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Roy Palmer 1.
Dan O'Flynn hob mit mürrischer Miene das Spektiv, spähte hindurch und ließ es wieder sink...
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Seewölfe 119 1
Roy Palmer 1.
Dan O'Flynn hob mit mürrischer Miene das Spektiv, spähte hindurch und ließ es wieder sinken. „Nichts“, sagte er. „Nichts und wieder nichts, verdammter Mist.“ Er kauerte mit dem Rücken gegen den Mast gelehnt im Großmars. Träge blickte er zu seinen „Gesprächspartnern“, dem Schimpansen Arwenack und dem karmesinroten Aracanga Sir John. Arwenack wollte Solidarität beweisen und gab sich Mühe, genauso verdrießlich dreinzuschauen wie sein bester Freund Dan. Es wirkte aber eher komisch, wie sich seine Stirnhaut in Falten legte, wie er die Augenbrauen zusammenzog und seine breiten Affenlippen aufwarf und vorstülpte. Sir John hockte nicht weit von Arwenack entfernt auf dem Rand der Großmarsverkleidung. Das war eigentlich eine Besonderheit, denn in, „Normalzeiten“ galt er als Arwenacks größter Feind an Bord der „Isabella“. Gleich nach ihm kam der Kutscher, aber nur, wenn Arwenack etwas aus der Kombüse stibitzte. Nur dann wurde der Kutscher fuchsteufelswild. Normalzeiten — darunter war praktisch jede Situation auf der großen DreimastGaleone zu verstehen. Ausgenommen Sturm und Gefecht. Wenn es nämlich knüppeldick wehte und Wogen von über zehn Yards Höhe oder gegnerische Kugeln gegen das Schiff anhieben, dann schlossen Arwenack und Sir John Burgfrieden, verkrochen sich irgendwo oder griffen gemeinsam mit in den Kampf ein, wenn dreiste Spanier oder Piraten die „Isabella“ zu entern trachteten. Heute war Sir John mehr aus Neugierde in den Hauptmars hinaufgeflogen. Er wollte sich anhören, was der junge Mann mit den schärfsten Augen der ganzen Crew von sich gab. Sir John legte den Kopf ein wenig schief. Mal äugte er zu Dan, mal zu Arwenack hinüber. Falls der Schimpanse den Waffenstillstand brach und mit halben
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Kokosnußschalen oder anderen Geschossen zu werfen begann, wollte er schleunigst Reißaus nehmen. „Mann o Mann, das ist vielleicht ein beschissener Törn“, sagte Dan. Sir John krächzte eine Antwort, senkte den Kopf und schlug zweimal heftig mit den Flügeln. „Ich kann euch sagen, ich hab die Nase voll“, brummte Dan. Wieder schaute er mit dem Spektiv in die Runde. Aber dort, wo der Himmel mit der glitzernden See zusammenstieß und eine Linie bildete, die man die Kimm nannte, zeichnete sich nichts ab, das seine Laune bessern konnte. „Nicht mal ein lausiger Spanier. Oder ein Boot voll Eingeborener. Oder ein Vogel. Kein Schiff, kein Lebewesen. Seit Wochen.“ Dan atmete tief durch und stieß die Luft ärgerlich durch die Nase aus. „Keine Insel, und mag sie auch noch so kahl und winzig sein. Nichts. Das ist zum aus der Haut fahren!“ „Luv an!“ krächzte Sir John. Arwenack schoß einen Blick auf den Papagei ab, in dem sich glühende Eifersucht und Zorn mischten. Dan winkte müde ab. „Was redest du denn da für einen Quatsch, Sir John. Wir liegen doch schon hoch genug am Nordost.“ Er sah zu den prall gebauschten Segeln der „Isabella“, dann wandte er den Kopf, und sein Blick wanderte zwischen Großmarsund Kreuzsegel hindurch zu dem schwarzen Segler. Der Viermaster glitt seitlich versetzt Backbord achteraus von der „Isabella“ dahin. Wie die Galeone segelte er auf Backbordbug liegend mit Steuerbordhalsen. „Ja“, sagte Dan. „Eigentlich sind wir ja nicht schlecht dran. Wir fahren bei gleichbleibendem Wetter und Wind immer weiter auf dem 20. Grad nördlicher Breite nach Westen.“ Sir John gab ein paar kullernde Laute von sich. Arwenack stieß ein beleidigtes Grunzen aus. Dan kratzte sich am Hinterkopf und fuhr fort: „Aber wir sind, seit wir Neuspanien verlassen haben, genau siebzehn Tage
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unterwegs - mit einem Etmal von 150 Meilen.“ „Teufel!“ stieß der Papagei aus. Arwenack stieg von der Verkleidung auf die Plattform hinunter und klaubte einen hölzernen Belegnagel auf, den er dort versteckt hatte. Sir John bewegte die Schwingen und schimpfte erbost. „Ich glaube, wir landen wirklich noch in der Hölle“, sagte Dan mit schiefem Grinsen. „Siebzehn Tage, durchschnittliche Tagesleistung 150 Meilen, wenn man das malnimmt -also, Kopfrechnen war noch nie meine große Stärke, aber ich schätze, es kommen so zwischen zwei- und dreitausend Meilen dabei raus. Das ist eine echte Durststrecke, Leute.“ Dan fuhr sich mit der Hand durch die Haare und seufzte. „Richtig, unser Trinkwasser geht zur Neige. Und der Proviant auch. Bei SiriTong drüben auf dem schwarzen Schiff sieht's nicht besser aus. Wenn das so weitergeht, erreichen wir nie das Land des Großen Chan, wo die Zopfmänner wohnen. Hasard meint, wir hätten noch nicht mal die Hälfte der Strecke zurückgelegt.“ „Hä-hä !“ krächzte Sir John. Arwenack hantierte demonstrativ mit dem Belegnagel herum. „Wir haben den falschen Kurs gewählt“, fuhr Dan O'Flynn fort. „Weiter südlich, das wäre zwar heißer gewesen, aber besser. Weiter südlich gibt's mehr Inseln. Wenn wir nicht bald irgendwo landen, sind wir total vergammelt, bevor wir diesen rätselhaften Kontinent zu Gesicht kriegen.“ Sir John hatte natürlich kein Wort kapiert, aber er antwortete mit einem Lieblingswort Carberrys. Er schrie: „Affenärsche!“ Arwenack verstand die Sprache der Zweibeiner auch nicht, aber er fühlte sich irgendwie beleidigt und reagierte entsprechend. Er schwang den Koffeynagel, schleuderte ihn und stieß ein wütendes Keckern aus. Sir John flatterte auf. In fast vertikaler Bahn schwang er sich bis zur Großmarsrah hoch und ließ sich schimpfend auf der Spiere nieder. Wo er eben noch gehockt hatte, war nur noch Luft, und Arwenacks Geschoß flog
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ins Leere. Taumelnd senkte es sich der schwach gekräuselten See entgegen. Mit einem Klatscher landete es in den Fluten. „Hölle und Teufel“, dröhnte die mächtige Baßstimme des Profos' von der Kuhl herauf. „Welcher Stinkstiefel schmeißt denn hier mit Belegnägeln? Na warte, du Aas, wenn ich dich erwische!“ Arwenack duckte sich tief hinter die Segeltuchverkleidung des Großmarses und zog den Kopf ein. Dan lehnte sich ein Stück zurück, schaute zu Sir John hoch und murmelte: „Du bist wirklich ein Satansbraten, Kamerad.“ * Als der Seewolf an Oberdeck erschien, verstummte Edwin Carberry. Sie blickten sich an, Carberry grinste, und dann wandte sich Hasard dem Backbordniedergang zu und stieg zum Achterdeck hoch. Wenn Carberry brüllt, dann ist er gesund, sagte sich Hasard im stillen, und wenn was Wichtiges ist, meldet er es. Er trat kurz zu Pete Ballie ins Ruderhaus und warf einen Blick auf den Kompaß. „In Ordnung, Pete. Keine Kurskorrektur.“ „Aye, Sir.“ Pete zeigte klar, aber es war etwas Lasches in seinen Bewegungen, und seine Miene war alles andere als zuversichtlich. Hasard klomm zum Achterdeck hoch. Er sah zu Ben Brighton, Ferris Tucker und Big Old Shane, die sich mit Old Donegal Daniel O'Flynn und Smoky am Steuerbordschanzkleid versammelt hatten. Sie standen mit dem Rücken zur See, hatten die Ellbogen aufs Schanzkleid gestützt und ließen sich die Sonne ins Gesicht brennen. Ferris Tucker schaute kurz zum schwarzen Segler, sagte etwas und schwieg wieder — wie die anderen vier. Was er geäußert hatte, hatte Hasard nicht verstanden. Von Belang schien es aber nicht zu sein. Hasard trat auf sie zu und sagte: „Sehr tatendurstig seht ihr nicht gerade aus.“ „Abwechslung täte gut“, entgegnete Ben Brighton. „Offen gestanden, wir fangen an,
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uns zu langweilen. Und die Crew wird launisch und ungenießbar.“ „Es gibt nichts zu tun“, meinte Ferris Tucker. „Die ,Isabella“ ist von den Maststangen bis zum Kielschwein aufgeklart.“ „Das Schiff ist tipptopp in Schuß'', fügte nun auch Old O'Flynn hinzu. Hasard kniff die Augen zusammen und musterte die fünf der Reihe nach. „Mister Brighton“, sagte er dann langsam. „Wenn die Männer quengelig sind, muß unsere Lady eben noch mal von oben bis unten aufgeklart werden. Oder wir üben Mann über Bord. Ich kann weder Landgang noch eine Schnapsfeier anordnen, das ist doch klar, oder?“ Ben sah verdattert drein. „Selbstverständlich. Aye, aye, Sir.“ „Gibt es noch irgendwelche — Kleinigkeiten?“ „Nein, Sir.“ Ben hütete sich, sich noch weiter über die allgemeine Stimmung an Bord auszulassen. Und Ferris, Shane, Smoky und Old Donegal hielten den Mund. Denn sie wußten: Bei aller Umsicht und Gerechtigkeit, die der Seewolf auf seinem Schiff walten ließ — der Kapitän war er. Und die Disziplin mußte gewahrt werden. Schließlich war die „Isabella VIII.“ nicht einfach nur irgendein Piratensegler der Weltmeere, sondern ein Korsarenschiff, das nach wie vor dem Oberbefehl der Königin von England unterstand. Und Hasard trug auch immer noch den Kaperbrief der „königlichen Lissy“ bei sich. Also: Quengeleien wurden nicht geduldet, Unbotmäßigkeiten streng geahndet. Dabei konnte Hasard durchaus verstehen, wenn seine Männer ungeduldig wurden, aber das durfte er niemals offen zeigen. „Was ist eigentlich mit Carberry?“ fragte er. „Was soll sein?“ erwiderte Old O'Flynn. „Der Affe schmeißt mit Belegnägeln.“ Die anderen grinsten. Hasard setzte eine strenge, zurechtweisende Miene auf. „Donegal ...“
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„Ehm, ich meine natürlich Arwenack, nicht den Profos. Was denkst du denn von mir?“ Diesmal lächelte der Seewolf. „Gar nichts. Nie und nimmer würdest du den guten alten Ed einen verlausten Drecksaffen nennen, oder?“ „Wo kämen wir denn da hin“, sagte O'Flynn. Um seine Mundwinkel zuckte es. Sie lachten nun alle, der Bann war gebrochen. Hasard blickte zum Großmars hoch und sah Dan, nicht aber den Schimpansen. Hoch über dem Ausguck thronte jedoch Sir John auf der Großmarsrah, und so wußte Hasard plötzlich, warum Arwenack sich so aggressiv benahm. Hasard schritt bis zur Heckreling und schaute an der Laterne vorbei. Die See war eine flüssige Wüste, die sich in der Ewigkeit zu verlaufen schien. Abgesehen vom schwarzen Segler war weit und breit nichts zu sehen als türkisfarbenes Wasser. Hasard drehte sich um. „Eigentlich hatte ich mit euch über etwas anderes sprechen wollen. Ihr erinnert euch doch an die Ledermappe, die wir Sabreras abgenommen haben.“ „Richtig“, sagte Ferris. „Da waren die Schriftstücke drin, aus denen hervorging, wie viel die Smaragdmine in Neu-Granada pro Jahr abwarf, auf welche Galeonen die Ausbeute verschifft wurde und wann die Kähne von der Neuen Welt in die Alte Welt segelten.“ „Und was er klammheimlich für sich beiseite geschafft hatte, war von diesem Halunken mit keiner Silbe erwähnt worden”, ergänzte Shane. Sabreras war tot. Er hätte noch leben können, wenn er Hasard nicht zum Duell aufgefordert hätte. Er hatte zu hoch gesetzt und verloren, dieser durchtriebene spanische Kommandant. Aber die Ereignisse lagen bereits wieder mehr als einen Monat zurück und gerieten bei den Seewölfen allmählich in Vergessenheit. Nur der „Nachlaß“ aus dem Sabreras-Abenteuer reiste auf der „Isabella“ und dem schwarzen Schiff mit: Funkelnde Zweikaräter, in Truhen und Kisten verpackt, Smaragdschmuck der
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Chibchas — und die Krone von unermeßlichem Wert, den diese Indianer einst als Opfer für ihre Gottheiten hergestellt hatten. Die Krone ruhte jetzt in einem der Schränke von Hasards Kapitänskammer. „Ich habe mir die Dokumente noch einmal angesehen“, sagte Hasard. „Sie haben jetzt keine Bedeutung mehr für uns, weil wir die Smaragd-Transporte ja selbst unterbrochen und die Mine stillgelegt haben. Außerdem werden die Dons alles neu planen, falls sie jemals wieder ,Esmeraldas` von NeuGranada zum Isthmus hinaufschaffen. Trotzdem. Ich habe die Mappe erneut untersucht und bin dabei auf ein Schreiben gestoßen, das ich vorher übersehen hatte.“ Die Männer horchten auf. Hasard griff in die Hosentasche und zog einen zusammengefalteten Bogen Büttenpapier hervor. „Hier ist die Rede von der legendären ,Nao de China' oder besser, von der Manila- Galeone.“ „Manila? Was ist das?“ wollte Old O'Flynn wissen. Ferris Tucker faßte sich an die Stirn und stöhnte auf. „O Mann. Das ist eine Niederlassung der Spanier auf den Inseln, die sie zu Ehren ihres Allerkatholischsten Königs die Philippinen genannt haben.“ Smoky nickte. „Stimmt. Erst haben die Philippinen den Portugiesen gehört, dann haben die Dons sie eingeheimst.“ „Kann ich doch nicht wissen“, knurrte der Alte. „Bin ich vielleicht Hellseher?“ Hasard entfaltete das Schriftstück. Die Männer rückten näher auf ihn zu. „Einmal im Jahr segelt die Manila-Galeone mit Waren aus China quer über den Stillen Ozean in die Neue Welt“, erklärte er. „Den Gegenwert in Gold und Silber nimmt sie dann von Acapulco aus wieder mit zurück nach Manila.“ Shane stieß einen Pfiff aus. „Donnerwetter, jetzt geht mir langsam ein Licht auf.“ „Unterbrich doch nicht dauernd“, fuhr O'Flynn ihn an. „Hier steht, daß der Gouverneur von Panama vorgeschlagen hatte, diesen Gegenwert einmal in Smaragden zu
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entrichten, sobald man genug Steine aus der Mine in Neu-Granada angehäuft hatte.“ „Daraus wird jetzt nichts mehr“, frohlockte der alte Donegal. Er verstummte aber, als er den drohenden Blick bemerkte, den Shane auf ihn abschoß. „Ob der König oder einer seiner Vizes diesem Plan zugestimmt hat, geht aus diesem Geheimdokument nicht hervor“, sagte Hasard. „Es ist nur von dem Geldwert die Rede, dem die jeweilige Ladung Gold, Silber oder Juwelen zu entsprechen hat — zwei Millionen spanische Piaster.“ Die Männer hielten unwillkürlich die Luft an. Erst Ferris Tucker fand nach einigem Staunen als erster die Sprache wieder. „Donnerschlag — zwei Millionen! Das ist ein enormer Batzen!“ „Wem sagst du das?“ gab Ben Brighton trocken zurück. „Die Manila-Galeone dürfte für einen Freibeuter wohl das begehrteste Schiff sein, das je über dieses Meer gesegelt ist.“ Old O'Flynn stapfte mit seinem Holzbein auf. Der alte Schnapphahn wurde wieder in ihm wach, das sah man ihm deutlich an, „Warum, zum Teufel, bringen wir diesen elenden Zuber dann nicht auf?“ „Die Route der ,Nao` wird streng geheim gehalten“, erwiderte Ben Brighton. „Und ich glaube, Philipp II. selbst legt sie jedes Jahr neu fest.“ „Du mußt es wissen“, sagte der Alte. „Du bist ja unter den Dons gefahren.“ Hasard überflog die Eintragungen auf dem Büttenpapier mit einem Blick. „Von dem Kurs des Schiffes ist auch hier nicht die Rede. Nur die Zeit der Überfahrt und Rückreise wird erwähnt.“ „Du meinst, wie lange die Galeone benötigt?“ erkundigte sich Smoky. Hasard entgegnete: „Nicht nur das. Auch der voraussichtliche Aufbruch in Manila ist festgehalten. Wenn ich die anderthalb Monate hinzuzähle, die die Spanier für die Überquerung des Ozeans eingeplant haben, den Aufenthalt in Acapulco, die Zeit, die man dort für das Löschen der Ladung und das Verstauen von Gold und Silber benötigt, dann befindet sich die Galeone
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entweder ein paar Tagesreisen irgendwo hinter uns, oder sie ist uns vor der Nase davongesegelt. Wenn ich das eher gewußt hätte!“ „Warum segeln wir nicht einfach nach Neuspanien zurück?“ fragte der alte O'Flynn. „Vielleicht schnappen wir diese Narren noch. Einen Versuch wäre es doch wert.“ „Donegal“, sagte Hasard. „Nun überleg doch mal. Wir müßten gegen den Wind kreuzen und würden für die Rückkehr in die Neue Welt mehr Zeit brauchen als siebzehn Tage. Das kann ich nicht verantworten, wir haben nicht mehr genügend Proviant und Trinkwasser an Bord. Außerdem wissen wir ja nicht, ob die Manila-Galeone noch in Acapulco liegt. Und ihren Kurs kennen wir nicht. Sie könnte also glatt an uns vorbeisegeln, ohne daß wir sie überhaupt sehen. Und weiter: Wer sagt uns, daß die Spanier den Terminplan der ,Nao` inzwischen nicht bereits wieder geändert haben?“ „Da ist was dran“, meinte der Alte zerknirscht. „Das muß man sich erst mal genauer durch den Kopf gehen lassen. Ja, dann können wir der Kahn wohl doch in den Wind schreiben, oder?“ Hasard steckte das Dokument wieder ein. „Ich bin ein unverbesserlicher Optimist, Donegal. Ich rechne mir noch ein paar Chancen aus, der Galeone irgendwo aufzulauern.“ „Und was du da eben über den Proviant gesagt hast, glaubst du denn bis in das Land der Zopfmänner brauchen wir weniger Zeit als noch mal zwanzig, dreißig Tage?“ „Keineswegs.“ „Dann sollten wir lieber Fische zu fangen versuchen, statt hier Löcher in die Luft zu glotzen“, sagte der Alte zu Ben, Ferris, Shane und Smoky gewandt. „Sonst nagen wir bald am Hungertuch.“ Hasard lächelte wieder. „Donegal ich schätze, wir stoßen bald auf Inseln. Dort läßt sich unser Nahrungsund Frischwasserproblem lösen.“ „Dein Wort in Gottes Ohr, Kapitän Killigrew“, sagte Old O'Flynn verdrossen.
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Er wollte noch etwas hinzufügen aber sein Sohn richtete sich genau in diesem Augeblick im Großmars auf und stieß einen wilden Schrei aus. * Dan wies mit dem ausgestreckter Arm nach vorn und rief: „Land in Sicht! Direkt voraus!“ Er lachte, stieß Arwenack mit dem Ellbogen an, und der gab ein begeistertes Grunzen von sich, klatschte in die Vorderpfoten und drehte siel im Kreis auf der Großmarsplatt form. Sir John ließ sich von der Großmarsrah fallen und raste im Sturzflug zwischen Groß- und Fockmast auf die Kuhl zu. Er fing seinen Flug mit ausgebreiteten Schwingen ab, glitt in einer eleganten Schleife dahin, wich den Steuerbordfockwanten um knapp eine Handspanne aus, setzte seine Reise in kreisenden, spiralförmigen Abwärtsbewegungen fort und landete schließlich auf Carberrys linker Schulter. Zärtlich knabberte er am Ohr des bulligen Mannes herum. „Land in Sicht“, brabbelte er dabei. „Du gerupfter Zwerghahn“, sagte der Profos. „Das wissen wir doch schon. Deswegen brauchst du doch nicht so einen Aufstand zu veranstalten.“ Er war aber auch froh, daß sich eine Abwechslung anbahnte. Jetzt war nicht nur mit dem eintönigen Dahinsegeln Schluß, jetzt konnten die Kombüsenvorräte ergänzt werden, und mit einigem Glück würden sie eine Trinkwasserquelle finden. Der Kutscher stürzte aus dem Kombüsenschott, er sah verstört aus. „He, du blinder Bär“, fuhr Carberry. ihn an. „Hast du gepennt, was, wie? Schleif die Messer und wetz die Hackebeilchen, es gibt bald Arbeit für dich. Ich hoffe, wir finden genügend Viehzeug zum Jagen.“ Der Kutscher blieb stehen und schaute ihn an. „Ja, Ed, das wird auch Zeit. Ich habe eben festgestellt, daß etwa die Hälfte unseres letzten Zwiebackbestandes schimmlig geworden ist. Und die letzte
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Speckseite ist auch angefault. Der Teufel mag wissen, wie das passieren konnte.“ „Du hast nicht aufgepaßt, das ist es“, sagte Carberry erbost. „Weißt du, was ich mit dir mache?“ „Ich kann's mir vorstellen“, erwiderte der Kutscher. Er dachte dabei an das ProfosLieblingszitat. Aber Hasard trat zu ihnen. Er hatte das Achterdeck verlassen und begab sich mit dem Spektiv in der Hand auf den Weg zur Back. Er wollte sich ein Bild von Dan O'Flynns Entdeckung verschaffen. „Ed“, sagte er. „Es ist einfach zu heiß. Der Kutscher hat keine Schuld, wenn ein Teil unseres Proviants verdirbt. Dir würde es auch nicht besser ergehen, wenn ich dich zum Kombüsendienst abkommandieren würde.“ „Ich als Heringsbändiger und Suppenpanscher?“ stieß Carberry entsetzt hervor. „Das fehlte noch!“ „Dann hol tief Luft und zähle bis zehn“, sagte der Seewolf. Der Profos tat es. Als er ausgezählt hatte, waren Hasard und der Kutscher verschwunden. Sie standen nun beide auf der Back — neben Smoky, Batuti, Al Conroy, Matt Davies und all den anderen, die sich dort nach und nach einfanden. Alle spähten angestrengt voraus. „Das sind Inseln!“ schrie Dan O'Flynn aus dem Großmars. „Zwei —jetzt sehe ich noch eine dritte!“ „Vielleicht sind's auch noch mehr als drei“, murmelte Carberry. „Ein ganzer Archipel. Hoffentlich gibt's da nicht so blöde Biester wie auf den gottverfluchten Galapagosinseln. Drachen, Riesenschildkröten, anhängliche Seelöwen und diebische Drosseln — davon hab ich die Nase gestrichen voll.“ 2. Siri-Tong stemmte die Fäuste in die Seiten. Ihr hübsches Gesicht hatte einen harten, widerwilligen Ausdruck angenommen. Bislang hatte sie unausgesetzt vom Achterdeck ihres Schiffes zur „Isabella VIII.“ hinübergeblickt, jetzt drehte sie sich
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zu Thorfin Njal, Juan und dem BostonMann um und sagte: „Ich habe verstanden, was Dan O'Flynn gerufen hat — Land. Was ist mit unserem Ausguck los?“ „Unsere Position liegt gut zwei Kabellängen hinter der des Seewolfes“, gab der Wikinger zu bedenken. „Wir sind noch zu weit vom Land entfernt.“ Die Rote Korsarin legte den Kopf in den Nacken und schaute zum Vormars hoch. „Unsinn, der Kerl pennt, das ist es. Ich sehe ihn nicht. Wer hat zuletzt den Posten im Vormars übernommen? Missjöh Buveur?“ „Ja, Madame“, sagte Juan. „Wenn dieser Bursche wieder getrunken hat, verpasse ich ihm einen Denkzettel, den er nicht vergißt“, stieß sie erzürnt hervor. „So etwas lasse ich nicht zu.“ „Stör!“ brüllte Thorfin Njal. „Hinauf in den Vormars und nachsehen, was mit dem Franzosen los ist. Wird's bald?“ „Wird's bald“, sagte der Stör. Er hatte nicht nur ein beängstigend langes Gesicht, sondern auch eine bedenkliche Angewohnheit. Er sprach immer den letzten Satz von Thorfin Njal nach, und das hatte ihm mehr als einmal eine Maulschelle oder einen Boxhieb eingebracht. Diesmal stand er aber zu weit von seinem Landsmann und Vorgesetzten entfernt — auf der Kuhl des schwarzen Schiffes. Als Thorfin Njal Anstalten traf, vom Achterdeck hinunterzusteigen, setzte der Stör sich schleunigst in Marsch, lief ganz nach vorn auf die Back und enterte in den Steuerbordwanten auf. Er hatte vernommen, was Siri-Tong gesagt hatte und sann darüber nach. War Missjöh Buveur wirklich so leichtsinnig, den Posten als Ausguck zu vernachlässigen? „Buveur“ war französisch und bedeutete Trinker, soviel war dem Wikinger bekannt. Und alle an Bord des Viermasters wußten ja auch, daß der Franzose seinem Spitznamen alle Ehre bereitete. Er war dauernd auf der Suche nach etwas Trinkbarem. Jeder Seewolf soff gern, aber Missjöh Buveur übertrumpfte alle. Auch als Ausguck?
