Scan by Schlaflos Zu diesem Buch
Nun wird die letzte Schlacht um die Drachenkrone geschlagen: Die zivilisierten Reiche...
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Nun wird die letzte Schlacht um die Drachenkrone geschlagen: Die zivilisierten Reiche versuchen verzweifelt, die übermächtigen Barbarenheere der Nordlandhexe Kytrin zurückzudrängen. Doch die grausame Kytrin ist ihrem Ziel, die Drachenkrone wieder zusammenzusetzen und damit zur mächtigsten Herrscherin aller Zeiten aufzusteigen, so nahe wie nie. Die Gefährten des für tot erklärten prophezeiten Retters Will Norderstett geben jedoch nicht auf: Sie ziehen in einen letzten Kampf gegen die Mächte der Finsternis - und machen eine unglaubliche Entdeckung, die im letzten Augenblick das Schicksal der Welt entscheiden wird... Dieser Band ist der spannungsgeladene und überraschende Abschluss des großen Epos »Düsterer Ruhm«. Michael A. Stackpole, geboren 1957 in Wausau/Wisconsin, studierte Geschichte an der Universität von Vermont. Der bekannte Fantasy- und Science Fiction-Autor schrieb neben seinem Aufsehen erregenden Zyklus »Düsterer Ruhm« zahlreiche Romane zu Serien wie »Shadowrun« und »Star Wars«. Überdies entwickelt er erfolgreich Computerspiele. Stackpole lebt und arbeitet heute in Arizona.
Michael A. Stackpole
Die Macht der Drachenkrone DÜSTERER RUHM 7 Aus dem Amerikanischen von Reinhold H. Mai Piper München Zürich Von Michael A. Stackpole liegen in der Reihe Piper Boulevard vor: Zu den Waffen! Düsterer Ruhm 1 (9121) Der große Kreuzzug. Düsterer Ruhm 6 (9126) Die Macht der Drachenkrone. Düsterer Ruhm 7 (9127) Deutsche Erstausgabe Januar 2005 © 2003 Michael A. Stackpole Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Grand Crusade 2«, Bantam Spectra/Random House, Inc., New York 2003 © der deutschsprachigen Ausgabe: 2005 Piper Verlag GmbH, München Umschlagkonzept: Zero, München Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Umschlagabbildung: Ciruelo via Agentur Schluck GmbH Karte: Erhard Ringer Gesamtherstellung: Clausen und Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-492-29127-9 www.piper.de
4 Für Stephen King Autoren lernen schreiben, indem sie lesen - und seine Arbeit ist eine unübertroffene Schatzkammer an Charakteren, Dramen und Dialogen. Und er verfasst dazu noch Bücher über das Schreiben, die mir schon geholfen haben, noch bevor ich zum ersten Mal etwas veröffentlicht habe. Danke. WAS BISHER GESCHAH ... Die Pläne des Südens, Kytrin aufzuhalten, erleiden einen Rückschlag nach dem anderen. Nach dem Tod des prophezeiten Retters Will Norderstett droht die Allianz der südlichen Monarchen zu zerfallen. Doch es gelingt den Gefährten um Kräh und Entschlossen noch einmal, die Lage zu retten und Prinzessin Alexia eine Koalitionsstreitmacht für ihren Kampf zu sichern. Da enttarnt der Magiker Kjarrigan die Großherzogin Tatjana, die bei allen Besprechungen des Kriegsrates anwesend war, als Kytrin selbst. Die Strategie des Südens ist verraten. Schlimmer noch, Kytrin nimmt die Murosoner Prinzessin Sayce gefangen, die das einzige Kind von Will Norderstett unter dem Herzen trägt, und verschleppt sie nach Aurolan. Das droht, auch die Hoffnung auf einen neuen Norderstett zu zerschlagen, der eine kommende Generation noch zum Sieg führen könnte.
Doch dann wendet sich das Blatt offenbar wieder. Die Elfenseherin Orakel erscheint und verkündet, der Norderstett warte auf Vorquellyn, der vor einem Jahrhundert von den Aurolanen überrannten Heimat von Entschlossen. Während Prinzessin Alexia und Kräh den Kampf gegen die Horden Kytrins aufnehmen, macht sich Entschlossen mit einer kleinen Gruppe auf den Weg, den Norderstett zu befreien und Kytrin zu töten. Aber weder er noch seine Freunde ahnen, dass Kytrin König Swindger von Oriosa zu einem ihrer Dunklen Lanzenreiter gemacht hat. Und nicht einmal die Drachen wissen, dass hinter Kytrin die Oromisen, die Jahrzehntausende zuvor von ihnen in den Tiefen der Erde eingeschlossen worden waren, die Fäden ziehen, um aus ihrem Kerker auszubrechen und sich furchtbar zu rächen. 7 KAPITEL EINS Die westlichste Siedlung Norivas trug den Namen Nirgendwo. Duranlaun berichtete, dass sie aus mehreren Häusern innerhalb einer Palisadenwand bestand. Trampelpfade verliefen zwischen Langhäusern zur Unterbringung der Holzfäller, und kleinere Gebäude dienten als Tavernen, Speisehäuser und Bordelle. Vom höchsten Dach wehte eine Fahne, doch General Markus Adrogans kannte weder ein Reich, das dieses blau-weiße Banner benutzte, noch eine Einheit. Es hätte ihn überrascht, sollte sich die Gesamtbevölkerung des Dorfes auf mehr als tausend Seelen belaufen. Ein Kinderspiel für seine Armee, den Ort zu überrennen und dem Erdboden gleichzumachen. Eine Salve der Draconellen hätte genügt, die Holzwände einzureißen und die Bewohner schutzlos dem Angriff auszuliefern. Was dort unten als Miliz durchging, war eine halbe Legion Männer, offenbar mehr dazu ausgebildet, Betrunkene um ihre Barschaft zu erleichtern, als wenigstens ansatzweise so etwas wie Sicherheit zu gewährleisten. Aber sie trugen eine Uniform in den Farben der Fahne, was darauf hindeutete, dass sie einer höheren Autorität Rechenschaft schuldeten. Und dass es sich um Menschen handelte, nicht um Schnatterer, machte ihm Mut. Adrogans beobachtete das Dorf aus dem Wald einer nahen Bergkuppe heraus. Seine Armee war herangerückt und lagerte ganz in der Nähe. Trotzdem war es ihnen gelungen, unbemerkt zu bleiben, da die Miliz von Nirgendwo die Palisadenumzäunung nicht verließ. Adrogans hatte sich ernsthaft überlegt, Nirgendwo mit den Draconellen dem Erdboden gleichzumachen. Der Angriff hätte 8 den Mannschaften Gelegenheit gegeben, Zielen und schnelles Nachladen zu üben. Und es hätte dem Rest der Truppen eine Vorstellung davon vermittelt, wie schlagkräftig die Waffen waren. Sie wussten zwar alle, dass Festung Draconis mit Draconellen erobert worden war, aber selbst diejenigen unter ihnen, die bereits auf der nördlichen Festung gewesen waren, konnten sich kaum vorstellen, welche Gewalt dafür erforderlich gewesen war. Doch obwohl eine derartige Vorgehensweise ohne Zweifel von Erfolg gekrönt gewesen wäre, blieb sie problematisch. In erster und wichtigster Linie wollte er seinen Feuerdreck nicht auf Ziele verschwenden, die auch ohne Draconelleneinsatz zu besiegen waren. Zweitens: Sollte jemand entkommen, wären Kytrins Truppen vorgewarnt, dass er mit den Draconellen anrückte. Sicherlich hatte die Nordlandherrscherin Verteidigungsmethoden gegen ihre eigenen Waffen entwickelt, und er legte keinen Wert darauf, dass seine Leute auf derartige Gegenmaßnahmen und das damit gewiss verbundene abscheuliche Gemetzel trafen. Drittens schließlich hätte eine Vernichtung des Dorfes eine Nachrichtenquelle zerstört und die Bevölkerung verängstigt. Adrogans wollte die Dorfbewohner auf seine Seite ziehen und dazu bringen, für ihn zu arbeiten. Natürlich, ohne dass Kytrin davon erfuhr. Dazu hatte er in Zusammenarbeit mit General Caro und anderen einen Plan geschmiedet. Er schaute hinunter zu Caro, der an der Spitze einer zerlumpten Reiterkolonne wartete, und nickte. Caro hob die Hand und ließ sie wieder fallen. Seine Aleider Reitergarde setzte sich den Hang hinunter in Marsch. Hinter den dreihundert Gardisten folgten vierhundert Bewaffnete zu Fuß, die Swojiner und die übrigen okranschen Freiwilligen. Zahlenmäßig war es eine beeindruckende Truppe, was aber keineswegs für ihr Aussehen galt. Die Soldaten hatten die Uniformen gegen eine krude Mischung aus nicht zusammenpassenden Kleidungsstücken vertauschen müssen, die sie gefunden hatten. Auf jeden Außenstehenden wirkten sie wohl wie 9 Flüchtlinge, oder schlimmer noch: wie eine zu Banditen verkommene Soldateska. Caro sollte mit seinen Truppen ins Tal reiten und fordern, dass die Siedlung die Tore öffnete und ihn als Herrscher anerkannte. »Wenn sich dieser Bastard Adrogans ein Imperium erobern kann», würde er erklären, »dann kann ich das auch.« Als Caros Kavallerie die Palisaden erreichte, waren die Tore geschlossen und derjenige, der in Nirgendwo eine Art Bürgermeisterposten bekleidete, stieg auf die Wand und redete mit ihm. Adrogans konnte zwar nicht hören, was gesagt wurde, erkannte aber die Gesten. Nach einer ganz bestimmten stürzte sich ein Kriegsfalke hinab und schleuderte einen Flammhahn auf einen Wandabschnitt. Der Feuerschein beleuchtete dem Bürgermeister die Lage in einem ganz neuen Licht. Die Tore öffneten sich, Caro wurde jubelnd willkommen geheißen. Die Fahne wurde eingeholt und eine neue gehisst. Nirgendwo war ab jetzt König Caro I. Untertan. Die Krönungsfeierlichkeiten dauerten bis tief in die Nacht.
Während dieser Nacht zog der Großteil von Adrogans' Armee im Schutze einer Bergkette um die Stadt herum. Sie marschierten einige Stunden und schlugen auf einer von den Kundschaftern entdeckten riesigen Talebene ihr Lager auf. Ein steter Kundschafterstrom hielt Adrogans in stündlichem Abstand über die Ereignisse in Nirgendwo auf dem Laufenden, doch Turpus Caro erschien erst am nächsten Vormittag im Lager und erzählte ihm, was genau vorgefallen war. Caros sonst auch schon immer rote Wangen waren noch kräftiger gefärbt - zur Hälfte vom Alkohol, zur anderen Hälfte von der Kälte, vermutete Adrogans - und er grinste breit. »Der anfängliche Widerstand war halbherzig. Dalanous, der Gouverneur des Nirgendwodistrikts, war ein niederer Höfling, bis die norivesische Kronprinzessin Nachforschungen darüber anstellte, wo er schlief und mit wem, und er auf diesen Posten abgeschoben wurde.« Adrogans zog die linke Augenbraue erstaunt hoch, während 10 er einen Laib Brot in zwei Teile zerbrach, dann ein kleines Stück abriss und in heiße Brühe tunkte, um es aufzuweichen. »Dann hat Noriva eine Regierung und ein Königshaus?« »Nur eine Königin, aber keinen König. Zumindest, soweit ich das herausbekommen konnte. Kytrin ist es gleichgültig, wer in Noriva was anstellt, solange das Getreide geerntet wird, das Vieh gehütet und auch sonst für alles gesorgt ist, was sie braucht. Es gibt verschiedene Provinzen, aber die Königin hat ihren Sitz in Logbai. Die Frauen haben die Gemeinden rund um Schwesternschaften aufgebaut, da es Kytrin bei den Sklavenexpeditionen nur auf Männer abgesehen hat. Die Hälfte der Männer in Nirgendwo sind hier gelandet, um zu verhindern, dass sie nach Aurolan verschleppt werden.« »Und der Rest?« Caro zuckte die Achseln. »Sie holzen den Wald ab. Niemand weiß genau, was mit all dem Holz geschieht, da es in ein Gebiet östlich von Logbai geschafft wird, das die Aurolanen selbst kontrollieren. Aber alle gehen davon aus, es sei zum Bau einer Flotte bestimmt. Zweifel daran sind kaum möglich. Kytrin hat sämtliche Schiffsbauer und Matrosen zusammentreiben lassen.« Adrogans nickte. »Das jetzt geschlagene Holz müsste trocknen, bevor es verarbeitet werden kann. Wenn sie es jetzt erst beschafft, wäre die Flotte frühestens nächstes Jahr fertig.« Der Aleider Reitergeneral schüttelte den Kopf. »Falls sie die Flotte eher braucht, kann sie das Holz von ihren Magikern trocknen lassen. Es wäre zwar von schlechterer Qualität als nach der nötigen Lagerzeit, und man könnte die ganze Flotte versenken, indem man den Zauber bricht. Solange es ihr aber nur um einen Überraschungsangriff irgendwo geht, wäre so eine hastig zusammen gezimmerte Flotte völlig ausreichend.« »An die Möglichkeit, Magik in so großem Maßstab einzusetzen, hatte ich nicht gedacht. Aber da du es ansprichst, kommt mir ein anderer Gedanke. Ich möchte einen Splitter von jedem Balken. Dann können unsere Magiker feststellen, 11 wo das Holz am Ende landet. Möglicherweise können sie uns sogar sagen, wofür es benutzt wird.« »Gute Idee.« Caro nahm die Schale Suppe auf, die vor ihm stand, und trank. Dann wischte er sich mit dem Ärmel den Mund ab. »Dalanous war hauptsächlich bereit, mich als neuen Herren anzuerkennen, weil ich ihm gesagt habe, ich wolle weiter nach Logbai. Er ist froh, mich wieder loszuwerden, und falls es mir gelingt, den Thron zu übernehmen, wird er mich nach Kräften unterstützen. Falls nicht, hisst er einfach wieder die alte Fahne.« »Wie weit entfernt liegt Logbai?« »Anderthalb Wochen.« Caro stopfte sich ein kleines Stück Brotkruste in die linke Backe, um es aufzuweichen. »Auf dem Weg liegen noch andere Siedlungen. Unsere kleine Finte dürfte bei den meisten glücken. Laut Dalanous besitzt kaum eine Befestigungen, weil die Aurolanen das nicht gerne sehen, und andere Gefahren gibt es nicht.« »Wir werden ein paar davon umgehen. Wir müssen davon ausgehen, dass sich die Nachricht von deinem >Imperium< ausbreitet, und es wäre nicht gut, wenn man vorhersagen kann, wo du als Nächstes auftauchst.« Adrogans stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Wir müssen uns auf zwei Dinge vorbereiten. Dass die Königin ...« »Sie heißt Winalia.« Adrogans dachte kurz nach. »Königin Winalia entschließt sich, dir Truppen entgegenzuschicken, um dich aufzuhalten. Da die Norivesen offenbar über keine geordnete Verteidigung verfügen, gehe ich davon aus, dass man ihre so genannte Miliz problemlos zerschlagen kann.« »Ich neige zu derselben Ansicht.« »Dann ist die zweite Möglichkeit die wahrscheinlichere. Jemand am Hofe wird den Aurolanen berichten, und die schicken dann Truppen. Bei der ersten Begegnung können wir sie vielleicht noch durch die Mangel drehen, danach werden wir uns jeden Schritt zu den Werften, dem Borealpass und weiter nach Aurolan freikämpfen müssen.« 12 »Dann sollten wir versuchen, diese Begegnung bis irgendwo weit hinter Logbai hinauszuschieben, damit wir die Stadt als Rückzugsstellung nutzen können.« Der jeranische Feldherr schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Es wird sicher eine unbefestigte Stadt sein, also gäbe es nur ein Gemetzel unter unschuldigen Einheimischen, wenn wir uns dorthin zurückziehen. Sobald die
Aurolanen wissen, dass wir Draconellen haben, werden sie ihre eigenen in Stellung bringen.« »Falls sie Draconellen in Noriva haben.« »Ein guter Einwand, aber darauf können wir uns nicht verlassen. Wenn nötig, könnten sie welche übers Meer aus Muroso oder Saporitia holen.« »Wenigstens würde das den Druck auf die Truppen im Süden verringern.« Adrogans nickte zustimmend. »Richtig, das würde es, wir können aber dasselbe auch erreichen, indem wir vorwärts drängen, hart zuschlagen und keine Zeit verlieren. Wir haben Swarskija eingenommen, weil wir uns keinen Deut um anerkannte Militärtheorie geschert haben. Wir haben mit Finten und Verschlagenheit einen Winterkrieg geschlagen. Genauso müssen wir weitermachen. Solange sie nicht wissen, wo wir sind, müssen sie Zeit und Kraft darauf verschwenden, nach uns zu suchen. Das ermüdet ihre Truppen, zieht ihre Linien auseinander und macht es uns leichter, eine Schwachstelle zu finden, die wir ausnutzen können.« »Von mir wirst du keine Widerworte hören.« Caro stützte die Hände auf den Tisch und beugte sich vor. Er senkte leicht die Stimme. »Ich weiß, wir haben gute Truppen, und die Draconellen machen sie noch besser, aber wir sind nicht einmal sechstausend Mann. Wie viele Gegner erwarten uns, deiner Schätzung nach? Denk daran, wir gehen davon aus, dass sie eine Angriffsflotte in den Süden schicken will. Dazu muss sie ein Heer zusammenziehen, das sich darauf einschiffen soll.« Adrogans stand auf und ging hinüber zur Rückwand des Zeltes, wo auf einer Tafel eine Weltkarte hing. Er betrachtete 13 sie eine Weile, dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, mein Freund. Wir können uns darauf verlassen, dass Alexia bestimmt fünfzehntausend Mann befehligt. Ich würde die Stärke der Aurolanen in derselben Größe oder noch höher ansetzen - maximal das Doppelte. Und genau wie wir in Okrannel auf die Kryalniri getroffen sind, wäre ich sogar bereit zu wetten, dass ihre Truppen von anderen Kreaturen verstärkt werden, von denen wir noch überhaupt nichts wissen. Was das Heer betrifft, das sich zur Einschiffung versammelt, können wir nur raten. Wie viele Mann würdest du wollen, um Narriz oder Yslin zu erobern?« Caro schüttelte den Kopf. »Narriz kenne ich nicht besonders gut. Aber für Yslin würde ich zehntausend haben wollen.« »Und falls der Angriff von der See käme, mit Schiffen, die mit Draconellen bestückt sind und die Hafenanlagen in Trümmer legen? Was, wenn du deine Truppen dort ungehindert an Land setzen könntest? Wie viele wären dann nötig? Du brauchst sie nur, um die Verteidiger in ihren Türmen einzuschließen und dann die Draconellen zu holen, damit sie die Türme zum Einsturz bringen.« Der Aleider wurde blass. »Vielleicht fünftausend.« »Du bist konservativer als ich. Mir würden schon dreitausend genügen, und selbst das nur, weil ich auch mit dem Widerstand der Bevölkerung rechne. Für Narriz würden zweitausend reichen.« »Zweitausend?« »Es wäre völlig ausreichend, die Stadt vom Meer aus zu beschießen, damit sie sich ergibt. Vielleicht brauchte man eine Garnisonstruppe von einigen hundert Mann, aber die Stadt würde schnell fallen, besonders, wenn die Kämpfe im Norden hart genug toben.« Caro dachte kurz nach, dann nickte er. »Diese Draconellen sind wirklich eine furchtbare Waffe, nicht wahr?« »Allerdings. Der Markgraf Draconis hatte ganz Recht, das Wissen darum geheim zu halten.« Adrogans tippte dort auf die Karte, wo der Borealpass Noriva mit Aurolan verband. »Wir 14 werden von deiner Schätzung ausgehen. Fünftausend. Darauf müssen wir gefasst sein.« »Ein ausgewogener Kampf. Das wird schrecklich.« »Falls wir es zu einem ausgewogenen Kampf kommen lassen.« Auf Adrogans Zügen breitete sich langsam ein Lächeln aus. »Deine Ruhmestaten, König Caro, sind nur der Anfang. Wir werden dafür sorgen, dass uns Kytrin unterschätzt. Solange sie uns ihre Truppen häppchenweise serviert, werden wir sie zum Frühstück verspeisen und rechtzeitig in ihrer Heimat sein, um die Knochen auszuspucken.« KAPITEL ZWEI Eirmenbrechts Armee kam auf dem Marsch durch Oriosa aus verschiedenen Gründen recht zügig voran, was ihm einerseits gut passte, ihn jedoch andererseits beunruhigte. Der Hauptgrund für ihr schnelles Fortkommen war der ausgezeichnete Zustand der Straßen. Die Königsstraße verlief von Meredo nach Norden, an Bokagul vorbei und erreichte bei Tolsin die Grenze von Muroso. Auf dem festen Pflaster zogen Soldaten und Tross schnell dahin. Und Schnelligkeit war wichtig, falls er zu Prinzessin Alexias Einheiten stoßen wollte - was er so bald wie möglich wollte. Außerdem freute ihn das schnelle Fortkommen, weil er wusste: Je tiefer er ins Land vorstieß, desto näher kam die Schlacht gegen die Aurolanen. Zwischen dem Mittland und dem Norrvestgau lag die kleine Region der Auen, ein ausgezeichnetes Schlachtfeld. Die hügelige Landschaft bot nur wenige mögliche Schauplätze für eine Feldschlacht. Da er beinahe sicher davon ausging, dass Kytrin einen Drachen einsetzen würde, um seine Armee zu vernichten, und er auf diese Bedrohung in Dranse eine geziemende Antwort wusste, wollte er die Aurolanen in eines dieser Täler locken. Dann konnte er seine Reserven an den Flanken aufstellen und eingreifen lassen, wenn sie benötigt wurden, um die Aurolanenformation zu zerschlagen, bevor seine Truppen die Nordlandhorden
vom Feld jagten. Natürlich war sich Ermenbrecht bewusst, wie wenig gesichert diese Erwartungen waren, trotzdem wollte er schnellstens die Auen erreichen. Selbst wenn er dort nicht auf den Feind traf, eigneten sich die bewaldeten Berghänge ausgezeichnet für kurze Überraschungsangriffe. Und falls er es mit 16 einer überlegenen Streitmacht zu tun bekam, waren sie zu genau dieser Taktik gezwungen. Außerdem war es beruhigend, Bokagul im Rücken zu wissen. Er war sich nicht sicher, was er von seinen Landsleuten erwarten konnte. Er hoffte auf Unterstützung, würde aber bereits mit Neutralität zufrieden sein und befürchtete Verrat. Dass sie bisher noch nicht auf Widerstand gestoßen waren, verblüffte ihn. Es machte ihm auch Sorgen. Sein Vater hatte ihn ungehindert an Meredo vorbeigelassen. Die Adligen von Mittland und Mittelmark hatten schon immer engere Beziehungen zu Meredo gepflegt als die in Norrvestgau, Valkenritt und dem Ostland. Also marschierte er geradewegs auf das Zentrum von König Swindgers Macht zu. Sytara, die Grafschaft mit der längsten Grenze zu Aleida, neigte innenpolitisch zur Neutralität. Ihre Einwohner verbanden enge Verwandtschaftsbeziehungen mit den Aleiden. Am sechsten Tag näherten sie sich der Kreuzung dreier Hauptstraßen. Die Sytarastraße führte südwärts nach Aleida, die Tolosostraße ostsüdostwärts zur Hauptstadt des Ostlands, und durchquerte auf dem Weg die Grafschaft Valkenritt. Sie war vor allem für die Ruinen von Atval bekannt, die innerhalb ihrer Grenzen lagen. Die Stadt war von Drachen zerstört worden, vor ihrem Untergang allerdings eine berühmte Metropole gewesen. Die Königsfamilie konnte ihre Abstammung zwar nicht zu den Herrschern von Atval zurückverfolgen, aber viele Seitenlinien hatten in die Familien der Valkenritter eingeheiratet. Statt Loyalität hatten sie allerdings nur Verachtung geerntet. Daher überraschte es Ermenbrecht nicht, als die Vorausreiter meldeten, ein Heer von rund eintausend Valkenrittkriegern riegele die Straße ab. Er war jedoch ein wenig überrascht, dass sie die Königsstraße nach Norden sperrten und nicht die Tolosostraße. Doch das passte zu ihrem Stolz. Sie können den Gedanken nicht ertragen, ich könnte sie nicht beachten und einfach links liegen lassen. Die Kundschafter berichteten auch, dass zwanzig Adlige und Krieger an der Kreuzung in einem Zelt warteten, vor dem die Parlamentärsfahne wehte. 17 Ermenbrecht rief seine Heerführer zusammen und ließ sie die Truppen auf breiter Front aufstellen. Während er und eine kleine Schar zu den Verhandlungen ritten, sollte die Armee über die Kuppen der Berge kommen, die auf die Kreuzung hinabschauten. Seine Leute waren den Valkenrittern zahlenmäßig etwa drei zu eins überlegen. Mit dieser Machtdemonstration im Rücken hoffte er, seine Widersacher einschüchtern zu können, auch wenn ihm nichts von dem, was er über den Charakter der Valkenritter wusste, dabei Erfolg versprach. Er wählte seine Begleiter mit Bedacht und machte sich mit nur sechs Gefährten auf den Weg. Net, Borghelm, Dranae, Rumbelo und Rutfried flankierten Generalin Quantusa von der Jeranser Krongarde. Sie war Ermenbrechts erfahrenste Kommandeurin. Den Befehl über die Einheiten hinter ihnen übernahm General Percurs von der Alcidischen Throngarde. Falls es Schwierigkeiten gab, würde sich Percurs darum kümmern. Ermenbrechts Gefolge erreichte das Zelt, doch er stieg nicht ab. Er lehnte sich nur im Sattel vor und stützte die Hände auf den Schaft des Vierschüssers, der an seinem rechten Knie in einem Sattelholster steckte. Der Prinz schaute auf die beiden Adligen hinab, die sich unter dem Vorzelt auf Lehnstühlen lümmelten und aus grob geformten Kelchen Wein schlürften. Er glaubte einen von ihnen zu erkennen, aber da sie beide noch recht jung wirken, war er sich nicht sicher. »Man hat mir gesagt, meine Fürsten, dass Ihr ein Heer auf der Straße habt Aufstellung nehmen lassen, die ich zu benutzen gedenke.« Einer der beiden, der verhärmtere, mit fahler Gesichtsfarbe und Haupthaar, das noch spärlicher war als sein gerade erst sprießender Bart, stand langsam auf. Über einem Kettenhemd trug er einen Wappenrock, und beide hingen ihm bis zu den Knien. Die Mitte des Wappenrocks war Oriosagrün, wenn auch näher an Frühlingsfarben als am üblichen Immergrün, mit weißen Seitenstücken und Ärmeln. Ein Schwertgurt hielt den Rock an der Taille, und auf der Brust prangte ein Falke im 18 Flug. Wie bei Valkenrittern allgemein üblich, hing ihm eine Falkenfeder von der linken Seite der ebenfalls grünen, weiß umrandeten Maske. Sie trug Markierungen, denen zufolge sein Vater tot war und er den Titel >Graf< führte. Noch erstaunlicher allerdings war eine Markierung unter dem rechten Auge, die ihn als Thronanwärter kennzeichnete. Fast hätte Ermenbrecht die Hand an seine eigene Maske gehoben, um nach der entsprechenden Markierung zu tasten. Doch er beherrschte sich. Diese Markierung befand sich nur auf seiner Lebensmaske, die er in den letzten Tagen der Festung Draconis aufgegeben hatte. Seine Gefährtin hatte sie und ihren gemeinsamen Sohn mit nach Süden genommen. Und vermutlich befinden sie sich in diesem Augenblick alle irgendwo in Meredo. Die Maske, die er zur Zeit trug, war einfarbig schwarz, so wie die, die seine Streitmacht auf grünem Feld als Banner führte. Der Graf von Valkenritt schob das Kinn vor und betrachtete Ermenbrecht abschätzig. »Meine Truppen sind hier, um unsere Heimat zu verteidigen. Er ist vogelfrei. Er wird mein Land auf der Stelle verlassen.« Ermenbrecht war sich nicht sicher, was ihn mehr überraschte. Valkenritter gaben an sich nur ungern zu, überhaupt zu Oriosa zu gehören, geschweige denn, dass sie das Reich als ihre Heimat bezeichneten. Der offene
Widerstand des Grafen ließ ihn eine Falle vermuten, konnte sich aber auch nur darin begründen, dass der Graf auf Lügen König Swindgers über die nahe Unterstützung hereingefallen war. Er hatte zwar seine Zweifel daran, dass der Graf ernsthaft glaubte, Swindger wolle ihm tatsächlich den Thron vererben, doch diese Markierung auf der Maske mochte ihm die Unterstützung anderer Adliger eintragen, die zumindest auf den Anschein von Legitimität Wert legten, falls ein neuer Herrscher an die Stelle des Königs trat. Ermenbrecht antwortete gelassen. »Ich verspüre kein Verlangen, Oriosen zu töten.« Er verkniff sich die Bemerkung »oder Valkenritter«. Er atmete tief ein, dann ließ er die Luft 19 langsam wieder entweichen. »Ich habe drängende Aufgaben im Norden, in Muroso und darüber hinaus. Haltet mich nicht auf.« »Eine versteckte Drohung, Ermenbrecht?« Der hagere Graf lachte, und der Klang dieses Lachens gab Ermenbrecht genug Anhaltspunkte, um ihn zu erkennen. »Wenn Er kein Gefallen daran hat, Oriosen zu töten, schlage ich vor, Er drehe um und marschiere zurück nach Saporitia.« »Das kann ich nicht, Graf Wichterich.« »Dann scheint es wenig zu geben, was wir noch tun könnten.« Ermenbrecht richtete sich wieder auf. »Wir könnten einen Weg finden, dieses Patt zu beenden. Statt unsere Heere kämpfen zu lassen, wäre es vielleicht möglich, diese Sache unter uns auszutragen, Mann gegen Mann.« Wichterich wurde bleich. »Du verlangst Genugtuung von mir?« »Natürlich nicht, mein Fürst. Ihr habt mich nicht beleidigt. Falls jeder von uns einen Recken wählt und wir deren Zweikampf entscheiden lassen, hättet Ihr Pflicht und Ehre Genüge getan. Besiegt mein Mann den Euren, können wir unbehindert weiterziehen.« »Und falls er unterliegt?« Ermenbrecht breitete die Hände aus. »Dann muss ich wohl nach Saporitia zurückkehren.« »Nun gut.« Wichterich drehte sich um und deutete auf einen riesigen Kerl in Kettenhemd und Valkenritteruniform. »Drescher, du wirst mein Recke. Berald, du bist sein Sekundant.« Er vollendete die Drehung und wandte sich wieder an Ermenbrecht. »Ein Schlagabtausch?« »Bis der Erste sich nicht wieder erheben kann? Ja.« Ermenbrecht schaute sich um und nickte Dranae zu. »Wärest du so freundlich?« Der Hüne lächelte. »Es wird mir ein Vergnügen sein.« Dranas glitt aus dem Sattel, und die Valkenritter legten den Kopf in den Nacken, um zu ihm hochzublicken. Ein paar von 20 ihnen lachten, aber die meisten wurden bei seinem Anblick ein wenig bleich. Das gefiel Ermenbrecht, doch er bemerkte, dass sich ihr Anführer von Dranaes Körpergröße wenig beeindruckt zeigte. Auch Borghelm saß ab. »Hoheit, er wird einen Sekundanten brauchen.« Ermenbrecht nickte. »Natürlich.« Der Valkenritter Recke trat aus dem Schatten des Zeltdachs auf ein Wiesenstück, auf dem sich gerade die ersten grünen Halme durch das vom Winter niedergedrückte Goldgras vom vorigen Jahr reckten. Er musterte Dranae von oben bis unten, dann verzog er abfällig das Gesicht. Drescher setzte einen Vollhelm mit einem einzelnen schmalen Sichtschlitz auf, dann zog er Handschuhe über. Er zog ein Breitschwert, das unverwüstlich wirkte, sich allerdings hauptsächlich durch eine Reihe geheimnisvoller Runen auszeichnete, die sich über die Klinge zogen. Wichterich lächelte. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass er ein magisches Schwert führt.« Ah. Das erklärt den Mangel an Furcht. »Tatsächlich?« »Ja, es ist das neu geschmiedete Temmer. Seine Bruchstücke wurden aus Festung Draconis geborgen und man hat es neu erschaffen. Es macht ihn unbesiegbar.« »Bestimmt.« Angesichts der gewaltigen Körpergröße Dreschers war sich der Prinz sicher, dass er alle anderen Krieger im Valkenritt besiegen konnte. »Dranae, ist das Schwert gefährlich?« »Nein, Hoheit.« Dranae setzte einen Helm mit Sichtschutz in Form eines Stahlgitters auf. »Ich nehme an, er hat den ersten Schlag, weil wir die Eindringlinge sind?« »Ja.« »In Ordnung.« Dranae ging seinem Gegner entgegen. Gras knirschte unter seinen Schritten, und hinter ihm hob es sich langsam wieder. Seine einzige Waffe war eine wuchtige, am vorderen Ende mit eisernen Ringen beschlagene Keule, so dick wie Ermenbrechts Oberarm. 21 Der Valkenrittkrieger hob das Schwert zum Gruß, dann verkündete er mit lauter Stimme: »Ich bin Ritter Falk Drescher, Recke des Grafen Wichterich, wie es schon mein Vater vor mir war, und der seine vor ihm. Du bist ein Eindringling und ich schwöre: du wirst keinen Schritt weiter in mein Heimatland setzen.« Dranae neigte den Kopf. »Ich bin Dranae. Ich habe auf Vilwan und Wruona gekämpft, in Festung Draconis und selbst in Sarengul. Ich habe keine berühmten Vorfahren und ich bin kein Eindringling in Oriosa, sondern bin hier, es zu retten. Ihr, mein Herr, habt den ersten Schlag.« Drescher schaute sich um, von Graf Wichterich zu dem Halbkreis Valkenritter hinter ihm. Er hob das Schwert über den Kopf und sagte: »Möge dich Turic freudig aufnehmen.«
Das Schwert sauste in einem funkelnden Bogen herab und traf Dranae an der linken Schulter. Das Kettenhemd klirrte und gab nach, dann brach die Klinge durch. Blut spritzte auf die Schneide und tropfte herab. Der schwere Hieb ging nicht tief genug, um den Knochen zu brechen, war aber durch Haut und Muskeln gedrungen und hatte ohne Zweifel eine einige Metallringe tiefe Wunde geschnitten. Was noch unschöner war: er ließ Dranae wanken. Der Hüne verlor die Keule und fiel auf ein Knie. Aber nicht tiefer. Er keuchte und beugte die Schulter vor, stürzte jedoch nicht. Die Masken der Valkenritter verbargen den Ausdruck ihrer Gesichter, aber ihr lautes Aufkeuchen und die Art, wie sie ihn mit offenem Mund anstarrten, zeigte deutlich, wie überrascht sie waren, dass Dranae noch lebte. Drescher wich zurück. Blut tropfte von seinem Schwert auf den Boden. Dranae stand wieder auf und wankte ein, zwei Herzschläge, bevor er das Gleichgewicht wieder fand. Borghelm trat heran und reichte ihm den Griff der Keule, berührte ihn jedoch nicht. Dranae nickte. Dann bewegte er vorsichtig die Schultern und krächzte: »Ich bin dran.« Drescher nickte. Dranae zog die Keule mit rechts zurück, dann peitschte sie 22 mit einem waagerechten Hieb nach vorne, dem Valkenritter mitten auf die Brust. Das Kettenhemd barst unter lautem Klirren, und Drescher keuchte, als ihn die Wucht des Schlages von den Füßen hob und rückwärts in die Reihe seiner Mitstreiter schleuderte. Mehrere von ihnen verloren unter dem Aufprall den Halt, und auch Dreschers Helm flog davon. >Temmer< lag neben ihm im Gras, und keiner der Männer, die sich unter ihm hervorwälzten, konnte ihn wiederbeleben. Berald, ein blonder Bursche von mittelgroßer Statur, hob >Temmer< auf und stürzte sich auf Dranae, der wieder auf ein Knie gesunken war. Doch bevor er ihn erreicht hatte, zog Borghelm Aug und stellte sich vor den Hünen. Der Valkenritter griff den von keiner Rüstung geschützten Gegner mit einem niedrig geführten Hieb an, doch Borghelm schlug den Angriff mit Leichtigkeit beiseite. Wieder hieb Berald zu, aber Borghelm parierte erneut. Bei seiner Riposte prallte das Schwert klirrend vom Kettenhemd seines Gegenübers ab und beschädigte nur dessen Wappenrock. Ermenbrecht runzelte die Stirn. »Ruf deinen Mann zurück.« »Nein. Erstes Blut, diese beiden, für die Entscheidung.« »Das war so nicht abgemacht.« »Jetzt ist es das aber.« »Erstes Blut, Borghelm.« Ermenbrecht sah Net näher reiten. »Dein Sohn ist nicht schlecht.« »Ja. Die anderen haben in der Schmiede die schwere Arbeit geleistet. Es schien besser, er lernt zu benutzen, was wir herstellen.« Und wie er es gelernt hat. Berald gefiel es augenscheinlich nicht, dass seine Angriffe pariert wurden, schon gar nicht von einem Gegner, dessen Maske keinerlei Hinweis auf adlige Abstammung oder militärische Ausbildung trug. Er täuschte hoch an, dann zuckte seine Waffe zu einem tiefen Seithieb herab, Borghelm aber hüpfte gelenkig über den Schlag hinweg. Er duckte sich unter dem nächsten Hieb hindurch, dann sprang er vor und stieß Aug in Beralds rechtes Knie. 23 Da sein Angriff Blut gefordert hatte, zog sich Borghelm zurück, doch Berald hechtete ihm nach und rammte ihm die rechte Faust unters Kinn. Der Kopf des Schmiedesohns flog nach hinten, sein Körper folgte, und er brach zusammen. Berald hob das Schwert, um zu beenden, was Drescher begonnen hatte. Ein Donnerschlag. Berald flog nach hinten und krümmte sich auf dem Boden. Eine Blutfontäne schlug ihm aus der Brust. >Temmer< segelte gemächlich in hohem Bogen davon und bohrte sich mit der Spitze voraus in den Wiesengrund. Wichterich starrte Ermenbrecht an und zuckte zurück. »Was hast du getan?« »Dein Mann hat die Regeln gebrochen.« Der Prinz betätigte den Ladehebel des Vierschüssers. Die Läufe drehten sich und ein frisch geladener schnappte feuerbereit ein. »Übrigens, das ist nicht Temmer. Dräns, kümmerst du dich darum?« Der Hüne nickte und stand langsam auf. Er zog das Schwert aus dem Boden und fasste es an Heft und Spitze. Seine Muskeln spannten sich und wieder klirrte das Kettenhemd, einige Ringe lösten sich über den Muskelbergen und flogen davon. Als Dranae das Schwert verbog, verwandelte sich sein Körper und wurde größer. Kopf und Gesicht blieben unverändert, doch seine Hände wurden schuppig und die Fingernägel verwandelten sich in Krallen. Das Schwert bog sich, dann brach es. Net schnaubte verächtlich. »Nicht mal gut gehärtet.« Dranae warf die Bruchstücke beiseite, dann kniete er neben Borghelm nieder. »Er wird es überleben, bis auf ein schmerzendes Kinn.« Wichterichs Nasenflügel bebten. »Das war von Anfang an ein unfairer Kampf. Ich weiß nicht, was er ist, aber er ist kein Mensch!« »Nein, das ist er nicht. Aber er ist mein Recke.« Ermenbrecht legte sich den Vierschüsser auf die Oberschenkel.
»Ich könnte ihm befehlen, seine wahre Gestalt anzunehmen, und 24 dein kleines Heer würde sich in alle Winde zerstreuen. Ich glaube kaum, dass du darauf Wert legst. Ebenso wenig wie es dir passen würde, wenn ich mit meinem Heer nach Valkenritt marschiere.« »Nein. Nein, das würde mir nicht gefallen.« Der Prinz deutete auf Wichterichs Maske. »Ich weiß nicht, was mein Vater dir versprochen hat, als er dich zum Thronerben ernannte, aber du bist nicht so dumm, ihm zu vertrauen. Ganz abgesehen davon, was immer du geglaubt hast, gewinnen zu können, du hast schon wieder verloren, weil es dir nicht gelungen ist, mich aufzuhalten. Also lasse ich dir jetzt die Wahl.« Der Graf schaute auf. »Welche?« »Du kannst nach Hause zurückkehren, und ich werde alle Welt wissen lassen, dass ich jede Art von Beziehung zu dir als Hochverrat betrachte. Ich werde mir diejenigen, die diese Warnung missachten, vornehmen, nachdem ich mit dir abgerechnet habe, und das Beste, was dir noch passieren kann, ist, dass Kytrin mich tötet. Denn das wäre das Einzige, was mich daran hindern könnte, zurückzukehren und dich zu vernichten.« Der schlanke Adlige zitterte. »Oder?« »Oder du und deine Leute schließt euch mir an. Du weißt, die Aurolanen sind bereits hier, die meisten im Mittland und den Auen. Falls sie mich besiegen, wird deine Armee sie nicht aufhalten. Zusammen haben wir vielleicht Glück und ich die Gelegenheit, mein Urteil über dich zu mildern.« »Ihr würdet mich wirklich abziehen lassen?« Ermenbrecht nickte. »Dich, ja. Deine Leute, nein. Dazu brauche ich sie zu sehr. Ich vermute, wenn ich ihnen zeige, dass wir einen Drachen an unserer Seite haben und zudem an ihr Pflichtgefühl einem Land gegenüber erinnere, in dem wir auf Grund unserer gemeinsamen Geschichte alle Masken tragen, wird es mir nicht schwer fallen, sie auf meine Seite zu ziehen. Was meinst du?« Wichterich schluckte. Dann zog er das Schwert, kniete vor Ermenbrecht nieder und hob es mit beiden Händen hoch. »Ich 25 glaube, Hoheit, es ist meine Pflicht, mich zum Wohle Valkenritts, Oriosas und der Welt Eurer hehren Sache anzuschließen.« »Die Reihenfolge deiner Prioritäten verlangt eine Korrektur, aber dafür haben wir noch genug Zeit.« Ermenbrecht hob die Stimme, damit ihn auch die schärferen Ohren in der Valkenritter Armee hören konnten. »Ich nehme hiermit Seine Gefolgschaft an, Graf Wichterich. Die Vereinigung Seiner Kräfte mit den meinen wird unseren Sieg garantieren. Gen Norden, dem Schicksal entgegen.« Wichterichs Berater sanken ebenfalls auf ein Knie, und der Anblick ließ aus beiden Heeren Jubelrufe aufsteigen. Wichterich schaute hoch, als die Hurrarufe der Soldaten durch das Tal schallten. »Wie wahrscheinlich ist es, dass wir das überleben?« Ermenbrecht zuckte die Achseln. »Das spielt eigentlich keine Rolle, oder? Wir sind auf dem Weg, unsere Pflicht der Welt gegenüber zu erfüllen. Falls wir scheitern, gibt es keinen Grund mehr weiterzuleben.« 26 KAPITEL DREI IJS war Nacht geworden, aber das Gefühl des Unbehagens, das Kjarrigan begleitete, seit sie Loquellyn betreten hatten, ließ ihn nicht einschlafen. Ihr Weg hierher war voller Widersprüche und Irrungen gewesen, und sie waren weit langsamer vorangekommen, als Entschlossen es sich gewünscht hatte. Er hatte die Berge schnell überqueren und dann ins Flusstal der Assariennia hinabsteigen wollen, um ihr bis Rellaence zu folgen. Er war davon ausgegangen, dass sie dort in der Hauptstadt eine Transportmöglichkeit finden würden, die ihr Fortkommen beschleunigte. Selbst Kjarrigan war von Anfang an klar gewesen, dass Entschlossenes Planung mit dem Auftauchen des Grauen Nebels hinfällig war. Und dann hatte sich Kjarrigan in der ganz und gar ungewohnten Lage befunden, weit besser für einen langen Marsch durch Wald, Moor und Gebirge gerüstet zu sein als seine Begleiter. Die Reise hatte mit einem Tagesmarsch durch stinkendes Sumpfland begonnen, wo sich die Gruppe zum Nachtlager in mehrere kleinere Gruppen hatte aufteilen müssen. Kjarrigan hatte von einem Lager zum nächsten gehen und mit Hilfe seiner Magik die Feuer entzünden müssen, weil die Graunebler keinen Schimmer hatten, wie sie das anstellen sollten. Er hatte ihnen gezeigt, wie man sich Moos in die Stiefel packte, um den Schmerz der wundgelaufenen Füße zu lindern, und noch ein halbes Dutzend anderer Tricks, die er selbst von Lombo und Entschlossen gelernt hatte. Für ihn war das ein enormer Widerspruch, dass ihn diese Vorqaelfen ebenso staunend betrachteten wie es jüngere Schüler auf Vilwan getan hätten. Sie alle waren über hundert Jahre älter als er, aber in der Wildnis wussten sie sich nicht zu helfen. 27 Mehr als einer beschwerte sich über die Strapazen der Reise. Schon vom Rudern schmerzende Muskeln konnten sich nicht erholen, sondern wurden frisch beansprucht, um Stiefel aus dem klebrigen Morast zu ziehen, und die knapp vor ihnen aufragenden Berge ließen keinen Zweifel daran: der Weg würde eher noch härter als leichter werden.
Qwc kümmerte sich wie schon früher um die Moral der Gruppe. Er machte sich im Wald auf die Suche nach Kleinigkeiten, von Blumen über Knochen, Zähne, Krallen und Federn, und bedachte jeden der Graunebler mit einem dieser Fundstücke. Mit großer Würde verlieh er jedem von ihnen einen Kriegernamen wie Biss, Kratz oder Stich. Sein Vokabular bestand vor allem aus kurzen Wörtern, in die er aber so viel Gewalt legte wie möglich, was den Vorqaelfen außerordentlich gefiel. Gleichzeitig half es ihnen, sich auf das zu konzentrieren, was ihnen bevorstand. Und sie taten ihr Bestes, sich mit extravaganten Prahlereien darüber Mut zu machen, wie sie sich ihren Namen verdienen wollten. Nachts teilte der Sprijt das Zelt mit Kjarrigan. Die kleine Kreatur stieß den Speer in den Boden und ließ sich fallen, zu erschöpft, auch nur mit den Flügeln zu schlagen. »Worte finden ist schwerer als Dinge.« Kjarrigan musste jedes Mal lachen. »Für mich hast du noch keinen Kriegsnamen gefunden, Qwc.« Und jedes Mal schaute ihn der Sprijt an und lächelte, während ihm die Augen zufielen. »Dein Name findet dich selbst.« Es war schwer genug gewesen, Saporitia zu verlassen, aber sowie sie in Loquellyn eintrafen, wurde es noch schlimmer. Irgendetwas stimmte hier nicht. Tagsüber schien zwar die Sonne, aber über den Farben lag ein Grauschleier. Fast hatte Kjarrigan den Eindruck, dass der Frühling die Elfenheimstatt noch nicht erreicht hatte. Er sah keine Knospen an den Bäumen, keine Blumen kämpften sich durch den Boden. Was er an frischem Grün sah, war kletternder Giftwurz, der sich um die Bäume rankte oder die Sorte früh blühender Pflanzen, die innerhalb eines Sommers ein ganzes Tal überwuchern konn28 ten. Nichts davon schien ihm hierher zu passen, und je tiefer sie ins Gebirge kamen, desto stärker wurde dieser Eindruck. Die Graunebler blieben ebenfalls unberechenbar. Es fehlte ihnen an Disziplin, und Entschlossens Anweisungen, wie sie sich im Lager verhalten sollten, stießen ihnen sauer auf. Wäre es nach ihm gegangen, sie hätten keine Feuer gemacht und rund um die Uhr Wachen aufgestellt. Sie wären still gewesen und mit der Umgebung verschmolzen. Aber die Graunebler konnten ebenso wenig wie Kjarrigan auf dem Grund des Kreszentmeers atmen. Also schlug Entschlossen ein zweites, kleineres Lager abseits des Hauptlagers auf. Dort versammelten sich die Mitglieder seiner ursprünglichen Reisegruppe, und Entschlossen selbst, Mechanisch, Bok und Kjarrigan teilten sich die Wache. Kjarrigan übernahm in der Regel die Morgenwache und konnte durchschlafen. Aus demselben Grund übernahm Bok meist die Abendwache - damit die beiden Magiker der Gruppe ausgeruht waren, falls ihr Können benötigt wurde. Doch jetzt hatte irgendetwas Kjarrigan aufgeschreckt. Wirklich eingeschlafen war er ohnehin nicht, doch war er gerade im Begriff gewesen, in stetig düsterer werdende Träume abzudriften. Er hatte das Gefühl, durch eine riesige und dunkle Höhle zu wandern, in der er absolut nichts sah. Als er schließlich Licht machte, stellte er fest, dass er in das Maul eines riesigen Monsters geklettert war, das sich jetzt daran machte, ihn zu zerkauen und hinunterzuschlucken. Er setzte sich auf und warf die Decken zurück. Dann schüttelte er sich, als die kalte Nachtluft auf seine schweißnasse Haut traf. Hastig zog er ein paar Kleidungsstücke über und verließ das Zelt, wo Qwc ruhig weiterschlummerte. Draußen bewegte er sich hinüber zum Wachposten, wo er Entschlossen fand, der angestrengt in die Dunkelheit starrte. Der Vorqself hob die Hand und Kjarrigan blieb stehen. Er folgte Entschlossens Blick, sah aber nur Schwärze. Es wäre einfach für ihn gewesen, einen Zauber zu sprechen, der ihm erlaubte, bei Nacht zu sehen. Falls dort draußen aber etwas war 29 - etwas, das für Kytrin arbeitete —, so konnte es seine Magik wahrscheinlich entdecken. Kjarrigan schlich sich zu einem kleinen Felsen und drückte sich mit dem Leib auf den Stein. Er starrte weiter in dieselbe Richtung wie Entschlossen, bemerkte aber noch immer nichts. Sie hatten das Lager auf einer kleinen bewaldeten Anhöhe aufgeschlagen, von der aus man etwa den halben Abhang beobachten konnte. Am Tag war ein kleiner Bach zu sehen und jetzt bei Nacht konnte er ihn plätschern hören. Aber er hörte nichts, was darauf hindeutete, dass sich jemand durch das Wasser bewegte. Dann hörte er es, rechts von sich. Er hob die linke Hand, um Entschlossens Aufmerksamkeit zu erregen, und deutete mit der rechten in Richtung des Geräuschs. Er hörte ein zweites Geräusch und drehte sich um, um am ausgestreckten Arm entlang zu schauen. Das Geräusch hatte so nahe geklungen, dass er überzeugt war, etwas sehen zu können. Er sah tatsächlich etwas, als es auf den Fels hechtete und ihn ansprang, seinen rechten Arm bis zum Ellbogen verschlang. Die Kiefer schnappten zu, drei Reihen nadelscharfer Zähne zerrissen den Ärmel und knallten hart auf Drachenbeinpanzer. Die dunklen Augen der Kreatur weiteten sich, dann schüttelte sie den Kopf, um Kjarrigans Arm abzureißen. Als auch das scheiterte, spannte das Geschöpf die Hinterbeine und sprang davon, riss Kjarrigan von den Füßen und zerrte ihn mit in den Wald. Der Drachenbeinpanzer verhinderte, dass die Felskante den Magiker aufschlitzte, half aber nicht gegen die Dornen und Zweige, die ihm ins Gesicht schlugen, als ihn die Kreatur davon zerrte. Dornenranken peitschten ihm über Gesicht und Hände, rissen an seiner Kleidung. Das Geschöpf peitschte den Kopf erneut von einer Seite
zur anderen, und ein stechender Schmerz zuckte durch Kjarrigans Schultergelenk. Sein linkes Knie krachte gegen einen Baumstamm. Er rollte auf den Rücken, was den Druck auf die Schulter erhöhte, und wälzte sich gerade rechtzeitig wieder zurück, um von einer anderen 30 Dornenranke knapp über dem linken Auge erwischt zu werden. Einen Augenblick lang geriet der Magiker in Panik und war völlig in seiner Angst verloren, als eine absurde Wahrnehmung ihn irgendwie zurückholte. Während die Kreatur ihn hinter sich herzog, pflügte seine Gürtelschnalle durch die Erde und riss reichlich Dreck auf, der sich in Kjarrigans Hose sammelte. Das war mehr als würdelos. Für den Adepten, der Sauberkeit und Kleinlichkeit auf Vilwan zur Vollendung gesteigert hatte, war es eine Ungeheuerlichkeit, die seine Schmerzen lange genug überdeckte, um ihm Gelegenheit zum Handeln zu geben. Es hatte eine Zeit gegeben, da wäre Kjarrigans Wahl reflexartig auf den Telekinesezauber gefallen, der ihm so ausgezeichnete Dienste geleistet hatte. Aber in letzter Zeit hatte er einen anderen Zauber so oft benutzt, dass er ihm zur zweiten Natur geworden war. In dem feuchten Tiermaul ballte er die Hand zur Faust. Dann öffnete er die Hand wieder, seine Fingerspitzen kitzelten den weichen Gaumen des Geschöpfs, und er schleuderte den Zauber. Mit Nachdruck. Einige Tage schon hatte er kaum etwas anderes getan, als Feuer zu machen. Die Flammenzunge, die jetzt aus seiner Hand schlug, schoss geradewegs den Rachen der Kreatur hinab und loderte als goldene Fontäne aus deren Hinterteil, wo sie ihren dicken Schwanz komplett wegbrannte. Der ganze Körper des Tieres versteifte sich und zerrte noch einmal hart an Kjarrigans Arm, dann fiel er ab. Das Maul der Kreatur blieb offen stehen, zwischen den Zähnen loderten Flammen. Kjarrigan zog die Beine unter den Leib und stand langsam auf, ungeachtet der Schmerzen in den Knien. Er hüpfte zweimal auf und ab, um den Dreck aus der Hose zu schütteln, dann wischte er sich mit dem linken Ärmel über die Stirn. Als er den Arm senkte, sah er, dass der Stoff mit Blut befleckt war. Das überraschte ihn, aber die Knie wurden ihm nicht weich, wie es früher geschehen wäre. 31 Das war der alte Kjarrigan. Der alte, fette, langsame, verängstigte Kjarrigan. Er zeichnete mit dem rechten Arm einen weiten Kreis in die Luft und spürte eine zunehmende Steifheit, doch es war nichts gebrochen oder gerissen. Aus der Richtung, aus der er gekommen war, vom Lager der Graunebler her, hörte er Rufe, Schreie und Kampfgeräusche. Nein! Keine Toten mehr. Nicht, solange ich es verhindern kann. Da die Aurolanen die Gruppe bereits gefunden hatten, brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen, er könnte sie mit seiner Magik verraten. Und selbst wenn, das geröstete Viech hätte das längst erledigt. Er strich sich mit der rechten Hand über die Augen und sprach einen Nachtsichtzauber. Als er sich umschaute, sah er, wie sich Schatten und Formen bewegten. Weiter oben an seinem Lager sprang eine missgestaltete, stachelige Gestalt in einen Pulk von Schatten und trieb sie auseinander. Entschlossens Silhouette erschien auf dem Felsen, und seine Hände zuckten, als er die urSreiöi-Klingensterne in die Nacht schleuderte. Kjarrigan huschte nach links: um den Fuß des Hügels herum und geradewegs zum Graunebellager. Der Kampflärm dröhnte durch die Nacht, und so hörte ihn der Feind nicht kommen. Als er sich dem Lager näherte, begegnete er einer zweiten Kreatur wie der, die ihn angegriffen hatte. Sie erinnerte ihn an einen Gvakra, allerdings schien ihr Leib gedrungener, mit dicker Haut und einem Schwanz, die ihn an eine Echse erinnerten. Statt einer Mähne hatte sie einen fleischigen Kamm um den Nacken. Das Geschöpf wirbelte herum, aber der dicke Schwanz schlug gegen einen Baum und behinderte es. Kjarrigan schnippte mit einem Finger in die Richtung des Tieres und benutzte den Telekinesezauber, um ihm den niedrigen Schädel einzudrücken. Der Körper schüttelte sich einmal wild, bis hinunter zur Schwanzspitze, dann blieb er reglos liegen, und Kjarrigan ging weiter. Dabei dachte er angestrengt nach. Auf Vilwan hatte er keine erwähnenswerte Ausbildung als Kampfmagiker erhalten. 32 Seine Meister hatten befürchtet, und das durchaus mit Recht, dass er in seiner Unschuld jemanden verletzen würde, einfach weil seine Magik so stark war. Und das war noch, bevor ich gelernt habe, ihre wahre Quelle anzuzapfen. Doch trotz ihrer Bedenken beherrschte er ein paar wenige Kampfzauber. Weiterhin ging er davon aus, dass auch einige der Angreifer Zugang zu Zaubern hatten, also plante er entsprechend. Auf seinen Zügen breitete sich ein Lächeln aus. Als er sich dem Lager näherte, wirkte er einen Zauber, den Neskartu einmal gegen die Magiker von Nawal benutzt hatte. Es war im Grunde nur ein unbedeutender Störzauber, aber für Magiker war er die Entsprechung der laut über eine Schiefertafel kratzenden Klauen. Die wenigen Magiker unter den Angreifern wehrten sich sofort, indem sie Gegenzauber schleuderten. Mit dieser Reflexhandlung gaben sie sich zu erkennen, und noch bevor er das eigentliche Kampfgeschehen erreichte, setzte er einen einfachen Kampfzauber ein. Blaue Funken schössen aus seinen gespreizten Fingerspitzen. Die Funken flogen vor ihm her wie ein Schwärm verzauberter Mücken. Dann, als er von Norden her das Grauneblerlager betrat, sausten sie auf ihre Ziele zu. Kytrins Kryalniri waren schlank und elegant gewesen. Diese Kreaturen ähnelten eher Entschlossen als den
schlanken /Elfen Loquellyns. Sie hatten ein Fell wie Schnatterer, das aber nicht so wild gefleckt war wie das der Nordlandkreaturen. Diese hier waren von großen, dunklen Flecken überzogen, deren Form von einem scharf abgrenzten Netzwerk aus hellbraunem Fell bestimmt wurde, das sich über dicken Muskelbergen spannte. Ihre Köpfe waren tierisch, mit einem deutlich wölfischen Einschlag und riesigen Reißzähnen, die im ersterbenden Licht der Lagerfeuer gelblich glänzten. Manche trugen Kettenhemden, andere hatten einzelne Stücke von Plattenrüstungen angelegt, jedoch augenscheinlich mehr zur Zierde als zum Schutz. Sie benutzten gekrümmte Schwerter, länger als die Langmesser der Schnatterfratzen, und die Elfen gingen mit tiefen, klaffenden Wunden zu Boden. 33 Die Magiker unter ihnen unterschieden sich kaum von den anderen, nur dadurch, dass sie kein Metall am Körper trugen und statt Schwertern Zauberstäbe und Stöcke benutzten. Einer drehte sich um und schlug nach dem blauen Funken, der auf ihn zuflog. Aber der Funke brannte sich durch seine Hand und in seine Brust. Ein anderer atmete den Funken ein. Flammen schlugen ihm aus Augen und Ohren, als er in Krämpfen zuckend zu Boden stürzte. Die Funken verwandelten noch zwei andere zu lebenden Fackeln. Der Letzte schaffte es, einen Abwehrzauber zu errichten, und der Funke umkreiste ihn auf der Suche nach einer Schwachstelle, die er ausnutzen konnte. Die Schreie und der Tod der Magiker blieben nicht unbemerkt. Die Aurolanenkrieger drehten sich um und griffen Kjarrigan an. Sie schleuderten Messer und andere Wurfgeschosse nach ihm, alles, was gerade zur Hand war. Viele davon flogen vorbei, und diejenigen, die trafen, prallten vom Drachenbeinpanzer ab. Einen Pulsschlag lang stellte sich Kjarrigan vor, einfach nur stehen zu bleiben und sie sinnlos auf sich einschlagen zu lassen. Doch er wusste, irgendwann würde seine Kraft versiegen, und sie würden ihn töten. Also handelte er. Er stieß die linke Faust in die Höhe und löste einen Zauber aus, der einen blendend grellen Lichtschein erzeugte. Kreaturen und Elfen gleichermaßen kreischten auf und rissen die Hände vors Gesicht. Alle Kämpfer blieben, plötzlich blind, stehen, wo sie sich gerade befanden. Das nahm dem feindlichen Angriff jeden Schwung und verschaffte dem Grauen Nebel die Gelegenheit, sich zu fangen. Auch Kjarrigan nutzte die Kampfpause. Genauso, wie er es auf Vael getan hatte, sprach er einen Diagnosezauber und erhielt augenblicklich einen Eindruck der ihm am nächsten stehenden Kreatur. Er hatte gehofft, dadurch genug über sie in Erfahrung zu bringen, um sie alle einschläfern zu können, doch die dafür notwendigen Kenntnisse fand er nicht. Stattdessen gelang es ihm jedoch, die Schmerzzentren ihres Nervensystems zu lokalisieren. Er kehrte schnell einen aelfischen Heilzauber um und setzte ihn ein. 34 Die erste damit getroffene Kreatur schrie auf. Sie bog sich nach hinten, als sich sämtliche Muskeln des Körpers verkrampften. Das Nordlandgeschöpf krachte zu Boden und wand sich. Andere fielen vor Schmerz in Ohnmacht. Der Spruch lief wie eine Welle durch die Ansammlung der Feinde, schüttelte einige in Krämpfen, während andere kraftlos zusammensackten. Der verbliebene Magiker verlor die Gewalt über seinen Abwehrzauber. Der Funke schoss auf ihn zu, bohrte sich ihm in die Brust - und er kippte um. Aus den Nüstern stieg Qualm auf. Der Graue Nebel stürzte sich auf die Feinde und schlachtete sie ab. Kjarrigan scheuchte sie mit einem Zauber von der ihm am nächsten liegenden Kreatur fort. »Den hier will ich lebend. Die anderen sind mir gleichgültig.« Die Vorqaelfen schlichen sich davon und zerfetzten die übrigen Kreaturen. Normalerweise hätte sich Kjarrigan von dem Blutbad abgewandt, doch er zwang sich zuzusehen. Er verstand die Wut und den Zorn der angegriffenen Graunebler. Er gab sich der Illusion hin, sie lebten hier all den Hass aus, den sie seit der Vertreibung von Vorquellyn aufgestaut hatten. Aber diese Selbsttäuschung verflog schnell. Er schauderte, als er ihren bestialischen Blutrausch beobachtete. Ich könnte genauso werden wie sie, falls ich die Beherrschung verliere. Und angesichts meiner Macht wäre das hier im Vergleich gar nichts. Wieder schüttelte er sich, dann hob er seinen Gefangenen mit einer Geste aus dem Gemetzel. 35 KAPITEL VIER Llie Wut auf dem Gesicht der Gefangenen überraschte Isaura. Nackter Hass loderte in ihren blauen Augen, und ihre Finger krümmten sich zu Krallen. Sie erhob sich nicht von der Holzbank, obwohl die Ketten an ihren Handschellen dafür lang genug waren. Die Spuren auf dem Boden zeigten deutlich, wie weit sie sich bewegen konnte, und Isaura achtete darauf, außer Reichweite zu bleiben. Sie stellte das Tablett mit Essen auf ein kleines Steinsims, dann hob sie beide Hände, um die Gefangene zu beruhigen. »Ich habe dir zu essen gebracht. Mehr, als du bis jetzt bekommen hast. Ich weiß, die Wachen bestehlen dich.« Die Frau starrte sie aus schmalen Augen an. »Was treibt ihr für ein Spiel? Erst werde ich ausgehungert, dann bringt ihr mir Essen und erwartet, dass ich euch aus Dankbarkeit alles sage, was ich weiß?« »Nein, nichts dergleichen.« Der Blick der Frau zuckte zur Tür, als Hlucri hereinschlurfte. »Lombo? Bei den Göttern, was haben sie dir angetan?« Der Sullanciri kauerte sich in die Türöffnung und schnaufte. »Prinzessin Sayce. Lombo tot.« Die Frau wirkte niedergeschlagen. Ihre Hände wurden schlaff und sie sackte nach hinten gegen die grob behauene Wand ihres unterirdischen Kerkers. »Lombo tot. Will tot. Muroso tot.« Sie hob unter dem Rasseln der
Ketten die Hände vors Gesicht und schluchzte. Isauras Eingeweide verkrampften sich. In ihrem ganzen Leben hatte sie niemanden weinen sehen. Sie hatte selbst geweint, aber niemand sonst, weder ihre Mutter noch irgend36 ein Sullanciri, hatte in ihrer Gegenwart je geweint. Und ich habe noch nie solche Verzweiflung in einer Stimme gehört. Isaura streckte die Hand aus und wäre zu ihr gegangen, doch Hlucri hielt sie auf. Sayce hob den Kopf. Ihr Blick war scharf. Sie schnaubte: »Warum hast du sie angehalten?« Der Sullanciri zuckte die Achseln. »Hlucri passt auf sie auf.« »Das hast du früher für mich getan. Du warst mein Freund. Ein Freund, der mir geholfen hätte, von hier zu fliehen.« Isaura trat einen Schritt zurück. »Fliehen? Von hier kannst du nicht entkommen. Du würdest es nie zurück in den Süden schaffen.« »Besser erfrieren als hier verhungern.« Sayce rieb sich unter dem schmutzigen Kleid mit einer Hand über den Bauch. »Ich bin schwanger. Ich brauche zu essen.» »Ich weiß, dass du Essen brauchst. Und ich weiß, dass die Wachen es stehlen.« Isaura drehte sich um und nahm das Tablett wieder auf. »Hlucri hat es mir erzählt, deshalb habe ich dafür gesorgt, dass ich dir dein Essen bringe. Dass du schwanger bist, wusste ich allerdings nicht.« Sayce stand auf, aber nur zögernd. »Ich bin es. Fast im dritten Monat. Ich trage Will Norderstetts Kind.« »Ich verstehe.« Isaura streckte ihr das Tablett entgegen. »Willst du das? Ich verspreche, nichts davon kann dir schaden. Oder dem Kind. In der Schüssel ist Suppe. Das Brot und der Käse sind gut.« Die rothaarige Gefangene trat einen Schritt näher. Isaura hätte nicht sagen können, ob Sayce sie angreifen wollte, doch Hlucri sorgte dafür, dass entsprechende Überlegungen sich erübrigten, indem er das Tablett in eine Pranke nahm und Sayce hinhielt. Die Prinzessin nahm es und stellte es auf ihre Bank, dann setzte sie sich. »So. Du hast deine gute Tat getan. Jetzt kannst du gehen.« Isaura schaute zurück zur Tür. »Ich wollte mit dir reden. Außerdem weißt du, dass ich dir das Tablett und die Schüssel nicht dalassen kann.« Sayce verzog das Gesicht, dann hob sie den Deckel von der 37 Schüssel. Etwas Dampf stieg daraus auf. Sie schnupperte, dann hob sie die Schüssel mit beiden Händen auf und trank. Einen Augenblick lang würgte sie, dann kaute sie und schluckte. Sie wischte sich mit dem Ärmel das Kinn und brummte. »Ich hatte kein Fleisch erwartet. Will ich aber wissen, was es war, als es noch gelebt hat?« »Frostkralle. Gelegentlich essen wir sie.« »Besser als umgekehrt.« Sayce brach ein Stück Brot ab und aß. »Worüber wolltest du reden?« Isaura verschränkte die Hände in Hüfthöhe. »Über den Norderstett.« Die Prinzessin erstarrte. »Ich weiß nicht, ob ich über ihn reden will. Das ist äußerst persönlich.« »Ich bin ihm begegnet. Ich habe ihm das Leben gerettet.« Sayce starrte sie misstrauisch an. »Wie?« Hlucri grunzte. »Schneeflockendame.« »Aber wie?« Sayce spielte mit dem Anhänger um ihren Hals. »Wer bist du? Ich habe dich auf die Nordlandhexe warten sehen, als sie mich hergebracht hat. Warum solltest du Will retten?« Isaura hob den Kopf. »In Aurolan habe ich denselben Rang wie du. Ich bin Kytrins Tochter - nicht von Geburt, aber durch Adoption. Ich bin ihre Erbin. Ich bin Isaura.« Sayce zog eine Augenbraue in die Höhe. »Ah, du hast Will gerettet, damit er deine Mutter umbringt und du diese Eiswüste erbst?« »Nein, so war es ganz und gar nicht.« Isaura versuchte, locker zu klingen, aber sie wusste, dass die Prinzessin ihr die Erschütterung ob dieser Anschuldigung ansehen konnte. »Ich habe Will gerettet, weil er von einer der Kreaturen meiner Mutter angefallen worden war. Ich wusste, dass sie das nicht gewollt hatte. Zumindest war ich damals davon überzeugt. Inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher, aber das spielt keine Rolle. Ich habe ihn gerettet.« »Du hast nur hinter dem Monster deiner Mutter aufgeräumt?« Sayce riss ein weiteres Stück Brot ab und klemmte 38 etwas Käse darin ein. »Das glaube ich dir nicht. Du musst noch einen anderen Grund gehabt haben.« Isaura zögerte. Die Gefangene hatte Recht. Sie hatte sich dem Fluss der Magik überantwortet und ihren Weg von seiner Strömung bestimmen lassen. Sie hatte sich am Bett eines sterbenden Knaben wieder gefunden und hätte ihn auf jeden Fall geheilt. Dass ihn ein Sullanciri verletzt hatte, hatte in ihr den Wunsch geweckt, diesen Fehler zu beheben, aber es war nicht der einzige Grund für ihr Handeln gewesen. »Ich weiß nicht, warum ich getan habe, was ich tat.« Kurz verließ sie der Mut, dann sprach sie leiser weiter. »Ich würde es wieder tun.« »Warum?« »Es war richtig.« Sayce lachte, dann kaute sie am Brot und Käse. »Den Todfeind deiner Mutter zu retten, war richtig? Deine
Mutter war der Todfeind meiner Familie, und ich hätte sie getötet, ohne einen Gedanken zu verlieren. Ich hätte sie sterben lassen, hätte sie wie Will im Sterben gelegen. Und mit Freuden.« »Nein. Du kennst sie nicht. Sie ist nicht böse.« »Nicht?« Die Prinzessin trank wieder von der Suppe und kaute das Fleisch. »Deine Mutter hat die Welt in den Krieg gestürzt. Sie verfügt über Drachen, die Städte in Trümmer legen. Ihre Truppen schlachten Tausende ab, wenn sie unsere Städte überrennen.« Isaura riss die Augen auf. »Ich war vor Porjal. Ich habe gesehen, wie die Bewohner der Stadt die Grychoöka angriffen. Sie haben Fallen aufgestellt, die darauf ausgelegt waren, versehrende Verletzungen zu verursachen und so schmerzhaft wie nur möglich zu sein. Das haben sie getan, damit die Schreie der Verwundeten Furcht säen, und weil Verwundete Pflege benötigen. Sie waren absichtlich grausam!« »Weil aurolanische Truppen in ihre Heimat eingefallen sind, ihre Familien ermordet und ihnen alles geraubt haben, einschließlich ihrer Träume und Hoffnungen.« Sayces Augen loderten unter der Maske. »Du solltest dich einmal fragen, 39 warum sie das taten. Hatten wir ein Stück der Drachenkrone in Muroso? Hat deine Mutter gefragt, ob wir eines haben, ob wir es ihr übergeben würden? Nein. Ihre blutrünstigen Horden sind im schlimmsten Winter seit Menschengedenken über uns hergefallen, sind geradewegs durch Sebtia gestürmt und weiter nach Muroso. Ohne den geringsten Grund.« Die Heftigkeit der Gefangenen erschreckte Isaura. »Der Süden ist eine Bedrohung für Aurolan. Vor einem Vierteljahrhundert ist der Süden bei uns eingefallen.« »Ja, nachdem deine Mutter Festung Draconis belagerte. Aber aurolanische Heere haben ohne jeden vorangegangenen Angriff Noriva und Vorquellyn erobert.« »Der Süden ist korrupt», brach es aus Isaura hervor, doch noch bevor Sayces Gelächter sie erreichte, erkannte sie selbst, wie hohl diese Worte klangen. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, wie korrupt der Süden war, und sie hatte es selbst gesehen. Der Unrat, der Schmutz ihrer Städte - im Vergleich mit der kargen Reinheit Aurolans - widerte es sie an. Der Süden war verglichen mit ihrer Heimat ein schwärender Misthaufen. Aber ich habe dort Lachen gehört. Vollmundiges Lachen, aus den unterschiedlichsten Kehlen. Sie hatte es in der Taverne gehört, in der sie Will geheilt hatte, auf den Straßen, in den Schatten und im Licht. Es hatte voll und warm geklungen, ganz ähnlich wie das Lachen von Sayce. Dass die Prinzessin so weit von daheim, in einer so schlimmen Lage, lachen konnte, überraschte Isaura. Sayce wischte sich eine Träne ab, die unter der Maske hervor geflossen war. »Das ist wirklich komisch. Der Süden ist korrupt. Besonders von Kytrins Erbin. Ich will dich nicht beleidigen, aber du hast sicher ein sehr behütetes Leben geführt. Nicht wahr?« Isaura runzelte die Stirn. »Du machst dich über mich lustig.« »Stimmt, aber geh jetzt nicht. Es tut mir Leid.« Sayce drehte sich wieder zu dem Tablett um und trank hastig den Rest der Suppe. »Ich möchte nur, dass du verstehst, dass meine Heimat 40 nicht mehr existiert, und es war deine Mutter, die sie zerstört hat. Mein Vater, meine Mutter, meine Brüder und Schwestern, Neffen, Nichten, Vettern und Cousinen, sie sind alle tot. Ich habe keine Familie mehr, außer dem Kind unter meinem Herzen, und das ist das Werk deiner Mutter und ihrer Leute. Deine Mutter hat mir alles genommen außer dem Willen zu Überleben, und wenn sie könnte, würde sie mir auch den noch rauben.« »Das stimmt nicht.« Sayce schaute zu ihr hoch. »Weiß deine Mutter, dass du hier bist?« »Nein, aber das ist ihrer Aufmerksamkeit auch nicht wert. Sie muss sich um wichtigere Dinge kümmern.« Sayce wandte sich an Hlucri. »Du hast nur Isaura hier erzählt, dass man mein Essen stiehlt?« Der Sullanciri zuckte die Achseln. »Am besten so.« Die Murosonin drehte sich wieder zu Isaura um. »Warum wolltest du mit mir reden? Wirklich?« Isaura schaute auf ihre Hände. »Ich habe im Süden vielerlei gesehen. Manches, das seltsame Gefühle ausgelöst hat. Ich liebe meine Mutter, aber was in ihrem Namen dort geschah, war entsetzlich. Ich weiß nicht. Ich bin verwirrt. Ich weiß, sie ist nicht böse. Sie liebt mich und ihr Volk, aber ich verstehe das nicht.« Noch während sie das sagte, erinnerte sie sich an den Ort, an den ihre Mutter sie geführt hatte. Die Oromisen drängten ihre Mutter, so zu handeln. Ihre Mutter hatte ihr von den Drachen erzählt und davon, wie sie die Oromisen verraten hatten. Doch ihre Mutter hatte ihr auch vieles andere erzählt, das im Widerspruch zu ihren Beobachtungen im Süden stand. Nichts davon ergab einen Sinn. Sayces Mund war nur noch ein Strich. »Du bist nicht die Einzige, die es nicht versteht. Hast du Freunde im Krieg verloren?« Isaura erinnerte sich an den Kryalnir Gelt. »Einen. Ich habe hier nicht viele Freunde. Entweder sie hassen mich, so wie du, oder sie fürchten mich.« Sayce lächelte. »Angst und Hass kenne ich. Mein Vater war 41 der König, deshalb haben mir die Leute geschmeichelt, um sich Macht oder Gefallen zu verschaffen, oder sie haben mich ängstlich gemieden. Ich war keine Person für sie, nur ein Gegenstand. Ich bin ein Mittel zur Macht
gewesen - oder eine Möglichkeit, sie zu lenken. Zumindest war ich das, bis ich Will traf. Er hat mich nicht so gesehen. Für ihn war ich ein ganz gewöhnlicher Mensch, und er hat sein Leben gewagt, mich zu retten.« Die Murosonin nickte. »Und vorher hast du ihn gerettet, also gäbe es mich ohne dich nicht mehr. Mein Kind gäbe es nicht. Ich schätze, ich schulde dir mehr als nur eine Schüssel Suppe.« Isaura schüttelte den Kopf. »Ich habe Will nicht für dich oder dein Kind gerettet.« »Aber das Essen.« »Gut. Ja.« Isaura lächelte, als sie in Sayces Augen ehrliche Dankbarkeit aufblühen sah. »Ich werde dafür sorgen, dass du gutes Essen bekommst. Für dich. Für das Kind.« »Du kommst auch selbst?« Sayces Schultern sackten ein wenig herab. »Ich habe all meine Flüche verbraucht für die Schnatterer, die mir Essen gebracht haben. Sie sind ohnehin keine gute Unterhaltung.« Isaura nickte. »Ich weiß. Ich komme wieder. Oft, wenn ich kann.« »Bringst du mir Nachrichten vom Krieg?« »Ich weiß nur selten Neues.« »Wenn du etwas erfährst, möchte ich es wissen.« Sayce nahm das Brot und den Käse vom Tablett und legte es auf ihre Bank. Dann reichte sie das Tablett Hlucri. »Das ist für später.« »Natürlich.« »Isaura.« »Ja?« »Du weißt, ich werde versuchen zu fliehen. Wenn es sein muss, benutze ich dich als Geisel.« Die Stimme der Prinzessin blieb beherrscht. »Ich habe nichts gegen dich, aber ich kann mein Kind nicht hier zur Welt bringen. Das werde ich nicht zulassen.« 42 Kytrins Tochter nickte. »Dir ist klar, dass ich dir nicht bei der Flucht helfen werde.« »Aber wirst du mich aufhalten?« Wieder zögerte Isaura. »Nur, um dein Leben zu retten.« »Nicht die Antwort, die ich mir erhofft hatte, aber es muss genügen.« Die murosonische Prinzessin lehnte sich zurück an die Wand. »Ich würde gerne ein Bad nehmen und saubere Sachen anziehen. Geht das?« »Gibst du mir dein Wort, dass du dabei keinen Fluchtversuch unternimmst, wenn ich es arrangiere?« Sayce dachte kurz nach, dann nickte sie. »Du hast mein Ehrenwort.« »Ich glaube dir.« Sie nahm das Tablett, das Hlucri ihr reichte, und wandte sich zur Tür. »Alles Gute, Sayce. Ich freue mich auf unser nächstes Gespräch.« »Du weißt, wo du mich findest.« »Das weiß ich.« 43 KAPITEL FÜNF Ller Nebel hob sich über dem Schlachtfeld, und Alyx entschied, dass ihr nicht gefiel, was sie da sah. Dass die aurolanischen Truppen die höhere Position haben würden, hatte sie bereits gewusst, da die Nordländer das Schlachtfeld einen Tag vor ihrer Armee erreicht hatten. Die weite Ebene, auf der sie sich begegnen würden, stieg sanft nach Nordosten an und wurde von der Straße zwischen Bacirro und Fronosa in zwei Hälften geteilt. Der Boden am Fuß des Hangs war sumpfig. Das bedeutete, ihre Soldaten würden zunächst nur langsam vorankommen, und die Aurolanen brauchten nur zu warten, bis sie sichereren Boden erreichten, um einen vernichtenden Sturmangriff zu starten. Sie hätte die Verzögerung verfluchen können, die sie daran gehindert hatte, weiter zu marschieren und das Schlachtfeld ihrer Wahl zu erreichen. Das hätte jedoch auch nichts genutzt. Generalin Pandiculia hätte Bacirro am Neunzehnten des Monats erreichen sollen, und am Zweiundzwanzigsten hatte sich Alyx schließlich eingestanden, dass sie nicht länger warten konnte. Sie hatte Der Königin Leichte Reiterei aus Aleida ausgeschickt, um die aurolanischen Horden auszukundschaften und zu behindern. Aber zu viel mehr, als feindliche Kundschafter zu töten, war sie eigentlich nicht ausgerüstet gewesen. Als Tyhtsais Truppen die Ebene erreichten, hatten sie den Vormarsch abgebrochen, und die Leichte Reiterei hatte ihre Stärke und Aufstellung zurückgemeldet. Aber sie konnten nicht alles sehen. Die Kundschafter hatten die Aurolanen als die übliche Mischung aus Schnatterern, Vylaenz, Horgun beschrieben, durchsetzt mit vereinzelten menschlichen Renegaten und Kryalniri. Sie hatten keine Dra44 conellen gesehen, wohl aber viele Nachschubwagen mit Feuerdreck. Also musste Alyx davon ausgehen, dass die Waffen, für die diese Munition bestimmt war, bereits auf dem Weg und nur noch nicht eingetroffen waren. Die aurolanische Truppenstärke belief sich auf etwa sechstausend Mann, davon ein Viertel Reiterei. Das bescherte ihren eigenen Truppen eine Zwei-zu-eins-Überlegenheit, genug für einen sicheren Sieg, wären da nicht noch zwei weitere Faktoren gewesen. Einer davon war das Gelände. Der andere war die Präsenz von zwei Bataillonen Draconettieren. Die waren mit kleineren Versionen einer Draconelle bewaffnet, die eine weintraubengroße Kugel verschossen. Auf kurze Entfernung konnte diese Kugel eine Rüstung durchschlagen, und selbst wenn ihr das nicht gelang, konnte die
Wucht des Aufpralls ausreichen, einen Krieger von den Beinen zu reißen. Draconettiere waren weder so schnell noch so treffsicher wie ein Bogenschütze, aber sie brauchten auch nicht annähernd eine so lange Ausbildung. Alyx vermutete zudem stark, dass die Anwesenheit der Draconettiere allein nicht die Notwendigkeit von so viel Feuerdreck erklären konnte. Sie nahm an, dass die Aurolanen irgendwo hinter der Hügelkuppe mehrere Batterien Steilschleudern aufgestellt hatten. Diese kurzen, gedrungenen Waffen benutzten ebenfalls Feuerdreck, um ein Geschoss in einem hohen, steilen Flugbogen abzufeuern. Ihre Geschosse enthielten ebenfalls Feuerdreck und eine Lunte, so dass sie in der Luft über dem Schlachtfeld explodierten. Der dabei erzeugte Hagel scharfer Eisensplitter zerfetzte Haut und Knochen und zerriss ganze Einheiten. Die Aufstellung der Aurolanen war recht einfach. Zwei Kavalleriebataillone stellten die Flügel, mit einem zusätzlichen Bataillon als Reserve etwas weiter hinten. Drei Bataillone Infanterie standen ebenso abseits. Ein Regiment schwere Fußtruppen, darunter ein Bataillon Draconettiere, bildete das Zentrum der Formation, während die beiden anderen, leichteren Regimenter zwischen dem Zentrum und den Flügeln aufgestellt waren und sich mit beiden teilweise überschnitten. Zwi45 sehen den leichteren Regimentern befand sich eine Lücke, in der Alyx die Steilschleudern vermutete. Sobald sich der Nebel verzogen hatte, würde sie einen Gyrkyme-Kundschafter ausschicken, um nachzusehen. Sie stellte ihre Einheiten sorgfältig auf. Zwei Regimenter, eines hinter dem anderen, formten das Zentrum. An beiden Flügeln platzierte sie ein Regiment schwere Infanterie. Hinter der schweren Infanterie wurden die Seiten durch zwei Bataillone schwere Reiterei verstärkt. Dann zog sie drei Bataillone leichte Kavallerie an die äußerste rechte Flanke. Sie behielt einen Teil schwere Reiterei und etwa die Hälfte der Infanterie in Reserve. Diese Fußtruppen bestanden größtenteils aus Söldnern und unerfahrenen Freiwilligen, auf die sie sich nicht verlassen wollte, bis sie Gelegenheit gehabt hatte, sie im Kampf zu beobachten. Sie versuchte, sich in ihren Gegner zu versetzen, aber da dieser Gegner eine untote Sullanciri war, war das alles andere als leicht. Dennoch, obwohl die Aurolanen aus der besseren Position heraus kämpften, sollte allein das zahlenmäßige Übergewicht ausreichen, sie zurückzutreiben und zu zerschlagen. Sie würde sich den Sieg mit großen Blutopfern erkämpfen müssen, aber siegen würde sie trotzdem. Für die Aurolanen ist eine Niederlage recht gut zu verkraften. Sie können sich darauf beschränken, uns auszubluten. Die Nordlandhorden schienen in der Lage, schier unglaubliche Verluste einzustecken. Möglicherweise war das alles nur ein Bluff Kytrins, um den Süden zu entmutigen. Doch weiter vorzurücken, selbst nach dem Verlust einer kompletten Armee in Muroso, das war mehr, als der Süden geschafft hätte. Die Aurolanen stießen scheinbar unaufhaltsam immer weiter vor und Alyx konnte sich des Gefühls nicht erwehren, in der Falle zu sitzen. Hinzu kam noch etwas: Die Formationen waren zwar nicht exakt so wie in ihrem angeblichen Traum aufgestellt, aber die Ähnlichkeit war doch groß genug, dass sie sich fragte, was Kytrin vorhatte. Nur war es noch weitaus schwieriger, die 46 Gedanken der Nordlandhexe nachzuvollziehen, als Tyhtsai zu verstehen. Wie auch immer, aus Alyx' Sicht stellte sich die Lage recht einfach dar. Ließ sie ihre Truppen vorrücken, würden das Steilschleuderbombardement und die Draconettiere ihre Formation weit genug schwächen, um der aurolanischen Reiterei einen Durchbruch zu ermöglichen, und danach würde die Infanterie abschlachten, was übrig war. Damit war ihre Strategie klar: Sie durfte nicht vorrücken, wie die Aurolanen es von ihr erwarteten. Im goldenen Kettenhemd, an der Hüfte vom Schwertgurt gehalten, das Zauberschwert Herz in der Scheide, stieg Alyx in den Sattel. Sie trabte nach Osten, der aufgehenden Sonne entgegen, dorthin, wo die leichte Kavallerie wartete. Sie zügelte ihr Ross am hinteren Ende der Formation, dann nickte sie einem Trompeter zu. Er blies Alarm, gefolgt von den Batail-lonskennungen und dem Befehl, vorzurücken. Er wiederholte die Notenfolge und andere Trompeter in der Truppe nahmen sie auf. Da sie es sich nicht leisten konnte, ihre Infanterie vorrücken zu lassen, musste sie die Aurolanen anlocken. Der einzige echte Vorteil, den sie gegenüber den Einheiten der Nordlandhexe besaß, war die Disziplin ihrer Soldaten. Ohne Befehl würden sie weder ausbrechen noch fliehen oder handeln. Alle waren über den Plan in Kenntnis gesetzt worden. Sie kannten ihre Rolle und waren bereit sie zu spielen. Ganz besonders, wenn sie dabei außer Reichweite der Steilschleudern blieben. Die leichte Kavallerie, angeführt von Der aleidischen Königin Leichten Reiterei, stürmte in einem Bogen von Osten nach Norden. Sie platschten schnell durch den feuchten Torf, dann ging es die Steigung hinauf auf den linken Flügel der Aurolanen zu. Die Morgensonne glänzte hell auf polierten Helmen. Wappenröcke und Wimpel in Rot, Grün und Weiß knallten und flatterten. Die drei Bataillone galoppierten als Formation vorwärts. Die aurolanische Reitereieinheit, auf die sie zuhielten, hatte nur sechshundert Mann. Sie drehte sich, um einen Gegenan47 griff zu ermöglichen. Die Reiter, in der Hauptsache Schnatterer, aber auch ein paar Kryalniri und noch mehr menschliche Renegaten, hatten Mühe, die Frostkrallen, auf denen sie ritten, geordnet zu führen. Die gefiederten Bestien schnappten mit zähnestarrenden Mäulern nach den heranpreschenden Reitern und ihre riesigen, sichelförmigen Krallen zuckten vor Erwartung, deren Fleisch zu zerfetzen.
