Pieter Aspe Die Kinder des Chronos
Buch Im Garten von De Love, einem restaurierten Bauernhof in der Umgebung von Brügg...
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Pieter Aspe Die Kinder des Chronos
Buch Im Garten von De Love, einem restaurierten Bauernhof in der Umgebung von Brügge, wird eine Leiche entdeckt. Mit Hilfe der stellvertretenden Staatsanwältin Hannelore Martens und Brigadier Guido Versavel versucht Commissaris Pieter Van In den Toten zu identifizieren. Er findet heraus, dass De Love früher zahlreichen Prominenten, darunter dem machtgierigen Lodewijk Vandaele, als Liebesnest diente. Doch erst als William Aerts, ein Mitarbeiter Vandaeles, spurlos verschwindet, und Yves Provoost, ein allseits respektierter Anwalt und fester Kunde von De Love, ermordet wird, kommt Bewegung in den Fall. Van In entdeckt Verbindungen zu einer dubiosen, extremen Gruppierung, die sogar unter dem Schutz von Johan Brys, dem Außenminister, steht. Ein Fall, der bis in die höchsten Kreise der belgischen Gesellschaft greift … Ein turbulenter Krimi, eng angelehnt an die belgische Politik und aktuelle Kriminalfälle.« – Het Laatste Niews
Autor Pieter Aspe (1953) gehört zu den meistgelesenen Krimiautoren im niederländischen Sprachraum. Seit seinem Debüt 1995 wurden von der Reihe mit Commissaris Pieter Van In über 150000 Exemplare verkauft. Im Fischer Taschenbuch Verlag lieferbar: ›Das Quadrat der Rache‹ (Bd. 16270) und ›Die Midas Morde‹ (Bd. 16269). Unsere Adresse im Internet: www.fischerverlage.de
Pieter Aspe Die Kinder des Chronos Kriminalroman Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer
Fischer Taschenbuch Verlag
Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.
Deutsche Erstausgabe Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag, einem Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, Mai 2006 Die Originalausgabe erschien unter dem Titel ›De Kinderen van Chronos‹ bei Uitgeverij Manteau/Standaard Uitgeverij nv © 1996 Uitgeverij Manteau /Standaard Uitgeverij nv en Pieter Aspe Für die deutsche Ausgabe: © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2006 Satz: Fotosatz Otto Gutfreund GmbH, Darmstadt Druck und Bindung: Nørhaven Paperback A/S, Viborg Printed in Denmark ISBN-13: 978-3-596-17095-1 ISBN-10: 3-596-17095-8
Für meine Eltern Wer befürchtet zu leiden, leidet bereits unter dem, was er fürchtet. (Montaigne) Non, rien de rien Non, je ne regrette rien Ni le bien qu’on m’a fait, ni le mal Tout ça m’est bien égal Non, rien de rien Non, je ne regrette rien C’est payé, balayé, oublié Je me fous du passé (Michel Vaucaire)
1 »Mamaa, Mamaaa!« Der lang gezogene Schrei klang schrill und durchdringend und übertönte mühelos das Kreischen der Bohrmaschine. Hugo Vermast drehte sich entnervt um. Auf der anderen Seite der Weide winkte Tine mit einem Ast. Sie war nur als bunter Klecks in einem gelbgrünen Grasmeer zu erkennen. »Mamaa, Mamaa!« Auch Joris hob für einen Moment den Blick. Seine Schwester hüpfte herum, als sei sie von einer Hornisse gestochen worden. Das tat sie öfter, wenn Mama nicht sofort angerannt kam. Joris ignorierte sie und zählte weiter seine Schrauben. Auf der Schachtel stand, es müssten hundert sein. Als Tine nicht aufhörte zu rufen, schaltete Hugo die Bohrmaschine aus. Mit beiden Händen rieb er sich den klebrigen Staub aus den Augen. Der Schmutz hinterließ Streifen auf seinen Wangen, sodass er aussah wie ein amerikanischer Pioniersoldat in einem schlechten Kriegsfilm. Jetzt konnte er seine Tochter deutlicher sehen. Auf den ersten Blick schien ihr nichts zu fehlen. Sie war eben ein hyperaktives Kind. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sie nur deshalb Zeter und Mordio schrie, weil sie nicht ihren Willen bekam. Leen lag in einem Liegestuhl und sonnte sich, eine CD von Bart Knaëll in ihrem tragbaren CD-Player. Der dritte 9
Hilferuf von Tine erreichte sie in der Pause zwischen zwei Stücken. Sie riss sich die Kopfhörer herunter und eilte sofort zu ihrer Tochter. Hugo schüttelte den Kopf, als er seine Frau barfuss durch das dichte, trockene Gras rennen sah. Am Ende würde sie noch in eine Glasscherbe treten, und dann hätte er mal wieder Schuld. In dem Moment, wo sie sich verletzte, würde er fluchen und unverzüglich losrennen, um Pflaster und Jod zu holen. Fünfzehn Jahre Ehe hatten ihn folgsam gemacht. Frauen schätzten diese Art von Unterwürfigkeit, und ein Waffenstillstand war immer noch wesentlich erträglicher als ein aufreibender Dauerkrieg. Aber im Großen und Ganzen konnte er sich nicht beklagen. Viele andere Männer hatten es schlechter getroffen. Leen war mit ihren achtunddreißig Jahren noch immer eine attraktive Frau. In ihrem engen Badeanzug sah sie einfach umwerfend aus. Die beiden Schwangerschaften hatten ihrer Figur kaum geschadet, und seine Kollegen beneideten ihn nicht wenig darum. »Mama, schau mal, was ich gefunden habe.« Tine schwenkte den Knochen wie einen Tambourstab. Das hatte sie sich auf der Kirmes von den Tambourmariechen abgeguckt. Voller Stolz hielt sie ihre Trophäe hoch. Angewidert besah sich Leen das Schienbein und dann die Grube. Sie nahm Tine an der Hand und versuchte, ihr den Knochen wegzunehmen. »Das ist ganz eklig, Tine, komm, gib es mir.« »Nein, das ist meins!« Wie so viele moderne Mütter argumentierte Leen nicht weiter mit ihrer Tochter, sondern nahm sie an der Hand und schleifte sie mit. »Warte nur, was Papa dazu sagt!« 10
Das Mädchen fing herzzerreißend an zu weinen. Sie wusste, dass ihr Vater sie dann in Ruhe ließ. Hugo hörte das vertraute Kreischen und dachte bei sich, dass Leen schon mit ihr fertig würde. Er schaltete die Bohrmaschine wieder ein. Joris reichte ihm eine Schraube. Hugo zwinkerte seinem Sohn zu. So viel Tamtam um einen Ast. Sie hatten wirklich Besseres zu tun. Guido Versavel traf Van In in der brandneuen Küche des Kommissariats an. Das Gebäude stammte aus den 70er Jahren und galt bei der Stadtverwaltung als »modern«. Nach vier schüchternen Petitionen des Fußvolks – jeder neue Bürgermeister hatte eine in Empfang genommen – war vor sechs Monaten endlich eine Küche eingebaut worden. Viel mehr als ein billiger Mikrowellenherd und ein gebrauchter Kühlschrank standen nicht darin, aber das musste reichen, um die Moral der Truppe aufrechtzuerhalten. Van In löffelte den letzten Rest seines Obstsalats in sich hinein. Er sah dabei nicht gerade glücklich aus. »Guten Appetit«, wünschte Versavel grinsend. Van In schob die Tupperdose beiseite. »Heute Abend steht Kabeljau auf dem Speiseplan. Kochfisch. Ich darf gar nicht daran denken!« »Sei froh, dass Hannelore sich um dich kümmert. Du hast bestimmt schon fünf Kilo abgenommen.« Van In zog das Hemd glatt, das ihm viel zu weit geworden war. In den letzten drei Monaten war er durch die Hölle gegangen: Cornflakes, Fisch, Gemüse, Obst, Wasser und nur ab und zu ein Gläschen Wein. Sogar seine Zigaretten hatte sie rationiert. Dabei war er doch nicht schwanger! 11
»Die solltest du dir lieber im Wagen anzünden«, riet Versavel gespielt mitleidig, als Van In behutsam eine Zigarette aus seiner Brusttasche fischte. »Wir haben eben einen Anruf erhalten und müssen dringend los.« Van In antwortete mit einer abwehrenden Geste und steckte die Zigarette wieder weg, sorgfältig wie ein kostbares Kleinod. »Hättest du mir das nicht fünf Minuten früher sagen können? Dann hätte ich dieses eklige Zeugs nicht zu essen brauchen.« »Hätte ich«, erwiderte Versavel fein lächelnd. »Aber du weißt doch, dass ich dich nur ungern beim Essen störe.« Sie liefen die Treppe hinunter, Versavel schmunzelnd, Van In vor sich hin schimpfend. Ausnahmsweise war er einmal nicht außer Atem, als sie unten ankamen. Sogar eine Stadt wie Brügge, die aus allen Nähten platzte, konnte sich einiger weniger Fleckchen intakter Natur rühmen. So fand man zum Beispiel in der Gegend zwischen Sint Andries und Varsenare durchaus noch Orte, die die Stadtplaner wohl übersehen hatten. Zu diesen Oasen zählte auch der restaurierte kleine Bauernhof der Familie Vermast. Um ihn zu erreichen, mussten Van In und Versavel einen Sandweg einschlagen, der das Prädikat »Privatstraße« tragen durfte. Das rostbraune Dach des Bauernhofs ragte kaum über die üppige Weißdornhecke hinaus, die die Idylle in Form eines grünen Quadrats umrahmte. Da das Tor offen stand, fuhr Van In direkt auf den Hof. Es war wirklich romantisch hier: gesandstrahlte Backsteinmauern, uralte Dachziegel, weiß getünchte Wände und der Geruch der tausend Mastschweine des 12
Nachbarn. Welcher überarbeitete Städter träumte heutzutage nicht von einer eigenen Klause auf dem Land? O tempora, o mores. In den 60er Jahren, als alle auf Beton und Aluminium schworen, wäre ein Ziegenstall wie dieser ohne viel Federlesens von skrupellosen Bauspekulanten abgerissen worden. Heute dagegen machten sich geschickte Geschäftemacher den Trend zum Cocooning zunutze. Der moderne Mensch empfand ein Bedürfnis danach sich zurückzuziehen, an einen Ort, an dem er er selbst sein konnte. Und so wurde eine Hütte mit feuchtem Keller in einschlägigen Anzeigen als wunderhübsches ländliches Anwesen mit eigener Quelle angepriesen, und das undichte Dach und die modrigen Fensterrahmen gehörten eben als besonders authentisch dazu. »Mijnheer Vermast? Ich nehme an, dass Sie bei uns angerufen haben.« Hugo nickte. Der Kontrast zwischen seiner bleichen Haut und den schwarzen Streifen im Gesicht verlieh ihm einen grimmigen Ausdruck. »Ja, so ist es. Meine Frau ist ganz außer sich.« »Haben Sie das Skelett gefunden?«, fragte Van In ohne Umschweife. Versavel musterte den schmalen Mann, der vor ihnen stand. Vermast hatte einen durchtrainierten Körper, nur das Hohlkreuz und der eingefallene Brustkorb verdarben den Eindruck. »Nein, meine Tochter hat die Knochen ausgegraben.« Vermast zeigte hinüber auf die andere Seite der Weide. Ein Häufchen Erde markierte den Fundort. »Seit wir mit dem Umbau begonnen haben, will sie mir immer helfen. Sie wissen ja, wie Kinder sind. Sie machen einem alles nach.« 13
Vermast lachte nervös, oder besser: er wieherte. Anders konnte man das gequetschte Geräusch, das er produzierte, kaum bezeichnen. Van In reagierte nicht. Er mochte gar nicht daran denken, dass auch er bald mit einem solchen kleinen Naseweis dasaß. »Und Sie sind sich sicher, dass es keine Schafsknochen sind?« Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Stadtmenschen die Polizei riefen, weil sie beim Umgraben ihres Gartens auf einen Haufen Tierknochen gestoßen waren. Vermast schnappte nach einer Antwort wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Nein, ich glaube nicht, dass die Knochen von einem Schaf stammen.« Van In und Versavel wechselten einen viel sagenden Blick. »Aber Sie sind sich nicht sicher.« »Meine Frau ist Krankenschwester. Sie glaubt jedenfalls …« »Dann wird es wohl so sein, Mijnheer Vermast. Ich gehe davon aus, dass Ihre Frau den Unterschied zwischen Menschen- und Schafsknochen erkennt.« Obwohl Van In versuchte, überzeugend zu klingen, war er sich seiner Sache gar nicht so gewiss. Über die Medizinbranche kursierten in letzter Zeit die wildesten Gerüchte. Vermast holte erleichtert Luft. Wie peinlich, wenn Tine ein Schafsskelett ausgegraben und er deswegen die Polizei alarmiert hätte! »Mir persönlich wäre es natürlich lieber gewesen, wenn es Schafsknochen gewesen wären«, fügte Van In hinzu. »Das hätte uns eine Menge Papierkram erspart.« 14
Vermast quittierte seine Bemerkung mit einem gelassenen Grinsen. Bei Polizisten musste man immer ein bisschen vorsichtig sein. »Gut, dann wollen wir das zuerst einmal überprüfen, Mijnheer Vermast. Ich schlage vor, wir schauen uns jetzt das Corpus Delicti aus der Nähe an.« Vermast blieb unsicher stehen. »Das Corpus Delicti, Mijnheer?« »Das Skelett, Mijnheer Vermast«, erklärte Versavel liebenswürdig. Hannelore kam wie eine wild gewordene Rallyefahrerin auf den Hof gerast. Der kleine, mitgenommene Twingo verhielt sich allerdings vorbildlich. Mit quietschenden Reifen kam er weniger als zwei Meter von der Gruppe entfernt zum Stehen. Hannelore zog die Handbremse an und sprang behände aus dem Wagen. Sie trug ein weißes ärmelloses Sommerkleid und flache sportliche Slipper ohne Strümpfe. Als Van In sie so sah, konnte er kaum glauben, dass sie schon weit im fünften Monat schwanger war. »Guten Tag, zusammen!« Hannelore umarmte Van In. Ihr Kuss jagte ihm einen wohligen Schauer den Rücken hinunter. Mein Gott, wie herrlich frisch fühlte sie sich an. Anschließend küsste Hannelore Versavel auf die Wange, was der Brigadier wohlwollend hinnahm. In gewissen Momenten wäre er lieber hetero gewesen. »Und, benimmt er sich einigermaßen?« Vermast musterte die drei erstaunt. »Der Obstsalat hat ihm vorzüglich gemundet, und er freut sich schon auf heute Abend, nicht wahr, Pieter?« Van In grunzte nur. Versavel war schlimmer als seine Schwiegermutter. Der Brigadier ließ keine Gelegenheit 15
ungenutzt, Hannelore bei ihren teuflischen Plänen zu unterstützen. Liebe ist: Essen, was sie isst, dachte Van In verbittert. In diesem Augenblick hätte er für eine Portion fettiger Fritten seine Seele verkauft. Als Hannelore auffiel, dass Vermast die Szene mit großen Augen beobachtete, stellte sie sich offiziell vor. »Hannelore Martens, stellvertretende Staatsanwältin. Ich leite die Ermittlungen.« Vermast wischte sich die verschwitzte Rechte an der schmutzigen Shorts ab. »Angenehm, Mevrouw.« Ihre Hand fühlte sich kühl und trocken an. »Wir wollten uns gerade die sterblichen Überreste näher ansehen«, erklärte Van In. »Mevrouw Vermast glaubt, dass es sich um menschliche Knochen handelt.« »Okay«, sagte Hannelore. Obwohl sie die Aussicht auf den Anblick eines Skeletts mit Abscheu erfüllte, hatte sie nicht vor, sich davon etwas anmerken zu lassen. Leen Vermast saß geistesabwesend mit ihren beiden Kindern auf einer Bank vor dem Bauernhof. Nach langem Drohen und Bitten war es ihr endlich gelungen, Tine das Schienbein abzunehmen. Der schmutzige, kantige Knochen lag vor ihr auf dem Boden. Tine schmollte mit geröteten Augen, Joris zählte noch immer Schrauben. Ihm fehlten zwei Stück, und diese Anomalie erforderte seine ganze Aufmerksamkeit. Leen begrüßte Hannelore mit einem Lächeln. Die Frau war offensichtlich ganz außer sich. Die Vorstellung, dass in ihrem Garten ein Mensch begraben lag, erfüllte sie mit Grausen. Hannelore spürte, dass sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. 16
»Ich komme gleich!«, rief sie den Männern hinterher. Van In sah, dass sich Hannelore ihrer annahm, und im Grunde war ihm das auch lieber so. »Das ist ganz klar kein Schaf gewesen.« Versavel zeigte auf einen halb im Sand verborgenen Schädel. Vermast nickte eifrig. Den älteren Polizeibeamten fand er ganz sympathisch. Van In sprang kommentarlos in die Grube hinein. Unglaublich, was ein Kind alles mit einem Spaten anstellen konnte, dachte er. Das Loch war mindestens einen Meter tief. »Hat Ihre Tochter das Loch ganz allein gegraben?« Vermast wieherte erneut. So lachte er anscheinend immer, wenn er nervös war. »Natürlich nicht, Commissaris. Ich brauchte Sand, um Mörtel anzurühren, und hier gibt es ja reichlich davon. Ich habe das Loch ausgehoben. Aber wie Sie vielleicht wissen, spielen alle Kinder gern im Sand.« Diese Grube war ein Geschenk des Himmels. Tine verbrachte manchmal Stunden in dem improvisierten Sandkasten, und alle hatten dann eine Weile Ruhe vor ihr. Van In kniete sich hin und fegte wie ein studierter Archäologe den allmählich trocknenden Sand von dem Schädel. Versavel runzelte die Stirn. »Leo ist unterwegs«, gab er besorgt zu bedenken. Van In unterbrach seine Ausgrabungen. Versavel hatte Recht. Das hier war eine Aufgabe für die Experten von der Kriminaltechnik. Vorsichtig kletterte er wieder aus dem Loch heraus. Der dottergelbe Schädel glänzte im grellen Sonnenlicht. Van In fragte sich, ob irgendwann einmal jemand auch seinen Totenschädel auf diese Weise betrachten würde. 17
»Soll ich das Grab absperren lassen?« Versavel benutzte absichtlich den Ausdruck »Grab«. Vielleicht war das altmodisch, aber er fand, dass die Toten Respekt verdienten. »Ja, tu das bitte, Guido. Sonst kriegen wir Ärger mit den Leuten von der Staatsanwaltschaft.« Versavel ging zu ihrem Dienstfahrzeug. Ebenso wie Hannelore schien er immun zu sein gegen die spätsommerliche Gluthitze. Sein faltenfreies Oberhemd zeigte kaum Spuren von Transpiration. Van In dagegen fühlte, wie ihm die Unterhose am Hintern klebte, was er alles andere als angenehm fand. Jetzt, wo sie allein waren, machte Vermast einen ziemlich unsicheren Eindruck. Sollte er etwas sagen, oder war es besser, wenn er den Mund hielt? Van In gefiel das Schweigen auch nicht. »Schon ein merkwürdiger Fund, nicht wahr, Mijnheer Vermast? Hoffen wir nur, dass es nicht Ihre Schwiegermutter ist, denn dann brauchen wir ja nicht lange nach dem Mörder zu suchen.« Diesmal wieherte Vermast nicht. Seine Schwiegermutter zu ermorden wäre ein großer Fehler gewesen. Schließlich bezahlte die alte Gewitterwurzel zur Hälfte die Raten ihrer Hypothek. Sie trafen alle gleichzeitig ein: Leo, Rudy Degrande von der Spurensicherung, der Rechtsmediziner und vier Beamte der Brügger Polizei. Der Hof glich bald dem Parkplatz eines belebten Supermarkts. Nach dem Austausch der üblichen Höflichkeitsfloskeln ging Leo an die Arbeit. Seine Nikon summte wie eine Biene über einem Jasminfeld. Der kleine, kugelrunde Gerichtsfotograf machte vierzig Aufnahmen in weni18
ger als zehn Minuten. Anschließend stieg der Rechtsmediziner hinunter in die Grube. Alexander De Jaegher war eine bekannte Brügger Persönlichkeit. Glaubte er zumindest. Er unterhielt lebhafte gesellschaftliche Kontakte, war Vorsitzender diverser Kulturvereinigungen und Förderer eines lokalen Karnevals Vereins. De Jaegher war mager und knochig, wobei seine Statur im krassen Gegensatz zu dem Eindruck des freigebigen, sinnesfrohen Genussmenschen stand, den er um jeden Preis nach außen hin vermitteln wollte. De Jaegher suchte in Kreisen nach Anerkennung, zu denen er nicht gehörte, wobei seine Reputation als Arzt eher erbärmlich war. Vor fünfzehn Jahren hatte ihm die Ärztekammer nach einem folgenschweren Kunstfehler die Approbation entzogen. Die Stelle bei der Staatsanwaltschaft war ihm daher äußerst gelegen gekommen. Dort ließ man ihn nur an Leichen heran, was die Gefahr eines zweiten Kunstfehlers erheblich verringerte. Van In blickte hinunter auf De Jaeghers Kopf, auf dem sich das Haar allmählich lichtete. Ein Skelett befummelt das andere, dachte er hämisch. »Es handelt sich hier ohne jeden Zweifel um menschliche Überreste«, deklamierte De Jaegher mit akademischem Pathos. Er nahm den Schädel in beide Hände und präsentierte ihn den Zuschauern wie eine läppische Trophäe. Versavel wandte den Blick ab. Von dem behutsamen Umgang mit Spuren hatte der Arzt nach all den Jahren immer noch nicht die geringste Ahnung. Ein derart unprofessionelles Vorgehen hatte schon öfter wichtiges Beweismaterial vernichtet. Kein Wunder, dass die Öffentlichkeit kein Vertrauen mehr in die Kompetenz der Justizbehörden hatte. Rudy Degrande dachte offenbar 19
dasselbe wie Versavel und zwinkerte dem Brigadier tröstend zu. Van In reagierte mit einem unterdrückten Schrei auf den Rippenstoß von hinten. De Jaegher schaute verstört in seine Richtung, doch als er Hannelore sah, erschien ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. »Ach, Sie sind es, Mevrouw stellvertretende Staatsanwältin. Ich wusste gar nicht, dass Sie bereits zur Stelle sind.« Hannelore bewahrte sicheren Abstand zu der Grube. »Können Sie uns schon etwas zur Todesursache sagen, Doktor De Jaegher?« Der Rechtsmediziner war nicht größer als einen Meter sechzig. In der Grube stehend sah er aus wie eine sprechende Büste. »Nein, leider nicht, Mevrouw.« De Jaegher legte den Schädel am Rand der Grube ab. Hannelore hatte das Gefühl, dass die leeren Augenhöhlen des Totenkopfes sie anstarrten. Oder spürte sie die Blicke De Jaeghers, der versuchte, ihr unter den Rock zu gucken? »Meiner Meinung nach gibt es auf den ersten Blick keinerlei Indizien, die es mir erlauben, eine fundierte Diagnose zu stellen. Dazu müssen erst eingehendere Untersuchungen durchgeführt werden. Dabei wird sich zeigen, ob dieser Mensch eines natürlichen Todes gestorben ist oder nicht.« Van In verzog das Gesicht, und Versavel verbarg sein Grinsen hinter vorgehaltener Hand. »Damit wollen Sie uns zu verstehen geben, dass wir den Autopsiebericht abwarten müssen.« »In der Tat, Mevrouw.« »Und wann kann ich mit Ihrem Bericht rechnen, Doktor De Jaegher?« 20
Wahrscheinlich war es das erste Mal, dass jemand De Jaegher diese Frage stellte. Der arme Rechtsmediziner schnappte nach Luft. »Das kann schon ein paar Tage dauern, Mevrouw. Wie wäre es mit Anfang nächster Woche?« »Aber heute ist doch erst Montag«, erwiderte Hannelore enttäuscht. De Jaegher blickte hilflos um sich. »Ich werde mein Bestes tun, um die postmortale Untersuchung gegen Ende der Woche abzuschließen«, sagte er mit einem gezwungenen Grinsen. Hannelore belohnte ihn mit einem strahlenden Lächeln. »Wunderbar, vielen Dank!« Sie drehte sich auf dem Absatz um und kehrte zum Bauernhof zurück. Sogar Van In war überwältigt von ihrem Auftritt. »Wie spät ist es jetzt?« Versavel schaute auf die Uhr. »Zwanzig nach vier.« Van In trank widerwillig einen Schluck von dem Mineralwasser. Zu allem Überfluss war keine Kohlensäure mehr darin. Kein Wunder, schließlich stand das Glas schon seit einer guten Viertelstunde in der sengenden Sonne. Hannelore konnte ihm mal den Buckel runterrutschen mit ihrer Diät. Er hob die Hand, und ein aufmerksamer Ober eilte herbei. Außer Van In und Versavel saßen keine anderen Gäste auf der Terrasse des Lokals. »Zwei Perrier?«, fragte der Ober diensteifrig. »Nein, für mich bitte ein Duvel. Wenn möglich eiskalt.« Zufrieden lehnte sich Van In in dem wackligen Korbstuhl zurück. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sich 21
Alexander der Große gefühlt hatte, nachdem er den Gordischen Knoten durchgehauen hatte. »Ein Glück, dass Hannelore dringend ins Gericht musste.« Van In hatte mit einer beißenden Bemerkung Versavels gerechnet. »Hast du was, Guido?« »Ich nicht, Pieter. Aber wenn sie dich nachher auf die Waage stellt …« Van In zuckte mit den Schultern und kippte das lauwarme Mineralwasser in das knochentrockene Gras. »Skelette erinnern mich immer an die Wüste, Guido. Außerdem ist es schon zwei Wochen her, dass ich gesündigt habe. Ich komme um vor Durst.« Das Ganze klang etwas unzusammenhängend, aber das war Versavel gewöhnt. Jede Assoziationskette Van Ins führte unweigerlich zu einem Duvel. »In der Wüste geben sich die meisten Leute mit Wasser zufrieden. Du bist wahrscheinlich der einzige Flame, der seinen Durst mit Duvel löscht.« »Keine Regel ohne Ausnahme, Guido. Das müsstest du als Schwuler doch eigentlich wissen.« »Und ob ich das weiß«, antwortete Versavel mit gespielt hoher Stimme. »Aber ich an deiner Stelle würde schon mal anfangen zu üben, für den Fall, dass wir bald in der Mehrheit sind.« Über den Service konnte man sich wirklich nicht beklagen. Schon eine Minute später servierte der Ober ein eiskaltes Duvel und ein prickelndes Perrier. Van In tat sich keinen Zwang an. Er tauchte die Nase in die dicke Schaumkrone und trank. Versavel unterbrach ihn nicht. »Vermast braucht sich um seine Weide jedenfalls nicht mehr zu kümmern«, sagte Van In gut gelaunt. »In ein paar Tagen ist sie gründlich umgegraben.« 22
»Meinst du, es liegen noch mehr Leichen dort?« »Wer weiß, Guido. Die Europäer kommen allmählich auf den Geschmack. Serienmörder sind schon seit geraumer Zeit kein typisch amerikanisches Phänomen mehr. Mir tun nur die Leute von der Staatsanwaltschaft Leid, die da jetzt gerade alles umbuddeln.« »Mir nicht«, entgegnete Versavel. Beide fingen laut an zu lachen. Als Yves Provoost die Tür zu seinem Büro abschloss, klingelte das Telefon. Widerwillig drehte er den Schlüssel um und ging wieder hinein. Obwohl Provoost nur ein mittelmäßiger Strafverteidiger war, besaß er eine riesige Villa in Knokke, ein Apartment im französischen Cap d’Agde und ein Chalet in Österreich. Seine Anwaltskanzlei befand sich in einem stattlichen Herrenhaus an der Groene Rei, der am häufigsten konterfeiten Gegend von ganz Brügge. Provoost lief den langen Flur entlang. Seine Schritte hallten hohl in dem hohen, engen Gang wider. Im Gegensatz zum übrigen Teil des Hauses war sein Büro ein Modellbeispiel für das Können moderner italienischer Innenarchitekten: glatte Tische aus poliertem Kirschholz, futuristische Schränke ohne sichtbare Türen, schwarz lackierte Stühle, in denen es niemand länger als eine Viertelstunde aushielt, und bizarr geformte Leuchten, die nur ein schwaches Licht verbreiteten. »Provoost!«, brummte er bärbeißig in das olivgrüne, außergewöhnlich flache Telefon. »Yves, ich bin’s, Lodewijk«, ertönte die womöglich noch barschere Antwort. Provoost erstarrte. Wenn Lodewijk Vandaele laut wurde, verhieß das meist schlechte Nachrichten. 23
»Wir haben ein Problem, Yves.« »Ich höre.« »Nicht am Telefon. Setz dich an deinen Computer und warte auf meine E-Mail.« Noch bevor Provoost um eine Erklärung bitten konnte, unterbrach Vandaele die Verbindung und begab sich an seinen Schreibtisch. Im Gegensatz zu Provoosts Büro herrschte in Vandaeles Arbeitszimmer eine Atmosphäre altmodischer Gediegenheit. Hier fand man nur Eichenmöbel, Kupfer, Samt und Gemälde längst vergessener Meister aus dem 19. Jahrhundert. Der perlgraue IBMComputer, der auf einem Louis-seize-Tisch stand, passte zu dem Interieur wie ein Hamburger in ein Drei-SterneRestaurant. Vandaele war ein Mann vom alten Schlag, was jedoch nicht hieß, dass er die moderne Technik nicht zu schätzen wusste. Als Verehrer Machiavellis machte er sich jedes Mittel zunutze, das seiner Machtausübung dienen konnte. Er hätte sogar, obwohl streng katholisch, seine Tochter mit einem Moslem verheiratet, wenn ihm das in irgendeiner Weise zum Vorteil gereicht hätte. Glücklicherweise hatte Vandaele keine Tochter. Er war bewusst unverheiratet geblieben, denn mit Frauen hatte man nichts als Ärger. Vandaele schaltete seinen Computer ein und schickte seine Nachricht an Provoost – derart codiert, dass nur Provoost sie entschlüsseln konnte. Hoofdinspecteur Baert von der Brügger Polizei hörte Vandaele durch den Flur schlurfen. Er kannte ihn schon sehr lange. Als junger Streifenpolizist hatte er ihn einmal mit einem halb nackten Knaben auf dem Rücksitz eines geparkten Autos erwischt. Nach einigem Hin und Her 24
hatten sie die Sache wie unter erwachsenen Menschen geregelt. Vandaele hatte ihm zwei Hunderter zugesteckt, und damit war der Fall erledigt. Baert wusste, wo es langging. Vandaele hätte einfach jemanden bei der Staatsanwaltschaft geschmiert, wenn er darauf bestanden hätte, Anzeige gegen ihn zu erstatten, anstatt das Schmiergeld anzunehmen. Wie man es auch drehte und wendete: Der Pädophile wäre auf jeden Fall ungestraft davongekommen. Für Baert waren die zwei Hunderter damals sehr viel Geld. Als er einige Wochen später Melissa kennen lernte, eine Frau, die ihn ein kleines Vermögen kostete, setzte er alles auf eine Karte und ging zu Vandaele, in der Hoffnung, noch eine höhere Summe als endgültiges Schweigegeld aus ihm herausschlagen zu können. Der alte Fuchs fiel zwar nicht auf den Erpressungsversuch herein, schickte ihn aber auch nicht mit leeren Händen nach Hause. Er schlug vor, dass Baert die Rolle einer Kontaktperson zwischen ihm und der Polizei übernehmen solle. Im Gegenzug erhielt Baert eine feste monatliche Vergütung. Bei riskanten Aufträgen oder wichtigen Informationen konnte er zudem einen gehörigen Bonus erwarten. »Es tut mir Leid, dass ich Sie so lange habe warten lassen. Ich musste mit meiner Nichte telefonieren, und Sie wissen ja, wie die Frauen sind«, sagte Vandaele lachend. »Schon in Ordnung, Mijnheer Vandaele.« Baert hoffte, dass Vandaele etwas Lukratives für ihn hatte, denn Melissa träumte schon seit Monaten von einem Großbildfernseher. »Sie wissen, dass ich Ihre Loyalität sehr zu schätzen weiß, Mijnheer Baert.« 25
Vandaele war bei einer Größe von gut einem Meter neunzig eine Respekt einflößende Gestalt, und mit seiner Stentorstimme hatte er schon so manchem Widersacher imponiert. »Sie hielten meine Informationen also für nützlich?« Vandaele spitzte seine dünnen Lippen. Die rosa Schnute verursachte Baert eine Gänsehaut. Tief in seinem Inneren hasste er Pädophile. »Nützlich wäre ein wenig übertrieben, mein bester Baert. Sagen wir mal interessant. Ich habe den Landsitz schon vor geraumer Zeit verkauft. Wenn dort nun plötzlich ein Skelett auftaucht, ist das höchstens ein dummer Zufall. Sie glauben doch nicht etwa …« »Natürlich nicht, Mijnheer Vandaele.« Baert schluckte. Das Skelett musste bereits eine ganze Weile unter der Erde gelegen haben, und die Nachricht hatte Vandaele sichtlich aus der Fassung gebracht. Warum sonst wäre er Hals über Kopf in sein Arbeitszimmer gestürzt, als ihm Baert von dem Fund berichtete? Und dass der Alte wirklich durcheinander war, bewies schon die Ausrede, er habe mit seiner Nichte telefoniert. Eine Ausrede, so durchsichtig wie ein Neglige von Melissa. »Was jedoch nicht heißen soll, dass ich Ihre Aufmerksamkeit nicht entsprechend honorieren werde.« Baerts Gesicht hellte sich auf. Geld war das einzige Mittel, ihm den Mund zu stopfen, das wusste Vandaele. Er zückte zwei große Scheine aus seinem Portemonnaie. Baert starrte sie ungeniert an. Morgen würde Melissa ihren Großbildfernseher bekommen. Wenn er nachher nach Hause kam und ihr die gute Nachricht überbrachte, würde sie vor Begeisterung sicher spontan sämtliche Hüllen fallen lassen. Vielleicht würde sie dann sogar das winzige Spitzendings anziehen, das er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. 26
»Sie sind sehr großzügig, Mijnheer Vandaele.« Vandaele klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Sie halten mich doch weiter auf dem Laufenden, hoffe ich?« »Selbstverständlich, Mijnheer Vandaele. Sobald sich etwas Neues ergibt, werde ich Sie unverzüglich darüber informieren.« Hannelore machte es sich im Garten bequem, die Beine hochgelegt und ein Glas mit kaltem Gemüsesaft in Reichweite. Die letzten Sonnenstrahlen fielen schräg an einer Blumenkohlwolke vorbei. Das diffuse Licht färbte die weiß getünchten Mauern ihres persönlichen Paradieses korngelb, als habe jemand eine Polaroidbrille vor die Sonne geschoben. Wenn man dem Wetterbericht Glauben schenkte, war dies der letzte sommerliche Tag. Van In breitete demonstrativ drei Zigaretten auf dem Tisch aus und nippte sparsam an seinem Moselwein. Ihm standen zwei Gläser zu. »Schmeckt’s?« »Herrlich!« Aus der Ferne ertönte gedämpft das Läuten des Glockenspiels. Wind aus südwestlicher Richtung kam auf. Wie vorhergesagt würde es später Regen geben. »Die Diät macht sich wirklich bemerkbar.« Hannelore gefiel das neue Äußere ihres Mannes ausnehmend gut. Van In saß nur in der Unterhose da, und der Schwimmring um seine Taille war innerhalb von drei Monaten zu einem schlaffen Fahrradreifen geschrumpft. »Versavel hat das heute Morgen auch schon gesagt. Und was kommt als Nächstes? Ein Hund?« Hannelore zog die Augenbrauen hoch. »Ein Hund?«, fragte sie überrascht. 27
»Mit dem könntest du mich abends auf die Straße scheuchen. Dabei verbraucht man jede Menge Kalorien.« Eine plötzliche Bö raschelte in den Blättern. Es klang wie eine Klapperschlange. »Wenn das Kleine erst da ist, wirst du dir noch so manches Mal wünschen, dass du ein bisschen mit dem Hund rauskönntest.« »Was willst du denn damit sagen?« Van In zündete sich eine Zigarette an und genoss den kräftigen Nikotinstoß. Hannelore schürzte ihr Kleid, nahm seine Hand und legte sie auf ihren Bauch. Wenn sie saß, fiel die Wölbung stärker auf. »Ich kann mir irgendwie noch nicht so richtig vorstellen, wie Commissaris Van In ein Baby wickelt«, sagte sie lächelnd. »Du wirst mir noch dankbar sein, wenn ich dich mit Lumpi zum Gassigehen schicke.« Die Assoziation ihres glatten Bauches mit einem verschmierten Babypopo dämpfte seine aufkommende Lust. »Von heute an können wir die Tage zählen, Pieter. Heute Morgen habe ich das erste Mal eine Bewegung gespürt.« Van In drückte die Hand fest auf ihren Bauch, fühlte aber nichts. »Ich frage mich, ob diese ganze Aufregung gut für dich ist«, sagte er plötzlich ernst. Finstere Wolken färbten das Gras dunkelgrün. Allmählich verdrängte die Dämmerung die verblassende Sonne. Hannelore trank einen Schluck von ihrem Gemüsesaft. »Wir leben nicht mehr im Mittelalter, Pieter. Es wird schon kein kleines Monster daraus werden, nur weil ich heute einen Totenkopf gesehen habe.« »Ich an deiner Stelle würde mich nicht darüber lustig machen. Meine Mutter hat immer gesagt …« 28
»Unsinn. Du glaubst doch nicht etwa an solche Ammenmärchen?« Warum verhielten sich die Männer bloß so kindisch, wenn ihre Frauen schwanger waren?, fragte sich Hannelore. Schließlich trugen sie die ganze Last. Für Männer war das Ganze doch buchstäblich ein Kinderspiel. Van In betrachtete begehrlich die beiden übrig gebliebenen Zigaretten, die sich wie weiße Kreidestücke von dem Holz des Tisches abhoben. Er nahm sich eine und zündete sie blitzschnell an. »Früher war alles einfacher«, seufzte er, inhalierte tief und trank einen Schluck Wein. »Du machst dir doch nicht etwa Sorgen, weil du in ein paar Monaten deinem Kind die Windeln wechseln musst?« »Ich wollte, wir wären auf einer einsamen Insel«, erwiderte Van In verträumt. »Kein Alltagstrott. Nur leckere Cocktails schlürfen, Fisch grillen und den ganzen Tag faul am Strand rumliegen.« »Die Mehrzahl von Windel heißt Windeln, Pieter. Wir sind im Vette Vispoort, der Wein ist leer, und es fängt gleich an zu regnen.« Über dem scharlachroten Ziegeldach ballten sich Gewitterwolken zusammen. »Weißt du, was wir machen?«, fragte sie mit einem geheimnisvollen kleinen Lachen. »Wenn du innerhalb eines Monats den Skelettfall löst, spendiere ich eine Reise nach Portugal.« »Das ist nicht dein Ernst!« »Glaubst du mir etwa nicht?« »Doch, schon. Aber hast du in letzter Zeit mal einen Blick auf unseren Kontostand geworfen?« »Ich behalte immer einen Notgroschen auf meinem Sparbuch.« 29
»Aber das Geld brauchen wir für das Kleine!«, protestierte Van In. »Außerdem ist es noch gar nicht sicher, dass mir der Fall übertragen wird.« »Dafür werde ich schon sorgen.« »Auf keinen Fall!« »Fall oder kein Fall. Ich will nach Portugal. Bald geht das nicht mehr so einfach«, entgegnete sie entschieden. »Aber du weißt doch, dass schwangere Frauen nicht fliegen sollen, Liebes.« »Ach ja?« Hannelore stand auf und zog langsam ihr Kleid aus. Sie sah aus wie ein Modell von Botticelli: sinnlich, fruchtbar, urweiblich. Es gibt nichts Schöneres als eine werdende Mutter. »Ich darf also nicht fliegen. Hat Mijnheer dann vielleicht Lust, zu Hause ein bisschen abzuheben?« »O, Hanne«, stöhnte Van In. »Mijnheer hat doch keine Kopfschmerzen, hoffe ich?« Van In trat energisch seine halb gerauchte Zigarette aus und ließ sich neben ihr ins Gras sinken. Hoch über ihren Köpfen stießen kalte und warme Luftschichten zusammen. Der erste Donnerschlag rollte wie eine holpernde Bowlingkugel über die Stadt. Van In schwebte auf einem Luftkissen, das ihm allerlei Liebesworte zuflüsterte. Er fühlte die dicken Regentropfen kaum, die wie schmerzlose Geschosse auf seinem Rücken zerplatzten.
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2 Van In erfüllte die Flure des Polizeipräsidiums mit einem aufdringlichen Moschusgeruch. Er trug eine ausgeblichene Jeans und ein beigefarbenes Baumwollhemd. Hannelore hatte seine alten Pullover unerbittlich in die Lumpensammlung verbannt. Der kaschierende Schlabberlook gehörte ab sofort endgültig der Vergangenheit an. Auch seinen Bauch brauchte er nicht mehr einzuziehen. Ab und zu konnte das Leben doch richtig schön sein. Als er Zimmer Nummer 204 betrat, pfiff auch Versavel wie ein gut gelaunter Bauarbeiter. »Guten Morgen, Bruder«, sagte er grinsend. Van In ignorierte diese anzügliche Bemerkung und steckte sich frohgemut seine erste Zigarette an. »Das Leben fängt tatsächlich erst mit vierzig richtig an, Guido. Du hattest schon immer Recht. Ich habe jetzt richtig Lust dazu.« »Jetzt?«, fragte Versavel doppeldeutig. »Nein, nicht ›jetzt‹ und schon gar nicht mit dir. Erzähl mir lieber, was es Neues von unserem Skelett gibt.« Versavel holte tief Luft. Skelette assoziierte er mit Maden, die in leeren Augenhöhlen wimmelten. »Unseren John Doe, meinst du wohl.« Er zog den amerikanischen Euphemismus vor. Eine Leiche wurde in den USA als stiff bezeichnet, jemand, der das Krankenhaus nicht lebend erreichte, war deadon-arrival, und eine nicht identifizierte Leiche erhielt automatisch den Namen John beziehungsweise Jane Doe. 31
»Du weißt doch, dass ich allergisch gegen diesen AmiQuatsch bin, Guido. Lass uns das Skelett einfach Herbert nennen. Ein bisschen Originalität kann doch nicht schaden, oder?« Versavel verschränkte die Arme wie ein Häuptling, der unbeugsam die bedingungslose Kapitulation seines Stammes hinnimmt. »Ihr Wunsch sei mir Befehl, Commissaris.« Van In blies kriegerisch eine Rauchwolke in Richtung seines Untergebenen. »So ist’s recht.« Der Brigadier zupfte nachdenklich an seinem Schnäuzer. Wenn Van In depressiv war, wusste er zumindest, wie er mit ihm umgehen sollte. In einer euphorischen Anwandlung hingegen war sein Chef so ungebärdig wie ein Teenager ohne Taschengeld. In dem Fall gab es nur eine Möglichkeit: nicht groß herumreden, sondern weiterarbeiten. »Dieses Fax hier ist vor einer Viertelstunde hereingekommen«, sagte Versavel deshalb ernsthaft. »Ich wusste gar nicht, dass das unser Fall ist.« Van In nahm das Blatt Papier von ihm an. »Ich schon«, schnaubte er. »Aha.« »Jetzt mach mir doch keine Vorwürfe, Guido. Sie ist schwanger. Was soll ich denn machen?« Van In drückte widerwillig seine erste Zigarette aus, die er fast bis zum Filter geraucht hatte. »Vermutliche Todesursache: gebrochene Halswirbelsäule«, las er laut. »Alter: zwischen 25 und 30. Größe: 1,76 m. Geschlecht: männlich. Todeszeitpunkt: 19851986. Besondere Kennzeichen: umfangreiche chirurgische Veränderungen des Kiefers sowie vierundzwanzig 32
Keramik-Stiftzähne. Mein Gott, das muss ja ein Vermögen gekostet haben.« »De Jaegher hat nicht lange gefackelt. Wenn ich mich nicht irre, wollte Hannelore seinen Bericht spätestens am Freitag haben.« »Sie hat ihn gestern Nachmittag nochmal angerufen«, seufzte Van In. »Einer von der Staatsanwaltschaft hat ihr ins Ohr geflüstert, dass die klinische Untersuchung eines Skeletts verhältnismäßig wenig Zeit in Anspruch nimmt. Außerdem braucht man kein Genie zu sein, um festzustellen, dass sich jemand das Genick gebrochen hat. Das hätte De Jaegher in der Grube schon sehen müssen.« Van In zündete sich hastig eine zweite Zigarette an. Versavel schwieg. Er wusste aus Erfahrung, dass die guten Vorsätze Van Ins nie von Dauer waren. »Trotzdem eine bemerkenswerte Leistung«, sagte er. »Von Hannelore, meine ich. De Jaegher ist ein störrischer Esel. Sogar der Staatsanwalt fasst ihn mit Samthandschuhen an.« »Sie will nächsten Monat in Urlaub fahren.« Versavel schaute überrascht auf. Das Gehirn des Commissaris funktionierte auf höchst ungewöhnliche Weise. Normalerweise konnte er den Gedankensprüngen seines Chefs recht gut folgen, aber jetzt hatte er Schwierigkeiten. »Hannelore möchte, dass ich den Fall so schnell wie möglich aufkläre«, erläuterte Van In. »Den Staatsanwalt kann sie um den Finger wickeln, und De Jaegher würde mit Vergnügen seine eigene Leber in Scheibchen schneiden, um sich bei ihr einzuschmeicheln. Außerdem hofft Hannelore, dass ich in Kürze zum Hoofdcommissaris befördert werde.« 33
»Dann würde ich an deiner Stelle zur Rijkswacht wechseln. Die hohen Posten werden in nächster Zeit nur noch unter denen vergeben.« Versavel hatte etwas gegen die Rijkswacht, die staatliche Polizei Belgiens, und ließ keine Chance vorübergehen, seiner Abneigung Luft zu machen. »Ja, lach nur, Guido. Frauen sind komplizierte Wesen. Du kannst froh sein, dass du schwul bist.« Die zweite Zigarette schmeckte Van In nicht. Die Dinger stanken, wenn man zu wenige davon rauchte. »Danke für das Kompliment, Chef.« Van In zuckte mit den Schultern, setzte sich an seinen Schreibtisch und las das Fax noch einmal durch. Zunächst mussten sie versuchen, Herberts Identität festzustellen. Erst danach konnten sie sich auf die Suche nach dem Täter begeben. »Ich schlage vor, du überprüfst, welche Personen um die dreißig zwischen 1985 und 1986 als vermisst gemeldet wurden.« »In Brügge?« »Irgendwo müssen wir ja anfangen, stimmt’s, Watson?« »Ist das alles?« »Natürlich nicht. Trommle ein paar Männer zusammen und lass sie sämtliche Zahnärzte und Stomatologen in der gesamten Umgebung anrufen. Ein Mann mit so viel Porzellan im Mund muss doch ausfindig zu machen sein.« Versavel notierte sich alles geduldig. »Soll ich Baert informieren?«, fragte er mit einem falschen Lächeln. Er wusste, dass Van In schon dieser Name allein eine Gänsehaut verursachte. Baert war ein hinterhältiger Streber, der es auf allerlei krummen Wegen bis zum Hoofdinspec34
teur gebracht hatte. Letztes Jahr hatte er am Nationalen Institut für Kriminalistik und Kriminologie einen Kurs in Verbrechensanalyse besucht. Der Name des Kurses klang schick, und schon allein die Tatsache, dass solche Weiterbildungsmaßnahmen organisiert wurden, vermittelte der Bevölkerung das Gefühl, man habe nun endlich den Schritt ins zwanzigste Jahrhundert geschafft. In Wirklichkeit konnte Baert kaum mit einem PC umgehen, obwohl das Diplom, das über seinem Bett hing, das Gegenteil behauptete. »Haben wir eine andere Alternative?« Versavel schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nicht, Pieter. Liest du denn nie die Dienstanweisungen?« Von Ratten hieß es, sie könnten nahendes Unheil spüren, und auch manche Menschen besaßen wohl diese Fähigkeit. Van In gehörte nicht dazu, aber der spöttische Ton Versavels weckte seinen Argwohn. »Welche Dienstanweisungen?«, fragte er misstrauisch. Versavel holte tief Luft. »Du weißt also noch nicht, dass De Kee Hoofdinspecteur Baert in unsere Dienststelle versetzt hat?« Als Hoofdcommissaris Carton letzten Monat einer Gehirnblutung erlegen war, hatte der ehemalige Hoofdcommissaris De Kee seine frühere Funktion wieder aufgenommen, bis ein geeigneter Nachfolger für Carton gefunden war. »Und wann kommt dieser Oberdepp?« »Morgen«, antwortete Versavel langsam. Schlechte Nachrichten hatten gewisse Vorteile. Wenn sie wirklich niederschmetternd waren, brachte man sein Gegenüber damit oft zum Schweigen. Van In bildete da keine Ausnahme. Er schnappte nach Luft, suchte nach einem passenden Fluch, fand keinen und verließ grollend das Büro. 35
William Aerts las die Nachricht über Herbert am Frühstückstisch. Er biss die Zähne zusammen. Nach all den Jahren relativer Ruhe tobte die Angst in seinem Unterleib wie ein Nashorn in einer zu engen Transportkiste. Er versuchte, den Schmerz mit einem Schluck lauwarmem Tee zu beruhigen. Linda reichte ihm eine Scheibe gebutterten Toast. Zwei Spiegeleier zischten in einer fettigen Pfanne. Linda schlurfte zum Herd, nahm die Pfanne von der Herdplatte und klatschte die weichen Eier auf einen Teller. »Hast du was?«, fragte sie. Linda Aerts war früher einmal eine schöne Frau gewesen. Jetzt war sie fünfunddreißig, füllig und von übermäßigem Alkoholkonsum gezeichnet. Vor zehn Jahren hatte sie noch als ungekrönte Königin des Brügger Nachtlebens regiert. Kein Mann, der sie nicht begehrt hätte, aber Linda wollte sich an niemanden binden. Sie tanzte durch das Leben wie eine leichtfüßige Nymphe und verdrehte ihren Verehrern den Kopf. Sie flirtete, ließ sich anfassen und lachte, wenn ihre erhitzten Opfer heimlich die Toilette aufsuchten. Eines Tages erschien William Aerts auf der Bildfläche. Alle bewunderten ihn. William fuhr einen Jaguar, trug Anzüge von Armani und war stets umgeben von einem Hofstaat heißer Mädels mit vollen Brüsten und strammen Brustwarzen. Er ignorierte die regierende Königin, und das konnte sie nicht vertragen. Schon nach vierzehn Tagen teilte Linda mit dem Sieger das Bett. Sie heirateten Hals über Kopf, und die Party war erst zu Ende, als William seinen letzten Cent verprasst hatte. An diesem Tag endete Lindas Jugend. Heute straften die Freunde von früher sie mit Verachtung. »Dicke Linda« nannten sie sie. Der Spiegel war ihr 36
ärgster Feind geworden. Unbarmherzig zeigte er ihr ihre formlosen Brüste, den Akkordeonbauch und eine zunehmende Anzahl von Muttermalen mit dicken schwarzen Haaren in der Mitte. Ihr Schicksal schien schlimmer als das von Dorian Gray und hätte vielleicht sogar Oscar Wilde mitleidig gestimmt. »Was soll denn sein?«, fragte William barsch zurück. Linda rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sie zündete sich eine Zigarette an: die sechste innerhalb einer Dreiviertelstunde. »Du siehst ja aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.« Sie stellte den Teller mit den glibbrigen Eiern vor ihn hin. »Halt doch die Klappe, blöde Kuh. Oder hat dich jemand nach deiner Meinung gefragt?« William schüttelte die Zeitung zurecht. Linda blies verächtlich den Rauch aus den Nasenlöchern. »Ein bisschen Höflichkeit hat noch keinen umgebracht«, schnaubte sie. Das Wort »umgebracht« verfehlte seine Wirkung nicht. William fing an zu beben wie ein Dieselmotor im Leerlauf. Linda wusste, dass sich damit ein heftiger Wutausbruch ankündigte, und zog sich vorsichtshalber bis zur Küchentür zurück. Keinen Moment zu früh: Sie stand noch in der Türöffnung, als er nach dem Teller mit den Eiern griff. In dem Augenblick, als er ihn nach ihr schleuderte, zog sie die Tür zu. Der Teller segelte wie eine Frisbeescheibe durch die Küche und knallte gegen die Wand. Im Flug rutschten die Eier herunter und zerplatzten wie gelbweiße Schleimbomben auf dem Fußboden. Linda hörte ihn fluchen und seinen Stuhl verrücken. Sie flüchtete an die Bar und griff nach einer halb vollen Flasche Elixir d’Anvers. William riss die Küchentür auf 37
und schrie, er würde sie ermorden. Das tat er immer, wenn er ausflippte. Linda nahm sich rasch zwei Päckchen Marlboro aus dem Zigarettenvorrat, steckte sie in die Tasche ihres Morgenmantels und rannte die Treppe hinauf. Nach einer Stunde würde sich der Sturm legen, und dann konnte sie sich wieder hinunterwagen. Linda schloss die Schlafzimmertür ab und lauschte. Ausnahmsweise warf er nicht mit Sachen um sich. Er kam noch nicht mal rauf und hämmerte an ihre Tür. Nervös zog sie den Korken aus der Flasche Elixir und setzte sie an die Lippen. William ließ sich am Küchentisch nieder. Vor ihm stand ein eingerahmtes Foto seiner Mutter. In der linken oberen Ecke erinnerte ein Trauerflor an die Tragödie, die sich vor sechzehn Tagen ereignet hatte. Van In parkte den Golf vor dem geschlossenen Tor. Er konnte nirgendwo eine Klingel entdecken. Hugo Vermast stand in der Regenrinne seines Dachs und war eifrig damit beschäftigt, einen schwarz verrußten Schornstein einzureißen. Ein laut plärrendes Transistorradio übertönte das Rascheln der Blätter und den Gesang einer mutigen Drossel. Van In formte die Hände zu einem Trichter und schrie sich die Lunge aus dem Leib. Nachdem er zweimal aus Leibeskräften »Hallo!« gebrüllt hatte, schwieg auf einmal das Radio. Van In hob die Hand. Es war Ewigkeiten her, dass er jemandem zugewinkt hatte. Dreißig Jahre, um genau zu sein. Da hatte der König Brügge besucht, und jedes Kind, das den Fürst begrüßen wollte, bekam an diesem Tag schulfrei. Vermast beantwortete den Gruß des Commissaris mit einer enthusiastischen Armbewegung. Gleich fällt er 38
noch vom Dach, dachte Van In nicht ohne Schadenfreude. Das Tor öffnete sich automatisch. Vermast kletterte die Leiter herunter und ging dem Commissaris entgegen. »Praktisch, so ein Ding«, meinte Van In und zeigte auf die Fernbedienung, mit der Vermast das Tor geöffnet hatte. »Tja, die Wunder der Technik, Commissaris. Was kann ich für Sie tun?« »Ich könnte eine Tasse Kaffee gebrauchen.« Die beiden Männer überquerten das mit Baumaterialien übersäte Grundstück. »Sie wohnen hier wirklich sehr idyllisch«, bemerkte Van In, als sie durch die klapprige Hintertür in die Küche gelangt waren. »Es war seit jeher der Traum meiner Frau, aufs Land zu ziehen. Auch für die Kinder ist es eine einzigartige Erfahrung. Die wollten unbedingt raus aus der Stadt, genau wie ihre Mutter.« Van In durfte gar nicht daran denken, dass ihn seine Sprösslinge eines Tages aus seinem Haus jagen würden. Er fand, dass Kinder ihren Eltern zu gehorchen hatten. Die so genannte antiautoritäre Erziehung war doch nur das Hirngespinst einiger verrückter Ärzte. Doktor Benjamin McLane Spock zum Beispiel. Jahrzehnte nach dem Erscheinen seines ersten Buches, nachdem er Millionen junger Familien das Leben vermiest hatte, hatte es ihm dann Leid getan. Da hatte seine Theorie aber schon Legionen verzogener Blagen hervorgebracht. Doktor Spock. Du meine Güte. Für Van In gab es nur Mister Spock, mit dem passenden Spruch: Beat them up, Scotty. Die Einrichtung der Küche bestand aus einer bunten Mischung aus geblümtem Keramikgeschirr, Trocken39
blumen und stümperhaft abgebeizten Möbeln. Der Tisch war mit Marmelade beschmiert. Runde Brandflecken, wo heiße Töpfe zu schnell vom Herd auf den Tisch gestellt worden waren, verliehen dem Möbelstück einen authentischen Charakter. »Hallo, Joris«, sagte Van In bemüht freundlich. Der Junge trug noch seinen Schlafanzug und reagierte kaum auf den Gruß des fremden Mannes. Er konzentrierte sich auf das Muster aus ordentlich aufgereihten Zuckerstückchen vor sich auf dem Tisch. »Sag schön ›Guten Morgen‹, Joris.« Joris ignorierte den albernen Versuch seines Vaters. Er schlug die Augen nieder und ordnete die Zuckerwürfel zu einem neuen Muster. »Joris ist fremden Leuten gegenüber etwas schüchtern«, erklärte Vermast. Wahrscheinlich machte er das jedem weis, der zum ersten Mal in die Familie kam. »Keine Sorge, Mijnheer Vermast. Hauptsache, den Kindern geht es gut«, antwortete Van In verschnupft. Er versuchte, überzeugend zu klingen. Vermast stellte den Wasserkessel auf den Herd und holte zwei angestoßene Tassen aus dem Schrank. An der Art, wie er nervös herumrumorte, erkannte Van In, dass irgendetwas nicht stimmte. »Darf es auch eine Tasse Tee sein?«, fragte Vermast nach einer Weile etwas verschämt und zeigte eine Dose mit einem braunen Satz aus versteinertem Kaffeepulver. »Egal, Hauptsache flüssig«, log Van In. Er warf einen Blick auf den Zuckervorrat auf dem Tisch. Mit drei Stücken Zucker war jedes Gebräu einigermaßen trinkbar. »Wohnen Sie schon lange hier, Mijnheer Vermast?« »Seit drei Monaten, Commissaris. Wie Sie sehen, gibt es noch sehr viel zu tun. Sie wissen ja, wie das ist.« Van 40
In wusste es keineswegs, beschloss aber wohlweislich, nicht näher darauf einzugehen. Das Brummen eines Dieselmotors ließ die wohl erst kürzlich erneuerten Fensterscheiben, an denen noch die Schilder klebten, gefährlich erzittern. Van In schaute hinaus. Er sah, wie das Tor aufschwang und Leen langsam auf den Hof fuhr. Sie parkte den uralten Volvo zwischen zwei Sandhaufen. Tine stieß die Tür mit einer Gewalt auf, die nur ein alter Schwede verkraften konnte. »Temperamentvolles Mädchen«, bemerkte Van In. »Ist sie immer so energisch?« Obwohl er es nicht als Kompliment gemeint hatte, blühte Vermast sichtlich auf. »Ja, und meine Frau möchte so gern, dass sie besonders gefördert wird, aber leider gibt es hier in der Nähe nirgendwo Schulen für Hochbegabte. Tines Intelligenzquotient liegt weit über hundertdreißig. Dadurch ist sie manchmal etwas schwierig, und als Eltern stößt man da auf viel Unverständnis, vor allem bei den Lehrern.« Van In verdrehte die Augen. Kinder. Benson im Himmel. Der kleine Junge war fast schon autistisch, und daher musste das neurotische Mädchen unbedingt als Wunderkind herhalten. Vermast holte eine dritte Tasse aus dem Schrank, griff nach der Teekanne und schenkte ein. Das Gesöff roch nach schmutziger Wäsche. Van In hätte es wissen müssen, aber jetzt war es zu spät. Leen schob mit dem Fuß die Küchentür auf. Sie schleppte sich mit mehreren braunen Papiertüten aus dem örtlichen Supermarkt ab und deponierte diese auf der Anrichte. »Hallo Schatz, guten Tag, Commissaris.« 41
Leen trug ein ärmelloses Minikleid. Mit einem Seufzer ließ sie sich auf einen Stuhl sinken, wobei das Kleid weit hinaufrutschte. Die meisten Frauen schlugen dann keusch die Beine übereinander, doch sie machte sich nicht die Mühe, ihren schneeweißen Slip den Blicken des Commissaris zu entziehen. Van In war überzeugt, dass sie das mit Absicht tat. Er schaute weg. Ihre Brüste standen weit auseinander, und dieser Anblick gefiel ihm schon besser. »Mama, ich will frisch gepressten Möhrensaft!«, quengelte Tine. Vermast lachte dümmlich. Van In dagegen hätte der Göre am liebsten eine Ohrfeige verpasst. »Mama, ich will Möhrensaft! Du hast es mir heute Morgen versprochen!« Das Mädchen stieß halsstarrig mit dem Kopf gegen Leens Schulter. »Gleich, Liebes. Mama trinkt jetzt erst mal eine Tasse Tee.« »Mamaa! Du hast es versprochen!«, rief Tine und stampfte mit dem Fuß auf. Das schrille Kreischen ging einem durch Mark und Bein. Van In biss die Zähne zusammen, wie früher, wenn jemand mit den Fingernägeln über die Schultafel kratzte. Leen ließ ihre Tochter toben, trank gelassen von ihrem Tee und lächelte Van In hin und wieder an. Währenddessen rückte das Mädchen wütend dem Vater auf den Leib. »Die Renovierung des Hauses ist bestimmt sehr aufwendig.« Van In hatte nicht vorgehabt, dieses Thema zur Sprache zu bringen, sah sich aber durch die Umstände dazu gezwungen. Tine ließ ihren Vater keinen Moment in Ruhe. Sie versuchte andauernd, sich in den Vordergrund zu spielen. Über das Haus zu reden schien Van In die einzige Möglichkeit, mit Vermast wieder ein vernünftiges Gespräch anzuknüpfen. 42
»Das kann ich Ihnen sagen, Commissaris! Schon bevor wir hier eingezogen sind, habe ich acht Monate lang Tag und Nacht geschuftet. Am Anfang ähnelte das Ganze hier eher einem Stall als einem Wohnhaus.« Vermast schob seine Tochter von sich weg und setzte sich an den Tisch. Leen trank ihre Tasse aus, ging widerwillig zur Anrichte, holte eine Küchenmaschine heraus, riss eine der braunen Tüten auf und zog einen Bund Möhren hervor. Tine klammerte sich an ihre Mutter wie eine schwarze Witwe an ihren Partner. »Wenn es Sie interessiert, wie es hier früher ausgesehen hat, zeige ich Ihnen gerne ein paar Fotos.« Van In nickte, obwohl er alles andere als begeistert war. Er drohte, vom Regen in die Traufe zu geraten. »Kommen Sie, setzen wir uns ins Wohnzimmer. Da ist es ruhiger«, schlug Vermast erfreut vor. Van In war erleichtert und hoffte inständig, das Mädchen würde bei seiner Mutter bleiben. Kaum im Wohnzimmer angekommen, kreischte in der Küche der Entsafter los. Vermast schloss glücklicherweise die Tür, was einen Unterschied von mindestens vierzig Dezibel ausmachte. Er bat Van In, auf dem rustikalen Sofa Platz zu nehmen, dessen Bezug sich ebenso wie der Rest des Mobiliars in einem beklagenswerten Zustand befand. Die Tochter durfte sich offensichtlich an allem abreagieren. Während sein Gastgeber in einem nicht ganz antiken Wäscheschrank nach den Fotos suchte, begutachtete Van In das Biotop der Familie Vermast. Für die wackligen Möbel hatten sie bei einem gerissenen Antiquitätenhändler wahrscheinlich ein Vermögen hingeblättert. Die Schränke, deren Holz zahlreiche Risse und Sprünge zeigte, waren dilettantisch abgelaugt worden und wiesen 43
hässliche Flecken auf. Der ungeschickte Versuch, diese Mängel mit einer dicken Wachsschicht zu überdecken, war jämmerlich misslungen. Eine Apfelsinenkiste hätte auf einer Versteigerung mehr eingebracht als diese Einrichtung. Die Holzbalken des Hauses waren noch schlimmer dran. In dem übereifrigen Versuch, den Originalcharakter eines echten Bauernhofs zu bewahren, hatte Vermast versucht, die vermoderten Deckenbalken zu reinigen, doch ohne ihre schützende Farbschicht sahen sie aus wie vertrockneter Honigkuchen. Es war das reinste Wunder, dass das Haus nicht über ihren Köpfen zusammenbrach. Der Zustand des Dielenbodens spottete jeder Beschreibung. Bizarre Gänge wiesen auf die unverdrossene Betriebsamkeit einer Kolonie von Holzwürmern hin. Das Inventar stammte ganz offensichtlich von diversen Flohmärkten. Unechte Zinnteller, ein verrostetes, schmiedeeisernes Kaminbesteck, ein Kronleuchter in Form eines Wagenrads und diverse landwirtschaftliche Geräte an den Wänden sollten wohl eine gemütliche ländliche Atmosphäre schaffen. Am meisten ärgerte sich Van In jedoch über das kaputte Spielzeug, das überall herumlag. Ein unverkennbarer Beweis dafür, dass in diesem Haus alles erlaubt war. »Endlich«, stöhnte Vermast. Er hatte inzwischen den Wäscheschrank zur Hälfte ausgeräumt. »Hier sind sie.« Vermast trug eine staubige Schachtel herbei, stellte sie zwischen sich und Van In auf das Sofa und nahm den Deckel ab. Die Schachtel war voll gestopft mit Fotos, die meisten davon gewöhnliche Familienschnappschüsse. »Diese stammen vom letzten Jahr.« Vermast drückte Van In einen Stapel unterbelichteter Bilder in die Hand. Van In betrachtete sie aufmerksam. Dass sie tatsächlich 44
diesen Ort zeigten, erkannte man an der Weißdornhecke und den kahlen Ulmen, die sich scharf vor dem düsteren Herbsthimmel abzeichneten. Vermast hatte nicht übertrieben. Das ursprüngliche Gebäude war nichts weiter als eine verfallene Hütte gewesen. »Unglaublich, Mijnheer Vermast. Sie haben hier ja das reinste Wunder vollbracht.« Vermast lächelte wie ein Amateur-Radrennfahrer, der gerade sein erstes Kirmesrennen gewonnen hat. Das Kompliment schmeichelte seiner Eitelkeit. Er ging zu einem altmodischen Büfett, in dem er hinter einem Stapel Zeitungen eine Flasche Cognac aufbewahrte. »Leens Schwager ist gut befreundet mit dem Makler, der uns dieses Schnäppchen hier vermittelt hat. Er hat sich auch um alle notwendigen Genehmigungen gekümmert.« Van In zog die Augenbrauen hoch. »Das Haus wird dreimal so groß, wie es ursprünglich gewesen ist«, erklärte Vermast mit einem verschwörerischen Lächeln. »Und das umliegende Grundstück ist eigentlich Ackerland, verstehen Sie?« Van In verstand gar nichts. Vermast warf einen verstohlenen Blick zur Küchentür, schenkte rasch zwei Gläser ein und versteckte die Flasche wieder im Büfett. »Von Gesetzes wegen dürften wir die bebaute Fläche um nicht mehr als dreißig Prozent erweitern«, erklärte Vermast bereitwillig. Er kippte den Cognac in einem Zug hinunter. »Aber Ihnen muss ich ja nicht die Gesetze erklären, nicht wahr, Commissaris?« Van In nippte vorsichtig an seinem Cognac. Zugegeben, er war angenehm überrascht. »Mit dem Geld, das wir beim Kauf des Hauses gespart haben, können wir uns jetzt hin und wieder ein kleines 45
Extra leisten. Letzten Monat habe ich eine Ladung antiker französischer Fliesen ergattert. Nicht gerade billig, aber wunderschön für das Wohnzimmer. Noch ein Gläschen Cognac?« Van In trank sein Glas leer, was er nach der erzwungenen Enthaltsamkeit der letzten drei Monate besser nicht getan hätte. Der starke Alkohol brannte in seinem Magen, doch für ihn war das kein triftiger Grund, das Angebot auszuschlagen. »Na gut, noch einen.« Es war stärker als er. Vermast schlich wie ein ungezogener Schuljunge zum Büfett und füllte die Gläser erneut. »Dieser automatische Toröffner ist ja auch etwas wirklich Praktisches«, bemerkte Van In wie nebenbei. In der Küche hörte das Lärmen der Küchenmaschine plötzlich auf. Leen musste literweise Möhrensaft gepresst haben. »Ach, Commissaris, aber für solche Spielereien gebe ich doch kein Geld aus. Der Toröffner stammt noch vom früheren Besitzer.« »Das muss ja ein moderner Bauer gewesen sein.« Vermast schüttelte den Kopf. Hastig trank er sein Glas aus und schaute Van In flehentlich an, bis er notgedrungen dem Beispiel seines Gastgebers folgte. Vermast stellte die beiden benutzten Gläser blitzschnell in den Schrank zurück. »Das Haus hat früher einem gemeinnützigen Verein gehört.« Jetzt, wo die Gläser wieder sicher im Schrank standen, entspannte sich Vermast ein wenig. »Leen weiß besser darüber Bescheid. Ich weiß nur, dass es irgendetwas mit einem wohltätigen Zweck zu tun hatte.« In diesem Augenblick stürmte Tine ins Wohnzimmer, ein großes Glas Möhrensaft in der Hand. »Schau mal, was Mama für mich gemacht hat!«, rief sie triumphie46
rend, hüpfte johlend auf das Sofa und verschüttete ein Drittel des Safts auf Van Ins frisch gewaschener Jeans. »Pass doch auf, Tine!«, sagte Vermast milde tadelnd. Er sprang auf und versetzte ihr einen symbolischen Klaps, den die Göre mit einem hysterischen Weinkrampf quittierte. Leen reagierte sofort. »Was ist denn jetzt schon wieder los?« Vermast erklärte ihr, was geschehen war. Er wusste schon vorher, wie seine Frau reagieren würde. Zuerst tröstete sie Tine, und dann erst ging sie ein Handtuch holen. »Machen Sie sich keine Sorgen, Commissaris. Möhrensaft geht meistens gut wieder raus.« Leen kniete sich vor ihn hin und rieb ungeniert seine Hose trocken. Unangenehm war das nicht. Als sie in dieser Haltung vor ihm saß, konnte er nicht umhin, festzustellen, dass sie keinen BH trug. Gut, dass Hannelore nicht dabei war. »Der gemeinnützige Verein ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ kümmert sich um Menschen in Not. Ich glaube sogar, dass Benedict im Vorstand sitzt.« »Benedict?« »Benedict Vervoort, der Makler, über den wir das Haus gekauft haben.« Leen fuhr ungerührt mit ihrer Arbeit fort. Dass sie seine Hose auch im Schritt reinigen musste, schien sie nicht zu stören. »Ich meine mich sogar daran zu erinnern, dass hier früher Jugendgruppen kampiert haben.« Leen widmete sich ihrer Aufgabe mit so viel Eifer, dass sich Van In kaum noch beherrschen konnte. »Wissen Sie, warum der Verein den Bauernhof verkauft hat?« 47
»Benedict meinte, sie hätten ein größeres Gebäude erworben. In den letzten Jahren ist die Organisation immer mehr gewachsen. Sie brauchten dringend mehr Platz.« Wachsen! Van In durfte gar nicht daran denken. »Ich glaube, so geht es schon, Mevrouw Vermast.« Er musste sich zusammennehmen, um nicht aufzustöhnen. »Sind Sie sicher?«, fragte sie besorgt. Van In warf einen Blick hinüber zu ihrem Ehemann und fragte sich, was geschehen wäre, wenn er nicht da gewesen wäre.
