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Die Welt steht ihnen offen, sie sind behütet aufgewachsen, gesund ernährt und bestens ausgebildet, mobil, mehrsprachig, ideologisch unverdorben und informationstechnisch auf dem neuesten Stand - sie sind bereit und bestens gerüstet, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Erwachsen zu werden. Sie sind Meister der Anpassung an eine Gegenwart, die außer dem Wandel nichts Stetiges mehr kennt. Sie sind flexibel durch und durch, erfinden sich täglich neu. Sie sind professionelle Lebenspraktikanten mit mehreren Visitenkarten. Sie leben auf Probe. Vermutlich für immer. Nikola Richter, geboren 1976 in Bremen. Lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Anglistik und Komparatistik in Tübingen, Norwich und Berlin. Danach Stipendien, Praktika und Jobmarathon. Konzeption und Leitung des Online-Literaturmagazins www.schriftstelle.de. Gründerin der Berliner Lesebühne visch & ferse. Arbeitet jetzt für die »Zeitschrift für KulturAustausch<. Sie veröffentlichte Erzählungen und Lyrik und arbeitet als Theaterautorin. Unsere Adresse im Internet: www.fischerverlage.de
Nikola Richter Die Lebenspraktikanten
Fischer Taschenbuch Verlag
Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag, einem Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, Februar 2006 © 2006 Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main in der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN-13: 978-3-596-16992-4 ISBN-10: 3-596-16992-5
Die Lebenspraktikanten
Nils
Jasmin
Linn
Viktor
Anika
Chris
Giulia
Existenzminimum Immer, wenn Linn Nils trifft, trägt er dieselbe Strickjacke, dieselben Turnschuhe, dieselbe Tasche, denselben dunklen Schal mit ausgewaschenem Logo, einen Fanartikel seines heimatlichen Sportvereins, aus dem er natürlich schon vor Jahren ausgetreten ist, aber dem er sich noch immer verbunden fühlt. Doch eines ist immer neu. Nicht, dass auf einmal mehr Dreck unter seinen Sohlen klebt oder dass er anders riecht, was auf einen neuen Umgang, eine neue Art der Freizeitgestaltung hindeuten würde. Nein, daran, dass er sich zu anderen Tageszeiten bei ihr blicken lässt, bemerkt sie, dass er wieder einen neuen Job angenommen hat. Eine Zeit lang stand er gegen 22 Uhr vor der Tür. Dann war die Schicht in dem Hotel, an dessen Rezeption er saß, Schlüssel ausgab, Anrufe entgegennahm, zu Ende. Dort konnte er sich Essen aus der Küche besorgen, manchmal gab es sogar zum Feierabend etwas Warmes, Knödel, Braten, Bohnen, etwas Deftiges mit vielen Zwiebeln und Speck, sodass sein Kühlschrank zu Hause eigentlich immer leer war. Wenn er kam, schmierte Linn ihm eine Scheibe Brot, für den späten Hunger, manchmal auch eine zweite, für morgens, fürs Frühstück. Nils und Linn gingen an solchen Abenden selten aus dem Haus. Dafür reichte das Geld nicht. Das Bier holten sie gekühlt von der Tankstelle. Bei Regen schauten sie alte Krimis oder grelle Comedys im Fernsehen. Das sorgte für Gesprächsstoff. Bei Sonne nahmen sie eine Decke und setzten sich auf einen stadteigenen Rasenfleck mit Wasserblick. Meistens wurde 7
es spät. Immer war es billig. Und sie sagten: »Wie geht es uns gut.« Sie waren nicht auf die Wochenenden angewiesen, wenn die Parks, Vorortzüge in Richtung der beliebten Ausflugsorte und Cafes überlaufen waren. Weil sie unter der Woche keiner regelmäßigen Arbeit nachgingen, machten sie die Wochentage zum Wochenende. An Sams- und Sonntagen blieben sie zu Hause, ruhten sich aus, genossen die Stille in den Zimmern, da die werktätigen Nachbarn ausgeflogen waren, und vermieden die teuren Nachtclubs, die sie nur an Montagen oder Donnerstagen besuchten, wenn Sonderpreise, Happy Hour und freier Eintritt lockten. Nils wusste immer, welches Museum eine lange Nacht machte, welches Kino Kinotag oder auf welcher Freiluftbühne ein kostenloses Konzert stattfand. Mit Nils konnte Linn Kultur erleben und dabei noch Geld sparen. Weil er immer Zeit hatte.. Das ist nun anders. Neuerdings kommt er am liebsten am frühen Vormittag. Heute steht er gegen acht Uhr vor Linns Tür. Ihre Haare sind noch nass nach der Aufwachdusche, seine Augen dafür etwas gerötet. Er trägt einen Picknickkorb, der bis zum Rand gefüllt ist. »Darf ich reinkommen?«, fragt er. »Gehen wir in deine Küche?« Linn kann es gerade noch verhindern, dass er sich seiner Schuhe entledigt, indem sie »Fußkälte« sagt. Linn mutet es niemandem zu, in ihrer Wohnung auf Strümpfen herumzulaufen. Ja, sie verbietet es ihren Gästen sogar, weil sich schon viele bei ihr verkühlt haben. Ihre Kohleofenwohnung ist zwar billig, aber der Ofen heizt nur die Decke und die oberen Luftschichten der Zimmer, nicht den Boden. Ich könnte Zwischendecken einziehen, hat Linn schon oft gedacht, und auf der ersten Etage den kalten Winter verbringen, im Sommer könnte ich dann auf die kühle Ebene absteigen. Um Jahreszeiten kümmert sich Nils nicht. Sein Rhythmus ist eher ein schneller Workout-Beat. Als Linn ihn das letzte Mal sah, arbeitete er als Filmvorführer in einem Programmkino. In der 8
vorigen Woche betreute er auf einer Ökologie-Messe einen Büchertisch. Das erfährt sie, als sie die Teetassen aus dem Schrank nimmt und den Kessel auf den Herd stellt. Während der Messe lernte er diesen Barbesitzer Günzel kennen, der seinen gut gelegenen Szeneladen nicht nur nachts, sondern nun auch nachmittags öffnen will, der jemanden sucht, der ihm Öko-Torten und Öko-Brötchen backt und die Menükarten individuell gestaltet, der ihm ein »Backkonzept« erstellt, wie Nils das nennt. Günzel bezeichnet seinen Plan als »Orga-Food-Mission«, denn ihm geht es um die Bekehrung der Massenware-Esser zu »Organic People«. »Indem wir modernste Agrartechnologien und -produkte - zugeschnitten auf die individuellen Profile unserer Gäste - verwenden, optimieren wir unsere Geschäftsprozesse und verbessern damit die Wettbewerbsposition unseres Unternehmens«, erklärte Günzel. Nils war sofort begeistert von der »strategischen, völlig systemunabhängigen, offenen Lösung«, bei der er durch »Knowledge-Management in ein Kreativ-Team einsteigen und zu einem Kreativ-Partner« werden soll. Also fragt Nils, sobald er vor dem Heißgetränk sitzt, welche denn Linns Lieblings-Öko-Backwaren seien. Er kramt im Picknickkorb. Vielleicht Apfelkuchen mit Dinkel? Kürbisbrot belegt mit Sauerampfer? Birnen-Ingwer-Torte? Er legt ein paar Gebäckstücke auf den Tisch. »Sieht toll aus, Nils.« »Alles selbst gemacht.« Und Linn sagt: »Wie lange wirst du denn in diesem neuen Job bleiben?« »Erst mal nur für drei Wochen. Mal sehen.« »Warum hast du denn im Kino aufgehört?« »Egal. Jetzt verdiene ich zehn Euro die Stunde, das ist gut! Und ich erfinde >Food-Labels<, neue Marken für traditionelle Waren. Du kannst mir also heute nicht vorwerfen, lebensfremd zu sein. Ich bilde mich praktisch weiter im so genannten Branding-Business. Und bald entwerfe ich einen Info-Folder, passend zur Website.« Immer, wenn Nils einen englischen Fachbegriff fallen lässt, zuckt er mit seinem linken Augenlid, fast unmerklich, aber für eine alte Freundin nicht zu übersehen. Ist da doch etwas neu? Ist 9
Nils über Nacht zu einem Menschen mit Verkäufermentalität geworden? Sonst hielt er meterlange Vorträge über die »Brasilianisierung« des Arbeitsmarktes, die Notwendigkeit, wechselnde Jobs anzunehmen, manchmal auch mehrere gleichzeitig, über die Zersplitterung von Existenzgrundlagen, die über kurz oder lang zu einer Zerfaserung von Existenzen führe, über die Chancen, die ein solcher fragmentierter Lebensentwurf mit sich bringe, über die Freiheiten, die Einschränkung, eine eigentlich sehr mönchischen Tugend, die in dieser konsumorientierten Welt nicht schaden würde. Er hätte über die Probleme des »Warenfetischismus« doziert, der dem Konsumenten vorgaukele, Unterschiede zu kaufen, wo eigentlich Gemeinsamkeiten seien. Es ginge doch gar nicht mehr um Alternativen, sondern um die Verweigerung von angeblichen Differenzen. Dieser Theoretiker sitzt jetzt vor Linn und präsentiert bröseliges Körnergebäck, das durch pfiffige Namen Kaufwert bekommen soll. Linn verliert den Appetit. »Wie gefällt dir >Bridget Jones< für diese Schoko-Muffins? Oder >Haben Sie Möhrchen?< für diesen Karottenkuchen mit Mandelspitzen? Oder >Grüezi-Grütze< für das Birchermüsli? Ich kann mich selbst einbringen, ich kann jeden Tag experimentieren.« Je mehr Nahrungsmittel Nils vor sich auftürmt, desto mehr freut sich Linn für Nils. Sie ist sich sicher, dass aus dem jungen Mann etwas wird, wenn er weiterhin so emsig seine schlummernden Talente weckt. Er bewährt sich auf den unterschiedlichsten Gebieten. Sie probiert ein Stück Kürbisbrot. Leider ist es ein wenig trocken. »Vielleicht hier noch ein bisschen Frischkäse zu den Kräutern?«, hustet sie. »Mmh«, Nils kann nicht antworten, er kaut auf herausgefallenen Mandelspitzen herum. »Ich habe nach diesen drei Input-Wochen übrigens endlich Zeit, meine Fotos zu bearbeiten«, sagt er, als er mit Tee nachgespült hat. »Ich fahre dieses Jahr an Weihnachten nicht nach Hause. Mit dem, was ich dadurch spare, und mit den Geldgeschenken kann ich mir endlich einen guten Scan10
ner kaufen. Ein Bekannter von mir, der eine Ausstellung plant, richtig groß, in San Francisco, hat mir seine Profibildbearbeitungsprogramme gebrannt. Der Rhythmus, weißt du? Der existenzielle Rhythmus! Es gibt einen Autor, der hat seine Schrift immer weiter verkleinert. Genau darum geht es mir auch, um die Reduzierung auf das Notwendige.« Dieser Nils kommt Linn wieder etwas bekannter vor. Er wedelt mit seinen großen Händen in der Luft herum, hält mit der rechten Hand inne, um ein Wort zu betonen, zieht mit der linken einen Kreis über seinem Kopf und schaut in die Ferne, durch die Wände hindurch. Nie fällt ihm dabei die Zigarettenasche auf seine schwarze Kleidung. Auf diese Farbe ist er seit seinem sechzehnten Geburtstag eingeschworen. Er hasste seine Mitschüler dafür, jedem noch so bunten Trend zu folgen, ihm taten die Augen von so viel Farbe weh. Er ist stolz darauf, vor seinem Kleiderschrank schnelle Entscheidungen treffen zu können, weil alles zu allem passt. Er begeistert sich für klare Linien und Umrisse und bleibt dabei elegant, Linn ist von außen betrachtet ein Gegenstück zu Nils, sie mag es bunt und künstlich, aber sie steht ihm innerlich sehr nah, Seit sie ihn in einer Vorlesung zu »Konzeptionen des Anderen« angesprochen hat, weil er mit seinen Zeichnungen aus Langeweile bis auf ihren Block vorgedrungen war und quer über ihre Notizen Ranken, Blätter und botanische Ornamente gemalt hatte, seit sie eine zweisame Lerngruppe gegründet haben, in der sie sich aus einschlägigen Texten bei Wodka mit Brausepulver vorlasen, und seitdem man sie zunächst für ein Paar, manchmal auch für Geschwister gehalten hat, sie dann aber dieses Missverständnis für sich selbst und die anderen aufgeklärt haben, verfolgen sie mit Leidenschaft ihre gegenseitigen Entschlüsse und Vorhaben. Was sie verbindet, sind ähnliche Lebensverhältnisse. Man würde nicht denken, dass der schmucke, eloquente Nils auch in einer Kältezone lebt, weil er nicht genug Geld verdient, um seine Wohnung zu heizen. Dass er lieber gar nicht heizt - oder, 11
wenn es hochkommt, mit dem Gasherd in der Küche. Er lässt die Klappe des Ofens offen, sodass die feucht-warme Gasluft den Raum füllt. Man würde ebenfalls nicht denken, dass er, der so sparsam ist, manchmal Monate lang seine Miete nicht zahlen kann. Dass er, um seinen Umzug zu finanzieren, seine Plattensammlung verkauft hat. Er zog sich die Alben aus dem Internet auf seinen Rechner. »Nicht traurig sein, mein Lieber. Das Leben ist kein Zuckerschlecken«, tröstete ihn damals sein Vater, der befand, sein Sohn müsse sich durchbeißen, er müsse mal auf eigenen Füßen stehen, er müsse endlich erwachsen werden. Dabei war Nils schon längst erwachsen. Der Vater hat Nils natürlich noch nie in seiner Wohnung besucht. Der Vater besucht lieber seine neue, zwanzig Jahre jüngere Freundin, fährt mit ihr in den Urlaub, kauft ihr eine Wohnung, damit sie bei ihrem Mann ausziehen kann, und nimmt seinen Ehering ab. Scheiden lassen will er sich noch nicht, das könnte nämlich recht teuer werden. Nils' Mutter hat jedenfalls schon die Scheidung eingereicht, ihr Anwalt sieht dem Verfahren positiv entgegen, aber das dauert und dauert. Auf den Vater zählt Nils also eher nicht. »Wenn der hier anruft, dann nur, weil er wieder irgendeine Information über meine Versicherung braucht oder weil er für die Tochter seiner neuen Trulla eine Übernachtungsmöglichkeit sucht. Als ob ich ihm da helfen würde.« Linn ist immer überrascht, wie gut gelaunt Nils trotz allem ist. »Deine Eltern haben dir zumindest eine große Portion Lebensfreude mitgegeben«, sagt sie dann. »Rede nicht wie ein Leserbrief aus einer Frauenzeitung, ja? Du liest wirklich zu viel Schrott. Mir geht es gut. Ich brauche nicht viel, um glücklich zu sein.« Von Nils kann Linn einiges lernen. Da sage noch einer, es fehle heute an Einsatzbereitschaft und Durchhaltevermögen. Nils verfolgt zielstrebig seinen besonderen Weg und glaubt an sich. Vor allem glaubt er, dass es darum geht, wieder einen Zusammenhang herzustellen. Der Mensch, der heute so oft ein vereinzelter ist, auch wenn er in Paaren herumläuft, braucht 12
in Nils' Augen mehr Gemeinschaftserlebnisse und Gemeinschaftsorte. Linn ist meist etwas skeptisch, wenn Nils diese Ideen ausführt. »Das klingt ein wenig nach Gleichschaltung, mein Guter.« Aber Nils stellt die gemeinsame Erfahrung und gegenseitige Verantwortung, nicht die gemeinsame Organisation in den Vordergrund. Dass jeder das tut, was er gut kann, nicht nur für sich, auch für die anderen, und nicht gleich den Fernseher anstellt, wenn er nach Hause kommt, wäre ein Anfang, meint Nils. Dass doch diese Ego-Religion - dass jeder das Beste für sich wolle - zu einer Gruppenvision werden könnte. Dass sich doch verschiedene, verantwortungsvolle, neugierige Menschen verbünden müssten, um mit wenig Geld zum Beispiel ihre so genannten Traumhäuser zu bauen, in denen sich alle treffen und miteinander leben könnten. Schließlich bedeute »gutes Bauen« oder »gute Architektur« nicht »teures Bauen« oder »teure Architektur«. Auch Linn malte Nils ihre Zukunftsentwürfe aus, als er an einem dieser frühen Morgen nach einer langen Nacht vorbeikam, aber ihm fielen, weil er Spätdienst in einem Taxi-Call-Service gehabt hatte, schon nach ihren ersten beiden Sätzen die Augen zu. Linn holte weit aus, um die Perspektiven ihrer Eltern mit ihren eigenen zu vergleichen, als da wären »ein Haus, zwei Kinder, ein Garten, ein Hund, ein Auto« gegen »genug Geld für den nächsten Monat verdienen«. Sie führte lebhaft aus, wie sie den Lebensstandard ihrer Eltern mit ihrer jetzigen Lebensweise nicht erreichen würde. Ihre Eltern erzählten zwar immer, wie sie sich als Studenten zu zweit ein Bier in einer Kneipe geteilt hatten, wie sie in ihren ungeheizten Zimmern mit Mütze schlafen mussten, wie sie nur einmal in der Woche bei der Vermieterin duschen durften, wie sie als arme junge Leute begannen, sich durch emsigen Fleiß und Pfennigfuchserei ein besseres Lebensniveau zu erarbeiten. Wie sie mit einem Glas Marmelade und einer Portion Schmelzkäse ihr Frühstück und 13
Abendbrot bestritten. Wenn ihre Eltern in diesen Anekdotenstil verfallen, dann schaltet und winkt Linn nicht ab, sondern nickt verständnisvoll. Und stellt in ihrer anschließenden Erzählung einen weiteren Negativ-Rekord für die Familienchronik auf. Der große Unterschied und eine größere Herausforderung ist, so erläutert Linn dann ihren Eltern, dass wir heute unsere Leben wochenweise organisieren müssen. Wenn eine Sache klappt, können wir uns nicht darüber freuen und kurz durchatmen, sondern müssen schon die nächste planen. Wir sorgen uns darüber, was morgen ist. Wir strampeln uns ab und müssen mit dieser Existenzangst leben. Ihr konntet wenigstens sparen, ihr hattet ein Ziel und habt es erreicht!, ruft sie neidisch. Am Ende jedes Monats, am Ende jeder Woche bleibt bei uns leider nichts für Anschaffungen oder als Ruhekissen übrig. Sparen würde bedeuten, in die Zukunft denken zu können. Sie aber kann höchstens Auskünfte über das Heute geben. Die Eltern hatten damals wenigstens die Aussicht auf längerfristige Anstellungen und ein regelmäßiges Einkommen. »Aussichten wären schön, oder?«, hat Linn damals Nils zum Abschluss ihrer Erläuterungen gefragt und sein lautes Atmen als Zustimmung interpretiert. »Wenn man eine Aussicht hat, dann erscheint alles um einen herum überschaubar und freundlich. Aber ohne Aussicht wirkt alles bedrohlich, riesengroß und problematisch.« Weil er ihr nicht widersprach, fuhr sie fort: »Wir müssen uns heute mehr als dreimal überlegen, ob wir zu diesem Superkonzert unserer derzeitigen Lieblingsband gehen, weil wir vom Eintrittsgeld auch eine Woche lang unser Essen bezahlen könnten. Wenn wir Glück haben, dann stehen wir auf der Gästeliste - weil wir einmal im Monat für eine regionale Zeitung einen Artikel schreiben dürfen, dessen Honorar uns erst ein Jahr später überwiesen wird. Zudem gelten wir, obwohl uns meist weniger Geld als Studenten zur Verfügung steht, nicht mehr als solche. Überall müssen wir die vollen Eintrittspreise zahlen. Von einer Krankenversicherung mal ganz zu schweigen. 14
Weil die privaten Versicherungen zu teuer sind, versichern wir uns lieber gar nicht. Wir sind NICHTS«, klagte Linn, »weder Studenten noch Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger oder Berufsanfänger.« Sie wollte Nils erzählen, dass sie sehr gerne auf ein Auto oder eine Eigentumswohnung sparen würde, das fände sie überhaupt nicht spießig. Was sie und die Freunde für tolle Unternehmungen machen könnten! Stattdessen radelten alle auch noch im Winter von Stadtbezirk zu Stadtbezirk, um sich die Fahrkarten für den öffentlichen Nahverkehr zu sparen. Falls sie Urlaub machten, besuchten sie Freunde in den Städten, die mit Billigfliegern erreichbar waren, schliefen dort eine Woche auf einer Luftmatratze und schrieben keine Postkarten. Zu teuer. Zu Hause kauften sie die Freizeitgetränke am liebsten im Supermarkt. Im Winter kredenzten sie in kalten Küchen Glühwein. Und im Sommer saßen alle mit Bier auf irgendwelchen Hundekackewiesen. Niemand spielte Tennis, Hockey oder Golf. Die Jungs schauten Fußball in einer Kneipe. Die Mädels manchmal auch. Geht überhaupt noch jemand frühstücken?, wollte Linn Nils fragen. Aber sie war in ihren Gedankensümpfen stecken geblieben. Hatte sie über Fußball reden wollen? Nils hatte derweil friedlich weitergeschnarcht. Linns Gejammer interessiert ihn nicht. »Es ist eben so, wie es ist«, sagt er immer. Auch jetzt. »Wir kommen schon irgendwie durch.« Draußen wird es heute überhaupt nicht hell.
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Das Letzte Linn und Anika suchen das nächste Praktikum, und diesmal soll es das letzte sein. Dieses letzte Praktikum ist sehr begehrt. Manchmal heißt es »Assistenz« oder »Mitarbeit« oder »Young Associate«, und manchmal taucht der eigene N a m e in der Programmschrift, einem Abspann oder der Teamliste auf, wird also nach außen getragen. Der Praktikant freut sich, als vollwertiger Mitarbeiter dazustehen, vielleicht verdient er sogar ein paar hundert Euro. Aber wenn er die Rechte eines vollwertigen Mitarbeiters einfordert - Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Feiertagsvergütung, bezahlten Urlaub und nicht zuletzt Sozialversicherung -, wird er nur müde angeschaut: »Wenn Sie das nicht zu unseren Bedingungen machen wollen, dann lassen Sie es doch. Wir finden ohne Schwierigkeiten einen anderen. Und der macht es bestimmt auch für weniger oder gar kein Honorar.« Denn jeden Tag gehen bei den Arbeitgebern unzählige Bewerbungen ein, die Auswahl an engagierten, gut ausgebildeten und dazu billigen Mitarbeitern ist riesig. Die Personalabteilungen in den Unternehmen zeigen sich leicht entnervt über den Ansturm von Mappen und Anschreiben und bitten um Entschuldigung, dass sie »bei der Menge an Bewerbungen« die Antwort vertagen müssen. »Haben Sie herzlichen Dank. Mit so vielen Interessenten haben wir nicht gerechnet. Wir bitten um Geduld und Verständnis, dass wir Ihre Einsendung nicht persönlich beantworten können. Wir werden unsere Auswahl in spätestens drei Monaten abgeschlossen haben. Wenn Sie dann nichts von uns hö16
ren, sagt dies nichts über Ihre Fähigkeiten aus. Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg bei Ihrer Arbeitssuche.« Wenn Linn und Anika sich treffen, dann stecken sie, wie alle Freundinnen, die Köpfe zusammen und besprechen die allgemeine und persönliche Weltlage. Heute darf Anika die Hauptredezeit in Anspruch nehmen. Sie ist im Moment ziemlich frustriert, weil sie auf zwanzig Bewerbungen zehn Absagen erhalten hat, weil sie sich nicht traut, die zehn anderen Institutionen und Unternehmen, deren Reaktionen noch ausstehen, anzurufen und nachzufragen, weil sie nicht aufdringlich sein will, weil manche Bewerbungsmappen erfahrungsgemäß nie zurückgeschickt werden, auch wenn jede Mappe einen materiellen Wert und Besitzer hat, weil sie meint, dass ihr viele Qualifikationen fehlen, vor allem Berufserfahrung, weil sie langsam nicht mehr daran glaubt, den so genannten Einstieg zu schaffen. »Ich kenne mich nicht aus«, sagt sie. Linn schüttelt den Kopf. Dann breiten sie Briefe vor sich aus, zücken Stift und Textmarker und verfallen in konzentriertes Schweigen. Sie lektorieren gegenseitig ihre Lebensläufe und Anschreiben. »Hier würde ich nicht so dick auftragen, das glaubt dir keiner«, sagt Linn zu Anika. »Du musst alles mit Beispielen belegen«, fordert sie weiter. »Sehr geehrte Damen und Herren. Das geht gar nicht. Hast du keinen konkreten Ansprechpartner herausgefunden?« Linn hat im Laufe der Zeit einiges dazugelernt. Bei ihrer allerersten Bewerbung glaubte sie als Bewerbungsküken noch, eine mit Füller geschriebene Anfrage sei das Persönlichste und Erfolg versprechendste - gegen die Ratschläge ihrer Freunde. Nachdem sie auf mehrere solcher handschriftlichen Dokumente nur eine einzige Antwort erhielt, von einer Sekretärin, die den gleichen Nachnamen wie Linn trug und sich somit wohl Linn gegenüber zu Ehrlichkeit und Aufklärung verpflichtet fühlte und sie darauf hinwies, in Zukunft besser einen Computer zu nutzen, unterschreiben könne sie trotzdem mit
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preußisch blauer Tinte, ja, kleiner Tipp, sie müsse sogar unterschreiben, und - großer Tipp - wir suchen eine Praktikantin ab übernächsten Herbst, melden Sie sich nächstes Mal mindestens sechs Monate vor Ihrem gewünschten Praktikumsdatum, wir brauchen Vorlauf, weil Linn also belehrt wurde, optimierte sie Schritt für Schritt ihre Bewerbungstechnik, wurde kreativer in ihren Anschreiben, umfassender in ihrem Lebenslauf. Sie steigerte sich von Praktikum zu Praktikum. Arbeitete sie zunächst vier Wochen bei einem Autoschraubenlieferanten in der Anzeigenabteilung des Mitarbeiterblättchens und tippte Geburtstagsgrüße ab, suchte sie danach vier Wochen bei einer Lokalzeitung für den Veranstaltungskalender Termine heraus und bildete sich anschließend sechs Monate lang zwei Tage die Woche im Veranstaltungsmanagement bei einer lokalen Kulturinstitution weiter, um zuletzt bei der Projektassistentin einer Industriewerbeshow für eine Autozulieferermesse drei Monate ohne Honorar Tag und Nacht zu hospitieren. Da schloss sich der Kreis. Es ging ja überall um technischen Fortschritt und Fortbewegung. Linn stellte sich kleine achteckige Schrauben vor, die sich zwar nicht von selbst drehten, die aber mit dem richtig gewählten Werkzeug passgenau und wie geschmiert in den vorgebohrten Löchern verschwanden. Natürlich glaubte Linn nicht daran, dass eine solche Drehbewegung das S c h l ü s selmoment ihrer Berufsperspektive sei, aber so etwas Ähnliches, denn sie wollte zu einem Schluss kommen. Sie hatte die ersten Praktika durchlaufen um herauszufinden, was ihr Spaß machte und was nicht. Sie war meistens froh gewesen, nach ein paar Wochen wieder zu gehen, um sich mit dem zusätzlichen Zeugnis bei der nächsten Bewerbung um eine interessantere Arbeitsstelle bessere Chancen ausrechnen zu können. N u n will sie sich ein letztes Mal bewerben, ein allerallerletztes Mal, um den Einstieg zu schaffen, die kleine, noch fehlende Schraube hineinzudrehen, um dem Chef oder der Chefin aufzufallen und mit ihren Ideen und ihrem Enthusiasmus so unersetzbar 18
zu werden, dass sie nach drei Monaten unbezahlter Aushilfstätigkeit zu einer bezahlten Hilfskraft wird. Sie nimmt sich vor, dort jede ihr aufgetragene Arbeit schnell, zügig und kompetent zu erledigen, wenn nötig auch am Wochenende zu arbeiten und immer als Letzte zu gehen. »Nur wer lange bleibt, qualifiziert sich für die guten Jobs«, ist ihr Credo. Anika bewegt sich, um keine Möglichkeit verstreichen zu lassen, sogar zum »Career-Center« an der Universität, um ihre Bewerbung überprüfen zu lassen. Sie lebt von einem wissenschaftlichen Stipendium, das ihr ein minimales Grundeinkommen sichert und das sie nicht versteuern muss. Ihre Eltern finanzieren den Rest, der so anfällt. Es ist ihr unangenehm, immer noch auf ihre Eltern angewiesen zu sein, aber diese sind begeisterte Unterstützer ihrer wissenschaftliche Karriere, weil sie denken, dieser Einsatz wird sich lohnen und ihre Tochter kommt irgendwann an der Uni groß raus. Sie glauben an die Frauenquote im öffentlichen Dienst. Anika ist etwas skeptischer. Und möchte deshalb neben ihrer Archivarbeit Einblicke in das Berufsleben gewinnen. Sie lässt sich einen Termin bei einer persönlichen Karriereberaterin an der Uni geben und besucht zwei Wochen später guten Mutes die Sprechstunde. Auf dem Gang ist nichts los, im so genannten Bibliothekszimmer ist der runde, mittige Tisch leer geräumt, hier scheint nie jemand zu lesen oder etwas nachzuschlagen. Hinter irgendeiner T ü r klingelt ein Telefon, hinter einer anderen summt eine Kaffeemaschine. Anika wird von Frau Düse, die eine Bluse mit einem sehr dynamischen Muster trägt, in ein Besprechungszimmer gebeten. Das Zimmer ist hell und freundlich, mit gesunden Grünpflanzen auf den Fensterbänken. Anika wird nett begrüßt und höflich behandelt, darüber kann sie sich nicht beschweren. Aber als sie Frau Düse ihre Bewerbung und die dazugehörige Stellenanzeige reicht und fragt: »Was können Sie mir raten, damit meine Bewerbung Erfolg hat? Sollte ich eine Formulierung ändern? Oder welche 19
anderen Tätigkeiten kämen bei meinem Profil, Ihrer Meinung nach, infrage?«, da runzelt Frau Düse nur die Stirn, blättert angestrengt in Anikas Unterlagen, um danach sofort verbindlich zu lächeln. »Ihre Bewerbung ist wunderbar. Da kann ich Ihnen nicht weiter helfen. Machen Sie weiter so. Sieht doch alles gut aus.« Anika schickt ihre Bewerbung unverändert ab. Einen Monat später findet sie eine weitere Absage in ihrem Briefkasten. Danach ist sich Anika sicher, dass sie nie wieder überhaupt nur im Geringsten darauf hoffen wird, dass ihr in einer Hilfsinstitution geholfen wird. »Die haben doch keine Ahnung«, sagt sie. Als sie Linn davon erzählt, seufzt die nur und sagt: »Das, was Frau Düse den ganzen Tag macht, könnten wir in zwei Stunden erledigen. Und von ihrem Gehalt könnten wir beide ganz gut klarkommen.« Linn reckt ihr Kinn nach vorne, es ist rund wie eine Faust, und schaut Anika verschwörerisch an. »Wenn ich an der Macht bin, werde ich dafür sorgen, dass solche Leute nicht auch noch eine dicke Rente beziehen. Dafür wird es nämlich gar kein Geld mehr geben. Wie sollen denn Arbeitslose die Rentenkassen füllen?« Anika muss über diesen Sparwitz lachen und schiebt ihr Kinn ebenso nach vorne in Richtung Zukunft und Modernisierung. Im Jazz-Cafe, wo sie für sieben Euro die Stunde jobbt, hat sie angefangen, kopierte Artikel über die Illusion der Vollbeschäftigung und die Lügen der Politiker zu verteilen. Wenn ihr hinter der T h e k e langweilig ist, faltet sie aus den Berichten und Interviews Origami-Figuren: Kraniche, Schwäne und Trinkbecher. Das Origami-Prinzip erscheint ihr vorbildlich, um aus wenig etwas Schönes zu schaffen und sich an die Schönheit des »Weniger« zu gewöhnen. »Ich könnte das nicht so gut zusammenfassen«, murmelt sie, wenn sie die kunstvollen Papierstücke zu den bestellten Milchkaffees legt. Linn jobbt nicht, sie steckt, seitdem sie keine Prüfungen mehr vor sich und ein Diplom in der Tasche hat, alle Energie ins Be20
Werbungsgeschäft. »Ich fahre mindestens siebengleisig«, sagt Linn, »und je mehr Bewerbungen ich schreibe, desto klarer wird mir, was ich zu bieten habe. Ich würde mich eigentlich immer sofort einstellen.« Je nach Bewerbung passt sie ihren Lebenslauf an, damit er gradlinig wirkt, stellt etwas um, kürzt hier und da und betont andere Schwerpunkte, höchstens ein bis zwei. Mehr würden ihre Ansprechpartner nur irritieren. Sie möchte zielstrebig wirken und kann sich für sehr unterschiedliche Profile zurechtstutzen oder auch erweitern. Ihre Taktik ist: sich bloß nicht festlegen, vielseitig anschlussfähig sein - wie ein Joker. Immer so tun, als sei sie diejenige, die gerade gesucht wird, die genau hineinpasst. Sie ist flexibel, mobil und formbar. Sie muss sich anpreisen, darf aber nie verzweifelt wirken. Im Gegensatz zu Anika, die ehrlich ist und alles angibt, was sie bisher gemacht hat, und damit oft nicht das Stellenprofil punktgenau erfüllt, gehört Linn zu denen, die immer wieder in die engere Wahl kommen und zu Auswahlgesprächen eingeladen werden. Sie weiß inzwischen, wie sie sich hinsetzen, wie sie schauen, wie lang oder kurz sie reden muss. Und wann sie etwas fragen muss und darf. Auch wenn sie die Stelle gar nicht wirklich will, kann sie den Eindruck erwecken, dass nur diese Stelle für sie infrage kommt. Das hat Vorteile. Wenn sie zum Beispiel eine Absage erhält, ist sie nicht traurig, weil sie sich einreden kann, dass sie die Stelle ohnehin nicht wollte. Bekommt sie hingegen eine Zusage, kann sie sich freuen, aber immer noch absagen. Skrupel hat sie dabei nicht. Sie spielt nur das Bewerbungsspiel mit. Sie testet ihre Fähigkeiten. Für wie viele Richtungen kann sie überzeugend eintreten? Sie vertritt sich als Fraktal. Sie beobachtet sich in ihren Zersplitterungen. Wenn zum Beispiel die Personalfrau fragt, wieso sich Linn denn für einen Kinderbuchverlag beworben habe, obwohl sie noch nie mit Kinderbüchern zu tun hatte, entgegnet Linn, dass sie genau deshalb die Richtige für Kinderbücher sei, denn sie habe noch einen unvoreingenommenen Blick, außerdem könne sie ihre Erfahrungen aus
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anderen Arbeitsbereichen, in denen sie sich mit kurzen Texten befasst habe, einbringen. Und sie hielte Kinderbücher für etwas so Sinnvolles, ja, sie wolle endlich etwas machen, das ihr wichtig sei. Sie habe früher als Schülerin die Kinder der Nachbarn gehütet. Kinder seien phänomenal, kreativ und spannend. Und sie wolle ja etwas Kreatives und Spannendes machen. Sie habe alle ihre Zeichnungen aus der Grundschule in einer Mappe gesammelt, und diese Dokumente würden ihr die Sicht der Kinder wieder aufschließen, um mit Wordsworth zu sprechen: »Thou best philosopher who yet dost keep/Thy heritage; thou eye among the blind/That, deaf and silent, read'st the eternal deep,/Haunted forever by the eternal mind;/Mighty prophet! Seer blessed!« - die berühmte Ode an die Unsterblichkeit, in der das Kind zum Visionär ausgerufen wird - oder mit Schiller, der Mensch sei ja nur da ganz Mensch, wo er spiele, also, die Kindheit sei die wahre Wiege der Menschheit, und wenn man etwas in den Köpfen verändern wolle, müsse man dort beginnen. Die Personalfrau nickt zufrieden. Sie hat über das aufgeklärte und verklärte Kindheitsmotiv in der englischen und deutschen Romantik promoviert. Und Linn glaubt sich selbst kein Wort, denn sie hat überhaupt keine Lust auf Kinderbücher, aber der Job wäre für zwei Jahre und bezahlt. Vor einem Bewerbungsgespräch recherchiert Linn immer so intensiv, als bereite sie sich auf eine Prüfung vor. Sie informiert sich über die Firma, über aktuelle politische Themen und eventuelle Skandale, über Punkte, die sie besser nicht ansprechen sollte, denkt über eigene Stärken und Schwächen nach, findet Kosten und Dauer des Anfahrtsweges mit Nah- und Fernverkehrsmitteln heraus und erfragt im Vorfeld die Namen der Gesprächsteilnehmer, um deren Lebensläufe und Karrieren zu erforschen. Dann kann sie nichts aus der Ruhe bringen. Sie übt diese Gespräche mit ihrem Freund Viktor: »Stellen Sie sich vor, dass Sie mit einem Kunden verhandeln. Er möchte etwas durchsetzen, das wir in unserer Zielvorgabe ausgeschlos22
sen haben. Was tun Sie?« »Ich bleibe stur.« »Der Kunde bleibt auch stur.« »Ich bleibe weiterhin stur, denn ich streite gerne. Ich argumentiere gerne. Ich werde alle Argumente vorbringen, um ihn zu überzeugen, dass wir es gut mit ihm meinen, aber dass dieser Punkt nicht diskutabel ist.« »Der Kunde bleibt weiter stur.« Linn ist am Ende ihrer Weisheit, und nun kommt Viktor ins Spiel. »An dieser Stelle musst du sagen, dass du mit deinem Vorgesetzten Rücksprache hältst. Du selbst triffst natürlich keine eigenmächtige Entscheidung. Du willst den Kunden nicht vergraulen und vertagst deine Antwort, bis du das Problem deinem Chef geschildert hast. Und er wird dich für sehr loyal halten, denn du hast gezeigt, dass du die Hierarchien kennst und nicht hinter seinem Rücken verhandelst.« Viktor ist kompetent, weil er selbst genügend Gespräche hinter sich hat. Eines, bei dem der Arbeitgeber barfuß herumlief. Eines, bei dem Viktor irgendwie vom Thema abkam und nur noch von seinen Eltern erzählte. Eines, bei dem er sich nicht hinsetzen, sondern die leeren Regale im Raum anschauen und kommentieren sollte. Und eines, bei dem seine Gesprächspartner ständig in Lachen ausbrachen, weil sie Insider-Witze rissen. Er weiß, dass die Arbeitgeber höchste Professionalität von ihren Bewerbern verlangen, obwohl sie sich selbst einiges durchgehen lassen - vielleicht, um die Bewerber zu irritieren, oder weil sie eigentlich unprofessioneller als die jungen Arbeitssuchenden sind. Anika kennt sich dagegen mit dem Scheitern aus. Ihre Nerven zittern, wenn sie den Raum betritt, in dem Kekse und Kaffee bereitstehen. Weil sie ständig Absagen bekommt, kann sie nicht mehr richtig schlafen. Ihr Rücken ist verkrampft. Falls sie doch einmal eingeladen wird, ist die Anspannung so groß, dass sie Beruhigungsmittel nehmen muss. Die Angst, wieder zu versagen, ist trotzdem da. Und diese Angst schlägt ihr auf das vegetative Nervensystem, verursacht Magendrücken und Durchfall, sodass sie unkonzentriert ist und schnell das Falsche sagt. Sie 23
schaut den Leuten ungern ins Gesicht, das empfindet sie als unhöflich, und dadurch wirkt sie unsicher. Sie hasst es, dick aufzutragen. Sie sagt »ich weiß nicht, ob ich das kann« anstelle von »ich habe das noch nie gemacht, aber würde es gerne lernen«. Als einmal der Chef zu spät zum Gespräch kam, musste sie eine Viertelstunde mit dem Abteilungsleiter warten. Dieser sprach ständig ihren Namen falsch aus. Sollte sie ihn korrigieren? Testete er durch das falsche Aussprechen ihr Selbstbewusstsein? Dann müsste sie ihn darauf hinweisen, um als durchsetzungsfähig zu gelten. Sprach er ihn aus Versehen falsch aus? In dem Fall könnte er beleidigt sein, wenn sie ihn verbesserte. Sie entschied sich dafür, nichts zu sagen, sie redete sowieso nicht so gerne und vermutete, sie selbst habe wahrscheinlich ihren Namen falsch geschrieben. Doch im Verlauf der Kommunikation stellte sich heraus, dass niemand ihre Unterlagen genau gelesen hatte. »Was haben Sie studiert?«, fragte der endlich eingetroffene Chef. »Japanologie. Ach so. Gut, dann stellen Sie sich bitte kurz vor.« Anika erzählte von ihrer Arbeit an der Uni und ihren Seminaren und dass sie später gerne im Bereich der Wirtschaftsberatung arbeiten würde. Kurz darauf unterbrach der Chef ihre Ausführungen: »Das ist ja alles schön und gut. Aber sind Sie sich im Klaren darüber, dass wir unsere Geschäftsgespräche auf Japanisch führen?« Anika war verwundert. »Natürlich. Ich habe Japanologie studiert und ein Jahr in Japan gearbeitet.« »Ach so. Gut. Prima.« Dann klingelte das Handy des Abteilungsleiters. Nachdem er sein Telefonat in Ruhe beendet und der Chef die Zeit genutzt hatte, um kurz zu verschwinden, kam das Bewerbungsgespräch nicht mehr in Schwung. »Vielen Dank«, sagte der Chef. »Wir melden uns bei Ihnen. Hier, schauen Sie sich doch mal unsere Firmenbroschüre an. Und machen Sie Werbung für uns bei Ihren Kommilitonen.« Anika fuhr unglücklich nach Hause. Sie konnte sich noch so gut vorbereiten, sie schaffte es nicht, eine Maske aufzusetzen. Sie mochte sich nicht ständig anpreisen. Eigentlich fiel ihr auch nichts mehr ein, was sie 24
betonen und herausschreien könnte. Und weil es so oft schief lief, war sie beim nächsten Mal noch nervöser. Linn dagegen hat eine Einladung zum Vorstellungsgespräch bekommen, das allerdings in der Firmenkantine stattfinden soll. Der Personalchef hat wenig Zeit, wie die Sekretärin am Telefon sagte, und so könnten sie einfach gemeinsam etwas essen. Linn übt also wieder mit Viktor. Die so genannte Kaffeesituation bewältigt sie schon anstandslos: Sie nimmt den angebotenen Kaffee an, auch wenn sie eigentlich wach genug ist, denn eine Ablehnung würde unhöflich wirken, und tut so, als trinke sie ihn schwarz, damit sie nicht beim Hantieren Milch und Zucker verschüttet. Sie lässt ihn kalt werden, nippt erst nach zehn Minuten kurz und vorsichtig daran, damit der Blickkontakt mit den Gesprächspartnern nicht vom Tassenrand verstellt wird. Und weil Linn die Kaffeesituation wirklich perfekt beherrscht, übt Viktor nun mit ihr die verschärfte Variante: das Bewerbungsgespräch beim Edel-Italiener - sein Geburtstagsgeschenk für sie. Nun sitzen sie sich bei Kerzenlicht gegenüber. Linn muss elegant die Riesengarnelen pulen und die Sepia-Spaghetti tropf frei aufzwirbeln und dabei über ihre Arbeitserfahrungen sprechen. Das Essen soll wie nebenbei geschehen - denn es sei ja eigentlich ein Vorstellungsgespräch, und sie solle sich nur eine kleine Portion bestellen. Je länger sie spreche, rät Viktor, desto mehr könne ihr Gegenüber essen, und je weniger Hunger er habe, desto genauer könne er zuhören. Sie müsse allerdings unbedingt eine Zwischenfrage stellen, damit auch sie zum Essen käme und das Gegenüber auch etwas über sich erzählen könne. Und wenn die Gesprächspartner nur noch von sich redeten, sei das Gespräch, so Viktor, als ein gelungenes anzusehen. Denn die Arbeitgeber wollten nun auch einmal zeigen, was sie so drauf hätten. Sie würden damit die Bewerberin als jemanden anerkennen, vor dem es sich lohne anzugeben. Im Gespräch müsse sie daran denken, alle Beteiligten anzuschauen, nicht nur denjenigen, 25
der das Gespräch führt. Denn auch der anwesende Betriebsratsvertreter, der nichts sagt, werde am Ende seine Stimme pro oder contra Linn geben. Linn hat unterdessen mit Weißbrot die ölige Soße aufgewischt, ihren Mund abgetupft und einen Schluck Rotwein genommen. Unter dem Tisch krabbelt Viktor mit seinen professionellen Fingern an ihren rasierten Beinen hoch und malt ein unsichtbares »Auguri auguri« - Viel Glück! - auf ihre Haut. Weil Linn sich also gut wappnet, läuft bei ihr eigentlich immer alles glatt. Als die Sekretärin am Telefon den Weg erklären will, winkt Linn ab: »Das finde ich schon, ich habe ja einen Stadtplan.« Dumm bin ich nicht, meine liebe Dame, denkt sie, genervt von der Überheblichkeit und Besserwisserei der Telefonistin. Als Linn aus dem Zug steigt, hat sie noch so viel Zeit, dass sie in einem Kosmetik-Laden ihr Make-up überprüfen und schnell die Hände eincremen will. Doch auf manche Malheurs kann sich auch der Bewerbungsprofi Linn nicht vorbereiten. Denn leider erwischt sie die falsche Tube, ein Peeling mit Natursand statt der kamillensanften Lotion. Es klebt und stinkt und lässt sich mit den von der Verkäuferin gereichten Tüchern nicht abwischen. Linn bleiben noch zwanzig Minuten, um eine öffentliche Toilette und die Firma zu finden, und sie wird etwas unruhig. In einer Shoppingmall hat sie Glück. Das Klo ist hoch technisiert, und man muss um hineinzugelangen 80 Cent in 20 Cent-Münzen an eine Drehtürmaschine entlohnen. Diesen Preis hält Linn für etwas übertrieben. Also fragt sie die beschürzte Reinigungskraft, die den Eingang bewacht und Wechselgeld für den Automaten herausgibt, ob sie ausnahmsweise umsonst ans Waschbecken gehen dürfe? Sie habe gleich ein Vorstellungsgespräch und sich aus Versehen die Hände mit einem Peeling eingecremt, das sie nun dringend entfernen müsse. Die Frau scheint ihr kein Wort zu glauben und hält ihr als Revanche für diese dämliche Ausrede einen nassen Lappen hin. Im Reflex nimmt Linn ihn entgegen: »Ist das Wasser?« 26
Die Frau antwortet vorwurfsvoll, vielleicht aber auch etwas hinterhältig: »Was denn sonst?« Danach fühlt sich Linn doppelt eklig. Diese Hände, belegt mit einer Paste aus Steinkrümeln und Wischfeuchte, möchte sie niemandem geben und kramt 80 Cent zusammen, um das Zeug abzuspülen. Beim Waschen lässt sie sich Zeit, denn wenn sie schon dafür bezahlt, dann soll es sich wenigstens lohnen. Fünf Minuten lässt sie das angenehm lauwarme Wasser über ihre Finger laufen. Und dann wird die Zeit knapp. Weil sie sich die entsprechenden Quadrate des Stadtplans ausgedruckt hat, findet sie zum Glück sofort die richtige Straße. Aber die Hausnummer, nach der sie sucht, ist unauffindbar. Sie hat den großen Fehler gemacht, die Telefonnummer der Sekretärin nicht mitzunehmen. Hier in der Gegend kennt sie niemanden, der ihr irgendwie helfen könnte. Die Straßen sind leer. Noch zehn Minuten bis zum Termin. Linn hat sich, damit sie nicht mit großen Flecken unter den Achseln erscheint und den ersten Eindruck beschmuddelt, der ja bekanntlich der wichtigste ist, während der Anfahrt Taschentücher unter die Achseln gestopft. Sie sind schon völlig durchgeweicht. Linn tauscht die Tücher gegen eine letzte Ersatzportion Klopapier aus. Manchmal vergisst sie, das Aufsaugmaterial vor dem Treffen zu entfernen, und muss aufpassen, dass die weichen Klumpen nicht nach vorne oder nach hinten rutschen und merkwürdige Beulen entstehen lassen. Sie beeilt sich und rennt weiter, um den Block, weil das Haus vielleicht von einem anderen Straßenzug aus zugänglich sein könnte, sozusagen von hinten. Es bilden sich Schweißringe auf ihrer Bluse, aber das ist ihr jetzt auch egal. Sie begibt sich in die Hauseingänge der nächstliegenden Hausnummern und studiert die Schilder sehr genau. Dann den Hof. Sie inspiziert jede nur mögliche Treppe. Sie kommt sich vor wie bei einer Schnitzeljagd. Schließlich findet sie eine Feuerleiter, die sich an der Hauswand bis zu einem Balkon kurz unterhalb des Daches rankt. Von hier aus kann sie zwischen den beiden Häusern zu 27
einer Tür gelangen. Nachdem Linn durch das Trial-and-ErrorSystem alle anderen Eingänge in der näheren Umgebung als Zielorte ausgeschlossen hat, geht sie nun diesen letzten absurden Weg. Mit erhitztem Kopf und feuchten Händen erreicht sie ein Büro, neben dessen Klingel wirklich die gewünschte Hausnummer zu lesen ist. Nachdem der Türöffner gebrummt und sie hineingelassen hat, nachdem sie der Sekretärin »Guten Tag« gesagt und ihre Jacke wegen der nassen Stellen nicht ausgezogen hat, kann sie sich nicht verkneifen zu bemerken: »Ich hätte Sie fast nicht gefunden.« »Das ist unsere Absicht«, entgegnet die Sekretärin höflich. »Aber nun sind Sie ja hier. Viel Erfolg bei Ihrem Gespräch. Sie sind die Erste, die nur fünf Minuten Verspätung hat. Und für heute die Letzte.«
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Drei Dinge »Es ist ja wohl klar«, sagt Jasmin, »dass ich für den Job auch nach Castrop-Rauxel oder nach Timbuktu gehen würde. Ich muss klein anfangen und mich hocharbeiten. In zehn Jahren kann ich mich dann in den großen Städten bewerben.« Sie hat gerade ihre Magisterarbeit abgegeben, sich Tage und Nächte mit ihrem BilligDrucker um die Ohren geschlagen, weil er für das Drucken einer Seite fünf Minuten brauchte, seinen Tintenstrahlseufzern und Seiteneinzugkratzern gelauscht, ist monatelang nicht mehr ans Telefon gegangen und hat, weil sie nur noch auf ihrem Bürostuhl saß, zehn Kilo zugenommen. Deshalb pflegt Jasmin jetzt wieder ihr sehr genügsames Hobby: Wenn sie Hunger hat, liest sie sich Rezepte durch. Ihr Motto lautet »sparsam genießen«. Ihr Ziel ist, die Zutaten für die Gerichte immer weiter zu verringern und trotzdem vollwertige Speisen zuzubereiten. Regelmäßig kocht sie für ihre Freunde ihre Lieblingsreduktionen. »Jetzt trete ich endlich in eine neue Phase meines Lebens«, sagt sie optimistisch. »Jetzt mache ich etwas Sinnvolles.« Ihren Freunden gefällt die Energie, die ihnen da entgegenspringt. Trotz überfüllter Seminare, unmotivierter Dozenten, einer lückenhaften Bibliothek, asbestverseuchter Arbeitsräume und fehlender Praxis hat Jasmins positive Grundeinstellung und ihr Glaube an das Kommende-Bessere nicht nachgelassen. Das ist an sich schon bewundernswert. Zusätzlich fühlt sie sich vom akademischen Druck befreit, von Leselisten und Lernplänen, vom Gefühl, in jeder freien 29
Minute weiter studieren, mehr lernen, in die Tiefe gehen zu müssen, alles zu hinterfragen. Sie fühlt eine »neue Leichtigkeit«, wie sie es nennt. Und wenn sie singen könnte, würde sie singen und nicht sagen: »Jetzt weiß ich endlich, was ein Flow ist. Ich brauche keine Aufputschmittel mehr.« Sie unternimmt wochenlang nichts außer »einfach mal eine Straße hinunterlaufen, einfach mal ohne schlechtes Gewissen ins Leere starren, endlich mal wieder tanzen gehen«. Und dann will sie endlich den Start ins Berufsleben anpacken. Sie schreibt angriffslustig Bewerbungen, spart nicht an Kopiergeld und Portokosten, verschickt ihre gesammelten Werke in die weite Welt, denn sie ist offen für alles. Jasmin hat Glück und findet Arbeit in einem deutsch-polnischen Altersheim. Sie freut sich über diese Chance, eigene Erfahrungen zu machen, Verantwortung zu tragen, interkulturelle Kompetenz zu üben, eigenständig Initiative zu ergreifen und Flexibilität am Arbeitsplatz zu lernen. Sie glaubt, dass sie mit diesen Stichworten, die sie geschickt in ihr Anschreiben eingebaut hat, als modern und motiviert aufgefallen sein muss. Sie lernt in einem Schnellkurs zehn Sätze der weichen slawischen Sprache, packt zwei Koffer und bucht ein Ticket für einen intereuropäischen Zug. Vor ihrer endgültigen Abfahrt und dem »jobbedingten Ortswechsel« veranstaltet sie eine Abschiedsparty, küsst einen Freund in der Küche vor dem Kühlschrank, weiß, dass der Beginn dieser Affäre schon der Schlussstein ist. Dieses Mal ist allerdings nicht nur das Essen, sondern auch die Stimmung minimalistisch - passend zu den Leerstellen in ihrer Küche. »Alles Gute bei deinem neuen Start da unten«, sagt Nils. »Gute Reise!«, wünscht Linn. »Melde dich«, sagt Anika. Die Regale sind ausgeräumt. Der Kühlschrank kippelt und ruckelt die letzten drei Joghurts kalt. Passend zur Traurigkeit des Anlasses gibt es ein Vierer-Essen, für jede anwesende Person eine Zutat. Schnell ist alles aufgegessen. »Wenn du das nächste Mal für uns 30
kochst, dann bitte nur ein Dreierlei«, hofft Nils. »Es muss doch irgendwie vorangehen.« Er schenkt ihr einen Block: »Für die flotten Dreier.« Weil der Witz so schlecht ist, grinst er etwas schräg. Vor der Abfahrt am Bahnhof weint sie, warum weiß sie gar nicht so genau. Nils' Block legt sie als Platzhalter auf ihren Sitz und während der Reise als Tablett auf ihre Beine, während sie die geschmierten Proviantbrote verzehrt. Eigentlich müsste Jasmin zufrieden sein. Sie müsste sich wohl fühlen. Ihr neuer Arbeitgeber bezahlt ihr eine große, helle Wohnung mit zwei Zimmern, einem rosa gekachelten Bad, einer Waschmaschine und einer Einbauküche. Der Balkon geht in Richtung Süden, allerdings mit Blick auf Plattenbauten, auf die von Tauben bevölkerten Fenstervorsprünge, auf Häkelgardinen und Ehepaare mit dicken Bäuchen. Es sind durchaus heimelige Plattenbauten, sonst wären die Tauben nicht so anhänglich, denkt sie. Ein bisschen störend ist, dass die Plattenbaubewohner genau in ihr Zimmer sehen können. Wenn sie sich auf das Gebirge stellen würde, das hinter der Stadt beginnt, könnte sie bis ans Mittelmeer schauen. Hier und da hängen rustikale Tonteller an der Wand, bemalt mit fröhlichen Mädchen, denen beim Volkstanz die Bänder im Haar wehen. In der Küche findet sie nur ein Geschirrhandtuch, aber in einer weiteren Schublade zehn Tischdecken. Die Flammen des Gasherdes pfeifen und sausen wie verrückt, wenn sie für ihren Vier-Uhr-Tee nach Ostfriesenart - Tee, Kluntje, Sahne - die vierte Zutat Wasser erhitzt. Nachts zirpen irgendwelche Tiere in den Wasserrohren so laut, dass sie nicht schlafen kann, sodass sie mitten in der Nacht Müsli einweicht und alte Rezepte liest. Ansonsten keine Geräusche, keine Gespräche. Sie ist so neu hier. Sie wünscht sich neue Rezepte. Jasmin schickt Nachrichten nach Hause: »Die Wohnung ist schön, hell und groß. Ich fühle mich mediterran.« Aber die Wohnung ist zu groß. Sie nimmt sich vor, nur das eine Zimmer 31
zu bewohnen, das zweite Zimmer als Gästezimmer leer stehen zu lassen. Denn diese mittelgroße Stadt liegt in einem ehemaligen Industriegebiet und lockt mit einer Kunstavantgarde, die die leer stehenden Fördertürme besetzt und mit Elektropop beschallt. Sie ist ein attraktives Reiseziel abseits der bekannten Routen, wie diverse Touristenbroschüren bestätigen. Der Salzabbau gilt als traditionelles und international renommiertes Gewerbe. Der größte Salzkristall der Welt stammt von hier. Schon im Mittelalter führten wichtige Handelsstraßen durch diese Region, vor allem die Bernsteinstraße von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, die seitdem die städtischen Straßen und ihre Bürgerhäuser mit den südlicheren Landschaften verbindet. Die Bergleute fehlen ihr. Die Händler fehlen ihr auch. Die Elektropopper kennt sie noch nicht. »Ich fühle mich einsam«, sagt Jasmin laut in die sehr leere und sehr große Wohnung hinein, in der Hoffnung auf Zuspruch durch die eigene Stimme. Sie mag ihre Stimme. Am liebsten würde sie jetzt irgendwo anrufen und ihre eigene Stimme ganz spontan reden lassen. Aber sie hat noch keinen Festnetzanschluss, Handytelefonate sind zu teuer, auch Radio oder Kabelfernsehen als Ersatz sind nicht vorhanden. Sie kann niemandem etwas mitteilen, und ihr kann nichts mitgeteilt werden. Der Fernseher zeigt eine schwarz-weiße Rieselschau und auf Kanal 546 einen Privatsender ohne Ton, natürlich auch in Schwarz-Weiß. Es dauert sehr lange, bis sie das durch das schrittweise Hochsetzen der Programmnummern herausgefunden hat. Sie setzt sich davor, schaut die verzerrten Bilder an und denkt sich die Sätze dazu. »Vielleicht fördere ich meine kreative Seite durch diese zwanghaft einseitige Kommunikation«, redet sie sich ein und streicht über die noch leeren Seiten in Nils' Geschenkblock. Zum Glück hat sie ihren neuen Laptop mitgenommen. Sie fährt das Gerät hoch, hört die Begrüßungsmelodie und probiert alle Programme aus. Leider versteht sie die Anleitungen für die Spiele nicht, der Taschenrechner bringt nichts, wenn man 32
nichts auszurechnen hat, einfach so herumzurechnen, macht ihr schon nach fünf Minuten keinen Spaß mehr. Netterweise haben die Programmierer der Grundausstattung daran gedacht, für die Audio-Bibliothek einen Probesong einzuspeichern. »Ich brauche Geräusche, mehr Geräusche in dieser Wohnung.« Sie spielt den einprogrammierten Song ab. Er ist schrecklich, irgendein Rocksong eines amerikanischen Halbstars, aus dem eine bekannte Kochtopffirma ihr Werbejingle gebaut hat. Sie hört sich den Song zehnmal an, weil es eben der einzige ist, und probt dazu ein paar Tanzschritte durch die Wohnung. Um die Koordination etwas zu erschweren, wirft sie pantomimisch aus einer imaginären Pfanne ein Omelette in die Luft. Im Takt, versteht sich. Alles erscheint plötzlich einfacher. Alles ist plötzlich irgendwie erfüllt. Welche Gefühle Musik hervorrufen kann, denkt Jasmin begeistert, sogar schreckliche Kochtopfmusik erzeugt glückliche Schwingungen. Toll ist das! In den nächsten Tagen geht sie in der Wohnung auf und ab, packt die Koffer aus. Einiges fehlt. Also muss sie ein paar Sachen einkaufen, den Kühlschrank füllen, eine Grundausstattung besorgen. Viel braucht sie ja nicht, und viel will sie nicht - sie hat Nils' Aufgabe im Hinterkopf. Zurück zu den drei wichtigen Dingen. Nach dem Gang zum Supermarkt stellt sie fest, dass sie sich verrechnet hat. »Die Zahl drei ist mir noch sehr fremd«, bemerkt sie. Fremd sind ihr auch die örtlichen Lebensmittelverpackungen. Statt Salz hat sie Knoblauchgranulat gekauft, statt Milch Molke, statt Pfeffer Kümmel und statt Margarine Hefe. »Selbst ein Scheitern bei der Warenauswahl kann zu weiterer Kreativität führen und verführen«, doziert sie mit Kümmelgeruch in der Nase. »Ich werde Überraschungen kochen und mit Pfiff essen.« Am Abend kommt ihre neue Kollegin vorbei. Tatjana ist auch gerade erst an diesem Ort eingetroffen und neu hier. Jasmin hat sie bei den Vorstellungsgesprächen im Hauptbüro der 33
Organisation, bei der sie beide arbeiten werden, kennen gelernt. Tatjanas laute Stimme war durch den gesamten Flur gehallt, als sie in ihrem Gespräch gefragt wurde, ob sie sich für durchsetzungsstark und zielorientiert halte. Tatjana hat heute statt Salz Zucker gekauft, statt Quark Butter und statt Gries Mehl. Jasmin sagt so laut, wie sie nur kann: »Butterkeks.« Tatjana versteht sofort und stößt mit ihr an. Sie trinken Bier mit dem schönen Namen »Der Falke im Dunkeln verfliegt sich nie« und reden über die neuen Wohnungen. »Meine Vermieterin hat in der Wohnung handgewebte Teppiche verteilt«, erzählt Tatjana, »florale Muster, wo ich hinschaue. Die Frage, die mich zurzeit sehr stark beschäftigt, ist: Wie setze ich am geschicktesten Pflanzen und Reißzwecken ein?« Tatjana scheint ebenfalls ein introvertiertes Hobby auszuüben, es muss irgendwie mit Einrichtung zu tun haben. Jasmin findet es schön, dass die Kollegin einfach nur da ist, dass sie zentrale Fragen laut stellt und dass sie zum Abschluss eine Geschichte erzählt, in der in jedem Satz »Men in Black zwei« vorkommt. Die Wohnung wird erfüllt von »Men in Black zwei«. Jasmin beruhigt das sehr. Nachdem Tatjana gegangen ist, erstellt Jasmin eine Liste mit den in ihren beiden Haushalten vorhandenen Zutaten, um einen Überblick über mögliche Rezepturen zu erhalten. Fett unterstreicht sie Tatjanas Butterkekselemente. So ein Butterkeks ist doch was Praktisches, der passt immer. Er ist banal und alltäglich, aber auch handfest und heimatlich in kleinen runden Stücken. Sie entscheidet sich, dem Butterkeks die erste Seite ihrer Speisesammlung zu widmen. Als Tatjana sie das nächste Mal besucht, hat Jasmin das neue Rezept ausprobiert. Karamellduft zieht durch die Tür in das Treppenhaus. Karamellduft hängt in ihren Haaren. Jasmins Hände sind weich und rosig vom Kneten des Butterteigs. Auf dem Boden und unter ihren Hausschuhen kleben glänzende Mehlplacken. Auch auf ihrer Hose sind feine Mehlspuren zu 34
sehen. Tatjana ist zu dritt. Sie bringt zwei ihrer Kollegen und Tassen, Teller, Bestecke in doppelter Ausführung mit. In Jasmins Wohnung fehlt eben noch manches. Aber endlich muss sie nicht mehr das Kochtopflied singen. Endlich wird geredet und gelacht und gekrümelt, und Jasmin denkt an Nils. Er wäre sicherlich sehr zufrieden mit ihr und würde sagen: »Du bist richtig repräsentativ geworden.« »Trotz des Mehlstaubs?« »Gerade deswegen. Das wirkt einladend.« Nachdem die Gäste gegangen sind, setzt sich Jasmin auf den Fußboden im leeren Gästezimmer und schreibt Nils einen Brief über »drei wichtige Dinge«. Drei Seiten.
