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Geister � Killer � Nr.16 � .16
Andrew Hathaway �
Die lautlosen � Geisterboten �
2 �
Jeremy Ford schloß das Buch mit den Beschwörungsformeln und löschte das Licht. Er streckte sich behaglich in seinem Bett aus. Der junge Mann war sicher, bald ein vollwertiger Weißmagier zu sein, einer von diesen mutigen Menschen, die dem Bösen den Kampf angesagt hatten. In diesem Moment fühlte er einen stechenden Schmerz in seinem rechten Fuß. Mit einem Schrei schnellte er hoch und schaltete zitternd das Licht ein. Hastig schlug er die Bettdecke zur Seite. Er sah eben noch die kleine gelbe Schlange, die sich von seinem Fuß löste. Dann verschwamm alles vor seinen Augen. Ächzend fiel Jeremy Ford auf sein Bett zurück. Seine Augen brachen… Genau in dieser Haltung fand die Zimmervermieterin am nächsten Morgen die Leiche des jungen Mannes. Sie entdeckte rechtzeitig die Schlange und konnte sich selbst in Sicherheit bringen. Ein Schlangenopfer in Edinburgh war ungewöhnlich, doch niemand vermutete dahinter einen Großangriff des Bösen! Die Menschen in dieser Stadt waren ahnungslos, bis die lautlosen Geisterboten überall auftauchten… *** Rick Masters lebte in London und konnte sich auch gar nicht vorstellen, in einer anderen Stadt der Welt zu wohnen. Er hing an London, kannte sich hier aus und war mit der Themsestadt verwachsen. Er ging auch sehr gern lange spazieren, hatte dafür nur viel zuwenig Zeit. Sein Beruf als Geisterdetektiv machte es ihm unmöglich, Freizeit zu genießen. Selbst, wenn er mit seiner Freundin Hazel Kent zusammen war, wurde er meistens gestört. Sein
Beruf holte ihn immer wieder ein. Es gab nicht so viele Menschen, die sich mit der Bekämpfung von Schwarzer Magie, Geistern und Dämonen befaßten. Und die Mächte der Finsternis schliefen nicht. Immer wieder versuchten sie, den Menschen Schaden zuzufügen. Meistens genügte dann die Hilfe der Polizei nicht, und Rick Masters wurde gerufen. An diesem elften Oktober hatte Rick sich jedoch einen ganzen Tag frei vom Beruf genommen. Er ging mit seinem Hund spazieren, und da Dracula wenig von Benzindämpfen 3 �
in den Straßen hielt, schlug Rick den Weg zum Hyde überall Park ein. Es war ein sonniger Herbsttag, wenn es auch schon kühl geworden war. Durch London fegte ein trockener, frischer Wind. Er trieb abgefallene Blätter vor sich her, sehr zur Freude Draculas. Rick hatte seinen winzigen Hund in einem Anflug von Galgenhumor so genannt. Im Gegensatz zu seinem Namen war der kleine Mischling ganz harmlos. Er verfügte allerdings über einige Gaben, die für seinen Herrn sehr wertvoll waren. Darüber dachte Rick Masters im Moment nicht nach. Er wollte sich entspannen und nicht an seinen Beruf denken. Dracula jagte die Blätter mit lautem Kläffen über den Rasen. Fing er eines, zerriß er es mit den Zähnen, während er es mit den Pfoten festhielt. War die Arbeit vollendet, jagte er bellend hinter Rick Masters her. Rick hätte sich gewünscht, Hazel Kent würde ihn begleiten, doch das war unmöglich. Sie saß jetzt in ihrem Chefbüro hoch über der City von London und leitete das KentImperium, eine Kette von Betrieben, die die junge Witwe von ihrem verstorbenen Mann übernommen hatte. Rick Masters blieb stehen, als Dracula hinter ihm laut bellte. Lächelnd blickte er seinem Hund entgegen, dem er mehrfach das Leben verdankte. Ohne Dracula hätten ihn
seine Gegner längst erledigt. Es war früher Vormittag. Im Hyde Park waren nur wenige Fußgänger unterwegs, meist ältere Leute mit ihren Hunden. Rick kümmerte sich nicht um sie, und Dracula zeigte auch kein Interesse. Stolz lief er eine Weile neben Rick her, bellte von Zeit zu Zeit freudig und schien mit sich und der Welt zufrieden zu sein. Doch plötzlich knurrte er drohend… Rick Masters runzelte überrascht die Stirn. Es war gar nicht Draculas Art, andere Spaziergänger zu verbellen. Sein Knurren galt aber eindeutig einem Mann, der hinter einer Buschgruppe hervorkam. Noch konnte Rick ihn nicht genau erkennen, weil die Zweige im Weg waren. Rick Masters machte sich des Unbekannten wegen keine Sorgen. Dracula warnte nicht vor einem schwarzmagischen Angriff. Da verhielt er sich anders. Irgend etwas an diesem einsamen. Spaziergänger erregte sein Mißfallen. Da Dracula sonst immer freundlich war, ging Rick ahnungslos weiter. Und dann war es auch schon zu spät… Dracula jagte mit wütendem Bellen los, fegte um die Büsche herum und im nächsten Moment ertönte ein wütender Schmerzensschrei. »Dieses elende Biest!« schrie eine Stimme, die Rick Masters nur zu gut 4 �
kannte. »Das darf doch nicht wahr sein!« »Dracula, hierher!« befahl der Geisterdetektiv. Der kleine Hund, der bequem in zwei Hände paßte, kam sofort gehorsam zu seinem Herrn zurück. Aus seiner Schnauze hing allerdings ein Stück Stoff, seine Jagdbeute! Noch bevor sich der Spaziergänger endlich zeigte, wußte Rick Bescheid. Dieser Ausflug kostete ihn eine neue Hose für Chefinspektor Kenneth Hempshaw. »Natürlich, das hätte ich mir denken können!« rief Hempshaw wütend. Der Yardmann ging auf den Geisterdetektiv zu. »Sie und Ihre reißende Bestie!« Dracula sträubte knurrend das Nackenfell, doch diesmal war Rick gewarnt und rief ihn sofort zur Ordnung. »Tut mir leid, Kenneth«, sagte der Geisterdetektiv, und um seine Mundwinkel zuckte es verdächtig. »Ich konnte nicht ahnen, daß ich im Hyde Park ausgerechnet Ihnen begegnen würde.« »Nirgendwo in London kann man sich mehr ungefährdet bewegen!« beschwerte sich der Chefinspektor. »Dieser gefährliche Hund lauert einem hinter jedem Busch auf! Sehen Sie sich meine Hose an!« Er zeigte Rick das Loch in seiner Beinbekleidung. »Und einen blauen Fleck gibt das
auch«, beklagte sich der Chefinspektor. »Können Sie mir wenigstens verraten, was dieser Hund gegen mich hat, Rick? Ich bin tierliebend, ich mag vor allem Hunde, und ich habe auch nichts gegen Ihren Dracula. Aber jedesmal, wenn er mich sieht, greift er mich an.« »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, gestand Rick Masters wahrheitsgemäß. »Vielleicht kommt es daher, daß ich einmal die Absicht hatte, Dracula zum Polizeihund auszubilden. Möglicherweise hat er mir das übel genommen.« Nun konnte Rick sich nicht länger halten. Er mußte über das verblüffte Gesicht des Chefinspektors lachen, und Hempshaw lachte mit ihm. »Eine neue Hose für Kenneth«, sagte Rick seufzend. »Der Spaziergang hat sich wirklich gelohnt.« »Für wen?« fragte Hempshaw. »Doch nicht für mich.« »Doch, denn diese Hose, die Sie da tragen, ist bestimmt nicht neu.« »Sie werden es nicht glauben, aber ich habe sie gestern gekauft«, versicherte Hempshaw. »Jetzt etwas anderes. Wie sieht es bei Ihnen aus? Und wie geht es Mrs. Kent?« »Hazel geht es ausgezeichnet, danke«, erwiderte der Geisterdetektiv. »Beruflich gibt es gegenwärtig eine Flaute. Ich habe keine Aufträge, und ich bin ganz froh darüber. Mein Bankkonto freut sich nicht so sehr, aber ich muß einmal ausspannen.« 5 �
»Ich wollte, ich könnte das auch von mir sagen.« Chefinspektor Hempshaw seufzte. »Wenn ich Pech habe, muß ich demnächst nach Edinburgh.« »Was haben Sie in der schottischen Hauptstadt zu suchen?« fragte Rick interessiert. »Ein Fall für Scotland Yard in Edinburgh? Das ist ungewöhnlich.« »Eine mysteriöse Sache.« Hempshaw ging gemeinsam mit Rick Masters weiter. Dracula schloß sich ihnen an, beobachtete aber ständig den Chefinspektor. Die herumfliegenden Blätter interessierten ihn gar nicht mehr. »Was halten Sie davon, wenn man in einer Stadt wie Edinburgh eine Schlange findet? Eine harmlose Schlange, die aber nicht in Freiheit leben kann?« »Nun«, antwortete Rick achselzuckend, »ich würde sagen, daß sie jemandem entkommen ist, der sich Schlangen hält.« »Und was ist, wenn man zwei ungefährliche Schlangen findet?« Rick wurde aufmerksam. »Dann sind eben zwei Schlangen entkommen. Wie geht es weiter?« »Man findet ein Dutzend harmloser und drei giftige Schlangen«, sagte Hempshaw düster. »Was ist dann?« »Dann hat man vermutlich beim Transport von Schlangen nicht aufgepaßt, und mehr als ein Dutzend dieser netten Tierchen konnte ent-
kommen. Haben Sie noch mehr Überraschungen auf Lager?« Hempshaw nickte und machte ein düsteres Gesicht. »Allerdings! Ein junger Mann wurde in seinem Bett von einer Giftschlange gebissen und starb. Es war eine Sandviper, glaube ich, jedenfalls ein höllisch gefährliches Biest. Was sagen Sie jetzt?« Rick blieb überrascht stehen. »Mord?«, fragte er. »Hat jemand so viele Schlangen in der Stadt freigelassen, damit man nicht auf den Gedanken kommt, daß er diese eine Schlange mit Absicht in das Bett seines Opfers gesetzt hat?« Hempshaw lächelte grimmig. »Genau das denken einige Kollegen in Edinburgh«, versicherte er. »Niemand weiß etwas. Und jetzt will man mich holen. Ich habe mit der Zeit den Ruf erhalten, daß ich die schwierigsten Fälle löse – wenn auch nur mit Ihrer Hilfe, Rick«, schränkte er ein. »Soll das bedeuten, Kenneth«, fragte der Geisterdetektiv, »daß ich von Scotland Yard einen offiziellen Auftrag erhalten werde, mich um den Schlangenmord in Edinburgh zu kümmern? Gibt es denn Anhaltspunkte, daß Schwarze Magie oder Dämonen im Spiel sind?« »Ich weiß noch viel zuwenig«, beruhigte ihn der Chefinspektor. »Ich weiß ja nicht einmal, ob ich selbst nach Edinburgh fahren werde. Vielleicht komme ich noch einmal 6 �
darauf zurück.« Er blickte an sich hinunter. »Zuerst muß ich mir eine neue Hose kaufen. Bis später, Rick!« Er warf Dracula noch einen vorsichtig abschätzenden Blick zu, bevor er sich entfernte. Rick Masters ging tief in Gedanken versunken weiter. Es gefiel ihm gar nicht, daß ohne erkennbaren Grund plötzlich so viele Schlangen in Edinburgh auftauchten. Der Geisterdetektiv war ein ganz normaler Mensch ohne die Fähigkeiten eines Mediums. Er konnte auch nicht hellsehen. Und doch hatte er das unbestimmte Gefühl, daß diese Schlangen etwas Unheimliches, etwas Bedrohliches waren, das sich nicht so einfach mit einem unvorsichtigen Transport erklären ließ. Sehr nachdenklich kehrte Rick Masters in sein Wohnbüro zurück. * Rick hatte soeben erst die inzwischen eingetroffene Post gesichtet und seine Lederjacke aufgehängt, als es an seiner Tür klingelte. Überrascht blickte er zur Tür, weil er keinen Besuch erwartete. Vorsicht war immer noch besser als ein Kampf mit einem ungebetenen Besucher. Deshalb blickte Rick durch den verborgenen Spion an seiner Tür und sah einen fremden Mann vor seiner Wohnung stehen. Der Unbekannte machte keinen
gefährlichen Eindruck, aber man konnte nie wissen. Mörder waren nicht auf den ersten Blick zu erkennen, Schwarzmagier auch nicht. Rick Masters öffnete und blickte dem Fremden forschend ins Gesicht. Umgekehrt musterte ihn der Fremde sehr aufmerksam. Noch bevor das erste Wort fiel, bemerkte Rick einen verhärmten Zug um den Mund des ungefähr fünfzig- bis sechzigjährigen Mannes. Seine Augen waren gerötet, als habe er vor kurzer Zeit geweint. Er war sehr gut und teuer gekleidet. Dennoch machte er einen total heruntergekommenen Eindruck, als habe er drei Nächte in Kleidern geschlafen. »Sind Sie der Geisterdetektiv Rick Masters?« fragte der Mann gepreßt. Rick trat vorsichtshalber einen Schritt zurück. Dieser Besucher stand unter einer großen inneren Anspannung, und Rick konnte nicht voraussagen, wie sie sich entladen würde. »Ja«, antwortete Rick. »Und wer sind Sie?« »Ihr neuer Klient, falls Sie meinen Auftrag annehmen«, sagte der Mann und fügte hinzu: »Mein Name ist Aldous Ford.« Er blickte den Geisterdetektiv an, als erwarte er, daß Rick diesen Namen kannte. Er war diesem jedoch völlig fremd. Rick Masters führte seinen Besu7 �
cher in sein Büro und bot ihm Platz an. »Wenn ich mich nicht täusche, könnten Sie einen Whisky oder einen Kognak vertragen«, meinte Rick Masters. »Auch am Vormittag.« Aldous Ford nickte. »Sie scheinen einen guten Blick zu haben, Mr. Masters.« »Das gehört zu meinem Beruf.« Rick hob die Karaffen mit Whisky und Kognak hoch. Ford deutete auf den Kognak. Rick schenkte ein und genehmigte sich ausnahmsweise auch einen Schluck. Sonst ging er mit Alkohol äußerst sparsam um, aber er meinte, selbst auch einen Schluck zu brauchen. Dieser Besuch von Aldous Ford lief in eine Richtung, die nichts Gutes verhieß. »Worum geht es?« fragte Rick direkt. Aldous Ford blickte den Geisterdetektiv starr an. »Mein Sohn wurde ermordet«, antwortete er rauh. »Ihretwegen!« Rick Masters hatte soeben seinen großen Kognakschwenker erhoben, um Mr. Ford zuzuprosten. Jetzt ließ er das Glas wieder sinken. »Meinetwegen?« wiederholte er und spannte sich innerlich. Er wollte einem möglichen Angriff sofort entgegenkommen. Dracula verhielt sich ruhig. Der Hund besaß einen feinen Instinkt und warnte seinen Herrn meistens rechtzeitig vor schwarzmagischen
Einflüssen. Im Moment drohten offenbar keine. »Das müssen Sie mir genauer erklären«, verlangte Rick, als Aldous Ford nicht antwortete. Ford trank seinen Kognak in einem Schluck aus und stellte das Glas hart ab. »Mein Sohn las vor einiger Zeit in der Zeitung über Sie«, erklärte Ricks Besucher. »Es war eine jener Zeitungen, die alles schreiben, wenn es nur Umsatz bringt.« »Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, unterbrach Rick den Mann. »Was für eine Zeitung?« »Ein Boulevardblatt, das eine große Serie über Magie und Übersinnliches brachte«, erläuterte Aldous Ford. »Ich kann mich nicht erinnern, daß eine Zeitung über mich in einer solchen Serie schrieb«, erwiderte Rick. »Es erscheinen gelegentlich Artikel über mich, aber nur, wenn ich einen Fall gelöst habe. Dann berichten die Zeitungen. Mehr nicht.« »Es handelte sich um eine Zeitung in Edinburgh«, antwortete Aldous Ford. Rick wurde hellhörig. »So, Edinburgh«, sagte er. »Bitte, weiter.« Er dachte an sein Gespräch mit Chefinspektor Hempshaw, doch das wäre ein zu großer Zufall gewesen. Er schob diese Idee wieder von sich. »Weiter!« rief er ungeduldig, als Ford schon wieder schwieg. »Tut mir leid«, entschuldigte sich 8 �
sein Besucher. »Es fällt mir schwer, über Jeremy zu sprechen.«. Er schluckte. Jeremy beschäftigte sich seither mit Weißer Magie. Er kaufte sich alle Bücher, die er bekommen konnte, auch uralte. Und er lernte weißmagische Formeln, wie er stets behauptete. Er wollte genauso werden, wie Sie in diesem Artikel dargestellt wurden. Ein Kämpfer des Guten gegen das Böse! Ein Anhänger der Weißen Magie! So ein Blödsinn!« Rick verzichtete auf eine Antwort. »Vor einer Woche wurde mein Sohn ermordet«, sagte Aldous Ford leise. »Ich bin überzeugt, daß ihn jemand aus dem Weg räumte, dem er gefährlich werden konnte.« »Damit geben Sie indirekt zu, daß die Weiße Magie gar kein Blödsinn ist«, gab Rick zu bedenken. »Ich weiß nicht, was ich denken soll!« schrie Aldous Ford. »Ich bin völlig verzweifelt und möchte, daß Sie den Mord an meinem Sohn aufklären! Finden Sie den Täter!« »Wie starb Ihr Sohn?« fragte Rick. Aldous Ford ballte die Fäuste. »Jemand legte eine Giftschlange in Jeremys Bett!« zischte er. »Diese Bestie!« »Wer ist eine Bestie?« hakte Rick nach. Ford blickte ihn fassungslos an. »Der Mörder, wer sonst?« fragte er entgeistert. »Sie haben keinen bestimmten
Verdacht?« »Nein!« Aldous Ford schüttelte den Kopf. »Ich bin ein reicher Mann. Mein Sohn hätte ein gutes Leben führen können. Er aber zog sich zu Studienzwecken in ein Untermieterzimmer zurück.« »Sie waren mit ihm zerstritten?« fragte Rick. »Ich wollte nichts von diesem weißmagischen Unsinn wissen.« Ford schoß dem Geisterdetektiv einen forschenden Blick zu. »Ist etwas dran an dieser Sache?« Rick nickte. »Ich kann es Ihnen im Moment nicht beweisen, aber wenden Sie sich an Chefinspektor Hempshaw von Scotland Yard. Er hat schon oft mit mir zusammengearbeitet. Er kann Ihnen bestätigen, daß es übersinnliche Phänomene gibt. Und Sie selbst glauben ja auch daran, sonst wären Sie nicht zu mir gekommen. Sie wären auch nicht überzeugt, daß Ihr Sohn ermordet wurde, weil er die Weiße Magie studierte. So, und jetzt zum Geschäftlichen!« Rick Masters kassierte einen Vorschuß, handelte sein Honorar aus und versprach, sich sofort auf den Weg nach Schottland zu machen. »Ich melde mich bei Ihnen, Mr. Ford«, sagte er, als er seinen neuen Klienten zur Tür brachte. »Werden Sie nicht ungeduldig, ich habe meine eigenen Methoden, und ich lasse mir von niemandem dreinreden.« 9 �
»Abgemacht«, stimmte Aldous Ford zu. Er zögerte. »Wäre mein Sohn noch am Leben, wenn er sich rechtzeitig mit Ihnen in Verbindung gesetzt hätte?« Die Antwort fiel dem Geisterdetektiv schwer. »Falls man ihn vorher bedrohte, hätte ich ihm vielleicht helfen können«, meinte er. »Möglicherweise kam der Schlag jedoch aus heiterem Himmel. Ich werde auch das herausfinden.« Die beiden Männer sahen einander einen Moment in die Augen. Endlich streckte Aldous Ford dem Geisterdetektiv die Hand entgegen. »Ich gab Ihnen indirekt die Schuld am Tod meines Sohnes«, sagte Mr. Ford mühsam beherrscht. »Tut mir leid, Mr. Masters, da kannte ich Sie noch nicht!« Rick nickte ihm aufmunternd zu. »Schon gut, Mr. Ford. Ich werde mein Bestes tun!« * Die Polizei von Edinburgh war den Schlangenalarm nun schon gewohnt. Kein Tag verging, an dem nicht irgendwo in der Stadt einige Schlangen entdeckt wurden. Nur wenige konnten gefangen werden. Einige wurden von aufgeschreckten Leuten getötet. Wieder andere entkamen. Die Polizei zog Wissenschaftler zu Rate, und das Regionalfernsehen
strahlte mehrmals am Tag Aufnahmen von Giftschlangen aus, vor denen besonders gewarnt wurde. Angst nistete sich in der Stadt ein. Rick Masters bekam davon eine Kostprobe, als er sich Edinburgh näherte. Er hatte sein Autoradio und das Funkgerät eingeschaltet. Am Funkgerät, das im Handschuhfach seines Autos untergebracht war, hatte er bereits die Wellenlänge der Polizei von Edinburgh eingestellt. Aus dem Radio kam eine Informationssendung für die Hörer im Umkreis von Edinburgh. Es wurde davor gewarnt, Kinder und Haustiere unbeaufsichtigt zu lassen. Die Schlangen waren sogar schon in Hochhäuser eingedrungen und in Wohnungen in den obersten Stockwerken aufgetaucht. Angst ging um. Dann kam ein Wissenschaftler zu Wort, und Rick schaltete aus. Er merkte nämlich sehr bald, daß der gute Mann keine Ahnung hatte, woher so viele unterschiedliche Schlangen kamen. Dafür hörte er über Funk eine interessante Meldung. Zwei Streifenwagen wurden in die Nähe der Burg geschickt. Dort hatte man drei Schlangen von beträchtlicher Länge gesehen. Es konnte sich um Pythons handeln, doch Rick kam es weniger auf die Art an. Er wollte nur einmal eine solche Schlange aus der Nähe sehen. 10 �
Der Geisterdetektiv hatte sich schon mehrmals in Edinburgh aufgehalten. Daher verstand er die Straßenbezeichnungen und wußte ungefähr, wo er zu suchen hatte. Die Streifenwagen waren zwar schneller als Rick, doch er befand sich näher an der Burg. Als sie auf der Princess Street vor ihm auftauchten, wendete er kurzerhand und hängte sich an die Einsatzwagen mit Blaulicht an. Sie überquerten die Brücke, die den Burggraben überspannte und unter der die Eisenbahn verlief. Dicht hinter der Brücke hatte sich eine Menschenansammlung gebildet. Die Streifenpolizisten hatten es sehr eilig, als sie aus ihren Wagen sprangen. Dennoch streiften sie Rick mit nicht gerade freundlichen Blicken. Sie mochten es gar nicht, wenn sich ein Privatmann an ihre Streifenwagen hängte. Rick lief hinter ihnen her. Zwei Polizisten waren mit Fanggeräten ausgerüstet. Einer trug einen Korb. Der dritte hielt eine Waffe schußbereit. Die normalerweise unbewaffnete Polizei mit Waffen gegen die Schlangen. Allein schon daran erkannte Rick, wie groß die Unsicherheit in der Stadt geworden war. Die Schaulustigen deuteten in die Richtung, in der sie die Schlangen zum letztenmal gesehen hatten. Lei-
der zeigte fast jeder Passant in eine andere Richtung, so daß sich die Polizisten auf ihr Glück verlassen mußten. Das Wetter war schlecht. Naßkalte Luft hing über der Stadt und verwandelte die Parkanlagen am Fuß des Burgfelsens in eine Geisterlandschaft. Rick fröstelte. Es war noch früh am Tag, kurz nach Mittag, aber die Dämmerung hatte schon eingesetzt. Die Sonne besaß überhaupt keine Kraft. Edinburgh lag unter einer Glocke von Dunst, Feuchtigkeit und Kälte. Bei solchem Wetter konnten Schlangen gar nicht im Freien überleben, dachte Rick, während er hinter den Polizisten herlief. Zumindest nicht diese exotischen Exemplare! Die Polizisten schwärmten aus und verständigten sich untereinander mit Rufen. Rick blieb stehen und beobachtete sie. Vielleicht hatten die Schlangen etwas mit Schwarzer Magie zutun. Dann hätte Dracula ihm große Dienste geleistet, weil er magische Wesen auf große Entfernung aufspürte. Doch Rick hatte seinen Hund in London bei Hazel Kent zurückgelassen. Schlangen waren für einen Hund unter allen Umständen lebensgefährliche Feinde. Auch wenn es in Edinburgh eine mit normalen Verstandesmitteln erklärbare Schlangeninvasion gab, wäre Dra11 �
cula in höchste Lebensgefahr geraten. Wenn die Schlangen zusätzlich schwarzmagisch waren, hätte Rick das Leben seines Hundes zu sehr aufs Spiel gesetzt. »Hier ist eine!« schrie ein Polizist. Er streckte die Fangvorrichtung, die an eine Angelrute erinnerte, in die Büsche. »Hast du sie?« rief einer seiner Kollegen und richtete seine Waffe auf die Büsche. »Ja!« Der Polizist stöhnte entsetzt auf. »Das ist eine Brillenschlange!« Rick Masters zuckte heftig zusammen. Wenn sich noch weitere Brillenschlangen in diesem Park aufhielten, konnte es auch für ihn lebensgefährlich werden. »Was werden Sie mit der Schlange machen?« fragte Rick den Polizisten, der den Käfig trug. Der Uniformierte bedachte ihn mit einem abweisenden Blick. Dennoch gab er Auskunft. »Wir versuchen, sie in den Käfig zu stecken«, erwiderte er. »Wenn das nicht funktioniert, müssen wir sie töten. Warum fragen Sie? Sind Sie von der Presse?« »Nein, ich bin Schlangenexperte«, entgegnete Rick. »Das hat uns gerade noch gefehlt«, sagte der Polizist seufzend. »Wissen Sie, Mister, wie viele Schlangenexperten uns ständig über den Weg laufen? Sie machen sich keine Vorstellung!«
»Ich bin ein ganz besonderer Experte«, behauptete Rick und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Das sagen sie alle«, behauptete der Polizist. Er trug den Käfig näher an die gefangene Schlange heran. Besorgt betrachtete Rick Masters die gefährliche Giftschlange. Sie blähte die schuppige Haut am Kopf so weit auf, daß man deutlich die Brillenzeichnung erkannte. Auch die Giftzähne waren nicht zu übersehen. »Vorsicht!« schrie der Polizist mit der Waffe und legte an. Seinem Kollegen wäre beinahe die Schlange entwischt. Er hielt sie im letzten Moment fest und schob sie in den Käfig. Die Tür rastete ein. Die Polizisten atmeten auf. »Darf ich sie mir aus der Nähe ansehen?« fragte Rick höflich. »Dieser Gentleman ist ein Experte«, sagte der Polizist, mit dem er vorhin gesprochen hatte, spöttisch. »Auf Ihre eigene Verantwortung«, erwiderte der Fänger. »Joe, wir müssen nachsehen, ob es noch mehr von diesen Biestern gibt.« Inzwischen hatte Rick Masters seine Silberkugel, eine mächtige Waffe gegen Dämonen, Geister und Schwarze Magie, aus der Tasche geholt. Er verbarg die Kugel in der hohlen Hand und legte diese auf den massiven Deckel des Käfigs. Wohl war ihm dabei nicht, obwohl 12 �
ihn die Schlange nicht erreichen konnte. Dennoch machte ihn die Nähe dieses tödlichen Reptils nervös. Zuerst geschah gar nichts. Die Polizisten wurden ungeduldig. »Wir müssen weitermachen, Mister«, sagte einer von ihnen. »Gehen Sie bitte wieder zurück!« Doch dann merkte Rick, daß sein Verdacht stimmte. Er stand am nächsten. Deshalb sah er sofort, daß die Schlange durchsichtig wurde. Im nächsten Moment war sie spurlos verschwunden. Der Käfig war leer! »Ich sagte doch, daß ich ein ganz besonderer Experte bin«, erklärte Rick Masters lächelnd, ließ seine Silberkugel ungesehen wieder verschwinden und verließ den Park. Keiner der Polizisten dachte daran, den seltsamen Fremden aufzuhalten und nach seinem Namen zu fragen. Dazu waren sie alle viel zu verblüfft. * Rick Masters hatte eine anstrengende und gefährliche Arbeit, die noch dazu niemand außer ihm erledigen konnte. Daher wurde er wie alle Spezialisten sehr gut bezahlt. Von seinen Honoraren konnte er ausgezeichnet leben, und er wäre bestimmt schon reich geworden, hätte er zu Geld eine andere Beziehung besessen.