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3 Benedict Vervoort führte das Zepter über eine bescheidene Immobilienfirma im Zentrum von Waardamme. Über der Tür und dem Schaufenster hing eine fassadenbreite Leuchtreklame. Van In las die Aufschrift: Maklerbüro VerVoort. Das große V in der Mitte seines Namens verriet dem Commissaris bereits einiges über den Firmenbesitzer. Obwohl am Straßenrand reichlich Platz war, parkte Van In den Golf auf dem Firmenparkplatz, der, wie ein Schild verkündete, ausschließlich Kunden vorbehalten war. Das Büro befand sich in Benedict Vervoorts Elternhaus. Das ehemalige Wohnzimmer diente nun als Empfang – ein großes Wort für ein vergittertes Kabuff, in dem niemand saß. Dennoch schien es sich um eine äußerst vielseitige Firma zu handeln, denn die Vermittlung von Immobilien bildete nur einen Baustein des Dienstleistungspakets. Der Landwirt von nebenan konnte hier außerdem auch Bargeld anlegen und in Wertpapiere investieren. Diese Informationen entnahm Van In diversen handgeschriebenen Aushängen, die die Bürowände zierten. Er wurde von einer älteren Frau begrüßt, vermutlich die Schreibkraft. Sie sah Audrey Hepburn zum Verwechseln ähnlich, allerdings der ungeschminkten. »Mijnheer Vervoort erwartet Sie«, sagte sie förmlich, nachdem Van In sich vorgestellt hatte. »Bitte setzen Sie sich.« 49
In der Ferne krähte ein Hahn. Van In träumte nicht etwa. Er befand sich hier in Flandern auf dem platten Land, wo in ganz normalen Wohnhäusern ein Vermögen verdient wurde und ein verdreckter Mercedes vor der Tür den einzigen äußerlich sichtbaren Luxus darstellte. Benedict Vervoort hatte es nicht einmal für nötig gehalten, die verblasste Blümchentapete zu erneuern, und wo früher ein Kohlenofen gestanden hatte, gähnte jetzt ein rußiges Loch im Schornsteinsims, wie ein stiller Zeuge vergangener Entbehrungen. Auf diese Komödie fiel garantiert noch der hart gesottenste Steuerprüfer herein. »Guten Morgen, Commissaris.« Benedict Vervoort begrüßte Van In mit überschwänglicher Herzlichkeit. Er trug einen ausgefallenen Anzug mit grellgelbem Hemd und grasgrüner Krawatte. Die meisten Mafiosi in Sizilien waren unauffälliger gekleidet. Van In schüttelte ihm die Hand. Die dicken, beringten Finger des jungen Geschäftsmannes fühlten sich klamm an, und das Aftershave, mit dem er sich üppig besprenkelt hatte, stank nach WC-Ente, ein Geruch, den Van In einfach widerwärtig fand. »Angenehm, Commissaris«, sagte Benedict überaus höflich. »Was kann ich für Sie tun?« Er nahm in einem mit Kunstleder bezogenen Direktorensessel Platz. Sein Gesicht schien nur aus rosa Lippen und teigigen Wangen zu bestehen. Van In musste sich beherrschen, um sich seine Abneigung nicht anmerken zu lassen. »Sie sind doch Mijnheer Vervoort?«, fragte er ziemlich herablassend. »Wie er leibt und lebt!«, lachte der gelbgrüne Harlekin. 50
»Stört es Sie, wenn ich rauche?« Van In fischte eine Zigarette aus seiner Brusttasche. Benedict reagierte mit einer abwehrenden Handbewegung. Mist, dachte Van In. »Bitte erlauben Sie mir, Ihnen eine Zigarre anzubieten, Commissaris«, sagte Vervoort mit einer freigebigen Geste und holte eine Kiste Havannas aus einer der Schreibtischschubladen. »Sie stammen noch von meinem seligen Vater.« Van In ging notgedrungen auf sein Angebot ein. Die Zigarre knisterte wie ein alter Papyrus. »Sie sind nicht zufällig mit Alois Vervoort verwandt?« Diese Frage schien Benedict zu gefallen. »Alois war mein Vater«, antwortete er mit unverhohlenem Stolz. »Ach, wirklich?« Alois Vervoort war in den 50er Jahren das große Radrennfahrer-Idol Flanderns gewesen: dreimal Dritter beim Rennen Paris-Roubaix, und bei der Tour de France von 1956 hatte der wackere Waardamer sogar einen Etappensieg errungen. »Schön, dass Sie sich an ihn erinnern, Commissaris.« Der Ruf seines Vaters strahlte auf ihn hinab wie die untergehende Sonne vom Fujijama. Wobei Vervoort durchaus etwas Asiatisches besaß: Er erinnerte lebhaft an eine Buddhafigur. »Eigentlich komme ich im Zusammenhang mit der Familie Vermast und deren Eigentum im Bremwegel.« Benedict faltete die Hände auseinander, legte sie rechts und links an die Nase und tat, als müsse er gründlich nachdenken. »Stimmt etwas nicht damit?«, fragte er, besorgt und neugierig zugleich. »Sie lesen doch Zeitung, hoffe ich?« 51
»Sie meinen doch nicht etwa …« »Doch, genau das meine ich, Mijnheer Vervoort.« »Damit habe ich nichts zu tun«, erwiderte Vervoort energisch. »Womit?« Van Ins scharfer Ton lockte Vervoort aus der Defensive. »Mit dem Mord natürlich.« »Dem Mord?« »Nun ja … Ich meine … Da wurde doch eine Leiche gefunden?« »Ein Skelett«, korrigierte Van In. »Ein Skelett. Natürlich, Commissaris. So stand es in der Zeitung, nicht wahr?« Van In schaute Vervoort genau in die Augen. Der Landmakler ließ sich nicht übertölpeln. Er faltete die Hände im Nacken und lehnte sich in seinem protzigen Sessel zurück. »Da hatte ich ja nochmal Glück im Unglück.« Jetzt war Van In an der Reihe, verwundert dreinzuschauen. Vervoort nutzte die Gelegenheit geschickt, um das Gespräch an sich zu reißen. »Das Leben besteht aus einer Verkettung unvorhergesehener Umstände, Commissaris. Wenn das Skelett vor dem Verkauf entdeckt worden wäre, säße ich jetzt mit einer wertlosen Immobilie da. Wer kauft schon ein Haus mit einem Grab im Garten?« Van In nahm einen Zug von der trockenen Zigarre und zwang sich, nicht angeekelt das Gesicht zu verziehen. Das Ding stank nach vermodertem Holz und Hundehaufen. »Mijnheer Vermast hat mir erzählt, dass der Bauernhof vorher einem gemeinnützigen Verein namens ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ gehört hat.« 52
Van In legte die Zigarre in den Aschenbecher und hoffte, sie würde von selbst ausgehen. »Das ist nicht ganz korrekt, Commissaris. Der Bauernhof war das Eigentum eines unserer Sponsoren, und der Verein durfte frei darüber verfügen.« »Können Sie mir mehr darüber erzählen?« »Kennen Sie den Verein denn gar nicht?« Van In schüttelte den Kopf. »Ist das eine Bildungslücke?« Vervoort musterte Van In mit dem Ausdruck eines Studenten, der gerade seine erste Vorlesung in Psychoanalyse gehört hat. Der Commissaris machte einen ziemlich harmlosen Eindruck auf ihn. »Der Verein wurde 1986 von einer Hand voll Idealisten gegründet, mit dem Ziel, die Lebensqualität jener Mitmenschen zu verbessern, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.« Van In hätte seinen Kopf darauf verwettet, dass Vervoort diese hohle Phrase wortwörtlich aus einer Vereinsbroschüre zitierte. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, handelt es sich um einen Wohltätigkeitsverein. Von daher wahrscheinlich der Name.« »Hilfe zur Selbsthilfe« klang so braun wie die Bremsspur in der Unterhose eines rechten Politikers. Vervoort ließ sich durch den milden Sarkasmus Van Ins nicht aus dem Konzept bringen. »›Hilfe zur Selbsthilfe‹ sammelt seit Jahr und Tag Spenden, um den Unterprivilegierten in unserem Land zu helfen«, fuhr er ungerührt fort. »Der Verein bietet den Menschen Hilfe an, die mit den Brosamen unseres Wohlfahrtsstaates nicht auskommen.« Vervoort artikulierte sich immer betonter. Sein flei53
schiges Kinn wabbelte auf und nieder wie ein Pudding in einem Rüttler. »Wir sorgen für Universitätsstipendien, helfen bei der Wohnungssuche, organisieren Urlaube, bieten zinsgünstige Darlehen an, ermöglichen Rechtsberatung …« »Wir?«, unterbrach Van In ihn brüsk. »Ja, wir«, antwortete Vervoort voller Überschwang. »Ich bin nämlich der Schatzmeister unseres Vereins. Wundert Sie das?« Was hätte Van In darauf antworten sollen? Dass er sich noch eher vorstellen konnte, dass sich Mutter Teresa für den Playboy auszog, als dass Vervoort einem armen Teufel ein Almosen zusteckte? »Nein, keineswegs, Mijnheer Vervoort. Wenn ich an den Religionsunterricht zurückdenke, hatte Jesus doch auch eine Schwäche für Huren und Pharisäer.« Einerseits erschrak Van In selbst über seine impulsive Reaktion. Andererseits brachten solche Attacken manchmal die überraschendsten Resultate ein. Er beobachtete, wie sich die Augen Vervoorts für den Bruchteil einer Sekunde zu Schlitzen verengten. »Die christliche Nächstenliebe liegt unserem Verein sehr am Herzen, Commissaris. In einer Zeit, in der Egoismus und Selbstsucht um sich greifen, erscheint das vielleicht nicht so selbstverständlich, aber ich lade Sie gerne dazu ein, unsere Arbeit näher kennen zu lernen. Die Türen von De Zorghe stehen Ihnen jederzeit offen.« Vervoort hielt inne, mit der Dramatik eines afrikanischen Präsidenten, der gerade vor der UNO-Vollversammlung eine Rede gehalten hatte. »De Zorghe ist unser ehrgeizigstes Projekt«, fuhr er mit frischem Elan fort. »Der Bauernhof bietet zwanzig allein stehenden Personen und zehn Familien Obdach. 54
Das gesamte Projekt trägt sich von allein. Wir produzieren unsere eigenen Nahrungsmittel, und durch den Verkauf von Gemüse und Obst können wir unsere restlichen Bedürfnisse decken.« »Und um dieses Projekt zu finanzieren, haben Sie also den Bauernhof verkauft«, bemerkte Van In nachdenklich. Er drückte die halb gerauchte Zigarre aus. Das war der blühendste Unsinn, den er seit langer Zeit gehört hatte. Benedict schien seine Gedanken zu lesen. »Aber wenn sich teure Stiftungen ihrer karitativen Tätigkeiten rühmen, wird das gesellschaftlich anerkannt! Einmal pro Jahr wird ein widerwärtig üppiges Büfett organisiert, für das die Mitglieder ein Vermögen ausgeben, und gerade mal zehn Prozent des Gewinns gehen dann an einen guten Zweck. Natürlich macht sich das gut in der Presse. Unser Verein hingegen braucht keine Werbung. Sämtliche Mittel werden direkt dafür eingesetzt, Unterprivilegierten zu einer besseren Zukunft zu verhelfen.« »Das ist ein sehr hehres Ziel«, meinte Van In matt. Die geschwollene Rhetorik dieses flämischen Samariters hing ihm allmählich zum Hals raus. »Wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind, werde ich De Zorghe sicher einmal einen Besuch abstatten. Aber jetzt muss ich leider gehen. Ich habe heute Nachmittag noch sehr viel zu erledigen.« Vervoort brachte Van In zur Tür. Sie schüttelten sich die Hand. »A propos, Mijnheer Vervoort. Der Bauernhof von Vermast besitzt ein Tor, das sich mit einer Fernbedienung öffnen und schließen lässt. Hat der Verein es damals einbauen lassen?« »Nein, Commissaris, das war schon vorher da. Wahrscheinlich weiß der frühere Besitzer mehr darüber.« 55
»Ganz recht«, antwortete Van In. »Und können Sie mir vielleicht auch sagen, wer der frühere Besitzer war?« »Spielt das denn eine Rolle?« »Bei den Ermittlungen in einem Mordfall spielt alles eine Rolle, Mijnheer Vervoort.« Falls sich der Immobilienmakler in die Enge getrieben fühlte, ließ er sich davon nichts anmerken. »Ich muss Ihnen gestehen, Commissaris, dass uns der Bauernhof von einem Wohltäter zur Verfügung gestellt wurde, der lieber anonym bleiben möchte.« Bei einer höflichen Konversation hätte eine solche Bemerkung gereicht, um weitere Fragen abzublocken. Doch Van In betrachtete dieses Gespräch keineswegs als höfliche Konversation. »So, jetzt hören Sie mir mal gut zu, Mijnheer Vervoort. Sie als Makler müssten doch wissen, dass derartige Transaktionen stets registriert werden. Für mich ist es nur eine Frage der Zeit, die Identität Ihres anonymen Wohltäters anderweitig feststellen zu lassen. Überlegen Sie es sich also lieber noch einmal.« Vervoort schluckte seinen Ärger hinunter und streifte erneut die Samthandschuhe über. Er hatte einen Fehler begangen und musste versuchen, ihn zu korrigieren. »Bitte entschuldigen Sie, Commissaris. Mir war nicht klar, dass diese Information für die Ermittlungen wichtig sein könnte. Ich hoffe, Sie verstehen, dass wir bezüglich unserer Geldgeber äußerste Diskretion walten lassen. Die meisten von ihnen ziehen es vor, unbekannt zu bleiben. Von daher …« »Den Namen bitte, Mijnheer Vervoort!« »Kennen Sie Lodewijk Vandaele?« Van In nickte. Lodewijk Vandaele war der Besitzer einer der größten Baufirmen in ganz West-Flandern. 56
»Also war es Lodewijk Vandaele.« »In der Tat, Commissaris. Aber ich bitte Sie inständig, diese Information nur zu verwenden, wenn es für die Ermittlungen unerlässlich ist. Mijnheer Vandaele hasst jegliches Aufsehen in der Öffentlichkeit, und unser Verein hat ihm enorm viel zu verdanken. « »Ich werde mir Mühe geben«, versprach Van In. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Jetzt muss ich aber wirklich los. Bis bald, Mijnheer Vervoort.« Van In kehrte zu dem Parkplatz zurück. Sein Golf stand allein auf weiter Flur. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass Vervoort während der ganzen Zeit keinen einzigen Kunden gehabt hatte. Linda Aerts lag schnarchend auf einem schmalen Bett, neben sich eine leere Flasche Elixir d’Anvers. Im Aschenbecher qualmte eine Marlboro vor sich hin. Die fünf Zentimeter lange Aschenwurst klebte wie versteinert am Filter. Das Zimmer stank nach säuerlichem Schweiß, billigem Deo und schmutziger Wäsche. Es herrschte eine Unordnung, auf die mancher Teenager neidisch gewesen wäre. Glücklicherweise waren die Gardinen zugezogen. Im Halbdunkel ähnelten die Haufen schmutziger Unterwäsche flaumigen Blumenbeeten und die Teller mit verdorbenen Essensresten einem Kunstwerk von Joseph Beuys. Linda trug ein Satinnachthemd, und der glatte Stoff betonte gnadenlos jede einzelne Speckrolle um ihre Hüften. Ihre schlaffen Brüste hoben und senkten sich im Rhythmus ihres schweren Atems. Das Telefon klingelte schon seit über einer Stunde im Abstand von jeweils zehn Minuten. Linda träumte von 57
einem Leichenzug. Der Leichenwagen, ein schwarzer Chevrolet mit verchromten Stoßstangen, teilte wie ein prähistorisches Batmobil die johlende Menge. Linda ritt auf einem weißen Hengst. Das Publikum drängte sich hinter Absperrgittern. Jeder wollte unbedingt einen Blick auf sie erhaschen. Laute Parolen ertönten. Linda erkannte zahlreiche Jugendfreunde in der Menschenmenge. Sie paradierte mit erhobenem Haupt hinter dem Chevrolet her und genoss das Spektakel. Im Leichenwagen stand ein gläserner Sarg. Der Deckel war unter knorrigen Fliederzweigen verborgen. William lag auf einer Plüschmatratze. Sein Kopf ruhte auf einem bestickten Kissen mit Quasten an allen vier Ecken. Er atmete, aber keiner der Zuschauer bemerkte es. Niemand sah die silbernen Handschellen, mit denen er am Sarg festgekettet war. Um seinen Hals, seine Brust, sein Becken und seine Beine waren außerdem Leinenbänder geschlungen, die ihn unerbittlich am Boden des Sarges festhielten. Er verdrehte die Augen und in seiner Todesangst stand ihm der kalte Schweiß auf der Stirn. »Was für ein Prachtweib!«, rief irgendjemand. »Komm heute Nacht zu mir!«, sang ein anderer Bewunderer wollüstig. Der Trauerzug näherte sich dem Stadtzentrum. Der Platz vor der Bank war schwarz vor Menschen. Als Linda die Zügel lockerte, wich die Menge ehrerbietig beiseite. Sie ritt an der Bank vorbei und blickte zur Seite. Das Gebäude, ein Käfig aus Stahl und Spiegelglas, reflektierte ihr Bild. Sie war nackt. Die Umstehenden stimmten ein schmutziges Lied an. Plötzlich sprang ein Narr vor das Pferd, packte die Zügel und grapschte gierig nach ihren Schenkeln. Die Glöckchen an seiner Schellenkappe übertönten den Lärm. Linda versuchte, den Zwerg abzu58
wehren. Sie gab dem Pferd die Sporen. Der weiße Hengst bebte und ging durch. Linda fiel auf die Pflastersteine. Kurz bevor sie die Augen öffnete, starrte sie in Williams grinsende Fratze. Er wollte ihr die Handschellen anlegen. Sie schrie. Linda erwachte auf dem Fußboden neben dem Bett. Das Telefon klingelte unaufhörlich. »Hallo.« Ihre Stimme klang zittrig. »Ist William da?« »William ist nicht zu Hause. Mit wem spreche ich?«, fragte sie verschlafen. Provoost stieß einen unterdrückten Fluch aus und unterbrach die Verbindung. Hoofdinspecteur Dirk Baert legte den Hörer auf. »Und, irgendetwas erreicht?«, fragte er Versavel. Der Brigadier hatte gerade den siebenunddreißigsten Zahnarzt auf seiner Liste abgearbeitet. »Die wimmeln einen ab wie einen lästigen Kassenpatienten. Immer dasselbe Spielchen. Entweder die Herren leiden an Gedächtnisverlust und bitten einen, morgen nochmal anzurufen, oder ihr Anrufbeantworter verkündet, sie seien in Urlaub. Kein Wunder, dass es einen halben Wochenlohn kostet, eine Krone reparieren zu lassen. Früher kriegte man für dasselbe Geld einen Goldklumpen ins Maul.« Versavel musste eine Stinkwut haben, um das Wort »Maul« über die Lippen zu bringen, aber seine schlechte Laune hatte nicht nur etwas mit den Zahnärzten zu tun. Baerts Drängelei ging ihm unendlich auf die Nerven. »Ich habe gerade mit einem Stomatologen gesprochen. Sein Name war Joyeux«, sagte Baert. Er wartete geduldig auf eine Reaktion. Versavel wusste, dass Baert auf sein 59
Schweigen hin wiederholen würde: »Also, ich habe gerade mit einem Stomatologen gesprochen. Sein Name war Joyeux.« »Und?«, fragte Versavel gelangweilt. »Er war alles andere als joyeux. Hat sich furchtbar aufgeregt. 1985 studierte er noch. Ob wir so etwas demnächst bitte vorher überprüfen könnten.« Versavel warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich schlage vor, wir trinken erst mal eine Tasse Kaffee. So kommen wir keinen Schritt weiter.« Er setzte die Kaffeemaschine in Gang und nahm an seinem Schreibtisch Platz. Baert rückte seinen Stuhl näher heran. Er hatte sich die Ermittlungsarbeit bei der Kripo etwas anders vorgestellt. »Ich frage mich, ob Van In Fortschritte gemacht hat.« Die ersten heißen Wassertropfen fielen in den Filter. »Ist er wirklich so gut?« Baerts Ton schwankte zwischen Zweifel und Skepsis. »Van In ist der Beste«, antwortete Versavel resolut. Er verspürte keine Lust, sich mit dem Hoofdinspecteur anzulegen. Baert hatte einen schlechten Ruf. Wo immer er auch hinkam, versuchte er, Zwietracht zu säen, einige Kollegen waren sogar davon überzeugt, dass Baert nicht alle Tassen im Schrank hatte. Das Tropfen des Kaffees war für ein paar Augenblicke das einzige Geräusch, das die Stille störte. »Dabei habe ich gehört«, flüsterte Baert mit verschlagenem Lächeln, »dass …« »Es interessiert mich nicht die Bohne, was Sie gehört haben, Hoofdinspecteur.« Baert erschrak vor der Reaktion seines Untergebenen. Seine Nasenflügel bebten. Diesem Versavel würde er bei Gelegenheit mal gehörig die Leviten lesen. 60
»Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Versavel erleichtert, als Van In Zimmer 204 betrat. »Und, Glück gehabt?« Van In stopfte sich heimlich ein Chokotoff in den Mund. Er starb fast vor Hunger. Während Versavel den Kaffee einschenkte, erstattete er Bericht. »Ich glaube, ich werde diesem Vandaele mal auf den Zahn fühlen. Es kann natürlich Zufall sein, aber laut Obduktionsbefund wurde Herbert etwa zwischen 1985 und 1986 ermordet.« »Und 1986 hat Vandaele den Bauernhof der Wohltätigkeitsorganisation geschenkt«, ergänzte Versavel automatisch. Ein Vorteil jahrelanger Zusammenarbeit bestand darin, dass man im Laufe der Zeit lernte, die Gedanken des anderen zu erraten. »Etwas in der Richtung, Guido. Irgendetwas stört mich da.« Versavel rührte bedächtig in seinem Kaffee herum. Der Name Vandaele erinnerte ihn an eine Zeit in seinem Leben, an die er besonders gerne zurückdachte. »Vielleicht kann Jonathan uns weiterhelfen.« Who the fuck is Jonathan?, lag es Van In auf der Zunge. »Wenn ich mich nicht irre, hat Jonathan bis 1989 für Vandaele gearbeitet. Er hat viele Jahre lang seine Buchhaltung erledigt.« »Ist Jonathan einer deiner Verflossenen?« »Ja, aber das ist schon lange her«, antwortete Versavel mit einem Funkeln in den Augen. »Soll ich mich mal bei ihm melden?« »Armer Guido. Du würdest wirklich alles tun, um König und Vaterland zu dienen.« Baert schaute das Duo an wie ein Pygmäe, der zum ersten Mal das Atomium sieht. 61
»Okay, geht in Ordnung«, sagte Versavel grinsend. »Ich rufe ihn gleich mal an.« Jeden Dienstagabend gingen Van In und Hannelore in das Restaurant Heer Halewijn am Walplein essen. Trotz der Diät war und blieb dieser Abend eine feste Institution. Hannelore war ganz versessen auf das gegrillte Lendensteak nach Art des Hauses, und Van In verschaffte der Restaurantbesuch eine passende Ausrede, sich ungestraft eine Flasche Medoc zu genehmigen. Auf dem idyllischen kleinen Platz, der für Kenner zu den romantischsten Fleckchen Brügges zählt, herrschte reges Treiben. Ober mit langen Schürzen führten professionell ihre Show auf. Die Touristen nickten anerkennend. In Brügge konnten sich die Besucher so richtig zu Hause fühlen. Hier las man ihnen jeden Wunsch von den Augen ab, und sollten sie dennoch etwas zu mäkeln haben, konnten sie sich in ihrer jeweiligen Landessprache an die unermüdlichen Ober wenden. Und wenn doch einmal ein echter Brügger Fluch laut wurde, lachten die Damen und Herren Touristen nur nachsichtig. Eine Prise Lokalkolorit war schließlich unerlässlich, um sich auch in vertrauter Umgebung ein wenig wie im Ausland zu fühlen. Die kleine Terrasse des Heer Halewijn war bis auf den letzten Platz besetzt. Im Gegensatz zu den anderen Kneipen und Restaurants am Walplein sprach man hier überwiegend Brügger Dialekt. Auch traf man hier weder auf Bier saufende Deutsche noch auf zeternde Franzosen, noch auf englische Chunnel-Fahrer, weder auf ungehobelte Amerikaner noch auf nur Limonade trinkende Niederländer. Im Grunde hatte der Platz etwas Danteskes. Hier konnte man im Nu von der Hölle in den Himmel gelangen.
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Suzanne kam auf sie zu und begrüßte sie persönlich. Van In kannte die Wirtin des Heer Halewijn schon seit Jahren. Sie küsste ihn flüchtig auf die Wange. Früher hatten sie eine Zeit lang auf vertrauterem Fuß gestanden. Auf Hannelores und Van Ins Lieblingstisch stand ein Schildchen mit der Aufschrift Reserviert. »Eine Extraportion saure Gurken, nehme ich an?«, fragte Suzanne augenzwinkernd. Hannelore nickte erfreut. Van In zog mit einer galanten Geste den Stuhl für sie zurück. Hannelore setzte sich und zupfte ihr Kleid zurecht. »Du siehst aus wie ein achtzehnjähriges Mädchen«, bemerkte Suzanne. »Jetzt übertreib mal nicht, Sue.« »Ich übertreibe nicht.« Suzanne hatte das Kompliment ehrlich gemeint, und Hannelore sah tatsächlich atemberaubend aus. Unter dem Kleid steckte ein Körper, für den Pythias einen Mord begangen hätte. Und obwohl Hannelore bescheiden abwinkte, war sie für das Lob durchaus empfänglich. »Komm mal her. Fühl mal, wie es strampelt.« Sie strich ihr Kleid glatt. Suzanne beugte sich nach vorn und legte die Hand auf Hannelores Bauch. Van In saß daneben und schaute zu. »Man muss es wirklich fühlen, um es zu glauben«, meinte Suzanne. Van In richtete sich auf und streckte den Bauch heraus. »Und was sagst du zu meinem?« Suzanne wandte sich ihm zu. An den Fältchen in ihren Augenwinkeln erkannte er, dass sie die passende Antwort parat hatte. »Achter Monat, stimmt’s?« 63
»Ach, dabei gibt er sich redlich Mühe. Bald wiegt er weniger als ich.« Hannelores Tonfall konnte man unmöglich entnehmen, ob sie es scherzhaft meinte oder nicht. »Deinen Bauch bist du ja glücklicherweise bald wieder los. Er dagegen läuft schon seit zwanzig Jahren damit herum«, erwiderte Suzanne grinsend. Alle auf der Terrasse, die das Gespräch mitverfolgt hatten, fingen an zu lachen. Van In machte ein Gesicht wie ein betretener junger Hund. Hannelore legte ihm tröstend den Arm um die Schultern und gab ihm einen dicken Kuss. So mancher Mann hätte sich freiwillig den kleinen Finger abgehackt, um an Van Ins Stelle zu sitzen. Das gegrillte Lendensteak, 350 Gramm schwer und drei Zentimeter dick, war warm, saftig und butterzart. Van In löffelte mit Appetit eine Backkartoffel aus und tunkte jeden Bissen vorher in geschmolzene Butter. Anschließend spülte er das Ganze mit einem Glas Château Corconac Jahrgang 1989 hinunter. Hannelore verschlang die sauren Gurken und den mit saurer Sahne angemachten Salat. Von dem Steak ließ sie nur ein kleines Stück liegen. »Und, schon was Neues von der Front?« Sie schob Van In den Rest ihres Steaks zu, und er nahm den Leckerbissen nur zu gern an. »Nein, noch nicht viel. Solange es uns nicht gelingt, Herbert zu identifizieren, tappen wir im Dunkeln. Heute Morgen habe ich lediglich festgestellt, dass die Welt von kleinen Blagen überschwemmt wird. Eine von ihnen heißt Tine.« Van In erzählte von seinem Besuch bei der Familie Vermast. »Okay, dann können wir den Namen Tine ja schon einmal von unserer Liste streichen. Wenn es ein Mädchen wird, nennen wir sie Godelieve. Einverstanden?« 64
Aus purer Frustration schenkte sich Van In noch ein Glas Wein ein. »Wobei Experten behaupten, dass Kinder im Laufe der Jahre ihren Eltern immer ähnlicher werden«, neckte ihn Hannelore. »In dem Fall hoffe ich, dass sie auf dich kommt. Stell dir vor, dass …« »Jetzt hör schon auf, Pieter Van In. War doch nur ein Scherz. So schlimm bist du nun wirklich nicht. Außerdem behaupten dieselben Experten, dass die Väter der meisten Genies bei der Zeugung über vierzig waren. Wenn du mir nicht glaubst, schlag ruhig im Lexikon nach.« »Habe ich schon«, antwortete Van In mürrisch. »Herr Hitler war auch nicht mehr der Jüngste, als Adolf geboren wurde.« »Geht das wieder los«, seufzte sie. »Komm, zünde dir schnell eine Zigarette an, dann bin ich wenigstens für zehn Minuten von deiner Unkerei erlöst.« Das ließ sich Van In nicht zweimal sagen. »Ich wollte eigentlich nur wissen, ob es etwas Neues über unser Skelett gibt.« Das »unser« klang irgendwie ein wenig gruselig. »Ich dachte, die Staatsanwaltschaft würde die Ermittlungen leiten«, erwiderte Van In gedehnt. Hannelore lächelte breit. Blitzschnell trat sie ihn unter dem Tisch gegen das Schienbein. Er konnte ihr nicht mehr rechtzeitig ausweichen. »Autsch, verdammt!« Unter dem Tisch massierte er sein schmerzendes Bein. Suzanne, die die Szene beobachtet hatte, hielt den Moment für gekommen, die Mousse au Chocolat zu servieren. 65
»Hat’s wehgetan?«, erkundigte sie sich grinsend. Van In machte sich schweigend über das Dessert her. Erst nachdem er den letzten Rest Mousse vom Löffel geleckt hatte, nahm er den Faden ihrer Unterhaltung wieder auf. Er erzählte Hannelore, was er über Vermasts Bauernhof in Erfahrung gebracht hatte. Van In war ein talentierter Ermittler, der schon zahlreiche Aufsehen erregende Kriminalfälle gelöst hatte. Meist ging er bei seinen Untersuchungen ziemlich unorthodox vor. Seiner Philosophie zufolge steckte hinter jedem Kapitalisten ein potenzieller Mörder. Zur Hochform lief Van In dann auf, wenn er einen allseits respektierten Bürger an den Pranger stellen konnte, und manchmal vergaß er dabei, dass hieb- und stichfestes Beweismaterial nötig war, um einen Verdächtigen vor Gericht zu bringen. Bei der Verbrechensbekämpfung war Intuition ebenso wertlos geworden wie zehn Millionen Mark nach dem Zweiten Weltkrieg. »Nur ein Dummkopf verkauft sein Eigentum, wenn er weiß, dass eine Leiche unter dem Rasen liegt. Und Vandaele ist kein Dummkopf.« Hannelore schob ihr Dessert beiseite. Van In warf einen begehrlichen Blick auf die Schokoladencreme. »Niemand kann mich davon abhalten, diesem Vandaele einmal gründlich auf den Zahn zu fühlen. Auch wenn er nichts mit Herbert zu tun hat. Ich bin gespannt, warum Mijnheer so demonstrativ den Wohltäter herauskehrt.« Hannelore verzichtete bewusst auf einen theoretischen Vortrag über die üblichen juristischen Abläufe in Belgien. »Wir leben in einem freien Land, Pieter.« Sie griff nach ihrem Löffel und naschte von ihrem Nachtisch. »Schon gut. Aber erklär mir doch mal, warum Vandaele sein Grundstück mit einem aufwendigen, fernbedienbaren Tor gesichert hat. Das Ding ist mehr wert als 66
der gesamte Ziegenstall, den Vermast da zu restaurieren versucht.« »Ich frage mich, welchen Zusammenhang du zwischen einem Tor und einem Mord siehst.« Hannelore schob ihm die Nachspeise zu. »Magst du ein bisschen abhaben?« Van In aß einen großen Löffel. Es war nur einmal die Woche Dienstagabend. »Ich glaube nicht an Zufall, Hanne. Ich will wissen, warum Vandaele 1986 seinen Bauernhof einem obskuren Wohltätigkeitsverein zum Nießbrauch überlassen hat.« Lodewijk Vandaele begrüßte Yves Provoost mit einem dünnen Lächeln. Provoost sah mitgenommen aus. In den vergangenen vierundzwanzig Stunden hatte er kaum geschlafen. »Ich mache mir Sorgen, Lodewijk. Wir hätten Aerts niemals ins Vertrauen ziehen dürfen.« Vandaele zog an seiner teuren Zigarre. Sein Gesicht verriet keinerlei Gefühlsregung. Seine kleinen, ausdruckslosen Augen blinzelten in regelmäßigen Abständen, doch das lag am Rauch der Davidoff. »Beruhige dich, Yves. Für jedes Problem findet sich eine Lösung.« Vandaele führte Provoost in den Salon. Beide Männer nahmen am Fenster Platz. Draußen war es noch ziemlich warm, doch die ockergelben Strahlen der untergehenden Sonne trugen die Verheißung eines frühen Herbstes in sich. »Aerts ist geflüchtet, Lodewijk. Ich frage mich, warum.« Vandaele bot Provoost einen Drink an. Er selbst begnügte sich mit einem Glas Orangensaft. Einer musste schließlich einen kühlen Kopf behalten. 67
»Du weißt doch, wie Aerts ist. Er hat von der Sache in der Zeitung gelesen und kalte Füße bekommen. Wahrscheinlich aus Angst vor Repressalien unsererseits. Er hätte die Leiche niemals auf meinem Grundstück vergraben dürfen. Das war gegen die Abmachung. Aerts weiß verdammt genau, dass ich ihn für seine Dienste mehr als großzügig entlohnt habe. Jetzt lass uns erst mal abwarten, ob er nicht von selbst wieder auf der Bildfläche erscheint.« Vandaele versuchte, Provoost zu beschwichtigen. »Und bis zu dem Zeitpunkt, an dem er sich mit eingekniffenem Schwanz wieder meldet, sollten wir die Ruhe bewahren.« »Hast du Brys erreicht?«, fragte Provoost ohne Überleitung. »Johan hält sich momentan in Burundi auf. Ich rufe ihn an, sobald er wieder zu Hause ist.« Provoost schlürfte ungeniert seinen Whiskey. Vandaele setzte sich neben ihn und legte ihm väterlich den Arm um die Schultern. »Warum sollte Aerts das Huhn schlachten, das goldene Eier legt? Ich habe ihm das Cleopatra praktisch geschenkt. William verdient gutes Geld. Er hat keinerlei Motiv, uns zu verraten.« Vandaeles Arm wog auf Provoosts Schultern schwer wie Blei. Yves kannte Vandaeles Geschenke. Aerts hatte an die Hundertfünfzigtausend für eine baufällige Villa am Maalsesteenweg abgedrückt. Das Cleopatra war damals eine drittklassige Bar, in der abgehalfterte Brüsseler Huren ihrem wohlverdienten Ruhestand entgegenblickten. Die Klientel bestand aus einer Hand voll frustrierter Vertreter, die glaubten, für eine Flasche Schaumwein eine Fahrkarte ins Paradies kaufen zu können. 68
Aerts hatte das Geschäft professionell aufgezogen. Er importierte junge, knackige Mädchen: Mulattinnen, Philippinerinnen, Masseusen aus Thailand und Blondinen aus Polen. Schon nach sechs Monaten ging die Creme de la Creme von Brügge und Umgebung bei ihm ein und aus. »Ich darf gar nicht daran denken, dass die Polizei das Skelett identifiziert und dadurch Aerts auf die Spur kommt. Du kannst dir sicher sein, dass der Mistkerl uns da mit hineinziehen wird.« Vandaele drückte gereizt einen Zigarrenstumpen im Aschenbecher aus. »Aerts wird dich mit hineinziehen«, verbesserte er Provoost gleichgültig. »Schließlich bist du verantwortlich für das …« »Aber wie kannst du nur so etwas sagen?« Provoost war sichtlich außer Fassung. Seine dicken Lippen liefen feuerrot an. »Ganz ruhig, Yves. So weit wird es schon nicht kommen. Wir werden das Problem gemeinsam lösen. Habe ich dich jemals im Stich gelassen?« Es war eine bizarre Konversation. Provoost war ansonsten allgemein bekannt für seine messerscharfe Rhetorik. Bei Gericht trat er arrogant auf und man fürchtete seine sarkastischen Erwiderungen. Als er nun Vandaele gegenüber saß, glich er jedoch eher einem Schuljungen, der es nicht wagt, dem Lehrer zu widersprechen. Der alte Vandaele kannte seine Pappenheimer. Er strich Provoost über den Kopf. »Mein lieber Yves, die Chancen, dass die Polizei einen Zusammenhang zwischen Aerts und dem Mord erkennt, ist winzig klein. Außerdem ist das alles schon lange her. Aerts ist spurlos verschwunden. Und wer würde ihm schon glauben, falls er jemals plaudern sollte? Das 69
Wort eines Zuhälters würde gegen deines stehen. Wir leben in Belgien, Yves. In unserem Land wird niemand verurteilt, dessen Schuld nicht zweifelsfrei feststeht. Das müsstest du doch am besten wissen. Außerdem genießt du die Protektion des Außenministers.« Seine Worte schienen Provoost zu beruhigen. Er leerte sein Glas mit einem Zug. Der Alkohol ließ die Angst in seinen Augen verschwinden. Vandaele schenkte ihm das Glas noch einmal voll und genehmigte sich diesmal auch selbst einen Whiskey. »Bestimmt hast du Recht, Lodewijk«, sagte Provoost. Seine Stimme klang entschlossen. Whiskey hob immer sein Selbstvertrauen. »Ich habe während meiner Laufbahn schon für Dutzende Straftäter einen Freispruch erwirkt, obwohl sie viel schlechter dastanden als ich.« Vandaele war froh, dass der Alkohol seine Wirkung nicht verfehlte. »Das höre ich gern, mein Junge.« Er wählte sorgfältig eine neue Davidoff aus dem silbernen Etui. Er hätte schon längst das Rauchen aufgeben sollen. Eine Armee schwarzer Krebszellen hatte seine Lunge erobert und stand im Begriff, auch den Rest seines Körpers zu zerstören. Er hatte nicht mehr lange zu leben, aber sein Name durfte nicht mit ihm untergehen. Er würde nicht zulassen, dass ein kleiner Mord sein Andenken beschmutzte. Demnächst würde man Straßen nach ihm benennen, und er hoffte, dass sich noch künftige Generationen daran erinnern würden, wie er, Lodewijk Vandaele, das Land von der ausländischen Dekadenz gesäubert hatte. »Trotzdem beunruhigt mich die Sache mit Aerts«, fuhr Provoost nach einer ganzen Weile fort. »Heutzutage ist es geradezu Mode, eine einmal getroffene Entscheidung zu bereuen. Niemand hat Mitleid mit einem Rechtsan70
walt, der auf der Anklagebank landet. Der Pöbel wird hurra schreien und die Regenbogenpresse meinen Kopf fordern. Aerts ist ein gerissener Kerl. Das weißt du genauso gut wie ich. Er ist schon immer unberechenbar gewesen.« Vandaele unterdrückte ein Röcheln. Er zündete seine Zigarre an und zog daran. »Jetzt mach dir doch nicht solche Sorgen deswegen, Yves. Ich verspreche es dir: Für Aerts wird gesorgt werden.« Provoost warf einen verstohlenen Seitenblick zur Whiskeyflasche auf dem Wohnzimmertisch. Noch einen, dachte er. Dann würde er ruhig schlafen können.