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Jasmin-Update Jedes Mal, wenn Jasmin nach Deutschland zurückkommt, bringt sie einen Rucksack voller Essen mit und wirkt ausgelassen, fröhlich, erwachsener. Sie erlebt dort im fernen Ausland so viel! Wo soll sie anfangen zu erzählen? Sie trägt dicke Wollpullis und ausladende Röcke, weil sie weiblicher wirken will, wie sie sagt. Im Gepäck befinden sich polnischer Käse, polnische Wurst, polnischer Wodka, polnische Salzstangen. Sie bricht unter dem Essen fast zusammen. Aber diese Schlepperei muss sein, denn schließlich möchte sie in der kurzen Zeit, in der sie in Deutschland ist, für alle Freunde kochen und von den Abenteuerlichkeiten aus dem zweisprachigen Altersheim berichten. Wie der alte Piotr weinte, als sie ihm etwas vorlesen wollte. Wie die alte Magda fast aus dem Fenster fiel, weil sie es für eine Tür hielt. Wie die alte Dorota das Kunststück »Ich verschlucke einen Bügel« vormachte. Es scheint sehr aufregend zu sein, dort im Ausland. Natürlich ist es nicht aufregender als in jedem anderen Altersheim. Aber es ist eben Jasmins erster Job, und der ist immer aufregend. Jasmin weiß, sie wird nur ein Jahr dort bleiben, denn dann wird sie sich ja hocharbeiten und wieder in die Nähe der großen Städte ziehen. Und dort dann die große Karriere starten. Auf jeden Fall soll alles ganz GROSS werden. Jasmin glaubt an natürliches Wachstum. Sie wohnt nun im polnischen Mobilfunkgebiet - auch die deutschen Handys wählen sich automatisch in 36
die polnischen Netze ein. Sie kauft sich ein polnisches Gerät, schreibt ab und zu eine SMS, weil das billiger ist, als aus dem Festnetz nach Deutschland zu telefonieren. Von Polen aus gibt es keine Billigvorwahlen. Einmal im Monat besucht sie ihre alten Freunde in Deutschland, um nicht den Anschluss zu verlieren, um nicht vergessen zu werden und um so zu tun, als ob sie immer noch da wäre. Bei ihren monatlichen Großstadtbesuchen muss sie innerhalb kürzester Zeit, meist an einem Wochenende, alle Menschen treffen, die für sie privat und beruflich wichtig sind, um dann hoffentlich nach ihrer Rückkehr nahtlos an ihr altes Leben anknüpfen zu können. In diesen Tagen muss sie es schaffen, »alle« zu sehen und von »allen« gesehen zu werden. »Ich muss mich zeigen«, nennt sie das. Sie muss sich für einen Moment in ihr altes Leben so einfügen, als sei sie nie weg gewesen. Das ist anstrengend, denn eigentlich ist sie ja weg und lebt ihr eigenes, den anderen recht fremdes Leben. Um dieses detailliert mitzuteilen, reicht die Zeit kaum. Alles, was sie erzählt, bleibt in Andeutungen stecken. Diese Unklarheiten haben einen positiven Effekt, denn sie steigern Jasmins Charme in gewisser Hinsicht. Ihre polnische Existenz erscheint von Mal zu Mal geheimnisvoller und undurchschaubarer. Manche Freunde denken, sie promoviere in Polen über Misshandlungen durch Pflegepersonal, absolviere eine Kochausbildung in einem Gutshaus auf dem Lande oder gehe einer leidenschaftlichen Liebschaft mit einem schlesischen Bauern nach. Und weil sie sich von allen alten Bekannten entfernt hat, damit sie irgendwann aufsteigen kann, muss sie nun ganz allein regelmäßig den Abstand zu den Dagebliebenen verringern. Aus ihrem alten Leben erhält sie seltene E-Mails. Nicht alle Bekannten und Freunde schreiben gerne oder regelmäßig. Und die Nachrichten, die sie erhält, sind bruchstückhaft. E-Mails sind oftmals schnelle Texte, mal eben zwischendurch, nach dem Kaffee, vor dem Bier. Sie erfährt nur von einigen einiges und nicht von allen alles. Diese Wissenslücken müssen also an 37
einem Wochenende geschlossen werden. Dass sich derweil andere Leben auch weiterentwickeln, dass nicht alle Lücken, die Jasmin als Lücken wahrnimmt, welche sind, dass Lücken nicht nur eine Wissens-, sondern auch eine Wahrnehmungssache sind, kommt Jasmin selten in den Sinn. Sie denkt, es genügt, ein paar Tage mit den alten Freunden in die alte Welt einzutauchen, ein paar Tage lang ihr Gedächtnis aufzufrischen, um zu erfahren, wie es daheim so läuft. Und kaum ist sie wieder nach Polen abgereist, fällt ihr ein, was sie alles noch fragen wollte, und sie beginnt mit der Planung ihrer nächsten Stippvisite. Wenn die polnischen Kolleginnen am Feierabend zusammensitzen, hängt Jasmin noch stundenlang vor ihrem Computer, informiert sich auf der Homepage des heimischen Stadtmagazins über die Veranstaltungen, die sie zwar in diesem Moment verpasst, an denen sie aber bald wieder teilnehmen wird. Sie lebt weder richtig in Polen noch richtig in Deutschland, sondern in einem unbestimmbaren Kommunikationstransit. Linn probiert probehalber ab und zu Jasmins deutsche Nummer aus, denn wenn Jasmin in Deutschland ist, benutzt sie wieder ihre deutsche SIM-Karte. Aber meistens ist the person you are Galling not available at present Ach ja, denkt Linn dann immer, sie steckt da irgendwo zwischen Apfelbäumen und Maisfeldern und bastelt tolle Korbgeflechte mit begeisterten Altpolen. Das meiste muss Linn sich also selbst ausmalen. Denn in Jasmins Mails geht es vor allem um die nächsten Heimattreffen: »Hi, Volker kann leider doch nicht am Donnerstag, geht es bei dir vielleicht schon einen Tag eher? Das wäre super, Bussi, Jasmin.« Linn richtet sich immer nach ihr, denn sie freut sich, die alte Freundin zu sehen. Wenn Jasmin wieder da ist, will Linn endlich loswerden, wie sie neulich in der U-Bahn diesen gut aussehenden und wortgewandten Mediziner kennen gelernt hat, weil er einfach ihr Buch mitlas und die Szenen laut kom38
mentierte. Dass sie allerdings wieder von ihm Abstand nahm, weil er nicht nur Bücher, sondern auch Mitmenschen laut kommentierte und Shirts mit Aufdrucken verschiedener internationaler Biermarken trug. Das alles kann sie Jasmin nicht erzählen, weil sie über die Begrüßung und den Austausch von Freundschaftsgesten nicht hinauskommt. Wenn Linn Jasmin in ihrem Lieblingscafé aufsucht, sitzt diese meistens stumm grübelnd vor ihrem Kalender und teilt die kommenden Tage in Halbe-Stunden-Abschnitte für Rendezvous und anderes Miteinander. Dabei darf sie nicht gestört werden. Das erfordert höchste Konzentration. Linn setzt sich still daneben, bestellt auch einen Kaffee, in dem sie dann so lange rührt, bis sich jedes Zuckerkörnchen aufgelöst hat. Irgendwann sagt sie: »Hallo, Jasmin!« Die Angesprochene schreckt hoch und referiert sofort ihre Termine. »Ich freue mich so, dich zu sehen. Ich bin total aufgeregt, Mensch. Ich habe nicht viel Zeit, weißt du, ich muss gleich diesen Fotografen treffen, der diese abgefahrenen Fotos von Alzheimerpatienten mächt. Vielleicht kann ich irgendwann mit ihm ein Projekt auf die Beine stellen - ich plane doch ein professionelles Archiv mit Fotos für Seniorenzeitschriften, wenn ich wieder da bin. Heute Morgen war ich mit einer Freundin frühstücken, die jetzt bei so einer Zeitschrift jobbt, sie stellt den Terminüberblick zusammen und meinte, da fehlen oft aussagekräftige Bilder.« »Klingt spannend«, bestätigt Linn, »aber wie ist das mit der technischen Seite?« »Genau das habe ich mich auch schon gefragt, deshalb habe ich mich eben mit dem Geschäftsführer des Vereins >Liebe Omi<, einem ehemaligen Studienkollegen, getroffen. Er organisiert sportliche Ausflüge für allein lebende ältere Menschen, programmiert die Vereinsinternetseite und sucht nach Weiterbildungsangeboten für dynamische Rentner.« Das klingt viel versprechend. Auf jeden Fall ist da eine Idee hinter der Frau. Mehr als »Toi, toi, toi« kann Linn nicht sagen, denn schon klingelt Jasmins Handy. Linn fragt sich in diesen Momenten, ob die energische Altenpflegerin vielleicht 39
gar nicht mehr erwartet, ob ihr vielleicht diese kleinen Bestätigungen und Aufmunterungen völlig reichen. »Mensch, Torsten! Ja! Ich bin gerade wieder hier. Wie? Ich versteh dich ganz schlecht, die Milchaufschäummaschine ist so laut. Heute Abend? Mmh, das wird schwierig, ich bin bei Katrin eingeladen, sie will mir eine neue Osteoporose-Gymnastik vorführen. Das soll gerade in China entwickelt und schon erfolgreich erprobt worden sein. Sie hat einen Vortrag darüber gehalten. Vielleicht morgen? Da ist doch die Vernissage dieser Ausstellung von einem polnischen Expressionisten, dessen Bilder fast alle im Krieg verbrannt sind, die wollte ich noch sehen. Ich hab doch nur so selten Kultur. Okay, dann treffen wir uns vor der Galerie, bis dann!« Eigentlich ist Jasmin am nächsten Nachmittag mit Linn zum Schuhe kaufen verabredet. »Mist, das habe ich total vergessen.« Nicht so schlimm, denkt Linn, dann gehe ich eben alleine. Oder mit Viktor, wenn er mal wieder hier ist. Sie möchte diese aufstrebende junge Karriere und ihre heimatlichen Vernetzungsversuche nicht gefährden. Was ist schon ein Schuhkauf gegen einen expressionistischen Künstler? Die ekstatischen Gerippe, faltigen Verkünder und sonstigen Denkfiguren über Leben und Tod kann Jasmin sich natürlich nicht entgehen lassen. Das ist einfach ihr Thema. »Es ist echt ganz schön stressig zurzeit«, erklärt sie. »Gleich gehe ich bei meiner ehemaligen Praktikantenstelle vorbei, mit dem Chef hatte ich mich ganz gut verstanden, vielleicht kann der mich irgendwie empfehlen. Er hat gute Kontakte zu deutsch-polnischen Organisationen für die gemeinsame Erinnerung. Das würde mich natürlich interessieren. Wie das gelaufen ist, kann ich heute Abend beim Essen erzählen, ja? Es gibt Bigos, das bedeutet > Wirrwarr < und Pirogi ruskie. Hat mir meine Kollegin beigebracht. Sie sucht übrigens noch ein Zimmer für ein halbes Jahr, weil sie ein Stipendium bewilligt bekommen hat. Kennst du jemanden, der sie ab Herbst aufnehmen würde?« Linn will fragen, was denn bitteschön Bigos 40
sei, Flüssig- oder Fest-Essen, mit oder ohne Fleisch, denn sie macht gerade eine Diät, bei der sie nur fettige Speisen essen darf. Auch würde sie gerne mehr über die polnische Kollegin erfahren. Aber wenn diese mit Jasmin bekannt ist, muss sie nett sein. Wieso soll Linn da noch nachfragen? Alten Freunden muss man vertrauen, sonst bricht alles zusammen. Abends versammeln sich all diese alten Freunde in irgendeiner Wohnküche, in der Jasmin gerade ihr Lager aufgeschlagen hat. Jeden Monat wohnt sie für ein paar Tage bei einem von ihnen. Der Bäumchen-wechsel-dich-Sport, den sie früher im Garten ihrer Großmutter mit ihren Cousinen und Cousins ausgeübt hat und bei dem sie auf Zuruf so schnell wie möglich von Baumstamm zu Baumstamm laufen musste, bekommt durch ihre kurzfristigen Aufenthalte eine ganz neue Bedeutung. Denn nun wechselt sie anstelle der Bäumchen die Schlafstätten, die Klappbetten und provisorischen Isomattenlager und wartet nicht mehr auf einen Zuruf, sondern verlässt sich auf ihre eigene Intuition der Höflichkeit. Denn mehr als ein paar Tage kann sie nirgendwo bleiben, das würde die Nerven der Gastgeber zu sehr strapazieren. Das Essen dampft in den Töpfen, Jasmins Gesicht glüht, und sie schneidet sich vor lauter Stress in den Finger. »Ach, macht nichts«, lacht sie, »dann erinnere ich mich noch länger an diesen schönen Abend.« Linn hat zum Abendessen zwei Bekannte mitgebracht, die sie Jasmin endlich einmal vorstellen will. Weil sie sich am Nachmittag so kurz gesehen haben, hat Linn Jasmin ihre Begleiter nicht ankündigen können. Sie dachte, dass Jasmin sich freuen würde, dass sie, weil sie ja so ein spontanes Leben führt, auch spontane Gäste verkraften kann. Aber Jasmin begrüßt die Ungeladenen mit einem mürrischen Kopfnicken, nuschelt ein »Herein, herein« und rennt sofort wieder in die Küche. Dort zischt sie Linn vor dem Kühlschrank zu, dass sie etwas überrumpelt sei, dass sie, obwohl sie auf Besuch und sozusagen im Urlaub sei, ständig 41
von Menschen umgeben sei, an die sie sich wieder gewöhnen müsse, und dass sie jetzt, abends, nach einem anstrengenden Tag, sich nicht gerne »ganz neu gewöhnen« möchte. Sie stellt lieblos und laut zwei weitere Teller auf den Tisch. Linn findet das übertrieben. Zwei Teller, denkt sie, es sind ja nur zwei Teller. Jasmin überspielt dann doch ihre Unwilligkeit und glänzt im Smalltalk. Mehr bleibt ihr allerdings auch nicht übrig. Durch die Anwesenheit zweier Unbekannter wird die Entfremdung zwischen den ehemaligen Freunden noch offensichtlicher. »Ach, du bist also der Matt. Du kommst aus Schottland?«, fragt Jasmin. »Genau. Und du bist gerade in Polen?« »Genau.« Die Gespräche bewegen sich wie der Bigos, diese Sauerkrautsuppe mit Fleischstückchen, zwischen fest und flüssig. An einem Abend ist die Zeit nicht aufzuholen. Das wird in dieser Situation anschaulicher als in jeder noch so ausgetüftelten Grafik. Z u m Glück dauern das Essen und die mühsame Unterhaltung nur eine Viertelstunde. Weil Jasmin den gesamten Tag herumgerannt ist, hat sie einen Riesenhunger und verschlingt ihre Portion in einer Millisekunde. Danach reißt sie ihren Gästen die Teller unter den Löffeln weg, als ob sie eine Wette gewinnen will. Danach möchte sie noch zu der Party irgendeiner Bekannten gehen, zu der sie schon vor drei Monaten eingeladen wurde. Dort gibt es sicherlich auch etwas zu essen, also kommen diejenigen, die noch Appetit haben, einfach mit. Und dort, unter lauter Menschen, die sich noch nie gesehen haben, kann Jasmin endlich einmal entspannen. Kann, ohne Hintergedanken, dumme Fragen stellen, erste Fragen und letzte Fragen. Sie muss keine perfekte Besucherin spielen, sondern darf ein üblicher Feiergast sein. Sie tanzt, sie schlenkert mit den Armen, grölt bei bekannten Schlagern mit, lässt sich von einem dunkelhaarigen Hüfttänzer durch die Gegend wirbeln, hört sich seine ziemlich direkten Komplimente an, lacht trotzdem und gestattet ihm, sie an den Getränketisch zu führen. Linn sieht, wie er einen dunklen Rotwein entkorkt und Jas42
min ein Glas davon einschenkt. Er stößt mit ihr an, sagt etwas, Jasmin streicht mit einer Hand durch ihr Haar, er legt seine Hand etwas zu lang auf ihren Arm. Dann verliert Linn Jasmin aus den Augen. Sie sieht sie Stunden später mit demselben Typen auf dem Sofa sitzen, während er ihr eine Reflexzonenmassage verpasst. Er heißt César, hat Jasmin unterdessen in Erfahrung gebracht. Und er interessiert sich für heilpraktische Methoden. Den gesamten Abend hält er Vorträge, nur für Jasmin, über Aromatherapie, vor allem darüber, welches Öl bei welchen Krankheitssymptomen angewendet werden kann: Mandarine bei Müdigkeit, Lavendel bei Nervosität, Teebaumöl bei Erkältungen, Lemongrass bei Kopfschmerzen. Über Hospize und kollektives Wohnen im Alter schweigt Jasmin geflissentlich. Nachdem ihre Gedanken weicher und nachgiebiger geworden sind, lehnt sie sich an Césars feste und durchtrainierte Schulter. Sie denkt kurz darüber nach, ob das jetzt nicht ein sehr sozialpädagogisches Verhalten sei, aber verwirft diesen Gedanken schnell. So bequem hier. Keine weiteren Fragen. Linns letztes Treffen mit Jasmin kurz vor ihrer erneuten Abfahrt endet mit einem Eklat. Jasmins Augen liegen tief und grau in ihren Augenhöhlen. Sie ist vom vielen Reden heiser, hat ihr gesamtes Geld in Caf6s und Kneipen ausgegeben, kaum geschlafen, sondern ihr Sexleben auf Vordermann gebracht und sagt stupide vor sich hin: »Ich bin ein Steh-auf-Männchen, das, sobald es sich irgendwo hingesetzt hat, sofort wieder aufspringt und zum nächsten Termin rennt. Manche nennen das Sozialstress, ich aber nenne es Berufsfeldorientierung. Ich muss das so machen.« Linn beugt sich zu ihr und will sie in den Arm nehmen, doch da läuft sie schon zur Haustür, wirft ihren Mantel über, schreit »czesc«, was auf Polnisch praktischerweise »Hallo« und »Tschüss« zugleich bedeutet, und rennt zu ihrem Bummelzug, der in wenigen Minuten abfährt. In Linns Wohnung schwebt ein leichter Lavendelgeruch.
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Die nächste Jasmin-Meldung, die Linn erreicht, ist eher deprimierend: »Hey there! N u n bin ich wieder auf die unendlichen Weiten des Internets angewiesen. Ich bin gestern Abend hier angekommen, und es ist halb so schlimm, wie ich befürchtet habe. Allerdings habe ich bisher kaum mein Schwesternheim verlassen. Mir ging es nicht besonders gut, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich war etwas neben der Spur, wie du vielleicht bemerkt hast. Mein Wunderheiler César war ein bisschen zu viel Gefühlsachterbahn. Ich merke richtig, wie ich mich hier einigele. Habe schon eine SMS von einem meiner doofen Freunde vor Ort bekommen, ob ich wieder da sei und ob ich mit ins Kino gehen will, aber was soll ich denn in einem isländischen Kinofilm mit polnischen Untertiteln? Ich habe jetzt erst mal nicht reagiert. Ich muss erst noch ein bisschen vereinsamen, bis der Druck so groß wird, dass ich doch zum Telefonhörer greife. Na ja. Morgen habe ich einen Polnischtest, und ich habe echt keine Lust zu lernen. Bin immer noch C-besessen. Das nervt. Ich kann mich kaum konzentrieren und checke ständig die Zugzeiten ins Nachbarland. Es hat wirklich gut getan, dich zu sehen.« Linn verlässt etwas durcheinander das E-Mail-Programm. Sie wusste bisher nicht, dass Jasmin in einem Schwesternheim wohnt, wer die doofen Freunde sind und dass sie einen Polnischkurs belegt hat. Aber Linn ist sicher, dass sie es, wenn es wichtig ist, bei Jasmins nächstem Besuch erfahren wird. Auf jeden Fall will sie nachfragen.
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Beziehungssprünge
Wo fängt eine Beziehung an, und wo hört eine Affäre auf? Und was, wenn sich Zeiträume des Nichtsehens dazwischenschieben? Jasmin fährt zu César, den sie vor sechs Monaten kennen gelernt hat und dem sie seitdem SMS schreibt: »Was machst du? Ich vermisse dich.« »Ich will dich jetzt.« »Aha. Ich will, dass du mich willst. Und jetzt?« Er hatte eine ganze Packung Streichhölzer angezündet, in den Aschenbecher gelegt, »Feuer« gesagt und ihr dabei in die Augen geschaut. Seitdem spürt sie auch eine Art von Wärme für ihn, selbst wenn sie ein paar Wochen nichts von ihm hört. Sie weiß nicht, wie sie das einschätzen soll. Ist er unterwegs und hat sein Telefon ausgestellt? Hat er eine neue Nummer? Ist sie ihm so unwichtig? Aber warum schreibt er dann überhaupt? Manchmal nimmt sie sich vor, den Kontakt abzubrechen, aber sie freut sich sehr, wenn er antwortet, sodass sie jedes Mal sofort zurückschreibt, oft auch mitten in der Nacht. Das Telefon piept und erleuchtet die Wände, es liegt immer neben ihrem Bett. Jasmin arbeitet viel und oft bis spät in den Abend. Sie bleibt fremd am neuen Arbeitsort und braucht das Gefühl, das jemand an sie denkt, sie kennt. Und César schreibt so direkt, so fordernd: »Mein Leben ist zurzeit sehr falsch und schwierig. Ich will dich und Frieden. Ich bitte dich, komm. Ich zahle das Ticket. Komm, nur für ein paar Tage.« Das gefällt ihr. Weil sie in der Provinz wohnt, ist sie von den Billigfluglinien dieser Welt abgeschnitten und muss, um ihre Freunde oder die Partybekanntschaft zu besuchen, den 45
Zug oder einen Überlandbus nehmen. Sie hat deshalb auf ihren zahlreichen Nachtzug- und Nachtbusfahrten zwei raffinierte Techniken entwickelt, um wenigstens so zu tun, als ob sie in ein privates Bett steigen, als ob sie sich in eine vertraute Schlafkoje kuscheln würde. Um das Umziehen im widerlichen Klo zu vermeiden, löst sie auf der Zugliege kauernd in ausgeklügelten Verrenkungen unauffällig den BH, damit er nicht durch das zum Nachtkleid umfunktionierte Hemd in ihre Träume piekt, und stopft ihn in ihre Tasche, die sie als Kopfkissen nutzt. Um eine Art Privatsphäre zu schaffen, nimmt sie auf dem Bussitz eine schützende Embryonalhaltung ein und hüllt sich gegen die Kälte aus den Belüftungsdüsen in ihren Mantel, den sie in den Polsterritzen festklemmt. Wirklich gemütlich ist das nicht, eher beklemmend, aber es wärmt. Als sie sich zu César auf den Weg macht, ist sie vor allem noch etwas bedrückt von den letzten Nächten. Bis vor ein paar Tagen hatte sie Besuch von Nils. Ihre Wohnung war auf einmal von Männersocken und After-Shave-Wolken bevölkert. Auf einmal benutzte jemand ihre Lieblingstasse, und sie musste sich selbst ermahnen, bei einem schrägen Blick auf die neuerdings auf dem Tisch herumliegenden abgeleckten Löffel nichts zu sagen. Sie wusste nicht, dass sie so eigenbrötlerisch geworden war, Dabei müsste sie eigentlich viel Verständnis für Nils haben. Nils fährt eigentlich auch am liebsten Bus, um billig durch die Gegend zu kommen: im Winter über das Riesengebirge auf den vereisten Straßen zwischen LKW-Trossen, die mit ihren Schneeketten knirschen, an Gartenzwergarmeen vor kleinen Tankstellen und beleuchteten Bars mit beleuchteter Frauenhaut vorbei. »Das Verkehrsmittel Bus ist nicht nur günstig«, schwärmt er, »sondern es erhält mir eine maximale Spontaneität in dieser durchstrukturierten Welt, Wenn ich morgen losfahren möchte, fahre ich. Und ich treffe die schrägsten Persönlichkeiten.« Wenn Jasmin ihn daran erinnert, dass die Busfahrten dafür 46
recht zeitaufwändig sind, winkt er ab. »So erlebe ich mehr, als wenn ich die Jobbörsen rauf- und runterfahre«, sagt er. Vor einer Woche hatte er mal wieder zu viel von allem. Jasmin hatte zu ihrem Geburtstag einen Rundbrief verschickt und Freunde und Freundinnen zu einem Kurzurlaub nach Polen eingeladen - wenn viele gekommen wären, hätte es eine große Party gegeben. Eine Sause!, dachte sie. Dass nur einer zusagte, überraschte sie nicht. Die anderen waren ja auch wirklich eingespannt in ihre Minijobs und Praktika. N u r Nils hatte das Nötigste in seine Fahrradtaschen gepackt und war innerhalb einiger Tage zu ihr geradelt. Das war noch besser für sein leeres Portemonnaie, denn so sparte er sogar ein Ticket. »Waren wunderschöne Fahrten«, sagte er, »und ich war an der frischen Luft, hab mich bewegt Kann ich vielleicht mal was in deine Waschmaschine werfen - alles ist jetzt tierisch durchgeschwitzt.« Unterwegs hatte er in verschiedenen Schuppen genächtigt. »Mehr brauche ich nicht.« Als Nils in seinem letzten sauberen Hemd mit verschränkten Radlerarmen auf die letzte Schleuderdrehung der Waschmaschine wartete, entschloss sich Jasmin, ihren Gast nicht auf dem harten Flurfußboden nächtigen zu lassen und erlaubte ihm, das Bett zu benutzen. Im Nachhinein ärgert sie sich darüber, denn er sah das als Aufforderung an, nicht nur ihre unbeleuchtete Haut, sondern alles andere so zu benutzen, als wäre es sein Eigentum. Näherkommen bedeutet doch nicht gleich teilen, dachte sie. In der Nacht piepte mal wieder ihr Telefon sehr wild, woraufhin Nils es, weil er sich angewöhnt hatte, dicht neben ihr zu liegen, dreist ausstellte. »Untersteh dich«, zischte Jasmin und tippte schnell eine Antwort. Am nächsten Morgen setzte er sich, ohne zu fragen, einige Stunden an ihren Computer, um seine Rückreisemitfahrgelegenheiten zu organisieren. Sie hatte auf ein gemeinsames Frühstück gehofft, Kaffee gekocht, der dann auf dem Küchentisch stand und kalt wurde. Anschließend holte er frischen Fisch vom Markt, den er aber alleine aß. »Du magst 47
doch sowieso keine Meerestiere, oder?« Nachdem er die Pfanne eingeweicht hatte, telefonierte er die recherchierten Angebote durch. »Wundere dich nicht, wenn du auf deiner Telefonrechnung ein paar ausländische Nummern findest - das war ich -, ich dachte, vielleicht geht es schneller, wenn ich über Tschechien fahre«, teilte er ihr kurz vor seiner Abreise mit. »Mein Fahrrad habe ich verkauft, es war sowieso alt, morgen kommt einer und holt es ab. Du müsstest dann zu Hause sein.« Dass er ihr zum Abschied ein Alpenveilchen schenkte, hob ihre Stimmung ein bisschen. Sie war froh, dass sie ihre Wohnung wieder für sich hatte - ein Blümchen mehr, ein wenig Sauerstoff mehr. Das Ehepaar, das jetzt mit ihr im Abteil sitzt, ist nach zwanzig Jahren Ehe immer noch verliebt und ein eingespieltes Team. Sie teilen alles. Sie benutzen alles zusammen. Sie legen ihre Hände auf gemeinsame Koffer und Taschen und Süßigkeiten. Jasmin nimmt immer die oberste Liege, dort zieht es weniger durch die undichten Fenster, das Hin- und Hergeschaukel auf den Gleisen ist stärker, und sie fühlt sich geborgen wie in einer Wiege. Dort schläft sie ein paar Stunden zu viel. Sie hat ja niemanden, mit dem sie jetzt Süßigkeiten teilen könnte. Cesar holt sie vom Bahnhof ab und will sie schon gleich im Taxi küssen. Jasmin ist etwas verwirrt, sie will ihn zunächst nur anschauen. Sie kennt ihn ja nur von der Party in einem Pulli und hell bestrahlt von 38 Sicherheitszündhölzern. An diesen anderen Pulli muss sie sich erst einmal ein wenig anlehnen und die verschiedenen Muster beschnüffeln. Sie stehen ihm sehr gut, stellt sie dann recht schnell fest. Zusammen kaufen sie Frühstücksutensilien. Das wäre sehr pärchenhaft, wenn sie es jedes Wochenende so machen würden, wenn sie wüssten, César nimmt immer drei helle Brötchen, Jasmin steht eher auf Kürbiskern und Kirschjoghurt, aber jetzt hat es etwas Pragmatisches. Jasmin denkt: Provianteinkauf für die nächsten 48 Stunden. D e n n in 48 Stunden muss sie wieder abfahren. Muss sie wie48
der Richtung Arbeitsstelle in ihre neue kleine, ferne Heimat. Sie picknicken auf Césars Balkon und gehen danach gleich ins Bett, wo sie auch die nächsten Stunden vor der gestreiften Wand auf einer flauschigen Wolldecke verbringen. Die Decke verliert stündlich an Flauschigkeit, weil sie beide feste darauf herumrutschen, rückwärts, vorwärts, seitlich, stopp. »Wir müssen aufpassen«, sagt Jasmin, »oder willst du ein Kind machen?« »Nein, bloß kein Kind«, antwortet er und bekreuzigt sich. Die T ü r zur Terrasse steht offen, die Sonne scheint und ein Nussbaum winkt herein. So idyllisch, aber alles ohne Zukunft. Cesar sagt: »Cesar liebt Jasmin.« Jasmin fragt: »Wirklich?« »Ja, wirklich, es gibt keine außer dir.« Jasmin glaubt ihm nicht, auch wenn es so schön wäre. »Ich schicke dir doch schon sechs Monate lang SMS, und du antwortest nur selten. Was denkst du, warum ich das mache?« »Das finde ich goldig«, sagt er und küsst sie. Das ist ihr eigentlich zu wenig, aber die Zeit ist so kurz, wieso sollte sie jetzt anfangen, mit ihm zu diskutieren. »Komm, wir schauen zusammen ein Video.« Dann müssen wir nicht reden, oder wie, denkt Jasmin. Aber sie findet das alles sehr süß, denn er sucht einen Film heraus, von dem sie ihm bei ihrem Kennenlernen erzählt hat, dass sie ihn schon immer einmal sehen wollte. Zumindest erinnert er sich an solche Kleinigkeiten, denkt sie. Ein gutes Zeichen. Während der Film läuft, während jemand die Welt zerstören und beherrschen und ein anderer die Welt retten will, klingelt andauernd sein Handy. César rennt nach unten, dort, wo sein Geschäftspartner arbeitet, dort, wo sein Büro ist. Sie weiß nicht, mit wem er redet, was er redet. Eigentlich weiß sie gar nichts über ihn. Woher auch. Anstatt zu reden, küssen sie sich lieber. Aus der Ferne kann man kein Leben teilen. Als César nach acht Stunden los muss, weil er irgendeine Besprechung hat, gibt er ihr einen Haustürschlüssel und erklärt die öffentlichen Verkehrsmittel. »Wir können uns ja später in der Stadt treffen«, sagt er. Sie bleibt noch ein bisschen liegen, dann steht 49
sie auch auf und schaut sich in seiner Wohnung um. Sie findet Männermagazine und ein Buch, das sie ihm geschenkt hat. Sie schreibt eine Widmung hinein: »goldige zeiten«. Die soll er finden, wenn sie nicht mehr da ist. Sie riecht an seinen Hemden und stellt sich vor seine Anzüge, die an Karabinerhaken an der Wand hängen. Sie denkt, wie das wohl aussehen würde, er in den Anzügen und sie in ihrem gepunkteten Lieblingskleid - wenn sie heute Abend so ausgehen würden. Und dann nicht nur einen Abend, sondern auch übermorgen und überübermorgen, nächste Woche und immer mal wieder. Der Anzug hängt und glänzt traurig. Als sie nach unten geht, in die Büroküche, weil oben nur der Bettenbereich ist, um sich ein Fertiggericht aufzutauen, grüßt der Geschäftspartner nicht. Er ignoriert sie. Warum sollte er sich auch Zeit für sie nehmen, wenn die Zeit so begrenzt ist? César nennt sie vor anderen Menschen »kleines Mädchen«. »Könntest du kurz Platz machen am Computer für das kleine Mädchen? Sie muss mal ins Internet.« Jasmin hat im Zug die Büroartikel-Bestellliste angefertigt und muss diese kurz zu ihrer Kollegin Tatjana mailen. Sie hat keinen Urlaub. Sie hat nur das Wochenende. Noch vierzig Stunden. Sie weiß, worauf sie sich eingelassen hat. Auf das Duschen mit Männerduschgel und ohne eigenes Handtuch. Auf Blicke und Zärtlichkeiten auf Zeit, die so schnell wieder storniert sind, wie der Zug abgefahren ist. Später läuft sie in der Stadt herum und wartet auf Césars Anruf. Weil er sich nicht meldet, geht sie ins Kino. Als sie wieder im Foyer steht, hat sie drei verpasste Anrufe auf ihrem Display und eine SMS: »Wo bist du, kleines Mädchen?« »Und du, wo? Hunger.« »Habe schon gegessen«, schreibt er zurück, »heute Abend Theaterpremiere und danach Termin mit Fotografin für anderes Projekt. Kommst du mit?« Klar, kommt sie, was soll sie sonst machen? Sie ist ja nicht gekommen, um ihn nicht zu sehen. Sondern um ihn zu sehen. Vor Seinen Kumpels stellt er 50
sie als seine Freundin vor, was auch immer das heißen mag. Die Kumpels können sich ihren Namen nicht merken. Aus Rache merkt sie sich nicht die Namen der Kumpels. Während César mit der Fotografin Abzüge durchblättert, sitzt Jasmin daneben und überlegt. Sie hat eine neue Wohnung, einen neuen Job und eine neue Affäre. Die letzte mit Nils ist gerade erst eine Woche her. Eigentlich lebt sie in emotionaler Gleichzeitigkeit. Weil keiner der Männer, die sie mag, vor Ort ist, weil keiner sich wirklich zu ihr bekennt, weil sie selbst nicht vor Ort ihrer Männer ist, muss sie die Beziehungen zu ihnen auf kleiner Flamme weiterköcheln lassen. Die Gefühle werden nie hochgekocht, sondern parallel gedünstet. So bleiben die Vitamine und der Schwung erhalten. Das Springen von Beziehung zu Beziehung - die Beziehungen so oft wie die Orte und Wohnungen zu wechseln - erschien ihr noch vor einiger Zeit als Ausweg. Sie erinnert sich an Igor, den sie immer nur im Flughafenbistro treffen konnte, wenn er auf der Durchreise war. »Hatte wieder mal zu wenig Zeit. Aber du weißt ja, wie das ist. Ich muss morgen schon zurück nach N e w York.« »Wann bist du denn wieder hier?« »Ich komme gegen Weihnachten zurück und habe vier Stunden Aufenthalt in Amsterdam auf dem Rückflug, am 5. Januar.« »Echt? Da bin ich auch grad in Amsterdam auf einer Fortbildung.« »So ein Zufall.« »Ich melde mich, dann können wir wenigstens einen Kaffee -.« Sie hatte oft das Gefühl, dass er für verschiedene Flughafenbistros dieser Welt verschiedene Mädchen organisieren konnte, je nachdem, wo er gerade war. Irgendwann meldete er sich nicht mehr - oder die Flugrouten und Zwischenstopps hatten sich geändert. César blättert immer noch durch irgendwelche industriellen Detailaufnahmen: Kabel, Gerüste, Leitungen und Mischpulte. Die Techniken hinter den Lebensweisen. Er bestellt ihr etwas zu trinken und lächelt ihr zu, bevor er sich wieder seinen Unterlagen zuwendet. So kommen wir nicht zusammen, denkt Jas51
min. Ihr wird ein bisschen langweilig. So dicht dran an der Liebe, aber viel zu kurz. Ein Fotograf muss für eine Nahaufnahme das Objektiv scharf stellen, er kann nicht einfach losknipsen. Jasmin kann sich nicht annähern, wenn sie den Zeitaspekt ignoriert, die Bedeutung von Dauer und Wiederholung. So bleibt nur ein verwackelter Schnappschuss. Sie weiß, dass sie eine Nicht-Beziehung führt, die zu nichts führt, von der sie nichts erwarten kann - außer unregelmäßigen Spaß und regelmäßiges Leiden. Diese Beziehung wird sich, wie andere vorher auch, nicht entwickeln, sondern in der Anfangsattraktion stecken bleiben. Heute Morgen war sie frisch verliebt. Jetzt ist alles schon wieder matt. Hat sie ihren gesamten Elan durch die lange Anreise und das lange Warten auf ein Wiedersehen verloren? Vielleicht sollte Jasmin es so machen wie Anika und Chris. Die Doktorandin trifft sich ein paar Mal im Jahr mit ihrem Freund. Beide hangeln sich von Stipendium zu Stipendium, von studentischer Mitarbeit zu wissenschaftlicher Projektassistenz, benutzen mal diese Rara-Sammlung in Windhoek, dann wieder jenes Handschriften-Archiv in Wien. Sie haben zusammen studiert, sind seit ihrer Zwischenprüfung zusammen. N u n promovieren sie - nicht zusammen. Immerhin fahren sie einmal im Jahr gemeinsam in den Urlaub. Für einige Wochen sind sie ein wirkliches Paar. Danach trennen sie sich wieder. Sie trennen sich, weil es so abgemacht ist. Denn beide haben, außer ihrer Arbeit, kein festes Zentrum im Leben. Um voranzukommen, um sich weiterzuentwickeln, müssen sie alle Optionen annehmen, auch diejenigen, die sie immer wieder losreißen von ihrem Vielleicht-Mittelpunkt. Die Umwelt findet das sogar noch richtig. »Mensch, eine Dozentur in Australien für ein Semester - das ist doch ein echter Karrieresprung«, jubeln die Eltern. Aber dieser Sprung ist im Grunde genommen für beide ein totaler Beziehungsknick und Beziehungsabsturz. Weil alles in ihrem Leben sich ständig ändert: der Blick aus dem Fenster, der Bäcker, die Versicherung, das 52
Lieblingskino, die Vorwahl, um nach Hause zu telefonieren, die Arbeitskollegen, muss sich eigentlich auch die Beziehung ständig verändern. Doch weil Chris und Anika nie wirklich ankommen, weil sie beide unterwegs sind, bleibt das, was zwischen ihnen ist, irgendwie länger haltbar, wie in einer Vakuumverpackung. Sie halten sich aneinander fest, weil alles andere nicht fest genug ist. Sie halten die Entfernung aus. Sie telefonieren, zunächst noch jeden Tag, dann nur noch einmal in der Woche. Das reicht ihnen. Die Stunden verstreichen und versickern. Jasmin steht unter Césars Dusche. Sie hat sich ein Shampoo gekauft, eines mit blumigem Duft. Sie lässt das Shampoo auf der Ablage stehen, als kleines Signal, vielleicht auch als ein Versuch der schwarzen Magie. Wenn César öfter Frauen hier duschen lässt, sehen sie am Frauenshampoo, dass sie nicht die ersten sind, und gehen dann vielleicht schneller. Lassen sich durch diesen Trick vertreiben und machen Platz für mehr Jasmin und noch mehr Jasmin. Denn eigentlich hofft Jasmin, dass sie bald wiederkommt und dass sie etwas kleines Eigenes vorfindet, ein bisschen Shampoo-Heimat. Im Zug wünscht sie sich von ihm »Mehr Küsse!«, er schickt »Küsseküsseküsseküsseküsse!« Ihre beiden Mitfahrerinnen sind Opernpendlerinnen. Sie fahren zwischen zwei großen Städten und den jeweiligen Premieren hin und her. »Vielleicht sollte ich meine Reise-Motive von Menschen auf Ereignisse verlegen?«, fragt sich Jasmin. Die beiden Frauen reden und reden, Turandot, Rätseleien, Don Giovanni, Champagner, das Telefon piept nicht mehr. Die Informationen aus dem César-Leben werden danach immer spärlicher, so spärlich, dass Jasmin sie sich selbst zusammenklauben muss. Über eine Internetsuchmaschine kommt sie sogar Césars nächster Frauengeschichte auf die Schliche. Er hat ein Fotoalbum im Netz angelegt. Sie hat die Webseite gespei53
chert, das Passwort erschlichen, als er es einmal vor ihren Augen eingegeben hat, und kann sein Leben als regelmäßige Diashow verfolgen: seine Reisen, seine Partys und seine Arbeitsprojekte. Sie kann sogar die Spaßtattoos auf seiner Haut lesen, weil einige Nahaufnahmen dabei sind: Marshall Wire, steht da, und ein Herz ist gemalt, und in dem Herzen steht irgendein Name, der mit J- anfängt. Sie zoomt das Bild groß, und da steht nicht »Jasmin« sondern »Jolanta«. Eigentlich ist sie noch mitten in seinem Leben. Ohne dass er es weiß, teilt er noch alles mit ihr. Leider eben auch sein neues Betthäschen. Als sie ein paar Wochen später das Bild »Gummibärchen« sieht, auf dem er ein blondes Mädchen küsst, wird sie fuchsteufelswild. Aber warum eigentlich? Er kann ja tun und lassen, was er will. Sie ist machtlos, die Technik dagegen mächtiger als liebe Worte. Sie löscht alle seine SMS. Nur seine Telefonnummer, die behält sie - falls sie mal wieder in seiner Stadt sein sollte. Sie weiß ja nicht, wohin es sie demnächst verschlägt.
