Sean Beaufort
Die Marodeure In seiner Art war Mac Pellew zuverlässig wie der Lauf der Gestirne. Er wachte auf, erinner...
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Sean Beaufort
Die Marodeure In seiner Art war Mac Pellew zuverlässig wie der Lauf der Gestirne. Er wachte auf, erinnerte sich an seine Pflichten, törnte zur Kombüse und murmelte: „Es gibt immer einen, der für alle leidet." Schweigend versorgte er das Feuer, maß seine Zutaten ab und hängte den schweren Kessel über die Flammen. „Besser Koch auf der Schebecke als Gefangener auf der Galeone", brummte er vor sich hin, als er Mörser und Stößel hervorkramte und die gerösteten Kaffeebohnen zu zerkleinern begann. Das dumpf klirrende Geräusch weckte Susan. Sie erschien gähnend und steckte sich ihr langes Haar mit den Kämmen fest. Mac sagte, halb scherzhaft: „ Um diese Zeit schon in der Kombüse, Susan? Das gibt Ärger, und zwar mit mir. Du solltest weiterschlafen." Sie lächelte, und als Mac in ihr Gesicht schaute, fing er an, David Fletcher zu beneiden . . .
Die Hauptpersonen des Romans: Atkinson Grey - der Anführer der goldgierigen Schnapphähne faßt einen selbstmörderischen Plan, um aus dem Laderaum der „Explorer" auszubrechen. Ben Brighton - als derzeitiger Kapitän der „Explorer" muß er einen Brand an Bord bekämpfen und wird damit aufs Kreuz gelegt. Ferris Tucker - der Schiffszimmermann flucht nicht schlecht, als er etwas reparieren muß, was andere zerstört haben. Hasard junior - ist wütend auf sich selbst, weil er sich überrumpeln ließ. Wettergesicht - der Späher der Indianer entdeckt etwas und kann seinen Stamm rechtzeitig warnen. Philip Hasard Killigrew - muß widerwillig anerkennen, daß der Oberschnapphahn Grey ein ganz gerissener Halunke ist.
1. Little John Fletcher lauschte auf die vielen Geräusche, die ihm inzwischen so vertraut waren, und er wußte, daß er sie in einigen Tagen vermissen würde, wenn sie die Siedlung im Norden erreicht hatten. Wieder, jetzt kurz nach dem Erwachen, drängte sich ihm das schauerliche Bild vor das innere Auge: Sir William Godfrey, der mit blauem Gesicht, wirrem grau weißem Haar und vorquellenden Augen an der Rah hing und sich lautlos drehte. Die vielen Indianer in den Kanus, die unbewegt zugesehen hatten, wie der Mann seinen mehrfach verdienten Tod starb. Immer wieder fragte sich der Vierzehnjährige, was dazu geführt haben mochte, daß ein Mann so wurde wie William Godfrey. An Bord der Schebecke hatte er, der grauhaarige Sir, dem jungen Auswanderer nichts getan. Little John blieb ruhig liegen, noch war das Glasen nicht zu hören gewesen. Die dicken, hölzernen Wände, die ihn umgaben, vermittelten ihm weitaus mehr das Gefühl der eigenen Si-
cherheit als jede Hütte, jeder andere Winkel, in dem seine Familie bisher gelebt hatte. „Ich könnte immer hier bleiben", murmelte Little John. Wie es Sir Hasard richtig ausgesprochen hatte: viel war ihm beigebracht worden. Nichts davon würde er jemals vergessen. Ob er es in seinem Leben verwenden konnte - woher sollte er das heute, als Junge, wissen? Aber etwas wußte er. Eine Gruppe, die trotz aller Unterschiede so zusammenhielt und darauf sah, daß Kameradschaft, gegenseitige Rücksichtnahme, Ehrlichkeit und Tüchtigkeit nicht aufhörten, war so gut wie unbesiegbar. Die fünf Fletchers waren ein zweiter Beweis. In ein paar Tagen war das unbeschwerte, aber arbeitsreiche Leben an Bord vorbei. An Arbeit würde es an Land sicherlich keine Minute lang mangeln, und Little John würde sich um Sarah und Roebuck kümmern müssen. Auch das hatten ihm die Arwenacks abgenommen. Sogar Plymmie spielte mit den kleinen Geschwistern. An Deck wurde geglast. Als der letzte Nachhall der Schiffsglocke nicht
5 mehr in Little Johns Ohren zu hören war, stand er auf, zog sich langsam an, wusch sich flüchtig und enterte den Niedergang auf. Der gewohnte Geruch, starker Tee und Kaffee, drang in Little Johns Nase. Auch das war eine vertraute erste halbe Stunde des Bordlebens: der große, dicke Becher, an dem man sich bei Kälte die Finger und Handflächen wärmen konnte, und der starke, süße Tee, den Mac Pellew aus irgendwelchen Kräutern zusammenbraute - ein Trank aller Meeresgötter, wie er das Gebräu nannte. „Guten Morgen, Sir", begrüßte er Hasard. Der Seewolf nickte ihm kurz zu und richtete seine Augen wieder auf die Galeone. Die Schebecke hatte einen Schlag aufs Meer hinausgesegelt, um ihren Vorsprung bis zum morgendlichen Treffen zu verringern. Jetzt glitt die Schebecke an der Steuerbordseite der Galeone von See her wieder auf das Ufer zu. In einer halben Stunde würden beide Schiffe nebeneinander auf Nordkurs liegen. „Sieht aus, als hätten sie eine ruhige Nacht hinter sich", bemerkte der Seewolf zu Dan, der neben ihm auf dem Grätingsdeck stand. „Die Segel stehen einwandfrei." „Wenn es Ben und seine Crew nicht können, wer sonst?" entgegnete Dan. „An Deck ist Ruhe." Die Galeone mit den vierzehn zum Teil verwundeten Gefangenen törnte entlang der Ufer nach Norden. Dans Bestimmungen ergaben, daß gut zwei Tage zwischen ihrer Position und der Siedlung lagen. Little John ließ die beiden in Ruhe und stieg hinunter auf die Kuhl. „Heute keine Indianer, Little John?" rief Ferris Tucker und winkte ihm zu.
Der junge Fletcher schüttelte den Kopf. „Hoffentlich nicht", antwortete er. „Ich denke schon an die Zeit, in der wir vielleicht an Land gegen sie kämpfen müssen." „Keine Sorge. Wir setzen euch alle dort ab, wo es nur Schildkröten und Wildschweine gibt." „Wildschweine", meinte Little John. „Die habe ich bisher auch nur von weitem gesehen." „Schmecken aber besser als Fisch", bestätigte der rothaarige Schiffszimmermann. „Das glaube ich gern." Die Crew versammelte sich nach und nach an Deck. Der Rudergänger fiel einen Strich nach Backbord ab, und die Schebecke legte sich leicht über. Von der Kampanje der „Explorer" winkten Don Juan und Ben. Brighton herüber. „Bens Macker scheinen guter Laune zu sein", sagte Batuti zufrieden. „Warten wir ab, was sie zu erzählen haben." „Gleich wissen wir's." Die letzten vierundzwanzig Stunden schienen vergessen zu sein. Die Seewölfe dachten schon an die nächsten Aufgaben. Sie lagen indessen hinter der Kimm, recht voraus im Augenblick. Die rissigen, altersgrauen und salzüberkrusteten Planken der Galeone schoben sich an Backbord heran. Hinter dem Heck mit dem hohen Ruder schäumte und brodelte das Kielwasser. Minuten später befanden sich die Hecks gleichauf. „Gute Neuigkeiten, Ben?" schrie der Seewolf zur Kampanje hinauf. Der Erste rief zur Schebecke hinunter: „Keine schlechten jedenfalls, Sir! Die Gefangenen wollten sich selbst befreien." Aber das offene Lachen und die
6 entspannten Gesichter der Arwenacks, die sich an Steuerbord der „Explorer" über das Schanzkleid beugten, bewiesen, daß das nächtliche Abenteuer ohne Verluste durchgestanden worden war. Ben berichtete kurz: „Sie fanden ein Messer und schnitzten in einem Spalt vom Schott herum. Sie wollten den Schließbalken aufhebeln. Blacky hat's gehört. Wir gingen bewaffnet zum Laderaum und brachten die Kerle wieder zur Ruhe!" „Prügelei? Verletzte?" rief Hasard seine nächste Frage. „Nicht bei uns. Sie waren ziemlich lammfromm. Wir haben sie gut verschnürt und lassen sie jetzt ein bißchen hungern. Das wird ihnen zeigen, daß nicht gescherzt wird." „Sie sind sicher eingeschlossen? Es wird eine Verhandlung in der Siedlung geben", sagte der Seewolf. „Eingeschlossen und zugenagelt, die Rübenschweine!" brüllte der Profos nach unten. „Keine Sorge. Alles im Griff, Sir." „Hoffentlich. Paßt bloß auf", warnte Hasard besorgt. „Es sind gerissene Halunken." „Wissen wir, Sir. Wir gehen Wache vor dem Laderaum." Stampfend und gischtend hoben und senkten sich die Vordersteven der beiden Schiffe. Seit einigen Tagen erschreckte sie der Atlantik nicht mit Gewittern oder Stürmen. Einer der Vorteile dieser Fahrten war zweifellos, daß die Schiffe schnell in eine geschützte Bucht verholen und dort jeden Sturm abwettern konnten. „Gut so. Wir bleiben in Signalweite, Ben." Es gab unterschiedliche Möglichkeiten, gegenseitige Hilfe herbeizurufen. Im Notfall blieb immer ein blin-
der Schuß, der das andere Schiff alarmierte. „Verstanden, Sir." Beide Crews standen fast vollzählig an Deck. Vor gut einer Stunde war die Sonne aufgegangen. Die Wolken, die aus Südwest herantrieben, flossen allmählich ineinander über und würden nach Mittag wohl eine geschlossene Decke über dem Atlantik bilden. Nach wie vor blieb der Wind so warm wie die Luft aus dem südlichen Bereich. Vor der Küste stand die weiße, zerstäubende Brandung. „Wenn wir vor Anker gehen müssen, weißt du, in welcher Bucht?" wollte Hasard wissen. Ben gab zu verstehen, daß er sich genau erinnerte. „Ein guter Ankerplatz, Sir. Ich denke, wir segeln durch bis zur Siedlung. Toolan soll nicht um sein Vergnügen gebracht werden." „In Ordnung." Der achterliche Wind blieb, als die Schiffe sich wieder voneinander entfernten. Die schnelle Schebecke überholte die Galeone nach kurzer Zeit. Für die Stunden bis zum höchsten Sonnenstand gab es für die Crew nur Freiwache und normale Bordarbeit. „Wir klaren Kapitän Toolans Schiff zwar auf", gab Ben Brighton als Tageslosung aus, „aber ihr sollt ihn nicht erschrecken. Er erwartet auf keinen Fall ein neues Schiff, klar?" Der Profos grinste gutmütig und antwortete trocken: „Andererseits hat niemand vor, an Langeweile einzugehen, Mister Brighton. Die Galeone ist eine einzige Landrattenwuhling und voller Gammelkram." Ben winkte ab. „Unternimm, was du für richtig hältst, Ed. Mir genügt es, wenn Deck und Rigg aufgeklart sind."
7 „Aye, Sir." Carberry ging daran, bis auf vier Culverinen sämtliche Geschütze einzufahren, die Stückpforten dichtzuzurren und das Rigg dort aufzuklaren, wo sich die typischen Knoten zeigten, die nicht von den Fingern eines Seemanns stammen konnten. Auf besondere Freundlichkeiten wie das Scheuern der Planken - die es weiß Gott nötig hatten - gedachte er großzügig zu verzichten.
Schauerlich knarrten und ächzten die Planken. Die Binnenspanten und Hölzer schienen sich in den Verzapfungen zu bewegen. Nur durch winzige, schmale Risse sickerte eine Spur Licht in den feuchten, dunklen Laderaum. Die Luft war stickig, es stank aus der Bilge und aus jedem Winkel. Die Männer atmeten keuchend und qualvoll. Ihre Mägen knurrten, und der Durst folterte die Verwundeten mehr als die Gesunden. In ihren Schädeln nistete der stechende Schmerz. In der Finsternis ertönte rauh und schleppend eine Stimme. „Seid ihr wach? Hier spricht Atkinson Grey." Ein Chor aus Stöhnen, Ächzen und Fluchen antwortete ihm. Er unterschied die Stimmen nicht. Auch sein Schädel dröhnte, ausgehend von der Stelle, wo der Riesenkerl der Arwenacks ihn gegen die Planken geknallt hatte. „Also seid ihr wach", hörte er sich sagen. Die Fesseln schnitten in die Haut und scheuerten sie wund. „Ich bin wach", sagte einer. „Und ich hab noch zwei Messer im Stiefelschaft." An der Stimme erkannte Grey seinen Freund, Jameson Kidd, den nar-
bigen Messerwerfer. Er lag weiter hinten im Laderaum und stieß einen schauerlichen Fluch nach dem anderen aus. Taffe sagte: „Wir müssen hier raus." Er wimmerte leise. „Vor einer Stunde ist es hell geworden." „Was bedeutet das?" fragte Frank Davenport, der einzige Überlebende der drei englischen Adeligen. Er schien ganz hinten bei den Verwundeten zu liegen. „Das bedeutet, daß wir auf See sind", erklärte mit geschwollenen Lippen und trockener Zunge der Glatzkopf Randy Gordon. „Und?" erkundigte sich einer der Jäger. Sie begriffen noch immer nicht mehr als die Hälfte von allem. „Daß wir, wenn es uns gelingt, uns zu befreien, jämmerlich ersaufen", schnarrte Grey. „Wir müssen, das könnt ihr euch alle merken, bis zum Abend warten. Dann gehen wir in einer Bucht vor Anker." „Erst einmal müssen wir hier heraus", brummte Carson, der Fallensteller. „Das ist ja auch so einfach", höhnte jemand aus dem Hintergrund. Dann herrschte wieder ein langes Schweigen, das nur vom Ächzen und Stöhnen unterbrochen wurde. Die Kerle erkannten an einigen Geräuschen unter dem Kiel, an den Planken und oben an Deck, daß die SeewölfeCrew auf der „Explorer" den normalen Arbeiten nachging. Sie fühlten sich also sicher, die verdammten Arwenacks. „Sie lassen uns verdursten", meldete sich Frank Davenport mit flacher Stimme. „Und verhungern", sagte Rosebery. „Wie geht es den Verwundeten?" wollte Grey wissen. „Wie ich die Seewölfe kenne, lassen sie uns nicht ver-
8 hungern. Sie werden sich auch um die Verbände und Wunden kümmern." „Der Kutscher hat mich verbunden", antwortete Samuel. „Die schlimmsten Schmerzen habe ich inzwischen vergessen. Hast recht, Grey. Sie werden sich korrekt verhalten, diese Narren." „Also gibt's bald ein sattes Frühstück", meinte Grey und brachte tatsächlich ein Lachen zustande. „Bis dahin brauchen wir die Fesseln. Nachher nicht mehr. Wer liegt neben Kidd?" „Ich", meldete sich eine dunkle Stimme. „Wer?" fragte Grey ärgerlich. „Myer, der Fallensteller mit der Narbe." Grey lag in unmittelbarer Nähe des Schotts und würde hören, wenn sich einer der Seewölfe näherte. Die Gefangenen sprachen nicht sonderlich laut miteinander. Außerhalb des Laderaums konnte man nur hören, daß sie murmelten, aber man verstand die wenigsten Worte. Grey holte tief Luft und sagte: „Myer, du mußt versuchen, mindestens ein Messer aus dem Stiefel von Kidd zu ziehen. Oder schaffst du das allein, Jameson?" „Nein. Sie haben mich zu gut verschnürt. Muß ein anderer versuchen." Grey kannte Kidd lange und gut genug und wußte, daß der das Messer längst aus dem Stiefel gefischt hätte, wenn ihm das möglich gewesen wäre. Dann dachte er an die Seewölfe und sagte: „Keiner darf das Messer sehen, klar?" „Hältst du uns für blöd?" „Sonst würde ich's nicht sagen", sagte Grey mit neuer Schärfe in der Stimme. In seinem Kopf reifte trotz der
Schmerzen und des Durstes ein neuer Plan. Es war, anders als der Befreiungsversuch mitten in der Nacht, ein Plan der Verzweiflung. Höchstens zwei Tage bei gutem Südwind, sagte sich Grey, dauerte die Fahrt noch bis zur Siedlung. Dort würden sie alle unter die Gerichtsbarkeit der beiden Kapitäne und Killigrews fallen. Und das bedeutete: Tod. Zu seinem Vorhaben gehörte nicht nur ein scharfes Messer, um die Fesseln durchzuschneiden, sondern die Seewölfe mußten mitarbeiten. In ihrer Anständigkeit würden sie, das nahm Grey als sicher an, den vierzehn Gefangenen helfen. Nach einer kleinen Ewigkeit meldete sich Myer wieder. „Ich habe endlich dieses verdammte Messer und verstecke es in einer Fuge." Das Ganze war mit erheblichem Ächzen, Scharren und Keuchen vor sich gegangen. „Gut so", sagte Grey nicht unzufrieden. „Jetzt müssen wir eben warten, bis die Bastarde das Essen bringen." Sie hatten schon einmal Wasser und Zwieback empfangen. Daran würde sich nichts ändern. Aber heute mußten sie länger warten, die Arwenacks hatten keine Eile damit. Die Galeone ächzte und knarrte in allen Fugen und Verbänden, als sie weiter entlang der Küste zum Ausgangspunkt der letzten Fahrt zurücksegelte. Das Warten in der Dunkelheit dauerte lange.
Etwa gegen Mittag tauchte, Kopf zwischen den Schultern weit vornübergebeugt, Edwin berry in der Kombüse auf. Er
den und Carver-
9 suchte sich aufzurichten und stieß gegen einen Decksbalken. „Gibt's bei dir was zu trinken, Kutscher?" fragte er und setzte sich auf ein Faß. „Vielleicht etwas von dem Wein?" „Nichts da", erwiderte der Kutscher und schöpfte lauwarmen Tee aus dem schaukelnden Kessel. „Die paar Tropfen Wein bleiben unter Verschluß, bis Ben sie freigibt. Klar?" Der Profos nickte dankend und trank von dem Kutschergesöff. „Klar", entgegnete er. „Hast du unseren Gästen schon serviert?" Der Kutscher gestattete sich ein geradezu herausfordernd fröhliches Grinsen. „Zuerst die Arwenacks - und dann die Schnapphähne. Aber ich werde nach den Verwundeten sehen. Viel Salben und Binden waren allerdings hier nicht mehr zu finden." „Viel Binden und Salbe brauchst du auch nicht", sagte der Profos ruhig. „In zwei Tagen baumeln sie alle von den Rahen oder von den dicken braunen Ästen neben der Siedlung." „Bin ich der Henker, Ed?" erkundigte sich der Kutscher. „Also, mit deinem Fraß hast du noch keinen umgebracht", gab der Profos zu und motzte: „Du willst also die Gefangenen füttern und verarzten, damit es der Henker - wer immer dieses Vergnügen haben wird - nicht allzu leicht hat?" Der Kutscher füllte den Becher neu und entgegnete scharf: „In meinem bisherigen Leben habe ich gelernt, daß es ohne Ordnung nicht geht. Ordnung muß sein. Das gilt auch für Galgenvögel, Verbrecher, Marodeure und ähnliches Gesindel. Wenn die sich benehmen wie Tiere, bitte, aber ohne mich. Ich halte es so wie unser Kapitän."
„Wenn du das so siehst", murmelte der Profos und sah zu, wie der Kutscher in der dämmerigen Kombüse hantierte und versuchte, aus wenigen Vorräten und schwindendem Proviant etwas Eßbares zubereiten. „Ich sehe es so!" entschied der Kutscher. Nach einigen Minuten fragte der Profos, während er den Becher ausspülte und an eine Pflock hängte: „Wann gibt's deine unvermeidliche Suppe?" „Wenn du die unvermeidliche Glasenglocke schlägst, denke ich", erwiderte der Kutscher. „Geh zurück an Deck und putz das Schiff, ja?" „Das überlasse ich Toolan und Drinkwater", brummte Carberry und verzog sich. Die Wuhling in den Laderäumen störte ihn nicht, und mit dem Zustand an allen anderen Stellen war er zufrieden. Mac O'Higgins und Sam Roskill standen an der Lenzpumpe und pumpten das Schwitzwasser und das wenige eingesickerte Wasser aus der Bilge. Eineinhalb Seemeilen an Backbord zog die Küste vorbei. Querab stand die Gruppe aus drei Bäumen, an die sich jeder erinnerte, der vor ein paar Tagen auf Südkurs gewesen war: eine charakteristische Landmarke.