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Er riskierte viel. Siri-Tong pflegte bei Unregelmäßigkeiten an Bord hart durchzugreifen, sie kannte kein Pardon. Besonders bei Disziplinlosigkeit wurde sie fuchsteufelswild. Wollte Buveur, dieser Narr, sie wirklich auf diese Art herausfordern? Er mußte lebensmüde sein. Eigentlich hätte Missjöh Buveur schon quicklebendig werden müssen, als Njal seinen Befehl gebrüllt hatte. Das hatte doch bis zu ihm durchdringen müssen! Der Stör schüttelte den Kopf und hangelte weiter nach oben. Nur noch ein paar Webeleinen trennten ihn von der Plattform des Fockmastes. Innerlich war er darauf vorbereitet, den Franzosen sternhagelvoll und nach Alkohol stinkend hinter der Umrandung vorzufinden. Konnte man sein Schnarchen nicht schon hören? Der Stör richtete sich ganz oben in den Wanten auf, klomm mit den Händen höher und legte sie auf den Rand der Segeltuchverkleidung. Er blickte darüber weg — und in diesem Augenblick geschah es. Eine Gestalt schoß hinter der Verkleidung hoch, zweifellos Missjöh Buveur, wie der Wikinger reflexartig feststellte. Der Kerl hielt den Kieker mit beiden Händen vor dem Auge fest und brüllte plötzlich aus voller Kehle: „Land! Land in Sicht!“ Es gellte in den Ohren des Störs, er glaubte, Glocken läuten zu hören. Und Missjöh Buveur hatte ihn so erschreckt, daß er glatt den Halt verlor und abzustürzen drohte. Der Stör ruderte mit den Armen und wirkte dabei ungefähr so wie eine jener merkwürdigen Windmühlen, die sie in Holland bauten. Er geriet immer mehr aus dem Gleichgewicht. Vergeblich versuchte er zu balancieren, drückte die Knie nach vorn, um das drohende Abkippen nach hinten zu verhindern. Aber er schaffte es nicht mehr und schien verloren zu sein. In einer spukhaften Sequenz sah er sich schon auf Deck stürzen. Aber Missjöh Buveur fuhr jählings herum. Er starrte den Wikinger verdutzt an, ließ
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das Spektiv sinken, streckte eine Hand aus und hielt ihn fest. „Was ist denn mit dir los?“ rief er. „Das wollte ich dich fragen“, keuchte der Stör. „Was willst du denn hier oben?“ „Hast du Thorfin Njal nicht brüllen hören? Hast du nicht gehört, was Dan O'Flynn drüben auf der ‚Isabella' gerufen hat?“ „Nein, hab ich nicht.“ „Bei Odin ...“ „Ich war viel zu vertieft“, sagte der Franzose. Er zog den Kameraden näher zu sich heran. Der Stör hielt sich wieder an der Vormarsumrandung fest, hatte große Augen und sagte völlig verdattert: „Ja, Mann, in was denn, zum Teufel?“ „Na, in meine Beobachtungen.“ Missjöh Buveur ließ den Stör los, weil der ja jetzt allein zurechtkam, beugte sich weit über die Verkleidung und schrie: „Land! Drei Inseln!“ „Dein Glück!“ brüllte Thorfin Njal zurück. Der Franzose drehte sich zu dem Stör um. „Was sagt er denn?“ „Daß du schwerhörig bist. Hast du die Inseln wirklich eben erst entdeckt?“ „Ja, als du 'raufstiegst und ...“ „Schon gut“, erwiderte der Wikinger mühsam beherrscht. „Nun hauch mich mal an, ja?“ „Wieso denn?“ Der Stör schaute so grimmig drein, daß Missjöh Buveur augenblicklich verstummte und der Aufforderung folgte. Der Stör brummelte noch etwas Unverständliches, schüttelte den Kopf und verschwand dann in Abwärtsrichtung. Missjöh Buveur blickte ihm nach, kratzte sich am Hinterkopf und spähte wieder durch sein Fernrohr. Wieder auf der Back angelangt, traf der Stör mit Arne und Oleg zusammen. Sie schauten ihn fragend an, und er sagte verwirrt: „Komisch, der Franzose stinkt wie ein alter Ziegenbock, aber nicht nach Schnaps. Er ist ausnahmsweise stocknüchtern.“ „Das hat ihn vor der Neunschwänzigen bewahrt“, entgegnete Arne.
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Der Seewolf ließ den Kieker sinken. Die größte der Inseln konnte er nun mit bloßem Auge erkennen. Sie hob sich dunkel und kegelförmig vom Horizont ab. „Ich glaube, das sind die Inseln, die auf einer meiner von den Spaniern erbeuteten Seekarten eingezeichnet sind“, sagte er zu den Männern, die ihn umringten. „Allerdings ist die geographische Länge nicht genau angegeben. Ich wußte also nicht, ob wir heute, morgen oder erst in einer Woche auf die Gruppe stoßen würden.“ Old O'Flynn stand hinter ihm. „Deswegen warst du also deiner Sache so sicher. Du bist schon ein Teufelskerl, Hasard.“ Hasard wandte sich um. „Aus meinen Aufzeichnungen geht hervor, daß es sich um neun große und mehr als ein Dutzend kleinere Inseln handelt. Wir müssen bei der Landung sehr vorsichtig sein, denn ich rechne fest damit, daß wir auf Eingeborene treffen.“ Carberry, der nun ebenfalls das Vordeck betreten hatte, stieß einen ärgerlichen Laut aus. „Eben, und bei denen weiß man nie, woran man ist. Sie können harmlos sein, aber genauso gut können sie schon in den Büschen lauern, um uns anzufallen und uns die Gurgeln durchzuschneiden.“ „Das ist Schwarzmalerei“, sagte Smoky. „Das ist die Wahrheit“, versetzte der Profos dumpf. Sie blickten wieder zu den Inseln. Die große richtete sich nun immer wuchtiger aus den Fluten auf. Das imposante Bergmassiv in ihrem Zentrum war um die Gipfel herum von Wolkenstreifen gekrönt. Fasziniert betrachteten die Seewölfe dieses Werk der Natur. Eine unerklärliche Aura haftete dem Eiland an, und je näher sich die „Isabella“ darauf zuschob, desto stärker würde der Bann, in den die Männer sich gezogen fühlten. Hasard suchte das Ufer mit Hilfe des Spektivs ab. „Merkwürdig“, sagte er schließlich. „Die nordöstliche Küste ist pechschwarz wie
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verkohltes Holz, aber zum Südufer hin wird die Landschaft hell und lieblich. Ich sehe einen weißgoldenen Strand und Palmenwipfel.“ „Das Paradies auf Erden“, brummte Carberry. „Aber darauf falle ich nicht wieder 'rein. Macht euch auf Kopfjäger, feuerspuckende Berglöcher und bösartige Viecher gefaßt.“ Hasard blieb unbeirrt. „Wir runden die Insel im Süden und suchen nach einem Landeplatz. Wir ankern, fieren die Beiboote ab, und dann sehen wir weiter.“ Tatsächlich stießen sie etwa eine Stunde später an der Leeseite der großen Insel auf eine langgestreckte, von weißem Sandstrand gesäumte Bucht. Sie lud regelrecht zum Verweilen ein. Hasard dirigierte seine „Isabella“ hinein, und das schwarze Schiff folgte ihm. Smoky lag bäuchlings auf der Galionsplattform und lotete die Tiefe aus. In regelmäßigen Zeitabständen gab er die Daten weiter: „Elf Faden - zehneinhalb zehn - zehn ...“ Als sie die Mitte der Bucht erreicht hatten, war die Wassertiefe gleichbleibend und pendelte um das Zehn-Faden -Maß. Der Seewolf atmete auf. Die Gefahr, auf Grund zu laufen, bestand nicht mehr. „Fallen Anker!“ rief er. „Fallen Anker!“ brüllte Ed Carberry, und kurz darauf ertönte der Befehl auch auf dem schwarzen Schiff. Die schweren Stockanker rauschten an ihren Trossen aus, schwebten im klaren Wasser bis auf den Grund und bohrten sich in den hellen Sand. Der Seewolf beugte sich nach vorn, blickte nach unten und konnte Trosse und Buganker verschwommen in der Tiefe erkennen. Die See glitzerte wie flüssiges Kristall. Hasard sah zum Ufer und beobachtete, wie sich die Palmenwipfel in einer leichten Brise wiegten. Ein Vogel schwebte über dem Grün des Binnenlandes. Die Szene atmete Frieden, Ausgeglichenheit, Harmonie. Dies schien tatsächlich das Paradies auf Erden zu sein. Carberrys barsche Stimme rief in die Wirklichkeit zurück. „Fiert ab die
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Beiboote, ihr müden Säcke! Wollt ihr wohl spuren, oder muß ich euch anlüften? Habt ihr das verlernt, ihr triefäugigen Kakerlaken? O, ihr Faulenzer, ihr Rübenschweine, wenn man euch nicht dauernd den Marsch bläst! Ich hab's ja schon immer gesagt, euch hat eine Wanderhure vor der Kirche verloren So ging das weiter, bis die Beiboote endlich im Wasser lagen und bemannt waren. Hasard landete mit zwei Jollen und einem Dutzend Männern. Er wollte die Insel gründlich erkunden, um vor Überraschungen sicher zu sein. Siri-Tong ließ ebenfalls zwei Boote an Land pullen. In dem ersten saß sie selbst. Ihre Begleiter waren die fünf Wikinger, der Boston-Mann und Mike Kaibuk. Das zweite Boot war unter anderem mit den beiden Portugiesen, Muddi und Tammy bemannt. Juan hatte bis zur Rückkehr der Roten Korsarin das Kommando auf „Eiliger Drache über den Wassern“ übernommen. Im Vormars hockte noch immer Missjöh Buveur. Dan O'Flynn war als Ausguck auf der „Isabella“ zurückgeblieben, obwohl er natürlich lieber an der Erforschung der Insel teilgenommen hätte. Die Rolle des Kapitäns hatte während Hasards Abwesenheit Ben Brighton inne. Hasard sprang als erster übers Dollbord seines Bootes an Land. Ihm folgten Carberry, Shane, Ferris, Blake und Batuti. Gemeinsam zerrten sie das Boot durchs Flachwasser auf den Sandstrand. Knirschend schob sich der Rumpf auf den Untergrund. Siri-Tong war nun auch eingetroffen. Nach ihr landeten die anderen beiden Boote. Siri-Tong lief zu Hasard. Sie trug ihre weißleinenen Schifferhosen und eine dazu passende weiße Bluse, die zwei Knöpfe weit offenstand. Dicht vor dem Seewolf blieb sie stehen und lächelte ihn an. Die Brandung rollte gegen das Ufer an, weiße Schaumstreifen umspülten ihre Stiefel. Große Wellen umkränzten die Insel von allen Seiten, nur hier, in der Bucht,
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waren sie etwas flacher. Ihr Rauschen klang unterschwellig und bildete die tönende Kulisse bei der kurzen Unterredung der beiden Kapitäne. „Da wären wir also“, sagte Siri-Tong. „Ist es nicht herrlich hier? Ich schlage vor, wir bleiben ein paar Tage auf der Insel und erholen uns von der Langeweile der Überfahrt.“ „Erst mal schauen wir uns sehr genau um“, erwiderte Hasard. „Carberry meint, der Frieden täusche.“ Siri-Tong sah den Profos der „Isabella“ an. „Ed, warum denn so sauertöpfisch? Es ist doch nicht gesagt, daß wir immer und überall Verdruß kriegen.“ „Äh, Madame — wir haben doch unsere Erfahrungen, oder? Also, ich gebe mich lieber keinen Hoffnungen hin. Wenn dann doch alles in Ordnung ist, kann ich mich immer noch freuen.“ Er kratzte sich am Rammkinn und überlegte, ob das eine gute Rede gewesen sei. Kraftausdrücke waren nicht darin enthalten, aber trotzdem war er nicht ganz sicher. „Trennen wir uns“, sagte der Seewolf. „Wir sind ein starker Trupp und können drei Parteien bilden. Die eine marschiert nach Norden, die zweite nach Süden. Die dritte Gruppe nimmt sich das Inselinnere vor. In spätestens drei Stunden treffen wir uns wieder hier bei den Booten.“ „Ich bleibe diesmal bei dir“, erklärte SiriTong. „Thorfin, du suchst dir neun Männer aus, die dich begleiten, der Rest geht mit dem Seewolf und mir.“ „Ed, du wählst auch deine Leute aus und übernimmst die Führung der dritten Gruppe“, ordnete Hasard an. „Ihr wandert nach Osten und nehmt den höchsten Berg als Markierungspunkt. Thorfin Njal und seine Männer wenden sich nach Süden. Wir anderen gehen jetzt nach Norden los.“ „Dann mal los“, brummelte der Profos. „Bin gespannt, wann wir auf den ersten Kannibalen oder das erste Ungeheuer stoßen.“ Sir John hatte sich ihm wie üblich angeschlossen und hockte auf Carberrys linker Schulter. Jetzt schien er sich die Sache aber anders überlegt zu haben. Mit
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einem heiseren Laut hob er ab und flog zur „Isabella“ zurück. * Hasard und die Rote Korsarin schritten an der Spitze der Nord-Gruppe dahin. Zunächst hielten sie sich in unmittelbarer Ufernähe. Etwas später drangen sie auf vier-, fünfhundert Schritt Distanz von der Küste ins Innere ein und bahnten sich einen Weg durchs Dickicht. „Ein Glück“, sagte Ferris Tucker. „Ein richtiger Urwald ist das hier nicht. Man gelangt voran, ohne sich einen Pfad mit der Axt hauen zu müssen.“ „Warte ab“, erklärte Shane. „Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.“ „Fängst du jetzt auch wie Carberry an?“ „Ach, Unsinn, ich meine doch nur ...“ Sie hatten den Rand einer Lichtung erreicht, und der Seewolf blieb plötzlich stehen und hob die Hand. Sofort schwiegen die Männer. Sie duckten sich und zückten ihre Waffen. Siri-Tong hielt ihre wertvolle, reich verzierte Radschloßpistole und spannte langsam den Hahn. Es knackte leise. Hasard trat auf die Lichtung. Er bückte sich und bedeutete den anderen, zu ihm zu kommen. Er wies auf Spuren und Relikte auf dem Untergrund. „Jemand hat ein Feuer angezündet und ein Wildbret zubereitet“, sagte er leise. „Asche, ein paar kleine Steine, Knochenreste, die Abdrücke nackter Fußsohlen.“ Blacky kniete sich hin und las einen der Knochen auf. „Sind das Menschenknochen? Unser Profos würde triumphieren und sagen: „Na bitte, ich habe also doch recht gehabt'!“ Shane nahm ihm das weiße Gebilde ab. „Rede doch keinen Blödsinn. Das sieht doch ein Kind, daß das ein Tierknochen ist.“ „Zwei Menschen sind hier gewesen“, erklärte der Seewolf. „Wahrscheinlich ein Mann und eine Frau.“ „Wir müssen von jetzt an höllisch aufpassen“, raunte Matt Davies.
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„Wahrscheinlich gibt's hier haufenweise Wilde. Die könnten uns mit Blasrohrpfeilen eindecken.“ Er blickte sich nach allen Seiten um. Siri-Tong hatte den Platz einer ziemlich ausgiebigen Inspektion unterzogen. Jetzt sagte sie lächelnd: „Wenn ihr mich fragt, hier hat ein Stelldichein stattgefunden.“ Hasard musterte sie überrascht. „Worin siehst du denn das?“ „Nun, ich bin eine Frau, ich spüre so etwas. Die beiden haben ein Tier erlegt, das Feuer angezündet, ausgiebig zu Abend gespeist und dann hier die Nacht verbracht. Fern von ihrem Dorf. Vielleicht sind sie noch sehr jung, und ihre Eltern haben etwas gegen die frühreife Liebe. Oder es handelt sich um einen Fall von Ehebruch.“ „Und das alles lesen Sie aus den Spuren hier, Madame?“ sagte Blacky verdutzt. Hasard erhob sich. „Na schön, wir können eine Menge in unsere Entdeckung hineindenken. Aber wie wir es auch drehen und wenden, die Gefahr bleibt. Wir sind nicht allein auf der Insel. Es wäre gut, wenn wir die anderen verständigen könnten, aber wir sind zu weit von ihnen entfernt.“ Sie schritten weiter. Kurze Zeit später stießen sie auf einen kleinen Flußlauf, der sich zur See hin verbreiterte und an beiden Ufern von Halmen bewachsen war. In einer Ausbuchtung des südlichen Ufers gewahrte der Seewolf die Konturen eines länglichen Gegenstandes. Wieder gab er seinen Freunden ein Zeichen, wieder duckten sie sich und verwuchsen mit dem alles verdeckenden Dickicht. Hasard pirschte auf die Flußbucht zu, teilte die Halme mit den Händen und blickte auf zwei Auslegerboote, die zum Greifen nah vor ihm vertäut lagen. Nur das eine hatte er von seinem bisherigen Standort aus sehen können, das zweite lag halb unter Sträuchern versteckt. Eine Hand legte sich auf seinen Unterarm. Siri-Ton war neben ihm. „Das wird ja immer hübscher“, wisperte sie. „Wenn das so weitergeht; treffen wir bald auch auf das Dorf dieser Eingeborenen.“ „Und auf unser Liebespärchen.“
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„Ach, hör doch auf.“ Sie lächelte und schob sich näher an ihn heran. Plötzlich ertönte hinter ihnen ein feiner, fiepender Ton. Hasard legte den Zeigefinger auf die Lippen. Sie kauerten sich hin und bewegten sieh nicht. Hasard bedeutete Siri-Tong durch ein Zeichen, daß einer seiner Männer diesen Laut ausgestoßen hatte — als Warnung. Und dann knackte es auch schon im Unterholz. Irgendjemand oder irgendetwas brach durch die Büsche wie ein Stier und gab sich nicht die geringste Mühe, zu schleichen. Blacky, der den Warnlaut von sich gegeben hatte, flüsterte: „Allmächtiger, hier scheint es doch Ungeheuer zu geben Langsam brachte Siri-Tong ihre Pistole in Anschlag. Hasard zielte auch bereits mit seiner doppelläufigen Reiterpistole auf die Stelle, an dem die Kreatur aus dem Dickicht preschen mußte. Die anderen hoben ihre Musketen, Blunderbüchsen und Pistolen. Dann war es soweit. Ein furchterregendes Antlitz schob sich aus dem Grün der wilden Natur, narbig, klobig, wüst, und der dazugehörige Körper war breit und ungeschlacht. Etwas Karmesinrotes flatterte aufgeregt über dieser Erscheinung, und dann ertönte eine wohlbekannte Stimme: „Nicht schießen, ich bin's.“ „Mann o Mann“, sagte Shane. „Der macht mich schwach“, ächzte Matt Davies. Und Blacky richtete sich auf und sagte: „Fast hätte ich wirklich abgedrückt, Ed. Bist du denn des Teufels?“ Hasard war auch aufgestanden und trat auf Carberry zu, der nun mit seinem vollständigen Trupp aus dem Gestrüpp stieg. „Was ist denn los, Profos? Habt ihr etwas entdeckt?“ „Wir nicht, aber — ich — Augenblick, Sir.“ Carberry griff mit der Pranke in die Luft, so flink hätte ihm das keiner zugetraut. Er schnappte sich Sir John, den Papagei, und hielt ihn in der vorgestreckten Faust vor Hasard hin. „Los, sag deinen Spruch noch mal auf, du Geier.“
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„Feindschiff voraus“, krähte Sir John. „Obacht, Jungs — Galeone mit drei Masten.“ „Ach, das ist doch nur einer von den Sätzen, die du ihm beigebracht hast“, wandte Ferris Tucker ein. „Wenn wir auf alles Rücksicht nehmen sollten, was das Federvieh von sich gibt ...“ Carberry stieß einen grollenden Laut aus. „Ferris, Sir John ist doch zur ‚Isabella' zurückgeflogen, als wir noch am Strand standen. Und jetzt ist er hergeflogen, hat mich gesucht, gefunden — das tat er nicht ohne triftigen Anlaß. Sir, ich bitte um Erlaubnis, zu den Schiffen laufen zu dürfen.“ Hasard betrachtete den Aracanga. Der plapperte wieder etwas von Feindschiffen und Galeonen, und Hasard dachte daran, daß er ihnen schon mehrfach geholfen hatte. Warum alarmierten aber Ben Brighton und Juan die Landgänger nicht? Nun, sie hätten es nur durch einen Schuß tun können, und der hätte zweifellos auch den plötzlich auftauchenden Gegner aufmerksam werden lassen. „Wir kehren zur Bucht zurück“, entschied Hasard. „Alle.“ 3. Thorfin Njal und seine Männer hatten von diesen Vorgängen nichts verfolgen können. Sie befanden sich inzwischen am südlichsten Zipfel der Insel. Hier schloß ein sanfter, geschwungener Strand aus beinahe schneeweißem Sand das Land zur See hin ab. Donnernd türmten sich die Wogen auf, sie wuchsen und wuchsen, bis sie an ihrem Kämmen abzubrechen schienen und auf die Insel zurasten. Die schäumende Brandung leckte näher und näher auf die Erhöhung zu, auf der Thorfin Njal und die anderen neun standen. Die Flut hatte eingesetzt. „Bei Odin und allen Göttern“, sagte Eike. „Hier ist es so schön wie nirgendwo.“ „Man kriegt Lust, ein Bad zu nehmen“, meinte Mike Kaibuk.
