nach Halle, nimmt mit den Genossen wieder neue Verbindung auf. Sie gehören der inzwischen gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands an. In der Stadt besteht ein Arbeiter- und Soldatenrat. Paul Krüger legt den Namen Hoffmann wieder ab und beginnt auf dem Hallenser Bahnhof als Telegrafist zu arbeiten. Als am 26. Februar 1919 ein Generalstreik im mitteldeutschen Industrierevier ausgerufen wird, stehen auch in der Saalestadt die Räder still. Auf Halle wird das Freikorps Maercker in Marsch gesetzt. Der rechte Sozialdemokrat und Wehrminister Gustav Noske hat den Befehl zur Entmachtung der Arbeiter- und Soldatenräte gegeben.
Paul Krüger beteiligt sich an den Abwehrkämpfen. Die Maercker-Truppen, die am 1. März in Halle einmarschieren, gehen brutal mit Minenwerfern gegen die Arbeiter vor, die 24 Tote und 67 Verwundete zu beklagen haben. Auch die Freikorps-Leute müssen Verluste hinnehmen, was ihre Offiziere zu grausamer Rache veranlaßt. Nachdem der Widerstand der Arbeiter gebrochen ist, werden Massenverhaftungen vorgenommen. Der konterrevolutionäre Terror wütet. Auch Paul Krüger fällt in die Hände der FreikorpsSöldner. Sie verfolgen seine Spur bis nach Bialystok. Das Gericht ermittelt seine Vorstrafen. Er hat für die Richter schon zu viele Jahre auf dem Konto. Jetzt wird er der Mitschuld am Tod eines Freikorps-Offiziers verdächtigt. Todesstrafe wird ihm angedroht. Noch ist das Urteil nicht gesprochen, doch es steht bevor. In einer Einzelzelle sinnt ein junger Mann, dessen Leben eigentlich erst richtig begonnen hat, über die letzten vier verflossenen Jahre nach. Selbst nachts kann er nicht ruhig schlafen. Immer wieder schreckt er, wenn er hin und wieder eindöst, aus Alpträumen hoch. Es ist nicht leicht, so jung zu sterben. Aber wenn er vor den Henker tritt, will er gefaßt seinen letzten Gang gehen. Das hat er sich fest vorgenommen. Dreiunddreißigmal hat er mit dem Fingernagel einen Strich in die weiße Kalkwand geritzt. Sie stehen für dreiunddreißig Tage und Nächte Ungewißheit - für Tausende Minuten -, und in jeder konnte sich sein Schicksal erfüllen. Am vierunddreißigsten Tag, morgens gegen drei Uhr, knallen Nagelstiefel über die Gänge. Das vertraute Geräusch nähert sich, bis es direkt vor der Zellentür
verstummt. Stimmen werden laut. Das Schlüsselbund rasselt, als der Schließer die Zellentür öffnet. Vor der Tür stehen zwei Polizeioffiziere und zwei Wachtmeister. Ein Gefängniswärter schnarrt: „Krüger, anziehen!" Der Gefangene zuckt unwillkürlich zusammen. Nervös und mit fahrigen Händen zwingt er sich umständlich in die Jacke. Dabei hat er sich in den vielen einsamen Stunden seiner Haftzeit immer wieder geschworen: „Bleibe ruhig, bewahre deine Würde und stirb als Revolutionär! Auch im Angesicht des Todes !" Ein Wachtmeister legt ihm die Handschellen an und gibt ihm einen Stoß: „Na, Mann, gehen Sie doch schon!" Vor dem Hauptbüro bleiben die vier Männer stehen. Einer der Offiziere unterschreibt dem Nachtdiensthabenden ein Papier, dann wendet er sich an Krüger und sagt in herrischem Ton: „Folgen Sie mir!" Der Nachtdiensthabende ruft hinterher: „Glückliche Reise nach Moabit!" Noch immer begreift Paul Krüger nicht ganz, was geschieht. Die beiden Offiziere schieben ihn in einen bereitstehenden Wagen. Sofort läßt der bereits hinter dem Lenkrad sitzende Chauffeur den Motor anspringen und gibt Gas. Während das Auto im beschleunigten Tempo hinter der nächsten Strafjenecke verschwindet, schlägt einer der Polizeioffiziere Paul Krüger kräftig auf die Schulter und sagt fröhlich: „Guten Tag, Genosse Krüger!" Und die anderen beiden Wageninsassen lachen dabei wie Jungen, denen ein Streich besonders gut gelungen ist. Dem verblüfften Gefangenen nehmen sie die
Handschellen ab. Dann erfährt er, wer ihm die Retter gesandt hat: die Genossen der vor wenigen Monaten gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands. In Uniformen, die sie sich besorgt hatten, und mit gefälschten Dokumenten täuschten sie eine Überführung des mit dem Tode bedrohten Paul Krüger vom „Roten Ochsen", wie das Hallenser Zuchthaus genannt wurde, in das Gefängnis von Berlin-Moabit vor. Am Stadtrand von Halle fahren sie von der Chaussee in ein Waldstück. Dort wechselt Paul Krüger zuerst seine Kleidung. Er schlüpft wieder in einen Eisenbahneranzug. Dazu erhält er Ausweise und etwas Geld. Ihm werden Verhaltensregeln und die weiteren Stationen seines Fluchtweges mitgeteilt. Sie nehmen ihn noch ein Stückchen im Wagen mit, ehe sich ihre Wege trennen. „Hals- und Beinbruch, Genösse Krüger!" Der dem Zuchthaus Entronnene drückt den Genossen noch einmal fest die Hände. Dann fahren sie ohne ihn weiter. Paul Krüger ist wieder auf der Flucht. Am Bahnhof Ammendorf wartet Krüger auf den Schnellzug nach Berlin. Dort steigt er ein und stellt sich, als gehöre er zum Begleitpersonal. „Einen Moment, bitte!" sagt der Mann in der Eisenbahneruniform zu einem Herrn, der sich in ein Buch vertieft hat. Dann nimmt Paul Krüger den Aschenbecher und säubert ihn. Als der Zugschaffner kommt, nickt dieser ihm freundlich zu. Paul Krüger fällt ein Stein vom Herzen. Als er in Berlin aussteigt, wird er bereits - wie ihm seine Befreier gesagt hatten - an der Lokomotive von einem Eisenbahner erwartet. Der flüstert nur: „Folge mir bitte!"
An der Lampenputzerbude zeigt der Eisenbahner auf eine Bank und sagt: „Warte hier, bis dich einer abholt. Frage nicht nach dem Namen, er ist über alles Weitere informiert." Bis zum Abend muß er warten, ehe wieder ein Eisenbahner auftaucht. „Wir werden versuchen, dich nach Rußland zu bringen. In Deutschland kannst du jetzt nicht bleiben." Paul Krüger widerspricht nicht, nachdem ihn der Fremde in den weiteren Plan eingeweiht hat. Sie fahren zu einem anderen Berliner Bahnhof. Dort verfrachtet ihn sein Begleiter in ein Bremserhäuschen. „Auf Wiedersehen. Und toi, toi, toi! Heute nacht wirst du mit dem Zug die deutsch-polnische Grenze überqueren." Der Flüchtling hockt in dem Bremserhäuschen, macht das kleine Fenster auf und steckt während der Fahrt öfter den Kopf hinaus, um den kühlen Fahrtwind des herrlichen Augusttages zu spüren. Nur auf den Bahnhöfen schließt er es wieder und verkriecht sich. Als er gar Polizei sieht, meint er, sie würde ihn suchen. Nichts geschieht. Ohne Zwischenfälle gelangt er nach Polen. Er denkt bei sich: Wie jung ist doch erst die Partei, aber über welche weitreichenden Verbindungen verfügt sie doch.
