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Angela Sommer-Bodenburg
Anton und der kleine Vampir Die Klassenfahrt Illustrationen von Suat Yalaz
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Angela Sommer-Bodenburg
Anton und der kleine Vampir Die Klassenfahrt Illustrationen von Suat Yalaz
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2. Auflage 1990 © 1990 bei C. Bertelsmann Verlag GmbH, München © Medienrechte: Angela Sommer-Bodenburg Titelbild und Innenillustrationen von Suat Yalaz nach Charakteren der Autorin Reihengestaltung: Klaus Renner Autorenphoto: Jochen Blume Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen Druck: Hofmann-Druck Augsburg GmbH ISBN 3-570-04.946-9 • Printed in Germany
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Dieses Buch ist für Burghardt Bodenburg, der jetzt zwei Paar Vampirzähne besitzt; außerdem für alle, die (so wie ich) wissen, wie schön, aber auch wie nervig eine Klassenfahrt sein kann. Angela Sommer-Bodenburg
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Du packst? Plötzlich raschelte es im Gebüsch...« sagte die tiefe Stimme, die aus Antons Radio kam. Anton, der damit beschäftigt war, seinen Rucksack zu packen, richtete sich auf. Er sah zum Radio – gespannt, wie es in der Geschichte weitergehen würde. »Und nun trat eine Gestalt aus dem Schatten der hohen Bäume«, fuhr die Erzählerstimme fort. »Es war ein dunkel gekleideter Mann, und er trug etwas in der Hand: einen Knüppel!« Genau in diesem Moment klopfte es an Antons Fensterscheibe. Anton schrie auf. Aber dann blickte er zum Fenster und wurde rot. Die dunkel gekleidete Gestalt, die zu ihm wollte, trug keinen Knüppel in der Hand. Nein, sie lächelte sogar! Hastig schaltete Anton sein Radio aus. Er lief ans Fenster und öffnete es. Draußen saß Anna und sah ihn zärtlich an. »Darf ich reinkommen?« fragte sie. »Ja, sicher«, antwortete er und hustete verlegen. Bestimmt hatte Anna gesehen, wie er zusammengezuckt war! Und sein Aufschrei war ihr vermutlich auch nicht entgangen. Vampire hatten sehr gute Ohren! Und gute Augen: Überrascht musterte Anna den Rucksack und fragte: »Du packst?« »Ja, leider.« »Aber ich dachte, eure Klassenfahrt fällt aus!« »Das dachte ich auch.« »Hast du nicht gesagt, deine Lehrerin sei krank geworden?« fragte Anna. »Doch«, bestätigte Anton. »Sie ist krank. Aber unser Mathelehrer springt ein, Herr Fliegenschneider.« 7
»Wie – einspringen?« »Herr Fliegenschneider vertritt meine Lehrerin. Er hat keine eigene Klasse, und deshalb fährt er mit uns nach Altengraben.«
Um Annas Mundwinkel zuckte es. »Das ist gemein!« Anton nickte düster. »Mit Herrn Fliegenschneider wird die Klassenfahrt noch langweiliger.« »Und ihr könnt nichts dagegen unternehmen – streiken oder so?« »Nein, gar nichts. Die Zimmer im Schullandheim sind gebucht, der Bus ist bestellt...« »Der Bus?« Annas Augen leuchteten auf. »Ihr fahrt mit dem Bus? Der hat doch große Gepäckfächer, oder nicht?« Anton ahnte, woran Anna dabei dachte: daß sie in den Gepäckfächern ihren Sarg transportieren könnte. Doch das war eine vergebliche Hoffnung. »Wir fahren schon morgens los«, erklärte er, »um halb zehn.« »Ihr fahrt tagsüber?« sagte Anna enttäuscht. Er nickte. »Die Fahrt dauert ja nur von Montag bis Freitag. Und Herr Fliegenschneider hat ein Riesenprogramm. Wenn wir
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unsere Sachen ausgepackt haben, will er gleich eine Wanderung mit uns machen.« »Puh, wie öde«, schimpfte Anna. Anton zog seine neuen knöchelhohen Turnschuhe unter dem Bett hervor. »Hier, die hab’ ich extra zum Wandern bekommen. Sie sind wahrscheinlich das einzig Gute an der ganzen Reise.« Anna ballte die Fäuste. »Ich würde ja mit dir auf Klassenfahrt gehen! Aber Rüdiger wird mir bestimmt nicht helfen, meinen Sarg nach Altengraben zu fliegen.« »Und wenn du ihn darum bittest?« »Nein.« Anna schüttelte den Kopf. »Seit Olga und Tante Dorothee auf und davon sind, ist mit Rüdiger nichts Vernünftiges mehr anzufangen. Und Lumpi wird mir auch nicht helfen. Der ist jede Nacht bei seinem – ha! – MännerMusikverein. Und meine Eltern und Großeltern sind durch Tante Dorothees geplatzte Verlobung viel mißtrauischer geworden«, fügte sie hinzu. »Ich müßte ihnen genau erzählen, warum ich verreise, wohin und zu wem.« Anna schniefte. »Wir sind immer benachteiligt, immer!« Betreten machte sich Anton an seinem Rucksack zu schaffen. Anna hatte ja recht – das Dasein der Vampire war wirklich nicht leicht. Von überallher drohten ihnen Gefahren – von Friedhofswärtern, von Vampirjägern... und neuerdings auch von Vampirforschern wie Professor Piepenschnurz. Der hatte versucht, unter dem Decknamen Igno von Rant in die Familie von Schlotterstein einzuheiraten, um ›vor Ort‹ seine Forschungen zu betreiben. »Ich werde dich besuchen kommen«, kündigte Anna mit entschlossener Miene an. »Das wird nicht so einfach sein«, entgegnete Anton. »Im Schullandheim sind wir ständig unter Aufsicht. Und es gibt auch nur Gemeinschaftsschlafsäle.«
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»Gemeinschaftsschlafsäle?« wiederholte Anna betroffen. »Etwa mit... Mädchen?« Anton unterdrückte ein Lachen. »Nein. Die Mädchen schlafen unterm Dach und wir Jungen im Erdgeschoß.« »Dracula sei Dank!« Anna seufzte. »Hast du Lust, etwas zu unternehmen?« fragte sie nach einer Pause und sah ihn erwartungsvoll an. »Lust?« Anton zögerte. Seine Mutter hatte angekündigt, daß sie den Inhalt seines Rucksacks noch einmal mit ihm durchsehen würde. »Doch, aber –« Ein Schatten huschte über Annas Gesicht. »– aber du denkst schon an die Mädchen aus deiner Klasse, stimmt’s?« »Nein, wieso?« sagte er entrüstet. »Weil du so ein abwesendes Gesicht machst. Und weil du überhaupt nicht bemerkt hast, daß ich extra für dich ›Mufti Ewige Liebe‹ benutzt habe!« »Das habe ich bemerkt«, widersprach er. »Und warum hast du nichts gesagt?« fragte Anna schmollend. »Warum? Ich bin nicht dazu gekommen«, erklärte Anton. Und er würde auch nicht mehr dazu kommen; denn jetzt hörte er Schritte im Flur. »Meine Mutter!« flüsterte er. Geschmeidig kletterte Anna aufs Fensterbrett. »Und sie haben nur ein einziges Schullandheim in Altengraben?« fragte sie. »Ja, nur eins. Und die Straße heißt ›Waldesruh‹.« »Waldesruh?« Anna kicherte. »Dann bis bald, Anton.« »Wann?« fragt er. »Am liebsten schon morgen«, antwortete sie und flog in die Nacht hinaus. Gleich darauf trat Antons Mutter ins Zimmer. »Du bist immer noch nicht fertig?« fragte sie. »Nein, wozu auch«, brummte er. »Wenn du sowieso alles wieder durchwühlst.« 10
»Das ist nur zu deinem Besten«, antwortete sie. »Damit du nicht zu den Jungen gehörst, denen nachher das Wichtigste fehlt.« »Zu denen gehöre ich sowieso«, knurrte Anton. Und das stimmte: denn das Wichtigste waren – Antons Vampirfreunde!
Giftzähne Natürlich hatte Anton auch ein paar Freunde in seiner Klasse. Aber deren Gespräche während der Busfahrt kreisten ausschließlich um Tischtennis, Radfahren und Mädchen. Ziemlich genervt hockte Anton auf seinem Platz. »Und wie findest du die Neue?« fragte da Ole, der neben ihm saß. »Wie soll ich sie schon finden?« brummte er. Flüsternd sagte Ole: »Also, ich finde, sie sieht toll aus.« Nun mußte Anton doch grinsen. So kannte er Ole gar nicht! Aber die Neue – sie hieß Viola und war erst vor einer Woche in ihre Klasse gekommen – sah wirklich gut aus mit ihren langen blonden Haaren, ihren großen blauen Augen und der kleinen Stupsnase. Was Anton an ihr störte, war vor allem ihre Ähnlichkeit mit Olga von Seifenschwein, der großen Liebe des kleinen Vampirs. Und sie schien auch genauso eingebildet und selbstverliebt zu sein wie Olga. »Im Schullandheim sollten wir gleich einen Disco-Abend steigen lassen«, schlug Henning vor. Er saß eine Reihe hinter Anton und Ole. »Vielleicht tanzt die Neue genauso gut wie sie aussieht.« »Einen Disco-Abend?« wiederholte Anton zweifelnd. »Mit Herrn Fliegenschneider? Ich tippe eher auf einen Wanderabend!«
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Aber die Wanderung fand bereits vor dem Mittagessen statt. Anton und die anderen hatten kaum Zeit, ihre Sachen in die schmalen Schränke zu räumen und die Betten zu beziehen. Es waren Etagenbetten, und in Antons Schlafraum standen drei davon. Beim Bettenmachen halfen Frau Zauberhut und Frau Nußkuchen, zwei Mütter, die zur Unterstützung von Herrn Fliegenschneider mitgekommen waren. Trotzdem schien das Bettenmachen eine kleine Ewigkeit zu dauern. Als Anton sich noch mit der alten, schweren Wolldecke abmühte, auf der ›Freiluftschule Altengraben‹ stand, trieb Herr Fliegenschneider sie schon zur Eile an. Sie müßten sich unbedingt die wunderschöne Umgebung ansehen.
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»Wunderschöne Umgebung...« Nach Antons Meinung war es eine total langweilige Gegend. Hügel rauf, Hügel runter, und immer bot sich das gleiche Bild: ein neuer Hügel, Bäume, Büsche, Heidekraut. »Gibt es hier Schlangen, Herr Fliegenschneider?« fragte Sebastian. »Du meinst sicherlich Giftschlangen!« verbesserte Herr Fliegenschneider. Ein paar Kinder schrien auf, am lautesten Viola. 13
»Hier gibt es höchstens Blindschleichen«, beruhigte sie Herr Fliegenschneider. »Und die haben keine Giftzähne.« »Ich will nach Hause«, jammerte Viola. »Wenn du auf den Wegen bleibst, kann dir nichts passieren«, antwortete Frau Nußkuchen. »Genau!« sagte Herr Fliegenschneider. »Es ist sowieso verboten, die Wege zu verlassen.« Und verboten war noch eine ganze Menge mehr, das merkte Anton nach dem – erstaunlich leckeren – Mittagessen. Es gab Hühnersuppe und Vanillepudding mit Himbeersoße. Anschließend hielt ihnen der Heimleiter, der passenderweise »Herr Greulich« hieß, einen langen Vortrag, was in seinem Schullandheim alles verboten war. »Da hat man ja Mühe, etwas zu finden, das erlaubt ist«, flüsterte Ole Anton zu. Ironisch erwiderte Anton: »Kein Problem. Abends um sechs ins Bett gehen und sofort das Licht ausmachen, in der Küche beim Abwaschen helfen, Kartoffeln schälen, nicht rennen, nicht schreien, keine Musik spielen...« Für ihre Unterhaltung wurden Anton und Ole prompt mit einem Tadel von Herrn Fliegenschneider bedacht. Und zur Strafe mußten sie auch noch das Geschirr abräumen. »Am liebsten würde ich türmen«, seufzte Ole. »Türmen?« Anton grinste. »Du solltest nicht so viele Teller auf einmal tragen. Sonst darfst du von deinem Taschengeld neue kaufen.« Ole stöhnte. »Bloß nicht. Meine zehn Mark sind das einzige, was mich noch aufrecht hält.« »Ich glaube nicht, daß du dir viel davon kaufen kannst«, sagte Anton. »Das nächste Geschäft ist mindestens fünf Kilometer entfernt.« Im übrigen hielt ihn, Anton, etwas anderes aufrecht: der Gedanke, daß Anna vielleicht wirklich schon heute abend zu Besuch kommen würde. Und seinen Vampirumhang – oder 14
besser gesagt, den von Onkel Theodor – hatte Anton vorsorglich mitgebracht.
Hühneraugen und Blasen Am Nachmittag wollte Herr Fliegenschneider die ›Kahlen Berge‹ besteigen, die ›nur‹ eine Stunde Fußmarsch entfernt sein sollten. Doch Maja und Pedro, die Klassensprecher, konnten Frau Zauberhut und Frau Nußkuchen überzeugen, daß eine Wanderung genug war. Und die beiden Mütter wiederum brachten Herrn Fliegenschneider von seinen ehrgeizigen Plänen ab – zumindest für diesen Tag. »Der möchte wohl mit uns ins Guinness-Buch der Rekorde«, meinte Tatjana. »So viele Kilometer können wir gar nicht laufen, um da reinzukommen«, entgegnete Sebastian. »Nein, nicht mit Kilometern«, sagte Tatjana. »Mit Hühneraugen und Blasen!« Anstatt zu wandern, machten sie nun Spiele. Und nach dem Abendessen, das mit Hagebuttentee und Haferbrei niemandem schmeckte – bis auf Herrn FliegenSchneider, der sich dreimal den Teller bis zum Rand füllte – hatten sie ›Freizeit‹. Aber viel konnten sie hier, in der »Waldesruh«, mit ihrer freien Zeit nicht anfangen. »Hast du Herrn Fliegenschneider eigentlich nach der Disco gefragt?« erkundigte sich Ole bei Henning. »Ja, sicher«, antwortete Henning. »Und?« »Er hat gesagt: Falls überhaupt, dann am letzten Abend.« »Am letzten Abend?« wiederholte Ole entrüstet. »Ha, bis dahin sind wir vor Langeweile umgekommen!« 15
Anton grinste in sich hinein. Er würde schon für Abwechslung sorgen – zusammen mit Anna! Allerdings müßte es ihm erst einmal gelingen, unbemerkt sein Zimmer zu verlassen und sich draußen mit Anna zu treffen. Ob sie tatsächlich heute abend kommen würde? Auf jeden Fall wäre es günstig, wenn alle möglichst früh schliefen – seine Mitschüler, Herr Fliegenschneider und die beiden Mütter! überlegte Anton. Am besten, er ging mit gutem Beispiel voran... So kam es, daß Anton schon um halb zehn im Bett lag. Seinen Zimmerkameraden sagte er, das sei wegen Herrn Fliegenschneider – und weil der die Disco bestimmt viel bereitwilliger und vor allem viel früher genehmigen würde, wenn abends Ruhe herrschte. Diese verlockende Aussicht brachte sie dazu, um viertel vor zehn das Licht zu löschen und sich nur noch flüsternd zu unterhalten. Und durch das Flüstern wurden sie rasch müde und schliefen ein – bis auf Anton. Der lag unter seiner Wolldecke und wartete, daß es auch in den anderen Zimmern ruhig wurde. Aber andauernd klappten Türen, lief jemand kichernd zum Waschraum. Und die Unruhe nahm sogar noch zu. Immer heftiger wurden die Türen geschlagen, immer lauter wurde gelacht und gerufen. Endlich trat Herr Fliegenschneider auf den Plan. Anton erkannte seine energischen Schritte im Flur, und dann polterte Herr Fliegenschneider los: »Wenn ihr nicht sofort ruhig seid, werden wir morgen dreißig Kilometer wandern! Und übermorgen fünfunddreißig. Und am Donnerstag vierzig. Wollen mal sehen, ob sich danach noch jemand muckst!« Plötzlich war alles still – beinahe unheimlich still, fand Anton. Die Drohung von Herrn Fliegenschneider hatte offenbar gewirkt. Anton hörte zwar noch vereinzeltes Kichern, und ein paarmal huschte jemand durch den Flur.
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Doch ansonsten blieb es ruhig. Und schließlich – Anton blickte auf seine Armbanduhr und sah, daß es schon elf Uhr war – mußte auch der letzte eingeschlafen sein. Nein, einer war noch wach! Anton stand auf. Er schlüpfte in seinen Trainingsanzug und ging zur Tür. Behutsam öffnete er sie. Sie knarrte – genau, wie er es erwartet hatte. Aber nichts geschah. Auf Zehenspitzen schlich Anton den Flur entlang zum Speisesaal. Dort öffnete er ein Fenster und stieg hinaus. Kühle Nachtluft umfing ihn, und ganz in der Nähe schrie eine Eule. Oder war es gar kein Eulenschrei gewesen? Auf einmal schlug Anton das Herz bis zum Hals. Konnte er denn sicher sein, daß Anna und niemand sonst ihn hier erwartete? Immerhin hatte sie gesagt, ihre Eltern und Großeltern seien viel mißtrauischer geworden. Wenn nun einer der erwachsenen Vampire ihr gefolgt war... Aber Anna hätte es gemerkt, wenn ihr jemand gefolgt wäre! überlegte Anton. Und in einem solchen Fall wäre sie gar nicht erst zum Schullandheim geflogen. Es mußte doch eine Eule gewesen sein. Neugierig spähte Anton zu dem mächtigen alten Baum hinüber, der vor dem Heim wuchs. Und wirklich: Jetzt entdeckte er einen großen schwarzen Vogel, der auf einem Ast kauerte und zu ihm herüberstarrte. Das ist ja eine Rieseneule! dachte er. Doch dann begriff er, daß es gar keine Eule war, sondern... ein Vampir!
So ein Zufall »Anna?« fragte er vorsichtig.
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Leises Lachen ertönte, und eine helle Stimme sagte: »Guten Abend, Anton.« Wieder schlug ihm das Herz bis zum Hals, aber diesmal vor Freude und Erleichterung. »Hallo, Anton!« sagte da eine zweite, tiefere Stimme. Nun sah Anton, daß neben Anna eine zweite dunkel gekleidete Gestalt stand. »Rüdiger, du?« fragte er, halb freudig, halb ungläubig. »Tolle Überraschung, was?« sagte der kleine Vampir. »Tja, ich wollte wissen, ob Klassenfahrten wirklich so aufregend sind, wie Anna behauptet.« »Aufregend? Es gibt kaum etwas Langweiligeres«, widersprach Anton. »Langweilig kann ich sie beim besten Willen nicht finden, die schöne Blonde!« Der kleine Vampir kicherte und zeigte hinüber zu den Dachfenstern. »Wenn sie bloß nicht die Vorhänge zugezogen hätte...«
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»Die schöne Blonde?« sagte Anton ahnungsvoll. »Rüdiger findet, daß sie wie Olga aussieht«, verriet Anna. »O nein...« Anton stöhnte leise auf. Das konnte nur Viola gewesen sein! »Stimmt gar nicht«, zischte der kleine Vampir. »Niemand kann wie Olga aussehen. – 19
Aber typmäßig«, fuhr der Vampir in schwärmerischem Tonfall fort, »typmäßig ist sie wie Olga. Und sie ist auch genauso gepflegt!« »Gepflegt?« sagte Anton. »Sie hat sich mindestens eine halbe Stunde die Haare gebürstet«, berichtete Anna. »Mit einer rosa Bürste«, ergänzte der kleine Vampir und seufzte. Dann fragte er barsch: »Sag mal, Anton, kannst du nicht ein Stelldichein arrangieren?« »Ein – was?« tat Anton verständnislos. »Ein Treffen«, antwortete der kleine Vampir und kam vom Baum heruntergeschwebt. »Morgen abend vielleicht, kurz nach Sonnenuntergang?« »Und mit wem?« spielte Anton weiterhin den Ahnungslosen. »Mit wem, mit wem«, schnaubte der kleine Vampir. »Mit der schönen Blonden natürlich.« »Oder bist du etwa an ihr interessiert?« fragte er nach einer Pause argwöhnisch.
»Ja, das möchte ich auch wissen!« rief Anna. Mit finsterer Miene landete sie vor Anton.
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»Du magst Mädchen, die lange, blonde Haare haben, stimmt’s?« fragte sie herausfordernd. »Die Haarfarbe ist mir egal«, erwiderte Anton. »Ich mag nette Mädchen, so wie dich.« »Ehrlich?« Anna schniefte gerührt. »Und an Viola bin ich nicht interessiert«, erklärte Anton mit fester Stimme. »Viola? Heißt sie so?« forschte der kleine Vampir. »Ja.« »Viola... Denselben Namen trug die zweite große Liebe von Graf Dracula: Viola die Zurückhaltende«, murmelte der kleine Vampir andächtig. Anton grinste. »Die zweite große Liebe?« sagte er. »So ein Zufall.« »Wie meinst du das: Zufall?« fragte der kleine Vampir unfreundlich. »Na ja Die Übereinstimmungen zwischen dir und Graf Dracula...« »Nicht wahr?« Der kleine Vampir lachte selbstgefällig. »Damit wären wir also verabredet«, stellte er fest. »Verabredet?« »Ja. Morgen, kurz nach Sonnenuntergang werde ich dich und Viola erwarten.« Er kicherte. »Drüben, am Waldessaum«, ergänzte er hochtrabend. »Aber –« begann Anton. Doch der kleine Vampir hatte schon die Arme unter seinem Umhang ausgebreitet. »Ich verlass’ mich auf dich«, sagte er mit Grabesstimme. »So, und jetzt muß ich etwas gegen meine entsetzlichen Magenkrämpfe tun!« Damit erhob er sich in die Luft und flog rasch davon.
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Schwarz in schwarz »Ein echter Freund!« sagte Anton wütend zu Anna. »Ich bin froh, daß er überhaupt mitgekommen ist«, erwiderte Anna. »Er hat im Moment zu gar nichts Lust. Unsere Großmutter, Sabine die Schreckliche, sagt: Rüdiger steckt in einem seelischen Tief.« »In einem seelischen Tief?« wiederholte Anton. Das klang ja richtig bedrohlich! Anna nickte. »Er sieht alles schwarz in schwarz. Aber Rüdiger kann einem auch leid tun: zuerst das Trainingsprogramm bei dem Psychologen, auf das er so große Hoffnungen gesetzt hatte. Und am Ende ist alles doch nur Betrug gewesen...« »Betrug?« sagte Anton entrüstet. »Es ist ein Versuch gewesen, ein wissenschaftlicher Versuch«, stellte er richtig. »Und Herr Schwartenfeger hat niemals versprochen, daß er Rüdiger von seiner Angst vor den Sonnenstrahlen heilen könnte!« »Versprochen oder nicht – Rüdiger hat an das Programm geglaubt«, antwortete Anna. »Und wenn man an etwas glaubt und dann enttäuscht wird – das ist, als ob man in ein tiefes schwarzes Loch fällt, sagt meine Großmutter.« Anton erschrak. »Deine Großmutter sagt das? Weiß sie etwa, daß Rüdiger bei Herrn Schwartenfeger das Programm gemacht hat?« »Nein, wo denkst du hin!« beruhigte ihn Anna. »Außerdem ist Rüdiger nicht nur von Herrn Schwartenfeger enttäuscht. Bei ihm kommt eine Menge zusammen: die Enttäuschung über den Psychologen, die Entlarvung von Igno von Rant, daß Olga mit Tante Dorothee abgeflogen ist... und vor allem, daß sie Hugo den Haarigen lieber mag als ihn!« »Hat Olga das gesagt?«
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»Nein. Waldi der Bösartige hat es uns erzählt. Olga hatte sich ja noch nicht mal von Rüdiger verabschiedet.« »Nicht?« »Eher hätte sie sich von dir verabschiedet«, sagte Anna grimmig. »Bei mir ist Olga nicht gewesen«, versicherte Anton und fügte hinzu: »Glücklicherweise!« Anna lächelte erleichtert. »Und weil Rüdiger in diesem seelischen Tief steckt, bin ich so froh, daß er heute abend mitgekommen ist«, fuhr sie fort. »Und dann diese Viola... du mußt alles versuchen, damit sie morgen abend zu dem Stelldichein kommt!« »Wie meinst du das: alles?« fragte Anton grinsend. Anna war rot geworden. »Na, du sollst sie überreden! Du weißt schon, wie man das macht.« »Aber gern tue ich es nicht«, betonte Anton. »Und wieso nicht?« fragte Anna. »Weil Viola wirklich nicht mein Fall ist!« »Ach, Anton.« Anna sah ihn mit einem innigen Lächeln an. »Wie süß du das wieder gesagt hast!« Anton hustete. »Hattest du eigentlich Probleme, das Schullandheim zu finden?« lenkte er schnell ab. »Nein. Es war sogar ziemlich einfach.« »Und deine Verwandten?« »Ich habe ihnen erzählt, daß ich mir ein neues Parfüm mischen möchte – Mufti Unwiderstehlich – und daß ich dafür äußerst seltene Kräuter brauche und deshalb weit fliegen muß. – Ja, und Rüdiger soll mich begleiten, hab’ ich gesagt, weil er dann auf andere Gedanken kommt.« »Und wie hast du Rüdiger dazu gebracht, mitzufliegen?« fragte Anton.