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„Bist du verrückt?“ Muddi blickte ihn entsetzt von der Seite an. „Ich bade nur einmal im Jahr, meistens zu Weihnachten.“ „Das merkt man auch“, sagte Oleg und rümpfte die Nase. Thorfin Njal rückte sich den Kupferhelm zurecht, wandte sich dem Inselinneren zu und setzte den Marsch fort. „Schluß mit dem Palaver“, sagte er. „Beeilen wir uns. Wir haben noch ein gutes Stück Weg zurückzulegen, wenn wir dieses Eiland ausreichend erkunden wollen. Und ich will pünktlich wieder am Treffpunkt sein.“ Beim Dahin schreiten stieß Pedro Oritz seinen Landsmann Diego Valeras mit dem Ellbogen an. „Bisher haben wir noch nichts entdeckt, das auf Menschen hindeutet. Glaubst du wirklich, daß hier Wilde hausen?“ Diego blickte zu den Bergen hoch. Sehr einladend wirkten sie mit ihrem düsteren Gestein nicht. „Ich weiß nicht. Sie könnten uns entdeckt haben und sich dort oben versteckt halten.“ Plötzlich vibrierte der Untergrund leicht, und die fünf Wikinger und die anderen fünf vom schwarzen Segler blieben abrupt stehen. „Verflucht, was war denn das?“ Der Stör blickte Eike, Arne und Oleg an, aber die schauten genauso ratlos drein. Der Boston-Mann, der zehnte Mann der Gruppe, sagte: „Ein Erdstoß. Erinnert ihr euch noch an die Inseln, auf denen sich O'Lear, der irische Pirat, verkrochen hatte?“ „Die werde ich nie vergessen“, erwiderte Mike Kaibuk. „Junge, Junge, wie sich der Feuersee aus dem Krater ins Meer ergossen hat - das war ganz schön schaurig.“ Der Boston-Mann wies mit dem Kopf zu den Bergen. „Da oben gibt es auch feuerspeiende Felsenlöcher.“ „Ach du Schande“, sagte Arne. „Das scheint ja wirklich ein gastlicher Ort zu sein. Der Strand und die Palmen trügen.“ „Nun macht euch doch nicht gleich die Hosen voll“, polterte Thorfin Njal los. „Was seid ihr denn für Kerle? Es ruckelt
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ein bißchen in der Erde, und schon fangt ihr an zu unken. Wißt ihr was? Wer Schiß hat, der kann meinetwegen zu den Booten zurückkehren.“ „Der kann zu den Booten zurückkehren“, echote der Stör. Thorfin Njal war aber im Moment zu verbiestert, um darauf zu achten. Er stapfte stur geradeaus weiter, zerdrückte ein paar deftige Wikingerflüche auf den Lippen und konzentrierte sich im übrigen auf das Niedertrampeln von Gras und Sträuchern. Als er sich wieder umdrehte, stellte er fest, daß sie noch alle da waren: Eike, Arne, Oleg, der Stör, die beiden Portugiesen. Mike, Kaibuk, Muddi und der BostonMann. Da grinste Njal. Sind eben doch Kerle, dachte er. Das Dickicht verband sich übergangslos mit dem Unterholz eines Waldes. Die Bäume hatten eigenartige Formen und blaugrüne Blätter. Die Männer sahen diese Art zum erstenmal in ihrem Leben. Sie blieben stehen und betrachteten sie interessiert. An einem Baum mit besonders niedrigen Ästen kletterte der Boston-Mann empor. Plötzlich straffte sich seine Gestalt. Er verharrte und bedeutete den anderen, still zu sein. Eine Weile kauerte er so in der Krone des seltsamen Baumes, dann ließ er sich wieder nach unten gleiten und sagte zu den anderen: „Im Wald gibt es einen Bach oder einen Teich. Ich habe das Wasser glitzern sehen.“ „Dann nichts wie hin“, entgegnete Thorfin Njal. „Wenn das Wasser nicht faulig schmeckt und nicht brackig ist, können wir damit unsere leeren Fässer und Schläuche auf den Schiffen füllen.“ „Aber Vorsicht“, warnte der Boston-Mann. „Da hat sich was bewegt.“ „Ein Tier?“ fragte Pedro Ortiz gedämpft. „Tiere oder Menschen.“ „Haltet die Waffen bereit“, sagte Thorfin Njal. „Wir werden ja gleich sehen, mit wem wir es zu tun haben.“ Sie bahnten sich einen Weg durchs Unterholz und waren bemüht, keine Geräusche zu verursachen. Etwas später erkannten sie alle die schillernden
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Silberkronen, die das Sonnenlicht den Wellen der Wasserstelle aufsetzte. Thorfin Njal blinzelte zwischen Gras und Büschen hindurch und schob sich auf allen vieren voran. Als er drei, vier Yards weitergerobbt war, stellte er fest, daß sie sich tatsächlich einem Teich näherten. Dann aber stockte er. Durch das feine Plätschern hindurch vernahm er gedämpfte Stimmen und hin und wieder ein Kichern. Er verhielt, legte Pistole und Schwert vor sich ab und bog die Halme behutsam mit den Händen auseinander. Tiere oder Menschen, das war jetzt keine Frage mehr. Geradezu überdeutlich hoben sich die Köpfe von fünf Mädchen aus dem Wasser ab. Sie hatten einen Kreis gebildet, waren bis über die Schultern eingetaucht und spielten mit irgendetwas, das wie ein Ball aussah. Das Ding entpuppte sich bei näherem Hinsehen als ausgehöhlte Melone. Vielleicht war es auch mehr ein Kürbis oder eine Kalebasse, so genau wußte der Wikinger das nicht. Er verschwendete auch keine weiteren Gedanken daran, denn der Anblick der fünf Mädchen nahm ihn voll und ganz in Anspruch. Ihre schwarzen Haare hingen naß bis auf die Schultern und umrahmten Gesichter von vollendeter Schönheit. Plötzlich war der Traum vom Inselparadies doch wieder wahr, denn Thorfin Njal konnte sich nicht entsinnen, außer Siri-Tong jemals derart berückende Geschöpfe gesehen zu haben. Sie waren längst aus dem Kindesalter heraus. Sie plantschten, alberten und lachten, und nichts schien sie stören zu können. „Bei Odin“, hauchte Arne. „Bin ich wirklich wach?“ „Ich kann dir ja eine runterhauen“, zischte Oleg. „Dann merkst du's.“ Muddi war rechts neben Thorfin Njal angelangt und starrte mit verzücktem Ausdruck auf die fünf Eingeborenenmädchen. „So was Leckeres“, murmelte er. „Richtig zum Vernaschen. Himmel, was haben wir doch für ein Glück.“ Den Blick, den Thorfin Njal ihm zuwarf, registrierte er
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nicht. „Wenn sie doch bloß mal ganz auftauchen würden“, fuhr er fort. „Muddi“, versetzte der Wikinger scharf. „Halt die Luft an. Du hast es hier nicht mit verwanzten Hafenhuren zu tun, verstanden?“ „Aber ich - ich - wir haben schon lange keine Weiber mehr gehabt, verflixt noch mal.“ „Vorsicht“, sagte Arne. „Nimm den Mund nicht zu voll, Kleiner. Wenn Thorfin Njal wild wird, ist alles zu spät, das weißt du.“ „Man wird doch noch seinen Spaß haben dürfen“, sagte Muddi giftig. Der Boston-Mann glaubte die düsteren Wolken zu sehen, die sich in diesem Augenblick um Thorfin Njals Stirn zusammenzogen. O, sie erinnerten sich alle noch daran, wie eine Handvoll Amazonen ein paar Männer der „Isabella“ in eine Falle gelockt hatten. Aber nicht nur das war es - ein guter Seemann mußte sich auch zusammenreißen können und durfte erstens nicht jedem weiblichen Wesen nachhetzen, das ihm über den Weg lief. Zweitens hatte er zu berücksichtigen, daß auch „nackte Wilde“ ihre Würde und Ehre hatten. Siri-Tong und Thorfin Njal versuchten ständig, diese Grundsätze ihrer Besatzung einzuhämmern. Disziplin und Anständigkeit hingen ursächlich zusammen, und die Piraten auf dem schwarzen Segler sollten dies verinnerlichen, wie es auch die Seewölfe in ihren Bordkodex aufgenommen hatten. „Wer aus dem Rahmen fällt, den stauche ich zusammen“, drohte Thorfin Njal. Er hatte zu laut gesprochen, die Mädchen im Wasser hatten ihn gehört. Mit ängstlichen Rufen scharten sie sich zusammen, schwammen dann auf das gegenüberliegende Ufer des Teiches zu und schickten sich an, das Naß zu verlassen. Thorfin Njal setzte sich auf, drehte sich um und fuhr seine Leute an: „Kehrtmachen, und zwar dalli - mit dem Gesicht nach Süden. Wird's bald?“ Der Boston-Mann, der nach Thorfin Njal und Juan am meisten an Bord des
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schwarzen Seglers zu sagen hatte, folgte der Aufforderung widerspruchslos als erster. Die anderen drehten sich ebenfalls um. Auch Muddi. Vor Njals riesigen Fäusten hatte er nämlich enormen Respekt. Der Wikinger hörte es hinter sich im Gebüsch rascheln. Vorsichtig, als könne er jemanden stören, wandte er sich wieder um. Die nackten Mädchen waren soeben im Unterholz verschwunden. Er konnte gerade noch ein braunes Bein sehen, dann waren sie weg und hasteten davon, als säße ihnen der Teufel im Nacken. „Wir folgen ihnen“, sagte Thorfin Njal. Er erhob sich und las dabei seine Waffen vom Untergrund auf. „Aber in einigem Abstand. Wir marschieren ihren Spuren nach, sie werden uns zu ihrem Dorf führen. Ich will wissen, mit wie vielen Eingeborenen wir es hier zu tun haben.“ „Wir es hier zu tun haben“, wiederholte der Stör. Im nächsten Augenblick vollführte er einen Satz nach vorn, denn Thorfin Njal hatte ihn in den Hintern getreten. Des Störs Pech war es, daß er sich schon wieder umdrehte. Er stolperte also nicht nach Süden, sondern nach Norden. Im Norden erstreckte sich der Teich. Der Stör rutschte prompt im Uferschlick aus Und landete mit dem Hosenboden im flachen Wasser. Die anderen Männer stießen sich an und wollten sich vor Lachen ausschütten. Thorfin Njal grinste grimmig. „Nur zu“, sagte er. „Vielleicht haben wir bald nichts mehr zu lachen.“ * Hasard, Siri-Tong, Ed Carberry und ihre Begleiter hatten die Ankerbucht der Schiffe wieder erreicht. Der Profos hatte sich den Papagei in die Wamstasche gestopft, aber Sir John schlüpfte jetzt wieder daraus hervor und flog zur „Isabella“ hinüber. Dan O'Flynn begann aus dem Großmars zu signalisieren. Missjöh Buveur signalisierte ebenfalls, er gab Blinkzeichen mit einer Glasscherbe.
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„Also doch“, sagte der Seewolf. „Wir kriegen Besuch. Noch können wir das Schiff nicht sehen. Wahrscheinlich segelt es aus nördlicher Richtung heran.“ „Ja, das signalisiert Dan uns gerade“, erwiderte Siri-Ton. Hasard spähte aus schmalen Augen zum Nordrand der Bucht. „Wir haben die Palmen im Blickfeld“, stellte er fest. „Erst auf unseren Schiffen können wir genau sehen, wer uns da auf den Leib rückt.“ „Besetzt die Boote!“ rief Carberry. „Hopphopp, willig, willig, ihr Kakerlaken, oder ich zünde euch ein Feuerchen unterm Achtersteven an.“ Die Männer stürzten zu den Booten, packten zu und schoben sie in die Brandung. Siri-Tong blickte nach Süden und stand einen Moment unschlüssig da. „Was ist, willst du auf Thorfin Njal und seine Gruppe warten?“ fragte Hasard. „Wer weiß, wo die inzwischen stecken.“ Die Korsarin wandte sich wieder um. Sie hatte ihren Entschluß gefaßt. „Bill the Deadhead!“ rief sie. „Madame?“ „Du läufst nach Süden und suchst Thorfin Njal und seine Gruppe. Wenn du sie gefunden hast, meldest du ihnen, was hier los ist. Sie sollen schleunigst zurückkehren.“ „Aye, aye, Madame“, antwortete Billy und drehte auf dem Stiefelabsatz um und eilte davon. Er war ein großer, grobschlächtig wirkender Mann, auf den Verlaß war. Ein Boot ließen die Seewölfe und Siri-Ton auf dem Sandstrand zurück. Mit den drei anderen pullten sie durch die Brandung. Gischt stob hoch und hüllte ihre Gestalten ein. Höher bäumten sich die Wogen jetzt auf. Das lag an der Flut. Sie schien verhindern zu wollen, daß die schwarzhaarige Frau und die Männer zu ihren Schiffen zurückkehrten. Siri-Tongs Boot wurde von einer Welle fast umgeworfen. Buchstäblich im letzten Augenblick stemmte die Korsarin, die auf der Heckducht kauerte, die Ruderpinne herum und drückte auf diese Weise das Gefährt aus der gefährlichen Gegendrift. Legten sich die Boote erst quer zur
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Wogenbewegung, mußten sie unweigerlich kentern. Die Männer begannen zu fluchen. Es kostete sie eine enorme Anstrengung, die Brandung zu überwinden und in ruhigeres Wasser zu pullen. Als sie die „Isabella“ und den schwarzen Viermaster endlich erreichten, warteten die an Bord Zurückgebliebenen schon voller Ungeduld auf sie. Jakobsleitern baumelten von den Bordwänden herab. Hasard enterte an der Spitze seines Trupps in aller Eile auf. Drüben auf dem schwarzen Schiff kletterte Siri-Tong gerade über das Schanzkleid der Kuhl und hastete zum Achterdeck, wo Juan sie erwartete. Hasard lief zu Ben Brighton. Ben stand neben dem Ruderhaus und blickte durch sein Spektiv nach Nordwesten. „Er hält weiter Kurs auf uns!“ rief Dan O'Flynn. „Ist es wirklich ein Dreimaster, wie Sir John gesagt hat?“ wollte Hasard von Ben Brighton wissen. Ben setzte den Kieker ab. „Ja. Eine große prächtig gebaute Galeone. Sieh selbst.“ Er reichte ihm das Rohr. Hasard nahm es entgegen, stürmte mit zwei Sätzen zum Achterdeck hoch und stellte sich ans Backbordschanzkleid. Die „Isabella“ lag mit dem Vorsteven nach Norden vor Anker. Von seinem Platz aus konnte der Seewolf aus der Bucht bis zu den vier kleineren Inseln blicken, die der großen im Nordosten vorgelagert waren. Die Galeone war ein dunkler Schemen vor den Inselrücken und dem glutigen Sonnenball, der jetzt sehr tief über der See stand. Hasard war anfangs geblendet, gewöhnte sich dann aber rasch an das Licht. Die Galeone steuerte genau auf die Ankerbucht zu. „Wirklich ein schönes Schiff“, sagte Hasard. „Diese verschnörkelte Galion, die prunkvollen Heckaufbauten, die Art der Konstruktion, das kann nur ein Spanier sein. Aber er führt keine Nationalitätszeichen.“
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„Er hat auch kein Holzkreuz unter dem Bugspriet baumeln“, meldete Dan O'Flynn aus dem Großmars. „Irgendetwas stimmt da nicht“, sagte Hasard. „Wir zeigen natürlich auch keine Flagge. Damit geben wir ihm ebenfalls ein Rätsel auf, und er müßte schon ein Narr sein, wenn er uns direkt in die Fänge segelte.“ „Vielleicht ist er nicht ganz richtig im Kopf“, meinte Old O'Flynn. „Er müßte uns doch längst gesichtet haben.“ „Das hat er auch, du kannst Gift darauf nehmen“, sagte der Seewolf. Er steckte das Spektiv weg, trat an die Five-Rail und rief: „Ed, Schiff klar zum Gefecht!“ „Klar zum Gefecht — aye, aye, Sir!“ „Ben, Bug- und Heckanker lichten lassen.“ „Bug- und Heckanker lichten, Sir!“ Hasard legte den Kopf in den Nacken. „Dan, du signalisierst zum schwarzen Schiff hinüber. Siri-Tong soll sich bereithalten, aber erst eingreifen, wenn ich ihr das Zeichen dazu gebe.“ „In Ordnung!“ Der schwarze Segler lag gut eine Kabellänge von der „Isabella“ entfernt und war damit außer Rufweite. Der besseren Manövrierfähigkeit wegen hatte es der Seewolf für richtiger gehalten, wenn sie in der geräumigen Bucht auf Distanz blieben. Hasard spähte wieder zu der Galeone hinüber. Ihr Name war am Bug nicht zu lesen. Der Kapitän schien großen Wert darauf zu legen, anonym zu bleiben. „Ben“, sagte Hasard. „Falls wir auslaufen müssen, halte ich es für das beste, wenn Siri-Tong uns den Rücken deckt. Die Galeone könnte Verbündete haben, die die Insel auf der Ostseite runden und dann versuchen, uns von achtern anzufallen.“ „Wir müssen auf alles gefaßt sein“, entgegnete Ben. Ja, das müssen wir, dachte Hasard. Ruhig blickte er durchs Spektiv. Die Galeone lag hart am Nordost. Von ihrer Armierung war nicht viel zu erkennen, aber er nahm fest an, daß es sich um einen Kriegssegler handelte. Und solche Schiffe waren selten allein.
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Auf der „Isabella“ war hektisches Leben — die Kanonen rollten rumpelnd aus, wurden in Ladestellung gezurrt und mit Pulver und Blei gefüllt. Bill, der Schiffsjunge, streute weisungsgemäß Sand auf dem Oberdeck aus, der Kutscher stellte Kübel und Pützen mit Seewasser zum Befeuchten der Wischer und zum Löschen möglicher Feuer bereit. Ein Teil der Crew hatte Handspaken in die Spille gesteckt und stemmte sich dagegen. Die Trossen bewegten sich knarrend, langsam schwebten die beiden Anker hoch. Carberry wetterte und war in seinem Element. Unter seinen geharnischten Flüchen und liebevollen Kosenamen hangelte eine kleine Gruppe Männer affengewandt in den Wanten hoch, um für die Segelmanöver bereit zu sein. Als die fremde Galeone nur noch eine halbe Meile von der Küste der Insel entfernt war, waren die „Isabella“ und „Eiliger Drache“ für den Eventualfall gerüstet. Hasard nahm wahr, wie drüben im Vormars des heranrauschenden Freimasters Fahnen geschwenkt wurden. Dann rief Dan auch schon: „Er signalisiert! Wir sollen uns zu erkennen geben!“ „Die spanische Flagge hissen“, befahl Hasard. „Die des spanischen Königs mit den Wappenzeichen von Kastilien und Leon!“ Der bunt bestickte Stoff glitt in den Großtopp hoch und flatterte munter im Wind. Hasard verschränkte die Arme vor der Brust. „Jetzt muß er Farbe bekennen. Wir setzen ihm die Pistole auf die Brust. Setzt das Großsegel und die Fock, Männer, wir segeln mit Kurs Nordwest gemütlich aus der Bucht!“ Die „Isabella“ glitt auf die offene See hinaus, während Siri-Tong mit ihrem Schiff noch in der Bucht verharrte. Hasard spähte zu dem Fremden hinüber. Entpuppte der sich als echter Spanier, so hielt er, der Seewolf, immer noch einige Trümpfe in der Hinterhand. Er konnte sich und die meisten seiner Männer ruhigen Gewissens als „geborene Spanier“ ausgeben. Die Sprache des Feindes
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beherrschten sie alle fast perfekt, und den Gegner auf diese Art zu täuschen, war auf der „Isabella“ schon fast so etwas wie eine Tradition. ' Aber zu diesem Mittel brauchte Hasard nicht zu greifen. Es kam anders. Die fremde Galeone fiel plötzlich ab und legte sich platt vor den Nordostwind. Sie präsentierte den Seewölfen ihre Backbordseite. Hasard zählte die Stückpforten. „Zwölf“, sagte er. „Zwei Dutzend Geschütze führt unser Freund also, die Drehbassen oder Serpentinen nicht mitgerechnet. Eine kleine schwimmende Festung. Aber wer er ist, wissen wir immer noch nicht.“ Die Stückpforten der Galeone standen offen, die Mündungen der Kanonen schienen hämisch herauszugrinsen. Eine, die vorderste, spuckte plötzlich weißen Qualm aus. Er puffte hoch, das Geschoß heulte heran — Hasard und seine Männer gingen in Deckung. Keine zehn Yards vor dem Bug der „Isabella“ stieg eine imposante Wassersäule hoch. Oben fächerte sie auseinander, dann fiel sie zischend in sich zusammen. „Siebzehnpfünder!” rief Al Conroy. „Da bin ich ganz sicher.“ „Und er hat Zielwasser getrunken, der Don!“ brüllte Carberry. „Wer sagt dir denn, daß er ein Don ist, Ed?“ fragte Big Old Shane. Er stand unten auf der Kuhl dicht vor der Querwand des Achterkastells und hielt schon Pfeil und Bogen bereit. Wenn es zum Gefecht kam, wollte er schnell sein und wie der Wind in den Großmars aufentern. „Ob Don oder nicht – den Arsch soll er sich versengen!“ brüllte der Profos. „Er gibt sich immer noch nicht zu erkennen“, sagte der Seewolf. Dan O'Flynn lehnte sich aus dem Großmars, legte die Hände als Schalltrichter an den Mund und rief: „Er luvt an und will mit Nordwestkurs an den Wind gehen und abhauen!“ „Das verstehe ich nicht“, sagte Ben Brighton. „Erst fordert er uns heraus, dann kneift er.“
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Hasard antwortete noch nicht, er spähte weiterhin durch das Spektiv. Als er dann aber sah, wie die Galeone tatsächlich anluvte und davonzog, erwiderte er: „Vielleicht denkt er, daß er draußen auf See leichteres Spiel mit uns hat. Tun wir ihm den Gefallen. Nehmen wir die Verfolgung auf.“ Er brauchte den Kurs um keinen Strich zu korrigieren. Während die Galeone ihnen das reich mit Ornamenten geschmückte Heck zuwandte, behielt Hasard strikt die Richtung bei und steuerte auf ihr Kielwasser zu. Er wollte es jetzt genau wissen. Was führte dieser geheimnisvolle Fremde im Schilde? Ferris Tucker, der auf der Kuhl beim Laden und Richten der Geschütze mitgeholfen hatte, stieg gerade wieder aufs Achterdeck und wandte sich den beiden Drehbassen zu. „Ferris!“ rief Hasard ihm zu. „Gib ein Signal an Siri-Tong. Sie soll noch in der Bucht bleiben.“ Ferris zeigte klar, und der Seewolf drehte sich zur Kuhl hin. „Ed, Vollzeug setzen!“ „Aye, Sir!“ Die Crew löste die Reffleinen von Großmars-, Vormars- und Kreuzsegel, und auch die Blinde unter dem Bugspriet wurde nun gesetzt. Mit prallem Zeug lag die „Isabella“ am Wind und krängte leicht nach Backbord. Ihr Bug teilte die See wie ein Pflug, sie nahm mehr und mehr Fahrt auf. Die Jagd hatte begonnen. „Ein schönes Schiff“, sagte Hasard noch einmal, als er erneut zu dem Unbekannten blickte. „Aber abhängen kann es uns nicht.“ Die Sonne stand als blutroter Riesenball tief über der Wasserfläche, als sie die große Insel passiert hatten. Jetzt geschah etwas Merkwürdiges. Der fremde Kapitän ging mit seinem Schiff durch den Wind und segelte nach Südosten. Auf diese Weise fuhr er genau in die Passage, die sich zwischen der großen Insel und ihren nördlichen Nachbarn ausdehnte.