Ende der Odyssee In Polen angekommen, wird Paul Krüger von polnischen Genossen von Ort zu Ort weitergereicht. Schon vor dem Kriege existierten zwischen den Arbeiterparteien beider Länder enge Kontakte. Die polnischen
Genossen wollen ihm jetzt helfen, daß er über Rumänien nach Sowjetrußland, dem ersten Arbeiterund-Bauern-Staat der Welt, gelangen kann. Aber in Krakow fällt er einer Streife in die Hände. Da er nicht Polnisch spricht und sich auch nicht als polnischer Bürger ausweisen kann, wird er kurzerhand verhaftet. Als Verdächtigen weisen ihn die polnischen Behörden in ein Internierungslager für Ausländer ein. Dort schleppen sie ihn von Verhör zu Verhör. Er wird zunächst beschuldigt, ein „deutscher Spion" zu sein, dann gilt er als „bolschewikenverdächtig"; wobei das eine in den Augen seiner Bewacher genauso schlimm ist wie das andere. Einige Monate muß Paul Krüger diese Torturen über sich ergehen lassen. Eines Nachts bricht er aus dem Lager aus. Er überschreitet die Grenze und gelangt nach Rumänien. Am Tage läuft er, nachts schläft er in Scheunen kleiner Bauern, die ihm auch etwas zu essen geben. Schließlich erreicht Paul Krüger den Donauhafen Galafi. Nachdem er die Lage ausgekundschaftet hat, schleicht er sich an einem Abend auf das Dampfschiff „Nikolai II." und verbirgt sich im Laderaum. Es fährt in Richtung Schwarzes Meer. Er glaubt sich seinem Ziel nun schon sehr nahe. Als sie die rumänische Grenze passiert haben, verläßt er sein Versteck. Er meldet sich beim Kapitän, der über den blinden Passagier sehr aufgebracht ist, besonders, als er merkt, daß dieser nicht eine Kopeke in der Tasche hat. Im Gespräch erfährt Paul Krüger, daß er mit einem Transport polnischer Weißgardisten nach der Krim unterwegs ist, wo sich die Armee Wrangeis
verschanzt hat. In Feodossija wollen die polnischen Pans an Land gehen und sich der letzten konterrevolutionären Streitmacht anschließen, die im europäischen Teil Sowjetrußlands kämpft. So hat er einige Tage Zeit, darüber nachzudenken, wie er sich dort verhalten soll. In Feodossija läßt der Kapitän Paul Krüger zum Stadtkommandanten bringen, der ihn erst einmal einsperren läßt. Am nächsten Morgen wird er zum Verhör vorgeführt. Der Dolmetscher übersetzt die Fragen des Stadtkommandanten. „Wer sind Sie, woher kommen Sie, und wohin wollen Sie?" Diese Fragen hat der Verhörte erwartet. Er hat sich bereits eine Antwort zurechtgelegt: „Ich bin ein deutscher Unteroffizier und mit der Revolution in Deutschland nicht einverstanden. Daher bin ich geflohen, um als Instrukteur in die japanische Armee einzutreten. Jetzt möchte ich darum bitten, nach Konstantinopel Weiterreisen zu dürfen." Der Kommandant schüttelt seinen Glatzkopf und schlägt das Gesuch ab. Nach einer Weile Nachdenkens läßt er dem Deutschen einen Vorschlag unterbreiten: „Wenn Sie in Japan in die Armee, eintreten wollen, können Sie auch bei uns kämpfen!" Für Paul Krüger, der sich zur Roten Armee durchschlagen will, ist das Angebot verlockend. Von Feodossija aus würde sich bestimmt eine Möglichkeit Zum Überlaufen bieten. Doch zum Schein bittet er den Kommandanten um einige Stunden Bedenkzeit. Er geht auf das Angebot ein. Der Kommandant schlägt sich vor Freude auf die Schenkel, läßt eine Flasche Wodka bringen und begießt
mit einigen größeren Gläsern die Zusage des Deutschen. Am nächsten Tag wird Paul Krüger mit einem Trupp weißgardistischer Soldaten zur Division „Markow" gebracht. In dem von deutschen Kolonisten bewohnten Dorf Hochstädt wird er einem Regiment zugeteilt. Wie sich herausstellt, sind seine neuen Regimentskameraden entweder Großbauern oder deren Söhne. Sie hassen die Revolution, die ihre Vormachtstellung im Dorfe erschüttert; sie hassen sie, weil nach dem Dekret über die Landverteilung den Armen Boden gegeben werden soll. Schon am nächsten Tag greifen Abteilungen der Roten Armee das Dorf an. Das weißgardistische Regiment, in dem jetzt Paul Krüger dient, muß dem Ansturm weichen. Am liebsten hätte er sich irgendwo versteckt und von der Front überrollen lassen. Doch er merkt rechtzeitig, daß ihn die anderen besonders scharf im Auge behalten. So muß er vorerst weiter auf ihrer Seite bleiben. Seinen Plan, endlich zur Roten Armee überzulaufen, muß er noch mehrere Male aufschieben. Erst in Michailowka, in der Nähe von Melitopol, bietet sich eine günstige Gelegenheit. Truppen der Roten Armee greifen überraschend an. Der Rückzug des Regiments verläuft geradezu panikartig. Die Weißgardisten rennen und reiten um ihr Leben. Paul Krüger nutzt diese Gelegenheit. Er versteckt sich bei einem Großbauern und wartet auf die Rote Armee. In aller Eile hatte er die weißgardistische Uniform ausgezogen und wieder seine zerrissenen Kleidungsstücke übergestreift. Wenige Stunden später ziehen
Reiter mit dem roten Stern am blauen Stoffhelm in den Ort ein. Schwadronen der berühmten Reiterarmee des legendären Kommandeurs Budjonny. Nachdem er sich zu erkennen gegeben hat, wird Paul Krüger zum Regimentskommissar gebracht. Dieser Mann stellt sich mit dem Namen Schulenberg vor, ist ein jüdischer Genosse und spricht auch glücklicherweise Deutsch. Aufgeregt und etwas umständlich erzählt der Überläufer seine Odyssee. Aufmerksam hört der Kommissar zu. Ganz selten unterbricht er den weitschweifigen Bericht. Was er da zu hören bekommt. klingt mehr als abenteuerlich, beinah phantastisch. Aber in den stürmischen Jahren der Revolution hat er Schicksale kennengelernt, die ihn ebenso und vielleicht noch mehr in Erstaunen versetzt haben. Für den Kommissar Schulenberg, der einst Lehrer war, gibt es in diesen Tagen nur eine echte Prüfung: die Bewährung im Kampf. „Du wirst mein Gehilfe", ordnet er an; kurz und bündig. Er will diesen Neuen in seiner Nähe haben und ihn selbst kennenlernen. „Aber, ich kann kaum ein Wort Russisch", gibt Paul Krüger zu bedenken. „Ach was, ich verstehe dich schon gut. Ansonsten reite nur vornweg und lasse deinen Säbel sprechen. So wirst du dich auch bei den anderen Genossen verständlich machen", erwidert Schulenberg. „Aber, reiten kann ich ebenfalls nicht!" „Macht nichts", meint sarkastisch der Kommissar. „Das lernst du sehr schnell im Gefecht. Und die Schmerzen im Hintern lassen spätestens in vierzehn Tagen nach."
So wird Paul Krüger in einem Regiment der Ersten Roten Reiterarmee aufgenommen.
Die ersten Gefechte Paul Krüger ist nicht der einzige Ausländer, der in den Reihen der Budjonny-Reiter den jungen Sowjetstaat schützen hilft. Es gibt in der Roten Armee internationale Regimenter, in denen unter anderen Ungarn, Deutsche, Polen und Chinesen für die Revolution streiten, getreu den Ideen des proletarischen Internationalismus. Das Regiment, in dem der ehemalige Bäckergeselle aus Nordhausen nun kämpfen wird, zählt etwa 2 600 Reiter. Nicht alle Männer tragen eine Uniform; und wenn, dann noch die der zaristischen Armee. Viele Reiter hüllen sich in alte Zivilsachen. In den warmen Monaten laufen sie oft barfuß oder tragen Bastschuhe. Als der Winter naht, bewickeln sie ihre Füße mit Lumpen und Sackleinen. Wenige Kämpfer besitzen ein Paar Stiefel. Nur eines kennzeichnet sie fast alle: Der berühmte Stoffhelm, der Stolz der Budjonny-Reiter. Dieser ist aus blauem oder anderem dunklen Stoff geschnitten und mit Ohrenschützern versehen; auf der Stirnklappe leuchtet der rote Stern. Auch mit Waffen sind die einzelnen Schwadronen knapp ausgerüstet. Neben einigen Gewehren und Revolvern verschiedener Fabrikate dominiert der Kosakensäbel, der im Gegensatz zum Türkensäbel nur leicht gekrümmt und vielleicht einen Meter lang ist. Seine Spitze ist dick und breit, so daß die Waffe beim
Schlag einen enormen Schwung bekommt, der oft von tödlicher Wirkung ist. Der Säbel ist mit einem Riemen an der Hand festgeschnallt, damit der Reiter auch notfalls zur Pistole greifen kann, ohne befürchten zu müssen, ihn zu verlieren. Die Kleidung von Paul Krüger ist sehr zerschlissen, an vielen Stellen lugen bereits die Unterhosen vor. Er fragt Kommissar Schulenberg: „Wo bekomme ich eine Uniform her, ich kann doch nicht ewig in den Zivilsachen herumlaufen?" gegenwärtig noch nicht über eine gut funktionierende Kleiderkammer." „Bekomme ich zum Säbel auch noch eine Schußwaffe?" will Paul Krüger weiter wissen. „Wenn du dir ein paar neue Sachen suchst, paßt du am besten auch noch auf, wer einen Revolver hat", antwortete Schulenberg. „Du läßt ihn dir von einem Weißgardisten nach der Schlacht aushändigen. Vergiß aber nicht die Patronen, sonst hast du nachher nichts zum Schießen." Mit gewissen Zweifeln betrachtet Paul Krüger den, wie es ihm scheint, bunt zusammengewürfelten Haufen, diese Schar teilweise stark abgerissener Gestalten, deren Lumpen um die abgemagerten Körper schlottern. Der Kommissar hat leicht amüsiert seinen Blick und auch seine Miene beobachtet. Als hätte er die Gedanken des deutschen Waffengefährten erraten, nimmt er das Gespräch wieder auf: „Gewiß, wir mögen teilweise wie die Vogelscheuchen aussehen. Aber, wenn es zum Kampf kommt. .. Na, du wirst schon sehen, Pawel Gustawowitsch." Diesen Namen wird Paul Krüger jetzt künftig tragen.
Schulenberg wandelte seinen Vornamen und seines Vaters Namen auf russische Weise ab. Noch nie zuvor hatte der Sohn eines Eisenbahners und ehemalige Infanterist auf einem Pferd gesessen. Als Anfänger bekommt er ein schwerfälliges Arbeitstier. Es ist eigentlich kein Pferd, sondern mehr eine Wiege. So gemütlich und bequem. Manchmal, wenn es stolpert, legt es sich langsam hin und erhebt sich auf die gleiche gemächliche Weise.