Alyx' Truppen kannten die effektive Reichweite ihrer Gegner. Frostkrallen hielten einen Sturmangriff nur über kaum mehr als hundert Schritt durch. Diese Entfernung überbrückten die Kreaturen zwar mit erstaunlicher Geschwindigkeit, als Rudeljäger hatten sie jedoch keine große Ausdauer. Gewöhnlich übernahm ein anderer Temeryx die Jagd, sobald sein Vorgänger abbrach, und solange sie sich nicht in einem Galopp verausgaben musste, konnte eine Frostkralle ihre Beute endlos verfolgen. Aber nach einem erfolglosen Sturmangriff ließ ihre Kraft nach und sie hielten Ausschau nach leichterer Beute. Sobald die Aleider Reiter diese Entfernung erreicht hatten, schwenkten sie nach Nordosten und präsentierten den Aurolanen die Flanke. Die Soldaten feuerten mit den kurzen Reiterbogen einen Schwärm Pfeile ab. Die Geschosse flogen in hohem Bogen über die Distanz zum Gegner und landeten zum Großteil im Ziel. Obwohl die Schüsse nicht gezielt waren, fanden viele ungeschützte Haut. Andere prallten von Rüstungen ab. Ein paar Aurolanen fielen und mehr als ein Temeryx schnappte nach einem Pfeilschaft, der ihm aus dem Fleisch ragte, doch die Salve war wenig mehr als ein Ärgernis. Dann vollführte die Jeranser Königskavallerie dasselbe Manöver und setzte weitere Pfeile in die Formation des Gegners. Hinter dessen Linien dröhnten Trommeln, und Banner veränderten die Stellung. Alyx sah vor ihrem geistigen Auge, wie die Steilschleudern neu ausgerichtet wurden, um die linke Flanke abzudecken. Als die jeranischen Reiter ihren Schwenk vollendet hatten und zurück zu den eigenen Linien zogen, griff die aurolanische Reiterei an. Doch es war ein planloser Sturm. 48 Ein paar Frostkrallen machten den Anfang, und andere setzten ihnen nach, bis alle sechshundert in mehreren Wellen vorpreschten. Die dritte leichte Reitereieinheit in Alyx' Abteilung wurde langsamer, als die Aurolanen angriffen. Im Gegensatz zu den beiden anderen Einheiten war die Murosonische Erste Vergeltung nicht mit Reiterbogen bewaffnet. Sie besaßen Armbrüste. Deren Salve sauste genau gezielt durch eine beinahe schnurgerade Flugbahn und schnitt wie eine Sense durch die erste Angriffswelle der aurolanischen Reiter. Temeryxe kreischten gellend, als sich die mit Stahlspitzen bestückten Bolzen in ihre Leiber bohrten oder ihre Reiter aus dem Sattel hoben. Manche Reiter wurden von ihren Tieren mitgeschleift, andere hatten weniger Glück, als sich ihre Frostkrallen umdrehten und mit Zähnen und Krallen von der störenden Last befreiten. Stürzende Frostkrallen schleuderten ihre Reiter zu Boden. Andere Tiere sprangen über die toten und sterbenden Artgenossen und griffen weiter an. Aber sie waren in der Minderheit. Häufiger kam es zum Zusammenstoß zwischen einem heranstürmenden Biest und einem in Todesqualen um sich schlagenden Vorgänger. In Alyx' Nähe ertönte eine Trompete, ihr Signal ließ die aleidischen und jeranischen Einheiten wieder nach Osten schwenken und den Angriff erneut aufnehmen. Diesmal legten sie die Bogen etwas weiter an, so dass der aurolanische Gegenangriff zwischen ihnen und ihren eigenen Reihen hindurchstoßen würde. Sie deckten die Nordländer mit einer weiteren Salve ein, dann suchten die Schützen sich jeder ein bestimmtes Ziel. Wieder töteten die Pfeile wenige, trafen aber viele, und sie brachten die Flanke dazu, sich zur Mitte des Schlachtfelds zu drehen und zusätzliche Verwirrung auszulösen. Die vordersten Aurolanen erreichten die leichte murosonische Reiterei, und der Angriff traf die Reiter hart. Rösser bäumten sich auf und stürzten mit Eingeweiden, die aus den zerfetzten Leibern hingen. Schwerter blitzten silbern auf und 49 glänzten rot, als sie sich wieder hoben. Blut spritzte aus abgehackten Gliedmaßen, Soldaten griffen sich ins gespaltene Gesicht oder umklammerten aus ihrem Leib ragende Lanzen. Frostkrallen zermalmten Pferdeschädel zwischen ihren Kiefern, doch gelegentlich zertrümmerte auch ein stahlbeschlagener Huf einen Temeryxkopf. Die Trompete, die der leichten Reiterei das Zeichen zur Wende gegeben hatte, hatte auch noch andere Feldbewegungen entlang der Südlandlinien ausgelöst. Beide leichte Infanterieregimenter in deren Zentrum zogen sich zurück, die vorderen Ränge drehten um und rannten davon, durch die eigenen Reihen zurück. Von ihrem Standort aus sah Alyx sie im Rücken der Formation anhalten und sich neu zusammenfinden, aber die Aurolanen - und insbesondere die Temeryxe -sahen sie nur weglaufen. Den Frostkrallen, die sich dem Zentrum zugewandt hatten, war das als Beuteverhalten eingeprägt, und instinktiv preschten sie auf die Öffnung in Alyx' Formation zu. Schlamm und Grasbüschel wurden hochgeschleudert und verdreckten das weiße Gefieder der Tiere. Der weiche Boden bremste sie, aber das spielte keine Rolle. Die Reiter hatten ihre Tiere nicht mehr in der Gewalt - die Tiere waren auf der Jagd. Die durch den Rückzug der Infanterie entstandene Lücke ermöglichte jedoch den beiden schweren Reitereibataillonen, den Aleider Eisenreitern, das Zentrum anzugreifen. Als die Frostkrallen das Sumpfgelände verließen, donnerte die schwere Kavallerie, gepanzerte Ritter mit schweren Schilden und dicken Lanzen im Anschlag, geradewegs in sie hinein. Temeryxkadaver flogen durch die Luft. Blutige Federn segelten entlang ihrer Flugbahn herab. Lanzen blieben in den Kreaturen stecken. Ihre Besitzer zogen den Säbel, hieben und schlitzten. Ein mutiger Aurolanenkrieger hob die Standarte seiner Einheit, um seine Kameraden anzuspornen, doch zwei Aleider Eisenreiter ritten ihn nieder und brachten das Banner mit den neun Schädeln unter dem Jubel der restlichen Armee mit zurück. 50 Die Eisenreiter setzten ihren Angriff fort und gaben dem Rückzug der Murosonen Deckung. Einzelne
Draconettiere im Zentrum der Nordlandreihen feuerten, auf diese Entfernung hatten ihre Schüsse allerdings kaum mehr Wirkung als die langen Bogenschüsse der leichten Reiterei. Alyx' leichte Infanterie stürmte hinter den Pferden ebenfalls vor und machte nieder, was von der aurolanischen Kavallerie noch überlebt hatte. Rechts formierte sich die leichte Reiterei vor dem Sumpf neu, bereit, die Störangriffe wiederaufzunehmen, während die Eisenreiter um sie herum zurück in Position trabten. Nach nicht einmal einer Stunde Kampf hatten die Aurolanen einen Kavallerieflügel verloren, Alyx hatte weniger als ein Zwanzigstel ihrer Reiterei eingebüßt und die Steilschleudern waren nicht zum Einsatz gekommen. Durch ihren Mangel an Disziplin hatten die Nordlandtruppen an Zahl eingebüßt. Sie nickte dem Trompeter zu, der das Signal zum Halten der Stellung gab. Nun fing das Warten an. Tyhtsai konnte deutlich sehen, dass Alyx nicht daran dachte, vorzurücken und in ihre Falle zu gehen. Gegen langsam anrückende Truppen wären die Steilschleudern wirkungsvoll gewesen, gegen Kavallerie waren sie jedoch nutzlos. Zumindest solange der Gegner sich nicht in eine vorausberechnete Position kanalisieren ließ, auf die man die Geschütze im Vorhinein ausrichten konnte. Alyx' Studium der Karten Saporitias hatte nur ein paar wenige Stellen gezeigt, die sich für eine derartige Taktik eigneten. Die nächstgelegene war der Pass bei Fronosa. Falls Tyhtsai vorrückte, musste sie fürchten, dass Alyx' Einheiten ihre Truppen zermalmten. Die Armee des Südens war größer und disziplinierter. Alyx verfügte über genug Leute, um das Aurolanenheer einzukesseln. Ein solch überwältigender Sieg würde verlustreich werden, da keine der beiden Seiten Gnade erwarten oder gewähren würde. Allerdings hätte Tyhtsai dabei auch mit dem Verlust der Steilschleudern rechnen müssen, und ganz gleich, was aus den Draconellen in Okrannel wurde, Alyx war sich sicher, dass die Sullanciri diese Waffen nicht in der Hand des Feindes sehen wollte. 51 Der Klang der Trommeln auf der anderen Seite veränderte sich und die leichten Infanterieeinheiten zogen sich zurück. Alyx wandte sich ihrem Trompeter zu. »Er rufe unsere Reiterei zurück.« Der Soldat tat wie befohlen, und ihre leichte Kavallerie zog sich durch das Sumpfland zurück. Die Murosonen verließen das Feld zuletzt und die Armee begrüßte sie mit lautem Jubel. Auch wenn diese Schlacht in Saporitia ausgetragen worden war, fühlten doch alle hier, dass es die Murosonen verdient hatten, den Feind zu verletzen, und sie freuten sich, dass es ihnen gelungen war. Auch sie hatten Tote auf dem Schlachtfeld gelassen. Man würde ihre Leichen bergen, Lebensmasken sorgsam verstauen, um sie den Angehörigen zu überbringen, Freunde betrauern, dann würden die Krieger weitermarschieren, weiter zum nächsten Schlachtfeld. Alyx ritt zurück ins Zentrum der Linien und zu ihrem Zelt. Arimtara nahm die Zügel ihres Pferdes, als sie abstieg. Die Drachin betrachtete sie kurz, dann schloss sie halb die Augen. »Du hättest mich meine wahre Gestalt annehmen und große Teile dieser Armee einäschern lassen können.« »Hätte ich. Ich habe es aber nicht getan.« »Warum nicht?« Alyx deutete auf die Truppen hinter ihnen. »Aus zwei Gründen. Erstens will ich dich zu unserem größtmöglichen Vorteil einsetzen, und der Augenblick dafür ist noch nicht gekommen. Ich weiß nicht, wann es so weit sein wird, aber du hast die Fähigkeit, den Ausgang einer Schlacht zu wenden. Mehr noch, du kannst einen Drachen abwehren, und ich will Kytrin nicht dazu bringen, einen solchen vor der Zeit gegen uns einzusetzen. Ich möchte, dass du eine Überraschung für sie bist. Doch der Hauptgrund ist ein anderer. Diese Armee muss lernen, sich als Einheit zu begreifen. Das heute war keine besondere Schlacht, aber alle haben getan, was sie tun sollten. Sie alle haben die Angst gespürt, jetzt fühlen sie alle auch den Triumph des Siegers. Und sie alle haben Freunde verloren. 52 Hättest du das Aurolanenheer vernichtet, wäre es nicht ihr Sieg gewesen, sondern deiner, und das hätte sie nicht so zusammengeschweißt, wie wir es brauchen, wenn wir die Entscheidungsschlacht gewinnen wollen.« Arimtara nickte, dann legte sie den Kopf auf die Seite. »Du warst schlau genug, eine Schlacht zu planen, die sie teuer bezahlen mussten. Hättest du nicht noch weiter planen und sie noch teurer bezahlen lassen können?« »Durchaus, aber das wäre für mich auch teuer geworden.« Die Prinzessin schaute über das Schlachtfeld, auf dem Tyhtsais Banner kleiner wurde. »Im Augenblick hält sie mich für verschlagen und feige, da man nichts, was ich heute getan habe, als besonders mutig bezeichnen könnte. Ich hätte die leichte Kavallerie immer wieder gegen ihre Flanken hetzen können, aber ich war es zufrieden, sie abziehen zu lassen. Jetzt wird sie erwarten, dass ich auch in Zukunft so handeln werde. Und das ist gut, denn in dem Augenblick, da ich das nicht tue, das eine Mal, dass ich vorrücke, wird diese Armee schneller durch ihre Truppen jagen als der Wurm durch die Amsel. Falls ich ihre Armee vernichten will, brauche ich an deren Spitze eine Generalin, die mir genau das nicht zutraut. Sobald sie davon überzeugt ist, werden wir sie noch einmal töten.« 53 KAPITEL SECHS Entschlossen hob die Hand - zum Zeichen für die anderen hinter ihm, anzuhalten. Langsam ging er auf dem Waldpfad in die Hocke und starrte ins Unterholz. Die Graunebler, die ihn begleiteten, waren vielleicht leise genug, um durch Yslin zu schleichen, in den Wäldern Loquellyns machten sie jedoch so viel Lärm wie eine Viehherde - teilweise einschließlich blökender Beschwerden über Durst und Blasen. Ein paar waren sogar bei
der Begegnung mit aurolanischen Truppen ein paar Nächte zuvor verwundet worden, doch diese Vorqaelfen ertrugen ihre Schmerzen stoisch und beschwerten sich weniger als die anderen. Entschlossen wandte den Kopf leicht nach links und sah Qwc an, der mit wurfbereitem Speer auf seiner Schulter saß. Der silberäugige Krieger deutete nach Nordnordost, dann nickte er und der Sprijt flog davon. Er huschte scharfwinklig und präzise wie eine Libelle zwischen den Bäumen hindurch. Kurz darauf kehrte er zurück und zeigte mit den Fingern an, dass fast zwanzig Personen im Gebüsch lauerten. Entschlossen nickte antwortend, aber der Sprijt war noch nicht fertig. Er wechselte den Speer in das untere Paar Hände und deutete mit den oberen an, sich eine Krone aufzusetzen. Entschlossen zog die rechte Braue hoch. Qwc nickte eifrig und der Vorqeelf brachte tatsächlich ein Lächeln zustande. Er stand auf und legte die Hände trichterförmig um den Mund. »Trawyn, Prinzessin von Loquellyn, Ihr braucht Euch nicht länger zu verstecken. Diejenigen, die Ihr jagt, sind tot.« Auf seinen Ruf erhielt er keine Antwort, was er aber auch nicht erwartet hatte. »Wir sind uns begegnet, Hoheit, als Ihr eine Gyrkymsu im Palast von Rellaence begrüßt habt, noch 54 kein Jahr ist es her.« Entschlossen bemühte sich, im besten Äilvisch mit ihr zu sprechen, doch unter den Vorqaslfen war ihre Muttersprache verkümmert. Er erinnerte sich dunkel an Zeiten, in denen er Gefallen daran gefunden hatte, Worte zu Mustern und förmlichen Floskeln zu weben. Aber seit jener Zeit war viel Blut geflossen. Er bewegte sich durch den Wald in die Richtung, in die Qwc geflogen war. »Ich komme zu Euch. Ihr werdet mich sehen, bevor ich Euch sehen kann, und Ihr könnt selbst entscheiden, was Ihr tut.« Als er den von Nadeln und Blättern bedeckten Hang hinabstieg, suchte er nach Spuren der Loqaelfen. Er erwartete, feuchte Blätter unter einer Lage trockener zu finden oder einen zertretenen Pflanzenstängel. Er hielt sogar Ausschau nach Fäden, die an Dornen hängen geblieben waren - doch bis sie vor ihm aus dem Unterholz trat und zwei Bogenschützen mit angelegten Pfeilen links und rechts neben ihm auftauchten, entdeckte er nichts. »Du bist Entschlossen, aber du könntest eine ihrer Kreaturen sein.« Trawyn hatte sich stark verändert. Sie hatte das kastanienbraune Haar lang und offen getragen, doch jetzt war es abgeschnitten und nicht einmal fingerlang. Ihr linkes Auge strahlte noch immer von reinstem Blau, aber ein blutiger Stofffetzen bedeckte die rechte Augenhöhle. In Rellaence hatte sie fließende Gewänder getragen und bezaubernd ausgesehen, jetzt erinnerte ihre Kleidung eher an Lumpen, wie sie Bauern an Bettler verschenken. Dreck und Blut bedeckten ihre Wangen und Hände, und ihr verbliebenes Auge war dunkel gerändert. Entschlossen sank augenblicklich auf ein Knie. »Ich bin Entschlossen, und solange ich lebe werde ich niemals eine ihrer Kreaturen werden.« Trawyn hob eine Hand und senkte sie wieder, und die Bogenschützen entspannten die Bogen, ohne jedoch die Hand von der Sehne zu nehmen. »Du hast gesagt, die Kreaturen, die wir jagen, seien tot?« 55 »Übergroße Schnatterfratzen und ein paar Echsenhunde?« Entschlossen wechselte in die Menschensprache, als Qwc auf seiner Schulter landete. »Sie überfielen uns vor einigen Nächten. Sie fanden heraus, dass wir gefährlichere Beute sind, als sie erwartet hatten.« Die /Elfenprinzessin schüttelte den Kopf. »Bist du nur überheblich, Vorqalf, oder willst du mich damit verhöhnen, dass du - ein Kind - mehr Erfolg hattest als wir?« Der Schmerz in der matten Stimme, mit der sie diese Anschuldigung vorbrachte, zeigte ihm, wie dicht sie vor einem Zusammenbruch stand. Unter anderen Umständen hätte er sich möglicherweise reizen lassen, aber hier und jetzt beherrschte er sich. »Ich bezog mich auf Kjarrigan, nicht auf mich selbst. Leistet uns mit Eurer Gruppe Gesellschaft und berichtet mir, was geschah. Wir wurden hierher nach Loquellyn geschickt, um Euch um Unterstützung im Kampf gegen Kytrin zu bitten. Ich nehme an, Ihr werdet ablehnen, und ich möchte erfahren, warum.« Trawyns Einheit bestand aus siebzehn /Elfen, alle verwundet, zwei von ihnen sehr schwer. Bei der Flucht aus der Hauptstadt waren sie dem Lauf der Assariennia gefolgt. Die Verfolger hatten nicht locker gelassen, und der Weg war noch gefährlicher geworden, sowie sie die Berge erreichten. Ihre Leute hatten seit Tagen nichts als hastig gepflückte Winterbeeren gegessen und getrunken, wo sie Wasser mit der Hand schöpfen konnten, sei es aus Bächen oder Pfützen. Entschlossen führte die Gruppe zurück ins Graunebellager, wo die Heiler und Kjarrigan taten, was sie konnten. Der menschliche Magiker schaute sich Trawyns rechtes Auge an und sprach ein paar Zauber, dann konnte er aber nur den Kopf schütteln. »Ich würde es heilen, wenn ich könnte, Prinzessin, aber da ist gar nichts mehr, was heilen könnte.« Sie nickte. »Einer der Turekadein hat es aus der Höhle gerissen, und ich musste das Auge abschneiden, weil es mir auf die Wange herabhing und mich ablenkte.« 56 Entschlossen erlaubte, Feuer zu machen, sehr zur Freude der Graunebler. Man holte Wasser und brachte es zum Kochen, erst für Tee, dann für eine Suppe aus Wurzeln, Beeren und Dörrfleisch für die Flüchtlinge. Der Vorqaelf stellte paarweise Wachen auf und die Graunebler nahmen die Aufgabe sehr ernst. Diejenigen, die nicht auf Posten standen, unterhielten sich mit den Loqaslfen und fanden so viel wie möglich über die Ereignisse in
Loquellyn heraus. Trawyn kauerte sich bei Einbruch der Nacht unter eine Decke. Das knisternde Feuer warf tanzende Schatten über ihr Gesicht. Sie umklammerte mit beiden Händen eine Schale Brühe, schenkte der Suppe aber gar keine Aufmerksamkeit, sondern starrte in die Flammen. »Sie kamen ohne Vorwarnung, Entschlossen. Es war anders als bei dem Überfall auf Vorquellyn. Sie hatten weniger Schiffe, und unsere Flotte stand bereit, sie aufzuhalten. Nein, sie schlichen sich an und waren mitten unter uns, bevor wir eine Chance zur Gegenwehr hatten.« Ein Schauder lief Entschlossen den Rücken hinab, als sie sprach. Zum Teil, weil die Erinnerung daran zurückkehrte, wie die Aurolanen seine Heimstatt überrannt hatten. Bilderfetzen von einem Massaker bei Feuerschein; blutüberströmte Gesichter; abgehackte Gliedmaßen; Schreie, die plötzlich abbrachen. All das prasselte auf ihn ein. Die Erinnerungen drohten ihn zu übermannen, doch es gelang ihnen nicht, denn für jeden Vorqaslfenschrei hatte er Dutzende aus den Kehlen von Schnatterern hervorgelockt. Für jeden abgehackten Arm und jedes Bein hatte er Legionen Aurolanenglieder geerntet. Was die Nordländer den Vorqaelfen in ein paar Nächten angetan hatten, hatte er über ein Jahrhundert lang gerächt. Was ihm wirklich zusetzte, war die Verzweiflung in Trawyns Stimme. Sie war erheblich älter als er und an eine Heimstatt gebunden, und doch klang sie so verloren und fern. Er kannte diesen Tonfall bei Menschenstimmen, aber noch nie hatte er sie bei einem erwachsenen Hilfen gehört. Er hatte geglaubt, solche Hoffnungslosigkeit sei kurzlebigeren Arten 57 vorbehalten. Sie jetzt in ihrer Stimme zu hören, verunsicherte ihn, denn es untergrub eine der Säulen seines Weltbilds. Dass eine Unsterbliche verzweifeln konnte, warf in ihm die Frage auf, ob er bei seinem Kampf um Vorquellyns Freiheit Erfolg haben könne. Trawyn schloss das Auge zur Hälfte und beugte sich vor. »Zuerst holten sie unsere Schiffe. Ich habe es nicht selbst gesehen, aber einer aus unserer Gruppe war ein Seemann. Er überlebte die Vernichtung seines Schiffes, nur um dann auf der Flucht zu sterben. Er hat uns erzählt, dass sich ein gewaltiges Loch im Meer öffnete, und sein Schiff wurde in einen von Zähnen starrenden Schlund gerissen. Die Bestie zermalmte das Schiff und er wäre verschluckt worden, aber irgendwie wurde er durch die Kiemenschlitze ausgestoßen und schaffte es an die Oberfläche. Dann kamen dieselben Bestien oder ganz ähnliche in alle Häfen Loquellyns. Sie warfen sich aufs Land, zerschmetterten Kais und Schiffe. Sie öffneten das Maul und Horden von Nyressanii sprangen heraus. In der Menschensprache würdest du sie vermutlich Froschdämonen oder Schreckkröten nennen. Sie hatten glatte, ledrige Haut, zum größten Teil schwarz, aber mit leuchtend roten, grünen und gelben Streifen. Der Schleim darauf verätzte alles, was er berührte. Ihre Schwimmpfoten hatten Krallen und sie waren zu gewaltigen Sprüngen fähig. Trotzdem konnten sie sich lautlos bewegen und schnell in unsere Städte eindringen, wo sie die Wachen töteten.« Müde schüttelte sie den Kopf. »Danach kamen langsame alte Kähne, halbvermoderte Schaluppen, mehr nicht, beladen mit Turekadein und ihren Jagdbestien, den Slurriks. Sie stürzten sich auf uns wie damals auf Vorquellyn. Du hast gegen sie gekämpft, du weißt, sie sind größer und stärker als Schnatterer. Wir wehrten uns, so gut wir konnten, doch die Nyressanii hatten uns schon viele Krieger gekostet.« Kjarrigan sank neben dem Feuer auf die Knie und streckte die Hände aus, um sie zu wärmen. »Dann ist Loquellyn gefallen, so wie Vorquellyn?« 58 »Nein.« Trawyn blinzelte und schaute den menschlichen Magiker an. »Nein. Ich erinnere mich an die Erwachsenen von Vorquellyn und den Schmerz, den sie spürten, weil ihre Heimstatt erobert war. Wir haben für sie getan, was wir konnten, haben ihnen sogar Traumschwingetinkturen gegeben. Doch es half nichts. Die Aurolanen hatten nicht vor, Loquellyn zu erobern. Manche ihrer Truppen sind bereits wieder abgezogen. Über die Küstenstraßen nach Muroso.« Entschlossen nickte. »Sie sind wegen des Drachenkronenfragments gekommen, das wir bei Euch ließen. Haben Sie es bekommen?« Trawyn schüttelte den Kopf. »Nein.« »Wo ist es?« »Ich weiß es nicht.« »Das glaube ich Euch nicht, Hoheit.« Sie schnaubte. »Sehr freundlich von dir, meinen Titel anzuhängen. Das mildert den Schlag, wenn du mich eine Lügnerin nennst.« »Sagt mir, was Ihr wisst. Befindet es sich noch in Loquellyn?« Trawyn zuckte die Achseln. Es war deutlich, wie ermüdend es für sie war. »Wir hatten das Saphirfragment in der Schatzkammer des Palastes verstaut. Es war der sicherste Ort, den wir finden konnten.« Entschlossen zog die rechte Braue hoch. »Der Corijes von Rellaence hätte alle fern gehalten.« »Außer denen, die an Loquellyn gebunden sind.« Sie fletschte die Zähne. »Wir konnten nicht sicher sein, ob es Kytrin gelingen würde, irgendjemanden zu zwingen oder zu überreden, den Corijes zu betreten. Außerdem wäre die Gegenwart eines Fragments dort störend gewesen. Der Corijes ist ein Ort friedlicher Kontemplation und Abgeschiedenheit von der Außenwelt. Das Fragment dort zu lagern, hätte seinen Frieden zerstört, also legten wir es in die Schatzkammer.« Die Stimme der Prinzessin wurde leiser. »Sie hatten meine Mutter und meine
Schwester gefangen. Ich sah zu, wie die Aurolanen sie folterten. Ich habe ihre Schreie gehört, und irgendwann 59 konnte ich es nicht mehr ertragen. Ich führte die Aurolanen zur Schatzkammer und öffnete sie. Doch das Fragment war nicht mehr dort. Dann sind sie vor lauter Wut über mich hergefallen. Ich verlor das Bewusstsein, und als ich wieder aufwachte, war ich allein, umgeben von toten Turekadein. Ich schlich mich aus dem Palast, fand andere und ergriff die Flucht. Aber sie machten Jagd auf uns.« Kjarrigan runzelte die Stirn. »Dann ist das Fragment noch irgendwo da draußen?« »Ich weiß es nicht.« Der Vilwaner Magiker sah Entschlossen an. »Falls die Aurolanen danach suchen, müssen wir es zuerst finden.« Der Vorqaelf schüttelte den Kopf. »Nein, müssen wir nicht. Unser Auftrag ist klar. Wir sind unterwegs nach Norden, an die Küste, und von dort mit dem Schiff nach Vorquellyn.« »Aber wir können nicht zulassen, dass Kytrin noch ein Fragment der Krone bekommt.« »Die Norderstett-Prophezeiung erwähnt die Krone mit keinem Wort, Kjarrigan. Wir müssen Will holen, nach Norden ziehen und die Nordlandhexe töten.« Kjarrigan schaute sich zu einem der anderen Feuer um. »Äh, möchtest du das vielleicht mit Orakel besprechen?« »Nein.« »Nein?« Entschlossen seufzte. »Du weißt sehr gut: Falls wir uns darum kümmern müssen, wird sie es uns von sich aus sagen. Wir brauchen sie nicht zu fragen.« »Lass mich wenigstens den Suchzauber einsetzen.« Kjarrigan lächelte. Das hatte Entschlossen seit der Nacht des Angriffs auf das Lager nicht mehr gesehen. »Ich habe den Zauber überarbeitet. Er ist schneller, feiner und nur noch mit großer Mühe zu entdecken. Dann wissen wir zumindest, wo es sich befindet. Falls sie danach suchen, wollen wir das Gebiet vielleicht lieber meiden.« Kjarrigans Schlussfolgerung war nicht von der Hand zu weisen, doch der Knabe wusste natürlich genau, dass Ent60 schlössen Kytrin kein weiteres Kronenfragment überlassen wollte. Wenn ich weiß, wo es ist, müssen wir es bergen. Er wollte Kjarrigans Bitte ablehnen, andererseits wollte er auch nicht blindlings in einen Pulk Turekadein stolpern. Eine leise innere Stimme fragte ihn sogar, ob das Fragment nicht der Schlüssel zu Wills Befreiung sein konnte. Er versuchte, den Gedanken zu verdrängen. Allein die bloße Möglichkeit ließ ihn erneut schaudern. »Na schön, Kjarrigan, sprich deinen Zauber, aber sieh dich vor. Du willst ja bestimmt nicht, dass er Kytrins Geschöpfe hierher führt.« Kjarrigans Lächeln verblasste. »Ich sehe mich wirklich vor. Das wird nicht geschehen.« »Ich weiß, Kjarrigan. Entschuldige. Bitte, wirke deinen Zauber.« Kjarrigan konzentrierte sich, und dann wandte sich Entschlossen wieder zu Trawyn um. »Ihr solltet etwas essen, Hoheit. Morgen früh werde ich einige meiner Leute abstellen, damit sie Eure Gruppe nach Süden, nach Saporitia begleitet. Ihr könnt Prinzessin Alexia berichten, was hier geschehen ist. Sie muss wissen, dass diese Flanke gefährdet ist, und auch, dass weitere aurolanische Truppen - andere Truppen als bisher - in die Schlacht eingreifen werden.« Trawyn stellte die Suppenschale ab. »Ein Teil meiner Leute wird diese Nachricht überbringen, ich gehe indessen nicht zurück. Ich begleite euch.« »Das könnt Ihr nicht. Ihr seid verwundet.« Sie starrte ihn mit ihrem einen himmelblauen Auge an, und dieser Blick durchbohrte ihn fast. »Was, wenn es jemandem gelungen ist, das Fragment im Corijes zu verstecken? Ihr werdet mich brauchen, und wenn nicht dafür, dann als Führerin auf dem Weg nach Norden.« Entschlossen stöhnte. Er hatte gehofft, die Gruppe zu verkleinern: um die Nahrungssuche zu erleichtern, um schneller voranzukommen und einfach nur, um leichter Ordnung halten zu können. Gleichwohl kam er genau wie bei Kjarrigan nicht gegen ihre Einwände an. 61 Er rieb sich das Gesicht. »Jene unter euch, die nichts mit der Sache zu tun haben, gehen nach Süden.« »Zusammen mit deinen Schwerstverwundeten?« Sie lächelte ihn schief an. »Es wird schwierig werden, mit über fünfzig Leuten unbemerkt zu bleiben.« Entschlossen grinste. Offenbar liefen ihre Gedanken in denselben Gleisen wie seine. Die Aurolanen hatten ein Drittel des Grauen Nebels getötet oder verwundet. Er konnte gut die Hälfte seiner Gruppe zurückschicken, einschließlich der am schwersten Verwundeten beider Gruppen, und die Gruppe so auf eine halbe Legion reduzieren. Die fünfzig, die blieben, wären dann diejenigen, die am besten für die Gefahren gerüstet waren, die vor ihnen lagen. »Fünfzig ist gut. Schickt sieben Eurer Leute.« »So wird es geschehen.« »Ich hab es!« Kjarrigan strahlte. »Das ging besser, als ich erwartet hatte. »Er starrte auf einen Punkt im Nordwesten, ungefähr in Richtung von Rellaence. »Augenblick, das ist seltsam.« Entschlossen runzelte die Stirn. »Was ist, Kjarrigan?«
Auf dem Gesicht des jungen Magikers spiegelte sich Verwirrung. »Wisst Ihr etwas über ein Fragment der Drachenkrone mit einem Diamanten?« Orakel legte Entschlossen die Hand auf die Schulter und kniete sich ans Feuer. »Das ist das Fragment, das wir in Vorquellyn hatten. Ich habe es vor langer Zeit einmal gesehen, vor der Eroberung.« »Das ist ja sehr aufschlussreich.« Kjarrigan schüttelte den Kopf. »Erinnert ihr euch an das Fragment, das wir Vionna abnahmen? Das Stück aus Lakaslin?« »Ich erinnere mich sehr gut daran, Kjarrigan.« »Gut. Das befindet sich in der Richtung, in die ich gezeigt habe.« »Und was hat das Vorquellyn-Fragment damit zu tun?« »Tja, das ist es ja gerade.« Kjarrigan zuckte die Achseln. »Die beiden reisen zusammen. Wer auch immer das Lakaslin62 *" Fragment aus dem Palast geholt hat, besaß das Vorquellyn-Fragment schon. Falls Kytrin eines davon findet, findet sie beide. Sie liegen nicht ganz genau auf unserer Marschroute, Entschlossen, aber ...« Der Vorqaelf nickte. »Keine Sorge, Kjarrigan. Jetzt schon.« KAPITEL SIEBEN Llie anderthalb Wochen bis zur norivesischen Hauptstadt Logbai verliefen weit besser, als Markus Adrogans erwartet hatte. Die ursprüngliche Strategie, manche Siedlungen zu umgehen und andere so zu erobern, wie sie es in Nirgendwo erprobt hatten, veränderte sich im Verlauf der Expedition ein wenig. Adrogans nutzte die Kavallerie zu Vorstößen tief ins Hinterland, bei denen sie in Caros Namen kleine Dörfer und Siedlungen an Straßenkreuzungen einnahmen. Die langsamere Infanterie sicherte die Eroberungen und nahm die Kapitulation der größeren Orte entgegen - von denen man keinen als Stadt hätte bezeichnen können. Und durch das Hin und Her der Truppen kam der Nachschubtross mit den Draconellen unbemerkt voran. Die Eroberungen erforderten kaum Gewalt und erzeugten wenig Unruhe. Einzelne Einheimische, hauptsächlich Barden und Händler, durften in noch nicht eingenommene Dörfer weiterziehen, wo sie Caros Geschichte verbreiteten und berichteten, wie gesittet sich die Eroberer aufführten. Zudem waren ihre Berichte dergestalt, dass sie den Aurolanen gefallen mussten, falls sie bis dahin durchdrangen. Caros Geschichte wurde in Noriva gerne gehört. Er verkündete, Adrogans habe in Swarskija tatsächlich Draconellen erobert und sich daraufhin entschlossen, ein eigenes Imperium zu errichten. Caro gab vor, sich mit einigen loyalen Gefolgsleuten nach Norden abgesetzt zu haben, weil Adrogans nach Süden aufgebrochen sei, um Valitia und Gurol zu überfallen. Die Norivesen waren hocherfreut, dass keine Draconellen ihre Ortschaften in Trümmer legten. Und was ihnen noch besser gefiel: Weil Adrogans nicht hier war, waren Strafmaßnahmen 64 der Aurolanen, die in ihrem Land gegen ihn gekämpft hätten, unwahrscheinlich. Welche Folgen es haben könnte, sollten diese Gerüchte aus der Geistermark bis zum Rat der Könige getragen werden, kümmerte Adrogans wenig. Die meisten Herrscher hielten sie bestimmt für gezielte Fälschungen der Aurolanen, um Angst und Schrecken zu säen, und beachteten sie gar nicht. Und diejenigen, die sie glaubten, sollten daraufhin eher zusätzliche Truppen ausheben, was für den Fall eines aurolanischen Sieges nur gut sein konnte. Aber größtenteils ging er davon aus, dass man im Süden von all dem nichts erfuhr, was ihm sehr recht war. Als die Truppen Logbai erreichten, ritt Caro an der Spitze einer Tausendschaft Reiter, zusammengestellt aus der Aleider Reitergarde, Matraves Reitern, der Jeranser Throngarde und den Savaresser Rittern. Allesamt waren sie bestens verkleidet, und man sah nicht einmal die Andeutung ihrer ursprünglichen Uniformen - auch wenn sie zum größten Teil nur unter mehreren Schichten anderer Kleidung versteckt waren. Sie wirkten wie eine Horde Freibeuter, die zwar noch einen Rest Disziplin bewahrten, wenn es in den Kampf ging, in Benehmen und Sprache jedoch alle Spuren der Zivilisation abgeschüttelt hatten. Adrogans selbst trug eine Augenklappe, hatte sich den Schädel rasiert, einen Bart wachsen lassen, und folgte Caro neben Ph'fas in der Kleidung eines shuskischen Schamanen. Ein Trupp Reiter hatte sich unter der Parlamentärsfahne Logbai genähert und gefordert, mit Königin Winalia zu sprechen: »Um den Preis einer Audienz wird er ihr zurückgeben, was ihr gehört - und anbieten, was sie noch nicht besitzt.« Es dauerte eine Weile, bis die Nachricht überbracht wurde, was Adrogans Gelegenheit gab, die Stadt aus der Nähe anzuschauen. Logbai war weitgehend aus Holz erbaut, nur ein paar größere Bauwerke und einzelne Verteidigungstürme waren aus Stein und Mörtel aufgemauert. Die meisten Bewohner lebten in Langhäusern, die sich auf den Terrassen der fünf Hügel erhoben, umgeben von den Holzbefestigungen der Stadtgrenze. 65 Diese Befestigungen umfassten zudem Gräben und Dämme, damit es für Angreifer auch wirklich mühsam und blutig wurde, Rammböcke und andere Belagerungsmaschinen nahe genug an die Stadt zu schaffen. Die Hauptstraße kam von Westen, aber das Stadttor, zu dem sie führte, lag in Richtung Süden. Ein Rammbock hätte, um es zu zerstören, erst nach Süden einbiegen und sich dann nach Norden drehen müssen, und auf dem gesamten Weg wäre er von den Katapulten und Bogenschützen der Verteidiger unter Beschuss genommen worden. Gegen Draconellen half dieses ausgeklügelte System natürlich nicht. Sie konnten die Stadtmauern selbst
bombardieren, bis nur noch Holzspäne von ihnen übrig waren. Da Caros Horde keine Belagerungsmaschinerie besaß, sollten sich die Bewohner Logbals sicher fühlen. Nur war ohne die Siedlungen im Westen des Landes und deren Steuereinnahmen die Versorgung der Stadt nicht mehr gesichert. Nach einer Stunde erschien ein Gesandter der Königin am Stadttor. Er begrüßte Caro und dessen engste Ratgeber in der Stadt. Eine Delegation Bürger wurde für die Dauer der Gespräche als Geiseln gestellt. Unter diesen Geiseln befand sich auch die Kronprinzessin Tisdessa, so dass sich Adrogans vor Verrat sicher fühlte. Ph'fas betrachtete die Prinzessin, als sie vorbeiritten, dann schnaufte er. »Eine feine Frau. Der Nirgendwo-Mann hatte eine gute Wahl getroffen.« Adrogans konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Dalanous war nicht größer als du, Onkel. Mit Schenkeln wie diesen hätte sie ihm im Rausch der Vereinigung das Genick gebrochen.« Ph'fas schaute der Prinzessin noch einmal nach, dann zuckte er die Achseln. »Die Krieger, die sie gebären würde, wären das Wagnis wert.« Logbals Hauptstraße hatte sich schon vor langer Zeit in einen schlammigen Trampelpfad verwandelt, der sich von den übrigen Straßen der Stadt nur durch die Menge Kies unterschied, den der Schlamm enthielt. Die Einwohner standen an 66 den Straßen, schauten aus den Türen oder standen auf den Dächern, als sie vorbeiritten. Viele trugen Kleidung aus Tierfellen, obwohl niemand hier die gelassene Würde der Shusken besaß. Die allgemeine Farblosigkeit der Kleidung und Häuser verschmolz mit dem allgegenwärtigen Schmutz auf Wänden, Tieren und ganz besonders auf den Kindern. Der Anblick erinnerte Adrogans an die schlimmsten Elendsviertel von Yslin oder Lakaslin, aber die Menschen hier wirkten im Vergleich zu ihren wilderen Großstadtvettern wie Vieh. Auch das Gebäude, das in Logbai als Palast bezeichnet wurde, war bestenfalls eine Nachahmung seiner Entsprechungen in anderen Hauptstädten. Eine prachtvolle Steinfassade, die sich sogar zu beiden Seiten knappe vier Schritt nach hinten erstreckte. Von da an jedoch verwandelte es sich in ein hölzernes Langhaus mit dickem Strohdach. Sie saßen ab und wurden durch hohe Holzportale in ein kühles Steinfoyer geführt. Auch der restliche Boden des Gebäudes war mit Steinen ausgelegt, die aber nicht wie in der Eingangshalle mit Mörtel verbunden waren. Stattdessen hatte man Stroh darüber verteilt. Die Schicht war jedoch so dünn, dass Adrogans nicht erkennen konnte, ob es sich verschob oder nur dem Geiz gehorchte. Am hintersten Ende des Langhauses, im schummrigen Licht kaum zu sehen, saß Königin Winalia auf einem Thron, der sie winzig erscheinen ließ. Auf dem Weg durch den >Palast< begriff Adrogans, dass der Thron riesig sein musste, denn die Königin war wirklich nicht klein. Die Gerüchte, die sie als groß und fett beschrieben hatten, erwiesen sich als zutreffend, allerdings schien sie sauber, ebenso wie die Felle, in die sie gehüllt war, und ihr Lächeln zeigte mehr Zähne als Lücken. Caro blieb vier Schritt vor dem Thron stehen und verneigte sich tief. »Ich grüße Euch, Königin Winalia. Ich bin gekommen, Euch mitzuteilen, dass der westliche Teil Eures Reiches sicher ist.« Die Königin verlagerte das Gewicht und rutschte etwas nach links. »Sicher in Seiner Hand, Caro. Er ist weit entfernt von Aleida. Sichert Er ihn für mich oder für Augustus?« 67 »Hätte mein Fürst den Wunsch, die Geistermark zu regieren, hätte er sie behalten, als er sie vor einer Generation durchquerte.« »Vielleicht hat er seine Meinung inzwischen geändert.« Ihre braunen Augen wanderten träge über Ph'fas, Adrogans und die drei Soldaten in deren Begleitung. »Ich habe ihn damals gesehen. Er hat meinen Großvater erschlagen.« »Mein Beileid, Hoheit.« »Dazu besteht kein Anlass. Er war eine habsüchtige Ratte. Mein Großvater, nicht Augustus. Er hat einen qualvollen Tod verdient.« Sie seufzte. »Leider war Augustus gnädig und tötete ihn schnell.« Caros weiße Augenbrauen trafen sich. »Ihr scheint wenig auf Familienbande zu geben.« Winalia lächelte und setzte sich auf. Plötzlich erinnerte sie ganz und gar nicht mehr an eine träge Kuh. »Und dies lässt Ihn vermuten, dass selbst die Anwesenheit meiner Tochter unter den Geiseln keine Garantie für Seine Sicherheit sein könnte?« »Der Gedanke ist mir gekommen, ja.« Sie lachte laut, doch ihre Heiterkeit brach mit einem keuchenden Hustenanfall schnell ab. Sie spuckte zur Seite und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Der war gut. Etwas mehr wert als meine Tochter.« Ph'fas warf Adrogans einen kurzen Blick zu, in dem ein Hauch von Besorgnis lag. Caro jedoch blieb gelassen. »Bringt Ihr uns um, bringen wir sie um - und Ihr verliert den Westen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich verliere den Westen und die Aurolanen verlieren ihre Quelle für Holz und anderes. Sie werden mir den Westen zurückholen.« »Sie werden den Westen zurückholen, doch nicht für Euch. Deshalb habe ich den Handel ungehindert weitergehen lassen. Ich wollte sie nicht beunruhigen.« Winalia dachte kurz nach, dann nickte sie widerwillig. »Was willst du?« Der alcidische General atmete langsam aus. »Ich vermute, 68
die Aurolanen bauen im Osten eine Flotte. Seit ich vor Adrogans auf der Flucht bin, habe ich mich gezwungenermaßen zu einem Straßenräuber gewandelt, ich bleibe aber immer noch ein loyaler Sohn Alcidas. Ich möchte die aurolanische Flotte zerstören, bevor sie in See stechen kann. Falls das nicht möglich ist, brauche ich Schiffe, mit denen wir nach Süden segeln und den Kampf fortsetzen können.« »Ebenso ehrenhafte wie unmögliche Ziele.« Sie machte eine träge Handbewegung in Richtung Osten. »Ich habe ihre Werft besucht, weil sie keinen Zweifel bei mir aufkommen lassen wollten, wie wichtig diese Anstrengung ist. Deine Leute mögen tapfer sein, aber du hast nicht einmal ein Regiment. Man würde euch abschlachten.« »Vielleicht könntet Ihr zu unserer Hilfe Truppen aus Eurem Volk ausheben, Königin Winalia.« Wieder lachte sie und schlug sich auf einen der fetten Schenkel, der unter der Berührung heftig wogte. »Schlimm genug, dass die Aurolanen von meiner Existenz wissen. Ich werde bestimmt keine Truppen gegen sie in Marsch setzen, um sie daran zu erinnern. Außerdem könnte ich dir vielleicht ein Regiment anbieten, aber damit wärt ihr immer noch weit unterlegen, und gegen ihre Verteidigungsanlagen ist das, was ich hier habe, gar nichts.« Caro verschränkte die Arme. »Also bleibt uns nichts anderes übrig, als hier zu bleiben?« Sie schnaubte. »Ich würde euch Zuflucht gewähren, aber das könnte die Aurolanen verärgern. Und Adrogans ebenso.« Der alcidische Heerführer runzelte die Stirn. »Warum sollte Euch Adrogans bekümmern?« »Du bist vor ihm geflohen, was bedeutet, dass er ein mächtiger Gegner ist. Gleichzeitig hast du verkündet, dass er dich nicht verfolgt. Trotzdem fliehst du weiter. Ich halte es für denkbar, dass ich in einem Monat aufwache und ihn mit seinen Draconellen vor der Stadt finde, falls ich dir helfe.« »Nein, Hoheit, davor braucht Ihr keine Angst zu haben. Das versichere ich Euch.« 69 »Wie ehrlich du klingst, Caro.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber du sicherst mir Dinge zu, für die du nicht bürgen kannst.« Adrogans trat einen Schritt vor. »Verzeiht mir, Hoheit, aber General Caro spricht die Wahrheit. Helft ihm, und Adrogans wird im nächsten Monat nicht erscheinen und Eure Stadt zerstören. Das schwöre ich Euch.« Ihre dunklen Augen musterten ihn. »Und wer bist du, dass ich dir glauben sollte?« Er nahm die Augenklappe ab. »Markus Adrogans, zu Euren Diensten. Helft uns, und Ihr braucht niemals Angst vor uns zu haben. Weigert Euch, und meine Draconellen werden Eure Stadt noch heute Abend vernichten.« »Oh. Das macht die Angelegenheit etwas schwierig.« Adrogans schüttelte den Kopf. »Ich hätte gedacht, das ist sehr einfach.« »Nein, ganz und gar nicht. Jetzt muss ich mir überlegen, wo ich all eure Leute unterbringe.« »Ah, ja. Ich verstehe, Hoheit. Aber macht Euch deswegen kein zu großes Kopfzerbrechen.« Adrogans lächelte und hörte Ph'fas neben sich kichern. »Schließlich bleiben wir nicht lange.« 70 KAPITEL ACHT Her Pulverdampf des ersten Schusses trieb Ermenbrecht wieder ins Gesicht. Seine Augen tränten, sodass er nichts mehr sah, aber das spielte keine Rolle. Er wusste, der Vierschüsser hatte den heranstürmenden Temeryx verfehlt. Nicht nur war das Tier im letzten Augenblick noch ausgewichen, er hatte es nach dem Donnern der Waffe auch nicht aufkreischen gehört. Blind wie er war, fuhrwerkte der Prinz mit dem Ladehebel und drehte einen neuen Lauf in Position. Sobald der eingerastet war, machte er ihn scharf. Jetzt hatte sich der Qualm weit genug verzogen, um die Frostkralle zu sehen: Deutlich näher, als er erwartet hatte. Außer in einem Albtraum. Schlimmer noch, sein Pferd sah sie auch und raste von Furcht ergriffen davon. Nicht nur, dass diese wilde Flucht das Raubtier erst recht zum Angriff anstachelte, Ermenbrecht konnte einen gezielten Schuss getrost vergessen. Jetzt oder nie! Die Frostkralle sprang. Ihre winzigen Vorderpfoten peitschten durch die Luft. Ihr Kopf hob sich, das Maul klaffte weit auf, zeigte ein scharfes Raubtiergebiss. Die geballte Kraft der mächtigen Hinterbeine entlud sich in einem gewaltigen Sprung. Die rautenförmigen Pupillen öffneten sich. Ein Zischen stieg aus dem gefiederten Hals. Eines der Beine hob sich. Die sichelförmige Kralle neigte sich, bereit, Ross und Reiter zu zerfetzen. Auf dem Scheitelpunkt des Sprungs schoss ein brauner Schemen durch die Luft und riss die Frostkralle mit einem flüsternden Windzug davon. Einen Pulsschlag später verschwand das schneeweiße Biest hinter braunen Schwingen, 71 dann konnte Ermenbrecht es wieder sehen. Die Muskeln des Temeryx erschlafften bereits und weiße Federn trieben zu Boden. Eine rote Schnittwunde zierte seine Kehle und hatte den Kopf beinahe vom Rumpf getrennt. Das tote Tier drehte sich in der Luft und traf das Pferd an der Schulter, immerhin nur seitlich. Die Kralle zuckte im Todeskrampf abwärts, verfing sich jedoch in Ermenbrechts Kettenhemd. Metallringe brachen klirrend auf, doch die Haut blieb unter dem Metall und Leder unverletzt. Das tote Raubtier prallte auf den Boden und schlug um sich, doch ein wilder Satz trug das Pferd aus der Gefahrenzone. Der Prinz stieß den Vierschüsser ins Maul einer Schnatterfratze und drückte ab. Das Mündungsfeuer versengte das Fell und die Bleikugel zertrümmerte den Schädel. Der Aurolane kippte kraftlos zurück. Andere Schnatterer klappten zusammen, als Pfeile sie in Bauch und Brust trafen.
Ermenbrecht hob die Waffe zum Gruß an Preiknosery Eisenschwinge, und der Gyrkymekrieger kreischte antwortend, bevor er die Schwingen anlegte, um auf ein neues Opfer hinabzustoßen. Während andere Gyrkyme leichte Speere und Lanzen benutzten, bevorzugte Preiknosery lange, gekrümmte Messer, mit denen er seine Gegner aufschlitzte. Diese Waffen beherrschen zu lernen, kostete viel Zeit, so hatten die anderen Gyrkyme Ermenbrecht erzählt, und nur die wenigsten Krieger wurden alt genug, Preiknoserys Geschick zu erreichen. Dranaes Draconette bellte und rotes Blut spritzte auf das weiße Feld eines Kryalnirs. Wieder lud der Prinz den Vierschüsser nach, doch bevor er den Lauf scharf machen, zielen und abdrücken konnte, schlugen drei Pfeile in die Brust des Aurolanen. Die letzten Worte des Kryalnirs gingen in einem Blutsturz unter, dann brach er zusammen. Ermenbrecht befehligte die Orioser Prinzengarde, eine schwere Kavallerieeinheit aus Exiloriosen, die ihm Gefolgschaft geschworen hatten, und stieß mit ihnen in ein Tal vor, an dessen beiden Seiten er seine Fußtruppen aufgestellt hatte. Die Einheimischen dieser Gegend hatten sie auf das dicht 72 bewaldete Gebiet als Unterschlupf von Nordlandtruppen hingewiesen, nur hatten sie bei ihren Berichten die Stärke des Gegners stark unterschätzt. Zum Glück hielt sich der Prinz bei der Vorbereitung einer militärischen Operation grundsätzlich an die >Cavarr<-Regel: Stelle zuerst fest, wie viele Truppen du für den Erfolg brauchst, und dann setze das Doppelte davon ein. Diesen Grundsatz hatte ihm der verstorbene Markgraf Draconis beigebracht, und damit war er auf diesem Feldzug bisher gut gefahren. Er hatte sofort weiter ins Mittland ziehen und sich an die Ausräucherung der Aurolanen machen wollen, nachdem sich die Valkenritter seiner Armee angeschlossen hatten, doch politische Erwägungen hatten ihn aufgehalten. In der Begleitung von Graf Wichterich hatte er das ganze Heer zunächst nach Valkenritt und von dort aus nordwärts geführt. Dieser Umweg hatte sechs Tage in Anspruch genommen. Er wollte zwar nicht gerade Wichterichs Stellung festigen, doch die Möglichkeit, aus Valkenritt Nachschub zu beziehen, war eine große Hilfe. Zusätzlich hatten sie zur Unterstützung seiner Kundschafter einige Jäger verpflichtet, die das Gelände bestens kannten. Dass er ausgerechnet am ersten Werkmond aurolanische Einheiten in seinem Heimatland stellte und abschlachtete, erschien ihm als schlechtes Vorzeichen. Aber so war der Saatmond nun einmal zu Ende gegangen. Er hatte nicht geahnt, wie viele feindliche Truppen sich in Oriosa sicher gewähnt hatten. Selbst Net und Graf Wichterich schienen von den Mengen überrascht. Ermenbrecht blieb nur die Erklärung, dass die Aurolanen zusätzliche Truppen nach Oriosa in Marsch gesetzt hatten. Diese Schlussfolgerung fußte sowohl auf der unerwarteten Stärke der Feinde als auch auf der Anwesenheit von Kryalniri. Sie waren noch gar nicht so lange bei den aurolanischen Kampfverbänden aufgetaucht und unter den Kampfeinheiten, die durch Sebtia und Muroso südwärts marschierten, recht häufig. Es war nur folgerichtig von Kytrin, einen Teil dieser 73 Streitmacht nach Oriosa umzuleiten, damit sie seinen Vormarsch aufhielt. Der Prinz war schon lange zu dem Schluss gekommen, dass dem Feind sein Weg bekannt war. Auch wenn er den Gedanken hasste, sein Vater war offensichtlich der beste Kandidat für die Rolle desjenigen, der ihn an die Nordlandhexe verraten hatte. Doch war er bestimmt nicht der Einzige. Ermenbrecht konnte nur hoffen, dass Kytrin genug Berichte erreichten, um Verwirrung zu stiften. Auf jeden Fall war sie gezwungen, Truppen gegen ihn einzusetzen, um ihn aufzuhalten, und das machte Alexia die Sache um so leichter. Allerdings wird es uns auch um so schneller umbringen. Ein Gyrkymespeer durchbohrte eine Frostkralle, allerdings riss der Schwung der Bestie die Spitze der Waffe trotz Widerhaken aus dem Boden. Das Biest rannte einfach weiter, bis ein Ottermagiker den Speer mit einem schnellen Zauberspruch in Brand setzte. Der Temeryx spie Feuer wie ein winziger Drache, dann krümmte er sich und starb mit qualmender Schnauze. Hinter ihm preschte ein Reiter in einen kleinen Pulk Aurolanen und Schnatterer flogen in alle Richtungen davon, während er einem Vylasn mit einem Hieb den Schädel spaltete. Gleichmäßig rückte die Kavallerie vor. Sie bewegte sich hauptsächlich im Trab, doch wo es das Gelände zuließ und ein Sturmangriff notwendig wurde, galoppierte sie auch. Die Aurolanen wichen zurück, ihre Magiker richteten Schaden an, bis sie fielen. Die Temeryxen erwiesen sich durch ihre Schnelligkeit und Gefährlichkeit als der schwierigste Gegner, aber Pfeile, Speere und Lanzen verwundeten sie, bevor sie nahe genug heran waren, um blanken Stahl zum Einsatz kommen zu lassen, was die Sache einigermaßen ausglich. Die Bestien töteten Pferde und Reiter in gleicher Zahl, aber sie verendeten selbst auch massenweise. Ermenbrechts Soldaten stürzten sich voll Mut und Leidenschaft in das Gemetzel. In vielerlei Hinsicht war dies die leichteste Form des Krieges, denn der Feind war schnell erkannt und hoffnungslos in der Unterzahl. Das Ganze war mehr eine 74 Treibjagd denn eine Schlacht. Die aurolanischen Gegner waren keine Menschen, sondern Bestien, und das erleichterte es, das gnadenlose Abschlachten gutzuheißen. Die Leichtigkeit des Sieges weckte eine Sorge in ihm, die seiner Aufmerksamkeit bedurfte. Irgendwann standen sie der Armee gegenüber, die Kytrin ihnen entgegenschickte, und wenn es erst so weit war, durften seine Leute nicht glauben, der Kampf würde ebenso leicht werden wie jetzt. Die Aurolanen, die sie im Augenblick über
Hänge und Täler trieben, hatten keine Gelegenheit, Disziplin und Erfahrung zu zeigen. Es handelte sich mit ziemlicher Sicherheit um kaum ausgebildete Truppen, die man nach Süden gesandt hatte, um Ermenbrechts Armee auszukundschaften. Wahrscheinlich hatte die Aurolanenherrscherin noch andere, erfahrenere Einheiten irgendwo dort draußen, die das Geschehen beobachteten und Bericht erstatteten. Der Kampf gegen diese unerfahrenen Truppen hielt Ermenbrecht auf und ermöglichte dem Feind eine Einschätzung, derweil man Verstärkungen sammelte und eine Streitmacht zusammenzog, die das Heer des Prinzen überwältigen konnte. Die Vorstellung, gegen Nefrai-kesh antreten zu müssen, machte Ermenbrecht Angst. Andere in seiner Armee machten sich deswegen jedoch keine Sorgen, da sie wussten, dass Nefrai-kesh Okrannel an Markus Adrogans verloren hatte. Doch so gerne Ermenbrecht auch hörte, er sei dem Aurolanengeneral ebenbürtig, er war nicht so dumm, es zu glauben. Nicht, dass er Adrogans beleidigen wollte, aber er fand es doch ziemlich offenkundig, dass Kytrin Okrannel aufgegeben hatte, um die Allianz der Südstaaten zu spalten. Sein Verlust war also keineswegs ein Hinweis für die Unfähigkeit des Sullanciri. Und was noch wichtiger war, in seinem früheren Leben als Baron Kenvin Norderstett war Nefrai-kesh Oriose gewesen. Er kannte diesen Teil des Landes bestens. Jede Meile, die sie weiter nach Norden zogen, führte Ermenbrecht tiefer in eine Region, die sein Feind wie seine Westentasche kannte, während der Prinz sie in den letzten fünf Jahren nur ein einziges Mal durch75 quert hatte, und das in Eile auf dem Weg zurück zur Festung Draconis. Die Einheimischen konnten ihm zwar einiges über das Gelände erzählen, aber sie sahen es nicht mit den Augen eines Taktikers. Dadurch befand er sich erheblich im Nachteil. Selbst das war noch nicht alles. Ermenbrecht befand sich in einer ganz besonderen Lage. Allein seine Gegenwart spaltete Oriosa. Loyalisten unterstützten seinen Vater mit dem Argument, dass Swindger es geschafft hatte, Oriosa seit einer Generation vor einem Angriff Kytrins zu schützen. Die Aurolanen hatten Sebtia und Muroso überrannt und sogar Aleida und Saporitia angegriffen, niemals aber Oriosa. Für die Loyalisten war der Prinz ein Usurpator, der zurückgekehrt war, um Oriosa zu erobern, weil sein früheres Reich, Festung Draconis, verloren war. In ihren Augen war er nichts weiter als ein ausländischer Eroberer, dem Oriosa genauso wenig bedeutete wie Kytrin, und er würde auf oriosischem Boden gegen sie kämpfen und damit Oriosen den Tod bringen, weil sie ihm gleichgültig waren. Die Patrioten andererseits waren vereint in ihrer Gegnerschaft zu Kytrin. Ermenbrecht war sich bewusst: Dies war nicht dasselbe wie Einigkeit bei der Unterstützung seiner Sache. Wie Graf Wichterich unterstützten sie ihn genau so lange, wie sich sein Kreuzzug mit ihren eigenen Interessen deckte. Falls sie dabei Ruhm und Land gewinnen konnten, standen sie ihm mit aller Kraft bei. Falls ihm irgendwann eine Niederlage bevorstand, löste sich ihre Unterstützung in Wohlgefallen auf. Dann wäre Ermenbrecht plötzlich wieder der fremde Eindringling, der mit ausländischen Soldaten gekommen war, um den König zu stürzen, und sie - die wahren Patrioten würden sich zum Wohle des Reiches gegen ihn erheben. Ermenbrecht hätte sich all das gerne mit einem Schwur vom Leibe gehalten, wäre nach dem Sturz Kytrins auf Festung Draconis zurückgekehrt und hätte niemals wieder einen Fuß auf Orioser Boden gesetzt. Einen Monat zuvor, als er die Grenze überquert hatte, war er noch dazu bereit gewesen, aber in der Zwischenzeit hatte sich seine Einstellung geändert. Auf dem 76 Marsch durch seine Heimat erkannte er die Schauplätze seiner Jugend, und sie machten ihn lächeln. Eine neue Zuneigung für Oriosa erwachte in ihm, auch wenn er sie durchaus als Gefühlsduselei abtun konnte. Es waren die Menschen, die seine Meinung änderten. Der Prozess hatte mit Net, Rauns und besonders mit Borghelm begonnen, zunächst in Narriz. Borghelm hatte sich gegen einen Sullanciri gestellt, um seinen Vater zu retten, aber er hatte es mit dem Mut und der Selbstsicherheit getan, die Orioser Krieger seit altersher auszeichneten. Das erinnerte Ermenbrecht an die Oriosen, die sich geweigert hatten, Festung Draconis zu verlassen, obwohl sie die Erlaubnis dazu hatten und wussten, dass das Bleiben ihren sicheren Tod bedeutete. Sie hatten ihre Lieben mit ihren Lebensmasken zurück in die Heimat geschickt und sich darauf vorbereitet, einen Haufen Steine Hunderte von Meilen entfernt zu verteidigen. Die Valkenritter setzten diese Entwicklung fort, trotz Graf Wichterich. Ein Grund dafür, dass sie zurück in ihre Heimatprovinz hatten reiten wollen, bevor sie nach Norden zogen, war der Wunsch gewesen, den Daheimgebliebenen zu zeigen, dass sie Teil einer bedeutenderen Sache waren als einer von Wichterichs Intrigen. Sie schlössen sich dem Prinzen an, um Oriosa von einer Seuche zu befreien, die sich eine Generation zuvor hier festgesetzt hatte. Sie kümmerten politische Manöver nicht, ihnen ging es einzig darum, die Heimat für ihre Kinder zu sichern. Dafür waren sie bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, und Ermenbrecht fühlte sich zunehmend verantwortlich, verpflichtet, sicherzustellen, dass Oriosa auch nach dem Sieg über Kytrin nicht unterging. Er konnte sein Heimatland nicht aufgeben, wie er es ursprünglich vorgehabt hatte. Dies zwang ihn auf einen schmalen Grat. Er musste sich die persönliche Loyalität der zerstrittenen Adligen sichern, ohne dass diese sein wahres politisches Können erkannten. Doch obwohl er sich bemühte, die Machtströmungen zu erkennen und den jeweiligen Charakter seiner Gegner und Unterstützer einzuschätzen, 77
wünschte er sich, er wäre zurück auf Festung Draconis. Da war der Feind wenigstens leicht zu erkennen. Ich wusste, wozu er fähig war und wie er wahrscheinlich vorgehen würde, also konnte ich entsprechend vorgehen. Hier tappe ich im Dunkeln. Hoch in den Bergen schallten Trompeten. Die ersten fliehenden Aurolanen hatten die Stellungen der Infanterie erreicht. Nun kam es auch dort zum Kampf. Auf das Signal der Trompeter sollten sich alle Truppen talwärts in Bewegung setzen, den Feind einkesseln und vernichten. In einer Stunde schon, lange vor dem Abend, würde es in diesem Tal keine lebenden Aurolanen mehr geben. Preiknosery setzte vor Ermenbrecht auf. Von seinen Waffen tropfte Blut und befleckte auch Brust und Schwingen. »Es sind Aurolanen nach Norden unterwegs, allerdings nur eine kleine Gruppe Schnatterer. Eine Handvoll, mehr nicht. Ich lasse sie aus großer Höhe beobachten.« »Gut. Danke.« Der Prinz nickte. »Ein paar der Einheimischen haben ein weiteres Nest oben am Zweifelsensee erwähnt. Wir werden bis dorthin zwei Tage brauchen.« »Wir werden die Lage auskundschaften.« Der Gyrkymu deutete nach Süden. »Zwanzig Meilen zurück bewegt sich eine große Staubwolke auf uns zu. Noch hat sie das Mittland nicht erreicht. Ihr würdet es ein Regiment nennen, gemischte Truppen zu Pferd und zu Fuß. Es werden täglich mehr. Sie haben es nicht eilig.« »Ich werde Scouts ausschicken, um sie zu beobachten. Ich bezweifle, dass mein Vater Truppen gegen uns ins Feld führt, aber die Vorstellung, verfolgt zu werden, behagt mir gar nicht. Ich werde abwarten und sehen, wie sie sich zu dem Nest stellen, das wir im Eichenhain ausgehoben haben. Das dürfte aufschlussreich werden.« »So sehe ich es auch.« Der geflügelte Krieger lächelte. »Ihr macht Euch hervorragend, Hoheit. Eure Truppen lernen. Bis es zur großen Schlacht kommt, werden sie bereit sein.« »Das wollen wir hoffen.« Ermenbrecht erwiderte das Lächeln. »Danke für die Rettung.« 78 »War mir ein Vergnügen.« »Ich wünschte, ich könnte mich erkenntlich zeigen.« »Das könnt Ihr.« Preiknosery deutete auf den Vierschüsser. »Ich beherrsche schon viele Waffengattungen und würde gern lernen, wie man diese benutzt.« »Ich werde es dir selbst beibringen.« »Ihr ehrt mich, Prinz Ermenbrecht.« Preiknosery beugte den Kopf. »Ich habe schon einmal einem Prinzen gedient. Ich rettete seine Tochter, aber ich war nicht zur Stelle, ihn selbst zu retten. Ich werde nicht zulassen, dass Ihr zu Schaden kommt - wie er.« »Nun, ich hoffe stark, ich werde dich nicht allzu oft zwingen, mich zu beschützen.« Der Prinz seufzte. »Unglücklicherweise fürchte ich, dass du angesichts dessen, was uns bevorsteht - trotz meiner besten Absichten in dieser Hinsicht sehr viel zu tun bekommen wirst.« 79 KAPITEL NEUN Nackte Angst verlieh Kjarrigan Flügel. Sie war das Einzige, was ihn auf den Beinen hielt. Seit Entschlossen entschieden hatte, nordwärts zu ziehen, um die beiden Fragmente der Drachenkrone zu retten, waren Ruhe und Erholung nur noch angenehme Erinnerungen geworden. Er und die Prinzessin hatten die Schwachen und Verletzten zurück nach Süden geschickt. So ziemlich alle wussten, dass der Botendienst nur ein vorgeschobener Grund war, aber die dafür Ausgewählten hatten eigentlich nichts dagegen, die Gruppe zu verlassen. Einhundertfünfundzwanzig Meilen - von einem Gyrkymen geflogen - lagen zwischen ihnen und der Nordküste Loquellyns. Die Fragmente blieben in etwa auf Kurs zu ihrem Ziel, waren aber in einem Gebiet versteckt, das Trawyn als »die Splitter« bezeichnete. Vor sehr langer Zeit war ein Gletscher aus dem Norden bis in diesen Teil der Heimstatt vorgedrungen und hatte Felsen mit sich getragen. Nach dem Abschmelzen hatten zwar Pflanzen allmählich das Gebiet zurückerobert, doch Orakel erzählte, dass es auf Älvisch auch als »Wald der Steine« bekannt war. Auf dem hastigen Marsch nach Norden erklärte ihnen Trawyn, warum der Aufenthaltsort der Fragmente Grund zur Hoffnung bot. »Die Splitter sind kaum besiedelt. Jemand, der sich dort auskennt, kann Monate, ja sogar Jahre unentdeckt bleiben. Es gibt nur ein paar Gebäude, Jagdhütten und Zufluchten für Dichter, aber viele Höhlen. Wäre Loquellyn ein Menschenreich, würde es dort von Banditen und Wegelagern nur so wimmeln.« Das war in gewisser Hinsicht eine gute Nachricht: Die Frag80 mente waren wahrscheinlich vor den Aurolanen sicher. Gleichzeitig kündigte es allerdings erhebliche Schwierigkeiten für den Bergungsversuch an. Kjarrigan ging noch einen Schritt weiter. Wer auch immer das Vorquellyn-Fragment besaß, der hatte es schon seit über hundert Jahren, und nichts und niemand hatte etwas davon geahnt. Kjarrigan konnte sich gut jemanden wie Entschlossen vorstellen, der das Kronenstück hütete. Es Entschlossen abzunehmen, wäre ausgesprochen schwierig, und er ging davon aus, dass es nicht leichter werden würde, es seinem jetzigen Besitzer zu entreißen. Kjarrigan war sich nicht sicher, warum, aber er wusste, der Dieb war männlich. Er hatte auch den Eindruck, dass es ein /Elf war, allerdings hätte er diese Schlussfolgerung fast schon als viel zu nahe liegend verworfen. Er versuchte sich auf die Eindrücke zu beschränken, die er mit seinem Suchzauber sammeln konnte, und an jedem Abend, wenn er ihn neu sprach, veränderte er ihn ein wenig, um mehr über denjenigen in Erfahrung zu bringen,
der die Fragmente bewachte. Die Eile, mit der sie marschierten, schränkte Kjarrigans Möglichkeiten, den Spruch zu modifizieren, allerdings erheblich ein. Entschlossen schenkte ihnen nichts. Sie waren bis zu zehn Stunden am Stück unterwegs. Einmal, als sie einem Flusstal folgten, schafften sie, soweit man den aelfischen Meilensteinen Glauben schenken konnte, dreißig Meilen an einem Tag. An anderen Tagen bewegten sie sich kein bisschen langsamer, kamen aber nicht so weit, weil sie auf Aurolanen stießen und gezwungen waren zu warten. Sie gingen Kämpfen aus dem Weg, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch sobald die Gefahr vorüber war, ging es weiter. Innerhalb von sechs Tagen legten sie eine Strecke zurück, für die sie sonst anderthalb Wochen benötigt hätten. Das brachte sie bis an den südlichen Rand der Splitter. Der Name Wald der Steine erzeugte beim Hörer ein bestimmtes Bild, und seine aelvische Bezeichnung, Taltentil, ließ Kjarrigan schmunzeln, doch die Splitter brachten es auf den Punkt. Die meisten Felsen waren von einem Gletscher zurückgelassen worden, 81 aber Hügel und Senken waren von riesigen Felsnadeln bestanden, die aussahen, als wären sie aus dem Boden gewachsen. Kjarrigan klopfte mit der linken Hand auf einen riesigen Felsbrocken. »Bok, wenn ich das hier sehe, könnte ich beinahe glauben, hier war einmal eine Bergfeste der urSreiöi, die im Krieg zertrümmert wurde. Was meinst du?« Der urZreö kratzte sich am Kopf. »Es gab nach dem Krieg zwischen uns und den Drachen viele Ruinen. Möglich, dass das Eis eine zertrümmert hat. Genauso gut kann es sein, dass der Gletscher über den Boden des Kreszentmeers gepflügt ist und die Heimat dieser Nyressanii mitgeschleift hat. Vielleicht liegt deine Hand gerade auf ihrer alten Hauptstadt.« Kjarrigan schüttelte sich, obwohl er nie eine dieser Kreaturen gesehen hatte. Trawyns Beschreibung hatte ausgereicht, ihm kalte Schauder einzujagen, erst recht, nachdem Entschlossen sie alle gewarnt hatte, sich beim Durchqueren von Sümpfen besonders vorzusehen. »Es ist wahrscheinlich besser, wenn ich nicht alles weiß.« Bok lächelte. »Unwissenheit ist kein Gut, nach dem man streben sollte, sondern ein zeitweiliger Zustand, den es so schnell wie möglich zu beheben gilt.« »Falls ich mich je am Grund des Meeres im Gespräch mit Tagostscha finde, werde ich ihn fragen.« In dieser ersten Nacht in den Splittern sprach Kjarrigan den Suchzauber und erhielt die Antwort schneller als erwartet. Die Kronenfragmente befanden sich noch immer nördlich von ihnen, aber sie waren näher gekommen. Der junge Magiker suchte Entschlossen und berichtete ihm, was er entdeckt hatte. Der Vorqaslf wurde ernst. »Es scheint sich was zu tun in dieser Gegend. Viele Schnatterer und ein paar Turekadein als Anführer. Das ist gut, weil es weniger Widerstand für uns bedeutet. Und es ist schlecht, weil es bedeutet: Die stärksten Truppen sind nach Osten unterwegs.« Entschlossen schaute nach Norden. »Falls sich der Kurier hierher bewegt, könnte es daran liegen, dass die Aurolanen zusätzliche Truppen gelandet 82 haben, die von der Küste südwärts marschieren. Kannst du deinen Spruch so abändern, dass er mir Truppenaufstellungen liefert?« »Das könnte ich, aber falls sie sich bewegen, müsste ich ihn ständig neu werfen, um sie nicht zu verlieren. Schnatterer, Vylaenz und Frostkrallen könnte ich leicht genug entdecken, vermutlich auch die Turekadein, aber die Batrachier und Slurriks würden durchs Netz schlüpfen.« In diesem Augenblick kam Orakel an Trawyns Arm herüber. »Entschlossen, du musst aufbrechen. Du musst ihn finden. Er ist ganz in der Nähe, aber sie sind es auch. Wir müssen uns beeilen.» Ohne zu fragen stand Entschlossen auf und pfiff. »Wir brechen auf, nach Norden. Sofort.« Er ließ seinen Tornister zu Boden rutschen und versteckte ihn hinter einem Gebüsch unter einem vorhängenden Felsen. »Wenn sich etwas bewegt und nicht zu uns gehört, dann tötet es. Ihr wisst, wonach wir suchen. Ihr habt in eurem ganzen Leben nichts anderes getan als gestohlen, jetzt stehlt von Kytrin.« Auch die Graunebler und Trawyns Begleiter legten die Tornister ab, dann zogen sie die Waffen und machten sich auf den Weg. Kjarrigan mühte sich ab, den Tornister loszuwerden, und bekam Hilfe von Entschlossen. »Hör mir gut zu, Kjarrigan.« »Ja, Entschlossen?« »Du und Bok, ihr seid hier und heute die beiden Wichtigsten in unserer Gruppe. Du kannst unsere Beute ausfindig machen, also konzentriere dich darauf und führe die anderen so, dass sie jeden Widerstand auf eurem Weg beseitigen. Qwc bleibt als Bote bei dir. Wenn es nicht unbedingt sein muss, setzt du keine Kampfzauber ein, sondern siehst zu, dass ihr näher an die Bruchstücke kommt. Verstanden?« Er nickte. »Gut. Der zweite Punkt ist: Du trägst auch die Verantwortung für Orakel und Trawyn. Du hast den Befehl über die Suche. Wir kümmern uns um die Bergung. Sobald du unser Ziel gefunden und befreit hast, macht ihr euch alle auf den 83 Weg nach Norden. Wir folgen euch, so schnell wir können, aber du kennst unser Ziel. Du wartest auf niemanden!« Kjarrigans Kehle war wie zugeschnürt. »Aber was ...« Entschlossen lachte. »Wenn mir etwas zustößt?« Der Vorqaelf trat vor den Magiker und legte ihm die Hände auf
die Schultern. »Glaubst du ernsthaft, ich würde es nicht schaffen? Ich betrachte es als persönliche Beleidigung, dass Kytrin diese Turekadein nicht auf mich gehetzt hat, kaum dass sie geschlüpft waren. Ich habe vor, ihr deutlich zu zeigen, dass sie nicht genug sind, um mich aufzuhalten.« Kjarrigan lächelte und sein Puls schlug etwas schneller. »Ich warte auf niemanden.« »Gut.« Entschlossens Augen wurden einen Moment lang schmal. »Erinnerst du dich, wie Orla dir aufgetragen hat, bei mir und Kräh zu bleiben?« Er sah wieder seine Lehrerin vor sich, wie sie sterbend in der Schiffskabine lag. Und da war auch der Kloß in seinem Hals. Er nickte. »Das hat sie getan, damit du genug für diesen Augenblick lernst. Ich weiß, wenn es nötig wird, führst du die Gruppe allein nach Norden, denn du hast das Zeug dazu. Und mehr noch, du weißt es auch.« Kjarrigan zögerte, dann schloss er die Augen und überlegte. Als er Vilwan verlassen hatte, hätte er nichts von alldem zustande bringen können, was er erreicht hatte, schon bevor ihn Bok entführt und zusammen mit Rymramoch in die wahren Pfade der Macht eingeführt hatte. Allein die Gewaltmärsche der letzten sechs Tage wären zu viel für ihn gewesen, nicht nur körperlich, auch geistig und gefühlsmäßig. Er wäre einer der Ersten gewesen, die zurückgeschickt worden wären. Jetzt trafen Entschlossens Worte auf einen Nährboden in seinem Herzen und schlugen Wurzeln. Er hatte noch immer Angst, aber gleichzeitig fühlte er sich zum Weitermachen verpflichtet. Als ich Vilwan verlassen habe, hielt ich mich für den Mittelpunkt der Welt. Meine Welt war nur durch das begrenzt, was ich tun konnte oder glaubte, tun zu können. Jetzt ist die 84 Welt sehr viel größer. Sie fordert mich heraus und ich stelle mich dieser Herausforderung. Kjarrigan schlug dem Vorqaelfen auf die Schulter. »Nordwärts nach Vorquellyn, um Will zu holen, dann weiter nach Norden zur Nordlandhexe. Falls du dich verirrst, sollte es nicht schwer werden, unsere Spur zu finden.« Entschlossen grinste, und es machte Kjarrigan nicht annähernd so viel Angst wie früher. »Gut. Lass uns aufbrechen, Aurolanen töten, und wenn wir schon dabei sind, dann auch die Welt ein Stück weiter vom Abgrund fortziehen.« Bei Nacht einen Weg durch die Splitter zu finden, wäre für ihn ohne Magik unmöglich gewesen, deshalb sah Kjarrigan sich trotz Entschlossens Ermahnung gezwungen, einen Zauber zu benutzen, der das vorhandene Licht verstärkte. Er hätte einen anderen Spruch einsetzen können, der ihn wie am hellen Tag sehen ließ, aber der wäre erheblich leichter zu entdecken gewesen und auch sehr viel leichter auszuschalten. Indem er einen etwas leistungsschwächeren, aber vielschichtigeren Zauber benutzte, sorgte er dafür, dass sich ein gegnerischer Magiker mehr Mühe geben musste, den Zauber zu brechen, wodurch sich Kjarrigan möglicherweise des Widersachers entledigen konnte. Der Zauber zeigte ihm die Welt in Grau und Gelb. Er schob sich an Bäumen vorbei und stieg über Felsen, hielt nur an, um Orakel oder Trawyn zu helfen. Bok, der seine Beine verlängert und die Arme zu Speeren geformt hatte, verwandelte sich in ein seltsames gelbes Zerrbild, das durch die Nacht stakste. Er trug wieder die Truhe mit Rym auf dem Rücken, aber das Gewicht behinderte ihn nicht erkennbar. Rings um sie herum hörte man Kampfgeräusche, doch nicht den Lärm einer tobenden Schlacht. Gelegentlich gellte ein Schrei, aber vor allem hörte er ersticktes Stöhnen oder das harte Krachen eines brechenden Genicks. Mehr als ein Schnatterer lag mit aufgeschlitzter Kehle oder einem Loch über dem Herzen auf dem Boden. Kjarrigan hätte gern einen Diagnose85 zauber gesprochen, um herauszufinden, wie sie gestorben waren. Doch sein Auftrag hatte Vorrang. Eine halbe Meile im Wald der Steine fing Entschlossen sie nach einem kurzen Ausflug von Qwc ab. Wortlos winkte er Kjarrigan mitzukommen. Auf dem Weg durch die Nacht bemerkte der Magiker einige tote Schnatterer, und der Gestank von verbranntem Fell stieg ihm die Nase. Entschlossen führte ihn an eine Stelle zwischen zwei Findlingen, an der zwei Schnatterfratzen und ein Graunebler gestorben waren. Etwas hatte dem /Elfen die Haut vom Gesicht gebrannt. Ein paar andere Elfen standen herum, doch Entschlossen teilte sie schnell als Wachen ein, dann schickte er den Sprijt los, den Rest der Gruppe zu holen. Entschlossen trat auf die Steine zu und streckte den linken Arm in Richtung der Lücke zwischen ihnen aus, hielt dabei aber Abstand. Als sich der Arm den Steinen näherte, glühten zwei Tätowierungen auf dem Unterarm schwach auf. Kjarrigan nickte und sprach schnell einen Zauber. Für ihn leuchteten die Steine auf wie Spiegel, die das Licht der Mittagssonne reflektierten. »Schutzzauber. Mächtige Schutzzauber, die vor sehr langer Zeit gesprochen, aber erst jetzt geweckt wurden. Ich spüre, dass sie mit anderen verbunden sind.« Er schaute zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Da draußen sind noch mehr. Wir sind zwischen zwei Ringen eingeschlossen.« Sie hörten weitere Schreie von irgendwo, etwa im rechten Winkel von ihrem Standort am inneren Ring. Dann gellte ein Hornstoß. Ein grimmiger Ausdruck legte sich über Entschlossens Gesicht. »Sie sind zu demselben Schluss gekommen wie wir. Sie werden ihre Toten dem Ring und seinen Erbauern anrechnen und wissen noch nichts von unserer Anwesenheit. Kommst du durch die Schutzzauber?« Kjarrigan nickte. »Ich denke schon. Sie sind aelfisch, aber vielschichtig. Es könnte allerdings sein, dass alle Schutzzauber erlöschen, wenn es mir gelingt, diese hier aufzuheben. Falls sie näher am Versteck sind, erreichen sie es dann vor uns.«
86 »Darum kümmere ich mich. Raubtier, deine Leute sollen sich bereit machen. Wir schwenken nach Osten und machen sie fertig.« Der Anführer des Grauen Nebels nickte und zog seine Leute zusammen. Entschlossen lächelte. »In Ordnung, Kjarrigan. Sieh zu, dass du hineinkommst, aber pass auf.« »Das werde ich.« »Dann los.« Der Vorqaelf verabschiedete sich mit einer kurzen Geste, dann verschwand er in der Nacht. Wie Schemen folgte ihm der Graue Nebel. Als Bok mit Trawyn und Orakel eintraf, war Kjarrigan bereits mit der Analyse der Schutzzauber beschäftigt. Er sprach einen weiteren Diagnosezauber und hielt angestrengt Ausschau nach Fallen oder anderen verräterischen Anzeichen für Veränderungen. Schutzzauber waren in der Regel recht einfach gestrickt. Sie verbanden zwei oder mehr Punkte und enthielten eine beachtliche magische Energie. Sobald jemand versuchte, zwischen den so verbundenen Punkten hindurchzugehen, überprüfte ihn der Zauber. Falls er nicht über den korrekten Talisman verfügte oder die richtige Abstammung hatte oder irgendeinen anderen von Tausenden möglichen Gesichtspunkten erfüllte, der ihn für den Zauberer als befugt einstufte, zahlte er den Preis. Auf der Suche nach einem Schlüssel für die Barriere hätte sich Kjarrigan leicht verzetteln können. Es hätte viel Zeit gekostet, erst den richtigen Schlüssel zu finden und dann einen Zauber zu entwickeln, der diesen Schlüssel vortäuschte. Das war das übliche Vorgehen, durch einen Schutzzauber zu kommen. Es war nicht leicht und brauchte einen ausgezeichneten Magiker, aber vor allem dauerte es. Kjarrigan bemerkte den schwachen Ausläufer eines fremden Diagnosespruchs, der sich durch die Schutzzauber wand, und grinste. Der Spruch war unverkennbar aurolanischer Herkunft. Der junge Magiker schickte einen Antwortzauber am Ausläufer entlang zurück, der dem aurolanischen Zauberer 87 meldete, es gäbe einen Schlüssel, und der bestünde darin, ein /Elf zu sein. Einem triumphierenden Stoß in ein Aurolanenhorn folgte ein grauenhafter Aufschrei. Kjarrigan fühlte den Magiker durch den Schutzzauber sterben, doch er spürte noch etwas anderes. Unmittelbar darauf erklangen weitere Schreie, vermischt mit Kriegsgebrüll. Entschlossens Angriff auf die Aurolanen hatte begonnen. Das Klirren von Stahl drang durch die Nacht. Bok tippte ihm auf die Schulter. »Schnelligkeit wäre jetzt gut.« »Ja, und ich glaube, ich habe den Weg gefunden.« Er schüttelte den Kopf und sammelte sich. Beim Tod des Aurolanenmagikers hatte er ein kurzes Flackern in der Stärke der Schutzzauber bemerkt. Der Magiker, der sie zusammengestellt hatte, hatte mehrere Zauber kombiniert, um seine Falle zu bauen. Das machte es nahezu unmöglich, sie schnell auszuschalten. Das Wichtigste aber war: Er hatte, um ihre Entdeckung und das sinnlose Abschlachten von Flora und Fauna zu verhindern, den Zauber, der die Energie in den Schutz lenkte, so angelegt, dass er bewusst kontrolliert und erneuert werden musste. »Genau wie der Drachenbeinpanzer mich beim Zaubern behindert, sollte das bei dir gelingen.« Hastig rief sich Kjarrigan seine Eindrücke von Turekadein, Vylaenz und Schnatterern in Erinnerung, dann formte er aus ihnen jeweils das Gegenstück eines Tarnzaubers und schleuderte ihn in die Lücke zwischen den Steinen. Der Schutzzauber betrachtete alle Aspekte des Zaubers, erkannte ihn als Tarnung und jagte Energie hindurch, um zu töten, was auch immer er verbarg. Schneller und schneller schleuderte Kjarrigan die Zauber. Bok begriff, was er im Sinn hatte, und zauberte ebenfalls. Die Erwiderung des Zauberwarts verlangsamte sich. Er brauchte immer länger, um die Zauber wieder aufzuladen, und dann brachen sie schlagartig zusammen. Kjarrigan sprach einen letzten Tarnzauber, für den Fall, dass es sich um eine Finte handelte, dann schickte er einen Suchzauber hinterdrein. 88 Die Antwort kam so schnell, dass sein Kopf herumflog und er losrannte. Hinter ihm packte Bok die Prinzessin und Orakel und hastete ihm nach. Rechts von ihnen brach ein Turekadin aus dem Gebüsch. Er knurrte laut und schwenkte ein krummes Langmesser. Aber bevor er angreifen konnte, sirrte ein Klingenstern durch die Nacht und bohrte sich ihm in die Rippen. Die Kreatur hatte gerade noch Zeit, nach unten zu sehen, dann tat das Gift auf den Schneiden seine Wirkung. Kjarrigan sprang über die zuckende Bestie und stürmte in eine dunkle Höhle. Er zog den Kopf ein und hob die Hände, was ihn davor bewahrte, mit dem Schädel gegen den Fels zu donnern. Schnell ließ er sich auf Hände und Knie hinab und kroch durch einen verwinkelten, magisch geformten Gang. Der Tunnel wand sich durch mehrere Haarnadelkehren, dann öffnete er sich zu einer Grotte. In deren Mitte hing eine leichenartige Gestalt in langes, fahles Wurzelwerk verwoben, das sich von der Decke herabwindend ein riesiges Netz bildete. Kjarrigan konnte kaum erkennen, wo das Haar des /Elfen endete und die Wurzeln begannen, denn sein dünnes Haar hing ihm bis zur Hüfte herab und breitete sich wie ein Umhang hinter ihm aus. Der Kopf des /Elfen hing zur Seite. Ein dünner Speichelfaden rann ihm aus dem Mund, ein Schleimfaden aus der Nase. Das Erstaunlichste aber war, dass die blasse Haut einen Stich ins Fliederfarbene hatte. Zwei große Beutel hingen ihm am Gürtel, einer an jeder Seite. Kjarrigan nahm an, dass sie die Bruchstücke der
Drachenkrone enthielten, verzichtete aber darauf, diese Annahme zu überprüfen. Das Können des /Elfen beim Einsatz von Schutzzaubern und seine eigene Erfahrung mit der Verzauberung der Fragmente ließen ihn zögern. Trawyn erreichte erst nach ihm die Höhle und zischte. »Halte dich von ihm fern, Kjarrigan. Sprich keinen Zauber.« »Was ist?« Sie zeigte auf die Gestalt. »Die violette Haut. Er ist ein Traumschwinge-Esser.« 89 »Dieses Traumschwinge habt Ihr schon einmal erwähnt. Was ist das?« Sie atmete langsam aus. »Es ist eine Heilpflanze, aber man kann süchtig danach werden. Sie lindert große Schmerzen, seelische Schmerzen, zumindest zeitweise, und kann beim Einsatz mächtiger Zauber helfen. Ihr Genuss weckt jedoch das Verlangen nach mehr. Wenn man erst soweit in ihren Bann geraten ist wie er, kann man Traum und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden. Er könnte ohne Vorwarnung zuschlagen und dich schwer verletzen.« »Wer ist er?« Trawyn schüttelte den Kopf, da tauchte Orakel hinter ihr auf. »Das dürfte der letzte erwachsene Vorqadf auf der Welt sein. Er ist unser Schlüssel zum Corijes von Saslynnae.« Trawyn starrte sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Ein Traumschwingesüchtiger kann keinen Corijes betreten. Ihm fehlt der Verstand, der nötig ist, den Weg zu öffnen.« Die vorqaelfische Hellseherin zuckte die Achseln. »Wir werden ihn heilen müssen, bevor wir ihn auf Vorquellyn brauchen.« Kjarrigan grinste. »Entschlossen wird ihn schon ausnüchtern.« »Ich wünschte, dem wäre so, Kjarrigan. Die Aurolanen sind vertrieben. Die anderen sind auf dem Weg.« Orakel schüttelte traurig den Kopf. »Leider wird Entschlossen nicht unter ihnen sein.« 90 KAPITEL ZEHN Prinzessin Alexia ließ Tyhtsais Streitmacht nicht ganz entkommen. Mit ihrer Kavallerie verfolgte, beobachtete und bedrängte sie die Aurolanen auf dem Rückzug . Sobald sich die Nachhut von den schnellen Einheiten der Leichten Reiterei ausreichend bedroht fühlte, würde sich Tyhtsai gezwungen sehen, ihre Armee anzuhalten und die Nachhut zu unterstützen. Alyx wollte dann ihre Reiter dort lassen, den Rest der Armee heranführen und den Aurolanen dann die Möglichkeit geben, einer Schlacht auszuweichen und wieder abzuziehen. Dieses Hin und Her aus Verfolgung und Zurückstecken mochte auf den ersten Blick sinnlos erscheinen, doch ermöglichte es Alyx, mehrere Ziele gleichzeitig zu verfolgen. Die Angriffe auf die Nachhut kosteten die Aurolanen Soldaten. Wichtiger allerdings war etwas anderes: Jedes Mal, wenn Tyhtsai gezwungen war, ihre Armee anzuhalten und zurück nach Westen zu marschieren, um die Nachhut zu beschützen, mussten die Aurolanen umkehren. Dass sie anschließend die gleiche Strecke noch einmal marschieren durften, erregte bei den Truppen Widerwillen und schwächte die Kampfmoral. Die Aurolanen versuchten zurückzuschlagen. Sie legten Hinterhalte an den Straßen und in den Wäldern an, aber Alyx konnte die Aleider Bergläufer, Zyeischen Freischwerter und Nybalesischen Weitschreiter gegen sie einsetzen. Unbemerkt tobte in den Wäldern ein Krieg der Kleineinheiten, in dem sich Trupps aus den Bataillonen beider Seiten durch das baumbewachsene Dämmerlicht hetzten und den Feind töteten, wo immer sie seiner habhaft wurden. Fast eine Woche nach der ersten Schlacht war es bereits drei91 mal zu einer Konfrontation ohne anschließendes Gefecht gekommen. Jetzt erreichten beide Streitkräfte den Schatten Fronosas. Die an Reißzähne erinnernden Berge ragten vor ihnen auf, bis auf eine Lücke, die aussah, als sei bei einem Kampf vor Urzeiten ein Zahn ausgeschlagen worden. Unterhalb des nördlichen Zahns beherrschte die Feste Fronosa die zu ihren Füßen vorbeilaufende Straße, die jenseits des Passes in Serpentinen hinab nach Muroso führte. Die Festung selbst war nicht besonders groß, doch der steile Abhang, auf dem sie sich erhob, machte den Einsatz von Belagerungsmaschinen so gut wie unmöglich. Im Gegenzug konnten die Verteidiger trotz der eher schwachen Bewaffnung Fronosas Gegnern, die sich beim Angriff den Hang heraufmühten, großen Schaden zufügen, vor allem, wenn die Angreifer von der murosonischen Seite kamen. Alyx verstärkte die Störangriffe und brachte ihre Fußtruppen hastig heran. Die Festung war niemals in der Lage, alle aurolanischen Truppen aufzunehmen, aber mit ihren Wurfmaschinen vermochte sie ihnen eine Schutzzone anzubieten, in der Kytrins Soldaten sich wieder erholen konnten. Tyhtsai mochte untot sein, aber sie war trotzdem nicht dumm. Sie verstärkte die Nachhut und zog den Rest der Armee in den Schutz Fronosas ab. Alyx sah sich nur einem knappen Regiment Truppen gegenüber, das die Straße abriegelte. In der Mitte standen drei Bataillone schwere Fußtruppen, die hauptsächlich aus Schnatterfratzen bestanden, mit einzelnen Horgun und Kryalniri zur Stabilisierung. Die Frostriesen schwenkten gewaltige Keulen, die in den meisten Fällen nur ausgerissene Bäume waren. Ein paar hatten sich die Mühe gemacht, Schilde und Panzerteile an ihre Waffen zu nageln, was die Keulen gefährlicher machte und gleichzeitig Verachtung für die menschlichen Krieger ausdrückte, denen sie diese Teile abgenommen hatten. An beiden Flügeln wartete knapp hinter der Infanterie ein leichtes Reitereibataillon. Diese sollten von den
Flanken her angreifen, sobald Alyx' Angriff sich an der schweren Infante92 rie festgefressen hatte. Natürlich würden Alyx und ihre Armee die hier aufgereihten Truppen zermalmen, daran bestand auf beiden Seiten keinerlei Zweifel. Doch entweder schlug sie schnell und hart zu, was ihre Kavallerie schwächte, oder sie wartete, bis weitere Einheiten zur Stelle waren, dann konnten sich die Aurolanen ungestört in den Schutz Fronosas zurückzuziehen. Alyx ließ ihren Trompeter ein Signal blasen, woraufhin die gesamte Kavallerie vorrückte. Sie bündelte nun die gesamte schwere Reiterei vorne, und die beiden Bataillone der Saporischen Kronreiter hatten die Ehre der ersten Feindberührung. Hinter ihnen folgten die zwei Bataillone der Alcidischen Eisenreiter, dann das einzelne Bataillon aus murosonischen und oriosischen Freiwilligen. Ihre leichte Kavallerie war an den Flügeln aufgestellt, bereit zum Gegenangriff auf die leichte aurolanische Reiterei. Aus den Nordlandreihen schallten Trommelsignale, und die Fußtruppen wappneten sich für den Ansturm des Südens. Aufgepflanzte Speere warteten auf die angreifenden Pferde. Soldaten hoben die Schilde und duckten sich dahinter. Die Horgun schwangen die Keulen im Kreis und bauten Schwung auf. Ein einziger Treffer dieser gewaltigen Knüppel konnte Ross und Reiter samt Rüstung durch die Luft davonschleudern, und keiner von beiden würde je wieder aufstehen. Alyx wandte sich an den Trompeter. »Das Signal für einen Angriff nach unserem Ausweichplan.« Der Mann nickte und hob das Hörn an den Mund. Ein wildes Stakkato gellte über das Schlachtfeld. Die Saporischen Kronreiter trabten mit gesenkten Lanzen an. Die Wimpel an den Waffen knallten im Wind. Dann wurde aus dem Trab ein Galopp. Hinter ihnen folgten die Eisenreiter. Die Hufe dröhnten wie Donner. Unter Alyx zitterte und schnaubte ihr Pferd ungeduldig. Sie tätschelte ihm den Hals und flüsterte: »Wir bekommen noch Kampf genug.« Beim Betrachten der Karten, die ihre Gyrkyme-Kundschafter gezeichnet hatten, war Alyx bereits zu dem Schluss gekom93 men, dass Tyhtsai hier versuchen würde, sie aufzuhalten. Sie hatte auch die Aufstellung, der sie sich jetzt gegenübersah, als eine Möglichkeit berücksichtigt. Der Prinzessin war ebenso klar gewesen wie all ihren Beratern, dass der Angriff der leichten Aurolanenreiterei auf die Flanken der Südlandkavallerie ein blutiges Gemetzel versprach. Um dieser Bedrohung zu begegnen, hatte sie mehrere Angriffspläne vorbereitet. Tyhtsais leichte Kavallerie brauchte freie Bahn in die Flanken der Südlandreiterei, das war der einzige Schwachpunkt in ihrer Aufstellung. Bei Alyx' Ausweichplan kam ihr der Süden zuvor und nutzte diese freien Korridore auf beiden Seiten des Schlachtfelds zuerst. Sobald sich die Saporiten der aurolanischen Infanterie näherten, schwenkten sie nach Norden von der Straße ab, umgingen deren Formation und schlugen mit geballter Kraft gegen die leichte Kavallerie im Hinterland los. Die Hörgun starrten sprachlos den schwer gepanzerten Reitern hinterher, die an ihnen vorbeidonnerten und über die Frostkrallen herfielen. Vereinzelte Aurolanenreiter senkten die Lanzen und rückten vor, doch so zersplitterten ihre Waffen nur an den Schilden der Kronreiter, bevor der Ansturm Reiter und Temeryx zermalmte. Auf der Südseite schwenkten die alcidischen Eisenreiter um und nahmen sich die andere leichte Kavallerie vor. Dieses Bataillon hatte gesehen, was mit seinen Kameraden geschehen war und rückte mit eingelegten Lanzen zum Gegenangriff vor, was ihm allerdings nichts nützte. Die schwere Reiterei durchbrach die Reihen und zerstörte die Aufstellung, bevor das zweite Bataillon eintraf. Im darauffolgenden Scharmützel flogen Menschen und Schnatterer aus den Sätteln. Frostkrallen sprangen und schlugen aus, Rösser stampften und bäumten sich auf. Schwerter, Äxte, Streitkolben und Morgensterne brachten zu Ende, was die Lanzen begonnen hatten. Die Nordlandfußtruppen wussten nicht, wie ihnen geschah, als die leichte Kavallerie heranpreschte. Wie schon zuvor setzten die Reiter Bogen ein. Bei so vielen Zielen schien es nahezu 94 unmöglich, danebenzuschießen. Schnatterfratzen fielen, rissen Lücken in die Mauer aus Speeren und Schilden. Hörgun brüllten vor Schmerz, gespickt von Pfeilen. Die Aurolanen schrien Schmerz und Wut auf ihre Peiniger heraus, die sie auf den Pferden umkreisten, um dann eine Salve nach der anderen auf sie abzufeuern. Endlich hielt es die Infanterie nicht länger aus und ihre Aufstellung zerbrach. Ein Teil der Truppen griff die Bogenschützen an, andere flüchteten. Weil sie die Trommeln hören konnten, glaubten sie sich nahe genug an der Sicherheit der Hauptstreitmacht. Zu ihrem Pech warteten die schweren Kavallerieeinheiten, die ihre Flügel abrasiert hatten, jetzt zwischen ihnen und dem Schutz bietenden Fronosa. Das bremste die Flucht und ein Hörgun bellte Befehle, die ihre Formation strafften. Wieder stählten sie sich gegen einen schweren Reiterangriff. Sobald sie den abgewehrt hatten, würden sie sich trennen und zu den eigenen Reihen laufen. Ziemlich genau in dem Augenblick, da sie ihre Vorbereitungen abgeschlossen hatten, donnerte ihnen das Maskenbataillon in den Rücken. Die maskierten Krieger, von denen ein Großteil hatte mit ansehen müssen, wie ebendiese Truppen ihr Heimatland in Schutt und Asche gelegt hatten, stürzten sich ohne Rücksicht auf Leib und Leben auf den Feind. Speere flogen, Lanzen bogen sich und brachen, Schwerter zerbeulten Helme und spalteten Schädel. Aurolanen flogen mit geborstenen Knochen und abgehackten Gliedmaßen davon. Blutfontänen
spritzten zum Himmel, Tiere kreischten, Reiter hackten wild auf Gegner ein, die sie aus dem Sattel zerren wollten. Zauber entluden sich, badeten Reiter in Flammen, dann stürzten blutverschmierte Kryalniri in den brodelnden Schlamm. Vereinzelt überlebte ein aurolanischer Reiter und floh über die Ebene, um das eigene Leben zu retten. Ein Hörgun versuchte dasselbe, doch die Kavallerie machte den einst gefürchteten Gegner schnell zum Ziel einer gnadenlosen Treibjagd. Kronreiter stachen wieder und wieder auf seine Fersen ein, 95 doch es war schließlich ein Eisenreiter, der ihm mit einem Axthieb die Achillessehne durchtrennte. Der Riese stürzte schwer, und bevor er wieder aufstehen konnte, hatten schon andere Reiter seine Beine mit Speeren durchbohrt. Als er die Hand ausstreckte, um sich weiterzuschleppen, stieß ein Speer durch seine Hand und heftete sie an den Boden. Er riss an dem Speer, doch andere bohrten sich ihm in den Leib, bis nur noch sein Keuchen Staub aufwirbelte. Blut brodelte aus Dutzenden von Brustwunden und strömte aus zahllosen anderen Schnitten. Dann stieß der Frostriese noch einen letzten schwachen Schrei aus und starb. Der Trompeter blies für die Reiterei das Zeichen zum Sammeln, und diese befolgte es weit hinter der aurolanischen Verteidigung. Kaum tausend Schritt trennten Alyx' Einheiten noch vom Feind, aber auf den letzten zweihundert davon wären sie in Reichweite der Katapulte und Ballistas in Fronosa. Ungerührt ritt Alyx vorwärts und der Rest der Armee folgte ihr. Die Aurolanen bezogen Verteidigungsstellungen. Ein Trümmerfeld im Norden war von so vielen Felsbrocken und Geröllhalden übersät, dass Pferde nutzlos schienen. Um dort anzugreifen, waren Fußtruppen nötig, und sie konnten nur sehr langsam vorankommen. Dort stationierte Tyhtsai ihre zwei Bataillone Draconettiere. So konnten sie die Truppen der Prinzessin aus der Flanke angreifen oder die Infanteristen abschießen, die sie losschickte, um sie aus dem Weg zu räumen. Die übrige Armee bildete eine lange Schlachtreihe. Die verbliebene schwere Infanterie stand im Zentrum, die leichte an beiden Seiten. Ihre Reiterei hielt Tyhtsai im äußersten Osten zurück. Dort sicherte sie die Flanke und behielt dabei raschen Zugang zur Straße, so dass sie bei Bedarf zum Angriff stürmen konnte. Da der Boden nach Osten steil abfiel, hatte Alyx keine Möglichkeit, den aurolanischen Reitern in die Flanke zu fallen. Die Reiter waren abgesessen und hoben wie der gesamte Rest der Truppen kleine Gräben aus, die es noch zusätzlich erschwerten, den Hang einzunehmen. 96 Die einzige Wahl, die der Armee des Südens blieb, war ein Frontalangriff. Ein Frontalangriff von unten gegen einen eingegrabenen Feind - und unter ständigem Beschuss aus Fronosa. Ein Himmelfahrtsunternehmen, das Alyx' Armee den Todesstoß versetzen konnte. Falls ihre Truppen zu stark ausbluteten, drohte sie jede Aussicht auf einen Vorstoß nach Muroso zu verlieren. Wie um zu unterstreichen, wie gefährlich der Angriff werden würde, feuerte eine Ballista hinter den Mauern Fronosas. Ein Speer mit einem roten Wimpel flog in hohem Bogen durch die Luft und bohrte sich tief in die Erde, wo er zitternd stecken blieb. Eine eindrucksvolle Demonstration der Reichweite der fronosischen Geschütze. Der Wind spielte mit dem Wimpel und lautes, trotziges Gebrüll stieg aus den Reihen der Aurolanen auf. Alyx befahl ihre Truppen mit schneller Marschgeschwindigkeit vorwärts und die Trompeter sorgten dafür, dass sie sich wie gewünscht formierten. Als die Armee auf breiter Front aufgestellt war, nickte Alyx dem Trompeter zu, und er blies zum allgemeinen Vormarsch. Langsam, mit ruhiger Gelassenheit, rückte das Heer vor, schwere Einheiten in der Mitte, leichte an den Flügeln, die Kavallerie in Stellung, um die aurolanischen Reiter aufzuhalten. Nach einer Minute erreichte die Reihe den Speer. Sie stockte nicht einmal. Die Katapulte, Steinschleudern und Ballistas in Fronosa nahmen den Beschuss auf. Die größeren Maschinen schleuderten schwere Felsbrocken und Eisenkugeln, vereinzelt auch qualmende Fässer mit brennbarem Öl. Die Ballistas feuerten entweder einzelne Speere wie den kurz zuvor oder ganze Pfeilsalven, beschwert mit Bleigewichten knapp hinter der Spitze. Durch diese Gewichte hatten die Pfeile im Sinkflug ausreichend Wucht, um Rüstungen zu durchschlagen. Der Einsatz der Belagerungsmaschinen hatte ein Gemetzel zur Folge. Die Felsen stürzten zwischen die Truppen und zermalmten sie. Ein einzelner Steinbrocken konnte erst einen Helm zertrümmern, dann nahezu ungebremst den Schädel oder 97 ein Bein eines anderen Soldaten zerquetschen. Speere durchbohrten Krieger, Pfeile durchlöcherten sie. Wo die Ölfässer aufschlugen, verspritzten sie ihre augenblicklich in Flammen aufgehende Ladung. Soldaten verwandelten sich in lebende Fackeln, die ihre Schmerzen zum Himmel schrien, bis sie genug Feuer eingeatmet hatten, um die Kehlen zu schließen. Alyx betrachtete das Sterben ohne irgendeine Gefühlsregung. Ihre Truppen waren dagegen nicht so beherrscht. Trotz aller Disziplin konnten sie nicht umhin zu erkennen, was dort geschah. Unaufgefordert stießen sie ein gewaltiges Kriegsgebrüll aus. Es war kein Ausdruck des Trotzes oder des Mitleids, sondern des Erstaunens. Eine Salve Felsen, Pfeile, Speere und Feuer nach der anderen stieg aus der Festung auf und stürzte auf das Schlachtfeld - weit vor den anrückenden Südlandtruppen entfernt. Die Geschosse säten stattdessen Tod und Verzweiflung unter den Aurolanen.
Mit einem Nicken befahl Alyx dem Trompeter, das Signal zum Anhalten zu geben. Entlang der gesamten Linie nahmen andere Trompeter es auf und wiederholten es. Ihre Truppen blieben stehen, jubelten aber um so lauter, als zwischen den Aurolanen neue Feuersäulen aufbrachen. Pfeilsalven mähten ganze Kompanien nieder. Die Geschosssalven aus der Festung richteten sich hauptsächlich gegen die schwere Infanterie, und ein massiver Felsbrocken rollte den Hang herab und zerquetschte alle, die zu langsam oder ungeschickt für ein rechtzeitiges Ausweichen waren. Mit einem weiteren Befehl zog Alyx die Kavallerie von der Straße zurück. Aurolanische Trommeln donnerten und Tyhtsais Truppen zogen sich über den frei gewordenen Fluchtweg zurück. Sie behielt die Kavallerie als Rückendeckung auf dem Feld, doch war sie zu keiner Zeit von irgendeiner Seite ernsthaft bedroht. Aus Fronosa flogen die Geschosse, bis die Verteidiger in der Festung keine Munition mehr hatten. Am späten Nachmittag waren die Nordlandkräfte abgezogen und die Ersten auf der Zamsinastraße zu sehen. Berichte strömten herein und schätzten die Verluste der Aurolanen auf 98 weit über zweitausend, fast ein Drittel von Tyhtsais gesamten Truppen. Alyx hätte nachsetzen können, es blieb jedoch Teil ihrer Strategie, die Sullanciri entkommen zu lassen. Die Aurolanen waren aus Saporitia vertrieben, und soweit es die Prinzessin betraf, schien das genug für einen Tag. Als ihr der Gedanke kam, musste sie lächeln. Genau genommen war es nicht genug, sondern nur ein winziger Teil dieses Tages für sie. Auf den Zinnen von Fronosa sah sie Kräh und fand, dass der Tag eigentlich gerade erst begonnen hatte. Sie lag auf Krähs Brust und leckte ihm den Schweiß vom Hals. Er hielt sie mit beiden Armen umschlungen. Sie drückte die Waden gegen seine Oberschenkel und küsste ihn. »Und, Geliebter? Gefällt es dir, wenn meine Pläne aufgehen?« Kräh hustete leise, dann nickte er. Hastig ließ er ein Lächeln folgen. »Oh, du meinst die Einnahme von Fronosa. Ja, mein Schatz.« Sie versetzte ihm einen Schlag auf die Rippen, der mehr Lärm als Schmerz hervorrief. »Was hast du denn gedacht, das ich meine? Nein, ich will es gar nicht hören.« Wieder küsste sie ihn und seine Hüften senkten sich zurück auf die Matratze. »Ich hatte gehofft, dass es gelingt.« »Es ist wunderbar geglückt, Geliebte.« Kräh strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. »Wir haben eine Reihe Nachschubkolonnen überfallen und mitgenommen, was wir konnten. Dann haben wir hier auf der Ebene, wo sie uns sehen konnten, das Lager aufgeschlagen, zusammen mit unserem umfangreichen Fuhrpark erbeuteter Wagen, so wie du es wolltest. Ein Gyrkymu ist bei uns gelandet, wir haben alle zusammengeholt, die Zugtiere getötet und einen halbherzigen Versuch unternommen, die Wagen in Brand zu stecken, bevor wir nach Osten davonritten. Wie du es erwartet hast, haben sie Kundschafter hinter uns hergeschickt, um sich zu überzeugen, ob wir wirklich fort waren. Sie haben gewartet, bis sie sich sicher fühlten, dann ist die Garnison aus der Festung gestürmt, um 99 die Wagen zu plündern. Wir sind erst nach Osten gezogen, dann zurück nach Süden geschwenkt und waren in der geeigneten Position, um sie zu überfallen, als sie gerade mitten beim Plündern waren. Ich habe die vilwanischen Kampfmagiker zur Festung geschickt, damit sie dafür sorgen, dass die Tore offen bleiben, doch der Kryalniri-Kommandeur war einer der Ersten, der bei unserem Angriff auf die Plünderer ins Gras gebissen hat. Nach dem Verhör von ein paar Gefangenen wussten wir genug, um richtig auf die Signale zu antworten, als Tyhtsai ihre Truppen heranführte. Aber du hast ihr auch keine Zeit gelassen, misstrauisch zu werden.« Alyx lächelte. »Es war eine gewagte Strategie, doch es hat geklappt.« »Anders hätten wir Fronosa nicht einnehmen können.« Kräh runzelte die Stirn. »Wir hätten es nicht so machen können wie die Aurolanen. Sie hatten Abtrünnige unter die murosonischen Flüchtlinge geschmuggelt, denen die Festung Unterschlupf gewährte.« »Ich bin froh, dass der Plan aufgegangen ist. Dein Beschuss hat ihnen das Genick gebrochen.« Alyx gab ihm noch einen Kuss, dann drehte sie sich nach rechts weg und streckte die Beine. Der Schweiß auf ihrem Bauch wurde schnell kalt, deshalb streckte sie einen Fuß aus, griff die Decke mit den Zehen und zog sie höher, bis sie mit der Hand nach unten fassen und sie ganz über sie beide ziehen konnte. »Hast du auch nur eine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst habe?« Kräh wälzte sich auf die linke Seite, stützte den Kopf auf die Hand und fuhr mit einem Finger ihre Kinnlinie nach. »Tja. Es hat nur zehn Minuten gedauert, bis du eine ausführliche Lagebesprechung unter vier Augen und hier in der Festung verlangt hast. Ich würde schätzen, du hast mich sehr vermisst. Beinahe so sehr wie ich dich.« »Wer von uns beiden den anderen mehr vermisst hat, können wir morgen früh erörtern, Liebster.« Alyx drehte den Kopf und küsste ihn auf den Finger. Dann berührte sie ihn mit der Zungenspitze. »Es waren viele kalte Nächte ...« 100 »Ich kann noch einen Scheit aufs Kaminfeuer werfen.« Sie blickte ihm in die Augen und sah den Widerschein der roten Glut im kleinen Kamin des Schlafzimmers. »Nicht diese Art Kälte, Kräh. Seelenkälte. Ich brauchte dich und wollte dich, körperlich, ja, sehr sogar, aber ich brauchte auch den Klang deiner Stimme. Ich habe mich danach gesehnt, deine Gedanken zu hören und meine mit
dir zu teilen. Alles mit dir zu teilen.« Er lächelte, und es wärmte ihr Herz, wie leicht ihm das fiel. »Dann gibt es keinen Zweifel, dass es uns beiden ähnlich ging. Aber jetzt sind die Tage der Trennung vorüber.« »Das ist wahr.« Sie nahm seine linke Hand in ihre rechte. Er rollte sich auf den Rücken, als sie seine Hand herabzog und drückte. »Mit dir neben mir, kann mir nichts etwas anhaben.« »Oder mir.« Seine Stimme klang warm, voll und tief, war ihr Musik nicht nur in den Ohren, sondern auch in der Seele. »Schlaf gut, Geliebte.« Sie nickte und war sich ziemlich sicher, dass sie noch sagte »Ich liebe dich, Kräh«, bevor sie einschlummerte. Sie konnte sich nicht ganz sicher sein, und sobald der Schlaf sie umfing, nahm sie sich vor, es am Morgen zweimal zu sagen - und einen Weg zu finden, es auch zu beweisen. Krähs Aufbäumen weckte sie. Es war stark genug gewesen, seine Hand aus der ihren zu zerren. Sie riss die Augen auf. Sie versuchte, den Kopf zu drehen und nach ihm zu sehen, doch das gelang ihr nicht. Ihr Körper war gelähmt. Einen Augenblick lang glaubte sie zu träumen und gefangen zu sein - wie so oft. Aber was sie sah, überzeugte sie völlig, sehr, sehr wach zu sein. Und trotzdem gefangen in einem Albtraum. Alyx wusste nicht, wie sie hierher gekommen war, aber die Sullanciri Myral'mara stand an Krähs Bettseite. Ihre bleiche Gestalt glühte, so dass sie fast wie ein Geist wirkte. Alyx hätte sie für ein Gespenst gehalten und geglaubt, es wäre irgendeine Erscheinung, hätte sie nicht das leise Knistern des Kissens gehört, das Kytrins Kreatur Kräh aufs Gesicht presste. Die Sullanciri schaute sie an. »Keine Bange, Kind, du wirst 101 ihn nicht lange entbehren müssen. Er wird dich nur für eine kleine Weile verlassen.« Myral'maras kalte Stimme rollte sich wie eine Natter in Alyx' Eingeweiden ein. Sie kämpfte gegen die Lähmung an, kämpfte darum, sich zu bewegen. Aber sie konnte nicht einmal zittern, ihr gesamter Leib war taub. Irgendetwas, vielleicht Magik, vielleicht auch etwas anderes, hielt sie gefangen, während die Dunkle Lanzenreiterin ihren Geliebten langsam erstickte. Verzweiflung stieg in ihr auf, geboren aus einem Gefühl der Machtlosigkeit. Doch sie bezwang sie. Alyx wandte sich nach innen und fand sich einen Lidschlag später auf dem Ruderdeck von Maroths Boot in der Kommunion der Drachen. Der Schwarze Drache stand dort neben dem Metallkonstrukt. »Prinzessin. Welch eine Überraschung.« »Ich brauche Hilfe, sofort! Myral'mara erstickt Kräh und ich kann nichts tun.« Sie griff nach der Hand des Schwarzen Drachen. »Helft mir!« »Natürlich, Tochter.« Die Stimme des Mannes wurde zu Stahl. Er nahm ihre Hand fest in seine. »Geh zurück. Bring mich hin. Maroth, befördere mich.« Alyx zwang sich zurück in ihren Körper und da, am Fuß des Bettes, erschien der Schwarze Drache. Er trat schnell um das Bett herum. Während der Bewegung veränderte sich seine Gestalt. Myral'maras Kopf zuckte herum und die Sullanciri keuchte auf. Die in einen Panzerhandschuh gehüllte linke Faust des Schwarzen Drachen kam als Rückhandschwinger geflogen, der sie seitlich am Kopf traf und rückwärts gegen die Wand schleuderte. Das Kissen fiel von Krähs violett angelaufenem Gesicht. Laut keuchend schnappte er nach Luft. Der Schwarze Drache sah auf ihn hinab. Sein unmenschliches Gesicht war verschwunden, hatte sich verändert. Es kam Alyx sehr vertraut vor, obwohl sie sich nicht entsinnen konnte, dieses Gesicht jemals zuvor gesehen zu haben. Der Schwarze Drache sah Kräh an und von ihm hinüber zu ihr, dann lächelte er. 102 »So stolz«, sagte er, und seine Worte verklangen zu einem Flüstern, als er sich auflöste. Knurrend hechtete Myral'mara über das Bett. Ihre Krallenhände schlugen durch die Luft, wo eben noch der Schwarze Drache gewesen war, aber da er verschwunden blieb, landete sie über den Beinen des Pärchens. Wieder knurrte sie, dann verlagerte sie das Gewicht und setzte sich auf Kräh, genau so wie Alyx am Abend zuvor. Sie presste mit einer grotesken Verzerrung des Liebesakts ihre Hüften auf seine und schlug ihm die kraftlosen Arme beiseite, als er versuchte, sie abzuschütteln. Die Sullanciri lächelte Alyx an, dann legte sie Kräh die Hände um den Hals. »Es ist besser, wenn er so stirbt. Er soll mich dabei sehen. So sehen, wie ich war, als ich ihn erfreute.« Ihre Finger schlössen sich, jedoch nur für einen Augenblick. Eine schwarze Metallhand ergriff sie im Nacken. Sie kreischte auf und schlug danach, kratzte leuchtend silberne Spuren in das Metall. Maroth hob sie von Kräh herunter und schüttelte sie. Alyx hörte ein lautes Knacken, dann hing die Sullanciri leblos in seiner Hand und das Leuchten ihres Körpers verblasste und erstarb. Damit kehrte auch das Gefühl wieder in Alyx' Glieder zurück. Sie drehte sich um, streckte sich aus, zog Kräh an sich. Sie drückte sich an seinen Rücken, küsste seine Schultern, seinen Kopf. Sie konnte seinen Atem fühlen, konnte ihn hören. »Sag mir, dass es dir gut geht, Kräh, sag es mir. Sag etwas. Bitte.« Er hustete laut und heiser. Dann ließ er den linken Arm schwerfällig auf ihre Hand fallen. Seine Hand um ihr Handgelenk wirkte schwach, immerhin bewegte er sich. Mühsam flüsterte er: »Das war kein Traum, oder?« Sie küsste ihn auf den Nacken. »In gewisser Weise war es einer. Es war der Traum, den ich damals in Okrannel
hatte. Mein Albtraum.« Kräh räusperte sich, dann drehte er sich in ihren Armen zu ihr herum und nahm sie in die seinen. »Myral'mara erkenne 103 ich.« Seine Stimme versagte kurz. »Der Mann, der über uns stand. Weißt du, wer das war?« Sie wollte sagen »Nein«, doch es gelang ihr nicht. Sie klammerte sich an Kräh und legte ihm den Arm auf die Schulter. »In meinem Traum hat uns mein Vater gerettet. Er kann es nicht gewesen sein, und doch ...« Kräh hob die Hand und strich ihr über die Wange, trocknete die Tränen. »Für mich sah er aus wie dein Vater. Wie er hierher kommen konnte, weiß ich nicht.« Alyx atmete tief durch und erzählte Kräh von der Kommunion der Drachen. Überraschenderweise konnte sie das, und irgendwie fragte sie sich, ob Maroths Gegenwart in der Wirklichkeit bedeutete, dass die Kommunion nicht mehr existierte. Jedenfalls gab es offensichtlich nicht mehr das Verbot, über sie zu sprechen, denn die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. Während sie sprach, ging sie in Gedanken noch einmal alles durch. Sie erinnerte sich an die erste Begegnung mit dem Schwarzen Drachen und an ihren Protest, als er sie »Tochter« genannt hatte. Dass sie tatsächlich seine Tochter war, gab diesem Augenblick ein ganz anderes Gewicht. Wenn er tatsächlich ihr Vater war, musste er sich in jenem allerletzten Augenblick in die Kommunion projiziert haben, bevor sein Körper auf Festung Draconis gestorben war. Seitdem hatte er in der Kommunion gelebt, Wissen angesammelt und den Kampf gegen Kytrin wach gehalten. Die tiefere Bedeutung dieser Erkenntnis erschütterte sie. Er hatte durch Preiknosery von ihr gewusst, doch dass sie keiner der beiden eingeweiht hatte, empfand sie fast wie Verrat. Andererseits fühlten sie sich beide an eine höhere Pflicht als alle anderen gebunden, die es auf der Welt gab: die Vernichtung von Kytrin. Für ihren Vater musste es entsetzlich gewesen sein, sie zu kennen und sie nie in den Armen halten oder auch nur berühren zu können, ohne zu sterben. Doch an seiner Liebe zu ihr konnte es keinen Zweifel geben, denn er hatte sein Leben gegeben, indem er gekommen war, sie zu retten. Kräh nickte, als sie ihm diese Gedanken erläuterte. »Das 104 wäre ganz dein Vater. Seine Pflicht noch über den Tod hinaus zu erfüllen. Und er wäre sehr stolz auf dich.« »Ich glaube, er war stolz auf uns beide.« Alyx lächelte, obwohl ihr die Tränen übers Gesicht liefen. »Aus deinen Memoiren weiß ich, wie sehr du meinen Vater gemocht hast. Ich weiß, dass er dich ebenfalls mochte. Er hat mir gesagt, dass ich dir vertrauen könne, lange bevor wir uns näher kamen. Er hat sogar mit mir darüber gesprochen, wie ich mich gefühlt habe, als ich erfuhr, wer du wirklich bist.« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Und ich glaube, er hat sich gefreut, dass ich die Liebe gefunden habe.« Kräh schloss die Arme um sie und hielt sie fest, während sie schluchzte. Sie hatte immer gehofft, ein Leben zu führen, das ihren Vater stolz gemacht hätte. Sie wollte seinem heldenhaften Vorbild gerecht werden. Sie hatte nie damit gerechnet, seine Zustimmung tatsächlich zu finden, denn er war ja tot. Und nun hatte sie sie innerhalb eines Augenblicks gefunden und ihren Vater ein zweites Mal verloren. Nicht wirklich verloren, genau genommen, sondern herausgefunden, dass er ein noch weit größerer Held war, als jemals irgendwer erwartet hatte. Sie schmiegte sich mit tränennassem Gesicht in Krähs Arme. Er küsste sie auf die Stirn und flüsterte tröstend auf sie ein. Er hielt sie fest und sicher und ließ nicht los, bis sie mit einer Hand sanft gegen seine Brust drückte. »Das war alles ein bisschen viel für mich. Entschuldige.« Kräh legte die Hand unter ihr Kinn und hob ihren Kopf, so dass sie ihm gerade in die Augen schaute. »Du brauchst dich nicht für das zu entschuldigen, was du fühlst, Alexia. All das, eine Sullanciri, die versucht uns umzubringen, deinen Vater erscheinen und verschwinden zu sehen, das hätte nicht einmal Kytrin kalt gelassen. Dass du diese Gefühle hast, beweist, dass du erreichen konntest, was dein Vater sich für dich erträumt hat. Du bist keine Mordmaschine, keine Generalin, die das Leben ihrer Soldaten wie Kupfermünzen verschwendet, sondern ein denkender, fühlender Mensch, der in der Lage ist, alle 105 Faktoren abzuwägen, die in eine Schlacht hineinspielen. Ohne diese Fähigkeit, ohne deine Gefühle müsstest du scheitern. Du wirst Zeit brauchen, das alles zu verarbeiten, aber das ist in Ordnung. Ich bin hier. Ich werde dir beistehen, wie du es brauchst und möchtest. Dein Vater liebt dich, ich liebe dich, deine Truppen lieben dich und vertrauen dir. Du bist alles, was Kytrin nicht ist, und du wirst sie besiegen.« Alyx schniefte, dann schüttelte sie den Kopf und unterdrückte einen neuen Weinkrampf. Endlich verschwand der Kloß im Hals und sie konnte leise antworten. »Ich könnte mich nicht geliebter fühlen als jetzt, hier in deinen Armen. Bei dir kann ich ganz ich selbst sein. Ich kann meine Zweifel haben und daran arbeiten. Das ist nur eines der Geschenke, die du mir machst, einfach, indem du da bist. Ich liebe dich.« »Und ich liebe dich, Alexia.« Wieder küsste er sie, dann deutete er mit einer Kopfbewegung auf Maroth. »Falls die Frage erlaubt ist: Was ist das Ding da, das eine tote Sullanciri hält? Wie arbeitet es?» »Das ist Maroth, der Fährmann der Kommunion.« Alyx wischte sich die Tränen ab und setzte sich im Bett auf. »Maroth, du kannst sie loslassen. Er befolgt einfache Anweisungen, aber ich habe keine Ahnung, wie das geschieht.«
Der Automat tat wie geheißen und warf Myral'maras Leiche beiseite. Sein Arm kehrte an seine Seite zurück, dann klickte etwas in seiner Brust. Eine dünne Linie aus waberndem, vielfarbigem Licht vom Halsansatz bis zum Unterleib wurde langsam breiter, als sich die metallene Brust öffnete. Die beiden Hälften schwangen auf und in seiner Brust lag, ganz ähnlich wie Rymramochs Wahrstein in der Puppe, ein dunkler, opalisierender, in Gold gefasster Stein. Die Farben wogten darin auf dieselbe Weise, wie die Nordlichter am Himmel tanzen. Alyx war es, als hätte sie einen Schwärm Schmetterlinge verschluckt. »Ich glaube, jetzt weiß ich weit mehr darüber, wie er betrieben wird, als ich je wissen wollte.« Kräh setzte sich neben ihr auf und zog die Knie an die Brust. 106 »Das, vermute ich, ist das fehlende Fragment der Drachenkrone.« »Ich würde sagen, dies ist eine vernünftige Schlussfolgerung.« Sie rieb sich das Gesicht. »Es war an einem Ort in Sicherheit, an dem Kytrin es niemals finden konnte. Jetzt ist es zurück in der Welt.« Kräh nickte. »Nicht, dass wir einen brauchten, aber jetzt haben wir noch einen weiteren Grund, warum wir Kytrin besiegen müssen.« KAPITEL ELF Entschlossen erwachte, doch er bewegte sich nicht. Einerseits, um nach Hinweisen auf Feinde lauschen zu können. Zum anderen, um seine Verletzungen einzuschätzen. Das Hämmern in seinem Kopf beantwortete die Frage, warum er jetzt erst aufwachte, und die Tatsache, dass er überhaupt aufwachte, legte den Schluss nahe, dass seine Verwundungen nicht tödlich waren. Unter normalen Umständen hätte er das für ein hervorragendes Zeichen gehalten. Die Umstände waren allerdings ganz und gar nicht normal, und Entschlossen regte sich hauptsächlich deswegen nicht, weil er stinksauer auf sich selbst war. Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war, dass er Kjarrigan bei Trawyn, Orakel, Bok und Rym gelassen hatte, damit sie in den Schutzzauberkreis gelangen und die Drachenkronenfragmente bergen konnten. Er selbst hatte den Grauen Nebel zu einem Angriff auf die aurolanischen Jäger geführt, und es war ein blitzartiger, wilder Überfall gewesen. Ein Kryalnir, der an den Zaubern gearbeitet hatte, wirkte einen Zauber und trat zwischen die Steine, wo er augenblicklich in Flammen aufgegangen war. Selbst wenn das die meisten Schnatterer und Turekadein nicht kurzzeitig geblendet hätte, der Schrecken über die Schmerzensschreie hätte genügt, sie abzulenken. Die Graunebler hatten brutal zugeschlagen und Entschlossen hatte sich ganz in seinem Element gefühlt. Syverce in der Linken hatte er Klingensterne durch die Nacht geschleudert. Mehr als ein Turekadin war ihnen zum Opfer gefallen. Die Schnatterer, die mit Langmessern auf ihn einstürmten, hatten in dem schlanken Schwert einen mehr als ebenbürtigen Geg108 ner gefunden, und sein Können mit dieser Klinge hatte ihn nahezu unbesiegbar gemacht. Entschlossen gestattete sich bei diesem Gedanken ein leises, verächtliches Schnaufen. Schon diese winzige Bewegung genügte, eine Schorfschicht auf dem Schädel aufzubrechen, und ein dünner Blutfaden lief ihm hinter dem rechten Ohr herab. Die Kopfschmerzen nahmen schlagartig zu, blieben aber erträglich. Er bewegte ein paar Muskeln und stellte fest, dass er von Prellungen übersät war. Doch soweit er es feststellen konnte, waren alle Knochen noch heil. Noch wollte er keine größeren Bewegungen versuchen, doch er wusste: Lange würde er diese Zurückhaltung nicht durchhalten. Die Wut auf sich selbst kochte in ihm. Er hatte sich für unbesiegbar gehalten und war einer Gruppe fliehender Schnatterfratzen in die Dunkelheit gefolgt. Als er eine der Kreaturen am Nackenfell packte, hatte sie jämmerlich gemaunzt und war einfach zusammengesackt. Auf alles war Entschlossen vorbereitet gewesen, nur darauf nicht. Die Beine der Kreatur hatten sich in seinen eigenen verheddert und er war gestürzt. Hart. Er hatte sich den Schädel an einem Baum angeschlagen und war mühsam aufgestanden, da hatten ihn schon drei oder vier angsterfüllte Schnatterer umzingelt und mit Stöcken und Steinen auf ihn eingeschlagen, bis er das Bewusstsein verlor. Er erinnerte sich, ein paar Mal getragen worden zu sein, sowie an die Gegenwart von mehr als vier Paar forschenden Händen auf seinem Körper. Er nahm an, dass der Graue Nebel die davonlaufenden Aurolanen nicht verfolgt hatte und dass sich die Schnatterer ohne Anführer irgendwo gesammelt hatten, um nachzudenken, was sie als Nächstes tun sollten. Da er noch lebte, musste eine der Schnatterfratzen von überdurchschnittlicher Intelligenz sein. Es gab nicht einen Sullanciri in Kytrins Diensten, der nicht darauf gebrannt hätte, ihn ihr zu Füßen zu legen. Hätte sein Kopf nicht so geschmerzt, er hätte ihn geschüttelt. Sich für unbezwingbar zu halten, war der reine Größenwahn gewesen. Irgendwie hatte er sich eingeredet, nur weil er 109 so lange und so hart für die Rettung Vorquellyns gekämpft hatte, sei es ihm vom Schicksal vorbestimmt, sie auch mitzuerleben. Das war eine grundlose Annahme, und diese Erkenntnis traf ihn schwer. In vielerlei Hinsicht war er ein Mentor gewesen. Er hatte Kräh ausgebildet, vor und nach seiner Verbannung. Er hatte Will ausgebildet und sogar bei Kjarrigans Ausbildung die Hand im Spiel gehabt. Seine letzten Worte an Kjarrigan, als er dem Knaben erklärt hatte, dass er das Kommando übernehmen musste und gewusst hatte, dass er das Zeug dazu hatte, hätten ihm ein deutliches Zeichen sein müssen, dass seine Rolle gespielt war.