Blacky lehnte mit dem breiten Rükken an der einen Seite des Ganges, die Sohlen stellte er gegen die gegenüberliegende. Wenn er die Hand und den Arm ausstreckte, fehlte noch ein Fuß bis zum Schott. Dahinter murmelten und stöhnten die Gefangenen. Es gibt nur wenige Beschäftigungen, die langweiliger sind, sagte sich Blacky. Aber es war nicht unwichtig,
10 hier Wache zu gehen oder zutreffender: zu sitzen. Er gähnte und tastete nach den beiden doppelläufigen Pistolen, die griffbereit auf den Planken lagen. Aus Langeweile hatte er auch den Boden dieses fünfzehn Schritte langen Ganges gesäubert. Er warf einen kurzen Blick auf die Klampe, die sie ins Holz eingeschlagen hatten. Sie hielt unverrückbar. „Na ja", brummte Blacky und hob die Schultern. „Einen Rammbock haben sie da drin nicht." Die Tranfunzel baumelte vom Haken. Ihr Licht war kümmerlich, aber es erhellte ein wenig den langen Gang, der in diesem Laderaum freigeräumt worden war. Am anderen Ende tauchten der Kutscher, Don Juan und Carberry auf. Der Kutscher trug das Essen, der Profos hatte sich eine Kiste unter den Arm geklemmt. „Aha! Die Schenke wird geöffnet", sagte Blacky und stand auf. „Der Kutscher meint", erläuterte Carberry und zog ein Stück Rundholz aus dem Gürtel, „daß die Galgenvögel verurteilt oder gehenkt werden, aber sie sollen nicht verhungern." „Er hat ein weiches Herz", bekräftigte Blacky, ließ sich vom Profos das Holz geben und hebelte die Klampe auf. „Da ist die Funzel." Das Gemurmel hinter dem Schott hörte auf. Klirrend fiel das Eisen herunter, der Balken wurde gedreht, das Schott knirschte auf. „Einer nach dem anderen", rief Blacky und spannte die Hähne seiner Pistole. „Tee oder Suppe." Carberry blies in die Flamme der Funzel und bückte sich. Er schob Grey und Kidd zum Eingang und hängte die Funzel an einen Deckshaken. Bedächtig löste er die Knoten der Handfesseln und bemerkte, daß
zumindest diese beiden Kerle versucht hatten, mit Hilfe ihrer Zähne die Enden aufzuknoten. Er verzichtete darauf, den Entrüsteten zu spielen und sah zu, wie der Kutscher Becher austeilte, sie mit Tee füllte und dann eine dünne Suppe in die Mucks schöpfte. Die Gefangenen tranken wie die Verdursteten. Dann fluchte Grey und sagte: „Habt euch verdammt viel Zeit gelassen." „Halt die Schnauze, du Affenfurz", sagte der Profos in seiner freundlichen Art. „Du solltest eigentlich vor dem Hängen verhungert sein. Aber wir sind die wahren Samariter. Wenn du dich beschwerst, empfängst du keine Suppe, sondern in aller Freundschaft eins in die Fresse. Klar?" Grey zuckte nicht einmal mit den Schultern und fuhr fort, seine Suppe zu löffeln. Während die anderen das Essen verteilten, stand Blacky wachsam mit gezückter Pistole dabei und wartete nur darauf, daß einer der Schurken versuchte, an Carberry vorbei zu flüchten. Der Kutscher kroch in den rückwärtigen Teil des dunklen Laderaumes, kehrte um und holte die Funzel. Dann versorgte er schweigend und so gründlich wie möglich, mit den wenigen Hilfsmitteln, die der Feldscher an Bord noch übriggelassen hatte, die Wunden und blutunterlaufenen Quetschungen und Prellungen. Er hatte sauber gearbeitet, und die Wunden eiterten nicht, auch gab es keinerlei Anzeichen für Wundbrand. Er hatte seine Pflicht getan und kehrte mit den gebrauchten Verbänden zurück. „Fertig?" fragte er Carberry. „Ein ungeduldiger Mensch, dieser
11 Kutscher!" rief einer der Jäger. „Ich hab noch nichts zu trinken gekriegt." Der Kutscher enterte an Deck, warf die Binden in Lee über Bord und ging zurück, um Carberry zu helfen. Eine Stunde später hämmerte der Profos wieder das Eisen über den Schließbalken und drehte sich um. „Jetzt sind sie satt und sicher", sagte er. „Und ich geh auf Freiwache." Blacky bezog wieder seinen Posten und wünschte sich, daß die Fahrt so bald wie möglich zu Ende gehen möge. Er hatte die Lust gründlich verloren, sich mit alten Schiffen, Indianern und englischen Galgenstrikken herumzuärgern. 2. Frank Davenport wartete eine halbe Stunde, ehe er flüsternd fragte: „Geht's jetzt los, Grey?" Er hatte nichts anderes gesehen als drei oder vier schwarze Schatten vor dem Schott, denn die Funzel gab nur ein trauriges Licht ab. Sie hatten alle förmlich gezittert, ob die Seewölfe die kleine Lampe vergessen würden oder nicht. Niemals wieder in ihrem Leben würden sie eine zweite Möglichkeit haben, aus dem Schiff oder von Deck zu fliehen. Das wußten inzwischen auch die Landratten, zu denen er sich natürlich nicht rechnete. „Ist schon längst losgegangen", erwiderte Grey bissig. „Du wirst schon nicht vergessen." „Verflucht! Paß doch auf!" stöhnte einer zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Schneiden die Haut durch, aber nicht die Stricke, diese blöden Kerle." „Schnauze halten." Die Männer wurden ungeduldig,
aber mit den beiden Messern dauerte es lange, die Handfesseln und die Fußfesseln durchzuschneiden oder aufzuknoten. Jetzt versuchten die unsicher tastenden Finger, im Schatten und Halbdunkel die Knoten zu lösen. Schwitzend und schwer atmend half jeder seinem Nachbarn. Wieder erklang Greys Stimme durch den Laderaum: „Es hat keine Eile. Wir sind noch immer weit draußen. Oder wollt ihr vielleicht stundenlang schwimmen? Das schafft keiner von uns." „Schon gut", maulte Davenport, der noch nicht ganz begriff, was Atkinson wirklich vorhatte. Und hätte er es gewußt, würde er sich noch mehr gefürchtet haben. Es mußte inzwischen weit nach Mittag sein. Die Bewegungen der Galeone und die Geräusche hatten sich nicht geändert. Grey hatte recht, keiner würde das Ufer erreichen. Schon der Gedanke wegen der Verwundeten war sinnlos. Sie würden ihre Kräfte schnell verlieren und jämmerlich ersaufen. Schließlich brummte ein Siedler: „Ich bin der letzte, wie? Übrigens: ich kann nicht schwimmen." „Das ist deine Sache", sagte Randolf Gordon. Spencer Taffe setzte grob hinzu: „Hättest es lernen sollen. Alt genug bist du ja." Grey robbte quer durch den Laderaum, griff nach der Funzel und fragte: „Jeder von euch frei, Leute?" Niemand antwortete mit „Nein". Atkinson versuchte, den Tranvorrat der Lampe richtig abzuschätzen. Er beriet sich leise mit Jameson Kidd. Rosebery sagte unterdrückt: „Sammelt die Enden. Alle zu mir her schieben. Wird's bald?".
12 „Was willst du mit dem Zeug?" fragte Myer. „Das wirst du bald sehen", erwiderte der ehemalige Zimmermann der Rabauken. „Oder riechen." Etwa in der Mitte des Laderaumes wurden die zerschnittenen und aufgeknoteten Enden zusammengeschoben. Kidd und Rosebery rissen die Ärmel ihrer Jacken auf und säbelten Fetzen aus dem Stoff. Mit der Hand prüfte Grey die Planken und sagte schließlich, nach mehr als etwa einer halben Stunde: „Das Schott. Alles, was brennen kann, hierher zum Schott." „Gut so." Ein paar verschwitzte und schmutzige Halstücher wurden aufgeknotet und zu dem kleinen Haufen gepackt, den Grey im flackernden Licht vor dem Schott aufschichtete. „Wenn ich wüßte, wie weit draußen wir sind", sagte er verbissen. „Vielleicht ist da ein Kap voraus." „In jedem Fall ist die nächste Bucht nicht weit", entgegnete Spencer Taffe. „Du mußt damit rechnen, daß die Seewölfe gute Seeleute sind. Die wissen, was zu tun ist." Auch wenn ihr Plan nicht mehr während der Stunden der Helligkeit durchgeführt werden konnte, gab es keinen Unterschied. Jede Stunde war und blieb gleich gefährlich. Wieder beäugte Atkinson den Brennstoffvorrat und hielt die Lampe, als wäre es eine Kostbarkeit. Vorsichtig träufelte er zwei Dutzend Tropfen Öl auf das Stoffhäufchen. „Alle zuhören", sagte er dann. „Für jeden bedeutet es Leben oder Tod. Atmet durch die Nase, durch nassen Stoff. Alle bleiben ganz hinten im Laderaum. Der Rauch ist schlimmer als die Flammen. Verlaßt euch drauf: sie werden das Schott aufreißen, ganz
schnell. Wir kriegen ein paar kalte Güsse Seewasser. Und dann - einfach losrennen, über Bord und schwimmen." „Wie weit?" wollte einer wissen. „Ich rechne damit, daß die Bastarde die Galeone nicht auf See verbrennen lassen wollen. Klar?" Schweigen. Die Männer atmeten hastig und nervös. Einigen brach der kalte Schweiß aus. Hängen, erschossen werden, ersticken, ertrinken oder verbrennen. Es gab nur sechs Möglichkeiten. Die sechste hieß: überleben. Jeder hing an seinem Leben, und das war jedes Risiko wert. Atkinson Grey, der die größte Erfahrung hatte, lauschte mit dem Ohr an den Außenplanken. Nach einiger Zeit fragte Spencer Taffe: „Kannst du etwas hören?" „Ich glaube, ich höre die Brandung lauter. Bin aber nicht sicher. Wir haben noch Zeit." „Klar. Bis zum Tag des Jüngsten Gerichts, wenn die Pfaffen recht haben", fluchte ein Jäger. Schließlich erklärte Grey: „Jetzt bin ich sicher. Wir sind näher an der Küste als in den letzten Stunden. Es geht los." Er packte die Lampe, berührte mit der Flamme vorsichtig die ölgetränkten Lumpen und wartete, bis sich die Flammen ausgebreitet hatten. Dann kippte er den Rest des Trans über das Häufchen. Die Flammen loderten auf, die Enden schwelten, und zugleich mit den züngelnden Flämmchen, die am Holz des Schotts hochleckten, breitete sich Rauch aus. Er zog nach einigem Drehen und Brodeln durch den senkrechten Spalt und durch den Bodenschlitz ab. Die Männer drängten sich langsam im hinteren Drittel des Laderaums zusammen. Während sie wie gebannt
13 auf das Feuer starrten, leuchteten ihre Augen auf wie die von wilden Tieren, die nächtliche Lagerfeuer belauern. Das Holz fing an den senkrechten Stellen an zu brennen. Es gab kein Zurück mehr.
Sam Roskill schreckte hoch, schnüffelte und fluchte. Mit einem einzigen Satz war er auf den Beinen, stolperte den Gang entlang und feuerte, ohne zu zielen, seine Pistole ab, Als er die unterste Stufe des Niederganges erreicht hatte, schrie er, so laut er konnte: „Feuer! Im Laderaum! Die Gefangenen verbrennen!" Er hastete die Niedergänge aufwärts und glaubte, hinter sich die Flammen zu spüren. Aber nur dünne Rauchfäden folgten ihm. Den zweiten Lauf der Waffe feuerte er senkrecht über seinem Kopf ab. Don Juan stürzte auf der Kampanje nach vorn. Geistesgegenwärtig schlug Ben Brighton die Schiffsglocke, neben der er sich zufällig befand. Kommando hallten über Deck. „Pützen klar! Kette bilden!" „Verstanden!" Jan Ranse und Mac O'Higgins rannten vom Vorschiff heran. Sie hielten bereits leere Pützen in den Händen und rollten die aufgeschossenen Enden aus. Klatschend flogen die Behälter an Steuerbord vom Schanzkleid in die Wellen. Ben brüllte dem Rudergänger zu: „Abfallen! Versuch, was du kannst. In die nächste Bucht oder an einen Strand. Nicht auf die Felsen, Bob." „Aye, aye, Ben." Ein prüfender Blick zu den Segeln. Noch immer achterlicher Wind. Die
Sorgen galten zuerst dem Schiff, erst danach den Gefangenen, zuletzt einem Signal an die Schebecke. Jan Ranse schleppte die dreiviertel gefüllte erste Pütz den Niedergang abwärts und schrie Mac zu: „Du holst die Pützen hoch! Wo sind die anderen?" Cerberry schob seinen Kopf durch den feinen Rauch und brüllte: „Hier! Her damit!" Die Galeone legte schwer über, als sich Bob Grey gegen den Kolderstock stemmte und Ben ihm bestätigte, daß der rechte Kurs anliege. Jetzt, als es unter Deck brannte, hatte natürlich niemand eine brennende Lunte oder eine Lampe in der Nähe. Ben Brighton raste die Stufen abwärts und reihte sich ein. Die zweite Pütz schwang übers Schanzkleid. Unterhalb von Carberry rannten die Seewölfe fluchend hin und her, fanden den richtigen Platz und warteten auf das Wasser. Jeder war aufgewacht, noch vier Mann zerrten an dem Leder ihrer Langschäfter. „Wer ist unten am Schott?" Keine Antwort. Don Juan schnappte sich die nächste Pütz und bahnte sich durch den dichter werdenden Rauch einen Weg abwärts. Seine Gedanken überschlugen sich. Feuer auf See! Diesmal ging es nicht um andere, fremde Schiffe, sondern um die eigene Galeone. Er schrie: „Ich bleibe am Schott! Mehr Wasser, Freunde!" Er taumelte durch den raucherfüllten Gang, tauchte in den dunklen Laderaum ein und keuchte unter der Last der Pütz. Seine Schritte wurden von einer Wasserspur markiert. „Bringt mehr Wasser!" schrie er und schüttete die Pütz aus. Der
14 Schwall traf das hölzerne Schott, das von dichtem Rauch eingehüllt war. Hinter dem Spanier tauchte Matt Davies auf. Don Juan warf ihm die leere Pütz zu. „Die Gefangenen!" schrie er. „Sie ersticken da drinnen!" Mit dem Haken seiner rechten Prothese wirbelte Matt die Pütz hinter sich und rief zurück: „So wie ich das sehe, haben sie auch das Feuer angezündet. Wie ist das eigentlich möglich?" Während der Rudergänger versuchte, die „Explorer" hart nach Backbord zu steuern und in die Nähe des Ufers oder in eine Bucht zu bringen, schöpften die Seewölfe unentwegt Seewasser, hievten die mehr oder weniger vollen Pützen auf die Kuhl und gaben sie weiter. Don Juan packte den zweiten halbvollen Behälter und schüttete ihn gegen das Schott. Das Wasser zischte, aber die Rauchentwicklung wurde nicht geringer. Als würde sich das Schiff gegen die Rettungsversuche wehren, dachte der Spanier. Er bemerkte den festgekeilten Absperrbalken, darüber das gezackte Eisen und sah sich nach einer Möglichkeit um, die Klampe aufzuhebeln. „Wasser!" schrie er. „Und eine Spake!" Matt Davies schleppte die nächste große Pütz heran. Don Juan entriß sie ihm. „Das geht nicht gut", keuchte Matt. „Die verbrennen oder ersticken. Oder beides." Diesmal schüttete Don Juan das Seewasser auf die Planken und hoffte, daß genügend unter dem Schott durchlaufen würde. Dampf wallte aus den Spalten nach draußen.
An Matt schob sich der Kutscher vorbei und hob seinen Belegnagel. „Zur Seite", sagte er drängend und stemmte das Holz in die Klampe. Während die Pütz wieder nach achtern und von Hand zu Hand aufwärts wanderte, hebelte er an dem Eisen. Es löste sich nach einer Weile und fiel klirrend auf die Planken. Von innen ertönte qualvolles Husten, Fluchen und Schreien. Die Gefangenen hämmerten mit den Fäusten gegen das Schott. Als der Kutscher den Schließbalken senkrecht gezerrt hatte, riß Don Juan das Schott auf. Fast gleichzeitig wurden drei Pützen Wasser in den Rauch und die Flammen geschüttet. Die Innenseite des Schotts brannte, das Holz glühte hellrot. Der Profos polterte den Niedergang hinunter und rief: „Nicht flüchten lassen, die Affenärsche! Ich halte sie auf!" Er drehte sich um, nahm eine volle Pütz in Empfang und gab sie an Matt weiter. Dann fing er nacheinander zwei leere Pützen auf und warf sie Ben Brighton zu, der sie auffing und weitergab. Das Wasser spritzte im hohen Bogen auf das Schott, verwandelte sich in warmen, beißenden Dampf und löschte die Flammen. Es war Atkinson Grey, der aus dem Qualm und den Flammen hervortaumelte. Er fiel auf die Knie, krümmte sich und hustete qualvoll. Wieder langte eine gefüllte Pütz an, die Don Juan schwungvoll an die rechte Wand des Laderaumes schüttete. Dampf zischte auf, eine Rauchwolke quoll aus dem Laderaum. Das Geschrei wurde lauter, als Davenport nach vorn stürzte und die Hälfte des nächsten Wassergusses ins Gesicht empfing. Er rettete sich mit
15 schwelenden Stiefeln in die Nähe von Grey. „Wir brauchen mehr Wasser und schneller, viel schneller, Ed!" rief Don Juan. In dem engen Gang konnten sie sich auch schlecht bewegen. Der Brand im Laderaum war größer, als sie zunächst gedacht hatten. Der Profos schleppte zwei Pützen heran, und Don Juan versuchte, die Flammen mit dem Wasserschwall zu treffen, die er durch den Rauch und den Dampf erkennen konnte. Spencer Taffe kroch aus dem Inferno auf allen vieren und brach neben Grey zusammen. „Hier ist Nachschub", keuchte der Profos. Inzwischen stand die Kette der Männer. Sehr viel schneller wanderten die gefüllten Pützen hinunter zum brennenden Laderaum. Jameson Kidd erschien mit rußgeschwärztem Gesicht und versengtem Haar, das Gesicht halb in der Jacke verborgen. Er hustete und würgte. Auch der Gang hatte sich mit Rauch gefüllt, der langsam nach oben davonwirbelte. Ben Brighton hatte eine brennende Lampe gefunden, den Docht an der Flamme angezündet und lief zur Drehbasse hinüber. Er richtete den Lauf schräg nach oben und zündete. In rund zwei Meilen Entfernung segelte die Schebecke. Auch von dort mußte inzwischen der Rauch an Bord der Galeone bemerkt worden sein, denn die Schebecke hatte die Richtung geändert und segelte ebenfalls auf das Land zu. Der krachende Schuß war das Signal, das hoffentlich alle Zweifel beseitigte. „Halte den Kurs!" rief Ben dem Ru-
dergänger zu. „Wir schaffen es. Genau auf die Bucht zu." „Kriegt ihr den Brand in den Griff?" fragte Bob Grey. „Ich will es hoffen. Aber ich war noch nicht unter Deck." Immer wieder flogen die Pützen in die See, wurden hochgezogen und weiter gereicht. Rauch drang auch durch die Gräntings ins Freie. Unablässig wirbelte der Wind den Dampf aus den Luken. Die Seewölfe schufteten verbissen und mit wenig Geschrei. Ben Brighton eilte zu Jan und Mac und half ihnen, die Pützen hochzuhieven. „Sie brauchen noch viel mehr Wasser, hat Carberry gesagt. Wahrscheinlich brennt nicht nur der Laderaum", stieß Mac keuchend hervor. „Das wäre bitter", antwortete der Erste und blickte am Schanzkleid entlang. Gut eine halbe Seemeile trennte die Galeone noch von dem Felsvorsprung. Er war der südliche Teil der Buchteinfahrt. Mit einem zweiten Blick stellte er fest, daß offensichtlich der Ebbstrom ablief. Wieder rissen sie die schweren Pützen entlang der Bordwand nach oben und gaben sie weiter. Der helle Rauch, der aus dem Niedergang brodelte, stank nach brennendem Teer. Aber von Deck aus waren keine Flammen zu sehen. Ben fragte sich, ob sein Platz nicht besser unter Deck sei. Aber in kurzer Zeit brauchte er ein paar Männer zum Backbrassen der Segel. Er schuftete verbissen und grimmig weiter. 3. Grey, Jameson Kidd und Randolf Gordon lagen erschöpft in einer Ecke
16 des Ganges und schnappten keuchend und hustend nach Luft. Don Juan war sicher, daß es dort drinnen keine Flammen mehr gab. Aber er sah Glut, qualmende Fetzen und die Männer, die nacheinander in den Gang hinauskrochen und sich gegenseitig halfen. „Ich muß dort hinein", sagte der Kutscher und schleppte die volle Pütz durch den Rauch. Er kippte sie halb über einen Mann aus, die andere Hälfte goß er in ein Glutnest. Der Dampf ließ ihn nichts sehen und nahm ihm den Atem. Er stolperte wieder in die Richtung des Schotts, griff nach unten und packte einen Arm. Der Mann war bewußtlos, und er zog ihn hinter sich her, als er aus dem Eingang kroch. „Hilf mir", keuchte er und taumelte gegen die Innenplanken. „Lebt er noch?" Don Juan zerrte den Körper zu den anderen, die sich aus dem brennenden Raum gerettet hatten. „Scheint zu leben", gab er zurück, und dann war schon wieder die nächste Pütz da. Ein Dutzend Gefäße wurden ausgeschüttet, wobei Don Juan immer tiefer in den Laderaum eindrang und die Glutnester zu löschen versuchte. Immer wieder trieben ihn die Dampfwolken zurück. Schließlich, als er Rosebery, Taffe und Davenport außerhalb des Laderaumes erkannte, löste ihn Carberry ab. Zwar sah keiner von ihnen Flammennester im dunklen Laderaum, aber unverändert drangen gewaltige Wolken aus schwarzem und grauem Rauch aus dem Inneren. Daß sich noch viel Glut in den Ecken befand, bewies das Zischen, wenn dort Seewasser auftraf und verdampft wurde. „Packt mal mit an", sagte hustend
der Profos und zerrte zwei regungslose Gestalten aus dem Rauch. „Da rührt sich kaum mehr etwas. Wir müssen sie herausschaffen!" rief der Profos. Er griff nach zwei Pützen und bückte sich wieder. Diesmal gelang es ihm, bis zum rückwärtigen Ende des Laderaumes vorzudringen. Er riß ein schwelendes Stück Segelstoff auseinander und sah mehrere Körper, die sich nicht mehr bewegten, ehe ihn der Rauch wieder aus dem dunklen Raum trieb. Keuchend und hustend lehnte er sich gegen die Wand. „Also", sagte er röchelnd. „Wenn wir nicht großes Pech haben, dann ist das Feuer vorbei. Es gibt noch eine Menge Glut, aber nirgendwo brennt es. Und der Rauch - man sieht nichts." „Das weiß ich", erwiderte Don Juan. Diesmal drang er selbst wieder in den Laderaum ein, blieb lange drinnen und ließ sich das Wasser hineinbringen. Sorgfältig schüttete er das Löschwasser über die glimmenden Stellen. Jeder neue Ausbruch vom kochendem Dampf überzeugte ihn, daß er das Richtige tat. Undeutlich drang die Stimme des Ersten zu ihnen herunter: „Drei Mann an Deck, Freunde! Backbrassen!" „Bin schon zur Stelle", brummte der Profos und stiefelte davon. Er enterte auf und eilte zu den Schoten der Rahsegel. Die Galeone drehte gerade mitten in einer kleinen Bucht bei. Er erkannte sie auf den ersten Blick nicht wieder, aber er sah auch die Schebecke, die gerade die Einfahrt passierte. Dann rief Ben seine Kommandos, und sieben Seewölfe versuchten, das Manöver einigermaßen schnell und
17 sicher auszuführen. Langsam schwang die „Explorer" herum, und schließlich schafften sie es auch noch, den Anker auszubringen. Ben und Carberry liefen sofort wieder zu den Männern, die unverändert Wasser schöpften. „Jetzt können wir uns um die Gefangenen kümmern", sagte der Erste, schaute sich an Bord um und bemerkte, daß die Galeone vermutlich aufsitzen würde, wenn die Ebbe ihren tiefsten Stand erreichte. Er zuckte mit den Schultern und murmelte: „Ist mir gleich." Er wandte sich um, und plötzlich sprangen die Gefangenen an Deck. Sie schrien und fuchtelten mit den Armen. Atkinson Grey war der erste. Er stieß Ben Brighton zur Seite und sprang auf das Schanzkleid zu. Jameson Kidd bedrohte Sam Roskill und Blacky kurz mit einem Messer und folgte seinem Anführer. Die beiden schwangen sich fast gleichzeitig über das Schanzkleid und sprangen ins Wasser. Rosebery, Taffe und Gordon folgten aus dem achterlichen Niedergang. Sie schauten nicht nach links oder rechts, sondern rasten wie die Irren aufs Schanzkleid zu, schwangen sich darüber und verschwanden im aufklatschenden Wasser der Bucht. Frank Davenport hatte eine Pistole an sich gebracht und richtete sie auf den Ersten. Ben warf sich zur Seite und erkannte hinter Davenport gerade noch zwei der Jäger, dann krachte der Schuß, und die Kugel heulte an seinem Ohr vorbei. Die drei Kerle flitzten über das Deck und folgten Gordon und Taffe. „Verdammt!" fluchte Blacky. „Der Rauch ist wohl doch nicht so schlimm gewesen." Aus dem Geschützdeck hörten sie
das Fluchen von Carberry. Die Seewölfe stürmten in die Kammern und kehrten mit Schußwaffen wieder an Deck zurück. Von der Kampanje herunter feuerten sie aus Pistolen und Musketen auf die acht schwimmenden Kerle. Grey war der erste, der durch den Schlamm des Bodens auf das Ufer zuwatete. Die Kugeln, die ins Wasser schlugen, warfen kleine, spitze Fontänen in die Höhe. „Verflucht! Acht Leute! Und immer dieselben!" schrie der Profos, der an Deck polterte und die Pranken ballte. „Wir haben uns um die Toten gekümmert, und dann hat Grey Matt niedergeschlagen. Sie haben ihre Erschöpfung gut gespielt." Der Erste setzte die Muskete ab und sah ein, daß die acht Schurken entwischt waren. „Tote?" fragte er. Nacheinander kletterten sie wieder unter Deck. Nur ein paar Rauchfäden schwelten noch in die Höhe. Je mehr sich die Seewölfe dem Laderaum näherten, desto schärfer wurde der Gestank. Wieder überfluteten ein paar umgekippte Pützen mit ihrem schäumenden Seewasser den Boden des Laderaumes. Don Juan und seine Helfer hatten alles, was sie im Laderaum fanden, herausgeschleppt. „Sechs Männer sind tot. Erstickt. Und voller Brandwunden." Die Seewölfe fingen an, die toten Jäger und Fallensteller, in angesengte Mäntel und Decken gewickelt, an Deck zu bringen. „Acht sind mit dem Leben davongekommen", sagte Ben. „Ohne Zweifel haben sie das Feuer selbst angezündet." „Ich sehe das nicht anders, Amigo", erklärte der Spanier. „Zunächst hatten sie wohl einen Dolch oder ein
18 Messer. Das bedeutet, daß wir sie nicht gründlich genug durchsucht haben." „Dann haben sie die Fesseln durchgeschnitten", sagte Carberry. „Und woher hatten sie das Feuer?" Nach einer Weile, in der sie nachdachten und weiterhin Wasser gegen die Decke und die Wände schütteten, sagte der Kutscher halblaut: „Von uns hatten sie das Feuer." „Wie das?" fragte Ben Brighton. „Die Funzel. Erinnerst du dich? Wir haben ihnen Essen und Tee gebracht. Und dann hat keiner mehr an die Tranlampe gedacht. Die Kerle haben die zerschnittenen Enden und Tuchfetzen angezündet und gewartet. Sie haben sehr hoch gespielt." „Stimmt", meinte Bob Grey. „Besonders mein Namensvetter. Keiner konnte wissen, ob wir den Brand schnell genug bemerken." „Und sie freilassen. Es hat auch keiner aufgepaßt. Als die ersten heraustaumelten, da waren sie schon nicht mehr gefesselt. Niemandem ist das aufgefallen", sagte Ben Brighton erbittert. „Mir jedenfalls nicht", bekannte Don Juan. „Gerissene Burschen, diese Galgenvögel." „Sechs sind tot. Sie haben ihre Gerissenheit mit dem Leben bezahlt", sagte der Kutscher nachdenklich. „Sollen wir die acht Kerle verfolgen?" „Nein. Wir warten ab, was Hasard sagt", erwiderte Ben. Mit drei Öllampen, deren Dochte kräftiges Licht abgaben, untersuchten Don Juan, Ben Brighton und der Profos den ausgebrannten Laderaum. Daß die senkrechten Trennwände und das Schott versengt und halb verkohlt waren, schadete dem Schiff nicht.