Die Reiterarmee greift mit Maschinengewehrwagen an Schulenberg guckt ihn erst verdutzt an, dann erklärt er seinem Schützling - denn so betrachtet er seine Verantwortung gegenüber dem deutschen Genossen lächelnd und voller geduldiger Rücksichtnahme: „Wir kleiden uns folgendermaßen ein: Im nächsten Gefecht
hältst du schön deine Augen offen. Die Herren von der Wrangelarmee, besonders ihre Offiziere, tragen nämlich Uniformen aus ausgezeichnetem englischem Tuch. Und wenn eine von deiner Größe dabei sein sollte, wirst du dafür sorgen, daß sie nach der Schlacht dir gehört." Nach einer Pause fügt er ironisch-bedauernd hinzu: „Die erste Arbeiter-und-Bauern-Armee verfügt Wenn sie nachts reiten, schläft das Tier mitunter ein und fällt dann auf seine Vorderbeine. Paul Krüger bleibt dann noch genügend Zeit abzusteigen, ehe es sich der Gaul auch auf seinen Hinterbeinen bequem macht. Das Pferd hat für den lernenden Reiter, wenn es auch nicht sehr beweglich und geschwind ist, dennoch seine guten Seiten. Er lernt das Auf- und Absitzen. Das muß bei einem Kavalleristen oft blitzschnell geschehen; kein Reiter kann warten, bis er in den Sattel gehoben wird. Paul Krüger fällt die Umstellung nicht leicht. Seine russischen Kameraden haben zwar ihren großen Spaß an Reiter und Pferd, das zuweilen an die Rosinante des Don Quichote erinnert. Aber sie sind auch sehr besorgt um ihren Genossen Pawel Gustawowitsch und helfen ihm, wo sie nur können. Viele von seinen Kameraden reiten prächtige Kosakenpferde aus dem Kuban- oder Dongebiet. Die meisten von ihnen, Söhne landloser Bauern oder Arbeiter aus den Städten, mußten auch erst das Reiten für die Kavallerie lernen. Sie folgten damals dem Aufruf der Kommunistischen Partei „Proletarier aufs Pferd!", um die Revolution zu retten. Doch binnen weniger Monate ist die im November
1919 gegründete Rote Reiterarmee zum Schrecken der weißgardistischen Armeen geworden. Fürsten, Grafen und Barone haben längst mit Entsetzen davon Kenntnis genommen, wie die Reiterei — einst Stolz und Domäne der Aristokraten im russischen Zarenreich - zur Elite der ersten Arbeiter-und-Bauern-Armee geworden ist. Nur wenige Männer haben Reitschulen absolviert oder gar Offiziersakademien besucht. Sehr schnell meistert auch der Deutsche Paul Krüger die Schwierigkeiten. Er sitzt bald auf dem Rücken eines schnelleren Pferdes; eines etwa vierjährigen Schimmels, der noch vor geraumer Zeit einen weißgardistischen Offizier getragen hat. Paul Krüger gibt seinem vierbeinigen Gefährten den Namen Rolf. Es wird gesagt, ein guter Reiter sei mit seinem Pferd verwachsen. Diese Männer sind es alle. Sie bekommen nicht immer ihr Brot; manchmal vergehen drei und vier Tage. Das Land ist durch den Krieg verwüstet, überall müssen die Menschen hungern. Nur der Feind scheint keinen knurrenden Magen zu kennen. Die kapitalistischen Regierungen schicken nicht nur Kriegsmaterial und Truppen, sie senden auch reichlich Lebensmittel. So kann sich dann nach schweren Kämpfen die Rote Armee oft in den zurückgelassenen Proviantlagern des Gegners versorgen. Eine eiserne Regel der Roten Kavalleristen lautet: Erst die Pferde, dann die Reiter. Die Männer geben die karg bemessenen Brotrationen oft den Tieren und essen selbst Sonnenblumenkerne und Maiskörner. Der Reiter kann schon einmal hungern, auch einmal schwach sein. Aber ein starkes Pferd entscheidet im Gefecht über Leben und Tod.
Sie unternehmen Gewaltmärsche, achtzig Kilometer und mehr am Tage; manchmal müssen an einem Tag sogar hundertzwanzig Kilometer zurückgelegt werden. Unterwegs, während des Rittes, wird den Tieren der Haferbeutel vorgebunden. Es bewahrheitet sich immer wieder: Wenn der Reiter sein Pferd nicht im Stich läßt, so wird es ihn auch nicht im Stich lassen. Auch Paul Krüger soll diese alte Weisheit noch viele Male bestätigt finden. Einige Schwadronen des Regiments bekommen den Befehl, in einem Waldstück einen Hinterhalt für weißgardistische Truppen zu legen. Unter dem Kommando von Schulenberg sitzen die Reiter auf. Die nächtliche Steppe dröhnt unter den Hufen der Pferde, ehe das Wäldchen am Dnepr erreicht wird, in dem sie sich verbergen sollen. Während sich die meisten Kämpfer von den Strapazen der letzten Tage ausruhen, werden Posten aufgestellt und Patrouillen ausgesandt. Sie sollen die Ankunft eines nach Norden marschierenden weißen Infanterieregiments rechtzeitig melden. Fast zwei Tage müssen die Roten Reiter warten. Mit besonderer Spannung fiebert Paul Krüger seiner ersten Bewährungsprobe entgegen. Wird er sie bestehen? Immer wieder läßt er sich von Schulenberg und anderen Genossen zeigen, wie der Säbel zu halten ist, wie man am besten den Feind attackiert. Endlich wird Alarm gegeben. Alle laufen zu den Pferden. Der Plan ist längst besprochen. Während die Schwadron, in der auch Paul Krüger kämpft, frontal angreifen soll, rücken sogleich die ersten Schwadronen aus, um den Feind in die Zange zu nehmen.
Das weißgardistische Regiment wähnt sich in dieser Gegend in Sicherheit. Erst spät entdecken einige Späher die Abteilungen der Roten Reiterarmee; zu spät. Ehe sich die weißen Infanteristen besinnen und ihre Maschinengewehre in Stellung bringen können, sprengen die Männer mit dem roten Stern am Stoffhelm aus dem Waldstück heraus, begleiten ihre Attacken mit einem ohrenbetäubenden Hurrageschrei. Von dem Strom schnaufender und stampfender Pferde mitgerissen, jagt auch Paul Krüger mit gezogenem Säbel los. Sie erhalten Gewehrfeuer. Genossen neben ihm werden getroffen und fallen zu Boden. Die herrenlosen Pferde laufen weiter mit. Als die ersten Reihen der Weißgardisten erreicht sind und niedergemacht werden, wankt bereits der Feind. Doch als die Weißgardisten merken, daß sie auch von den Flanken her angegriffen werden, daß ihnen der Fluchtweg abgeschnitten ist, versuchen sie, sich mit verbissener Wut zu verteidigen. Es ist nur ein Verzweiflungsakt. Im Kampf Mann gegen Mann sinken sie unter den gezielten Hieben der Budjonny-Reiter zu Boden. Diesmal gibt es für die meisten kein Entrinnen mehr. Paul Krüger wirft sich in das Getümmel. Einem Offizier der Wrangel-Truppen schlägt er mit einem gezielten Säbelhieb den Revolver aus der Hand. Die Waffe gehört jetzt ihm. Als sich nach knapp einer Stunde erbitterter Kämpfe die Männer wieder sammeln, eilt Schulenberg spontan auf Paul Krüger zu: „Du bist ja wie Taras Bulba geritten, Pawel Gustawowitsch. Und wie du dich geschlagen hast, war auch nicht schlecht." Paul Krüger,
voller Stolz über das Lob aus dem Munde seines Kommissars, wehrt verlegen ab. Auch andere Genossen kommen und sagen: „Karascho, Pawel!"