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Hasard war gezwungen, es ihm nachzutun. Für kurze Zeit lagen die Schiffe sich gegenüber, und er rechnete damit, daß die Galeone nun das Feuer eröffnete. Aber er hatte sich getäuscht. Stumm zog das fremde Schiff bis dicht unter die nördliche Landzunge der großen, paradiesischen Insel. Dann ging sie wieder durch den Wind und steuerte nach Nordwesten. „Überstag“, befahl Hasard. „Wir versuchen, ihm den Weg abzuschneiden!“ Wieder setzte die flinke Betriebsamkeit der Männer ein. Die „Isabella“ war kein behäbiger Kahn, sondern ein schneller, gewandter Segler unter ihren kundigen Griffen, der mit den Fluten verwachsen zu sein schien. Fast gelang es dem Seewolf, den Geheimnisvollen zu erreichen. Nur ganz knapp rauschte dieser an ihm vorbei. „Wir könnten ihm zwei Drehbassenschüsse verpassen!“ rief Old Donegal Daniel O'Flynn. Hasard schüttelte den Kopf. „Du kennst doch meine Prinzipien. Er muß uns herausfordern.“ „Das hat er doch schon getan.“ „Das genügt nicht. Er muß das Feuer voll eröffnen, dann antworten wir“, sagte Hasard. Der Alte knirschte mit den Zähnen und schnaubte durch die Nase. Er bezwang sich aber, noch etwas zu äußern. Gegen den Seewolf kannst du nicht anstinken, sagte er sich im stillen. Wieder schwiegen die Kanonen auf dem anderen Schiff. Es glitt davon. Die Seewölfe hatten die Gelegenheit, es sich genau anzuschauen. „Da ist keiner an Bord“, erklärte Matt Davies dumpf. „Das ist ein Geisterkahn, sag ich euch.“ „Abergläubisch?“ Gary Andrews lachte auf. „Mann, die Besatzung hält sich absichtlich versteckt. Die will uns foppen und zum Narren halten.“ „Aber warum?“ fragte Matt. Carberry stand breitbeinig hinter ihm und brummte: „Das ist doch klar wie die Brühe, die der Kutscher kocht. Die
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Halunken da drüben denken, wenn sie uns erst genügend verwirrt haben, können sie uns übertölpeln.“ Hasard ließ wieder anluven und führte die Jagd hart am Wind weiter fort. Gespannt blickten er und seine Männer der Galeone nach — wie sie im Einsetzen der Dämmerung die am weitestens östlich liegende Nachbarinsel erreichte und das Ostufer rundete. Plötzlich war sie verschwunden. Hasard folgte ihrem Kurs genau. Das Inselufer glitt an Backbord dahin, wölbte sich weiter von der „Isabella“ fort und gab den Blick auf die weiter nördlich liegenden Zonen frei. Aber das fremde Schiff war wie von der See verschluckt. „Ich hab's ja geahnt“, stieß Matt Davies betroffen hervor. „Hier spukt's.“ 4. Thorfin Njal und seine neun Männer hatten keine Schwierigkeiten gehabt, die Eingeborenenmädchen zu verfolgen. Deutlich waren die Spuren zu sehen: Niedergetretenes Gras, Fußstapfen im weichen Untergrund. Und immer wieder raschelte es verräterisch vor ihnen ihm Dickicht. Dann aber ertönte wie aus weiter Ferne ein Donnergrollen. Thorfin Njal blieb stehen. Der Stör, der gleich hinter ihm marschierte, trat ihm fast auf die Hacken. Sie verharrten alle, und Muddi meinte: „Teufel, schon wieder ein Erdstoß. Wenn das so weitergeht ...“ „Unsinn“, sagte Eike. „Das war ein Kanonenschuß. Darauf gehe ich jede Wette ein. Übrigens wackelt die Erde auch gar nicht.“ „Stimmt“, entgegnete Thorfin Njal. „Bei allen Göttern — es hat Ärger in der Ankerbucht der Schiffe gegeben. Wir müssen sofort zurück. Kehrt marsch, Männer, unsere Leute brauchen bestimmt Hilfe.“ Er hatte die letzten Worte gerade ausgesprochen, und der Stör wollte sie
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getreu seiner Angewohnheit nachplappern, da raschelte es wieder im Gebüsch, diesmal ganz in ihrer Nähe. Dem Stör blieb das Echo im Halse stecken. Er packte den Griff seiner Steinschloßpistole. Die anderen zückten auch ihre Feuerwaffen. Mike Kaibuk zuckte zusammen. Er hatte nach rechts geschaut und ein Augenpaar entdeckt, das ihn aus dem dichten Grün des Blättervorhangs anstarrte. „Verdammt“, ächzte er, hob seine Muskete und wollte auf diese dunklen, forschenden Augen anlegen. Thorfin Njal hatte den Kopf gewandt, sah aber nicht nur das eine Augenpaar. sondern auch ein zweites und das dazu gehörende Gesicht, dann eine Gestalt, die langsam aus den Sträuchern hochwuchs. Überall, rund um die Zehner-Gruppe, erhoben sich jetzt braunhäutige Menschen. Sie standen in den Büschen, kauerten in Baumkronen, waren mit einemmal einfach da und betrachteten die Eindringlinge in einer Mischung aus Neugierde und Mißtrauen. „Schweinerei“, zischte Muddi. „Da haben wir den Salat. Was ist, auf was warten wir? Putzen wir die Kerle weg.“ „Augenblick mal“, sagte Thorfin Njal mit dröhnendem Baß. Täuschte er sich, oder zuckten die Eingeborenen wirklich zusammen, als sie seine Stimme vernahmen? „Die haben ja gar keine Waffen. Wollt ihr auf Wehrlose schießen? Untersteht euch.“ Der Boston-Mann schaute in die Runde und musterte die braunhäutigen Menschen genauer. Wirklich, sie trugen weder Pfeil noch Bogen noch Blasrohre noch irgendwelche andere Waffen bei sich. Einige hatten zwar Messer im Lendenschurz stecken, trafen aber keine Anstalten, sie zu zücken. Thorfin Njal kratzte sich am Kupferhelm. Was sollte er jetzt tun? Etwas Derartiges hatte er noch nicht erlebt. Er zählte die Männer. Es waren gut zwei Dutzend. Wahrscheinlich waren sie von den verstörten Mädchen alarmiert worden, hatten sich dann angeschlichen und
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versteckt, bevor die Weißen heran gewesen waren. So einfach war das. Thorfin Njal gab sich einen Ruck und trat auf den zu, der genau vor ihm stand. Der Wikinger war ein Mann der Tat, Ungewißheiten und ratloses Auf-derStelle-Treten haßte er wie die Pest. „Also, hör zu“, begann er. „Wir haben nichts Arges gegen euch im Sinn. Bestimmt nicht. Ihr könnt ganz beruhigt sein. Den Mädchen haben wir ja auch nichts getan, wie ihr wißt. Ich habe meinen Kerlen hier sogar gesagt, sie sollen die armen Dinger nicht anglotzen. Deswegen und weil wir keine Halunken sind, sollten wir Freundschaft schließen.“ Er streckte die rechte Hand aus. Sie war ungefähr so groß wie eine Ankerklüse, schwielig und mit einigen Messernarben versehen. Der Inselmann blickte nachdenklich darauf. Er schien nicht zu wissen, wie er sich verhalten sollte. Es flackerte zwar immer noch kein Haß in seinen Augen auf, aber er schickte sich auch nicht an, die ihm dargebotene Pranke zu ergreifen. „Er versteht dich nicht“, sagte der BostonMann. „Versuche doch, es ihm auf spanisch zu verklickern“, schlug Eike vor. Thorfin raffte im Geist alle Brocken Spanisch zusammen, die er kannte, holte tief Luft und hielt seine Ansprache noch mal. Es wurde ein grauenvolles Kauderwelsch, schlimmer als Carberrys übelstes Spanisch, aber der Eingeborene lächelte plötzlich und verneigte sich. Mit Thorfin Njals Hand wußte er immer noch nichts anzufangen. Er drehte sich aber um, winkte auffordernd und schritt in die Richtung, in der die fünf Mädchen verschwunden waren. „Zwei Mann laufen zur Bucht und sehen nach, was da los ist“, entschied der Wikinger. „Pedro Oritz und Diego Valeras. Hastig, beeilt euch. Ich will wissen, was es mit dem Schuß auf sich hat. Aber die Gelegenheit, das Dorf dieser Burschen hier zu sehen, will ich auch nicht verpassen.“
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Die Portugiesen hasteten davon. Die Eingeborenen blickten ihnen ein wenig verwundert nach, unternahmen aber nichts, um sie aufzuhalten. Es raschelte und scharrte im Gebüsch, die Inselmänner bildeten eine Gruppe vor Thorfin und seinen Begleitern und führten sie raschen Schrittes voran. Etwas weniger als eine halbe Meile weiter öffnete sich tief im Wald eine große Lichtung. Staunend schauten die fünf Wikinger, der Boston-Mann, Muddi und Mike Kaibuk auf die vielen schilfgedeckten Hütten, die sich dort aneinanderreihten und einen Halbkreis bildeten. Ein paar Kinder erschienen als erste auf der Bildfläche, dann rief der Anführer und der Rest des Stammes trat aus den Hütten. Gutaussehende, tadellos gewachsene Menschen - keine „häßlichen Wilden“ wie die Kannibalen und Kopfjäger, die die Seewölfe auf ihren Reisen kennengelernt hatten. Die Männer trugen geflochtene Lendenschurze, die Frauen und Mädchen Baströcke und Kleidungsstücke, die die Brüste bedeckten. Thorfin Njal erkannte zwei von den fünf Mädchen wieder, die sie beim Baden in dem Teich gesehen hatten. Sie lächelten und schienen jetzt gar nicht mehr so große Angst zu haben. „Das sind aber freundliche Leute“, sagte Oleg. „Ja, haben die denn keine Angst, daß wir sie umbringen und ihre Hütten abbrennen? Ich versteh das alles nicht so recht.“ „Ich werde es euch erklären“, antwortete jemand, aber es war nicht Thorfin Njal oder ein anderer Mann des Trupps. Der Sprecher schlüpfte aus dem Eingang der vordersten Hütte. Er trug einen Lendenschurz wie die anderen Männer des Stammes, und doch unterschied er sich ganz erheblich von ihnen. Er war ein Weißer. In reinstem Kastilisch sagte er: „Natürlich haben wir eure Ankunft beobachtet, aber wir dachten, ihr stecktet mit Ciro de Galantes unter einer Decke. Deswegen haben wir uns verborgen. Als dann die Späher gesehen haben, daß sich eins eurer
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Schiffe auf den Schuß hin gegen die Galeone von de Galantes gewandt hat, haben sie es mir sofort gemeldet. Da habe ich ihnen gesagt, daß wir von euch wahrscheinlich keine Feindseligkeiten zu erwarten haben, und daß sie euch einladen sollten hierher zu kommen.“ „Das kapiere ich nicht ganz“, sagte Thorfin Njal in seinem holprigen Spanisch. „Wer bist du überhaupt?“ „Mein Name ist Thomas Federmann.“ Er trat dicht vor den Wikinger hin und sah ihn eindringlich aus seinen blauen Augen an. „Ich bin ein Abkömmling der Welser. Aber du –du bist garantiert kein Spanier.“ „Bei Odin“, stieß Thorfin grollend hervor. „Willst du mich beleidigen? Ich bin ein Nordmann.“ „Ach so. Ein Wikinger, hier in Polynesien? Das ist ja ein richtiges Wunder.“ „Und ein Deutscher?“ rief Njal. „Ist das nicht genauso merkwürdig?“ Federmann nickte. „Wir können uns aber auch auf englisch unterhalten, wenn euch das lieber ist“, sagte er. Er streckte die Hand aus. „Meine Kameraden hier kennen die Geste nicht, die man bei uns anwendet, wenn man Freundschaft schließt. Sie verneigen sich nur. Ich kann jetzt bloß hoffen, Bundesgenossen in euch gefunden zu haben.“ „Hältst du es mit den Spaniern?“ wollte Thorfin Njal wissen. „Ich bin unabhängig“, erwiderte Federmann ernst. „Ich bin ein neutraler, friedliebender Mensch, der hier gelernt hat, daß es eigentlich keinen Krieg zu geben braucht.“ Da grinste der Wikinger von ganzem Herzen und drückte die Hand des Deutschen. Federmann verzog keine Miene, obwohl der Wikinger ihm fast die Finger zerquetschte. Er war ein schlanker, sehniger Mann, dieser Thomas Federmann, und seine Hand war nur halb so groß wie die des bulligen Wikingers. Trotzdem schien eine Menge Kraft in ihm zu stecken. „Willkommen“, sagte er. „Meine Freunde, die Polynesier, sind von jetzt an auch die euren.“
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Der Wikinger lachte. „Danke, es freut mich wirklich, solche Worte zu hören. Es ist schon lange her, daß wir bei Fremden einen solchen Empfang gehabt haben. Ich hätte dich viel zu fragen, Thomas, aber laß mich eines vorwegnehmen: Wer ist dieser Ciro de Galantes?“ „Ein spanischer Meuterer und Seeräuber“, entgegnete Federmann. „Er hat seinen Schlupfwinkel auf Oahu, einer der nördlichen Nachbarinseln. Es ist ihm gelungen, die dort ansässigen Eingeborenen für seine verbrecherischen Ziele zu gewinnen. Sie fahren mit ihm auf der großen Galeone, und schon seit einiger Zeit schleichen sie um unsere Insel herum, um auch uns zu unterjochen.“ „Wie nennt ihr diese Insel?“ erkundigte sich Mike Kaibuk. „In der Sprache der Polynesier heißt sie Hawaii.“ „Klingt schön“, meinte der Stör. „Halt den Rand“, sagte Thorfin Njal. „Merkst du nicht, daß sich was zusammenbraut? Dieser de Galantes hat sich an unsere Ankerbucht 'rangepirscht und uns ein Ding vor den Bug gesetzt, wenn ich richtig verstanden habe. Wir stehen kurz vor dem Kampf, und da redest du von Schönheiten.“ Plötzlich fuhren sie alle herum, denn jemand stürzte durchs Unterholz auf die Lichtung. Es waren die beiden Portugiesen – und Bill the Deadhead. „Wir haben uns unterwegs getroffen!“ rief Diego Valeras. „Bill ist von Siri-Tong losgeschickt worden, damit er uns unterrichtet. Vor der Bucht ist ein fremdes Schiff aufgetaucht und ...“ „Das wissen wir schon“, erwiderte Thorfin Njal. „Der Bursche hat einen Warnschuß abgegeben – und dann?“ „Hasard ist ihm nach“, sagte Bill the Deadhead. „Soviel habe ich noch gesehen.“ „Und die Rote Korsarin?“ fragte der Boston-Mann. „Liegt mit dem schwarzen Schiff in der Bucht, wartet auf uns und hält den Seewölfen den Rücken frei“, erwiderte Bill.
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„Das halte ich nicht für sehr taktisch“, wandte Thomas Federmann ein. „De Galantes ist gut armiert und wird eure Freunde in eine Falle locken.“ „Also“, erklärte Oleg, „weißt du überhaupt, wer Hasard ist? Du wirst noch staunen. Man nennt ihn den Seewolf, aber in Wirklichkeit heißt er Philip Hasard Killigrew. Er ist bei den Killigrews in Cornwall aufgewachsen, doch sein wirklicher Vater war ein Malteserritter Godefroy von Manteuffel.“ Jetzt war Federmann wirklich überrascht. Er öffnete weit die Augen und wußte nicht, was er sagen sollte. von Manteuffel? Das war ja-ein deutscher Name! Plötzlich wehte wieder Donnergrollen heran. Thorfin Njal stieß einen Fluch aus. Die Polynesierfrauen schauten ihn verwundert an, aber sie verstanden ja nicht, was er da von sich gab. Das Wummern wiederholte sich und schien plötzlich überall Echos zu finden. Nein, es war nicht die Erde, die bebte - die Geräusche drangen von der See herüber, zwar nur schwach, weil das meiste vom Wind davongetragen wurde, aber Thorfin Njal wußte auch so gut genug, was das zu bedeuten hatte. „Hölle und Teufel“, stieß er hervor. „Jetzt wird es aber Zeit, daß wir an Bord des schwarzen Seglers zurückkehren. Los, Männer, nichts wie zur Bucht! Thomas Federmann, wir sehen uns später wieder!“ Er drehte sich um und stürmte los. Die anderen liefen hinter ihm her, aber plötzlich waren sie nicht mehr elf Weiße, sondern zwölf. Thomas Federmann hatte sich ihnen angeschlossen. Und die Polynesier-Männer hasteten an ihnen vorbei und winkten aufgeregt. „Wir kennen eine Abkürzung zum Westufer!“ rief Federmann. * Die „Isabella“ war noch ein Stück weitergesegelt, weiter an dem schwarzen Felsenufer der Insel entlang, das sich wie eine drohende Mauer hochtürmte.
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Hasard hatte unablässig Ausschau gehalten und vor allen Dingen auch einen Blick nach Backbord achtern geworfen - und nur deshalb sichtete er die geheimnisvolle Galeone wieder, bevor es für ihn zu spät war. Sie schob sich plötzlich aus einer Felsenbucht hervor. Diese Bucht lag so ideal hinter einer Gesteinsnase versteckt, daß man sie erst einsehen konnte, wenn man sie passiert hatte. Sie war groß genug, um zwei nebeneinander liegenden Schiffen Platz zu bieten, und die Felsen ragten so hoch auf, daß das Mastwerk völlig verdeckt wurde. Der Kapitän der Galeone hatte das Kunststück vollbracht, sich den Seewölfen zu entziehen, hineinzulavieren und sein Schiff zu wenden. Nur eine fähige Besatzung, die außerdem die Inselwelt bis ins letzte Detail kannte, war in der Lage, ein solches Manöver so schnell und geschickt zu vollziehen. „Achtung!“ rief Hasard. „Wir haben die Kerle Backbord achteraus!“ Diesmal war er wacher als sein Ausguck. Dan fuhr im Großmars herum und kriegte regelrechte Stielaugen. Am liebsten hätte er sich geohrfeigt. „O Hölle und Teufel!“ schrie er. „Penne ich denn?“ Shane, der sich auf die Entdeckung des Seewolfes hin schnell in die Steuerbordhauptwanten geschwungen hatte und nun auf enterte, rief ihm zu: „Nun reg dich nicht auf, Dan. Das kann schon mal passieren. Hauptsache, wir haben den Bruder rechtzeitig entdeckt.“ „So was darf einfach nicht passieren“, sagte Dan. Wütend und mit geballten Händen blickte er zu der herangleitenden Galeone. Big Old Shane hatte den Großmars jetzt erreicht und kletterte über die Segeltuchverkleidung. Er verlor nicht einen Augenblick die Ruhe. Er grinste. „Gut, dann beantrage ich eben bei Hasard, daß du die Nacht und den ganzen morgigen Tag über in die Vorpiek gesperrt wirst.“
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Dan hörte gar nicht hin. Er beugte sich weit vornüber und beobachtete aus schmalen Augen. Das schwache Büchsenlicht verwandelte den Schiffskörper drüben in ein graues Gebilde, in dem -Einzelheiten kaum noch zu erkennen waren. Trotzdem sichtete Dan jetzt etwas, daß sein Blut in Wallung brachte. „Deck!“ schrie er. „Die Galeone hat noch zwei zusätzliche Stückpforten im Bug, zu beiden Seiten des Vorstevens!“ „Verstanden!“ rief der. Seewolf zurück. „Achtung, Männer, gleich geht der Tanz los.“ Oben im Großmars stieß Shane den jungen O'Flynn an und lachte. „Na bitte, du hast eben immer noch . die schärfsten Augen.“ Auf dem Achterdeck hatten sich Ben Brighton und Old O'Flynn zu Hasard gesellt. „Deswegen also das ganze Theater vor der Ankerbucht“, sagte Ben. „Zwei Gegner waren diesem Bastard zuviel, und er hat uns hierhergelockt, um wie ein Wolf über uns herzufallen.“ „Dabei schneidet er sich ins eigene Fleisch“, prophezeite der alte O'Flynn. „Das würde ich nicht zu früh sagen“, entgegnete der Seewolf. „Unsere „Isabella“ ist keine eiserne Festung, und wir sind auch nicht unverwundbar.“ Er verstummte und hockte sich hinters Schanzkleid, denn drüben wummerten jetzt die beiden Buggeschütze der Galeone los. Die Mündungsblitze stachen wie Lanzen in das Halbdunkel. Mit feinem Heulen flogen die Kugeln heran. Die Distanz zwischen den Schiffen betrug nicht mehr als eine Viertelmeile. Eine gute Schiffskanone mit ausreichend langem Rohr feuerte eine Seemeile weit. Längst hatte Hasard seinem Rudergänger Pete Ballie Anweisungen gegeben, höher zu laufen. Die „Isabella“ luvte jetzt an und lag auf Steuerbordbug, aber sie bot dem Gegner immer noch genügend Angriffsfläche. Die zwei Kugeln waren heran und bohrten sich tief in die Bordwand der „Isabella“. Es
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krachte und knirschte, Trümmer wirbelten, und unten auf der Kuhl schrie jemand auf. Old O'Flynn fluchte wie der Leibhaftige. Hasard wurde von einem durch die Luft segelnden Holzstück getroffen - er kriegte es genau in den Rücken. Er krümmte sich vor Schmerzen, lag für ein paar Sekunden benommen auf den Achterdecksplanken, richtete sich dann aber wieder auf. „Ben, Ed!“ schrie er. „Wieder abfallen!“ „Abfallen!“ brüllte Ben Brighton zurück. „Und Segelfläche wegnehmen!“ „Weg mit dem Zeug“, wiederholte Carberry auf der Kuhl, und seine Stimme hatte etwa die Lautstärke wie die Trompeten von Jericho. Die „Isabella“ legte sich wieder platt vor den Südost. Hasard taumelte den Backbordniedergang hinunter und lief am Ruderhaus vorbei. Ben Brighton wollte ihm etwas zurufen und fragen, ob er wieder wohlauf sei, unterließ es dann aber doch. Der Seewolf war wieder. fit, das sahen sie jetzt alle. Er flankte auf die Kuhl hinunter, warf einen huschenden Blick zum Feind hinüber, prüfte die Schußstellung der „Isabella“ und gab dann selbst den Befehl. „Feuer!“ Acht Culverinen standen an der Backbordseite der Kuhl. Die Geschützführer, unter ihnen Al Conroy, Blacky und Matt Davies, senkten die Lunten auf die Bodenstücke. Gierig fraß sich die Glut durch die pulvergefüllten Zündkanäle und traf auf das Zündkraut. Die Kanonen schienen sich aufzubäumen. Brüllend spuckten sie ihre Ladungen aus, rumpelten zurück und wurden von den Brooktauen gebremst. Das typische Heulen erfüllte wieder die Luft, und dann waren es die Seewölfe, die triumphieren durften. Berstende Geräusche von der Gegnerseite verkündeten, daß die meisten 17-Pfünder-Kugeln gesessen hatten. „Hurra!“ schrie Dan O'Flynn. „Wir haben ihnen den Bugspriet weggeputzt und den Bug angeknackst!“ „Heizt ihnen ein!“ johlte Old O'Flynn vom Achterdeck. Er schwang eine seiner
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Krücken und stellte sich dann hinter eine der Drehbassen, um aktiv mit einzugreifen, sobald sich die Gelegenheit bot. „Nachladen“, befahl Carberry. Eigentlich war das überflüssig — die Seewölfe hatten die Backbordgeschütze schon wieder in Ladestellung gebracht und hantierten mit fliegenden Fingern. „Nach Steuerbord anluven!“ rief der Seewolf. Er wollte nicht zu sehr nach Legerwall gedrückt werden, und außerdem hatte er vor, dem Feind jetzt die Steuerbordbreitseite zu entbieten. Ein Blick nach achtern — das Ruderrad wirbelte unter Pete Ballies Fäusten. Hasard lief zu Carberry und konstatierte, wie ein paar Männer an die Brassen und Schoten stürzten. Mitten in Holztrümmern und fetten Rauchschwaden stand der Profos wie eine eherne Bastion. Der Seewolf war bei ihm angelangt. „Der Hundesohn geht in den Wind“, meldete Dan O'Flynn. „Soll er“, grölte Carberry. „Wir spielen also beide Brummkreisel. Wollen doch mal sehen, wer schneller ... Sir, was ist denn los?“ Er hatte Hasard erst jetzt neben sich entdeckt. „Ich habe eben einen Schrei gehört, Ist jemand verletzt?“ „Ja, Batuti.“ Wieder der Gambia-Neger! Hasard stieß einen Fluch aus und hetzte in der von Carberry angegebenen Richtung. Da sah er den schwarzen Goliath liegen — nicht weit von der rechten Kante der Kuhlgräting entfernt. Der Kutscher war schon zur Stelle, hatte Verbandszeug mitgebracht und verarztete den Mann. Bei der Schlacht gegen die Sabreras-Flotte hatte Batuti auch Federn lassen müssen. Fast wäre er mit dem Seewolf zusammen aus dem Vormars abgestürzt und hätte sich dabei sämtliche Knochen im Leib gebrochen. Hasard kauerte sich neben ihn hin. „So ein verdammtes Pech, Batuti. Wo hat es dich erwischt?“
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„Bein“, sagte Batuti grinsend. „War aber nur blöder Holzsplitter. Hat Kutscher schon wieder 'rausgezogen.“ „Das ist wirklich glimpflich abgegangen“, kommentierte jetzt auch der Kutscher. Hasard atmete auf. „In Ordnung. Ich werde aber trotzdem einen Ersatzmann für dichin den Vormars abkommandieren, Batuti. Gary Andrews beispielsweise Der Gambia-Neger fuhr hoch. „Ssörr!“ sagte er mit rollenden Augen. „Verdammich – Batutis Platz am Vormars. Will auf der Stelle tot umkippen, wenn ich nicht Pfeile abschießen kann.“ „Kannst du denn überhaupt aufrecht stehen?“ fragte Hasard. Sofort erhob sich der schwarze Mann. Er stand stramm und verzog keine Miene, obwohl ihm die Fleischwunde noch weh tun mußte, und zwar nicht unerheblich. Von achtern ertönte jetzt das Böllern der beiden Drehbassen. Die „Isabella“ hatte so weit angeluvt, daß Ferris und Old O'Flynn diese kleinen Geschütze hatten bedienen können. Ein Knirschen drüben auf dem Gegnerschiff und das Jauchzen des Alen verkündeten gleich darauf, daß sie nicht danebengeschossen hatten. Batuti blickte nach oben. Es war noch dunkler geworden, so daß der 3randpfeil, den Bug Old Shane jetzt 'on der Bogensehne schnellen ließ, wie ein Fanal durch den Himmel stieß. „Ssörr“, sagte Batuti fast wehmütig. „Also gut, ab mit dir“, sagte der Seewolf. Der schwarze Hüne lief zur Back, klomm den Niedergang hoch und enterte mit Pfeil und Bogen in den Wanten auf. Das schlimme Bein schien ihm plötzlich überhaupt keine Schwierigkeiten mehr zu bereiten, und wenn, dann überwand er tapfer die Schmerzen. Die Seewölfe hatten die Segel für kurze Zeit wieder gesetzt, aber jetzt hingen sie erneut im Gei, denn die „Isabella“ lag .mit dem Vorsteven im Wind. Sie hatte das Manöver eher vollendet als die feindliche Galeone – und das geriet jetzt zu einem unschätzbaren Vorteil. „Feuer!“ schrie Hasard.