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»Oh, ich habe einfach behauptet, du hättest ein ganz tolles Mädchen in deiner Klasse – und daß er jetzt, auf eurer Klassenfahrt, die einmalige Chance hätte, sie kennenzulernen.« »Aber wie konntest du das wissen?« fragte Anton verdutzt. »Ich wußte es doch gar nicht!« Anna kicherte. »Das mit dem Mädchen hatte ich mir nur so zurechtgelegt – als Anreiz für Rüdiger. Sonst wäre er überhaupt nicht aus seinem Sarg gekommen. Zuerst war er auch kein bißchen interessiert – weil er Olga nicht untreu werden wollte, stell dir das vor! Aber ich hab’ ihm klargemacht, daß er Olga eifersüchtig machen muß, wenn er Hugo den Haarigen ausstechen will. Das hat ihn schließlich überzeugt.« Anna rieb sich vergnügt die Hände. »Und dann hier im Schullandheim dieser unglaubliche Zufall, nein, Glücksfall! Ein Mädchen, das aussieht wie Olgas Schwester! Rüdiger wollte es zuerst nicht glauben. Und ich erst recht nicht.« Anna kicherte heftiger. »Eine Fügung Draculas, wie meine Mutter, Hildegard die Durstige, es nennen würde!« »Eine Fügung Draculas?« Anton spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Immerhin sollte er Viola nicht nur zu einem Stelldichein mit einem ihr völlig Unbekannten überreden – dieser Unbekannte war auch noch... ein Vampir! »Ich werde jetzt fliegen«, sagte Anna in seine Gedanken hinein. Anton fuhr zusammen. »Schon?« »Bis ich all die seltenen Kräuter gefunden habe, das kann dauern.« Anna zog einen schwarzen Beutel unter ihrem Umhang hervor. »Wenn der nicht bis oben hin voll ist, schöpfen meine Eltern und Großeltern Verdacht. – Und außerdem haben wir morgen abend genug Zeit«, sagte sie sanft. »Du kommst morgen auch?« fragte Anton. »Aber sicher«, antwortete sie. »Du sollst die beiden ja nur bekanntmachen. Danach bist du bei Rüdiger sowieso 24
unerwünscht. Und dann können wir, du und ich, etwas unternehmen.« »Hm, ja.« Noch immer hatte Anton dieses unbehagliche Gefühl, was den kleinen Vampir und sein Stelldichein mit Viola betraf. Aber Anna würde ja dabei sein, überlegte er. Und außerdem war er keineswegs sicher, daß es ihm gelingen würde, Viola zu einem Treffen mit Rüdiger zu überreden. »Also, bis morgen«, sagte Anna zärtlich. »Ja, bis morgen«, antwortete er. Anna bewegte ihre Arme, und schon flog sie. Anton blickte ihr hinterher, bis das Dunkel der Nacht sie verschluckt hatte. Dann kletterte er durch das Fenster in den Speisesaal zurück. Ohne jemandem zu begegnen, erreichte Anton sein Zimmer. Er zog den Trainingsanzug aus und kroch unter die Wolldecke. Ole, der das Bett über ihm hatte, schnarchte laut. Aber Anton war so müde, daß er trotzdem gleich einschlief.
Die Teufelsklippen Am nächsten Morgen stand eine Wanderung zu den ›Teufelsklippen‹ auf ihrem Programm, wie Herr Fliegenschneider mit geheimnisvoller Miene verkündete. Weil der Name recht vielversprechend klang, gab es in Antons Klasse nur wenige, die murrten. Anton gehörte nicht dazu. Er hatte sich vorgenommen, die Wanderung zu nutzen, um mit Viola ins Gespräch zu kommen. Bereits beim Frühstück hatte Anton sich einen Plan zurechtgelegt. Auf jeden Fall wollte er es anders machen als die Jungen, die Viola ständig umschwärmten und sie ganz offen anhimmelten. Diese Verehrer wurden von Viola ziemlich
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abfällig behandelt – genau wie Olga es mit dem kleinen Vampir gemacht hatte. Anton wollte sich zwar auch in Violas Nähe aufhalten. Aber dann wollte er sie absichtlich ›übersehen‹, um so ihre Neugier anzustacheln – und ihren Stolz. Denn Viola konnte es bestimmt nicht ertragen, wenn ein Junge keine Notiz von ihr nahm! Sein Plan schien zu gelingen. Während Anton neben ihr herging und tat, als wäre sie Luft für ihn, musterte Viola ihn immer wieder. Schließlich sprach sie ihn an: »Bist du auch neu in der Klasse?« »Nein, wieso?« antwortete er. »Weil du so schüchtern bist, hihi«, machte sich Henning wichtig. Er hatte die ganze Zeit alberne Witze erzählt und selbst am lautesten gelacht. »Ich bin nicht schüchtern«, entgegnete Anton würdevoll. »Aber die blöden Witze gehen mir auf die Nerven.«
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»Mir auch«, sagte Viola. »Du bist wohl schon älter?« fragte sie nach einer Pause. »Älter?« wiederholte Anton. »Ja. Du bist so ruhig und ernst.« Sie sah in die Runde. »Die anderen hier sind richtig kindisch, aber du –« 27
Anton biß sich auf die Zunge, um nicht zu lachen. »Du heißt Anton, stimmt’s?« sagte Viola jetzt. Er nickte. Sie kicherte affektiert. Dann wandte sie sich ihrer Freundin Sonja zu und begann mit ihr zu tuscheln. Anton ging gespielt gleichmütig weiter. Er war sicher, daß er die erste Hürde geschafft hatte: Violas Interesse zu wecken. Und alles weitere würde sich finden! Bei den Teufelsklippen, die kein bißchen ›teuflisch‹ aussahen, sondern gewöhnliche graue Gesteinsbrocken waren, setzte Anton sich ein paar Meter entfernt von Viola auf einen Stein und packte sein zweites Frühstück aus. Hin und wieder sah er zu Viola hinüber, die von acht Jungen umlagert war und reichlich gelangweilt wirkte – zumal sich Henning wieder mit Witzen hervortat. Plötzlich erhob sich Viola und kam auf Anton zu. »Manche Jungs sind die reinste Landplage«, stöhnte sie und nahm neben ihm Platz. »Und am schlimmsten sind die, die es noch nicht mal merken.« Anton grinste. »Und du?« fragte Viola. »Sitzt du immer alleine?« »Nein«, antwortete er. »Aber ich halte nichts von erzwungener Geselligkeit.« »Ich auch nicht!« Viola seufzte. »Überhaupt hasse ich Klassenfahrten. Alles ist so primitiv: die Schlafsäle, die Waschräume...« Sie zupfte an ihren blonden Locken. »Gestern mußte ich mir die Haare mit eiskaltem Wasser waschen!« »Tatsächlich?« sagte Anton nur. »Sehr gesprächig bist du aber nicht«, bemerkte sie und blickte ihn mit gerunzelten Augenbrauen an. »Siehst du nicht, daß wir beobachtet werden?« entgegnete Anton.
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Viola verzog die Mundwinkel. »Ja, von den Langweilern da drüben! Aber die können mir gestohlen bleiben mit ihren lahmen Witzen.« »Nein, die meine ich nicht.« Anton hatte Mühe, ernst zu bleiben. Ihm war gerade die Idee gekommen, auf welche Weise er Violas Interesse noch mehr anstacheln konnte. Das Zauberwort hieß – Eifersucht! »Tatjana«, flüsterte er. »Sie beobachtet uns!« »Tatjana?« sagte Viola überrascht. »Psst!« Anton legte einen Finger auf den Mund. »Sie darf nicht mitkriegen, daß wir über sie reden.« »Und warum nicht?« »Weil sie dann erst recht eifersüchtig wird!« »Eifersüchtig? Ist Tatjana etwa deine Freundin?« »Nun ja... nicht direkt.« »Wie – nicht direkt?« »Weil ich heute mit ihr Schluß machen will. Heute, nach dem Abendessen«, behauptete Anton. »Ehrlich?« Viola kicherte. »Könnte es sein, daß du dich mit einem anderen Mädchen befreunden möchtest?« Beinahe hätte Anton gelacht. Er wußte natürlich, an welches ›andere‹ Mädchen Viola dachte: an sich selbst! »Das wäre schon möglich«, sagte er betont rätselhaft und fügte hinzu: »Komm doch heute abend, wenn es dunkel geworden ist, in den Hof. Dort verrate ich es dir!« »Wenn es dunkel geworden ist?« Der Vorschlag schien Viola zu gefallen. »Hast du dann mit Tatjana Schluß gemacht?« fragte sie und warf nun doch einen Blick zu Tatjana hinüber – einen triumphierenden Blick, wie Anton feststellte. »Ja, bestimmt«, sagte er. Sie lächelte kokett. »Gut«, flüsterte sie. »Bis heute abend!« Und mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt stand sie auf und ließ sich wieder im Kreis ihrer Verehrer nieder.
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Anton sah ihr zufrieden hinterher. Es war zwar kein teuflischer Plan, den er auf den ›Teufelsklippen‹ ausgeheckt hatte. Dennoch hatte alles so gut geklappt, daß er fast glauben mußte, irgendeine ›teuflische Macht‹ habe ihm beigestanden! ›Wahrscheinlich die Macht der Liebe!‹ dachte Anton, und jetzt grinste er. Auf dem Rückweg schimpften alle, die Teufelsklippen wären eine einzige Enttäuschung gewesen, und die Wanderung dorthin hätten sie sich sparen können. »– und die Blasen!« ergänzte Melanie. Anton dagegen fühlte sich ausgesprochen beschwingt; wahrscheinlich, weil es ihm geglückt war, Viola zu dem Stelldichein heute abend zu bewegen! Seine gute Laune verflog allerdings wieder, als im Schullandheim jeder einen Brief nach Hause schreiben mußte. Und das war noch nicht alles: Danach teilte Herr Fliegenschneider Hefte aus und kündigte an, sie müßten von nun an Tagebuch führen. »Wieso das denn?« rief Ole. »Ihr sollt nicht länger wie aufgescheuchte Hühner durch die Gegend rennen, sondern Augen bekommen für das Schöne«, antwortete Herr Fliegenschneider. »Für das Schöne?« Henning lachte hinter vorgehaltener Hand. »Meine Augen übersehen keine Schöne, hihi!« »Pro Tag werden mindestens zwei Seiten geschrieben«, fuhr Herr Fliegenschneider fort. »Und wer ein paar Zeichnungen macht, kann seine Zensur noch verbessern.« »Zensuren gibt es auch?« empörte sich Stefan. »Aber sicher«, sagte Herr Fliegenschneider. »Oder dachtest du vielleicht, du wärst zum Vergnügen hier?« »Ja, das dachte ich«, knurrte Stefan. Und so saßen sie im Speisesaal und beugten sich über ihre Hefte, genau wie in der Schule.
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Seufzend machte Anton sich daran, die ersten beiden Tage zu beschreiben – natürlich unter Aussparung seiner nächtlichen Begegnung mit Rüdiger und Anna. Und auch seine Verabredung mit Viola heute abend verschwieg er. Schließlich hatte Anton in seiner allergrößten Schrift zwei Seiten gefüllt. Er stand auf und ging zu den anderen, die vor ihm fertig geworden waren, in den Hof. »Tagebuch, Brief nach Hause... das ist ja Psycho-Terror!« beschwerte sich Sebastian. Anton grinste. »Nein, das ist eine Klassenfahrt.« »Wir dürfen uns nicht alles gefallen lassen«, meinte Ole. »Wir müssen Gegenvorschläge machen: Nachtwanderung, Schnitzeljagd, Lagerfeuer, Disco-Abend... Und dann müssen wir Frau Zauberhut und Frau Nußkuchen auf unsere Seite bringen.« »Vorschläge machen können wir natürlich«, sagte Anton, eher pessimistisch. »Aber ob wir damit bei Herrn Fliegenschneider Erfolg haben werden...« Antons Bedenken erwiesen sich als sehr berechtigt. Zum Thema Nachtwanderung sagte Herr Fliegenschneider, das sei ihm viel zu gefährlich wegen angeblicher ›Moortümpel‹ und ›Erdlöcher‹. Eine Schnitzeljagd lehnte er strikt ab: »Da werden Tausende von unschuldigen Käfern zertrampelt«, behauptete er. Ein Lagerfeuer oder eine Disco stellte er für den Abschiedsabend in Aussicht – falls die restlichen Tage »ohne größere Zwischenfälle« verliefen. »Der allergrößte Zwischenfall ist Herr Fliegenschneider selbst«, erklärte Sebastian zähneknirschend. »Ich würde am liebsten meine Sachen packen«, knurrte Ole. Antons Laune war – verständlicherweise – weniger düster. »Auf einen bösen Tag folgt ein guter Abend«, erklärte er.
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Löcher in die Luft Sonderlich gut fing der Abend nicht an: Mißmutig saßen alle im Speisesaal herum. Einige schrieben immer noch an ihren Tagebüchern oder machten Zeichnungen, um ihre Zensur zu verbessern. Andere spielten Karten – aber leise! wie Herr Fliegenschneider sie ermahnt hatte. Wieder andere starrten nur, sehr zur Verärgerung von Herrn Fliegenschneider, »Löcher in die Luft«. Zwei Mädchen und zwei Jungen häkelten unter Anleitung von Frau Zauberhut; aber keinen Zauberhut, sondern Topflappen. In diese allgemeine trübe Stimmung hinein fragte Anton, ob er eine Geschichte vorlesen sollte. Herr Fliegenschneider zögerte. »Es müßte aber eine Geschichte sein, aus der wir etwas lernen können«, machte er zur Bedingung. »O ja! Aus meiner Geschichte kann man sogar sehr viel lernen«, versprach Anton. »Es geht um den Kampf zwischen Gut und Böse!« »Tatsächlich?« sagte Herr Fliegenschneider, sichtlich erfreut. Nicht so erfreute Gesichter machten die Mitschüler. Nach Antons vollmundiger Ankündigung erwarteten sie bestimmt irgendeinen ›wertvollen‹ und ›lehrreichen‹ Text aus dem Lesebuch!
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Vergnügt spazierte Anton in sein Zimmer und kam mit »Der Vampir von Amsterdam« zurück – dem Buch, das ihm Frau Tugendhaft geschenkt hatte und das aus der Freudentaler Gemeindebücherei stammte. Er schlug eine seiner LieblingsLieblingsgeschichten auf: »James Bradleys Vampir« von Roger M. Thomas. Ohne den Titel zu verraten, begann er vorzulesen. Je länger Anton las, desto gespannter lauschten die anderen. Ja, die Gruppe um Frau Zauberhut vergaß fast das Häkeln. Nur das Gesicht von Herrn Fliegenschneider wurde immer länger. »Und was soll man aus dieser Geschichte, bitteschön, lernen?« fragte er gallig, nachdem Anton geendet hatte. »Daß es sogar auf einer Klassenfahrt interessante Abende geben kann«, kicherte Viola, den Blick auf Anton gerichtet. Anton sah schnell weg. Herr Fliegenschneider knurrte etwas Unverständliches, und mit noch griesgrämigerer Miene als sonst forderte er sie auf, in die Schlafräume zu gehen. »Und wer Lärm macht, den lasse ich heute die ganze Nacht im Flur stehen«, drohte er. O nein! dachte Anton. Wie sollte er dann wohl in den Hof kommen...? Doch die Worte von Herrn Fliegenschneider schienen auch diesmal ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben. Oder machte es nur die Müdigkeit? Auf jeden Fall – kurz nach zehn war alles still. Wie in der Nacht zuvor kletterte Anton aus dem Fenster – und draußen stellte er erschrocken fest, daß in dem Neubau, den Herr Greulich bewohnte, Licht brannte. Gestern nacht hatte Anton dort kein Licht gesehen. Aber gestern war er auch eine Stunde später ausgestiegen... Und wenn nun der Heimleiter noch einen letzten Kontrollgang ums Haus macht, bevor er schlafen geht? durchfuhr es Anton siedendheiß. 34
Von Herrn Fliegenschneider drohte ihm keine Gefahr; dessen Zimmer lag auf der anderen Seite des Schullandheims. Und Frau Nußkuchen und Frau Zauberhut bewohnten zwei Kammern im Dachgeschoß, das hatte Anton in der Zwischenzeit herausgefunden. Er blickte hinauf zu den Dachfenstern. Sie waren dunkel. Aber plötzlich wurde ein Fenster geöffnet, und dann hörte er die Stimme von Viola: »Anton?« »Ja«, antwortete er. »Wo bist du?« Sie kicherte. »Für kleine Mädchen. Warte, ich komme!« »Für kleine Mädchen... Wie niedlich.« sagte da eine rauhe Stimme hinter Anton. Er fuhr herum und erblickte den kleinen Vampir. »Rüdiger, du?« sagte Anton überrascht. »Ja«, knurrte der kleine Vampir. »Und ich bin ganz schön genervt!« »Genervt?« »Und ob! Oder würdest du gern stundenlang am Waldrand stehen?« ›Stundenlang?‹ dachte Anton. Rüdiger übertrieb mal wieder maßlos, denn so lange war es noch gar nicht dunkel! Laut sagte er: »Nein. Aber ich kann erst kommen, wenn alle eingeschlafen sind. – Und du solltest lieber wieder gehen«, fügte er hinzu. »Ich soll gehen?« brauste der kleine Vampir auf. »Ja – bis ich Viola von dir erzählt habe.« »Was, du hast ihr nichts von mir erzählt?« rief der kleine Vampir entrüstet. »Das ist doch wohl das Mindeste, was ich von dir als Freund erwarten kann: daß du ihr all meine Vorzüge in den rosigsten Farben schilderst!« »Ja, schon«, sagte Anton. »Aber ich hab’ mir eine andere Taktik überlegt.« »Eine andere Taktik? Was soll das heißen?«
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»Immerhin ist es so, daß Viola dich überhaupt nicht kennt, oder?« fragte Anton. »Natürlich kennt sie mich nicht«, schnaubte der Vampir und fügte, albern kichernd, hinzu: »Bedauerlicherweise kennen wir uns noch nicht, Viola und ich.« »Und mit jemandem, den sie nicht kennt, würde sie sich wohl kaum nachts um zehn Uhr am Waldrand treffen«, fuhr Anton fort. »Nein«, gab der kleine Vampir zu. »Ja, und genau aus diesem Grund hab’ ich mich mit Viola verabredet«, sagte Anton. »Hm...« Nachdenklich kratzte sich der kleine Vampir am Kinn. »Und wie geht es dann weiter, ich meine: wie lernen wir uns endlich kennen, Viola und ich?« »Ich werde sie zu einem Mondscheinspaziergang überreden, und dabei wirst du uns – rein zufällig natürlich! – über den Weg laufen«, erklärte Anton. »Und dann werde ich euch bekanntmachen. Aber jetzt solltest du wirklich gehen, Rüdiger!« drängte er. »Also gut«, sagte der kleine Vampir. »Und beeil dich mit dem Überreden!« Lautlos entfernte er sich. Anton sah ihm nach, bis Rüdiger zwischen den Bäumen verschwunden war.
An jedem Finger zehn Auf einmal berührte ihn jemand an der Schulter. »Anna!« sagte er freudig. Anton hatte schon die ganze Zeit fragen wollen, wo Anna eigentlich steckte. Doch nun blickte er betroffen in das Gesicht von Viola. »Anna?« Viola verzog die Mundwinkel. »Du hast wohl an jedem Finger zehn!« »Zehn? Wovon?« tat Anton ahnungslos. 36
»Freundinnen, zehn Freundinnen!« fauchte Viola. »Nein, ich habe nur eine«, erwiderte Anton – und das stimmte sogar. »Und diese Anna?« fragte Viola mißtrauisch. »Anna? Du mußt dich verhört haben«, entgegnete Anton. »Als du mir eben auf die Schulter getippt hast, hab’ ich gedacht, es wäre Tatjana und gesagt: ›Jana‹?« »Jana?« »So nenne ich sie manchmal.« »Es klang aber wie Anna«, beharrte Viola. »Ja, vielleicht.« Anton verkniff sich ein Grinsen. »Aber warum sollte ich ›Anna‹ sagen, wenn wir überhaupt kein Mädchen in der Klasse haben, das so heißt.« »Stimmt«, gab Viola kleinlaut zu. »Und was ist nun mit Tatjana?« fragte sie nach einer Pause in ihrer gewohnten forschen Art. »Mit Tatjana?« »Ja! Hast du etwa nicht Schluß gemacht mit ihr?« »Doch.« »Und wieso hast du gedacht, sie wäre es, als ich dir auf die Schulter getippt habe?« »Du hast recht, das hätte ich merken müssen«, sagte Anton gewitzt. »Weil du nämlich viel zartere Finger hast als sie.« »Ehrlich?« »Ja. Und du bewegst dich auch viel, viel leiser!« Viola lächelte geschmeichelt. »Ich will schließlich nicht erwischt werden von Herrn Fliegenschneider.« Das war genau das Stichwort für Anton! »Ja, das will ich auch nicht«, sagte er. »Und deshalb sollten wir von hier weggehen, am besten in den Wald. Da entdeckt uns Herr Fliegenschneider nicht.« »Aber im Wald sind Wölfe und Wildschweine«, antwortete Viola. Besonders mutig schien sie nicht zu sein.
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»Wölfe sind in dieser Gegend längst ausgestorben«, widersprach Anton. »Und Wildschweine kommen nur im tiefen Wald vor, bei den Teufelsklippen oder noch weiter weg. Außerdem hab’ ich eine Taschenlampe.« Und indem er seinen ganzen Charme spielen ließ, fügte er hinzu: »Im Wald ist es doch viel romantischer, findest du nicht?« Viola zögerte noch immer. »Ich weiß nicht –« In diesem Augenblick ging die Lampe über dem Hauseingang von Herrn Greulich an. Gleich darauf wurde die Tür geöffnet, und ein Räuspern ertönte. »Der Heimleiter! Schnell, wir müssen uns verstecken!« flüsterte Anton. Er faßte Viola am Arm und zog sie mit sich. Erst am Waldrand hielt Anton inne. »Aua!« sagte Viola und rieb sich den Arm. »Entschuldige«, bat Anton. »Aber daß Herr Greulich auftaucht, konnte ich nicht ahnen.« Und in Gedanken ergänzte er: ›Hoffentlich entdeckt er nicht das offene Fenster!‹ Anton hatte es zwar zugedrückt – aber möglicherweise hatte ein Windstoß es wieder aufgeweht... Falls der Heimleiter das offene Fenster entdeckte, würde er unter Garantie Herrn Fliegenschneider informieren. Und dann würden die beiden wahrscheinlich die Schlafsäle durchsuchen, um festzustellen, wer fehlte...