Geheimnisvolle Lichtsignale Das Regiment, in dem Paul Krüger kämpft, hat sich in der von kleinen Hügeln unterbrochenen Steppe bei Kachowka festgesetzt. Am breiten Dnepr hält die Erste Reiterarmee Budjonnys in ihrem erbitterten Ringen gegen das Interventionsheer des Barons Wrangel - der nach der Zerschlagung der Denikin-Truppen durch die Rote Armee einen letzten verzweifelten Versuch zum Sturz der Sowjetmacht unternimmt - einen vierzig Kilometer langen und ein Dutzend Kilometer tiefen Uferstreifen besetzt. Die Front ist nicht genau abgesteckt. Schon einige Kilometer weiter können feindliche Truppen stehen; hinter den roten Schwadronen und vor ihnen. Und manchmal hat sich der Feind auch in die Reihen der Budjonny-Reiter eingeschlichen. Die Hauptmacht der Weißgardisten befindet sich auf der anderen Seite des breiten Stromes. An einem warmen Sommerabend, die Dunkelheit hat sich bereits über Fluß und Steppe gelegt, geht Kommissar Schulenberg mit Paul Krüger hinunter zum Dnepr. „Siehst du drüben am anderen Ufer das Licht blinken", bemerkt Paul Krüger so nebenbei und bleibt stehen. „Das ist bei den Weifjen, sie sind drüben in Stellung gegangen. Unsere Aufklärer berichten, daß sie sich auf eine Offensive vorbereiten", entgegnet Kommissar
Schulenberg, ohne dem Lichtschein weitere Bedeutung beizumessen. Sie wollen schon weitergehen, als Paul Krüger den Kommissar am Arm packt. „Das sind ja Signale, ja, es müssen Morsezeichen sein", ereifert sich der Deutsche. „Sieh mal, kurz, kurz, lang, kurz, lang -ganz eindeutig. Als Eisenbahntelegrafist erkenne ich es ganz deutlich. Leider kann ich nicht die Bedeutung erfassen, ich kenne ja eure russischen Schriftzeichen nicht." Schulenberg scheint von der Entdeckung noch nicht völlig überzeugt zu sein. Sie beobachten weiter. Plötzlich brechen die Lichtsignale am anderen Ufer ab. Aber, was geschieht da! Auf ihrer Seite, in diesem Dorf, in dem sich das Regiment einquartiert hat, blinkt Licht in gewissen Abständen. Kein Zweifel, das muß aus ihrem Dorf kommen. Denn weit und breit ist hier weder eine Siedlung noch ein Haus. „Irgend jemand muß der anderen Seite antworten", erregt sich Paul Krüger erneut. „Wenn er Informationen über unsere Stellungen verrät..." „Los, wir müssen dem Blinklicht nach", unterbricht ihn Schulenberg und beginnt zu laufen. Sie stürmen mit keuchenden Lungen durch die Gärten am Ufer. Paul Krüger bleibt in der Dunkelheit an einer Wurzel hängen, stolpert und schlägt hin. Schnell rappelt er sich wieder auf und folgt dem schlanken, drahtigen Schulenberg. „Dort, wahrscheinlich aus dem Dachfenster", sagt der Kommissar. Sie stoppen ihren Lauf und japsen nach Luft/das Blinklicht nicht aus den Augen lassend. Nach kurzer Beratung pirschen sie sich den letzten Rest der Strecke behutsam an das Haus heran. Es muß in der
Nähe des Regimentsstabes sein. Dann sind sie doch sichtlich verblüfft: Derjenige, der die Signale mit einer Lampe sendet, muß sich auf dem Dachboden des Hauses befinden, in dem der Regimentsstab Unterkunft gefunden hat. Der Komissar zieht seinen Revolver und entsichert ihn. Langsam und auf Zehenspitzen tasten sie sich die dunkle Treppe Stufe für Stufe zur Dachkammer empor, dabei bedacht, jedes verdächtige Geräusch zu vermeiden. Mit einem kräftigen Ruck reißt Schulenberg die Tür auf und ruft: „Hände hoch, Freundchen!" Erschrocken zuckt der bullige, untersetzte Mann am Dachfenster zusammen und hebt langsam die Arme, in der einen Hand noch die Lampe, und dreht sich um. Sein Gesicht ist vor Wut verzerrt. Er ist fassungslos und bringt kein Wort der Verteidigung hervor, der Tatbestand ist ohnehin eindeutig. Der Verräter heißt Korolenko, ein ehemaliger zaristischer Oberst, der freiwillig in die Rote Armee eingetreten ist. Es ist üblich, daß diese ehemaligen Offiziere den Regimentsstäben als Fachleute zugeteilt werden. „Dieser Lump muß vor ein Gericht!" schreit aufgebracht Paul Krüger. Die inzwischen versammelten Genossen des Stabes und auch Schulenberg sind anderer Meinung. Der Regimentskommissar fragt: „Hat sich Korolenko mit dem Feind verständigt?" Paul Krüger nickt. „Ist Verständigung mit dem Feind Verrat?" Der Deutsche bejaht wieder.
„Na, also", sagen sie. „Korolenko wird sofort als Verräter erschossen. Im Namen der Revolution." „Für Verräter kennen wir keine Nachsicht, Pawel Gustawowitsch", erklärt Schulenberg später die Entscheidung. „Wenn wir den Weißen in die Hände fallen, genügt schon, daß wir Rote sind, um uns zu erschießen. Du hast doch auch die Leichen unserer Genossen gesehen. Sie wurden nicht einmal erschossen, sondern erst gefoltert und dann viehisch ermordet." Paul Krüger erinnert sich nur zu gut an die verstümmelte Leiche eines Budjonny-Reiters. Ins Gesicht hatten sie ihm einen Stern eingebrannt. „Ich will dir damit nicht zu nahe treten, doch hättet ihr im November 1918 in Deutschland konsequenter gehandelt und nicht eure Verräter geschont, ich weiß nicht, vielleicht, nein, wahrscheinlich würden Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg noch leben. Aber bestimmt hätte eure Revolution gesiegt", fügte der russische Genösse hinzu. Paul Krüger ist nachdenklich geworden, schweigt. Schulenberg nimmt das Gespräch wieder auf: „Denke doch nur an dein eigenes Schicksal, Pawel. Um ein Haar hättest auch du sterben müssen; nach dem Willen konterrevolutionärer Offiziere." Selbstverständlich sind nicht alle Offiziere, die einstmals bei der zaristischen Armee gedient haben, Verräter. Paul Krüger muß an Baron Korff denken, der sich ehrlich und mit großer Tapferkeit in ihren Reihen schlägt. Dieser Mann, den sie scherzhaft den „roten Baron" nennen, kann den Weißen nicht verzeihen, daß sie die ausländischen Truppen zur Intervention nach Rußland geholt haben.
Baron Korff kämpft nicht für die Partei Lenins schlechthin. Er ist aufrichtig davon überzeugt, daß die Sowjetmacht seinem Vaterland wieder eine Zukunft geben wird und nicht den Untergang, wie es die konterrevolutionären Generale Glauben machen wollen. Waren es nicht auch diese Herren, die mit dem Zaren das Land heruntergewirtschaftet hatten! Jetzt wollen sie den Ausverkauf des Landes, bieten den ausländischen Kapitalisten Bodenschätze und Erdölquellen, weil sie hoffen, damit wieder ihre Macht zu erhalten. Die Nacht ist hereingebrochen. Nur wenige Stunden verbleiben Paul Krüger für den Schlaf. Müde legt er sich zu den anderen Männern auf das Strohlager in der Scheune. Bald übertönt auch sein Schnarchen das Piepsen der Mäuse, die durch das Stroh huschen. Am nächsten Morgen, noch bevor sich der rote Feuerball der Sonne über der erwachenden Steppe zeigen wird, werden sie in eine neue Stellung am Dnepr reiten.
Begegnung mit Budjonny Vor Tagesanbruch ertönt das Kommando „Proletarier, aufs Pferd!". Ein schwerer Tag steht ihnen heute bevor. Täglich, ja stündlich rechnen die Kommandeure mit einem Angriff der Wrangel-Truppen, die noch einmal alle Kräfte angespannt haben. Die Weißen konzentrieren in diesem Abschnitt am Dnepr ihre durch Panzer und Geschütze verstärkten Kräfte. Sie wollen mit aller Gewalt noch einmal versuchen, die Lage gegen die seit Jahren pausenlos von Gefecht zu Gefecht
ziehende Rote Armee zu wenden. Es ist ein kühler Herbstmorgen, als sich das Regiment in Bewegung setzt. Unter den Pferdehufen wirbelt der Staub der Sandsteppe auf. Aus den rauhen Kehlen der Reiter tönt ein Lied, das in den vorderen Reihen angestimmt und bis zum letzten Mann mitgesungen wird. „Wir sind die Rote Reiterschar. Das Lied von unseren Taten erklingt in hellen Sälen und in strohgedeckten Katen. Von Nächten, sternenklar und kühl, von Tagen, heiß, gewitterschwül..." Auch Paul Krüger ist diese Melodie bereits vertraut geworden. Er brummt sie leise mit. Der Gesang verstummt bald. Sie nähern sich dem Fluß. In dieser Gegend sollen sie nach kurzer Rast den an dieser Stelle etwa sechshundert Meter breiten Dnepr überqueren. Keine Brücke spannt sich über den reißenden Strom. Er muß mit den Pferden durchschwommen werden. Gleich danach sollen die Schwadronen dem zur Offensive angetretenen Gegner am anderen Ufer in den Rücken fallen. Kommandeure und Kommissare haben sich an einer gedeckten Stelle des Ufers zu einer Lagebesprechung zusammengefunden. Sie beratschlagen, wie die Aufgabe am besten zu lösen ist. Soll in einzelnen Abteilungen übergesetzt werden? Soll gleich das gesamte Regiment den Fluß überwinden? Wie kann es wohl am besten geschafft werden? Wie sie so debattieren, kommt ein Reiter herangesprengt. Die dichte Haarmähne lugt unter der Schirmmütze vor, darunter ein von Wind und Wetter
gegerbtes Gesicht mit dem nicht zu verwechselnden Schnauzbart. Budjonny selbst ist gekommen, gefolgt von zwei Adjutanten. Die Überraschung auf den Gesichtern weicht sehr schnell einer Unruhe. Von ihrem Kommandeur wissen die Roten Reiter, daß er stets dort aufzutauchen pflegt, wo die schwierigsten Operationen zu lösen sind. Oder wenn es aus ihm nicht erklärlichen Gründen nicht so vorangeht, wie es geplant war. Dann will er selbst von den Hindernissen Kenntnis nehmen. Ungeduld schwingt in seiner Stimme mit, als er in der Runde fragt: „Genossen, warum sitzt ihr hier und schlaft? Warum seid ihr noch nicht am anderen Ufer?" Alle sehen sich betreten an, ehe einer das plötzliche Schweigen bricht und Budjonny antwortet: „Semjon Michailowitsch, wir schlafen nicht, wir beraten, wie wir am besten über den Fluß kommen." Er kann seinen Ärger über den Vorwurf nicht verbergen. Darauf entgegnet Budjonny: „Genossen, ihr wißt doch, was von eurem Angriff abhängt. Nur wenn ihr schnell handelt, kann unsere Gegenoffensive überraschend und erfolgreich werden. Dann können wir dem Gegner den erhofften Schlag versetzen. Was gibt es da noch zu beraten? Wißt ihr wirklich nicht, wie man einen Fluß überquert?" Budjonny wirft seinen schwarzen Umhang von den Schultern und treibt sein Pferd in den Dnepr. Er schwimmt bis zur Mitte des Stromes, macht kehrt, kommt klatschnaß an das Ufer zurück und sagt: „So macht man das, Genossen!" Jetzt gibt es wirklich nichts mehr zu überlegen. Das Regiment setzt sofort über den Fluß.