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Wutzettel
Viele Menschen gehen einmal die Woche informell zum Ausgleich in die Sauna oder zu einem Stammtisch. Linn geht mindestens einmal die Woche sehr formell und unausgeglichen zu offiziellen Treffen. Als Ehemalige universitärer Fachbereiche und verschiedener Stipendienprogramme bekommt sie regelmäßig per Mail oder per Post Einladungen zu Jubiläumsveranstaltungen, Mitgliederversammlungen, Netzwerkkampagnen, Neujahrsempfängen und Festvorträgen von Prof. H . T . MacBrookley, jahrelanger Berater für kulturpolitische Fragen im Bundesministerium, oder von Politikerin Ursula Beinander, Gremiumsmitglied im Forum »Zukunft von Bildung und Forschung«. Manchmal werden Workshops zu; acht verschiedenen gesellschaftlich relevanten T h e m e n angeboten. Meist endet alles mit einem Sektempfang und kleinem Büffet. »Wir freuen uns, Sie bei unserem dritten Alumnitreffen begrüßen zu dürfen«, betont der Generalsekretär der Stiftung, in deren Pressestelle Linn als Praktikantin arbeitet. Sie hat drei Tage lang nichts anderes getan, als Einladungen zu falten und in Briefumschläge zu stecken. Ob sie für solch eine Tätigkeit wirklich studieren musste, ob es dafür nicht irgendwelche Maschinen gibt, fragt sie sich. Maschinell begegnet ihr zunächst der Generalsekretär. Weil der Computer seine Unterschrift eingespeichert hat und automatisch ausdruckt, unterschreibt er nicht einmal mehr selbst, auch wenn er »persönlich« zum Empfang bittet. Anfangs hat Linn 55
die Briefe noch umgedreht, um zu testen, ob nicht auf der Rückseite ein Durchdruck des Kugelschreibers auf eine echte Unterschrift hinweisen würde. Vielleicht war sie ein bisschen naiv, aber sie hätte es einfach sehr schön gefunden, wenn das formale Wörtchen wörtlich genommen worden wäre. Aber da dies nie der Fall war, hat sie das Hin- und Herwenden aufgegeben. Stattdessen kündigt sie mit Hilfe eines abzuhakenden Kästchens ihr Kommen an. Weil Viktor auf einer Recherchereise für eine Umfrage zu europäischen Stereotypen unterwegs ist, kreuzt sie an: »Ich nehme teil. Alleine«. Es ist sowieso besser, wenn sie unbegleitet zu diesen Treffen geht. Ähnlich wie eine Single-Reisende ist sie als Single-Geherin sehr viel kontaktfreudiger und kontaktbewusster. Sie weiß nie genau, wem sie abends begegnen, wer mit ihr am HäppchenTisch anstehen, mit wem sie im Workshop sitzen wird. Wichtig ist vor allem die Vorbereitung. Ihr so genanntes Praktikumentgelt wird zusammen mit ihrem Ersparten in ein tadelloses Outfit investiert. Sie will gut und, wie nebenbei, locker-dynamisch aussehen. Das Kein-Geld-Haben darf nicht durchscheinen. Das hartnäckige Job-Suchen darf nicht abfärben. Bei der Kleiderwahl kommt es darauf an, möglichst wohlhabend, aber dennoch bewerbend, also eher aspirativ-wohlhabend auszusehen, also wie jemand, der weiß, wie man sich in bestimmten Kreisen anzieht, und der also weiß, wie man sich in diesen Kreisen verhält und wie man in diesen Kreisen arbeitet. Nur, wer nicht vergisst, gut auszusehen, wird überhaupt wahrgenommen, weiß sie. Lockere, gut gekleidete, fröhliche Menschen werden eher empfohlen als verkrampfte, schlecht gekleidete, miesepetrige Menschen. Auch ein guter Haarschnitt sowie polierte Schuhe spielen dabei eine Rolle. Erstaunlicherweise passen die Pumps, die sie zum Abiball getragen hat, noch perfekt. Ihre Mutter hatte sie damals gut beraten, etwas »Zeitloses« zu wählen. Nach vorne denken, sagt sich Linn, das nehme ich von zu Hause mit - ebenso wie die Schuhe. 56
Linn trinkt zur Einstimmung, bevor sie sich in Schale wirft, einen Schluck Wein, der noch vom gestrigen Herumsitzen mit Nils in ihrer Küche übrig ist. Dieser Weinrest beschwingt sie so, dass sie sich heute für eine dunkle Hose und eine weiß-rot gestreifte Bluse entscheidet, die sie mit einem pinken Pullover aus feiner Baumwolle kombiniert. Farbe fällt in der Anzugdominierten Stiftungswelt auf jeden Fall auf, davon ist sie überzeugt. Ihre Laune ist gut. Ihre Laune muss heute besonders gut sein, denn der Generalsekretär der Stiftung ist angekündigt. Sie möchte ihn mit einem dynamischen Lächeln als ideale Nachwuchskraft des Pressereferats überzeugen. Dafür hat sie sich zu weiteren Investitionen entschieden. »Du brauchst unbedingt Visitenkarten«, hatte ihr Viktor geraten, als er das letzte Mal angerufen hatte. »Es macht überhaupt nichts, wenn du keinen Job hast. Aber wenn du keine Visitenkarte hast, dann kannst du dich nicht weitervermitteln.« Also will sie sich an einem Automaten ganz fix hundert Karten drucken lassen. Die Formate sind vorgegeben und neben den Adress-, Telefon- und E-Mail-Feldern muss auch ein »Berufsfeld« ausgefüllt werden. Welche Bezeichnung trage ich denn ein, fragt sich Linn, wenn ich keinen Beruf habe? Lasse ich es weg, wirke ich nicht wirklich seriös und bin für andere nicht einzuordnen. Trage ich etwas ein, das heute passt, müsste ich mir morgen für ein anderes Bewerbungs- oder Vernetzungsgespräch schon wieder neue Karten drucken lassen. Der Automat blinkt freundlich - diese ausweglose Situation ignorierend. Doch Linn ist eine Frau der Tat. Sie entscheidet sich für alle möglichen Varianten. Sie gestaltet sieben verschiedene Karten: mit ihrem Studienabschiuss, mit ihrem derzeitigen Praktikumsgeber, mit ihrem letzten Praktikumsgeber, mit ihrem Traumjob, mit ihrem realistischen Berufsziel, mit ihrem StipendiatenStatus, mit ihrem Alumni-Status. In ihre Handtasche steckt sie jeweils fünf Ausführungen der siebenteiligen Visitenkartenpalette. Eine Sammlung steckt sie in einen Briefumschlag für 57
Viktor. Als Absender notiert sie: »Ich bin auf die Eventualitäten des Lebens vorbereitet.« Zu Hause fächert sie nun die Karten wie ein Kartenspiel auf und wedelt sich Luft zu. Der Wein steigt ihr etwas zu Kopf. Je nach Anlass und Ansprechpartner wird sie heute Abend ihre Karten ausspielen. Das war jetzt zwar ein bisschen teuer, aber schließlich tue ich etwas für meine Zukunft, sagt sich Linn. Wie zum Ausgleich wird sie der heutige Abend nichts kosten: Wein umsonst, Schnittchen umsonst, Kontakte umsonst. Manchmal braucht sie unter der Woche keine Lebensmittel einzukaufen, weil sie sich durch warme und kalte Speiseangebote der lokalen Caterer auf diversen Veranstaltungen ernähren lässt. Mittlerweile kann sie sich als Expertin für die Zusammenarbeit der jeweiligen Küchenchefs und Organisatoren bezeichnen und anhand des Absenders einer Einladung die geschmackliche Richtung des Büffets voraussagen: So tischt die chinesische Botschaft opulente Gerichte aus blauen Kartoffeln auf, gefolgt von süßen Reisbällchen und Fruchtsalaten in Mini-Schokoladen-Töpfen. Bei den Osteuropa-Netzwerklern gibt es Mettbrötchen. Bei Modeschauen Currywurst. Bei akademischen Dinners italienische Fleisch- und Nudelvariationen. Die russische Föderation serviert Wasser in Gläsern, die einen halben Liter Flüssigkeit fassen. Bei linken Podiumsgesprächen wird als Snack geschnittenes Obst gereicht. Sie weiß, dass nicht alle ihre Freunde das Genießergefühl auf Stiftungs- und Alumniversammlungen erleben dürfen. Deshalb nimmt sie gerne jemanden mit - vor allem, wenn die kulinarische Versorgung ein hohes Niveau verspricht. Der beste Mitgeher ist Nils, der Linn an Gourmet-Expertise in nichts nachsteht. Er erfasst mit einem Blick die Qualität der Gerichte und der alkoholischen Getränke und somit die Bedeutsamkeit, die der Gastgeber diesem Treffen beimisst. Er kommt immer erst, wenn der offizielle Teil des Programms beendet ist. »Dieses Gelaber und diese Selbstdarstellungen muss ich mir nicht antun«, sagt er. 58
So ist es auch heute. Während sie in ihren sechzehnten Smalltalk, dieses Mal mit einem Stipendiatenbetreuer, verwickelt ist, der ihr gerade erzählt, welche neuen Auszeichnungen die Stiftung in Zukunft vergibt, welche hochkarätigen Festredner zur Auftaktsveranstaltung antreten werden und wie viele Überstunden er zurzeit macht, er käme nie vor zehn Uhr abends nach Hause, beschwert er sich, sein Chef dagegen treffe immer erst gegen Mittag ein und verschwinde am frühen Abend wegen wichtiger Termine, zufälligerweise hole ihn seine Frau oft zu diesen Terminen ab, und über den Zusammenhang von Gehaltshöhe und Arbeitsstunden wolle er jetzt lieber nichts sagen, schweift ihr Blick durch den Festsaal, und sie sieht Nils, wie er sich Ros6 einschenken lässt. Er nippt anschließend vorsichtig am Glas, spreizt dabei affig seinen kleinen Finger ab, kaut den Wein von Backe zu Backe und verzieht sein Gesicht, als sie ihm von weitem zunickt. Er ist wirklich schon zum Weintkenner geworden, schmunzelt sie» Sie windet sich aus dem ausgezeichneten Gespräch los - »Entschuldigen Sie, ich muss nochmal eben kurz jemanden begrüßen« - und schlängelt sich durch die Steh-und-Sprech-Gruppen an Steh-und-Sprech-Tischen zu ihm durch. »Und wie läuft's?«, fragt Nils. »Haste schon dem Chef das gepflegte Händchen gedrückt?« »Bisher war keine Gelegenheit. Die Leute stehen Schlange. Ich habe erst drei Visitenkarten verteilt.« »Ganz schlechter Schnitt«, meckert Nils. Linn sieht, wie der Generalsekretär sich zum Ausgang wendet. Seinen Mantel hat er schon über den Arm geworfen. Sie lässt Nils einfach stehen und rennt los, so schnell und elegant wie es auf hohen Absätzen geht. Nils ist das gewohnt. Er hat seinen Wein-Job. Sie hat ihren Kontakt-Job. Und diesen hat sie heute noch nicht wirklich erledigt. Linn schiebt sich zum Generalsekretär durch und überlegt, was sie ihm sagen k ö n n e . Meistens wirkt der Standardspruch »Ihre Rede hat mir wirklich gut gefallen« am besten, mit dem sie dann auf ein paar inhaltliche Punkte zu sprechen kommen 59
und ihr eigenes Wissen einbringen kann. Doch die Rede heute war so schlecht verstärkt, dass Linn kaum ein Wort verstanden hat. Linn steuert auf den Sekretär zu und gibt ihm einfach die Hand: »Guten Abend. Ich bin Linn, ich würde mich gerne kurz vorstellen. Ich bin die neue Praktikantin.« »Ach, schon wieder eine neue Praktikantin? Heißen Sie auch Julia? Dann wären Sie Julia 10. Ha, ha. Oder 11? Wir könnten auf unserem Server eine Standardadresse für die Julia-Praktikanten einrichten.« Sie will ihren Namen freundlich wiederholen und den Generalsekretär korrigieren, da redet er einfach weiter: »Ich gebe Ihnen einen guten Tipp. Denken Sie daran, für Ihren letzten Praktikumstag einen Kuchen zu backen und Sekt mitzubringen. Aber bitte keinen billigen, sondern ein Qualitätsprodukt, denn wir können uns Kopfschmerzen nicht leisten, wir Arbeitnehmer. Vielleicht komme ich dann mal kurz vorbei. Ich wünsche Ihnen noch eine informative Zeit bei uns.« »Danke«, sagt Linn. Mehr fällt ihr jetzt nicht ein. Sie ist durstig und schluckt etwas Spucke den trockenen Hals hinunter. Dafür, dass sie kostenlos ihre Arbeits-, Denk- und Faltkompetenzen in das Büro des Generalsekretärs einbringt, hätte sie ein wenig mehr Höflichkeit erwartet. Aber vielleicht weiß er gar nicht, was seine Praktikanten tagtäglich leisten. Vielleicht denkt er, sie säßen herum, schauten den bezahlten Arbeitskräften über die Schulter und seien als Berufsanfänger eher eine Blockade als eine Hilfe. Im nächsten Moment beobachtet Linn sich dabei, wie sie ihm freundlich die Hand schüttelt. Sie nimmt seinen unerfreulichen Angriff auf sich, denn ihr Einstieg war wirklich ungeschickt, wirklich einfallslos. Die Visitenkarte in ihrer linken Hand, die sie vorsorglich herausgeholt hatte, presst sie vor Wut zusammen. Das ist nicht so einfach, denn die Karte ist aus Pappe und lässt sich nur biegen. Sie ärgert sich über ihre Unprofessionalität - dass sie nun noch nicht einmal etwas richtig kaputtdrücken kann! Früher hatte sie in ihrem Zimmer einen Haken angebracht, an dem »Wutzettel« hingen, beschriftet
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mit »bei Bedarf zerknüllen und an die Wand schmeißen«. So einen könnte sie jetzt eher brauchen als eine widerborstige Visitenkarte. Vor allem ist sie erbost, weil sie ihre rhetorische Gewandtheit in sechzehn sinnlosen Gesprächen vergeudet und sich nicht richtig auf das einzig wichtige Gespräch vorbereitet hat. Sie hätte nicht so lange warten und den Boss gleich nach der Rede abfangen sollen. Sie hätte, nachdem er aufgestanden und auf das Klo verschwunden war, ihn direkt vor der Herrentoilette abfangen sollen, weil sie zufälligerweise im selben Moment aus der Damentoilette gekommen wäre, hätte mit ihm die Treppe aus dem Sanitärtrakt hochsteigen und herumplänkeln sollen, über die Hotelurkunden hinter den Vitrinen, die Exzellenz, die sich durchsetze, wie er ja auch so schön in seinem Vortrag betont hätte: Der Ton mache die Musik. Sie hätte die Stiftungshymne gesummt, ganz jovial und bestens aufgelegt. Und er wäre darauf eingestiegen, hätte gefragt, ob sie sich für zeitgenössische Komponisten interessiere, denn es würde jetzt ein neues Stiftungsprogramm zur Förderung von mono-instrumentalen Kurzstücken mit, mindestens sechsfacher Besetzung ausgeschrieben. Und sie hätte gesagt: Ja. Und es wäre ein gutes Gespräch geworden. Nils ist unterdessen in eine Monothematik verwickelt mit einem Gast in Nadelstreifen und hellen Schuhen, der überzeugt ist, ihn schon einmal gesehen zu haben: »Machen Sie nicht irgendwas im Bundestag?« »Nein, mache ich nicht.« »Ach so. Aber Sie waren doch letzte Woche bei dieser Schiffstaufe.« »Nein, tut mir Leid.« »Wirklich nicht? Wenn ich Sie anschaue, meine ich, Sie zu kennen. Denken Sie doch noch einmal nach, bitte.« Nils muss sich zusammenreißen, um nicht laut zu werden. »Tut mir wirklich Leid.« »Ja, mir auch. Na dann.« »Ja. Dann.« Linn holt sich zur Aufmunterung einen weiteren Wein. Er schmeckt ihr von Glas zu Glas besser, den Generalsekretär nennt sie nur noch »Billiggeneral 10«. Schnell wird ihre Stimmung auch wieder etwas besser. 61
Auf dem Weg nach Hause schenkt sie Nils eine Visitenkartenmischung. Als sie ihm von den pubertären Wutzetteln erzählt, stempelt er anstelle der U-Bahn-Tickets alle Karten im Entwerter ab. Jetzt macht sich die Pappe wirklich bezahlt.
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Netzwerke
Wenn Viktor nach seinen Stärken und Schwächen gefragt wird, antwortet er ohne zu zögern: »Zielstrebigkeit«. Weil er dieses Wort knallend mit harten Konsonanten in den Raum stellt und sein Blick offen und ohne zu blinzeln den Fragenden fixiert, fällt selten auf, dass er anscheinend nur eine Stärke hat oder dass er diese Stärke gleichzeitig als Schwäche bezeichnet oder dass er glaubt, keine Schwächen zu haben. Einzig, dass er darauf hinweisen wollen könnte, nur eine Schwäche und keine Stärken zu haben, wird jedem Fragesteller, der Viktors Lebenslauf kennt, unglaubwürdig erscheinen. Jemand wie Viktor, der schon als Hospitant bei der Europäischen Kommission, am Fließband einer Teppichfirma, als Weihnachtsengel im Kaufhaus und als Freiwilliger für eine Suppenküche gearbeitet hat, muss Stärken haben. Das ist klar. Nils dagegen würde auf eine solche Frage nicht einmal antworten. Falls er sich herablassen würde, überhaupt etwas zu formulieren, würde er eine direkte Antwort vermeiden und sich über die Definition der »flexiblen Identität« eine Diskussionsgrundlage erarbeiten. Er würde einen situativen Begriff entwerfen, der beschreibe, wie es jeder Person möglich sei, je nach Ausgangslage schwach oder stark zu erscheinen. Belegen würde er diesen Ansatz mit der Zunahme an transnationalen Identitäten: Menschen mit mehreren Staatsbürgerschaften, die in mehreren Ländern gleichzeitig lebten, liebten und arbeiteten, die nicht nur eine Wurzel hätten, sondern verschiedene, die sich 63
sozusagen als netzartige Lebewesen verstehen müssten, als in die Breite gehende Flachwurzler, nicht als Tiefwurzler. Zum Abschluss seiner Ausführungen würde er eine weiter reichende Lektüre empfehlen, getreu seinem Motto »wer viel spricht, denkt viel«. Im Gegensatz zu Viktor würde man Nils eine »Antistrebsamkeit« zuschreiben können, also eine Eigenschaft desjenigen, der nicht zum Punkt kommen will, der lieber am Rande stöbert und trödelt, als in der Mitte zu verweilen. Im Aufstöbern von zu Unrecht vergessenen, zu Unrecht nicht mehr geliebten Dingen ist Nils der Oberstreber. Er kennt die originellen Flohmärkte und die exklusiven Kleiderhändler. Er weiß, wo sich zwischen Altglasschrott und angeschlagenen Sammeltassen im hintersten Regal wertvolle Vasen stapeln, wo günstige Sofas herumstehen und wo der Händler mit sich handeln lässt. Denn Nils muss sein Geld zusammenhalten. Er findet wenig ihm zusagende Arbeit, weil er sich in seinem kurzen Leben nicht mit Banalitäten herumschlagen will. Er hat lieber wenig Geld auf seinem Konto und dafür viel Zeit. »Sparen hat Zukunft«, sagt er. Er lebt in einer Einzimmerwohnung ohne Zentralheizung, ohne Sonne, aber mit Außenklo, auch wenn sich Viktor immer wieder fragt, wie Nils diese paar hundert Euro für die Miete überhaupt aufbringen kann als jemand, der sich weigert, von irgendjemandem Geld anzunehmen, der keine Freundin hat, die ihn aushalten könnte, der ablehnt, zum Job-Center zu gehen, weil er in seinem Leben zentralistische Anordnungen zu vermeiden sucht, weil er meint, er brauche keine Krankenkasse, weil er nie krank sei, da er sich ständig an der frischen Luft bewege, der lieber privat nicht vorsorgt, wie er das nennt, weil er nichts in irgendeine Renten- und Pflegekasse einzahlen will, aus der man dann, wenn man alt und krank sei, sowieso nichts herausbekomme, und weil er immer irgendwie einen kleinen Job findet, bei dem es Geld bar auf die Hand gibt. Einmal hat Viktor Nils gegenüber eine Bemerkung über eine Promotionsförderung fallen 64
lassen. Seitdem hat Viktor ihn zwar in öffentlichen Bibliotheken angetroffen, aber meistens vor den Bildschirmen kostenlos benutzbarer Computer hängend und nicht über Manuskripte und Bücher gebeugt, nicht in Zettelkästen wühlend oder an einem Laptop tippend. Dabei unterzieht Nils die Konsumwelt komplexen Analysen und hinterfragt jede Investition. Er muss, bevor er am Warenaustausch teilnimmt, genau hinschauen, er muss die Gegenstände in ihren Einzelheiten schätzen lernen und akribisch wie ein Wissenschaftler Wertzunahmen und -abnahmen recherchieren, um dann Wege zu finden, auf denen er ohne große Ausgaben zum Ziel kommt. Seinen Lieblingsspruch »the more you consume, the less you think« hat er sich mit Edding auf sein Portemonnaie geschrieben, ein Erbstück aus echtem Büffelleder. So geht er beispielsweise, obwohl er sich für Kunst interessiert, selten in Ausstellungen, wenn sie Eintritt kosten, sondern betritt nur das Foyer und den Museumsshop. Dort schlägt er in aller Ruhe den Katalog zur Ausstellung auf, blättert durch die Werkliste und studiert den einführenden Essay. Dieser Umweg ermöglicht es ihm, sogar besser informiert zu sein als jemand, der sich zwar die Originalwerke anschaut, aber nur die Kurztexte auf den Informationstafeln liest. Wenn es also eines gibt, das der Zielstreber Viktor vom Antistreber Nils lernen kann, dann ist es das Ausschauhalten nach Sonderangeboten. Viktor bittet Nils des Öfteren, ob dieser ihn nicht zum Einkaufen begleiten und sein Schnäppchentalent zur Verfügung stellen könne. Nils schlägt seinem alten Freund Viktor nie einen Gefallen ab, auch wenn er Viktor für viel zu karrierebewusst hält und ihm, wenn Viktor mal wieder einige Monate auf einem Projektjob verschwindet, selbst gezeichnete Postkarten schickt, auf denen ein Männchen sagt: »Suche neuen Freund. Weil du nicht da bist.« Wehn schon wegfahren, dann richtig, denkt Nils» auswandern, für immer Abschied nehmen, aber nicht dieses Mal-hier-mal-da-Sein. 65
Gerade ist Viktor allerdings da und wühlt sich mit Nils durch einen Trödelladen mit Original-Fünfzigerjahre-Einrichtungsobjekten. »Da waren wir wer«, sagt Nils. »Da wurden wir was. Da glaubten wir noch, es würde immer weiter vorangehen, wenn man nur die Ärmel hochkrempelt. Wenn du so eine Lampe als Gastgeschenk mitbringst, dann hellst du deine Umgebung nicht nur mit deinem Trendbewusstsein, sondern auch durch deine politische Aussage auf. Wer ist denn dein DemnächstGastgeber?« Viktor erzählt, dass er gestern einen Anruf von einer Sibille Truhn bekommen habe, ob er nicht für sechs Monate einspringen könne, im Büro, weil da jetzt eine der Mitarbeiterinnen auf Mutterschaftsurlaub sei. Alles ginge seitdem drunter und drüber. Zunächst hatte Viktor Frau Truhn nicht einordnen können, aber dann war ihm eingefallen, dass er sie in Brüssel auf einer EU-Party kennen gelernt hatte, oder war es in Genf gewesen, oder in Straßburg, egal, sie hatte ihm seitdem E-Mails mit Jobausschreibungen geschickt, weil er ihr von seiner ständigen Jobsuche erzählt hatte. Nun war sie in einer Kleinstadt gelandet und beantragte dort in einem universitären Büro EU Fördermittel. »Na, dann ist die Sache doch klar«, sagt Nils und greift nach einem Original-Fünfzigerjahre-Plastik-Zuckertopf. »Sie hat bestimmt eine Leidenschaft für Töpfe.« L
Bevor er das Geschenk in seinen Kleinstadtkoffer packt, muss sich Viktor noch eine Unterkunft besorgen. Auch diese sollte möglichst günstig oder sogar kostenfrei ausfallen. Für diese Fälle hat Viktor eine Kostenersparnistechnik entwickelt, die er Nils wärmstens ans Herz legt. Viktor pflegt alle seine Bekanntschaften mit größter Sorgfalt, am besten täglich. Morgens verbringt er drei Stunden damit, seine Korrespondenz zu erledigen. Er versendet regelmäßig Informationen über seinen aktuellen Standort, beantwortet immer spätestens nach drei Tagen jede Mail, berichtet telefonisch aus seinem Leben, erfragt das Wohlergehen der fernen Bekannten und Freunde, schickt In66
fopostkarten, Geburtstags-SMS und digitale Weihnachts- und Ostergrüße. Heute schreibt er eine Rundmail, in der er seine Wohnung zur Untermiete anbietet und sein eigenes Wohnungsgesuch aufgibt. Er weiß, dass, wenn er seine Bekanntschaften gut pflegt, diese sich brav und konstant verhalten, dass sie sich zu einem feinmaschigen Netz aufspannen, das ihn auffängt, egal in welche Richtung er fallen sollte. Um den Überblick über die Reichweite seines Netzes zu behalten, hat er sich schon einmal überlegt, ob es sinnvoll wäre, eine Karte aufzuhängen und kleine Wimpel zur Kennzeichnung der besetzten Plätze hineinzupieksen. Aber das kam ihm dann doch sehr militärisch vor. Er hätte sich dann zu sehr als Eroberer gefühlt, der seine Stellungen überprüft, die Frontverläufe beobachtet und die gefallenen Trutzburgen im Blick hat. Dabei geht es ihm überhaupt nicht um Kriegszustände, sondern um die friedliche Kontaktaufnahme und das freundschaftliche Betreutsein in Städten» in denen er sonst nicht heimisch ist. Dieses Netzknüpfen hat neben den emotionalen auch sehr praktische Aspekte. Nachdem Viktor den Projektjob spontan angenommen hat, schaut er in sein Adressbuch, Wer wohnt zumindest in der Nähe der Kleinstadt? Das doppelte Mietezahlen kann er sich nicht leisten. Seine Basiswohnung muss er halten, denn in Kürze wird er wieder dort sein, mit hoffentlich ein bisschen mehr Geld auf dem Konto, und wieder nach Arbeit in seiner Stützpunkstadt suchen. Denn eigentlich will Viktor in der Nähe von Linn sein. Auch sie ist sein Stützpunkt. Und auch sie will ihn als Stützpunkt. Deshalb will Viktor eigentlich gar nicht ständig mit Koffer in der einen und Laptop in der anderen Hand umherziehen. Er möchte sehr gerne an einem Ort bleiben und einen Ort mit Linn teilen. Schließlich fällt ihm ein, dass einer seiner Schulkollegen in diese Kleinstadt gegangen ist. Sie waren zwar nicht die dicksten Freunde, aber immerhin, sie haben zusammen in der Mathe-Lerngruppe für das Abi Vektor-Rechnung und Differentialgleichung wie67
derholt. Als Viktor den Schulkollegen anruft, erinnert der sich und macht den blöden Scherz vom Vektor-Viktor. Viktor lacht höflich und denkt: »Dass der immer noch die gleiche Nummer hat.« Er habe zwar keinen Platz, sagt der Kollege, aber einen Freund, der gerade in einem Waisenhaus in der Slowakei sein medizinisches Praktikum absolviere. Dessen WG-Zimmer sei frei, sagt er und gibt Viktor eine E-Mail-Adresse. Viktor müsse sich schon ein wenig an der Miete beteiligen, kommt sofort eine E-Mail zurück, aber sonst sei alles kein Problem. Einer der beiden Mitbewohner, übrigens alle zwei sehr hübsch, werde den Schlüssel unter dem Stein vor der Haustür deponieren. Viktor könne kommen und gehen, wann er wolle. Obwohl von einer überall abrufbaren E-Mail-Adresse dieser Welt versendet, freut sich Viktor über die slowakische Werbezeile unter der Antwort: »Flirt bez vyslovenia jediného slova« - ein Zertifizierungsmerkmal für einen festen Ort; dafür, dass die Mail wirklich aus der Slowakei kommt, oder zumindest dafür, dass die Absenderadresse in der Slowakei angemeldet ist. Es gibt noch Dinge, die fest zuzuordnen sind, sagt sich Viktor. Er mag diese kleinen nationalen Unterschiede und das binationale Herumschäkern ohne viele Worte. Er nimmt sich vor, mit Frau Truhn wenigstens über eine Fahrtkostenerstattung nachzuverhandeln. Denn sonst wäre nach dem halben Jahr auf seinem Konto gar keine Verbesserung festzustellen. Zunächst muss sich Viktor an den Einrichtungsstil seiner neuen, temporären Unterkunft gewöhnen. Er stellt den Koffer im Zimmer ab. Ein lebensgroßer Waschbärkopf und ein ausgeblichenes Poster einer Meeresidylle grüßen von den Wänden, vom Türrahmen baumelt eine Federboa, die Viktor den Kopf streichelt, wenn er unter ihr durchgeht. Er hat keine Zeit, sich noch länger umzuschauen und berühren zu lassen, sondern muss mit seinen Mitbewohnern einen probiotischen Kennenlern-Shake trinken. Die beiden sind nett und erklären ihm, 68
welches Geschirr er benutzen darf und welchen Schrank. Denn diese WG folgt dem Prinzip der Gütertrennung. »Wir sind ja weder verwandt«, sagt der eine, »noch verheiratet«, sagt der andere. Das will Viktor alles gar nicht wissen, aber er schaut freundlich, lacht ein bisschen und macht dann beim Kofferauspacken die Tür zu. Am nächsten Morgen begrüßt ihn der Waschbärkopf, der direkt über dem Bett hängt, mit einem Zähnefletschen, aber das beeinträchtigt nicht Viktors gute Laune. Er begibt sich direkt zu seiner neuen Arbeitsstelle. Frau Truhn holt ihn an der Pforte ab. Sie ist etwas dicker geworden. Vielleicht ist sie die Geliebte ihres neuen Chefs und weiß nicht, dass sie ein Kind bekommt, spekuliert Viktor, weil sie so viel arbeitet, dass sie keine Zeit hat, sich länger als nötig mit ihrem Körper zu beschäftigen. Und in Phasen von Arbeitsstress setzt die Periode ja sowieso mal aus und dann wieder ein. Das läuft dann alles eben auch mal außerplanmäßig. In einer kurzen Pause, in einer ruhigen Minute meldet sich Viktor bei Linn, die aber nicht besonders gesprächig ist, weil sie gestern lange auf einem Empfang herumgehangen hat, und dann fährt er sein Handy-Adressbuch auf und ab, ob nicht doch irgendeine alte Bekanntschaft in der Nähe sein könnte. Er hat keine Lust, mit Frau Truhns Bauch und den Geschirr-Besitzansprüchen seiner Mitbewohner sehr viel intimer zu werden. Es bleibt nur der alte Schulkollege, dem er die Standard-SMS schreibt. Viktor hat sie als Formatvorlage auf seinem Handy gespeichert: »Hallo! Bin in der Gegend. Lust auf Bier/Kaffee? LG, Viktor.« Der Kollege schlägt für das abendliche Standard-Bier ein. Die Unsicherheit, die sich bei Begegnungen mit Menschen einstellt, die man länger nicht gesehen hat, überspielt Viktor damit, dass er über den neuen Job und frühere gemeinsame Erlebnisse spricht. »Weißt du noch, wie wir alle in die wunderschöne Dana verknallt waren?« »Sie hat jetzt ein Essproblem. Ich habe sie letzte Woche zufällig auf der Straße getroffen. Sie 69
ist ein Skelett.« »Aber sie hatte schöne Augen.« »Sie hat immer noch diese schönen Augen.« »Leider gehörten wir nicht zu der coolen Gang, deshalb hat Dana uns nie mit ihren schönen Augen angesehen.« »Ich fand uns eigentlich immer recht cool.« »Aber es gab eben noch die sehr coole Gang. Wir waren nur alternativ-cool.« »Ich finde alternativ-cool viel cooler als sehr cool.« Der alternativ-coole Kollege arbeitet bei einer Bank und wundert sich über die ständigen Ungewissheiten, von denen Viktor berichtet. »Wir sind alle sofort untergekommen«, berichtet er, »aber auch wir wechseln alle paar Jahre den Arbeitsplatz. Qualifizierte Mitarbeiter sind rar geworden. Ich werde zum Beispiel im Moment zwei- bis dreimal in der Woche von Personalfirmen angerufen, die mich abwerben wollen. In diesen Zeiten werden vor allem ältere und gering Qualifizierte entlassen - und junge Qualifizierte«, zu denen sich der Kollege Scheinbar zählt, »sind selten geworden.« »Ja, was will man machen«, ergänzt Viktor, »die einen werden haufenweise rausgeschmissen, die anderen kommen nicht rein. Wer kann sich denn da noch qualifizieren?« Nach eineinhalb Stunden höchstqualifizierter Dialoge muss der Kollege weiter, eine wichtige Telefonkonferenz ruft. »Hat Spaß gemacht, dich wiederzusehen. Nicht den Mut verlieren«, sagt er zum Abschluss, »schließlich kannst du mit Pfeilen umgehen, die unter anderem Richtung und Angriffspunkt festlegen. Wir können uns ja mal mittags zum Businesslunch treffen.« Viktor schreibt sich die Durchwahl des Kollegen, dieser schreibt sich Viktors auf. Viktor weiß jetzt schon, dass sie sich nicht noch einmal sehen werden, denn die Mittagspausen in dem Aushilfsjob werden höchstens dafür ausreichen, um sich mal eben beim Bäcker ein Brötchen zu holen. Solche freundschaftlichen Aushilfstreffen dauern gewöhnlich nicht länger als neunzig Minuten: Es sind Kaffee- oder Biertrinktreffen. Als Viktor durch die Stadt zu seiner Unterkunft schlendert, sagt er sich »Dass der immer noch 70
hier ist. Dass er es hier aushält. Der redet auch schon so komisch. Aber gut, dass ich überall jemanden kenne.« Hinterher schreibt Viktor dem Kollegen eine weitere SMS: »Schön war's. Bis bald.« Diese SMS vergisst er nie. Er weiß, wie wichtig gute Manieren sind. Vielleicht muss er bald wieder auf das hiesige Netzwerk zurückgreifen oder braucht eine Bankverbindung. Da sollte der Kollege ihn in guter Erinnerung haben. Als Viktor abends dem Waschbären eine gute Nacht auf die Nase stupst und in seinen Camping-Schlafsack schlüpft, weil er das vorhandene Bettzeug nicht benutzen darf, hört er Nils' Stimme, die ihm einen Camping-Witz zuflüstert. Viktor würde jetzt gerne mit Nils in der Eckkneipe über seinen ersten Arbeitstag plaudern und später unter Linns Decke kriechen, die er nämlich benutzen darf. Er würde mit ihnen über feste Jobs und freie Projekte reden. Über stabile emotionale Beziehungen und flüchtige Bekanntschaften. Und Nils würde sagen: »Du nutzt diese flüchtigen Bekanntschaften doch nur aus. Du spielst diese Intimität doch nur. Du machst dir doch etwas vor. In Wirklichkeit bist du doch überall fremd und alleine. Schau doch mal genau hin. Schau doch mal ein bisschen länger als zwei Wochen hin.« Viktor würde eutgegnen, dass ihm wenigstens sein Konto nicht fremd sei, weil es von ihm regelmäßig betreut werde. Und dann Wörde er mit seiner eigenen Personalpolitik beginnen: »In zehn Jahren, wenn ich ein Entscheider bin, wenn ich eine Entscheidungsposition erreicht habe, kann ich auf meine Netzwerke zurückgreifen. Jetzt sind wir alle noch kleine Fische, die durch die Maschen schlüpfen, aber wir sind der Nachwuchs. In zehn Jahren sind wir die Profis. Und dann ist unsere Zeit gekommen. Dann wird es sich auszahlen, dass wir uns kennen, dass wir unsere Nummern und Positionsangaben haben.« Und er würde die Zähne fletschen wie der lebensgroße Waschbärkopf.