Geld war für ihn da, um ausgegeben zu werden. Deshalb litt sein Bankkonto unter ständiger Schwindsucht. Wenn einmal ein reicher Auftraggeber seine Spesen übernahm, verspürte Rick keine Gewissensbisse, sich in einem guten Hotel einzuquartieren. Er wählte das beste Hotel an der Princess Street, jener Hauptstraße von Edinburgh, die nur auf einer Seite Häuser aufwies. Auf der anderen Seite senkte sich eine steile Wiese zum Burggraben ab. Jenseits dieses Grabens ragte der dunkle Felsen mit dem Schloß von Edinburgh auf. Rick Masters liebte diesen Anblick. Wenn er nach Edinburgh kam, war er davon fasziniert. Er freute sich daher besonders, daß er ein Zimmer mit Blick auf die Princess Street und somit auch auf das Schloß erhielt. In seinem Zimmer angekommen, führte er zwei Telefongespräche. Das erste galt Aldous Ford. Wer dieser Aldous Ford war, merkte Rick sehr schnell. Er rief im Büro des Busunternehmers an und mußte erst durch drei Stationen weitervermittelt und überprüft werden, ehe er beim obersten Chef landete. »Mr. Masters!« rief Aldous Ford. »Sie sind schon in der Stadt? Was kann ich für Sie tun?« Rick nannte ihm das Hotel, in dem er abgestiegen war. »Die erste Beschwerde bekommen Sie auch 13 �
schon«, fügte er hinzu. »Und zwar müssen Sie dafür sorgen, daß ich direkt mit Ihnen verbunden werde. Ich mache es nicht mit, wenn ich erst von zwei Sekretärinnen und einem Sekretär ausgesiebt werde, ob ich Ihre Stimme hören darf.« »Selbstverständlich, ich gebe sofort die nötigen Anweisungen«, versicherte der Unternehmer. »Was kann ich noch tun?« »Vor allem machen Sie sich wegen des Todes Ihres Sohnes keine Vorwürfe mehr«, riet Rick. »Es war unabänderlich. Die Schlange wurde von höllischen Mächten gesteuert. Vielleicht erscheint Ihnen das im Moment lächerlich, aber ich versichere Ihnen, daß es stimmt.« Aldous Ford räusperte sich. »Ich habe mir noch keine endgültige Meinung gebildet, Mr. Masters«, erwiderte er. »Aber ich habe Vertrauen zu Ihnen. Vielleicht genügt Ihnen das!« »Bezahlen Sie mein Honorar, das genügt mir«, sagte Rick und beendete das Gespräch. Irgend etwas an diesem Mann störte ihn. Rick konnte nicht sagen, was es war. Obwohl Aldous Ford sein Auftraggeber war, vertraute Rick ihm nicht. Er fühlte Mitleid für einen Vater, der seinen Sohn verloren hatte. Daran änderte nichts, daß Jeremy Ford bereits sechsundzwanzig Jahre alt gewesen war. Für einen Vater war es immer schrecklich, sein
Kind zu verlieren, mochte es auch noch so alt sein. Doch das Mitleid kam nicht durch. Rick lag auf der Überdecke seines Hotelbettes, starrte zur Decke und schüttelte unzufrieden den Kopf. Er konnte es nicht leiden, wenn er eine Sache nicht durchschaute. Seufzend wählte er ein zweites Mal, diesmal eine längere Nummer für London. Am anderen Ende meldete sich Chefinspektor Hempshaw in seinem Büro bei Scotland Yard. »Ich bin in Edinburgh, Kenneth«, sagte Rick. »Wo?« rief der Chefinspektor fassungslos. »Rick! Sagen Sie jetzt nicht, daß Sie sich um den Fall der Geisterschlangen kümmern.« »Ich kümmere mich um den Fall der Geisterschlangen«, gab Rick Masters grinsend zurück. »Übrigens ein guter Name! Geisterschlangen! Von wem stammt er?« »Von irgendeinem Reporter«, rief Hempshaw schnaufend. »Wieso haben Sie mich vorher nicht verständigt?« »Der Vater des bisher einzigen Todesopfers hat mich engagiert«, berichtete Rick. »Ich wollte mich aber erst hier umsehen, ehe ich Sie verständige. Hätte ja auch ein Fehlalarm sein können.« »Dann ist es also kein Fehlalarm?« »Nein!« Rick schilderte sein Erlebnis mit der Schlange, die unter der Einwirkung seiner Silberkugel ver14 �
schwunden war. »Das ist doch… unglaublich!« rief der Chefinspektor. »Ich fliege mit der nächsten Maschine nach Edinburgh.« »Das wäre gut«, stimmte Rick zu. »Sie könnten mir hier bei Ihren Kollegen helfen. Ich bin der Polizei in Edinburgh unbekannt. Das kann Schwierigkeiten geben.« »Ich rufe sofort im Polizeipräsidium an und sage Bescheid, daß man Sie in jeder Hinsicht unterstützt«, versprach der Chefinspektor. »Sie sind auf einmal so entgegen kommend«, sagte Rick amüsiert. »Tragen Sie mir die zerfetzte Hose gar nicht mehr nach?« »Ich nehme diesen Fall in Edinburgh sehr ernst«, sagte der Chefinspektor, der in diesem Moment keinen Sinn für Humor hatte, auch nicht für schwarzen. »Ich weiß, wie ernst die Lage ist«, erwiderte Rick. »Trotzdem versuche ich, meine Nerven gut in Schwung zu halten. Ich fürchte, ich werde sie noch brauchen.« »Wo sind Mrs. Kent und Dracula?« erkundigte sich Hempshaw. »Auch bei Ihnen wie sonst?« »Nein, diesmal nicht«, erwiderte der Geisterdetektiv. »Mrs. Kent muß auf Dracula aufpassen, weil ich ihn nicht mitnehmen konnte. Der kleine Hund ist gegen Schlangen wehrlos.« »Verstehe«, entgegnete Hemps-
haw. »Ich komme so schnell wie möglich zu Ihnen und melde mich dann! Bis später!« »Ich warte auf Sie«, sagte Rick, legte auf und hielt den Atem an. Sein Herz stand einen Moment still und hämmerte danach mit doppelter Geschwindigkeit weiter. Am Fußende des Bettes ertönte leises Klappern, und im nächsten Moment erkannte Rick die Ursache des Geräusches. Kein Hotelgast hatte eine Babyklapper im Bett vergessen. Es war auch nicht etwa eine lose Bettumrandung, die jetzt klapperte. Es war eine Klapperschlange! Sie kroch auf das Bett, richtete sich auf und züngelte in Ricks Richtung. Es war eine besonders große Klapperschlange. Groß und giftig. * Rick Masters brach am ganzen Körper kalter Angstschweiß aus. Schon eine normale Schlange hätte ihm tödlichen Schreck eingejagt. Diese hier war jedoch auf magische Weise entstanden und hatte einen ganz bestimmten Auftrag erhalten. Dieser Auftrag konnte nur lauten – töte Rick Masters! Was sollte er bloß tun? Auf jedem Einsatz trug er seine Pistole und seine Silberkugel bei sich. Doch hier im Hotelzimmer 15 �
hatte er beides auf den Tisch gelegt. Er war unbewaffnet! Er wagte nicht einmal, sich aus dem Bett fallen zu lassen aus Angst, die Schlange könne schneller sein als er. »Verdammt«, murmelte er, und das konnte er tun, da seine Feindin nichts hörte. Dafür konnte sie bestimmt gut sehen. Rick wagte keine rasche Bewegung. Es gab keinen Gegenstand in seiner Nähe, der sich als Waffe gebrauchen ließ. Es gab keine Fluchtmöglichkeit, nur diese Schlange, die sich züngelnd wiegte und wieder mit ihren Klappern rasselte. Diesen Ton würde der Geisterdetektiv sein Leben lang nicht vergessen! Und dieses Leben dauerte vielleicht nur noch wenige Sekunden, dachte Rick! Die Giftzähne schimmerten im Licht. Nadelspitz ragten sie aus dem Maul der Schlange. Rick Masters kam sich wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange vor. Hätte er doch wenigstens über Telefon an der Rezeption Hilfe anfordern können! Dennoch verlor er auch in dieser aussichtslosen Lage nicht seine Geistesgegenwart. Er krampfte die Finger der linken Hand tief in die Überdecke. Sie bestand aus schwerem Stoff. Darunter erfühlte er das Kopfkissen. Seine Finger durchstießen fast die
Decke, so hart packte er zu, ohne sich zu bewegen. Woran merkte man, ob eine Schlange angriff oder nicht? Rick hatte mit diesen Tieren keine Erfahrung. Selbst wenn er sie gehabt hätte, wäre sie vermutlich nutzlos gewesen. Er rief sich immer wieder in Erinnerung, daß er es mit keinem Tier zu tun hatte. Dies war ein Abgesandter eines Dämons oder eines Magiers! Plötzlich war Rick Masters alles gleichgültig. Die Spannung in ihm explodierte völlig unvorhergesehen und überraschte sogar ihn selbst. Er riß mit aller Kraft an der Bettdecke und an dem darunterliegenden Kissen, warf beides hoch und ließ sich aus dem Bett fallen. Dabei behielt er die Schlange im Auge, und seine Rechnung ging auf. Die Geisterschlange stürzte sich auf jene Stelle, an der er soeben noch gelegen hatte. Die langen, spitzen Giftzähne hätten seine Schulter oder sogar seinen Hals getroffen. So aber schlug die Schlange ihre Zähne in die Bettdecke und das Kopfkissen. Der Geisterdetektiv prallte hart auf den Boden, wälzte sich herum und schnellte sich gegen die Wand. Er hatte gehofft, die Klapperschlange würde in dem Kissen stecken bleiben, zumindest aber nicht so schnell wieder loskommen. Es war ein fürchterlicher Irrtum. 16 �
Schon im nächsten Augenblick schnellte der flache Schlangenkopf hoch und zuckte herum. Die Zunge fuhr aus dem Maul, leckte in Ricks Richtung. Die Rassel klapperte hektisch. Die Schlange war auf Angriff getrimmt! Und dann peitschten Schüsse, und die Schlange wurde vom Bett geschleudert, fiel auf den Teppich und rührte sich nicht mehr. Rick Masters lehnte zitternd und schweißgebadet an der Wand, starrte ungläubig auf die tote Schlange, dann auf die Tür, in der ein Fremder stand. Er hielt seine Pistole noch im Anschlag und blickte ebenfalls unverwandt auf das Reptil. Sein Finger lag am Abzug. »Nur diese eine?« fragte er scharf. »Ich…!« Rick konnte nicht sprechen. Er mußte erst schlucken und sich räuspern. »Ich habe nur diese eine gesehen!« würgte er hervor. »Genügt auch für einen einzelnen Mann!« Der Fremde trat jetzt ganz in das Zimmer herein. Er deutete mit dem Daumen hinter sich. »Ein Glück, daß Sie nicht abgeschlossen haben. Ich kam in das Vorzimmer Ihrer Hotelsuite herein und sah die Schlange durch einen Türspalt.« Rick schluckte erneut und versuchte, etwas zu tun. Seine Arme und Beine gehorchten ihm nicht, als wären sie aus Blei.
Er hatte ein Zimmer mit eigenem Vorraum, von dem man ins Bad gelangte. Er hatte hinterher duschen wollen. Deshalb war die Tür zwischen Wohnraum und Vorzimmer nicht geschlossen gewesen. »Wer sind Sie?« fragte Rick. Er wollte sich auf das Bett setzen, zuckte jedoch davor zurück. In Decke und Kissen zeichneten sich deutlich die Einstichstellen der Schlangenzähne ab. »Inspektor Cranston, Kriminalpolizei Edinburgh«, stellte sich der Fremde vor und schob seine Pistole in die Manteltasche. Er hatte dunkle Haare, eine Halbglatze, dunkle Augen und ein freundliches Lächeln. Und er spielte sich nicht als Held auf, obwohl er Rick das Leben gerettet hatte. Rick Masters mochte den Kollegen von der Kriminalpolizei auf Anhieb. »Danke«, sagte er heiser. »Keine Ursache«, erwiderte Inspektor Cranston. »Und jetzt zeigen Sie mir bitte Ihren Trick.« »Welchen Trick?« fragte Rick, der im Moment wirklich nicht wußte, worauf der Inspektor hinaus wollte. Die Aufregung und die Todesangst wirkten noch nach. »Mit dem Verschwinden der Schlange im Park haben doch Sie zu tun, Mr. Masters, nicht wahr?« fragte Inspektor Cranston. »Ich habe die Meldung von den Streifenpolizisten erhalten, und sie haben sich 17 �
das Aussehen Ihres Autos gemerkt. Sie fahren einen sehr ausgefallenen Wagen. Eine Anweisung an alle Streifenwagen im Zentrum, und ich wußte, wo Ihr Wagen parkte. Der Rest war ein Kinderspiel. Ich kam wohl gerade im richtigen Moment.« »Das kann man sagen«, bestätigte Rick. Er holte seine Silberkugel, legte sie neben der toten Schlange auf den Boden und versetzte ihr mit dem Schuh einen Stoß. Er brachte es nicht übers Herz, sich der Schlange zu nähern. Die Silberkugel rollte über den Teppich und berührte das tote Reptil. Im nächsten Moment gab es einen gewaltigen Lichtblitz, und als die Blendung nachließ, war die Schlange verschwunden. »Sehr beeindruckend«, sagte Inspektor Cranston. »Nun verraten Sie mir den Trick, mit dem Sie arbeiten.« Rick Masters deutete auf das Telefon, »Rufen Sie Scotland Yard in London an, und verlangen Sie Chefinspektor Kenneth Hempshaw. Er wird Ihnen bestätigen, daß ich keinen Trick habe. Er wird übrigens in den nächsten Minuten ein Ersuchen an Ihre Dienststelle richten, mir in jeder Hinsicht zu helfen.« Inspektor Cranston zeigte sich überrascht. Er rief nicht in London sondern bei seiner Dienststelle an und nickte, als er auflegte. »Sie haben recht, Mr. Masters«, bestätigte er. »Ich soll Sie unterstüt-
zen. Sagen Sie mir bitte die Wahrheit! Wer sind Sie? Was sind Sie? Was wollen Sie in Edinburgh?« Rick Masters sagte dem Inspektor, was er wissen wollte. Cranston unterbrach ihn nicht, hörte sich alles schweigend an und deutete auf jene Stelle, an der die Schlange gelegen hatte. »Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen«, meinte er, »würde ich Sie für einen Lügner halten, Mr. Masters. Und wäre nicht dieses Ersuchen des Chefinspektors aus London gekommen, würde ich Sie für einen Trickbetrüger halten. Also gut, ich nehme Ihnen die Geschichte mit Weißer und Schwarzer Magie, mit Dämonen und Geistern ab. Ich kann das Gegenteil nicht beweisen. So lange glaube ich Ihnen. Doch nun die Hauptfrage. Was werden Sie tun?« Rick nickte dem Inspektor zu. »Sie haben mir nicht nur das Leben gerettet, Cranston«, sagte er lächelnd. »Sie gefallen mir! Sie handeln, anstatt Fragen zu stellen. Doch ich muß Sie leider enttäuschen. Ich habe bisher überhaupt keine Anhaltspunkte. Ich weiß nur, daß es in dieser Stadt entsetzlich viele Schlangen gibt, daß sie magischen oder dämonischen Ursprungs sind, und daß sie einen Plan verfolgen. Sonst wäre diese Klapperschlange nicht so zielstrebig bei mir aufgetaucht.« 18 �
»Wie werden Sie die Spuren der Schlangen verfolgen?« fragte der Inspektor. Rick Masters zuckte die Schultern. »Ich weiß nur, daß ich erst einmal ein Bad nehmen muß. Ich bin von meinem kleinen Abenteuer mit der Klapperschlange naßgeschwitzt und brauche frische Kleider. Mehr weiß ich noch nicht.« Inspektor Cranston ging zur Tür. »Wenn Sie baden, vergessen Sie Ihre Waffen nicht«, riet er. »Sie könnten sie unter Umständen bitter nötig haben!« »Ich werde sie bestimmt nicht vergessen«, versicherte Rick Masters. »Sie hören wieder von mir!« »Hoffentlich bald«, sagte Inspektor Cranston und verließ die Hotelsuite. Rick Masters aber untersuchte das Badezimmer sehr genau, ehe er sich in die Wanne legte, Pistole und Silberkugel griffbereit. * Die Zeit bis zum Abend verging mit Baden und Umziehen. Anschließend schlenderte Rick Masters einmal die Princess Street hinauf und hinunter. Er wollte nicht das Flair dieser Stadt erleben. Dazu war das Wetter einfach zu scheußlich. Es nieselte, es war so neblig geworden, daß er kaum die Burg auf der anderen Seite des Grabens erkennen konnte. Der Geisterdetektiv wollte sich
vielmehr ein Bild der Zustände in Edinburgh machen. Das war nicht schwer. Die Stadt weitgehend menschenleer. war Dafür sah man um so mehr Polizeiwagen, die ganz entgegen der sonstigen Gewohnheit im Schrittempo und mit eingeschaltetem Blaulicht die Straße entlangrollten. Die Polizisten sollten der Bevölkerung zeigen, daß sie unterwegs waren und aufpaßten. Im Notfall sollten sich die Einwohner von Edinburgh auch rasch an einen Polizeiwagen um Hilfe wenden können. Die Angst ging um. Sie hing fast greifbar in der Luft, ähnlich dem feuchten Nebel, der sich wie ein unangenehmer Umschlag auf Ricks Gesicht legte. Mehr wollte der Geisterdetektiv bei diesem ersten Streifzug nicht herausfinden. Er kehrte in sein Hotel zurück, um in Ruhe ein gutes Abendessen auszuwählen und zu genießen. In der Hotelhalle kam jemand auf ihn zu. Rick wich aus und drehte sich um. Er mochte es nicht, wenn sich Fremde rasch näherten. Diese Vorsicht hatte ihn schon mehrmals vor bösen Überraschungen bewahrt. Er erkannte den Mann und freute sich keineswegs über das Wiedersehen mit seinem Auftraggeber. »Ich möchte nicht stören, Mr. Masters«, sagte Aldous Ford höflich. 19 �
Er erwartete, Rick werde sagen, daß er nicht störte, doch der Geisterdetektiv sah ihn nur schweigend an. »Was haben Sie gegen mich?« brach es aus Aldous Ford heraus. »Wollen Sie mich mit Verachtung strafen, weil ich meinen Sohn verloren habe? Oder ist es, weil ich mich über die Weiße Magie abfällig geäußert habe? Finden Sie, ich hätte meinen Sohn bei seinen Studien unterstützen sollen? Sind Sie deshalb gegen mich?« Rick schüttelte den Kopf. »Sie sind nicht ehrlich gegen mich, Mr. Ford«, sagte er und deutete auf die Tür zum Speisesaal. »Ich wollte jetzt essen. Leisten Sie mir Gesellschaft?« Ford schloß sich ihm wortlos an. Sie suchten sich einen Tisch im Hintergrund des gediegen und elegant eingerichteten Saales aus. Während Aldous Ford nur einen Krabbencocktail bestellte, wählte Rick ein Menü mit vier Gängen, dazu einen erstklassigen aber leichten Wein, und auch davon trank er nur ein Glas. Er mußte an diesem Tag vielleicht noch Auto fahren. »Es geht alles auf Spesen«, sagte der Geisterdetektiv und versuchte ein Lächeln. »Sie bezahlen diese Spesen.« Aldous Ford erwiderte das Lächeln nicht. »Wieso glauben Sie, daß ich nicht ehrlich bin?« fragte er düster. »Es ist nur ein Gefühl, Mr. Ford«,
antwortete Rick leise. »Sie tun nichts, um mein Mißtrauen zu entkräften.« »Ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß«, behauptete der Unternehmer. Rick verzichtete darauf, weiter in dieser Richtung zu forschen. »Sind Sie nicht verheiratet?« fragte er statt dessen. »Meine Frau ließ sich vor zehn Jahren scheiden«, gab Aldous Ford an. »Seither habe ich nichts mehr von ihr gehört. Ich weiß nicht einmal, wo sie lebt.« »Hatte Jeremy Geschwister? Eine Freundin? Freunde?« »Gar nichts«, erklärte Aldous Ford. »Er war ein absoluter Einzelgänger. Ich fürchte, die Scheidung hat ihn aus der Bahn geworfen. Seither war er verschlossen und sprach nur wenig. Als er dann auf den Artikel über Sie und die Weiße Magie stieß, war er überzeugt, seinen Lebensweg gefunden zu haben.« »Vielleicht wäre es wirklich für Ihren Sohn der richtige Weg gewesen«, meinte Rick achselzuckend. »Tut mir leid, Mr. Ford, das ist jetzt nicht mehr wichtig. Ich brauche aber Hinweise auf jemanden, der Ihren Sohn ausreichend gehaßt haben könnte.« »Jeremy hatte keinen einzigen Feind«, behauptete Mr. Ford mit Nachdruck. »Er hatte nicht einmal Streit mit anderen Leuten. Dazu war er nicht fähig.« 20 �
»Also ist er entweder doch ein zufälliges Opfer der Schlangen geworden«, entschied Rick, »oder er wurde getötet, weil er gegen das Böse kämpfen wollte.« Rick bestellte Nachtisch und ein Glas Mineralwasser. »Besuch«, sagte er, als er zur Tür blickte. »Inspektor Cranston«, sagte Mr. Ford. »Sie kennen den Inspektor?« fragte Rick überrascht. »Er bearbeitet den Tod meines Sohnes.« Ford stand auf. »Ich will nicht länger stören.« »Warten Sie!« rief Rick, doch sein Auftraggeber nickte ihm nur kurz zu und verließ den Speisesaal. Dabei schnitt er sichtlich den Inspektor, der sich gleich darauf zu Rick setzte. »Hatten Sie Schwierigkeiten mit Mr. Ford?« erkundigte sich Inspektor Cranston. »Ich nicht, aber Sie scheinen nicht gut mit ihm zu stehen«, erwiderte der Geisterdetektiv. Cranston hob die Schultern. »Ich vertrat die Ansicht, daß sein Sohn nicht ermordet wurde, sondern das Opfer einer verirrten Schlange war. Das nahm er mir übel.« Rick nickte. »Kann ich mir gut vorstellen. Und jetzt? Wie denken Sie über diesen Fall, nachdem Sie mit mir gesprochen haben?« Inspektor Cranston zögerte mit einer Antwort. »Ehrlich gesagt, Mr.
Masters, ich will mich noch nicht festlegen. Sehen Sie, es fällt mir schwer, an magische Schlangen zu glauben, Schlangen, die auf unerklärliche Weise entstehen und gezielt gegen gewisse Leute eingesetzt werden.« »Es ist aber so«, gab Rick zu bedenken. »Erinnern Sie sich daran, daß zwei Schlangen durch die Berührung mit meiner Silberkugel verschwanden. Daß diese Höllenboten gezielt eingesetzt werden, sehen Sie daran, daß es bisher nur einen Toten gab. Und dieser Mann beschäftigte sich ausgerechnet mit Weißer Magie. Das ist kein Zufall!« »Ich fürchte, Sie haben recht«, räumte der Inspektor zögernd ein. »Freuen Sie sich darüber, Mr. Cranston. Wären es ganz normale Schlangen, hätten Sie viel mehr Tote in Edinburgh. Sie würden nämlich wahllos töten.« »So gesehen haben Sie recht!« Inspektor Cranston beugte sich über den Tisch und sah Rick Masters eindringlich an. »Das würde bedeuten, daß alle diese Schlangen die Aufgabe haben, Menschen zu töten, die sich mit dem Kampf gegen Magie beschäftigen so wie Sie! Richtig?« Rick nickte schweigend und widmete sich seinem Nachtisch. »Dann müssen Sie diese gefährdeten Personen warnen«, fuhr der Inspektor fort. »Das würde ich gern tun«, erwi21 �
derte Rick zwischen zwei Bissen. »Ich weiß nur leider nicht, wie ich an sie herankomme. Wir haben es nicht mit einem Verein mit fest eingeschriebenen Mitgliedern zu tun. Ich kann keine Adressenliste aufschlagen und der Reihe nach die Leute anrufen.« »Sie werden also tatenlos zusehen, wie diese Seuche weiter um sich greift?« fragte Inspektor Cranston erstaunt. »Sie kennen mich nicht, das merkt man ganz deutlich«, konterte der Geisterdetektiv. »Ich lege nie die Hände in den Schoß, wenn ich etwas tun kann.« »Ich sehe, was Sie tun«, bemerkte der Inspektor mit einem Blick auf den reich gedeckten Tisch. Rick Masters legte das Besteck weg und sah Inspektor Cranston scharf an. »Jetzt hören Sie mir einmal genau zu«, sagte er leise aber so kühl, daß Cranston keinen Widerspruch wagte. »Wenn ich gegen Geister und Dämonen kämpfe, bedeutet das noch lange nicht, daß ich gleichzeitig hungern muß. Es bedeutet auch nicht, daß ich nur schnell einen Hamburger in der Imbißstube hinunterschlinge. Wenn ich gebraucht werde, bin ich zur Stelle. Aber sagen Sie mir bitte, wohin ich in diesem Moment gehen müßte.« »Vielleicht zum Airport«, erwiderte Inspektor Cranston verlegen.