Er spreizte die Finger und ballte sie zur Faust. Dann zog er die Hände zu den Schultern hoch und stemmte sich vorsichtig vom Boden hoch. Seine Arme zitterten, also drehte er sich zur Seite auf die Hüfte und setzte sich langsam auf. Ein Schwindelgefühl ergriff ihn, und kaum war es verebbt, folgte eine zweite, schwächere Welle. Er stützte sich am Boden ab, dann streckte er eine Hand aus, berührte eine Mauer und rutschte hinüber. Arme und Beine waren einsetzbar, doch bevor er einen Fluchtversuch unternehmen konnte, musste er etwas gegen ihre Steifheit unternehmen. Der bloße Gedanke ließ ihn grinsen, und die damit verbundenen Schmerzen teilten ihm mit, dass die Oberlippe aufgerissen war. Einen Fluchtversuch? Ich weiß nicht einmal, wo ich bin. Ich bin verletzt, unbewaffnet, und meine Freunde sind weitergezogen. Er zuckte langsam die Achseln und öffnete die Augen. Er stellte fest, dass er sich in einer kleinen Kammer mit steinernen Wänden befand. Sehr hoch in der Wand gegenüber der Tür befand sich ein winziges, vergittertes Fenster. Es fiel genug Morgenlicht herein, um die Tür sichtbar zu machen. Sie war grob gezimmert, aber stabil, mit einem einfachen Hebeschloss und Metallklammern, mit denen man sie von der Innenseite aus verriegeln konnte. Augenblicklich bemerkte er, dass die Tür höchstwahrscheinlich offen war und er nur hinauszugehen brauchte, wenn er fliehen wollte. 110 Diesmal schüttelte er den Kopf, wenn auch nur sehr leicht. Obwohl ihm die Ohren klingelten, reichte das nicht annähernd aus, um das entfernte Schnarchen aus dem anderen Zimmer zu übertönen. Es mochten nur vier oder sechs Schnatterfratzen gewesen sein, die ihn hierher gebracht hatten, aber es waren noch andere dazu gestoßen. Kurz konzentrierte er sich und schätzte, dass dort draußen mindestens anderthalb Dutzend lauerten, und auch das nur, wenn sie alle schnarchten. Es hätten dreimal so viele Turekadein oder Kryalniri auf der anderen Seite der Tür sein können, und er hätte es nicht wissen können. Weder trug er Fesseln, noch war die Tür verriegelt. Das sprach gegen eine intelligente Führung der Aurolanen, doch sich darauf zu verlassen, wäre noch dümmer gewesen, als sich überhaupt von ihnen einfangen zu lassen. Er zog die Knie hoch und setzte sich gegen die Wand. Er lauschte angestrengt, ob er über dem Schnarchen noch andere Geräusche von draußen hörte. Es war eine Ewigkeit her, dass er an die Zeit vor der Eroberung gedacht hatte, jetzt aber kam die Erinnerung unaufgefordert. Er hatte sich früher schon einmal in Räumen wie diesem befunden. Auf Vorquellyn hatte es solche Wegstationen in der Wildnis gegeben. Jeder hatte sie benutzt, müde Reisende ebenso wie Maler oder Dichter auf der Suche nach Inspiration. Kleine Schlafkammern wie diese reihten sich um einen großen Gemeinschaftsraum mit einer Feuerstelle in der Mitte und einem offenen Dach, um den Qualm hinauszulassen. Und genug Mobiliar, dass man es sich in langen Nächten gemütlich machen konnte, indem man ums Feuer saß und Geschichten erzählte. Entschlossen hatte diese Nächte geliebt, lange bevor er seinen Exilnamen angenommen hatte. Er hatte es geliebt, durch das Land zu wandern, sich Geschichten auszudenken, sich Erzählungen in Erinnerung zu rufen. Gedichte zu schreiben. Ein Schauder überlief ihn. Er hatte vergessen, dass er jemals Gedichte geschrieben hatte. Nach dem Einmarsch war ihm das 111 so nichtsnutzig erschienen. Hätte er die Zeit, die er mit Poesie verschwendet hatte, genutzt, um zu lernen, wie man mit einem Bogen oder einem Schwert umging, so hätte er seine Heimstatt verteidigen können. Wäre er zur Stelle und vorbereitet gewesen, hätten sie die Aurolanen zurückschlagen können. Natürlich wusste er, dass das Blödsinn war, aber irgendwie glaubte er tief in seinem Innern trotzdem daran. Er fragte sich, ob die Schwierigkeiten, die er mit Will gehabt hatte, zum Teil darin begründet lagen, dass sich der Junge auch für einen Poeten gehalten hatte. Entschlossen hatte diese Beschäftigung aufgegeben, um sich Wichtigerem zu widmen, und dann musste er sehen, dass der Norderstett, die Rettung der Heimat, seine Zeit mit Gedichten und anderem Unsinn vertrödelte. Entschlossen stützte den Kopf in die Hände. Die Finger der rechten Hand berührten das feuchte Blut und verfolgten es zurück zu einer Wunde in der Kopfhaut. Für jeden halbwegs in Heilmagik Geübten wäre es ein Kinderspiel gewesen, sie zu schließen, doch auch das hatte Entschlossen nie gelernt. Noch eine Dummheit, für die ich jetzt bezahle. Er atmete tief ein und langsam wieder aus. Er stand vor einem einfachen Problem ohne Lösung. Irgendwann mussten ihn die Schnatterer entweder fesseln oder töten, und er konnte nichts dagegen tun. Wollte er entkommen, musste er diese Zelle verlassen und einen Weg mitten durch sie hindurch finden. Es genügte, wenn auch nur einer von ihnen Alarm schlug - und er musste davon ausgehen, dass mindestens einer noch auf war und Wache schob. Und sie würden ihn zerfetzen. Entweder ich bleibe hier und sterbe, oder ich gehe da raus und nehme so viele von ihnen mit, wie ich kann. Er vergnügte sich eine Weile mit dieser Vorstellung. Auch unbewaffnet konnte er sehr gut töten. Gestreckte Finger in die Kehle, eine Luftröhre eindrücken und einen Schnatterer ersticken. Sie an der Schnauze zu packen war schwierig, aber wenn es gelang, konnte man ihnen das Gesicht ganz leicht auf den Rücken drehen. Tritte konnten Rippen brechen und damit in 112
Lungenflügel bohren, und einen Schnatterer einfach gegen eine Wand oder Säule zu schleudern genügte schon, ihn erheblich zu verletzen. Nur galt das natürlich ebenso für ihre Krallen, wenn sie ihn trafen, selbst wenn es zufällig im Todeskampf geschah. Ein Schnattererbiss konnte ihm fetzenweise Fleisch aus dem Leib reißen. Wenn er nicht daran verblutete, holte er sich eine Blutvergiftung. Sie konnten ihn nur wegen ihrer Menge leicht packen, auf den Boden werfen und erdrücken - und all das, ohne dass sie irgendwelche Waffen einsetzten. Welch ein Unterschied bestand zwischen einem solchen Ende und den Heldenerzählungen, die ihm damals so gefallen hatten. Seine Basen Orakel und Siede hatten ihm erlaubt, so zu tun, als wäre er ein Held, der sie vor angreifenden Horden beschützte. Er duellierte sich mit Schatten und Phantomen, während sie lachten und ihm zujubelten. Siede war besonders gut darin gewesen, Grauen erregende Feinde zu beschreiben, die er todesmutig besiegen musste, natürlich nicht, ohne eine gefährliche Verletzung einzustecken. Orakel hatte dann so getan, als würde sie ihn heilen, damit er weiterkämpfen konnte. Das war eine sorglose Zeit gewesen, allein der Gedanke brachte ihn zum Lachen. Gibt es irgend jemanden, der nicht von seiner sorglosen Kindheit schwärmt? Es war eine Zeit, in der noch alle Möglichkeiten offen standen. Wenn er erst an Vorquellyn gebunden war, würde ihm die Heimstatt ihre Bedürfnisse mitteilen und er würde sie stillen. Wie alle jungen /Elfen hatte er das Leben gekostet und herausgefunden, was ihm gefiel, in der Hoffnung, dass Vorquellyn ihm ermöglichte, seine Leidenschaft zu leben. So war es vorgesehen, dass die Heimstatt dich auf die Beschäftigungen lenkte, in denen du dich am lebendigsten fühltest. Und jetzt ist das Töten meine Leidenschaft. Entschlossen fragte sich, was Vorquellyn jetzt aus ihm machen würde, aber bevor er diesen düsteren Pfad weiterging, unterbrach ihn ein leises Geräusch. Es war ein schwaches 113 Klopfen tief unten an der Tür. Zunächst war er sich nicht sicher, ob er es tatsächlich gehört hatte. Dann zwang er sich zur Aufmerksamkeit und ja, da war es wieder. Wieder klopfte es, gefolgt von einer müden, flüsternden Stimme. »Öffnen. Jetzt.« Entschlossen sprang auf, dann sank er benommen zurück auf die Knie. Er kroch zur Tür und griff nach dem Schloss, hob den Riegel leise aus der Halterung. Er öffnete die Tür und schaute nach unten, von wo er das Klopfen gehört hatte. Noch während sie aufschwang, sagte ihm der aus dem anderen Raum dringende Geruch, was ihn erwartete. Obwohl er also vorbereitet war, konnte er ein Aufkeuchen nicht unterdrücken. Qwc kniete auf dem Steinboden, alle vier Hände waren um seinen Speer geschlungen. Um ihn herum hatte sich eine Blutlache gesammelt. Der rote Lebenssaft färbte seine Flügel. Einer der Fühler klebte am Kopf. Der hing herab, das Kinn lag auf der Brust. Der kleine Körper des Sprijt arbeitete für jeden mühsamen Atemzug. »Musste hier sein.« Die Worte kamen gepresst und schmerzerfüllt. »Musste.« Entschlossen hob den Kopf und das Herz wurde ihm schwer. Oh Qwc, der Speer hat weit mehr durchbohrt als Winterbeeren. Sein Blick schweifte über den Gemeinschaftsraum. Über zwanzig Schnatterer lagen still und leblos auf dem Boden. Ein paar Schnauzen waren von Netzmasken verklebt, andere hielten ein zerfetztes Netz in den Krallen. In den kurzen Augenblicken, da es aus der Feuergrube aufflackerte, sah der Vorqaelf schwarzes Blut aus Ohren, Augen und Nasen rinnen. Manchmal lagen die Wunden zwischen Hals und Schulterbein, tiefe, nahezu senkrechte Löcher. Bei anderen waren die Schlagadern der Oberschenkel aufgerissen. Die Schnatterer lagen über den Raum verteilt und wurden kalt. 114 Ohne ein Wort nahm Entschlossen Qwc in die Arme und stand langsam auf. Er wartete, bis das Schwindelgefühl nachließ, dann wankte er in den Gemeinschaftsraum. Der Vorqaslf stieg vorsichtig über die Kadaver und machte einen Bogen um die Blutlachen. Er setzte den Sprijt auf eine Bank in der Nähe der Stelle, an der die Schnatterer Syverce und einen Beutel Klingensterne abgelegt hatten, dann suchte er eine Schüssel. Er schüttete das Wasser darin aus, ging er zur Zisterne der Wegstation und füllte sie neu. Er kam zurück zur Feuerstelle, holte mit einem Langmesser mehrere kleine Kohlestücke heraus und ließ sie in das Wasser fallen. Das Zischen hallte seltsam laut durch die Schlachthofszenerie. Entschlossen tauchte einen Finger in das Wasser, fand es warm genug, dann riss er einen Streifen von einer Decke und tauchte ihn ein. Langsam und sorgfältig wusch er den Sprijt. Er begann mit Qwcs Kopf, und als beide Fühler ordentlich abstanden, wurde sein Freund etwas lebhafter. Er schaute zu Entschlossen hoch. »Du bist sicher?« »Wir sind sicher, Qwc.« Entschlossen lächelte ihn an. »Ich habe gesehen, was du hier getan hast...« Qwc schüttelte sich. »Musste hier sein. Entschlossen muss frei sein.« »Das bin ich.« Der ^Elf tupfte das Blut von Qwcs winzigen Händen. »Qwc, du hattest keine Wahl.« »Das macht nicht besser.« »Nichts macht es besser, Qwc«, antwortete Entschlossen sanft. »Nichts außer der Dankbarkeit eines geretteten Freundes. Danke, Qwc. Ich hatte mich schon damit abgefunden zu sterben.« »Qwc beobachtet Entschlossen lange. Weiß, wo er zustechen muss. Von dir.« Die Stimme des Sprijt wurde
schwächer. »Du rettest dich, Entschlossen.« Noch einer, den ich ausgebildet habe, ohne es auch nur zu wollen. Er wischte Qwcs Körper nach unten hin ab. »Genug geredet, Qwc. Du hast mir geholfen, jetzt helfe ich dir. Und bald, mein kleiner Freund, werden wir gemeinsam der Welt helfen.« 115 KAPITEL ZWÖLF Markus Adrogans nahm den Helm ab und kratzte sich am Kopf. Jetzt, da er sich nicht mehr zu verkleiden brauchte, hatte er aufgehört, sich den Schädel zu rasieren, und das Haar wuchs nach. Es juckte. Das Kratzen half nur wenig, aber schon das war eine Erleichterung. Über die Lage in der Geistermark konnte man das nicht sagen. Von Logbai aus war seine Streitmacht hinter Caros Reitern als Abschirmung ostwärts gezogen. Sie brauchten nur drei Tage bis zur Grenze zum aurolanischen Herrschaftsbereich. Königin Winalia hatte Adrogans eine Legion Kundschafter mit auf den Weg gegeben, die sich als äußerst nützlich erwiesen. Zwar vermutete er, dass sie ihre Spielchen trieb, doch die Leute, die sie ihm geschickt hatte, waren sichtlich stolz genug und hasserfüllt gegen die Aurolanen. Adrogans hatte sie sorgfältig im Auge behalten, doch keiner unternahm irgendeinen Versuch, mit dem Feind Verbindung aufzunehmen oder einen Angriff auf Adrogans' Leute herauszufordern. Die Grenze war ziemlich deutlich markiert. Man hatte viele Bäume abgeholzt und die Stämme zu Schrägkreuzen verbunden, deren untere Enden fest im Boden verankert waren, während die beiden oberen Enden hoch in den Himmel ragten. Die Opfer, die kopfüber an ihnen festgebunden waren, hatten keinen Halt für Rücken oder Kopf. Während sie langsam erstickten, weil die inneren Organe auf die Lunge drückten, fielen ihre Köpfe in den Nacken und die Schultern scheuerten im Gelenk. Die Gekreuzigten kennzeichneten die Grenze nicht nur über die gesamte Länge, sondern auch in die Tiefe. Die Reihen der Kreuze erstreckten sich nicht nur nach Norden und Süden 116 soweit das Auge reichte, auch die ersten drei Meilen aurolanisches Gebiet, durch das sie ritten, waren voll von ihnen. Sie ragten auf jedem Hügel auf und standen in jedem Tal. Gyrky-me-Kundschafter bestätigten, dass es auch auf den Hügeln weit nach Norden und Süden nicht besser aussah. Das Erste, was die aufgehende Sonne am nächsten Morgen zeigte, war ein Meer von Gekreuzigten. Adrogans hatte erwartet, die Pein in Schultern und Hüften zu spüren, er hatte auf das Brennen erschöpfter Lungen in seiner Brust gewartet oder auf die Ausgedörrtheit der Kehle, die kaum noch schlucken konnte. Er stellte sich das Brennen von Schweiß in den Augen vor oder - die Götter mochten sich erbarmen - das harte Krächzen eines landenden Aasvogels, der nicht mehr warten wollte, bis sein Opfer starb, bevor er ihm mit rasiermesserscharfem Schnabel ein Stück Fleisch herausriss und anfing zu fressen. All das hätte er gespürt, hätte sich das alles in Okrannel zugetragen. Schmerz hätte ihm nichts davon erspart. Er hätte die aufsteigende Angst kennen gelernt, wenn die Atmung immer mühsamer und hektischer wurde. Er hätte das Brennen der Seile an den Gelenken gespürt. Und wenn sich irgendein Aasfresser entschieden hätte, dem Tod in diesem Fall etwas nachzuhelfen ... Aber so weit entfernt vom Shuskenland war die Macht der Yrün nur noch sehr schwach. In gewisser Weise war Adrogans darüber froh, denn es erleichterte ihm, sich zu konzentrieren. Er war nicht gezwungen, mit einem Teil seines Geistes die Forderungen seiner Herrin zu erfüllen. Nichts stand zwischen ihm und der Planung für den nächsten Angriff. Doch so sehr es ihm gefiel, einen klaren Kopf zu haben, so sehr vermisste er Schmerz auch. Sie erinnerte ihn ständig daran, dass seine Taten eine Menge seiner Leute in ihre Arme treiben würden. Sie würden für ihn kämpfen, für ihn sterben und großes Leid für ihn ertragen. Ohne Schmerz war er ständig in Gefahr, das zu vergessen und irgendwie hinzunehmen, dass Tote und Verwundete einfach zum Krieg gehörten. 117 Eine Tagesreise hinter der Grenze fanden die Kundschafter einen alten Turm, den die Aurolanen zwar instand gesetzt, aber nicht ausgebaut hatten. Er wurde von ungefähr einer Legion Kreaturen besetzt. Die Garnison bestand hauptsächlich aus Schnatterern, den Befehl führten jedoch ein paar Kryalniri und zwei besonders große Schnatterfratzen. In einem kleinen Stall waren Temeryxe untergebracht, und an dem Tag der Beobachtung verließ das Gebäude eine Streife, die auch bei Einbruch der Nacht noch nicht zurück war. So wie die Streife lief, ging es vermutlich darum, ein Verlassen des Aurolanengebietes zu verhindern, nicht das Eindringen von außen. Allein die Lage der Befestigung sorgte dafür, dass alle Holzkarawanen sie passieren mussten. Ohne zu wissen, wie viele Streifen unterwegs waren oder wo in der Umgebung sich andere Türme befanden, erschien es unmöglich, den Großteil der Streitmacht unbemerkt an ihr vorbeizuführen. Natürlich war es nicht schwer, den Turm zu belagern, doch reichte es, wenn nur eine Streife entkam und die Schiffswerft warnte. Die Aurolanen schickten sicher genug Entsatztruppen, um Adrogans' Vormarsch zum Erliegen zu bringen. Und wenn sich auch nur eine Arkantafal dort drinnen befindet, können sie schon Alarm schlagen, während wir unsere Truppen noch für die Belagerung aufstellen. Die Kampfmagiker unter seinem Befehl meldeten keine solchen Artefakte, damit gab sich Adrogans aber nicht zufrieden. Er musste davon ausgehen, dass die Garnison wie auch immer - zu magischer Kommunikation mit der Werft im Stande war, und einen Weg finden, dieses
Hindernis zu umgehen. Er schickte seine Kundschafter aus. Sie suchten nach Spuren der Streifen, ihren Routen und Hinweisen auf Regelmäßigkeiten in ihrem Einsatz. Als er Bericht erhielt, dass die Patrouillen offenbar von einem Turm zum anderen marschierten - denn es gab erkennbare Marschrouten in beide Richtungen -, legte er an diesen Strecken Hinterhalte, um die Streifen abzufangen und zu töten. Er ging davon aus, ein einzelner Tag Verspätung würde beim Eintreffen einer Streife noch keine allzu große 118 Unruhe auslösen. Alles, was darüber hinausging, brachte bestimmt Ärger. Dann setzte er den nächsten Teil des Plans in die Tat um, während sich die Kampfmagiker darauf konzentrierten, den Einsatz von Arkantafaln zu orten. Ein zerlumpter Trupp aus sechs von Königin Winalias Kundschaftern ritt unter Parlamentärsfahne zum Turm. Einer der großen Schnatterer fragte sie, was sie wollten. Die Scouts antworteten ihm, dass ein alcidischer General mit tausend Reitern in ihre Richtung unterwegs war und Königin Winalia sie geschickt hatte, um die Aurolanen zu warnen. Diese Neuigkeit war Adrogans bereit, Kytrins Kreaturen zu überlassen, da er ohnehin davon ausgehen musste, dass sich die Nachricht von Caros Vormarsch bis über die Grenze verbreitet hatte. Die Scouts wurden entlassen und ritten zurück nach Westen. Binnen einer Stunde galoppierten zwei Reiter auf Frostkrallen gen Osten. Damit wusste Adrogans, dass die Aurolanen wirklich keine Magik zur Nachrichtenübermittlung benutzten. Außerdem hielten die anderen Türme oder Wegstationen entlang der Straße somit höchstwahrscheinlich frische Reittiere für die Kuriere bereit. Er musste die Augen offen halten. Die Kampfmagiker bestätigten, dass keine Magik, die sie hätten erkennen können, zum Einsatz gekommen war, um mit anderen Stellungen tiefer im Osten in Verbindung zu treten. Adrogans ließ die beiden Kuriere ungehindert davonreiten. Durch die Lücke in den Patrouillen, geschaffen mittels der Hinterhalte, konnte er seine Streitmacht unbemerkt durch den Kordon der Wachtürme bringen. Anschließend ließ er Caros Kavallerie über deren Spuren reiten und sie verwischen, so dass die nächsten Streifen der Aurolanen zu dem Schluss kommen mussten, Caros Reiter hätten die Patrouillen getötet. Einen Tag, nachdem Winalias Scouts die Aurolanen vor Caro gewarnt hatten, erreichte dessen Horde den Turm. Caro näherte sich unter einer weißen Fahne und setzte den Kommandeur der Befestigung davon in Kenntnis, dass er Königin 119 Winalia abgesetzt habe. Er teilte ihm außerdem mit, dass die Holzlieferungen fortgesetzt, er aber alle Eindringlinge in sein Königreich sofort zurückwerfen würde. Danach ritten Caro und seine Männer zurück nach Westen. Aurolanische Kundschafter folgten ihnen, wurden aber schnell getötet. Zwei weitere Kuriere brachen mit der Bestätigung für die früheren Meldungen über Caro nach Osten auf und wurden durchgelassen. Adrogans ging fest davon aus, dass der aurolanische Befehlshaber, entweder ein Sullanciri auf der Werft oder ein örtlicher Kommandeur, schnell auf diese Nachricht hin handeln würde. Warum er sich da so sicher war, konnte er nicht recht in Worte fassen, doch er plante entsprechend. Die Straße nach Westen wand sich zwischen dem Turm und der nächsten Siedlung, die auch Wegstation für die Kuriere war, zwischen mehreren Bergen hindurch. Adrogans konnte sich glücklicherweise zwei Tage auf die Ankunft der aurolanischen Verstärkung für den Turm vorbereiten. Während dieser Zeit patrouillierten Caros Leute regelmäßig an der Grenze und leisteten sich mit aurolanischen Scouts Scharmützel, um die ganze Aufmerksamkeit nach Westen zu ziehen. Adrogans hatte nur zwanzig Draconellen zur Verfügung, die er in vier Gruppen aufstellte. Zwei Batterien von je zwei Draconellen platzierte er an einem langen Straßenstück. Sie waren westwärts ausgerichtet und mit Streuschrot geladen. Zwei weitere Batterien waren siebenhundert Schritt weiter westlich aufgebaut, zeigten jedoch nach Osten. Auf diese Entfernung hätten die West- und Ostbatterien einander treffen können. In der Mitte zwischen ihnen richtete er das restliche Dutzend Draconellen auf einem Berghang an der Südseite der Straße ein. Dort setzte er die besten von Agitares Geschützmannschaften ein, denn sie mussten ihre Waffen danach neu ausrichten, wo ihre Hilfe gebraucht wurde. Die Batterien im Westen und Osten konnten größtenteils so ausgerichtet bleiben und mussten nur schnell nachgeladen werden. Die Infanterie nahm auf der anderen Seite der Berge Aufstellung, jedoch so, dass sie die Draconellen unterstützen 120 konnte. Wenn der Feind sie ausschalten wollte, musste er von unten angreifen, und die Fußtruppen konnten ihn vor dem Ziel aufhalten. Auf dem Berghang gegenüber der Zentralbatterie postierte er die Gurolschen Felsenherzen, in der Hoffnung, dass sie den Mut besäßen, durchzuhalten, auch wenn die Draconellen in ihre Richtung feuerten. Viele Aurolanen würden versuchen, sich auf diesen Berg zu retten, und die Soldaten bekamen sicher alle Hände voll zu tun, sie aufzuhalten. Der Hinterhalt gelang beinahe zu leicht. Die Verstärkung bestand aus einem Regiment Infanterie. Die Schnatterer wurden von Kryalniri und den großen Schnatterern, die Adrogans bei sich Schnatterfürsten nannte, hart angetrieben. Sie hatten zwar einen kleinen Trupp als Kundschafter vorausgeschickt, doch es war offensichtlich, dass die Kommandeure vor der Ankunft an der Grenze nicht mit Schwierigkeiten rechneten. Die
Scouts passierten die gut versteckte westliche Batterie, und die Hauptstreitmacht erreichte die Feuerzone. Sobald der letzte Aurolane an der östlichen Batterie vorbei war, eröffneten die Draconellen das Feuer. Alle vier Geschütze feuerten der hintersten Schnattererlegion Kanister mit pflaumengroßen Kugeln ins Kreuz. Weiße Rauchwolken verrieten die Standorte der Batterien, doch das war gleichgültig, da die am nächsten stehenden Feinde zerfetzt wurden. Die eisernen Schrotsalven trafen mit ausreichend Wucht, um eine Schnattererreihe glatt zu durchschlagen und auch der nächsten noch Arme und Beine abzureißen. Blut, Knochensplitter und Eingeweide färbten die Straße. Sowie der Donner der Draconellen verklungen war, füllte entsetzliches Geheul das Tal. Wie zu erwarten, drehte sich die eine Hälfte in der Mitte um, wollte sehen, was hinter ihnen vorging, während die andere Hälfte die Flucht ergriff. Verwirrung und Zusammenstöße drängte die Truppen noch enger zusammen. Schnatterfürsten und Kryalniri brüllten Befehle, doch die wenigsten ihrer Soldaten befolgten sie. Hätte Adrogans ihnen die Zeit dazu gelassen, es wäre ihnen möglicherweise gelungen, für Ordnung zu sorgen, er dachte aber gar nicht daran. 121 Die Südbatterie spie Rauch und Metall in die wogende Masse der Schnatterer. Die nächstgelegenen Reihen wurden regelrecht zermahlen. Die Aurolanen hinter ihnen fanden sich unverhofft ohne Beine oder mit klaffenden Bauchwunden. Geköpfte wankten noch ein, zwei Pulsschläge mit aus dem Halsstumpf schießenden Blutfontänen herum, bevor sie umkippten. Die Schnatterfratzen, die wie durch ein Wunder überlebt hatten, gruben sich unter ihren sterbenden Artgenossen hervor und rannten vor der Qualmwolke davon, die langsam den Hang herab auf sie zutrieb. Dann donnerte die Westbatterie und schnitt wie eine riesige Sense durch die vordere Legion. Deren Standarte schwankte und fiel. Ein Schnatterfürst hob sie auf und stieß sie mit trotziger Geste in die Höhe. Er brüllte seine Truppen an, doch in den Schmerzschreien gingen die Befehle ungehört unter. Sterbende Schnatterer klammerten sich an ihn und zwangen ihn, sie mit dem Schaft der Standarte wegzustoßen. Die Ostbatterie gab eine neue Salve ab, dann schlug Feuer aus den Rohren der Südbatterie. Weitere Schnatterer wurden von dem Metallgewitter in Stücke gerissen. Überlebende krallten sich in den Berghang und stürmten höher, auf die Batterien zu und ebenso von ihnen fort. Bestrebt, nur schnell wegzukommen, bemerkten sie die Soldaten gar nicht, die nun auf sie warteten. Die Aurolanen, die dem glühenden Eisen entkamen, liefen in ebenso tödlichen kalten Stahl. Eine dritte Salve aus allen Draconellen beendete das grausame Werk. Ein leichter Südwind trieb den Qualm langsam davon. Adrogans - und mit ihm sämtliche Soldaten - starrte hinab auf eine mit Fellfetzen, Knochenmehl und gelegentlich einem noch zuckenden Körperglied gepflasterte Straße. Adrogans sah im zerschmetterten Brustkasten eines Schnatterfürsten ein Herz schlagen und aus dem Stumpf, wo der linke Arm der Kreatur gewesen war, spritzte im Rhythmus der Schläge das Blut. Dann versiegte der Strom und das schwerfällig pumpende Herz blieb ganz stehen. Was die Draconellen an einem Gebäude angerichtet hatten, 122 war die eine Sache gewesen. Zu sehen, welch ein Blutbad die Feuersäcke unter den Soldaten anrichteten, war eine andere. Aber dies hier war ein Anblick, der alles Dagewesene überbot. Vor diesem Hinterhalt war ein Gemetzel solcher Größenordnung den Göttern vorbehalten gewesen. Dies hier vor Augen, verstand er besser denn je, warum sich der Markgraf Draconis so standhaft geweigert hatte, das Geheimnis des Feuerdrecks preiszugeben. Adrogans schüttelte den Kopf. Und es gibt Monarchen, die würden nicht mit der Wimper zucken, wenn sie Männer und Trauen in einem solchen Blutmeer treiben sähen. Er schüttelte sich, dann wandte er sich von der Straße ab und zu Hauptmann Agitare um. »Deine Leute haben ein Lob verdient, Hauptmann.« »Danke, Herr General.« Das Gesicht des jungen Soldaten wirkte fahl. »Beim nächsten Mal werden wir uns noch besser schlagen.« »Da bin ich mir sicher, Hauptmann.« Adrogans strich sich mit der Hand über den Kopf. »Und die Vorstellung macht mir Angst.« 123 KAPITEL DREIZEHN Eirmenbrecht stöhnte innerlich, als er und seine Befehlskompanie um den Berg bogen. Er warf einen Blick nach rechts und sah Graf Wichterich den Anblick aufnehmen, der sich ihnen im Tal unter ihnen bot. Die Augen des Adligen weiteten sich kurz, dann kniff er sie berechnend zusammen. Wenn ich mich das nächste Mal um ihn kümmern muss, werde ich genau das wieder sehen. Die Straße führte hinab zu einer schmalen Brücke über einen kleinen, träge fließenden Fluss. Er schien nicht allzu tief, die Uferböschungen aber waren steil und der ganze Fluss zu breit, um mit dem Pferd darüber zu springen. Auf der Brücke wartete ein Trupp berittener Krieger unter dem Banner des Hauses Malvenstett. Ermenbrecht hielt Ausschau nach Baron Hallard Malvenstett, sah aber niemanden mit dessen langer weißer Mähne oder dem dichten Bart. Hinter den Reitern jedoch stand ein schwarz ausgekleideter Wagen. Er wurde von nur einem Pferd gezogen. Die Ladung ruhte auf einer ebenfalls schwarz verkleideten Bahre. Die Farbe stand in deutlichem Kontrast zum
weißen Zedernholz des Sargs, und Ermenbrecht brauchte sich nicht mehr zu fragen, wo sich der Baron befand. Jenseits der Brücke, zu beiden Seiten der Straße, waren quadratische Schanzen aufgeschüttet. Angespitzte Pfähle schmückten die sanften Böschungen der kleinen Wälle. Die Notwendigkeit, sich einen Weg durch diese Baumsperren zu suchen, machte einen durchschlagenden Kavallerieangriff auf die Schanzwerke unmöglich. Nicht, dass irgendein Reiter sein Pferd gegen sie geführt hätte, denn sie starrten vor Speeren und waren mit Soldaten voll besetzt. Hinter ihnen riegelten 124 weiter oben am Hang zusätzliche Baumsperren die Straße ab und eine zweite Schanzlinie zog sich über die Bergkuppe. Dranae ritt zwischen den Prinzen und Graf Wichterich auf. »Wie es aussieht, sollt Ihr hier aufgehalten werden. Möchtet Ihr, dass ich mich darum kümmere?« »Ein verlockendes Angebot, mein Freund, doch ich will es erst mit Gesprächen versuchen. Aber du solltest mich begleiten.« Der Prinz schaute sich zu Borghelm um. »Bindest du eine weiße Fahne an die Lanze, die du da hältst?« »Ja, Hoheit.« Der Knabe kam der Bitte nach, dann ritt er ein Stück vor die Befehlskompanie. Er hob die weiße Fahne dreimal, und zur Antwort hob man unter ihnen ebenfalls dreimal eine weiße Fahne. Borghelm schaute sich kurz um, dann ritt er Ermenbrecht, Dranae und Net voraus. Über ihnen segelte Preiknosery Eisenschwinge träge im Wind, Ermenbrechts Vierschüsser in den Händen. Mit einem Gyrkymu und einem Drachen als Leibwächter hatte Ermenbrecht nichts zu befürchten. Nur ein Narr hat vor gar nichts Angst. Sie näherten sich der Brücke im Schritt, was Ermenbrecht genug Zeit gab, um den großen Reiter zu erkennen, unter dessen Helm langes rotes Haar herausquoll. Der Baron hatte einen Sohn. Ermenbrecht war Sander Malvenstett schon begegnet, fand ihn aber eher unangenehm. Sander hatte den Eindruck erweckt, Ermenbrecht genauso tief zu verachten, wie er selbst König Swindger, doch der Baron war einer von Ermenbrechts treuesten Verbündeten gewesen, und so hatte Sander diese Verachtung für sich behalten. Der schlanke Adlige hob den Kopf und selbst auf zwanzig Schritt Entfernung jagte der Blick seiner kalten blauen Augen Ermenbrecht einen kalten Schauer über den Rücken. Auf zehn Schritt sah der Prinz die Waisenkerbe in Sanders Maske, die den Tod des alten Barons bestätigte. Ein so offener, kalter Hass und die Leiche auf dem Wagen konnten nur bedeuten, dass Baron Hallard erst kürzlich gestorben war. Und der neue Baron gab offenbar Ermenbrecht die Schuld daran. 125 Der Prinz hielt sein Pferd an und legte beide Hände auf das Sattelhorn. »Ich grüße dich, Vetter. Mein Beileid zu deinem Verlust.« Malvenstett spie aus. »Nenn mich nicht Vetter, Mörder. Mein Vater liegt dort im Sarg, kalt und tot deinetwegen. Du wirst unser Land nicht betreten, ohne einen Blutpreis zu zahlen, und es wird ein teurer Preis sein.« Ermenbrecht hob den Kopf. »Falls ein Blutpreis zu zahlen ist, werde ich ihn begleichen, ob teuer oder nicht. Doch du siehst mich im Nachteil. Erkläre mir, warum der Preis für deines Vaters Tod zu meinen Lasten geht.« Die Begleiter des Barons schauten sich an, Sander aber ließ den Blick nicht von Ermenbrecht. »Versuch gar nicht erst, den Unschuldigen zu spielen, Ermenbrecht. Du und deine Blutmasken, ihr habt hier genug angerichtet, uns grausam mitgespielt. Das Land erhebt sich gegen dich. Es reicht nicht, dass du gegen deinen Vater rebellierst. Jetzt führst du Invasoren in ein Land, das dich nicht sehen will, und du tötest die loyalen Söhne Oriosas, weil sie deine Machtergreifung nicht unterstützen.« »Ahh ja.« Ermenbrecht verschränkte die Arme. »Ich werde nicht den Unschuldigen spielen, aber ich habe keine Ahnung, worauf du anspielst. Sag mir, wer diese Blutmasken sind, und teile mir die Umstände mit, unter denen dein Vater gestorben ist.« Der Baron deutete an Ermenbrecht vorbei auf dessen Befehlskompanie. »Da, eine der Blutmasken reitet offen in deiner Begleitung.« Der Prinz schaute zurück, dann runzelte er die Stirn. »Rumbelo? Er ist Murosone, ein Ottermagiker.« »Mörder bleibt Mörder, ganz gleich, welchen Namen er trägt. Sie schleichen sich hier im Mittland herum, lassen die Schafe Fehlgeburten erleiden, die Milch sauer werden, Getreidekäfer über die Felder herfallen. Sie stehlen Kinder und vergiften Brunnen. Du gibst offen zu, dass sie Magiker sind, aber das wussten wir schon, und Otter ist ein passender Name für 126 sie. Sie halten sich versteckt und greifen aus dem Hinterhalt an, niederträchtig und bösartig.« »Und einer von ihnen hat deinen Vater ermordet?« Der Baron zögerte kurz, dann nickte er nachdrücklich. »Mein Vater hatte von den Valkenrittern und ihrem Verrat gehört. Er hat sein Volk beschworen, neutral zu bleiben und sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Er hat erklärt, dich nicht dabei zu unterstützen, wenn du deinen Vater stürzt, und dafür hast du ihn umbringen lassen. Und nun werde ich dafür sorgen, dass weder du einen weiteren Schritt im Mittland tust noch deine Armee.«
Hinter ihm nickten die Adligen, die er als Gefolge mitgebracht hatte. Ermenbrecht verzog das Gesicht. »Wie ist dein Vater gestorben?« Ein anderer Reiter, ein älterer Mann, den seine Maske als langjährigen Gefolgsmann des älteren Barons auswies, ergriff das Wort. »Mein Fürst Malvenstett wurde tot im Bett aufgefunden, allein und kalt, ohne eine Spur von Gewalteinwirkung. Er wurde durch Zauberei getötet, daran besteht nicht der mindeste Zweifel. Hätten ihn ehrbare Attentäter angegriffen, er hätte sie mit in den Tod genommen, sie vielleicht sogar an seiner statt geschickt. Eure Blutmasken haben sich auf Euren Befehl in die Burg geschlichen und ihn ermordet.« Der Prinz legte einen Finger an den Mund, dachte nach und trennte Tatsachen von Mutmaßungen, um die Lage beurteilen zu können. Baron Hallard war schon ein alter Mann gewesen, und selbst ohne vorherige Krankheit ließ sich nicht ausschließen, dass er plötzlich im Schlaf gestorben war. Sander ging davon aus, dass Ermenbrecht seinen Vater hatte umbringen lassen, weil der dagegen gesprochen hatte, sich ihm anzuschließen. Da der Baron sich aber keineswegs gegen ihn gestellt hatte, sondern zu Neutralität geraten hatte, wäre das eine reine Selbstgefälligkeit gewesen, und zudem eine ungeheure Dummheit, da sie genau die feindselige Haltung hervorrufen musste, der er sich jetzt gegenübersah. 127 Doch diese Blutmasken fand er höchst reizvoll. Magiker im Mittland für Ärger sorgen zu lassen, konnte sowohl eine Strategie der Aurolanen als auch eine seines Vaters sein. Von den Blutmasken angerichtete Verwüstungen hätten ausreichen können, Hallard Malvenstett von Nichteinmischung zu offener Feindseligkeit zu treiben. Falls der Baron gezögert hatte, sich in diese Richtung drängen zu lassen, nutzte es dem Feind ebenso, ihn umzubringen und Ermenbrecht als Drahtzieher hinzustellen. König Swindger wusste mit Sicherheit genug über Sander und dessen Abneigung, um sich auszurechnen, dass der neue Baron ganz von selbst zu der Überzeugung kommen würde, der Prinz habe Blut an den Händen. Das musste dem Feind enorm entgegenkommen. Ermenbrechts Hand kehrte auf den Sattel zurück. »Wo seid Ihr gewesen, mein Fürst, als Euer Vater starb?« Sander erstarrte. »Mein Vater hatte mich gebeten, in den Süden zu kommen und festzustellen, was du treibst.« »Hattest du Gelegenheit, ihm einen Bericht zu schicken? Was hast von uns gemeldet?« Der Baron winkte ab. »Das spielt keine Rolle, aber es hätte dir genutzt. Ihr habt das Land von Aurolanen gesäubert.« »Mit anderen Worten: Wir haben getan, was du tun wolltest, woran dich dein Vater jedoch gehindert hat?« Sander bewegte steif die Schultern. »Was zwischen mir und meinem Vater vorging, hat nichts mit dem Mord an ihm zu tun.« »Nein, das nicht, etwas anderes hingegen schon.« Ermenbrecht zeigte auf den Sarg. »Dein Vater hat dich nach Süden geschickt, damit du beobachtest, was ich tue, aber er hat dir nie den Befehl gegeben, mich aufzuhalten, oder?« »Nein.« »Also hat er nicht geglaubt, die Blutmasken seien meine Spitzel gewesen, oder?« »Nein, und diese Arglosigkeit ist Schuld daran, dass Sie ihn umbrachten, Mörder.« Borghelm senkte die Lanze. »Hütet Eure Zunge.« 128 Ermenbrecht schüttelte den Kopf. »Nicht, Borghelm.« »Aber Hoheit, er hat Euch schon zum dritten Mal beschuldigt, seinen Vater ermordet zu haben.« Der Blick des jungen Mannes wurde hart. »Ein Mal lässt sich das mit Trauer entschuldigen, ein zweites Mal lässt sich noch wegen seines Ranges hinnehmen, doch ein drittes Mal?« »Rechne es ebenfalls der Trauer an, Borghelm, und kehr zurück an meine Seite.« Der Prinz wartete, bis der junge Schmied gehorchte, dann wandte er sich wieder an Sander. »Dein Vater hat in seiner Weisheit zur Nichteinmischung aufgerufen, doch er hatte nichts dagegen, dass ich sein Land betrete, um den Feind zu vernichten. Darum geht es mir, und du weißt, dass dem so ist, weil Meredo hinter mir keineswegs in Flammen steht. Mein Vater sitzt weiterhin auf dem Thron. Alle Gerüchte über Thronraub sind Unsinn. Dein Vater mag mich nicht unterstützt haben, aber er hat sich mir auch nicht entgegengestellt, und mehr habe ich nie verlangt. Ihn zu ermorden hätte nur den Zorn heraufbeschworen, den du jetzt fühlst, und den Widerstand hervorgebracht, den ich jetzt sehe. Wenn du mich für klug genug hältst, Blutmasken ausgeschickt und deinen Vater ermordet zu haben, kannst du mich nicht gleichzeitig für so dumm halten, das außer Acht zu lassen.« Malvenstett schnaubte verächtlich. »Vielleicht bist du sogar noch schlauer. Du benutzt deine Blutmasken, um das Volk aufzurühren, du ermordest meinen Vater, um seinen Zorn auf dich zu ziehen, und dann benutzt du deine Hinterlist, um mich auf deine Seite zu ziehen. Ich bringe meine Leute mit. Meine Leute bringen die Mitte des Reiches mit, und damit die Auen und das Norrvestgau. Wie der Norden sich dreht, so folgt der Süden, und dein Vater flieht nach Saporitia.« Ermenbrecht neigte den Kopf nach rechts. »Ein faszinierender Gedanke, und durchaus nicht von der Hand zu weisen, bis auf einen Punkt. Ich habe nur Aurolanen bekämpft. Du weißt so gut wie ich, dass meine Angriffe die Aurolanen nur reizen. Die Truppen, die ich getötet habe, sind die Vorhut einer Armee. Es wird einen Krieg geben, hier. Lässt du mich passieren, wird 129 er in den Auen ausgefochten. Wenn nicht, läufst du Gefahr, dass er im Mittland stattfindet.«
»Wage nicht, mir zu drohen.« »Ich drohe dir nicht. Du bist bereits gefährdet, und du weißt es auch. Du hast gesehen, dass ich tat, was getan werden musste, und das hast du deinem Vater auch berichtet, nicht wahr?« Der Baron nickte. »Hätte er mir nur zugehört.« »Vielleicht tat er es.« »Wie meinst du das?« »Ich finde, es ist ganz klar. Möglicherweise ist dein Vater ganz natürlich entschlafen, weil er in dem Wissen, dass sein Reich endlich sicher vor den Aurolanen sein würde, loslassen konnte. Frei von dem Zwang, seinen Stolz zu opfern, und den deinen, um meinen Vater bei Laune zu halten und die Aurolanen gnädig zu stimmen. Und falls er wirklich ermordet wurde, könnte das geschehen sein, weil jemand eine Nachricht abgefangen hat, die er dir schickte, oder eine, die du ihm geschickt hast. Wie dem auch sei, die Nachricht brachte den Feind zu dem Schluss, dein Vater würde nicht länger neutral bleiben. Seine Ermordung würde, sofern man mir die Schuld dafür zuschiebt, die Lage zum Vorteil des Feindes wenden.» Sander Malvenstett rieb sich das Kinn. »Ich wäre ein Narr, würde ich deine Worte blind verwerfen.« »Ich wäre äußerst überrascht, falls du sie nicht lange und angestrengt überdenktest.« Ermenbrecht schaute sich zu seiner Befehlskompanie und den hinter ihr aufgebauten Truppen um. »Es ist schon spät. Mit deiner Erlaubnis werden wir hier unser Lager aufschlagen, während du nachdenkst.« Der Baron nickte. »Du wirst mir vergeben, wenn ich dir keine Gastfreundschaft anbiete.« »Natürlich. Aber ich bitte dich um ein Zugeständnis.« »Und das wäre?« »Ich habe dir einen Blutpreis für deinen Vater versprochen. Diesen Schwur will ich einhalten.« Der Prinz lächelte. »Während du nachdenkst, werde ich die Blutmasken-Ernte einbringen.« 130 KAPITEL VIERZEHN Raubtier, der Anführer des Grauen Nebels, war Orakel in die kleine Grotte gefolgt und hatte gehört, was sie über Entschlossen gesagt hatte. Kjarrigan hatte das Gefühl, sein Magen müsse sich umdrehen, als er es hörte, doch auf den Vorqaelfen mit den Saphiraugen schienen sie eine völlig andere Wirkung zu haben. Er schob das Langschwert zurück in die Scheide, dann schmierte er sich mit dem Ärmel einen Blutfleck auf die linke Wange. Seine blauen Augen wurden schmal, er sah von Kjarrigan zu Trawyn und dann zu dem alten /Eli, der im Netz der Wurzeln hing. »Was ist mit dem los?« Die Loqaelfe antwortete ihm. »Traumschwinge. Man sieht es an der Färbung seiner Haut. Er ist unberechenbar und gefährlich.« Raubtier deutete auf die Gürteltaschen. »Das sind die Kronenfragmente?« Trawyn nickte. »Ja. Das Lakaslin-Fragment und das Vorquellyn-Fragment.« Der Vorqaslf ging in die Hocke. »In Ordnung. Wir gehen vor wie folgt: Wir töten den /Elf ...« »Nein!« Kjarrigan schob sich zwischen den /Eli und Raubtier. »Du wirst ihn nicht umbringen.« »Halt den Mund, Junge.« Raubtier drehte sich zu Trawyn um. »Ihr habt gesagt, er sei gefährlich. Ich bin dafür, dass wir ihn umbringen und die Gefahr beseitigen. Dann nehmen wir die Bruchstücke und gehen zurück nach Süden. Unsere Hauptaufgabe ist es zu verhindern, dass Kytrin sie bekommt.« Trawyn nickte. »Das sehe ich genauso, aber wir töten den Vorqeelf nicht.« 131 Orakel nickte. »Dieser Vorqaelf ist der Schlüssel zum Corijes auf Vorquellyn. Wir brauchen ihn, um den Norderstett zu retten.« Die Prinzessin winkte ab. »Das mag sein, aber das ist im Augenblick von zweitrangiger Bedeutung.« Orakel schloss die Augen. »Falls wir den Norderstett nicht bald erreichen, werden wir ihn für immer verlieren. Er ist, wo er sein muss, um die Prophezeiung zu erfüllen. Wir müssen zu ihm, oder alles war vergebens.« Raubtier lachte laut auf. »Zu versuchen, den Norderstett zu erreichen, ist Wahnsinn.« Kjarrigan blieb einen Augenblick lang der Mund offen stehen. »Aber ihr seid den ganzen Weg von Yslin gekommen, um Entschlossen zu helfen.« »Siehst du ihn hier irgendwo?« Raubtier schnaufte. »Es spielt ohnehin keine Rolle. Selbst Entschlossen würde zustimmen, dass sich die Dinge geändert haben.« Kjarrigan runzelte die Stirn. »Nein, das würde er nicht. Er wollte gar nicht hierher zu den Fragmenten. Er wollte nur nach Vorquellyn.« Raubtier knurrte ihn an. »Ich habe gesagt, du sollst den Mund halten, Kleiner. Hier unterhalten sich Erwachsene.« Das Gift in seiner Stimme ließ Kjarrigan zurücktaumeln. Er trat mit den Fersen gegen das Wurzelnetz und wedelte hektisch mit den Armen - vor Angst, zu stürzen. Schließlich jedoch konnte er das Gleichgewicht halten. Der junge Magiker wurde rot und erwartete, dass ihn die Hilfen weiter anherrschten. Sie beachteten ihn aber überhaupt nicht. Sie wechselten sogar ins Elvische. Das war eine schwere Beleidigung. Sie behandelten ihn, als gäbe es ihn gar nicht. Für sie war er ohne Bedeutung. Seine Meinungen und Gefühle, seine Gedanken und Einsichten waren
überflüssig. Kjarrigan zitterte und schlang die Arme um sich. Ohne Entschlossen fühlte er sich furchtbar allein. Sicher, Bok und Rym waren noch da, doch der Drache blieb in seiner Kiste, und der urZreö hockte in den Schatten und schwieg. Selbst Orakel war 132 verstummt, während Raubtier und Trawyn eine Vereinbarung darüber aushandelten, wie sie die Macht in der Gruppe unter sich aufteilen konnten, um sie zurück in den Süden zu führen. Kjarrigan ließ den Kopf hängen. Es tut mir Leid, Entschlossen. Ich habe versagt. Er bekam eine Gänsehaut. Orla, Will, jetzt Entschlossen, und mit ihm Kräh und Orakel, selbst Alexia. Er hatte sie alle enttäuscht. Diejenigen von ihnen, die nicht mehr lebten, waren in den Kampf gezogen, in der Hoffnung, dass es diese Gruppe schaffte, Kytrin zu vernichten, damit sie ihre Truppen für immer zerschlagen konnten. Er wusste, dass es das war, was sie tun sollten, aber ohne Entschlossen fiel alles auseinander. Dann traf es ihn: Entschlossen hatte ihm die Verantwortung übertragen. Kjarrigan wusste nicht, was er tun sollte, aber Entschlossen hätte es gewusst. Der junge Magiker runzelte die Stirn. Was würde Entschlossen tun? Bei dem Gedanken verschwand das Stirnrunzeln und machte einem Lächeln Platz, wenn auch nur einem dünnen. Er konnte Entschlossens Silberaugen funkeln sehen und seine Hand, die sich um Raubtiers Nacken schloss. Er würde Raubtier zurechtstauchen und die Prinzessin einschüchtern, und danach würde alles so weitergehen, wie es weitergehen musste. Entschlossen war eine Naturgewalt, und genau das war jetzt nötig. Kjarrigan ballte die Fäuste, als Raubtier sagte: »Dann ist es beschlossen. Wir nehmen die Bruchstücke und ...« »Nein! Nem/»Kjarrigan herrschte sie mühelos auf /Elvisch an. »Hier ist gar nichts beschlossen, bis ich einverstanden bin. Entschlossen hat mir die Verantwortung für diese Gruppe übertragen. Wir gehen nach Vorquellyn. Wir werden Will erst retten, und dann werden wir Kytrin töten.« Raubtier drehte sich langsam um und starrte Kjarrigan mit saphirblauen Augen an, während seine Finger mit einem Dolch spielten. »Halt den Mund oder ich verpasse dir einen zweiten.« Was würde Entschlossen tun? Kjarrigan schnaubte verächt133 lieh, dann machte er eine beiläufige Handbewegung. Der Spruch traf Raubtier hart gegen die Brust und schleuderte ihn rückwärts in einen Pulk Graunebler. Sie gingen allesamt zu Boden, Arme und Beine verschlungen und wild fluchend. Kjarrigans Blick wanderte weiter zu Trawyn. »Bei allem gebotenen Respekt, Prinzessin, ich mache es mit Euch genauso. Nach seinen Maßstäben und den Euren mag ich ein Kind sein, aber Entschlossen fand mich alt genug. Ihr werdet nicht nach Süden gehen. Wir ziehen nach Norden, nach Vorquellyn.« Trawyn musterte ihn nachdenklich. »Du wirst uns nicht aufhalten, falls wir gehen wollen.« »Ach nein?« Er griff hinter sich und betastete das Wurzelnetz. »Ich habe die Schutzzauber aufgehoben. Ich kann sie wiederherstellen. Hier geht niemand.« Ein Wurfdolch traf ihn an der rechten Schulter und prallte vom Drachenbeinpanzer ab. Kjarrigan schaute sich zu Raubtier um, der auf dem Boden hockte. »Das war's wohl nicht. Ist dir klar, wie dumm das war, oder muss ich dich bestrafen?« »Ich werde dir nicht nach Vorquellyn folgen.« »Doch, das wirst du.« Kjarrigan hob die rechte Hand. Er ballte sie zur Faust und die Graunebler zuckten zusammen. »Ihr werdet mir folgen und mir helfen, weil wir euch eure Heimstatt zurückholen. Ihr habt Yslin verlassen, weil ihr fandet, es sei an der Zeit, etwas Sinnvolles zu tun. Ihr habt ein großes Opfer für ein großes Ziel gebracht, und jetzt wollt ihr Schluss machen, weil ihr ein kleineres Ziel gefunden habt und das Opfer anfängt, unbequem zu werden? Ihr habt wunde Füße, also geht ihr heim? Kein Wunder, dass echte JElien euch für Kinder halten.« Er öffnete erneut die Hand und ließ sie wieder sinken. »Sicher, gegen Kytrin zu kämpfen macht keinen Spaß, aber habt ihr euch ernsthaft eingebildet, Krieg würde Spaß machen? Ihr solltet mal an eure Eltern denken, die von Vorquellyn vertrieben wurden oder dort gestorben sind. Was ihnen zugestoßen ist, war auch kein Spaß. Falls sie noch hier 134 wären, würde es ihnen ganz genauso gehen wie diesem Burschen hinter mir, der sich in einen Rausch flüchten muss, weil ihn der Schmerz eures Quellyn wahnsinnig macht. Ihr wollt, dass Kytrin das allen anderen auch antut? Ihr wollt sie das allen anderen einfach antun lassen? Wie weit könnt ihr laufen? Jedenfalls nicht weit genug. Werden einige von uns sterben? Ja, ganz ohne Zweifel, so wie Entschlossen. So wie Will. So wie Orla und Lombo. So wie die Tausenden, die in Sebtia und Muroso abgeschlachtet wurden. Vielleicht habt ihr keinen Stolz. Vielleicht habt ihr keinen Mut. Vielleicht habt ihr keine Hoffnung. Vielleicht wird es Zeit, dass ihr ein Quäntchen davon findet, denn wenn ihr von hier fortgeht, dann geht ihr in Wahrheit nicht, sondern ihr kriecht. Ihr kriecht auf dem Bauch davon, bereit, Kytrin die Stiefel zu lecken. Und alles, was es euch einbringen wird, ist ein Tritt in die Fresse.« Kjarrigan wirbelte zu Trawyn herum. »Und was Euch betrifft, vielleicht seid Ihr nur müde. Vielleicht sehnt Ihr Euch nach einer Dosis Traumschwinge, um Trost zu finden. Ihr wisst so gut wie ich, dass Kytrin sterben muss, wenn Ihr nicht wollt, dass es Loquellyn so ergeht wie Vorquellyn. Wir bringen diesen /Elf gen Norden nach
Vorquellyn, holen Will und retten nebenbei auch Loquellyn.« Die Loqaelfe hob den Kopf. »Ich habe dir bereits erklärt, er wird eine Gefahr für uns sein. Du hast noch nie jemanden gesehen, der unter Traumschwinge-Entzug leidet. Ich schon. Er könnte uns alle mit einem Albtraum töten. Wenn wir eine Woche brauchen, um Vorquellyn zu erreichen, könnte er frei genug sein, um den Corijes zu öffnen. Aber mit ihm werden wir nie ankommen. Und wenn wir ihn berauscht halten, nützt er uns nichts. Wie willst du diese Aufgabe lösen?« »Oh, die brauche ich nicht zu lösen.« »Nicht?« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich bin ganz zufrieden damit, hier zu bleiben, denn mit ihm zu reisen bedeutet den Tod. Ich würde sagen, die Aufgabe musst du lösen, Kjarrigan.« »Ich brauche sie nicht zu lösen, weil sie schon gelöst ist.« 135 Kjarrigan lächelte und wob einen Zauber. »Kytrin hat sie gelöst. Wenn er allein bleiben muss, bis er wieder bei Verstand ist, dann wird er halt allein gelassen.« Der Zauber, den Kjarrigan auf den Vorqaelfen anwandte, war derselbe, den Kytrin gegen ihn eingesetzt hatte, wenn auch mit ein paar Abwandlungen. Der magische Kokon, der den Äil( einschloss, absorbierte alle Zauber, die er einsetzte, schnitt ihn aber nicht völlig von der Quelle der Magik ab. Außerdem verwob Kjarrigan einen Öffnungsmechanismus mit in den Zauber, der mehrere logische Probleme umfasste. Er hoffte, dass sie für den Traumschwinge-Esser unlösbar waren, solange er nicht klar denken konnte. Die Vorqaelfen waren zwar wild und ungehobelt, doch sie fürchteten Kjarrigans Macht. Insgeheim glaubte er, dass ihnen der Drachenbeinpanzer noch mehr Respekt einflößte. Solange sie aber taten, was er ihnen sagte, war ihm egal, warum. Trawyn schien von seiner Handhabung des Traumschwinge-Entzugs überrascht, hielt jedoch Wort und erklärte sich bereit, ihn zu begleiten. Sie schnitten den /Elf aus dem Netz und packten ihn in Wurzelwerk und mehrere Decken. Der Graue Nebel baute eine Trage für ihn, und seine Mitglieder wechselten sich dabei ab, ihn zu tragen. Der /Elf machte nicht den Eindruck, als könne er sonderlich schwer sein, doch sie brummten und grummelten, dass man glauben könnte, er bestünde gänzlich aus Granit. Seine ständigen Ermahnungen, still zu sein, gefielen den Grauneblern gar nicht, aber sie gehorchten, weil selbst sie die Spuren von Schnatterern bemerkten. Hauptsächlich gehorchten sie seinen Befehlen aber deshalb, weil er sich bei jeder Schwierigkeit fragte, was Entschlossen an seiner Stelle tun würde, und dann nach Kräften dasselbe tat. Er versuchte, niemanden dabei zu sehr zu verletzen, manche der Graunebler aber waren für Vernunft nicht zugänglich. Er gewöhnte sich an, sie hoch in die Luft zu schleudern und durch die Baumkronen zurück auf den Boden stürzen zu lassen, eine 136 Disziplinierungsmaßnahme, die schnell den Beinamen >Wipfeltanzen< erhielt. Nur bei einem Vorqaelf waren zwei Tanzeinlagen nötig. Doch auch wenn Kjarrigans deutliche Machtbeweise einschüchternd wirkten, spürte er doch die zunehmende Feindseligkeit. Qwcs Verschwinden machte Kjarrigans Aufgabe noch schwerer. Der Sprijt hatte die Gabe gehabt, selbst in der schwierigsten Lage die Stimmung zu heben. Der Marsch nach Norden war eigentlich viel leichter als der Weg nach Loquellyn, da das Gebirge zum Meer hin abfiel und der üppige Regenwald Schatten spendete, ebenso wie Wasser und sogar essbare Blumen sowie erste Samen und Beeren. Trotzdem konnte nichts von alledem dem Murren der Graunebler Einhalt gebieten und an der Küste des Kreszentmeeres kam es schließlich zur Auseinandersetzung. Kjarrigan war bester Hoffnung, als sie eine Bucht erreichten, in der ein aurolanisches Schiff ankerte. Ein schneller Zauber ließ alle an Bord in Schlaf fallen. Der Graue Nebel schwärmte über den Einmaster, tötete die Crew und warf sie dann über Bord. Kjarrigan, Orakel, Bok, Rym, Trawyn und der Schläfer blieben während der Übernahme des Schiffes an Land. Nach dem erfolgreichen Angriff gingen sie ebenfalls an Bord. Ein paar Vorqaelfen holten den Laufsteg ein, andere schlössen die kleine Gruppe ein, während Raubtier vom Ruderdeck auf sie herabschaute. »Es gibt eine Planänderung. Wir segeln nach Süden.« Kjarrigan schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass das nicht stimmt. Ich werde es nicht zulassen.« »Was willst du tun, Kjarrigan? Wirst du das Schiff leckschlagen? Nein, natürlich nicht.« Raubtier stolzierte über ihnen auf und ab. »Ich habe dich ertragen, weil es meinen Plänen entgegenkam, nach Norden zu ziehen. Wären wir nach Süden marschiert, so wären wir in größerer Gefahr gewesen. Aber jetzt haben wir ein Schiff und können mit den Fragmenten nach Yslin. Und du wirst uns nicht daran hindern, denn allein kannst du dieses Schiff nicht segeln.« 137 Kjarrigan starrte ihn an. »Du kannst jetzt nicht umdrehen, Raubtier.« Er deutete nach Norden. »Wir sind schon so nahe an Vorquellyn.« »Zu nahe.« Der Vorqaelf schüttelte den Kopf. »Als ihr das Lakaslin-Fragment nach Loquellyn brachten, haben euch die Loqaelfen nicht erlaubt, es nach Festung Draconis mitzunehmen, weil die Gefahr bestand, dass Kytrin es euch dort stehlen könnte. Und jetzt willst du zwei Fragmente auf eine Insel bringen, die ihr seit mehr als einem Jahrhundert gehört? Das ist doch offensichtlich völlig verrückt. Die Loqaelfen würden es dir nicht gestatten, und ich werde es auch nicht.«
Kjarrigan schüttelte den Kopf. »Das einzige Ziel, auf das dieses Schiff zusegelt, ist Vorquellyn. Verlass dich darauf.« »Leere Drohungen, Kjarrigan.« Raubtier verschränkte die Arme. »Der einzige Weg, uns an der Übernahme zu hindern, ist, uns umzubringen. Und das tust du nicht. Töten ist nicht deine Berufung.« »Seine vielleicht nicht, aber meine.« Raubtier wirbelte zu dem Sprecher herum. »Du bist tot.« »Nein, ich fühle mich nur so.« Entschlossen erwischte Raubtier mit einer Geraden an der Schläfe. Der Hieb schleuderte den kleineren Vorqeelfen gegen das Steuerrad des Schiffes. Er sank zu Boden, blieb jedoch mit den Armen hängen und dann ohnmächtig in halb sitzender Haltung liegen. Entschlossen schüttelte die Hand aus und rieb sich die Fingerknöchel. Er war völlig durchnässt, nachdem er zum Schiff herausgeschwommen und an der Ruderpinne hochgeklettert war. Nach einem kurzen Moment des Schweigens glitt sein Blick über die Graunebler. »Wir segeln nach Vorquellyn. Bewegung.« »Wartet.« Orakel trat vor. »Bevor wir ablegen, müssen wir Tagostscha Opfer bringen, damit er uns eine sichere Überfahrt gewährt.« Entschlossen nickte. »Ich werf ihm Raubtier zu.« »Opfer, Entschlossen. Nicht etwas, das du sowieso loswerden willst.« Der silberäugige Vorqaelf zuckte die Achseln. »Die Schnat138 terer haben mir außer Syverce kaum etwas gelassen. Ich habe nichts, was ich ihm anbieten kann.« »Aber ich.« Kjarrigan zog den Tornister vom Rücken und wühlte darin herum. Er zog einen schlanken, in Tuch gewickelten Zylinder heraus. Er löste die Schnüre, dann schälte er den Stoff von einem langen, schlanken Kristall mit Goldfassungen an beiden Enden. Die Fassungen waren mit Edelsteinen besetzt. Einige Graunebler keuchten auf, als sie ihn sahen, und Habgier leuchtete ihnen aus den Augen. »Ich werde ihm das hier geben.« Entschlossen schüttelte den Kopf. »Das ist zu wertvoll.« »Was es um so geeigneter macht. Ich habe dieses Ding von den urSreiöi erhalten, als Dank für meine Hilfe in einer wichtigen Angelegenheit. Genau das wünschen wir von Tagostscha: Hilfe in einer wichtigen Angelegenheit, also passt das Opfer.« Den Kristallstab in der ausgestreckten Hand, ging er zum Bug des Schiffes. Tagostscha, der Weirun des Kreszentmeeres, war von allbekannter Unzuverlässigkeit und gelegentlich sogar bösartig. Fischer und Kauffahrer machten ihm regelmäßig Wein oder Gold zum Geschenk, bevor sie zu einer Seereise aufbrachen, in der Hoffnung, ihn gnädig zu stimmen. Selbst die Magiker Vilwans, die Götter eher verachteten, besänftigten Tagostscha mit Geschenken, bevor sie die Insel verließen. Kjarrigan lächelte. »Tagostscha, diesen Schatz habe ich aus den Tiefen Bokaguls hergebracht. Bitte gewähre uns eine sichere Reise.« Er zog dem Arm zurück, dann schleuderte er den Stab hinaus in die Dunkelheit, wo er mit einem lauten Platschen versank. Nach ihm brachten die Graunebler einer nach dem anderen ihre Opfer. Keiner von ihnen besaß etwas von ähnlichem Wert, wie ihn der Kristallstab hatte, aber Münzen, ein paar Ringe, mehrere Messer und ein Dutzend Schnattererfelle versanken in den Wellen. Entschlossen schnitzte einige aelvische Worte auf ein Stück Holz, das er von unter Deck geholt hatte, und warf es in die Nacht. Kjarrigan blickte mit hochgezogener Augenbraue zu ihm auf. »Was hast du ihm angeboten?« 139 »Dutzende von Schnatterern, die ich ihm in die Arme zu treiben gedenke.« Auch Trawyn schrieb auf ein Stück Holz und warf es in die Nacht. »Es liegen Schutzzauber über der Bucht von Rellaence, die ihn zurückhalten. Ich werde sie entfernen lassen.« Qwc, der erst auf das Schiff geflogen war, nachdem Entschlossen Raubtier ausgeschaltet hatte, landete auf dem Masttopp und hob seinen Speer über den Kopf. »Deins. Qwc fertig damit.« Der silberne Speer wirbelte durch die Luft und versank beinahe lautlos im Wasser. Bei weitem das ungewöhnlichste Geschenk bot Orakel dem Weirun an. Sie ließ einen Eimer an einem Seil ins Meer und holte ihn mit Wasser gefüllt zurück. Sie tauchte den Kopf hinein und sprach - oder zumindest nahm Kjarrigan das an, denn es blubberte gewaltig -, dann schüttete sie das Wasser zurück. Sie wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht ab, weigerte sich aber, etwas anderes über ihr Geschenk zu verraten als: »Eine Zukunftsvision, mehr nicht.« Entschlossen schaute kurz aufs Meer hinaus, dann nickte er. »Dann sind wir jetzt wohl bereit. Auf die Ruderbänke.« Die Graunebler gehorchten und setzten sich an die Riemen. Entschlossen, Bok und Kjarrigan holten den Anker ein, während Trawyn über Raubtier stieg und das Ruder nahm. Entschlossen deutete auf einen Stern, der über dem Horizont funkelte. »Haltet auf Plenariath zu, dann sind wir bald genug zu Hause.« 140 KAPITEL FÜNFZEHN Ich habe nicht mehr geglaubt, dich je wiederzusehen.« Sayce sagte es kaum lauter als mit einem Flüstern, aber die Bemerkung traf Isaura wie ein Dolch ins Herz. Sie hatte sich keine zwei Wochen zuvor zum ersten Mal mit
der Südländerin unterhalten, und Isaura hatte ihr jeden Tag das Essen gebracht. Sie hatten ein wenig geredet und Sayce war allmählich mutiger und sogar aufdringlich geworden. Das war eine ganz neue Erfahrung für Isaura, und es hatte ihr gefallen. Dann, vor knapp einer halben Woche, hatte ihre Mutter plötzlich einen furchtbaren Wutanfall bekommen. Isaura hatte nicht gewusst, was sie tun sollte. Ferxigo hatte sie aufgefordert, sich der Imperatrix ständig zur Verfügung zu halten, während die Sullanciri nach Süden aufbrach, um Aurolans Verteidigung zu befehligen. Weiter erfuhr Isaura nichts, aber ein Rückschlag im Süden war die einzig denkbare Erklärung. Ihre Mutter war nicht annähernd so wütend gewesen, als Okrannel verloren ging, also handelte es sich hier mit Sicherheit um eine unerwartete Wendung. Isaura hatte Sayce nicht mehr besuchen können. Hlucri hatte dafür gesorgt, dass die Murosonin ihr Essen bekam und genug Decken hatte, um sich warm zu halten, aber in den letzten sechs Tagen waren Sayces Ketten nicht gelöst worden und sie hatte ihre Zelle auch nicht mehr verlassen dürfen, nicht einmal gefesselt. Isaura legte ihr den Arm um die Schultern. Sie fühlte, wie die Frau unter dem Reifreißermantel zitterte. »Ich wollte eher kommen, aber meine Mutter hat mich gebraucht.« Sayce sprach leise, während sie neben Isaura durch die 141 Gänge der Burg wanderte. »Es ist etwas geschehen, nicht wahr?« Isaura nickte. Sie hatte sich die Sache aus dem Gemurmel ihrer Mutter, von dem sie in jüngster Zeit viel zu viel hörte, zusammengereimt. Kytrin verbrachte die meiste Zeit in den obersten Geschossen des Palasts, wo sie an Zaubern arbeitete, oder tief in den Eingeweiden der Erde, wo sie die Oromisen besuchte. Isaura hatte sie auf einem dieser Besuche begleitet und Stunden damit zugebracht, ihrer Mutter im Arkanorium zuzuhören. Weder das Erstere noch das Letztere hatten zu ihrem Wohlbefinden beigetragen, und beides hatte Zweifel an der geistigen Gesundheit ihrer Mutter geweckt. Isaura war klar, dass sie Sayce besser nichts über den Krieg erzählte, und ganz besonders nichts, was auf die Schwierigkeiten der Aurolanen hindeutete. Es wäre grausam gewesen, der Frau falsche Hoffnungen zu machen. Ein zeitweiliger Rückschlag konnte den Siegeszug ihrer Mutter nicht ernsthaft gefährden. Am Ausgang des Krieges hatte Isaura keinen Zweifel, doch sie brachte es nicht über sich, Sayce die Hoffnung auf ein anderes Ende zu nehmen, erst recht jetzt nicht, wo sich die Prinzessin ohnehin schon einsam und verlassen fühlte. So ähnlich wie ich. Isaura senkte die Stimme, obwohl sie wusste, dass Hlucri sie trotz des Höflichkeitsabstands hören würde. »Eine Sullanciri meiner Mutter ist gefallen. Ungefähr zur selben Zeit ist das Heer einer anderen in Saporitia aufgerieben worden. Es musste sich zurückziehen und wird zu Nefrai-keshs Truppen in Muroso stoßen.« Sayce erstarrte bei der Erwähnung ihrer Heimat. »Es tut mir Leid.« »Das tut es eigentlich nicht, Isaura, das weiß ich. Es ist schon gut.« Die kleinere Frau wandte den Kopf und lächelte Isaura aus der Pelzkapuze dünn an. »Ich würde dir gern antworten, dass mir der Verlust einer Sullanciri für deine Mutter Leid tut, 142 aber das wäre gelogen. War die Dunkle Lanzenreiterin eine Freundin von dir?« Was war sie für mich? Myral'mara hatte sich immer abgesondert, noch mehr als die anderen Sullanciri, vielleicht mit Ausnahme der untoten. Die pflegten überhaupt keine Gespräche oder geistreiche Mitteilungen. Doch Myral'mara war in Isauras Gegenwart immer melancholisch gewesen und ihr - so weit irgend möglich - aus dem Weg gegangen. Isaura hatte dieses Verhalten erwidert, und obwohl sie erwartet hätte, der Sullanciri damit einen Gefallen zu tun, schien sie Myral'maras Schmerz so nicht zu lindern, sondern noch zu steigern. »Ich kannte Myral'mara, doch nicht sehr gut. Mit Ausnahme Hlucris ist keiner der Sullanciri meiner Mutter das, was du als freundlich bezeichnen würdest. Nefrai-kesh ist immer nett zu mir und bringt mir Geschenke.« Isaura zog einen Handschuh aus und zeigte ihr den Saphirring, den er aus Oriosa mitgebracht hatte. »Den habe ich von ihm bekommen. Er sagte, die Königin von Oriosa wollte, dass ich ihn bekäme.« Sayce schüttelte sich. »Du weißt, dass er sie umgebracht hat?« »Umgebracht?« »Er hat ihr den Kopf von den Schultern gedreht und ihn ihrem Sohn Swindger in die Hände gelegt.« Die Murosonin deutete mit einer Kopfbewegung auf den Ring. »Den muss er ihrem Leichnam abgenommen haben, um ihn dir zu schenken. Aber vorher hat er ihn gesäubert.« Isaura starrte den Ring an und sah einen winzigen Blutfleck. Obwohl sie wusste, dass es unmöglich war, fühlte sie beinahe, wie unter dem Stein Blut hervorfloss und ihre Hand mit einem warmen, klebrigen Film überzog. Das kann nicht sein. Oder doch? »Du musst dich irren. Er hat ganz klar gesagt, dass sie es so wollte.« Sayce seufzte. »Du überraschst mich.« »Wie das?« »Du bist Kytrins Erbin. Du befehligst hier so viele Untergebene und trotzdem bist du erstaunlich einfältig. Warum sollte 143 sie dir den Ring zum Geschenk machen, wenn niemand auch nur etwas von deiner Existenz ahnt? Hätte
irgendjemand gewusst, dass Kytrin eine Erbin hat und dass Geschenke dein Wohlwollen kaufen könnten, hättest du hier einen Karawanenstau, weil dich alle mit Reichtümern überhäufen wollten, wie sie kein Auge je geschaut hat. Und warum sollte er sie ermorden, wenn sie dir doch den Ring angeboten hat?« »Woher weißt du, dass er das getan hat?« »Es gab Zeugen, und er ist ein Sullanciri. Beides reicht als Erklärung aus.« Die tonlose Endgültigkeit dieser Antwort ließ Isaura einen Schauder den Rücken hinabgleiten. Sie betrachtete den Ring noch eingehender und überlegte, ob sie einen Zauber sprechen sollte, um festzustellen, ob der Tod der Königin Spuren an dem Ring hinterlassen hatte. Sie hätte ihn einsetzen und ein für alle Mal herausfinden können, ob Sayce die Wahrheit sprach, aber sie wusste bereits, welches Ergebnis der Zauber haben würde. Hastig zog sie den blutbesudelten Ring vom Finger und warf ihn zurück zu Hlucri. Der Sullanciri fing ihn auf, schnupperte daran und ließ ihn von einer Kralle baumeln. »Wenn wir draußen sind, wirf ihn fort, so weit du kannst.« Hlucri nickte stumm. »Wir gehen hinaus?« »Ja. Hlucri kannst du nicht entkommen.« Isaura bog links ab und ging schnellen Schritts auf eine Tür zu, die zum Eisgarten führte. Als Neskartu noch Schüler aus dem Süden in die Geheimnisse der aurolanischen Magik eingeführt hatte, waren sie regelmäßig in den Garten gekommen und hatten ihr Können verfeinert, indem sie aus einem verzauberten Eissamen wundervolle Kunstwerke wachsen ließen. Jetzt war Neskartu tot - und die meisten seiner Schüler ebenfalls. Die Überlebenden standen im Süden im Kampf. Ohne Isauras Bemühungen und Droldas sorgfältige Pflege wäre der Garten bereits untergegangen. Sayce keuchte auf, als sie den Garten sah. Pflanzen - kom144 plett mit Blüten - und Kreaturen von unfassbarer Zartgliedrigkeit waren aus dem Eis entstanden. Gläserne Bäume trugen Laub, das sich in magischem Wind bewegte, und Vögel hatten Gefieder aus einzeln geformten Federn. Ängstliche Kaninchen schauten unter Eisbüschen hervor und Eisblumen drehten ihre kristallenen Kelche der Sonne entgegen. Sie brauchten sich in einem so nördlichen Gefilde nicht weit zu bewegen. »Isaura, das ist wundervoll.« Sayce streckte eine behandschuhte Hand nach einer Blume aus, berührte sie aber nicht. »Ich möchte nichts zerstören.« Isaura packte die Blume, nach der die Prinzessin gegriffen hatte, und brach sie ab, um sie ihr zu reichen. »Du siehst, es gibt Schönheit - hier in meinem Land.« Sayce nahm die angebotene Blume und nickte langsam. »Das habe ich nie bezweifelt.« »Du hasst Aurolan.« »Nein, das tue ich nicht. Ich hasse, was Aurolan meiner Heimat antut. Ich weiß, dass deine Mutter dafür verantwortlich ist. Ich kann verstehen, dass man ihr folgt. Das bedeutet nicht, dass ich nicht gleichzeitig glauben kann, hier gäbe es Schönheit.« Sayce hob die Blume ans Gesicht und schnupperte. »Du hast mir die Schönheit von Aurolan gezeigt.« Isaura runzelte die Stirn. »Das ist nur ein kleiner Teil von ihr.« Die Murosonin schüttelte den Kopf. »Nicht das. Nicht die Landschaft. Die wahre Schönheit. Isaura, du hättest mich in den Verliesen verhungern lassen können. Du hättest mir kein Essen bringen müssen. Du hättest dich nicht mit mir anfreunden müssen. Das hast du getan, weil dich etwas in dir dazu veranlasst hat. Kytrin mag auf die eine oder andere Weise deine Mutter sein, aber du hast nicht ihr Herz. Du hast ein liebendes Herz, ein gutes Herz. Du wärest überall willkommen, überall geachtet und überall geliebt.« Die rothaarige Prinzessin hob den Kopf. »Warst du je verliebt?« Isaura schüttelte schnell den Kopf. »Nein.« »O Isaura.« Sayce ließ die Blume sinken und wanderte tiefer 145 in den Garten. »Ich schon. Es ist wundervoll. Ich war verliebt ... ich liebe Will Norderstett.« »Warum?« »Warum?« Sayce kicherte. »Schwer zu sagen. Er war gar nicht, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Ich bin aufgewachsen mit der Norderstett-Prophezeiung und erwartete einen Hünen von einem Mann mit Muskelbergen, der einen Hörgun übers Knie brechen könnte. Das habe ich erwartet, als ich ihm begegnet bin, aber... Na, du hast ihn ja gesehen, als du ihn heiltest.« »Er war ganz und gar nicht so, wie du ihn beschrieben hast.« »Nein, das war er nicht. Ich glaube, dadurch hat er sich in mein Herz geschlichen, dieser schmächtige Dieb. Aber er konnte sanft und freundlich sein. Er hat mich zum Lachen gebracht. Er hat mich daran erinnert, dass auch Könige und Prinzen, Fürsten und hohe Damen nur Menschen sind, und nicht immer gute. Er war von einem Edelmut, etwas seltsam, aber trotzdem edel, wie man es bei geborenen Adligen selten findet.« Sayces Augen leuchteten. »Du hättest ihn mit den Freischärlern sehen sollen, Isaura. Männer Oriosas, die gekommen waren, ihm die Gefolgschaft zu schwören. Sie haben sich angeboten, für seinen Schutz und seine Sache ihr Leben zu geben. Er hat sie angenommen und erkannt, dass er von da an verantwortlich für sie war. Er hat sie belohnt und ermutigt. Er hat jedem Einzelnen von ihnen das Gefühl gegeben, dass sein eigenes Leben noch wertvoller war als das von Will, und dass sie ein fester Teil der Norderstett-Prophezeiung waren.«
Isaura lauschte dem, was Sayce sagte, doch mehr noch als auf die Worte achtete sie auf den Ton. Will Norderstett war tot, aber wenn die Prinzessin von ihm sprach, war Sayce glücklich. Die Erinnerung erfüllte sie mit Stolz. So wie Will Norderstett den Freischärlern etwas von sich mitgegeben hatte, hatte er sichtlich auch Sayce von sich gegeben. Ihre Liebe zu ihm schenkte ihr Kraft über seinen Tod hinaus. Dieses Gefühl war ihr ganz und gar fremd. Sie hatte andere Gefühle von ähnlicher Stärke erlebt, aber woran sie sich am 146 ehesten erinnerte, war Angst. Angst vor dem Zorn ihrer Mutter. Angst vor den Oromisen. Beides war sehr stark, und es gab kein gutartiges Gegengewicht dazu. Selbst die Freundlichkeit, die Nefrai-kesh ihr gezeigt hatte, verschwand aus ihren Gedanken, als Hlucri den Ring fortwarf. Das Schmuckstück verschwand, und mit ihm auch Isauras Gleichmut. Aurolan war ihr immer als der Ort erschienen, an den sie gehörte, doch das lag nur daran, dass sie nie einen anderen gekannt hatte. Es war vertraut, passte aber nicht mehr so nahtlos zu ihrem Leben wie früher. Sie war dann im Süden gewesen. Sie hatte in ihrer Mutter Namen Furchtbares geschehen sehen. Sie hatte einmal geglaubt, ihre Mutter zu Änderungen bewegen zu können, Kytrin wand sich jedoch so unterwürfig vor den Oromisen im Staub, dass sich Isaura ernsthaft fragte, ob ihre Mutter jemals von sich aus gehandelt hatte oder schon immer nur eine Sklavin dieser tief unter der Erde versteckten Kreaturen gewesen war. Isaura fasste Sayce an den Schultern und drehte die kleinere Frau aus dem Süden herum, um ihr ins Gesicht zu blicken. »Ich muss dich etwas fragen. Belüge mich nicht.« »Das würde ich niemals tun.« »Doch, das würdest du. Du betrachtest es als deine Pflicht. Du willst für dich und dein Kind von hier fliehen.« Sayce nickte. »Ich würde lügen, ja, aber nicht jetzt, nicht hier und jetzt dir gegenüber.« »Ist Liebe der Grund, warum man im Süden lacht?« Die Murosonin lächelte und strich Isaura mit dem Handrücken über die Wange. »Ach, die Liebe kann dich lachen machen, und sie kann dich zum Weinen bringen, und wütend machen, begeistert, leise und laut, ernst und fröhlich. Liebe ist zu fast allem fähig.« »Kennen alle im Süden die Liebe?« »Nein, Isaura, nicht alle.« Sayces Stimme wurde sanft. »Aber alle suchen nach ihr. Wir schreiben Lieder und Gedichte über sie, Theaterstücke und Bücher. Wir schmieden große Pläne, um die Aufmerksamkeit derer zu erregen, die uns gefal147 len. Wir arrangieren Geselligkeiten, Feste und Feiertage - alles als Entschuldigung dafür, Zeit mit denen zu verbringen, die wir lieben. Aber vor allem teilen wir unser Leben mit dem einen, ganz besonderen Jemand, wenn wir ihn gefunden haben. Wir bauen eine Zukunft auf und füllen sie mit Kindern und mit noch mehr Liebe.« Isaura presste die Lippen aufeinander. Eine Träne sammelte sich im linken Auge und brannte sich eine Spur die Wange hinab. »Isaura, was ist?« Kytrins Tochter schluckte mühsam. »Ich liebe meine Mutter. Ich liebe Aurolan. Aber niemand liebt mich.« »Es gibt bestimmt jemanden, der dich liebt, Isaura. Das weiß ich.« »Ich weiß es auch.« Isaura nahm die Schultern zurück und atmete langsam aus. »Und dieser jemand lebt ihm Süden. Das weiß ich sicher. Sayce, es wird Zeit, dass wir aufbrechen und ihn finden.« 148 KAPITEL SECHZEHN Im langsam heller werdenden Morgenlicht machte das Schlachtfeld einen anderen Eindruck als am Abend. Am Tag zuvor, als die Nacht hereinbrach, hatten noch Soldaten hier gestanden und Banner trotzig geweht. Schwerter hatten geklirrt, Trommeln gedonnert und Verletzte endlos geschrien. Die Geräuschkulisse war geblieben, als die blutige Szenerie von der Nacht eingehüllt wurde und die Kämpfe sich zurück in Richtung Merysval verlagerten. Erst jetzt sah Alyx, was zurückgeblieben war. Die Schlacht selbst war beinahe zu leicht gewesen. Sehr ähnlich dem, was sie ihrer Großtante als Traum erzählt hatte. Tyhtsai war nach Muroso zurückgewichen und hatte die Truppen um das Dorf Merysval aufgestellt, dann war sie zum Kampf in brach liegende Felder vorgerückt. Die Aurolanen hatten sich auf einem Hang aufgebaut, doch waren sie nur noch knapp viertausend Mann stark gewesen, mit nicht mehr als neunhundert Reitern. Die Felder um Merysval waren bestmögliches Gelände für Kavallerie, und sobald die aurolanischen Frostkrallen aus dem Weg waren, konnte Alyx den Rest der Armee auseinander nehmen. Die Parteien trafen in einer offenen Feldschlacht aufeinander. Infanterie traf auf Infanterie und die Kavallerie preschte außen entlang, um die Linien aufzurollen. Die Aleider Eisenreiter drängten tatsächlich den rechten Flügel der Aurolanen zurück, also befahl Tyhtsai den Rückzug zum Dorf. Alyx' gesamte Armee schwenkte den linken Flügel und das Zentrum vorwärts, konnte die Aurolanen jedoch nicht mehr einkesseln, bevor sie die Häuser erreichten. Aber sie schloss das Dorf ein. Niemand konnte Merysval mehr verlassen. 149 Und niemand hatte das Dorf verlassen, mit Ausnahme einer Reiterlegion, die sich um Tyhtsai scharte. Knapp die Hälfte der Temeryxreiter brach durch den Kavalleriekordon und floh nach Nordosten, die Zamsinastraße hinab.