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Spargelessen
Organisation ist alles, sagt Linn gerne. Auf ihrer Schreibtischablage stapeln sich Berge von bedruckten Papieren: Rechercheergebnisse aus Stellenmärken, ausgeschnippelte Zeitungsannoncen für Honorarverträge, Werbeflyer mit den Bedingungen zur Teilnahme an Innovationswettbewerben von. Beraterfirmen, selten mal eine passende Ausschreibung oder ein Ausbildungsplatz, aber alles hübsch gestapelt und mit knalligen Textmarkern bearbeitet. Linn gibt die Datenmengen säuberlich in Tabellen ein, um die Bewerbungsschlüsse auf einen Blick chronologisch parat zu haben. Sie ist gut organisiert. Sie sagt sich: »Die Jobsuche verbessert mein Organisationstalent. So, wird wiederum meine Jobsuche effizienter, zugleich erweitern sich meine Qualifikationen. Ich drehe mich im Kreis, aber nicht in einem Teufels-, sondern in einem Engelskreis. Ich fliege immer höher, immer schneller.« Linn ist also gut organisiert und dadurch gut informiert. Sie will kein Angebot verpassen. Leider ist fast nie etwas für sie dabei, und auf die wenigen Premiumangebote, solche, die länger als sechs Monate dauern und so bezahlt sind, dass man davon leben könnte, bewerben sich mindestens 500 Konkurrenten. Nur zehn kommen in die Endrunde, für die anderen geht alles wieder von vorne los. Linn wird deshalb auch, je tabellarischer ihr Schreibtisch aussieht, umso realistischer. Während sich ihre Freundin Anika unermüdlich bewirbt, selbst wenn sie nur halb oder kaum in das gesuchte Profil passt, die teuersten Bewerbungsmappen 72
kauft, einen Profifotografen mit Profibewerbungsporträts beauftragt, zu jedem Vorstellungsgespräch kreuz und quer durch das gesamte Land reist und die Kosten immer selbst trägt, möchte Linn nun eine neue Taktik entwickeln. Als sie in einer Ordnungsattacke beim Aufräumen ihres Zimmers auf sämtliche Telefonlisten ihrer bisherigen Praktikumsstellen stößt, weiß sie, wie der Strategiewechsel aussehen muss: Sie löscht alle Tabellen aus ihrem Rechner und wirft die hübsch gemarkerten Stellenanzeigen in den Papierkorb. Von nun an will sie ihre alten persönlichen Rontakte ausbauen sowie neue einbauen. Mit den Telefonlisten ist ein Anfang gemacht. Sie sind ihre geheime Notration-Notation. Falls sie einen Kontakt aufleben lassen will, sind die richtige Durchwahl und der richtige Ansprechpartner gleich zur Hand. Schließlich hatten ihr alle Praktikumsgeber zum Abschied immer nachdrücklich versichert, sie solle sich doch gerne melden, sie solle anrufen, sie müsse sich in Erinnerung bringen, sie solle bloß keine Scheu haben, sie nerve nicht, nein, man würde gerne wissen, wie es bei ihr weitergehe, ja, sie müsse sogar nerven, nur dann würde man sich an sie erinnern können, nur dann würde man wissen wollen, wer denn da so nerve, und man würde sie weiterempfehlen, weil man sich wieder an sie erinnere. Natürlich hatte Linn nie nachträglich irgendwo angerufen, und die Listen waren in irgendwelchen Kartons verschwunden. Warum hätte sie sich melden sollen? Sie wollte nicht erzählen, dass sie noch immer Praktika absolvierte, dass sie ihre Arbeitskraft vor allem bei der Arbeitssuche vergeudete. Für nix und wieder nix. Das Einzige, was anstieg, war ihre Telefonrechnung durch das ständige Online-Sein. Sie wollte nicht um Aufmerksamkeit und Mitleid betteln gehen. Nur einmal hatte sie sich bei einer netten Redakteurin gemeldet, weil sie für ihre Patentante, die einen Verein für Minenopfer leitete und ein Benefizkonzert veranstaltete, einen Hinweis schreiben wollte. Die Redakteurin war zwar sehr freundlich, hörte zu, wiegelte dann die Anfrage ab, aber erkundigte sich nach 73
ihr. Mehr aus Pflichtgefühl, hatte Linn damals den Eindruck, als aus wahrem Interesse am Schicksal einer ehemaligen Arbeitskraft. »Ja, dass es für euch so schwierig ist, hätte ich nicht gedacht. Vor ein paar Jahren war es noch nicht so. Ich bin wohl grad noch hier reingerutscht.« Linn hörte förmlich, wie erleichtert sie war, dass sie grad noch so reingerutscht war, als ob alles ein Spiel wäre oder eine Suche nach Spielplätzen mit extraschnellen Rutschen. »Was würdest du denn gerne machen?« »Ich würde alles machen«, sagte Linn, ich müsste nur irgendwann mal anfangen, irgendetwas zu machen, dachte sie weiter, ich müsste mal irgendwo anfangen, ein bisschen Verantwortung zu übernehmen, einen Schreibtisch zu haben, auf dem ich meine Mappen und Tabellen liegen lassen kann, eine Durchwahl zu haben, die ich Gesprächspartnern mitteilen kann, nicht immer umziehen müssen, von Zimmer zu Zimmer, Woche für Woche, weil die Praktikantin per se ja nicht als anwesend eingestuft wird, sondern als beobachtend, als jemand, die sich dazwischenschiebt, dazwischenschieben muss, wenn irgendwer mal im Urlaub ist und seinen Arbeitsplatz nicht braucht, der dann aber natürlich wiederkommt, die Praktikantin begrüßt und sagt: »Im Zimmer 312 ist jetzt was frei, ich geh kurz meine Post holen, du kannst ja dein Zeug rüberräumen«, und dabei immer lächeln, nett bleiben, das Beste aus der Sache machen, immer lächeln und weiterlächeln, auch wenn man den letzten langweiligen Müll entsorgen muss, selbst das ständige Lächelnmüssen als Chance für das Erlernen einer positiven Ausstrahlung begreifen. »Na, dann viel Glück. Und melde dich!«, sagte die nette Redakteurin. Linn legte auf. Man kann ja nie wissen, sagte sich Linn, vielleicht weiß sie was. Ich hab wenigstens alles gesagt. Die Redakteurin wusste nichts. Und sie meldete sich nicht. Aber nun will Linn einen neuen Anlauf nehmen. Sie kauft sich einen Visitenkarten-Ordner, sodass sie die auf Empfängen eingesammelten Kontakte ordentlich einstecken und immer wie74
der in Guckfenstern sichten kann. Sie will die Ergebnisse ihrer Bemühungen greifbar vor sich haben. Sie professionalisiert sich - trotz aller Rückschläge. Auch wenn Viktor immer sagt, wenn er die Berge von Papier sieht, die seine Freundin um sich hortet: »Mensch, Linn, du bist so chaotisch«, lässt sie sich nicht entmutigen. Sie entgegnet dann: »Mann, Viktor, aus dem Chaos entsteht die Welt, das kannst du bei Ovid nachlesen.« Sie liest als Erstes die Listen genau durch. Vergleicht die Namen auf den Listen mit den Namen der Vortragenden der örtlichen Bildungseinrichtungen auf der Suche nach denen, die sich in beiden Listen doppeln. Sie muss nicht lange lesen und vergleichen. Einer ihrer ehemaligen Chefs, Herr Dr. Schrobele, hält in ein paar Wochen eine Vorlesung, in einer Konferenzvilla im Stadtrandgebiet, in der einst Ludwig Erhard gerne tagte, natürlich im Grünen, mit Terrasse zum See und Wintergarten voller Ledersessel, mit guter Anbindung an die Autobahn, aber mit schlechter Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel. Das Thema des Vortrags »Gewissen und Fortschritt« knüpft an eine Rede an, die Linn damals für ihn abtippen und 200-mal kopieren musste. Das damalige Kopiergerät besaß keine Sortierfunktion. Linn blockierte stundenlang die Maschine und alle Ablageflächen auf dem Flur, erntete von einigen Mitarbeitern deshalb böse Blicke, andere brachten einen solidarischen Kakao, den sie nicht trinken konnte, weil sie ja sortieren musste, und da Trinken und Sortieren nicht gleichzeitig machbar war, wurde der Kakao kalt. Linn hat manchmal noch ein schlechtes Gewissen ihren freundlichen Kollegen von damals gegenüber. Auch Herrn Dr. Schrobele hat sie eigentlich in guter Erinnerung. Er war der einzige Praktikumschef, der ihr eigenhändig das Zeugnis schrieb, der sich die Mühe machte, eigene Formulierungen zu finden, mit ihr über ihre Tätigkeiten sprach, über das, was sie sich erhoffte, was sie kritisierte, und das, was sie später gerne machen wollte. Das Zeugnis aus der Feder von Herrn Dr. Schrobele war 75
ihr Lieblingszeugnis, weil es ehrlich klang, professionell und glaubwürdig. Weil es wirklich etwas über sie sagte, was sie selbst so nicht hätte formulieren können. Denn sonst hatte Linn jedes Zeugnis selbst verfasst und es von der Sekretärin unterschreiben lassen. Sie macht den Schrobele-Vortrag zu ihrem Probelauf. Mal vorbeischauen, dem Herrn die Hand schütteln, über Gewissensdinge plaudern, die Arbeitslosigkeit erwähnen, noch mehr Gewissensdinge bereden und eine Karte einsammeln, eine verteilen: den Fortschritt aktiv selbst gestalten, so denkt sie sich das. Zusätzlichen Ansporn gibt ihr die Trainerin Doro, bei der Linn an einer Fortbildung zum Thema »Work-Life-Planning« teilnimmt, um ihre neue Strategie zu unterfüttern. Der Aushang am schwarzen Brett bei ihrem Bäcker um die Ecke, dem Nougat-Kalle, hat Linn direkt angesprochen: »Es ist nicht deine Schuld. Es ist die Schuld des Arbeitsmarktes. Lass dich nicht von deinem Ziel abbringen. Du bist gut«, sagt Doro auf dem Plakat, und eine riesige, dominante Sprechblase quillt aus ihrem Mund. Doro sagt gerne Mutmacher-Sätze, die sie sich »halb« über ihren Schreibtisch hängen würde, wie sie betont, die sie aber nicht hinhängt, weil sie halbe Sachen nicht mag. Wie viele mag sie die Riesen-Nougat-Croissants von NougatKalle und nutzt den regen Betrieb des Ladens, um auf ihre Kurse aufmerksam zu machen. Linn sitzt also zwei ganze Tage in einem stickigen Raum mit fünfzehn hoch qualifizierten Jobsuchenden, um eine Strategie zu entwickeln, um Leben und Arbeit miteinander zu verbinden. »Das ist eine ganz persönliche Sache«, sagt Doro, »aber es gibt Tricks.« Natürlich kennt Doro viele Karriere-Kniffe, die die Gruppe als Trockenübungen ausprobiert. Linn fragt sich allerdings, was die anderen Teilnehmer eigentlich noch lernen wollen. Sie sprechen zusammen zwanzig unterschiedliche Sprachen, davon jeder zwei europäische fließend, alle waren insgesamt dreißigmal im Ausland, sind sehr motiviert und besitzen 76
diverse Computerkenntnisse, sowieso, das erwähnt man ja gar nicht mehr. Zunächst spricht deshalb Doro, die Seminarleiterin: Sie entwickelt anhand der Spieltheorie aus den Sozialwissenschaften ein Szenario für den Arbeitsmarkt. Auf der einen Seite stehen die Arbeitgeber, die bezahlte Jobs und unbezahlte Praktika anbieten. Die Arbeitgeber stellen lieber unbezahlte Praktikanten als bezahlte Arbeitnehmer ein, wenn sie es sich aussuchen können. Denn natürlich wollen sie sparen. Auf der anderen Seite stehen die Bewerber, die einen Job oder ein Praktikum suchen. Wenn genug Bewerber mit einem unbezahlten Praktikum zufrieden sind und immer weniger bezahlte Jobs oder gar Festanstellungen angeboten werden, entsteht ein Koordinationsproblem. Dann kann kein Praktikumssuchender auf die Seite der offenen Stellen hinüberwechseln - wohingegen ein Jobsuchender auch auf die Seite der Praktikumsplätze wechseln kann, weil es ja zu wenige Jobangebote gibt. Dieses Dilemma lässt sich nur lösen, wenn sich die Praktikanten und Jobsuchenden anders verhalten: wenn sie zum Beispiel unbezahlte Praktika nicht annehmen, wenn sie sich nicht auf die klassische Art und Weise bewerben, wenn sie sich untereinander vernetzen und absprechen würden. »Also zurück in die Praxis«, sagt Doro. »Da es eben fast nur noch unbezahlte Praktika und zu wenig Ausschreibungen für bezahlte Stellen gibt, müssen wir andere Wege finden, um einen Arbeitgeber zu überzeugen. Nur zwanzig Prozent der offenen Stellen werden heutzutage über Anzeigen vergeben.« Die Teilnehmer schreiben artig mit, auch das Flipchart, auf das Doro mit peppigen Stiften herummalt, wird immer voller. Schließlich verrät sie ihren besten Trick: »Eure Taktik muss sein: reden, reden reden. Linn stellt sich vor, dass ihr Herr Dr. Schrobele gegenübersteht. Doros Haare werden dünner, fallen ihr aus, eine kleine Glatze bildet sich, ihre Stimme wird rauer, ihre Leinenbluse verwandelt sich in ein Kordjackett, ihre Sandalen in edle Budapester Lederschuhe. »Ich suche Arbeit 77
- in jedem Satz müsst ihr diese Tatsache, wenn schon nicht sagen, so aber mitschwingen lassen. Ich würde gerne dieses oder jenes machen. Konkret sein. Nah rangehen.« Doro und Herr Dr. Schrobele setzen sich zu Linn an den Tisch. Am nächsten Tag ist die Kandidatin Linn also bestens und strategisch auf die Begegnung mit dem Herrn Doktor vorbereitet. Sie musste am Vortag noch ihren Lebenslauf mit möglichst vielen Verben erläutern, die dann wiederum von den anderen Teilnehmern notiert und analysiert wurden. Es fiel auf, dass Linn vor allem beobachtende und analysierende Verben verwendete. Sie müsse ihre aktive Seite ausbauen, riet Doro. Aber das wusste Linn sowieso schon. Nach dem Vortrag geht sie direkt auf Herrn Schrobele zu. Er steht neben dem Rednerpult, umrundet von einigen Anzug tragenden Herren und einer Dame im Kostüm mit hochgesteckten Haaren und in Riemchensandalen. Auch andere warten, um ihm die Hand zu schütteln, weniger, um ihn zu begrüßen, sondern um sich von ihm begrüßen zu lassen und um kurz seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, sei es nur in einer Handschüttelgeste. Linn reiht sich in die Bittsteller ein. Sie konzentriert sich auf den Moment der Begegnung. Herr Schrobele hat sie schon bemerkt Linn sieht, wie er nachdenkt, wer sie sein könnte, woher er sie kennt, aber da kommt sie ihm schon zuvor: »Guten Abend, ich bin Linn, eine ehemalige Praktikantin.« Herr Schrobele hat nicht unbegründet einen Doktor der Psychologie: Er erinnert sich. Sie plaudern ein wenig über den Ort, diese hochherrschaftliche Villa, den Blick über den See und können sich darauf einigen, dass das Schweifen des Blicks entlang der Ufergebäude als Metapher für ein unbestimmtes Dasein stehen könnte. Und weil es schon um Existenzen geht, setzt Linn gleich hinterher, dass sie gerne Listen anfertige, dass sie eine Expertin für Tabellen und Ordnungssysteme sei, die den jeweiligen Datenbedingungen auf den Leib geschnitten werden könnten. Herr Schrobele sagt: »Na, das 78
passt ja bestens. Hätten Sie eventuell morgen Zeit?« Linn hat natürlich immer Zeit und nickt einsatzbereit. »Wenn Sie mögen, nehme ich Sie zu einer Planungssitzung mit. Denn leider hat unser Protokollant gerade abgesagt. Haben Sie schon einmal Protokoll geführt?« Linn muss zwar wieder einspringen, eine Lücke ausfüllen, für ein paar Stunden, und dann wieder auf Lückensuche gehen, aber mit Herrn Schrobele scheint alles irgendwie einfach zu sein. »Das mache ich sehr gerne.« Sie vergisst, nach der Vergütung zu fragen, weil sie sich so freut, dass Doros Tipps und Tricks anschlagen. Sie motiviert sich: »Das ist doch eine Chance! Diese wichtigen Planungsleute kennen zu lernen ist sozusagen mein Gehalt. Der Lohn.« Linn ist sehr dankbar. Eigentlich für gar nichts. Aber man kann ja auch mal für nichts dankbar sein. Sie weiß um die ungeahnten Möglichkeiten, die sich bei offiziellen Anlässen, bei der Verabschiedung der langjährigen Sekretärin, dem Adventsabend der Firma, der Eröffnung einer neuen Zentrale ergeben können. Linn weiß, dass das bloße Dabeisein, ihre Anwesenheit bei solchen Veranstaltungen wichtiger ist als gute Noten, originelle Studienfächer oder Auslandserfahrungen. Diese Veranstaltungen sind eine Bühne für Bewerbungsgespräche, auf der sie mehr Eindruck hinterlassen kann als mit jeder noch so flott gestalteten Bewerbungsmappe. Man sollte viel öfter dankbar sein, denkt sich Linn. Bis das friedvolle Gespräch von Herrn Schrobeles ehrgeiziger Assistentin Henni unterbrochen wird. Sie steht schon ein paar Minuten bei Linn und Herrn Schrobele, hat sich immer näher heranbewegt, interessiert, aber herablassend geschaut und ihren Angriff vorbereitet. Schon damals während Linns Praktikum hielt sie die Nachwuchskraft mit einem langen Arm der Macht von besseren Aufgaben fern, erklärte ihr absichtlich bestimmte Dinge nicht damit Linn Fehler unterliefen oder sie diese Aufgaben gar nicht erst ausführen und somit keine Konkurrenz für Henni werden konnte. Einmal rief sie Linn mit wichtiger Miene zu sich und fragte, ob sie gerade ein wenig 79
Zeit hätte. Linn wollte schon ihr negatives Bild von Henni in ein positives umbauen, sie glaubte für einen kurzen Moment, jetzt würde eine neue Herausforderung, ein selbständig zu entwickelndes Projekt auf sie zukommen, aber Henni blieb ohne Abschläge die gute, alte Zicken-Henni: »Du weißt, dass die Praktikanten dazu angehalten sind, einmal in der Woche den Boden zu wischen? Vergiss das bitte nicht«, und dabei lächelte sie unverschämt. Jetzt steht Henni also wieder da und lächelt. »Sie haben es sicher nicht leicht auf dem Arbeitsmarkt als Ethnologin«, sagt Herr Schrobele gerade. »Ach, sie ist Ethnologin?«, freut sich Henni, »dann könnte sie doch mal unseren Adressverteiler alphabethisch ordnen. Zicke, denkt Linn wieder, verabschiedet sich von Herrn Schrobele, nachdem er ihr schnell seine private Handynummer aufgeschrieben hat - wegen des Treffens am nächsten Tag. Mit dem Nachtbus braucht sie drei Stunden, bis sie aus dem Standrandgebiet wieder zu Hause angekommen ist. Herr Schrobele liegt bestimmt schon längst im Bett, er hat sicherlich ein Taxi genommen. Und Henni hat auf der Rückbank gesessen und ihre Zickenpapiere sortiert. Wichtig ist, dass Linn aus allen Demütigungen neue Energien ziehen kann. Sie ist eine zuversichtliche Person, die sich nicht entmutigen lässt. Sie erledigt am folgenden Tag die Protokoltantenaufgabe mit Einsatz und Bravour: Anwesenheitsliste herumgeben, Abwesenheiten notieren, Top 1, Top 2, Top 3, nachgereichte Anträge beschließen, Beschlussfähigkeit prüfen, Abstimmungen, auszählen, Enthaltungen vermerken und Sonstiges. Sie weiß, dass »Top« »Tagesordnungspunkt« bedeutet. Sie hält ihren Stift nah am Notizblock, schreibt fleißig mit, schaut aber auch viel in die Runde, denkt mit, nickt mit, lacht mit. Sie will nicht nur schreibend anwesend sein, sondern auch intellektuell, als jemand, der versteht, worum es geht. Das Thema der Sitzung ist spannend. Es geht um neue Integrationsmo80
delle, um Qualitätskriterien für eine erfolgreiche kommunale Integrationspolitik. Zentraler Punkt ist die Zusammenarbeit, Programmentwicklung und -durchführung mit den Organisationen, die die Migranten vertreten, mit der Basis sozusagen. Linn malt schnell ein Modell auf ihren Block, das sie an Doro schicken wird. Vielleicht lässt sich mit diesem Ansatz auch das Dilemma auf dem Praktikantenmarkt lösen. Im Sitzungssaal herrscht nun Aufbruchstirnmung. Die Damen und Herren packen ihre Unterlagen zusammen, trinken die letzten Schlucke aus ihren Wassergläsern und reden in Kleingruppen miteinander. Herr Schrobele ist sehr zufrieden mit den Ergebnissen und sagt: »Ich möchte Sie gerne alle zum Spargelessen einladen. Hier unten ist ein sehr gutes italienisches Restaurant. Natürlich sollen Sie sich auch integrieren, Frau Linn. Sie kommen doch mit, oder?« Im Fahrstuhl steht Linn neben Herrn Schrobele, und sie führen ihr Gespräch über Existenzen weiter, das gestern von Henni unterbrochen worden war. »Wissen Sie, Frau Linn, ich muss ehrlich zu Ihnen sein. Ich kann mich nicht an alle Praktikanten und Praktikantinnen erinnern. Ich gebe mir Mühe, ja, aber das reicht nicht. Mein Blick schweift über so viele verschiedene Gewässer. Wir brauchen junge Menschen wie Sie, und wir rechnen damit, dass Sie bei uns produktiv arbeiten. Aber einige denken, sie könnten schon alles. Das Einzige, was sie können, ist posieren. Das nervt. Andere sind einfach dumm. Man muss ihnen alles sagen. Sie denken nicht mit, denken nicht nach, sind sehr unselbständig. Das nervt auch.« »Na ja«, sagt Linn, »aber man kann ja nicht alles vorher wissen. Wo welche Datei abgespeichert, ist, wie man Telefonate durchstellt, wie die Standard-Absage per Mail aussieht. Von alleine kann man nicht selbständig sein.« Herr Schrobele nickt: »Wir haben einfach zu viele Praktikanten. Aber es bewerben sich so viele. Wir wollen gerne allen die Gelegenheit geben, bei uns hineinzuschauen. Das führt dann zu einem solchen Durchlauf, dass 81
man sich kaum die Gesichter merken kann. Jede Woche gibt es drei neue. Das Büro ist unruhig, überall laufen junge, verwirrte Menschen herum, die ich nicht kenne. Wie in einer Bibliothek. Wie am Flughafen.« Inzwischen sind sie im Restaurant angekommen, und der zugewandte Herr bietet Linn einen Platz neben sich an. Die öffentliche Lokalität wird für Linn zu einem offiziellen Arbeitsraum, wo sie bei Gemüse und Weinschorle ihren Chef besser kennen lernen kann - und er sie auch. Sie gibt sich Mühe, nicht jung und verwirrt zu erscheinen. In der nächsten Woche tippt sie im Büro von Herrn Schrobele das Protokoll ab, führt eine ordentliche Liste über ihre Arbeitsstunden, das muss bei ihm jeder machen. So korrekt ist selten mal einer, denkt Linn. Natürlich rennt Henni ständig an ihr vorbei. Sie will stören, macht das Radio laut an, brüllt ins Telefon, druckt endlos lange Texte aus. Linn kann sich bei dem Lärm schlecht konzentrieren. Um sich zu bedanken, schreibt sie an Herrn Schrobele eine persönliche Karte: »Dass Sie sich so viel Zeit genommen haben ...«, eine sehr persönliche Karte, ein Blick auf das Wasser eines Gartenteichs, im Hintergrund das Uferpanorama aus Bambusbüscheln und Schilfrohr. Diese legt sie Herrn Schrobele auf den Schreibtisch. Vielleicht hängt er sie sich an die Wand, und falls ein Arbeitsplatz frei wird, fällt sein Blick vielleicht auf die witzige, traurige, absurde, aber eben sehr persönliche Karte, auf der natürlich ganz dick Linns Adresse und Telefonnummern stehen, und er leitet das Jobangebot weiter. Weil Linn nicht hochschaut sondern nachdenkt und für ein paar Minuten nicht in die Tastatur hämmert, stellt sich Henni neben sie und fragt laut: »Hast du Zeit? Dann könntest du die Regale und Schubladen aufräumen. Das gehört auch zu deinem Job.« Linn öffnet ein neues Dokument, legt eine Tabelle an und sagt ebenso laut und bestimmt: »Nein, ich habe gerade überhaupt keine Zeit.«
Kleine
feste
Orte
Viktor schaut nicht gerne in den Spiegel. Weil er nicht mehr frühstückt, weil er zu wenig schläft, weil er tags und nachts vom Computerbildschirm bestrahlt wird und weil seine Augen so müde sind, dass sie abgese¬ hen von Word- und Excel-Tabellen nichts mehr scharf stellen können. Er bereitet eine Konferenz vor, organisiert die Festredner, schickt Einladungen heraus, blicht Hotelzimmer und Restauranttische, arbeitet rund um die Uhr. Abends geht er in der kleinen Wohnung, in der er für sechs Monate mit seinem Koffer lebt, am reflektierenden Fensterglas vorbei und sägt mechanisch: »Mensch, du siehst fertig aus.« Nur, wenn er seinen Koffer bei Linn in die Ecke schiebt, wenn Linn in ihrem Schrank ein bisschen Platz für seine Sachen freiräumt und seine Unterhosen neben ihren auf dem Wäschegestell hängen, erholt er sich. »Bei dir kann mein richtiges Zuhause sein«, sagt er dann zu Linn und setzt sich eine ihrer Unterhosen auf den Kopf. »Meine Verdauung funktioniert, die Stinketau¬ ben auf dem Fenstersims erkenne ich an ihren fehlen¬ den Krallen, die Luft auch, besonders morgens, denn sie riecht immer auch ein bisschen nach dir. Ich weiß, wo die Kaffeetassen in der Küche stehen, wo die Teller und die Schüsseln. Dein Bett ist mir ein bisschen zu hart, aber dafür habe ich mein großes Kissen. Ich schlafe sehr gut und wache nicht zerknautscht und alle paar Stunden verwirrt auf, sondern zu meiner perfek¬ ten Zeit, ganz entspannt, um halb neun. Und was das Wichtigste ist, ich kenne Menschen in dieser Stadt.« 83
»Und einen Menschen besonders gut«, sagt Linn, und ihr ist dieses Detail sehr wichtig. Linn ruft Viktor regelmäßig an, wenn er wieder einmal unterwegs ist, und plaudert mit ihm über Entfernungen und Erfahrungen. Viktor meldet sich dagegen selten bei ihr, weil er so viel zu tun hat, wie er sagt. Weil er den ganzen Tag kommuniziert und dann abends nicht noch mehr kommunizieren will: »Schade, dass ich dich durch das Telefon nicht küssen kann, dann hättest du vor mir keine Ruhe.« Linn hat ihn seit drei Monaten nicht geküsst und seit ein paar Wochen nichts von ihm gehört. N u n ist er am Apparat und sagt einfach nur: »Hallo«. Sie sagt ziemlich unwillig: »Hallo, Viktor, wie geht es dir?« Viktor freut sich, dass er etwas Persönliches gefragt wird, aber er bleibt seiner Minimalkommunikation treu: »Gut, und dir?« Linn erzählt, sie sei in der letzten Woche auf einer Städtetour gewesen, und bald fahre sie mit Anika in den Urlaub nach Italien, für einen Monat, zu deren Eltern. Dann bin ich eben auch mal weg, denkt sie. »Wir helfen auf dem Weingut.« »Und wann kommst du wieder?«, fragt Viktor. »Im Oktober.« Das sind dann doch zwei Monate, denkt Viktor. »Ja«, sagt Linn, »ich wollte dir das nur sagen. Ich habe momentan sehr viel zu erledigen, deshalb kann ich mich jetzt nicht mehr so oft melden. Ich habe außerdem eine Telefonblockade entwickelt.« »Was bedeutet denn das schon wieder? Hattest du nicht letztes Mal eine EMail-Blockade?« »Ich will nicht immer alles begründen«, sagt Linn. Eigentlich kommt diese Blockade-Idee nämlich von Nils, den sie in der letzten Zeit fast täglich sieht und der zur Kostenreduzierung, aber auch zur so genannten Humanitätsmaximierung, mehrere Monate lang auf jegliche modernen Kommunikationsmedien verzichten möchte. Wenn er die menschliche Nähe sucht, muss er bei seinen Freunden klingeln. Oder Briefe schreiben. »Du bist so weit weg. Du kannst eben nicht mehr alles verstehen.« »Ach so.« Viktor weiß gar nicht, was er sagen 84
soll. Diese Linn hat er noch nicht erlebt. »Willst du mich ärgern?« »Ich muss darüber nachdenken, ob ich aus Italien überhaupt zurückkommen soll, ich könnte ja auch dort bleiben, auf dem Weingut, mit einem lustigen Italiener. Und deshalb wollte ich etwas von dir wissen.« »Ja«, sagt Viktor, »frag mich, warte nicht.« »Das reimt sich. Du kommst doch wieder, du Poet, oder?« Und Viktor antwortet: »Ich denke schon.« Seine Chefin hatte ihm zwar gestern gesagt, dass sie dringend einen Assistenten brauche, dass sie gerade Personalgelder beantragt habe, dass sie die Stelle für Viktor freihalten werde, er könne sich das in Ruhe überlegen, denn sie könne sich vorstellen, dass Viktor sehr gut in das Team passen und dass er jetzt ja auch schon alle Arbeitsabläufe kennen würde - da habe er seinen Mitbewerbern einiges voraus. Und ganz eigentlich wolle sie die Stelle sowieso nicht ausschreiben. Sie habe einfach keine Zeit, 500 Bewerbungen durchzusehen. Deshalb wäre es doch wunderbar, wenn Viktor im Team bleiben würde. Viktor hatte sich geehrt gefühlt, aber er hatte sich im selben Moment daran erinnert, dass er ja unterwegs war, dass Linn zwar auch manchmal unterwegs war, aber leider nicht mit ihm zusammen, und dass das ein Argument gegen diesen aussichtsreichen Ein-Jahres-Vertrag war. »Wie >du denkst«, fragt Linn. »Ich bin im Oktober wieder zurück, wie geplant«, versichert Viktor schnell, zu schnell vielleicht, denn so sicher ist er sich noch gar nicht. »Na, dann ist ja gut.« Linn wünscht sich, mal wieder einen Mann im Haus zu haben, der abwäscht, während sie sich bei ihrem nächsten Kurzzeit-Job engagiert, der im Herbst beginnt, der sie zum Eis einlädt, wenn die Sonne scheint, und pfeift, wenn er ihr morgens ein Brot schmiert, der ihr ihren Lieblingssaft heimlich in die Tasche steckt, damit sie ihn bei der Arbeit trinken kann, und der sie in den Arm nimmt, wenn sie schläft. Der mit ihr aufsteht, damit sie morgens nicht alleine ist. Und der dann auch immer mal wieder wegfährt und weg ist, für ein paar Tage, ein paar Wochen, ein paar Monate, weil er ja wiederkommt. Diese
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Sicherheit, denkt Linn, die brauche ich dann doch. Viktor freut sich, dass Linn diese Sicherheit braucht und will. Er sagt: »Bis ganz bald, und dann auch länger«, und legt viel Heimweh in seine Stimme. Er möchte gerne bei ihr ankommen. Vom Flughafen abgeholt werden und Bein an Bein im Bus sitzen. Die Sprache der Werbeplakate verstehen und den Weg nach Hause finden, ohne einen Stadtplan zu benutzen. Eine Zeit lang hat er sich eingeredet, ein globaler Spieler zu sein, und das nicht nur so irgendwie, sondern jemand zu sein, der mit einer Drei-Wetter-Taft-Frisur auf allen Flughäfen der Welt zu Hause ist. Er dachte, dass er es mit diesem Individualismus-Trip und seiner »Schöne-Momente«-Ideologie gut getroffen hätte. Er wollte das Beste aus der unsicheren Jobsituation machen, wenigstens viel herumkommen und interessante Menschen kennen lernen. Nils schaute ihn meistens kopfschüttelnd an, wenn Viktor seine Geschichten erzählte: wie sich seine Kollegin Hannah betrunken auf den Jaguar vor seinem Haus gelegt habe und fünf Minuten lang nicht aufgestanden sei wie ein Kühlerhaubenwärmer, wie ihn sonntags im Park eine fremde Frau angesprochen und nach einer halben Stunde gefragt habe, ob sie ihn küssen dürfe, und als er das nicht wollte, ihn gefragt habe, ob er sie nicht schön fände, wie er »doch« gesagt habe und dass er sie sehr schön fände, und wie sie dann wiederum gefragt habe, warum er sie dann nicht küssen wolle, wenn er sie schön fände. Nils hatte immer zwei Einwände. Erstens: »Das kannst du auch hier erleben.« Zweitens: »Du kannst doch nicht überall Freunde haben, in Oppenheim, in Zürich, in Denver. Das nehme ich dir nicht ab. Das macht mich fertig.« Nils schenkte sich erneut vom Rhein-Main-Wein ein, den Viktor mitgebracht hatte. »Glaubst du, dass Linn dich mag, weil sie ihren Freund nach dem Abenteuerfaktor aussucht? Meinst du, sie will hören, was du Tolles erlebt hast? Und dann schlussfolgern: Weil du toll bist, bin ich auch toll, denn du findest mich 86
toll?« Viktor musste lachen: »Ich frage sie mal. Ich habe mir meine Partnerin jedenfalls nach dem Sicherheitsfaktor ausgesucht.« Viktor schob Nils einen Zeitungsartikel hin. »Ich fahre mit meinem Sicherheitsdenken auf der aktuellen Beziehungsschiene mit, laut diesem berühmten Soziologen.« Nils war ein Fan großer Soziologen und mit Soziologie-Argumenten immer zu kriegen. »Es ist rar, wenn jemand einen festen Job findet«, sagte Viktor weiter zu Nils, »und es ist nicht so rar, dass jemand eine feste Freundin findet. Deshalb habe ich die momentan für mich höchstmögliche Festigkeit mit Linn gefunden. Das ist einer der Punkte, warum Linn mich anzieht. Weil sie an einem Ort ist, weil sie verlässlich ist, weil ich mir sicher sein kann, wo sie ist.« Viktor hat sich entschieden, er will bei Linn bleiben. Er sagt den Job ab. Dabei hat er ein sehr schlechtes Gewissen, besonders all denen gegenüber, die sich diesen Job Wünschen würden. Und auch seinen Eltern gegenüber, die sich sehr freuen würden, wenn er einmal länger als ein paar Monate ein gleichmäßiges Einkommen hätte. »Wenn man gut ist, findet man was. Wir haben es ja immer gesagt: Du findest was,« hatten sie gesagt, als er ihnen von dem Angebot erzählt hatte. Ihnen nun zu erklären, warum ihm der Job weniger wichtig ist als der Ort, an dem er eine bestimmte Person täglich sehen kann, ist nicht einfach. »Wie lange willst du denn noch suchen«, sagen Sie, »du bist zu wählerisch. Wenn du immer alles ablehnst, dann musst du dich nicht Wundern.« Viktor wundert sich überhaupt nicht und sagt: »Schönen Abend noch.« Er ist mit Nils bei Chris zum indischen Männerabend mit Chicken Tikka Masala eingeladen. Linn ist nicht da, Anika gerade mal wieder zu einem Bewerbungsgespräch in den Süden gefahren, wo sie sich eine Woche lang mündlichen und schriftlichen Prüfungen unterziehen, in willkürlich zusammengestellten Gruppen Fälle aus der Praxis bearbeiten, in Rekord87
zeit recherchieren und Reden schreiben muss, und, wenn sie besteht, zu einer erneuten Bewerbungsrunde in ein Landhaus in der Toskana eingeladen wird, zusammen mit Prominenten aus Politik und Wirtschaft. Chris hat Anika verpasst, er ist, als Anika gerade abgefahren war, wieder in der Stadt angekommen - nachdem er ein Jahr lang in Kalkutta an einem Slum-Upgrading-Projekt mitgeforscht hat, »Unsere Slums sehen jetzt wirklich gut aus, richtig schön«, schrieb er an die Freunde. »Kleine angemalte Hütten, richtig wohnlich.« »Very cheap, buy, buy, Mister«, begrüßt er am Abend Nils und Viktor. Chris sieht müde aus, aber redet ohne Pause und Luftholen. Als ob er sich durch sein eigenes Dauergerede davon abhalten und davor schützen wolle, in einen ewigen Erholungstiefschlaf zu fallen. Schon in der nächsten Woche wird Chris zu seinem nächsten Slum nach Banda Aceh weiterfahren. Er sagt zu Viktor und Nils, die Papadums rhythmisch in die Soße dippen: »Hoffentlich vergisst mich niemand.« Viktors Papadum bleibt in der Luft stehen. »Ein paar werden dich schon vergessen. Ein paar werden dich sogar noch ein Jahr nach deiner endgültigen Rückkehr fragen, ob du wieder richtig hier bist. Du wirst dich fragen, was sie mit >richtig hier sein< meinen. Du kannst nicht von den Leuten erwarten, dass sie sich merken, wann du wo und warum bist. Sie merken sich nur das Ungefähr, sie wissen nur, dass du oft weg bist.« Chris möchte gar nicht so weit in die Zukunft blicken, seine Zeit nicht mit Resignation vergeuden und lieber die Gegenwart feiern. Aber er ist eigentlich auch froh, dass die Freunde da sind und die Dinge ehrlich ansprechen. »Auf die Ehrlichkeit«, sagt Chris und streut Farbpulver auf seine Gäste, ein indischer Festtagsbrauch. Er sei es gewohnt, Distanzen zu ertragen, erklärt Chris, er sehe ja sogar seine Freundin Anika nur dreimal im Jahr, noch nicht einmal an Feiertagen. Dass sie sich an Weihnachten verabreden würden, sei klar, denn da müssten sie beide nie arbeiten, aber Ostern zum Beispiel, er könne sich nicht daran erin88
nern, wie er die letzten Osterfeste verbracht hätte. »Irgendwie ging Ostern meistens an mir vorbei, ich habe noch nicht einmal Eier gekauft. Manchmal überweist mir meine Oma ein Osterei auf mein Konto. Ostern ist ein typisches Pärchenfest. Die Pärchen fahren für ein paar Tage raus, ein bisschen ins Grüne. Aber wenn man alleine ist oder die Freundin irgendwo in der Pampa, auf dem Land, aber leider in einem anderen, dann feiert man Ostern eben nicht. Oder man fährt zu den Eltern. Aber ich will, ehrlich gesagt, nicht mit meinen Eltern zu dritt am Frühstückstisch sitzen, Vivaldi hören und bunte Schalen in den Eierbechern stapeln. Diese Festtage werden doch echt überschätzt.« Bevor Chris nach Indonesien abfliegt, revanchiert sich Viktor und lädt Chris zum Abschiedsessen ein. Es gibt CurrywurstLuxus in einer sehr edlen Bude am Zentralbahnhof, wo die Wurst auf dem Porzellanteller serviert wird und wo neben Ketchup- und Majo-Spendern Sekt- und Champagnerflaschen im Regal stehen. »Man muss sich ja mal was gönnen«, sagt Viktor und klaut mit seiner Silbergabel ein Wurststück von Chris' Teller. Am nächsten Tag ist Chris wieder unterwegs. »Diesmal fahre ich zum Glück in eine Stadt, in der ich vor zwei Jahren schon einmal gearbeitet habe. Das ist ein bisschen wie nach Hause zu kommen«, freut er sich. Viktor dagegen bleibt wirklich zu Hause. Er kauft Blumen für Linn. Chris wird von seinem Projektleiter in Jakarta am Flughafen erwartet und überlebt die halsbrecherische Taxifahrt zur Wohnanlage. Er packt wieder seinen Koffer aus, blickt durchs Fenster auf die indonesischen Nebelwolken, macht die ersten Einkäufe und zeigt den neuen Kollegen das Viertel und sein damaliges Lieblingscafé in einem alten Palast. Er fühlt sich müde, nicht nur wegen des Jetlags, sondern eher weil er immer wieder neu anfängt und auf nichts 89
bauen kann. Als ob ihm durch das ständige Umziehen und Neueingewöhnen irgendetwas verloren ginge, etwas, an dem er sich festhaken könnte, oder etwas, das ihn im Gegenzug festhaken würde. Als ob er zwar in gutem, handgenähtem Schuhwerk stünde, aber als ob diese Schuhe keine Sohle hätten und er sich nie wohl und gut gekleidet fühlen würde. Zwar hatte er bisher einige spannende Aufgaben erledigt, Verantwortung übernommen, Erfolge gesehen, aber immer nur für begrenzte Zeit. Er hätte oft Pläne gehabt, diese Erfolge weiter zu führen, doch bis jetzt hat ihn noch niemand länger behalten wollen. Außer Anika, versteht sich. Er hatte niemandem von seinen Plänen erzählt. Außer Anika, versteht sich. Und außer vor ihr musste er sich immer wieder neu beweisen. Er denkt in der letzten Zeit sehr viel an sie. Chris hat sich angewöhnt, auf seinen Schreibtisch Fotos und Postkarten seines letzten Urlaubs mit Anika zu stellen. Er will sich mit Bildern eines Ortes umgeben, an dem er zuletzt glücklich war, und kommt sich ziemlich sentimental vor. Noch schlimmer ist, dass Nils ihn zu seinem Geburtstag einlädt, obwohl er ja schon seit ein paar Wochen in Banda ist, eine 30-Jahr-Feier im »Foxiroxi«. Kurz darauf trifft eine Ortsverschiebung per Mail ein, ins »Remmidemmi«, weil das Bier da billiger und die Jukebox besser und es überhaupt eine richtige Eckkneipe sei. »Ich verpasse den 30. Geburtstag von einem meiner angeblich besten Freunde. Ich bin ein sentimentaler Vollidiot.« Und dann erinnert Chris sich, dass Nils seinen letzten Geburtstag ganz und gar vergessen hatte, sagt nochmal laut: »Vollidiot«, wodurch er sich etwas besser fühlt, und dann: »Toll ist das alles nicht«. Wodurch er sich wieder schlecht fühlt. Draußen weht der Wind durch die Pfähle der traditionellen Stelzenhäuser von Banda Aceh. Auch in der Stadt weht der Wind. Heute Abend will Viktor Linn vom Bahnhof abholen und mit ihr m e i n e m Restaurant die »Rückkehr der Heimkehrer« feiern. Draußen ist es kalt. Viktor 90
fährt mit dem Fahrrad in die Stadt, an den bekannten Mauern vorbei. Die Leute, die an den Bushaltestellen stehen, kennt er nicht mehr. Er schaut, als er an einer Ampel warten muss, die Straße hinunter, auf den Hügel im Park, den man von Linns Wohnzimmer aus sehen kann, die zerrupften Baumwipfel, die bepflanzten Balkone, die fast von den Hauswänden kippen, weil sie einen unverstellten Blick haben und sich in die weite Ferne sehnen. Eben hat Viktor sein Laptop auf einer Häkeldecke arrangiert und die getöpferten Minivasen und -schalen, die er für Linn von einem Mitarbeiterausflug mitgebracht hat, auf dem er in Dänemark drei Tage lang mit seinem Chef auf einem Tandem von der Nordsee an die Ostsee und wieder zurück radeln musste, dekorativ im Raum verteilt. Es erscheint ihm merkwürdig, wieder hier zu sein, ohne eine richtige Aufgabe oder offizielle Termine zu haben und ohne Freundschaftsbesuche erledigen zu müssen. Würde ihn jemand fragen, was er hier macht, was würde er antworten? »Irgendwie suche ich einfache Orte, Orte mit Tisch und Stuhl, an denen ich meinen Computer aufstellen kann«, denkt sich Viktor. »Ich bin überhaupt nicht anspruchsvoll. Es muss nur warm und hell genug sein. Ich möchte einen Tee oder Kaffee machen und Musik hören. Der Wind könnte durch undichte Fenster über meine Hände fegen, das würde ich ihm nicht übel nehmen.« Viktor fährt mit dem Fahrrad an dem Haus vorbei, in dem er früher einmal gewohnt hat. Die Studenten, die jetzt dort eingezogen sind, haben eine Friedensflagge aufgehängt. Viktor macht seine Rundtour. Natürlich nimmt er die Abkürzungen. Die kenne ich, denkt er sich. Er bemerkt die Veränderungen, die in seiner Abwesenheit stattgefunden haben: eine neue Skulptur hinter der Kirche, das Apollo-Kino wird renoviert, an der Kreuzung vor der Markthalle hat sich eine Shoppingmall breit gemacht. »Hier entsteht ein neues Cafe, bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten« vermeldet ein Schild vor einem Haus, dessen linker Seitenflügel renoviert, dessen Dach91
geschoss nach oben erweitert wird. Es ist eine Brandruine, deren rechter Seitenflügel abgerissen wurde, als ob das Haus nicht auf beiden Seiten Stützen bräuchte, und auch keinen Schmuck, denn der rundumlaufende Stuckfries wird per Hand abgeklopft und sieht jetzt schon wie angefressen aus. Innen wurde alles entkernt, draußen liegt Schutt. Viktor denkt: »Meine Heimat in Ruinen und Konstruktionsphasen. Mein ganz eigenes Krisengebiet.« Als Linn aus dem Zug steigt, sagt sie zu Viktor mit einem Willkommensgesicht: »Als du weg warst, mochte ich dich nicht. Aber jetzt mag ich dich wieder - weil du da bist«, und sie beißt ihm in den Hals. Chris schickt eine SMS und fragt, ob Viktor sich gut in die Stadt und in das »Umfeld« mit drei Pünktchen »...« eingelebt habe. Dabei weiß Viktor, dass Chris gar nicht weiß, was er mit Umfeld meint, dass er vielleicht denkt, dass es auch sein Umfeld sei. Viktor denkt an den müden Chris und wird auch müde. Ich will mich nur noch besaufen, sagt sich Viktor, und mich dann an die gute Seele kuscheln. Und ihr »mmmh« hören. Ach ja. »Darf ich dich küssen? Und mit dir tanzen?« »Aber gerne, aber bitte.« Viktor kann seit langer Zeit einmal wieder Einladungen für eine Party Ende Oktober annehmen, zusagen, dass er vor Ort ist und gerne kommt. Mit Begleitung. Vorschlagen, dass man sich ja mal treffen kann, so zwischendurch. Er hat das Gefühl, dass die Entscheidung, die Stelle nicht anzunehmen, eine Art Hering für seine Lebenszeltstangen geworden ist, dass er jetzt klarer sieht. Wenn man sich immer bewegt, dann verwackeln die Bilder, und nichts ist deutlich zu erkennen. Von einem sicheren, stabilen, festen Punkt aus kann man Entfernungen genauer einschätzen und Gefühle vielleicht auch. Chris kann alle Stimmungslagen per SMS durchgeben. Das erleichtert ihn - als ob Gefühle schwer wären und er sie durch das Mitteilen loswürde. »Ist dein Leben gut? Wohin gehst du heute Abend?« Anika schreibt Chris von abstürzenden Sternen, die alles alleine machen, egoistische Sterne, »Und der Himmel 92
wich wie eine Schriftrolle, die zusammengerollt wird, und alle Berge und Inseln wurden wegbewegt von ihrem Ort, Offenbarung 6,14.« Sie recherchiert zurzeit für ihre Doktorarbeit Texte, die apokalyptische Bilder entwerfen. Chris möchte sich auch wegbewegen von seinem Ort und verhindern, dass seine Freundin egoistisch abstürzt. »Sag, warum! Arbeiten, Termine, Verbesserung? Wenn du nicht antwortest, werde ich ein Schreibterrorist. Ha! Das ist keine Liebe, das ist Dummheit.« Schließlich ruft Anika ihn an. Die Telefonverbindung ist sehr schlecht, mit Hall auf der einen und Rauschen auf der anderen Seite, und zusätzlich müssen sie sich anbrüllen, um eine verständliche Lautstärke zu erreichen. Doch schon nach fünf Minuten Gespräch ist wieder Vertrauen da, in sich, in den anderen, in die Welt. Chris kommt eine revolutionäre Idee: Wenn der eine weggehen will, muss der andere in Zukunft mitgehen. Das Gerechte daran ist, dass im Wechsel entschieden wird wohin. Anika schickt ihm als Zeichen ihrer Zustimmung einen Smiley. »Du darfst zuerst entscheiden«, schreibt Chris zurück.