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4 Nur eine Hand voll Passagiere checkte für den Linienflug nach Rom ein, was jedoch nicht bedeutete, dass es auf dem internationalen Flughafen ruhig zuging. Die Schalter der Charterflüge zu den Kanarischen Inseln waren wie immer überfüllt. Vorgebräunte Senioren schleppten bleischwere Koffer bis zu ihrer jeweiligen Schlange. Sonne und Meer bekam man heutzutage ja auf Rezept. Was konnte es Schöneres geben, als an einem subtropischen Strand einem Herzinfarkt zu erliegen? William Aerts passierte problemlos die Ausweiskontrolle. Er sah aus wie ein typischer Geschäftsmann: sportlicher Anzug, leichter Delsey-Hartschalenkoffer und ein Exemplar der Financieel Economische Tijd unter dem Arm. Seit über fünfzehn Jahren hatte sich Aerts nach diesem Moment gesehnt. Endlich gab es einen triftigen Grund, dieses Mistland zu verlassen. Schluss mit Linda, dem nörgelnden Nilpferd. Und was den Pädophilen anging: Der würde ihn nie wieder erniedrigen. Ab heute war er ein freier Mann. Zwar war das Timing nicht ganz perfekt, aber was spielte das schon für eine Rolle? Ein echter Kerl folgt dem Weg, den das Schicksal ihm vorgezeichnet hat. Die Schubkraft von vier Düsentriebwerken drückte ihn in die weiche Polsterung des breiten Sitzes. Eine Minute später schwebte er in den Wolken. Es war Regen vorhergesagt, und den gönnte er allen Belgiern von Herzen. 72
»Möchten Sie etwas trinken, Mijnheer?« Eine frisch duftende Flugbegleiterin beugte sich über ihn. So lässt es sich leben, dachte Aerts bei sich. Er flog erster Klasse und teilte den geräumigen Bereich mit nur fünf weiteren Passagieren. »Ja, einen Campari bitte.« Aerts streckte die Beine aus. Für so viel Platz hatte er eine Stange Geld bezahlt, aber diese Art Luxus war seit jeher sein Traum gewesen. Nach drei Jahrzehnten hatte Aerts seine Widersacher endlich besiegt. Er flog gen Süden, und seine ehemaligen Freunde saßen bis über beide Ohren in der Scheiße. »Ihr Campari, Mijnheer.« Die Flugbegleiterin lachte freundlich. Jedenfalls gab sie sich freundlich. Oder lächelte sie, weil man ihm ansah, dass er sein Glück kaum fassen konnte? Aerts trank von seinem Aperitif und schloss zufrieden die Augen. Die Leiche hatte ihm mehr eingebracht, als er sich je hätte träumen lassen. »Mijnheer Vandaele kann Sie in wenigen Minuten empfangen, Commissaris Van In.« Obwohl Vandaele offiziell pensioniert war, verbrachte er den größten Teil des Tages im Büro. Der Alte hielt die Zügel immer noch fest in der Hand. Die Sekretärin führte Van In in ein kleines Wartezimmer mit Aussicht auf einen nackten Innenhof aus Beton und Eternit: typisch für Vandaeles Baufirma. An der Wand hingen vergilbte Schwarzweißfotos, wahrscheinlich das Werk einer übereifrigen Büroangestellten. Die Bilder zeigten Brücken und Straßen und im Vordergrund schwarz gekleidete Herren, von denen jeweils einer gerade ein Band durchschnitt. 73
Louis Vandaele, der Vater Lodewijks, hatte ein Vermögen mit dem Bau öffentlicher Straßen verdient. In den sechziger Jahren hatte er halb Flandern asphaltiert. Van In bedankte sich mit einem Lächeln bei der bebrillten Sekretärin. »Eine Tasse Kaffee, Commissaris?«, fragte das in Grau verpackte Geschöpf. »Nein danke, Juffrouw.« Die Dame besaß eine verblüffende Ähnlichkeit mit Audrey Hepburn, der rechten Hand von Benedict Vervoort. »Ich will den Filialleiter sprechen, und zwar sofort!«, fauchte Linda Aerts. Marc, der junge Mann am Schalter, versuchte, Mevrouw Aerts zu beruhigen. Schließlich warteten hinter ihr noch drei weitere Kunden, darunter Mijnheer Ostijn, der Auseinandersetzungen hasste. Hilaire Ostijn war der Vorsitzende des hiesigen kaufmännischen Vereins und einer der besten Kunden dieser Filiale. »Bitte beruhigen Sie sich, Mevrouw Aerts. Mijnheer Denolf wird in fünf Minuten für Sie da sein. Ich bin mir sicher, er ist ebenso wie ich davon überzeugt, dass es sich hier um ein unangenehmes Missverständnis handelt.« »Geben Sie mir einfach mein Geld, dann können wir Mijnheer Denolf gleich aus dem Spiel lassen«, schrie Linda wütend. Der Bankangestellte blickte von der rot angelaufenen Mevrouw Aerts zu dem verkniffenen Mund von Mijnheer Ostijn und wieder zurück. Früher hätte er das Problem im Handumdrehen gelöst. Er hätte ihr die zweihundertfünfzig ausbezahlt, und damit wäre das Problem vom Tisch gewesen. Doch heute besaß ein gewöhnlicher 74
Bankangestellter solche Freiheiten nicht mehr. Wer nichts hatte, kriegte auch nichts. Die neue Regelung sah keine Ausnahmen vor. »Wird’s bald? Oder soll ich mal erzählen, wie ich Mijnheer Albert Denolf kennen gelernt habe?« Linda drehte sich um und blickte die wartenden Kunden streitsüchtig an. Ostijn tat, als kenne er sie nicht. Doch der Bankangestellte wusste ganz genau, dass sowohl er als auch sein Chef das Cleopatra frequentierten. Er nahm das Geld aus der Schublade und tippte den Betrag ein. In dem Augenblick schwang die Tür auf. Die Geschwindigkeit, mit der Albert Denolf reagierte, war verblüffend. Er vermutete wohl bereits, warum Linda hier war, und er kannte ihr Temperament. »Mevrouw Aerts«, begrüßte er sie mit zuckersüßer Stimme. »Wie nett, Sie zu sehen. Es gibt doch hoffentlich keine Probleme?« Marc steckte den Betrag rasch wieder weg und annullierte erleichtert die Auszahlungseingabe. »Keine Probleme?«, fragte Linda höhnisch. »Was würdest du dazu sagen, wenn ich …« »Linda«, unterbrach sie Denolf. »Wenn es Probleme gibt, dann lass uns bitte in meinem Büro darüber reden.« Seine umgängliche Art hatte Erfolg. Linda stellte ihre Offensive ein. Sie drehte sich selbstbewusst um und rauschte Denolf hinterher in sein Büro. Ostijn kam, um einige Zinsscheine einzuwechseln, Kontoauszüge abzuholen und einen Stapel Rechnungen zu bezahlen. Der reiche Mittelständler war ein Mann vom alten Schlag und konnte sich mit Neuerungen wie dem Onlinebanking nicht anfreunden. Marc stieß im Stillen einen Seufzer aus. Die Transaktionen Ostijns würden 75
eine gute Viertelstunde in Beschlag nehmen. Seine Routinearbeit wurde jäh durch das Klirren von Glas unterbrochen. Ostijn reagierte wie jeder echte Kaufmann. Zuerst schob er die Wertpapiere unter dem Schalter durch und erst dann schaute er nach, was geschehen war. »Aber Linda!«, hörte er Albert in gedämpftem Ton ausrufen. Die Tür von Alberts Büro schwang auf. Unter Lindas Absätzen knirschten die Scherben eines zersplitterten Aschenbechers. »Das Geld gehörte uns beiden gemeinsam!«, schrie sie. Albert stand wie zur Salzsäule erstarrt hinter seinem Schreibtisch. »Und du hast ihm einfach alles mitgegeben!« »Das Geld war auf seinen Namen angelegt, Linda. Ich habe versucht, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, aber als Bankier konnte ich nicht anders, als …« »Du konntest nicht anders!«, kreischte Linda. »Du verdammter Mistkerl! Weißt du, wozu ich jetzt Lust hätte?« Alle Zuhörer, inklusive Ostijn, spitzten die Ohren. »Ich würde zu gern mal das Gesicht deiner frommen katholischen Gattin sehen, wenn ich ihr erzähle, dass ihr respektabler Ehemann jeden Monat …« »Linda, bitte!« Denolf stürmte zur Tür und brach dabei vermutlich den Weltrekord im Hallen-Dreisprung. Er knallte die Tür zu und zückte seine Brieftasche. »Hier hast du die zweihundertfünfzig. In ein paar Tagen kommt William garantiert wieder nach Hause. Dann werden wir gemeinsam besprechen, wie wir das Problem lösen können.« »Nur, wenn du noch fünfhundert drauflegst«, konterte Linda kühn. 76
Denolf holte so tief Luft, dass er drohte zu hyperventilieren. »William hat zwar das Geld mitgehen lassen«, schnaufte Linda, »aber die Videobänder liegen immer noch in unserem Safe.« Und dann fügte sie gehässig hinzu: »Ich könnte mir vorstellen, dass die Polizei sie mit einiger Schadenfreude ansehen wird.« Denolf wurde am helllichten Tag Opfer eines Albtraums. Er gab ihr mit einem Wink zu verstehen, dass sie einen Augenblick warten solle, ging ans Telefon und rief Marc an. »Wenn Mevrouw Aerts gleich nach draußen kommt, würdest du ihr dann bitte fünfhundert Euro von meinem Konto auszahlen?« »Sag ihm, er soll das Geld herbringen«, blaffte Linda. Denolf nickte wie ein williger Sklave. Aha, es funktionierte also auch, wenn sie keinen Lederanzug trug. »Schon gut, Marc. Ich hole es schon selbst.« Lodewijk Vandaele begrüßte Van In mit einem jovialen Händedruck. Er wies auf ein bequemes Sofa, das dicht am Fenster stand. Im Gegensatz zu eben hatte Van In nun Aussicht auf einen sorgsam gepflegten Steingarten, in dessen Mitte ein Springbrunnen plätscherte. Springbrunnen waren ›in‹. Jeder, der etwas auf sich hielt, leistete sich einen. »Darf ich Ihnen einen Whiskey anbieten, Commissaris?« Van In lehnte das verführerische Angebot freundlich ab. Es wäre ein Zeichen katholischer Scheinheiligkeit gewesen, diesen Anlass schon wieder als Vorwand für eine Übertretung zu missbrauchen. »Ach, kommen Sie schon, Commissaris, ein kleiner Whiskey hat noch keinem geschadet.« 77
Mit zusammengebissenen Zähnen schüttelte Van In den Kopf. »Dann vielleicht eine Tasse Kaffee?« »Ja, gern.« Vandaele legte seine dicke Zigarre in den Aschenbecher und bestellte über die Sprechanlage einen Kaffee. »Zuerst einmal möchte ich betonen, dass mein Besuch bei Ihnen nicht offizieller Art ist«, begann Van In förmlich. »Bitte setzen Sie sich doch, Commissaris.« Van In nahm in einem imposanten Sessel Platz, der ihn fast vollständig verschluckte. Vandaele setzte sich ihm direkt gegenüber. Der hochgewachsene alte Mann überragte ihn wie ein Golem. »Ich vermute, dass Ihr Besuch im Zusammenhang mit dem Fund auf der Weide von De Love steht«, nahm er Van Ins Frage mit der Miene eines modernen Nostradamus vorweg. Benson im Himmel, dachte Van In. Vandaele hat der Bruchbude sogar einen Namen gegeben. Wehmütig dachte er an seine eigene Jugend zurück, als er mit seiner Schwester und der Tochter des ortsansässigen Gemischtwarenhändlers am Strand von Blankenberge gespielt hatte. Dort, in der Stadt am Meer, trugen die heruntergekommenen Villen ebenfalls Namen wie Camelot, Beau Geste oder Manderlay. Ein schicker Namenszug war auf jeden Fall billiger als eine Schicht frischer Farbe. »In der Tat, Mijnheer Vandaele. Laut Obduktionsbefund wurde der Mord in den 80er Jahren begangen. Damals war De Love«, Van In brachte den lächerlichen Namen nur mit Mühe über die Lippen, »noch Ihr Eigentum.« Vandaele streckte sein linkes Bein aus und massierte sein Knie. 78
»Rheuma«, stöhnte er. »Schon seit Jahren habe ich Probleme mit den Knien.« Der alte Fuchs versuchte Zeit zu gewinnen, indem er das Thema wechselte, doch Van In fiel nicht darauf herein. »Darf ich Sie fragen, ob Sie das Anwesen früher regelmäßig besucht haben?«, fragte er unverfänglich. »Ach, Commissaris. Mein Vater hat De Love eigenhändig erbaut. Als Kind spielte ich dort jeden Sommer. Später fuhr ich nur noch ab und zu hinaus, um zu malen. Für mich bedeutete das Haus eine Erinnerung an meine Jugend.« An der Wand hing eine Reihe dilettantischer Malereien. Mit ein wenig Phantasie erkannte Van In die Umrisse von De Love darauf. »Haben Sie das Haus jemals vermietet?« Vandaele fing laut an zu lachen. »Werter Commissaris, ich besitze eine ganze Reihe von Häusern, Villen und Wohnungen. Die vermiete ich natürlich. Aber De Love habe ich aus reiner Sentimentalität behalten. Es war unser erstes Ferienhaus. Soweit ich mich erinnern kann, ist es nie mehr als eine baufällige Hütte gewesen. Heutzutage wünschen die Leute Bequemlichkeit. Da würde keiner mehr eine solche Hütte mieten.« Van In war froh, dass sie sich darüber einig waren. Das erklärte auch, warum Vandaele gerade De Love dem Verein überschrieben hatte. Schließlich wusste jeder, dass reiche Leute nur wertlose Dinge verschenkten oder solche, die sie nicht mehr gebrauchen konnten. »Das Haus hat also die ganze Zeit leer gestanden?« Vandaele zog kräftig an seiner Zigarre. Ein blasser junger Mann mit einem Tablett betrat diskret den Raum. 79
»Danke, Vincent, stellen Sie es einfach auf meinem Schreibtisch ab. Wir bedienen uns schon selbst.« Vandaele erhob sich mit knackenden Gelenken. Im Profil ähnelte er ein wenig General de Gaulle: imposant und unnahbar. »Ich bin später noch ab und zu mit meinen Neffen hinausgefahren«, bemerkte er ganz nebenbei. »Die Kinder lieben doch solche alten Häuser, wo sie sich nach Herzenslust austoben können. Manchmal haben wir sogar dort übernachtet. Dann haben wir abends ein Riesenlagerfeuer entfacht. Heute ist das natürlich verboten, aber damals hat es keinen gestört. Die Jungen tranken literweise Cola, sangen Lieder oder spielten Theater. Ich kann mich beispielsweise noch lebhaft an den Sommer von 1972 erinnern. Damals war es so warm, dass wir alle draußen unter freiem Himmel übernachtet haben. Auch das wäre heute natürlich nicht mehr denkbar.« Vandaele zeigte auf seine Knie. Van In hegte überaus angenehme Erinnerungen an diesen heißen Sommer. Am zwanzigsten August 1972 hatte er zum ersten Mal mit einem Mädchen geschlafen. »Später, als einer meiner Neffen Pfadfinderführer wurde, diente De Love diversen Jugendgruppen als Campingplatz.« Vandaele schenkte Kaffee ein. »Zucker?« Van In schüttelte den Kopf. »Es hat also nie jemand dort gewohnt«, stellte er fest. »Richtig, Commissaris. Vor einigen Jahren habe ich De Love dann einem Wohltätigkeitsverein überschrieben. Da kampierten dort schon seit langem keine Jugendgruppen mehr. Die schlagen heutzutage nur noch da ihre Zelte auf, wo es warme Duschen und Mikrowellen gibt.« Vandaele lachte wie ein Missionar, der gerade zwanzig Heiden getauft hat. 80
»Die heutige Jugend ist anspruchsvoll, Commissaris. Die Romantik von früher ist überholt. So schnell wie möglich Karriere machen und Geld verdienen – das ist das Einzige, was die jungen Leute noch interessiert.« Vandaele war wahrhaftig der Letzte, der sich eine solche Bemerkung erlauben konnte. Dennoch nickte Van In und trank einen kleinen Schluck von seinem Kaffee. »Das kann ich nur bestätigen, Mijnheer Vandaele«, sagte er diplomatisch. »Alles muss heutzutage schnell und reibungslos verlaufen. Können Sie sich die Panik vorstellen, die ausbräche, wenn wir alle ab morgen ohne Fernbedienung auskommen müssten?« Vandaele schüttelte sich vor Lachen. Er stellte seine Tasse auf einem Beistelltischchen ab und zog sein Taschentuch hervor. Ihm liefen die Tränen über die Wangen. »Dann wären wir vollkommen hilflos, Commissaris. Die meisten Leute würden aufgeregt einen Techniker anrufen und behaupten, ihr Gerät sei kaputt.« Van In spielte das Spiel mit und stimmte in das Lachen des amüsierten Bauunternehmers mit ein. Trug er etwas zu dick auf, oder begriff Vandaele, dass er wie ein Tölpel in die Falle getappt war? »Aber natürlich dürfen wir der Jugend nicht alle Sünden Israels aufbürden«, fuhr Vandaele daraufhin wieder ernsthaft fort. »Sie müssen zugeben, Commissaris, dass Luxus auch für uns Erwachsene äußerst verlockend sein kann. Manchmal sind diese technischen Spielereien doch wirklich praktisch.« Demonstrativ massierte Vandaele seine steifen Knie. »Ich gebe zu, dass auch ich der modernen Technik durchaus positiv gegenüberstehe. Zu Hause habe ich beispielsweise einen automatischen Garagentoröffner 81
installieren lassen. Das erspart mir viel Mühe und Schmerzen. Und wenn man an solchen Komfort gewöhnt ist …« »Lassen Sie die Dinger überall installieren, Mijnheer Vandaele?« Das joviale Grinsen, das Markenzeichen des alten Bauunternehmers, schien für einen Moment zu gefrieren. Er trank von seinem Kaffee, verschluckte sich und täuschte einen Hustenanfall vor. Die Komödie gewährte ihm einige Sekunden Aufschub. »Wahrscheinlich war das eine Anspielung auf das Tor von De Love, richtig, Commissaris?« Van In nickte. »Das habe ich weder aus Faulheit noch wegen meiner steifen Knie installieren lassen«, erklärte Vandaele. Er versuchte, seiner Stimme einen dramatischen Unterton zu verleihen. »Ich habe das fernbedienbare Tor wegen dieser gefährlichen Kurve in Auftrag gegeben.« Van In hörte sich die traurige Geschichte an. Der Zugang zu De Love lag direkt hinter einer scharfen Kurve. 1979 ereignete sich dort ein Unfall, bei dem beinahe ein Mopedfahrer ums Leben gekommen wäre. Er war mit Vollgas auf Vandaeles parkenden Mercedes geknallt, als Vandaele gerade das Tor öffnete. Der Weg zu De Love war schmal und wurde von Vandaeles Wagen fast vollständig versperrt. Der Unglücksfahrer überlebte zwar, aber Vandaele hatte sich geschworen, dass so etwas nie wieder passieren sollte. »Deshalb habe ich unverzüglich das automatische Zugangstor installieren lassen«, schloss Vandaele bewegt. »Der kluge Mann baut vor.« Es war eine glaubwürdige Geschichte, und Van In war enttäuscht. Er würde allerdings die Fakten von Baert 82
überprüfen lassen. Auf diese Weise wurden sie auch den lästigen Hoofdinspecteur für eine Weile los. »Wahrscheinlich ist die Frage überflüssig, Mijnheer Vandaele, aber ich muss sie Ihnen leider stellen, rein routinemäßig natürlich.« Der alte Mann zog erneut tief an seiner Davidoff. Er war froh, dass Van In bezüglich des automatischen Tores nicht weiter nachhakte. »Bitte, Commissaris.« »Ist Ihnen jemals aufgefallen, dass auf Ihrem Grundstück gegraben worden ist?« Vandaele hatte eine völlig andere Frage erwartet. »Nein, Commissaris«, antwortete er bestimmt. »Und Sie haben auch nie irgendwelche Spuren eines Einbruchsversuchs entdeckt?« Vandaele schüttelte den Kopf. Er brauchte nicht einmal zu lügen. »Wie ich Ihnen schon sagte, Commissaris. Ich bin nur äußerst selten hinausgefahren. Gewiss hat der Mörder das gewusst.« »Ich glaube auch«, stimmte ihm Van In zu. »Solche Fälle werden in der Fachliteratur ausführlich beschrieben. Der Täter sucht sich meistens einen verlassenen Ort aus, um sich seines Opfers zu entledigen. In Flandern sind solche Stellen dünn gesät, woraus wir im Großen und Ganzen schließen können, dass der Mörder die Gegend im Allgemeinen und Ihr Grundstück im Besonderen kannte.« »Das scheint mir eine annehmbare These zu sein, Commissaris. Ich wünschte, ich könnte Ihnen weiterhelfen.« Van In trank seinen Kaffee aus und stand auf. Endlich konnte er auf Vandaele hinabsehen. 83
»Ach, Mijnheer Vandaele«, sagte er honigsüß. »Sie haben mir wirklich sehr geholfen.« Es war ein alter Trick, den er auf der Polizeischule gelernt hatte. Ein Polizist musste stets den Eindruck erwecken, mehr zu wissen, als die Gegenpartei vermutete. Zweifel ist schließlich eine schnell keimende Saat und verleitet den Verdächtigen manchmal zu unüberlegten Schritten. »Ich halte Sie über die weitere Entwicklung in diesem Fall auf dem Laufenden«, versprach Van In. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, Commissaris.« Der alte Mann erhob sich mühsam und begleitete Van In bis an die Ausgangstür. Er wirkte jetzt wesentlich weniger selbstsicher als noch vor einer Stunde. Oder bildete sich Van In das nur ein? Die meisten Reiseführer raten arglosen Touristen, in Neapel nicht allein umherzuspazieren, und William Aerts schlug diesen Rat nicht in den Wind. Er nahm ein Taxi zum Hafen. In seiner Hosentasche steckte ein Portemonnaie, das fünfzig Hundert-Dollar-Noten sowie vier Millionen Lire in großen Scheinen enthielt. Trotz der unerträglichen Hitze hatte er während der Zugfahrt von Rom nach Neapel die Hand nicht aus der Tasche genommen. Das hier war Mafiaterrain, wo Leuten für einen Bruchteil dieses Betrags die Kehle durchgeschnitten wurde. Die Bucht von Neapel, ehemals ein exotisches Reiseziel, war heute nicht mehr als die graue Achselhöhle eines sterbenden Organismus, der sich Stadt nannte. Ein wüst hupender Taxifahrer lotste Aerts mit wahrer Todesverachtung durch das Chaos. Er ignorierte die Ampeln und bahnte sich fluchend einen Weg durch die proppenvollen Straßen. Es grenzte an ein Wunder, dass 84
er seinen Fahrgast trotz aller Hindernisse sicher ans Ziel brachte. Häfen stinken immer, aber in Neapel überlagert der Gestank von verrottendem Fisch und verdunstendem Urin noch den etwas erträglicheren Geruch von Heizöl und Teer. Dieses Ungemach nahm Aerts notgedrungen in Kauf. Wenn alles gut ging, konnte er sich in einer Stunde einschiffen. Die Fähre nach Palermo war brechend voll. Aerts musste sich mit einem ungeschützten Platz auf dem Vorderdeck zufrieden geben. Es war ihm egal. Notfalls hätte er die Strecke in einem Sarg zurückgelegt. »Adieu Linda, adieu, ihr Mistkerle«, sagte er leise, als die stampfenden Schiffsmotoren das schmutzige Wasser aufwühlten. Eine halbe Stunde später massierte der Wind sein verschwitztes Gesicht. In der Ferne lockte der Horizont. Ein Kindheitstraum schien endlich in Erfüllung zu gehen. Lodewijk Vandaele verließ sein Büro fünf Minuten nach Van In. »Ich werde den restlichen Nachmittag abwesend sein«, sagte er, als die Sekretärin ihm seinen Strohhut und seinen Spazierstock reichte. »In Ordnung, Mijnheer Vandaele. Bis morgen dann.« »Bis morgen, Liesbeth.« Liesbeth hielt ihm die Tür auf und fuhr danach mit ihrer Arbeit fort wie immer. Für gewöhnlich nahm Vandaele sein Mittagessen in einem exklusiven Restaurant am Rande der Stadt ein, doch heute fuhr er auf direktem Wege zu seiner Villa am Damse Vaart. Das Gespräch mit Van In lag ihm gehörig im Magen. Es war nicht so sehr der Inhalt, der ihn beun85
ruhigte, sondern die subtile Art, mit der der Commissaris die Frage mit dem Tor angesprochen hatte. Der Mann war gefährlich, und er musste etwas gegen ihn unternehmen. Im Salon holte Vandaele eine Flasche Exshaw aus der Bar und schenkte sich reichlich von dem zwanzig Jahre alten Cognac ein. Anschließend zog er sein Adressbuch zu Rate und wählte die Nummer des Außenministeriums. Johan Brys saß an seinem Schreibtisch, als das Telefon läutete. Der Minister war erst vor einer Stunde in Zaventem gelandet. Sein Arbeitsbesuch in Ruanda hatte bitter wenig eingebracht. Das Land lag in Schutt und Asche, und daran würden auch die fünf Millionen Hilfsgelder, die er seinem ruandischen Kollegen in Aussicht gestellt hatte, nicht viel ändern. Um die Schuldigen an dem Völkermord vor Gericht stellen zu können, musste erst wieder ein funktionierender Justizapparat aufgebaut werden, und dafür brauchte man mehr als diese klägliche Summe. Außerdem war es äußerst fraglich, ob Ruanda die versprochene Hilfe überhaupt erhalten würde. Im Grunde war Brys das auch egal. Für seine Karriere war es wichtiger, dass er heute Abend in den Nachrichten verkünden konnte, die belgische Regierung (in seiner Person) würde alles Mögliche unternehmen, um der ruandischen Regierung beim Aufspüren und Richten der Massenmörder zu helfen. In ein paar Monaten fanden schließlich Parlamentswahlen statt, und je öfter er im Fernsehen zu sehen war, desto mehr Leute würden ihn wählen. »Ein gewisser Lodewijk Vandaele auf Leitung eins, Mijnheer Minister. Er sagt, es sei dringend«, meldete seine Sekretärin entschuldigend. »In Ordnung, Sonja. Mijnheer Vandaele ist ein Bekannter«, sagte Brys beruhigend. »Verbinde ihn ruhig.« 86
»Guten Tag, Lodewijk.« »Hallo, Johan. Wie war’s in Burundi?« »Ruanda«, korrigierte ihn Brys taktvoll. »Ruanda, Burundi. Was ist schon der Unterschied?«, erwiderte Vandaele lachend. Er nippte an seinem Cognac. Die Tatsache, dass er ohne weiteres den Außenminister anrufen konnte, wirkte entspannend. Als Van In um halb zwei Zimmer 204 betrat, telefonierte Baert bereits eifrig. »Immer noch nichts?«, fragte Van In ziemlich herablassend, als Baert den Hörer auflegte. »Ich habe alle Zahnärzte in ganz Brügge und Umgebung abgeklappert. Kein Einziger erinnert sich an einen Patienten mit vierundzwanzig Stiftzähnen. Deshalb rufe ich jetzt nur noch die Stomatologen und die Krankenhäuser an.« »Und, hat das bisher etwas gebracht?« »Leider nein, Commissaris. Und wie steht es mit Ihren Ermittlungen?« Van In drehte sich verstört um. Was bildete sich dieser neugierige Kerl ein? »Ist Versavel schon zurück?« »Nein, Commissaris. Der Brigadier ist gegen elf Uhr gegangen und hätte eigentlich bereits wieder zurück sein müssen.« »Wann er wieder hier sein muss, sollten Sie schon mir überlassen, Mijnheer Hoofdinspecteur.« Baert presste die Fingernägel in seine Handfläche. Woran lag es nur, dass niemand ihn ausstehen konnte? Er zog wütend das Telefonbuch zu sich heran und markierte die nächste Nummer. Als er Anstalten machte, seine 87
Odyssee fortzusetzen, hielt Van In ihn auf. Dies war eine ideale Gelegenheit, den lästigen Kerl loszuwerden. »Ich hätte gern, dass Sie etwas für mich überprüfen, Baert. Es geht um einen Unfall aus dem Jahr 1978. Mijnheer Vandaele behauptet, dass im Sommer dieses Jahres – an das genaue Datum konnte er sich nicht mehr erinnern – ein Mopedfahrer auf sein stehendes Auto aufgefahren sei. Es würde mich interessieren, ob das wirklich stimmt.« Baert klappte das Telefonbuch zu und verließ den Raum. Er begriff, dass er hier nicht länger erwünscht war. Nachdem der Hoofdinspecteur zur Tür hinaus war, setzte sich Van In an die altmodische Brother von Versavel. Irgendjemand musste schließlich den Papierkram erledigen. Der Brigadier kehrte um Viertel vor vier zurück. »Das lasse ich mir gefallen«, sagte Versavel lachend, als er sah, wie sein Chef in die Tasten hieb. Van In brach mitten im Satz ab, der sowieso vor Tippfehlern wimmelte. »Na endlich«, bemerkte er ironisch. »Wie es scheint, hat Mijnheer sich köstlich amüsiert. Hast du ein bisschen Spaß gehabt mit Jonathan?« »Es war einfach un-glaub-lich!«, antwortete Versavel strahlend. »Er hat mich zum Mittagessen ins Karmeliet eingeladen.« Er setzte sich an den Rand des Schreibmaschinentischs. »Jonathan ist ein echter Feinschmecker, schon immer gewesen. Es gab gegrillte Entenbrust auf einem Bett von Himbeergelee, serviert mit lauwarmer Artischockenmousse. Als zweiten Gang haben wir uns für eine Timba88
le vom Seeteufel mit gefülltem Chicoree und Forellenkaviar entschieden, anschließend haben wir den Lammsattel mit …« »Und ich habe hier bei schwarzem Kaffee gesessen!«, unterbrach ihn Van In gereizt. »Und dazu einen Mouton Rothschild«, fuhr Versavel ungerührt fort. »Und zwar Jahrgang 1984. Dazu kann kein normaler Mensch nein sagen.« »Gut, dass Frank dich nicht hört.« Versavel zuckte mit den Schultern. »Frank weiß, dass ich mit Jonathan eine Beziehung hatte. Das ist ja der Unterschied zwischen uns und euch Heteros. Wir Männer machen keinen solchen Wind um alte Affären. Ein Freund bleibt ein Freund. Frank und ich lassen uns da alle Freiheiten.« Der Mouton Rothschild war Versavel nicht bekommen. Der Brigadier benahm sich wie ein alter Hippie auf LSD. »Hast du aus Jonathan denn auch etwas herausgekriegt?«, fragte Van In. Versavel ignorierte den Sarkasmus seines Vorgesetzten. In Gedanken saß er noch immer im Karmeliet, Auge in Auge mit Jonathan. Es war schon drei Stunden her, seit Van In seine letzte Zigarette geraucht hatte. Jetzt griff er nach dem Päckchen. Das war ganz klar ein Notfall. Was in Gottes Namen sollte er mit einem alten Schwulen anfangen, der nach fünfzehn Jahren wieder für einen Jugendfreund entflammt war? »Du glaubst doch nicht etwa, dass ich betrunken bin, Commissaris?« Versavel musterte seinen Vorgesetzten mit einem jungenhaften Grinsen. 89
»Ach, Guido, jetzt komm schon auf den Punkt. Danach kannst du dich meinetwegen aufs Ohr hauen.« Versavel setzte sich auf seinen Stuhl. Das Lächeln auf seinen Lippen gefror. »Jonathan hat mir erzählt, dass De Love als Bordell für einflussreiche Leute diente.« Versavel sprach love wie im Englischen aus. »Hat er Namen genannt, Guido?« »Nein, hat er nicht.« »Woher weiß er dann, dass es einflussreiche Personen waren?« »Er geht eben davon aus.« Versavel begriff die zynische Reaktion Van Ins. Zu den Huren zu gehen war kein Verbrechen. »Jonathan hat Vandaele gelegentlich zu einem Bordell am Maalsesteenweg begleitet und dort das ein oder andere über De Love aufgeschnappt. Der Betreiber des Ladens, ein gewisser William Aerts, hat Jonathan irgendwann mal verraten, dass er die besseren Kunden und die besonderen Mädchen zu dem Bauernhof bringen musste, wo sie ungesehen treiben konnten, was sie wollten.« »Wenn ich richtig verstehe, stellte Vandaele also De Love seinen Geschäftsfreunden zur Verfügung«, bemerkte Van In enttäuscht. Bei dem langen »o« von Love zögerte er einen Moment. »Es muss love heißen, wie ›Liebe‹ auf Englisch«, bemerkte Versavel. »In De Love mit langem o wohnten einst die Grafen von Flandern. Jonathan hat den Namen englisch ausgesprochen.« »Na gut«, sagte Van In. »Und ich habe geglaubt, es wäre der alte poetische Name für das Laub der Bäume.« »Könnte auch sein«, spekulierte Versavel. »Hat ja auch entfernt mit der Sache zu tun.« 90
»Wie bitte?« Van In schaute den leicht angeheiterten Brigadier erstaunt an. »Hat nicht jeder alte Bock ab und zu Appetit auf ein frisches grünes Blättchen? Das müsstest du doch am besten wissen, Pieter.« Van In schüttelte nur den Kopf. »Soll ich einen Kaffee aufsetzen?« Er ging an die Fensterbank und füllte eine Kanne mit Wasser. Wenn Versavel derart außer Rand und Band geriet, war er ebenso nützlich wie ein Pastor am Sterbebett eines Freimaurers. Zum ersten Mal seit zwölf Wochen hatte Van In mehr als zehn Zigaretten innerhalb von vierundzwanzig Stunden geraucht. Hannelore ließ ihn schweigend gewähren. Sie gönnte sich ein weiteres Glas Moselwein und kämpfte im Stillen gegen den unbändigen Appetit auf einen Zug. Sie hatten beide einen schweren Tag hinter sich. Van In drückte nachlässig eine halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. Hannelore wurde schier verrückt, als sie die Kippe qualmen sah. »Hast du etwas?«, fragte Van In automatisch. »Nein. Wie geht es Herbert?« Van In verstand nicht viel von der weiblichen Psyche, aber ganz so dumm war er nun auch wieder nicht. Ihre Augen wurden feucht, als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. »Soll ich eine Dose Sauerkraut warm machen?«, schlug er fürsorglich vor. Er war ja schon lieb, ihr Pieter. »Oder möchtest du eine Portion Fritten?« Hannelore fuhr mit der flachen Hand über den Tisch. »Ich möchte eine Zigarette«, sagte sie bestimmt. 91
Van In versuchte, ihr das Päckchen wegzunehmen, aber sie war schneller als er. »Das kannst du nicht machen, Hanne!« »Nur eine!«, flehte sie. Ihre Augen glänzten, als sie den Rauch tief inhalierte. »Ich dachte, wir hätten ausgemacht, dass du aufhörst zu rauchen!«, fuhr er sie wütend an. »Und im Gegenzug habe ich versprochen, streng Diät zu halten. Ich habe mich an unsere Abmachung gehalten: zehn Zigaretten am Tag, Rohkost, faden Fisch und Vollkornbrot mit Sägemehl.« Hannelore zog wie besessen an der Zigarette. Ihr Gesicht wurde so blass wie eine venezianische Maske. »Heute Abend hast du schon ein halbes Päckchen geraucht!«, protestierte sie. »Ich habe mitgezählt!« Van In versuchte sich zu beherrschen. Er fragte sich, was er tun würde, wenn ihn jemand bäte, ganz mit dem Rauchen aufzuhören. »Okay, aber nur eine. Und ich bitte dich inständig …« »Ja, du kannst mich ruhig bitten. Aber glaubst du wohl, du hättest als Einziger Stress? Dann arbeite mal einen Tag lang am Gericht.« »Hanne, bitte sag mir doch, was los ist.« Hannelore stand auf. Das tat sie meistens, wenn ihre Gefühle sie überwältigten. »Ich werde dir sagen, was los ist. Du schmollst schon den ganzen Abend und rauchst eine nach der anderen. Und dann wagst du es auch noch zu behaupten, ich hätte unsere Abmachung nicht eingehalten.« Es war eine Ewigkeit her, dass Van In sich derart abrupt in sich zurückgezogen hatte. Er erkannte seinen alten Feind sofort wieder. Ungerechtigkeit brachte ihn zur Weißglut. Das beklemmende Gefühl, dass seine Kehle 92
zugedrückt wurde, und die Wut, die in seiner Speiseröhre pochte, konfrontierten ihn mit einer Vergangenheit, von der er gedacht hatte, sie ein für alle Mal hinter sich gelassen zu haben. Er sprang auf und marschierte mit zusammengebissenen Zähnen in die Küche. Im Kühlschrank stand noch eine halbe Flasche J & B. Im Garten inhalierte Hannelore den letzten Zug. Ihr war schwindelig. Sie schaute hinauf in den Sternenhimmel, stieß einen Seufzer aus und warf die Kippe in die Rosen. Die Kühlschranktür fiel mit einem leisen Klappen zu. »Okay, besauf dich nur. Ich gehe ins Bett«, rief sie aufgebracht und ging durch die Hintertür ins Haus. Van In trank einen Schluck aus der Flasche. Der Alkohol brannte in seinem Magen. Als er sie schluchzend die Treppe hinaufsteigen hörte, fühlte er sich einsamer als Robinson Crusoe. Die Überfahrt mit dem Katamaran von Syrakus nach Malta verlief reibungslos. Die See war so glatt wie ein Babypopo, und das futuristische Boot glitt wie ein Raumschiff über das Wasser. Die Passagiere, einige hundert Touristen, hatten ihren Ausflug nach Sizilien genossen. Niemand achtete auf den einzelnen Sonderling, der auf dem Achterdeck in die Heckwelle starrte. Aerts hatte dem Steuermann fünfhundert Dollar bezahlt, damit er ihn heimlich mitnahm. Sein Name stand nicht auf der Passagierliste. Bald würde der Schaum der Wellen seine letzte Spur unwiderruflich verwischen. Morgen konnte er ein neues Leben beginnen. Amand hatte alles bis ins Detail geregelt. Man würde ihn nicht finden, und wenn man den ganzen Globus nach ihm absuchte.
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»Tut mir Leid, Schatz. Bitte verzeih mir. Es ist alles meine Schuld.« Van In stellte die Flasche Moselwein auf das Nachtschränkchen und bot Hannelore eine Zigarette an. »Nimm dir doch noch eine. Mir war einfach nicht klar, dass es dir so schwer fällt.« Sie lag auf dem Bett und sah zerbrechlich und verletzlich aus. »Schon gut, Pieter. Es geht mir schon wieder besser.« Van In kniete sich hin und nahm sie in den Arm. Sie fing wieder an zu schluchzen. »Ich bin heute beim Frauenarzt gewesen.« Van In hatte das Gefühl, als liefen ihm hundert Spinnen über den Rücken. »Ich wusste doch, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist!« Es klang unbeholfen. „Wie so viele Männer, wusste er in einer solchen Situation einfach nicht, was er sagen sollte. »Hast du Schmerzen?«, fragte er nach einer Weile. Sie tupfte sich mit einem Papiertaschentuch die Augen ab. »Ich mache mir Sorgen um das Baby. Ich habe um eine Fruchtwasseruntersuchung gebeten.« »Eine Fruchtwasseruntersuchung! Wo du doch sonst immer so unerschütterlich optimistisch bist!« Hannelore fuhr ihm durch die Haare. Sie wollte um jeden Preis vermeiden, dass er sich schuldig fühlte. »Ich will einfach nur ganz sichergehen, Pieter. Ich bin schließlich schon sechsunddreißig.« Van In schenkte sich ein Glas Wein ein. Er war dreiundvierzig. Seine Lungen waren schwarz vor Teer und sein Blut nur deshalb flüssig, weil er es täglich mit Alko94
hol verdünnte. »Auch einen Schluck?« Er reichte ihr das Glas. »Ein bisschen Wein wird ihm schon nicht schaden.« Sie lehnte mit einer Handbewegung ab. »Es hat den Alkohol sowieso schon in den Genen«, beruhigte Van In sie. »Glaub mir. In dieser Hinsicht sind meine Erbanlagen dominant.« Manchmal konnte Van In ziemlich unlogisch sein. Ihr war schleierhaft, warum sie seine holprigen Argumente unkommentiert hinnahm und jetzt doch einen Schluck trank. Ein paar Sekunden lang herrschte eine unangenehme Stille, in denen Van In von apokalyptischen Bildern grässlich missgestalteter Babys heimgesucht wurde. »Und was machen wir, wenn …? Ich meine … Stell dir vor, dass …« Das Gespenst, das Van In jetzt heimsuchte, verfolgte Hannelore schon seit gestern. »Ich hatte gar nicht vor, es dir heute Abend zu erzählen. Vielleicht hätte ich besser … Ich weiß auch nicht mehr, warum, Pieter. Man hört heute einfach so viel von Vererbung und Gentests. Die Zeitungen sind voll davon. Und du hast Recht. Früher hätte ich mich nicht so leicht kopfscheu machen lassen, aber gestern ist meine Selbstsicherheit plötzlich wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen. Ich will unbedingt wissen, ob alles in Ordnung ist.« War dies einer der Momente, in denen ein Mann seine männliche Tapferkeit beweisen musste, oder durfte er in einer solchen Situation emotional reagieren? Van In war sich nicht sicher. Die Antwort auf diese Frage würde er aber gewiss in irgendeinem Ratgeber finden.
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5 Ein paar Kilometer außerhalb von Victoria, der Hauptstadt von Gozo, betrieb Amand Dekeyzer das einzige DreiSterne-Restaurant des maltesischen Archipels. Amand stammte aus Knokke und hatte vor zwanzig Jahren diese Nische auf dem maltesischen Markt entdeckt. Obwohl sich die Einheimischen redlich Mühe gaben, den Touristen alles recht zu machen, gab es an ihrer Küche einiges auszusetzen. Lag es an den Briten, die einst ihre Ernährungsgewohnheiten beeinflusst hatten, oder hing ihr mangelnder kulinarischer Einfallsreichtum mit der Dürre der Insel zusammen, die doch im Altertum noch als »Land, wo Milch und Honig fließen« bezeichnet wurde? Wie dem auch sei, Amand hatte jedenfalls begriffen, dass die gängige Kombination von Plumpudding, Pizza und Couscous durchaus verbesserungswürdig war. Er begann bescheiden, importierte seine Basiszutaten aus Flandern und brachte es innerhalb von fünf Jahren zum Besitzer eines eifrig frequentierten Restaurants mit dazugehörigem Nachtclub. William Aerts traf am späten Nachmittag ein. Amand ruhte sich gerade auf seiner windigen Terrasse aus. Er erkannte seinen alten Freund auf der Stelle wieder. »William!«, rief er überschwänglich. »Ich hatte gar nicht so früh mit dir gerechnet.« Die beiden Männer schüttelten sich ausgiebig die Hände. Amand ließ auf der Stelle Jupiler und Häppchen servieren. 96
»Endlich hat es geklappt«, sagte Aerts. »Belgien kann mir für immer gestohlen bleiben.« »Fantastisch, William. Das muss gefeiert werden.« Versavel rauschte in Zimmer 204 hinein wie eine Diva in vollem Ornat: würdevoll und majestätisch. Er trug einen modischen Anzug, ein bronzegrünes Oberhemd und eine schwarze Krawatte. Ein entrücktes Lächeln umspielte seine Lippen. »Du bist spät dran«, knurrte Van In ihn an. Versavel zog sein Jackett aus und warf es mit einem eleganten Schwung über einen Stuhl. Dann stellte er sich ans offene Fenster und atmete tief ein. »Es ist Viertel nach neun, Guido. Jetzt erzähl mir nicht, die Nachwirkungen des Mouton Rothschild wären schuld. Zu spät zu kommen ist mein Privileg. Vergiss das nicht.« Versavel führte einige Dehnübungen aus und drehte sich um die eigene Achse wie ein russischer Balletttänzer. »Mais où sont les neiges d’antan, mon ami?« »Benson im Himmel, Guido! Soll ich einen Psychiater rufen, oder ziehst du freiwillig die Zwangsjacke an?« Versavel ließ sich nicht entmutigen. Er rezitierte aus voller Brust zwei Strophen aus der Ballade von François Villon und ließ sich anschließend auf einen Stuhl fallen. »Was hast du für ein Problem, Commissaris?« »Ach, Guido, ich bin nicht in der Stimmung für solchen Quatsch. Wenn du so weitermachst, steht gleich die ganze zweite Etage vor unserer Büroscheibe und glotzt rein. Was zum Teufel ist denn in dich gefahren? Du siehst aus wie eine Kopie von Eddy Wally und benimmst dich wie ein drittklassiger Zirkusclown.« 97
»Ist das ein Pleonasmus oder eine Tautologie, Commissaris?« Van In erhob sich von seinem Stuhl und baute sich breitbeinig vor Versavels Schreibtisch auf. »Lieber Guido, würdest du mir bitte mal erklären, was eigentlich mit dir los ist?« »Es gibt gute Neuigkeiten, Pieter, nur gute Neuigkeiten. Jonathan hat mich gestern angerufen. Er kommt heute Abend zum Essen, und Frank hat versprochen, Perlhuhn mit Johannisbeeren für uns zuzubereiten.« Van In rollte die Augen gen Himmel. Was Beziehungen anging, hatte er zwar ausschließlich Erfahrungen mit Frauen, doch in den letzten fünfundzwanzig Jahren hatte er am eigenen Leibe erfahren, dass eine Frau gewisse Dinge niemals akzeptieren würde. Dazu gehörte unter anderem, dass ihr Mann eine Verflossene zum Essen einlud und sie für sie kochen musste. »Und Frank war ohne weiteres damit einverstanden?« »Frank ist ganz begeistert von Jonathan.« Versavel lehnte sich faul in seinem Stuhl zurück und reckte sich gähnend. Seine Augen glänzten wie polierter Jett. Baert klopfte an, bevor er eintrat, ein Beweis dafür, dass er gelauscht hatte. »Guten Morgen, Commissaris.« »Guten Morgen, Hoofdinspecteur.« Baert begrüßte Versavel mit einem fast unsichtbaren Kopfnicken, und der Brigadier machte sich nicht die Mühe, den sparsamen Gruß seines Vorgesetzten zu erwidern. Van In setzte sich an seinen Schreibtisch, holte einen Stapel Papier aus einer der Schubladen und begann eifrig, sich Notizen zu machen. Normalerweise wandte er 98
diesen Trick nur an, wenn der Alte unerwartet auftauchte. Die meisten Protokolle, in denen Van In herumkritzelte, waren Jahre alt. Versavel runzelte die Stirn. Ihm war schleierhaft, warum Van In diese Komödie vor einem karrieresüchtigen Unteroffizier aufführte. »Was ist denn, Baert?«, fragte Van In plötzlich schroff. Baert war die ganze Zeit stramm stehen geblieben. »Jetzt setzen Sie sich doch mal hin, Mensch!« Baert sackte in sich zusammen wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hat. »Ich wollte Ihnen über den Unfall Bericht erstatten, der sich 1979 im Bremwegel ereignet hat«, begann Baert diensteifrig. »Im Bremwegel, Baert?« »Dort, wo das Landhaus von Mijnheer Vandaele liegt«, ergänzte der Hoofdinspecteur bereitwillig. »Sie hatten mich gebeten, zu überprüfen, ob 1979 wegen eines Unfalls Anzeige erstattet wurde, in den Lodewijk Vandaele und ein unbekannter Mopedfahrer verwickelt waren.« Baert sprach so, wie er auch seine Protokolle verfasste: in einem gestelzten Amtsniederländisch. Versavel griff jetzt seinerseits nach einem Blatt Papier und machte sich ein paar Notizen. Van In tat, als habe er Baert nicht gehört. Er konzentrierte sich auf ein vergilbtes Protokoll aus dem beeindruckenden Stapel und ließ den Hoofdinspecteur links liegen. Erst jetzt begriff Versavel, welches Spiel Van In spielte. Jeder normale Mensch, der so behandelt wurde, würde nach einer Woche um Versetzung in eine andere Dienststelle bitten. Versavel hoffte, dass Baert ein normaler Mensch war. 99
»Bitte fahren Sie fort, Hoofdinspecteur«, forderte Van In diesen gereizt auf. Baert schluckte. Sein auf und nieder hüpfender Adamsapfel verriet deutlich seinen Gemütszustand. »Mijnheer Vandaele gab den Unfallhergang persönlich zu Protokoll. Der Mopedfahrer, ein gewisser John Catrysse, zog sich eine Gehirnerschütterung zu. Die beiden Parteien trafen eine gütliche Einigung. Mijnheer Vandaele übernahm von sich aus sämtliche anfallenden Kosten.« »Die Adresse?«, fragte Van In trocken. Baert schaute ihn fragend an. »Bremwegel 38, Commissaris.« Mit der Miene eines gelangweilten Parlamentsmitglieds erklärte Van In: »Die Adresse von Catrysse, Hoofdinspecteur.« Baert wurde abwechselnd heiß und kalt. »Da müsste ich noch einmal nachschauen, Commissaris. Ich dachte, es wäre …« »Das Denken können Sie ruhig uns überlassen, Baert.« Versavel räusperte sich vernehmlich. Baert schluckte seine Empörung hinunter und trat beleidigt den Rückzug an. »So, den sind wir los«, bemerkte Van In grinsend und packte den Aktenstapel wieder in die Schublade. »Vandaele hat also doch die Wahrheit gesagt«, meinte Versavel. »Was machen wir jetzt?« »Ich traue diesem Baert nicht für fünf Cent. Bitte kümmere du dich um die Adresse dieses Catrysse.« Versavel warf seinem Chef einen verwunderten Blick zu. Baert mochte inkompetent sein, dämlich war er mit Sicherheit nicht. »Und ich will wissen, wie viel Vandaele dem Mann gezahlt hat. Von Rechts wegen war Catrysse schuld an 100
dem Unfall, schließlich ist er auf ein stehendes Fahrzeug aufgefahren. Im Prinzip hätte seine Versicherung für den Schaden an dem Mercedes aufkommen müssen.« Versavel nickte. Das klang logisch. Van In ging die wenigen Informationen, über die sie bis jetzt verfügten, noch einmal der Reihe nach durch. Laut Jonathan war De Love ein Liebesnest für die Bekannten Vandaeles gewesen. Sein Informant war ein gewisser William Aerts, der Betreiber eines Bordells am Maalsesteenweg, das er renoviert und wieder hochgebracht hatte. Herbert war Mitte der 80er Jahre auf dem Grundstück von De Love verscharrt worden, und 1986 hatte Vandaele den Bauernhof einem obskuren Verein überschrieben. Van In notierte sich eine kurze Frage: Hat Vandaele das Bordell aufgegeben oder es anderswohin verlegt? »Ich glaube, ich sollte mir mal diesen Aerts vorknöpfen. Vielleicht kann er uns verraten, wer sich so alles in De Love vergnügt hat.« Das Gerichtsgebäude von Brügge ist zweifellos das modernste ganz Belgiens und das einzige, das über eine Bar verfügt. Im Gegensatz zu dem feierlichen Ernst, der in den meisten Gerichtssälen herrscht, ist die Stimmung hier im Allgemeinen entspannt, ja sogar ausgelassen. Heute war zufällig einer der ausgelassenen Tage. Über fünfzig Rechtsanwälte feierten fröhlich den Beginn des neuen Gerichtsjahres. Das Bier floss in Strömen und die Anekdoten wurden mit jeder Stunde gewagter. Als Hannelore hereinkam, wurde sie lautstark begrüßt. Es regnete Komplimente. Sie schüttelte sie von sich ab wie ein Bobtail die Regentropfen, wenn er nach einem Schauer ins Wohnzimmer getrabt kommt. Hannelore bestellte sich 101
eine Tasse Tee, machte es sich auf der sonnigen Terrasse bequem – die hier ebenfalls vorhanden war – und genoss die romantische Aussicht auf die Mühlen von Brügge. Die Herbstsonne tat ihr gut. Sie streckte die Beine aus und schloss für einen Moment die Augen. Niemand beachtete Leo Vanmaele, der sich nach ein paar Minuten zu ihr gesellte. Es war das erste Mal, dass er das Allerheiligste betrat, da die Bar normalerweise für die einfachen Angestellten nicht zugänglich war. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, tolerierte man hier ausschließlich Rechtsanwälte und höhere Justizbeamte. »Soll ich dir etwas zu trinken holen?«, fragte Hannelore, nachdem sich Leo neben sie gesetzt hatte. »Nein, danke dir, Hanne.« »Wirklich nicht?« Leo schüttelte resolut den Kopf. »Wahrscheinlich fragst du dich, warum ich mich ausgerechnet hier mit dir treffen wollte.« Diese Frage hatte sich Leo tatsächlich gestellt. »Weil ich etwas ganz Bestimmtes mit dir besprechen möchte und das hier der sicherste Ort dafür ist. Hier lässt sich De Jaegher niemals blicken und …« »… und du hattest schon lange vor, dich hier einmal heimlich mit einem unbekannten Verehrer zu treffen«, scherzte Leo. »Woher weißt du das?« »Hast du keine Angst vor Gerede?« Leo zeigte hinüber zu den lärmenden Juristen an der Bar. »Ach, die halten dich für einen jungen Referendaren«, antwortete Hannelore schmunzelnd. »Im September wimmelt es hier nur so von denen.« »Ich bin siebenundvierzig, Hanne.« 102
»Weiß ich«, erwiderte sie gefasst. »Aber ich gehe davon aus, dass meine Kollegen derzeit kein nüchternes Urteil fällen könnten.« »Wenn das so ist, nehme ich doch ein kleines Pils«, sagte Leo. »Und für mich noch eine Tasse Tee!«, rief Hannelore ihm nach. Leo ging an die Theke und bestellte die Getränke, als ginge er hier seit Jahren ein und aus. »Ich konnte Pieter heute Nachmittag nicht erreichen«, sagte er, als er das Tablett mit dem Tee und dem Bier auf den Tisch stellte. »Und weil ich die Information von Versnick ziemlich wichtig fand, habe ich dich angerufen.« Hannelore trank einen Schluck von ihrem Tee und lehnte sich zurück. Am liebsten hätte sie sich auch noch die Schuhe ausgezogen, so wohl fühlte sie sich hier. »Erzähl schon, Leo, ich bin ganz Ohr.« »Koen Versnick ist wirklich ein prima Kerl. Er entspricht so gar nicht dem stereotypen Bild eines Leichenfledderers, aber was will man machen? Heutzutage ist es selbst für Ärzte nicht leicht, nach dem Studium eine Stelle zu bekommen.« »Da sind sie nicht die Einzigen«, seufzte Hannelore. Leo kannte ihre kämpferische Natur, wobei eine Linke in Gerichtskreisen ungefähr so häufig vorkam wie ein Kaktus im Regenwald. »Koen Versnick hat sich also den Autopsiebericht von De Jaegher einmal näher angeschaut, und seiner Meinung nach hat er etwas ganz Entscheidendes übersehen.« »Es ist allgemein bekannt, dass Doktor De Jaegher hin und wieder Fehler macht«, antwortete Hannelore beschwichtigend. »Und junge Ärzte wissen auch nicht alles.« 103
»Moment, Hanne. Versnicks Vater ist ein renommierter plastischer Chirurg, und Koen hat die Röntgenaufnahmen von Herbert mit nach Hause genommen, weil ihm irgendetwas merkwürdig vorkam. Und sein Vater ist sich ganz sicher: Der Unterkiefer des Toten wurde nicht durchgesägt, sondern gespalten, was bedeutet, dass sich der Mann einer Schönheitsoperation unterzogen hat.« Leo zeichnete auf dem Bierdeckel schematisch einen Kieferknochen auf und versuchte, Hannelore den Unterschied zwischen den beiden chirurgischen Techniken zu demonstrieren. »Laut Vater Versnick hätte De Jaegher das erkennen müssen«, fügte er nicht ohne Stolz hinzu. »Und wozu dient eine solche Operation?«, fragte Hannelore neugierig. »Indem man die Kieferknochen spaltet, tritt das Kinn ein wenig zurück. Der Eingriff lässt das Gesicht weicher und regelmäßiger erscheinen.« »Unser Herbert war also ein eitler Junge.« »Oder so missgestaltet, dass die Operation notwendig war. Der Vater von Versnick hat gesagt, diese Technik sei relativ neu. Um 1986 wurde sie nur in Ausnahmefällen angewandt.« »Du meinst also, dass wir Herbert anhand dieses Details relativ leicht müssten identifizieren können.« »Stimmt, genau das meine ich, Hanne.« »Pieter wird sich freuen, das zu hören.« »Ja, habe ich mir auch gedacht. Warum hätte ich mich sonst wohl in die Höhle des Löwen gewagt?« Hannelore erhob sich langsam und sagte grinsend: »Ich finde, du hast dir noch ein Pils verdient.«
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Van In kannte den Ruf des Cleopatra, war aber selbst noch nie da gewesen. Er parkte den Golf auf dem Kies vor der mit blauen Neonleuchten geschmückten Villa. »Ziemlich tot, der Laden«, bemerkte er, als sie ausstiegen. Der Golf war das einzige Fahrzeug auf dem improvisierten Parkplatz. Versavel zuckte mit den Schultern. »Es ist ja schließlich auch erst kurz vor zwei, Pieter.« Van In reagierte nicht auf Versavels naive Erwiderung. In der Blütezeit der Straßenpuffs brummten die Läden rund um die Uhr. Damals feierte jeder Vertreter, der etwas auf sich hielt, regelmäßig seine Umsätze mit einer Flasche Sekt und einem Mädchen auf dem Schoß. Bevor sie klingelten, spähte Van In zum Fenster hinein. Im Halbdunkel erkannte er eine rustikale Eichentheke, hohe Barhocker und die obligatorischen Sitzgelegenheiten mit platt gesessenen Polstern. Außerdem gab es eine glänzende Jukebox. Die sah man heutzutage nicht mehr oft. Linda saß in der Küche, als es klingelte. Vor ihr stand eine leere Flasche Elixir d’Anvers. Sie zog eine Zigarette aus dem fast leeren Päckchen und zündete sie an. Sobald sich die lästigen Eindringlinge vor der Tür verzogen hatten, würde sie zum Supermarkt fahren und für Nachschub sorgen. »Vielleicht haben die heute Ruhetag«, spekulierte Versavel, als nach fünf Minuten immer noch niemand aufgemacht hatte. »Unsinn. Wahrscheinlich haben sie den Golf gesehen, und in diesem Milieu ist Besuch von der Polizei niemals willkommen. Ich gehe mal hintenrum. Wer weiß, vielleicht liegen sie im Garten in der Sonne.« Versavel klingelte weiter Sturm, wodurch Linda nicht mitbekam, dass Van In sie durch das Küchenfenster hin105
durch anschaute. Ihr blieb fast das Herz stehen, als er gegen die Scheibe klopfte. »Wir haben geschlossen!«, schrie sie wütend. »Polizei, Mevrouw. Könnte ich vielleicht mit Mijnheer Aerts sprechen?« Bullen, dachte sie. Na, das kann ja heiter werden. Sie schlurfte zur Hintertür. Versavel hatte Van In rufen hören. Er hörte auf zu klingeln und eilte um die Ecke. Van In winkte ihn zu sich. Linda öffnete die Tür und ließ die Herren von der Polizei herein. Die Küche sah aus wie ein Schlachtfeld. Versavel musste sich von dem Gestank der verdorbenen Essenreste fast übergeben. »Sie sind also auf der Suche nach meinem lieben Gatten«, sagte Linda mit schwerer Zunge. »In der Tat, Mevrouw. Wir hofften, ihn hier anzutreffen. Ist er nicht zu Hause?« »Sehen Sie ihn vielleicht hier irgendwo?«, keifte sie. Van In hatte nicht die Absicht, sich von einer betrunkenen Schlampe provozieren zu lassen. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Versavel folgte seinem Beispiel. Dabei wäre er um ein Haar in eingetrocknetes Eidotter getreten. »Wir können hier gerne warten, bis er nach Hause kommt«, sagte Van In harsch. »Da können Sie lange warten. Mijnheer hat sich vorgestern aus dem Staub gemacht.« Wird wohl nicht das erste Mal gewesen sein, dachte Van In bei sich, sagte aber nichts. »Wann erwarten Sie ihn zurück?«, fragte er. Linda lehnte am Küchenschrank. Ihr Morgenmantel stand vorne halb offen und entblößte ein Paar dicke Beine. Sie wartete absichtlich, bis beide Männer den Blick 106
abgewandt hatten, bis sie den Morgenmantel wieder zuzog. »Der Mistkerl kommt nicht mehr zurück«, entfuhr es ihr plötzlich. »Warum glauben Sie das, Mevrouw Aerts?« Van In zog eine Zigarette aus der Brusttasche und steckte sie an. Der Gestank war wirklich nicht auszuhalten. »Kann ich auch eine haben?« Mit unverhohlener Gier stürzte sich Linda förmlich auf ihn. Van In gab ihr seine vorletzte Zigarette, was sie einigermaßen beruhigte. Hastig zog sie ein paarmal daran. »Er hat das Foto seiner Mutter mitgenommen.« Sie zeigte auf eine leere Stelle auf dem Kaminsims. »Das nimmt er sonst nie mit.« Versavel dachte an seine eigene Mutter. Seitdem sie vor drei Jahren gestorben war, trug er ihr Bild wie einen kostbaren Talisman um den Hals. Sie und Frank waren die einzigen Menschen, die in guten wie in schlechten Zeiten immer zu ihm gehalten hatten, und genau in diesem Moment vermisste er sie schmerzlich. Van In folgte Lindas Blick, der auf der leeren Flasche Elixir d’Anvers haften blieb. Ihre Hand, in der sie die Zigarette hielt, zitterte. »Es ist also nicht das erste Mal, dass Ihr Mann die eheliche Wohnung verlässt.« Jetzt hatte er es doch ausgesprochen. »Die eheliche Wohnung!«, wieherte sie. »Wenn ich damals gewusst hätte, dass er jedem Rock hinterherrennt, hätte ich diesen geilen Bock niemals geheiratet. Der wäre sich nicht zu schade, selbst ein Krokodil zu bumsen.« Versavel schaute Van In an, und sie mussten sich beide beherrschen, um nicht laut loszulachen. 107
»Sie glauben also, dass Ihr Mann nicht wieder zurückkommt«, sagte Van In mit zusammengebissenen Zähnen. Linda warf ihre halb gerauchte Zigarette auf den Boden und bettelte um eine neue. Van In trat ihr seine letzte Zigarette ab. In ihrem eigenen Päckchen waren noch mindestens sechs. »Dass der Scheißkerl mich betrügt, ist mir egal, aber er hätte seine Pfoten von meinem Geld lassen sollen.« Da war es heraus. Sie konnten ruhig wissen, dass dieser Arsch-Fetischist mit ihrem Geld durchgebrannt war. Von Rechts wegen war er ein Dieb, und die Bullen wurden schließlich dafür bezahlt, Diebe zu schnappen. »Ihr Geld, Mevrouw?« »Ja, mein Geld. Dieser geile Tittengrapscher ist ein gemeiner Dieb!« »Wenn ich Sie richtig verstehe, wollen Sie gegen Ihren Mann Anzeige erstatten.« »Wenn das nicht zu viel verlangt ist!«, blaffte sie. »Um wieviel geht es genau, Mevrouw Aerts?« »Vierhunderttausend. Von denen ich mehr als die Hälfte verdient habe.« Da weder Van In noch Versavel Linda in ihren alten Zeiten gekannt hatten, konnten sie sich nicht vorstellen, wie sie das angestellt haben sollte. »Vierhunderttausend sind eine Menge Geld, Mevrouw Aerts«, sagte Versavel ungläubig. Schon Xanthippe hatte im Altertum Sokrates zur Verzweiflung getrieben, und er hatte Verständnis für die Männer, die die ewige Meckerei satt hatten und sich alles Mögliche einfallen ließen, um ihrem Schicksal zu entgehen. Ein bisschen Geld kam da immer gelegen, aber vierhunderttausend … Mit einer solchen Summe im Rücken hätte er dieses Weib schon vor Jahren sitzen lassen. 108
»Ist Ihr Mann ein Spieler?« Linda erschrak. Sie drehte sich um. Versavel blickte sie mit unschuldiger Miene an. »Nein, er spielt nur an Weibern rum«, antwortete sie vulgär. »Aber da können Sie ja wohl ganz offensichtlich nicht mitreden.« Versavel warf Van In einen empörten Blick zu. Der tat sein Bestes, sich nichts anmerken zu lassen. »Können Sie sich vorstellen, wo Ihr Mann Unterschlupf gefunden haben könnte? Bei Freunden vielleicht? Oder Verwandten? Oder bei einer Geliebten?« Lindas Züge verhärteten sich. Jetzt bereute sie es auf einmal, in einer plötzlichen Anwandlung die Bullen ins Vertrauen gezogen zu haben. William mochte noch so ein aalglatter Süßholzraspler sein, in einem hatte er Recht: Die von der Polizei waren allesamt hirnlose Kaninchenficker. »Halten Sie mich für so dämlich? Natürlich habe ich seine ganzen Freunde längst angerufen.« »Aber bei denen ist er nicht«, bemerkte Van In bedächtig. Gleichzeitig überlegte er fieberhaft, wie er die nächste Frage formulieren sollte, denn eine aufgebrachte Ehefrau war nach einem weißen Hai so ziemlich das gefährlichste Geschöpf auf Gottes Erdboden. »Gehört Lodewijk Vandaele vielleicht auch zu den äh … Freunden, die Sie angerufen haben?« »Wie kommen Sie denn darauf?«, schnaubte sie. »Was hätte William denn wohl bei Vandaele zu suchen?« Es war das erste Mal, dass sie ihren Mann beim Vornamen nannte. »William hat doch für Vandaele gearbeitet?« Versavel und Van In befürchteten beide, sie würde jeden Moment explodieren. 109
»Für ihn arbeiten, was heißt hier für ihn arbeiten? William ist sein eigener Herr. Er arbeitet für niemanden.« »Ich rede von der Arbeit im Sexbusiness und Geld verdienen mit Unzucht, Mevrouw Aerts«, sagte Van In eisig. »Unzucht, ist ja lachhaft! Wie kommen Sie denn darauf?« Mit heiserer Stimme kreischte sie los: »Sind wir hier vielleicht im Mittelalter? Bin ich auf einem fremden Planeten gelandet? Unzucht! Wir leben im dritten Jahrtausend, meine Herren! Jedem steht es frei, seinen Fahnenmast zu schmieren wie er will!« Sie lachte schrill. Van In musste zugeben, dass sie über einen ziemlich originellen Wortschatz verfügte. »Laut Gesetz ist Geschlechtsverkehr zwischen Erwachsenen nicht verboten, solange er aus freiem Willen stattfindet. Ansonsten handelt es sich um den Tatbestand der Vergewaltigung, und der ist allerdings strafbar, Mevrouw Aerts.« Es war ein schwaches Argument, aber ihm fiel so schnell nichts Besseres ein. »Vergewaltigung, du meine Scheiße«, erwiderte sie laut lachend. »Ich versuche hier, einen Diebstahl zur Anzeige zu bringen, und Mijnheer fängt mit Sex an. Wisst ihr, was ihr seid? Ein Haufen perverser Gummiknüppelficker!« »Hey, hey, jetzt aber mal langsam! Wenn Sie so weitermachen, kriegen Sie eine Anzeige wegen Beleidigung an den Hals! Passen Sie ein bisschen auf, was Sie sagen!« Linda Aerts richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. »Ihr könnt mich mal!«, schrie sie. »Raus hier, oder ich rufe die Rijkswacht!« Sie marschierte empört quer durch die Küche, wo ein schmieriges Telefon an der Wand hing. 110
»Ich gebe euch dreißig Sekunden!«, fauchte sie kampfbereit. Van In zog wütend die Tür des Golfs zu. Versavel setzte sich auf den Beifahrersitz und legte den Sicherheitsgurt um. »Und was machen wir jetzt, Pieter?« Van In tastete vergeblich in der Brusttasche seines Hemdes herum. »Dieses blöde Weib hat mir meine Zigaretten abgeluchst«, schnaufte er wütend. Er sah blass aus. Nie zuvor hatte ihn jemand einen Gummiknüppelficker geschimpft. »Funk bitte die Bereitschaft an. Sie sollen umgehend einen Wagen und vier Mann schicken. Sobald diese Hexe einen Fuß vor die Tür setzt, sollen sie sie einpacken und in die Hauwerstraat bringen.« »Mit welcher Begründung?«, fragte Versavel. »Trunkenheit in der Öffentlichkeit. Dieses Weib ist voll wie eine Strandhaubitze und hat kaum noch Zigaretten. Es kann nicht mehr lange dauern, bis sie losfährt, um sich Nachschub zu besorgen.« Versavel gab den Befehl seines Vorgesetzten über Funk weiter. »Ich fand Gummiknüppelficker eigentlich ziemlich lustig«, meinte er. »Das war auf dich gemünzt«, raunzte Van In ihn an. »Was sollte ich mit einem Gummiknüppel anfangen?« »Sie meinte einen Schlagstock, Pieter. Wir nennen die Dinger Schlagstöcke.« »Ach, lass mich doch in Ruhe, Versavel.« Als der Streifenwagen inklusive Verstärkung eintraf, erteilte Van In den Beamten die nötigen Instruktionen, 111
schaltete in den ersten Gang und raste mit quietschenden Reifen davon. Versavel war froh um seinen Sicherheitsgurt, denn während der wilden Fahrt zum Polizeipräsidium übertrat Van In mindestens zehnmal verschiedene Verkehrsregeln. Als er am Kruispoort eine rote Ampel überfuhr, hätten sie beinahe einen Zwanzigtonner gerammt. Van In beruhigte sich erst, nachdem er drei Zigaretten geraucht hatte. Alle fünf Minuten funkte er die Kollegen an, die vor dem Cleopatra Posten bezogen hatten. Das Fax von Hannelore nahm er gar nicht zur Kenntnis. Erst musste er unbedingt dieses Weib zu fassen kriegen. Eine Dreiviertelstunde später war es soweit. Kollege Deschacht meldete, dass sie Mevrouw Aerts verhaftet hätten. »Du hättest sie warnen müssen, dass sie diese Wildkatze nicht ohne Ledermontur anfassen dürfen«, meinte Versavel, nachdem Deschacht Bericht erstattet hatte. Van In rieb sich vergnügt die Hände. Es war ihm egal, dass sie sie bis nach Maldegem verfolgen mussten, bevor sie es endlich schafften, ihr den Weg abzuschneiden. Und dass sie einen der Beamten niedergeschlagen hatte, klang wie Musik in seinen Ohren. Das machte alles nur noch schlimmer für sie. Agent Deschacht sah ziemlich mitgenommen aus, als er Zimmer 204 betrat. »Die Verdächtige sitzt sicher hinter Schloss und Riegel«, meldete er erleichtert. »Wie geht es dem verletzten Kollegen?«, fragte Versavel besorgt. »Ronny haben wir in die Notaufnahme gebracht. Der Arzt befürchtet, dass sein Schlüsselbein gebrochen ist.« 112
»Perfekt«, sagte Van In. »Melden Sie den Vorfall der Staatsanwaltschaft. Ich will sie mindestens vierundzwanzig Stunden lang festhalten.« Deschacht nickte zustimmend. Ronny war ein guter Freund von ihm, und es hätte nicht viel gefehlt und dieses hysterische Weib hätte ihm auch noch ein Auge ausgekratzt. »Sonst noch etwas, Commissaris?« Van In grinste über das ganze Gesicht. »Lass sie nach oben bringen.« Deschacht zögerte. »Nachdem wir sie eingebuchtet haben, ist sie sofort eingeschlafen, Commissaris. Sollten wir nicht lieber warten, bis sie ihren Rausch ausgeschlafen hat?« »Ach was, Deschacht. Die sollen ihr einen Eimer Wasser über den Kopf kippen. Ich will, dass sie so schnell wie möglich nüchtern wird.« Deschacht antwortete nicht. Es war etwas anderes, jemanden vierundzwanzig Stunden lang abkühlen zu lassen, oder das zu tun, was der Commissaris hier verlangte. »Das ist nicht dein Ernst!«, kommentierte Versavel ungläubig. »Allerdings. Wenn ihr euch nicht traut, übernehme ich das.« »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Commissaris?« »Nein danke, Deschacht. Sie können gehen.« Der Agent machte blitzschnell, dass er wegkam. »Komm mit, Guido«, sagte Van In. »Es wird Zeit, Dornröschen zu wecken.« »Tut mir Leid, Pieter, aber bei solchen Spielchen mache ich nicht mit.« Die Zeiten, in denen man Säufer brutal ausnüchterte und anschließend verprügelte, waren definitiv vorbei. 113
»De Kee wird außer sich sein, wenn er …« »De Kee wird mich decken. Das würde jeder Korpschef tun.« »Damit würde ich nicht rechnen«, erwiderte Versavel. »Ich glaube eher, dass er dir eine Dienstaufsichtsbeschwerde anhängt, wenn du Mevrouw Aerts widerrechtlich festhältst.« »Niemand stirbt von einem Eimer Wasser, Guido. Das Weib schmachtet nach einer Zigarette und einem Schnaps. Das ist meine einzige Chance, sie zum Reden zu bringen.« »Wie du willst, Pieter, aber ich gehe nach Hause.« Versavel griff nach seinem Sakko und marschierte empört zur Tür hinaus. Diesmal ging Van In wirklich zu weit. Van In sandte ihm seinerseits einen gestreckten Mittelfinger hinterher. Morgen würde alles anders aussehen. Dann würden ihm alle, inklusive De Kee, dazu gratulieren, dass er einen Durchbruch in diesem Fall erzielt hatte. Hannelore arrangierte die Kalbsnierchen in einer großen Pfanne. Auf der Anrichte standen eine kleine Dose grüner Pfeffer und ein Päckchen Sahne. Im Keller hatte sie eine verstaubte Flasche Vin de Cahors gefunden, die jetzt mitten auf dem Tisch stand. Hannelore fand, dass Pieter sich ein kleines Extra verdient hatte. Nie hätte sie geglaubt, dass er die spartanische Diät länger als drei Monate durchhalten würde. Das Festmahl sollte ihr Dank für seine bisherigen Anstrengungen werden. Hannelore warf einen Blick auf die Küchenuhr. In zwanzig Minuten kam er nach Hause. Sie stellte die Pfanne auf den Herd und briet das Fleisch an. Anschließend gab sie die Sahne und den grünen Pfeffer hinzu. Mit 114
ein bisschen Glück war sein Lieblingsgericht genau zur rechten Zeit fertig. Wenn das Telefon klingelt, kurz bevor man einen Gast erwartet, verheißt das meistens nichts Gutes. Hannelore stellte dennoch nichts ahnend die Hitze kleiner und ging ans Telefon. »Hallo, hier Hannelore Martens.« »Hi, Schatz.« Van In sagte sonst nie »Hi«. »Entschuldige, aber ich habe Bereitschaft. Du brauchst heute Abend nicht mehr mit mir zu rechnen, ich komme erst spät nachts nach Hause. Und mach dir keine Sorgen um mein Abendessen. Ich hole mir gleich ein Brötchen.« Hannelore wünschte ihm einen ruhigen Dienst. Sie blies die Kerze aus und kippte die Kalbsnierchen in den Mülleimer.