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Rotgelbe Schlitze zerteilten vor der Bordwand der „Isabella“ den herabsinkenden Vorhang der Nacht. Blakender Rauch zog wieder in dicken Schwaden übers Oberdeck und brachte die Männer zum Husten. Shane und Batuti sandten unablässig Brandpfeile zu der gegnerischen Galeone hinüber. Plötzlich stand die Takelung des stolzen, prunkvollen Dreimasters in hellen Flammen. Plötzlich barst der Fockmast nach Backbord weg, knickte ab und stürzte, in zwei Teile zerbrochen, außenbords. Gellende Schreie wehten zur „Isabella“ herüber, aber sie nötigten Hasard und seinen Freunden kein Mitleid ab. „Sie haben es ja nicht anders gewollt“, murmelte Hasard. „Sie haben uns den Hinterhalt gelegt, aber dabei haben sie nicht bedacht, daß wir die Luvposition gewinnen und beibehalten könnten.“ Ja, er keilte die fremde Galeone zwischen Luv und Legerwall ein. Rasch hatten die Seewölfe wieder die Segel gesetzt, und die „Isabella“ fiel ab, wandte sich südwärts und halste, um dem Widersacher von neuem die Backbordbreitseite zu präsentieren. Zwar feuerten die Gegner mit den zwölf Geschützen ihrer Backbordbatterie zurück. Aber ihr Kampfgeist hatte inzwischen manches eingebüßt, und das wirkte sich empfindlich auf die Zielsicherheit aus. Manche Kugeln saßen jetzt zu niedrig, sie rissen nur rauschende Fontänen vor der „Isabella“ hoch. Andere wieder waren zu hoch gezielt und rasten flach über das Oberdeck weg. In diesem bedrohlichen Moment lagen Hasard und die Crew wieder auf den Bäuchen und schützten die Köpfe mit den Händen. Sie hatten sich „platt wie die Flundern“ gemacht, wie der Profos das nannte. Der Großmars kriegte einen Stoß ab, aber er bebte nur. Die Siebzehnpfünder-Kugel, die ihn gestreift hatte, flog zur anderen Seite hin in die Dunkelheit hinaus, ohne weiteren Schaden anzurichten.
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Zwei Geschosse knallten in die Bordwand der „Isabella“. Sie veranstalteten einen Höllenlärm und schienen den ganzen unteren Schiffsleib aufzutreiben. Old O'Flynn, Ben Brighton und Ferris Tucker fluchten zusammen. Der rothaarige Schiffszimmermann sauste nach unten, um den Bauch des Schiffes zu inspizieren. Hasard eilte ihm nach. Er turnte die Niedergänge zu den Frachträumen hinab, arbeitete sich im Stockdunkeln bis zu dem mittleren vor und sah seinen Schiffszimmermann schließlich vor einem riesig wirkenden Loch in der Bordwand stehen. „Das sieht nur so wüst aus!“ schrie Ferris. „Aber wir haben noch Glück, daß die Treffer nicht unterhalb der Wasserlinie liegen. Ich dichte das Leck jetzt notdürftig ab.“ „Paß auf, daß die Lumpenhunde dir kein Loch in den Balg blasen“, sagte der Seewolf. „Ich schicke dir noch Bill zum Helfen hinunter, dann wirst du mit der Reparatur schneller fertig.“ „Danke, Sir!“ brüllte Tucker gegen das Wummern und Grollen der Kanonen an. Hasard kehrte ans Oberdeck zurück, kommandierte Bill in den Frachtraum ab und hastete dann zum Achterdeck, um sich ein Bild von der Lage zu verschaffen. Das Feindschiff war inzwischen auch wieder abgefallen und hatte die Steuerbordkanonen abgefeuert. Nennenswerte Treffer waren diesmal auf der „Isabella“ nicht zu registrieren – von einem Loch im Großmarssegel abgesehen. Einer der gegnerischen Geschützführer hatte wohl Big Old Shane aus dem Großmars schießen wollen, um das mörderische Pfeilfeuer abzuwenden. Aber Shane und Dan O'Flynn lachten nur höhnisch. „Da müßt ihr früher aufstehen, ihr Bastarde!“ rief Dan. „Uns kann keiner was anhaben, merkt euch das.“ Das war natürlich maßlos übertrieben, aber es gab die Stimmung wieder, die jetzt plötzlich unter den Seewölfen herrschte. Die große Galeone der Gegner lief nach Nordwesten ab. Sie war eine schwimmende Feuerlohe, von der fast
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unausgesetzt das Schreien der Verwundeten herüberdrang. „Wir segeln auf Parallelkurs mit“, entschied Hasard, als er neben Ben und Old Donegal stehenblieb. „Ich will sehen, was der Schurke vorhat. Verholt er sich wirklich? Oder hofft er auf Verstärkung?“ „Woher soll die wohl kommen?“ meinte der alte O'Flynn. „Falls er hier irgendwo Verbündete hätte, wären die doch längst aufgetaucht.“ „Trotzdem — wir müssen nach wie vor höllisch auf der Hut sein“, erwiderte der Seewolf. „Ich traue diesem Kapitän dort nicht über den Weg, auch dann nicht, wenn er untergeht. Ich sage euch, er ist einer der ausgekochtesten Halunken, denen wir je begegnet sind.“ Er wußte nicht, wie recht er hatte. Eine drastische Bestätigung sollten seine Worte allerdings erst sehr viel später erfahren — als keiner mehr daran dachte. 5. Thomas Federmann hatte Thorfin Njal und die anderen Siri-Tong-Piraten auf das schwarze Schiff begleitet. Die Polynesier, die als Führer durch das Inseldickicht fungiert hatten, waren am Strand zurückgeblieben. Das Boot wäre in der starken Brandung beinahe gekentert, und Thorfin Njal hatte Mord und Bein gewettert und dem Stör eine schallende Ohrfeige verpaßt, obwohl der genauso viel oder so wenig wie die anderen dafür konnte. Dann ihr Eintreffen auf dem schwarzen Segler — Federmann hatte sich vor SiriTong ein bißchen geschämt, weil er doch nur den Lendenschurz trug. Die Rote Korsarin hatte seine Gegenwart aber kaum zur Kenntnis genommen. Nur flüchtig hatte sie auf Thorfin Njals Erklärungen über das Dorf und dessen Bewohner hin genickt. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Gefecht. Grollend wälzte sich der Kampflärm über die See. Siri-Tong hielt mit dem Spektiv Ausschau, konnte aber nicht mehr erkennen als einen rötlichen
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Schimmer über dem Platz, an dem das Gefecht der beiden Galeonen augenscheinlich stattfand. „Missjöh Buveur!“ brüllte Thorfin Njal zum Vormars hinauf. „Verfluchter Saufsack, siehst du denn nicht, wie der Kampf verläuft?“ Der Franzose, diesmal weniger schwerhörig, rief zurück: „Nein, wir haben die nördliche Nachbarinsel genau davor! Da kann ich auch nichts dran ändern.“ „Nein“, sagte Siri-Tong. „Aber ich halte es hier in der Bucht nicht länger aus. Hasard soll von mir denken, was er will, oder soll mir eigenmächtiges Handeln vorwerfen — wir laufen aus.“ „Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mitfahre, Madame?“ sagte Thomas Federmann. Siri-Tong streifte seine Gestalt mit einem raschen Seitenblick. „Wie? Nein, natürlich nicht.“ Sie eilte nach vorn an die Five-Rail, legte die Hände auf die Leiste der hölzernen Balustrade. „Wir gehen ankerauf und stoßen so schnell wie möglich zur „Isabella“ vor. Wenn Hasard Hilfe braucht, erscheinen wir vielleicht gerade noch rechtzeitig!“ Die Crew antwortete mit einem Kampfruf. Kurz darauf glitt das schwarze Schiff mit vollen Segeln aus der Bucht, nahm Nordkurs und hielt auf die Insel im Norden zu. Thomas Federmann stand in der Nähe von Siri-Tong, und auch der Wikinger war wieder zu ihnen getreten. Staunend ließ der Deutsche seinen Blick über die vier Masten mit den schwarzen Segeln wandern, betrachtete die Aufbauten und verfolgte die Mannschaft bei ihren emsigen Vorkehrungen. „So ein Schiff habe ich noch nie gesehen“, gestand er. „Ich glaube nicht, daß es in Europa gebaut worden ist. Auch nicht in der Neuen Welt.“ „In China“, teilte ihm Thorfin Njal mit. „Das ist ein riesengroßes Land, in dem die Leute lange Zöpfe tragen. Nicht nur die Frauen, auch die Männer, meine ich.“ Federmann lächelte jetzt. „Ich habe Bücher gelesen, die die Portugiesen und Spanier
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über das Reich der Mitte geschrieben haben. Sie waren alle hochinteressant.“ „Du scheinst ja mächtig viel zu wissen“, sagte der Wikinger. „Bist du so was wie ein Gelehrter? Wie viele Sprachen kennst du eigentlich?“ „Fünf oder sechs. Aber mein Hauptfach ist die Malerei.“ „Malerei? Was malt man denn auf so einer Insel?“ Federmann wollte eine Antwort darauf geben, aber die Rote Korsarin setzte in diesem Moment das Spektiv ab und wandte sich an ihn. „Hör mal zu, du Schlauberger“, erklärte sie nicht besonders freundlich. „Wenn du schon alles weißt, dann sag mir, ob es einen Kanal oder eine Passage nördlich der Insel dort gibt.“ Sie wies auf das Eiland, hinter dem der Feuerschein lohte und das Grollen der Geschütze zu vernehmen war. Der Schimmer schien sich immer weiter in nördlicher Richtung zu verlagern. „Die Eingeborenen nennen die Insel Maui“, erwiderte der Deutsche. „Wir können westlich an ihr vorbeisegeln, an Kahoolawe und Lanai vorbei, schwenken dann nach Nordosten und befinden uns im Pailolo-Kanal. Auf diese Weise fallen wir Ciro de Galantes in den Rücken.“ „Ciro de Galantes?“ wiederholte sie verwundert. „Der Piratenkapitän.“ „Ach so“, sagte sie, und fuhr dann in ironischem Tonfall fort: „Pailolo, das klingt lustig. Dieser Hund von einem Spanier wird gleich seine helle Freude an uns haben.“ Thomas Federmann nahm den Blick von der schönen Frau und schaute nach rechts, zu Thorfin Njal. Der grinste von einem Ohr zum anderen. Er sagte nichts, wußte aber ganz genau, was der Deutsche äußern wollte. Und, verdammt noch mal, es stimmte ja auch: Ein so resolutes, entschlossenes Frauenzimmer wie die Rote Korsarin gab es auf dieser Welt nicht noch einmal! Siri-Tong hatte wieder das Fernrohr ans Auge gehoben.
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„Ein Schiff scheint lichterloh zu brennen“, sagte sie leise. „Hoffen wir, daß es nicht die ‚Isabella' ist. Gnade Gott diesen elenden Piraten, wenn dem Seewolf etwas zugestoßen ist.“ Federmann schwieg, aber er hatte wieder etwas von dem, was mit dem Charakter und Lebensbild dieser Frau zusammenhing, begriffen. Sie liebte den Seewolf, diesen Sohn des Godefroy von Manteuffel, allem Anschein nach. Als das schwarze Schiff die Insel Lanai Backbord achteraus gelassen hatte und ganz hart an den Nordost ging, öffnete sich der Blick auf den Pailolo-Kanal. Im Norden lag noch eine Insel. Federmann wies mit der Hand hinüber und sagte: „Sie heißt Molokai. Und weiter nordwestlich befindet sich Oahu, wo die Piraten des de Galantes ihren Schlupfwinkel haben.“ „Schiff voraus!“ schrie Missjöh Buveur. „Es brennt wie ein Weihnachtsbaum! Das ist nicht die ‚Isabella'!“ Die Männer begannen zu grölen und zu johlen. „Wenn er sich geirrt hat, lasse ich den Franzosen auspeitschen“, zischte SiriTong. Sie hielt angestrengt Ausschau. Das Feuer an der östlichen Seite der Passage spendete genügend Licht, so daß sie einen Begriff von der Bauweise der Galeone und der Höhe der Masten erhielt. „Nein, das ist wirklich nicht die ‚Isabella“, sagte sie aufatmend. Der Besanmast der Piraten-Galeone knickte soeben knackend und prasselnd nach Steuerbord weg. Er stürzte in die See. Das Zischen, das das verlöschende Feuer bei der Berührung mit den Fluten verursachte, war bis zum schwarzen Schiff hin zu vernehmen. „Wir verlegen ihnen den Fluchtweg nach Westen“, sagte Siri-Tong. „Jetzt bin ich gespannt, was sie tun. Im Osten scheint die ‚Isabella' zu stehen. Bleibt noch die nördliche Richtung. Aber das Schiff ist eine flügellahme Ente. Bevor es sich auf die offene See verdrücken kann, haben wir es erreicht – und geben ihm den Rest.“ Soweit kam es aber gar nicht mehr.
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„Die ‚Isabella'!“ schrie Missjöh Buveur. Seine Stimme überschlug sich. * Das Kanonenfeuer war verstummt. Auf der feindlichen Galeone hatten der Kapitän und seine Mannschaft alle Hände voll damit zu tun, die Flammen irgendwie zu ersticken. Sie kippten Wasser und Sand in das Feuer, aber es war eine Sisyphusarbeit, denn der Brand griff schneller um sich, als sie ihn löschen konnten. Sie konnten seiner nicht mehr Herr werden. Um die vielen Verwundeten kümmerte sich Ciro de Galantes schon gar nicht mehr. Wütend rannte er auf dem Achterdeck auf und ab und trat mit den Füßen züngelnde Flammen aus. Einem verletzten Polynesier, der hilfesuchend die Hände nach ihm ausstreckte, versetzte er einfach einen Stoß. Der Mann kippte rücklings über das Schanzkleid und stürzte außenbords. Blinder Haß verzerrte de Galantes' Züge. Er war ein großer, kompakt gebauter Mann mit vollem schwarzem Haar und dichtem Vollbart. Er trug noch Teile seiner Uniform, denn er war Bootsmann auf einem spanischen Schiff gewesen. Seine Beine steckten in langschäftigen Stiefeln, seine Hosen waren gestreift und hatten die typische Kürbisform. Nur hatte er auf den Helm und das Wams verzichtet und trug stattdessen eine Jacke aus grob gegerbtem Leder. Sein Haupt war unbedeckt. Die schwarzen Haare flatterten im Wind. De Galantes sah, wie sich die „Isabella“ auf ihn zuschob, und er schüttelte in ohnmächtiger Wut die Faust gegen sie. „Fahrt zur Hölle!“ schrie er. „Der Teufel soll euch alle holen, ihr elenden Hunde!“ Dieser fromme Wunsch ging aber nicht in Erfüllung, er schien von dem gegnerischen Schiff gleichsam abzuprallen und sich wie eine Faust gegen ihn, de Galantes, zu wenden. Es war die Stunde der Vergeltung für alle seine Schandtaten.
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Entsetzt stellte der Spanier fest, daß es keinen Ausweg mehr gab. Die Galeone, die er so großartig hatte überrumpeln, entern und ausplündern wollen, holte mehr und mehr auf und schnitt ihm das Schlupfloch nach Norden und Osten ab. Und im Westen, jenseits des Inselsunds, zeichnete sich der unheimliche Schatten eines großen Schiffes ab. Da war er wieder, der rätselhafte Viermaster. Er eilte seinem Bundesgenossen zu Hilfe. „Wir sind verloren“, sagte er. Auf der „Isabella“ grollten jetzt wieder die Kanonen. Instinktiv duckte sich de Galantes. Seine Galeone erzitterte unter den Einschlägen der Kugeln. Die Männer brüllten vor Wut und Angst, aber es fand sich kaum noch einer, der an ein Geschütz stürzte, es gegen den Feind richtete und zündete. „Feuer!“ schrie de Galantes. Niemand hörte auf ihn. Die Verwundeten wälzten sich auf der Kuhl, suchten verzweifelt nach Deckung, nach Hilfe, nach Linderung der Schmerzen. Ihr Geschrei wurde zu einem grausigen Chor, dessen Lied in de Galantes' Ohren hallte. „Aufhören!“ brüllte er. Ein besonders dicker Pfeil sirrte heran und bohrte sich dicht neben dem Kolderstock in die Planken. Der Rudergänger stöhnte auf. Er wollte seinen Posten verlassen, aber er schaffte es nicht mehr. Eine Explosion hieb mit immenser Wucht auf das Schiff ein und fetzte ein Loch in die Planken. Der Kolderstock war plötzlich nicht mehr da, der Rudergänger ebenfalls nicht mehr. Ciro de Galantes war zu Boden gegangen, richtete sich jetzt wieder auf und taumelte zum Schauplatz des schrecklichen Geschehens. „Was war das?“ stieß er immer wieder verwirrt aus. „Was? Stehen die mit dem Teufel im Bund?“ Big Old Shane hatte einen seiner pulvergefüllten Brandpfeile abgefeuert. Zum erstenmal schloß de Galantes böse Bekanntschaft mit dieser „Spezialität“ der Seewölfe, aber erst einige Zeit später fand er heraus, was für eine Höllenwaffe das war.
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Zu logischen Überlegungen gelangte er im Augenblick nicht. Seine Leute hetzten in heller Panik über Deck, sprangen über das Schanzkleid und hechteten in die See. Der Spanier hastete ihnen nach. „Hierbleiben! Das ist Meuterei! Fahnenflucht! Ich werde euch auspeitschen — am Hals aufhängen ...“ Es nutzte nichts. Wer wie durch ein Wunder noch unversehrt geblieben war, suchte sein Heil in der Flucht, und auch diejenigen Verwundeten, die. wenigstens noch kriechen konnten, retteten sich von Bord. Keine Strafe der Welt konnte so schlimm sein wie ein Ausharren auf der Unglücksgaleone. Brüllend raste ein einzelnes Geschoß auf das Piratenschiff zu. De Galantes warf sich hin, fiel in einen Flammenherd und wälzte sich fluchend heraus. Er rollte bis zum Schanzkleid der Steuerbordseite und schlug mit den bloßen Händen auf das Feuer ein, das nach seiner Kleidung griff. Das Geschoß war heran. Es entpuppte sich als eine Kadettenkugel. Mit einem Knall schlang sie sich um den Großmast und knickte ihn. Der Mast stand ohnehin in hellen Flammen und war bereits angeschlagen —jetzt neigte er sich nach Steuerbord und kippte mitsamt dem Rigg, dem laufenden und stehenden Gut als lodernde Fackel den Fluten entgegen. De Galantes raffte sich hoch und lief um sein Leben. Er rannte, was seine Beine hergaben. Hinter ihm krachte die wabernde, glutige Last auf das Schanzkleid. Die Galeone krängte schwer nach Steuerbord, und de Galantes schrie in blanker Todesangst. Etwas landete polternd auf dem Achterdeck — eine von Ferris Tuckers Höllenflaschen. Ein grellgelber Blitz und ein Donnerschlag verwandelten das Deck in ein wirbelndes Inferno. Die Seewölfe zogen alle Register. Hasard hatte den Befehl gegeben, die Piratengaleone zu versenken. Ciro de Galantes erreichte die Back. Er torkelte und stieß unverständliche Laute aus. Er sah kaum noch, wohin er sich wandte. In seinem Rücken war eine
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flammende, heiße Wand, die das Schiff verschlang. Er hatte nur noch den einen Wunsch: Fort, ins Wasser, nur weg von hier. Er erklomm das Schanzkleid. Ein Drehbassenschuß heulte dünn auf die Galeone zu und wurde gewissermaßen das auslösende Signal für den Sprung des Spaniers. Er stieß sich ab und sah die Fluten als düsteren Schlund auf sich zurasen. In seiner kopflosen Hast landete er nicht sehr günstig. Hart klatschte sein Leib in die Fluten, das Naß stob in sein Gesicht, fast öffnete er den Mund. Er tauchte unter, ruderte mit Armen und Beinen, gewann Auftrieb und schoß wieder an die Oberfläche. Verzweifelt begann er zu schwimmen. Molokai - nur die Insel konnte ihm noch Rettung bieten. Dort kannte er sich glänzend aus, dort konnte er in den Wäldern unterschlüpfen und sich vor diesen fremden Teufeln verstecken. Sein Kampfgeist und stolzes Selbstbewußtsein waren verschwunden. Die Ereignisse hatten ihn in eine der Urphasen seiner Instinkte zurückgeworfen, in ihm regierte jetzt nur noch der bloße Selbsterhaltungstrieb. De Galantes blickte nicht zu der brennenden, sinkenden Galeone zurück. Er achtete auch nicht auf die gegnerischen Schiffe, die von beiden Seiten heranglitten und ihren Klammergriff schlossen. Er dachte nur an Flucht. * Mehrere Explosionen erfolgten im Stakkato und gaben der Galeone den Rest. „Das Feuer hat die Pulverdepots erreicht“, sagte der Seewolf. Er stand an der FiveRail und verfolgte, wie das treibende Wrack auseinander-brach. Ein Gluthauch wehte zur „Isabella“ herüber. Rasch tauchten die letzten lodernden Teile des einst so stolzen und prunkvollen Schiffes in den Fluten unter. „Beiboote abfieren!“ rief Hasard. „Da schwimmen noch ein paar Piraten im
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Wasser. Wir nehmen sie gefangen. Ich will sehen, mit wem wir es zu tun hatten.“ „Weg mit den Zurrings!“ brüllte Carberry. „Schwenkt außenbords die Boote und fiert, ihr eingepökelten Heringe. Was bildet ihr euch ein? Daß ihr euch jetzt auf die faule Haut legen könnt, was, wie? Kommt in Gang, oder ich ziehe euch ...“ „Geschenkt!“ schrie Blacky zurück. „Den Rest kannst du dir sparen, du Walroß!“ „Wie war das?“ Carberry rückte an. „Blacky meint, wir sollen uns beeilen!“ rief Matt Davies zurück. „Sonst schaffen die Piraten es noch bis zur Insel und hauen ab, bevor wir sie erreichen.“ „Das sag ich ja“, dröhnte die Stimme des allgewaltigen Profos'. Wenig später pullten die Männer den Flüchtenden nach - in vier Booten, denn auch Siri-Tong war mit dem schwarzen Segler zur Stelle und hatte zwei Boote bemannen lassen. Die Korsarin war diesmal an Bord zurückgeblieben. Hasard indes stand aufrecht im Bug des vorderen Bootes und hielt Ausschau nach den letzten Piraten. Sie holten sie ein. Verzweifelt suchten die Kerle im Wasser sich zu retten, aber sie waren schon zu erschöpft, um noch ausdauernd Widerstand leisten zu können. „Nicht schießen!“ rief Hasard seinen Männern zu. „Und laßt auch die Säbel und Messer stecken, verstanden?“ „Aye, Sir“, antwortete Carberry, der das zweite „Isabella“-Boot steuerte. „Wir vergreifen uns doch nicht an Wehrlosen.“ Er bückte sich und schnappte sich einen Polynesier, der hastig Reißaus nehmen wollte. Der Bursche zappelte wie ein Fisch, aber Carberry ließ sich nicht beirren und zerrte ihn aus den Fluten, sobald er seine Beine zu packen kriegte. Der Polynesier hatte noch ein Messer und wollte damit zustechen. Carberry hieb nur einmal mit der rechten Pranke zu. Das Messer segelte in die See zurück, der Eingeborene jammerte und wedelte mit der schmerzenden Hand. Hasard erblickte einen schwarzen Haarschopf Backbord voraus. Er gab 'seinen Männern einen Wink, und sie
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steuerten weiter nach links. Rasch schob sich das Boot auf den Mann im Wasser zu. Als dieser die Verfolger bemerkte, tauchte er unter. Hasard versuchte zwar noch, ihn zu greifen, aber seine Hände faßten bereits ins Leere. „Verdammt und zugenäht“, sagte er. „Ich habe keine Lust, hier Katz und Maus zu spielen.“ „Da ist er wieder!“ rief Shane, der die Ruderpinne bediente. „Rechts von uns! So ein raffinierter Hund!“ Hasard riß sich die Kleider vom Leib, bis auf eine kurze Hose. Nur mit seinem Messer bewaffnet, stürzte er sich mit einem Kopfsprung in das Naß. Der Schwarzhaarige tauchte vor ihm weg. Hasard folgte ihm. Unter Wasser hätte auch Dan, der Mann mit den schärfsten Augen, nicht die Hand vor Augen erkennen können. Hier herrschte tintenschwarze Finsternis. Hasard orientierte sich, so gut er konnte. Der Schwarzhaarige war ungefähr einen Yard vor ihm weggetaucht, aber als er an die Stelle geriet, war der Kerl verschwunden. Natürlich. Etwas anderes hatte Hasard auch. nicht erwartet. Der Pirat fintierte, so gut er konnte. Versuchsweise steuerte der Seewolf nach rechts — und hatte Glück. Er stieß mit dem Mann zusammen. Dieser begann sofort um sich zu schlagen und mit den Beinen zu strampeln. Das Wasser dämpfte aber die Wucht seiner Bewegungen. Hasard ließ sich nicht irritieren. Er steckte ein paar Hiebe ein, trieb die Deckung des anderen auf, packte ihn mit beiden Händen und stieß ihn nach oben. Gemeinsam tauchten sie auf. Sie japsten nach Luft. Hasard sah ein schwarzbärtiges, breites Gesicht vor sich, aber das Bemerkenswerteste in dieser Physiognomie waren die Augen. Sie waren groß und dunkel und loderten in unauslöschlichem Haß. „Hasard, paß auf, er hat ein Messer!“ schrie Gary Andrews aus dem Boot. Hasard war auf der Hut. Der Schwarzbart riß den Dolch hoch und wollte damit auf ihn einhacken. Aber er bremste ihn im
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Ansatz, drehte ihm den Arm um, daß das Messer wegfiel, ließ ihn blitzschnell wieder los, zog die rechte Faust hoch und knallte sie ihm unter das Kinn. Da sank der Kerl zusammen. Hasard fing ihn auf und schleppte ihn zum Boot ab. Shane dirigierte es näher heran, und dann streckten sich hilfreiche Hände dem Seewolf entgegen. Er ließ zuerst den Gefangenen an Bord hieven. „Fesselt ihn“, stieß er keuchend aus. „Sonst erleben wir noch eine Überraschung mit ihm.“ „Der Bursche ist gefährlich wie ein Sack voll Schlangen“, meinte Matt Davies. Und damit traf er genau den Nagel auf den Kopf. Hasard klomm an Bord. Er betrachtete den Schwarzbärtigen und tastete ihn ab. „Wollen wir eine Wette abschließen? Er ist der Kapitän der Piratengaleone“, sagte er. „Ich habe ihn auf dem Achterdeck hin und her laufen sehen, bevor Shane seinen Pulverpfeil und Ferris seine Höllenflasche 'rübersandte.“ „Und was wollen wir mit dem?“ fragte Gary Andrews. „Erst mal sperren wir ihn ein, dann sehen wir weiter.“ Hasard stutzte, er hatte etwas entdeckt. Er öffnete vorsichtig die Rohlederjacke des Bewußtlosen und zog aus einer Innentasche ein viereckiges Etwas hervor. „Was ist denn das?“ fragte Carberry, der jetzt an Backbord mit seinem Boot heranlief. „Eine Mappe?“ „Ja, aus Schweinsleder“, erwiderte Hasard. „Sie hat einen doppelten Verschluß, scheint völlig wasserdicht zu sein. Das läßt sich auch aus dem Fett schließen, mit dem das Leder eingerieben ist.“ Er steckte die Mappe ein. „Ich werde sie später untersuchen.“ „Vielleicht ist der Plan für einen verborgenen Schatz darin“, sagte Matt Davies. Carberry hatte es gehört, er grinste breit und spöttisch. „Glaubst du noch an Märchen?“
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„Könnte doch sein“, erwiderte Matt aufgebracht. „Finde ich auch“, fügte Jeff Bowie hinzu. Er saß neben Matt auf der Ducht. Der Profos fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. „Ihr habt sie ja nicht alle. Na, lassen wir das.“ Er sah zu Hasard. „Sir — wir haben insgesamt acht Halunken aus der See gefischt — nein, mit dem dort sind es neun.“ Er wies auf den Schwarzbart. „Einige scheinen Spanier zu sein, der Rest sind Eingeborene.“ „Zurück zu den Schiffen jetzt“, befahl Hasard. „Wir fesseln alle Gefangenen, sperren sie ein und kehren zur Ankerbucht zurück.“ 6. In dieser Nacht tat keiner ein Auge zu. Es wurden Stunden der Verbundenheit und besiegelten Freundschaft mit den Polynesiern von Hawaii, Stunden des Berichtens, Erklärens, Verstehens. Hasard lernte nun endlich Thomas Federmann kennen und war überwältigt von der Menschlichkeit und Klugheit dieses Mannes. Zuerst begaben sich die Seewölfe und Siri-Tong mit ihren Männern gemeinsam mit den neuen Bundesgenossen in das Dorf auf der großen Insel. Und hier wurden auch die neun gefangenen Piraten in eine solide Hütte gesperrt. Hasard erfuhr den Namen des Schwarzbärtigen — Ciro de Galantes. Die Eingeborenen versammelten sich auf dem Platz zwischen den Hütten. Der zuckende Schein von Lagerfeuern verlieh ihren Gestalten einen bronzenen Glanz. „Ich stelle dir den Häuptling der vereinten Stämme von Hawaii vor“, sagte Federmann zu Hasard. „Es hat mehrere Dörfer auf der Insel gegeben, aber seit der Bedrohung durch die Piraten haben sich alle Bewohner hier zusammengedrängt.“ „Wäret ihr denn für den Fall eines Kampfes ausreichend bewaffnet gewesen?“ erkundigte sich Hasard. „Wir haben Speere und Messer.“ „De Galantes und seine Kerle hätten euch im Handumdrehen überwältigen können.