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Ausbeute Viktor konnte es nicht ausstehen, dieses Jammern. Es gebe doch überall Arbeit, war früher seine Meinung, wenn man Geld verdienen wolle, könne man Geld verdienen. Jeder habe doch genug zu essen, ein Dach über dem Kopf, eine Sparbüchse oder gut verzinste Geldbestände in einem Mischfonds, von den Großeltern zum sechzehnten Geburtstag angelegt. Aber langsam kommen Viktor Zweifel. Seitdem er sich entschieden hat, sich nicht mehr für Tages- und Wochensätze zwangsexilieren zu lassen, seitdem er sein Nomadentum aufgegeben und Linn festgehalten hat, nimmt sein Kontoguthaben gleichmäßig ab. Er schafft es derzeit, mit sehr wenig auszukommen. Er will seine Eltern nicht mehr bitten. Es geht. Irgendwie. Das Geld wird noch ein paar Monate reichen. Aber bald ist sein Erspartes aufgebraucht. Sobald Linn das Haus verlassen hat und zu ihrem Praktikum aufgebrochen ist, beginnt Viktor mit einem strengen Selbstquiz: Was werde ich sein? Was kann ich? Wo anfangen? Wer kann mit mir etwas anfangen? Es ist eine harte Zeit, konstatiert Viktor, und er würde gerne aufhören nachzudenken. Er würde gerne aufhören, immer etwas zu machen, das zu nichts führt. Kann es irgendwann einmal einfach sein? Viktor mag nicht mehr. Wieso ist es in der Theorie immer so klar, wo man hinwill, aber nicht in der Realität? Wenn er sich ganz schlecht fühlt, nimmt Linn ihn in den Arm und sagt: »Ich bin dein Anker, du Schwarzseher«. In der nächsten Woche sortiert Viktor seine Unterlagen und will sich beim Arbeitsamt arbeitslos, also ar94
beitssuchend, melden. »Der Staat muss bluten«, sagt er, »wenn er es nicht schafft, mich unterzubringen.« Dafür muss Viktor zunächst ein Formular auf dem Server der Agentur ausfüllen. Es lässt sich nicht auf der Startseite finden, dort, wo jeder es vermuten würde, sondern in Unterrubriken, und lässt sich über die Suchfunktion nicht hervorlocken. Als ob man die Menschen, die arbeiten wollen, erst einmal auf die Probe stellt, denkt Viktor. Als er schließlich das Dokument geöffnet hat, liest er, dass er alle seine Besitzstände offenlegen muss. Auch Linn wird unter Besitzständen verbucht: Weil er nämlich mit ihr zusammenwohnt, muss sie wahrscheinlich für seinen Lebensunterhalt aufkommen. Das ist wahre Solidarität, findet Viktor. Problematisch ist nur, dass Linn nicht gefragt wird, ob sie ihr Geld mit ihm teilen möchte, und dass sie selbst auch kein regelmäßiges Einkommen hat. Soll Viktor also lügen? Bevor Viktor überhaupt die Jobangebote auf der Seite durchsuchen kann, muss er sich registrieren lassen und sich dafür ein privates Passwort ausdenken. Dieses muss mindestens zwölf Zeichen umfassen, darf nichts mit einem verwandten Namen zu tun haben, Zahlen dürfen nicht doppelt und nur in absteigender Reihenfolge vorkommen, Sonderzeichen sind nicht zugelassen, Buchstaben nur, wenn sie im Alphabet mindestens drei Buchstaben voneinander entfernt sind, Umlaute sind zu vermeiden. Zwei Tage später trifft der Brief mit Viktors Zugangscode für die Benutzung der Job-Datenbank ein, aber Viktor kann sich bei bestem Willen nicht mehr an sein Passwort erinnern. »Das ist doch völlig absurd«, beschwert er sich bei Linn. »Das soll ein Service sein, aber es ist eine Kasteiung.« Er gibt die Hoffnung auf Hilfe durch das Job-Center auf. »Ich kann meine Zeit produktiver nutzen, als jeden Monat Formulare auszufüllen, auf irgendwelchen Umschulungen herumzusitzen oder für einen Stundenlöhn von einem Euro dankbar zu sein. Da gehöre ich lieber zur Dunkelziffer des Arbeitsmarktes und verlasse mich auf mich.« Er klopft sich, als wenn er sich Mut machen wollte,
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wie ein Urang-Utan auf die Brust. Linn nennt ihn fortan nur noch »meine schwarze Zahl« und bringt ihm für einen ausgeglichenen Energiehaushalt und bessere Laune Bananen mit. Linn ist froh, dass Viktor da ist, denn ihr Praktikum in einem angesehenen Betrieb lässt sie mehr und mehr ihr eigentlich ganz positives Menschenbild infrage stellen. Schon am ersten Montag verpufft ihr Traum einer steilen Karriere von der Praktikantin zur Geschäftsführerin. Nachdem sie sich an der Pforte gemeldet und der Pförtner niemanden im Büro erreicht hat, der sie abholt, nimmt sie die Angelegenheit selbst in die Hand. Sie fährt mit einem angesteckten Besucherausweis in den zehnten Stock, geht dort von T ü r zu T ü r und liest sich von Schild zu Schild, bis sie schließlich in der Kaffeeküche landet. Dort sitzt jemand und blättert durch eine Zeitung. Sie wünscht ihm einen guten Morgen. Er blickt kurz hoch, aber kennt sie nicht, zuckt mit den Schultern und nimmt einen Schluck aus seinem Becher mit der Aufschrift »Thank God, it's Friday«. Linn verstärkt ihr Stimmvolumen und nennt den Namen ihres Betreuers, jedenfalls nimmt sie an, dass derjenige ihr Betreuer wird, der die Zusage unterschrieben und mir ihr die Termine abgesprochen hat. »Der ist heute nicht da«, nuschelt der Angesprochene, »aber gehen Sie doch zum Sekretariat.« Er beugt sich über den Sportteil. Auch die Sekretärin blockt ab. »Wie heißen Sie? Hier steht nichts. Mit wem haben Sie gesprochen? N e h m e n Sie doch kurz Platz, bitte - nein, besser ist, Sie warten draußen.« Während Linn vor der T ü r steht, hört sie, wie die Sekretärin telefonisch bei einem Reisebüro Flüge nach Paris bucht. Wahrscheinlich für eine Dienstreise, kombiniert Linn, denn sie möchte der Dame nichts unterstellen. Auf dem Flur hängt eine Fotoserie mit Bäumen im Wechsel der Jahreszeiten. Hier wird wenigstens noch daran erinnert, dass es natürlich ablaufende Zyklen von Werden und Vergehen gibt, denkt Linn. Ein junger Mann im Zweiteiler mit Joggingschuhen grüßt kurz und wundert sich 96
scheinbar nicht, die junge Frau hier noch nie gesehen zu haben. Ein paar Schritte vom Sekretariat entfernt hat jemand ein Poster an die T ü r gehängt: »Können Frauen denken?« Linn will sich das Kunstwerk näher anschauen, da geht die T ü r auf. »O hallöchen. N e u hier?« »Ja, ich warte auf Herrn Wegmann.« »Da kannst du lange warten, der ist für ein paar Tage unterwegs, Fortbildung. Ich bin übrigens Giulia, Praktikantin, seit vier Wochen im Einsatz.« »Erster Tag, noch drei Monate, angenehm«, sagt Linn. »Erst mal ein Begrüßungscocktail«, Giulia hakt Linn unter und zeigt ihr die Kantine. Dort sitzen vereinzelt Mitarbeiter herum und rauchen die morgendliche Zigarette. Giulia spricht leise, damit niemand mithören kann, denn sie verrät Linn die ersten Praktikantengeheimnisse, klärt sie über die Hierarchien der Nettigkeit auf und weist sie in den Betrieb ein. Sie beugt ihren Kopf über den Tisch. »Wenn du dich über jede kleine Aufgabe, die sie dir geben, so sehr freust, als ob du noch nie etwas so Tolles gemacht hättest, dann geben sie dir gerne mehr. Du darfst nicht zu viel auf einmal wollen, nicht zu ehrgeizig und zu verkrampft sein. Nicht immer nachfragen, wenn du etwas nicht verstehst, das nervt, sondern ruhig mal das eigene Unwissen ignorieren oder, wenn du gerne recherchierst, die fehlenden Informationen irgendwie herausbekommen. Und wenn es gar nicht weitergeht, dann natürlich mich fragen, die Vorpraktikantin. Ich bin immer für dich da.« »Sehr erfreut«, sagt Linn. »Meinerseits«, sagt Giulia. In der ersten Besprechung, an der Linn am nächsten Tag teilnimmt, weil Giulia ihr gesagt hat, wann und wo diese stattfindet, fällt ihre Anwesenheit erst einmal gar nicht auf. Irgendwann bemerkt die Chefin aber das neue Gesicht, unterbricht die Sitzung und spricht Linn direkt an: »Kennen wir uns? Könnten Sie kurz sagen, wer Sie sind? Oder wollten Sie sich einschleichen, ha, ha?« Alle Köpfe drehen sich zu Linn um. Eine Säule versperrt ihr die Sicht, sodass sie nicht alle Sitzungsmitglieder im Blick hat und nur für die Hälfte der Anwesenden überhaupt sichtbar 97
ist. Sie fühlt sich wie eine halbe Portion. Natürlich hätte sie sich schon vor der Sitzung der Chefin vorstellen und ihre Situation schildern können, aber diese betrat erst als Letzte den Raum, mit einer halben Stunde Verspätung. »Immer pünktlich sein«, hatte Giulia Linn paradoxerweise am Vortag eingeschärft, die Chefin hasse es zu warten. N u n muss die Chefin also leider warten und runzelt die Stirn, bis Linn ein paar Sätze artikuliert. In der Missgunst der Stunde vergisst die neue Praktikantin zu erwähnen, dass sie schon seit gestern hier ist und gerne wissen würde, wo Herr Wegmann sei, der sie doch schließlich ausgewählt habe, dem doch irgendetwas an ihrer Präsenz liegen müsse. »Wie ich sehe, finden Sie sich ja schon gut zurecht hier bei uns«, sagt die Chefin. »Machen Sie was draus.« Die Betreuung wird nicht besser. Giulia und Linn treffen sich in der Kantine, um eine Lagebesprechung abzuhalten. Auch bei Giulia läuft es nicht besonders gut. Sie ist zwar als eine Art dritte Hand der Chefin eingeplant, ihr wurde eine eigene Visitenkarte angefertigt, und sie soll den Kontakt zu den Nobelpreisträgern der zehn kleinsten Länder der Welt herstellen, aber sie darf nicht eigenständig telefonieren oder E-Mails schreiben. Ein angemessenes Honorar bekommt sie natürlich nicht, obwohl sie Überstunden macht und manchmal sogar auch am Wochenende aushelfen muss, weil ja die Sekretärin frei hat. Jeden Text muss sie der Chefin zum Abzeichnen vorlegen und jede Telefonnummer, die sie herausgefunden hat, an die Chefin weiterreichen. Nach drei Wochen darf sie zwei Einladungen zu Kommissionssitzungen schreiben, aber nur weil sie, als diese formuliert werden sollen, noch immer im Haus ist. Es ist Freitagabend, zwanzig Uhr. Die beiden offiziellen Rundbriefe sind abgesegnet und herausgeschickt. Ein erster Erfolg - der sich allerdings nicht herumspricht. Die anderen Mitarbeiter erklären ihr herablassend, wie man den Kalender auf dem Firmenserver aktualisiert, eine stupide Tätigkeit, zu der niemand Lust hat und 98
für die sie, weil sie sich dazu bereit erklärt, gelobt wird. Aber die Delegierprofis fühlen sich als Gegenleistung nicht dazu verpflichtet, sich das Gesicht oder den Namen der dynamischen Tipperin zu merken. Ein glatzköpfiger Kollege lehnt im Türrahmen des Chefin-Büros und beschwert sich lautstark: »Ich öffne mein Postfach und sehe einen fürchterlichen Text, der a) grammatikalisch falsch ist und b) von einer Person >im Auftrag< unterzeichnet, die mir nichts sagt« Er hat schon ganz hektische Flecken auf den Wangen. Er fühlt sich scheinbar von einer unbekannten Macht bedroht. Giulia sitzt vor dem Schreibtisch ihrer Chefin, dreht sich um und winkt in Richtung Tür: »Hallo, hier ist die gesuchte Person. Wenn der Text so falsch ist, wieso hat es niemand gemerkt, bevor ich ihn herausgeschickt habe?« Erfreulicherweise geht in diesem Moment jener Kollege, den Giulia und Linn ganz süß finden, weil er ihnen oft zuzwinkert, am Büro vorbei, und Giulia zwinkert zurück. Die Aufmunterung ist nötig, denn auf Giulia warten sieben Tage ohne Freizeit. Eine gigantische Veranstaltung steht an, die »MPS«, bei der jede Arbeitskraft gebraucht wird. Alle reden von »MPS«, Giulia träumt schon von »MPS«-Katalogkartons, die sich wie von Geisterhand um ihr Bett in die Höhe stapeln, »Ich hasse MPS«, kreischt sie im Traum, in der Hoffnung, den Zauber zu brechen, aber stattdessen wacht sie auf, kann nicht mehr schlafen und ist am nächsten Tag hundemüde. Und das ist schlecht, denn heute geht es um alles: die Eröffnung der »MPS«. Ihre Chefin steht schon unter Starkstrom Und will auf einmal, dass die neuen Broschüren im DIN A5-Format kopiert werden. Natürlich ist nur noch ein Stapel Papier dieser Größe im Haus, niemals braucht man DIN A5-Papier, nur heute und sofort, und natürlich muss Giulia losrennen und das gewünschte Papier kaufen, anschleppen, wie ein Lastesel für die groben Sachen. Nachdem sie mit Mühe herausgefunden hat, wie der Kopierer auf das kleine Format umzustellen ist, das weiß nämlich niemand, nur der Hausmeister, und der ist »gerade zu 99
Tisch«, verschwindet sie auch für eine kleine Pause in ein Café in der Nähe, um für eine Viertelstunde die »Fressen«, wie sie sagt, nicht sehen und hören zu müssen. Kaum sitzt sie vor der Cola, klingelt ihr Handy. Es ist die Chefin. Im Sekretariat hängt eine Liste mit allen Privatnummern, damit jeder stets erreichbar ist. Giulia bekommt zehn weitere Aufträge, so viele, dass sie heute nicht vor Mitternacht nach Hause kommen wird. Ich kann nicht mehr, denkt sie, das ist zu viel. Im selben Moment hört sie die durchdringende Stimme ihrer Chefin: »Man muss lernen, Druck auszuhalten.« Es gibt unterschiedliche Meinungen dazu, wie Giulia mit solchen Erlebnissen umgehen soll. Giulias Bruder findet es gut, dass die ehrgeizige Schwester auch einmal auf die Nase fällt. Linn meint, Giulia solle in Zukunft Kritik nicht persönlich nehmen. »Im Scheitern liegt die Kraft«, sagt sie zu Giulia. Und vielleicht ermöglicht das Scheitern eine Phase der Evaluierung, um die wirklichen Ziele besser zu erkennen. Wenn Giulia die Kraft hätte, würde sie das Praktikum sofort kündigen. Sie lernt nichts, sie bringt mehr als vierzig Stunden die Woche ihr Wissen und ihre Ideen ein, sie ist als reguläre Mitarbeiterin eingeplant und bekommt dafür noch nicht einmal eine eigene Zugangskarte zum hochsicheren Gebäudekomplex. Jeden Morgen muss sie sich als Besucherin am Empfang anmelden und einen Tagesausweis beantragen. Aber sie macht erst einmal weiter und sagt sich: »Ich stehe das durch. Die Arbeitswelt ist nicht immer nett und freundlich. Die weite Welt ist nicht immer lieb und herzlich.« In Wirklichkeit muss sie sich ständig zusammenreißen, um nicht genauso unverschämt wie ihre Kollegen zu werden, und sich immer wieder neu motivieren, um dann doch nur angemacht zu werden, von Menschen, die schon um 16 Uhr gehen und dafür auch noch ein gutes Gehalt bekommen. Wie viele solcher Sprüche kann man verkraften? Auf der Konzernparty unterhält sie sich mit einem expressiv 100
tanzenden Mann in Nadelstreifen und einem weißen Hemd, auf dessen Kragen das Konzernlogo eingestickt ist. Auf seinem Teller türmen sich ein Dutzend Windbeutel. »Vorrat. Wenn schon Cheffe bezahlt...«, meint er jovial. Er duzt sie ungebeten, als er erfährt, dass sie nicht fest angestellt ist. »Eine Frage habe ich dann noch«, sagt er, bevor er sich abwendet, »wieso bist du als Hospitantin zu solch einem internen Event eingeladen?« »Weil ich die Tische aufgestellt und gedeckt habe.« EgoMonster, denkt Giulia, alles Ego-Monster, und fragt: »Wieso bist du denn hier? Als Animateur?« Vielleicht kann ich auch ein Monster sein, denkt Giulia. Ich muss mich umpolen auf das Leben als Wegwerf-Mitarbeiterin, auf die ständige Erniedrigung durch ständiges Nicht-genau-Wissen, weil ich überall viel zu kurz bin. Und sie darf nie vergessen, wie ein glücklicher Mensch auszusehen. Dabei versucht sie, so selten wie möglich ihre Lippen zusammenzupressen, um die Faltenbildung minimal zu halten. Sie benutzt seit ihrem sechzehnten Lebensjahr eine Tagescreme mit Lichtschutzfaktor 15 und Vitaminkomplexen. Sie möchte möglichst lange jung wirken, weil die Jungen, wie sie glaubt, mehr Chancen haben. Wenn sie mit den ihr aufgetragenen Arbeiten fertig ist, geht sie sportlich federnden Schrittes im Büro herum und fragt: »Gibt es noch etwas für mich zu tun?« Und dann braucht sie eine extradicke, belastbare Haut für Antworten wie diese: »Bin ich etwa deine ABM-Maßnahme?« Danach braucht sie außerdem eine gemeinsame Rauchpause auf dem Gang mit Linn. Diese hat gestern mit dem freundlichen Zwinkerer getanzt. Er wollte sie bald mal auf einen Latte abholen. »Hat er wirklich Latte gesagt?«, will Giulia wissen und lacht abschätzig. »Wahrscheinlich kannst du dich gegen diese Business-Sprech nicht ewig wehren - auch wenn du eigentlich ganz normal bist«, nimmt Linn ihn in Schutz. Er schleuste sie nach der Party mit seiner Clubkarte in eine Hotel-Bar und verriet ihr, dass hier ganz gerne die Chefs ihre Geliebten treffen. 101
Dabei zwinkerte er verschwörerisch und im Takt des ganz von selbst klimpernden Swing-Klaviers. Eigentlich nervte Linn dieses Zwinkern nach einiger Zeit, aber sie verzieh ihm diesen Tick, weil sie einen anderen Tick mit ihm teilen konnte: auch ihn erinnerten bestimmte Cocktails mit Pfefferminzblättern an Zahnpasta. Sie bestellten sich mehrere und versuchten, mit dem Mix zu gurgeln. Und erst als Viktor schon dreimal angerufen hatte, wo sie denn bleibe, bestellte ihr der Zwinkerer ein Taxi und sagte: »Bis bald. Dann nehmen wir auch mal deine arbeitswütige Kollegin mit.« Oft werden die engsten Freundschaften als Leidensgemeinschaften geschlossen. Linn und Giulia stehen sich in den D e mütigungen und den zu verarbeitenden Emotionen gegenseitig bei. Weil niemand sie fragt, ob sie sich mittags treffen wollen, setzen sie sich separat und zu zweit an einen Nebentisch und lästern über die distanzierten Mitarbeiter: über den affektierten Herrn Wegmann, der seine Sonnenbrille auch beim Essen trägt, die ehrgeizige Projektassistentin, die bei Witzen nur müde die Mundwinkel verzieht und alles besser weiß, den chaotischen Bereichsleiter, dem immer die Krawatte in die Suppe hängt. Um etwas Geld zu sparen, teilen sie sich manchmal das Tagesgericht und dazu das Leitungswasser aus der Flasche. Sie teilen sich sogar die Tätigkeiten, von denen Giulia trotz ihrer gehobenen Praktikantenstellung nicht ausgenommen ist: Kaffeetassen spülen, die sie nicht benutzt haben, und, wenn die meisten Kollegen schon nach Hause gegangen sind, gemeinsam gemein sein. Sie finden in einem Wandschrank die Personalakten der Belegschaft und lesen sich gegenseitig die Gehaltslisten der Angestellten vor. Sie staunen über das horrende Chefhonorar, die Abrechnungen der Erste-Klasse-Dienstreisen, RestaurantQuittungen und Belege über Übernachtungen in Hotel-Suiten, wobei sie im Kopf haben, dass sie selbst noch nicht einmal auf einen Außentermin mitfahren durften, da sie weder frei noch 102
die Spesen bezahlt bekommen hätten. Giulia ist entsetzt, als sie sieht, dass die Mitarbeiterin, die um halb sechs aus dem Büro stürmt, um ihre beiden Kinder vom Kindergarten abzuholen und dabei jedes Mal fast unter die Räder gerät, seit zwei Jahren nicht mehr als 600 Euro verdient. Wie kann sie davon leben? Wird diese allein erziehende Mutter dafür bestraft, dass sie früh geht, dass sie keine Überstunden macht, dass sie mehr Urlaub nehmen darf - wegen der Kinder? Wo ist der Vater, fragt sich Giulia. Verdient der auch 600 Euro? Ohne Kinder? Holt der die Kinder auch mal ab? Darf der Überstunden machen? Linn, die Herrn Wegmann nach zwei Wochen die Hand geben darf, macht keine Überstunden, sondern nimmt sich eigenmächtig frei. Wenn Herr Wegmann im Büro arbeitet, ist er meist so gestresst, dass er nicht mit ihr spricht. An solchen Tagen läuft Linn einfach neben ihm her. Natürlich merkt sie, dass das für den Herrn etwas nervig ist. Aber er hätte sie nicht als Praktikantin einstellen sollen. Wenn sie schon seine Mappen kopiert, seine Notizen abtippt und Botengänge für ihn erledigt, möchte sie auch etwas über das große Ganze lernen. Außer ihm und Giulia merkt sowieso niemand, wenn Linn fehlt. Sobald Herr Wegmann auf Außendienst ist, kommt Linn erst gegen Mittag und geht schon um fünf Uhr. Sie probiert ein modernes Arbeitszeitmodell, die so genannte Halbtags-Woche. Denn wenn jeder, der einen Arbeitsplatz hat, diesen teilen würde, gäbe es doppelt so viele Plätze. Sie weiß, dass das nicht überall zu realisieren ist, Aber man müsste es versuchen. Denn oft hört sie von denjenigen, die Arbeit haben, dass sie lieber weniger arbeiten würden. Zeit haben wir doch genug, überlegt Linn. »Wenn wir Geld hätten, würden wir eine Stelle für dich einrichten. Du wärst unsere Wunschkandidatin«, sagt die Chefin zu Giulia. Dieser Satz ist zwar nett gemeint, aber er nützt Giulia gar nichts. »Ich bin doch nicht das Sozialamt«, denkt sie, wenn sie bis spätabends für die Webseite der Firma Übersetzungen anfertigt. Die Zeit, die Linn unbetreut im Büro herumsitzt, nutzt sie 103
dagegen für Recherchen und Konsum. Sie betreibt eine private Ausbeute auf ihre eigene Art. Über die Zugänge zu allen Firmenarchiven stellt sie Nachforschungen für Viktor an und sondiert interne, sowie externe Stellenmärkte. Sie druckt jeden Tag mindestens hundert Seiten aus. Für den Eigenbedarf entwendet sie Büromaterial: Textmarker, Notizblöcke, Tacker, Locher, Stifte, Druckerpapier, Folien, Hefter, Ordner - die Auswahl ist groß. Sie verschönert mit den firmeneigenen Grafikprogrammen ihren Lebenslauf und setzt in einer seltenen, neuen Schrift das nächste Bewerbungsschreiben auf. Die Unterlagen, die sie zusammenstellt, vervielfältigt sie mit edlem Wasserzeichen-Papier auf dem Firmenkopierer, der natürlich auch falten, heften und binden kann. Wenn ich schon nicht bezahlt werde, ist Linns Ansicht, dann entlohne ich mich eben in Eigenregie. Ihre Freundinnen machen es ähnlich. Anika erzählt, dass sie in der Praktikumsarbeitszeit an den guten, schnellen Computern Kapitel ihrer Doktorarbeit verbessert. Giulia akkreditiert sich von der offiziellen Adresse aus für interessante Konferenzen und spart sich so den Konferenzbeitrag. Mit ihrem Bruder Pablo konkurriert sie per E-Mail um die dollsten Angeberadressen. Er, der sich eigentlich nur ungern meldet, kann sich zu dreizeiligen Texten überwinden, wenn er sie von irgendeiner international bekannten Sportwagen-Produktionszentrale aus tätigen kann. Vom Firmenapparat aus erledigt er dann auch seine Auslandstelefonate zu Freunden, die gerade in London, Tokio und Helsinki beschäftigt sind, und ist auf einmal viel gesprächiger als sonst. Einmal hatte er Pech, denn der Arbeitgeber hatte - wohl aufgrund schlechter Erfahrungen - die Arbeitsplätze der Praktikanten nur für Ortsgespräche freigeschaltet. Falls Pablo eine Mobilfunknummer anrufen, eine nationale oder sogar eine ausländische Nummer wählen wollte, musste er die Sekretärin darum bitten, ihn an ihren Platz zu lassen, Pablo fühlte sich wie ein kleiner Junge, wenn er auf ihrem Stuhl saß, ihren finsteren 104
Blick im Rücken, ihre Ohren jedem Wort lauschend, und er stotterte bei vielen Kundengesprächen nervös herum. Die Schuld schob er natürlich auf den Arbeitgeber, der sich durch diese Spar- und Überwachungsmaßnahme vor allem selbst schadete, der auf diese Weise zwar die Telefonrechnung senkte, aber auch den Arbeitsradius seiner Mitarbeiter stark einschränkte. Pablo konnte den Arbeitgeber ein bisschen verstehen, der sparen wollte, weil eben alle sparen mussten. Dass seine Praktikanten allerdings bei diesem Spiel ein Riesen-Minus machten, da sie ja dafür, dass sie schufteten, sogar noch bezahlten, dass sie ihre Mieten, Nahrungsmittel und Monatskarten aus eigener Tasche finanzierten, dass sie nur nach weiteren Wegen suchten, um dieses große Minus wenigstens in ein kleines Minus umzuwandeln, ging ihm nicht auf. Pablo zum Beispiel fing an, seine private Post durch die Frankiermaschine zu ziehen, Einladungen zu Geschäftsessen nicht an den Adressaten weiterzuleiten, sondern selbst hinzugehen und sich die Teller voll zu häufen. Wichtige Informationsendungen, die mit der täglichen Post auf seinem Tisch landeten, da er die Briefe öffnen und sortieren musste, stellte er nicht allen zur Verfügung, sondern vernichtete ihre jeweiligen Inhalte, um die praktischen Mappen zu behalten. Der einzige Grund, der Giulia davon abhält, vor den Erniedrigungen zu fliehen, heißt Sam. Er hat sich inzwischen weltgewandt vorgestellt und schaut mehrmals pro Woche bei den beiden Praktikantinnen vorbei, plaudert mit ihnen und bringt ihnen Nachmittagskuchen. Sie haben unterdessen erfahren, dass er selbst bis vor kurzem Praktikant war und eine Brille anstelle der neuen Kontaktlinsen trug. Das ständige Blinzeln ist somit erklärt. Seine Freundlichkeit irgendwie auch. Während Giulia den roten Guss von der Erdbeertorte kratzt und am Tellerrand aufhäuft, erklärt er, dass es ihm wichtig sei, mit den Mitarbeitern Zeit zu verbringen, mit den Kollegen zu reden. 105
Das sei manchmal etwas anstrengend, auch könne man nicht verlangen, dass er sich mit jeder Praktikantin gut verstehe und anfreunde, auch dass er mit ihnen abends ein Bier trinke, sei eher selten. »Da bin ich ja enttäuscht«, sagt Giulia. »Eigentlich habe ich mich hier nur beworben, weil ich schon so viel von dir und deinen seltenen Tugenden gehört habe.« Sam lässt sich nicht beirren. Es ginge ihm nicht darum, zu den jungen Mitarbeiterinnen persönliche Beziehungen aufzubauen - okay, bei ihr mache er vielleicht eine Ausnahme -, sondern darum, sie zu integrieren und ihre Stärken zu nutzen. Jeder und jede hätte Stärken, das sei ja klar. Und jeder Betrieb brauche neue starke Ideen. Nur zusammen könne man Dinge verbessern, nur dadurch, dass man zusammen rede, esse und sich gegenseitig unterstütze. Sam hat es sich auf Giulias Schreibtisch bequem gemacht und die lästigen Schmierpapiere zur Seite geschoben. Seine Hose ist etwas zu kurz geschnitten, sodass sie im Sitzen hoch rutscht und zwischen Hosensaum und Socke einStück Männerbein freigibt. Giulia ist fasziniert von diesem Ausschnitt aus Sams Innenleben. »Hast du mitgeschrieben?«, fragt er Giulia. »Morgen frage ich dich ab.« Er springt vom Tisch. »Morgen habe ich frei.« »Eben. Ich hole dich um zwölf Uhr ab, und wir fahren in einen chinesischen Garten. Ich habe im Teehaus zwei Plätze für uns klargemacht.« »Weißt du denn, wo ich wohne?«, will Giulia ihn noch fragen, aber da ist er schon verschwunden. Gestern erst hat sie ihm erzählt, dass ihr größter Traum eine Reise nach China sei, in eines der größten Länder, gerade auch deshalb, weil sie von den kleinen Ländern nun langsam genug habe. Im Glückskeks, den er ihr dann vorbeibrachte, stand »In love you can shine like the brightest star«. Das war so schnulzig, dass Giulia den Satz zum Sprichwort des Tages erkor. Sam und seine klugen, einsichtigen Sprüche kommen gerade zum rechten Zeitpunkt. Denn Giulia ist es wirklich leid, mit den Füßen getreten zu werden, obwohl sie sich Mühe gibt und 106
Einsatz zeigt. Je unloyaler sich ihre Chefin oder Herr Wegmann oder sonst jemand verhalten, desto unloyaler fühlt sie sich. Sie weiß, dass das gefährlich i s t Dass, wenn sich ihr eigener Glaube an das Gute verwässert, sie selbst auch bald nicht mehr viel Gutes tun wird. Schon jetzt ist sie dabei, sich neu zu orientieren, sich umzuhorchen. Sie ist zwar noch drei Monate fest eingeplant, um bei der Vorbereitung eines Festivals zu helfen. Die Arbeit wird von Tag zu Tag umfangreicher und auch die Verantwortung, die auf Giulia lastet, nimmt mehr und mehr zu. Aber da sie fast kostenlos schuftet, fühlt sie sich diesem Festival nicht besonders verpflichtet: »Ich bin weg, wenn etwas Besseres um die Ecke kommt. Dann müssen sie sich eben ohne mich durchwurschteln.« So wenig, wie sie sich auf ihre Chefin verlassen kann, weil diese sie nicht als zu respektierendes Individuum sondern als austauschbare Billigkraft ansieht, so wenig kann sich die Chefin nun noch auf Giulia verlassen. Kurz vor Feierabend stattet Giulia Linn in ihrem Arbeitszimmer einen Besuch ab, um mal wieder ein kleines befreiendes Gespräch zu führen. Linn ist gerade dabei, Musik herunterzuladen. »Und was wird sie tun, wenn ich von heute auf morgen den Stift fallen lasse? So schnell wird sie niemanden einarbeiten können.« »Eigentlich ist sie abhängig von dir«, sagt Linn. Giulia baut sich vor einem imaginären Redepult auf: »Praktikanten, die billige Droge. Bisschen illegal, aber gesellschaftlich total akzeptiert.« »Wieso illegal?« Und Giulia erzählt, dass sie sich jetzt über die Arbeitsgesetzgebung informiert habe, dass da einiges nicht mit rechten Dingen zugehe und dass sie bald eine Meuterei gegen die Ausbeuterei unternehmen werde. Auf legalem Wege. Linn schlägt ein. »Ich übernehme gerne Ihre Rechercheaufträge: pünktlich, schnell, zuverlässig.« Es ist nun also auch klar, wie Sam Giulias Adresse so schnell und zuverlässig besorgen konnte. Er parkt am nächsten Tag vor ihrer Haustür und macht sich durch penetrantes Hupen bemerkbar. »Darf ich auch mal?«, 107
will Giulia wissen. »Ist nicht mein Auto«, betont er, »gehört meiner Tante Mathilde, die seit ihrer Pensionierung durch die Welt reist, seltsame Mitbringsel anschleppt und mir den Wagen netterweise überlässt, wenn sie unterwegs ist.« Der chinesische Garten liegt im Stadtrandgebiet. »Auf zu unserer kleinen Asienreise«, sagt Sam. Seine Lieblingsbrücke im Garten führt im Zickzack über seinen Lieblingsteich. Sie heißt »Weg des sich drehenden Windes«, weil der Wind eben nicht immer nur von hinten, sondern oft auch von vorne kommt. »Man darf nicht vergessen, sich mit dem Wind zu drehen, nicht wie eine Fahne, sondern wie ein Segel, um die Kraft der verschiedenen Richtungen nutzen. Dann geht alles leichter, Giulia«, sagt er und zeigt auf die Goldfische im blinkenden Wasser. »Zu zweit ist alles noch leichter.« Giulia denkt an Linn und hält ihren Finger in die Luft. »Flaute.« Am anderen Ufer liegt der Teepavillon, das »Haus des einsamen Zweiges vor dem Bambus«, weiß Sam und schreitet gemächlich voran. Er könne nachvollziehen, wie sie sich fühle, er wisse, dass es schwierig sei, sich immer unterzuordnen, sich immer wieder einzupassen. Sie sei wahrscheinlich wütend, dass ihrer Arbeit wenn schon nicht monetäre, so doch wenigstens ideelle Anerkennung entgegengebracht werden solle. Aber es sei doch alles etwas komplizierter. »Ich höre, Herr Oberlehrer«, sagt Giulia. »Die Produktivität von Menschen auf dem freien Markt hat immer weniger oder gar keinen Wert mehr.« »Das ist ja ganz neu.« »Sie erzeugen etwas, das der Markt nicht braucht und nicht entlohnen will.« Und das bedeute, schlussfolgert Sam, dass immer mehr Menschen ohne bezahlte Arbeit leben würden und dass sie also lernen müssen, ihren Lebenssinn aus etwas anderem als aus Geld, Fünf-TageWoche und Urlaub zu ziehen. Giulia fällt ein paar Schritte zurück. Sie ist von der Gartenarchitektur völlig eingenommen und liest den Text auf einer Steinsäule, der von den sieben Dingen handelt, die in einem Garten vorkommen und harmonisch aufeinander abgestimmt sein müssen: Wasser, Erde, Himmel, Stei108
ne, Pflanzen, Lebewesen, Gebäude. Nur dann kann dieser als Abbild eines idealen Universums gelten. Dann erst darf sich der Mensch als achtes Element einfügen. Giulia klingt das alles etwas zu verträumt. Sie hat zurzeit nicht besonders ausgewogene Gefühle im Bauch: »Wenn ich jahrelang schlecht behandelt werde, könnte ich mich ja irgendwann rächen. Davor graut mir jetzt schon. Wie eklig werde ich sein, wenn ich am Hebel sitze?« Sam schiebt ihr eine Teetasse zu, nur etwas größer als ein Fingerhut. »Du musst einfach weiterhin auf Details achten, dann fällt dir auf, wenn du eklig bist.« Er schaut Giulia fest an. Sie nimmt die Tasse entgegen und bemerkt auf einmal die Lachfalten um seine Augen, feine, zurückhaltende Linien, die in alle Richtungen laufen, wie der Wind. Und während Sam mal wieder ein bisschen herumzwinkert, kommt Giulia eine Eingebung über den tieferen Sinn von Praktika, wechselnden Jobs und sonstigen Arbeitsflexibilitäten. Er heißt: Partnervermittlung. So gesehen, kann sie sich nicht beschweren.
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Chris bekommt einen Hustenanfall. Er nimmt einen Löffel Sirup, irgendeine homöopathische Dickflüssigkeit, die seine Mutter ihm per Post geschickt hat. »Mein lieber Junge, du bist ja schon wieder krank«, schreibt sie. Dem Paket liegen verschiedene Vitamintabletten, mit Comics bedruckte Taschentücher und der besagte Hustensaft aus Efeuextrakt bei. Seine Mutter erläutert auf einer Doppelseite, dass es ihren Gelenken wieder besser gehe, dass am Wochenende ein Ausflug anstehe, eine Radtour zu einem Landgasthof - wann habe ich das letzte Mal eine Radtour zu einem Landgasthof gemacht, fragt sich Chris -, und dass sie seinen alten Grundschullehrer auf der Straße getroffen habe, dass er sich immer nach Chris erkundige, dass er sich sehr darüber gefreut habe, dass Chris so viele spannende Dinge erlebe. Und als Chris das liest, fühlt er sich wie ein Lügner. Nichts ist spannend, denkt er, ich weiß noch nicht einmal, was ich in einem Monat machen werde, ob es überhaupt spannend sein und ob es irgendwie weitergehen wird. Ihm ist einfach nur sehr schlecht, weil er zu viele Hustenbonbons gelutscht hat. Seitdem er aus Indonesien zurück ist und seinen abschließenden Slum-Report schreiben muss, kränkelt er herum. Nicht, dass er Malariafieber oder Tropenwürmer mitgebracht hätte. Ihn plagen Allerweltsleiden. Entweder hat er Kopfschmerzen oder Magen-Darm-Probleme. Alle drei Wochen klagt er über Halsweh. Kaum geht es ihm besser, sieht man ihn wieder mit Schal herumlaufen und Unmengen von Taschentüchern verbrauchen. 110
Natürlich hört er in diesen Erkältungszeiten nicht mit dem Rauchen auf, denn er ist sehr gestresst und steht unter Zeitdruck. »Diese fünf Minuten sind meine einzige Entspannung. Die Zigarette lasse ich mir nicht vermiesen.« Er muss den Report in zwei Wochen einreichen. »Alles hängt an mir, alles hängt an diesem Bericht: nicht nur meine Projektstelle, sondern auch die Finanzierung weiterer Slum-Projekte unseres Teams, also die Jobs aller Projektmitarbeiter, im Endeffekt also die Slums selbst und sogar die Gesundheit, ja, wenn nicht gar das Leben der Slumbewohner, als ob es ihnen nicht schon dreckig genug ginge, da kann ich jetzt nicht auf mich und meine Gesundheit Rücksicht nehmen«, sagt er. Weil Anika nicht lockerlässt, lenkt er widerwillig ein: »Ja, morgen gehe ich zum Arzt, okay, aber nur, wenn ich heute noch zehn Pie-Charts fertig programmieren kann. Die verschieben sich ständig auf meinem Bildschirm.« Anika macht sich Sorgen und bringt Chris eine selbst gebackene Quiche vorbei, als Anschauungsobjekt für seine Grafiken. Sie sagt: »Du isst zu wenig frische Sachen. Du musst mal mehr auf dich achten, Chris«, denn er stopft sich, während er seine Ausdrucke überarbeitet, schnell ein Brot oder einen kalten Pizzarest in den Mund, dazu spült er Kaffee, Kaffee und noch einmal Kaffee hinterher. »Kein Wunder, dass du dich ständig erkältest, wenn deine einzige warme Mahlzeit Kaffee mit einem Schuss H-Sahne ist«, nörgelt sie. Und weil sie so viel nörgelt, ist Chris froh, wenn sie wieder geht. Zum Glück kann sie nie lange bleiben, weil sie zurzeit eine Hospitanz bei einem kleinen Radiosender macht, dessen Funkhaus eine S-Bahn-Fahrtstunde entfernt in einem Vorort der Stadt liegt. Chris' Hausarzt liegt um die Ecke, aber auch das erscheint Chris schon zu weit. »Ich habe keine Muße, um in einem Wartezimmer herumzusitzen. Ich verbringe lieber Zeit mit meinem Virus, damit wir uns besser kennen lernen.« Chris denkt viel über sich nach. Auch wenn Anika sagt, dass er nicht alles so persönlich nehmen sollte. Es geht um mein Leben, findet Chris, 111
und das ist ganz schön persönlich. Wenn er so über sich sinniert, vor allem wenn er sich auf seiner Matratze hin- und herwälzt, abends, weil er nicht einschlafen kann, und morgens, weil er schon wach ist, aber keine Kraft findet, seinen Körper aus der Matratze zu hieven, überlegt er, warum er so unzufrieden ist. Seine Muskeln tun ihm weh, als ob er eine Woche lang Extrembergsteigen gemacht hätte. Hat er aber nicht. Die einzige Bewegung, die er regelmäßig ausübt, ist Treppensteigen. Er ärgert sich, dass sich niemand nach seinem Wohlergehen erkundigt. Niemand meldet sich bei mir, sagt er sich, niemand interessiert sich für mich. Er bedenkt nicht, dass es ihm selbst auch gerade ziemlich egal ist, was seine Freunde machen. Er kratzt seine restliche Energie für die blöde Projektabschlussarbeit zusammen, in der er das beschreibt und auswertet, was er sowieso schon weiß, und hat keine Reserven, um noch irgendwo herumzuspringen, herumzuschauen oder gar herumzutelefonieren, wie er das nennt. Außerdem ärgert er sich über seine Projektkollegen, die erst mal in den Urlaub gefahren sind. Die einzige mitfühlende Person, die ihn regelmäßig anruft, ist seine Mutter. »Niemand versteht mich«, sagt er zu ihr, und er ist so traurig, dass er heulen könnte. »Ich habe ein großes schwarzes Loch in mir und muss gerettet werden«, denkt er, wenn er schniefend in seiner Wohnung umhergeht. Und wenn dann überraschenderweise jemand anruft, glaubt er ihm kein Wort, verdächtigt seine Mutter, den Freund heimlich zum Anruf überredet zu haben, ist beleidigt und wortkarg, weil derjenige so lange nichts von sich hat hören lassen. Er kreist um sich selbst, aber er weiß nicht, um welches Zentrum. Die Wegweiser sind abgebaut. Eigentlich wusste er immer, wo es langging. Wenn er pro Abend drei verschiedene Termine hatte, suchte er sich zwei aus. Vom ersten verpasste er das Ende, vom zweiten den Anfang - eine runde Sache. Er schlief wenig, redete viel, trank viel, lachte viel. Er hatte ständig das Gefühl, etwas zu verpassen. An Abenden ohne Termine konnte er überhaupt nicht lachen. 112
Dann saß er an seinem Schreibtisch, starrte aus dem Fenster, eigentlich starrte er gegen das Fenster, gegen die Scheibe und legte seine Blicke am Fensterkreuz ab, ohne etwas zu sehen. Das Starren unterbrach er regelmäßig, um irgendein Wandbrett mal endlich feucht zu wischen, um seine Kontobelege abzuheften, um den Kühlschrank aufzuräumen. Anika sagte dann immer, er solle mal still sitzen, sich mal ein bisschen konzentrieren, seine Kräfte sammeln und ein bisschen »zur Ruhe kommen«, wenn er weiter so starre, würde er bald versteinern - wenn er ins meditative Nichts vordringen wolle, solle er sich lieber für einen Yogakurs anmelden. Er verstand nicht, dass Anika ihm helfen wollte, sondern warf ihr Zynismus vor. Er fühlte sich an solchen Abenden so ernst, deprimiert und sinnlos wie nie zuvor. Es waren tief schürfende Erfahrungen, die er an solchen Abenden gemeinsam mit dem Fensterkreuz machte. »Ich will meine freie Zeit nutzen, nicht so herumsitzen«, beschwerte er sich, ohne dass Anika ihn gebeten hatte, sich zu rechtfertigen. Sie drehte ihm wortlos ihren Rücken zum Massieren zu. Manchmal erkundigt Anika sich mit S-Bahn-Geratter im Hintergrund danach, wie es ihm geht. »Ganz gut.« Und was er so mache. »Nichts.« So geht das schon seit drei Wochen, seit er das Auswerten und Schreiben beendet, alle Materialien in Ordnern abgeheftet und die Bücher wieder in die Archive und Bibliotheken zurückgebracht hat. N u n liegen noch ein paar Wochen vor ihm, bis er zu einer Fortbildung nach Nairobi fährt, wo es um Wassernutzung und -aufbereitung gehen wird. Er weiß nicht, was er in der Zwischenzeit mit sich anfangen soll. Vor allem weiß er nicht, was er nach der Fortbildung machen wird. Vielleicht wieder weg? Aber ihm fällt nicht ein, wohin. Sein Kopf ist leer und schwer. Selbst wenn er eine Idee hätte, wäre er zu schlapp, um überhaupt die Anstrengung auf sich nehmen zu können, eine Tasche zu packen, geschweige denn zu entscheiden, was in diese Tasche gepackt werden soll. Er 113
fühlt sich müde und lethargisch, ist ohne Begeisterung und genervt von der ganzen Welt, die er vor ein paar Wochen noch von Hunger und Durst erlösen wollte. Zwar liest er jeden Tag aufmerksam die Zeitung von vorne bis hinten, er zwingt sich, auf dem aktuellen Stand der Diskussionen zu sein, und sagt sich, wie habe ich die deutschen Tageszeitungen vermisst, aber nach drei Stunden mechanischer Lektüre hat er alles vergessen. Nur das Foto einer Reisereportage, der »Fishtail Mountain« in WestNepal, der heilige Machhapuchhare, der noch nie bestiegen worden ist, bleibt ihm im Kopf, dieser steile, mit Schneeflecken bedeckte, harte Gipfel, mit seiner perfekten 90-Grad-Spitze vor einem weichen, blauen Himmel ohne Wolken, der aussieht wie reiner Sauerstoff. Dennoch, die kurzen Texte unterhalten ihn, sie sind ein Zeitvertreib gegen die Langeweile und kurz genug für seine derzeitige Aufmerksamkeitsspanne. Dass Anika nach ihm fragt, langweilt ihn leider auch. Wenn sie ihre freudigen Nachrichten mitteilt, dass sie zum ersten Mal für einen Sendebeitrag, einen Tagestipp, gelobt wurde, klar, das sei nur eine ganz kleine Sendeeinheit, aber die Tipps seien Service und würden durchaus genau angehört, sie selbst würde manchmal Tipps und Veranstaltungsorte aus dem Radio mitschreiben, die kurzen Formen seien außerdem viel schwieriger als die langen, es sei doch immer einfacher, mit vielen Worten wenig als mit wenigen Worten viel zu sagen, dann möchte Chris am liebsten nur nicken und schweigen. Schließlich antwortet er »toll, ganz toll«, aber lesen will er die Tipptexte, die Anika für ihn ausgedruckt hat, nicht. »Ich lese ja sowieso den ganzen Tag«, rechtfertigt er sich. Sobald sie aus seiner Wohnung verschwunden ist, baut er aus dem Papier kleine Flieger. Über das Falten haben sie sich damals kennen gelernt. Ihre ersten Liebesbriefe haben sie in kleinen Schiffen versteckt und sich gegenseitig in die Manteltaschen geschmuggelt. Manchmal sitzt er mehrere Stunden und faltet und faltet. Er benutzt immer dasselbe Knickprinzip, baut das Ding auseinander und dann 114
wieder zusammen. Wenn er das Papier so weich gewalkt hat, dass der Flieger weder stehen noch fliegen kann, hört er auf. Dann kommt es ihm so vor, als ob das gesamte Leben ein Aufund wieder Zusammenfalten wäre. »Was für ein Quatsch«, sagt er laut. Weil er sich selbst so gut durchschauen kann, hat er den Eindruck, jeden und alles zu durchschauen. »Ist doch ein einziger, riesiger Mist.« Er weiß, dass das nicht wahr ist, nicht wahr sein kann, aber nichts fasziniert ihn mehr, nichts scheint ihm geheimnisvoll oder herausfordernd. Weder der Blick aus dem Fenster, die Fahrt mit der U-Bahn an einen See, die Anika für das Wochenende vorschlägt, oder die Einladung zu einer Filmpremiere, zu der ihn Nils mitnehmen will. »Tut mir Leid, keine Lust. Frag doch Viktor.« Alles kommt ihm bekannt und ewig gleich vor. Wenn ich nicht auf diese Premiere gehe, dann gehe ich eben auf die nächste, sagt er sich. Zudem ist er nicht in Feierlaune. Er will sich in Ruhe ausruhen, sagt er, nicht immer von einer Party auf die nächste hetzen. Als Anika ihm vorwirft, dass Feiern eigentlich nichts mit Hetzen zu tun hat, dass er nichts anderes mehr von sich gibt als »egal«, dass er doch sonst auf jede x-beliebige Party läuft, dass er sich gestern noch beschwert hat, so selten zu privaten Geburtstagen eingeladen zu sein, ist ihm sogar das egal. Anika rennt aus dem Zimmer und knallt die T ü r hinter sich zu. »Dann weiß ich auch nicht mehr, was du überhaupt willst«, schreit sie. »Bald bist du mir auch egal, wenn du so weitermachst.« Vor einem Jahr war es noch ganz anders. Er erinnert sich daran, wie gerne er halbe Sommertage lang Anika in einem Freibad Sand auf den Rücken streuselte und wie regelmäßig er mit Viktor und Nils zusammensaß. Wie er von seinem aufregenden Arbeitsleben erzählte: dass er am letzten Wochenende mit seinen fünf Bekannten aus der Firma, welche war es nochmal, Scheel und Partner oder Meepmeep-Media oder prima productions, 115
zum Frühstücksbrunch auf dem Fernsehturm verabredet war, dass er nach drei netten Stunden mit Weitblick leider schnell aufbrechen musste, da er sich, bevor er am Nachmittag im Rathaus zur Eröffnung einer Konferenz über Aidsvorbeugung mit seinem Projektleiter erscheinen musste, zu Hause umziehen wollte, dass er also, weil er den Bus gerade eben verpasst hatte, den gesamten Weg joggte, dass er sich beim Laufen per Handy ein Taxi nach Hause bestellte, welches, als er bei sich ankam, schon vor der T ü r wartete, dass er sich in fünf Minuten auszog, duschte und wieder anzog und dann den Taxifahrer bat, auf der Fahrt alle Fenster nach unten zu schieben, weil er so schwitzte. Dass er bei der Eröffnung ständig die Uhr im Blick hatte, weil er um 18 Uhr bei einem Treffen von Nachwuchswissenschaftlern die Begrüßungsrede halten sollte. »Ja, so sieht mein Leben zurzeit aus. Wie meine Leber aussieht, möchte ich gar nicht wissen«, scherzte Chris. Auf seiner Stirn hatten sich innerhalb der letzten Monate ein paar Pickel gebildet, aber sonst sah er frisch, muskulös und erfolgreich wie immer aus. Und die drei prosteten sich zu: »Auf uns.« »Und auf die Zukunft«, ergänzte Chris. Wenn er jetzt mit Schluckbeschwerden im Bett liegt, sieht er eher abgespannt, verknautscht und wenig zukunftsgerichtet aus. Deshalb bleibt er lieber liegen. So kann ich mich draußen nicht sehen lassen, beschließt er. Und weil er dadurch noch weniger frische Luft und Sonne abbekommt, wird seine Haut immer grauer. Das erscheint ihm jedenfalls so. Ihn freut es, dass Anika genervt von ihm ist, denn er versteht sowieso nicht, was sie an ihm findet, an ihm, der immer weg ist, der viel zu viele Termine hat, der, wenn er frei hat, nur jammert. Vielleicht ist es besser, wenn sie sich von mir entfernt und Abstand gewinnt. Dann hätte ich mehr Zeit für mich. Ich brauche mehr Zeit für mich, denkt er, diese Selbstlosigkeit, die sie von mir erwarten müsste, die kann ich ihr sowieso nicht geben, ich würde lieber Sprachen lernen, 116
Grashalme kauen, Anika hat ja Heuschnupfen, mit ihr könnte ich nie Grashalme kauen. Chris schnäuzt sich, weil seine Nase läuft, Bücher lesen bis zur letzten Seite, ein Hobby ausüben und dabei mal so richtig abschalten. Ihm fällt auf, dass niemand mehr Hobbys zu haben scheint. Einige sind Mitglied in einem Sportverein, aber das dortige Verausgaben ist Teil der Arbeit - um die müden Büro- oder Flugzeugsesselmuskeln aufzuwecken. Tennis oder Geige spielen, rhythmische Sportgymnastik, Pfadfinder sein, Blüten sammeln, Vögel beobachten, Weben, Flechten, Stricken, Häkeln, Schachfiguren hin- und herschieben, Skat kloppen. Gibt es noch Leute, die so was machen? Das einzige Hobby, das mich reizt, wäre »Erholung«, denkt Chris. Wenn ich nicht arbeite, dann sollte ich mich von der Arbeit ausruhen. Aber wie denn, wenn in der Kneipe bei einem Bier das nächste Projekt besprochen wird? Die Mitglieder im Projektteam sind meine besten Freunde. Mit ihnen verbringe ich mehr Zeit als mit meiner Freundin. Im letzten Sommer war ich ganze vier Tage in der Stadt, ansonsten unterwegs. Keine Ahnung, warum ich immer reise. Vielleicht sollte ich einmal in mein Inneres reisen, das wäre am billigsten. Überhaupt: Ich reise eigentlich nie, ich bin immer nur dienstlich unterwegs. Im Sommer hat Chris ein Internship bei einer international tätigen Firma absolviert. Seine Kollegen waren überrascht, dass sein Telefon selbst am Wochenende ununterbrochen klingelte, weil er nebenher noch sein 10-jähriges Abitreffen plante. Sie rieten ihm, nicht mehr ranzugehen, nur die wichtigen N u m mern zurückzurufen und die unwichtigen noch einmal anrufen zu lassen. Chris nickte und nahm den Vorschlag an. Zu Anika sagte er: »Melde dich, aber sei nicht beleidigt, wenn ich dich wegdrücke. Ich ruf dich auf jeden Fall zurück.« An den vier Tagen, die er gemeinsam mit ihr in einer Stadt verbringen konnte, sprachen sie über vereint durchzuführende Erkundungen, über verschiedene Verkehrsmittel, über Eseltrecking und Kamelrennen, über Ozeandampferfahrten und Katamaran117
regatten. Anika las ihm einen Satz vor, drei Zeilen eines Gedichts, das sie für ihre Promotion übersetzt hatte: »Auch habe ich eine gute, einfache Decke, ein Telefon, einen Reisekoffer und einen gutherzigen Gutgesinnten.« Chris zählte die Wörter und sagte: »In fünfzehn Wörtern steht alles drin. Ich vermisse das.« »Im Originaltext sind es nur zwölf«, sagte Anika: »Van egyszerü, jó takaróm is,/Telefonom, üti bóröndöm,/Van jó-szivü jót-akaróm is.« Sie sagte ihm nicht, dass das Gedicht, in dem der Sprecher eigentlich alles zu haben scheint, um zufrieden zu sein, ein »glücklich-trauriges Lied« ist und damit endet, dass das Eigentliche fehlt, der Schatz. Etwas später ruft Nils an und will ihn zu einer Grillparty mitnehmen. Chris ist so dankbar, dass er ganz gerührt ist. »Das ist total nett, dass du an mich denkst, mir geht es irgendwie nicht gut«, sagt Chris, »ich freue mich, ehrlich, aber ich bleibe heute lieber zu Hause.« Nils zählt aus dem Gedächtnis die Erkältungen auf, von denen Chris in der letzten Zeit geplagt war, er kommt auf fünf. »Das ist doch nicht normal«, sagt er, »vielleicht solltest du mal eine Therapie machen.« »Ich nehme schon diesen Efeusaft, wenn du eine deiner Naturtherapien meinst.« »Nein«, sagt Nils, »ich meine das ernst. Wann warst du das letzte Mal draußen, den ganzen Tag, ohne Erkältung und ohne schlechte Laune?« Chris legt auf. Er will mit seinem Freund nicht über seine psychische Problemlage diskutieren, er will von ihm nicht belehrt werden. Dazu sind Freunde doch nicht da. Nach einem Freundesgespräch soll es mir besser und nicht schlechter gehen, ist seine Überzeugung. Als er sich aus der Küche ein Bier holt, ist er zwar immer noch traurig, aber auch wütend. Oh, denkt er, das ist neu, das mit der Wut. »Ich war schon lange nicht mehr wütend«, bemerkt er. Und darüber freut sich Chris ein bisschen. In diesem Ansturm von Energie fährt er seinen Computer hoch. Wenigstens der ist immer da. Chris hat ihm den Namen gegeben, den er seinem ersten Sohn geben würde: Ruben. Das 118
Bier stellt er neben die Tastatur, stößt zwischendurch mit Rubens Plastikrahmen an und nimmt hektische Schlucke aus der Flasche. Er hat sich angewöhnt, immer ein paar Bier kalt zu stellen, für den Fall, dass er nach einem anstrengenden Tag die Wohnung betritt, ohne eine wirkliche Mittags- oder Abendpause gehabt oder etwas Warmes in den Bauch bekommen zu haben, höchstens ein paar Schnittchen auf einem Empfang. Er freut sich dann auf nichts anderes als auf das Plopp beim Öffnen des Bieres, die kühle Nässe des Glases an der Handinnenfläche und das wohlige Dämmrigwerden durch den Alkohol und darauf, beim Zappen durch irgendwelche schrulligen Sendungen im Fernsehen langsam duselig zu werden. Entspannung. Er gibt in eine Suchmaschine alle Symptome ein, die ihm zurzeit das Leben schwer machen. www.aerztezeitung.de knallt ihm ungefragt eine Titelzeile vor die müden Augen, die ihn festnagelt. Auf einmal fühlt er sich so wach und hell wie der Bildschirm, sein leuchtender Gefährte. Er liest den Artikel genau durch und hat plötzlich das Gefühl, er läse sein eigenes Tagebuch. Wenn es immer so einfach wäre, eine Antwort auf eine Frage zu finden, denkt Chris. Das Internet kennt mich anscheinend besser als ich mich selbst: »Lustlosigkeit und Schlafstörungen deuten auf Burn-out-Syndrom«, steht da. Es folgen Therapieansätze, die sich angeblich nur langfristig lohnen, aber genau das hätten die Patienten verlernt, den Glauben an langsame, stetige Prozesse, das gemächliche Aufbauen von Grundlagen, von Selbstvertrauen, das Aushalten von Phasen, in denen sich scheinbar nichts verändert oder in eine nicht erwünschte Richtung entwickelt. Chris fährt mit der Maustaste über die Vorschläge, markiert sie und kopiert sie in ein Textdokument, das er ausdruckt, zweimal, auch für Anika, denn er muss, einen Wechsel einleiten, mit dem es sich vielleicht ähnlich verhält wie mit dem Rauchen aufzuhören: das geht zu zweit leichter. M a n muss sich an die Zeit erinnern, in der man noch nie eine Zigarette geraucht und folglich keine 119
Lust darauf, ja sogar eine Abneigung gegen Tabakrauch hatte. Je mehr Erinnerungen an die Zeit vorher zusammenkommen, desto besser. Auf dem Ausdruck steht eine sehr lange Liste: Nein-Sagen, Dinge halb fertig lassen, nicht alles perfekt machen wollen, den Tag in aktive und passive Phasen einteilen, damit regelmäßige Regenerationsphasen entstehen, in denen man sich dann mal ein heißes Handtuch auf das Gesicht legen, mal gähnen, mal die so genannte Entspannung durch Anspannung nach Jacobson durchführen soll, wie das geht, wird zwar nicht erklärt, aber es klingt interessant, jede Woche einen Abend mit Freunden verbringen, einer reicht erst mal, nicht zu viel auf einmal, der Patient ist ja sehr menschenscheu geworden, er sollte eine ihm angenehme, regelmäßige Tätigkeit aufnehmen, sich statt eines Kalenders »1 Tag auf zwei Seiten« den Kalender »1 Woche auf zwei Seiten« kaufen, sich mehr bewegen, zum Beispiel immer eine Station später in die U-Bahn einsteigen und den Mehr-Weg laufen, Warteschlangen als etwas In-sich-Ruhendes Wahrnehmen und beim Herumstehen die freie, ungefüllte Zeit genießen, die Gegend betrachten und gemütlich eine Karotte knabbern, ja, die Ernährung, die Ernährung! Einen neuen Schäler kaufen und Rohkost essen, höchstens leicht gedünstet, sich von der Sonne bescheinen lassen, eventuell auf einem schönen Mooshügel in einem Waldstück, denn die »gute Waldluft«, wie der Artikel mahnt, heißt nicht ohne Grund so, wenn man müde ist, einfach einschlafen, egal, ob man auf Moos gebettet ist oder an der Bushaltestelle sitzt, den Körper verwöhnen mit Friseurbesuchen, Bädern, Peelings und teuren Cremes, sich mal ganz gemütlich mehrere Stunden ein Fußbad gönnen und danach die alten Hautreste von den Fersen schrubben. Ach, denkt Chris. Er nimmt im Bad den Tigerbalsam vom Bord und cremt ganz in Ruhe seine von den Taschentüchern wund geriebene Nase ein, mehrmals, mit kreisenden, ruhigen Bewegungen. Er schaut in den Spiegel und denkt an den 120
Dalai Lama, an die zwei Grundsätze, die dieser gestern in einer Dokumentation erläutert hat: erstens, immer ruhig bleiben; zweitens, ein offenes, klares Bewusstsein haben. Denn die eigentlichen Störungen, so sprach Seine Heiligkeit, kämen nicht von außen. Wir müssten erkennen, dass die meisten Störungen von innen kämen, erst dann fänden wir innere Ruhe, Selbstbewusstsein und Frische. Und als Chris die Creme zurückstellt, kann er zum ersten Mal durchatmen, seine Nase ist seit langem mal wieder richtig frei - und ihm fällt auf, wie stickig die Luft in seiner Wohnung ist. Chris öffnet die Fenster und lässt den Nachtwind herein.