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Angenehm! »Und jetzt?« hörte er neben sich die Stimme von Viola. Anton zuckte zusammen. »Was jetzt?« »Hast du mir nicht vorgeschwärmt, es wäre so ›romantisch‹ im Wald?« »Doch.« »Ha, davon merke ich nichts! Man sieht noch nicht mal den Mond. Und erst recht keine Sternschnuppen. Und dauernd knackt und knistert es. Das finde ich nicht romantisch, das finde ich unheimlich!« »Unheimlich?« wiederholte Anton zerstreut. Er dachte an Herrn Greulich und was wohl passieren würde, wenn herauskäme, daß er, Anton, nicht in seinem Bett lag. »Willst du nicht wenigstens deine Taschenlampe einschalten?« zischte Viola. »Ja, das könntest du wirklich tun«, ließ sich da eine rauhe, kehlige Stimme vernehmen, und dann kam der kleine Vampir hinter einem Gebüsch hervor. »Es ist nicht sehr höflich von dir, tatenlos mitanzusehen, wie dieses hübsche junge Mädchen vor Angst zittert.«
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Nun zitterte Viola tatsächlich. Aber Rüdigers plötzliches Erscheinen hatte selbst Anton einen gehörigen Schrecken eingejagt. In der Zwischenzeit hatte sich der kleine Vampir – wahrscheinlich mit Faschingsschminke – etwas ›menschlicher‹ hergerichtet: selbst in dem Halbdunkel unter den Bäumen waren seine rotgemalten Wangen zu erkennen. Obendrein hatte er sich mit einem kräftigen Parfüm beträufelt, das verdächtig nach Annas »Mufti Ewige Liebe« roch. Anton hüstelte. »Jaja«, nickte der kleine Vampir. »Du mußt noch eine Menge lernen, was den Umgang mit so bezaubernden jungen Damen wie dieser hier betrifft.« »Wer... ist das?« fragte Viola. Sie wirkte nicht unbedingt ängstlich, eher überrascht. »Merkst du nun, wie ungehobelt dein Benehmen ist, Anton Bohnsack?« schnaubte der kleine Vampir. Er wollte seine Befangenheit offenbar dadurch überspielen, daß er Anton unentwegt anschnauzte. »Na los, stell mich der jungen Dame vor!« Anton reckte sich. »Das ist Rüdiger, ein Freund«, erklärte er, »und das ist Viola, die erst kürzlich neu in unsere Klasse gekommen ist.« »Angenehm!« säuselte der kleine Vampir und reichte Viola seine magere Hand. Viola ergriff Rüdigers Hand – und ließ sie gleich wieder Vermutlich hatte sie noch nie eine so eiskalte Hand berührt! »Und nun schalte endlich die Taschenlampe ein«, herrschte der kleine Vampir Anton an. »Viola möchte bestimmt genauer sehen, mit wem du sie bekannt gemacht hast!« »N-nein!« antwortete Viola hastig. »Nein?« sagte der kleine Vampir verdutzt. »Es ist wegen Herrn Greulich«, hauchte Viola. »Er könnte uns entdecken.« 40
»Der ist doch längst in seinem Haus verschwunden«, antwortete der kleine Vampir. »Im Ernst?« rief Anton. »Und du bist dir ganz sicher?« »Allerdings!« schnaubte der kleine Vampir. »Oder willst du behaupten, ich würde Lügen verbreiten?« »Nein, natürlich nicht«, sagte Anton schnell. »Aber vor zehn Minuten ist Herr Greulich noch im Hof gewesen.« »Tja –« Der kleine Vampir tippte sich an die Stirn. »Und vor fünf Minuten hat er den Schlüssel im Schloß rumgedreht.« »Und das hast du wirklich gehört?« fragte Anton, noch nicht restlos überzeugt. »Und ob!« donnerte der kleine Vampir. Viola kicherte. »Du mußt ja Ohren wie ein Luchs haben!« »Wie ein Luchs?« Rüdiger lachte abfällig. »Wir Vampire haben zehnmal bessere Ohren als jeder Luchs!« Anton stand vor Schreck das Herz still. So ein Leichtsinn, so ein bodenloser Leichtsinn... Und der kleine Vampir schien noch nicht mal bemerkt zu haben, was ihm da herausgerutscht war! Erst als Viola irritiert fragte: »Hast du eben gesagt: Vampire?« weiteten sich Rüdigers Augen. »Vam-p-pire?« stammelte er. »Ich, ähem –« begann er und sah Anton hilfesuchend an. Entschlossen griff Anton ein: »Rüdiger ist Schauspieler«, erklärte er. Viola horchte auf. »Schauspieler?« »Ja, Filmschauspieler«, sagte Anton. »Er macht in einem Vampirfilm mit.« »Ach, deshalb das tolle Kostüm...« Violas Argwohn war offenbar verflogen. »Ich hab’ mir gleich gedacht: Solche Superkostüme gibt es nur beim Film! Und die Maske ist auch perfekt.« »Welche Maske?« fragte der kleine Vampir heiser. »Na, die Maske, die du für deinen Vampirfilm brauchst«, half Anton ihm. 41
»Du weißt doch!« setzte er beschwörend hinzu. Aber der kleine Vampir mußte heute abend außergewöhnlich schwer von Begriff sein. »Nein«, antwortete er und klickte mit den Zähnen. »Ich weiß gar nichts.« »Aber ja!« erwiderte Anton mit fester Stimme. »Und du kannst ganz beruhigt sein, Rüdiger: Viola ist keine Schauspielerin. Sie wird den Reportern nichts über deine neue Filmrolle verraten.« »Den Reportern?« murmelte der kleine Vampir. Seine Verwirrung war anscheinend komplett. »Ich will aber Schauspielerin werden!« hob Viola hervor, die den Blick gar nicht mehr von Rüdiger abwenden konnte, seit Anton ihr eröffnet hatte, er wäre Schauspieler. ›Wahrscheinlich hofft sie auf eine Rolle in seinem Film!‹ dachte Anton und hatte Mühe, nicht zu lachen. »Und bei dir ist eben die letzte Klappe gefallen?« begann sie jetzt den kleinen Vampir auszuforschen. Doch der murmelte nur: »Klappe? Welche Klappe?« Anton wußte natürlich, welche ›Klappe‹ Viola meinte: Die berühmte Holztafel, auf der die Filmleute immer die jeweilige Szene notierten, die sie gerade drehen wollten. Er grinste. In gewissem Sinne hatte Viola den Nagel auf den Kopf getroffen: bei Rüdiger war tatsächlich eine Klappe gefallen, weil er überhaupt nichts mehr verstand. »Wir sollten lieber das Thema wechseln«, sagte Anton, zu Viola gewandt. »Du siehst ja, Rüdiger ist von den Filmaufnahmen so geschafft, daß er nicht mehr davon reden möchte.« »Das ist aber schade!« Violas Stimme war anzumerken, daß sie Rüdiger am liebsten noch stundenlang ausgehorcht hätte. Nach kurzem Überlegen fragte sie mit honigsüßer Stimme: »Möchtest du vielleicht morgen darüber reden, Rüdiger?«
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»Du willst, daß wir uns morgen wiedersehen?« rief der kleine Vampir. Viola nickte. »O ja, furchtbar gern!« Der kleine Vampir konnte sein Glück kaum fassen. »Ich... ich werde auf dich warten«, lispelte er gerührt. »Und deine Dreharbeiten?« wollte Viola wissen. »Sind die morgen auch so spät angesetzt?« »Dreh-Arbeiten?« fragte der Vampir verwirrt. »Ja, sicher«, sagte Anton rasch. »Rüdigers Dreharbeiten sind zur selben Zeit wie heute. Vampirfilme muß man einfach abends drehen!« »Dann bis morgen, Rüdiger«, säuselte Viola. »Und bring mir ein Autogramm mit!« Wie es schien, war Anton ihr völlig gleichgültig geworden. Ohne sich im mindesten um ihn zu kümmern, lief Viola kichernd zum Schullandheim zurück.
Umwerfend freundlich Als sie außer Sichtweite war, stieß der kleine Vampir Anton in die Seite. »Und nun erklärst du mir gefälligst, was das alles bedeuten soll!« verlangte er. »Hast du wirklich nichts begriffen?« erwiderte Anton. »Würde ich dich sonst fragen?« zischte der Vampir. »Na schön«, sagte Anton. »Ich erkläre es dir – wenn du in einem etwas freundlicheren Ton mit mir sprichst!« »Was?« brauste der Vampir auf. »Ich bin doch schon den ganzen Abend umwerfend freundlich!« »Ja, zu Viola!« sagte Anton wütend. »Aber mich brüllst du ständig an.« »So?« Der kleine Vampir grinste breit. »Ich würde sagen, hier brüllt nur einer: nämlich du!«
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In seiner Erregung hatte Anton die Stimme tatsächlich laut – unvorsichtig laut! – erhoben. Besorgt sah er sich um. Doch im Schullandheim und bei Herrn Greulich blieben die Fenster dunkel. »Auf jeden Fall verdankst du es mir, daß sich Viola wieder mit dir treffen möchte!« sagte Anton. »Dir?« »Ja! Wenn ich nicht in letzter Sekunde die Idee mit dem Vampirfilm gehabt hätte...« Anton sprach nicht weiter. »Was dann?« »Na ja – dann wäre Viola vielleicht zu Herrn Fliegenschneider und zu Herrn Greulich gerannt und hätte ihnen berichtet, daß sich im Wald ein Vampir herumtreibt. Aber jetzt wird sie niemandem von dir erzählen – in ihrem eigenen Interesse.« »Wie – in ihrem eigenen Interesse?« »Sie hofft bestimmt, daß du ihr eine Rolle verschaffst – in deinem Vampirfilm!« »Ach so«, sagte der kleine Vampir. »Schon geht mir ein Licht auf...« ›Schon?‹ Anton mußte grinsen. »Und du meinst, Viola glaubt tatsächlich, daß ich Filmschauspieler bin?« fragte Rüdiger nach einer Pause. »Hast du nicht gehört, wie sie dich um ein Autogramm gebeten hat?« antwortete Anton. »Doch.« Der kleine Vampir kicherte eitel. »Eigentlich wundert es mich nicht, daß Viola ein Autogramm von mir möchte. Schließlich war mir immer klar, daß ich ein sehr anziehendes Gesicht habe!« Anton biß sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. »Aber woher kriege ich das Autogramm für Viola?« fiel Rüdiger ein. »Ich kann mich doch gar nicht fotografieren lassen.«
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»Sag ihr einfach, die Autogramme seien vergriffen«, schlug Anton vor. »Wegen der ungeheuren Nachfrage deiner Fans.« »Vergriffen?« brummte der kleine Vampir. »Nein. Ich weiß etwas viel Besseres: Ich werde mich zeichnen lassen, und zwar von dir!« Anton lachte trocken. Das war mal wieder typisch Rüdiger! »Ich habe gar keine Stifte«, sagte er. »Dann holst du sie eben – aus deinem Landschulheim!« »Im Heim hab’ ich auch keine«, behauptete Anton. »Und wie soll ich unter diesen Umständen an mein Autogramm kommen?« brummte der kleine Vampir. »Frag doch Anna, ob sie dich zeichnet«, sagte Anton. Rüdiger schüttelte den Kopf. »Anna kann nicht. Sie hat eine Hand, so dick wie ein Kürbis.« »Ist sie etwa – verletzt?« fragte Anton erschrocken. »Ja, eine Mücke hat sie gestochen.« Der Vampir kicherte. »Eine Mücke?« wiederholte Anton. Offenbar wollte Rüdiger sich über ihn lustig machen! Ihn, Anton, hatten hier in Altengraben schon mindestens drei Mücken in die Hand gestochen. Und er konnte immer noch – leider! – Tagebuch führen. »Ist Anna deshalb nicht mitgekommen?« fragte er. Der kleine Vampir nickte. »Und schwindlig war ihr auch. Da wollte sie lieber im Sarg bleiben. – Hm, vielleicht zeichnet Lumpi mich«, wandte er sich wieder seinen eigenen Problemen zu. »Wenn ich ihm etwas dafür biete! Oh, ich würde es wundervoll finden, wenn Viola mein Bildnis immer bei sich tragen würde...« »Und ich würde es sehr leichtsinnig finden«, erwiderte Anton. »Genauso leichtsinnig wie deinen Ausspruch vorhin: daß ihr Vampire zehnmal bessere Ohren habt als jeder Luchs!« »Ich muß jetzt fliegen«, zischte der kleine Vampir, der nicht gern an seine eigenen Fehler erinnert wurde. »Hörst du, wie mein Magen knurrt?« 45
»Nein«, sagte Anton wahrheitsgemäß. »Aber ich«, antwortete der Vampir. Ungewöhnlich leutselig fügte er hinzu: »Gute Nacht, Anton. Und drück mir alle Daumen, die du hast – für mein Autogramm!« »J-ja, natürlich«, sagte Anton – verblüfft über die plötzliche Freundlichkeit des kleinen Vampirs, der jetzt mit ein paar kräftigen Armbewegungen davonflog, Langsam ging Anton zum Schullandheim zurück. Alles war genau so, wie er es verlassen hatte: das angelehnte Fenster, der leere, stille Flur. Ja, sogar Ole schnarchte noch, als Anton leise ins Bett stieg. Seine letzten Gedanken vor dem Einschlafen galten Anna. Ihre Verletzung mußte ziemlich schlimm sein, wenn sie freiwillig im Sarg blieb! Und daß man durch einen simplen Mückenstich Schwindelanfälle und eine geschwollene Hand, dick wie ein Kürbis, bekommen sollte, konnte Anton sich nicht vorstellen. Es war bestimmt etwas anders gewesen, das Anna gestochen hatte. Oder sollte sie – gebissen worden sein? Anton beschloß, am nächsten Morgen Herrn Fliegenschneider zu fragen, ob es in Altengraben nicht vielleicht doch... Giftschlangen gab.
Ausgerechnet ins Museum! Aber Anton kam nicht dazu. Die von Herrn Fliegenschneider angedrohte Wanderung zu den »Kahlen Bergen« fiel im 46
wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser, weil es schon beim Frühstück regnete. Also mußte Herr Fliegenschneider seine Pläne ändern. Nach Rücksprache mit Frau Zauberhut und Frau Nußkuchen verkündete er, sie würden in den Nachbarort fahren und dort ins Museum gehen. Auf dem Weg zur Bushaltestelle schimpfte Ole: »Ausgerechnet ins Museum, wo es nur alte, verstaubte Sachen gibt! Mir reicht es schon, daß wir mit einem alten, verstaubten Lehrer unterwegs sein müssen!« Anton meinte grinsend: »Vielleicht behalten sie Herrn Fliegenschneider gleich da.« »Ja, und dann stellen sie ihn in einer Vitrine aus«, witzelte Sebastian. »Mit einem Schild um den Hals: Lehrer, wie vor hundert Jahren.« Aber das Museum, das in einem ehemaligen Schloß untergebracht war, enthielt wider Erwarten doch einige recht interessante Stücke, zum Beispiel Kutschen. Vor einer Kutsche mit hohen schwarzen Rädern, einer Tür aus schwarzem Holz und einem schwarzen Lederverdeck blieb Anton längere Zeit fasziniert stehen. Kein Schild verriet die Herkunft oder das Alter dieser Kutsche. Offensichtlich war sie uralt. Mit einem leisen Schaudern überlegte Anton, wer wohl darin gefahren sein mochte. Die Kutsche sah unheimlich aus, wie geschaffen für nächtliche Spazierfahrten. Anton war sicher, daß Anna begeistert sein würde – und die übrigen Vampire auch. Denselben Gedanken mußte Viola gehabt haben, denn plötzlich hörte Anton ihre Stimme neben sich: »Genau das richtige für Rüdigers Film, findest du nicht?« »D-doch.« »Oder haben sie schon eine Kutsche?« »Ich – ich weiß nicht«, sagte Anton und sah sich vorsichtig um. Auf keinen Fall durften Ole und die anderen mitkriegen, 47
daß er sich hier heimlich mit Viola unterhielt. Nicht, weil Viola und er dadurch ins Gerede kommen würden – das war Anton egal. Nein, er befürchtete, daß Violas Verehrer ihnen dann Tag und Nacht hinterherspionieren würden. »Wir sollten uns nicht zusammen sehen lassen!« sagte er. Doch Viola fuhr unbeeindruckt fort, ihn auszuhorchen: »Was heißt, du weißt nicht, ob sie eine Kutsche haben? Rüdiger muß dir doch erzählt haben, ob es ein moderner Vampirfilm ist, den er dreht – oder ein altmodischer, so einer mit Kutschen und verfallenen Friedhöfen.« Rüdigers angebliche Dreharbeiten schienen ihr überhaupt nicht mehr aus dem Sinn zu gehen. »Es ist natürlich kein moderner Film«, sagte Anton. »Aber sie – äh – haben schon eine Kutsche. Eine noch viel schönere als diese hier.« Er blickte wieder zur Tür. »Ehrlich? Und Rüdiger fährt auch in dieser schönen Kutsche? Ich meine, bei den Dreharbeiten?« »Ja.« Anton wurde immer nervöser. »Ob ich sie mir mal ansehen könnte?« »Wie denn?« »Ich könnte Rüdiger bei den Dreharbeiten besuchen.« Viola kicherte. »Und dann fahr’ ich mit ihm in der Kutsche! Glaubst du, er hätte Lust dazu?« Anton, der sich nähernde Schritte hörte, sagte rasch: »Das mußt du Rüdiger selbst fragen – heute abend.« Da tauchten auch schon Ole und Henning auf. Viola lief den beiden entgegen. »Schaut euch bloß diese irre schwarze Kutsche an«, trällerte sie. »Die kommt bestimmt aus der Heimat von Graf Dracula, aus Transsibirien!« Anton mußte grinsen. Wenn schon, dann aus Transsylvanien! Aber das behielt er lieber für sich. »Und was hat Anton damit zu tun?« fragte Henning und blickte argwöhnisch zwischen ihnen hin und her.
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»Gar nichts«, sagte Anton, und betont gleichmütig verließ er den Raum mit den Kutschen.
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Grusel und Nervenkitzel Am Nachmittag, als es nicht mehr regnete, fand dann die angekündigte Wanderung statt. Doch glücklicherweise war es schon zu spät, um noch zu den Kahlen Bergen zu gehen. Herr Fliegenschneider steuerte nun einen Bauernhof in der Nähe an. Es sollte ein ganz besonderer Hof sein, ein richtiger ›Bilderbuch-Hof‹, wie Herr Fliegenschneider schwärmte, mit vielen interessanten Tieren. Bei der Erwähnung der ›interessanten Tiere‹ erinnerte sich Anton plötzlich wieder an Annas geschwollene Hand. »Das mit den Schlangen –« fragte er unterwegs Herrn Fliegenschneider. »Könnte es in Altengraben nicht vielleicht doch giftige Schlangen geben?« Herr Fliegenschneider setzte eine verdrießliche Miene auf. »Ihr mit euren Giftschlangen!« sagte er tadelnd. »Müssen denn immer Sensationen her, Grusel und Nervenkitzel? Das kommt alles nur vom Fernsehen!« »Aber es könnte doch Giftschlangen geben, oder?« beharrte Anton. »Na ja«, gab Herr Fliegenschneider widerwillig zu. »An Plätzen, die noch weitgehend unberührt sind. In Wirklichkeit müssen die Schlangen den Menschen fürchten – und nicht umgekehrt.« »Und an diesen Plätzen, wo es noch Giftschlangen gibt... sind da auch seltene Kräuter?« fragte Anton mutig weiter. »Genau so ist es«, bestätigte Herr Fliegenschneider. »Oder denkst du, solche Kräuter würden an Landstraßen wachsen?« Normalerweise hätte sich Anton über den oberlehrerhaften Ton von Herrn Fliegenschneider geärgert. Aber jetzt war er viel zu aufgeregt. Wenn es stimmte, daß die seltenen Kräuter dort wuchsen, wo es auch noch Giftschlangen gab – dann war 51
seine Befürchtung, was Annas Verletzung betraf, keineswegs aus der Luft gegriffen! »Und was für Giftschlangen sind das?« forschte Anton und nahm in Kauf, daß Herr Fliegenschneider noch etwas grämlicher guckte. »Kreuzottern«, antwortete Herr Fliegenschneider, der Antons Klasse außer in Mathematik auch in Biologie unterrichtete. »Sag mal, hattest du nicht eine ›2‹ in Biologie?« Anton nickte. ›Hatte‹ – vielleicht würde sich das nur allzubald bewahrheiten! Was tat er nicht alles für Anna... Doch er mußte noch eine letzte ›dumme‹ Frage stellen: »Und wenn man nun gebissen wird, ist das sehr gefährlich?« Er merkte, wie seine Stimme dabei zitterte. »Ja, allerdings«, sagte Herr Fliegenschneider. »Dann hilft nur: das Gift heraussaugen, den Arm oder das Bein fest abbinden – und auf dem schnellsten Weg zum nächsten Arzt.« Anton hatte das Gefühl, als würde sich ihm eine eisige Faust in den Nacken legen. ›Arme Anna!‹ schoß es ihm durch den Kopf. Nicht, daß sie sterben würde... Aber bestimmt mußte sie mit Fieber und Schüttelfrost ihren Sarg hüten und hatte entsetzliche Schmerzen. »Soll das der Bauernhof sein?« unterbrach Ole seine Gedanken. Vor ihnen lag ein Gebäude, das mit seinen Fenstern aus weißem Kunststoff, der klobigen Aluminiumtür, den Glasbausteinen und dem roten Blechdach kein bißchen wie ein ›Bilderbuch-Hof‹ aussah – eher wie ein besonders häßliches Haus in irgendeiner Vorstadt. »Die müssen renoviert haben«, murmelte Herr Fliegenschneider. »Als ich das letztemal hier war, hatte das Haus ein Reetdach, Sprossenfenster und eine kunstvoll geschnitzte Tür.« »Dafür haben sie jetzt ein Motorrad«, bemerkte Sebastian.