Er bemühte sich um einen versöhnlichen Ton. »Dort trifft nämlich Chefinspektor Hempshaw in einer Stunde ein.« »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« rief Rick und warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich esse eben noch zu Ende, dann fahre ich. In einer Stunde?« Inspektor Cranston nickte. »Ich nehme Sie in meinem Wagen mit«, bot er an. Rick lehnte ab. »Ich fahre mit meinem Morgan, das ist mir lieber. Dann sehen wir uns auf dem Flugplatz.« Inspektor Cranston verstand den Wink und erhob sich. »Nichts für ungut, Mr. Masters«, sagte er. »Ich glaube, wir werden gut zusammenarbeiten.« »An mir soll es nicht liegen«, erwiderte Rick und beendete allein und in Ruhe sein Abendessen. Als er aufstand, murmelte er: »Komm, wir gehen!« Eine in der Nähe sitzende ältere Lady blickte ihn daraufhin verstört und auch ein wenig ängstlich an, und Rick hatte Mühe, lautes Lachen zu unterdrücken. Er war daran gewöhnt, daß Dracula ständig in seiner Nähe war. Dieser Einsatz ohne seinen Hund war eine Ausnahme. Und wie immer hatte er mit Dracula sprechen wollen. Ohne sich weiter um seine ent22 �
setzte Tischnachbarin zu kümmern, verließ er den Speisesaal und stieg in seinen Wagen. Allerdings nahm er sich noch die Zeit, das Auto gründlich zu überprüfen, ob sich nicht eine Schlange bei ihm eingenistet hatte. Erst als er sicher war, ohne blinden Passagier zu reisen, fuhr er zum Airport hinaus. Die Dunkelheit hatte sich bereits über Edinburgh gesenkt, so daß Rick Masters deutlich die Lichter der einschwebenden Maschine aus London sah. Hoffentlich konnte ihm Chefinspektor Hempshaw entscheidend helfen. Bisher hatte er nämlich nicht den kleinsten Anhaltspunkt, bei dem er einhaken konnte. Und alles kam auf Schnelligkeit an, denn mit jeder Stunde wuchs die Zahl der gefährlichen Schlangen in Edinburgh. * Am Terminal für die ankommenden Passagiere stand Inspektor Cranston neben zwei Männern, die Rick auf den ersten Blick als Polizisten in Zivil identifizierte. Auch sie warteten auf Chefinspektor Hempshaw aus London. Rick näherte sich der Gruppe, als sich das Gepäckband in Bewegung setzte. Die ersten Koffer tauchten bereits auf. Gleich darauf kamen
auch die Passagiere. Die Abfertigung ging ohne jeglichen Aufenthalt vor sich, da keine Zollkontrollen nötig waren. Es handelte sich um einen Inlandsflug. Der erste Passagier war Chefinspektor Hempshaw. Er ging auf Rick Masters zu, begrüßte ihn und wandte sich an Inspektor Cranston. Der Inspektor stand neben dem Geisterdetektiv, so daß leicht zu erraten war, daß er zur Begrüßungsabordnung gehörte. Rick war ein guter Beobachter. Ohne besonders auf Einzelheiten zu achten, prägte er sich doch alles ein. Daher fiel ihm auch auf, daß jeder auf dem Laufband ankommende Koffer einen Abnehmer fand. Kein Gepäckstück blieb stehen. »Sie haben als erster die Maschine verlassen, Kenneth?« fragte Rick. Der Chefinspektor nickte. »Ich ging als letzter an Bord und saß direkt neben der Tür.« »Dann wurde auch Ihr Koffer als letzter an Bord gebracht«, fuhr Rick fort. »Ja, warum?« Chefinspektor Hempshaw schüttelte ungeduldig den Kopf und wandte sich wieder an Inspektor Cranston, der ihm einiges über seine Einsätze und seine Anordnungen erzählen wollte. »Wo ist Ihr Koffer, Kenneth?« fragte Rick. Diesmal wurden beide, Hempshaw und Cranston, ärgerlich. 23 �
»Stören Sie uns doch nicht immer!« rief Inspektor Cranston. »Rick, das ist nicht wichtig«, meinte der Chefinspektor und wandte sich wieder an seinen Kollegen aus Edinburgh. Rick Masters war keineswegs beleidigt. Er blieb bei seiner Meinung, daß es doch wichtig war, wo Hempshaws Koffer war. Der letzte Passagier erschien in der Halle und nahm sein Gepäck entgegen. Und jetzt erst lief ein einzelner Koffer auf dem automatischen Band in die Halle herein. Das Band blieb stehen. Rick biß die Zähne zusammen. Diese Verzögerung gefiel ihm gar nicht. Er verstand auch nicht, wieso der Chefinspektor so sorglos war. Rechnete er denn gar nicht mit der Möglichkeit eines Anschlages? Hempshaw und Cranston sprachen noch immer miteinander. Die Sergeanten standen daneben und hörten zu. Rick ging zu dem Transportband und hob den Koffer hoch. Seine Nerven waren zum Zerreißen angespannt. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er einen Angestellten des Flughafens, der in einer Tür lehnte und offenbar beobachtete, was Rick tat. Es gab keinen Grund, warum der Mann das nicht tun sollte. Dennoch erschien es Rick Masters verdächtig. Der Koffer war ungewöhnlich
leicht. »Kenneth, was haben Sie da drinnen?« fragte der Geisterdetektiv über die Schulter. Mit raschen Schritten kam Hempshaw zu ihm und wollte ihm den Koffer abnehmen. »Mein normales Gepäck«, sagte er gereizt. »Was denn sonst?« Rick stellte den Koffer auf das Transportband zurück. »Er ist so leicht, als hätten Sie nur ein Buch eingepackt.« »Unmöglich!« behauptete Hempshaw. Rick warf einen Blick zu dem Flughafenangestellten hinüber. Dieser zog sich hastig zurück und schloß die Tür. »Den Koffer nicht berühren!« schrie Rick und hetzte los. Er erreichte die Tür nur wenige Sekunden, nachdem sie zugefallen war. Wenn der Angestellte abgeschlossen hatte, war die Jagd zu Ende, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Ricks Hand schlug auf die Klinke. Er warf sich mit seinem Gewicht gegen die Tür. Sie sprang auf und knallte innen gegen die Wand. Der Angestellte war verschwunden! Vor Rick lag ein ziemlich langer Korridor. Wäre der Mann normal gegangen, hätte er erst die halbe Strecke zurückgelegt. Er mußte gelaufen sein. 24 �
Das war mehr als verdächtig. Rick sprintete los und zog im Laufen seine Pistole. Sein Verdacht hatte sich zur Gewißheit verhärtet, daß hier etwas nicht stimmte. Hoffentlich hielten sich Hempshaw und Cranston an seinen Rat! Rick erreichte das Ende des Korridors und entdeckte den Verfolgten rechts von sich. Der Mann hatte einen gewaltiger Vorsprung und lief, als ginge es um sein Leben. Der Geisterdetektiv war durchtrainiert. Er jagte hinter dem Unbekannten her und kam näher. Der Mann floh in ein Treppenhaus und hetzte nach unten. Rick war ihm schon so dicht auf den Fersen, daß der Verfolgte seine Schritte hörte. Er wandte mitten auf der Treppe den Kopf, sah Rick und erschrak so, daß er die nächste Stufe verfehlte. Mit einem Schrei warf er die Arme in die Luft und stürzte bis zum Treppenabsatz hinunter, prallte hart auf und blieb benommen liegen. Eine Sekunde später war Rick neben ihm und hielt ihn mit der Pistole in Schach, doch das war gar nicht nötig. Der Mann hatte keine Kraft mehr zum Weglaufen. »Kommen Sie! Auf die Beine«, ordnete Rick an. »Oder haben Sie sich etwas gebrochen?« Der Mann in der Arbeitskleidung der Flughafenangestellten richtete sich stöhnend auf und betastete seine Schulter, schüttelte den Kopf
und stand langsam auf. Rick schob seine Pistole in das Schulterhalfter zurück. »Machen Sie keine Dummheiten«, warnte er. »Ich lasse Sie nicht mehr weglaufen, auch ohne Pistole. Da oben in der Halle sind zwei Gentlemen, die sich gern mit Ihnen unterhalten möchten.« Der Mann gab seinen Widerstand völlig auf. Er ging vor Rick die Treppe hinauf. Auf halber Strecke kamen ihnen die beiden Sergeanten entgegen. Sie wollten den Mann übernehmen, doch Rick wehrte ab. »Den liefere ich selbst ab«, sagte Rick. »Wie Sie meinen, Mr. Masters«, sagte einer der Kriminalbeamten. Der Unbekannte zuckte heftig zusammen und sah Rick aus großen Augen an. Rick lächelte ihn an. »Sie kennen mich?« fragte er. Darauf blieb der Mann die Antwort schuldig. Der ängstliche Ausdruck seiner Augen sagte jedoch genug. Er wußte, wer Rick Masters war, und er gehörte zur Gegenseite! * Als Rick Masters mit seinen Begleitern die Abfertigungshalle erreichte, atmete er erleichtert auf. Der Chefinspektor hatte seinen Rat befolgt und den Koffer noch nicht berührt. »Handschellen«, befahl Inspektor Cranston. Diesmal erhob Rick Masters kei25 �
nen Einspruch. Er deutete auf den Koffer und fragte den Mann in der Kleidung der Airportangestellten: »Sie wissen, was dieser Koffer enthält?« »Ja, natürlich«, erwiderte der Mann achselzuckend. Er stieß einen leisen Schmerzensruf aus, da er vergessen hatte, wie lädiert seine Schulter war. »Was soll schon in dem Koffer sein? Reisekleidung, vermutlich.« Rick Masters grinste, obwohl ihm gar nicht fröhlich zumute war. »So, Reisekleidung? Dann würde ich vorschlagen, daß Sie diesen Koffer öffnen.« Der Mann rührte sich nicht. Rick hatte nichts anderes erwartet. »Sie arbeiten hier auf dem Flughafen?« mischte sich Inspektor Cranston ein. »Wie heißen Sie?« »Hank Fletcher«, erwiderte der Festgenommene. »Ich arbeite in der Gepäckabfertigung.« »Gehört es auch zu Ihren Aufgaben«, fragte Rick, »ankommende Gepäckstücke zurückzuhalten?« »Muß ich seine Fragen beantworten?« erkundigte sich Hank Fletcher bei dem Inspektor. »Mr. Masters gehört nicht zur Polizei, soviel ich hier mitbekommen habe.« »Richtig, Sie brauchen nicht zu antworten«, bestätigte Cranston. »Sie brauchen auch nicht zu antworten, wenn ich Sie etwas frage. Aber wenn Sie Mr. Masters ignorieren, frage ich eben. Gehört es zu Ihren
Pflichten, ankommende Gepäckstücke zurückzuhalten?« »Nein, natürlich nicht«, erwiderte Hank Fletcher unbehaglich. »Das tue ich auch nicht.« »Und ich behaupte«, sagte Rick ruhig, »daß Sie es mit diesem Koffer hier getan haben. Weshalb weigern Sie sich, ihn zu öffnen?« »Weil er nicht mir gehört«, entgegnete Hank Fletcher. »Sehr logisch gedacht«, sagte Chefinspektor Hempshaw. »Der Koffer gehört mir. Ich bitte Sie darum, ihn zu öffnen.« Hank Fletcher preßte die Lippen zusammen und blickte vor sich zu Boden. »Ich sehe nach«, entschied der Chefinspektor. Er nahm den Koffer und stellte ihn vor Hank Fletcher auf die Steinplatten. Fletcher wich erschrocken zurück, stolperte und fiel in die Arme eines Sergeanten. »Okay, das war der letzte Beweis für mich«, sagte Rick entschieden. »Kenneth, gehen Sie zur Seite! Sie auch, Inspektor! Ich öffne das Ding!« Rick trat auf den Koffer zu, hob den Fuß und zielte. Mit einem Tritt öffnete er das eine Schloß, mit einem zweiten Tritt das andere. In seinen Händen lagen die Waffen, mit denen er jeder Gefahr begegnen mußte. Andere Mittel hatte er nicht zur Verfügung. Wenn 26 �
in dem Koffer eine Bombe untergebracht war, sah es böse aus. Zuerst geschah gar nichts. Die atemlose Stille wurde nur durch eine Lautsprecherdurchsage unterbrochen. Aus den Augenwinkeln bemerkte Rick, daß sich mehrere uniformierte Polizisten näherten. Sie erregten mittlerweile Aufsehen. Inspektor Cranston kümmerte sich um die Uniformierten. »Nun, Mr. Fletcher«, fragte der Geisterdetektiv, ohne den Koffer aus den Augen zu lassen. »Möchten Sie nicht wenigstens einen Blick hineinwerfen?« »Ich bin nicht neugierig«, sagte Hank Fletcher gepreßt. Der Deckel bewegte sich ein Stück und fiel wieder zurück. Gleich darauf hob er sich erneut an. Nun wußte Rick, woran er war, er machte sich bereit. Im nächsten Moment klappte der Deckel zurück. Eine armdicke schwarze Schlange schnellte hervor und flog auf Chefinspektor Hempshaw zu. Ricks Pistole knallte einmal kurz und trocken. Das Reptil wurde herumgeschleudert und prallte auf den Boden, doch ein Schuß konnte diesen Geisterboten nicht töten. Rick feuerte ein zweites Mal und wußte, daß diese Schlange besonders kräftig war. Auch sie war kein Tier, sondern ein Wesen aus einer
anderen Dimension, aus dem Dämonenreich. Die zweite Kugel schwächte den Angreifer. Chefinspektor Hempshaw und Inspektor Cranston wichen zurück. Die Sergeanten konnten den Verhafteten kaum bändigen, als dieser zu fliehen versuchte. Er wollte nicht den Polizisten weglaufen, sondern vor der gefährlichen Schlange flüchten. Das höllische Reptil war nicht mehr so schnell wie zu Anfang. Rick Masters fand genügend Zeit, mit der Silberkugel zu zielen und sie zu schleudern. Die Kugel traf die Schlange am Schwanzende. Rick machte sich auf einen langen Kampf gefaßt gegen den lautlosen Geisterboten, doch die Kugel wirkte auch bei dieser kurzen Berührung. Die schwarze Schlange bäumte sich auf, und noch mit aufgerichtetem Kopf sank sie zu Staub in sich zusammen. Nicht die geringsten Überreste blieben auf dem spiegelblanken Steinboden zurück. Vorsichtshalber warf Rick Masters einen forschenden Blick in den Koffer. Er war vollkommen leer. Chefinspektor Hempshaw trat schaudernd neben seinen Freund. »Danke, Rick«, sagte er leise. »Ohne Ihre Hilfe wäre ich tot. Ich hätte den Koffer ahnungslos geöffnet.« 27 �
»Keine Ursache, Kenneth, gern geschehen«, sagte Rick und ließ seine Waffen in dem Schulterhalfter verschwinden. »Eines steht fest, Sie werden sich für Ihren Aufenthalt in Edinburgh völlig neu eindecken müssen. Ich glaube nicht, daß wir Ihre Sachen wiederfinden!« * Wenigstens in einem Punkt täuschte sich der Geisterdetektiv. Hempshaws Sachen aus dem Koffer wurden gefunden, allerdings in einer Mülltonne. Die Küchenabfälle des Flughafenrestaurants waren darauf gelandet. Nun mußte Hempshaw doch am nächsten Tag einkaufen gehen. Gleich auf dem Flughafen wurde Hank Fletcher verhört. Rick war dabei, als Inspektor Cranston den Verhafteten in einen Raum der Flughafenpolizei brachte. »Sie können einen Rechtsanwalt verlangen und die Aussage verweigern«, eröffnete ihm Cranston und belehrte ihn über seine Rechte. »Ich habe nichts verbrochen, deshalb kann auch jeder zuhören«, entgegnete Hank Fletcher patzig. »Reichlich vorlaut für einen Anhänger der Schwarzen Magie«, sagte Rick Masters. Fletcher zuckte zusammen. »Was soll denn der Unsinn?« rief er laut. »Warum erschrecken Sie, wenn es
nur Unsinn ist?« Rick setzte sich vor Fletcher auf den Rand des Schreibtisches. »Hören Sie, Mr. Fletcher. Ich sage Ihnen jetzt, wie es war! Sie hatten den Auftrag, eine dieser Geisterschlangen in Chefinspektor Hempshaws Koffer zu verstauen. Deshalb kam sein Gepäck so spät aus der Abfertigung.« »Reine Phantasie!« schimpfte Fletcher. »Es war einer dieser lautlosen Geisterboten«, fuhr Rick fort. »Soll ich es Ihnen beweisen? Genügt es Ihnen nicht, daß meine Silberkugel das Reptil verschwinden ließ?« »Keine Ahnung, mit welchem Trick Sie arbeiten«, antwortete Fletcher. »Das sagte Inspektor Cranston auch, bis ich ihn überzeugte.« Rick lächelte ganz harmlos. »Woher kennen Sie mich?« »Ich kenne Sie nicht!« »Sie erschraken, als Sie meinen Namen hörten!« »Das bilden Sie sich nur ein!« Chefinspektor Hempshaw legte Rick Masters die Hand auf die Schulter. »Sie sehen doch, Rick, daß Sie so nicht weiterkommen«, sagte er mit einem Unterton, der den Geisterdetektiv aufhorchen ließ. Hempshaw plante etwas. »Lassen Sie den Mann! Jemand hat meinen Koffer geleert. Ich kann nicht nachweisen, wer es war. Jemand hat eine Schlange in den Koffer gesteckt. 28 �
Auch da kann ich nicht beweisen, wer es war. Sie blamieren die Polizei, wenn Sie diesen Mann hier länger als Schuldigen verhören. Wir werden ihn laufen lassen müssen, und er kann Sie verklagen.« Rick Masters und Chefinspektor Hempshaw kannten einander gut genug, um sich auch ohne Worte zu verständigen. Der Druck an Ricks Schulter und der Unterton des Chefinspektors waren für Rick eine klare Sprache. Hempshaw war genau wie der Geisterdetektiv davon überzeugt, daß Fletcher etwas mit der ganzen Sache zu tun hatte. Sie konnten dem Mann im Moment aber nur nachweisen, daß er ohne erkennbaren Grund weggelaufen war. Das war nicht strafbar. Rick ging auf das Spiel ein. »Ich bringe ihn zu einem Geständnis«, behauptete er widerstrebend. »Ich muß nur mehr Zeit…« »Hören Sie auf, Rick!« fuhr ihn der Chefinspektor zum Schein an. »Wir haben keine Zeit!« Rick preßte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und stand scheinbar beleidigt auf. Chefinspektor Hempshaw sprach gedämpft mit Inspektor Cranston. Der Erfolg war, daß Cranston dem Verhafteten die Handschellen abnahm. »Kann ich gehen?« fragte Hank Fletcher spöttisch.
»Verschwinden Sie schon«, sagte Inspektor Cranston gereizt. Einer der Sergeanten kam zu Chefinspektor Hempshaw und schob ihm einen Zettel in die Hand. Hempshaw gab den Zettel an Rick weiter, der einen kurzen Blick darauf warf. Die Adresse von Hank Fletcher! Rick prägte sie sich ein und reichte Hempshaw die Notiz zurück. »Endlich werden Sie vernünftig«, sagte Hank Fletcher grinsend. Er konnte seinen Triumph nur schwer verbergen. »Das hätten Sie schon viel früher einsehen sollen.« »Gehen Sie endlich, und fallen Sie uns nicht weiter auf die Nerven!« fuhr Inspektor Cranston ihn an. Mehr hörte Rick nicht. Er verließ die Büros der Flughafenpolizei durch eine andere Tür und hatte schon Posten in der Halle bezogen, als Hank Fletcher durch den Hauptausgang heraus kam. Rick Masters wußte nicht, was der Chefinspektor und der Inspektor planten, aber er ging ohnedies lieber allein vor. Er folgte Hank Fletcher in den für Angestellte reservierten Teil des Flughafens. Dort zog Fletcher sich um und trat endlich ins Freie. Der Parkplatz für Angestellte lag in der Nähe des Besucherparkplatzes, ein glücklicher Umstand. Rick spurtete zu seinem Morgan und hängte sich an Hank Fletchers Wagen. 29 �
Die Fahrt ging zurück zur Stadt. Rick Masters war gespannt, ob Hank Fletcher direkt nach Hause fuhr. Er wohnte in der Nähe des Zentrums. Dicht vor der Stadtgrenze bog Fletcher von der Straße ab und ließ seinen Wagen auf einen unbeleuchteten Feldweg rollen. Rick Masters lächelte kalt. Nun wußte er, daß Chefinspektor Hempshaws Plan aufging. Hank Fletcher führte Rick an eine wichtige Stelle. Das Jagdfieber packte den Geisterdetektiv. Vielleicht stand er schon in wenigen Minuten vor der Lösung des Falles! * »Sie können doch einen Privatmann nicht allein hinter einem Verdächtigen herfahren lassen«, ereiferte sich Inspektor Cranston. »Doch, ich kann!« Chefinspektor Hempshaw ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Rick Masters verfolgt und beschattet diesen Fletcher. Und er wird es gut machen, verlassen Sie sich darauf! Ich finde diesen Plan ideal.« »Aber ich nicht«, widersprach sein Kollege aus Edinburgh. »Dies hier ist mein Gebiet. Scotland Yard hat mir nicht in meinen Bereich dreinzureden! Wenn hier jemand überwacht wird, dann von mir oder meinen
Leuten!« »Cranston, machen Sie doch keine Schwierigkeiten«, bat der Chefinspektor. »Ich weiß, daß wir uns auf Mr. Masters verlassen können!« Doch Cranston ließ sich nicht umstimmen. Er rief seine Sergeanten zu sich und gab ihnen den Auftrag, ihrerseits Hank Fletcher und den Geisterdetektiv zu beschatten. »Sie machen einen Fehler«, prophezeite der Chefinspektor. »Hoffentlich hat es keine Folgen.« »Ich verstehe Sie nicht, Mr. Hempshaw«, behauptete Inspektor Cranston. »Das merke ich«, sagte Hempshaw und ließ seinen Kollegen stehen. Er nahm sich vor dem Flughafen ein Taxi und ließ sich in Ricks Hotel fahren. Den Namen hatte er von Inspektor Cranston erfahren, und er wollte möglichst nahe bei Rick wohnen. In diesem Fall mußten sie noch enger zusammenarbeiten als in London, wo Hempshaw der gesamte Apparat des Yards zur Verfügung stand. Hier war er weitgehend auf sich selbst gestellt. Hempshaw bedauerte es, daß er im Moment Rick nicht helfen konnte. Er hatte gar nicht erst versucht, dem Geisterdetektiv seine Begleitung aufzudrängen. Er wußte, daß Rick Masters ein Einzelgänger war. Als sein Taxi vor dem Airport abfuhr, bekam der Chefinspektor 30 �
noch mit, wie die Sergeanten starteten. Weit vorn auf der Zubringerstraße entdeckte er den Morgan. Kopfschüttelnd lehnte sich Chefinspektor Hempshaw zurück. Er ahnte, daß es Komplikationen geben würde. Die beiden Sergeanten hatten inzwischen keine Mühe, den auffälligen offenen Sportwagen im Oldtimer-Look zu beschatten. Sie hielten großen Abstand, damit Rick Masters sie nicht bemerken sollte. Sie ahnten nicht, daß er von Anfang an mit einer Verfolgung gerechnet und sie schon längst entdeckt hatte. Fletchers Wagen sahen die Polizisten nicht, weil Rick seinerseits einen großen Sicherheitsabstand wahrte. Sie sahen nur den Morgan, und auch der war plötzlich verschwunden. Beinahe wären sie an der Einmündung des Feldweges vorbeigefahren, auf den der Morgan eingebogen war. Sie merkten es im letzten Moment, setzten zurück und folgten Rick Masters weiterhin, wenn auch genau wie Rick mit ausgeschalteten Lichtern. Sie fuhren blindlings in die Todesfalle! * Rick Masters verwünschte die Sturheit des Inspektors. Zuerst hatte er noch gehofft, Chefinspektor Hempshaw könne seinen schottischen Kol-
legen zur Mitarbeit gewinnen, doch dann merkte er auf der Zubringerstraße die Verfolger. Es hatte keinen Sinn, die hinter ihm fahrenden Männer zu warnen. Sie kannten die Gefahr durch die Schlangen, und sie hatten einen Befehl erhalten, den sie ausführen würden. Wäre Rick jetzt stehengeblieben, hätte er nur Fletcher aus den Augen verloren. Dann bog Fletcher auf den Feldweg ab und löschte gleichzeitig die Lichter. Rick machte es ihm nach und hoffte, daß die Verfolger an der Seitenstraße vorbeifuhren. Er holte auf und hielt jetzt einen kleineren Abstand zu Fletchers Wagen ein. Die Sicht reichte nicht weit. Daher konnte er auch nicht feststellen, ob die Polizisten noch hinter ihm waren. Die Fahrt dauerte nicht lange. Ein Wäldchen schob sich quer über den Weg, der zwischen den Stämmen verschwand. Rick hätte sich einen geschlossenen Wagen gewünscht, in dem er nicht so leicht von Schlangen angegriffen werden konnte. Nur weil der Feldweg gerade verlief, konnte Rick im Wagen bleiben. Er brauchte nicht zu fürchten, plötzlich auf Fletcher zu treffen, wenn dieser anhielt. Der Flughafenangestellte fuhr nicht weit. Die Bremsleuchten 31 �
flammten auf. Rick lächelte. Der Mann besaß in solchen Situationen nur wenig Erfahrung. Er selbst kuppelte aus und bremste mit der Handbremse. So konnte ihn kein roter Lichtschein hinter dem Wagen verraten. Eine Gänsehaut lief über den Rücken des Geisterdetektivs, als er aus dem Morgan stieg und mit dem rechten Fuß auf einen Ast traf. Er zuckte zurück und mahnte sich zur Ruhe. Er durfte nicht ständig an die Schlangen denken, sonst wagte er keinen Schritt. Rasch holte er eine Taschenlampe aus dem Wagen und huschte zwischen den Büschen vorwärts. Dabei lauschte er angestrengt sowohl vorwärts als auch rückwärts. Von nirgendwo war etwas zu hören. In dem Wald herrschte Totenstille. Erst als Rick Fletchers Wagen erreichte, hörte er das Knacken des erkaltenden Motors. Neben dem Weg stand ein altes Holzhaus. Es war bereits windschief und baufällig. Rick Masters näherte sich lautlos und erreichte die Tür, lauschte und hielt den Atem an. Von drinnen erklang Poltern und Schaben. Seine Finger tasteten vorsichtig über das rissige Holz. Die Tür war grob zusammengezimmert und hing schief in den Angeln. Selbst wenn sie von innen mit einem Riegel gesi-
chert war, konnte sie nicht lange widerstehen. Rick Masters beschloß, in das Haus einzudringen. Da drinnen spielten sich bestimmt Dinge ab, die das Licht der Öffentlichkeit scheuten. Er ertastete eine einfache Konstruktion als Klinke, drückte sie nieder und stieß die Tür auf. Fletcher fühlte sich so sicher, daß er nicht einmal abgeschlossen hatte. Mit einem Satz war Rick mitten in dem Holzhaus und wirbelte herum. Fletcher stand in dem einzigen Raum schräg hinter der Tür. Er beugte sich über eine Kiste. Jetzt fuhr er hoch und starrte Rick wie ein Wesen aus einer anderen Welt an. An einem Draht hing von der Decke eine Petroleumlampe herunter und verbreitete helles gelbliches Licht: In ihrem Schein war keine Gefahr zu sehen. Dracula hätte Rick angezeigt, ob magische Kräfte in diesem Haus wirkten oder nicht. Da Rick auf seinen vierbeinigen Helfer verzichten mußte, strengte er seine eigenen Sinne doppelt an. Die Bedrohung lag fast körperlich fühlbar in der Luft, ohne daß Rick sie ausmachen konnte: »Machen Sie keine Dummheiten«, warnte der Geisterdetektiv. »Ich lasse mich von Ihnen nicht hereinlegen!« Fletcher hatte nicht die Absicht, gegen Rick etwas zu unternehmen. 32 �
Er war völlig niedergeschmettert und stützte sich auf den Rand der Kiste. »Fletcher, warum haben Sie das getan?« fragte Rick leise. Er ließ den Mann keine Sekunde aus den Augen. »Was meinen Sie?« fragte Fletcher. Er zitterte am ganzen Körper. Rick konnte sich das nicht erklären. »Sie wissen es sehr gut«, erwiderte Rick. »Aber ich sage es gern noch einmal, um Ihr Gedächtnis aufzufrischen. Mr. Fletcher. Warum haben Sie die Giftschlange in Chefinspektor Hempshaws Koffer getan?« Fletcher gab einen erstickten, stöhnenden Laut von sich. »Ich wußte nicht, wem der Koffer gehört, das schwöre ich«, flüsterte er. »Aber Sie haben die Schlange hineingetan!« hakte Rick nach. »Woher hatten Sie die Schlange? Wer hat Ihnen diesen Auftrag gegeben?« Fletcher war mit seinen Nerven am Ende. Er hielt mit nichts zurück. »Die Schlange selbst war es«, flüsterte er. »Sie kam zu mir in die Wohnung und sagte… ich meine… sie sprach natürlich nicht… aber ich verstand…« Es passierte ohne Übergang. Fletcher knickten die Beine unter dem Körper weg. Er verdrehte die Augen und schlug der Länge nach auf den Holzboden. Seine Hand, die sich bisher an dem
Rand der Kiste festgeklammert hatte, rutschte auf den Boden. Die Schlange war nicht länger als ein Finger und grün und gelb gestreift. Sie hatte sich in Fletchers Zeigefinger verbissen. Der Mann war tot. Es blieb Rick nichts anderes, als die Schlange mit seiner Silberkugel verschwinden zu lassen. Dann beugte er sich über Hank Fletcher, doch diesem Mann konnte niemand mehr helfen. Die Zeit drängte. Irgendwann würden Ricks Verfolger hier auftauchen. Er hatte zwar vor der Polizei nichts zu verbergen, aber er wußte nicht, was dieses Haus enthielt. Und das mußte er herausfinden, ehe Uneingeweihte es betraten. Das Risiko, daß magische Kräfte unschuldige Opfer fanden, war zu hoch. Rick begann mit der Kiste, aus der die tödliche Schlange gekommen war. Er prallte entsetzt zurück, als er den Inhalt sah. Tausende von fingerlangen, grün und gelb gestreiften Schlangen! Zehntausende womöglich! Er hatte gesehen, wie gefährlich und giftig sie waren. Und nun so viele! Entsetzt warf er seine Silberkugel in die Kiste. Diesmal vollzog sich der Kampf des Guten gegen das Böse unter 33 �
einer gewaltigen Entladung. Eine Feuersäule stieg brüllend aus der Kiste. Rick warf sich zu Boden, obwohl das Feuer keine Hitze verströmte. Es setzte auch das Holz nicht in Brand. Dies war kein richtiges Feuer, sondern nur eine Auswirkung des Kampfes der Weißen gegen die Schwarze Magie! Als die kalten Flammen in sich zusammenfielen, beugte sich Rick ein zweites Mal vorsichtig über die Kiste. Sie war leer. Auf dem Grund lag die Kugel. Er holte sie hastig heraus und wandte sich den anderen Behältern zu. Er zählte insgesamt ein Dutzend, mit der soeben geleerten Kiste also dreizehn Stück. Alle Kisten waren gefüllt, und Rick blickte verständnislos auf die kleinen weißen und gelblichen Kugeln. »Mr. Masters, sind Sie da drinnen?« ertönte vor dem Holzhaus eine bekannte Stimme. »Verdammt, bleiben Sie draußen!« schrie Rick. »Sie leben nicht mehr lange, wenn Sie hereinkommen!« Seine Gedanken drehten sich in einem rasenden Wirbel. Weiße und gelbe Kugeln! Was konnte das sein? Aus den Kisten stieg kein Geruch. Rick wagte nicht, die Kugeln zu berühren. Er wußte, daß er sie kannte! Er
wußte auch, daß sie in einem engen Zusammenhang mit seinem Fall standen, und daß er eigentlich erkennen mußte, was er vor sich sah! »Mr. Masters, wir kommen in das Haus«, rief draußen einer der Sergeanten. In diesem Moment traf Rick die Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht. Er taumelte zurück. »Nein!« brüllte er. »Nein, um Himmels willen! Draußen bleiben! Nicht reinkommen!« Er riß seine Pistole hoch und zielte schnell aber sorgfältig auf den Draht, an dem die Petroleumlampe hing. Er drückte ab. Der Schuß traf, die Lampe stürzte herunter. Rick wußte nicht, ob es Zufall war oder ob der Knall des Schusses diese schauerliche Wirkung auslöste. Jedenfalls platzten im nächsten Moment sämtliche Kugeln auf, die er von seinem Standort sehen konnte. Schlangeneier… Es waren unzählige Schlangeneier, aus denen nun winzige, aber tödliche Schlangen krochen! Die Geisterboten hatten hier ein Hauptquartier, in dem sie bis zu ihrem Einsatz aufbewahrt wurden. Dieser Einsatz war jetzt! Die Petroleumlampe war auf dem Boden zerplatzt. Die brennbare Flüssigkeit floß aus. 34 �
Hinter Rick flog die Tür auf. Die beiden Sergeanten stürmten in die Hütte. »Bringt ihn raus!« befahl Rick schneidend. In seinem Ton lag etwas, das keinen Widerspruch aufkommen ließ. Die beiden Männer sahen nicht die winzigen Schlangen und ahnten nicht, daß sie von einem – zigtausendfachen Tod umgeben waren. Sie bückten sich, packten den Toten und trugen ihn hastig aus der Hütte. Die Flammen breiteten sich auf dem Fußboden aus, aber Rick war nicht sicher, ob sie auch rechtzeitig die nötige Höhe erreichen würden. Echte Schlangen hätte er nicht auf diese Weise vernichtet. Sie hätten Tiere, also Lebewesen dargestellt. Doch hier hatte er es mit Ablegern von Dämonen zu tun, mit magischen Erzeugnissen, die nichts mit wirklichen Tieren zu tun hatten. Das Holz des Hauses war genügend ausgetrocknet. Die Flammen erreichten die Stützpfeiler und die Außenwände und leckten an ihnen hoch. Sie erfaßten auch die Holzbehälter, in denen die aufgeplatzten Schlangeneier lagerten. Dazu entwickelte das Holz starken, beißenden Rauch, der bald die ganze Hütte erfüllte. Rick Masters mußte sich zurückziehen. Die Tür stand offen. Die Sergean-
ten hatten sie nicht geschlossen, als sie ins Freie getreten waren. Rick merkte, daß durch die offene Tür genügend frische Luft strömte, um den Brand erst richtig anzufachen. Er stellte sich vor die Tür, die einzige Öffnung des Hauses, die Pistole schußbereit, die Silberkugel in der offenen Hand. Er mußte eingreifen, falls doch Giftschlangen flohen. Aber keine einzige erreichte das Freie. Alle blieben in der Hütte. »Mr. Masters!« Ein Sergeant trat neben ihn und berührte ihn an der Schulter. »Was ist passiert? Sie müssen sprechen!« »Muß ich?« Rick lachte kalt. »Was soll das, Mann? Da drinnen verbrennen schätzungsweise fünfzigtausend Schlangeneier. Eier von tödlichen Giftschlangen! Eines von diesen Biestern hat diesen Mann getötet. Und ich soll sprechen? Was soll ich Ihnen denn erzählen? Eine schöne Geschichte?« Der Sergeant wich einen Schritt zurück. »Sie sind ja verrückt, Mr. Masters!« rief er. »Legen Sie sofort die Waffe weg! Ich befehle es Ihnen!« Rick wandte ihm das Gesicht zu. Es war schweißbedeckt. Die Flammen tauchten es in rotes Licht. »So, Sie befehlen es mir?« schrie Rick. Seine Nerven waren wirklich mitgenommen, aber er wußte genau, was er tat. »Sie befehlen es mir?« Der Sergeant schrie auf, als Rick 35 �
die Pistole herumschwenkte, auf ihn anlegte und abdrückte. Der Sergeant glaubte nichts anderes, als daß Rick durchdrehte und versuchte, ihn zu erschießen. Sein Kollege, der ein Stück abseits stand, sah jedoch den wahren Grund. Von einem Baum hatte sich blitzschnell eine armdicke schwarze Schlange heruntergesenkt, das Maul mit den Giftzähnen weit aufgerissen. Doch Rick Masters war noch schneller gewesen. Sein Schuß hatte dem Sergeanten das Leben gerettet. Der vermeintlich Angegriffene sah seinen Irrtum ein, als neben ihm der leblose Schlangenkörper auf den Boden klatschte. Er sprang entsetzt zurück. »Weg hier!« befahl Rick. »Nehmt den Toten mit und verschwindet! Hier ist es zu ungemütlich!« Diesmal widersprachen sie ihm nicht, trugen den toten Flughafenangestellten zu ihrem Wagen, verstauten ihn darin und fuhren mit Höchstgeschwindigkeit zurück zur Hauptstraße. Rick blieb noch, bis die Hütte vollständig mit ihrem schauerlichen Inhalt verbrannt war. Dann erst untersuchte er seinen Morgan, fand ihn sauber, und fuhr in die Stadt zurück. Im Moment sehnte er sich nur nach einem Bett, in dem er sich ausstrecken und alles vergessen konnte.
Er fühlte sich nach all diesen Kämpfen und Aufregungen zerschlagen und erschöpft. Er wünschte sich aber auch, daß dieses Bett schlangenfrei blieb, und daß er aus seinem Schlaf auch wieder erwachte. * In der Hotelhalle traf Rick Masters auf Chefinspektor Hempshaw. »Nein, nicht jetzt!« wehrte Rick ab. »Ich kann nicht mehr, Kenneth! Tut mir leid!« Hempshaw betrat zusammen mit dem Geisterdetektiv den Aufzug. »Was war los?« fragte er hartnäckig. Rick seufzte. Er sah ein, daß der Chefinspektor keine Ruhe geben würde. In Stichworten schilderte er das Erlebte, dann stand er vor seinem Zimmer. »Bis morgen«, sagte er und knallte Hempshaw die Tür vor der Nase zu. Der Chefinspektor ging in sein eigenes Zimmer. Er sah ein, daß Rick nichts mehr sagen wollte. Rick durchsuchte noch sein Zimmer, legte Pistole und Silberkugel griffbereit unter sein Kopfkissen, ließ das Licht brennen, schloß die Augen… und erwachte erst wieder, als helles Sonnenlicht durch das Fenster hereinflutete. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß er lange geschlafen hatte. Es war 36 �
bereits zehn Uhr vormittags. Rick bestellte beim Roomservice das Frühstück und gönnte sich den Luxus, im Bett zu essen. Dabei zog er sich das Telefon heran und riet in London seine Freundin an, Hazel Kent war bereits in der Chefetage ihres Verwaltungshochhauses in der City. »Ich wollte dich anrufen, Darling«, sagte sie erfreut, als sie seine Stimme hörte. »Doch ich sagte mir, daß du ein chronischer Langschläfer bist.« »Von wegen Langschläfer«, lachte Rick. »Ich werde dir erzählen, was ich gestern erlebte! Danach sagst du nicht mehr, daß ich ein Langschläfer bin! Ich könnte bis heute abend weiterschlafen.« Hazel hörte sich schweigend den gedrängten Bericht ihres Freundes an. »Entsetzlich«, murmelte sie zuletzt. »Das kannst du laut sagen«, gab Rick zurück. »Was macht Dracula? Vermißt er mich?« »Und wie!« Hazel lachte leise. »Er sitzt neben mir und blickt zur Tür, als könntest du jeden Moment hereinkommen. Das macht er, seit du weg bist.« »Er fehlt mir«, sagte Rick. »Sehr sogar.« »Ich fehle dir nicht?« fragte Hazel lachend. »Doch, auch ein wenig«, gab Rick zu und schickte ihr einen Kuß
durchs Telefon. »Dracula könnte mir sehr helfen, aber ich bin froh, daß er nicht hier bei mir ist. Es wäre für ihn zu gefährlich.« »Ich wollte, ich könnte bei dir sein«, antwortete Hazel. »Ich habe Angst um dich!« »Ich hätte dir nichts erzählen sollen«, meinte Rick. »Dann hättest du dir auch keine Sorgen gemacht.« »Dann erst recht«, behauptete Hazel. »Ich weiß doch, was bei dir in Edinburgh los ist. Wenn ich nichts von dir höre, glaube ich, daß dir etwas zugestoßen ist!« »Wie man es macht, ist es falsch.« Rick lächelte zur Zimmerdecke. »Ich melde mich wieder!« »Viel Glück, Darling«, sagte Hazel weich und legte auf. Rick Masters ließ den Hörer auf den Apparat sinken und seufzte. Ein ungefährlicherer Beruf wäre für sie beide besser gewesen. Hazel hätte mehr von ihm gehabt und wäre nicht vor Sorge umgekommen, und Rick hätte mit Hazel zusammen ein herrliches Leben führen können. Doch dann dachte er an die Gefahren, die den Einwohnern dieser Stadt drohten, und er war sofort hellwach und einsatzbereit. Kein Gedanke mehr an ruhiges Leben! Wenn er gebraucht wurde, war er zur Stelle! So würde es immer sein! Rick beendete sein Frühstück, duschte, zog sich an und ging zu Chefinspektor Hempshaw, der ihn 37 �
schon ungeduldig erwartete. »Die Schlangen haben sich aus der ganzen Stadt zurückgezogen«, sagte Hempshaw zur Begrüßung. »Ich hätte Sie schon früher verständigt, aber Sie haben das Klingeln des Telefons nicht gehört.« »Das ist ja eine Überraschung«, murmelte Rick. Hempshaw zog die buschigen Augenbrauen zusammen, bis sie sich über seiner Nasenwurzel berührten. »Sie scheinen sich über diese Nachricht nicht zu freuen«, stellte er kritisch fest. »Nein, selbstverständlich nicht«, erwiderte Rick. »Sie meinen doch nicht, daß alles vorbei ist! Ich habe nur diese Hütte mit den Eiern zerstört. Das kann keineswegs die anderen Schlangen zum Verschwinden gebracht haben.« »Warum denn nicht?« rief Hempshaw heftig. »Sie haben eben die Zentrale ausgerottet! Da die Schlangen magischen Ursprungs waren, verschwanden sie danach.« »Nein!« Rick schlug mit der Faust auf den Tisch. »Überlegen Sie doch logisch! Früher sind Sie mir oft mit Ihrer Logik auf die Nerven gegangen, Kenneth! Vergessen Sie jetzt nicht Ihre Grundsätze!« »Machen Sie es nicht so spannend, ich will wissen, was hier gespielt wird«, brummte der Chefinspektor. »Das war keine Zentrale der magi-
schen Kräfte«, behauptete Rick. »Das war eine Sammelstelle für Schlangeneier, sonst nichts!« »Was macht Sie so sicher?« erkundigte sich Hempshaw. »Es war nicht zu erkennen, woher die Schlangeneier kommen«, erklärte Rick. »Es gab keine Quelle für die magischen Kräfte. Und Hank Fletcher war kein Schwarzmagier. Er war nur ein Unschuldiger, der zu Hilfsdiensten gezwungen worden war.« »Woher wollen Sie das wieder wissen?« brauste Hempshaw nervös auf. »Als die Schlange ihn bereits gebissen hatte und er den Tod fühlte«, sagte Rick ernst, »log er nicht. Er sagte die Wahrheit. Er war zu Hilfsdiensten gezwungen worden. Der Befehl war von einer Schlange erteilt worden, die zu ihm gekommen war. Er erwähnte, sie hätte es ihm gesagt, aber dann verbesserte er sich selbst, sie habe natürlich nicht gesprochen! Schlangen können nicht sprechen, aber magische Geisterboten in Schlangengestalt können Befehle auf geistiger Ebene erteilen. Genau das ist in diesem Fall geschehen. Die wahren Schuldigen falls es sie überhaupt gibt sind noch in Freiheit. Und falls es bloß eine Quelle der Schlangen gibt, die nicht von Menschenhand gesteuert wird, ist sie weiterhin offen. So sieht es aus, Kenneth! So 38 �
und nicht anders!« Die Miene des Chefinspektors verdüsterte sich mit jedem Wort des Geisterdetektivs, doch er widersprach nicht. Dazu erkannte er Rick als zu großen Experten an. »Inspektor Cranston möchte wissen, was Sie unternehmen«, fragte Hempshaw nach einer Weile. »Es paßt ihm nicht, daß wir beide ihm ins Handwerk pfuschen.« »Daran kann ich nichts ändern«, erwiderte Rick lächelnd. »Er wird sich damit abfinden müssen.« »Nun gut, aber was soll ich ihm sagen?« erkundigte sich Hempshaw. »Was haben Sie vor?« »Wissen Sie das noch nicht?« fragte Rick lachend. »Ich will den Fall der Geisterschlangen klären!« Damit ließ er den verdutzten Chefinspektor stehen und verließ das Hotel. Der neue Tag begann mit strahlendem Sonnenschein. Es war ein wunderbarer Spätherbsttag. Vielleicht, dachte Rick hoffnungsvoll, war das ein gutes Omen für einen erfolgreichen Abschluß seiner Ermittlungen. Tief in seinen Gedanken waren jedoch Zweifel verborgen. Er ahnte, daß ihm noch einige böse Auseinandersetzungen bevorstanden.
stieg, lief ein Hotelpage vor das Portal, sah sich kurz um und winkte dem Geisterdetektiv zu. »Mr. Masters!« Der Junge kam an den Morgan, den er mit einem bewundernden Blick streifte. »Telefon, Mr. Masters!« »Wer will mich denn sprechen?« fragte Rick. »Mr. Ford«, erwiderte der Page. »Tut mir leid, ich bin schon weg«, sagte Rick grinsend und fädelte seinen Morgan in den fließenden Verkehr auf der Princess Street ein. Aldous Ford war zu Rick noch immer nicht ehrlich. Und das nahm Rick ihm übel, auch wenn Ford ein gutes Honorar zahlte. Ehrlichkeit war die Grundvoraussetzung in einem Beruf, in dem es um Leben und Tod ging. Rick kannte die Adresse, an der Jeremy Ford bis zu seinem Tod gewohnt hatte. Er fuhr in den Vorort von Edinburgh und hielt vor einem kleinen Einfamilienhaus mit ausgebautem Dach. Wie vermutet, lag Jeremy Fords Zimmer unter dem Dach. Noch während Rick vor dem Gartenzaun stand und das Haus musterte, öffnete sich die Tür. Eine ältere weißhaarige Frau trat heraus. Sie trug eine geblümte Schürze und kam mit freundlichem Lächeln an * den Zaun. »Guten Tag, Sir«, grüßte sie und Als Rick Masters in seinen Morgan � blinzelte Rick durch die dicken Bril39 �
lengläser an. »Kommen Sie wegen des Zimmers?« »Ja, Madam«, erwiderte Rick höflich. »Vermutlich habe ich an dem Zimmer aber ein anderes Interesse, als Sie erwarten. Sie sprechen von Jeremy Fords ehemaligem Zimmer?« »Ach so, Sie sind Reporter oder Polizist«, erwiderte die alte Dame enttäuscht. »Weder, noch«, erklärte Rick. »Ich bin Privatdetektiv. Mr. Ford hat mir den Auftrag gegeben, den Tod seines Sohnes zu untersuchen. Darf ich das Zimmer sehen?« Rick zeigte seinen Ausweis als Privatdetektiv. Von Geistern stand in diesem offiziellen Dokument allerdings nichts, und er hatte nicht die Absicht, die Vermieterin mit seiner wahren Berufsbezeichnung zu erschrecken. »Kommen Sie, Mr. Masters«, bot die alte Dame an. »Ich bin übrigens Mrs. Shuttle. Das Zimmer liegt unter dem Dach. Wenn ich Ihnen helfen kann, tue ich es gern.« Sie ging voraus und führte den Geisterdetektiv eine steile Treppe hinauf. »Hier ist es, Mr. Masters«, sagte sie und öffnete eine so niedrige Tür, daß Rick sich beim Eintreten bücken mußte. Das Zimmer wirkte gemütlich. Rick konnte sich kaum vorstellen, daß hier dämonische Mörder zugeschlagen hatten. Und doch war in
diesem Raum Jeremy Ford gestorben, ein Jünger der Weißen Magie. »Das Zimmer ist ja noch völlig eingerichtet«, sagte Rick überrascht. »Das sind doch die persönlichen Gegenstände von Jeremy Ford, nicht wahr?« Die Vermieterin nickte. »Sein Vater hat sich bisher geweigert, die Sachen seines Sohnes abzuholen.« »Mrs. Shuttle, ich möchte mir die Bücher und Schriften ansehen«, bat Rick. Die Vermieterin hatte nichts dagegen. Während er jedes einzelne Buch prüfte, fragte er Mrs. Shuttle vorsichtig über ihren verstorbenen Untermieter aus. Die alte Dame war froh, über die schrecklichen Ereignisse in ihrem Haus sprechen zu können. Rick erfuhr auf diese Weise, daß Aldous Ford wenigstens in einer Hinsicht zu ihm ehrlich gewesen war. Sein Sohn Jeremy war ein absoluter Einzelgänger gewesen. »Er hat nie Besuch erhalten«, versicherte Mrs. Shuttle. »Weder von Freunden, noch von Freundinnen. Ich sagte zu ihm, Mr. Ford, sagte ich, Sie können sich doch nicht in Ihrem Zimmer vergraben! Davon haben Sie nichts. Sie müssen leben.« »Ja, tatsächlich«, murmelte Rick und blätterte weiter in den Büchern, die sich ausschließlich mit Weißer Magie und der Bekämpfung der Schwarzen Magie beschäftigten. 40 �
»Und wissen Sie«, fuhr Mrs. Shuttle geheimnisvoll fort, »was er darauf antwortete?« »Nein, was denn?« fragte Rick aus Höflichkeit, um die nette Frau nicht zu kränken. »Er sagte«, flüsterte sie, »seine Studien wären für diese Stadt lebenswichtig, sonst kämen die Schlangen aus dem Kloster zu uns! Das hat er gesagt!« Rick Masters fuhr von seinem Stuhl hoch, als habe er darunter eine Schlange entdeckt. »Wie war das?« rief er atemlos. »Die Schlangen aus dem Kloster?« Mrs. Shuttle nickte bedeutungsvoll. »Genau das waren seine Worte, Mr. Masters! Der arme Jeremy Ford hat die Schlangeninvasion vorausgesehen, denn er hat die Prophezeiung Wochen vor dem Auftauchen der ersten Schlange gemacht!« Rick Masters setzte sich wieder und nahm sich zusammen, damit Mrs. Shuttle seine Aufregung nicht so deutlich merken sollte. Er wollte sie nicht verwirren. »Mrs. Shuttle«, sagte er lächelnd, »es wäre sehr wichtig, daß ich dieses Kloster finde. Kennen Sie zufällig den Namen?« »Nein, leider nicht«, meinte sie bedauernd. »Ich weiß nur, daß es irgendwo nördlich von Edinburgh in den Bergen liegt.« Rick stöhnte in sich hinein. Irgendwo nördlich von Edinburgh!