Aber die Innenplanken bis unterhalb der Wasserlinie waren ebenfalls verbrannt. Der Profos schabte und stocherte mit dem Messer in den fingerdicken schwarzen Schichten. Sie waren triefend naß und blätterten ab wie morsche Borke. Das Holz dahinter, die dicken Planken, klang noch recht vertrauenserweckend, als er dagegenhämmerte. „Gehört zumindest neu kalfatert", sagte er sachlich. „Und vielleicht sollten wir innen ein paar Planken draufnageln. Das kann Ferris Tucker besser beurteilen." Inzwischen lagen die sechs Leichen, die teilweise furchtbare Verbrennungen aufwiesen, auf der Kuhl. Die Seewölfe klarten, soweit es sinnvoll erschien, den Laderaum auf. Die Bilgenpumpe trat in Tätigkeit. Das Löschwasser wurde aus dem tiefsten Punkt des Schiffsbauches abgesaugt und sprudelte stinkend und schäumend in die Bucht. Die Schebecke war in tieferem Wasser vor Anker gegangen. Ben Brighton enterte zur Kampanje auf und atmete die frische Nachmittagsluft. „Ein schlimmer Tag", murmelte er und winkte hinüber zu Hasard. Jan Ranse und Mac O'Higgins enterten die Jakobsleiter ab und machten die Jolle klar. Don Juan, der wie ein rußiger Schmied, aber nicht wie ein Seefahrer aussah, stellte sich neben den Ersten. „Wieder einmal ist Atkinson Grey mit seinen Kumpanen entwischt. Eine Tagesfahrt von der Siedlung entfernt. Sie treiben sich unbewaffnet dort im Gelände herum. Natürlich kennen sie hier die Pfade und die Richtung." „Und sie sind zu allem fähig, diese Verbrecher. Das hat sich ein paarmal
19 deutlich gezeigt", erwiderte der Erste. „Wir waren zu nachlässig." „Wir haben sie behandelt wie jeden anderen Gefangenen", widersprach der Spanier. „Aber die Funzel hätten wir wirklich nicht vergessen dürfen. Das war ein böser Fehler." „Hast recht, Señor", brummte Ben und sah zu, wie ihr Beiboot bei der Schebecke anlegte. Ein halbes Dutzend Seewölfe, unter ihnen Hasard und Ferris Tucker, stiegen über das Schanzkleid ins Boot. Noch immer spuckte die Bilgenpumpe schwarzes Wasser aus. Ölige und schmierige Flocken trieben im Wasser. Die Bucht fiel in weiten Teilen trocken, und zwischen dem Schlick und Schlamm verschwanden die einzelnen Wasserflächen. Die Galeone sank sanft und ohne Erschütterungen tiefer in den weichen Untergrund. Tauwerk, Segel und Geschirr an Backbord hatten außer einigen Rußflecken keinen sichtbaren Schaden erlitten. Aber zwischen dem Geschützdedk und der Kuhl einerseits und dem halb ausgebrannten Laderaum andererseits zeigten sich die Schäden, die Flammen und Rauch hinterlassen hatten. „Jetzt kriegen wir Ärger, denke ich", sagte Don Juan und blickte in die Richtung, aus der ihr Beiboot herangepullt wurde. „Hasard ist unterwegs." Zwischen den zwei Schiffen gab es gerade noch genügend Wasser. Das Beiboot ging bei der „Explorer" längsseits. „Hasard hat auch keine Notcrew an Bord", sagte Ben. „Die Kerle hätten ihn und die anderen genauso geleimt" Zuerst begrüßten sie den Seewolf und die Freunde, dann verzog sich
Don Juan in seine Kammer, um sich Ruß und Dreck abzuwaschen. Hasard winkte Ferris Tucker zu und sagte: „Das bedeutet für beide Schiffe, daß wir vor Anker liegen bleiben und zunächst die dringendsten Schäden ausbessern müssen. Sechs Männer sind tot, sagtest du?" Ben streckte den Arm aus und zeigte zur Kuhl. „Dort liegen sie. Es sind die drei verwundeten Siedler und drei Fallensteller. Wahrscheinlich sind sie alle erstickt." „Wir übergeben sie morgen der See", sagte Hasard. „Sie sind unbewaffnet, die Männer um Grey?" „Mehr als eine Pistole und einen Dolch haben sie nicht", erwiderte Ben. „Wirf erst einmal einen Blick in den Laderaum. Wahrscheinlich wartet eine Menge Arbeit auf Ferris." Das fauchende und spuckende Geräusch der Bilgepumpe hörte auf. Matt Davies brannte die Dochte der Buglaterne und der Hecklaterne an und versorgte die Laternen mit frischem Ölvorrat. Nach und nach tauchten die Seewölfe an Deck auf. Sie hatten versucht, sich den Ruß und die Spuren des Brandes von der Haut zu waschen. Einige hatten die Hemden gewaschen und zum Trocknen aufgehängt und standen mit nackten Oberkörpern auf den Planken. Hasard enterte den Niedergang hoch und rief: „Ferris meint, daß er noch innerhalb dieser Nacht die Schäden ausbessern kann," „Immerhin", antwortete Ben. „Wenigstens eine gute Nachricht. Was hältst du von dem halb geglückten Fluchtversuch?" Der Seewolf führte eine unschlüssige Geste aus. Dann richtete er den Blick auf den Ersten und sagte halblaut und verdrossen: „Was passiert
20 ist, bleibt höchst ärgerlich. Wenn ich jetzt zu toben anfange, ändert es auch nichts daran, daß acht hundsgemeine Schurken in der Wildnis herumrennen. Ich rechne damit, daß sie sich in die Richtung der Siedlung durchschlagen werden." Carberry schlug mit der Faust auf das Schanzkleid und rief: „Und auf dem Weg dorthin bringen sie wieder Indianer um. Die Indianer rächen sich an uns oder an den Siedlern. Wir sollten hinterher, Sir!" „Erst nachdenken, dann handeln", erwiderte der Seewolf und wandte sich an Tucker: „Kommst du klar, Ferris?" Der rothaarige Riese nickte und erklärte: „Ich hole mein Werkzeug von der Schebecke. Teer und alles andere gibt's hier an Bord. Spätestens zum Sonnenaufgang sind wir fertig. Los, Freunde: wir fangen außenbords an. Jeder hilft mit." „Verstanden, Ferris." Solange die Galeone im Schlick festsaß, konnte entweder vom Beiboot oder direkt vom Boden der Bucht aus gearbeitet werden. Der Kutscher fachte das Feuer in der Kombüse wieder an, denn er wußte, daß Ferris sein stinkendes Pech zum Kalfatern genau hier erhitzen und aufweichen würde. Der Seewolf wandte sich an Don Juan und Ben Brighton und sprach seine Überlegungen laut aus. „Es ist zwar widersinnig, aber ich glaube, daß dieser Grey verrückt genug ist, sich neu ausrüsten zu wollen. Er braucht Waffen und Nahrungsmittel. Beides ist nur an Bord zu finden. An seiner Stelle wäre es mir zu riskant, mit acht Männern über dreißig harte Kämpfer anzugreifen, aber immerhin hat Atkinson Grey bisher in
jeder Lage den Mut eines Verrückten bewiesen." Don Juan erwiderte, ebenfalls mit einer gewissen Bewunderung: „Er ist jedesmal damit durchgekommen. Kein anderer hätte die Wahnsinnsfahrt mit der Jolle überlebt." „Das bringt mich dazu, an eine unruhige Nacht zu denken. Wir werden wieder einmal in den Stiefeln schlafen müssen." Gleichzeitig schirmten sie ihre Augen ab und sahen nach dem Stand der Sonne. Etwa drei Stunden lang gab es noch Tageslicht. Der Durchmesser der Bucht war nicht größer als eine Meile. Der Himmel bezog sich mit tiefhängenden Wolken. Ein Sommergewitter lag in der Luft. Ob es über diesem Bereich niedergehen würde, blieb ungewiß. Vielleicht brachte die Nacht reichen Regenfall, der die Wasservorräte an Bord auf bequeme Weise auffüllen und die Decks reinigen würde. Hasard hielt den Kutscher, der aus der Kombüse auftauchte, an der Schulter fest. „Wie steht es mit den Proviantvorräten, Kutscher? Hier, auf der »Explorer'?" „Lausig, Sir", erwiderte der Koch. „Es ist eine Schande." „Vergessen wir, was passiert ist", sagte der Seewolf mit einem knappen Lächeln. „Ferris soll seinen schwarzen Brei kochen. Du setzt zur Schebecke über. Susan und Mac haben schon angefangen. Hilf ihnen, damit wir alle wenigstens gut essen, wenn wir schon soviel Ärger haben." Der Kutscher zeigte deutlich seine Erleichterung. „Das ist ein Wort, Sir. Inzwischen können wir ja hin und her waten." „Das müssen wir auch, weil Ferris das Boot braucht. Ben! Für die Nacht
21 gilt wieder allgemeine Gefechtsbereitschaft, mit Wache gehen und geladenen Waffen." „Das ist völlig klar, Sir." Beide Schiffe lagen fest. Die Bugspriete deuteten auf die Passage. Das Wasser hatte sich im gesamten Bereich der Bucht zurückgezogen. Im schräg einfallenden Licht der Sonne waren deutlich die Höchstwasserstände zu erkennen. Als Ben und der Seewolf die Ufer mit den Spektiven absuchten, fanden sie keine Spuren von Fischern oder Jägern, aber im Buschwerk und in den unweit wachsenden Wäldern konnte sich alles Denkbare verstekken. Zwischen den Schiffen zeigten sich bereits Zungen aus hellem Sand. Krabben krochen über den Schlick. Ferris Tucker stand auf dem Dollbord des Bootes. Er und die Zwillinge schabten und schrubbten die Planken. Ferris hatte die Stelle, an der innenbords der Brand gewütet hatte, mit Strichen markiert. Auskristallisiertes Salz, die breiten Teernasen, das äußere Plankenholz und der Bewuchs aus Seepocken sowie anderen Muscheln konnten besser entfernt werden, solange die Planken noch feucht waren. „Wir sollten uns beeilen, sonst futtern uns die anderen das frische Brot weg", ächzte der Zimmermann. „Außerdem wird es bald dunkel." „Wir haben die ganze Nacht", gab Hasard junior zurück. „Oder meinst du, die Marodeure erscheinen, um uns zu helfen?" Paddy Rogers und Jack Finnegan hockten im verräucherten Laderaum und versuchten, die Fugen zwischen den Planken auszukratzen. Der Geruch des erhitzten Pechs zog träge durch das Schiff. „Wenn sie angreifen, erwartet sie
ein heißer Empfang", sagte Philip junior. „Al Conroy ist schon unterwegs, von Rohr zu Rohr." Der Stückmeister hatte zwar nicht vor, die Galeone und die Schebecke wegen der acht Galgenvögel in feuerspeiende Festungen zu verwandeln, aber er kontrollierte sämtliche Drehbassen, sorgte für brennende Funzeln in der Nähe der Geschütze, für Lunten und sandgefüllte Pützen. Er und seine Helfer luden auch die Musketen und die Pistolen nach und teilten die Waffen wieder aus. Ob die Männer um Atkinson versuchen würden, sich nachts zu den Schiffen zu schleichen - die Wetten standen etwa gleich. Immerhin glaubte ein Großteil der Arwenacks, daß die Kerls tatsächlich einen Angriff oder besser einen Versuch, Waffen zu stehlen, riskierten. Bill schleppte einen kupfernen Kübel über den Sand und stellte ihn vorsichtig auf die mittlere Ducht des Beibootes. „Hier ist dein Wachs. Schön heiß, Ferris." Zehn oder fünfzehn Quadratfuß der Außenplanken glänzten hell und sauber angeschliffen. Das Holz mit heißem, flüssigem Wachs zu behandeln, stellte eine Möglichkeit dar, in aller Eile die Planken zu schützen und zu verhindern, daß sie sich voll Wasser sogen. In einer Werft oder wenn genügend Zeit vorhanden war, setzte auch der Schiffszimmermann andere Maßstäbe für seine Arbeit. Er tauchte den Quast in das fast kochende Wachs und strich so sorgfältig wie möglich die aufgerauhten Holzteile ein. Schließlich bedeckte die Wachsschicht das gesamte frische Holz. Er sagte, mit seiner Arbeit einigermaßen zufrieden: „Pause, meine
22 Freunde. Wir sehen nach, was unsere Köchin und ihre Helfer an Köstlichkeiten zuwege gebracht haben." „Und dann kalfatern wir?" fragte Hasard junior. „Richtig, mein Söhnchen." Ferris sammelte die Werkzeuge ein und legte sie in die Kiste. „Toolan braucht sich nicht zu beklagen. Für ihn und seine Crew bleibt genug zu tun." Inzwischen saß auch das Beiboot im Schlick fest. Der Schiffszimmermann rief zur Galeone hinauf. Ein Ende flog nach unten, und er ließ die Kiste an Bord hieven. Dann wanderten die Männer hinüber zur Schebecke und kletterten über die steil stehende Planke zun Schanzkleid hinauf. „Hunger!" rief Philip junior und wehrte die Bordhündin ab, die ihn spielerisch ansprang. „Und Durst. Wenn es so gut schmeckt, wie es riecht . . . " „Wenn du wirklich Hunger hast, ißt du alles", Hasard stieß seinen Zwillingsbruder an. Philip junior knurrte zurück: „Sogar gekochten Fisch mit Gräten." Während langsam die Abenddämmerung einfiel, ging die Hälfte der Crew Wache. Meist standen sie achtern und vorn auf den Schiffen und paßten auf. Eine Gefahr drohte, wenn überhaupt, vom Land her. Für eine Stunde herrschten Ruhe und Entspanntheit im engen Bereich der Bucht. Die Sonne versank hinter den fernen Wäldern, und eine dunkle Wolkenfront schob sich im Westen hoch. Die Seewölfe aßen und tranken und unterhielten sich leise. Der scheinbare Friede wurde nur von Sir John unterbrochen, der im Topp des Großmastes hockte und mit seinen anderen Bordgenossen in verschiedenen Sprachen schimpfte. Sir
John, der rote Aracanga, schien der einzige zu sein, dessen Laune ständig schlechter wurde. 4. Zwei Stunden vor Mitternacht: Philip Hasard Killigrew, Ben Brighton, Don Juan und Dan O'Flynn saßen auf der weichen Unterlage ihrer zusammengefalteten Mäntel auf dem Grätingsdeck. Musketen standen in Reichweite, die geladenen Pistolen steckten in den Gurten. Die Männer hielten Zinnbecher in den Fingern. Ein Drittel der Crew und - bis auf David Fletcher - der Rest der Siedlerfamilie befanden sich in den Kojen. Der wuchtige Schiffskörper der „Explorer" bildete eine Art Trommel, die jedes Hämmern und Hobeln mehrfach verstärkte. Ferris Tucker und seine Helfer schufteten im Laderaum der Galeone. Ins erste Wetterleuchten am westlichen Horizont hinein meldete sich Dan O'Flynn. „Es ist uns offenbar nicht gegönnt, auch nur eine einzige Fahrt so durchzuführen und zu Ende zu bringen, wie es jeder Seemann gern hätte. Selbst diese harmlose Suche nach einem Platz für über hundert oder mehr Siedler gerät zu einem merkwürdigen Abenteuer." Noch bevor einer antworten konnte, fügte er hinzu: „Das bedeutet für mich immerhin, daß ich entlang dieser Küste eine Menge Karten zeichnen und alte Karten berichtigen konnte. Aber in Rauch und Feuer erstickende oder verbrennende Schnapphähne waren an sich nicht geplant. Wenigstens nicht von mir." Hasard lachte in sich hinein. „Das hat wohl niemand geplant oder vor-
23 hergesehen. Wir haben von der Queen einen Auftrag erhalten, und wir führen ihn auch durch. Bis zum bitteren Ende." Jeder von ihnen kannte aus eigener Erfahrung die unzähligen Zwischenfälle, die den eigentlichen Weg eines Schiffes begleiteten wie die fliegenden Fische. Die Seewölfe überlebten, weil sie ununterbrochen versuchten, den Gefahren so gut wie möglich auszuweichen. Ihre vordringlichste Sorge betraf das Schiff. Jeder an Bord kümmerte sich um jedes Detail. Eine aufgeklarte Schebecke, die nach den Regeln guter Seemannschaft betreut wurde, war für sie alle eine Selbstverständlichkeit. Zustände wie an Bord der Galeonen würden bei ihnen niemals einreißen. Aber die Verantwortung für etliche andere Schiffe, angeführt von seltsamen Gestalten der Seefahrt, bemannt mit einer Crew, die zur Hälfte aus Gelegenheitsschurken bestand, das war eine völlig andere Sache. Und dann kamen noch die armen Siedler hinzu, die den Traum hatten, in der Neuen Welt Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Ihre Sache, die Sache der Arwenacks, war das nicht. Den Augenblick, an dem sie das alles hinter sich ließen und wieder unterwegs in den warmen Süden mit dem hellen Sand und den rauschenden Palmenwipfeln waren - diesen Augenblick sehnten sie alle herbei. ,,Bis zum bitteren Ende", murmelte Don Juan. „Madre de dios. Bis dahin werden noch viele gute Männer und Frauen sterben." Der Seewolf versenkte seinen Blick in die unergründlichen Tiefen des Bechers. „Es wird verdammt viel gestorben
in diesen Jahren", sagte er leise. „Und wer kann es verhüten?" „Wir versuchen es immerhin", meinte der Erste. „Wir geben uns mehr Mühe als jeder andere seit London." „Das ist richtig. Aber die wirklichen Wunder - wir erleben sie nicht", sagte Dan. Er war sichtlich unzufrieden mit diesem Teil der langen Fahrt. Hasard breitete die Arme aus, eine Geste, die seine Unsicherheit trefflich erkennen ließ. „Ich rechne nicht mit Wundern, Freunde", sagte er. „Was wollt ihr noch mehr? Es ist an Bord niemals langweilig. Und wir alle haben bisher ohne Tod und schlimme Verwundungen viele Jahre hinter uns gebracht. Oder wollt ihr etwa abmustern und unter dem bigotten Toolan segeln?" „Eine überflüssige Frage", sagte Don Juan grimmig. „Auf die ich auch nicht ernsthaft zu antworten gedenke", fügte Dan hinzu. Das lautlose Wetterleuchten wurde greller und rückte näher. Die dunkle Wolke versperrte die Sicht auf die Hälfte des Firmaments. Das kochende Pech stank von der Galeone herüber. Die vier Männer schwiegen und ließen ihre Blicke umherwandern. Etwa eineinhalb Dutzend Lampen und Fackeln an Deck der Schiffe und im sandigen Schlick der trockenen Bucht bildeten kleine Inseln in der Dunkelheit. Hasard stellte sich vor, daß zwischen den Büschen und den anderen Pflanzen inzwischen einige indianische Späher lauerten. Und sehr wahrscheinlich versteckten sich irgendwo auch die Schnapphähne. Noch immer klopfte Ferris Tucker mit seinen Helfern das Material zwischen die Planken. Die Hitze des
24 Brandes hatte die Feuchtigkeit aus dem Holz gebrannt, die Spalten klafften weiter auseinander. Ferris hatte nicht nur die verbrannten Reste abgehobelt, sondern auch die Fugen geöffnet. Jetzt verschloß er sie wieder nach allen Regeln schiffbaulicher Handwerkskunst. An den Stellen, an denen der Brand das meiste Holz gefressen hatte, preßte er die breiten Planken darauf, schlug eiserne und bronzene Nägel ein und vergoß die Fugen mit siedendem Pech. Er wußte, daß in wenigen Stunden die Flut wieder einsetzte, die Schiffe aufschwammen, und dann stieg auch das Wasser an den Planken. In diesem Fall würde sich sofort zeigen, welche Fugen dicht oder nicht dicht waren. Es gab für Hasard nicht den kleinsten Grund, anzunehmen, die „Explorer" würde Wasser ziehen. Er vertraute Ferris Tucker. „Wir haben zwei Möglichkeiten", fing der Seewolf unvermittelt an. „Im Morgengrauen suchen wir nach den acht Schurken." „Oder?" fragte der Erste schläfrig. Es wurde Zeit, daß er die Koje abhorchte. „Oder wir segeln beim ersten Tageslicht weiter. Dann wären wir, wenn nicht wieder etwas Unerwartetes passiert, am Abend bei der Siedlung. Ich denke auch, daß ich heute nacht schlecht träume und morgen früh diesem Schurken Grey hinterherjage." Dan lachte kurz. „Kann sein, daß wir es einfacher haben. Vielleicht besucht er uns heute nacht." Ben Brighton leerte seinen Becher und starrte ihn mißmutig an. „Meinst du?" Dan O'Flynn hob die Schultern. „Was weiß ich! Ich kann mich nicht
in die Lage solcher Mistkerle versetzen. Sie haben nicht viel mehr als ihr nacktes Leben. Was hätten sie zu verlieren?" „Eben ihr Leben", entgegnete Don Juan. „Aber ob sie es hier aufs Spiel setzen?" Falls sich die acht Halunken tatsächlich zwischen den Büschen des Ufers versteckten, mußten sie sehen, daß die Seewölfe geradezu darauf warteten, daß sie sich anschlichen. Ein Mann mit klarem Verstand würde dieses Risiko auf keinen Fall eingehen. Aber was wußten die Seewölfe schon von dem klaren Verstand solcher Männer wie Grey? Nicht viel. „Ich weiß es nicht", murmelte der Seewolf. „Gibt es noch einen Schluck für uns, Mister Pellew?" Er hob seinen Becher. Mac Pellew, der auf der Kuhl herumschlich und die Becher und Mucks einsammelte, hob den Kopf und deutete ein Zeichen an, das die vier Männer auf der Achtergräting fröhlich stimmte. Einige Atemzüge später erschien David Fletcher und hielt eine kleine Kanne in der Hand. „Mehr gibt's nicht, sagt der Koch", erklärte er. „Da nähert sich ein Gewitter, Sir." „Man sieht's, aber man hört's noch nicht", murmelte Ben Brighton. David verteilte sorgfältig den Inhalt des Kruges in fünf Becher und setzte sich zu den Seewölfen. Inzwischen hatte das laute Hämmern im Bauch der Galeone aufgehört, aber ein Sammelsurium anderer Geräusche war noch deutlich zu vernehmen. Die Brandung außerhalb der Bucht wurde lauter. „Aber wir kriegen es auf die Mütze, wie?" fragte der Siedler. „Vielleicht, vielleicht auch nicht." Der Seewolf gähnte. „Und wenn ihr
25 endlich das Deck aufklart, dann werden auch nur die Planken naß. Ich bin eben gerade zu einer ungemein wichtigen Entscheidung gelangt, Freunde." „Ja?" Hasard nickte mehrmals und gähnte wieder. „Wir warten einfach ab, was heute nacht passiert. Entweder kreuzen die Kerle auf, oder sie lassen es bleiben. Entweder tobt sich das Gewitter bei uns aus, oder es zieht an uns vorbei. Wenn es hell geworden ist, sind wir alle ein wenig klüger." „Hoffentlich." Die Ruhe hielt an. Die Schatten der Männer, die hinter dem Schanzkleid der „Explorer" hin und her gingen, schoben sich schwarz und schwankend vor die Laternen und Funzeln. Dasgleiche galt für die Schebecke. Die ersten flachen Wellen zischten in die Bucht und zogen sich schäumend wieder zurück. Man sah sie nicht, hörte das Wasser aber gurgeln. Erst jetzt grollte ferner Donner. Die erste Hälfte des Jahres war fast vorbei, und die Zeit der Gewitter und Wirbelstürme näherte sich. Davor waren die Schiffe in dieser Nacht und in dieser Bucht sicher. David Fletcher trank aus und verschwand bedächtig unter Deck. Auch Hasard stand auf und sagte: „Ein paar Stunden laßt ihr mich schlafen, ja? Wenn der erste Schuß fällt, bin ich wach." „Aye, Sir", antwortete Ben Brighton. Der Schiffszimmermann und seine Helfer schienen mit der Arbeit fertig zu sein. Das Hämmern und das scharfe Knirschen der Hobel hatten aufgehört. Zwei schwankende Schatten bewegten sich von der Galeone herüber und entpuppten sich als die
Zwillinge, als sie über das Schanzkleid enterten. Der erste Donnerschlag krachte, als bis auf die Wachen alle Mann unter Deck waren. Zwischen den krachenden Donnerschlägen hörten die Seewölfe, wie die Brandung und die auflaufende Flut zischend und gurgelnd wieder in die kleine, einsame Bucht drängten.