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Kinder teilen
Giulia mag Kinder. Das betont sie immer wieder und immer wieder gerne, weil sie es wirklich so meint. Sie sagt laut und deutlich bei Kneipenbesuchen zu ihren Kumpanen: »Wenn ihr irgendwann junge Eltern seid und mal etwas alleine unternehmen wollt, nehme ich eure Kinder gerne bei mir auf! Bis der Staat es schafft, jedem Kind einen Betreuungsplatz zu garantieren, stelle ich diesen Platz mit meiner Wenigkeit für euch, meine guten Freunde, bereit. Schickt eure Kinder zu mir, damit wir alle selig werden.« Dann hält sie einen Vortrag über Patchwork-Familien, über die Wichtigkeit von Freundeskreisen, über emotionale Auffangbecken, über das gegenseitige Helfen, das schon Jesus gepredigt hat - der ja, auch wenn sie nicht an ihn glaubt, durchaus ein guter Typ gewesen sein muss -, also im Großen und Ganzen über die Möglichkeit, Kinder ohne Aufhebens in den Freundeskreis zu integrieren, weil Kinder toll sind. Sofort sieht sie vor sich eine Welt, in der der liebe Nachwuchs der anderen wie selbstverständlich mit ihrem Zimmer, vielleicht sogar mit ihrem eigenen Nachwuchs harmoniert, wo sie ein tiefes Vertrauen zu der Tochter ihres besten Freundes aufbauen kann, weil sie sie in der Säuglingsphase jede Woche einmal wickelt und füttert, im Tagesmuttereinsatz, wie alle anderen Freunde auch. Ihr Prinzip heißt: »ein Freund, ein Kind, ein Wochentag«. Mit dieser revolutionären Kinderteilung können die leiblichen Eltern ihrer Beschäftigung nachgehen und nebenbei stressfrei das Kind aufziehen, das mit Sicherheit ein pflegeleichtes, glückliches Kind 122
wird, weil es nun eine Unmenge an Vertrauenspersonen anstatt zweier Überforderter Eltern hat. Auch die Pflegeeltern profitieren von dieser Kombination: Sie sind meistens arbeitslos und erhalten durch die Kinderbetreuung einen festen Punkt in ihrem Leben. Wenn Giulia länger darüber nachdenkt, wird sie auf diese Phantasiekinder sehr neidisch. Das Problem ist, dass es in ihrem Freundeskreis eigentlich gar keine Kinder gibt. Wenn sie also ihre Visionen hinausposaunt, dann in der sicheren Annahme, dass sie nicht so schnell in die Tat umgesetzt werden. Ihre Mitbewohner vollziehen zurzeit zwar verstärkt den Zeugungsakt nicht ohne Grund, wie sie vermutet. Doch bis ein positives Ergebnis festzustellen ist, will Giulia sowieso umgezogen sein. Mit Geschrei im Ohr kann sie sich nicht konzentrieren, sagt sie und überhört die höflichen Einwände, dass sie in dem Fall ihre gewagte Theorie über Kinderbetreuung noch einmal überdenken sollte. Vielleicht wäre dieses Konzept erst dann realisierbar, wenn die Kinder schon selbständig aufs Klo gehen und alleine essen können. Aber wie schön wird das dann, jubelt Giulia. Eines Tages meldet sich ihre englische Austauschfamilie und kündigt den Besuch der inzwischen fünfzehnjährigen Tochter an. Ob Giulia Emily vielleicht während der Herbstferien aufnehmen könne? Sie müsse ihr Deutsch verbessern. Giulias gesamter Freundeskreis lacht sich ins kinderlose Fäustchen - nun ist für sie die Zeit gekommen, ihre Großherzigkeit zu beweisen und ihre Nächstenliebe zu zeigen. Giulia lädt Emily natürlich ganz herzlich ein. Vor allem freut sie sich darauf, Emily nach sechs Jahren wiederzusehen. Damals, als sie die Familie das letzte Mal besucht hat, war Emily eine zickige Göre, die ihr ständig ins Ohr schrie: »Du bist total verrückt, du kannst noch nicht einmal richtig Englisch sprechen. Und außerdem bist du hässlich, weil du immer Hosen trägst.« Sie beschmiss Giulia mit Gras und sprang ihr mit Vorliebe von hinten auf den Rücken. 123
»Sie will nur spielen«, sagte die verständnisvolle Mutter. Giulia bekam, weil alles so wahnsinnig lustig war, einen hysterischen Lachkrampf. Als Klettergerüst bewies sie aber so viel Durchhaltevermögen, dass Emily bei ihrer Abfahrt weinte und sich so fest an ihren Hals klammerte, dass Giulia die Luft wegblieb. Sie konnte gerade noch röcheln: »Bis bald!« Der Moment des Wiedersehens steht nun also vor der Tür. Was Giulia nicht weiß, als sie das Mädchen einlädt: Es befindet sich mitten in der Pubertät. In dieser Zeit verliert man die Sprache. Emily ist einsilbig bis zum Gehtnichtmehr, aber immer freundlich. Giulias Bemühungen, etwas über sie zu erfahren, werden mit einem Lächeln und einer klaren, aber kurzen Antwort quittiert. »Welche Musik hörst du denn?« »Alles.« »Hast du ein Lieblingsessen?« »Ich mag alles.« »Warst du schon einmal in Deutschland?« »In einem Wald.« »Und was hast du in dem Wald angeschaut?« Sie überlegt kurz und sagt: »Das hab ich vergessen.« Natürlich weiß die Gastgeberin, dass ihre Fragerei wirklich nervt. Auch sie selbst wäre genervt, wenn sie so ausgequetscht würde. Aber wie soll sie ihren jungen Gast sonst kennen lernen? »Du musst ihr einfach etwas erzählen«, rät Freund Nils. »Wenn du ihr etwas erzählst, wird sie auch etwas erzählen.« Und wenn nicht, denkt Giulia, dann werden wir zusammen schweigen. »Ist doch immer noch besser als Smalltalk. Smalltalk ist peinlich«, sagt der Freund, »in der Pubertät sowieso. Nimm sie einfach mit, kauf ihr ein Getränk und warte, bis sie etwas sagt. So mache ich das auch immer mit den Jugendlichen.« Giulia ist offen für Tipps und denkt, klar, immer alles locker angehen. Weil Emily wegen ihres frühen Abflugs um vier Uhr morgens aufstehen musste, ist es wahrscheinlich ganz normal, dass sie nach der Begrüßung erst einmal verstummt. Giulia erklärt sich Emilys nicht besonders kooperatives Verhalten also unter anderem mit ihrer Müdigkeit. Um die Atmosphäre aufzulockern, zeigt sie ihrem Gast, als sie in ihrer WG angekommen sind, 124
erst einmal das Bett, in das sich Emily sofort hineinlegt und in dem sie bis zum Abend durchschläft. Danach will das nächste Grundbedürfnis, der Hunger, befriedigt werden. Giulia und Emily gehen also essen. Emily bestellt das Gleiche wie Giulia, und sie klappern schweigend mit Gabel und Messer. Obwohl Emily angeblich alles mag, isst sie nur den Reis. Draußen geht Nils vorbei - er winkt Giulia zu und macht konspirative, M u t machende Zeichen mit dem Daumen. Giulia winkt mit einem Zahnstocher zurück. Giulia versucht es mit einem Gespräch. »Wie geht es denn eurem Hund?« »Gut. Wir haben einen neuen Hund.« Super, denkt sie, wir haben ein Thema, endlich, wir können uns über H u n d e unterhalten. »Magst du den neuen Hund?« »Er ist schrecklich.« »Warum?« »Er geht immer im Haus auf und ab.« Aha, denke Giulia weiter, das ist bei Hunden wirklich ganz ungewöhnlich. Sie erzählt von dem Hund einer Freundin, der gerne Mäuse frisst, der alle paar Monate gegen die Wurmkrankheit der Mäuse geimpft werden muss. »Wir hatten auch Mäuse. In der Küche.« Giulia ist begeistert: Das waren zwei Sätze. Sie nähern sich einander an, Stückchen für Stückchen, Mäuschen für Mäuschen. Nachdem sie das Restaurant verlassen haben, gehen sie noch ein bisschen in Giulias Stadtviertel auf und ab. Giulia befürchtet, Nils und seinen Ratschlägen wieder über den Weg zu laufen. Sie möchte eine öffentliche Niederlage ihres pädagogischen Ansatzes vermeiden. »Wollen wir noch irgendwo etwas trinken?« »Ja.« Sie setzen sich in ein Café. Emily trinkt konzentriert eine Limonade und schweigt. Giulia will sich anpassen, man muss ja nicht immer nur reden. Also konzentrieren sich beide, so stark sie können, auf das Trinken. Aber Giulia hat eine Konzentrationsschwäche, und eine nächste Frage steigt in ihr auf. »Gehst du mit deinen Freunden gerne in Cafés?« »Nicht so oft.« »Warum nicht?« »Mein Vater will, dass ich um zehn im Bett bin.« Giulia greift den Faden auf, spricht von ihren strengen Eltern, über Methoden, die Regeln zu umgehen. 125
Emily nickt ihr zu: »So mache ich das auch.« Mit Erschrecken stellt Giulia fest, dass es schon halb elf ist, also höchste Zeit, dass Emily ins Bett kommt. Die Tagesmutter muss ihren Pflege-Pflichten nachkommen. Das war also der erste Tag, denkt sie, als sie heiser gute Nacht sagt. Emily lächelt und schont ihre Stimme. Giulia ist gespannt, wie sich ihre Beziehung weiter entwickeln wird. Am nächsten Tag möchte Emily mit der Stadtbesichtigung beginnen. Giulia händigt ihr ganz unautoritär, ohne Belehrungen oder Tipps abzugeben, einen Stadtplan und einen Haustürschlüssel aus. »Viel Spaß!« Bevor Emily loszieht, kommt sie leise zu ihrer Gastgeberin und fragt, wo denn die nächste Haltestelle sei. O nein, denkt Giulia, ich habe sie überfordert. Sie wird nie wieder Vertrauen zu mir fassen. Um es wieder gutzumachen, malt sie den gesamten Bezirk, dargestellt durch einprägsame Symbole, mit Buntstiften auf einen Zettel, zeichnet kleine Kreuze in den Stadtplan hinein und verfasst eine ausführliche Wegbeschreibung, die sie ausdruckt. Eine Stunde später verlässt Emily die WG mit Rucksack. Den gesamten Nachmittag denkt Giulia an sie und hofft, dass sie sich nicht verläuft. Gegen fünf Uhr schickt Emily endlich eine SMS mit ihrer aktuellen Standortangabe, und Giulia rennt los, um sie zu treffen. »Hallo«, sagt sie. »Wie war dein Nachmittag?« »Gut.« »Was hast du gemacht?« »Ich war einkaufen.« »Hast du was Schönes gefunden?« »Ein Handtuch.« Schon wieder diese Schamesröte. Giulia hatte vergessen, ihrem Gast ein Handtuch hinzulegen. »Ich bin nicht nur eine schlechte Jugendversteherin, sondern auch eine schlechte Gastgeberin. Bald ist der Ofen aus«, befürchtet sie. In der Zwischenzeit informiert sich Giulia über moderne Erziehungsmethoden. Die jungen Menschen müssen lernen, sich selbst - am besten zwischen zwei konkreten Vorschlägen - zu entscheiden, selbständig zu werden, und sie sollen zu nichts gezwungen werden. Lockerheitsgestus, allerdings mit klaren 126
Grenzziehungen. Also fragt Giulia: »Wozu hast du Lust? Wir können entweder ein Stück Kuchen essen oder in eine Ausstellung gehen.« Dann habe ich sie auf meiner Seite, denkt sie. Und: Bei dieser Auswahl wird sicherlich nicht die Bildung siegen. Mit meiner Offenheit zeige ich, dass ich nicht Kultur durchdrücke, sondern Genuss zulasse. Und, o Wunder, o psychologisches Geschick! Emily wählt das süße Stückchen. Weiterhin weiß Giulia, dass in dem von ihr gewählten Cafe eine Unmenge an Frauenzeitschriften und Zeitungen herumliegt. Prompt greift die Pubertierende nach einem Hochglanz-Modemagazin, blättert es stumm durch, scheint aber zufrieden zu sein. Giulias einziger Versuch, mit ihr zu sprechen, endet wieder kläglich. »Liest du gerne solche Mode-Zeitschriften?« »Ja.« »Was liest du denn zu Hause?« »So etwas.« Giulia ist auch zufrieden, liest die Zeitung und versucht, die Stille zu genießen. Dass ihre Taktik vollkommen aufgeht, lässt sich Giulias Erachten nach daran erkennen, dass sich Emily anbietet, die Zeitschriften selbst zurückzubringen. »Ist doch klar, dass ihr euch so nicht unterhalten könnt«, sagt Nils, als sie ihn abends verzweifelt anruft. »Mit der ständigen Fragerei begibst du dich in eine hierarchische Position.« O Gott, denkt Giulia, das will ich ja nun überhaupt nicht - schließlich möchte ich nur, dass sie eine gute Zeit verbringt. Es ist für Emily sicherlich auch nicht einfach. Obwohl sie Giulia damals mit Gras beworfen hat - eine emotionale Handlung, Von der Giulia dachte, dass sie sich in Emilys Gedächtnis eingebrannt hätte -, erinnert Emily sich an nichts. Sie sind zwei Fremde, die sich aneinander gewöhnen müssen. Als sie nach einem langen Spaziergang entlang der Sehenswürdigkeiten wieder zu Hause angekommen sind, fällt Giulia nichts Besseres als folgender Vorschlag ein: »Hast du Lust fernzusehen?« Die Antwort ist ein einfaches »Ja.« Emily kuschelt sich in ihre Decke und starrt auf die amerikanische Serie, die gerade läuft. Wenn Giulia über einen Witz lacht, lacht Emily 127
mit. »Verstehst du den Film?« »Nein.« Sie essen unzivilisiert das Abendessen vor dem Bildschirm - Giulia hofft, dass Emily das gut findet, das ist so spontan, so jugendlich, oder? Sie nimmt sich vor, den Fernseher in Emilys Aufenthaltsprogramm zu integrieren, etwas, das sie nie von sich gedacht hätte. Bisher war sie der Meinung, nur schlechte Betreuer setzen den Nachwuchs zur Ruhigstellung vor die Kiste. Aber diese Besserwissereien sind ihr jetzt egal. Sie haben zusammen Spaß, wenn sie dialogarme Komödien schauen, und das ist das Wichtigste. Giulia weiß, es werden noch unterhaltsame sechs Tage - stumm vor dem Fernseher. Unterdessen entwickeln sich die Einsilber zu Drei- bis Fünfsilbern, zu Mehrsilbern. Giulia zählt nur noch in dieser neuen Kommunikationswährung und fühlt sich nicht mehr so verarmt wir vor ein paar Tagen. Sie bleibt optimistisch. Denn sie möchte wirklich gerne wissen, was eine Fünfzehnjährige bewegt. Natürlich vergisst sie dabei, dass sie für Emily keine Gleichaltrige, sondern eine Erwachsene ist, weit entfernt von jeglichen pubertären Lebenszusammenhängen. Wieso sollte Emily ihr etwas erzählen? Sie würde ja sowieso nichts verstehen. Aber Giulia gibt nicht so schnell auf. Schließlich hat sie eine T h e o rie zu verteidigen. Schließlich findet sie nicht nur Kinder, sondern auch Jugendliche toll. Und wenn sie auf diese paar Tage zurückschaut, sieht sie Spuren des Fortschritts. Sie nähert sich peu á peu den T h e m e n an, die für Emily interessant sind, als da schon wären: Mode, Kaufhäuser, Strandurlaub mit Freundinnen, spät ins Bett gehen und die besagten Mäuse im Garten. So viele Erkenntnisse in wenigen Tagen. Was wohl noch dazukommt? Es kommt: der Horror. Sie sitzen wieder vor dem Fernseher, es ist spät. Ein Privatsender zeigt einen gruseligen Kinofilm mit Mord in der Kühlkammer, zerquetschten Gesichtern, Wasserleiche im Kofferraum, blutigen Fleischerhaken, Erpresser128
briefen. Emily scheint den Film schon zu kennen, jedenfalls lässt sie das Grauen unberührt. Giulia dagegen schocken solche Streifen, sie kann diese Gewaltszenen nicht ertragen. Mit gutem Vorbild vorangehen, denkt sie, und solchen Schund vermeiden. »Du, hör mal, ich gehe ins Bett. Möchtest du diesen schrecklichen Film weiterschauen?« »Ja.« Das ist eine klare Ansage. Die geschlossene Frage, auf die man nur mit Ja oder Nein antworten konnte, schlägt Giulia in ihr müdes Gesicht. Kann sie denn diese Situation verantworten? Wird das Mädchen nicht traumatisiert? Macht sie sich vielleicht strafbar? Eine Minderjährige vor ihrem Fernseher vor einem nicht jugendfreien Film? Sie versucht ein letztes Mal, aus dieser Horror-Situation herauszukommen. »Bekommst du keine Albträume?« »Was sind Albträume?« »Schlechte Träume ...« »Nein«, sagt Emily sehr selbstbewusst, um nicht zu sagen, erwachsen. Giulia ist überzeugt, zeigt, wie der Fernseher auszuschalten ist, wo das Licht ausgeht und wünscht eine gute Nacht. Am nächsten Morgen schläft der Gast tief und fest. Giulia kann einige Besorgungen erledigen, weil Emily erst gegen Mittag aufsteht. Diese Entscheidungspädagogik gefällt ihr. Selbst wenn sich Emily gegen Giulias Erziehungsintuition entscheidet, fällt für Giulia etwas Positives ab. Nach ein paar Tagen hat Emily allerdings keine Lust mehr, immer alles alleine entscheiden zu müssen. Giulia ist zu einer Geburtstagsparty bei Viktor eingeladen. Es ist das erste Mal seit Jahren, dass er seinen Geburtstag mit den alten Freunden feiert. Im letzten Jahr konnte er bei irgendeiner Party seines derzeitigen Mitbewohners mitfeiern. Viktor hospitierte zu der Zeit in der Brüsseler Auslandsredaktion eines amerikanischen Nachrichtensenders. Drei Jahre hatte er auf diese globale Chance warten müssen. Die Personalchefin hatte ihm zwar gesagt, er solle sich in den drei Jahren ruhig weiter umschauen, sie würde es natürlich verstehen, wenn er die Hospitanz absagen würde, wenn er eine »richtige Stelle« finden würde. Viktor hatte in der 129
Zwischenzeit verschiedene andere Jobs angenommen und Fortbildungen absolviert, er hatte sogar selbst Seminare gegeben, aber nichts davon war von Dauer gewesen, sodass er das Angebot annahm, als es endlich kam. Er quartierte sich für acht Wochen bei einem Volontär des Senders, Michel, ein und bezahlte für ein halbes Zimmer die halbe Miete. Brüssel ist eben teuer, dachte Viktor. Michel ließ ihn mitfeiern, aber niemand wusste, dass Viktor neben dem Mitbewohnerdasein einen eigenen Feieranlass hatte. Er war zwar dabei, aber nicht wirklich da. Um Mitternacht war Michel, der einzige Eingeweihte und Mitwisser, schon so betrunken, dass er wie wild tanzte und herumschrie. Der Sekt, den sie zusammen hatten trinken wollen, war sowieso schon leer. Viktor ging aufs Klo, blickte in den Spiegel und prostete sich mit zusammengekniffenen Augen zu. Am nächsten Tag riefen nur seine Eltern und Linn an, um zu gratulieren. Viktor war durch seine Arbeit so eingebunden, dass er ein paar Tage später schon vergessen hatte, wie einsam er sich bei Michels Party gefühlt hatte. Er war seinen Freunden nicht böse. Vielleicht gratulieren sie nur, wenn sie durch eine Party auf den Jahreswechsel hingewiesen werden, dachte Viktor, sie alle haben ja so viele Termine heutzutage, das rappelt förmlich in den Kalendern. Er hatte sich vorgenommen, nie wieder an seinem Geburtstag eine halbherzige Party mit Fremden zu feiern. Deshalb jetzt die »richtige Party«! Giulias Problem ist, dass die Feierei erst gegen zehn Uhr losgeht, dass sie wegen Emily aber gegen zehn wieder aufbrechen müsste. Natürlich möchte Emily noch nicht so gerne nach Hause, aber »sie muss ins Bett, sie muss ins Bett, sie muss ins Bett«, flüstert Giulia der unsichtbare Vater ins Ohr. Doch als Giulia wieder die FrageTechnik anwenden will, dreht Emily plötzlich den Spieß um: »Wenn du noch bleiben willst, bleiben wir! Ich bin noch nicht müde.« Mist, denkt Giulia, sie muss doch wirklich ins Bett. Anscheinend versucht sie, meine Unentschiedenheit gnadenlos 130
auszunutzen. »Mein Vater hat mir gesagt, ich soll in Deutschland Bier trinken.« Emily hält ein Pils in der Hand, ein süffiges deutsches Bier, es scheint ihr zu schmecken, und sie hat schon ganz rote Bäckchen. Sie lehnt lässig im Flur und unterhält sich mit einem attraktiven Lockenkopf. »Ich verstehe schon viel besser als gestern«, sagt sie und wendet sich ihm wieder zu. Diese Erklärung ist natürlich ein schlagendes Argument. Die kleine Engländerin ist hier, um ihr Deutsch zu verbessern. Wie die Gastgeberin sieht, ist ihr Gast beflissentlich dabei, dieses zu tun, auch ohne sie. Giulia beobachtet Emily aus einem Augenwinkel, wie sie lacht, offenherzig erzählt und sogar selbst das Gespräch in Gang hält. Später, als sie wirklich gehen müssen, fragt Viktor: »Versteht ihr euch eigentlich? Ich meine, ihr habt euch doch sehr lange nicht gesehen?« N u n bekommt auch Giulia rote Bäckchen, das ist ja peinlich, was soll sie sagen? Dass sie Emily nicht versteht, dass sie überhaupt nichts über sie weiß und dass sie es nicht schafft, mehr zu erfahren? Dass sie früher als kleines Mädchen genervt hat und dass sie es ihr jetzt, als großes Mädchen, nicht unbedingt einfacher macht? Und während Giulia noch überlegt, hört sie eine Mädchenstimme: »Wir verstehen uns besser als gestern.« Wie klug, wie wahr, wie schön gesagt. Giulia nickt, und jetzt ist sie diejenige, die einfach mal schweigt.
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Elterngespräche
Neuerdings benutzt Giulia auffällig viele Fachbegriffe aus dem Arbeits- und Steuerrecht. Sie redet von geringfügig entlohnter Beschäftigung, einheitlicher Pauschalsteuer, Abgabenfreiheit, Meldung bei der Bundesknappschaft und von der Berechnung des SVBeitrages für die Gleitzone. Sie kalkuliert auf Karteikarten Beitragsprozente und beherrscht sogar die so genannte Gehaltsabrechnung in fünf Schritten. »Ich lasse mich nicht mehr für dumm verkaufen«, sagt sie und klingt dabei so kämpferisch, wie es mit Bürokratie-Vokabular nur möglich ist. »Ich informiere mich jetzt, ob nicht laut Zweitem Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2002 meine derzeitige Stelle nach den neuen Geringfügigkeitsrichtlinien sozialversicherungspflichtig ist. Ich werde herausfinden, ob mein Arbeitgeber für mich die richtigen Beträge abführt - und wenn er es nicht tut, werde ich ihn dazu bringen. So.« In ihr flackert ein kleines energisches Licht, das durchaus zum Flächenbrand werden könnte, wenn noch mehr Fackeln in ihr und anderen entzündet würden. »Es geht um meine Aufklärung«, sagt sie, wenn jemand wissen will, warum sie neuerdings keine Überstunden mehr macht. Giulia verlässt das Praktikum pünktlich um 17 Uhr, auch wenn sich noch diverse zu erledigende Aufgaben auf ihrer Ablage stapeln, und brütet zu Hause über Gesetzesbüchern. »Ich habe heute schon etwas Nervenaufreibendes vor«, sagt sie am Telefon zu Nils, der sie zu einem Konzert mit einer Kreisch-Band abholen will. »Brüllen würde dir gut 132
tun«, versucht er, Giulia zu überzeugen. Weil er weiter nachbohrt, erklärt sie: »Mir reicht es, für einen Hungerlohn rund um die Uhr zu schuften. Ich informiere mich jetzt über meine Rechte in der Sozialgesetzgebung.« Nils findet das alles sehr löblich und bittet sie, eine kleine Rede zu halten, in die ihre Erkenntnisse klug und geschickt eingewoben sind, mit Stilfiguren und Faktenargumenten, mit lebhaften historischen Szenen und Sprüchen wichtiger Autoren und Staatsmänner, gerne auch Staatsfrauen. »Es gibt das Menschenrecht auf Arbeit und das Menschenrecht auf gerechte und befriedigende Entlohnung. Interessieren sich heutige Arbeitgeber für die Menschenrechte? Ich glaube nicht. Irgendwas ist da doch schief«, antwortet Giulia. Wenn Nils dann wissen will, was denn genau schief sei, das Verhältnis von Lohn und Arbeitsaufwand, von Arbeitszeit und Anforderung, von Lohn und Arbeitszeit, von Anforderung und Arbeitsaufwand außerdem sei ihre Rede viel zu kurz geraten, der Aufbau sei falsch, sie müsse sich steigern, Emotionen aufbauen und nicht am Anfang so platt ihre Meinung in den Raum stellen, unterbricht Giulia ihn: »Du denkst gleich in Uberdimensionen. Mir geht es um Selbstbestimmung im Kleinen. Ich will wissen, wo meine Perspektiven sind. Ich hoffe nicht mehr darauf, dass der Staat auf mich als Bürgerin zukommt und mich schützend in die Arme schließt.« »Ja, Mensch«, sagt Nils, »das wäre ja auch etwas naiv von dir.« »Ist doch alles viel komplexer«, insistiert sie. Und wo sie Recht hat, hat sie Recht, findet auch Nils. »Viel Erfolg«, wünscht er. Giulias Engagement kommt mehr oder weniger plötzlich, aber nicht überraschend, denn es ist familiär angelegt. So sehen das jedenfalls Giulias Eltern, die verschiedene Reliquien aus ihrer eigenen Studentenzeit im Keller horten: einen verwaschenen Tarnfarbenparka, durchlöcherte Transparente mit verwitterten Aufschriften, eine Kiste voller Bücher, Programmzettel, Zeitschriften und einen Ledersack, aus dem Granulat herausrieselt, 133
wenn man ihn bewegt, in dessen Herkunft Giulia nicht eingeweiht wird, denn wenn sie nachfragt, brechen die Eltern in Gelächter aus, er muss auf dubiose Weise in ihren Besitz gelangt sein und einem heute prominenten Politiker gehört haben. Ihr Vater will am Wochenende seine Tochter in ihrer neuen Wohnung besuchen und ein paar alte Möbel, einen ausrangierten Teppich, Stühle und Geschirr vorbeibringen. Giulias WG hat sich aufgelöst, weil ihre Mitbewohner nach Australien ausgewandert sind. »Dort brauchen sie jeden«, sagten sie, »und das Wetter ist besser.« Deshalb wohnt Giulia nun alleine, was teurer als vorher ist. »Du hast doch gerade wirklich nicht genug Geld, dir etwas Neues zu kaufen«, betont ihre Mutter am Telefon: »Besonders die schwarzen Stringregale von früher sind unglaublich praktisch, du wirst sehen - mit nur vier Schrauben anzubringen. Solche Sachen werden heute gar nicht mehr hergestellt. Wir haben die schon von unseren Eltern bekommen. Wie gut, dass wir die aufbewahrt haben.« Und weil Giulia nicht sofort in Begeisterungsstürme ausbricht, ergänzt die Mutter verständnisvoll: »Wir haben sie auch noch in Grün. Wenn sie dir nicht gefallen, kannst du die schwarzen an deine Freunde verschenken. Ihr müsst euch doch gegenseitig helfen.« »Ich glaube nicht, dass sie Stringregale mögen«, bezweifelt Giulia. »Jetzt sei doch nicht gleich so vorurteilsbeladen. Sei offen!« »Ich bin einfach nur ehrlich.« »Ich finde, du bist zu wählerisch. Kein Wunder, dass du dich nicht für einen Job entscheiden kannst.« Die Mutter legt gekränkt auf. Sie denkt daran, wie freizügig und unvoreingenommen sie als junge Frau war. Dass sie als Einzige unter den Freunden eine Dusche hatte, dass deshalb oft Besuch kam, der sich bei ihr warm abbrauste und einshampoonierte, sich danach mit umgeschlungenem Handtuch und nassen Haaren auf ihrer Kissenburg ausruhte, Artikel aus dem Kursbuch vorlas, manchmal auch Gedichte, Manifeste oder Gebrauchsanweisungen, falls sie nicht einschlafen konnte, manchmal auch ohne Handtuch und mit trockenem Haar mit ihr auf das große .134
Bett umzog und sie in der Nacht festhielt. »Das hat uns verbunden. Wir haben uns gegenseitig gut behandelt. Wir waren frei.« Sie erinnert sich besonders gerne daran, dass es noch weitaus Forschere gab, die sich nicht nur das Bad und das Bett, sondern die Wohnungen oder die Partner und Partnerinnen teilten, manche sogar die Wäsche. In einer großen Kiste im Flur befand sich die gemeinsame Kleidung. »So einfach kann es ein, wenn man nur will«, sagt sie. Giulia hört meist nicht mehr zu, wenn die Mutter bei diesem Punkt der Erzählung angekommen ist. »Wir haben doch ganz andere Probleme heute als ihr«, denkt sie dann. »Von wegen offene Ehe, sexuelle Befreiung, Gegenöffentlichkeit.« Sie ist im Vergleich dazu ein Realo. Utopische Entwürfe erscheinen ihr ziemlich weltfremd. »Ich finde es ja wirklich ganz toll«, erklärt sie ihrer Mutter, »dass ihr euch für Kommunen, Umweltbewusstsein, Gerechtigkeit, Kampf gegen Armut, Aufhebung der Klassenunterschiede, Aufarbeitung der Nazizeit eingesetzt habt. Aber solange ich mich nicht in der Gesellschaft, in der ich lebe, gebraucht fühle, finde ich es etwas vermessen, die gesamte Welt umkrempeln zu wollen. Wie soll ich einen Baum pflanzen, wenn ich keinen Garten habe? Wie soll ich ein tolerantes Haus führen, wenn ich mit meinen Zeitverträgen keinen Kredit für den Bau bekomme?« »Du bist einfach zu konsumorientiert und zu egoistisch«, sagt die Mutter, »zu wenig experimentierfreudig.« Giulia sieht die Mutter vor sich, wie sie sich in ihrer kreativen Phase angeblich in Performances und Sit-ins ausgelebt hat. Sie spannte Leinwände durch das Zimmer, legte Stoffbahnen auf den Boden, davon gibt es ruckelnde Super-8-Aufnahmen, bewegte sich zu den Gesängen eines indischen Gurus, die Platte liegt auch noch in einer Kiste, öffnete Farbtöpfe, am liebsten braune, das tat ihrer Seele gut, wie sie bei Erzählungen betont, es sei ja damals auch um die Auseinandersetzung mit der Elterngeneration gegangen, tauchte vorsichtig den Pinsel ein, malte sich Zeichen auf die nackte Haut und wälzte sich dann 135
schreiend über die Laken, rieb sich an verhüllten Gegenständen und hinterließ Spuren. »Wenigstens sparst du gerne Strom, trennst Müll, verzichtest auf privaten Wohnraum und bist politisch einigermaßen informiert«, bemerkt die Mutter. »Ein bisschen hast du von uns gelernt.« Doch Giulias Verhalten hat einen ganz pragmatischen Unterbau. »Ehrlich gesagt schränke ich mich nicht ein und halte die Augen offen, weil ich euch als Vorbilder verstehe und nacheifere«, korrigiert sie, »sondern weil ich aufgrund meiner ökonomischen Lage dazu gezwungen werde. Ich erschaffe mir nicht irgendwelche rebellischen, staatsfernen Nischen, denn da würde sich gar nichts ändern, sondern versuche durch die Eingliederung in das Bestehende herauszufinden, welcher Platz für mich bereitgehalten wird und wo ich hineinpasse.« »Jetzt klingst du aber ziemlich abstrakt und ängstlich«, findet die Mutter. »Das ist keine abstrakte Förderung«, sagt Giulia, »sondern eine Notwendigkeit.« Selbst in den Gesprächen mit den einst von Sachzwängen befreiten Eltern gelten häufig nur die wirtschaftlichen Argumente. Immer, wenn Giulias Mutter das T h e m a Arbeit anschneidet, denn Arbeit müsse die Tochter doch endlich einmal finden, sie hätte doch eine gute Ausbildung bekommen, sie sei ja nun schon einige Zeit auf dem Markt, sie müsse sich mal ein bisschen mehr anstrengen, gibt es Streit. »Ich bin doch sehr nah dran«, sagt Giulia dann, »im Moment hospitiere ich bei einer sehr berühmten Institution. Wenn ich mich von dort aus wieder neu umsehe, habe ich mehr Chancen als jetzt.« »Ich verstehe nicht«, erwidert die Mutter dann, »was los ist. Du musst dich breit bewerben, auf Masse setzen. Du kannst dich nicht immer in irgendwelchen Instituten verstecken. Oder sind deine Noten so schlecht? Wir können dir nicht noch ewig den Unterhalt bezahlen, Mädchen.« Wenn Giulia ihr dann erklärt, dass sie lieber darauf baut, mit Geduld und Selbstvertrauen einen Weg zu finden, die Mutter müsste doch endlich verstehen, dass es früher eben anders war, dass es damals selbstverständlich war, 136
dass Absolventen mit oder auch ohne gute Noten sofort eine Stelle fanden, dass hätte sie, die Mutter, doch selbst erlebt, sie hätte doch immer diese Geschichte erzählt, dass kurz vor Ende ihrer Lehrerausbildung vom Seminarleiter Zettel verteilt wurden, dass ihnen, als sie nachfragten, gesagt wurde: »Das ist für Ihre Übernahme in den Schuldienst«, dass das absolut normal war, dass man sich dann eben bei Schulen in der Gegend, die einem gefielen vorstellte, dass man nicht lange suchen musste, dann hat die Mutter ein letztes Argument parat: »Also, ich habe früher täglich zwölf Stunden in der Bibliothek gesessen, ich habe nicht das Gefühl, das du dich wirklich um deine Zukunft kümmerst.« Meist beginnt Giulia dann mit einer generationenübergreifenden Informationskampagne und hat anschauliche Exempel aus ihrem Bekanntenkreis parat. »Ich kenne Leute, die sitzen den ganzen Tag in der Bibliothek und finden trotzdem keine Arbeit. Wahrscheinlich, weil sie nur dort sitzen.« Und gerade Lehrer, um das Beispiel aufzugreifen, befänden sich heute in einer völlig anderen Situation, führt sie aus. Da werde kaum jemand automatisch übernommen, und sogar auf Referendariatsplätze müssten die meisten Absolventen mehrere Jahre warten. Viele junge Lehrer würden nur für ein Schuljahr eingestellt und dann, weil die Schule Geld sparen wolle, vor den Sommerferien entlassen. »Außerdem«, beschwert sich Giulia, »bist du dafür, dass du angeblich den Leistungsdruck ablehnst, ziemlich leistungsorientiert. Wir haben viel mehr Konkurrenz als ihr früher. Das, was du dir unter Leistung vorstellst, bringt heute überhaupt nichts mehr.« »Dass du immer so aggressiv bist, wenn ich mit dir rede«, sagt die Mutter. »Was hat dich nur so hart und bitter gemacht?« »Und was hat dich bloß so unflexibel gemacht?«, will Giulia wissen. »Jetzt sei mal nicht undankbar.« Die Mutter gibt den Hörer an den Vater weiter, der noch ein paar organisatorische Dinge mit Giulia klären muss: Krankenkasse, Zusatzversicherung, Einkommensüberblick. »Wir sehen uns ja bald«, 137
sagt der Vater. »Ich bringe den Ordner einfach mit. Warte mal - jetzt will deine Mutter dir noch etwas sagen. Ich stelle mal auf Lautsprecher.« Giulia hasst diesen Moment. Sie sieht ihre Eltern auf der Sitzgruppe im Wohnzimmer ihrer Stimme lauschen wie der Stimme einer Prophetin, Sie hat das Gefühl, in diesen Momenten geht es ihnen überhaupt nicht darum, was die Tochter zu berichten hat, sondern, dass da eine Stimme den Raum erfüllt, die so selten zu Hause ist. Giulia hört den Singsang ihrer Mutter, viel fröhlicher und von irgendetwas sehr beeindruckt: »Nur ganz schnell. Ich habe gerade mit unserer Nachbarin geredet, als ich den gelben Sack runtergebracht habe«, sagt sie. »Also, sie kennt die Institution, in der du da jetzt gerade - wie sagst du - >hospitierst<. Sie meinte, das sei eine wirklich gute Adresse.« »Ja, ist es auch.« »Das habe ich nicht gewusst. Und sie meinte auch: wenn du da genommen wurdest, dann ist es schon eine große Auszeichnung.« Giulia findet es schade, dass gerade die Mutter, die so auf Gespräche setzt und die sich für eine besonders gute Freundin der Jugend hält, der Nachbarin mehr glaubt als ihren Kindern, dass sie noch nicht einmal merkt, dass sich vieles geändert hat und wie altmodisch ihre Vorschläge oft sind. Eigentlich kein Wunder, überlegt Giulia, sie hat sich das letzte Mal vor dreißig Jahren irgendwo beworben. Sie kann gar nicht Bescheid wissen, wie es heute läuft. Der Vater wird beim Zusammenstellen des Gerumpels ganz nostalgisch. Er staubt seinen alten Schaukelstuhl ab, in dem er, der Familienlegende zufolge, auf der Party eingeschlafen war, bei der er eigentlich Giulias Mutter hatte beeindrucken wollen. Er hatte dafür eine Spezial-Bowle angerührt, die er so oft probiert hatte, dass er schon betrunken war, bevor die ersten Gäste eingetroffen waren. Der großen Liebe hatte diese Szene keinen Abbruch getan. Im Gegenteil: Giulias Mutter erzählt heute noch, dass es sie wahnsinnig beeindruckt hat, wie dort ein junger Mann seelenruhig schlief, während um ihn herum das Fest tobte. »In dem Moment wusste ich, dass er etwas ganz 138
Besonderes und nicht angepasst ist. Das war damals wichtig für uns.« Als besonderes Gastgeschenk bringt der Vater deshalb ein kleines Überbleibsel der damaligen Zeit mit. »Als ich das gekauft habe, war ich so alt wie du heute«, sagt er zu seiner Tochter, während sie abends zusammen im Restaurant sitzen. Sie trinken ein Glas Rotwein nach dem anderen, und irgendwann fühlte sich der Vater wieder jung, fast studentisch. »Ist es dir nicht peinlich, mit mir in einer Kneipe zu sitzen?« Der Vater, der eigentlich vor Jahrzehnten mit dem Rauchen aufgehört hat, nimmt sich von der Tochter eine Zigarette und pafft mit. Dann legt er eine schmale Broschüre auf den Tisch. »Diese Flugschrift wollte ich dir geben, zur Motivation. Sie hat im Wintersemester 1968/69 zwei Mark gekostet. Einige Sätze habe ich unterstrichen.« Er liest etwas daraus vor und legt viel Bedeutsamkeit in seine Stimme, als ob es ein heiliger Text wäre. »Es müssten die unterdrückten Grundeigenschaften des Menschen endlich frei werden können. Die unterdrückten Fähigkeiten der gegenseitigen Hilfe, der Fähigkeit des Menschen, seinen Verstand in Vernunft zu transformieren und die Gesellschaft, in der er lebt, zu begreifen und sich nicht von ihr manipulieren zu lassen.« Er macht eine Pause. »Was ich sagen will, ist: Wir hätten uns das damals nicht gefallen lassen. Ihr müsst euch wehren! Ihr müsst protestieren! Wenn sie dich nicht einstellen, dann gehen wir an die Presse!« Giulia muss grinsen. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass solch eine Geschichte jemanden interessiert. Das ist doch nun wirklich keine Exklusiv-Story.« Aber der Vater lässt sich nicht beirren: »Wer seine Rechte nicht kennt, wird in diesem Land nicht ernst genommen. Ihr müsst aufhören, eure Miete zu zahlen. Ihr müsst euch nehmen, was euch zusteht. Besetzt Arbeitsplätze!« Der Vater zieht einen Zettel aus der Tasche: »Hier, das ist die Nummer von Onkel Hartmut. Ruf ihn doch mal an, welche Möglichkeiten es für dich gibt. Neulich hat er mir irgendetwas von einem RV-Nachhaltigkeitsgesetz vom 1.8.2004 erzählt.« Und dann waren sie zurück in Giulias Woh-
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nung gelaufen, leicht beschwingt vom Alkohol und auch von der neuen Idee, der Arbeitsinitiative. Als Giulia am Montag Linn in der Kantine zu einer Wochenendanalyse trifft, liegt ein dicker Hefter mit Kopien vor ihr. Sie hat schon am Vormittag einiges herausgefunden, während ihre Chefin bei einem Meeting war. »Das ist wirklich nett von meinem Vater«, findet Giulia, »dass er mich ein bisschen anschiebt. Natürlich wird meine Revolte eine ganz andere sein, als er sich das so vorstellt, es wird eine kleine, private Revolte, aber immerhin.« Sie erzählt Linn, was sie vorhat: »Information, Aktion, Proklamation.« Also zunächst die Lage untersuchen, dann einen Termin bei der Chefin geben lassen und schließlich die Ergebnisse auf den Tisch legen, eine Forderung aufstellen und bessere Bedingungen erkämpfen. Jetzt klingt Giulia auf einmal doch sehr theoretisch. »Gut, dass du so schlau bist, diesen Jargon zu verstehen«, sagt Linn. »Wie machen es bloß all die anderen Leute, die nicht wissen, wie und wo sie sich informieren können?« »Ja, das ist eigentlich ein Skandal«, bestätigt Giulia. Sie schlägt Linn vor, für die nächste Wahl eine PraktikantenPartei zu gründen, sie beide sähen doch als Bundesvorsitzende ganz ansprechend aus. Sie könnten die Straßen mit ihren lächelnden Gesichtern plakatieren, einen Werbespot drehen, sich flotte Sprüche ausdenken und endlich einmal realistische Forderungen aufstellen, genug potenzielle Wähler hätten sie ja. »Und wenn man dann noch die Minijobber, die Ein-Euro-Jobber, Doppel-Jobber, Arbeitslosen, freien Mitarbeiter, studentischen Hilfskräfte und die diversen Menschen in der Gleitzone mobilisieren würde, hätten wir eine ziemlich große Interessentengruppe.« Sie freuen sich jetzt schon auf die Wahlkampfreden, Tribünen, Wahlstände, Wahlband und Werbemittel, zum Beispiel Bäcker-Gutscheine, weil Praktikanten niemals in der Mittagspause versorgt werden und höchstens ironische 70 Cent Zuschuss zur Kantine bekommen, die Broschüre »Arbeitsrecht 140
Kompakt«, und natürlich sind sie gespannt auf die Wahlparty, bei der sie völlig erschöpft in der Menge stehen und einfach das Mikro herumgeben würden, damit jeder seine Stimme erheben könnte. Danach würden sie sich für ein Grundeinkommen und bessere Bildung einsetzen, eine pragmatische Lösung suchen, denn die Praktikanten wären ja sozusagen eine parteiübergreifende Fraktion, die sich weder an Zermürbungstaktiken, zynischen Angriffen oder erlahmenden Boykotten beteiligen, sondern praktikable und gerechte Lösungen finden würde. Eine wahre Reformpartei wäre das, strahlt Giulia. Langsam bekommt auch Linn bessere Laune. Sie hatte ein weniger aufmunterndes Wochenende in ihrem Heimatort. Ihr Vater saß depressiv vor dem Fernseher und betrauerte die frisch zurückliegende Trennung von seiner dritten Frau. Er hat große Schwierigkeiten, sich die Lebenswelt seiner Tochter vorzustellen. Er weiß zwar, dass Linn nun in einer großen Stadt lebt, aber mehr als »Wahnsinnsoper, Klasse-Ballett« fällt ihm dazu nicht ein. »Wenn ich diese Möglichkeiten und vielfältigen Angebote gehabt hätte, du, dann hätte ich mich gefreut!« Linn erklärt ihm, dann, dass sie sich die teuren Karten nicht leisten kann, weil sie keine Studentenermäßigung mehr bekommt, und dass es schwierig sei, einen Nebenjob zu finden, weil sie keine Studentin mehr sei, aber dass sie zum Glück die Aussicht auf eine halbe Stelle habe, als Vertretung, für sechs Monate, ein Anfang. Da sagt der Vater nur »Ja, wir werden sehen« und wendet sich wieder dem Politmagazin zu. Schweigen. Er ist enttäuscht, dass seine Tochter keine ganze Stelle findet - aber er fragt auch nicht nach, warum sie denn so erfreut über eine halbe ist. Sein Maßstab ist ein anderer. Eine Zeit lang hat er versucht, ihr zu helfen, und aus Spaß eine virtuelle Firma mit ihr gegründet, damit sie mal etwas Praktisches lernt. Allerdings blieb sein sonstiger Einsatz eher wirklichkeitsfern. Einmal traf er auf einer Jubiläumsveranstaltung den Leiter des regionalen Kulturamtes, der ihm von den Neuerungen der örtlichen Behörde erzählte, 141
den vielen Plänen, die sie hätten, besonders gerne würden sie übrigens »Kinder der Stadt« einstellen, die in den Museumsbereich gehen wollten. Ihr Vater vergaß nachzufragen, bei wem sich so ein Kind der Stadt, wie zum Beispiel seine Tochter, denn bewerben müsse. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie er danach zur Entschuldigung vorgab, dass Linn, die sofort nach der Schule aus der Heimatstadt weggezogen war, auf die abstruse Idee kommen könnte, ausgerechnet wieder in der Heimatstadt zu arbeiten. Als Linn entgegnete: »Aber ich suche doch landesweit, wenn nicht sogar weltweit! Wieso sollte ich dann nicht dort etwas suchen, wo ich herkomme?«, verstand der Vater ihre Aufregung nicht. Für ihn war sie eine dynamische junge Frau, die Besseres verdient hatte, als wieder zurück in die Provinz zu gehen. Außerdem hätte sie diesen Wunsch ja einmal früher äußern können. »Du kennst doch meine Situation«, Sagte Linn. »Ich kann doch nicht wissen, wo du Leute kennst und wie deine Netzwerke sind.« Der Vater hatte noch nie über Netzwerke nachgedacht und fügte als letzte Bitte um Verständnis hinzu, dass es ihm unangenehm sei, seine Geschäftspartner und Kollegen so auszufragen. »Das kann ich verstehen«, antwortete Linn. »Das ist mir auch unangenehm. Aber mir bleibt nichts anderes übrig. Egal, wohin ich gehe und wo ich herumstehe, muss ich Leute ausquetschen und mich feilbieten.« Als sie ihm das sagte, war ihm sogar das peinlich: zu erfahren, dass seine Tochter sich so anbiedern muss. Mit der Mutter lief es am Wochenende nicht unbedingt erfolgreicher, erzählt Linn. Als sie ihr die Neuigkeit über die potenzielle Teil-Stelle mitteilen wollte, saß die Mutter gerade im Auto. Der Empfang war sehr schlecht oder das Headset saß locker, sodass sie nicht lange reden konnte. »Wo bist du denn gerade?«, fragte Linn. »Ich fahre eine wunderschöne Küstenstraße entlang.« »Wann erreiche ich dich denn mal in Ruhe?« »Schwierig. Ist es etwas Dringendes?« »Nein, nichts Schlimmes.« »Ich habe gerade eine interessante Sendung im Radio gehört, da war wieder so eine starke Frau!