Da lag nur fast ganz Schottland! Ohne einen weiteren Hinweis war die Suche nach diesem Kloster absolut aussichtslos. Eines wußte er jetzt wenigstens. Die Giftschlange war nicht zufällig zu Jeremy Ford gekommen. Sie war zu ihm geschickt worden, um ihn zu beseitigen. Er hatte offenbar gewußt, woher die Schlangen stammten, und er hatte schon vor Wochen die Invasion vorausgeahnt. Rick bedankte sich bei Mrs. Shattle, telefonierte mit Mr. Ford und erhielt die Erlaubnis, Jeremy Fords Habseligkeiten in das Hotel zu schaffen. Zwei Stunden später kam Rick mit zwei schweren Koffern in seinem Hotel an. Zwei Pagen schleppten das Gepäck auf sein Zimmer. Er hatte den ersten Koffer noch nicht geöffnet, als es klopfte. Chefinspektor Hempshaw trat ein. »Das dachte ich mir«, sagte Rick grinsend. »Bestimmt haben Sie mitbekommen, daß ich etwas gebracht habe. Nun halten Sie es vor Neugierde nicht mehr aus.« »Das ist keine Neugierde«, erwiderte der Chefinspektor mit gespielter Würde. »Ich interessiere mich aus dienstlichen Gründen für den Inhalt dieser Gepäckstücke.« Lachend öffnete Rick die Schlösser und hob die Deckel. »Bücher?« entfuhr es dem Chefinspektor. 41 �
»Ganz besondere Bücher«, erwiderte Rick, zeigte ihm einige Titel und erklärte, woher dieses Material stammte. »Fein«, sagte Chefinspektor Hempshaw in seiner trockenen Art. »Dann brauchen wir also nur noch dieses Kloster zu finden, um den Fall zu lösen.« »Sie haben wieder einmal recht, Kenneth«, bemerkte Rick grinsend. »Ich kann Sie aber beruhigen, es handelt sich um kein gewöhnliches Kloster. Es muß eine entweihte Stätte sein, sonst könnten von dort keine Dämonenschlangen kommen.« Hempshaw nickte nachdenklich. »Ich werde versuchen, ob ich eine Liste aller ehemaligen Klöster erhalte«, sagte er und wollte das Zimmer verlassen. »Ruinen!« rief Rick hinter ihm her. »Vergessen Sie die Ruinen nicht! Vielleicht steht oberirdisch so gut wie nichts mehr von diesem Kloster! Es genügt, wenn es unterirdische Gewölbe gibt.« »Stellen Sie sonst noch Ansprüche, Rick?« erkundigte sich der Chefinspektor. »Nein, eigentlich nicht«, antwortete Rick grinsend. »Jetzt machen Sie sich schön an die Arbeit, Kenneth!« Hempshaw brummte etwas Unverständliches, als er die Tür von außen schloß. Rick wußte, daß er sich auf den Chefinspektor verlassen konnte. Er
selbst mußte aber auch etwas tun, um einen Hinweis auf das Kloster zu finden. Während er sorgfältig Buch um Buch durchblätterte und vor allem nach handschriftlichen Notizen suchte, griff er zum Telefon und wählte Aldous Fords Büro an. Diesmal wurde er ohne Umstände verbunden. »Was kann ich für Sie tun, Mr. Masters?« fragte Aldous Ford zurückhaltend. »Hat Mrs. Shuttle Ihnen die Sachen meines Sohnes gegeben?« »Ja, damit ist alles in Ordnung«, versicherte der Geisterdetektiv. »Hat Ihr Sohn vor einiger Zeit von einem Kloster gesprochen, Mr. Ford?« »Ja, das hat er«, bestätigte Aldous Ford. »Von welchem?« fragte Rick aufgeregt. »Ist das denn so wichtig?« staunte Aldous Ford. »Natürlich, sonst hätte ich nicht danach gefragt!« sagte Rick ungeduldig. »Also, von welchem Kloster sprach er?« »Er sagte nur, daß es nördlich von Edinburgh liegt, und daß man mit dem Wagen ungefähr eine Stunde unterwegs ist«, erwiderte Aldous Ford knapp. »Mehr weiß ich leider nicht.« Rick Masters wurde das Gefühl nicht los, daß ihn der Unternehmer belog, oder daß er zumindest nicht 42 �
die ganze Wahrheit sagte. »Ist das wirklich alles?« vergewisserte sich der Geisterdetektiv. »Mr. Ford, es ist für die ganze Stadt lebenswichtig!« »Ich habe gesagt, was ich weiß«, entgegnete Ford kühl. »Darf ich mich jetzt wieder meinen Geschäften widmen?« »Ja, meinetwegen!« rief Rick gereizt und warf den Hörer auf den Apparat. Dieser Aldous Ford spielt nicht ehrlich! Fünf Minuten lang wälzte Rick Masters düstere Gedanken. Er überlegte, was Aldous Ford wohl plante, das er nicht wissen durfte. Er kam auf keinen grünen Zweig. Wieder wählte er die Nummer des Busunternehmers und bekam erneut dessen Sekretärin an den Apparat. »Ich muß sofort mit Mr. Ford sprechen«, sagte Rick drängend. »Beeilen Sie sich, bitte!« »Tut mir leid, Mr. Masters«, entgegnete die Sekretärin verstört. »Mr. Ford hat unmittelbar nach Ihrem Anruf das Büro verlassen. Ich weiß nicht, wohin er gefahren ist.« »Macht er das öfters?« fragte Rick nervös. »Aber nein«, versicherte die Sekretärin. »Ich mußte sogar zwei sehr wichtige Termine absagen!« Rick Masters murmelte eine Verwünschung. Aldous Ford hatte ihn offensichtlich reingelegt! Er wußte
genau, von welchem Kloster die Rede war. »Schnell!« rief er. »Geben Sie mir eine Beschreibung von Mr. Fords Wagen! Marke und Kennzeichen! Beeilen Sie sich, sonst ist es zu spät!« Die erschrockene Sekretärin nannte ihm beides, und Rick wählte den Hausanschluß für Hempshaws Zimmer. »Lassen Sie eine dringende Fahndung nach Aldous Ford rausgehen!« drängte er und gab Hempshaw die Beschreibung weiter. »Der Mann ist unter allen Umständen festzuhalten! Man soll mich verständigen, sobald man ihn gefunden hat!« Hempshaw merkte, wie dringend es war. Er stellte keine Fragen, sondern rief im Polizeipräsidium an. Rick Masters zwang sich zur Ruhe. Es hatte keinen Sinn, wenn er sich in seinen Wagen setzte. Nördlich von Edinburgh, das war ein viel zu weit gesteckter Begriff. Er konnte sich nicht mit Erfolg an der Suche nach Aldous Ford beteiligen. Er hoffte nur, daß ihn die Polizei fand, bevor es zu spät war. Mit jeder Stunde, die verstrich, wurden Ricks Hoffnungen kleiner, Aldous Ford noch einmal lebend wiederzusehen. Nach dem Mittagessen war er ziemlich sicher, daß Ford verloren war. Am frühen Nachmittag endlich erhielt er eine Botschaft von seinem 43 �
Auftraggeber, wenn auch auf eine Art und Weise, mit der er niemals gerechnet hätte. * Aldous Ford mochte den Geisterdetektiv aus London. Trotzdem hütete er sich, seine wahren Absichten auf den Tisch zu legen. Er fürchtete, Rick Masters könne abspringen. Er wußte nicht, daß Rick Masters niemals einen Fall aufgab, den er einmal begonnen hatte. Wenn nötig, arbeitete Rick sogar gegen die Interessen seiner Auftraggeber. Für ihn war es stets die Hauptsache, der Magie entgegenzuwirken. Aldous Ford war ein guter Autofahrer. Trotzdem hätte er beim Verlassen der Stadt beinahe drei Unfälle gebaut. Einmal überfuhr er ein Rotlicht, einmal schnitt er einem anderen Autofahrer die Vorfahrt, beim dritten Mal bremste er zu spät. Mit kreischenden Reifen hielt sein Wagen nur Millimeter von einem vor ihm stehenden Auto. Aldous Ford hatte als junger Mann als Busfahrer begonnen. Im Laufe der Jahre hatte er sich zu dem führenden Busunternehmer Schottlands aufgeschwungen, war mehrfacher Millionär geworden und hatte alles verloren. Er besaß noch sein Geld, doch was bedeutete das schon für einen Mann, dem erst die Frau davongelaufen
war und dessen einzigen Sohn man ermordet hatte? Für Aldous Ford gab es nur noch ein Lebensziel. Er wollte Rache für Jeremys Tod! Nicht Bestrafung, sondern Rache! Deshalb sprach er nicht mit Rick Masters über seine eigentlichen Absichten. Wie er den Detektiv einschätzte, wäre er gar nicht damit einverstanden gewesen. Von den Geschichten mit Schwarzer und Weißer Magie hielt Aldous Ford nicht zuviel, weil er nichts davon verstand. Er war sicher, daß es einen Menschen gab, der die Fäden in der Hand hielt. Einen Menschen also, den er für den Tod seines Sohnes zur Rechenschaft ziehen konnte. Diesen Schuldigen vermutete er in dem Kloster, von dem Rick Masters gesprochen hatte. Es lag tatsächlich eine Autostunde nördlich von Edinburgh in den Bergen. Und zwar handelte es sich um die Ruinen der Abtei von Glenmorra. Jeremy hatte es seinem Vater gesagt. Jeremy hatte sogar die Invasion der Schlangen vorausgesagt, doch Aldous Ford hatte ihn nur ausgelacht. Heute fühlte sich der Unternehmer schuldig, wenn er daran dachte, wie enttäuscht Jeremy gewesen war! Schon von Edinburgh aus benutzte Aldous Ford nur kleinste Nebenstraßen, die in zahlreichen Windungen 44 �
in die Berge hinein führten. Er hätte auch eine vielbefahrene Hauptstraße nehmen und später abbiegen können, doch sein Instinkt riet ihm davon ab. Aldous Ford stand im Begriff, einen schweren Fehler zu begehen, indem er sich allein in die Abtei von Glenmorra wagte. Einen anderen Fehler vermied er allerdings. Er unterschätzte Rick Masters keinesfalls, und er traute dem Detektiv zu, sein Spiel zu durchschauen. In diesem Fall ließ Masters die Polizei nach ihm suchen. Auf diesen kleinen Nebenstraßen war Fords Chance, den Polizeistreifen zu entgehen, wesentlich höher. Es gab so viele Straßen, daß die Streifen nicht jede überprüfen konnten. Auf diese Weise schlüpfte er tatsächlich durch die Kontrollen. Er war bei strahlendem Sonnenschein losgefahren, doch nach einer halben Stunde trübte sich der Himmel ein. Vom nahen Meer her schob sich eine schwarze Wolkenwand auf das Land zu und verdeckte die Sonne. Aldous Ford mußte die Scheinwerfer einschalten. In dem unsicheren Zwielicht konnte er die Straße nur schwer erkennen: Vor Aldous Ford entstand plötzlich eine graue Wand. Regen! Klatschend fielen die ersten Trop-
fen auf den Wagen, und in der nächsten Sekunde stürzten die Wassermassen dicht vom Himmel. Ärgerte sich Aldous Ford anfänglich über den Wolkenbruch, freute er sich bald, weil ihn die Polizei auf diese Weise ganz bestimmt nicht entdeckte. Aus der einen Stunde Autofahrt allerdings wurden zwei. Dafür hatte es zu regnen aufgehört, als Aldous Ford endlich die Ruinen von Glenmorra erreichte und ausstieg. Zwischen den schwarzen Wolken fielen zaghafte Sonnenstrahlen auf die dampfende Erde und ließen die Wassertropfen wie Diamanten glitzern. Der Mann hatte kein Auge für die Schönheit der Natur. Sein Blick war düster auf die Abtei gerichtet. Von den Außenmauern standen noch die Fundamente. Man konnte erahnen, daß die Abtei in früheren Jahrhunderten sehr bedeutungsvoll gewesen war. Heute wurden die letzten Trümmer bereits vom Unkraut überwuchert. Vergeblich sah sich Aldous Ford nach einer menschlichen Behausung um. In den Ruinen konnte niemand wohnen. Er war bitter enttäuscht, hatte er doch gehofft, hier den Schuldigen zu finden. Die Abtei lag auf einer Hügelkuppe. Man konnte das Land von hier oben weit überblicken. Nirgendwo ein Haus! 45 �
Aldous Ford wollte schon zu seinem Wagen gehen und nach Edinburgh zurückkehren, als er vor sich im Gras eine Bewegung bemerkte. Er blickte genauer auf die Stelle und prallte erschrocken zurück. Durch das Gras kroch eine gelbe Schlange direkt auf ihn zu. Vergeblich versuchte der Unternehmer zu fliehen. Er kam nicht von der Stelle. Seine Beine gehorchten ihm nicht. »Bleib hier«, ertönte direkt in seinem Kopf eine wispernde Stimme. »Keine Angst! Ich soll dich zu dem Mörder deines Sohnes führen! Folge mir!« In einem lichten Moment erkannte der Unternehmer entsetzt, daß er der Schwarzen Magie erlag. Hier hatte er den Beweis vor sich, daß Rick Masters nicht gelogen hatte. Es gab Schwarze Magie, und er wurde eines ihrer Opfer. Dennoch konnte er sich nicht mehr von dem Bann befreien. Er hatte sich schon zu nahe an die alte Abtei herangewagt. Mit unsicheren Bewegungen kletterte er über die Mauer und betrat den ehemaligen Innenhof des entweihten Klosters. Die Schlange wies ihm tatsächlich den Weg. Sie verschwand hinter einem Busch und kam nicht mehr zum Vorschein. Jetzt wollte Aldous Ford noch einmal versuchen, dem Unheil zu ent-
kommen. Er hatte keine Chance! Die lautlose Stimme lockte zu stark. Sie erteilte ihm den Befehl, die letzten Schritte zu wagen. Er trat hinter den Busch und verlor im nächsten Moment das Gleichgewicht. Schreiend warf er die Arme hoch, als seine Beine keinen Widerstand mehr fühlten. Ford stürzte in das raffiniert getarnte Loch, fiel einen schrägen Schacht in die Tiefe und prallte hart auf. Allerdings verlor er nicht das Bewußtsein, so daß er das Geheimnis der alten Abtei in seinem ganzen Schrecken erkannte. Sein Verstand weigerte sich, das Grauen zu begreifen. Es überstieg sein Vorstellungsvermögen. Und doch war es wahr! Er sah, woher die Schlangen stammten, und er erkannte, was auf Edinburgh zukam. Er sah sie alle, die unzähligen, nach Millionen zählenden Schlangen, die sich auf die ganz große Invasion vorbereiteten. Er erfuhr ihre Bestimmung und erkannte schaudernd, daß er nichts mehr dagegen tun konnte. Sein Sohn Jeremy hatte es wohl geahnt und versucht, sich dagegen zu stemmen. Jeremy hatte aber den gleichen schrecklichen Fehler wie nun sein Vater begangen. Anstatt sich an Rick Masters, dem Spezialis46 �
ten zuwenden, hatten sie beide versucht, das Problem auf eigene Faust zu lösen. Jeremy Ford war es schon zum Verhängnis geworden. Nun mußte auch Aldous Ford für seinen Leichtsinn bezahlen. Das Grauen der alten Abtei von Glenmorra griff nach ihm und verschlang ihn. Als wollten die Geister von Glenmorra ihr Opfer noch verhöhnen, übermittelten sie selbst Aldous Fords letzte Botschaft an den Geisterdetektiv Rick Masters! * »Ich habe schon die Hoffnung aufgegeben, Mr. Ford lebend wiederzusehen«, sagte Rick Masters. Er saß mit dem Chefinspektor im Tearoom des Hotels. Die Fenster zeigten auf die Princess Street hinaus. Menschen fluteten massenweise an dem Hotel vorbei. Hempshaw war mit seinen Gedanken ganz woanders. »Das schöne Wetter lockt die Menschen auf die Straße«, sagte er leise. »Die Leute sehen, daß es keine Schlangen mehr in der Stadt gibt. Keiner ahnt, welche Gefahren womöglich noch dieser Stadt drohen.« »Das ist auch besser so, weil sich nichts daran ändern würde«, erklärte Rick.
»Wir könnten Edinburgh evakuieren lassen«, schlug Hempshaw vor. »Ja?« Rick hob mit einem müden Lächeln die Augenbrauen. »Eine ganze Stadt evakuieren? Wissen Sie, was das bedeutet? Panik, Plünderungen, Brände, Überfälle, Selbstmorde. Hilflose bleiben zurück, Skrupellose machen das Geschäft ihres Lebens. Verkehrsunfälle, Nervenzusammenbrüche. Nein, Kenneth, Sie wissen es ganz genau. Es gäbe zu viele Opfer, ohne daß wir eines Erfolges sicher sein könnten. Ausgeschlossen!« »Warum kein Erfolg?« fragte der Chefinspektor. »Wenn wirklich eine Invasion dieser Stadt geplant ist«, erklärte der »werden sich Geisterdetektiv, unsere Feinde nicht mit einer menschenleeren Stadt zufriedengeben. Dämonen brauchen Menschen, die sie in ihre Gewalt bringen können, keine Gebäude. Die Gegenseite würde also eine Evakuierung verhindern.« Hempshaw wollte etwas erwidern, doch eine Bewegung auf dem Teetablett zwischen ihnen ließ ihn stocken. »Nicht bewegen«, flüsterte Rick. Er starrte aus geweiteten Augen auf die fingerlange grün und gelb gestreifte Schlange, die zwischen der Zuckerdose und der Teekanne auftauchte. Er wußte sofort, daß diese Schlange auf magischem Weg dort47 �
hin gekommen war. Er. hatte die Umgebung nämlich genau überwacht. Das Reptil hatte sich nicht angeschlichen. Es wäre ihm nicht entgangen. Während er nach seiner Silberkugel tastete und der Chefinsepktor zur Salzsäule erstarrte, richtete sich die winzige Schlange auf. »Ich sterbe«, sagte Chefinspektor Hempshaw halblaut. Rick prallte zurück. Das Grauen lähmte ihn. »Doch vorher will ich Ihnen noch eine letzte Botschaft schicken, Mr. Masters«, fuhr Hempshaw fort. Erleichtert erkannte Rick, daß nicht der Chefinspektor selbst sprach. Jemand benutzte ihn als Medium, um sich durch seinen Mund mitzuteilen. Die Augen des Chefinspektors waren starr und ausdruckslos auf die Schlange gerichtet. Nun begriff Rick die Zusammenhänge innerhalb von Sekundenbruchteilen. Die Schlange übermittelte die Botschaft, die durch den Mund des Chefinspektors hörbar wurde. »Ich habe mich zu weit vorgewagt und muß meinen Rachedurst mit dem Leben bezahlen«, fuhr Hempshaws fort. »Ich wollte den Mörder meines Sohnes finden, aber hier in diesen Ruinen gibt es keinen Menschen, an dem ich mich rächen könnte.«
Nun stand auch fest, wessen letzte Botschaft Rick hörte. Schweißperlen flossen über die Stirn des Geisterdetektivs. Er war sich seiner Ohnmacht und Hilflosigkeit bewußt. Er konnte nichts anderes tun, als den Worten zu lauschen. Auch wenn er seine Silberkugel bereits in der Hand hielt, konnte er nichts ändern. »Eine Invasion der Geister steht unmittelbar bevor«, fuhr Hempshaw fort. »Die Schlangen sind die Wegbereiter. Sie sollen alle Feinde des Bösen, alle Feinde der Geister und Dämonen töten, bevor die neuen Herren von Edinburgh auftauchen! Das ist meine letzte Botschaft, Mr. Masters! Und damit Sie wissen, daß ich wirklich zu Ihnen spreche, gebe ich Ihnen ein Zeichen. Heute abend wird meine Sekretärin zu ihnen kommen. Ich habe…« Chefinspektor Hempshaw verstummte. Seine Augen verdrehten sich. Mit einem erstickten Stöhnen rutschte er von seinem Stuhl und fiel auf den Boden des Tearooms. Die übrigen Gäste sprangen erschrocken auf. Rick schlug blitzschnell mit der Silberkugel zu und löschte die magische Schlange, den Geisterboten aus. Im selben Moment schlug Hempshaw die Augen wieder auf. Rick half ihm zurück auf den Stuhl. »Alles in Ordnung?« fragte der 48 �
Geisterdetektiv mit verzerrtem Gesicht. »Ja, alles in Ordnung«, flüsterte Hempshaw verwirrt. »Was war mit mir los? Weshalb fiel ich vom Stuhl?« »Danke, alles in Ordnung«, sagte Rick zu dem herbeieilenden Kellner, der sich daraufhin zurückzog. Auch die übrigen Gäste beruhigten sich. Rick Masters erzählte dem Chefinspektor, was sich abgespielt hatte. Hempshaw hörte, mit verkniffenem Gesicht zu. »Fragen wir doch die Sekretärin«, schlug er vor. »Nein, ich will abwarten«, sagte Rick. »Sie wäre sonst beeinflußt.« Er schüttelte den Kopf. »Leider hat mir Mr. Ford nicht mitgeteilt, um welches Kloster es sich handelt.« »Ich lasse sofort nach seinem Wagen suchen«, sagte der Chefinspektor. Rick hielt nicht viel von dieser Idee, widersprach jedoch nicht. Hempshaw gab die entsprechenden Anweisungen. Danach begann das Warten. Der Wagen wurde gefunden… in Aldous Fords Garage! Der Unternehmer blieb verschwunden. »Ich werde einen Durchsuchungsbefehl für Fords Haus besorgen«, erklärte Hempshaw. »Unter Umständen gibt es in dem Haus einen Hinweis.« Hempshaw blieb lange weg, und
Rick hatte Zeit, sich alles durch den Kopf gehen zu lassen. Jetzt wußte er, was ihn an Aldous Ford gestört hatte. Der Mann war tatsächlich nicht ehrlich gewesen, sondern hatte Rick mißbrauchen wollen. Rick hätte für ihn den Schuldigen aufspüren sollen, den Ford in Selbstjustiz richten wollte, ein Unternehmen, bei dem Rick Masters niemals freiwillig mitgemacht hätte. Chefinspektor Hempshaw war noch immer nicht zurück, als jemand an Ricks Tisch trat. Er blickte auf. »Mr. Masters?« fragte die elegant und dezent gekleidete Frau um die Vierzig. Rick nickte. »Was kann ich für Sie tun?« »Ich bin Mrs. Closters, Mr. Fords Sekretärin«, erwiderte die Frau. »Mr. Ford gab mir die Anweisung, Ihnen diesen Umschlag zu überreichen, wenn er bis heute abend nicht zurück sein sollte. Nun, er kam nicht zurück. Bitte.« Rick nahm den Umschlag entgegen. Die Sekretärin ging sofort wieder, nachdem sie versichert hatte, von Mr. Ford kein Lebenszeichen erhalten zu haben. Rick öffnete den Umschlag. Er enthielt einen Scheck mit dem Honorar für seine Bemühungen. Diesen Scheck zeigte er dem Chefinspektor, der eine halbe Stunde später mit dem Durchsuchungsbe49 �
fehl und Inspektor Cranston im Schlepptau das Hotel betrat. »Also gut, gehen wir davon aus, daß Aldous Ford tot ist«, entschied Chefinspektor Hempshaw. »Wir durchsuchen jetzt sein Haus. Kommen Sie mit, Rick?« Seufzend stand der Geisterdetektiv auf. »Manche Fragen könnten Sie sich wirklich schenken, Kenneth«, sagte er kopfschüttelnd. »Selbstverständlich begleite ich Sie!« Inspektor Cranston streifte den Geisterdetektiv mit einem schwer zu deutenden Blick. Es schien ihm noch immer nicht zu gefallen, daß sich Leute aus London in seinen Fall einmischten, aber er verkniff sich jede Bemerkung. Und das war gut, denn Rick Masters’ Nervenkraft war mittlerweile fast aufgebraucht. Es hätte vermutlich sofort Streit gegeben. Denn Rick wußte, daß eine Geisterinvasion drohte, und er konnte abschätzen, was das bedeutete. Es war schlimmer als alles, was man sich vorstellen konnte. Eine ganze Stadt in Geisterhand! Vorher durch eine Armee von Giftschlangen von Feinden des Bösen gesäubert! Unvorstellbar…! * In der Villa des Bus Unternehmers fanden sie eine völlig aufgelöste Haushälterin vor. Sonst lebte nie-
mand in dem prunkvollen alten Gebäude, das an ein Schloß erinnerte. »Mr. Ford muß ein sehr unglücklicher Mann gewesen sein«, bemerkte Rick Masters, nachdem sie einmal durch alle Räume gegangen waren. »Sie sprechen von ihm schon, als wäre er tot!« fuhr Inspektor Cranston auf. »Er ist tot«, versicherte der Geisterdetektiv. »Daran kann es keinen Zweifel geben.« Cranston hatte eine scharfe Erwiderung auf den Lippen, doch Chefinspektor Hempshaw schoß ihm einen Blick zu, der ihn verstummen ließ. Inspektor Cranston hatte zehn Mann seiner Abteilung mitgebracht. Sie begannen nun mit der systematischen Suche. Rick Masters und Chefinspektor Hempshaw durchsuchten ohne jeden Erfolg das Arbeitszimmer des Hausherrn. »Ich habe auch einen Durchsuchungsbefehl für die Firmenräume«, warf Inspektor Cranston ein, der sich hilfreich zeigte. Er schien sich überlegt zu haben, daß es doch besser war, mit Masters und Hempshaw zusammenzuarbeiten. Rick saß hinter Fords Schreibtisch und blickte sich in dem Raum um. Er nickte nur. »Nun?« fragte Hempshaw ungeduldig, als Rick sich einige Minuten 50 �
lang nicht bewegte. »Wieso suchen wir eigentlich hier?« fragte Rick langsam und schleppend. »Der Vater hatte gar nichts mit den Schlangen zu tun! Er wußte nur, wo das Kloster lag. Wir fanden hier keine Notiz, keinen Hinweis. Wir suchen an der falschen Stelle. Sein Sohn ahnte, daß von einem bestimmten Kloster die Gefahr ausgeht. Also müssen wir uns das Zimmer des jungen Ford ansehen!« Hempshaw war von der Idee begeistert. Zusammen mit Inspektor Cranston gingen sie in die Räume, die Jeremy Ford vor seinem Auszug aus der väterlichen Villa bewohnt hatte. Dort erlebten sie jedoch eine Enttäuschung. Alle Schränke waren leer. »Der junge Herr hat seinen gesamten Besitz mitgenommen«, versicherte die Haushälterin, als sie zu diesem Punkt befragt wurde. »Ich glaube, er hat das Meiste verkauft. Mr. Ford unterstützte seinen Sohn nämlich nicht mehr, und der junge Herr wollte eine Menge Bücher kaufen. Er erzählte es mir, als ich ihn einmal in der Stadt traf.« »Erwähnte er dabei auch ein Kloster in den Bergen?« fragte Rick Masters gespannt. Die Haushälterin schüttelte bloß den Kopf und lief weinend aus dem Zimmer.
