Silber � Grusel-Krimi � Nr. 92 �
Hexer Stanley �
Die Monsterpuppen �
Das Hexer-Team: � Sir Stanley Earl of Depford ...
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Silber � Grusel-Krimi � Nr. 92 �
Hexer Stanley �
Die Monsterpuppen �
Das Hexer-Team: � Sir Stanley Earl of Depford 1930 in Schottland geboren, lebt auf dem Familiensitz der Depfords, der seit König Artus’ Zeiten Schloß Helmet and Chain in der Nähe von Glasgow ist. Seit Artus’ Zeiten damals, machte ein gewisser Merlin Depford viel von sich reden, sind alle Depfords Magier. Auch der junge Stanley tritt traditionsgemäß in die beruflichen Fußstapfen seiner Vorfahren. Er beherrscht alle gängigen magischen Techniken, ist spezialisierter Vampirist und Werwolfjäger und trägt den Titel eines Großmeisters der Magie. Nebenbei betätigt er sich als Kampfsportler, darunter entspricht ihm am meisten das malayische Bersalit. Die Vielzahl seiner werteren hervorstechenden Eigenschaften und Arten mag der interessierte und wohl auch ein wenig skeptische Leser dieser Story entnehmen… Lady Anne Rose of Depford seine Gattin, ist zehn Jahre jünger als er. Im Insiderkreis des schottischen Hochadels gilt sie als verwöhnte Liebhaberin edler und hochgeistiger Getränke. Wenn sie auch keine magischen Fähigkeiten hat, so ist sie doch zumindest mit der Theorie der Materie vertraut, betrachtet blutdürstige Vampire als harmlose Zeitgenossen und steht in den härtesten Abenteuern ihren Mann pardon, ihre Frau natürlich. George McLowrie ist der Butler des illustren Paares. Er ist seinem Herrn erge3 �
ben und tut alles für ihn. Natürlich ist auch er im Besitz einer soliden magischen Vorbildung und gilt als Adept, als Eingeweihter also, der weißen Magie. Er hegt eine unüberwindliche Abneigung gegen Vampire, schwarze Magier und ähnliche Mit- und Nebenmenschen. Daß Sir Stanley und George der Weltbruderschaft weißer Magier angehören, braucht nicht besonders erwähnt zu werden. Wie jedes Kind weiß, ist diese Art Bruderschaft eine Art überregionaler Zusammenschluß der weißen Magier dieser Erde. Die Organisation hat ihren Hauptsitz in Adelaide/Australien. Das wäre es eigentlich mit der Vorstellung der Hauptpersonen… und nun noch ein ernstes Wort an den Leser: »Ähnlichkeiten mit irgendwelchen Ereignissen, Gegebenheiten oder noch lebenden Personen sind natürlich rein zufällig und vom Verfasser keineswegs beabsichtigt!« *** Das Ding krabbelte Ecke Fifth Avenue und 34. Straße aus einem Gully. Das war direkt vor dem Schaufenster Nummer einundvierzig von Macy’s, in dem eine elektronische Schaufensterpuppe gerade ihre Kniebeugen machte. Das Ding hatte allerdings keine Augen für dieses Wunder der modernen Dekorationstechnik. Es blickte sich statt dessen wild und gehetzt um. Es war fast vier Uhr morgens, und die Straßen in New York waren um diese Zeit recht leer. Aus der Ferne erklang das Motorengebrumm einer Kehrmaschine. Das Ding wischte sich übers Gesicht und setzte sich in Bewegung. Mit trippelnden Schritten lief es über den Asphalt. Die Straße war an dieser Stelle fast fünfzig Meter breit. Als das Ding in der Mitte der Fahrbahn angekommen war, 4 �
passierte es. Es gab nämlich zu dieser frühen Stunde noch jemand, der die Vierunddreißigste benutzte, allerdings nicht in Quer- sondern in Längsrichtung. Johnny Colombo saß in einem Ford Luxus, war ziemlich betrunken – er kam gerade aus dem Club Twenty one. Colombo bog mit seinem Renommierauto von der Avenue ab und rauschte mit pfeifenden Pneus in die 34. Straße, Das Tempolimit hatte er um rund dreißig Meilen überschritten, aber das kümmerte Johnny kaum. Der naivste Polizist im letzten Polizeirevier der Stadt wußte, daß Colombo Mafiakiller war. Jedermann hätte ihn gern auf dem Stuhl gesehen, aber von seinen Meuchelmorden, die er bis dato auf dem Gewissen hatte, war ihm noch kein einziger nachgewiesen worden. In der Höhe von Macy’s Schaufenster bekam er trotz seines benebelten Gehirns mit, daß er irgend etwas überfuhr. Sein Wagen schlingerte, und er hatte Mühe, ihn wieder in die Gewalt zu bekommen. Überdies rumpelte es sekundenlang, daß die ganze Karosserie ins Schwingen kam. Johnny wurde rasch nüchtern, ging vom Gas und stellte den Fuß auf die Bremse. Mit qualmenden Reifen stoppte er. Etwa zehn Meter hinter dem Heck des Wagens, mitten auf der Fahrbahn, lag ein kleines, seltsam zermanscht aussehendes Bündel. Johnny atmete auf. Doch bloß ein Hund, dachte er. Mit wenigen Schritten war er bei seinem Opfer und beugte sich nieder. Die Szene wurde vom Heckscheinwerfer seines Autos ausgeleuchtet. Was Johnny sah, ernüchterte ihn vollends. Der letzte Rest Alkohol verflüchtigte sich schlagartig aus seinem Blutkreislauf. Dem Killer wurde sekundenlang sogar schlecht, aber das ging schnell vorüber. Der Tod in seiner vielfältigen Gestalt war für ihn kein Unbekannter… 5 �
Doch kein Hund, dachte er und starrte auf das Bündel hinunter. Dann überlegte er, was zu tun sei, beschloß, das Unfallopfer in seinen Kofferraum zu packen, am nächsten Müllcontainer kurz anzuhalten und es dort hineinzuwerfen. Gerade als er sich bücken wollte, erklang Motorengeräusch. Colombo wurde stocksteif. Eine abgekartete Sache, fuhr es ihm durch den Sinn. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er dem sich nähernden Wagen entgegen. Dann folgte der zweite Schreck. Als der Wagen noch fünfzig Meter entfernt war, flammte auf seinem Dach eine rote Rundumleuchte auf und warf ihren zuckenden Schein auf den Asphalt der 34. Straße. Sekunden später stoppte das Auto neben ihm. Die Beifahrertür öffnete sich, ein Uniformierter stieg aus. Colombo kannte ihn. Es war Sergeant Bloodhammer vom elften Revier. »Warum stehen Sie mit Ihrem Schlitten hier mitten auf der Fahrbahn?« polterte Bloodhammer sofort. »Wollen wohl ’nen Unfall verursachen, was? Oder ’nen Versicherungsbetrug? Vielleicht sind sie voll? Hauchen Sie mich mal an. Sie Promillesammelbecken!« »Bin nüchtern, Officer«, erwiderte Colombo friedlich. »Stocknüchtern! Muß Ihnen einen Verkehrsunfall melden, jawohl! Hab’ soeben nämlich einen Liliputaner plattgebügelt.« Billy Bloodhammer verzog sein Gesicht, als habe er in eine Zitrone gebissen. »Schau an, Johnny Colombo, genannt Kille-Kille«, knarrte er. »Hab’ dich zuerst nicht erkannt, mein Sohn. Wen hast du heute umgebracht?« »Ich habe noch nie jemand umgebogen«, entgegnete Colombo verärgert. Solche Anschuldigungen, gingen ihm stets sehr nahe. »Was man über mich erzählt, ist alles Verleumdung. Was ist, 6 �
wollen Sie jetzt den Unfall aufnehmen oder nicht?« Bloodhammer starrte ihn an. »Dich kriege ich noch, Bürschchen«, flüsterte er. Dann beugte er sich nach unten und nahm das Bündel auf der Straße in Augenschein. Der Polizist wollte es nicht glauben und zuckte zurück, wie von der Tarantel gestochen. »Rex!« brüllte er laut. »Rex!« Der Fahrer des Streifenwagens kam herüber. Er wirkte übermüdet und war sauer, weil er schon zwei Wochen Nachtdienst machen mußte. »Was ’n los?« Dann sah er es selbst und atmete erst mal tief durch. Auf der Straße lag eine ganz normal aussehende Puppe. Sie hatte eine Körperlänge von vielleicht dreißig Zentimetern und wirkte kaputt und verbogen. Das Ding trug eine naturgetreue Polizistenuniform. Sogar die Copperplate auf der linken Brustseite war eine genaue Miniatur des Abzeichens, das auch Bloodhammer trug. »Für diesen Witz«, sagte der Sergeant zu Colombo, »lochen wir dich vierundzwanzig Stunden ein. Das ist Beamtenbeleidigung.« »Witz?« flüsterte der Fahrer des Streifenwagens entsetzt. »Wer macht solche Witze?« Er bückte sich, nahm die Puppe am Arm und versuchte sie hochzuheben. Es ging nicht. »Schwerer, als ich gedacht habe… Was ist denn das?« Er zog seine Hand zurück und betrachtete sie im Licht der Autoscheinwerfer. Die Hand war rot und klebrig. Rex begann zu fluchen, bis Bloodhammer ihn anschrie, er solle die Klappe halten. Dann kümmerte der Sergeant sich selbst man etwas genauer um Colombos schlechten Witz. 7 �
Er drehte die Puppe auf den Rücken. Sie fühlte sich gar nicht puppenhaft an, sondern weich und nachgiebig. Dann starrte er in das winzige Gesicht des Wesens. Das war kein Puppengesicht! Es war die Physiognomie eines Menschen aus Fleisch und Blut, nur stark verkleinert. Winzige, gebrochene Augen starrten Bloodhammer an. Aus dem linken Mundwinkel lief ein schmaler Blutfaden. Der Körper war noch warm, wie der Polizist unter seinen Händen fühlte. Dann sagte der Streifenwagenfahrer: »Bloody, das ist Slivka vom 18. Revier. Ich habe mal mit ihm zusammengearbeitet. Oder er ist es nicht! Slivka ist sechs Fuß groß und das hier…« »Weißt du, welche Dienstnummer dein Freund hatte?« fragte Bloodhammer unnatürlich ruhig. Wenn er mit etwas konfrontiert wurde, das er nicht kapierte, war er immer sehr ruhig. Und im Moment verstand er überhaupt nichts. Er starrte nur in das kleine Gesicht der Menschenkarikatur. »Vierhundertelf.« Mit vorsichtigen Bewegungen entfernte Bloodhammer das Dienstabzeichen von der Hemdbrust der Leiche. Vier eins eins. Die Zahlen waren so winzig in das Kupferblättchen eingraviert, daß man sie kaum lesen konnte. Der Sergeant richtete sich auf und hob mit vorsichtigem Griff die kleine Leiche hoch. »Ich weiß nicht, was hier vorgegangen ist«, sagte er eisig. »Ich sehe zwar, aber ich begreife nicht. Jedenfalls habe ich einen Menschen in den Armen. Er ist einen Fuß groß und trägt eine Polizeiuniform. Mein Kollege behauptet, diesen Zwerg zu kennen, sagt aber gleichzeitig, daß er einsachtzig groß wäre…« »Officer, so was gibt’s nicht!« flüsterte Colombo. heiser. Wie hypnotisiert starrte er auf das kleine Bündel vor Bloodhammers gewaltigem Brustkorb. 8 �
»Doch, du siehst es ja.« Die Stimme des Polizisten war verhalten. »Ich weiß nicht, was du und deine Mafiakumpane hier ausgeheckt haben. Eurem Verein sollen ja auch erstklassige Wissenschaftler angehören, wie man weiß. Professoren und Doktoren. Wie sie das hier gemacht haben –« er deutete mit dem Kinn auf den toten Miniaturmenschen – »ist mir egal. Das ist Sache des Labors im Headquarters. Aber du, Johnny Colombo, bist mir nicht egal. Dafür, Kille-Kille, wirst du auf dem Stuhl schmoren, bis du gar bist!« »Sie sind nicht ganz sauber, Bloodhammer«, sagte Johnny. »Aber ja doch, Johnnyboy. Du bist verhaftet, wegen Mordverdachts! Alles, was du von jetzt an sagst…« Obwohl Colombo wirklich unschuldig war – wenigstens in diesem Fall, machte er auf dem Absatz kehrt und wetzte mit qualmenden Sohlen zu seinem Wagen. Rex kniete auf der Straße, hielt den Kolben seiner Dienstwaffe mit beiden Händen und zielte wie auf dem Schießstand. Die 38er Kugel erwischte Colombo im linken Bein. Er überschlug sich zweimal und blieb dann bewegungslos liegen. »Geh ans Funkgerät im Wagen«, sagte Sergeant Bloodhammer langsam. »Ruf die Homicide Squad an. Sie sollen kommen, mit allem, was sie haben. Sag, daß es gut wäre, wenn Captain Mark dabei wäre. Na also, geh schon! Was starrst du mich so an?« »Bloody…« keuchte Rex entsetzt. Mit zitternden Fingern deutete er auf die Brust des Sergeants. Und jetzt spürte der Kollege es selbst. Mit einem Fluch ließ er die tote Polizistenminiatur fallen. Dann sahen die beiden voller fasziniertem Grauen, wie sich der kleine Körper auf dem Asphalt innerhalb weniger Sekunden schrecklich veränderte. Zuerst löste sich der Kopf auf, ohne einen Rückstand zu hinterlassen. Dann folgte der Rest des winzigen Körpers. Eine halbe Minute später lag nur noch ein wenig blauer Stoff auf der Fahr9 �
bahn. Eine Polizistenuniform für Puppen! Mit nichts mehr drin… Sogar die Blutflecken auf der kleinen Hemdbrust waren verschwunden. Zehn Meter weiter begann Colombo, sich wieder zu regen. Unter grausigen Flüchen richtete er sich halb auf und kroch zu seinem Wagen. »Das«, sagte Rex schließlich, »verstehe ich überhaupt nicht. Bloody, du vielleicht?« »Noch nicht ganz«, erwiderte Bloodhammer kalt. »Aber ich bin davon abgekommen, daß die Mafia dahintersteckt. Es kann kein Zweifel bestehen. Hier handelt es sich um einen neuen Trick der Russen!« Fünf Minuten später trafen die Boys von der Mordkommission ein. Sie hatten auch einen Arzt dabei. Und das war ein Mann mit Durchblick. Er schickte die beiden Streifenpolizisten und Johnny Colombo, genannt Kille-Kille, erst mal ins Präsidium. »Sie müssen ganz ruhig bleiben, Gentlemen«, flüsterte der Mediziner mit durchbohrenden Blicken. »Sie fahren langsam rüber ins Headquarters. Dort setzen sie sich schnell mit Doc Shield in Verbindung. Wenn während der Fahrt kleine, weiße Männchen Klimmzüge an der Tachonadel machen… gar nicht drauf achten.« Doc Shield war der Polizeipsychiater. * »Die Presse hat ein Recht darauf, informiert zu werden, Mann. Sie können doch nicht machen, was Sie wollen, jawohl!« Steve Watkins von der ›Sunday Times‹ war ganz aufgeregt. Besonders gut hatte er sich mit Captain Mark von der New Yorker Polizei noch nie verstanden, aber diesmal hegte er tatsächlich böse Ge10 �
danken. Und mit ihm die fünfzehn Kollegen von den anderen Blättern. »Die Presse hat überhaupt kein…« »Buuhu« Das Protestgeheul der Journalisten verschluckte Marks Worte. »Gentlemen, lassen Sie mich bitte ausreden«, schrie der Captain. Verdammter Job, dachte er wütend. Im nächsten Monat darf ein anderer den Pressesprecher spielen. »Ich wollte sagen, daß die Presse überhaupt keine Ahnung hat, wie schwer unsere Arbeit manchmal ist. Sicher, ich gebe zu, daß Mister Colombo von uns um eine Auskunft gebeten wurde. Aber das hat gar nichts zu bedeuten…« Die Presseleute brachen in ein wieherndes Gelächter aus. »… nichts zu bedeuten? Will er was für die Witwen- und Waisenkasse spenden?« »Nein!« schrie der Captain wütend. »Seine Festnahme war ein Irrtum, er kann jederzeit das Präsidium verlassen.« Das Gelächter der Reporter wurde peinlich. »Captain«, wischte sich Watkins die Lachtränen aus den Augen. »Sie dürfen uns wirklich nicht für so dumm halten, wie wir vielleicht aussehen. Entweder Sie geben uns jetzt einige annehmbare Informationen oder unsere Blätter werden einige gepfefferte Kommentare über eure Kooperationsbereitschaft bringen. Was ist heute nacht in der Vierunddreißigsten passiert?« »Nichts, Gentlemen.« »Das glauben Sie doch selbst nicht«, nahm ihn der NBC-Mann ins Kreuzverhör. »Sie ließen vor einer Stunde nach Doc Shield schicken, ihrem Psychologen. Wofür brauchen Sie ihn? Wollen Sie Colombo einem Psychoverhör unterziehen, oder was?« Mark hatte nicht das Zeug dazu, den Zeitungshaien wirksam paroli bieten zu können. »Gentlemen«, verschaffte der Captain sich Gehör, »natürlich, 11 �
und das sagte ich bereits, haben wir mit Mister Colombo nichts im Sinn. Er hat nichts angestellt, zahlt pünktlich seine Steuern und heißt im übrigen Hase. Doc Shield wurde gerufen, weil zwei unserer Streifenbeamten einen Nervenschock erlitten.« Das hätte er nicht sagen sollen. Die Journalisten witterten sofort und unverzüglich Unrat. Wenn nichts passiert war, weshalb hatten dann zwei von den Blauen Schwierigkeiten mit ihren Nervenkostümen? Da stimmte doch etwas nicht! »Ginger«, flüsterte Steve Watkins seinem Kollegen zur Linken zu, »Ginger, hast du das gehört? Der Captain ist doch wirklich unmöglich. Schalte deinen Recorder ein! He, Ginger… was…?« Ginger Spiglmyer, New Yorker Korrespondent der AP war nicht mehr da. Steve Watkins sah gerade noch seinen breiten Rücken durch die Tür des Pressezimmers verschwinden. * Ginger Spiglmyer verdiente als Reporter eine Unmenge Geld. Zum Teil hatte dieser Umstand seine Ursache darin, daß er dem Gros seiner weniger erfolgreichen Kollegen fast immer um eine Nasenlänge voraus war. Außerdem war Ginger bemerkenswert clever und kannte sein Metier. So auch diesmal. Kaum hatte er gehört, daß zwei Streifenbeamte einen Knacks bekommen hatten, handelte er auch bereits. Auf dem Gang angekommen, zog Spiglmyer eine dicke Hornbrille aus seiner Brusttasche. Diese hatte Fenstergläser und verlieh ihm ein intellektuelles Aussehen. Dann zog er seinen leichten braunen Trenchcoat aus, wandte ihn auf links und zog ihn wieder an, alles im Laufen. Durch die Gänge des Präsidiums eilte jetzt ein beschäftigt aussehender Herr im weißen Arztkittel. Für derartige Gelegenheiten war Ginger stets bestens präpariert. 12 �
Zwei Kriminalbeamte kamen ihm entgegen. »He, was wollen Sie denn hier, Sie…?« »Keine Zeit, Gentlemen«, unterbrach Spiglmyer, »ich muß sofort zu meinem Kollegen Shield. Er rief mich eben an und sagte, daß er zwei Fälle hätte, bei denen er meine Hilfe benötige.« »Noch ein Seelenmechaniker«, stöhnte der Linke der beiden Beamten. »Mir tut Bloody leid. Wenn die mit ihm fertig sind, ist er tatsächlich verrückt.« »Ich muß doch sehr bitten, Leute«, verwahrte sich Ginger und eilte weiter. Bloody, dachte er hastig. Sollte das Bloodhammer sein? Das wäre ja… hm, ganz gut! Mit Bloodhammer spielte Ginger nämlich ab und zu Poker, in Dirks Steakhouse, in der Hiller Road. Und der Sergeant hatte noch achtzig Cents Schulden bei ihm. Wenn er mir eine schöne Story liefert, nahm Spiglmyer sich vor, werde ich ihm seine Spielschulden erlassen. Mit quietschenden Sohlen bog er um eine Gangecke. Aus einer Tür traten gerade drei Männer. Der Mittlere von ihnen schien etwas gegen seine Begleiter zu haben. »Verdammte Bullen, elendes Gelichter«, schrie er wild. »Ich bin ein freier Bürger eines freien Landes, ich verlange meinen Rechtsanwalt, Schadenersatz und Verdienstausfall.« »Heute wird nicht gekillt, Johnny«, sagte der Uniformierte zu seiner Rechten gemütlich. »Du bleibst vierundzwanzig Stunden bei uns und dein Führerschein wird einbehalten. Trunkenheit am Steuer…« Colombo fluchte wie ein Stauer. Wegen eines überfahrenen und dann auch noch verschwundenen Liliputpolizisten die Fahrlizenz zu verlieren, schien ihm entschieden zu hart. Ginger sah der Gruppe grinsend nach. Dann wandte er sich der Tür zu, aus der sie herausgekommen war.