Alyx hätte vorgezogen, wenn die Sullanciri hier gefallen wäre, aber ihre Flucht bedeutete den noch schnelleren Zusammenbruch der zurückgebliebenen Streitmacht. Nicht, dass deren Vernichtung je in Zweifel gestanden hätte. Die Straßenkämpfe waren vom Feuerschein der brennenden Häuser erhellt worden. Alyx' Truppen hatten das erste Feuer nicht gelegt, und als die größeren Gebäude aufloderten, verband sich der Gestank von Öl und verbrennendem Fleisch zu einem schwarzen Nebel, der durch die Straßen trieb. Alyx hatte keine Hilferufe aus den Häusern gehört, einige Soldaten aber schon. Sie konnte nur hoffen, dass sie sich geirrt hatten. Die Aurolanen versteckten sich, wo immer sie eine Möglichkeit dazu fanden, und zwangen Alyx' Leute, sich von einem Haus zum nächsten vorzuarbeiten. Die Kämpfe auf so beengtem Raum überließ sie der Ysliner Garde und der Jeranischen Palastwache. Sobald sie die Straßenzüge Merysvals gesäubert hatten, rückten leichtere Fußtruppen nach, um das eroberte Gelände zu sichern. Arimtara kämpfte zusammen mit der Ysliner Garde und zeigte sich als erstaunliche Kriegerin. Sie roch Hinterhalte und tötete die Angreifer, noch bevor sie größeren Schaden anrichten konnten. Sie stürzte sich - bloß mit den krallenbewehrten Händen bewaffnet - in ein Gebäude und kehrte kurz darauf blutbesudelt zurück, bereit für die nächste Auseinandersetzung. Von den Draconettieren wurden die Truppen des Südens am schwersten getroffen. Sie zogen sich in Häuser zurück, von denen aus sie breite Straßenzüge im Auge behalten und sich nähernde Soldaten beschießen konnten. Weil sie immer bis zum letzten Augenblick warteten, fällten ihre Salven jedes Mal sechs, sieben Mann, und danach feuerten sie auf 150 jeden, der versuchte, den am Boden liegenden Kameraden zu Hilfe zu kommen. Ein Dutzend von ihnen konnte eine ganze Legion binden. Ihr Pech war, dass Perrine oder andere Gyrkyme die Häuser, in denen sie sich versteckt hielten, mit einem Flammhahn in Brand setzen konnten, sobald sie entdeckt waren. Wie die Brandsätze, die vor Fronosa gegen die Aurolanen zum Einsatz gekommen waren, explodierten auch diese mit Öl gefüllten Tonbehälter als flüssiger Feuerregen, wenn die Gyrkyme sie fallen ließen. Sobald ein Draconettiernest brannte, konnten die Soldaten auf der Straße die flüchtenden Feinde zur Strecke bringen, falls sie nicht schon im Gebäude starben. Es hatte fast bis zum Morgen gedauert, den Ort zu säubern. Alyx' Augen brannten vor Müdigkeit und Qualm. Jetzt ritt sie langsam von Merysval zurück ins Heerlager und kam an müden, blutbefleckten Soldaten vorbei, die in dieselbe Richtung zogen. Hinter ihnen lag das Schlachtfeld. Sie wollte nicht hinsehen, aber sie musste es tun, denn dieses Feld zeigte, wie sie die Schlacht gestaltet hatte. Dass weit mehr aurolanische Tote zu sehen waren als Südlandtruppen, war auf jeden Fall ein gutes Zeichen. In kleinen Senken und auf Bodenwellen über der ganzen Ebene türmten sich tote Kreaturen. Ein kleiner Hügel erhob sich um eine aurolanische Standarte, die schief an den Toten lehnte. Alyx sah vor sich, wie die Schnatterer versucht hatten, sie wieder aufzurichten, und ihre Leute sich auf sie gestürzt hatten, in einem tödlichen Hin und Her, wo sich die Opfer am Ende um einen zerbrochen Stock türmten. Die weiß bepelzten Kryalniri waren leicht auszumachen. Die meisten schienen aus der Entfernung von Pfeilen getötet worden zu sein, nur eine Minderheit war durch Magik oder alltäglichere Nahkampfangriffe gestorben. Aber alle Kadaver waren geköpft. Die Kryalniri hatten sich in der Vergangenheit als ausgesprochen zäh erwiesen, und unter den Soldaten hatte sich das Gerücht verbreitet, dass man sie nicht richtig töten konnte. Und so hatten sich die Männer angewöhnt, ihnen sys151 tematisch den Kopf abzuschlagen. Die Köpfe wurden später an einer Wegkreuzung vergraben und die kopflosen Kadaver verbrannt. Der Rest der Aurolanen blieb zum größten Teil für Aasvögel und verwilderte Hunde liegen. Auf der Nase eines Horgun hatten sich bereits Geier versammelt und hackten nach Augen und Lippen. Sie beobachtete die Vögel, fasziniert und abgestoßen zugleich, und fragte sich, ob sie die Knochen des Frostriesen auf dem Rückweg nach Saporitia abgenagt und von der Sonne gebleicht hier wieder finden würde. Soldaten wanderten über das Schlachtfeld und suchten nach Überlebenden, brachten verletzten Kameraden Wasser und töteten verwundete Feinde. Sie töteten die Aurolanen nicht aus Leidenschaft, sondern nur, um sie endgültig los zu sein und zum Schweigen zu bringen. Alle wussten, dass sie den Südländern im umgekehrten Fall keine Gnade gewährt hätten, also zeigte man auch ihnen keine. Andere Männer und Frauen zogen über das Schlachtfeld und durchsuchten die Toten nach Wertsachen. Es waren keine Merysvaler, sondern Marketender aus Bacirro. Die Soldaten verscheuchten sie aus der Nähe der eigenen Kameraden, aber viele der Söldnerkompanien besaßen kein solches Gefühl der Verbundenheit. In der Hoffnung auf eine Belohnung machten die Marketender ihrerseits die Soldaten auf alle Überlebenden, die sie fanden, aufmerksam. Kräh kam aus Merysval geritten und zügelte das Pferd, als er auf ihrer Höhe war. Sein Gesicht war schmutzig vom Qualm und eine Wange schien blutig. Der Silberholzbogen ragte aus dem Sattelköcher, der dazugehörige Pfeilköcher jedoch war leer. Sein Schwert Alarien war in der Dunkelheit nur begrenzt zum Einsatz gekommen. »Dein anfänglicher Verdacht scheint sich bewahrheitet zu haben«, sagte er. »In den angezündeten Häusern waren viele Menschen eingeschlossen. Im Nordosten, in einer Senke, in die sie ihre Abfälle geworfen haben,
liegen noch weit mehr Leichen.« 152 Alyx nickte matt. »Irgendein Hinweis darauf, ob sie noch am Leben waren, als das Feuer gelegt wurde?« Er schüttelte den Kopf. »Wohl nicht. Die Knochen in der Abfallgrube sind angenagt. In einigen der größeren Häuser hingen Suppenkessel über dem Feuer und Fleischstücke lagen in den Öfen. Es besteht kaum ein Zweifel darüber, was aus den Einwohnern von Merysval wurde.« »Wir haben auf dem ganzen Weg die Überreste aufgefressener Flüchtlinge gefunden. Warum sollte es den Merysvalern anders ergangen sein?« »Wir mussten zumindest darauf hoffen, oder?« »Mehr bleibt uns nicht.« Alyx' Magen verkrampfte sich. Die Aurolanen ernährten sich von dem, was das Land bot. Sie wusste nicht, ob sie eine Schwäche für Menschenfleisch hatten oder es nur verspeisten, nachdem Pferde, Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine ausgegangen waren. Und Katzen, was das betraf. Hunde schienen sie allerdings nicht zu essen. Möglicherweise fühlten sich Schnatterer Hunden enger verwandt als Menschen. Es war unmöglich gewesen, vor den Soldaten geheim zu halten, dass ihre Gegner Menschenfresser waren, aber sie hatten es sehr unterschiedlich aufgenommen. Die Aleiden taten entsprechend ihrer Tradition der Ahnenverehrung alles, um ihre Toten so schnell wie möglich vom Schlachtfeld zu holen und begruben sie gut genug, um sie vor Aasfressern zu schützen. Andere, darunter einige der nybalesischen Söldner, zahlten es ihnen heim, indem sie Schnatterer oder Vylaen rösteten. Sie boten das Fleisch jedem an, der vorbeikam, aber nur die wenigsten wollten es auch. Viele andere nahmen tote Frostkrallen aus und verspeisten sie, aber die häufigste Reaktion war, sicherzugehen, dass man die Überreste der Verspeisten verbrannte, in der Hoffnung, die Flammen würden sie von der Besudelung durch die Aurolanen reinigen. Allein der Gedanke, gefressen zu werden, ließ Alyx frösteln. Es bestand ein gewaltiger Unterschied zwischen den Möglichkeiten, im Kampf gebissen oder leibhaftig verschlungen zu 153 werden. Beißen im Kampf verstand sie. Es war ein verzweifelter und zugleich mutiger Akt, ein wilder, persönlicher Angriff. Den Feind zu fressen jedoch schien noch persönlicher und gleichzeitig respektlos. Sie hatte nybalesische Schamanen davon reden hören, wie sie sich die Essenz des Feindes einverleibten, doch diese Vorstellung war ihr zuwider. In ihren Augen war es die schlimmste Beleidigung: Nachdem man den Gegner getötet hatte, wurde er zwischen den eigenen Zähnen zermalmt und schließlich blieb nur ein stinkender Kothaufen. An ihrem Zelt angekommen saß Alyx ab und warf die Zügel einem Knappen zu. Der Mann übernahm auch Krähs Pferd und führte beide Tiere fort. Am Zelteingang nahmen Wache stehende Krieger Haltung an. Sie grüßte kurz, dann trat sie ein. Hinter Kräh fiel die Zeltklappe herab, und es dauerte einen Moment, bis sich Alyx' Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Sie zuckte zusammen. In der hinteren linken Ecke schien Maroth aus den Schatten Gestalt anzunehmen. Er stand reglos und völlig leblos einfach nur da. Kräh legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ich werde mich nie daran gewöhnen, wie er das macht.« Alyx verzog das Gesicht. »Ich auch nicht, aber ich will mich nicht beschweren.« Maroth hatte sie eigentlich nicht von Fronosa bis hierher begleitet. Als sie ihn zuletzt gesehen hatte, hatte er in der Ecke des Zimmers gestanden, in dem er auf Befehl ihres Vaters erschienen war. Seine Brust hatte sich wieder geschlossen und der Kratzer, den Myral'mara verursacht hatte, war verschwunden. Alyx hatte Wachen vor dem Zimmer aufgestellt und Befehl gegeben, niemand solle ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis eingelassen werden. Doch noch am selben Abend, als sie auf dem Marsch ihr Zelt aufgestellt hatten, hatte Maroth in seiner Ecke gestanden. So war es die ganze Zeit gewesen, und als sie während der Kämpfe Merysval betreten hatte, war er auch dort in den Schatten gegenwärtig gewesen. Maroth hatte einen Kryalnir getötet, bevor dieser einen Zauber gegen sie wirken konnte, und einen Draconettenschuss in die Brust abgefangen. Sie war nicht 154 sicher, wie viele andere aurolanische Kreaturen er getötet hatte, aber die unter Meuchelmördern verbreitete Neigung, sich im Schatten zu halten, erschien in seiner Gegenwart als ein deutlicher Nachteil. Alyx drehte sich um und zog Kräh wild an sich. Dann trat sie zurück und löste den Schwertgurt. »War die Schlacht zu leicht?« »Ein Spötter würde jetzt antworten: nicht für die Aurolanen. Sie haben mehr als drei Regimenter verloren.« Kräh legte ebenfalls den Schwertgurt ab, dann zog er Dolche aus den Stiefelschäften. »Du vermutest, Kytrin hat diese Schlacht dirigiert, und diese Niederlage, so wie sie den Verlust Okrannels orchestriert hat. Sie will uns leichtsinnig machen und dich verführen zu glauben, dass sich alles genauso entwickeln wird wie in deinen Träumen.« »Genau, in den Träumen, die ich nie hatte.« »Möglicherweise hat sie das beabsichtigt, aber in deinem >Traum< kamen keine Straßenkämpfe vor, oder?« Alyx schüttelte den Kopf. Sie schüttelte das Kettenhemd über den Kopf, das klirrend vor ihren Füße zu Boden fiel. »Nein, in meinem Traum haben wir den Ort befreit und die Einwohner waren begeistert. Das ist mehr so ein Sieg, wie ihn Adrogans aus Swojin gemeldet hat.« »Derselbe Gedanke ist mir auch gekommen. Ich frage mich, ob das bedeutet, dass Nefrai-kesh den Befehl über
die Verteidigung übernommen hat und uns ein Zeichen schickt. Möglicherweise wollte er uns wissen lassen, dass es, ganz gleich, wie schlimm es bisher war, von jetzt an noch schlimmer wird.« Alyx dachte eine Weile darüber nach, dann schnitt sie eine Grimasse. »Ich werde nicht schlau aus ihm. Deine Memoiren lassen an Baron Norderstetts taktischer Brillanz keinen Zweifel. Drei Regimenter einfach preiszugeben, ist dumm.« »Das stimmt, und es kann nur bedeuten, dass neue Truppen im Anmarsch sind. Das würde zu deiner Vermutung passen, Kytrin benutze deine Träume gegen dich, um dir irgendwann aufzulauern.« 155 Sie zog die rechte Augenbraue hoch. »Aber falls wir das weiterdenken, hätte er uns keinen Hinweis darauf geben dürfen, dass er zusätzliche Truppen erwartet. Und er hätte nicht von den Vorgaben des Traums abweichen dürfen, denn jetzt bin ich gewarnt, dass nicht alles so kommen wird wie vorhergesagt. Also werde ich auf der Hut sein.« Kräh nickte. »Aber Nefrai-kesh würde wissen, dass du seine Nachricht richtig verstehst, also muss er etwas anderes im Sinn haben.« Alyx lachte, setzte sich auf eine Truhe und zog die Stiefel aus. »Es ist mir gleich, was er tut, solange nur ein Schatten auf ihn fällt, wenn wir uns endlich begegnen. Maroth kann ihn erledigen.« Krähs Miene wurde hart. »Nein. Nefrai-kesh gehört mir.« »Liebster, du brauchst mir nichts zu beweisen.« »Es geht nicht darum, irgendetwas zu beweisen. Ich schulde es dem Mann, der er einmal gewesen ist. Ich werde mich nicht zu Dummheiten hinreißen lassen, aber ich weiß, dass es so kommen wird. Es muss so kommen. Ich habe ihn nicht getötet, als er mich darum bat, also werde ich es jetzt tun, da er es auf keinen Fall will.« Alyx nickte ernst. »Diese Gelegenheit werde ich dir nicht nehmen. Wann, glaubst du, werden wir ihm gegenüberstehen?« Kräh runzelte die Stirn. »In der nächsten Schlacht töten wir Tyhtsai. In der danach.« »Das ist die letzte Schlacht meiner Träume.« »Natürlich.« Kräh legte die Linke auf Alariens Heft. »In einem Monat könnte das alles vorbei sein.« 156 KAPITEL SIEBZEHN Einschlossen zog beim Betreten der aurolanischen Schiffskabine den Kopf ein. Die Decke war zu niedrig, um sich ganz aufzurichten, und der Gestank überlagerte innerhalb von Augenblicken den Geruch von Salz und nassem Leder, der ihm in der Kleidung hing. Die Kabine schien zu winzig, einen verwesenden Schnatterer zu verbergen, aber seine Nase sagte ihm, dass hier einer zerstückelt und in sämtlichen Ecken und Winkeln versteckt worden war. Kjarrigan schaute von einem Hocker am Fußende der Koje auf. Er hatte die kleine Truhe dort mit sauberen Tüchern ausgelegt und ein kleines Bett für Qwc zurechtgemacht. Der Sprijt hatte sich darauf ausgestreckt und mit einem Schal zugedeckt. »Wie geht es ihm, Kjarrigan?« Der junge Magiker schüttelte den Kopf. »Ich habe ein paar Diagnosezauber gesprochen, um zu sehen, ob er verletzt ist. Ich kenne mich mit dem Sprijsakörperbau nicht richtig aus, aber ich würde sagen, er ist unverletzt. Doch er hat nichts gesagt, kein Wort. Was ist geschehen?« Entschlossen stützte sich an einen Querbalken. »Die Aurolanen hatten mich gefangen. Qwc hat mich gerettet.« »Er hat dich in Sicherheit geführt?« »Nein, er hat mich befreit.« Der Vorqeelf nickte hinunter zu dem schlafenden Sprijt. »Er hat seinen Speer hervorragend eingesetzt. Tagostscha sollte ihn hoch einschätzen.« Kjarrigan blinzelte. »Qwc hat jemanden getötet?« »Viele Jemande. Alle.« Der Magiker schaute zu Qwc hinab, dann zog er den Schal etwas höher und stopfte ihn an den Seiten behutsam unter den Schlafenden. »Keine Sorge, Qwc. Du wirst schon wieder.« 157 Entschlossen beobachtete, wie sanft Kjarrigan mit dem Sprijt umging, und spürte, wie ein Lächeln auf sein Gesicht trat. Er hatte auf der Reise zum Meer sein Bestes getan, für Qwc zu sorgen, aber sie hatten sich beeilen müssen. Qwc hatte möglicherweise den Drang verspürt, über das Erlebte zu reden, und es hätte ihm vielleicht geholfen, doch sie hatten ruhig sein müssen. So hatte der Sprijt stattdessen immer mehr geschlafen, und Entschlossen hatte eine Trageschlinge für ihn gebunden und ihn wie ein Kind eine Puppe mitgenommen. Kjarrigan stand auf, dann runzelte er die Stirn. »Warum setzt du dich nicht? Das ist eine böse Wunde da am Kopf.« »Nicht der Rede wert.« »Entschlossen, sie ist offen und sie nässt. Ich kümmere mich darum. Bitte!« Der Vorqaelf nickte und setzte sich auf Kjarrigans Platz. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Gestalt in der Koje. »Wer ist das?« Kjarrigan zuckte die Achseln, während er die Kopfwunde abtastete. »Das ist der /Elf, der die Fragmente hatte. Orakel sagt, er ist der letzte erwachsene Vorqaelf auf der Welt. Trawyn sagt, er ist ein Traumschwinge-Esser. Sie
meinte auch, bis er eine Weile frei von Traumschwinge ist, ist er eine Gefahr für seine ganze Umgebung. Deshalb habe ich den Zauber auf ihn gelegt, den Kytrin gegen mich eingesetzt hat. Natürlich habe ich ihn etwas verändert. Sobald er bei Verstand ist, kann er sich befreien.« »Das war eine gute Vorsichtsmaßnahme.« Entschlossen zuckte zusammen, als ein Stück Kruste aufbrach. »Raubtier auf dem Ruderdeck. Das war nicht das erste Mal, dass er umkehren wollte, habe ich Recht?« »Allerdings nicht.« »Du hast es ihm ausgeredet?« »Mir blieb nichts anderes übrig.« Im Widerschein des Zaubers, den der Knabe sprach, konnte Entschlossen Kjarrigans Gesichtsausdruck nicht gut genug erkennen, um ihn zu deuten. Mit einem goldenen Feuerschein stach glühende Hitze in 158 die Wunde. Es fühlte sich an, als wäre alles bisherige und zukünftige Jucken der Wunde in einen Augenblick zusammengefasst worden. Der Schmerz wurde immer stärker. Entschlossen wollte sich unbedingt kratzen, stattdessen packte er mit beiden Händen die Kante des Hockers und hielt sich fest. Das Licht verblasste und langsam ließ das Jucken nach. Der Vorqself nickte, hielt den Hocker aber weiter fest. »Danke. Möchtest du über Raubtier reden?« »Da gibt es nicht viel zu reden. Du hast mir das Kommando übertragen. Raubtier gefiel das nicht.« Kjarrigan zuckte noch einmal die Achseln. »Ich habe mich gefragt, was du in dieser Lage tun würdest, und dann habe ich es getan.« »Wohl kaum. Er lebt noch.« »Du hast ihn auch nicht umgebracht.« »Er kann immer noch rudern.« »Er konnte immer noch eine Bahre tragen.« Der Magiker grinste Entschlossen schräg an. »Ich habe mich so ziemlich jedes Mal, wenn ich eine Entscheidung treffen musste, gefragt, was du tun würdest. Na ja, nur dass ich niemanden umgebracht habe. Es ist gelungen. Jedenfalls bis wir hier ankamen. Ich bin froh, dass du aufgetaucht bist, denn ich weiß nicht, was ich sonst getan hätte.« »Dir wäre schon etwas eingefallen. Du bist auf dem Marsch nach Norden gut vorangekommen.« Kjarrigans Grinsen wurde breiter. »Ich habe ihnen gesagt, du würdest sie weiter und schneller marschieren lassen, und ich könnte das auch, falls sie mich dazu zwingen.» »Schlau.« Das Jucken hatte sich gelegt und Entschlossen stand auf. »Wenn sie weiter tüchtig pullen, sollten wir Saslynnae in anderthalb Tagen erreichen.« »Wir fahren geradewegs in den Hafen? Ist das nicht gefährlich?« »Was ist an einer Fahrt nach Vorquellyn nicht gefährlich?« Entschlossen seufzte. »Wir legen an, gehen schnurstracks zum Corijes und hoffen, dass unser schlafender Freund uns hineinbringt. Dann holen wir Will und gehen wieder.« 159 Kjarrigan stieß einen tiefen Seufzer aus. »Klingt das für dich genauso wenig durchführbar wie für mich?« Entschlossen setzte zu einer scharfen Entgegnung an, doch dann zögerte er. Der Knabe war über sich hinausgewachsen und hatte die Führung übernommen, als die Gruppe aller Voraussicht nach hätte auseinander brechen müssen. Entschlossen war fest davon überzeugt, dass Will der Schlüssel zu Kytrins Vernichtung und schließlich auch zu der Erlösung Vorquellyns war. Kjarrigan sei Dank hatten sie die Möglichkeit, Will zu befreien. Allein dafür, wenn schon für nichts sonst, hatte er etwas Besseres als Sarkasmus verdient. »Ja, es hört sich tatsächlich unmöglich an, nicht wahr?« Entschlossen lächelte. »Aber wenn Will von den Toten zurückgekommen ist, scheint unsere Aufgabe im Vergleich dazu ein Kinderspiel.« »Das stimmt allerdings, Entschlossen. Ich bin froh, dass du zurück bist.« »Und ich erst. Pass gut auf die beiden auf, ja? Sag mir Bescheid, wenn sich etwas tut.« »Das werde ich.« Entschlossen kehrte aufs Ruderdeck zurück und atmete die frische Luft tief in die Lungenflügel ein. Unter ihm arbeitete der Graue Nebel an den Rudern. Gischt schlug an den Bug, wo Orakel stand und nach Norden schaute. Entschlossen hatte keinen Zweifel daran, dass sie Vorquellyn sehen würde, lange bevor die Insel am Horizont auftauchte. Obwohl sie blind war. Trawyn schaute sich zu ihm um. »Du solltest wissen, dass jeder, der hier steht, die Gespräche in der Kabine mithören kann.« »Danke. Habt Ihr was Spannendes gehört?« Sie nickte zögernd. »Raubtier war nicht der Einzige, der umdrehen wollte. Ich war bereit, ihm zu helfen, damit die Fragmente Kytrin nicht in die Hände fallen. Ich halte es für einen Fehler, sie nach Vorquellyn mitzunehmen.« Entschlossen schmunzelte. »Kjarrigan hat Euch ebenfalls eingeschüchtert?« 160 Ihr gesundes Auge wurde schmal. »Das hat er.« »Tatsächlich? Und als wir vorher in Rellaence waren, ist es Will gewesen, der euch Loqaelfen dazu gebracht hat, die Vorurteile gegen die Gyrkyme zurückzustecken.«
»Das stimmt.« »Das finde ich wirklich bemerkenswert.« »Tatsächlich? Wie das?« »Ihr seid eine Prinzessin von Loquellyn und habt Angst vor Menschenkindern.« Sie lachte bellend. »Und vor Vorqaelfkindern noch mehr.« »Der Graue Nebel ist kein Gegner für Euch, also meint Ihr Orakel.« Trawyn blickte nach vorne zum Bug des Schiffes. »Ja. Ich muss zugeben, ihre ruhige Überzeugtheit von der Prophezeiung und von dem, was wir tun müssen, regt mich auf. Es war vernünftig und richtig für uns, in den Süden zurückzukehren. Du warst fort, wir hatten zwei Fragmente der Drachenkrone und einen äußerst gefährlichen /Elf bei uns. Doch sie erklärte, er sei der Schlüssel zum Corijes. Sie hatte nie den Hauch eines Zweifels daran, dass wir es nach Vorquellyn schaffen und den Norderstett finden würden.« »So ist sie halt.« »Oh, das verstehe ich durchaus. Ich bewundere ihre Gabe.« Die Loqaelfe bewegte unbehaglich die Schultern. »Es ist bei Kindern eine seltene Gabe, aber sie kommt vor. Dennoch, keine Seherin war je unfehlbar. Was, wenn sie sich irrt?« Entschlossen schüttelte den Kopf. »Es gibt mehr Möglichkeiten für sie, sich zu irren, als Sterne am Himmel stehen. Ich habe schon vor langer Zeit beschlossen, an sie zu glauben. Alle Zeichen stimmen.« »Was kannst du schon darüber wissen, Entschlossen? Du bist ein Kind. Du führst Syverce, aber du bist nicht an eine Heimstatt gebunden. Du kannst die Pflicht nicht kennen, die diese Waffe dir überträgt.« Sie drehte sich um und deutete zurück nach Loquellyn. »Ich bin an meine Heimstatt gebunden und sie sagt mir, was ich zu tun habe.« 161 Er hob eine schlohweiße Augenbraue. »Und sie sagt Euch, dass Ihr das Falsche tut?« Trawyn stockte. »Nein.« Entschlossen legte die linke Hand auf den Schwertgriff. »Ihr wisst: Wäre es mir nicht bestimmt, dieses Schwert zu führen, könnte ich es nicht ohne Schmerzen berühren.« »Und ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass man dir die Schmerzen nicht unbedingt ansieht.« »Das mag stimmen, aber ich habe keine Schmerzen. Orakel hat mir vorhergesagt, dass ich aus der Hand des Norderstett ein Schwert erhalte. Will hat mir Syverce gegeben. Das war nur ein weiteres Zeichen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Will ist der Norderstett, und der Norderstett ist die Erlösung Vorquellyns.« Die Meeresbrise spielte mit ihren kurzen Locken. »Du bist so überzeugt von der Prophezeiung, Entschlossen, dass ich beinahe selbst daran glauben möchte.« »Warum tut Ihr es nicht? Irgendetwas geht hier vor, das ich nicht verstehe.« Sie schüttelte einmal kurz den Kopf, dann musterte sie ihn mit dem verbliebenen Auge. »Hast du dich nie gefragt, warum wir den Aurolanen Vorquellyn nicht wieder abgenommen haben?« »Natürlich. Ich bin davon ausgegangen, dass es Euch nicht eilig war. Was sind Jahre und Jahrhunderte für Unsterbliche?« »Das war nicht der Grund. Unser Passagier dort unten... Im Schlaf wirkt er friedlich, aber warte ab, bis er aufwacht. Du wirst die nackte Qual in seinen Augen sehen.« Sie rieb sich die Stirn. »Vielleicht warst du zu jung, es zu verstehen. Ich erinnere mich. Wir haben die Kinder versteckt, weil wir Angst vor dem hatten, was geschehen würde. Du hast es nicht gesehen. Als sie Vorquellyn eroberten, waren eure Erwachsenen verletzt und trostlos, ähnlich wie es mir jetzt ergeht. Aber als Kytrin Vorquellyn schändete... Der Schmerz in ihren Augen, die Schreie. Sie wurden von einer Heimstatt im Todeskampf in den Wahnsinn getrieben. Verstehst du nicht, Entschlossen? 162 Wir haben Vorquellyn niemals zurückerobert, weil es tot ist. Es gibt keine Erlösung für Vorquellyn. Es kann keine geben.« Diese Worte bohrten sich ihm wie Armbrustbolzen in den Leib. Er dachte zurück. Hatte er das Mitleid, das er jetzt in ihrem Auge sah, auch bei anderen gesehen? Hatte er sich von dem herablassenden Auftreten der meisten Elfen einlullen lassen? Hatte er irgendwie übersehen, wie sehr sie sich wünschten, sich zu irren, und doch wussten, dass sie Recht hatten? Wie sehr es ihnen Leid tat, dass es für die verlorenen Kinder Vorquellyns keine Erlösung geben konnte? Entschlossen ballte die Hände zu Fäusten, der Mund verkniff sich zu einem dünnen, wütenden Strich. Zorn stieg in ihm hoch, glühende, brodelnde Wut, aber ebenso rasch zwang er seine Hände wieder zur Öffnung. Er ließ den Zorn verklingen. »Ich verstehe, was Ihr meint, Prinzessin. Danke.« »Wie kannst du mir dafür danken? Ich habe dir gerade gesagt, dass die Aufgabe, der du dein Leben gewidmet hast, sinnlos ist.« »Ja, das habt Ihr. Ihr habt mir auch gerade erklärt, warum Ihr nie einen Versuch unternommen habt, meine Heimstatt zu befreien. Es ist nachvollziehbar, und das bedeutet: Ich kann all die Kraft freisetzen, die ich durch meinen Zorn auf Loqaelfen, Croqaelfen und Harqaelfen aufgestaut habe. Das Ihr Euch irrt, spielt dabei keine Rolle.« »Uns irren? Glaubst du denn, wir wären zu diesem Schluss gekommen, ohne darüber nachzudenken? Ich war bei
den Beratungen anwesend. Unsere größten Denker, Militärs, Politiker und Magiker sind sich einig, dass Vorquellyn nicht erlöst werden kann. Selbst Adrogans hat es in Swojin erkannt und die Stadt niedergebrannt. Es gibt keine Möglichkeit, einen Ort von der Aurolanenpest zu befreien.« Entschlossens silberne Augen wurden schmal. »Nur, weil Ihr nicht wisst, wie, heißt das nicht, dass es unmöglich ist. Kytrin konnte Vorquellyn verpesten, und es muss auch einen Weg geben, diesen Makel zu entfernen.« »Und falls es den nicht gibt? Was machst du dann?« 163 »Spielt das eine Rolle? Zumindest wird sich erweisen, ob Eure Überzeugung zutrifft oder nicht. Falls Ihr Recht habt, hilft es mir nicht, der Welt aber schon, denn Kytrin wird tot sein. Falls Ihr Euch irrt, habe ich ein Zuhause und eine Zukunft. Sinnlos oder nicht, das ist die Mühe wert.« »Entschlossen, ich weiß nicht, ob du ein Kind bist oder ein Narr, oder beides.« »Wahrscheinlich beides, doch wenn Vorquellyn erst erlöst ist, werde ich keins davon mehr sein.« Er lächelte schief. »Haltet Kurs nach Norden. Umso schneller werden wir alle die Wahrheit erfahren.« KAPITEL ACHTZEHN Markus Adrogans war nicht ganz darauf gefasst gewesen, wie sich die Aurolanen auf die Vernichtung ihres Regiments hin verhielten. Er hatte mit einer von drei Möglichkeiten gerechnet. Die erste war ein massiver Vorstoß ins Grenzgebiet, in dem das Regiment verschwunden war, und möglicherweise noch weiter in Winalias Reich hinein. Die zweite bestand in einer allgemeinen Verstärkung der Grenzanlagen. Die dritte, die er für am wenigsten wahrscheinlich hielt, war eine Zunahme der Patrouillen innerhalb des aurolanischen Bereichs gewesen. Es geschah - überhaupt nichts. Er konnte sich ohne weiteres vorstellen, dass es sich bei dem Regiment um eine unabhängige Einheit gehandelt hatte, die die ihr erteilte Aufgabe selbsttätig durchführen sollte. Dass es aber so gar keine Erwähnung - selbst in den oberflächlichsten Meldungen von der Grenze - gab, hätte Grund zur Beunruhigung sein müssen. Wäre er an der Stelle des aurolanischen Befehlshabers gewesen, hätte er die Grenztruppen angewiesen, nach dem Regiment Ausschau zu halten und seinen Zustand zu melden. Das Ausbleiben einer Suche überraschte ihn, doch er fand einen Grund dafür: Die Holzlieferungen gingen weiter. Seine Kundschafter meldeten die Lieferung immer neuer Wagenladungen Holz, und es dauerte keine Woche, bis seine Truppen die Werft gefunden hatten. Obwohl er an der Richtigkeit der ersten Meldungen keinen Zweifel hatte, begleitete er zusammen mit Ph'fas die Scouts, um sich selbst ein Bild zu machen. Die Schiffsbauoperation war noch weit gewaltiger, als er es sich hatte träumen lassen. Auf den alten Karten Norivas hieß die Stadt, die hier einst gestanden hatte, Alcytlin. Als Noriva 165 noch ein unabhängiges Reich gewesen war, hatte die Stadt als ein wichtiger Handelshafen gegolten, und es hieß, sie besäße den besten Tiefwasserhafen der Welt. Mit den Borabergen im Hintergrund und weißen Klippen zu beiden Seiten der Hafeneinfahrt musste die natürliche Schönheit ihrer Lage den Seefahrern wie ein Paradies erschienen sein. Adrogans studierte die Werftanlagen von einer Bergkuppe im Norden. Die Hügel, auf denen die alte Stadt gelegen hatte, verbargen einen Großteil der Ruinen vor seinem Blick. Was er sah, mahnte ihn daran, wie Swojin vermutlich nach Jahrzehnten Witterungseinfluss aussehen würde. Alle unmittelbaren Spuren von Gewalt waren dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen. Die ganze Stadt schien verwittert, und abgesehen vom Hafenbereich zeigte sie kaum Anzeichen von Leben. Der Zustand des Werftbereiches hingegen stand auf einem völlig anderen Blatt. Dieses Gebiet war in riesigem Maßstab wiederaufgebaut worden. Im Norden befanden sich die Essen sowie Mühlen und Lagerhallen für das Holz. Dahinter lagen Holzplätze, und kleine Boote bewegten sich mit schwerer Ladung hin und her. Im Zentrum und entlang des Südufers der Kreszentbucht wurde in vier Docks emsig gearbeitet, und die Schiffe, die dort gebaut wurden, stellten alles in den Schatten, was Adrogans je gesehen hatte. Zwei der Schiffe standen wenige Tage, vielleicht eine Woche, vor dem Stapellauf in die Bucht, wo man sie fertig ausstatten und seetüchtig machen würde, falls die sechs Giganten, die bereits dort dümpelten, ein Anhaltspunkt waren. Ausgehend von den Berichten, die er über den Piratenangriff auf Vilwan gelesen hatte, schloss er, dass diese schweren Schiffe mit Draconellen bestückt werden sollten. Zusätzlich zu den Riesenschiffen wurden in der Werft auch reihenweise kleinere Galeeren hergestellt, schnellere Boote, die die Schiffe des Südens mit Sicherheit von den großen Transportern fern halten sollten. Sie würden den Weg für die großen Schiffe frei machen, die dann die Häfen mit ihren Draconellen beharken konnten, während die Galeeren Truppenbataillone abholten und an Land brachten. 166 Weiter vom Ufer entfernt standen Kasernen. Durch die hügelige Landschaft konnte Adrogans nur zwei vollständig und ein paar andere teilweise sehen. Insgesamt schätzte er jedoch, dass es zehn waren, jeweils groß genug für ein komplettes Regiment. Die vor Nachschub und Proviant für diese Truppen überquellenden Lagerhallen brauchte er gar nicht erst zu sehen, um zu wissen, dass sie sich ebenfalls dort befanden, ebenso wie kleine Werkstätten für Tonnen, Segel, Riemen und was man sonst so brauchte. Hastig überschlug er die Zahlen im Kopf. Er nahm für jedes Schiff ein Regiment an. Falls drei davon Lakaslin überfielen, drei weitere Yslin, und die anderen auf ausgewählte Hafenstädte verteilt wurden, konnten sie den
Kriegshergang ernsthaft beeinflussen. Das Bündnis der südlichen Staaten würde zerfallen, weil seine Mitglieder entweder überrannt wurden oder sich gezwungen sahen, ihre Truppen heimzuholen. Die einzige logische Vorgehensweise wäre gewesen, alle Truppen hierher zu ziehen und augenblicklich anzugreifen. Falls die Kasernen bereits voll besetzt waren, bedeutete das einen Angriff auf eine zweifache Übermacht im Schutz von Befestigungsanlagen. Außerdem konnte der Feind Draconellen einsetzen, und ziemlich sicher mehr als er. Er sah vor seinem geistigen Auge, wie zwei oder mehr der großen Schiffe - jedes für sich gewiss für mindestens so viele Draconellen gut wie seine gesamte Armee - seine Truppen schon im Anmarsch unter Beschuss nahmen. Verglichen mit den dann bevorstehenden Schlachten verblasste sein Hinterhalt wie ein Regentropfen gegenüber einer Sturmflut. Doch wenn er wartete, brachte das andere Risiken mit sich. Ohne weiteres konnten schon ein halbes Dutzend Schiffe seeklar und voll bestückt auf Jungfernfahrt sein. Falls dem so war und sie kehrten von der Erprobung zurück, sähe er sich noch mehr Truppen und Draconellen gegenüber. Außerdem wurden jetzt leere Kasernen vielleicht später noch besetzt, und er vertat seine einzige Gelegenheit, die Flotte zu versenken. Er knurrte. »Ich brauche mehr Einzelheiten.« 167 Ph'fas zuckte die Achseln. »Kann es für eine Entscheidung wie diese je genug sein?« »Nein. Wenigstens wissen wir jetzt, warum sich die aurolanische Befehlshaberin keine Sorgen um ein Kavallerieregiment an der Grenze macht. Der Holznachschub läuft ungehindert weiter, und eine Bedrohung stellt es für sie hier nicht dar.« Der Shuskenschamane musterte ihn fragend. »Für sie?« Adrogans runzelte die Stirn. Niemand hatte irgendein Wort über das Geschlecht des aurolanischen Kommandeurs verloren, doch bei seinen eigenen Worten wurde ihm klar, dass er sich vollkommen sicher war, es mit einer Frau zu tun zu haben. Er suchte in Gedanken nach dem Ursprung dieser Gewissheit. In der Vergangenheit hätte ihn diese Suche zu Schmerz geführt. Er hätte gespürt, wie sie ihre Krallen über seine Haut zog und an seinen Nervenenden nagte. Aber seit sie Okrannel verlassen hatten, war die Berührung des Yrün verklungen. Als er jetzt in sich ging, erwartete er nicht, etwas zu finden. Doch da war etwas. Er fühlte es schwach und unbestimmt. Zunächst glaubte er, seine Verbindung zu Schmerz würde zurückkehren, denn die Präsenz war eindeutig weiblich. Jedoch erkannte er schnell, dass es nicht seine Herrin war. Diese neue Präsenz hatte Krallen und Reißzähne, sie wirkte eher katzenhaft. Ihr deutlicher Geschlechtstrieb überraschte ihn, denn Schmerz war ihm zwar immer nah gewesen, hatte aber niemals Interesse an fleischlichen Gelüsten gezeigt, nur an deren Perversion, Freude durch Schmerz zu erfahren. Das war bei dem, was er nun spürte, ganz anders, und falls er eine weitere Schlussfolgerung wagen wollte, hätte er gesagt, dass sich das Wesen, das er jetzt spürte, entweder soeben der sexuellen Befriedigung hingab oder das Nachklingen eines Höhepunkts genoss. Adrogans öffnete die Augen. »Onkel, wenn wir Sullanciri früher begegnet sind, hast du durch die Yrün etwas von ihnen gespürt?« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hatten keine Verbindung zu den alten Geistern.« 168 »Dann ist etwas an der dort unten anders als bei den anderen. Vorausgesetzt, es handelt sich um eine Sullanciri.« »Mit ziemlicher Sicherheit.« »Das meine ich auch.« Adrogans fuhr sich mit der Hand nach hinten durchs kurze Haar. »In dieser hier steckt ein wenig von Schmerz. Ich kann sie spüren, manches lesen. Sie scheint sehr offen. Sie hat Sorgen, aber zur Zeit keine militärischen.« »Du liest ihre Gedanken?« »Nein, noch nicht. Es ist ohne Zusammenhang. Ich empfange Wünsche und Gefühle. Als belauschte man einen Träumer, der im Schlaf spricht, und herausfinden, wovon er träumt.« »Das könnte hilfreich sein.« Ph'fas nickte. »Und gefährlich.« »Du hast Recht. Ich muss davon ausgehen, dass sie dieselben Eindrücke von mir empfangen kann. Ich werde mich vorsehen.« »Gut. Versuch nicht, in ihren Geist einzudringen.« »Ich wüsste nicht mal, wie ich das anstellen sollte.« Ph'fas kicherte. »Das würde dich nicht aufhalten, sollte es nötig werden. Ihr Geist wird ein Nest von Albträumen sein.« »Wie passend.« Der General schaute zurück auf die Stadt. »Sie lebt in einem Nest von Albträumen. Ich brauche mehr Einzelheiten, und ich werde sie mir beschaffen müssen. Ein paar unserer Leute werden mit einer Ladung Holz dort hinein müssen und mit Splittern von den Gebäuden wieder heraus.« »Nimm Freiwillige dafür.« »Das werde ich.« »Achte darauf, dass es Waisen sind.« »Ja, Onkel, das werde ich.« Adrogans hob die linke Braue. »Noch etwas?« »Ihr Ziel und deines sind nicht dieselben.« Langsam trat ein Grinsen auf die Züge des kleinwüchsigen Schamanen. »Benutze ihr Ziel gegen sie, und der Weg zu deinem wird leichter werden.«
169 KAPITEL NEUNZEHN 1/ie drei Tage, die er mit der Jagd auf Blutmasken verbrachte, waren eine Belastungsprobe für Ermenbrecht. Er hatte die Armee ein Lager aufschlagen lassen und sprach jeden Tag mit Sander Malvenstett. Die beiden machten bei diesen Gesprächen ziemlich viel Wind und brüllten sich streckenweise regelrecht an. Ermenbrecht wünschte sich, diese Wortgefechte wären nur Spiegelfechtereien gewesen, aber dem war nicht so. Obwohl Malvenstett inzwischen glaubte, dass Ermenbrecht seinen Vater nicht hatte umbringen lassen, vergiftete die alte Feindschaft zwischen Mittland und Meredo ihre Beziehung weiter. Ermenbrecht erinnerte sich aus jungen Jahren an Sander, aber das ging kaum über Namen und Aussehen hinaus. Schließlich war er nur ein niederer Adliger aus Mittland. Der Prinz erkannte, dass er Malvenstett noch immer entsprechend abfällig einstufte, wenn der ihn nur genügend provozierte. Aber wenigstens hielt er sich weit genug zurück, seine Empörung über die Tiraden dieses Provinzbarons nicht in Worte zu fassen. Falls ich das tue, ist alles verloren. Malvenstett hatte eine ganz schöne Wut auf Ermenbrecht abzubauen. Das Mittland, wie im Grunde das ganze Reich, hatte die Anwesenheit aurolanischer Truppen in Oriosa gehasst. Alle Adligen litten jedoch genau wie Ermenbrechts Vater unter der Angst, Nefrai-kesh oder ein anderer Sullanciri könne sie besuchen und ihnen den Kopf abreißen. Sie hassten diese Angst und wollten ihren Mut beweisen, indem sie sich Kytrin entgegenstellten, aber jedes offene Handeln hätte nicht nur ihren Zorn, sondern auch den König Swindgers herausgefordert. Viele von ihnen nahmen Ermenbrecht übel, dass er Oriosa 170 den Rücken gekehrt und sich für Festung Draconis entschieden hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, als seine Heimat darum stolz auf ihn gewesen war, aber nachdem Kytrin die Feste geschleift hatte, war davon nicht viel übrig geblieben. Ermenbrechts Rückkehr und der Bruch mit seinem Vater, erst recht angesichts eines so dicht vor den Grenzen stehenden aurolanischen Heerwurms, schien einen Angriff der Nordländer geradezu herauszufordern. Aus der Sicht solcher Leute wie Malvenstett war Ermenbrecht darauf versessen, Kytrin anzugreifen, und bereit, dafür auch seine Heimat zu opfern. Gleichzeitig warf ihm Malvenstett vor, sein eigenes Volk nicht zu kennen. »Daran, wie sie unter deinem Vater gelitten haben, kann doch kein Zweifel bestehen. Konntest du unsere Klagen nicht bis Festung Draconis hören?« Er erinnerte Ermenbrecht, dass er bei allem Hass auf seinen Vater dem Volk von Oriosa gegenüber noch immer eine Pflicht hatte. Und Ermenbrecht musste Malvenstett in diesem Punkt Recht geben: Er hatte seine Landsleute im Stich gelassen. Der Prinz sagte sich, dass er aus zwei sehr stichhaltigen Gründen so gehandelt hatte. Zum Ersten hatte man ihn auf Festung Draconis gebraucht, und Festung Draconis war nicht zu ersetzen, wenn es darum ging, Kytrin im Norden festzuhalten. Und zum Zweiten hätte er mit einer Rückkehr und dem Widerstand gegen seinen Vater innerhalb kurzer Zeit einen Bürgerkrieg vom Zaun gebrochen. Entweder das, oder er hätte mich umbringen lassen. Beide Gründe waren richtig, und beides waren gute Gründe. Trotzdem verstand der Prinz, dass ihn keiner von beiden von den Pflichten entband, die ihm seine Herkunft auferlegte. Jemand musste ein Gegengewicht zu seinem Vater bilden und sich ihm sogar widersetzen, und niemand sonst in der ganzen Welt war dazu legitimiert oder in der Lage, diesen Widerstand anzuführen. So wenig er auch einen blutbesudelten Thron wollte, besser das Blut seines Vaters ergoss sich über den Thron als das der Bürger Oriosas über den Boden ihrer und seiner Heimat. 171 Ermenbrecht wollte sich mit Swindgers Herrschaft über Oriosa auseinander setzen, sobald er den Krieg gegen Kytrin hinter sich hatte. Falls ich ihn überlebe. Doch er konnte Malvenstett diese Entscheidung nicht mitteilen, denn das wäre offener Verrat gewesen, und den Gedanken daran mit ihm zu teilen, hätte eine Einladung bedeutet, sich ihm anzuschließen. Das wiederum wäre politisch bedenklich gewesen, denn während Malvenstett ohne innenpolitische Bedenken an seiner Seite gegen die Aurolanen ins Feld ziehen konnte, hätte ihn ein Aufstand zur Zielscheibe für machthungrige Barone aus allen Winkeln des Reiches gemacht. Und so stritten die beiden weiter, und die Gerüchteküche in beiden Armeen brodelte. Währenddessen waren Dranae, Net, Borghelm und die Ottermagiker auf der Suche nach den Blutmasken. Net und Borghelm wussten, wie man mit Kätnern und Hirten sprechen musste, und manche von ihnen kannten sie sogar vom Markt in Valsina. Von ihnen erfuhren sie, wie die Blutmasken vorgingen. Die Ottermagiker setzten ihre Zauber ein, um einen Teil des angerichteten Schadens zu beheben und Eindrücke von den Übeltätern zu sammeln. Am frühen Abend vor dem Aufbruch zu ihrem letzten Jagdausflug berichtete Rumbelo Ermenbrecht von ihren Erkenntnissen. »Wir haben den Eindruck gewonnen, dass es sich um zwei verschiedene Gruppen von Leuten handelt. Eine Gruppe sind Soldaten, etwa eine Kompanie, die andere besteht aus einer ähnlichen Anzahl Magiker. Ich bin sicher, dass es sich um Vilwaner handelt, was unter anderem bedeutet, dass sie Masken tragen, ohne ein Recht dazu zu haben.« Obwohl er so lange fern von Oriosa gelebt hatte, zuckte Ermenbrecht bei dieser Bemerkung wütend zusammen. Muroso, Alosa und Oriosa hatten sich vor langer Zeit vom Estinischen Reich gelöst, und die Anführer der Revolte hatten Masken getragen, um geheim zu halten, wer sie waren. Ihren Nachkommen hatten sie das Recht
vererbt, zu Ehren der Opfer, die ihre Vorfahren für die Freiheit der Heimat gebracht hatten, ebenfalls eine Maske zu tragen. Dass jemand, der dazu 172 kein Recht hatte, mehr als eine Höflichkeitsmaske trug, war genug, jedem wahren Sohn Oriosas den Magen umzudrehen. Dass sie wahrscheinlich die Erlaubnis seines Vaters hatten, Masken zu tragen, machte es für Ermenbrecht noch schlimmer. »Sie haben versucht, ihre Spuren zu verwischen, aber wir haben eingezeichnet, wo sie gesehen wurden.« Rumbelo breitete auf dem Tisch eine Karte von Mittland aus und stellte Kerzenhalter auf die Ecken, um sie zu beschweren. »Sie haben in einem weiten Bogen zugeschlagen, was den Eindruck erwecken sollte, sie würden von Norden kommen und nach Westen ziehen. Doch all ihre Anschläge haben einen schnellen Tagesritt von dieser Ortschaft stattgefunden.« Ermenbrecht nickte. »Nyresina.« Rumbelo schaute auf. »Ihr kennt sie?« »Ja. Ein Landgut, die Mitgift meiner Mutter. Vor ihrem Tod haben wir die Sommer dort verbracht.« Ermenbrecht ballte die Fäuste. »Sind wir in Angriffsreichweite?« »Ein Tagesritt. Sie wissen, dass wir hier sind, und wenn wir kommen, würden sie das ebenfalls wissen.« Der Ottermagiker schüttelte den Kopf. »Ich vermute, sie werden bald aufbrechen, falls sie nicht schon fort sind. Aber keine Sorge, wir finden einen Weg, sie zu verfolgen.« »Ich will sie nicht verfolgen. Ich will ihren Tod.« Ermenbrecht kniete neben die Truhe am Fuß des Bettes und schlug den Deckel zurück. Er hob den Vierschüsser, den Beutel mit Kugeln und das Feuerdreckhorn heraus. »Wir greifen heute Nacht an.« Rumbelo schüttelte den Kopf. »Meine Mitmagiker und ich sind gut, aber selbst wir schaffen es nicht, uns so schnell dorthin zu bringen.« »Ich weiß.« Ermenbrecht schlang sich den Schwertgurt um die Schulter. »Ihr könnt es nicht, aber Dranae kann es. Hol deine zehn besten Kampfmagiker. Sie mögen auf den Straßen nach uns Ausschau halten, also werden sie nicht wissen, wie ihnen geschieht, wenn wir zuschlagen.« 173 Ermenbrecht hatte das Landgut noch nie aus der Luft gesehen, daher brauchte er einen Augenblick, bis er es erkannte. Er fand die vertraute Schleife im Flusslauf, der im silbernen Mondlicht schimmerte. Der Baumbestand war ausgedünnt und die Weinberge im Norden schienen ausgedehnter, das Gut selbst wirkte allerdings ziemlich verfallen. Der Turm in der Nordostecke war teilweise eingestürzt und das Dach der alten Remise hing durch. Davon abgesehen wirkte das kantige Haupthaus durchaus noch bewohnbar. Dranae stürzte sich hinab, dann breitete er die Flügel aus und setzte sanft im Hof an der Westseite des Haupthauses auf, zwischen dem Gebäude und dem kleinen See, auf dem Ermenbrecht und sein Bruder als Kinder mit Modellbooten gespielt hatten. Da die Straße aus dem Osten kam und das Gut auf der anderen Seite erreichte, war davon auszugehen, dass die Blutmasken diese Seite weniger im Auge behielten. In einem Augenaufschlag verwandelte sich Dranae von einem Drachen in eine Menschengestalt. Ermenbrecht warf ihm seine Draconette und ein Bündel Tücher zu, aus dem sich der Hüne einen Kilt wickelte. Die Ottermagiker verteilten sich und liefen zum Haus. Keiner von ihnen wollte sich darauf verlassen, dass ein Drache unbemerkt landen konnte, und ein magischer Alarm konnte durchaus lautlos sein. Falls sie das Überraschungsmoment trotzdem auf ihrer Seite hatten, um so besser. Rumbelo rammte einen eisenbeschlagenen Stock gegen die Tür, und das verwitterte Holz explodierte nach drinnen. Die Ottermagiker stürmten ins Haus. Ermenbrecht folgte ihnen, Dranae dicht hinter sich. Die Tür führte in die Küche, und von dort ging es links den Flur entlang zum Salon. Als sie dort eintrafen, tobte ein thaumaturgisches Gefecht. Leuchtend rote Fledermäuse und glühend grüne Adler umkreisten einander unter der hohen Decke des Raumes, stießen herab, wirbelten und schlugen mit den Schwingen. Goldene Flammenzungen erhellten das Zimmer und zerbarsten wirkungslos an magischen Schilden. Ein Ottermagiker öffnete 174 die Hand und schleuderte einen Funkenregen, der sich in blaue Pfeile verwandelte. Der Pfeilschwarm senkte sich auf einen Blutmaskenmagiker, der sofort einen Schild zauberte, der sie bis auf zwei aufhielt. Diese beiden trafen, schleuderten ihn herum und er ging mit qualmenden Wunden in Brust und Rücken zu Boden. Ermenbrecht riss den Vierschüsser an die Schulter, spannte und drückte ab. Das Donnern des Schusses hallte durch den Saal, das Mündungsfeuer war aber verglichen mit den Lichteffekten der Zaubersprüche keine Erwähnung wert. Die Bleikugel erwischte eine Blutmaske knapp über dem Brustbein und warf die Magikerin zurück, bevor sie einen Zauberspruch vollenden konnte. Die Kraft, die sich in grünen Tentakeln um ihre zu Krallen verkrampften Hände gesammelt hatte, kehrte sich gegen sie und die Hände lösten sich auf und wurden zu öligem Qualm. Auch Dranae schoss und zerschmetterte einer Blutmaske das Bein. Der Schild, den diese gegen einen Flammenspeer errichtet hatte, brach zusammen. Das goldene Feuer traf sie mit ganzer Gewalt und verzehrte alles zwischen Schulterbein und Hüfte.
Wieder feuerte der Prinz, dann zog er Krön. Er parierte den Schwertstreich eines Blutmaskensoldaten. Seine Riposte schnitt dem Mann den Bauch auf. Der verletzte Soldat taumelte zurück, die Hand auf den Leib gepresst, und prallte gegen einen anderen Bewaffneten. Ermenbrecht sprang ihm nach und durchbohrte den zweiten Mann. Dranae gab einen weiteren Schuss an, der Kopf einer dritten Soldatin zerplatzte. Die umstehenden Blutmasken hatten genug und ergriffen die Flucht. Ermenbrechts dritter Schuss tötete einen weiteren Magiker - und war im Grunde unnötig. Murosonische Magiker schienen stolz auf ihre Kampfkünste, und ihre vilwanischen Kollegen waren ihnen weit unterlegen. Sie streiften durch das Haupthaus, suchten ein Zimmer nach dem anderen ab und beförderten alle Magiker, die Widerstand leisteten, schleunigst 175 ins Jenseits. Sie fanden auch einige, die bereits tot waren. Sie hatten offenbar Gift geschluckt, nachdem sie per Arkantafal eine letzte Nachricht abgeschickt hatten. Rumbelo wog eine der Tafeln in der Hand. »Ich kann versuchen herauszufinden, an wen die Nachrichten gegangen sind, aber falls der Empfänger am anderen Ende seine Arkantafal zerbricht, bin ich machtlos.« »Es spielt keine Rolle. Ich weiß, wo die Nachrichten letztlich gelandet sind.« Ermenbrecht stieß die Leiche eines toten Magikers mit dem Fuß an. »Und ich weiß auch, welche Nachricht ich dorthin schicken will. Dranae, falls es dir nichts ausmacht, können wir sie ziemlich schnell überbringen.« Im Orioser Thronsaal traten Ermenbrecht und Dranae einen Schritt zurück und begutachteten ihr Werk. Sie hatten jede einzelne Blutmaske geköpft und die Masken auf den Schädel ihrer Träger genagelt. Nachdem sie alle Köpfe in einen Sack gepackt hatten, war Dranae nach Meredo geflogen und Ermenbrecht hatte ihn durch Geheimgänge, von denen er schon länger wusste, unbemerkt in den Palast geführt. Im Thronsaal angekommen, platzierten sie die abgeschlagenen Köpfe auf dem Thron und in einem Kreis um ihn herum. In den Mund jedes Kopfes legten sie eine Goldmünze, auf der das Auge in König Swindgers Profil zerstochen war. Der Drachenmann schaute den Prinzen an. »Wie, glaubt Ihr, wird er das aufnehmen?« »Wütend und verängstigt. Nefrai-kesh hat meine Großmutter umgebracht, indem er ihr den Kopf abriss und ihn meinem Vater gab. Er wird diesen Moment bei jedem einzelnen dieser Köpfe noch einmal erleben. Er wird wissen, dass wir Bescheid wissen, und dass wir herein- und wieder herausgekommen sind, ohne entdeckt zu werden. Das wird ihm zu denken geben.« »Ihr wisst, dass Vilwan damit zu tun hat.« »Ja. Aber wir müssen Prioritäten setzen. Erst kommt Kytrin, dann mein Vater, dann Vilwan.« 176 Dranae lächelte, als sie zurück in den Geheimgang traten, der hinaus aus dem Palast führte. »Ihr Menschen seid eine seltsame Spezies. Ihr sendet eine Botschaft auf eine so barbarische Art, die doch bei aller Offenheit sehr hintergründig ist.« »Hintergründig? Das?« Ermenbrecht runzelte die Stirn. »Wie hätte ein Drache diese Botschaft formuliert?« »Der Kopf Eures Vaters wäre das zentrale Schaustück geworden.« »Gut, ich verstehe. Ja, mit Drachenaugen gesehen, ist das tatsächlich hintergründig. Fliegen wir zurück ins Mittland, und ich werde mich bemühen, meine Hintergründigkeit abzulegen.« Ermenbrecht schlug seinem Freund auf den Rücken. »Wir wollen schließlich nicht, dass Kytrin unsere Botschaft möglicherweise nicht versteht.« 177 KAPITEL ZWANZIG Kjarrigan schreckte aus dem Schlaf hoch. Entschlossen und Trawyn polterten auf Elvisch streitend in die Kabine. Er brauchte einen Augenblick, bis er begriff, was vorging, und das Gespräch übersetzen konnte. Trawyns /Elvisch war reichlich gestelzt und Entschlossens Ausdrucksweise schien unterste Gossensprache, was die Sache nicht gerade leichter machte. Bevor Kjarrigan herausfinden konnte, worüber sie stritten, wechselte Entschlossen in Gemeinsprache und deutete auf den im Koma liegenden JEli. »Weck ihn auf.« Trawyn streckte abwehrend die Hand aus. »Nichts dergleichen, Kjarrigan.« Ihr Auge funkelte. »Sieh ihn dir an, Entschlossen. Seine Haut ist immer noch fliederfarben. Sein Organismus hat die Traumschwinge noch nicht abgebaut. Er könnte jederzeit versuchen, uns umzubringen.« »Unsinn. Wäre er so hilflos, hätten ihn die Aurolanen längst gefangen und ermordet.« Der silberäugige JEli schaute Kjarrigan an. »Hast du irgendeinen Hinweis darauf gefunden, dass er gefährlich ist?« »Nein, keinen. Er hat nicht einmal gezaubert, soweit ich das feststellen kann. Er schläft nur tief und fest.« »Heb deinen Zauber auf und weck ihn.« »Entschlossen, überlege dir, was du tust.« »Ich habe es mir überlegt, Hoheit.« Der Vorqaslf deutete nach Norden. »In zwei Stunden erreichen wir Saslynnae. Ich will schnell an Land, zum Corijes, Will abholen und wieder verschwinden. Ich habe zu lange darauf gewartet, dass er von selbst aufwacht. Ich brauche ihn, um in den Corijes zu gelangen, und wenn er verwirrt ist, muss ich wissen, wie sich das auswirkt.« 178
»Er ist süchtig nach Traumschwinge, Entschlossen. Er könnte in einem Augenblick klar sein und im nächsten völlig von Sinnen. Im besten Fall nutzlos, im schlimmsten selbstmörderisch.« »Besser, wir erfahren es, Hoheit. Bitte, Kjarrigan.« Der junge Magiker stand auf und zog die Ärmel zurück. Er schaute auf den /Elf hinab, dann streckte er die rechte Hand aus. Er sammelte Energie, dann erhob sich ein goldener Lichtfunke aus der Handfläche - wie ein Löwenzahnsamen in einem Lufthauch. Er tanzte auf einer unsichtbaren Brise, dann sank er abwärts und berührte die unsichtbare Hülle des Schlafzaubers. Im selben Augenblick schoss er bereits in goldenen Zickzacklinien um und über den Schläfer. Einen Pulsschlag später verschwand er, dann kehrte er zurück, bewegte sich aber nicht. Entschlossen verzog das Gesicht. »Was ist los?« »Ich weiß nicht.« Kjarrigan bereitete sich vor und sprach einen einfachen Diagnosezauber. Der Spruch setzte an den Füßen des /Elfs an und arbeitete sich allmählich aufwärts, während er seinen Zustand genau aufführte. Er schien weitestgehend gesund, mit Ausnahme von Spuren eines Stoffes, von dem Kjarrigan annahm, dass es sich um Traumschwinge handelte, und eines körperfremden Gegenstandes, der in der Nähe einer Rippe eingewachsen war. Fühlt sich nach Stein an, vielleicht eine Pfeilspitze. Der Zauber kroch weiter den Körper hinauf, ohne irgendetwas Ungewöhnliches festzustellen, bis er auf Höhe der eisigblauen Augen ankam. Sie gingen urplötzlich auf und Kjarrigan zuckte zurück. Der Deckel der Truhe, in der Qwc lag, fiel zu. Der junge Magiker setzte sich schlagartig und glaubte zerstreut, mit seiner früheren Körperfülle die Truhe und den Sprijt zerquetscht zu haben. Er fasste nach dem Fußende der Koje, um sich abzustützen, dann traf ihn ein Impuls aus Macht und Wut. Wer wagt es? Die Worte erreichten ihn lautlos, doch sie sezierten Kjarrigan förmlich. Dass es der /Elf war, der ihn befragte, war nicht überraschend, nur strafte sein Alter das Aussehen Lügen. Er 179 war Jahrtausende alt, weit älter als irgendjemand sonst, mit dem Kjarrigan es je zu tun gehabt hatte. Das Stück Drachenkrone aus Vorquellyn hatte Spuren in ihm hinterlassen. Wut und tiefe Trauer erfüllten ihn. Die Traumschwinge hatte eine betäubende Wirkung, aber mit jedem Schlag seines Herzens wurde er klarer, und wenn er erst seine volle Geisteskraft zurückerlangt hatte, konnte er Kjarrigans Gehirn zu Brei verwandeln. Ungebeten stieg der Drachenbeinpanzer durch Kjarrigans Haut. Knochenplatten bedeckten ihn vom Kopf bis zu den Füßen, zerfetzten sein Hemd an den Schultern und sprengten die Knöpfe. Die Schnürsenkel eines Schuhs rissen und die Gürtelschnalle knirschte unter der Belastung. Krallen wuchsen ihm aus den Fingern und gruben sich ins Holz, als er sich festklammerte. Kajrün? Der Ansturm des Elfen ließ einen Augenblick lang nach, und Kjarrigan nutzte die Gelegenheit zum Gegenangriff. Er trieb sein Bewusstsein ins Hirn des Elfen und obwohl er sich vor dem, was er dort fand, klein wie eine Ameise fühlte, tat er laut seine Gegenwart kund. Nicht Kajrün, aber einer von denen, die versuchen, sein Erbe vor Kytrin zu beschützen. Kjarrigan war klar, dass er ein hohes Wagnis einging. Dieser JEli hatte Yrulph Kajrün gekannt, sonst hätte er den Drachenbeinpanzer nicht erkennen können. Da er zwei Bruchstücke der Drachenkrone versteckt und gegen aurolanische Einheiten gekämpft hatte, hoffte der junge Magiker, dass er ein Feind Kytrins war. Die Präsenz des itlfen verstummte und der Druck auf Kjarrigan ließ nach. Dann, als wäre es noch nicht seltsam genug, dass er sich im Geist des /Elfen befand, geschah etwas wahrhaft Erstaunliches. Das Bewusstsein des /Elfen wandte sich von ihm ab und begann ein Gespräch mit einer zweiten Präsenz. Kjarrigan konnte dem Wortwechsel nicht folgen, erhielt aber eine Ahnung dessen, was er beobachtete. Er unterhält sich mit dem Drachen im Vorquellyn-Frag180 ment! Kjarrigan selbst hatte ein ähnliches Gespräch mit dem Drachen des Rubinfragments geführt. Damals hatte er allerdings nicht gewusst, mit wem er sprach, und es war keine ausschließlich angenehme Erfahrung gewesen. Sich das vorzustellen: über ein Jahrhundert nur einen Drachen als Begleiter zu haben. So unangenehm war es nicht. Sie hat eine unbegrenzte Kapazität, mein Leiden zu ertragen. Der Geist des Elfen wandte sich wieder Kjarrigan zu. Lass mich allein. Ein weiterer Stoß warf Kjarrigan zurück und das Abschlussbrett der Koje zerbrach. Er fiel von der Truhe auf den Rücken, ein Stück Brett in den Händen. Der Panzer schützte ihn nicht vor dem Aufprall, denn er war wieder verschwunden, und Kjarrigan fand sich mit Holzsplittern unter den Fingernägeln auf dem Kabinenboden wieder. Trawyn half ihm auf, dann öffnete sie die Truhe. Qwc schlief immer noch, was Kjarrigan außerordentlich beunruhigte. Während er sich neben die Truhe kniete und einen Diagnosezauber sprach, setzte sich der alte /Elf auf und Entschlossen drückte ihm Syverces Spitze an den Hals. Der /Elf betrachtete Entschlossen und sprach mit ruhiger Stimme, doch seine Worte trieften vor Herablassung. »Entferne die Klinge, Kind, oder wir sind gezwungen, sie dir abzunehmen.« »Macht es uns leicht.« Der alte Vorqaelf überlegte kurz, dann nickte er. Er wiederholte die Warnung. »Hast du uns diesmal verstanden?« Entschlossen senkte die Waffe, steckte sie aber nicht weg. »Ich bin sicher, Ihr habt eine höchst reizvolle
Geschichte zu erzählen, doch mich betrifft nur eine einzige Sache: Könnt Ihr uns in den Corijes von Saslynnae bringen?« Er sah an Entschlossen vorbei Trawyn an. »Du bist eine Loqaelfe. Was machst du in der Gesellschaft verwilderter Kinder?« Sie seufzte schwer. »Ihr solltet Entschlossens Frage besser beantworten.« 181 »Entschlossen?« Der alte /Elf drehte sich wieder um. »Das war nicht dein Geburtsname.« »Hört zu, Großvater. Wir haben nicht viel Zeit.« Kjarrigan stand auf und legte Entschlossen die Hand auf die Schulter. »Entschlossen, warte mal.« Er wandte sich zu dem alten /Elf um. »Ich bin Kjarrigan Lies, ehemals von Vilwan. Das ist Prinzessin Trawyn. Dass sie eine Loqaelfe ist, wisst Ihr. In der Truhe dort liegt Qwc. Er ist ein Sprijt.« »Das wissen wir, Knabe. Wir waren schon auf der Welt, als es die Sprijsa noch nicht gab.« Er warf die dünne Decke zurück, mit der sie ihn zugedeckt hatten. »Man nennt uns Magarric.« Der /Elf schaute zu Entschlossen und Kjarrigan hoch, dann hinüber zu Trawyn. »Sie sind Kinder. Sicher kennst du unseren Namen.« Sie runzelte kurz die Stirn, dann wurde ihr Auge groß und sie sank auf ein Knie. »Mein Fürst. Vergebt mir.« Entschlossen knurrte. »Es ist mir gleich, wer Ihr seid. Könnt Ihr uns in den Corijes in Saslynnae bringen?« »Das können wir.« Der Vorqelf runzelte die Stirn. »Prinzessin Trawyn scheint zu glauben, Eure Traumschwinge-Sucht verwirre Euch und mache Euch möglicherweise gefährlich.« »Das wissen wir. Es ist die einzige Erklärung für den Zauber, den dieser Mensch über uns gelegt hat.« Magarric neigte den Kopf in Kjarrigans Richtung. »Ein Traumschwinge-Süchtiger wäre gefährlich, aber wir haben dieses Kraut lange genug benutzt, um uns an seine Wirkung zu gewöhnen. Wir wussten, was wir taten, als wir es züchteten.« »Die Behauptung, diese Pflanze erschaffen zu haben, ist nicht gerade geeignet, mich von Eurer geistigen Gesundheit zu überzeugen.« »Das ist ein Wagnis, das du wirst eingehen müssen, wenn du willst, dass ich euch in den Corijes bringe, nicht wahr?« Der alte /Elf zuckte die Achseln. »Wir werden euch hineinführen.« »Seid Ihr sicher, dass Ihr das könnt?« »Natürlich, Kind. Wir sind uns sehr sicher.« Magarric 182 lächelte, als er die Füße aus der Koje schwang. »Ich habe ihn errichtet.« Kjarrigan spürte den Ruck, der durch Entschlossen ging. Der Vorqaelf sank auf die Knie, dann zog er Kjarrigan neben sich zu Boden. Entschlossen streckte die Hand aus und legte Magarric Syverce zu Füßen. »Ich bitte Euch für mein ungehobeltes Betragen um Vergebung.« »Du bist ein Kind, wenn auch ein recht großes. Wir haben uns gefragt, wie es euch ergehen würde. Kjarrigan sagt uns, ihr seid Feinde Kytrins.« »Ja, mein Fürst.« Kjarrigan fühlte sich ebenso unter dem Bann des alten Elfen wie Trawyn und Entschlossen. »Warum wollt ihr den Corijes betreten?« Entschlossen hob den Kopf. »Mein Fürst, man hat uns gesagt, der, der Kytrin vernichten wird, wartet im Corijes auf uns.« Kjarrigan warf Entschlossen einen schnellen Blick zu. »Er könnte etwas mehr Einzelheiten wünschen.« Magarric lächelte kurz, dann wurde sein Blick unbestimmt. Sein Körper zuckte einmal und blinzelte. »Ohne Zweifel haben wir den Wunsch, die ganze Geschichte zu erfahren. Wie lange haben wir noch, bis wir Saslynnae erreichen?« »Keine zwei Stunden.« »Sehr schön. Lasst uns allein. Wir müssen uns vorbereiten.« Er schaute hinunter auf Syverce. »Du führst diese Klinge Sylquellyns ohne Schmerz?« Entschlossen nickte, dann nahm er das Schwert wieder auf. »Ich habe sie von dem erhalten, den wir suchen.« »Tatsächlich.« Der alte Vorqaslf lächelte wieder, dann verzerrte sich sein Gesicht und sein Rücken bog sich zu einem Hohlkreuz. Er rang nach Luft und Kjarrigan bereitete einen Zauber vor, doch Magarric hob die Hand. »Nein, bemühe dich nicht. Wir sind an Vorquellyn gebunden. Sein Schmerz ist unser Schmerz. Je näher wir kommen, desto größer wird er.« Kjarrigan zog fragend die Augenbrauen hoch. »Und wenn Ihr die Insel betretet?« 183 »Es wird entsetzlich, dessen sind wir uns sicher. Aber das spielt keine Rolle.« Magarric stieß einen langen Seufzer aus. »Selbst auf diese Entfernung spüren wir den, nach dem ihr sucht. Es gibt nichts, das wir nicht auf uns nehmen würden, um ihm zu begegnen.« Kjarrigan zog Qwcs Truhe mit hinaus, als sie die Kabine verließen. Trawyn und Entschlossen wirkten beide noch verschlossener als gewöhnlich. Auf dem Ruderdeck setzte er Qwc an der Reling ab. Dann schaute er die beiden /Elfen an. »Wer ist er?« Trawyn lehnte sich schwer auf die Reling, während Entschlossen hinter dem Steuerrad auf und ab wanderte. Der Wind spielte mit ihrem Haar und blies durch die Risse in Kjarrigans Hemd, wovon er eine Gänsehaut bekam. Sie
schien in Gedanken versunken. Dann nickte sie. »Kjarrigan, du weißt, heute gibt es vier aelfische Heimstätten, Vorquellyn eingeschlossen. Entschlossens Schwert stammt aus einer nicht mehr existierenden Heimstatt, wie du weißt, und damit auch, dass es noch andere gegeben hat. Es gab einmal eine Zeit, da nur eine einzige Heimstatt vorhanden war. Durch das Auftauchen der Menschen und anderer Geschöpfe entstanden Reibereien, und statt Krieg zu führen, beschlossen die neun Fürsten des damaligen Königs, die Heimstatt in kleinere Reiche aufzuteilen. Sie brauchten Jahrhunderte, um zu entscheiden, wie sie das bewerkstelligen wollten und kamen schließlich zu dem Schluss, Corijesci zu errichten. Sie zogen die Grenzen ihrer Reiche erst auf der Karte, dann steckten sie mit Hilfe von Magik eine gewaltige Macht in die Corijesci. Sie schufen die Heimstätten und banden sich an deren Corijesci.« Entschlossen verschränkte die Arme. »Wenn ein /Eli an seine Heimstatt gebunden wird, betritt er den Corijes und wird von dessen Hüter willkommen geheißen. Der Hüter ist an den Corijes gebunden. Es gibt den Corijes, solange er lebt. Ich hatte angenommen, der Hüter des Corijes von Saslynnae, wer immer das war, habe zwar mit den anderen diese Welt verlassen, lebe aber noch.« 184 »Waren alle Hüter diese ursprünglichen Fürsten?« Trawyn schüttelte den Kopf. »Nein. Durch bestimmte Rituale können andere diese Verpflichtung übernehmen. Ihre Namen sind nur den erwachsenen Elfen bekannt und werden denen gegenüber, die noch nicht zur Reife gelangt sind, nicht erwähnt. Ich kenne Magarrics Namen nur, weil ich die Geschichte der Entstehung unserer Heimstätten kenne.« Kjarrigan runzelte die Stirn. »Woher wisst ihr, dass er der Magarric ist?« Beide Elfen legten die Hand auf die Brust. Entschlossens Antwort kam als ein Flüstern. »Ich weiß es einfach.« Orakel erschien auf dem Ruderdeck. »Magarric ist wach?« Dem menschlichen Magiker fiel die Kinnlade herunter. »Du wusstest es?« Sie lachte. »Ich sehe vieles, Kjarrigan. Es wissen, ist etwas anderes. Ich weiß seinen Namen, weil ich zufällig hier oben stand, als er sich vorgestellt hat.« Entschlossen legte Orakel die Hand auf die Schulter. »Ja, Cousine, er ist wach. Er kann uns in den Corijes bringen. Er sagt, Will erwarte uns.« Orakel lächelte. »Jetzt weiß ich noch etwas anderes.« Kjarrigan hob Qwc aus der Truhe, wickelte ihn in ein Tuch und steckte ihn sich ins Hemd. »Was weißt du?« »Viele mögliche Zukünfte treffen hier aufeinander. Nur wenige entfalten sich und erreichen die volle Blüte.« Sie kehrte sich nach Norden um. »Morgen wird sich die Norderstett-Prophezeiung entweder als wahr erweisen oder sie ist falsch und wird uns alle töten.« Kjarrigan nahm gerne wieder seinen Posten am Bug des Schiffes ein, als sich die Vorqaelfen für das letzte Stück in die Riemen legten. Das Schiff bog um eine Landzunge und hielt in gerader Linie auf den Hafeneingang zu. Er erinnerte sich daran, wie die Gefährten Rellaence erreicht hatten, die Hauptstadt von Loquellyn. Trotz der Traurigkeit, die sein Herz damals umfangen hielt, hatte ihre Schönheit ihn gefangen 185 genommen. Obwohl seine Lehrerin tot in einer der Kabinen des Schiffes lag, hatte ihn Rellaence aufgemuntert. Der erste Anblick Saslynnaes hatte keine vergleichbare Wirkung. Die Berge rund um die Stadt waren von einem niedrigen schwarzen Etwas überwuchert, das Kjarrigan stark an Schimmel erinnerte. Rote Ranken zogen sich wie Blutgefäße durch die Landschaft und wanden sich um die dunklen, nackten Leichen kahler Bäume. Hässliche kleine Büsche, von der Farbe eingetrockneten Blutes und von Dornen starrend, erhoben sich hier und da in kleinen Gruppen. Einst prächtige Gebäude, aus Holz gebaut und so natürlich in ihrer Form, dass man glauben konnte, sie wären so aus dem Boden gewachsen, dienten nur noch Schimmel und Ranken als Klettergerüst. Riesige bunte Pilze hingen an den zum überwiegenden Teil eingestürzten Hauswänden. Um genau zu sein, abgesehen von den Docks und ein paar grob zusammengezimmerten Lagerhallen hatte nur ein einziges Gebäude dem Zerfall standgehalten. Mechanisch deutete aufs Land. »Das ist der Corijes. Der Platz vor dem Eingang war früher überwuchert, aber als Kytrin ihn benutzen wollte, hat sie ihn roden lassen.« Kjarrigan nickte und schätzte die Entfernung vom Hafen zum Corijes. Es waren etwa fünfhundert Schritt, allerdings über eine Straße, die sich in Serpentinen den Berg hinaufwand. Häuser reihten sich daran entlang, und auch wenn sie unbewohnt aussahen, konnten in jedem von ihnen Schnatterer lauern. Der Weg bot keine Deckung. Eine einzige Salve Pfeile oder Draconettenkugeln konnte sie alle töten. Außer mir. Kjarrigan fröstelte bei der Vorstellung der knatternd von seinem Panzer abprallenden Draconettenkugeln, während rings um ihn herum seine Freunde starben. Er hatte die Wunden, die diese Waffen schlugen, aus nächster Nähe gesehen und wollte nun wirklich nicht noch zusehen müssen, wie sich seine Freunde sterbend am Boden wanden. Er drehte sich um und winkte Entschlossen zu sich. »Niemand erwartet uns.« 186 Entschlossen hob die Hand über die Augen. »Noch zwei Stunden bis Sonnenuntergang. Die meisten Aurolanen schlafen. Diejenigen, die Wache halten, sehen eines ihrer eigenen Schiffe einlaufen.«
»Ich könnte sie ebenfalls einschläfern.« »Falls es nötig wird.« Entschlossen klopfte ihm auf die Schulter. »Vor allem müssen wir uns beeilen. Wir holen Will und verschwinden wieder.« »Aber wenn etwas schief geht, kann ich die Zauber einsetzen, die ich für richtig halte?« »Ja, Kjarrigan. Ich vertraue dir.« Der Graunebler, der das Schiff steuerte, lenkte es an einen Kai, und den Ruderern wurde mitgeteilt, dass sie am Ziel seien. Schnell holten die Vorqaelfen die Riemen ein und machten sich kampfbereit. Trawyn und ihre Hand voll Überlebender besaßen komplette Kettenpanzer, und sowie das Schiff an der Kaimauer scheuerte, sprangen sie mit Tauen an Land und zurrten sie fest. Abgesehen von einem Dutzend Vorqaelfen, die als Wache bei Orakel an Bord blieben, rannten alle Mitglieder der Gruppe das Dock hinunter in die Stadt. Kjarrigan, der Qwc in einem umgebastelten Weinschlauch um den Leib trug, rannte an der Spitze der Truppe, hinter Entschlossen, Mechanisch und Trawyns Leuten. Magarric lief neben ihm, Bok folgte ihnen. Er hatte Rymramochs Kasten an Bord des Schiffes gelassen, von genügend Schutzzaubern bewacht, um eine Legion Aurolanen aufzuhalten. Hinter ihnen folgte der Graue Nebel. Er konnte spüren, wie ihn fremde Augen beobachteten. Keines der von schwarzem Wuchs pelzigen und in rote Schlingpflanzen gehüllten Gebäude erschien ihm wirklich verlassen. Hinter den Türen und Fenstern mochte es dunkel sein, aber er wusste einfach, dass es Aurolanen verbarg. »Entschlossen, sie warten auf uns.« »Ich weiß.« »Woher?« »Es ist nur folgerichtig. Swindger war dabei, als Orakel ver187 kündete, dass Will im Corijes auf uns warte. Kytrin hat versucht einzudringen, doch es ist ihr nicht gelungen.« »Es war die Traumschwinge.« Magarrics Gesicht wirkte verzerrt und die Worte kamen ihm zischend über die Lippen. »Sie haben nach mir gesucht, doch die Traumschwinge hat mein Wesen weit genug verändert, so dass sie mich nicht finden konnten. Hätten sie mich getötet, wäre er gefallen.« Kjarrigan rannte noch etwas schneller, um Entschlossen einzuholen. »Wenn du gewusst hast, dass sie warten und dass das hier eine Falle wird, warum hast du dann zugelassen, dass wir hineintappen?« »Kjarrigan, denk einen Augenblick nach.« »Was?« »Du hast einmal ein Schiff aus dem Meer gehoben und zertrümmert.« »Ich erinnere mich.« »Wie schwer wird es dir fallen, einen Turm voller Schnatterer zu zermalmen?« Der junge Magiker zögerte. So baufällig wie diese Gebäude waren, kostete ihn das nur ein müdes Lächeln. So leicht zu töten... Er schauderte. Aber wenn es meine Freunde rettet... »Du hättest mir sagen können, was du vorhast.« Entschlossen lachte, als sie um die letzte Kurve in der Straße bogen. »Hätte ich geglaubt, dass du Zeit zur Vorbereitung brauchst, hätte ich das getan.« Sie erreichten den Platz vor dem Corijes. Ein Teil der Dornenbüsche, die zwischen den Pflastersteinen und roten Lianen gewachsen waren, rankten sich um die Säulenpodeste. Der Schimmel klebte auf den Steinen, wurde aber in der Nähe des Gebäudes dünner. Zehn Schritt vor dem Corijes endete der Teppich aurolanischer Gewächse, und als Magarric zwischen den Vorqaelfen vortrat, erstrahlte das Gebäude, als wäre ein Lichtstrahl durch die Wolkendecke gebrochen, um es in hellem Sonnenglanz zu baden. Das Bauwerk selbst erinnerte an eine riesige Baumwurzel, die aus dem Boden gebrochen war und in einem Bogen wieder 188 unter die Oberfläche tauchte. Außer am runden Eingangsportal war es von einer dünnen Rinde bedeckt. Dessen Ränder wirkten verdickt, als wäre der Baum um einen abgestorbenen Ast herum weitergewachsen, und das Holz im Innern des Kreises war durch Ringe abwechselnd aus hellem und dunklem Holz gezeichnet. Magarric hielt vor der Tür an und schloss die Augen. Seine Brust hob und senkte sich unter tiefen Atemzügen, ein süßer Duft stieg auf. Die Tür schien zu schwitzen, wirkte wie von Tau bedeckt. Die Tropfen liefen an dem Holz herab, das sich langsam auflöste. Der Vorqaelf trat durch das Portal, dann drehte er sich langsam um und breitete die Arme aus. »Seid willkommen allesamt in Vorquellyns Corijes. Er, den ihr sucht, erwartet euch darin.« Magarric wandte sich wieder um und winkte ihnen, zu folgen, und drang tief in das eelfische Heiligtum ein. Mit offenem Mund betrat Kjarrigan den Corijes. Hinter der Tür lag ein breiter, halbrunder Absatz, von dem eine Treppe mit zwölf Stufen hinab in einen langen Saal führte. Die Säulen, auf denen das Dach ruhte, waren mächtige Eichen, die in dem Bauwerk gediehen wie im Freien. Das Dach lag auf ihren Laubkronen, die in prachtvollen Herbstfarben erstrahlten. Magarric hüpfte fast die Stufen hinab. Als sein Fuß den Saalboden berührte, verwandelten sich die beiden vorderen Bäume. Ihre Blätter wurden grün, zunächst im hellen Farbton des Frühlings, dann wechselten sie zu einem dunkleren Grün voller Leben. Der uralte ^lf bewegte sich ohne den geringsten Anschein von Schmerz und
schien beinahe seine Jugend zurückzugewinnen, als er tiefer in den Corijes wanderte. Kjarrigan folgte ihm. Auf halbem Weg durch die Säulenallee bemerkte er einen Baum, der seine lebendige Farbe nicht wiedergewonnen hatte. Er war noch immer rot und golden, und Laub bedeckte den Boden um den Stamm. Zwischen den Blättern fand er auch etwas Ungewöhnliches, Schwarzes, aber erst, als er fast darüber stolperte, erkannte er, was es war. 189 Ein steinerner Arm hatte sich durch den hölzernen Körper des Bodens gebohrt. Dicke Finger krallten sich in die Luft. Der Arm war viel zu groß, um Will zu gehören, aber trotzdem wusste Kjarrigan, dass Will dort im Boden steckte. »Entschlossen, was soll ich jetzt tun?« »Hol ihn heraus.« »Das weiß ich auch. Aber wie« Ein rollendes Donnergrollen stieg vom Treppenabsatz auf. Kjarrigan riss den Kopf herum. Ein Dutzend Draconettiere - Turekadein, wie an ihrer Größe leicht zu erkennen war - hatte auf die letzten Graunebler geschossen, die auf dem Weg die Treppe herab waren. Die Schüsse, die keine Vorqaelfen trafen, sprengten Splitter aus Stufen, Wänden und Boden. Magarric schrie auf und sank auf die Knie, Kjarrigan aber drehte sich nicht zu ihm um. Keine der Draconetten konnte ihn auf diese Entfernung treffen und außerdem gab es noch eine weit größere Bedrohung als aurolanische Scharfschützen. Die vorderste Reihe der Turekadein teilte sich und zog sich zum Nachladen zurück. Eine große, schlanke Äilie mit fließendem goldenen Haar, einen Smaragdstock in der Hand, trat nach vorn. Ihre Haut war so weiß, wie es die Trawyns einmal gewesen war. Und die JElie wäre wunderschön gewesen, hätten die leeren Augenhöhlen den Eindruck nicht zerstört. Trotzdem fühlte Kjarrigan einen kalten Blick über sich gleiten. »Das ist eine Sullanciri.« Entschlossen nickte. »Quiarsca.« Sie stieg eine Stufe tiefer, und hinter ihr stellte sich eine neue Reihe Draconettiere auf. Rings um sie herum schwärmten die Froschkreaturen, die Trawyn Nyressanii genannt hatte. Sie schwangen Äxte und hüpften die Treppe herab. Dabei schwangen sie die Waffen nach den hastig zurückweichenden Grauneblern, dann hackten sie auf die Toten und Sterbenden auf den Stufen ein. Wenn die Äxte die Körper durchschlugen, zuckte Magarric ebenso und schrie auf, wie wenn sie verfehlten und nur auf Holz trafen. Die Sullanciri öffnete die Arme. »Macht euch keine Sorgen, 190 wie ihr den Norderstett befreien sollt. Das werden wir übernehmen. Danke, dass ihr uns die Türe geöffnet habt.« »Entschlossen, was soll ich tun?« »Hol ihn heraus.« »Das hatten wir schon. Aber wie« »Woher soll ich das wissen. Tu es einfach, ich hole mir eine Sullanciri.« Entschlossen zog Syverce, dann winkte er die Graunebler beiseite. »Ich werde dich töten, Quiarsca.« Sie lachte beinahe melodiös, als er auf sie zulief. »Ach, Entschlossen. Du bist immer so verbissen. Du willst mich vielleicht töten, aber dafür werde ich dich nicht nahe genug heranlassen.« Sie deutete auf ihn. »Feuer.« Draconetten wurden an Schultern gehoben, Hämmer spannten sich. Die Turekadein zielten und bewegten die Waffen mit Entschlossens Schritten mit. Sie warteten, während jeder seiner weiten Schritte die Entfernung schrumpfen ließ. Schon war er in Reichweite. Jeder Schritt brachte ihn näher an die Schützen, näher an die Sullanciri und näher an den Tod. ]etzt nicht! Kjarrigan gestikulierte und setzte den Zauberspruch ein, auf den Entschlossen unterwegs angespielt hatte. Der Telekinesezauber, den er vor langer Zeit schon gelernt hatte, und mit dem er ein Schiff aus dem Wasser heben oder einen Turm zertrümmern konnte. Er hätte sie alle aus dem Corijes schleudern können, was vermutlich eine sehr wirkungsvolle Methode gewesen wäre, den Zauber einzusetzen. Aber eins von Entschlossens Worten hallte in ihm nach. Ich könnte Türme zermalmen. Kjarrigan schmunzelte und entschied sich für ein weit bescheideneres, aber nicht weniger verheerendes Ziel. Einer der Turekadein knurrte einen Befehl und entlang der ganzen Reihe krümmten sich die Finger um die Abzüge. Hämmer fielen und senkten die brennende Lunte in den feinen Feuerdreck der Pfanne. Ein dünner weißer Rauchfaden bestätigte den Erfolg. Aus der Pfanne schoss die Flamme in den Lauf, wo sie eine weitere Portion Feuerdreck entzündete. Die pulverige Mischung verbrannte schnell, die Luft wurde heiß und dehnte 191 sich rasch aus. Die Bleikugel und der Tuchlappen, die den Lauf versperrten, wurden von Feuer und Luft vorwärtsgetrieben, immer schneller. Schneller als man blinzeln konnte, beschleunigte sie und schlug durch Entschlossens Brust. Oder zumindest hätte sie das getan, hätte Kjarrigan es nicht verhindert. Statt Türme zu zermalmen, hatte er sich damit begnügt, die Mündungen der Draconetten zusammenzuquetschen. Die Kugeln trafen auf das fest verschlossene Ende des Laufes und in zwei Fällen, in denen Kjarrigans Zauber das Metall gespalten hatte, explodierten die Läufe und überschütteten Quiarsca und einige Nyressanii mit
glühenden Metallsplittern. Bei allen anderen Waffen baute sich der Druck im Lauf weiter auf und suchte nach dem Weg des geringsten Widerstands - die Verbindung zwischen Kammer und Lauf. Die Draconetten flogen auseinander und Kammern oder Verschlüsse trafen mit der ganzen Wucht des Feuerdrecks die Gesichter der Turekadein. Trawyn stieß einen alten adfischen Schlachtruf aus und eilte an der Spitze ihrer Soldaten in den Kampf. Der Graue Nebel fing sich und setzte ihnen nach. Weitere Turekadein erschienen mit traditionellen Waffen am Treppenkopf, und die Nyressanii warfen sich ins Gefecht. Gelassen wie bei einem leichten Morgenspaziergang kam Quiarsca die Treppe herab, dann blieb sie stehen und trieb das angespitzte Ende des Stocks in eine der Stufen. Magarric heulte auf. Kjarrigan wirbelte herum und sah, wie sich der Äi\( am Boden wand. Hände und Gesicht waren von winzigen Schnitten übersät. Blutflecken färbten sein Hemd rot. Er hat den Corijes errichtet. Er ist mit ihm verbunden. Und umgekehrt. Stirbt er, stirbt auch der Corijes. Wird jedoch der Corijes beschädigt, verwundet es ihn. Kjarrigan starrte hinab auf den steinernen Arm, der sich durch den Boden zwängte. Natürlich. Entschieden wandte er sich von dem Kampf ab und kniete neben Magarric nieder. Er fasste den alten TElf an den Schultern, drehte ihn um und packte ihn von hinten unter den Ach192 sein. Magarric schlug um sich, als wieder Draconettendonner durch den Saal hallte und Quiarsca ihren Stock noch einmal in den Boden trieb. Der Magiker klammerte sich fest und vertrieb die Schreie und Explosionen aus seinem Bewusstsein. Er öffnete sich dem Strom der Magik und hielt Ausschau nach einer Strömung voller Macht und Reinheit. Er streckte sich aus und fing sie ein, dann lenkte er sie in einen Heilzauber. Er sprach ihn über Magarric, doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte nicht verhindern, dass er mit in den Strudel der Schmerzen gezogen wurde, der den alten i£lf in seiner Gewalt hatte. Für Kjarrigan war es nahezu unvorstellbar. Magarric hatte schon gelebt, bevor es Sprijsa und Menschen auf der Welt gab. Er hatte Freunde und Verwandte verloren, hatte unzählige Male geliebt und noch unzähligere Male war ihm das Herz gebrochen worden. Die Erschaffung Vorquellyns war ein freudiges Ereignis gewesen, doch das Wissen um das Größere, das hatte untergehen müssen, um seine Geburt zu ermöglichen, zehrte an ihm. Er hatte so viel gesehen, so viele Menschenalter durchlebt, hatte sein Reich verloren, zusehen müssen, wie es geschändet wurde und verrottete. Der junge Mensch stürzte in das Leben des uralten elfen und spürte, wie er sich auflöste. Kjarrigan kämpfte um Zusammenhalt, doch er fühlte sich wie Öl, das in ein endloses Meer gegossen wurde. Er beruhigte die Wogen, dabei verwandelte er sich aber in einen durchscheinend dünnen Film. Er konzentrierte sich darauf, Magarrics Verletzungen zu heilen. Die Schnitte der Äxte, die Nadelstiche der Draconettenkugeln und die brutalen Stiche Quiarscas zehrten an Magarrics Kraft. Sie trieb den Stock in sein Fleisch - IN unser FLEISCH -und drehte ihn in der Wunde. Schmerztentakel peitschten durch sie - uns. Und der Teil, der noch Kjarrigan war, kämpfte darum, den Schaden zu beheben. Er suchte alle übrigen Anomalien und Krankheiten. Er drückte den verkrusteten Stein aus der Brust, fand uralte Wunden und heilte sie. Kjarrigan fiel mitten durch Magarrics Wesen und in den 193 Corijes. Er sah das ganze Geschehen von allen Seiten gleichzeitig. Die Loqaelfen waren durch die Reihen der Turekadein gestoßen, aber jetzt waren sie umzingelt. Ein Teil der aurolani-schen Kreaturen stürmte an ihnen vorbei und griff die Grau-nebler an. Ein Turekadin löste sich aus dem Tumult und rannte mit blutigem, hoch erhobenen Schwert auf Kjarrigan zu. Der Knabe war deswegen nicht weiter besorgt. Er wusste, die Waffe würde von seinem Panzer abprallen. Entschlossen war in einen Zweikampf mit einem Turekadin verwickelt und Bok bombardierte die Nyressanii mit Zaubersprüchen. Keiner der beiden bemerkte den ausbrechenden Turekadin, aber Quiarsca sah ihn. Sie lachte triumphierend und trieb ihren Stock so tief in den Boden, dass eine ganze Stufe auseinander brach. Magarric schüttelte sich. Der Stich ging bis zum Herzen des /Elf. Noch ein Stich, und sie würde ihn töten. Und sie wusste es: Er entnahm es ihrem Gesicht und der langsamen, genüsslichen Art, mit der sie den Stock aus dem Boden zog und zu einem letzten Stoß hob. Niemand war nahe genug, sie aufzuhalten. Außer mir. Kjarrigan suchte hastig in sich und jagte einen Zauber durch Magarric hinaus in den Corijes. Quiarscas Stock fiel herab. Die glitzernde, nadelscharfe Spitze raste auf den Riss im Holz zu, aus dem bereits goldenes Harz floss. Der Stock würde tief bis zum Kernholz eindringen und Magarric töten, den Corijes töten und damit Vorquellyns Untergang besiegeln. Der Stock zerbarst in Quiarscas Hand. Der aus einem einzigen riesigen Smaragd geschnittene Kristall zersplitterte an dem Drachenbeinpanzer, der durch das Holz stieg und die Wunde schützte. Messerscharfe Splitter grünen Edelsteins bohrten sich der Sullanciri in Hände, Gesicht, Rumpf und Schenkel. Reflexartig riss sie die Hände vors Gesicht und zerschnitt sich auch dort die Haut. Sie schrie auf. Blut floss aus den leeren Augenhöhlen. Magarrics Bewusstsein strömte durch Kjarrigan. Was hast du getan? Du hast uns deinen Panzer gegeben. Du
bist schutzlos. 194 Kjarrigan schloss die Augen und wartete darauf, dass das Schwert des Turekadins ihn spaltete. Ihr müsst überleben. Aus weiter Ferne, wie aus tausend Meilen, hörte er Entschlossen seinen Namen brüllen. Der schwere Atem des Turekadins aber war weit lauter. Er spürte den Donner seiner Schritte. Er machte sich für das Zischen des Schwerts durch die Luft und den Knall bereit, mit dem ihm die Klinge den Schädel spaltete. Halb fragte er sich, ob er das Knacken der zerplatzenden Knochen wohl noch hören würde. Mit seinem letzten bewussten Gedanken stieß er Magarric von sich, damit ihn der Hieb nicht ebenfalls tötete. Der Schlag schien ewig auf sich warten zu lassen. Kjarrigan fragte sich, ob die Legenden stimmten und im Augenblick des Todes das ganze Leben an einem vorbeizog. Die Zeit reichte ohne weiteres, auch noch Magarrics Leben vorbeirauschen zu lassen, dachte er. Beeilung, mach schon, bringen wir es hinter uns! Er erwartete ein Zischen und ein Krachen. Er hörte ein Quietschen und ein Gurgeln. Kjarrigan wirbelte herum und rollte sich ab, als das Schwert, das ihn hatte spalten sollen, klirrend zu Boden fiel. Gut zwölf Schritt über ihm hing ein Turekadin in der Luft und strampelte. Die Augen traten ihm aus den Höhlen. Die Zunge hing ihm aus dem Maul und lief blauviolett an. Er schlug nach der Hand um seinen Hals, aber die Hiebe verloren schnell an Kraft, dann fielen die Arme leblos herab. Ein Fels in Menschengestalt ragte über Kjarrigan auf und drehte ihm den Rücken zu. Er war vom selben Obsidian wie die Hand, die aus dem Boden geragt hatte. Das war der Stein, den ich aus Magarrics Brust gedrückt habe. Die Gestalt war überlebensgroß und erheblich breiter, als Will es je gewesen war. Seine Schultern sind noch breiter als die von Dranse. Kjarrigan stand hastig vom Boden auf und schlug der Gestalt auf den Rücken. »Keine Sorge, Will, wir kriegen dich da raus. Es gibt bestimmt einen Weg. Danke.« Die Felskreatur wandte ihm den Kopf zu. Sie hatte keine 195 Ohren, keine Nase, keinen Mund. Genau genommen hatte sie auch keine Augen, nur zwei Flecken am Kopf glühten rotgolden wie die Lava, die Will verschlungen hatte. Sie schaute ihn kurz an, dann drehte der Kopf sich zum Kampfgeschehen zurück. Der tote Turekadin hing noch immer in der ausgestreckten Linken. Kjarrigan schaute ebenfalls zum Eingang und sah Quiarsca die blutigen Stufen hinaufkriechen. Sie versuchte zu entkommen, krallte sich blind, auf Händen und Knien, in die Stufen. Sie versuchte nach Kräften schnell voranzukommen, doch schien das Holz selbst sie festzuhalten. Sie hatte Mühe, die Hände zu heben. Das Kleid klebte an den Stufen. Magarric kicherte. »Was uns nicht umbringt, macht uns ausgesprochen ärgerlich. Sie geht nirgends hin.« Entschlossen schlug sich den Weg durch die letzten Turekadein frei, dann sprang er die Stufen hinauf zu der Sullanciri. Sie drehte sich zu ihm um und hob die linke Hand, als wollte sie um Gnade flehen. Sie wälzte sich auf den Rücken, das Haar gefangen im klebrigen Harz, das auf Magarrics Befehl aus dem Holz quoll. Schnell stieß ihr Entschlossen Syverce durchs Herz. Sie erstarrte. Obwohl sich ihre Muskeln bald darauf entspannten, blieb ihr Körper auf der Treppe liegen. Mehr Harz quoll aus dem Holz, floss um ihre Leiche und schloss sie nach und nach ein. Anderswo im Saal des Corijes brannte Bok das Leben aus der letzten Nyressan. Trawyn kniete neben einem ihrer toten Krieger und schloss ihm die Augen. Verwundete Graunebler plünderten die Kadaver der Turekadein, und mehr als einer von ihnen schwenkte eine Draconette. Entschlossen stand am Treppenaufgang und deutete zum Eingang. »Ihr habt uns eingeschlossen.« »Ich habe sie ausgeschlossen.« Magarric trat heran. »Die Verletzten sollen ihre Wunden mit dem Harz aus den Stufen bestreichen. Das wird die Heilung beschleunigen. Für die Toten kann ich nur meine Tränen anbieten.« Kjarrigan lief ihm hinterher und fasste ihn an der Schulter. »Was ist mit Will? Was könnt Ihr für ihn tun?« 196 Magarric drehte sich um. »Wer ist Will?« Kjarrigan deutete zu der steinernen Gestalt, die den toten Turekadin immer noch festhielt. »Das ist Will. Will ist da drin. Wir müssen ihn herausholen.« Trawyn und Entschlossen erreichten Kjarrigan und Magarric, als der alte /Elf den Kopf schüttelte. »Ihr seid nicht wegen Will hier. Ihr seid wegen dem Norderstett hier. Das ist er.« Kjarrigans Magen überschlug sich. Er stolperte rückwärts und hätte sich wohl auf den Hosenboden gesetzt, doch Entschlossen stützte ihn. »Was?« »Kjarrigan, Kjarrigan, wir haben nicht zugehört.« »Wie meinst du das? Ich verstehe nicht.« Entschlossens Stimme klang gepresst. »Orakel hat gesagt, der Norderstett erwartet uns. Sie hat niemals von Will gesprochen. Will ist auf Vael gestorben, aber der Norderstett hat überlebt.« Kjarrigan kamen die Tränen, vor seinen Augen verschwamm die Umgebung. »Wie?« Er schluchzte. »Wie kann das sein? Damals habe ich ihn nicht gerettet, aber diesmal wollte ich es. Wie?«
Entschlossen drückte Kjarrigan an sich. »Ich weiß es nicht, Kjarrigan, aber ich habe eine Vermutung. Will war nicht einfach Will, musst du wissen.« »Ich weiß. Er hieß Wilmenhart. Er hat es mir gesagt.« »Nun, vielleicht war Will nur ein Teil des Norderstett. Der Teil von ihm, der an einen Punkt gelangen musste, an dem er sich verwandeln konnte. Und irgendwie wusste er das. So wie sich sein Vater und Großvater verwandelt hatten, musste auch er sich verwandeln. Auf Vael haben wir Will verloren, aber hier haben wir den Norderstett gefunden.« Etwas flatterte gegen Kjarrigans Bauch. Qwc kämpfte sich aus dem Kokon aus Stoff und Leder frei, dann schwirrte er hoch zu der Obsidiangestalt. Qwc umkreiste den Felsenmann einmal, dann landete er auf der rechten Schulter. Der Sprijt legte alle vier Hände um den Mund und flüsterte etwas an die Stelle, wo bei einem Menschen das Ohr gewesen wäre. 197 Der Turekadin schlug mit einem dumpfen Knall auf den Boden, als sich die Hand öffnete, dann senkte sich der linke Arm, und die Gestalt setzte sich in Bewegung. Für ein Geschöpf aus Stein bewegte sich der Norderstett erstaunlich leichtfüßig. Unter dem schweren Schritt des Turekadins hatte der Boden stärker gebebt. Als der Norderstett näher kam, sah Kjarrigan, dass sich in seiner Schulter eine Delle geformt hatte, in die Qwc genau hineinpasste. Der Sprijt klopfte dem Norderstett auf die Schulter. »Fort. Fort. Will möchte fort.« Entschlossen drückte Kjarrigan. »Qwc, das ist nicht Will.« »Genauer hinschauen. Qwc sieht.« Kjarrigan hob den Kopf. Er sah nichts. Oder doch? War da ein Funkeln in den Augen? Etwas in der Art, wie sich eine Hand bewegte ? Das Ding bewegte sich ebenso leicht, wie Will es getan hatte. War es das, was Qwc sah, oder konnte der Sprijt durch die Steinhülle sehen, was darin verborgen lag? Entschlossen ließ Kjarrigan los und ging zur Tür. »Qwc hat Recht. Wir müssen aufbrechen. Wahrscheinlich wartet da draußen eine ganze Horde von ihnen auf uns.« Magarric schüttelte den Kopf. »Die Tunnel sind fast leer, und wir kennen ein paar Tricks, um sie beschäftigt zu halten, während ihr abzieht.« Der silberäugige Vorqaelf runzelte die Stirn. »Das klingt, als würdet Ihr hier bleiben.« »So ist es. Wir werden die Fragmente hier aufbewahren.« Trawyn schüttelte den Kopf. »Ist das klug? Ihre Gegenwart im Corijes wird ...« Magarric blickte sie an. »... störend genug wirken, uns in den Wahnsinn zu treiben?« »Verzeiht, mein Fürst.« »Halb so schlimm, Kind.« Der Vorqaelf lächelte. »Die Fragmente sind hier sicher, bis ihr Erfolg habt. Und falls nicht, werden wir wieder auf Wanderschaft gehen.« Trawyn rückte ihre Augenklappe zurecht. »Ihr habt Tunnel erwähnt. Hat Kytrin dort ihre Truppen herangezogen?« 198 »Manche von ihnen. Diejenigen, die ihr hier seht, die Kryalniri - die nicht annähernd so schlimm sind wie die Kreaturen, von denen sie ihren Namen haben. Und auch die kleineren.» »Und Ihr sagt, die Tunnel seien leer?« »So gut wie. Viele sind nach Loquellyn gezogen, und wir vermuten, der Rest zog nach Osten.« Kjarrigan runzelte die Stirn. »Nach Sebtia und Muroso. Die Prinzessin marschiert in eine Falle.« Entschlossen nickte. »Umso mehr Grund, dass wir uns beeilen. Jeder schnappt sich ein paar Turekadein und bringt sie mit.« Raubtier wischte sich das Blut aus dem Gesicht. »Es ist einfacher, sie hier zu skalpieren, Entschlossen.« »Stimmt, Raubtier, aber Skalps rudern nicht.« Entschlossen tippte auf eine der Tätowierungen auf seinem Arm. »Falls ihr nicht den ganzen Weg bis zur Geistermark pullen wollt, nehmt einen Freiwilligen mit. Wenn wir Kytrin schon mit einem ihrer eigenen Schiffe einen Besuch abstatten, darf sie uns ruhig auch die Mannschaft zur Verfügung stellen.« 199 KAPITEL EINUNDZWANZIG Isaura hatte ihre Mutter noch nie in einem solchen Zustand erlebt. Sie wusste seit langem, dass die Imperatrix die Gestalt verändern konnte. Als Kind hatte sie das begeistert, und noch immer überliefen sie wohlige Schauer, wenn sie ihre Mutter Drachengestalt annehmen sah, um über ihr Reich zu fliegen. Isaura wusste auch, dass diese Veränderung von ihrer Mutter Disziplin erforderte - sowohl für die Gestaltwandlung selbst als auch für das Bewahren einer Form. Als sie jetzt im Eingang zum Arkanorium ihrer Mutter hoch im Turm des Palastes stand, erkannte Isaura Kytrin kaum wieder. Sie hatte bereits erwartet, dass etwas nicht stimmte, als ihre Mutter sie tagelang nicht zu sich bestellt hatte. Isaura vermutete, dass der Tod der beiden Sullanciri damit zu tun hatte: Myral'mara und Quiarsca. Ihre Mutter hatte nie irgendwelche Zuneigung für die beiden gezeigt, doch ihr Tod musste sie treffen. Vielleicht war diese Trauer die Erklärung für den Anblick, der sich Isaura bot. Kytrins schmutziges, lumpiges Kleid hing von gekrümmten Schultern. Ihr langes Haar, sonst golden und von seidigem Glanz, jetzt brüchig und