»Fehlanzeige«, murmelte Chefinspektor Hempshaw wütend. »Was machen wir bloß? Cranston! Ist die Liste der Klöster schon fertig?« »Ja«, bestätigte der Inspektor. Er zog ein Blatt aus seiner Brusttasche. Rick warf einen Blick darauf und seufzte. »Das sind ungefähr hundert Namen«, stellte Rick fest. »Einhundertneunzehn«, verbesserte ihn der Inspektor. »Wir haben hier in Schottland eine Menge Ruinen. Touristen wissen das zu schätzen.« »Ich bin kein Tourist«, sagte Rick und stand seufzend auf. »Durchsuchen wir die Firma!« Sie stellten die Büroräume des verschwundenen Unternehmers auf den Kopf, doch auch das war ein Reinfall. Aldous Ford hatte nirgendwo aufgeschrieben, um welches Kloster es sich handelte. Schon wollten sie die Büros verlassen, als es klingelte. Einer der Polizisten hob ab, weil die Angestellten längst nach Hause gegangen waren. »Für Sie, Inspektor!« rief er und gab den Hörer weiter. Cranston nahm das Gespräch an und wurde blaß. »Verstanden«, sagte er und legte auf. Als er sich an Rick Masters und den Chefinspektor wandte, machte Rick sich auf eine schlimme Nach51 �
richt gefaßt. »Die Schlangen sind wieder in Edinburgh aufgetaucht?« fragte Rick Masters. Inspektor Cranston schüttelte den Köpf. »Noch schlimmer«, sagte er gepreßt. »Rings um Edinburgh ist ein breiter Gürtel von Schlangen entstanden. Die Berichte sprechen von unzähligen Schlangen, die unsere Stadt eingeschlossen haben.« * Die Polizei von Edinburgh stellte Rick Masters einen gepanzerten Wagen zur Verfügung, der sich gegen die Außenwelt hermetisch abriegeln ließ. »Bei diesen Mengen an Schlangen verzichte ich lieber auf meinen Morgan«, sagte Rick mit einem gequälten Grinsen, als er in die gepanzerte Limousine stieg. »Ich möchte mitkommen«, sagte Chefinspektor Hempshaw. Rick schüttelte den Kopf. »Fliegen Sie lieber mit Inspektor Cranston in dem Hubschrauber mit«, riet er. »Von oben sehen Sie alles sehr gut, und Sie sind in Sicherheit. Lassen Sie aber den Hubschrauber vorher untersuchen.« »Ja, natürlich«, erwiderte Hempshaw enttäuscht. »Ich wäre lieber bei Ihnen im Wagen und…« »Nein«, sagte Rick entschlossen. »Das ist meine Aufgabe!«
Er schloß die Tür und machte sich mit den Armaturen vertraut. Der Wagen hatte nur einen Nachteil. Er war nicht geländegängig und sehr schwer. Rick durfte damit nicht von asphaltierten Wegen abweichen, sonst riskierte er steckenzubleiben. Er schaltete das Blaulicht auf dem Dach ein und fuhr an. Vollkonzentriert lauschte er auf die Durchsagen aus dem Funkgerät. Die Polizei von Edinburgh hatte eine eigene Wellenlänge für die Berichte über den Schlangengürtel eingerichtet. Auf diesem Kanal empfing Rick laufend die Durchsagen. Danach sah es noch nicht allzu schlimm aus. Zwar war der Gürtel aus Schlangen ungefähr hundert Meter breit, aber sie näherten sich nicht. Sie vermieden Häuser und Straßen. Die Polizei hatte überall dort, wo der Schlangenring durch Straßen durchbrochen wurde, Beobachtungsposten aufgestellt. Die Polizisten brauchten jedoch nicht einzugreifen. Noch etwas kam hinzu. Es handelte sich um ein Problem, um das Rick Masters sich nicht kümmern konnte. Damit mußten seine Kollegen von der Polizei ganz allein fertig werden. Eine solche Menge von Schlangen konnte natürlich nicht unbemerkt bleiben, auch nachts nicht. In der Stadt herrschte bereits helle Aufregung. Rundfunk und Fernsehen 52 �
berichteten pausenlos und warnten die Leute davor, aus ihren Häusern zu gehen. Trotzdem wagten sich ganze Scharen von Schaulustigen an den Stadtrand, um die Schlangen zu sehen. Rick Masters hielt diese Leute für Selbstmörder. Wenn sie den Schlangen zu nahe kamen, konnte niemand für ihr Leben garantieren. Er selbst mußte sich um die Herkunft der Schlangen kümmern, nur dann konnte er die Bedrohung ganz ausschalten. Am Stadtrand hatte die Polizei eine Straßensperre errichtet. Rick hatte die Flughafenzufahrt gewählt. Alle Wagen wurden angehalten, und manche in die Stadt zurückgeschickt. Ihn ließ man wegen des Blaulichts passieren. Die Straße beschrieb eine Kurve, und dann sah Rick die Schlangen! Der Atem stockte ihm! So oft er auch schon mit magischen Einflüssen, Geistern und Dämonen in Berührung gekommen war, dieser Anblick trieb ihm das Blut aus dem Gesicht. Er rammte den Fuß auf die Bremse und lenkte links an den Straßenrand. Nun konnte er verstehen, daß die Schaulustigen von dem schrecklichen Anblick auch wiederum fasziniert waren. Unzählige Schlangen verschiedenster Farbe und Größe bildeten einen lebenden Gürtel. Das Licht sei-
ner Scheinwerfer glitzerte auf den Schlangenkörpern. Ein unglaubliches Farbenspiel wurde zurückgeworfen. Rick Masters schaltete den Zusatzscheinwerfer seines Spezialwagens ein und ließ den Lichtstrahl über den Sperring gleiten. So weit die Kraft des Lichtes reichte, waren Schlangen zu sehen. Von Zeit zu Zeit schwappte eine Woge von Reptilien auch auf die Straße über, glitt jedoch wieder zurück. Rick konnte nicht entscheiden, ob die offenen Straßen eine Aufforderung an die Bevölkerung war, die Stadt zu verlassen, oder ob noch mehr Menschen angelockt werden sollten. Er ließ den Wagen wieder anrollen und fuhr mitten durch die Todeszone. Keine einzige Schlange griff sein Auto an. Die Waffen Pistole und Silberkugel blieben unbenutzt auf dem Nebensitz. Rick Masters schaltete sich in den laufenden Funkverkehr ein und fragte an, ob schon irgendeine Straße besetzt worden war. Zu seiner Überraschung erhielt er die Auskunft, daß bisher von allen aus der Stadt führenden Straßen nur eine einzige besetzt war. Über eine winzige, völlig unbedeutende Nebenstraße hatten sich die Schlangenleiber geschoben und machten ein Durchkommen völlig 53 �
unmöglich. Rick fand dafür keinen Grund, obwohl es sicher einen gab. Bevor er sich mit diesem Problem beschäftigte, wollte er die Stelle sehen, an der die Holzhütte mit den Schlangeneiern gestanden hatte. Er brauchte nicht weit zu fahren. Schon nach einer halben Meile kam er an die Abzweigung. Zuerst wunderte er sich, daß er neben der Straße auch hier Schlangen entdeckte, bis er den Grund herausfand. Die Hauptstraße beschrieb einen großen Bogen, der sie von hinten wieder an die Todeszone heranführte. Der Feldweg lief genau in den Schlangengürtel hinein. Rick zögerte einen Moment, ehe er entschlossen den Gang einlegte und von der asphaltierten Straße hinunterfuhr. Er befürchtete, mitten durch das Schlangenmeer fahren zu müssen. Zu seiner Erleichterung blieb ihm das erspart. Der gepanzerte Wagen mahlte sich schwerfällig über den Feldweg, der von Schlangen vollkommen frei blieb. Nur auf der der Stadt zugelegenen Seite wimmelte es von Reptilien. Endlich erreichte der Geisterdetektiv ohne Zwischenfall den Platz, an dem die Hütte gestanden hatte. Der Boden war verschmort und schwarz von Asche. Sonst deutete nichts auf die schrecklichen Erlebnisse hin, die
er hier gehabt hatte. Rick wollte zurück. Dazu mußte er wenden, und das stellte sich als Problem heraus. Es war nicht genug Platz zum Drehen vorhanden. Mit dem Morgan hatte Rick beim ersten Mal keine Schwierigkeiten gehabt. Die gepanzerte Limousine war viel größer als sein Sportwagen. Entweder kurvte er über die angrenzende Wiese, oder er benutzte die Brandstelle. Auf der Wiese gab es zwar keine Schlangen, doch Rick ahnte nicht, ob er dort auch wieder wegkam. Und so dicht an dem Todesgürtel wollte er kein Risiko eingehen. Also legte er den Rückwärtsgang ein und fuhr vorsichtig auf die geschwärzte Fläche, auf der die Holzhütte gestanden hatte. Instinktiv zog Rick den Kopf zwischen die Schultern, als müsse ihn das Wagendach erdrücken. Er ahnte, daß er sich auch hier in eine unbekannte Gefahr begab. Der Wagen geriet mit allen vier Rädern auf die schwarze Fläche. Rick legte den ersten Gang ein und wollte wieder anfahren, doch plötzlich hörte er das Brummen des Motors nicht mehr. Er wußte nicht, daß der Motor bereits in den höchsten Drehzahlen heulte, weil er das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrat. Die Schwärze der verbrannten Flä54 �
che erfaßte Rick und hüllte ihn ein. Er verlor das Gefühl für Raum und Zeit und hätte nicht sagen können, wo er sich befand. Er hatte nur das Gefühl, am Rand eines unmeßbaren Abgrundes zu sitzen. Vor ihm war das absolute Nichts. Nur in weiter, unendlich weiter Ferne entstand ein heller Punkt. Nun wußte Rick, was mit ihm geschah. Es war nicht das erste Mal, daß er einen Blick in eine andere Dimension tat, die kein Mensch betreten konnte. Der Kontakt zu jener Stelle, an der die Dämonenschlangen zerstört worden waren, stellte auch den Kontakt zu der anderen Dimension her. Rick krampfte seine Finger um irgend etwas, das er nicht sehen konnte. Seine Gedanken flossen träge, als wären sie eingefroren. Er dachte für einen Moment an ein Lenkrad, doch die Idee verging wieder in der unerträglichen Schwärze. Der helle Punkt kam näher und wurde größer. Rick begriff, daß sich die andere Dimension näherte, oder daß er dieser Dimension entgegengetragen wurde. Er konnte es nicht unterscheiden. Der Punkt verbreiterte sich zu einer Fläche, die sich ständig bewegte. Noch konnte Rick keine Einzelheiten ausmachen, aber aus der Unendlichkeit trieb ihm Angst
entgegen. Was immer das auch sein mochte, es war für Menschen unerträglich. Es war hell in jener anderen Dimension, so hell, daß Rick davon geblendet wurde. Berauschendes Farbenspiel drohte, zusätzlich seine Sinne zu verwirren. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag. Er erinnerte sich an das Zucken und Durcheinanderwirbeln der Schlangenkörper rings um die Stadt. Genauso sah es nun vor seinen Augen aus. Eine nicht mehr erfaßbare Zahl von verschiedensten Schlangen wirbelte durcheinander. Sie krochen nicht auf einer Fläche, sondern trieben frei im Raum. Jene Dimension, in der ein Riß aufgetreten war, bestand nur aus Schlangen, sonst nichts! Zumindest sah Rick nicht mehr! Dämonen! Es waren Dämonen in Schlangengestalt! Auch das verstand Rick, ohne daß es ihm jemand sagen mußte. Geistiger Kontakt kam langsam zustande, und vermutlich hätte Rick noch mehr verstanden, hätte er sich nicht gegen den Kontakt gesträubt. Er fühlte, daß ihn diese fremde Dimension aufsaugen wollte. Noch hielt er sich irgendwo fest, und erneut drang der Gedanke an das Lenkrad seines Autos in das Chaos von Farben und Bewegungen! 55 �
Das half Rick, die Verbindung zur Wirklichkeit seiner Welt herzustellen. Er saß in einem Auto, und auf dem Nebensitz lag die Silberkugel. Rick versuchte, um sich zu tasten, und er schaffte es tatsächlich, seine Arme zu bewegen. Sie stießen gegen einen Widerstand, ohne daß er die Seiten des Autos sah. Die Silberkugel! Nur sie konnte ihn vor dem fürchterlichen Sog bewahren, der in die andere Dimension gerichtet war, aus der es keine Rückkehr gab! Die Bedrängnis wuchs. Das Bild der sich windenden Schlangen erfüllte bereits Ricks gesamtes Gesichtsfeld. Die Schwärze war völlig verschwunden. Es war dem Geisterdetektiv, als falle er in die Schlangenleiber hinein! Plötzlich durchlief ihn ein wohliger Schauer. Er fühlte sich sicher. Zwischen seinen Fingern wurde es warm, als er seine Silberkugel fest in die Faust preßte. Silber erwärmte sich während des Kampfes gegen das Böse! Kaum stellte er den Kontakt zu seiner weißmagischen Waffe her, als die Schlangen wieder kleiner wurden und in weite Ferne rückten. Rick schwindelte, so rasend schnell wurde die helle Fläche in die Unendlichkeit gerissen. Sie schrumpfte zu einem Punkt, der gleich darauf erlosch.
Für Sekunden umgab ihn die undurchdringliche Schwärze, die er am Beginn dieses unheimlichen Phänomens erlebt hatte. Dann wurde es hell. Er saß in dem Wagen der Edinburgher Polizei und riß hastig den Fuß vom Gaspedal, weil der Motor schmerzend laut lief. Die Scheinwerfer stachen in die Nacht hinaus und erhellten die Fläche, auf der Rick hatte wenden wollen. Seine rechte Hand krampfte sich um das Lenkrad, die linke um die Silberkugel. Ohne seinen lebensrettenden Talisman loszulassen, rammte Rick den Gang hinein, fuhr an und jagte zu der Hauptstraße zurück. Er lenkte seinen Wagen wieder in die Stadt hinein und atmete auf, als er die ersten belebten Straßen erreichte. Er war knapp der Dimensionsreise ohne Wiederkehr entronnen! * Das Stadtzentrum von Edinburgh war anders als sonst belebt. Die normalen Nachtschwärmer fehlten, die der Stadt um diese Zeit das Gesicht gaben. An ihre Stelle traten Polizisten, Reporter und zahlreiche Neugierige. Sie wollten zum Stadtrand fahren und sich den Schlangengürtel ansehen. Doch Rick Masters hörte über 56 �
Funk die Anweisungen an Streifenwagen, immer mehr Straßen aus der Stadt zu sperren und die Leute zurückzuweisen. Als der Geisterdetektiv das Polizeipräsidium erreichte, waren durch die Polizei bereits sämtliche aus der Stadt führenden Straßen abgeriegelt worden. Nur vier Hauptverkehrsadern, nach Norden, Süden, Osten und Westen, blieben offen, wurden aber ebenfalls kontrolliert. Der gepanzerte Wagen besaß nur ein Funkgerät, kein Autoradio. Daher konnte Rick nicht überprüfen, wie die Bevölkerung auf diese Nachrichten reagierte und was der Rundfunk verlautbarte, aber es war nicht schwer zu erraten. Die ganze Stadt mußte in Aufruhr geraten sein. Darüber hinaus strahlten die Ereignisse von Edinburgh auf das Land aus. Rick Masters wünschte sich nur, daß die Leute nicht auf die wahren Ursachen für die Schlangeninvasion stießen. Noch blieb es in der Stadt ruhig. Niemand versuchte zu fliehen. Das konnte sich ändern, wenn die wirklichen Hintergründe ans Tageslicht kamen. Rick Masters lieferte den gepanzerten Wagen bei einem der Sergeanten von Inspektor Cranston ab. Cranston selbst und der Chefinspektor aus London waren noch in der Luft. Sie beobachteten die Ereignisse von einem Hubschrauber aus. Nachdem der Geisterdetektiv in
seinen Morgan umgestiegen war, überlegte er, was er als Nächstes tun sollte. Er erwog mehrere Möglichkeiten, entschied sich dann aber für etwas ganz anderes. Er rief von der nächsten Telefonzelle Hazel Kent in London an. »Bin ich froh, daß du dich meldest!« sagte sie erleichtert, als sie seine Stimme erkannte. »Du glaubst gar nicht, was los ist! Die Medien spielen verrückt. Das Fernsehen bringt Sondersendungen über die Schlangenplage von Edinburgh. Ist es wirklich so schlimm?« »Noch viel schlimmer«, erklärte Rick. »Ich möchte am Telefon nicht so offen darüber sprechen, du verstehst schon. Es braucht nur ein Unbefugter sein Ohr in der Leitung zu haben, und schon ist es passiert. Aber ich tue mein Bestes, das kann ich dir sagen.« »Nun gut, ich muß dir vertrauen!« Hazel seufzte. »Weißt du, daß Dracula ganz unruhig ist? Mir kommt es so vor, als würde der Hund merken, was sich bei dir abspielt.« »Das wäre durchaus möglich«, gab Rick zu. »Darling, ich muß wieder los!« »Eine Frage noch«, rief Hazel hastig. »Was ist mit deinem Auftraggeber?« »Er hat die Lösung des Rätsels gefunden«, gab Rick an. »Wunderbar!« rief Hazel. »Gar nicht wunderbar«, schränkte 57 �
Rick ein. »Er ging auf eigene Faust vor. Er ist tot.« Eine Weile herrschte Stille, dann räusperte sich Hazel Kent, um ihre Kehle freizumachen. Trotzdem klang ihre Stimme belegt, als sie ihm alles Gute wünschte. Rick Masters machte sich auf den Weg nach Norden zu der einen, von den Schlangen gesperrten Straße. Ungefähr eine Viertelmeile vor der Stelle wurde er an einer Straßensperre von Polizei angehalten. Er wies sich aus, doch die Polizisten fragten erst in der Zentrale nach. Danach erhielt Rick die Erlaubnis zum Weiterfahren. »Seien Sie vorsichtig«, warnte der Polizist. »Bei diesen Biestern gibt es kein Durchkommen.« »Wohin führt die Straße?« erkundigte sich der Geisterdetektiv. Der Polizist zuckte die Schultern. »Das ist eine Bezirksstraße, die gar kein bestimmtes Ziel hat«, gab er an. »Drei Meilen weiter gabelt sie sich, und jeder Ast gabelt sich wieder und verbindet einzelne Dörfer und Gehöfte mit der Hauptstraße. Sie kennen ja dieses Geäst von Nebenpisten.« Rick kannte es nur zu gut. Häufig hatte er diese meist einspurigen Seitenstraßen in Schottland benutzt, um an den Ort eines Einsatzes zu gelangen. Geister und Dämonen liebten für ihr schändliches Treiben die Einsamkeit und kamen erst in belebte
Gegenden, wenn sie alles für einen großen Schlag vorbereitet hatten. Seine Hoffnung, aus dem Verlauf der Straße einen Rückschluß auf das gesuchte Kloster ziehen zu können, bestätigte sich nicht. Er mußte weiter im Dunkeln tappen. Die Scheinwerfer des Morgan erfaßten die Schlangenbarriere. Der Polizist hatte ganz recht, hier gab es kein Durchkommen. Man hätte höchstens mit einem Panzer versuchen können, die Sperre zu durchbrechen. Es war sinnlos, daß die Schlangen ausgerechnet eine einzige Straße schlossen. Es wäre Rick leicht gefallen, diese Stelle zu umfahren. Er vermutete allerdings, daß die Geisterboten sich aus einem ganz bestimmten Grund unlogisch verhielten. Aus allen ihren bisherigen Aktionen hatte er abgeleitet, daß kein menschliches Gehirn hinter der Ausführung dieses Planes stand. Diesmal schien der Angriff direkt von Geistern durchgeführt zu werden. Daher wurde vermutlich jene Straße gesperrt, auf der Aldous Ford, vielleicht auch sein Sohn Jeremy, zu dem einsamen Kloster gefahren waren. Rick zerbrach sich darüber nicht weiter den Kopf. Er griff zum Funkgerät und rief den Polizeihubschrauber mit Chefinspektor Hempshaw an Bord. 58 �
Fünf Minuten später konnte er direkt mit dem Chefinspektor sprechen. Hempshaw bestätigte das bisherige Bild. Neues hatte er nicht erfahren. Rick Masters beschrieb, wo er sich im Moment befand. Er fügte etwas Wichtiges hinzu. »Wir haben etwas außer acht gelassen, Kenneth«, meinte er. »Wissen Sie, ob Jeremy Ford überhaupt ein Auto fahren konnte?« Die kurze Pause nach dieser Frage zeigte Rick, wie überrascht Hempshaw war. »Was soll diese Frage?« gab der Chefinspektor zurück. »Wissen Sie es?« hakte Rick nach. »Nein, da müssen Sie sich bei jemandem erkundigen, der Jeremy Ford genauer kannte als ich«, erwiderte Hempshaw ungeduldig. »Wenn Sie sich recht erinnern, habe ich den jungen Mann nie gesehen.« »Ich auch nicht«, sagte Rick und unterbrach die Verbindung. Er entfernte sich von dem Schlangengürtel, ließ auch die Polizeisperre hinter sich und betrat eine Telefonzelle. Obwohl es schon ziemlich spät war, rief er bei der netten alten Zimmervermieterin an, die ihm bestätigte, daß Jeremy Ford keinen Wagen besessen hatte. Anschließend erkundigte Rick sich noch bei der Haushälterin in der Familie Ford und bei der Chefsekretärin des Betriebes. Beide versicherten, daß
Jeremy Ford von Autos nur so viel verstanden hatte, daß er sich nicht auf den Sitz mit dem Lenkrad setzen durfte. Er war ein ausgesprochenes Antitalent gewesen, was Autos betraf. Zwei Stunden später traf Rick mit dem Chefinspektor im Hotel zusammen, als sie beide das Abendessen nachholten. »Was bezweckten Sie mit Ihrer Frage?« erkundigte sich Hempshaw. »Welche Rolle spielt es für uns, ob Jeremy Ford Autofahrer war oder nicht?« »Eine sehr große«, behauptete Rick. »Ich habe alle seine Schriften durchgesehen. Nirgendwo findet sich ein Hinweis auf ein Kloster, von dem eine Gefahr ausgehen könnte.« »Ich verstehe Sie noch immer nicht«, meinte der Chefinspektor. »Nun, sehr einfach!« Rick unterbrach sein Essen für einen Moment. »Wenn Jeremy Ford nicht aus Büchern von dem gefährlichen Kloster wußte, muß er selbst dahintergekommen sein, als er dieses Kloster besuchte. Richtig?« »Das klingt logisch«, gab der Chefinspektor zu. »Gut, das freut mich!« Rick lächelte abgespannt. »Das Kloster liegt nördlich von Edinburgh. Man kann es vermutlich nicht in wenigen Minuten zu Fuß erreichen, sonst hätte es Inspektor Cranston schon gefunden. Mit anderen Worten, 59 �
Jeremy Ford muß mit irgendeinem Verkehrsmittel zu diesem Kloster gefahren sein, und wir müssen herausfinden, mit welchem! Dann können wir vielleicht seinen Weg rekonstruieren. Verstehen Sie jetzt?« Hempshaw nickte begeistert. »Das ist eine ausgezeichnete Idee, Rick«, bestätigte er. Sein Lächeln fiel in sich zusammen. »Aber wie sollen wir heute noch feststellen, ob und wie Jeremy Ford irgendwann irgendwohin gefahren ist?« Rick mußte über diese Wortwahl lachen. »Wir werden es schon herausfinden, keine Sorge«, meinte er. »Wir haben es bisher noch immer geschafft! Wir lassen uns auch diesmal nicht unterkriegen.« Eine Stunde später kam der Großalarm. Die Schlangen rückten auf Edinburgh vor! * Die Schreckensnachricht kam per Telefon. Hempshaw wurde an den Apparat gerufen und kehrte bleich an den Tisch zurück. »Schnell!« rief er Rick zu und lief zum Ausgang. Der Geisterdetektiv stellte keine Fragen. Erst als er seinen Morgan startete, gab ihm der Chefinspektor mit knappen Worten einen Überblick. »Von allen Seiten zieht sich der
Schlangengürtel enger zusammen«, sagte er gepreßt. »Unsere Leute weichen zurück.« »Haben die Schlangen jetzt auch die Ausfallstraßen blockiert?« fragte Rick Masters knapp. Seine Gedanken wirbelten im Kreis. Sollte die Invasion tatsächlich schon stattfinden? Anstelle einer Antwort schaltete der Chefinspektor das Funkgerät im Morgan ein und rief Inspektor Cranston. Der Kontakt kam gleich zustande, und Rick hörte Cranstons Antworten mit. »Nein, die Straßen bleiben frei«, gab der Inspektor zurück. »So lange die Straßen frei bleiben«, warf Rick ein, »ist es noch nicht so schlimm!« Hempshaw warf ihm einen überraschten Blick zu. Rick Masters schaltete die in seinem Morgan eingebaute Sirene ein und montierte neben der Windschutzscheibe das Blaulicht. Beides durfte er aufgrund einer Sondergenehmigung benutzen. In diesem Fall war es angebracht, da es unter Umständen um Sekunden ging. »Die Geisterboten werden die Menschen unterjochen, wenn es soweit ist!« prophezeite Rick Masters. »So lange sie die Straßen offenlassen, geben sie den Menschen die Möglichkeit zur Flucht, und das wäre bei einer Invasion der Geister völlig ausgeschlossen.« 60 �
»Cranston!« rief Chefinspektor Hempshaw in das Mikrofon. »Mr. Masters meint über die…« »Ich habe mitgehört«, unterbrach ihn Inspektor Cranston. »Es ist mir völlig gleichgültig, was Mr. Masters denkt. Ich muß handeln und habe Unterstützung angefordert.« »Welche Unterstützung?« fragte Rick so leise, daß es nicht über Funk hinausging. Der Inspektor war nervös genug. Rick wollte ihn nicht reizen. Chefinspektor Hempshaw gab die Frage weiter. »Ich habe Pioniere angefordert«, rief Inspektor Cranston. »Ich sitze in meinem Hubschrauber und werde von hier oben den Einsatz leiten, Es wäre doch gelacht wenn wir diese Schlangen nicht unter Kontrolle bringen könnten!« Rick schüttelte nur den Kopf, verzichtete jedoch auf Widerspruch. Soldaten gegen Dämonen? Das konnte nicht gutgehen! Im besten Fall blieb der Einsatz erfolglos, im schlimmsten Fall gab es Todesopfer. Er war nicht in der Lage, etwas abzuwenden. Er konnte Inspektor Cranston nichts befehlen. Hempshaw verzichtete ebenfalls darauf, seinem Kollegen dreinzureden. Er unterbrach den Funkkontakt und ließ das Gerät auf Empfang eingeschaltet. »Nehmen Sie es ihm nicht übel, Rick«, bat der Chefinspektor. »Der
Befehl stammt letztlich nicht von ihm selbst, das können Sie sich vorstellen.« »Natürlich«, gab Rick mit zusammengebissenen Zähnen zurück. »Seine Vorgesetzten haben sich mit Regierungsstellen abgesprochen. Das weiß ich auch, und trotzdem ist es Wahnsinn!« Der Morgan raste inzwischen mit Höchstgeschwindigkeit die Schnellstraße zum Flughafen entlang. Rick hatte diese Straße mehr aus Gewohnheit als aus einem anderen Grund gewählt. Es war letztlich völlig gleichgültig, wo er sich das Vorrücken der Schlangen ansah. Rings um Edinburgh bot sich dem entsetzten Betrachter das gleiche Bild. »Die Straßensperre«, sagte Hempshaw und deutete durch die Windschutzscheibe. Rick Masters drosselte das Tempo und ließ den Wagen auslaufen. Auch er sah die drei Streifenwagen, die ihm mit aufgeblendeten Scheinwerfern und zuckenden Blaulichtern entgegen kamen. Chefinspektor Hempshaw nahm Funkkontakt zu den Besatzungen der Streifenwagen auf und erfuhr, daß sie sich mit dem gleichen Tempo wie die Schlangen bewegten. »Diese Biester sind dicht hinter uns, auch wenn sie nicht auf die Straße kommen«, meldete einer der Polizisten. »Das ist unangenehm schnell«, 61 �
sagte Rick. Er mußte ausweichen, um nicht den Streifenwagen zu rammen. Hinter den Autos der Polizei sah er das Zucken und Schillern der Schlangenfront. »Was meinen Sie, Kenneth? Wollen Sie umsteigen und zurückfahren, oder bleiben Sie bei mir?« »Wollen Sie durchbrechen?« fragte Hempshaw überrascht. Rick nickte. »Wenn es wirklich zum Kampf kommt, möchte ich die Front der Schlangen von hinten angreifen. Davon verspreche ich mir im Moment mehr, als wenn ich in der Stadt bleibe. Außerdem könnte ich jederzeit wieder nach Edinburgh durchbrechen!« Es war schon weit nach Mittemacht, als sie langsam auf den Gürtel aus lebenden Leibern zurollten. Die Polizisten aus den Streifenwagen warnten entsetzt, doch Hempshaw beruhigte sie. Dabei hätte der Chefinspektor selbst jemanden gebraucht, der ihn beruhigte. Er hängte das Mikrofon in die Halterung zurück und krampfte seine Hände um den Haltegriff am Armaturenbrett. »Rick, sehen Sie doch!« rief er stöhnend. Rick Masters hatte es schon gesehen. Während des Vorrückens schoben sich die schuppigen Körper auch auf das Asphaltband, so daß die Durchfahrt immer schmaler wurde.