Paul Krüger erlebt den Kommandeur der Ersten Roten Reiterarmee, der als Volksheld bereits zu einer legendären Gestalt geworden ist, zum erstenmal. Doch die älteren Kämpfer wissen viele Geschichten zu erzählen, die sie zum Teil selbst erlebt haben oder die ihnen erzählt worden sind. Das Beispiel Budjonnys, der sein Leben nicht schont und sich immer dort, wo es am gefährlichsten ist, in das Gefecht wirft, macht Mut und spornt an. Es reißt die Unentschlossenen unwiderstehlich mit. So kennen und lieben ihn seine Reiter, so fürchten und hassen ihn seine Feinde. Selbst für die weißen Generale hat dieser ehemalige Feldwebel der zaristischen Armee, mit allen vier Georgskreuzen - der höchsten Tapferkeitsauszeichnung der zaristischen Armee dekoriert, etwas Unheimliches. Sie können seine Erfolge nicht fassen. Als eines Tages Budjonny mit einigen Schwadronen plötzlich etwa achtzig Kilometer hinter der Front auftauchte und eine weiße Garnison im Handstreich nahm, stammelte der überrumpelte Oberst: „Das kann nicht sein. Sie müssen noch zwei Tagesmärsche von uns entfernt stehen. Ich habe alles genau durchgerechnet." Und resigniert fügte er hinzu: „Das widerspricht doch allen Regeln der Kriegstaktik." Ein russischer Unteroffizier, der sich für die Revolution entschieden hatte, revolutionierte die Taktik der Kavallerie. Die Kommandeure der Roten Armee waren dazu gezwungen. Sie mußten sich zumeist gegen einen zwei- und dreifach überlegenen Gegner schlagen. Er besaß moderne Waffen und an Kriegsakademien ausgebildete Offiziere. Männer wie Budjonny glichen
den Nachteil durch Tapferkeit, vor allem aber durch außerordentliche Beweglichkeit in der Taktik aus. Die Devise der Ersten Roten Reiterarmee hieß: blitzschnelles Manövrieren, überraschender Angriff und plötzliche Konzentration überlegener Kräfte. In einer Staniza am Don erblickte Semjon Michailowitsch Budjonny als Sohn eines Landarbeiters das trübe Licht der Welt jener Zeit. Budjonny selbst erzählt von seiner Kindheit: „In einer Erdhütte bin ich geboren. Wenn ich an meine Kindheit denke, sehe ich Tränen in den Augen meiner Mutter. Mit sieben Jahren wurde ich Viehhirt. Wenn es dämmerte, weckte mich die Mutter und zog mir Vaters alte Jacke über. Erst spätabends kehrte ich heim. Die älteren Hirten prügelten mich bei jeder Gelegenheit. Niemals habe ich einen Lohn für meine Arbeit empfangen. Die Viehbesitzer hielten es für ausreichend, wenn sie mir der Reihe nach zu essen gaben." Was Wunder, wenn in dem Schicksal des Heerführers Budjonny Millionen Menschen in Rußland ihr eigenes Schicksal wie in einem Spiegel erkennen. Oft hört Paul Krüger, daß die russischen Bauern Budjonny mit Stenka Rasin vergleichen, jenem legendären Helden, der im 17. Jahrhundert ihre Vorfahren in einem Aufstand gegen die Feudalherren geführt hatte. Die Begegnung mit Budjonny hat die Reiter des Regiments tief aufgewühlt. Die Pferde traben schneller, die nassen Sachen scheint niemand zu spüren. Sie haben es an diesem Tag besonders eilig, in den Kampf zu kommen. Der Angriff kommt für die Wrangel-Truppen so unerwartet, wie es geplant war. Ihre Front gerät ins
Wanken. Von allen Seiten werden sie bedrängt. In diesen Tagen werden der konterrevolutionären Armee harte Schläge versetzt. Die letzte Entscheidung bahnt sich ah.
Ein Pferd rettet das Regiment Die Erste Reiterarmee verfolgt im Herbst 1920 die angeschlagenen und zurückweichenden weißgardistischen Truppen. Auch das Regiment, in dem Paul Krüger kämpft, stößt mit anderen Verbänden der Roten Armee zum Schwarzen Meer in Richtung Krim vor; der letzten Bastion der Wrangel-Truppen. Noch vor Monaten hatten die Weißgardisten das Donezbecken, dieses wichtige Industriezentrum Sowjetrußlands, bedroht und alles darangesetzt, es in ihre Hand zu bekommen. Diese Gefahr ist nun endgültig gebannt. In der Gegend von Bolschoi-Michailowka kommt es zu einem kurzen, aber heftigen Gefecht mit einem weißen Reiterregiment. Paul Krüger erleidet durch einen Säbelhieb, der ihn glücklicherweise nicht mit voller Wucht trifft, eine stark blutende Fleischwunde am rechten Oberschenkel. Von einem stechenden Schmerz gepeinigt, zieht er seinen Fuß aus dem Steigbügel und läßt das Bein hängen. Für Sekunden verliert er die Übersicht und merkt nicht, wie sich von links ein feindlicher Reiter nähert, zumal er auch durch einen weiteren Angriff von rechts bedrängt wird und ihn mit dem Säbel abwehren muß. In diesem Augenblick schmettert ihm der weiße Kosak unverhofft seinen Säbel über den Kopf. Doch ein alter
deutscher Stahlhelm, den er nach einem Gefecht aufgetrieben hat und seit einiger Zeit stets im Kampf trägt, rettet ihm das Leben. Die Klinge des Säbels dringt nicht durch das Metall, aber von der Wucht des Schlages verliert Paul Krüger die Besinnung und stürzt vom Pferd. Wer bei solch einer Schlacht aus dem Sattel geworfen wird, ist meist so gut wie verloren. Wo sich Hunderte Pferde drängen und im Kampfgetümmel über den Boden stampfen, wird der gefallene Reiter in dieser gefährlichen Situation oft von den Hufen der Tiere zertreten. Paul Krüger erwacht aus seiner Ohnmacht in einem Wald. Der Verwundete liegt auf einer aus Brettern zusammengenagelten Platte, die auf mehreren Pfählen ruht. Als er die Augen endlich aufschlägt, entdeckt er zuerst das Pferd, seinen Rolf. Das Tier stellt sich vor Freude auf die Hinterbeine und wiehert, als sein Reiter ein sichtbares Lebenszeichen von sich gibt. Der Regimentsarzt, der Paul Krügers Wunde gerade von einem Sanitäter mit Jod bepinseln und verbinden läßt, schüttelt seinen Kopf und sagt zu seinem Patienten: „Genösse, Sie können mir glauben, ich habe schon viele Sanitäter gesehen, aber einen vierbeinigen noch nicht." Dann erfährt der verwundete Budjonny-Reiter, was sich zugetragen hat, als er die Besinnung verlor. Rolf blieb sofort stehen und stellte schützend seine Beine über den am Boden liegenden Paul Krüger. Damit zwang das Tier alle anderen Pferde, um den Verwundeten herumzulaufen. So verharrte es, bis der Sanitäter kam und mit einem Regimentskameraden
den Bewußtlosen zum Verbandplatz schaffte. Der Schimmel wich keinen Schritt von ihm und folgte den Männern. Gerührt von der Treue und Fürsorge seines Pferdes, angelte Paul Krüger einen Kanten trockenen Brotes aus seiner Tasche und steckt ihn dem Tier in das Maul. Erst nach gutem Zureden läßt es sich von seinem Herrn wegführen. Wie oft hat ihm das Pferd schon das Leben gerettet, nicht nur bei Attacken. In einem Dorf am Dnepr, wo das Regiment für mehrere Stunden haltgemacht hatte, sitzt er in einem Bauernhaus und ist eingeduselt. Plötzlich schreckt er aus seinem Halbschlaf hoch. Die Dorfstraße erdröhnt von Huftritten. Vom Dorfausgang her hört er eine Schießerei. Verschlafen springt er zum Fenster und reibt sich die Augen. Er erkennt Weißgardisten im Dorf. Weit und breit ist kein Genösse seines Regiments zu sehen. Er muß einfach das Alarmzeichen verpaßt haben; keiner von seinen Genossen hat in der Eile bei dem feindlichen Überraschungsangriff der weißen Übermacht mehr an ihn gedacht. Ohne lange zu zögern, stürzt er sofort in den Stall und sattelt seinen Rolf. Dann legt er sich flach auf den Pferderücken, denn die Stalltür ist äußerst niedrig. Das Pferd scheint die Gefahr zu spüren und zwängt sich sehr geschickt ins Freie. Ein schneller Blick in die Runde. Nein, er kann die weißen Soldaten nicht umgehen. Sie sind auch erschöpft und nehmen die Verfolgung der BudjonnyReiter nicht auf. Sie machen es sich gerade bequem,
satteln die Pferde ab und führen sie zur Tränke. Du mußt es einfach riskieren, spricht sich Paul Krüger selbst Mut zu. Wenn sie dich erwischen, hast du ohnehin keine Chance mehr. Mit einem Satz setzt er über den niedrigen Zaun, der kaum einen Meter hoch ist. Einige Weißgardisten blicken sich auf der Dorfstraße verwundert um. Bevor sie richtig begreifen, was eigentlich geschieht, sprengt der Schimmel mit seinem Reiter an einer Gruppe feindlicher Soldaten vorbei, die fluchend zur Seite springen. Paul Krüger erreicht freies Feld, ehe die ersten Schüsse auf ihn abgegeben werden. Wie durch ein Wunder trifft ihn keiner; und an eine Verfolgung des Flüchtenden denkt in diesem Augenblick auch niemand. Als er nach einer langen Jagd mit dem abgehetzten Pferd den Anschluß an sein Regiment gewinnt, steht auf den Gesichtern der Genossen maßloses Erstaunen. Sie wollen einfach nicht glauben, daß er der Übermacht der Weißen entkommen konnte und noch unter den Lebenden weilt. Paul Krüger klopft liebevoll den Hals seines Lebensretters. Seit der Gegenoffensive, die die Rote Armee am Dnepr begann, entwickelt sich der Vormarsch in ziemlich schnellem Tempo. Der Widerstandswillen der Weißgardisten ist im wesentlichen gebrochen. Die Aufgabe dieses Regiments ist es, auch die zurückflutenden feindlichen Truppen zu verfolgen und ihnen nach Möglichkeit keine Atempause zu gönnen. Nach zahlreichen Eilmärschen nimmt das Regiment in einem Dorf für zwei Tage Quartier. Die Kämpfer sind