von weißen Strähnen durchsetzt. Ihre Gesichtszüge waren schärfer geworden, die Mundpartie zu einer Schnauze ausgestülpt. Vor allem aber bedeckten elfenbeinweiße Schuppen ihre Haut. Sie waren weder so dick noch so groß wie in der Drachengestalt, sondern ähnelten eher den Schuppen eines Fisches. »Du hast nach mir geschickt, Mutter?« Kytrin wandte den Kopf mit derselben Beiläufigkeit, mit der Reifreißer sie als mögliche Beute zur Kenntnis nahmen. »Das 200 habe ich, Isaura.« Ihr Lächeln entblößte Fangzähne. »Ich habe konzentriert an dem Zauber gearbeitet, der mich in Narriz entlarvte. Meine derzeitige Gestalt ist eine der Vorkehrungen, die ich traf, um nicht noch einmal von ihm aufgespürt zu werden. Außerdem habe ich Schutzzauber errichtet, um ihn aufzuhalten oder zu täuschen.« Isauras Rechte lag auf dem kühlen Stein des Türbogens. »Das ist gut zu wissen, Mutter. Ich wusste, es würde dir gelingen.« »Oh, sicher, es ist mir mühelos gelungen. Aber dann begann ich mit dem Zauber zu experimentieren. Der Mensch, der ihn entwickelt hat, ist für jemanden von seiner Jugend sehr begabt.« Kytrin hauchte - und in der Dunstwolke sah man ein Bild von Kjarrigan. Isaura keuchte auf. »Das ist der Magiker, der Neskartu getötet hat.« »Kaum überraschend. Er ist eine erstaunliche Mischung aus vilwanischer, murosonischer und sonstiger Magik. Er wurde von Drachen und natürlich von meinem Vater unterrichtet. Das Faszinierende ist, wie neu die Magik war, die er für die Suche nach mir benutzt hat. Ich habe sie umgestaltet, um nach Fragmenten der Drachenkrone zu suchen, und sie war erfolgreich. Zwei habe ich hier, eines befindet sich auf Vael. Der Rubin ist in Oriosa. Swindger hat ihn versteckt, aber ich weiß, wo er ist. Sobald Anarus die Armee dort zerstört hat, werde ich ihn losschicken, den Stein zu holen.« Kytrin rieb sich die schuppigen Hände. »Ich habe auch Berichte über zwei weitere Bruchstücke erhalten: den Saphir und Vorquellyns vermissten Diamant. So, wie sie sich bewegten und wieder verschwunden sind, zusammen mit Quiarscas Tod...das lässt mich darauf schließen, dass sie auf Vorquellyn sind, und zwar im dortigen Corijes. Du, mein Liebling, wirst eine entscheidende Rolle dabei spielen, diesen Ort zu öffnen, so dass wir die Krqne vervollständigen können.« »Natürlich, Mutter. Es wird mir eine Freude sein, dabei zu helfen.« Isaura hoffte, dass ihre Stimme heiter klang. »Was ist mit dem siebten Fragment?« 201 »Ah ja, das ist das Wichtigste. Genau wie das Vorquellyn-Fragment war es gegen die üblichen Suchzauber hervorragend abgeschirmt. Jetzt aber konnte ich es ausfindig machen. Zumindest manchmal. Ich setze den Spruch einmal in der Stunde ein, und gelegentlich findet er es, zu anderen Zeiten aber nicht. Jedenfalls kann ich es jetzt in meine Hand bekommen.« Das zufriedene Gackern ihrer Mutter sandte Isaura einen kalten Schauder über den Rücken. »Und das Beste daran, meine Tochter: Es befindet sich bei Prinzessin Alexias Begleitung und ist somit geradewegs in unsere Falle unterwegs. Sobald ich es besitze und die anderen Fragmente gesichert sind, werden mir die Drachen den Wahrstein aushändigen, den sie auf Vael aufbewahren. Dann werde ich die Krone neu schmieden und meine Meister werden wieder über die Welt herrschen.« »Das ist wundervoll, Mutter. Soll ich gleich nach Vorquellyn aufbrechen?« Die gespaltene Zunge der Imperatrix zuckte kurz aus ihrem Maul, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, das ist nicht möglich. Die Suche beansprucht meine Zeit, und ich brauche dich hier.« »Möchtest du mir den Zauber beibringen? Dann könnte ich dir die Suche abnehmen.« Ihre Mutter schlurfte langsam durch das dunkle Turmzimmer, dann drehte sie sich so plötzlich zu Isaura um, dass diese zusammenzuckte. »Das ist vielleicht gar keine so dumme Idee, ja. Komm her.« Gehorsam glitt Isaura näher und blieb vor ihrer Mutter stehen. Kytrin streckte die Hand aus und drückte der jungen Frau die rechte Handfläche auf die Stirn. Ihre Krallen wühlten sich in Isauras Haar. Die Haut ihrer Mutter war trocken und warm. Die Krallen senkten sich leicht in Isauras Kopfhaut. Ihre Mutter konnte ihr zweifellos mit einem unbedachten Muskelzucken den Schädel eindrücken. Kytrin schloss die Augen, und die Hand auf Isauras Stirn 202 wurde heiß. Sie widersetzte sich einen Augenblick, dann brach der Zauber in ihr Bewusstsein durch. Sofort verstand ihn die junge Frau in seiner ganzen Eleganz. All seine unterschiedlichen Elemente waren brillant miteinander verwoben. Man brauchte nur die Eckpunkte der Suche festzulegen und den Sammelpunkt für die Herolde zu bestimmen, und der Zauber tat seine Arbeit und schirmte seinen Anwender zugleich vor einer Entdeckung ab. Besonders gefiel ihr, wie der Magiker die Suchzauber so geschützt hatte, dass diese Schildzauber selbst jeden in die Irre führen konnten, der versuchte, den Ursprung des Zaubers zu finden. Isaura trat einen Schritt zurück und fuhr sich mit den Fingern durch das weiße Haar. »O ja, Mutter, ich verstehe ihn. Ich werde dir helfen, wie du es brauchst.« »Ich weiß, Isauraliebes.« Wieder blitzten die Fangzähne der Imperatrix beim Lächeln auf. »Inzwischen bedaure ich es, dass ich den Schöpfer dieses Spruches so übereilt getötet habe. Wäre es mir gelungen, ihn zu einem Sullanciri zu machen, wäre er ein ausgezeichneter Ersatz für Neskartu gewesen und ihm haushoch überlegen.« »Ja, Mutter, das ist wirklich Pech.« Isaura zögerte, dann sprach sie weiter. »Du hast gesagt, zwei Fragmente sind
in Vorquellyn. Bedeutet das, sie sind dorthin gefahren und haben den Norderstett befreit?« Kytrin nickte, während sie sich umdrehte und zu einem Tisch hinüberging, dessen Arbeitsfläche mit Büchern, Schriftrollen, Destillierkolben, Ampullen und einer kleinen Truhe voller Schubladen mit seltenen Ingredienzien bedeckt war. »Ich vermute es. Genauso hatte ich es geplant.« »Wie kann das sein? Es ist ihm vorherbestimmt, dich zu vernichten.« »O ja, das ist es, mein Liebling, doch die entscheidende Frage lautet: wann.« Die Imperatrix drehte sich wieder um und verschränkte die Finger. »Du musst etwas Entscheidendes begreifen. In einer Prophezeiung stecken gewaltige Möglichkeiten. Sie bündelt diese Möglichkeiten, als wäre ihre Erfüllung ein 203 Nadelöhr, und alles, was geschehen und Wirklichkeit werden kann, muss durch dieses Nadelöhr passen oder es hat keine Zukunft. Die Norderstett-Prophezeiung könnte für jeden Norderstett zutreffen. Deshalb habe ich sie gesammelt. In dieser Ära hat die Prophezeiung noch zusätzliche Macht, weil ein ungestümer junger Bursche namens Tarrant Valkener geschworen hat, Vorquellyn zu seinen Lebzeiten befreit zu sehen. Ich hatte gehofft, mit seinem Tod etwas von dieser Macht freizusetzen. Doch es sollte nicht sein. Noch nicht. Und so baut sich weiter Macht auf, weil sich der Norderstett der Erfüllung der Prophezeiung nähert und die Möglichkeiten sich immer stärker bündeln. Macht, die ich benötige.« Isaura nickte nachdenklich. »Um die Oromisen zu befreien?« »Ja.« »Aber was, wenn der Norderstett dich tötet?« »Ich habe Vorkehrungen getroffen. Falls ihm das gelingt, werden andere Kräfte ins Spiel kommen, die trotzdem zur Befreiung der Oromisen führen. Falls ich ihn aufhalte, falls ich ihn zögern lasse, bin ich in einer Lage, die es mir gestattet, diese Macht zu nutzen und meine Meister freizusetzen. Auch die Wiedererschaffung der Drachenkrone bündelt Macht, jedoch weit weniger. Aber da ich mit ihr die Drachen aufeinander hetzen und sie vernichten kann, werde ich auch weniger Macht benötigen. Sobald sie verschwunden sind, wird es sehr viel leichter sein, meine Meister zu befreien.« »Was aber, falls der Norderstett es nicht bis hierher schafft?« »Ich habe sein Kind. Das reicht.« Isaura zwang sich zu einem Lächeln. »O Mutter, ich bin so froh. Ich hatte mir Sorgen um dich gemacht. Jetzt weiß ich, dass nichts passieren kann.« Kytrins Miene hellte sich auf. »Sehr gut, meine Tochter. Ich freue mich, dass du dir keine Sorgen mehr machst. Jetzt muss ich weiterarbeiten. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass es nicht mehr lange dauert. Ich werde dich rufen, sobald ich deine Hilfe benötige. Leb wohl.« 204 »Du auch, Mutter.« Isaura drehte um und floh aus dem Turm. Sie raffte die Röcke, um die Stufen der Wendeltreppe hinabrennen zu können. Was ihre Mutter gesagt hatte, trieb sie an. Ihre Mutter war wahnsinnig, daran hatte sie keinen Zweifel mehr. Was einmal ein echter Wunsch gewesen sein mochte -Aurolan vor der Unterwerfung durch den Süden zu bewahren -, hatte die Oromisen schon vor langer Zeit in etwas anderes verwandelt. Ihre kurze Begegnung mit den Oromisen und ihr Wissen um die Drachen und die Furcht vor ihnen brachte Isaura zu der Überzeugung, dass die Oromisen die Herrschaft über die Welt auf keinen Fall zurückerringen durften. Am Fuß des Turmes wartete Hlucri in den Schatten. »Da bist du. Hol alles zusammen, was wir für unsere Flucht versteckt haben.« Der Sullanciri nickte. »Und Sayce?« »Die hole ich.« Isaura atmete durch. »Wir müssen in den Süden, und zwar schnell. Falls nicht, werden die Pläne meiner Mutter aufgehen - und die Welt wird sich zu etwas verändern, das nie sein darf.« Ferxigo machte sich so klein, wie es ihre gestaltwandlerischen Fähigkeiten erlaubten, bevor sie zu Füßen ihrer Herrin niederkniete. »Es ist, wie Ihr gesagt habt, Herrin. Isaura hat die Gefangene und ist in den Süden aufgebrochen.« »Hlucri ist bei ihnen?« »Ja, Herrin.« »Sehr gut.« Kytrin lächelte, ihr Gebiss bestand nun ausschließlich aus drachenartigen Reißzähnen. »Natürlich war sie es, die mich verraten hat. Es liegt ihr im Blut. Sie wird den Norderstetts immer helfen. Und sie hat nicht begriffen, was ich ihr über die Möglichkeiten gesagt habe. Ein Norderstett, der kommt, mich zu töten, stellt Macht dar. Zwei, denn Sayce wird nicht zurückstehen, vergrößern diese Macht nur. Sie will mich aufhalten, doch sie macht mich bloß stärker.« Ferxigo wagte einen Blick nach oben. »Wird sie in der Lage sein, sie zu finden?« 205 »Ganz sicher. Mit dem Zauber, den ich sie gelehrt habe, wird sie sie finden. Gib ihr zwei Tage Vorsprung, dann brich nach Süden auf. Bring mir Sayce und den Norderstett. Alle anderen bringst du um.« »Was ist mit Eurer Tochter?« »Ich habe keine Tochter.« »Ich verstehe, Herrin.« Ferxigo presste die Stirn auf den Boden. »Soll ich am Pass Truppen aufstellen?«
Kytrin zögerte, dann nickte sie. »Alexia wird an Nefrai-kesh nicht vorbeikommen, aber du fragst dich, ob auch er sich gegen mich wenden könnte?« »Nein, Herrin, er würde Euch niemals verraten.« »Nein, aber falls doch... falls drei Norderstetts aufeinander träfen ...« Kytrins Lächeln wurde breiter. »Dann würden sich vielleicht selbst die Oromisen mir zu Füßen werfen, so wie du es tust.« »Wie es Euch gebührt, Herrin.« »Da hast du Recht, Kleines, es wäre nur angemessen.« Die Imperatrix der Aurolanen nickte ruhig. »Geh jetzt und bereite unsere Truppen vor. Erfülle deine Aufgabe zügig. Je eher du Erfolg hast, desto eher wird unsere Zukunft Wirklichkeit.« 206 KAPITEL ZWEILNDZWANZIG yx hörte aufmerksam zu, als die Murosonin wiederholte, was sie auf der Flucht nach Süden gesehen hatte. Die Frau behauptete, aus Caledo zu stammen, und die Markierungen der Maske bestätigten das. Sie war aus der Hauptstadt geflohen, als die Aurolanen sie einnahmen. Mitsamt ihrer Familie war sie erst nach Süden gezogen und dann nach Westen umgeschwenkt. Sie hatten sich in der Wildnis versteckt und in einer Höhle gelebt, bis der Frühling kam. Dann waren sie weiter nach Westen gezogen, um nachzusehen, ob Zamsina ebenfalls gefallen war. »Die Stadt gibt es nicht mehr, sie ist von Drachenfeuer bis auf den Grund niedergebrannt.»Ihre Stimme hatte den monotonen Klang betäubter Müdigkeit. »Alles ist bis auf die Grundmauern abgebrannt. Wir haben von einem Berg auf sie Stadt hinabgeschaut, und es war wie ein Heckenlabyrinth aus einem Turmfenster. Aber südwestlich davon, da sahen wir etwas, von dem Ihr erfahren müsst.« Alyx lächelte ihr zu. »Bitte, ich weiß, du hast die Geschichte schon oft erzählt, aber ich möchte sie mit deinen Worten hören.« Während sie das sagte, trat sie hinüber zu den Karten, die man - basierend auf den Aussagen dieser Frau und ihrer Familie - angefertigt hatte. Sie alle waren einzeln befragt worden. Ihre Geschichten stimmten überein, und sobald die Murosonin sie noch einmal wiederholt hatte, würde man die Familie wieder zusammenführen und auf einem der Güter nahe Notirri unterbringen. Falls es stimmt, was sie sagt, hat Nefrai-kesh kaum mehr als zwanzig Meilen von hier eine Armee zusammengezogen, die mich vernichten wird. Einerseits wollte sie diese Vorstellung Ai 207 als Hirngespinst abtun, denn ihr angeblicher Traum hatte eine Endschlacht in Sebtia vorhergesagt. Hatte sich die Lage so sehr verändert, dass Kytrin davon abgekommen war, ihr eine Erfüllung dieser Träume vorzuspielen, oder hielt sich Nefrai-kesh nicht an den Plan seiner Herrin ? Oder hatte Kytrin Alyx glauben machen wollen, sie wüsste, wie es weitergehen solle, damit sie den Feind unterschätzte? »Ich habe kein Händchen für Zahlen, aber mein Sohn hat die Banner gezählt. Er sagt, da gab es fast hundert dieser kleinen Banner und sechs große Standarten. Mein Mann hat gesagt, so nenne man die großen Banner. Er hat in den alten Zeiten gegen Kytrin gekämpft. Mein Sohn sagte, da habe es achtzig von den kleinen gegeben, aber ich konnte sie nicht zählen.« Alyx sah zu Kräh hinüber, der die Stirn gerunzelt hatte. Achtzig kleine Banner entsprachen achtzig Legionen oder achttausend Feinden. Die größeren Standarten würden Regimentern entsprechen, und sechs davon, das entsprach ungefähr den Legionsbannern. Die zusätzlichen Legionen waren dann wohl Verstärkung. Obwohl Alexia über fast das Anderthalbfache verfügte, machten andere Faktoren die Aurolanen ihrer Streitmacht überlegen. »Nachts mussten wir uns verstecken, aber wir haben eine Menge Lagerfeuer gesehen. Das war in den Bergen südwestlich von Zamsina. Sie haben Wälle errichtet und ein Fort gebaut. Kann sein, dass sie Sklaven aus der Gegend dafür eingesetzt haben. Wir haben keine Sklavenjäger gesehen, mein Sohn sagt aber, es waren Menschen bei den Arbeitern. Menschen müssten doch Sklaven gewesen sein, oder? Sie würden nicht für sie arbeiten, wenn sie nicht gezwungen werden, oder?« Alyx schüttelte den Kopf, ohne die Augen von der groben Karte der Befestigungen zu heben, die der Sohn gezeichnet hatte. Nefrai-kesh hatte ein quadratisches Fort aufgebaut, dessen südwestliche Ecke höher lag als die im Südosten oder Nordwesten. Die unterste Ecke war nur durch ein enges Tal zwischen zwei Bergkämmen zu erreichen, steil genug, um Rei208 ter daran zu hindern, einem Hinterhalt zu entkommen. Und wenn es einen Ort gab, der wie für einen Hinterhalt geschaffen schien, dann war es dieses Tal. Belagerungsmaschinen dort entlang zu fahren, war beinahe unmöglich, und selbst wenn, dann nutzten sie am Ziel kaum etwas, weil es dort keine Mauern gab, die zertrümmert werden mussten, nur Erdwälle und Gräben. Alyx war durch die Beschreibung des Forts vor allem deswegen beunruhigt, weil sich Nefrai-kesh damit in die Stellung begab, in der sie ihre eigenen Truppen beim Ansturm durch aurolanische Einheiten vorhergesehen hatte. Die Nordlandhorden hatten sich durch wiederholte Sturmangriffe todgerannt, und selbst als es die Aurolanen schafften, eine Bresche in die tiefe Nordostecke der Befestigung zu schlagen und in die Festung einzudringen, hatte ein entschlossener Gegenangriff sie zurück vor das Fort getrieben, wo sie besiegt wurden. Ihre Truppen
waren durch die Bresche gestürmt und hatten die Aurolanen zerschlagen, indem sie durch das Tal und in einer Flankenbewegung nach Südwesten preschten, um die aurola-nischen Schlachtreihen von der Seite aufzurollen. In ihrem angeblichen Traum hatten es die elftausend Truppen in der Befestigung ohne Schwierigkeiten mit zwanzigtausend Aurolanen aufgenommen. Genau das war jetzt ihr Problem. Befestigungen wie diejenige, die diese Flüchtlingsfamilie beschrieb, konnten eine zweifache Übermacht von Angreifern aufhalten, wenn nicht sogar eine dreifache. Und wenn die Aurolanen auch noch Draconellen hatten, waren sie möglicherweise unbesiegbar. »Ich weiß, Ihr werdet wissen wollen, ob sie Draconellen hatten. Ich habe vor Caledo welche gesehen und gehört. Ich dachte, meine Ohren müssten bluten bei dem Krach. Hier habe ich keine gesehen. Ich habe auch keine Stellungen gesehen, von denen mein Sohn sagt, dass sie nötig wären, um sie einzusetzen. Aber sicher weiß ich es nicht.« »Das ist schon gut.« Diesmal drehte sich Alyx um. »Wir können es schon herausfinden, bevor wir dort sind.« 209 Arimtara trat zu der Frau und ging in die Hocke. Sie hauchte eine Dunstwolke aus, in der das Bild eines Dracomorphs erschien. »Hast du irgendetwas gesehen, das so aussah?« Erst schreckte die Frau zurück, dann kniff sie die Augen zusammen und starrte auf das Bild. »Nein, und auch niemanden wie Euch, aber da waren so viele Leute, dass ich es nicht mit Bestimmtheit sagen könnte. Es waren auch keine Gyr-kyme da.« Peri lächelte. »Irgendwelche Araftii?« »Ich habe nichts fliegen sehen. Und nach dem Drachen vor Caledo habe ich Ausschau gehalten.« »Das glaube ich gerne.« Alyx ging hinüber und half der Frau auf. »Draußen wartet ein Leutnant, der dich zurück zu deiner Familie bringt. Danke für eure Hilfe.« Die Frau nickte, dann lächelte sie. »Ihr werdet unser Land doch befreien?« »Natürlich werden wir das.« »Und Ihre Hoheit retten?« »Ganz bestimmt.« Die Frau griff nach Alyx' Händen und bedeckte sie mit Küssen. »Die Götter mögen Euch bei allem, was Ihr beginnt, segnen.« »Danke für deine Hilfe.« Arimtara begleitete die Frau zum Ausgang, den Generalin Pandiculia für sie aufhielt. Sobald die Murosonin hindurch war, schloss die salnische Kriegerin die Türe hinter ihr. »Dankbarkeit nur für ein Versprechen. Wie bemerkenswert.« Alyx zuckte die Achseln. »Sie hat nur noch ihre Hoffnung. Und ihre Familie. Ich habe ihr zusätzlich ein bisschen Hoffnung dazu gegeben. Was sie uns gegeben hat, stimmt mich allerdings nicht gerade hoffnungsvoll.« »Das vielleicht nicht, aber es ist hilfreich.« Kräh trat hinüber an die Karte des Forts. »Ihr Sohn und der Ehemann sind sich hinsichtlich der Befestigung einig. Der Sohn hinkt, deshalb konnte er nicht Soldat werden, aber er hat ein reges Interesse an Geschichte. Er hat viele der Regimentsstandarten genau 210 beschrieben, und mit den neuen Soldatengattungen in den feindlichen Reihen war er sehr genau.« »Ich weiß. Hört sich nach den Kreaturen an, die Entschlossen auf Vorquellyn gesehen hat.« Alyx fröstelte. Die per Arkantafal aus Loquellyn eingetroffenen Einzelheiten waren zwar nicht sehr ausführlich, sie erwähnten jedoch zwei neue Kreaturenrassen in Kytrins Armeen, Turekadein und Nyressanii. Peri betrachtete die Karte. »Eines verstehe ich nicht: Das Fort ist nahezu uneinnehmbar, sowohl was die Bauweise und die Lage, aber auch was die Bemannung betrifft. Doch es hat eine Schwachstelle. Es gibt keine Wasserquelle. Selbst wenn sie Brunnen ausheben, geben die niemals genug für eine so große Armee. Warum solltest du deine Armee auch nur im Traum an einen solchen Ort führen?« Die Prinzessin lächelte. »Reiner Zufall. Als ich meinem Vetter den angeblichen Traum erzählte, habe ich nur ein paar Schlachten erwähnt, aber dazugesetzt, da wären noch andere gewesen. Der Kronzirkel wollte alle Einzelheiten hören. Eigentlich ist diese Lagebeschreibung eine Schlacht aus der valischen Geschichte, als eine j eranische Armee die Valen in einer Festung einschloss und belagerte. Ich hatte den valischen Kommandeur immer für einen Narren gehalten und nicht verstanden, wie er hätte gewinnen können. In meiner Hast versetzte ich mich in seine Lage und bot dem Kronzirkel eine mögliche Lösung an. In Wahrheit fiel die Nordostecke, sobald die Soldaten dort zu durstig waren, um sie noch zu verteidigen.« »Dann machen wir es genauso? Wir umstellen sie, graben uns ein und warten?« Kräh strich sich über den Bart. »Das wäre eine Möglichkeit.« »Ja, aber dazu müsste Nefrai-kesh ein Narr sein, und wir wissen beide, dass er das nicht ist.« Alyx tippte auf die Karte. »Falls wir das Fort umzingeln und er noch weitere Truppen in der Hinterhand hat, fällt er über uns her, und wir sind erledigt.« Kräh nickte. »Zugegeben, aber wenn wir versuchen, die Festung zu stürmen, werden wir eine Menge Leute verlieren.« 211 »Die Schwierigkeit ist mir durchaus bewusst. Er braucht uns nur zu schwächen, uns auszulaugen. Ermenbrecht
hat gemeldet, dass eine Armee nach Oriosa vorrückt. Falls sie anhält und umdreht, während wir Nefrai-kesh nach Caledo oder Sebtia treiben, sitzen wir zwischen zwei Fronten und werden zwischen diesen beiden Armeen zerquetscht.« Generalin Pandiculia verzog das Gesicht. »Wir könnten meine Truppen als Schutzschild nach Osten hin aufstellen. Ich befürchte allerdings, wir könnten sie nicht lange aufhalten. Trotzdem kann Euch das als Vorwarnung nützlich sein.« Alyx nickte. »Ganz gleich, was wir tun, Eure Armee wird eine entscheidende Rolle spielen.« Peri machte ihrer Verärgerung in einem kurzen Aufschrei Luft. »Wir können Nefrai-keshs Armee nicht einfach außer Acht lassen, weil er dann über Saporitia herfällt. Wir müssen ihn hier angreifen, auf dem Schlachtfeld seiner Wahl.« »So ist es. Für uns mag es nach einer schlechten Wahl aussehen. Für ihn ist es genau das, was er beabsichtigt.« Alyx seufzte erst, dann kniff sie die Augen zusammen. »Ich versuche zu erraten, was er weiß, er versucht zu erraten, was ich weiß, und so weiter.« »Und die Entscheidung wird von etwas abhängen, das ihr beide nicht wisst.« Kräh schüttelte den Kopf. »Es ist ziemlich offensichtlich, dass wir niemals genug wissen werden, also bleibt uns nichts anderes übrig als weiterzustolpern.« »Ja, mein Liebster, du bringst es auf den Punkt.« Die Prinzessin schlang die Arme um sich. »Und zu hoffen, dass das, was wir nicht wissen, uns nicht zu übel mitspielt.« 212 KAPITEL DREIUNDZWANZIG Nachdem er die Turekadein verzaubert hatte, um die Ruderbänke zu bemannen, hatte sich Entschlossen zu einer Ruhepause in die Kabine des Schiffes zurückgezogen. Er schlief schnell ein, leichter als jemals in den letzten hundert Jahren. Obwohl seine Heimat nicht mehr annähernd so gewesen war wie in seiner Erinnerung, hatte es ihm einen gewissen Frieden beschert, sie auch nur betreten und den Feind dort besiegt zu haben. Es reichte nicht aus, ihn von seiner Aufgabe abzubringen, doch konnte er so daran glauben, der Kampf habe eines fernen Tages ein Ende. Als er wieder aufwachte und hinauf zum Ruderdeck ging, graute bereits der Morgen. Unter Deck, wo die untoten Turekadein mit einer Unermüdlichkeit die Riemen pullten, die kein lebendes Wesen aufgebracht hätte, stand der Norderstett reglos da. Qwc schlief auf seiner rechten Schulter. Die Felskreatur schien nichts von dem zu bemerken, was um sie herum vorging, und trotzdem hatte Entschlossen den deutlichen Eindruck, dass kein Turekadin auch nur eine unerwartete Bewegung hätte vollenden können. Vorn am Bug standen Kjarrigan und Orakel. Entschlossen schaute hinüber zu Trawyn, die am Steuerrad stand. »Hat Kjarrigan geschlafen?« »Nein.« »Und Ihr?« Sie schaute sich zu ihm um. »Nein. Ich kann nicht schlafen, während unsere Crew rudert.« Entschlossen runzelte die Stirn. »Die machen keinen Ärger. Sie werden uns zur Geistermark bringen.« »Und dann was?« 213 »Keine Ahnung. Bis jetzt hat noch keiner lange genug durchgehalten, dass ich mir darüber hätte Gedanken machen müssen. Falls sie noch bei Kräften sind, lasse ich sie ins Meer springen. Das schulde ich Tagostscha.« Die Loqaelfenprinzessin schaute wieder zum Bug. »Ich war nie damit einverstanden, wie sich manche von euch Vorqaelfen haben verzaubern lassen.« »Die Entscheidung lag nicht bei Euch. Wir haben entschieden, es müsse sein, und damals gab es noch Vorqaelfen, die die Rituale durchführen konnten.« Ihre Stimme blieb leise. »Nur wenige der Tätowierungen auf deiner Haut sind vorqaelfisch.« »Stimmt. Ich habe eine gewisse Zeit damit verbracht, mein Gewerbe zu lernen. Es gab Personen, die nach gewissen Dingen verlangten, und ich habe sie geliefert. Es gab eine Zeit, als man Schnatterfratzengalle für ein Potenzmittel hielt. Und in der feinen Gesellschaft Alcidas waren Fächer aus Frostkrallenfedern einmal sehr gefragt. Sie haben bekommen, was sie wollten, und ich auch.« Trawyn starrte ihn wieder an, und die Kraft in ihrem Blick überraschte ihn. »War es all das wert, was du dir angetan hast?« »Wovon redet Ihr, >was ich mir angetan habe« »Sieh dich an. Du bist kaum noch ein /Elf. Du hast deinen Geburtsnamen aufgegeben. Erinnerst du dich überhaupt noch an ihn?« Er blähte die Nase. »Das ist ohne Bedeutung für Euer Argument, Prinzessin. Kommt zum Punkt.« »Der Punkt ist folgender: In deinem Bemühen, eure Heimstatt zu retten, bist du zu etwas geworden, das dort niemals leben könnte.« Sie schüttelte den Kopf. »Versteh mich nicht falsch. Ich bewundere, was du getan hast.« »Obwohl du nicht glaubst, dass Vorquellyn je erlöst werden kann?« »Ja. Du hast weder die Hoffnung verloren noch bist du zu einem Parasiten verkommen - wie Raubtier und die anderen. 214
Und du spielst nicht Erwachsener wie Vergütet und seine Leute.« Falten erschienen auf ihrer Stirn und ihre Stimme brach. »Falls du Erfolg hast, weißt du schon, dass du eure Heimat für sie zurückeroberst, hoffe ich? Sie werden dich als Helden feiern, aber sie werden dir nie das Gefühl geben, unter ihnen zu Hause zu sein.« »Das spielt keine Rolle, Prinzessin.« Entschlossen schenkte ihr ein Lächeln. »Wenn Vorquellyn erst erlöst ist, wird Vorquellyn mir auch das Gefühl geben, zu Hause zu sein. Wenn ich erst meine Heimstatt habe, und wenn ich dann an sie gebunden bin, wird sie mir sagen, wo mein Platz ist. Bis dahin bin ich, was ich selbst aus mir gemacht habe. Ich bin ein ^lf, vielleicht auch noch mehr als das, oder nur anders. Aber ich bin, was ich sein muss. Versteht Ihr?« Trawyn nickte nachdenklich. »Ja, ich verstehe.« Der Vorqaelf schaute über das Ruderdeck hinab auf den Norderstett. »Die Erlösung verlangt Opfer, aber bis zur Prophezeiung waren wir orientierungslos. Als Kräh und ich Will fanden, betrachtete ich seinen Namen als ein Vorzeichen. Will: ein Wort wie die, die wir uns zu Namen wählten. Und er war sehr eigenwillig. Manchmal beinahe zu sehr.« »Ich kann nach vollziehen, wie ihr seinen Namen als gutes Omen deuten konntet«, nickte Trawyn. »Jetzt scheint Will nicht mehr zu passen, und der Norderstett klingt zu abweisend.« »Ich stimme Euch zu.« Entschlossen schloss kurz die Augen, dann lächelte er. »Will war der Name, den er sich selbst gegeben hatte. Sein wahrer Name war Wilmenhart.« »Er hat einen Aspekt seines Namens für einen Aspekt seines Lebens angenommen.« »So scheint es. Vielleicht ist er jetzt nur noch Hart.« Die Felskreatur drehte den Kopf in ihre Richtung, als hätte sie Entschlossen zugehört. Der Vorqaelf unterdrückte den Wunsch, ihn zu fragen, ob ihm der Name gefalle, wie man es vielleicht bei einem Haustier getan hätte. »Wir werden dich Hart nennen.« 215 Trawyn schüttelte den Kopf. »Seine Opfer gehen weiter. Erst das Leben, nun der Name.« Entschlossen zögerte kurz, dann stellte er die nächste Frage sanfter, als er es zunächst beabsichtigt hatte. »Ihr habt Angst, was beim Verlust Eurer Heimstatt aus Euch würde, ist es das? Was Ihr opfern müsstet.« »Ich frage mich, ob ich mir antun könnte, was du getan hast, um es zurückzugewinnen.« Entschlossen zuckte die Achseln. »Wir wollen hoffen, dass Ihr niemals erfahren müsst, was Ihr für Eure Heimstatt zu tun bereit wärt.« Er schaute zum Bug und sah Wolkenstreifen am Horizont. »Wir erreichen gegen Mittag Land?« »So sieht es aus.« »Gut. Ich werde Euch verzaubern, damit Ihr schlafen könnt. Aber vorher will ich mit Kjarrigan reden.« »Er braucht auch Schlaf.« »Ich weiß.« Entschlossen stieg die Leiter zu den Ruderbänken hinab, schob sich an Hart vorbei und stieg aufs Vordeck hoch. »Kjarrigan, du musst schlafen.« Der Knabe wirkte gehetzt. »Ich kann nicht schlafen. Ich muss ständig an Will denken.« Orakel legte Entschlossen die Hand auf den Arm. »Ich habe mich für den Irrtum entschuldigt. Ich wusste nur, dass der Norderstett auf uns wartet. Ich wusste nichts über seine Gestalt oder sein Wesen.« Entschlossen tätschelte ihr beruhigend die Hand, aber seine Gedanken kehrten zur Höhle in Gyrvirgul zurück, in der Orakel ein gewaltiges Wandgemälde geschaffen hatte, das einen Teil ihrer Visionen darstellte. Dort war Will auf einem aus der Wand wachsenden Felsstück erschienen. War das eine bewusste Entscheidung oder nur Teil ihrer Gabe? Kjarrigan schaute auf. »Ich mache dir keine Vorwürfe, Orakel. Du hast gesagt, was dir erschienen ist, und ich habe nicht nachgefragt. Ich dachte einfach, meine Deutung stimme.« »Genau wie ich, Kjarrigan. Ich dachte auch, wir würden Will finden, wenn wir diese Nuss geknackt haben.« 216 »Ich weiß, Entschlossen.« Kjarrigan ballte die Hände zu Fäusten. »Es ist die Prophezeiung - und Wills Rolle darin -, die mich nicht loslässt. Du hast gesagt, vielleicht war Will nur ein Teil des Norderstetts und musste diese Verwandlung durchmachen. Vielleicht hätten sein Vater und Großvater diese Rolle einmal übernehmen können, doch haben sich die Dinge so entwickelt, dass sie Will zugefallen ist. Wenn er versagt, wenn wir versagen, bedeutet das dann, dass Sayces Kind zum Norderstett wird - oder einer von Wills Halbbrüdern? Hat Will noch jemanden geschwängert, und deren Kind ist der neueste Norderstett?« Orakel legte die Hände aufeinander. »Diese Möglichkeiten bestehen, aber sie sind bislang eben nur das: Möglichkeiten. Die Norderstett-Prophezeiung ist eine Wirklichkeit, die sich auf die eine oder andere Weise erfüllen wird.« Tiefe Falten standen auf der Stirn des jungen Magikers. »Es geht wohl um mehr als nur um die Sorgen um die Prophezeiung. Man hat mir gesagt, ich wurde auf Vilwan für den Kampf gegen Kytrin herangezogen. Sie zu besiegen ist der einzige Sinn und Zweck meines Daseins. Will, so scheint es, wurde geboren, um die Prophezeiung zu erfüllen. Alexia wurde zwar frei geboren, aber zur Feindin Kytrins erzogen. Hatte irgendeiner von uns eine Wahl? Hätten wir etwas anderes sein können, als wir geworden sind?« Entschlossen warf einen kurzen Blick zurück zu Trawyn. Sein Gespräch mit ihr hallte in ihm nach. »Du könntest ebenso gut fragen, ob überhaupt jemand eine Wahl hat, was sein Leben betrifft. Vielleicht gibt es irgendwo Prophezeiungen, die all dies vorhersagen, den Sturz Vorquellyns und selbst Ereignisse lange zuvor. Könnte es
sein, dass es gar keine freie Entscheidung gibt? Vielleicht bestimmt unser Ende, wie unser Leben verläuft, als würde die Zeit rückwärts fließen und als würden wir von unserem Tod auf einen festen Kurs zu unserer Geburt geschickt.« Kjarrigan nickte. »Genau.« Orakel wischte sich einen Gischttropfen von der Wange. 217 »Wenn dem so wäre, Kjarrigan, seid ihr, Prinzessin Alexia, Will und du, um nichts besser oder schlechter dran als irgendjemand sonst. Das Selbstmitleid hinter deiner Frage ist damit ohne Bedeutung, denn jedes Leben wird vorherbestimmt. Ihr drei seid nur auf dem Weg zu einem offensichtlicheren und dramatischeren Ende als andere.« Der Knabe starrte sie an, dann sackte er zurück gegen das Dollbord. »Diese philosophische Fragestellung ist mir neu, aber du hast lange darüber nachgedacht, nicht wahr?« »So ist es, Kjarrigan. Mehr noch, ich musste darüber nachdenken.« Orakel seufzte. »Ich bin eine Seherin. Ich blicke in mögliche Zukünfte. Ich war gezwungen, mich mit der Frage auseinander zu setzten, ob das, was ich sehe, den Ausgang festlegt, oder ob er noch geändert werden kann.« »Und zu welchem Schluss bist du gekommen?« »Es scheint, dass es bestimmte Punkte gibt, an denen man ein Ergebnis verändern kann, und Taten, die die Zukunft beeinflussen. Andere Kräfte, wie die Prophezeiung oder Krähs Schwur, Vorquellyn zu seinen Lebzeiten befreit zu sehen, dienen als Kanäle, die mögliche Zukünfte bündeln. Jetzt gerade fließen sie zusammen. Ich kann nicht vorhersagen, welche von ihnen siegen wird, denn über einen bestimmten Punkt hinaus sehe ich nichts. Da ich nicht weiß, welche der verschiedenen Möglichkeiten sich verwirklichen wird, wäre es nutzlos, euch von ihnen zu erzählen.« Entschlossen nickte. »Und allein die Tatsache, dass wir von einer möglichen Zukunft wissen, könnte uns zu einem Handeln veranlassen, das sie verändert.« Kjarrigan stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wenn ich versuche, das Ganze auf den Punkt zu bringen, scheine ich nur zwei Möglichkeiten zu haben: entweder ich entscheide, dass alles vorherbestimmt ist und ich nicht den geringsten Einfluss darauf habe, was aus mir und der Welt wird, oder die Welt ist das Ergebnis von Entscheidungen, die mit freiem Willen getroffen wurden, und ich muss zusehen, dass ich die Entscheidungen so gut treffe, wie ich kann.« 218 Orakel lächelte. »Ich würde sagen, du hast die Sache sauber auf den Punkt gebracht.« »Womit mir wirklich nur eine Wahl bleibt, nämlich Letzteres anzunehmen.« Kjarrigan grinste schief. »Falls es keinen freien Willen gibt, werde ich die beste Wahl treffen, sofern mir das vorherbestimmt ist. Da ich aber an einen freien Willen glaube, bin ich entschlossen, die beste Wahl zu treffen.« Entschlossen klopfte ihm auf die Schulter. »Eine gute Wahl.« »Weil sie die vernünftigste ist.« »Ja. Und außerdem ärgert sie die Götter.« »Ich dachte, du glaubst nicht an die Götter?« Der Vorqself grinste. »Tue ich auch nicht. Nur warum sollte mich das hindern, sie zu ärgern?« Kjarrigan hob beide Hände. »Warte. Das klingt beinahe vernünftig, und das bedeutet: Ich brauche dringend Schlaf. Weckt mich, wenn wir da sind.« Das Schiff segelte eine Flussmündung hinauf in ein Sumpfgebiet. Auf dem letzten Stück übernahm der Graue Nebel wieder die Riemen. Wie er es Tagostscha versprochen hatte, schickte Entschlossen die Turekadein über die Reling, bevor sie das Meer verließen. Schließlich lief das Schiff auf eine Sandbank, wo sie es mit Tauen sicherten und landeinwärts losmarschierten. Entschlossen war zwar ziemlich sicher, dass sie nie wieder hierher zurückkehren würden, um es abzuholen, trotzdem wollte er nicht, dass es zurück aufs Meer trieb. Auch wenn sie vor der Küste nicht einem patrouillierenden Schiff begegnet waren, wollte er kein unnötiges Wagnis eingehen. Die Kämpfe in Saslynnae hatten ihre Spuren hinterlassen. Von den fünfzig, die Vorquellyn erreicht hatten, lebten nur noch fünfunddreißig, und viele hatten Verletzungen, die trotz des Corijesharzes noch nicht verheilt waren. Trawyns Leute führten die Gruppe wieder an, gefolgt von Entschlossen, Orakel, Hart, Kjarrigan und Bok. Qwc hatte sich einigermaßen gut erholt und begleitete sie, flog aber nicht, sondern saß Hart auf 219 der Schulter. Der Graue Nebel bildete den Rest der Truppe. Raubtier, Mechanisch und ein Pulk von sechs anderen Vorqaelfen übernahmen die Rückendeckung. Entschlossen antwortete leise auf eine Frage von Kjarrigan: »Ja, ich bin schon früher in der Geistermark gewesen, aber es ist lange her. Es leben noch heute Menschen hier, die Kytrin Tribut zahlen, und manche dienen ihr. Ich muss davon ausgehen, dass auch die Aurolanen hier Truppen liegen haben, aber hauptsächlich näher am Borealpass. Wir sind hier in der Nähe eines anderen, weniger bekannten Passes, dort können wir leichter über die Berge kommen.« Trawyns Loqadfen waren ihnen auf dem schmalen Pfad über Erdwellen und zwischen flachen Bergen hindurch ein gutes Stück voraus. Entschlossen hatte sie gerade aus den Augen verloren, als ihn ein Rascheln im Gebüsch vor einem Hinterhalt warnte. Höchst unterschiedliche Menschen, aber alle verdreckt und in bunt
zusammengewürfelter Kleidung, traten aus der Deckung und zielten mit Bogen und Armbrüsten auf sie. »Keine Bewegung, dann lassen wir euch leben.« Entschlossen untersuchte die Lage schnell und leidenschaftslos. Er trug einen Beutel mit Klingensternen am Gürtel und war sicher, dass er den Sprecher und zwei seiner Begleiter töten konnte, danach jedoch würden die Armbrustbolzen ihn und alle anderen zerfetzen. Auch der Rest der Gruppe konnte bestimmt ein paar Angreifer töten, doch dann würden sie ebenfalls sterben, und das ziemlich schnell. Entschlossen verließ der Mut. Wir waren so nahe dran. Er schaute sich zu den anderen um, dann hob er langsam die Hände. »Wir lassen uns später etwas einfallen«, beruhigte er Kjarrigan und Orakel. Der Magiker trat einen Schritt vor, und Entschlossen konnte ihn nicht aufhalten, ohne einen Angriff herauszufordern. Kjarrigan musterte die Soldaten mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. »Kenne ich euch nicht?« Der Anführer der Gruppe raunzte: »Sei still.« »Natürlich kenne ich euch. Ihr seid von der Jeranser Kron220 garde. Deine Frau hat ein Kind gestillt, einen von den Zwillingen der Bäckersfrau. Du bist Possius.« Der Mann blinzelte. »Das... woher weißt du das?« »Ich habe dir ihren Brief vorgelesen. Ich bin's: Kjarrigan.« Der Mann schnaufte ungläubig. »Du bist nicht der Kjarrigan, an den ich mich erinnere.« »Ich habe ein paar Mahlzeiten ausgelassen, Possius. Das hier ist Entschlossen. An den solltest du dich erinnern.« Er grinste. »Und selbst wenn du es nicht tust, ich bin sicher, General Adrogans erinnert sich an ihn. Ich bin sicher, er wird uns sofort sehen wollen.« KAPITEL VIERENDZWANZIG Obwohl sein Zelt im Schatten mehrerer Bäume stand, empfand Markus Adrogans die Hitze als drückend. Er hatte Hemd und Stiefel ausgezogen und trug nur noch eine weite Pluderhose, wie sie die Aleiden unter seinem Befehl bevorzugten. Uniformen trugen sie ohnehin schon lange nicht mehr, und wenigstens klebte ihm der Stoff nicht an der Haut. Der Schweiß lief ihm in Strömen über die Brust, biss aber nicht mehr an den Stellen, wo die kleinen Talismane, die ihn an die Yrün banden, an der Haut befestigt waren. Die Berichte der Kundschafter waren sehr genau ausgefallen, munterten ihn aber keineswegs auf. Die Lage schien trostlos. Er hob eine der Holzproben auf - einen Splitter so lang wie sein Finger, auf dem sorgfältig notiert war, wann und wo er einem Balken entnommen worden war - und drehte ihn gedankenverloren zwischen den Fingern. Die ungewöhnliche Hitze hatte zumindest ein Gutes: so sehr sie ihm zu schaffen machte, die Aurolanen litten noch viel mehr darunter. Die Kundschafter in Alcytlin meldeten, dass Schnatterer und selbst Schnatterfürsten äußerst träge waren, auch wenn die Temperaturen den Kryalniri nichts auszumachen schienen. Das würde seinen Leuten helfen, sobald es zum Kampf kam, denn ein Schlachtgetümmel war zusätzlich schweißtreibend und ermüdend. Der Nachteil der Hitze war - abgesehen davon, dass sie seine Leute kaum weniger erschöpfte als den Feind -, dass die Aurolanen in den Kasernen blieben und nachts keine Lagerfeuer anzündeten, um sich zu wärmen. Das machte es schwieriger abzuschätzen, wie viele sich in der Stadt aufhielten. Und ohne dieses Wissen wäre ein Angriff Wahnwitz gewesen. 222 Aber wenn ich nicht angreife ... Ein Mann erschien am Zelteingang. »Bitte um Verzeihung, mein General, aber die Küstenstreife von gestern ist zurück. Sie haben Gefangene.« Adrogans runzelte die Stirn und würdigte ihn kaum eines Blickes. »Er kennt das Verfahren. Sie werden verhört, um herauszufinden, was sie wissen, danach bekomme ich einen Bericht.« »Jawohl, mein General, aber ich vermute, Ihr werdet sie selbst befragen wollen.« Adrogans drehte sich um und kniff die grauen Augen zusammen. Er erkannte den Mann. Possius, von der Jeranser Krongarde. »Wen ich persönlich verhören möchte oder nicht, Sergeant, ist keine Entscheidung, wie sie normalerweise von jemandem Seines Ranges getroffen wird.« »Das weiß ich, mein General, aber ich glaube wirklich, Ihr werdet sie unverzüglich sehen wollen.« Bevor Adrogans antworten konnte, flog die Zeltplane auf der anderen Seite des Eingangs zurück und Ph'fas trat ein. Seine linke Hand verschwand völlig im Griff einer gewaltigen Felskreatur, die sich ducken musste, um das Zelt zu betreten. Als sich der Koloss aufrichtete, streifte er mit dem Kopf das Zeltdach. Auf seiner rechten Schulter saß ein Sprijt, und hinter ihm traten ein schlanker junger Mann ein, der auf Adrogans entfernt vertraut wirkte, und ein großer Vorqaelf, den er auf der Stelle erkannte. Er schaute Possius an. »Er hatte Recht, Sergeant. Danke.« Ph'fas klatschte wie ein Kind in die Hände. »Siehst du, Neffe, unsere Gebete wurden erhört.« »Tatsächlich.« Adrogans begrüßte Entschlossen mit einem Nicken. »Einen Kämpfer deines Kalibers kann ich immer gebrauchen. Und du bist offenbar nicht allein gekommen.« Der Vorqself schüttelte den Kopf. »Ich habe noch etwa dreißig weitere Kämpfer dabei, Vorqaelfen und ein paar Loqselfen. Darunter Prinzessin Trawyn. Sie redet gerade mit den Schwarzfedern. Loquellyn wurde überrannt, ist aber nicht verloren.«
223 »Und der Sprijt ist sicher Qwc?« Qwc nickte, erhob sich aber nicht von seinem Sitzplatz, um durchs Zelt zu schwirren. Er wirkte bedrückt, Adrogans kannte sich aber mit diesem Volk zu wenig aus, um sagen zu können, ob das ungewöhnlich war. »Und deine anderen Begleiter?« Der junge Mann hob kurz die Hand. »Wir sind uns schon begegnet. Ich bin Kjarrigan Lies.« »Natürlich. Du hast dich verändert, ich erkenne jedoch deine Stimme.« Er schaute hoch in das ausdruckslose Gesicht des Felsgiganten. Die glühenden Flecken, die er an Stelle von Augen besaß, ließen nicht erkennen, wohin er schaute - oder ob er überhaupt etwas sah. »Wer ist das?« »Das ist Will.« Kjarrigans Antwort kam pfeilschnell. »Man muss genau hinsehen, aber er steckt drin.« Entschlossen drückte Kjarrigans Schulter. »Um genau zu sein: Das ist der Norderstett. Will starb auf Vael, um das Leben eines Drachen zu retten. Der Norderstett ist jedoch sehr viel schwieriger zu töten als Will, und er ist zurückgekehrt, um die Prophezeiung zu erfüllen. Wir - oder besser einige von uns -haben sich entschieden, ihn von nun an Hart zu nennen. Er begleitet uns, um Kytrin zu vernichten.« »Dann seid ihr nach Norden unterwegs?« Entschlossen nickte. »Das hatten wir vor.« Adrogans verschränkte die Arme. »Ich werde euch helfen, wo ich kann. Ihr könnt euch mit unseren Vorräten ausrüsten. Aber der Weg von hier zum Pass wird nicht leicht werden. In Alcytlin haben die Aurolanen eine Werft gebaut. Es stehen bis zu zehntausend ihrer Kreaturen dort und warten darauf, sich zu einem Angriff auf Yslin einzuschiffen, oder vielleicht auch nur, um die Armee zu verstärken, die Prinzessin Alexia aufhalten soll.« Entschlossen schmunzelte. »Da fällt mir ein, ich soll Euch den Befehl überbringen, in Swarskija zu bleiben.« »Ich nehme es zur Kenntnis.« »Und wir werden nicht den Borealpass benutzen. Ich kenne einen anderen Weg nach Norden. Normalerweise ist er gefähr224 licher, aber so heiß wie dieser Frühling ausfällt, dürften die tückischeren Passagen eisfrei sein.« Der Jeranser General nickte. »Falls es dir nichts ausmacht, würde ich euch gerne ein paar Kundschafter mitgeben. Falls wir es nicht über die Werft hinaus schaffen oder der Feind uns beim Kampf um die Anlage durch die Mangel dreht, könnte es nützlich sein, eine kleine Truppe über deinen Pass nach Aurolan zu schicken.« Der Vorqaelf hakte die Daumen hinter dem Schwertgurt ein. »Das ist schon das zweite Mal, dass Ihr im Hinblick auf die Werft Zweifel äußert. Ich erinnere mich nicht, Euch jemals anders als zuversichtlich erlebt zu haben. Warum schüchtert Euch diese Aufgabe so ein? Ist es das Meer?« »Meine Angst vor dem Meer? Nein, es gibt genug Landwege dorthin.« Adrogans atmete tief durch, dann umriss er kurz die Schwierigkeiten, denen sich sein Heer gegenübersah. Er verfügte zwar über Draconellen - und irgendwie überraschte es ihn nicht, dass Entschlossen davon wusste -, aber die eventuelle Unterlegenheit seiner Kräfte in Verbindung mit der Möglichkeit, dass die aurolanischen Schiffe sie unter Feuer nahmen, ließen zu vieles offen, was sich seiner Beobachtung entzog. »Ich weiß, wir müssen bald zuschlagen. Meine Quellen haben mich über Alexias Erfolge und die bevorstehende Schlacht bei Zamsina unterrichtet. Die Alcytlin-Flotte wird nach dieser Schlacht auslaufen, entweder zu einem Angriff auf Yslin, Lakaslin und Narriz oder um über die Seehäfen neue Truppen nach Muroso zu schaffen. Die Schiffe laden bereits Proviant und sind zum Teil fertig mit Draconellen bestückt. Ich müsste ein Narr sein, würde ich von weniger als acht feindlichen Regimentern ausgehen.« Kjarrigan runzelte die Stirn. »Ihr habt gesagt, die meisten Aurolanen bleiben tagsüber in den Häusern?« »Ja.« »Dann braucht Ihr Euch nicht um sie zu kümmern, solange sie nicht ausrücken, um gegen Euch zu kämpfen?« »Das nicht, aber selbst wenn wir alle Fenster und Türen mit 225 einem Zauber verriegeln, hält sie das nicht auf. Die Kasernen bieten ihnen Schutz vor den Elementen, doch man kann ohne weiteres einen neuen Ausgang in eine Wand brechen.« »Das weiß ich schon.« Kjarrigan hob die Hand und bewegte die Finger. Der Holzsplitter, mit dem Adrogans gespielt hatte, flog ihm aus der Hand und zu dem wartenden Magiker hin. »Ihr habt noch mehr von diesen Proben?« »Wir haben Splitter von jedem Stück Holz, das wir finden konnten.« »Gut. Ich möchte wetten, dass nicht alles Holz für die Schiffe benutzt wurde. Vermutlich steckt eine Menge in diesen Gebäuden. Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich feststellen, welche Stücke Teil von Trage- und Stützbalken sind. Das bedeutet, ich kann die Kasernen über den Aurolanen zum Einsturz bringen. Würde das helfen, das Kräfteverhältnis auszugleichen?« Adrogans grinste und rieb sich das Kinn. »Schätze schon. Wir werden einen Angriffsplan ausarbeiten, unsere Leute aufstellen und angreifen. Wenn du ihre Kasernen zum Einsturz bringen oder die Schiffe auf Abstand halten kannst, bleibt nur noch eine Schwierigkeit.« »Die Sullanciri, die die Flotte befehligt.« Adrogans nickte.
Der Vorqaelf setzte zu einer Erklärung an, doch in diesem Augenblick brach ein lautes Knirschen und eine starke Hitzewelle aus Hart heraus. Er hob die rechte Hand und ballte sie zur Faust. Der blauviolette Stein wurde glühend heiß, dann zeigten sich Risse. Lava floss heraus und formte eine Doppelblattaxt mit Sägeschneiden. Adrogans schaute Entschlossen an. »Auch ohne zu reden schafft er es, sich verständlich zu machen.« »Das kann man wohl sagen.« 226 KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG Ijrmenbrecht hatte auf zwei Dinge gehofft. Erstens, dass seine Armee es bis in die Auen schaffte, bevor sie sich den Aurolanen stellen musste. Aber Anarus, der Kommandeur der Nordlandtruppen, dachte nicht daran, ihm diesen Wunsch zu erfüllen und stieß nach Oriosa vor. Der Sullanciri benutzte die Bokaberge zur Sicherung der Westflanke und wählte das Schlachtfeld mit Bedacht. Er entschied sich für ein flaches Tal, durch das ein seichter Fluss strömte, und stellte seine Truppen auf dem Nordhang auf. Der zweite Wunsch des Prinzen war eine größere Armee gewesen, als die Aurolanen sie aufboten. Dieser Wunsch erfüllte sich, aber nur durch Zufall, und der Unterschied war zu gering, um richtig ins Gewicht zu fallen. Nachdem sie die Blutmasken zur Strecke gebracht und den Thron in Meredo neu geschmückt hatten, war die Streitmacht, die Ermenbrechts Armee verfolgt hatte, vorgerückt. Sie bestand aus knapp zweitausend Kriegern des Ostlands, angeführt von Graf Storton. Er hatte die Armee um sechshundert Mann Schwere Reiterei und ein Regiment leichte Fußtruppen verstärkt. Auch Malvenstett hatte seine Truppen eingebracht, neunhundert Mann Leichte Reiterei und ein weiteres leichtes Infanterieregiment. Auf dem Marsch hatten sich ihnen noch weitere tausend Freiwillige angeschlossen, denen Ermenbrecht allerdings keinen großen Wert beimaß. Borghelm war anderer Ansicht. »Hoheit, sie tragen Masken.« Die ruhige Zuversicht des jungen Mannes stützte Ermenbrechts Laune, bis sie auf Anarus' Heer trafen. Sie zählten die aurolanischen Standarten und errechneten eine zahlenmäßige Überlegenheit von fast zweitausend Soldaten für den Süden, 227 die Freischärler nicht eingerechnet. Das war ein Übergewicht von einem Drittel, doch konnten Draconellen oder Draconettiere diesen Vorteil ausgleichen. Zudem verfügten die Aurolanen über mehr Magiker, zumindest wenn alle weißen Flecken in ihren Reihen Kryalniri waren. Seine Ottermagiker waren wirklich gut, aber falls sie nicht alles abwehren konnten, was die Aurolanen an Sprüchen schleuderten, würden diese erheblichen Schaden anrichten. Mit dem anbrechenden Morgen scheuchten Trompeten die Soldaten auf, doch Ermenbrecht war schon lange wach. Er beobachtete, wie sich das erste Sonnenlicht auf den Gipfeln der Bokas brach und langsam die Hänge hinabwanderte. Das Schlachtfeld schälte sich allmählich aus der Dunkelheit, dann wurden die ersten Farben erkennbar. Auf der anderen Talseite regten sich die Aurolanen. In seinem Lager sammelten sich die Soldaten, die schwere Infanterie im Zentrum, die leichte an den Flügeln, die Kavallerie hinter den Flügeln massiert. Die Freischärler, zwei Bataillone leichte Reiterei und drei Bataillone leichte Fußtruppen warteten hinter den Reihen als Eingreifreserve. Ganz in Kettenpanzer gekleidet, Krön an der linken Hüfte, kam Ermenbrecht an Net Hauer vorbei, der zusammengeliehene Rüstungsteile umschnallte. »Du brauchst nicht mitzukämpfen, Net. Du hast deine Pflicht getan.« »Es bleibt meine Heimat. Hab schon in der Mondmaske Aurolanen umgebracht und weiß immer noch, wie's geht.« Er richtete sich auf und schwenkte einen Streitkolben. »Denke, ich werde den Buben ein bisschen Mut machen.« Der Prinz nickte. Die Freiwilligen hatten sich auf Grund ihrer Jugend und draufgängerischen Haltung den Spitznamen >die Buben< eingehandelt. Zwar hatten sie die Mondmasken alle schon abgelegt, trugen aber wenigstens Lebensmasken, die viel zu erzählen hatten. Sie waren teilweise auf der Suche nach Abenteuern gekommen, teilweise auch aus Patriotismus. Doch keiner hatte eine militärische Ausbildung oder viel mehr Waffen als Hauer. 228 »Das wäre sicher gut, Net.« Der Prinz wischte sich über die Stirn. Danach war seine Hand nass. »Das wird kein leichter Tag. Wir werden sie brauchen.« »Ja, Hoheit. Aber wer weiß, wenn Ihr das Schwert da schnell und gut benutzt, vielleicht auch nicht.« »Das werde ich.« Der Prinz ging weiter, bis er seine wartende Leibgarde erreichte. Preiknosery setzte in der Nähe auf und kam schnellen Schritts herüber. »Es ist, wie Ihr vermutet habt, Hoheit. Sie sind seit mehreren Tagen hier und haben sich eingegraben. Ich weiß nicht, ob noch zusätzliche Truppen in Tunnelanlagen versteckt sind, doch sie haben auf jeden Fall Gräben und Wälle ausgehoben, die ihnen Deckung geben. Entweder sie ziehen sich zurück, wenn wir vorrücken, damit wir müde werden, oder sie ziehen sich zurück, falls wir durchbrechen. Hinter ihren derzeitigen Linien liegt ein Labyrinth von Gräben. Reiter haben dort keine Chance, und der Kampf in den Gängen wird entsetzlich.« »Danke, Eisenschwinge.« Ermenbrecht hatte das Gefühl, ein Drache hätte sich auf seine Schultern gesetzt. Das Einzige, was einen Angriff überhaupt vertretbar machte, war sein zahlenmäßiges Übergewicht. Falls der Feind zusätzliche Truppen verborgen hielt oder sich nach Beginn der Schlacht unter die Erde verzog, wo ihn seine Leute nicht ausräuchern konnten, war sein Marsch nordwärts zu Alexia vorüber. Sie kann jetzt schon nur noch
mit den traurigen Überresten meiner Armee rechnen. Die Generäle Percurs und Quantusa warteten auf ihn, doch bevor sie Meldung über die Bereitschaft ihrer Truppen machen konnten, ließen Rufe und lautes Aufstöhnen aus den Reihen der Soldaten Ermenbrecht den Kopf herumreißen. Ein Drache mit goldenen Schuppen erschien mit ausgebreiteten Flügeln bei den Aurolanen und gliederte sich in den Schlachtreihen ein. Die Schuppen am linken Oberschenkel hatten Risse, viele fehlten, und das Bein wirkte etwas steif, als er langsam vorrückte. Die Wut in seinen rot-schwarz glühenden Augen aber ließ keinerlei Schwäche erkennen. 229 Dranae grinste, als er neben dem Prinzen erschien. »Das ist Adachoel. Er war schon beim Angriff auf Vilwan dabei.« »Das warst nicht du, der ihm den Biss an der Hüfte verpasst hat, oder?« Ermenbrecht erinnerte sich noch gut daran, wie Dranae in seiner richtigen Gestalt einen Drachen von etwa Adachoels Größe fast in zwei Teile gerissen hatte. »Nein, das war ein Freund. Macht Euch keine Sorgen um Adachoel. Ich kümmere mich um ihn.« Dranae reichte Preiknosery seine Draconette, dann ging er auf einen weiten freien Platz, der zwischen dem Zelt des Prinzen und den Soldaten lag. Er legte sich die Arme um den Leib und packte seine Haut, als wolle er sie sich wie ein Hemd über den Kopf ziehen. Er wurde größer und breiter, dann plötzlich verwandelte er sich in einen riesigen grünen Drachen, dessen Krallen mühelos grabtiefe Furchen in die Wiese gruben. Ermenbrecht konnte ein Lachen nicht zurückhalten. Die entsetzten Rufe seiner Soldaten verwandelten sich schnell in Triumphgebrüll, als die Männer erkannten, wie viel größer ihr Drache war als der des Feindes . Die Soldaten schlugen mit den Schwertern auf ihre Schilde und machten so gewaltigen Krach. Auf der anderen Seite trat eine einsame Gestalt aus Adachoels Schatten, und plötzlich verfügten die Aurolanen über zwei Drachen. Der zweite hatte violette Schuppen mit goldenen Glanzlichtern. Das Menschenheer wurde still, der Donner der aurolanischen Trommeln lauter. Dravothrak schüttelte langsam den Kopf. Die Morgensonne glänzte auf den goldenen Flecken seiner Schuppen. »Sie sind keine Gefahr, mein Freund. Bloß Kinder. Procimre wurde von Nawal vertrieben, so wie ich ihn von hier vertreiben werde.« Ermenbrecht salutierte. »Trompeter, Er blase >Zu den Waffen<.« Der Trompeter setzte an, doch das Signal verklang unvollendet, als sich ein dritter Drache zu erkennen gab, deutlich größer als die beiden anderen. Er war grün, wie Dravothrak, bis auf goldene Streifen über Hinterbeinen und Schwanz. Er richtete sich auf und wanderte auf den Hinterbeinen über das 230 Schlachtfeld. Mit ausgebreiteten Schwingen schlug er die beiden anderen beiseite und brüllte Dravothrak seine Herausforderung entgegen. Dravothrak hob den Kopf zum Himmel und antwortete mit einem Kreischen, das Ermenbrecht durch Mark und Bein ging. Hinter sich hörte er den Lärm fliehender Truppen. Das werden die Freiwilligen sein. Ermenbrecht streckte die Hand aus und schlug dem Trompeter auf die Schulter. »Zu den Waffen. Sofort!» Dravothrak schaute sich zu Ermenbrecht um. »Ich werde sie euch vom Hals halten, solange ich kann. Zwei könnte ich umbringen, aber Sidrachuil...« »Was ist mit ihm?« »Falls du je einen Nestling bekommst, der dich hasst, erlaube ihm nicht, lange genug zu leben, um sich einen Namen zu stehlen.« Dravothrak duckte sich, dann breitete er die Flügel aus und sprang in die Luft. Die Sturmbö, die sein Auffliegen erzeugte, warf den Trompeter zu Boden und blies Ermenbrechts Zelt davon. Der Prinz war vorbereitet gewesen und wurde lediglich auf ein Knie gedrückt. Er schaute hoch und erinnerte sich an die flüssige Geschmeidigkeit von Dravothraks Muskeln auf dem Flug nach Meredo. Er rief sich in Erinnerung, wie er in Sarengul einen kupfernen Drachen getötet hatte. »Du kannst das, Dranae. Du schaffst es.« Sidrachuil erhob sich zuerst in die Lüfte, glitt jedoch mit einer Schwanzdrehung und dem Einschlagen eines Flügels zur Seite, um den anderen, kleineren Drachen den Weg freizumachen. Während die beiden sich mit kräftig schlagenden Schwingen auf Dravothrak stürzten, drehte der gestreifte Drache nach Osten ab. Für einen Pulsschlag fürchtete Ermenbrecht, er wollte die Linien des Südens mit Feuer beharken, bevor er den Kampf mit seinem Vater aufnahm. Zum Glück reichte es Sidrachuil jedoch, über die Soldaten hinwegzugleiten und sie schreien, in Ohnmacht fallen oder flüchten zu sehen. Dann stieg er hinter Dravothrak höher. 231 Die kleineren Drachen hielten diesen offenbar nicht nur für alt, sondern auch für senil, oder sie hofften darauf, dass ihr größerer Begleiter ihn ablenkte, denn sie jagten geradewegs auf ihn zu. Dravothrak wartete, dann streckte er den Kopf aus und spie einen Flammensturm. Ermenbrecht spürte die Hitze noch am Boden, als das Feuer den goldenen Drachen einhüllte. Adachoels Schwingen klappten ein, und er stürzte qualmend ab. Er schien nicht zu brennen, sondern von der Wucht des Angriffs betäubt. Er schlug hart auf einer Bergflanke auf, drückte das Gebüsch platt und hinterließ eine gut drei Schritt tiefe Delle, dann prallte er ab und rollte davon. Procimre drehte sich in der Luft und legte sich mit einer Schleife auf den Rücken. Sein Schwanz schlug langsam und lockend vorbei. Dravothrak schnappte danach, erwischte nur Luft, dann hielt er sich im Sturzflug auf die Stelle zu, wo der Violette die Schleife beenden musste. Dabei hob er den Schwanz und entblößte seine
Bauchseite einem Angriff Sidrachüi'ls. Der gestreifte Drache spuckte Feuer. Mit einer für einen Drachen seiner Größe erstaunlichen Schnelligkeit wand und drehte Dravothrak den Schwanz um die Flammensäule herum. Sein Schwanz drehte sich weiter, sein Leib spannte sich, dann schlug er aus und knallte gegen Sidrachüi'ls Schulter. Schuppen barsten und stürzten auf das Vorgebirge Bokaguls. Sidrachuil wirbelte sichtlich überrascht davon, dann schraubte er sich höher. Unter ihm kam Procimre aus seinem trägen Looping und reckte auf der Suche nach Dravothrak den Hals. Er schaute über die rechte Schulter hinter sich, doch die Rolle hatte ihn weiter nach links getragen. Procimres Kopf drehte sich noch weiter, sein Körper begann der Drehung zu folgen, um den Druck auf den Hals abzuschwächen, dann schloss sich Dravothraks Maul um den Kopf des Violetten. Schuppen brachen mit dem Donner einer fernen Lawine. Der enthauptete Kadaver des Violetten taumelte kraftlos nach unten. Dravothrak spuckte Procimres Kopf aus, und der hüpfte durch die Linien der leichten Aurolanenreiterei. Dann faltete 232 Dravothrak den linken Flügel ein und schwang sich nach rechts. Sidrachuils Sturzflug trug ihn etwas weiter nach links, so dass er seinen Vater knapp verfehlte. Der goldgestreifte Schwanz aber traf ihn: Ein peitschender Hieb zerschmetterte Schuppen über Dravothraks Rückgrat. Dessen linkes Hinterbein verkrampfte sich, schlug aus und krallte in die Luft. Genau in diesem Augenblick schlug Adachoel von unten kommend zu und grub die Krallen in Dravothraks Bauch. Der Hieb des Goldenen riss die hellgrüne Schuppenhaut auf. Dunkles Blut trat aus der Wunde, tropfte zu Boden, und wo es auftraf, stieg Dampf empor. Das frische Frühlingsgras welkte dahin. Trotz der Verletzung drehte sich Dravothrak blitzschnell in der Luft. Die rechte Vorderpranke schnellte vor und brach Adachoel den rechten Flügel. Der goldene Drache flatterte mit aller Kraft, doch es nutzte nichts. Der gebrochene Flügel schlug nutzlos im Wind. Adachoel schrie, dann krachte er wieder zu Boden, diesmal auf die linke Seite. Etwas brach mit einem Knall - lauter als ein Draconettenschuss. Adachoel krallte sich in den Boden, bemühte sich, wieder auf die Beine zu kommen, setzte sich aber schließlich auf die Hinterbeine. Mit der Geschwindigkeit eines zuschlagenden Falken rammte Sidrachuil Dravothraks linke Flanke. Seine Krallen rissen an den Schuppen des Grünen, aber das war nebensächlich, denn der Aufprall hatte bereits Schuppen und Knochen gebrochen. Dravothrak stürzte ab. Falls ein Flügelschlag den Aufprall im letzten Moment milderte, so konnte zumindest Ermenbrecht das nicht erkennen. Als der Drache aufschlug, bebte die Erde unter dem Prinzen. Pferde bäumten sich auf und stürzten, Soldaten verloren den Boden unter den Füßen. Auf der Aurolanenseite verstummten die Trommeln und ein halbes Dutzend Draconetten feuerten. Dravothrak landete auf den Füßen, doch sein Körper schlug ebenfalls hart auf. Flammen schlugen ihm aus Maul und Nüstern, als ihm der Aufprall den Atem nahm. Sidrachuil ging kein Wagnis ein. Er schwebte vorbei und 233 spie Feuer nach Dravothrak. Die Flammen schlugen über die Seite des gefallenen Drachen, und wo die Schuppen aufgebrochen waren, versengten sie die Haut. Dravothrak brüllte auf und rollte sich nach links, um die Flammen zu ersticken. Sein Kopf hob sich und der vergeltende Feuerstoß erwischte Sidrachuil unter dem Schwanz. Die Haut des Gestreiften warf augenblicklich Blasen, aber die Verletzung war nicht lebensgefährlich, nur äußerst schmerzhaft. Am Fuß des Hanges, auf dem er gelandet war, kam Dravothrak wieder auf die Beine und legte den Schwanz um den Körper, um seinen Bauch zu schützen. Er hielt sich flach am Boden und beobachtete misstrauisch den kreisenden Sidrachuil. Dann zischte er etwas in der Drachensprache, das Ermenbrecht nicht verstand, aber der Tonfall triefte geradezu vor Verachtung. Da lag er, blutend, mit dampfenden schwarzen Wunden, der Panzer geborsten, der Leib aufgerissen, und forderte seinen Nachkommen heraus, zu landen und zu kämpfen. Für Ermenbrecht war offensichtlich, dass Dravothrak Sidrachuil nur dann noch besiegen konnte, wenn der jüngere Drache die Herausforderung annahm. Das wäre zwar dumm von ihm, aber Stolz führt leicht zu Dummheiten. Wieder flog Sidrachuil vorbei und tauchte Dravothrak in Feuer. Aus dem Inferno stieg eine Flammensäule empor, verfehlte aber den Schwanz des Gestreiften. Dravothrak schlug mit den Flügeln und löschte die Flammen, doch er hatte Mühe mit dem Einfalten. Er hob den Kopf, knurrte den fliegenden Drachen trotzig an und spie Feuer nach ihm. Der Angriff reichte nicht einmal bis in die Nähe Sidrachuil. Der gestreifte Drache drehte sich in der Luft, dann faltete er die Schwingen ein und setzte auf der Bergkuppe auf. Seine Krallen gruben sich tief in den Boden und er brüllte Dravothrak an. Wieder war eine Übersetzung unnötig. Der blanke Hass in seiner Stimme sagte alles. Ermenbrecht hätte sich vorstellen können, diesen Ton gegen seinen Vater zu gebrauchen und fragte sich, was Dravothrak getan hatte, dass ihn Sidrachuil so hasste. 234 Sidrachuil röhrte, dann stürzte er sich auf seinen Vater. Krallen schlugen tiefe Furchen in einige Schuppen, rissen andere ganz ab. Sidrachüils Kopf zuckte herab und biss Dravothrak in den Nacken. Flammen schlugen ihm aus dem Maul, und Dravothrak kreischte auf. Der größere Drache wälzte sich auf den Rücken und trat mit
beiden Hinterbeinen zu. Der Angriff schleuderte Sidrachuil in die Luft und zurück den Berg hinauf. Er landete auf dem Hintern, den Schwanz zwischen den Beinen. Die Schuppen über Brust und Bauch waren zerfetzt, einige fehlten ganz. Hätte der Treffer auf Dravothraks Rückgrat nicht eines seiner Beine verletzt, wäre diese Attacke für seinen Sohn ohne jeden Zweifel tödlich gewesen. Sidrachuil schaute auf seine verwundete Bauchseite hinab und heulte auf, doch selbst dieser Schmerzenschrei endete triumphierend. Unter ihm, am Fuß des Berges, kämpfte Dravothrak ohne Erfolg darum aufzustehen. Aus der Wunde in seinem Nacken strömte Blut und an mehreren Stellen brannte die Haut. Er zog das linke Hinterbein nach, das rechte Vorderbein hing kraftlos herab. Von seinem Bauch war nicht viel zu erkennen, aber schwarzes Blut breitete sich in einem öligen Film unter ihm aus und ließ das Gras sterben. Jede Bewegung war schwächer als die vorherige, bis er beim letzten Versuch, den Kopf zu heben, nur noch die Schnauze vom Boden bekam. Einmal noch hob und senkte sich Dravothraks Brust, dann rührte sich der grüne Drache nicht mehr. Sidrachuil hob den Kopf zum Himmel und brüllte laut. Flammen schössen in die Höhe und Adachoel stimmte verkrüppelt wie er war - in den Jubel ein. Im Norden setzten die Trommeln der Aurolanen wieder ein und donnerten in gnadenlosem Rhythmus. Preiknosery kreischte wütend und schwang sich in die Luft. Im Aufschrei des Gyrkymu hallte Leid wider, ein Gefühl, das tief in Ermenbrecht ein Echo fand. Obwohl kein Mensch, war Dranae zutiefst menschlich gewesen. Der Drache war für ihn wirklich zu einem Freund geworden, und ihre Freundschaft 235 hatte den Unterschied in ihren Wesen überbrückt. Dranae jetzt nur in Drachengestalt zu sehen, und nicht seine tote Menschengestalt, verschaffte dem Prinzen einen kurzen Moment des Abstands, dann erst traf ihn der Verlust mit ganzer Härte. Wut und Verzweiflung kämpften in seiner Brust. Unter dem mächtigen Donner der feindlichen Trommeln stürzte sich Ermenbrecht in die Wut. Die Verzweiflung hätte ihm das Leben aus dem Leib gezogen, und das konnte er sich nicht leisten. Die Wut tat weniger weh, und was noch besser war: sie trieb ihn, Dranaes Mörder bezahlen zu lassen. Der Prinz riss dem Trompeter das Hörn aus der Hand und hob es selbst an die Lippen. Er versuchte, Alarm zu blasen, schaffte aber nur ein klägliches Quieken. Angewidert warf er das Instrument zurück. »Zu den Waffen! Zum dritten Mal. Los!« Der Trompeter nickte und blies das Signal in vollendeter Schönheit. Entlang der ganzen Linie des Südens nahmen es andere Trompeter auf. Die Formation stabilisierte sich, als die Soldaten zurück in die Linie traten. Sie überprüften ihre Waffen und Rüstungen und warteten auf die Befehle ihres Generals. Ermenbrecht staunte über ihre Hingabe. Natürlich konnte es sein, dass sich jeder von ihnen sagte: falls er davonrannte, würden ihn die feindlichen Drachen jagen. Stattdessen glaubte er lieber, dass seine Krieger endlich verstanden hatten, es gäbe keine Hoffnung mehr, wenn sie sich Kytrin hier nicht entgegenstellten. Dieser Fluss in einem unbedeutenden Tal Bokaguls war die Linie, die es zu halten galt. Die Aurolanen durften ihn nicht überschreiten, oder ganz Oriosa und die ganze Welt würde mit ihm fallen. So gesehen war es unwichtig, ob sie starben. Ihre Aufgabe bestand darin, so viele Feinde wie möglich mit in den Tod zu nehmen. Sidrachuil brüllte noch einmal. Sein kehliges Röhren verspottete die Südländer. Ermenbrecht zog Krön und fragte sich, wie sich das Zauberschwert gegen einen Gegner dieser Größe schlüge. Ein Stich ins Auge konnte etwas bewirken, oder viel236 leicht war eine der Brustverletzungen tief genug. Ermenbrecht bildete sich nicht ein, ein Bad in Drachenblut überleben zu können, aber die Rache für seinen Freund war ihm diese Erfahrung wert. Plötzlich verwandelte sich das Röhren in ein Quietschen und dann in ein Wimmern. Ermenbrecht schaute von der Schwertklinge auf und sah den Berg rund um Sidrachuil brodeln, fast wie Sandkörner auf einer Trommelhaut. Braune, rote, gelbe und schwarze humanoide Gestalten schwärmten aus der Erde und über die Beine und den Schwanz des Drachen. Manche hatten einen Flügel erreicht, andere kletterten über die Oberschenkel höher. UrSreiöi! Der Puls des Prinzen beschleunigte sich. Die BokaSreiöi haben sich uns angeschlossen! Die urSreiöi stürzten sich auf Sidrachuil, als wäre das Töten von Drachen der Sinn und Zweck ihres Daseins. Obwohl sie für Drachenmaßstäbe winzig wirkten, waren sie unglaublich stark. Sie hatten einen Arm zu einem Keil umgeformt, den sie unter eine Schuppe treiben konnten, und den anderen zu einem Haken. Ihre Füße verfügten über Dornen, die es ihnen gestatteten, sich unter den Panzer des Drachen zu zwängen. Sidrachuil schlug nach ihnen und verschmierte einige über seine Schuppen. Doch an zahllosen anderen Stellen floss sein Blut. Immer mehr urSreiöi tauchten aus dem Boden auf und schwärmten auch über Adachoel. Der Strom der urSreiöi nahm kein Ende. Ganze Legionen tauchten zwischen den Bergen auf, zum Kampf gerüstet. Ihre Haut hatte sich zu einem stachelbewehrten Panzer verhärtet, die Arme endeten in Haken, Klingen und Stacheln. Sidrachuil versuchte abzuheben, als sie zusammenströmten, doch er stürzte zu Boden und rollte hilflos zum Leichnam seines Vaters hinab. Die Trommeln der Aurolanen stockten. »Vorwärts Marsch!« Ermenbrecht sprang in den Sattel und zog das Pferd herum. Der Trompeter gab das Zeichen, doch dies war eigentlich kaum noch nötig. Entlang der ganzen Linie hatten sich die Soldaten in
Bewegung gesetzt. Die Kavallerie 237 am rechten Flügel schwenkte nach Osten ein. Die schwere Infanterie rückte dicht gedrängt vor und durchquerte den Fluss, ohne die Formation aufzubrechen. Die leichtere Infanterie hatte Schwierigkeiten, aber die Aurolanen griffen nicht an, bevor sie sich wieder gesammelt hatte, und vergaben damit ihre einzige Chance, die Streitmacht des Südens aufzubrechen. Ermenbrechts Soldaten rückten vor, gleichmäßig, ohne Hast, bis sie nah genug für einen Sturmangriff waren. Der Prinz erkannte, dass seine Befehle bedeutungslos geworden waren. Jeder Krieger in seiner Armee war von der Hoffnung zur Verzweiflung gekommen, und dann zur Gewissheit des Todes. Nicht einer von ihnen zweifelte daran, dass ein Kampf drei Drachen gegen einen ungerecht war, und Dranses Bereitschaft, für sie zu kämpfen, glich einem Opfer, das sie nicht entehren durften. Dies war ihr Land, das waren Eindringlinge, und - bei allen Göttern, die sie kannten und selbst bei denen, von denen sie noch nie gehört hatten - sie würden ihre Heimat ein für alle Mal von diesem Aurolanenabschaum säubern. Die Nordländer hatten gewiss einen Rückzug in die Verteidigungsstellungen vorgesehen, denn der Wechsel im Trommelrhythmus, der nun zu einem Vorrücken aufspielte, schien einige der Truppen deutlich zu überraschen. Sie setzten sich in Bewegung, dann befahlen die Trommeln den Sturmangriff. Das ergab durchaus einen Sinn, denn sie griffen nach unten hin an und hatten dadurch zusätzlichen Schwung. Heulend und kreischend preschten die Aurolanen auf die Südländer zu. General Percurs bellte einen Befehl und die Alcidische Throngarde stemmte sich gegen den Angriff. Schilde hoben, Speere senkten sich. Soldaten machten sich für den Aufprall bereit, aber die Wucht der Schnatterer trieb selbst die Stärksten unter ihnen zurück. Die Speere verwundeten und durchbohrten viele Aurolanen, doch noch mehr schoben sich an ihnen vorbei und hämmerten auf den alcidischen Schildwall ein. Hinter ihnen folgten Horgun. Ihre Keulen schleuderten Soldaten als leblose, zerschmetterte Körper beiseite. Eingedrückte Helme und zer238 quetschte Schilde flogen umher, Speere zuckten ihnen entgegen. Durchbohrte Frostriesen wankten, dann stürzten sie und wurden von den vorrückenden Soldaten in Stücke gehackt. Das Gras war glitschig von Blut. Verwundete zuckten und wanden sich auf dem Boden. Beide Heere kämpften auf der ganzen Breite der Linien, und wo sie aufeinander trafen, spritzte Blut. Die Verwundeten zogen sich zurück und frische Truppen nahmen ihren Platz ein. An den Flanken schwenkte die Kavallerie ein und bedrängte die aurolanische Reiterei, deren Frostkrallen den Pferden die Bäuche aufrissen. Ein Soldat sprang aus dem Sattel seines sterbenden Rosses, bückte sich, um die Standarte seiner Legion aufzurichten und stürzte schließlich zu Boden, als ein Schnatterer vorbeiritt und ihm mit einem Hieb den Kopf abschlug. Ermenbrecht beobachtete die Schlacht. Die urSreiöi-Legionen stampften vorwärts und drängten die Aurolanen nach Osten. Sie rollten die Flanke auf, und je dünner die Reihen wurden, umso schneller drängten sie weiter. Er rief die Kavallerie von seinem linken Flügel zu sich und ritt nach Osten. Dort hielt die Reiterei des rechten Flügels die Flanke, seine Reiter galoppierten hinter ihr vorbei und schlugen sich den Weg zur Armeeführung und dem Nachschub des Feindes frei. Trommeln donnerten und ein Nachschubbataillon aurolanische Kavallerie jagte um die Kommandeurszelte herum auf seine Formation zu. Die Oriosen, die mit ihm aus Saporitia gekommen waren, hatten sich als Prinzengarde formiert und schirmten ihn jetzt ab. Sie wurden von leichterer Reiterei aus Valkenritt und Mittland begleitet. Obwohl die Südländer in der Mehrheit waren, schwenkten die Temeryxreiter weder ab noch bremsten sie. Sie galoppierten unbeirrt auf die sich senkenden Lanzen zu. Ein paar Frostkrallen sprangen, bevor die Reiter aufeinander trafen. Sie segelten mitten zwischen die Gardisten und schlugen mit den Krallen aus, während ihre Reiter mit Morgensternen und Schwertern um sich hieben. Die vordersten Ränge des Sturmangriffs wurden zurückgedrängt oder durchbohrt. Krei239 sehend und um sich schlagend gingen sie zu Boden, wo sie die Hufe der Pferde zu Brei zertrampelten. Mehrere Reihen der Garde fielen bei dem Angriff, doch der Kern der Formation ritt weiter, erreichte den äußeren Ring der aurolanischen Zelte. Die Reiter preschten zwischen ihnen hindurch und hieben nach Tuch und Abspannung. Lachend erschlugen sie fliehende Schnatterer. Ermenbrecht ritt mitten unter ihnen und hielt Ausschau nach Anarus, denn nur er und Borghelm verfügten über Waffen, die einen Sullanciri töten konnten. Aus der Ferne hörte er ein Geräusch. Es kam von Norden, aus der Gegend, wo Preiknosery das Labyrinth von Gräben und Tunneln gemeldet hatte. Ermenbrecht hatte das Geräusch schon einmal gehört. Er brauchte einen Augenblick, um es einzuordnen. Dann brüllte er auf seine Leute ein umzudrehen, wurde aber schon von einer Druckwelle aus dem Sattel geschleudert. Was er gehört hatte, war der Klang einer Steilschleuder gewesen, die eine Donnerkugel abfeuerte. Die kurze, gedrungene Draconelle feuerte eine Eisenkugel voller Feuerdreck und Metallsplittern, die bei richtigem Einsatz in der Luft explodierte. Bei der Aufstellung der Kommandeurszelte, deren Verlust sie sicher erwarteten, hatten die Aurolanen genug Zeit gehabt, Ladung und Luntenlänge genau zu ermitteln, um die Donnerkugeln ihre tödliche Fracht mitten ins Ziel bringen zu lassen. Ermenbrecht schlug hart auf und sein Helm kullerte zurück in Richtung der Schlachtreihen. Er richtete sich auf
ein Knie auf. Ringsum lagen Männer und Pferde blutend am Boden. Er fand ein gutes Dutzend Schnittwunden an seiner Seite und auf dem Rücken, doch er hatte offenbar nur die äußeren Ausläufer der Explosion bemerkt. Weitere Donnerkugeln detonierten an anderen Stellen, aber die Kavallerie hatte bereits den Rückzug angetreten. Weit wichtiger war, dass die urSreiöi im Westen in die Gräben vorrückten. Sie waren so schnell vorgerückt, dass sie den Aurolanen den Rückzug abgeschnitten hatten. Und 240 wenn die urSreiöi ihnen unter der Erde nicht gewachsen sind, wird es niemand sein. »Hoheit, geht es Euch gut?« Borghelm kroch auf ihn zu, das Schwert in der Hand. Er zog das linke Bein nach. »Ja, Borghelm, mir geht es besser als dir.« »Vorsicht!« Der Knabe stieß den Prinzen beiseite, als ein Schwert zwischen ihnen in den Boden schlug. Ermenbrecht rollte ab und sprang auf. Krön lag vier Schritte abseits, der stämmige, wolfsköpfige Sullanciri aber folgte seinem Blick und schüttelte langsam den Kopf. Der Prinz zog die linke Braue hoch. »Angst vor einem fairen Kampf?« Anarus kicherte. »Sidrachüil hat sich von seinem Stolz zu einer Dummheit verleiten lassen, mir wird das nicht passieren.« »Hast du Angst, ich würde dir den Kopf abreißen?« Ermenbrecht stand auf und klopfte sich den Staub vom Kettenhemd. »Da unten findet die Schlacht statt. Du hast verloren. Lass es uns wie ehrbare Männer beenden.« »Du bist ein Narr, Prinz Ermenbrecht. Schade, wärest du klüger, hätte meine Herrin vielleicht Verwendung für dich gehabt.« »Ach ja, das hatte ich vergessen. Bei den Sullanciri gibt es keine Ehre oder ein Gefühl für Gerechtigkeit.« Der Wolfsmensch spuckte aus. »Im Leben gibt es keine Gerechtigkeit, Ermenbrecht.« Der Prinz nickte. »Ja, ich schätze, wir haben die Botschaft alle verstanden.« Er senkte den Kopf und stürmte geradewegs auf Anarus zu. Der Sullanciri, der alles andere erwartet hatte, nur das nicht, blieb wo er war und hob das Schwert, um ihn aufzuspießen. Und damit machte er es Borghelm, der Aug keinen Augenblick aus der Hand gelassen hatte, einfach, ihm das Schwert in den Leib zu bohren. Die Spitze der Zauberklinge stach zwischen Brustkorb und Hüftknochen in seinen Unterleib, zerfetzte Gedärme, Magen und Leber, dann traf sie einen Lungenflügel. Anarus drehte sich dem Schmerz entgegen und riss mit 241 der Bewegung die Waffe aus der Hand des Knaben. Er hob sein Schwert, um Borghelm zweizuteilen. Ermenbrecht traf den Sullanciri mit der Schulter und warf ihn zu Boden. Anarus erwischte den Prinz mit dem Ellbogen am Kopf und stieß ihn fort. Sterne funkelten vor Ermenbrechts Augen, er rollte über den Boden. Dann versuchte er aufzustehen, doch er stolperte und landete auf Händen und Knien. Als er aufschaute, kam der Sullanciri auf ihn zu, eine Hand auf die Wunde in seiner Seite gepresst. Aug lag in einer dampfenden Blutlache. Anarus' großes schwarzes Schwert schwang bei jedem Zucken seiner Hand hin und her. »Ich werde heilen. Du nicht.« Eine Draconette krachte, und die Kugel schmetterte an der linken Schläfe auf Anarus' Kopf. Der Sullanciri kippte nach rechts und fing sich auf einem Knie. Bevor er sich wieder aufrichten konnte, landete Preiknosery und rammte dem Wolfsmenschen den Schaft der Draconette an den Kopf. Ein zweiter Hieb zertrümmerte einige Zähne. Schwarzes Blut sprudelte aus dem Wolfsmaul und Anarus ging zu Boden. Ein Dutzend weitere Gyrkyme setzten mit Speeren und Bogen auf. Der alte Gyrkymu half Ermenbrecht auf die Beine und hob anerkennend Dranass Draconette hoch. »Selbst mit nur einem Schuss sind diese Waffen eine Hilfe.« »Sie hat ihm Einhalt geboten, aber wir müssen ihn töten.« Ermenbrecht ging müde hinüber zu Krön. Er hob sein Schwert auf, dann kehrte er zu Anarus zurück. Noch immer loderten die Augen des Dunklen Lanzenreiters. Zweifellos konnte sich Kytrins Kreatur von ihren Wunden erholen, wenn er ihr die Zeit dazu ließ. Der Prinz schüttelte den Kopf. »Du hast Recht. Es gibt keine Gerechtigkeit.« Er setzte Krön mit der Spitze an die Kehle des Sullanciri und stieß zu. Anarus bäumte sich auf, dann verließ ihn seine Lebenskraft und er versank im Boden. Ermenbrecht wandte sich ab und presste die Hand auf den Mund. Die Gyrkyme umringten ihn, und es dauerte nicht lange, bis die Kavallerie zurückkehrte. Die urSreiöi hatten die 242 Gräben überrannt und die Steilschleudern zum Schweigen gebracht. Im Tal hatten die Truppen des Südens mit ihren BokaSreiöi-Verbündeten die Aurolanen eingekesselt. Niemand erwartete Gnade - und niemand bekam sie gewährt. Das Schlachten sollte noch bis zum Mittag dauern und das Blut den Fluss noch Tage rot färben. Ermenbrecht schaute auf das Schlachtfeld hinter dem Getümmel. Leichen bedeckten den Boden, verrenkt in seltsamen Haltungen, die sie lebend niemals eingenommen hätten. Sie hätten sie lebend niemals einnehmen können. Aurolanen, urSreiöi und Menschen, maskiert und unmaskiert, lagen nebeneinander, aus dieser Entfernung nicht zu unterscheiden. Dann glitt sein Blick weiter zu Dravothrak. Er war klar zu erkennen. Sidrachüil war neben ihm gestorben, aber irgendwie war Dravothraks Vorderpranke auf der Kehle des gestreiften Drachen gelandet. Der Prinz dachte an
Dranaes grinsendes Gesicht zurück, an sein dröhnendes Lachen, daran, wie er sich über die einfachsten Dingen gefreut hatte. Es gibt Menschen, die ihr ganzes Leben nicht so genießen, wie ein Drache es in Menschengestalt vollbracht hat. Und er hat sein Leben dafür gegeben, dass sie mit ihrem Leben tun dürfen, was immer ihnen beliebt. Ermenbrecht ging hinüber zu Borghelm. »Bei Dranae kann ich mich nicht mehr dafür bedanken, dass er uns gerettet hat, aber ich kann mich bei dir für meine Rettung bedanken.« Der junge Bursche schaute auf, während er sich das Bein verband. »Ihr habt uns beide gerettet. Ich habe nur meine Befehle befolgt.« Der Prinz schaute noch einmal zu Dravothrak. »Es gibt Dinge, die kann man nicht befehlen. Die werden einfach getan. Und diejenigen, die sie tun, sind Helden, so wie du.« 243 KAPITEL SECHSUNDZWANZIG Ihr zieht weiter?« Kjarrigan schaute von den Holzproben auf. »Ohne mich? Was habe ich getan?« Entschlossen trat ins Zelt und schüttelte beruhigend den Kopf. »Du hast nichts falsch gemacht, Kjarrigan. Ich hätte dich gern dabei.« »Dann wartet. So lange dauert es nicht, Adrogans bei der Zerstörung der Werft zu helfen. Du könntest mitkämpfen. Denk bloß an all die Schnatterer, die du erledigen würdest.« Der junge Magiker stand auf und deutete auf die auf dem Tisch ausgebreitete Karte. »In den Kasernen stecken Tausende, das weiß ich gewiss.« »Ich weiß, Kjarrigan, ich weiß.« Entschlossen deutete nach Norden. »Es gibt taktische Gründe, jetzt aufzubrechen. Gestern Abend hast du erwähnt, dass du spürtest, wie jemand deinen Suchzauber benutzte, und du hast vermutet, Kytrin habe ihn entschlüsselt. Auch weil du ihn benutzt hast, um sie zu finden, und weil das darum nahe liegend ist.« Er nickte. »Sie sucht nach Bruchstücken der Drachenkrone.« »Aber sie könnte ebenso leicht nach dir suchen.« »Ich könnte mich ziemlich sicher dagegen schützen.« »Trotzdem wäre es besser, sie findet dich irgendwo weit entfernt und nicht bei uns. Außerdem kannst du sie glauben machen, dass wir noch immer nach ihr suchen, wenn du noch einmal deinen Suchzauber nach ihr auswirfst.« Entschlossen zählte die Gründe an den Fingern ab. »Zweitens bist du der Schlüssel zu Adrogans' Erfolg hier und drittens - und das ist der entscheidende Grund: Orakel sagt, wir müssen ohne sie weiter.« »Was?« 244 Entschlossen nickte. »Sie bleibt hier. Rym ebenfalls. Hart, Qwc, Trawyn, Bok und ich ziehen mit Adrogans' Kundschaftern nach Norden. Wenn ihr die Werft angreift, wird das Kytrin zum Handeln zwingen. Sie wird eine Garnison im Borealpass stationieren, in der Erwartung, dass Adrogans als Nächstes versucht, sie direkt anzugreifen. Falls du weiter deine Suchzauber sprichst, können wir diese Erwartung bestätigen, und für uns fünf steht es besser, unbemerkt in ihr Reich einzudringen.« Kjarrigan setzte sich wieder, und seine Schultern sackten herab. Er sah auf. »Du machst das doch nicht nur, weil du glaubst, ich würde es nicht überleben, wenn ihr mich mitnähmt?« »Nein, natürlich nicht.« Entschlossen grinste. »Falls wir es nicht schaffen, sie aufzuhalten, wirst du mit an der Spitze von Alexias Armee reiten, wenn sie das erledigt.« »Danke, aber das hättest du nicht zu sagen brauchen.« Entschlossen sah ihn streng an. »Denk mal nach, Kjarrigan. Habe ich jemals irgendetwas gesagt, nur um jemandes Gefühle zu pinseln?« Der Knabe setzte zu einer Antwort an, dann schloss er wieder den Mund. Die Vilwaner hatten ihn erschaffen, um gegen Kytrin zu kämpfen. Dann hatten sie Angst vor ihm bekommen. Irgendwie hatte er das so verstanden, dass sie Angst davor hatten, er wäre nicht in der Lage, seine Aufgabe zu erfüllen, er sei irgendwie fehlerhaft. Trotz allem, was er geleistet hatte, hatte sich dieser Gedanke mit seiner Unfähigkeit verwoben, seine Freunde zu retten, und in ihm die Gewissheit wachsen lassen, er sei ein Versager. Entschlossens Entscheidung, ihn bei General Adrogans zu lassen, traf in dieselbe Kerbe, doch seine Erklärung widersprach dem grundlegend. »Glaubst du wirklich, ich könnte sie besiegen?« Der Vorqaelf überlegte kurz, dann nickte er. »Du hast das Können, die Geschicklichkeit und den Geist dazu. Was dir fehlt, ist nur ein wenig Erfahrung. Dich hindert, dass du nicht töten willst.« 245 Der Magiker hob eine der Holzproben auf und rollte sie zwischen den Handflächen. »Ich habe schon getötet.« »Ja, aber nur, wenn du dazu gezwungen warst.« Entschlossen trat näher und setzte sich auf die Tischkante. »Du wirst mich nicht sagen hören, das wäre falsch. Es sollte niemals einfach sein zu töten. Niemals. Aber es kommt eine Zeit, da muss man sich klar machen, dass die, gegen die wir kämpfen, nicht aufhören werden. Sie haben deine Skrupel nicht. Sie haben getötet und werden weiter töten. Und die einzige wirksame Methode, sie daran zu hindern, ist, sie selbst zu töten.« »Aber woher weiß man, wer sterben muss?« »Das genau ist die Schwierigkeit.« Entschlossen zuckte die Achseln. »Für mich war es immer einfach zu entscheiden, wen ich töte. Die Aurolanen haben meine Heimat gestohlen und mein Volk abgeschlachtet. Dafür sterben sie.« »Aber sie haben Frauen und Kinder.«
Der Vorqeelf hob die Hände. »Ich weiß, aber ich kann es mir nicht leisten, mich damit zu beschäftigen. Du kümmerst dich darum, wer sie sind. Ich frage, was sie tun. Es ist mir gleich, was sie denken oder fühlen. Mich betrifft nur, wie sie diese Gedanken in die Tat umsetzen. Wenn das, was sie tun, ein Verbrechen ist, muss ich sie aufhalten.« Kjarrigan nickte. »Damit bürdest du dir eine Menge auf.« »Eigentlich nicht. Durch ihr Handeln treffen sie die Wahl selbst. Die Frage, die viele aufhält, ist die: Habe ich das Recht zu entscheiden, wer lebt oder stirbt?« Entschlossen stützte die Hände auf die Oberschenkel. »Diese Entscheidung zu treffen, heißt eine Verantwortung zu übernehmen, vor der viele zurückschrecken. Die Gefahr, sich zu irren, ist ihnen zu groß. Es liegt eine entsetzliche Last darin, gedankenlos zu töten. Ich war bereit, diese Verantwortung auf mich zu nehmen. Kräh war es ebenfalls. Ich glaube, du kannst es auch.« »Ich?« Der Vorqeelf nickte nachdenklich. »Du hast dich von deinem Instinkt richtig leiten lassen, als du das Schiff zermalmtest. Was du getan hast, als du vor Wruona Vionnas Flotte zerstörtest, als 246 du den Feuerdreck gezündet hast, der bei unserer Flucht all die Schnatterer tötete, als du Neskartu tötetest, all das war richtig. Hast du andere Zauber eingesetzt, um Kreaturen in Schlaf zu versetzen, wenn du sie hättest töten können? Ja, und das war kein Fehler, aber selbst du musst zugeben, dass die Turekadein ihre Taten nach dem Aufwachen weder bedauern noch rückgängig machen würden und sich gewiss nicht bessern würden.« »Das stimmt.« Kjarrigan seufzte. »Trotzdem, kann es keine andere Lösung geben, als sie zu töten?« »Nicht, wenn es sich gegen das Böse richtet, nein.« Entschlossen öffnete die Hände. »Das Böse ist selbstsüchtig. Es geht ihm nur um sein eigenes Wohlergehen. Es gibt keine Sicherheit vor ihm.« »Aber bin ich nicht selbst böse und selbstsüchtig, wenn ich seine Kreaturen töte?« »Nein, denn du handelst, um deine Freiheit zu bewahren und andere zu schützen. Das ist der entscheidende Unterschied.« Entschlossen lächelte. »Aus dir wird nie eine Mordmaschine werden, Kjarrigan. Dafür denkst du zu viel. Dafür brauchst du dich nicht zu schämen. Nur manchmal musst du anerkennen, dass der Preis für die Freiheit in Blut erhoben wird, so sehr du es dir auch anders wünschen würdest. Und wenn schon Blut vergossen werden muss, dann besser das von Mördern als das von Unschuldigen.« Kjarrigan ließ die Worte auf sich wirken. Während seiner ganzen Ausbildung hatte ihn nie jemand aufgefordert, über die Folgen seines Handelns nachzudenken. Weil er so mächtig war, hatte man ihm zwar Kampfzauber beigebracht, ihn diese Sprüche aber nie richtig üben lassen, aus Angst, er könnte seine Gegner verletzen. Gleichzeitig hatte man ihn in höchsten Tönen dafür gelobt, dass er Heilzauber gemeistert hatte, die seit Jahrhunderten kein Mensch mehr benutzt hatte. Daher hatte er hohe Achtung vor der Heilung und Bewahrung des Lebens und eine starke Abneigung gegen den Kampf. Er erkannte, dass Entschlossen eine Haltung vertrat, die der seinen nicht entsprach, sie aber ergänzte. In einer vollkomme247 nen Welt war es in jedem Fall falsch zu töten, nur war dies keine vollkommene Welt. Kytrin und ihre Horden wollten sie unterwerfen und alle töten, die sich ihnen widersetzten. Der Rest würde als Sklaven enden, was keinen allzu großen Unterschied zur Ermordung machte, es dauerte nur länger. Bei diesen Aussichten konnte Widerstand nur Kampf sein, und das bedeutete, den Feind zu töten. Vielleicht nicht jeden Einzelnen, aber genug, um ihn zum Rückzug zu zwingen und den Frieden wiederherzustellen. Er schaute auf. »Glaubst du wirklich, ich kann diese Art Verantwortung tragen?« »Würde ich das nicht glauben, so würde ich dich nicht hier zurücklassen. Du bist ohne jeden Zweifel der mächtigste lebende Magiker. Wäre ich nicht überzeugt von deinem Verantwortungsbewusstsein, müsste ich verhindern, dass du zur Gefahr wirst.« Der Vorqaelf zuckte die Achseln. »Aber die Frage stellt sich nicht.« Kjarrigan richtete sich auf und nahm die Schultern zurück. »Ich habe mich wohl vor dieser Verantwortung gedrückt. Ich konnte meine Freunde nicht retten, und deshalb hatte ich Angst vor dem, was ich tun würde, falls ...« »Ich weiß. Es ist gut, dass du dir darum Sorgen machst. Wenn du aufhörst, dir Sorgen zu machen, müssen wir anderen damit anfangen.« Entschlossen stand auf und gab ihm einen Klaps auf den Rücken. »Du wirst deine Sache sicher hervorragend machen, und falls wir scheitern, verlasse ich mich darauf, dass du uns rächst.« »Das werde ich.« Kjarrigan stand ebenfalls auf und folgte ihm aus dem Zelt. Draußen wartete ein Trupp Kundschafter bei zwei anderen Pferden. Trawyn saß bereits im Sattel. Bok stand auf verlängerten Beinen neben ihr. Hart wartete reglos, aber Qwc sprang von seiner Schulter und schwirrte aufgeregt um Kjarrigan herum. »Wiedersehen, Kjarrigan.« Der Sprijt landete auf der rechten Schulter des Magikers und legte ihm alle vier Arme um den Kopf. »Bald zurück.« 248 Kjarrigan lachte, und die anderen stimmten ein. Er reichte Bok die Hand. »Macht dir der Gedanke nichts aus, gegen deine Tochter zu kämpfen?« »Kytrin und ich waren uns nie sehr nahe. In Narriz hat sie versucht, mich umzubringen, und hätte sie gewusst, dass ich noch lebe, hätte sie es sicher schon viel früher versucht. Jemand muss sie aufhalten, also werden wir es tun.«
»Viel Glück.« Kjarrigan nickte Entschlossen zu, dann klopfte er Trawyn aufs Knie. »Ich wünschte von Herzen, ich hätte Euer Auge retten können.« Sie zuckte die Achseln. »Wenn ich zurückkomme, wirst du sicher einen Weg finden, mir ein neues zu fertigen.« »Das werde ich. Gute Jagd.« Er verließ sie und ging weiter zu Hart. Der Felsgigant reichte ihm nicht die Hand, schaute nicht einmal herab. Qwc flog hinauf auf seinen Stammplatz. Kjarrigan betrachtete Harts Gesicht eine Weile lang und hatte den Eindruck, dass es sich verändert hatte. Die früher glatte Gesichtsfläche hatte sich verformt. Die Augen waren leicht eingesunken und er glaubte, die Spur einer Nase zu erkennen. Möglicherweise war es nur eine durch das Zwielicht hervorgerufene Täuschung, aber daran glaubte er nicht recht. Er klopfte Hart mit der Rechten auf die Brust. »Ich weiß nicht, ob ich dich Will oder Hart nennen soll, und ich bin mir auch ziemlich sicher, dass es unerheblich ist. In einem Punkt gleichen wir uns: Wir haben uns verändert. Wir wurden beide erschaffen, um Kytrin zu vernichten, und dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Ich vertraue darauf, dass wir beide weitermachen werden, weitermachen und unser Dasein rechtfertigen.« Der Riese drehte den Kopf ein wenig und für einen Pulsschlag leuchteten seine Augen heller. Dann wandte sich Hart wieder ab und die Lavaaugen glühten so dumpf rotgolden wie immer. Kjarrigan trat einen Schritt zurück und fand sich zwischen Adrogans und Rymramoch. »Viel Glück, euch allen.« 249 Entschlossen nickte. »Sorgt für eine ordentliche Ablenkung, ja? Irgendwann in der nächsten Woche wäre gut.« Kjarrigan nickte. »Das werden wir. Es wird gewaltig werden. Ihr werdet es nicht übersehen können, ganz gleich, wo ihr seid, selbst wenn ihr in Kytrins Salon Tee trinkt.« Adrogans drehte sich zu ihm um. »Er scheint etwas ganz Besonderes in petto zu haben, Adept Lies.« »Das habe ich, mein General. Das habe ich in der Tat.« KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG Die Nachricht von Bewegung in der aurolanischen Festung ließ Alyx und ihre Armee hastig aus Notirri ausrücken. Die Kundschafter hatten gemeldet, die Aurolanen machten sich marschbereit. Ein Vorstoß nach Süden war sicherlich nachvollziehbar, und auf der Strecke nach Notirri gab es viele geeignete Schlachtfelder. Keine Seite hätte einen Vorteil gehabt, und da sie das größere Heer befehligte, konnte sie mit einem Erfolg rechnen. Während die Kavallerie vorrückte, hetzten verschwitzte Kundschafter auf schweißnassen Pferden die Zamsinastraße herab und brachten weitere Neuigkeiten. Die Aurolanen hatten die Festung verlassen und zogen nach Norden zur Straße. Der nächste Bericht meldete, dass sie sich auf der Straße zu einer Marschkolonne formierten, und schließlich kam die Meldung, dass sie sich auf dem Marsch nach Nordosten befanden, Richtung Zamsina. Alyx hörte den Berichten mit wachsender Begeisterung zu. Sie drehte sich zu Kräh um, der neben ihr ritt. »Die Festung aufzugeben ist eigentlich ziemlich unvernünftig, oder?« »Kommt darauf an. Wir wissen aus Arkantafalberichten, dass Ermenbrecht in Oriosa einen Sieg errungen hat. Falls er seine Armee schnell genug heranführen kann, könnten sie die Zamsinastraße abriegeln und Nefrai-kesh wäre der Nachschub abgeschnitten. Ohne ausreichend Trinkwasser in der Festung hatte er keinen guten Grund, sie länger zu halten. Er verkürzt seinen Nachschubweg, während unserer länger wird.« »Dessen bin ich mir bewusst, und auch, dass er für alles, was er tut, einen guten Grund hat.« Alyx runzelte die Stirn, schloss die Augen und hätte fast versucht, sich in die Kommunion zu 251 versetzen, doch sie tat es nicht. Sie wollte sich mit dem Schwarzen Drachen beraten, wusste aber, dass er nicht dort war. Seit seinem Tod hatte sie nicht mehr versucht, in die Kommunion zu gelangen, und sie war sich nicht sicher, ob sie es jemals wieder täte. Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Sie hatte so viele Fragen an ihren Vater, und jetzt konnte sie sie niemals stellen. Sie glaubte zu verstehen, warum er ihr nie gesagt hatte, wer er war. Seine Existenz hätte sie von ihrer Aufgabe abgelenkt. In vielerlei Hinsicht war es auch völlig unerheblich, wer der Schwarze Drache gewesen war. Er war ein guter Ratgeber gewesen, den sie jetzt furchtbar vermisste. Und zumindest war sie sich ganz sicher, dass er sie geliebt hatte, und diese Gewissheit füllte langsam die Leere, die tief in ihrem Herzen gewohnt hatte, soweit sie zurückdenken konnte. Eine Leere, die Kräh auch kennt, und die sich niemals füllen wird. Krähs Lebensgeschichte beschrieb deutlich, wie sehr es ihn verletzt hatte, dass ihn sein Vater verstoßen hatte. In mancher Hinsicht fragte sie sich, ob Krähs ursprünglicher Antrieb im Kampf gegen Kytrin nicht der Versuch gewesen war zu beweisen, dass sich sein Vater geirrt hatte - oder dabei zu sterben. Inzwischen sah sie keine selbstzerstörerischen Neigungen mehr bei ihm, doch er litt nach wie vor an der Ungewissheit, ob sein Vater ihm verziehen habe. Sie ritten weiter nach Nordosten, und die Kundschafter führten sie auf die Berge über der Festung. Von dort konnten sie auf das Bauwerk hinabschauen und in Wirklichkeit sehen, was sie bis dahin nur aus groben Zeichnungen kannten. Hohe Zinnenwälle und breite Gräben hätten einen Sturm der Festung äußerst verlustreich gemacht. Alyx hielt ihre taktische Planung zwar immer noch für angemessen, doch der Preis für die Umsetzung wäre erheblich höher ausgefallen, als ihr lieb war. So wie Ermenbrechts Truppen in Oriosa durch die Mangel