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»Furchtbar, was aus dem schönen alten Hof geworden ist!« Herr Fliegenschneider konnte sich gar nicht beruhigen. »Interessante Tiere gibt es dann wohl auch nicht mehr«, meinte Ole. Mit dieser Vermutung sollte er recht behalten. Der Bauer, der sich sogar noch an Herrn Fliegenschneider erinnerte – obwohl dessen letzte Klassenfahrt nach Altengraben fünf Jahre zurücklag – hatte seinen Betrieb auf Mastschweine und Milchkühe umgestellt; wegen der staatlichen Zuschüsse, wie er stolz berichtete. Auf dem Rückweg machte Herr Fliegenschneider einen richtig deprimierten Eindruck. »Tja!« sagte Anton zu Ole. »Grusel und Nervenkitzel – aber von der anderen Art!« »Sollen wir das mit dem ›Bilderbuch-Hof‹ auch schreiben?« erkundigte sich Henning, als sie später im Schullandheim wieder über ihren Tagebüchern saßen. »Nein, nein«, erwiderte Herr Fliegenschneider hastig. »Ihr sollt nur über das Museum schreiben.« Und mit seiner gewohnten, strengen Lehrerstimme ergänzte er: »Das bietet ja wohl Stoff genug!«
Tausend gute Worte Nach dem Abendessen ordnete Herr Fliegenschneider einen weiteren Spaziergang an. »Sonst könnt ihr überhaupt nicht einschlafen!« erklärte er. Das war auch Antons Sorge; denn niemand hatte sich heute sonderlich verausgabt. Und was sollte aus seiner Verabredung mit Rüdiger und Viola werden, wenn die anderen bis Mitternacht oder länger wach blieben? Anton hatte mit dem kleinen Vampir zwar keine Zeit vereinbart; aber nur, weil ohnehin feststand, daß sie sich so früh wie möglich treffen würden – gegen zehn, wie gestern abend. 53
Deshalb regte Anton zusätzlich noch ein paar Spiele und Wettläufe an, bei denen alle richtig außer Atem kamen. Das half: Schon um Viertel vor zehn schliefen Antons Zimmerkameraden fest. Leise erhob sich Anton. Im Flur war niemand zu sehen. Die Tür zu Herrn Fliegenschneiders Zimmer stand halb offen, und Anton hörte monotone Orgelmusik. Vermutlich war Herr Fliegenschneider vor seinem Kofferradio eingenickt! Trotzdem vermied Anton jedes Geräusch. Auf Zehenspitzen ging er zum Speisesaal und verließ ihn auf die gewohnte Art durch das Fenster. Draußen atmete er tief durch. Es kam ihm vor, als würde es jeden Abend ein bißchen schwieriger, das Schullandheim zu verlassen. Er sah hinüber zum Haus von Herrn Greulich. Nur ein kleines Fenster im ersten Stock war erleuchtet. Konnte es sein, daß der Heimleiter schon im Bett lag? Anton ging vorsichtig weiter – und hätte beinahe aufgeschrien: Aus dem Schatten eines Baumes löste sich plötzlich eine Gestalt und kam auf ihn zu. Ein Vampir! wie Anton voller Bestürzung erkannte. Und diesen Vampir mit seinen hellen Locken, die den Kopf wie ein Kranz umstanden, und den in tiefen dunklen Höhlen liegenden Augen hatte Anton nie zuvor gesehen... Erst als der Vampir mit einem Kichern fragte: »Hast du dich erschrocken?« begriff er, daß es – Viola war! »Wo-woher hast du die ganzen Sachen?« stotterte er. Violas Kostüm sah fast perfekt aus: Ihre Haut war weiß geschminkt, schwarze Ringe lagen um ihre Augen, die Lippen waren rot nachgezogen, und ihr Haar hatte sie vampirhaft wild frisiert. Dazu trug sie eine schwarze Strumpfhose und schwarze Ballettschuhe. Nur der schwarze Pulli hatte wenig Ähnlichkeit mit einem Vampirumhang.
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Sie kicherte wieder. »Findest du, daß ich überzeugend aussehe?« »Überzeugend?« Anton zögerte. »Ja, für den Vampirfilm«, sagte sie aufgeregt. »Weißt du, ich möchte Rüdiger etwas vorspielen. Und wenn es ihm gefällt, verschafft er mir vielleicht eine Rolle in seinem Film.« »Ach, deswegen –« Sie zupfte an ihrem Pulli. »Das Kostüm ist natürlich nicht so gut wie das von Rüdiger. Aber es vermittelt zumindest einen ersten Eindruck.« »Einen ersten Eindruck?« »Ja, wie ich wirke als – Vampir!« »Du wirkst toll!« »Ehrlich?« sagte sie geschmeichelt. »Meinst du, Rüdiger findet mich auch toll?« »Der sowieso!« versicherte Anton. »Dann wird er hoffentlich ein gutes Wort für mich einlegen«, lispelte sie. »Rüdiger wird tausend gute Worte für dich einlegen«, erklärte Anton. »Die Frage ist nur, ob es etwas nützt.« »Willst du damit sagen: die Filmleute hören nicht auf ihn?« erkundigte sich Viola besorgt. Und dann, einem plötzlichen Verdacht folgend, fragte sie: »Hat Rüdiger etwa nur eine Nebenrolle in dem Vampirfilm?« »O nein!« widersprach Anton. »Er hat die Hauptrolle. Oder glaubst du, er hätte so ein Superkostüm, wenn er nur eine Nebenrolle spielen würde?« »Die Hauptrolle...« sagte Viola andächtig. »Dachte ich mir’s doch. Ich würde Rüdiger auch die Hauptrolle geben, wenn ich Filmregisseurin wäre.« Sie seufzte. »Wann kommt er eigentlich?« »Er müßte längst hier sein«, sagte Anton, der sich schon mehrmals verstohlen umgesehen hatte.
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Ob Rüdiger sich wegen Anna verspätet hatte? Bei dieser Überlegung hatte Anton auf einmal ein ganz flaues Gefühl im Magen. »Gehen wir«, sagte er. »Ist Herr Greulich wieder unterwegs?« fragte Viola und spähte zum Haus des Heimleiters hinüber, das inzwischen vollständig dunkel war. »Nein, der schläft schon«, beruhigte Anton sie. »Aber Rüdiger trifft sich lieber im Wald. – Weil es dort romantischer ist«, fügte er hinzu. »Ach, das stammt von Rüdiger – das mit der Romantik!« »Ja, er hat einen Sinn dafür.« »Das macht die Schauspielerei«, erklärte Viola. »Als Schauspieler muß man starke Gefühle haben!« »Tatsächlich?« »Ja! Rüdiger könnte zum Beispiel nie einen Vampir spielen, wenn er nicht gleichzeitig wie ein Vampir fühlen würde!« »Ist das so?« tat Anton überrascht. »Fühlt er etwa ständig wie ein Vampir; ich meine: auch nach den Dreharbeiten?« »Bei vielen Schauspielern ist das so«, bestätigte Viola ziemlich altklug. »Sie können nicht mehr unterscheiden zwischen ihrer eigenen Person und der Rolle.« Anton und Viola hatten den Waldrand erreicht, und dort erwartete sie, breit grinsend, der kleine Vampir. Anton hatte ihn schon bemerkt, nur Viola noch nicht.
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»Schauspieler wissen manchmal gar nicht mehr, wer sie wirklich sind«, plapperte sie munter weiter. »Ich weiß es aber!« erwiderte der kleine Vampir und lachte krächzend. »Ich bin Rüdiger von Schlotterstein, der größte Schauspieler aller Zeiten!« »Rüdiger, du...« säuselte Viola. »Hallo, Viola«, sagte Rüdiger heiser. Ausnahmsweise kränkte es Anton nicht, daß der kleine Vampir ihn demonstrativ ›übersah‹. Zum einen hatte er nichts anderes erwartet – wußte er doch, daß der kleine Vampir auf diese Weise versuchte, vor Viola möglichst ›erwachsen‹ zu 57
wirken. Zum anderen fand Anton es viel wichtiger, daß Rüdiger endlich sein seelisches Tief überwunden zu haben schien. »Du siehst unglaublich gut aus«, sagte der kleine Vampir jetzt zu Viola. »Du solltest immer schwarz tragen.« Sie lachte geziert. »Findest du?« »Ja! Von weitem hätte ich dich fast für –« Rüdiger brach ab. Anton vermutete, daß er »für einen echten Vampir gehalten« hatte sagen wollen – und daß er im letzten Moment gemerkt hatte, was ihm da um ein Haar entschlüpft wäre. »Für eine Schauspielerin gehalten?« fragte Viola hoffnungsvoll. »Genau«, rief der kleine Vampir. »Für eine Schauspielerin aus meinem Vampirfilm, hihi!« Er warf Anton einen triumphierenden Blick zu. Wahrscheinlich erwartete er von Anton Beifall für seine Antwort. »Nur der Umhang fehlt«, klagte Viola und zerrte unzufrieden an ihrem Pulli. »Aber ihr habt bestimmt noch mehr Vampirumhänge in der Requisite, oder?« »In der – was?« fragte Rüdiger. »Na, in dem Raum, wo ihr die Kostüme aufbewahrt!« »Ach so.« Der kleine Vampir tippte sich an die Stirn. »Den Raum meinst du. – Jaja, wir haben haufenweise Vampirumhänge«, prahlte er. »Oh, dann kannst du mir sicherlich einen mitbringen«, kicherte Viola. Der kleine Vampir stutzte. »Mitbringen?« »Ja, damit ich dir noch besser gefalle!« Sie kicherte. »Hm, also –« Rüdiger blickte Anton hilfesuchend an. »Ich glaube nicht, daß Rüdigers Filmproduzent damit einverstanden wäre«, sagte Anton. »Und warum nicht?« fragte Viola. »Wenn sie doch haufenweise Vampirumhänge haben!« 58
»Ja, weißt du –« Anton räusperte sich. »Die Umhänge sind sehr wertvoll, aus Spezialstoff und so –« »Stimmt!« sagte der kleine Vampir. »Aber ich werde mal mit meinem Pro-Produzenten reden. Wenn er erfährt, daß es für eine Freundin von mir sein soll...«
Mit Preisen überhäuft »So, und nun will ich dir endlich dein Geschenk geben!« lenkte der kleine Vampir schnell ab. Er griff unter seinen Umhang, und mit einer Verbeugung überreichte er Viola etwas, das aussah wie ein Stück Papier. »Danke, Rüdiger«, hauchte Viola. »Weißt du nicht, was es ist?« fragte der kleine Vampir, als sie das Papier nur mehrmals ratlos wendete. »Ehrlich gesagt, nein«, antwortete sie. »Bestimmt das Autogramm«, warf Anton ein. »He! Misch du dich da nicht ein!« schnaubte der kleine Vampir. »Ist es das Autogramm?« fragte Viola aufgeregt. Der kleine Vampir kicherte eitel, bevor er zugab: »Ja.« »Wie lieb von dir, Rüdiger. Daß du daran gedacht hast!« Viola drehte die Autogrammkarte wieder um. Aber es war viel zu dunkel, um irgend etwas zu erkennen – jedenfalls für Menschenaugen. »Und hier sind alle deine Filme aufgeführt?« »Meine Filme?« »Ja, welche Rollen du schon gespielt hast, welche Preise du bekommen hast...« »Preise?« wiederholte der kleine Vampir dumpf. »Du hast doch Preise bekommen, oder?« fragte Viola. »Ich?« Der kleine Vampir wirkte reichlich verwirrt. Aber woher sollte er auch mit den Sitten und Gebräuchen im modernen Kulturbetrieb vertraut sein! 59
»Natürlich hat er welche bekommen«, sprang Anton ihm bei. »Mehr, als man auf einer winzigen Autogrammkarte abdrucken könnte.« Während er das sagte, musterte er den kleinen Vampir besorgt. Er hoffte nur, daß Rüdiger nicht durch irgendeine überflüssige Bemerkung seine völlige Ahnungslosigkeit in puncto Film offenbaren würde! Doch der kleine Vampir knackte mit den Zähnen und schwieg. »Ich schätze, Rüdigers neuer Film wird allein wegen der Kostüme mit Preisen überhäuft werden«, meinte Viola. »Ja, und dann erst die Schauspieler... Wer spielt denn noch mit?« fragte sie nach einer Pause neugierig. Anton fing einen ratlosen Blick des kleinen Vampirs auf. Vermutlich kannte Rüdiger keinen einzigen lebenden Schauspieler mit Namen! »Wer mitspielt?« wiederholte Anton. »Das ist alles streng geheim!« »Ja, streng geheim«, sprach der kleine Vampir ihm erleichtert nach. »Schade«, sagte Viola. Und mit unüberhörbarer Enttäuschung fragte sie: »Dann sind die Dreharbeiten wohl auch geheim?« »Ja, absolut!« sagte Anton nachdrücklich. Viola wandte sich Rüdiger zu. »Und es wird keine Ausnahme gemacht?« fragte sie mit schmelzender Stimme. »Au-Ausnahme?« stotterte der kleine Vampir. »Wovon?« Offenbar hatte er nur auf den einschmeichelnden Ton ihrer Worte geachtet und nicht auf den Inhalt. »Na, von der Geheimhaltungspflicht!« Viola kicherte aufreizend. »Ich würde ja sooo gern mal sehen, wie du in deiner Rolle bist, Rüdiger!« »Ehrlich?« »Ja! Meinst du nicht, daß dein Produzent mal eine klitzekleine Ausnahme machen könnte – für uns?« 60
»Für uns...« seufzte der kleine Vampir. »Auf gar keinen Fall wird er das tun!« unterbrach Anton das Geturtel der beiden. »Hab’ ich nicht gesagt, du sollst dich da raushalten?« fuhr der kleine Vampir ihn wütend an. »Gesagt hast du das«, bestätigte Anton. »Aber ich glaube nicht, daß du es auch gemeint hast. Oder willst du Viola wirklich zu deinen ›Dreharbeiten‹ mitnehmen?« »Ja!« fauchte der Vampir, um gleich darauf einen Rückzieher zu machen: »N-nein.« »Aber der Film ist bald fertig«, sagte Anton zu Viola, um sie etwas versöhnlicher zu stimmen. »Und bei der Uraufführung bist du natürlich Ehrengast und sitzt neben Rüdiger!« »Ich bin Ehrengast?« frohlockte Viola. »Und ich sitze neben Rüdiger?« »Ja, in der allerersten Reihe«, versprach Anton.
Ein filmreifer Abgang »Sei still!« rief da zu Antons Überraschung der kleine Vampir. »Sei endlich still.« Aufschluchzend drehte er sich um, und ehe Anton sich von seiner Bestürzung erholt hatte, war der kleine Vampir zwischen den Bäumen verschwunden. »Ob das eine Szene aus seinem Film war?« fragte Viola. »Aus seinem Film?« wiederholte Anton. »Jedenfalls war es ein filmreifer Abgang!« Viola kicherte. »Eigentlich sagt man ja ›Auf Wiedersehen‹«, schnatterte sie unbeschwert. »Aber so sind Schauspieler...« Sie gab einen wohligen Seufzer von sich. »Meinst du, Rüdiger muß noch arbeiten?« »Arbeiten? Nein«, murmelte Anton.
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Er dachte daran, daß er nun gar nicht gefragt hatte, was mit Anna war. »Vielleicht wollen sie zur Geisterstunde drehen!« Viola lachte affektiert. »Sowas ist gang und gäbe beim Film«, fuhr sie in belehrendem Ton fort. »Wegen der – wie sagt man? – Atmosphäre, genau! wegen der Atmosphäre.« »Nein, heute machen sie garantiert keine Aufnahmen mehr«, erwiderte Anton. »Rüdiger will sich nur ausruhen – für die Dreharbeiten morgen. Und wir sollten auch zurückgehen!« »Ja, gehen wir«, sagte Viola. »Ich will endlich Rüdigers Autogrammkarte lesen: wann und wo er geboren wurde, wie er für den Film entdeckt wurde, welches seine erste Rolle war, na, und seine Preise...« Anton grinste in sich hinein, sagte aber nichts. Mit Sicherheit standen diese Angaben nicht auf der ›Autogrammkarte‹! Sie erreichten das Schullandheim. Aufatmend stellte Anton fest, daß alles dunkel war. »Und wie kommst du ins Haus?« fragte Viola flüsternd. Anton zeigte auf den Speisesaal. »Durch das kleine Fenster. Es ist nur angelehnt.« Viola zog einen Schlüssel unter ihrem Pullover hervor. »Ich geh’ durch die Waschküche! – Und du kannst ruhig mitkommen«, bot sie an. »Das ist viel bequemer.« Anton schüttelte den Kopf. »Nein. Es wäre schon schlimm genug, wenn sie einen von uns erwischen würden. Aber uns beide zusammen – das wäre die reinste Katastrophe!« »Ja, du hast recht.« Viola kicherte. »Gute Nacht.« Mit tänzelnden Bewegungen entfernte sie sich. Anton sah ihr nach. Wahrscheinlich malte Viola sich bereits aus, wie sie am Tag der Uraufführung alle Blicke auf sich ziehen würde und wie der Regisseur ihr dann eine Rolle in seinem neuen Film anbieten würde!
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Bei dieser Vorstellung hätte Anton schadenfroh lachen können. Aber ihm war kein bißchen lustig zumute. Sorgenvoll dachte er an Anna, und auch der kleine Vampir tat ihm leid. Noch immer klang ihm Rüdigers »Sei still! Sei endlich still!« im Ohr – und wie der kleine Vampir laut schluchzend zwischen den Bäumen verschwunden war. Anton glaubte zu wissen, was den kleinen Vampir zum Weinen gebracht hatte. Ihre Gespräche über den Film, der niemals gedreht werden würde, über die Uraufführung, die nur ein Traum bleiben würde, über Viola, die nie als Ehrengast neben ihm in der ersten Reihe sitzen würde... sie hatten Rüdiger wieder einmal schmerzlich bewußt gemacht, daß er – als Vampir – auf ewig von einem normalen Leben ausgeschlossen war. Und dies ausgerechnet in einer Situation, wo Rüdiger durch das mißglückte Trainingsprogramm bei Herrn Schwartenfeger und durch Olgas überstürzten Aufbruch mit Tante Dorothee schon deprimiert genug war... Bestimmt flog der kleine Vampir von hier aus direkt in die Gruft, um sich, bedrückt wie er war, im Sarg zu verkriechen! Und dort in der Gruft wäre dann ja auch Anna mit ihrer verletzten Hand... An diesem Punkt seiner Überlegungen faßte Anton plötzlich einen Entschluß: er würde jetzt seinen Vampirumhang holen, seine Taschenlampe einstecken und einfach zum Friedhof fliegen!
Wo wir schon beim Beißen sind... Die Kirchturmuhr zeigte halb zwölf, als Anton den Friedhof erreichte.
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Im Schatten der großen Bäume flog er an der Friedhofsmauer entlang. Die Gruft von Schlotterstein lag am Ende des Friedhofs – in dem alten, wenig gepflegten Teil. Diesen Teil hatten Friedhofswärter Geiermeier und sein Assistent Schnuppermaul vor einiger Zeit zu einem ›Garten‹ umgestalten wollen – in der heimlichen Absicht, auf diese Weise die Vampire zu vertreiben. Mit ihrem Bagger und ihrer Planierraupe war es Geiermeier und Schnuppermaul auch tatsächlich gelungen, die Familie von Schlotterstein in die Flucht zu schlagen: Sie waren in die Ruine im Jammertal umgezogen. Aber dann hatte es die Bürgerinitiative ›Rettet den alten Friedhof‹ unter der Leitung von Herrn Schwartenfeger geschafft, die Zerstörung des alten Friedhofs zu stoppen – und so waren die Vampire zurückgekehrt. Im Mondlicht sah Anton nun, daß das Gras schon wieder kräftig nachgewachsen war. Und dort stand die hohe Tanne, unter der sich das Einstiegsloch zur Gruft befand. Bei dem Gedanken an den engen Schacht, den Anton hinunterrutschen mußte, um Anna und Rüdiger zu treffen, war ihm auf einmal die Kehle wie zugeschnürt. Er landete hinter einem Busch und sah mit bangem Herzklopfen zu der Tanne hinüber. Auf jeden Fall müßte er wissen, ob der kleine Vampir und Anna allein in der Gruft waren – und zwar, bevor er den Stein, der das Einstiegsloch bedeckte, zur Seite schob. Aber wie konnte er das herausfinden, ohne sich selbst in Gefahr zu begeben? Beklommen sah Anton sich um. Sein Entschluß, hierherzufliegen, kam ihm jetzt reichlich überstürzt und leichtfertig vor. Aber nun war es zu spät! Er entschied sich, noch eine Weile zu warten. Vielleicht würden ja Anna oder Rüdiger die Gruft verlassen und hier oben auftauchen...
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Er machte sich ganz klein hinter dem Busch, und so verharrte er. Es war nicht das erstemal, daß Anton nachts allein auf dem Friedhof war. Aber an die Angst, die ihn jedesmal beschlich, würde er sich nie gewöhnen! Allein die Geräusche: dieses Knacken und Knistern um ihn herum, dieses Zischeln und Rascheln in den Baumkronen... Die Nacht war lebendig, tausendmal lebendiger, als man es sich zu Hause in seinem warmen Bett vorstellen konnte! Und unzählige Augen hatte die Nacht – Augen, die für Anton unsichtbar blieben. Aber sie beobachteten ihn, weil sie im Dunkeln sehen konnten... Anton merkte, wie sich ihm die Haare sträubten. Er sah wieder zum Einstiegsloch hinüber, und eindringlich – so, als könne er sie herbeibeschwören – sprach er leise vor sich hin: »Rüdiger, Anna, ich bin hier!« »Und ich bin hier!« sagte da eine heisere Stimme hinter ihm. Wie elektrisiert fuhr Anton herum – und starrte in das bleiche Gesicht von Lumpi. »Na, so eine Überraschung!« meinte Lumpi in unechter Freundlichkeit. »Anton Bohnsack, zu Besuch auf unserem netten, alten Friedhof!« Dann, mit ganz veränderter Stimme, wetterte er los: »Und was suchst du hier?« »Ich –« Anton schluckte. »Ich wollte zu Rüdiger – und zu Anna. Sie ist doch krank, oder?« »Krank?« Lumpi klickte mit seinen langen, kräftigen Zähnen. »Sagen wir mal so: Anna zahlt Lehrgeld.« »Sie zahlt Lehrgeld?« »Jawohl. Lehrgeld, wie es zu jeder Lehre gehört, kapiert?« »Nein«, gab Anton zu. »Und wenn sie so weitermacht, wird sie noch nicht mal ihre Prüfung bestehen!« fuhr Lumpi schadenfroh fort.
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Anton überlief es eiskalt. »Ihre P-Prüfung?« stotterte er. »Etwa als... Vampir?« Lumpi tippte sich an die Stirn. »Mannomann«, stöhnte er, »bist du begriffsstutzig. Als Vampir ist Anna doch schon fast ein hoffnungsloser Fall!« »Übrigens«, fügte er mit einem drohenden Unterton hinzu, »vor allem durch deine Schuld, Anton Bohnsack!« »Durch meine Schuld?« sagte Anton. Lumpi nickte bedeutungsvoll. »Und ob! Wie ich läuten gehört habe, willst du kein Vampir werden...« Mit einem meckernden Lachen fügte er hinzu: »Was mir völlig unbegreiflich ist, haha!« 66
Anton hielt es für ratsam, darauf nichts zu entgegnen. »Diese Prüfung«, fragte er vorsichtig. »In welchem Fach macht Anna sie denn?« »In Kräuterkunde natürlich – Dummkopf«, antwortete Lumpi. »In Kräuterkunde?« »Allerdings. Kräuter gegen Bauchweh, Kopfweh, Zahnweh... Kräuter für Riechwässer... kurz: für alles, was ein Vampir so braucht! Oder denkst du, wir würden in Drogerien einkaufen – und in Apotheken?« »Natürlich nicht!« antwortete Anton. »Na siehst du«, sagte Lumpi, unnatürlich sanft. »Und deshalb haben wir immer eine Fachfrau für Kräuter.« »Und das ist Anna?« »Irrtum! Das ist unsere Großmutter, Sabine die Schreckliche. Aber Anna hat vorgeschlagen, sie abzulösen. Unsere liebe Großmutter wird langsam etwas vergeßlich, und das kann böse Folgen haben.« »Wie bei Anna!« entfuhr es Anton. »Bei Anna?« »Ja! Weil sie doch beim Kräutersammeln von einer Schlange gebissen worden ist.« Lumpi schüttelte seine langen Arme. »Wer hat dir denn den Wolf aufgebunden?« fragte er amüsiert. »Niemand«, sagte Anton hastig. »Ich hab’s mir selbst überlegt.« »Das Denken solltest du lieber den Pferden überlassen«, kicherte Lumpi. »Die haben einen größeren Kopf.« »Dann ist Anna nicht von einer Schlange gebissen worden?« Anton spürte, wie ihm – trotz der Gegenwart von Lumpi – leichter ums Herz wurde. »Nein, sie ist nicht von einer Schlange gebissen worden«, bestätigte Lumpi unfreundlich. Mit einem hinterhältigen
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Grinsen setzte er hinzu: »Aber wo wir schon beim Beißen sind, Anton Bohnsack – mir kommt da plötzlich so eine Idee...« Er machte seinen Mund weit auf, und Anton sah die gräßlichen Vampirzähne im Mondlicht blitzen. Ein Frösteln überlief ihn. Doch er durfte jetzt keine Angst zeigen, im Gegenteil: Er mußte Lumpi ablenken, ihn auf andere Gedanken bringen! »Aber Annas Hand ist doch verletzt«, sagte er. »Rüdiger hat es mir jedenfalls erzählt!« »Rüdiger, Rüdiger«, echote Lumpi dumpf. »Wieso redest du dauernd von Rüdiger?« Und schon hob er seine breiten Hände... »Glaubst du, Anna würde sich freuen, wenn sie mich sieht?« fragte Anton rasch und machte einen Schritt zurück. Mit dem rechten Fuß stieß er gegen einen umgestürzten Grabstein, und beinahe wäre er gestolpert. »Hier freut sich doch jeder, wenn er dich sieht«, antwortete Lumpi. Anton zuckte zusammen. »Ist Anna denn alleine in der Gruft? Ich meine, alleine mit Rüdiger?« »Rüdiger?« polterte Lumpi los und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Weißt du, daß du mir fürchterlich auf den Geist gehst mit deinem ewigen ›Rüdiger, Rüdiger‹?« »So?« tat Anton schuldbewußt. »Aber ganz gewaltig!« fauchte Lumpi. Dann fragte er überraschend liebenswürdig: »Warum kommst du nicht zur Abwechslung mal auf die Idee, mich zu besuchen?« »D-dich?« stotterte Anton. »Ja! Wir beide würden uns bestimmt nicht langweilen!« Lumpi knetete seine großen Hände und lachte heiser.