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Psychiatric Squad Herein ohne anzuklopfen! Meine Zeit ist begrenzt – Ich weiß auch nicht mehr als Sie. Einigermaßen skeptisch las der Reporter das Türschild. Schien ja ein sonniges Gemüt zu haben, dieser Polizeipsychologe. Ginger kannte ihn nicht persönlich, wußte aber, daß Doktor Shield erst seit drei Monaten im Staatsdienst war. Entschlossen drückte er die Klinke nieder. Ein Vorzimmer tat sich auf. Mit drei Schritten war Ginger an der nächsten Tür und legte lauschend ein Ohr daran. Kein Laut war zu hören. Frechheit siegt, dachte Ginger und öffnete. Sein Blick fiel in einen größeren Büroraum. Lediglich eine Schreibtischlampe spendete ein wenig Helligkeit. Das mußte das Büro dieses Psychologen sein. Links in einer Raumecke stand eine lederne Couch. Und auf dieser lag jemand. Ansonsten war das Büro definitiv leer. Mit schleichenden Schritten kam Spiglmyer näher. Die Gestalt richtete sich mit einem Ruck auf. »Hören Sie, Doc, ich bin nicht bekloppt, alles, was ich sage, entspricht der Wahrheit, das heißt… Ginger! Wie kommst du hierher?« Der Reporter hatte ihn ebenfalls sofort erkannt. Der Mann auf der Couch war Sergeant Billy Bloodhammer, und so wie es sich anhörte, hatte er keineswegs mit einem Schock zu kämpfen. »Wollte dich mal besuchen, alter Freund«, erwiderte Spiglmyer freundlich. »Bevor sie dich in die Klapsmühle stecken. Du schuldest mir nämlich noch einen Dollar.« »Achtzig Cents«, zischte Bloodhammer wütend. »Halsabschneider!« 14 �
»Na schön, achtzig Rote eben. Hör zu, Billy, was ist denn heute früh passiert? Euer Captain faselt da einen Stuß zusammen…« Bloodhammer betrachtete seinen Pokerbruder mißtrauisch. »Hat er euch Zeitungshyänen etwa die Sache mit dem Puppenmenschen auf die Nase gebunden?« fragte er ungläubig. Ginger freute sich, zeigte es aber nicht. Man kam der Sache näher. »Von einem?« erwiderte er großartig. »Hundert, Billy, hundert! Aber ich werde aus seinem Gerede nicht schlau. Wo ist übrigens der Doc? Diesen Shield, meine ich.« »Im Nebenraum, telefonieren«, sagte Bloodhammer müde. »Aber ich glaube, er kommt gleich wieder. An dir hätte er was. Well, Ginger, ich habe alle Chancen, für verrückt erklärt zu werden. So langsam glaube ich sogar selbst, daß ich beknackt bin.« »Na, na«, erwiderte Spiglmyer entrüstet. »Doch! Oder hast du je von Menschen gehört, die dreißig Zentimeter groß sind, Polizeiuniformen anhaben und nach ihrem Tod einfach verschwinden, he?« »Na ja, nicht gerade alltäglich«, erwiderte der AP-Mann vorsichtig. Er wich zwei Schritte zurück. »Meine Mutter sah manchmal sogar grüne Elefanten. He, Billy!« Bloodhammer sprang von seiner Liege hoch, trat vor und packte Ginger mit beiden Fäusten am Kragen. »Ginger«, flüsterte er beschwörend. »Ich bin weder verrückt noch betrunken. Aber alle glauben es. Die liefern mich ein in die nächste Klapsmühle, und niemand kann mir helfen. Hör zu es war so…« Mit gedrängten Worten schilderte Bloodhammer seine Erlebnisse. Spiglmyer hörte konzentriert zu, obwohl das eigentlich nicht nötig war. Der kleine Kassettenrecorder in seiner Manteltasche lief mit und zeichnete jedes Wort auf. Ab und zu warf der Korrespondent eine kurze Zwischenfrage ein. »Und am Schluß… löste sich die Puppe – oder was es war… 15 �
ganz einfach in Luft auf?« »Die Uniform blieb übrig«, flüsterte Bloodhammer beschwörend. »Sie müssen sie hier haben, Ginger. Rex haben sie schon weggebracht. Das ist der Kollege, der den Streifenwagen fuhr. Und mit Colombo machen sie ebenfalls kurzen Prozeß, auf der Flucht erschossen oder so. Der hat’s auch gesehen. Ginger, schau mich nicht so an! Ich bin nicht verrückt, glaub’ mir. Aber die anderen glauben’s mir nicht, die bringen mich in eine Gummizelle. Mit wem spielst du dann Poker?« »Das ist ein Aspekt«, gab Spiglmyer zu. »Im übrigen, Billy, und diesmal ganz ohne Flachs: Ich glaube dir! Aus Gründen, die du wohl nicht verstehen wirst, aber ich glaube dir. Du kommst nicht in die Klapsmühle, das verspreche ich dir.« »Und… haben Sie irgendeinen besonderen Grund, Sergeant Bloodhammers Bericht Glauben zu schenken, Sir?« erklang eine dunkle, weiche Stimme. Ginger Spiglmyer wurde steif und drehte sich langsam um. Die Tür zum Nebenzimmer stand offen. In ihrem Rahmen stand ein Mann. Er war groß und schlank, mochte etwa fünfzig Jahre alt sein und hatte das gewisse Etwas, das alle Irrenärzte haben. Es war das gewisse »Nun legen Sie sich mal schön hin und erzählen Sie mir alles!« »Ah, guten Morgen, Doktor Shield«, sagte Ginger herzlich. »Sie sind doch Doc Shield, nicht wahr?« »Bin ich«, sagte der gutaussehende Mann und kam näher. »Und wer sind Sie? Was suchen Sie überhaupt hier? Gehören Sie zum Stab?« »Tu ich, jawohl«, erwiderte Ginger unbehaglich. Die Augen seines Gegenüber waren unheimlich stechend geworden, regelrecht hypnotisch. »Ich bin der Mann, der jährlich die Aushangtafel schwarz anstreicht, und wollte bloß mal sehen, wie es meinem Freund Billy geht. Äh, Wiedersehen, Doc, es war mir ein 16 �
Vergnügen…« Spiglmyer machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Zimmer auf demselben Weg, auf dem er gekommen war. Bloodhammer sah ihm grinsend nach. »Stehenbleiben!« brüllte der Psychologe. »Stoppen Sie!« Ginger hielt nicht. Ich muß zusehen, daß die Sache an die Agentur geht, damit die Mittagsblätter was zum Kauen haben, dachte er. Als er durch die Tür des Vorzimmers wischte, hörte er Doc Shields Stimme fragen, wer er sei. Er hörte auch noch die zufriedene Antwort von Sergeant Bloodhammer. »Das, mein Schlechtester«, sagte Billy gerade, »war wirklich ein Kumpel von mir. Er ist Geier bei einer Nachrichtenagentur, bei der ›Associated Press‹ nämlich.« Ginger vermeinte noch einen furchtbaren Fluch zu hören, aber das konnte auch an der schlechten Akustik in amerikanischen Polizeipräsidien liegen. Er suchte und fand einen Fahrstuhl, begab sich ins Freie, freute sich, daß sein Wagen, ein Stingray, sofort ansprang und suchte das Weite. Während der Fahrt mußte er daran denken, daß die Boys von den anderen Blättern immer noch im Pressezimmer saßen und mit Captain Mark debattierten. Da freute Ginger Spiglmyer sich noch mehr. Dabei hatte er gar keinen Grund sich zu freuen. Er war nämlich gerade dreißig Jahre alt und hatte deshalb noch nicht daran gedacht, seine Nachlaßangelegenheiten zu regeln. Und so würde seine geschiedene Frau, die er überhaupt nicht leiden konnte, sein ganzes Vermögen erben, die achtundzwanzig Dollar… * Spiglmyer erreichte seine Wohnung in Yonkers eine halbe Stunde später. Ihm waren während der Fahrt einige Bedenken ge17 �
kommen. Angenommen, so sagte er sich, an dieser ganzen Sache ist tatsächlich etwas dran? Wenn dem so ist, dann würde die Polizei wohl kaum etwas erreichen, jedenfalls in diesem Fall nicht. Der Reporter hegte die Vermutung, daß Normalpolizisten gar nicht an Puppenmenschen glauben, die sich nach ihrem Tod in Luft auflösen. Soviel er wußte, glaubten Polizisten noch nicht mal an Vampire. Er kannte die Fahndungsbücher recht genau und wußte, daß in ihnen kein einziger Vampir aufgeführt war, von Werwölfen, Ifriten oder Ghuls ganz zu schweigen. Warum sollten Polizisten also an lebende Puppen glauben? Und dazu noch ausgerechnet in den USA, dem modernsten und aufgeklärtesten Land dieser Erde, trotz dem »Exorzisten«. Nein, überlegte Ginger Spiglmyer, bevor ich Billys Worte auf dem Kassettentonband in eine druckreife Fassung bringe, werde ich besser mal einige Leute anrufen, für die derartige Sachen reine Alltäglichkeit sind. In seinem Büro-Wohn-Schlafzimmer in Yonkers angekommen, tat er dies auch. Er mixte sich etwas Mildes, einen Highball, und hängte sich ans Telefon. Was er dann tat, hätte den Leuten von der Bell-Company, die das US-Telefonnetz betreibt, gar nicht gefallen. Sein Apparat war eins von den modernen Dingern, die anstatt einer Wählscheibe Drucktasten haben. Ginger Spiglmyer drückte seelenvergnügt eine vierzehnstellige Nummer in den Apparat. Diese verband ihn – CIA hätte rotiert, wenn sie erfahren hätten, daß ihre geheimsten Nummern scheinbar Allgemeingut waren – mit einer Automatikvermittlung, die Bell speziell für Geheimdienstzwecke geschaffen hatte. Als Ginger das Freizeichen dieser Vermittlung im Ohr hatte, grinste er zufrieden und wählte die nächste Nummer. Die CIA-Vermittlung verband ihn über eine Leitung, die normalerweise nur als Reserve ausgelegt war, mit einer weiteren 18 �
Vermittlung. Diese – sie befand sich in einer Höhle in den Blue Ridge Mountains – war allerdings nicht von der Bell-Company eingerichtet worden. Diese Vermittlung war von der Weltbruderschaft Weißer Magier eingerichtet worden, und über die bereits erwähnte Reserveleitung des Geheimdienstes hing sie am amerikanischen Selbstwählnetz. Und da diese Vermittlung über einen Maser mit einem schwach ausgelasteten Intervisionssatelliten der Sowjets gekoppelt war – wovon diese natürlich keine Ahnung hatten, denn wesentlich schlauer als die Amis waren sie ja auch nicht, bildete sie die schnellste Selbstwählverbindung Amerikas mit allen anderen Kontinenten. Fürst Trosonovich, der Präsident der Bruderschaft der Weißen Magier, sagte sich nicht zu Unrecht, daß moderne Technik und moderne Magie durchaus gleichberechtigte Arbeitsgrundlagen liefern können. Zehn Minuten später hatte sich Ginger Spiglmyer, Korrespondent der AP im Hauptberuf und Adept vierten Grades der Weißen Magie im Nebenberuf, mit dem Präsidium der Bruderschaft in Adelaide verbunden. Die Übertragungsqualität war trotz der fünfzehntausend Kilometer Distanz brillant, das hatte nichts mit Zauberei zu tun. Ginger verlangte eine Verbindung mit einem Großmeister, der erstens exekutionsberechtigt war und zweitens schon mal etwas von einer Technik gehört hatte, mit der sich Menschen auf einen Bruchteil ihrer Normalgröße verkleinern ließen. Die Telefonistin in der Zentrale mußte passen. Sie war sowieso nur eine Aushilfskraft, weil das reguläre Telefonfräulein gerade einen Schnellkurs im Besenfliegen mitmachte. Schließlich war es für Weiße Magier ein »Muß« auch Schwarze Techniken zu beherrschen. So gab sie ihm jemand in den Hörer, der sich mit einem äußerst 19 �
kernigen »Trrossonovich hier, wer spricht?« meldete. Ginger machte mit dem Telefon am Ohr eine tiefe Verbeugung. Daß man ihn mit dem Präsidenten der Bruderschaft verbinden würde, hatte er nicht erwartet. »Ginger Spiglmyer, USA, Adept vierten Grades, Hoheit«, erwiderte er ehrfurchtsvoll. »Spezialist für Taschenspielereien und Hypnose und immer noch am Lernen.« Fünfzehntausend Kilometer entfernt, in Adelaide/Australien verrollte ein ehemaliger russischer Großfürst die Augen. Es kam ihm gerade in den Sinn, die Aufnahmebedingungen für die Bruderschaft doch so langsam mal zu überarbeiten. »Was wollen Sie?« Ginger erklärte es ihm, so kurz und prägnant wie möglich. »Ich glaube kaum, daß es sich bei dieser Sache um die Hirngespinste eines überarbeiteten Polizeibeamten handelt«, schloß er. »Viel eher dürfte möglich sein, daß hier mit einer magischen Technik gearbeitet wurde. Hoheit, hören Sie?« In der Leitung knackte es ein wenig, dann kam die Stimme des Präsidenten wieder. »Ich bekam soeben ihre Personalakte auf den Tisch, Adept. Wie ich aus ihr ersehe, sind Sie Journalist. Stimmt das noch?« »Ja«, sagte Ginger. »Schön! Es ist Ihnen nicht erlaubt, diese Sache publizistisch auszuwerten. Ihren Verdienstausfall bekommen Sie ersetzt.« »Aber, Hoheit«, sagte Ginger weinerlich. »Keine Widerrede, oder ich verwandle Sie telefonisch in einen rosaroten Laubfrosch. Das kann ich wirklich, glauben Sie mir das!« Spiglmyer glaubte es ihm aufs Wort. »Die Angelegenheit wird von einem Großmeister untersucht werden«, sagte Pjotr Trosonovich weiter. »Er wird sich direkt mit Ihnen in Verbindung setzen. In etwa einer halben Stunde 20 �
wird er Sie anrufen, und Sie erzählen ihm das Ganze noch mal. Lassen Sie auch die Aufzeichnung des Gespräches ablaufen, das Sie mit diesem Sergeanten führten! Der Exekutionsberechtigte wird Sir Stanley, Earl of Depford, Großmeister der Magie sein. Sie kennen ihn ja, glaube ich.« »Okay, Hoheit«, erwiderte Ginger erfreut. »Er hat mir anläßlich meiner Novizenzeit beigebracht, wie man untergeordnete Dämonen beschwört und beim Pistolenschießen mit sechs Kugeln siebenmal die Zwölf treffen kann.« »Der macht lauter solche Sachen«, sagte Trosonovich bitter. »Also, dann sind die Klarheiten ja beseitigt. Mit magischem Gruß, Adept!« »Danke, Boß«, schrie Spiglmyer in die Sprechmuschel. »Mit magischem Gruß!« In der Leitung knackte es wieder, und die Verbindung war getrennt. Ginger ließ sich in einen Sessel fallen. Er freute sich, wieder mal mit Sir Stanley sprechen zu dürfen, seinem verehrten Vorbild, das ihn in die Anfangsgründe der Magie eingeführt hatte. * Spiglmyer war Raucher und bevorzugte die knallharten Machorkas, die er durch dunkle Kanäle aus der UdSSR bezog. Während er auf den Anruf des Großmeisters wartete, rauchte er vier Stück von diesen grausigen Lungentorpedos. Um dreiviertelsieben öffnete er das Fenster seines Appartements, um den Qualm hinaus – und die frische Morgenluft hereinzulassen. Seine Behausung lag fast zu ebener Erde. In Höhen ab eineinhalb Metern hatte der Adept immer mit Sehwindelgefühlen zu kämpfen. 21 �
Um 6.47 Uhr summte das Telefon. Ginger spritzte hoch, lief an den Apparat und hob den Hörer ab. »Hallo?« »Guten Morgen, Ginger. Bei Ihnen drüben ist doch gerade Morgen, habe ich recht?« Es war eine dunkle, angenehme Stimme im Hörer. »Mylord haben recht, wie stets«, erwiderte Spiglmyer. »Sir, es ist mir eine große Freude, ihr markantes Organ…« Aus dem Hörer drang ein leises Lachen. »Immer noch der alte Witzbold, wie? Okay, mein Junge, wir wollen zur Sache kommen, jede Einheit kostet die Britische Krone sechs Shilling, und Mister Wilson hat uns zum Sparen aufgefordert. Was waren das für Sachen, die Sie vorhin Trosonovich erzählten.« »Mylord, es handelt sich…« »Moment, Ginger –, ich schalte mein Tonbandgerät ein, um unser Gespräch aufzuzeichnen. So, jetzt können Sie!« »Sir, so wie es aussieht, macht hier bei uns ein böser Mensch böse Experimente. Er muß dabei magische Techniken zu Hilfe nehmen, denn mit Hilfe der Wissenschaft, der normalen meine ich kann man wohl erwachsene Menschen nicht auf Puppengröße verkleinern. Und genau das scheint vor kurzem geschehen zu sein. Haben Sie dafür eine Erklärung, Mylord?« »Habe ich«, kam es kurz zurück. »Der Magier, der diese Technik mal beherrschte, ist allerdings seit zweihundert Jahren tot und hat seine Arbeitsberichte nicht überliefert. Erzählen Sie weiter, Adept Spiglmyer!« Warum so förmlich, Mister, dachte Ginger erstaunt. Dann riß er sich zusammen. »Es geschah heute früh in der vierunddreißigsten Straße.« Er nahm die Bewegung schattenhaft aus den Augenwinkeln wahr. Blitzschnell wirbelte er herum. Was er sah, verursachte ihm ein 22 �
flaues Gefühl in der Magengegend. Überlebenschance gleich Null, fuhr es dem Reporter durch den Kopf. Vorsichtig legte er den Hörer neben den Apparat. Sie waren zu dritt, standen auf der Fensterbank und hoben sich scherenschnittartig gegen den hellen Morgenhimmel ab. Zwei Männer und eine Frau. Alle drei waren gleich groß! Etwa dreißig Zentimeter, vom Scheitel bis zur Sohle… Das Puppenmädchen war sogar eine winzige Schönheit. Ginger glaubte jetzt jedes Wort, das Billy Bloodhammer ihm erzählt hatte. Andererseits war alles sehr unglaublich. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß Ginger Spiglmyer mit den Auswirkungen einer ausgefeilten und satanisch-magischen Technik konfrontiert wurde. Das kleine Puppenmädchen lächelte plötzlich. Es war auf eine ekelhafte und abstoßende Art grauenerregend. Sie hatte dunkelrote Zähne. Ginger wurde ruhig. Sie können mir nicht gefährlich werden, dachte er kalt. Sie sind zu klein. Wenn ich mal zuschlage, bleibt nur noch ein bißchen Brotaufstrich übrig… Es geschah ohne die geringste Vorwarnung. Der Linke der beiden kleinen Männer sprang aus dem Stand. Innerhalb einer halben Sekunde überbrückte er die fünf Meter Distanz zu Spiglmyer, prallte leicht gegen dessen Brust und krallte sich fest. Der Adept war sekundenlang viel zu überrascht, um zu reagieren. Dann fühlte er einen scharfen, stechenden Schmerz am Hals und schrie auf. Er griff mit beiden Händen nach dem winzigen Untier und riß es von seinem Hemd weg. Der Schmerz in seinem Hals steigerte sich, und Ginger sah voller Grauen, daß die kleine Bestie einen Fetzen blutenden Fleisches zwischen ihren roten Zähnen hielt. Das Ding hatte es Spiglmyer aus dem Hals gerissen. Die beiden anderen Puppen, die immer noch auf der Fensterbank standen, stießen haßvolle 23 �
Zischgeräusche aus. Ginger brüllte ein zweites Mal auf, als das Biest zwischen seinen großen Händen ihn in einen Finger biß. Der Schmerz war ungeheuerlich. Die winzigen Zähne der Höllenausgeburt fraßen sich durch bis zum Knochen, brachen ihn und rissen das oberste Fingerglied weg. Der Adept holte aus und schmetterte das Ding gegen die Wand. Er legte alle Kraft in den Wurf, den sein Körper aufbrachte. Voller Genugtuung sah er, daß der Körper des Ungeheuers aufplatzte wie eine überreife Frucht. Dadurch achtete er einen Moment lang nicht auf die anderen beiden. Sie kamen beide auf einmal. Die Frau landete aus dem Sprung auf seiner linken Schulter. Mit ihren winzigen Händen krallte sie sich in der blutenden Wunde fest, die ihr toter Artgenosse gerissen hatte, und schlug gleichzeitig ihre Zähne in Gingers Hals. Sie suchte die Schlagader. In animalischer Gier gruben die roten Beißer sich tiefer. Der zweite Mann biß sich in Gingers Brust fest. Spiglmyer schrie jetzt ununterbrochen. Seine Hände krampften sich um das Ding auf seiner Schulter und versuchten, es wegzureißen. Einer der kleinen Arme der Frau griff in sein Gesicht und suchte nach den Augen… Ginger Spiglmyer zerquetschte das Unwesen auf seiner Brust zwischen seinen kräftigen Händen. Losreißen konnte er es nicht. Die Fingernägel schienen aus Stahl zu sein. Es hatte seine Hände tief ins Fleisch der Brustmuskulatur gewühlt und sich festgebissen. Dann fanden die Zähne der Puppenfrau die Schlagader und rissen sie auf eine Länge von fast zehn Zentimetern auf. Ginger war nicht mehr in der Lage, Schmerzen zu fühlen. Er schrie auch nicht mehr. Er stand nur in einer Art völliger Paralyse da und krampfte seine Fäuste um den zerdrückten Körper des Puppenmannes an 24 �
seine Brust. Daß ihm das Ungeheuer auf seiner Schulter eine zehn Zentimeter lange Stahlnadel ins Ohr stieß und sie bis ins Gehirn vortrieb, spürte er nicht mehr. Als der Reporter fiel, war er bereits tot. Die Puppenfrau ordnete in einer Art makabrer Ordnungsliebe die blutverschmierten Kleider. Aus dem aufgerissenen Mund drang immer noch das Zischen. Dann packte sie den ersten ihrer toten Genossen, schleppte ihn zum Fenster, hob ihn auf die niedere Bank und kippte ihn hinaus. Dasselbe geschah mit dem zweiten. Dann sprang sie ebenfalls aus dem Fenster. Draußen schien eine schüchterne Morgensonne. Wäre zu dieser frühen Stunde jemand in der Sole Road in Barrington unterwegs gewesen, dann wäre ihm bestimmt ein älterer, grauhaariger Mann aufgefallen. Er lief die Straße entlang und schleppte einen großen Koffer mit sich. Bestimmt wollte er verreisen. Aber in der Sole Road kam sogar der Milchmann erst um acht. Und wäre jemand in Gingers Appartement gewesen, so wäre ihm – außer der grauenhaft zugerichteten Leiche auf dem Teppich natürlich – auch noch das Telefon aufgefallen. Der Hörer lag nämlich immer noch neben dem Apparat. Aus der Hörermuschel klang es leise, aber unablässig: »Ginger! So melden Sie sich doch! – Was ist denn passiert? Ginger…!« * Sir Stanley, der elfte Earl of Depford. Herr von Schloß Helmet and Chain und Großmeister der Weißen Magie, drehte sich langsam um. Sein gutgeschnittenes Gesicht war bleich und schweißüberströmt. »Mit wem hast du da telefoniert?« fragte Lady Anne Rose arg25 �
los. Sie setzte gekonnt ein Whiskyglas an den Hals und schluckte. »Mit Ginger Spiglmyer in den Staaten. Er war ein junger Adept. Sehr hoffnungsvoll«, erwiderte der Earl. Seine Stimme klang wie geborstenes Glas. »Ist aber kein Grund, so in die Sprechmuschel zu schreien, nicht?« fragte Mylady nonchalant. Tief durchatmend setzte sie das Glas ab, Sir Stanley starrte sie an. »Meine Liebe«, sagte er leise. »Ich habe soeben die Live-Übertragung eines Mordes miterlebt. Und da soll ich nicht schreien?« »Was hast du?« Er winkte ab. Mit schnellen Schritten lief er zur Tür der Bibliothek und riß sie auf. »George!« rief er… Zehn Sekunden später kam der Gerufene, George MeLowrie, hochherrschaftlicher Butler auf Helmet and Chain, Freund und Vertrauter des Earls seit 15 Jahren. »Mylord haben gerufen?« fragte er würdevoll. »Ich habe, ja. George, ziehen Sie sich warm an! Geben Sie Walter Bescheid, daß er rüberfahren soll zur Rollbahn, um die Hansa fertigzumachen und ihre Triebwerke vorzuwärmen! Legen Sie einige Pässe bereit, in denen Blankovisa für die USA eingestempelt sind! Ich will in spätestens einer Stunde in der Luft sein. Wir fliegen in die Staaten.« George zeigte mit keiner Miene, daß ihn das Ansinnen seines Herrn auch nur im geringsten überraschte. Er hatte schon ganz andere Sachen erlebt. »Mylord können sich darauf einrichten, in dreißig Minuten abzureisen«, sagte er steif und hölzern. Er verbeugte sich leicht und nahm seinen Abgang. Lady Anne Rose of Depford wurde aktiv. »Hör mal…! Wir wollten heute abend essen gehen, bei Garts in Glasgow… ich habe einen Tisch bestellen lassen!« 26 �
Er musterte sie kühl. »Du kannst dein Dinner genausogut im ›Waldorf Astoria‹ in New York City nehmen«, gab er bekannt, »Bedingung ist allerdings, daß du in einer halben Stunde reisefertig bist!« »Also, hör mal…« Aber Sir Stanley war bereits zur Tür draußen. Nur bei seinen Feinden erkundigte er sich stets, ob sie noch einen letzten Wunsch hatten… * Zur gleichen Zeit, in der der Mord an Ginger Spiglmyer verübt wurde – live mitgeschnitten auf einem schottischen Tonbandgerät – schrie im Police Headquarters von New York City Doktor Shield unbeherrscht: »Zeitungskorrespondent ist Ihr Freund! Daß die Vorgänge des heutigen Morgens möglicherweise der polizeilichen Geheimhaltung unterliegen könnten, ist Ihnen nicht in den Sinn gekommen, wie… Sergeant Bloodhammer?« Der Beamte grinste. »Hören Sie, Doc! Sie sagten vorhin selbst, daß ich so schrecklich überarbeitet sei, daß ich bereits an Hallo… Halliinfa…« »Halluzinationen«, verbesserte der Psychologe. »Richtig, danke, also daran würde ich leiden. Ich schließe daraus, daß Sie mich in die Mühle stecken wollen. Was bleibt mir anderes übrig als die Flucht in die Öffentlichkeit. Wo ist übrigens Rex, mein Kollege?« »Er wurde beurlaubt«, war die kurze Antwort »Bloodhammer?« »Ja.« »Sehen Sie mich an!« Sergeant Bloodhammer folgte. Mich steckt ihr nicht ins Irrenhaus, dacht er triumphierend. Der Psychologe kam um seinen Schreibtisch herum und stand dicht vor Billy Bloodhammer. 27 �
»Wo wohnt dieser Reporter? Wie heißt er?« Der Beamte vernahm die Worte plötzlich wie durch dicken Nebel. Mit weitaufgerissenen Augen sah er, daß das Gesicht des Arztes immer größer wurde. Komm, mir nicht zu nahe, dachte er. »Wie heißt Ihr Freund?« »Er heißt…« Verdammt, muß ich ihm das sagen, dachte Bloodhammer mit einem letzten Rest eigenen Willens. Er braucht doch nur in den Konferenzraum zu gehen. Da kann er Gingers Kollegen fragen. »Schau mich an, Billy!« Ginger, dachte der Sergeant voller Überraschung, Ginger, wo kommst du denn her? »Ginger…« Das Gesicht vor Bloodhammers Augen lächelte. Es war tatsächlich das Gesicht Ginger Spiglmyers, jedenfalls für ihn. »Ginger«, flüsterte er, »paß auf diesen Doktor auf, ich glaube er ist gerade telefonieren… er gefällt mir gar nicht.« »Sicher, Billy.« Spiglmyer lächelte. Sein Gesicht schien in weißlichem Nebel direkt im Raum zu schweben. »Ich passe schon auf. Kommst du nachher rüber zu mir? Läßt dir Urlaub geben und erzählst mir die ganze Sache noch mal, aber genauer. Du weißt ja, wo ich wohne.« »Natürlich, Ginger, weshalb fragst du? In diesem Prominentensilo in der Sole Road. Ich komme bestimmt…« Der Polizist sprach langsam, aber das wußte er nicht. Sein subjektives Zeitgefühl war ganz der Trance angeglichen, in der sich sein Geist momentan befand. Doktor Shield war ein erstklassiger Hypnotiseur, da gab es nichts! Der Weißbekittelte drehte sich nach Bloodhammers Worten um und ging ohne ein Wort in den Nebenraum. Er nahm den Hörer des dort installierten Telefons ab und wählte eine Nummer. 28 �
Einige Sekunden später hatte er seinen Gesprächspartner. »Largan Sring«, sagte er leise und scharf. »Bitte, unterbrecht mich nicht, Herr! Die Zeit drängt! Eines Eurer Werkzeuge wurde vor drei Stunden von einem Automobil überfahren und starb. Es löste sich kurz nach seinem Tod auf, aber es wurde noch gesehen. Ich bin dabei, die unmittelbaren Zeugen zu beseitigen, es gab eine Panne. Einer der Zeugen fand Gelegenheit, sein Erlebnis einem Reporter zu erzählen…« Der Psychologe wurde stocksteif und hielt den Hörer einen halben Meter vom Ohr weg. Sein Gesicht zeigte Entsetzen. »Ja, Herr… doch, ich weiß den Namen des Menschen, zumindest den Vornamen. Er heißt Ginger, er wohnt in der Spie Road, und der Zeuge sagt, in einem… Prominentensilo. Es scheint sich um ein mehrstöckiges Appartementhaus zu handeln… danke, Herr, ich danke. Ja, ich werde alle Spuren verwischen. Die Uniform… das Puppenkleid, ja, es liegt in einem Labor. Auch da habe ich vorgesorgt. In den Räumen wird in wenigen Minuten ein Feuer ausbrechen, es wird viel Nahrung finden und kaum zu löschen sein. Ja…« Wieder lauschte der Psychologe in den Hörer. Sein Gesicht hellte sich auf. »Nein, kein Verdacht wird auf mich fallen«, versprach er seinem unsichtbaren Gesprächspartner. »Der dritte Zeuge ist ein Verbrecher. Ich injizierte ihm vorhin ein Depottoxin und sagte, es sei eine Beruhigungsspritze. Er wird in wenigen Stunden sterben, es wird nicht mehr als ein Herzschwächebefund bei der Autopsie herauskommen. Und die beiden anderen Zeugen…« Er lachte. Wäre jemand in der Nähe gewesen, ihm wäre eine Gänsehaut über den Rücken gerollt. Shield hörte noch einige Sekunden zu. Dann blickte er überrascht auf den Hörer, zuckte die Schultern und legte ihn auf die Gabel zurück. Mit langsamen Schritten ging er in sein Büro zurück. Dort stand Billy Bloodhammer immer noch völlig bewegungs29 �
los vor dem Schreibtisch. Seine straffe Körperhaltung verriet, daß er sich in einer leichten Katalepsie befand. »Hörst du mich, Billy?« fragte der Psychologe leise. Der Kopf des Sergeanten drehte sich ruckweise in Richtung der Stimme. »Ich höre«, erwiderte er. Dann sprach Shield fünf Minuten lang. Er tat es eindringlich und langsam. Jeder Satz war verschlüsselt und wurde von Bloodhammers Unterbewußtsein willenlos aufgenommen. Es waren detaillierte, posthypnotische Befehle, die der Polizist entgegennehmen mußte. Am Schluß seiner Befehlseingabe – anders konnte man es nicht nennen – hielt Shield sekundenlang inne. Er blickte auf seine Armbanduhr. Es war spät. Bereits halb sieben. Er klatschte zweimal in die Hände und beobachtete scharf Bloodhammers Gesichtsausdruck. Der Sergeant richtete sich auf. Seine leeren Blicke bekamen wieder Ausdruck. Erstaunt musterte er den Arzt. Dann kam seine Konditionierung zum Tragen. »Natürlich, Doc, Sie haben recht«, sagte er unvermittelt. »Ich muß das Ganze wohl geträumt haben. Puppenmenschen, lächerlich! Aber Sie müssen verstehen, ich mache jetzt seit drei Wochen Nachtdienst, und meistens vierzehn Stunden am Tag. Sie meinen also, ich sollte mal richtig ausspannen, Urlaub machen?« »Natürlich, Sergeant«, erwiderte der Psychologe herzlich. »Ich werde einige Worte mit dem Captain reden. Es geht einfach nicht, daß man wegen Personalmangels die einzelnen Leute derart überlastet. Okay, vergessen Sie jetzt diese Puppensache! Gehen Sie runter in die Bereitschaft und hauen Sie sich ein paar Stunden aufs Ohr! Ich werde später mit dem Captain sprechen. Schätze, heute nachmittag können Sie sich bereits als Urlauber betrachten. Und… machen Sie sich keine Sorgen! Sie sind nämlich nicht krank, lassen Sie sich das von niemand einreden! Nur überlastet!« 30 �
»Danke, Doc«, entgegnete Sergeant Billy Bloodhammer erleichtert. Er drehte sich um und wollte gehen. »Sie wissen ja Bescheid, Sergeant«, rief Shield ihm nach. Billy drehte sich erstaunt noch mal um. »Um acht Uhr«, sagte der Psychologe langsam und monoton. »Ach ja, stimmt, um acht. Werde es nicht vergessen«, erwiderte der Sergeant freundlich. Dann ging er endgültig. Diese Irrenärzte haben alle einen Knacks, dachte er im Laufen. Was meinte der Kerl wohl mit acht Uhr. Bloodhammer zuckte die Schultern nahm den nächsten Lift und fuhr nach unten in den Schlafraum der Bereitschaft. * »Hallo, Doc, kann ich Sie mitnehmen?« rief Captain Philipp Mark. Der Psychologe kam ihm auf dem Gang entgegen. Er hatte sich umgezogen und trug einen modischen Kamelhaarmantel. »Sie können«, erwiderte er knurrend. »Mich an meinem dienstfreien Tag wegen einer solchen Lappalie zu rufen… unmöglich! Geben Sie Ihren Leuten mal Urlaub, dann sehen sie keine Gespenster! Wohin fahren Sie?« Der Captain glich seine Schritte denen von Doc Shield an. »Rüber nach Waukegan«, erwiderte er. »Ich setze Sie gern vor Ihrer Haustür ab. Hören Sie, Doc, Sie müssen entschuldigen, daß ich Sie rufen ließ! Ich nahm ja sofort an, daß es sich bei der ganzen Sache um einen schlechten Scherz dieses Colombo handelte.« »Schlechter Scherz, man höre«, echote der Psychologe. »Ihre Beamten sind überlastete Menschen, Captain. Mich würde es nicht wundern, wenn speziell Bloodhammer ein Trauma von der Sache zurückbehielte. Well, ich habe ihn zuerst mal ins Bett ge31 �
schickt. Seinen Kollegen, diesem Streifenwagenfahrer, ebenfalls. Beide liegen in der Bereitschaft. Was haben Sie den Reportern erzählt?« »Daß Colombo sich einen Spaß erlaubt hat, indem er eine Puppe in Polizistenuniform auf die Fahrbahn legte«, entgegnete Mark sehr knapp. »Die haben vielleicht gelacht.« Sie waren am Wagen des Captains angekommen. Mark schloß auf und ließ den Psychologen einsteigen. Es war kurz vor acht Uhr. Sie fädelten sich in den Morgenverkehr auf der 41. Straße ein. Als sie über die Upper Bay Brücke donnerten, leuchtete das Ruflicht des Autotelefons auf. »Würden Sie bitte mal abnehmen, Doc?« fragte Philipp Mark arglos! »Wenn das Headquarters dran ist, bin ich nicht da. Nach achtzehn Stunden Dienst habe ich ein Anrecht auf meinen Feierabend.« Der Psychologe grinste. »Wie spät ist es?« fragte er unvermittelt. Seine linke Hand griff nach dem Hörer. »Zehn nach acht«, erwiderte Mark erstaunt. Der kann doch selbst auf die Uhr am Armaturenbrett schauen, dachte er. »Danke«, erwiderte Doc Shield konziliant und nahm den Hörer ab. Er lauschte konzentriert in die Muschel. Nach einer Minute sagte er knapp und prägnant »Wir kommen!« und hing den Hörer wieder zurück. Sein Gesicht war totenblaß. »Was ist, Doc?« fragte Mark verblüfft. »Sie sehen aus, als habe der Typ am anderen Ende Ihnen eine Gehaltskürzung vorgeschlagen.« »Drehen Sie um, Captain«, erwiderte Shield gepreßt. »Die Leitstelle war dran. Ich habe nicht alles verstanden, aber so wie es aussieht, hat Bloodhammer um acht seinen Kollegen Rex erschossen, im Anschluß daran zwei Handgranaten ins Labor IV geworfen – die Bude soll im Moment ganz hübsch brennen – 32 �
und sich dann aus einem Fenster im sechsten Stock gestürzt! Ich sagte es Ihnen, Captain, Ihre Leute sind total überarbeitet. Damit, daß man kleine, dreißig Zentimeter große Polizisten sieht, fängt es immer an. Speziell dann, wenn diese kleinen Polizisten gar nicht existieren. Ich wußte gleich, daß der Sergeant ein Trauma zurückbehalten würde. Daß es allerdings so schlimm ist… Captain, die Leute sind überlastet. Wenn Sie nichts unternehmen, drehen die Ihnen nach und nach durch!« »Ich glaub’s bald selbst«, sagte Philipp Mark mit einem Anflug von Galgenhumor. Er schaltete das Rotlicht auf dem Dach des Wagens ein und wendete mitten auf der Brücke. Ein wüstes Hupkonzert der anderen Verkehrsteilnehmer begleitete diese brutale Aktion. Für drei Meilen zurück zum Headquarters benötigten sie fast zehn Minuten. Als sie dort eintrafen, machte ihnen der Diensthabende, ein gewisser Lieutenant Cotton, eine erfreuliche Mitteilung, die das Chaos recht befriedigend abrundete. Vor drei Minuten war Johnny Colombo, genannt Kille-Kille, in seiner Haftzelle im Keller gestorben. »Herzschlag, meint der Arzt«, sagte Cotton. »Alles auf einmal«, kommentierte der Leiter der Homicide Squad erschüttert. »Und noch ziemlich zur selben Zeit. Also irgendwie riecht das doch nach…« »Captain Mark«, unterbrach ihn der Psychologe und fixierte ihn mit scharfem Blick. »Sie sind überarbeitet! Total überlastet sind Sie, glauben Sie mir das!« Captain Philipp Mark lief bläulich an, holte tief Luft und begann sehr laut zu schreien. Er hatte einfach nicht das Format zum Leiter der Mordkommission. Aber bei der New Yorker Polizei gab es noch viel mehr Leute, denen ihre Anzüge zu weit waren. Zehn Minuten später kam eine Ambulanz des Maryland Hos33 �
pitals angerauscht. Doc Shield hatte sie gerufen. Die schöne, weiße Zwangsjacke, die Mark von zwei bulligen Sanitätern übergestreift wurde – paßte ihm allerdings genau. Das Labor 4, in dem die Puppenuniform zur Untersuchung war, brannte völlig aus. Einer der Spezialisten hegte sogar den Verdacht, daß Bloodhammer einige Brandsätze in dem Raum deponiert hatte, bevor er seine Handgranaten hineinwarf, so perfekt war die Zerstörung. Für Doktor Simon Shield, den Polizeipsychologen, gab es nichts zu tun. Er bat den Präsidenten telefonisch um eine Woche Urlaub. »Ich bin total überarbeitet, Sir«, gab er als Grund an. In einem Gewissen Sinn stimmte das sogar… * George McLowrie nahm die Nordatlantikroute. Freunde der Depfords wissen, daß das Privatflugzeug der Familie, eine deutsche Hansa 320, durchaus in der Lage war, den Atlantik in einem Rutsch zu überqueren. Eingebaute Zusatztanks befähigten die schnelle Düsenmaschine dazu. Über den Orkneys erwischte der Butler einen herrlichen Jetstream. Der freundliche Schiebewind aus östlicher Richtung verlieh der Hansa plötzlich ein Endtempo von rund neunhundert Kilometer in der Stunde. Wir werden, so kalkulierte George messerscharf, bei Beibehaltung der momentanen Geschwindigkeit in sieben Stunden über den Kennedy Airport in New York kreisen. Wir brauchen uns also vor den schnellen Verkehrsmaschinen der Deutschen Lufthansa nicht zu schämen. Er stellte den Kurs am Autopiloten ein, überließ die Maschine sich selbst und ging nach hinten in die luxuriös eingerichtete Ka34 �
bine. Der Earl empfing ihn mit einem »Sind wir noch nicht bald da?« Lady Anne Rose sagte nichts. Sie kämpfte mit einer leichten Luftkrankheit, hing schlapp in ihrem Sessel und sah grün aus. »Aller Voraussicht nach werden wir leider erst in einigen Stunden in den USA ankommen«, gab George seinem Herrn Bescheid. »Auch bei Zuhilfenahme der Schwarzen Magie dürfte es kaum schneller gehen. Aber… ähem Mylord…« Der Earl of Depford sah seinen Butler schief an. Dann zog er die kleine Bordbar heran und schenkte sich einen Scotch ein. »Sie wollten vermutlich wissen«, meinte er zwischen zwei Schlucken, »weshalb wir so schnell in die Staaten müssen, habe ich recht? Speziell, wo Sie dieses Land so wenig leiden können.« »Mylord!« »Schon gut, nehmen Sie Platz! Sie kennen Spiglmyer. Der junge Mann weilte vor zwei Jahren auf Helmet and Chain und absolvierte dort seine Novizenzeit, die er mit seinem Degree abschloß. Er wurde Adept der Weißen Magie vierten Grades. Schön, er ist tot, starb vor einer Stunde. Ich war in der beneidenswerten Lage, sein Ende wenigstens akustisch mitzubekommen.« Sir Stanley erhob sich, ging zu einem Regal an der gewölbten Zellenwand und schaltete ein Batterietonbandgerät ein. Ginger Spiglmyers Stimme, verzerrt durch die Telefonübertragung, ertönte: »… muß dabei magische Techniken zu Hilfe nehmen, denn mit Hilfe der Wissenschaft, der normalen meine ich, kann man wohl erwachsene Menschen nicht auf Puppengröße verkleinern…« George atmete durch. Nach der mageren Gesprächsausbeute hörte er noch für zwei Minuten das Gebrüll des Adepten, unterbrochen von Kampfgeräuschen. Dazwischen war immer wieder ein seltsames Zischen zu hören. Dann war die Aufzeichnung zu Ende. Sir Stanley schaltete das 35 �
Gerät aus. »Eine halbe Stunde, bevor ich anrief, hatte er eine Interkontinentverbindung mit Adelaide. Dort sprach er mit dem Präsidenten der Bruderschaft. Dieser wiederum bat telefonisch mich darum, die Sache in die Hand zu nehmen. Ich rief also Ginger an, und was wir miteinander redeten, haben Sie soeben mitbekommen. Das ist die Vorgeschichte.« George McLowrie dachte kurz nach. Dann hatte er es. »Wenn ich von der Arbeitsgrundlage ausgehe, daß Mister Spiglmyer jetzt tot ist…« »Er ist es, aber zu hundertfünfzig Prozent«, unterbrach ihn der Earl. »… daß er also tot ist, dann sieht es so aus, als sollte er daran gehindert werden, seine Informationen weiterzugeben. Das würde bedeuten, daß diese Informationen von einer derartigen Brisanz waren… aber Puppenmenschen?« George schüttelte den Kopf. »Gibt’s nicht, wie?« Sir Stanley Depfond grinste. »Geht man allerdings ein wenig in der Geschichte zurück, stößt man auf sie, auf die Puppenmenschen meine ich. Auf alten Papyrusrollen wurde zum Beispiel aufgezeichnet, daß am Hof der Nofretete in Altägypten Diener existierten, die nicht größer als zwei Füße gewesen sein sollen. Das wären nach heutigen Terminologien zwischen dreißig und fünfzig Zentimeter.« »Aber Sir, im alten Ägypten«, sagte George schwach. »Sie tauchen auch in der Neuzeit auf«, unterbrach Stanley. »Im Jahr siebzehnhundertsechzig fanden Marinesoldaten der britischen Krone im Radschapalast zu Bangalore in Indien ebenfalls kleine Menschen. Nach Aussagen der Offiziere waren sie zehn Zoll groß.« »Sehr klein«, kommentierte George. »Richtig. Die Unterlagen über diesen Fall liegen auch heute 36 �
noch in den Archiven der Admiralität. Der Leutnant des Regiments bezichtigte damals den Radscha dieser Gegend der Hexerei und ließ ihn verbrennen. Vor zweihundert Jahren machte man noch kurzen Prozeß mit Hexen und Zauberern. Und um Zauberei hatte es sich bei der Sache ja wohl gehandelt, schätze ich.« »Und jetzt sind wieder mal Puppenmenschen aufgetaucht?« »Werden Sie nicht ironisch, meine Bester«, warnte Stanley. »Immerhin wurde Spiglmyer höchstwahrscheinlich ermordet, als er mir Informationen über die Puppen geben wollte.« »Verzeihung! Was werden wir in New York tun?« »Als erste Gingers Wohnung aufsuchen. Wir sind so schnell, daß wir eine gute Chance haben, noch vor der Polizei da zu sein. Jedenfalls habe ich die Polizei New Yorks als nicht gerade fix in der Erinnerung.« Sie mußten sich festhalten. Die Hansa sackte gerade in ein Luftloch, und Lady Anne stöhnte gequält auf. George MyLowrie entschuldigte sich und ging wieder nach vorn in die Kanzel. * Sieben Stunden später… »Hansa 320. Private flight from Great Britain, Code CKX one – eight – zero, erbitten Landeerlaubnis«, sagte George langsam und deutlich in das Mikrofon vor seinem Mund. Die Hansa mit den Depfords an Bord befand sich gerade im Zielanflug auf den Kennedy Airport. Aus dem Kopfhörer des Butlers klang ein krachendes Räuspern, dann kam eine Stimme. »Kennedy Tower hier, Flight Control. Wollen Sie mir ernsthaft weismachen, daß Sie mit einer kleinen Hansa über den Teich gesegelt sind. Mister?« »Ein Jumbo-Jet hatte uns im Schlepptau«, gab George gemes37 �
sen zurück. »Ich darf meine Bitte um Landeerlaubnis wiederholen.« »Nicht möglich im Moment. Bei uns startet und landet alle dreißig Sekunden ein Großraumflugzeug. Gehen Sie auf viertausend Fuß in eine Warteschleife um Funkfeuer mit Kennung 50 Megahertz!« George zog den Privatjet des Earls hoch und suchte mit seinem Funkpeiler das angegebene Feuer. Sekunden später hatte er es. »Schwierigkeiten, George?« fragte Sir Stanley. Er war unbemerkt in die Kanzel getreten. »Nein, Sir. Aber zur Zeit keine Landemöglichkeit«, erwiderte der Butler steif. »Ach nein! Und wieviel Sprit haben wir noch?« »Für…« George warf einen prüfenden Blick auf seinen Kontrollen und wurde ein wenig blaß, »für drei Minuten noch, Mylord!« »Dann tun Sie was, mein Bester«, befahl der Earl kühl. »Es macht sich schlecht, wenn meine Frau am Fallschirm vor dem ›Waldorf Astoria‹ niedergeht. Überdies ist sie gar nicht so gut mit dem Fallschirm. Haben wir überhaupt Schirme an Bord?« »Nein, Sir«, entgegnete der Butler. Er stülpte sich die Kopfhörer wieder über und rief den Tower. »Was ist los, CKX one – eight – zero?« kam es barsch zurück. »Ich sagte, Sie sollen warten! Oder spricht man dieses Wort in England anders aus als bei uns?« Die typische Trotzreaktion eines Kolonialisten gegenüber einem Vertreter des Mutterlandes, dachte George erbost. »CKX an Flight Control«, sagte er weich. »In welchem Stock des Towers sitzen Sie, wenn man fragen darf?« »Ganz oben, Mann sagen Sie endlich, was Sie wollen! Schließlich habe ich noch mehr zu tun.« »Ich glaube es Ihnen, aber wir haben nur noch für drei Minuten Kerosin. Könnte Sie das bewegen, uns herunterzuholen?« 38 �
»Der Trick ist alt«, kam es lapidar zurück. »Sie warten und damit Schluß CKX one – eight – zero!« George holte tief Luft. Ein Blick auf den Tankinhaltsmesser zeigte ihm, daß ihm noch zwei Minuten zur Verfügung standen. »Wenn in zwei Minuten meine Düsen zu spucken anfangen«, sagte er gemütvoll, »richte ich die Nase der Hansa direkt auf das oberste Stockwerk des Towers – dort wo Sie sitzen – und gebe noch mal Full Speed. Naaa?« Neunzig Sekunden später rollte die Hansa auf Bahn sieben des Kennedy Airport langsam aus. Stanley kam wieder in die Kanzel. Er hatte einen leichten Staubmantel übergeworfen und war sozusagen aktionsbereit. »George, regeln Sie die Zoll- und Serviceformalitäten«, befahl er schnell. »Sehen Sie zu, daß Sie im Waldorf eine Suite bekommen! Die beste natürlich, falls sie nicht gerade von Mister Arafat und dessen Gefolge belegt ist. Ich selbst werde sofort nach Yonkers hinüberfahren, in Spiglmyers Wohnung.« »Sehr wohl, Mylord«, erwiderte der Butler würdevoll. So eilig, dachte er verständnislos, hatte er’s noch nie… * Sir Stanley Depford machte sich nach dem Ausrollen der Maschine unter Umgehung der Zollformalitäten unsichtbar. Am Transitausgang der Zollhalle fand er auch richtig ein freies Taxi, besetzte es und donnerte in Richtung Yonkers ab. George hatte einige Schwierigkeiten. Zwei Gentlemen der Flugsicherung kamen an Bord und wollten sich durch Augenschein überzeugen, ob seine Angaben bezüglich des Treibstoffvorrats stimmten, oder ob er absichtlich eine Gefährdung der Flugsicherung herbeigeführt hatte. Mister McLowrie – irgendwie steht er nicht auf Amerikaner… fand die richtigen Worte für 39 �
sie… Eine Stunde später war alles geregelt. Die Hansa verschwand in einem Miethangar – sechzig Dollar pro Tag. Der Butler und Lady Anne Rose verfrachteten sich samt Gepäck in einen Gästewagen das ›Waldorf Astoria‹. Als Mister Lohmeyer, der Geschäftsführer dieses weltberühmten Etablissements, hörte, wer bei ihm zu wohnen begehrte, ließ er sofort eine Diplomatensuite freimachen. Die Proteste des bisherigen Inhabers, eines kleinen Ministerchens aus Nicaragua, nötigten ihm noch nicht mal ein Lächeln ab. »Soviel ich am Telefon verstanden habe. Mister McLowrie – oh, guten Tag, ich heiße Sie bei uns herzlich willkommen, Mylady« – Lady Anne neigte dankend den Kopf – »soviel ich also verstanden habe, wollte auch Sir Stanley uns die Ehre geben?« »Er wird noch kommen, mein lieber Lohmeyer«, erwiderte George aufgekratzt. »Aber direkt nach unserer Ankunft zog es ihn bereits zu einem lieben Freund. Trotzdem, lassen Sie im grünen Salon ein kleines Dinner für drei Personen richten.« Wie Freunde der Depfords wissen, pflegte George auf Reisen stets zusammen mit seiner Herrschaft zu speisen. Das ging ihm zwar gründlich gegen den Strich, war aber ein Wunsch Sir Stanleys. »Freund besuchen, aha«, sagte Lohmeyer verständnisvoll. »Dieser Ärmste – den Freund meine ich. Sie wollen sich zweifelsohne zuerst ein wenig frisch machen. Page!« Er pfiff kurz durch die Finger – eine Unsitte, die in jedem amerikanischen Hotel anzutreffen ist, egal welcher Preisklasse es angehört – und ein junger Mann flitzt herbei. »Leonidas, begleite die Herrschaften zu ihrer Suite!« *
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Eine Stunde später traf Sir Stanley, der elfte Earl of Depford, ein. Es war ihm bereits aus einer Entfernung von hundert Yard anzusehen, daß er kochte. Wahrend des Dinners berichtete er, was passiert war. »Allem Anschein nach«, rekapitulierte Sir Stanley Depford. »kamen wir um eine halbe Stunde zu spät. Als ich mit dem Taxi vor Spiglmyers Haus vorfuhr, wurde er gerade, umhüllt von einem Zinksarg, aus der Tür getragen. Auf der Straße standen mindestens ein halbes Dutzend Wagen der Stadtpolizei.« »Das würde bedeuten, daß die Fachleute der Mordkommission auch die allerletzten Spuren in der Zwischenzeit vernichtet haben«, konstatierte der Butler. Mit einer delikaten Bewegung legte er seiner Herrin das Cordon bleu vor. »Aber zumindest wissen wir jetzt mit absoluter Sicherheit, daß Mister Spiglmyer nicht mehr unter den Lebenden weilt, Gott sei seiner armen Seele gnädig!« »Amen!« erwiderte der Earl. Lady Anne Rose verzog das Gesicht und bat um ein anderes Gesprächsthema. Sie sei erstens nicht besonders kirchlich eingestellt und zweitens beim Essen. »Was nun, Sir?« fragte George nach dem Dessert. Der Herr von Helmet and Chain blickte grübelnd. »Zuerst mal Trosonovich in Adelaide anrufen«, sagte er schließlich. Das tat er auch. Selbstverständlich waren auch ihm die Telefonnummern bekannt, mit denen man die Bell Telephone Company in ein gesundes Defizit brachte. Das Gespräch dauerte fünf Minuten. Als der Earl zurückkam, sah er regelrecht erfreut aus. »George, der Präsident versäumte es bei unserer ersten Unterhaltung, mir mitzuteilen, daß Spiglmyer sein Gespräch mit diesem Polizeisergeant auf Kassette mitschnitt. Die Möglichkeit, daß die New Yorker Polizei sich mit Kassettenrecordern nicht auskennt, beziehungsweise sie übersieht, besteht. Wir werden 41 �
also Gingers Wohnung einen Besuch abstatten. Vielleicht haben wir Glück.« »Aber, Mylord«, entgegnete der Butler steif, »ich fürchte, die Wohnung wird polizeilich versiegelt sein. Ein Eindringen in dieselbe würde den Tatbestand der…« »Ich weiß, Sie haben einen schweren Tag hinter sich«, unterbrach ihn Stanley mit milder Stimme. »Aber bedenken Sie, wir finden den Kassettenrecorder wirklich. Er würde uns sehr weiterhelfen.« »Wenn er noch da ist…« »Davon rede ich die ganze Zeit.« Sir Stanley wurde ungeduldig. »Wir müssen eben schauen, ob er noch da ist. Das Unternehmen steigt heute nacht, zwei Uhr Ortszeit.« Manchmal wurde der Earl ein wenig militärisch. »Welches Unternehmen?« fragte Lady Anne Rose verständnislos. Sie hatte eben auch einen schweren Tag hinter sich. * Um nicht dauernd auf Mietwagen angewiesen zu sein, besorgte George McLowrie noch am späten Nachmittag einen fahrbaren Untersatz. Der Butler war sein Leben lang ein arbeitsamer Mensch gewesen, hatte Penny auf Penny gelegt, nie spekuliert und auch nie den Fehler begangen, sein Erspartes einer Privatbank anzuvertrauen. Niemand wird es verwundern, wenn George am Abend seines Lebens ein wenig Geld für seine Hobbys zum Fenster hinauswarf. Und sein liebstes Steckenpferd waren immer noch schnelle Fahrzeuge. George McLowrie erfüllte sich an diesem Nachmittag einen Kindheitstraum. Er fuhr in die Gun-Hill-Road in South Beach, betrat dort die Geschäftsräume der New Yorker Duesenbergver42 �
tretung, legte mit einem heiteren Lächeln einen Scheck über vierzigtausend Dollar auf den Tisch des Hauses und kaufte einen Duesenberg S 4. Das Auto war noch echte Handarbeit, eingepackt in einer wunderbare Oldtimerkarosserie, ein Zweisitzer, und hatte einen Corvettemotor mit 330 PS unter der langen Schnauze. »Sie werden noch mal zehn Grand blechen müssen, wenn Sie das Geschoß nach England einführen wollen«, warnte ihn Mister Holmes, der Manager der Duesenberg & Co. Aber George lächelte nur glücklich und sagte: »Ist doch mein Geld, oder?« setzte sich in seine Neuerwerbung und donnerte los. Einzufahren brauchte er den Renner nicht. Jeder Motor, der in einem Duesenberg Verwendung findet, läuft vor dem Einbau seine dreißig Stunden auf firmeneigenen Prüfständen. Auf dem Highway 94, der Straße, die der Butler für eine Probefahrt ausgesucht hatte, mußte er nochmals zwanzig Dollar auf den Kaufpreis drauflegen Sie wurden ihm von zwei Polizisten der Highway Patrol abgeknöpft. »Und merken Sie sich’s für die Zukunft, Sie Engländer, Sie«, sagte der eine grimmig. »Bei uns in den Staaten fährt man anständig. Wenn sechzig Stundenmeilen erlaubt sind, fährt man keine hundertfünfzig! Haben Sie kapiert?« George war zu glücklich, um sich aufzuregen. Er bezahlte seine Strafe und fuhr zum Waldorf zurück. Als er dem Earl voller Besitzerstolz seine Neuerwerbung zeigte, schüttelte dieser nur den Kopf. »Noch nicht mal ein eingebauter Kühlschrank«, kommentierte er. »Meine Frau werden Sie also schwerlich überreden können, sich – in diese Rakete zu setzen.« »Ein Auto dieser Art, Mylord«, dozierte der Butler, »ist ein reines Sportfahrzeug.« »Richtig! Legen Sie sich noch ein wenig hin! Bis zwei Uhr heute 43 �
nacht sind es nur noch sechs Stunden. Haben Sie übrigens ihre Bürstendietriche dabei?« George versteifte sich. Eine überflüssigere Frage hätte Sir Stanley kaum stellen können. Ein hochherrschaftlicher Butler aus Schottland führt sein Besteck stets mit sich. Das ist keine Frage des Stils, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit! * Gefühlvoll zog der Butler den Duesenberg um eine Kurve und gab Gas. Zweihundert Meter voraus zeichnete sich die dunkle Silhouette eines Hochhauses gegen den Nachthimmel ab. »Das ist es«, sagte Stanley. »Fahren Sie am Eingang vorbei! Möchte sehen, ob der Portier in der Eingangshalle wach ist und ob noch Polizisten in der Gegend herumstehen.« »Im Vertrauen darauf, daß es den Täter immer wieder an den Ort seiner ruchlosen Tat zurückzieht«, gab George mit sanfter Ironie seinen Senf dazu. Die Eingangshalle im Erdgeschoß des Wohnsilos war beleuchtet, die gläserne Tür allerdings verschlossen. Vor dem Gehweg standen einige Wagen. Ein Streifenwagen war allerdings nicht darunter. Drei Minuten später wanderten zwei nächtliche Spaziergänger vom Parkplatz gemächlichen Schrittes die Sole Road entlang. Sie unterhielten sich in gedämpftem Ton über Dinge, die mit dem Wetter wenig zu tun hatten. »Das Licht in der Halle wird vermutlich während der gesamten Nacht brennen«, sagte Sir Stanley leise. »Der Portier wird vermutlich längst im Bett seiner Dienstwohnung liegen. Gingers Wohnung liegt gleich im Erdgeschoß, Appartement sieben. Das müßte normalerweise…« 44 �
»… dieses Fenster sein«, vollendete der Butler und wies auf eine Fensteröffnung, knapp über dem Boden liegend, an der die Jalousie herabgelassen war. »Jedenfalls dürfte sonst niemand in diesem Teil der Stadt ein kleines Pentagramm auf seinen Rolladen pinseln.« Jetzt sah auch Stanley das winzige, kupfern leuchtende Zeichen. »Mit Phosphorfarbe aufgemalt«, sagte er. »Meinen Sie, wir sollten vielleicht durch das Fenster…« »Mylord!« verwahrte sich George empört. Durchs Fenster, wie ein ganz gewöhnlicher Einbrecher – einfach stillos! Als wäre es das Natürlichste der Welt, trat der Butler vor die Glastür am Eingang des Gebäudes und fischte seinen Kombidietrich aus der Westentasche. »Yale-Schlösser«, sagte er dozierend, während er das Instrument in das Schloß einführte, »sind nicht allzu kompliziert. Auf gar keinen Fall sind sie ihren Preis wert. Ich würde sagen, daß ich innerhalb der nächsten zehn Sekunden…« Ein leises Knacken ertönte. Der Butler drückte die Klinke herab, öffnete die Tür und ließ seinem Herrn den Vortritt. »Meisterhaft«, sagte Stanley nur. »Die Tür war bereits offen, Mylord«. entgegnete George steif. Stanley mußte husten. Er ließ seine Blicke durch die Halle schweifen. An der Stirnwand befand sich ein Liftterminal, an den beiden Seitenwänden führten Gänge weg. »Da das Fenster links vom Eingang liegt, müßt es bei der dazugehörigen Tür dasselbe sein«, schloß der Earl. Mit zielstrebigen Schritten marschierte er auf den einen Gang zu. Auf der Tür Nummer sieben stand folgerichtig die Zahl sieben. Darunter hing eine Visitenkarte mit Spiglmyers Namen. Über dem Schloß und über den Kanten der Füllung klebten insgesamt acht polizeiliche Siegel. Sie waren ordentlich mit dem 45 �
Stempel des General-Attorney versehen, aber nichtsdestoweniger zerrissen. Alle acht! Sir Stanley zog scharf die Luft ein. »Hier hatte vor uns bereits jemand denselben Gedanken«, flüsterte er leise. »Aber wer? Der oder die Mörder? Still…!« Der Butler hielt den Atem an. Dann hörte auch er es. Hinter der Tür zu Ginger Spiglmyers Appartement erklang ein leises, schleifendes Geräusch. Mit einer fließenden Bewegung faßte George in die Innentasche seines Jacketts und holte die familieneigene Makarow-Pistole heraus. Sein Gesicht wirkte plötzlich sehr kühl. »Wir werden den Besucher fragen, ob er etwas mit Mister Spiglmyers Tod zu tun hat«, sagte er mit normaler Lautstärke. Dann griff er zur Klinke, drückte sie herunter und gab der Türfüllung einen gewaltigen Tritt. Die Tür flog auf – was der Butler zu Fünfzig Prozent erwartet hatte – und gab den Blick in einige Kubikmeter Dunkelheit frei. Eine Zehntelsekunde später hechtete George mit einem flachen und elegant wirkenden Startsprung in den Raum. »Heben Sie die Hände, machen Sie keine Bewegung«, rief er dabei. Er landete auf dem Boden, rollte sich ab und blieb flach liegen. Dann schloß er geblendet die Augen. Irgend jemand hatte das Licht eingeschaltet. Instinktiv riß er die Pistole hoch. »Bitte nicht«, hörte er die Stimme Sir Stanleys. »Sie zielen gerade genau auf meinen Bauchnabel. Übrigens… Ihre Worte vor zwei Sekunden erfüllten den Tatbestand der Amtsanmaßung, mein Lieber!« Die kleine Wohnung bestand nur aus einem einzigen Raum. Er war nicht allzu groß und hatte nur etwa fünfzig Quadratmeter. Außer einigen Möbeln war er definitiv leer. Der Plastikvorhang vor der kleinen Kochnische war zurückge46 �
schlagen. Auch dort war niemand. Die Tür zum Bad stand offen. Von einem Menschen oder gar Mörder keine Spur! »Aber das Geräusch, das wir hörten…«, sagte George verständnislos und erhob sich. »… wurde von mir verursacht«, erklang eine weiche Stimme. Stanley verspürte einen gewaltigen Schlag in der Seite, als ihm die dreivierteloffene Tür gegen den rechten Ellbogen krachte. Der Geräuschverursacher hatte sich, als er die Stimmen des Earls und Georges gehört hatte, hinter die Tür gestellt. Und von dort kam er jetzt mit einem Satz hervor. Der Butler sah eine dunkelgekleidete, mittelgroße Gestalt. Der Bursche hatte sein Gesicht mit einer Strumpfmaske überzogen. In der einen Hand hielt der Einbrecher einen Kassettenrecorder. In der anderen glitzerte eine vernickelte Pistole. George brauchte fast eine Zehntelsekunde, um sich auf die Situation einzustellen, so überrascht war er. Und das war entschieden zu lang. Die Waffe in der Hand des Maskierten krachte. Der Butler warf sich sofort flach auf den Boden. Sein Herr hatte das nicht mehr nötig, er war bereits durch den Türflügel auf die Bretter geschickt worden. Noch im Fallen brachte George den Lauf seiner Makarow in Schußrichtung. Bevor er durchziehen konnte, feuerte sein Gegner ein zweites Mal, diesmal mit mehr Erfolg. Seine Schüsse hatten nicht den beiden Schotten gegolten, sondern der Leuchtstoffröhre an der Raumdecke. Diese zerplatzte mit gedämpftem Knall. Sir Stanley fühlte einen betäubenden Schmerz an der Schläfe, als der Dunkelgekleidete über ihn hinwegsprang und ihn am Kopf erwischte. George sah sekundenlang einen Scherenschnitt gegen das hellere Licht des Ganges, schickte auch noch einen Schuß hinterher, war aber um einiges zu spät dran. Durch den Gang hallte das Geräusch eiliger Schritte, dann hörte der Butler das Klappen der Eingangstür von der Empfangshalle her. 47 �
»Er hat einen Recorder«, schrie der Earl wütend. »George sind Sie noch am Leben?« Er wartete die Bestätigung des Butlers nicht ab, sondern ging wieder in die Senkrechte und rannte los. Eine allzu große Chance, den Einbrecher noch zu erwischen, rechnete er sich nicht mehr aus. Hinter sich hörte er den keuchenden Atem des Butlers. Sie durchquerten die Halle. Gerade als sie die Eingangstür öffneten, dröhnte ein starker Motor auf. Vorn auf der Straße flammten zwei Scheinwerfer auf, ein Wagen startete mit quietschenden Reifen. »Verdammt, er entkommt uns«, knirschte Stanley wild. »George!« Aber der Butler war bereits zehn Meter weg. Im Lauf schrie er etwas über die Schulter. Der Earl verstand »warten« und »Wagen holen«. Zehn Sekunden später – ein Wunder, wie George das so schnell geschafft hatte – rauschte der Duesenberg aus der nächsten Seitenstraße, stoppte kurz am Bordstein und pickte Stanley auf. Der Schlag war noch nicht zu, als George wieder den Fuß aufs Gaspedal legte, nachdrücklich motorenmordend und verkehrsgefährdend. »Da vorn«, keuchte Stanley, »die komischen, breiten Rücklichter, das ist er. George, er biegt rechts ab!« »Keine Sorge, Sir«, erwiderte der Butler würdevoll. »Er kann uns nicht entkommen. Ich muß Sie bitten, sich anzuschnallen.« Das tat Stanley auch. George zog den Wagen mit neunzig in dieselbe Kurve, die Sekunden vorher der Kasten des Einbrechers genommen hatte und schaltete in den vierten Gang. Im übrigen dachte er nach. Bei Tempo hundertfünfzig konnte er das besonders gut. »Dieser Kassettenrecorderdieb ist gefährlich, Mylord«, sagte er. Er mußte schreien, die Fahrgeräusche waren erheblich. 48 �
»Und woraus schließen Sie das, mein Bester?« brüllte Sir Stanley zurück. »Weil er uns beide aufs Kreuz gelegt hat? So wie wir uns angestellt haben, hätte das auch ein Kind geschafft.« George nahm sekundenlang den Fuß vom Gas und zog den Duesenberg quer durch eine Neunzig-Grad-Kurve. Die breiten Rücklichter des Wagens, den er verfolgte, kamen ein wenig näher. »Nicht deswegen, Mylord«, entgegnete er. »Aber zwischen dem Zeitpunkt, an dem ich die Tür des Appartements aufstieß und jetzt, liegen höchstens sechzig Sekunden. Ein Mann, der innerhalb einer Minute zwei immerhin beachtenswerte Gegner ausspielt…« Stanley stieß ein gequältes Husten aus »…danach flüchtet und es schafft, zwischen sich und den Ort der Ereignisse eine dreiviertel Meile zu legen, ein solcher Mann ist gefährlich, weil er schnell ist und keine Zehntelsekunde mit Überflüssigkeiten vergeudet. Er tat das genau Notwendige, überdies ist er auch ein guter Fahrer.« »Sie nicht?« Stanley kniff die Augen zusammen. Die Rücklichter vor ihnen wurden kleiner. Dann verschwanden sie. Der Verfolgte war wieder abgebogen, diesmal nach links. »Das ist der Zubringer zum Highway«, erklärte George trocken. »Und ich kann ernsthaft nicht glauben, daß sein Wagen schneller sein könnte als meiner. In fünf Minuten haben wir ihn. Ich würde empfehlen, seine Reifen zu zerschießen.« »Was?« schrie der Earl. »Er überschlägt sich und ist tot. Und dann? Was dann? Nachfahren, George! Einmal muß er ja stoppen. Wenn ihm der Sprit ausgeht, beispielsweise. Apropos, Sprit! Wie steht es damit bei uns?« »Randvoll, Mylord«, gab der Butler zurück. Dann riß er den Wagen um eine Haarnadelkurve und fegte auf den Highway 94. Die achtspurige Autobahn war leer zu dieser Zeit, außer den 49 �
zwei seltsam breiten Rücklichtern, etwa fünfhundert Meter voraus. * George McLowrie hatte sich geirrt, und das nicht zu knapp. Sein neuer Duesenberg lief etwas mehr als zweihundertvierzig Kilometer in der Stunde. Für US-amerikanische Verhältnisse war das bereits ungeheuerlich. Das Fahrzeug des Einbrechers war allerdings um keinen Deut langsamer. Ganz im Gegenteil, dem Butler schien es, als würden seine Rücklichter auf dem schnurgeraden Highway langsam kleiner werden. »Ich konnte in der Eile vorhin nicht erkennen, welchen Wagen unser Gegner zur Flucht benutzte«, gab er bekannt. »Auf alle Fälle hat er kaum weniger PS unter der Haube als wir.« Stanley schwieg verbiestert. Auch er schien sich geirrt zu haben. Jedenfalls machte der Wagen vor ihnen keine Anstalten, stehen zu bleiben. Das Ganze paßte dem Earl keineswegs. Es widersprach seinem Naturell, auf dieser schönen, breiten Straße dahinzurasen und wie hypnotisiert auf ein paar Rückleuchten, eine halbe Meile voraus, zu starren. »Er hat mir an den Kopf getreten«, sagte er. »Speziell dafür wird er büßen. Läuft ihr Kasten nicht schneller, George?« Der Butler verneinte. Der Duesenberg war mit dem Privatwagen der Depfords doch nicht zu vergleichen. George nahm sich vor, ihn in Großbritannien zu einem guten Motorenfriseur zu geben. Es wäre doch gelacht, wenn der Renner nicht auf dreihundert zu bringen wäre. »Ich nahm vorausschauenderweise eine Straßenkarte mit«, sagte er. »Falls Mylord die Güte besäßen… es würde mich interes50 �
sieren, wie weit dieser Verbrecher noch fährt.« Stanley knipste die Innenbeleuchtung an und nahm sich die Karte vor. Rechts am Fahrbahnrand schoß in irrem Tempo ein Hinweisschild vorbei. Der Earl konnte gerade noch das Wort Dunmore lesen und wunderte sich über den durchaus britischen Klang. Dann orientierte er sich auf der Karte. Sie waren jetzt knapp eine dreiviertel Stunde auf dem Highway – und das in einem Höllentempo. Wir müßten ungefähr – hier sein, dachte Stanley und tippte auf das Papier. Noch zehn Meilen bis Scranton. »Wir sind bereits in den Apalachen, George. Ich habe das Gefühl der Kerl will uns in die Wildnis locken. Wir werden keine Tankstelle mehr finden und verhungern.« Der Butler kniff die Augen zusammen. Der Wagen vor ihm schien langsamer zu werden. Jetzt leuchteten sogar seine Bremslichter auf. Eine Sekunde später war er einfach weg. »Er ist vom Highway abgebogen. Wenn er auf eine einigermaßen kurvenreiche Straße gegangen ist, kriege ich ihn. Festhalten, Sir!« Er bremste den Duesenberg mit knochenbrechenden Werten ab. Dann begann er zu fluchen, aber leise. Hier mündete eine Art Feldweg auf den Highway. Der würde den Federn des Duesenberg gut tun. Rumpelnd und schlingernd bog George ein. Die roten Rücklichter des Verfolgten sah er nicht mehr. »Wildnis, ich sagte es ja«, kommentierte Stanley. Zumindest war die Verfolgungsjagd jetzt nicht mehr so langweilig wie in den vergangenen Minuten. Jetzt mußte George seine ganze Fahrkunst aufbieten, um seine Neuerwerbung am Boden zu halten. Er hat alle Vorteile für sich, dachte er böse. Er wird die Gegend genau kennen, kann sich in einen Seitenweg 51 �
verdrücken… Die Rücklichter tauchten etwa hundert Meter vor ihnen für einen Moment auf und verschwanden dann wieder. Es ging jetzt recht steil bergan. Rechts und links des Fahrweges zogen sich Büsche entlang. »Wir kriegen ihn, George«, sagte Sir Stanley elektrisiert. »Haben Sie gesehen – dort!« Wieder war das kurze Aufblitzen der roten Lampen zu sehen, diesmal noch näher. George kurbelte seine Seitenscheibe herunter. Durch das eigene Fahrgeräusch hindurch hörte er jetzt das Donnern eines starken Motors. Er hörte es drei Sekunden lang, dann verstummte es. George schaltete sofort. Mit aller Kraft stieg er auf die Bremse. Der Duesenberg machte nicht mit. Mit blockierenden Rädern schlitterte er einfach weiter. Der Begriff Bremskraftbegrenzer gehört nicht zum Vokabular der amerikanischen Automobilkonstrukteure. Der Weg schien, soweit der Butler sehen konnte, direkt in ein Gebüsch zu führen. Das ist eine Haarnadelkurve, dachte er fieberhaft. Der andere ist herumgekommen, langsam, deshalb schien es sekundenlang, als hätte er seinen Motor ausgeschaltet. Einen Moment lang konnte es noch reichen. Dann schob sich der Duesenberg gemütlich, nur noch mit knapp zwanzig Sachen in die grüne, Buschwand. An den Fenstern peitschten Zweige entlang und verlangsamten die Fahrt des Wagens noch mehr. Dann neigte sich der Duesenberg nach vorn und war einen Moment unschlüssig, ob er fallen sollte oder nicht, und kippte dann rasend schnell ab. Die Buschreihe auf der linken Seite des Fahrweges hatte einen etwa zehn Meter tiefen Steilhang kaschiert. Durch die Stille der Bergnacht klang ein gediegenes Scheppern, unterbrochen vom Husten eines überdrehten Motors. Dann erstarb letzteres mit dem krönenden Knall einer Fehlzündung. 52 �
Danach gab die Bergwelt der Apalachen sich wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung hin. Sie schwieg… * Es war heller Tag, als Stanley langsam zu sich kam. Sein allererster Gedanke war: »Ich lebe!« Dann hörte er von irgendwo, immer noch reichlich verschwommen, eine knochentrockene Stimme. Sie kam ihm verdammt bekannt vor. »Ich gestatte mir, Mylord einen angenehmen guten Morgen zu wünschen und bedaure zutiefst…« »… nicht für das Frühstück gesorgt zu haben, ich weiß«, vollendete der Earl müde. Mit einem Kraftakt sondergleichen stützte er sich auf den linken Ellbogen und stellte fest, daß er auf weichem Waldboden lag. Drei Meter entfernt saß George McLowrie nach Indianerart auf den Hacken. Auf seinen Oberschenkeln lag die Straßenkarte. »Ich darf Ihnen, Sir, im Voraus versichern, daß Sie keinerlei Knochenbrüche davontrugen«, bemerkte der Butler. »Während des Sturzes sah ich aus den Augenwinkeln, daß ihre Stirn mit dem Deckel des Handschuhfaches kollidierte, was wohl mehr oder weniger die Ursache für ihre kurzzeitige Ohnmacht sein dürfte.« »Kurzzeitig?« knurrte Stanley. Er war jetzt wieder ganz da. »Es ist Tag, mein Bester. Wie lange war ich abwesend?« »Etwa drei Stunden«, gab der Butler zu. »Ich wagte es nicht, Sie zu verlassen. Überdies hatte ich ja festgestellt, daß Ihnen weiter nichts passiert war – ich meine…« George verhedderte sich und machte ein unglückliches Gesicht. Der Earl schüttelte den Kopf und erhob sich taumelnd. Ihm wurde schlagartig schlecht. Natürlich, dachte er, eine Gehirnerschütterung, aber eine ganz 53 �
gesalzene. »Fährt ihr Rennwagen noch?« fragte er. George war aufgesprungen und stützte ihn. »Ich fürchte – nein, Mylord«, gab er gedrückt zurück. Dann sah Stanley das nagelneue 40 000-Dollar-Auto selbst. Es lag fünfzehn Meter entfernt im Sonnenlicht. »Vielleicht können Sie es zum Schrottpreis wieder loswerden«, sagte er. Ein leises Triumphgefühl konnte er nicht unterdrücken, als er den total verbogenen Blechhaufen betrachtete, der in einer geradezu unanständigen Art und Weise seine vier Räder in die Luft streckte. Hätte er sich einen britischen Wagen gekauft, dachte Stanley, dann wäre das nicht passiert. Dann wandten sie sich den anstehenden Notwendigkeiten zu. »Sie hatten vorhin die Karte auf den Knien, George«, sagte Sir Stanley. »Zweifellos sind Sie sich bereits im klaren darüber, welches der nächste Weg zur Zivilisation ist, wie?« »Mylord haben mich durchschaut wie stets«, gab der Butler zurück. Trotz des Mißgeschicks schien seine Laune nicht gelitten zu haben. »Bei einem Marsch in nördlicher Richtung« – er wies auf ein nahes Tannendickicht – »kommen wir nach sieben Meilen zu einer kleinen Ortschaft namens Dunmore. Gehen wir nach Süden, gelangen wir zum Highway. Die Entfernung ist dieselbe.« »Und dort spielen wir Anhalter, wie?« seufzte Stanley. »Nein, wir werden diesem…« »Dunmore!« »… richtig, Dunmore, einen Besuch abstatten. Ich muß schleunigst Verbindung mit meiner Frau aufnehmen, sonst alarmiert sie das FBI, die CIA und die Stadtpolizei gleichzeitig. Gehen wir!« George warf noch einen bedauernden Blick auf das Wrack des teuren Duesenberg, dann setzte er sich in Bewegung. 54 �
Nordwärts… Wenn wir uns beeilen, dachte der Butler mit einem Anflug von grünem Humor, sind wir in etwa einem Jahr in Labrador. »Wie weit sind wir jetzt, George?« fragte der Earl während des Laufens. Der Angeredete begriff sofort. »Genau so weit wie vor vierundzwanzig Stunden«, erwiderte er mit leisem Unbehagen. »Alles, was wir bis jetzt definitiv wissen, ist, daß ein Adept der Weißen Magie getötet wurde, daß er allem Anschein nach einem magischen Verbrechen auf die Spur gekommen war und daß er seine Erfahrungen magnetofonisch niedergelegt hatte. Unsere Gegner gaben sich nicht damit zufrieden, ihn nur umzubringen, mit dem Diebstahl des Kassettenrecorders verwischten sie auch die letzte Spur.« »Was noch nicht ganz sicher ist«, sinnierte der Earl. »Trosonovich nach zu urteilen, wurde die Puppe auch von zwei Polizisten gesehen. Man müßte sich mit ihnen in Verbindung setzen.« Er konnte nicht wissen, daß dieses Vorhaben mangels Masse nicht mehr in die Tat umzusetzen war. Der Mann im Hintergrund hatte mit Spiglmyers Tonbandgerät auch den letzten Hinweis beseitigt, der zu ihm führen könnte. »Man konnte es auch so ausdrücken: Die Panne mit dem Miniaturpolizisten in der Vierunddreißigsten war unter Zurücklassung von insgesamt vier Leichen wieder ausgebügelt worden.« * »Sagen Sie, mein Bester, sind Sie sicher, daß wir auf dem richtigen Weg sind?« Stanley wischte sich über die Stirn. Sie waren in der Zwischenzeit auf einen halbwegs ausgebauten Weg geraten, und dieser mußte ja irgendwohin führen. Um eine direkte Verbindung mit Alaska konnte es sich keineswegs handeln. »Ich bin sicher, Sir«, entgegnete George steif. »In diesem Zu55 �
sammenhang darf ich darauf hinweisen, daß ich in meiner Jugend Mitglied einer Pfadfinderorganisation war.« Das kam bereits einer Zurechtweisung gleich. Stanley Depford konnte allerdings nicht die entsprechende Antwort geben, denn die wäldliche Ruhe wurde plötzlich unterbrochen. Irgendwo kläffte ein Hund. Wo Hunde sind, gibt es auch Menschen, fuhr es dem Butler durch den Kopf. »Dem Gebell nach handelte es sich um einen Rauhhaardackel«, gab er seine Meinung kund. »Ich glaube, daß hinter der nächsten Wegbiegung die ersten Häuser von Dunmore auftauchen. Obwohl…« »Obwohl was?« Der Earl verlor langsam seine gute Laune. »Obwohl ich es mir kaum vorstellen kann. Der Karte nach sind es noch gute zwei Meilen bis dahin.« »Klar«, meinte Sir Stanley höhnisch. »Sie können ja Karten lesen, waren schließlich mal Pfadfinder.« Hinter der nächsten Biegung ging der Wald schlagartig zu Ende. Stanley holte Luft. »Dunmore«, sagte er, »Sie Pfadfinder, Sie!« Es war beleidigend, aber allem Anschein nach hatte George sich tatsächlich geirrt. Vor ihren Augen lag ein Talkessel, in dem nur einige vereinzelte Fichten standen. Sie umgaben ein Haus, besser gesagt eine teure Villa, Typ Millionärs Cottage, und von diesem führte eine gut asphaltierte Straße weg. »Ich kann mir schlecht vorsteilen, daß die Ortschaft Dunmore aus einem einzigen Gebäude besteht«, sagte der Butler steif. »Auch wenn dasselbe von einer Großgarage und einem Swimmingpool attachiert wird. Und von einer Straße.« »Da haben Sie wieder recht«, gab Stanley ehrlich zu. »Das wird mich allerdings nicht daran hindern, den Hausbesitzer darum zu bitten, sein Telefon benutzen zu dürfen. Ich muß erstens Anne 56 �
anrufen und ihr versichern, daß wir noch leben – und zweitens ein Taxi herbeizitieren, das uns wieder nach New York bringt.« Mit langsamen Schritten gingen sie auf das Haus zu. Als sie noch fünfzig Meter entfernt waren, raste ihnen ein Hund entgegen. Das Untier kläffte wie verrückt und wedelte nicht mit dem Schwanz, sondern gleich mit dem ganzen Körper. »Ein Rauhhaardackel, ich wußte es«, bemerkte George McLowrie voll tiefer Genugtuung. Er beugte sich nieder und versuchte das Tier zu streicheln. Er hatte gerade noch Zeit seine Hand zurückzuziehen, bevor die nadelscharfen Zähne des struppigen Champions sie durchlöcherte. »Er mag mich nicht leiden«, sagte der Butler tiefsinnig. Mürrisch starrte er auf das bellende Fellbündel. »Richard!« ertönte von irgendwo eine kräftige Stimme. »Gib’ Ruhe, Mistvieh, oder du wirst gebadet.« Das Mistvieh gab keine Ruhe, ganz im Gegenteil, es machte sich jetzt allen Ernstes daran, Sir Stanleys Maßschuhe anzuknabbern. »Richard!« Zwischen zwei verkrüppelten Bäumen vor dem Gebäude kam ein Mann hervor. Der Hund jaulte kurz auf, drehte auf den Hinterpfoten und jagte seinem Herrn entgegen. »Richard, ich hab’ dir schon hundertmal gesagt… oh, hoppla, was suchen Sie denn in dieser Gegend?« Er hatte den Earl und George gesehen. Mit einem Griff nahm er seinen Hund auf und kam ihnen entgegen. Stanley nahm im Bruchteil einer Sekunde das Äußere des Mannes in sich auf. Er mochte einssiebzig groß sein, trug Jeans und eine leichte Bluse. Er lief barfuß. In einem dunklen Gesicht – kein Amerikaner, dachte Stanley automatisch – brannten zwei wasserhelle Augen. Alle diese Einzelheiten legte der Earl in seinem Gedächtnis unter »schwebend« ab. 57 �
»Guten Morgen«, sagte er höflich, als der Fremde näher trat. »Mein Name ist Depford. Wir hatten einen Unfall, etwa drei Meilen von hier.« Ihm schwindelte plötzlich. Er schwankte ein bißchen hin und her und wäre gefallen, wenn George ihm nicht helfend unter die Arme gegriffen hätte. Der Butler übernahm. »Mein Herr«, sagte er würdevoll, »erlitt bei besagtem Unfall eine leichte Gehirnerschütterung. Wir möchten Sie bitten, uns Ihr Telefon für einige Minuten zur Verfügung zu stellen. Zweck dieser Maßnahme wäre, uns ein Taxi zu rufen.« Der Fremde sah ihn zweifelnd an. Mit langfingrigen Händen strich er seinem Hund durch die Haarborsten. »Unfall? Wie hieß die Kneipe denn?« Das war unhöflich, wenn auch echt amerikanisch. George war sekundenlang versucht, den Kopf zu schütteln, unterließ es aber. Statt dessen stellte er sich auf die Redeweise seines Gegenübers ein. »Wir verfolgten mit dem Wagen einen Ganoven«, sagte er kühl. »Der Bursche war lediglich ein wenig cleverer als wir. Jetzt haben wir nämlich keinen Wagen mehr – sie können bei einem Spaziergang das Wrack bewundern und sich alles noch Brauchbare abbauen – und den Verfolgten auch nicht. Haben Sie ein Telefon? Mein Herr braucht allem Anschein nach ärztliche Hilfe.« Es sah so aus. Stanley hing wackelig in den Armen des Butlers und sagte nichts mehr. »Entschuldigen Sie«, meinte der Fremde erschrocken. »Kommen Sie! Der Mann muß sich sofort hinlegen. Der ist ja ganz grün. Warum nennen Sie ihn übrigens Herr?« George erklärte es ihm mit fünf Worten, während sie auf das Haus zugingen. Der Fremde war beeindruckt. »Ein echter Earl! Warten Sie, ich öffne Ihnen die Tür. Richard, verschwinde!« Er ließ den Hund von seinen Armen gleiten und öffnete die Tür. »Übrigens, da drüben steht das Telefon!« 58 �
»Danke«, sagte der Butler und ging hinüber. Der Apparat stand auf einem kleinen Tisch, ein Telefonbuch lag daneben. Neben dem Buch wiederum stand eine Vase. Aus ihrem Hals ringelten sich drei große, grellrote Blüten. George drehte sich fast der Magen um. Die Orchidee Vix obiscia hat keinen angenehmen Duft. Sie stinkt ekelhafter als drei Wasserleichen gleichzeitig. Bei den Jivaro-Indianern ist dieses Gewächs als ›Todesblume‹ bekannt. Es steht mir nicht zu, den Geschmack dieses Herrn zu kritisieren, dachte George. Er nahm das Telefonbuch und suchte nach der Nummer des »Waldorf Astoria«. Sekunden später hatte er sie. Dann nahm er den Hörer ab und wählte. Erst nach der dritten Zahl merkte er, daß etwas nicht stimme. Er hörte nichts. Kein Leitungsrauschen, kein Freizeichen. Langsam drehte er sich um. Zehn Meter hinter ihm stand der Dackelbesitzer. Er schenkte gerade aus einer vertrauenerweckend aussehenden Flasche drei Gläser voll. »Ihr Telefon«, sagte George McLowrie, »ist kaputt!« * Der Hausherr probierte drei Minuten an seinem Apparat herum, dann gab er es auf. »Sie haben recht«, meinte er unglücklich. »Es ist kaputt. Was machen wir jetzt?« Der Earl, zwischenzeitlich wieder munter – George wunderte sich sowieso, warum er umgefallen war, das war nicht seine Art – gab die Antwort. Er nahm eines der Gläser, die ihr freundlicher Gastgeber eingeschenkt hatte, und trank es leer. Sein Gesicht bekam sofort mehr Farbe. »Tja, was machen wir jetzt?« wiederholte der Hausherr seine rhetorische Frage. Dann zog ein Leuchten über sein Gesicht. 59 �
»Meine Frau kommt gegen Mittag zurück«, sagte er. »Sie ist nach Scranton einkaufen. Wenn sie da ist, kann sie Sie schnell nach Dunmore bringen, das sind nur noch ein paar Meilen.« »Das wäre sehr nett«, erwiderte George dankbar. »Obwohl es mir in der Seele weh tut, Ihnen solche Umstände zu machen.« »Aber das macht doch nichts! Hilfsbereitschaft ist die höchste Tugend eines jeden guten Amerikaners, und ihrem Boß geht’s mies. Ich werde Ihnen einen kleinen Imbiß zurecht machen und… Moment!« Durch die Halle klang ein leises, aber recht durchdringendes Summen. Der Hausherr zuckte die Schultern. »Sie entschuldigen mich einige Minuten, Gentlemen. Oben im zweiten Stock lebt mein Vater, er ist bettlägerig. Er hat nach mir geklingelt, ich werde kurz nach ihm sehen. Sie können sich aus der Flasche bedienen.« Mit diesen Worten verließ er die Halle durch dieselbe Tür, durch die sie gekommen waren. »Sehr traurig«, kommentierte George. »Ein so netter junger Mensch – wird von einem kranken Onkel derart in seiner Bewegungsfreiheit behindert.« »Ja, ja, traurig«, antwortete Sir Stanley mechanisch. Er räkelte sich gemütlich in seinem Sessel zurecht. »Und dieses traurige Telefon ist kaputt und seine Frau ist beim Einkaufen.« »Sir?« fragte George ein wenig befremdet. »Ich weise darauf hin, daß dieser hilfsbereite Mann…« Der Earl unterbrach ihn mit einer kurzen Handbewegung. »Sie, mein Bester«, sagte er kühl, »waren bei unserer Ankunft zu sehr mit diesem Köter beschäftigt. Hätten Sie sich statt dessen unauffällig umgesehen, so hätten Sie festgestellt, daß die Klapptür zur Garage ein wenig offen stand. Und dort steht noch ein Wagen drin. Ich konnte zwar bloß einen Teil des Hecks erkennen, sah aber, daß das Modell seltsam breite Heckleuchten hat.« »Mylord meinen wirklich…?« fragte der Butler erschrocken. 60 �
»Ich meine gar nichts«, knurrte Stanley. »Mich wundert es nur, daß er warten muß, bis seine Frau zurückkommt, wenn er noch einen Zweitwagen zur Verfügung hat! Breite Heckleuchten haben viele Autos. Auf alle Fälle empfehle ich Ihnen aufzupassen. Ich bin schließlich krank. Wurde vorhin sogar ohnmächtig, jawohl!« Er grinste wie ein kleiner Teufel. »Anders war ja schlecht ins Haus zu kommen, wie?« Der Butler war leicht erschüttert. Daß seinem Scharfblick die offene Garagentür entgangen war, wurmte ihn so, daß er ohne Rücksichtnahme auf die Anwesenheit seines Herrn das für ihn bestimmte Glas nahm und es in einem Zug leerte. »Und jetzt«, sagte Sir Stanley, »werden wir warten, daß unser Gönner wieder zurückkommt. Ich bin nämlich gespannt, ob gegen Mittag wirklich seine Frau kommt und uns nach Dunmore fährt oder ob einige Ganoven uns in die Hölle kutschieren.« Wie pessimistisch, dachte George. Er hatte sich wieder gefangen. * »Ich habe Gäste, du Narr!« sagte Largan Sring eisig. »Warum hast du geläutet?« Doktor Simon Shield, im Hauptberuf Polizeipsychologe, nebenbei ein zwielichtiger Typ mit Phantasie, duckte sich ein wenig. Er befand sich zur Zeit im Obergeschoß desselben Hauses, in dem sich auch Stanley und der Butler gerade aufhielten. Und der Hausherr hatte ihn gerade mit Narr tituliert. Und er ließ es sich gefallen. »Herr« flüsterte er leise. »Ich erlaubte mir gerade, die VCR-Anlage für die Hausüberwachung einzuschalten. Ich tat es ohne Absicht, nur zum Zeitvertreib.« »Das kostet aber Strom, Simon«, sagte Largan Sring sanft. 61 �
Shield erwiderte nichts. Er ging an die südliche Querwand des Raumes. Dort standen in einem Regal vier kleine Fernsehgeräte. Es war eine jener Überwachungsanlagen, wie sie reiche Leute in ihren Häusern installieren ließen. Versteckte Fernsehkameras vor dem Haus erlaubten eine Überwachung der Umgebung, ohne daß man, wenn jemand an der Tür klingelte, gleich die Nase ins Freie stecken mußte. Man sah dann von hier aus, ob der Besucher unerwünscht war oder ob man ihn hereinlassen konnte. Man konnte die Geräte aber auch mit Kameras in den Innenräumen des Hauses verbinden. Das war gut, wenn man Dienerschaft hatte. Butler, die ein Faible für silberne Löffel hatten, waren in diesem Fall von vorn herein chancenlos. Simon Shield schaltete eines der Geräte ein. Einige helle Schlieren huschten über den Bildschirm, dann wurde er klar. Er zeigte eine Weitwinkelansicht der Empfangshalle, in dem Sir Stanley Depford und George McLowrie es sich in Sesseln bequem gemacht hatten. »Ich kann nicht glauben, daß diese Männer Gäste sein sollen«, erklärte Shield trocken. »Heute nacht jedenfalls, als ich den Kassettenrecorder aus der Wohnung dieses Reporters holte, wurde ich von diesen beiden überrascht. Es hätte nicht viel gefehlt, und das Unternehmen wäre fehlgeschlagen.« »Ganz sicher?« fragte Largan Sring leise. »Ein Irrtum ist nicht möglich«, erklärte Shield. »Hm… dieser Alte… der rechte, von hier aus… er sagte vorhin, sie hätten bei der Verfolgung eines Einbrechers einen Unfall erlitten. Wurdest du erkannt?« »Ich war maskiert«, erwiderte Shield. Er schaltete noch einen Apparat ein. Er zeigte die beiden Schotten in Halbtotale. Gleichzeitig erwachte ein Lautsprecher zum Leben. Georges Stimme, verzerrt aber verständlich, war zu hören. »… weise darauf hin, daß dieser hilfsbereite Mann…« 62 �
»… Sie, mein Bester waren bei unserer Ankunft ein wenig zu sehr mit diesem Köter beschäftigt…« »Etwas lauter«, sagte Largan Sring leise. »Köter! Richard, ein Köter! Noch lauter, Simon, so, gut!« Er schien jedes Wort, das George und Sir Stanley miteinander wechselten, in sich aufzusaugen. Sein Gesicht war absolut kalt und reglos. Erst als das übertragene Gespräch sich allgemeinen Dingen zuwendete, schaltete er die Anlage eigenhändig ab. »Wer sind sie?« fragte er hart. Er wandte sich an Shield. »Kennst du sie?« »Nein, Herr«, erwiderte der Psychologe. Er duckte sich schon wieder, scheinbar hatte er Angst vor seinem Gesprächspartner. »Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.« »Es sind Briten«, flüsterte Sring. »Ein Earl und sein Diener. Was suchten sie mitten in der Nacht in der Wohnung dieses toten Reporters? Was wissen sie?« »Sie wollten, genau wie ich, den Recorder«, sagte Doc Shield. Sring wirbelte herum. »Woher weißt du das?« »Als ich flüchtete, rief einer von ihnen – es klang recht wütend – ›George, er hat den Recorder.‹ Ihr Interesse galt also diesem Gerät. Das heißt…« Sring winkte unwillig ab. Sein Gesicht war eine Studie in höchster Konzentration. »Scheinbar fand dieser Reporter vor seinem Tod durch meine Werkzeuge noch Gelegenheit, irgend jemand mitzuteilen, daß er einige seltsame Dinge auf Band hätte. Wieviel wissen die beiden? Und warum sind sie so hartnäckig, daß sie sogar hinter dir herfahren, um dieses Bandgerät zu bekommen? Woher wußtest übrigens du, daß dieses Gerät eine Spur ist, die zu mir führen könnte?« 63 �
Shield wand sich unbehaglich. Scheinbar war es ihm peinlich, darüber zu sprechen. »Ich war gestern nachmittag noch mal im Police Headquarters«, sagte er endlich. »Dort traf ich einen anderen Journalisten, der das Ableben seines Kollegen Spiglmyer wortreich bedauerte. Dabei sagte er, so ganz nebenbei, daß der gute Ginger jetzt wohl seinen Kassettenrecorder nicht mehr benötigen würde. Auf meine Frage, was es damit auf sich habe, erwiderte er, daß sein Freund stets so ein Gerät mit sich herumschleppte, um Gespräche aufzuzeichnen. Heimlich natürlich, ohne daß der jeweilige Gesprächspartner davon wußte. Und ich dachte dann sofort…« »Daß er auch sein Gespräch mit diesem Polizeisergeant aufgenommen haben könnte«, unterbrach ihn Sring. In seinem dunklen, schmalen Gesicht brannten die Augen wie ein drohendes Feuer. »Du hast einmal mehr gut gearbeitet, Simon. Diese beiden Männer in der Halle sind ein Risiko. Wir wissen nicht, wieviel ihnen dieser Reporter vor seinem Tod noch mitteilen konnte. Du wirst sie also…« Er fuhr mit der linken Hand in einer sehr anschaulichen Geste durch die Luft. »Wie, Herr?« fragte Simon Shield. Largan Sring erklärte es ihm. Seine Ausführungen dauerten keine Minute. »Es muß wie ein Unfall aussehen«, schloß er. »Ich muß jetzt wieder nach unten. Du verhältst dich still, bis Fiora kommt.« Mit diesen Worten verließ er den Raum. * »Wir waren so frei, von Ihrem Angebot Gebrauch zu machen«, � sagte der Butler steif, als ihr Gastgeber wieder die Halle betrat. � »Ich darf Ihnen, bezüglich der Qualität des Getränks übrigens � 64 �
meine ehrliche Anerkennung aussprechen.« »Kognak Solveon, ein Vierundfünfziger«, erwiderte Sring und ließ sich in einem Sessel gegenüber nieder. »Mein Vater wollte nur ein Buch. Er wird nicht mehr klingeln, ich sagte ihm, daß ich Gäste habe. Geht es Ihnen etwas besser, Sir?« Diese Frage galt dem Earl of Depford. »Danke«, erwiderte Stanley freundlich. »Ich würde sagen… den Umständen entsprechend.« Das konnte man auslegen, wie man es gerade wollte. »Ah, ja, mein Name ist übrigens Sring«, sagte der Hausherr. »Sie müssen entschuldigen, Sie hatten sich ja bereits vorgestellt. Largan Sring.« »Sehr angenehm, Sir«, sagte George würdevoll. »Verzeihen Sie bitte eine etwas ungehörige Frage: Dieser Name klingt nicht sehr amerikanisch oder?« Largan Sring lachte und schenkte sich ebenfalls ein Glas seines eigenen Kognaks ein. Dann ist er wenigstens nicht mit einem Langzeitgift präpariert, dachte Sir Stanley grimmig. »Ich bin Inder, meine Herren«, erwiderte der Hausherr auf die Frage des Butlers, »und ich lebe seit vier Monaten in den Vereinigten Staaten, bin noch nicht naturalisiert. Obwohl… die Staatsbürgerschaft ist bereits beantragt.« »Ach ja, Indien«, sagte Sir Stanley. »Eine Ewigkeit war ich schon nicht mehr dort. Stammen Sie zufälligerweise aus der Provinz. Verzeihung, dem Bundesstaat Bangalore?« Unter halbgesenkten Lidern beobachtete der Earl scharf sein Gegenüber. Schien es ihm nur so oder huschte sekundenlang tatsächlich ein Ausdruck der Überraschung über Srings Gesicht. »Nein«, entgegnete Sring ohne eine bemerkbare Verzögerung. »Ich bin ein echter Punjab-Mann. Mein Vater hat sogar Kipling noch gekannt, er wurde über hundert Jahre alt. Sehr gesundes Klima dort bei uns, im Punjab… Entschuldigen Sie!« 65 �
Es hatte geklingelt! George setzte sich aufrecht hin, steif wie ein Ladestock. Sein Gesicht wirkte urplötzlich wie eine steinerne, eiskalte Maske. Dasselbe Telefon, das ihm vor wenigen Minuten noch den Dienst verweigert hatte, klingelte! Die Hand des Butlers kroch langsam in seinen Jackenausschnitt und umfaßte den Kolben der Makarow. Largan Sring hob den Hörer ab, hielt ihn ans Ohr und lauschte. »Was sagen Sie?« rief er schließlich. »Ja, doch, sicher, ich hatte es vorhin bemerkt, als von meinem Apparat jemand telefonieren wollte. Also die Sache ist wieder in Ordnung? Gut, ich danke für Ihren Anruf.« Er legte den Hörer auf die Gabel zurück. »Jetzt können Sie anrufen«, sagte er zu George. »Das war eben ein Anruf von der Vermittlung in Dunmore. Die Bell-Leute hatten an einer Verteilung gearbeitet, deshalb war mein Apparat kurzzeitig ausgefallen. Wenn Sie wollen…?« Der Butler glaubte kein einziges Wort. Leitung ausgefallen, lächerlich, dachte er kalt. Dabei entsprach Srings Darstellung der Umstände durchaus den Tatsachen. Die Bell Company hatte wirklich an einer Verteilung gebastelt und dabei eine Nebenleitung lahmgelegt. Stanley erhob sich und ging zum Apparat. »Muß unbedingt meine Frau anrufen«, sagte er. »Sie wird sich Sorgen machen. Was ist denn die Nummer des Waldorf-AstoriaTowers in New York… ah, hier ist ein Buch!« »Die Nummer ist AR 97 42 75 4, Mylord«, sagte der Butler steif. Nicht daß er mit seinem hervorragenden Gedächtnis Eindruck schinden wollte nein, wirklich nicht… Eine Minute später hatte der Earl Lady Anne Rose an der Strippe. Seine Angst, daß sie sich Sorgen machte, war absolut unbegründet. Mylady beschwerte sich bitter, daß er sie aus dem besten Schlaf riß. 66 �
Auf Stanleys Versicherung hin, daß er und George nachmittags wieder im Hotel seien, reagierte sie mit einem Gähnen und der Versicherung, daß er sich nicht zu beeilen brauche. »Das war das«, sagte Stanley nach dem Gespräch. »Und jetzt ein Taxi! Dann brauchen wir von ihrem Angebot keinen Gebrauch mehr zu machen, Mister Sring. Wir haben Ihnen bereits genug Umstände gemacht, fürchte ich.« »Aber Mister Depford, Verzeihung, ich meine Sir Depford, davon kann gar keine Rede sein«, erwiderte der Inder sofort. »Ich halte mein Angebot natürlich aufrecht. Bis das Taxi hier ist – es müßte nämlich ein Wagen aus Scranton kommen – ist meine Frau bestimmt schon da. Moment, hören Sie? Ich glaube da kommt sie schon.« Tatsächlich! Vor den Fenstern der Halle erklang das Röhren eines schweren Motors. Man hörte das Quietschen schlechtbelegter Bremsen und das Geheul von Richard, der scheinbar dabei war, sein Frauchen zu begrüßen. Eine Minute später betrat die Frau die Empfangshalle. Sie blickte auf die drei Herren, die Gläser, die Flasche mit dem französischen Kognak und schien danach über alles Vorgefallene Bescheid zu wissen. »Am frühen Morgen, pfui Teufel«, sagte sie und rümpfte die Nase. Sie sagte es in einem gepflegten Hindustani. Anscheinend war sie der Meinung, daß außer Sring sie niemand verstehen würde. Das war ein Irrtum. Stanley beherrschte die indische Nationalsprache fließend. Er hütete sich allerdings, es zu zeigen. Statt dessen zeigte er ein überraschtes Gesicht. Sogar Mister George McLowrie schien sekundenlang um seine Fassung zu kämpfen. Sie war groß, sogar sehr groß für eine Frau. Mindestens einen Meter achtzig. Rabenschwarze, seidig glänzende Haare fielen ihr bis zu den Hüften. Sie umrahmten ein Gesicht, das in seiner 67 �
Schönheit bereits vollkommen genannt zu werden verdiente. Hier konnte kein Gott mehr etwas verbessern. Ihre Haut war genauso dunkel wie die Srings, aber im Gegensatz zu den seinen, schimmerten ihre Augen schwarz. Auf ihrer Stirn, dicht über der Nasenwurzel, war ein dunkler Punkt mit roter Umrandung. Das Kastenzeichen der Bramahnen. Gekleidet war die Frau in einen Sari, das indische Nationalkostüm. Scheinbar hielt sie nicht allzuviel von der amerikanischen College-Mode. Stanley mußte innerlich zugeben, daß er noch nie zuvor in seinem Leben eine derart schöne Frau gesehen hatte. Auch George war beeindruckt, wenn er das auch nicht zeigte. Statt dessen erhob er sich, fabrizierte eine steife, korrekte Verbeugung und sagte: »Mylady, es tut uns aufrichtig leid…« »Aber nicht doch«, unterbrach ihn Largan Sring. »Darling, diese beiden Herren hatten einen Unfall. Du wirst so nett sein, sie später nach Dunmore oder besser noch, direkt nach N.Y. zu chauffieren. Das ist ein Gebot der Hilfsbereitschaft.« Während der nächsten Minuten stellte er George und seinen Herrn vor, erklärte seiner schönen Gattin, das wie und warum und tat sehr besorgt um den armen, gehirnerschütterten Earl. Dann sagte er einige Sätze in Hindustani. Seinen Gästen gegenüber war das zwar eine Unhöflichkeit – schließlich mußte er annehmen, daß sie lediglich Bahnhof und Abfahrt verstanden – was ihn aber nicht weiter zu stören schien. Seine Frau antwortete ihm in derselben Sprache. Dann wandte sie sich mit einem geradezu überirdischen Lächeln an die beiden Schotten. »Mein Mann hat mir gerade erklärt, daß ihre Gattin sich Sorgen macht, Sir«, sagte sie in akzentfreiem Englisch. »Ich werde Sie natürlich sofort die paar Meilen fahren. Wenn Sie gestatten, ziehe ich mich zuvor noch um. Meine Kleidung würde in New York ein wenig deplaciert wirken. Erlaubt Ihre Zeit das noch?« 68 �
Stanley versicherte ihr wortreich, daß er sich sehr gut fühlen würde – es sei wohl nur eine ganz leichte Gehirnerschütterung – und seine Frau sich keine Sorgen machte, er hätte sie bereits angerufen. Und wegen der Umstände… Die Inderin verbeugte sich. »In einigen Minuten werden wir fahren, meine Herren.« Damit verließ sie den Raum. Auch Largan Sring entschuldigte sich für einige Minuten. Er wollte mit seiner Frau noch etwas besprechen. »Das Abendessen, wissen Sie. Ich erwarte einige Freunde.« »George«, sagte der Earl of Depford, »sprechen Sie Hindustani?« »Mylord?« »Die Sprache, in der sich unsere Gastgeber vorhin kurz unterhielten, meine ich.« »Sir, ich muß gestehen… unter den neun Sprachen, die ich beherrsche, ist Hindustani leider nicht…« »Aber ich verstehe dieses Idiom einigermaßen.« Stanley lächelte. Dem Butler lief eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Dieses Lächeln kannte er. So lächelte der Herr von Helmet and Chain Castle nur, wenn er in akuter Lebensgefahr schwebte! »Dieser Sring, mein Bester«, sagte Stanley eisig, »erklärte seiner bezaubernden Frau soeben, daß er uns leider töten müsse. Ein gewisser Simon wird es bewerkstelligen.« »Sir?« fragte George befremdet. »Höre ich recht? Das heißt… hörten Sie recht?« »Und ob«, erwiderte Stanley böse. »Habe drei Jahre in Indien gelebt.« »Dann würde ich vorschlagen, daß…« Der Butler beendete seinen Satz nicht. Lediglich sein Gesichtsausdruck sagte recht deutlich, was er zu tun beabsichtigte. »Nein«, zischte Stanley. »Wir sind zwei, und wieviel Personen 69 �
sich momentan hier im Haus befinden, wissen wir nicht. Denken Sie nur an den bettlägerigen Vater! Der könnte unter Umständen das Synonym für ein Dutzend Meuchelmörder sein. Wir werden mit ihr wegfahren. Ich vermute, daß wir unterwegs irgendwo beseitigt werden sollen. Aber soweit lassen wir es nicht kommen. Still jetzt! Er kommt zurück!« Er kam nicht zurück. Es war sie, deren Schritte erklangen. Und dann betrat sie die Halle. Die Frau hatte sich umgezogen. Anstelle des Saris trug sie einen Hosenanzug. Modisch, elegant, himmelblau – genau zur Haarfarbe passend – und maßgeschneidert. Die Hose wirkte, als sei sie mit blauer Farbe direkt auf die Haut gepinselt. Fiora Sring lächelte. Stanley wandte mit viel Mühe seine Blicke von ihrer Figur ab und richtete sie auf ihr Gesicht. »Wenn Sie bereit sind, meine Herren, können wir starten«, gab sie bekannt. »Ich benutze die Gelegenheit zu einem Bummel bei Tiffany. Largan!« Ihr Mann kam bereits herein. Er schüttelte den beiden noch mal die Hände, wehrte ihre Dankesbezeigungen mit der Souveränität des Mannes von Halbwelt ab und sagte »Auf Wiedersehen.« Er blieb im Haus, während Stanley, George und Fiora Sring zum Wagen gingen. Es handelte sich um einen Pontiac. Grand Prix. George betrachtete sich das Chromungeheuer und lehnte es innerlich ab. Nur widerstrebend nahm er auf dem Beifahrersitz Platz. Stanley verzog sich in den Fond. »In einer Stunde«, sagte Fiora Sring tröstend zu dem Earl, »können Sie Ihre Gattin wieder in die Arme schließen.« Dann startete sie. Zusätzlich zu ihren körperlichen Vorzügen konnte diese Dame auch noch schauspielern. Und schwarzen Humor hatte sie auch…
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* � Largan beobachtete ihre Abfahrt von einem Fenster im zweiten Stock aus. Als der Grand Prix auf die Privatstraße bog, wandte er sich um. Hinter ihm stand Doktor Simon Shield. »Er rief vorhin seine Frau an, Simon«, sagte Sring leichthin. »Sie wohnt im Waldorf-Tower in New York. Es besteht die Möglichkeit, daß sie dasselbe wie ihr Mann weiß, und wir wollen kein Risiko eingehen, nicht das geringste. Das ist dir die Sache doch wert, mein Lieber, oder?« Shield nickte mit versteinertem Gesicht. »Soll ich?« »Nein, du wirst diese beiden Männer abservieren«, unterbrach ihn Sring kalt. »Aber, soviel ich weiß, hast du gute Freunde in der Stadt.« »Ja!« »Was kosten sie, diese Freunde?« Simon Shield dachte sekundenlang nach. »Zehntausend Dollar«, sagte er zögernd. »Wenn es sicher sein soll und wenn es schnell gehen soll.« »Und das soll es«, antwortete Largan Sring. »Du hast noch Zeit, bevor du losfährst. Du kannst den Chapparal nehmen. Wenn du dann noch die bekannten Abkürzungen benutzt, bist du zwanzig Minuten vor Fiora in Alley Vills. Hinter Alley Vills ist die Straße für das Vorhaben am geeignetsten. Okay, rufe jetzt deine… Freunde an! Sie sollen dafür sorgen, daß auch in New York die endgültig letzte Spur verwischt wird.« Also rief der Polizeipsychologe Doc Simon Shield, der aus irgendwelchen Gründen den Hausknecht für einen nicht naturalisierten Inder spielte, bei einer ganz bestimmten Firma in New York City an.