gedreht worden waren, so wäre es ihren hier ergangen, und es wäre keineswegs sicher gewesen, ob sie den Kampf danach hätte weiterführen können. 252 In der Ferne konnte Alyx die Nachhut der aurolanischen Marschkolonne erkennen. Die Nordländer hatten die Festung an der Nordostecke verlassen und waren sogar durch das enge Tal marschiert, das die einzige Angriffsmöglichkeit für sie darstellte. Alyx hatte geplant, Generalin Pandiculias Truppen weit nach Nordosten schwenken und dann angreifen zu lassen, um möglicherweise im Hinterhalt liegende Einheiten auszulöschen. Pandiculias Leute waren jedoch noch einen Tagesmarsch vom Aufmarschgebiet entfernt. Stattdessen wollte sie ihnen nun befehlen, nach Nordosten zu ziehen und Nefrai-keshs Truppen im Auge zu behalten. Ein leuchtender Blitz stieg aus der Nachhut in die Luft. Aus dieser Entfernung konnte sie nicht ausmachen, um was es sich handelte, aber als das Licht nachließ und die Gestalt sich näherte, wurde sie als Ross mit flammenden Drachenflügeln erkennbar. Sie hatte dieses Tier schon früher gesehen, in Narriz, als Kytrin entkommen war. »Er weiß, dass wir hier sind.« Kräh nickte. Er beugte sich nach hinten und zog einen weißen Tuchstreifen aus der Satteltasche, dann zog er Alarien und befestigte das Band an der Schwertspitze, bevor er das Pferd antrieb. »Er will sicher reden. Er hat mit Adrogans geredet, er wird auch mit dir reden wollen.« Alyx folgte ihm den Hang hinab und zu einem der ebeneren Grasflecken südwestlich der Festung. Von dort aus musste sie zu den Befestigungen hinaufstarren, wie es ihre Truppen bei einem Angriff hätten tun müssen. Sie korrigierte ihre Verlusteinschätzungen noch einmal nach oben. Nefrai-kesh hielt einen Speer, an dem eine weiße Parlamentärsfahne flatterte. Er umkreiste die Festung einmal, dann landete er vor ihnen. Die Schwingen seines Pferdes verschwanden und man hätte es für ein ganz gewöhnliches Reittier halten können. Es naschte sogar vom Gras, auch wenn die zarten Triebe, die es abfraß, qualmten. Nefrai-kesh nickte ihnen zu. Sein Panqui-Kapuzenumhang war Alyx eine Mahnung an Lombos Schicksal. »Ich bitte für 253 unseren Abzug um Verzeihung, Prinzessin. Ich hätte mich hier gerne mit Euch gemessen. Es wäre eine glorreiche Schlacht geworden, aber Ihr hättet gewonnen.« Er deutete hinter sich, nach Nordosten. »Wisst Ihr, meine Kundschafter beobachten Eure andere Armee. General Adrogans hat diese Taktik in Swojin erfolgreich angewandt, und ich lerne von den Fehlern anderer. Es gefällt mir, dass Ihr Euch entschieden habt, von Adrogans zu lernen. Vielleicht könntet Ihr das weiterführen.« Alyx zog die rechte Braue hoch. »Und was könnte ich noch von ihm lernen?« »Er ist unterwegs, sich ein eigenes Imperium zu erobern. Ihr könntet es ebenso machen. Ihr habt die Truppen und die Befähigung dazu. Ihr würdet ihm früher oder später begegnen und nach meiner Einschätzung würdet Ihr ihn auch besiegen. Ihr wollt doch herausfinden, wer der bessere Kommandeur ist. Ich lese es in Eurem Blick.« Sie zuckte die Achseln. »Es ist mir gleichgültig, wer von uns der Bessere ist, solange wir nur beide Euch besiegen.« Der Sullanciri lachte. »Sehr gut. Ihr habt Mut. Den werdet Ihr auch brauchen.« Er trieb den Speerschaft in den Boden. »Bevor wir weiterreden, möchte ich mich für Myral'maras Mordversuch entschuldigen. Ich war dagegen und bin froh, dass er gescheitert ist.« Alyx starrte ihn feindselig an. »Ihr wolltet wohl selbst den Vorzug haben?« . »Falls Euch an der Antwort gelegen ist: ja. Das heimtückische ihres Vorgehens widerte mich an.« Die Ohren seiner Kapuze zuckten. »Ich bevorzuge eine saubere Feldschlacht. Meine Herrin meinte, Eure Träume würden Euch zu dem Glauben verführen, mich hier besiegen zu können, aber ich habe die historische Schlacht erkannt, auf der Euer Traum gründete. Sie hielt Euch für eine Närrin und Ihr habt sie für eine Närrin gehalten, ich bin jedoch froh, dass ich Eure Dummheit auf die Probe stellen musste. Ich halte Euch nämlich keineswegs für dumm.« Nefrai-kesh stützte sich mit bei254 den Händen aufs Sattelhorn und beugte sich vor. »Mit dieser Festung schenke ich Euch eine neue NorderstettProphezeiung. Wenn Ihr sie untersucht, werdet Ihr eine Vision unserer letzten Begegnung in Sebtia erhalten. Ich bereite ein Schlachtfeld für Euch vor. Im Gegensatz zu Adrogans, der sich gut geschlagen hat, aber nur schnell eroberte, was ich ihm schließlich ohnehin überlassen hätte, werdet Ihr es nicht so einfach bekommen. Unsere Schlacht wird über das Schicksal der Welt entscheiden, und Ihr werdet verlieren.« Kräh lachte. »Bis jetzt gewinnen wir.« »Stimmt, Valkener, bis hierhin habt ihr euch gut gehalten, aber ihr habt auch gegen eine Generalin gekämpft, deren Hirn auf die Größe einer Walnuss geschrumpft ist. Trotzdem schafftet ihr es nicht, sie zu töten. Ich hätte mehr von dir erwartet, aber ich habe ja gelernt, keine hohen Erwartungen in dich zu setzen, nicht wahr?« Kräh schob das Kinn vor. »Ihr habt mich schon einmal gebeten, Euch zu töten. Ich werde Euch den Wunsch noch erfüllen.« »Ich bin sicher, dass du das planst.« Langsam trat ein Lächeln auf Nefrai-keshs Züge. Die weißen Zähne leuchteten aus dem in tiefem Schatten liegenden Gesicht. »Ich bin neugierig, Valkener, verrätst du mich auch
weiterhin, oder verrätst du jetzt die Prinzessin hier?« Alyx runzelte die Stirn. »Worauf wollt Ihr mir diesen Andeutungen hinaus?« »Hast du ihr mein Geheimnis enthüllt oder verbirgst du es vor ihr ? Ich bin sicher, sie würde deswegen nicht an dir zweifeln. Wie du schon sagtest, es würde deine Hand kein zweites Mal lähmen. Oder doch?« Sie schaute ihren Geliebten an und sah den Schmerz in seinem Gesicht. »Kräh, was meint er?« Er schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht.« Der Sullanciri lachte laut auf. »Es sollte doch besser jetzt sein, Tarrant, oder es könnte niemals sein. Niemals, genau wie mein Tod von deiner Hand.« 255 Nefrai-kesh verbeugte sich in Alyx' Richtung. »Ich bin sicher, Ihr werdet eine höchst bemerkenswerte Gegnerin abgeben, Alexia. Ich werde Euch natürlich töten, aber es wird genug von Euch bleiben, um meiner Herrin zu dienen.« »Das werde ich höchstens als Leiche tun.« »Das ist mehr als genug.« Nefrai-keshs Grinsen wurde breiter. »Ich werde Euch doch noch auf dem Thron Okrannels erleben.« Er setzte sich zurück und plötzlich erschienen die Flügel seines Rosses wieder in lodernden Flammen. »Gehabt Euch wohl. Wenn wir uns das nächste Mal begegnen, wird es keinen Austausch von Höflichkeiten geben.« Ein leichter Sporendruck und sein Pferd sprang in die Luft. Der Sullanciri kreiste noch einmal über dem Gelände, dann flog er nach Nordosten davon, seinen Truppen hinterher. Alyx sagte nichts, bis er nur noch ein Stern am Himmel war, dann blickte sie zu Kräh. »Du brauchst mir sein Geheimnis nicht zu verraten. Ich vertraue dir.« »Kannst du das, Alexia?« Kräh schüttelte langsam den Kopf. »Wenn du es hörst, wirst du dich fragen, warum ich es dir nicht früher erzählt habe.« »Ich bin sicher, du hattest deine Gründe.« »Die hatte ich, aber er hat sie verscheucht.« Kräh atmete langsam aus. »Er hat es getan, um mich zu bestrafen, und vielleicht verdiene ich das sogar. Ich will es dir nicht sagen. Ich will es niemandem sagen, aber er hat behauptet, ich würde ihn nicht töten.« Sie streckte die Hand aus und drückte seinen Arm. »Ich weiß, du wirst ihn töten, Kräh. Mehr brauche ich nicht zu wissen.« Sie versuchte, all ihre Gefühle in diese Worte zu legen. Ihre Liebe zu ihm ließ keinen Zweifel zu. Dass er ein Geheimnis vor ihr hatte, überraschte sie, doch sie konnte nicht alles über ihn wissen. Was sie wusste, genügte, ihn zu lieben, und nur das war wichtig. »Der Grund, warum ich ihn damals nicht getötet habe, ist der gleiche Grund, warum ich ihn jetzt töten muss.« Eine steile Falte erschien zwischen seinen gesenkten Augenbrauen. »Ich 256 war kaum ein Mann, als er mich bat, ihn zu töten. Ich bewunderte und liebte ihn, wie mein Vater es getan hatte. Von meinem Vater hatte ich gelernt, ihn zu lieben, zu respektieren und ihm zu gehorchen. Ich dachte, dem wäre so, weil man sich seinem Lehnsherren gegenüber so verhielt. Ein Valkener hat einem Norderstett immer fraglos gehorcht.« »Ich weiß. Das hast du in deinen Memoiren deutlich zum Ausdruck gebracht.« Alyx schenkte ihm ein Lächeln, in der Hoffnung, er würde es erwidern. »Damals hat dich etwas aufgehalten. Es muss ein guter Grund gewesen sein.« »Ihn zu töten, hätte meinen Vater umgebracht.« »Natürlich, dein Vater hat ihn von ganzem Herzen geliebt. So verhält sich ein Vasall seinem Herren gegenüber.« »Nein, Alexia, das war es nicht.« Kräh presste die Lippen aufeinander. »Mein Vater liebte ihn wie einen Sohn.« »Natürlich, er hatte ihn ausgebildet, hatte geholfen, ihn aufzuziehen.« »Du verstehst es nicht.« Krähs Stimme war nur noch ein ersticktes Flüstern. »Die Norderstetts waren ein altes, ehrwürdiges Haus. Kenvins Vater konnte keine Kinder zeugen. Er bat meinen Vater um einen großen Dienst. Ich glaube nicht, dass meine Mutter es je erfuhr, aber sie hätte sicher nichts Schlimmes daran gefunden. Er war ein junger Mann und kannte seine Pflicht. Kenvin kam zur Welt und wählte eine Cousine zur Frau, um das Norderstettblut zurück in die Familie zu bringen. Leif war ein wahrer Norderstett.« Alyx blinzelte erschreckt. »Was genau willst du damit sagen?« »Ich konnte Baron Norderstett nicht töten, weil er mein Bruder ist.« Kräh schüttelte den Kopf. »Kenvin Norderstetts Vater hat meinen Vater gebeten, seiner Frau einen Erben zu schenken. Es war ein Befehl, den mein Vater ihm nicht verweigern konnte. Leif war mein Neffe.« Sie schlang die Arme um sich. »Du hast es nicht gewusst?« »Die kleinste Andeutung wäre für meinen Vater ein Verrat gewesen, und so gab es keine Hinweise.« Kräh schluckte. »In 257 Oriosa erhält man die Lebensmaske von seinem Vater oder dem ältesten männlichen Verwandten. Ich befand mich in Yslin und erhielt sie aus der Hand Baron Norderstetts. Vielleicht hätte ich erraten sollen, warum er mir diese Ehre zukommen ließ. Als wir in Boragul waren und Baron Norderstett im Sterben lag, war ich entschlossen, ihn zu retten. Als er die Maske abnahm, schaute ich ins Gesicht meines Vaters. Er sagte mir, wer er war, und in diesem Augenblick wusste ich, dass ich ihn nicht töten konnte. Ich musste ihn retten, und es ist mir
nicht gelungen.« Alyx drückte sich selbst. »Ich kann nur erahnen, was damals in dir vorging. Was du gefühlt hast. Du warst jung.« »Ich hatte eine Lebensmaske angenommen. Mit ihr kam die Verantwortung eines Erwachsenen.« »Ja, schon. Aber du vergisst etwas.« Sie deutete nach Nordosten. »Er besaß auch eine Lebensmaske. Er trug die Verantwortung eines Erwachsenen. Von dir zu verlangen, dass du ihn tötest, war ein Verrat an dieser Verantwortung. Was er tat, war ungerecht. Kytrins Angebot anzunehmen, das du abgeschlagen hast, war ein Verrat an seiner Verantwortung. Er mag Schmerzen gelitten haben, er mag gewusst haben, dass er sterben würde und sich davor gefürchtet haben, doch das waren Schwierigkeiten, mit denen er selbst fertig werden musste, die er nicht auf dich hätte abwälzen dürfen. Das war nicht deine Verantwortung, und selbst jetzt, nach all dieser Zeit, setzt er dieses Verbrechen an dir fort, indem er dir Schuldgefühle einredet.« Kräh schüttelte den Kopf. »Du verstehst es nicht.« »O Kräh, mein geliebter Kräh, ich verstehe es. Ich verstehe vieles. Ich verstehe, dass du ein Ehrenmann bist, der dieses Geheimnis ein Vierteljahrhundert gewahrt hat, um seine Familie zu schützen. Um andere zu schützen.« Sie schüttelte den Kopf. »Als ich sagte, Will sei wie ein Sohn für dich gewesen, und du hast geantwortet >Nein, wie ein Neffe<, da hast du versucht, mir dein Geheimnis anzuvertrauen. Damals wuss-test du so gut wie ich jetzt, dass es ungerecht war, dir dieses Geheimnis aufzubürden.« 258 Sein klagendes Flüstern erreichte kaum ihr Ohr. »Als mein Vater mir die Maske nahm, tat er es nicht, weil ich Swindger geschlagen hatte. Er hat es getan, weil ich zuließ, dass sein Sohn ein Ungeheuer wurde. Damit habe ich ihm einen zweiten Sohn zum Ungeheuer werden lassen. Er hat mich verstoßen, damit ich keinen anderen meiner Brüder mehr verraten konnte.« »Aber Kräh, das war falsch.« Kräh hob den Kopf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Er hat mich gehasst.« »Nein, er war nur tief verletzt, das ist alles.« Alyx streckte die Hand aus und streichelte seine Wange. »Wenn wir deinen Bruder das nächste Mal sehen, frag ihn, ob die Nachricht von deinem angeblichen Tod deinen Vater geschmerzt hat. Ich bin sicher, es war so. Ich bin sicher, er wusste, dass er einen Fehler begangen hatte. Sein Stolz mag ihn daran gehindert haben, es deiner Familie gegenüber zuzugeben, aber ich denke, dir gegenüber hätte er es getan. Er hätte dich um Verzeihung gebeten.« Kräh packte ihre Hand und küsste sie. »Wie kann jemand so jung und schon so weise sein?« »Ich lerne von den Weisen in meiner Umgebung.« Alyx packte nun ihrerseits seine Hand und drückte sie. »Und jetzt, Liebster, sollten wir besser wieder den Berg hinaufreiten, bevor die Kundschafter denen, die wir dort zurückgelassen haben, alle möglichen Geschichten erzählen.« »Sollten wir uns nicht die Festung ansehen?« »Eile mit Weile.« Sie beugte sich zu ihm hinüber und küsste ihn. »Komm, begleite mich, Kräh. Wir führen unser Heer in den Kampf und vernichten die Aurolanenhorden. Wenn das erreicht ist, gehört Nefrai-kesh dir. Sobald er tot ist, ist die Ehre der Norderstetts und der Valkeners wiederhergestellt.« 259 KAPITEL ACHTUNDZWANZIG Wie oft bist du schon hier entlanggekommen?« Entschlossen drehte sich im Sattel zu Trawyn um. Sie hatte Elvisch gesprochen, was ihn überraschte, denn abgesehen von ein paar Höflichkeiten hatten sie sich grundsätzlich in Gemeinsprache unterhalten, um Adrogans' Kundschaftern nicht das Gefühl zu geben, ausgeschlossen zu sein. Im Augenblick zog sich die Kolonne auf dem schmalen Weg hoch in die Boraberge jedoch auseinander und weder die Scouts noch sonst jemand kam ihnen nahe. Daher antwortete er in derselben Sprache. »Nicht allzu oft, aber schon mehrmals.« »Wie weit nach Norden bist du gekommen?« Er zuckte die Achseln. »Nicht so weit, wie wir diesmal vordringen, doch ich habe Aurolan durchstreift. Hauptsächlich allein, aber in jüngster Zeit auch gemeinsam mit Kräh.« Die Prinzessin nickte nachdenklich. Sie ritt rechts neben ihm, um ihn sehen zu können. »Deine Zuneigung zu Kräh überrascht mich. Selbst du müsstest die Gefahr erkannt haben, die darin liegt, jemanden zu retten, den das eigene Volk so restlos verstoßen hatte.« Entschlossens Augen wurden schmal. »Sagt Ihr das, weil Ihr die Menschen so gering schätzt, oder haltet Ihr ein Kind nicht für fähig, Unrecht zu erkennen und es beheben zu wollen?« Sie riss ihr verbliebenes Auge auf. »Dein Schwert ist offenkundig nicht das Einzige an dir, was scharf ist. Ich schätze die Menschen.« »Aber dem war nicht so, bevor Ihr Will Norderstett getroffen und erfahren habt, welche Kraft des Gefühls sie entwickeln können.« 260 Trawyn zögerte, dann nickte sie. »Es stimmt, ich war mit ihnen kaum vertraut. Du hast viel mehr Zeit unter ihnen verbracht. Du kennst sie weit besser als ich.« »Ich kenne sie weit besser als die meisten /Elfen.« Entschlossen lehnte sich vor und suchte mit seinen Blicken
den schmalen Weg ab, der sich durch das Vorgebirge des Massivs aufwärts wand. »In vielerlei Hinsicht finde ich sie ehrlicher als /Elfen - zumindest in ihren Gefühlen. Wir leben so lange, dass wir dazu neigen, Gefühle recht lakonisch zu betrachten. Wir unterdrücken sie.« »Das stimmt nicht. Wir durchleben gewaltige Leidenschaften, Entschlossen.« »Mag sein, aber wir zeigen sie nicht, halten sie vor der Welt zurück.« Sie runzelte die Stirn. »Wie kannst du das sagen, nachdem du den Corijes und die Gärten von Rellaence gesehen hast?« »Genau darauf will ich hinaus, Hoheit.« Sein Blick glitt hinauf zu den Bergen, um deren Gipfel die Wolken spielten. »Der Corijes ist Magarrics Leidenschaft, das ist nicht zu übersehen, und die Gärten wurden liebevoll gepflegt, aber all das hat lange Zeit in Anspruch genommen. Es mag durchaus stimmen, dass ein Rinnsal den Fels besser abträgt als eine Flut. Aber die Flut ist säubernder.« »Und zerstörerischer.« »Aber nicht alle menschlichen Gefühle sind zerstörerisch.« Er lächelte sie an. »Ich habe Kräh in Atval zum ersten Mal getroffen. Er und seine Begleiter wurden von Hunderten von Schnatterern bedrängt. Ihre Aussichten waren erbärmlich, doch sie haben trotzdem gekämpft. Kräh kämpfte gegen vier von ihnen. Sie hatten Langmesser und er einen Dolch. Er stand trotzig da und versprach ihnen, dass der Erste, der ihn erreichte, sterben würde. Er verlor auch nicht den Mut, als sie sich alle zugleich auf ihn stürzten. Ich habe eingegriffen und ihn gerettet, dann habe ich ihm beigebracht zu kämpfen, und das hat er dann auch getan. Er hat sogar hart gekämpft, hat getan, was ich ihm gesagt habe - und mehr. Und später, als er 261 von Vorquellyn erfuhr, hat er auf Ehre und Leben geschworen, meine Heimstatt zu seinen Lebzeiten befreit zu sehen.« »Und du hast in der unbedachten Äußerung eines Kindes einen Wert gesehen?« »Ich habe eine Erklärung gehört, die nur ein Erwachsener abgeben konnte. Er nahm die volle Verantwortung für das, was er sagte, auf sich. Nach der Entscheidung, gen Norden aufzubrechen, aber nicht zur Befreiung Vorquellyns, entschied ich mich dagegen, die Expedition zu begleiten. Meine Entscheidung verletzte ihn und er versuchte mich umzustimmen, doch er nahm meine Erklärung an und schwor, im Anschluss würden wir beide aufbrechen und Vorquellyn befreien. Dem stimmte ich zu.« Entschlossen brachte sein Pferd auf einer Bodenwelle zum Stehen. »Ein Sprijt kam zu mir, zerrte mich in die Geistermark und durch diesen Pass. Am Ende unserer Reise fand ich Kräh, erneut von Schnatterern bedrängt, aber kämpfend. Ich holte ihn hier heraus, und dann hat sein Volk ihn verraten.« »Aber Entschlossen, selbst damals hättest du wissen müssen, dass dir die Freundschaft zu ihm gerade die menschlichen Fürsten entfremden würde, deren Unterstützung du zur Befreiung deiner Heimstatt brauchtest.« »Ja, das weiß ich. Sie hatten mich nur ausgeschickt, um zu überprüfen, was er ihnen erzählt hatte. In Wahrheit wollten sie ihm bloß jede Unterstützung rauben. Sie nahmen ihn allein in die Mangel und brachen seinen Geist, und meine Abwesenheit war ein Teil dieses Verbrechens. Das bewies mir, dass er mehr wert war als jeder dieser >Fürsten<. Ein paar von ihnen, wie Augustus, haben sich doch noch als Freunde erwiesen, aber die meisten haben die Augen vor der Wirklichkeit verschlossen, bis Kytrin zurückkehrte.« Sein Pferd trottete die Bodenwelle hinab und zurück auf den Pfad. Jetzt ritten sie so dicht nebeneinander, dass sich ihre Knie fast berührten. »Ihr wundert Euch über meine Zuneigung zu Kräh, obwohl er der Einzige auf der Welt war, der sich nicht davon abbringen ließ, Kytrin vernichten und meine Heimat 262 befreien zu wollen? Er ist meiner Sache treuer als ich selbst es war.« Trawyn blieb eine Weile still, dann warf sie ihm einen Blick zu. »Hasst du die Elfen, weil wir dir nicht besser geholfen haben?« Er zuckte die Achseln und schluckte herunter, was er ihr im ersten Augenblick hatte an den Kopf werfen wollen. »Ihr habt mir erklärt, dass Vorquellyn Eurer Meinung nach nicht erlöst und wiederhergestellt werden kann. Falls ihr das glaubtet, warum hättet Ihr Truppen sinnlos in den Tod schicken sollen?« »Weil es richtig gewesen wäre?« Entschlossen lachte. »Für Kytrin ist es richtig, die Welt zu erobern. Hoheit, auch wenn ich mein ganzes Leben damit zugebracht habe zu töten, so weiß ich doch, wie wertvoll das Leben sein kann. Kräh ist nicht mein erster Freund. Ich habe in diesem Krieg andere verloren, um die ich trauere. Siede war eine Cousine, wie Orakel. Weitere habe ich sterben sehen, im Krieg, von eigener Hand oder durch Dummheit. Ich spüre diesen Verlust. Ich kann Euch nicht vorwerfen, Freunde und Verwandte nicht opfern zu wollen.« Sie hob die Hand und rückte die Klappe über dem rechten Auge zurecht. »Du könntest Recht haben, Entschlossen.« »Ich habe ohne Zweifel Recht, doch an welchem Punkt genau erkennt Ihr meine teuer erkaufte Weisheit?« »Die menschliche Leidenschaft hat etwas Gutartiges. Ich glaube, wenn wir uns an unsere Heimstatt binden, wird unsere Leidenschaft mit ihr verwoben. Vermutlich mussten diejenigen, die an Vorquellyn gebunden waren, deshalb weiterziehen. Es war schmerzhaft für sie, ja, aber es raubte ihnen auch die Fähigkeit, zu fühlen. Du besitzt deine Gefühle noch, weil du nicht gebunden bist. Du bist zu großer, beinahe menschlicher Leidenschaft fähig, und das hat dir ermöglicht, zu überleben und zu wachsen. Mir fehlt das, und ich beneide dich darum.« Sie
schmunzelte, als sie seinen Blick sah. »Schau mich nicht so überrascht an. Die Tage verstreichen träge und ihr Vergehen 263 macht mir keine Sorgen, weil ich weiß, das Leben geht weiter. Aber es gibt Momente, in denen das Warten auf das Öffnen einer Blüte schal wird, weil ich schon Tausende von Blüten sich habe öffnen sehen und weiß, ich werde noch weitere Tausende sehen. Was für einen Menschen eine einmalige Erfahrung wäre, kann ich zahllose Male durchleben.« Entschlossen verzog das Gesicht. »Ich würde mich zu Tode langweilen.« »Diesen Eindruck habe ich auch von dir, und er macht mich bange.« Ihre Stimme wurde schwächer. »Sehr bange sogar.« »Warum?« Sie deutete auf die Berge. »In ein oder zwei Wochen werden wir Kytrin töten oder von ihr getötet werden. Falls wir Erfolg haben, was tust du dann? Wenn Vorquellyn erlöst wird und du an deine Heimstatt gebunden wirst, wird dich dieses Dasein langweilen? Hast du dich in ein Mittel entwickelt, für andere zu gewinnen, was dich selbst niemals befriedigen wird?« Ihre Fragen trafen ihn mit brutaler Gewalt. Er senkte den Kopf und dachte nach. Sein Leben war dem Kampf gewidmet. Das Kind, das er einst gewesen war - der unschuldige Knabe, der Legenden liebte und sich erträumte, ein Held zu werden -, war unter so vielen Schichten von Blut vergraben, dass vielleicht eine Million Flutwellen nicht ausreichten, ihn zu befreien. Könnte ich wieder dieses Kind werden? Die Antwort auf diese Frage war die Sache eines Augenblicks. Nein, er konnte nicht wieder so werden wie damals. Angst lief wie ein dünnes, kaum sichtbares Rinnsal durch seine Eingeweide. Was, wenn es in der Welt nach Kytrins Tod keinen Platz mehr für ihn gab? Sicher würde er noch Jahrhunderte Schnatterer, Frostkrallen und andere Überreste ihres Übels jagen können, doch was dann? War es denkbar, dass die Welt für jemanden keinen Bedarf mehr hatte, dessen einziges Talent das Töten war? Und welche Rolle würde ihm Vorquellyn antragen? Er erinnerte sich an seinen Vater, der Bienen gezüchtet hatte. Entschlossen hatte ihm begeistert dabei geholfen und alles gelernt, 264 was man über die Bienenzucht lernen konnte, aber konnte er damit zufrieden sein, zu tun, was sein Vater getan hatte? Noch während er sich diese Fragen stellte, erkannte er, dass er das, was er geworden war, nicht aufgeben wollte. Er hatte so hart gearbeitet, um diese Fähigkeiten zu entwickeln. Er hatte viel geleistet, um sich die Magik zu verschaffen, die ihm half. Er hatte mehr Kreaturen auf mehr Arten getötet, als sich die meisten vorstellen konnten, und er war ein Könner auf diesem Gebiet. Zugegeben, er kämpfte für eine Welt, in der jemand wie er selbst überflüssig war, und dieses Ziel wollte er keineswegs aufgeben. Dass er mit dem Erreichen dieses Zieles selbst zum alten Eisen werden würde, fand er im Großen und Ganzen gut und richtig. Aber für mich persönlich wird es trotzdem eine Welt sein, die mich erstickt und in der mich niemand mehr versteht! Er grinste. Vielleicht würde er so etwas wie Temmer werden, das entsetzliche Zauberschwert, das jahrhundertelang im Verborgenen geruht hatte, bis es wieder benötigt wurde. Der Gedanke gefiel ihm, bis er sich daran erinnerte, dass Temmer zerbrochen war. Selbst wenn ein neues Übel die Welt bedrohte, konnte es dann zu viel für ihn sein? Was wird mich zum Sieg treiben, wenn es die Sache, für die ich kämpfe, nicht mehr gibt? Das war der Schlüssel. Seit Vorquellyns Fall hatte sein Leben ein Ziel gehabt: seine Erlösung. Sobald das erreicht war, brauchte er ein neues. Aber konnte ihn das Ziel, das ihm die Bindung an Vorquellyn gab, auch zufrieden stellen? Würde es von ihm verlangen, einen Teil von sich aufzugeben und zu weniger zu werden, als er jetzt war? Entschlossen ist keine Hülle, die ich abstreifen kann. Seine linke Hand glitt auf Syverces Heft. Dass das Schwert ihn nicht abstieß, machte ihm Mut. Zumindest etwas gab es, das aelfisch war und trotzdem ihn und seinen Wert für die Welt verstand. Er konnte nur hoffen, dass dies für Vorquellyn ebenso galt. Vielleicht wird die Aufgabe, die es mir gibt, nicht nur sein, was Vorquellyn von mir verlangt, sondern auch, was ich von Vorauellyn verlange. 265 Schließlich sah er sich wieder zu Trawyn um und bemerkte zum ersten Mal, wie das Sonnenlicht ihren Zügen schmeichelte und ihn an friedlichere Zeiten erinnerte. »Ihr könntet Recht haben, Hoheit. Es könnte sein, dass jemand wie ich für die kommende Welt nicht geeignet ist. Ich hoffe darauf, dass es in dieser Welt einen Platz für mich geben wird, und wenn auch nur, weil ich daran beteiligt war, sie zu schaffen.« Sie legte kurz den Kopf zur Seite und nickte dann. »Diese Hoffnung will ich teilen, Entschlossen. Eine Welt, die keinen Platz für dich findet, wäre eine traurige Welt und vermutlich den Preis nicht wert, den wir zahlen müssen, um sie zu erobern.« 266 KAPITEL NEUNÜNDZWANZIG Eirstaunlicherweise überraschte es Markus Adrogans, dass ausgerechnet er die Geduld mit Kjarrigan Lies und Rymramoch, was immer der war, zu verlieren drohte - und nicht Ph'fas. Der Schamane hatte sich nie besonders durch Geduld ausgezeichnet, außer vielleicht wenn es um die Yrün ging. Dazu kam, dass er die meisten Magiker verachtete, Kjarrigan Lies faszinierte ihn jedoch, und der rot-berobte Rymramoch hatte den kleinwüchsigen
Shusken geradezu in Bann geschlagen. Adrogans hatte in den Tagen, die Lies und Rymramoch mit der Arbeit an den Holzproben verbrachten, seine Leute auf den Kampf vorbereitet. Er hatte nach und nach Truppen nach Alcytlin eingeschmuggelt. Die loqaelfischen Schwarzfedern hatten praktisch auf der Ehre bestanden, als Erste anzugreifen, und er hatte sie ihnen gewährt. Er verstand, was die Schändung Loquellyns für sie bedeutete. Normalerweise waren Elfen sehr zurückhaltend, doch selbst ihre Gefühle waren in Wallung gekommen, als Prinzessin Trawyn ihnen vom Geschehen zu Hause berichtet hatte. Er hatte ihnen die Nalisker Bergläufer und zwei Bataillone der Jeranser Gebirgsgarde mitgegeben. Damit stand ein knappes Regiment schwerer Infanterie und Eliteinfanterie in den Ruinen. Sobald Kjarrigan endlich tätig wurde, erwartete er eine Flutwelle von Aurolanen, die versuchten, aus der Stadt zu fliehen. Sie aus den Ruinen auszuräuchern, würde lange Zeit dauern, und diese Arbeit versprach erheblich leichter zu werden, wenn dort bereits Soldaten auf der Lauer lagen, um sie zu töten, bevor sie sich verstecken konnten. Den größten Teil seiner Kavallerie hielt er zurück und berei267 tete sich stattdessen darauf vor, die Fußtruppen am Meerufer einzusetzen. Er machte nur eine Ausnahme von dieser Regel: Die Alcidischen Wölfe, die Aleider Reitergarde und die Jeranser Reitergarde hielten sich bereit, zu einem Gebäude durchzubrechen, in dem sie eine Feuerdreckmanufaktur vermuteten. Die wollte Adrogans einnehmen und halten. Die Savaresser Ritter hatten ein Ziel von ähnlicher Bedeutung gefordert, also hatte er sie eingeteilt, eine vermutete Waffenkammer zu halten. Er hoffte, Draconetten oder sogar Draconellen zu erbeuten, obwohl fraglich war, wozu er sie in Zukunft brauchen sollte. Er räusperte sich. »Ich bin mir bewusst, dass wir diese Operation gegen Mittag beginnen wollten. Wird dann alles bereit sein?« Rymramoch drehte ihm das maskierte Gesicht zu und der General hätte schwören können, ein leises Quietschen zu hören. »Das wird es, General.« Kjarrigan sah von seiner Arbeit auf. Man hatte ihm einen riesigen Tisch gezimmert und einen Stadtplan darauf festgenagelt. Er und Rymramoch hatten jede einzelne Holzprobe sorgfältig untersucht und mit irgendeinem Suchzauber Verbindungen zwischen dem Holz und dem ermittelt, wozu es verarbeitet worden war. Ein großer Teil des aus dem Westen gelieferten Holzes lagerte noch unverarbeitet auf dem Werftgelände, ein anderer Teil aber war bereits in ein paar Schiffe und Boote gewandert. Adrogans' Kundschafter hatten erstaunliches Können dabei bewiesen, Proben und Späne von nahezu überallher zu beschaffen, unter anderem aus den Kasernengebäuden. Nur ein paar Schiffe enthielten kein Holz, aus dem ihnen Proben vorlagen, und die meisten davon lagen noch in den Docks. »Gut, wir sind so weit.« Er sah zu Rymramoch hin. »Oder?« »Ja, das sind wir.« Zwischen den beiden stand ein Dreibein aus Eisenstangen, in dessen oberer Öffnung ein eiserner Topf klemmte. Er war mit Kohlen gefüllt, und Adrogans spürte die Hitze, die er abstrahlte - eine in der Mittagsglut eines ohnehin schweiß trei268 bend heißen Tages gänzlich unwillkommene Hitze. Rymramoch hatte irgendeine Magik darüber gelegt. Kjarrigan nahm eine der Holzproben, brach sie in der Mitte durch und warf sie beinahe gelangweilt in den Topf. Adrogans ging den Berg hinauf, bis er über die Kuppe und hinab auf die ruhende Stadt sehen konnte. Im harten Mittagslicht sah er einen Nachschubleichter hinaus zum Flaggschiff der Flotte fahren. Das gefiel ihm nicht, doch es war nicht mehr zu ändern. Das Flaggschiff gehörte zu den Schiffen, in denen kein Holz verarbeitet worden war, von dem sie Proben genommen hatten. Falls es den Anker lichtete und davonsegelte, würden ihnen eine Sullanciri und ein aurolanisches Regiment sowie eine große Zahl Draconellen entkommen. Er ging kurz in sich und suchte nach der Sullanciri. Er fand sie ohne Schwierigkeiten und lächelte. Sie schlief und ahnte nicht, was ihr bevorstand. Es war ihre eigene Sorglosigkeit, der sie das zu verdanken hatte. Sie hatte kaum etwas getan, um die Umgebung der Stadt zu sichern. Weil er bisher nichts unternommen hatte, um den Bau ihrer Flotte zu stören, war sie zufrieden gewesen. Indem sie sich auf die Zukunft konzentrierte, hatte sie die Gegenwart aus den Augen verloren. Das sollte sie teuer zu stehen kommen. Er kehrte zurück, und unten am Hafen ging eine der Lagerhallen in Flammen auf. Rotgoldenes Feuer leckte über das Dach, und die Wachen mehrerer Schiffe schlugen die Alarmglocken. Unten sah man zwischen den Holzhäusern des Hafens Bewegung. Gestalten liefen durch die Gassen. Trotz der Entfernung waren sie leicht als Kryalniri und Vylaenz zu erkennen. Kjarrigan hatte vorhergesagt, dass man als Erstes die Magiker rufen würde, um die Feuer zu bekämpfen. Ihr Einsatz von Zaubersprüchen gegen die Brände sollte sie aus den möglichen Verteidigungsstellungen zur Abwehr angreifender Truppen locken und zusätzlich ermüden. Rymramoch hatte noch ein paar düstere Andeutungen gemacht und Ph'fas hatte gekichert. 269 Unten nahm Kjarrigan jetzt eine der Proben, deren Holz eine tragende Funktion in einer der Kasernen hatte. Während der aufsteigende Qualm den Himmel allmählich verdunkelte, ließ der junge Magiker den Holzspan auf der offenen linken Handfläche ruhen. Er schloss die Augen, dann stieg ein goldener Energienebel aus seiner Hand auf. Er legte sich um die Holzprobe und zog sich zusammen. Adrogans hörte ein leises Krachen, dessen
Echo Augenblicke später erheblich lauter aus der Stadt aufstieg. Die betroffene Kaserne erzitterte. Das Dach sackte in der Mitte durch, dann legte sich das ganze Gebäude nach links. Die Hauswände barsten und Bretter flogen reihenweise durch die Luft. Holzschindeln fielen herab wie Vogelfedern, dann brach das ganze Haus zusammen. Eine Ecke des Daches bohrte sich in eine Nachbarkaserne und riss deren Seitenwand auf. Kjarrigan warf die Splitter in den Topf und das eingestürzte Gebäude loderte mit einem dumpfen Knall hell auf. Die Kryal-niri und Vylaenz wirbelten am ersten Brandherd herum und rannten wild gestikulierend los. Magik schoss aus Händen und Stäben, doch das Feuer brannte weiter. Rymramoch lachte. »Oh, sie glauben immer noch, es nur mit Feuer zu tun zu haben. Mit natürlichem Feuer.« Er wedelte mit einer Hand in Richtung Topf und das Feuer loderte auf. »Es wird Zeit, dass sie diesen Irrtum erkennen.« In Alcytlin schössen die Flammen laut fauchend in den Himmel und rissen brennende Trümmerstücke mit. Der Flammenregen fiel auf weitere Häuser, deren Dächer Feuer fingen. Immer mehr Alarmglocken läuteten. Kreaturen brüllten und rannten umher. Adrogans fühlte, wie die Sullanciri widerwillig und benommen erwachte. Er spürte ihren Schreck, als sie aus der Schiffskabine schaute und einen Teil der Werft in Flammen sah. Dann durchzuckte sie blankes Entsetzen. Dafür konnte es nur einen möglichen Grund geben. Adrogans wirbelte herum und formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund. »Kjarrigan, da ist ein Leichter unter270 wegs zum Flaggschiff. Er hat Feuerdreck geladen. Fackel sie alle ab!« Ohne einen Augenblick zu zögern, griff Kjarrigan mit beiden Händen in den Stoß Holzproben für die Boote und warf sie in den Topf. Unten in der Stadt brach ein Dutzend Brände aus, teilweise in den Docks, ein paar auch auf den Decks der größeren Schiffe, als deren Landungsboote Feuer fingen, und eines in einer Lagerhalle, in der ein ehrgeiziger Dieb ein Boot versteckt hatte. Adrogans ließ den Blick nicht von dem Feuerdreckleichter. Er sah nichts, keinen Rauch, kein Licht, und fluchte. »Mach schon, mach schon!« Dann, plötzlich, zuckte eine einzelne Stichflamme in der Mitte des Bootes hoch. Der Rudergänger hechtete augenblicklich ins Wasser und die Ruderer taten ihr Bestes, ihm zu folgen. Viele ließen sich einfach über die Reling rollen, nur einer - der mag das Wasser wahrscheinlich ebenso wenig wie ich -zögerte. Einen Pulsschlag lang sah ihn Adrogans als Silhouette auf dem Dollbord stehen. Der Leichter flog auseinander und riss einen Strudel in das Hafenwasser, in dessen Tiefe eine neue Sonne geboren wurde. Die Explosionswucht traf Adrogans wie einen Hammer und trieb ihn ein, zwei Schritte zurück. Der Donner übertönte alle anderen Geräusche und klingelte ihm in den Ohren nach. Der Lärm hallte von den Bergen der Umgebung zurück. Bitte sehr, Entschlossen, da hast du deine Ablenkung. Der General kletterte zurück, den Berg hinauf und drehte den Kopf nach links und rechts, um hinter dem schwarzen Fleck, den der Feuerball vor seinen Augen hinterlassen hatte, etwas zu erkennen. Die Flammen waren bereits erloschen, nur die sich ausbreitenden Wellen auf der Wasseroberfläche zeigten noch, wo der Leichter gewesen war. Auf dem Wasser trieben Trümmer, von denen die meisten brannten, ein Teil war jedoch auf den Schiffen in der Nähe gelandet. Der Leichter hatte zwar Kurs auf das Flaggschiff gehabt, war aber einem der anderen Schiffskolosse näher gewesen. Dessen 271 hintere Hälfte war durch die Explosion zertrümmert. Das Ruder und Teile des Hecks waren schlichtweg nicht mehr vorhanden. Adrogans konnte in das Schiff hineinblicken, und da ein Großteil der hineingetriebenen Trümmer brannte, war es zusätzlich beleuchtet. Die Besatzung bemühte sich, das Feuer zu löschen, das Schiff neigte sich allerdings schon jetzt schwer nach Backbord und würde den Hafen nicht mehr verlassen. Auf dem Flaggschiff wimmelte es hektisch. Die Besatzung ließ Eimer in den Hafen hinab, um Wasser zum Löschen der Brände zu schöpfen. Andere Matrosen lichteten die Anker und mehrere Riemen der Galeere glitten bereits durch das Wasser. Die Mannschaft zog sogar das dreieckige Segel hoch, um das Schiff in tiefere Gewässer zu bringen. Adrogans schaute wieder hinaus über die Stadt. Die Explosion hatte ausgereicht, die qualmende Lagerhalle umzuwerfen, und das hatte andere, kleinere Bauten in Brand gesteckt. Im Norden standen noch Kasernen. Sobald die ebenfalls einstürzten, mussten sich die restlichen Aurolanen dort versammeln, wo Adrogans den Kampf aufnehmen wollte. »Nord Eins und Zwei bitte, Kjarrigan.« »Jawohl, Herr General.« Die Kasernen erbebten unter einem Stakkato berstender Balken, dann stürzten sie ein und versperrten einen Hauptfluchtweg in die Ruinen. Eine ging in Flammen auf. Dann die andere ebenfalls. Ein paar Schnatterfratzen, die durch Türen und Fenster auf der Nordseite entkommen waren, flohen in die Ruinen, aber mindestens einer von ihnen stürzte mit einem aelfischen Pfeil im Herzen zu Boden. Adrogans deutete auf einen Trompeter. »Alle Mann vorwärts bitte.«
Der Trompeter gab den Befehl weiter. Es blieb unklar, ob die Aurolanen das Signal gehört hatten. Das laute Krachen der einstürzenden Kasernen bot sicherlich Ablenkung genug. Es spielte keine Rolle, weder für Adrogans noch für sie. Unten an der Bucht stürmten seine Truppen in die Stadt. Die Kavallerie kam von Westen und erreichte ihre Ziele in kürzester 272 Zeit. Alle Feuer waren im Westen ausgebrochen, und wie nicht anders zu erwarten hatten alle Aurolanen aus der Feuerdreckmanufaktur das Weite gesucht, so schnell die Füße sie trugen. Die zu ihrer Einnahme vorgesehenen Truppen trugen Lederrüstungen und hatten den Pferden Lederschuhe über die Hufe gezogen, damit die Hufeisen keine Funken schlagen konnten. Die Savaresser Ritter hingegen preschten in voller Rüstung auf die Waffenkammer zu und brachen durch einen Pulk verschickter Flüchtlinge, bevor sie das Gebäude erreichten. Die Infanterie drang durch mehrere Tore in die Stadt ein, die shuskische Kundschafter von innen öffneten. Sie waren im Augenblick des Alarms über die Mauern geklettert, und als die Aurolanen um ihr Leben rannten, standen die Tore bereits weit offen, und Adrogans' Soldaten marschierten ein. Obwohl sie geordnet in die Stadt eindrangen, brach diese Disziplin schnell zusammen. Adrogans hatte nichts anderes erwartet, deshalb hatte er den Anführern der Legionen jeweils zwei bis drei Ziele zugeteilt, die sie der Reihe nach angreifen sollten. Er ging davon aus, dass die Schlacht wenig mehr als ein blutiges Gemetzel wurde, aber solange seine Leute Aurolanen abschlachteten statt sich gegenseitig zu töten, genügte das. Zusammen mit den Legionen drangen auch die vilwanischen Kampfmagiker in die Stadt ein. Sie suchten und stellten die Kryalniri und sonstige aurolanische Magiker. Von seinem Beobachtungspunkt aus konnte der jeranische General keine Magikerduelle sehen, aber er sah auch keine Soldaten, die vor den Zauberangriffen eines Aurolanenmagikers zurückwichen. Das war ihm ein gutes Zeichen. Ph'fas kam den Berg herauf und trat neben ihn. »Sie entkommt.« Adrogans beobachtete das Aurolanenflaggschiff um die Landzunge biegen und Kurs aufs offene Meer nehmen. »Die wenigsten Marinekommandeure finden an einem Landkrieg Geschmack.« »Auch das Gegenteil trifft zu, Neffe.« 273 Adrogans blickte zu Ph'fas hinab. »Was willst du damit andeuten, Onkel?« »Was du schon selbst gedacht hast.« Ph'fas schnippte den Finger gegen einen kleinen, dem Yrün des Wassers geweihten Talisman an seiner linken Brust. »Sie ist fort. Du solltest Jagd auf sie machen.« »Das wäre nutzlos. Ich weiß nicht, wohin sie unterwegs ist, und sie hat einen Vorsprung, den ich nicht einholen kann.« »Und du fährst nicht zur See.« Adrogans winkte ab. »Meine Armee bewirkt mehr, wenn wir zum Borealpass marschieren und in Aurolan einfallen.« »Damit wir dort in der Falle sitzen, wenn Nefrai-kesh mit Swarskijas Kopf heimkehrt?» »Dazu wird es nicht kommen.« Er dachte kurz nach und wusste, die Antwort war nicht überzeugend. Er hatte großen Respekt vor Prinzessin Alexias Fähigkeiten als Kommandeurin, aber sie trat gegen einen Gegner von unermesslicher Stärke an. Entschlossen hatte berichtet, dass die Truppen, die Loquellyn überfallen hatten, nach Muroso weitergezogen waren. Es stimmte zwar, dass das Flaggschiff mit dem Infanterieregiment jede beliebige Küste des Kreszentmeeres ansteuern konnte, aber das einzig nahe liegende Ziel war Muroso. Er befehligte vier Regimenter. Wenn er sie nach Sebtia brachte, wären sie eine gewaltige Überraschung. Ich schicke eine Ablenkungstruppe los, den Borealpass zu erkunden, und das bindet Kytrins Truppen dort. Ich selbst tauche in Sebtia auf und lande hinter den aurolanischen Linien. Ich könnte ihnen in den Rücken fallen, während Alexia sie aus dem Süden angreift. Ich habe Draconellen. Wir könnten sie zwischen uns aufreihen. Adrogans schaute hinaus auf den Hafen, auf die sechs Schiffe, die dort vor Anker lagen, und auf das gnadenlose Meer hinter ihnen. »Ich könnte es tun, Onkel, aber wäre das genug?« »Genug? Vielleicht.« Ph'fas zuckte die Achseln. »Es wäre mehr. Manchmal ist das alles, was nötig ist.« 274 KAPITEL DREISSIG /\n der Spitze der Kolonne ritt Ermenbrecht hinauf auf die Bergkuppe und schaute nach Nordwesten. Auf seiner letzten Reise von Meredo zur Festung Draconis war er durch Caledo gekommen. Er erinnerte sich noch sehr gut an die hohen weißen Türme der Stadt in der Ebene. Es war eine stolze Stadt gewesen. Sie hatte sogar etwas von einer ewigen Stadt gehabt. Er erinnerte sich an den Gedanken, dass er nichts dagegen gehabt hätte, den Thron zu erben, hätte hier die Hauptstadt von Oriosa gestanden. Von der weißen Stadt in der Ebene war nur noch ein Trümmerfeld übrig. Teile der Stadt standen noch, aber die Türme waren eingestürzt und die Mauern zerschmolzen. Wo makellose Fassaden geglänzt hatten, sah er jetzt das vernarbte Gesicht einer belagerten Stadt. Die Hausmauern waren von Rußstreifen überzogen und verkohlte Balken ragten in den Himmel. Aasvögel kreisten hier und da, und von vereinzelten Feuern stiegen schwarze Rauchsäulen auf. Der Prinz lächelte, als sein Bruder heranritt und neben ihm anhielt. »Warst du schon einmal hier?« Lüdwin schüttelte den Kopf. »Ich bin bei meinen Besuchen auf Festung Draconis immer mit dem Schiff
angereist. Sie muss prachtvoll gewesen sein.« »Und sie wird es wieder werden.« »Es wird ihr leichter fallen als mir.« Ermenbrecht betrachtete seinen Bruder und staunte, wie sehr er sich verändert hatte. Selbst wenn man ihm nur zuhörte, war die Veränderung schon zu bemerken. Lüdwin hatte Meredo mit den Freischärlern verlassen, einer Gruppe von Oriosen, die Will Norderstett Gefolgschaft geschworen 275 hatten. Sie waren ursprünglich nach Muroso gekommen, um bei seiner Verteidigung zu helfen, dann waren sie nach Saren-gul gezogen. Dort hatten sie verbissen gekämpft, um die Auro-lanen aus der urSreiöi-Kolonie zu vertreiben. Die Freischärler, eine Gruppe Oriosischer Meckanshii und ein ganzes Regiment SarenSreiöiInfanterie waren aus Sarengul an die Oberfläche gestiegen und hatten sich Ermenbrechts Armee angeschlossen, als sie Tolsin verlassen und nach Muroso gezogen war. Die Kämpfe in den Tunneln von Sarengul waren seinem Bruder nicht gnädig gewesen. Lüdwin hatte sich den Kopf rasiert, weil sein halber Haarschopf weggebrannt war. Die rechte Seite der Kopfhaut war noch immer von Brandnarben entstellt. Auch das Ohr auf dieser Seite war verbrannt. Zudem hatte sein Bruder den linken Arm knapp unter dem Ellbogen verloren. Und er humpelte beim Gehen, was an einer Schnittwunde lag, die aber bald verheilt sein würde. Als Ermenbrecht ihn gefragt hatte, was mit dem Arm geschehen wäre, hatte Lüdwin die Achseln gezuckt. »Er hat meinen Schild bekommen, ich habe ihm das Herz durchbohrt. Ich bin mit dem Tausch zufrieden.« Der Fatalismus dieser Bemerkung sowie der Kommentar über den Wiederaufbau Caledos versetzten Ermenbrecht einen Stich ins Herz. Sein ganzes Leben hatte er sich auf das Kriegshandwerk vorbereitet. Er hatte in Festung Draconis und auf der Flucht von dort in den Süden Freunde sterben sehen. Er hatte Will Norderstett sterben sehen. All diese Tode schmerzten ihn, aber er fühlte sich durch seine Kriegerausbildung darauf irgendwie vorbereitet. Sein Bruder hatte keine solche Vorbereitung erhalten, und hätte man Ermenbrecht nach Lüdwins Reaktion auf Krieg und derartige Verletzungen gefragt, so hätte er erwidert, dass sich Lüdwin zu einem winselnden Knäuel Hilflosigkeit krümmen würde. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte Lüdwin die Welt nicht mehr an sich herangelassen. Selbst Ermenbrecht war froh gewesen, dass Lüdwin nicht an der Spitze von Oriosas Thronfolgeliste stand, denn er hätte einen schwachen König abgege276 ben, der sich von anderen lenken ließ und kein Rückgrat besaß, um sich durchzusetzen. Zumindest hatte er das geglaubt. Doch es hatte sich als Irrtum erwiesen. Lüdwin, der sich bei den Freischärlern Lüdenwig genannt hatte, war zwar nicht zum Anführer aufgestiegen, aber ihren Respekt hatte er sich sichtlich verdient. Er war stärker geworden und zäher. Jetzt wirkte er mehr wie Ermenbrechts Bruder als je zuvor. Nicht nur der Anführer der Freischärler, Weiz, auch andere hatten ihm erzählt, dass Lüdwin den Arm in einem Hinterhalt verloren hatte, und dass ohne ihn viele zu Tode gekommen wären. Der Prinz staunte, welche Veränderungen der Krieg in einem Menschen bewirken konnte. Krieg war ohne Zweifel die schrecklichste aller menschlichen Erfahrungen, und er reduzierte alles auf das Wesentliche. Bei allen Entscheidungen ging es um Leben oder Tod. Freundschaften wurden mit Blut geschmiedet - und wenn sie zerbrachen, war der Schmerz entsetzlich. Den einen zermalmte der Krieg, andere - und sein Bruder war das beste Beispiel dafür - wurden neu geboren. Ermenbrecht war stolz, dass sein Bruder neben ihm ritt. »Wir werden deinen Arm mit Meckanshii-Magik ersetzen. Was die Narben betrifft, dein Haar wird wieder wachsen und die meisten Spuren verdecken. Wenn dieser Krieg vorbei ist, wird man Narben wie deine bewundern.« Lüdwin betrachtete seinen Bruder mit braunen Augen, die Ermenbrecht bis zu ihrer letzten Begegnung als Kuhaugen beschrieben hätte. »Das sind Äußerlichkeiten. Was ist mit den Veränderungen in meinem Herzen? Ich habe Furchtbares gesehen. Ich habe Furchtbares getan.« »Damit wirst du selbst ringen müssen.« Ermenbrecht trabte den Hang hinab und Lüdwin folgte. »Das ist die Wirklichkeit des Krieges. Die Welt, die auf Kytrins Untergang folgt, wird tunlich vermeiden, sie aufzuwühlen. Du hast Verantwortung übernommen. Das ist die wichtigste Veränderung.« Lüdwin grinste. »Es gab eine Zeit, da hättest du angedeutet, dass ich verantwortungslos sei und ich hätte einen Wutanfall 277 bekommen oder geschmollt. Jetzt frage ich mich nur, warum du es mir nicht öfter gesagt hast.« »Weil es nicht angekommen wäre, bevor du bereit warst, Verantwortung zu übernehmen.« Ermenbrecht drehte sich um und schaute ihn an. »Wie viel bist du bereit anzunehmen?« »Wie meinst du das?« Ermenbrecht deutete nach Caledo. »Erinnerst du dich, was Generalin Pandiculia sagte, als wir auf ihre Truppen trafen?« »Ja, dass Prinzessin Alexia uns in Caledo erwartet.« »Genau.« Pandiculia war hager und übernächtigt gewesen. Sie hatte den Eindruck erweckt, Caledo nicht schnell
genug erreichen zu können, und er hatte ihr die Überraschung angesehen, als er seinen Bruder vorgestellt hatte. Sie hat einen Stutzer erwartet, keinen Veteranen. »Und daraus ergibt sich die Frage: Stelle ich dich Prinzessin Alexia als Prinz Lüdwin von Oriosa vor und übertrage dir ein Kommando oder bleibst du Lüdenwig von den Freischärlern?« Die verkniffene Miene seines Bruders verbarg dessen Unbehagen nicht. »Einerseits möchte ich wieder werden, wer ich war, aber dann müsstest du mir den Befehl über eigene Truppen übertragen, nicht wahr? Ich habe Meredo verlassen, weil unser Vater bloß gelacht hat, als ich ihn darum bat, mich unsere Truppen hierher und gegen die Aurolanen führen zu lassen. Inzwischen weiß ich, dass ich zum Befehlen restlos ungeeignet war. Es könnte zwar manch einen aufmuntern, noch einen Prinzen in der Führung zu wissen, doch ich vermute, Lüdenwig Halbarm von den Freischärlern wird auf lange Sicht nützlicher sein.« Lüdwin hob den Stumpf. »Du solltest Weiz ein größeres Kommando geben. Er war Milizoffizier, bevor er die Freischärler kommandierte, und ist äußerst umsichtig. Er hat eine Beförderung verdient.« Ermenbrecht lächelte. »Die erste Antwort habe ich erwartet. Die zweite zeigt erst richtig, wie sehr du gewachsen bist. Ich weiß bereits, dass du selbstlos handeln kannst, deine Verletzung beweist es, aber jetzt ehrst du einen anderen, ohne einen besonderen Grund dazu zu haben.« 278 »Ich habe sogar einen guten Grund. Weiz hat eine Beförderung redlich verdient. Sein Können wird Leben retten und Schlachten entscheiden. Er beflügelt seine Truppen. Falls du ihn nicht einsetzt, betrügst du dich selbst um einen fähigen Kommandeur und bringst unnötig Leben in Gefahr.« »Danke, ich werde es mir merken.« Lüdwin nickte. »So, und wie wirst du mich denn nun vorstellen?« »Ich weiß es noch nicht.« Ermenbrecht grinste. »Ich achte deine Wünsche, falls ich aber einen Prinzen dringender brauche als ein Schwert in der Schlachtreihe, werde ich dich dort einsetzen, wo du am nützlichsten bist. Ein einarmiger Soldat wird kaum jemanden beflügeln, ein einarmiger Prinz wahrscheinlich viele. Sie sind hier, weil sie abkommandiert wurden. Sie müssen hier kämpfen. Du nicht. Deine Gegenwart wird ihren Einsatz aufwerten.« »Das verstehe ich, aber du weißt schon, dass ich hier sehr wohl kämpfen muss.« »Das weiß ich. Wir wissen es beide.« »Ermenbrecht, stimmt das Gerücht, dass du den Thron unseres Vaters mit abgeschlagenen Köpfen dekoriert hast?« Der Prinz nickte zögernd. »Es musste sein.« »Hasst du ihn?« Ihn hassen? Ein so starkes Gefühl ist er nicht wert. »Ich versuche, nicht allzu viele Gedanken an ihn zu verschwenden.« »Ich hasse ihn.« Lüdwin schaute unbestimmt in die Ferne. »Nicht für das, was er mir angetan hat, oder Mutter oder dir. Ich hasse ihn für das, was er Oriosa angetan hat. Ich schwöre dir, wenn dieser Krieg vorüber ist - und falls du dabei fällst -, werde ich Oriosa befreien.« »Und falls ich nicht falle?« »Wird ein Meckanshprinz auf Festung Draconis dienen; wird heiraten, wie es seinem König gefällt, und dir eine fruchtbare Gemahlin wünschen, die viele Erben zwischen ihn und den Thron bringt.« Ermenbrecht zog an den Zügeln und wartete, bis ihn sein 279 Bruder eingeholt hatte. Dann klopfte er ihm auf die Schulter. »Es ist lange her, dass ich meinen Bruder in dir erkannt habe. Willkommen zurück, Lüdwin. Komm, es wird Zeit, Kytrin zu zeigen, dass wir nichts von der Schwäche unseres Vaters geerbt haben.« KAPITEL EINUNDDREISSIG Kjarrigan Lies wartete am Kai, während Mechanisch Orakel in das Boot half, das sie zum neuen Flaggschiff der Flotte bringen würde. Nach der Eroberung der Stadt hatte es eine halbe Woche gekostet, den in Alcytlin lagernden Nachschub zu erfassen. Danach stand fest, dass Adrogans' Armee umstandslos an Bord der Schiffe nach Sebtia fahren konnte. Die Reise sollte nur vier Tage dauern. Es war nicht schwer gewesen, die Logistik für diese Reise auszuarbeiten, obwohl mehrere Aufgaben zu bewältigen waren. Zunächst mussten die Schiffe bemannt werden. Nur wenige von Adrogans' Truppen hatten überhaupt Erfahrung mit Schiffen, und eine beträchtliche Anzahl teilte den heftigen Widerwillen ihres Generals gegen das Meer. Der Graue Nebel hatte ein wenig Erfahrung und Königin Winalia hatte zusätzlich noch Matrosen geschickt. Was Ruderer betraf, so hatten sie genug gefangene Schnatterer, die kurzerhand Galeerensklaven wurden. Von den sechs Schiffen im Hafen war nur eines mit Draconellen bestückt. Das verdoppelte die Anzahl der Geschütze, die Adrogans unterstanden. Nur waren die Lafetten, auf denen die Draconellen ruhten, ausschließlich für den Einsatz an Bord geeignet und konnten nicht über Land transportiert werden. Adrogans hatte dieses Schiff auf den Namen Swarskija getauft. Es sollte sein Flaggschiff werden und den Konvoi gegen aurolanische Angriffe verteidigen. Sobald die Entscheidung gefallen war, in See zu stechen, hatte sich das Hauptaugenmerk darauf verlagert, die
Schiffe auszurüsten. Die Alcidischen Wölfe machten sich ans Werk, in der Feuerdreckmanufaktur so viel Feuerdreck zu verpacken, wie sie herstellen konnten. Die Savaresser Ritter hatten sechs281 hundert Draconetten erbeutet, und gemeinsam mit der leichten Reiterei der Jeranser Krongarde übten sie mit den Waffen, so dass sie sich in berittene Draconettiere verwandelten. Die Jeranser Krongarde würde nicht nach Sebtia reisen. Sie erhielt den Auftrag, nach Osten in die Geistermark aufzubrechen und aurolanische Einheiten, die anrückten, um Alcytlin zu entsetzen, auszukundschaften und zu behindern. Adrogans erklärte ihnen, dass es jede aurolanische Streitmacht aufhalten würde, sich plötzlich Draconettieren gegenüberzusehen. Das sollte ihm zusätzliche Zeit verschaffen, seine Leute in Sebtia aufzustellen, ohne dass die aurolanische Hauptstreitmacht von ihrer Anwesenheit erfuhr. Abgesehen von der Swarskija bestand die Flotte aus der Guranin, der Shusk, der Noriva, der Alcytlin und der jerana. Die Namen waren hastig auf Bug und Heck gepinselt worden. Die Galionsfiguren der Schiffe waren ursprünglich Darstellungen von Kytrin gewesen, doch geschickte Schnitzer hatten sie rasch zu anderen Frauengestalten umgearbeitet, darunter Königin Carus von Jerana und Prinzessin Alexia. An Bord der Schiffe herrschte bei voller Ladung ein fürchterliches Gedränge, doch die Soldaten waren gewillt, das hinzunehmen, weil sie wussten, dass die Reise nicht lange dauern würde. Kjarrigan hatte aufmerksam zugesehen, wie die Soldaten an Bord der Schiffe gegangen waren, für die sie eingeteilt waren. Auf dem Weg den Laufsteg hinauf hatten sie alle ein Opfer an Tagostscha in die Bucht von Alcytlin geworfen. Manche versuchten, ihn mit Nahrung zu bestechen, andere mit Goldmünzen. Soldaten neigten zum Aberglauben, und viele nutzten die Gelegenheit, Würfel und andere als schlechte Omen betrachtete Gegenstände loszuwerden. Nachdem Orakel in der Barkasse saß, trat Ph'fas an den Kai und nahm sich einen mit dem Wasser verbundenen Yrün-Talisman ab. Er küsste ihn, dann warf er ihn ins Wasser, wo er mit einem leisen Platschen und goldenem Glitzern unterging. Adrogans, der neben Kjarrigan stand, schüttelte den Kopf. »Reine Verschwendung, Onkel.« 282 Ph'fas zuckte die Achseln. »Sie ist zu Hause.« Kjarrigan runzelte die Stirn. »Weshalb Verschwendung?« Der jeranische General betrachtete einen Moment lang das entfernte Schiff, dann warf er Kjarrigan einen schrägen Blick zu. »Als ich noch ein Kind war, schickten mich meine Eltern auf ein Fischerboot. Sie hofften, ich würde Gefallen an der Arbeit finden oder zumindest genug übers Meer lernen, um später in das Seehandelsgeschäft der Familie einzusteigen. Ich war noch sehr jung, doch ich hörte den Fischern zu. Die Hälfte ihrer Geschichten waren Lügen, der Rest Fantasterei, aber vor jedem Auslaufen opferten sie Tagostscha. Ich tat es ihnen nach und gab sogar eine Goldmünze, die mein Vater mir in die Hand gedrückt hatte, als er mich zur See schickte.« Adrogans' Augenbrauen zogen sich zusammen. »Auf jener ersten Fahrt kam ein furchtbarer Sturm auf und das Boot, auf dem ich fuhr, ging spurlos unter. Als wir sanken, warf mich einer der Fischer ins Wasser und rief mir zu, ich solle zu einer im Meer treibenden Truhe schwimmen. Ich tat, was er sagte, und klammerte mich fest, während das Boot sank. Ich hing an der Truhe, und rings um mich her tobten die Wellen. Ich hustete und spuckte, weil die Wogen über mir zusammenschlugen, und ich rief nach meinen Freunden. Niemand antwortete mir. Ich blieb die ganze Nacht allein. Ich rief Tagostscha an. Ich flehte ihn an, mich zu retten. Und bekam keine Antwort. Ich warf ihm jeden Fluch an den Kopf, den ich je gehört hatte oder mir ausdenken konnte. Und bekam keine Antwort. Aber ich überlebte. Als der Sturm vorbei und die See wieder ruhig war, zog ich mehr Treibgut zusammen und hielt mich fest, bis mich ein anderes Boot fand. Die Fischer setzten mich an Land ab und behaupteten, ich brächte Unheil. Dass mich Tagostscha aus irgendeinem Grund hassen würde. Sie deuteten sogar an, ich hätte ihm kein Opfer gebracht, doch ich hatte ihm ja geopfert, also befand ich, er sei unzuverlässig - und Versuche, ihn zu besänftigen, seien Zeitverschwendung.« Kjarrigan runzelte die Stirn. »Also, ich habe ihm kein Opfer gebracht, als wir von Vilwan fortgesegelt sind, und das endete 283 in einer Katastrophe. Auf der Fahrt von Loquellyn habe ich ihm jedoch einen urSreiöi-Zauberstab geopfert, und die Reise verlief ohne Schwierigkeiten. Und die Fahrt hierher zur Geistermark verlief ebenso.« Adrogans klopfte ihm auf die Schulter. »Freut mich, dass er dein Opfer zur Kenntnis genommen hat. Ich hoffe, das wird für uns alle reichen, denn von mir bekommt er nichts. Er schuldet mir eine sichere Reise, und diesmal werde ich kassieren.« Sobald Adrogans und Kjarrigan an Bord waren, ruderten die norivesischen Matrosen sie zur Swarskija. Kjarrigan ließ den General zuerst das Fallreep hinaufsteigen, dann hob er Orakel mit Magik auf das Ruderdeck. Er selbst stieg die Leiter hoch und trat auf dem Deck neben sie und Mechanisch, als gerade ein paar Soldaten gemeinsam das Gangspill drehten und den Anker lichteten. Der Maat gab auf einer Trommel den Rhythmus vor, die Schnatterer legten sich in die Riemen und die sechs Schiffe glitten aus der Bucht. Kjarrigan ging vor zum Bug. Die Swarskija war im Vergleich zu dem elfenschiff, mit dem sie in die Geistermark gekommen waren, wahrhaft riesig und erzeugte eine entsprechend größere Bugwelle. Doch kaum ein Spritzer flog hoch genug, um ihn oder Adrogans zu treffen. Der Fahrtwind zerrte an Adrogans' Umhang und an Kjarrigans Hemd.
»Glaubt Ihr, die Aurolanen lassen sich täuschen?« Adrogans zuckte die Achseln. »Schön wäre es, aber ich rechne nicht damit. Hauptsache, wir bringen unsere Truppen nach Sebtia und können Aurolanen töten. Wenn wir sie überraschen könnten, könnten wir noch weit mehr von ihnen töten, und vermutlich würden wir dabei erheblich weniger Leute verlieren. Das wäre mir sehr recht.« Kjarrigan nickte und setzte zu einer Antwort an, als das Meer um den Konvoi plötzlich brodelte. Bevor der Magiker auch nur fragen konnte, was los war, öffnete sich im Kreszent-meer ein Schlund und verschlang Adrogans' Flotte mit Mann und Maus. 284 KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG Die Reise nach Süden war weniger quälend gewesen als vielmehr anstrengend. Mit Hlucris Hilfe hatte Isaura reichlich Proviant gesammelt und einen von zwei Reifreißern gezogenen Schlitten ausgestattet. Gezogen von den beiden unermüdlichen Bärenkreaturen kamen die drei schnell voran. Sie durchquerten endlose Eiswüsten nach Süden, auf die Berge zu und in die Richtung, in der Isauras Magik den Norderstett anzeigte. Sie war Will in Meredo begegnet und hatte ihn geheilt, daher war ihr sein Wesen vertraut. Der Spürzauber bestätigte ihr, dass er sich auf sie zubewegte, zugleich spürte sie jedoch etwas Merkwürdiges, das sie nicht einordnen konnte. Sie erklärte es sich damit, dass Will bei ihrer Begegnung mit Gift voll gepumpt und nicht ganz er selbst gewesen war. Allerdings war das keine ausreichende Erklärung. Sayce gegenüber ließ sie sich von diesen Zweifeln nichts anmerken. Die Murosonin hatte sich über die Flucht gefreut und war sehr gefasst. Sie bemühte sich zu helfen, wenn sie ein Lager aufschlugen, aber daran, wie sie mit dem Amulett um ihren Hals spielte, erkannte Isaura, wie nervös Sayce war. Kaum eine halbe Woche nach ihrem Aufbruch wurde es wärmer und die Reifreißer wurden gereizt. Hlucri tötete und schlachtete sie, was ihnen frisches Fleisch lieferte - von dem er den größten Teil selbst verspeiste. Einen weiteren Tag zog er selbst den Schlitten, doch nur zwanzig Meilen weiter südlich wichen die Gletscher einer Ebene, durchzogen von Bächen, die aus den Bergen kamen. Von dort an mussten sie zu Fuß weiter und kamen nur langsam voran. Weder Isaura noch Sayce waren es gewohnt, lange 285 Strecken zu gehen. Der verschlossene SuUanciri dagegen lief ihnen weit voraus, stieg über eine Hügelkette oder trottete davon, um Wild zu suchen. Die Gebirgsbäche sorgten für Trinkwasser, das sie aufrecht hielt, obwohl sie unter der zunehmenden Hitze litten. Sayce ging sogar so weit, die untere Hälfte ihres Rockes abzureißen und ihre Beine der Sonne auszusetzen. Isaura tat es ihr nach, und schnell hatten beide einen Sonnenbrand, aber Magik und Umschläge aus Schlamm und Gras halfen, die nach einer Rezeptur von Hlucri angefertigt wurden. Schließlich, vierzehn Tage nach ihrem Aufbruch, galoppierte Hlucri von einer Kundschaftertour zurück und brachte sie eilig zu einem Felsvorsprung an der Nordseite eines niedrigen Berges. Die Steine ragten schräg aus dem Boden, viele sehr hoch, ein paar waren zerborsten und gestürzt. Die beiden Frauen kauerten im Schatten eines dieser Felsen, und Hlucri lauerte hinter einem anderen, als zwei /Elfen über die Kuppe kamen, gefolgt von einem urZreö. Isaura hatte keinen von ihnen je zuvor gesehen, und sie boten einen ebenso traurigen Anblick wie sie und Sayce, zerlumpt und verdreckt wie sie waren. Der männliche ÄL\i hatte silberne Augen und einen weißen Haarkamm in der Mitte der sonst kahlen Schädeldecke. Sie erkannte ihn als Vorqself, denn sie hatte seinesgleichen auf Vorquellyn gesehen, als sie an die Insel gebunden worden war. Die weibliche eIfe war kleiner und schlanker, und entsprach damit den meisten /Elfen. Dass ihr das rechte Auge fehlte, überraschte Isaura. Das einzig Überraschende an dem Zwerg war sein Geschlecht. Die malachitgrüne Farbe seiner Haut passte so gut zu dem Frühlingsgrün des Grases, dass sie ihn fast für eine Weirun der Ebene gehalten hätte. Seine dunklen Augen zuckten von einer Seite zur anderen und er war offensichtlich bei Verstand, was allem widersprach, was sie je über urZreö außerhalb der urSreiöi-Kolonien gehört hatte. Sayce sprang augenblicklich auf und rannte auf die drei zu. »Entschlossen! Bok!« 286 Der Kopf des /Elten flog herum, seine Hand lag am Griff des Schwertes. Er trat vor seine Begleiterin, und sie tat einen Schritt zurück, bevor sie die Klinge zog. Entschlossens misstrauische Miene entspannte sich ein wenig. »Prinzessin Sayce?« »Ja, ich bin's. Wir sind entkommen. Wir sind nach Süden unterwegs, um euch und Will zu finden. Wo ist er?« Entschlossen hob die Hand. »Wir, Prinzessin?« Sayce, die sich inzwischen auf halber Strecke zwischen den /Elfen und Isaura befand, hielt an. »Ja. Ich bin nicht allein. Isaura ist bei mir. Sie ist Wills Schneeflockendame. Und Hlucri. Er ist ein SuUanciri, aber früher war er Lombo. Er hat uns geholfen.« Hlucri trat aus seinem Versteck und kroch die halbe Länge eines Felsens entlang, bevor er sich setzte. Das Sonnenlicht brach sich auf dem Jadepanzer seiner Haut. Seine Krallen waren ausgefahren, doch er hatte die Hände mit dem Rücken auf den Stein gelegt, die leeren Handteller nach oben. Bevor Isaura aufstehen konnte, hörte sie ein Schwirren. Ein Sprijt tauchte vor ihr auf und landete auf dem Fels.
»Qwc kennt dich.« Er flog wieder auf, umkreiste sie einmal, dann sauste er davon. Er flog auf Entschlossens Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der silberäugige Vorqaelf schaute zu ihr hinüber. »Ihr könnt herauskommen. Es wird Euch nichts geschehen, Schneeflockendame. Wir stehen in Eurer Schuld.« Isaura stand auf, rückte ihr Kleid zurecht und trat aus den Schatten. »Ich bin Isaura, Tochter der Imperatrix Kytrin.« Entschlossen neigte für einen Augenblick den Kopf zur Seite, dann schüttelte er ihn. »Nicht von Geburt.« »Nein, sie hat mich als Tochter angenommen. Ich habe euch Sayce gebracht. Ich muss euch sagen, dass ihr den Norderstett nicht nach Norden b ringen dürft. Genau das will meine Mutter. Jede Meile, die ihr euch ihr nähert, bringt ihren großen Plan der Vollendung näher.« Die /Elfe lachte. »Wenn deine Mutter den Norderstett will, ist sie eine Närrin.« 287 Isaura schüttelte langsam den Kopf. »Meine Mutter ist vielleicht in ihren Gedanken schwer zu erraten, aber sie ist keine Närrin.« »Zugegeben, Eure Mutter ist schlau.« Entschlossen hob eine Hand über die Augen und schaute nach Norden. »Es gibt zwei mögliche Gründe, warum sie Euch mit Sayce in den Süden geschickt haben könnte.« »Wir sind geflohen!« Entschlossen starrte sie so streng an, dass sie rot wurde. Er hat Recht! Sie hat uns gehen lassen. Die dahinter liegende Bedeutung - so, wie ihre Mutter sie benutzt hatte - erschütterte sie. Isauras Magen verkrampfte sich und sie schmeckte bittere Galle. »Der erste Grund: Ihr könntet Erfolg damit haben, uns zu überreden, Sayce nach Süden in Sicherheit zu bringen, und damit eine Gefahr für sie abwenden. Der andere: Man folgt Euch.« Isaura schaute nach Norden und sah hoch am Himmel ein Dutzend dunkler Punkte, die größer wurden, als sie tiefer kamen. Bis auf einen besaßen sie die gedrungenen Körper von Aasvögeln, doch mit flachen Zitzen auf nackter Brust. Ihre schwarzen Schwingen hatten einen öligen Glanz, der zu den fettigen Haaren der hässlichen Köpfe passte. Die Araftii krächzten rau und kreisten, dann landeten sie. Sechs von ihnen bildeten einen Halbkreis im Süden. Zwei landeten auf einem der stehenden Felsen, während die drei anderen den Weg nach Norden versperrten. Die letzte Kreatur war ebenso elegant wie die Araftii hässlich. Der riesige Vogel war von gelber Farbe, mit schwarz gesäumten Federn und Krallen. Er glitt flach über die Ebene, dann drehte er auf einer Flügelspitze und landete so leicht wie ein vom Baum schwebendes Blatt. Er streckte die Flügel, hob sie zum Himmel, dann schrumpften sie zu Armen. Die Verwandlung vollzog sich langsam und war von berückender Anmut. Der Ausdruck auf dem Gesicht der urSreö-Sullanciri Ferxigo wechselte von reiner Ekstase zu sanfter Verwirrung. 288 Als Qwc aufflog, schüttelte Entschlossen den Tornister ab und zog das Schwert. »Sayce, komm her.« Ferxigo verwandelte den rechten Unterarm in eine lange, schlanke Klinge, die von derselben Länge wie seine Waffe war. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Entschlossen, sie kommt mit uns zurück. Genau wie der Norderstett. Liefere ihn uns aus und du darfst weiterleben.« Der Vorqaelf hob die rechte Braue. »Deine Herrin ist nicht gerade dafür bekannt, gegebene Versprechen zu halten.« Die Krallenfüße der Sullanciri bohrten sich in den Boden. »Sie ist nicht so großzügig. Aber ich. Den Norderstett für dein Leben.« Entschlossen schüttelte den Kopf. »Nicht zu deinen Lebzeiten.« Ohne Vorwarnung griff Ferxigo an. Sie übersprang den Abstand zwischen ihnen und zerfetzte ihm das Lederwams. Er zischte auf und ihre Hand zog sich blutverschmiert zurück. Der Vorqaelf schlug ihre Klinge beiseite, dann wirbelte er herum, zeigte ihr kurz den Rücken, bevor er nach ihren Augen stach. Der Schlag hätte ihr das Gesicht bis zum Knochen aufschneiden oder sie wenigstens das Augenlicht kosten müssen, doch er ging völlig fehl. Ferxigo wandelte die Gestalt, ihr Schädel wurde flacher, das Gesicht breiter. Die Augen wanderten an die Enden einer Art Hammerkopf und die Klinge zischte über ihnen vorbei, dann kehrte ihr Kopf halbwegs zur früheren Form zurück. Sie schwang die linke Faust herum, erwischte Entschlossen am Brustkorb und warf ihn damit um mehrere Schritte zurück. Wieder griff sie an, schnell und hart, ließ nicht locker. Entschlossen wich ihr mit langen Sprüngen aus. Ihre Klinge schnitt durch den Boden, zerfetzte Wams und Stiefel, nicht aber ihn. Wenn er parierte, stiegen kleine Wolken schwefelfarbenen Rauches auf, doch Ferxigo ließ kein Unbehagen erkennen. Sie zwang ihn immer weiter zurück, bis sie ihn an einem der Felsblöcke in die Enge trieb. 289 Die Sullanciri sprang vor. Der Vorqaslf duckte sich nach rechts. Ihr Schwertarm drang in den Stein ein und steckte einen Pulsschlag lang fest. Entschlossen hieb nach ihrem linken Arm, doch er verwandelte sich von einem menschenähnlichen Arm in einen knochenlosen Tentakel. Seine Klinge verfehlte die dicken Windungen um Haaresbreite. Sie peitschte mit dem linken Arm und versetzte ihm einen gewaltigen Hieb über die Oberschenkel. Entschlossen krachte gegen den Fels, der rechte Ellbogen knallte hart dagegen und das Schwert fiel ihm aus der Hand. Ferxigo
warf sich auf ihn. Ihre Krallenfüße gruben sich in den Stein. Sie drückte ihn mit dem Gewicht ihres Körpers, dessen Rücken sich zu einem Panzer formte, gegen den Fels. Eine Schlinge ihres linken Arms schloss sich um seinen Hals und zog sich zusammen, während sie die rechte Hand hob und zu einer Gabel formte, deren zwei Zinken genau so weit auseinander standen wie seine Augen. Sayce stürzte sich auf Ferxigo und sprang auf ihren Schildkrötenrücken. Isaura verstand nicht, was sie mit bloßen Händen gegen eine Sullanciri auszurichten hoffte. Sie hatte gedacht, Sayce sei klüger. Selbst tot könnte sie den Zwecken meiner Mutter dienen. Ihr schlug das Herz bis zum Hals, so groß war die Angst um ihre Freundin und zugleich der Stolz auf deren Mut. Aber die murosonische Prinzessin war nicht unbewaffnet. Silber blitzte in ihrer Hand. Sie hatte sich das Amulett vom Hals gerissen und jagte es Ferxigo in die Achselhöhle. Schwarzes Blut spritzte hervor. Die Sullanciri bäumte sich auf und schüttelte Sayce ab. Sayce flog vier Schritt weit und landete hart auf den Schultern. Sie prallte ab und rollte der elfe vor die Füße. Die Sullanciri sprang vom Felsen und wollte Entschlossen davonschleudern. Hätte der Vorqaelf den Tentakel nicht mit beiden Händen gepackt, der Ruck hätte ihm den Hals gebrochen. So hielt er sich fest und brachte Ferxigo aus dem Gleichgewicht. Um sich zu retten, ließ sie ihn los, allerdings weit von seiner Waffe entfernt. Wieder verwandelte Ferxigo ihre Hand, fasste 290 sich in die Achselhöhle und zog Sayces Amulett heraus. »Mächtig, ja. Aber viel zu kurz, um zu töten.« Sie sah sich nach ihren Verbündeten um. »Tötet sie alle - außer dem Menschenmädchen.« Die Araftii sprangen in die Luft oder hüpften mit ausgebreiteten Schwingen vorwärts. Die beiden auf dem Felsen hinter Isaura kreischten schrill, was ihr einen Angstschauder über den Rücken jagte. Sie drehte sich trotzdem nicht zu ihnen um. Der Tod kam von allen Seiten - und sie suchte nach einem Zauber, der die Kreaturen ihrer Mutter vom Angreifen abhalten konnte. Sie kam nicht dazu, Magik zu wirken. Mit wildem Brüllen jagte Hlucri über den Stein und sprang, die Arme ausgebreitet, die Krallen funkelnd. Ferxigo verschwand hinter dem breiten Körper, doch Isaura erhaschte noch den Ausdruck völliger Verblüffung auf ihrem Gesicht. Hlucri kreuzte die mächtigen Arme im Angriff und schleuderte einen schwarzen Blutnebel auf. Ferxigos Tentakel wand sich am Boden, doch Hlucri hielt nicht einmal inne. Stattdessen landete er auf zwei Araftii aus der südlichen Gruppe und zerfetzte sie zu einem Federsturm. Der Sprijt wirbelte und tanzte durch die Luft, dann drehte er um und spie einen Klumpen Netzwerk, der einen Flügel einer Araftsi verklebte. Die Kreatur schlug hart auf den Boden, wo die /Elfe sie mit einem schnellen Schwerthieb zweiteilte. Die anderen stürzten sich auf sie, aber ihr Kreischen verstummte, denn Entschlossen erwischte sie mit fliegenden Metallsternen. Hlucri tötete eine dritte mit einem Rückhandhieb und zwei andere stiegen mit wilden Flügelschlägen zum Himmel auf und flohen. Bleiben nur noch zwei. Isaura wirbelte herum und sah die Letzte der beiden Araftii auf dem Felsen in dessen Schulter versinken. Augen aus Lava brannten in einem beinahe leeren Gesicht. Als sie in die rotgoldenen Flecken hinaufschaute, loderten kleine Flammenzungen darin, wie sie es in Nefrai-layshs Augen getan hatten. Sie streckte langsam, zögernd, die Hand aus. »Du bist der Norderstett?« 291 Die Felskreatur hob das Kinn und zwei dunkle Flecken erschienen an seinem Hals, dort, wo die furchtbaren Wunden gewesen waren, die sie geheilt hatte. Isaura blickte sich über die Schulter und sah, dass Sayce noch immer bäuchlings am Boden lag. Der Sprijt und die /Elfe waren besorgt zu ihr geeilt. Sie ging ebenfalls hinüber, kniete nieder und sprach einen Diagnosezauber. Die /Elfe packte sie an der Schulter. »Was machst du mit ihr?« »Ich schaue nur nach, ob sie oder das Kind verletzt sind.« Isaura hörte die Besorgnis in der Stimme der /Elfe und verstand deren Angst, denn ihr Zauber leuchtete im roten Glühen aurolanischer Magik. Sie lächelte. »Sie wird blaue Flecken bekommen, aber dem Kind geht es gut.« Isaura schüttelte es, als sie aus dem Augenwinkel den Norderstett sah. Ach, Sayce, das ist ganz und gar nicht das, was du erwartet hast. Dein Körper wird sich erholen, aber wird diese Begegnung dir das Herz noch einmal brechen? Zu Isauras Linken hatte Entschlossen sein Schwert aufgehoben und starrte Hlucri an. »Wer bist du? Hlucri oder Lombo?« Der Sullanciri zuckte die Achseln. »Wächter. Schneeflockendame.« Isaura erhob sich von Sayces Seite und trat zu ihnen. »Nefrai-kesh hat ihn zu einem Sullanciri gemacht und ihm aufgetragen, mich zu beschützen.« Entschlossen runzelte die Stirn. »Ein Sullanciri erschafft einen Sullanciri mit der Fähigkeit, andere Sullanciri zu vernichten? Seltsam.« »Warum?« Der Vorqaslf bewegte unbehaglich die Schultern. »Ich kannte Kenvin Norderstett. Ich wollte nie recht glauben, er würde freiwillig zu einer von Kytrins Kreaturen werden. War er in der Lage, etwas von seinem alten Selbst zu bewahren, um sie eines Tages stürzen zu können? Hat er dieses Opfer gebracht, damit dieser Generation
gelingen kann, woran seine eigene scheiterte? Er hat Adrogans Okrannel und den Feuer292 dreck überlassen. Es ist nachvollziehbar, dass er Euch Hlucri als Beschützer mitgab, aber hatte er damit auch noch etwas anderes im Sinn?« »Wie meinst du das, etwas anderes?« Entschlossen schaute sie offen an, jetzt allerdings etwas sanfter. »Hlucri hat angegriffen, als er den Befehl gehört hat, dich zu töten.« »Das weiß ich.« »Von wem, glaubst du, stammte dieser Befehl?« Die Antwort traf sie wie einer von Hlucris Hieben. Sie taumelte einen Schritt zurück, dann stützte sie etwas und verhinderte, dass sie fiel. Sie sah auf, der Norderstett blickte auf sie herab. Seine Augen loderten kurz auf, dann zog sich das Leuchten ein wenig zurück, fast, als würden sich langsam Augenhöhlen bilden. Hlucri trottete langsam herüber, dann schnüffelte er und setzte sich, um sich das Blut von den Krallen zu lecken. »Meine Mutter war bereit, mich töten zu lassen?« Entschlossen nickte. »Mir fällt nichts anderes dazu ein.« Isaura wies nach Norden, dorthin, wo die beiden überlebenden Araftii flogen. »Sie wird erfahren, dass wir kommen.« »Sie weiß längst, dass wir kommen. Und sie weiß, was wir tun werden, wenn wir sie erreichen.« Entschlossen zuckte die Achseln und schob das Schwert zurück in die Scheide. »Ich sehe keinen Grund, sie warten zu lassen.« 293 KAPITEL DREIUNDDREISSIG yx beugte sich vor und stützte sich mit beiden Händen auf Caledos Stadtmauer. Das Drachenfeuer hatte den Stein geglättet, als hätte ihn ein Fluss über Jahrhunderte abgeschliffen. Die kühle glatte Oberfläche bildete einen scharfen Gegensatz zu den zerklüfteten Mauerresten der von Draconellenkugeln zerstörten Gebäude in der Stadt hinter ihr. Vor ihr standen die Truppen, die Prinz Ermenbrecht aus Oriosa mitgebracht hatte, in Reih und Glied. Sie wusste, was er aus Saporitia mitgenommen hatte, und diese Einheiten schienen schwer in Mitleidenschaft gezogen. Die Alcidische Throngarde hatte ein Viertel ihrer Stärke eingebüßt und die Orioser Freischärler waren so gut wie vernichtet. Soldaten aus dem Ostland, Valkenritt und Mittland hatten die Armee verstärkt, aber ein Drittel davon bestand aus Einheiten ohne Kriegserfahrung, die man mit einiger Großzügigkeit noch als Miliz bezeichnen konnte. Das galt allerdings nicht für die urSreiöi-Truppen, die sich dem Orioser Heerwurm angeschlossen hatten. Die Boka-Drachentöter und SarenGarde stellten je ein volles Regiment. Allein die Anwesenheit der Drachentöter, die sich diesen Namen soeben erst in Oriosa verdient hatten, verbesserte die Kampfmoral schon erheblich. Alyx' Gedanken überschlugen sich förmlich mit Einsatzmöglichkeiten für sie. Sie drehte sich um und nickte Ermenbrecht und dessen Bruder zu. »Diese Truppen sind eine prachtvolle Verstärkung für unsere Streitmacht.« Sie wandte sich wieder den Truppen zu und hob die Stimme. »Ich habe gehört, was ihr alle geleistet habt, um hierher zu 294 kommen, und ich finde keine Worte, die mein Erstaunen, meinen Respekt und meine Dankbarkeit dafür ausdrücken könnten, dass ihr euch uns angeschlossen habt. Ihr alle habt euer Zuhause und eure Lieben verlassen, um in einem Krieg zu kämpfen, der euer Land ebenso zerreißen könnte, wie er bereits so viele andere zerstört hat. Manche von euch haben bereits einen Einmarsch zurückgeschlagen, andere wollen verhindern, dass es dazu kommt. Ihr alle werdet mithelfen, Vielen, die heute nur noch Erinnerungen an bessere Zeiten haben, ihre Heimat zurückzugeben. Ihr alle habt Kameraden verloren, aber ihr alle wart auf dem Schlachtfeld auch Zeuge tausendfachen Heldenmuts. Die Nachricht von Dranaes Tod trifft mich hart, doch sein Heldenmut soll uns allen in den kommenden Tagen den Weg weisen. Im Angesicht überwältigender Übermacht ließ er sich nicht abschrecken, sondern warf sich in die Schlacht, wie es die Lage erforderte. Nein, er war nicht wie wir, er war ein Drache. Aber das macht sein Opfer nur noch größer. Er hätte in diesem Kampf neutral bleiben können, wie es viele seiner Art tun. Doch er entschied sich einzugreifen.« Sie nickte den versammelten Soldaten zu. »Ihr habt ebenfalls auf den Ruf geantwortet, die Unschuldigen vor der Hand des Bösen zu schützen. Die Leben, die wir alle noch haben, die Leben, zu denen wir zurückzukehren hoffen, sind nicht leicht zu sichern. In den nächsten Tagen werden wir sie für mehr als eine Generation gewinnen. Wir werden kämpfen und bluten und mancher von uns wird sein Leben geben, damit unsere Kinder und Kindeskinder niemals wieder gezwungen sein werden, in den Krieg zu ziehen. Für dieses Ziel ist kein Preis zu hoch. Willkommen, alle, wie ihr da seid, und danke.« Jubel stieg aus den Reihen der Soldaten auf, am lautesten von den Freiwilligen. Alyx salutierte, erst vor den Truppen, dann vor den Orioser Prinzen. Anschließend verließen die drei Adligen die Mauer, und vor der Stadt brüllten die Offiziere ihre Befehle und lösten die Paradeformation auf. Ermenbrecht folgte ihr auf dem Fuße. »Ich habe mir die Zeit genommen, die von den Gyrkyme-Kundschaftern angefertig-
295 ten Karten zu studieren. Nefrai-kesh baut eine gewaltige Abwehrfestung auf.« Sie nickte. Ermenbrechts gezwungener Ton erweckte ihr ein flaues Gefühl im Magen. »Stimmt. Wir haben ein Modell aufgebaut, dessen Anblick noch erschreckender ist. Kommt.« Alyx ging durch das Straßengewirr und hinab in die unterirdischen Gewölbe Caledos voraus. Sie hatte ihr Hauptquartier unter die Oberfläche verlegt, nur für den Fall, dass ihnen der Drache, den Nefrai-kesh beim Bau der Befestigungen einsetzte, einen Besuch abstattete. Tatsächlich hätte dieser Drache ihre Armee recht leicht vernichten konnten, da der Platz nicht ausreichte, alle Soldaten in den Ruinen einzuquartieren, und diese ohnehin kaum oder gar keinen Schutz geboten hätten. Arimtara wäre ihm zwar nichts schuldig geblieben, aber sollte sie ebenso fallen wie Dranae, hätte das der Moral der Südlandarmee einen kaum wieder gutzumachenden Schlag versetzt. Sie erreichten einen schummrigen Raum, in dessen Luft der schwere Duft von Kerzen und Öllampen hing. Perrine und ihr Vater standen in der Nähe der verkleinerten Nachbildung und erklärten dem Modellbaumeister neue Erweiterungen. Ihnen gegenüber war Kräh tief in ein Gespräch mit zwei Meckanshii vertieft - seinem Bruder Sallitt und dessen Frau, Jancis Eisenbart. Er lächelte ihr zu, als er sie sah, blieb aber bei seinem Bruder. Sie führte die oriosischen Prinzen ans Südende des Tisches. »Das erwartet uns.« Die aurolanischen Stellungen waren ursprünglich drei niedrige Berge gewesen, deren mittlerer etwas südlich der beiden anderen lag. Die Bergkuppen waren eingeebnet und rund hundert Schritt abgesenkt worden, hatte man ihr erklärt. Mit dem dabei angefallenen Erdreich hatten die Aurolanen die Täler zwischen ihnen angefüllt, so dass ein steiler Erdwall entstand. Von der Ebene bis zu dessen Oberkante waren es etwa dreißig Schritt, und nicht nur die Ebene vor dem Wall, sondern auch der gesamte Hang lag im Schussfeld von Dutzenden Draconellen. 296 Von den nördlichen Bergen ausgehend hatte Nefrai-kesh Gräben anlegen lassen, die sich dreihundert Schritt nach Ost und West erstreckten. Der östliche Graben bog nach einer Weile schräg nordwärts ab, und beide endeten an ebenfalls abgeflachten Hügeln, auf denen eine Draconellenbatterie stand. Der einzige Weg hinauf war eine Serpentinenstraße auf der Nordseite, die auf ganzer Länge von den Draconellen beharkt werden konnte. Am südlichen Rand des Areals lag ein ausgetrocknetes Flussbett. Es war den Aurolanen gelungen, den Fluss knapp östlich ihrer Stellungen aufzustauen und einen gewaltigen See anzulegen. Der Staudamm bot ihnen nicht nur einen weiteren hoch gelegene Standort zur Stationierung von Truppen. Denn wenn sie ihn sprengten, würde der See zudem das Schlachtfeld überfluten und alle Angreifer mit sich reißen. Als reichte die Gefahr, jämmerlich zu ertrinken, noch nicht aus, zeigte das Modell auch die Draconellenbatterien. Auf jedem der Berge befanden sich vier davon in Gräben, die mit Baumstämmen befestigt waren. Die Draconellen ließen sich innerhalb der Stellungen leicht verschieben und gegen Truppenkonzentrationen der Angreifer zusammenziehen. Die Baumstämme bildeten sogar ein Dach über den Batterien, so dass sie von den Steilschleudern, die Ermenbrecht in Oriosa erbeutet hatte, kaum beschädigt werden konnten. Ermenbrecht rieb sich das Kinn. »Obwohl die Stellungen nur vier Meilen landeinwärts von der Küste liegen, können wir keine Truppen durch Porjal um sie herum schicken und sie von hinten angreifen. Der Weg diese Straße hinauf wäre ebenso mörderisch wie ein Frontalangriff.« Alyx nickte. »Ich weiß nicht, wie lange er eine konventionelle Belagerung aushalten kann, aber die Masse ungenutzten Erdreichs, die da herumliegt, lässt mich vermuten, dass die Berge mit Nachschubbunkern und jeder Menge sonstiger Überraschungen ausgehöhlt sind. Falls die Befestigung bei Zamsina wirklich eine Vorhersage war. Nefrai-kesh kann sich denken, dass wir urSreiöi-Verbündete haben, und er wird 297 einen Kampf unter der Erde in seine Vorbereitungen mit einbezogen haben.« Lüdwin deutete mit dem Armstummel auf das Modell. »Haben wir irgendeine Vorstellung davon, über wie viele Truppen er da verfügt, und wie sie sich zusammensetzen?« »Wir haben Vermutungen, aber keine gesicherten Kenntnisse.« Alyx hob die Schultern. »Mit dem, was ihr mitgebracht habt, verfügen wir über fast zweiundzwanzigtausend Mann. Drei Viertel unserer Streitmacht schätze ich als zuverlässig ein, und ein Drittel macht die Elite der zivilisierten Welt aus. Ein Drittel ist allerdings auch Kavallerie, die uns in dieser Schlacht wenig nutzen wird.« Der ältere Orioser Prinz schüttelte den Kopf. »Das wird knüppelhart.« »Treffend ausgedrückt.« Alyx deutete auf die gerade Linie des westlichen Grabens. »Der schützt den Hang des nordwestlichen Berges. Das ist die bei weitem einfachste Angriffsroute, nur dauert es so lange, unsere Truppen dorthin zu bringen, dass die Aurolanen genug Zeit hätten, die Draconellen in Stellung zu bringen. Und sollten sie Einheiten in den Wäldern im Westen versteckt haben, hinter diesem freien Stück, so könnten sie uns in den Rücken fallen, sobald wir den Graben angreifen. Es wird ein Blutbad werden. Aber das ist es nicht, was mir die meiste Angst macht.» »Sondern?« Alyx fletschte die Zähne. »Ich muss davon ausgehen, dass diese Berge von einem Tunnellabyrinth durchzogen sind, und dass Aurolanen da heraus an die Oberfläche strömen, um die Gräben und Draconellen zu bemannen, sobald wir angreifen. Aber was, wenn nicht? Was, wenn er eine zweite Armee irgendwo anders sammelt?
Während wir unseren Angriff vorbereiten, könnte er mit einer Flankenbewegung nach Osten ziehen und nach einem Gewaltmarsch plötzlich vor Narriz, Yslin oder Meredo stehen. Kann ich es mir leisten, einen Teil meiner Truppen zur Erkundung abzustellen? Und was mache ich, falls sie tatsächlich da draußen eine Armee finden?« 298 Ermenbrecht nickte. »Oder noch schlimmer, was, wenn diese Armee wartet, bis wir hier im Kampf stehen, und uns dann in den Rücken fällt?« »Genau.« Alyx stöhnte. »Das ist die Lage. Es geht um das Schicksal der Welt, und wir haben keine Ahnung, ob das, was wir tun, es zu unseren Gunsten wendet oder so weit aus dem Gleichgewicht wirft, dass es sich nie wieder davon erholt.« KAPITEL VIERUNDDREISSIG Oayces Umgang mit Harts Gestalt überraschte Entschlossen. Kytrin hatte sie nach Aurolan entführt, lange bevor Orakel verkündet hatte, dass der Norderstett auf Vorquellyn wartete. Dafür dankte er dem Schicksal. Hätte sie geglaubt, Will wieder zu sehen, und wäre sie dann an seiner Stelle mit einem steinernen Koloss konfrontiert worden, wäre das ein zu grausames Schicksal gewesen, um es in Worte zu fassen. Stattdessen hatten sie Sayce nach dem Aufwachen zunächst beruhigt, ihrem Kind sei nichts geschehen, und ihr dann erklärt, wer Hart war. Die Nachricht hatte sie getroffen. Sie hatte geweint, aber nicht lange. Sie hatte auch mit Hart gesprochen, doch war der Felskreatur nicht anzumerken, ob sie auch verstanden hatte, was sie hörte. Harts Augen hatten geglüht und einmal sogar gelodert, doch die Hand hatte er nicht nach ihr ausgestreckt. Qwc hingegen verbrachte viel Zeit mit ihr und ritt auf ihrer Schulter, wie er zuvor auf Harts Schulter geritten war. Entschlossen hatte sich mit ihr unterhalten, nachdem Sayce mit Hart gesprochen hatte. »Er hat dich nicht besser oder schlechter behandelt als irgendeinen von uns.« Sayce nickte. »Ich verstehe es. Zu sterben und dann als etwas wiederzukehren, das nicht aus Fleisch und Blut ist... Du hast mir erklärt, dass Hart nicht Will ist, sondern nur ein anderer Aspekt des Norderstett. Ich verstehe das sehr gut.« »Wirklich, Prinzessin?« Sie lächelte vorsichtig. »Zum Beispiel dieser Titel. Bin ich eine Prinzessin oder hat mich die Ermordung meiner Familie zu einer Königin gemacht? Werden die Mächte, die Muroso 300 befreien, es dann unter Saporitia und Oriosa aufteilen, es mit Sebtia vereinigen oder zu etwas wie Festung Draconis in Landesgröße verwandeln? Du weißt, was die gekrönten Häupter Kräh angetan haben. Sie könnten dasselbe mit mir und meiner Heimat tun. Auch ohne dafür sterben zu müssen, könnte ich ohne eigenes Zutun erhöht oder verstoßen werden.« Der Vorqaelf betrachtete sie nachdenklich, während sie weiter nach Norden zogen. »Das ist eine weit tiefgründigere Antwort, als ich erwartet hätte.« »Täusche dich nicht in mir, Entschlossen, und halte mich bitte nicht für oberflächlich. Wills Tod war furchtbar, aber ich habe gelernt, damit zu leben. Auch damit, dass mein Kind ohne Vater aufwachsen wird. Hart mag ein Teil des Norderstetts sein, aber der Vater meines Kindes ist Will gewesen. Hart ist ebenso wenig für mein Kind verantwortlich wie er in der Lage wäre, eine solche Verantwortung zu übernehmen.« »Du bist eine weise junge Frau.« Er runzelte die Stirn. »Du warst eine Weile mit Isaura unterwegs und hast schon vorher mit ihr geredet. Hat sie dir erzählt, wer ihre Eltern waren?« Die Murosonin schaute ihn betreten an. »Ich weiß, dass sie nicht Kytrins leibliches Kind ist, aber ich habe keine Ahnung, wer ihre Eltern sind. Warum fragst du?« Entschlossen schaute hinüber zu Isaura, die schweigend neben Hart marschierte. »Es ist eigentlich nicht von Bedeutung. Ich war nur neugierig.« »Entschlossen, ich kenne dich noch nicht lange, aber ich glaube nicht, dass du jemals einfach nur neugierig bist.« Trawyn erschien neben ihnen. »Ich wäre bereit, das zu beeiden. Das Geheimnis ihrer Herkunft dürfte so schwierig nicht zu ergründen sein. Sie ist offensichtlich desariel.« Sayce rückte ihren Tornister zurecht. »Dieses Wort kenne ich nicht.« Entschlossens Stimme klang einen Hauch gepresster. »Ein aelvischer Ausdruck. Er bezeichnet ein Kind gemischter Abstammung. Meist wird es benutzt, um die Gyrkyme herabzuwürdigen.« 301 »Du versuchst, mich damit zu treffen, Entschlossen, aber ich habe Gyrkyme kennen gelernt und bestreite ihre Minderwertigkeit.« Trawyn legte Sayce die Hand auf die Schulter. »JElten ist möglich, mit einem Partner einer anderen Art Kinder zu zeugen. Das /Elfenblut in ihr ist unübersehbar, dasselbe gilt aber auch für die menschliche Seite. Ich würde vermuten, sie ist das Kind einer der Sullanciri. Meinst du nicht auch, Entschlossen?« »Hat Eure Spekulation einen Sinn, Hoheit?« Die Loqaelfe lachte. »Nur denselben wie deine. Ich habe die Prophezeiung im Original gehört. Ich bin mit den Zwischentönen vertraut.« Sayce schaute von einem der elfen zum anderen. »Ihr könntet dieses ganze Gespräch ebenso gut auf elvisch führen, denn ich verstehe kein Wort, nur dass die Herkunft ihrer Eltern unter Umständen etwas mit der Prophezeiung zu tun haben könnte.«
Entschlossen senkte die Stimme. »Die Prophezeiung hat viele Zwischentöne, die mit der Anzahl der Gefährten des Norderstetts und deren Herkunft zusammenhängen. Ein Norderstett wird bei einem erfolgreichen Unternehmen allzeit von einem Valkener begleitet. Es wäre von erheblicher Bedeutung, wenn ihre Mutter Siede wäre und ihr Vater Tarrant Valkener.« »Kräh?« Sayce riss die Augen auf. Sie schaute zu Isaura hinüber, dann schloss sie die Augen. »Sie hat eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm, um die Augen herum. Die Ohren lenken davon ab, die ähneln natürlich denen ihrer Mutter. Und sie hat weißes Haar.« Trawyn lächelte. »Du könntest sie einfach fragen, Entschlossen.« Er warf ihr einen eisigen Blick zu. »Ich glaube nicht, dass sie es weiß. Kytrin hätte es ihr niemals gesagt, falls Kräh ihr Vater war. Außerdem bin ich mir sicher.« Ich wusste es von dem Augenblick an, als ich ihre Stimme hörte. »Wir haben eine Valkener an der Seite unseres Norderstett. Die Stränge des Schicksals verweben sich immer enger.« 302 Es waren hauptsächlich Hlucri und Entschlossen, die auf Kundschaft gingen. Die meiste Zeit über kamen sie recht zügig voran. Araftii sahen sie keine mehr. Hlucri musste einen Reifreißer töten, der aus seinem Bau kam und nach Beute suchte. Aber das war die einzige Bedrohung durch die Tierwelt der Region. Entschlossen bemerkte eine seltsame Stelle. Der leichteste Weg für die Expedition durch ein Stück Bergland führte an einigen Senken vorbei, die im schnell sprießenden Gras kaum zu sehen waren. Eine Kompanie Soldaten hätte sich in einem der grasbewachsenen Becken verbergen und sie aus dem Hinterhalt überfallen können. Entschlossen überprüfte jede einzelne Senke, und in der dritten fand er schließlich etwas. Wie es schien, hatte tatsächlich eine Kompanie Schnatterer dort gelauert. Es war schwer zu sagen, ob sie tagsüber oder nachts gestorben waren. Das lag an der Todesursache. Offenbar hatte ein wahrer Feuersturm in der Senke getobt. Falls sie Zelte, Decken oder auch nur Kleidung gehabt hatten, waren diese augenblicklich und vollständig verbrannt. Die Kadaver waren gargekocht und von allen hatten auch schon verschiedene Tiere gefressen. Entschlossen hockte sich an den Rand der Vertiefung. Eindeutig ein Drache war es gewesen, der die Schnatterer getötet hatte. Er hatte nicht den leisesten Schimmer, was eine der Riesenechsen hier suchte, vor allem abseits ihrer Gruppe. Falls es ein Verbündeter war, hätte er sie einfach zu Kytrins Festung fliegen können, und damit wäre die Sache erledigt gewesen. Fa//s nicht... Entschlossen stand auf und spuckte aus. »Drachenspiele. Sie haben das alles angefangen und sie werden auch über das Ende hinaus ihre Ziele verfolgen. Egal. Solange sie uns nicht in ihre Spielchen hineinziehen, erfüllen wir die Prophezeiung und überlassen sie ihrem Kleinkrieg.« 303 KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG Tür Prinzessin Alexia von Okrannel hätte es ein glorreicher Tag werden sollen. Der Werkmond war dem Grünung gewichen und das verfrühte Sommerwetter hatte sich etwas abgeschwächt, was den langen Marsch nach Sebtia knapp sechzig Meilen im Nordosten für ihre Truppen nicht ganz so hart und ermüdend machen würde. Inzwischen war ihre Streitmacht auf über fünfundzwanzigtausend Mann angewachsen und damit war es die größte Armee, die die Welt seit Jahrhunderten gesehen hatte. Generalin Pandiculias Truppen waren vor zwei Tagen abgezogen. Alyx hatte sich mehrere Stunden mit ihr unterhalten und war zuversichtlich, dass Pandiculia ihre Aufgabe erfüllen würde. Nachdem sie erfahren hatte, was sie tun sollte, hatte sie die salnische Generalin offen angesehen. »Ihr verlangt das doch nicht deshalb von uns, weil wir bisher noch in keinen Kampf verwickelt wurden?« »Nein, keineswegs.« Alyx hatte ihr die Hände auf die Schultern gelegt. »Ihr habt eine Ansammlung nachlässiger Soldaten so weit gebracht, dass ich euch zutraue, jede aurolanische Armee aufzuhalten. Außerdem zähle ich darauf, euch als Reserve in der Hinterhand zu haben. Dazu würde ich keine Einheiten einsetzen, denen ich nicht vertraue.« »Ich habe es auch nicht angenommen, doch ich musste zumindest fragen. Falls wir wirklich nur mit Blasen aus diesem Krieg kommen, werde ich mich sicher nicht beklagen, aber wir sind zum Kampf bereit.« »Ich weiß. Deshalb vertraue ich Euch diese Aufgabe auch an.« Pandiculias Armee war eingeteilt, zunächst die Straße zu überwachen und dann die murosonische Hafenstadt Porjal 304 abzuriegeln. Porjal war schon früh im Krieg an die Aurolanen gefallen und diente ihnen als Nachschubpunkt für Lieferungen aus dem Norden. Kundschafter meldeten, dass die Stadt nur von einer sehr kleinen Garnison gehalten wurde, aber Alyx wollte sich die Zeit nicht nehmen, sie zu erobern. Es spielte keine Rolle, wie viele Truppen Nefrai-kesh dort versteckte. Solange sie in der Stadt festsaßen, waren sie ohne Belang. Und falls ihre eigenen Einheiten in ernste Schwierigkeiten gerieten, konnte sie Pandiculias Truppen als Entsatz anfordern. Das gab ihr die Möglichkeit, den Rückzug anzutreten und der völligen Vernichtung zu entgehen. Jetzt stand sie allein in ihrem Feldherrinnenzelt und schaute sich um. Die Karten und Modelle, die sie angefertigt hatten, waren alle verändert worden. Danach verfügte sie scheinbar über weit mehr Truppen, als es tatsächlich der Fall war. Sie rechnete fest damit, dass aurolanische Spione den Raum durchsuchten, sobald sie fort war.