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Vorsicht ist die Mutter der Holzkiste »Zuerst könnten wir etwas Sport treiben...« sagte Lumpi nach einer Pause. Anton erschrak. Das klang ja, als würde er bereits Pläne schmieden. Und Anton hatte nicht die geringste Lust, mit dem unberechenbaren und streitsüchtigen Lumpi irgendetwas zu unternehmen! »Wir könnten zum Stadtpark fliegen und einen Wettlauf ums Planschbecken machen«, schlug Lumpi vor. »Oder wir gehen ins Kino. Vielleicht zeigen sie einen Gruselfilm!« »Mir ist heute nicht nach Kino«, erwiderte Anton rasch. ›Und gruseln tue ich mich auch schon genug!‹ fügte er in Gedanken hinzu. »Na, dann erschrecken wir eben Leute!« sagte Lumpi aufgekratzt. Als Anton nicht reagierte, zischte er: »He, was ist? Du hast hoffentlich auch ein paar Vorschläge auf Lager, oder?« »Ich weiß nicht –« »Was weißt du nicht?« knurrte Lumpi und sah Anton lauernd an. »Ob ich nicht lieber zu Anna gehen sollte«, erklärte Anton. »Vorher!« setzte er hastig hinzu, um Lumpi nicht zu reizen. »Vorher?« fragte Lumpi argwöhnisch. »Ja, vor dem Ausflug.« Anton sagte sich, daß es ihm schon gelingen würde, Lumpi von dem Ausflug wieder abzubringen, wenn er erst mal in der Gruft war. »Wie bitte?« empörte sich Lumpi. »Ich, Lumpi der Starke, soll warten, bis Anton Bohnsack mit Händchenhalten bei meiner kleinen Schwester fertig ist?« »Nein!« widersprach Anton. »Ich will nur ganz kurz mit ihr reden.«
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Lumpi verzog den Mund. »Ganz kurz? Na schön. Aber nicht länger als fünf Minuten. Und ich werde auf die Kirchturmuhr sehen!« »Kommst du nicht mit in die Gruft?« fragte Anton. Er spürte, wie ihn beim Gedanken an den engen, finsteren Schacht ein kalter Schauer überlief. Lumpi schüttelte den Kopf. »In der Gruft gibt es keine Uhr. Also werde ich hier oben warten.« »Könntest du nicht doch mitkommen?« bat Anton. »Wegen deiner Verwandten, meine ich.« »Was haben die damit zu tun?« »Vielleicht könntest du vorgehen und nachsehen, ob einer von ihnen in der Gruft ist.« »Vorgehen und nachsehen?« Lumpi zeigte mit dem Finger auf Anton und grinste. »Hast du etwa... Angst?« »N-nein«, behauptete Anton. »Ich bin nur vorsichtig.« »Vorsicht ist die Mutter der Holzkiste«, kicherte Lumpi. »Aber ich kann dich beruhigen: Meine Verwandten sind unterwegs. Beim Seniorentreffen.« »Alle? Deine Eltern auch?« »Klar, was denkst du! Mit ihren über einhundertsiebzig Jahren gehören sie längst zu den Vampirsenioren!« Anton räusperte sich. »Und wenn einer von ihnen vorzeitig zurückgekehrt ist?« »Vom Seniorentreffen? Nie!« versicherte Lumpi. »Die feiern, bis der Hahn kräht.« Beklommen sah Anton zur Tanne hinüber. »Die fünf Minuten –« begann er. »Könnten wir uns nicht auf zehn Minuten einigen?« »Was, so lange?« knurrte Lumpi. »Hast du nicht gesagt: Nur ganz kurz?« »Ja, schon. Aber ehe ich unten bin...« »Meinetwegen«, sagte Lumpi großmütig. »Neun Minuten. Aber keine Sekunde länger!« 70
Anton nickte. Neun Minuten müßten ausreichen! Langsam, mit Herzklopfen, bewegte er sich auf die Tanne zu. »He, warum schleichst du so?« rief Lumpi ihm nach. »Beeil dich gefälligst, sonst gibt es Ärger!« »J-ja«, murmelte Anton. Mit jedem Schritt schienen seine Beine schwerer zu werden. Endlich hatte er das Einstiegsloch erreicht. Mit zitternden Händen schob er den flachen, moosbewachsenen Stein zur Seite. Ein Geruch nach Moder und kühler, feuchter Erde schlug ihm entgegen, in den sich ein vertrauter Duft mischte: es war der Duft von Mufti Ewige Liebe. »Anna!« sagte Anton, und auf einmal hatte er überhaupt keine Angst mehr. Dieses Parfüm, das Anna nur für sie beide aus den Blüten der Friedhofsrosen hergestellt hatte – es mußte tatsächlich Zauberkräfte haben! Anton sah noch einmal zu Lumpi hinüber. »Nun mach schon!« zischte Lumpi. Da rutschte Anton, mit den Beinen voran, in den Schacht hinein.
Dein bester Freund Als er auf der Plattform aus festgeklopfter Erde landete, hörte er Annas Stimme: »Lumpi?« Sie klang weit weg und seltsam matt. »Ich bin’s!« antwortete er. »Du, Anton?« Annas Stimme belebte sich. »Ja!« Anton zog den Stein wieder über das Loch. »Bist du allein?« rief er in die Gruft, aus der schwaches Kerzenlicht kam. »Nein!« war die Antwort. »Nicht?« Antons Herz schlug schneller. »Ist Rüdiger bei dir?« 71
Anna kicherte. »Nein!« »Wer dann?« fragte Anton nervös. »Mein bester Freund«, antwortete Anna. Im ersten Moment war Anton ratlos. »Dein bester Freund?« »Ja – du!« Anna kicherte wieder. »Ach so«, murmelte Anton. Mit rotem Kopf stieg er die Stufen hinunter. Erleichtert sah Anton, daß alle Särge geschlossen waren – bis auf den allerkleinsten Sarg. In dem saß Anna und blickte ihm mit einem zärtlichen Lächeln entgegen; diesem Lächeln, bei dem Anton immer ganz eigenartige Gefühle bekam. »Ich – ich wollte nur sehen, wie es dir geht«, sagte er rasch. »Wie es mir geht?« Anna hoch ihre rechte Hand, die mit einem Verband aus alten Tüchern umwickelt war. »Die Finger sind furchtbar dick und brennen!«
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»Was ist mit der Hand passiert?« fragte Anton und näherte sich ihr besorgt. Eine einzige dünne Kerze brannte in einer Nische an der Wand, und in dem spärlichen Licht wirkte Anna richtig krank und hinfällig, fand er. »Es ist eine Allergie«, erklärte Anna. »Ich bin auf irgendein Kraut allergisch, sagt meine Großmutter, Sabine die Schreckliche.« Sie deutete auf ein schwarzes, zerlesenes Buch, das in ihrem Schoß lag. »Und ich will jetzt herauskriegen, was für ein Kraut das sein könnte.«
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»Wirst du deshalb Fachfrau für Kräuterkunde?« fragte Anton. »Ich? Fachfrau für Kräuterkunde? Wer behauptet das denn?« »Lumpi.« »Der fällt auch auf jede Ausrede rein! Das mit dem Kräutersammeln hab’ ich doch nur so gesagt – damit ich dich in deinem Schullandheim besuchen konnte. Allerdings –« fügte sie mit einem schmerzlichen Blick auf ihre verbundene Hand hinzu. »Im Augenblick wäre ich froh, wenn ich etwas mehr von Heilkräutern verstehen würde!« »Tut es sehr weh?« »Ziemlich. Außerdem wird mir schwindlig, wenn ich aufstehe. Und alles deinetwegen!« Anna lächelte. »Meinetwegen?« »Ja, weil ich dich unbedingt treffen wollte. Und wegen Rüdiger natürlich auch – weil er endlich aus seinem seelischen Tief rauskommen sollte!« Anna zupfte an ihren langen, verfilzten Haarsträhnen. »Ich bin ja so froh, daß er wieder unter Menschen geht«, sagte sie. »Bestimmt turteln sie jetzt, Rüdiger und Viola!« »Nein«, gab Anton betreten zu. »Wie –« Anna stutzte. »Was machen sie dann?« »Nichts«, sagte er verlegen. »Rüdiger ist weggelaufen, als wir über die Uraufführung gesprochen haben.« »Welche Uraufführung?« »Viola glaubt, Rüdiger wäre Schauspieler – Filmschauspieler.« Anna hielt sich die linke – die unverletzte – Hand vor den Mund und lachte glucksend. »Rüdiger und... Filmschauspieler?« Anton nickte. »Heute abend hat er Viola sogar ein Autogramm mitgebracht.« »Ein Autogramm? Und woher hatte er das?«
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»Ich vermute, es war nur eine Zeichnung, die Lumpi von ihm gemacht hat.« »Und Rüdiger ist einfach weggelaufen?« fragte Anna nach einer Pause. »Ja.« »Er wird schon wieder auftauchen«, meinte Anna, kein bißchen beunruhigt. »Ich dachte, er wäre hier in der Gruft«, sagte Anton. Und einer plötzlichen Eingebung folgend, fügte er hinzu: »Ich wollte ihn nämlich einladen – zu unserer Abschiedsparty übermorgen abend.« »Abschiedsparty?« Anna schaute ihn aus großen Augen an. Anton räusperte sich. Er wußte selbst nicht genau, wie er dazu gekommen war, diese Einladung auszusprechen – zumal noch gar nicht sicher war, daß diese Party tatsächlich stattfinden würde. Aber nun konnte er die Einladung nicht mehr rückgängig machen. Und halbwegs hatte Herr Fliegenschneider ja schon zugestimmt. »Wir feiern eine Party, weil es der letzte Abend ist«, erzählte Anton kühn. »Mit Disco und so.« Anna sagte gar nichts. »Und du bist natürlich auch eingeladen«, fiel Anton gerade noch rechtzeitig ein. Annas Augen glänzten bereits verräterisch – als würde sie gleich anfangen zu weinen. ›Bloß das nicht!‹ dachte Anton, und so setzte er noch hinzu: »Du wirst doch deinen besten Freund nicht im Stich lassen, oder?« »Nein«, flüsterte Anna gerührt. »Aber ich weiß nicht, ob ich dann schon wieder fliegen kann.« »Bestimmt!« sagte Anton. Beim Thema ›Fliegen‹ mußte er daran denken, daß vor der Gruft Lumpi auf ihn wartete... Und nicht nur das: Anton hatte
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die neun Minuten, die Lumpi ihm zähneknirschend zugebilligt hatte, garantiert überschritten!
Fürchterlich sauer »Du mußt mir helfen«, beschwor er Anna. »Draußen wartet Lumpi auf mich!« »Lumpi?« sagte Anna überrascht. »Er will einen Ausflug mit mir machen«, berichtete Anton. »Leute erschrecken und so. Aber ich hab’ überhaupt keine Lust dazu!« »Seid ihr denn verabredet?« »Ja, leider. Und jetzt überlege ich, wie ich Lumpi wieder davon abbringen kann.« »Ihn davon abbringen?« Anna machte ein bedenkliches Gesicht. »Lumpi wird immer fürchterlich sauer, wenn man eine Verabredung mit ihm nicht einhält!« »Sauer?« »Du kennst ihn doch! Niemand wird so schnell wütend wie Lumpi!« Anton spürte ein flaues Gefühl im Magen. »Du meinst, ich muß den Ausflug machen?« »Es gibt nur einen Weg, wenn du nicht mit ihm fliegen willst«, antwortete Anna. »Und welchen?« »Den Notausgang! Lumpi wird nicht nur schnell wütend – er vergißt auch genauso schnell. Und wenn er dich heute nicht mehr zu fassen kriegt, dann hat er die Sache in spätestens einer Woche vergessen.« »Glaubst du?« murmelte Anton. Schaudernd sah er hinüber zu den anderen Särgen. Er erkannte den großen schwarzen Sarg mit dem geschnitzten, von zwei Schlangenköpfen umrahmten »T« für »Theodor«. 76
Dieser Sarg stand leer, seit Friedhofswärter Geiermeier den armen Onkel Theodor beim Quartettspielen beobachtet und dann mit seinen Holzpflöcken vernichtet hatte... »Der Notausgang«, sagte Anton mit belegter Stimme, »führt er noch immer durch Onkel Theodors Sarg?« »Ja. Aber wie du weißt, haben wir jetzt zwei Notausgänge«, erwiderte Anna voller Stolz. »Da hinten, in der Ecke, beginnt der neue.« Sie zeigte auf eine mannshohe Grabplatte aus Stein, die an der Wand lehnte und die Anton bisher noch nicht bemerkt hatte. »In unserem neuen Notausgang kannst du sogar aufrecht gehen«, erzählte Anna. »Bis zum Komposthaufen. Und dann schiebst du den dicken Baumstumpf zur Seite.« »Ich?« Anton hob zweifelnd seine Arme. »Das werde ich wohl kaum schaffen.« »Diesmal kann ich dir nicht helfen«, sagte Anna bedauernd. »Bleibt nur der alte Notausgang«, murmelte Anton. Er hätte viel lieber den neuen Notausgang benutzt; denn der alte endete in einem Brunnenschacht, nicht weit von dem Gebüsch entfernt, hinter dem Lumpi lauerte. Aber wenn Anton sich ganz, ganz leise bewegte... Und Lumpi würde ja nicht den Brunnen beobachten, sondern die Tanne und das Einstiegsloch zur Gruft! »Dann geh’ ich jetzt«, sagte Anton. »Bis übermorgen – im Schullandheim!« Anna lächelte zärtlich. »Ich werde alles versuchen, damit ich kommen kann. Und dann tanzen wir, versprichst du mir das?«
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»Ja.« Ein Unbehagen beschlich Anton, als er sich Anna und den kleinen Vampir neben Herrn Fliegenschneider vorstellte. Aber er verscheuchte diesen Gedanken schnell wieder. Im Augenblick hatte er andere, dringendere Probleme! Er trat an den Sarg von Onkel Theodor und zog an den beiden goldenen Griffen. Es gab einen Ruck. Er verdoppelte seine Anstrengungen, und der Deckel rutschte zur Seite. Mit seiner Taschenlampe leuchtete Anton in den Sarg hinein. Der Boden war mit einer zentimeterdicken Staubschicht
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bedeckt – als wäre der alte Notausgang seit Wochen nicht mehr benutzt worden. Am Kopfende des Sargs erkannte er die aus dem Holz herausgesägte Öffnung, die in die Erde führte. Sie war gerade so groß, daß ein Mensch – oder richtiger, ein Vampir – hindurchschlüpfen konnte. Anton merkte, wie sein Herz laut klopfte. Er blickte noch einmal zu Anna hinüber. Sehr klein, fast zerbrechlich sah sie aus. »Auf Wiedersehen, Anna – und gute Besserung«, sagte er. »Viel Glück, Anton!« wünschte sie. »Danke«, antwortete er. Glück würde er brauchen – schon wegen Lumpi! Unsicher stieg Anton in den Sarg von Onkel Theodor. Er kniete sich hin und zog den Deckel wieder über den Sarg. Dann kroch er, heftig hustend durch den aufgewirbelten Staub, in den Notausgang hinein.
Da war etwas Anton ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe über die Wände gleiten. Fröstelnd erinnerte er sich an seinen ersten und einzigen ›Besuch‹ hier unten. Damals hatte er nur eine dünne Kerze gehabt, und die hatte ständig geflackert. Und schließlich war sie auch noch ausgegangen, und Anton hatte in völliger Finsternis dagestanden. Brrr! Er schüttelte sich. Aber seine Taschenlampe würde ihn nicht im Stich lassen, dafür war gesorgt: Erst heute nachmittag hatte Anton neue Batterien eingesetzt! Er kroch weiter. Nach wenigen Metern entdeckte er das in die Wand geritzte Herz, in dem ›A + A‹ stand – wie er vermutete, die Abkürzungen für ›Anna‹ und ›Anton‹. 79
Hinter dem Fragezeichen, das Anton damals neben das Herz geschrieben hatte, standen jetzt zwei dicke Ausrufezeichen. Er mußte lächeln – trotz der nicht gerade anheimelnden Umgebung. Der Notausgang war nun gleich zu Ende: Anton erkannte die Marmorplatte, die den Ausgang versperrte. Sobald er die Platte erreicht hatte, schaltete er seine Taschenlampe aus – vorsichtshalber; denn vielleicht würde der Lichtschein doch auf dem Friedhof zu sehen sein! Und Anton wußte aus Erfahrung, daß die Marmorplatte den Ausgang nicht völlig abschloß. Er wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann begann er damit, die schwere Platte zur Seite zu schieben. Es war ein hartes Stück Arbeit, aber Anton schaffte es. Während er noch Atem schöpfte, vernahm er Schritte auf dem Kies und gleich darauf Stimmen. »Da! Da war etwas!« rief eine Männerstimme. Anton sträubten sich die Haare: Das war die Stimme von Friedhofswärter Geiermeier! »Ich hab’ nichts gesehen«, antwortete eine zweite, leicht näselnde Stimme. Sie gehörte unverkennbar Schnuppermaul, dem Assistenten von Geiermeier. »Doch! Beim Brunnen«, erwiderte Geiermeier. Die Schritte kamen näher – und plötzlich wurde ein starker Lichtstrahl auf den Brunnen gerichtet. Fast hätte Anton aufgeschrien, so erschrocken war er. Doch dann erlosch das Licht, und Geiermeier brummte unzufrieden: »Fehlanzeige.« »Und dafür jagst du mich nun aus dem Bett«, beschwerte sich Schnuppermaul. »Wenn du wüßtest, wie süß ich gerade geträumt habe: von einem Urlaub in der Südsee – auf daß du wieder ganz gesund wirst.«
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»Papperlapapp«, sagte Geiermeier barsch. »Ich bin gesund. Das siehst du daran, daß es mich in den Fingern juckt, diesen Vampiren endlich das Handwerk zu legen, dieser Blutsaugerbande!« In den Fingern jucken... Anton dachte an die angespitzten Holzpflöcke, die Geiermeier immer bei sich trug. Brrr! Er machte sich noch etwas kleiner. »Aber der Arzt sagt, du mußt dich auch weiterhin schonen«, warnte Schnuppermaul. »Der Arzt!« Geiermeier lachte verächtlich. »Der hat ja auch keine Ahnung von dem Schlendrian, der in meiner Abwesenheit hier eingezogen ist!« »Schlendrian?« entrüstete sich Schnuppermaul. »Bei mir ist niemand eingezogen! Und was meinen Dienst betrifft: Ich hab’ getan, was ich konnte.«
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»Und das war nicht allzuviel«, bemerkte Geiermeier. »Jetzt bist du aber ungerecht«, antwortete Schnuppermaul weinerlich. »Ich hab’ dich nach besten Kräften vertreten, als du im Krankenhaus warst!« »So?« knurrte Geiermeier. »Däumchen hast du gedreht, auf die faule Haut hast du dich gelegt!« 82
»Ich doch nicht«, widersprach Schnuppermaul. »Und ob«, sagte Geiermeier. »Oder hast du einen einzigen Vampir erwischt in all den Wochen, in denen ich – dem Himmel sei’s geklagt – nicht nach dem Rechten sehen konnte?« »Nein«, gab Schnuppermaul kleinlaut zu. »Na also! Statt dessen hast du dir einen schönen Tag gemacht und nachts – wenn die Arbeit eines Friedhofswärters überhaupt erst anfängt – fest die Tür verriegelt!« »Ich... ich wollte dir bei der Vampirjagd nicht in die Quere kommen«, stotterte Schnuppermaul.
Du da unten – ich hier oben »Aber nun sind wir ja wieder zusammen«, fuhr er eifrig fort. »Jetzt können wir mit vereinten Kräften kämpfen!« Und mit lauter Stimme, wohl um Geiermeier zu imponieren, rief er: »Nieder mit dem Vampirgesindel! Nieder mit dem Blutsaugerpack!« »Psst!« zischte Geiermeier. »Hast du denn dein letztes bißchen Verstand verloren?« »Wieso?« wunderte sich Schnuppermaul. »Weil du keinen Lärm machen sollst«, antwortete Geiermeier. »Tausendmal hab’ ich dir das schon gesagt. Leisetreten ist die oberste Pflicht des Friedhofswärters! So, und jetzt wirst du in diesen alten Brunnen steigen!« »Ich?« schrie Schnuppermaul auf. »Jawohl, du!« polterte Geiermeier los. »Wie du eben so treffend gesagt hast: Mit vereinten Kräften werden wir die Vampire schlagen – du da unten, ich hier oben!« »Aber... ich fürchte mich in dem finsteren Brunnen«, jammerte Schnuppermaul.
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»Deswegen sollst du ja runter«, knurrte Geiermeier. »Damit du deine alberne Furcht endlich loswirst!« »Albern?« empörte sich Schnuppermaul. »Wenn mich ein Vampir in den Hals beißt, finde ich das gar nicht albern!« »Du glaubst doch nicht an Vampire, oder?« entgegnete Geiermeier bärbeißig. »Tagsüber nicht...« murmelte Schnuppermaul. »Außerdem möchte ich nicht in diesen schmutzigen Brunnen«, erklärte er. »Dafür bin ich nicht passend angezogen.« »Unsinn!« fauchte Geiermeier. »Dein Morgenrock ist genau richtig. Na los, steig in den Brunnen!« »Nein, werde ich nicht«, erwiderte Schnuppermaul. Geiermeier stieß ein zorniges Schnauben aus. »Soll das heißen, du weigerst dich?« »Nein.« Schnuppermaul kicherte. »Ich will nur meinen grauen Arbeitskittel holen. Bin gleich zurück!« Rasche Schritte auf dem Kies zeigten an, daß Schnuppermaul seine Ankündigung bereits in die Tat umsetzte. »Warte auf mich, Wolf-Rüdiger!« hörte Anton die sich entfernende Stimme Geiermeiers. Anton fiel eine Zentnerlast von der Seele. Das war ja gerade noch einmal gutgegangen! Aber jetzt mußte er schleunigst aus dem Brunnen verschwinden, bevor der Friedhofswärter und sein Assistent zurückkehrten! Vorher allerdings galt es, den Notausgang zu versperren... Anton zog und zerrte an der Marmorplatte. Endlich hatte er es geschafft, sie vor die Öffnung zu schieben. Und hinter der verwitterten Platte, die Anton zur Tarnung noch mit etwas Sand bestreute, würde niemand so leicht einen Gang vermuten – am allerwenigsten Schnuppermaul, der hier unten nur den einen Wunsch verspüren dürfte: auf dem schnellsten Weg wieder ins Freie zu gelangen!