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* � Das Telefon klingelte. Luzifus Speedway legte das Micky-MausHeft zur Seite, schwang seine Stiefel von der Couch und erhob sich. Mit müden Schritten marschierte er zu seinem Schreibtisch und hob den Hörer ab. »Speedway Special Corporation, guten Morgen, fassen Sie sich so kurz, wie’s geht«, meldete er sich. Dann schwieg er einige Sekunden, und seine Augen wurden groß. »Wie bitte, was bitte? Zehntausend… ja, fünf als Anzahlung, der Rest bei, beziehungsweise nach Auftragserledigung. Was? Sie meinen, daß ich verdammt teuer sei? Dafür bin ich Spitzenklasse, Mann! Und diskret, also diskret, sage ich Ihnen! Also… ja, Sie kennen sich aus. ich höre es. Fünf haben Sie bereits deponiert. Wo? Bei mir im Briefkasten? Ach so, durch einen Mittelsmann… Sie sind ganz schön fix, ehrlich. Jetzt brauche ich noch einige Angaben. Wem soll also der Paß ausgestellt werden? Was… lauter Mann! Einer Frau? Hören, Sie… dafür wollen Sie zehn Grands, rauswerfen? Warum… ach so, Sie haben keine Zeit, es selbst zu machen! Na ja, davon leben wir. Name… buchstabieren Sie! Langsam… Dora – Emil – Paulchen Panther – und Ford wie unser neuester Präsident. Depford also, richtig? Gut, und wo ist die Dame zu erreichen? Im Waldorf? Zimmernummer? Wissen Sie nicht? Macht auch nichts! Okay, Mister, die Sache wird erledigt, zu ihrer vollsten Zufriedenheit. Und diskret, sage ich Ihnen, diskret! Empfehlen Sie uns weiter, in ähnlich gelagerten Fällen stehen wir Ihnen gern zu Diensten! Jawohl, Wiederhören!« Zufrieden grinsend legte Speedway den Hörer auf die Gabel. Kein Zweifel, das Geschäft florierte. Das war bereits der vierte Auftrag, den seine »Firma« in dieser Woche übernahm. Er drückte auf einen Klingelknopf an seinem Schreibtisch. Eini72 �
ge Sekunden verstrichen, dann erklangen vor der Tür Schritte. Drei Männer kamen herein, nahmen vor dem Schreibtisch Aufstellung und starrten ihren Boß auf eine sehr aufmerksame Art äußerst stupide an. »Gentlemen«, begann Luzifus Speedway, »unsere Werbeausgaben kommen langsam wieder herein. Ein neuer Auftrag, delikat, gewinnträchtig, aber nicht mit dem Holzhammer zu erledigen. Ihr werdet euch für einige Stunden im Dunstkreis der High Society bewegen müssen. Es geht darum, eine original britische Gräfin zum Handtuchwerfen zu überreden. Da die Lady im Waldorf residiert, müssen spezielle Methoden zur Anwendung kommen. So wie beim letzten Mal bei Rocker Starlight, also einfach eins auf die Birne, in ein Faß mit Beton stecken und dann in den Hudson werfen – also das geht nicht! Diese Dame muß standesgemäß ihr Ende finden. Es wäre von Vorteil, wenn sie in der Badewanne ertrinkt. Wer von euch traut sich die Ausführung des Auftrages zu?« Die drei Herren vor Speedways Schreibtisch sahen sich an. Schließlich räusperte sich der Mittlere und fragte: »Entschuldigung, Boß, gibt’s im Waldorf überhaupt Badewannen?« Luzifus, wenn auch der Schlimmsten und Schrecklichsten einer, so doch zumindest halb gebildet, stöhnte kurz auf. »Ja, die gibt’s! Also wer?« »Ich«, sagte Hicker Streß. Er war – von Speedway aus gesehen – der Rechtsaußen. Überdies war er das, was man einen schönen Mann nennt. Frauen waren seine Spezialität. Er hatte klein angefangen als Heiratsschwindler. Jetzt war er vierzig Jahre alt, hatte die gewissen grauen Schläfen und machte im Smoking sogar eine passable Figur. »Dein Tatendrang ist erfreulich, Hicker«, lobte Luzifus Speedway mit markiger Stimme. »Zum Wohl der Firma Speedway 73 �
Specials. Natürlich gucken viertausend Eier für dich dabei heraus, plus Spesen und Extras. Sechstausend zahlt der Auftraggeber, mehr waren leider nicht drin. Wie willst du vorgehen?« »Ich werde mir im Waldorf-Tower ein Appartement für zwei, drei Tage nehmen«, entschied der Killer. »Das Objekt wird natürlich bereits am ersten Tag… ich meine, die Dame wird bereits am ersten Tag überredet werden…« »Aber diskret, Hicker«, warf Speedway ein. »Natürlich! Weil ich nach dem Mord… ich meine nach der Überredung ja nicht sofort das Hotel verlassen kann – ich würde mich hübsch verdächtig machen, dadurch bleibe ich noch einen Tag. Geht ja alles auf Spesen.« »Sehr richtig«, sagte Speedway zufrieden. »Ja, was ist?« An der Bürotür hatte es geklopft. Herein kam Tricia Walm, Speedways Sekretärin. »Das lag im Briefkasten, Boß«, sagte sie und legte einen dicken Umschlag auf den Schreibtisch. »Aha, die Anzahlung«, sagte der Chef der Mord-GmbH stillvergnügt. Er riß den Umschlag auf, entnahm ihm einige Scheine, zählte zweitausend Dollar ab und gab sie Hicker Streß. »Die Anzahlung für deine Sonderprämie«, erklärte er. »Ich erwarte bis spätestens morgen früh den Abschlußbericht, zusammen mit einer detaillierten Kostenaufstellung. Das ist alles steuerlich absetzbar. Die Sitzung ist geschlossen!« * »Ein hübsches Örtchen«, sagte George McLowrie lobend. Sie fuhren gerade durch eine Ansammlung baufälliger Goldgräberhütten. »Wie heißt diese Millionenstadt? Vielleicht werde ich meine alten Tage hier verbringen.« »Alley Vills nennt sich das Dorf«, entgegnete Fiora Sring. Sie 74 �
steuerte den Wagen mit sicherer Hand, nicht schnell, aber auch nicht gemütlich. »Es wohnt allerdings seit mehr als zehn Jahren niemand mehr hier. Die Stadt wurde während des Runs vor sechzig Jahren innerhalb weniger Wochen aufgebaut und starb dann wieder. Eine dieser Totenstädte, wie es sie in den Staaten haufenweise gibt.« »Sehr informativ«, sagte Sir Stanley Depford aus dem Fond. Das, so dachte er, wäre genau der richtige Platz, um zwei Leichen verschwinden zu lassen. Wer kommt schon hierher und sucht nach toten Schotten? Hinter der Ortsausfahrt wurde die bisher recht annehmbare Straße mit einem Mal nadelöhrschmal. Mehr als drei Meter Breite mochte sie nicht mehr haben. »Alle zwei Meilen gibt es Ausweichplätze«, erwähnte Fiora Sring. Sie drehte leicht ihren schönen Kopf und sah George von der Seite an. Dem Butler schien es, als würde sie lächeln. »Falls man einem Lastwagen ausweichen will. Trifft man einen solchen Brummer allerdings in der Mitte zwischen zwei Ausweichplätzen, dann muß einer von den Beteiligten einige hundert Meter rückwärts fahren.« »Und die Staaten haben, wie man so hört. Das bestausgebaute Straßennetz der Welt«, meldete sich der Earl. »Wenn man allerdings das hier so sieht… Vorsicht!« Aber ihre Chauffeuse hatte bereits den zierlichen Fuß voll auf dem Bremspedal. Die breiten Reifen des Grand Prix heulten gefährlich auf, und die schlechten Bremsbeläge quietschten freudig mit. Der Fahrer des Wagens, der ihnen gerade aus einer Kurve entgegenschoß, tat ebenfalls alles, um sein Leben zu retten. Überdies war er am Volant eine ganze Nummer besser als die schöne Inderin. Als er sah, daß es auf dieser schmalen Straße kein Aneinandervorbeikommen gab, tat er das einzige Richtige. 75 �
Er stellte seinen Wagen aus vollem Tempo quer! Es handelte sich um einen flachen, langgestreckten Sportwagen, oder jedenfalls um einen Typ, der von Amerikanern als Sportwagen angesehen wird. Sekundenlang sah es so aus, als würde sich die Flunder über das linke Vorderrad überschlagen. Sir Stanley im Fond des Sringschen Pontiac schloß entsetzt die Augen, George als Fachmann begutachtete die Anstrengungen des Sportwagenfahrers mit ehrlichem Interesse. Dann war es urplötzlich ruhig. Fiora hatte den Motor abgewürgt. Stanley öffnete wieder die Augen und stellte mit einem Blick fest, daß es noch mal gutgegangen war. Der Pontiac stand Schnauze an Schnauze zu dem Sportwagen. »Viel mehr als eine Sonntagsausgabe der ›Times‹ paßt da nicht mehr dazwischen«, kommentierte George. »Ich darf Ihnen zu ihrer außerordentlichen Geistesgegenwart gratulieren, Missis Sring.« »Danke«, erwiderte sie. Sir Stanley stellte fest, daß ihre Stimme weder zittrig noch dem Zusammenbruch nahe klang. »Na ja, einer von uns muß jetzt wohl zurückstoßen, bis man eine Stelle findet, an der die beiden Wagen aneinander vorbeikommen«, meldete sich der Butler wieder. Er sah, daß der Fahrer des Sportwagens ausstieg, den Schlag seines Wagens offen ließ und auf sie zukam. »Der Herr scheint uns dazu bewegen zu wollen. Zum Zurückstoßen, meine ich. Sehe ich recht?« »Westernmethoden!« stellte Sir Stanley vergnügt fest. Der Fahrer des anderen Wagens hielt nämlich eine Pistole in der rechten Hand. Seinem Gesicht war deutlich anzusehen, wer hier seiner Meinung nach rückwärts zu fahren habe. George kurbelte die Seitenscheibe herunter und streckte seinen Charakterkopf in die sonnige Gebirgswelt. »Guten Morgen, Sir«, grüßte er korrekt. »Dürfte ich erfahren, 76 �
was Sie mit der Pistole wollen? Ich darf Ihnen versichern, daß dieser Fast-Unfall von uns keineswegs beabsichtigt war.« Der Fremde erwiderte nichts. Statt dessen brachte er sein Schießeisen in Zielrichtung – die Stirn des Butlers – und zog durch. Der Schuß krachte, sein Echo brach sich rollend an den Bergwänden und George fühlte einen kurzen, aber heißen Luftzug an der rechten Wange. Blitzschnell brachte er seinen Kopf in Sicherheit, fuhr in die Innentasche seiner Jacke und wollte die Makarow ziehen. Auf halbem Weg ließ er es sein. Er fühlte plötzlich einen ganz unangenehmen Druck auf der linken Seite seines Halses. Und zwischen dem Druck einer Pistolenmündung und dem eines steifgereckten Zeigefingers wußte er sehr wohl zu unterscheiden. »Mylord hatten recht, wie stets«, sagte er, ohne sich zu bewegen. »Er hört sie nicht«, erklang Fiora Srings Stimme dicht an seinem Ohr. »Machen Sie keine Bewegung, jedenfalls nicht, bis ich es Ihnen erlaube!« »Lassen Sie ihn aussteigen, Madam«, erklang jetzt die Stimme des Pistolenautomobilisten. Die beiden kennen sich also, dachte der Butler emotionslos. »Sie denken an alles, Simon«, erwiderte die Inderin erfreut. »Natürlich können Sie ihn nicht hier im Wagen erschießen, neue Polsterbezüge kosten einiges. Steigen Sie aus, Freund, aber ganz langsam, keine hastige Bewegung!« Georges Rechte fiel auf die Türklinke, schneller als man es mit den Augen wahrnehmen konnte, entriegelte sie und stieß den Schlag mit vehementer Gewalt auf. Die schwere Tür des Pontiac Grand Prix erwischte Doc Simon Shield zwar nicht voll, prellte ihm aber seine Waffe aus der Hand. Das Mordwerkzeug flog einige Meter weit weg und lan77 �
dete im Straßengraben. Völlig unabhängig von der rechten agierte die linke Hand des Butlers. Sie knallte – zur Halbfaust geballt – im selben Moment auf Fiora Srings Revolverhand, in dem er auch die Autotür aufstieß. Die Frau schrie auf, wohl mehr aus Überraschung als vor Schmerz, und versuchte, dem Butler ihre hübschen, violett angemalten Fingernägel durchs Gesicht zu ziehen. Das klappte nicht ganz, da George in derselben Sekunde ins Freie hechtete. Noch im Fallen zauberte er seine Makarow aus der Jacke. Kaliber elf-dreiundvierzig, mit acht 327er Magnumpatronen im Griffmagazin. Direkt nach dem Aufprall, flach im Straßenstaub liegend, schoß er. Die Makarow bellte wesentlich lauter als Shields Waffe eine Minute zuvor. Der Psychologe, der sich gerade nach seiner Pistole bücken wollte, wurde in der rechten Schulter getroffen. Der Aufprall der großkalibrigen Kugel wirbelte ihn einmal um seine Vertikalachse und warf ihn vorwärts. Mit einem Aufschrei flog er in ein niedriges Gebüsch am Straßenrand und war erst mal weg. George hatte sofort gesehen, daß er nicht richtig getroffen hatte, aber er hatte jetzt keine Zeit, sich um Shield nachhaltiger zu kümmern. Direkt nach dem Schuß federte er hoch, machte auf dem Absatz eine Hundertachtzig-Grad-Wendung und wandte sein Augenmerk wieder Fiora Sring zu. Gerade noch rechtzeitig. Sie kam aus dem Fußraum des Wagens hoch. Ihr Gesicht wirkte in diesem Moment gar nicht mehr schön, eher mordgierig. In der Hand hielt sie wieder ihre Pistole. »Jetzt!« zischte sie. »Jetzt!« »Madam vergaßen zu entsichern«, unterbrach George sie in durchaus liebenswürdigem Ton. »Was…?« »Ihre Pistole ist noch nicht entsichert«, erläuterte der Butler 78 �
freundlich. »Überdies scheinen Sie zu übersehen, daß ich ebenfalls ein derartiges Schießwerkzeug in der Hand halte. Man könnte also von einer klassischen Pattsituation sprechen, nicht wahr? Und noch etwas: Ich dürfte etwa fünfmal schneller reagieren als Sie! Noch bevor Sie einmal abgedrückt haben, wurden Sie von mir bereits dreimal erschossen… Geben Sie die Pistole her!« Sie wollte nicht! Statt dessen fummelte sie am Sicherungshebel ihres Bärentöters herum und hatte ganz offensichtlich die Absicht, es auf einen Reaktionszeitenvergleich ankommen zu lassen. George schüttelte mißbilligend den Kopf. Sein Schlag kam ansatzlos und entsetzlich schnell aus der Hüfte. Er traf das Gelenk ihrer Revolverhand ein zweites Mal. Diesmal schien es ihr echt weh zu tun. Fiora schrie zwar nicht, biß sich aber die Unterlippe blutig. Ihre Pistole polterte wieder in den Fußraum des Pontiac. George McLowrie bückte sich und nahm sie auf. Fiora Sring reagierte schnell und wenig fair. Sie versuchte, dem Earl ins Gesicht zu treten. Es blieb allerdings bei dem Versuch, denn der Butler hatte jetzt endgültig genug. Er griff nach dem hochschnellenden Fuß, erwischte ihn richtig am Knöchel und zog mit viel Kraft und einem gewaltigen Ruck. Fiora kippte mit dem kurvenreichen Oberkörper nach rückwärts, versuchte sich mit der rechten Hand an der Handbremse festzuhalten, drückte mit der Linken kurz auf den Hupknopf – der Pontiac hatte eine sogenannte Beethovenhupe, die spielte die Anfangstonfolge der Neunten Symphonie, sehr geschmackvoll und künstlerisch – und donnerte dann mit ihrem Hinterkopf gegen die geschlossene Scheibe ihres Seitenfensters. Es dröhnte hohl, die Inderin verdrehte die Augen in Richtung Wagenhimmel, seufzte gequält und trat geistig ab. George seufzte ebenfalls, aber gelangweilt. Diese amerikani79 �
schen Hijacker waren auch nicht mehr so gut wie in früheren Zeiten. Jetzt mußte er sich erst mal um seinen Herrn kümmern. Sir Stanley ging es gut. George begutachtete sachverständig die Trennscheibe aus Panzerglas, die jetzt den Fond von den Vordersitzen trennte. Es muß, konstatierte der Butler, eine hübsche Stange Geld gekostet haben, diese Überraschung in den Wagen einbauen zu lassen. Vermutlich tritt mit dem Ingangsetzen dieser Vorrichtung auch eine wirksame Tür- und Fensterverriegelung in Tätigkeit. George sah, daß der Earl irgend etwas sagte oder sogar rief. Er hörte trotzdem keinen Ton. Diese Zwischenscheibe mußte mindestens zwanzig bis dreißig Millimeter dick sein, und der Fond des Wagens war perfekt isoliert gegen Schall. »Eine Sekunde, Mylord, ich suche gerade…« Er hört mich sowieso nicht, dachte der Butler. Mit einer gleitenden Bewegung schob er sich wieder auf den Beifahrersitz und probierte auf dem Armaturenbrett einen Knopf nach dem anderen. Der fünfte war der richtige, die Trennscheibe senkte sich surrend in die Lehne der vorderen Sitzbank ab. »Sie müssen entschuldigen, mein Bester, daß ich Ihnen nicht helfen konnte«, sagte der Earl in alltäglichem Tonfall, »aber die Sache mit der Scheibe kam so schnell und überraschend… die Türen waren ebenfalls plötzlich zuer als zu, von den Fensterscheiben ganz zu schweigen. Und stabil ist das Ganze… Deutsche Wertarbeit könnte man fast sagen!« »Ähem… Sir.« »Richtig, Sie müssen sich um unseren verhinderten Mörder kümmern, schossen ihn bloß an, soviel ich sah. Was ist mit dieser satanischen Schönheit…?« Er fühlte ihren Puls. Dieser schlug kräftig und recht gleichmäßig. »Nur ohnmächtig. George, Sie lassen nach!« 80 �
»Sir, ich…« »Ja, ja, das Alter!« Der Earl grinste ein wenig, öffnete die Fondtür auf seiner Seite und schob sich ins Freie. Mit dem Absenken der Panzerscheibe hatte sich auch die hochwirksame Türverriegelung wieder gelöst. Auch George krabbelte aus dem Wagen und stellte sich neben seinen Herren. »George, sehen Sie nach, ob dieser Simon, wie sie ihn nannte, noch lebt, und dann müssen wir von der Straße weg. Die Gegend ist zwar einsam, was aber nicht heißt, daß ab und an doch jemand vorbeikommt. Wenn die Frau wieder munter ist, möchte ich sie nämlich einiges fragen.« Stanley brach ab und starrte, genau wie der Butler, überrascht zu dem Buschwerk am Straßenrand. Hinter einem der Büsche stand schwankend und mit blutverschmiertem Gesicht – scheinbar hatte er sich bei seinem Fall noch zusätzlich verletzt – Simon Shield, der Möchtegernkiller. Das gibt es nicht, dachte George. Nach einem Schultertreffer mit einer Magnumkugel ist der Betroffene erst mal einige Stunden total hin. Das gibt es nicht! Die Hand des Butlers fuhr automatisch zur Innenseite seiner Jacke, um die Makarow herauszuholen. Er fühlte ihren Kolben zwischen den Fingern und brachte die schwere Waffe auch noch halb heraus. Dann drückte Simon Shield ab, und obwohl es ihm gar nicht gutging, zielte er genau. George McLowrie fühlte einen schweren Schlag an der rechten Kopfseite. Dann fühlte er nichts mehr. Er stellte das Denken ein. Daß Shield den Lauf seiner Luger auf den Herrn von Helmet and Chain schwenkte, sah er nicht mehr. * Etwa zur gleichen Zeit unternahm in New York City Hicker � 81 �
Streß den Versuch, Lady Anne Rose Depford, geborene Landon, zu ermorden. Hicker pflegte Aufträge dieser Art stets schnellstens hinter sich zu bringen. So war er bereits eine Stunde danach bereit, denselben auszuführen. Vor dem Eingang des Waldorf-Towers fuhr ein schwarzer Lincoln Premier vor. Am Steuer saß ein livrierter Chauffeur – er war ebenfalls Angestellter der Mord-GmbH – im Fond saß Hicker Streß. Er trug einen nadelgestreiften Wallstreet-Anzug, eine blasierte, gelangweilte Miene und einen Aktenkoffer zu Markte. Alles in allem gesehen wirkte er seriös bis in die Fußspitzen. Ein Türboy kam an den Schlag und riß ihn auf. Hicker stieg aus, lächelte dem Boy neutral zu und verfügte sich in die Rezeptionshalle des Hotels. Der Zufall wollte es, daß Lohmeyer, normalerweise Manager des Ladens, heute Rezeptionsdienst verrichtete. Einer der etatmäßigen Portiers war nämlich ausgefallen. Seinen eigenen Angaben nach hatte der Mann in einer Kneipe auf der Lower East Side einen Zusammenstoß mit seiner Mutter gehabt. Er würde wohl vierzehn Tage nicht kommen. Lohmeyer blickte Hicker entgegen. Hätte er die Erfahrung eines echten Portiers besessen, so hätte er zweifelsohne festgestellt, daß dieser neue Gast nicht ganz koscher war. Kein anständiger Geschäftsmann trug weiße Gamaschen zu einer Nadelstreifenhose. Geschäftsleute hatten mit Gamaschen normalerweise überhaupt nichts im Sinn. Es sei denn, sie gehören der Mafia an und haben eine nostalgische Ader. »Sir?«, fragte Lohmeyer zuvorkommend. Der neue Gast musterte ihn müde und voller Abscheu. »Mein Büro bestellte vor einer Stunde eine Zimmerflucht für mich, lieber Mann«, sagte Hicker vornehm. »Balls mein Name, von Balls and Listik…« 82 �
»Ach ja«, sagte Lohmeyer zerstreut. Er wühlte kurz in den Papieren auf seinem Pult, winkte vom Rezeptionsplatz ein Mädchen herbei, flüsterte mit ihm und bestätigte dann, daß für Direktor Balls erst vor kurzem ein Appartement reserviert wurde. »O ja, Sir, Sie haben im vierzehnten Stock… entschuldigen Sie mich bitte eine Sekunde!« Ein Telefon auf seinem Pult hatte geklingelt, ausgerechnet eines der roten. Das bedeutete, daß er von irgendeiner Diplomatensuite verlangt wurde. Er hob ab. »Rezeption… oh, Mylady, es ist mir eine Freude, Ihre Stimme zu hören! Hatten Sie eine gute Nacht? Das freut mich natürlich. O ja, kommt sofort! Hätten Mylady irgendwelche Sonderwünsche bezüglich des Breakfasts! Wie? Chivas Regal, jawohl! Eine Flasche, gekühlt. Wir bedanken uns, Mylady, auf Wiederhören!« Er legte den Hörer wie der auf die Gabel und winkte einem Boy. »Frühstück auf Nummer hundertneunundvierzig, zusammen mit einer Flasche Chivas, aber gekühlt, sonst haut Lady Depford sie dir um deine abstehende Ohren. Ab dafür!« Hicker Streß registrierte jedes Wort des Managers. Hundertneunundvierzig hatte die britische Lady… das war der vierzehnte Stock. »So, ich bin wieder da, Sir«, unterbrach, ihn Lohmeyer in seinen Gedankengängen. »Sie erhalten die Flucht einhundertsiebenundvierzig, mit kleinem Konferenzzimmer, wie gewünscht. Haben der Herr noch besondere, Wünsche?« Hicker tat, als würde er nachdenken. »Eigentlich… nein«, sagte er langsam. »Oder doch! Gegen vierzehn Uhr einen leichten Imbiß. Ins Appartement. Irgend etwas! Hauptsache leicht, hören Sie?« »Ich hörte, Sir«, erwiderte Lohmeyer. Dann pfiff er einem Pagen. »Hundertsiebenundvierzig! Führe den Gentleman zu seiner Suite, mein Sohn!« 83 �
Im Fahrstuhl kam Hicker die geniale Erleuchtung. Er freute sich so darüber, daß er dem Boy nach Erreichen der Suite ein ganzes Fünf-Cent-Stück Trinkgeld gab. Das war sonst nicht seine Art. Er überdachte seinen Genieblitz noch mal. Diese Lady hatte ein Frühstück gefordert. Zusammen mit einer Flasche Whisky. Also trank sie, klarer Fall! Aber das war nebensächlich. Hauptsache war, daß er hier, direkt nach seiner Ankunft im »Waldorf« diese Tante, ohne Zeitverlust und ohne daß ein Verdacht auf ihn fiele, über den Jordan schicken konnte. Wer sich eine Flasche Chivas Regal zum Frühstück bestellt, trinkt dieselbe auch! Und Hicker wußte von Leuten, die schon nach einem Glas so voll waren, daß sie ausrutschten und sich das Genick brachen. Das ganze war dann ein Unfall… Er ging auf den Gang hinaus, der um diese Zeit leer war. Die Herrschaften, die im vierzehnten Stock logierten, waren allesamt sowieso allergisch gegen Lärm. In dieser Etage war es stets vornehm still. Hicker blickte sich kurz um. Die Tür mit der goldenen 149 darauf lag seinem Appartement schräg gegenüber. Sekundenlang war er versucht zu klopfen, um dann zu sagen, daß er sich in der Tür geirrt hätte, als er leichte Schritte hörte. Betont normal drehte er sich um. Ein Kellner – der Chef d’étage genauer gesagt, aber Hicker kannte nur Kellner – lief den Gang entlang und schob einen abgedeckten Servierwagen vor sich her. »Guten Tag, Sir«, grüßte er höflich. Streß nickte oberflächlich und lief langsam in Richtung Fahrstuhl. Aus den Augenwinkeln bekam er mit, daß der Livrierte an der Tür zu 149 klopfte. »Das Frühstück, Mylady!« Das klappt ja wie geschmiert, dachte Hicker triumphierend, rief den Fahrstuhl herbei, befahl dem Liftboy, ihn in die Rezepti84 �
onsetage zu fahren, überlegte es sich im achten Stock anders und widerrief seine Anordnung. »Hab’ etwas vergessen. Fahren Sie wieder hoch ins Vierzehnte!« Er kam gerade noch zurecht, um den Chef d’étage mit dem nunmehr abgeräumten Servierwagen aus 149 treten zu sehen. Er wartete, bis dieser um die nächste Ecke verschwand, dann schritt er zur Tat. Er klopfte mit dem für Etagenkellner charakteristischen, dezenten Knöchelschlag an die Tür zu Appartement 149. * Lady Anne Rose Depford hatte geduscht, die Zähne geputzt und das bereits bekannte Frühstück bestellt. Im Moment war sie gerade dabei, sich eine Tasse Kaffee einzuschenken, keinen Tee, man war ja in Amerika. Der Kaffee natürlich in einem gesunden Halbe-Halbe-Verhältnis mit Chivas Regal gemischt. Der Duft des teuren Whiskys, vermischt mit dem von Maxwell House Coffee durchzog den Salon der Diplomatensuite. Sie hatte den ersten Schluck genommen und überlegte gerade, was der Anruf Sir Stanleys vor eineinhalb Stunden zu bedeuten hatte, als es an der Tür klopfte. »Ja?« »Ein Telegramm, Mylady«, kam es gedämpft zurück. Anne Rose staunte ein wenig. Waren Stanley und George jetzt bereits so weit weg, daß sich ein Telefongespräch aus Kostengründen nicht mehr lohnte? Überdies müßten die beiden, den Worten des Earls nach zu urteilen, längst zurück sein, oder? »Kommen Sie rein«, sagte sie. Die Lady zog ihren Morgenrock ein wenig fester um den Körper und nahm einen Schluck ihres 85 �
Spezialkaffees. Als die Tür sich öffnete, packte sie das große Staunen vorerst dann eine gelinde Wut. Der Mensch, der sich leicht grinsend in den Salon schob, war nämlich hundertprozentig kein Bediensteter des Hotels. Er trug weder eine Pagenuniform – dafür war er auch schon zu alt – noch eine Kellnerweste. Sehr verdächtig… »Schönen guten Tag, Puppe«, sagte Hicker Streß vergnügt. Er war sich seiner Sache absolut sicher. Mylady blieb nach der höchst vertraulichen Anrede erst mal die Luft weg. Sie verschluckte sich und mußte husten. Schmal und böse wurden ihre Augen, als sie sah, daß ihr unerwünschter Besucher sich umdrehte, die Tür hinter sich schloß und den Schlüssel im Schloß umdrehte. Auf den Kopf gefallen war sie nicht. Als Hicker der Schreckliche mit den interessanten, grauen Schläfen auf sie zukam, kombinierte sie eiskalt, daß dieser Bursche etwas im Schilde führte. Er konnte Hotelräuber sein, dann hatte er es auf ihr Geld abgesehen. Er konnte aber auch…. es war besser, man schrie ein wenig. Lady Anne Rose begann zu heulen wie eine Luftschutzsirene, disharmonisch, grell und sehr laut. Der Killer der Mord-GmbH war einen Moment perplex. Daß sein Opfer etwas gegen ihn hatte, war klar ersichtlich. Dabei bin ich ein gutaussehender Mann, dachte er gekränkt. Aber zuerst muß ich sie zum Mundhalten bringen, bevor sie hier die ganze Etage zusammenbrüllt. Er machte drei, vier Schritte, griff zu und legte eine Hand über Lady Annes Mund. Ihr Geschrei verstummte mit einem gruseligen Gurgeln. »Klappe halten, Süße«, zischte Hicker gepreßt. Dann stöhnte er kurz und schmerzvoll auf, als ihr linker Ellbogen ihm in die Magengegend fuhr. Ein Objekt, das sich nicht brav umbringen lassen wollte, das hatte ihm noch gefehlt. Er hatte damit gerechnet, 86 �
daß die englische Lady bei seinem Erscheinen vor Entsetzen starr und sprachlos sein würde, aber was tat sie? Sie biß ihn in den Ringfinger der Hand, die er vor ihren Mund hielt. Und das tat sogar weh! Hicker verbiß mannhaft den Schmerz und dachte an seinen Auftrag. Er umschlang die durchaus nicht wehrlose Dame mit beiden Armen und drückte kräftig zu. Mylady begann zu japsen. Obwohl er ihr nicht mehr den Mund zuhielt, konnte sie mangels Atemluft nicht mehr schreien. Wie kann ich ihr eine halbe Flasche des Whiskys eintrichtern, überlegte der Killer fieberhaft. Sie muß später soviel Alkohol im Blut haben, daß es aussieht, als sei sie ausgerutscht und hätte sich dabei das Genick gebrochen. Diskretion ist alles, sagte sein Boß, Luzifus Speedway immer… Lady Anne Rose riß ihn aus seinen Gedanken, indem sie ihm hart und nachhaltig auf den linken Fuß trat. Ihr Gegner brachte es auch jetzt fertig, nicht vor Schmerz aufzuheulen, lockerte aber sekundenlang den Griff um ihre Mitte. Mit einer gewaltigen Anstrengung riß die Lady sich los. Sie war einen Schritt weit gekommen, als Hicker wieder zu denken begann und erneut zugriff. Er erwischte Anne am Kragen ihres Morgenrocks. Ein fetzendes Geräusch nach reißendem Stoff klang durch den Raum, und die Herrin von Depford Castle stand plötzlich zu vier Fünftel im Freien. Ganz nackt war sie nach dem Verlust ihres Morgenmantels nicht, sie hatte sich bereits teilangekleidet und trug den üblichen, winzigen und darüber hinaus noch transparenten Büstenhalter und einen ebensolchen Slip, Strapse rundeten das erfreuliche Bild ab. Hicker Streß starrte auf den Morgenmantel in seiner Hand, dann auf dessen ehemalige Trägerin und vergaß prompt das oberste Prinzip seines Berufes, nämlich jeden Auftrag so schnell 87 �
wie möglich und ohne vermeidbaren Zeitverlust auszuführen. Statt dessen griff er in seine Jacke und brachte eine winzig kleine Pistole zum Vorschein. Mit leicht glasigem Grinsen richtete er den Lauf auf Lady Anne Rose. »Wage es nicht zu schreien«, flüsterte er leise und heiser. »Die Mauern hier, drin sind ziemlich dick. Niemand würde den Schuß hören. Geh da rüber!« Er deutete mit dem Pistolenlauf zu einer Sitzgruppe mit drei Ledersesseln. Die Gedanken in Myladys hübschem Kopf rotierten. Kein Hotel kann man mehr empfehlen, dachte sie böse. Seit Mörder, PLO-Leute und sonstiges Gelichter beherbergt wurden, war man seines Leben nicht mehr sicher. Mit langsamen, ungewollt aufreizend wirkenden Schritten ging sie zu der Sesselgruppe. »Was wollen Sie von mir?« fragte sie beherrscht. »Warum tun Sie das? Wollen Sie Geld? Oder Schmuck? Oder was…« »Dich will ich, Süße«, grinste Hicker boshaft. Er sah in diesem Moment nicht wie ein Auftragskiller aus, eher wie ein windiger Heiratsschwindler, der er ja auch mal gewesen war. »Ich verehre dich nämlich, Puppe, und wie… Halt!« Lady Anne Rose of Depford lag bereits flach hinter den breiten und ziemlich schußsicheren Lehnen der schweren Sessel. Ihr Sprung war völlig ansatzlos und überraschend gekommen. Und sofort, nachdem sie sich in Deckung vor den Kugeln ihres Verehrers glaubte, begann sie wieder zu schreien. Hicker Streß stieß einen unbeherrschten Fluch aus, stürmte… und rannte genau in die Flugbahn eines schweren Kristallaschenbechers. Dieser geschleudert von Lady Annes zarter Hand, erfüllte jedoch seinen Zweck nicht ganz. Er verfehlte seinen ursprünglichen Bestimmungsort, nämlich das Gesicht des Killers, um volle dreißig Zentimeter und prallte ihm statt dessen vor die Brust. Er wagte es nicht, seine Pistole einzusetzen. Seine Worte von 88 �
vorhin, von wegen der dicken, schalldichten Mauern im Waldorf-Tower – also wirklich, daran glaubte er selbst nicht. Und überdies sollte die Lady ja verunglücken! Der Ascher beschäftigte ihn eine Sekunde, dann rannte er wieder vorwärts. Myladys Trickkiste war allerdings noch nicht ganz leer. Und da sie sich schon des öfteren in lebensbedrohenden Situationen befand, war sie jetzt eiskalt und ruhig. Mit beiden Füßen gab sie dem Sessel, hinter dem sie lag, einen gewaltigen Schubs. Das schwere Ungetüm kam, da es auf Rollen gelagert war, sofort in Schwung. Hicker konnte nicht mehr schnell genug ausweichen und bekam die Sesselkante ans Schienbein. Die Rollgeschwindigkeit des Sitzmöbels und die Laufgeschwindigkeit des Killers addierten sich zu einem ganz schönen Zusammenprall. Hicker Streß stieß einige unartikulierte Laute aus und fuchtelte mit seiner Pistole in der Luft herum. Lady Anne versuchte, seine momentane Konfusion zu nutzen, spritzte hoch und rannte zur Tür zum Nebenraum. Sie hatte sie fast erreicht, als sie einen gewaltigen Ruck am linken Fußgelenk spürte und mit Dampf parterre ging. An ihren schlanken Fesseln hingen die Fäuste des Killers, der ihr mit einem gewagten Hechtsprung nachgesetzt war. Seine kleine Pistole hatte er einfach fallen lassen. Als erstes stoppte er in der bereits bekannten Manier Madames Redefluß, indem er ihr eine Hand auf den Mund preßte. Diesmal paßte er auf, daß sie nicht biß. Und um endgültig reinen Tisch zu machen, hob er seine freie Hand und schlug zu. Er traf auch richtig den Teppichboden neben Annes linker Schläfe und bekam im selben Moment ihr Knie in den Unterleib. Vor seinen Augen lief ein ganzer Gruselfilm ab, aber er hielt die Lady eisern weiterhin fest. Anne Rose of Depford hatte jetzt allerdings genug. Sie merkte sofort, daß ihr Gegner nach dem Kniestoß nur noch halb einsatz89 �
fähig war und sah auch, daß seine Pistole einige Schritte entfernt auf dem Boden lag. Die Dame schritt zur Tat. Hicker brüllte wie am Spieß, als ihre langen und wohlgepflegten Fingernägel durch sein Gesicht fuhren. Blind vor Schmerz riß er beide Hände hoch und mußte einen, allerdings leichten Schlag gegen den Kopf hinnehmen. Er genügte allerdings, ihn von seinem Opfer herunterzuwerfen. Zwei Sekunden freien Atems reichten der Gattin Sir Stanleys, auf allen vieren zu der Pistole Hickers hinüberzukriechen. Gerade als sie die Hand danach ausstrecken wollte, war er wieder über ihr. »Du verfluchte…« keuchte er wild. Was Mylady seiner Meinung nach war, konnte er allerdings nicht mehr an den Mann beziehungsweise an die Frau bringen. Die Pistole erreichte Anne zwar nicht, dafür jedoch den Kristallascher, den sie vorhin als Wurfgeschoß benutzte. Er lag genau in ihrer Reichweite. Es dröhnte dumpf, als das fast vier Kilo schwere Ding gegen Hickers fliehende Stirn krachte. Obwohl der Schlag nicht mit sehr viel Kraft geführt wurde, genügte er. Hicker Streß machte ein erstauntes Gesicht, sah aus, als wollte er noch etwas Unanständiges sagen und kippte dann im Zeitlupentempo hintenüber. Als sein Hinterkopf mit dem Fußboden in Berührung kam, dröhnte es noch mal, ein wenig dumpfer… Lady Anne Rose ging kein Risiko ein. Anstatt hochzuspringen und möglichst viel Distanz zwischen sich und ihren Gegner zu bringen, wie es jede normale Frau getan hätte, galt ihr erster Griff der immer noch herrenlosen Pistole. Diese war eine Lebensversicherung. Aber Hicker Streß weilte im Land der Träume. Vorsichtig, mit der entsicherten Artillerie in der Hand, näherte Anne Rose sich dem gefällten Körper und stieß ihm mit dem Fuß in die Rippen. 90 �
Keine Reaktion! Dafür kam jetzt bei Anne die Reaktion auf die vergangenen Minuten. Sie fühlte, daß ihr Körper von einem konvulsivischen Zittern überlaufen wurde und ärgerte sich selbst darüber. Mit festen Schritten lief sie zurück an ihren Frühstückstisch, klaubte ihren Morgenmantel vom Boden auf und zog ihn wieder an. Dann trank sie den Rest Superkaffee aus ihrer Tasse und schenkte sich neuen ein. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie den flach liegenden Hicker. Nachdem sie auch die frisch eingeschenkte Tasse Kaffee getrunken hatte, fühlte sie sich besser. Sie ging zum Telefon und wählte die Nummer der Rezeption. Sofort, wenn Stanley zurückkommt, werde ich dieses Etablissement verlassen, dachte sie wütend und mußte dann tatsächlich lachen. Hier ging es ja schlimmer zu als im Wild Mans Pub in Soho. Lohmeyer, der Reserveportier meldete sich. Lady Anne ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen. »Lohmeyer«, sagte sie eisig, »lassen sie das Sollkonto der Depfords berechnen. Wir werden noch heute abreisen… Wie? Was? Ob ich mich über etwas zu beklagen hätte? Das müssen Sie am besten wissen, Sie Heuchler, schließlich habe ich das Frühstück bei Ihnen bestellt! Wie, ob der Whisky nicht richtig gekühlt war?« Sie lauschte einige Sekunden lang in den Hörer. Dann schüttelte sie den Kopf. »Sie scheinen wirklich ein Unschuldslamm zu sein«, sagte sie schließlich müde. »In meinem Whisky lag ein Gangster, der es allen Ernstes darauf abgesehen hatte, mir das Fürchten beizubringen. Schicken Sie jemand hoch, der seine Reste abholt!« Dann setzte Anne Rose of Depford mit gutem Appetit ihr Frühstück fort. Lediglich die Mixtur ihres Spezialkaffees veränderte sie etwas. Anstatt wie bisher zwei Drittel Whisky und ein Drittel Kaffee, nahm sie drei Drittel Chivas Regal und dafür keinen Kaf91 �
fee mehr. Tee schmeckte ihr sowieso besser… * Aus den Augenwinkeln sah Sir Stanley Depford, daß George direkt nach Shields Schuß ein bis zwei Schritte rückwärts taumelte und schwer zu Boden fiel. Der Butler brachte die Hand mit der russischen Makarow-Pistole noch aus seiner Jacke, ließ das Mordinstrument dann aber fallen. Stanleys Herz schlug von einer Sekunde zur anderen immer unrhythmischer. Wenn George tot ist, fuhr es ihm durch den Kopf, dann… Shields zweiter Schuß bewog ihn, sich flach fallen zu lassen. Die Kugel schlug dicht über ihm gegen das Blech des Pontiac und prallte mit hellem Singen als Querschläger ab. Gepanzert ist die Karre auch noch, dachte er böse. Zwischen ihm und der Makarow, die George hatte fallen lassen, lag eine Distanz von zwei Metern. Ohne sich um Shield zu kümmern, federte der Earl in eine gebückte Stellung und warf sich nach rechts. Das rettete ihm sogar das Leben, denn da, wo er eben noch gelegen hatte, schlug Shields dritte Kugel ein. Stanley bekam den Kolben der Makarow zu fassen, warf sich im Liegen herum und suchte Shields mit den Augen. Der Psychologe, immer noch schwankend wie ein Rohr im Wind, hatte seine Luger jetzt mit beiden Händen gepackt und versuchte, den Lauf ruhiger zu halten. Aber als Schütze und auch an Schnelligkeit war er dem Earl weit unterlegen. Die russische Armeepistole brüllte dumpf auf. Stanley sah, daß Shield getroffen wurde und ein zweites Mal nach hinten kippte. Seinen vierten Schuß hatte er nicht mehr anbringen können. Scheinbar der Arm, wo ich ihn erwischt habe, dachte Sir Stanley grimmig. Der Bursche ist hart im Nehmen. 92 �
Der Earl kam auf die Beine und rannte über die Straße. Bevor er sich erholt hat, dachte er, muß ich ihn vollends unschädlich machen. Mit einem gewaltigen Satz sprang er über das Gebüsch, hinter dem Shield umgefallen war. Stanleys Erwartung, seinen Gegner zu sehen, erfüllte sich nicht. Hinter dem Busch war kein Shield! Der Earl blieb stehen und orientierte sich kurz. Weit kann er nicht sein, dachte er. »Kommen Sie raus«, befahl er ruhig. »Und heben Sie die Hände hoch, wenn Sie noch können!« Direkt nach seiner freundlichen Aufforderung hörte er das Brechen und Knacken von Zweigen, dann einen dumpfen Aufschlag. Das Ganze kam von rechts. Mit einer blitzartigen Bewegung wirbelte Stanley herum. »Kommen Sie raus«, sagte er noch mal. »Oder ich hole Sie!« Ein Schuß peitschte auf, das Projektil pfiff allerdings in unschädlicher Entfernung an Stanley vorbei. Der Earl orientierte sich nach dem Knall, brachte den Lauf der Makarow in die entsprechende Richtung und drückte ab. Aus der grünen Wand vor ihm erklang ein Schrei, der sofort abbrach. Dann hörte er wieder das Knacken brechender Zweige und den weichen Aufprall eines schweren Körpers. Vorsichtig teilte der Earl das Gebüsch vor sich und schob sich vorwärts. Simon Shield lag in einer grasigen Vertiefung. Die schwere elfdreiundvierziger Kugel hatte ihm den halben Kopf weggerissen. * Stöhnend richtete George McLowrie sich auf. Er schüttelte mit Ausdauer und Akribie seinen weißhaarigen Schädel, um die letzten Nebelfetzen in seinem Gehirn loszuwerden. Es dauerte einige Augenblicke bis er seine Gedanken wieder so 93 �
weit beisammen hatte, daß er sich an das Geschehene erinnern konnte. Shield hatte auf ihn geschossen, das war klar. George wußte natürlich nicht, daß sein Gegner Shield hieß, er kannte ja nur seinen Vornamen, da Fiora Sring ihn erwähnt hatte. Jedenfalls war auf ihn, George McLowrie, hochherrschaftlicher Butler auf Helmet and Chain in Schottland, geschossen worden und er hatte es anscheinend überlebt. »Na, mein Bester, wieder unter den Lebenden?« hörte er die etwas spöttische Stimme Sir Stanleys. Mühsam riß er die Augen auf und sah sich um. Allem Anschein nach befand er sich in einem geschlossenen Raum. »Sir«, sagte er mühsam, »dürfte ich um eine Erklärung bitten.« »Sicher, sicher«, kam wieder Stanleys Stimme. »Sie erwischten einen Streifschuß, einen von der ganz knappen Sorte, der Ihnen einen neuen Scheitel zog. Die Wunde blutete kaum, also hielt ich es nicht für notwendig, sie mit irgendeinem Stoffetzen zu verbinden. Ihr Fastmörder ist tot.« »Danke, Mylord!« »Ich hatte eine kleine Schießerei mit ihm. Danach fuhr ich die beiden Wagen von der Straße weg. Sie befinden sich zur Zeit im Sheriffsbüro der ehemaligen Goldgräberstadt Alley Vills.« »Deswegen…« murmelte George. Kopfschüttelnd blickte er sich um. In dem Raum stand kein einziges Möbelstück. Auf dem Dielenboden lag zollhoch der Staub, in den beiden Fenstern waren keine Scheiben mehr. Es wirkte irgendwie trostlos. »Missis Sring…?« »Kommen Sie mit«, sagte Stanley. Er hatte auf den Hacken gesessen und erhob sich jetzt. George folgte ihm ins Freie. Vor der windschief in ihren Angeln hängenden Tür stand der Pontiac. Seine Scheiben waren geschlossen, die Türen ebenfalls. Im Fond des Wagens saß Fiora Sring. »Sie wurde eine halbe Stunde vor Ihnen munter«, erläuterte 94 �
Stanley trocken. »Da sie in einer geradezu unangenehmen Art und Weise rabiat war, war ich gezwungen, sie in ihrem eigenen Spezialgefängnis einzusperren.« George nötigte sich ein sparsames Lächeln ab. Mit grimmigem Vergnügen betrachtete er die Inderin, die in ihrem Auto hinter Panzerglas saß und voller Haß zurückstarrte. Der Earl öffnete die Tür auf der Fahrerseite, drückte den George bereits bekannten Knopf am Armaturenbrett und wartete, bis die Trennscheibe zwischen Fond und Vordersitzen wieder in ihrer Versenkung verschwand. »Ihre Türen sind wieder offen«, sagte er ruhig. »Ich darf Sie bitten, wieder ins Freie zu treten, Missis Sring. Wir möchten Ihnen einige Fragen stellen!« Ohne ein Wort der Erwiderung öffnete sie die Fondtür und schob ihren aufregenden Körper in die frische Luft. Sie war noch lange nicht hin. Im Gegenteil, sie benahm sich, als sei sie die Siegerin aller Kämpfe der letzten Zeit. Angst zeigte sie überhaupt nicht. »Was haben Sie mit Simon gemacht?« fragte sie ruhig und kalt. »Tot«, erwiderte der Earl lakonisch. »Wäre er es nicht, wäre ich es.« »Das werden Sie büßen! Beide!« »Was ich nicht glauben kann«, schaltete sich der Butler ein. »Dürfen wir erfahren, Madam, was der Zweck dieses mörderischen Überfalls war, bei dem Sie ganz offensichtlich Schützenhilfe leisteten? Es ist mir klar, daß wir umgebracht werden sollten, aber aus welchem Grund, zu welchem Zweck?« Die Angeredete erwiderte nichts. Sie blickte auf einen Punkt irgendwo hinter Stanley und kniff die Augen zusammen. Und dann schrie sie plötzlich. »Schieß Larry!« So billig es auch klingen mag – George McLowrie und Sir Stanley Depford fielen beide auf diesen uralten Trick herein. Sie wir95 �
belten synchron um ihre Achsen und blickten in dieselbe Richtung, in die auch Fiora geblickt hatte. Alles, was sie sahen, waren die Fassaden halbzerfallener Häuser, sonst nichts. Als sie das Getrappel schneller Füße hinter sich hörten, war es bereits zu spät. Fiora Sring saß bereits am Steuer des Pontiac und hatte die Hand am Zündschlüssel. Die beiden Schotten waren fast sechs Meter weit weg. George war durch seine Verletzung sowieso gehandicapt. Stanley legte zwar sofort einen Blitzstart ein, aber es reichte nicht mehr. Der Motor des Grand Prix dröhnte auf. Der Earl rettete sich durch einen schnellen Sprung zur Seite, sonst wäre er überrollt worden. Die durchdrehenden Räder des Vehikels wirbelten eine gewaltige Staubwolke auf, die ihm noch zusätzlich die Sicht nahm. Als er wieder klar sah, bekam er bloß noch mit, daß hundert Meter entfernt der Pontiac die morsche Ecke eines Hauses mitnahm und dann mit heulenden Reifen auf die schmale Landstraße schleuderte. »Unwahrscheinlich«, sagte er bewundernd. »George, wir haben uns ein zweites Mal in diesem Fall benommen wie die Anfänger. Diesmal hat uns sogar eine Frau aufs Kreuz gelegt. Ihr Einverständnis vorausgesetzt, würde ich vorschlagen, daß wir über diese Blamage den Mantel des Schweigens breiten. Aber irgendwie erinnerte sie mich tatsächlich an Anne. Also, dieses Tempo…« Er schüttelte den Kopf. George war herangekommen und tat dasselbe. Gleichzeitig dachte er aber auch an das Nächstliegende. »Was machen wir jetzt, Sir?« Stanley drehte sich um und sah ihn an. In seinen Augenwinkeln standen tausendachthundert Lachfältchen. »Ich für meinen Teil werde jetzt eine Zigarette rauchen«, gab er bekannt. »Da Sie Nichtraucher sind, müssen Sie sich ein eigenes Vergnügen erfinden. Und danach… werden wir uns in den 96 �
Sportwagen dieses Simon schwingen und genau dorthin fahren, wo auch Fiora Sring hinfährt, nämlich zu Mister Largan Sring, der nach eigenen Angaben ein echter Punjabi ist.« »Das wird ihm nicht gefallen«, gab der Butler zu bedenken. »Das ist mir egal«, erwiderte der Earl mit dem erneuten Anflug eines schwachen Grinsens. Dann zündete er sich eine Zigarette an. * George McLowrie fühlte sich nach fünf Minuten durchaus wieder in der Lage, Bäume auszureißen. Er marschierte mit vorgerecktem Kopf um den Wagen des toten Shield herum. Der Earl hatte das Gefährt in einer Seitengasse der Geisterstadt abgestellt. »Es handelt sich um einen Chaparral, Mylord«, sagte er schließlich. »Eine kleine Firma im Westen von Texas stellt diese Wagen in einer kleinen Serie her. Schnell, sehr schnell.« Und dann fiel ihm etwas auf. »Sir, der Wagen hat ungewöhnlich großflächige Rücklichter.« »Gesehen werden ist alles«, erwiderte Stanley gelangweilt. Dann begriff er, was George gesagt hatte. »He, Sie meinen, dieser Simon ist mit dem Einbrecher bei Spiglmyer identisch, der uns den Kassettenrecorder unter den Fingern wegstahl und uns dann auch noch durch die Lappen ging?« »Es wäre möglich«, sagte George. Er setzte sich hinter das Steuer des Wagens und schob den Fahrersitz in der Arretierung um einen Zahn nach hinten. Dann ließ er den Motor an. Er lief ruhig und rund. »Okay«, sagte Stanley und ließ sich in den Beifahrersitz fallen, »fahren wir eben. Fragen wir Mister Sring. warum er derart hysterisch wurde, daß er uns sogar umbringen lassen wollte.« 97 �
Mit langsamer Fahrt lenkte George den Chaparral auf die Landstraße. Er drehte dessen Schnauze in die Richtung, aus der sie vor einer halben Stunde gekommen waren, und gab Gas. Aus den Augenwinkeln sah er, daß sein Herr sich die zweite Zigarette innerhalb der letzten Viertelstunde anzündete. * George McLowrie und Sir Stanley, der elfte Earl of Depford, fuhren nicht direkt bis vor das Haus auf der Waldlichtung. Das wäre ein wenig zu frech gewesen. Eine halbe Meile vor Srings Villa steuerte der Butler den Chaparral in einen Waldweg, bis er von der Straße aus nicht mehr gesehen werden konnte. Die beiden Schotten stiegen aus. »Vermutlich«, sagte Sir Stanley, »werden wir die Herrschaften beim Packen erwischen. Seine Frau wird ihm einiges vorgefaselt haben. Er muß annehmen, daß wir schnurstracks zur nächsten Polizeidienststelle gefahren sind, um den an uns verübten Mordversuch zu melden, zusammen mit den entsprechenden Hinweisen auf die Srings.« »Also dürfte er kaum so früh Besuch erwarten«, nahm George den Faden auf. »Es besteht also die Möglichkeit, daß wir die beiden überraschen können.« Stanley verzog ein wenig das Gesicht. »Denken Sie sich das Ganze nicht so leicht«, warnte er. »Ich bitte zu beachten, daß dieser Simon möglicherweise der Dieb von Gingers Kassettenrecorder ist. Allem Anschein nach war er – Simon meine ich – ein Helfer von Sring. Wenn dieser sich den Recorder unter den Nagel reißen wollte, muß er irgend etwas mit dem Mord an Spiglmyer zu tun haben. Denkt man den Gedanken weiter, dann kommt man unweigerlich zu dem Schluß, daß Largan Sring ein Liebhaber lebendiger Puppen ist, der allerdings etwas dagegen hat, daß 98 �
Einzelheiten seines Hobbys in der Öffentlichkeit bekannt werden. Und der deshalb sogar Morde begeht, beziehungsweise begehen läßt. Sind Sie bereit?« Welche Frage! George McLowrie war jederzeit bereit. Schließlich hatte er mal bei den Pfadfindern gedient… Sie näherten sich dem Haus von der Rückseite und nutzten jeden Baum und jeden Strauch zur Deckung. Falls die Srings noch im Haus waren – und das war anzunehmen, würde Largan wohl nicht zögern, sie zu erschießen, falls er sie bemerkte. Und gegen eine gut gezielte Gewehrkugel hilft die schönste und bestbeherrschte magische Formel nichts. Mit einer Kugel unter der Großhirnrinde war auch ein Großmeister der Weißen Magie nichts anderes als tot. »George!« zischte der Earl leise. »Schauen Sie schnell mal nach, ob der Pontiac vor dem Haus steht! Ich warte hier.« Der Butler kam bereits nach zwei Minuten zurück. Er schnaufte ein wenig. »Der Wagen ist da, Mylord. Ich möchte allerdings bemerken, daß das Haus auch von der Vorderseite wie ausgestorben wirkt. Darüber hinaus muß ich gestehen…« »Was, mein Schlechtester?« fragte Sir Stanley ahnungsvoll. »Ich… ähem, ich erhob mich sekundenlang zu voller Lebensgröße, das heißt ich trat unter den Bäumen hervor, so daß man mich vom Haus aus unbedingt bemerken mußte. Meine Aktion provozierte jedoch keine Reaktion. Es wirkte tatsächlich so, als wären die Srings nicht mehr im Haus!« »Sie hätten erschossen werden können«, kommentierte Stanley erschrocken. »Warum warfen Sie nicht gleich eine Fensterscheibe ein? Das ist immer noch das sicherste Mittel, nachzuprüfen, ob ein Haus verlassen ist oder nicht.« »Eine hervorragende Idee, Mylord«, erwiderte der Butler voller Bewunderung. »Sie gestatten?« 99 �
»Was?« Aber George hatte bereits einen handlichen Sandsteinbrocken vom Boden aufgehoben, schwang seinen rechten Arm zurück und ließ dann sein Geschoß fliegen, noch bevor Stanley ihn daran hindern konnte. »So wörtlich meinte ich’s nicht«, sagte der Earl mit schmalen Augen. Er sah, daß der Stein in ein Fenster im ersten Stock flog. Das müßte eines der Rückfenster zur Halle sein, dachte er kühl. Gleich fängt Richard an zu bellen. Aber Srings Haustier bellte nicht. Die beiden warteten fast eine Minute. Nichts geschah! »George, ich fürchte, Sie haben recht«, sagte Stanley schließlich. »Sie mußten noch einen Wagen in der Garage gehabt haben. Mit dem sind sie anscheinend geflüchtet. Trotzdem, wir wollen uns den Prachtbau innen mal etwas genauer ansehen.« »Mylord denken an den armen, bettlägerigen Vater Mister Srings, der angeblich im zweiten Stock residieren soll?« erkundigte sich der Butler. »Nein! Dieser Vater war kaum bettlägerig. Ich denke, daß es dieser Simon war, der heute früh geklingelt hatte. Gehen wir!« Da die Scheibe des Fensters im Erdgeschoß sowieso zertrümmert war, konnte man es auch als Einstieg benutzen. Der Butler griff durch die Scheibenreste, entriegelte den Flügel und schwang ihn auf. Höflich wie er nun mal war, ließ er dem Earl den Vortritt. Sekunden später standen sie in der Empfangshalle, die sie bereits von ihrem Besuch vor einer Stunde kannten. Sie war leer, nirgends war jemand zu sehen. »Sring!« rief der Earl laut. Keine Antwort, »Sie scheinen tatsächlich bereits geflüchtet zu sein«, gab der Butler seine Meinung kund. »Wir kamen zu spät. Bei einer genauen Durchsuchung des Hauses könnten wir allerdings Hin100 �
weise auf den derzeitigen Aufenthaltsort« Seine Stimme brach ab. Sir Stanley hörte einen schweren Fall hinter sich und wirbelte gedankenschnell herum. Was er sah, trieb ihm sämtliche Haare in die Senkrechte! George McLowrie lag flach auf dem Rücken. Auf seinem Brustkorb stand ein winziger Mensch. Eine Puppe! Das Monster stieß ein haßvolles Zischen aus. Stanley bemerkte mit einem Anflug von beruflichem Interesse die roten Zähne. Überdies war das Wesen einwandfrei weiblichen Geschlechts. Mit beiden Händen hielt das Ding eine Stricknadel. Die Spitze zeigte auf Georges linkes Auge. Jetzt bog das Menschlein seinen Oberkörper zurück, um den richtigen Schwung zu bekommen, Noch nie zuvor in seinem Leben reagierte Sir Stanley so schnell. Die Makarow aus der Jackentasche ziehen, in Zielrichtung schwenken und abfeuern, waren das Werk einer Zwanzigstelsekunde. Die Puppe wurde durch den Einschlag von Georges Gesicht weggewirbelt – wie ein Blatt im Herbstwind. Sie flog fast fünf Meter weit und klatschte gegen einen Schrank. Finito, dachte der Earl mit bleichem Gesicht. Dann erschrak er noch mehr. Das Ding lag nur wenige Augenblicke auf dem Teppich, dann stieß es wieder sein Zischen aus und begann auf allen vieren in Richtung George McLowrie zu krabbeln. Stanley sah, daß der Körper des Winzlings mit einem glatten Durchschuß verziert war, trotzdem hatte er noch genug Virilität, um weiter ans Morden zu denken. Der zweite Schuß traf den winzigen Kopf und riß ihn in seiner Gesamtheit weg. Was dann geschah, kannte Stanley aus früheren Erfahrungen mit Produkten der Schwarzen Magie. Die Überreste des kleinen Ungeheuers lösten sich im Zeitraum von einer Viertelminute in Nichts auf. Nur ein hübsches, kleines Waschkleid blieb übrig. Ein Puppenkleid eben. 101 �
»Es saß auf der Lampe, Mylord«, sagte George schreckensblaß. Er erhob sich langsam. Sir Stanley schaute nach oben zur Raumdecke. Dort hing eine große Schirmlampe. »Ich ahnte irgend etwas und blickte zur Decke«, fuhr der Butler fort. »Da sah ich es, aber es war schon zu spät. Es ließ sich einfach fallen und traf mich im Nacken. Ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten. Es… es hatte… in seinen Händen…« »… eine Stricknadel«, vollendete Stanley kühl. »Ich hätte es sehr gern am Leben gelassen, leider blieb mir keine andere Wahl als zu schießen. Schade! Well, an der Existenz dieser von Spiglmyer erwähnten Puppen kann es jetzt keinen Zweifel mehr geben. Wer der Produzent dieser kleinen Ungeheuer ist, dürfte auch klar sein. Sring! Bevor ich ihn in meiner Eigenschaft als erster Exekutor der Bruderschaft Weißer Magier über den Styx schicke, wird er mir noch verraten, wie’s gemacht wird. Wir müssen vorsichtig sein. Vielleicht, gibt es in diesem Haus noch mehr dieser… Puppenmenschen.« »Um Mister Sring über den… ähem… Styx zu schicken, müssen wir ihn erst mal haben«, warf George ein. Er hatte sich schnell erholt. »Richtig«, gab Stanley zu. »Aber wir werden ihn bekommen, und wenn ich eine weltweite Fahndung auf magischer Ebene nach ihm ankurbeln muß. Diese soeben von mir getötete Puppe war früher zweifelsohne mal ein richtiger Mensch. Experimente mit Lebewesen sind verboten, mit Toten ebenfalls, daran halten sich sogar die Wissenschaftler der Schwarzen Internationale! Das hier ist ein einwandfreier Bruch dieser stillschweigenden Verabredung, des Abkommens, meine ich.« »Mylord sind sicher, daß sich die Schwarzen Magier immer an dieses Abkommen halten?« fragte George leicht ironisch. »Na ja«, räumte Stanley ein. Bevor er weitersprechen konnte, kam die nächste Unterbrechung. 102 �
Das Telefon klingelte wieder mal. Mit drei Schritten war der Earl an dem niederen Telefontisch. Der Butler schrie auf. »Nicht berühren, Mylord! Es könnte ein Trick sein. Der Apparat kann mit einer geballten Ladung präpariert sein, die explodiert, wenn der Hörer abgenommen wird…« Stanley Depford sah seinen Diener über die Schulter an. »Sie haben eine geradezu perverse Phantasie, mein Lieber«, sagte er sarkastisch. Mit einem Griff nahm er den Hörer ab und preßte ihn ans Ohr. »Hallo, Mister Sring«, sagte er kalt. Aus der Hörmuschel kam ein grausiger Fluch, abgefaßt in Hindustani, dem in ganz Indien gebräuchlichsten Idiom. Der Earl hielt, den Hörer vom Ohr weg und sagte »Na, na!« Am anderen Ende war tatsächlich Largan Sring. Die Stimme des Inders artikulierte sich allmählich und wurde verständlich. »Sie haben soeben das vorerst letzte meiner Werkzeuge getötet«, schrie er. »Dafür werden Sie büßen, und das mit ihrem Blut, Sie… verdammter…!« »Depford mein Name«, erwiderte der Earl konziliant. »Stanley Depford. Noch etwas?« Aber am anderen Ende der Leitung hustete bloß noch jemand gequält in die Sprechmuschel. Stanley legte sachte den Hörer neben die Gabel und wandte sich um. George kam einen Schritt näher, als der Earl ihn heranwinkte. »Sir?« »Leiser, George! Er muß noch irgendwo im Gelände sein. Soeben hat er sich nämlich verraten. Er hat irgendwie gesehen, daß ich sein Spielzeug abschoß. Ich vermute, daß hier im Raum eine Fernsehkamera versteckt ist. In einem der anderen Räume dürfte das dazu gehörende Empfangsgerät stehen.« Der Butler dachte einige Sekunden lang nach, dann hatte er es. 103 �
»Sir«, flüsterte er zurück, »ich würde vorschlagen, daß wir uns trennen, um die Räume zu durchsuchen.« Sir Stanley stimmte zu. Bewaffnet waren sie alle beide. Der Earl hatte George die Makarow zurückgegeben – da waren allerdings bloß noch drei Schuß im Magazin – und selbst die Luger des toten Simon Shield behalten. »Einverstanden! Sie übernehmen das Erdgeschoß und den vielleicht vorhandenen Keller, ich werde mich um die oberen Stockwerke kümmern. Falls irgendwas sein sollte, ein Schuß in die Decke! Dann kommt der andere so schnell wie möglich herbei und hilft. Fangen wir an!« Stanley verspürte einen gesunden Hunger. Er wollte den Rest der Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen und sich dann im nächst erreichbaren Restaurant ein gediegenes T-Bone-Steak bestellen. Daß es noch verdammt haarig werden sollte, konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen. Er verließ die Halle durch die Verandatür, um nach einem Zugang zum zweiten Stock zu suchen. Seltsamerweise gab es von der Halle aus keinen. George McLowrie wartete einige Sekunden, bis die Schritte seines Herrn verklungen waren. Dann machte er sich daran, seinen Teil der nicht genehmigten Haussuchung zu erledigen. Von der Halle zweigten insgesamt drei Türen in die restlichen Räume des Erdgeschosses ab. Hinter der ersten befand sich eine supermoderne Küche. Hinter der zweiten befand sich eine Abstellkammer. Das war auch nichts Bemerkenswertes. Die dritte Tür war verschlossen. Als George mit dem Fuß probeweise dagegen stieß, gab es einen dumpfen Klang. Das Ding hat – unter der Holzverkleidung – eine Stahlfüllung, dachte der Butler. Er tastete seine Jackentaschen ab, bis er sein Besteck fand. 104 �
Dieses Schloß war kompliziert. George benötigte über drei Minuten, bis er seinen Bürstendietrich so eingestellt hatte, daß er alle Zuhaltungen zurückdrückte. Aber dann klickte es. Vorsichtig, jederzeit gewärtig mit einem Schuß begrüßt zu werden, zog er die schwere Tür auf. Nichts tat sich. Dahinter erschien die erste Stufe einer nach abwärts führenden Treppe. Das Haus ist also tatsächlich unterkellert, dachte George. Und der Keller ist relativ gut gesichert mit dieser Stahltür. Er blickte sich suchend um. Rechts hinter der Tür war ein Lichtschalter in die Wand eingelassen. George betätigte ihn. An der Decke des niederen Treppenganges begann eine trübe Schiffsarmatur vor sich hinzufunzeln. Immerhin genügte ihr Licht, um festzustellen, daß sich die Stufen der Treppe weit unten irgendwo im Dunkel verloren. Der Butler staunte ein wenig. Sollte Mister Sring sich einen atombombensicheren Keller angelegt haben? So in etwa dreißig, vierzig Metern Tiefe? Er zauberte die Makarow ins Freie und betrat die erste Treppenstufe, dann die zweite. Beim Betreten der dritten flog die Tür in seinem Rücken mit einem donnernden Knall zu. George hörte direkt danach ein Knarren. Schlüssel im Schloß umgedreht, dachte er. Größere Sogen machte er sich erst, als er die Innenseite der Tür genauer begutachtete. Sie war nicht mit Holz verkleidet, hier schaute der nackte Stahl ins Lampenlicht. Und auf dieser Seite hatte sie weder eine Klinke noch ein Schlüsselloch. Daß auf der anderen Seite der Tür Fiora Sring, die schöne, indische Mordhelferin stand, konnte George nicht wissen. Aber die Gemahlin des Puppenmachers freute sich sehr, daß sie wenigstens einen dieser schrecklichen Briten noch fünf vor zwölf kaltgestellt hatte.