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Ich begreife nicht, warum sie gewartet haben.“ „Es gibt hier wenig zu holen“, erwiderte Federmann ernst. „Keine materiellen Reichtümer, meine ich.“ „Und die Frauen?“ „Ja, natürlich wollten diese Halunken über sie herfallen und schlichen mit der Galeone um die Insel herum. Sie warteten auf einen günstigen Augenblick und weideten sich im übrigen an der Angst unserer Mädchen und Frauen.“ Federmann führte ihn zu einem großen, muskulösen Mann, der nach Hasards Schätzung um die Mitte Fünfzig sein mußte. Er stand im Zentrum des Platzes. Die Inselmenschen umringten ihn, Hasard und Thomas Federmann, und nun traten auch die Crews der beiden Schiffe hinzu. Die Szene geriet zu einem Zeremoniell von schlichter, jedoch ergreifender Feierlichkeit. „Zegú, der König von Hawaii“, sagte Federmann. „Er spricht recht gut englisch und beherrscht auch ein bißchen Spanisch. Ich habe es ihm beigebracht.“ Zegú nickte, lächelte, hob die Hand und beschrieb eine Geste zu Siri-Tong hin. „Warum näherst du dich nicht? Zegú und seine Brüder haben großen Respekt vor Frauen. Du bist die Führerin des Schiffes mit den schwarzen Segeln, Perle der See, und wir wollen auch dir danken für alles, was du getan hast.“ Siri-Tong schob sich zwischen Hasard und den Deutschen. „Das ist sehr nett und höflich“, erwiderte sie sanft. Federmann blickte sie überrascht an. Diese Frau war also nicht nur resolut und kaltschnäuzig. „Aber ich habe in den Kampf gar nicht mehr eingegriffen“, fuhr die Korsarin fort. „Das Ganze ist Hasards Verdienst.“ Sie wies auf den großen, schwarzhaarigen Mann mit den eisblauen Augen. „Philip Hasard Killigrew — der Seewolf.“ Zegú blieb unbeirrt. „Ihr beide habt verhindert, daß die Piraten die Menschen von Hawaii auslöschten. Die Götter haben euch gesandt.“ Er verneigte sich tief. „Wir sind euch —ewig ergeben.“
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Hasard wollte etwas entgegnen, aber in diesem Augenblick ertönte ein unterschwelliges Grollen. Es näherte sich, unterlief den Dorfplatz und brachte ihm zum Vibrieren. Zegú und seine Untergebenen fielen auf die Knie und hoben die Hände zum Himmel. „Pele, allmächtige Göttin!“ rief der Häuptling aus. „Die Gefahr ist gebannt, und ich werde dein Orakel befragen — über das Schicksal, das diesen Übeltätern gebührt.“ Anklagend wies er mit der Hand auf die Hütte, in der sich die neun Gefangenen befanden. „Wenn du bereit bist, mich zu empfangen, so gib mir ein Zeichen, große Pele — nur ein einziges Zeichen noch!“ Thomas Federmann hatte die Worte, die der Häuptling in seiner Muttersprache ausgerufen hatte, gedämpft ins Englische übersetzt. Jetzt fügte er hinzu: „Pele — das ist die feuerspeiende Göttin der Vulkane. Die Polynesier sind davon überzeugt, daß sie in den Bergkratern haust und brennenden Schleim ausspuckt, wenn sie wütend ist. Man kann ihnen diesen Glauben nicht nehmen.“ „Vulkane?“ wiederholte Bob Gray, der nicht weit vom Seewolf entfernt stand. „Das hat uns noch gefehlt.“ „Wie könnt ihr hier wohnen?“ fragte SiriTong. „Die Vulkane sind schon lange nicht mehr aktiv gewesen“, entgegnete der Deutsche. „Und nach meinen Berechnungen wird Pele auch noch längere Zeit friedlich bleiben, höchstens mal ein bißchen grollen — so wie eben.“ „Berechnungen?“ Thorfin Njal trat näher. „Wie berechnest du denn so was? Und wie kannst du so sicher sein?“ Federmann lächelte. „Das setze ich dir bei Gelegenheit noch genauer auseinander, Wikinger.“ „Wir haben mit Vulkanen jedenfalls üble Erfahrungen gesammelt“, sagte Carberry. „Es hätte nicht viel gefehlt, und wir wären mitsamt dem Piraten O'Lear und seiner verdammten Galeone verschlungen worden.“
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„Augenblick“, sagte Federmann. „Selbst wenn ein Ausbruch erfolgen sollte, wären wir an dieser Seite der Insel nicht gefährdet. Bei Eruptionen läuft die Lava immer zur anderen Seite der Insel ab — nach Nordosten.“ „Dorthin, wo der Strand schwarz ist“, vervollständigte Hasard. „Ja, das hört sich logisch und plausibel an. Im .übrigen solltet ihr euch wirklich nicht beunruhigen, Männer. Wie es scheint, ist Pele uns wirklich wohlgesonnen. Sie hat uns eben wohl nur eine gute Nacht wünschen wollen. Jetzt schweigt sie wieder.“ Thomas und die Rote Korsarin lachten leise, aber Carberry und ein paar andere schauten immer noch ziemlich verdrossen drein. Seegefechte und Entermanöver, Stürme und jede Art von Entbehrungen an Bord ihrer „Isabella“ waren etwas, das sie nicht mehr aus der Fassung brachte. Nur die verborgene, lauernde Gefahr, die sie nicht bewältigen konnten und die Anlaß zu Aberglauben und Spökenkiekerei gab — die konnten sie nicht leiden. Pele gab kein Zeichen mehr, das Grollen war verebbt. Zegú und die anderen Eingeborenen erhoben sich wieder. Der König von Hawaii — wie er sich offenbar ohne jegliche Selbstüberschätzung nannte — trat wieder zu Hasard und Siri-Tong und sagte in seinem holperigen Englisch: „Wie können wir euch huldigen? Wie können wir unseren Dank am besten ausdrücken?“ „Ich habe eine Idee“, erwiderte Hasard. „Ich lade euch auf mein Schiff ein — euch alle. Wir werden ein Bankett feiern und dabei alles besprechen, was es zu besprechen gibt. Wir müssen nur Wachen einteilen, die sich im Turnus von drei, vier Stunden vor der Hütte der Gefangenen ablösen.“ Er lächelte. „Ja, Häuptling Zegú, wir könnten auch hier in deinem Dorf den Freundschaftspakt feiern, aber von Bord der ‚Isabella' aus behalten wir die See besser im Auge. Dort fühlen wir Seewölfe uns sicherer.“ „Dein Wunsch ist mir Befehl“, antwortete Zegú.
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Er klatschte zweimal in die Hände. Sofort setzte emsiges Treiben ein. Die Frauen trugen Krüge mit Getränken und Körbe mit Eßwaren auf, die Männer schleppten frisch erlegtes Wildbret an Tragestöcken heran. So bildete sich eine Prozession aus lachenden, fröhlichen Menschen, die sich schließlich durchs Dickicht zur Ankerbucht der Schiffe hin in Marsch setzte. Der Profos schritt neben dem Kutscher, stieß diesen mit dem Ellenbogen an und raunte ihm zu: „Übrigens, was die Sache mit der Proviantund Trinkwasserbeschaffung betrifft, so brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu bereiten.“ „Wirklich nicht?“ Carberry wies mit dem Daumen auf die Frauen, die hinter ihnen hertrippelten und ihre Lasten auf den Köpfen balancierten. „Da, siehst du nicht, wie ich so was organisiere?“ * Das große Festbankett auf der „Isabella VIII.“ wurde keineswegs zu einem herrlichen Besäufnis, wie man es sich bei Nathaniel Plymson daheim in der „Bloody Mary“ von Plymouth vorstellen mochte — nein, das hier, in dieser lauen Tropennacht, das war etwas ganz anderes. Ein Traum voll exotischem Zauber, das war die treffende Bezeichnung. Die Getränke, die die Eingeborenen servierten, waren mild und hatten wenig Alkoholgehalt. Wein, Bier, Whisky und Rum aus den Beständen des Seewolfs und der Roten Korsarin flossen auch, aber es ließ sich keiner über den Pegelstand des Verträglichen vollaufen. Nicht einmal Missjöh Buveur. Und das war schon ein kleines Wunder. Vielleicht lag es an der Anmut der Mädchen. Sie kredenzten nicht nur Flüssiges aus Krügen und Fisch, Wild und Früchte, sie tanzten auch zu den Klängen einfacher Instrumente, die von ein paar jungen Männern zum Tönen gebracht wurden. Die Polynesier waren
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musikalische, künstlerisch hochbegabte Menschen. Ihr Gemüt war ausgeglichen und von vollkommener Harmonie. Carberry saß mit verzücktem Gesicht auf der Kuhlgräting und schaute den Tänzerinnen zu. „Mann, ich kann das gar nicht fassen“, sagte er zu Dan O'Flynn. „So was Hübsches hier auf dem Oberdeck unserer ‚Isabella' — das ist das Allergrößte ...“ „Ja, so etwas sehen und sterben, was, Ed?“ meinte Dan. Arwenack kauerte hinter ihm auf der Holzroste und hatte einen noch verträumteren Gesichtsausdruck als der Profos. Sogar Sir John sah entrückt aus. Er hockte in den Hauptwanten und rührte sich nicht mehr vom Fleck. „Sterben, wieso das denn?” fragte Carberry. „Ach, nur so. Irgendwer hat den Spruch mal aufgebracht.“ „Versteh ich nicht. Ich fühle mich so jung wie Bill, unser Moses.“ „Na, nun übertreib mal nicht.“ Eins der Mädchen näherte sich mit schwingendem Schritt. Sie bückte sich, hängte dem verblüfften Profos einen Kranz aus Blumen um und trippelte wieder davon. Carberry fuhr ganz behutsam mit der Hand über die frischen Blumen. Man traute ihm soviel Feinsinn gar nicht zu. Er nahm einen Schluck Wein aus seinem Becher, seufzte und sagte: „Das ist schöner als Weihnachten und Ostern zusammen, Leute.“ Hasard, Siri-Tong, Shane, Ben Brighton, Ferris Tucker, Old O'Flynn, Thorfin Njal, Juan, der Boston-Mann und ein paar andere saßen auf dem Achterdeck bei Zegú und Thomas Federmann. Auf Hasards Drängen hin hatte Thomas über seine Vergangenheit zu sprechen begonnen. „Ich bin auf abenteuerlichen Wegen hierher gelangt“, begann er. „Das ist eine sehr lange Geschichte. Die Kurzfassung lautet folgendermaßen: Als ich aus verschiedenen Gründen nicht länger in Neu-Granada bleiben wollte, schlich ich mich auf dem Landweg bis nach Panama und dort als blinder Passagier auf ein
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Schiff. Das war eine Galeone, die mit Kurs auf die Philippinen auslief.“ „Etwa die Manila-Galeone?“ fragte Ben Brighton. „Du meinst — die ,Nao de China'?“ „Ja, die.“ „Nein“, erwiderte Thomas. „Auf jenem Schiff befanden sich kaum Güter, von Wertvollem ganz zu schweigen. Vorwiegend diente es dazu, Menschen von Neuspanien nach Manila umzusiedeln. Also, unterwegs wurde ich entdeckt und von dem strengen Kapitän in einer Nußschale ausgesetzt. Wäre ich nicht durch Zufall auf diese Insel zugetrieben, wäre es mit mir aus gewesen. Die Eingeborenen empfingen mich auf See wie einen Gast, luden mich in eins ihrer Auslegerboote um, und seitdem lebe ich hier.“ „Wie lange ist das her?“ fragte Hasard. „Drei oder vier Jahre. Ich habe die Tage seit meiner Ankunft nicht mehr gezählt. Die Zeit hat hier einen relativen Wert.“ „Verstehe. Warum bist du aus NeuGranada geflohen?“ „Weil meine Eltern getötet wurden und ich nicht mein restliches Leben bei Mönchen in einem Kloster verbringen wollte.“ „Wie alt bist du?“ „Vierundzwanzig.“ „Federmann“, murmelte der Seewolf. „Dieser Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich glaube, Karl von Hutten erwähnte ihn mal ...“ „Von Hutten?“ Thomas setzte sich auf. „Du kennst einen von Hutten? Das ist ja kaum zu fassen!“ „Wieso, du auch?“ „Mein Onkel war Nikolaus Federmann. Ein Welser, der an der Seite von Dalfinger, Philipp von Hutten und Bartolomäus Welser Venezuela eroberte, dann die Kordilleren überstieg und bis nach NeuGranada vordrang.“ „Ja. Diesem Nikolaus Federmann will man sogar ein Denkmal setzen, habe ich gehört.“ Thomas zuckte mit den Schultern. „Mag sein. Aber es wäre besser gewesen, die Deutschen hätten nie an der Conquista
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teilgenommen. Aber lassen wir das. Wann kann ich einmal mit diesem Karl von Hutten reden? Gehört er zu einer eurer Crews?“ „Er fuhr unter Hasards Kommando“, erwiderte die Rote Korsarin. „Aber jetzt ist er zusammen mit Jean Ribault Kapitän auf einem eigenen Segler und kreuzt in der Karibik.“ „Ach so ...“ „Er ist der Sohn Philipps von Hutten und einer indianischen Häuptlingstochter“, ergänzte der Seewolf. „Philipp von Hutten war, wie du ja sicher weißt, der letzte Generalkapitän der deutschen Kolonie des Handelshauses der Welser in Venezuela. Er wurde von den Spaniern umgebracht seine Frau auch. Karl haßt die Spanier deswegen wie die Pest. Übrigens wurde er tatsächlich von Mönchen großgezogen. Später lief er ihnen aber davon und kämpfte mit den Indianern gegen die Spanier. Wir befreiten ihn aus spanischer Gefangenschaft, aber das liegt auch schon wieder ein paar Jahre zurück.“ „Vielleicht lerne ich Karl von Hutten eines Tages kennen“, sagte Thomas. „Er hat also den Weg des Kampfes, der Rebellion gewählt, um sich gegen die spanischen Herrscher zu behaupten. Nun, ich bin gegen Gewalt. Ein Dasein wie das auf Hawaii beweist, daß man in Frieden leben kann. Auf Jahrzehnte hinaus. Jahrhundertelang.“ Old Shane beugte sich vor. „Schön, aber was ist, wenn du dich verteidigen mußt? So, wie im Fall einer Auseinandersetzung mit de Galantes?“ „Ja, das wäre ein Problem geworden, wie ja auch schon der Seewolf gesagt hat.“ Thomas nahm einen Schluck von seinem Becher und fuhr fort: „Die Harmonie dieser Inselwelt bleibt eben nur solange intakt, wie keine Einflüsse von außen sie stören. De Galantes und seine spanischen Spießgesellen waren ein solcher störender Einfluß. Denn vor ihrem Eintreffen waren auch die Eingeborenen von Oahu friedfertig.“ „Ich nehme an, dieser de Galantes ist ein Meuterer“, sagte Hasard. „Seinem Aufzug
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nach muß er früher an Bord eines spanischen Seglers gedient haben. Als Bootsmann, schätze ich.“ „Das stimmt. Wir haben dies alles von einem jungen Polynesier erfahren, der von Oahu geflüchtet ist“, erwiderte der Deutsche. „Er traf vorgestern auf Hawaii ein. Er hatte eins der Mädchen unserer Insel kennengelernt und sich in sie verliebt. Sie verbrachten eine Nacht im Wald, dann konnte sie ihn überreden, zu uns ins Dorf zu kommen „Aha“, sagte Siri-Tong. Triumphierend schaute sie in die Runde. „Was sagt ihr jetzt - ich meine, was die Spuren im Wald und meine weiblichen Eingebungen betrifft?“ „Frauen haben grundsätzlich recht“, antwortete Old O'Flynn. „Der junge Oahu-Mann berichtete“; sagte Thomas Federmann. „Vor ein paar Wochen waren die Meuterer bei ihnen gelandet - zwölf Mann in einer Pinasse. Sie berauschten die Männer des Stammes mit scharfen Schnäpsen, die sie irgendwie von Bord ihres Schiffes hatten mitschleppen können, nahmen sich ihre Frauen und hausten wie die Vandalen.“ „Und die Galeone? Woher hatten sie die?“ fragte Ferris Tucker. Thomas sagte: „Es ist noch nicht sehr lange her, da lief dieser Segler die Inseln an. Er befand sich auf Trinkwassersuche, glaube ich. Er geriet nach Oahu. De Galantes stellte der Besatzung eine raffinierte Falle, brachte sie um und kaperte das Schiff. Er löschte den Namen an den Bordwänden aus und entfernte auch die anderen Zeichen, die auf dessen Herkunft hindeuteten.“ „Von da an betätigte sich de Galantes als Pirat“, sagte Hasard. „Er glaubte wohl auch, sämtliche Inseln des Archipels vereinnahmen zu können und hier sein Reich zu errichten.“ „Ja, das nehme ich auch an.“ „Nur hat er sich für zu gerissen gehalten“, meinte Thorfin Njal. „Er dachte, bei uns reiche Beute reißen zu können. Damit hat er ja auch gar nicht mal unrecht. Nur was das Kräfteverhältnis betraf, da hat er sich
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ins eigene Fleisch geschnitten und den Fehler seines Lebens begangen.“ „Ich möchte, daß die Gefängnishütte ständig bewacht wird“, sagte der Seewolf. „Thomas, Zegú — wir dürfen diesen spanischen Lumpenhund auch jetzt nicht unterschätzen.“ Der Häuptling nickte lächelnd und breitete die Arme aus., „Zegú wird Sorge tragen — für alles. Keine Angst.“ Er beschrieb ein paar Gesten in der Luft. „Es ist viel gesprochen worden heute nacht. Darüber haben Thomas und der König von Hawaii aber eines nicht vergessen — ein Geschenk für die weißen Freunde.“ Hasard wehrte mit einer Gebärde ab. „Nein, nein, ich nehme von euch nichts an. So haben wir nicht gewettet.“ Thomas lächelte nur dazu. Der Häuptling klatschte wieder zweimal in die Hände, und zwei Mädchen sonderten sich daraufhin von der Tanzgruppe auf der Kuhl ab, liefen nach Steuerbord, wo die Krüge und die Körbe abgestellt waren, und hoben einen großen Korb hoch. Hasard protestierte wieder. Zegú aber wandte sich an Siri-Tong und sagte: „Eine schöne Frau darf es nicht abschlagen, von einem König ein Geschenk anzunehmen.“ „Aber ich darf mich auch dafür revanchieren“, erwiderte sie. „Paß auf“, raunte Ben seinem Kapitän zu. „Du kriegst hier noch einen echten Rivalen.“ „Mister Brighton“, sagte der Seewolf. „Behalte deine Weisheiten für dich, ja?“ „Ich — äh, Verzeihung, Sir. Das muß am Wein liegen.“ „Glaube ich auch“, sagte Hasard ziemlich grimmig. Die Mädchen waren heran und wickelten aus, was sie vorsichtig dem Korb entnahmen. Es handelte sich um mehrere flache, eckige Gegenstände. Langsam reichten sie der Korsarin einen nach dem anderen, jedesmal mit einer Verbeugung. Als Siri-Tong das erste Objekt in Händen hielt, erkannte Hasard ein rechteckiges Stück Leinwand, auf dem jemand in dezenten Farben etwas festgehalten hatte — eine Szene aus dem Leben der
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Inselbewohner. Auch aus diesem Gemälde sprach die Harmonie und Beschaulichkeit, die dieser Welt zu eigen war. „Faszinierend“, sagte er. „Einfach fabelhaft“, meinte nun auch die Eurasierin. „Wer hat denn das gemalt?“ Thorfin Njal grinste wie ein Faun aus, den nordischen Tannenwäldern. „Darf ich mal raten, ja?“ Ferris sah ihn entgeistert an. „Woher willst denn ausgerechnet du wissen, wer der Künstler ist, du behelmter Nordpolaffe?“ „Glaubst du, ich habe keine Ahnung von solchen Sachen?“ fragte der Wikinger drohend zurück. „Jawohl.“ „Dir werde ich's beweisen. Thomas Federmann ist der Maler.“ Alle sahen zu dem Deutschen, und der wurde jetzt ein wenig verlegen. „Donnerwetter“, sagte Hasard. „Du bist ja ein richtiges Genie, Thomas. Meinen Glückwunsch.“ „Ich studiere nicht nur die Natur und das Leben der Polynesier, ich will dies alles auch für die Nachwelt festhalten.“ Thomas blickte zu Siri-Tong. „Nur um eins möchte ich euch bitten. Verratet nie jemandem, wo diese Inseln genau liegen. Dann wäre es nämlich mit dem Paradies zu Ende.“ „Das versteht sich von selbst“, versicherte sie ihm ernst. „Hasard und ich werden diese Gemälde wie Schätze verwahren. Aber du kannst uns nicht verwehren, daß wir dir und dem Häuptling auch etwas hinterlassen — als Andenken.“ Hasard hatte Bill, dem Schiffsjungen, der gerade auf dem Achterdeck erschienen war, einen Wink gegeben. Bill trat heran, nahm die Order seines Kapitäns entgegen und verschwand rasch wieder in Richtung Kuhl. Siri-Tong hielt wieder ein Bild vor sich hin, es war das vierte, das die Mädchen ihr gereicht hatten. „Hier hast du dich ja sogar selbst porträtiert, Thomas“, sagte sie begeistert. „Und die jungen Frauen hier, die Kinder, die dich umringen — ist das deine Familie auf Hawaii?“
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Jetzt lächelte Federmann verschmitzt. „Wir sind eine einzige, große Familie. Ein Mann hat hier nicht nur eine Frau, mit der er zeitlebens in Partnerschaft lebt.“ „Das mußt du mir unbedingt genauer erklären“, meinte sie. „Moment“, sagte der Seewolf. Er erhob sich und griff nach dem letzten Bild. „Darf ich das mal sehen? Was ist denn das? Ein Schiff?“ Er betrachtete das Gemälde. Es zeigte die Ankerbucht, in der sie jetzt mit der „Isabella“ und dem schwarzen Segler lagen. Auf dem Bild, das eine Szene in der Abenddämmerung darstellte, erschien das fremde Schiff fast nur als Schattenriß — und doch hatte er es plötzlich einwandfrei identifiziert. „Das ist ja Drakes ,Golden Hind`“, sagte er verblüfft. 7. Die anderen waren nicht minder überrascht. Sie umringten ihn plötzlich alle und sahen über seine Schulter auf das traumhaft schöne Bild. Es gab den ganzen Zauber von Polynesien wider, und durch die Präsenz des berühmten Dreimasters erlangte es sogar etwas Mystisches. „Das ist ja nicht zu fassen“, sagte Ben Brighton. „Wann ist Francis Drake denn hier gewesen?“ „Drake?“ Thomas Federmann wiederholte den Namen etwas verwundert. Shane tippte mit dem Finger auf das Bild. „Drake, der Kapitän dieses Schiffes. Einer der größten und berühmtesten Korsaren Ihrer Majestät, Königin Elizabeth I. von England.“ „Ihr müßt schon entschuldigen, aber ich konnte mich an seinen Namen nicht mehr erinnern“, erwiderte der Deutsche. „Also, ich weiß nicht mehr genau, wann er hier aufgetaucht ist, aber ich schätze, es liegt schon mehr als zwei Jahre zurück. Ich entsinne mich aber noch, wie er aussieht, dieser Drake — nicht besonders groß, kräftig gebaut, mit rundem Kopf, braunem Haar und Spitzbart.“