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An denen solltest du dir mal ein Vorbild nehmen! Bussi, mein Schatz. Hab dich lieb.« Bussi, dachte Linn, und sonst noch was? Sie glaubt, sie kümmert sich, aber ihre Hilfe ist nicht mehr als ein gut gemeinter Spruch. »Die meisten Eltern sind eigentlich völlig unmodern, obwohl sie es sich nicht eingestehen wollen«, analysiert Giulia. »Sie schlagen zwar vor, wie man es am besten machen soll, fühlen sich dann aber überfordert und trauen sich nicht, Fragen zu stellen. Geben Ratschläge auf der Linie von früher, völlig an der Zeit vorbei.« »Immerhin glauben sie an uns«, sagt Linn, »auch wenn sie es manchmal nicht so zeigen können. Mein Vater wiederholt immer: >Du musst weitermachen, weiterlaufen, wie auf einer Schiene, deinen Weg gehen, dich nicht irritieren lassen, dich nicht ablenken lassen, auch wenn dir etwas im Weg steht.<« Giulia ergänzt: »Sei risikobereit! Setz dich ein! Verlass dich auf dich selbst!« Linn schreibt die letzten Sätze mit, als vorläufiges Wahlprogramm der »Berufstätigen, aber nicht Erwerbstätigen-« oder der »Geringfügigkeits-Partei«. Giulia hat sich vorgenommen, die Gelder vom Staat zu beantragen, die ihr zustehen. Es ist ja nicht immer so gewesen, dass die Eltern einen gleitenden Einstieg ins Arbeitsleben mitfinanzierten. Wenn der Staat sich nicht um Arbeitsplätze kümmert, dann soll er zahlen, dann soll er durch die steigenden Sozialausgaben merken, wie viele Menschen eigentlich betroffen sind. Sie mächt zurzeit zum Ausgleich eine neue Sportart, eine Mischung aus Kung Fu und Tai Chi im Dreivierteltakt mit Elementen eines neuseeländischen Eingeborenentanzes, der den Gegner einschüchtern soll. Dabei muss man rhythmisch auf den Böden stampfen und Grimassen schneiden. Weiterhin dient dieses Bewegungspotpourri der Selbstbeherrschung, dem gesteuerten Einsatz von Emotionen und dem Aggressionsabbau. Denn der Tag, an dem sie ihren Arbeitgeber mit den neuen Erkenntnissen und der aktuellen Gesetzeslage konfrontieren will, rückt 143
immer näher. Giulia will möglichst locker in diesen Kampf hineingehen und boxt überschüssige Energie kraftvoll in die Luft weg. Überraschenderweise hat sie der Konzernchef vorgeladen - er will die Sache höchstpersönlich klären. Giulia kennt ihn nur aus den Medien. N u r einmal stand sie zufälligerweise mit ihm im Lift, als er beige geschminkt und mit pinken Lippen aus einer Politrunde kam. Es überraschte sie, dass er in Wirklichkeit eher klein und dicklich war, ganz niedlich und sympathisch eigentlich - auf den Bildschirmen wirkte er souverän und einschüchternd. Natürlich ist sie auch sehr überrascht, dass ihre Terminanfrage nicht abgeblockt, sondern sofort umgesetzt wird. Vielleicht will der Konzern Hierarchien abbauen? Vielleicht will er ein Controlling der Praktikantenplätze durchführen? Vielleicht ist es einfach ein Versehen? Ihre direkte Vorgesetzte ist etwas bestürzt über die Protestaktion der jungen Mitarbeiterin: »Willst du denn gar nicht bei uns bleiben? Hat es dir bei uns nicht gefallen?«, fragt sie Giulia enttäuscht. Darum geht es doch gar nicht, denkt Giulia. Sie hat einen weiteren Abend mit 300-seitigen Kommentaren zu 400Euro-Jobs und Auszügen aus den Sozialgesetzbüchern III-VI vor sich, um sich noch einmal alle Argumente zu vergegenwärtigen. »Man müsste Kurse für diese T h e m e n anbieten«, überlegt sie. »Vielleicht starte ich ein solches Miniunternehmen, falls meine Forderungen scheitern. Das wäre eine sichere Einkommensquelle mit einer steigenden Zähl an Kunden und Bedürftigen.« Der Konzernchef hat sie für zehn Uhr bestellt. Giulia muss nicht lange im Vorraum warten, obwohl sie gerne noch ein bisschen mit den herumstehenden Geschicklichkeitsspielen geklappert hätte, Kugeln, die auf einer schiefen Ebene zu einem Quadrat angeordnet werden müssen. Er begrüßt sie mit: »Hatten Sie ein schönes Wochenende?« und Giulia muss sich das Lachen verkneifen. »Wie kann mein Wochenende schön gewesen sein, wenn ich selber ausrechnen muss, was ich kos144
te?«, fragt sie sich. Aber dann setzt sie sich ganz ruhig auf einen seiner schwarzen Designersessel, holt ihre Tabellen heraus, die Paragraphen und Absätze, breitet sie auf dem furnierten Abstelltisch aus, sicherlich ein Erbstück, und versucht, ganz sachlich und trocken zu klingen: »Ich habe eine Frage zu meinem Praktikantenverhältnis«, sagt sie. Ihr Gegenüber lächelt. Sein Mund zieht eine parallele Kurve zu den Halbmonden auf seiner Seidenkrawatte. Er ahnt nichts Schlimmes: »Wollen Sie früher aufhören? Wir haben eine volle Reservebank - Sie könnten schon heute -« »Nein, es geht darum, dass ich gehört habe, dass Sie für mich Sozialversicherungsbeträge bezahlen, diese Pauschalbeträge für Praktikanten, die nach dem Studium länger als zwei Monate Vollzeit unbezahlt arbeiten. Ich wollte mich dafür bedanken und Sie bitten, mir eine schriftliche Bestätigung darüber zu geben - für meine Unterlagen. Sie werden verstehen, dass ich, wenn ich schon unbezahlt arbeite, wenigstens sichergehen möchte, dass ich ein wenig versichert bin.« Sie sieht, wie sich ihr Gegenüber zusammenreißen muss, um nicht loszubrüllen: »Was haben Sie sich denn da ausgedacht?« Giulia bleibt ruhig: »Das habe nicht ich mir ausgedacht, sondern der Gesetzgeber, die Bundesregierung. Darf ich aus Ihrer Reaktion schließen, dass Ihnen diese Bestimmung nicht bekannt ist und dass Sie folglich die Pflichtbeträge noch nicht bezahlt haben?« Er schweigt. Auf dem Gang gehen zwei Mitarbeiter vorbei und unterhalten sich über ihre Uberstunden. »Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?«, will Giulia nach einer Weile wissen. Sie hat vor allem Vertrauen zu dem monochromen Gemälde gefasst, das links von ihr hängt und dessen Rot von innen strahlt. »Bitte«, sagt er. »Darf ich davon ausgehen, dass Sie zukünftig die Versicherungsbeiträge für mich abführen?« Eigentlich hält der Chef es für eine Unverschämtheit, wie sie sich erdreistet, ihm, dem Boss, die Gesetzeslage zu erklären. Aber was bleibt ihm anderes übrig, als einzulenken. Er möchte nicht, dass seine Finanzabteilung durchleuchtet wird. Das gibt er verständlicher-
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weise in diesem Moment nicht zu, sondern sagt, es sei ja heute alles so kompliziert, man müsse ja wirklich für jede Frage einen Extraspezialisten einstellen, wenn er allein an die EU-Richtlinien und die Umsetzung in unser Rechtssystem denke, dann werde ihm schon ganz anders, Giulia müsse schon etwas Verständnis haben, dass er sich nicht um alles kümmern könne. »Wissen Sie was«, sagt er dann, »die Personalabteilung wird sich bei Ihnen melden. Und weil Sie nun schon einmal bei mir sind, möchten Sie nicht auch über inhaltliche Dinge sprechen?« Giulia ist überrascht. »Hätten Sie«, erklärt er, »Interesse, auch andere Abteilungen kennen zu lernen? Wie lange sind Sie denn noch hier?« Jetzt hat er wieder Oberwasser, denn ein altbewährter Personaltrick hilft ihm nun aus der Klemme. Wenn man jemanden loswerden will, dann befördert man ihn. Giulia ist ganz angetan und erwähnt, dass sie sich eigentlich für eine andere Abteilung beworben hätte und dass sie zum Abschluss gerne ein wenig wechseln würde. Gut, er würde das notieren, sehr schön, befindet der Chef, und jetzt müsse er sich entschuldigen, er hätte noch andere Termine. Er gibt Giulia zum Abschied nicht die Hand, sondern öffnet ihr die Tür, als ob er sie wie eine lästige Fliege hinausscheuchen wollte. Giulia geht erhobenen Hauptes aus dem Raum. Natürlich meldet er sich nicht persönlich. Er schickt die Sekretärin vor, die die eingeforderte Bestätigung vorlegt. »Wie haben Sie das nur geschafft?«, fragt sie. Denn natürlich darf Giulia bleiben und sie bekommt ihre Forderungen erfüllt - mit der einzigen Bedingung, in einer anderen Abteilung ihre Restzeit abzudienen. Damit ist Giulia erst einmal zufrieden. Ihr Sieg ist ein symbolischer. Sie weiß, dass sich ihre Attacke herumgesprochen hat, dass nun ihre Hartnäckigkeit bewundert wird und dass man sie auf den Gängen erkennt und, wenn schon nicht grüßt, dann wenigstens hinter ihr her starrt. Sie ist jetzt eine Büroflur-Matadorin. Und damit sind auch ihre Chancen auf eine bessere Stelle gestiegen - weil sie sich aus der Masse 146
der Stummen heraushebt. Weil man sie nun unter den vielen Bewerbern und möglichen Arbeiterinnen als die Frau mit dem besonderen Kennzeichnen ausfindig machen kann. »Wir suchen die Kandidaten mit dem Sahnehäubchen«, hatte ihr einmal ein Firmenchef gesagt. Als sie Nils abends anruft, um ihm die Neuigkeit zu erzählen, bleibt er verhalten: »Hast du gut gemacht, wirklich, aber wie geht es jetzt weiter? Ziemlich egoistisch, nur sich selbst zu helfen.« Und Giulia kontert: »Ich werde diesen Rechtserfolg weiter in die Welt tragen. Das ist erst der Anfang meiner Mund-zu-Mund-Politik. Kommst du vorbei, bei mir gibt es heute eine Sahnetorten-Feier? Und bring eine von deinen Platten mit - wir müssen lauter werden!«
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Junge M ü t t e r
Jeden Monat verliert Giulia ein Ei, wie ein Huhn, das nicht aufhört zu legen. Was für eine Verschwendung, findet sie. Noch gemeiner ist, dass diese Eier fast unsichtbar sind, kleiner als Stecknadelköpfe, die bei irgendeinem Klogang aus ihr herausgespült werden, in die Kanalisation einlaufen und unentdeckt von Ratten verschluckt oder von Kläranlagen herausgefiltert werden. Sie hat herausgefunden, dass ein Mädchen von der Pubertät an noch etwa 400000 umhüllte Eizellen in den Eierstöcken trägt - von ursprünglich einer Million bei der Geburt -, so genannte Primordialfollikel, von denen nur ein Bruchteil den Eisprung erlebt. Jedes Mädchen ist also eine Art mobiler Eierwärmer, eine Person, die eine Vielzahl möglicher Personen beherbergt, vielleicht brave Bürger, fiese Gesellen oder Weltverbesserer, auf jeden Fall Menschenmassen, die locker die Bevölkerung mittelgroßer Städte und Landstriche stellen könnten. Sie überlegt, wie viele potenzielle Kinder sie schon verloren haben mag, Kinder, die sie nie kennen lernen wird. In diesen Momenten wird sie richtiggehend wütend auf den Zufall, der nur einen Bruchteil von Existenzen entstehen und den Großteil zugrunde gehen lässt. Wenn sie zu lange darüber nachdenkt, fühlt sie sich auf einmal auch ganz klein, eine zufällige Lebendigkeit in einem Riesenweltall, wahrscheinlich völlig zurückgeblieben hinter anderen galaktischen Wesen, die schon längst in zehn oder mehr Dimensionen denken können. Sie selbst kann sich noch nicht einmal vorstellen, dass auf der Welt das 148
dreidimensionale Kneten erforscht wird - eine Technik, über die ihr Bruder Pablo seine Diplomarbeit schreiben und mit der er neue Herstellungsverfahren erfinden will. Denn er glaubt, die Zukunft liegt nicht in der Reproduktion sondern in einer durch die Wissenschaft verfeinerten Produktion und in einem durch Bildung erlangten besseren Informationsstand. Giulia hat, was das Wachstum, genauer gesagt die Fortpflanzung angeht, auch eine Art Gedankengebäude entwickelt. Sie hat sich vorgenommen, keine Dummheiten mehr zu machen, keine Kurzeskapaden der Liebe, keine Langeskapaden der Leiden, keine Affären mehr. Die nächste Beziehung wird ehrlich, ernsthaft und ewig. Sie erzählt Nils, wenn er sich um ihr Alleinsein sorgt, von Sam, von seinen Einsichten, seinem Auto und seiner festen Anstellung. Dass sie sich schon mehrmals getroffen haben. Laut amerikanischem Flirt-Codex dürften sie sich nach dem dritten gemeinsamen Ausgehen küssen, aber Giulia möchte es langsam angehen. Außerdem ist er zwar aufmerksam, aber nicht auffordernd. Sie möchte so lange warten, bis er deutlicher wird. Er schickt Fotos von seiner Wohnung, alberne Stofftiere und Postkarten von den Orten, an denen er arbeitet. Wenn er es ernst meint, sagt Giulia, würde sie sogar zu ihm ziehen. »Nicht sofort und in dieselbe Wohnung, aber in Zeit- und Sichtnähe. Mal einen klaren Schritt tun. Mal etwas aufbauen.« Das übliche Überstürzen, das Reinspringen und Reingeworfenwerden in fremde Betten, das doch meist bloß zum Reiben von Haut führe, nicht zu wirklicher Nähe, das wolle sie jetzt vermeiden. »Magst du ihn denn?«, fragt Nils. »Ich fühle mich besser mit ihm als ohne ihn.« »Das nenne ich pragmatische Romantik. Irgendwann sucht ihr Frauen nicht mehr attraktive Partner, sondern zuverlässige Papas. Auf einmal haben Männer bei euch Chancen, die ihr noch vor einigen Jahren als spießig, langweilig und normal verschmäht hättet. Jetzt ist nur noch das Durchschnittliche gut genug. Ihr verwandelt euch in heimliche Muttis, die sich an den Auslagen der Kinder149
bekleidungsgeschäfte nicht satt sehen können. Wie süß, diese kleinen Schuhe, und hier, dieses Mützchen.« Nils lispelt die letzten Sätze und bespritzt Giulia mit der Miniwasserpistole, die auf ihrem Tisch herumliegt. Sie putzt sich wortlos das Wasser von der Brille. Denn sie fühlt sich eigentlich auch ziemlich normal und unheimlich mütterlich. Sie weiß, dass sie eigentlich schon zehn Kinder haben könnte. In jeder der zehn mehr oder weniger kurzen Beziehungen, die sie durchlaufen hat, kam ein Schwangerschaftstest zum Einsatz, weil eben doch mal was schief ging mit der Verhütung. Irgendwann gab es immer den Gang zur Apotheke oder zur Drogerie, die Beratung durch versierte Fachverkäuferinnen, das Abwägen von Preis- und Markenunterschieden, von verschiedenen Gütesiegeln, die Wahl eines neuen, teureren Tests, der nach dem Missgeschick zu 99 Prozent sicher Auskunft geben soll, der Gang auf die nächste Toilette, oft ein stinkendes, öffentliches Klo, weil die Zukunftsfrage sofort beantwortet werden musste, weil sie nicht warten konnte, weil sich das Leben so schnell ändert, wenn ein doppelter rosa Streifen, ein roter Punkt oder ein Pluszeichen auf dem Plastikstab erscheint, dann das Schließen der Klotür, halb mechanisch, halb rituell, das hektische Aufreißen der Verpackung, das Durchlesen der Gebrauchsanweisung, obwohl sie meinte, die Sätze schon zu kennen, aber seit dem letzten Mal wurde der Text verändert, vielleicht auch die Formel der Nachweisreaktion, dann das Herunterziehen der Hose und Balancieren über der Kloschüssel, damit der Urinstrahl auch wirklich einige Sekunden auf das Testfenster fiel, der Blick auf die Uhr. Das Herzklopfen der nächsten Minuten. Die Einsamkeit dabei. Das Technische und Industrielle an der Ja- oder Nein-zum-Kind-Frage. Giulia hat diesen Gang immer allein ausgehalten und aushalten müssen, weil der eventuelle Vater nicht Vater sein oder werden wollte, das hatte er betont, er wollte keine Kinder, die Gründe waren mannigfaltig. »Was ist denn so schlimm daran, Nils«, sagt sie, »wenn ich jetzt jeman150
den suche, der mit mir ein Kind will?« »Wenn du das in dieser Art und Weise verkündest, schlägst du selbst den kindwilligsten Vater in die Flucht.« Nils steckt seinen Kopf unter den Tisch, weil Giulia ihn jetzt bespritzt. Von dort unten schwingt sehr viel väterliche Sorge in seiner Stimme mit: »Ich will doch nur das Gute für dich, meine Liebe, meine Beste.« Wie er innerhalb seines Privatlebens zum Nachwuchsthema steht, wird einige Wochen später deutlich. Giulia ist überrascht, wie schnell Nils von einem Einzeldasein zu einem Doppeldasein umschwenken kann. Denn auf einmal hat er hat eine enge Freundin, Margarete. Er hat Giulia nie von ihr erzählt. Aber eigentlich kennen er und Margarete sich schon lange, seit dem Grundstudium, waren mehrmals zusammen im Urlaub, mit Rucksack und Zelt, haben sich am Lagerfeuer sentimental in den Armen gelegen und von ihren großen verflossenen Lieben erzählt, sich gestanden, dass sie vor Jahren einmal in den anderen verknallt waren, Weinkorken nach den unsichtbaren, lauten Grillen neben der Hütte geworfen und sich mit einem geteilten Stück Hausmacher-Blutwurst auf einem Heuhaufen in einem Stoppelfeld ewige Freundschaft geschworen. Sie zieht bei ihm ein, weil sie nach einer gescheiterten Langbeziehung in einer anderen Stadt neu anfangen will. Natürlich nimmt Nils sie gerne in die Arme und erst einmal in seiner Ein-Mann-Bude auf, bis sie etwas Eigenes gefunden hat. Sie will die Hälfte der Miete zahlen, das kann nicht schaden, und Nils weiß, dass sie nicht schnarcht. Also teilen sie sich seinen platt gelegenen Uralt-Futon. Margarete hat die Pille abgesetzt, seitdem mit ihrem Freund Schluss ist. Sie will nicht täglich Chemie schlucken, wenn sie nicht täglich eine Beziehung hat. Sie gewöhnt sich daran, dass Nils vergisst, den Käse zurück in den Kühlschrank zu stellen. Er lässt es ihr durchgehen, dass sie den Flur mit ihren Schuhen blockiert. Nils verleugnet sie, wenn ihr Exfreund anruft. Margarete bügelt Nils selbst geschneiderte Flicken auf die 151
durchgescheuerten Hosen. Manchmal putzen sie sich nebeneinander die Zähne. Fast wie damals auf der Erstsemesterfahrt, als Nils sie fragte, ob sie nicht auch schon immer einmal wissen wollte, wie es sei, mit Zahnpastaschaum im Mund jemanden zu küssen und sie es lachend versucht hatten. Natürlich hat Margarete nicht damit gerechnet, dass die tägliche Dosis Nils ihr nun wieder so nahe kommen würde, dass sie auf einmal schwanger ist. Aber was passiert ist, ist passiert. »Ist ja nichts Schlimmes«, sagt Margarete, »oder?« Und Nils findet einfache Worte: »Das ist ja doll.« Er freut sich wirklich und legt immer wieder seine Hand auf ihren Bauch, dem man noch nichts ansieht. Margarete ist sich nicht sicher, ob dieses Kind jetzt wirklich in eine stabile Familiensituation hineinrutscht und ob sie das Kind behalten will. Aber sie mag Nils, er kann gut kochen, er ist witzig und großzügig. Er hat von der gesparten halben Miete eine neue Matratze gekauft, »damit meine beiden Süßen besser ruhen«, wie er sagt. »Im nächsten Monat kaufe ich das Bettgestell dazu.« »Wie denkst du dir das eigentlich mit uns?«, fragt Margarete. »Bald bin ich so dick, dass ich nicht mehr arbeiten kann. Und du mit deinen paar hundert Euro?« »Ich habe das bisher alleine auch irgendwie geschafft. Also schaffen wir es auch zu zweit. Und zu dritt.« Nils macht an Margaretes Bauchnabel einen Hörtest. »Von hier kommen keine Proteste.« Weil Nils mit einer ungewohnten Ernsthaftigkeit an die Kinderszenen herangeht, bleibt Margarete zuversichtlich bei ihm wohnen, wird immer runder und schläft viel. Wenn ihr übel ist, macht Nils zur Ablenkung Vorschläge für Kindernamen: »Wie wäre es mit Peter Hartz, wenn es ein Junge, und Riester-Rente, wenn es ein Mädchen wird?« Die werdende Mutter ist ganz bleich im Gesicht. Aber das ändert sich bald. Irgendwann wird die Haut von Schwangeren rosig. Nils hat das irgendwo gelesen, weil er alles miterleben und zu seinem Kind schon eine pränatale Vaterbindung aufbauen will.
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Dass Mütterbindungen eng sind, weiß Giulia sehr genau. Sie bekommt regelmäßig Besuch von ihrer Mutter, die eingemachtes Gartenobst und den Hauswein von einem ökologischen süddeutschen Winzer mitbringt. Sie lädt Giulia zum Essen und zu einer Einkaufstour ein. Die Mutter entscheidet, was für ihre Tochter notwendig ist, zum Beispiel ein großer Topf, um auch einmal große Mengen an Suppe kochen zu können, falls Gäste kommen, oder Vorhänge wegen der Privatsphäre oder eine Garderobenstange, damit die Jacken nicht auf dem Boden herumliegen. Giulia nimmt die Angebote an, aber modifiziert sie ein wenig: statt des Topfes möchte sie einen Wasserkocher, statt der Vorhänge eine Picknickdecke und statt der Garderobenstange einen neuen Duschkopf. Im Einrichtungshaus zerrt Giulia ihre Mutter immer wieder vom ausgestellten Kindermobiliar fort. »Weißt du, das könnte so schön sein, mit dir, meiner Tochter, und deiner Tochter einkaufen zu gehen. Wie die da drüben, die Großmutter ist ganz stolz auf ihre Enkelin, hat sie nicht auch ihre Haare, schau mal, diese dünnen Strähnen, ganz ähnlich. Und hier, das ist ja schick: Diese Babyschaukel würde ich sofort mitnehmen. Du hast auch früher so gerne geschaukelt. Erinnerst du dich?« Giulia sagt: »Nein. Wenn wir jetzt mal bitte in eine andere Abteilung schaukeln könnten, da ich mich für Küchenmesser interessiere.« Normalerweise muss Giulia ihre Mutter in solchen Momenten nur daran erinnern, dass sie doch damals für die Selbstbestimmung der Frau gekämpft hat, für Verhütung, für die Legalisierung der Abtreibung, für die Gleichberechtigung in Beruf und Familienleben, dass sie doch eine aufgeklärte Frau sei, die doch jetzt nicht eine Generation später in dieselben Stereotypen zurückfallen könne, dass Giulia sich eben Zeit lasse, sie müsse auf den Richtigen warten, vor allem auf den richtigen Zeitpunkt, sie könne doch noch nicht einmal für ihr eigenes Einkommen sorgen, wie solle sie da für ein anderes Lebewesen Verantwortung übernehmen, das würde doch die reinste Wackelpartie, sie lasse sich da nicht reinreden, sie wolle natürlich Kinder, das sei doch
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überhaupt nicht die Frage, aber wie denn bitte, ohne Job, ohne Sicherheit, ohne Zukunftsausblicke und vor allem ohne einen festen Vater, einen, der immer da ist. Ihre Mutter blättert durch Teppichproben, kariert-geblümt, altrosa-rüschig, zackig-geometrisch - von irgendeinem Jemand sehr intelligent designt. »Ihr seid heute viel weiter«, sagt die Mutter, »wenn ich sehe, welche Karrieren euch offen stehen. Aber irgendwie steht ihr euch selbst im Weg. Ich mochte bisher alle deine Freunde, falls du sie mir überhaupt vorgestellt hast. Ich komme da oft gar nicht mit. Jeden hätte ich gerne als Schwiegersohn gehabt. Aber du weißt selbst am besten, was gut für dich ist. Ich möchte ja nur, dass du glücklich bist.« Giulia würde gerne von Sam erzählen, von dem Flummi, den er ihr nach dem Ausflug in den chinesischen Garten aus einem Automaten gezogen hat, von seinen wöchentlichen Anrufen und von ihrem entspannten, ruhigen Gefühl, wenn sie an ihn denkt. Aber sie sagt nichts. Sie möchte das kleine Geheimnis für sich behalten. Sie hat Angst, dass es, wenn sie es herausposaunt, in sich zusammenschrumpft. Dass, wenn ihre Mutter nachfragt, von den möglichen Hoffnungen nur eine kleine Bekanntschaft übrig bleibt, eine ganz alltägliche, freundschaftliche Sache, nicht mehr. Stattdessen greift sie an der Kasse in eine Kiste voller Holzenten. Ökologisches Spielzeug erscheint ihr wie ein Versprechen an alles Kommende, wie eine Absage an die schnell produzierte Plastikware, wie ein Nein zu billigen, unter ausbeuterischen Bedingungen hergestellten Objekten, wie ein Ja zu nachwachsenden Rohstoffen, zu den echten Dingen, denn eine Ente mit Küken, die ihre Mutter nie aus den Augen verlieren und fröhlich quaken, erscheint ihr als das perfekte Idyll für Zusammenhalt und gemeinschaftliche Munterkeit. »Was willst du denn damit?«, fragt die Mutter. »Das ist für Nils' Stammhalter. Falls das Baby zu früh kommt, hab ich schon ein Geschenk.« »Und wieso kaufst du dann zwei?« »Als Reserve.« Margarete wird ebenfalls bestaunt wie ein Geschenk. Schwan154
gere Frauen sind so selten geworden, dass sie die Bewunderung und das Mitgefühl aller Umherstehenden auf sich ziehen. Ihre Wölbung wird zu öffentlichem Territorium. »Darf ich mal fühlen?« Nils erzählt fasziniert von den kleinen Füßen, die man schon erspüren kann, die durch die Bauchdecke treten, besonders wenn russische Folklore läuft. Das erste Ultraschall-Bild, auf dem man außer einem Muster aus grauen und weniger grauen Flecken nichts erkennen kann, hat er sich rahmen lassen. Nils trägt zusätzlich eine Kopie des Bildes im Portemonnaie mit sich herum. Es soll ihm Glück bringen. Während sich Margarete von allen Seiten wie eine Gräfin oder eine Kranke hofieren lässt, je nach Stimmung, wenn sie Nils' Freundinnen herumkommandiert und sie ihr dieses Plaid dort und jenes Wasserglas da bringen sollen, während sie von ihrer Umgebung erwartet, ihre schlechte Laune zu entschuldigen und zu erlauben, so unsympathisch wie möglich zu sein, lässt sich Nils davon nicht verunsichern. Er will jegliche Belastung von ihr fern halten. Er hält zu seinem Gretchen, wie er die werdende Mutter jetzt verliebt nennt. Nils verrät Viktor: »Mit Grete werde ich das ganze Programm abspielen. Punkt eins: Ich gründe eine Familie, das ist schon gebongt. Punkt zwei: Ich kaufe ein Haus mit Garten.« Er stellt sich vor, wie er morgens mit dem Geschrei des Hahnes aufwacht, wie er jeden Tag frisch geernteten Schnittlauch über den Quark streut, wie sein Kind zwar einmal in den Teich fällt, aber dann nie wieder, weil es sofort im nahe gelegenen Waldbad tauchen und schwimmen lernt, wie es ihm bei der Aussaat von Salat, Kartoffeln und Zucchini hilft, wie es mit sechzehn seinen Motorroller-Führerschein macht und über die Landstraßen pest - wie es ein naturnaher und gesunder Mensch wird, da es ein naturnahes, gesundes Leben führt. Natürlich in der Nähe einer Großstadt wegen Kultur und so. Grete und er könnten aus den Früchten, die sie vom Baum gepflückt hätten, Chutneys kochen. Und ob Viktor schon einmal echten Holunderblütensirup getrunken habe, das sei vielleicht lecker! Draußen vor dem Fenster 155
fährt ein Bus mit grollendem Motor an. Dazu wackelt das Haus, als ob es den Kopf schütteln wollte. Viktor sagt lieber nichts. Er hat sich gestern mit Linn gestritten. Sie will, dass auch er mithilft und sie daran erinnert, dass sie ihre »Anti-Baby-Tablette« nehmen muss, dass er sie auch mal in seine Tasche mit einsteckt, das sei schließlich im gemeinsamen Interesse. Sie möchte nicht alleine an alles denken. Viktors Eltern stehen kurz vor der Pensionierung. Im Gegensatz zu Viktor denken und planen sie ziemlich viel. Urlaube, Sprachkurse, sportliche Aktivitäten. Sie wollen, dass der Sohn endlich sein Kinderzimmer ausräumt, weil daraus ein Fitnessraum für den Vater werden soll. An Viktor zieht seine Jugend vorbei. Das nächtliche Lernen für Biologie-Klausuren, das Schreiben von nicht abgeschickten Liebesbriefen, das linkische Herumsitzen auf dem Fußboden mit seiner ersten Freundin Lotta, die Wodka-Lemon-Party mit seinen Freunden, nach der sich alle übergeben mussten. Er kommt sich auf einmal so alt vor. Außerdem soll er sich entscheiden, ob er das Kasperletheater noch weiter aufbewahren will, das so viel Stauraum wegnimmt - denn man könnte es ja auch den Kindern der Nachbarn schenken. Es werde ja wohl noch einige Zeit dauern, bis Viktor Enkel in die Familie einbringt. Wenn überhaupt. »Wir könnten so nett gemeinsam Urlaub machen«, träumen die Eltern. »Wie lange wollt ihr eigentlich noch warten? Bis wir alt und klapprig sind? Wovor habt ihr Angst? Wir hatten es auch nicht immer leicht. Na ja, wir wollen uns nicht einmischen, ist ja eure Entscheidung. « U m Viktor den Druck zu nehmen, sagt Linn ganz nüchtern: »Woher willst du überhaupt wissen, dass du zeugungsfähig bist? Ich würde mich heute auf nichts verlassen.« Es sind schwierige Zeiten. »Wir müssen zusammenhalten«, beschwört Viktor Linn. »Wir könnten uns zum Beispiel verloben.« »Sehr romantisch, dieser Konjunktiv.« »Oder gleich heiraten? Willst du meine Frau werden?« »Das gehört doch überhaupt nicht zusammen.« Linn denkt daran, wie viele verheiratete Paare heute Kinder 156
aus unterschiedlichen Elternkonstellationen haben. »Wir müssen es ja nicht gleich tun«, sagt Viktor, »aber perspektivisch gesehen wäre es möglich, meine ich.« Linn versteht nicht ganz und Viktor redet sich schnell heraus: »Ich wollte nur mal deine Reaktion sehen.« Am liebsten ist es Linn, wenn Viktor ungeplant und ungehemmt agiert. Wenn er mal seinen Kopf verliert und alle Sicherheitsgurte ablegt. »Froschperspektive oder Vogelperspektive?«, fragt Linn. »Katzenperspektive«, sagt Viktor und fängt an zu schnurren. »Also erst einmal ein Kuscheltier besorgen«, sagt Linn. Sie denkt daran, wie ihr Vater neulich auf einem Familientreffen zu einer Tante witzelte: »Wir haben noch einige Würfe frei.« Recht dreist, findet Linn, aber genau das ist es, ein Glücksspiel mit Risiko. Grete hat entbunden, der kleine Konstantin ist ein properer Brocken, der wenig schreit und lieb lächelt. Grete und Nils werden Experten für Spielplätze, für das Angebot der Klettergerüste, die Sauberkeit des Sandes und die Gemütlichkeit der Bänke. Sie haben viele neue Bekannte gefunden, andere junge Mütter und Väter, mit denen sie braun gewordene, geschälte Apfelstücke, Biomöhren, Butterkekse und Sorgen über Säuglingskrankheiten teilen. Vor allem kennen sie sich mit Babymoden aus. Die Trendeltern mit ihren einzelnen Trendkindern sind vor allem gut angezogen und stets gut gelaunt. Sie sitzen zum Brunchen in verrauchten Cafes, die Einzelkinder sitzen daneben und können schon altklug Wasser- von Honigmelone unterscheiden, Am liebsten würden sie draußen auf dem Spielplatz sein, aber die Eltern haben keine Lust aufzupassen. Sie sagen: »Just go and play. We'll come later.« Sie sprechen morgens Englisch und nachmittags Spanisch mit dem Kind, das früh gefördert wird. Es muss alle Chancen der Welt erhalten und später berühmt werden. Die Kinder heißen vorausschauend wie Helden aus kultigen Fernsehserien, Renaissance-Bildhauer, vergessene Weltliteraten oder Resistance-Kämpfer und sind ein lebendiger Beweis 157
für das Hipness-Gefühl der Eltern. Selbst die Kinderwagen werden nach Trendfaktoren ausgesucht. Da gibt es dieses knallrote Sportmodell, das zu den Lederstiefeln der Mutter passt. Andere finden antiquarische Fundstücke stilvoller - die dann so schwer und sperrig sind, dass man sie keine Treppe hochtragen kann. Auch wenn Giulia über diese Eltern Witze macht, wenn sie Nils auf seiner Lieblingsbank vor der Wippe besucht, bewundert und beneidet sie sie insgeheim. Sie haben zwar immer Flecken und Essensreste auf den Designerpullis und dreckige Knie, weil sie mit ihren Kindern auf dem Boden herumkrabbeln, aber sie wirken zufrieden. Sie schickt eine anregende SMS an Sam: »Wann kann ich dir einen kleinen Ausgleichsflummi schenken?« »Wieso rufst du ihn nicht an?«, fragt Nils. »Man kann am besten telefonisch Kontakt halten. Bisschen quatschen und so.« Er hat eine sehr optimistische Phase. Das Kindergeld füllt das Konto regelmäßiger als je eines seiner Gehälter zuvor. Sogar Urlaub wird geplant. Nicht weit, an einen See oder auf eine Insel, wo der Kleine ein bisschen buddeln und planschen kann. »Wir fahren in der Nachsaison«, sagt Nils. »Wir haben ja immer Zeit.« Nils will seine nächste Geschäftsidee in Angriff nehmen, wenn Grete mit Konstantin zusammen eine Tröpfelburg aus Sand baut. Denn für ein Eigenheim brauchen sie doch etwas mehr Kapital. Nils winkt seinem Sohn zu, der in einer Schlammpfütze planscht und dabei sehr froh aussieht. Da Giulia ein bisschen traurig schaut, weil von Sam keine SMS zurückkommt, lädt Nils sie ein: »Du kannst übrigens gerne mitkommen.« Er weiß, dass Giulia niemanden hat, mit dem sie ihren Urlaub verbringen kann. Giulia lehnt sich an Nils' Vaterschulter. »Das ist nett. Ich glaube, ich brauche einen Machtmenschen, so einen abgedrehten, hässlichen Intellektuellen aus einem Think-Tank, der so viel forscht und so sehr Einfluss ausübt, dass er null Zeit hat, eine Frau zu finden.« Nils rollt mit den Augen. »Es ist ja nicht so, dass ich niemanden kennen lerne. Ich lerne andauernd neue Leute kennen.« Sie berichtet von einer mehrtägigen 158
Informationsreise, bei der sie zunächst im Bus neben verschiedenen Kandidaten die Landschaft betrachtete und die derzeitigen globalen Konflikte aus der jeweiligen Mikroperspektive ihres Beisitzers kennen lernte, später bei Mittagspausen und Abendbüffet ihnen unauffällig auf die Hände schaute und nach Eheringen oder anderen Bindungsmerkmalen wie abendlichem Telefonieren und gelegentlichem Einstreuen einer Wir-Perspektive suchte, sich schließlich vom schrulligsten Teilnehmer zu ein paar Gläsern Sekt einladen ließ. Mit ihm hatte sie bisher kaum geredet, weil er ständig von irgendwelchen Fernsehteams interviewt wurde oder auf Standleitungen aktuelle politische Entwicklungen kommentieren musste. Das hob ihn heraus. Dass seine Stimme quietschte, dass er kaum noch Haare hatte, dass er deshalb eine alberne Kappe trug, störte sie auf einmal gar nicht. Nicht, dass sie ihn toll fand. »Was dann?«, fragt Nils. »Durch ihn als Anschauungsobjekt entstand mein Plan.« »Und wo ist der Haken?« »Ich verliebe mich so schwierig.« Sie will Nils den Vortrag zeigen, den sie in einer Woche auf einer weiteren Konferenz halten muss, wo vielleicht auch Sam auftaucht. Sie möchte eine gute Figur machen und souverän und klug und damenhaft sein. Sie hat sich schon ein neues Kostüm gekauft und will nun mit Nils einige inhaltliche Punkte besprechen. Sie breitet ihre Unterlagen auf der Bank aus, beschwert sie mit ein paar Steinen, die auf dem Weg liegen, und sucht einen Stift. »Warte mal kurz«, sagt Nils, »ich hole mal eben den kleinen Konni aus seiner Wasserstelle, sonst erkältet er sich.« Konstantin hat sich von einem älteren Kind mit der Pumpe in der Sandkiste ein Becken füllen lassen und trägt statt seiner Hose eine Schicht aus nasser Erde, die Nils nun abzurubbeln versucht. Weil das kitzelt, tritt Konni ein wenig um sich, hinterlässt ein paar Fußabdrücke auf Giulias Pulli und ein paar andere auf ihren Papieren, die teilweise unter die Bank fallen. Giulia hebt sie auf und streicht den Dreck herunter. Dabei verwischt zwar die Druckertinte, aber die Schrift ist noch zu 159
lesen. »Kannst anfangen«, sagt Nils und nimmt Konni auf den Schoß. Während Giulia also ihre Einleitung herunterspult und eine Vorschau auf die Gliederung gibt, fängt der aktive Sohn an, auf seinem Vater und zwischendurch auch auf Giulia herumzuklettern. Giulia unterbricht ihre Rede, denn Nils verfolgt begeistert die Grunzlaute seines Kindes. »Entschuldige, ich bin sofort wieder bei dir.« Nils rennt zum Kinderwagen und packt Babynahrung aus. Denn Konni hat Hunger. Eben hat er Giulias einzigen Stift in den Mund gesteckt, mit dem sie gerade eine Randbemerkung notieren wollte. Langsam wird sie etwas unwillig. Als dann der Kleine anfängt, aus Spaß den ungesüßten Tee in ihre Richtung zu prusten, als unter den Spucketropfen die verschmierte Schrift zu amorphen Kreisen verläuft, hat sie genug. Sie will alles wieder mitnehmen und lieber in Ruhe mit Viktor besprechen, als sie feststellt, dass in einem unbeobachteten Moment jemand ihre Tasche mit der Gießkanne begossen hat. Wie sehr wünscht sich Giulia in diesem Moment Ganztageskindergärten, mehr Jobs für Kindergärtnerinnen, begrünte Spielplätze, weniger Sand. Oder selbst ein Kind, um mehr Spaß auf Spielplätzen zu haben. Sie schaut Nils an, der Konni gerade den Mund abwischt, um sich zu verabschieden. Nils wirkt, obwohl er im Sand lebt, glücklicher als Giulia. Wahrscheinlich weil er öfter an der frischen Luft ist. Giulia sagt: »Danke für den schönen Nachmittag.« »Das wird schon«, sagt Nils. »Ruh dich mal ein bisschen aus. Du wirkst extrem unlocker.« Er legt Konni in den Kinderwagen. »Ich begleite dich noch ein Stück.« Dasselbe sagt eine Woche später Sam zu Giulia. Er will sie von der Tagungsstätte abholen, da er in der Nähe einen Termin hat. Sie weiß nicht, ob er schon im Konferenzsaal sitzt oder nicht. Als sie auf dem Podium steht, ist es so hell, dass sie einzelne Gesichter im Publikum nicht ausmachen kann. Obwohl sie den Text auswendig kennt, verspricht sie sich vor lauter Nervosität sehr oft und kann sogar den Namen des Vereins, den sie vertritt, nicht 160
fehlerlos artikulieren. Als sie danach im Foyer Sam erblickt, wird sie rot. Zum Glück trägt er keine Blume im Knopfloch, das würde Giulia so richtig in Verlegenheit bringen. Aber eigentlich auch schade, dass er ihr keinen Strauß mitgebracht hat. Sie ist verwirrt. Er hat seine Haare schneiden lassen. Sie weiß nicht, ob sie auf die kürzeren Haare anspielen und damit verraten soll, dass sie ihn genau angesehen hat. Noch weniger weiß sie, wie sie ihn begrüßen will und welche Art der Zuneigung ihre Bekanntschaft inzwischen erreicht hat. Ihm die Hand zu geben, wäre sehr förmlich. Ihn zu umarmen, wäre zu intim. Ihn rechts und links zu küssen, wäre sehr weltgewandt, aber auch etwas affektiert. Also geht sie auf ihn zu, bleibt aber nicht vor ihm stehen, sondern winkt kurz, geht winkend und rufend weiter: »Hallo. Habe dich schon gesehen. Bin gleich wieder da.« Sobald sie außer Sichtweite ist, schimpft sie lautlos mit sich selbst - diese Begrüßung, dieses Vorbeigehen, ist ihr nun einfach nur peinlich. Auf der Toilette wartet sie so lange, bis ihr Herz weniger stark klopft. Sam sieht unternehmenslustig aus und fragt sie, wozu sie denn nun Lust habe. »Wir könnten ein bisschen spazieren gehen und dann etwas essen«, schlägt er vor, weil sie nichts sagt und nur lächelt. Das ist das Normalste der Welt, denkt Giulia, aber genau das wäre jetzt das Richtige. Eigentlich hat sie sich immer in Rockstars verliebt, in wilde Männer oder verrückte Freidenker, die mit ihr nachts in irgendwelchen Ruinen herumkletterten, von denen sie an Mauern gedrückt und mit Kussattacken überhäuft wurde, die dann aber wochenlang verschwanden, um auf einmal wieder vor der Tür zu stehen, selbstbewusst einen Witz zu erzählen und zu sagen: »Lach doch mal. Freust du dich gar nicht?« Sie dachte immer, ohne diese Extreme könnte sie nicht leben. Aber jetzt vermisst sie gar nichts. Sie gehen einfach nebeneinander her. Sie reden und schauen. Sie berühren sich nicht. Manchmal überqueren sie eine Straße, währenddessen Sam sanft auf ihren Rücken tupft, um sie über den Asphalt zu führen und zu schützen. Er zeigt ihr im Vorübergehen einige Besonderheiten, die für Giulia schon 161
dadurch besonders werden, weil sie dadurch etwas über Sams Wahrnehmung erfährt, zum Beispiel dass in diesem Erdgeschoss ein Polizist wohnt, der abends immer Hiphop-Videos guckt. Oder dass diese Bäume so aussehen, als ob sie sich schlafen legen wollten, aber auf der halben Strecke des Hinlegens eingedöst seien. Oder diese Frau da drüben, eine böse Stiefmutter. Giulia denkt an ihre Mutter und ob ihr Sam gefallen würde. Und ob sie selbst, wenn sie in einem Jahr an diesen Moment zurückdenkt, sich noch erinnert oder ob er untergeht in einem anderen Moment mit einem anderen Sam. Der jetzige Sam hat unterdessen ein Restaurant angepeilt. Sie trinken Wein, probieren vom Teller des anderen, amüsieren sich über den abschüssigen Boden, sodass Giulia immer mehr in Sams Richtung kippt. »Willst du wissen, warum ich mich vorhin so häufig versprochen habe?«, fragt Giulia. Sam schüttelt den Kopf: »Die kleinen Versprecher sind das Salz im Leben.« Etwas kitschig, aber daran könnte Giulia sich gewöhnen. Wahrscheinlich wird es erst dann ernst, wenn es ein bisschen kitschig ist, wenn man sagt, wie süß, wie niedlich, wie hübsch, wie reizend und ganz und gar zauberhaft und sich dafür nicht schämt, sondern es sagt, weil es einfach so ist. Margarete hat unterdessen einen Teilzeitjob angenommen. Nils sagt dazu nicht viel, weil er an seinem neuen Businessplan herumfeilt. Seine T h e s e ist, dass Frauen besser darin sind, verschiedene Lebensbereiche unter einen Hut zu bringen. »Weibliche Flexibilität und Mobilität werden mit kleinen Jobs belohnt«, sagt er, weil das neulich auf einer Podiumsdiskussion von einem Professor verkündet wurde. Was aber durch die absolute Dehnbarkeit verloren geht, wird in solchen Debatten gerne verschwiegen. Wer die Kraft nicht hat, wird eben nicht Mutter. Giulia schwankt ein bisschen, auf welcher Seite sie steht. Und damit sie nicht umfällt, hakt sie sich bei Sam ein. Er fragt sofort: »Darf ich dich ein Stück begleiten?« Giulia nickt. Sie drückt die Holzente in ihrer Jackentasche, die ganz warm geworden ist. 162
Erster Job
»Ich bin asexuell geworden«, sagt Giulia, »ich kann Nähe nur noch in meiner Vorstellung wie in einer Telenovela ertragen, in die ich irgendwelche Gesichter und Körper einsetze. Und dann schlafe ich ein.« Wenn sie sich am Abend in ihr kühles Bett legt, ihre Arme und Beine in alle Himmelsrichtungen ausstreckt, ist sie froh, an niemand zu stoßen, von niemandem gestoßen zu werden. Sie will einen Kreis um sich ziehen, einen Schutzraum wie eine Einsiedlergrotte, in der sie sich von allem entfernen kann, von Wörtern, Telefonklingeln, Nachrichten, Straßenlärm, Müll, Ansprüchen, Forderungen, die an sie herangetragen werden, sie will einfach nur herumliegen und das Gehirn auf Leerlauf stellen. Natürlich wäre es schöner, wenn es jemanden gäbe, der mit ihr herumliegt, der seinen Arm wie eine Leserolle unter ihren Kopf schiebt, damit die Gedanken es gemütlich haben, der wärmer und weicher ist als eine Decke, der in ihren weltfernen Ort ein Stück Realität importiert, weil er sie drückt und mit ihr spricht, bis der Bildschirmschoner die Ruhephase einläutet. Sie möchte kein Zittern, kein Stöhnen, keine blauen Flecken, kein Schleudertrauma, keine Kratzspuren und vor allem - keine Aufregung. Denn die hat sie nun von Mo bis Fr von 9 bis 17 Uhr. Ihre Freizeitaktivitäten passieren deshalb nicht mehr irgendwie und unvorhergesehen, sondern erstrecken sich auf zwei durchgehende Tage. Diese muss sie nun gleichmäßig unter ihren Freunden und auf sich selbst verteilen. Für die Wochenend-Kurzferien wünscht sie sich eine 163
gute Mischung aus Austausch und Zurückgezogenheit. Aber das ist nicht so einfach. Vor allem, weil es gerade niemanden gibt, mit dem sie sich in ihre Eremitage einschließen könnte, und weil ihr Tagesablauf sich nicht mehr mit dem ihrer Freunde deckt. »Wann siehst du denn den höflichen Gartenexperten Sam wieder?«, fragt Nils. »Der ist auf der Termin-Rennbahn«, sagt Giulia, »und will sich melden, wenn ich die ersten Wochen überstanden habe.« Giulia findet das sehr anständig von ihm, denn im Moment ist sie gerne mal alleine. »Mit Sex hat das alles also ziemlich wenig zu tun«, sagt Giulia. »Womit denn sonst?«, fragt Nils. »Ich werde es herausfinden. Und dann wird sich einiges ändern.« »O ha«, macht Nils. Denn sie ist nun Arbeitnehmerin mit einem festen Einkommen für die nächsten zwei Jahre - eine Sicherheit wie eine Ewigkeit, ein Tagesablauf wie aus dem letzten Jahrhundert, eine seltsam ungewohnte Situation. Giulia bleibt vor Schaufenstern mit Porzellangeschirr stehen und überlegt, ob sie sich lieber das Zwiebelmuster-Service oder die pure weiße Kollektion zulegen sollte. Sie stellt sich vor, wie sie in ihrer neuen Zwei-ZimmerSingle-Wohnung den multifunktionalen Schreibtisch auszieht und zu einer langen Tafel umbaut, wie sie die bestickte Leinendecke ihrer Großmutter drauflegt, Kerzenständer geschickt im Raum verteilt, die Lichtarchitektur unterstützt die wohlige Stimmung, wie sie Tischkarten beschriftet und aufstellt. Natürlich muss es eine Sitzordnung geben und einen Zeremonienmeister, der die Gästeliste überprüft und die Stühle zurechtrückt. Gebügelte, mit Initialen versehene Stoffservietten liegen auf angewärmten Tellern, ein Sommelier aus der französischen Schweiz empfiehlt verschiedene Weine aus besonderen Anbaugebieten, eine originelle Klofrau klopft Sprüche und gegen die Tür, falls jemand sich zu lange auf der Toilette aufhält, und an einem auffälligen Ort im Regal steht eine Dose zum Spenden für einen guten Zweck bereit. Vielleicht kann ja jemand einen Vers aufsagen, ein Kammerkonzert geben, zu Ehren des Anlas164
ses, denn es gäbe einen bestechenden Grund für die Einladung. Giulia würde sich wirklich anstrengen: eine Vorspeise aus frischen Kräutern zubereiten, gepflückt von ihren Balkonkästen, danach einen Braten mit getrüffeltem Kartoffelpüree auftragen und zum Abschluss ein ganz zart überpudertes Orangensouffle servieren. Vor einem Jahr hat sie von einer Tante versilberte Messerbänke zu Weihnachten geschenkt bekommen. Das damals auf dem abgescheuerten WG-Tisch völlig fehl am Platz wirkende Präsent könnte nun endlich in der neuen Umgebung zum glanzvollen Einsatz kommen. Denn etwas sehr Altmodisches müsste angemessen gefeiert werden: die Unterschrift unter den Arbeitsvertrag. Natürlich feiert Giulia nicht. Denn sie hat überhaupt keine Zeit. Und eigentlich gehört ihr bürgerlicher Spießertraum nicht umgesetzt, überlegt sie, sondern höchstens abgespeichert als Szenenbild für ihre Privatserie, kurz vor dem Einschlafen, am Rand der Nacht. Weil sie ständig Überstunden macht, ist sie eigentlich nur zum Ausruhen und Frühstücken in ihrer neuen Wohnung. Der Speiseschrank ist so leer, dass daraus höchstens eine magere Beilage zu kreieren wäre. »Vielleicht brauchte ich doch Hilfe? Einen Hausmann?«, fragt sich Giulia. »Er könnte hier umsonst wohnen, aber er müsste mir den Rücken freihalten und dafür sorgen, dass immer frische Milch da ist. Er dürfte mit mir duschen, wenn er mit mir früh aufstehen will, er dürfte aber auch Hegen bleiben und ich würde ihm den Kaffee bringen. Aber: er müsste mich in Ruhe lassen, wenn ich schlafen will. Denn ich muss konzentriert sein.« Sie hängt sich mit Biss hinein in die neue Arbeit, sie ist eingespannt wie ein Pferd in einen Göpel, diese urtümliche Radkonstruktion zur Energieerzeugung. Es geht immer im Kreis, arbeiten, schlafen, arbeiten, schlafen, nicht das Tempo verringern, denn es gibt viele andere Pferde, die ebenfalls kräftig, jung, gut dressiert und ausdauernd sind und die gerne an ihrer Stelle wären. In der Probezeit 165
und danach. Sie rennt hierhin und dorthin und gibt sich Mühe. Termine, Termine, Termine. Ihre 40-Stunden-Woche wird oft zu einer 60-Stunden-Woche. Als ob die Arbeit wie ein Magnet mehr und mehr Arbeit anziehen würde, als ob das Arbeithaben dazu qualifizieren würde, noch mehr Arbeit zu haben. Auch zu Hause. Da steht dann der Wäscheständer herum, das Altglas sammelt sich neben der Spüle, der Käse ist verschimmelt, das Bad dreckig, ein »Sauhaufen«, würde ihre Mutter sagen, die bei ihrem Antrittsbesuch erst einmal Lappen und Putzmittel spendiert und in Giulias Abwesenheit den Boden schrubbt, Türleisten und Regalböden abstaubt und unter den Regalen saugt, damit die Tochter mal sieht, wie schön alles sein kann, wie gepflegt. Zum Glück kommt selten jemand vorbei, um Giulia zu besuchen, sodass sie sich nicht verpflichtet fühlt aufzuräumen. Sie selbst bemerkt den Staub, die Kalkablagerungen, die Krümel nicht, weil sie die Zimmer nur bei künstlichem Licht betritt. Einzig am Wochenende gibt es Menschengeräusche in Giulias Wohnung. Denn dann telefoniert der Nachbar laut in einer fremden Sprache, und Giulia legt ihr Ohr an die Wand. Es klingt schön, findet sie, es ist beruhigend, einer Stimme zu lauschen, die nicht näher kommen kann. »Könnte ich mir mit ihm die Milch teilen? Nicht nur die Wand? Es könnte ja sein, dass wir uns attraktiv und sympathisch finden, dass wir zusammenpassen.« Aber sie wird es wohl nie herausfinden, denn er scheint unsichtbar zu sein. Jedenfalls hat sie ihn noch nie gesehen. Manchmal hört sie Schritte, manchmal auch Schlüsselklappern. Die Fenster des Treppenhauses sind gekippt, es ist zugig, kalt und nicht besonders wohnlich. Jeder verlässt diesen Ort so schnell wie möglich. Es sollte zu jeder Wohnungsbesichtigung dazugehören, dass der Vermieter eine kurze Einführung in die Hausgemeinschaft gibt: wie die Altersstruktur ist, wer Paketpost annehmen kann, wer ein Auto hat, wer eine Bohrmaschine. Erst dann, findet 166
Giulia, könnte man entscheiden, ob die Wohnung etwas taugt oder nicht. Früher, im Studentenheim, hatten sie regelmäßig, wenn jemand neu war, in der gemeinsamen Küche zusammengesessen, sich vorgestellt, manchmal auch mit Hilfe von albernen Spielchen, aber immerhin, sie redeten miteinander, jemand setzte Nudeln auf, ein anderer holte Bier, manchmal spielten sie Mühle. Jeder Vermieter von Wohnhäusern müsste dazu angehalten werden, den Hof oder Vorgarten wohnlich einzurichten, denkt Giulia. Dort müsste es ein paar BauernblumenBeete geben, Sandkiste und Schaukel, einen Grill und - mindestens einmal im Jahr, an einem lauen Abend - ein Hausfest mit Lampions, Folienkartoffeln und Würstchen. Jeder würde Besteck und Teller holen, schon die Küchenutensilien würden viel über die einzelnen Bewohner aussagen. Einer könnte Gitarre spielen und würde selbst komponierte Rocksongs singen. Der Hauswart, der meist nur »Mahlzeit« brummt, würde auftauen, Witze und Anekdoten von vorherigen Mietern erzählen und für die Kinder Schattenfiguren an die Wand werfen. Einer würde fordern, dass jetzt auch eine Hausflagge her müsse, ein Hauslogo für die Hausmitteilungen, ein Hauspressesprecher! Denn erfolgreiche Veranstaltungen müssen doch an die Öffentlichkeit getragen werden. Die Frau aus dem dritten Stock links würde sich bestens mit dem Mann aus dem Erdgeschoss rechts verstehen. Sie würden irgendwann Arm in Arm durch den Hauseingang verschwinden und eine Bar im Viertel aufsuchen. Und Giulia würde endlich herausfinden, welche Sprache ihr Nachbar spricht, und ein paar Worte lernen. Er würde ein landestypisches Gericht mitbringen, ihr von seiner Heimat erzählen, von seinen Eltern und Geschwistern, und sie einladen, mal bei ihm vorbeizuschauen, am besten am Wochenende, denn nur dann sei er zu Hause, er könne ihr mal ein paar Fotos zeigen. »Gerne«, würde Giulia sagen. Und danach würden sie sich, wenn sie sich im Flur treffen, grüßen, einen kurzen Plausch über das neue Hausliebespaar halten und »bis zum nächsten Mal« sagen. 167
»Wenn dir meine Musik zu laut ist, einfach klingeln«, würde Giulia sich wünschen. »Und wenn ich zu laut schreie am Telefon, gib mir Morsezeichen durch die Wand«, würde er sagen. Heute findet sie auf einmal ungewöhnliche Post im Briefkasten. Zunächst denkt sie hoffnungsvoll, ihr gut klingender Nebenmann habe ihr ein Liebes-Billet geschrieben, denn auf dem Umschlag klebt k e i n e Briefmarke. Es muss also eine hausinterne Meldung sein. Stattdessen fällt ihr das HalbtotaleFoto eines jungen Brillenträgers entgegen, den sie noch nie gesehen hat, auf dem dieser mit breitem Gesicht und in kariertem Hemd Eier und Salz auf einem Teller trägt. »Huch«, denkt sie. Auf der Rückseite steht: »Hallo! Darf ich mich vorstellen? Ich bin 23 Jahre alt und Student der Biologie und wohne seit kurzem im Dachgeschoss links. Ich bin stets bereit und offen für Nachbarschaftskultur. Herzlich, Sebastian Kühl.« Giulia gefällt, dass jemand so ungefragt und zutraulich seine Hilfe anbietet, und nimmt sich vor, auf jeden Fall sofort zu klingeln und auch »Hallo! Darf ich mich vorstellen?« zu sagen. Prima, denkt sie, das ist doch ein Anfang. Jetzt bloß nicht die zarten Versuche im Sande verlaufen lassen. Wir werden es gemeinsam schaffen, dass die Atmosphäre hier persönlicher wird. Sie nimmt eine Flasche Weißwein aus dem Regal und geht ein Stockwerk höher. Schon wieder ist alles so leise in diesem Haus, denkt sie, als sie vor seiner T ü r steht, die exakt ihrer eigenen gleicht. Merkwürdig, denkt sie, wie mir trotzdem nur die eigene T ü r vertraut vorkommt. Sie drückt mehrmals den Knopf und wartet. Sie klopft, erst vorsichtig, dann vehement, und wartet. Der Flaschenhals ist schon ganz warm geworden, weil sie ihn so fest umklammert. Sie hebt die Flasche auf Augenhöhe und sagt streng: »Zurück in den Kühlschrank.« Die nächsten Tage kommt sie spät nach Hause, sodass sie den noch Unbekannten nicht stören will. Und irgendwann hat sie den Zettel verlegt. Es erscheint ihr irgendwie unpassend, dem Neuankömmling 168
nach so viel Zeit noch einen Willkommensbesuch abzustatten. Die angemessene Frist ist verstrichen. Sie fragt sich, ob es eine Abmachung gibt, bis zu welchem Tag nach einem Geburtstag man »nachträglich« gratuliert, bis wann man sich »nachträglich« begrüßen kann. Für alles gibt es schließlich irgendwelche Konventionen. Vor allem Giulias Leben ist jetzt geregelt und abgesteckt. Wenn sie am Freitagnachmittag nach fünf durchgehenden Arbeitstagen ihren Schreibtisch aufgeräumt verlässt, ist sie geschafft und abgespannt, und wie auf Kommando freut sie sich auf die freien Tage. Den Kollegen geht es ähnlich. Alle finden, dass dieser Moment angemessen begangen gehört. In der Kneipe um die Ecke läuten sie gemeinsam den Feierabend ein. »Wer hat Lust auf ein gepflegtes Getränk?«, fragen sie, bevor sie die Büroräume abschließen, aber das ist natürlich eine rhetorische Frage und ein Signal, auf das alle »ich, ich« rufen. Sobald die erste Runde vor ihnen steht, fragen sie einander: »Was habt ihr denn so vor?« Sie erzählen, dass sie ihre Ferienhäuser renovieren, Marmelade einkochen oder mit dem Neffen für die Lateinprüfung lernen werden. Während Giulia verträumt den Schaum im Glas betrachtet, zücken die anderen ihre Telefone und melden sich bei Verwandten, Bekannten, Freunden, Angehörigen und Liebsten, um mal zu hören, was denn ansteht. Und meist ist einiges los. Giulia ist zu müde, um die vielfältigen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung zu kommentieren. Sie weiß, dass sie auf jeden Fall am kommenden Montag alle Details erfahren wird. Dann ist sie auch wieder aufnahmefähiger. Denn sie will jetzt nichts anderes als sich belohnen: gemütlich ausschlafen und erst dann mal hören, was die anderen so machen. Aber das ist leichter gesagt als getan. Nils muss am Wochenende Konni sitten, hat leider keine Zeit und rät ihr, die Freizeit zu nutzen - vielleicht einen Mädelsbrunch zu organisieren. »Gute Idee«, nimmt Giulia seinen Vorschlag an und 169
wählt diverse Mädelsnummern. Aber Linn ist auf irgendeiner Hochzeit und nicht zu erreichen. Anika will mal ein bisschen Zeit mit Chris verbringen, der für ein paar Tage in der Stadt ist. Na gut, denkt Giulia, nicht so schlimm, dann lasse ich mich heute Abend nur von Western und Spielfilmromantik berieseln. Sie kauft regionales Gemüse und korrektes Fleisch ein, gönnt sich tschechischen Likör und argentinische Teelimonade. Sie bereitet sich auf die Entspannung vor, das ist gut. Sie muss sich keine Sorgen machen, irgendwelche Kontaktbörsen zu verpassen. Das ist der Luxus einer festen Arbeit, sagt sie sich, da ist Freizeit einfach Freizeit, und ich kann alle Treffen verschieben. Sie überlegt, dass es doch auch so etwas wie eine produktive Einsamkeit gibt: einen Kaffee zubereiten, frisch gemahlen in der handbetriebenen Mühle, einen gemütlichen Moment genießen, viele Süßigkeiten aus Plastik und Alufolien pulen, das zuckrige Leben, und sich dann durch die Wochenendbeilagen wühlen, intellektuelle Debatten verfolgen, nach aktuellen Einsichten suchen, die den Geist anregen, eigene Ideen festhalten und über die Ideen anderer Menschen staunen. Ja, solche Zeiten der Muße können bereichern, ist Giulia überzeugt. Manchmal macht sie sich wirklich Notizen. Doch meistens räumt sie die ausgelesenen Zeitungen auf den Altpapierstapel, der ein treues Gegenüber wird und ihr Gesellschaft leistet. Sie kommt aus dem Sofa nicht mehr hoch und irgendwie gefällt ihr diese bräsige Bequemlichkeit anstelle des sonstigen Herumgehetzes. Sie erinnert sich an das verwunschene Möbel in einer Jahrmarktsbude, das so schief gestellt war, dass man, sobald man es sich bequem gemacht hatte, nur mit fremder Hilfe wieder aufstehen konnte. Auf ihrem Anrufbeantworter befinden sich unendlich viele Meldungen, die Ausgehhilfe anbieten. »Hier ist Linn, mmh, wollte fragen, ob du spontan Zeit hast, aber du bist unterwegs. Heute und morgen bin ich weg. Vielleicht Donnerstag, ach nee, ich seh grad, Dienstag wäre besser. Melde dich, ja? Bis bald, ciao.« Giulias schwerhörige Oma hat schon 170
fünfmal angerufen und laut gefragt: »Hallo? Bist du da? Hallo?« Sam wollte mit ihr ins Kino gehen, »heute Abend«, wie er sagte - aber die Nachricht ist schon ein paar Tage alt, Giulia hat sie zu spät gehört und bisher keine Lust gehabt, einen neuen Vorschlag zu machen. Sie ist abends oft so kaputt, dass sie um 23 Uhr vor dem Fernseher einschläft. Und das an einem Freitagabend! Frevel! Sie sagt sich, dass alles besser wird, wenn sie sich erst einmal eingewöhnt hat, wenn nicht mehr alles so neu, wenn sie routinierter geworden ist. Klar, sagt sie sich, Rücken und Po müssen sich auf dieses stundenlange Sitzen und Reden einstellen, der Körper muss sich erst einmal mit den neuen Begebenheiten vertraut machen. Die Arbeit als ein sehr fordernder Liebhaber. Nach der Startphase wird sie nicht mehr so herumhängen, sondern am Wochenende Ausflüge machen, lange Spaziergänge unternehmen, Fahrradtouren, an Weinproben und Schnupperkursen teilnehmen, endlich wieder mit dem Joggen anfangen, auch mit dem »Healthy-Back«-Training gegen Haltungsschäden. Natürlich wird sie diese Verabredungen organisieren müssen, mindestens sieben Tage im Voraus, weil sie ja manchmal auch am Wochenende ins Büro muss, falls irgendwelche offiziellen Termine anstehen. Sie wird Verabredungszettel entwerfen und drucken lassen, übersichtlich gestaltete Vorschaubroschüren für ihre privaten Momente, natürlich ohne Werbeträger. Geld hat sie ja jetzt, nur fehlt jemand, mit dem sie es zusammen ausgeben könnte. Das würde viel mehr Spaß machen. Nils hat da eine ganz eigene Theorie: »Es ist viel einfacher, einen Partner als einen Job zu finden. Also beschwer dich nicht. Alles hat seine Zeit. Dir geht es doch gut! Guck mal in die Zeitung.« »Mach ich doch«, sagt Giulia. »Dann lies noch mehr Zeitung!!« »Ich kann doch nicht immer alles alleine machen«, sagt sie, und wirft enttäuscht eine Doppelpackung Erfrischungsstäbchen gegen die Wand.