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6 Yves Provoost lief den Kiesweg entlang, der zur Villa Lodewijk Vandaeles führte. Die ländliche Gegend, die Jacques Brei einst so geliebt hatte, versank allmählich in einen nebligen Schlaf. Noch heute Nachmittag hatte ganz Flandern unter brütender Hitze gestöhnt, doch nun stieg von dem jahrhundertealten Kanal die Septemberkühle auf. Wechselhaftes Wetter gehörte zu Belgien wie Pommes frites und Schokolade. Die Bäume neigten ihre Wipfel, als bedrohe dieser Scheinvorbote des nahenden Herbstes ihre Blätterzier. Hier und da zeichnete sich über einem einsamen Bauernhof ein dünner Rauchschleier vor dem Wattehimmel ab. Provoost zitterte. Die kurze Fahrradfahrt hatte ihm nicht gut getan. Er war durchgefroren bis auf die Knochen. Brys hatte seinen steinkohleschwarzen BMW vor der Villa geparkt. Provoost fiel das Nummernschild auf. Brys folgte der derzeitigen Mode und hatte das Ministerkennzeichen durch sein privates ersetzen lassen, eine Taktik, die die meisten hochstehenden Persönlichkeiten heutzutage anwandten. So fielen die Exzellenzen weniger auf, wenn sie mit hundertachtzig Stundenkilometern über die Autobahn rasten, obwohl in Belgien ein Tempolimit von hundertzwanzig galt. »Hallo, Yves. Komm schnell rein. Abends wird es jetzt schon recht frisch, stimmt’s?« Lodewijk Vandaele begrüßte Provoost mit einem breiten Lächeln. Provoost zog seinen Mantel aus und folgte 116
seinem Gastgeber schweigend in den Salon. Im offenen Kamin knisterten vier Eichenscheite. Das kostbare Brennholz brannte leise vor sich hin. Brys verhielt sich wesentlich reservierter. Mehr als ein förmlicher Händedruck war nicht drin. Provoost reagierte auf seine kalte Begrüßung, indem er sich so weit wie möglich von ihm wegsetzte. Von ihrer ehemaligen Freundschaft war bitter wenig übrig geblieben. Beide Männer hatten nur aus Eigennutz diesem Treffen zugestimmt. Vandaele war sich dessen nur allzu deutlich bewusst. Er versuchte, die Atmosphäre so weit wie möglich zu entspannen. »Ich glaube, wir alle könnten jetzt etwas zu trinken gebrauchen.« Ohne die Antwort seiner Gäste abzuwarten, trat der alte Bauunternehmer an das Serviertischchen und schenkte drei Gläser ein, wobei er äußerst großzügig mit dem kostbaren Exshaw umging. »Hier«, sagte er ein wenig bestimmend. »Der wird dir gut tun. Was für eine verrückte Idee, mit dem Fahrrad zu kommen.« Provoost trank wie eine halb verdurstete Giraffe, die endlich eine Wasserstelle erreicht. Anstatt den Cognac zum Mund zu führen, beugte er sich nach vorn und kippte das Glas in einem unnatürlichen Winkel. »Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen, Yves. Ich habe die ganze Sache absolut unter Kontrolle. Johan hat mit dem Oberstaatsanwalt gesprochen. In wenigen Tagen haben sich die Ermittlungen totgelaufen, und wir alle können weiterleben wie bisher.« Brys nickte, als Vandaele ihn anschaute, wirkte allerdings nicht besonders überzeugt. Lodewijk Vandaele lebte in der Vergangenheit. Die Zeiten, in denen ein Minis117
ter einen Oberstaatsanwalt unter Druck setzen konnte, waren ein für alle Mal vorbei. Die Skandale der vergangenen Jahre hatten die Justiz unauslöschlich geprägt. Aber das konnte er Lodewijk natürlich nicht klarmachen. Der war und blieb davon überzeugt, dass jede Straftat unter den Teppich gekehrt werden konnte. »Und was ist mit Aerts?«, fragte Provoost. Vandaele lehnte mit einem Ellbogen am Kaminsims. Die intensive Hitze des Feuers tat seinen rheumageplagten Knochen gut. »Ich habe Gründe anzunehmen, dass Aerts’ Flucht nichts mit unserer Sache zu tun hat«, antwortete er in einem beruhigenden Tonfall. Brys schwenkte gelangweilt seinen Exshaw im Glas herum. »Und wie kommst du darauf?«, fragte er. Vandaele lächelte. »William und Linda haben sich nur noch gestritten. Er hat sie schon mehr als ein Dutzend Mal verlassen. Ich bin sicher, dass er in wenigen Tagen wieder auftaucht.« »Ich frage mich, ob die Polizei deine Meinung teilt«, erwiderte Brys stur. »Wenn sie Aerts mit De Love in Verbindung bringen, wird seine Flucht Fragen aufwerfen.« Vandaele seufzte. Aerts war in der Tat das schwächste Glied in der Kette, und es sah nicht danach aus, dass er Provoost und Brys mit dem Argument überzeugen konnte, Aerts’ Flucht sei eine unbedeutende Nebensache, für die sich niemand weiter interessierte. »Wie kommt ihr bloß darauf, dass ausgerechnet die Polizei von Brügge da einen Zusammenhang erkennen könnte?«, bemerkte er herablassend. Provoost trank sein Glas mit einem Zug leer. 118
»Die haben Van In mit den Ermittlungen beauftragt«, entgegnete er gereizt. »Du hast doch nicht etwa Angst vor einem kleinen Polizisten, Yves?« Vandaele war felsenfest davon überzeugt, dass der Oberstaatsanwalt Van In zurückpfeifen würde. »Du solltest diesen ›kleinen Polizisten‹ nicht unterschätzen«, protestierte Provoost. »Er hat vor nichts und niemandem Respekt. Ich brauche euch doch nicht zu erzählen, wie er damals Degroof und Creytens in die Mangel genommen hat?« »Degroof hat Selbstmord begangen, und Creytens wurde von einem verrückten Mafioso ermordet«, entgegnete Vandaele entschieden. »Reiner Zufall. Aber es ist doch wirklich merkwürdig, dass die Schuldigen nie vor Gericht kommen, wenn Van In einen Fall bearbeitet.« Brys nickte. Er musste Provoost Recht geben. Er hatte damals beide Fälle aufmerksam verfolgt. »Jetzt komm schon, Johan. Du glaubst doch nicht wirklich, dass sich ein drittklassiger Commissaris so ohne weiteres über Recht und Gesetz hinwegsetzen kann.« Vandaele spürte, dass ihm Brys und Provoost entglitten. »Van In hat keinerlei Beweise.« »Und warum hast du mich dann gebeten, den Oberstaatsanwalt unter Druck zu setzen?« Vandaele war für einen Moment sprachlos. »Ich finde, wir sollten damit rechnen, dass die Polizei Aerts auf die Spur kommt«, beharrte Brys dickköpfig. Wie alle Politiker, die schon eine ganze Weile dabei sind, hatte Brys gelernt, dass der menschliche Faktor der unberechenbarste war. Und Vandaele musste zugeben, 119
dass Brys nicht Unrecht hatte. Auf der anderen Seite sträubte er sich dagegen, Aerts kampflos auszuliefern. »Im Falle einer Konfrontation wäre es unerlässlich, unsere Aussagen vorher aufeinander abzustimmen. Im Übrigen wurde die Leiche auf meinem Grundstück gefunden. Theoretisch kann man mir Beihilfe zum Totschlag vorwerfen.« Eine beklemmende Stille trat ein, die nur durch den obersten Holzscheit gestört wurde, der plötzlich in einem Funkenregen auf den Rost fiel. »Alles hängt von Aerts ab«, wiederholte Brys noch einmal. »Wenn er plaudert, sitzen wir tief in der Tinte.« Provoost schenkte sich ein weiteres Glas Cognac ein. Der starke Alkohol wirkte schnell und gnadenlos. Noch ein kleiner Schluck, und er war betrunken. »Sollte es jemals soweit kommen, sorge ich dafür, dass Aerts definitiv von der Bildfläche verschwindet«, sagte Vandaele entschlossen. Man konnte ihm wahrhaftig nicht vorwerfen, dass er nicht nach Kräften versucht hatte, Aerts’ Haut zu retten. Brys und Provoost erklärten sich mit dem vorläufigen Beschluss vollauf einverstanden. Sie wussten, dass Vandaele stets Wort hielt. »Dann brauche ich endlich nicht mehr zu zahlen«, seufzte Provoost. An diesem Versprecher war nur der Exshaw schuld. Vandaele runzelte die Stirn. Brys starrte auf den Boden seines Glases. »Würdest du das noch einmal wiederholen, Yves?« Provoost warf Brys einen viel sagenden Blick zu, doch der presste die Lippen zusammen. »Aerts, dieser Mistkerl, hat uns all die Jahre erpresst. Er behauptete, Videoaufnahmen von dem Vorfall zu besitzen.« 120
Vandaele gab seine bequeme Position am Kaminfeuer auf, nahm sich eine Zigarre und begann auf und ab zu wandern. Er hasste Menschen, die ihm etwas verschwiegen. »Und das sagst du jetzt erst!«, fuhr er Provoost an. »Wir wollten dich nicht in Verlegenheit bringen«, flüsterte Provoost. »Ich war davon überzeugt, dass er auch dich erpresste. Hat Johan dir das nicht erzählt?« Brys warf Provoost einen wütenden Blick zu. Das hätte er sich wirklich sparen können. Vandaele röchelte wie ein alter Bergarbeiter. Nicht wegen der Zigarre, sondern weil er sich jetzt wirklich aufregte. Dass Aerts die Leiche entgegen aller Vereinbarungen auf seinem Grund und Boden vergraben hatte, hätte er ihm noch durchgehen lassen. Die Erpressungen hingegen waren unverzeihlich. »Ich leite sofort die notwendigen Maßnahmen ein«, sagte er tonlos. »Unser William ist ein bisschen zu gierig gewesen, nicht wahr?« Jetzt verstand Vandaele auch, warum Aerts Hals über Kopf geflüchtet war. Ihm musste klar gewesen sein, dass die Rache des Alten ihn treffen würde. Van In brauchte zwei Eimer Wasser, um Linda Aerts wachzukriegen. Es war kein schöner Anblick. Linda ähnelte einem nassen Känguru. Sie fing an, wie eine Verrückte durch die Zelle zu toben und stieß die grässlichsten Verwünschungen aus. Van In saß sicher auf der anderen Seite der Tür und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie zusammenbrechen würde. Alle halbe Stunde schob er die Luke beiseite und warf einen Blick in die Zelle. Gegen Mitternacht nahm die 121
Häufigkeit ihrer Wutanfälle ab. Als sie stiller wurde, schaute Van In öfter nach ihr. Linda saß in sich zusammengesunken auf ihrer Pritsche, eine grobe, stinkende Decke um die Schultern gewickelt. Am frühen Abend hatte Van In eine Kollegin gebeten, Linda die nassen Kleider auszuziehen. Die Verdächtige sollte sich schließlich keine Lungenentzündung zuziehen. Um halb drei schickte er einen jungen Kollegen zum Kiosk, Zigaretten holen. Die Zeit drängte. Er hatte nur diese eine Nacht, um sie in die Knie zu zwingen. Van In zündete sich eine Zigarette an, öffnete die Luke und blies den Rauch in die Zelle hinein. Ihre Blicke trafen sich für einige Sekunden. Der aromatische Duft des Zigarettenrauchs ließ Linda aus ihrer Lethargie erwachen. Sie sprang auf wie eine Katze, deren Schwanz Feuer gefangen hat. »Perverser Mayonnaisequirler«, schrie sie. »Dreckiger Gummiknüppelficker, Zitronenmaul, Hämorrhoidenausdrücker, Knoblauchwurstfresser, Spaghettischwanz, Kanarienficker, Tittenmakake, Pissbaum …« Ihre Flüche nahmen kein Ende. Van In blies weiterhin Rauch in ihre Zelle hinein und lächelte. Sein Grinsen war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Linda rannte auf die Tür zu und versuchte, ihm durch die Luke hindurch einen Finger ins Auge zu bohren. Van In trat einen Schritt zurück, setzte sich auf seinen Stuhl und lauschte dem Hämmern ihrer Fäuste an der Tür. Sie hielt es zehn Minuten lang durch. Anschließend brach sie zusammen. Sie erlitt einen hysterischen Weinkrampf und warf die Decke zu Boden. Wenn Van In jetzt hineingehen würde, würde er eine sofortige Suspendierung riskieren. Kein Polizeichef der Welt würde ihn decken, wenn man ihm nachweisen konnte, dass er länger als zehn Se122
kunden mit einer nackten Frau in einer Zelle verbracht hatte. Carine Neels reichte Linda die Kleider an, die sie recht und schlecht über einem Elektroofen getrocknet hatte. Sie waren noch klamm, aber Linda protestierte nicht. Ihr letzter Wutausbruch hatte sie völlig erschöpft. Sie zog sich an wie ein Zombie. Durch die Schockbehandlung hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange war sie hier schon eingesperrt? Wann durfte sie nach Hause? »Mevrouw ist fertig, Commissaris«, verkündete Carine, als Linda vollständig angezogen war. »Möchten Sie, dass ich noch einen Augenblick hier bleibe?« Sie fragte aus reiner Sorge um den Commissaris. Ihre Anwesenheit konnte ihm eine Menge Scherereien ersparen. »Ja, danke, ich kann deine Hilfe gut gebrauchen, Juffrouw Neels.« Carine nickte. Sie freute sich darüber, dass der Commissaris sie duzte. Trotz der Gerüchte, die über ihn kursierten, fand sie ihn einfach klasse. Van In holte tief Luft. Er zog nicht gern die junge Beamtin ins Vertrauen, doch er hatte keine andere Wahl. Es war Viertel nach vier. Die Zeit drängte. »Aber du musst mir versprechen, dass du alles, was hier und jetzt gesagt wird, streng vertraulich behandelst.« Ihr Herz klopfte. Während ihrer Studienzeit hatte sie einmal einen Joint geraucht und dabei das gleiche angenehme Kribbeln verspürt wie jetzt, das ganze Rückgrat entlang bis hinauf in den Kopf. »Das versteht sich doch von selbst, Commissaris.« Van In lächelte. Das Mädchen war so grün wie ein Billardfilz, was unter diesen Umständen jedoch nur von Vorteil sein konnte. 123
»Mevrouw Aerts verfügt wahrscheinlich über Informationen, die unentbehrlich für den positiven Ausgang der Ermittlungen sind, verstehst du, Juffrouw Neels?« Natürlich verstand sie das. Sie hatte den Skelett-Fall genauestens verfolgt. »Sagen Sie ruhig Carine zu mir«, flüstere sie vertraulich. Benson im Himmel. Geht das schon wieder los, dachte Van In resigniert. Linda begleitete sie folgsam zu Zimmer 204. Aus ihren Augen sprach die nackte Verzweiflung. Ihr Selbstvertrauen hatte einen gehörigen Knacks erlitten. Die erzwungene Enthaltsamkeit forderte allmählich ihren Tribut, und Teufel Alkohol startete erbarmungslos seine letzte Offensive. Wenn Van In ihr jetzt eröffnet hätte, dass sie für sechs Monate in den Knast wandern würde, hätte sie ihm ohne weiteres geglaubt. Der Gedanke daran quälte sie ungemein. Einsperren war für sie das Schlimmste, was man einem Menschen antun konnte. Van In bot Linda einen Stuhl an. Beinahe hätte sie sich dafür bei ihm bedankt. In Fachkreisen hätte man ihre Reaktion als Anzeichen für das Stockholm-Syndrom gedeutet, ein Begriff aus den 60er Jahren, als Geiselnahmen wie eine Seuche um sich griffen. Psychologen hatten festgestellt, dass nach einer gewissen Zeit eine Art freundschaftliches Band zwischen den Geiseln und den Geiselnehmern entstand. Damals hatte es noch mehrere Tage gedauert, bevor sich eine solche Beziehung entwickelte. Heute, in unserer Instant-Gesellschaft, ging mal wieder alles viel schneller. Linda setzte sich. Sie senkte den Kopf und legte die Hände in den Schoß wie eine russische Bäuerin, die von einem schweren Arbeitstag heimkehrte und sich ausruh124
te. Carine Neels stand in strammer Haltung hinter ihr wie eine Schildwache, was der Szene etwas Osteuropäisches verlieh. Es fehlten nur noch der Ledermantel und der grelle Scheinwerfer. »Mevrouw Aerts«, begann Van In honigsüß. »Ich befürchte, ich muss Ihnen noch ein paar Fragen stellen.« Linda reagierte kaum. Sie war völlig verängstigt. Sie musste unwillkürlich an einen Film denken, in dem sich die Gefängnisaufseherin plötzlich als blutrünstige Sadistin entpuppt hatte. »Ich möchte gerne wissen, wer die Leute waren, die Ihr Mann hinaus zum Landhaus von Mijnheer Vandaele brachte.« Linda blickte auf. William hatte ihr stets eingeschärft, niemals Namen zu nennen. »Das hat mich nicht interessiert.« »Jetzt kommen Sie schon, Mevrouw Aerts. Alle besonderen Gäste von Mijnheer Vandaele trafen sich vorher im Cleopatra, wo Sie hinter der Theke standen.« Früher, als die Herren noch etwas Kräftiges zum Anfassen suchten, war Linda selbst eine gern gesehene Kurtisane in De Love gewesen, doch seit die meisten Männer auf Hungerhaken standen, hatte William sie zur Bardame degradiert. »Kann schon sein«, antwortete sie schon etwas selbstsicherer. »Ich habe die Getränke ausgeschenkt. Aber ich habe niemanden nach seinem Ausweis gefragt. Das überlasse ich lieber der Polizei.« Carine schnaufte. Diese Frau war wirklich dreist. »Natürlich, Mevrouw.« Van In betonte bewusst die höfliche Anrede. »Aber Sie wollen mir doch wohl nicht weismachen, dass keine Stammkunden darunter waren, deren Namen Sie durchaus kannten.« 125
Linda schüttelte stur den Kopf. »Danach müssten Sie meinen Mann fragen. Wenn Sie ihn irgendwann finden sollten.« »Wie Sie wollen«, sagte Van In eisig. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und holte aus einer Schublade eine Flasche Whiskey und ein Glas. »Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als Sie in Ihre Zelle zurückbringen zu lassen.« Das Gluckern des Whiskeys wirkte auf Linda wie Blutgeruch auf einen erwachenden Vampir. Ihre Nasenflügel bebten. Sie musste sich beherrschen, um nicht vor Gier zu sabbern. Van In setzte das Glas an die Lippen und trank einen Schluck. Wenn dies kein Vorwand war, sich während der Dienstzeit einen Drink zu genehmigen, wusste er es auch nicht. »Auch ein kleines Betthupferl, Mevrouw Aerts?« Carine zog die Augenbrauen hoch. War der Commissaris jetzt völlig verrückt geworden? Linda starrte gierig die Flasche Haig an. Van In holte ein zweites Glas aus der Schublade und füllte es zur Hälfte. Er zündete sich eine Zigarette an und legte das Päckchen mitten auf den Schreibtisch. Linda stürzte sich wie ein Geier darauf. Carine hielt sie am Arm fest, aber Van In gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie Linda loslassen sollte. In der linken Hand hielt er ein Feuerzeug. »Feuer, Mevrouw Aerts?« Er ließ die Flamme aufflackern. Linda hielt die nutzlose Zigarette in ihrer zitternden Hand. Sie konnte das nicht mehr länger ertragen. Ihr war alles egal. Halb Brügge wusste, wer das Cleopatra frequentierte, und was sich in De Love abgespielt hatte, war schließlich kein Verbrechen. 126
»Yves Provoost kam alle vierzehn Tage.« »Was, der Rechtsanwalt?« »Wer denn sonst?«, erwiderte sie schnippisch. Van In schob ihr den Whiskey zu. Linda griff hastig nach dem Glas und trank es in zwei Zügen leer. »Sehen Sie, das war doch gar nicht so schwer, Mevrouw Aerts.« Van In reichte ihr das Feuerzeug und schenkte ihr noch einen zweiten Drink ein. Dann griff er zu Papier und Stift. Je weiter der Pegel in der Flasche sank, desto länger wurde die Liste der Namen. »Na so was, Alexander De Jaegher, wer hätte das gedacht.« »Doktor Blasen«, kommentierte Linda höhnisch. »Manchmal kam er zweimal die Woche.« Eine halbe Stunde später hatte Van In zwei Din-A4Blätter voll geschrieben. Ihm war jetzt klar, warum Vandaele damals das automatische Tor hatte anbringen lassen. Manche Kunden von De Love waren so bekannt, dass Diskretion von allergrößter Wichtigkeit gewesen sein musste. Schnell und ungesehen hinein- und wieder hinausfahren zu können war eine unerlässliche Bedingung gewesen, um die Privatsphäre der Promis zu schützen. Van In überquerte den Zand. Der Platz war in ein unwirkliches Licht getaucht. Die weite Fläche mit den zahlreichen schmiedeeisernen Straßenlaternen erinnerte ihn entfernt an ein Gemälde des Expressionisten Delvaux. Der Gedanke war gar nicht so abwegig, denn dessen typische Themen waren Züge und Frauengestalten gewesen, und tatsächlich hatte hier früher der Bahnhof gestanden, und die dazugehörige Frau schlief augenblicklich in 127
einer Zelle um die Ecke ihren Rausch aus. Ein kühler Ostwind ließ Van In erschauern. Er vergrub beide Hände tief in den Taschen und trotzte mit gebeugtem Rücken dem kalten Herbstwind. Er hatte in seinem Leben schon so manche Nacht durchwacht und dabei gelernt, dass einer, der es bis fünf Uhr morgens aushielt, noch nicht sofort nach Hause wollte. Deshalb wanderte er weiter bis zum Eiermarkt. Dort war bereits alles dunkel. Die einzige Alternative war die Villa Italiana. Mario, der Barkeeper, erkannte Van In sofort wieder. »Gehst du nach Hause oder gehst du zur Arbeit?«, fragte er in schönstem Brügger Dialekt. Er mixte zwei Glenfiddich mit einem halben Fläschchen Cola. Auf der Tanzfläche machten sich vier Leute mittleren Alters lächerlich, deren hölzerne Bewegungen überhaupt nicht zu dem aufpeitschenden Beat der altmodischen Discomusik passen wollten. Gott sei Dank war niemand da, um sie auszupfeifen. »Nach Hause. Bin nur auf einen kleinen Absacker hier«, antwortete Van In trocken. Er trank einen Schluck. Mario kannte den Commissaris recht genau. Der Drink half ihm dabei, nachzudenken. Frage eins: Wie würde Hannelore auf seine nächtliche Eskapade reagieren? Frage zwei: In welches Wespennest hatte er da gestochen? Die Antwort auf Frage eins würde er gleich zu hören bekommen. Frage zwei bereitete ihm die größeren Sorgen. Lodewijk Vandaele, einer der renommiertesten Bürger Brügges, hatte bis 1986 ein Luxusbordell betrieben, in der die gesamte Creme de la Creme von Westflandern irgendwann mal eine Nummer geschoben hatte, und einen Tag nach der Entdeckung von Herbert war William Aerts, ein Handlanger Vandaeles, spurlos verschwunden. 128
Van In trank sein Glas aus. Manchmal konnte ein Schuss Whiskey äußerst inspirierend wirken. Mario reagierte prompt und mixte einen neuen Drink. »Geht aufs Haus«, meinte er grinsend. Fragen, immer neue Fragen. Wenn Vandaele wusste, dass auf seinem Grundstück eine Leiche lag, warum hatte er sein Eigentum dann dem Wohltätigkeitsverein überschrieben? Und was verstand dieser Verein eigentlich unter »Wohltätigkeit«? Welchen wahren Zweck verfolgte er? Und welche Rolle spielte Benedict Vervoort, der Makler mit den Allüren eines drittklassigen Mafioso? Van In notierte sich seine Überlegungen auf der Rückseite eines Bierdeckels, damit er sicher sein konnte, sich am nächsten Tag noch daran zu erinnern. Oder war jetzt etwa schon der nächste Tag? »Eine Tasse Kaffee, Schatz?« Hannelore wollte sich gerade auf den Weg zum Gericht machen, als Van In völlig erledigt nach Hause kam. Gut, dass keine Spiegel in der Nähe waren. Sein Gesicht war aufgedunsen, und auf seinen Augenringen hätte man ein Bierglas abstellen können. »Ja, gern«, antwortete er gähnend. »Und, wie war die Nacht?« Sie versetzte ihm einen unsanften Rippenstoß. »Hat die Wasserfolter etwas genützt?« Van In rieb sich die Augen. Hannelore setzte ihm eine Tasse dünnen Kaffee vor. »Guido hat mich gestern angerufen«, fuhr sie trocken fort, und ihr einnehmendes Lächeln wich einem verbissenen Zug um den Mund. »Er hat mich höflich gebeten, deinen mittelalterlichen Methoden Einhalt zu gebieten.« 129
»Welchen Methoden?« Van In trank einen Schluck von dem Kaffee. Das Gebräu schmeckte furchtbar. »Du solltest dich wirklich in Grund und Boden schämen!« »Warum hast du mir nicht gleich die Kollegen von der Bereitschaftspolizei auf den Hals gehetzt?« Streit lag in der Luft. Hannelore zog ihren Mantel wieder aus und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. »Ich habe ernsthaft darüber nachgedacht, Pieter Van In. Bist du eigentlich völlig übergeschnappt?« »Die Frau war sturzbetrunken!« »Genau wie du heute Morgen!« »Ich bin müde«, protestierte Van In. »Versavel übertreibt. Ein Schwapp Wasser hat noch niemandem geschadet. Früher …« »Ja, ja, früher gab es noch eine Tracht Prügel hinterher«, höhnte sie. »Aber diese Zeiten sind endgültig vorbei.« Van In wusste, worauf sie anspielte. Noch bis vor zwanzig Jahren hatte die Polizei gewisse Methoden angewandt, um Verdächtige zu Geständnissen zu zwingen. Die Richterschaft wusste davon und versuchte salomonisch, bei ihren Urteilen darauf Rücksicht zu nehmen. Heutzutage jedoch musste man sich mit der öffentlichen Meinung auseinander setzen. Die Volksjury mit ihren zehn Millionen Mitgliedern nahm es nicht länger hin, dass derartige Praktiken als »Mittel zum Zweck« gerechtfertigt wurden. Dabei hatte sich in der Vergangenheit gezeigt, dass mildernde Umstände sowieso nur für die Oberschicht galten. Für gewöhnliche Menschen galt der harte Buchstabe des Gesetzes. »Aber du musst zugeben, dass meine altmodische Methode wenigstens Resultate einbringt.« 130
Van In zog die Liste mit den Namen aus der Innentasche seiner Jacke und schob sie ihr über den Tisch hinweg zu. Er stand auf und goss den ungenießbaren Kaffee in die Spüle. Hannelore betrachtete das zerknitterte Papier. Männer waren doch Schweine. Ihr war klar, dass es natürlich auch in den so genannten höheren Kreisen schwarze Schafe gab, aber diese Liste ließ gleich auf eine ganze Herde schließen. »Und das hat Linda Aerts dir alles erzählt?«, fragte sie verwundert. Van In grinste. Hannelore war nicht leicht zu beeindrucken. Sie nahm sich ohne zu fragen eine Zigarette. »Ich dachte, du müsstest dringend ins Gericht?« Er schlüpfte aus den Schuhen und machte es sich auf dem Sofa bequem. Hannelore rauchte in aller Ruhe ihre Zigarette zu Ende, ging anschließend in die Küche, gab vier Maß Kaffeepulver in den Filter und goss eine halbe Kanne Wasser in das Reservoir der Kaffeemaschine. »Wir haben ein kleines Problem«, rief sie ihm von der Küche aus zu. »Weiß ich.« »Hast du gestern mein Fax nicht bekommen?« »Welches Fax?« Hannelore trat in die Türöffnung. »Auch das noch!«, schimpfte sie. Van In lauschte mit geschlossenen Augen dem Bericht von Koen Versnick, dem pfiffigen Assistenten von Doktor De Jaegher. »Falls De Jaegher absichtlich Beweismaterial zurückhält, muss er einen verdammt guten Grund dazu haben. Ich werde mich gleich morgen darum kümmern.« »Versnicks Vater behauptet, Herberts Identität herauszufinden könne nicht schwer sein. 1986 steckte die plas131
tische Chirurgie bei uns noch in den Kinderschuhen, und es wurden noch nicht viele solcher Eingriffe durchgeführt.« »Wunderbar«, sagte Van In grinsend. »Eine kinderleichte Aufgabe. Wie gemacht für unseren Hoofdinspecteur Baert. Wenn er es diesmal vermasselt, habe ich endlich einen triftigen Grund, ihn nach Sibirien zu verbannen.« »Nach Sibirien?« »Das Fundbüro, Hanne. Hab ich dir doch schon mal erklärt.« Hannelore ignorierte die Spitze. »De Jaegher ist natürlich ein kleiner Fisch im Vergleich zu den anderen Personen auf der Liste«, meinte sie besorgt. »Provoost ist ein renommierter Anwalt und Brys unser Außenminister. Wenn der Fall solche Kreise zieht, weiß ich nicht, ob …« »Mach dir mal keine Sorgen, Hanne. Die Zeiten, in denen die Staatsanwaltschaft Politiker prinzipiell ungeschoren ließ, sind vorbei. Ob einer mehr oder weniger von denen im Gefängnis landet, ist doch egal. Und die Öffentlichkeit leckt sich die Finger nach solchen Skandalen.« Im Gegensatz zu dem Jugendherbergskaffee von vorhin servierte Hannelore diesmal zwei Tassen flüssigen Teer. »Trink das und werde wieder nüchtern«, befahl sie. »Ich will nach Portugal, und du bist gefälligst in zwei Stunden wieder in der Hauwerstraat.« Van In ließ drei Zuckerwürfel in seine Tasse fallen. Hannelore nahm es kommentarlos hin. »Vervoort steht auch auf der Liste«, bemerkte er beiläufig. 132
»Wer ist Vervoort?« »Der Schatzmeister dieses feinen Wohltätigkeitsvereins und Immobilienverwalter von Lodewijk Vandaele.« »O je«, sagte Hannelore. »Ach, mach dir mal keine Sorgen, Liebes. Wenn alles schief geht, können wir uns ja notfalls an den König höchstpersönlich wenden.« Van In trank einen Schluck von dem Kaffee. Das Zeug brannte ihm im Magen wie Salpetersäure.
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7 Yves Provoost schaute Linda Aerts kopfschüttelnd an. Mit ihrer ruinierten Frisur und ohne Make-up sah sie noch unappetitlicher aus als sonst. »Ich finde das wirklich geschmacklos von Ihnen, Mevrouw Aerts.« Provoost biss die Zähne zusammen, und vor Wut wich ihm das Blut aus dem Gesicht. »Erst ziehen Sie meinen guten Namen in den Schmutz und dann verlangen Sie auch noch von mir, einen hohen Polizeibeamten anzuzeigen, weil er Ihnen einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet hat.« »Darf er das denn?« »Natürlich nicht«, antwortete Provoost verärgert. Er befand sich in einer schwierigen Lage. Dass sie Namen genannt hatte, war halb so wild. Die Öffentlichkeit scherte sich nicht darum, dass auch Prominente hin und wieder über die Stränge schlugen. Das war kein Fall für einen Gerichtsprozess, und die Presse brauchte er genauso wenig zu fürchten. Die Kunden von De Love gehörten zu den prominentesten Bürgern Brügges. Keinem Chefredakteur würde es in den Sinn kommen, die Namen der Betroffenen zu veröffentlichen. Heutzutage war ein solcher Skandal nicht mehr spektakulär genug, als dass deswegen noch Köpfe rollen mussten. Ohne Beweismittel blieb Lindas Geständnis sowieso nicht mehr als ein Gerücht, und mit Gerüchten konnte man leben. Außerdem war sonnenklar, dass Linda Aerts zu ihrem Ges134
tändnis gezwungen worden war, was es so gut wie wertlos machte. Seine größte Sorge war jedoch, dass Van In sich in den Fall verbiss. Wenn der Commissaris einen Zusammenhang zwischen den Sexorgien und dem Zwischenfall ahnte, würde er bis auf den Grund weitergraben. »Sie hätten niemals dieses Geständnis ablegen dürfen, Mevrouw. Ich frage mich, was William dazu sagen wird.« »William ist abgehauen«, erwiderte sie brüsk. »Ach, nun kommen Sie schon, Mevrouw Aerts. Machen wir uns nichts vor. Es ist doch nicht das erste Mal, dass William für ein paar Tage verschwindet. Der kommt schon noch wieder.« Dabei war sich Provoost ganz sicher, dass William Aerts nie mehr lebend gesehen werden würde. »Klar, mit vierhunderttausend in der Tasche«, höhnte sie. »Was glaubst du wohl, warum ich es den Bullen gemeldet habe? Der Scheißkerl hat mich bestohlen! Ich will mein Geld zurück! Alles andere ist mir wurscht.« »Vierhunderttausend!« Provoost pfiff zwischen den Zähnen hindurch. »Genau, Verehrtester. Und tu nicht so, als wüsstest du nicht, wo er die herhatte.« Provoost schluckte. Er rechnete kurz im Kopf nach. Im Laufe der Jahre hatte er allein fast ein Achtel dieses Betrages aufgebracht. »Natürlich kann ich Sie nicht in voller Höhe entschädigen, Mevrouw Aerts, aber was würden Sie davon halten, wenn ich Ihnen hier und jetzt einen Scheck über zweitausendfünfhundert ausstellen würde? Damit könnten Sie für eine Weile schön in Urlaub fahren. Sie sollten dieses Angebot wirklich annehmen.« 135
Provoost versuchte, ein einnehmendes Lächeln aufzusetzen. Zeit zu gewinnen hielt er für die beste Strategie. Linda blieb ein paar Sekunden lang reglos sitzen. Sein großzügiger Vorschlag schien sie nicht unbeeindruckt zu lassen. Provoost zog einen Stift aus der Brusttasche seines Jacketts und öffnete die oberste Schublade seines Schreibtischs, in der sein Scheckbuch lag. »Ich will, dass Sie diesen Gummiknüppelficker vor den Kadi zerren«, zischte sie. Provoost schob die Schublade zu und steckte den Stift wieder ein. »Selbstverständlich, Mevrouw Aerts.« Die alte Hexe brachte ihn plötzlich auf eine blendende Idee, und mit einem sardonischen Grinsen fügte er hinzu: »Nun, dann erzählen Sie mir doch noch einmal ganz genau, was sich letzte Nacht abgespielt hat.« Diese Wendung gefiel Linda ganz ungemein. Sie streckte die Beine aus und legte los. Versavel erfuhr die Neuigkeit nach der Mittagspause. Linda Aerts hatte bei der Rijkswacht Anzeige erstattet. Sie beschuldigte Van In der Misshandlung und der versuchten Vergewaltigung. Da Van In nicht anwesend war, rief Versavel Hannelore an. Vergeblich. Die stellvertretende Staatsanwältin Mertens sei derzeit nicht erreichbar, teilte ihm der Telefonist mit einem schadenfrohen Unterton mit. Versavel hakte nicht weiter nach. Er fand sich damit ab, dass jeder unter dem Rang eines Offiziers bei solchen Behörden routinemäßig abgewimmelt wurde. In dem Augenblick, als er den Hörer auflegte, kam Van In herein. Er sah aus wie Perseus, der sich für den Kampf mit Medusa gewappnet hat. 136
»Hallo.« Van In griff in die Hosentasche und warf eine Hand voll Münzen auf den Fußboden. »Weiß nicht, ob das genau dreißig sind, du Judas.« Versavel wartete, bis das Klimpern des letzten Geldstücks verklungen war. »Ich hielt es für meine Pflicht, Hannelore über dein unmögliches Benehmen zu informieren, Pieter. Heute Nacht bist du wirklich zu weit gegangen.« Van In zuckte mit den Schultern. Versavel hatte Recht, aber nun war es zu spät, das zuzugeben. »Linda Aerts hat heute Morgen bei der Rijkswacht Anzeige erstattet. Sie beschuldigt dich der Misshandlung und der versuchten Vergewaltigung.« Versavel strich sich nervös über den Schnurrbart. »Na und?«, fragte Van In gereizt. Er zündete sich eine Zigarette an und setzte sich an seinen Schreibtisch. »Ich glaube, du sitzt ziemlich tief in der Tinte, Pieter. Die Richter von heute halten nicht mehr viel von solchen Entgleisungen. Die Zeiten haben sich nämlich geändert.« Van In unterschätzte das Problem keineswegs und machte sich auf Scherereien gefasst. Doch offen zuzugeben, dass er einen Fehler gemacht hatte, fiel ihm wesentlich schwerer. »Ich habe sie nicht mal mit den Fingerspitzen angefasst, Guido. Das weißt du genau. Außerdem befand ich mich während der Vernehmung in der liebreizenden Gesellschaft von Carine Neels. Du hältst mich doch nicht für so dumm …« »Yves Provoost wird Mevrouw Aerts verteidigen«, unterbrach ihn Versavel. »Und es ist allgemein bekannt, dass er selten einen Prozess verliert.« »Provoost profitiert vom guten Ruf seines Vaters; er selbst ist keineswegs so brillant. Außerdem ist er alles 137
andere als unangreifbar. Tu mir einen Gefallen und hör auf, mich zu betütteln. Ich kann mich schon um meine eigenen Angelegenheiten kümmern.« Van In fasste in die Innentasche seines Sakkos. »Ich habe übrigens den ganzen Vormittag am Handelsgericht verbracht.« Er reichte Versavel einen dünnen Stapel Din-A4Blätter hinüber. »Das hier ist eine Kopie der Gründungsakte des Wohltätigkeitsvereins Hilfe zur Selbsthilfe. Wirklich eine interessante Lektüre, du wirst sehen.« Versavel las sich die Namen der Vorstandsmitglieder durch. Allesamt standen sie auch auf der Liste, die Linda Aerts letzte Nacht diktiert hatte: Vandaele, Provoost, Brys, Vervoort und De Jaegher. »Hochinteressant.« Es klang nicht sehr überzeugend. »Benson im Himmel. Jetzt denk doch mal nach, Guido! Unser Freund Vandaele gründet gemeinsam mit einigen guten Freunden einen gemeinnützigen Verein mit dem Ziel, sozial benachteiligten Mitmenschen zu helfen. Nach dem Mord an Herbert überschreibt Vandaele diesem Verein einen baufälligen Bauernhof, ein Geschenk, das er gleichzeitig von der Steuer absetzen kann. Bemerkenswertes Detail: Der Bauernhof hat jahrelang als exklusives Bordell gedient, in dem die Vorstandsmitglieder des Vereins regelmäßig ein Nümmerchen schoben.« »Wirklich bemerkenswert«, wiederholte Versavel trocken. Van In bewegte sich auf dünnem Eis. Die Anzeige, die Linda gegen ihn erstattet hatte, wog schwerer als die schlüpfrigen Eskapaden einiger Honoratioren. »Aber siehst du denn nicht den Zusammenhang?«, fragte Van In erstaunt. »Im letzten Jahresbericht weist 138
der Verein eigene Mittel in Höhe von viereinhalb Millionen aus. Wenn da nicht etwas oberfaul ist, weiß ich es auch nicht mehr. Jedes Jahr gibt der Verein über dreihunderttausend für Drucksachen, fünfhunderttausend für Auslandsreisen sozial Benachteiligter und knapp zweihundertfünfzigtausend für die Förderung von zurückgebliebenen Kindern aus. Das glaubt doch kein Mensch.« »Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde …« »Ach, hör schon auf, Guido!« Van In verstand nicht, warum Versavel so begriffsstutzig tat. »Dass da mehr ist, geht in der Tat aus diesen Unterlagen hervor. Ich habe eine Reihe von Wohltätigkeitsorganisationen angerufen. Niemand kennt den Verein Hilfe zur Selbsthilfe, und nirgendwo findet sich eine Spur ihrer Aktivitäten.« »Aber wofür haben sie ihre Mittel denn dann verwendet?« »Das frage ich mich auch, Guido.« Versavel massierte mit der linken Hand den Ansatz seines Trizeps. Das tat er öfter, wenn er angespannt war. »Wenn ich mich nicht irre, gehört Vervoort zu den führenden Köpfen der VLOK. Vielleicht sollten wir in dieser Richtung weiterermitteln.« Van In schaute seinen Freund erstaunt an. Die VLOK war die Splittergruppe einer rechtsextremen Partei, die in den letzten Jahren erheblich an Popularität gewonnen hatte. Inzwischen war sattsam bekannt, dass die Anhänger der VLOK auch nicht vor dem Einsatz von Gewalt zurückschreckten. »Sag, dass das nicht wahr ist, Guido!« »Irgendwie muss sich die VLOK ja schließlich finanzieren«, bemerkte Versavel. »Hoffen wir bloß, dass Herbert kein Marokkaner war.« 139
Van In dachte an den Sommer des Jahres 1996 zurück, als der Fall Dutroux Belgien in seinen Grundfesten erschüttert hatte, und an die Hexenjagd, die daraufhin in Gang gesetzt worden war. »Aber jetzt haben wir ja wohl einen triftigen Grund, dieser Bande einmal gründlich auf den Zahn zu fühlen«, brummte Versavel. Van In versuchte sich vorzustellen, welche Konsequenzen es hätte, wenn seine Hypothese zutraf. »Jedenfalls ist es eine Spur, die wir nicht vernachlässigen dürfen. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine karitative Organisation als Deckmäntelchen für ganz andere Zwecke missbraucht wird.« »Vandaele hat aus seinen Sympathien für die Rechte nie einen Hehl gemacht«, fügte Versavel hinzu. »Und auch Provoost ist ja wohl kaum ein Fan von Marx.« Van In stand auf und wanderte im Zimmer auf und ab. Eine Hypothese verführt den Ermittler leicht dazu, nur in eine Richtung zu denken und keine anderen Möglichkeiten in Betracht zu ziehen als die, die seine aufgestellte Theorie untermauern. »Und was ist mit Brys?« Der Außenminister war Mitglied der Sozialisten. Denen konnte man zwar vieles vorwerfen, aber eine geheime Allianz mit der extremen Rechten ging selbst Versavel zu weit. »Vielleicht hat der keine Ahnung. Du weißt doch, wie die Sozialisten sind. Wenn es brenzlig wird, leiden sie an kollektivem Gedächtnisverlust.« Der Brigadier war politisch völlig desinteressiert und scherte gern alle Politiker über einen Kamm. Van In versuchte, die Fakten zu ordnen. Erstens: der Mord an Herbert. Zweitens: der Zusammenhang zwi140
schen dem Mord und den Kunden von De Love. Drittens: die mögliche Finanzierung der VLOK durch den Wohltätigkeitsverein Hilfe zur Selbsthilfe. Viele Parameter und noch mehr Unbekannte. »Und wenn wir mal die Buchhaltung des Vereins überprüfen ließen?«, schlug er vor. »Das wäre sehr zeitaufwendig, Pieter. Bis du dafür die Erlaubnis erhältst, haben die alles picobello in Ordnung gebracht. Solche Organisationen arbeiten meistens mit doppelter Buchführung, und außerdem haben sie für jede ihrer Transaktionen längst eine passende Erklärung parat.« »Was würdest du denn vorschlagen?« »Ein Überraschungsbesuch kann manchmal Wunder wirken«, meinte Versavel. »Du sagtest doch, der Verein würde ein Heim für Obdachlose betreiben.« »Jetzt, wo du es sagst. Wie nannte Vervoort dieses Heim gleich wieder?« »De Zorghe, Pieter. Ich habe es gestern in den gelben Seiten nachgeschlagen.« »Na, dann mal los. Sagst du Baert Bescheid, oder soll ich das übernehmen?« Versavel zuckte mit den Schultern. »Baert hat sich heute Morgen für die nächsten zwei Tage krank gemeldet.« »Was Ernstes?« »Seine Frau hat gesagt, er brauche ein paar Tage Ruhe. Hat wohl Probleme mit dem Rücken, der Arme. Bestimmt hat er zu lange telefoniert.« »Und dafür wird er nur zwei Tage krankgeschrieben?« »Sein Hausarzt ist einer von der neuen Garde, der sein Scherflein zur Sanierung des Gesundheitswesens beitra141
gen will. Seine Patienten müssen schon halb tot sein, bevor er sie für eine ganze Woche krankschreibt.« »Schade.« »Was denn?« »Dass Baert sich keinen altmodischen Arzt leisten kann.« Versavel lachte. »Soll ich einen Wagen anfordern?« »Nein«, erwiderte Van In. »Ein Polizeifahrzeug würde zu sehr auffallen. Hat Devos heute Dienst?« »Ich glaube schon«, antwortete Versavel. »Er muss unten am Schalter sitzen.« »Gut. Vorher will ich noch kurz mit ihm reden.« Van In ging zur Tür, drehte sich aber auf halbem Wege noch einmal um. »Könntest du in der Zwischenzeit bitte Carine Neels anrufen? Frag sie, ob sie Lust hat, ein paar Tage für uns zu arbeiten. Sie könnte alle plastischen Chirurgen für uns kontaktieren.« Versavel schaute ihn fragend an. »Herbert hat sich von einem dieser Schönheitsschnipsler zurechtmachen lassen. Hannelore hat das gestern herausgefunden. Tut mir Leid, in der ganzen Hektik habe ich vergessen, dir das zu erzählen.« Van In zog die Tür auf. »Pieter?« »Ja, Guido?« »Ich frage mich gerade, woher du weißt, dass Carine Neels heute Dienst hat und warum du dich nach Devos erkundigt hast.« Van In hatte die Türklinke schon in der Hand. Versavels Frage hob seine Stimmung beträchtlich. »Weil ich weiß, wo man die schönen Mädchen findet, Guido.«
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Im Gegensatz zu De Love handelte es sich bei De Zorghe um ein hübsch restauriertes ländliches Anwesen mit üppig bepflanzten, gepflegten Grünflächen. Kein Besucher hätte den Verein Hilfe zur Selbsthilfe des Dilettantismus beschuldigen können. Der ehemalige Bauernhof sah aus wie eine exklusive Schönheitsfarm, auf der sich Wohlstandsbürgerinnen, die schon etwas aus dem Leim gingen, alle sechs Monate ihre Haut straffer spannen ließen. Doch der Schein trog. Die kleinen Pavillons, die über das Gelände verteilt waren, boten etwa zwölf Familien Obdach, die durch verschiedene Umstände an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden waren. Ilse, die flotte Sozialarbeiterin, die hier offenbar das Sagen hatte, führte Van In und Versavel auf dem Gelände herum. »Der Verein kümmert sich hauptsächlich um Familien«, erklärte sie mit einem Lächeln, für das jede gute Werbeagentur sie vom Fleck weg engagiert hätte. »Zunächst können die Leute bei uns ein wenig zur Ruhe kommen. Erst nach zwei Wochen fangen wir an, mit ihnen zu arbeiten. Unser Spezialistenteam analysiert die individuelle Problemsituation und schlägt ein darauf abgestimmtes Lösungskonzept vor. Darüber sprechen wir dann mit unseren Schützlingen. Nach einer gründlichen gemeinsamen Beurteilung entwickeln wir darauf aufbauend eine Strategie, die die Wiedereingliederung der Menschen ermöglichen soll. Dabei liegt unsere Erfolgsquote weit über dem landesweiten Durchschnitt.« Van In hörte schon lange nicht mehr zu. Ilse hatte tolle Beine, und durch ihr farbenfrohes Sommerkleid hindurch erkannte er, dass die Direktorin von De Zorghe ihre Dessous nicht im örtlichen Supermarkt kaufte. 143
Versavel wurde glücklicherweise nicht von derartigen Details abgelenkt und machte sich unablässig Notizen. »Das war wirklich eine äußerst interessante Führung, Mevrouw …« »Vanquathem, Doktor«, antwortete sie. »Aber Sie können mich ruhig Ilse nennen.« Versavel setzte krampfhaft eine würdevolle Miene auf. Diese Doktor-Scharade war eine Idee Van Ins – eine bewährte Taktik, da die Götter in Weiß bis heute allseits respektiert und über jeden Verdacht erhaben waren. Ilse Vanquathem war davon überzeugt, dass Doktor Vansande und Doktor Praat in der Nähe von Turnhout ein ähnliches Projekt ins Leben rufen wollten. Nicht einmal der aufgesetzte Antwerpener Dialekt Van Ins weckte ihr Misstrauen. »Vielleicht wäre es sinnvoll, sich einmal mit einigen Ihrer Schützlinge zu unterhalten.« Das strahlende Lächeln auf Ilses Lippen gefror. »Ich befürchte, dass wir es uns unter den gegebenen prekären Umständen nicht erlauben können zu improvisieren, Doktor. Ein Treffen mit den Bewohnern würde eine gründliche Vorbereitung erfordern. Aber ich verspreche, bei unserer nächsten Teambesprechung Ihren Wunsch zur Sprache zu bringen.« »Vielen Dank, Ilse. Jede Information über Ihr wunderbares Projekt wäre für uns von großem Nutzen.« Er überreichte ihr seine Visitenkarte. Ilse warf einen flüchtigen Blick auf die geschwungenen Lettern: Professor Doktor Pieter Vansande, Psychiater. Versavel hatte ebenfalls fünfzig Visitenkarten eingesteckt. Sie hatten sie am Bahnhof drucken lassen, wo ein Automat für fünf Euro alles ausspuckte, was man nur wollte. In einer Anwandlung von Übermut zückte Versavel sogar seine Beglaubigungsschreiben. 144
»Vielen Dank, Doktor Praat«, sagte Ilse mit einer gewissen Bewunderung. Sie hatte eine Schwäche für ältere, gut gebaute Akademiker. »Kann ich Ihnen vielleicht eine Tasse Kaffee anbieten?« Ilse lotste ihre Gäste zum Hauptgebäude und beauftragte einen der Heimbewohner, Kaffee zu kochen. Während Versavel sich wegen eines dringenden Bedürfnisses entschuldigte, lobte Van In den Verein Hilfe zur Selbsthilfe über den grünen Klee, und zwar so überzeugend, dass Ilse gar nicht bemerkte, dass Versavel über eine Viertelstunde ausblieb. Als sie sich an der Haustür von ihrer Gastgeberin verabschiedeten, stieß Van In gegen einen dürren Mann in einem Arbeitsoverall. Die kühlen grünen Augen des Gärtners ließen ihn innerlich erschauern. Mit seiner Heckenschere ähnelte der Mann verblüffend der Figur des Freddy Krüger aus dem Film Nightmare on Elm Street. »Wie spät ist es jetzt?«, fragte Van In, als sie vor einer roten Ampel an der Schnellstraße warteten. »Halb fünf«, antwortete Versavel. »Prima. Dann braucht sich Devos noch keine Sorgen zu machen.« Kollege André Devos liebte schicke Autos. Obwohl er nur den einfachen Rang eines Agenten bekleidete, fuhr er einen Aufsehen erregenden Alfa Romeo. Den hatte sich Van In für ein paar Stunden ausgeborgt, um bei ihrem Besuch von De Zorghe einigermaßen glaubwürdig zu wirken. Van In ließ langsam die Kupplung kommen und gab kräftig Gas. Der nervöse italienische Sportwagen reagierte dementsprechend und ließ seine Konkurrenten weit hinter sich. 145
»Der geht aber ganz schön ab«, schnaufte Van In. »Du fährst hundertzwanzig, Pieter, und wir sind in einer Dreißig-Zone.« »Ach, wer wird uns schon einen Strafzettel verpassen?«, erwiderte Van In grinsend. Versavel schwieg gottergeben. Er hoffte nur, dass Van In keinen Unfall baute, denn das würde Agent Devos nicht überleben. Van In stand am Herd. In der Pfanne brutzelten vier Wachteln. Der Tisch war mit funkelnden Gläsern und einer blütenweißen Tischdecke gedeckt. Dennoch lag eine gewisse Spannung in der Luft, die sich entlud, als Hannelore beim Hereinkommen die Tür hinter sich zuknallte. Die obligatorische Kerze erzitterte in der Flasche, die Flamme flackerte Unheil verkündend. »Bist du mir böse, Schatz?« Hannelore schmiss ihre Handtasche in einen Sessel. Sie sah einfach atemberaubend aus in ihrem türkisfarbenen Kleid. Die Schwangerschaft schien sie mit jedem Tag zu verjüngen. »Du bist ein solcher Riesentrottel, Pieter Van In. Was soll ich bloß in Gottes Namen mit dir anfangen?« Sie sagte kein Wort über den Duft der gebratenen Wachteln, der sich im ganzen Haus verbreitete. Durch die Geschehnisse der letzten Tage war der Diätwahn ein wenig in den Hintergrund getreten. »Ich habe dich gefragt, ob du mir böse bist.« In solchen Momenten verwünschte Hannelore seinen Hundeblick. Als sie unentschlossen stehen blieb, wusste Van In, dass jetzt der Moment zum Handeln gekommen war. Er ließ die Wachteln einen Augenblick unbewacht und nahm sie in die Arme. Hannelore protestierte, jedoch 146
nicht sehr überzeugend. Auf sein Drängen hin ließ sie es schließlich zu, dass er sie küsste. »Ich hätte dich gestern einsperren lassen sollen. Im Gericht bist du das Thema des Tages. Sogar der Mann an der Rezeption hat mich gefragt, wie es dir geht. Du kannst es dir also ausmalen.« »Nimm es dir nicht so zu Herzen, Hanne. Ich weiß genau, was ich tue.« Sie riss sich los. »Du schaffst es noch, dass mir Staatsanwalt Beekman auf den Pelz rückt.« Van In grinste mit gebleckten Zähnen. »Ach, Staatsanwälte können einen Stoß vertragen, Liebes.« Er hatte das Wort »Stoß« anzüglich gemeint, aber Hannelore achtete glücklicherweise nicht darauf. »Mevrouw Aerts will sich doch nur wichtig machen. Niemand wird ihr glauben. Und was Provoost angeht: Der vergisst offenbar, dass er zu den geilen Böcken gehört, die auf Vandaeles Landsitz ihre Triebe ausgelebt haben. Wenn es hart auf hart kommt, wird er schon klein beigeben.« »Bist du dir sicher?« Hannelore stand am Herd und hob den Deckel von der Pfanne. Der Duft der goldbraunen Wachteln machte sie schwindelig. Sie hatte das Mittagessen ausgelassen und sehnte sich jetzt nach einer warmen Mahlzeit. Van In ging zum Kühlschrank, holte eine halb volle Flasche Moselwein heraus und zog die Wachteln von der Herdplatte. »Ich habe immer noch das Geständnis von Mevrouw Aerts«, bemerkte er gelassen. »Daraus macht Provoost Kleinholz.« Hannelore setzte sich an den Küchentisch. Sie fragte sich, warum er ausgerechnet an einem Tag, an dem sie 147
stinksauer auf ihn war, die herrlichsten Gerichte für sie kochen musste. Van In schenkte zwei Gläser Wein ein und tropfte dabei ein wenig auf die Tischdecke. »Es ist mir ein Rätsel, warum Provoost sie verteidigt. Sollte es jemals zu einem Prozess kommen, wird auf jeden Fall sein Name im Zusammenhang mit den Vorgängen in De Love genannt werden.« »Provoost weiß, dass sein Name so oder so fallen wird. Ich glaube, er benutzt die Sache mit Linda Aerts als Ablenkungsmanöver. Ein Commissaris, der heutzutage eine nackte, wehrlose Frau belästigt, sorgt in der Öffentlichkeit für mehr Aufruhr als ein Rechtsanwalt, der sich vor zehn Jahren einmal einen Ausrutscher erlaubt hat.« »Moment mal! Ich habe dieses Mistweib keineswegs belästigt!«, protestierte Van In. Hannelore wischte den Fuß ihres Glases mit einer Papierserviette ab, bevor sie einen Schluck trank. »Und das soll ich glauben?«, fragte sie spitz. Van In blieb die Luft weg. Wenn er sich ungerecht behandelt fühlte, konnte er in die Luft gehen wie eine Ladung illegaler Feuerwerkskörper. »Ich habe dieses Weib nicht mit der Fingerspitze angerührt!« Zur Bekräftigung hieb er mit der Faust auf den Tisch. Sein Weinglas kippte um, rollte über die Tischplatte und fiel klirrend zu Boden. »Bist du jetzt völlig verrückt geworden?«, schrie Hannelore. Normalerweise versuchte sie, seine Wutanfälle rechtzeitig im Keim zu ersticken, aber heute Abend war sie selbst müde und gereizt. Sie sprang auf. Der Wein war 148
auf ihr Kleid gespritzt. Sie lief zur Spüle und hielt ein Handtuch unter den Wasserhahn. Van In blieb einige Sekunden lang stocksteif sitzen. Zu seiner großen Verwunderung spürte er, wie seine blinde Wut allmählich abebbte. War es möglich, dass drei Monate Enthaltsamkeit sich positiv auf sein explosives Temperament ausgewirkt hatten? »Ist es schlimm?«, fragte er betreten. Auf Strümpfen ging er zu ihr hinüber. »Pass auf die Scherben auf!«, fuhr sie ihn an, mehr aus Sorge denn aus Wut. »Es tut mir Leid, Schatz.« Hannelore säuberte ihr Kleid mit dem nassen Handtuchzipfel. »Wenigstens war es kein Rotwein«, sagte sie versöhnlich. Van In zog brav seine Pantoffeln an und kehrte mit dem Handfeger die Scherben zusammen. Sie hinterließen eine nasse, klebrige Spur auf den gebohnerten Fliesen. »Soll ich dein Kleid in die Waschmaschine stecken?«, fragte er hilfsbereit. »Das könnte dir so gefallen, was?« Als Hannelore sah, wie empört er sie anstarrte, musste sie lachen. »Du glaubst mir also.« »Natürlich glaube ich dir. Aber die Frage ist, ob dir der Richter glauben wird.« »Das werden wir schon sehen«, erwiderte Van In. »Mein Wort steht gegen das einer Nutte. Ach, apropos Nutte. Es würde mich nicht wundern, wenn der Verein Hilfe zur Selbsthilfe in Wirklichkeit eine Tarnung für ein organisiertes Prostituiertennetzwerk wäre.« Van In berichtete ihr von seinem Besuch bei De Zorghe. 149
»Während ich mit der Direktorin Kaffee getrunken habe, hat Versavel in ihrem Computer herumgeschnüffelt.« Hannelore hatte keine Lust, ihn zum zigsten Mal daran zu erinnern, dass illegal erworbenes Beweismaterial bei einem Prozess nicht verwendet werden durfte und daher absolut wertlos war. »Und rate mal, was er gefunden hat?« Van In wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. Das war der Augenblick, auf den er den ganzen Abend gewartet hatte. Er zog ein Blatt Endlospapier aus der Hosentasche. »Was sagst du dazu?« Hannelore warf einen Blick auf das Stück Papier. Ungefähr zwanzig Namen standen darauf. »Schau dir mal die Überschrift an.« »Verfügbar«, las sie arglos vor. »Und jetzt achte mal auf die Geburtsdaten.« Hinter jedem Vornamen stand eine Kombination aus sechs Ziffern. Sie begriff nicht, was er ihr sagen wollte. »Keine der Frauen ist älter als fünfunddreißig«, sagte Van In. »Das ist nicht dein Ernst!«, sagte Hannelore erschrocken. »Irgendwo müssen sie ihr Fleisch ja herholen«, bemerkte Van In zynisch. »Aber du hast doch gesagt, Vandaele hätte De Love 1986 dichtgemacht.« »Stimmt. Und ein paar Monate später hat er De Zorghe eröffnet. So ein Zufall, nicht wahr?« »Das muss nach dem Mord an Herbert gewesen sein.« »Genau.« Hannelore trank einen Schluck von dem Moselwein. 150
»Übertreibst du nicht ein bisschen? Eine Liste mit zwanzig Namen beweist gar nichts. Du kannst nicht mal die Identität der Frauen überprüfen. Vielleicht ist es nur eine Liste von Mitarbeiterinnen, die der Verein schwarz bezahlt.« »So eine Liste besitze ich ebenfalls«, sagte Van In. »Und wen treffen wir da wieder? John Catrysse, den Mann, der mit seinem Moped auf den Mercedes von Vandaele aufgefahren ist. Er arbeitet dort als eine Art Gärtner, und ich kann dir versichern, dass ihm die Gehirnerschütterung von damals nicht gut bekommen ist. Catrysse sieht aus wie ein jüngerer Bruder von Quasimodo.« »Jetzt hör aber auf, Pieter Van In. Niemand kann etwas für sein Aussehen.« »Aber der hat auf jeden Fall einen Ehrenplatz im Panoptikum von Cesare Lombroso verdient«, scherzte Van In. »Die Theorien Lombrosos sind schon seit einem halben Jahrhundert überholt«, schnaubte sie. »Es besteht keinerlei Zusammenhang zwischen der Physiognomie eines Menschen und seinen Anlagen zum Verbrecher.« »Habe ich gesagt, dass Catrysse ein Verbrecher ist?« »Nein, aber du hast es gemeint.« »In Amerika gibt es Wissenschaftler, die behaupten …« »In Amerika gibt es auch Wissenschaftler, die behaupten, Elvis würde noch leben.« Van In antwortete mit einer abwehrenden Geste. Es hatte keinen Sinn, sie noch länger zu triezen. Eine unangenehme Stille trat ein. »Trotzdem glaube ich, dass wir diesen Verein mal etwas genauer unter die Lupe nehmen sollten«, sagte Van In kurz darauf gähnend. 151
Er spürte, dass ihn die Müdigkeit überfiel, als habe ihm jemand mit einem Gummihammer auf den Kopf gehauen. Seine Gedanken verschwammen wie Aquarellfarbe auf grobfaserigem Papier. »Ich glaube, ich kümmere mich jetzt erst mal um unser Abendessen«, schlug er vor. Hannelore war einverstanden und bedrängte ihn nicht weiter. Sie hatten beide einen schweren Tag hinter sich. Morgen hatte sie einen Termin bei ihrem Gynäkologen wegen der Fruchtwasseruntersuchung. Aber sie wollte ihn jetzt nicht auch noch damit belasten. »In zehn Minuten kommt auf Arte Metropolis. Hast du Lust, dir den anzuschauen?« Hannelore wusste, dass sie ihn mit einem Klassiker immer locken konnte, und tatsächlich war Van In ganz begeistert von ihrem Vorschlag. Er sprang auf und lief in die Küche. »Dann serviere ich das Abendessen im Wohnzimmer, Mevrouw.« Die colorierte, gekürzte Fassung von Fritz Langs Meisterwerk konnte sie nicht fesseln. »Da sieht man’s mal wieder«, sagte Hannelore. »Kaum mischt Hollywood sich in die Kunst ein, bleibt nichts mehr davon übrig.« Sie nagte die Knochen ihrer letzten Wachtel ab. »Morgen kommt ›Die Vögel‹ von Hitchcock«, sagte Van In. »Damit kann man nichts falsch machen. Bei Hitchcock weiß man immer, woran man ist.« Van In zappte zu BBC. Hannelore schmiegte sich an seine Schulter. Sie landeten mitten in einem Dokumentarfilm. David Attenborough kommentierte sachkundig die Paarung zweier Ameisenbären. 152
»Auch wenn man die Viecher gar nicht sehen würde, könnte man selbst dabei Lust kriegen«, seufzte Hannelore wohlig. Van In schob seinen Teller beiseite und schaltete den Fernseher aus. »Dein Wunsch sei mir Befehl«, sagte er erwartungsvoll. Jos Brouwers war innerhalb von kurzer Zeit ziemlich reich geworden. Der ehemalige Rijkswacht-Polizist hatte vor sechs Jahren den Dienst quittiert und sich selbständig gemacht, und inzwischen verdiente er zehnmal so viel wie früher. In rechten Kreisen besaß seine Detektei einen guten Ruf, und zu seinen treuesten Kunden gehörte Lodewijk Vandaele. Brouwers kannte den alten Bauunternehmer als einen Mann, der stets bekam, was er wollte, und dem für seine Zwecke jedes Mittel recht war. Brouwers parkte seinen verrosteten Renault in einer Seitenstraße des Damse Vaart und legte die letzten dreihundert Meter zu Fuß zurück. Vandaele zahlte ausgezeichnet, verlangte aber im Gegenzug absolute Diskretion. Um Punkt neun Uhr betätigte Brouwers die Klingel. Noch bevor das Schrillen verklungen war, öffnete Virginie, die Haushälterin Vandaeles, bereits die Tür – eine reife Leistung für ein verhutzeltes, vom Rheuma gebeugtes altes Frauchen, das das Rentenalter längst überschritten hatte. Sie hieß den späten Gast mit einem zahnlosen Lächeln willkommen und verkündete, Mijnheer erwarte ihn im Wintergarten. Vandaele begrüßte Brouwers mit einer großzügigen Armbewegung, die eher Autorität denn Gastfreundlichkeit ausdrückte. 153
»Setz dich, Jos. Danke, dass du gekommen bist. Eine Zigarre gefällig?« Brouwers schlug sein Angebot nicht aus. Vandaele rauchte ausschließlich Davidoffs, die für den ExRijkswachter trotz seines Wohlstands einen fast unbezahlbaren Luxus darstellten. »Kaffee?« »Danke, gern.« Brouwers nahm sich eine Zigarre und ein Stückchen Zedernholz, zündete dieses mit einem Streichholz an und rollte das Zigarrenende über der gelben, geruchlosen Flamme hin und her. »Wie geht es Greta?« »Sie macht gerade Urlaub«, antwortete Brouwers trocken. »Auf Martinique, als wäre es hier nicht gut genug.« »Frauen!«, seufzte Vandaele viel sagend. Die Männer schwatzten über dies und jenes, bis Virginie den Kaffee serviert hatte. Brouwers genoss den Duft der frisch gemahlenen kolumbianischen Bohnen. Virginie schlurfte in die Küche und kehrte mit einer Platte Petits Fours zurück, eine Leckerei, auf die Brouwers ganz versessen war. Ohne zu fragen griff er zu. »Von Nicolas?« »Natürlich«, antwortete Vandaele liebenswürdig. Nicolas war bekannt für sein feines Gebäck. »Danke, Virginie.« Aus dem Mund Vandaeles klang sogar das »Danke« noch wie ein Befehl. Die alte Frau zog sich lautlos zurück. »Ich bin auf der Suche nach jemandem«, erklärte Vandaele, nachdem Virginie die Türen des Wintergartens zugeschoben hatte. Brouwers nickte, schluckte ein halbes Petit Four hinunter und holte einen Notizblock hervor. 154
»Keine schriftlichen Aufzeichnungen, Jos. Ich befürchte, das wird ein etwas heikler Auftrag.« Der Ex-Rijkswachter steckte seine Schreibutensilien wieder weg und nahm sich ein zweites Gebäckstück. Ein heikler Auftrag bedeutete im Fachjargon, dass jemand aus dem Weg geräumt werden sollte. »Zum üblichen Tarif?« Vandaele schenkte den Kaffee ein und gab in seine Tasse ein Häufchen Schlagsahne. Brouwers verzichtete darauf. Mit seinen sechsundvierzig Jahren war er in der körperlichen Verfassung eines Dreißigjährigen, und das wollte er auch so halten. Gebäck von Nicolas und ein schönes Glas Bier waren die einzigen Sünden, die er sich hin und wieder erlaubte. »Selbstverständlich, Jos. Außerdem garantiere ich dir einen Bonus von zwölftausendfünfhundert, wenn du den Auftrag innerhalb einer Woche erledigst.« Brouwers zog die Augenbrauen hoch. Die Prämie klang verlockend. »Der Mann, den ich suche, ist ein außergewöhnlich gerissener Kerl, Jos. Vor einigen Tagen ist er spurlos verschwunden, und es würde mich nicht wundern, wenn er sich ins Ausland abgesetzt hätte.« »Kein Problem. Die Welt ist klein. Wenn der Mann überleben will, muss er Spuren hinterlassen.« Vandaele lächelte. Brouwers war ein Profi. Es war nicht das erste Mal, dass er einen fast unmöglichen Auftrag zu seiner Zufriedenheit erledigte. »Wird unser Mann polizeilich gesucht?« »Höchstwahrscheinlich ja. Eben deshalb biete ich dir den Bonus für die schnelle Abwicklung an. Es ist für mich von entscheidender Bedeutung, dass du ihn zuerst findest. Geld spielt keine Rolle, ich vergüte dir sämtliche Spesen.« 155
Brouwers wollte gerade fragen, was Vandaele mit »sämtliche Spesen« meinte, doch der Alte kam ihm zuvor. »Wenn du mit der Concorde fliegen musst, um ihn aufzuspüren, zögere nicht, und wenn das Ding zu langsam fliegt, frag den Piloten, was er verlangt, damit er mehr Gas gibt. Verstehst du, was ich meine, Jos?« Brouwers zog an seiner Zigarre. Ein Flug mit der Concorde, das konnte ja interessant werden. »Dann hoffe ich nur, dass sich der gute Mann ins ferne Ausland abgesetzt hat«, meinte er grinsend. »Also kann ich davon ausgehen, dass du den Auftrag annimmst.« Vandaele stand auf und ging zu einem Servierwagen aus Mahagoniholz. Es wurde Zeit, ihren Vertrag mit einem Drink zu besiegeln. Ausnahmsweise nahm Brouwers sein Angebot an. »Natürlich brauche ich weitere Informationen«, sagte er. »Je mehr ich über den Mann weiß, desto schneller kann ich ihn finden.« »An Informationen soll es nicht mangeln, Jos. Ich kenne William Aerts schon seit seiner Kindheit.« Jos Brouwers war leicht angetrunken, als er sich gegen Mitternacht von seinem Auftraggeber verabschiedete. Der Himmel über dem Polder war außergewöhnlich hell. Trillionen Sterne erleuchteten seinen Weg. Zufrieden schlenderte er zu seinem Wagen. Schade, dass Greta nicht da war, wenn er gleich nach Hause kam. Im Haus am Vette Vispoort gab Van In Hannelore einen Gutenachtkuss. Bis vor einer Stunde hätte er sich nicht vorstellen können, dass ein Dokumentarfilm über das 156
Paarungsverhalten von Ameisenbären so aufregende Folgen haben konnte.