Zwar bezweifelte sie, dass Nefrai-kesh irgendetwas von dem glauben würde, was sie danach meldeten, doch selbst wenn es ihn nur kurz verunsicherte, reichte es ihr schon. Alyx starrte auf das Modell hinab. Sie war ihr ganzes Leben dafür ausgebildet worden, die schwersten militärischen Aufgaben zu lösen. Sie kannte sämtliche Schlachten aus der Geschichte und den Legenden. Hätte sie die Lage, der sie sich gegenübersah, nüchtern und unbeteiligt untersucht, hätte sie die Erfolgsaussichten und Verluste der Schlacht ausrechnen können. Sie verzichtete bewusst darauf, denn selbst die zuversichtlichste Schätzung konnte nur grauenhaft ausfallen. Nefrai-keshs Festung war ein völlig neues Hindernis. Eine Menge Dinge, von denen die Draconellen nur der offensichtlichste waren, machten die Lage äußerst unüberschaubar. Sie hatten Dutzende Schritt Reichweite - für Tod und Verderben. Die Schrotladungen konnten sogar Sturmdächer zersplittern, so dass ihre Truppen keinerlei Schutz gegen sie besaßen. Das Einzige, was sie wirklich retten konnte, war Schnelligkeit, doch mit Rüstungen bewegte sich niemand schnell. 305 Und das wird alles schon wirksam, noch bevor er mit Feuerdreck diesen Damm sprengt und den See zurück ins Flussbett strömen lässt, wo er alle ersäuft, die noch nicht von den Draconellen erwischt wurden. Weiterhin wollten die Draconetten bedacht sein. Eine Salve aus diesen Waffen konnte die vordersten Angriffsreihen mit einem Schlag ausradieren. Noch bevor ihre Leute selbst angreifen konnten, würde sie ein Zehntel verlieren. Danach machte die Zusammensetzung von Nefrai-keshs Armee die Sache schwierig. Schnatterfratzen und Vylaenz waren die eine Sache, aber was, wenn er über Turekadein und Kryalniri verfügte? Was, falls es noch andere bisher unbekannte Aurolanenkreaturen gab, die er für diese Schlacht zurückgehalten hatte? Und wie viele Truppen hielt er in den Bergen versteckt? Wie tief reichten die Stollen und wo waren ihre anderen Ausgänge? Ihre Kundschafter hatten keine Anzeichen für irgendwelche anderswo versteckten Armeen gefunden, doch das bedeutete nicht, dass es sie nicht trotzdem geben konnte. Um über den Sieg auch nur nachdenken zu können, schätzte sie, dass sie mindestens eine dreifache zahlenmäßige Überlegenheit über die Aurolanen brauchte. Wenn Nefrai-kesh einen Drachen einsetzte, nun, sie hatte Arimtara. Doch Dranees Tod war ihr eine Warnung. Ein einzelner Drache war nicht unbedingt genug. Sie hörte hinter sich ein Geräusch und wirbelte herum. Maroth stand in den Schatten. Alyx nahm die Hand von der Brust und atmete weiter. »Ja, Maroth, ich weiß, dass du auch noch da bist, und ich bin sicher, du hast ein paar Möglichkeiten, die mir nützlich sein könnten.« Sie widerstand der Versuchung, ihm den Befehl zu geben, den Feind niederzuwerfen, denn sie hatte keine Ahnung, was er dann tun würde. Außerdem, falls der Gegenstand in seiner Brust das verschollene Fragment der Drachenkrone war, so hätte es Kytrin den Sieg auf dem Silbertablett präsentiert, ihn gegen die Aurolanen zu schicken. Aber falls wir keine andere Wahl haben ... Alyx schüttelte 306 den Kopf. »Es gibt immer eine Wahl.« Wie sie es mit ihren Offizieren bereits besprochen hatte: Möglicherweise würden sie die Armee aufteilen, sich zurückziehen und Nefrai-kesh zwingen müssen, seine Festung zu verlassen. Der Sommer setzte seinen Truppen zu, und falls es gelang, ihn zum Angriff auf befestigte Stellungen zu zwingen, würde er es sein, der ausblutete. Eine Verzweiflungsstrategie, das war ihr wohl bewusst, denn ohne einen entscheidenden Sieg konnte sich der Krieg noch Jahre hinziehen. Kurz dachte sie an Entschlossen, Kjarrigan und die anderen. Die letzte Nachricht, die sie von ihnen erhalten hatte, hatte vom Fall Loquellyns und der Entschlossenheit berichtet, sich nach Vorquellyn durchzuschlagen. Inzwischen mussten sie auf der Insel gewesen sein, und falls Will bei ihnen war, befanden sie sich auf dem Weg nach Norden. Ihr Erfolg oder Fehlschlag konnte Alyx' Sieg oder Niederlage möglicherweise unwichtig machen. Die Vorstellung, gegen Entschlossen als neuen König der Dunklen Lanzenreiter antreten zu müssen, gefiel ihr überhaupt nicht, aber wenn es sein musste, würde sie es tun. Und falls Nefrai-kesh siegt und sie scheitern, ist die Welt, wie wir sie kennen, endgültig verloren. Mit einem letzten Blick ins Rund verließ sie den Raum. Es überraschte sie nicht, dass Maroth bereits verschwunden war. Als sie die letzten Treppenstufen hinaufstieg, sah sie Kräh warten. Sie lächelte ihn an, dann schloss sie ihn in die Arme und drückte ihn. Er grunzte. »Wofür ist das jetzt?« Alyx gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Du hast mich kein einziges Mal gefragt, ob ich mich dieser Aufgabe gewachsen fühle. Du hast mein Urteil über diesen Angriff nicht ein Mal in Frage gestellt.« Kräh zog den Kopf zurück. »Warum hätte ich das auch tun sollen?« Sie ließ ihn los und trat zurück. »Kräh, ich bin noch sehr jung, besonders wenn man mein Alter mit dem der Kommandeure, die unter meinem Befehl stehen, vergleicht. Sicher, ich 307 wurde ausgebildet, mein Potential als Heerführerin restlos auszuschöpfen, aber alle Weisheit in der Welt garantiert nicht, dass es für jede Aufgabe eine Lösung gibt. Zumindest keine elegante Lösung. Dies hier scheint eine zu sein, die nur mit einer Unmenge Blut zu bewältigen ist. Verurteilt meine Unerfahrenheit unsere Soldaten zu Leid und Tod?« Er runzelte die Stirn. »Du vergisst zwei Dinge. Erstens ist es zwar richtig und wichtig, Nefrai-kesh nicht zu unterschätzen, aber auch er ist nicht unbesiegbar. Es stimmt zwar, dass er Okrannel verschenkt hat, trotzdem hat
er taktische Fehler begangen. Adrogans selbst hat erklärt und wir beide haben uns bereits darüber unterhalten, dass Nefrai-kesh vor Swarskija weit mehr Schaden hätte anrichten können, als es tatsächlich der Fall war. Und er hatte zwar keinerlei Skrupel, als es darum ging, jemanden wie Königin Lanivette zu ermorden, aber Sayce hatte er nicht getötet, als er die Möglichkeit dazu hatte.« »Was willst du damit sagen?« »Ich habe über die Sullanciri nachgedacht. Die ursprünglichen Dunklen Lanzenreiter waren allesamt verderbte Gestalten, die willig in Kytrins Dienste getreten sind. Die derzeitige Riege ist anders. Sie waren alle tot oder lagen im Sterben - mit Sicherheit tief verzweifelt. Sie waren möglicherweise nicht in der Lage, sich ihr zu widersetzen. Jedenfalls damals nicht.« Ihre violetten Augen wurden schmal. »Du meinst, er wünscht seiner Herrin den Tod?« »Gibt es einen Sklaven, der seinen Herrn nicht hasst?« »Zugegeben, das hat etwas für sich, aber darauf kann ich mich nicht verlassen.« Kräh tätschelte ihre Wange. »Das weiß ich. Ich versuche nur auszudrücken, dass Nefrai-kesh möglicherweise eigene Sorgen hat. Diese Art der Kriegsführung ist für ihn ebenso neu wie für dich, nur konntest du den Widerstand dagegen studieren. Er musste bisher nur versuchen, sie zu verbessern. Das, was einer Schlacht wie dieser am nächsten kommt, war der Kampf um Festung Draconis.« Sie nickte. »Das stimmt, aber dort verfügten Kytrins Trup308 pen über Draconellen, und die haben wir nicht. Doch ich sehe, worauf du hinaus willst. Du willst mir sagen, er könnte auch Fehler machen.« »So ist es.« Er lächelte. »Und der zweite Punkt, den du vergisst: Unsere Leute kämpfen für ihre Heimat, ihre Familien und ihre Zukunft. Eine Niederlage kommt für sie nicht in Frage. Sie wissen, wie weit wir die Aurolanen schon zurückgedrängt haben. Wir haben sie aus Saporitia und Muroso vertrieben. Wir haben sie aus Bokagul, Sarengul und Oriosa gedrängt. Wir haben sie aus Okrannel getrieben. Jetzt kommt der nächste Vorstoß. Es ist bisher der schwerste, doch wir werden sie auch hier zurückschlagen. Das weiß jeder Mann und jede Frau da draußen.« Alyx nickte ernst, dann zog sie Kräh in ihre Arme und küsste ihn noch einmal. Als sich seine Arme um ihren Körper legten, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Ich kämpfe auch für die Zukunft, Kräh. Für den Frieden, den keiner von uns beiden bisher kennt.« Er nickte und küsste sie aufs Ohr. »Dafür kämpfen wir beide, Geliebte. Das ist noch etwas, das wir Nefrai-kesh voraus haben. Wir haben etwas, wofür wir kämpfen, eine Zukunft, nach der wir uns sehnen. Er nicht. Wir wissen, warum wir kämpfen. Das haben weder er noch seine Truppen.« Alyx löste sich aus der Umarmung und fasste ihn bei den Händen. »Also dann, Kräh. Lass uns nach Norden reiten, am Kopf der Armee der Zukunft. In fünf Tagen werden wir auf die Aurolanenhorden treffen und sie zurück in die Eiswüste jagen, damit sie auf immer dort bleiben.« 309 KAPITEL SECHSUNDDREISSIG Isaura stellte fest: Die Reise über den Gletscher bereitete den anderen Unbehagen, ein anderes Unbehagen, als sie es empfand. Für ihre Begleiter war das Leben in Eis und Schnee der Kälte wegen hart. Der gnadenlose Biss des Nachtwinds zehrte an ihrer Kraft. Hlucri errichtete zwar Eishütten, wie schon auf dem Weg nach Süden, doch ohne Feuerholz waren die Lager trotzdem kalt, und das sorgte für schlechte Stimmung. Zudem spürte Isaura, dass Trawyn sie weder mochte, noch traute sie ihr. Die Truppen ihrer Mutter hatten die Heimat der Loqaelfe überrannt, und Trawyns Hass auf Kytrin übertrug sich auf Isaura. Sie konnte es der Prinzessin nicht verdenken. Nur weil Isaura sie zurück nach Norden begleitete, um gegen ihre Mutter zu kämpfen, schützte sie das nicht vor Trawyns Zorn. Hätte sie nicht befürchten müssen, Hlucri gegen sich aufzubringen, hätte die JElie Isaura vermutlich auf der Stelle zurückgelassen. Sayce, die bisher ihre Freundin gewesen war, hatte ihre eigene Last zu tragen. Sie war mit Wills Verwandlung zunächst gut klargekommen, doch verließ sie der Mut, mit dem sie seinen Tod ertragen hatte. Obwohl Isaura noch nie einen Geliebten gehabt hatte, konnte sie sich vorstellen, wie es sein musste, durch Harts Anwesenheit ständig an Will erinnert zu werden, ohne irgendeine Zuneigung von ihm zu erfahren oder auch nur zu spüren, dass er sie erkenne. Sicher vermischte sich das Bild von Will, das Sayce in ihrem Herzen trug, langsam aber sicher mit Hart - und sie verlor ihn endgültigDie Kälte machte Isaura nichts aus, doch je weiter sie nach 310 Norden kamen, desto unbehaglicher fühlte sie sich. Einerseits liebte sie Kytrin. Nur in der Rolle, die ihr die Imperatrix gegeben hatte, hatte es in der aurolanischen Gesellschaft einen Platz für sie gegeben. Ihr fehlte die Habgier von Neskartus Rekruten im Konservatorium. Hätte Kytrin sie nicht angenommen, hätte man sie vermutlich auf irgendeinem Gletscher ausgesetzt oder an die Frostkrallen verfüttert. Wäre sie noch ein Kind gewesen, diese schlichte Dankbarkeit wäre genug gewesen, sie gegen das aufbegehren zu lassen, was sie vorhatten. Sie hätte Isaura glauben lassen, es gäbe eine Möglichkeit, Kytrin ins Gewissen zu reden. So wie der Norderstett Vorquellyn erlösen würde, würde sie ihre Mutter retten. Doch das war, seit Ferxigo ihren Tod befohlen hatte, auch ausgeschlossen. Es wäre Isaura nicht schwer gefallen,
diesen Befehl für einen Irrtum zu halten, nur hatte Hlucris Eingreifen keinen Zweifel an der Wirklichkeit gelassen. Er hatte seine Mitsullanciri augenblicklich getötet und damit Isaura bestätigt, dass der Befehl tatsächlich ihr gegolten hatte, und, wie Entschlossen unterstellte, letztlich von ihrer Mutter kam. Sie war traurig. Die Oromisen hatten Kytrin derart verdorben, dass sie bereit war, Isauras Liebe zurückzuweisen. Für die Imperatrix war sie nicht mehr als ein Mittel zum Zweck. Den Suchzauber hatte sie ihr nur anvertraut, damit sie den Norderstett fand und Ferxigo nach Süden führte. Ihre Mutter hatte sie benutzt, und war bereit gewesen, sie aus dem Weg zu räumen, sobald sie ihren Zweck erfüllt hatte. Isaura fragte sich, wie lange sie im tiefsten Innern schon gewusst hatte, dass sie für ihre Mutter nur ein nützliches Mittel war. Bewusst hatte sich Isaura das erst jetzt gemacht, unwillkürlich fragte sie sich, ob es vielleicht keine zufällige magische Strömung gewesen war, die sie in Meredo zum Norderstett geführt hatte, sondern dass sie von anderen Kräften zu ihm getrieben worden war. Kräften, die von dem gespeist wurden, was sie über ihre Mutter wusste. Habe ich ihn gefunden, weil ich wusste, dass sie mich töten würde, falls er sie nicht vernichtet? 311 Sie beschäftigte sich aus einer Myriade Blickwinkeln mit dieser Frage, und es beschäftigte sie für den Großteil der Reise über den Gletscher. Sie ging jeden Augenblick ihres Lebens noch einmal durch und beleuchtete die Beziehung zu ihrer Mutter neu. Plötzlich entdeckte sie Feinheiten, die ihr bisher entgangen waren. Ihre Mutter hatte sie nicht nur als Werkzeug betrachtet, sondern sie auch bewusst dazu geformt. Isaura hatte sich vom Norderstett deutlich angezogen fühlen sollen. Es erklärte die Zuneigung, die Nefrai-kesh ihr gezeigt hatte, und sogar die Aufmerksamkeit seines Sohnes. Mit diesen Gedanken versank sie zunehmend tiefer in düsterer Stimmung, passend zur Laune der meisten ihrer Begleiter. Nur Qwc schien guter Dinge. Er schlief nur viel auf Harts Schulter oder zwischen Sayces Brüsten. Und Hart zeigte keine Regung. Er marschierte einfach unermüdlich weiter. Alle anderen murrten, knurrten und fletschten die Zähne. Erst das Auftauchen einer wirbelnden Eissäule zwei Tage bevor sie das Hauptstadttal erreichten, heiterte sie auf. Sie strahlte, als der Eiskegel kollabierte und sich neu zu Drolda formte. »Ja, ich freue mich auch, dich zu sehen.« Hlucri beachtete Droldas Erscheinen gar nicht, aber Entschlossen zog sein Schwert und kam näher. »Was ist das?« Drolda drehte sich zu Entschlossen um und verneigte sich, wobei er seine Gestalt ein wenig veränderte. Isaura antwortete: »Das ist mein Freund Drolda.» Erkennen zuckte über das Gesicht des Vorqaelfen. »Drolda, natürlich.« Entschlossens silberne Augen wurden schmal. »Drugi Oldach. Er war der Einzige um Baron Norderstett, dessen Verbleib ungeklärt blieb. Er wurde nie gefunden und nie zu einem Sullanciri. Aber was ist er jetzt?« Drolda antwortete Isaura in ihrer vertraulichen Zeichensprache, und sie übersetzte, selbst erstaunt über das, was sie sagte. »Drolda sagt, du hast Recht, und Drolda ist nur das, was ich als Kind aus seinem Namen gemacht habe. Er floh in die Wildnis und konnte den Grychoöka ausweichen, die nach ihm suchten. Er starb im Schnee und ließ seinen Leichnam zurück. 312 Stattdessen verwandelte er sich in diese Gestalt, gebildet aus Eis und Schnee. Anfangs war er noch nicht in der Lage, diese Form anzunehmen, aber er half trotzdem. Er sorgte für den Sturm, der Valkener vor den Verfolgern verbarg, und führte den fiebernden Jüngling an den Ort, wo du ihn gefunden hast.« Entschlossen nickte nachdenklich. »Danach bist du in Aurolan geblieben, weil du deinem Kameraden Valkener gegenüber noch eine Pflicht hattest.« Drolda nickte ernst. Isaura schaute den Vorqaelfen an. »Wovon redest du?« »Wisst Ihr, wer Eure Eltern waren?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Meine Mutter hat mir erzählt, ich sei ein Findelkind. Und dass niemand wüsste, wer mein Vater sei.« »Und Ihr habt Euch nie Gedanken gemacht, wer Euch geboren hat?« Entschlossens Stimme klang gedrückt. »Ihr wisst, dass Ihr auf Vorquellyn geboren wurdet. Sonst hätte man Euch nicht an die Insel binden können.« »Ja, das wüsste ich. Ja. Aber wer meine Mutter war ...« Isaura stockte und hob die Hand an den Mund. »Die Sullanciri, die nichts mit mir zu tun haben wollte: Myral'mara.« »Vermutlich hatte sie Angst, es wäre Euer Tod, würde sie sich mit Euch anfreunden, nachdem Kytrin Euch für sich haben wollte.« Entschlossen wandte sich an Drolda. »Du warst nicht auf Vorquellyn, aber du wirst gesehen haben, dass Siede schwanger war.« Wieder nickte das Eiswesen. »Und du wurdest mein Freund, weil mein Vater dein Freund gewesen war?« Drolda verschränkte die Daumen, formte die Hände zu einem Vogel und ließ ihn mit den Flügeln schlagen. Sein Gesicht zerschmolz zu einem Ausdruck tiefster Zuneigung. Isaura sank zu Boden. »Ich bin die Tochter von Tarrant Valkener?« Entschlossen hockte sich neben sie. »Das findet Ihr schlimmer, als von einer Sullanciri abzustammen?« 313 »Du verstehst nicht. Meine Mutter hat nur selten von Valkener gesprochen, und dann in den schrecklichsten
Tönen. Sie hat mir gedroht, er würde mich holen kommen, wenn ich nicht gehorchte. Er war der Schlächter der Unschuldigen. Er hatte alle Sullanciri verraten. Er war ein Feigling und verderbt genug, das Angebot meiner Mutter auszuschlagen, ihn selbst über Nefrai-kesh zu erhöhen. Sie hatte ihm angeboten, ihr Gemahl zu werden, und er hatte abgelehnt. Warum? Weil er so selbstherrlich und böse war, das er in den Süden zog, um eine Armee zu sammeln, mit der er ihr rauben wollte, was sie ihm freiwillig angeboten hatte, um Frieden zwischen ihren Reichen zu stiften.« Sie schaute zu Drolda hoch. »Jetzt verstehe ich, warum du meine Mutter nicht magst.« Der Eismann nickte. Der Vorqaelf legte die Arme auf die Knie. »Falls du dich fragst, ob an den Geschichten deiner Mutter etwas Wahres ist: Ein Freund von Valkener hat sich hier als eine Kreatur aus Wind, Schnee und Eis ans Leben geklammert, um dich zu beschützen. Weil du Valkeners Tochter bist. Drugi Oldach hat Valkener nur kurz gekannt, doch immerhin lang genug, diese Verpflichtung anzunehmen und zu erfüllen.« Isaura nickte zögernd. »Also hat sie von Anfang an gewusst, dass ich zum Norderstett stoßen würde. Sie wollte mich nur im Auge behalten, um sich zu vergewissern. Sie hat mich nach Meredo geschickt, um den Beweis zu erhalten. Sobald sie sich dessen sicher war, wusste sie, dass ich sie ohne es zu wissen warnen würde, sobald er sich näherte. Und falls sie die Wahrheit über die mögliche Macht des Schicksals ausgesprochen hat, hat sie mich damit, dass sich die durch die Prophezeiung gebündelte Macht einem Punkt der Entscheidung näherte, in der Nähe behalten, nämlich um das sicherzustellen.« Sayce kniete sich neben sie und nahm sie in den Arm. »Das ist eine harte Erkenntnis über deine Mutter. Wie fühlst du dich?« Isaura schluckte mühsam. »Es geht, danke. Ich komme schon damit zurecht.« Sie sah Entschlossen an. »Schließlich 314 habe ich schon immer gewusst, dass ich nicht Kytrins richtige Tochter bin. Jetzt weiß ich, dass ich nur ihr Werkzeug war. Aber ich habe noch mehr erfahren. Ich bin eine Valkener. Ein Valkener würde sich von so etwas nicht aufhalten lassen, oder?« Entschlossen lächelte tatsächlich, dann stand er auf und half ihr wieder auf die Füße. »Jedenfalls kein Valkener, den ich kenne.« »Gut. Dann werde ich bestimmt nicht die Erste werden.« Sie zog den Mantel enger um sich und marschierte nach Norden. Drolda flog ihnen voraus und kehrte zurück, um sie vor Gefahren zu warnen und ihnen gute Rastplätze zu zeigen. Einmal kamen sie an einem geeigneten Ort für einen Hinterhalt vorbei, bloß waren die zwölf Grychoöka, die auf sie gewartet hatten, steif gefroren. Schließlich überquerten sie am Ende der ersten Woche der Grünung bei Morgendämmerung die Berge um das Hauptstadttal. Dort, noch tief in Schatten gehüllt, lag in düsterer Pracht die Festung ihrer Mutter. Sie blieben zwischen den Felsen des Passes stehen und starrten auf das Ende ihrer Reise. Isaura erinnerte sich an das letzte Mal, das sie die schwarze Burg gesehen hatte. Sie hatte auf Procimre gesessen und war von der Belagerung Nawals zurückgekehrt. Damals war ich froh, wieder daheim zu sein. Sie ging kurz in sich und erkannte, dass sie sich auch jetzt freute, aber es war eine andere Art von Freude. Die kindliche Erleichterung über die Rückkehr in das sichere Zuhause gab es nicht mehr. Jetzt rührte die Freude daher, dass Großes bevorstand, dass sie das Böse aufhalten und das Gift ihrer Mutter aus der Welt schaffen würden. »Wir sind da. Dies war einst mein Zuhause. Jetzt ist es der Hort meines Feindes.« Isaura erhob sich aus der Hocke und legte den Kopf in den Nacken. »Mich deucht, Hart Norderstett, wir haben beide eine Prophezeiung zu erfüllen.« 315 KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG Eirmenbrechts Tag begann lange vor Sonnenaufgang. Er ging die neuesten Nachrichten und Befehle von Alexia durch, bevor er sie an seine Offiziere weitergab. Seine Truppen hatten die Ehre, den rechten Flügel der Armee zu halten. Alexias Einheiten stellten das Zentrum und den linken Flügel, während Pandiculias Armee als Reserve diente und gleichzeitig Ausschau nach einem möglichen Angriff aus ihrem Rücken hielt. Siebzehntausend Mann verteilten sich über die Berghänge vor den aurolanischen Stellungen, bereit, das Flussbett zu durchqueren und den Hang hinauf in Draconellen- und Draconettenf euer, aurolanische Magik und schließlich in den Nahkampf mit dem Feind zu marschieren. Die Armee hatte eine halbe Meile vor der Aurolanenfestung ihr Lager aufgeschlagen. Die vordersten Stellungen hatten Sicht auf das Tal, um vor Ausfällen des Gegners zu warnen. Das Heer des Südens füllte ein ganzes Tal, wobei seine Leute im östlichen Bereich lagerten. Dadurch hatten sie Zugang zum frischesten Wasser, denn der Bach floss dort in das Tal. Seine Männer freuten sich auch über die Bereitschaft der urSreiöi, Gräben auszuheben, und waren gerne bereit, sie dafür, dass sie ihnen diese Plackerei abnahmen, mit Proviant zu bezahlen. Normalerweise hätte Ermenbrecht solche Faulheit nicht zugelassen, doch dank dieser Erfahrung fanden beide Gruppen zusammen, und seine Leute beschwerten sich nicht, wenn er sie im Gegenzug auf Wache einteilte, während die urSreiöi schliefen. Ermenbrecht organisierte seinen Stab neu und bestimmte die Obersten Sallitt Valkener und dessen Frau Jancis zu seinen Stellvertretern. Jullach-Tse Seegg, eine urSreö, die schon in Festung Draconis unter ihm gedient hatte,
hatte die Flucht aus 316 der Festung ebenso überlebt wie die Kämpfe in Sarengul. Sie übernahm die Aufgabe des Verbindungsoffiziers zu den ur-Sreiöi-Truppen unter seinem Befehl. Die Grafen Storton und Wichterich befehligten ebenso ihre eigenen Einheiten wie Baron Malvenstett, während Weiz, der Anführer der Orioser Freischärler, das Kommando über alle Freiwilligen übernahm. Niemand erhoffte sich von ihnen viel, doch Weiz schien sie wirklich anzutreiben, so dass ein Großteil der anfallenden Hilfsarbeiten ihnen zufiel. Lüdwin hatte seine Tarnung als Lüdenwig aufgegeben, verbrachte aber noch immer die meiste Zeit bei den Freischärlern und bemühte sich, die Freiwilligen auf Trab zu bringen. Ermenbrecht hatte erfahren, dass sich sein Bruder bei den Freischärlern als guter Beschaffer erwiesen hatte, und in Verbindung mit Weiz' Führungsbegabung half sein Talent, den Nachschub und die Vorbereitungen für die Offensive in Bewegung zu halten. Kerleif Norderstett, Wills Halbbruder, blieb weiter anonym, doch seine angeborenen Fähigkeiten sorgten dafür, dass sein angenommener Name Nord schnell bekannt wurde. Lüdwin hatte seinem Bruder offenbart, wer Nord wirklich war, Ermenbrecht aber hatte ihm versprochen, es für sich zu behalten. Jetzt hatte er seinen Stab in einem großen Zelt zusammengerufen und beugte sich über die Karte. »Wir sind für den östlichen Bereich des Schlachtfelds verantwortlich. In unserem Gebiet liegt dieses abgewinkelte Grabenwerk. Da gibt es eine Lücke von etwa hundert Schritt zwischen dem Graben und dem Damm, der den Stausee zurückhält. Auf dem Damm reicht der Platz nicht für Draconellen, aber wenn Nefrai-kesh ein Bataillon Draconettiere dort oben aufstellt, könnten sie auf jeden schießen, der sich in das Gebiet zwischen dem Damm und dem Graben wagt. Den Damm einzunehmen, wird uns nichts nützen, da wir davon ausgehen müssen, dass die Aurolanen Tunnel angelegt haben, damit sie ihn trotzdem sprengen können, so wie wir die äußeren Bunker der Festung Draconis in die Luft gejagt haben.« 317 Jullach-Tse tippte genau an der Stelle, über die er sprach, auf die Karte. »Ich habe eine Legion schneller Sappeure zusammengezogen. Falls wir nahe genug herankommen, können sie hinunterstoßen und diese Tunnel möglicherweise unterbrechen.» »Ich habe es zur Kenntnis genommen. Danke.« Sander Malvenstett verschränkte die Arme vor der Hühnerbrust. »Ich sage natürlich niemandem etwas Neues, aber ich muss es ansprechen. Wenn wir das trockene Flussbett betreten, können sie jederzeit den Damm öffnen und uns alle ins Meer spülen.« Der Prinz nickte. »Das ist leider nur zu wahr. Alexia geht davon aus, dass es sich dabei lediglich um eine Verzweiflungstaktik handelt, weil das Wasser wild und hoch genug wäre, um auch die aurolanischen Gräben zu fluten. Wenn Nefrai-kesh nur wenig Truppen hat und wir ihnen hart zusetzen, dürfen wir erwarten, nass zu werden. Ist die Schlacht ausgeglichen, hat er keinen Grund, das Tal zu überfluten.« Sallitt Valkener fuhr mit einem metallenen Finger am Nordufer des Flussbetts entlang. »Das Ufer ist hier etwa anderthalb Schritt hoch. Wir werden Mühe haben, da hoch zu kommen.« Lüdwin grinste. »Ich habe dreihundert Rampen, die wir anlegen können, und Jullach-Tse verfügt noch über zwei Legionen Sappeure, die das Ufer zum Einsturz bringen werden, damit es sogar die Kavallerie auf die andere Seite schafft.« Der Meckanshii-Offizier drehte sich zu der urSreö um. »Hast du Leute bereitstehen, die sich durch das Ufer in die Berge vorgraben?« »Ja, und ich werde Trupps dafür einteilen, aber es ist eine schwere Aufgabe, mindestens hundert Schritt zu graben, wenn nicht noch weiter, bevor sie damit rechnen können, die Gänge auf der anderen Seite zu erreichen. Die Tunnel wären nicht groß genug, um einer Menge Soldaten Platz zu bieten. Ich würde davon ausgehen, dass falls wir Erfolg haben - Nefrai-kesh einfach den Damm sprengen und alles überfluten wird.« Sallitt nickte, dann schaute er sich unter den anderen Kom318 mandeuren um. »Ihr müsst darauf achten, dass eure Offiziere die Männer nicht unter der Uferböschung in Deckung gehen lassen. Falls sie das tun, setzen sie die Truppen hinter sich dem Draconellenfeuer aus. Wir können das nur erfolgreich durchziehen, wenn wir schnell vorrücken.« Graf Storton, der von den versammelten Kriegern mit Abstand der kleinste war, trug nur eine Lederrüstung. »Ich bin derselben Meinung. Ich habe zwei Bataillone Fußtruppen mit Lederrüstung, Speeren und Langmessern. Wir dürften schnell vorankommen und es bis zum Ostgraben schaffen. Wenn wir in den Graben gelangen, können wir in die Gänge im östlichen Berg eindringen.« »Ich kenne Euren Plan, mein Fürst, und habe ihn an Prinzessin Alexia weitergeleitet.« Ermenbrecht seufzte. »Ich habe ihr nachdrücklich empfohlen, ihn anzunehmen, und gehe davon aus, dass sie dieser Empfehlung folgt. Wenn der Zeitpunkt da ist, möchte ich, dass Ihr hinter einer Vorhuteinheit zum Angriff übergeht und versucht, ihn zum Erfolg zu bringen.« »Das werden wir, mein Prinz. Das werden wir tun.« Ermenbrecht hob die Hand und rückte die Maske zurecht. »Ich weiß - und Prinzessin Alexia weiß, dass wir einem harten Gegner gegenüberstehen, der alle Vorteile auf seiner Seite hat. Wir müssen euch und euren Truppen alles abverlangen. Selbst das ist unter Umständen noch nicht genug. Wir werden schlicht und ergreifend
kämpfen müssen, bis wir siegen. Jetzt geht zu euren Leuten und lasst sie wissen: Wenn sich die Sonne heute Abend neigt, ist der Sieg unser und die Tage der Angst sind vorüber.« Er schüttelte jedem seiner Offiziere die Hand, dann umarmte er Jullach-Tse und seinen Bruder. »Wir sehen uns nach der Schlacht zur Siegesfeier.« »So wie immer, Prinz Ermenbrecht.« Die urSreö verbeugte sich und huschte aus dem Zelt. Lüdwin strahlte. »Wir werden siegen, Bruderherz. Du wirst sehen.« 319 »Ich weiß.« Er knuffte seinen Bruder auf den Arm, dann folgte er ihm aus dem Zelt. Ein Meckansh reichte ihm seinen Vierschüsser, einen Beutel mit Kugeln und ein Hörn mit Feuerdreck. Er nahm alles entgegen und nickte dem Mann zu. »Danke, Verum.« »Ist mir ein Vergnügen, wieder unter Ihnen dienen zu können, Hoheit. Ich habe mir die Freiheit genommen, meinen alten Vierschüsser dem Gyrkymu zu überlassen, dem ihrer so gefallen hat.« »Gut gemacht.« Er schulterte die Draconette und ging zu seinem Pferd, wo er die Waffe in das Sattelholster schob. Er saß auf, dann trabte er zur anderen Seite des Tals. Mit diskretem Abstand folgte seine Leibgarde. Borghelm Hauer grinste beim Reiten breit und ließ sich von den Witzen der anderen Soldaten die Laune nicht verderben. Auf der Bergkuppe stieg Ermenbrecht ab und betrachtete Nefrai-keshs Festung noch einmal. Obwohl er sie schon im Modell und auf den Karten gesehen hatte, drehte sich ihm bei diesem Anblick der Magen um. Die Erdwälle an den Gräben waren mit angespitzten Holzpfählen gespickt, ein weiteres Hindernis für Stortons Läufer. An den Draconellenbatterien bewegten sich Mannschaften, und er schätzte bis zu fünfzehn Geschütze pro Batterie. Das bedeutete, dass entlang der Linien neunzig Draconellen auf sie warteten, sowie ein zusätzliches halbes Dutzend an jedem Grabenende. Der Wald westlich der Festung war für deren Bau hundert Schritte zurückgewichen, erhob sich dahinter jedoch so düster und bedrohlich wie immer. Diese hundert Schritt waren eine verlockende Lücke, doch die Zeit, die man brauchte, am Graben vorbeizukommen und wieder umzuschwenken, bot dem Gegner gute Gelegenheit, die Draconellen neu auszurichten. Hinzu kam, dass eine in den Wald zurückgedrängte Armee sich, durch die Bäume auseinander gerissen, einfach auflösen würde. Und nur die Götter wissen, was er da versteckt hat. Ermenbrecht schüttelte sich. Sollte Nefrai-kesh Draconellen im Wald stationiert haben, würden sie jede Streitmacht in Stü320 cke reißen, die den Versuch unternahm, den Graben zu umgehen. Der Wald würde einen Gegenangriff so gut wie unmöglich machen. Hinter ihm rückte die Armee in Stellung. Von seiner Position hoch auf dem Berg konnte er den Aufmarsch in ganzer Pracht auf sich wirken lassen. Kavalleristen trabten in schimmernder Silberrüstung heran, die mit bunten Wimpeln geschmückten Lanzen in der Hand. Infanteristen marschierten ordentlich in Reih und Glied im Takt der Trommeln, während Trompeter Befehle und Einheitskennungen bliesen. Kleine Trupps von Kampfmagikern schritten mit erhobenen Zauberstäben in den Kampf, und seine eigenen Blutnattern ritten begeistert an die Front. An der Spitze der Armee des Südens ritt Prinzessin Alexia. Im Licht der aufgehenden Sonne leuchtete ihr Kettenhemd golden. Sie trug keinen Helm, so dass ihr langer Zopf gut sichtbar war. Sie saß kerzengerade im Sattel, auf dem Weg in einen todernsten Kampf. Und wir alle werden ihr folgen, ins Feuer und in die Flut. Als die Armee über den Bergkamm zog und auf halber Höhe den Hang hinab war, regte man sich im Norden. Trommeln dröhnten, und auf dem südlichen Berg erschienen drei Gestalten. Eine davon war eindeutig Nefraikesh. Die beiden anderen waren weiblich. Eine kauerte einen Augenblick lang katzengleich neben ihm, bevor sie zum westlichen Berg davonhuschte. Die andere ging mit gemessenen Schritten nach Nordosten, dann verschwand sie hinter der Bergkuppe. Soldaten tauchten aus dem Innern der Berge auf und verteilten sich auf die Gräben an beiden Seiten, ein Teil rannte auf den Wall. Es schien sich durchweg um Draconettiere und Speerkämpfer zu handeln. Das versprach einen hohen Blutzoll für die Einnahme der Gräben. Dann geschah etwas anderes. Die Sullanciri auf dem östlichen Berg tat etwas, und ihr rechter Arm veränderte sich, funkelte plötzlich grell im Sonnenlicht. Sie hob ihn an den Mund und blies wohl hinein, denn ein helles, geradezu schril321 les Hornsignal schallte durch das Tal. Hunde, die ruhig neben ihren Herren hergetrottet waren, heulten auf und ein paar ergriffen die Flucht. Auf das Signal hin strömten weitere Einheiten aus den Tunneln und versammelten sich hinter dem abgeknickten Graben. Legion um Legion von Aurolanen, hauptsächlich Schnatterer, aber durchsetzt mit immens vielen Turekadein und Kryalniri. Ermenbrecht schnitt eine Grimasse. Legionen sammelten sich zu Bataillonen, Bataillone zu Regimentern. Immer mehr Truppen erschienen auf den Bergkuppen, nahmen dicht gedrängt Aufstellung. Ermenbrecht zählte die Regimentsstandarten, hörte jedoch damit auf, als er zwanzig erreicht hatte. Sallitt Valkener ritt zu ihm herauf. »Die Truppenstärke ist so gut wie gleich.« »So ist es.« Der Prinz deutete zum Damm. »Sie bringen die hinter diesem Graben versammelten Einheiten herum oder herüber, dann greifen sie uns von der Flanke her an und treiben uns in den Wald. Und die ganze Zeit
feuern sie auf uns.« Der Meckansh nickte. »Und wenn wir Leute runterschicken, um die Lücke zu schließen, werden sie nicht lange genug leben, um zum Rückzug zu blasen.« »Es sieht schlimm aus. Sehr schlimm.« Ermenbrecht schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt wüsste ich nicht, wie es noch schlimmer werden könnte.« Und kaum hatte er es ausgesprochen, da spien die im Wald versteckten Draconellen Feuer und Metall. 322 KAPITEL ACHTUNDDREISSIG Drolda peitschte sich zu einem Wirbelsturm auf und trug die Gefährten einzeln hinab ins Tal. Hlucri verzichtete auf seine Dienste und sprang die Klippe hinunter. Seine Haut blitzte grün und schwarz. Er landete in einer riesigen Schneewolke, die sich langsam wieder setzte, als der Sullanciri lospreschte. Einen Pulsschlag lang wähnte Entschlossen einen letzten Verrat, nämlich dass der Panqui-Sullanciri aurolanische Einheiten alarmieren würde. Doch Hlucris Plan wurde schnell deutlich, als Schnatterer aus den Höhlen und der Festung fluteten. Kryalniri und einige Menschen tauchten aus dem Konservatorium auf, aber sie waren zu weit von dort entfernt, wo Drolda die Gruppe absetzte, um sie zu einer unmittelbaren Bedrohung werden zu lassen. Die Schnatterfratzen hielten sich an Hlucri, immerhin waren es genug, um die ganze Gruppe vor Erreichen der Festung aufzuhalten. Das verschaffte dann den Magikern die nötige Zeit, in Reichweite zu gelangen und sie zu vernichten. Neun gegen ein Imperium. Entschlossen schauderte und erinnerte sich an eine Unterhaltung mit Kjarrigan, die vor einiger Zeit stattgefunden hatte. Damals waren es noch acht gegen ein Imperium gewesen. Wärst du jetzt hier, Kjarrigan, würde ich die dort gar nicht beachten. Der Vorqaelf zog Syverce und salutierte kurz nach Süden. Alles Gute, Magiker. Sayce landete und zog die beiden Langmesser, die sie toten Schnatterern abgenommen hatten. Sie trug längst wieder die Winterkleidung, die Isaura und sie auf dem Weg nach Süden abgelegt hatten, verstärkt durch ebenfalls von toten Schnatterern stammende Rüstungsteile. »Wir müssen uns beeilen, Entschlossen.« 323 »Ich weiß.« Neun gegen ein Imperium, und nur zwei davon sind wirklich wichtig. »Trawyn, Sayce, beschützt Isaura. Isaura, falls Ihr Zaubersprüche kennt, die uns jetzt helfen können, setzt sie ein. Bok, die Kryalniri.« Der urZreö nickte und setzte sich in Bewegung, doch Drolda wirbelte um ihn herum und stieß ihn zurück, bevor er davonflog. Sowie er sich dem Konservatorium näherte, wuchs er zu einem Eissturm von gewaltigen Ausmaßen. Entsetzte Schreie drangen durch das Heulen der Windhose. »Bok, behalte sie im Auge. Bewegung, Leute. Hart...« Entschlossen unterbrach sich. Hart hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und stampfte hinter Hlucri her. Mit jedem Schritt machte er tiefe Löcher in den Schnee. Schnee, der so fest war, dass seine Begleiter nicht nennenswert einsanken. Vor ihm hatte Hlucri bereits die Vordersten der Schnattererlegion erreicht und schleuderte zerfetzte Körper und abgerissene Gliedmaßen durch die Luft. An der Spitze einer Gruppe Schnatterfürsten verließ ein Hörgun mit blauer Haut und schneeweißem Haar und Bart die Festung. Er schwang eine riesige Axt, deren Blatt groß genug war, um einen Stier mit einem Hieb zu zweiteilen. Der Frostriese schwang herum und hielt geradewegs auf Hart zu. Ob Hart ihn bemerkte, konnte man ihm nicht ansehen. Entschlossen stürzte sich in den Kampf, Qwc vor ihm herfliegend und Bok zur rechten Seite. Ungewohnte Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Das Knirschen der Schneedecke unter seinen Füßen und das Brennen der eisigen Luft in der Brust, der Kontrast zwischen Boks grüner Haut und dem grellen Weiß des Schnees, das ferne Heulen von Droldas Schneesturm und das gellende Kreischen der Schnatterer, denen Hlucri die Haut abzog: all das drang auf ihn ein und er nahm es wahr. Wie ich es auch getan hätte, als ich noch ein Kind war. Einen halben Augenblick später fragte er sich, ob dies der Anfang für die Bestandsaufnahme seines Lebens war, bevor er starb. Er dachte noch einen Moment darüber nach, dann lachte 324 er laut und schrie durch die Atemwolke: »Ich bin noch lange nicht tot!« Mit diesem Schlachtruf stürmte er in den Kampf. Syverce schwang er eher wie eine Sense, nicht wie ein Schwert. Die Zauberklinge zerteilte Haut und Muskeln wie Nebelschwaden. Sie zertrümmerte keine Knochen, doch mit einer kurzen Drehung des Handgelenks drang sie an Hüfte, Knie oder Ellbogen vorbei in Gelenke, durchtrennte Sehnen und schnitt die betreffenden Gliedmaßen von den Körpern, zu denen sie gehörten. Die Schnatterfürsten, gegen die er kämpfte, gaben alles. Ihre Hiebe hinterließen Spuren auf seiner Rüstung. Ringe verdrehten sich und barsten. Das Lederwams riss darunter auf, und ebenso die Haut unter dem Leder, aber es waren nur oberflächliche Kratzer. Er teilte weit mehr aus als er einstecken musste, und Bok ebenso. Die rechte Faust des urZreö hatte sich in einen Streitkolben verwandelt, der Knochen zertrümmerte wie Eierschalen. Die Schwerter der Schnatterfürsten krachten gegen Boks Panzer, drangen jedoch nicht durch. Hinter ihnen kämpften Sayce und Trawyn wie Furien. Sayce stand rechts neben der Loqaelfe und beschützte deren blinde Seite mit den Langmessern. Mehr als ein Turekadin stürmte auf sie ein, überzeugt von seiner Überlegenheit, nur um zu erleben, wie eine Klinge seinen Hieb ablenkte und die andere ihm den Leib oder eine Schlagader aufschnitt. Trawyn setzte Schnelligkeit und Reichweite ein, um durch Paraden zu fahren und den
Gegnern die Waffe in den Leib zu bohren, häufig, bevor diese ahnten, dass sie sich auch nur in Reichweite befand. Doch der Hauptkampf fand vor ihnen statt. Hlucri hatte eine Spur aus zermalmten Körpern hinterlassen, die tiefrote Fontänen in den Schnee spritzten. Die Schnatterer hatten sich auf ihn gestürzt und hinderten andere daran, ihn mit Messern oder Speeren zu erreichen. Der Sullanciri schlug und biss um sich, man konnte es nur als Schlachtfest bezeichnen. Der Horgun und Hart erreichten einander. Hart bewies größere Beweglichkeit, als Entschlossen für möglich gehalten 325 hätte, und duckte sich unter einem Hieb weg, so dass die Axt tief im Permafrost versank. Mit der zu einer Steinkugel geballten Faust traf er den Frostriesen am Fuß und zertrümmerte ihm die Knochen. Der Horgun drehte sich aufheulend weg und riss die Axt aus dem Boden. Er setzte den Fuß vorsichtig auf, dann schlug er Hart mit einem Rückhandhieb beiseite. Der Felsgigant taumelte zur Seite, dann fiel er in das Loch, das die Axt gerissen hatte. Hart lag für einen Augenblick wie in einem Grab auf dem Rücken. Er beugte sich vor und griff nach dem Rand des Loches, um sich herauszuziehen, doch inzwischen hatte der Horgun die Waffe wieder erhoben und ließ sie erneut herabfallen. Mit einem Donnerkrachen bohrte sie sich in Harts Schulter und ein Schauer flüssiger Lava, die den Schnee laut zischend zum Schmelzen brachte, brach an der Stelle hervor, wo sie ihm den linken Arm abtrennte. Qwc schoss dem Frostriesen ins Gesicht und spie einen Netzklumpen, der ihm das linke Auge verklebte. Der Horgun wischte ihn mit der Rechten ab, über das Schicksal des Steinmannes, der sich ihm in den Weg gestellt hatte, noch lachend. Nachdem er sich das Netz aus dem Gesicht gewischt hatte, schlug er nach Qwc. Der Sprijt wich dem Hieb aus, traf aber mit dem nächsten Netzklumpen nur die Wange des Riesen. Als der auch das Gespinst entfernt hatte, schaute er nach unten und für einen Moment wurden seine hellen Augen weit vor Schreck. Nur noch Harts Arm lag in dem Loch. Hart war nur halb so groß wie der Horgun, und diesmal rammte er dem Riesen die rechte Faust ins Knie. Der Schlag zertrümmerte die Kniescheibe, und die Knochensplitter schnitten durch das Fleisch des Horgun. Der Frostriese brüllte auf, doch das Wutgeheul verwandelte sich in ein Quieken, denn Harts nächster Hieb traf ihn an der rechten Hüfte und brach ihm das Becken. Der Horgun krachte zu Boden, brach durch die Schneekruste und verschwand in einer weißen Wolke. Als die Schneekristalle wieder zur Erde sanken, sprang ihm Hart auf die 326 rechte Schulter. Wieder stürzte die steinerne Faust herab und brach dem Frostriesen den Schädel. Die riesige Kreatur grunzte und schlug um sich, schleuderte die riesige Axt weit genug, um einen Turekadin zu zerteilen. Der Sturz des Hörguns und die Gewalt, mit der sich der blutverschmierte Hlucri auf die restlichen Turekadein stürzte, schlugen die noch verbliebenen Aurolanen in die Flucht. Entschlossen rannte zu dem Horgun und starrte zu Hart hoch. »Bist du verletzt?« Der Felsenmann blickte ihn nur ausdruckslos an, aber sein Gesicht war inzwischen weit genug ausgeformt, dass Entschlossen es tatsächlich ausdruckslos finden konnte. Die linke Schulter strahlte noch immer Hitze ab, doch die Wunde hatte sich unter einer in der Kälte erstarrten Lavaschicht geschlossen. Hart öffnete die rechte Hand und deutete auf das Loch im Boden. Er öffnete und schloss die Hand zweimal, dann zerrte Bok den abgeschlagenen Arm herüber. Der Vorqaelf schaute den urZreö fragend an. »Kannst du ihn wieder ganz machen?« Bok erwiderte skeptisch den Blick. »Ich weiß ja nicht einmal, was er ist, Entschlossen. Aber ich kann es versuchen.« Isaura legte ihm die Hand auf die Schulter. »Lass mich. Als eine Valkener ist es meine Pflicht, und ...« Sie kniete sich hin und drückte die linke Hand auf die Schnittfläche des Arms. Ein Lichtschein erschien in ihrer Handfläche. »Tyhtsai hat einen Arm, der den Gliedmaßen der Meckanshii ähnelt. Ich habe den Zauber entwickelt, der seine neueste Version steuert und zusammenhält. Komm hier herunter, Hart.« Der Norderstett kniete sich ebenfalls nieder. Isaura berührte seine Schulter und sprach einen Zauber. Einen Augenblick lang verschwammen Harts Konturen. Dann hob Bok den abgetrennten Arm auf und hielt ihn gegen die Wunde. Auch der Arm schien hinter einem Schleier aus wabernder Luft zu verschwinden. Hitze schlug den Gefährten entgegen, als sich die beiden Teile wieder verbanden und glutflüssiger Stein um die Schnittstelle floss. Andere kleine Bruchstücke flogen aus dem 327 Schnee heran, um sich erneut mit Hart zu vereinigen, und verschmolzen in der glühenden Nahtstelle. Er stand auf und schlug in die Hände. Auf seiner Schulter formte sich die Vertiefung neu, dort, wo der Sprijt immer saß. Hart hob die Hand und deutete zur Festung. Entschlossen nickte. »Einverstanden.« Er schaute hinüber zum Konservatorium. Drolda war verschwunden. Er sah Magiker, die auf sie zuhielten, allerdings waren es weit weniger als zuvor. Eine weitere Aurolanenformation, die hoch auf den Klippen auftauchte, kümmerte ihn zunächst nicht weiter. Ob es sich um eine zurückkehrende Streife handelte oder um Truppen, die nach Ferxigos Tod zurückgerufen worden waren, konnte er nicht sagen.
Um die werden wir uns kümmern, nachdem wir mit Kytrin fertig sind. Falls wir überleben. »Isaura, wo wird sich Eure Mutter aufhalten?« »Im Großen Saal. Oder unter der Erde.« »Wir versuchen es zuerst im Großen Saal. Dann stöbern wir sie wenn nötig in den Katakomben auf.« Sie machten sich unter Harts und Hlucris Führung auf den Weg. Der Pfad war blutverschmiert, denn die Turekadein waren zur Festung geflohen. Die schwarze Steinfestung ragte steil in den Himmel und auf einem der oberen Balkone bemerkte Entschlossen ein goldenes Funkeln. Er warf Isaura einen Blick zu, doch sie zuckte nur die Achseln. Als sie sich der Festung näherten, krachten Draconetten aus dem Dunkel des Eingangs. An Harts mächtigem Brustkorb prallten die Kugeln wirkungslos ab. Ein Querschläger riss Qwc den unteren linken Unterarm ab und zerfetzte einen Flügel, bevor der Sprijt von der Wucht des Treffers davongeschleudert wurde. Hlucri grunzte, als ihn die Kugeln trafen. Sayce flog in einem Salto rückwärts davon und landete mit Kopf und Schultern im Schnee, während Bok zu Boden stürzte. Entschlossen hörte eine Kugel an sich vorbeizischen, aber da hatte er sich bereits zur Seite gedreht und Klingensterne in die Öffnung geschleudert. Er hörte sie klirren, dann ertönte ein Schrei -und er wusste: Mindestens einer hatte sein Ziel gefunden. 328 Die Türöffnung verschwand hinter Harts breitem Rücken. Entschlossen sah sich kurz um. Trawyn half Sayce auf die Beine. Isaura stand neben Bok, doch Entschlossen konnte trotz der Entfernung selbst erkennen, dass ein großes Stück vom Schädel des urZreö fehlte. »Hlucri, hol Isaura. Für Bok kann sie nichts mehr tun.» Der Sullanciri grunzte und galoppierte zu ihr. Entschlossen stürmte die Stufen der Festung hinauf und musste im Eingang jäh anhalten, um nicht mit voller Wucht gegen Hart zu prallen. Die sechs Draconettiere, die ihnen aufgelauert hatten, waren tot. Zwei waren den Klingensternen zum Opfer gefallen, der Rest war zu einem unbeschreiblichen Haut- und Fellklumpen zusammengequetscht. »Weiter, Hart. Wir müssen Kytrin finden, damit du sie töten kannst.« Der Norderstett stampfte los. Hlucri setzte Isaura an der Tür ab, dann reichte er ihr Qwc. Trawyn brachte Sayce in die Festung. Die Murosonin lächelte tapfer. »Die Kugel hat ein Rüstungsteil getroffen und mir den Atem genommen. Es geht schon wieder. Uns geht es gut.« Trawyn nickte. »Bok ist...« »Tot, ich weiß. Die urSreiöi würden ihn liegen lassen, wo er gefallen ist. Gehen wir.« Immer tiefer drangen sie in die Festung ein. Sie sahen ein paar Turekadein und Schnatterer, aber die ergriffen die Flucht, bevor Hlucri oder Hart sie erwischen konnten. Die Gefährten marschierten unbehelligt weiter, bis sie den Großen Saal erreichten. Kytrin erwartete sie am hinteren Ende. Der Saal hätte sie winzig erscheinen lassen, doch sie war zur Größe des Norderstetts gewachsen. Ihr Haar hatte einen goldenen Schimmer, in dem auch ihre fahle Haut glänzte. Als sie ihnen grüßend zunickte, wurden die Schuppen sichtbar, die sie bedeckten. Die Farbe ihres Körpers entsprach dem in Gold und Elfenbein gehaltenen Kleid, und sie wirkte weitaus eleganter, als Entschlossen es sich je hätte erträumen können. Spitze Ohren rag329 ten durch ihr Haar und an ihren locker aneinander gelegten Händen glänzten dicke goldene Krallen. »Myral'mara hat vorhergesagt, dass du hier schließlich auftauchen würdest. Wie ich sehe, hast du den Norderstett mitgebracht. Danke.« Entschlossen schüttelte den Kopf. »Jetzt wird sich die Prophezeiung erfüllen, Kytrin. Du stirbst, meine Heimstatt wird erlöst und das Böse, das du verkörperst, wird auf ewig besiegt.« Die Imperatrix lachte. »Klänge deine kleine Ansprache nicht so vorhersehbar charmant, ich wäre gelangweilt. Ich weiß, Entschlossen, du und alle Welt, ihr glaubt an eine bestimmte Prophezeiung, doch es ist nur eine von vielen. Es wird sich heute eine Prophezeiung erfüllen, aber es wird nicht die sein, von der du es dir wünschst.« Kytrin breitete die Arme aus. »Für die kurze Zeit, die ihr hier verbringen werdet, heiße ich euch willkommen. Alle, bis auf den, der mich verraten hat.« Sie schnippte mit einem Finger und glutrote Magik brodelte auf. Die wabernde Energiekugel traf Hlucri an der Brust und sank in seinen Körper. Der Sullanciri zuckte, schlug die Arme zur Seite und zog den Kopf ein. Sein Rücken bog sich zu einem Hohlkreuz. Die Magik hüllte ihn ein, dann floss sie davon und nahm die Haut mit, die Nefrai-kesh ihm gegeben hatte. Als sich der Zauber auflöste, fiel Hlucri mit einem nassen Platschen zu Boden. Nackte Muskeln zuckten und sein Blut sammelte sich in einer langsam größer werdenden Lache. Isaura hatte die Hand vor den Mund gerissen. Jetzt nahm sie den Arm herunter und trat vor. »Mutter! Das kannst du nicht tun.« »Ich bin nicht deine Mutter.« Wieder zuckte ein Finger der Aurolanenherrscherin. Isaura flog durch die Luft und prallte gegen Hart. Sie rutschte zu Boden, bewusstlos, aber noch lebendig. Hart ging auf ein Knie hinunter und schob sie vorsichtig hinter sich. »Natürlich, als Norderstett musst du deine Vasallin beschützen. Aber du bist ein Halbblut, ein Mischling, ein Teil Norderstett, ein Teil Valkener, nicht zu vergessen ein Teil Puff330 nutte.« Kytrins grünblaue Augen funkelten. »Ich bin die Imperatrix von Aurolan. Keine Prophezeiung kann dir
die Macht geben, mich zu vernichten!« Hart stand auf und rannte auf Kytrin zu. Unter seinen schweren Schritten bebte der Boden. Stein auf Stein, hämmernd, gnadenlos, füllten sie den Saal mit ihrem Donner. Harts Hände formten sich zu Steinbeilen und hoben sich, um Kytrin in Stücke zu schneiden. Die Imperatrix wich nicht zurück, sondern stieß den Kopf vor und öffnete den Mund so weit, dass sie den Unterkiefer ausrenken musste. Ein gleißend heller Feuerstrahl, weißgolden im Zentrum, brach daraus hervor. Die Hitze traf Entschlossen etwa im selben Augenblick, in dem ihn das Licht blendete. Hart wurde vor den Flammen zu einem tiefschwarzen Schattenriss. Entschlossen wandte den Kopf zur Seite. Er versuchte, aus den Augenwinkeln zu verfolgen, was geschah. Die Hitze trieb ihn jedoch zurück. Hlucris Leiche brutzelte. Trawyn und Sayce zerrten Isaura und Qwc fort. Die fünf zogen sich zurück, als dichter Qualm den Saal füllte. Bei dem bitteren Rauch musste Entschlossen husten. Er fürchtete, womöglich Hart einzuatmen. Trawyn nieste heftig und Sayce würgte. Der Vorqaelf bemühte sich, die anderen so gut wie möglich zu schützen und bemerkte den beißenden Gestank versengter Haare - hauptsächlich seiner eigenen. So schnell wie sie gekommen waren, verschwanden Licht und Hitze wieder. Entschlossen wandte sich um, Syverce in der Faust. »Hart? Zeig mir, dass du noch lebst.« Er bemerkte eine Bewegung im Rauch und für einen Moment stieg Freude in ihm auf, dann zerstob sie mit einem Schlag. Die graue Wolke senkte sich langsam zu Boden und offenbarte Kytrin in Drachengestalt, die elfenbeinweißen Schuppen fleckig von Asche. Asche, die einmal Hart war. Die Brust der Imperatrix hob und senkte sich heftig. »Euer Erlöser lebt nicht mehr.« Der Qualm wogte ihr ums Maul, wie sich die Farben in ihren Augen verwirbelten. »Eure Prophezeiung ist Geschichte. Nun wird sich die erfüllen, der ich diene.« 331 KAPITEL NEUNUNDDREISSIG Kjarrigan wachte auf und stemmte sich gegen das Gewicht auf der Brust. Jemand hatte ihn zugedeckt. Er versuchte, die Decke beiseite zu werfen, doch seine Bewegungen waren träge und schleppend. Er öffnete die Augen und sah, wie die Decke langsam davonschwamm wie durch Wasser. Und genau das tut sie. Die Erkenntnis durchzuckte ihn und sein Körper rebellierte reflexartig. Er hustete, um das Wasser aus der Lunge zu zwingen. Kjarrigan war schon öfter, als ihm lieb war, fast ertrunken - nur förderte sein Husten diesmal keine Luftblasen zu Tage und er stieß auch nur wenig Flüssigkeit aus. Oder, um genau zu sein, er stieß zwar Flüssigkeit aus, atmete sie aber sofort wieder ein. Für Kjarrigan war eines überdeutlich: Er atmete schon geraume Zeit Wasser und lebte trotzdem noch. Also war entweder er verzaubert oder das Wasser. Oder ich bin tot und ein Sullanciri. Hastig sprach er einen Zauber, der zeigte, dass keine Magik auf ihm ruhte. Das Wasser hingegen schien anders als gewöhnlich. Irgendwie war es atembar. Kjarrigan wälzte sich aus dem Bett und musterte seine Umgebung. Das Zimmer war nicht sehr groß und hatte kein Fenster. Genau genommen befand sich die einzige Öffnung dort, wo in einem normalen Raum ein Deckenfenster gewesen wäre. Der Raum selbst hatte Wände aus verschiedenfarbigen Korallen, deren Farben die Wände mit einem fremdartigen, aber hübschen Muster schmückten. Kjarrigan strich sich mit der Hand über die Augen und sprach einen Zauber, mit dem er unter Wasser scharf sehen konnte. Das Muster der Korallen wurde sofort deutlicher, und er lächelte begeistert. 332 Er war sich nicht sicher, was hier vorging. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war eine riesige Welle, die ihm gegen die Brust schlug und ihn über Bord warf. Eigentlich hätte er tot sein müssen, doch das war er nicht. Die einzig sinnvolle Erklärung war, dass ihm Tagostscha das Leben gerettet hatte, nur warum er das getan hatte, konnte Kjarrigan nicht mit Gewissheit sagen. Der Zauberstab war von enormem Wert, aber trotzdem ... Der junge Magiker ging in die Hocke, dann stieß er sich ab und griff nach dem Rand des Eingangs. Er packte zu und glitt mühelos hindurch. Hinter der Tür lag ein runder, ebenfalls von Korallen geformter Korridor mit weiteren Öffnungen. Erstaunlicherweise spürte er eine Strömung gegen seine Schultern drücken und eine andere, entgegengesetzte Strömung an den Beinen. Er stieß sich in die obere Strömung und schwamm mit gelegentlichen Beinschlägen den Gang hinauf. Ringsum steckten andere die Köpfe aus den Löchern. Die meisten erkannte er nicht, bis er auf Orakel traf. Er hielt an und half ihr in die Strömung. Noch andere schwammen vorbei, alle in die gleiche Richtung, die Kjarrigan gewählt hatte. Keiner von ihnen schenkte ihm mehr als ein kurzes Nicken, wahrscheinlich weil sie nicht allzu viel sahen, da sie ohne die Hilfe seiner Magik auskommen mussten. Andererseits, unter Wasser können wir auch nicht reden, oder? Er versuchte, Orakel etwas zu sagen. Was er aber hörte, war völlig unverständlich. Trotzdem fasste sie ihn fest am Arm und lächelte. Gemeinsam trieben sie weiter. Jetzt schwammen sie mitten in einem Pulk aus Matrosen und Soldaten, die zu Adrogans' Flotte gehörten. Kjarrigan sah zwar keine Anzeichen für Verletzungen, allein in Tagostschas Reich zu sein, benagte ihnen aber überhaupt nicht. Der lange Korridor führte jetzt nach oben und vereinigte sich bald mit anderen. Die Strömung zog sie alle zu einem großen Kamin, in dem sie entlang der Wände aufwärts gesaugt wurden. Kjarrigan drückte auf dem Weg
hinauf Orakels Arm. 333 Er wollte ihr sagen, dass alles in Ordnung käme, doch ihr Gesichtsausdruck schien völlig entspannt, was stattdessen ihn aufmunterte. Sie trieben hinauf in einen riesigen Kuppelsaal, der die ganze Festung Draconis hätte aufnehmen können. Die Form des Gewölbes ähnelte der einer Knoblauchknolle, allerdings waren die Korallenwände Perlmutt gewichen. Diese Wände mussten erstaunlich dünn sein, denn sie leuchteten in einem Licht, das von oben fiel. So wie sich das Licht bewegte, vermutete Kjarrigan, es sei durch das Wasser dringendes Sonnenlicht, er hatte jedoch keine Ahnung, wie tief unter Wasser sie sich befanden. Hundert Schritt vor ihnen saß Tagostscha auf einem Perlenthron. Der Thron war nicht aus Hunderten von Perlen zusammengesetzt, sondern bestand aus einer einzigen riesigen Perle mit einer Aushöhlung, die für jemanden seiner Größe gerade groß genug war. Rechts neben ihm stand ein schwarzer Perlenthron von einer Größe, die für Menschen geeignet war, und auf dem denn auch eine Frau saß. Tagostscha war zwar kleiner als ein Hörgun, aber nicht viel. Sein langes weißes Haar trieb im Wasser, und der in drei Zöpfe geflochtene Bart bewegte sich träge wie Fangarme. Er war nur mit einem Gürtel aus verwobenen Muscheln und Goldmünzen gekleidet, hatte einen golden Ring am Finger und eine Krone aus Korallen, die um Edelsteine gewachsen waren, auf dem Haupt. Kjarrigan, der am Neujahrsfest die Monarchen der Welt in ihrem Prunkornat gesehen hatte, fand die Krone des Weiruns majestätischer. Die Art, wie die Korallen um die Juwelen gewachsen waren, erinnerte ihn an die Magik, mit der die Drachen Vael geformt hatten, und das gefiel ihm. Die Frau an Tagostschas Seite war von überirdischer Schönheit. Ihre helle Haut wirkte durchscheinend, alterslos. Sie trug das lange Haar offen und es glänzte im silbrigen Schimmer wie Fischschuppen, außer an einzelnen Stellen, wo ein blaues oder rotes Band aufleuchtete. Sie hatte zarte Züge und war von geschmeidiger Gestalt, ohne Zweifel aber ein Mensch. Sie trug 334 ein am Körper klebendes Gewand aus weißer Seide und einen goldenen Gürtel. Ein schmales goldenes Diadem und ein goldener Ring waren ihr einziger Schmuck. Tagostscha winkte, und ohne eigenes Zutun trieb Kjarrigan vor, gemeinsam mit Orakel, Adrogans, Ph'fas und Rymra-moch. Als sie sich Tagostscha näherten, floss ihnen von dem Weirun Magik entgegen. Kjarrigan hatte keine Gelegenheit, sie zu untersuchen, bevor sich das Wasser um ihn verfestigte. Der Druck trieb den größten Teil des Wassers aus seiner Lunge, dann traf ihn eine zweite Welle und er fand sich in einer luftgefüllten Blase wieder. Tagostschas Stimme dröhnte in Kjarrigans Ohren, die sich langsam an die veränderten Bedingungen anpassten. »Ihr seid Eindringlinge in meinem Reich, doch ich habe mich entschieden, euch nicht zu töten.« Adrogans, der etwas rechts von Kjarrigan stand, ging in die Knie und hustete das Wasser heftig aus den Lungen. Er wartete kurz, dann stand er auf und schob das Kinn vor. »Ich schätze, dieses Versehen wirst du schnell beheben.« Die meerblauen Augen des Weirun musterten den General. »Es gibt viele, die mich hassen, aber nur wenige so nachhaltig. Du bist fern von Zuhause und es wäre besser, du achtetest auf deine Worte.« »Höflichkeit hat mir vor Jahren schon nicht geholfen. Ebenso wenig wie Betteln.« Adrogans griff nach einer Ärmelmanschette und wrang sie aus. »Ich versuchte es mit Flüchen und habe dir kein Opfer gebracht, bevor wir losfuhren. Ich vermute, deswegen hast du uns geholt. Dass du sechs Schiffe wegen eines Mannes zerstörst, beweist deine Unberechenbarkeit. Nimm mich und lass die anderen gehen.« Tagostscha runzelte die Stirn, dann erhellte ein Grinsen sein Gesicht. Er lachte mit der Gewalt von Wogen, die gegen einen Wellenbrecher schlugen. »Ich erinnere mich an dich. Markus, der Fischfutterjunge.« Adrogans nickte. »Der deine besten Versuche überlebte, ihn zu ersäufen.« 335 Der Weirun schnaubte verächtlich, dann winkte er. Eine Wassersäule brach durch die Decke der Luftblase und rammte Adrogans zu Boden. Der jeranische General kämpfte gegen das Wasser an. Als der Weirun dem Wasserstrom Einhalt gebot, keuchte er und rang nach Luft. »Das, Markus Fischfutter, war nicht einmal eine Andeutung meiner besten Versuche, dich zu ersäufen. Hätte ich dich als Kind töten wollen, wärst du gestorben. Du hast dich an einer Truhe festgehalten. Du hast Trümmer zu einem Floß gebunden. Wer, glaubst du, hat diese Bruchstücke in deine Nähe treiben lassen? Wer, glaubst du, hat dich zu einem Schiff getrieben, das dich schließlich rettete?« Adrogans stand auf und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. »Du erwartetest, dass ich dir glaube, du hättest Gnade mit mir gehabt? Du hast das Boot und alle ertränkt, die mit ihm gefahren sind.« Tagostschas Finger flössen in einem verwirrenden Muster ineinander. »Das habe ich. Du hast mir ein Opfer gebracht. Ein wahres Opfer. Die anderen nicht. Der Kapitän dieses Bootes hatte die Angewohnheit, die Opfer an mich einzusammeln und in einen Beutel zu stecken, und dann einen anderen Beutel über Bord zu werfen, der nur Fischköpfe und rostige Nägel enthielt. Die anderen wussten davon, denn er hatte im Suff damit geprahlt, und ihnen dann Runden ausgegeben, um sie zu besänftigen. Sie fingen an, sich für meine Herren zu halten. Sie mussten sterben, du aber nicht. Du musstest überleben und von ihrem Ende berichten.« »Du hättest nur den Kapitän über Bord spülen sollen.«
Der Weirun zuckte die Achseln. »Wenn ein Einzelner stirbt, hatte er Pech. Geht ein Schiff unter, ist es eine Demonstration meiner Macht und eine Mahnung, mich milde zu stimmen. Es hat gewirkt, und es hatte den zusätzlichen Vorteil, dich zurück an Land zu treiben. Dein Schicksal lag nicht auf dem Wasser.« »Nein, aber offenbar darunter.« Tagostscha lächelte. »Ich werde Spaß daran haben, Zeit mit dir zu verbringen.« 336 Kjarrigan räusperte sich. »Wir können nicht hier bleiben. Wir müssen nach Sebtia.« »Das ist unmöglich.« Der Magiker richtete sich auf. »Ich hätte angenommen, mein Geschenk war wertvoll genug, uns ein gewisses Entgegenkommen zu erkaufen.« Der Seegeist schmunzelte. »Eure Gruppe hat vieles geopfert, und der Stab aus deiner Hand war tatsächlich einzigartig.« Er hob die Hand und strich mit dem Daumen über seinen Ring. »Aber ich besitze vieles, das einzigartig ist. Du hast mir einen Zauberstab geopfert. Vor einer Generation erhielt ich eine Gemahlin. So gut gefällt mir dein Geschenk nicht.« Orakel drückte Kjarrigans Arm und brachte ihn zum Schweigen. »Großer Tagostscha, ich bitte Euch, das Geschenk in Betracht zu ziehen, das ich Euch gab.« »Geflüster, mehr nicht. Weniger wert als nichts.« Orakel wandte das blinde Gesicht der Frau auf dem schwarzen Perlenthron zu. »Ich denke, Eure Gemahlin wäre nicht derselben Ansicht. Ich schenkte Euch dieses Geflüster nämlich für sie.« Die Frau drehte sich langsam zu Tagostscha um. »Warum hast du mir nichts davon gesagt, Geliebter?« Der Weirun zögerte und rutschte auf seinem Thron umher. »Es war sinnloses Geschwafel, meine Süße. Ohne Bedeutung.« »Hoheit, ich wollte Euch nur warnen.« Orakel verneigte sich in Richtung der Frau. »Ich wollte Euch Herzensleid ersparen.« Die Augen der Frau funkelten Tagostscha drohend an. »Ich bin sicher, auch Ihr wolltet mich nur vor Sorge bewahren, mein Fürst. Wie lauteten die Worte?« »Unwichtiges Gerede, Liebste. Wertloser Unsinn.« Tagostscha wand sich auf dem Thron und wedelte mit einer Hand in Orakels Richtung. »Wenn es unbedingt sein muss, dann wiederhole dein Gefasel.« »Wie mein Fürst Tagostscha befiehlt.« Orakels Miene wurde ernst. »Ich habe ihm berichtet, dass Eure Söhne in 337 Sebtia sterben werden. Ihr werdet erst davon erfahren, wenn die Eirsena ihr Blut ins Meer spült.« Die Frau griff nach Tagostschas Handgelenk. »Stimmt das? Was sagt Eirsena?« Tagostschas Miene verdüsterte sich. »Ich habe keine Nachricht von Eirsena.« »Aber um diese Jahreszeit ist deine Schwester niemals stumm. Was ist geschehen? Was hältst du noch vor mir verborgen?« Tagostschas Nasenflügel bebten. »Die anderen blubbern von Überflutungen, aber von meiner Favoritin höre ich gar nichts. Sie schweigt.« Kjarrigan runzelte die Stirn. »Ihr redet von Flüssen, als wären es Leute.« Adrogans schleuderte ihm einen drohenden Blick zu. »Denk daran, wo du bist, Kjarrigan. Die Flussweirune sind Verwandte von Tagostscha.« »O natürlich.« Der Knabe kratzte sich den Nacken. »Dann werden sie den Fluss wohl gestaut haben.« Adrogans lächelte. »Ja, natürlich haben sie das. Bei dieser Hitze und so früh im Jahr sind alle Flüsse außer der Eirsena über die Ufer getreten. Was anderes als ein Damm könnte der Grund sein? Das waren die Aurolanen. Sebtia ist in ihrer Hand. Sie haben Eure Schwester in ihre Gewalt gebracht.« Der Weirun floss auf die Beine und rammte die Fäuste durch die Decke der Luftblase. »Dafür wird Kytrin bezahlen!« »Wie wollt Ihr das anfangen?«, fragte Adrogans. »Ihr könntet ihre Schiffe zerstören, aber sie besitzt keine mehr. Sie braucht sie nicht. Und wenn sie sich von Euch fern hält, könnt Ihr nichts gegen sie ausrichten. Und selbst wenn ihr sie bezahlen lasst, wie kann das die Schmerzen lindern, die Eure Schwester erleidet? Es geht nicht nur darum, Kytrin zahlen zu lassen, sondern auch darum, Eure Schwester zu befreien.« Er drehte sich um und deutete auf die Matrosen und Soldaten, die wie verlorene Seelen außerhalb der Luftblase trieben. »Schickt uns. Wir werden Eure Schwester befreien. Wir werden Eure 338 Söhne retten. Lasst uns nach Sebtia fahren, und wir werden alles in Ordnung bringen.« »Das könnt ihr nicht. Meine Geschwister haben mir berichtet, was auf dem Weg zum Schlachtfeld Flüsse und Bäche überquert hat.« Die Frau schaute zu Tagostscha hoch. »Haben sie dir von meinen Söhnen berichtet? Was ist mit ihnen? Was enthältst du mir vor?« Orakel hob die Hand. »Hoheit, beruhigt Euch. Eure Söhne leben, und es geht ihnen gut. Sie sind mutige Krieger, geliebt und geachtet. Ihrem Erbe sind sie entkommen, der Makel ihres Vaters lastet nicht auf ihnen. Ihre Tapferkeit ist es, die sie jetzt in Gefahr bringt. Falls wir weiter nach Sebtia segeln dürfen, werden sie wahrscheinlich überleben.«
Die Frau riss die Augen auf. »Nur wahrscheinlich? Das ist nicht genug.« »Eine Garantie kann es nicht geben.« Sie stand auf und tätschelte Tagostschas Knie. »Geliebter, ich habe nie viel von dir verlangt.« »Bitte mich nicht darum.« »Du würdest es mir verweigern?« Tagostscha senkte die Arme, dann setzte er sich. »Ich kann dir nichts verweigern.« »Dann gewähre ihnen, was sie brauchen. Von den Menschen hast du Schätze ohne Zahl erhalten. Wähle diesen Weg, sie an deine Größe zu erinnern. Du brauchst kein Schiff zu zerstören, wenn du die Welt retten kannst.« Tagostschas Miene entspannte sich und im selben Augenblick veränderte sich der Weirun. Sein Leib schrumpfte beinahe auf menschliche Größe. Haar und Bart wurden kürzer und die strenge Würde seiner Züge verschwand. Als er sich zu seiner Gemahlin umsah, durchflutete ihn Jugend. »Als dein Gatte dich mir schenkte, hat er aufgegeben, was ihm Größe verliehen hätte.« Tagostscha schaute ihr noch eine Weile in die Augen, dann drehte er sich zu Adrogans um. »Du hast mutig behauptet, dass du meine Schwester befreien wirst. Du hast 339 Recht, ich kann ihre Rettung nicht in die Wege leiten. Ich bin gezwungen, mich auf dich zu verlassen, aber ich bin nicht gezwungen, mich auf deine Möglichkeiten zu verlassen.« »Ihr werdet feststellen, dass meine Soldaten die besten der Welt sind.« »Vielleicht, aber ich kann sie noch besser machen.« Er hob beide Arme und eine gewaltige Wassersäule senkte sich herab und umschloss ihn. Innerhalb eines Pulsschlags wurde er fast durchsichtig und war nur noch als flackernder Umriss im Wasser erkennbar. Er warf den Kopf in den Nacken, und während Kjarrigan bloß ein gedämpftes Quietschen hörte, rissen die Truppen außerhalb der Luftblase die Hände an die Ohren. Die Wassersäule stieg wieder auf und Tagostschas Gestalt wurde fest. »Vor einer Generation haben mich die Recken des Südens getäuscht, sich aber später dafür entschuldigt. Von einem erhielt ich meine Gemahlin. Ein anderer ließ für mich sein Lieblingspferd ins Meer treiben. Es war ein großartiger Hengst und seine Nachkommen sind ebenfalls unglaublich.« Ein prächtiges Ross stürmte in die Luftblase und schüttelte seine Mähne aus, so dass das Wasser in hohem Bogen spritzte. Die Stirn des sonst tiefschwarzen Hengstes zierte eine weiße, sternförmige Blesse. Kjarrigan kannte sich mit Pferden nicht aus, aber dieses passte zu Entschlossen. Der staunende Ausdruck auf Adrogans' Gesicht bestätigte zusätzlich, dass dieser Hengst etwas ganz Besonderes war. »In Yslin habe ich ein Gemälde dieses Pferdes gesehen. Das ist Cursus. Es war König Augustus, der Euch diesen Hengst geopfert hat.« »So ist es.« Tagostscha lächelte. »Cursus hat eintausend Kinder und sie werden mit euch in Sebtia an Land gehen.« Adrogans trat zu dem Pferd und tätschelte seinen Hals. »Wenn sie hier leben, sind sie mit Sicherheit weit stärker als die Pferde an der Oberfläche. Sie werden ausdauernder sein. Wenn ich sie meiner schweren Reiterei als Reittiere übergebe, wird sie nichts mehr aufhalten können.« »Gut, dann wirst du meine Schwester befreien.« 340 Die Frau stand auf und winkte mit der Rechten. »Und mein Fürst, da meine Söhne davon profitieren, werde auch ich meinen Teil beitragen.« Kjarrigan wandte sich um und sah Dutzende Magiker in blauen Kilts im Wasser treiben. Zwei von ihnen, ein Mann mit einem blonden Bart und eine Frau, gerieten in die Luftblase. Sie kamen ihm erschreckend vertraut vor, aber er konnte sie nicht einordnen. Sie betrachteten ihn eine Weile, dann lächelte der Mann. »Adept Lies, warum bist du so jung?« Kjarrigan schüttelte den Kopf. »Kennen wir uns?« Der Blondschopf hob die Augenbrauen. »Ich bin Therian Cole. Ich war ein Schüler auf dem Boot, das dich von Vilwan fortgebracht hat, als die Piraten angriffen.« Ein Schauder überlief Kjarrigan. Er erinnerte sich dunkel an das Gesicht, aber als ein weit jüngeres. Vor einem Jahr, als sie von Vilwan aufgebrochen waren, war dieser Schüler erst elf oder zwölf Jahre alt gewesen. Jetzt trägt er einen Bart. Tagostscha wedelte mit der Hand. »In meinem Reich vergeht die Zeit anders. An manchen Orten fließt sie schnell, an anderen gar nicht. Vielleicht gibt es sogar Orte, an denen man seine Jugend wiederfände, würde man sich länger dort aufhalten. Die Schüler, die mit deinem Boot untergingen, Adept Lies, hat meine Gemahlin hier versammelt. Sie haben in meinem Reich im Studium der Magik große Fortschritte gemacht und werden dir nützlich sein.« Kjarrigan drehte sich zur Gemahlin des Weiruns um. »Ich bin Euch sehr dankbar dafür, dass Ihr die gerettet habt, die ich nicht retten konnte. Ich werde alles tun, um die Sicherheit Eurer Söhne zu gewährleisten. Falls ich fragen darf ...« Wieder drückte Orakel seinen Arm. »Erkennst du denn Königin Morandus, ehemals von Oriosa, nicht? Du kennst doch ihre Söhne.« »Ermenbrecht und Lüdwin?« Kjarrigan nickte, als sich ein Strom von Geschichten in seinem Kopf zu einem Ganzen fügten. »Ich kenne Sie, Hoheit. Wenn sie sterben sollten, dann nur, weil ich noch zu ihren Lebzeiten fiel.«
341 Tagostscha starrte ihn streng an. »Und meine Schwester? Was ist mit ihr?« Kjarrigan nickte ernst. »So sicher, wie wir von hier nach Sebtia fließen, so sicher wird Eure Schwester bald wieder hierher strömen.« Tagostscha brachte Kjarrigan und die Flottille an die Küste von Sebtia, dicht an die Mündung der Eirsena. Die Nalisker Bergläufer und die loqaelfischen Schwarzfedern stürmten landeinwärts in die Wälder, um die Lage zu erkunden, während die sechs Schiffe noch aus den Tiefen aufstiegen und in der kleinen Bucht vor Anker gingen. Die Matrosen und Soldaten, die unter Wasser in ihnen gesegelt waren, machten sich sofort daran, die Ladung zu löschen, die Dank Tagostschas Macht so trocken war wie am Tag der Einschiffung. Und wie versprochen schickte der Weirun tausend der schönsten Pferde, die Kjarrigan je gesehen hatte, an Land. Groß und stark, mit langen, wehenden Mähnen und silbernen Hufeisen. Diese Rösser strotzten vor Kraft. Die Kavalleristen, denen Adrogans sie zuteilte, waren begeistert, und niemand machte eine Bemerkung über die ungewöhnlichen Farbmuster, Streifen und Flecken, die Fell und Mähnen der Pferde zierten. Tagostscha stand knietief im Wasser und schaute Adrogans an. »Ich habe dich einmal gerettet, im Tausch für das Gold, das du mir geopfert hast. Befreie meine Schwester - und ich werde tief in deiner Schuld stehen.« »Ich finde einen Weg.« Der Meeresweirun lachte, dann senkte er den Kopf auf Ph'fas' Höhe. »Wir sind uns verwandt, denn du bist mit dem Stoff verbunden, der mir das Leben schenkt. Du glaubst, die Ferne deiner Heimat hätte dieses Band geschwächt. Ist shuskisches Wasser anders als irgendein anderes. Shuskische Luft? Shuskische Erde?« Der kleinwüchsige Schamane grinste verschmitzt. »Süßer, viel süßer.« »Aber gleich.« Tagostscha breitete die Arme aus. »Das, was 342 du suchst, gibt es auch hier. Du sehnst dich nach deiner Heimat, aber das Einzige, was dich von ihr trennt, von den Yrün, ist deine Sehnsucht. Öffne dich, und du wirst sie auch hier finden. Du bist an die Welt gebunden, nicht nur ans Shuskenland. Glaube daran, und du wirst nicht länger allein sein.« Ph'fas' Gesicht verzerrte sich zu erstaunlichen Grimassen, dann weiteten sich seine Augen. »Danke.« Als Nächstes wandte sich der Seegeist Kjarrigan zu und hob die linke Hand. Durch den Arm stieg der Zauberstab auf, den Kjarrigan bei der Abreise aus Loquellyn geopfert hatte. »Das hier könnte sich für dich als nützlich erweisen.« »Wahrscheinlich, aber ich habe ihn Euch geschenkt.« Kjarrigan senkte respektvoll das Haupt. »Ich wusste, was ich tat, als ich ihn aufgab.« »Mag sein, doch meine Gemahlin möchte, dass ich ihn dir zurückgebe. Um dir bei der Rettung ihrer Söhne zu helfen.« Kjarrigan nahm den Stab an. »Ich werde sie beschützen.« Der Weirun trat einen Schritt zurück. »Falls eure Leichen in meine Fluten getragen werden, werdet ihr alle Ehren erhalten. Euch alles Gute - und Tod euren Feinden.« Er breitete die Arme aus, dann zerfloss sein Körper im Meer. Kjarrigan grinste und stopfte sich den Stab in den Gürtel. »Da wären wir.« Adrogans schüttelte den Kopf. »Mir hätte eine langweilige Seefahrt gereicht. In zwei Stunden geht die Sonne unter. Wir müssen landeinwärts und die Draconellen mitnehmen. Wir suchen den Feind, nehmen Aufstellung und machen uns kampfbereit.« Der junge Magiker schaute hinüber zur Swarskija. »Zu schade, dass wir den Fluss nicht mit ihr hochfahren und ihre Geschütze einsetzen können.« »Wenn wir das könnten, wären wir nicht hier, denn dann wäre Tagostschas Schwester frei. Ich werde eine Notbesatzung an Bord lassen, damit sie aurolanische Schiffe abwehren kann, falls welche auftauchen.« Ph'fas rieb sich das Kinn. »Der Weirun hat Recht. Die Yrün 343 sind hier. Die Aurolanen haben eine Festung ganz in der Nähe. Swarskija ist auch nicht weit.« Adrogans zögerte kurz, dann nickte er. »Die Sullanciri aus der Geistermark ist ebenfalls da. Nicht weit von hier. Bewegung.« Die Armee bewegte sich langsam landeinwärts. Die Kundschafter meldeten die Verbindung mit aurolanischen Einheiten, hauptsächlich leichte Infanterie und mehrere Draconellenbatterien. Adrogans gab Befehl, alle Feindeinheiten bis auf den letzten Mann zu töten. Kjarrigan und die Seemagiker konnten so viele Gegner magisch ruhig stellen und einschläfern, dass die Batterien im Wald westlich der Aurolanenstellungen ohne großes Aufsehen fielen. Die Alcidischen Wölfe übernahmen die aurolanischen Stellungen und stellten zusätzlich ihre eigenen Geschütze auf. Zwei Stunden vor Sonnenaufgang waren vierzig Draconellen feuerbereit. Kjarrigan stand neben Adrogans am Rand des Waldes, als der Morgen anbrach. Wie der General vorausgesehen hatte, unternahm der Feind keinen Versuch, mit den versteckten Draconellenbatterien in Verbindung zu treten, um ihre Gegenwart nicht zu verraten. Die hundert Schritt breite Lücke zwischen dem Waldrand und einem Hügel, auf dessen Kuppe eine Draconellenbatterie aufgebaut war, bot sich als verlockende Möglichkeit an, sich in den Rücken der Aurolanen zu schlagen. Wären die Geschütze in aurolanischer Hand geblieben, hätten sie alle Truppen des Südens, die sich in diesen Korridor wagten, abgeschlachtet.