»Übernehmen Sie das Lenkrad, während ich die Pedale bediene«, rief Rick Masters. Hempshaw steuerte den Wagen, und Rick gab vorsichtig Gas, damit der Motor nicht abstarb. In die linke Hand nahm er die Pistole. Er konnte mit beiden Händen fast gleich gut schießen. In der Rechten hielt er die Silberkugel hoch über die Windschutzscheibe hinaus. »Das soll wirken?« rief der Chefinspektor. Rick Masters antwortete nicht. Die Silberkugel hatte ihn schon vor Feuersbrünsten bewahrt und vor anderen, ähnlich schlimmen Gefahren. Sie mußte ihm auch diesmal helfen, unbeschadet durchzukommen. Tat sie es nicht, war jedes weitere Wort überflüssig. Dann kamen sie beide nämlich nicht mehr lebend hier heraus. Die ersten Schlangen klatschten gegen die Karosserie des Morgan. Hempshaw schrie entsetzt auf und versuchte, durch einen raschen Ausschlag am Lenkrad auszuweichen. Das half jedoch nichts. Immer mehr Schlangen trafen den Morgan, doch Rick Masters behielt eisern die Nerven. Er sah nämlich, was mit den Geisterboten geschah. Kaum berührten sie den Wagen, als sie in einem kurzen Lichtblitz vergingen. Die Silberkugel half! Hempshaw beruhigte sich, als 62 �
auch er merkte, daß die Silberkugel wirkte. Und dann hatten sie das Schlimmste hinter sich, wendeten, und Rick brauchte die Silberkugel nicht mehr einzusetzen, um sich und seinen Begleiter zu schützen. Nun rückte der Morgan hinter der Schlangenfront gegen Edinburgh vor, doch die Beobachtung war nicht einfach. Dicht an der Stadtgrenze trat der Grüngürtel bis unmittelbar an das Asphaltband der Schnellstraße heran. In dem Wald konnte Rick die Schlangen nicht sehen, und Hempshaw hatte auch Schwierigkeiten. Er benutzte die Taschenlampe und leuchtete die Büsche neben der Straße ab. »Sehen Sie etwas?« fragte Rick, der sich seitlich weit aus dem Wagen beugte. »Nein, gar nichts«, gestand Hempshaw. »Das ist schon sehr merkwürdig.« »Allerdings!« Der Geisterdetektiv deutete auf das Funkgerät. »Fragen Sie die vorausfahrenden Streifen.« Dazu kam es nicht mehr. Auf der Frequenz, die speziell für die Schlangenbeobachtung reserviert war, herrschte Chaos. Ständig meldeten Streifenwagen, daß sie den Sichtkontakt zu den Reptilien verloren hatten. Die Zentrale jagte eine Anfrage nach der anderen hinaus. Niemand kannte
sich im Moment aus. Hempshaw schaltete auf die übliche Polizeifrequenz um, über die weiterhin alle normalen Einsätze der Polizei geleitet wurden. Auch hier bot sich das gleiche Bild. Kein Polizist sah mehr eine Schlange. Und niemand meldete, daß sie innerhalb der Stadt auftauchten. »Sie sind verschwunden«, sagte Chefinspektor Hempshaw aufatmend. »Sie sind tatsächlich nicht mehr da!« Rick schloß sich dieser Begeisterung nicht an. Inspektor Cranstons Stimme schlug auf beiden Wellenlängen voll durch. »Die Beobachtungsposten bleiben, wo sie sich in diesem Moment befinden«, befahl er. »Folgende Planquadrate müssen sofort überprüft werden.« Er nannte die Planquadrate, die Rick nichts sagten, da er sich in Edinburgh zu wenig auskannte. Chefinspektor Hempshaw zog eine entsprechende Karte aus seiner Brusttasche. »Cranston ist ein schlauer Fuchs«, sagte er lachend. »Er läßt alle jene Viertel überprüfen, durch die sich die Schlangen ins Zentrum bewegen müßten.« Rick sagte noch immer nichts, obwohl sie bereits in der Nähe der Stadtmitte waren. Schon konnte er 63 �
die dunkle Burg auf dem Felsen sehen. Als der Morgan auf die Princess Street einschwenkte, blies Inspektor Cranston den gesamten Einsatz ab. Er verzichtete auch auf die Pioniere. »Das war die einzige vernünftige Durchsage«, erklärte Rick, stellte den Morgan vor dem Hotel ab und deutete auf das Funkgerät. »Ansonsten habe ich nichts Erfreuliches gehört.« »Die Schlangen sind weg!« rief Hempshaw. »Was stört Sie daran?« Rick sah ihn ernst an. »Sie glauben doch nicht wirklich, daß die Schlangen weg sind! Dafür gibt es keinen Grund!« »Aber…. sie sind weg!« rief Hempshaw kopfschüttelnd. »Sie verschwanden am Stadtrand und…« Sein Gesicht wurde blaß, seine Augen weiteten sich. »Ahnen Sie etwas?« Rick deutete mit dem Daumen nach unten. »Ich gehe jede Wette ein, daß wir auf einem Meer von Schlangen sitzen.« Chefinspektor Hempshaw griff sofort zum Funkgerät. Rick wartete nicht ab, was dabei herauskam. Er war von seiner Theorie überzeugt und brauchte keine Bestätigung. Er betrat das Hotel und ging in die Bar. Zehn Minuten später kam Chefinspektor Hempshaw. »Sie hatten recht«, flüsterte er dem Geisterdetektiv zu, damit es die anderen Gäste der Bar nicht hörten.
»Das Kanalnetz und sämtliche Kabelstollen unterhalb der Stadt sind voll mit diesen Biestern.« Rick Masters nickte und trank einen Schluck des vor ihm stehenden Orangensaftes. »Und da bleiben Sie so ruhig?« flüsterte der Chefinspektor aufgeregt. »Ich war sicher, daß es so ist«, antwortete Rick. »Und ich kann es im Moment nicht ändern. Ich muß mich ausruhen. Wenn etwas passiert, ich bin oben in meinem Zimmer.« Hempshaw widersprach nicht mehr, weil er einsah, daß Rick sich vernünftig verhielt. »Hoffentlich können Sie schlafen«, meinte er, bevor Rick die Bar verließ. »Ich werde es jedenfalls versuchen«, antwortete der Geisterdetektiv mit einem matten Lächeln. »Ich gebe Ihnen den guten Rat, Kenneth, legen Sie sich auch aufs Ohr. Sie werden es bitter nötig haben!« »Ich werde es ebenfalls versuchen«, antwortete Hempshaw. »Aber ich weiß jetzt schon, daß ich kein Auge schließen kann.« »Man muß alles wenigstens probieren«, sagte Rick und zog sich zurück. Bevor er in dieser Nacht einschlief, wunderte er sich, daß ihn seine Feinde noch nicht massiv angegriffen hatten. Vielleicht scheuten sie wirklich die Silberkugel so sehr, daß sie sich zurückhielten. 64 �
Oder aber, und das war die viel beunruhigendere Möglichkeit, es war ihnen gleichgültig, ob Rick in Edinburgh auf sie wartete oder nicht, weil sie ohnedies unbesiegbar waren… * Als das Telefon auf seinem Nachttisch klingelte, glaubte Rick Masters, er habe erst wenige Minuten geschlafen. Seine Lider waren so schwer, daß er sie kaum heben konnte. Völlig übermüdet griff er nach dem Hörer und zog ihn neben sich auf das Kopfkissen. Die Nachttischlampe brannte noch. Er hatte sie absichtlich nicht gelöscht, um bei einem Angriff seinen Feind wenigstens zu sehen. Die Vorhänge waren zugezogen. Vor den Fenstern hing Dunkelheit. »Ja, hallo«, murmelte er. Aus dem Hörer drang eine aufgeregte Stimme, die er nicht verstehen konnte. »Moment!« rief er und zog den Hörer näher an sein Ohr heran. »So, jetzt! Wer spricht?« »Mein Name ist unwichtig!« rief die aufgeregte Männerstimme. »Sie müssen mir helfen!« Das wirkte auf Rick besser als schwarzer Kaffee. Er war sofort hellwach, wälzte sich auf den Rücken und blickte auf seine Uhr.
Zehn Uhr! »Was kann ich für Sie tun?« fragte er. Seine Stimme klang nicht mehr verschlafen. In Sekundenschnelle überlegte er aber auch, wieso es so dunkel war. An den Vorhängen konnte es nicht liegen. Sie waren lichtdurchlässig. »Ich werde von den Schlangen gejagt«, sagte der Anrufer. Er sprach mit hartem schottischem Akzent und verhaspelte sich ständig. Der Mann mußte mit den Nerven völlig fertig sein. »Sie jagen mich, seit die erste Schlange in der Stadt auftauchte! Ich habe erst jetzt erfahren, daß Sie in der Stadt sind.« Sofort wurde Rick mißtrauisch. »Woher wissen Sie das denn?« erkundigte er sich. »Haben Sie heute noch keine Zeitungen gelesen?« erwiderte der Mann. »Da steht auch etwas über Sie! Es wird sogar das Hotel genannt, in dem Sie abgestiegen sind. Deshalb rufe ich doch an!« »Sagen Sie endlich, wie ich Ihnen helfen kann!« forderte Rick den Anrufer auf. »Ich weiß bisher gar nichts über Sie!« »Mein Name ist Joe Brown«, erwiderte der Anrufer. »Und zwar heiße ich wirklich so, ich belüge Sie nicht!« »Weiter!« drängte Rick. »Kommen Sie zur Sache!« »Wenn Sie aus Ihrem Hotel gehen, treffen Sie mit mir zusammen«, erklärte Joe Brown. »Ich bin jetzt in 65 �
einer Telefonzelle, aber ich gehe gleich in den Park neben der Princess Street.« »Woran erkenne ich Sie?« fragte Rick knapp. »Ich kenne Sie, das genügt«, antwortete Joe Brown. »Mir gefällt Ihr Anruf nicht besonders«, sagte Rick gedehnt. »Das alles hört sich nach einer Falle an.« »Sie müssen mir schon vertrauen«, erwiderte der Anrufer. »Ich weiß, wo das Kloster liegt, in dem das Dimensionstor steht. Mehr sage ich am Telefon nicht. Zu viele Ohren hören mit, auch feindliche Ohren! Die Schwarze Magie hat überall ihre Anhänger!« »Also gut, ich bin in zehn Minuten unten«, entschied Rick. »Es wäre besser, Sie kämen zu mir herauf. Dann könnten wir uns in Ruhe in meinem Zimmer unterhalten.« »Nein, das möchte ich auf keinen Fall«, sagte Joe Brown heftig. »Ich weiß noch nicht, ob wir uns einigen werden.« »Einigen?« Rick stutzte. »Wollen Sie mir etwa Ihr Wissen verkaufen?« »Sozusagen, ja«, bestätigte der Anrufer und ließ endlich die Katze aus dem Sack. »Daraus wird nichts«, bluffte Rick. Er wußte, daß die Behörden im Notfall für rettende Informationen eine ganze Menge bezahlt hätten. »Ich will kein Geld«, berichtete Joe Brown. »Ich will Straffreiheit. Aber
das besprechen wir alles am besten hier im Park. Beeilen Sie sich! Ich weiß nicht, wie lange ich mich noch verstecken kann. Es wird Ihnen nicht entgangen sein, daß sich unter der Stadt das Heer der Geisterboten versammelt hat.« »Das weiß ich allerdings«, bestätigte Rick. »Ich beeile mich!« Er legte auf und sprang aus dem Bett. Während er sich in rasender Eile anzog und zum Ausgehen fertig machte, überlegte er, ob er Chefinspektor Hempshaw anrufen sollte. Hempshaw nahm es ihm bestimmt übel, wenn er etwas auf eigene Faust unternahm, aber Rick zog es vor, allein zu gehen. Joe Brown oder wie immer der Mann hieß hatte ausdrücklich nur von ihm gesprochen, von keinem anderen. Wenn er nun zusammen mit dem Chefinspektor auftauchte, zeigte sich Joe Brown womöglich nicht. Es stand zu viel auf dem Spiel, als daß Rick ein Risiko hätte eingehen können! Während er das Schulterhalfter anlegte, riß er die Vorhänge beiseite. Was er zu sehen bekam, erfüllte ihn mit größtem Unbehagen. In Edinburgh herrschte Nebel, wie man ihn in London nur alle paar Jahre erlebte. Vor dem Fenster lag weiße Watte, sonst nichts. Rick sah weder den nächsten Lichtmast, noch unter sich die Straße. Nicht einmal Autoscheinwerfer waren zu erken66 �
nen, von der Burg ganz zu schweigen. Wie Joe Brown ihn bei dieser geringen Sicht finden wollte, war ihm im wahrsten Sinn des Wortes nebelhaft! Es roch nach einer Falle. Das roch schon nicht mehr, das stank! Rick kam sich wie ein Selbstmörder vor, als er das einigermaßen sichere Hotel verließ und auf die Straße trat. Nur zwei Autos waren unterwegs, obwohl um diese Zeit eigentlich der Hauptverkehr über die Princess Street fluten sollte. Die Polizei ging Doppelstreife. Wahrscheinlich waren die Polizisten zu Fuß schneller als mit Autos. Nach einem letzten Blick in die Runde nahm Rick seinen ganzen Mut zusammen, überquerte die Straße und betrat einen jener steilen Wege, die auf dieser Seite des Grabens in die Tiefe führten. Er mußte aufpassen, daß er nicht fiel. Durch den Nebel war der Weg glitschig wie eine Eisbahn. Rick hätte gern gewußt, ob der Nebel natürlichen Ursprungs war. Er tippte aber eher darauf, daß er ein Vorbote der nahenden Geisterinvasion war. Sobald er das Geländer an der Princess Street nicht mehr sah, blieb er stehen. Seine Jacke hing ihm offen um die Schultern, obwohl er fröstelte. Er
hätte sie lieber geschlossen, mußte aber rasch an seine Waffen greifen können. Er wartete eine Zigarettenlänge. Der einzige Erfolg war, daß sein Magen brannte, weil er auf nüchternen Magen geraucht hatte. Von Joe Brown war keine Spur zu sehen. Schon wollte Rick aufgeben und zurückkehren, als sich aus dem Nebel vor ihm die Umrisse eines Mannes schälten. Rick spannte sich. Jeden Moment mußte sich entscheiden, ob Joe Brown ehrlich spielte oder nicht. Der Mann kam näher. Rick sah, daß er einen langen Mantel und einen breitkrempigen Hut trug, der sein Gesicht weitgehend verdeckte. Die Hände hingen seitlich herunter. Er trug keine Waffe sichtbar bei sich. »Sind Sie Joe?« fragte Rick und nannte absichtlich den Familiennamen seines Informanten nicht. »Ja, Joe Brown«, bestätigte der Fremde und blieb drei Schritte von Rick entfernt stehen. Er schien genauso mißtrauisch wie Rick zu sein. Seine Augen waren das einzige, das sich an ihm bewegte. Dafür waren sie um so lebhafter und suchten die ganze Umgebung ab. »Ein ziemlich ungewöhnlicher Ort für eine freundschaftliche Besprechung«, sagte Rick Masters, um den anderen aus seiner Reserve zu locken. »Wieso sind Sie so sicher, daß sie 67 �
freundschaftlich ist?« fragte Joe Brown wachsam. »Sie sagen, daß Sie von den Schlangen gehetzt werden«, erklärte der Geisterdetektiv. »Sie sagen ferner, Sie wären froh, daß ich in der Stadt bin. Mit anderen Worten, Sie stehen auf meiner Seite.« »Ja«, erwiderte Joe Brown zögernd. »Reden Sie endlich offen mit mir«, bat Rick. »Dann sage ich Ihnen, ob ich Ihnen helfen kann.« »Also gut«, entschied Joe Brown. »Ich bin an der Schlangeninvasion schuld. Deshalb verlange ich Straffreiheit!« Rick Masters hätte um ein Haar seine Selbstbeherrschung verloren. »Was haben Sie gesagt?« rief er und dämpfte erschrocken die Stimme. »Sie sind schuld? Wieso?« »Ich habe gemeinsam mit Jeremy Ford das Tor zu der anderen Dimension geöffnet«, gab Joe Brown an. Sein Gesicht war von Kummer und Sorgen gezeichnet. Er mochte im selben Alter wie Jeremy Ford sein, der mit sechsundzwanzig Jahren ermordet worden war. Er wirkte aber viel älter. Seine Augen waren von Schlaflosigkeit gerötet. Er hatte sich seit mindestens drei Tagen nicht rasiert. Seine Hände zitterten, als er sich über den Mund wischte. »Kommen Sie!« forderte Rick ihn auf. »Gehen Sie mit mir in das Hotel.
Bei einem ausgiebigen Frühstück werden Sie sich nicht nur wohler als hier draußen im Nebel fühlen, wir können uns auch besser unterhalten.« »Damit Chefinspektor Hempshaw oder Inspektor Cranston mich verhaften?« Joe Brown schüttelte heftig den Kopf. »O nein, Mr. Masters, nicht mit mir! Ich gehe nicht ins Gefängnis!« »Es ist doch gar nicht gesagt, daß irgend jemand Sie einsperren möchte!« sagte Rick energisch. »Soweit ich das übersehe, haben Sie kein Verbrechen begangen, das man nach juristischen Maßstäben erfassen kann. Dafür gibt es kein Gefängnis!« »Das möchte ich erst zugesichert bekommen, vorher bin ich nicht zur Zusammenarbeit bereit!« Joe Brown sagte es so entschieden, daß Rick sofort merkte, wie wenig er noch erreichen konnte. »Chefinspektor Hempshaw muß mir absolute Straffreiheit zusichern!« Rick überlegte nicht lange. »Ich werde mit dem Chefinspektor sprechen«, sagte er. »Aber verraten Sie mir vorher noch eines. Haben Sie das Tor zu dieser anderen Dimension absichtlich geöffnet?« »Nein!« rief Joe Brown heftig. »Ich hatte keine Ahnung, was ich tat. Ich wollte Jeremy zeigen, was ich kann, aber ich habe bei der Beschwörung wohl einen Fehler gemacht.« 68 �
»Das kann man wirklich sagen, o ja!« bestätigte Rick seufzend. »Sie haben uns die Hölle auf Erden beschert. Das kommt davon, wenn Uneingeweihte mit Magie spielen.« »Es hat keinen Sinn, daß Sie mir Vorwurfe machen«, erklärte Joe Brown. »Sprechen Sie mit dem Chefinspektor, und kommen Sie dann wieder hierher in den Park!« »Und Sie werden inzwischen von den Schlangen gefunden und umgebracht, nicht wahr?« Rick schüttelte den Kopf. »Mann, nehmen Sie Vernunft an. Wie ich die Sache sehe, kann Ihnen niemand einen Strick drehen!« »Ich warte ab, sagte ich, und dabei bleibe ich«, entschied Joe Brown. Rick beschloß, sich doch nicht an die Abmachung zu halten. Dieser Mann war verblendet. Offenbar hatte er mit Magie experimentiert und einen grauenhaften Fehler begangen. Aus Angst vor Vorwürfen und Strafe hatte er sich nicht sofort hilfesuchend an Rick gewandt, sondern selbst versucht, den Fehler auszugleichen. Nun war es zu spät. Die Invasion stand unmittelbar bevor. Unter diesen Umständen konnte Rick Masters keine Rücksicht mehr nehmen. Er spannte sich, um sich auf den Mann zu werfen und ihn festzuhalten, doch in diesem Moment hüllte sich Joe Brown in eine Nebelwand
ein. Rick hätte früher daran denken müssen, daß Joe Brown offenbar über gewisse magische Kenntnisse verfügte. Diese setzte er jetzt ein, um ungehindert zu entkommen. Rick verzichtete auf weitere Verfolgung. Es hätte keinen Sinn gehabt, blindlings im Nebel zu suchen. Der Park war so groß, daß er bei diesen Sichtverhältnissen ungefähr hundert Polizisten benötigt hätte. Enttäuscht und doch auch gespannt kehrte Rick auf die Princess Street zurück. Beinahe wäre er vor einen Lastwagen gelaufen, als er hastig die Princess Street überquerte. Im letzten Moment rettete er sich vor dem Wagen und taumelte in den Hoteleingang. Dort stieß er mit dem Mann zusammen, den er jetzt dringend brauchte. Chefinspektor Hempshaw hielt ihn am Arm fest und sah ihm prüfend ins Gesicht. »Kommen Sie«, sagte Rick und führte den Chefinspektor in den Frühstücksraum. »Endlich tut sich etwas, und wenn mich nicht alles täuscht, bekommen wir nach dem Frühstück die Lösung auf einem silbernen Tablett serviert.« »Ihren Optimismus möchte ich haben«, sagte Hempshaw seufzend. »Ich auch«, erwiderte Rick grin69 �
send. »Dieser Optimismus ist nämlich nur vorgetäuscht, aber verraten Sie das nicht! Ich könnte sonst an diesem Fall verzweifeln!« * Joe Brown – er hieß wirklich so – machte sich keine Illusionen. In seinen Augen gab es nur drei Möglichkeiten. Entweder landete er hinter Gittern, und das wollte er nicht. Oder die Geisterboten fanden und töteten ihn. Das wollte er ebenfalls nicht. Die dritte Möglichkeit war auch nicht gerade erhebend, aber er zog sie den beiden anderen vor. Sie sah so aus, daß Rick Masters ihm Straffreiheit garantierte, er alles auspackte und hinterher für ewige Zeiten als der Blamierte dastand. Es hatte eine großartige Beschwörung werden sollen, ein Bann gegen das Böse, das in der alten Abtei von Glenmorra von Zeit zu Zeit ans Tageslicht kam. Anstatt den schmalen Zugang zu einer anderen Dimension für immer zu schließen, hatte Joe Brown ein riesiges Tor weit geöffnet. Es war damals ihm und Jeremy Ford nichts anderes übrig geblieben, als Hals über Kopf zu fliehen. Sie wären sonst in die andere Dimension geschleudert worden.
Zu Hause hatten sich beide daran gemacht, weißmagische Formeln zur Gegenbeschwörung zu suchen und auszuprobieren. Heute wußte Joe Brown, daß sie sofort zu Rick Masters hätten gehen sollen, doch dafür war es zu spät. Jeremy lebte nicht mehr, und seit Jeremys Ermordung war Joe Brown auf der Flucht. Unruhig ging er im Park auf und ab und wartete auf die Rückkehr des Geisterdetektivs. Jetzt bereute er auch, daß er nicht sofort mit Masters in dessen Hotel gegangen war. Besser Gefängnis als Geisterschlangen! Er rechnete noch lange, nicht mit einer Rückkehr des Geisterdetektivs, als er hinter sich leises Rascheln hörte. Sollte das doch schon Rick Masters sein? So sehr er sich auch anstrengte, er konnte wegen des Nebels niemanden sehen. Sein Blick fiel auf einen Kanaldeckel neben dem Parkweg, und das Blut gefror ihm in den Adern. Sein erster großer Fehler war die Öffnung des Tores zur anderen Dimension gewesen. Sein zweiter Fehler, daß er Rick Masters zu lange übergangen hatte. Doch sein dritter Fehler, sich nicht unter den Schutz des Geisterdetektivs zu stellen, war zugleich auch sein letzter. Denn jetzt kannten die Geisterschlangen keine Gnade mehr.