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8 Am nächsten Morgen erschien Van In schon früh im Büro. Fahles Sonnenlicht fiel durch die schmutzigen Fenster des Kommissariats. Die Einsparungen, die die Stadtverwaltung letztes Jahr durchgesetzt hatte, forderten auch hier ihren Tribut. Die Unterhaltung des Gebäudes war auf ein Minimum beschränkt worden. Nur die Räume mit Publikumsverkehr wurden noch regelmäßig gesäubert. Nicht, dass Van In das etwas ausgemacht hätte. Er persönlich fand, dass sie durch den Schmutzfilm auf den Scheiben mehr Privatsphäre im Büro hatten. Dadurch konnte man nämlich von außen nicht erkennen, ob hier gearbeitet wurde oder nicht. Wie üblich setzte Versavel Kaffee auf. Van In hing faul in seinem Stuhl, die Füße auf dem Schreibtisch. Er hatte eine ziemlich turbulente Nacht hinter sich. Nach dem wilden Sex mit Hannelore war er zunächst tief eingeschlafen, doch Morpheus hatte ihm nur ein paar Stunden Vergessen gegönnt. Um halb vier war er schweißgebadet hochgeschreckt und hatte sich während der restlichen Nacht unruhig im Bett herumgewälzt und gegrübelt. Die Anzeige von Linda Aerts hing wie ein Damoklesschwert über seinem Haupt. Im Traum hatte er dieses Schwert ganz realistisch gesehen, wie die Riesensichel in der Schauergeschichte von Edgar Allan Poe, wo der arme Gefangene die Folter von Grube und Pendel nur mit knapper Not überlebt. Van In hatte die ganze Situation durchgespielt und war zu der Überzeugung gelangt, dass er diesmal nicht unge158
schoren davonkommen würde. Die Ungewissheit fraß an seiner Seele wie die unerbittliche Brandung an den Kreidefelsen von Dover. »Ich frage mich, warum Aerts sich eigentlich Hals über Kopf aus dem Staub gemacht hat«, sagte Versavel unvermittelt. »Hast du ihn in Verdacht?« Van In musste zugeben, dass er diese Spur ein wenig aus den Augen verloren hatte. Vielleicht konzentrierte er sich zu sehr auf die Kunden von De Love. »Jemand, der nichts zu verbergen hat, lässt nicht so mir nichts, dir nichts alles zurück.« »Was heißt hier ›alles zurücklassen‹?«, erwiderte Van In. »Vierhunderttausend sind ja wohl kein Pappenstiel.« Versavel ließ sich von diesem Argument nicht aus dem Konzept bringen. Er schenkte seinem Chef eine Tasse Kaffee ein. Van In setzte sich auf. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er sich halb liegend kochend heißen Kaffee über sein Hemd geschüttet hätte. »Vielleicht könnte eine Suchmeldung in den Medien nicht schaden«, gab er zu. Versavel blickte ihn abwartend an. »Es sei denn, du hast noch andere Vorschläge, Guido.« »Vielleicht wäre es auch sinnvoll, die Grenzübergänge überwachen zu lassen.« Van In zuckte mit den Schultern. »Und vergiss die Rijkswacht nicht«, sagte er sarkastisch. »Meinetwegen alarmiere das ganze Königreich. Wir wollen doch nicht, dass die Öffentlichkeit uns vorwirft, unsere Pflicht zu versäumen.« Van In trank einen Schluck von Versavels ausgezeichnetem Kaffee. Der Brigadier hatte den Wink verstanden 159
und sagte nichts mehr. Van In war schlechter Laune, und da ging man ihm besser nicht auf die Nerven. »Ist es dir eigentlich gelungen, Carine Neels in unsere Arbeit einzuspannen?«, fragte Van In nach einer Weile. Versavel nickte. »Sie ist unglaublich arbeitswütig. Bald verdächtigt uns die Belgacom noch, eine Sexhotline zu betreiben. Sie telefoniert quer durch das ganze Land.« »Mit ein bisschen Glück müssten wir darüber auf Herberts Identität stoßen, und wenn wir erst mal wissen, wer er ist, sollte der Rest ein Kinderspiel sein.« Van In schwang die Beine auf den Schreibtisch. Es versprach ein ruhiger Tag zu werden. Er erschrak daher sichtlich, als das Telefon klingelte. Obwohl seine Tasse schon halb leer war, kleckerte er doch noch Kaffee auf sein Hemd. »Hallo, Pieter.« Van In erkannte die Stimme von Hannelore. »Vermisst du mich jetzt schon?«, säuselte er. »Lass die dummen Witze, Pieter Van In.« Sie klang angespannt. »Komm so schnell du kannst in die Groene Rei. Provoost ist ermordet worden, und glaub mir, es ist kein schöner Anblick. Seine Sekretärin hat ihn vor einer halben Stunde gefunden.« Nachdem Hannelore aufgelegt hatte, blieb Van In noch volle zehn Sekunden lang mit dem Hörer am Ohr sitzen. »Geht’s dir nicht gut?«, fragte Versavel besorgt. »Gott sei gepriesen, Guido. Irgendjemand hat mir soeben einen großen Gefallen getan.« »Ist Aerts gefunden worden?« »Nein«, antwortete Van In mit verschmitztem Grinsen. »Viel besser.«
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Die Sekretärin des verblichenen Yves Provoost ließ Van In herein. Sie zitterte und ihr Gesicht war weißer als Leinen von Guggenheimer. »Die Staatsanwältin erwartet Sie im Büro von Mijnheer Yves«, sagte sie mit einem Schluchzen. Trotz der ernsten Lage musste sich Van In ein Lächeln verkneifen. Hannelore war also zur Staatsanwältin aufgerückt. Das Haus an der Groene Rei war vor einigen Jahren von Grund auf renoviert worden. Zwar gab es heutzutage in Brügge wohl kein einziges unsaniertes Gebäude mehr, doch im Gegensatz zu vielen stümperhaft ausgeführten Restaurationsarbeiten hatte Provoost weder Kosten noch Mühen gescheut, sein Elternhaus in seinem ganzen alten Glanz wieder auferstehen zu lassen. Nicht nur war die Fassade gründlich gesandstrahlt worden, sondern auch die Innenräume hatten eine gründliche Überholung erfahren. Allein in der Eingangshalle stand ein Vermögen an Antiquitäten. Van In folgte der alten Sekretärin den Flur entlang. Yves Provoost hatte Juffrouw Calmeyn von seinem Vater übernommen, ebenso wie das übrige Inventar. Eudoxie Calmeyn hatte der Familie vierzig Jahre lang treue Dienste geleistet. In sechs Monaten wäre sie in Rente gegangen. Sie war eine Frau vom alten Schlag: pflichtbewusst, fleißig und loyal. Van In betrachtete ihren celloförmigen Körper. Juffrouw Calmeyn trug einen grauen Rock, der bis zur Mitte ihrer Waden reichte, eine blickdichte weiße Bluse und dicke, fleischfarbene Nylonstrümpfe. Die Schritte ihrer flachen Nonnenschuhe hallten in dem hohen, schmalen Gang unangenehm laut wider. Am Ende des Flures angekommen, öffnete sie eine der beiden gepolsterten Flügeltüren und ließ ihn ein. Sie selbst blieb draußen stehen. 161
»Hallo, hier bin ich«, verkündete Van In munter. Verwundert blickte er sich um. »Wo sind denn die anderen?« Hannelore stand vor dem Büfett, einem hässlichen Monstrum im Neorenaissancestil. Van In ging auf sie zu, und sie drückte ihm zerstreut einen Kuss auf die Lippen. »Juffrouw Calmeyn hat sofort bei der Staatsanwaltschaft angerufen«, erklärte sie. »Ich rechne damit, dass der ganze Zirkus so in etwa zehn Minuten losgeht.« »Wunderbar. Wo liegt unser Freund?« Van In war allerbester Laune. Hannelore wies auf ein futuristisch gestyltes Sofa, das hinter einem Wald aus Zimmerpflanzen fast gänzlich verborgen stand. Zwischen dem Grün der Ficusbäume und der Farne sah Van In zwei Füße hervorschauen. Um die Knöchel waren sie mit Stahlhandschellen gefesselt, wie die Polizei sie benutzte. »Lach nicht!«, mahnte Hannelore, als Van In ihr einen schelmischen Blick zuwarf. Provoost lag auf dem Rücken. Er war splitterfasernackt. In seinem Mund steckte ein Knebel. »Und da soll ich nicht lachen!« Van In riss sich zusammen. »Benson im Himmel. Er hat eine Wäscheklammer auf der Nase.« Hannelore hielt sich in sicherem Abstand. Sie fand den Anblick ziemlich widerlich. »So, wie es aussieht, hat unser werter Mijnheer Rechtsanwalt ein tödliches Spielchen gespielt. Wie sollen wir es nennen? Wäscheklammersex?« Hannelore schwieg, nicht aus Entrüstung, sondern weil sie befürchtete, selbst lachen zu müssen. Das war Pieters Schuld, er mit seinen schnoddrigen Kommentaren. »Pieter Van In, niemand klemmt sich erst eine Wäscheklammer auf die Nase und legt sich dann selbst Fußfesseln an.« 162
Hannelore bemühte sich, objektiv zu bleiben. Dennoch konnte sie nicht leugnen, dass der Anblick sie ein wenig erregte. Pieters Bemerkung hatte ihre Phantasie in Gang gesetzt. Vergeblich versuchte sie, ihre schlüpfrigen Tagträume zu unterdrücken. Van In ging vorsichtig um das Sofa herum. In diesem Stadium der Untersuchung war es von größter Wichtigkeit, keine Spuren zu verwischen. Ihm war, als hörte er Versavel reden. »Er sieht ja wirklich nicht besonders appetitlich aus.« »Hab ich dir doch gesagt!«, erwiderte Hannelore gereizt. Sie kam einen Schritt näher und versuchte, ihren Blick von dem nackten Männerkörper abzuwenden, musste sich jedoch dazu zwingen. Jetzt, wo Van In da war, übte die Leiche eine morbide Faszination auf sie aus. An der Universität hatte sie einmal einer Obduktion beigewohnt. Damals war sie nur deshalb geblieben, um ihren Kommilitonen keinen Anlass zu bieten, sie für den Rest des Semesters mit ihrer Zimperlichkeit zu necken, doch als Justizbeamtin befand sie sich natürlich in einer anderen Position. Dies hier war rein beruflich, und sie fühlte sich verpflichtet, genau hinzuschauen. Oder benutzte sie ihre berufliche Pflicht nur als Vorwand, um ihre – wie sie sich selbst vorwarf – krankhafte Neugier zu befriedigen? So stellte sie beispielsweise unwillkürlich fest, dass die Totenstarre nicht alle Körperteile gleichermaßen erfasste. Wobei es doch von Erhängten hieß, sie … »Ich frage mich, was Doktor De Jaegher diesmal für uns parat hält.« »Die Wäscheklammer kann er ja wohl keinesfalls übersehen«, bemerkte Hannelore geistesabwesend. Sie konnte die Augen nicht von der Leiche abwenden. Provoost war dicker, als seine edlen Maßanzüge verraten 163
hatten. Sogar in dieser Lage wölbte sich sein Bauch weiter hervor als sein Brustkorb, was bewies, dass der tote Anwalt sich niemals an Trainingsmaschinen gequält hatte. Hannelore durfte gar nicht daran denken, dass auch Van In früher so ausgesehen hatte. Plötzlich sah sie, wie er sich bückte. »Hast du etwas entdeckt?« Sie kam näher. Van In wühlte in einem Haufen von Kleidungsstücken herum, die versteckt zwischen einem tiefschwarzen Aktenschrank und einem Terrakottatopf lagen, in dem ein riesiger Kaktus dickköpfig seinem unnatürlichen Biotop trotzte. Van In hob eines der Kleidungsstücke auf. Provoost hatte offenbar Geschmack gehabt. Der olivgrüne Pyjama stammte von einem teuren Couturier, und der Morgenmantel hätte jeden echten Briten neidisch gemacht. Die Farbe und das Muster passten perfekt zu dem Knebel in Provoosts Mund. Es musste sich wohl um den dazugehörigen Schal handeln. Schließlich war ein stilvolles Outfit ohne einen schmalen Schal nicht komplett. Lag es an der schrägen Lehne des postmodernen Sofas oder war eine letzte Zuckung durch den Toten gefahren? Der dumpfe Schlag, mit dem Provoosts Beine auf dem Boden auftrafen, hörte sich gruselig an. Gleichzeitig drehte sich die Leiche durch den Schwung auf die Seite. Hannelore stieß einen Schrei aus und klammerte sich an Van In. Sie glühte am ganzen Leib. Über ihre Schulter hinweg warf Van In einen Blick hinüber zu Provoost, der in einer grotesken Haltung halb vom Sofa herunterhing. Hannelore zerquetschte ihn beinahe, so fest presste sie sich an ihn. Es war ein eigenartiges Gefühl. Weniger als einen Meter entfernt regierte der Tod, doch in ihrem verängstigten Körper spürte er neues Leben pulsieren. 164
»Hab keine Angst, Hanne.« Es klang fast biblisch. Mit ein wenig Hall hätte seine Stimme der des Engels am Grabe Jesu geglichen. »Es kommt öfter vor, dass frische Leichen Kapriolen machen.« Er konnte sagen, was er wollte, Hannelore hatte die Nase voll. Sie zog sich ans Fenster zurück und blickte über die Kaimauer hinweg auf das dunkle Wasser der Groene Rei. Sie schämte sich ein wenig. Hatte sie das Recht, sich über die so genannten perversen Straftäter erhaben zu fühlen, die sie täglich verurteilen half? Oder hing der Grad an Kultiviertheit eines Menschen einfach nur mit seinen materiellen Lebensumständen zusammen? Die Türklingel kündigte den erwarteten Besuch an. Juffrouw Calmeyn ließ die Herren vom Gericht keine Sekunde länger warten als nötig. Sie eilte an die Tür und bat sie herein. Doktor De Jaegher wurde gefolgt von Leo Vanmaele sowie zwei Beamten von der Spurensicherung. »Ah, Doktor De Jaegher, so sieht man sich wieder«, begrüßte Van In den Gerichtsmediziner. De Jaegher hob kurz die Hand zum Zeichen des Wiedererkennens und wandte sich dann an Hannelore. Eine Justizbeamtin, vor allem eine so hübsche, war mehr nach seinem Geschmack als dieser windige Commissaris. Hannelore musste sich einen altmodischen Handkuss gefallen lassen. Der ergraute Don Juan hätte zwar gern mehr gewagt, aber in Gegenwart Van Ins beherrschte er sich. »Das ist aber nicht gut für die Statistik«, bemerkte Leo zynisch. »Noch ein Toter in dieser Woche, und wir übertreffen die Provinz Brabant.« 165
Mit aufmerksamem Blick nahm er die Szenerie in sich auf. Unwillkürlich suchte er nach dem besten Standort und dem günstigsten Licht für ein paar gute Fotos. »An dem ist wesentlich mehr dran, was?«, flüsterte Van In ein wenig zu laut. Leo warf einen viel sagenden Blick zu Doktor De Jaegher hinüber, der aber Gott sei Dank nichts gehört hatte. Er stand bei Hannelore und raspelte Süßholz. »Ich frage mich, warum der Mörder ihn ausgezogen und geknebelt hat«, sagte Van In sachlich. »Es sieht fast so aus wie eine Abrechnung unter Homosexuellen.« Leo konnte seine These nur bestätigen. Er öffnete seine Tasche und befestigte ein 28mm-Objektiv an seiner Nikon. Van In ließ Leo in Ruhe arbeiten und ging ins Vorzimmer, wo De Jaegher noch immer mit allen Mitteln versuchte, bei Hannelore Eindruck zu schinden. Van In verspürte das archaische Bedürfnis, sein Revier deutlich abzugrenzen, und demonstrativ nahm er Hannelore an der Hand. Diese Geste genügte, um De Jaegher in seine Schranken zu weisen. Der Gerichtsmediziner entschuldigte sich und ging an die Arbeit. Er drehte Provoost auf den Bauch und steckte ihm ein Fieberthermometer in den After, um mit Hilfe der Körpertemperatur den ungefähren Todeszeitpunkt festzustellen. Die Verlässlichkeit dieser Methode hängt von verschiedenen Faktoren ab, und das Resultat der Messung muss von einem Spezialisten interpretiert werden. In diesem Fall handelte es sich um ein Paradebeispiel. Die Umgebungstemperatur war konstant und die Leiche ganz frisch. Sogar De Jaegher musste in der Lage sein, eine relativ genaue Aussage über den Todeszeitpunkt zu treffen. Van In war überzeugt, dass Provoost nicht länger als etwa zwölf Stunden tot sein konnte. 166
Leo machte ein Foto von den gefesselten Händen. Anschließend rief De Jaegher die Männer von der Spurensicherung zu Hilfe, um die Handschellen abzunehmen. Er reinigte die Fingernägel der Leiche und gab den Schmutz in Plastiktütchen. Häufig fanden sich unter den Nägeln eines Mordopfers Spuren von Gewebe oder Blut des Täters, mit deren Hilfe man seinen genetischen Fingerabdruck erstellen konnte. Auf diese Weise war es in den letzten Jahren gelungen, zahlreiche Straftäter zu überführen. »Wann ist er gestorben, Doktor?«, fragte Van In. Er musste die Frage zweimal stellen, bevor De Jaegher widerwillig antwortete. »In diesem speziellen Fall kann ich das ganz genau sagen, Commissaris. Der Mann wurde vermutlich zwischen drei und vier Uhr morgens umgebracht.« Van In notierte sich die Zeit. Er hatte keine Lust, sich mit De Jaegher anzulegen. Aber was war genau an »vermutlich zwischen drei und vier Uhr«? »Und die Todesursache?« De Jaegher maß Van In mit einem empörten Blick. Für ihn war der Commissaris nicht mehr als ein Bauer in einem Schachspiel, in dem er der König war. Es wurde höchste Zeit, der Polizei einmal die grundlegenden Regeln der Höflichkeit beizubringen. »Woran ist er gestorben, Doktor?«, drängte Van In. Es war eine dämliche Frage. Jedes Kind konnte sehen, dass Provoost erstickt war, aber offiziell musste ein Rechtsmediziner die Todesursache bestätigen. »Tod durch Suffokation, Commissaris.« Van In notierte sich die Todesursache neben dem Todeszeitpunkt. Alles Übrige würde er später im Autopsiebericht lesen. Plötzlich spürte er eine eiskalte Hand auf seinem Arm. 167
»Könntest du bitte ein Glas Wasser für mich organisieren, Pieter?« Hannelore sah alles andere als gut aus, und ihre Stimme klang schwach und heiser. Erschrocken legte Van In den Arm um sie. »Was hast du denn? Du bist ja ganz blass. Soll ich …?« Er zeigte auf De Jaegher, aber Hannelore schüttelte heftig den Kopf, und Van In war froh darüber. Er durfte gar nicht daran denken, dass dieser Quacksalber sie auch nur mit den Fingerspitzen berührte. »Ein Glas Wasser und etwas frische Luft ist alles, was ich brauche«, flüsterte sie rau. Van In stützte Hannelore und brachte sie zur Tür. Die kühle Luft im Flur tat ihr gut. Sie lächelte und drückte seinen Arm. »Danke, Pieter. Mach dir keine Sorgen. Alles in Ordnung.« »Bist du sicher?« »Ganz sicher«, beruhigte sie ihn. Keine drei Sekunden später kam Juffrouw Calmeyn aus dem Nebenzimmer, wo sie die ganze Zeit geduldig gewartet hatte. »Hätten Sie vielleicht ein Glas Wasser für uns, Juffrouw? Mevrouw Mertens fühlt sich nicht wohl.« Juffrouw Calmeyn stellte keine unnötigen Fragen, sondern eilte sofort in die Küche. Wie war es bloß möglich, dass sie so ein junges Ding mit einem Mordfall belasteten?, fragte sie sich verbittert. O tempora, o mores! Nachdem Hannelore etwas getrunken hatte, kehrte wieder Farbe in ihr Gesicht zurück. Van In hielt die ganze Zeit über ihre Hand. »Ich habe heute Morgen nicht gefrühstückt«, entschuldigte sich Hannelore. 168
Eudoxie Calmeyn schüttelte missbilligend den Kopf. »Kommen Sie, mein Kind«, sagte sie dann plötzlich mütterlich. »In der Küche stehen noch ein paar Käsebrötchen. Wie ich sehe, können Sie etwas Nahrhaftes gut gebrauchen.« Van In zog erstaunt die Augenbrauen hoch, als Hannelore das Angebot von Juffrouw Calmeyn dankbar annahm. Zwar beeindruckte ihn der Anblick einer Leiche kaum mehr, doch er konnte andererseits auch nicht behaupten, dass er appetitanregend auf ihn wirkte. Während Eudoxie Calmeyn frischen Kaffee aufsetzte, griff Hannelore hungrig zu. Van In hätte ein Monatsgehalt darauf verwettet, dass sie gerade das Frühstück Yves Provoosts verspeiste. Eudoxie drehte sich um. In ihren Augen glänzte eine sublimierte Form jenes Mutterinstinktes, den sie in den letzten vierzig Jahren bewusst verdrängt hatte. Ein wenig schadenfroh dachte Van In bei sich, dass sie Hannelore vielleicht mit anderen Augen gesehen hätte, wenn sie gewusst hätte, dass das zarte junge Mädchen neben ihr eine selbstbewusste Frau war, die schon so manchem Rechtsanwalt schlaflose Nächte bereitet hatte. »Und, schmeckt es Ihnen?« »Wunderbar«, antwortete Hannelore genießerisch. »Haben Sie zufällig saure Gurken im Haus?« Argwöhnisch musterte Eudoxie Hannelore von Kopf bis Fuß. Van In konnte sich vorstellen, wonach sie Ausschau hielt. Aber für einen richtig runden Bauch war es noch ein wenig zu früh. »Hat Mijnheer Provoost hier allein gewohnt?«, fragte Van In, als Eudoxie ein Tellerchen mit Gurken auf den Tisch stellte. 169
»Mijnheer Yves wohnt in Knokke«, antwortete sie im Präsens. »In der Villa seiner Eltern.« Sie schenkte Kaffee ein und setzte sich zu ihnen. »Hier übernachtet er nur, wenn er bei Gericht viel zu tun hat«, nahm sie die Antwort auf die folgende Frage Van Ins vorweg. Niemand brauchte zu erfahren, dass Mijnheer Yves ausschließlich am Wochenende nach Knokke fuhr, der Kinder wegen. Van In ließ zwei Zuckerwürfel in seinen Kaffee fallen und rührte behutsam mit dem kleinen Silberlöffel darin herum, den Eudoxie für ihn bereitgelegt hatte. »Besitzen Sie einen Haustürschlüssel, Juffrouw Calmeyn?« Die erfahrene Sekretärin ließ sich von seiner Frage nicht aus der Fassung bringen. »Selbstverständlich«, antwortete sie hoch erhobenen Hauptes. »Sowohl Mijnheer Gaëtan als auch Mijnheer Yves hatten vollstes Vertrauen zu mir.« »Gaëtan Provoost war der Vater von Yves«, erklärte Hannelore zwischen zwei Bissen. »Der Mann war eine Koryphäe. Sein Foto hängt bis heute im Gerichtsgebäude.« Eudoxie lächelte anerkennend. Die junge Frau gefiel ihr immer besser. »Es war also vorauszusehen, dass Sie Mijnheer Yves finden würden«, sagte Van In. Eudoxie trank einen Schluck von ihrem Kaffee und schnäuzte sich nervös die Nase. Sie hatte den abscheulichen Anblick immer noch deutlich vor Augen. »Offiziell fange ich erst um neun Uhr an«, sagte sie mit einem Kloß im Hals. »Aber meistens bin ich schon gegen acht Uhr hier.« »Weil Sie für Mijnheer Yves das Frühstück zubereiten«, ergänzte Van In freundlich. 170
»Ja, natürlich«, antwortete sie spontan. »Ich meine, nicht immer natürlich. Nur, wenn Mijnheer Yves hier übernachtet.« Juffrouw Eudoxie war auf den simplen Trick Van Ins hereingefallen, und das wusste sie auch. Hannelore schlug die Augen nieder. Glücklicherweise ging Van In nicht weiter auf diese Frage ein. Er hatte erfahren, was er wissen wollte. »Mijnheer Yves ist immer sehr früh auf den Beinen.« Juffrouw Calmeyn versuchte tapfer, die Situation zu retten. »Als ich heute Morgen um halb neun noch nichts hörte, bin ich zu seinem Arbeitszimmer gegangen. Ich habe angeklopft. Und als er nicht antwortete, bin ich …« Ihre Stimme stockte. Mit einer Damastserviette tupfte sie sich die Augen ab. Die arme Sekretärin trauerte aufrichtig um ihren Arbeitgeber. Hannelore hörte auf zu futtern wie ein Wolf. Die alte Frau rang nach Fassung, aber sie protestierte nicht, als Hannelore ihr den Arm um die Schultern legte. »Ich kann mir vorstellen, wie sehr Sie das erschreckt hat, Juffrouw Calmeyn«, sagte sie tröstend. »Ich darf gar nicht daran denken, wie ich reagieren würde, wenn mir so etwas passierte.« »Ach, da sagen Sie etwas, mein Kind. Ich kann es noch immer nicht fassen. In was für einer Zeit leben wir?« Sie fing laut an zu schluchzen und verbarg ihr Gesicht hinter einem Gitterwerk knochiger Finger. Erst jetzt kam es Juffrouw Calmeyn so richtig zu Bewusstsein, dass Yves Provoost tot war. Van In hielt es für ratsamer, die beiden Frauen allein zu lassen.
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Im Arbeitszimmer hatte Doktor De Jaegher inzwischen seine Untersuchung abgeschlossen. Die beiden Kriminaltechniker waren vollauf mit der Spurensicherung beschäftigt, was Van In wahnsinnig störend fand. Für ihn waren die Atmosphäre an einem Tatort und die Reaktionen der Betroffenen wichtiger als das Gedöns mit dem Fingerabdruckspray und das minutiöse Absaugen der Umgebung des Toten. Konkrete Beweismittel waren für einen Prozess natürlich unerlässlich, wenn ein Angeklagter sich weigerte zu gestehen. Aber bis es so weit war, musste man den Täter erst einmal aufspüren, und dies war der Teil der Verbrechensbekämpfung, der Van In am meisten faszinierte. De Jaegher suchte seine Siebensachen zusammen. Van In fand es heuchlerisch, ihm die Hand zu schütteln, und verließ klammheimlich das Zimmer. Es wurde Zeit, den Rest des Hauses zu inspizieren. Im Flur führte eine steile Treppe in den ersten Stock. Der interessierte ihn, und er ging hinauf. Rechts und links an den Wänden hingen kleine Gemälde in bombastischen, vergoldeten Rahmen: lauter Stillleben unbekannter Meister des neunzehnten Jahrhunderts. Auf Antiquitätenbörsen erzielten diese Machwerke heutzutage astronomische Preise. Für die Skizze ein paar überreifer Früchte in einer Porzellanschale blätterte man mal eben ein Vermögen hin. Auf dem Treppenabsatz, der doppelt so groß war wie Van Ins Schlafzimmer, prangte ein üppig verziertes holländisches Spiegelkabinett, ein Möbelstück wie aus einem Museum. Im ersten Stock gab es zwei große Schlafzimmer und ein Badezimmer im englischen Stil mit viel Mahagoniholz und anderen unpraktischen Ausstattungsmerkmalen. Das zur Straßenseite gelegene Zimmer diente offenbar als Gästezimmer. Es roch muffig, und die Laken auf dem 172
glatt bezogenen Bett sahen ein wenig vergilbt aus. Von der Blümchentapete war nicht viel zu sehen. Die Wände waren über und über mit Kunstwerken bedeckt. Van In zählte dreiundzwanzig Gemälde, Aquarelle, Stiche und Zeichnungen. Schließlich hatte Gaëtan Provoost sein Leben lang »Kunst« gesammelt. Das zweite Schlafzimmer war weniger ordentlich. Unverkennbar handelte es sich hier um die Behausung eines Junggesellen. Überall lagen Bücher und Zeitschriften herum. Auf dem Nachttisch standen ein Glas und eine Flasche Glenfiddich. Daneben lag eine Schachtel Antidepressiva. Das Nachttischlämpchen, ein bronzenes Monstrum aus dem neunzehnten Jahrhundert, warf ein schummriges Licht auf das zurückgeschlagene Deckbett. Ein Breitbildfernseher fungierte als eine Art Trennwand zwischen dem Bett und dem übrigen Zimmer. Der Riesenapparat ruhte auf einem eleganten Konsolentisch, und auf dem Gerät lagen vier Stapel Videokassetten. Die Titel sprachen für sich und bewiesen jedenfalls, dass Provoost an beiderlei Geschlechtern interessiert gewesen war. Anhand dessen, was er sah, versuchte Van In sich ein Bild von dem Mann zu machen, der tot dort unten auf dem Sofa lag. Yves Provoost war ein renommierter Anwalt gewesen, der seine Mandanten hauptsächlich dem ausgezeichneten Ruf seiner Vorfahren verdankte. Schließlich stammte er aus einer Familie hervorragender Juristen. Die Juristerei hatte er quasi mit der Muttermilch eingesogen, und neben dem Namen hatte er auch das beträchtliche Vermögen seiner Familie geerbt. Auch ohne Studienabschluss hätte er sich ein überaus luxuriöses Leben leisten können. Van In unterzog das Zimmer einer genauen Untersuchung. Im Kleiderschrank hingen mehrere Anzüge, alle 173
von makelloser Qualität. Anschließend inspizierte er die Kommode. In den Schubladen fand er eine große Auswahl an exklusiver Unterwäsche und fünf verschiedene Schlafanzüge. »Was machen Sie denn hier!« Ein Blitz hatte einst Paulus aus dem Sattel gehoben und ihn zur Einkehr gebracht, doch die Stimme von Juffrouw Calmeyn brauchte sich vor diesem Hollywood-Effekt nicht zu verstecken. Van In erschrak sich fast zu Tode. Er drehte sich um und versuchte, unschuldig zu lächeln. Die Sekretärin des seligen Yves Provoost ließ sich dadurch jedoch nicht erweichen und maß ihn mit drohenden Blicken. Ihre Miene stand auf Sturm. Hannelore hielt sich im Hintergrund und unterdrückte krampfhaft ein Lachen. Für sie war Eudoxie das wandelnde Beispiel einer typischen Schwiegermutter, und zwar von der Sorte, vor der sich die Männer fürchten. »Entschuldigen Sie, Juffrouw, aber ich dachte, dass im Interesse der Ermittlungen …« »Niemand betritt das Zimmer von Mijnheer Yves ohne meine Erlaubnis!«, fuhr Calmeyn ihn an. »Ich kenne die Gesetze! Ohne Durchsuchungsbeschluss haben Sie hier nichts verloren!« Juffrouw Calmeyn wusste, dass Provoost heimlich Whiskey trank und sich Pornofilme ansah. Sie billigte sein Verhalten keineswegs, aber das hieß noch lange nicht, dass der erstbeste Eindringling es wagen konnte, hier einfach so herumzuschnüffeln. »Ich verstehe Sie ja, Juffrouw, aber …« »Kein Wenn und Aber, Commissaris. Wenn Sie diesen Raum nicht auf der Stelle verlassen, rufe ich die Rijkswacht.« 174
Van In seufzte. Diese Drohung hatte er doch kürzlich schon mal gehört. »In Ordnung, Juffrouw Calmeyn. Wir gehen. Aber erzählen Sie mir nicht in ein paar Wochen, die Polizei würde ihre Pflicht versäumen.« Hannelore schwieg beredt, als Van In sich wie ein geprügelter Hund verzog. Jos Brouwers hatte Glück. Dank der ausführlichen Informationen Vandaeles geriet er praktisch automatisch an Dominique Verhelst. Der aalglatte Prokurist der Handelsbank versprach, unverzüglich die nötigen Schritte zu unternehmen. Brouwers hatte Verhelst vor zehn Jahren eine kostspielige Scheidung erspart, als seine Frau die Rijkswacht eingeschaltet hatte, um ihn beim Ehebruch zu ertappen. Brouwers hatte Verhelst rechtzeitig gewarnt und damit die Pläne seiner Frau durchkreuzt. Kaum eine Stunde später rief Verhelst ihn bereits zurück. »Hallo, Jos. Ich glaube, ich habe gute Neuigkeiten für dich.« Brouwers nahm Notizblock und Stift zur Hand. Das versprach, ein leichter Auftrag zu werden. »William Aerts hat Anfang der Woche eine größere Summe abgehoben. Den Rest seines Guthabens hat er auf ein Konto bei der Banco Condottiere in Rom überwiesen.« »Wie viel betrug der Rest?« »Vierhunderttausend.« Brouwers unterstrich den Betrag. Der gute Mann hatte also vor, eine Weile fortzubleiben. »Wunderbar. Kannst du auch überprüfen, ob er das Geld in Rom abgehoben hat?« 175
»Ist das wichtig?«, fragte Verhelst vorsichtig. Wenn er vertrauliche Informationen über Kunden an Dritte weitergab, machte er sich strafbar. Als Prokurist konnte er sich einige Freiheiten erlauben, und bankintern war er relativ unangreifbar. Was jedoch Transaktionen im Ausland betraf, ging er ein erhebliches Risiko ein. Außerdem war es wenig wahrscheinlich, dass die römische Bank seine Anfrage beantworten würde. »Würde ich dich fragen, wenn es nicht wichtig wäre?« Das daraufhin eintretende Schweigen verriet, in welcher Zwickmühle Verhelst steckte. »Ohne meine Hilfe hättest du damals deine Villa in Montpellier verkaufen können, Dominique.« Dieses Argument gab den Ausschlag. »Ich werde sehen, was ich für dich tun kann«, versprach Verhelst. »Aber ich kann dir nichts versprechen.« »Danke, Dominique, ich weiß das zu schätzen. Ich rufe dich morgen um vierzehn Uhr noch einmal an.«
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9 »Was hältst du von der ganzen Sache?«, fragte Hannelore. Der Ober im Mozarthuys servierte zwei Cappuccini. Auf dem Huidenvettersplein flanierten die ersten Touristen unter einem wolkenverhangenen Himmel. »Erst mal warte ich ab, was die Obduktion ergibt«, antwortete Van In mürrisch. Dass er letzte Woche zweimal von einer Frau vor die Tür gesetzt worden war, lag ihm noch immer schwer im Magen. Außerdem steckten die Ermittlungen so fest wie das Schwert Excalibur im Felsen. Van In hatte eine Befragung der Nachbarschaft angeordnet, doch auch davon erhoffte er sich nicht allzu viel. Provoost war mitten in der Nacht ermordet worden, weshalb die Chancen, dass jemand eine Person Provoosts Haus hatte betreten oder verlassen sehen, extrem gering waren. »Mir kannst du nicht weismachen, dass du dir nicht schon so deine Gedanken über das Ganze gemacht hast. Ich kenne dich nicht erst seit gestern, Pieter Van In, und ich sehe es doch deinem Gesicht an, dass in deinem hübschen Oberstübchen alle Räder in Bewegung sind.« Van In steckte die Nase in den sahnigen Schaum seines Cappuccino. »Warum muss ich eigentlich unbedingt Kaffee trinken? Schließlich ist es schon zehn nach elf, und ein Duvel hat garantiert weniger Kalorien als dieses Gebräu.« »Ich dachte, in diesem Punkt wären wir uns einig gewesen«, erwiderte sie streng. 177
Van In zündete sich herausfordernd eine Zigarette an und blies den Rauch in ihre Richtung. »Wie du willst«, sagte er mit einem scheinheiligen Lächeln. Der Rauch erinnerte Hannelore an ihre eigene Schwäche. Auch sie hatte der Versuchung nicht widerstehen können. Ein Duvel würde ihm schon nicht schaden. »Okay, aber wirklich nur ausnahmsweise!« Van In schob den süßen Cappuccino beiseite und hob flugs die Hand. Der Ober, der das Gespräch zufällig mit angehört hatte, war sofort zur Stelle. »Ein Duvel, Mijnheer?«, fragte er liebenswürdig. Hannelore nutzte die Gelegenheit und stibitzte eine Zigarette. »Quidproquo«, sagte sie neckend. Van In reagierte nicht. Ein Duvel gegen eine Zigarette schien ihm ein fairer Handel. »Wenn wir De Jaegher glauben dürfen, wurde Provoost zwischen drei und vier Uhr morgens ermordet, aber meiner Meinung nach muss der Täter schon viel früher da gewesen sein.« »Woher willst du das wissen?« »Wir haben keinerlei Einbruchsspuren gefunden, daher können wir davon ausgehen, dass Provoost den Mörder selbst hereingelassen hat. Ich halte es aber für unwahrscheinlich, dass er nach zwölf Uhr noch Besuch empfangen hätte.« Hannelore schaute ihn erstaunt an. »Bist du da nicht etwas zu voreilig? Vielleicht ist Provoost einfach aufgestanden, weil er ein verdächtiges Geräusch hörte.« »Glaube ich nicht«, entgegnete Van In. »Wenn ich nachts ein verdächtiges Geräusch höre, ziehe ich nicht 178
erst meinen Morgenmantel über, bevor ich nachschauen gehe.« »Natürlich nicht«, antwortete sie grinsend. »Du hast ja gar keinen.« »Okay. Provoost war ein gesitteter Herr. Er zieht also erst seinen Morgenmantel über.« »Klingt logisch.« »Und dazu den passenden Schal?« Der Ober brachte ein Duvel mit weißer Schaumkrone. Van In griff sofort nach dem Glas und trank einen großen Schluck. »Stimmt, den Schal hatte ich ganz vergessen«, gab Hannelore zu. »Aber woher willst du wissen, dass Provoost zum Zeitpunkt des Mordes den Schal wirklich trug? Der Mörder könnte ihn aus dem Schrank genommen haben.« »Dann müsste er im Schlafzimmer von Provoost gewesen sein. Ich habe in der Kommode nachgesehen, und in der zweiten Schublade liegt ein ganzer Stapel von solchen Dingern, alle ordentlich gefaltet. Jemand, der einen Knebel braucht, geht aber nicht erst ins Schlafzimmer und nimmt sich ganz brav und ohne Unordnung zu hinterlassen einen Seidenschal oben von dem Stapel weg. Nein, das halte ich für unwahrscheinlich. Ich glaube, dass Provoost Besuch erwartete. Erstens brannte sein Nachttischlämpchen noch, und zweitens bin ich davon überzeugt, dass er den seidenen Schlafanzug und den Schal nicht zufällig trug.« Hannelore schüttelte den Kopf. »Er besaß nur einen seidenen Schlafanzug, Hanne. Und Männer kaufen die Dinger meistens aus einem ganz bestimmten Grund.« »Ach ja?«, fragte sie neugierig. 179
»Ich meine bestimmte Männer. Schließlich sollen Frauen Seide angeblich erregend finden.« »Warum hast du dann keinen seidenen Schlafanzug?« »Weil solche Dinger eine Stange Geld kosten und ich mir diesen Luxus nicht erlauben kann.« Van In trank sein Duvel in einem Zug aus und bestellte unverzüglich ein neues. Hannelore dagegen nahm sich keine zweite Zigarette. »Ich befürchte, Pieter, ich kann dir in diesem Fall nicht folgen, es sei denn, du gehst davon aus, dass der Mord von einer Frau verübt wurde.« »Alles weist darauf hin«, sagte Van In mit gerunzelter Stirn. Im Grunde bewunderte ihn Hannelore, und sie war ein wenig neidisch auf seine scharfe Beobachtungsgabe. Van In ließ sich nicht, wie die meisten Intellektuellen, durch einen wissenschaftlichen Überbau behindern. Er argumentierte rein instinktiv. »Dann fasse ich mal zusammen«, sagte sie energisch. »Provoost erwartete im Laufe des Abends Damenbesuch. Er macht sich fein, zieht seinen besten Pyjama an, legt einen Schal um und wartet im Schlafzimmer, bis seine Besucherin an der Tür klingelt. Er lässt sie herein. Die Frau überwältigt ihn, legt ihm Handschellen an und ermordet ihn ein paar Stunden später.« Van In nickte. Er fand ihre Analyse brillant. »Die Hälfte seiner Videosammlung besteht aus SMFilmen. Es muss ganz einfach gewesen sein, Provoost in diesem Kontext zu fesseln. Mich stört bisher nur der lange Zeitraum, der bis zu dem eigentlichen Mord vergangen sein muss.« »Warum?«, fragte Hannelore erstaunt. »Soweit ich weiß, können solche Spielchen stundenlang dauern.« Sie fragte sich, warum Van In sich darüber wunderte. 180
»Weil ich glaube, dass der Mord an Provoost in irgendeinem Zusammenhang mit dem Mord an Herbert steht. Wenn Provoost bei einem eskalierten Sexspielchen gestorben ist, war es ein Unfall, und daran glaube ich nicht. Ich glaube, dass Provoost kaltblütig ermordet wurde, und in diesem Fall hätte der Mörder die Exekution nicht stundenlang hinauszögern müssen.« »Eine merkwürdige Hypothese«, sagte Hannelore. »Ich frage mich, ob wir je die Wahrheit herausfinden werden.« »Ich wette, wir müssen sie bei diesem Wohltätigkeitsverein suchen«, sagte Van In entschlossen. »Wenn du für einen Durchsuchungsbeschluss sorgst, kann Versavel sich deren Computer vornehmen.« »Du weißt, dass das nicht so einfach möglich ist«, protestierte Hannelore. »Kein Untersuchungsrichter würde auf der Grundlage von ein paar vagen Vermutungen eine solche Aktion unterstützen. Stell dir vor, es käme heraus, dass Versavel sich bereits widerrechtlich Zugang zu den Daten verschafft hat.« Wenn Hannelore in Gerichtsjargon verfiel, wusste Van In, dass es keinen Sinn hatte, sie weiter zu bedrängen. »Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als einen VMann einzuschleusen«, sagte er matt. Den Plan, einen verdeckten Ermittler gegen den Verein einzusetzen, hatte er letzte Nacht geschmiedet. »Fällt dir denn wirklich kein legaler Weg ein?«, fragte Hannelore gereizt. »Ich bin für jeden brauchbaren Vorschlag dankbar«, antwortete Van In bescheiden. Er wusste, dass es keine Alternative gab, und Hannelore ebenso. Die Namensliste, die Van In Linda Aerts entlockt hatte, war vollkommen wertlos. Die Männer, die 181
draufstanden, hatten nichts Ungesetzliches getan. William Aerts, der möglicherweise nützliche Informationen über die Hintergründe von De Love hätte liefern können, war spurlos verschwunden, und der Zusammenhang zwischen den Morden und dem Wohltätigkeitsverein Hilfe zur Selbsthilfe beruhte auf reinen Spekulationen. Es war zwar ein offenes Geheimnis, dass das Imperium Lodewijk Vandaeles auf krummen Geschäften aufgebaut war, aber bisher hatte man ihm nie etwas nachweisen können. »An wen hattest du denn gedacht?«, fragte Hannelore forschend. »Es muss auf jeden Fall eine Frau sein«, antwortete Van In. »Am besten, eine hübsche.« Hannelore lächelte. Subtil war er nicht gerade, aber was machte das schon. Ein Kompliment blieb ein Kompliment. »Okay, Pieter. Aber vorher möchte ich die Sache erst mit dem Staatsanwalt besprechen. Wenn er grünes Licht gibt, bin ich gerne dazu bereit.« Van In begriff, dass er gerade gewaltig ins Fettnäpfchen getreten war. »Ich dachte eigentlich an eine andere Art von ›hübsch‹«, sagte er mit einem dümmlichen Grinsen. »Du dachtest an eine andere Frau.« »Versteh mich nicht falsch, Hannelore. Du bist schwanger. Und außerdem ist das wirklich Sache der Polizei.« »Ist sie jünger als fünfunddreißig?« Es hatte keinen Sinn, ihr noch länger etwas vorzumachen. »Carine Neels ist dreiundzwanzig Jahre alt und speziell für solche Einsätze ausgebildet«, log Van In. Nur das Alter stimmte. Ansonsten hatte Carine Neels gerade einmal zwei Jahre Polizeischule hinter sich. Die 182
schlimmsten Straftäter, mit denen sie es bisher zu tun gehabt hatte, waren Falschparker und Rentner, die ihre Hundesteuer nicht bezahlten. »Und du bist sicher, dass Carine nicht schwanger ist?«, fragte Hannelore schnippisch. »Carine ist lesbisch«, log Van In weiter. »Na und, können Lesben etwa nicht schwanger werden?« Hannelore musterte ihn mit streitsüchtigem Blick. Insgeheim dachte sie, wie lieb er doch war. Wahrscheinlich würde er gleich noch behaupten, Carine habe einen Bart. Van In hatte die Ironie in Hannelores Frage durchaus herausgehört. »Außerdem leidet Carine Neels an einer Unterleibsverkrampfung«, fuhr er leise fort. »Davon konnte ich mich gestern persönlich überzeugen.« Hannelore schwieg. Sie hatte nicht die Absicht, ihn gänzlich auf die Palme zu bringen. Jos Brouwers faltete die Karte von Südeuropa auseinander. Dominique Verhelst hatte ihn vor ein paar Minuten zurückgerufen. Aerts’ Geld befand sich noch immer auf seinem Konto in Rom. Brouwers versuchte, sich in sein Opfer hineinzuversetzen. Aerts sei ein gerissener Kerl, hatte Vandaele ihn gewarnt. Daher musste es einen Zusammenhang zwischen der Stadt Rom und dem Versteck des Flüchtigen geben. Der Ex-Rijkswachter zog bedächtig das Zellophan von einem Päckchen Pfefferminzkaugummi, wickelte einen Streifen aus und steckte ihn in den Mund. Die meisten Ermittler begingen immer wieder denselben Fehler. Sie glaubten, bei einem komplizierten Problem müssten sie auch nach einer komplizierten Lösung suchen. Das war jedoch ein großer Irrtum. 183
Komplexität war nichts weiter als eine Kombination einfacher Elemente. Jos Brouwers wusste, dass nach der korrekten Analyse eines Problems meist schon die halbe Lösung auf der Hand lag. Seinen analytischen Verstand und die mathematische Begabung hatte er von seinem Vater geerbt. Brouwers senior war ein einfacher Bankangestellter gewesen, und niemand hatte ihn je eine Rechenmaschine benutzen sehen. Sein großer Traum war es gewesen, dass sein Sohn einmal Diplomingenieur werden würde. Mit diesem Ziel vor Augen hatte er sich Tag und Nacht abgerackert. Doch das Schicksal ist launisch, und Pläne bleiben immer Menschenwerk. Als Jos Brouwers gerade mit Auszeichnung sein Vordiplom bestanden hatte, starb sein Vater an einem Herzinfarkt. Damals gab es noch keine staatlichen Beihilfen für Studenten, und Jos Brouwers sah sich gezwungen, sein Studium abzubrechen. Er bewarb sich bei der Rijkswacht, unterzog sich der harten Ausbildung und unterwarf sich den Erniedrigungen und der Willkür seiner Vorgesetzten. Über zehn Jahre lang trat er seinen Sold seiner Mutter ab, und seine Geschwister studierten an seiner Stelle. Einmal das Diplom in der Tasche, ließen sie ihn links liegen. Sie schämten sich dafür, dass ihr ältester Bruder es nicht weiter als bis zum Rijkswachter gebracht hatte. Doch jedes Drama kennt seinen Wendepunkt. Die Griechen bezeichneten das als Katharsis; Brouwers selbst bevorzugte den moderner klingenden Begriff turning point. Vor sechs Jahren hatte er beschlossen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Er quittierte den Dienst bei der Rijkswacht und schwor, sich an seinen eingebildeten Verwandten zu rächen. Die einzige Möglichkeit bestand darin, reicher zu werden als sein Bruder Jacob, der Augenarzt, berühmter als sein Bruder Bert, der Seifenopern-Schauspieler, freier 184
als Christa, die Bildhauerin, und einflussreicher als Kathy, die im Provinzrat saß. Was die Punkte Reichtum und Freiheit anging, war er äußerst erfolgreich gewesen. Prestige und Einfluss genoss er in bestimmten Kreisen, und das genügte ihm. Brouwers nahm ein Lineal zur Hand, schaute nach, welchen Maßstab die Karte hatte und zog einen Kreis mit einem Radius von fünfhundert Kilometern rund um Rom. Versavel schaute nervös auf die Uhr und strich sich flüchtig über den Schnurrbart. Van In hatte wie üblich sein Funkgerät liegen gelassen. Wieder einmal war er absichtlich unerreichbar. Hoofdcommissaris De Kee rief alle halbe Stunde an und verlangte, dass sich Van In nach seiner Rückkehr unverzüglich bei ihm melden solle. Versavel gab sich alle Mühe. Er hatte bereits überall herumtelefoniert. Juffrouw Calmeyn versicherte ihm, dass der Commissaris und Mewrouw Staatsanwältin bereits vor über einer Stunde aufgebrochen seien. Leo Vanmaele verwies Versavel an die Kneipe L’Estaminet, und bei Gericht speiste ihn die Verwaltung mit dem Hinweis ab, Mevrouw Martens sei derzeit abwesend. Versavel rief überall ein zweites Mal an, bevor er De Kee Bescheid sagte. Der kleine Hoofdcommissaris war außer sich vor Wut. Versavel nahm seine Flüche gelassen hin und versprach, Van In noch vor morgen Bescheid zu sagen. Der Hoofdcommissaris brauche sich keine Sorgen zu machen. Versavel hatte Van In zu Hause eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Als Van In um zwölf Uhr immer noch nicht aufgetaucht war, gab Versavel es auf. Schließlich wartete Frank auf ihn, mit einem köstlichen Mittagessen.