Wettergesicht, der Waldjäger, unterbrach seinen Lauf und blieb mit zitternden Knien am Ufer des Baches stehen. Er atmete keuchend. Schweiß lief über seinen Oberkörper und durchnäßte die Weste aus Hirschleder. Nach mehreren tiefen Atemzügen kauerte sich der Indianer nieder, legte seine Waffen ab und schöpfte das kalte Wasser in sein Gesicht, trank gierig und hielt dann die Arme bis zum Ellenbogen in die Strömung. Langsam breitete sich die Kühle in seinem Körper aus. Er mußte melden, was er gesehen hatte. Der Stamm mußte gewarnt werden. Wettergesicht kannte die Männer, die ihn und die anderen Jäger bedrohten. Er kannte sie nicht selbst, aber er hatte von anderen Jägern und Fischern viele böse Wahrheiten gehört. Er blickte auf und sah nach Sonne und Schatten. Noch blieb genug Zeit. Er konnte den Hügel, auf dem die Jäger rasteten, leicht erreichen. Aber er durfte nicht langsamer werden. Wettergesicht trank noch einige Schlucke, warf den Köcher wieder über den Rücken und packte Schild, Speere und Bogen. „Seit die Männer mit den bleichen Gesichtern in unserem Land sind, ist
26 Streit zwischen den Stämmen", murmelte Wettergesicht. „Wir müssen sie töten, die Männer in den großen Kanus." Er begann wieder zu laufen. Dabei entspannte er alle Muskeln des Oberkörpers und wandte genausowenig Kraft auf, wie er brauchte, um in einem langsamen Trab voranzugelangen. „Töten. Alle müssen getötet werden", stieß er zwischen den einzelnen Atemzügen hervor. Wettergesicht wußte aber, daß es ein Wunsch bleiben würde, der schwer zu erfüllen war. Er hatte den jungen Sumpfhirsch lange gejagt. Durch die morastigen Wiesen, durch Buschwerk und Wald und bis zum Rand des großen Wassers. Niemals war er nahe genug an der Beute gewesen, um einen sicheren Schuß abgeben zu können. Dann, als die Beute ihm so gut wie sicher war, sprang der Hirsch in das zurückweichende Wasser der Bucht und schwamm um sein Leben. Im selben Augenblick sah Wettergesicht das große Kanu. Es glitt in die Bucht, drehte sich langsam und schwamm noch immer im Niedrigwasser, als die großen Tücher an den langen Stangen, die wie rindenlose Bäume aus dem Riesenkanu wuchsen, eingebunden wurden. Im Bauch des Kanus brannte ein großes Feuer, denn aus verschiedenen Öffnungen quoll dichter Rauch. Sofort vergaß Wettergesicht den fetten Hirsch. Er ließ sich hinter einen Wall aus Ranken und Treibholz fallen und beobachtete die Weißgesichter. Das Schiff hielt an, und der Kiel schrammte über den Boden der Bucht. Dann warfen sie vom Vorderteil einen schweren Doppelhaken in
das niedrige Wasser. Männer eilten hin und her und schöpften mit hölzernen Eimern Wasser, das sie unter Deck ausschütteten. Der Indianerjäger begriff: das Kanu drohte zu verbrennen, und die Fremden versuchten die Flammen zu löschen. „Also verbrennen sie nicht das Kanu", sagte Wettergesicht enttäuscht. Wenn sich die Fremden auf dem Land der Indianer befanden, waren sie leichter zu besiegen. Wieder entstand ganz oben auf dem Kanu verwirrende Bewegung. Einzelne Männer erschienen aus dem Bauch des Kanus und stürzten bis an den Rand. Sie ließen sich nicht aufhalten, sprangen ins Wasser und schwammen auf einen Punkt zu, der links von Wettergesichts Versteck lag. Er hatte Zeit, jedes einzelne Gesicht genau anzusehen. Keines gefiel ihm, es waren die Gesichter von wilden, rücksichtslosen Männern. Er zählte acht von ihnen. Mit ihren lärmenden kleinen Feuerrohren zielten die anderen Fremden auf die Flüchtenden, und die peitschenden Geräusche riefen über der Bucht scharfe Echos hervor. Wettergesicht verstand nur die Hälfte von dem, was er sah und miterlebte. Was hatten die anderen Jäger über die Fremden berichtet? Es gab zwei Stämme der fremden Besucher. Die einen blieben mit ihren Frauen und Kindern, die anderen bestiegen wieder ihre großen Kanus und verschwanden. Sie waren nur Gäste. Sie verstanden sogar zu jagen, wie etliche Jäger bestätigten. Aber sie brauchten die Beute für sich selbst und brieten sie im Bauch der Kanus. Wettergesicht rannte in seinem kräftesparenden Trab auf einem
27 Pfad weiter, den nur er kannte. Sorgfältig überdachte er alle seine Beobachtungen und das, was er daraus lernen konnte. Die Männer des anderen Stammes, der hier an Land blieb, fällten Bäume, bauten eckige Hütten und gruben tiefe Rinnen in den Boden. Sollen wir ihnen das Land überlassen? überlegte der Jäger. Er wußte es nicht. Es gab Stimmen, die dafür sprachen im Rat der wandernden Jäger. Und ebenso viele Häuptlinge sprachen dagegen. Wettergesicht wußte nicht, wie er entscheiden würde, wenn er etwas zu sagen hätte. Aber er mußte seine Leute vor den acht Männern warnen. Die Sonne hatte sich rot gefärbt. Von Sonnenuntergang zog eine schwarze große Wolke hoch. Diese Nacht würde es wieder Blitze, Donner und Regen geben. Vielleicht trieb das Wetter die acht Geflüchteten in den Wald. Sie hatten keine Waffen. Jedenfalls hatte Wettergesicht bei ihnen keine Donnerrohre oder Speere entdecken können. Er hatte jetzt, als die Sonne hinter der Wolke verschwand, zwei Drittel der Strecke hinher sich. Er watete durch einen breiten Bach, kletterte die Schräge eines Hügels hinauf und schob sich durch ein Feld großer Büsche. Irgendwo hinter ihm waren die acht Fremden. Er fürchtete sie, obwohl sie keine Waffen hatten. Er hatte gehört, wie sie in den Siedlungen gewütet hatten. Wenn sie die Kinder und Frauen des eigenen Stammes fanden, drohte den Wehrlosen große Gefahr. Wettergesicht wußte nicht, ob alle Fallensteller und Jäger schon wieder bei den Zelten waren. Sicherer Pfeil, Ona-Haho und Tou-
tan-Tete würden wissen, was zu tun war. Wenn sie auf Schwarze Kröte hörten, dann würden sie auf den Kriegspfad gehen. Hinter dem Waldstreifen tauchte der See auf. Wettergesicht schlängelte sich durch die Stämme und sprang über dicke Wurzeln. Er war am Ende seiner Kräfte. Der warme Wind brachte feuchte Luft von dort, wo sich die Gewitterwolke hochschob. Das Sonnenlicht war verschwunden, es herrschte ein fahles Halbdunkel. „Ich muß es schaffen", keuchte er, erreichte den See und riß sich die Jacke und den Köcher vom Rücken. Dann schob er den Oberkörper in das kalte Wasser und spürte den Schock, der ihn wieder hochreißen sollte, bis in die Zähne. Für einige Atemzüge blieb Wettergesicht unter Wasser. Dann richtete er sich prustend auf und trank. Sein Körper dampfte. Durch die Baumstämme sah er den ersten Blitz aufflackern. Er kühlte sich ein zweites Mal gründlich ab, dann lief er weiter, im Zickzack am Seeufer entlang und auf das Lager zu. Siebenmal beide Hände zählte der Stamm. Mit den jungen Männern, die noch keine geübten Jäger waren, gab es zweimal zwölf Männer, die ihre Waffen richtig zu handhaben verstanden. Wieder blitzte es, dann ertönte ganz leise ferner Donner. Wettergesicht beschleunigte seine Schritte. Die weichen Mokassins berührten den Boden kaum noch, als er zum letzten Spurt ansetzte, über die steinerne Einfassung der Quelle sprang und den Rauch der Lagerfeuer roch. Dann tauchte die Siedlung auf, und Wettergesicht wurde langsamer. Er blieb auf dem Platz zwischen
28 den Zelten und den vielen aufgespannten Fellen stehen, keuchte und rief: „Acht fremde Männer. Sie sind vom großen Kanu gesprungen und an Land geschwommen. Sie werden uns suchen und finden. Wo sind die Jäger?" Junge und alte Frauen umringten ihn. Ein paar Kinder schrien. Er ließ die Schultern hängen und zwang sich dazu, gleichmäßig zu atmen. Schwarze Kröte und Sicherer Pfeil traten hinter den Fellen hervor. Sie hoben grüßend die Hände. „Acht Männer?" „Es sind acht. Sie haben keine Waffen und böse Gesichter. Vielleicht haben sie das große Kanu angezündet. Es liegt in der trockenen Fischbucht. Das zweite Schiff mit den Dreieck-Windmatten glitt auch in die Bucht." „Dort sind sie noch?" „Bis das Wasser wieder steigt. Ich weiß nicht, wo sich die acht Männer verstecken." „Aber sie waren nicht schneller als du?" fragte Toutan-Tete. Wettergesicht legte seine Waffen ab und warf ihm einen finsteren Blick zu. „Ich bin gerannt wie der Wolf." „Wir nehmen unsere Waffen und gehen ihnen entgegen. Sie dürfen die Zelte nicht sehen. Wir haben von ihnen viel Böses gehört", entschied Schwarze Kröte. „Sie zerstören alles. Sie suchen nach Gold. Sie haben Frauen entführt und mißhandelt. Wir töten sie." „Gewitter kommt", bemerkte die Frau von Schwarzer Kröte. „Ich glaube, daß sie sich verkriechen werden", sagte Wettergesicht. „Und vielleicht holen sie sich Waffen aus den großen Kanus. Wir haben keine Eile. Warten wir. Nach dem
Regen oder morgen früh. Dann kämpfen wir." „Wenn wir sie finden. Sie werden vielleicht zur Siedlung gehen. Oder zu den Fallenstellern hinter den Palisaden." Ona-Haho deutete nach Norden und vollführte eine wegwerfende Geste. Mit den weißen Fallenstellern lebten sie in Frieden. „Gut. Wir warten. Sammle deine Kräfte, Wettergesicht." „Es wird viel Regen geben. Der Braten wird naß", sagte Wettergesicht und ging mit steifen Beinen zu seinem Zelt. Der Donner war hart und laut geworden, und die schwarze, blitzdurchzuckte Wolke bedeckte die Hälfte des Himmels. Die Entscheidung der Jäger war richtig gewesen. Morgen war ein anderer Tag zum Töten. 5. Frank Davenport hörte endlich auf, seine Hände und Unterarme mit nassem Sand zu putzen. Sein schmales Gesicht war inzwischen feuerrot. Die Rußflecken auf seiner angesengten Kleidung waren nicht verschwunden. „Hör endlich auf damit. Ich werde ganz verrückt von deiner Wascherei", fauchte ihn Grey an. „Außerdem regnet es bald." „Ich kann das nicht leiden. Meine Haare stinken nach diesem verdammten Rauch", erwiderte Davenport und hustete. „Aus dem Laderaum sind wir raus", sagte Grey halblaut. Sie waren einige Minuten lang wie die Verrückten landeinwärts gehastet. Jetzt versteckten sich die acht Kerle hinter einem dichten Stück Buschwerk am Rand des Wäldchens.
29 Von hier aus sahen sie die Masten, Rahen und achterlichen Aufbauten der Schiffe. „Und viel mehr als ein Messer haben wir nicht", sagte Jameson Kidd heiser. Er zog das zweite aus dem Stiefelschaft, grinste und zeigte seine Zahnlücken. „Doch. Zwei sind's geworden. Aber das ist alles." „Ich habe Hunger", erklärte der Fallensteller. „Wir brauchen Waffen, Freunde." Sie sahen zum Fürchten aus. Die Kleidung war zerrissen, angebrannt und rußig. Die Stiefel trugen schmierige schwarze Spuren, das Haar und die Bärte waren ebenfalls versengt. „Die Schiffe sind voller Waffen", murmelte Rosebery. „Und voller Essen." „Und voller Bastarde, die auf uns warten", entgegnete Spencer Taffe. „Wenn mich nicht alles täuscht, hat es gedonnert", erklärte der andere überlebende Siedler. „Aha. Und was soll das bedeuten?" „Daß es heute nacht ein Gewitter gibt. Wenn wir noch einmal Glück haben", führte Atkinson Grey aus, „dann löscht der Regen ihre Festbeleuchtung aus." „Ich sehe keine Lichter", sagte Gordon mißmutig. „Nur Killigrewkerle mit Musketen." „Denkst du, die warten mit Blumen auf uns?" fragte Davenport herausfordernd. Es war Grey, der ihn ebenso herausfordernd anstarrte. Schließlich senkte Frank Davenport den Blick. Er verstand, daß es Atkinson wieder einmal ernst meinte. Er deutete über die Schulter auf die trockengefallene Bucht. „Du willst doch nicht etwa . . . ? " fragte er entgeistert. „Wir müssen. Hört zu", sagte Grey
in einem Tonfall, den die anderen kannten und fürchteten. „Zwei Messer haben wir. Weit und breit nichts zum Fressen und Saufen. Keine Pistole, kein Pulver, nichts. Wir könnten die Siedler überfallen, im Norden, in der Kolonie. Aber die haben selbst nicht genug Pulver und Blei." „Aber - Killigrew mit mehr als dreißig Männern und einem Hund. Wir gelangen nicht an Bord." „Das werden wir sehen." „Mann, Grey", sagte Spencer Taffe, „denk daran: selbst wenn das Gewitter die Bastarde unter Deck scheucht und die Lampen ausbläst, dann setzt in ein paar Stunden die Flut ein. Das Wasser steigt, wir müssen schwimmen. Ist das etwa klug?" „Laß mich in Ruhe. Ich denke nach", brummte der Anführer. „Wann ist es endlich finster?" „In knapp einer Stunde." Die acht Männer hockten und lagen im weichen Waldboden. Ein paar Schritte weit entfernt rieselte ein schmaler Wasserlauf und versickerte im Sand. Die Gewitterwolke breitete sich aus und rückte näher. Die Dunkelheit und das Gewitter würden etwa zur selben Zeit über den Schiffen sein. Offensichtlich unternahmen die Gegner keinen Versuch, die flüchtigen Männer zu verfolgen. Philip Hasard Killigrew wußte natürlich genau das gleiche, was auch Grey sich ausrechnen konnte. Zum Essen hatten die acht Geflohenen nicht mehr gefunden als ein paar Handvoll Beeren. Wenigstens war das Wasser kühl und frisch. „Also", sagte Grey entschieden. „Zuerst sehen wir einmal nach, wie es den verdammten Bastarden geht. Wir sind ja noch naß. Oder hat jemand Angst vor dem Wasser?" Ohne daß sie lange darüber gespro-
30 chen hatten, stand es für sie fest. Sie würden das Leben so weiterführen wie bisher. Gold gab es auch an anderen Stellen. Ein Schiff - nicht gerade eine viel zu große Galeone - würde sich im Lauf der Zeit auch einfinden. Aber nur mit guten Waffen hatten sie eine Chance, anderen Männern noch mehr Waffen abnehmen zu können. Ein paar Säbel, mit denen man auch dem Gestrüpp zu Leibe gehen konnte, Pistolen mit Pulver und Blei, einige Musketen - mehr brauchten sie nicht. Und die würden sie schon an Deck finden. „Auf!" sagte Grey und rappelte sich hoch. „Wir schleichen uns zur Bucht." Die Fallensteller schüttelten die Köpfe, aber auch sie gehorchten. Der Mann war ihnen unbegreiflich. Aber er schien immer recht zu haben mit seinen irren Einfällen. Immerhin hatten sie die Fesseln und den Brand überlebt und spürten davon weiter nichts als ein paar verbrannte Hautfetzen und ein starkes Kratzen in der Gurgel. Zwei, drei Blitze zuckten auf. Der Donner krachte unverhältnismäßig laut. Aber es regnete nicht, als die Männer hintereinander die Strecke wieder zurückgingen, die sie bis hierher gelaufen waren. Grey hob den Arm und legte den Zeigefinger an die Lippen. „Seid trotzdem ruhig", ermahnte er sie. „Gib mir einen deiner Zahnstocher, James." Kidd zog ein Messer aus dem Stiefelschaft und warf es Grey zu. Der Anführer fing es geschickt aus der Luft auf und steckte es ein. Hinter ihnen schlugen Blitze in den Boden, der Wind fauchte in Böen heran und wirbelte Laub, Nadeln und Staub hoch, Donner krachte ohrenbe-
täubend. Die Baumkronen und die Büsche schüttelten sich, und Vögel flatterten aufgeregt aus den Nestern. „Jetzt dürfen wir wohl laut sprechen, wie?" rief Davenport von hinten. Der Donner schluckte seine Worte, niemand verstand ihn. Die ersten Regentropfen, dick und schwer, schlugen durch die Zweige. Unwillkürlich wurden die Männer schneller. Gordon suchte sich einen kräftigen Knüppel und stützte sich darauf, bis er an der Gabelung auseinandersplitterte. Der erste Regenguß packte sie im Rücken, schob sie weiter und trieb sie bis vor das Schilf und die windgepeitschten Büsche am Rand der Bucht. Keine zwei Fadenlängen entfernt lagen die Schiffe im dunklen Schlick, der sich jetzt unter dem Aufprall der Regentropfen und der Schleier aus Wasser zu bewegen schien. Die Planken der Schiffe troffen inzwischen vor Nässe. Die acht Männer starrten bewegungslos hinüber, während sie der Regen durchnäßte. In dem kalkigen Lichtschein der Blitze sahen sie die Einzelheiten in übergroßer Deutlichkeit. Die Seewölfe waren in die geölten Segeltuchjacken geschlüpft und brachten tatsächlich einige Tranfunzeln vor dem Regen in Sicherheit. Grey sagte in Kidds Ohr: „Wenn wir etwas schnappen können, dann nur vom Deck der Schebecke. Oder was meinst du?" „Die ist auch besser zu entern", erwiderte Jameson Kidd. Die kurzen Haare auf seinem fast kahlen Schädel glänzten. Rußiges Wasser lief ihm durch die Brauen und in den Nakken. „Aber die Waffen haben sie ver-
31 steckt, die Mistkerle", sagte Davenport. Kein Kämpfer, der bei klarem Verstand war, würde sein Pulver naß werden lassen. Der Boden der Bucht war noch nicht vom Flutwasser bedeckt. Die Männer um Grey würden durch den Schlick waten müssen. Und wieder ging eine Funzel aus. Noch vier Männer befanden sich an Deck der Schebecke, die Pistolen unter den Jacken verborgen. Selbst die Drehbassen und die Culverinen waren in Planen eingeschlagen. „Wollen wir es riskieren?" fragte Grey. „Aber wir haben kein Ziel. Da gibt es nichts zu holen. Oder siehst du etwas?" fragte Davenport. „Nein. Noch nicht", sagte Grey gereizt. Taffe und Gordon versuchten, irgendwo auf den Planken eine Waffe zu entdecken, die mehr oder weniger griffbereit lag. Doch! Am Schanzkleid ragten die Griffe und Körbe von drei schweren Blankwaffen in die Höhe. Wassertropfen perlten von ihnen ab. Sie schienen mit Garn festgebändselt zu sein. Aber sieben Fuß davon entfernt hockte ein Mann unher dem Beiboot und schaute durch den Tropfenvorhang direkt in die Richtung der acht Schnapphähne. „Drei Cutlasse. Ist doch schon ein guter Anfang, wie?" sagte Grey begierig. Das Gewitter tobte weiter. Die Regenschauer waren dichter geworden, und auf jedem Schiff brannten nur die geschützten Bug- und Hecklaternen. Die Kerle warteten lauernd und riefen sich die einzelnen Beobachtungen halblaut zu. Ihr Ziel blieb die Schebecke, zu deren Deck sogar eine Planke hinaufführte.