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Wahrscheinlich würde Schnuppermaul noch nicht einmal bis zur Marmorplatte kommen, sondern bereits beim Anblick des scheinbar metertiefen Wassers im Brunnen Reißaus nehmen! In Wirklichkeit war das Wasser jedoch kaum knietief. Anton schwang sich auf die rostige Eisenleiter, die im Brunnenschacht befestigt war, und stieg die schmalen, mit Moos bewachsenen Sprossen empor. Dabei lauschte er angestrengt. Doch auf dem Friedhof blieb alles ruhig. Offenbar hatten Schnuppermaul und Geiermeier ihr Haus erreicht, so daß von ihnen – zumindest für den Augenblick – keine Gefahr ausging. Ganz anders als von Lumpi! Anton hoffte zwar, daß Lumpi vor dem Friedhofswärter und seinem Assistenten geflüchtet war. Aber vielleicht hatte er sich auch nur hinter irgendeinem Busch versteckt. Und durch Geiermeiers und Schnuppermauls Interesse für den Brunnen könnte Lumpi durchaus der Verdacht gekommen sein, daß Anton den alten Notausgang der Gruft benutzen wollte, um sich davonzustehlen. Dumm war Lumpi nicht! Antons Knie fühlten sich weich wie Butter an, als er die oberste Stufe der Leiter betrat. Vorsichtig spähte er über den Brunnenrand – schon halbwegs darauf gefaßt, in Lumpis vor Wut dunkelrotes Gesicht zu blicken. Doch weit und breit war niemand zu sehen. Er stieg aus dem Brunnen, und geduckt rannte er zur Kapelle. Im Schatten der Mauer wartete er ein paar Minuten. Immerhin war es möglich, daß Lumpi in einer Baumkrone hockte. Und mehr noch als vor einer Begegnung am Erdboden grauste es Anton vor einem Zusammentreffen in der Luft! Aber nichts, gar nichts geschah. Lumpi hatte wohl doch die Flucht ergriffen! Anton seufzte erlöst. Da schlug eine Tür zu, und jemand fluchte: »Willst du den ganzen Friedhof aufwecken?« Das war Geiermeier!
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»Nein«, kam die klägliche Antwort Schnuppermauls. »Sie ist mir nur entglitten, die Tür.« Anton lief hinter die Kapelle. Dort breitete er die Arme unter dem Umhang aus, bewegte sie ein paarmal kräftig auf und ab – und flog. Aus sicherer Höhe blickte er auf Geiermeier und Schnuppermaul hinunter. Der Assistent hatte seinen Morgenrock gegen einen grauen Arbeitskittel vertauscht – den gleichen, den auch der Friedhofswärter trug. Nur ragten aus Geiermeiers Taschen rechts und links große, angespitzte Holzpflöcke heraus – mindestens zehn! Mit einem bangen Gefühl dachte Anton an Anna, die mutterseelenallein und krank in ihrem Sarg lag. Aber es war ja nicht das erste Mal! überlegte er sich dann. Und Vampire wußten, daß sie sich ständig in Gefahr – in Lebensgefahr, falls man bei ihnen von ›Leben‹ sprechen konnte – befanden! Außerdem wirkte Geiermeier keineswegs so gesund, wie er von sich behauptet hatte: Durch das lange Kranksein hatte er einen müden, schleppenden Gang bekommen. Und Schnuppermaul war eher harmlos. Ja, er hatte sich sogar mit Lumpi ›angefreundet‹, als Geiermeier zur Kur gewesen war! Einigermaßen beruhigt machte Anton sich auf den Rückflug.
Herr Fliegenschneider hat dich vermißt Je näher er Altengraben kam, desto mehr verblaßten seine Eindrücke vom Friedhof. Plötzlich saß ihm die Sorge, daß in der Zwischenzeit sein leeres Bett entdeckt worden sein könnte, wie ein Kloß im Hals. Und auch als Anton das Schullandheim und das Haus von Herrn Greulich unter sich sah und feststellte, daß hinter keinem der Fenster Licht brannte, wich das Gefühl der Beklemmung 86
nicht. Vielleicht hatte Herr Fliegenschneider extra kein Licht gemacht, um ihn zu ›überraschen‹... Anton landete im Hof, hinter einem Baum. Auf Zehenspitzen schlich er zum Speisesaal. Das Fenster war angelehnt, genau, wie er es verlassen hatte. Er öffnete es. Nichts regte sich dahinter. Auf einmal fiel Anton der Vampirumhang ein, den er noch trug. Er streifte ihn hastig ab und versteckte ihn unter seinem Pullover. Dann kletterte er ins Haus. Er schien tatsächlich Glück zu haben: Der Gang lag, nur beleuchtet von dem schwachen Nachtlicht über dem Waschraum, wie ausgestorben da. Kaum vorstellbar, daß hinter den Türen seine Klassenkameraden schliefen! Und auch die Tür von Herrn Fliegenschneider war geschlossen. Völlig unbemerkt erreichte Anton sein Zimmer. Mit letzter Kraft versteckte er den Umhang im Schrank und zog seinen Schlafanzug an. Dann fiel er wie ein Toter ins Bett. Anton wurde wach, weil er plötzlich kalte Füße hatte. Verwirrt richtete er sich auf – und sah sich von grinsenden Gesichtern umringt. »Du willst wohl bis heute mittag durchschlafen!« meinte Ole, der Anton die Decke weggezogen hatte. »Wie spät ist es denn?« murmelte Anton. »Halb neun«, antwortete Sebastian. »Halb neun?« Jetzt war Anton hellwach. »Dann habt ihr schon gefrühstückt?« Ole nickte. »Du hast aber nicht viel verpaßt.« »Herr Fliegenschneider hat dich vermißt«, berichtete Henning. »Er hat mich vermißt?« »Ja. Aber wir sind nett gewesen und haben gesagt, du wärst krank«, antwortete Sebastian. »Herr Fliegenschneider will gleich nach dir sehen. Vielleicht darfst du ja im Bett bleiben und mußt nicht mitwandern zu den Kahlen Bergen.« 87
»Zu den Kahlen Bergen?« Die Aussicht, stattdessen im Bett zu bleiben, fand Anton in der Tat sehr verlockend! Er legte sich wieder auf sein Kissen. »Ihr habt recht«, sagte er. »Mir ist wirklich komisch. Wahrscheinlich hab’ ich mich gestern überanstrengt. – Bei den Wettläufen«, fügte er hinzu. »Oder beim Särge-Ausgraben«, bemerkte Sebastian. »Beim Särge-Ausgraben?« wiederholte Anton erschrocken. Hatte Sebastian etwa einen Verdacht? »Guck mal deine Hände an«, sagte Sebastian. »Die sehen aus, als wärst du Friedhofsgärtner oder so was ähnliches.« Anton erbleichte. Seine Hände waren schwarz, pechschwarz! »Ich – ich wasch’ sie mir schnell«, sagte er und wollte hinzufügen: »Bevor Herr Fliegenschneider kommt.« Doch da ging die Tür bereits auf, und Herr Fliegenschneider trat ein, begleitet von Frau Zauberhut. »Du fühlst dich nicht gut?« fragte er und musterte Anton durchdringend. Anton hatte die Hände unter der Bettdecke verschwinden lassen. »Mir ist ganz eigenartig«, sagte er und hustete. Herr Fliegenschneider befühlte seine Stirn. »Fieber hast du nicht«, verkündete er. »Aber ich bin furchtbar müde«, sagte Anton – was ja auch der Wahrheit entsprach. »Vielleicht kriege ich eine Grippe.« »Er sieht wirklich sehr blaß und erschöpft aus«, ließ sich Frau Zauberhut vernehmen. »Ich finde, er sollte im Bett bleiben, wenn ihm danach ist. Manchmal wirken schon ein paar Stunden Schlaf Wunder.« »Hm...« brummte Herr Fliegenschneider. Offenbar glaubte er nicht so recht an Antons Krankheit. »Meinen Sie nicht, ein bißchen Bewegung und frische Luft wären ebensogut für ihn?« wandte er sich an Frau Zauberhut.
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»Ein bißchen Bewegung schon«, stimmte Frau Zauberhut zu. »Aber eine Stunde Fußmarsch hin und eine Stunde zurück – das ist keine Kleinigkeit.« »Na schön«, meinte Herr Fliegenschneider – mit der unzufriedenen Miene, die er in der Schule immer aufsetzte, wenn jemand die Rechenaufgaben nicht gemacht hatte und eine schriftliche Entschuldigung seiner Eltern vorweisen konnte. »Aber nur bis heute mittag«, sagte er. »Und wenn du dann kein Fieber hast, stehst du auf!«
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Anton nickte – bemüht, sich seine Freude und Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Es wurde ein sehr erholsamer Vormittag. Bis zehn schlief Anton, und danach las er Gruselgeschichten und genoß die paradiesische Ruhe. Ein einziges Mal kam Frau Greulich und brachte ihm eine Tasse 90
Pfefferminztee und zwei Marmeladenbrote. Den Tee trank er widerwillig, aber die Brote aß er voller Heißhunger. Kurz vor eins kehrten Antons Klassenkameraden zurück – nicht gerade begeistert von der Wanderung, wie an ihren verdrießlichen Mienen zu erkennen war. »Die Kahlen Berge waren noch aufregender als die Teufelsklippen«, stöhnte Sebastian. »Und dafür hab’ ich mir meine tollen neuen Socken ruiniert!« Grimmig führte Henning die durchgescheuerten Fersen seiner ehemals weißen Tennissocken vor. »Wenn ich das geahnt hätte, wäre ich auch im Bett geblieben«, sagte Ole mit einem neidischen Blick auf Anton, der gut gelaunt und vor allem ausgeruht auf der Bettkante saß. »Du warst mal wieder der cleverste von allen!« Anton grinste. »Ich war nicht clever, ich war krank.« »Man sieht’s«, knurrte Henning. »Wieso?« sagte Anton in gespielter Unschuld. »Hast du nicht gehört, was Frau Zauberhut gesagt hat: Manchmal wirken schon ein paar Stunden Schlaf Wunder.« »Ein paar Stunden Schlaf könnte ich auch gebrauchen«, seufzte Ole. »Schlafen? Aber jetzt kommt doch gleich das Altengrabener Feinschmeckermenü!« witzelte Sebastian.
Ein richtiges Sammlerstück So schlecht war das Mittagessen diesmal allerdings nicht: Es gab hausgemachte Kartoffelpuffer mit Apfelmus. Anton, der zum Essen wieder aufgestanden war, bemerkte, daß Viola des öfteren besorgt zu ihm herübersah. Und nach dem Essen, als alle im Hof waren, sprach Viola ihn an: »Du bist krank?« »Nein«, antwortete er. »Ich war nur erschöpft.« 91
»Ich auch!« Sie kicherte. Und flüsternd, damit keiner der anderen es hörte, sagte sie: »Diese Treffen mit Rüdiger – die strengen ziemlich an, findest du nicht?« Anton nickte. »Aber das liest man oft von Schauspielern«, fuhr Viola fort. »Es heißt, sie wären für ihre Umgebung eine ständige – wie sagt man? – Aufforderung!« »Aufforderung?« wiederholte Anton belustigt. Die Abschiedsparty sollte doch erst morgen stattfinden! »Nein, Herausforderung«, verbesserte Viola. »Ich wollte sagen: Sie sind ganz besondere Menschen, die eine ständige Herausforderung für ihre Umgebung sind.« ›Menschen‹? Anton grinste in sich hinein. Leise sagte er: »Kann ich die Autogrammkarte mal sehen?« »Die Autogrammkarte?« »Oder hast du sie nicht mehr?« »Doch, natürlich!« versicherte Viola. »Aber es ist gar keine richtige Autogrammkarte. Sie ist nur gezeichnet.« »Nur gezeichnet? Dann muß es die Druckvorlage sein«, erklärte Anton listig. »Die – was?« »Die Druckvorlage. Wenn der Film erst mal fertig ist und in die Kinos kommt, braucht Rüdiger Hunderte, nein, Tausende von Autogrammkarten für seine Fans!« »So viele?«
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»Falls das überhaupt reicht...« sagte Anton. »Ja, und dann wird auf der Karte natürlich ein Foto aus dem Film abgedruckt – an der Stelle, wo jetzt die Zeichnung ist!« »Ach, so ist das –« sagte Viola. Sie warf einen raschen Blick zu den anderen Jungen hinüber. Ole, Henning und Sebastian beobachteten sie mit unverhohlener Neugier. »Heißt das, meine Karte ist besonders wertvoll?« fragte Viola flüsternd. »Ja, unbedingt«, bestätigte Anton – und das war nicht mal gelogen, wenn es stimmte, daß Lumpi sie gezeichnet hatte. »Die Karte ist ein richtiges Sammlerstück.« Viola lächelte andächtig. »Und wann, glaubst du, wird Rüdigers Film fertig? Ich meine, wegen der Uraufführung – damit ich mich schon drauf einstellen kann.« 93
»Oh, schwer zu sagen«, erwiderte Anton nebelhaft. »Das hängt von so vielen Dingen ab...« Viola fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. »Wenn du wüßtest, wie gespannt ich bin...« seufzte sie und schaute sehnsüchtig in die Ferne. Dann fragte sie: »Kommt Rüdiger heute abend auch?« »Heute?« Anton zögerte. »Ich glaube, er kann erst morgen kommen – zu unserer Abschiedsparty!« »Zu unserer Party?« rief Viola unvorsichtig laut. »Psst!« ermahnte Anton sie. »Ja, wahrscheinlich kommt er. Falls er nicht doch Dreharbeiten hat.«
Dir kann doch keiner widerstehen Viola war vor Freude und Aufregung rot geworden. »Und du bist ganz sicher, daß unsere Abschiedsparty auch wirklich stattfindet?« fragte sie. »Na ja –« Anton deutete mit einer Kopfbewegung zu Herrn Fliegenschneider hinüber, der auf einer Bank saß und Zeitung las. »Es wäre bestimmt nicht verkehrt, ihn noch ein bißchen zu bearbeiten!« »Bearbeiten?« »Ja!« Anton grinste. »Dir kann doch keiner widerstehen, oder?« Viola kicherte geschmeichelt. »Ich weiß nicht...« »Du schaffst das schon«, sagte Anton schlau. »Denk einfach daran, wie es wird, wenn Rüdiger zu unserer Party kommt!« »Also gut...« Viola fuhr sich noch einmal durch die Haare, und trippelnd ging sie auf die Bank zu. Anton gesellte sich zu Ole und den anderen. »Was will Viola denn bei Fliegenschneider?« fragte Henning. 94
»Ihn nach der Party fragen«, antwortete Anton. »Weil sie sich schon sooo darauf freut, morgen abend mit dir zu tanzen!« »Blödmann!« zischte Henning, aber er war genauso rot geworden wie eben Viola. »Hoffentlich hat sie Erfolg«, sagte Ole. »Mit der Party hätten wir wenigsten eine schöne Erinnerung!« Und tatsächlich: Viola brauchte keine zehn Minuten. Dann kehrte sie als strahlende Siegerin zurück und verkündete, Herr Fliegenschneider sei mit der Party einverstanden. Wie sie ihn herumgekriegt hatte, behielt Viola allerdings für sich. Auf Hennings plumpe Frage, ob sie den Mathelehrer ›verhext‹ hätte, antwortete sie nur mit einem abschätzigen Lächeln: »Das habe ich nicht nötig!« Erst später, nach dem Kaffeetrinken, als sie mit Anton eine Zeitlang allein war, verriet sie es ihm: »Ich habe Herrn Fliegenschneider von meiner alten Klasse vorgeschwärmt und von dem tollen Zusammengehörigkeitsgefühl – und daß unser Lehrer immer gesagt hätte: Feiern, vor allem Abschiedsfeiern, wären das Allerwichtigste überhaupt bei Klassenfahrten. Und da konnte Herr Fliegenschneider natürlich nicht mehr nein sagen!« »Sehr geschickt von dir«, bemerkte Anton anerkennend. »Nicht wahr?« sagte Viola. »Jetzt darf uns nur Rüdiger nicht im Stich lassen. Ohne ihn macht mir die Abschiedsparty nämlich keinen Spaß.« Sie blickte zum Waldrand. »Meinst du, er könnte vielleicht doch auf uns warten?« »Jetzt?« Anton grinste. Immerhin war es noch heller Tag! »Ich bin mir ziemlich sicher, daß er nicht vor morgen abend kommt. Weißt du, Dreharbeiten dauern meistens bis in die Nacht.«
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Viola nickte wissend. »Eins wollte ich dich schon die ganze Zeit fragen«, begann sie. »Wie kommt Rüdiger eigentlich nach den Dreharbeiten hierher?« Anton erschrak. »Hierher?« murmelte er – nicht sehr intelligent, aber er mußte sich erst eine passende Erklärung überlegen. »Er wird wohl kaum fliegen.« Viola kicherte. »Auch wenn sie beim Film ganz irre Tricks kennen... fliegen, richtig fliegen können sie immer noch nicht!« »Rüdiger kommt aber aus der Luft«, sagte Anton. Viola machte große Augen. »Etwa mit dem Flugzeug?« »Nicht direkt...« »Mit einem Hubschrauber?« »Könnte man so sagen.« Viola schüttelte verwundert den Kopf. »Die mieten extra einen Hubschrauber – nur damit Rüdiger dich besuchen kann?« »Nein!« Jetzt mußte Anton doch grinsen. »Damit er dich besuchen kann!« »Wie –« Für einen Moment war Viola sprachlos. »Das verstehe ich nicht...« »Es ist gar nicht schwer zu verstehen«, sagte Anton und gab sich Mühe, ernst zu bleiben. »Wenn man einen Film dreht, dann muß man alles tun, um die Hauptdarsteller bei Laune zu halten. Davon hast du bestimmt auch schon gelesen.« »Ja.« »Und deshalb werden ihnen möglichst alle Wünsche erfüllt«, fuhr Anton fort. »Wenn Rüdiger nun den Wunsch hat, dich zu besuchen, dann müssen sie ihm eben einen Hubschrauber zur Verfügung stellen – damit er am nächsten Tag wieder voll bei der Sache ist und seine Rolle gut spielt!« Anton holte tief Luft. Es war eine ziemlich abenteuerliche Geschichte, die er Viola da aufgetischt hatte. Aber weil sie ihrer Eitelkeit schmeichelte, würde Viola die Geschichte vielleicht glauben! 96
»Meinetwegen wird Rüdiger mit dem Hubschrauber hierher geflogen?« fragte sie, sichtlich beeindruckt. Anton biß sich auf die Lippen. »Ja. Dir kann einfach keiner widerstehen. Und Rüdiger erst recht nicht.« Eine tiefe Röte überzog Violas Gesicht. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, flüsterte sie. Überwältigt drehte sie sich um und lief davon. Anton sah ihr nach, bis sie im Schullandheim verschwunden war. Offenbar hatten seine ›Eröffnungen‹ Viola dermaßen aufgewühlt, daß sie erst mal allein sein wollte. Und das bedeutete: sie mußte ihm seine Geschichte mit Rüdiger, dem jeder Wunsch erfüllt wurde, geglaubt haben. Denn sonst wäre sie nicht davongerannt, sondern hätte Anton weiter mit Fragen gelöchert! Und als Möchtegern-Schauspielerin war Viola nicht nur eitel – sie hatte auch eine äußerst lebhafte Phantasie!
Was in manchen Leuten schlummert Beim Abendessen sagte Viola, sie fände es toll, wenn die Abschiedsparty unter einem bestimmten Thema stehen würde. »O ja«, rief Henning. »Piratenschiff! Und dann verkleiden wir uns als Piraten!« »Und du mimst den Oberpiraten, der die schöne Prinzessin raubt, wie?« sagte Ole giftig. »Ich bin für ›Wilder Westen‹!« rief Sebastian dazwischen. »Wilder Westen? Wir haben doch überhaupt keine Cowboyhüte und keine Colts«, sagte Henning mißfällig. »Aber etwas Schwarzes hat jeder, oder?« entgegnete Viola und blickte mit einem entwaffnenden Lächeln in die Runde. Sebastian grinste. »Nach vier Tagen Altengraben ist fast alles schwarz, was ich habe.« 97
»Also feiern wir ein Vampirfest!« erklärte Viola. Und damit hatte sie, im wahrsten Sinne des Wortes, ins Schwarze getroffen – und das nicht nur bei Anton. »Ein Vampirfest, super!« – »Endlich mal was Neues!« – »Das entschädigt für die ganze langweilige Woche!« und ähnliche Stimmen wurden laut. Nur Herr Fliegenschneider setzte eine säuerliche Miene auf. »Vampirfest? Das verlockt doch nur dazu, sich irgendwelchen Unsinn auszudenken«, sagte er unwillig. »Welchen Unsinn meinen Sie?« fragte Viola mit ihrem unschuldigsten Augenaufschlag. »Daß jemand beißt – zum Beispiel«, antwortete Herr Fliegenschneider. Einige kicherten. »Es wird bestimmt niemand beißen«, ergriff Frau Nußkuchen das Wort. »Bei uns zu Hause haben wir auch schon mal eine Vampirparty gefeiert, und die war sehr lustig und kein bißchen blutrünstig.« Anton warf ihr einen überraschten Blick zu. Daß Frau Nußkuchen und damit auch ihre Tochter Katrin, Antons Klassenkameradin, sich für Vampire interessierten, ließ die beiden beträchtlich in seiner Achtung steigen! Es war schon erstaunlich, was in manchen Leuten schlummerte... »Hm«, machte Herr Fliegenschneider. Auf der Suche nach Verbündeten wandte er sich an Frau Zauberhut. »Und wie denken Sie darüber?« Doch auch bei ihr hatte er kein Glück. »Wenn die Kinder das möchten...« sagte Frau Zauberhut. »Ich finde es sehr lobenswert, daß sie eigene Ideen entwickeln. Und eine Vampirparty läßt sich mit ganz einfachen Mitteln auf die Beine stellen – im Gegensatz zu einem Piraten- oder Cowboyfest. Ich hätte schon mal zwei rote Lippenstifte, Puder, einen Augenbrauenstift –«
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»– und den Rest kaufen wir!« rief Katrin. »Ich hab’ fast nichts ausgegeben bisher.« »Ich auch nicht!« – »Ich hab’ auch nichts ausgegeben!« ertönte es von allen Seiten. »Die Dekoration ist ebenfalls nicht sehr aufwendig«, fuhr Frau Nußkuchen fort. »Man braucht nur schwarzes und rotes Kreppapier, ein paar gruselige Gemälde an der Wand...« »Und rote Brause«, schlug Ole vor. »Und rote Lollis«, ergänzte Sebastian. Plötzlich hatte jeder eine Idee, wie man das Vampirfest noch interessanter gestalten könnte, und so redeten alle durcheinander. Das Ergebnis war, daß verschiedene Arbeitsgruppen gebildet wurden. Anton hatte sich der Gruppe ›Schminken und Verkleiden‹ angeschlossen. Während die anderen in seiner Gruppe noch darüber diskutierten, ob man sich das Gesicht weiß oder grün schminken sollte, hörte er, wie Viola zu Herrn Fliegenschneider sagte: »Sehen Sie? Genau das hat unser Lehrer mit Zusammengehörigkeitsgefühl gemeint.« Herr Fliegenschneider nickte nur, als hätte er auf etwas sehr Saures gebissen. Aber was hätte er auch erwidern können?