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»Hallo, spreche ich mit Mijnheer Lodewijk Vandaele?« Als Vandaele die Stimme von Brouwers erkannte, steckte er einen Scrambler in sein Telefon, eine Vorgehensweise, von der er unter keinen Umständen abwich. »Hallo, Jos. Was ist los?« Vandaele klang angespannt. Brouwers bemerkte es sofort. »Gibt es irgendwelche Probleme?«, fragte er ohne Umschweife. Einen Augenblick lang blieb es still in der Leitung. »Provoost ist tot«, antwortete Vandaele schließlich. »Ermordet, allem Anschein nach.« »Das ist wirklich keine gute Nachricht. Soll ich Ermittlungen anstellen?« »Auf keinen Fall!«, antwortete Vandaele entschieden. »Sag mir lieber, wie es mit dem Auftrag voran geht.« Brouwers spürte, dass der Alte ihm etwas verschwieg, fragte aber nicht weiter nach. »Aerts hält sich auf Malta auf«, sagte er voller Überzeugung. »Malta? Wie kommst du denn darauf?« »Weil es genügend Hinweise gibt, die meine Vermutung untermauern.« Vandaele stellte keine weiteren, unnötigen Fragen, sondern hörte geduldig zu, als Brouwers ihm seine Hypothese erläuterte. »Aerts hat die vierhunderttausend auf ein Konto bei der Banco Condottiere in Rom überwiesen. Wenn er so schlau ist, wie allgemein behauptet wird, ist ihm sonnenklar, dass diese Transaktion nicht geheim bleibt. Wenn er keine Spuren hinterlassen will, ist er gezwungen, das Geld persönlich abzuheben. Deshalb hat er zwölftausendfünfhundert in bar mitgenommen, um davon zu leben, bis 186
sich die Lage etwas beruhigt hat. Aerts spekuliert darauf, dass ihn die Justizbehörden in ein paar Monaten vergessen haben. Ich würde genau dasselbe tun. Ich würde mir einen sicheren Unterschlupf suchen und warten, bis sich der Sturm gelegt hat.« »Klingt annehmbar«, meinte Vandaele. »Aber die Welt ist groß. Warum ausgerechnet Malta?« Brouwers war auf die Frage vorbereitet, schließlich hatte er sie sich selber gestellt. »Ich bin davon ausgegangen, dass Aerts sich auf bekanntem Terrain und möglichst nicht allzu weit von seinem Kapital verstecken würde. Ich an seiner Stelle hätte mich auch für eine Gegend entschieden, die ich gut kenne.« »Fahre fort, Jos.« »Malta gehört bisher nicht zur Europäischen Gemeinschaft und hat sich in letzter Zeit zum beliebten Steuerparadies entwickelt. Die Insel liegt weniger als fünfhundert Kilometer vom italienischen Festland entfernt. Jeder, der über ein halbwegs seetüchtiges Boot verfügt, kann unauffällig übersetzen. Außerdem hat Aerts in der Vergangenheit mehrmals dort Urlaub gemacht.« Diese Information hatte Brouwers Dutzende Telefonate gekostet. Bei der vorletzten Reisegesellschaft hatte er endlich Glück gehabt. Brouwers hatte seine Ausrede sorgfältig vorbereitet und überzeugend behauptet, sein Schwager William Aerts habe ihm ein Apartmenthotel in Malta empfohlen. Die Adresse habe er leider verloren, und sein Schwager sei momentan nicht erreichbar. Er erinnere sich nur noch vage an den Namen der Reisegesellschaft, bei der William damals gebucht habe. Ob es viele Umstände machen würde, nachzuprüfen, wie dieses Hotel auf Malta hieß? 187
»Woher wusstest du, dass Aerts in einem Apartmenthotel gewohnt hat?« »Na ja, irgendetwas musste ich mir doch einfallen lassen«, antwortete Brouwers grinsend. »Die Hauptsache war, dass sie seinen Namen im Computer hatten. Nach Angaben der Reisegesellschaft war er 1988 zum ersten Mal auf Malta. Das Konto bei der Banco Condottiere hat er im Jahr darauf eröffnet. Ich glaube, dass Aerts seine Flucht von langer Hand geplant hat. Es würde mich nicht wundern, wenn er auf Malta jemanden kennen gelernt hat.« »Ist das nicht eine etwas sehr gewagte Spekulation, Jos?« »Das werde ich in wenigen Tagen erfahren.« Brouwers dachte an die versprochene Prämie, wenn er Aerts innerhalb einer Woche liquidierte. »Du fliegst also nach Malta«, schlussfolgerte Vandaele. »Ja, wenn du damit einverstanden bist.« »Natürlich, Jos. Aber halte mich auf dem Laufenden.« »Selbstverständlich. Ich werde jeden Abend zwischen elf und zwölf Uhr anrufen.« Van In traf um Viertel nach zwei in der Hauwerstraat ein. Er hatte gemeinsam mit Hannelore auf der Terrasse des Mozarthuys ein gesundes Mittagessen zu sich genommen. Fleisch vom heißen Stein war durchaus eine akzeptable Alternative, wenn man schon Diät halten musste. Versavel stand am Fenster, starrte hinaus und reagierte kaum auf seinen Gruß. »Was hast du denn, Guido?« Versavel drehte sich um und setzte sich wortlos an seinen Computer. »Du vergisst, dass ich derjenige bin, der unter Depressionen leidet«, sagte Van In lachend. 188
Versavel schwieg. Die Stille wog schwer wie ein nasses Badehandtuch auf trockener Haut. »Es ist doch hoffentlich nichts mit Frank?« Versavel fasste sich an seinen Schnurrbart und rieb sich mit der flachen Hand über die Nase. Van In stellte sich neben ihn. Er hielt den Arm einen Moment lang unentschlossen in der Luft und legte dann seinem Freund ziemlich ungeschickt die Hand auf die Schulter. »Doch nichts Ernstes, hoffe ich?« Versavel wusste Van Ins Geste zu schätzen. Er schaute ihm in die Augen, und aus seinem Blick sprachen Kummer und Verzweiflung. »Frank hat mich verlassen. Als ich heute Mittag nach Hause kam, lag ein Zettel auf dem Tisch. Er hat nur seine Kleidung und sein Topfset mitgenommen.« Versavel erzählte das alles, als lese er den Text von einem Blatt Papier ab. »Hat es etwas mit Jonathan zu tun?« Van In hatte Mitleid mit seinem Freund, aber irgendwie erleichterte es ihn auch, dass offenbar nicht nur Heteros das Recht auf Eifersucht gepachtet hatten. »Ja. Frank fühlte sich betrogen. Er kam sich vor, als wäre er nur noch mein Haussklave.« Van In hatte schon viel im Leben mitgemacht, aber mit einem ausgewachsenen Mann von sechsundfünfzig Jahren, der plötzlich in Tränen ausbrach, wusste er nicht recht umzugehen. »Aber Guido!« Mehr konnte er nicht hervorbringen. »Und das kam ganz plötzlich?« Versavel schüttelte den Kopf. Er hatte schon seit einiger Zeit gespürt, dass es in der Beziehung kriselte, und er verfluchte den Tag, an dem er Jonathan wieder gesehen hatte. 189
»Im Grunde muss ich mir Vorwürfe machen«, sagte Van In schuldbewusst. »Wenn ich dich nicht darum gebeten hätte …« »Aber das habe ich doch von mir aus vorgeschlagen!«, protestierte Versavel. »Möchtest du, dass ich dich nach Hause bringe?« Versavel schaute seinen Freund mit Tränen in den Augen an. Van In hatte einen Kloß im Hals. »Zu Hause würde ich völlig verrückt werden, Pieter.« Versavel nahm Van Ins Hand. Das hätte sich Van In von keinem anderen Mann gefallen lassen. »Aber ein bisschen frische Luft würde mir gut tun, Pieter.« Carine Neels erschrak, als sie die beiden Männer in dieser Haltung antraf. Noch vor zwei Tagen hätte sie sicherlich angeklopft, bevor sie Zimmer 204 betrat, aber inzwischen fühlte sie sich als vollwertiges Mitglied der Kripo Brügge. »Entschuldigung«, sagte sie. »Ich wusste nicht, dass …« »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Van In machte keinerlei Anstalten, sich aus Versavels Hand zu befreien. »Ich wollte über die Ergebnisse meiner Nachforschungen berichten«, sagte Carine. Ihre telefonische Odyssee war ergebnislos geblieben. Vor fünf Minuten hatte sie mit Doktor Verminnen gesprochen, dem letzten plastischen Chirurgen auf ihrer Liste, und auch er konnte sich an keinen Fall erinnern, bei dem ein junger Mann aus ästhetischen Gründen seinen Unterkiefer hatte verkürzen lassen. Zu ihrer großen Verwunderung fand Van In das nicht weiter tragisch. »Vielleicht kannst du dich auf andere Art und „Weise nützlich machen, Carine.« 190
Ihr Herz schlug schneller, als Van In sie beim Vornamen nannte. »Schieß los«, antwortete sie begeistert. »Hast du heute Abend schon etwas vor?« Diese Frage stellte Carine vor ein Dilemma. Sollte sie jetzt verführerisch nicken oder Empörung heucheln? Ihre Nasenflügel bebten vor Aufregung. Ging ihr Traum in Erfüllung oder wollte er sie nur auf den Arm nehmen? »Das hängt ein bisschen von dem Auftrag ab«, antwortete sie ausweichend. Van In ließ Versavels Hand los und bat Carine, sich zu ihm an den Schreibtisch zu setzen. »Weißt du, was ein verdeckter Ermittler ist, Carine?« Natürlich wusste sie das, schließlich schaute sie sich regelmäßig die einschlägigen amerikanischen Krimiserien im Fernsehen an. »Dann weißt du auch, welches Risiko mit einem solchen Einsatz verbunden ist?« Sie nickte und versuchte, ihre beschleunigte Atmung zu verbergen, indem sie burschikos die Arme vor der Brust verschränkte. »Gut«, sagte Van In. »Ich möchte, dass du dir für den Rest des Tages freinimmst und …« Er erteilte ihr eine Reihe präziser Instruktionen. »Anschließend erwarte ich dich bei mir zu Hause, um acht Uhr. Dort können wir den Rest der Operation besprechen.« Carine Neels schwebte hinaus wie eine Madonna auf Wolken. Sie hätte ihr Glück am liebsten von allen Dächern geschrien. Aber natürlich durfte sie das nicht, denn dann wäre sie ja keine verdeckte Ermittlerin mehr. Graue Wolken ballten sich über den Türmen von Brügge zusammen. Nach einem langen, heißen Sommer trug der 191
September die Verheißung eines frühen Winters in sich. Aus diesem Grund bog Van In in Richtung Küste ab. Mit ein wenig Glück konnten sie dort noch mit etwas Sonne rechnen. Die ganze Fahrt über sagte Versavel kein Wort. Er starrte geradeaus, als führen sie ans Ende der Welt. Van In parkte den Golf am Yachthaven von Blankenberge. Vom grauen Herbst war dort noch nichts zu spüren – über dem Badeort wölbte sich ein azurblauer Himmel, und auf dem Deich wehte eine angenehme Meeresbrise. Die Leute hier wirkten freundlicher als im staubigen Brügge. Die Luft war klar, und das Rauschen der See ließ selbst Versavel nicht kalt. »Du bist schwer in Ordnung, Pieter Van In«, sagte er plötzlich. Van In legte seinem Freund den Arm um die Schultern. »Ich weiß, Guido«, antwortete er lachend. »Aber ich freue mich, das auch mal von jemand anderem zu hören. Du hast mir wirklich einen gehörigen Schrecken eingejagt. Eine Trennung von Frank, nach all den Jahren!« Versavel atmete die laue Meeresluft tief ein. Auf der Fahrt von Brügge nach Blankenberge hatte er nach einer Erklärung für das schreckliche Drama gesucht, das sein geordnetes Leben völlig auf den Kopf gestellt hatte. »Ich hätte es ahnen müssen«, sagte er. »In sexueller Hinsicht kann ich mit Frank nicht mehr mithalten, und darunter leidet er. In den letzten Monaten hat er mehrmals Anspielungen darauf gemacht. Daraufhin musste ich unbedingt beweisen, dass ich noch meinen Mann stehen kann. Die Affäre mit Jonathan war dann der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Frank ist weg. Jetzt bin ich alt und allein.« Van In hatte Erfahrung mit Depressionen. Tröstende Worte würden die Wunde nicht heilen, aber Schweigen hatte auch keinen Sinn. 192
»Jetzt rede doch keinen Unsinn, Guido. Du siehst aus wie Anfang vierzig. Und die Welt ist so groß. Du bist attraktiv, nett und intelligent und außerdem …« Van In erzählte Versavel genau das, was er selbst von wohlmeinenden Mitmenschen auch nicht hören wollte, wenn er am Boden war. Deshalb tat er etwas, das er sich vorher in seinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Er blieb stehen und schaute Versavel genau in die Augen. »Und außerdem bist du mein bester Freund, Guido. Ich hab dich sehr gern.« Sogar Versavel erschrak, als Van In ihn umarmte. Der Kuss auf seine Wange linderte für einen Moment den wütenden Schmerz in seinem Inneren. Tagesausflügler starrten das küssende Schwulenpärchen an, aber Van In war das völlig wurscht. »Hannelore hätte genau dasselbe getan«, sagte er. »Wir haben dich beide sehr gern, Guido, vergiss das nicht.« Versavel schaute hinauf zum Himmel, weil er keine Worte fand, um seine Gefühle auszudrücken. Er fuhr sich mit gewohnter Geste über den Schnurrbart, was Van In als gutes Zeichen betrachtete. »Ich glaube, wir haben uns ein Duvel verdient«, sagte Versavel plötzlich. »Wir?« »Ja, ich denke, heute kann ich auch eins gebrauchen.« Ein Krabbenkutter fuhr in den Hafen hinein, gefolgt von einem Schwärm kreischender Möwen. Hinter dem Gebäude der Seenotrettung bogen sie ab in Richtung der östlichen Uferbefestigung. Am Ende des Piers stand ein Holzschuppen, in dem sich ein Lokal befand. Die Terrasse war brechend voll. 193
Dutzende Spaziergänger hatten sich dort niedergelassen und genossen die letzten warmen Strahlen der Herbstsonne. Van In schnappte ungerührt vier Touristen einen Tisch weg, die sich einfach nicht einigen konnten, ob der Sangria hier nun zu teuer war oder nicht. Ungeniert nutzte er die Gelegenheit. Der Ober war nicht böse und lächelte viel sagend, als die Gruppe ihren Spaziergang mit trockener Kehle fortsetzte. »Zwei Duvel«, orderte Van In. »Eiskalt, wenn’s geht.« Als eine imposante Segelyacht an den Holzpfählen der Uferbefestigung vorüberglitt, sprangen alle Gäste auf der Terrasse auf. Ringsum klickten die Kameras. Jeder wollte ein originelles Foto für zu Hause, als Beweis, dass man etwas erlebt hatte. »Geht’s denn wieder ein bisschen?«, fragte Van In besorgt. Versavel rollte die Hemdsärmel hoch und löste den Knoten seiner Krawatte. Niemand hätte in ihm jetzt noch den Polizisten erkannt. »De Kee wollte dich heute Morgen sprechen«, sagte er. »Um Himmels willen, Guido, jetzt entspann dich doch mal!« »Das tue ich ja, Pieter. Die Arbeit ist alles, was mir noch bleibt. Sie hilft mir, die trüben Gedanken zu vertreiben.« Der Ober, ein freundlicher, großer Kerl um die vierzig, servierte zwei Duvels mit einer dicken Schaumkrone, wie es sich gehörte. Als Versavel Anstalten machte, sofort zu bezahlen, antwortete er mit einer abwehrenden Geste. Das gefiel Versavel. »Weißt du auch, warum mich der Alte sprechen wollte?« 194
Versavel trank das starke Bier, als sei es Mineralwasser. Der Schaum glitzerte in seinem Schnurrbart. »Er hat deinen Bericht gelesen, Pieter. Ich glaube, die Liste, die du aus Linda Aerts herausgequetscht hast, bereitet ihm Kopfzerbrechen. De Jaegher ist Vorstandsmitglied des Rotary-Clubs, dem auch De Kee angehört.« »Ich könnte mir vorstellen, dass einige Namen ihm Kopfzerbrechen bereiten.« Van In dachte unter anderem an Johan Brys, den ehrgeizigen Außenminister. Von einem bestimmten Status an interessierten sich all diese Leute nur noch für Sex und Geld. »Herbert muss etwas ganz Besonderes gewesen sein«, überlegte er laut. »Glaubst du an einen Zusammenhang zwischen Brys, Provoost und Herbert?« »Zwei von denen sind jedenfalls tot«, erwiderte Van In. »Du hast also vor, dir Brys vorzuknöpfen?« Van In hatte sich diese Frage in den letzten achtundvierzig Stunden schon tausendundein Mal gestellt. Das Absägen von Ministern war zwar heutzutage groß in Mode, aber um Brys auf den Zahn fühlen zu können, brauchte er harte Beweise. Dass der Mann hin und wieder ein obskures Bordell besucht hatte, war keine Straftat. »Auf der Liste stehen noch ein paar weitere interessante Namen, Guido.« Versavel nickte. Den Außenminister aufgrund der erzwungenen Aussage einer Puffmutter zu verhören, schien ihm ein riskantes Unterfangen. Die Idee, ihn in die Enge zu treiben, indem man seine Epigonen ausräucherte, klang da schon um einiges erfolgversprechender. 195
Van In bestellte zwei weitere Duvel und eine Käseplatte. Das leichte Mittagessen war keine geeignete Grundlage. »Wir müssen das schwächste Glied in der Kette finden, Guido.« Er zog eine Kopie der Liste aus der Innentasche seines Sakkos. Zusammen gingen sie die Reihe der Namen durch. Die Justizbeamten kamen nicht in Betracht. Wer übrig blieb, waren ein Dutzend Politiker, ein pensionierter Oberst der Rijkswacht, vier Industrielle, ein Geistlicher, zwei hohe Finanzbeamte, Vervoort und De Jaegher. Van In wusste, dass die Liste keineswegs vollständig war. Linda Aerts kannte nur die Namen der Stammkunden. Er unterstrich mit einem Kuli die Namen der Vorstandsmitglieder des Wohltätigkeitsvereins: Vandaele, Provoost, Vervoort, Deflour und Muys. »Ich knöpfe mir den Kanonikus vor«, schlug Versavel begeistert vor. »Von Pastoren wird doch erwartet, dass sie nicht lügen.« Van In zog einen Kreis um den Namen Deflour. »Dann nehme ich Muys«, sagte er grinsend. »Warum Muys?« Van In trank einen Schluck von seinem zweiten Duvel. »Ist doch klar«, sagte er lachend. »Er ist Finanzbeamter, die sind alle korrupt.« Versavel trank sein zweites Duvel fast in einem Zug leer. Die Überdosis blieb nicht folgenlos. »Das muss ich unbedingt an Europol weiterleiten«, sagte er mit schwerer Zunge. »Diese Ermittlungsmethode haben sie garantiert noch nicht im Computer. Würde mich nicht wundern, wenn demnächst alle Feuerwehrleute der Brandstiftung verdächtigt würden.« 196
»Oder alle Polizisten des Diebstahls«, antwortete Van In lachend. Carine Neels musste unterwegs zweimal nach dem Weg zum Vette Vispoort fragen. Der Mann, den sie in der Sint Jacobsstraat ansprach, bot ihr zwei Hunderter für ein gemeinsames Stündchen – ein Beweis, dass ihre Metamorphose geglückt war. Carine betrachtete sich in einer spiegelnden Schaufensterscheibe. Sie fand, dass sie ziemlich sexy aussah.
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10 Melchior Muys war ein korpulenter Mann mit eiskalten Cobraaugen, die zudem durch die dicken Gläser einer exklusiven Designerbrille unnatürlich vergrößert wurden. Mit seiner hohen Stirn sah er aus wie der Prototyp eines Bürokraten. Früher galt es als ein Zeichen von Weisheit, wenn einem Mann so früh die Haare ausfielen. Heute wusste man es besser: Männer bekamen eine Glatze, weil ihr Vater auch eine gehabt hatte. Van In wusste, dass Muys vierundvierzig war. Ohne diese Information hätte er den Leiter der Steuerprüfungsabteilung mindestens zehn Jahre älter geschätzt. »Guten Morgen, Mijnheer Commissaris.« Muys bot Van In einen Stuhl an. Ein Tablett mit einer Thermoskanne und zwei Tassen bewies, dass er den Commissaris erwartet hatte. Van In zündete sich trotz des üblichen Rauchverbots eine Zigarette an, um ihm von Anfang an klarzumachen, wer hier das Sagen hatte. Muys reagierte äußerst höflich. Über die Sprechanlage bat er die Sekretärin um einen Aschenbecher. »Ich komme im Zusammenhang mit dem Mord an Yves Provoost«, begann Van In kühl. Mit der Tür ins Haus zu fallen brachte gewisse Vorteile mit sich. Die erste Reaktion des Befragten war oft von unschätzbarem Wert, vor allem, wenn er gerade Kaffee einschenkte. Das Timing war perfekt. Muys verschüttete Kaffee in die Untertasse. 198
»Eine schlimme Sache«, gab er zu. Der oberste Steuerprüfer versuchte, das Zittern in seiner Hand zu unterdrücken. »Soweit ich weiß, haben Sie ihn gut gekannt.« Muys stellte die Thermoskanne auf dem Tablett ab und verschanzte sich hinter seinem Schreibtisch, wo er sich sicherer fühlte. »Rein beruflich«, erwiderte er. »Yves war ein geschätzter Kollege. Sein Tod hat mich tief getroffen. Der brutale Mord …« »Provoost wurde Opfer einer Abrechnung«, unterbrach Van In ihn brüsk. »Der derzeitige Stand der Ermittlungen berechtigt uns zu der Annahme, dass die Sache irgendetwas mit seinen regelmäßigen Besuchen im De Love zu tun hat.« Muys faltete die Hände unter dem Kinn zusammen. Mit dieser Haltung versuchte er, den Schock zu überspielen, den die Nennung des Namens De Love bewirkt hatte. »Sie sind doch früher auch öfter dort gewesen, nicht wahr, Mijnheer Muys?« Van In trank von dem Kaffee und tat, als schaue er aus dem Fenster. Aus dem linken Augenwinkel heraus beobachtete er jedoch genau, wie Muys reagierte. »Entschuldigen Sie, Commissaris, aber ich kann Ihnen leider nicht folgen.« Seine Stimme klang äußerst beherrscht. Der Schockeffekt war offenbar abgeebbt. »Sie sind also niemals dort gewesen?« »Nein«, behauptete Muys. Der Leiter der Steuerprüfungsabteilung hatte sein inneres Gleichgewicht wiedergefunden. Wie so viele Beamte im höheren Dienst hatte die Erfahrung ihn gelehrt, 199
dass die Wahrheit ein relativer Begriff war. Leugnen war stets die beste Strategie. »Noch eine Tasse Kaffee, Commissaris? Oder möchten Sie lieber einen kleinen Cognac?« Er machte Anstalten aufzustehen. Van In gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er mit seinem Kaffee zufrieden war, aber Muys akzeptierte das nicht. Er ging zu einem Aktenschrank, in dem er seinen Alkoholvorrat aufbewahrte. Viele Beamte hatten eine solche Bar im Büro. »Aber es gibt Zeugen, die aussagen, dass Sie regelmäßig dort zu Gast waren«, erwiderte Van In. »Was natürlich keine strafbare Handlung darstellt«, fügte er sogleich hinzu. Muys wählte aus dem reichhaltigen Sortiment eine unangebrochene Flasche Otard aus. Hohe Beamte konnten fünf Flaschen Alkohol im Monat steuerfrei beziehen; die Lieferung erfolgte über einen Sonderkurier. In den Zolllagern stapelten sich die Kisten mit Alkoholika, und es wäre doch schade gewesen, all diese beschlagnahmten Waren zu vernichten. »Ich frage mich, welche Zeugen das wohl sein könnten, Commissaris«, sagte Muys listig. Er schenkte Van In reichlich ein – eine altbewährte Taktik, die fast immer funktionierte. Jemanden zum Essen und zum Trinken einzuladen war die flämische Sparversion der Korruption. Van In wusste das ganz genau. Er dachte an Linda Aerts und konnte sich vorstellen, warum sie zusammengebrochen war. Eine Nacht in Polizeigewahrsam war eine schlimme Erfahrung, und obendrein hatte sich kurz zuvor ihr Gatte mit ihrem Ersparten aus dem Staub gemacht. Und obwohl Van In sich nicht als Alkoholiker betrachtete, übte der bernsteinfarbene Cog200
nac eine seltsame Anziehungskraft auf ihn aus. Ein Gläschen in Ehren, dachte er. »Dazu kann ich Ihnen leider nichts sagen, Mijnheer Muys, aber wir haben Hinweise darauf, dass …« Muys reichte ihm das Glas. »Prost, Commissaris.« Van In trank einen Schluck. Letzte Woche hatte er Gewissensbisse gehabt, nachdem er gesündigt hatte. Heute genoss er das Aroma von Holz und Feuer. »Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Ihr Besuch nicht offizieller Natur«, bemerkte Muys. Van In nickte. Er fühlte sich wie ein Kutscher, der allmählich die Gewalt über sein Gespann verlor. Es fehlte nicht viel, und die Pferde würden mit ihm durchgehen. »Gut«, sagte Muys lächelnd. »Sonst sähe ich mich nämlich leider gezwungen, meinen Rechtsanwalt hinzuzuziehen.« Triumphierend nippte er an seinem Glas. Der boshafte Blick in seinen Schlangenaugen rüttelte Van In wach. »Ich frage mich, wozu Ihnen Ihr Rechtsanwalt raten würde, wenn er die Videobänder zu Gesicht bekäme, Mijnheer Muys. Aber wenn Ihre Frau nichts dagegen hat, dass Sie sich ab und zu einen kleinen Seitensprung gönnen, brauchen Sie sich ja keine Sorgen zu machen.« Van In wusste, dass er ziemlich hoch gepokert hatte, aber die Art, wie Muys sein Glas umklammerte, sprach Bände. Seine Knöchel traten kreideweiß hervor. Van In hatte mitten ins Schwarze getroffen. »Videobänder, Commissaris?« »Jeder verheiratete Mann lässt irgendwann mal die Hosen runter, Muys. Ich könnte mir vorstellen, dass die Sklaven des Fiskus da keine Ausnahme bilden.« 201
Muys konzentrierte sich auf sein Glas und trank große Schlucke von dem Otard, mit dem er eigentlich diesen Polypen hatte ködern wollen. »Ach, das alles ist doch schon so lange her, Commissaris«, sagte Muys nach einer Weile. »Ich bin höchstens zweimal da gewesen.« »Zweimal?« Menschen lügen immer in graduellen Abstufungen. Sie glauben, sie kämen glimpflicher davon, wenn sie die Häufigkeit ihrer Fehltritte herunterspielen. »Sie meinen, zweimal im Monat«, sagte Van In streng. Der oberste Steuerprüfer trank noch einen Schluck von dem vorzüglichen Cognac, als sei es Limonade. Verzweifelt fragte er sich, wie er den Schaden begrenzen konnte. »Aber darum geht es eigentlich gar nicht, Muys. Ich interessiere mich mehr für Provoost und Brys.« Muys geriet sichtlich in Panik. Seine Reptilienaugen verengten sich zu dünnen, blutleeren Strichen. Er wusste, dass es in den achtziger Jahren Probleme gegeben hatte. Vandaele hatte De Love von einem auf den anderen Tag geschlossen, und es wurde gemunkelt, dort sei etwas Schreckliches geschehen. Die Namen Provoost und Brys waren gefallen, und es hatte ein ganzes Jahr gedauert, bis die Aktivitäten an einem anderen Ort wieder aufgenommen worden waren. »Wissen Sie, wir Beamten sind ja keine Heiligen. Ab und zu muss man auch mal fünfe gerade sein lassen.« Van In schwenkte den Cognac in seinem Glas und atmete wie ein Kenner das Aroma ein. »Sie meinen, auch die Steuergesetze bieten gewisse Spielräume.« Muys versuchte, sich so gut wie möglich zu verteidigen. Seine Lüge war geplatzt wie ein überreifes Geschwür. 202
»Tja, manchmal müssen wir eben verschiedene Faktoren in unsere Überlegungen mit einbeziehen«, antwortete er ausweichend. »Zum Beispiel?« Van In konnte es sich erlauben, wie ein Inquisitor aufzutreten. Seine illustren Vorgänger hatten bewiesen, dass schon allein das Vorzeigen der Folterwerkzeuge oft denselben Effekt wie ihre Anwendung zeitigte. »Wir müssen zum Beispiel auch an die Arbeitsplätze denken, Commissaris. Wenn wir jeden Betrieb auf Herz und Nieren prüfen würden, dann …« »Was dann?« Muys schenkte sich noch ein Glas ein. Van In erfüllte es mit Genugtuung, dass der Chef der Steuerbehörde in seine eigene Falle tappte. »Es ist doch allgemein bekannt, dass die Steuerlast in unserem Land unmenschlich hoch ist. Deshalb haben wir die Anweisung, gegen kleine Steuersünder nicht allzu streng vorzugehen. Jedenfalls war das früher so.« »Und im Gegenzug für diese Kulanz durften Sie regelmäßig im De Love gratis eine Nummer schieben?« Van In griff nach der Flasche und schenkte sich demonstrativ ein zweites Glas ein. Der Sieg musste gefeiert werden. Muys erinnerte ihn an eine Figur aus einem Fellini-Film. Der oberste Steuerprüfer war zu einem zitternden Fettklumpen in einem schicken Anzug geschrumpft. »Damals war das nichts Ungewöhnliches«, jammerte Muys. »In den 80er Jahren wurden solche Praktiken durchaus toleriert.« »Aber inzwischen sind Sie bekehrt«, bemerkte Van In zynisch. Muys warf ihm einen flehenden Blick zu, wie ein Schwein, das seinem Schlachter gegenübersteht. 203
»Wahrscheinlich können Sie mir auch nichts über Provoost und Brys erzählen?« Muys schüttelte heftig den Kopf. Ein Wort über Brys hätte das Ende seiner Karriere beim Finanzamt bedeutet. »Aber über Vervoort vielleicht?« Muys starrte abwesend ins Leere. Vervoort war reines Dynamit. Darauf hatte er Vandaele schon vor Jahren hingewiesen. »Aber Sie kennen doch Mijnheer Vervoort. Wenn ich mich nicht irre, sitzt er im Vorstand des Vereins Hilfe zur Selbsthilfe, dem, meinen Informationen zufolge, auch Sie angehören.« Van In hatte sich diese Bemerkung bis zuletzt aufgehoben. Das Gerede über den Mord an Provoost hatte nur dazu gedient, Muys mürbe zu machen. »Das stimmt, Commissaris.« Der Beamte biss die Zähne zusammen. Jetzt glich er noch mehr einer Cobra. »Der Verein beruht auf einer Initiative von Mijnheer Vandaele und hat das Ziel, Menschen in Not zu helfen.« »Allen Menschen?« »Alle Flamen, die in Not geraten, können sich an uns wenden.« »Ohne, dass daran Bedingungen geknüpft wären?« »Ohne jede Bedingung«, bestätigte Muys. »Natürlich überprüfen wir, was uns die Leute über sich erzählen, um nicht von Schmarotzern ausgenutzt zu werden.« Muys schluckte. Sein Adamsapfel bewegte sich fast unmerklich. Das Wort »Schmarotzer« hätte er besser nicht in den Mund genommen. »Merkwürdig«, sagte Van In. »Ich habe gehört, dass man ein Parteibuch der VLOK vorweisen muss, um Hilfe von Ihrem Verein zu erhalten.« 204
Es war ein wohl gezielter Schuss ins Blaue. Van In besaß nicht den geringsten Beweis dafür, dass der Verein seine Hilfe auf der Basis ideologischer Überzeugungen gewährte. »Davon kann keine Rede sein, Commissaris. Die VLOK ist lediglich eine politische Organisation, mit der wir zusammenarbeiten. Allerdings kann ich nicht leugnen, dass viele Menschen, denen wir helfen, sich daraufhin spontan der VLOK anschließen.« Van In wusste, wie er einen Trumpf ausspielen musste. »Würden Sie sich als Revisionisten bezeichnen, Mijnheer Muys?« Der Obersteuerprüfer befand sich sichtlich in einer Zwickmühle. Eine geschlängelte Ader auf seiner Stirn schwoll an. »Ich brauche auf diese Frage nicht zu antworten«, sagte er scheinbar gelassen. Van In lotete die Feindseligkeit aus, die sich hinter diesem Satz verbarg. »Also sind Sie einer«, sagte er verächtlich. »Es würde mich nicht wundern, wenn die gewaltige Summe, die der Verein jährlich für Drucksachen ausgibt, dazu diente, gutgläubige Seelen davon zu überzeugen, dass die Konzentrationslager nie existiert haben und die Juden, die nicht von dort zurückkehrten, an Lungenentzündung und Durchfall gestorben sind.« »Was bilden Sie sich ein!«, fauchte Muys mit mühsam unterdrückter Wut. Die hässliche Ader auf seiner Stirn pochte. Van In fand, dass er seine Zurückhaltung nun getrost aufgeben konnte. »Und was bilden Sie sich ein, Menschen in Not zu verführen? Mir sind Leute wie Sie zuwider, und eines 205
verspreche ich Ihnen: Der Tag wird kommen, an dem ich Ihnen höchstpersönlich Handschellen anlege.« Van In warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr. »Höchste Zeit, dass ich an die frische Luft komme.« Er stand auf und ließ den Obersteuerprüfer mehr oder weniger am Boden zerstört zurück. Versavel saß in Zimmer 204 und wartete auf Van In. Sein Besuch bei Kanonikus Deflour war kürzer ausgefallen als erwartet. »Das Fleisch ist schwach«, antwortete Versavel auf Van Ins Frage, wie das Gespräch mit dem Geistlichen verlaufen war. »Ich hatte den Eindruck, dass der arme Mann froh war, seine Sünden beichten zu können.« Unter anderen Umständen hätte sich Versavel amüsiert, doch nun erstattete er Bericht, als trüge er das Leid der gesamten Menschheit auf seinen Schultern. »Hat Deflour etwas über Provoost gesagt?« »Nein, nichts.« »Brys?« »Fehlanzeige«, sagte Versavel. »Und ich hatte den Eindruck, dass Deflour ehrlich war.« »Was ist mit der VLOK?« »Deflour schwört hoch und heilig, er habe keinen Einblick in die Bücher des Vereins.« »Unsinn! Ich möchte nicht wissen, wie viele Pfaffen hierzulande mit dem Rechtsextremismus sympathisieren.« »Vielleicht verfolgen wir die falsche Spur«, spekulierte Versavel. Der Gedanke war Van In auch schon gekommen. Der Zusammenhang zwischen Herbert, Provoost und der 206
VLOK war sehr weit hergeholt. Wenn Provoost nicht ermordet worden wäre, hätte er diese Theorie längst fallen gelassen. »Na schön, wenn das Abhören der Telefone auch nichts bringt, befürchte ich, dass wir in eine andere Richtung ermitteln müssen«, sagte Van In gelassen. Versavel schaute seinen Chef erstaunt an. Der fummelte seine letzte Zigarette aus dem zerknüllten Päckchen. »Ich wollte es dir gar nicht sagen, Guido, aber …« Van In inhalierte tief. »Ich kenne da zufällig einen geschickten Kerl, der bei mir tief in der Kreide steht.« Versavel fasste sich an die Stirn. »Du spielst mit dem Feuer, Pieter. Weiß Hannelore darüber Bescheid?« »Sie will ja unbedingt nach Portugal«, seufzte Van In. »Wenn ich den Dienstweg beschreite, dauert es mindestens zwei Monate, bevor ich eine Abhörerlaubnis erhalte.« »Da hast du natürlich Recht«, stimmte ihm Versavel zu. Er klang verbittert, denn er und Frank hatten eine Reise in die Türkei geplant, und ihm blutete das Herz, wenn er daran dachte. »Warum lässt du dann nicht Vandaele und Brys abhören?« Noch bevor Van In seine Frage beantworten konnte, läutete das Telefon. »Hallo.« Van In griff nach einem Kugelschreiber, kritzelte hastig ein paar Notizen hin und stellte ein paar kurze Fragen, die für Versavel keinen Sinn ergaben. Das Gespräch dauerte kaum drei Minuten. Als Van In den Hörer auflegte, wirkte er äußerst gut gelaunt. 207
»Und?«, fragte Versavel. »Die Apparate von Vandaele und Brys sind mit einem Scrambler ausgerüstet«, antwortete Van In zerstreut. »Das meine ich nicht, Pieter.« »Aber das hast du mich doch eben gefragt?« »Ja, natürlich habe ich danach gefragt. Aber jetzt möchte ich wissen, mit wem du gerade telefoniert hast.« Van In tat so, als bemerke er Versavels scharfen Tonfall nicht. Der Brigadier stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Von den positiven Auswirkungen ihres Ausflugs nach Blankenberge war bitter wenig übrig geblieben. Der Verlust von Frank hatte ihn innerhalb von zwei Tagen um fünf Jahre altern lassen. »Muys hat knapp fünf Minuten, nachdem ich weg war, mit Vervoort telefoniert. Er fragte nach der Buchhaltung des Vereins und ob diese eine eingehende Prüfung vertragen könne. Der Reaktion von Vervoort nach zu urteilen, braucht Muys sich darüber keine Sorgen zu machen. Kein Untersuchungsrichter würde es wagen, einen Durchsuchungsbeschluss für den Verein zu unterschreiben.« »Da könnte er durchaus Recht haben, Pieter.« Van In zuckte mit den Schultern. Leo Vanmaele war bekannt für sein unnachahmliches Timing. Er erschien stets in einem Moment, in dem niemand mit ihm gerechnet hätte. »Ich störe doch hoffentlich nicht?«, fragte der kleine Gerichtsfotograf grinsend. »Du und stören? Red kein Blech, Leo, und setz dich. Ist noch Kaffee da, Guido?« Versavel knurrte ein Nein, stand auf und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. 208
Vanmaele nahm in einem der neuen, verstellbaren Bürostühle Platz. Er mochte es, wenn man auch die Sitzhöhe einstellen konnte. Dabei kribbelte es ihm im Bauch wie auf der Kirmes. Doch selbst in der niedrigsten Position berührten seine Füße kaum den Boden. »Provoost hat keinen leichten Tod gehabt«, begann er mit ernstem Gesicht. »Sein Todeskampf hat lange gedauert.« Van In nickte. Mit einer Wäscheklammer auf der Nase zu ersticken, erschien ihm auch nicht gerade die angenehmste Art zu sterben. »Und es sieht so aus, als habe ihn der Mörder vorher noch ein bisschen gekitzelt.« Versavel drehte sich überrascht um. »Das musst du uns näher erklären«, sagte Van In neugierig. »Im Arbeitszimmer von Provoost stand eine Stehlampe, so ein exklusives italienisches Designerding, für das …« »Leo!« »Okay, okay. Direkt am Fuß hat jemand das Kabel abgeschnitten und später unauffällig wieder daruntergeschoben. Das Kabel war gespalten und abisoliert. Die Leute von der Spusi haben ein Stückchen von der Isolierung im Siphon der Spüle gefunden, und im Schamhaar von Provoost wurden Kupferteilchen entdeckt.« »Willkommen in Südamerika.« Van In pfiff zwischen den Zähnen hindurch. Erst jetzt wurde ihm klar, was Leo mit »kitzeln« gemeint hatte. Vor kurzem hatte er einen Film gesehen, in dem ein Gefangener auf einer Sprungfedermatratze festgebunden worden war. Ein Mann im Arztkittel goss Wasser über den armen Kerl und bearbeitete ihn an209
schließend mit Stromkabeln. Im Hintergrund lief Musik von Schubert. Van In dachte unwillkürlich an Linda Aerts. Vielleicht hatte sie den Film auch gesehen und in jener Nacht tausend Ängste ausgestanden. »Würden SM-Fans so weit gehen?«, fragte Versavel. »Nein«, antwortete Leo. »Die meisten bedienen sich eines Codes. Wenn die Schmerzen unerträglich werden, hören sie mit dem Liebesspiel auf. Sadisten hingegen …« »Gehen bis zum Äußersten.« Wieder dachte Van In an Linda. Er hatte ziemliche Gewissensbisse. Ehrlicherweise musste er zugeben, dass er das Machtspielchen genossen hatte. »Oder der Mörder von Provoost wollte irgendwelche Informationen aus ihm herauskriegen. Auch dafür werden Foltermethoden eingesetzt.« »Das führt jeder Sadist als Entschuldigung an«, bemerkte Versavel trocken. Wenn er die Gedanken seines Vorgesetzten hätte lesen können, hätte er diese Bemerkung hinuntergeschluckt. »Stimmt, Folter ist ein klassisches Mittel, um jemanden zum Reden zu bringen.« Leo hieb in dieselbe Kerbe. »Oder ein Geständnis zu erzwingen.« Versavel vergaß für einen Moment den brennenden Schmerz, der seine Brust zu sprengen drohte. Er war froh, dass ihn die Diskussion von seinem Liebeskummer ablenkte. »Glaubst du, dass Provoost Herbert ermordet hat?« Leo und Versavel schauten Van In überrascht an. Warum waren sie nicht schon längst darauf gekommen? In der Ferne erleuchtete ein bleicher Blitz den purpurroten Himmel. Ein paar Sekunden später rollte ein Donnerschlag über die Dächer. Mitten am Tag wurde es plötzlich Nacht. Dichte Wolken verdüsterten die Stadt. 210
Das angekündigte Gewitter brach mit aller Heftigkeit los. Es regnete in Strömen. Versavel sprang ans Fenster und schlug es zu. Van In rollte seinen Stuhl näher an seinen Schreibtisch heran, als sei es dort sicherer. »In diesem Fall, Pieter …« »Ich weiß, Leo. Wenn Provoost Herbert ermordet hat, stechen wir mitten in ein verdammtes Wespennest. Die anderen Kunden von De Love werden sich bedroht fühlen und alles daran setzen, die Sache unter den Teppich zu kehren.« »Dutroux revisited«, bemerkte Versavel sarkastisch. »Noch ist es zu früh, um das zu sagen, Guido. Die Ermittlungen sind noch in vollem Gange.« Leos Reaktion war verständlich. Er gehörte zu jener Abteilung der Kriminalpolizei, der bei einem weiteren Skandal à la Dutroux die Auflösung drohte. Auch die Staatsanwaltschaft war damals unter Verdacht geraten und hatte erheblich an Respekt und Einfluss verloren. Van In versuchte, die Gemüter zu beruhigen. Aus den Feindseligkeiten zwischen den einzelnen Polizeibehörden hielt er sich heraus. »Kommt schon, wir sollten uns lieber auf das Wesentliche konzentrieren. Wenn Köpfe rollen müssen, werde ich schon dafür sorgen.« Versavel nickte. Er wusste, worauf Van In anspielte. Letztes Jahr hatte der Commissaris den einflussreichen Geschäftsmann Vandekerckhove und Untersuchungsrichter Creytens auf eine ziemlich unorthodoxe Weise zu Fall gebracht. Trotzdem hätte Versavel seinen Commissaris unter allen Umständen verteidigt. »Ob William Aerts dahinter steckt?« Der Brigadier war der Meinung, dass Van In diese Spur zu stiefmütterlich behandelte. 211
»Aerts ist nur ein Handlanger, Guido. Er hat die Sexorgien in De Love organisiert. Kleine Fische interessieren mich nicht. Ich will die Haie.« »Wenn du einen Hai fangen willst, brauchst du einen kleinen Fisch«, beharrte Versavel dickköpfig. »Ich glaube, Aerts weiß ganz genau, wo der Hase langläuft. Warum sonst wäre er Hals über Kopf geflohen?« Van In konnte diese Frage nicht einfach ignorieren. Zackige Blitze und krachende Donnerschläge folgten nun höllisch dicht aufeinander. Eine Regengardine beschränkte die Sicht auf zwei Meter. Leo schenkte sich Kaffee ein. »Guido könnte durchaus Recht haben«, meinte er. Van In bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. In einer Demokratie hatte die Mehrheit stets das letzte Wort. Ob sie auch Recht hatte, stand auf einem anderen Blatt. »Okay, okay«, sagte er leicht ironisch. »Hiermit erkläre ich die Jagd auf Aerts für eröffnet. Unternimm, was du für nötig hältst. Alarmiere Interpol, rufe die Rijkswacht an, schalte Mutter Teresa ein. Ist mir egal, aber ich finde, wie sollten in der Zwischenzeit mit den Riemen rudern, die uns zur Verfügung stehen.« »Also müssen wir uns auf die Kunden von De Love beschränken«, seufzte Versavel. »Gute Neuigkeiten für Herbert. Aber was machen wir mit Provoost? Ich frage mich, wer ihn ermordet hat. Die Männer von De Love?« »Wenig wahrscheinlich«, warf Leo ein. »Warum sollten sie ihren Kumpanen aus dem Weg räumen?« »Oder war es ein Außenstehender?«, fragte Versavel skeptisch. »Aber wer außer uns besitzt eine Liste der Kunden?« Van In hatte noch nie einen Zitteraal angefasst, aber jetzt konnte er sich vorstellen, wie es sich anfühlte. Pro212
voost war genau an dem Tag ermordet worden, an dem Linda die Namen ausgeplaudert hatte, und sie hatte ihn im Laufe des Tages zu Rate gezogen. »Linda Aerts«, sagte Van In halblaut. »Aber warum?« Leo runzelte die Stirn und trank einen Schluck von dem duftenden Kaffee. »Apropos. Die Kriminaltechniker haben bei Provoost noch etwas Merkwürdiges entdeckt. Der Mörder hat sich offenbar die Zeit genommen, gründlich zu staubsaugen und feucht durchzuwischen.« »Das ist nicht dein Ernst!« Leo nickte. »Doch. Irgendjemand hat den Staubsaugerbeutel mitgenommen, und Juffrouw Calmeyn behauptet steif und fest, einer ihrer Putzlumpen sei verschwunden. Du kannst gerne in der Fachliteratur nachschlagen. Ab und zu macht sich ein Mörder die Mühe, den Tatort zu staubsaugen, aber von feucht wischen habe ich noch nie etwas gehört.« »Also doch eine Frau«, flüsterte Van In. »Oder jemand, der sich verdammt gut mit unseren Spurensicherungsmethoden auskennt«, erwiderte Versavel nüchtern. Van In reagierte prompt. »Ich rufe Hannelore an«, sagte er. »Wenn die Staatsanwaltschaft sich jetzt immer noch weigert, einen Haftbefehl gegen Linda Aerts auszustellen, weiß ich es auch nicht mehr.« Gerade, als er nach dem Hörer greifen wollte, klingelte das Telefon. »Commissaris Van In.« Im Hintergrund hörte er hysterisches Kreischen. »Ah, guten Tag, Mijnheer Vermast. Wie geht es Ihnen?« »Sehr gut, Commissaris, vielen Dank.« 213
Das Kreischen im Hintergrund hörte nicht auf, was Van In davon abhielt, nach dem Befinden der übrigen Familie zu fragen. »Entschuldigen Sie die Störung, Commissaris«, fuhr Vermast unsicher fort. »Vielleicht ist es ja gar nicht wichtig, aber …« »Alles kann wichtig sein, Mijnheer Vermast. Und selbstverständlich stören Sie nicht.« Van In verzog entnervt das Gesicht und konnte sich eine obszöne Geste nicht verkneifen. Er fragte sich, was der heimwerkelnde Gartenzwerg ihm so unbedingt zu berichten hatte. »Die Sache ist die, Commissaris. Kurz bevor die Polizei neulich eintraf, hat meine Tochter zwei Gegenstände aus dem Grab entwendet. Das haben wir aber erst heute Morgen festgestellt.« Van In bedeutete Versavel, dass er mithören sollte. An seinen weit aufgesperrten Augen merkte Versavel, dass es sich um etwas Wichtiges handelte. Leo schenkte sich eine dritte Tasse Kaffee ein. »Tine hat ihren Fund die ganze Zeit vor uns versteckt«, fuhr Vermast in entschuldigendem Tonfall fort. »Vielleicht …« »Könnten Sie bitte zur Sache kommen, Mijnheer Vermast?«, unterbrach Van In ihn leicht gereizt. Versavel hörte den armen Mann deutlich schlucken. »Tine hat zwei Säckchen gefunden. Meine Frau glaubt, dass es Brustimplantate sind«, sagte Vermast unsicher. »Benson im Himmel!« »Wie bitte?« »Brustimplantate?« »Ja, sagte ich doch, Commissaris.« 214
Versavel strich sich über den Schnurrbart. Eine unverfälscht kafkaeske Situation. »Beruhigen Sie sich, Mijnheer Vermast. Wir sind in zehn Minuten bei Ihnen.« Die Boeing 737 der Air Malta landete um halb drei auf dem Flughafen von Luqa. Die Maschine rollte über den holprigen Asphalt und parkte hundertfünfzig Meter von dem modernen Flughafengebäude entfernt. Jos Brouwers wartete, bis die Ladung sonnenhungriger Touristen ausgestiegen war. Eine übermüdete Flugbegleiterin mahnte ihn zur Eile. Brouwers reagierte brummig. Es war nicht das erste Mal, dass er flog. Sie brauchte nicht gleich alle Passagiere über einen Kamm zu scheren. Die Hitze überfiel ihn wie ein trockenes Saunabad. Trocken blieb er allerdings nicht lange. Schon nach zwei Minuten lief ihm der Schweiß in dünnen Rinnsalen zwischen den Schulterblättern hinunter. Nicht einmal die warme Brise brachte Linderung. Die Zollformalitäten waren rasch erledigt. Schließlich brauchte die Insel die Touristen unbedingt. Es dauerte keine Viertelstunde, bis die Bande ungeduldiger Urlauber in bunten Kleinbussen abtransportiert wurde. Brouwers durchquerte die kühle Halle. Hier ließ es sich wahrhaftig aushalten. Nachdem der Touristenstrom abgeebbt und wieder Ruhe eingekehrt war, sah sich Brouwers genauer um. Das Avis-Büro war kaum größer als die Leuchtreklame mit dem bekannten rotweißen Firmenlogo. Der Angestellte der Mietwagenfirma kompensierte die Enge mit einem umso breiteren Grinsen. Brouwers entschied sich für einen kompakten Suzuki. Als er losfuhr, winkte der freundliche Avis-Mann ihm zum Abschied nach. Brouwers hatte in einem Reiseführer 215
gelesen, dass die Malteser es schätzten, wenn man bar bezahlte, aber das war nicht der einzige Grund, warum er die Rechnung nicht mit Kreditkarte oder Scheck beglichen hatte. Diese Zahlungsmittel waren einfach ungeeignet, wenn man mit einem falschen Pass reiste. Die Fahrt von Luqa nach Valletta, der Inselhauptstadt, dauerte kaum eine Viertelstunde. Die Straße war breit und die Beschilderung ausgezeichnet für ein Mittelmeerland. Anschließend ging es etwas langsamer und mühseliger weiter. Das Straßennetz von Valletta war chaotisch und der Verkehr fast so schlimm wie in Athen. Brouwers hatte sich in Belgien einen Stadtplan gekauft und ihn zu Hause gründlich studiert. Das war vergebene Liebesmüh gewesen, denn trotzdem hatte er sich innerhalb kürzester Zeit total verfahren. Vor allem das Linksfahren fiel ihm schwer. Glücklicherweise reagierten die Einheimischen höflich, wenn er eine Kurve zu weit außen nahm oder zu weit nach rechts auswich. Schließlich waren sie an stümperhaft fahrende Ausländer gewöhnt. Für dieses Problem hatten sie sich eine besonders originelle Lösung ausgedacht: Die Kennzeichen aller Mietwagen begannen mit einem X. Dadurch konnten die Malteser die Ausländer schon von weitem erkennen. Van In hupte, als sie vor dem Tor von De Love angekommen waren. Versavel wollte aussteigen, aber Van In hielt ihn zurück. »Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert, Guido.« Ebenso gut hätte er »Sesam, öffne dich« sagen können. Noch bevor sich Versavel von seiner Überraschung erholt hatte, schwenkte das drei Meter breite Tor geräuschlos zur Seite. 216
»Und das nur, um Zeit zu sparen«, sagte Van In grinsend. »Wenn die hohen Herren eine schnelle Nummer schieben wollten, war jede Sekunde kostbar.« »Ist mir schleierhaft, was an einer schnellen Nummer schön sein soll.« Versavel dachte an Frank, an die endlosen Abende mit gegrilltem Hummer und kühlem Mandelöl. Van In steuerte den Golf über das unebene Weideterrain. »Diese Männer bumsen so, wie sie reden«, sagte er. »Viel zu schnell und ohne Leidenschaft.« »Woher willst du das so genau wissen?« »Weil ich Commissaris bin, natürlich. Was hast du denn gedacht?« »Du hältst dich also für ein hohes Tier?« »Hohe Herren habe ich gesagt.« »Ist das nicht dasselbe?« »Hohe Tiere, hohe Herren«, seufzte Van In. »Gleich zückst du noch das goldene Beil zum Haarespalten.« Hugo Vermast begrüßte die Herren von der Polizei mit einem gezwungenen Lächeln. »Das ging aber schnell«, sagte er. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht umsonst alarmiert. So dringend war es nun auch wieder nicht.« Van In winkte ab. »Die Polizei steht in Diensten der Bürger«, sagte er ernsthaft. »Es ist unsere Pflicht, jedem Hinweis nachzugehen.« Das schien Vermast zu beruhigen. Versavel biss sich auf die Unterlippe. Van In befand sich offensichtlich in einer manischen Phase. Oder hatte er das wieder einmal ironisch gemeint? »Ich hätte die Säckchen gar nicht beachtet, aber meine Frau …« 217
»… ist Krankenschwester«, sagte Van In, noch bevor Vermast sich unnötig wiederholen konnte. »Nett, dass Sie sich das gemerkt haben, Commissaris.« Vermast führte sie in die Küche, die im Gegensatz zum letzten Mal sauber und aufgeräumt aussah. Die Säckchen lagen wie schlaffe Luftballons auf dem Küchentisch. »Das sind sie also«, sagte Vermast. Van In nahm einen der Beutel in die Hand. Das Implantat fühlte sich an wie ein in Plastikfolie verpackter Pudding. »Unglaublich, dass Frauen hierfür ein Vermögen ausgeben.« Versavel enthielt sich eines Kommentars. Er hatte nie verstanden, warum Männer auf Brüste standen. »Joris hat sie in einer geheimen Dose aufbewahrt. Er liebt außergewöhnliche Dinge. Habe ich Ihnen schon erzählt, dass Joris leicht autistisch ist?« Van In nickte heftig und hoffte, dass Vermast sich damit zufrieden geben würde. »Die intellektuellen Fähigkeiten von Autisten werden oft unterschätzt«, fuhr Vermast jedoch eifrig fort. »Bestimmt haben Sie einmal den Film Rainman gesehen.« Hier sprach ein stolzer Vater. Joris war etwas Besonderes, nur weil ein gewiefter Produzent eine Ausnahme zur Regel erhoben hatte. Eine Weile lang hatte man fast den Eindruck, eine amerikanische Durchschnittsfamilie ohne ein autistisches Kind sei nicht ganz normal. »Meinen Sie den Film mit Dustin Hoffman?«, fragte Versavel diplomatisch, als Van In nicht reagierte. »Ja, genau.« Vermast wandte sich an Versavel. »Unglaublich, wozu dieser Mann imstande war. Unser Joris ist noch nicht so weit, aber das kommt noch.« 218
»Ich dachte, Ihre Tochter hätte die Dinger gefunden.« Van In ließ das glibbrige Säckchen durch die Finger gleiten. Von Vermasts Nervosität war nichts mehr zu spüren. Er wirkte selbstsicherer denn je. »Tine weiß, dass ihr Bruder ungewöhnliche Gegenstände sammelt, deshalb hat sie uns verheimlicht, dass sie die Implantate gefunden hat. Sie wollte Joris eine Freude machen, und das kann man ihr doch nicht verübeln.« »Natürlich nicht«, sagte Van In. Vermast strahlte. »Eine Tasse Kaffee, die Herren?« Versavel nahm dankbar an. Der mörderische Blick, den Van In ihm zuwarf, entging ihm. Vermast ging an die Anrichte und holte drei Tassen und eine überdimensionale Thermoskanne. Der Kaffee schmeckte nach einem Sud aus wilden Kastanien. »Ist zufällig noch etwas von dem Cognac übrig, Hugo?« Van In sprach Vermast absichtlich mit dem Vornamen an. Der Gastgeber lachte verschwörerisch. »Leen kommt erst in einer Stunde nach Hause. Ich werde mal sehen, was sich machen lässt.« Er verschwand im Wohnzimmer. Van In goss den Inhalt seiner Tasse in die Erde einer vergilbten Sansevieria. Versavel folgte seinem Beispiel, ohne zu zögern. Jonathan Brooks, ein hünenhafter, blonder Brite, hatte elf Jahre beim SAS, dem britischen Special Air Service, gedient. Er hatte zu dem Sondereinsatzkommando gehört, das damals auf Gibraltar drei Führer der IRA erschossen hatte. Diese Affäre hatte so hohe politische Wellen geschlagen, dass das vierköpfige SAS-Team frühzeitig den Dienst quittieren musste. Jonathan Brooks hatte nur wi219
derwillig die Abfindung akzeptiert, mit der die Regierung Ihrer Majestät ihm den Abschied versüßt hatte. Sechs Monate nach dem Vorfall hatte er sich als Privatdetektiv in Valletta niedergelassen. Diese Wahl beruhte nicht auf Zufall. Malta hatte bis vor wenigen Jahren zum Commonwealth gehört, die britische Kultur war dort tief verwurzelt, und das Klima gefiel ihm ausnehmend gut. Jos Brouwers parkte den Suzuki in einem heruntergekommenen Viertel am Rande der Hauptstadt, in direkter Nähe des Hafens. Eine Gruppe spielender Kinder lief johlend an ihm vorbei. Die engen Straßen, die armseligen Terrassen und die schreierischen Reklameschilder erinnerten ihn an Neapel. Auch hier stank es nach Urin, gammeligen Lebensmitteln und Heizöl. Jonathan Brooks bewohnte eine geräumige Villa mit Aussicht auf die Docks. Hinter der vergammelten Fassade, typisch für die meisten Häuser in Südeuropa, lockte die wohltuende Kühle weiß getünchter Mauern und einer effizienten Klimaanlage. »Hallo, Djos. How are you? Did you have a nice flight?«, rief Brooks ihm vom Balkon aus zu. Brouwers wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und hob die Hand. Er grinste breit und antwortete mit einer viel sagenden Geste: zwei Hände in Form eines Bechers. »Hast du Durst?« Der Brite lachte laut. Er kannte Jos aus einem Trainingscamp des SAS, an dem Brouwers und seine Einheit teilgenommen hatten. Als in den 70er Jahren eine Welle terroristischer Gewalt die Gesellschaft aus den Angeln zu heben drohte, beschloss die belgische Regierung, eine Anti-Terror-Einheit zu gründen, und Brouwers hatte von 220
Anfang an zu dieser Elitetruppe, der SIE, dazugehört. Die Einheit wurde nach britischem Vorbild geschult, da der SAS als die beste Anti-Terror-Brigade der Welt galt. Was keineswegs übertrieben war. »Ich habe Djupiler im Haus«, verkündete Brooks, als sie sich die Hand schüttelten. »Eiskalt.« Es war Jahre her, dass Carine Neels mit dem Fahrrad gefahren war. Sie hatte das klapprige alte Ding aus dem Lager geholt, wo ihre Kollegen die herrenlosen, meist gestohlenen Zweiräder aufbewahrten, bis sie von ihren Besitzern abgeholt wurden, was übrigens recht selten geschah. Das Fahrrad passte jedenfalls zu ihrem neuen Status als Sozialhilfeempfängerin. Der Rahmen war übersät mit Rostflecken, und die Kette piepte wie ein Nest im Stich gelassener Vogeljungen. De Zorghe lag in einer bewaldeten Gegend vier Kilometer von der Hauwerstraat entfernt. Carine musste gegen kräftigen Gegenwind ankämpfen und brauchte dadurch zwanzig Minuten bis dorthin. Sie war erschöpft und durchgefroren, als sie das Anwesen erreichte. Ilse Vanquathem beobachtete Carine durch ihr Bürofenster. Frauen in Not fanden in letzter Zeit immer rascher den Weg zu De Zorghe, was ihren Jahresbonus beträchtlich erhöhte. Diesmal hatte die Vorsehung ihr ein Prachtexemplar geschickt. Das Mädchen auf dem Fahrrad hatte lange, wohlgeformte Beine, ein hübsches Gesicht und breite Schultern, und unter ihrer dünnen Jacke zeichneten sich zwei perfekte Brüste ab. Ilse erwartete Carine in der offenen Tür. »Kommen Sie doch herein«, sagte sie und winkte die junge Frau freundlich ins Haus. 221
»Du brauchst dein Fahrrad nicht abzuschließen, Mädchen. Hier arbeiten nur ehrliche Leute.« Wer stiehlt schon einen solchen Schrotthaufen?, dachte sie insgeheim. Während der Fahrt von Sint Andries zurück in die Hauwerstraat starrte Versavel mit leerem Blick vor sich hin und hörte dem Monolog seines Chefs nur mit halbem Ohr zu. »Und wir haben nach einem Mann gesucht!«, quasselte Van In munter vor sich hin. »Dabei haben wir es mit einem Transsexuellen zu tun. Das erklärt auch gleich die Gesichtskorrektur und die zwanzig Porzellanzähne. Warum sind wir nicht von allein darauf gekommen? Jetzt können wir wieder von vorn anfangen und alle Ärzte durchtelefonieren. Benson im Himmel! Gut, dass es nur eine Hand voll von diesen Quacksalbern gibt. Ich kann mir nicht vorstellen, was in einem Mann vorgeht, damit er sich …« Van In warf einen Seitenblick auf Versavel. Der Brigadier glich einer Wachsfigur aus dem Kabinett von Madame Tussaud. »Was hast du denn, Guido?« Versavel sagte kein Wort. »Ist es wegen Frank?« Es war eine dumme Frage, das wusste Van In, aber was hätte er denn in Gottes Namen sagen sollen? »Möchtest du, dass ich dich nach Hause bringe?« Versavel strich über das Holster seiner Pistole. Das tat er schon seit gut fünf Minuten. Van In hatte nicht darauf geachtet, aber plötzlich beschwor die Bewegung eine Schreckensvision in ihm herauf. »Ich bringe dich nach Hause«, sagte er energisch. »Und ich weiche nicht von deiner Seite, bis du wieder der Alte bist.« 222
11 Die Stimmung am Frühstückstisch im Vette Vispoort war angespannt. Hannelore war schlecht gelaunt, weil Van In erst mitten in der Nacht nach Hause gekommen war, und er wiederum traute sich nun nicht, das Thema Linda Aerts zur Sprache zu bringen. »Guido war gestern am Boden zerstört, Hanne. Ohne Frank ist er genauso hilflos wie …« »Ein Lebensgefährte ohne Telefon wahrscheinlich. Du hättest wenigstens anrufen können«, schnaubte sie. Van In steckte den Tadel gelassen ein. Heute Nachmittag hatte Hannelore den Termin beim Gynäkologen zur Fruchtwasseruntersuchung. Er konnte sich vorstellen, wie sie sich fühlte. Das Bild eines Kindes mit Down-Syndrom ging auch ihm seit achtundvierzig Stunden nicht mehr aus dem Kopf. Natürlich hätte er anrufen sollen, aber als Versavel nach ihrem Besuch bei der Familie Vermast zusammengebrochen war, hatte er seinen Freund nach Hause gebracht und bis tief in die Nacht mit ihm geredet. Als er schließlich auf die Uhr geschaut hatte, war es schon so spät, dass er Hannelore nicht mehr wecken wollte. »Das nächste Mal rufe ich an, egal wie spät es ist.« Hannelore schob ihr Butterbrot von sich weg. Seit sie im Heer Halewijn essen waren, hatte sie kaum noch Bewegungen in ihrem Bauch gespürt. Was, wenn etwas nicht in Ordnung war? »Glaubst du mir?« Van In wedelte ihr mit einer Hand vor dem Gesicht herum. »Alles in Ordnung?« 223
Der besorgte Zug um seinen Mund brachte sie unwillkürlich zum Lächeln. Wenn Van In Zeichen des Mitgefühls zeigte, wusste sie, dass er emotional äußerst angespannt war. Sollte ihr je etwas zustoßen, traute sie ihm zu, dass er sich erschießen würde. »Das nächste Mal bringst du Guido einfach mit zu uns nach Hause. Dann können wir gemeinsam über seine Probleme reden.« Van In hatte keine Lust, ihr zu erklären, dass diese Art von Gesprächen nur unter Männern geführt werden konnte. »Darüber wird sich Guido bestimmt freuen«, log er. Hannelore nahm seinen Kuss wohlwollend entgegen. Männer würden nie verstehen, welche Sorgen sich Frauen machen konnten. »Apropos«, sagte sie nach einer Weile. »Juffrouw Neels ist gestern Abend hier gewesen, um über ihren Besuch bei De Zorghe zu berichten.« »Verdammt!«, fluchte Van In. »Es sei dir verziehen, Pieter. Wenn zwei schöne Frauen dich nicht nach Hause treiben, muss es Guido wirklich sehr schlecht gegangen sein.« »Was hat sie denn gesagt?« »Was glaubst du denn?«, fragte Hannelore ironisch zurück. »Das Mädchen ist felsenfest davon überzeugt, dass sie undercover arbeitet und nur ihrem direkten Vorgesetzten Rechenschaft schuldig ist.« Van In hielt wohlweislich den Mund. Auch wenn sie jetzt besserer Laune war, erschien ihm seine Bitte um einen Haftbefehl gegen Linda Aerts ein wenig voreilig. Mdina ist zweifellos das Juwel von Malta. Die alte Stadt im maurischen Stil beherrscht das dürre Landesinnere wie ein anbetungswürdiger Schrein. 224