„Achtern, die beiden Gestalten, das sind die Killigrewsöhne. Wir schlagen sie nieder und plündern sie aus", ordnete Grey an. „Von mir aus", sagte ein Fallensteller. „Weglaufen können wir immer noch, wie?" Grey und Kidd, sein treu ergebener Kumpan, kletterten aus dem triefenden Gebüsch und schlichen gebückt entlang des Ufers, bis sie auf gleicher Höhe mit den Hecks der Schiffe waren. An dieser Stelle war die Entfernung gering, außerdem gab es den meisten Schatten und wenig Schlick. Rosebery und Taffe folgten, und schließlich befanden sich alle acht Männer hinter dem Wall aus ineinander verfilztem Treibgut. „Wir müssen verdammt schnell sein. Nehmt Knüppel mit", drängte Taffe. Kidd und Grey schwangen sich im nächsten Blitzfeuer über den Wall und liefen geduckt in Richtung der Schiffe. Zwanzig, dreißig Schritte und Sprünge brauchten sie, bis sie sich außer Sichtweite der Posten an Deck hinter dem runden, ausladenden Heck der Schebecke niederkauerten. Ihre Gestalten verschmolzen mit dem dunklen Holz des Rumpfes und dem Bodenschlick. Eine erste niedrige Brandungswelle lief durch die Passage und zog sich unhörbar im Lärmen des Donners wieder zurück. „Es wird Zeit", murmelte Frank Rosebery. Das Risiko, von den Seewölfen entdeckt zu werden, war gering. Im heftigen Regen würden die Schußwaffen nicht losgehen. Und vor anderen Waffen brauchten sie jetzt keine Angst zu haben. Rosebery und Gordon folgten dem Anführer und huschten durch den Regen bis zum Ruder der Schebecke. Dann winkten sie. Das Gewitter
32 schien sich abzuschwächen, als die Blitze den Rand des Atlantiks erreicht hatten. Nacheinander lösten sich die Gestalten der Wartenden aus der Deckung und liefen einzeln, hastig und geduckt durch den Schlamm. Tatsächlich war keiner von ihnen gesehen worden. Grey packte die beiden Fallensteller an den Schultern und sagte zu Kidd: „Ihr drei holt die Blankwaffen. Notfalls die Bändsel durchschneiden, Jameson. Und dann sofort wieder weg." „Wir sollen dich in die Höhe stemmen, wie?" fragte der Jäger. „Genau. Und zwar blitzschnell." „Los jetzt. Wartet noch, bis ihr uns an Deck seht", erklärte Grey und sah zu, wie die drei an der Steuerbordseite der Schebecke ums Heck herum in Richtung der Kuhl davonschlichen. Das mächtige Heck der Galeone ragte an Backbord neben ihnen auf. Grey blickte schweigend in die Gesichter seiner Kerle. „Alles muß schnell vor sich gehen. Und wenn wir nichts ausrichten, einfach von Deck springen und wegrennen. Der Boden ist weich. Ich rechne damit, daß wir Pistolen und Musketen mitbringen. Denkt an Pulverhörner und Blei." Ihre selbstgestellte Aufgabe war schwieriger als die der anderen. Sie mußten zwischen den Schiffen auftauchen, an Deck entern und dennoch einen blitzschnellen Überfall versuchen. „Jetzt geht's los", sagte Grey, nickte und packte seinen Treibholzknüppel fester. Dann kroch er, so tief im Schatten und in der Dunkelheit wie nur möglich, auf der anderen Seite des Hecks herum, schabte mit der Schulter entlang der Planken und erreichte die Stelle, an der die ein-
fache Gangway steil vom Schiff nach unten führte. Das Holz hatte sich tief in den Sand und Schlick gebohrt, Tangschlangen breiteten sich aus und schienen in den auflodernden Blitzen zu leben. Grey schaute sich um, vier Mann hinter ihm duckten sich. Er holte tief Atem und schwang sich herum. Wie eine Katze lief er, obwohl die Sohlen auf dem nassen Holz mehr rutschten als griffen, die Planke aufwärts. Seine Hintermänner bemühten sich, ebenso schnell zu sein. Als Greys Gesicht über dem Schanzkleid auftauchte, bemerkte er gegenüber den Kopf und die Hände von Jameson Kidd. Sie nickten sich zu, und Grey drehte sich um. Er packte Rosebery und Taffe an den Händen und zog sie herauf. „Los, auf sie!" sagte er. Sie huschten entlang des Schanzkleides und - noch immer nicht entdeckt - zum Heck. Nichts lag herum, keine Waffen waren zu sehen, auch keine Männer. Diese verdammten Seewölfe hielten ihr Schiff immer so aufgeklart, als schwinge ihr Kapitän ständig die Peitsche. Jetzt rührte sich eine der durchnäßten Gestalten auf dem Grätingsdeck. Sie stieß den Nachbarn an, sprang auf die Füße und schlug die Jacke auf. Noch immer strömte der Regen. Grey verdoppelte seine Anstrengungen, lief im Zickzack und sah gleichzeitig, daß der junge Mann ihn entdeckt hatte und feuerte. Den Knall der Waffe hörte niemand im Donnerkrachen. Die Stichflamme, die aus dem Lauf fuhr, deutete nicht auf Grey, der jetzt mit erhobenem Knüppel den Jungen - es war Hasard junior - ansprang. Der Knüppel sauste nieder und traf die Waffe. Hinter Grey folgten die anderen
Ein sehr fleißiger Mensch ist unser Leser M M , K , 2050 Hamburg 80, von dem wir bereits zwei Leserbriefe im Forum der Nummern 628 und 630 veröffentlichten. Jetzt hat er sich hingesezt und zwölf Skizzenblätter sowie sechs Seiten mit Erläuterungen entworfen und niedergeschrieben. Er hat gezeichnet: die „Isabella VIII.", die „Isabella IX.",den Viermaster „Eiliger Drache über den Wassern", die „Isabella de Castilla" (die erste „Isa" der Seewölfe), die alte „Empress of Sea" des Old Donegal Daniel O'Flynn und die neue „Empress of Sea II." - jedes der sechs Schiffe auf einem Blatt im Seitenriß und auf einem zweiten Blatt eine Draufsicht sowie Querschnitt samt Hausflagge oder Stander. Und auf den sechs Seiten hat er den jeweiligen Lebenslauf sowie die Maße der sechs Schiffe beschrieben. Eine echte Fleißarbeit? Mehr noch - da muß einer schon engagiert und ziemlich hartnäckig sein, um in seiner Freizeit so etwas aufs Papier zu bringen. Herr M schreibt dazu: Liebe Seewölfe-Autoren, liebe Seewölfe-Redaktion! Am liebsten hätte ich natürlich an dieser Stelle meinen Generalplan der ,,Isabella IX." vorgestellt. Dieser mein Plan ist allerdings nicht vorzeigbar, da er etliche peinliche Fehler enthält, die sicher manchen gestandenen Modellbauer zur „CarberrySprache" hingerissen hätten. Nun könnte leicht der Eindruck entstehen, ich sei ein ,,Meckerpott'' und Angeber, der nichts zustande bringt. Also griff ich auf meine umfangreiche Sammlung selbstgezeichneter Schiffsskizzen zurück (ich male und zeichne gern, vorzugsweise Schiffe und Küstenlandschaften). Ich wählte sechs auf Millimeterpapier gezeichnete Skizzen aus dem Bereich ,,Seewölfe-Schiffe" aus, fotokopierte sie - und sah auf den Kopien etwas, das eher Nebelbänken als Schiffen glich. Der Kontrast zwischen Millimeterraster und den Bleistiftlinien war einfach zu gering. Deshalb habe ich die Originale mit der Hand und mit Feinschreiber abgepaust,
mit einigen Ungenauigkeiten in den Details, aber, wie ich finde, nicht ohne Reiz im Gegensatz zu den etwas technisch wirkenden Originalskizzen. Die Skizzen im Maßstab 1:200 geben natürlich nur meine ganz persönliche Auffassung wieder, ich habe mich nicht an den in den Seewölfe-Heften erschienenen Zeichnungen orientiert, berücksichtigte aber die technischen Angaben im Text. Über Kritik, die ruhig scharf formuliert sein kann, würde ich mich sehr freuen, vor allem, wenn sie von den „geistigen Vätern" dieser Schiffe, sprich den Seewölfe-Autoren, käme. Ich danke Ihnen im voraus für Ihre Bemühungen und wünsche der ,,SSeewölfe-Crew" weiterhin eine Handbreit Wasser unterm Kiel (bzw. ausreichend viele Seewölfe-Leser). - M M Redaktion und SW-Autoren danken Ihnen sehr herzlich für Brief und Skizzen, lieber Herr M . Vielleicht kriegen wir es hin, die eine oder andere Skizze unseren Lesern einmal vorzustellen. Kritik, „scharf formuliert", haben wir nicht vorzubringen. Sie wäre - angesichts des vorgelegten umfangreichen Materials - unangebracht. Aber Sie werden selbst gemerkt haben, daß exakte Rißzeichnungen von Schiffen voriger Jahrhunderte etwas völlig anderes sind als die Darstellung solcher Schiffe „in Action". Allenfalls schlagen die sogenannten „Kapitänsbilder" zwei Fliegen mit einer Klappe, die Sie im Original im Altonaer Museum in Hamburg finden können. Sie sind detailgetreu und „in Action" und eine Fundgrube für den Liebhaber alter Segelschiffe. Zum Teil zeichneten die Kapitäne ihr Schiff selbst, zum Teil beauftragten sie einen „Künstler", ein Porträt ihres Schiffes zu malen. Dort finden Sie „maritimes Bewußtsein" - ganz nebenbei bemerkt (siehe Forum in SW-Nr. 630). Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
Auf den beiden vorigen Seiten stellen wir unseren Lesern die Deck-Ansicht eines Komposit-Dreimastsegelschiffs vor. Hier ist einiges über den sogenannten Kompositbau zu sagen - eine Bauweise im Schiffbau, bei der kombiniert zwei Materialien verwendet werden, also Stahl-Holz oder - wie heute im Yachtbau - Holz-Kunststoff. Die Ehre, im Segelschiffbau die Kompositbauweise eingeführt zu haben, gebührt den Engländern, die aus der Not eine Tugend machten. Ihre Not bestand etwa um die Mitte des letzten Jahrhunderts darin, immer weniger Holz aus eigenen Beständen für den Bau ihrer Handelsund Kriegsschiffe zur Verfügung zu haben. Andererseits verfügten sie über eine gut entwickelte Eisenindustrie. So gingen sie dazu über, das Schiffsgerippe - Kiel, Spanten und Verbände - aus Eisen herzustellen, während die Beplankung wie bisher in Holz ausgeführt wurde. Die Eiseninnenteile - und das war der Vorteil - erhöhten die Stabilität und Lebensdauer der Schiffe und erlaubten eine noch schärfere Linienführung als der Holzbau. Die englischen Werften entwickelten dabei die Kompositklipper, mit denen sie -was deren Schnelligkeit betrafden bis dahin führenden amerikanischen Schiffbauern den Rang abliefen. Einer der berühmtesten, schönsten und schnellsten Vertreter der Kompositklipper war die „Cutty Sark" (siehe Seemannskiste in SW-Nr. 623). Aber auch andere berühmte Klipper dieser Gattung wurden auf englischen Werften gebaut - so die „Taeping", die „Sir Lancelot", die „Thermopylae", die „Ariel" usw., die alle um 1860 entstanden. Diese Schiffe waren zumeist mit Ulme oder Teak beplankt und hatten eiserne Spanten, wobei Bugspriet, Fock- und Großuntermast ebenfalls aus Eisen gebaut waren, während Kreuzuntermast, die Bram- und Marsstengen aus Fichte bestanden. Die unteren Rahen waren aus Eisen, die übrigen ebenfalls aus Fichte. Die Zahlen bedeuten: 1 Bugspriet, 2 Kranbalken (an dem der Anker gekattet wird), 3 Backdeck, 4 Seitenhaus (genutzt als Farblast, Lampenlast oder auch als WC), 5 Fockmast, 6 Marsschotenpoller, 7 Vorluke, 8 Oberdeck oder Hauptdeck, 9 Deckshaus (meist mit Kombüse und diversen Kammern), 10 Großjolle, 11 Schanzkleid, 12 Großmast, 13 große Mittschiffsluke, 14 Gig-Jolle, 15 Bootsgalgen (als Auflager für die Boote), 16 Achterluke, 17 Fallreepsluke (an Backbord und Steuerbord), 18 Kreuzmast, 19 Mastkragen, 20 Gangspill, 21 Kajüt-Oberlicht (Skylight), 22 Hütte (mit Kapitäns- und Offizierskammern, 23 Ruderhaus, 24 erhöhtes Quarterdeck und 25 Vertäupoller.
37 und stürzten sich auf die beiden Wachen. Greys Knüppel traf die Hand mit der halb leergeschossenen Doppelläufigen. Er packte die Waffe, schlug noch einmal zu und fühlte, wie sich der Griff lockerte. Dann glitten sie beide auf dem nassen Deck aus und stürzten schwer auf die Planken. Über ihnen ertönte ein Doppelknall. Dann schrie jemand auf. Der Hund bellte wie verrückt irgendwo im Schiff und fegte an Deck. Plymmie stürzte sich auf die Fremden, knurrte und schlug ihre Fänge in Fleisch und Leder. Es gelang Grey, Jung Hasard den Waffengurt zu entreißen. Er sprang auf, steckte seinen Kopf durch den Gurt und schaute sich wild um. Kidd und die Fallensteller waren verschwunden, mit ihnen die Blankwaffen. Aber das Deck wimmelte von Männern, die sich in der Dunkelheit umschauten und ein Ziel suchten. „Zurück! Weg hier!" schrie Atkinson Grey, nahm Anlauf und schwang sich neben der Pinne über das Schanzkleid. Mit einer Hand, die er um das Holz krallte, fing er seinen Sturz ab und landete einigermaßen weich im Schlick. Unmittelbar hinter ihm sprang Rosebery nach unten und schien eine Muskete zu schwenken. Über ihnen tauchten Seewölfe hinter dem Schwanzkleid auf. Sie hielten Pistolen in den Fäusten und schossen, sobald sie etwas erkennen konnten. Rosebery schrie auf und faßte sich an den Oberarm. Aber Grey riß ihn am Arm zu sich heran und tauchte in der Dunkelheit unter. „Wir sind ihnen entwischt", keuchte Grey und sprang das schräge Ufer hinauf. „Bist du verletzt, Frank?"
Aus dem schwarzen Riesenbart des Zimmermanns lief Regenwasser, von dem das Blut aus einer Stirnschramme herausgewaschen wurde. So viel konnte Grey im nächsten Blitz erkennen. Die Wunde im Oberarm, offensichtlich ein Streifschuß, sah schlimmer aus. Jetzt hetzten Taffe und Gordon heran. Gordon schien zu hinken. Nacheinander, während die Seewölfe auf alles feuerten, was sich bewegte, kehrten die Kerle in ihr letztes Versteck zurück. „Was wollt ihr mehr?" sagte Grey zufrieden. „Es hat doch geklappt. Wir sind nicht mehr wehrlos." Die Waffen waren zwar naß, aber morgen würden sie wieder trocken sein. Rosebery riß einen Streifen Stoff aus seinem Hemd und ließ sich von dem Fallensteller verbinden. Er stöhnte, als er das zerfetzte Fleisch sah, aber er konnte den Arm und die Finger bewegen. „Morgen kriegst du ein paar Blätter und Kräuter drauf. Dann heilt es schneller", versicherte der Jäger. Die Flutwellen schoben sich knöcheltief in die Bucht. Undeutlich waren die Schaumstreifen zu erkennen. „Die drei Säbel haben wir, Atkinson", sagte Kidd. „Zufrieden?" „Verteil die Blankwaffen", erwiderte Grey. „Morgen sehen wir weiter. Heute nacht verfolgt uns keiner von den Bastarden mehr." Das Schießen hatte inzwischen aufgehört. Fast liebevoll streichelte Grey das Leder seiner Beute und hängte sich den Waffengurt um. ,,Und jetzt ziehen wir uns in einen gemütlichen, trockenen Winkel zurück", sagte er. „Ist einer ernsthaft verletzt?" „Ich bin in Ordnung", erwiderte Ro-
38 sebery. „Und diese schöne Muskete ebenfalls." Die Ausbeute an Pulver und Blei war nicht gerade überwältigend, aber für eine größere Anzahl Schüsse reichte es. Grey drehte sich nicht einmal um, als er sich im Finstern zu orientieren versuchte und davonstapfte. Jetzt hielt er es nicht mehr für notwendig, sich zu ducken oder gar zu verstecken. Das Gewitter war auf See hinausgezogen, Blitze und Donner hatten an Kraft verloren, der Regen fiel rauschend und gleichmäßig. Hintereinander zogen sich die Männer wieder zurück zwischen die Büsche. Sie waren erschöpft, aber nicht unzufrieden. Wieder einmal hatten sie so viel Glück gehabt, wie sie es nicht hatten erwarten können. Jetzt konnte das Leben, so wie sie es sich vorstellten, weitergehen. Die nächste Siedlung der Indianer war sicher nicht weit entfernt. Und schließlich konnten sie sich bei den eigenen Leuten holen, was sie brauchten. Gegen Mitternacht hörte der Regen auf. Der Himmel klärte sich, und im Licht des Mondes war der Rückweg leichter zu erkennen. Der nächste Tag versprach, schön und trocken zu werden. 6. Der letzte dünne Strahl Regenwasser lief aus dem schwer durchhängenden Segel in das halbvolle Faß. In das durchdringende Plätschern hinein sagte Philip Hasard Killigrew: „Da haben wir alle diesen Atkinson Grey wohl stark unterschätzt. Ohne jeden Zweifel: Er hat mehr Mut als drei andere Männer."
„Das stimmt. Und er schlägt kräftig zu", sagte Hasard junior und rieb sich das Handgelenk. „Es ist nichts gebrochen. Nur mein Stolz." „Grey ist auch mindestens sechs Jahre älter und erfahrener als du", versuchte ihn sein Bruder zu trösten. „Ohne Gewitter hätten sie keine Chance gehabt." „Richtig." Noch lagen die Schiffe mehr oder weniger fest auf ebenem Kiel. Aber die Flut rauschte schon knietief in die Bucht. Nils Larsen und Sven Nyberg bargen die Planke, säuberten sie und brachten sie unter Deck. „Kann man auf diesem Eimer eigentlich nicht ein einziges Mal tief und ruhig pennen?" Edwin Carberry streckte seinen Kopf aus dem Niedergang und schaute verschlafen von einem zum anderen. Im Moment schienen nur Susan und ihre beiden Jüngsten noch zu schlafen. Jedenfalls trieben sie sich nicht in der allgemeinen Wuhling an Deck herum. „Du kannst in deinem Leben noch lange genug schnarchen, du Affenarsch!" rief Old Donegal. „Hast du nicht gemerkt, daß uns dieser Grey besucht hat?" „Ich hab von ihm geträumt", gab der Profos grimmig zu. „Und natürlich hat auch unser Holzwurm nichts gehört und gesehen." Ferris Tucker schrie vom Schanzkleid der Galeone herüber: „Ich kann ja nicht durch fingerdicke Planken glotzen! Du vielleicht?" Der Seewolf wußte, was die Kerle gestohlen hatten. Abgesehen von seiner widerwilligen Bewunderung des Anführers sah er für die Seewölfe kaum ernsthafte Gefahren. Nicht für die Schiffe, aber für die Siedler und die Indianer, die wiederum ihren berechtigten Haß an den neuen Einwan-
39 derern auslassen würden. Die Blankwaffen, die Pistole und der alte Donnerprügel waren leicht zu verschmerzen. „Ruhe!" rief er. „Die Kerls kommen heute nacht nicht wieder. Ich überlege gerade, ob wir bei Tageslicht ein Suchkommando losschikken." „Überlege nicht zu lange", riet ihm Ben Brighton. „Bald wird es hell." „Und bald schwimmen wir auf", sagte Dan O'Flynn gähnend. „Hat die Freiwache Erlaubnis, weiterzuschlafen?" „Sie hat", erwiderte der Seewolf. Es dauerte nicht lange, dann hatten sich die Decks der Galeone und der Schebecke geleert. Der Regen war vorbei, von Land her wehte ein kühler, feuchter Wind, der allerlei Gerüche mit sich brachte. Der Mond schob sich an den blinkenden Sternen vorbei, und weit draußen auf See wetterleuchtete es. „Wir sind, mehr oder weniger, eine stramme Tagesfahrt von der Siedlung entfernt. Sollten wir nicht von dort aus, wenn überhaupt, losgehen?" Hasard hob einigermaßen ratlos die breiten Schultern. Ein paar nasse Segeltuchjacken hingen inzwischen in den Wanten und bewegten sich wie undeutliche Gliederpuppen im leichten Landwind. „Ich bin dagegen. Denke an Amos Toolan. Selbst wenn er ein frömmelnder Puritaner ist, wartet er auf sein Schiff." „Beziehungsweise wartet er nicht, denn er hält die Galeone wahrscheinlich für verloren." Durch das Rauschen und Zischen der Flut, deren Brandung laut an die Ufer schäumte, gingen leise, rumpelnde Geräusche und Bewegungen durch die Schiffe. Sie lösten den Kiel
aus dem Schlick. In wenigen Minuten würden sie wieder in ihrem Element sein und aufschwimmen. Ferris Tukker war wieder unter Deck und beendete seine Arbeit an den Planken des Laderaumes. „Wann gehen wir ankerauf?" fragte der Erste. „Nach dem Morgengrauen. Ein paar Stunden Schlaf gönnst du uns wohl, wie? Oder willst du jetzt schon den Anker hieven?" „Nein." Sie hatten sich entschieden, noch zwei Arwenacks drüben auf der „Explorer" zu belassen, um das Schiff genügend zu bemannen. Der Schiffszimmermann holte sein Werkzeug ins Boot und ließ sich und seine Helfer zur Schebecke zurückpullen. Dann wurde, wie gehabt, die Leine des Beibootes wieder am Heck der Galeone belegt. Der Seewolf sagte sich, daß er bisher mit der Einschätzung Greys und seiner Kumpane nicht falsch gelegen hatte. In einigen Fällen hätte er sich nicht anders verhalten. Er grinste kalt: Offenbar gab es wenige Unterschiede zwischen Ehrenmännern und Schurken, was bestimmte Arten des Vorgehens betraf. Er faßte seine Überlegungen zusammen und erklärte: „Wäre ich Grey, aber zum Glück bin ich's nicht, dann würde ich im Zickzack zur Siedlung zurückwandern. Oder zumindest in die Richtung der Siedlung. Unterwegs würde ich Indinanerlager überfallen und dort wieder nach Gold suchen, denn jetzt bin ich ja mit Schlagwaffen, Dolchen und Donnerrohren ausgerüstet. Grey weiß, daß wir früher oder später hinter ihm her sind. Er weiß auch, daß in ein paar Tagen die Schiffe nach Süden segeln
40 und die vielen Siedler ausbooten. Er ist auf seine verbrecherische Art ein guter Denker." Hasard richtete seinen Blick in die undurchdringliche, bewegungslose Dunkelheit außerhalb des kreisförmigen Gebietes aus mäßig bewegtem Wasser, in dem sich Sterne und Mond sowie die vier Laternen der Schiffe schwach spiegelten. „Ja, das ist er wohl", wiederholte er unschlüssig. „Aber wir haben unseren Auftrag, und den führen wir durch. Ein drittes Mal entwischt er uns nicht." „Falls wir ihn schnappen", brummte Brighton. „Ich wünschte, wir hätten etwas anderes zu tun, als hinter acht halbverrückten Buschkleppern herzujagen." Hasard nickte und schloß: „Das ist auch mein Wunsch, Ben. Und wie wenige Wünsche gehen wirklich in Erfüllung?" „Ich weiß." Die Freiwache konnte tatsächlich noch einige Stunden ungestört schlafen. Dann fingen Susan Fletcher, Mac und der Kutscher zu klappern an, und beim Morgengrauen waren die Seewölfe wieder an Deck, wo sie das Frühstück verputzten und sich den Schlaf aus den Augen rieben. Ein strahlender, wolkenloser Tag brach an. Aber auch das Wetter konnte sich rasch ändern.