todmüde und schlafen sich erst einmal aus. Ihre Pferde erhalten die längst verdiente Erholung. Schon seit Tagen findet Paul Krüger in seinen Taschen keinen Krümel Tabak mehr, ähnlich ergeht es auch den anderen. Am nächsten Morgen, noch vor Tagesanbruch, sattelt er seinen Schimmel. Er will zu einer etwa sieben Meilen entfernt gelegenen Bahnstation. Die Sonne steigt gerade über den Horizont, als er von weitem schon sein Ziel erblickt. Vor wenigen Tagen hatten dort die Weißen mehrere Waggons mit Lebensmitteln stehenlassen müssen. Leider konnte das Regiment, das gerade einer bedrängten Schützenkompanie zu Hilfe eilte, sich nicht an der Beute beteiligen. Vielleicht läßt sich dort noch etwas Tabak beschaffen. Im gemütlichem Trab setzt Paul Krüger über die Schienenstränge. An der Station reitet er zu einem der dort herumstehenden Soldaten und fragt: „Genosse, gibt es bei euch irgendwo Tabak?" Das Wort „Genosse" elektrisiert den Angesprochenen und die Umstehenden förmlich. Einer schreit: „Das ist ja ein Budjonny-Pferd!" Er hat das Tier an dem gestutzten Schweif erkannt, wie er bei der Roten Reiterarmee üblich ist. Paul Krüger ist in eine Gruppe von Wrangel-Leuten geraten, die von seinem Regiment etwa zwanzig Kilometer von der Bahnstation entfernt Vermutet werden. Blitzschnell reißt er den Schimmel herum, gibt ihm die Sporen und die Peitsche. Als sein Rolf mit einem langen Satz über die Schienen springt, schließt er unwillkürlich die Augen.
Wenn er nur nicht an ihnen hängenbleibt, schießt es ihm durch den Kopf. Es geht gut. Der Schimmel jagt die Böschung hinunter und rast querfeldein. Erbarmungslos treibt er das Pferd an, er kann ihm einfach keine Verschnaufpause gönnen. Nicht nur sein eigenes Leben ist in Gefahr. Wenige Kilometer weiter schlafen ahnungslos mehr als zweitausend Kavalleristen seines Regiments. Die Wachen wähnen den Gegner noch weit entfernt. Wehe dem Reiter, der ohne Pferd angetroffen und zum Kampf gestellt, wird. Beim Regiment angelangt, schreit er lauthals: „Alarm! Alarm!" Sein Pferd, das ihm wieder einmal das Leben gerettet hat, stürzt vor dem Regimentsstab am ganzen Leib zitternd auf die Vorderbeine. Ein feiner Blutstrahl dringt aus seinem Maul. Der eilends herbeigerufene Veterinär des Regiments zuckt hoffnungslos mit den Schultern: Niemand kann mehr helfen. Die Lunge ist durch den Gewaltritt geplatzt. Einige der zu ihren Pferden eilenden Genossen raten ihm, den Qualen des Tieres schnell ein Ende zu bereiten. Paul Krüger zieht den Revolver, geht an seinen treuen Vierbeiner heran und will ihm die Schmerzen ersparen. Aber er läßt die Waffe wieder sinken. Er kann nicht auf seinen Gefährten schießen, der ihn so oft vor dem Tod bewahrt hat. Er winkt einen Kameraden heran, drückt ihm den Revolver in die Hand und bittet eindringlich: „Töte du ihn, damit er sich nicht noch mehr quält." Auf diese tragische Weise muß er von seinem Schimmel Abschied nehmen.
Eine Schlacht wird entschieden Das Regiment bekommt den Auftrag, auf dem schnellsten Wege zum Dorf Petrowka - nicht mehr weit von der Halbinsel Krim entfernt - zu reiten. Es soll dort eine größere Operation der Roten Armee unterstützen, die vom Befehlshaber der Südfront, dem Heerführer Michail Wassiljewitsch Frunse, angeordnet worden war. Als die Vorhut der Budjonny-Reiter einen Ort, der auf dem Weg liegt, passiert, wird sie beschossen. Das Regiment weicht erst einmal zurück und sendet Aufklärer aus. Die Nachricht, die die Kundschafter mitbringen, ist nicht gerade ermutigend: Im Ort haben sich weiße Elitetruppen eingenistet; vorwiegend Offiziere, ergänzt durch Kosaken, die als Virtuosen in der Reitkunst und kühne Draufgänger gelten.
Vor der Attacke: Eine Einheit der Roten Reiterarmee
Im Regimentsstab wird über die Situation beraten. Die Lage ist eigentlich ziemlich klar: Zeitaufwendige Umgehungsmanöver werden vom Kommandeur abgelehnt. Der Weg muß, so wird schließlich einmütig beschlossen, unter allen Umständen freigekämpft werden. Die erste Attacke wird befohlen. Mit konzentriertem Feuer wehren die Wrangel-Einheiten den Angriff der Budjonny-Reiter ab. Erneut nimmt alles Aufstellung. Eine weitere Angriffswelle rollt auf den sich hartnäckig verteidigenden Feind vor. Ohne Erfolg. Wieder und wieder reiten sie an. Aber sie müssen sich, um größere Verluste zu vermeiden, immer wieder zurückziehen. Die Wucht der Attacken läßt mit jedem Mal nach. Die Verluste sind bereits beträchtlich. Was soll nun geschehen? Ist es nicht ein unsinniges Anrennen? Die Kraftreserven der Weißen sind anscheinend unerschöpflich. An Stelle der geschlagenen Truppen werfen sich immer neue in die Bresche. Vom Kampf erschöpft und mit gesenkten Köpfen sitzen die Roten Reiter auf ihren Pferden. Achtzehnmal sind sie bereits gegen das Dorf angerannt und konnten den Weg einfach nicht freikämpfen. Sollten die Weißen, die augenscheinlich ausgezeichnet mit Waffen und Munition ausgerüstet sind, diesmal Sieger bleiben? Ratlos schauen auch die Führer der Schwadronen. „Wenn wir zum neunzehntenmal anreiten, opfern wir das Regiment", sagt einer mit Bitterkeit und Resignation in der Stimme. „Dazu haben wir kein Recht." Alle Genossen ringsum schweigen. Nur der Regimentskommissar Schulenberg wiederholt
langsam diese Worte: „Ja, dazu haben wir kein Recht." Dabei blickt er alle eindringlich an. „Aber, haben wir das Recht, unseren Auftrag nicht zu erfüllen? Wir werden dringend in Petrowka erwartet. Wie ihr wißt, gibt es dorthin nur den einen Weg über dieses verfluchte Dorf. Wir müssen uns durchschlagen!" „Also, greifen wir eben an", sagt einer. Doch seine Worte klingen auch nicht überzeugend. Und wie sich Kommissare und Kommandeure unentschlossen ansehen, reitet Wanja, ein kleiner schmächtiger Bursche, aus dem Glied vor das angetretene Regiment. Mit fester Stimme ruft der Komsomolze Iwan Wassiljewitsch Makurin: „Genossen, was wird Lenin sagen, wenn er erfährt, daß wir versagt haben?" Die Reiter schauen sich verlegen an. Was wird Lenin sagen? Diese Frage, an alle gerichtet, beschäftigt sie. Ein Ruck ist seit den Worten Makurins durch die Reihen der Roten Reiter gegangen. Sie halten die Zügel fester in den Händen und richten sich auf. Wieder geschieht, was Paul Krüger so oft vor großen Gefechten erlebt hat. Kämpfer melden sich bei ihrem Kommissar: „Ich trete in die Kommunistische Partei ein. Wenn ich falle, möchte ich als Kommunist sterben." Die Kommissare ziehen aus ihren Kartentaschen ein Notizheft, manchmal ist es auch nur eine lose Seite. Mit ungelenken Buchstaben werden Name und Datum des Eintritts eingetragen. Die Aufnahme ist vollzogen. Der Kommandeur zieht den Säbel, alles folgt seinem Beispiel. Dann stürmt er mit den Ruf „Mit Lenin für Lenin" los. Zur neunzehnten Attacke. Die Roten
Reiter stürzen mit einer unheimlichen Wucht an den erstaunten Gegner heran, der sich schon als Sieger gewähnt hatte. In ihrer Wut und Leidenschaft entwickeln die Budjonny-Reiter noch einmal Kräfte, die sie sich vor Minuten selbst nicht mehr zugetraut haben. Dem Komsomolzen Wanja Makurin, der sie zu diesem letzten Gefecht aufgerüttelt hat, wird mit einem Säbelhieb der linke Unterarm abgeschlagen. Aber er verläßt trotz dieser schweren Verletzung das Schlachtfeld nicht. Er kämpft so lange weiter, bis er, vom starken Blutverlust geschwächt, ohnmächtig vom Pferd fällt. In einer halben Stunde wird das feindliche Regiment zerschlagen. Nur wenige Kosaken entkommen. Was sich den Siegern bietet, ist entsetzlich. Kein weißer Offizier hat sich ergeben. An Hand der Papiere, die sich in den Taschen der gefallenen Weißgardisten finden, stellen sie fest, daß sie auf einen besonderen Truppenteil gestoßen sind. Deren Angehörige hatten angesichts der verzweifelten Lage der konterrevolutionären Armee den Schwur abgelegt, eher zu sterben als zurückzuweichen oder sich gar in Gefangenschaft zu begeben. Das mit Leichen übersäte Schlachtfeld läßt keine Zweifel. Dort finden die Genossen auch Iwan Makurin, im Kampfgetümmel entweder von den Pferden totgetreten oder durch den großen Blutverlust gestorben. Iwan Makurin wird in seinem Dorf, in der Nähe von Rubanowka, beerdigt. Nicht weit von dem Schlachtfeld entfernt, auf dem er sein junges Leben opferte. Der Weg nach Petrowka ist frei.