Brooks parkte den Landrover – er hasste japanische Wagen – auf dem Platz, der die historische Hauptstadt von dem moderneren Rabat trennte. »Wie ich dir gestern schon sagte, lebt nur eine Hand voll Flamen auf Malta«, erklärte er mit der Selbstsicherheit eines Briten im Exil. Brouwers war noch ein wenig benommen von den Djupilers. Gestern hatten sie ausgiebig ihr Wiedersehen gefeiert, er mit Bier, Brooks mit Rotwein. »Gott sei Dank«, seufzte er. Wenn seine Hypothese zutraf und Aerts sich tatsächlich auf Malta aufhielt, war es nur eine Frage der Zeit, bis er den Mann aufgespürt und liquidiert hatte. Sobald seine Aufgabe erledigt war, würde Brooks ihn mit einem schnellen Motorboot nach Sizilien bringen. Als Lohn für diesen Freundschaftsdienst hatte sich der Ex-Elitesoldat eine Provision von tausend maltesischen Pfund ausbedungen. Das war zwar ein Haufen Geld, aber Peanuts im Vergleich zu dem, was es gekostet hätte, eine Concorde schneller als die zweifache Schallgeschwindigkeit fliegen zu lassen. »Plets lebt hier bereits seit über fünfzehn Jahren«, erzählte Brooks. »Wenn irgendjemand etwas über die Flamen auf der Insel weiß, dann er.« Hufgetrappel ließ Brouwers aufschrecken. Eine bunt geschmückte Kutsche überholte den Landrover nur knapp. Ein Paar mittleren Alters winkte dem rücksichtslos parkenden Autofahrer so begeistert zu, wie es nur Touristen können. Der Kutscher rasselte beflissen seine Informationen herunter, aber dafür hatte das Paar gar keine Ohren. Brouwers sah, wie der Mann der Frau etwas zu trinken einschenkte. Die an sich banale Szene rührte ihn. Zusammen mit einer Frau glücklich alt zu werden, 225
das war ein Traum, der für ihn nie in Erfüllung gehen würde. »In Mdina wohnen hauptsächlich reiche Leute.« Brooks fasste Brouwers am Arm. Den Mythos, Belgier könnten Unmengen Bier vertragen, fand er ziemlich übertrieben. Sein Freund sah alles andere als fit aus. »Die meisten stammen aus alten maltesischen Familien. Die Stadt ist ein Freilichtmuseum, das jährlich hunderttausende Besucher anzieht.« Brooks führte Brouwers über den sonnenbeschienenen Platz. Es war so heiß, dass sogar die Touristen im Schatten einer vereinzelten Palme Schutz suchten, wo es an die zehn Grad kühler war. Die beiden Männer durchquerten das große Stadttor. Die Stadt war von hohen Festungsmauern umgeben, die die Hitze absorbierten wie alte Wüstenkakteen. Im zugeschütteten Festungsgraben spielten tief gebräunte Jugendliche mit großem Einsatz Fußball. Im Grunde war Mdina keine Stadt, sondern eine befestigte Burg: imposant und uneinnehmbar. Jeroen Plets war ein untersetzter Flame mit Hängebauch und geröteten Wangen. Er sah aus wie ein zufriedener Gutsbesitzer, der seine Schäfchen schon seit Jahren im Trockenen hat. Als Brouwers ihm erklärte, dass er einen Landsmann suche, lud Plets ihn mit einer freundlichen Geste zum Hereinkommen ein. Brooks wusste, dass der Flame mit einer Malteserin verheiratet war. Die beiden hatten sich vor zwanzig Jahren auf einer Schmuckmesse in Mailand kennen gelernt. Plets war damals Einkäufer für einen bekannten Antwerpener Juwelier gewesen. Seine zukünftige Verlobte leitete die maltesische Delegation und stellte dort zum ersten Mal eine exquisite, selbst entworfe226
ne Schmuckkollektion vor. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Nach sechzehn Monaten schriftlichen und telefonischen Werbens hatten sie sich im Winter 1979 ewige Treue geschworen. Inzwischen betrieben sie fünfzehn Schmuckgeschäfte auf der Insel, und der boomende Tourismus hatte dem unternehmerischen Paar Reichtum beschert, wovon ihr exklusives Domizil in Mdina zeugte. »Es ist eine Ewigkeit her, dass wir einen Flamen zu Besuch hatten«, sagte Plets lachend. »Sind Sie zum ersten Mal auf Malta?« Brouwers nickte. »Jane, wir haben Besuch!«, rief der Gastgeber fröhlich auf Englisch. Jane war eine grob gebaute, zurückhaltende Frau, deren Lächeln jedoch einnehmender war als das eines geübten Fotomodells. Sie begrüßte Brouwers und Brooks mit einem kühlen, kräftigen Händedruck. An den Fingern trug sie die herrlichsten Silberringe, die Brouwers je gesehen hatte. »Kann ich Ihnen ein Glas Weißwein anbieten?«, fragte sie freundlich und unaufdringlich. Brouwers sehnte sich nach einem Glas Wasser. Normalerweise hielt er sich mit Alkohol sehr zurück, und außerdem hatte er letzte Woche schon schwer gesündigt. »Ja, vielen Dank, sehr nett von Ihnen«, antwortete Brooks und bewahrte seinen Freund dadurch vor einem unverzeihlichen Fehler. Hier galt es als Beleidigung, wenn man das Angebot der Gastgeberin ausschlug. Jane zog sich lächelnd zurück, und die Männer nahmen auf den gepolsterten Rattanstühlen Platz, die bunt durcheinander im Innenhof standen. Der Patio des historischen Gebäudes bot Schatten und Kühle; dafür war er konstruiert. 227
»Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause«, sagte Plets aufgeräumt. Seine Frau sorgte für die Erfrischungen. Als perfekte Gastgeberin stellte sie das Tablett auf dem Tisch ab und überließ das Übrige ihrem Mann. Sie trug ein langes, kobaltblaues Kleid, das subtil ihre Rundungen kaschierte und ihr Ähnlichkeit mit einer vollschlanken arabischen Prinzessin verlieh. Sie hatte intelligente graue Augen, und bei jeder Bewegung klingelte leise ihr wunderbarer Schmuck. Plets nahm eine beschlagene Flasche aus dem Eiskühler und bediente seine Gäste. Brooks lehnte sich zurück und kostete den vorzüglichen Weißwein. Er war mit der maltesischen Gastfreundschaft vertraut und bereitete sich auf einen entspannten Nachmittag vor. »Eben sagten Sie, Sie empfingen nur selten Landsleute, Mijnheer Plets?«, fragte Brouwers. »Also auch keine Verwandten oder Bekannten?« Brooks beobachtete, wie der fröhliche Blick in Janes Augen erlosch, und auch Plets reagierte verstört. Er antwortete nicht, sondern erhob nur sein Glas. Sekundenlang schaute er durch den perlenden Wein hindurch hinauf zum Himmel. Der Kaleidoskopeffekt der tanzenden Farben schien ihn mehr zu beschäftigen als die Frage seines Gastes. »Ich nehme doch an, dass Sie noch Kontakt zu Ihrem Heimatland haben«, drängte Brouwers behutsam. »Nein, habe ich nicht«, erwiderte Plets tonlos. Die gute Stimmung war dahin, das wäre selbst dem dickfelligsten Menschen aufgefallen. Auch Brouwers merkte, dass er ins Fettnäpfchen getreten war, und versuchte zu retten, was zu retten war. »Es tut mir Leid, wenn ich indiskret gewesen bin.« 228
»Meine Familie hat vor gut zwanzig Jahren den Kontakt zu mir abgebrochen«, erklärte Plets nach einer peinlichen Stille. Die Konfrontation mit der Vergangenheit riss alte Wunden auf, aber er hatte keinen Grund, die Wahrheit zu verheimlichen. »Das konnten Sie natürlich nicht wissen. Aber ich nehme an, dass der Mann, den Sie suchen, kein Verwandter von uns ist.« »Nein, das habe ich keine Sekunde angenommen, Mijnheer Plets.« Brouwers stellte sich geschickt auf die Wendung ein, die das Gespräch genommen hatte. »Der Mann, den ich suche, ist ein notorischer Betrüger, und ich habe guten Grund zu der Annahme, dass er sich hier auf der Insel versteckt. Dabei hielt ich es für plausibel, dass jemand, der auf der Flucht vor den Polizeibehörden ist, mit einem Landsmann Kontakt aufnimmt. Laut Jonathan sind Sie einer der wenigen Flamen, die hier auf Malta leben, von daher …« »Das kann ich gut verstehen, Mijnheer Brouwers«, unterbrach ihn Plets. »Aber glauben Sie mir, Sie sind der einzige Flame, der uns in den letzten zehn Jahren hier besucht hat.« Er rieb sich über seinen Stoppelbart. Brouwers erinnerte ihn an seine Familie, und der notorische Betrüger genoss plötzlich seine vollste Sympathie. Jane schürzte ihr Kleid und schlug die Beine übereinander. Brooks fand, dass es langsam Zeit wurde, sich zu verabschieden. »Ich wollte ja nicht damit sagen, dass Sie den Mann persönlich kennen«, lenkte Brouwers ein. »Aber Malta ist eine kleine Insel. Vielleicht ist Ihnen ein Gerücht zu Ohren gekommen.« 229
»Wenn Sie Gerüchte hören wollen, müssen Sie sich an Amand wenden.« »Ist das dieser Restaurantbesitzer auf Gozo?«, fragte Brouwers. Plets nickte. »Wenn irgendjemand Ihnen weiterhelfen kann, dann Amand. Er kennt jeden Ausländer auf der Insel.« Jane schenkte die Gläser noch einmal voll und stellte anschließend die Flasche umgedreht in den Eiskühler, ein deutliches Signal dafür, dass sie den Besuch als beendet betrachtete. Eine Viertelstunde später saßen Brooks und Brouwers wieder in dem brütend heißen Landrover. »Was habe ich falsch gemacht, Jonathan?« »Ach, du hattest einfach Pech«, antwortete Brooks. »Ich wusste nicht, dass die Sache mit seiner Familie ein so heikler Punkt war.« »Na gut, dann also auf nach Gozo«, seufzte Brouwers. Brooks warf einen Blick auf seine Uhr. »Kein Problem«, sagte er enthusiastisch. »Auf Gozo gibt es jede Menge guter Hotels.« Brouwers fragte nicht, warum Brooks auf der Insel übernachten wollte. So eilig hatte er es nun auch wieder nicht. Hoofdinspecteur Baert klapperte hektisch auf seiner Tastatur herum, als Versavel hereinkam. »Guten Morgen, Brigadier.« Versavel ignorierte den Gruß seines Vorgesetzten und erkundigte sich auch nicht nach dessen Gesundheitszustand. Er war derjenige, dem es heute nicht gut ging. Es war das erste Mal seit fast vierzig Jahren, dass er sich nicht rasiert hatte, und er trug schon seit zwei Tagen dasselbe Hemd. 230
»Wir haben gestern wichtige Informationen über William Aerts hereinbekommen«, sagte Baert nach einer Weile. Die Stille ging ihm auf die Nerven. Außerdem fand er, dass Van In und Versavel sich unprofessionell verhielten. »Ich habe gestern den ganzen Tag versucht, euch zu erreichen«, fügte er vorwurfsvoll hinzu. Versavel beschnupperte seine Achseln und verzog das Gesicht. Anschließend konzentrierte er sich auf die Kaffeemaschine. »William Aerts ist letzten Dienstag mit einer Linienmaschine nach Rom geflogen. Meinst du nicht, wir sollten uns lieber auf seine Spur konzentrieren? Meiner Meinung nach hat jemand, der sich Hals über Kopf aus dem Staub macht, immer etwas zu verbergen.« »Überlass diese Entscheidung getrost Van In«, brummte Versavel zwischen den Zähnen hindurch. Baert hatte natürlich Recht, aber Versavel wäre lieber tot umgefallen, als das zuzugeben. »Kommt der Commissaris denn heute noch?« »Könntest du mir einen großen Gefallen tun, Baert?« Der Hoofdinspecteur drehte sich um. »Einen Gefallen, Brigadier?« »Halt den Mund und lass mich in Ruhe«, fauchte Versavel ihn an. Baert reagierte wie ein Parkinsonpatient. Er setzte zu einer Bewegung an, stockte aber hilflos mittendrin. Als er endlich von seinem Stuhl hochkam, flog die Tür mit einem Schlag auf. Van In hatte für einen Moment das Gefühl, an einem Filmset gelandet zu sein, wo der Regisseur gerade Cut! gerufen hatte. »Ich hatte meinen Ausweis vergessen, und dieser Clown am Eingang wollte mich nicht durchlassen.« 231
Versavel grinste. Van In benutzte diese Ausrede mindestens einmal die Woche. »Bestimmt ein Neuer, oder?« »Noch grün hinter den Ohren«, seufzte Van In achselzuckend. Er warf seinen Mantel über den Garderobenhaken, ignorierte Baert und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Seitdem irgendein Idiot das Schlagwort »Unsicherheitsgefühl unter den Bürgern« geprägt hatte, wetteiferten sämtliche Polizeikorps darum, so viele Rekruten wie möglich anzuwerben. Die Bürger sollten sich um jeden Preis sicher fühlen, und dafür brauchte man genügend Personal. Demnächst verfügte jede Familie über ihren eigenen Privatbullen. Die Schwerkriminalität dagegen interessierte niemanden, die verfolgte man vom sicheren Sessel aus im Fernsehen. »Wer war es?«, fragte Versavel. »Robocop 36 oder 37. Keine Ahnung, Guido. Ich kann die inzwischen alle nicht mehr auseinander halten.« »Die Jungs an der Rezeption tun doch nur ihre Pflicht«, protestierte Baert. »Früher konnte hier jeder ungehindert rein- und rausspazieren. Es wurde höchste Zeit, dass daran mal etwas geändert wurde.« Er spielte auf die neuen Sicherheitsvorkehrungen an, die Hoofdcommissaris De Kee im Eingangsbereich hatte installieren lassen. Jeder Besucher musste sich am Schalter ausweisen, und die Mitarbeiter besaßen einen Ausweis mit Magnetstreifen, mit dem sie die Tür aus kugelsicherem Glas öffnen konnten. »Dann hätte man es wenigstens richtig machen sollen«, höhnte Van In. Es war sattsam bekannt, dass das kugelsichere Glas in der Tür falsch eingesetzt worden war. Ein Tick mit einem Hammer, und es würde in tausend Scherben zerspringen. 232
Zu allem Überfluss bestand die Tür zwischen dem Empfang und der Eingangshalle aus nichts weiter als Presspappe. Ein kräftiges Kleinkind hätte sie mit Leichtigkeit eintreten können. Und wenn es das nicht von allein geschafft hätte, hätte es sich vorher eine Straßenkampfwaffe aus der Waffenkammer besorgen können, denn diese befand sich direkt neben dem Empfang in der nicht gesicherten Zone. Baert schluckte die Kritik ohne Widerworte hinunter. Seine Hände über der Tastatur zitterten, sein Gehirn schüttete einen wilden Hormoncocktail aus, und das Blut in seinen Adern begann zu kochen. »William Aerts wurde in Italien gesichtet«, zischte Baert. »Aber das scheint hier ja niemanden zu interessieren.« »Hm«, schnaubte Van In. »Ich muss zugeben, dass unser Freund einen guten Geschmack hat, aber Hannelore will unbedingt nach Portugal. Tut mir Leid, Baert.« Versavel schaute Van In ungläubig an. Eines Tages würde er zu weit gehen, und Baert würde wie ein zu dick aufgeblasener Ballon zerplatzen. »Komm, Guido. Unser Hercule Poirot hat viel zu tun. Wir gehen jetzt mal meinen Ausweis bei mir zu Hause abholen.« Das ließ sich Versavel nicht zweimal sagen. Noch bevor sich Baert von seiner zweiten Überraschung erholt hatte, liefen die beiden Männer schon feixend den Flur entlang. Van In parkte den Golf auf der Burg, ein Vorrecht, dass nur Polizeibeamte und eine Hand voll Apparatschiks besaßen. Er löste seine Krawatte und warf das lästige Ding auf den Rücksitz. 233
»De Kee erwartet mich um elf Uhr in seinem Büro«, bemerkte er. »Aber erst würde ich gerne ein paar Dinge mit dir unter vier Augen besprechen.« »Du traust diesem Kerl also auch nicht über den Weg.« Versavel tat so, als tippe er auf einer Tastatur herum. »Baert ist ein Stümper, und Stümper gelten allgemein als rachsüchtig. Es würde mich nicht wundern, wenn unser Hoofdinspecteur jeden Abend dem Alten über unser Tun und Lassen Bericht erstattet, und das hasse ich nun mal wie die Pest.« Sie kämpften sich durch die träge Menschenmasse, die wie eine Herde stumpfsinniger Rinder die Blinde Ezelstraat blockierte. »Ich nehme an, wir sind auf der Suche nach einer ruhigen Außenterrasse«, meinte Versavel. »Not kennt kein Gebot. Seit ich zu Hause kein Duvel mehr kriege, muss ich ja wohl fremdgehen.« »Auf dem Huidenvettersplein?« »Zu laut, mein Freund. Um diese Uhrzeit gehen wir besser ins L’Estaminet.« Van In zwängte sich durch eine Meute hysterischer Spanier. Ein brav aussehender Familienvater, der gerade die Videoaufnahme seines Lebens machte, beschimpfte ihn als verrottenden Fisch. Van In nahm es gelassen. Außerdem war er mit voller Absicht dem Amateurfilmer mitten durch das Bild gelaufen. Der Königin-Astrid-Park wird manchmal auch spöttisch als »grüne Lunge Brügges« bezeichnet, ein Name, den er wahrlich nicht verdient, denn mehr als ein Dutzend kränklicher Bäume, einen veralgten Weiher und ein paar Quadratmeter struppigen Rasen hat der Park nicht zu bie234
ten. Das alles ging Van In durch den Kopf, als er an der denkmalgeschützten Fassade des Pandreitje entlanglief. Das alte Gefängnisgebäude hatte man vor fünf Jahren abgerissen, und das brachliegende Terrain war nach endlosen politischen Streitereien zu einem trostlosen Parkplatz umfunktioniert worden. Der unüberlegte Eingriff hatte dem Anblick des Parks nicht gut getan. Die Stadtväter hätten ebenso gut ein Kraftwerk auf der Burg errichten können. Die Disharmonie zwischen Natur und Kommerz bot jedoch auch einen Vorteil: Touristen mieden diesen Ort wie die Pest. Auf der überdachten Terrasse des L’Estaminet war es angenehm warm. Etwa fünfzehn Behinderte mit ebenso vielen Begleitpersonen hatten den größten Teil der Tische in Beschlag genommen. Es ging ungezwungen zu. Van In genoss es, sich für eine Weile unter normalen Menschen aufzuhalten. Ein spastisch gelähmter junger Mann begrüßte ihn mit breitem Grinsen. Sein Gesicht war mit Schokoladensoße verschmiert, was er sichtlich genoss. Van In wählte einen Tisch in einer Ecke der Terrasse, und Versavel setzte sich neben ihn. Sie fühlten sich von der Gruppe nicht gestört, ganz im Gegenteil. »Ich wollte mit dir über die Pamela-AndersonConnection sprechen.« Van In fiel gleich mit der Tür ins Haus. Versavel war mit dem Heteromilieu nicht besonders gut vertraut, was man an seinem fragenden Blick erkannte. »Die Silikonmöpse, Guido.« Johan, der Wirt des L’Estaminet, rieb den Tisch mit einem feuchten Tuch sauber. Im Gegensatz zu Versavel 235
wusste er haargenau, wer Pamela Anderson war, und gegen Silikonmöpse hatte er auch nichts einzuwenden. »Zwei Duvel?«, fragte er. »Ein Perrier und ein Duvel«, korrigierte Van In, als Guido mit einer abwehrenden Geste antwortete. Johan entfernte sich höflich. Es war nicht seine Art, seine Gäste zu belauschen. »Mit den Implantaten können wir nichts anfangen, Guido. Es gibt keine Möglichkeit, ihre Herkunft zu recherchieren. Sie sind lediglich der Beweis dafür, dass Herbert ein Transsexueller war, was ein neues Licht auf den Fall wirft. Bis gestern haben wir angenommen, Herbert sei ein Mann gewesen, wodurch seine Beziehung zu den Orgien in De Love unklar war. Als Frau dagegen passte er perfekt in den perfiden Handel, den Vandaele und Konsorten aufgezogen hatten. Huren werden ja relativ oft ermordet.« Versavel nickte. De Love hatte als Bordell für eine handverlesene Elite fungiert, von der angenommen wurde, dass sie heterosexuell war. Ein ermordeter Mann passte nicht in dieses Schema. Wie so oft musste er zugeben, dass Van In eine feine Nase hatte. Der Commissaris hatte von Anfang an die richtige Spur verfolgt. Der Mord an Herbert stand in einer direkten Verbindung zu den Partys in De Love. »Denkst du, was ich denke?«, fragte Van In und setzte die Lippen an das Duvel, das Johan soeben serviert hatte. »Dass eine dieser Partys gehörig aus dem Ruder gelaufen ist«, ergänzte Versavel artig. »Eins, setzen«, sagte Van In grinsend. Ein geistig behindertes Mädchen beantwortete sein Grinsen mit einer zuckenden Grimasse. Neben ihr saß der junge Mann mit dem schokoladenverschmierten Ge236
sicht. Eine Begleiterin wischte ihm den Mund ab, aber das gefiel ihm nicht. Er stampfte mit den Füßen auf und verlangte ein zweites Eis. Van In bewunderte, wie geduldig die Betreuer mit den Jugendlichen umgingen. Doch wenn er gläubig gewesen wäre, hätte er jetzt ein Stoßgebet gen Himmel geschickt und Gott um ein gesundes Baby angefleht. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass in den 80er Jahren in Belgien viele Geschlechtsumwandlungen durchgeführt wurden«, sagte Versavel. »Soweit ich weiß, nehmen nur wenige Krankenhäuser solche Eingriffe vor. Beauftrage Baert damit, die Universitätskliniken anzurufen, und morgen wissen wir, wer Herbert war.« »Baert hat schon mit jedem Spezialisten in ganz Flandern gesprochen«, erwiderte Van In. »Außerdem …« »… kannst du ihn nicht leiden.« »Wie hast du das erraten? Wenn Baert Herbert identifiziert, alarmiert er auf der Stelle die Presse und behauptet, er habe einen Durchbruch in den Ermittlungen erzielt.« »Dann bitte doch Carine darum.« Van In schüttelte den Kopf. »Carine hat schon eine andere Aufgabe.« Er weihte Versavel in die Undercoveroperation ein. »Das Sozialamt hat seine Mitarbeit zugesagt. Falls jemand von De Zorghe Informationen über Carine Neels verlangt, wird er mit einer Sozialarbeiterin verbunden, die ihm eine fingierte Geschichte auftischt. Carine lebt vom Mindestsatz der Sozialhilfe. Ihr Mann hat sie im Stich gelassen, wodurch sie in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist. Wenn sie innerhalb von drei Monaten nicht ihre Schulden begleicht, muss sie aus ihrer Wohnung ausziehen und sitzt auf der Straße.« 237
Versavel traute seinen Ohren nicht. »Weiß De Kee darüber Bescheid?« Die Gruppe der Behinderten machte sich zum Aufbruch bereit. Diese Menschen konnten sich wenigstens auf den sicheren Schutz einer gut funktionierenden Institution verlassen, ein Gefühl, das normale Menschen immer mehr entbehren mussten. Van In hob zum Abschied die Hand, als der Eisfan ihm ein sabberndes Lächeln schenkte. »Benson im Himmel. De Kee wollte mich doch um elf Uhr sprechen?« »Stimmt«, bestätigte Versavel. »Du hast noch genau zehn Minuten Zeit. Soll ich ein Taxi rufen?« Van In trank hastig sein Glas aus. »Ich gehe lieber schnell zu Fuß, Guido.« Er eilte zum Ausgang. »Ich zahle dann die Rechnung«, rief Versavel ihm lachend hinterher. Van In drehte sich um. »Und mach dir keine Sorgen, Pieter. Ich übernehme das mit den Universitätskliniken.« »Danke dir, Guido.« Das Klimpern eines Schlüsselbundes ließ ihn in seiner Flucht innehalten. »Das Auto steht auf der Burg«, bemerkte Versavel. »Benson im Himmel!«, schimpfte Van In. »Hättest du das nicht früher sagen können?« Versavel legte fünf Euro auf den Tisch und folgte seinem Chef. »Hallo, Amand.« Die Stimme von Jeroen Plets klang angespannt. Jane stand hinter ihm. »Ich bin’s, Jeroen. Ich muss dir etwas sagen.« 238
Amand behielt die Busladung hungriger Deutscher im Auge, die lärmend sein Restaurant stürmte. »Ich habe nicht viel Zeit, Jeroen. Hier ist wahnsinnig viel los.« »Zwei Minuten«, bat Plets. Hoofdcommissaris De Kee steckte in der Zwickmühle. Doktor De Jaegher war ein guter Freund, der sich ab und zu ein wenig amüsierte. An sich kein Drama. Die meisten Männer gingen gelegentlich fremd. Das Ärgerliche war, dass sein Name auf der Liste stand, die Van In auf illegitime Weise erhalten hatte. De Kee sah sich vor einem Dilemma. Wenn er Van In wegen seiner unorthodoxen Arbeitsweise auf die Finger klopfte, würde ihn der aufsässige Commissaris beschuldigen, parteiisch zu sein. Sagte er nichts, würde De Jaegher ihm eine alte Rechnung präsentieren. Das wiederum wäre De Kee äußerst unangenehm. Niemand durfte je erfahren, dass er vor zehn Jahren eine junge Polizistin geschwängert und De Jaegher die Frucht dieser Eskapade fachmännisch entfernt hatte. Van In wartete vor der Tür, bis die große Uhr im Flur Punkt elf Uhr anzeigte. Er zog seine Krawatte zurecht und klopfte an. De Kee sprang von seinem Stuhl auf. Anstatt auf den Knopf zu drücken, der das »Herein«-Schild draußen aufleuchten ließ, öffnete er persönlich die Tür. »Schön, dich zu sehen, Pieter«, sagte der Hoofdcommissaris ein wenig zu überschwänglich. Sie schüttelten sich die Hände. De Kee setzte sich an seinen Schreibtisch und lud Van In mit einer großzügigen Geste ein, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Das Büro wirkte vertraut, als sei De Kee niemals weg gewesen. Van In ließ den Blick durch den Raum wandern. Alles 239
hing wieder ordentlich an seinem Platz: das eingerahmte Diplom, das Foto De Kees mit dem König, das kleine Kunstwerk, das De Kee vom belgischen Fußballbund geschenkt bekommen hatte, ein Stich des Rathauses und eine Baseballkappe mit dem Logo der American Police Federation. »Und, wie geht es mit den Ermittlungen im Mordfall Provoost voran?« De Kee verschränkte die Arme, rollte seinen Stuhl zurück und streckte die Beine aus, genau wie Edgar Hoover, der legendäre Chef des FBI, es zu tun pflegte. »Ich glaube, allmählich sehen wir Licht am Ende des Tunnels«, sagte Van In. »Was soll das heißen, Pieter?« Wenn jemand behauptete, Licht am Ende des Tunnels zu sehen, bedeutete das meistens, dass kaum Fortschritte erzielt wurden. »Vorläufig konzentrieren wir uns mehr auf den ersten Mord«, erklärte Van In. »Und bei diesen Ermittlungen rechne ich schon bald mit einem Durchbruch.« De Kee fuhr seinen Stuhl näher heran und beugte sich über den Schreibtisch. »Dieser ermordete Landstreicher interessiert mich nicht, Pieter Van In«, flüsterte er. »Wenn ich dir einen guten Rat geben darf, dann lass den Fall für eine Weile ruhen. Ehe du dich versiehst, steckst du bis zum Hals in Unannehmlichkeiten. Auf der Liste, die du mir hast zukommen lassen, stehen die Namen einflussreicher Personen. Es könnte gut sein, dass …« »Doktor De Jaegher braucht sich keine Sorgen zu machen.« Van In schaute den Hoofdcommissaris mit festem Blick an. De Kee richtete sich auf. An seinen angespann240
ten Wangenmuskeln erkannte man, dass er sich sehr beherrschen musste. »Und worüber sollte sich Doktor De Jaegher Sorgen machen müssen?«, fragte er. »Keine Ahnung. Jeder begeht doch im Leben mal einen Fehler, und wenn wir alle vor den Kadi zerren wollten, die irgendwann mal ihre Kompetenzen überschritten haben, wären die Gefängnisse überfüllt mit ehrbaren Bürgern.« Van In erlaubte sich ein herablassendes Lächeln. Für kryptische Andeutungen wie diese zermarterten sich Diplomaten lange vor einem Termin das Gehirn. De Kee faltete die Hände im Nacken und reckte sich. Er hatte den Wink verstanden. Van In würde De Jaegher in Ruhe lassen, wenn im Gegenzug der Vorfall mit Linda Aerts keine weiteren Folgen hätte. »Das ist ein sehr vernünftiger Standpunkt, Pieter.« De Kees Stimme klang schon erheblich milder als noch vor ein paar Minuten. Es war nicht das erste Mal, dass er den Scharfsinn von Commissaris Van In unterschätzt hatte. »Ich will ja keineswegs in den Gang der Ermittlungen eingreifen, Pieter, aber meine erste Sorge betrifft nun mal das Wohlergehen meiner Untergebenen. Deswegen wollte ich über gewisse heikle Punkte mir dir reden. Jetzt, wo wir unsere Strategien aufeinander abgestimmt haben, bleibt mir nur noch, den Ausgang der Ermittlungen in beiden Fällen mit Spannung abzuwarten. Auf dass die Gerechtigkeit siege!« Selbst der gewiefteste Politiker hätte es sich zweimal überlegt, derartigen Unsinn über die Lippen zu bringen. De Kee dagegen fand, dass er sich überaus geschickt aus der Affäre gezogen hatte. 241
»War das alles, Mijnheer Hoofdcommissaris?« »Nur noch eines, Pieter. Für mich ist der Fall Linda Aerts erledigt, unter der Bedingung, dass du sie in Ruhe lässt. Solange sie nicht offiziell angeklagt ist, lässt du die Finger von ihr. Ist das klar?« Van In nahm es dem Alten nicht übel, dass er das letzte Wort haben wollte. »Selbstverständlich«, versprach er erleichtert. De Kee stand auf und begleitete seinen Untergebenen zur Tür. Das Gespräch hatte keine zehn Minuten gedauert, und das Ergebnis war für beide Parteien sehr befriedigend. Kaum war Van In zur Tür hinaus, wählte De Kee die Nummer von Doktor De Jaegher. »Psst.« Van In wollte gerade Zimmer 204 betreten, als Carine Neels sich auf diese Weise bemerkbar machte. Keine besonders originelle Methode, aber sie funktionierte. Van In drehte sich um, und Carine gab ihm zu verstehen, dass sie ihn sprechen wollte. In ihrer Uniform sah die junge Polizistin alles andere als sexy aus. Van In spielte das Spiel mit, und gemeinsam gingen sie in den ersten Stock. Dort gab es ein leeres Büro, das wie gemacht war für ein geheimes Treffen. »Ich habe wichtige Neuigkeiten«, flüsterte Carine. Van In schloss die Tür hinter sich ab. Das arme Kind zitterte wie Espenlaub. »Sie haben Recht gehabt, Commissaris! De Zorghe ist eine Deckorganisation, und dahinter steckt ein Prostituiertennetzwerk! Gestern konnte ich Sie nicht erreichen, und …« »Jetzt mal schön der Reihe nach, Carine«, beruhigte sie Van In. 242
Er fragte sich, ob es nicht verantwortungslos gewesen war, ihr diese Mission aufzubürden. Carine setzte sich. »Ilse Vanquathem hat mich heute Morgen angerufen. Sie sagte, sie hätte eine Idee, wie sie mir helfen könnte und bat mich, noch einmal vorbeizukommen.« Carine sprach immer gehetzter. »Der Verein hat sich bereit erklärt, meine Schulden und meine rückständige Miete zu begleichen, unter der Bedingung, dass ich ihnen eine kleine Gefälligkeit erweise.« Dabei errötete sie. »Aber das hast du doch nicht etwa getan?«, fragte Van In entsetzt. »Doch. Ilse hat ein paar Fotos von mir gemacht«, antwortete Carine ein wenig provozierend. »Nacktfotos?« Sie nickte. »Anschließend hat mir Ilse erklärt, was von mir erwartet wird. Ich muss mich sechs Monate lang zu ihrer Verfügung halten, und in dieser Zeit kann ich bis zu zwanzig Mal zu einer Sitzung angefordert werden.« »Einer Sitzung? Du meinst doch nicht etwa …?« Carine lachte nervös. Van In hatte den Eindruck, dass sie die ganze Operation ziemlich spannend fand. »Das wirst du auf keinen Fall tun!«, befahl er streng. Carine nickte gehorsam, aber nicht sehr überzeugend. »Diese Kerle sind doch wirklich dreist!« Hannelore kam aus der Dusche hervor. Sie wickelte ein weißes Handtuch zu einem Turban um den Kopf und zog einen dicken Bademantel über. Van In saß nebenan im Schlafzimmer und bohrte sich zerstreut in der Nase. »Jetzt bist du am Zug«, sagte er. 243
Hannelore setzte sich neben ihn auf das Bett. Ihr Bademantel beulte sich vorne ein wenig aus. »Ich verstehe ja, wie sehr dich das ärgert, Pieter. Aber ich habe dir doch schon so oft erklärt, dass auch wir an strikte Regeln gebunden sind. Kein Untersuchungsrichter wird auf der Grundlage von widerrechtlich gewonnenem Beweismaterial eine Hausdurchsuchung anordnen.« »Na klar, die werden sich hüten, schließlich stehen auch ein paar von ihren Kollegen auf der Liste«, bemerkte Van In verbittert. »Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Wie das Gesetz ausgelegt wird, hängt nur davon ab, wer man ist und wie viel man bezahlen kann.« Hannelore zuckte mit den Schultern. Sie knüpfte den Turban auf und begann, ihr glänzendes Haar trockenzureiben. »Von Gesetzes wegen müsste ich das arme Mädchen bitten, sich zu prostituieren, weil ich daraufhin erst Anklage erheben kann«, seufzte Van In mutlos. »Um Gottes willen! Sogar ein mittelmäßiger Rechtsanwalt würde den Prozess für den Verein gewinnen. Carine ist Polizeibeamtin, und du darfst sie nicht zu einer Straftat anstiften. Es würde mich nicht wundern, wenn sie wegen Vortäuschung falscher Tatsachen eine Anzeige an den Hals kriegte. Und was sollte es denn auch bringen? Vielleicht ist diese Ilse eine Lesbierin, die von ihrer Stellung profitiert, indem sie ab und zu ein Liebchen abschleppt.« Van In zündete sich pikiert eine Zigarette an, die letzte seiner Tagesration. »Es wird Zeit, dass du mal wieder in deine alten Strafrechtsbücher reinguckst«, mahnte Hannelore lächelnd. »Mir scheint, du hast im Laufe der Jahre einiges vergessen.« 244
Van In stand auf und fing an, im Zimmer hin- und herzuwandern. Die Ermittlungen steckten in einer Sackgasse. Seine ganze Hoffnung ruhte auf der Identifikation von Herbert, aber auch dahingehend hatten die heutigen Nachforschungen wieder nichts ergeben. Zwei Krankenhäuser wollten sich morgen melden. Wenn auch dort nichts über Herbert bekannt war, wussten sie nicht mehr weiter. Dann blieben nur die Krankenhäuser im Ausland, was der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen gleichkam. Als sie am Tisch saßen, unternahm Van In einen schüchternen Versuch, das Thema Linda Aerts anzuschneiden. »Wenn die Staatsanwaltschaft den Einfluss der Mächtigen fürchtet, sollten wir es vielleicht mal mit den Underdogs versuchen«, sagte er sarkastisch. »Der Kommunismus ist tot, Pieter. Und als er noch lebte, galten dort dieselben Prinzipien. Niemand ist vor dem Gesetz gleich. Menschen sind egozentrische Wesen. Daran kann auch ein politisches System nichts ändern. Und auch Justizbeamte sind nur Menschen. Wir alle vollführen einen permanenten Drahtseilakt und versuchen dabei mit allen Mitteln, unser empfindliches Gleichgewicht zu bewahren.« Hannelore tat sich an einer Scheibe gebratener Kalbsleber gütlich. »Ich wollte eigentlich keine ideologischen Diskussionen mit dir führen, Hanne.« »Kann ich mir vorstellen«, antwortete sie zwischen zwei Bissen. »Du hättest gern, dass ich Linda Aerts verhaften lasse.« Hannelore stopfte sich das letzte Stück Leber in den Mund. 245
»Linda Aerts ist eine Verdächtige im Mordfall Provoost. Ich habe Hinweise darauf …« »Beweise, Pieter. Ich brauche Beweise.« Van In warf einen begehrlichen Blick auf das leere Päckchen Zigaretten. Er hatte gute Lust, sich am Kiosk neue zu holen und sich anschließend zu betrinken. »Heutzutage lässt sich kaum noch etwas beweisen«, sagte er mürrisch. »Alle lügen, um ihre eigene Haut zu retten, und schon um die simpelste Lüge aufzudecken, braucht man mindestens zwei Zeugen.« »Gott sei Dank«, erwiderte Hannelore. »Dir brauche ich doch nicht zu erklären, was für ein Segen das ist. Der VLOK wäre nichts lieber, als wenn wir alle Verdächtigen ohne viel Federlesens hinter Gitter brächten, strenge Gefängnisstrafen forderten und uns um das Recht auf Verteidigung nicht weiter scherten.« Hannelore geriet in Rage. Sie war entsetzt, dass ihr Mann anscheinend mit rechtem Gedankengut liebäugelte. »Aber so habe ich es doch gar nicht gemeint, Liebes.« Van In versuchte, die Ruhe zu bewahren. Er kämpfte mit seinem alten Dämon, der in ihm zu toben begann. »Ach nein?« Mit diesen zwei abfälligen Worten brachte sie das Fass zum Überlaufen. »Das hättest du nicht sagen dürfen.« Van In fühlte sich wie ein Champagnerkorken kurz vor dem Knall. Warum tat sie ihm das an? Sie wusste, dass er explodieren würde, wenn sie so weitermachte. »Ich dachte, wir beide ständen auf derselben Seite«, flüsterte er. »Natürlich, aber …« Hannelore griff nach ihrem Unterleib. Der plötzliche Schmerz, der sie durchfuhr, war so heftig, dass sie sich 246
zurücklehnen musste. Van Ins Schutzengel versetzte dem Champagnerkorken einen kräftigen Hieb, und der Dämon zog sich wohlweislich zurück. »Geht’s dir nicht gut?«, fragte er besorgt. »Mach dir keine Sorgen, Pieter. Ich glaube, heute ist einfach nicht mein Tag.« Hannelore massierte die Außenseiten ihrer Oberschenkel. Van In sah den Schmerz, der aus ihren Augen sprach. Er setzte sich neben sie. »Es ist alles meine Schuld«, sagte er. »Ich weiß, dass das keine Entschuldigung ist, aber ich habe einen schweren Tag hinter mir. Wir kommen bei den Ermittlungen keinen Schritt weiter, und du weißt, wie gerne ich mit dir nach Portugal möchte.« Hannelore schmiegte ihren Kopf an seine Schulter. »Das ist lieb von dir.« Sie kraulte ihm mit den Fingern durchs Haar. Davon bekam er wie immer eine Gänsehaut. »Tut mir Leid, dass ich dich mit diesen dreckigen VLOK-Anhängern verglichen habe.« Van In war froh, dass seine Wut abebbte. Er hätte fast vergessen, dass sie heute beim Gynäkologen gewesen war. Eine Fruchtwasseruntersuchung war kein Zuckerschlecken. Einen Moment lang überlegte er, sie zu fragen, ob alles gut gegangen war, aber er ließ es lieber sein. Wenn sie nicht von sich aus davon erzählen wollte, musste er das respektieren. »Vielleicht sollte ich mich mal mit Mevrouw Aerts unterhalten«, schlug Hannelore nach einer Weile vor. Van In zeichnete mit dem Zeigefinger Herzchen auf ihren Rücken. »Nur wenn du mich den Wassereimer tragen lässt«, sagte er grinsend.
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Carine Neels sah bildschön aus in ihrem geblümten Nachthemd. Ihr altmodischer Füllhalter kratzte schwungvolle Buchstaben auf das weiche Papier ihres Tagebuchs. »Ich habe den Befehl von Commissaris Van In missachtet und mich um zehn Uhr bei Ilse gemeldet. Sie war hocherfreut und sagte, wir wollten zuerst ein paar Probeaufnahmen machen, bevor wir heute Abend ernsthaft an die Arbeit gingen. Sie sagte, ich hätte einen sehr schönen Körper und ich müsse nicht unbedingt ganz nackt posieren. Dann brachte sie mich in ein richtiges Studio. Sie fragte mich, ob es mich stören würde, wenn ein Mann dabei wäre, denn sie hätte keine Ahnung vom Fotografieren. Ich fand es ganz schön spannend, so im Scheinwerferlicht zu stehen. Der Mann hat mich auch ganz in Ruhe gelassen. Er blieb im Dunkeln stehen und sprach während der ganzen Sitzung kein einziges Wort. Nur eines ist mir aufgefallen: Der Mann …«
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12 William Aerts hielt sich in Amands Schlafzimmer versteckt. Durch das Fenster beobachtete er jedes Auto, das auf den Restaurantparkplatz einbog, ganz genau. Für ihn war Warten etwas für demente Alte. Wenn es eine olympische Disziplin gewesen wäre, hätte William den Senioren großzügig ihre Medaillen gegönnt. Auf etwas Unbestimmtes zu warten bedeutete für ihn die reinste Marter. Er zählte die Sekunden, reihte sie zu Minuten aneinander und verfluchte den kleinen Zeiger seiner Armbanduhr, der wie ein regloser Menhir den Gesetzen der Mechanik trotzte. William hatte zwei Tage lang in Euphorie gelebt, zwei Tage, die nicht länger als eine Nanosekunde gedauert hatten. Brooks und Brouwers trafen kurz vor zwölf Uhr mittags bei Amands Restaurant ein. Der Engländer war bester Stimmung, da er die Nacht mit seiner Freundin Penelope verbracht hatte. Brouwers hatte sie gestern in der Lounge des King George Hotels kennen gelernt und wusste jetzt, warum Brooks darauf bestanden hatte, auf Gozo zu übernachten. Penelope war eine kultivierte Frau um die vierzig mit schlaffen, flachen Brüsten und großen, traurigen Augen. Sie erinnerte ihn an die Schlussszene von Homers Odyssee. Genau wie im Epos des blinden Dichters übte auch diese maltesische Penelope eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Männer mittleren Alters aus. 249
Brouwers hatte in seinem Hotelzimmer zweimal hintereinander masturbiert, was schon seit Ewigkeiten nicht mehr vorgekommen war. William erkannte den ehemaligen Rijkswacht-Polizisten sofort wieder. Es war ihm schleierhaft, wie es dem Bluthund Vandaeles gelungen war, ihn so schnell aufzuspüren. Amand reagierte gelassen und begrüßte die Besucher mit einem professionellen Lächeln. »Belgier!«, sagte er, nachdem sich Brouwers vorgestellt hatte. »Welch seltener Besuch. Willkommen in meinem Restaurant, die Herren.« Brooks und Brouwers nahmen auf der Terrasse unter einem Segeltuchsonnenschirm Platz. Es wehte eine erfrischende Brise. Auf Gozo, der zweitgrößten Insel des maltesischen Archipels, war das Meer nie weit entfernt. »Ich habe schon gehört, dass auch Sie Flame sind«, sagte Brouwers freundlich. »Stimmt«, sagte Amand. »Ich stamme aus Knokke.« Er reichte den beiden die Speisekarte. Brouwers fand kein einziges klassisches Gericht darauf. »Ich kann Ihnen geräucherten Schwertfisch empfehlen«, schlug Amand hilfsbereit vor. Brooks lief das Wasser im Mund zusammen. Nirgendwo aß man besseren Schwertfisch als bei Amand. Er nickte begeistert. Auch Brouwers ging auf Amands Vorschlag ein und bestellte den Fisch als Vorspeise. Als Hauptgericht wählten sie fenek. »Rabbit«, sagte Brooks, als Brouwers ihn um eine Erklärung bat. »Die Malteser sind begeisterte Jäger. Sie schießen auf alles, was sich bewegt. Vielleicht ist dir auch schon aufgefallen, dass es hier kaum Vögel gibt.« 250
Der Schwertfisch hätte es mit dem feinsten schottischen Lachs aufnehmen können. Die Struktur war etwas grober, aber die fleischigen Scheiben zeichneten sich durch ihren milden Geschmack aus. Aerts schenkte sich einen kleinen Whiskey ein. Amand hatte versprochen, ihm Bescheid zu sagen. Wo blieb er denn bloß? Aerts trank sein Glas mit einem Zug aus. Er fragte sich verzweifelt, warum Vandaele einen Auftragskiller auf ihn angesetzt hatte. Wahrscheinlich hatte Provoost sich verplappert, nachdem die Leiche gefunden worden war. Er griff nach der Flasche und schenkte sich einen zweiten Drink ein. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Wenn Vandaele sein Todesurteil ausgesprochen hatte, hatte es keinen Sinn, weiter zu flüchten. Brouwers würde ihn früher oder später sowieso erwischen. Nicht umsonst wurde er in einschlägigen Kreisen »der Pitbull« genannt. Inzwischen hatte sich die Terrasse gefüllt, und eine Schar von Kellnern lief eilig hin und her. Amand legte ihnen persönlich die dampfenden Stückchen fenek auf den Teller. Das Gericht duftete herrlich. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, fragte er freundlich. Brouwers musterte ihn eindringlich. Das breite Lächeln auf Amands Gesicht gefror. »Ich habe gehört, dass Sie alle Ausländer auf der Insel kennen, Monsieur Amand. Ich suche jemanden, und vielleicht können Sie mir weiterhelfen.« Brouwers zog ein aktuelles Foto von Aerts hervor. Amand studierte es einige Sekunden lang. Er runzelte die Stirn, als denke er angestrengt nach. 251
»Tut mir Leid«, sagte er nach einer Weile. »Hat er vielleicht einmal Ihr Restaurant besucht?«, hakte Brouwers nach. »Nein, ganz bestimmt nicht. Die Flamen, die hierher kommen, können Sie an allen zehn Fingern abzählen. Wäre der Mann je in meinem Restaurant gewesen, hätte ich ihn sofort wiedererkannt.« »Tut mir Leid«, sagte Brooks. »Magere Ausbeute, aber wenigstens haben wir ausgezeichnet gegessen.« Ein Ober servierte ihnen eine Kanne aromatischen Kaffee, zwei Stückchen Gebäck und zwei Gläser Cognac. Der Cognac gehe aufs Haus, verkündete er. Brouwers setzte seine Sonnenbrille ab. »Ich bin da nicht so pessimistisch wie du.« Brooks schwenkte den Cognac im Glas. »Na los, raus mit der Sprache, du Teufelskerl«, sagte er grinsend. Brouwers scheuchte die Fliegen von seinem Gebäck weg, aß einen Bissen und legte das Törtchen mit angewidertem Gesicht zurück auf den Teller. »Zahnärzte müssen hier ein Vermögen verdienen«, schimpfte er. »Das Zeug ist so süß, dass man selbst mit einem Gebiss noch Zahnschmerzen kriegt.« »Ach, wenn man hier lebt, gewöhnt man sich daran. Aber jetzt erzähl mir lieber, was du entdeckt hast«, drängte Brooks ungeduldig. Die Neugier des ehemaligen SAS-Mitglieds schmeichelte Brouwers Eitelkeit. »Ist doch ganz einfach, Jonathan. Erstens: Als ich Amand das Foto von Aerts gezeigt habe, bezeichnete er ihn sofort als Flamen, obwohl er ihn angeblich nicht kannte. Außerdem hat er nicht gefragt, warum wir Aerts suchen. Merkwürdig für einen Mann, der selten Landsleute trifft. Zweitens: Von dem Moment an, als Amand wusste, warum wir hier sind, überließ er unsere 252
Bedienung einem Ober. Und drittens habe ich eine Nase für Leute, die lügen. Ich glaube, Aerts hält sich hier irgendwo in der Nähe auf. Ich sollte noch ein Weilchen hier bleiben.« Brooks hatte nichts dagegen. Die Aussicht auf eine zweite Nacht mit Penelope brachte sein Blut in Wallung. »Guten Tag, ich bin Hannelore Martens, stellvertretende Staatsanwältin«, sagte Hannelore beherzt, als Linda Aerts ihr die Tür öffnete. »Ich komme wegen Ihrer Anzeige gegen Commissaris Van In.« Sie hatte den Twingo in der Auffahrt der Villa geparkt, direkt unter einem großen Fliederbusch. Sub rosa, genau wie ihre Mission. Das Bauwerk, errichtet in einer Stilmischung aus Art deco und österreichischem Alpenstil, hatte bis in die sechziger Jahre hinein einem arrivierten Kunstmaler als Statussymbol gedient. Nachdem sich dieser an einem trüben Winterabend erhängt hatte, ließ seine habgierige Familie das Haus öffentlich versteigern. Wie jeder weiß, bringen Häuser, an denen Blut klebt, nicht viel ein, und so erwarb es Lodewijk Vandaele für ein Butterbrot und funktionierte es zu einem diskreten Bordell um, das er aus Mangel an Phantasie Cleopatra taufte. Früher hätte es Linda Aerts an Schönheit mit der legendären ägyptischen Königin aufnehmen können, doch inzwischen ähnelte sie eher einer aufgedunsenen Mumie. »Welche Anzeige?«, blaffte sie. »Sie sollen geschlagen und anderweitig misshandelt worden sein«, sagte Hannelore. »Sie haben doch Anzeige wegen Körperverletzung erstattet.« Hannelores Direktheit riss Linda aus ihrem Tran. Sie öffnete die Augen, so weit es ging, und musterte Hannelore mit trübem Blick. 253
»Darf ich hereinkommen, Mevrouw Aerts?« Linda wühlte durch ihr ungekämmtes Haar, zuckte mit den Schultern und trat einen Schritt zurück. »Von mir aus«, antwortete sie mit schwerer Zunge. Drinnen stank es nach muffigen Kissen, säuerlichem Zigarettenrauch und schalem Bier. »Ich war gerade beim Frühstück«, sagte Linda. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?« Hannelore nickte und folgte Linda durch den Schankraum in die Küche. Sogar Van In wäre das Chaos dort über die Hutschnur gegangen. Schimmelkolonien tummelten sich in den schmutzigen Tellern auf der Anrichte, und aus überquellenden Aschenbechern stäubten mikroskopisch kleine Partikel in die Luft. Das Katzenklo war seit Wochen nicht sauber gemacht worden und verbreitete einen ätzenden Gestank, der Hannelore den Hals zuschnürte. Hannelore dachte an die Übungen im Geburtsvorbereitungskurs und versuchte, möglichst flach zu atmen. »Dieser Rotzlöffel hat mir zwei Eimer Wasser über den Kopf gekippt. Können Sie sich das vorstellen? Wir leben doch nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert!« Linda spülte eine Tasse unter dem Wasserhahn. Hannelore bereute es, Lindas Einladung angenommen zu haben. Sie erkannte den faden Geruch dünnen Jugendherbergskaffees, der zu lange auf einer Wärmeplatte gestanden hatte. »Die Staatsanwaltschaft nimmt Ihre Anzeige sehr ernst, Mevrouw Aerts. Körperverletzung und sexuelle Belästigung sind unverzeihlich, vor allem vonseiten eines Polizeibeamten.« »Sexuelle Belästigung!« Linda lachte schrill. »Von mir aus darf jeder gern meinen Eimer füllen, Hauptsache, er bezahlt dafür.« 254
»Ihren Eimer, Mevrouw Aerts?« »Mein liebes Kind, Männer übertreiben immer. Wenn sie nur einen Teelöffel von ihrem Schlabber loswerden, reden sie schon von einem ganzen Eimer voll.« Hannelore schob ihren Kaffee beiseite. Linda grinste breit. Ihre Zähne ähnelten einer Phalanx von Lavasteinen. Sie ließ sich auf einen Stuhl plumpsen und füllte ihre Tasse mit Elixir d’Anvers. »Möchten Sie Milch?« Hannelore dachte an den Schlabber und den Eimer. Sie schüttelte den Kopf. »Ein Schlückchen Elixir vielleicht?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, stand Linda auf, nahm ein Glas aus dem Küchenschrank und füllte es mit dem süßen Likör. »Haben Sie schon einen anderen Rechtsanwalt beauftragt, Mevrouw Aerts?« Hannelore nippte zum Schein an ihrem Glas und versuchte, ihren Ekel zu unterdrücken. Sie trank nur, um das Vertrauen Lindas zu gewinnen. »Pff.« Unglaublich, wie viel Verachtung in einem so simplen Geräusch liegen konnte. Van In durfte zufrieden sein. Ohne Anwalt hatte Linda keine Chance. »Provoost hat seinen verdienten Lohn gekriegt. Ich brauche diesen Scheißkerl nicht. Er war auch nicht besser als all die anderen.« »Die anderen?« Das Lachen, das Linda daraufhin ausstieß, hätte den seligen Fellini in Entzücken versetzt. »Vandaele ist ein Schwein. De Jaegher ist ein frustrierter Wurm, Vervoort verdient die Todesstrafe, und Deflour kann meinetwegen von seiner Orgel hüpfen.« 255
»Und Brys?« Linda erschrak. »Johan war ein lieber Junge«, antwortete sie mit einem Schluchzen. »War?« Hannelore schaute der verlebten Frau in die Augen. Nichts ist trauriger als ein Alkoholiker, der sentimental wird. Linda griff nach der Flasche und schenkte sich das Glas noch einmal voll. Sie zitterte kaum. Die Gier, mit der sie trank, verriet, dass sie auf das Endstadium zusteuerte. »Sie haben ihn also gut gekannt?« Linda wischte sich eine Träne weg. Sie hatte Johan Brys angebetet. Wenn sie damals seinen Antrag angenommen hätte, würde sie heute in einer schicken Villa wohnen, hätte Bedienstete und würde ihren Urlaub an exotischen Orten verbringen. Alles, wovon sie als junges Mädchen jede Nacht geträumt hatte. »Johan kam auch ab und zu hierher«, sagte sie. »Bevor er Minister wurde natürlich.« Hannelore nickte verständnisvoll. Sie kniff die Augen zusammen und trank einen Schluck von dem Likör. Das süße Zeug tat ihr im ersten Moment gut. Danach hinterließ es eine brennende Spur in ihren Eingeweiden. »Noch einen Schluck?« Linda fand diese mondäne Zicke allmählich ganz sympathisch. Sie füllte ihr Glas bis zum Rand. »Früher war ich mal Schönheitskönigin.« Sie stand auf und schlurfte zu dem lädierten Küchenschrank. Hannelore graute vor ihren blauen Krampfadern und der harten, ledrigen Haut, die ihre dicken Waden umspannte. »Sehen Sie den Johan noch manchmal?« Eine banale Frage, doch Linda drehte sich um und riss ihren Morgenmantel auf. Das Baumwollnachthemd, das 256
sie darunter trug, verhüllte ihren aus dem Leim gegangenen Körper nur unzureichend. »Was würden Sie tun, wenn Sie ein Mann wären?« Hannelore versuchte, ihr Mitleid zu unterdrücken, indem sie einen weiteren Schluck Elixir trank. »Gott sei Dank bin ich kein Mann«, sagte sie nur. Linda band ihren Morgenmantel wieder zu und konzentrierte sich auf den Inhalt des Küchenschranks. »Wo ist bloß dieses verdammte Ding?« »Machen Sie sich doch bitte keine Umstände, Mevrouw Aerts.« Linda hockte vor dem Schrank. »1979 war ich Miss Westflandern«, jammerte sie. »Wo ist nur dieser verdammte Pokal?« Das Klirren von Geschirr überstimmte ihr Wehklagen. »Ich glaube dir doch, Linda. Und man sieht es dir auch heute noch an.« Linda beruhigte sich, als Hannelore sie beim Vornamen nannte. Sie hörte sofort mit ihrer vergeblichen Suche auf. »Ist das dein Ernst?« Auf ihrem verfallenen Gesicht erblühte ein spontanes Lächeln. Sie zog sich hoch und setzte sich wieder an den Tisch. »Johan hat einen guten Geschmack. Außerdem ist er sehr intelligent. Hat mich kein bisschen gewundert, dass er es bis zum Minister gebracht hat.« Linda hatte ihren Pokal inzwischen vergessen. Hannelore hob das Glas und zwinkerte ihr zu. Ihr graute vor ihrer eigenen Taktik. Um sich selbst zu bestrafen, trank sie ihr Glas in einem Zug leer. Hoffentlich hatte das Baby Pieters Alkoholgene geerbt. 257
»Du hättest sie mal erleben müssen«, schwärmte Linda nostalgisch. »Sie?« Linda suchte in einem verknitterten Päckchen nervös nach einer Zigarette. Hannelore schob das Glas beiseite, holte eine Schachtel John Player’s aus ihrer Handtasche und bot Linda eine an. »Danke. Meine sind mir eben ausgegangen.« »Wen meintest du eben mit ›sie‹?« »Johan, Provoost und William. Ich habe mir natürlich den Falschen ausgesucht.« »Du kannst die Schachtel behalten«, sagte Hannelore. »Nimm dir doch auch eine«, schlug Linda vor. Hannelore konnte der Versuchung nicht widerstehen. Nach dem ersten Zug fühlte sie sich wie eine Kommunistin, die ihren jüdischen Nachbarn an die Gestapo verraten hat. Sie beruhigte sich damit, dass sie das alles nur für den Fortschritt der Ermittlungen tat, eine Ausrede, die auch Pieter jedes Mal vorschob. »Du konntest also unter ihnen wählen«, sagte Hannelore. Das Elixir verfehlte seine Wirkung nicht. Die Mischung aus Likör und Zigarette auf nüchternen Magen versetzte Hannelore in einen derartigen Zustand der Euphorie, wie sie ihn seit ihrer Studentenzeit nicht mehr erlebt hatte. »Johan, Yves und William waren dicke Freunde«, kicherte Linda. »Yves? Yves Provoost?« »Der allseits respektierte Rechtsanwalt. Gott sei seiner Seele gnädig.« Linda prustete vor Lachen. »Ich hätte sie alle drei haben können. Sie waren ganz verrückt nach meinem Körper.« 258
»Typisch Mann«, bemerkte Hannelore lächelnd. »Schöne Frauen haben es eben nicht leicht.« »Da sagst du was.« Linda sprach immer undeutlicher, und die Zigaretten, die sie eine nach der anderen anzündete, verqualmten zum größten Teil ungeraucht in einem der stinkenden Aschenbecher. »Die drei waren also Jugendfreunde?« Linda nickte eifrig. Ihr Blick war glasig. Hannelore war sich nicht sicher, ob sie weitermachen sollte. Ihre Methode kam ihr ebenso grausam vor wie die Wasserbehandlung, gegen die Linda so heftig protestiert hatte. »Johan war der Vernünftigste, Yves der Reichste und William hatte den Größten, verstehst du, was ich meine?« »Aber so schlecht ist es euch doch nicht ergangen«, wandte Hannelore beschwichtigend ein. William Aerts hatte es immerhin geschafft, innerhalb von fünfzehn Jahren vierhunderttausend Euro beiseite zu legen. Als Geschäftsmann konnte man ihn wohl kaum als Versager bezeichnen. »Pff. Der Laden ist bis heute nicht abbezahlt. Daran ist Vandaele Schuld. Dieser Mistkerl lässt seine Beute niemals los. Für jeden Gefallen verlangt er einen Gegendienst. Ich habe ihm irgendwann mal den Film Der Pate auf Video geschickt. Den kennst du doch sicher?« Hannelore nickte. Linda kicherte. Auf diese Heldentat war sie noch heute stolz. »Und ich habe einen Brief dazugelegt, mit der Frage, ob Marlon Brando da seine Rolle spielt.« »Und?« »William hat mir eine Tracht Prügel versetzt, aber davon habe ich mir den Spaß nicht verderben lassen.« 259
Linda war jetzt nicht mehr zu bremsen.. »Vandaele hält seine Zöglinge fest an der Leine. Er hat Johan in die Partei eingeschleust, und ohne ihn wäre Provoost schon vor Jahren im Knast gelandet. Wenn jemand Dreck am Stecken hat, dann Vandaele.« »Wie kommst du darauf?«, fragte Hannelore skeptisch. Linda trank ihren Likör in großen Schlucken. Sie fing an zu stottern. »Du willst m-mir doch nicht etwa w-weismachen, dass dieser M-Mistkerl bei G-Gericht ein Unbekannter ist? Jeder w-weiß doch, w-was der alles a-auf dem Kerbholz hat.« Linda strich ein Zündholz an. Sie machte eine ungeschickte Bewegung. Und dann ging alles sehr schnell. Plötzlich stand ihr Morgenrock lichterloh in Flammen. Sie sprang auf wie von der Tarantel gestochen, während Hannelore vor Schreck stocksteif sitzen blieb. Linda schlug wie besessen um sich. Die Flammen leckten an ihren Oberschenkeln. Es ist merkwürdig, wie verzögert Zuschauer manchmal auf eine Notsituation reagieren. Hannelore musste all ihre Willenskraft aufbieten, um den lähmenden Zauber zu durchbrechen. Sie sprang auf, füllte einen schmutzigen Topf mit Wasser und löschte den Brand. Van In würde sich köstlich amüsieren, wenn sie ihm von dem Vorfall erzählte, und auch Hannelore ertappte sich dabei, dass sie sich einen Lachanfall verkneifen musste. Linda dagegen fing leise an zu jammern. »Tut’s weh?« Hannelore begutachtete den Schaden. Die untere Hälfte des Morgenmantels war vollständig verbrannt, und die verkohlten Nylonreste verbreiteten einen ekelerregenden Gestank. 260
»Es geht einigermaßen«, antwortete Linda verwirrt. Sie schürzte ungeniert ihr Baumwollnachthemd. Darunter trug sie einen winzigen Slip, der sich als weißes Dreieck zwischen den Fettwülsten abzeichnete. Am rechten Oberschenkel hatte sie eine böse Brandwunde, auf der sich Blasen bildeten. Der etwa zehn mal zwanzig Zentimeter große Hautstreifen sah aus wie ein schlampig angeklebtes Stück Tapete. Hannelore füllte den Topf erneut und goss Wasser über die Brandwunde. Der ganze Boden war nass. »Wo ist das Badezimmer?« Hannelore erinnerte sich aus einem Erste-Hilfe-Film, dass man Verbrennungen linderte, indem man sie unter fließendes Wasser hielt. Linda zeigte nach oben. In der Dusche lag ein Haufen stinkender Schmutzwäsche. Hannelore schob ihn mit dem Fuß beiseite, drängte Linda in die Kabine und ließ eiskaltes Wasser über die Wunde laufen. Linda schrie herzzerreißend, aber Hannelore ließ sich nicht erweichen. Sie hatte alle Hände voll zu tun, ihre Patientin zu bändigen. Zehn Minuten später war sie fast genauso durchweicht wie Linda, die unaufhörlich schrie, dass es jetzt genug sei. Sie hörte erst auf zu kreischen, als Hannelore den Hahn zudrehte. Das Badezimmer stand halb unter Wasser, und beide Frauen tropften wie nasse Hunde. »Und jetzt rufe ich einen Krankenwagen«, verkündete Hannelore energisch. »Nein!«, schrie Linda hysterisch. »Ich will nicht ins Krankenhaus!« Wie die meisten Alkoholiker hatte sie eine Heidenangst vor einem Aufenthalt im Krankenhaus, wo Alkohol und Zigaretten tabu waren. 261
Hannelore ließ sich jedoch nicht erweichen und rannte die Treppe hinunter. Beim Hereinkommen hatte sie unten ein Telefon gesehen. Linda hinkte hinter ihr her. »Bitte nicht!«, flehte sie. »Ruf erst bei meinem Hausarzt an. Wenn der sagt, dass ich ins Krankenhaus muss, dann gehe ich.« Hannelore drehte sich um. Eine Hand wäscht die andere, dachte sie. »Wenn ich mir sicher sein könnte, dass du mir wirklich alles erzählt hast, dann …« »Frag mich, was du willst«, rief Linda verzweifelt. Hannelore wog die Vor- und Nachteile ab. Die Brandwunde sah nicht so ernst aus. Mit einer Salbe und Schmerzmitteln wäre Linda sicher schon geholfen. Und wenn sie den Hausarzt anrief, konnte sie gewiss niemand der unterlassenen Hilfeleistung beschuldigen. Mdina ragte wie eine rosarote Sandburg am Horizont auf. In der aufgehenden Sonne glühte die alte Stadt in den Tönen einer impressionistischen Farbpalette. William Aerts achtete jedoch nicht auf das idyllische Schauspiel und steuerte den getunten Toyota die steile Straße in Richtung Valletta hinauf. Gestern war Brouwers unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Aber das konnte auch ein Ablenkungsmanöver gewesen sein. Aerts kannte den Ruf des Ex-Rijkswachters. Seine Anwesenheit auf der Insel bewies, mit welcher Entschlossenheit Vandaele ihn jagte. In der letzten Nacht hatte sich Aerts verschiedene Szenarien ausgemalt. Doch erst, nachdem er heute Morgen in Het laatste Nieuws den ausführlichen Bericht über den Mord an Yves Provoost gelesen hatte (die Zeitungen erreichten die Insel mit einigen Tagen Verspätung), hatte 262
er schweren Herzens den Entschluss gefasst, nach Belgien zurückzukehren. Er sah keine andere Möglichkeit, seine Haut zu retten, und jetzt, wo Provoost tot war, konnte er sich vielleicht hinter dem belgischen Recht verschanzen. Es ermöglichte einem Angeklagten in bestimmten Fällen, auf Schuldunfähigkeit zu plädieren, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen. Als schuldunfähig galten einerseits psychisch kranke Personen, was gewiefte Rechtsanwälte oft genug ausnutzten. Weniger bekannt hingegen war, dass auch moralischer Druck als Argument für Schuldunfähigkeit vorgebracht werden konnte. Gelang der Verteidigung der Beweis, dass der Mandant eine Straftat unter moralischem Zwang begangen hatte, musste das Gericht den Angeklagten im Prinzip freisprechen oder jedenfalls eine mildere Strafe verhängen. In Aerts Fall konnte das höchstens ein paar Jahre Knast bedeuten, was ihm allemal lieber war als der sichere Tod. Als er seinerzeit Dani verscharrte, stand er bei Vandaele mit einer hohen Summe in der Kreide. Wenn der Alte ihm keinen Zahlungsaufschub gewährt hätte, wäre er mit Sicherheit Pleite gegangen. Vandaele hatte ihm eine gütliche Einigung vorgeschlagen, unter der Bedingung, dass er die Leiche begrub. Mit aller Wahrscheinlichkeit würde ein Gericht seiner Argumentation folgen und eher geneigt sein, den Auftraggeber als den Laufburschen zu bestrafen. Und wenn er den Skandal öffentlich machte, konnte man ihn nicht mehr heimlich aus dem Weg räumen. Mit ein bisschen Glück wäre er noch vor dem nächsten Frühling wieder zurück auf Malta.