Ona-Haho hob den Jägern die Handfläche entgegen. Er schüttelte den Kopf und deutete mit zwei Fingern der rechten Hand in den hellgrauen Morgenhimmel. „Ich bin nicht dafür, daß wir uns von den Fremden töten lassen", sagte
er unmißverständlich. „Sie kennen nicht den Boden, nicht das Wild, und wir hören sie, wenn sie kommen, früher als den Donner und den Sturm." Die Jäger der kleinen Sippe saßen in einem großen Kreis um das kleine Häufchen Glut, das vom nächtlichen Lagerfeuer übrig war und den Regen überstanden hatte. Ein dünner Rauchfaden ringelte sich fast senkrecht in die Höhe. Schwarze Kröte fragte: „Wo waren sie in der Nacht?" Toutan-Tete zog fröstelnd seine Jacke enger um die Schultern und unterdrückte ein Gähnen. „Sie taten, was sie tun mußten. Zuerst tranken und ruhten sie an der Quelle an den drei Felsen. Dann gingen sie zur Bucht. Sie warteten. Als es blitzte, donnerte und regnete, überfielen sie die großen Kanus und holten sich lange, blitzende Messer, so lang", er breitete die Arme aus und zeigte die Länge der Blankwaffen. „Und andere Dinge, die ich aber nicht sehen konnte." Sicherer Pfeil nickte. Sie hatten fast die halbe Nacht über alles gesprochen, als Toutan-Tete die Bleichgesichter verfolgt und beobachtet hatte. Auch die vielen Berichte, die von anderen Jägern stammten, waren beredet worden. „Es waren Waffen. Diese Waffen können uns töten." „Nicht, wenn wir daran denken, daß die Fremden sich so verhalten wie das Wild, das wir jagen." Wettergesicht, Schwarze Kröte und der Sohn von Sicherer Pfeil wechselten lange Blicke. Dann sagte Wettergesicht: „Unsere Jagdbeute erhebt keine Waffe gegen uns. Sie hat kein Donnerrohr." „Wahr gesprochen", murmelten die
41 anderen Jäger im Feuerkreis. „Was soll getan werden?" Schwarze Kröte sagte nachdenklich: „Wir gehen dorthin, wo die Fremden sind. Wir beobachten sie und warten. Wenn sie hierherschleichen, wo die Zelte stehen, kämpfen wir. Und zwar auf unsere Art. Du weißt, wie lange es dauert, bis die Donnerrohre ein zweites Mal aufbrüllen und kleine Metalltode schleudern." „Und wie schnell sie sind", stimmte Wettergesicht zu. „Das ist ein guter Beschluß." „Wir essen, dann gehen wir", bestimmte Schwarze Kröte. „Uns gehört das Land", setzte Sicherer Pfeil hinzu. „Diese Fremden sind nicht einfache Jäger und Bebauer des Landes. Sie jagen Menschen und rauben Gold." „Wir gehen und töten sie", murmelten die Jäger. Ihre Waffen reichten für lange Zeit und waren gut genug für eine lange und gute Jagd. Sicherer Pfeil stand auf und schüttelte seinen Köcher. Die Pfeile klapperten, die Federn raschelten unheildrohend. Aber die Jäger waren nicht auf dem Kriegspfad. Ihre Gesichter und Oberkörper trugen keine farbigen Linien und Zeichen. Die Frauen traten aus den Zelten und brachten auf Holzplatten und in Holzschüsseln das Essen. Die Jäger aßen und tranken in völligem Schweigen. Der Himmel färbte sich, aber die wärmenden Sonnenstrahlen drangen noch nicht bis zur Lichtung am Waldrand. Die Oberfläche des großen, fischreichen Wassers färbte sich silbern. Ona-Haho zog seine Wurfspeere aus dem Boden, warf sich den Schild
über die Schultern und deutete mit dem Arm in die Richtung. „Wenn die Sonne untergeht, wissen wir, wem der große Geist hilft. Seinen Leuten oder den Fremden." „Er wird uns helfen", sagte Schwarze Kröte. „Uns gehört das Land." Einer nach dem anderen - insgesamt fünfundzwanzig Jäger zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Sommern alt - nahmen sie die Waffen auf und folgten Toutan-Tete, der sie dorthin führen sollte, wo sich die bösen Fremden aufhielten. Die Frauen starrten schweigend hinter ihnen her.
Knirschend drehte sich das Spill, Handbreite um Handbreite. Die Schebecke bewegte sich auf den Punkt zu, an dem sich die Flunken des Ankers in den weichen Grund gegraben hatten. Sieben Seewölfe bemühten sich im Bug und hievten den schweren Anker hoch. Der Zug, der auf der Beting lag, hörte auf, der Anker schwang in Höhe des Schanzkleides. „Anker klar!" Zwischen dem Heck der Schebecke und dem Bug der Galeone begann sich ein starkes Tau langsam aus dem Wasser zu heben und zu straffen. Nacheinander gingen die Seewölfe an die Riemen und fingen zu pullen an. Der Anker wurde gekattet, während sich das schlanke Schiff auf die Passage zubewegte und die Galeone hinter sich herschleppte. „Schlechter Wind", bemerkte Pete Ballie, der an der Pinne stand. „Erst draußen kriegen wir ihn wieder aus Süd." „Das reicht", gab Hasard zurück. Ohne Hast und zu große Kraftan-
42 strengungen bewegten sich die „Aye, aye, Sir", erwiderte der RuSchiffe aus der Bucht hinaus und in dergänger. die Brandung hinein, die sie hob und Wieder würde die Schebecke versenkte. halten müssen, um die Galeone nicht Auf der Galeone löste die kleine zu überholen. Man war sich beim Crew die Geitaue. Die Leinwand Frühstück einig geworden, zu segeln killte knatternd, die Rahen ächzten und abzuwarten. Wenn es nötig und knarrten. Noch war das Schlepp- wurde, gingen die Seewölfe von Bord tau straff. Alle Mann waren an Deck und verfolgten die acht Kerle. Die der Schebecke. Das Großsegel stand, Entfernung, die diese acht Schnappals der erste Windstoß aus dem südli- hähne zurücklegen konnten, blieb bechen Quadranten das Schiff traf. grenzt. Innerhalb eines Bereichs, von „Gut so", sagte Hasard. „Das läßt dem zwei Punkte durch die Gewittersich gut an für den hoffentlich letzten bucht und die Siedlung vorgegeben waren, war eine Suche durchaus mögTeil unserer Fahrt." Ein Seewolf nach dem anderen zog lich. die Riemen ein und verstaute sie an Das Lateinersegel am Besanmast Deck. füllte sich prall mit Wind. Hasard „Ich kann's nicht glauben, Sir", rief führte seinen Kontrollgang vom Heck Ballie, „daß wir in einem Stück zum Bug durch und kehrte wieder zudurchsegeln!" rück. Bedächtig schlug er das Spektiv in die offene Handfläche. Dann setzte „Warum nicht?" Edwin Carberrys knappe Komman- er sich auf die vordere Kante des dos mischten sich in das Klappern der Gräntingsdecks und nickte zufrieden. „Alles klar", murmelte er im Selbstletzten Riemen. Das Focksegel entfaltete sich und begann den Schoten zu gespräch und dachte an die Wonnen gehorchen. Das Schlepptau gehörte der Karibik. Auf der Galeone waren alle sechs zur „Explorer" und würde nicht an Segel gesetzt, schwerfällig folgte das Bord der Schebecke geholt werden. „Weil jede Fahrt voller Zwischen- bauchige Schiff der schlanken Schefälle ist. Jedenfalls war's bisher nicht becke. anders." Der Seewolf lachte in offenbar guter Laune und erwiderte: „Es gibt Weit hinter dem Durcheinander viele Buchten, viele Indianer und noch genug Zeit. Besonders klug sind von Hügeln und Wäldern, riesigen bewachsenen Kiesflächen im sumpfigen wir immer nur am Schluß, Pete." Focksegel und Blinde der Galeone Delta, zwischen Kanälen und den selwurden gesetzt. Mit Don Juan auf der ten überfluteten Weiden befand sich Back des geschleppten Schiffes wur- der Felsenberg. Er war nicht besonden Zurufe ausgetauscht, dann lösten ders hoch, und man sah ihn nur, wenn die Zwillinge das Schlepptau. Es man vom höchsten Punkt der Umgebung Ausschau hielt. wurde schnell eingeholt. „Ein Strich abfallen", sagte der SeeAls der Große Geist Land und Waswolf, als Norden klar anlag. „Wir fol- ser geschaffen hatte, als die Adler gen der Küste und bleiben gleichauf noch über die Welt herrschten, waren mit der Galeone." diese Felsen sorgfältig aufeinander-
43 geschichtet worden, sagte die Legende. Seit einiger Zeit hatte jeder, der die Felsen besuchte, Erde hinterlassen und ausgestreut. Im Lauf einer unbekannten Menge von längst vergangenen Generationen, sagten die Legenden, hatte sich am Fuß der Felsen ein Hügel gebildet, auf dem viele Pflanzen wuchsen. Es gab zu zwei Zeiten des Jahres auch Lehm, aus dem Ziegel geformt werden konnten. Mit ihnen wiederum stapelte man Mauern, in denen seltsame Öffnungen blieben. Zwischen den nackten Felsen, die sich aus dem dichten Grün des Hügels und den kantigen, erdbraunen Mauern und Treppen hochstemmten, ragten zwei mächtige Säulen auf. Sie standen auf der Ostseite, dort, wo Sonnenaufgang war. In der Tat war dieser Hügel uralt. Es gab ihn schon, als die ersten Menschen in dieses Land einwanderten. Zahllose Legenden hatten sich gebildet, deren Texte und Bedeutungen mündlich von den Alten an die Jungen überliefert wurden. Eine geheimnisvolle Ruhe und Stille umgab diesen Ort, der einen Umfang hatte, daß ein Mann ihn in weniger als einer Stunde am untersten Rand umschreiten konnte. In den letzten Jahren sahen die Jäger ab und zu Rauch zwischen den Mauern aufsteigen. Das war ein sicheres Zeichen dafür, daß ein sehr alter, sehr kluger Jäger dorthin gegangen war, um in Frieden zu sterben.
Frank Davenport blieb plötzlich stehen, lehnte sich gegen einen Baumstamm und setzte sich schließlich, als
sei er am Ende seiner Kräfte, auf die knorrige Wurzel. „Jetzt rennen wir schon drei Stunden wie die Hirsche durch den Wald und durchs Gelände." Seine Stimme klang quäkend. Er hatte den Cutlass zwei Handbreiten tief in den Boden gerammt und stützte sich schwer auf den Griff. „Na und? Das tun wir alle", entgegnete der bärtige Fallensteller ruhig. Sein Atem ging nicht schneller, er zeigte keine Spuren der Ermüdung. „Ich kann nicht mehr. Das ist ja noch schlimmer als die Schufterei auf der Galeone." „Aber nicht halb so schlimm, wie du dranwärst, wenn du noch im Laderaum der Galeone stecken würdest!" rief Grey. Er fügte einen scharfen Fluch hinzu und sagte: „Ausruhen kannst du im Grab. Oder willst du hier sitzenbleiben?" Davenport nickte. „Ein paar Stunden, bis ich wieder frisch bin", sagte er. „Wann gibt's was zu essen?" Randolf Gordon stieß ein hysterisches Kichern aus und erwiderte höhnisch: „Wir sind gerade auf dem Weg zur Schenke, Sir. Es dauert nicht mehr lange. Du verdammter Idiot!" „Was ist denn los? Ich habe nur gefragt . . . " Grey fuhr ihn an: „Wir essen, wenn wir Beeren oder Früchte finden. Vielleicht läuft uns ein Stück Wild in die Quere. Jetzt gehen wir weiter, und zwar sofort. Nimm deinen Säbel und steh auf." „Was sein muß, muß sein", murmelte Davenport und erhob sich ächzend. Er schloß sich den anderen Männern an, deren Laune auch nicht besser war. Sie waren bei Morgengrauen, steif und naß, aufgestanden und seit dieser Zeit schnell mar-
44 schiert. Ihr Weg führte sie durch ein Die Fliegen und Stechmücken waGelände ohne Weg und Pfad. Sie woll- ren zahlreich und bösartig. Sie stürzten weg vom Strand. Das war nicht ten sich auf alles, was sich bewegte. In schwer, denn sie folgten einem schma- diesem Fall waren es die acht Mänlen Bach, der aus Westen heranfloß. ner, die bald einen durchdringenden Gleichzeitig versuchten sie, einen Schweißgeruch verströmten. Sie passierbaren Weg nach Norden zu fin- schlugen wild um sich, ihre Handfläden, denn im Norden stießen sie chen klatschten auf die Haut, und zwangsläufig auf das Gebiet der Sied- diese Bewegungen schienen noch lungen. Sie befanden sich jetzt in ei- mehr Mücken anzulocken. nem etwas hügeligen Gelände, das imSchritt um Schritt, Stunde um mer wieder in sumpfiges Land über- Stunde bahnten sie sich einen Weg ging. Dieser Morast zwang sie zu Um- nach Norden - wenn es ging. wegen, die Zeit und Kraft kosteten, Der Himmel war ohne Wolken. was ihre Laune nicht verbesserte. Schon jetzt, es mußte Anfang August „Auch wenn wir nichts zum Braten sein, brannte die Sonne mit gnadenlohaben", erklärte Grey laut, „werden ser Kraft herunter. Reden und Fluwir nicht verhungern. Schließlich chen verging ihnen, als sich Mittag sind wir starke Männer." näherte. Frisches Wasser gab es im Über„Bist du sicher, daß es die Nordfluß. Eben jetzt watete Jameson richtung ist?" ächzte Davenport. Kidd, der die Spitze übernommen Die Männer wunderten sich immer hatte, durch fast knietiefes Wasser. wieder, daß er nicht zu erschöpft für Der Grund bestand aus feinem Kies dumme Fragen war. Dumme Fragen und Sand. Das Stück Land war eini- deshalb, weil jeder Halbblinde erkengermaßen eben und ging am anderen nen konnte, daß die ausgetretene Ufer in eine Zone aus vielen einzeln Spur, die sie hinterlassen hatten, sehr stehenden Büschen über. genau nach Süden zeigte und sich zwiDas Land hinter der Küste war schen den Erhebungen verlor. reich an Wild. Unzählige Vögel in al„Ganz sicher", erwiderte der Fallenlen Größen und Farben jagten Insek- steller knapp. „Ich brauche keinen ten über den Grasflächen. Schwärme Kompaß." flogen auf und verschwanden wieder „Augenscheinlich, würde Sir Wilzwischen den Gewächsen. liam gesagt haben", murmelte DavenAus den kleinen Wäldern und dem port und fing zu husten an, weil ihm Gebüsch ertönten ständig die Schreie ein paar Mücken zwischen die Zähne unsichtbarer Tiere. Kleingetier ra- und auf die Zunge geraten waren. schelte im Gras und im niedrigen Schadenfroh sahen die anderen zu, Buschwerk. Auf Stellen, an denen wie er spuckte und japsend Luft Wild geäst hatte, wucherten braune holte. und weiße Pilze. Wieder wechselte die Spitze. Der „Feuer", murmelte Rosebery, „fehlt andere Jäger trat die Spur und veruns auch. Wir haben keinen Feuer- suchte, den am wenigsten beschwerlistein, keinen Schwamm." chen Weg zu finden. Die Hitze nahm „Ich werde euch zeigen", rief Kidd zu, und das verdunstende Wasser aus nach hinten, „wie man Feuer ent- dem feuchten Land erfüllte die Luft facht. Es dauert nur länger." mit stinkender Feuchtigkeit.
45 In der Ferne tauchte ein Rudel Rotwild auf und verschwand mit hochgehobenen Hälsen wieder im dunklen Rand des Wäldchens. Unentwegt griffen die sirrenden Mücken an. Die Bäche und das Flüßchen mit seinen morastigen Ufern schienen zurückzuliegen. Jetzt breitete sich vor den acht hungrigen Kerlen ein höher gelegenes, sanft gewelltes Gebiet aus. Es wurde im Nordwesten von einem kleinen, zackigen Hügel überragt, der aus Felsen zu bestehen schien. Aber er war viel zu weit entfernt, als daß auch scharfe Augen, in denen kein Schweiß biß, irgendwelche Einzelheiten hätten erkennen können. 7. Sie blieben nebeneinander stehen, als sie auf die Lichtung der Alligatorinsel hinausgetreten waren. Schwarze Kröte hob die Hand. „Wir rasten", bestimmte er. Ohne Murren fügten sich alle anderen Jäger. Sie suchten sich bequeme Plätze, traten in einem Kreis das Gras und die Binsen nieder und legten die Waffen ab. In ledernen Säkken holten die jüngeren Jäger frisches Wasser. Ihre Körper waren schweißbedeckt, aus den Haarkämmen der halb rasierten Schädel sikkerte ein Gemisch aus Schweiß, Staub und zerquetschten Mücken. Die Männer tauchten ihre Köpfe tief und lange in das Bachwasser. „Die Fremden sind gefährlich", sagte Wettergesicht widerwillig. Sicherer Pfeil hob fragend die Brauen. „Wir haben noch nicht gekämpft", erklärte er mit seiner dunklen, langsamen Stimme. „Ich sage, daß sie nicht langsamer
laufen als wir", schränkte Wettergesicht ein. „Du sprichst wahr", antwortete Schwarze Kröte. „Und sie laufen nach Norden. Sie haben unsere Zelte nicht gesehen." „Das ist sicher." Auch Schwarze Kröte, Wettergesicht und Sicherer Pfeil gingen zum Wasser, wuschen sich sorgfältig und genossen die Kühle, die durch ihre lederhäutigen Körper strömte. Dann wickelten sie aus den dünnen Ledertüchern den Proviant aus: getrocknete Früchte, an der Luft getrocknetes Fleisch und fetten, stark gewürzten Braten vom gestrigen Tag, zwischen dem dünne Fladen aus zerstoßenem Korn lagen. „Wie lange verfolgen wir sie?" erkundigte sich Ona-Haho kauend. „Bis wir sicher sind, daß sie nicht mehr umkehren. Oder bis sie von den Kaimanen gefressen sind." Schwarze Kröte sprach nicht weniger undeutlich. Die Jäger saßen ruhig da. Alle Muskeln waren entspannt, die Ruhe würde nur kurz sein. Aber die Jäger waren es gewohnt, ohne Eile zu essen. Die Pausen waren sicher ebenso wichtig wie die Jagd. „Bist du sicher?" fragte ToutanTete. „Nein." Die Hitze war gnadenlos. Aber die Jäger waren Hitze und Kälte gewohnt. Im nächsten Mond, wenn die Beutetiere fett geworden waren, mußte viel gejagt werden. Die Vorräte für den Winter und ihre Menge entschieden über Leben und Sterben des Stammes. Aber heute dachte kaum einer an die Jagden der nächsten Tage. Die Fremden, die in die Jagdgründe eingedrungen waren, ihnen galten alle Gedanken. Bisher hatten die Weißgesichter
46 noch nicht bemerkt, daß sie von einer recht großen Anzahl eingeborener Jäger verfolgt und alle ihrer Schritte beobachtet wurden. Als Jäger taugten die Fremden nicht viel. Schwarze Kröte schluckte die letzten Bissen, spülte den Mund und spie über die Schulter aus. Dann nahm er einen tiefen Schluck und verkündete seinen Entschluß. Er war der erfahrenste Jäger. Obwohl er nicht der Stammesälteste war, hörte jeder Stammesangehörige zuerst auf sein Wort. „Die bösen Fremden", sagte er und ließ seine strengen, dunklen Augen von einem Gesicht zum anderen gleiten, „marschieren nach Norden. Noch bevor die Sonne untergegangen ist, werden sie die Heiligen Felsen sehen. Gehen sie daran vorbei, dann ist es gut. Für sie und für uns." Wettergesicht zuckte zusammen. Er erinnerte sich der Erzählungen. Der Ort, an dem weise Männer starben, lag jenseits des Graslandes. Wettergesicht wartete, innerlich zitternd, auf die nächsten Worte. „Wenn sie das Heiligtum sehen, gehen sie dorthin", langsam und bedächtig gab Schwarze Kröte seine Überlegungen preis. „Die Legenden sagen, daß es viele wertvolle Medizin dort gibt. Vielleicht wartet einer unserer Brüder dort darauf, daß ihn der Große Geist leise zu sich holt." Legenden, Erzählungen, Wissen wichtiger Dinge: diese Gedanken erfüllten Wettergesicht mit eisigem Schrecken. Es war schmerzlich, bedeutete aber einen ehrenvollen Tod, wenn ein Jäger starb. Aber wenn die Fremden das Heiligtum schändeten, zu dem weißhaarige Männer am Ende ihrer Sommer gingen, um mit dem Großen Geist zu ver-
schmelzen und in den Ewigen Jagdgründen weiterzujagen, das war schlimmer als Tod. „Weißt du mehr?" fragte Ona-Haho mit heiserer Stimme. „Nichts weiß ich. Aber wenn wir am Abend näher sind und Rauch sehen, dann lebt dort ein Einsamer." „Ich verstehe." Nach einer Weile fuhr der Alte fort: „Ich hoffe, daß die Fremden die Heiligen Felsen nicht sehen. Denn dann stören sie den Frieden nicht. Wir verfolgen sie weiter, bis wir sicher wissen, wohin sie gehen." „How", murmelten die Jäger übereinstimmend. „Und wenn sie zum Heiligtum gehen?" wollte Wettergesicht wissen, der das Schlimmste ahnte. „Dann gibt es Kampf", erklärte Schwarze Kröte, stand langsam auf und zog die Speere aus dem Boden. Er nickte seinen Jägern zu und hob die Hand über die Augen. Die Fremden trampelten wie verwundete Hirsche durch die Gräser, und am Rand des Blickfeldes sah Schwarze Kröte deutlich, wie sich die Büsche bewegten. Dort waren sie. Und gegen Abend, so dachte Schwarze Kröte, haßerfüllt, würden sie zwangsläufig die heiligen Felsen sehen müssen.
Weiße Schildkröte, so hatte ihn seine Mutter genannt, weil vor seiner Geburt sein Vater eine solch seltene Beute gespeert hatte. Heute war sein Haar weiß, und es war dünn geworden. Die Bewegungen von Weiße Schildkröte waren so langsam, so bedächtig und überlegt wie seine Gedanken. Er wußte nicht, wie lange er
48 noch das Glück haben würde, die in die endlosen Wälder zu gehen, in Hitze der Sonne in seinen uralten denen die Jagd so leicht war wie das Knochen zu spüren. Wie viele Som- Leben. mer sein Leben schon dauerte, hatte Schildkröte füllte seine Kalebaser vergessen, es war unwichtig. Wahr- sen, sah eine Weile den umherhuscheinlich starb er, ehe der lange, schenden Eidechsen zu und schaute warme feuchte Sommer zu Ende nach dem Stand der Sonne. Es wurde ging. Zeit, etwas zu essen. Er blinzelte in Weiße Schildkröte schaute sich zu- die Helligkeit und stieg auf einem anfrieden um. Er legte sorgfältig die deren Stück der uralten Treppe zwiStücke des trockenen Holzes neben schen den bemoosten Felsen wieder das winzige, aschebedeckte Gluthäuf- aufwärts. Bevor er zu seiner Höhle chen und lächelte mit einem zahnlo- ging, besann er sich und bog auf dem sen Mund, als sein Blick auf die Dar- Sims nach links ab. stellungen der Großen Adler und anJedesmal, wenn er die Höhle betrat derer Stammesgötter fiel. Unzählige und sah, was die vielen Vorgänger zuhatten an den dreimal mannsdicken rückgelassen hatten, erfüllte ihn Säulen geschnitzt. stille Freude und darüber hinaus die Auf einer grimmigen Schildkröte Gewißheit, daß seine lange Wandesaß ein Kaiman, auf ihm thronte der rung das Beste war, was er je in seiEber, der Luchs klammerte sich an nem langen Leben unternommen den Fischotter, und als letzte Tiergöt- hatte. Auch er war der Legende seiter winkelten, in vierfacher Manns- nes Stammes gefolgt und hatte schließlich die Heiligen Felsen gefunhöhe, die Adler ihre Schwingen ab. Mit großen Augen über dem Haken- den. schnabel blickten sie, lächelnd wie es Denn vor ihm waren viele Krieger Schildkröte erschien, auf ihn nieder. hier gestorben. Mit unendlicher GeSie waren in den vielen Monden zu duld hatten sie die wertvollen Gaben seinen Freunden geworden. angefertigt und hier aufgestellt oder Schildkröte nickte den Adlern an die Vorsprünge der rauhen Felsen freundlich zu, nahm die drei ausge- gehängt. höhlten und getrockneten Kürbisse Am frühen Nachmittag schien die und griff in die Lederschlingen. Er Sonne durch ein rundes Loch zwiging langsam die vielen steinernen schen den Felsblöcken, wurde von eiStufen zur Quelle hinunter. Die Ze- ner hellen Felsfläche zurückgeworfen hen in den weichen Mokassins taste- und beleuchtete gerade jetzt die Figuten über die warmen Platten. ren, Schilde, Waffen und Totems, die Schildkröte, dessen Haut voller fei- rechts und links vom Steingesicht ner Runzeln war, tappte zwischen standen oder hingen. den Felsen, den uralten Mauern und Ausgestopfte Tiere mit leuchtenden vielen kleinen Büschen mit den den Augen aus kostbarem Stein, harten Blättern abwärts. Obwohl er kleine Figuren von Männern, Frauen Durst spürte, ging er nicht schneller. und Kindern aus dem seltenen MeEr hatte alle Zeit, die er brauchte. tall, das zu weich für Waffen war, Für alles. Er kannte nur ein Ziel: den Schilde, bestickt und dicht mit demTod in Würde hier zwischen den Hei- selben Metall ausgelegt, das von spitligen Felsen zu erleben und lächelnd zen Steinen gehämmert und geformt
49 worden war - eine Grotte voller Zeichen war es. Der Greis wußte, daß hier viele wie er Ruhe gesucht und Frieden gefunden hatten. „In ein paar Tagen, Großer Geist", murmelte Weiße Schildkröte, „wird auch meine Gabe fertig sein." Seit zwei Monden formte und arbeitete er an seinem Totem, an der Schildkröte mit dem goldenen Panzer, mit Augen aus Blutstein und mit einem Muster auf dem Rücken, das er ersonnen hatte. Noch einmal erfreute sich Weiße Schildkröte an diesem Anblick, dann hob er die Kalebassen und tappte zurück zu seiner Höhle. Er blies die Asche von der Glut, schichtete dünnes Reisig darauf, dann dickeres Holz, und schließlich leckten kleine Flämmchen hoch. Er wartete, bis die feuchte Rinde brannte, hustete ein wenig im aufsteigenden Rauch und stellte die Schale ins Feuer. Er hockte sich auf die F e l sen in den warmen Sand, kreuzte die Arme auf seinen Oberschenkeln und wartete darauf, daß in der rußigen Schale das Wasser seinen summenden Gesang begann. Weiße Schildkröte schlief ein, wurde plötzlich wieder wach und sah, wie das Wasser kochte. Er streute die Kräuter, die zerstoßenen Früchte und die Blätter hinein und ließ, als er die Schale vorsichtig von den kantigen Feuersteinen gehoben hatte, Honig aus der Wabe fließen, die er den Bienen weggenommen hatte, den fleißigen gelben Stachelsummern.