Tricks gehören zum Geschäft »Das mit dem Vampirfest hast du dir wirklich toll ausgedacht!« sagte Anton später im Hof zu Viola. »Es war eine List«, antwortete sie. »Eine List?« wunderte sich Anton. »Stell dir vor, wenn Rüdiger morgen abend der einzige im Vampirkostüm wäre!« Viola kicherte. »Dann würden sich doch alle Mädchen auf ihn stürzen! Und dann würden sie auch herauskriegen, daß Rüdiger Schauspieler ist und gerade einen
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Vampirfilm dreht. – Ja, und das will ich unter allen Umständen verhindern!« Sie lächelte kokett. »Findest du mich sehr gemein?« »Gemein?« wiederholte Anton – unsicher, was er antworten sollte. »Na ja, weil ich Rüdiger für mich allein haben möchte. – Aber ich muß auch an meine Karriere denken«, sagte Viola mit entschlossener Stimme. »Und wenn ich mir keine guten Beziehungen aufbaue, werde ich nie berühmt. Und Tricks gehören zum Geschäft«, fügte sie selbstbewußt hinzu. »Das kann man in jeder Filmzeitschrift lesen.« »Ganz allein wirst du Rüdiger wohl nicht haben«, warf Anton ein. »Nicht?« »Nein. Rüdiger wird morgen abend noch jemanden mitbringen.« »Er bringt jemanden mit?« sagte Viola betroffen. Dann erschien ein triumphierendes Lächeln auf ihrem Gesicht. »Oh, ich ahne etwas«, flötete sie. »Er bringt seinen Regisseur mit!« Und vertraulich fragte sie: »Glaubst du, er will gleich Probeaufnahmen von mir machen?« Anton hatte Mühe, ernst zu bleiben. »Garantiert nicht. Rüdiger wird nämlich... ein Mädchen mitbringen!« Violas Miene verfinsterte sich. »Ein Mädchen?« »Ja. Sie spielt in dem Vampirfilm seine kleine Schwester.« »Ist sie etwa Rüdigers Freundin?« »Nein«, konnte Anton Viola beruhigen. »Warum bringt er sie dann überhaupt mit?« fragte Viola unzufrieden. »Weil Anna auch mal eine tolle Abschiedsparty erleben möchte«, antwortete Anton – ziemlich vorschnell, wie er gleich darauf merkte. 100
»Anna?« wiederholte Viola. »Sagtest du eben: Anna?« Anton spürte, daß er rot geworden war. »Ja, wieso?« »Weil du den Namen schon mal erwähnt hast...« Viola kaute nachdenklich auf ihren Lippen. »Genau: am Dienstag, als ich dich im Wald getroffen habe, kurz bevor Rüdiger gekommen ist. Da hast du dich umgedreht und gefragt: ›Anna?‹« »Im Ernst? Ich kann mich gar nicht mehr erinnern«, behauptete Anton. »Doch!« widersprach Viola. »Ich hab’ dich gefragt, wer Anna ist, und du hast gesagt: Das ist die Abkürzung für Tatjana!« »Ja, stimmt«, gab Anton zu. »Es war eine Ausrede. Weil ich nicht wollte, daß du auf Anna eifersüchtig wirst.« Viola musterte ihn gedankenvoll. »Also ist Anna deine Freundin!« stellte sie fest. Anton nickte. »Das heißt, du bist mit einer richtigen Schauspielerin befreundet!« In Violas Stimme schwang Hochachtung mit. »Hm, ja«, sagte Anton. »Es ist mir doch gleich aufgefallen, daß du nicht so kindisch und langweilig wie die anderen bist«, sagte Viola beifällig. »Aber das ist ja auch kein Wunder, wenn deine Freundin Schauspielerin ist!« Anton grinste. Im Moment kam er sich wie ein Schauspieler vor! »Und über deine Freundin – diese Anna – hast du Rüdiger kennengelernt?« erkundigte sich Viola. »Gewissermaßen.« »Wie – gewissermaßen?« »Frag doch Rüdiger selbst. Der kann dir alles viel besser erklären!« entgegnete Anton – in der Annahme, daß Viola im Trubel der Abschiedsparty sowieso nicht dazu kommen würde, den kleinen Vampir auszuhorchen. Aber schließlich hatte Viola selbst gesagt: Tricks gehören zum Geschäft. 101
»Das werde ich auch«, sagte Viola. »Einen ganzen Katalog von Fragen werde ich ihm stellen: wie sein Regisseur heißt, welchen Film Rüdiger als nächstes dreht – und wann die Uraufführung ist, natürlich!« »Übrigens –« meinte sie. »Diese Anna, die er morgen mitbringt, die nimmt auch an der Uraufführung teil, oder?« »Sicher.« »Und du? Bist du auch dabei?« »Das steht noch nicht fest«, sagte Anton ausweichend. »Weil... Anna spielt ja nur die kleine Schwester.« »Ach so.« Viola kicherte. »Rüdigers Rolle ist wichtiger!« »O ja, viel wichtiger!« sagte Anton im Brustton der Überzeugung. Viola lächelte geziert – als hätte Anton etwas Schmeichelhaftes über sie gesagt. »Morgen abend, das wird gigantisch«, seufzte sie. »Eine Party mit zwei richtigen Schauspielern...« Und indem sie Anton zublinzelte, sagte sie: »Am aufregendsten finde ich, daß niemand außer uns beiden weiß, wer sie wirklich sind!« Anton biß sich auf die Zunge, um nicht zu lachen. Wer sie wirklich waren, das wußte nur einer: er!
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Mit dem Säbel gerasselt An diesem Abend ging Anton bereits um neun Uhr ins Bett. Er war so müde, daß er sich nicht einmal mehr an dem Geraune und Gekichere der anderen beteiligte. Und selbst die zornigen Worte von Herrn Fliegenschneider, er würde sich das mit der Abschiedsfeier noch einmal gründlich überlegen, wenn nicht sofort absolute Ruhe in allen Zimmern herrschte, hörte Anton nur noch wie aus weiter Ferne. Erst am nächsten Morgen, als Ole ihn an der Schulter rüttelte, fiel Anton die Drohung von Herrn Fliegenschneider wieder ein. »Findet die Party nun statt oder nicht?« fragte er besorgt. »Na klar findet sie statt«, meinte Ole angeberisch. »Fliegenschneider hat doch nur mit dem Säbel gerasselt. Außerdem waren wir schon um halb zwölf ruhig.« »Um halb zwölf erst?« sagte Anton. So, wie er Herrn Fliegenschneider einschätzte, würde er nach dieser Nacht mit Sicherheit die Party abblasen und zur Strafe einen Gewaltmarsch aufs Programm setzen! Doch entweder hatte Anton sich in Herrn Fliegenschneider getäuscht – oder aber das bevorstehende Ende der Klassenfahrt hatte ihn milde gestimmt. Jedenfalls beschwerte sich Herr Fliegenschneider beim Frühstück mit keiner Silbe. Er wollte nicht einmal mehr wandern, wie Anton befürchtet hatte – sozusagen passend zur Abschiedsparty die Abschiedswanderung, damit alle heute abend ganz früh müde wurden. Und als Anton am Nachmittag beobachtete, wie Herr Fliegenschneider der Gruppe um Frau Nußkuchen sogar beim Dekorieren des Speisesaals half, hatte er plötzlich das Gefühl, daß Herr Fliegenschneider in den vergangenen Tagen auch nur eine Rolle gespielt haben könnte: die des strengen, allem 103
Vergnügen abholden Lehrers – ähnlich wie der kleine Vampir, der für Viola in die Rolle des Filmschauspielers geschlüpft war... ›Aber wie nett und umgänglich Herr Fliegenschneider tatsächlich ist, das wird sich heute abend bei der Party erweisen!‹ dachte Anton. Vor allem, wenn dann auch noch zwei fremde Gäste auftauchten... Zunächst sollte die Abschiedsparty um sieben anfangen. Doch nachdem Anton protestiert hatte, das sei eine völlig unmögliche Zeit für ein Vampirfest, und nachdem sich Viola und einige andere dem Protest angeschlossen hatten, verschob Herr Fliegenschneider den Beginn auf acht. Das Schminken der Jungen fand ab halb acht im Waschraum statt, natürlich unter Antons fachmännischer Anleitung. Bei den Mädchen war Viola für das vampirmäßige Make-up verantwortlich. Um kurz vor acht hatten sich die Jungen mit Hilfe von weißer Babycreme, Babypuder, schwarzen und braunen Augenbrauenstiften und roten – blutroten – Lippenstiften in mehr oder weniger grausliche Vampire verwandelt. Lachend standen sie vor dem breiten Spiegel und verglichen ihr Aussehen. Ole, der sich kohlrabenschwarze, fünf Zentimeter breite Ringe unter die Augen gemalt hatte, wirkte am gruseligsten – aber auch am unechtesten. Anton hatte sich eher diskret geschminkt und war mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Ob Anna ihn unter dreizehn Vampiren – so viele Jungen waren in seiner Klasse – auf Anhieb erkennen würde? Alle hatten ihr Haar mit farblosem Gel ›gestylt‹, und alle trugen dunkle Kleidung – Anton eine schwarze Hose und einen dunkelgrauen Pulli. Die Mädchen, die zum Schminken länger brauchten als die Jungen, sahen noch ›todschicker‹ aus, wie Frau Nußkuchen anerkennend bemerkte. 104
Viola schien als Maskenbildnerin sehr talentiert zu sein! Ein wenig neidisch betrachtete Anton die nachtblau schillernden Augenlider, die grünlich-weiße Haut und die kunstvoll zerzausten Frisuren der Mädchen. Frau Zauberhut und Frau Nußkuchen waren ebenfalls vampirmäßig geschminkt und trugen Schwarz. Nur Herr Fliegenschneider erschien in seiner üblichen ausgebeulten Cordhose und einem karierten Freizeithemd. »Das geht aber nicht, Herr Fliegenschneider«, tadelte ihn Frau Nußkuchen – offenbar mutig geworden durch ihr Vampirkostüm. »Sie müssen sich schminken und verkleiden!« »Ja, unbedingt«, stimmte ihr Frau Zauberhut ausgelassen zu. »Sonst werden Sie noch vom Vampir gebissen.« Herr Fliegenschneider lachte verlegen. »Glauben Sie?« »Wenn Sie der einzige Mensch unter lauter Vampiren sind...« antwortete Frau Zauberhut. »Ich verstehe aber nichts vom Schminken«, wehrte Herr Fliegenschneider ab. »Oh, das kann ich übernehmen«, sagte Viola. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, zierte sich Herr Fliegenschneider. »Kommen Sie!« sagte Frau Nußkuchen energisch. »Viola und ich werden Sie jetzt in einen zünftigen Vampir verwandeln.« »Wenn Sie sich das zutrauen...« kicherte Herr Fliegenschneider.
Mein rechter Sarg ist leer Und wirklich: als Herr Fliegenschneider zehn Minuten später zurückkehrte, war er nicht wiederzuerkennen. Sein Gesicht bedeckte eine grünlich-weiße Schicht aus Creme und Puder, seine Haare standen wild vom Kopf ab, und 105
seine Augen wirkten riesig groß, weil sie mit dicken schwarzen Strichen umrandet waren. Dazu trug er ein dunkelbraunes Hemd und eine schwarze Hose. Henning lief zur Musikanlage. Er hatte sie sich am Nachmittag bei der Kirchengemeinde ausgeliehen – notgedrungen, weil es im Schullandheim nur eine altertümliche Musiktruhe gab, und die war auch noch kaputt! Obendrein hatten ihm die Leute im Kirchenbüro einen Koffer voll guter Rock-’n’-Roll-Platten mitgegeben. »Hiermit ist die Vampirparty eröffnet«, verkündete Henning und fügte grinsend hinzu: »Herr Fliegenschneider und Frau Nußkuchen haben den ersten Tanz!« Die Anfangstakte einer fetzigen Rock-’n’-Roll-Nummer erklangen. Herr Fliegenschneider machte ein Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. Doch Frau Nußkuchen ergriff ihn beim Arm und zog ihn in die Mitte des Speisesaals. »Auf zum Ball der Vampire!« lachte sie. Herr Fliegenschneider zuckte schicksalsergeben mit den Schultern und fing an, merkwürdig mit den Armen und Beinen zu schlenkern. Einige kicherten, aber nur hinter vorgehaltener Hand. Anton sah, wie Ole auf Viola zuging und sich verneigte. Süßlich lächelnd folgte sie ihm auf die Tanzfläche. Henning, der neben der Musikanlage stand, sah mit finsterer Miene zu. Als das Stück zu Ende war, schaltete er den Plattenspieler aus und rief: »Das war’s. Jetzt kommen die Spiele!« »He, das kannst du doch nicht bestimmen«, beschwerte sich Tatjana, und Sonja sagte wütend: »Das ist nicht deine Party!« »Aber ich bin für die Musikanlage verantwortlich«, erwiderte Henning von oben herab. »Und ich kann bestimmen, wann der Plattenspieler eine Pause braucht.«
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»Der einzige, der hier eine Pause braucht, bist du!« sagte Tatjana verärgert. »Wenn du meinst...« tat Henning ungerührt. »Aber dann habt ihr auch keine Musik mehr. Der Typ aus dem Kirchenbüro hat nämlich gesagt: niemand außer mir darf die Anlage bedienen!« »Wir wollten doch sowieso mit Spielen anfangen«, mischte sich Herr Fliegenschneider ein. Vermutlich war er froh, daß er nicht mehr tanzen mußte! »Spiele...« murrte Sonja. »Wartet erst mal ab, was wir alles vorbereitet haben«, bemühte sich nun auch Frau Nußkuchen zu vermitteln. »Spannende Vampirspiele!« ›Vampirspiele?‹ dachte Anton skeptisch. Und wirklich: es waren nur die allseits bekannten und eher langweiligen Spiele, denen Frau Nußkuchen lediglich einen neuen Namen gegeben hatte. ›Topfschlagen‹ hieß jetzt ›Sargdeckelklopfen‹, ›Blinde Kuh‹ nannte sich ›Arme blinde Fledermaus‹, und statt ›Mein rechter Platz ist leer‹ sollte man nun ›Mein rechter Sarg ist leer‹ rufen. Umwerfend originell! Anton seufzte. Denn auch die ›Reise nach Jerusalem‹ – dieses öde Rennen um einen Stuhlkreis herum und das Sich-Balgen um einen freien Sitzplatz – wurde nicht dadurch spannender, daß sie plötzlich ›Reise nach Transsylvanien‹ hieß und die Stühle als ›Särge‹ bezeichnet wurden! Folglich gab Anton sich gar keine Mühe, einen freien Stuhl zu erwischen, und schied nach der zweiten Runde aus. Viola folgte seinem Beispiel.
Wann kommt Rüdiger? »Wann, glaubst du, kommt Rüdiger?« fragte sie flüsternd, sobald sie neben Anton stand. Belustigt sah Anton zu, wie die 107
anderen um die Stühle herumrannten, als gelte es ihr Leben. Und auch Henning war beschäftigt: Er mußte die Musik einund ausschalten. Deshalb konnte er nur grimmig zu Anton und Viola herübersehen. »Wann Rüdiger kommt? Das dauert noch«, sagte Anton. »Aber meine Frisur ist schon ganz zusammengefallen«, klagte Viola. Sie schob mit den Händen ihre Locken zurecht. »Zu blöd, daß wir kein Haarspray hatten!« »Sei froh«, erwiderte Anton. »Rüdiger haßt Haarspray.« »Tatsächlich?« »Allerdings! Erstens, weil Haarspray stinkt. Und zweitens denkt er an das Ozon-Loch.« »Was hat Rüdiger denn mit dem Ozon-Loch zu tun?« »Nichts. Aber er mag keine Sonnenstrahlen.« »Ach so –« Viola wirkte verwirrt. Sie blickte zum Fenster. »Ob er vielleicht draußen auf uns wartet?« »Nein, bestimmt nicht«, sagte Anton. »Woher weißt du das so genau?« fragte Viola. Anton verkniff sich ein Grinsen. »Weil sie bis zur Dämmerung drehen. Sie machen erst Schluß, wenn die Sonne untergegangen ist.« »Und dann kommen sie direkt hierher?« »Direkt? Ich schätze, ja.« »Mit ihrem Hubschrauber?« Jetzt mußte Anton doch grinsen. »Jaja«, sagte er. »Mit ihrem Privat-Hubschrauber.« »Den müßte man eigentlich hören«, meinte Viola. »Hubschrauber sind doch sehr laut.« »Stimmt«, gab Anton ihr recht. »Aber sie landen außerhalb.« »Noch weiter außerhalb als hier?« fragte Viola und kicherte. »Na ja – sie wollen niemanden aufwecken im Schullandheim«, sagte Anton. Viola erschrak. »Du meinst, sie kommen erst, wenn wir schon ins Bett gegangen sind?« 108
»Nein, heute kommen sie früher«, versicherte Anton. Und mit einem Blick in den Nachthimmel fügte er hinzu: »So früh wie nur möglich!« »Dann sollte ich am besten gar nicht mehr tanzen«, säuselte Viola. »Sonst ist meine Frisur völlig ruiniert, wenn Rüdiger kommt. – Dafür hast du doch Verständnis, oder?« fragte sie einschmeichelnd. »Ich? Natürlich!« Anton hatte überhaupt nicht vorgehabt, mit Viola zu tanzen! Außerdem wurde im Moment sowieso nicht getanzt. An die ›Reise nach Transsylvanien‹ schloß sich ›Sargnagel-Raten‹ an – was sehr vielversprechend klang, aber nicht mehr war als die Abwandlung eines bewährten Ratespiels, und zwar ›TeekesselRaten‹. »Sargnagel –« begann Frau Nußkuchen mit wichtiger Miene. »Da gibt es auf der einen Seite den aus Metall. Ja, und dann gibt es noch eine andere Art Sargnagel –« »So einen wie Anton Bohnsack«, rief Henning – wütend, weil sich Viola neben Anton gesetzt hatte. Anton grinste nur. »Du solltest Henning nicht verärgern«, flüsterte er Viola zu. »Wir brauchen ihn vielleicht noch – nachher, wenn Rüdiger und Anna da sind.« »Henning?« fragte sie verdutzt. »Ja. Falls jemand sich wundert, woher die beiden kommen – dann soll Henning sagen, daß sie zu der Kirchengemeinde gehören, bei der er sich die Anlage ausgeliehen hat.« Viola nickte anerkennend. »Du denkst wirklich an alles!« Damit erhob sie sich und nahm auf dem freien Stuhl neben Henning Platz.
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Hallo, Anton! Nach dem Sargnagel-Raten eröffnete Frau Zauberhut das ›Vampirbüfett‹. Es war nicht so üppig wie seinerzeit das Büfett von Schnuppermaul – damals, als Friedhofswärter Geiermeier im Krankenhaus gelegen und sein Assistent heimlich einen Vampirfasching gefeiert hatte. Aber auch Frau Zauberhut hatte sich mit ihrer Gruppe viel Mühe gegeben. Die Tische für das Büfett waren mit rotem Kreppapier bespannt, es gab rote Götterspeise, roten Saft und rote Lollis. Die restlichen – ganz normalen – Leckereien und das Knabberzeug lagen in länglichen Pappschachteln, die mit schwarzem Papier beklebt waren, so daß sie wie kleine Särge aussahen. Während Anton diese ›Mini-Särge‹ voller Salzstangen und Erdnüssen und Popcorn musterte, stieß ihn plötzlich jemand ganz sanft in den Rücken, und dann hörte er Annas Stimme: »Wie niedlich!« Betont langsam, weil er jedes Aufsehen vermeiden wollte, drehte Anton sich um. Da stand Anna und lächelte ihm zu. »Hallo«, sagte er verlegen. »Hallo, Anton«, antwortete sie zärtlich. »Wie hast du mich erkannt?« fragte er. Sie kicherte. »Dich erkenn’ ich immer – und wenn du dich noch so gut verkleidest«, sagte sie. »Übrigens, das ist ja eine richtig gute Party hier!« meinte sie. »Davon hast du mir gar nichts erzählt, daß ihre alle als Vampire kommt!« Anton warf einen besorgten Blick zur Seite. Doch niemand achtete auf Anna. Wahrscheinlich lag es daran, daß sie sich mit ihrem schwarzen Umhang, den schulterlangen, zerzausten Haaren und dem blassen Gesicht kaum von den übrigen ›Vampiren‹ unterschied!
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»Es war Violas Idee«, erklärte Anton. »Sie wollte, daß ihr mitfeiern könnt, ohne aufzufallen.« Anna lächelte schelmisch. »Wir?« »Hauptsächlich natürlich Rüdiger«, räumte Anton ein. »Aber ich hab’ Viola von dir erzählt. – Und daß du meine Freundin bist«, fügte er hinzu. »Das hast du gesagt?« freute sich Anna. »Ja.« Anton spürte, daß er rot wurde. »Und deine Hand?« fragte er schnell. »Tut sie noch weh?« Anna musterte ihren Verband und nickte. »Ja.« Sie hatten sich vom Büfett entfernt und standen jetzt in der Nähe des Fensters. Keiner nahm Notiz von ihnen – nicht einmal Herr Fliegenschneider, der sich gerade den Teller randvoll mit Erdnüssen und Salzbrezeln gefüllt hatte. »Ich wäre so gern in deiner Klasse...« sagte Anna mit einem wehmütigen Lächeln. »Ja, heute abend vielleicht«, erwiderte Anton. »Aber die Tage vorher waren nicht gerade angenehm.« »Trotzdem seid ihr zu beneiden!« flüsterte Anna. »Zu beneiden?« sagte Anton – in gespielter Entrüstung, weil Anna auf einmal ganz traurig wirkte. »Wenn du eine Ahnung hättest, wie anstrengend die Klassenfahrt war! Ich habe dreizehn Blasen, sieben Hühneraugen und vierunddreißig Mückenstiche!« Das war stark übertrieben – aber vielleicht half es, Anna wieder aufzuheitern! »Und wo?« fragte Anna. »Wo? An den Füßen«, sagte er. »Kannst du etwa nicht tanzen?« Sie schaute ihn erschrocken an. »Und ich hab’ mich so darauf gefreut!« »O doch, ich kann tanzen«, versicherte Anton hastig. »Ein paar Tänze jedenfalls«, schränkte er ein. »Ich kann auch nicht sehr lange tanzen«, tröstete ihn Anna. »Sonst wird mir wieder schwindlig. Stell dir vor: auf dem Herflug mußte ich dreimal zwischenlanden.« 111
»Dreimal?« »Ja!« Anna schniefte. »Bist du deswegen traurig?« fragte Anton vorsichtig. Anna schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hab’ euch von draußen beobachtet, deshalb bin ich traurig.« »Du hast uns beobachtet?« sagte Anton mit einem unbehaglichen Gefühl. Er versuchte sich zu erinnern, ob er irgend etwas getan hatte, das Anna verstimmt haben könnte. Aber er hatte noch nicht einmal getanzt! »Ihr habt im Kreis gesessen«, berichtete Anna. »Zuerst habt ihr nachdenkliche Gesichter gemacht. Dann hat jemand etwas gerufen, und alle haben gelacht. Das hat so... gemütlich ausgesehen. Und du hast auch gelacht!« Sie drehte den Kopf weg. »Und plötzlich hab’ ich gedacht: Du und die anderen, ihr seid nur heute abend Vampire – und nur, weil es euch Spaß macht. Aber ich – ich muß immer so bleiben, ob ich nun will oder nicht!« Sie schluchzte auf, und ehe Anton etwas entgegnen konnte, lief sie zur Tür. Anton stürzte ihr nach – und wäre fast mit Herrn Fliegenschneider zusammengestoßen, der sich den Teller ein zweites Mal mit Nüssen und Brezeln gefüllt hatte.