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Zum Glück trifft sie nun also Linn in der Mittagspause. Denn an diese zeitlich begrenzte Nahrungsaufnahme muss Giulia sich auch erst einmal gewöhnen. Diese halbe Stunde ist straff durchgeplant. Giulia läuft durch die Straßen und schaut niemandem ins Gesicht. Sie hat einfach nur Hunger, weil sie seit sieben Uhr auf den Beinen ist. Der Kaffee um 16 Uhr, der für die meisten passend wäre, ist ihr zu spät. »Wir haben nicht mehr die gleichen Bedürfnisse«, sagt sie ihnen. »Zu dumm.« Meistens steuert sie mit Portemonnaie in der Hand und schnellen Schritts den Bäcker an, wo sie die mit Käse oder Salami und Salat und Ei belegten Mehrkornbrötchen, die in einer Vitrine hinter einer Glasscheibe herumliegen, begutachtet. Sie entscheidet sich für ein Objekt, das noch nicht allzu angetrocknet aussieht. Nachdem sie bezahlt hat, geht sie ohne Umschweife zur Tür, schaut nicht rechts und links, wo andere Pausengeher ihre Milchkaffees auf Steh-Tischen abgestellt haben, und begibt sich zu einer Bank in der Sonne, wo sie, bevor sie sich hinsetzt und ohne Störung kauen will, mit einem Schielen auf das linke Handgelenk die Uhrzeit kontrolliert. Denn halbe Stunden sind schnell vorbei. Die Vorschrift ihres ernährungsbewussten Großvaters, jeden Biss mindestens zwanzigmal durchzukauen, wird sie nicht einhalten können. In diesen dreißig Minuten ist sie unflexibel und unspontan und etwas in Eile, aber höchst konzentriert bei der Brötchenverwertung. Nils würde es sicherlich positiv ausdrücken wollen und sagen, sie sei ganz »bei sich«. Oft sind die anderen Bänke auch belegt, und es gibt viel zu gucken, jeden Tag eine neue Folge, die Giulia, solange sie nicht involviert wird, gerne passiv mitverfolgt: eine elegante Lady hat ihre Schuhe ausgezogen und sich lang hingestreckt, sodass der hochgerutschte Rock ihre gepflegte Oberschenkelhaut freilegt, zwei Malermeister lassen sich Mohnschnecken schmecken, die der eine lautstark als zu hell gebacken, der andere als genau richtig bezeichnet, »ich liebe weißen Hefeteig wie nichts auf der Welt,« ruft er, ein Hund rennt im Kreis, die Hundebesit172
zerin ihm hinterher, aber Giulia verzieht nicht eine Miene. Sie will sich auf nichts einlassen. Überhaupt versucht sie in dieser freien Zeit, Kontakte zu vermeiden, sofern sie nicht mit der Arbeit zu tun haben. Sie ist den gesamten Tag so viel und offiziell mit Menschen beschäftigt, von Menschen so eingenommen, dass es sie nicht interessiert, neue Leute privat kennen zu lernen. Jedenfalls redet sie sich das ein. Und eigentlich findet sie es nicht gut. »Das geht vorbei«, hat Sam gesagt. »Du wirst schon sehen. Das ist ganz normal am Anfang.« Und als er das sagte, wollte sie auf einmal doch ein bisschen echte Nähe spüren. Heute teilt sie sich eine Sushi-Box mit Linn. Es ist wirklich nett, ein bisschen zu quatschen und in der Sonne zu sitzen. »Das müssen wir öfter machen«, sagt sie. »So stelle ich mir eine echte Pause vor.« Danach sitzt sie den restlichen Tag wieder unter den das Tageslicht imitierenden Neonstrahlern im Büro, schreibt die liegen gebliebenen Mails an drängelnde Kunden, zahlt in die gemeinsame Kaffeekasse, beschäftigt sich mit einem Bildschirm und fremden Menschen, wählt eine Null vorweg, wenn sie ins Netz telefonieren will, stellt vor dem Heimweg pflichtbewusst die Mailbox an und den Drucker aus. Die vorausschauende Liste für den nächsten Tag liegt schon auf der Tastatur. Vor dem Wochenende schreibt sie kleine Briefe an die Reinigungskraft, damit diese ihre Grünpflanze gießt und malt Blümchen daneben. Sie hat einen Platz gefunden und regelmäßig Geld auf dem Konto. »Das ist Teilhabe«, redet sie sich ein, weil sie am Ende der Woche das Gefühl hat, die Welt ein Stück weitergebracht zu haben. Sie kommt sich gebraucht vor. Das Schwierigste ist für sie, ihren inneren Nutzfahrzeugmotor auszustellen, den Wagen zu parken und auszusteigen. Manchmal befürchtet sie, die Arbeit der nächsten Woche nicht zu schaffen, und überlegt ernsthaft, ob sie nicht in die Bibliothek fahren und vorarbeiten sollte. Aber dann würde sie wahrscheinlich gar keine Verabredungen mehr einhalten können.
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Es wird für sie immer schwieriger, sich mit flexiblen Arbeitern wie Nils zu koordinieren. »Nie ist er zu Hause«, beschwert sich Giulia. Erst jetzt wird ihr klar, wie sehr sich der achtstündige Arbeitstag auf ihr Privatleben auswirkt. »Auch abends nicht. Ich kann ihn überhaupt nicht mehr erreichen. Er geht nicht einmal mehr an sein Handy.« Dazu kommt, dass Nils manchmal Verabredungen absagen muss, weil er unvorhergesehen bis spät in den Abend zu tun hat oder ihn kurzfristig einberaumte Meetings rufen. Das wirft sie ihm vor. Er reagiert patzig: »Dir ist doch auch die Arbeit wichtiger als die Freunde!« Denn Giulia hat neulich eine abgemachte Verabredung komplett vergessen, weil Nils sie, wie Giulia sich rechtfertigte, so oft verschoben hatte: »Ich dachte, du musstest auf diese Bunkerparty. Du hast mir doch eine Mail geschickt.« »Wenn du meine Mail nicht nur überflogen hättest, wüsstest du, dass die Party gestern war. Dass ich mich also darauf gefreut habe, dich heute zu sehen.« »Und was ist mit morgen?« »Bin ich beim Gründer-Stammtisch.« Ihre Zeitschnittmenge wird immer kleiner, und es wird immer wichtiger, sie richtig zu nutzen. Einfacher ist es natürlich mit den jeweiligen Kollegen. Das schlägt auch Nils vor, damit Giulia nicht verärgert herumsitzt. »Nach all der Zeit, die du mit den Leuten aus deiner Firma verbringst, müsstet ihr doch beste Freunde sein.« Nils ist der Meinung: »Du könntest soziale Mobilität ausprobieren, ein neues Gesellschaftssegment kennen lernen, andere Arbeitnehmer zum Beispiel.« Er malt ihr aus, wie sie einen anderen Vollzeitbeschäftigten an der Kantinenkasse oder auf ihrem Heimweg trifft, vielleicht an der Ampel oder im Supermarkt, es müsste ja niemand aus ihrem Bereich sein, aber sie müsste auf jeden Fall jemanden finden, der gleiche Arbeitszeit ten hat» das gäbe es wahrscheinlich nur noch in traditionellen Berufen, im Handwerk und so. Giulia denkt an den Kuchen liebenden Mann auf der Pausenbank, mit dem sie noch nie gesprochen hat. Ob dieser ihr Ruhebedürfnis nächvollziehen könnte? Er müsste ihre Wochenerschöpfung verständnisvoll 174
teilen. Und dann könnten sie zusammen seufzen. »Ich produziere nur noch Schmalz«, denkt Giulia. Z u m Glück ist Nils nicht allzu beleidigt und schlägt ein Treffen vor. »Wir haben uns ewig nicht gesehen, oder?« »Ja«, sagt Giulia versöhnlich, »was für eine Herausforderung, dass wir uns unter einen Hut kriegen.« »Ja, komm, es ist Freitag!«, drängt Nils. »Wir machen etwas Lustiges, etwas Phänomenales, etwas Aufregendes. Ich habe heute Vaterfrei. Du hast Feierabend.« Auch wenn sie sich lieber ein paar Stunden ausruhen würde, sagt Giulia nach kurzem Zögern zu: »Yes, Sir, ich komme vorbei, wann und wo? Aber versprich mir, dass wir keine Nachtwanderung durch abgesperrte Brachflächen, keine bodenständige Eckkneipen-Tour mit Darts, Jukebox und Bouletten und kein Politpicknick vor dem Rathaus machen. Sondern etwas normal Lustiges.« »Das war deine letzte Chance!«, antwortet Nils. »Ich muss übrigens noch was erledigen, aber du kannst ja schon mit Viktor und Linn vorwärmen.« Ein paar Minuten später steht Giulia vor ihrem Kleidersehrank und überlegt, was sie heute Abend anziehen soll, endlich raus aus den spitzen Schuhen, der Bluse und dem etwas engen Jackett. Sie schminkt sich und findet sich jetzt doch ganz schön spontan. Als sie in der Kneipe ankommt, schweigt sie erst mal ein wenig. »Ich will gar nicht so unkommunikativ sein«, erklärt sie, »aber ich kann nicht anders.« »Kein Problem«, sagt Viktor. »Dann knutsche ich einfach ein bisschen mit Linn, wenn es dich nicht stört.« »Blödmann«, sagt Giulia und kneift ihn in die Seite. Zunächst kommt das Gespräch allerdings nicht wirklich in Gang. Giulia hat Viktor einfach zu lange nicht gesehen. »Wie geht es dir?«, fragt er. »Gut. Und dir?« »Auch gut.« »Was macht der Job?« »Läuft.« Sie ist sich nicht sicher, ob er mit Konferenzberichten zugeschüttet werden will, damit, dass sie jetzt ihren Schreibtisch umgestellt hat, dass der ISDN-Computer abgeschmiert ist und dass eine amerikanische Botschafterin freundlich, aber bestimmt »okay« sagte, ohne Unterlass, und 175
dass Giulia erst nach drei Tagen verstanden hatte, wie viele Bedeutungen diesem Wort beizumessen sind. Viktor sorgt sich ja um ganz andere Dinge. »Kannst du mir nicht auch einen Job besorgen?«, fragt er, halb im Scherz, halb im Ernst. Sie weiß nicht, wie sie reagieren soll. Dass er einer von vielen ist? Dass es nicht in ihrer Macht liegt? Dass ihre Geschichte vielleicht wie eine Erfolgsstory klingt, aber dass auch sie jeden Tag dazulernen muss, dass sie oft sehr unprofessionell ist, dass sie vieles nur lernt, weil sie es ausprobiert, und dass Viktor sich im Moment dadurch disqualifiziert, dass er vieles nicht ausprobieren kann? Er würde dann sagen: »Sei nicht so arrogant. Wir müssen doch zusammenhalten! Gib ein paar deiner Silbertaler ab!« Und er würde versuchen, ihr den Geldbeutelaus der Tasche zu klauen, sie würden sich ein bisschen raufen, der Tisch würde wackeln, ein Glas herunterfallen, »das bringt noch mehr Glück«, würde Viktor rufen, und schließlich würde Giulia einlenken: »Ist ja schon gut. Ich hab verstanden.« Sie will nicht, dass es auf einmal Tabus, Geheimnisse und Misstrauen zwischen ihnen gibt: »Was willst du denn von mir?« »Du kannst doch jetzt Aufträge und Honorare vergeben«, erläutert Viktor. »Hundert Euro im Monat würden uns schon helfen.« Giulia fühlt sich unwohl, denn sie befürchtet, dass Geldgespräche schlechte Stimmung erzeugen. Allerdings könnte es ihr genauso gut als Verschlossenheit ausgelegt werden, wenn sie nicht darüber sprechen will. Sie kann sich nicht entscheiden. Deshalb sagt sie: »Es ist nicht so einfach. Wir haben bestimmte feste Kunden und Mitarbeiter. Ich kann nicht einfach irgendwelchen Leuten Aufträge erteilen.« »Also, hör mal, ich bin doch nicht irgendwelche Leute? Du kennst mich schon lange, du weißt, was ich schaffe, wo ich mich auskenne, du kannst dich auf mich verlassen - und wenn ich schlecht bin, darfst du wütend auf mich sein. Und deshalb werde ich mir die allergrößte Mühe geben, weil ich nicht will, dass du wütend auf mich bist.« »Ich werde es herausfinden, okay?« »Lass sie doch 176
in Ruhe«, sagt Linn. »Du siehst doch, dass es ihr unangenehm ist. »Wieso denn?«, hakt Viktor nach. »Ich will nur, dass wir uns gegenseitig unterstützen.« Giulia möchte zur Beschwichtigung, am Ende des Abends die gesamte Rechnung übernehmen. Es sind nur vier Biere, stellt sie fest, als sie nachzählt, weil Viktor und Linn heute sparen wollten. Giulias Großzügigkeit wird also zu einer bloßen Geste verkommen, aber immerhin, sie wird den beiden vielleicht eine kleine Freude machen. Aber eigentlich grenzt sie sich damit wieder ab - als Angeberin, die ihr sicheres Einkommen ins Rampenlicht stellt, oder, noch schlimmer, als herablassende Gönnerin, die durch ihr Wohlwollen die anderen erniedrigt. Vor allem möchte sie vermeiden, dass sich die anderen verpflichtet fühlen, ihr das nächste Mal etwas auszugeben. Vielleicht wäre es das Beste, wenn sie alles offen legen würde, ihre gesamten Einnahmen und Ausgaben, die Kirchensteuer, die Versicherungsabgaben, den Solidarzuschlag, auch die Minieinnahmen aus Kapitalvermögen, wie für das Finanzamt. Denn wenn jeder wüsste, wie das Netto-Einkommen des anderen aussähe und wie groß die Unterschiede wären, dann gäbe es eine ganz klare, gerechte Lösung für das Verteilungsproblem. Dann müsste sich derjenige, der den Überschuss hat, dazu verpflichtet fühlen, diesen Überschuss zu teilen. »Geht es eigentlich immer nur um Pfennige?«, fragt sie sich. Der Sozialneid dringt sogar bis ins Büro vor. Sobald ein neuer Praktikant auftaucht, muss sie nicht lange warten. Schon am ersten Tag robbt er sich mit den klassischen Testfragen auf der Zunge an sie heran. Sie werden gestellt, damit die ehemalige Praktikantin Giulia sich vor der Konkurrenz, dem jobsuchenden Praktikanten, als überlegen beweist. Er will mit Hilfe von Tatsachen und ausgeklügelten Strategien davon überzeugt werden, dass sie ihre Stelle verdient hat. Sonst wird er zickig. Er will wissen: »Wann ist eigentlich deine Probezeit vorbei? Wie ist deine Kündigungsfrist? Wie hast du eigentlich den Job 177
bekommen? Hast du dich beworben? Was hast du denn vorher gemacht?« Natürlich muss Giulia freimütig Auskunft über ihren Lebenslauf geben, sie muss souverän erscheinen und gleichzeitig dankbar, qualifiziert-überlegen und gleichzeitig verständnisvoll. Dabei nicht zu abgehoben, sondern nah dran an der Basis. Sie muss ein kleines Referat halten, in dem sie sich dafür rechtfertigt, dass es nicht ungerecht ist, dass sie einen Arbeitsplatz belegt, auf dem auch viele andere Menschen genauso gut platziert wären, weil sie nämlich für diese Stelle wirklich hart gekämpft hat. Sie zählt in einem Atemzug zwölf ihrer bisherigen verschiedenen Arbeitsstationen auf, hochkarätige Ämter, unabhängige Buchverlage, elitäre wissenschaftliche Akademien, ihr Engagement in Nischenkulturen, nennt die Sprachen, die sie mehr oder weniger gut spricht, einige davon so selten, dass es völlig unwahrscheinlich ist, dass der Praktikant ihr Niveau testen könnte, und betont, dass sie all dieses nicht geplant habe, dass sie aber immer ihren eigenen Weg gegangen sei, sich nicht auf andere verlassen habe, sie malt das Bild einer muskelbepackten Solitärin, die ihre Ärmel hochkrempelt, keine Mühen scheut, die weiß, was sie will. Dass deshalb immer irgendetwas geklappt hätte, weil sich das Gute durchsetzen würde, das sei doch wie bei den Vorabendserien, wo sich trotz höchster Komplikationen alles zum Guten wende. »Du musst nur dir selbst vertrauen«, sagt sie. Zum Abschluss wird sie beinah fromm und führt vor Augen, dass es gut sei, dass der Praktikant diese Fragen stelle, denn auf diese Weise vergesse sie wenigstens nicht, wie besonders ihre Stellung sei, wie selten und wie begehrt. Es sei wie auf einer Party, solle er sich vorstellen. Die Zigaretten seien fast ausgegangen. Nur noch einer habe eine Schachtel. Wenn man ihn um eine Zigarette bäte, würde er dann die restlichen teilen? Oder würde er sagen: »Du verdienst doch gut. Kauf dir deine eigenen«? Würde er freundlich anbieten: »Ich wollte sowieso aufhören. Du kannst alle haben?« Mit diesen Fragen lässt sie den verdutzten Praktikanten 178
allein. Nur wenn er nett ist, schlägt sie vor: »Kommst du mit raus - eine rauchen?« Endlich stößt auch Nils zu der Runde. Er schwenkt seinen Businessplan in der Hand. »Ist gut gelaufen! Ich habe jetzt einen Stand auf dem schicksten Wochenmarkt der Stadt.« Er will sich selbständig machen und irgendein traditionelles Gebäck verkaufen. Er hat ein paar Kostproben dabei, die er auf den Tisch legt. »Schmeckt besonders gut zu abgestandenem Bier.« Nils hat noch nie ein Praktikum gemacht. »Ich bleibe unabhängig«, sagt er, »und ich bin stolz darauf. Ich organisiere mir meine eigenen, variablen Arbeitsverhältnisse. Ich bin kein Opfer.« Er hat heute so gute Laune, dass er ein paar Kuchenstücke in Alufolie eingepackt hat, damit sie etwas eleganter aussehen. Giulia pult daran herum und versucht, aus dem Material ein gleichmäßiges Leichtmetall-Kügelchen herzustellen. Sie glaubt, sich langsam, aber sicher einer Erkenntnis zu nähern. »So wie es jetzt ist, ist es gut. Ich verstehe dich«, sagt sie zu Viktor. »Es geht um Ausgleich, oder? Schick mir doch eine Liste mit deinen Qualitäten, und ich baue dich irgendwo ein. Ja, ich versuche das. Ich bin ja sozusagen ein Rädchen in der Institution. Von wegen Sand im Getriebe. Nur Freunde und Vertraute schaffen die richtige Schmiere.« Nils verzieht das Gesicht. »Über diese Metapher solltest du noch einmal nachdenken.« »Jawoll, Chef.« Und natürlich macht Giulia mal wieder »viel zu früh schlapp«. Sie hat wie auf Kommando kurz vor Mitternacht angefangen, minütlich zu gähnen, und ihre Augen sind immer kleiner geworden. »Mensch, bist du bürgerlich geworden«, scherzt Nils. Er nennt sie »Cinderella«, als sie um Punkt 24 Uhr aufbricht und ihre Tasche unter den Arm klemmt. Als sie sich an ihm vorbeidrängen will, hält er sie am Bein fest. »Ich lasse dich nur gehen, wenn ich bei dir einen Wunsch freihabe. Dass: wir jetzt schon das nächste Treffen vereinbaren.« Er streckt ihr seine Hand entgegen. Als Giulia nicht einschlägt, lässt er sie in 179
der Luft stehen, formt sie zu einer Schale und blickt gen Himmel. »Es ist leider nicht wie im Märchen«, sagt Giulia, »ich bin keine Fee. Ich bin eine Arbeiterin.« Sie zückt ihren Notizblock. »Ich bezahle dir einen Nachtzuschlag, wenn du jetzt bleibst«, versucht Nils sie zu überreden. Aber sie holt stur einen Stift heraus. »Okay«, lenkt er ein, »selber Ort, selbe Zeit? Den Tag darfst du dir aussuchen!« Giulia nickt und schreibt. »Viel Spaß noch.« Sie klopft Viktor versöhnlich auf die Schulter. An ihrem Rock hat sich glitzerndes Stanniolpapier verfangen.
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Dönerkuchen »Ich bin ein Gastarbeiterkind«, sagt Nils launig, als er sich zum ersten Mal in der Jungunternehmer-Runde bei Federweißer und Brezeln in einer lokalen Sparkassenfiliale vorstellt. Im Foyer hängen gewollt exotische Aquarelle, Wüstenlandschaften, Dünen, Karawanen und Oasen vor untergehenden oder aufgehenden Sonnen, eine Verkaufsausstellung des Abteilungsleiters für Privatkunden. Hier sollen heute Geschäftsideen diskutiert und optimiert werden. Eigentlich will Nils mit seinem Kommentar nur die angespannte, nervöse Stimmung ein wenig auflockern und die großartigen Rechnungen, Umsatzprognosen und Rentabilitätsgraphen, die an die Wände projiziert werden, mit einem persönlichen Kommentar ein wenig aufmischen. Danach will er in die Pinkelpause gehen und nicht mehr wiederkommen. Es ist ihm alles zu steif und zu eng hier. Wieso ihm auf einmal einfällt, dass seine Eltern dieses Hier einst, auf wirtschaftlich bessere Zeiten hoffend, ausgewählt haben, weiß er eigentlich auch nicht so genau. Denn bisher war ihm eigentlich seine Herkunft oder die seiner Eltern ziemlich gleichgültig. Seine Eltern haben ihm, damit er sich schnell heimisch fühlt, einen Namen gegeben, der am neuen Ort ganz gewöhnlich ist, der an nordische, erfolgreiche Kinderliteratur erinnert. Nils spricht, denkt, lebt nicht anders als seine Freunde. Aber seit seinem letzten Besuch bei den Verwandten in einem 400-Seelendorf im fernen Südosten zum neunzigsten Geburtstag seiner Großmutter, den das gesamte Dorf mitfeierte und bei dem 181
jeder jeden umarmte und manchmal auch küsste, jeder mit jedem trank und jeder mit jedem aktuelle Radiohits grölte, bei dem zehn neue Ehen geschlossen und vier alte aufgelöst wurden, bei dem sein Urgroßvater, dem das Wasser schon in der Lunge stand, mit seinem alten Gewehr in die Luft schoss, weil er sich so freute, alle noch einmal zu sehen, weiß Nils endlich, wie er sich in eine selbständige, wirtschaftlich bessere Position katapultieren könnte. Für das Fest war schon Wochen vorher ein Schwein geschlachtet worden, das nun in fast jedem Gericht wieder zu finden war, in den pikant gewürzten Würsten, der Suppe, der Sülze, im Braten, in gefüllten Pasteten, sodass schließlich Unmengen an traditionellen Gerichten aufgetragen wurden, einige, deren Namen Nils noch nie gehört hatte, geschweige denn aussprechen konnte, andere, die zu seinen Leibspeisen gehörten, die aber schwierig herzustellen waren, weil entweder die Zutaten nur in Spezialgeschäften zu besorgen waren oder ihre Zubereitung sehr eigentümliche Gerätschaften erforderte. Während der Feier stand er, als es schon dunkel war, als die ganz Alten und die ganz Kleinen schon ins Bett gegangen waren, lange mit seiner Cousine am Lagerfeuer, die ihm erklärte, wie man über der Glut eine bestimmte Art von Kuchenrolle mit einem Loch in der Mitte röstet, wie man sie vom Röststab abklopft und auskühlen lässt, sodass die Rolle dampft wie ein Schornstein. Sie sprach sehr schnell in ihrem Dialekt, zu schnell für Nils, irgendwie drehte sich alles in seinem Kopf, vielleicht wegen des selbst gebrannten Pflaumenschnapses, den er mit fast jedem hatte trinken müssen, aus Freundschaft, aus Verwandtschaft, aus Liebe, aus Noch-nichtLiebe oder einfach nur so, es gab viele Gründe, vielleicht war ihm von der Polonaise und den Rundtänzen zu schwindlig, als dass er jeden ihrer Hinweise hatte verstehen können, aber ihre Hände sprachen mit, vollführten pantomimische Kunststücke, zeigten jeden Schritt der Herstellung vom Anrühren über das Kneten bis zum Ausrollen und Backen. Das glimmende Holz
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ließ sie dabei nicht aus den Augen, drehte hier einen mit Teig bedeckten Stab, der eventuell zu stark ankokeln würde, holte dort eine fertige Portion aus der Hitze, um sie danach in mundgerechten Stücken herumzureichen. Nils stand und staunte. Und es schmeckte gut. Nils' Verkaufsplan hat also mit seiner Herkunft zu tun, mit Tradition und mit einem Neuanfang: Er will dieses noch weitgehend unbekannte Gebäck auf Wochenmärkten nach Originalrezept im Originalverfahren herstellen. Die Hitze der offenen Feuerstelle soll, wie auch bei der Geburtstagsfeier, schon von weitem spürbar sein, es soll eine fremde Hitze sein, aber eine, die gerade deshalb, weil sie fremd und anders ist, lockt und reizt. Als Nils seinen Blick über die Runde schweifen lässt, hat er den Eindruck, dass sein kulinarisches Vorhaben in der harten Welt der Geschäftsmänner nicht ankommt, vielleicht erscheint es ihnen zu simpel, zu aussichtslos, zu handfest. Vielleicht sind die anderen aber einfach nur müde, schließlich wurden schon zehn andere Projekte vorgestellt und auf ihren Gebrauchswert abgeklopft. Niemand meldet sich zu Wort, als Nils seine Präsentation beendet hat. Er erntet lahmen Applaus und zwei, kaum hörbare Bravo-Rufe. Man könnte ihm vorwerfen, dass er sich nicht sehr viel Mühe gegeben hat - es fehlten verbale Artistik und eindrückliche Computer-Animationen. Aber Nils hat sich dafür entschieden, in seinem Fall die Idee für sich sprechen zu lassen und vom Abspielen eines witzigen Kuchencartoons oder eines dramatischen Grillfilmes abzusehen. »Danke für die Einladung«, sagt Nils höflich und steht auf. Das Klatschkomitee, das draußen auf ihn wartet, trifft ihn völlig unvorbereitet. »Nanu«, sagt er, »was soll das denn?« »Wir machen mit«, sagt jemand, der sich als Omar, Exildichter aus Kaschmir, vorstellt. Er dreht sich zu seiner Begleiterin: »Das ist Fanta aus Mali, sie baut Varietekulissen und ist Sängerin.« Fanta gibt Nils die Hand. Sie kennt einen Imbiss um die Ecke, der noch offen ist. Dort reden sie weiter. 183
Seitdem geht Nils in Großmärkten anschaffen: Zubehör, Lebensmittel, auch ein gebrauchter Lieferwagen müssen gekauft werden. Fanta zimmert einen Pavillon mit Seitenabdeckung, Bodenbelag und Warmwasserbecken - so will es das Hygieneamt - und ein Schild mit der Geschichte des Gebäcks und einer übersichtlichen Preisliste in wasserfester Schrift. Omar steht in der Küche, rezitiert seine neusten Verse, die ihm den Arbeitsrhythmus vorgeben, und probt die Herstellungssituation. »Worüber schreibst du gerade, Omar?«, will Nils wissen. »Über das Leiden der Mangobäume, die nicht mehr tragen.« »Du musst über die Liebe schreiben! Nur die Dichter, die über die Liebe schreiben, werden unsterblich«, rät Nils und zeigt ins Nebenzimmer. Dort versucht gerade Fanta Grete eine Schrittkombination beizubringen: ein Froschsprung mit anschließender Drehung und seitlichem Weghüpfen. »Frauen, Freunde, Mitbürger: An die Arbeit!«, kommandiert Nils. »Ende der Bürogymnastik.« Sie haben sich aus einem Imbiss einen ausrangierten Dönergrill geliehen und müssen nun den Metallspieß durch einen dickeren Holzstab austauschen. Um diesen sollen die dünnen Teigschichten gewickelt werden und dann von Hand vor dem Grill gedreht werden. Die Idee ist gut aber die Technik noch nicht ganz ausgefeilt. Nils klemmt sich mehrmals den Daumen ein und verbrennt sich die anderen Finger. Mehrere Durchlaufe enden schwarz. »Willst du uns ersticken?«, fragt Grete. Aber schließlich ist die erste Portion fertig. Und sie sieht aus, wie sie aussehen soll. Und sie duftet. Und sie ist knusprig. Als Giulia ein Wochenende später das erste Mal von dem fertigen Produkt kosten darf, das sich durch tägliche Versuchsreihen stetig geschmacklich verbessert hat, sagt sie: »Himmlisch. Was ist denn da drin?« »Betriebsgeheimnis«, flüstert Nils. »Wenn du es mir sagst, verrate ich dir auch ein Geheimnis«, flüstert Giulia zurück. Sie setzt sich mit ihrem Bruder Pablo in Verbindung. Er hat ihr gerade verzweifelt erzählt, dass er genug davon habe, unter klinischen Laborbedingungen zu arbeiten, 184
in klimatisierter Luft, mit piependen Apparaturen, die einzige menschliche Stimme das dudelnde Radio. Er sucht schon seit längerem einen Kooperationspartner, um sein Diplom-Projekt, das dreidimensionale Kneten, unter realen Bedingungen zu testen. Giulia weiß, dass das brachliegende Potenzial von Pablos 3D-Maschine für einen Innovationsschub mit unabsehbaren Folgen sorgen könnte. Pablo könnte sicherlich für Nils die bestmöglichen Knet-Variablen ausrechnen, damit könnte die WalkQualität um einiges, um nicht zu sagen, um Unendliches verfeinert werden und, ohne chemische Zusätze, würde der Kuchen so schmackhaft werden, dass man bei jedem Bissen in Ekstase fallen würde. Mit diesen Aussichten will Nils Pablos Wissenschaftlertätigkeit gerne unterstützen. »Klar«, sagt er, »Pablo soll uns was kneten. Optimal.« Und dann ist es so weit: Nils will endlich auf dem freien Markt bestehen. Er fühlt sich so, als ob er sich auf einen Eingangstest vorbereitet, sämtliche Fachliteratur durchgeackert und unzählige Handgriffe auswendig gelernt hätte. Nach Wochen der Planung und Investition, des Experimentierens und Abschmeckens kommt nun der Einsatz ohne Netz und Sicherheitsgurt. Natürlich drängen auch Nils' Freunde darauf, dass er endlich den Sprung von der Wohnung auf die Straße wagt. Sie haben wegen des Vorkostens schon total überzuckerte Mägen, aufsteigende Sodsäure und stumpfen Zahnbelag und könnten schwören, ihre restliche Lebenszeit auf Torten oder andere Konditorprodukte verzichten zu wollen. Aber alle haben ihr Kommen zugesagt, ganz eigennützig, denn Nils hat versprochen, jeder Hilfskraft einen fairen Stundenlohn zu zahlen. Natürlich können bei der Erstaufführung nicht alle gleichzeitig mit anpacken, denn mehr als drei Leute passen nicht hinter die Verkaufstheke. Aber Nils hat sein Wort gegeben, bei möglicher Expansion jedem eine Chance zu geben. Und weil Nils' Wort vor allem bei der Premiere auf seinen Wahrheitsgehalt abgeklopft wird, fehlt 185
das befreundete Publikum nicht, sondern schlendert wie zufällig vorbei und beobachtet den Andrang: Marktforschung. Noch vor Tagesanbruch fährt ein bemalter Kastenwagen am Marktplatz vor, aus dem drei übermüdete Gestalten klettern, um den Stand im Dunkeln aufzubauen. Vor ein paar Stunden, tief in der Nacht, haben Nils und Omar den Teig angerührt. Fanta hat Tee gekocht. Die drei sind sehr aufgeregt, ob alles klappen wird, ob überhaupt Kundschaft kommt, ob der Grill seinen Dienst tut, ob das Ordnungsamt ihnen keine neuen Vorschriften aufdrückt. Und um es besonders kompliziert zu machen, fängt es an zu regnen. Dann setzt der Wind ein. Der Pavillon bläst sich auf, das Schild wackelt, Nils bibbert unter seiner Jacke, die gegen die Zugluft nicht wirklich hilft. Auch seine Finger sind schon weiß gefroren. Der Teig ist zu klebrig und wirft rußige Blasen. Und niemand kauft etwas. Na ja, vielleicht ist es noch zu früh, denkt Nils. Er legt Kostproben aus, spricht jeden an, der vorbeigeht, »bitte schön, eine Neuheit, bitte, sehr gerne«, aber kaum jemand hat Appetit. Das Geschäft läuft schleppend - gerade einmal drei süße Gebäckrollen ist er bisher losgeworden. Aber gegen Mittag wendet sich das Blatt. Nils will gerade abbauen, seine Idee begraben, aufgeben, alles unter dem Stichwort »Lebenserfahrung« verbuchen, als immer mehr Leute stehen bleiben, schnuppern und nachfragen. Es bildet sich eine Schlange, die schließlich um die fünfzig Meter lang ist. Alle warten sehr lange, bis sie den Verkaufstisch erreichen. Dort nehmen sie gleich auf Vorrat mit. Omar und Fanta kommen mit der Produktion kaum nach. Es droht der Ausverkauf. Als Linn und Viktor in einiger Entfernung stehen, winkt Nils sie heran. Sie haben es schwer, sich durch das Gedränge zum Stand durchzuschieben. »Wir brauchen neue Zutaten, neue Schüsseln, neuen Teig - Wollt ihr mitmachen?« Nils weist sie schnell ein, vor allem in die Kunst der Kundengespräche. »Kann man das füllen?«, fragt eine Dame. »Warum eigentlich nicht?«, sagt Nils, »probieren Sie es doch aus und geben Sie mir 186
Bescheid.« Schon immer interessierte er sich für das menschliche Verhalten. Hier, auf dem Markt, kann er endlich wieder Studien am lebenden Objekt durchführen. Einige werden, weil es etwas kostenlos gibt, ganz kindisch, freundlich und dankbar. Sie gehen mit einem Lächeln auf den Lippen und Zucker im Mund weiter. Andere stecken, weil sie denken, niemand würde es bemerken, mehrere Stücke ein. Einige sind skeptisch und misstrauisch und denken, man wolle sie vergiften. Es gibt sogar welche, die erst ganz genau wissen wollen, was ihnen angeboten wird: Name, Preis, Geschmacksrichtung, um dann Verbesserungsvorschläge aus eigener Erfahrung anzubringen, ohne überhaupt probiert zu haben. Und natürlich gibt es auch diejenigen, die nach einem Schnupper-Spezialpreis mit Studentenermäßigung fragen. Natürlich wissen die jeweiligen Tester nicht, dass sie vor einem angehenden Wissenschaftler stehen, der eine wissenschaftliche Maschine im Einsatz hat und eigene Forschungen im Hinterkopf. Nur einer kann es wissen - und das ist Nils' ehemalige Professorin. Natürlich hat Nils sie schon von weitem gesehen, an ihrem Gang erkannt, an der Art, wie sie mit dem kleinen Finger ihre Brille hochschiebt, wie sie ihren Jutebeutel um das rechte Handgelenk schlackern lässt, als sie sich einen Weg durch die vielen Leute bahnt. Die Professorin steuert interessiert auf den neuen Stand zu, hält zaghaft mit einigem Abstand inne und schiebt die Jutetasche auf das linke Handgelenk. Sie möchte noch etwas nachdenken. «Ohne Konservierungsstoffe«, spricht Nils sie an. Die Professorin blickt hoch. »Was machen Sie denn hier!?«, ruft sie erschrocken, »Sie sollen doch an Ihrer Dissertation arbeiten! Ich warte jede Woche darauf, dass Sie mich mal wieder in der Sprechstunde besuchen!« Nils reicht ihr den Teller. »Ich wusste gar nicht, dass Sie so vielseitig begabt sind«, wundert sich die Professorin und kaut bedächtig: »Sehr gut! Ich werde Ihre Stammkundin.« Sie stopft sich einen Kuchen in den Beutel, nimmt noch einen weiteren mit, für einen Freund, den sie gleich besuchen will, 187
und spaziert von dannen. Der Grill glüht, der Spieß dreht sich, die Kasse klingelt. Omar, Fanta und Nils haben rote Wangen und weiße Zehen - aber die sieht man ja nicht. Viktor und Linn müssen nach drei Stunden Sondereinsatz gehen, aber versprechen, auch das nächste Mal in der heißen Zeit dazuzustoßen. Am Ende des Tages, als sich die fleißigen Bäcker heißen Tee einschütten, zählt Nils endlich die Einnahmen. Es bleibt ein kleiner Gewinn, nicht schlecht für den ersten Tag. »Wenn wir so weitermachen amortisiert sich unsere Investition sehr bald«, prophezeit Nils. Er ist schon ein richtiger Kapitalist. Und er behält Recht. Natürlich ist es eine Knochenarbeit, aber das Geschäft läuft gut, phänomenal, prima, immer besser! Nils hat schon einen zweiten Dönergrill umgebaut, und er spart auf eine Spezialanfertigung. Das nächste Mal, wenn seine Eltern zu den südöstlichen Verwandten fahren, bringen sie das Gerät mit. Nils, Fanta und Omar werden Markttouristen. Sie besuchen jede Mittelalter-Kirmes, alle Erntedankfeste, historische Ritterspiele, sommerliche Open-Air-Festivals, laute Jahrmärkte, frivole Gaukler-Treffen und stehen treu einmal die Woche auf ihrem Start-Markt mit ihrem Start-Stand. Sie kennen nun schon ihre Nachbarverkäufer, den mit den Schaffellen und den mit den Bienenwachskerzen. Den, der ein Organ wie eine Schiffshupe hat, wenn er seine Kürbisse anpreist, den, der immer von einem Bein auf das andere wechselt, vor allem, kurz bevor er aufs Klo geht, den, der Sojamilch anbietet und darauf hinweist, wenn ein Kind schreit: »Hey, du, dein Kind schreit«, sagt er und lächelt bekifft. Nils verschickt Monatsprogramme und Newsletter, wann die Dönerkuchen in welchem Marktflecken zu finden sind, damit die Freunde die Termine unter sich aufteilen können. Jasmin liebt die Ökomärkte, Giulia meldet sich am liebsten für die Messeverkäufe, Chris steht eher auf multikulturelle Straßenfeste. Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach ist, alles zu koordinieren, denkt Nils. Er fühlt sich in seiner Theorie der kleinen Zellen bestätigt: Je kleiner die zu 188
organisierenden Einheiten sind, desto mehr Einsatz kann der Einzelne zeigen, desto mehr wird der Einzelne gefragt, desto übersichtlicher ist es. »Ich möchte zwar nicht mein ganzes Leben in dieser MarktWirtschaft verbringen«, erklärt Nils, »aber ab Und zu ist es ziemlich witzig.« Wenn er auch einmal ausschlafen will, weiß Nils, wo er einen Ersatzmann herbekommt. Er startet eine Telefonkette und bittet um Rückmeldung, falls jemand ihn tatkräftig ersetzen möchte. Wer spontan Zeit hat, wer Lust hat, kommt. Linn sitzt dann mit Anika im beheizten Camper, Nils' neuster Anschaffung, auf dem nahen Parkplatz und rührt den Teig an. Den Nachschub, bedeckt mit einem Küchentuch, bringen sie zu Viktor, der lieber an der frischen Luft ist. »18 Kilo Mehl haben wir heute verarbeitet«, sagt Linn und rubbelt Viktors steife Finger warm. Anika gibt Nils den Stand per Telefon durch. »Das ist Rekord!«, jubelt er. Er sitzt mal wieder über diversen Tabellen, über dem Buchhaltungsordner und den Quittungen und rechnet und rechnet. Sein neuster Plan ist die Gründung eines umfassenden Partyservice, der alles leistet, der jeden Wunsch des Auftraggebers persönlich und kreativ erfüllt: Planung des Büffets, Aufbau der Zelte und Schirme und Hollywood-Schaukeln und Hängematten und Klapptische, Ausrollen des Kunstrasens, Anlegen einer Boulebahn, eines Gartenteichs, eines Rennund Geschicklichkeitsparcours, Entwerfen und Aufhängen der Deko, auch aus frischen Blumen gebundene Kränze und Girlanden, Anliefern der warmen oder kalten Speisen, Schreiben und Einüben der Festrede mit dem Gastgeber, Vorbereitung eines Tanzes, Ständchens oder einer Gesangseinlage zur Erheiterung der Gäste, Konstruktion der Bühne für die Live-Musik, sei es eine Dixie-Band, ein Kaffeehaus-Orchester, ein Chansonnier am Klavier, richtiger Rock, fetziger Latin-Groove oder schrilles DJ-Experimentieren, Aufstellen von Chemieklos, Fackeln und Feuerwerk, Aufbau eines abschließbaren Ruheraumes mit bequemen Betten, Anlernen von Extra-Gästen, die je nach Be189
darf Gesprächsstoff bieten oder Flirt- und Schwofpartner sein könnten, die eine Orgie anzetteln, falls gewünscht, die aber auch Gemeinschaftsspiele im Repertoire haben, die so lange gespielt werden, bis alle friedlich in der Ecke liegen, umarmt, gewärmt, schlafend, erschöpft, satt, glücklich. Dann natürlich noch der Abbau der Zelte, die Mülltrennung und -entsorgung. Das Abwaschen. Das Fegen. Das Resteessen mit den engsten Freunden. »Zunächst gibt es nur die Lieferung frei Haus für Feste ab, sagen wir, sieben Dönerkuchen«, überlegt Nils, aber spätestens zum Geschäftsjubiläum in einem Jahr, zu dem alle kommen werden, die an ihn geglaubt haben, die ihn unterstützt und ihn ernst genommen haben, da soll es dann das volle Programm geben. Und für jeden wird etwas dabei sein.
Inhalt Existenzminimum Das Letzte
16
Drei Dinge
29
Jasmin-Update
7
36
Beziehungssprünge Wutzettel
55
Netzwerke
63
Spargelessen
72
Kleine feste Orte Ausbeute
45
83
94
www.aerztezeitung.de 110 Kinderteilen
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Elterngespräche Junge Mütter Erster Job
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Dönerkuchen
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