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* � Sir Stanley trat vorsichtig auf die Veranda des Hauses. Diese war mit Acryl überdacht. Am südlichen Ende führte eine hölzerne Treppe nach oben in den zweiten Stock. Soweit Stanley sehen konnte, war die Tür am oberen Absatz sogar offen. Wenn Sring im Haus selbst eine Fernsehkamera installiert hat, überlegte der Earl nüchtern, ist es nicht auszuschließen, daß ich auch hier draußen überwacht werde. Die Wahrscheinlichkeit, daß er jeden meiner Schritte beobachtet und auf alle Eventualitäten vorbereitet ist, muß mit neunzigprozentiger Sicherheit einkalkuliert werden. Und deshalb war es besser, wenn er nicht zu zaghaft vorging. Sir Stanley nahm einen Anlauf über die ganze Länge der Veranda und stürmte mit drei Sätzen die Treppe hoch. Oben angekommen machte er eine Wendung nach links, stieß sich locker ab und tauchte mit einem flachen Startsprung in den Raum hinter der offenen Tür. Diese Maßnahme rettete ihm das Leben. Eine Dreierrunde ratterte über seinen gestreckt in der Luft liegenden Körper hinweg und fetzte aus der gegenüberliegenden Wand ein halbes Kilo Verputz heraus. Wäre der Earl aufrecht durch die Tür marschiert, dann hätte er das Blei vermutlich mit dem Oberkörper aufgefangen. Stanley rollte sich gekonnt auf dem Boden ab, suchte mit den Augen seinen Gegner und brachte die Luger in Anschlag. Er sah eine schattenhafte Gestalt – Largan Sring? – die mit huschenden Bewegungen den Flur entlang rannte. »Stehenbleiben!« schrie Stanley. Sein Gegner tat ihm den Gefallen nicht. Noch bevor der Earl abdrücken konnte, hörte er, wie eine Tür zugeschlagen wurde. Plötzlich herrschte eine tödliche und drohende Stille. Nicht das 106 �
geringste Geräusch war mehr zu hören. Sir Stanley richtete sich in eine geduckte Haltung auf und lauschte. Nichts, noch nicht mal das Summen einer Fliege… Mit schleichenden Schritten bewegte Stanley sich in die Richtung, in der sein Gegner verschwunden war. Er kam bis zur Flurbiegung und riskierte einen halben Blick. Wartete Sring darauf, daß er seinen Kopf um die Ecke streckte? Nein, der Gang war leer. Sein Ende wurde von einer geschlossenen Tür gebildet. Vermutlich die, die Sring vorhin zugeschlagen hatte, dachte der Earl. Es ist nicht anzunehmen, daß er in einen Raum flüchtete, der nur diesen einzigen Zugang hat. Drei Sekunden lang war Stanley sehr unvorsichtig, um nicht zu sagen, er verhielt sich selbstmörderisch. So lange brauchte er, um die Distanz bis zu der Tür zu überbrücken. Hätte Sring sie in diesen Augenblicken geöffnet, er hätte den Earl als Schießscheibe benutzen können. Stanley hielt sich nicht mit dem Niederdrücken der Türklinke auf. Überraschung und Schnelligkeit waren das halbe Leben. Mit seinem anstürmenden Körper riß er die leichte Tür aus Schloß und Angeln und flog mitsamt der Füllung in den darunterliegenden Raum. Noch im Fallen schoß er einen Warnschuß in die Luft. Seine Vorsicht war überflüssig. Der Raum war leer, das heißt, kein Mensch befand sich darin. Es handelte sich um ein Schlafzimmer. An einer Seitenwand stand ein riesiges französisches Bett, Nachtschränkchen, ein gewaltiger Kleiderschrank und ein Toilettenspiegel vervollständigten das Mobiliar. Und das Zimmer besaß nur diesen einzigen Zugang, dessen Tür Stanley soeben aus der Zarge gerissen hatte. Der Kerl kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben, überlegte der Earl. Es steht hundertprozentig fest, daß er hier drin verschwunden sein muß. Also ist er auch noch hier, oder? 107 �
Die beiden Fenster des Schlafzimmers waren jedenfalls verschlossen. Stanley sah durch ihre Scheiben ein Stück Wald und eine Ecke des Schwimmbeckens. Genau in diesem Moment drang, gedämpft durch die Hausmauern, das Aufheulen eines Automotors an seine Ohren. Mit einem sehr unfeinen Fluch stürzte er an eines der Fenster. Der Pontiac Grand Prix setzte sich gerade mit durchdrehenden Hinterreifen in Bewegung. Stanley erkannte, daß nur eine einzige Person in dem Wagen saß. Es war Fiora Sring. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff, dachte er sarkastisch. Fiora Sring war seiner Ansicht nach nicht so wichtig. Stanley ging es mehr um den Mann, der mit Puppen experimentierte. Er war der Wichtigste. Seine Frau würde früher oder später doch vom Schicksal ereilt werden. Mörder zu fangen, dachte er nüchtern, ist Aufgabe der Polizei. Überdies ist es nicht sicher, ob sie schon jemals gemordet hat. Meine Aufgabe ist es, mit magischen Mitteln begangene Verbrechen aufzuklären und die Täter zu bestrafen. Aber wo war Largan Sring? Mit schmalen Augen suchte der Earl nach einem zweiten Ausgang aus dem Zimmer, nach einer Tapetentür oder etwas Ähnlichem. Es gab keine. Eine Minute später kam Stanley auf den Gedanken mit dem Schrank und ärgerte sich, daß er nicht eher daran gedacht hatte. In jedem Krimi kommt zumindest eine Geheimtür vor, die von der Rückseite eines Kleiderschrankes gebildet wird. Stanley riß sämtliche Türen des Hochschrankes im Schlafzimmer auf. Einige Dutzend Kleidungstücke, schön auf Bügeln hängend, versperrten ihm die Sicht auf die Rückwand. Er riß die Bügel von ihren Stangen und sah wenige Sekunden später seinen Verdacht bestätigt. Haarfeine Risse in der Rückwand des Schrankes bildeten ein fast mannshohes Rechteck. Al108 �
lerdings war nirgends ein Öffnungsmechanismus zu entdecken. Der Earl hatte seinen destruktiven Tag. Er holte mit dem linken Fuß aus und trat zu. Und genau das war etwas, was er auf keinen Fall hätte tun sollen. Das Holzeck löste sich beim Kontakt mit Stanleys Fußspitze mühelos aus der Schrankrückwand, kippte nach hinten weg und verschwand ohne Kommentar. Eine dunkle Öffnung tat sich auf. Sir Stanley versuchte verzweifelt, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen und sich mit der freien Hand irgendwo festzuklammern. Es gelang ihm aber nicht. Er stolperte fast kopfüber in die drohende Öffnung… * George McLowrie, hochherrschaftlicher Butler und Adept ersten Grades der Weißen Magie, wußte stets, wann eine Anstrengung nichts einbrachte. Deshalb musterte er die Tür, die hinter ihm zugeschlagen worden war, nur mit einem kurzen Blick, stellte fest, daß er sie ohne einen Vorschlaghammer nicht aufbekam, drehte sich wieder um und begann die lange Treppe hinunterzusteigen. Wenn Mister oder Missis Sring nämlich auf den Gedanken kamen, die Stahltür wieder zu öffnen und den Kellergang mit einer Salve aus einer MPi zu bestreichen, wollte er möglichst weit vom Schuß sein. Die Treppe führte tief hinab. George zählte dreiundsechzig Stufen, bis er an ihr Ende kam. An der Decke hingen in regelmäßigen Abständen Schiffsarmaturen und spendeten ein trübes Licht. Am Ende der Treppe war wieder eine Tür. Diesmal brauchte der Butler seinen Bürstendietrich nicht zu bemühen. Sie war nicht verschlossen. Hinter dieser Tür erstreckte sich ein großer, fast saalartiger Raum. Er war hell erleuchtet. 109 �
Für den Butler war er die Überraschung des Tages. Selbst ein Bastelfan, entlockte ihm die Einrichtung des Raumes ein anerkennendes »Donnerwetter«. Es schien sich um ein Laboratorium zu handeln. An einer Seitenwand, hell angestrahlt von an der Decke befindlichen Spiegelstrahlern, stand eine lange Tischreihe. Darauf befand sich ein Versuchsblock, der gute zehn Kubikmeter Raum einnahm. Er bestand aus Filterstufen, Kolben- und Reagenzgläsern und einer verwirrenden Vielzahl von gläsernen Leitungsröhren. »Mister Sring scheint sich in seiner Freizeit mit chemischen Versuchen zu befassen«, stellte George fest. Dann bemerkte er die beiden großen Zinkwannen in einer Ecke des Saales. Mit einem mulmigen Gefühl lief er hinüber. »Mit biochemischen Versuchen, genauer gesagt«, berichtigte er sich selbst. Die beiden Wannen waren mit einer glasklaren Flüssigkeit gefüllt. In der Linken schwebte ein erwachsener Mensch in dieser Flüssigkeit. Es war ein Mann, er war unbekleidet. In der rechten Wanne lag ein Kind, ebenfalls nackt. George sah genauer hin. Dann erfaßte er es. Das war kein Kind! Das war en miniature ein genaues Abbild des großen Mannes in der anderen Wanne! »Verdammt!« sagte er. »Sehr richtig«, ertönte eine kultivierte Stimme. »Das sagte ich auch, als die Sache danebenging. Ein mißglückter Versuch.« Es war Largan Srings Stimme. George fuhr gedankenschnell herum, allerdings nur um zu sehen, daß er überhaupt keine Chance hatte, Sring stand fünf Meter hinter ihm, vor einer Öffnung in der Wand, die vorhin noch nicht dagewesen war, und hielt eine schwere Pistole auf ihn gerichtet. »Machen Sie keine Bewegung«, befahl der Inder eisig. Er hatte wieder Oberwasser, das war klar. »Ich weiß, daß Sie eine Pistole 110 �
haben. Holen Sie sie heraus! Mit den Fingerspitzen! Und lassen Sie sie fallen!« Er hat den Abzug durchgezogen bis zum Druckpunkt, erkannte der Butler. Wenn er nur eine hastige Bewegung macht, bin ich tot. Vorsichtig faßte er in seine Jacke und holte die Makarow heraus. Klirrend polterte sie auf den gefliesten Boden. »Brav«, sagte Sring. Er trug noch immer dieselbe Kleidung wie am Morgen, Jeans, ein Hemd und keine Schuhe. »Und jetzt… kommen Sie rüber!« Der Inder trat zur Seite und gab den Durchgang frei. Er führte in einen zweiten Raum, fast ebenso groß wie der erste. Aber er war leer. Nur in seiner Mitte war ein Becken in den Boden eingelassen. Der Butler sah, daß man es mit einer Stahljalousie abdecken konnte. Im Moment war diese zurückgeschoben. Das Becken, drei auf vier Meter mochte es haben, war mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllt. In der Luft lag ein stechender Geruch. Der Butler merkte voller Entsetzen, mit welcher Flüssigkeit dieser Swimmingpool gefüllt war. Mit hochaktiver Schwefelsäure! »Treten Sie an den Rand des Beckens«, befahl Sring. Der Inder trat hinter George und gab ihm einen Schubs. »Na los! Als Sie meinen Helfer töteten, hatten Sie auch keine Hemmungen. Wer wird sich denn gleich vor ein paar Tropfen Schwefelsäure fürchten!« Der Butler trat einen Schritt nach vorn. »Der Tod dieses Simon – vermutlich spielten Sie soeben auf ihn an – ist ein Verdienst meines, Herrn«, erklärte er steif. »Ich vermute allerdings, daß Sie mich trotzdem töten wollen, nicht wahr?« »Richtig! Sie haben bereits zuviel gesehen!« »Was bezwecken Sie eigentlich mit dieser Einrichtung?« George machte kreisende Bewegung mit der rechten Hand. »Daß Sie 111 �
irgendwelche teuflischen Experimente mit Menschen machen und sie sogar verkleinern oder im Kleinen nachmachen können, habe ich bereits erfaßt. Dieses grauenhafte Ungeheuer mit der Stricknadel war der beste Beweis.« Er erwartete nicht, von seinem Henker eine Antwort zu bekommen. »Sie sterben sowieso«, erwiderte Largan Sring leise. »Und Sie scheinen mehr zu sein, als ein gewöhnlicher Domestik eines britischen Adligen. Wer sind Sie?« »Sie erwähnten es bereits«, entgegnete George. Wer redet, mordet nicht, dachte er. Hinhalten! »Ich bin ein einfacher…« »Schon gut«, unterbrach ihn der Inder. »Beten Sie! Und während Sie beten, werde ich erzählen, warum Sie sterben müssen. Weil mein Werk nicht gefährdet werden darf! Weil ich der Herrscher dieser Welt sein werde!« Verrückt, dachte George McLowrie. »Sie denken, ich sei verrückt, wie?« Aber ja, erwiderte der Butler in Gedanken. »Doch in wenigen Jahren werde ich eine ganze Armee von Puppenmenschen haben, und sie gehorchen mir, nur mir…« * Sir Stanley ließ seine Pistole fallen und griff während des Falles blind ins Dunkle. Seine linke Hand bekam irgend etwas zu fassen. Instinktiv griff er zu und versuchte sich festzuklammern und seinen Sturz zu bremsen. Innerhalb einer halben Sekunde wurde die Haut auf seiner Handfläche weggefetzt. Es brannte höllisch, aber er empfand den Schmerz kaum, griff statt dessen noch ein wenig fester zu und hing dann pendelnd zwischen Decke und Boden in einem stockdunklen Schacht – in einem Haus in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. 112 �
Er faßte auch mit der rechten Hand zu. Keineswegs von Panik erfüllt, versuchte er, sich zu orientieren. Er blickte nach oben. Etwa zwei Meter über ihm drang Licht in den Schacht. Das ist das Loch in der Rückseite des Kleiderschranks, konstatierte er. Jetzt spürte er auch die grausamen Schmerzen in der linken Hand. Mit der Rechten tastete er an dem Gegenstand herum, der seinen Fall gebremst hatte. Es war ein Drahtseil! Unmöglich, dachte er. Ich hänge in einem Fahrstuhlschacht. Oder gibt’s so was doch? Nach kurzer Überlegung kam ihm der Gedanke gar nicht mehr so unwahrscheinlich vor. Falls das Haus einen tief liegenden Keller hatte, war es gut möglich, daß Sring sich einen Lift hatte installieren lassen. Und das Terminal im zweiten Stock des Hauses hatte er hinter dem Kleiderschrank versteckt. Also befand sich am unteren Ende des Liftschachtes etwas, das nicht für jedermanns Augen bestimmt war. Mit einigen Armzügen hangelte Stanley sich an dem verölten Drahtseil nach oben. Im heller werdenden Licht, das durch die Öffnung in der Schrankrückseite fiel, erkannte er, daß seine Vermutung sich bestätigte. An den Schachtwänden liefen senkrechte Führungsschienen entlang. Und an der Rückwand des Schachtes waren Eisensprossen eingelassen! Der Earl streckte eine Hand aus und versuchte sie zu erreichen. Es reichte nicht. Noch mal, mit ein wenig Schwung diesmal. Das Drahtseil pendelte ein wenig aus. Mit den Fingerspitzen kam Stanley jetzt bis ans Metall einer Sprosse heran, pendelte dann aber wieder zurück. Erst beim dritten Anlauf klappte es. Er bekam eine der Sprossen in den Griff, ließ das Seil los und klatschte schwer gegen die Wand. Aber seine jetzige Position war wesentlich sicherer als einige Sekunden zuvor. 113 �
Mit den Füßen suchte er festen Stand auf einer weiteren Sprosse und fand ihn. Dann legte er eine Erholungspause von einer Minute Dauer ein, um wieder zu Kräften zu kommen. Mindestens zwei Kilo Gewicht habe ich bis jetzt bereits in dieser Angelegenheit verloren, dachte er wütend, als er mit dem Abstieg begann. Als er drei Minuten später – jetzt in totaler Dunkelheit – immer noch mit Klettern beschäftigt war, kamen ihm leise Zweifel. So tief konnte doch kein Keller liegen, oder? Er war jetzt bereits mindestens dreißig Meter tief. Wie war das mit dem Grundwasserspiegel? Unter seinem linken Fuß, der gerade nach der nächstunteren Sprosse tastete, dröhnte es hohl auf. Stanley blieb stocksteif hängen. Er ließ mit einer Hand los und fingerte nach seinem Gasfeuerzeug. Die Flamme stand mittelhoch und leuchtete die Umgebung recht gut aus. »Na bitte«, sagte er. Er stand direkt über dem Dach der Liftkabine. Deutlich sah er die Seilrolle und den schweren Bock, in dem sie montiert war. Vorsichtig stieg er von der Sprosse herunter und stellte sich auf die Kabine. Ihr Dach federte ein wenig, hielt ihn aber sicher. Rechts neben der Seilrolle war der Deckenausstieg, falls er nicht vom Kabineninnern aus verriegelt war. Stanley beugte sich nieder, faßte den Metallring in der Mitte der Klappe und zog. Es ging ganz leicht. Der Deckel klappte in seinen Scharnieren zurück. Durch den viereckigen Ausschnitt war das Innere der einfachen Kabine zu erkennen. Ich komme, Mister Sring, dachte der Earl. Mühsam zwängte er sich durch die Luke und sprang. Der ganze Käfig wackelte, als er auf dem Boden aufkam. Die Türen der Kabine waren verglast. Stanley sah einen mittelgroßen Raum, der scheinbar als eine Art Büro benutzt wurde. Jedenfalls standen ein Schreibtisch und einige Aktenschränke darin. Zwischen zwei Schränken war ein Durchgang zu erkennen. 114 �
Scheint ein regelrechtes Kellerlabyrinth zu sein, dachte Stanley, mit mehreren Räumen. Mit lautlosen Schritten durcheilte er Srings bombensicheres Büro und lief auf den Durchgang zu. Der in der Luft liegende Geruch fiel ihm auf. Irgendeine Säure, dachte er. Hinter dem Durchgang tat sich ein Gang auf. Leuchtstoffröhren klebten an der niederen Decke und spendeten grelles Licht. Plötzlich hörte Sir Stanley die Stimmen. Gedämpft zwar, aber doch recht deutlich. Das ist doch George, dachte er verwundert. Wie kommt er hier herunter? Mit zwei Schritten war er an der nur angelehnten Tür, die vom Gang abzweigte. Die Redefetzen kamen von hier. Langsam drückte der Earl die Tür einen Spalt weit auf. Die Stimmen wurden deutlicher. Der andere ist Sring, erkannte Stanley alarmiert. Und Sring wurde gerade sehr laut! »Sie denken, ich sei verrückt, wie?« hörte Sir Stanley. »Aber in wenigen Jahren werde ich eine ganze Armee von Puppenmenschen haben, und sie gehorchen mir, nur mir…« Wenn er noch solche Reden schwingt, fuhr es dem Earl durch den Kopf, dann befindet sich George vermutlich in einer prekären Lage. Er öffnete die Tür noch ein wenig weiter, bis er einen Teil des Raumes überblicken konnte… Er hatte Glück! Der Inder stand mit dem Rücken zu ihm, gegenüber stand der Butler mit erhobenen Händen. Dann erkannte der Earl auch, woher dieser ätzende Geruch kam. Aus dem Becken, vor dem George sein Männchen baute. Der Butler hatte gesehen, daß sich die Tür hinter Srings Rücken ein bißchen bewegte, zuckte aber mit keiner Wimper. Statt dessen versuchte er, den Inder abzulenken. »Eine Armee also«, sagte er steif. »Ich weiß zwar nicht, wie Sie 115 �
es fertiggebracht haben, Menschen zu verkleinern, begreife aber durchaus, daß Sie ihr Können auf eine höchst ungesetzliche Weise zu nutzen gedenken…!« Largan Sring lachte. In der großen Halle klang es blechern und hohl. »Sie begreifen es nicht, sagten Sie. Wie könnten Sie auch! Ich verkleinere keine Menschen, ich züchte sie! Verstehen Sie etwas von moderner Genetik?« »Wenn ich ehrlich sein soll…« »Also nichts! In jeder Körperzelle eines Menschen ist sein genetischer Code einprogrammiert. Alles, was das Wesen eines Menschen ausmacht, ist bereits in einer einzigen Zelle enthalten. Wußten Sie das?« »Nein«, entgegnete George und: »Interessant.« »Nicht wahr? Wenn ich also eine solche Zelle bewegen könnte, sich zu teilen, dann würde sie innerhalb einer gewissen Zeit einen völlig neuen Körper bilden, der dem, dem die Zelle entnommen wurde, weitgehend gleichen würde. Aber die heutige Wissenschaft hält das natürlich für unmöglich.« Er lachte wieder. Die Pistole in seiner Hand lachte nicht mit. Ihr Lauf deutete immer noch unbeirrt auf Georges Stirn. »Aber für Sie ist es möglich?« fragte der Butler ruhig. »Mit Einschränkungen«, erwiderte der Inder. Es schien ihm Freude zu machen, einen Zuhörer gefunden zu haben. »Die Körper, die sich aus den – sagen wir mal… Signalzellen bilden, weichen ein wenig von der Norm ab… sie entwickeln sich nur bis zu einer gewissen Größe.« »Zur Größe von Puppen«, sagte der Butler kalt. »Und sie tun, was Sie ihnen befehlen. Warum eigentlich?« »Hatten Sie in ihrer Kindheit keine Angst vor ihrem Vater?« fragte Sring zynisch. George schauderte es. 116 �
»Sie sollten zu einem guten Psychiater…« begann er, wurde aber von Sring unterbrochen. Der Inder hatte nicht gehört, was der Butler sagte. »Bis jetzt kann ich aus einem menschlichen Körper nur eine Puppe machen.« Seine Augen glänzten fiebrig. »Aber es ist möglich, daraus genauso viele Werkzeuge zu machen, wie er Zellen hat. Millionen, Milliarden. Und ich werde es schaffen. Dann werden aus diesem Haus unzählige Puppen strömen, sie werden die Welt überschwemmen, nichts kann sich ihnen entgegenstemmen…« »Und Sie werden als eine Art Gulliver im Reich der Zwerge ihren angestammten Platz auf dem Thron einnehmen, wie?« fragte George mit spöttischem Lächeln. »Was haben Sie mit meinem Herrn gemacht?« »Er sucht mich, glaube ich, immer noch«, grinste der Inder. »Aber in wenigen Minuten wird er tot sein. Oben im Haus liegt ein Druckbehälter mit einem Kampfgas. Ein Zeitzünder wird das Ventil der Flasche öffnen, in« – er blickte auf seine Armbanduhr – »fünf Minuten. Das Gas wird sich in einer halben Stunde wieder verflüchtigt haben, aber für ihren Herrn ist es dann zu spät. Und ich bin hier im Keller völlig sicher.« Das ist eine gedachte Linie, du Hundesohn, überlegte der Earl draußen auf dem Gang. Mit behutsamen Bewegungen schob er die Tür noch ein Stück auf, so daß er hindurchschlüpfen konnte. Er hatte vor, dem Schauspiel ein Ende zu bereiten. »Hallo, Mister Sring«, sagte er halblaut. Der Inder fuhr herum. Die Überraschung auf seinem Gesicht war bereits komisch zu nennen. Trotzdem war er nicht überrascht genug, um nicht sofort abzudrücken. Der Schuß krachte in dem Gewölbe wie eine Bombendetonation. Die Kugel zischte knapp an Stanleys linkem Arm vorbei. George McLowrie stieß sich vom Boden ab und flog vorwärts. 117 �
Erstmals zeigte er öffentlich seinen von ihm selbst erfundenen Sidecut, eine Abwandlung des in der Boxbranche sehr gebräuchlichen Uppercuts. Seine Faust krachte auf Srings rechten Unterarm. Die Pistole flog aus der Hand des Inders und schlitterte über den Boden. Gleichzeitig fuhr der Ellbogen von Georges Schlagarm mit Wucht in den Unterleib seines Gegners. Das war das Essentielle – mit einem einzigen Schlag zwei Treffer zu landen. Der Inder wankte und taumelte einige Schritte nach vorn. Der Earl brüllte auf. »Halten Sie ihn, George!« Aber da gab es nichts zu halten. Dazu war der Rand des Beckens viel zu nahe. Es spritzte, und Largan Sring versank ohne einen Laut, Sekunden, nachdem er in die dunkle Flüssigkeit gefallen war, begann diese zu schäumen. Der Butler wandte sich entsetzt ab. »Das wollte ich nicht«, flüsterte er erschüttert. »Aber er«, sagte Sir Stanley. * In den Aktenschränken in Srings Kellerbüro fanden sie Unterlagen. Es waren Versuchsberichte, über zehn Jahre datiert, in denen der Inder minutiös genau die Ergebnisse seiner biochemischen Forschungsarbeiten festgehalten hatte. Er war ein genialer Biochemiker gewesen. So genial, daß er es geschafft hatte, die mittelalterliche Idee des Homunkulus zu verwirklichen. Und so verrückt, daß er gemeint hatte, mit den Produkten seiner Arbeit mal die Welt zu beherrschen. Stanley benötigte für das Studium der Unterlagen eine halbe Stunde. Er überflog sie nur. Zuletzt faßte er seinen Entschluß. »Zu gefährlich! Es wäre unverantwortlich, wenn diese Papiere 118 �
weiter existieren würden. Sie könnten in die Hände von Menschen gelangen, die etwas damit anfingen…« »Multinationale Chemiekonzerne etwa?« fragte der Butler ironisch. »Reden Sie keinen Unsinn! Helfen Sie mir lieber, schließlich habe ich Ihnen das Leben gerettet!« Insgesamt waren es etwa zwei Zentner Akten und Hefter, aber das Säurebecken in Srings Laborkeller war groß genug. * Gegen zwei Uhr nachmittags kamen sie nach New York City zurück, Stanley erfuhr, daß seine Gattin zwischenzeitlich einen Mietkiller aufs Kreuz gelegt hatte. Er brachte die Sache allerdings nicht mit seinen eigenen Erlebnissen in Verbindung. Er sagte sich, daß ein Ganove, der es wagte, sich mit Lady Anne Rose anzulegen, selbst schuld war, wenn er dabei Pech hatte… Was ja auch stimmte! ENDE
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