Unter Freunden Außer Atem kam Anton im Hof an. Anna war nicht zu sehen. Doch so schnell konnte sie nicht davongeflogen sein, so schnell durfte sie nicht davongeflogen sein! »Anna?« rief Anton zu den Bäumen hinüber. Vielleicht hatte sie sich dort versteckt! Jetzt war ein unterdrücktes Schluchzen zu hören. Anton lief in die Richtung, aus der es kam. Unter dem großen alten Baum fand er Anna. Sie hatte sich auf die Erde gehockt
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und den Umhang über den Kopf gezogen, so daß nicht viel mehr als ihre Nasenspitze zu sehen war. Er blieb vor ihr stehen. »Anna!« sagte er. »Du sollst nicht traurig sein!« »Und warum nicht?« fragte sie. »Weil ich dich so mag, wie du bist«, antwortete er. »Und du sollst nicht lügen«, entgegnete sie dumpf. »Lügen? Das war die Wahrheit!« Anna schluchzte. »Du würdest mich noch viel lieber mögen, wenn ich kein Vampirmädchen wäre!« »Nein!« widersprach Anton energisch. »Unter Freunden sagt man nicht ›wenn‹. Da mag man den anderen so, wie er ist.« »Ehrlich?« Anna lugte unter dem Umhang hervor. »Und wenn du mich schon in Transsylvanien kennengelernt hättest, damals, als ich noch ein ganz normales Mädchen war – meinst du nicht, daß du mich dann lieber gemocht hättest?« »Nein«, erklärte er mit fester Stimme. »Erstens mag ich ganz normale Mädchen nicht besonders. Und zweitens möchte ich dich genau so haben, wie du bist.« »Ach, Anton.« Sie stand ein wenig unsicher auf. »Das hast du schön gesagt!« »Und außerdem«, fuhr Anton fort, »glaube ich, daß du vielleicht noch aus einem anderen Grund traurig geworden bist.« »Aus einem anderen Grund?« »Ja. Weil du heute zum erstenmal meine Klassenkameraden gesehen hast.« »Hm, kann sein, daß du recht hast«, sagte Anna gedankenvoll. »Vor allem die Mädchen in deiner Klasse«, fügte sie nach einer Pause hinzu. »Die dürfen anziehen, was sie wollen: Jeans und hübsche Blusen und Pullover und Röcke und Kleider – und alles nach der neuesten Mode.« Sie schob ihren Umhang zurück, so daß Anton ihr dunkelblaues Samtkleid erkennen konnte. Es war am 113
Halsausschnitt und am Saum mit Goldborte verziert, und um die Taille hatte Anna einen breiten, goldbestickten Stoffgürtel geschlungen. »So altmodisch sehen Vampirmädchen aus, wenn sie sich feinmachen!« »Mir gefällt das Kleid«, sagte Anton. »Wirklich?« »Ja! Es paßt zu deiner Haarfarbe und zu deiner Haut.« Anton hustete verlegen. Es war nicht seine Art, Komplimente zu machen! »Trotzdem ist es unmodern«, erklärte Anna. »Ich möchte nicht wissen, was die Mädchen in deiner Klasse zu dem Kleid sagen würden!« »Sie würden es toll finden«, versicherte Anton. »Ja, heute«, sagte Anna, »weil ihr eine Vampirparty feiert. Spätestens morgen, wenn alle wieder normal gekleidet sind, würden sie mit den Fingern auf mich zeigen.« Anton lächelte verschmitzt. »Aber die Party ist heute. Und morgen werden sie nicht das Glück haben, dich zu sehen!« Anna sah ihn ungläubig an. »Das Glück?« »O ja«, sagte Anton. »Das Glück habe nur ich – wenn du mich besuchen kommst, morgen abend bei mir zu Hause!« Anna lächelte. »Hast du nicht eben erklärt: Unter Freunden sagt man nie ›wenn‹? Ich werde kommen!« »Und jetzt sollten wir zurückgehen«, meinte sie. »Damit du siehst, daß ich mich nicht vor den anderen Mädchen verstecke. – Und weil ich endlich mit dir tanzen will!« ergänzte sie und drückte zärtlich Antons Arm.
Fledermäuschen, sag mal piep »Übrigens –« fragte Anton betont beiläufig, als sie den Hof durchquerten, »ist Rüdiger eigentlich mitgekommen?«
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»Mitgekommen schon«, sagte Anna. »Aber den würde ich an deiner Stelle lieber vergessen.« »Ich soll ihn vergessen?« wiederholte Anton betroffen. Anna kicherte. »Natürlich nur heute! Weißt du, Rüdiger ist mit dem verkehrten Fuß aus dem Sarg gestiegen.« »Und was bedeutet das?« »Oh, dann benimmt er sich manchmal noch ekliger als Lumpi.« »Lumpi?« Voller Unbehagen erinnerte sich Anton an die Begegnung auf dem Friedhof. »Lumpi ist doch nicht hier, oder?« fragte er und blickte sich besorgt um. »Nein, nein«, beruhigte ihn Anna. »Er ist in seinem MännerMusik-Verein.« Sie kicherte wieder. »Stell dir vor: Waldi der Bösartige plant eine Tournee!« »Eine Tournee?« »Ich glaub’ ja nicht dran«, sagte Anna. »Aber Lumpi ist überzeugt, daß sie noch eine Riesenkarriere machen. Sie haben sich sogar umgetauft!« »Umgetauft?« »Ja. Sie nennen sich neuerdings: Die swingende Gruft!« Anna lachte glucksend. »Was ist überhaupt mit eurer Musik?« fragte sie nach einer Pause. »Ich höre überhaupt nichts!« »Wahrscheinlich machen sie immer noch Spiele«, sagte Anton. »Aber dann wäre Rüdiger nicht ins Haus gegangen!« erwiderte Anna. »Er ist ins Haus gegangen?« »Ja, eben, vor fünf Minuten.« Sie hatten die Eingangstür erreicht. Lachen und Rufen drangen zu ihnen, aber keine Musik. Ob Henning der Anlage inzwischen mit seinen Discjockey-›Künsten‹ den Rest gegeben hatte?
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»Komm, wir gucken erst mal von draußen!« sagte Anna und zog Anton mit sich. Durch das Fenster sahen sie, daß tatsächlich noch Spiele gespielt wurden; jetzt war ›Mäuschen, sag mal piep‹ an der Reihe. Anton erkannte es daran, daß alle – bis auf den kleinen Vampir, den konnte er nicht entdecken – im Kreis saßen und daß sich Tatjana, deren Augen verbunden waren, bei verschiedenen Kindern auf den Schoß setzte, die dann ein lautes Piepsen von sich gaben. Welchen Namen das Spiel bei Frau Nußkuchen hatte, wußte Anton allerdings nicht. »Fledermäuschen, sag mal piep!« meinte er amüsiert zu Anna. »Wie bitte?« fauchte Anna. »Ich bin keine Fledermaus! Und ich hasse es, wenn mich jemand so nennt!« »Ich habe doch nicht dich gemeint«, sagte Anton – erschrocken über ihre Heftigkeit. »Nur das Spiel.« »Als ob ich das Spiel nicht kennen würde«, hielt ihm Anna grimmig entgegen. »Wir haben es an meinem Vampirtag gespielt, und da hieß es anders!« »Ja, Mäuschen, sag mal piep; und deshalb habe ich es abgeändert in: Fledermäuschen, sag mal –« »Piep!« wurde Anton von einer heiseren Stimme unterbrochen. Er wandte den Kopf zur Seite und erblickte den kleinen Vampir. »Ich... ich dachte, du wärst ins Haus gegangen«, stotterte Anton. »Ja. Aber nicht, um bei euren kindischen Spielereien mitzuwirken!« erwiderte der kleine Vampir würdevoll. »Also bin ich – hui! – durch ein Fenster wieder rausgeflogen.« »Nicht ohne vorher noch dieses nette kleine Büchlein an mich zu nehmen, das irgend jemand weggeworfen hatte!«
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Hinterhältig grinsend brachte er ein schwarz eingebundenes Buch zum Vorschein, das er unter seinem Umhang versteckt gehalten hatte. »He!« rief Anton. »Das ist ja mein Buch: Der Vampir von Amsterdam!« »So?« tat der kleine Vampir verdutzt. »Es kam mir auch irgendwie bekannt vor, als ich es so im Papierkorb liegen sah...« »Im Papierkorb?« entrüstete sich Anton. »Neben meinem Bett hat es gelegen, auf einem Stuhl!« »Oh, dann muß es wohl Flügel bekommen haben«, spottete der kleine Vampir. Und mit Grabesstimme setzte er hinzu: »Bei Graf Dracula: Es lag im Papierkorb!« »Vermutlich, weil du es vorher reingeworfen hattest«, knurrte Anton. Der kleine Vampir zog es vor, nichts zu erwidern. Seelenruhig ließ er Antons Buch unter dem Umhang verschwinden. Dann reckte er sich und spähte in den Saal hinein. Anna zupfte Anton am Ärmel. »Reiz ihn nicht!« flüsterte sie. »Bei der nächstbesten Gelegenheit werde ich ihm das Buch wieder abnehmen.« In diesem Moment stieß der kleine Vampir einen Schrei aus; einen Freudenschrei, wie Anton gleich darauf erkannte. »Viola!« seufzte der Vampir und drückte seine Hände flach gegen die Scheibe. Nun sahen auch Anton und Anna, daß Viola am Fenster erschienen war und Rüdiger aufgeregt zuwinkte. »Oh, Viola«, sagte der kleine Vampir. »Eigentlich wollte ich nicht kommen. Aber wenn du mich so anlächelst...« Und wie ein Schlafwandler ging er auf die Eingangstür zu. Anton überlegte, ob er den kleinen Vampir aufhalten müßte – da ertönte im Saal ein Trommelwirbel. Es war der Beginn einer heißen Rock-’n’-Roll-Nummer. Und in dem nun einsetzenden 117
Gedränge und Geschiebe würde der kleine Vampir bestimmt keinen Verdacht erwecken!
Tanze mit mir in den Morgen »Worauf wartest du noch?« fragte Anna ungeduldig. »Hast du nicht gesagt, wir wollen tanzen?« »Doch«, antwortete Anton hastig. »Ich... ich war nur abgelenkt.« Anna machte einen Schmollmund. »Wegen Viola, oder?« »Nein!« Anton grinste. Diesmal konnte er: »Wegen Rüdiger«, antworten, ohne fürchten zu müssen, damit ihre Eifersucht zu wecken! Anna kicherte. »Zuerst wollte Rüdiger gar nicht mitfliegen«, berichtete sie. »Ich mußte eine halbe Ewigkeit auf ihn einreden, bis ich ihn soweit hatte. Er sagte, er wäre schwer enttäuscht von Viola.« »Enttäuscht? Von Viola?« staunte Anton. »Ja. Und dann ist er wieder völlig hingerissen, wenn er sie nur durchs Fenster sieht! Aber so ist Rüdiger: wechselhaft wie der Mond.« Anton erschrak. »Heißt das, er kommt jetzt in die Pubertät – wie Lumpi?« »Ach, Anton!« Anna stupste ihn neckend. »Das geht doch gar nicht! Er bleibt auf ewig in dem Alter, in dem er –« Sie brach ab. 118
»Gehen wir endlich«, wechselte sie schnell das Thema. Und ausgelassen fing sie an zu singen: »Tanze mit mir in den Morgen, tanze mit mir in das Glück...« »In den Morgen?« wiederholte Anton. »Ich schätze, in spätestens einer Stunde beendet Herr Fliegenschneider die Party!« »Um so mehr müssen wir uns beeilen!« sagte Anna und hakte sich bei ihm unter. Als sie den Saal betraten, sah es allerdings nicht danach aus, als würde die Party bald zu Ende sein. Im dicksten Gewühl tanzte Herr Fliegenschneider mit Frau Nußkuchen, und dabei machte er ein vergnügtes, fast jungenhaftes Gesicht. »Ist deine Lehrerin wieder gesund?« fragte Anna und deutete mit einem Kopfnicken auf Frau Nußkuchen. »Nein, das ist die Mutter von Katrin«, erklärte Anton. »Sie ist nur zur Unterstützung von Herrn Fliegenschneider mitgefahren. Genau wie Frau Zauberhut da am Büfett.« »Nur?« erwiderte Anna. »Ich stelle es mir ziemlich anstrengend vor, mit so einer Horde auf Klassenfahrt zu gehen!« »Horde?« tat Anton empört. »Na ja –« Anna kicherte. »Die Erwachsenen haben immerhin die ganze Verantwortung. Und deine Klassenkameraden sehen nicht aus, als könnten sie kein Wässerchen trüben.« Anton grinste. »Das täuscht«, behauptete er. »Wir sind die netteste, harmloseste und friedlichste Klasse, die du dir vorstellen kannst.« »Wer’s glaubt...« Anna lächelte schelmisch. Mit ihrer unverletzten Hand umfaßte sie Anton und schob ihn sanft zur Tanzfläche. Anton kam es vor, als würden Dutzende von Augenpaaren sie neugierig mustern. Aber das war vermutlich nur Einbildung; denn Henning hatte gerade eine neue Platte aufgelegt, und fast alle sangen lauthals mit: »Come on baby, let’s do the twist...« und versuchten, die 119
passenden Bewegungen zu machen: in die Knie gehen, wieder hochkommen, mit den Hüften wackeln. Jetzt sah Anton auch den kleinen Vampir. Inmitten all der verkleideten ›Vampire‹ war es gar nicht einfach gewesen, ihn zu entdecken, zumal Rüdiger alles genau wie die anderen machte – wahrscheinlich, um Viola zu imponieren: Der kleine Vampir ging in die Knie, kam mit rot angelaufenem Kopf wieder hoch und wackelte mit den Hüften... Anton biß sich auf die Zunge, um nicht zu lachen. »Was für ein Tanz soll das sein?« fragte Anna. »Das ist Twist«, antwortete Anton. »Der Tanz gefällt mir nicht«, sagte Anna. »Ich möchte lieber richtig mit dir tanzen.« »Richtig?« »Ja! Wie beim Vampirball im Jammertal. Du legst mir deine Hände um die Taille, und ich halte mich an deiner Schulter fest. Das ist schön!« »Aber so tanzt man heute nicht mehr.« Anton zeigte auf den kleinen Vampir und auf Viola, die sich überhaupt nicht berührten. »Niemand tanzt mehr zusammen. Höchstens bei Engtanzfeten.« Anna drängte sich an ihn. »Dann machen wir eben eine... Engtanzfete!« Anton hustete verlegen. »Aber bei so einer Fete müssen alle eng tanzen.« »Herr Fliegenschlucker tanzt schon eng!« erwiderte Anna. Anton folgte ihrem Blick und stellte fest, daß Herr Fliegenschneider und Frau Zauberhut Foxtrott tanzten. »Die können sich das erlauben«, erklärte er. »Aber ich möchte verhindern, daß wir beide auffallen. – Deinetwegen, damit niemand Verdacht schöpft.« »Und außerdem«, fügte er hinzu, als er Annas betrübte Miene sah, »können wir viel besser morgen eine Engtanzfete machen, bei mir zu Hause – nur du und ich.« 120
Annas Augen leuchteten. »O ja!« sagte sie. »Und dann bringe ich ein paar Kerzen mit und Weihrauch von Tante Dorothee, und dann machen wir eine urgemütliche Engtanzfete, du und ich!« Damit begann sie, vorsichtig die Bewegungen der anderen nachzuahmen: sie ging in die Knie, kam wieder hoch, drehte die Hüften. Doch schon nach kurzer Zeit flüsterte sie: »Mir wird schwindlig, Anton.« »Dann sollten wir uns lieber setzen«, sagte Anton erschrocken. Er nahm Anna bei der Hand und führte sie zu einem Tisch in der Nähe eines geöffneten Fensters. Die kühle Nachtluft würde ihr guttun, hoffte er. »Tut mir leid«, sagte sie. »Jetzt hab’ ich dir das Fest verdorben.« »Du? Nein!« widersprach Anton. »Wenn du jetzt mit einer anderen tanzen möchtest...« Sie blinzelte. Anton schüttelte entschieden den Kopf. »Warum sollte ich? Nein, ich bleibe bei dir.« – ›Und ich kann dir auch etwas vom Büfett holen‹, wollte er hinzufügen. Aber im letzten Moment verkniff er sich diese – im Fall von Anna – ziemlich taktlose Bemerkung!
Aber nicht bei Vampiren! »Na bitte! Hier ist schon ein ruhiger Tisch«, ertönte da die heisere Stimme des kleinen Vampirs. Anton sah, wie Rüdiger und Viola nur zwei Tische entfernt von ihnen Platz nahmen. Der kleine Vampir nickte Anton zu und grinste. »Du hast wirklich ein schönes Plätzchen für uns ausgesucht, Rüdiger«, lobte Viola. »Jetzt können wir uns in Ruhe 121
unterhalten!« Dabei zwinkerte sie Anton verschwörerisch zu und bedachte Anna, die sie noch gar nicht kennengelernt hatte, mit einem huldvollen Lächeln. »Und worüber möchtest du dich unterhalten?« fragte der kleine Vampir. Seine Stimme klang eher abwartend – und gar nicht so verliebt wie sonst, fand Anton. »Über uns«, säuselte Viola. »Über uns?« rief der kleine Vampir heiser. »Du möchtest nicht über den Film reden?« »O doch!« erwiderte Viola. »Ich möchte über uns sprechen – und zwar darüber, wann wir beide endlich gemeinsam vor die Kamera treten!« Sie kicherte. »Findest du nicht, daß ich heute abend einen umwerfend guten Vampir abgebe?« »Jaja«, knurrte der kleine Vampir. »Wie bitte?« rief Viola. »Ich frisiere mich eine Stunde lang für dich, und du sagst nur ›jaja‹?« Rüdiger gab keine Antwort. Aus den Augenwinkeln sah Anton, daß er eine finstere Miene aufgesetzt hatte. »Übrigens«, fuhr Viola in vorwurfsvollem Ton fort, »ich hatte fest damit gerechnet, daß du heute abend auch deinen Regisseur mitbringst – und nicht nur das Mädchen, das in dem Vampirfilm deine kleine Schwester spielt!« Wieder lächelte sie Anna zu. »So? Und warum?« zischte der kleine Vampir. »Ist das so schwer zu verstehen?« flötete Viola. »Das wäre doch die Gelegenheit zu einem zwanglosen Kennenlernen gewesen! Und dein Regisseur hätte gleich sehen können, wie gut mir ein Vampirkostüm steht. – Oder wird sein nächster Film etwa kein Vampirfilm?« fiel ihr plötzlich ein. »Gerade hast du gesagt, du wolltest dich ›über uns‹ unterhalten und nicht über den Film!« beschwerte sich der kleine Vampir.
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»Aber Rüdiger –« Viola versuchte zu lachen. »Du und dein Vampirfilm – das ist doch ein und dasselbe!« »Eben nicht!« erwiderte der kleine Vampir. »Wie meinst du das?« fragte sie. »Du magst mich nur als Schauspieler«, erklärte der kleine Vampir. Viola kicherte. »Na und?« sagte sie. »Das ist doch völlig normal! Und außerdem – bei Schauspielern ist das immer so!« »Ja, vielleicht«, antwortete Rüdiger mit Grabesstimme. »Aber nicht bei Vampiren!« Mit diesen Worten stand er auf. Er warf Anton noch einen düsteren Blick zu – als könnte Anton etwas dafür, daß Viola sich nur für den ›Schauspieler‹ Rüdiger von Schlotterstein interessierte. Dann kletterte er auf das Fensterbrett und verschwand in der Dunkelheit. »Rüdiger –« stammelte Viola. »Ich werde hinterherfliegen«, flüsterte Anna Anton zu. »Bis morgen, Anton!« Sie erhob sich, und auf demselben Weg wie der kleine Vampir verließ sie den Saal.
Ende der Party »Die beiden sind aber empfindlich!« Viola lachte unbekümmert. Sie hatte sich auf Annas Platz gesetzt. »Aber das kennt man ja bei Schauspielern.« Und vertraulich fragte sie: »Sie hatten bestimmt einen besonders anstrengenden Drehtag, oder?« »Ja«, sagte Anton zerstreut. Am liebsten hätte er seinen Vampirumhang geholt und wäre Anna und dem kleinen Vampir gefolgt... »Das kommt, wenn der Film fast fertig ist«, prahlte Viola mit ihren Fachkenntnissen. »Dann sind alle übernervös.« 123
Anton gab keine Antwort. »Wollen wir tanzen?« fragte Viola. »Nein, jetzt bin ich dran!« erwiderte Henning, der überraschend hinter Viola aufgetaucht war. Gelangweilt blickte sie hinüber zur Musikanlage, die jetzt von Ole bedient wurde. »Und dein Plattenspieler?« bemerkte sie spitz. »Haben die von der Kirchengemeinde nicht gesagt, niemand außer dir darf ihn anfassen?« »Schon.« Henning grinste. »Aber sie haben von einer normalen Party gesprochen. Auf einer Vampirparty kann man ruhig auch mal einen anderen ranlassen.« »Vampirparty!« sagte Viola verächtlich und blickte zum Fenster. »Bildet euch bloß nichts ein...« Und mit einem herablassenden Lächeln stolzierte sie zur Tanzfläche. Anton ging ans Fenster und schaute hinaus. Dichte Wolken verdeckten den Mond. Hoffentlich schaffte Anna den Rückflug mit ihrer verletzten Hand... Auf einmal spürte er, wie ihn jemand von hinten am Ärmel berührte. »Anna?« sagte er überrascht. Aber es war nur Viola. »Ich hab’ ihn einfach stehenlassen«, berichtete sie. »Dieser Henning ist die reinste Nervensäge.« »Nicht nur Henning!« Anton seufzte. »Und jetzt tanzen wir!« verlangte Viola. Doch in diesem Augenblick rief Herr Fliegenschneider: »Ende der Party!« »Typisch«, schimpfte Viola. »Immer, wenn es am schönsten wird, ist Schluß.« »Schluß?« Anton dachte an den morgigen Abend. »Nein, Schluß ist noch lange nicht!« Und unter Violas verblüfften Blicken spazierte er zur Tür.
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Im Bus am nächsten Morgen waren sich alle einig, daß die Klassenfahrt doch ganz annehmbar gewesen war. »Wir hätten nie gedacht, daß Sie so nett sind«, meinte Maja zu Herrn Fliegenschneider. Er hustete verlegen. »Dasselbe könnte ich von euch sagen.« Antons Mutter wartete schon, als der Bus ankam. »Und?« fragte sie neugierig. »Hattet ihr eine schöne Klassenfahrt?« »Der letzte Abend war super«, erzählte Ole. »Da haben wir eine Vampirparty gefeiert!« »Eine Vampirparty?« wiederholte sie – nicht gerade begeistert. »Das war bestimmt Antons Idee!« »Wie kommst du denn darauf?« erwiderte Anton, und Ole versicherte: »Es war Violas Idee.« »Siehst du?« sagte Anton grinsend. »Hin und wieder kommen auch noch andere auf gute Ideen!« Und vergnügt stieg er ins Auto.
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Angela SommerBodenburg wurde 1948 in Reinbek bei Hamburg geboren. Nach dem Studium der Soziologie und Pädagogik war sie zwölf Jahre Grundschullehrerin. Seit 1984 ist sie freischaffende Autorin. Aus ihrer Feder stimmt u. a. die Figur des kleinen Vampirs, mit der sie sich weltweit in die Herzen von Millionen junger Leser geschrieben hat. Die neuen Folgen erscheinen jetzt unter dem Reihen-Titel »Anton und der kleine Vampir«.
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