Das Regiment erreicht sein Ziel noch rechtzeitig. Unterwegs erinnert Kommissar Schulenberg seinen deutschen Genossen Paul Krüger an ihre ersten Gespräche, als er an der Kraft dieses so bunt zusammengewürfelten Haufens zweifelte. Jetzt kann der Kommissar seinen Triumph in der Stimme nicht verbergen: „Siehst du, Pawel Gustawowitsch, so kämpfen ,Vogelscheuchen'." Etwas betroffen antwortet Paul Krüger seinem Kommissar: „Das war doch damals. Schon längst habe ich meine Meinung geändert. Und nicht erst nach der neunzehnten Attacke!" Den kleinen Wanja wird er nie vergessen, und nicht nur er, auch alle anderen, die dabei waren, als sie das EliteRegiment aufrieben.
Durch das Faule Meer Anfang November 1920 sind die Wrangel-Truppen auf die Krim geflüchtet. In ihrem letzten Schlupfwinkel haben sie sich hinter einem festgefügten Verteidigungssystem aus Gräben, Wällen und Geschützstellungen verschanzt. Da die Halbinsel nur einen engen Zugang besitzt, halten die weißgardistischen Generale sie für uneinnehmbar. Auf ihrer östlichen Seite ist sie durch den Siwasch, auch Faules Meer genannt, begrenzt. In seinen Sümpfen und Schlamm erblicken die Weißen ein natürliches Hindernis. Das Faule Meer wird durch eine Landzunge gebildet und ist fast vollständig vom Asowschen Meer getrennt. In dem flachen morastigen Wasser liegen viele kleine Inseln und Lagunen
verstreut. Wenn der Wind vom Westen weht, tauchen noch zusätzlich viele Sandbänke auf. Der Name des am Ufer dicht mit Schilf bewachsenen Siwasch rührt von dem fauligen Salzschlamm auf seinem Grund her. Das Kommando der Südfront unter dem Oberbefehlshaber Genossen Frunse beschließt, daß die Festung in der Landenge von Perekop gestürmt werden soll. Aber in der Nacht zuvor, am 7. November, dem dritten Jahrestag der Revolution, sollen gleichzeitig Sturmkolonnen trotz der kühlen Witterung den Siwasch überqueren. Das Reiterregiment Paul Krügers soll die Infanterie bei ihren Übersetzmanövern mit Pontons unterstützen. Der Kampf auf trag lautet: Drei bis vier Kilometer durch das Faule Meer schwimmen und den Weißgardisten in den Rücken fallen. Zu dieser Jahreszeit ist es bereits empfindlich kalt. Das Schwimmen mit dem Pferd heißt praktisch ein Vollbad nehmen, denn die Reiter sitzen nicht auf den Pferden, sondern halten sich am Zügel oder am Sattel fest und lassen sich mitziehen. Danach geht es mit den nassen Sachen sofort in den Kampf. Deshalb beschließt die Partei, daß die älteren Kämpfer zurückbleiben sollen. Als Paul Krüger, der eine Gruppe führt, diesen Beschluß den älteren Kämpfern mitteilt, gibt es Krach. „Nemez (Deutscher), das kannst du in Deutschland befehlen, aber nicht hier", erklärt ein alter Genösse kategorisch, und die anderen stellen sich hinter ihn. Die Alten weigern sich, diesem Befehl zu folgen. Paul Krüger versucht es noch einmal mit seinem mangelhaften Sprachschatz. Vergeblich. Er holt Regimentskommissar Schulenberg, der die alten
Genossen beschwört: „Aber, versteht doch, wenn einer von euch„yerwundet wird. Es ist einfach nicht zu verantworten, daß ihr durch das kalte Wasser schwimmen sollt!" Auch sein Appell stößt auf taube Ohren. Sie schreien alle durcheinander, wild gestikulierend. Jetzt, wo die Truppen des Barons Wrangel, die sie über Hunderte von Kilometern in der Steppe vor sich hergetrieben haben, ins Meer geworfen werden, wollen sie auch dabeisein. „Laßt doch lieber die Jungen zurück", wendet sich ein bärtiger Riese, ein Bauer mit bereits ergrautem Haar, an Schulenberg. „Wir Alten haben ohnehin nicht mehr lange zu leben." ' Der Befehl muß angesichts der einmütigen Haltung der älteren Genossen wieder zurückgenommen werden. Sie haben ihren Willen einfach durchgesetzt. Auch der Kommandeur gibt nach. Sie schwimmen mit ihren Pferden. Als sie der Gegner ausmacht, erhalten Pferde und Reiter starkes Feuer. Manch einer der älteren Genossen findet in dem kalten Wasser - kurz vor dem Sieg - sein Grab. Aber das Ablenkungsmanöver gelingt. Die Infanterie kann schnell übersetzen und auf der Halbinsel landen. Dem Unternehmen ist Erfolg beschieden. Die Tage der Wrangel-Truppen sind gezählt. Sie werden überall aus ihren Stellungen herausgedrückt. Es gibt keine Atempausen mehr für sie. Letzte heftige Gefechte sind zu bestehen. Beim Sturm auf einen Brückenkopf wird Paul Krüger erneut durch einen Säbelhieb verletzt; es ist der rechte
Arm, mit dem er den Kosakensäbel führt. Die Verletzung sieht böse aus. Ehe er Erste Hilfe erhält, ist er durch den starken Blutverlust ohnmächtig geworden. Diesmal kommt er in einem Feldlazarett zur Besinnung. Der Krieg und sein Kampf bei den Roten Reitern sind für ihn beendet. Seine Kameraden jagen unterdessen die Weißen bis nach Sewastopol. Die Offiziere der Wrangel-Armee haben es besonders eilig, dorthin zu kommen.-Sie hoffen, noch eines der Schiffe zu erreichen, mit denen sie ins Ausland entkommen können. Als die Rotarmisten die Hafenstadt erreichen, haben die meisten Schiffe schon die Anker gelichtet. Paul Krüger kehrt, als er genesen ist, nicht mehr zu den Budjonny-Reitern zurück. Jetzt werden alle Hände für den Aufbau des Landes benötigt. Durch Weltkrieg und Bürgerkrieg verwüstet, von Mißernten heimgesucht, steht es am Rande des Ruins. Neue friedliche Schlachten, die den gleichen Heldenmut erfordern, sind jetzt zu schlagen. Der ehemalige Bäckergeselle und Unteroffizier der kaiserlichen Armee Paul Krüger ist dabei - zuerst als Student am Leningrader Institut für Hoch- und Tiefbau, später als Ingenieur auf Baustellen. Nach dem zweiten Weltkrieg siedelte Paul Krüger in den ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat über. Hier hat er jetzt seine Heimat gefunden, wieder in Nordhausen, wo er einst den Beruf des Bäckers lernte, wo er in den ersten Weltkrieg ziehen mußte. Im Jahre 1959 weilte er mit einer Delegation deutscher Teilnehmer an den Kämpfen der Oktoberrevolution und gegen die Interventen in der Sowjetunion. Diese Besuche in seiner zweiten Heimat sind
nicht selten; jetzt, im fünfzigsten Jahr der Oktoberrevolution, ist er wieder Gast. Bei einem Aufenthalt vor acht Jahren kehrte er in ein Landhaus bei Moskau an der Leningrader Chaussee ein. Dort verbringt der legendäre Reitergeneral Semjon Michailowitsch Budjonny seinen Lebensabend. Leider traf er den greisen Marschall, bei dem Alter und Krankheit ihre Spuren hinterlassen haben, auf dem Krankenlager an. Der Arzt gestattete nur zehn Minuten Besuchszeit. Semjon Michailowitsch drückte dem deutschen Genossen bewegt die Hände. Er erkundigte sich nach seinem Befinden. Dann sprach er von den Kampfgefährten jener Jahre aus der Roten Reiterarmee, würdigte die Solidarität all derer, die wie Paul Krüger als ausländische Genossen in ihren Reihen kämpften. Als er Paul Krüger verabschiedete, bedauerte er es, den deutschen Genossen nicht zu einem Gläschen einladen zu können. „Du mußt wissen", sagte Budjonny zu Paul Krüger, „mein Arzt ist sehr streng zu mir." Paul Krüger fuhr auch zu den Stätten des Kampfes. Unweit der Stelle, wo sie über den Dnepr setzten, steht jetzt die Stadt Kachowka. Ein Stausee, das Kachowkaer Meer, ist entstanden und bedeckt große Flächen. Es bewässert die unfruchtbare Sandsteppe. Paul Krüger legte am Grab des Komsomolzen Iwan Makurin, dem die Sowjetregierung ein Denkmal gesetzt hat, einen Kranz nieder. Die Roten Reiter sind nicht vergessen - das spürte er, wenn er mit den Menschen sprach. Ihr Kommandeur Budjonny hat über sie und ihre Heldentaten in seinen Memoiren geschrieben:
Wiedersehen mit Kampfgefährten: Paul Krüger im Sommer 1962 zu Gast bei Marschall Budjonny