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„Ja, das ist er“, sagte Hasard. „Und er befand sich damals auf Weltumsegelung.“ Thomas nickte. „Er suchte die ManilaGaleone und erklärte mir, was es mit diesem Schiff auf sich hatte. Nun, ihr werdet staunen, ich konnte ihm einen brauchbaren Hinweis liefern. Die ,Nao de China' segelt nämlich jedes Jahr sehr nah an Hawaii vorbei. Es ist jedesmal eine andere Galeone, aber als ich Drake die Namen nannte, die ich an den Bordwänden entziffert „hatte, war er überzeugt, daß es sich um die Schatzschiffe handele. Er sagte, wahrscheinlich benutzten die Spanier unsere Inseln als Orientierungshilfe.“ „Aber sie laufen sie nicht direkt an?“ fragte Siri-Tong. „Nein. Drake sagte, sie haben genügend Proviant und Trinkwasser an Bord und sind für eine Reise ohne Unterbrechung gerüstet, die fast zwei Monate dauert“. Hasard hatte sich aufgerichtet. Er schaute in die Runde und las in den Mienen seiner Männer, daß sie genau das gleiche dachten wie er. „Thomas“, sagte er. „Was tat Drake? Wartete er?“ „Ja, denn ich teilte ihm mit, daß die ,Nao` Hawaii in jenem Jahr noch nicht passiert hätte. Eigentlich war ich dagegen, daß er sie überfiel, aber er überzeugte mich. Erstens, weil er behauptete, sich im Kampf absolut fair zu verhalten, zweitens, weil ich damals noch eine ziemlich große Wut gegen die ‚Dons' im Bauch hatte.“ „Nun spann uns doch nicht so auf die Folter“, sagte Old O'Flynn. „Konnte unser guter alter Francis Drake die verdammte Manila-Galeone nun aufbringen oder nicht?“ „Er wartete vergebens. Sie erschien nicht. Er setzte seine Reise fort, und erst rund einen Monat später beobachtete ich dann das Schiff, wie es vorüberzog. Ich habe es sogar gemalt.“ „Das Bild schaue ich mir gern mal an“, sagte Hasard. „Es liegt in meiner Hütte.“ „Gut. Später also.“ Der Seewolf blickte zu Bill, der in diesem Augenblick auf das
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Achterdeck zurückkehrte, sprach dabei aber weiter. „Seit wir Engländer auch in diese Gefilde vorgedrungen sind, sind die Spanier vorsichtiger geworden. Sie scheinen den Terminplan für die Manila-Galeone tatsächlich jedes Jahr neu festzulegen. Ob sie auch die Route geändert haben?“ „Das kann ich dir nicht sagen“, erwiderte Federmann. „In diesem Jahr ist das Schiff hier jedenfalls noch nicht aufgekreuzt.“ „Das würde sich mit dem decken, was wir durch die Sabreras-Dokumente wissen.“ Hasard nahm die Schatulle in die Hand, die Bill auf seine Anordnung hin aus der Kapitänskammer geholt hatte. Er öffnete sie. „Aber jetzt zurück zu unseren Freundschaftsgaben.“ Langsam zog er eine goldene Kette, die über und über mit Smaragden besetzt war, aus dem Behältnis hervor. „Diesen Schmuck haben die Chibchas, die Ureinwohner von NeuGranada, angefertigt. Sie schenkten ihn uns, weil wir sie aus der spanischen Gefangenschaft und Sklaverei befreiten.“ „Esmeraldas“, sagte Thomas Federmann überwältigt. „Die grünen Steine, deren Wert sich nur schätzen läßt ...“ In der mit Samt ausgeschlagenen Schatulle lagen noch mehr Schmuckstücke — Ketten, Reifen und Diademe. Hasard händigte sie Zegú aus, und wieder spielte sich das gleiche Zeremoniell ab. Der Häuptling weigerte sich, die Kleinodien anzunehmen. Aber dank Siri-Tongs Lächeln und überzeugender Worte willigte er schließlich doch ein. Die Feier dauerte bis zum Morgengrauen an. Die tanzenden Mädchen hatten inzwischen allen, auch Arwenack, Blumenkränze umgehängt, nur bei Sir John war es ihnen nicht gelungen. Jedesmal, wenn sie es wieder versuchten, flatterte er empört ein Stück in den Wanten hoch. Die Heiterkeit hatte um sich gegriffen, sie war ansteckend. Matt Davies und ein paar andere sangen schräge Lieder, aber die Texte waren von der harmlosen Sorte. Überhaupt, Carberry und Thorfin Njal als Disziplinhüter paßten auf, daß keiner der Männer aus der Rolle fiel.
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Am Morgen war der Seewolf als erster wieder auf den Beinen. Er saß an seinem Pult in der Kapitänskammer und hatte die Tür zur Heckgalerie weit geöffnet. Die Sonnenstrahlen drangen ungebrochen ein und wärmten seinen Rücken. Eine frische Brise strich über die Bucht. Der Wind hatte etwas mehr nach Norden gedreht. Die sanfte Dünung wiegte die „Isabella“. Er untersuchte die Mappe aus gefettetem Schweinsleder, die er Ciro de Galantes abgenommen hatte. Sie barg ein ziemlich zerfleddertes Bündel Papier, das von irgendjemandem sehr unfachmännisch mit Seemannsgarn zusammengeheftet worden war. Hasard blätterte darin und war plötzlich so sehr in seine Gedanken verstrickt und in die Lektüre vertieft, daß er Siri-Tong kaum bemerkte. Sie trat durch die Tür ein, die auf den Gang des Achterkastells führte. Langsam schob sie sich näher an Hasard heran. „Was ist denn das für ein merkwürdiges Buch?“ fragte sie dann leise. „Das Tagebuch von Ciro de Galantes“, antwortete er, ohne aufzuschauen. „Du wirst es kaum für möglich halten, aber hier ist auch von der sagenhaften ,Nao de China' die Rede. Das spanische Schiff, auf dem de Galantes Bootsmann und seine meuternden Komplicen Decksleute waren, hatte unter anderem Geheimdokumente für den Gouverneur von Panama an Bord; und die befaßten sich mit dem Zeitplan und der Route der Manila-Galeone. De Galantes hat sie einsehen und abschreiben können. Ich hoffe wirklich, sein damaliger Kapitän hat davon nichts gemerkt.“ Die Rote Korsarin legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ja, ich verstehe. Das würde nämlich heißen, an den Planungen hat sich nichts geändert.“ „Das Schiff, auf dem de Galantes fuhr, war direkt von den Philippinen nach Neuspanien unterwegs.“
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„Und wir haben allen Grund zu der Annahme, daß es dort auch angekommen ist“, sagte Siri-Tong. „De Galantes' Überlegungen gingen in die gleiche Richtung. Er wollte meutern und das Schiff an sich reißen, aber dann scheiterte sein Unternehmen, und er und die anderen elf Verschwörer wurden in der Pinasse ausgesetzt. Ohne Proviant, ohne Wasser. Kein Mensch hätte jemals damit gerechnet, daß sie Oahu erreichten. Und doch schafften sie es. So faßte de Galantes sein Vorhaben, Freibeuter zu werden — und hier der Manila-Galeone aufzulauern.“ Hasard hob den Kopf, wandte Siri-Tong das Gesicht zu und blickte sie eindringlich an. „Weißt du was? Er hat wohl geglaubt, unsere ‚Isabella' sei die Manila-Galeone.“ „Das nenne ich Ironie des Schicksals.“ „Und du weißt, was das für uns bedeutet.“ Sie lächelte. „Natürlich. Mit großer Wahrscheinlichkeit können wir die ,Nao' nun stellen.“ Er grinste. „Aus den Geheimnachrichten, die de Galantes kopiert hat, geht aber noch etwas hervor. Von diesem Jahr an sollen immer mindestens zwei Kriegsschiffe die Galeone auf ihrer Reise begleiten —aus ,zwingenden Gründen'. Ein Dekret, das direkt von Philipp II. erlassen worden ist.“ „Die zwingenden Gründe heißen Drake und Killigrew, schätze ich.“ Sie lachte auf. „Drake hat die Galeone nicht zu kapern vermocht, und er befindet dich inzwischen wieder in England. Aber Philipp II. hat nach wie vor Grund zur Besorgnis. Der Stille Ozean ist kein ruhiges Gefilde mehr, er muß seine Schatzschiffe von Kriegsseglern schützen lassen, obwohl er früher weitgehend darauf verzichtet hat. Geleitschutz — gegen den Seewolf!“ „Und die Rote Korsarin!“ „Die beide inzwischen wieder Kap Horn gerundet haben. Diese Kunde ist mittlerweile bestimmt auch zu dem durchlauchten König durchgedrungen.“ Er stand auf, und sie traten auf die Heckgalerie. „Die Manila-Galeone ist eine Beute, die ich mir nicht entgehen lassen will“, sagte er. „Die Angaben aus de Galantes'
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Tagebuch decken sich mit denen, die ich in Sabreras' Dokument gelesen habe. Und Thomas Federmann ist felsenfest davon überzeugt, daß die ,Nao` hier noch nicht vorbeigesegelt ist.“ „Also warten wir?“ „Es wird sich lohnen“, sagte der Seewolf. * Dan O'Flynn und Gary Andrews hatten einen der schönsten Plätze an der Südseite von Hawaii erklommen und hielten am vierten Tag nach dem Eintreffen in der Bucht acht Stunden Dauerwache. Arwenack, der Schimpanse, leistete ihnen dabei Gesellschaft. Hasard und Siri-Tong hatten auch am nordöstlichen Ufer sowie auf den , Nachbarinseln Ausguckposten placiert. Thomas Federmanns Hinweisen zufolge mußte die Manila-Galeone zwar südlich von Hawaii erscheinen, aber sie wollten eben völlig sichergehen. „Also, ganz geheuer ist mir die Sache nicht“, sagte Gary. „Ich will ja nicht unken, aber — hör dir das an!“ Der Berg hieß in der Sprache der Polynesier Puu O Keokeo, soviel wußten sie. Pele schien auch hier zu hausen, denn nur ein paar hundert Yards im Rücken der Männer erstreckte sich der Krater, in dessen Tiefen es heiß brodelte und gurgelte. Der Gluthauch wurde vom Wind herübergetragen. Dan und Gary lief es aber nicht warm, sondern eiskalt über den Rücken, als sie ihn spürten. Dan schnaufte empört. „Mann, sind wir denn neuerdings unter die Angsthasen gegangen, oder was ist los?“ „Das hat doch damit nichts zu tun.“ „Falls der verdammte Vulkan überkocht, haben wir immer noch genug Zeit, um abzuhauen.“ Gary sah den Freund an. „Das ist eben die Frage, die ich mir stelle. Schaffen wir das wirklich?“ „Wir müssen es darauf ankommen lassen, es bleibt uns ja nichts anderes übrig“, erwiderte Dan nüchtern. Allmählich gewöhnte er sich an das Grollen des
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Vulkans, und die gewohnte Abgeklärtheit kehrte in ihn zurück. „Außerdem — die feuerspeiende Göttin ist uns wohlgesonnen. Die haut uns schon nicht in die Pfanne.“ „Sprechen wir lieber über die ManilaGaleone`', meinte Gary. „Ja, das finde ich auch. Hasard hat gesagt, daß Manila 1565 gegründet wurde und daß im selben Jahr die Route der Galeone zur kalifornischen Küste und von dort nach Acapulco eingeführt wurde.“ „Vor achtzehn Jahren also.“ „Ja, und jedes Jahr einmal findet die wertvolle Fahrt statt“, sagte Dan. „Die schwerbeladene ,Nao de China' übernimmt in Manila Fracht, die größtenteils aus dem Land der Zopfmänner stammt und von portugiesischen Schiffen auf die Philippinen gebracht wird. Kunstwerke, Juwelen, Seide, Satin, Brokat, Elfenbein, Parfüm und Gewürze — dieses Zeug wird dann in Neuspanien gelöscht.“ „Und die Dons in Acapulco und Panama entrichten den Gegenwert in Gold und Silber. Danach geht die Galeone wieder ankerauf und kehrt zurück nach Manila.“ Dan grinste und rieb sich die Hände. „Mir wird ganz anders, wenn ich daran bloß denke. Hasard hat gehört, daß es manchmal bis zu zwei Millionen ,Pieces of eight' sind, die das Schiff über den Pazifik schaukelt.“ „Spanische Piaster, jeder acht Reals wert“, sagte Gary. „Wenn das wahr ist. Alle Freibeuter wünschen sich, die legendäre Galeone aufzubringen.“ „Aber keinem ist es bisher gelungen“, erwiderte der junge O'Flynn. Er hob wieder das Spektiv und blickte hindurch. Sorgfältig suchte er die ganze Kimm von Osten bis Westen ab, aber es war wieder nichts zu sehen — wie vor Tagen, ehe sie Hawaii angelaufen hatten. Wie oft Gary und er diese schon fast stereotype Bewegung an diesem Tag durchführten, wußte keiner von beiden. Erst am Nachmittag hatte das nervtötende Forschen ein Ende und wurde unverhofft belohnt —denn Dan entdeckte Mastspitzen an der östlichen Kimm.
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„Ich krieg zuviel“, stieß er aus. „Gary, jetzt wird's ernst.“ „Wir wissen doch noch gar nicht, mit wem wir es zu tun haben“, gab Andrews zu bedenken. „Warte, es sind drei Segler. Nein, vier. Dicke Brocken, glaube ich.“ Dan saß stocksteif da und schien mit seinem Kieker zu verwachsen. „Alles Dreimaster.“ Gary spähte ebenfalls mit dem Spektiv auf die See hinaus, aber er schüttelte nur den Kopf. „Ich kapier nicht, wie du die Masten auf diese Entfernung zählen kannst.“ „Laß das meine Sorge sein. Lauf bitte zur Bucht und sag Hasard und Siri-Tong Bescheid.“ „In Ordnung“, sagte Gary. Er erhob sich von ihrem Aussichtspunkt, einem kleinen Plateau, und lief den Pfad hinunter, den die Polynesier ihnen gewiesen hatten. Als er etwa die Hälfte des Weges zur Bucht zurückgelegt hatte, vibrierte der Untergrund, und Puu O Keokeo entließ ein drohendes Grollen. Pele schien die vier gesichteten Schiffe nicht leiden zu können. * „Vier Schiffe“, wiederholte der Seewolf. Gary, noch etwas außer Atem, stand neben ihm auf dem Achterdeck der „Isabella“. „Ein harter Brocken also. Falls es sich tatsächlich um die Manila-Galeone und ihren Geleitschutz handelt, haben wir es nicht leicht. Geben wir uns keinen falschen Hoffnungen hin. Die Armierungen dieser Schiffe sind bestimmt hervorragend.“ „Wir helfen euch“, sagte Federmann, der bei Siri-Tong, Ben Brighton, Thorfin Njal und den anderen stand. „Die Polynesier und ich. Wir können mit unseren Auslegerbooten auch einiges ausrichten. Ich wette, wir paddeln den Spaniern glatt unter den Kanonenmündungen hindurch.“ Hasard winkte ab. „Danke, aber davon will ich nichts hören. Vergiß nicht deine Grundsätze, Thomas.“ „Wir helfen Freunden. Das ist etwas anderes.“
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„Trotzdem. Ihr müßt neutral bleiben, um jeden Preis. Falls einer der Spanier entwischt und in der Neuen Welt berichtet, daß ihr uns beigestanden habt, werden die Dons eine Strafexpedition ausrüsten und losschicken. Du weißt, was das heißt.“ „Ja, aber ...“ „Kein Aber.“ Hasard trat vor und ließ den Blick über die Kuhl schweifen. Das Schiff war nach der Schlacht gegen de Galantes und seine Piraten wieder hergerichtet worden. Carberry hatte die Männer auf Gary Andrews' Meldung hin zusammengetrommelt. Sie standen bereit und schauten erwartungsvoll zu ihrem Kapitän auf. „Dan gibt Blinkzeichen“, sagte Ben Brighton. Hasard fuhr herum, blickte zum Kraterberg hoch und deckte die Augen dabei mit einer Hand schützend ab. Er entzifferte, was Dan mit einer Glasscherbe signalisierte: „S-A-N-T-A-A-N-A. Das muß der Name einer der Galeonen sein.“ „Santa Ana“, sagte nun Thomas aufgeregt. „Ja, ich erinnere mich, genauso hieß das Schiff, das vor zwei Jahren vorbeisegelte, ohne Begleitung allerdings.“ „Fein“, sagte Hasard. „Wir dürfen also annehmen, daß wir es mit der edlen Senora der Philippinen zu tun haben. Also los. Wenn die Schiffe so nahe heran sind, daß Dan ihre Namen lesen kann, müssen wir uns höllisch beeilen.“ Siri-Tong, Thorfin Njal und die anderen vom schwarzen Schiff begaben sich sofort in ihr Beiboot hinab und pullten zu „Eiliger Drache“ hinüber. Es brauchte nichts mehr abgesprochen zu werden, der Plan stand fest. Die Posten, die auf Hawaii und den nördlichen Nachbarinseln saßen, sollten von ihrem jeweiligen Schiff „en passant“ an Bord genommen werden. Das ganze Vorhaben stützte sich auf die Gewandtheit und Schnelligkeit, mit der die beiden Crews die Manöver abzuwickeln verstanden. Die Zeit lief plötzlich rasend schnell ab. Die „Santa Ana“ und ihre drei Beschützer, Kriegsgaleonen, schoben sich
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hart am Nordost mit beachtlicher Geschwindigkeit auf die Inseln zu. Der schwarze Segler blieb etwas zurück, als die „Isabella“ die Bucht verließ. Während Hasard im Abstand von einer halben Meile an der Inselküste nach Süden segelte, hielt sich Siri-Tong mit ihrem Schiff dicht unter Land. Sie pirschte sich geradezu gefährlich nah am weißen Sandstrand entlang. Dennoch riskierte sie nicht aufzulaufen. In den vergangenen Tagen hatten der Seewolf und die Korsarin die ganze Umgebung erkunden lassen. Sandbänke gab es in diesem Bereich nicht. „Wir haben gründliche Vorarbeit geleistet“, sagte Hasard zu seinen Männern. „Jetzt wird sich zeigen, ob das ausreicht, um einen Verband wie diesen zu überfallen. Wenn wir irgendwelche Fehler begehen, werden wir sie mit dem Leben bezahlen.“ Lautlos glitten die beiden Schiffe dahin. Sie hatten nur wenig Zeug gesetzt und liefen, in Lee der Insel liegend, wenig Fahrt. Hasard wartete darauf, daß der spanische Verband sich hinter der südlichen Landzunge hervorschob. Der Wolf lag auf der Lauer. 8. Der Verband erschien, kurz nachdem Dan O'Flynn als letzter seinen Ausguckposten verlassen hatte. Dan hetzte den Berg hinunter, als säße ihm der Teufel im Nacken. Er stürzte durch die Brandung, schwamm zu seinem Schiff - und klammerte sich an einem Tau fest, das die Männer für ihn außenbords geworfen hatten. Sie zogen ihn an Bord. Er war pudelnaß und völlig außer Atem. „Ich will dabeisein“, japste er. „Das wird ein Tanz, sage ich euch. Die ,Santa Anal` hat zwölf Geschütze, jeder Kriegssegler mindestens zwei Dutzend. In spätestens zehn Minuten könnt ihr sie sehen.“ Das stimmte. So genau, wie Dan die Zeit und die Strecke berechnet hatte, die er zum
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Schwimmen benötigte -so präzise waren auch diesmal seine Angaben. Hasard hob die Hand und winkte Carberry zu. Der Profos verstand. Ausnahmsweise brüllte er mal nicht, alle Manöver wurden in gespenstischem Schweigen durchgeführt. Bisher hatte die „Isabella“ nur die Fock und die Blinde geführt, jetzt aber lösten sich auch die Reffleinen des Großsegels. Das grauweiße Tuch öffnete und spannte sich, bauschte sich dann prall auf und drückte die Galeone rascher voran. Das schwarze Schiff nahm nun ebenfalls mehr Fahrt auf. Zwar befanden sie sich in Lee der Insel, aber der Nordost blies so kräftig gegen die Bergmassive an, daß die bizarren Gipfelregionen keine Barriere für ihn waren, sondern er auf der anderen Seite als stetiger Fallwind in die sanfter geformten südlichen Inselbereiche abglitt. Die „Isabella“ befand sich auf gleicher Höhe mit dem im Osten aufragenden Kratergipfel Puu O Keokeo, da zeigten sich am Südzipfel der Insel Bugspriet und Galion des ersten spanischen Schiffes. „Eine Kriegsgaleone“, stellte Hasard fest. Dan stand neben ihm und sagte: „Die ,Santa Anal` läuft gleich dahinter, und dann folgen die anderen zwei Kriegsschiffe.“ „Sie segeln als kompakte Einheit?“ „Ja.“ „Wir müssen diese Einheit aufbrechen und auseinandertreiben“, sagte der Seewolf ruhig. „Das ist unsere einfache, aber wirksame Taktik.“ Kurze Zeit darauf hatte der Gegner sie entdeckt, aber vorerst nur die „Isabella“, weil das schwarze Schiff sich für ihn nach wie vor im toten Blickfeld befand. Aber nur noch für kurze Zeit. Hasard beobachtete unausgesetzt durch den Kieker. „Der erste Kriegssegler ist das Flaggschiff des Geleitzuges“, sagte er. „Er signalisiert uns. Wir sollen uns zu erkennen geben.“ Dan O'Flynn war auf die Kuhl hinuntergelaufen und enterte jetzt in den Backbordhauptwanten zum Großmars auf.