»Wollt Ihr Prinzessin Alexia nicht von unserer Ankunft berichten, General?« »Weißt du eine Möglichkeit, wie du garantieren kannst, dass niemand die Botschaft abfängt? Wir sind hier in einer äußerst verwundbaren Position. Ich weiß schon, wie wir uns bemerkbar machen, aber nicht im Vorhinein. Das können wir uns nicht leisten.« Kjarrigan nickte. Auf den Bergen am südlichen Ufer der ausgetrockneten Eirsena sammelte sich das Heer des Südens. 344 Endlose Kriegerreihen nahmen auf den Berghängen Aufstellung, darunter einige urSreiöi. Kavallerie mit Pferden in glitzernder Rüstung und Reitern in glänzendem Metall. Alexias Heer war gewaltiger als alles, was er je zu Gesicht bekommen hatte, und die unfassbare Majestät des Anblicks ließ ihm den Atem stocken. In der Aurolanenfestung donnerten die Trommeln. Drei Sullanciri erschienen auf der Kuppe des höchsten Berges, dann strömten Nordlandtruppen aus den Bergfesten und in den nach Westen verlaufenden Graben. Hinter Kjarrigan ächzten die Draconellenlafetten, als die Mannschaften die Geschütze ausrichteten. Der beißende Geruch glimmender Lunten stieg ihm in die Nase. Adrogans hob den Arm. »Zeit, Alexia mitzuteilen, dass wir hier sind.« »Aber wie?« Der jeranische General grinste. »Wenn unsere Draconellen sprechen, wird sie die Botschaft schon hören.« Seine Hand fiel herab und entlang der gesamten Linie senkten sich die Lunten zu den Zündlöchern. Feuer und Rauch zischte, dann gab es ein lautes Donnergrollen. Flammenzungen schlugen aus den Mündungen und die metallenen Ladungen schössen davon. Bis auf die acht südlichsten waren alle Draconellen auf den Graben gerichtet. Sie waren schräg zum Ziel aufgestellt, aber die Salve beharkte es mit Schrotladungen. Die dicht gedrängt im Graben stehenden Truppen wurden von den Metallkugeln sprichwörtlich zerblasen. Die Geschütze am südlichen Ende der Stellung zielten auf die Draconellenbatterie über dem Graben. Drei von ihnen bestrichen die Hügelkuppe mit Schrot und töteten die Mannschaften. Die fünf anderen waren mit achtzehn Pfund schweren Eisenkugeln geladen, deren Einschlag die Lafetten zertrümmerte und Draconellenläufe verbeulte. Obwohl ihm vom Donner der Geschütze die Ohren klingelten, hörte Kjarrigan die Trompeten am südlichen Ende der Frontlinie erschallen und auf der anderen Seite die Trommeln 345 dröhnen. Agitare brüllte Befehle, die Draconellen neu zu laden, während die Truppen des Südens den Hang herabstürmten. Die aurolanischen Draconellen feuerten zu früh, aber ihre Kugeln tanzten trotzdem als Querschläger durch die Reihen und töteten ein paar Soldaten. Die Reiter des Südens schwenkten in die Lücke, doch dann erschienen eine Menge Aurolanen im Osten, am Fuß des Damms, der die Eirsena staute. Adrogans nickte ernst. »Der Tag hat gut angefangen. Jetzt bringen wir es zu Ende.« Kjarrigan lachte und schaute zu ihm hoch, um ihm zuzustimmen. Doch plötzlich schlug eine Woge der Übelkeit über ihm zusammen. Bevor er auch nur ein Wort sagen konnte, knickten ihm die Knie weg, und es wurde ihm dunkel vor den Augen. 346 KAPITEL VIERZIG Der Donner von Draconellen aus dem Wald im Westen erschreckte Alyx. Die Möglichkeiten, der Feind könnte sich dort versteckt halten, hatte sie seit Tagen verplagt. Die Kundschafter, die sie ausgesandt hatte, waren auf aurolanische Truppen gestoßen, was eine Falle so gut wie bestätigte. Wäre sie an Nefrai-keshs Stelle gewesen, hätte sie dort in jedem Fall Einheiten versteckt. Allein die unglaubliche Wucht des Angriffs, die Menge der feuernden Draconellen und das überraschend verfrühte Zuschlagen überrumpelten sie trotzdem völlig. Dann sah sie, wo die Salve einschlug und traute ihren Augen nicht. Mit einem Schlag hatten die Draconellen die aurolanischen Verteidiger am Westrand der Festung niedergemäht. Plötzlich sah sie den weiteren Verlauf der Schlacht deutlich vor sich. Nefrai-kesh war jetzt gezwungen, die Einheiten im Osten zu verlagern. Falls es ihm gelang, ihre Flanke zu gefährden, konnte er sie damit daran hindern, ihre Truppen nach Westen zu bewegen und seine Schwachstelle dort auszunutzen. Sie konnte ihn nur davon abhalten, indem sie die Lücke zwischen dem Damm und dem östlichen Graben schloss. Was diese Truppen allerdings dem Feuer der Draconettiere auf dem Damm und im Graben aussetzt. Dennoch hatte sie keine andere Wahl. Sie blickte zu Peri. »Flieg zu Prinz Ermenbrecht. Seine Truppen sollen die Lücke halten. Sofort.« »Auf der Stelle, Schwester.« Perrine flog davon und landete neben dem Prinzen. Der hörte zu, dann winkte er einem Trompeter. Ein paar Herzschläge später erschallte das Signal. An Alyx' rechter Flanke 347 preschten die Truppen des Prinzen vorwärts, noch während die aurolanischen Trommeln die Befehle an Tyhtsais Krieger donnerten. Die Draconettiere auf dem Damm luden ihre Waffen und Aurolanen strömten durch die Lücke, um Ermenbrechts Einheiten aufzuhalten. Aus dem Augenwinkel bemerkte Alyx einen schwarzen Schatten. Sie deutete zum Damm. »Maroth, räume den Damm dort frei.« Augenblicklich verschwand der schwarze Drache, aber sie sah ihn am Damm nicht
wiederauftauchen. Er wird es schaffen. Er muss es schaffen. Sie lenkte das Pferd nach links, dann befahl sie einem Trompeter, das Signal zu geben. Sie befahl Reiterei und schwere Infanterie von der linken Flanke in die Bresche, noch während frische Aurolanen in den Graben strömten. Sobald sich ihre Truppen in Bewegung setzten, ließ sie einen anderen Trompeter die Einheiten in der Mitte der Schlachtreihe nach Westen schicken, was eine Lücke in ihrer Frontlinie zwischen dem Zentrum und Ermenbrechts Leuten öffnete. So etwas würde sich als tödlich erweisen, wenn der Feind die Gelegenheit nutzte. Dazu konnte es aber nur kommen, falls Nefrai-keshs Truppen an Ermenbrechts Armee vorbeikamen. Und wenn sie das schafften... Wenn sie das schaffen, ist die Schlacht so oder so verloren. Kräh ritt heran, in einem stumpfgrauen Kettenhemd unter einem grünen Orioser Wappenrock. »Die Lage hat sich geändert. Wie sieht denn der neue Plan aus?« Alyx senkte halb die Lider über ihre violetten Augen. »Wir ziehen nach Westen, und wenn Nefrai-kesh seine Draconellen nach Osten und Westen ausrichtet, stoßen wir durch die Mitte vor.« Kräh stellte sich in den Steigbügeln auf und ließ den Blick über das Schlachtfeld schweifen. »Das wird harten Galopp und viel Glück erfordern.« »Aber es wird ihn überraschen.« »Das wird es.« Er grinste. »Wenn es so weit ist, versprich mir bitte etwas.« 348 »Und das wäre?« »Fall in dem Wettrennen darum, wer Nefrai-kesh erschlägt, nicht zu weit zurück.« Noch etwas regte sich in dem Qualm, durch den sich Kytrin bewegte. Der gehäutete Panq sprang sie an und spritzte Blut über ihre Schuppen. Er packte sie am Unterkiefer und zog sich hoch auf die Schnauze, wo er sich festklammerte. Sie schüttelte den Kopf, und Blut spritzte über die Gefährten. Die Krallen des Panqs zerkratzten eine Schuppe, dann riss er sie ab. Sie fiel scheppernd zu Boden und Kytrin heulte auf. Heftiger als vorher schüttelte sie den Kopf, und diesmal riss sie ihn sogar hoch. Damit hatte der Panq nicht gerechnet. Der blutüberströmte Echsenmann verlor den Halt und flog hoch in die Luft, wo Kytrin nach ihm schnappte und ihn mit einem Biss verschlang. »Lombo, nein!« Sayce streckte die Hand aus, zog sie wieder zurück und ließ sich zu Boden fallen. Tränen glänzten auf ihren Wangen und zogen Spuren durch den Ruß. Kytrin schaute zu ihnen herab und setzte an, etwas zu sagen, doch blitzschnell zuckte Entschlossens rechte Hand vor. Der vergiftete Klingenstern bohrte sich in die leichenfahle Haut, die unter der abgerissenen Schuppe sichtbar geworden war. Sie kreischte laut auf, schüttelte einmal den Kopf, dann hob sie vorsichtig eine Pranke und zog die winzige Waffe heraus. »Ich habe diese Sterne schon häufig gesehen. Pech für dich, dass dein Gift bei mir nicht wirkt.« Der Drache schüttelte den Kopf. »Was hast du erwartet, dass hier geschehen würde? Hast du ernsthaft geglaubt, ich ließe zu, dass ihr mich tötet? Ich lebe seit Jahrhunderten, weit länger als alle zusammen, die du je gekannt hast, und ich habe in dieser Zeit so viel mehr gelernt als du. Ich bin so viel mächtiger als du. Hast du Magik, die du gegen mich einsetzen möchtest, Entschlossen? Dann komm, zeig mir, was du kannst.« Der Vorqaelf schüttelte den Kopf und hob Syverce. »Wir sind nicht blöd.« 349 »Seid ihr nicht? Ihr seid hier, in meinem Palast, kurz davor, elendig zu verrecken. Gibt es dafür noch eine andere Bezeichnung?« »Wir haben erwartet, dass sich eine Prophezeiung erfüllt.« »Das war ein Irrtum.« Kytrin hob den Kopf, streckte den langen Hals und stieß einen Flammenschwall ins Gewölbe des Großen Saals. Dann senkte sie wieder den Kopf und betrachtete ihn eingehend über die lange Reptilschnauze hinweg. »Euer Recke ist tot. Im Süden zerschlagen meine Sullanciri euer Heer. Wenn ich mit euch fertig bin, werde ich nach Vorquellyn fliegen, die Fragmente der Krone holen, die dort liegen, die anderen einsammeln, und die Drachen werden mir aushändigen, was sie noch zurückhalten. Es ist vorbei. Aber ihr habt euch tapfer geschlagen.« Trawyn hockte neben Sayce und hatte der jungen Murosonin die Hände auf die Schultern gelegt. »Und dafür belohnst du uns damit, dass du uns zu Sullanciri machst?« »Ein paar von euch vielleicht. Entschlossen wird ein großartiger Dunkler Lanzenreiter werden. Die Frucht von Sayces Leib, aus einer Sullanciri geboren - das wird ebenfalls spektakulär sein. Ihr anderen werdet sterben.« Entschlossen bekam eine Gänsehaut. Er drehte sich um und hielt Syverces Spitze über Sayces Herz. »Ich werde dafür sorgen, dass sich dein Wunsch nicht erfüllt.« »Dummer /Elf, gar nichts wirst du.« Kytrin hob die rechte Pranke und bewegte die Krallen. Ein Schlag durchzuckte Entschlossen. Sämtliche Tätowierungen auf seiner Haut leuchteten in wütendem Rot. So etwas hatte er noch nie gesehen. Aurolanische Magik ist rot. Er versuchte sich zu bewegen, nur gehorchte ihm sein Körper nicht mehr. Gegen seinen Willen schwang der rechte Arm herum. Die Klinge wanderte von Sayce zu Isaura und bohrte sich leicht in den Stoff unter der rechten Brust. »So ist es, Entschlossen. All die Magik, all das Wissen, das dir diese Tätowierungen und diese Macht verliehen haben, woher dachtest du, dass sie kamen?« Der Drache lachte bei-
350 nahe mitfühlend. »Ich habe dich und deine Begleiter seit Jahrzehnten erwartet und dafür gesorgt, dass ihr mich nicht verletzen könnt. Du gehörst mir seit Menschenaltern und wusstest es nicht. Jetzt wird es Zeit, dass du mir unmittelbar unterstehst.« In dem Augenblick, da er Alexias Befehle empfing, wusste Ermenbrecht, dass er den Abend wohl nicht mehr erleben würde, auch wenn es sich anfühlte, als sei dieser Tag bereits Ewigkeiten alt. Er bellte seinem Trompeter Befehle zu, und der übersetzte sie in Hornsignale. Vor ihm setzte sich die Infanterie in Bewegung. Dicht gedrängt und schwer gepanzert marschierten die klirrenden Reihen vorwärts, die Stimmen zu einem Lied erhoben. Hoch flatterten die Standarten. Schwerter blitzten hell im Morgenlicht, als die Männer in den Tod marschierten. Hinter ihnen waren in den Reihen des Feindes Draconettiere und Draconellenbesatzungen damit beschäftigt, die Waffen zu laden. Ermenbrecht drehte sich im Sattel um. »Graf Storton, ich möchte, dass Eure Läufer den östlichen Berg ohne Aufenthalt angreifen. Jullach-Tse, dasselbe gilt für deine Leute. Ihr müsst euch beeilen, ans Ziel zu kommen. Sie werden auf uns feuern, sobald wir in Reichweite sind, und sie dürfen keine Zeit bekommen, die Draconellen umzuschwenken. Ihr werdet im wahrsten Sinne des Wortes um euer Leben rennen.« Beide bestätigten den Befehl und liefen zu ihren Truppen. Ermenbrecht befahl die Kavallerie nach Osten und sah, dass Weiz bereits die Freiwilligen heranführte, damit sie sich nach der Infanterie in den Kampf stürzten. Der Prinz salutierte ihm, dann trabte er mit der Kavallerie an. Er zog Krön, hielt das Schwert hoch empor, dann riss er es nach unten. Er grub seinem Ross die Fersen in die Flanken und galoppierte im Sturmangriff den Hang hinab. Hinter ihm folgten etwas mehr als zwei Regimenter Reiterei, ziemlich genau halb schwere und halb leichte. Im Galopp kamen einige seiner Leibgardisten nach vorne, schlössen ihn ein und senkten die Lan351 zen gegen die in der Lücke geballte Aurolaneninfanterie. Die Nordländer hätten es sichtlich vorgezogen, den Angriff dort zu erwarten, wo sie waren. Aber der nicht nachlassende Druck von hinten zwang sie weiter vor. Ermenbrecht erkannte, wie dies seinen Leuten half. Zumindest in der Theorie. Infanterie, die sich einem Angriff nicht mit aufgepflanzten Speeren entgegenstemmte, war einem Kavallerieangriff hilflos ausgeliefert. Seine Leute konnten durch das vorderste Bataillon preschen wie durch ein Getreidefeld. Nur waren die Fußtruppen bei diesem Angriff nicht der einzige Gegner. Da gab es auch die Draconellen, die das Feuer bereits eröffnet hatten. Als sein Pferd auf das gegenüberliegende Ufer der Eirsena sprang, sah er links von sich eine Draconellenbesatzung ihr Geschütz herumhebeln, um es auf seine Leute zu richten. Eine leise innere Stimme kommentierte sarkastisch, wie ungeschickt sie sich dabei anstellte, aber er brachte sie zum Schweigen. Rechts von ihnen, auf der Dammkrone, feuerten aurolanische Scharfschützen ihre Draconetten. Ein Pferd stürzte und warf seinen Reiter ab. Krieger stürzten aus dem Sattel oder kippten nur nach vorne. Die Draconettiere waren nicht gefährlich genug, um den Sturmangriff aufzuhalten, aber sie waren in der Lage, seine Truppen zu schwächen. Bevor er ihnen einen weiteren Gedanken widmen konnte, brandete die Reiterei gegen die Reihen der Aurolanen. Entsetzte Schnatterer wurden hoch durch die Luft gewirbelt, stürzten zurück auf die Erde und begruben Kameraden unter sich. Sein Ross krachte in einen Turekadin und schleuderte ihn wie ein Spielzeug davon, dann spießte ihn ein anderer Reiter auf. Krön peitschte in alle Richtungen. Draconettiere feuerten aus dem Graben. Krieger und Pferde rings um Ermenbrecht fielen, die linke Flanke der Einheit löste sich einfach auf. Nichts stand mehr zwischen Ermenbrecht und dem aurolanischen Graben. Den kürzesten Bruchteil eines Augenblicks spielte er mit dem Gedanken, in den Graben zu reiten und sich den Weg zum Fuß des Berges freizuschlagen, 352 an dem Tyhtsai auf ihn wartete. Ich könnte im Kampf gegen die Gefährtin des Sullanciri den Tod finden, der in Oriosa starb. Doch diesen Gedanken ließ er schnell fallen, als mit einer neuen Draconettensalve vom Damm her die Wirklichkeit in seine Gedanken einbrach. Bevor er Gelegenheit hatte, sich umzudrehen und die Lage neu zu beurteilen, erhob sich ein gespenstisches Kreischen. Kytrins Reiterei brach aus dem Graben hervor. Drei, vier, fünf Schritt hoch sprangen die Frostkrallen und preschten auf Ermenbrechts Truppen zu. Die Reiter rissen angesichts dieser neuen Bedrohung die Pferde herum, doch keiner der Aurolanen schien den Prinzen angreifen zu wollen. Er wunderte sich nur kurz darüber, denn schon segelte ein Großtemeryx herüber. Die prächtig bunte Kreatur, weit schwerer als ihre weißen Vettern, trug Tyhtsai. Sie senkte den rechten Arm. Das wie Quecksilber schimmernde Glied veränderte seine Form vom Handgelenk aus. Es wurde dünner und länger, fast wie eine Peitsche. Die Hand ballte sich zur Faust, dann formten sich Stacheln. Ermenbrecht hob das Schwert zum Gruß. Er sah einen roten Blutstropfen die silbern glänzende Klinge herablaufen, dann nahm er die Waffe runter und schleuderte ihn mit einer schnellen Bewegung aus dem Handgelenk davon. »Komm, Tyhtsai. Lass mich deine Bekanntschaft mit dem Tod erneuern und dich von der Last befreien, die er dir auferlegt hat.« Dass sich der Drachenbeinpanzer nicht durch seine Haut geschoben hatte, besserte Kjarrigans Stimmung kein
bisschen. Er konnte langsam wieder sehen, doch er hatte das Gefühl, ein Dornenbusch würde seine Augen zerkratzen. Als er wieder etwas erkennen konnte, stellte er fest, dass er hinter einem entgeisterten Matrosen auf dem Ruderdeck der Swarskija stand. Am Steuerrad stand ein riesiger schwarzer Metalldrache. Noch bevor Kjarrigan entscheiden konnte, was wichtiger 353 war - herauszufinden, wie er hierher gekommen war, oder wer dieser Drache war -, verschwamm die Welt um ihn und er hatte das Gefühl, eine Axt hätte ihm den Schädel gespalten. Irgendetwas versuchte nach Kräften, seinen Geist zu zerstückeln, gab jedoch nach ein, zwei Augenblicken auf. Kjarrigan kam wieder zu sich, als das Schiff mit einem gewaltigen Aufplatschen rund vier Schritt fiel. Er brauchte eine Weile, dann stellte er fest, dass er an Steuerbord auf das Schlachtfeld blickte. Jenseits der Festung krachten die im Wald versteckten Draconellen erneut mit verheerender Wirkung. Die Kavallerie des Südens erreichte an der westlichen Flanke das Flussbett und wollte gerade den Wald passieren. Weiter im Norden rückte Adrogans' Reiterei aus. In der Mitte von Alexias Frontlinie hatte sich eine Lücke gebildet. Und näher an der Heimat...Das Erscheinen der Swarskija im Stausee hatte eine sofortige Nebenwirkung. Das Schiff verdrängte bei seinem Sturz eine enorme Menge Wasser, die in einer riesigen Flutwelle über den Damm schwappte. Alle dort stehenden Draconettiere wurden davongerissen und stürzten hinunter zwischen die Truppen, auf die sie gefeuert hatten. Kjarrigan stemmte sich hoch und streckte die Hand aus. »Wir können mit den Draconellen auf die Aurolanen feuern.« Der metallene Rudergänger regte sich nicht. Unter ihnen lagen auf dem Geschützdeck die Besatzungsmitglieder, die Adrogans an Bord zurückgelassen hatte, zuckend auf den Planken. Ihnen hat diese Art der Reise noch weniger gefallen als mir. Kjarrigan zuckte die Achseln, zog den Zauberstab und sprach einen Zauber. Zehn blaue Funken stiegen aus der Spitze des Stabes auf und senkten sich der Reihe nach in die Zündlöcher der Draconellen. Das Schiff neigte sich mit jedem Schuss und schwere Eisenkugeln flogen tief in die aurolanischen Reihen. Das glühende Metall tötete einige, zerquetschte andere und verletzte noch mehr. Auf dem Berg erwiderte eine Batterie das Feuer, zertrümmerte Planken und riss eine Draconelle von der Lafette. »Wenigstens schießen sie nicht auf meine Freunde.« Kjarri354 gan nickte, dann schaute er zum Rudergänger. »Bringst du sie herum, oder soll ich es tun? Wir haben noch die Geschütze auf der anderen Seite, und jetzt ist der richtige Augenblick, sie abzufeuern.« Kytrins Kralle zuckte und Syverce schob sich um Haaresbreite weiter vor. Die Schwertspitze bohrte sich in Isauras schweren Mantel. Ein weiteres Zucken, und die Spitze grub tiefer, vergrößerte das Loch. Noch hatte sie die Haut nicht erreicht, doch lange konnte es nicht mehr dauern. Sobald das Schwert Isauras Körper erreicht hatte, würde es ihr Herz suchen und sich langsam in den Muskel bohren, bis ihr Lebenssaft versiegte. Er knurrte wütend, und als Kytrin das nächste Mal mit einer Kralle zuckte, regte sich die Klinge nicht. Die rote Hitze seiner Tätowierungen ließ kurz nach und es gelang ihm, die Waffe etwas zurückzuziehen. Er stemmte sich gegen Kytrins Herrschaft, doch als die Glut wieder aufflammte, brachte sie all die Schmerzen zurück, die er schon bei der Verzierung seines Körpers gespürt hatte. »Ah, du widersetzt dich. Das ist gut, das ist sehr gut. Ich mag das bei einem Sullanciri. Du bist mein, Entschlossen, jetzt und für immer.« Der Drache nickte und bewegte die Kralle etwas nachdrücklicher. Entschlossens Arm gehorchte trotz all seinem Bemühen, ihn aufzuhalten. Er stieß wieder durch den Stoff und berührte Isauras Haut. Entschlossen wollte den Kopf schütteln, doch nicht einmal dazu war er fähig. Indem sie neue Namen angenommen und sich hatten verzaubern lassen, hatten die Vorqaelfen ein gefährliches Spiel gespielt. Indem ich mich dazu bereit fand, habe ich ihr alles gegeben, was sie brauchte, um mich zu beherrschen. Sein Arm glitt vor und die Klinge bohrte sich Isaura in die Seite. Sie stöhnte, doch selbst dieser Schmerz reichte nicht aus, sie aus der Ohnmacht zu wecken. Entschlossen starrte auf seinen Arm, als sei er nicht ein Teil von ihm, und hätte er ihn abschneiden können, er hätte es getan. Wieder stemmte er sich 355 gegen Kytrin und verschaffte sich einen Aufschub, doch dann gestikulierte sie noch nachdrücklicher, und wieder stieß sein Schwert in Isauras Körper. Der Gedanke, dass sich sein Arm benahm, als gehöre er einem anderen, erinnerte ihn an das Gespräch mit Kjarrigan über den Norderstett. Will war ein Teil des Norderstetts, aber der Norderstett ist mehr als Will. Mein Arm ist ein Teil von mir, aber ich bin mehr als mein Arm. Und ich war nicht immer Entschlossen. Entschlossen ist nur ein Teil von mir. Die silbernen Augen des Vorqaelfen wurden zu dünnen Schlitzen und seine Lippen verzogen sich zum Zähnefletschen. Körperlich kämpfte er mit aller Macht gegen Kytrin, sein Geist dagegen war auf etwas anderes konzentriert. Ich war nicht immer Entschlossen. Wer war ich? Er öffnete die Augen weit. »Mein Name ist Dunardel.« Die Tätowierungen auf der Haut wurden dunkel. Er riss das Schwert aus Isauras Leib und stellte sich zwischen sie und Kytrin. »Ich bin Dunardel von Vorquellyn. Ich bin nicht deine Kreatur.« Kytrin schnaubte. »Von mir aus. Stirb, Dunardel von Vorquellyn. Ich werde Entschlossen wiedererwecken und
du wirst für mich über Vorquellyn herrschen.« Sie atmete tief ein, und Dunardel hob Syverce zur Parade. Die Klinge konnte Flammen zwar nicht abwehren, aber so wollte er das Ende erwarten. Ihr Kopf zuckte vor und die Kiefer öffneten sich, doch statt einer Feuersäule bekam sie nur ein ersticktes Zischen heraus. Die Drachengestalt hustete immer noch kräftig genug, um Dunardel umzuwerfen, dann hob sie den Kopf erneut. Dunardel wäre am liebsten aufgesprungen und hätte ihr das Schwert tief in die Brust gestoßen, doch was er sah, hielt ihn auf. Die Asche auf den elfenbeinweißen und goldenen Drachenschuppen bewegten sich. In Klumpen und Punkten, Streifen und Flecken floss sie über ihren Körper. Auch die Asche auf seiner Haut kroch auf sie zu. Der Boden brodelte geradezu, als sich die Asche sammelte. Klumpen formten sich und rollten 356 los, um auf ihren Füßen und ihrem Bauch zu landen. Sie legten sich kurz über die Schuppen, dann krochen sie wie Schatten darunter. Dunardel hustete dunklen Schleim auf und spie ihn auf den Drachen. Wie viel Asche muss sie erst eingeatmet haben. Kytrins Kopf sank herab. Sie schüttelte ihn von einer Seite zur anderen, dann hustete sie wieder. »Nein!« Das Wort war nur noch ein heiseres Krächzen. »Das kann nicht sein.« Sie rollte auf die Seite und krallte sich die Pranken in den Leib, riss an den Schuppen auf Brust und Bauch. Dunardel stand auf. »Aber natürlich kann es das. Es ist so prophezeit.« Steilschleudern, dafür gedacht, Donnerkugeln über dem freien Gelände zwischen Berg und Wald detonieren zu lassen, waren neu ausgerichtet. Ihr gedämpftes Wummern ging im Lärm der durch die Lücke galoppierenden Kavallerie und dem Donner der Draconellen, die versuchten, die Flut aus Menschen, Rössern und Metall aufzuhalten, fast unter. Die Donnerkugeln flogen über die stahlgekleideten Krieger hinweg und zerplatzten zwischen den Bäumen. Heiße Eisen- und spitze Holzsplitter regneten auf die Draconellenmannschaften und die Truppen in ihrer Nähe herab. Etwas brannte in Adrogans' linkem Arm, und der Schmerz schoss glutheiß auf, als er herumflog und zu Boden stürzte. Ein Aufschrei entrang sich seiner Kehle, als seine Yrünherrin die Wunde als Portal benutzte. Sie kehrte zu ihm zurück - und sie brachte etwas mit. Die Sullanciri! Adrogans richtete sich mühsam auf und sah ein zwei Handspannen langes, daumendickes Stück Holz aus seinem linken Oberarm ragen und gegen den Kettenpanzer auf seiner Brust schrammen. Das Holz füllte die Wunde aus, so dass er kaum Blut verlor, allerdings konnte er den Arm nicht mehr bewegen. Mit einem wütenden Schnauben drängte er den Schmerz zurück. »Kavallerie zum Angriff! Auf den Berg, jetzt! Haupt357 mann Agitare, die Draconellen anheben. Auf die Bergkuppe feuern.« Wieder durchbohrte ihn Schmerz, als weitere Donnerkugeln in den Baumwipfeln explodierten, aber es waren Schmerzen aus zweiter Hand, die Agonie anderer, nicht seine eigene. Sein Wissen über die Sullanciri wuchs, dann entdeckte er auf dem Berghang ihre katzenartige Gestalt. Sie bewegte sich wie ein gewaltiger schwarzer Tiger. Mit riesigen Sätzen sprang sie über die Lanzen hinweg. Wo sie landete, zerbrach sie Speere und verbog Schwerter, wischte beides beiseite. Dann sprang sie weiter. Mit jedem Satz kam sie näher, geradewegs auf ihn zu. Adrogans zog das Schwert und ging los. Donnerkugeln detonierten über ihm, zerfetzten Laub, Geäst und kreischende Soldaten, doch Adrogans wandte den Blick nicht von der sich nähernden Sullanciri. Sie hielt nur einmal kurz an und brach einem Soldaten, dessen Pferd sie zerquetscht hatte, mit einem Prankenhieb das Genick, dann hetzte sie auf ihn zu. Im Sprung veränderte sie ihre Gestalt von der einer Raubkatze in eine katzenartige Frau mit scharfen Krallen und einem im Flug herumpeitschenden Schwanz mit einer Quaste am Ende. Adrogans sprang nach rechts, aus der Sprunglinie, dann hieb er nach ihr. Der Hieb traf und erwischte sie zwischen den Rippen und der rechten Hüfte, aber sie rollte ab und kam unbehindert wieder hoch. Sie fauchte wütend, dann sprang sie ihn mit ausgestreckten Armen erneut an. Wieder duckte sich Adrogans und schlug zu, erwischte sie diesmal am Bauch. Er spürte die Klinge treffen und sah ihren Körper sich krümmen. Er drehte das Schwert in der Wunde und riss es heraus, doch die Sullanciri landete auf allen vieren, dann wirbelte sie geduckt herum. Die Freude auf ihrem Gesicht war unverkennbar. Mehr noch, Adrogans spürte keinen Schmerz in ihr, und da er durch Schmerz mit ihr verbunden war, hätte er ihre Wunden spüren müssen, als wären es seine eigenen. Die Angst erfasste ihn, und er hatte Mühe, sie zu unterdrücken. Sein linker Arm pochte. 358 Schmerz' Gelächter küsste seine Ohren wie Funken, die sich ihm in die Haut brannten. Sie genießt das. Wir sind beide ihre Kreaturen und wir kämpfen gegeneinander. Sie kann nur gewinnen. Er schüttelte den Kopf. Ich habe ihre Spielchen schon früher mitgemacht und gesiegt. Die Sullanciri stürzte sich erneut auf ihn, und diesmal wich Adrogans dem Angriff nicht schnell genug aus. Sie
erwischte ihn mit einem Prankenhieb am rechten Oberschenkel. Ihre Krallen zerfetzten Kettenhemd, Lederhose und Haut. Der Schlag war hart genug, den General davonzuschleudern, bis er an einem Baum landete. Er prallte ab und stürzte auf den Rücken. Die Sullanciri ging wieder in die Hocke. Ihr Schwanz peitschte, sie schüttelte die Pranke, um den daran hängenden Fetzen Kettenhemd abzuschütteln, und leckte sich das Blut von den Krallen. Ihre zarte rosa Zunge legte sich sorgfältig um jede einzelnen Finger, dann zuckte sie unter die Krallen. Durch die Verbindung zwischen ihnen fühlte Adrogans erneut ihre natürliche Lust, und seine Finger kitzelten, als sie die ihren leckte. Mit diesem Zungenspiel bot sie ihm einen Augenblick Zeit, um zu Verstand zu kommen. Als sie an einem Finger lutschte, sicher in der Überzeugung, dass er sie nicht verletzen konnte, schlug er zu. Er benutzte ihre Verbindung durch Schmerz, um die Pein seiner Verletzungen auf sie zu übertragen. Sie kreischte auf und Blut floss aus ihrem linken Arm und rechten Oberschenkel. Er lachte. »Ganz recht. Wir sind verbunden, und solange diese Verbindung besteht, erleidest du alles, was mir widerfährt.« Er schaute hoch und wünschte gegen jede Hoffung, eine Donnerkugel könnte aus dem Himmel stürzen und auf ihm landen, bevor sie explodierte. Leider war das Einzige, was auf ihn herabstürzte, die blutende Sullanciri. Sie sprang aus der Hocke hoch in die Luft. Die Krallen an den Hinterpranken fuhren heraus und reckten sich 359 ihm entgegen. Sie wollte auf seiner Brust landen, ihm die Krallen in den Bauch schlagen und mit den Vorderpranken seine Brust zerfetzen. Ohne Zweifel ging sie davon aus, dass sein Tod die Verbindung brechen würde. Damit könnte sie Recht haben. Die Sullanciri stürzte mit peitschendem Schwanz und lodernden Augen herab. Dann hielt sie inne. Sie blieb in der Luft hängen, vier Schritt über ihm, reglos, kaum noch atmend. Ihr Fauchen war nicht mehr als ein quiekendes Maunzen. »Erledige sie, Neffe.« Ph'fas stand ein Stück rechts von ihm, die zitternde Hand ausgestreckt. Der an die Luft gebundene Schamane hatte sein Yrün benutzt, um sie zu fangen und festzuhalten. Schweiß lief ihm in Sturzbächen herunter, er konnte sie nicht ewig so halten. »Los!« Adrogans schloss die Augen und versank in sich. Er fand seine Herrin und packte sie bei den Haaren, zwang sie auf alle viere. Er bestieg sie wie ein Pferd und sie wurde zu seinem Ross. Er trat ihr in die Rippen, riss ihre Mähne nach links und rechts, steuerte sie hinaus aufs Schlachtfeld. Gemeinsam ritten sie über und durch das Gemetzel, erfuhren den Schmerz wie einen vielstimmigen Choral und lenkten ihn mitten in die Sullanciri. Entzwei gerissene Pferde, die mit beiden Hälften noch ausschlugen, waren die Melodie seines Todesliedes. Menschen, die kreischten, während das Leben rhythmisch aus den Stümpfen abgeschlagener Gliedmaßen spritzte, lieferten die Obertöne, ausgeweidete Schnatterer, die ihre aus dem Leib baumelnden Gedärme hielten, die tiefen Bässe. Der schnelle, stechende Schmerz von Schrapnell, das seine Opfer durchbohrte, sorgte für das Tempo, das Brechen von Knochen und die zermalmenden Hiebe von Schwert und Streitkolben wurden zum Schlagzeug. Das Lied des Todes, das Adrogans wob und durch die Sullanciri dröhnen ließ, war entsetzlich und unharmonisch, voller Höhen und Tiefen, von ständigen Wechseln in Tonart und Takt geprägt, ohne Vorspiel, ohne rechten Rhythmus. Aber es 360 fehlte ihm nicht an Kraft. Es strömte durch seine Eingeweide wie Nesseln, Dornen und Metallstücke, dann sank es in seine von der erstarrten Luft gefangene Feindin. Selbst das Leid in ihrem kläglichen Maunzen führte er ihr wieder zu. Erst als sie verstummte und er sie nicht länger spürte, öffnete er die Augen. Fast wünschte er sich, er hätte es nicht getan. Hätte er nicht gewusst, was sie ursprünglich gewesen war, er hätte es niemals herausfinden können. Blut verklebte das glänzend schwarze Fell, das ihr in Fetzen vom Leib hing. Er konnte ihre Knochen zählen, denn die meisten ragten durch die Haut. Alle waren gebrochen, manche zersplittert. Innere Organe und Gedärme hingen aus dem zerfetzten Körper. Ph'fas gab sie frei und sie klatschte auf den Boden. Bei ihrem Aufprall spritzte stinkende Flüssigkeit über Adrogans. Wo sie ihn traf, juckte und brannte sie auf der Haut. Der General kroch zurück, dann stand er vorsichtig auf. Er stützte sich schwer auf den Baum, gegen den er geprallt war, und stellte fest, dass sein Griff nicht ganz so fest war, wie er es sich gewünscht hätte. Ph'fas kam herüber und verband die Wunde an seinem Bein. »Das ist mehr als ein Kratzer.« »Ich habe es gemerkt.« Er grinste. »Danke für die Rettung, Onkel.« »Du hast mich gerettet. Das war nur recht und billig.« »Habe ich wirklich? Wie das?« Ph'fas grinste ihn an. »Ich habe sie wütend gemacht. Hättest du sie nicht getötet, hätte sie mich umgebracht.« »Dann sind wir quitt?« Der kleine Mann gackerte, und Adrogans reichte das als Antwort völlig. Wieder hustete Kytrin und eine tiefschwarze Flüssigkeit rann ihr aus dem Maul. Sie erinnerte an schwarzen Speichel und Dunardel erwartete, dass sie auf den Boden tropfte. Ein Faden sank auch etwas über eine
Handspanne abwärts, dann zog er 361 sich wieder zurück. Die gesamte Flüssigkeit floss zurück in ihr Maul, und sie stieß ein gurgelndes Geräusch aus. Ihr Brustkorb verkrampfte sich, sie versuchte zu husten, doch sie brachte nur ein dumpfes, nasses Geräusch zustande, dem ein rasselndes Einatmen folgte. Wieder bäumte sich ihr Körper auf, und ihr Bauch geriet in Krämpfe, als wolle sie sich übergeben. Doch nichts kam, und als sich ihre Brust wieder zusammenzog, bemerkte Dunardel, dass sich etwas Stacheliges von innen gegen die Haut drückte. Die Beule erschien am unteren Ende des Brustbeins und der Vorqadf fand, dass sie aussah wie ein Fuß. Die Farben in den Augen des Drachen wirbelten immer schneller, doch die Blau- und Grüntöne waren nicht mehr als deutlich erkennbare Muster getrennt, sondern verschwammen ineinander. Einen Augenblick lang herrschte die eine Farbe vor, dann eine andere, wie Wolkenschleier, die über den Himmel zogen. Kytrin riss mit den Krallen noch immer sich selbst, dann ertönte ein lautes Krachen und ihr ganzer Körper bäumte sich auf. Ein Schlag ihres Schwanzes zerkrümelte einen Teil des Bodens. Ein erneutes Krachen erklang, und ein drittes, gedämpft, aber zunehmend deutlicher. Noch einmal schlug der Drache um sich, dann flog eine der Schuppen auf Kytrins Brust davon. Eine weitere Beule lockerte weitere Schuppen, dann brach mit einem donnernden Krachen das Brustbein. Schuppen flogen durch die Luft und ihre fahle Haut teilte sich um einen milchig weißen Edelstein, etwa von der Größe einer Melone und deutlich eiförmig. Eine kleine Hand, grau, aber gut erkennbar, mit fünf Fingern und Fingernägeln, stieß ihn aus ihrer Brust. Das Loch wurde breiter, als eine zweite Hand daran riss, dann purzelte mit einem Schwall aus dunklem Schleim eine kleine, flinke Gestalt sich überschlagend hinaus und landete triefend auf den Füßen. »Will!« Sayces Aufschrei traf taube Ohren aus Stein. Der Norderstett drehte sich um und hielt den Stein hoch, damit Kytrin ihn 362 sehen konnte. Ihre Augen wurden groß, und der Strudel der Farben verlangsamte sich, als seine Finger sich streckten und sich wie Efeu auf einem Baumstamm um den Stein legten. Der Norderstett hob den Stein noch höher und Kytrin schrie auf. Ein Knistern und Bersten kündigte die ersten Risse an, dann drückte der Norderstett fester zu und Kytrins Wahrstein verging als Schauer bunt schillernder Bruchstücke. Ermenbrecht griff neben den Sattel und zog mit der Linken den Vierschüsser, als Tyhtsai den Morgenstern schwang. Sie schaute ihn mit leeren Augen an, als wollte sie ihn einladen zu feuern, doch er schüttelte den Kopf. Seine Fersen gruben sich in die Flanken des Streitrosses, es sprang vorwärts und stürmte auf das entsetzliche Reittier der Sullanciri zu. Er setzte an, links daran vorbeizupreschen, doch im letzten Augenblick warf es sich in seinen Weg. So groß und schwer der Temeryx der Sullanciri auch sein mochte, verglichen mit einem voll gepanzerten Streitross war er kein ernsthaftes Hindernis. Ermenbrechts Pferd rammte ihn mit der Schulter. Knochen brachen, und die Frostkralle wurde beiseite geschleudert. Tyhtsais Morgenstern peitschte herum, aber die unerwartete Bewegung ihres Reittieres riss sie im Sattel nach hinten, und die stachelbewehrte Kugel zuckte über Ermenbrechts Kopf hinweg. Nicht aber über seinen hoch gehaltenen Vierschüsser. Die Kette des Morgensterns wand sich um die Waffe, und Tyhtsai riss daran. Ob sie ihre Hand befreien oder ihm die Draconette entreißen wollte, wusste der Prinz nicht, es war ihm auch gleich. Jedenfalls wurde die Waffe dadurch in Schusslinie mit ihrem Körper gebracht, und sobald die Mündung genau auf ihre Brust zeigte, drückte Ermenbrecht ab. Genau wie bei Anarus reichte die Metallkugel auch bei Tyhtsai nicht aus, um die Sullanciri zu vernichten, warf sie aber immerhin aus dem Sattel. Ermenbrecht hielt den Vierschüsser fest, dann hieb er mit Krön zu. Die Zauberklinge durchtrennte die Quecksilberkette. 363 Das abgetrennte Armstück um den Vierschüsser tropfte zu Boden und floss auf die Sullanciri zu. Sehr bald würde es Tyht-sai erreicht haben und sich wieder mit ihr verbinden. Ermenbrecht dachte nicht daran, ihr so viel Zeit zu lassen. Er riss das Pferd herum und schlug zu, traf den Rücken der Sullanciri, knapp unter dem rechten Schulterblatt. Krön schnitt durch ihren Leib und wirbelte sie herum. Tyhtsai prallte von einem anderen Pferd ab, ging aber nicht wieder zu Boden. Mit einer schnellen Bewegung des Handgelenks hieb ihr Ermenbrecht den Kopf ab. Die Nähte, die ihn am Körper hielten, lösten sich, und er flog wirbelnd davon. Während er durch die Luft taumelte, spannte sich die Haut und alterte schnell, platzte über den Knochen auf, dann flog sie wie verbranntes Pergament davon. Der Schädel krachte zu Boden und hinterließ eine Spur von weißem Knochenstaub auf dem Schlachtfeld. Im Westen und Osten krachten Draconellen. Als die Saporischen Kronreiter um den westlichen Graben preschten und Donnerkugeln im Wald explodierten, sah Alyx eine neue Reitereinheit auf dem Feld erscheinen. Auf diese Entfernung brauchte sie einen Augenblick, deren Emblem zu erkennen. »Kräh, das ist die Alcidische Throngarde. Das ist Caro an der Spitze.«
Kräh lächelte. »Dann ist das also Adrogans dort unten. Er hat nicht nur Draconellen, seine Leute wissen auch damit umzugehen. Aber sieh dir ihre Pferde an.« Sie nickte. Noch während die katzengleiche Sullanciri hinab zum Wald jagte, donnerte die Alcidische Throngarde auf riesigen Rössern heran, die schneller waren als alles, was sie je gesehen hatte. Hinter ihnen folgten die Jeranser Throngarde, die Valischen Weißmähnen und die Savaresser Ritter. Sie galoppierten auf die Nordseite der Festung zu. Dort gab es eine Draconellenbatterie, die auf sie feuern konnte, aber sie jagten mit einer solchen Geschwindigkeit heran, dass die Aurolanen kaum mehr als eine einzige Salve abgeben konnten, bevor die Kavallerie sie erreichte. 364 Auf den linken und rechten Flügeln strömte die Infanterie vorwärts. Das Schiff, das auf dem See aufgetaucht war, feuerte eine zweite Breitseite in die aurolanischen Reihen ab. Dahinter traten die ersten Einheiten bereits den Rückzug an. Eine bei Nefrai-kesh stehende Gestalt trat ein Stück beiseite. In einem goldenen Lichtschimmer verschwand sie, und an ihrer Stelle erschien ein Drache. Der schwarze Drache, mit grünen Flügelmembranen und Bauchschuppen, hob den Kopf, kreischte und flog auf. Er schwang sich nach Norden und schwenkte dann nach Osten ein. Ein kurzer Feuerstoß, und die abziehenden aurolanischen Einheiten marschierten zurück zur Front und andere drängten ermutigt nach vorn. Der Drache schlug mit den Flügeln und flog über das Schiff hinweg. Er neigte träge eine Schwinge, um erneut zu drehen. Bevor Alyx den Befehl geben konnte, rannte Arimtara schon die Bergkuppe entlang und sprang vom höchsten Punkt ins Tal. Sie breitete die Arme aus, die sich in Flügel verwandelten. Ihr Körper folgte augenblicklich. Sie glitt flach über Ermenbrechts Truppen, dann zog sie hoch. Erst als sie den aurolanischen Drachen erreichte, wurde deutlich, wie klein dieser war. Arimtara stieß einen rotgoldenen Feuerstoß aus, der den schwarzen Drachen genau zwischen den Flügeln traf. Der Angriff schleuderte ihn zur Seite, ein Flügel lahmte. Er versuchte geradezuziehen, doch sein Schwanz traf auf das Wasser. Unfähig, Höhe zu gewinnen, schlug er mit einem donnernden Platschen auf dem See auf. Arimtara kreiste über ihm und redete in einer zischenden Sprache auf ihn ein, deren Ton bereits mehr aussagte als so mancher menschliche Redner mit ellenlangem Wortschwall fertig gebracht hätte. Alyx blickte zu Kräh. »Jetzt, Geliebter. Es ist so weit.« Sie winkte einem Trompeter, und die Truppen im Zentrum ihrer Linien rückten vor. Gyrkyme griffen die mittleren Draconellenbatterien an. Sie schleuderten Flammhähne, die zum größten Teil harmlos vor oder auf den Dächern über den Batterien abprallten. Da stieß ein Gyrkymu herab und flog das Ziel flach 365 an. Er zog erst im letzten Moment hoch und schleuderte den Flammhahn flach wie einen Kiesel auf dem Wasser, so dass er am Rand der Batteriestellung explodierte. Beim Aufsteigen wurde der Gyrkymu von einem halben Dutzend Pfeilen durchbohrt, doch noch eine zweite, weit heftigere Explosion erschütterte die Batterie. Der sich ausdehnende Feuerball löste eine Kettenreaktion aus, die das Dach auseinander riss, Schnatterer durch die Luft wirbelte und eine Draconelle brennend den Hang hinabrollen ließ, genau auf Alyx' angreifende Truppen zu. Die Infanterie rückte so schnell sie die Füße trugen vor, Alyx, Kräh und die Aleider Eisenreiter nutzten die Lücke, um an ihr vorbeizupreschen. In gestrecktem Galopp donnerten sie durch das Flussbett und den Hang hinauf. Sie hielten leicht nach Westen und benutzten das Feuer und den Qualm zum Schutz gegen die Geschütze der noch intakten Batterie. Dann ritten sie durch die Schneise, die durch die Explosion in der aurolanischen Verteidigung entstanden war. Die schwere Reiterei brach durch. Die Explosion hatte eine Menge Aurolanen in Angst und Schrecken versetzt. Niemand war mehr auf seinem Posten. Alyx hieb nach Leibeskräften um sich und bahnte sich den Weg durch die wimmelnden Schnatterer. Die Turekadein versuchten nach Kräften, die Verteidigung zu ordnen, doch zu viel passierte gleichzeitig. Im Westen und Osten hatten die befehlshabenden Sullanciri ihre Posten verlassen. Die von Norden angreifende Kavallerie forderte Aufmerksamkeit und die Verlegung der Truppen, die von der Explosion der Draconellen auf der Bergkuppe überrascht worden waren. In diesem Getümmel konnten sich die Turekadein die Kehle heiser brüllen. Die meisten Aurolanen, die sich in der Nähe der Explosionen aufgehalten hatten, konnten sie ohnehin nicht hören, geschweige denn, dass sie gehorchten. Die verstreuten Fußtruppen des Nordens fielen schnell zurück. Vermutlich würden die Barden später berichten, sie wären wie reife Weizen unter der Sense gefallen, dachte Alyx bei sich, doch der Vergleich war zu sauber. Weizenhalme 366 schrien nicht, wenn ein abgeschlagener Arm nur noch an ein paar Sehnen hing. Sie bluteten nicht, winselten nicht, und ganz sicher sprangen sie keinen Krieger an, zerrten ihn aus dem Sattel und rissen ihm die Kehle auf. Aber es war wohl ein ehernes Gesetz, dass Barden den blutigen Wahnsinn des Krieges mit gesetzten, vernünftigen Worten umschrieben. In der Mitte der Ebene, in einem seltsam leeren Rund wartete Nefrai-kesh mit gezogenem Schwert. Brennende Bruchstücke der Draconellenbatterie umgaben ihn wie die Bittkerzen in einem aleidischen Ahnenschrein. Weder der Schein ihrer lodernden Flammen noch das Sonnenlicht drangen durch den Schatten seiner Maske, noch warf er selbst - erstaunlich genug - einen Schatten.
Alyx sah, wie Reiter ihre Pferde in seine Richtung lenkten. Sie senkten die Lanzen, ihre Sporen kosteten Blut, doch sechs Schritt um den Sullanciri endete ihr Angriff mit einem Schlag. Pferde scheuten mit weit aufgerissenen Augen und schäumendem Maul. Schnatterer machten einen großen Bogen, selbst wenn sie blindlings auf der Flucht waren. Reiter, die ihre Pferde verloren hatten, krümmten sich, wenn sie den Rand dieses Bannkreises erreichten, als hätte er ihnen das schwarze Schwert in den Leib gerannt, auf das er sich stützte. Sie zog das Pferd herum und stürmte gegen die unsichtbare Mauer an. Als sie näher kam, verkrampfte sich ihr Magen, die Hände fingen an zu zittern. Das Pferd wehrte sich gegen sie und wollte scheuen. Alyx trieb ihm die Fersen in die Flanken, um es weiterzutreiben, doch auch ihr selbst stieg die Galle in den Mund. Der Sullanciri ragte überlebensgroß vor ihr auf, düster und schrecklich, Verderben ausstrahlend. Sie riss die Zügel zur Seite und drehte ab, sah nur aus dem Augenwinkel Kräh weiterpreschen. Nefrai-kesh hob den Kopf. Weiße Augen in einem schwarzen Gesicht. Kräh ritt in den Bannkreis und sprang aus dem Sattel. Sein Pferd schoss wie von Furien gehetzt davon. Alyx' Geliebter hob Alarien zum Salut, dann senkte er das Schwert. »Worum du mich einst gebeten hast, das werde ich heute tun.« 367 »Schade, dass du es damals nicht getan hast. Hättest du zugestoßen, weder du brauchtest hier heute zu sterben noch sie.« Kräh schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass das nicht stimmt. Die Schuld für das, was hier geschah, in Okrannel und überall sonst, liegt nicht bei mir. Sondern bei dir und deiner Herrin.« Der Sullanciri nickte, dann hob er seinerseits das Schwert zum Salut. »Schade, dass unser Schwertmeister nicht hier ist, um uns zu sehen.« »Hast du ihn so wenig geschätzt? Würdest du es ihm zumuten zuzusehen, wie wir einander töten?« Nefrai-kesh zögerte. »Der Mann, der ich einst war, versteht diese Frage. Die Kreatur, die ich jetzt bin, kann das nicht.« Die beiden Männer traten aufeinander zu. Alyx bemerkte in ihren Bewegungen Übereinstimmungen. Man hätte meinen können, sie seien beide vom selben Fechtlehrer ausgebildet worden, aber das war nur ein Teil der Antwort. Die Kinnpartie, die Augen, die Proportion der Gliedmaßen. Sie waren keineswegs gleich, allein die Ähnlichkeit war groß genug, um die Blutsverwandtschaft unübersehbar zu machen. Beide bewegten sich mit derselben grimmigen Sparsamkeit und der über Jahrzehnte für diese Begegnung aufgebauten Energie. Schwerter blitzten. Das Silber Alariens begegnete dem Schwarz der Sullanciriklinge mit einem hallenden Klirren. Kräh parierte einen Hieb nach seinem Kopf, lenkte ihn ab und stieß zu. Nefrai-kesh zog die linke Schulter zurück und wich Alariens Spitze aus, dann zuckte er mit dem Handgelenk und riss das Schwert zu einem Tiefschlag nach unten. Kräh sprang über den Hieb, dann trat er mit dem rechten Fuß zu. Er traf Nefrai-kesh an der Brust und trieb den Sullanciri zwei Schritte zurück. Der Schatten auf seiner Brust verschlang den staubigen Stiefelabdruck. Kräh landete in der Hocke, so dass ein neuer Schwerthieb über seinen Kopf pfiff, dann stand er zu einem weiteren Ausfallschritt auf. Nefrai-kesh parierte den Schwertstoß weit ausholend, dann rammte er Kräh den Knauf seines Schwertgriffs gegen die Stirn. 368 Kräh wirbelte davon. Aus einer Wunde über dem linken Auge lief ihm Blut übers Gesicht. Er hob die linke Hand, betastete die Verletzung und schmierte sich das Blut über die Wange. Dann rückte er den Helm zurecht und stürzte sich erneut auf seinen Bruder. Stich, Parade, Konter und Riposte folgten so schnell aufeinander, dass Alyx nur die Bewegung der Körper verfolgen konnte. Die Klingen verschwammen zu einem unauflösbaren Funkeln. Kräh bewegte sich entschlossen und kraftvoll, erinnerte beim Angreifen an eine zustoßende Schlange. Nefrai-kesh hielt sich zurück, floss wie ein Schatten durch den Kampf, ließ die Attacken kommen, wich ihnen nicht weiter aus als unbedingt erforderlich, setzte dann seinerseits zum Angriff an. Kräh blockte alle Konter ab und verschaffte sich Zeit zur Riposte, doch immer wieder konnte ihm der Sullanciri ausweichen. Dann sah Alyx es. Nefrai-kesh sprang mit einem langen Ausfallschritt vor und Kräh beugte sich zurück, um dem Stoß auszuweichen. Beide Hände um Alariens Heft gelegt, schwang er das silberne Schwert herum und nach unten, traf den Sullanciri am rechten Unterarm. Er schnitt ein Stück vom Mantel ab und durchtrennte den Ärmel. Der Hieb hätte die Hand sauber ablösen müssen, aber irgendwie hielt Nefrai-kesh das Schwert fest und die Hand mit dem Arm verbunden. Er teilte mit links einen offenen Hieb aus und traf Kräh über dem Ohr. Der flog in die eine Richtung, sein Helm in die andere. Kräh ging in die Knie, dann wirbelte er in einer Staubwolke herum und lenkte einen waagerechten Schwerthieb nach oben ab. Sein Gegenangriff zog die Klinge durch die rechte Hüfte des Sullanciri. Ein Teil von Nefrai-keshs Gürtel flog davon, die Scheide an der gegenüberliegenden Seite fiel zu Boden, aber Kytrins Kreatur blieb noch immer unverletzt, als sie zurückwich und den Schwertgurt beiseite trat. Kräh stand auf und wischte sich Blut aus dem Gesicht. »Das kann nicht sein.« Der König der Sullanciri lachte kalt und leise. »Wirklich nicht? Temmer war der Untergang ihrer vorherigen Dunklen 369 Lanzenreiter. Warum sollte sie uns nicht gegen seinen Biss immun machen?«
»Könnte sie das tun, warum hat sie euch dann nicht gegen alle magischen Waffen gefeit?« Nefrai-kesh zuckte die Achseln. »Sie ist mächtig, aber nicht allmächtig. Sie gibt uns, worum wir sie bitten. Ich habe mir gewisse Unverwundbarkeiten gewünscht und erhalten. Ich bedaure, dass dies deinen Tod bedeutet.« Kräh spuckte aus. »Du bedauerst nichts dergleichen.« »Wie wahr.« Nefrai-kesh stürzte sich auf ihn, hieb hoch und tief, stieß blitzartig zu, sein Mantel war ein wirbelnder Schatten. Der Sullanciri griff ohne Angst vor Verletzung an und Kräh hatte alle Mühe, ihn abzuwehren. Er blockte und parierte, zu mehr kam er aber nicht. Selbst wenn es ihm gelang, den Sullanciri zu entwaffnen, was dann? Sein Schwert konnte ihn nicht töten. War Nefrai-keshs eigene Waffe dazu in der Lage? Kräh focht mit dem Mut von tausend Helden. Er parierte Nefrai-keshs Abwärtshiebe, lenkte dessen schwarze Klinge in den Boden und trieb ihn mit Fußtritten zurück. Allein dass Kräh ihn berühren konnte und seine Tritte Wirkung zeigten, ließ Alyx hoffen, doch konnten Ellbogenstöße und Tritte dem Sullanciri keinen ernsthaften Schaden zufügen. Die Sullanciri generell waren erstaunlich widerstandsfähig, und selbst wenn die Treffer Nefrai-kesh weh taten, erholte er sich schnell davon. Ihre Gedanken rasten. Sollte man Nefrai-kesh mit magischen Waffen nicht verletzen können, traf vielleicht das Gegenteil zu und normale Waffen vermochten es. Dass er Krähs Fausthiebe, Ellbogenstöße und Tritte spürte, sprach für diese Annahme, trotzdem war sie nicht überzeugt. Eine so umfassende Verwundbarkeit hätte Nefraikesh für Kytrin nutzlos gemacht. Ganz abgesehen davon, dass er in diesem Fall schon längst tot gewesen wäre. Es musste etwas anderes sein, womit Kräh ihn verletzen konnte. Aber was? Ihr Blut oder noch etwas völlig anderes? 370 Nefrai-kesh zielte einen Rückhandschlag auf Krähs Kopf. Der weißhaarige Krieger duckte sich halb, halb wirbelte er davon. Das schwarze Schwert schnitt durch das Kettenhemd über seiner Schulter, nahm Wams, Haut und Muskelgewebe mit. Dann traf es Krähs Kopf beinahe mit der Breitseite. Die Schneide trennte die obere Hälfte des Ohrs ab, verletzte die Kopfhaut und hatte noch genug Schwung, ihn von den Füßen zu reißen. Kräh taumelte durch die Luft und krachte hart mit dem Rücken auf den Boden. Er schüttelte den Kopf, um wieder klar zu werden, und verspritzte Blut aus der Kopfwunde, dann starrte er zu seinem Bruder hoch. Nefraikesh ragte über ihm auf, das Schwert hoch erhoben, um es Kräh durch die Brust zu bohren. Der Sullanciri schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich dachte, von allen Menschen würdest du mich gut genug kennen, um mich zu töten.« »Das tue ich auch.« Krähs linke Hand schloss sich um ein brennendes Trümmerstück. »Ich erinnere mich. Ein Ritter vom Phönix muss brennen.« Er sprang auf und bohrte das spitze Stück Holz in Nefrai-keshs Bauch. Der Sullanciri zuckte zurück, warf das Schwert weg. Er schaute nach unten auf den brennenden Pfahl in seinem Fleisch. Einen Pulsschlag lang beleuchteten die Flammen sein Gesicht und Alyx las die Überraschung darauf. Dann veränderte sich sein Ausdruck. Er wurde heiter. Seine Augen schlössen sich und Nefrai-kesh verwandelte sich in eine Flammensäule. Kräh rollte sich weg, dann brach der Bannkreis zusammen. Alyx gab ihrem Ross die Sporen, beugte sich hinab, packte Kräh am Arm und zog ihn hinter sich in den Sattel. Ihr Pferd galoppierte davon, einen Augenblick bevor die lodernde Gestalt explodierte. Die Aleider Eisenreiter sammelten sich um sie, die Aurolanen hatten jedoch bereits die Flucht ergriffen. General Caro und Adrogans' Kavallerie hatten von Norden her den Berg gestürmt 371 und jeden Widerstand gebrochen. Jetzt richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf den Ostgipfel. Jenseits des Berges befanden sich die Aurolanen in heilloser Flucht nach Norden, an den Aschehaufen vorbei, den Überresten der ersten Deserteure. Kräh klammerte sich von hinten an Alyx. »Es ist vorbei, Geliebte.« »Falls jetzt noch nicht, Kräh, dann bald. Sehr bald.« Alyx hob Herz und deutete nach Osten. »Folgt mir, Krieger des Südens. Es wartet Arbeit auf uns.« Der Norderstett stand in einem Kreis von Edelsteinsplittern. Er senkte steif die Arme, wie er es getan hatte, als er noch größer gewesen war. Seine Augen waren noch immer nur glühende Punkte in dem Gesicht, aber zumindest hatte er jetzt ein Gesicht. Er lächelte beim Aufschauen. Kein breites Lächeln wie das von Will, aber immerhin ein Lächeln. Sayce rannte zu ihm und umarmte ihn. Harts Gesichtsausdruck verriet keine Überraschung, doch seine Arme hoben sich nur zögernd, um sie einzuschließen. Dunardel las jedoch keinen Widerwillen aus diesem Zögern, sondern eher Angst, eine so zerbrechliche Kreatur wie einen Menschen zu verletzen. Seine Arme und Hände wurden glatt wie Flusskiesel, als er ihren Rücken streichelte. Sayce löste sich. Tränen benetzten ihr Gesicht und seine Brust. »Ich weiß, du bist nicht der Will, den ich liebe, doch du sollst wissen, dass es unserem Kind nie an Liebe oder Frieden mangeln wird. Und es wird sich nie fragen, was für ein Mann sein Vater war. Komm mit uns. Nach Muroso. Ich möchte, dass du bei uns lebst.« Dunardel trat zu ihr und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Prinzessin, ich glaube, jetzt denkt Ihr zu weit in die Zukunft.«
Sie schaute zu ihm auf. »Wovon redest du? Glaubst du, mich kümmert, was die Leute über den reden, den ich zum Prinzgemahl wähle?« Der Vorqeelf schüttelte den Kopf. »Nein, Hoheit, sicher 372 nicht. Aber wir sind hier noch in Kytrins Festung und haben sie soeben getötet. In etwa der Zeit, die wir zurück zum Eingang brauchen, werden die Magiker aus dem Konservatorium eintreffen, es sei denn, sie warten auf die Truppen, die wir am Rand des Tals gesehen haben. Und wer weiß, wie viel andere Kreaturen hier noch lauern, die uns ganz sicher nicht freundlich gesinnt sein werden.« Isaura nickte, während sie sich aufsetzte. »Entschlossen hat Recht. Sie hat mir einmal gesagt, selbst wenn sie sterben sollte, kämen andere Kräfte ins Spiel, um ihre Pläne zur Vollendung zu bringen.« Trawyn runzelte die Stirn. »Wir wollen hoffen, Alexia ist mit ihnen fertig geworden.« »Ich glaube gar nicht, dass sie dabei von ihren Armeen sprach.« Dunardel hob die Hände. »Darüber, was sie gemeint haben könnte, sollten wir später debattieren. Jetzt müssen wir von hier fort. Wie machen wir das, Isaura?« Sie schüttelte den Kopf. »Durch die Höhlen vielleicht, aber dort leben die Grychoöka. Entweder das, oder auf demselben Weg, auf dem wir gekommen sind.« Trawyn drehte sich zum Eingang des Großen Saals um. »Wir haben Besuch.« Dunardel seufzte. »Wir müssen hier weg. Geht voran.« Isaura nickte und stand auf, dann führte sie die Gruppe in die hintere Ecke des Saales. Sie berührte eine Felsschnitzerei und eine schmale Geheimtür öffnete sich. Sie traten hindurch und stiegen eine Wendeltreppe hinauf, bis sie eine weitere Tür erreichten, durch die sie einen großen Raum betraten, an dessen gegenüberliegender Seite es Fenster gab, die einen Ausblick über das Tal boten. Isaura berührte zwei andere Steine neben der Tür. Einer davon schloss diese. »Der Stein hier weckt Schutzzauber, die uns eine Weile Sicherheit verschaffen.« Sie ging quer durch das Zimmer voraus zu einer Doppeltür. Sie schwang die Türflügel auf und winkte sie hinaus auf den Balkon. 373 Dunardel trat als Erster nach draußen, und der Anblick raubte ihm den Mut. Eine dunkle Linie Schnatterer zog sich über die schneebedeckte Ebene. »Mindestens zwei Regimenter. Nach Ferxigos Tod muss Eure Mutter sie vom Pass zurückbeordert haben.« Trawyn trat neben ihn und schaute hinab. »So gut du auch bist, Entschlossen, hier bringst du uns nicht heraus.« »Ich weiß.« Er lächelte schief. »Ich wette, trotz Eurer Vorurteile hättet Ihr nichts dagegen, jetzt auf ein Geschwader Gyrkyme zu treffen, die kommen, um uns davonzutragen.« Sayce schnaubte. »Es brauchten gar keine Gyrkyme zu sein. Mir würden schon Adler reichen.« »Mir würden Krähen genügen.« Trawyn schmunzelte, aber ihre Belustigung hielt nicht lange an. »Was meinst du, wie der Krieg im Süden läuft?« »Gut, hoffe ich.« Dunardeis Lächeln wurde breiter. »Wäre Kräh jetzt hier, könnten wir uns den Weg freikämpfen.« »Ich bin sicher, du hast Recht.« Sayce rieb sich den Bauch. »Im Süden werden sie doch merken, dass wir Erfolg hatten?« »Ich nehme es an.« Der Vorqaelf schaute sich zu Isaura um. »Wisst Ihr, wo Eure Mutter ihre Drachenkronenstücke aufbewahrt?« »In diesem Zimmer. Ich hole sie.« Er schüttelte den Kopf. »Legt nur ein paar böse Zauber über das Versteck, damit die Untertanen Eurer Mutter sie nicht stehlen.« »In Ordnung.« Bevor Isaura sich bewegen konnte, glitt ein dunkler Schatten über den Turm der Festung. Riesige Schwingen breiteten sich aus und ein schwarzer Drache segelte abwärts. Er streckte den Kopf zum Boden aus, dann zeichnete er sich als schwarze Silhouette vor goldenem Licht ab. Als sich sein rechter Flügel senkte und er wieder zur Festung herauf schwenkte, stieg eine Dampfsäule aus einem kochenden See auf, in dem dunkle Klumpen von Schnattererkadavern trieben. Ringsum ergriffen die noch lebenden Schnatterfratzen panisch die Flucht. 374 Der Drache setzte auf einem kleineren Turm auf und legte die Flügel an. »Du bist Entschlossen. Du warst zusammen mit dem Sprijt auf Vael.« Seine Stimme klang höher und gequetschter, als Dunardel sie in Erinnerung hatte. Auf Vael hatte der Drache allerdings auch in seiner eigenen Sprache gesprochen, die magisch übersetzt worden war. »Und du bist Vriisuroel. Du hast Aurolanen getötet, die uns auf dem Weg hierher auflauern wollten.« Die Lider des Drachen senkten sich halb über die Augen. »Selbst mir wird es gelegentlich langweilig.« »Und was verhindert, dass es dir jetzt gerade langweilig wird?« Vriisuroels Maul blieb einen Augenblick offen. Speichel tropfte herab und ätzte sich durch den schwarzen Stein des Turmes. »Ich möchte herausfinden, ob du ein Geschäft eingehst. Die Fragmente hier gegen sicheres Geleit nach Süden.«
Trawyn runzelte die Stirn. »Wenn du weißt, dass die Fragmente hier sind, warum zerstörst du nicht einfach den Turm und durchsuchst die Trümmer?« »Möchte Trawyn von Loquellyn, dass ich mein Angebot überdenke?« Dunardel legte ihr die Hand auf die Schulter. »Wir sind einverstanden, unter einer Bedingung. Du bringst uns in den Süden zu Prinzessin Alexia und ihrem Heer, und du unterstützt mich in einer weiteren Sache.« »Und die wäre?« Dunardel schüttelte den Kopf. »Die Beschäftigung mit dieser Frage wird verhindern, dass du dich langweilst.« Vriisuroel hob den Kopf und schnaubte zwei Flammenzungen in den eisigen Himmel. »Na schön. Gebt mir die Wahrsteine, bastelt ein Reitgeschirr, und wir brechen nach Süden auf.« 375 EPILOG ORIOSA König Swindger sah aus dem Fenster des Thronsaals und beobachtete die auf den Straßen tanzende Menschenmenge. Fackeln und Laternen brannten hell in der Nacht, und an den Kreuzungen loderten trotz der frühen Sommerhitze Freudenfeuer. Gyrkyme hatten schon am Tag nach dem Geschehen die Nachricht von Kytrins Niederlage verbreitet, und seither dauerten die Feiern an. Nun schon eine halbe Woche. Swindger hatte es augenblicklich gewusst, als sie gestorben war. Sie hatte ihn zu einem ihrer Sullanciri gemacht, doch hatte er nicht gewusst, welche Kraft sie ihm verliehen hatte. Erst bei ihrem Tod hatte er es herausgefunden. Bilder und Gedanken, ein Schwall von Macht hatte ihn so unvermittelt überschwemmt, dass er buchstäblich in Ohnmacht gefallen war und zwei Tage im Bett verbracht hatte. Er hatte wie im Fieber gewütet, doch die Ärzte hatten sich das mit seiner Angst vor Ermenbrechts Rückkehr erklärt, statt die fundamentale Veränderung zu erkennen, die in ihm vorgegangen war. Während sein Körper mit dieser Veränderung kämpfte, tat sein Geist das, was Swindger am besten konnte: Er spann Intrigen. Ein Teil des Wissens, das ihm zugeflossen war, hatte Kytrins Leben betroffen. Ihr Leben war, als sie starb, noch einmal vor seinen Augen abgelaufen. Er versuchte, die Einflüsse nicht zu beachten, die sie zu dem gemacht hatten, was sie gewesen war, denn sie langweilten ihn. Aber die Oromisen faszinierten ihn und er erwartete, dass sie sich irgendwie mit ihm in Verbindung setzen würden. Er spielte sogar mit dem Gedanken an eine Reise in den Norden, um zu vollenden, was Kytrin begonnen hatte, allerdings noch nicht jetzt. 376 Seiner Meinung nach war sie gescheitert, weil sie nicht erkannt hatte, wo ihre wahre Stärke lag. Ihre Verkleidung als Tatjana von Okrannel war brillant gewesen und hatte im Süden mehr Chaos und Zwietracht gesät als jedes Militärunternehmen. Nur durch Intrigieren hätte sie den Süden zersplittern und in aller Ruhe nach und nach einnehmen können. Er wollte diesen Fehler nicht wiederholen, und er hatte dabei einen bedeutenden Vorteil, denn er gehörte bereits zum politischen Leben des Südens dazu. Niemand ahnte, dass er ein Sullanciri war, also würde ihn niemand deswegen fürchten. Tatsächlich hatte sein Reich eine nicht unerhebliche Rolle beim Sieg über Kytrin gespielt, und manch einer würde um seine Gunst wetteifern. Ermenbrecht mochte ein Hindernis sein, aber Swindger wusste, dass sein Ältester eigentlich kein Verlangen verspürte, Oriosa zu regieren. Ich werde anderen Königen meine Unterstützung anbieten, und sie werden im Gegenzug meinen Vorschlag unterstützen, Ermenbrecht zum neuen Markgrafen Draconis zu ernennen. Swindger lächelte. Sobald er sich von seiner Umgestaltung erholt hatte, hatte er über Arkantafal eine Nachricht an die anderen gekrönten Häupter der Welt gesandt und sie zu einer Nachfolgekonferenz des Treffens in Narriz nach Meredo eingeladen, um darüber zu entscheiden, wie es nach Kytrin weitergehen solle. Er hatte darauf hingewiesen, dass die Frage der Drachenkrone ebenso einer endgültigen Lösung bedurfte wie die politische Lage in Sebtia, Noriva und Muroso. Alle drei Reiche konnten entweder wiederaufgebaut oder geteilt werden, und eine Konferenz zur Verteilung der Beute ließ sich bestimmt niemand entgehen. Und wenn ich sie erst alle hier versammelt habe... Er spielte mit dem Ring an seinem Finger und fühlte nur ein wenig Feindseligkeit von ein paar Unruhestiftern irgendwo in der Stadt. Mit der Macht, die ihm Kytrin verliehen hatte, könnte er sie leicht aufspüren. Je nach Entfernung und Willenskraft hätte er ihre Gedanken sogar so weit beeinflussen können, um sie in den Selbstmord zu treiben. 377 Doch das wäre eine zu triviale Verwendung seiner Macht gewesen. Sobald er die Monarchen versammelt hatte, konnte er sie dazu bringen, einander zu hassen. Überall im Süden würden Kleinkriege ausbrechen. Wenn er seine Karten richtig ausspielte, schwächten sich die übrigen Fürsten gegenseitig, und er konnte sich ein Imperium aufbauen. Sobald mir das gelungen ist, wird die Entscheidung über die Befreiung der Oromisen allein bei mir liegen. Sie werden mich als zäheren Verhandlungspartner kennen lernen als Kytrin. Er wandte sich vom Fenster ab und bemerkte in den Schatten auf der anderen Seite des Zimmers eine Bewegung. Etwas schwirrte durch die Luft, dann traf ihn der Klingenstern in die Brust. Ein Zacken brach ihm das Brustbein und bohrte sich ins Herz. Das Metall zerfetzte das Gewebe und das Gift auf den Klingen breitete sich im ganzen Körper aus. Er fühlte es in seinen Adern brennen. Sie weichten auf und das Blut drang durch ihre Wände. Swindger erkannte beiläufig, dass er - wäre er noch sterblich - tot gewesen wäre, bevor er die Waffe entfernen konnte. Noch während er an dem Stern zupfte, zog er verächtlich die Lippen zurück und knurrte die aus den
Schatten tretende Gestalt mit gefletschten Zähnen an. »Das kann mir nichts anhaben.« Entschlossen zuckte die Achseln. »Das sollte es auch nicht. Es sollte nur deine Aufmerksamkeit erregen. Jetzt, da ich sie besitze, werde ich dich töten.« Swindger schnaubte: »Du narrst mich. Du willst etwas. Das rote Fragment, ist es das?« Der Vorqaelf zog das Schwert. »Nein, das finde ich dank Kjarrigan auch ohne dich, und ich werde mich von einem Drachen hinfliegen lassen, so wie ich auch hierher gekommen bin. Genauso wie du dank Kjarrigan glaubst, ich würde dich narren, weil der Ring dir nicht sagt, dass ich dir feindlich gesonnen bin.« Swindger blickte auf den Ring, während er den Klingenstern aus seiner Brust zog. Blut spritzte auf den Ring, dann schloss sich die Wunde. »Das ist unmöglich.« 378 »Keineswegs. Die Vilwaner haben den Ring so bearbeitet, dass er mich nicht wahrnimmt.« Er sprang vor und Syverce bohrte sich durch den blutfleckigen Riss in Swindgers Wams. Der König wich zurück, versuchte, von der Klinge wegzukommen, doch Entschlossen folgte ihm und hielt die Waffe in Swindgers Brust, als der zu Boden stürzte. Entschlossen stand über ihm. »Es ist mehr als einfach nur Mord. Kytrin hat ihrer Tochter gesagt, sie habe Vorkehrungen getroffen, ihre Herrschaft für den Fall ihres Todes fortzusetzen. Du warst die nahe liegendste Wahl.« Er zuckte die Achseln und drehte das Schwert in der Wunde. »Nicht, dass ich dich nicht ohnehin getötet hätte, aber jetzt kann ich es ohne Bedenken genießen.« Swindger öffnete den Mund, doch statt Worten drang ein Blutschwall hervor. Der Vorqeelf schüttelte den Kopf. »Ich nehme mal an, dass deine letzten Worte nicht dir, sondern deinem Erben gelten. Ich werde deine Leiche hier nicht zurücklassen, wo er sie finden könnte. Du wirst einfach verschwinden. Nur wir beide werden wissen, was geschehen ist. Wenn du glaubst, dein Volk würde sich jetzt schon freuen, stell dir vor, wie begeistert sie erst König Ermenbrecht empfangen werden.« VlLWAN Kjarrigan Lies erreichte Vilwan auf dem Rücken von Vriisuroel. Sein Erscheinen schien bis auf den Großmagister alle Bewohner der Insel zu überraschen. Als er und Rymramoch im Hof vor dem Alabasterturm des Großmagisters absaßen, erschienen zwei violett berobte Adepten, die Kjarrigan noch nie gesehen hatte, und führten sie in den Turm. Sie boten ihnen Erfrischungen an und baten sie, im Vorzimmer zur Ratskammer der Magister zu warten. Als die beiden fort waren, lächelte Kjarrigan und schaute zu seinem Drachenmentor hin. »Was würde Entschlossen tun?« 379 Rymramoch lachte und schnippte behandschuhte Finger in Richtung der massiven Bronzetüren der Kammer. Sie knallten wie dünne Schleier in einer Sturmbö, dann erstarrten sie völlig verformt und halb um die Säulen gewunden, die ihnen am nächsten lagen. Kjarrigan trat in den Saal und betrachtete die hier versammelten Männer und Frauen. Die Kuppeldecke der Kammer wurde von zwölf Säulen getragen, einer für jede der zwölf Sektionen des Bodens. Jede der acht magischen Disziplinen war durch eine eigene Sektion vertreten, hinzu kamen zwei für den Großmagister und je eine für die Magister Personal und Unterdrückung. Keiner von ihnen schien erfreut, ihn zu sehen, aber weder der Magister Kampf noch der Großmagister ließen sich dieses Unbehagen länger als einen kurzen Augenblick anmerken. Der greise alte Mann auf dem Thron des Großmagisters hob die offenen Hände über die gebeugten Schultern. »Wir freuen uns über deine Rückkehr nach Vilwan, Adept Lies. Wir haben deine Bemühungen unserethalben mit Freuden zur Kenntnis genommen. Wir sind außerordentlich stolz auf dich.« Kjarrigan fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar. »Ich könnte euch bitten, mir zu verzeihen, was ich jetzt sage, doch ehrlich gesagt ist es mir gleichgültig, was ihr davon haltet. Ich komme aus Oriosa. Ich habe dort ein paar Nachforschungen angestellt. Ich weiß von den Blutmasken.« Die Magisterin Unterdrückung, eine korpulente Frau mit grauem Haar, räusperte sich. »Niemand hier hat die Taten der Blutmasken autorisiert. Dafür trug ausschließlich Magisterin Tadurienne die Verantwortung. Sobald wir erfuhren, was sie getan hatte, wurde sie hierher zurückgebracht, gerichtet und bestraft. Sie ist nun tot.« »Hingerichtet für ihr Scheitern ohne Zweifel, nicht für ihren Einsatz.« Kjarrigan schüttelte den Kopf. »Als ich die Insel verließ, wäre ich vielleicht noch einfältig genug gewesen, euch zu glauben. Inzwischen habe ich dazugelernt. Eine Kompanie Kampfmagiker wandert nicht einfach davon, um zu mor380 den und zu brandschatzen, ohne dass irgendjemand hier etwas davon merkt. Und wenn sich die Fürsten in Meredo versammeln, werden sie davon erfahren. Sie werden erkennen, dass sich Vilwan in die Politik eingemischt und mit einem von Kytrins Sullanciri verbündet hat.« Die Magisterin Unterdrückung hob die Hand. »Nicht so hastig, Adept Lies. Wir haben diese Angelegenheit bereinigt. Es ist nicht notwendig, dass du dem Rat der Könige deine Erkenntnisse mitteilst.« Kjarrigan schüttelte den Kopf. »Du hast nicht zugehört. Ich brauche sie nicht mehr mitzuteilen. Ermenbrecht weiß es bereits. Die Ottermagiker sind selbst darauf gekommen. Sie wissen es und die Fürsten werden es auch bald wissen.«
Der Großmagister kicherte leise. »Wir werden ihnen erklären, was sie wissen, Kjarrigan. Tadurienne war ohne unser Wissen in die Dienste Kytrins getreten. Es gab zwischen ihr und Heslin eine Vorgeschichte.« »Neskartu.« Der junge Magiker nickte. »Ein Magiker, den ihr in den Dienst der Norderstetts gestellt habt, weil ihr schon vor der Prophezeiung wusstet, dass sie besonders waren, richtig? Irgendjemand hat etwas erkannt, und ihr habt Schritte unternommen, die Norderstett-Blutlinie unter eure Gewalt zu bringen.« »Es ging uns darum, sie zu schützen.« Kjarrigans Augen wurden schmal, als sich in seinen Gedanken verschiedene Mosaiksteine zu einem Ganzen formten. »Nein, Gewalt ist schon das richtige Wort. Ich habe mit Kräh gesprochen. Ich kenne die Wahrheit über Kenvin Norderstetts Blutlinie. Ihr habt verhindert, dass sein Vater Kinder zeugen konnte, nicht wahr? Ihr habt ihn unfruchtbar gemacht. Und warum ? Weil ihr weit genug in die Zukunft gesehen habt, um zu wissen, dass dieser Tag kommen würde, falls es einen Norderstett gab.« Der Magister Hellseherei schüttelte den Kopf. »Und welcher Tag soll das sein?« »Der Tag, der Vilwan auf immer verändern wird.« 381 Der Magister Beschwörung knurrte: »Ich habe euch schon vor zwanzig Jahren gesagt, dass wir die Katastrophe nicht dadurch aufhalten können, dass wir unseren eigenen Helden züchten, um den Norderstett überflüssig zu machen.« »Eine Katastrophe für wen?« Kjarrigan deutete nach Osten. »Ihr seid Narren, alle, die ihr hier seid. Vor Jahrhunderten, als euch Kajrüns Schreckensherrschaft um Vilwans Zukunft fürchten lies, habt ihr zugestimmt, euch selbst Fesseln anzulegen, um eure Machtbefugnisse behalten zu dürfen. Doch ihr habt euch nie damit abgefunden. Ihr habt keine Ahnung, was ihr verloren habt, und als die Zeit kam und ihr es wieder brauchtet, habt ihr nicht versucht, alle Magiker aufzuklären: Ihr habt ein paar Menschen genommen und uns in Waffen verwandelt. Warum? Weil ihr uns leicht überwachen konntet, und Wissen lässt sich nicht überwachen. Ich bin nicht eure Marionette. Ihr könnt mich nicht steuern - und euer eigenes Schicksal ebenso wenig.« Die Miene des Großmagisters verdunkelte sich. »Nicht? Wer dann? Du etwa?« »Falls ihr mich dazu zwingt, ja.« Magisterin Unterdrückung lachte. »Zu welchem Zweck würdest du Vilwan beherrschen, Lies ? Glaubst du, als Großmagister gäbe man dir in Meredo ein Mitspracherecht? Glaubst du, die Fürsten würden dir gestatten, alle Fragmente der Drachenkrone zu vereinen, damit du sie zerstören kannst?« »Ja, das wäre ein Punkt. Sie werden es mir gestatten.« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich sage das ohne irgendeine Feindseligkeit, aber sie werden es niemals zulassen. Keiner von ihnen wird dir trauen, gleichgültig, wie viel sie dir für Kytrins Vernichtung schulden, Kjarrigan Lies. Weil sie Angst haben. Sie haben Angst vor dem, was geschieht, wenn du diese Krone zusammensetzt, um sie wieder auseinander nehmen zu können. Du bist der mächtigste Magiker der Welt, möglicherweise Kajrün ebenbürtig. Sie können das Wagnis nicht eingehen, dass du mit der Krone in deiner Hand alle Drachen in deine Gewalt bringst und die Welt in Schutt und Asche legst.« 382 Kjarrigans grüne Augen verengten sich. »Und weißt du, warum das so ist?« Magisterin Unterdrückung zuckte die Achseln. »Sag es mir.« »Es ist so, weil ihr alle Macht auf euch vereint. Ihr habt euch zum Gegengewicht der Monarchen gemacht, daher sehen sie euch, uns, mich, als Gegenspieler, nicht als Bundesgenossen oder Helfer. Ich hoffe für das Wohl der Welt, dass sich deine Vorhersage nicht erfüllen wird.« Magister Hellseherei lächelte. »Das wird sie.« »Dann erwartet mich hier viel Arbeit. Vilwan wird sich ändern, von Grund auf. Wir werden jeden unterrichten, der kommt. Wir werden sie in allen Disziplinen und Stilen der Magik unterrichten.« Magister Kampf, mit nackter Brust, die Hände auf dem Rücken, zog eine Augenbraue hoch. »Stilen?« »Wir werden Teile der verschiedenen Traditionen verbinden. Ölfische Magik, urSreiöi, murosonische, shuskische und sogar hydromantische.« »Hydromantische Magik?« »Ja, Großmagister. Wir haben einen Kader von Magikern, die in Tagostschas Reich ausgebildet wurden. Wir werden sogar die Methoden erforschen, die Neskartu in seinem Konservatorium benutzte.« Der Großmagister schüttelte den Kopf. »Nein, nichts davon ist möglich. Die Könige würden es nicht erlauben, aber das spielt keine Rolle. Wir werden dich hier und jetzt aufhalten. Mit deinen Plänen wirst du den Untergang der Magik heraufbeschwören.« Kjarrigan schnaubte. »Das Einzige, was enden wird, ist euer Würgegriff um die Macht. Ihr könnt mich nicht aufhalten.« Der Großmagister lachte höhnisch und seine Augen leuchteten mit einem arkanen violetten Licht. »Du hast nicht die Macht, dich uns zu widersetzen, und ebenso wenig die Puppe da hinter dir.« Kjarrigan schaute sich zu Rymramoch um. »Du hattest 383 Recht. Es war eine gute Idee, unterwegs auf Vael Halt zu machen. Was würde Entschlossen in dieser Lage tun?« Rymramoch nickte kurz, dann dehnte sich sein Körper weiter aus. Er wuchs zu einer Größe von drei Schritt und
Stacheln bohrten sich durch seine Robe. Krallen zerfetzten die Handschuhe, und von einem rotschuppigen Gesicht mit glühenden Reptilaugen fiel die Maske. Qualm stieg aus den schlitzförmigen Nüstern und elfenbeinerne Fangzähne blitzten, als er nun antwortete. »Ich vermute, Kjarrigan Lies, er würde ihnen unmissverständlich vorführen, wie sehr sie ihre Fähigkeiten überschätzt haben.« »Stimmt.« Kjarrigan ballte die Hände zu Fäusten und spürte, wie ihn die Macht durchströmte. »Versuch, den Schaden an den Gebäuden so gering wie möglich zu halten. Im Gegensatz zu den hier Anwesenden könnten die sich noch als nützlich erweisen.« VORQUELLYN Königin Alexia von Okrannel stand stolz zwischen ihren Mitmonarchen. Als Zeichen der Trauer um ihren Großvater war ihr blaues Kleid an Ausschnitt, Manschetten und Rocksaum schwarz eingefasst. Er war am selben Tag, an dem sie das auro-lanische Heer besiegt hatte, sanft entschlafen. Kräh, Perrine und Preiknosery wussten, dass sie das Schwarz auch für ihren Vater trug, um den Mann zu ehren, der den Thron hätte besteigen sollen, auf den sie nun Anspruch erhob. Der Tag hätte nicht schöner sein können. Die Sommersonne leuchtete hell am wolkenlosen Himmel. Man munkelte, Tagostscha seien gewaltige Summen geopfert worden, um das Meer ruhig und den Himmel klar zu halten, doch sie selbst kannte die Wahrheit. Sie hatte König Ermenbrecht in die Bucht von Saslynnae waten und mit seiner Mutter sprechen sehen. Er hatte sie gebeten, dafür zu sorgen, dass diesen Tag nichts trübe. 384 Alyx jedenfalls hätte nicht froher sein können, auf Vorquellyn und weitab von Meredo zu sein. Die Könige des Südens hatten erst persönlich, später dann durch ihre Gesandten, zwei Monate lang über wichtige und unwichtige Fragen debattiert. Dabei schienen sie kaum zwischen beidem zu unterscheiden, denn über beides stritten sie sich mit gleicher Leidenschaft und Ausdauer. Immerhin einigten sie sich über die trivialen Beschlüsse ohne größere Opfer, doch für die wichtigeren galt dies keineswegs. Die erste und entscheidende Debatte hatte die Zukunft von Muroso und der anderen von den Aurolanenhorden überrannten Reiche betroffen. Nach Nefrai-keshs Niederlage hatte Markus Adrogans den Befehl über die Armee übernommen und es den Fürsten ermöglicht, zur Konferenz nach Meredo zu reisen. Er hatte die Aurolanen aus Sebtia vertrieben und zurück hinter die Boraberge gescheucht. Am Borealpass hatte er eine Garnison zurückgelassen, dann war er zur Festung Draconis zurückgekehrt und hatte dort sein neues Hauptquartier aufgeschlagen. Muroso lag in Trümmern, und mehrere Fürsten wollten es zusammen mit Sebtia zu einem gemeinsamen Protektorat ähnlich der Festung Draconis erklären, als Pufferzone für den Fall, dass eine neue Bedrohung aus dem Norden auftauchte. Zumindest war dies der Vorwand, unter dem sie die Verhandlungen einleiteten. In Wahrheit wollten sie, und das war allen Beteiligten klar, beide Länder kolonisieren und ausbeuten. Ermenbrecht fand eine Lösung, die Murosos Unabhängigkeit bewahrte. Er verheiratete seinen jüngeren Bruder mit Königin Sayce und schwor, das Schwesterreich im Norden mit seiner Armee zu beschützen. Außerdem ließ er wissen, dass er bei Tagostscha über Einfluss verfügte und kein Schiff, das eine Kolonie anfuhr oder verließ, je den Heimathafen erreichen würde. Und so begrüßten die gekrönten Häupter die Wiedergeburt Murosos mit lautem Beifall. Alyx sah ein Stück die Tribüne hinab zu Sayce und Lüdwin. Sie waren ein seltsames Pärchen, aber genau das, was Muroso 385 jetzt brauchte. Sayce verfügte über das energische Wesen, das sie in den Augen des Volkes zur Herrschaft befähigte. Die Geschichte ihrer Gefangennahme, die von der Flucht aus Aurolan und der Rückkehr an der Seite des Norderstett, um Kytrin zu töten, hatte bereits Stoff für mehrere Balladen geliefert, so dass ihre Unsterblichkeit gesichert war. Und Lüdwin hatte erheblich an Selbstvertrauen gewonnen, vor allem, seit er einen neuen Arm besaß. Bei den Freischärlern hatte er ein Talent für Materialbeschaffung und -Verteilung bewiesen, das für den Wiederaufbau eines zerstörten Landes unverzichtbar war. Und er hatte Rauns Spilfair als Wirtschaftsberater verpflichtet, um dessen beträchtliche Handelserfahrung und seine Möglichkeiten zu nutzen. Auch Sebtia sollte wiederaufgebaut werden. Unter den Flüchtlingen hatte sich ein entfernter Verwandter des alten Königshauses gefunden, dem die Krone zugesprochen wurde. Kriegsveteranen hatten als Lohn für ihre Dienste Land in Sebtia erhalten, und viele zogen mit ihren Familien um. Generalin Pandiculia aus Salnia erinnerte sich, dass ihr König sie wegen Befehlsverweigerung verbannt hatte, und zog daher ebenfalls nach Sebtia. Sie wurde Regentin und begann mit dem Wiederaufbau ihrer neuen Heimat, angefangen mit dem Abriss des Staudamms, der die Eirsena zurückhielt. Auch im Vergleich unwichtig erscheinende Fragen wurden ausführlichst debattiert. Nefrai-keshs Rolle bei Kytrins Untergang wurde gerade zu einem Thema, als jemand die Meinung vertrat, er sei der eigentliche Norderstett gewesen, der Kytrins Sturz zu verantworten hatte. Der Verlust Okrannels, die erfolglose Verteidigung Murosos und zuletzt seine Unfähigkeit, einen Valkener zu töten, wurden als Argumente für die Vermutung angeführt, dass er von der Leine gegangen war und gegen seine Herrin gearbeitet hatte. Die Vorstellung tröstete einige, deren Landsleute ebenfalls zu Sullanciri geworden waren. Alyx konnte diese Frage für sich selbst nicht abschließend entscheiden. Er konnte nicht der Norderstett gewesen sein, weil er ursprünglich ein Valkener gewesen war. Trotzdem
386 hätte man sein Handeln als die tätige Mithilfe eines Valkener für einen Norderstett deuten können, der Kytrin vernichten wollte. Immerhin hatte er Sayce das Leben gerettet, und sie hatte sich bei der Vernichtung der Nordlandhexe als wichtig erwiesen. Andererseits hatte Nefrai-kesh die aurolanische Armee weder gegen Kytrin geführt, noch hatte er sich ergeben. Ohne Adrogans' Eingreifen hätte der Süden schweren Schaden genommen. Soweit es Alyx betraf, konnte man darüber endlos streiten. Nur zwei der in Meredo getroffenen Entscheidungen hatten sie wirklich überrascht. Die erste fand Alyx' Beifall, erinnerte sie sich doch noch immer an den Schmerz in Königin Carus' Stimme, nämlich bei dem Vorschlag, Markus Adrogans zum neuen Markgrafen Draconis zu ernennen. Sie hatte darauf hingewiesen, dass er bereits die Festung und das Geheimnis des Feuerdrecks besaß - und sie hatte eine Nachricht von Adrogans verlesen, in der er erklärt hatte, er werde keines von beiden aufgeben, also hatten sich die Monarchen vollendeten Tatsachen gegenübergesehen, die sie mit ziemlich hohlen Reden bestätigten. Die enttäuschende Überraschung betraf die Drachenkrone. Viele leidenschaftliche Reden hatten ihre Zerstörung verlangt, und Rymramoch hatte für die Drachenheit angeboten, die drei Fragmente in deren Besitz freizugeben, sollte sich der Rest der Welt damit einverstanden erklären. Kjarrigan Lies, der neue Großmagister von Vilwan, hatte erklärt, wie das geschehen sollte, und sogar auf die verschiedenen Vorsichtsmaßnahmen hingewiesen, für die er sorgen wollte, um selbst kein zweiter Kajrün zu werden. Aber es hatte alles nichts genutzt. Für einige der Könige war seine Machtergreifung zu gewaltsam gewesen, um ihm zu glauben. Alyx hatte ihn verteidigt, doch es hatte sie nicht überzeugt. Zu viele von ihnen misstrauten ihm. Außerdem träumte mancher Monarch, solange es die Drachenkrone noch gab, weiter davon, eines Tages in ihren Besitz zu gelangen, und das war Grund genug, ihre Zerstörung auf ewig zu verhindern. 387 Für sie war Swindger kein Verbrecher, sondern nur ein Versager. Schließlich behielten die Drachen ihre drei Fragmente und es hieß, sie hätten sie an unzugänglichen Orten versteckt. Von den vier anderen kehrten zwei nach Festung Draconis zurück und eines wurde Tagostscha zur Aufbewahrung übergeben. Das Fragment in Maroths Brust kehrte in die Kommunion zurück, und nur Alyx, Kräh und Kjarrigan wussten von seiner Existenz. Rymramoch konnte die Drachen unterscheiden, deren Wahrsteine Teil der Krone waren, aber niemand kannte den Ursprung des Wahrsteins im Mittelstück. Solange der unbekannt blieb und niemand vorhersagen konnte, welche Auswirkung er auf einen möglichen Träger der Krone hatte, war sich Alyx sicher, dass die Drachenkrone nicht wieder zusammengesetzt und zerstört wurde. Als wüsste er, woran sie dachte, nahm Kräh ihre Hand und drückte sie. Sein langes Haar war im Nacken mit einer Lederschnur zusammengebunden, geflochten aus den Halteriemen seiner Maske. König Ermenbrecht hatte alle Edikte bezüglich Tarrant Valkener aufgehoben, und die neuen Münzen Oriosas trugen auf einer Seite die Wappen der Norderstetts und der Valkeners, auf der anderen das Profil des Königs. Münzen mit Swindgers Bild wurden schnell und gerne umgetauscht und Oriosas Münzprägen waren vollauf damit beschäftigt, die Nachfrage zu decken. Kräh schaute sie an, und auch die Maske konnte die reine Freude nicht verbergen. »Jetzt ist es bald so weit, Geliebte, und alles, worauf Entschlossen gewartet und wofür er gekämpft hat, geht in Erfüllung.« »Ich weiß, Kräh. Ich weiß.« Sie lächelte ihn an und drückte ihrerseits seine Hand. »Ein Jahrhundert der Mühen wird belohnt werden.« Von der Tribüne, auf der sie standen, blickten sie hinab auf den Vorhof des Corijes. Er war von den Dornen und Trümmern der Aurolanenbesatzung gesäubert worden. Fröhlich bunte Fahnen, Tücher und Bänder hingen von den Häusern, 388 Säulen und Bäumen der Umgebung und tanzten im Wind. Es war ein seltsamer Schmuck für die Bäume, doch er passte zu den prachtvollen Kostümen der Vorqaelfen. Unten in der ersten Reihe sah Alyx Mechanisch und Raubtier. Sie trugen weiche Seidenkleidung in Grün, Blau und Silber. Vergütet war den ganzen Weg von Yslin angereist und nach heftigen Palavern hatte man auch ihm gestattet, sich in der ersten Gruppe von vierzig elfen an Vorquellyn binden zu lassen. Er war feierlich herausgeputzt, und Alyx stellte erfreut fest, dass die aufgeplatzte Lippe fast völlig verheilt war. Am nächsten zur Tribüne standen Orakel und Entschlossen. Die Seherin trug ein fahlgelbes Kleid, das an Ärmeln und Saum mit kupferfarbenen Bändern verziert war. Etwas breitere Bänder derselben Farbe wanden sich um die Taille und von dort aufwärts, was das Oberteil des Kleides eng an ihren Körper schmiegte. Sie trug das weiße Haar offen, nur an den Schläfen waren kleine weiße Blumen darin verwoben. Die ganze Aufmachung gab ihr das Aussehen eines jungen Mädchens, und das strahlende Lächeln auf ihrem Gesicht verstärkte diesen Eindruck noch. Entschlossen hingegen wirkte wie eine Inkarnation Kedyns, des Kriegsgottes, dem sich Kräh vor so langer Zeit verpflichtet hatte. Er war von den Stiefeln bis zu den Schultern in Jagdkleidung aus schwarzem Leder gehüllt. Das Wams hatte keine Ärmel, der Kapuzenumhang aus Schnattererfell jedoch, inzwischen mit einem Rand aus weißen Kryalnirifellstreifen an Saum und Kapuze, bedeckte auch seine Arme. Im Gegensatz zu allen anderen trug er sein Schwert, und ohne Zweifel hing ein Beutel mit Klingensternen an seinem Gurt. Die Kapuze verbarg sein Gesicht und erinnerte sie einen erschreckenden Augenblick lang daran, wie Nefrai-keshs Gesicht in Sebtia
unter der Kapuze seines Mantels verschwunden war. Der Eingang zum Corijes löste sich auf. Magarric erschien, gefolgt von Isaura, Kjarrigan Lies und einem mächtigen steinernen Giganten: dem Norderstett. Soweit Alyx gehört hatte, war er als deutliche Verkörperung Wills erschienen, als er 389 Kytrin getötet hatte. Kytrins Drachenfeuer hatte ihn eingeäschert, doch Isaura hatte kurz zuvor einen Zauber über ihn gelegt, dank dem sich seine Körperteile wieder verbinden konnten, falls sie voneinander getrennt wurden. Als Kytrin die Asche einatmete, hatte er sich in ihrem Innern neu gebildet, und so hatte er sich den Weg aus ihrem Leib freikämpfen und sie töten können. Im Verlauf der Monate seitdem hatte mehr und mehr des Staubes zu ihm zurückgefunden und er war wieder auf die Größe gewachsen, in der Kjarrigan ihn aus dem Corijes befreit hatte. Trotzdem war sein Körper jetzt deutlicher modelliert, so dass es für Alyx nicht mehr schwer war, Will darin wieder zu erkennen. Magarric trug eine regenbogenfarbene Robe, von der Dutzende kleiner Bänder herabhingen. Isaura war in ein Kleid vom selben Schneeweiß gekleidet, in dem auch ihr Haar glänzte. Kjarrigan hatte eine schwarze Vilwaner Robe angelegt, die von einem roten Seil um die Taille gehalten wurde. Der Norderstett machte den Schluss und war unbekleidet, aus seinen Glutaugen schlugen Flammen bis auf die Stirn. Der uralte /Elf blieb am Rande des Hofes stehen, öffnete die Hände und hob die Arme. »Wir heißen euch willkommen, Freunde, Kinder und besondere Gäste. Heute werden wir erleben, wie sich ein Teil der NorderstettProphezeiung bewahrheitet. Heute wird Vorquellyn erlöst werden. Mehr als hundert Jahre haben Kytrins Kreaturen hier geherrscht. Sie schändeten unser Land. Die an es gebunden waren, fühlten den Schmerz dieser Vergewaltigung, wir sind aber auch davon überzeugt, dass eine Heilung möglich ist. Während andere eine widerstreitende Meinung vertraten, wissen wir um diese Wahrheit.« Alyx sah Trawyn zu ihrer Rechten lächeln, und Qwc, der auf der Schulter der /Elfe saß, zupfte an einer geflochtenen Schläfenlocke. Trawyns Gegenwart war ein Bruch mit gewissen orthodoxen elfengruppen, die jeden Versuch, Vorquellyn zu erlösen, als zum Scheitern verurteilt abgelehnt hatten. Der Streit darüber hatte sie veranlasst, Loquellyn und dessen Wiederaufbau den Rücken zu kehren. Sie hatte ihren Titel und den 390 Anspruch auf den Thron ihrer Mutter aufgegeben. Als Alyx mit ihr sprach, hatte Trawyn ihrer Überraschung darüber Ausdruck gegeben, dass ihre Heimstatt zu dieser Entscheidung keinerlei Zustimmung oder Ablehnung erkennen ließ. Magarric drehte sich um und winkte den Norderstett heran. Der Titan sank locker in die Knie, dann hockte er sich auf die Unterschenkel. Seine rechte Hand spitzte sich zu, während die linke auf seinem Schoß lag. Kjarrigan trat hinter ihn, dann streckte er die rechte Hand aus und nahm Isauras Linke. Sie tauschten kurz Blicke - Alyx wusste nicht, wie sie das deuten sollte -, dann stimmten sie gemeinsam einen Sprechgesang an, dessen Sprache Alyx nicht erkannte. Der zischende Klang und die Aura unausdenklichen Alters, die von den Worten ausging, ließen sie jedoch vermuten, dass es sich um Draconisch handelte. Die Worte selbst hatten Gewicht und vibrierten in der Brust. Während die beiden sangen, wurden die Worte schneller. Macht baute sich auf. Isauras weißes Haar und Kleid erstrahlte in violetten Glanzlichtern. Alyx blickte zu Kräh und bemerkte dieselben Glanzlichter in seinem Haar und Bart. Energie strömte in Isaura, verwandelte sie in eine Mittagssonne, dann glitt das Licht ihren Arm entlang und zu Kjarrigan. Der schlanke junge Magiker zitterte kurz, dann wurde seine Stimme kräftiger, der Gesang lauter. Die Worte trommelten wie schwere Regentropfen auf Alyx ein. Noch erstaunlicher: Der Boden wirkte jetzt, als wäre es tatsächlich Regen. Es schien, als würde eine unsichtbare Pfütze jedes Wort aufnehmen, sobald es zur Erde fiel. Der ätherische Wolkenbruch setzte sich fort und wurde sogar noch heftiger, als Isaura und Kjarrigan immer schneller sangen. Alyx ertappte sich dabei, dass ihr Mund dieselben Silben formte, und die Magik kitzelte auch ihre Haut. Immer schneller kamen die Worte, immer härter und schwerer trommelte die Magik. Der Boden brodelte geradezu unter den Einschlägen. Sie hatten sich von Blutrot in das Rosa der Wange eines Neugeborenen verwandelt, besaßen dieselbe 391 weiche Oberfläche. Und Alyx hätte schwören können, denselben sauberen Duft wahrzunehmen. Kjarrigan legte die linke Hand auf Harts linke Schulter, und Isaura berührte den Felsgiganten rechts. Die Macht, die sie beide erfüllte, breitete sich nun auf Hart aus, schloss ihn jedoch nicht ein. Das Licht fiel von den Schultern an in seinen Körper ein. Das Feuer in seinen Augen erstrahlte, dann veränderte es die Farbe von rotgelb zu reinem Weiß und verschwand schließlich völlig. Nur die Stellen, an denen Isaura und Kjarrigan hinter ihnen verschwammen, zeigten noch, wo die unsichtbaren Flammen loderten. Hart rammte sich die Spitze der rechten Hand in das linke Handgelenk. Glutflüssiges Blut tropfte herab, rann an seinen Oberschenkeln entlang und traf auf den Boden. Dort entstand kurz eine Pfütze, dann fand ein Ausläufer einen Spalt zwischen den Steinen und Harts Blut versickerte in der Erde. Der Norderstett ballte die Linke zur Faust und pumpte so mehr Blut aus der Wunde. Alyx erzitterte, als sie Hart bluten sah. Kjarrigan hatte ihr sehr ausführlich erklärt, wie er Vorquellyn erlösen würde. Wie bei den meisten seiner thaumaturgischen Erläuterungen hatte sie nur einen Bruchteil verstanden,
aber wichtig war das wenige, das hängen geblieben war. Isaura, auf Vorquellyn geboren und an die Insel gebunden, war in der aurolanischen Magik geschult, die es geschändet hatte. Während sie daran arbeitete, diese Zauber zu brechen, bemühte sich Kjarrigan - ebenfalls auf Vorquellyn geboren und dadurch mit der Insel verbunden -, es durch seine Zauber von dem Gift zu reinigen, das sich während der aurolanischen Besatzung angesammelt hatte. Hart, der auf und durch Vorquellyn wiedergeboren war, war es bestimmt, die Insel wiederzubeleben. Sein durch Drachenfeuer gereinigtes Blut enthielt die Lebenskraft, die der elfenheimstatt neues Leben einhauchen und sie wiedererwecken würde. Der Boden unter ihnen erzitterte. Die Luft summte förmlich, die Tribüne knirschte, als sich das Holz bewegte. Außer392 halb vom Hof schüttelten sich geschwärzte Bäume. Die Rinde brach auf, schälte sich in dunklen Streifen ab, als frisches Grün in die Äste schoss. Totes Holz fiel krachend zu Boden, dann erschienen Knospen. Die meisten erblühten zu silbern leuchtenden Blättern. Blaue Blüten mit gelben Flecken brachen auf und füllten die Wipfel mit einer Farbenpracht, die es leicht mit den jetzt unter der silbernen Pracht verschwundenen bunten Bändern aufnehmen konnte. Unter den schimmernden Blättern wuchsen andere Pflanzen. Wieder knirschte die Tribüne, doch Alyx hatte keine Angst, sie könne einstürzen. Das Holz, aus dem sie gezimmert war, wollte weiter wachsen. Die Verbindungen wuchsen zusammen und wurden tragfester, als es ein Handwerker je herstellen konnte. Hier und da brachen Zweige durch. Die Gäste auf der Tribüne lachten begeistert und unten im Hof lächelte selbst Entschlossen. Magarric wandte sich von den dreien ab und hob erneut die Hände. »Wie unser Land heilt, so muss auch sein Volk heilen. Beantwortet diese Fragen mit ehrlichem Herzen, und ihr sollt mit Vorquellyn verbunden sein von Ewigkeit zu Ewigkeit.« Sein Blick wurde stechend, seine Stimme hallte. »Erkennt ihr Vorquellyn als den Ort eurer Geburt?« Die vierzig Vorqaelfen antworteten mit einer Stimme. »Ja und ja.« »Wollt ihr eurer Heimstatt dienen mit allem, was ihr seid?« Wieder erklang die einstimmige Antwort. »Ja und ja.« Mit ihrer zweiten Antwort stieg die leuchtende Energie, die Isaura und Kjarrigan einhüllte, aus dem Boden nach oben. Die Steine des Hofes leuchteten hell, Stiefel und Kleidersäume verschwanden in dem Gleißen. Das Leuchten breitete sich wie ein flacher Nebel aus, floss unter die Tribüne und verbarg den Boden ganz und gar. Magarrics Stimme erhob sich zu einem Kreszendo. »Erklärt ihr euch immer und allezeit, ohne jeden Vorbehalt als Geschöpfe Vorquellyns, sein Wille der eure, seine Freude die eure, sein Schmerz der eure, sein Leben das eure?« 393 »Ja und ja.« Das strahlende Licht stieg bis zu den Knien der Vorqselfen, dann blitzte es blendend hell. Es umfasste alle auf Hof und Tribüne, verband ihre Zukunft und ihr Schicksal. In diesem Augenblick wusste Alyx, was es bedeutete, Orakel zu sein, die Möglichkeiten der Zukunft vorbeihuschen zu sehen. In Vorquellyn schlummerte unendlich viel. Gleichzeitig spürte sie, wie sich etwas in ihrem Bauch regte. Sie fasste Krähs Hand fester. Leben brannte in ihrem Leib. Mehrere Leben. Zwei Leben. Zwei Söhne. Sie wusste es sofort und sah sie vor sich, kräftig und gesund, wie sie mit ihrem Vater aus dem Stadttor von Swarskija ritten und nach Norden reisten. Sie schaute Kräh an, als das Leuchten verblasste. Sie wollte etwas sagen, doch ihre Kehle war zu eng. Er sagte nichts, sondern zog sie nur an sich und drückte sie. Er küsste sie auf die Wange, dann flüsterte er: »Ich weiß, Alexia, ich weiß. Zwei Söhne. Ich habe sie auch gesehen, und unsere Töchter ebenfalls.« Auf dem Hof unter ihnen blinzelten die Vorqaslfen. Vergütet und Raubtier, so ziemlich das ungleichste Paar, das man sich vorstellen konnte, lachten und umarmten einander. Mechanisch starrte auf seine Hände. Selbst Orakel schaute sich um. Die Pupillen ihrer kupferfarbenen Augen waren schwarz statt weiß. Ihr Blick huschte hin und her, und für Alyx bestand kein Zweifel, dass sie wieder sehen konnte. Ein dankbares Lächeln trat auf ihre Züge. Das Lächeln erstarb, als Orakels Blick auf Entschlossen fiel. Seine Kapuze war zurückgefallen. Er begegnete ihrem Blick offen... mit rein silbernen Augen. Sein Gesichtsausdruck vereinigte Verärgerung mit Ungläubigkeit und einer Spur von Wut. Von allen Anwesenden hatte nur er sich nicht verändert. Andererseits war er auch nicht gestorben - wie die Kryalniri, die Kytrin an Vorquellyn zu binden versucht hatte. Hand in Hand stiegen Alyx und Kräh hinab auf den Hof und gingen hinüber zu Entschlossen. Trawyn und Qwc schlössen 394 sich ihnen an, und einen Augenblick lang sagte niemand etwas. Dann legte Kräh dem Freund die Hände auf die Schultern. »Wir finden heraus, woran es liegt, Entschlossen. Du wirst an Vorquellyn gebunden.« Entschlossen schüttelte den Kopf. »Du verstehst nicht, mein Freund. Als Magarric uns aufforderte, mit ehrlichem Herzen zu antworten, habe ich es getan. Dies ist der Ort meiner Geburt. Ich will dienen. Ich wäre Vorquellyns Geschöpf in Ewigkeit. Ich könnte dieses Ritual tausend Male wiederholen. Meine Antworten auf diese Fragen blieben dieselben. Und das Ergebnis wäre auch dasselbe.«
»Nein, das kann nicht stimmen.« Krähs Nasenflügel bebten vor Erregung. »Nach allem, was du für Vorquellyn getan hast, kann es dich nicht ablehnen.« »Ich gestattete mir zu widersprechen, Kedyns Krähe.« Magarric schob sich durch das Getümmel der Vorqaelfen und Gratulanten. »Es gibt einen Grund dafür, dass Dunardel abgelehnt wird, und es ist nicht der, den Trawyn vermutet: dass er zu einem Geschöpf geworden sei, für das Vorquellyn keine Verwendung hat.« Trawyn wurde rot, dann schaute sie zu Boden. »So sehe ich dich eigentlich nicht, Entschlossen.« Der Vorqaelf drehte sich um und streichelte ihre Wange unter der Augenklappe. »Das weiß ich, Trawyn.« Magarric lächelte kurz. »Dunardel, hast du jemals Bilder aus der Zeit vor der Gründung der Heimstätten gesehen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich war mir kaum bewusst, dass es eine Zeit davor gegeben hat. Ich kenne die Geschichten über Helden wie Raisasel. Die müssten aus dieser Zeit stammen.« »Allerdings. Weißt du, was sein Name bedeutet?« Entschlossen überlegte kurz. »Augen von Ebenholz?« Vorquellyns Gründer nickte. »Ganz genau. In den Tagen vor den Heimstätten waren unser aller Augen so, wie deine es sind, einf arben. Was die elfen heute als die Augen von Kindern belächeln, waren einst die Augen der Ältesten. Du besitzt alte Augen, Dunardel. Das Ritual der Bindung ist zur Aufnahme ins 395 Erwachsenenleben geworden. Doch in der Zeit vor den Heimstätten war es Erfahrung, die uns zu Erwachsenen machte. Du bist bereits erwachsen und brauchst keine Bindung.« Entschlossen runzelte die Stirn. »Aber das ist wohl kaum ein Grund für Vorquellyn, mich abzuweisen.« »Es hat dich abgewiesen, weil deine Zukunft über Vorquellyn hinausgeht. Du bist im Kampf um die Erlösung Vorquellyns erwachsen geworden. Das ist dein Wesen, und es ist deine Bestimmung im Leben, diesem Wesen zu entsprechen.« »Ich verstehe nicht.« Magarric streckte die Hand aus und schlug Entschlossens Mantel von der rechten Hüfte zurück. »Du trägst das Syverce von Sylquellyn.« »Ja.« »Du hast eine Heimstatt erlöst.« Magarric lächelte. »Nun wird es Zeit für dich, auch wieder eine andere zu gründen. Deine Aufgabe ist es, in die Welt zu ziehen, ein Corijes zu erschaffen und eine Heimstatt ins Leben zu rufen.« »Wie? Das kann ich nicht.« Entschlossen löste die Schnalle seines Mantels und ließ ihn zu Boden fallen. »Ich verfüge doch über gar keine Magik, die heilt oder erschafft.« »Ich weiß, Dunardel. All deine Zauber zerstören. Kehre sie um.« Magarric hob abwehrend die Hand. »Sage nicht, das wäre unmöglich. Du weißt es besser. Du kannst es nicht allein. Wähle deine Helfer und den Ort mit Bedacht. Dies ist deine Bestimmung und der endgültige Sieg über die Hexe des Nordens.« OKRANNEL Meine geliebten Söhne, es mag euch seltsam erscheinen, dass ich euch kaum eine Stunde nach eurer Geburt schon einen Brief schreibe, aber ich kann es nicht ertragen, von euch und eurer Mutter getrennt zu 396 sein, so sehr liebe ich euch. Und so sitze ich hier in Swarskija, im selben Zimmer, in dem ihr und sie schlaft, und bete, dass euch das Kratzen der Feder auf dem Pergament nicht weckt. Kirill, Du bist unser Erstgeborener und nach dem Vater Deiner Mutter benannt. Wie Du mit der Zeit erfahren wirst, war er ein mutiger und weiser Mann. Er war ein Held, der mir mehr als einmal das Leben rettete. Dasselbe tat er für Deine Mutter, und er opferte sogar sein Leben, um uns beide zu retten. Es gibt keine größere Liebe, als das Leben eines anderen über das eigene zu stellen. Dies ist eine Lehre, die nur wenige lernen und noch weniger in die Tat umsetzen. Nur die wahrhaft Großen sind dazu in der Lage. Dunardel, Du trägst einen JEliennamen, und auch Du bist nach einem Helden benannt. Er rettete mein Leben öfter, als ich zählen kann. Du wirst Gelegenheit haben, ihn zu treffen, denn er lebt in Sylquellyn, der /Elfenheimstatt, die er gründete, und wo einmal die Menschenstadt Swojin stand. In nur sechs Monaten ist es ihm gelungen, das Gift der Aurolanen zu entkräften. Die Gyrkyme haben sich ihm angeschlossen, um diese Heimstatt zu gründen, und gemeinsam mit seiner Gemahlin Trawyn erschaffen sie im Süden unseres Landes ein Paradies. Ihr werdet beide viele Geschichten über die Zeit vor eurer Geburt hören. Es war ein Zeitalter der Helden und Schurken, Zauberer, Drachen, Monster und furchtbaren Waffen. Mit Glück und Weisheit werden die Fürsten der Welt wie eure Mutter dafür sorgen, dass ein solches Zeitalter nicht wiederkehrt. Mit der Zeit, einer Zeit, die nur den Frieden kennt, mag es sein, dass die Schrecken in Vergessenheit geraten und die Narben verheilen. Ich bete, dass ihr den Mahlstrom des Krieges niemals kennen lernt, der die Welt geschaffen hat, in der ihr aufwachst. 397 Ich glaube nicht, dass es so weit kommen wird. Neben eurer Mutter und anderen Fürsten, die den Frieden lieben, gibt es noch einen, der dafür einsteht. Wenn ihr das Alter erreicht, in dem wir ihn fanden, wird er für die meisten vermutlich nur noch eine Legende sein, ein Fabelwesen, von dem Fallensteller berichten, die sich bis weit nach
Norden wagen. Ihr werdet Erzählungen von einem Riesen aus Stein hören, der durch Aurolan wandert und die Überreste von Kytrins Übel ausrottet. Allein, allzeit wachsam, allzeit aufmerksam, auf der Wacht, um zu verhindern, dass dieses Übel jemals wiederkehrt. Der Krieg um die Drachenkrone, der eure Welt geschaffen hat, war entsetzlich. Viele haben ihr Leben gegeben, um uns den Frieden zu bringen. Euer Großvater war einer von zahlreichen Helden. Ich werde euch viele Geschichten aus jenen Tagen erzählen, wenn auch vielleicht nicht alle. Aber die größte von allen wird die Geschichte des Norderstetts sein. Der Norderstett, den ihr kennt, wird wie ein Mythos erscheinen. Er war einst ein Mensch aus Fleisch und Blut, doch er wurde weit mehr, und er wandert wirklich noch durch den Norden. Eines Tages werden wir gemeinsam in den Norden reisen und seine Einsamkeit stören, damit ihr ihn kennen lernen könnt. Der Friede verlangt Opfer. Der Norderstett ist dieses Opfer. Die Menschen mögen vergessen, welchen Preis ihre Freiheit gekostet hat, doch wir werden die Erinnerung wach halten. Er ist unser Mahner, und ich werde euch zu ihm bringen. Ihr werdet eure Söhne zu ihm bringen - und sie die ihren, auf immer, damit nie wieder ein Krieg die Welt überzieht. Euer euch liebender Vater, Tarrant Valkener DANKSAGUNGEN Wie immer gehen auch diesmal alle Fehler in diesem Buch auf das Konto des Autors. Dass es so wenige sind, ist den Bemühungen von Freunden zu verdanken. An erster und hervorragendster Stelle ist dabei Anne Lesley Groell zu nennen, die mehr Geduld als ein ganzes Pantheon von Heiligen bewiesen hat, während sie auf dieses unfassbar verspätete Buch wartete. Ihr sanftes, aber bestimmtes Insistieren darauf, dass ich es zu Ende bringe, hat mir -ebenso wie ihre Bereitschaft, es etappenweise entgegenzunehmen - erlaubt, das Ganze durchzuziehen. T. A. Trainor und Kassie Klaybourne haben mir unschätzbare Ratschläge über Logistik und die Schwierigkeiten zukommen lassen, die entstehen, wenn Unmassen von Personen, Pferden und Wagen in den Krieg ziehen. Und Robert M. Wolanim {www.nuada-mu-sic.com) schickte mir ein wundervolles, von Zu den Waffen! inspiriertes Musikstück, das mich an den Zauber erinnerte, der in Worten stecken kann. Vor allem aber muss ich mich bei all den Lesern bedanken, die so geduldig auf dieses Buch gewartet haben. Es gab Zeiten, in denen ich angesichts privater Schwierigkeiten anfing zu glauben, dass es Will und seine Gefährten ziemlich leicht haben. Es waren Ihre freundlichen Erinnerungen, dass Sie auf die versprochene Fortsetzung warten, die mich daran gehindert haben, einfach alles hinzuwerfen. Ich schreibe Geschichten, wie ich sie gerne lese. Dass sie Ihnen dort draußen auch gefallen, erstaunt und inspiriert mich grenzenlos.