Je tiefer die Sonne sank, desto bösartiger wurden die Mücken, die Fliegen und die vielen anderen Quälgei-
ster, die bei jedem Schritt aus dem Gras aufsurrten und sich auf die Haut der Männer stürzten. Grey und seine Kerle hatten schon längst das Fluchen aufgegeben. Inzwischen sehnten sie sich nach einem Bach oder einem Tümpel, in den sie sich werfen konnten. Grey blieb stehen. Zum erstenmal an diesem Tag schien auch er müde und atemlos zu sein. „Wir haben die Wahl", sagte er heiser. „Wir haben Hunger", gab Davenport zurück. „Ich sehe keine Felder, keine Siedlung", flüsterte Rosebery. Er hatte sich völlig verausgabt. Sie standen mitten in einem hügeligen Meer aus irgendwelchen Gräsern. An einigen Stellen, die seltsame Muster bildeten, hatten Tiere große Flächen abgefressen. Im Nordwesten, vielleicht zwei Stunden harten Marsch entfernt, lag der Hügel, auf dessen Spitze sich die zackigen Riesenfelsen türmten. Im Nordosten, nicht weiter als eine Stunde, fing ein Wald an. Schon von hier aus wirkte er dunkel, kühl und vielversprechend. „Wir sind auch keine Reiher", erklärte der Fallensteller. „Wenn wir geflogen wären, könnten wir die Siedlung schon sehen." Grey zeigte mit dem Pistolenlauf zum Wald. „Dort wird es auch Wild geben. Im Wald läuft immer irgendwelches Viehzeug herum." „Einverstanden", antwortete Davenport leise. „Zum Wald." Sie waren zu ermattet, um andere Gedanken fassen zu können. Der Weg zu beiden Zielen schien gleich beschwerlich zu sein. Aber zum Wald war es näher, und so stolperten sie in
50 nordöstliche Richtung weiter, die Sonne im Rücken, durch Gras und Ranken mit langen Dornen, unterwegs fanden sie nur ein paar Handvoll roter Beeren, die besser schmeckten als gar nichts.
Nach einer halben Stunde, die ihnen wie eine kleine Ewigkeit erschien, erreichten die Männer einen breiten Kiesstreifen, der hinter einer Barriere aus Buschwerk in einen Bach führte. Weit und breit waren keine Wildtiere zu entdecken gewesen, auf die man hätte schießen können. Aber als der Fallensteller neben Taffe die Büsche auseinanderschob, sprang ein kleines Rudel Rehe auseinander. Die Tiere hatten am gegenüberliegenden Bach ihre Schnauzen ins Wasser gesteckt. Der Fallensteller wußte, was er tat. Er riß Taffe die Muskete aus den Händen, spannte den Hahn und zielte. Die Waffe dröhnte auf, Taffe hatte sie also doch richtig laden können. Ein junger Bock mit winzigem Gehörn überschlug sich, zuckte mit den Läufen und klatschte ins Wasser. Das Rudel stob in heilloser Flucht davon. Grey, der augenblicklich zwischen den Büschen auftauchte, nickte zuerst zufrieden und sagte dann schweratmend: „Falls Rothäute hinter uns her sind, wissen die jetzt, wo wir sind. Man hört es bis zum Ozean." „Was ist dir lieber?" entgegnete der Fallensteller und gab Taffe die leergeschossene Waffe zurück. „Lautlos durch die Ebene stolpern und hungern, bis der Magen jault?" Sein Kamerad setzte hinzu: „Außerdem haben uns die Indianer
längst gesehen, wenn sie uns für wichtig halten. Wir ziehen so laut durchs Land, daß jeder Jäger uns sehen und hören muß." „Ist ja auch egal", gab schließlich der Anführer zu. „Sammelt Holz. Ihr beiden versteht vom Ausweiden wohl mehr als ich. Wie war das mit dem Feuer, Kidd?" Jameson Kidd nickte und antwortete, während er den Schweiß aus dem Gesicht wischte: „Am Waldrand zeige ich euch alles. Ich muß ein paar Sachen finden und vorbereiten. Kommt ihr mit dem Fleisch nach?" „Klar. Was sonst?" Während sich die sechs Kerle ihren Weg zum Waldrand bahnten, weideten die Fallensteller den Bock aus, schlugen ihn aus der Decke und fädelten die Teile auf eine Lederschnur. Als sie zu den anderen stießen, waren die Vorbereitungen für das Feuer schon halbwegs abgeschlossen. Davenport hackte Holz auseinander und traf beinahe sein Knie dabei. Die anderen trugen Steine heran und scharrten Laub und Nadeln zusammen. Jameson Kidd hatte trockenes Moos und Gras aufgehäuft und knüpfte ein Ende Garn an einen gespannten Ast, so daß eine Art Bogen entstand. „Damit willst du Feuer anzünden?" fragte Davenport, warf das Holz neben die Feuerstelle und setzte sich schwitzend und mit rotem Gesicht auf einen modernden Stamm. „Allerdings. Aber es dauert etwas." Die Jäger schnitzten zwei Gabeln, schoben das Fleisch auf einen langen Holzspieß und setzten beide Enden in die Gabelungen. Dann verschwand einer von ihnen wieder zwischen den Büschen und kehrte mit zwei großen Handvoll trockener Gräser zurück.
51 „Gewürzkräuter", sagte er knapp. „Statt Salz." Frank Davenport, der zuschaute, wie Kidd einen Holzpflock in einem Stück trockener Rinde hin und her drehte wie ein Bohrer, war schon wieder bester Dinge. „Daran habe ich nicht gedacht", sagte er. „Sonst hätte ich dem Mac Pellew auf der Schebecke noch ein Säckchen Salz unter dem Hintern hervorgezogen." „Ausgerechnet du", sagte Grey gähnend. Die Kerle saßen und lagen im lockeren Kreis um das zukünftige Feuer. Wenn sie gegen die untergehende Sonne blinzelten, sahen sie jenseits der welligen Landschaft die eigentümlichen Felsen. Rosebery, Taffe und Gordon hatten sich die Stiefel von den Beinen gezerrt und massierten ihre Füße. Aus dem Rindenstück stieg beißender Rauch auf, als Kidd den flachen Stein fester auf das obere Ende des surrenden Pflocks drückte. Dann glühten und brannten Moos und Gräser, die Kidd vorsichtig unter die Späne schob. „So funktioniert das, Freunde", sagte er zufrieden, ließ sein seltsames Werkzeug fallen und wandte sich an die Fallensteller. „Den Rest könnt ihr besorgen. Ich gehe zum Bach und stecke meine Schweißfüße ins Wasser." Er hinkte davon und erwartete, an seinen Sohlen und Zehen daumengroße Wasserblasen vorzufinden. Keiner hatte gedacht, daß es ein solch ruhiger Abend werden würde. Das Feuer brannte herunter, und die Glut schmorte und briet die großen Fleischbrocken, die von den Fallenstellern immer wieder mit ihren Kräutern gewürzt wurden. Grey und
Kidd schnarchten auf dem weichen Waldboden. Die anderen taten es Kidd gleich und kühlten Kopf, Füße und Arme und Gesicht im Wasser, vergaßen ihre lange und beschwerliche Tagesstrecke und rochen das Fleisch, das sich über der Glut drehte. Zu ihrem Erstaunen sahen sie - nur noch Rosebery und Grey waren so spät noch wach -, daß ihnen genau gegenüber, mitten zwischen den Steintrümmern, ein rot und weiß flakkerndes Licht durch die Nacht leuchtete. Grey stieß Frank Roseberg mit dem Ellbogen an. „Da ist doch jemand", sagte er und gähnte. „Wir sehen morgen nach, einverstanden?" Phlegmatisch erwiderte der Zimmermann: „Ein Weg ist so schlecht wie der andere." „Also dann? Wo Rothäute sind, ist auch Gold. Bisher war es so. Warum sollte es sich ändern?" Davenport hatte sich bereit erklärt, satt und angeblich frisch wie der junge Morgen, die erste Wache zu übernehmen. Als ihn weit nach Mitternacht Atkinson Grey ablösen wollte, stellte er fest, daß er von Davenports Schnarchen geweckt worden war. 8. Die Indianer folgten, geschmeidig und lautlos wie Tiere, die nachts so gut sahen wie am Tag, Toutan-Tete, der die besten Augen hatte. Im bleichen Mondlicht, den ersten Schimmer des Tages erwartend, bogen sie von der zerstrampelten Spur der Fremden ab und rückten ihrem Ziel immer näher. Die Bleichhäute hätten
52 sich nicht durch den Donner aus ihren Rohren verraten müssen, sie schliefen dort drüben im Wald. In der Luft hing der Geruch eines Feuers. Der Nachtwind wehte aus Westen, also hatte der Bewohner der Heiligen Felsen das Feuer unterhalten. „Und auf diese Weise", hatte Schwarze Kröte vor zwei Stunden gesagt, „lernt jeder von euch jungen Männern den Weg zum Heiligtum kennen. Wir werden den Alten schützen, der dort wohnt" Jeder trat in die Fußstapfen des Vordermannes. Sie schwiegen und hingen, obwohl müde geworden, ihren Gedanken nach. Sie wurden nicht klug aus den Weißgesichtigen. Was wollten sie wirklich? Aber als am späten Nachmittag Wettergesicht als erster den Rauch gesehen hatte, der von den Felsen aufstieg, hatten sie sich entschlossen: Sie würden das Heiligtum vor den Fremden schützen. Und beim Morgengrauen waren sie dort. Die hellen Felsen hoben sich gegen den dunklen Himmel ab. Der Geruch nach kaltem Rauch war stärker geworden. Schwarze Kröte blieb stehen, hob den Schild und versammelte am Fuß des Hügels die Leute um sich. In unmittelbarer Nähe plätscherte leise eine Quelle. „Ein alter, kluger Mann wohnt dort. Er soll nicht erschrecken. Ihr sollt seine Würde nicht verletzen." „Wie kommst du darauf, daß wir nicht gelernt haben, wie ein Junger gegenüber einem Alten sein muß?" fragte fast empört der Junge, der noch keinen Jagdnamen erworben hatte. „Um so besser, wenn's jeder weiß", entgegnete Schwarze Kröte. „Wahr-
scheinlich ist er längst wach. Wir Alten haben einen leichten Schlaf. Ich sage: Ihr Jungen bleibt hier und stellt eine Wache auf. Wir Alten sprechen mit dem Greis." „Einverstanden", antwortete Wettergesicht und gähnte, als wolle er die Kiefer auseinanderreißen. „In die Höhle passen wir nicht alle hinein. Er wird froh sein, wenn wir ihm trokkene Früchte schenken." „Er wird keine Zähne mehr haben", sagte Sicherer Pfeil grinsend. „So wie du in zwei Sommern." Im Sonnenaufgang zeigte sich der erste graue Streifen. Die jungen Jäger gehorchten und suchten sich zwischen Mauern, Felsen, Moospolstern und weit genug von der Quelle entfernt einen Schlafplatz. Wenn sich Tiere näherten, um zu trinken, sollten sie nicht verscheucht werden. Die fünf Älteren warfen prüfende Blicke umher, dann stiegen sie würdevoll langsam die Stufen hinauf, die halb aus natürlichen Steinen gebildet, halb aus sorgfältig ausgesuchten und festgestampften Felsbrocken gebildet waren. Als sie das unregelmäßige Sims erreichten, das den Weg teilte, trat aus der dunklen Öffnung der kleineren Höhle eine schlanke, gebeugte Gestalt heraus. „Ich grüße euch, Jäger. Man nennt mich Weiße Schildkröte", sagte der Greis mit dem weißen, dünnen Haar, das bis weit in die Schultern hing. „Wir haben deinen Rauch gesehen und dein Feuer gerochen", sagte Schwarze Kröte und senkte alle seine Waffen. „Ich bin Schwarze Kröte von den Uferwaldleuten. Haben dich die Weißgesichter angegriffen?" Der Greis schüttelte den Kopf. Er sah tatsächlich wie eine uralte, verschmitzte Schildkröte aus. „Ich hörte einmal, daß Frauen und
54 Männer mit weißer Haut in unser Land eingedrungen wären. Ich sah sie nie." Die anderen traten näher. Mit einer bedächtigen Armbewegung deutete Schildkröte ins Innere der Höhle. „Ihr seid nicht auf dem Kriegspfad?" fragte er. Seine Stimme entsprach dem hohen Alter. „Das wird sich zeigen", versuchte Ona-Haho zu erklären. „Acht Fremde ziehen räuberisch durch unser Land. Wenn die Sonne dort steht", er zeigte die Stellung zwischen Aufgang und Mittag an, „werden sie sicherlich hier sein. Wir haben dein Feuer gesehen, sie werden es auch gesehen haben. Ich bin Ona-Haho." „Allein bin ich hergewandert", erklärte der Alte und blies ins Feuer, bis die Flammen an den Wänden der Höhle tanzten. Der Stein atmete noch die trockene Wärme des Tages aus. „Allein werde ich abtreten, bevor die Winterregen einsetzen." „Wir sind hier, um die Fremden zu vertreiben. Auch wir wollen in Frieden sterben", erklärte Touton-Tete. Die Waffen und Schilde lagen vor dem Eingang. Sechs Männer, dem Tode näher als dem Tag des ersten Schreies, kauerten im Sand und sahen dem Greis zu, wie er Tee zubereitete. Keine Bewegung war überflüssig. „Sind viele Fremde ins Land gekommen?" fragte er, nachdem er einige Weile vor sich hingesummt hatte. Ich hörte die Legenden, wollte Wettergesicht sagen, aber dann antwortete er: „Solche und andere. Wenige Räuber und vielmal viele Hände, die nur jagen und mit einigen von uns handeln. Oben, in der großen Bucht im Norden. Die acht Fremden, die jetzt im Wald dort schlafen, sind Räu-
ber. Wir folgen ihnen den dritten Tag." „Töten sie euch?" erkundigte sich Weiße Schildkröte mit geringem Interesse. „Wenn wir kämpfen, töten wir sie", erklärte Sicherer Pfeil. „Du hütest die Heiligen Felsen, Schildkröte?" Sorgfältig, wieder mit sicheren, aber langsamen Gesten, schöpfte er Tee in halbierte Kürbisschalen, deren Innenseite poliert und deren Außenseite mit feinen Ritzungen verziert waren. Jeder seiner Gäste erhielt eine volle Schale. Er nickte ihnen zu, bevor sie tranken. „Ich hüte die Höhle, bis ich in Ruhe sterbe. Kennt ihr die vielen Gaben, die drüben beim Steingesicht liegen?" Der Tee war auf seltsame Weise stark und verscheuchte wie ein magischer Spruch jede Müdigkeit. Die Augen der Alten leuchteten auf. Ihre Gedanken wurden scharf wie Steinmesser. „Nein", murmelte Wettergesicht mit starkem Unbehagen. Er begriff, daß die Fremden diese kostbaren Dinge stehlen würden, denn sie verstanden nichts von der wahren Bedeutung dieser Totems. Für sie waren seltene, schöne Steine und seltenes Metall wichtig. Was konnten sie mit dem weichen Zeug anfangen? Hämmerten sie auch Totems? „Das ist meine Gabe für den Großen Geist", erklärte der Greis und zeigte auf die doppelt handgroße Kröte. „Sie ist in ein paar Tagen fertig. Dann kann mich der Adler holen." „Dein Wunsch ist auch unser Wunsch", bekräftigte Schwarze Kröte. Allein wegen des Totems würden die Fremden den Greis umbrin-
55 gen, ohne nachzudenken. Aber sie wußten nichts davon. Schwarze Kröte setzte die Teeschale ab und sagte: „Unsere jungen Krieger und wir werden die Fremden vertreiben. Keiner soll den Fuß in die Höhlen setzen." „So ist es", sagte Wettergesicht.
Wettergesicht, der auf dem Sims saß und sich an den moosbedeckten Fels lehnte, beobachtete seit zwei Stunden, wie sich die Fremden näherten. Die Wirkung des heißen Getränks hielt noch immer an. Er hielt die Arme vor der Brust gekreuzt und versuchte zu erkennen, welche Waffen die acht Männer trugen. An drei Stellen stiegen dünne Rauchfäden in die Luft. Alle Jäger warteten darauf, was die Fremden anfingen. Sie gingen in gerader Linie auf die Heiligen Steine zu. Schwarze Kröte, von rechts, rief ihm leise zu: „Sie haben unsere Beschwörungen nicht gehört. Sie kommen, rauben und töten. Wie gut, daß wir hier sind." „Du sprichst wahr", antwortete Wettergesicht. Im Halbkreis hatten sich die jungen Jäger am Fuß des Hügels versteckt. Die Spitzen vieler Pfeile waren mit Gras dicht umwickelt. Mit der unendlichen Geduld erfahrener Jäger warteten sie alle. „Es sind räudige Hunde. Der Große Geist wird sie strafen", murmelte Sicherer Pfeil von der anderen Seite. Mit riesigen, blitzenden Messern schlugen die Männer, von denen die Fremden angeführt wurden, auf die Büsche ein. Sie vollführten einen Lärm, der alle Tiere längst verscheucht hatte - nicht die Vögel, die
über ihnen flatterten und ein gewaltiges Geschrei veranstalteten. „Ich sehe ein kleines und ein großes Donnerrohr", sagte Toutan-Tete, der eine Mannslänge weiter unten zwischen den Felsen hockte. Er zupfte an der Sehne seines großen Jagdbogens. „Dann hüte dich davor, daß es auf dich zeigt", rief ihm Wettergesicht leise zu. Sie schwiegen und warteten. Weiße Schildkröte wartete auch - in seiner Wohnhöhle. Sie hatten ihm gesagt, er solle dort bleiben, bis die Fremden tot oder vertrieben wären. Vier Bogenschußweiten betrug die Entfernung zwischen dem großen, breitschultrigen Mann mit den vielen Haaren über dem Mund. Er trug das lange Donnerrohr und schaute immer wieder nach oben. Wenn er die wenigen Männer auf dem Sims gesehen hatte, dann zeigte er es nicht. Er erweckte einen mutigen, harten Eindruck. „Warte", sagte Schwarze Kröte scharf, als Ona-Haho seinen Köcher zwischen die Felsen steckte und den ersten Pfeil herauszog. Aber jeder von ihnen hatte schon Pfeile auf der Sehne. Die Speere lagen vor den Spitzen der Mokassins auf dem Felsband oder lehnten am Stein. Noch zwei Bogenschüsse weit. Jetzt blieb der Anführer mit dem wilden schwarzen Haar stehen, sprach mit den anderen und zeigte zu den beiden dunkelbraunen, mit farbigen Linien und Kreisen geschmückten Holzsäulen, von denen die Totemtiere herunterstarrten. Die Fremden sprachen aufgeregt miteinander, dann setzten sie sich wieder in Bewegung und wurden, je mehr sie sich näherten, hastiger und
56 erregter. Sie schienen zu wittern, was sich in der Höhle befand. Die Muskeln der Jäger versteiften sich, sie faßten die Waffen fester und waren bereit, aufzuspringen. Mehr als eine Bogenschußweite. Wettergesicht holte Atem und stand in einer einzigen, gleitenden Bewegung auf. Er zog die Sehne aus, und als er Schwarze Kröte, vorspringen sah, drehte er den Körper und zielte auf den Mann, der das kleine Feuerrohr trug. „Halt! Betretet die Heiligen Felsen nicht!" schrie unüberhörbar laut Schwarze Kröte. Er dachte nicht daran, ob ihn die Plünderer verstanden oder nicht. Die Männer rannten zehn Schritte weiter, hielten kurz an und stürmten weiter vor. Schwarze Kröte und Wettergesicht schossen fast gleichzeitig. Die Pfeile zischten durch die Luft. Ein Pfeil traf den Anführer in die Brust, aber der Schwarzhaarige brach ihn ab und lief weiter, als sei er nicht verwundet. Als Wettergesicht den zweite Pfeil auf die Sehne legte und Ona-Haho den ersten Speer schleuderte, ohne zu treffen, sahen sie, daß die steinerne Pfeilspitze in einem breiten Lederband über der Brust steckte. Es gab kein Blut. „Die Brandpfeile!" brüllte ToutanTete und löste die Sehne. Zwischen den Felsen schwirrten die Pfeile in schneller Folge hervor. Einige Speere flogen schräg nach unten. Die jungen Jäger berührten mit den Spitzen der Pfeile die Flammen der Feuertöpfe. Dann schossen sie auf die Eindringlinge. Die Pfeile zogen dünnen Rauch hinter sich her. Die Fremden hatten sich zu Boden geworfen und versteckten sich hinter Büschen und Felsen. An
zehn verschiedenen Stellen schlugen die Brandpfeile ins trockene Gras, das sofort Feuer fing. Rauch stieg hoch. Der erste Fremde schlug wild mit dem langen Metallmesser über seinem Kopf hin und her und traf zufällig einen Speer. Dann schaute er nach rechts und links und sah überall Flammen und Rauch. Er rannte in weiten Sprüngen, wie ein Vogel mit verletzter Schwinge, nach Norden davon. „Tötet sie!" schrie jetzt Schwarze Kröte und schoß seinen vierten Pfeil nach dem Anführer. Der Anführer bewegte das Donnerrohr, schwang es herum und hantierte daran, auch als ihm die Pfeile um die Schultern flogen. Er stemmte es gegen die Schulter, zeigte damit zu den Höhlen und wartete ohne Furcht. An vielen Stellen loderten Flammen hoch. Die Feuer breiteten sich im Gras aus, erloschen oder gingen ineinander über. Noch zwei Fremde rannten davon und folgten dem ersten. Ein helles Krachen war zu hören. Dann zerplatzte etwas neben dem Ohr von Wettergesicht und überschüttete ihn mit Steinsplittern. Aus dem Ende des langen Donnerrohres löste sich eine spitze Flamme. Es gab viel Rauch und einen mächtigen Knall wie beim Gewitter. Dann versuchten auch die letzten Fremden, den Flammen und dem vielen Rauch zu entkommen. Es war nichts anders zu sehen. Die Krieger ließen die Bögen sinken, und keiner griff mehr nach dem Schild. Schwarze Kröte schrie: „Treibt sie nach Norden! Und wenn ihr sie trefft, tötet sie!" „Wir jagen sie!" riefen die jungen
57 Krieger und rafften ihre Waffen zusammen. Die acht Männer kämpften nicht. Es waren also Feiglinge. Sie liefen geradeaus, über das kurze Gras, nur fort vom Feuer und dem Rauch. Die Jäger fingen gellend zu schreien an. Das trillernde Geschrei, wütend und laut, schien die Flüchtenden noch mehr zu erschrecken als die Brandpfeile und die Speere. Sie rannten um ihr Leben, und wenigstens jetzt waren sie doppelt so schnell wie die jungen Jäger. Wettergesicht packte seine Waffen, murmelte eine Verwünschung und ging zum Eingang der kleineren Höhle. „Berichten wir dem Greis, daß wir die Plünderer vertrieben haben", sagte er zu Schneller Pfeil. Die alten Jäger schauten den Flüchtenden nach, erkannten die Gestalten der Verfolger und wandten sich ab, um mit Weißer Schildkröte zu sprechen. Der Greis lag ausgestreckt auf dem Sandboden. In seiner faltigen Brust war ein Loch. Blut lief über die Haut, unter dem Rücken breitete sich eine große Blutlache aus. Die Augen des Alten waren geschlossen, als schliefe er. Auf dem zerfurchten Gesicht hatte sich ein zufriedenes glückliches Lächeln ausgebreitet. Nach langem, entsetztem Schweigen faßte Schwarze Kröte die Gedanken der fünf Männer zusammen. „Schneller Tod. Er starb zufrieden und lächelte. Wir werden für ihn die Totenklage singen." 9. Wettergesicht schloß die Augen und versuchte, seine wirbelnden Gedanken und Empfindungen in eine
klare Ordnung zu bringen. An seine Ohren drang, sehr leise und ohne große Bedeutung, der Lärm, den die jungen Krieger vollführten. Ob sie die Weißgesichter fingen und töteten, bedeutete ihm in diesem Augenblick nichts. Er sah in steinerner Haltung zu, wie Schwarze Kröte und Toutan-Tete den alten Jäger betrachteten, wie sie neben ihm knieten und so aussahen, als versuchten sie, ihn wieder ins Leben zurückzubeschwören. Weiße Schildkröte war tot . . . Nein. Noch nicht. „Ruhig", sagte Wettergesicht verwundert. „Er will uns noch etwas mitteilen." Der Uralte öffnete die Augen. Seine Stimme war fast kaum zu hören, aber gut zu. verstehen. Er sagte, mit langen Abständen zwischen den einzelnen Worten: „Es wird ein guter Tod sein. Ihr seid bei mir. Ich sterbe und werde warten, bis ich euch wieder treffe." Er holte tief Luft. Der Blutfleck unter seinem Rücken vergrößerte sich. Auf seinen Lippen erschien dünner, weißer Schaum. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder, seine Brust mit der faltigen Haut hob und senkte sich. Weiße Schildkröte war mit seinem Geist schon in den anderen, guten Jagdgründen, in denen er ewig fette Hirsche jagen würde. „Bringt mich zu den anderen. Bereitet mir ein gutes Ende. Nehmt von meinen Sachen, was ihr wollt. Ich danke euch." Toutan-Tete richtete sich verwirrt auf. Er hatte einen solchen Tod noch nie mit angesehen oder erlebt. Dann hörte er, wie Weiße Schildkröte mit einem Lächeln, das schon bei den Jagden und Lagerfeuern der anderen Jagdgründe zu weilen schien, sagte:
58 „Es war - ein gutes Leben - ich sehe euch - bald . . . " Dann zuckte er zusammen, sein Gesicht wurde steinern, und seine Augen brachen. Schwarze Kröte blickte Wettergesicht an. „Er ist tot", sagte er in endgültigem Ton. „Die Weißgesichter . . . " Wettergesicht hob abwehrend die Hand und antwortete: „Sie waren nur der Pfeil, der ihn traf. Er wußte, daß der Bogen gespannt war." „Richtig gesprochen", erklärte Ona-Haho, der bisher mit vor der Brust gekreuzten Armen zugesehen und nichts gesagt hatte. Sein Gesicht zeigte nicht, was er dachte. „Wir haben es versprochen", sagte Schwarze Kröte. „Wir werden für ihn die Totenklage singen und den Seelentanz tanzen", stimmte Sicherer Pfeil zu. „Vergessen wir die jungen Krieger und die geflüchteten Plünderer." „Ich kenne die Verrichtungen und Griffe nicht", beklagte sich ToutanTete und senkte den Kopf. „Ich kenne sie", sagte Schwarze Kröte. „Nehmt die Äxte. Sucht junge Bäume und fällt sie. Wir brauchen Rinde, lange Gräser, vier Stämme und bestimmte Kräuter. Eine Pfeife brauchen wir und eine Trommel. Ich kenne die Gesänge, ihr werdet leicht mitsingen können. Er will nicht verbrannt werden." Wettergesicht legte langsam seine Waffen und seine Ausrüstung ab und schichtete sie auf einen kleinen Haufen. Er ging, wie immer, mit großer Sorgfalt vor. „Er will auch nicht in die Äste des Baumes gebunden werden. Er will zu den anderen." Er deutete zum zweiten Eingang. Dort war die Höhle mit dem steiner-
nen Gesicht. Dort standen und lagen die Weihgaben, die viele andere alte Männer mitgebracht oder hier angefertigt hatten. Und dort lagen in der Ruhe der Jahre, des Staubes und der Verwesung die umwickelten Gerippe mit den fleischlosen Schädeln, deren lippenloses Lächeln bewies, wie zufrieden sie die Schwelle am Ende des Lebens überschritten hatten. Auch die anderen alten Jäger legten ihre Ausrüstung ab. Das Feuer und der Rauch waren erloschen und vom Wind weggetrieben worden. Selbst die scharfen Ohren der Jäger konnten weder die Weißen hören, die wie ein Wildrudel in rasender Flucht davonjagten, noch die jungen Jäger, die hinter ihnen herhetzten, um sie an den Rand des großen, unendlichen Wassers zu treiben und dort zu bestrafen. „Er will zu den anderen", wiederholte Wettergesicht laut. „Wir werden abends das Feuer anzünden." „So soll es geschehen." Die fünf alten Jäger zerstreuten sich in verschiedene Richtungen. Einer schlug Baumstämme ab, der andere suchte Kräuter, Wettergesicht zog die langen Gräser mit den messerscharfen Rändern aus dem Boden und kappte sie mit dem Feuersteinmesser. Es dauerte ein Tageszwölftel, bis sie wieder auf dem breiten Sims standen, leise miteinander sprachen und die Vorbereitungen weiter betrieben. Die Rinde wurde abgeschält, die Holzstücke, die übrigblieben, fielen in das niedergebrannte Feuer. Das feuchte Holz brannte mit dunklem Rauch, den man weithin sah vielleicht fand sich zur Zeremonie noch ein anderer Jäger ein, der seine Familie entlang schmalen Pfaden führte.