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Blacky, der solange den Ausguckposten übernommen hatte, enterte an Steuerbord ab und begab sich sofort an eine der Culverinen. Die Vorbereitungen waren längst abgeschlossen. Die „Isabella“ wie „Eiliger Drache über den Wassern“ waren klar zum Gefecht. „Wir halten voll auf das Flaggschiff zu“, sagte Hasard. „Ben, gib das an Pete Ballie weiter.“ Ben Brighton führte den Befehl aus, dann wandte er sich wieder seinem Kapitän' zu. „Sie werden sich voll auf uns konzentrieren, und so lenken wir ihre Aufmerksamkeit von der Roten Korsarin und ihren Männern ab, oder?“ „Genau, Ben.“ „Was ist; zeigen wir die spanische Flagge?“ „Diesmal nicht. Ich will mit offenen Karten spielen.“ „Der Abstand zum Verband beträgt nur noch eine Dreiviertelmeile“, sagte Big Old Shane. „Vollzeug setzen“, ordnete Hasard an, Dabei schaute er weiter durch die Optik zum Feind hinüber. Gewiß, er hätte sich einen Vorteil verschafft, wenn er sich erst als Spanier ausgegeben und dann die Maske hätte fallenlassen. Aber — trotz des ungleichen Kräfteverhältnisses — er wollte fair play und dem Gegner eine echte Chance lassen. Sie waren auch so schockiert genug, daß plötzlich, wie aus heiterem Himmel, ein fremdes, großes Schiff an der Flanke ihres Konvois auftauchte. Weißer Pulverqualm stob von der vorderen Bordwand des Flaggschiffes hoch. Die Kugel huschte herüber, aber keiner der Seewölfe ging in Deckung. Noch hielten die Spanier die Spielregeln ein — sie setzten dem Seewolf den obligaten Schuß vor den Bug. Im Hochrauschen der Wasserfontäne sagte Old O'Flynn: „So, und jetzt signalisieren sie noch mal, die Himmelhunde.“ „Zeigt ihnen unsere Flagge!“ rief der Seewolf.
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Sekunden darauf flog der White Ensign mit dem roten Georgskreuz auf weißem Grund im Großtopp der „Isabella“ hoch. Bill, der Schiffsjunge, hatte ihn gehißt. Er lächelte Edwin Carberry zu und sagte: „Spätestens, jetzt schreien die Spanier Zeter und Mordio, nicht wahr, Mister Carberry?“ Der Profos hatte seine grimmige Miene aufgesetzt. „Das will ich meinen, Junge. Leg die Ohren an, hier ist gleich die Hölle los.“ Die „Isabella“ war leicht abgefallen und hielt im spitzen Winkel auf die Spanier zu. Drüben herrschte jetzt wirklich Aufruhr, Hasard sah ganz deutlich durch den Kieker, wie auf dem Oberdeck des Flaggschiffs und auch auf der „Santa Ana“ und den anderen beiden Kriegsgaleonen die Männer wie verrückt auf und ab rasten. Der komplette Verband lag vor ihnen — sozusagen wie auf dem Präsentierteller. Das Flaggschiff eröffnete das Feuer. Das Wummern der Kanonen erfolgte fast wie ein einziger, mächtiger Schlag, und der Qualm stieg wie weißer Flaum aus den Stückpforten auf. „Hört sich sehr eindrucksvoll an“, sagte Hasard. „Aber auf diese Distanz liegen die' Kugeln bestimmt nicht im Ziel.“ Das klang überheblich. Aber es traf zu. Die Crew duckte sich, doch die komplette Breitseite des spanischen Flaggschiffes lag zu kurz. Sie klatschte weit vor der „Isabella“ in die klaren Fluten und richtete nur eine sprudelnde Wand vor dem Schiff auf. „Kurs West!“ schrie Hasard. „Wir gehen auf Backbordbug und verpassen ihm die halbe Backbordbreitseite. Im Vergleich zu den spanischen Galeonen war die „Isabella“ als Rahsegler manövrierfähig wie ein sensibler Vollbluthengst im Gegensatz zu biederen Kaltblütern. Schnell glitt sie auf Westkurs, sehr schnell, und dann ertönte Carberrys Ruf: „Feuer!“ Die,. vorderen vier Culverinen der Backbordseite spuckten Feuer, Rauch und Eisen. Röhrend zuckten sie zurück. Die Männer brachten sie eilends wieder in
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Ladestellung, und als drüben auf dem Flaggschiff Holz splitterte und Männer schrien, hantierten sie bereits mit den Kellen und Wischern und stopften neue Kartuschen in die Geschützrohre. „Feuer!“ schrie der Profos wieder. Die achteren vier 17-Pfünder brüllten los. Diesmal traf es die „Santa Ana“. Ganz deutlich sah der Seewolf, wie es ihr den Bugspriet wegknickte und ihr Fockmast ins Wanken geriet. „Wieder abfallen und drauf!“ sagte er. Ben gab den Befehl weiter. Die Crew johlte begeistert auf. Hasard hatte den Vorteil der überlangen Culverinenrohre ausgenutzt. Ein bißchen Verwirrung hatte er beim Gegner schon gestiftet, aber er hatte auch die beiden weiter östlich versetzten Kriegsgaleonen auf den Plan gerufen. Sie schoben sich vor das Flaggschiff und die „Santa Ana“, während diese zurückfielen. Sie eröffneten das Feuer. Jeder Mensch mußte Hasard in diesem Augenblick für völlig verrückt halten, daß er sich dem Feind so tolldreist entgegenwarf — jeder, außer den Männern seiner „Isabella“ natürlich. Doch jetzt rauschte auch das schwarze Schiff heran, und Siri-Tong drehte so weit bei, daß sie ihre schweren 25-Pfünder in Zielposition auf die Spanier brachte. Die Geschütze krachten los. Hasard ging auf Steuerbordbug und dann fast in den Wind — und die Culverinen der Steuerbordseite stießen ihre Ladungen aus den Rohren. Die Spanier schossen erbittert zurück. Die Schlacht war ein tobendes Inferno, und es sah so aus, als würden beide Parteien dabei draufgehen. * Das Gesicht des Störs war noch länger geworden, als es ohnehin schon war, denn er hatte zu seinem hellen Entsetzen festgestellt, daß er und seine drei Kameraden den Anschluß verpaßt hatten. Er hockte im Bug des Bootes und sagte immer wieder: „Bei Odin, so ein Mist. O, so ein verfluchter Dreck aber auch.“
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In dem Boot konnte man einen Mast aufrichten und Großsegel und Fock setzen. Das hatten sie getan, und jetzt segelten sie ihrem schwarzen Schiff nach, glitten hart vor der Brandung an der Insel Hawaii vorbei und fuhren mitten in das Gefecht hinein. Störs Begleiter waren Oleg, Missjöh Buveur und der Kreole Tammy. Sie hatten alle vier auf der Insel Maui Posten geschoben und auf die Manila-Galeone gewartet. Als dann das Signal zum Aufbruch gegeben worden war, hatten sie den längsten „Anmarschweg“ zur Ankerbucht gehabt — und somit keine Chance, ihren Viermaster noch zu erreichen. „Unsere Schuld ist es nicht!“ schrie Missjöh Buveur im Donnern der Kanonen. „Wir können doch nicht fliegen!“ „Richtig!“ rief Oleg zurück. Er saß auf der Heckducht und hielt die Ruderpinne. „Aber deswegen können wir noch lange nicht kneifen.“ „Hauen wir den Spaniern eins in die Schnauze!“ schrie Tammy. „Wir haben doch Waffen an Bord!“ Der Stör verzog das Gesicht. „Ja. Musketen, Tromblons, Pistolen. Und unsere Entermesser. Das ist alles.“ „Hey“, sagte Tammy. Er griff unter eine Ducht und zog etwas hervor. Plötzlich grinste er. „Und was ist das hier, wenn ich fragen darf? Ist das nichts?“ „Höllenflaschen“, stellte Missjöh Buveur nüchtern fest. Wirklich, er war total nüchtern. „Sind das nicht Ferris Tuckers Basteleien? Wie kommen die in unseren Kahn?“ „Wir haben sie nachgebaut“, erklärte Oleg. „Wir Wikinger. Nur hatte ich vergessen, in welchem Beiboot wir sie verstaut hatten.“ „Dann bin ich ja nicht der einzige, der manchmal ein bißchen durcheinander ist“, sagte der Franzose grinsend. Vorläufig war es das letzte, was er äußerte, denn sie waren fast im Zentrum des Gefechts angelangt. Die Fontänen brandeten links und rechts des Bootes hoch, die See war kabbelig durch den
Die Manila-Galeone
Einschlag der Vielen Kugeln. Das Boot begann heftig zu schwanken. Die vier Männer zogen die Köpfe ein. Die Verwegenheit des Seewolfs und der Roten Korsarin hatten aber auf sie übergegriffen — etwa so wie eine ansteckende Krankheit —, und sie schlichen sich kühn an das Heck des letzten Kriegsschiffes im spanischen Verband heran. Kurze Zeit später schleuderten Oleg und der Stör die ersten Höllenflaschen. Sie hatten die Zeit gut berechnet. Zwar sanken die Flaschen hinter dem Ruder der mächtigen Galeone ins Wasser. Aber die Lunten waren schon bis durch den Korken ins Innere der Glasbehälter abgebrannt. Die Ladung zündete trotzdem. Kochend stieg das Wasser am Heck des Seglers hoch. Das Steuerruder zerbrach in viele Stücke, und anstelle der Hennegatsöffnung klaffte ein riesiges Loch im Heck. Die Galeone war manövrierunfähig. Sie lief nach Südwesten aus dem Ruder, stieß dabei fast mit dem Boot der Siri-Tong-Piraten zusammen — und die vier schleuderten neue Höllenflaschen, diesmal aufs Oberdeck. Die Explosionen rafften die Spanier wie die Fliegen dahin. Wenig später enterten Oleg, der Stör, Missjöh Buveur und Tammy mit den Entermessern zwischen den Zähnen und den Schußwaffen in den Fäusten. Ja, sie machten diesen Spanier wirklich unschädlich. Vier Mann hoch! Unterdessen hatte der Seewolf das Flaggschiff des Kriegskonvois in Brand geschossen. Und Siri-Tong setzte die Brandsätze ein, die sie von bronzenen Gestellen aus dem Vor- und Achterkastell ihres Viermasters abfeuern konnte. Der Kampf hatte seine entscheidende Wende genommen. Die drei Kriegsgaleonen waren ausgeschaltet. Jetzt setzten die „Isabella“ und das schwarze Schiff die „Santa Ana“ gefangen. Als sich das Vorschiff der „Isabella“ an Steuerbord auf das Heck der ManilaGaleone zuschob, kauerte der Seewolf schon sprungbereit in den Fockwanten. Er packte ein loses Fall.
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„Auf sie mit Gebrüll!“ schrie hinter ihm Carberry. Hasard wartete nicht ab, bis die „Isabella“ richtig längsseits der spanischen Galeone schor. Er versetzte sich einen Stoß, hob aus den Wanten ab und schwang zum Feind hinüber. Mitten zwischen den aufschreienden Gegnern landete er. Er säbelte sich den Weg frei, und hinter ihm wären jetzt auch seine Männer, die mit dem Kampfruf der Seewölfe auf die Spanier eindrangen. „Ar-we-nack! Ar-we-nack!” O ja, sie war ein prunkvolles und schweres Schiff, diese „Santa Ana“, und auch um die Armierung war es nicht schlecht bestellt: Zwölf 17Pfünder, sechs Drehbassen. Nur vom Nahkampf hatten der Kapitän und die Besatzung nicht sehr viel Ahnung. Hasard kämpfte sich bis zu dem Kapitän, einem knebelbärtigen, entsetzlich fluchenden Vertreter edelsten spanischen Geblüts, durch und stellte ihn. „Und jetzt zu uns“, sagte er, während er ihm den Degen vor die Brust setzte. „Capitular o morir - kapitulieren oder sterben!“ Da seufzte der stolze Kapitän verzweifelt auf. Er strich die Flagge. Der Kampf war entschieden. Brennend sanken die Kriegsschiffe- und die „Nao de China“ gehörte dem Seewolf! * Die Männer, die Häuptling Zegú als Wachtposten vor der Hütte der Gefangenen eingeteilt hatte, hatten die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten aufgeregt miteinander. Sie konnten das Kampfgeschehen auf See zwar nicht verfolgen, hatten aber dem Wummern der Kanonen gespannt gelauscht und stellten nun ihre Thesen darüber auf, wie es wohl ausgegangen sein mochte. Darüber vergaßen sie, daß sie ihre Aufmerksamkeit eigentlich voll und ganz der Bewachung der neun Piraten widmen sollten. Genau das war ihr entscheidender Fehler.
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Ciro de Galantes und seine Kumpane hatten vier Tage Zeit gehabt, ihre Flucht vorzubereiten. Einer der Polynesier, der mit zu der Meute gehörte, hatte ein kleines Hartholzmesser mit in die Hütte schmuggeln können. Es war den Gegnern nicht aufgefallen, als sie die neun Männer durchsucht hatten. Und so hatten die Piraten ihre Fesseln in mühseliger Arbeit auftrennen können. De Galantes selbst hatte die Hüttenrückwand zu lockern verstanden und eine Lücke geschaffen. Jetzt, im richtigen Augenblick, schlüpften die Kerle einer nach dem anderen aus dem Verlies. „Mir nach“, zischte de Galantes ihnen zu. Er drückte sich an der Rückwand entlang, erreichte die Ecke des Baus und spähte zu den Wächtern. Die standen immer noch dicht beieinander und berieten darüber, wie die Schlacht wohl verlaufen sein mochte. Seewolf, dachte Ciro de Galantes, krepiere! , Ich wünsche es dir von ganzem Herzen! Dann pirschte er von hinten auf die Wachtposten zu. Es waren fünf junge Männer. Dem ersten, ihm am nächsten Stehenden trieb de Galantes das Hartholzmesser in den Rücken, als er sich auf ihn warf. Die anderen acht Piraten - fünf Spanier und drei Männer von Oahu - rückten nach und rangen die übrigen vier Posten nieder. Sie hieben und traten auf sie ein. Dann richteten sie sich von den niedergestreckten Opfern auf. De Galantes blickte sich nach allen Seiten um und sagte: „Außer diesen Hunden scheint sich keiner im Dorf zu befinden. Sie sind alle zum Strand oder in die Berge gelaufen, um das Gefecht verfolgen zu können.“ Plötzlich zuckte er zusammen. In einem Hütteneingang hatte er eine Bewegung registriert. Er duckte sich halb, gab den anderen einen Wink und schlich auf die Behausung zu. Einen Speer, den er einem der niedergeschlagenen Wächter abgenommen hatte, hielt er stoßbereit vor sich hin.
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Er trat entschlossen in die Hütte. Jemand war neben ihm und stieß einen entsetzten, keuchenden Laut aus. De Galantes ließ den Speer los und packte mit der rechten Hand zu. Er zerrte ein wimmerndes Mädchen zu sich heran und hielt ihr den Mund zu. Die Spießgesellen waren heran und öffneten den Schilfmattenvorhang am Eingang der Hütte. Licht fiel herein und gab ihnen den Blick auf drei andere Mädchen frei, die ängstlich neben dem Lager einer kranken alten Frau zusammenkrochen. „Die Alte kann liegenbleiben“, sagte de Galantes kalt. „Aber die Mädchen nehmen wir mit. Alle vier. Wir können sie noch als Faustpfand gebrauchen. Haltet ihnen die Münder zu, damit sie nicht schreien.“ Seine Kerle nahmen die Mädchen gefangen, und er, der Anführer, trat dicht vor sie hin und sagte mit spöttischem Grinsen: „Es würde mir sehr leid tun, euch töten zu müssen, wirklich. Ich gebe euch den guten Rat: Stellt keine Dummheiten an, sondern tut lieber alles, was ich euch befehle.“ Die Mädchen nickten mit weit aufgerissenen Augen. * Die „Isabella“ und das schwarze Schiff lagen zu beiden Seiten der „Santa Ana“ und hatten sie festgekeilt. Während Thorfin Njal, Juan, der Boston-Mann, Ben Brighton, Ferris Tucker, Carberry und die meisten anderen damit beschäftigt waren, die Spanier zu entwaffnen und in Räume des Vordecks zu sperren, stiegen Hasard und Siri-Tong mit ein paar Begleitern in die Frachträume der Manila-Galeone hinunter. „Hat es bei euch viele Verwundete gegeben?“ fragte Hasard. „Kaum“, antwortete die Korsarin. „Meine Leute haben mächtiges Glück gehabt. Außer Kratzern hat keiner etwas abgekriegt.“ „Bei uns ist es auch glimpflich abgelaufen“, sagte Big Old Shane, der gleich hinter ihnen schritt und ein Talglicht
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hielt. „Smoky hat eine Streifwunde an der Schulter, und Matt Davies hätte beinahe den heilen Arm eingebüßt. Der Kutscher ist gerade dabei, ihm den Eisensplitter herauszupulen. Er sagt, Matt sei mit einem blauen Auge davongekommen. Die ,Isabella' hat ein paar Löcher, aber die liegen Gott sei Dank alle über der Wasserlinie.“ „Alles in allem können wir uns nicht beklagen“, sagte der Seewolf. „Übrigens habe ich über den Stör, Oleg, Missjöh Buveur und Tammy gestaunt. Wie die das achtere Kriegsschiff des Verbandes geknackt haben – großartig.“ Sie hatten den ersten Frachtraum erreicht. Er hatte außer dem Schott noch eine Tür aus Eisengitter, und die war fest verriegelt. Old Shane brach sie mit einem seiner Werkzeuge auf. Quietschend öffnete sich die Tür, und der Weg zu den Truhen und Kisten, die in dem großen Raum verstaut wären, lag frei. Hasard öffnete eine der Truhen. Shane hielt das Talglicht darüber, und sie alle gaben Laute der Begeisterung von sich. Gold- und Silbermünzen lachten sie aus der Truhe an. Sie war bis zum Rand damit gefüllt. Hasard griff hinein, ließ die Münzen prasseln und hob einige hoch. Deutlich waren die spanischen Wappen, die Kreuz-Reliefs und die AchterMarkierungen auf den Stücken zu erkennen. „Da hätten wir sie also, die ,Pieces of eight“, sagte Siri-Tong. Ihre Stimme hallte von den düsteren Schiffswänden wider. „Ob es tatsächlich zwei Millionen sind?“ „Madame“, sagte Shane. „Wir haben wohl genügend Zeit, die Dinger zu zählen, was meinen Sie?“ Die Männer lachten, stießen sich an, öffneten die Truhen und Kisten und wühlten in den Bergen von Münzen herum. Sie ahnten nicht, daß ihr Freudentaumel schon Minuten später empfindlich gedämpft werden sollte. *
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Alle Männer der „Isabella“ und des schwarzen Schiffes waren auf die „Santa Ana“ übergewechselt - mit vier Ausnahmen. Jeff Bowie und Bob Grey hielten auf der Galeone die Deckswache, der Stör und Missjöh Buveur auf dem schwarzen Viermaster. „Eigentlich könnten wir auch ruhig die Stellung räumen“, meinte der Franzose. „Was soll denn jetzt noch passieren?“ „Pflicht ist Pflicht“, sagte der Stör. „Wir haben unsere Befehle. Das Schiff ist zwar an der Manila-Galeone vertäut, aber es darf nicht ohne Aufsicht bleiben.“ „Ich weiß“, entgegnete Missjöh Buveur. „Aber die Piaster würde ich mir zu gern auch mal ansehen.“ Der Wikinger hatte sich umgedreht und blickte plötzlich angestrengt nach Nordosten, zur Insel hinüber. „Da nähert sich was. Zwei Auslegerboote. Was soll das bedeuten?“ Der Franzose grinste. „Ist doch klar. Zegús Leute kommen, um uns zu unserem Sieg zu beglückwünschen. Hoffentlich haben sie auch Mädchen dabei!“ „Hör bloß auf, du Lustmolch. Du weißt doch, wir sollen sie in Ruhe lassen.“ „Ich meine doch nur - vielleicht hängen uns die Kleinen wieder Blumenkränze um.“ „Ach so.“ Der Stör kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Er konnte nicht genau erkennen, wer in den zwei Booten saß. Ein Spektiv hatte er nicht zur Hand, konnte also nur mit bloßem Auge beobachten. „Thomas Federmann ist nicht dabei“, sagte er. „Oder doch?“ „Weiß ich nicht“, erwiderte der Franzose. „Aber sie haben Mädchen dabei: Fein. O, was werden wir heute nacht für ein Fest feiern!“ Kurze Zeit darauf legten die Auslegerboote am schwarzen Schiff an. Zwei junge Eingeborene enterten als erste an der Jakobsleiter auf, die der Stör und sein Kamerad oben am Schanzkleid belegt hatten. Die beiden standen oben auf der Kuhl und erwarteten den Ansturm der Gratulanten mit einem Lächeln- - aber
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dann schwangen sich die braunen Gestalten an Deck und hieben mit Messern zu. Der Stör wollte noch seine Pistole ziehen. Aber in seinem Geist breitete sich dröhnend ein großes, steinernes Rad aus, es wuchs und wuchs und sprengte seinen Schädel. Missjöh Buveur sank mit einem Ächzer auf die Planken. Die beiden Attentäter - Männer von Oahu beugten sich außenbords und winkten den anderen in den Auslegerbooten zu. De Galantes und seine Komplicen klommen an der Bordwand hoch. Sie trieben die Mädchen vor sich her. Voll Haß blickte de Galantes zur „Santa Ana“, als er auf der Kuhl des Schwarzen Schiffes angelangt war. Noch hatte man drüben nichts von dem Vorfall bemerkt. Noch war der allgemeine Siegesrausch zu groß. „Der Schatz“, flüsterte er. „Er gehört mir. Ich habe gewußt, daß die Manila-Galeone hier aufkreuzen würde, mir steht die Beute zu. Man müßte diese Hundesöhne überfallen und niedermachen.“ „Das schaffen wir nie“, raunte ihm einer der Spanier zu seiner Rechten zu. „Wir können froh sein, daß wir es fertiggebracht haben, diesen Kahn hier zu kapern.“ „Ja ...“ „Wir müssen die Festmacherleinen lösen und verschwinden.“ „Dann tu's doch“, zischte de Galantes ihm zu. „Auf was wartest du? Und ihr anderen? Los, beeilt euch.“ Sie huschten gebückt über Deck. De Galantes trieb die vier Mädchen mit dem Speer vor sich her, sperrte sie ins Achterkastell und stieg dann aufs Achterdeck. Er hielt neben dem Kolderstock und blickte an sich herunter. Ein Lendenschurz! Als Eingeborener verkleidet, um den Gegner zu täuschen und zu überlisten – wie hatte er sich doch selbst herabgewürdigt! Seewolf, das wirst du mir büßen, sagte er sich voll unbändigem Haß. Die Leinen waren gelöst.
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Das schwarze Schiff dümpelte von der „Santa Ana“ fort. Ciro de Galantes winkte seinen acht Kerlen zu, und die enterten wie die Affen in den Wanten hoch, um die Segel aus dem Gei zu lösen. Die Distanz zwischen den Schiffen wuchs und wuchs. De Galantes grinste wild. Vier Männer enterten wieder ab, sie wußten, was sie zu tun hatten. Sie hasteten an die Geschütze, richteten sie und brauchten sie nicht mehr zu laden. Das hatten vor ihnen schon die Männer der Roten Korsarin getan. Sie zündeten die Lunten. *
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Thorfin Njal, der gerade wieder aus dem Vordeck der Manila-Galeone trat, sah es als erster. Er riß die Augen auf und dachte, sie müßten ihm aus dem Kopf fallen. Er rief „Bei Odin“ und „Bei allen Göttern“, stürmte auf die Kuhl und brüllte dann: „Unser Schiff! Hölle und Teufel, was ...“ In diesem Augenblick donnerten drüben auf dem Viermaster vier Kanonen los. Das Schanzkleid der „Santa Ana“ zerfetzte. Ein Brüllen raste über Deck, begleitet von Trümmern, Rauch und Geschrei. Der Seewolf konnte gerade noch Siri-Tong mit seinem Körper schützen, da hatte die Woge des Todes auch ihn ereilt. Das tosende Inferno hatte wieder eingesetzt. Alles schien noch einmal anzufangen...
ENDE