„In grimmigem Frost und glühender Hitze, auf den morastischen Wiesen und Wegen des Frühlings und im kalten, feuchten Herbst, Tag und Nacht, oft hungrig, schlecht gekleidet und bewaffnet, aber stark durch ihren Kampfgeist und ihr revolutionäres Bewußtsein, errangen sie Sieg auf Sieg. Es waren wundervolle
Menschen. Weder ihr Blut noch ihr Leben schonten sie für die Revolution." Im Jahre 1963 schrieb Marschall Budjonny in einem Brief über die Tradition des gemeinsamen bewaffneten Kampfes klassenbewußter deutscher Arbeiter mit Angehörigen der Roten Armee, die in der Waffenbrüderschaft zwischen der Sowjetarmee und der Nationalen Volksarmee fortgesetzt wird. Mitglied des Präsidiums des Obersten Sowjets Marschall der Sowjetunion S. M. Budjonny Stellvertreter des Ministers und Chef der Politischen Hauptverwaltung der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik, Genossen Admiral Verner
Sehr verehrter Genosse Admiral! Mit Befriedigung teile ich Ihnen mit, daß ich die mir liebenswürdigerweise übersandten drei Buchexemplare meiner Erinnerungen erhalten habe, die durch den Deutschen Militärverlag herausgegeben wurden. Ich danke Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit und die Information über die Stimmen zu diesem Buch, in welchem sich ein Teil der heldenhaften Schlachten der Werktätigen unter Führung des großen W. I. Lenin für eine neue sozialistische Ordnung, für Freiheit und Glück des einfachen Menschen widerspiegeln.
Der Kampf für die Macht der Sowjets in Rußland trug internationalen Charakter. An ihm nahmen auch ruhmreiche Söhne und Töchter des deutschen Volkes aktiv teil. Ich erinnere mich an die Verbrüderung russischer und deutscher Soldaten an den Fronten des durch den internationalen Imperialismus entfesselten ersten Weltkrieges. Schon damals hatten sich die in Soldatenmänteln steckenden russischen und deutschen Arbeiter und Bauern die Hände der Brüderlichkeit und Freundschaft gereicht. Als das russische Volk den verhaßten Zarismus von seinen Schultern abwart, machten die Werktätigen Deutschlands Schluß mit der Hohenzollern-Monarchie. Ich erinnere mich der Jahre des Bürgerkrieges in Rußland und denke mit Ehrfurcht an jene deutsche Soldaten, die mit uns gemeinsam den ersten Staat der Arbeiter und Bauern in der Welt verteidigten, an die legendären „Spartakusleute", wahre Internationalisten. Sie kämpften, vergossen ihr Blut und gaben ihr Leben für die helle Zukunft unseres Landes und des Deutschlands, für das auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht kämpften und starben. Gerade damals, auf den Schlachtfeldern gegen die Weißgardisten und Interventen der Entente, haben die Arbeiter Rußlands und Deutschlands geistig zusammengefunden, haben sich jene vereint, die den Weg der Schöpfung einer neuen Ära betraten, der Ära des Sozialismus, die die Lehre der Titanen des revolutionären Gedankens, Karl Marx und Friedrich Engels, aufnahmen und unter dem Banner ihres genialen Fortsetzers W. I. Lenin marschierten. Das russische Volk liebt Deutschland, jenes
Deutschland, das der Menschheit die realistische Kunst der großen Humanisten Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller gab, das mit der hinreißenden Musik eines Johann Sebastian Bach und Ludwig van Beethoven bezauberte und das die Heimat des wissenschaftlichen Sozialismus ist. Die Sowjetmenschen hegen aufrichtige Sympathie gegenüber dem arbeitsliebenden und talentierten deutschen Volk. Hoch schätzen sie seine revolutionären Traditionen. Nie werde ich meine Begegnungen mit Clara Zetkin und besonders die freundschaftlichen Gespräche mit dem hervorragenden Führer der deutschen Arbeiterklasse, Ernst Thälmann, vergessen. Mir schien es, daß Thälmann nicht nur schlechthin die fortschrittlichsten Menschen Deutschlands in sich verkörperte, sondern auch die besten Züge eines deutschen Kommunisten und Patrioten in sich konzentrierte. Seine Einfachheit, seine Aufmerksamkeit zu den Menschen, sein scharfer Geist und seine kristallene Ehrlichkeit verbanden sich bei ihm mit einer tiefen marxistischen Oberzeugung und einem unbeugsamen Mut. Auch nach dem Sieg der Sowjetmacht in Rußland waren die deutschen Werktätigen unsere guten Freunde. Es ist nicht die Schuld der besten Vertreter des deutschen werktätigen Volkes, daß auf seine Geschichte der Fleck der braunen Pest des Hitlerfaschismus kam. Die rechten Führer der SPD wie Ebert und Scheidemann erstickten die Bremer und Bayrische Räterepublik im Jahre 1919 im Blut der deutschen Arbeiter, unterdrückten den Hamburger Aufstand und errichteten den deutschen Militarismus mit Hilfe der Monopole der USA, Englands und Frankreichs wieder, dessen schreckliche
Ausgeburt die faschistische Diktatur war. Der heimtückische Überfall des Nazifaschismus auf die Sowjetunion war ein ungeheuerliches Verbrechen auch gegenüber dem deutschen Volk selbst. Schonungslos verheizte Hitler Millionen deutscher Jugendlicher im Feuer des Krieges, machte Hunderttausende Kinder zu Waisen, brachte untröstliches Leid den Müttern, Vätern und Frauen der Gefallenen. Durch nie dagewesene Härte riefen die Hitlerfaschisten in den okkupierten Gebieten der Sowjetunion den Hafj gegen den Nazismus hervor. Die Sowjetmenschen haben jedoch die faschistische Clique niemals mit dem deutschen Volk gleichgesetzt. Sie wufjten, daß die deutschen Kommunisten, die Tausenden deutschen Patrioten auf ihrer Seite waren und aktiv gegen das blutige nationalsozialistische Regime kämpften. Die schwarzen Kräfte des Faschismus wurden zerschlagen. Hell leuchtet heute die Sonne der Freiheit über der Deutschen Demokratischen Republik, herrscht der Geist des Friedens und des Schattens in einem beträchtlichen Teil Deutschlands. Die Sowjetmenschen treuen sich über jeden Erfolg der Werktätigen der DDR und glauben zutiefst an die glückliche Zukunft des deutschen Volkes. Die neue sozialistische Ordnung, die in Ihrer Republik fest besteht, eröffnet der allseitigen Entwicklung der Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft weite Perspektiven. Wenn die UdSSR innerhalb von 45 Jahren Sowjetmacht die Industrieproduktion hauptsächlich mit eigener Kraft um mehr als das 20fache steigerte, so kann man sich vorstellen, welchen Fortschritt die Deutsche Demokratische Republik erzielen kann, wenn
sie auf dem bewährten Weg des sozialistischen Aufbaus in Zusammenarbeit mit den Ländern des mächtigen sozialistischen Lagers voranschreitet. Von Tag zu Tag festigt sich die brüderliche Freundschaft zwischen unseren Völkern und marxistisch-leninistischen Parteien, entwickelt sich die Waffenbrüderschaft unserer Armeen, der Armeen neuen Typs, die Fleisch vom Fleisch der Volksmassen sind, die aus Arbeitern, Bauern und der werktätigen Intelligenz bestehen und die Interessen der Werktätigen schützen. Nur solche Armeen sind unter modernen Bedingungen in der Lage, die Sicherheit der sozialistischen Staaten und den Frieden in der Welt zu sichern. Ich nutze die Gelegenheit, die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik und die Kämpfer ihre Streitkräfte auf das innigste zu grüßen und drücke allen meinen Dank aus, die meinem Buch ihre Aufmerksamkeit widmen. Mir altem revolutionärem Kämpfer ist es angenehm zu wissen, daß die Deutsche Demokratische Republik ein treuer Freund der Sowjetunion ist und erfolgreich den von Marx, Engels und Lenin gewiesenen Weg beschreitet. Ich wünsche meinen deutschen Freunden ausgezeichnete Gesundheit und gute Erfolge im sozialistischen Aufbau: Mit kommunistischem Gruß Marschall der Sowjetunion gez. S. Budjonny