59 Schwarze Kröte zog bedächtig die wenigen ledernen Gewänder vom Körper des Toten. Er wurde steif und steifer, aber noch konnte man ihn nicht an die Stangen binden. Das Blut trocknete auf, und während Sicherer Pfeil mit einem grünblättrigen Zweig die Fliegen und Ameisen vertrieb, schnitt Toutan-Tete lange Rindenstreifen. Wettergesicht hockte auf den Fersen und flocht aus dem feuchten Gras längliche Matten. Er war völlig in seine Arbeit versunken und merkte nicht einmal den beißenden Rauch aus dem Feuer, der in einer dicken, schwarzgrauen Säule schräg nach Osten trieb und dort, wo der Große Geist lebte, langsam zerfaserte und unsichtbar wurde. Schwarze Kröte brachte aus der Wohnhöhle die wenigen Besitztümer des Alten und legte sie Schildkröte auf seine Brust, nachdem er das Blut weggewischt hatte. Er dachte schweigend: Die unsichtbaren Dinge, die aus dem Feuerrohr fliegen, sind schneller als Pfeile, und sie reißen Löcher, aus denen das Leben herausfließt. Weiße Schildkröte hatte wohl niemals einen Fremden gesehen. Aber er mußte gewußt haben, daß eine fremde Waffe ihn tötete und sein Leben auf diese Weise besser beendet wurde als durch den Schlag mit einer Steinaxt oder die Böse Krankheit. Anders war es nicht zu verstehen: Weiße Schildkröte hatte erreicht, was nur wenigen geschenkt wurde. Er starb im Frieden mit sich und der Natur. Ona-Haho und Wettergesicht hoben den Körper an. Er war unerwartet leicht. Sicherer Pfeil und Schwarze Kröte schoben die geschälten Baumstämme unter den Schultern und dem Gesäß hindurch. Toutan-Tete band
die Knöchel und die Handgelenke an die Hölzer und schlang gute Knoten. Dann setzten sie die Last auf Steine, so daß unter den Stangen noch freier Raum blieb. Wettergesicht nickte und ging, um ein Stück Holz zu finden, das sich als Trommel benutzen ließ. Er fand nichts, außer einigen starken Ranken. Schließlich band er die Ranken zu einem Ring zusammen, zog sein Lederhemd aus und spannte es darüber. Als er es richtig festgeschnürt hatte und mit den Fingern daraufschlug, gab es einen guten Trommelton. Nicht zu vergleichen mit dem feingeschabtem Rehleder, aber würdevoll genug. „Ich hab's", sagte er. Der Körper wurde zwischen vier Stangen eingeschnürt. Zuerst kamen die schmalen Bänder aus geflochtenen Halmen, dann bedeckten die Jäger die einzelnen Glieder mit den Matten. Fünf Matten fehlten noch, und sie holten neues Gras und Wasser für den Trank, den sie später brauchten. Zwei Stunden später, als sich die Sonne langsam dem Rand der Welt näherte, war die Weiße Schildkröte eingeschnürt, verziert, mit gekreuzten Schnüren an den Stangen festgebunden und mit den Matten bedeckt. Unterschiedliche Halme ergaben ein Muster, das sich seit vielen Generationen nicht geändert hatte. Ein breites, besticktes Lederband aus dem Besitz des Alten wurde um seine Stirn gewunden. Sein Gesicht verlor den glücklichen Ausdruck. Jetzt hoben die Küstenbewohner, die sich in ihrer Gesamtheit Algonkins nannten, das längliche Bündel auf ihre Schultern und trugen es in die Höhle des Steingesichts. „Dorthin. Er muß in die Sonne se-
60 hen können", ordnete Schwarze Kröte an. „Hierher scheint die Sonne", erklärte Sicherer Pfeil und setzte Kopf und Schultern schräg gegenüber der runden Öffnung der Höhle ab. Endlich war das röhrenförmig verschnürte Bündel in die richtige Position gebracht worden. Die Jäger stellten sich rechts und links des Toten auf und betrachteten schweigend und mit dem scharfen Blick langer Erfahrung ihre Arbeit. Es gab keinen Makel. „Gut so, Schwarze Kröte?" fragte Wettergesicht. „Besser kann ich's nicht. Da bin ich ganz sicher." „Gut. Haben wir etwas vergessen? In seiner Höhle? Gibt es noch etwas, das er für die Jagdgründe braucht?" „Alles haben wir an seinem Körper festgebunden", erklärte Sicherer Pfeil ruhig. „Nur die Schalen für den Tee sind übrig. Aus ihnen werden wir trinken." „Du bist sicher?" „Ich bin sicher." Schweigend und hintereinander verließen sie die Höhle in den Heiligen Steinen. Zwischen vielen anderen weißen und fleischlosen Knochen wartete jetzt das Verwesliche von Weißer Schildkröte darauf, daß die Jahre alles abnagten und nur das wichtigste Zeichen dafür zurückließen, daß er diese Welt verlassen hatte. Das Feuer loderte nicht mehr, aber es gab genügend Glut. In tiefem Schweigen trugen die fünf Jäger die Abfälle zusammen und schleppten die Holzkloben herbei, die der Greis selbst geschlagen, geschichtet und an der Sonnenglut getrocknet hatte. Der nächste Jäger, der hierher zum Sterben kam, würde seinen eigenen Baum fällen. So war das Gesetz der letzten Tage.
Sie warteten, bis das Wasser heiß war. Dann warfen sie Kräuter in das Wasser und andere Kräuter in die Glut. Dünner Rauch breitete sich aus, während die Sonne tiefer sank. Sie achteten nicht auf das Wild und die Vogelschreie, zogen aus den Lederbeuteln die dünnen Scheiben der getrockneten Pilze, kauten sie und tranken dazu den dunkelgelben Absud. In den Pausen nach den einzelnen Schlucken merkten sie, daß sich ihre Sinne auf denselben Weg begaben, den Weiße Schildkröte eingeschlagen hatte. Aber sie wußten ebenso, daß keiner von ihnen diesen Weg beenden würde. Sie begleiteten und geleiteten den Uralten ein kurzes Stück seines Pfades. Als die Sonne untergegangen war und nur noch fahles Rotgelb den Himmel zeichnete, stand als erster Schwarze Kröte auf, nahm die Rohrpfeife aus dem Gürtel und blies ein paar Töne. Wettergesicht packte seine seltsame Trommel und schlug drei kurze Takte und einen langen Takt. Toutan-Tete mit seiner dunklen Stimme begann summend zu singen. Er stimmte sich ein und suchte unter seinen vielen Erinnerungen die richtigen Worte. Ona-Haho hatte zwei Klanghölzer gefunden und schlug sie im Gegentakt aufeinander. Sicherer Pfeil richtete seine Augen zum ersten Stern, der über ihnen aufblinkte. Dann fand er die richtigen Worte und fiel in das Summen ein. Er glich sich dem Takt an, lehnte sich zurück und bewegte seinen Oberkörper hin und her, nach rechts und links. Schließlich, noch ehe er den letzten Schluck des berauschenden Tees getrunken und den letzten Bissen des Pilzes heruntergekaut hatte, bekamen seine Augen einen entrückten
61 Ausdruck, während sich seine Stimme erhob. Die kurze Flöte schickte grelle, trillernde Laute von dem Felsenberg in alle Richtungen. Die Finger und die Handflächen auf dem gespannten Leder der Trommel schlugen einen immer wiederkehrenden Takt. Summen und Knurren, die einzelnen Worte der Beschwörung und der Anrufung des Großen Geistes vermischten sich zu einem Gesang, einem eindringlichen Geräusch, das zu der umgebenden Natur paßte und dennoch etwas Besonderes, nie Gehörtes war. Schließlich befanden sich fünf Kehlen und drei Instrumente im Gleichklang. Der letzte Lichtschein wich aus dem Firmament, die Sterne leuchteten auf die Felsen und die Büsche, und lautlos erhob sich der Mond hinter dem Rand der Welt. Laut und leise, anschwellend und abklingend, sangen die alten Jäger die langgezogene Klage für ihren toten Bruder. Die Schreie, die Gesänge, die Takte und das schrille Grellen der Flöte breiteten sich aus. Die Tiere bewegten sich nicht. Sie waren wie gebannt und rührten sich nicht einmal, als Schwarze Kröte neben dem auflodernden Feuer aufsprang und im Takt die Füße bewegte, die Knie bis zum Kinn hochriß und den Oberkörper nach vorn krümmte und wieder aufrichtete. Sicherer Pfeil folgte, und er sah nicht so aus, als wisse er genau, was er tat. Sie tanzten im Takt um das Feuer, in dessen Flammen ToutanTete frisches Holz und trockene Zweige warf, bevor auch er aufsprang und den anderen folgte. Schließlich tanzten die Krieger um
die hochzüngelnden Flammen, drehten sich und stampften auf den dünnen Boden. Rechts herum, links herum, die Instrumente in den Händen, laut und leise, zwischen hochwirbelnden Funken, Flammen und Rauch, während der Mond höher stieg und noch mehr Sterne erschienen, bewegten sich die Männer springend ums Feuer und baten den Großen Geist, den Alten aufzunehmen und mit ihm zusammen eine gute Jagd anzufangen.
Von Westen schoben sich Wolken hoch. Der Mond wanderte zwischen den Sternen - den Lagerfeuern vieler guter Toter - auf seinem Weg der anderen Seite der Welt zu. Aus Windstille und Lautlosigkeit wurden kurze Böen und ein kühler Wind aus Westen, der letzte Funken aus der roten, erkaltenden Glut blies. Die Jäger lagen ausgestreckt oder zusammengekrümmt in der Nähe der wärmenden Glut, schliefen tief und träumten von unbeschreiblichen Dingen und guten Jagden, von aufregenden Abenteuern und der weichen Haut ihrer Frauen. Nachtvögel mit gelben Augen flatterten fast unhörbar durch die warme Luft. Mäuse quiekten und zappelten, als sich die Fänge der Nachtjäger in ihre Haut bohrten. In der Ebene voller Gräser bewegten sich kleine Tiere und schreckten zurück, als sie das verbrannte Gras und die toten Insekten rochen. Die Männer schliefen. Jedes Kind hätte sie jetzt, nach vielen Stunden ununterbrochenen Tanzens, Gesangs und Trommelschlags, voller Traumpilz und Schlaftee, überwältigen können. Nichts rührte sich. Mondlicht lag
62 hell auf den Flanken der aufeinandergetürmten Felsen. Die Blüten öffneten sich und verströmten einen Geruch wie nach jungen Mädchen. Stunde um Stunde verging. Als erster rührte sich im fahlen Schimmer des Morgens Schwarze Kröte. Aus halb zugeschwollenen Augen blickte er auf die Jäger seines Tuscarora-Stammes, nickte zufrieden und sammelte die schlaffen Lederbeutel zusammen. Mit äußerster Vorsicht setzte er Fuß hinter Fuß und stieg die Treppe aus Stein hinunter bis zur Quelle. Dort ließ er sich Zeit, spülte alle Wassersäcke aus und füllte sie mit frischem, eiskaltem Wasser. Auf dem Weg zurück zum breiten Sims vor dem Höhleneingang hob er sein Bündel auf, in dem genügend Proviant enthalten war. Er stieg, leicht keuchend, hinauf und schichtete frisches Holz in die Glut. Mit bedächtigen Bewegungen zog er sich das Wams über die Schultern, legte Bogen, Beil und Köcher zurecht und fing an, das Essen auszuteilen. Nacheinander kamen seine Freunde zu sich, tranken viel Wasser und fingen schweigend zu kauen an. „Wir suchen die Spur unserer jungen Krieger?" erkundigte sich OnaHaho nach einer Weile. „Heute, morgen oder am Tag nach morgen finden wir sie", antwortete Wettergesicht und verschwand hinter einem Busch, um sich zu erleichtern. „Weiße Schildkröte ist glücklich", bemerkte Sicherer Pfeil zuversichtlich. Schwarze Kröte nickte. „Wir haben ihn auf seinem Weg begleitet." Sterne und Mond waren verschwunden. Die schwarzen Nachtwolken hatten sich in weißes Gewölk verwandelt, das in einzelne Teile zerriß
und über den grauen Himmel zu driften begann. „Jetzt jagen wir die Weißgesichter!" Wettergesicht und Ona-Haho nickten einander zu, beendeten ihre Mahlzeit und suchten die Waffen zusammen. Sicherer Pfeil reinigte den Boden von ihrer Anwesenheit und zerschlug methodisch langsam die dünnen Teeschalen des Gestorbenen. Als sich die Sonnenscheibe über den Weltrand erhob, standen die fünf Jäger am Fuß des Heiligtums. Sie drehten sich um, als hätten sie einen Befehl erhalten. Gegen den honigfarbenen Himmel zeichneten sich die aufragenden Felsen schwarz und feucht vom Nachttau ab. Über die Haut der Männer zog ein herbstliches Frösteln. Wettergesicht, der beste Läufer des Uferwaldstammes, packte die Schäfte der Speere und sagte rauh: „Harte Tage sind vor uns, meine Freunde." Nachdem sie alle ihre Gesichter, Arme und Oberkörper an der Quelle gesäubert und sich durch den Schock des kalten Wassers erfrischt hatten, vergaßen sie die Vergangenheit. Nichts mehr war zu ändern. Vor ihnen lag ein beschwerlicher Weg, eine tödliche Verfolgung. Wahrscheinlich, so dachten sie, würden sie bald auf die erschöpften jungen Jäger stoßen und erfahren, daß die Knaben die Spur der räuberischen Fremden verloren hatten. „Tage?" fragte Schwarze Kröte und wischte das Wasser von seinen braunen Wangen. „Stunden sind es. Oder willst du den Jungen einen so großen Vorsprung schenken?" „Sie werden dort sein, wo die Fremden sind", erwiderte Sicherer Pfeil. „Wollen wir reden oder laufen?"
63 „Gute Frage. Los!" Ona-Haho setzte sich an die Spitze der fünf. Die abgebrannten Flächen waren mehr als deutlich zu erkennen. Dort, wo die Flammen erstickt waren, zeichneten sich im hohen Gras mindestens zehn Spuren ab. Es handelte sich um schmale Gassen im Gräserfeld, dessen Halme sich jetzt aufrichteten. Dort waren die Fremden in weiten Sprüngen geflüchtet, und dort waren ihnen die jungen Jäger gefolgt. Während die Männer im raumgreifenden Trab in der Spur liefen, immer schneller und mit weniger Kraftanstrengungen, dachten sie über das Erlebte nach. Wenn Eindringlinge erschienen, veränderte sich immer etwas. Das war stets so gewesen. Fremde Algonkin wurden getötet, geduldet oder mit den überzähligen und überflüssigen Weibern verheiratet. Die weißgesichtigen Fremden waren anders. Sie sprachen und verstanden die Sprache nicht. Sie suchten wie Verhungernde nach dem gelben Metall, das den Männern nichts bedeutete. Man fand es im Sand der Flüsse und hämmerte es auf
Steinen, um Gegenstände zu schmükken. Es hatte keine magischen Eigenschaften. Und dann: die riesigen Kanus, die wohl über das große Wasser geschwommen waren. Die Fremden waren eine ganz andere Rasse von Menschen. Es mochte gute Jäger und Fischer unter ihnen geben, aber die wenigen, die man kannte, benahmen sich wie wilde, gierige Tiere. Im Laufen murmelte Wettergesicht: „Man muß sie vertreiben. Gehen sie freiwillig? Ich glaube nicht. Also müssen wir sie töten." „Oder sie töten uns. Ich bin noch nicht so alt wie Weiße Schildkröte", antwortete Ona-Haho, der genau zugehört hatte, was der andere vor sich hin gemurmelt hatte. Sie trabten weiter, einer hinter dem anderen, bewaffnet und bereit, jede Waffe auch zu gebrauchen. Noch immer erkannten sie ohne Schwierigkeiten die vielen Spuren, die sich im Verlauf der nächsten Stunden wie die Finger einer Hand vereinigten und eine unübersehbare Gasse bildeten. „Nichts zu sehen", sagte Schwarze
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Kröte, als sie eine Stunde später im warmen Morgenlicht auf dem Kamm eines winzigen Hügels standen und die dunkle Spur zwischen dem Meer der helleren Halme sahen. Wettergesicht deutete mit der Steinspitze des Speeres zum Horizont und erwiderte: „Am Ende der Spur treffen wir alle zusammen. Die Frem-
den, unsere jungen Männer und wir, und dann gibt es einen Kampf, der viele Tote zurücklassen wird." „Wahr gesprochen", stimmte Schwarze Kröte zu und eilte weiter. Die anderen folgten schweigend. Noch schien es nicht so, als hätten die Jungen die Spur der verhaßten Weißgesichter verloren . . .
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 637
Zwischen den Fronten von Jan J. Moreno Sie flüchteten durch das Bachbett - Philip Hasard Killigrew, Batuti und die junge Squaw, die eine Weiße war. Im Wasser würden ihre Spuren nicht zu sehen sein. Aber dann war ihre Flucht jäh zu Ende - und jeder Widerstand wäre sinnlos gewesen. Die Rothäute standen an beiden Ufern, ihre Speere und Pfeile unmißverständlich auf die beiden weißen Männer gerichtet. Hasard hätte bestenfalls zwei oder drei von ihnen mit in den Tod nehmen können. Langsam hob er die Arme und drehte die Handflächen nach außen. Batuti tat es ihm nach. Der Häuptling herrschte sie an. Seine Miene und sein Tonfall verhießen wenig Gutes. Anschließend spie er aus. „Tut mir leid", sagte Hasard. „Ich habe kein einziges Wort verstanden." In höchster Erregung schleuderte der Häuptling seinen Speer . . .
ex libris
KAPTAIN STELZBEIN 2011
Printed in Germany. Juni 1988