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* � »Ich halte es für besser«, meinte Chefinspektor Hempshaw, »daß wir Inspektor Cranston nicht einweihen. Er hat Ihnen das Leben gerettet und ist sicher ein fähiger Beamter. Er sträubt sich jedoch dagegen, daß ich mitarbeite. Könnte sein, daß er Schwierigkeiten macht.« »Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Rick und blickte durch die großen Fenster des Frühstücksraumes hinaus auf die Princess Street in den Nebel, hinter dem er den Park erahnte. »Er könnte Joe Brown nur verhaften, um seine Selbständigkeit zu beweisen.« »Genau!« bestätigte der Chefinspektor. »Vielleicht überschreite ich meine Kompetenzen, aber ich versichere Ihnen, daß Joe Brown auf freiem Fuß bleibt. Er muß nur endlich sagen, was er weiß!« »Gut, dann gehe ich sofort zu ihm«, entschied Rick. Sie hatten beide an diesem Morgen keinen großen Appetit entwickelt. Daher war ihr Frühstück jetzt schon beendet. Rick trank noch den letzten Schluck Tee und stand auf. »Wofür halten Sie Joe Brown?« fragte Chefinspektor Hempshaw kopfschüttelnd. »Ist er ein Weißmagier?« »Er wäre gern einer«, antwortete Rick. »Vermutlich besitzt er einige
Kenntnisse, die jedoch nicht für eine richtige Beschwörung ausreichen.« »In Ordnung, Rick, gehen Sie! Viel Glück!« sagte der Chefinspektor. »Ich warte hier auf Sie!« Rick verließ den Frühstücksraum. Er wußte, daß Hempshaw sich nicht an sein eigenes Versprechen halten würde. Dazu war er viel zu gespannt und auch zu begierig, den Fall endlich zu einem glücklichen Ende zu bringen. Der Geisterdetektiv überquerte die Straße und achtete diesmal auf den spärlichen Verkehr, so daß er nicht in eine gefährliche Situation geriet. Es wäre ihm zu lächerlich erschienen, unter ein Auto zu laufen, wogegen er sich gegen eine Armee von Geisterschlangen behaupten konnte! Der Nebel lichtete sich nicht. Um elf Uhr vormittags war es genauso dunkel wie um fünf Uhr nachmittags! Die Burg zeichnete sich nicht einmal gegen den Himmel ab. Vor Rick stand eine dunkelgraue Wand. Sogar das Atmen fiel in diesem Smog schwer, obwohl es so gut wie keine Abgase von Autos gab. Rick ging besonders vorsichtig. Bei normaler Sicht hätte er angreifende Schlangen auf eine größere Entfernung entdeckt. Jetzt konnte er sie höchstens sehen, wenn er schon fast auf sie trat. Er erreichte jene Stelle, an der er sich mit Joe Brown bei ihrem ersten Gespräch getroffen hatte. Von dem 71 �
Informanten war keine Spur zu sehen. »Mr. Brown?« rief Rick. »Mr. Brown! Melden Sie sich!« Es blieb still. Der Geisterdetektiv ging weiter und rief mehrmals nach dem Weißmagier. Seine Stimme und der Schall seiner Schritte wurden von dem Nebel fast vollständig geschluckt. Ricks Nervosität stieg mit jedem Schritt. Es hatte Joe Brown viel daran gelegen, Straffreiheit zu erhalten. Es gab für ihn keinen Grund, diesen Park zu verlassen. Es sei denn… In diesem Moment hörte Rick Masters vor sich einen Aufschrei und gleich darauf Worte in einer Sprache, die außer Rick und einer Handvoll Eingeweihter niemand kannte! Es waren Beschwörungsformeln der Weißen Magie, mit denen man einen Angriff von Geistern und Dämonen abwehren konnte! Der Nebel verfälschte die Stimme, doch Rick zweifelte nicht daran, daß irgendwo dort vorn im Nebel Joe Brown um sein Leben kämpfte! Also hatten ihn die Schlangen gefunden und angegriffen. »Joe Brown!« schrie Rick und lief den Weg entlang. Er zog seine Silberkugel und die Pistole, aber er fand Joe Brown nicht. Nach dem Schall konnte er sich nicht orientieren. Der Schrei und die anschließende Beschwörung waren
zu kurz gewesen. Außerdem lenkte der Nebel jedes Geräusch ab. »Joe Brown!« schrie Rick ein zweites Mal. Er hoffte, daß die weißmagische Formel ausreichte, um die tödlichen Angreifer abzuwehren! Plötzlich war die Gestalt vor Rick. Brown! »Na endlich!« sagte der Geisterdetektiv aufatmend und senkte die Pistole. Die Silberkugel behielt er in der Hand. »Alles klar, Mr. Brown?« Der gescheiterte Weißmagier hob den Kopf und sah Rick eigentümlich starr an. »Hören Sie zu, Mr. Masters«, sagte er langsam und ruhig. »Sie müssen in das unterirdische Gewölbe! Dort finden Sie den Riß in unserer Dimension, durch den die Schlangen gekommen sind und die Geister nachstoßen werden, um Edinburgh zu erobern! Die Schlangen werden im richtigen Moment allen Widerstand in der Stadt brechen!« »Das weiß ich! Weiter!« drängte Rick. »Wo liegt das Kloster? Wie heißt es?« »Im Norden…!« Joe Brown schluckte schwer. Äußerlich war ihm nichts anzusehen, doch Rick wurde den Verdacht nicht los, daß mit ihm etwas nicht stimmte. »Eine Stunde auf der Nebenstraße, der romantischen…« »Wie heißt das Kloster?« Rick trat noch näher und erschrak. Die Lip72 �
pen des Mannes verfärbten sich. Sein Blick wurde starrer. »Die Ruinen… der Abtei…«, hauchte Joe Brown. Er nannte auch den Namen, doch gleichzeitig stöhnte er auf, so daß Rick ihn nicht verstand. »Wie heißt das Kloster?« schrie der Geisterdetektiv verzweifelt und fing den Zusammenbrechenden auf. Joe Brown bemühte sich. Mit letzter Kraft versuchte er, den Namen auszusprechen. Er bewegte die Lippen, und Rick brachte sein Ohr ganz dicht an den Mund des Informanten heran. Er hörte jedoch nur noch einen langen, erlösten Atemzug. Der Körper in seinen Händen wurde so schwer, daß Rick ihn auf den Weg sinken ließ. Hinter ihm erklangen hastige Schritte. Rick Masters riß die Pistole hoch. »Nicht schießen, ich bin es«, sagte Chefinspektor Hempshaw und deutete auf Joe Brown. »Ist er das?« »Das war er«, erwiderte Rick und hob die Hände des Toten an. Schaudernd wich der Chefinspektor zurück, als er die Bißwunden sah. »Wo sind die Schlangen?« fragte Hempshaw mit belegter Stimme. Rick deutete vage in den Nebel. Er sprach nicht, sondern überlegte. »Er hat vor seinem Tod einen weißmagischen Bann gesprochen«,
sagte er wie im Selbstgespräch. »Wahrscheinlich lebte er nur deshalb noch so lange. Die Ruinen einer Abtei… Kellergewölbe… nördliche Nebenstraße… romantisch…« »Was reden Sie da?« rief der Chefinspektor nervös. »Kommen Sie, Rick, wir müssen Inspektor Cranston verständigen!« »Müssen wir das?« fragte der Geisterdetektiv und stand auf. »Selbstverständlich!« versicherte Hempshaw. »Rick! Sie machen ein so seltsames Gesicht! Was haben Sie vor?« »Lassen Sie mich nur machen«, bat Rick. »Ich tue schon das Richtige! Gehen wir!« Er brauchte nicht zu befürchten, daß jemand den Toten wegbrachte. Niemand hatte daran Interesse. Es war auch mehr als unwahrscheinlich, daß Spaziergänger vorbeikamen und über die Leiche erschraken. Wer sollte bei diesem Wetter schon Spazierengehen? Oben an der Straße stand die Telefonzelle, von der aus Joe Brown bei Rick angerufen hatte. Der Geisterdetektiv betrat die Kabine und wählte den Notruf. »Aber… Sie wollten Inspektor Cranston anrufen!« wandte Hempshaw ein. Rick grinste matt und deutete zum Hotel hinüber. »Sehen Sie, dort, Kenneth!« sagte er, damit der Inspektor wegblickte. 73 �
Die Zentrale meldete sich, und Rick beschrieb die Stelle, an der die Leiche lag. Dann hängte er ein. »Sie haben keinen Namen genannt«, sagte Hempshaw. »Wir wollten ins Hotel gehen«, erwiderte Rick. »Nicht wahr, Kenneth? Bei diesem Wetter sollte man sich nicht im Freien aufhalten.« »Rick«, redete ihm der Chefinspektor zu. »Wir müssen Cranston die Wahrheit sagen.« »Damit er mich für einen Lügner hält?« Rick schüttelte den Kopf. »Sie können Ihrem Kollegen meinetwegen erzählen, was Sie wollen, aber nicht jetzt! Nicht, so lange diese Stadt bedroht wird! Erst muß ich die Ruinen der Abtei finden und den Riß in den Dimensionen kitten. Danach können Sie Cranston meinetwegen haargenau jedes Detail schildern.« Der Chefinspektor war nicht begeistert. »Wenn Cranston mich direkt fragt, muß ich antworten«, murmelte er. »Na, wunderbar!« rief Rick. »Dann wird er Sie eben nicht fragen, weil er Sie nicht trifft! Kenneth, steigen Sie ein!« Er hielt dem Chefinspektor die Tür seines Morgans auf. Gerade als der Geisterdetektiv zusammen mit Chefinspektor Hempshaw losfuhr, hielt auf der anderen Straßenseite ein Streifenwagen mit zuckenden Blaulichtern.
Zwei weitere Wagen folgten. »Scheint etwas im Park passiert zu sein«, sagte Rick Masters und gab Gas. »Wir werden es erfahren, wenn wir zurückkommen.« Hempshaw sagte gar nichts, um nicht mit seinem Gewissen in Konflikt zu geraten. Aber insgeheim gab er dem Geisterdetektiv recht. Sie durften keine Zeit mit langen Erklärungen verlieren. »Wohin fahren wir denn überhaupt?« erkundigte sich Hempshaw nach einer Weile. Er versuchte, sich trotz des Nebels zu orientieren. Es gelang ihm nicht. »Wir fahren zu den Ruinen der alten Abtei«, erwiderte Rick Masters. * »Was?« schrie Chefinspektor Hempshaw. »Zu den Ruinen der alten Abtei? Und das sagen Sie so ruhig? Sie wissen also, wo die Ruinen liegen?« »Keine Ahnung«, erwiderte Rick Masters. Hempshaw stieß ein gereiztes Schnaufen aus. »Was soll das? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?« Rick Masters blinkte und bog ab. Er fand seinen Weg mit traumwandlerischer Sicherheit. Er war bisher erst einmal diese Strecke gefahren, aber er hatte sich jede Kleinigkeit eingeprägt. 74 �
»Mit sorgfältigen kriminalistischen Nachforschungen könnte man sicherlich herausfinden, wo die Abtei liegt und um welche es sich handelt«, sagte er endlich. »Man müßte zum Beispiel die letzten Wochen in Joe Browns Leben durchleuchten.« »Sie sagen mir nichts Neues«, meinte der Chefinspektor ärgerlich. »Ich bin Kriminalbeamter, wenn Sie das vergessen haben sollten!« »Wenn Sie tatsächlich Kriminalbeamter sind, wie Sie sagen«, antwortete Rick lächelnd, »werden Sie auch wissen, wie langwierig solche Untersuchungen sind. Diese Zeit haben wir nicht. Ich starte jetzt einen letzten Versuch. Er muß klappen!« Hempshaw wollte unbedingt wissen, worum es ging, doch Rick hüllte sich eisern in Schweigen. Der Chefinspektor mußte abwarten. Der Geisterdetektiv fuhr zu dem Bürogebäude des verschwundenen Mr. Ford, seines Auftraggebers. Die Chefsekretärin erkannte ihn. »Wissen Sie etwas von Mr. Ford?« fragte sie verstört, als Rick ihr Büro betrat. »Sie müssen sich an den Gedanken gewöhnen, daß er nicht mehr lebt«, antwortete Rick bedauernd. »So leid es mir tut! Aber Sie müssen mir trotzdem helfen! Bei der Durchsuchung der Büroräume stellte ich fest, daß Sie mit einem Computer arbeiten.«
»Das ist richtig«, gab die Sekretärin an. Es half ihr, über ihren Beruf zu sprechen. Dadurch empfand sie den Schock nicht so schrecklich. »Hier speichern wir alles auf Computerband.« »Ausgezeichnet«, meinte Rick. »Ich brauche jemanden, der den Computer bedienen kann, und jemanden, der auf touristischem Gebiet perfekt ist.« Die Sekretärin wagte ein scheues Lächeln. »Darf ich mich Ihnen zur Verfügung stellen?« fragte sie. »Ich kann beides.« »Sehr gut«, freute sich Rick Masters. »Stellen Sie fest, ob in den letzten Wochen ein Mr. Joe Brown nördlich von Edinburgh eine Abtei besucht hat. Genauer gesagt, die Ruinen einer Abtei. Es handelt sich also um eine Fahrt mit diesem Busunternehmen, bei der eine Pause an einer solchen Abtei eingelegt wurde.« Die Sekretärin wollte schon die entsprechenden Erkundigungen einziehen, als sich der Chefinspektor an Rick wandte. »Wie kommen Sie darauf, daß die beiden ausgerechnet mit Mr. Fords Unternehmen bei der Abtei waren?« fragte er. »Weil Jeremy Ford keinen Führerschein und keine Freunde hatte, wie seine Vermieterin aussagte«, erwiderte der Geisterdetektiv geduldig. »Also hat er Joe Brown vermutlich 75 �
vorher noch nicht gekannt, sondern erst auf dieser Fahrt kennengelernt. Ich vermute, daß Jeremy Ford für eine Fahrt durch Schottland ein Bus seines Vaters benutzt hat.« »Ach, Mr. Jeremy Ford war in dem Bus, der Sie interessiert?« fragte die Sekretärin. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Mr. Masters? Das ist etwas anderes. Mr. Jeremy Ford fuhr vor neun oder zehn Wochen tatsächlich mit einem Bus seines Vaters. Der Wagen nahm damals die nördliche romantische Route.« Rick Masters fuhr wie elektrisiert zusammen. »Die romantische Strecke! Davon sprach Joe Brown!« Er starrte die Sekretärin an, als wollte er sie hypnotisieren. »Jetzt sagen Sie mir noch, ob an der romantischen Strecke die Ruinen einer Abtei liegen!« »Selbstverständlich«, versicherte die Sekretärin. »Es handelt sich um die Ruinen der Abtei von Glenmorra.« Das war es! Genau auf diese Information hatte Rick Masters sehnsüchtig gewartet! Nun brauchte er gar keinen Computer und kein spitzfindiges Detektivspiel mehr. Das gute Gedächtnis einer Sekretärin hatte ihm den lebenswichtigen Hinweis verschafft! Und doch zögerte er, weil er einfach nicht glauben konnte, sein Ziel erreicht zu haben.
»Es gibt an der romantischen Strecke keine anderen Klöster oder Ruinen?« forschte er. »Klöster schon, aber keine Ruinen«, entgegnete die Sekretärin. »Die Klöster sind alle noch bewohnt.« »Rick!« mahnte Chefinspektor Hempshaw. »Sie wollten keine Zeit verlieren.« »Schon gut, Kenneth!« Rick Masters wurde von ungeheurer Aufregung ergriffen. »Sagen Sie mir nur bitte noch eines! Welche Straße nimmt der Bus, der die nördliche romantische Strecke fährt?« An der Wand des Büros hing eine große Karte von Edinburgh. Die Sekretärin ging darauf zu und fuhr mit dem Finger die Strecke ab. Rick orientierte sich und nickte. »Genau diese Straße haben die Schlangen von Anfang an gesperrt, Kenneth«, sagte er zu dem Chefinspektor. »Das ist für mich der Beweis, daß wir auf der richtigen Spur sind!« Er bedankte sich bei der Sekretärin und verließ das Bürogebäude. Auf der Straße legte Hempshaw ihm eine Hand auf den Arm. »Sie wollen doch nicht allein losfahren, Rick?« fragte er besorgt. »Genau das hatte ich vor«, erwiderte Rick. »Ziehen Sie bloß nicht Ihre örtlichen Kollegen mit hinein, Kenneth! Sie wissen, was geschehen kann, wenn Uneingeweihte auf 76 �
Schwarze Magie treffen. Ich möchte nicht, daß ahnungslose Polizisten ihr Leben verlieren!« Das wirkte. Chefinspektor Hempshaw, der offenbar doch mit diesem Gedanken gespielt hatte, verzichtete darauf. »Trotzdem werden Sie nicht allein fahren«, erklärte der Chefinspektor. »Auf einer so gefährlichen Fahrt begleite ich Sie selbstverständlich!« Dagegen hatte Rick Masters nichts einzuwenden. Er freute sich sogar, denn er war keineswegs so siegessicher, wie er sich gab. Weder war er unbesiegbar, noch kannte er das ganze Ausmaß der Gefahr. Wenn Chefinspektor Hempshaw ihm Rückendeckung gab, stiegen seine Überlebenschancen. Rick Masters spielte kurz mit dem Gedanken, vor dem letzten, entscheidenden Einsatz Hazel anzurufen. Er verzichtete darauf. Es hätte ihn nervös gemacht, ihre Stimme zu hören und ihre Besorgnis zu fühlen. Er mußte sich unbelastet dem schweren Kampf stellen! * Chefinspektor Hempshaw hielt zwei Karten auf dem Schoß, eine von Edinburgh, die andere von der Gegend nördlich der schottischen Hauptstadt. Zuerst umfuhr Rick mit Hemps-
haws Hilfe die gesperrte Straße. »Überall sonst sind die Schlangen in den Untergrund gegangen«, meinte der Chefinspektor kopfschüttelnd. »Nur auf dieser einen Straße nicht.« »Für uns ein gutes Zeichen«, sagte Rick und hielt besonders scharf Ausschau. Er fürchtete einen Angriff, der vorläufig jedoch ausblieb. Unangefochten konnten sie die Stadt verlassen. Das Funkgerät meldete sich. Inspektor Cranston rief den Chefinspektor und den Geisterdetektiv. »Wir haben vergessen, das Funkgerät einzuschalten«, sagte Rick Masters grinsend. »Hoffentlich werden wir nicht gerufen! Wir könnten doch glatt auf einen solchen Anruf nicht antworten.« Chefinspektor Hempshaw tat, als höre er gar nichts. Auf diese Weise brauchte er sich nicht mit seinem Kollegen herumzustreiten, ob er in Cranstons Gebiet etwas unternehmen durfte oder nicht. Nach zehn Minuten gab es Inspektor Cranston auf. »Sie machen sich wirklich, Kenneth«, lobte Rick lachend. »Sie lernen von mir!« »Freuen Sie sich nicht zu früh, Rick«, warnte der Chefinspektor. »Ich merke mir nämlich alle Ihre Tricks. Wenn Sie sie das nächste Mal gegen mich anwenden, weiß ich Bescheid.« 77 �
»Das ist natürlich die Kehrseite der Medaille«, gab der Geisterdetektiv zu. Sie kamen wieder auf die romantische Nordstrecke, wie diese Nebenstraße hieß. »Wie gelangte eigentlich Fords Wagen in seine Garage, Rick?« fragte der Inspektor nach einer halben Stunde Fahrt. »Sie vermuten doch, daß Mr. Ford in der alten Abtei umgekommen ist, nicht wahr?« »Ich bin davon überzeugt«, bestätigte Rick. »Wie sein Wagen in die Garage kam? Ich weiß es nicht, Kenneth. Wie oft haben wir in solchen Fällen unerklärliche Phänomene erlebt. Es lohnt sich nicht, lange darüber nachzudenken. Wir müssen es nehmen, wie es ist.« Damit gab sich Hempshaw zufrieden, vor allem, da sie sich bereits der Abtei näherten und Hempshaw darauf achten mußte, daß sie die Abzweigung nicht versäumten. »Hier ist es!« rief Hempshaw und deutete auf einen Hügel. Rick stieg hart auf die Bremse. Sein Blick schweifte über die Wiese. Dort war auf den ersten Blick nichts zu erkennen, obwohl der Nebel bald hinter Edinburgh aufgehört hatte. Es war auch hier oben in den Bergen nördlich der Hauptstadt trüb und regnerisch, aber die Sicht war gut. »Ich sehe es mir an«, sagte Rick
und stieg aus. »Ich gebe Ihnen aber einen guten Rat, Kenneth! Bleiben Sie im Wagen!« »Auf keinen Fall!« entgegnete der Chefinspektor und schloß sich Rick an. Rick Masters untersuchte jeden Handbreit Bodens, ehe er ihn betrat. Er rechnete fest mit einer Falle. Endlich standen sie vor den Ruinen der ehemaligen Abtei und sahen einander enttäuscht an. »Hier soll es Gewölbe geben?« fragte der Chefinspektor. »Ich sehe keinen Zugang. Ich kann mir auch…« Er verstummte, als es in den Büschen raschelte. Eine Schlange erschien. Rick Masters hielt bereits seine Waffen in den Händen und richtete die Pistole auf das Reptil, doch die Schlange griff nicht an. Folgt mir! Diesen lautlosen Befehl verstand Rick Masters ganz deutlich! Die Schlange verschwand wieder hinter einem Busch. »Sie will uns in eine Falle locken«, sagte Rick zu seinem Begleiter. Chefinspektor Hempshaw tat drei Schritte, um außer Reichweite des Geisterdetektivs zu gelangen. »He, Kenneth!« rief Rick. »Warten Sie! Das ist eine Falle! Wir dürfen nicht…!« Es war schon zu spät. Chefinspektor Hempshaw trat 78 �
dicht an den Busch, hinter dem die Schlange verschwunden war, warf die Arme in die Luft und brach ein. Er war voll in den Bann der Schlange geraten und hatte seinen eigenen Willen verloren. Er zeigte Rick Masters den Zugang zu den Gewölben der Abtei von Glenmorra. Nun hatte Rick keine andere Wahl. Er mußte dem Chefinspektor folgen. Im Stich lassen durfte er Hempshaw auf keinen Fall! Er selbst war durch die Silberkugel vor dem magischen Bann geschützt gewesen, nicht aber der Chefinspektor. Das rächte sich. Rick mußte die Regeln seines Gegners annehmen, um Hempshaw hoch eine Chance zu geben. Rasch trat er näher und wollte in das Loch blicken, in das der Chefinspektor gestürzt war. Doch die Falle schnappte auch bei ihm zu. Der Boden wich, und Rick fiel in die Tiefe. Er schrie erschrocken auf und umklammerte seine Waffen. Ohne sie waren sie beide verloren! Rick fiel weich auf Erde, die schon früher in das Gewölbe gerieselt war, rollte sich ab und kam auf die Beine. Der Anblick preßte einen gellenden Schrei aus seiner Brust! Die Schlange, die ihn und Hempshaw in diese Falle gelockt hatte, glitt mit aufgerichtetem Kopf auf eine tiefschwarze Fläche zu, die sich quer
über das ganze Gewölbe hinzog. Und Chefinspektor Hempshaw folgte ihr! Schon tauchte die Schlange mit dem Kopf voran in die Schwärze. Hempshaw war nur noch zwei Schritte von der unendlichen Öffnung in die andere Dimension entfernt! Tat er auch noch diese zwei Schritte, war er für immer in der anderen Dimension verschwunden, und nichts und niemand konnten ihn zurückholen! Ricks Schrei löste den Bann, Hempshaw zuckte zusammen und griff sich an den Kopf, aber er konnte sich nicht orientieren. Dazu war er schon zu nahe an dem Dimensionstor! »Kenneth, drehen Sie sich um!« rief Rick Masters beschwörend aus. »Hier bin ich! Hinter Ihnen! Umdrehen! Langsam umdrehen! Gehen Sie nicht weiter!« Sekundenlang sah es so aus, als könne der Chefinspektor nicht mehr von sich aus handeln. Die Schlange war inzwischen durch die Schwärze getaucht und kam nicht wieder. Endlich ging ein Zittern durch Hempshaw. Als koste es ihn unendliche Mühe, wandte er sich von dem Tor ab und drehte den Kopf zu Rick. Der Geisterdetektiv streckte dem Chefinspektor die Hand entgegen. Er wagte sich nicht näher heran aus Sorge, Hempshaw könne womöglich 79 �
darüber erschrecken, daß Rick so unvermittelt vor ihm auftauchte. Hempshaws Blick war getrübt. Er versuchte, nach Ricks Hand zu tasten und griff daneben. Jetzt endlich wagte Rick Masters den entscheidenden Schritt. Er packte Hempshaw am Arm und zerrte ihn zurück. Mit einem gewaltigen Ruck brachte er seinen Freund aus dem Wirkungsbereich des Dimensionstores. Schlagartig brach das Entsetzen aus Hempshaw heraus. Er schrie auf und taumelte. »Die Geister kommen!« brüllte er wie von Sinnen. »Die Schlangen greifen an! Ich habe sie gesehen! Sie stürmen auf das Dimensionstor zu! Gleich werden sie hier sein!« Rick zweifelte nicht daran, daß der Chefinspektor einen Blick in diese andere Welt getan hatte. Die Geister, die eine Invasion vorbereitet hatten, sahen die Gefahr, Rick Masters war hier, ihr ärgster Feind, und er besaß die Möglichkeit, das Dimensionstor zu schließen. Sie mußten sofort das Tor durchschreiten und in das Diesseits gelangen, sollte ihr Plan noch aufgehen. »Raus hier!« schrie Rick dem Chefinspektor zu. Er wußte nicht, ob es einen gangbaren Weg ins Freie gab. Wenn nicht, kamen sie in diesem Gewölbe um, denn Rick kannte die Energien, die bei der Schließung eines Dimen-
sionstores frei wurden. Dennoch zauderte er nicht mehr. Das Schwarz des Tores verfärbte sich nämlich und ging in unheimlich glühendes Dunkelrot über. Die Höllenmächte kamen! Rick kannte die einzige Methode, wie man ein Dimensionstor schloß. Er warf seine Silberkugel mitten in das Dunkelrot hinein, in diese Höllenglut. Es klirrte leise, und die Silberkugel fiel zu Boden. Anstelle des Dimensionstores sah Rick Masters eine gewöhnliche Steinwand. Er ließ sich nicht täuschen. Vorerst war nur die optische Wirkung aufgehoben. Er sah nun das Gewölbe, wie es wirklich war. Hastig bückte er sich und steckte seine Silberkugel ein. »Ist es vorbei?« fragte Hempshaw. Rick schüttelte den Kopf. »Die Kräfte des Silbers müssen jetzt erst in die andere Dimension vordringen! Wir müssen hinaus, ehe es losgeht!« Es gab nur das Loch in der Decke, Hempshaw mußte auf Ricks Schultern klettern. Die ganze Zeit behielt Rick jene Mauer im Auge, an der das Dimensionstor existiert hatte. Es begann, sich erneut aufzubauen, doch die Kräfte der Silberkugel wirkten nach. Das Dunkelrot flackerte und wurde an einigen Stellen schwarz. An anderen Stellen blieb 80 �
die Steinmauer erhalten. Das Rot wurde immer mehr zurückgedrängt, das Schwarz verblaßte zu Grau. Rick meinte, einen millionenfachen Chor wütend brüllender Stimmen zu hören. Die Geister, die den Angriff durchführten, aber das Tor nicht passieren konnten, weil die Silberkugel nachwirkte und es blockierte? Hempshaw stand auf Ricks Schultern und erreichte den Rand des Loches, krallte sich fest und zog sich ins Freie. Erde fiel auf den Geisterdetektiv, doch Rick konnte die entgegengestreckte Hand des Chefinspektors fassen und sich hochziehen. Die beiden Männer liefen so schnell sie konnten. Sie erreichten den Morgan, und Rick fuhr sofort los. Nach einer Meile wurde der Morgan von einer gewaltigen Druckwelle geschüttelt. Rick bremste. Sie wandten sich um. Der ganze Hügel mit den Ruinen der Abtei von Glenmorra flog in die Luft! Wie bei einem Vulkanausbruch stieg eine gewaltige Feuersäule auf. Weitere Detonationen krachten. Gewaltige Erdmassen wurden aufgeworfen und wälzten sich wie ein Lavastrom dahin. Rick gab Vollgas, damit sie nicht von herumfliegenden Steinen getrof-
fen wurden. Die Straße hinter ihnen wölbte sich und platzte. Die Asphaltdecke trudelte durch die Luft und krachte in riesigen Trümmerstücken auf den Boden zurück. Es wurde finster. Rick schaltete die Scheinwerfer ein, Nur die hoch in den Himmel schießenden Flammen verbreiteten Helligkeit. Er fühlte sich wie in dem Krater eines ausbrechenden Vulkans. Hempshaw schrie. Rick sah es nur, weil der Chefinspektor den Mund weit aufriß. Zu hören war nichts, weil das Donnern und Krachen der Explosionen alles andere verschluckte. Gute und böse magische Kräfte tobten sich tief im Erdinneren aus, und Ricks Silberkugel siegte im nachhinein. Die Flammen zogen sich zurück, die Erde kam zur Ruhe. Es wurde hell. »Versuchen Sie, ob Sie Edinburgh erreichen«, sagte Rick heiser. Hempshaw ging auf Senden und bekam tatsächlich seinen Kollegen Cranston an den Apparat. Cranston meldete aufgeregt, daß sämtliche Schlangen aus Edinburgh verschwunden waren. Er hatte bereits zahlreiche Stichproben durchführen lassen. Keine einzige Schlange war seinen Leuten über den Weg gelaufen. »Wie kommt das?« fragte Cran81 �
ston. Chefinspektor Hempshaw warf Rick Masters einen fragenden Blick zu. Der Geisterdetektiv nickte. Daraufhin begann Chefinspektor Hempshaw mit dem genauen Bericht über die Zerstörung des Dimensionstores. Rick Masters hörte nur mit halbem Ohr hin. Während der Rückfahrt ließ er sich noch einmal den ganzen Fall durch den Kopf gehen, und er bedauerte nur, daß sein Auftragge-
ber diesen Moment nicht miterlebt hatte. Sein Sohn wäre davon zwar nicht lebendig geworden, doch Aldous Ford hätte wenigstens die Gewißheit erhalten, daß die höllischen Mächte gebannt waren. Als sie endlich Edinburgh erreichten, war Rick Masters in seinen Gedanken schon weiter… in London, bei Hazel Kent und Dracula. Er freute sich auf das Wiedersehen mit beiden!
ENDE �
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