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13 Anstatt eines Mittagessens beschränkte sich Van In auf Kaffee und zwei Zigaretten. Die Quarkbrote, die Hannelore ihm eingepackt hatte, lagen unausgewickelt im Papierkorb. Der Kaffee war dünn, und die Zigaretten brachten ihn zum Husten. Er war niedergeschlagen. Er musste sich mit zwei Mordfällen herumschlagen, in denen es kaum Indizien gab, und zu allem Überfluss hatte sich auch noch Guido krankgemeldet. Widerwillig hatte Van In die beiden letzten Krankenhäuser angerufen und auch dort zu hören bekommen, dass keiner der Patienten, die sich in den 80er Jahren einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hatten, dem Profil Herberts entsprach. Van In wunderte sich nicht weiter darüber. Die meisten Männer, die sich in der damaligen Zeit zu einer derartigen Veränderung entschlossen hatten, waren älter als fünfundzwanzig gewesen. Doch Van In hatte sich nun mal vorgenommen, dass ihm bei diesen Ermittlungen niemand Nachlässigkeit vorwerfen konnte. Und dann war da noch Baert, der ihm den ganzen Vormittag mit ellenlangen Vorträgen über Straftatsanalyse auf die Nerven gegangen war. Am meisten beunruhigte ihn jedoch, dass De Kee ihm verboten hatte, bei der Vernehmung von Linda Aerts dabei zu sein, und dass Carine Neels unentschuldigt nicht zum Dienst erschienen war. Van In sah nur zwei Möglichkeiten. Entweder er betrank sich, oder er ging nachsehen, wo seine verdeckte Ermittle264
rin steckte. Die große Uhr in der Kantine fraß die Minuten häppchenweise. Erst halb eins. Noch weitere vier Stunden in der Gesellschaft von Baert zu verbringen, erschien Van In eine unerträgliche Zumutung. Und wenn er jetzt erst mal zwei Duvels tränke und anschließend bei Carine Neels vorbeischaute? Diese Aussicht erschien ihm ziemlich verlockend. Der einzige Störfaktor war Baert. Wenn er sich ohne triftigen Grund während der Dienstzeit aus dem Staub machte, würde er sich morgen vor De Kee rechtfertigen müssen, und dazu hatte er nicht die geringste Lust. Daher musste er einen kreativen Fluchtplan aushecken. Van In rief bei der Wache an. Wenn er sich nicht irrte, hatte Bruynoghe heute Dienst. »Hallo Robert, hier Pieter Van In. Könntest du mir einen großen Gefallen tun?« Agent Bruynoghe grinste, als Van In ihm erklärte, was er vorhatte. Es war ein offenes Geheimnis, dass Baert in der Dienststelle nur wenige Freunde hatte. »Geht in Ordnung, Pieter.« »Danke, Robert. Dafür hast du noch einen gut bei mir.« Bruynoghe wählte die Nummer von Zimmer 204. »Hallo, Hoofdinspecteur Baert? Könnte ich bitte Commissaris Van In sprechen?« »Der Commissaris ist gerade zu Tisch«, antwortete Baert förmlich. »Kann ich Ihnen weiterhelfen?« »Der Gouverneur hat gerade angerufen, er will den Commissaris dringend sprechen.« Baert stellte keine weiteren Fragen. Er rannte in die Kantine und sagte Van In Bescheid. Hannelore fuhr im Schritttempo durch die Steenstraat und parkte den Twingo auf dem Markt, genau vor den 265
Frittenbuden. Der Platz war neu angelegt und größtenteils für den Verkehr gesperrt worden. Die Durchfahrt Steenstraat-Wollestraat hatte man aufrechterhalten, aber Parken war strengstens verboten. Ein junger Streifenpolizist winkte Hannelore weiter, doch sie ignorierte ihn demonstrativ. An der Frittenbude studierte gerade ein französisches Ehepaar lautstark die Speisekarte. »Was heißt das denn bloß?«, fragte die Französin empört, als seien die Worte frieten, Mayonnaise und Hotdog vollkommen unverständlich. »Ich hätte gerne eine große Portion Fritten mit Gulasch.« Hannelore drängte sich einfach vor. »He, was soll das denn?«, meckerte die Frau. Ihr Mann wollte ebenfalls etwas sagen, doch nach einem Kennerblick auf Hannelore schluckte er seinen Protest hinunter. »So sag doch was, Gérard!«, keifte die verkniffene Französin und schaute ihren Mann vernichtend an. »So, so, Fräuleinchen, Sie haben wohl keine Augen im Kopf, was?« Ein aufgebrachter Polizist marschierte auf Hannelore zu. »Also, was möchten Sie?«, fragte der Frittenbudenbesitzer, ein glatzköpfiger Dreißiger mit Hakennase, der lieber keinen Ärger mit der Polizei haben wollte. »Eine große Portion Fritten mit …« Der Rest von Hannelores Bestellung ging im Dröhnen eines Presslufthammers unter. Es war halb eins, und ein Bauarbeitertrupp machte sich pünktlich ans Werk. »Ihren Ausweis, Mevrouw!«, fuhr der Polizist Hannelore an. »Sie wissen doch genau, dass Sie hier nicht parken dürfen!« 266
Hannelore warf den Kopf in den Nacken und erwiderte schnippisch: »Ich parke nicht, ich halte nur!« Die Französin schlug sich sofort auf die Seite des Ordnungshüters. Sie stieß ihren Mann an und nickte zufrieden. Der Streifenpolizist, ein Doppelgänger von Clint Eastwood, ausstaffiert mit Hüftholster und Trommelrevolver, war für einen Moment sprachlos. »Aha, Sie kennen sich aus«, sagte er ein wenig höflicher. »Ich möchte eine Portion Fritten mit Gulasch.« Hannelore wandte sich wieder dem Frittenverkäufer zu. Der arme Mann schaute sie verzweifelt an. »Und dazu noch ein paar saure Gurken.« Hannelore musterte den Polizisten von oben bis unten, lächelte triumphierend und sagte mit schwerer Zunge: »Ich bin nämlich schwanger und habe Hunger.« Drei Gläser Elixir auf nüchternen Magen forderten ihren Tribut. Hannelore verlor das Gleichgewicht und konnte sich gerade noch an Gérard festhalten, der sich ihr unmerklich genähert hatte. »Ich glaube, den Rest erklären Sie uns lieber auf der Wache, Mevrouw«, sagte der Polizist ein wenig freundlicher. »Sie haben wohl ganz schön einen gezwitschert.« »Ich, betrunken?« Hannelore suchte erneut Halt bei Gérard, zum großen Missfallen seiner Xanthippe. Der Polizist griff nach seinem Funkgerät und rief die Wache. »Gibt’s hier ein Problem, Delille?«, fragte plötzlich jemand neben ihm. Agent Delille hätte diese Stimme unter Tausenden erkannt und protestierte daher nicht, als Van In ihm das Funkgerät aus der Hand nahm. 267
»Hier Van In. Keine Sorge, Robert. Ich habe die Situation unter Kontrolle. Over and out.« »Commissaris, ich wusste nicht, dass …« »Schon gut, Delille. Sie haben sich völlig richtig verhalten. Ich kenne Mevrouw. Sie lebt mit einem Nichtsnutz zusammen, der ihr jeden Tag eine Menge Ärger macht.« Agent Delille nickte verständnisvoll, schließlich war seine Ehre gerettet. »Ich will Fritten!«, jammerte Hannelore. In ihrem Kopf drehte sich ein Karussell mit auf- und absteigenden Pferdchen. »Monsieur!«, flehte Gérard. Hannelore lehnte schwer auf seiner Schulter, und er konnte sie kaum noch aufrecht halten. Van In trat einen Schritt nach vorn und entlastete den Franzosen. Er stützte Hannelore und brachte sie zur nächsten Bank. »Holen Sie ihr bitte ein paar Fritten, Delille.« Hannelore sah aus wie eine Wachsfigur, die zu lange in der Sonne gestanden hat. Sie war kreidebleich. »Soll ich einen Arzt rufen?« Hannelore dachte an Linda Aerts. Ins Krankenhaus zu kommen war jetzt das Letzte, was sie wollte. »Ich muss zuerst etwas essen, Pieter. Ein paar Bissen, und ich bin wieder auf den Beinen.« Durch ihre halb geschlossenen Augenlider sah sie einen blauen Schatten, der ihr warme Häppchen hinhielt. Hannelore verschlang die Fritten, einen Berg Mayonnaise und den schwarzbraunen Gulasch. Nachdem sie ihren Wolfshunger gestillt hatte, bat Van In Delille, noch eine Dose Cola zu holen. Er zündete sich nervös eine Zigarette an. »Geht’s dir jetzt wieder besser?«, fragte er nach einer Weile. 268
Hannelore leckte sich einen Rest Mayonnaise von der Oberlippe. »Viel besser«, antwortete sie grinsend. Agent Delille mahnte eine Gruppe neugieriger Touristen zum Weitergehen. Hier gab es nichts zu sehen. Van In reichte Hannelore die Cola. Sie lächelte dankbar und trank die Dose in einem Zug leer. Der Zucker brachte sie wieder zu sich. »Das war das erste und das letzte Mal, dass ich in deine Fußstapfen getreten bin, Pieter Van In. Deine Arbeitsweise ist schlichtweg ruinös.« Hannelore erzählte ihm, was geschehen war. »Also ist mal wieder alles meine Schuld«, kommentierte Van In gelassen. »Du kannst froh sein, dass ich zufällig vorbeigekommen bin, sonst hätten sie dich in die Ausnüchterungszelle gesteckt.« »Ach, du, mein tapferer Ritter, hast deine edle Jungfrau gerettet!« Die Wirkung des Elixir d’Anvers war offenbar noch nicht verflogen. Van In schaute sich um. Neben ihnen hatten sich einige Japaner niedergelassen, die als Lockvögel für den Rest der Gruppe fungierten. Innerhalb von zehn Sekunden waren Van In und Hannelore von einem Rudel schnatternder Asiaten umringt. Gut, dass sie den Unsinn nicht verstanden, den Hannelore von sich gab. »Bist du immer noch betrunken?« »Ich, betrunken? Von drei Likörchen? So ein Quatsch. Mir war schlecht, Pieter, schlecht vor Hunger.« »Natürlich«, sagte Van In beschwichtigend. »Mir war schlecht«, beharrte sie dickköpfig. »Mea culpa. Wie auch immer, du kannst froh sein, dass ich in der Nähe war.« »Hast du dir so gedacht.« 269
Hannelore wühlte in ihrer Handtasche und zückte ihren Gerichtsausweis. »Soweit ich weiß, wurde noch nie eine stellvertretende Staatsanwältin wegen Falschparkens verhaftet.« »Emanzipation«, seufzte Van In. »Ihr seid um kein Haar besser als die Männer.« »Ach ja? Was hättest du denn getan?« »Nichts, Liebes. Alle Kollegen kennen mich persönlich. Ich brauche keinen Ausweis.« »Blöder Bulle«, kicherte sie. Van In streckte ihr die Zunge heraus. Diese Geste verstanden die Japaner. Sie lachten ihn verhalten aus. Hannelore amüsierte sich köstlich. »Da sieht man’s mal wieder, die Weisen aus dem Morgenland«, kicherte sie. Van In warf den Japanern einen wütenden Blick zu und streckte ihnen die Zunge heraus. »Erzähl mir lieber, was du durch die Sauferei an Informationen herausbekommen hast.« Der pensionierte Lehrer Wilfried Buffel wohnte in einem Haus aus der Vorkriegszeit an der Maria-van-Bourgondiëlaan. Eine niedrige Mauer mit einem ebenso niedrigen Tor grenzte symbolisch den gepflegten Vorgarten vom Bürgersteig ab. Hannelore parkte den Twingo am Straßenrand neben dem Kanal. Das Abwasserrohr ein paar Meter weiter rauschte wie ein Wasserfall in den Ardennen, was der Stille, in der die Häuserzeile schlummerte, etwas Idyllisches verlieh. »Ich frage mich, wie uns ein pensionierter Lehrer weiterhelfen soll«, bemerkte Van In skeptisch. Hannelore zuckte mit den Schultern. Männer hatten nun mal keine Ahnung von weiblicher Intuition. 270
»Lass uns erst mal nachsehen, ob der Mann überhaupt zu Hause ist«, schlug sie sachlich vor. Wilfried Buffel saß am Fenster und las ein Buch. Er sah Van In und Hannelore auf die Haustür zugehen. Durch die Bleiglasfenster konnten sie ihn jedoch nicht sehen, es sei denn, sie hätten ihre Nasen direkt an die Scheibe gedrückt. Zur Sicherheit schlich Buffel leise in den Flur. Er war misstrauisch geworden, seit ihn letztes Jahr ein Trickdiebpärchen um über tausend Euro betrogen hatte. Hannelore schellte. Obwohl der alte Lehrer sich auf das Klingeln vorbereitet hatte, erschrak er. »Er ist bestimmt nicht zu Hause«, hörte er den Mann sagen. »Nur Geduld, Pieter. Mijnheer Buffel ist zweiundsiebzig. Ich frage mich, wie schnell du reagierst, wenn du mal in sein Alter kommst.« Die Frau hatte eine angenehme Stimme. »Und du glaubst wirklich, dass dieser alte Mann sich noch an einen Schüler erinnern kann, den er vor dreißig Jahren unterrichtet hat?« Wilfried Buffel schnaufte empört. Was bildete der Kerl sich ein? Seine Beine wollten nicht mehr so recht, aber sein Gedächtnis war noch ausgezeichnet. Er klappte zum Schein mit der Innentür, wartete noch ein paar Sekunden und öffnete dann die Haustür. »Mijnheer Buffel?«, fragte die Frau mit humorvoll funkelnden Augen. »Ja, ganz recht, Mevrouw.« »Mein Name ist Hannelore Martens. Ich arbeite für die Staatsanwaltschaft. Das ist Commissaris Van In von der Brügger Polizei. Dürfen wir Sie einen Moment stören?« Buffel führte sie ins Wohnzimmer und setzte sich an seinen vertrauten Platz am Fenster. Man konnte ja nie 271
wissen. Auf der Fensterbank stand eine Tabakdose aus Porzellan. Wenn er die durchs Fenster warf, würde das Klirren die Nachbarn alarmieren. Hoffte er jedenfalls. »Es geht um einen früheren Schüler von Ihnen und um einen ehemaligen Kollegen, Lodewijk Vandaele.« Hannelore fiel gleich mit der Tür ins Haus. Buffel fuhr sich mit einer Hand durch sein dünnes, graues Haar. Warum hatte er bloß die Tür aufgemacht? Diese verdammte Berufsehre. »Lodewijk Vandaele«, wiederholte Hannelore geduldig. Van In pulte an seiner Nase, während er pessimistisch davon ausging, dass ihre Sitzung hier wohl einige Zeit dauern konnte. »Ach, das ist alles so lange her, Mevrouw.« »Kommen Sie, Mijnheer Buffel. Lehrer haben doch meist ein hervorragendes Gedächtnis. Meine ehemalige Lehrerin kann sich noch ganz genau daran erinnern, welches Kleid ich zu meiner ersten Kommunion trug.« Sie lachte so sympathisch, dass Buffel sich nicht länger sträubte. Er nahm seine Pfeife vom Beistelltisch und stopfte sie mit Tabak aus der Dose auf der Fensterbank. Van In stand auf und hielt ihm das brennende Feuerzeug hin. Jetzt hatte er zumindest einen Trost: Wenn der Alte rauchte, durfte er es sicher auch. »Lodewijk Vandaele hat fast zehn Jahre lang mit mir zusammengearbeitet. Ich habe die erste Klasse unterrichtet, er die vierte. Doch als sein Vater starb, gab Lodewijk seinen Beruf auf und übernahm den Familienbetrieb.« Buffel zog gemächlich an seiner Meerschaumpfeife. »Danach hat er es sehr weit gebracht.« »Wie war er so als Lehrer?«, erkundigte sich Hannelore. Buffel hatte die Frage erwartet. Er wusste schon, warum die beiden hier waren. 272
»Ich dachte, diese Dinge würden irgendwann verjähren, Mevrouw.« Sowohl Hannelore als auch Van In schauten den Lehrer verständnislos an. »Welche Dinge, Mijnheer Buffel?« Der alte Mann blies eine dicke Rauchwolke durchs Zimmer, wodurch er die Besucher nicht direkt anzuschauen brauchte. »Damals kam es noch öfter vor, dass eine Lehrkraft die Grenzen der erlaubten Zuneigung überschritt.« Van In hatte schon so manche Umschreibung für Kindesmissbrauch gehört, aber der Euphemismus, den Buffel gebrauchte, klang fast schon kinderfreundlich. »Wurde er deswegen verurteilt?«, fragte Hannelore kühl. Lehrer Buffel seufzte. Die Frau war zu jung, um wissen zu können, wie man früher mit solchen Skandalen umging. »Lodewijk unterrichtete an einer katholischen Schule, Mevrouw. Der Pastor beruhigte die Eltern, und die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein. So ging das damals.« Van In nickte. Als er ein kleiner Junge war, hatte jede Schule noch ihren eigenen Schenkelstreichler gehabt. »Können Sie sich denn noch an die Namen der Kinder erinnern, für die Vandaele eine übertriebene Zuneigung an den Tag legte?« Der alte Mann seufzte wieder. »Provoost, Brys und Aerts vielleicht?« Buffel legte seine Pfeife beiseite und zerriss dabei absichtlich die Rauchgardine. »Ich habe den Bericht in der Zeitung gelesen«, sagte er niedergeschlagen. 273
»Glauben Sie, dass Lodewijk Vandaele Provoost ermordet hat?«, fragte Hannelore. Die Frage brachte Buffel in Verwirrung. »Aber deswegen sind Sie doch hier?«, antwortete er mit einem verzweifelten Blick in den Augen. Van In drückte seine Zigarette aus. Der Alte konnte durchaus Recht haben. Er hatte in der Fachliteratur einiges über solche Fälle gelesen. Es hieß, das Band zwischen einem Pädophilen und seinem Opfer bliebe ein Leben lang bestehen. In Amerika waren Fälle bekannt, bei denen Pädophile über zwanzig Jahre nach dem Missbrauch frühere Sexobjekte ermordeten, meist aus einem ganz banalen Grund. Eine Voraussetzung dafür war jedoch, dass Täter und Opfer miteinander befreundet blieben. Obwohl in der Regel keine sexuellen Kontakte mehr bestanden, versuchte der Pädophile dennoch, seinen erwachsenen Freund gefühlsmäßig an sich zu binden. Das war auf zweierlei Weise von Vorteil für ihn: Wenn sein Opfer heiratete, konnte der Pädophile sich der Ehefrau überlegen fühlen, weil er sie als zweite Wahl betrachtete. Bekam das Paar Kinder, befand er sich zudem als Freund der Familie in der besten Ausgangsposition, um erneut sein Glück zu versuchen. »Hat Provoost Kinder?« Hannelore schaute Van In verständnislos an. »Einen Sohn und zwei Töchter«, antwortete Buffel. »Warum? Sie glauben doch nicht etwa, dass Vandaele Provoost ermordet hat, um sich an dessen Kinder heranzumachen?« Van In zündete sich eine neue Zigarette an. Im Grunde konnte er sich nicht so recht vorstellen, wie es Vandaele gelungen sein sollte, Provoost zu überwältigen und zu fesseln. Und dann war da noch die Folter. War Vandaele nicht nur ein Pädophiler, sondern auch noch ein Sadist? 274
»Ich befürchte, diese Spur führt uns nicht weiter, Hannelore.« »Kann ich Ihnen vielleicht eine Tasse Tee anbieten?«, fragte Buffel freundlich dazwischen. »Nein, vielen Dank«, lehnte Hannelore entschieden ab. Sie ließ Van In auch keine Zeit, ein alternatives Getränk vorzuschlagen, denn sie wollte den Dingen unbedingt auf den Grund gehen. Linda hatte ihr glaubhaft versichert, dass Buffel ihnen auf jeden Fall weiterhelfen könne. »Sind noch weitere Fälle von … übertriebener Zuneigung bekannt, Mijnheer Buffel?« Der Lehrer schüttelte den Kopf. Nach dem Aufruhr um den Fall Provoost hatte sich Vandaele ein anderes Jagdgebiet gesucht. Er bewarb sich um die Stelle eines Freizeitbetreuers bei der örtlichen Krankenkasse, was es ihm ermöglichte, sich in den Ferien an Jungs zwischen neun und zwölf Jahren heranzumachen. »Nein, jedenfalls nicht an unserer Schule, Mevrouw.« Hannelore ließ sich nicht entmutigen. »Dann müssen wir in eine andere Richtung denken.« »Wie meinen Sie das?« »Erinnern Sie sich eventuell an andere Vorfälle im Zusammenhang mit Provoost, Brys und Aerts?« »Sie waren keine einfachen Kinder, Mevrouw.« »In welcher Hinsicht?« Buffel zögerte. Wie so viele andere Kollegen war er ursprünglich davon überzeugt gewesen, Lehrer sei der schönste Beruf der Welt. Doch die Praxis hatte ihn rasch vom Gegenteil überzeugt. Kinder waren kleine Monster, die einander nicht das Schwarze unterm Nagel gönnten. »Ich habe über vierzig Jahre lang unterrichtet«, begann er vorsichtig. »Und in dieser ganzen Zeit macht 275
man einiges mit. Kinder benehmen sich manchmal wie die wilden Tiere, und es gab Momente, da …« »… hätten Sie nicht übel Lust gehabt, sie mit dem Kopf gegen die Wand zu knallen«, ergänzte Van In bereitwillig. »Hegten Sie solche Gefühle auch gegenüber Provoost, Brys und Aerts?« Buffel lief es kalt den Rücken hinunter, als er an den Vorfall zurückdachte. »Einmal sind sie wirklich zu weit gegangen«, sagte er bedrückt. »Es war im Sommer 1966. In den Ferien durften die Kinder zweimal die Woche nachmittags zu einem Spielnachmittag in die Schule kommen. Das war praktisch für die Eltern, und die Schule hatte einen großen Garten, eigentlich mehr eine Art Wildnis, wo die Jungen nach Herzenslust herumtoben konnten. An jenem bewussten Nachmittag hatte ich die Aufsicht. Wir wechselten uns unter den Kollegen ab. Jeder übernahm vier Nachmittage, unbezahlt, wohlgemerkt.« Die gute, alte Zeit, dachte Van In. Buffel griff wieder zu seiner Pfeife. Seine Hände zitterten, als er sie mit Tabak stopfte. Van In gab dem Alten Feuer. »Provoost, Brys und Aerts waren immer mit von der Partie«, erzählte Buffel. »Sie bildeten ein Triumvirat. Ich wusste, dass ich sie besonders aufmerksam im Auge behalten musste, denn die Drei waren bekannt für ihre rauen Spielchen. Aber an jenem Nachmittag schien alles ruhig zu verlaufen. Ich war ein bisschen müde, weil meine Frau und ich mittags ein paar Gläser getrunken hatten, zur Feier unseres fünfzehnten Hochzeitstages.« Buffel war sichtlich aufgewühlt. Seine Wangenmuskulatur war so angespannt, dass er die Pfeife fast waagrecht im Mund hielt. 276
»Bitte fahren Sie fort, Mijnheer Buffel«, sagte Hannelore mit einem ermunternden Lächeln. »Plötzlich wurde ich von einem Schüler wachgerüttelt, der neu an unserer Schule war.« Buffel zog erregt an seiner Pfeife. »Wie hieß er gleich wieder?« »Grübeln Sie nicht darüber nach, Mijnheer Buffel, gleich fällt es Ihnen ganz von selbst wieder ein.« Hannelore war weit nach vorn auf die Stuhlkante gerutscht. »Jedenfalls waren er und sein Bruder erst seit ein paar Wochen bei mir in der Klasse. ›Mijnheer Buffel, Mijnheer Buffel‹, höre ich den Kleinen noch rufen. ›Dirk …‹, ja, jetzt erinnere ich mich wieder, Dirk hieß er. ›Mijnheer Buffel, Dirk, sie wollen Dirk umbringen!‹ Ich brauchte nicht lange zu fragen, wen er mit sie meinte.« »Provoost, Brys und Aerts«, bemerkte Van In überflüssigerweise. Buffel nickte. Der alte Mann schien die Situation noch einmal zu durchleben. Seine wässrigen Augen blickten starr durch die Bleiglasfenster. Hannelore gab Van In mit einem Wink zu verstehen, dass er still sein sollte. Mit seinem Einwurf hatte er Buffel aus dem Konzept gebracht. »Dirk und Dani Desmedt«, sagte Buffel plötzlich mit gerunzelter Stirn. »Sie waren Zwillinge. Sie kamen aus Roeselare, wenn ich mich recht erinnere. Ihr Vater hatte Arbeit in Zeebrügge gefunden, deshalb waren sie nach Brügge gezogen.« »Sie waren dabei stehen geblieben, dass die drei jemanden ermorden wollten, Mijnheer Buffel.« »Richtig, Mevrouw. Der Vorfall liegt mir bis heute schwer im Magen.« »War es so schlimm?« Buffel holte tief Luft. 277
»Es war schrecklich, Mevrouw. Sie hatten Dirk nackt ausgezogen und gefesselt. Aus seiner Unterhose hatten sie einen Knebel gemacht und sie ihm in den Mund gestopft.« »Wer hat das getan?« »Provoost, Brys und Aerts«, antwortete Buffel betont. Danach schwieg er. Van In grinste Hannelore viel sagend an. Diesmal war nicht er daran schuld, dass der Lehrer den Faden verloren hatte. »Bitte erzählen Sie weiter, Mijnheer Buffel.« Der Alte schluckte. Er legte seine rauchende Pfeife in den Aschenbecher. »Provoost hatte Dirk eine Wäscheklammer auf die Nase gesteckt. Wenn der Junge kurz davor war, zu ersticken, nahm er sie weg. Dann begann die Folter aufs Neue, bis Dirk … mein Gott … ich erlebe diesen Albtraum noch heute immer wieder. Wenn ich an jenem Nachmittag nüchtern gewesen wäre …« Buffel liefen die Tränen über die Wangen. Hannelore holte ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche. Sie stand auf und tröstete den armen Mann, der sich beruhigen ließ wie ein Kind. Van In zündete sich erneut eine Zigarette an und wandte den Blick ab. Der Anblick genierte ihn. Wie war es nur möglich, dass es für einen derart komplizierten Fall eine so simple Lösung gab? Der Mörder Provoosts hatte sich verraten, indem er das Ritual wiederholte, das er selbst als Kind erleiden musste. Die Aussage Buffels war über jeden Zweifel erhaben, schließlich hatten die Zeitungen kein Wort über die Todesursache gedruckt. Sie brauchten nur noch Dirk oder Dani Desmedt aufzuspüren, und sie hatten den Mörder. 278
Hannelore bestand darauf, bei Buffel zu bleiben, bis dieser sich wieder ein wenig gefangen hatte. Sie setzte Tee auf und war erst bereit zu gehen, als der alte Lehrer ihr mindestens dreimal versichert hatte, dass es ihm gut ginge. »Du könntest mir ruhig gratulieren«, sagte Hannelore schnippisch, als sie vor der Ampel am Ezelpoort standen. »Jedenfalls kannst du jetzt nicht mehr behaupten, die Staatsanwaltschaft könne nicht auch einen Fall lösen.« »Ja, dank meiner hervorragenden Ermittlungsarbeit«, erwiderte Van In. »Und wenn ich Linda Aerts vierundzwanzig Stunden länger hätte festhalten können, wäre ich auch dahinter gekommen.« »Mit Hilfe von ein paar Eimern Wasser, oder?« »Was sind schon ein paar Eimer«, erwiderte Van In grinsend. »Du hast die Frau unter der Dusche verhört.« Die grüne Ampel bewahrte Van In vor einem schmerzhaften Rippenstoß. Hannelore gab Gas wie eine Rennfahrerin und raste mit quietschenden Reifen durch die Ezelstraat. »Und jetzt noch Herbert«, sagte sie, als sie den Twingo in der Moerstraat parkte, mitten im Halteverbot. »Darum kümmere ich mich schon, junge Dame. Eine Feder an deinem Hut reicht ja wohl.« Hannelore ignorierte seine Bemerkung. Sie fand, dass sie ausgezeichnete Arbeit geleistet hatte. »Ich sterbe vor Hunger, Pieter.« »Schon wieder?« »Schwangere Frauen müssen eben für zwei essen.« »Aber diese Ansicht ist doch seit zwanzig Jahren überholt. Im Übrigen bist du dran mit Kochen.« »Hast du eingekauft?« 279
Van In schlug die Beifahrertür zu und warf einen Blick auf das Verbotszeichen, ein stummer Zeuge der Übertretung. Er zuckte mit den Schultern. »Im Vorratsschrank liegt noch ein bisschen Schmierkäse. Oder hast du Lust auf eine Portion Fritten?« Hannelore rümpfte die Nase. Das tat sie selten, aber jedes Mal war Van In ganz entzückt. Sie sah dann aus wie ein Schulmädchen, das zwei Stunden nachsitzen muss, weil es sich im Unterricht die Fingernägel lackiert hat. »Im Wittenkop steht Schwertfisch auf der Karte«, sagte sie mit einem fragenden Unterton. »Niemand hindert dich daran, mich einzuladen. Nimm du den Schwertfisch, ich begnüge mich mit einem Steak Dyonnaise.« »In Ordnung, aber du zahlst die Getränke.« »Kein Problem«, sagte Van In munter. Er legte ihr den Arm um die Schultern, und sie spazierten eng aneinandergeschmiegt durch die Sint Jacobstraat, wie ein verliebtes Paar, das zum ersten Mal nach Brügge kommt.
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14 Das Steak Dyonnaise gestern Abend war Van In ausgezeichnet bekommen. Der Alkohol dagegen, zwei Flaschen Weißwein und drei Duvel, forderte jetzt seinen Tribut. Das Summen des Weckers aktivierte einen Bauarbeitertrupp, der mit Vorschlaghämmern obstinat seinen Schädel bearbeitete. Hannelore schubste ihn aus dem Bett und drehte sich auf die andere Seite. In einer romantischen Anwandlung hatte Van In ihr letzte Nacht Frühstück ans Bett versprochen, und das hatte sie nicht vergessen. Van In stolperte die Treppe hinunter wie ein lahmer Hund. In der Küche warf er zwei Brausetabletten in ein Glas Wasser und steckte ein paar Schnitten Brot in den Toaster. Wer als Student fünf Jahre lang von der Hand in den Mund gelebt hatte, für den war warmer Toast mit Butter und Schmierkäse eine nicht zu verachtende Mahlzeit. Van In trank seine Medizin vor dem Spiegel im Wohnzimmer. Er sah lächerlich aus in seiner Schlafanzugjacke. Um seine Hüften sprossen die Pfunde wieder wie Pilze nach einem warmen Regen. Sogar mit Restalkohol im Blut und einem Brummschädel, der darum flehte, abgehackt zu werden, machte ihm das zu schaffen. Der Toaster kam ebenso wie Van In nur langsam in Gang. Es würde noch eine Ewigkeit dauern, bis die Schnitten heraussprangen. Mehr aus Langeweile denn aus Interesse hörte Van In in der Zwischenzeit den An281
rufbeantworter ab. Das Kontrolllämpchen leuchtete, also hatte gestern wohl jemand versucht, sie zu erreichen. »Hallo, Commissaris Van In. Hier spricht Mevrouw Neels. Carine ist spurlos verschwunden, und ich mache mir große Sorgen. Bitte rufen Sie mich zurück, unter der Nummer 337173.« Klick. Es dauerte gut fünf Sekunden, ehe Van In die ganze Tragweite dieser Nachricht dämmerte. In der Küche klemmte der Toaster, und der Gestank von verbranntem Brot zog durch das Haus. Van In spulte das Band zurück und hörte sich den verzweifelten Anruf noch einmal an. Dann lief er zur Treppe und rief laut um Hilfe. Hannelore sprang sofort aus dem Bett, allerdings nicht wegen Van Ins Geschrei, sondern weil sie dachte, das Haus würde lichterloh brennen. »Komm schnell!«, rief Van In. Hannelore pulte die schwarz verkohlten Toasts aus dem Apparat, während Van In ihr die Aufnahme noch einmal vorspielte. »Zieh dir eine Hose über«, sagte sie ernst. »Ich fürchte, wir stecken in Schwierigkeiten.« Fünf Minuten später fuhren Hannelore und Van In mit dem Twingo durch das ausgestorbene Brügge, auf dem Weg in die Daverlostraat. »Dabei hatte ich ihr ausdrücklich verboten, irgendetwas zu unternehmen«, sagte Van In bedrückt. »Bei solchen Operationen improvisiert man nicht, Pieter Van In. Ich hoffe für dich, dass dem Mädchen nichts zugestoßen ist.« »Wenn sie meine Anweisungen befolgt hat, kann ihr gar nichts geschehen sein«, beharrte Van In stur. »Viel282
leicht ist sie einfach nur eine Nacht mit ihrem Freund um die Häuser gezogen.« Hannelore warf ihm einen vernichtenden Blick zu und grollte: »Du verstehst so viel von Frauen wie ein Inder von Hamburgern.« An der Gentpoortbrücke fuhr sie eine scharfe Rechtskurve. »Hausnummer 117«, sagte Van In. William Aerts mischte sich unter die wartende Menschenmenge in der Flughafenhalle. Die Chance, in einem solchen Gedränge ein bekanntes Gesicht zu entdecken, war äußerst gering, und daher erschrak er nicht wenig, als er am Schalter der Air Malta Brouwers erkannte, der sich angeregt mit einer vollschlanken Angestellten unterhielt. Was war nur bei Amand schief gelaufen, dass der alte Fuchs Lunte gerochen hatte? Aerts blieb äußerlich ruhig, während er fieberhaft nach einem Ausweg suchte. Er kaufte eine Zeitung und setzte sich neben zwei Rucksacktouristen. Aus dieser Position heraus behielt er Brouwers genauestens im Auge. Die junge Frau am Schalter gab Brouwers’ Angaben in den Computer ein. Aerts sah, wie sie nickte. Wahrscheinlich erschien genau in diesem Moment sein Name auf dem Bildschirm. Als die Frau Brouwers fünf Minuten später ein Ticket aushändigte, wusste Aerts, dass seine Vermutung richtig gewesen war. Sie würden gleich beide in demselben Flugzeug sitzen. Doch seinen Flug umzubuchen erschien ihm sinnlos. Brouwers würde nicht lockerlassen, bis er seine Beute am Haken hatte. Wenn er einen anderen Fluchtweg nahm, war die Gefahr umso größer, dass Brouwers ihn abdrängte und ermordete. In einem Flugzeug war er relativ sicher, und in Zaventem würde er sich 283
unverzüglich bei der Flughafenpolizei melden. Damit würde Brouwers nicht rechnen. Aerts schaute auf eine der großen Uhren in der Halle. Noch eine halbe Stunde bis zum Boarding, genügend Zeit, um sich einen kleinen Scherz zu erlauben. Aerts stand auf und ging seelenruhig zur nächsten Telefonzelle. Bei der internationalen Auskunft erfuhr er die Nummer der Rijkswacht in Zaventem, und nur zehn Sekunden später hatte er den ersten Wachtmeester Dupain am Telefon. Aerts erklärte ihm, er sei auf dem Flughafen in Luqa von einem Landsmann angesprochen und gefragt worden, ob er gegen Bezahlung ein Päckchen nach Belgien für ihn mitnehmen könne. Angeblich müsse der Mann wegen dringender geschäftlicher Angelegenheiten in Malta bleiben. Er habe sich natürlich nicht darauf eingelassen, aber es sei ihm verdächtig vorgekommen, dass dieser Mann sich kurz darauf doch ein Ticket kaufte. Aerts gab Dupain die Flugnummer und eine kurze Beschreibung von Brouwers durch. Als er auflegte, grinste er vor Genugtuung über das ganze Gesicht. Liliane Neels, Carines Mutter, saß mit rot verweinten Augen im Wohnzimmer. In dürren Worten erzählte sie, was geschehen war. »Carine sagte gestern, sie habe noch etwas Dienstliches zu erledigen und es könne spät werden. Als ich sie fragte, wo sie hinginge, legte sie mir ihren Zeigefinger auf die Lippen und erklärte, sie arbeite jetzt unter Koffer.« Liliane Neels fing erneut an zu weinen. »Sie wollte mir nicht einmal erklären, was unter Koffer bedeutet.« Van In schaute in eine andere Richtung. 284
»Undercover bedeutet, dass sie mit einem Spezialauftrag betraut ist«, hörte er Hannelore ganz ernsthaft sagen. »Vielleicht ist Carine nur durch irgendetwas aufgehalten worden«, fügte sie hinzu. »Ihre Tochter ist eine selbstbewusste junge Frau. Die weiß sich schon durchzusetzen.« »Stimmt.« Liliane lächelte unter Tränen. »Das hat sie von ihrem verstorbenen Vater.« Voller Gewissensbisse verfluchte sich Van In für seine Ermittlungsmethoden. Es sah ganz danach aus, als habe er eine junge Frau ins Verderben gestürzt. Inzwischen tat es ihm sogar Leid, dass er Linda Aerts derart getriezt hatte. Die Frau hatte es nicht leicht gehabt im Leben, und er hatte noch eins obendrauf gesetzt. »Bitte machen Sie sich keine Sorgen, Mevrouw Neels. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, dass wir alles tun werden, um Carine ausfindig zu machen.« »Vielen Dank, Mijnheer«, sagte Liliane Neels. »Ich hoffe, dass Sie sie bald finden. Carine ist alles, was ich noch habe.« Hannelore musste einen Kloß im Hals hinunterschlucken. Eine Kolonne von vier Kleinbussen und drei Streifenwagen fuhr relativ gemächlich den Gistelsesteenweg entlang. Kein Blaulicht, keine Sirenen, hatte Van In befohlen. Der Twingo bildete das Schlusslicht. In weniger als einer Stunde war es Hannelore gelungen, den Staatsanwalt und den Untersuchungsrichter zu einem Durchsuchungsbeschluss für De Zorghe zu überreden. Passanten hielten verwundert inne, als die Karawane der Polizeifahrzeuge vorüberfuhr. Ohne Blaulicht und Sirenen wirkte das Ganze irgendwie surreal. 285
Carine erwachte langsam aus ihrer Betäubung. Ihr Mund war knochentrocken. Sie versuchte aufzustehen. Als ihr das nicht gelang, beugte sie sich nach vorn. Ihre Arme waren mit einer klirrenden Kette gefesselt. Panik ist ein kopfloses Monster, das einen urplötzlich überfällt. Carine zerrte an ihren Fesseln und versuchte verzweifelt, sich loszureißen. Je weiter die Betäubung nachließ, desto mehr Erinnerungen an ihre gestrigen Erlebnisse kehrten zurück. Nach den Probeaufnahmen war sie nach Hause gefahren. Ilse hatte ihr die Abzüge vorher gezeigt, und sie waren auch ganz gut geworden. Ilse erzählte, der Verein habe Beziehungen zu diversen Zeitschriften, die ihre Models gut bezahlten. Schwarz natürlich, hatte sie kichernd zugegeben, aber was machte das schon? Carine stecke in Schwierigkeiten, und mit dem Geld, das sie heute Abend verdienen würde, könne sie ihre Schulden abbezahlen oder sich vielleicht auch einmal etwas Schönes gönnen. Dabei zwinkerte Ilse ihr zu. »Der Verein möchte Menschen in Not helfen«, sagte sie, »und ein hübsches Mädchen wie du braucht sein Geld doch nicht als Putzfrau zu verdienen. Wir, der Verein, sind der Überzeugung, dass der einfachste Weg zum Ziel auch der beste ist.« Carine hatte zunächst vorgehabt, Van In Bericht zu erstatten und ihm zu erklären, dass in De Zorghe alles mit rechten Dingen zuging. Sie war fest davon überzeugt, dass es sich um eine integere Einrichtung handelte. Doch sie befürchtete, dass Van In böse sein würde, weil sie seinen Befehl missachtet hatte. Also war sie abends doch wieder hinaus nach De Zorghe geradelt. Das Geld konnte sie im Übrigen gut gebrauchen. Inzwischen hatte Carine ihre Entscheidung schon tausendmal bereut. 286
Der Fotograf, der nachmittags diskret im Hintergrund geblieben war, hatte ihr abends Handschellen angelegt und ihr die Augen verbunden. Dann waren die anderen gekommen. Carine hatte geschrien, als sie das erste Mal so brutal vergewaltigt wurde, dass etwas in ihr zerriss. Danach ging es leichter. Nach einer Weile fühlte sie gar nichts mehr. Es gab nur noch das Keuchen, das Stoßen und ein sumpfiges Saugen, wie von schweren Schritten auf einer Matschwiese. Die Männer nahmen sie schweigend. Nach dem vierten hörte sie auf zu zählen. Ihr Schambein glühte von den harten Stößen. Es dauerte immer länger, bis sie zum Orgasmus kamen. Dann ließen sie plötzlich von ihr ab. Sie hörte eine Tür zuschlagen. Gelächter. Das Stimmengewirr schwoll an, bis es wie das Summen eines wilden Hornissenschwarms klang. Ihr war am ganzen Körper eiskalt. Es schien, als habe ihr jemand einen Eisblock zwischen die Beine gerammt. Die Kälte tropfte ihr die Schenkel hinunter. Sie zitterte. Nach einer halben Stunde, die Carine wie eine Ewigkeit erschien, wurde die Tür wieder geöffnet. Als sie den Geruch nach WC-Ente wieder erkannte, fing sie an zu weinen. Der Mann nahm ihr die Handschellen ab und zwang sie, sich auf alle viere zu stellen. Der Albtraum begann von vorn; wieder wechselten sich die Vergewaltiger einer nach dem anderen ab. Carine bereute es bitter, den Rat von Commissaris Van In missachtet zu haben. Außerdem war ihre Deckung aufgeflogen, als der stinkende Mann ihre Polizeimarke entdeckt hatte. Ilse Vanquathem zuckte nicht mit der Wimper, als Van In schellte. »Tag, Doktor Vansande«, sagte sie sarkastisch. »Kommen Sie doch herein.« 287
Die Haussuchung dauerte bis zum frühen Abend. Achtzehn Polizeibeamte durchkämmten De Zorghe vom Keller bis zum Dach. Ein Computerspezialist machte sich an die Überprüfung der Vereinsbuchhaltung. Ilse Vanquathem betrachtete das Spektakel aus einer gewissen Distanz heraus. Als Van In sie befragen wollte, verweigerte sie die Aussage. Auf die Frage, ob sie Carine Neels kenne, antwortete sie mit Nein. Die Polizeifahrzeuge verließen das Gelände ebenso unauffällig, wie sie gekommen waren. Alle Beteiligten waren fix und fertig. »Wir können von Glück sagen, dass wir ohne Sirene und Blaulicht unterwegs waren«, sagte Hannelore verbittert. »Wenn das eine Meldung in der Presse gibt, machen wir uns für alle Zeiten hoffnungslos lächerlich.« Van In öffnete sein Reservepäckchen Zigaretten. Sein Hals war rau vom Rauchen. »Sie müssen gewarnt worden sein!«, knurrte er wütend. »Diese Hexe wusste, dass wir kamen.« »Vielleicht bringt die Analyse der Daten etwas.« Hannelore versuchte, optimistisch zu klingen. Sie konnte Van In jetzt nicht auch noch vorwerfen, dass es offenbar ein Fehler gewesen war, Muys auf den Leib zu rücken – ein Fehler, für den sie nun die Quittung erhielten. Van In reagierte nicht. Er wusste, was er falsch gemacht hatte. »Ich finde, wir sollten Mevrouw Neels sagen, was los ist«, meinte Hannelore. »Am besten, sie erfährt es von uns.« »Kannst du es ihr bitte beibringen?«, bat Van In. Hannelore trat auf das Gaspedal und überholte die Polizeikolonne. »Wenn du mich so nett fragst«, antwortete sie gelassen.
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Der Flughafenpolizei von Zaventem ging an jenem Abend ein dicker Fisch ins Netz. Die Rijkswachter erwischten einen mutmaßlichen Drogenhändler und einen Mann, der polizeilich gesucht wurde. Der Zufall wollte es, dass beide Männer in demselben Flugzeug saßen. Den potenziellen Dealer namens Jos Brouwers mussten sie nach anderthalb Stunden aus Mangel an Beweisen wieder laufen lassen. William Aerts dagegen wurde so lange, bis der Staatsanwalt über sein Schicksal entschieden hatte, in Gewahrsam genommen. Während Hannelore versuchte, Mevrouw Neels zu trösten, rief Van In im Präsidium an. Das Verschwinden Carines hatte den Fall Herbert vorerst in den Hintergrund gedrängt. Van In hatte fast vergessen, dass er Baert heute Morgen damit beauftragt hatte, die Brüder Desmedt ausfindig zu machen. »Hallo, Baert.« »Hallo, Commissaris.« Baert kritzelte geometrische Figuren auf die Rückseite einer alten Dienstanweisung. »Ich befürchte, ich muss Sie enttäuschen, Commissaris. Auf dem Standesamt sind keine Zwillingsbrüder namens Desmedt bekannt.« »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Baert. Ich bin nicht in der Stimmung für dumme Witze. Mijnheer Buffel war sich ganz sicher. Die Zwillinge sind in Brügge zur Schule gegangen. Sie sind zusammen mit ihren Eltern in den sechziger Jahren hierher gezogen. Sie müssen hier irgendwo gewohnt haben!« Baert hielt mit dem Kritzeln inne; sein Kuli schwebte über dem Papier. »Ich habe auch sämtliche angrenzenden Gemeinden kontaktiert«, erwiderte er im Brustton der Überzeugung. 289
»Keine der Familien namens Desmedt, Desmed oder Desmet hat Zwillingssöhne, die zu Lehrer Buffel in die Klasse gegangen sind.« Lodewijk Vandaele drückte den roten Knopf seiner Fernbedienung. Die Stimme des Nachrichtensprechers verstummte abrupt, und ein sternförmiger Blitz auf dem Bildschirm schrumpfte zu einem winzigen Punkt zusammen. Es wurde still im Wohnzimmer. Vandaele hing tief in seinem Sessel, die müden Beine auf einem roten, marokkanischen Lederpuff. Jedes Geräusch, das das Rauschen der Bäume übertönte, ließ ihn zusammenschrecken. Etwa alle fünfzehn Sekunden wanderte sein Blick im ganzen Zimmer herum. Er hatte versucht, seine innere Unruhe mit einer halben Flasche VSOP zu bekämpfen, doch es hatte nichts genützt. Vandaele zündete sich eine Davidoff mit einem ordinären Wegwerffeuerzeug an. Er spürte, wie seine Kräfte schwanden. Tief in seiner Brust ächzten zwei verrottete Lungenflügel wie morsche Blasebälge. »Warum nur?«, fragte er sich halblaut. Der sterbende Geschäftsmann dachte an Provoost. Sein Zögling war tot, aber das war nicht mehr zu ändern. Brys würde von der Öffentlichkeit gelyncht werden, wenn das Geschwür bald aufplatzte. Aerts hatte er höchstpersönlich zum Tode verurteilt. Vandaele tröstete sich mit dem Bild ihrer jungen Körper, eine Erinnerung, die ihn schon seit über dreißig Jahren in schwierigen Momenten aufbaute. Als plötzlich das Telefon klingelte, blieb ihm beinahe das Herz stehen. Der Schmerz erfüllte ihn vollkommen. Friedlich zu sterben war ein Vorrecht, das wohl den Gerechten vorbehalten war. Ein guter Tod würde ihm nicht vergönnt sein, wie sehr er sich auch danach sehnte. 290
Vandaele stand mühsam aus dem Sessel auf. Die Davidoff verqualmte ungeraucht in einem übervollen Aschenbecher. Der alte Mann schwankte und stieß mit dem Knie gegen den großen weißen Flügel, der unberührt und jungfräulich mitten im Wohnzimmer stand. Das wuchtige Musikinstrument war Teil jener Fassade, hinter der sich Vandaele jahrelang verschanzt hatte. Doch für Musik war jetzt keine Zeit mehr. Dafür war es viel zu spät. Mit Kunst und Kultur war kein Geld zu verdienen, das hatte ihm sein Vater stets vorgehalten. Er hatte verlangt, dass sein Sohn einst sein Nachfolger als Chef des Familienunternehmens würde, doch Lodewijk Vandaele war jung und idealistisch gewesen. Er hatte sich zunächst dem Willen seines Vaters widersetzt und war Lehrer geworden. Er wollte ausbrechen, die Kreidelinien seines zukünftigen Lebensweges verwischen, den andere ihm vorgezeichnet hatten. Geld war ein siebenköpfiger Drache, der mit aller Macht bekämpft werden musste. Lodewijk sah sich als jungen Parsival. Er wollte sich der Erziehung der Jugend weihen, ihr klarmachen, dass es mehr gab im Leben als Gewinne und gut bezahlte Arbeit. Die Kinder mussten sich entfalten können, sie brauchten einen kulturellen Hintergrund und einen liebevollen Lehrer. Aber man hatte ihn nie verstanden. Kinder durfte man nicht anfassen, nicht liebkosen. Das schade ihnen, hieß es. Dennoch hatte keiner seiner Schüler ein Trauma zurückbehalten. Johan Brys hatte es sogar bis zum Minister gebracht. Das Unverständnis hatte ihn, Vandaele, zu der Karikatur gemacht, die er heute war. Sein früherer Idealismus hatte sich in ein blutrünstiges Raubtier verwandelt, das seine Seele aufgefressen hatte. Das Telefon klingelte unablässig. Anstatt sein Knie zu massieren, streichelte Vandaele den Deckel seines Flügels. Das Instrument verkörperte alles, wovon er als Kind 291
geträumt hatte. Deshalb hatte er den Flügel erst gekauft, als sein Vater schon einen Monat lang unter der Erde lag. Vandaele hatte befürchtet, sein Vater würde auch dagegen sein Veto einlegen und die erste Note würde ersterben wie der sternförmige Blitz auf dem schwarzen Bildschirm. Niemand hatte das schneeweiße Instrument je berührt, und das würde auch so bleiben. »Hallo, hier Lodewijk Vandaele.« »Jos Brouwers.« Vandaele holte erleichtert Luft. »Ich gehe davon aus, dass der Auftrag erledigt ist«, sagte er mit zittriger Stimme. Einen Augenblick lang blieb es still am anderen Ende der Leitung. »Nun?«, drängte Vandaele. Zum ersten Mal musste Brouwers zugeben, dass er versagt hatte. Er versuchte, die richtigen Worte zu finden. »Aerts ist wirklich ein außergewöhnlich gerissener Kerl«, begann er. »Ich hatte Recht, er versteckte sich tatsächlich auf Malta …« »Du hast ihn also entwischen lassen.« »Jemand muss ihm einen Tipp gegeben haben«, verteidigte sich Brouwers. Vandaele war weniger böse, als er vorgab. William war immer besonders willig gewesen, was ihm viele Stunden unvergesslichen Genusses verschafft hatte. Im Grunde war Vandaele ein klein wenig stolz auf seinen Liebling und auf die Tatsache, dass er Brouwers ein Schnippchen geschlagen hatte. »Schon gut, Jos, mach dir keine Sorgen. Vielleicht habe ich ohnehin vorschnell geurteilt. Ich bin mir sicher, dass mich William niemals verraten würde.« 292
Vandaele verschluckte sich an seinem eigenen Speichel und fing an zu husten. Brouwers hielt den Hörer von seinem Ohr weg. Das Keuchen des Alten klang wie ein Todesröcheln. »Da wäre ich mir aber nicht so sicher. William Aerts hat sich freiwillig der Rijkswacht gestellt. Es würde mich nicht wundern, wenn …« »Dein Geld liegt bereit, Jos. Ich will, dass du die Operation abbrichst.« Brouwers zog rasch Bilanz. Wenn der Alte bezahlte, konnte ihm der Rest egal sein. »Ich bin in einer Stunde da«, versprach er. In Begleitung von Hannelore holte Buffel den Schlüssel des Schularchivs beim Pastor ab, der keine Schwierigkeiten machte, als der alte Lehrer ihm erklärte, wofür er ihn benötigte. Ohnehin hatte der Geistliche mehr Augen für Hannelores reizende Erscheinung. »Sie könnten durchaus Recht haben, Mevrouw«, sagte Buffel, als sie durch die Ezelstraat gingen. »Damals gingen wir eben automatisch davon aus, dass die Kinder den Namen des Vaters trugen.« Hannelore stützte den alten Lehrer. Van In folgte dem seltsamen Paar in einem Meter Abstand. Die Grundschule, in der Yves Provoost, Johan Brys und William Aerts lesen und schreiben gelernt hatten, war in einem desolaten Zustand. Obwohl Wilfried Buffel schon seit zehn Jahren nicht mehr da gewesen war, lenkte er seine Schritte schnurstracks zu dem kleinen Raum, in dem die Akten vieler Schülergenerationen dem Zahn der Zeit Widerstand leisteten. Buffel ging zielstrebig ans Werk, als habe er das Archiv bis gestern noch geführt. Auf Anweisung des Lehrers schleppte Hannelore vergilbte Aktenstapel hin und her. 293
»Nimm du mal die Taschenlampe«, sagte Van In. Es hatte volle zwei Minuten gedauert, bis ihm bewusst wurde, dass sie ja schwanger war. Buffel zwinkerte Hannelore zu. Er glaubte, Van In sei eifersüchtig, und fand das ganz normal. Als Buffel »1964!« rief, hatte Van In das Gefühl, mindestens fünf Tonnen Papier gestemmt zu haben. Der Lehrer holte ein Taschenmesser hervor und schnitt die Kordel durch, mit der das Bündel verschnürt war. »Desmedt, Dirk und Dani«, sagte er nach einer Weile. »Vater: Desmedt, Jozef, Mutter: Baert, Lutgart. Familienstand: geschieden.« Hannelore zitterte, als sie den Schlüssel ins Haustürschloss steckte. Ihre dünne Jacke bot kaum Schutz gegen die feuchte Herbstkühle. Die trügerischen Nachmittagstemperaturen erhielten die Illusion des Spätsommers aufrecht, doch abends wurde es bereits empfindlich kalt. Obendrein war ihr der Aufenthalt in dem staubigen Archiv nicht gut bekommen. »Soll ich etwas Wein warm machen?«, schlug Van In fürsorglich vor. Hannelore schlüpfte rasch ins Haus und kuschelte sich aufs Sofa. Van In interpretierte ihr Schweigen als Zustimmung, holte ein Plaid und deckte sie fest zu. »Dirk und Dani Baert«, sagte sie zähneklappernd. »Jetzt wird mir klar, warum wir mit den Ermittlungen einfach nicht weiterkamen. Baert wusste, dass wir seinen Bruder suchten.« Van In stellte zwei Gläser kochend heißen Wein auf den Sofatisch. »Es sieht ganz danach aus, dass es sich bei Herbert um Dani handelt und dass unser Hoofdinspecteur Yves Pro294
voost ermordet hat«, sagte er bedrückt. »Wenn das herauskommt, steht ganz Brügge Kopf.« »Nicht, dass es dann auch noch heißt, du hättest ihn gedeckt«, unkte Hannelore. Van In pustete auf den Wein, um ihn etwas abzukühlen, und reichte ihr ein Glas. »Wie kommst du denn darauf?« Hannelore nippte an dem warmen Getränk und antwortete mit gespielt ausdruckslosem Gesicht: »Es ist doch allgemein bekannt, dass ihr zusammenarbeitet.« Telefone haben eine unangenehme Eigenschaft. Sie klingeln immer im ungünstigsten Augenblick. Van In fluchte, stellte sein Glas ab und rannte in die Küche. »Hallo?« »Entschuldigen Sie, dass ich so spät noch störe, Commissaris, aber …« »Was ist los, Tant?« Van In hatte die Stimme des wachhabenden Offiziers sofort erkannt. Herman Tant wirkte ungewöhnlich nervös. »Es geht um einen gewissen Aerts«, fuhr er fort. »Was ist denn mit ihm?« Van In sprach wie in Trance. Es blieb für einen Augenblick still auf der anderen Seite der Leitung. Tant bereute es jetzt, dass er sich dazu hatte überreden lassen, den Commissaris anzurufen. »Nun?«, fragte Van In ungeduldig. »Aerts sagt, er müsse Sie dringend sprechen. Ich …« Hannelore warf die Decke von sich. Van In sah aus wie vom Donner gerührt. »Welcher Aerts? Meinen Sie etwa William Aerts?« Hannelore kam näher. »Ja!«, antwortete Tant erleichtert. »Die Flughafenpolizei von Zaventem hat ihn vor ein paar Stunden festge295
nommen. Aerts will mit niemandem außer Ihnen sprechen. Er behauptet, es ginge um Leben und Tod.« Van In gab Hannelore mit einer Geste zu verstehen, dass sie mithören sollte. »Sagen Sie ihm, dass ich alles Nötige veranlassen werde, Tant. Wo ist er jetzt?« »In Brüssel, Commissaris.« Van In wusste, was das bedeutete. Wenn er den Dienstweg beschritt, würde er Aerts erst in einer Woche sprechen können. Er legte auf und rief De Kee an. Der Hoofdcommissaris war nicht zu Hause. Van In hörte sich geduldig den dämlichen Text auf dessen Anrufbeantworter an. »Er sagt, in dringenden Fällen solle man bei der nächsten Polizeidienststelle anrufen.« Hannelore nahm ihm den Hörer ab. »Wärm du so lange neuen Wein auf«, sagte sie lächelnd. Während Van In sich um die Getränke kümmerte, rief Hannelore Staatsanwalt Beekman an. Er versprach ihr, sich persönlich um die Angelegenheit zu kümmern. Zehn Minuten später rief er zurück und versicherte Hannelore, William Aerts werde morgen früh in Begleitung der Rijkswacht nach Brügge überstellt. »Zufrieden?«, fragte Hannelore ein wenig herausfordernd. Van In schenkte die Gläser bis obenhin voll und rührte einen Teelöffel Honig in den heißen Wein. »Ich weiß gar nicht, was ich ohne dich anfangen würde, Hanne. Ich stehe schon tief in deiner Schuld.« Sie lächelte wie die Mona Lisa und zog sich würdevoll ins Wohnzimmer zurück. »Du kannst dich ganz leicht revanchieren«, rief sie. »Ich habe mein Glas Wein in der Küche stehen lassen. Könntest du mir das mitbringen?« 296
Van In gehorchte automatisch. Früher hatte er sich oft gefragt, wie Frauen es schafften, ihre Männer zu folgsamen Äffchen abzurichten. Jetzt wusste er es. »Danke, Schatz. Jetzt noch eine Zigarette, und ich fühle mich wie die Königin von Saba.« Van In schlurfte zurück in die Küche, nahm einen sauberen Aschenbecher von der Anrichte und ein Stück mittelalten Käse aus dem Kühlschrank. Diesen Imbiss hatte er sich jetzt redlich verdient. Jos Brouwers parkte den Renault vor der Villa seines Auftraggebers. Diskretion war jetzt überflüssig. Er hatte versagt, und das bedeutete, dass Vandaele seine Dienste niemals mehr in Anspruch nehmen würde. Sein Geld würde er trotzdem bekommen, das hatte der Alte versprochen. Der Expolizist schlug den Kragen hoch und marschierte mit langen Schritten über den Rasen vor dem Haus. Durch die Übergardinen im Erdgeschoss fiel gelblicher Lichtschein nach draußen. Brouwers schellte. Ein eisiger Wind fuhr ihm in die Hosenbeine. Die abgestorbenen Blätter auf dem Boden raschelten. Brouwers wartete geduldig. Als Vandaele nach längerer Zeit immer noch nicht geöffnet hatte, ging Brouwers ans Fenster und klopfte an die Scheibe. Drinnen rührte sich nichts. Man hörte nur den Wind, der über den Polder heulte. Der Ex-Rijkswachter fluchte verhalten. Er ging zurück zu seinem Wagen. Im Handschuhfach lag eine kleine, flache Kiste mit Einbruchswerkzeug. Vandaele saß am Flügel. Sein Kopf lag auf der Klaviatur. Die Tasten waren mit einem ekligen Zeug verschmiert. Brouwers hätte sich beinahe übergeben, als er in der dunkelroten Blutlache schwarze Gewebeteile entdeckte. Das Gesicht des alten Pädophilen war schmerz297
verzerrt. Vandaele war tot. Er hatte seine verrottete Lunge ausgekotzt und war an seinem eigenen Dreck erstickt.
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15 Hoofdcommissaris De Kee hängte seinen schicken Mantel an die Garderobe, klopfte sich imaginären Staub von den Schultern, schüttelte Van In die Hand und trat dann ans Fenster. Die Lage war ernst. Als Van In ihn vor einer halben Stunde aus dem Bett geklingelt hatte, war er sofort ins Auto gestiegen. »Wann kommt er?«, fragte der Hoofdcommissaris. »Um halb neun«, antwortete Van In. Mit besorgtem Gesicht drehte De Kee sich um. Im letzten Jahr waren die Justizbehörden heftig in die Kritik geraten. Wenn Van In Recht hatte und Hoofdinspecteur Baert für den Mord an Yves Provoost verantwortlich war, würde das dem Image des Korps alles andere als gut tun. De Kee bezeichnete seine Untergebenen stets als meine Leute, und einen Flecken auf der weißen Weste der Brügger Polizei betrachtete er als persönlichen Affront. In dieser Hinsicht besaß er geradezu etwas Aristokratisches. »Und wann erwarten Sie den anderen?« »Um neun Uhr«, sagte Van In. »Der Rijkswachtcommandant in Brüssel hat versprochen, William Aerts um acht Uhr loszuschicken.« Van In zündete sich eine Zigarette an. Er brauchte seinen Vorgesetzten nicht vorher um Erlaubnis zu bitten, schließlich war das sein Büro. »Haben die beiden etwas miteinander zu tun?« »Sie kennen sich von der Grundschule«, sagte Van In. 299
»Und Sie sind sicher, dass Dirk Desmedt und Dirk Baert ein- und dieselbe Person sind?« »Die Geburtsdaten stimmen jedenfalls überein. Ich glaube, Dirk Baert hat mit einundzwanzig Jahren den Namen seiner Mutter angenommen.« De Kee begann, hin- und herzuwandern. Dieses eine Mal hoffte er, dass Van In sich irrte. »Alles Übrige können Sie in der Akte nachlesen.« Van In reichte De Kee eine blassgrüne Mappe. »Dirk Baert ist in der Ezelstraat zur Schule gegangen und hatte einen Bruder, der Dani hieß.« De Kee winkte ab. Er hätte sich nur lächerlich gemacht, wenn er die Einzelheiten noch einmal persönlich überprüft hätte. Als Dirk Baert Zimmer 204 betrat, spürte er sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Den Hoofdcommissaris um diese frühe Uhrzeit hier anzutreffen war ebenso unwahrscheinlich, wie dem Kronprinzen in einem Swingerclub zu begegnen. »Guten Morgen«, grüßte Baert, ohne De Kee anzusehen. »Setzen Sie sich, Desmedt.« Seinen früheren Namen aus dem Mund seines Vorgesetzten zu hören, traf Baert wie ein mittelalterlicher Rammbock. »Wie bitte, Mijnheer Hoofdcommissaris?« »Sie wissen ganz genau, was ich meine, Desmedt. Sie stecken bis zum Hals in Schwierigkeiten, und mit Ihnen das gesamte Korps!« Baert setzte sich. Seine Beine fühlten sich an wie weiche Spaghetti. De Kee hatte mit einem messerscharfen Schnitt seine Nabelschnur durchtrennt. Von jetzt an stand er ganz allein da. 300
»Ich habe meinen Vater gehasst. Aus Ihrem Mund klingt es ja wie ein Verbrechen, dass ich den Namen meiner Mutter angenommen habe.« Van In hatte eine völlig andere Reaktion erwartet. Es sah ganz so aus, als würde Baert sich nicht ohne weiteres geschlagen geben. »Es stimmt also, dass du früher den Namen Desmedt getragen hast?« In einer Vernehmung sollten die Fragen immer so gestellt werden, dass der Verdächtige sie mit »Ja« beantworten muss. Baert nickte. »Hattest du einen Bruder namens Dani?« Van In sprach absichtlich in der Vergangenheit. »Ja«, bestätigte Baert. »Aber Dani ist tot.« »Dani ist verschwunden. Er ist vor zwölf Jahren in die Niederlande gezogen, seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.« »Nie wieder?« »Nein.« »Commissaris Van In will Ihnen doch nur helfen, Baert. Wenn Sie jetzt die Wahrheit sagen, können wir ins Protokoll aufnehmen, Sie hätten aus freien Stücken ein Geständnis abgelegt, und das kann vor dem Schwurgericht später nur günstig für Sie sein.« »Ich verstehe nicht, was für eine Art von Geständnis Sie von mir erwarten. Aber ich kann nicht leugnen, dass ich meine Rechte und Pflichten kenne«, entgegnete Baert bitter. Van In warf De Kee einen viel sagenden Blick zu. »Ich gebe dir drei Stunden Bedenkzeit, Baert.« Er wählte die Nummer des wachhabenden Offiziers. 301
»Wenn du es dir bis dahin nicht anders überlegt hast, werden wir gezwungen sein, den Fall an die Staatsanwaltschaft zu übergeben.« Baert senkte den Kopf und fragte sich verzweifelt, warum sie ihn nicht gleich verhafteten. »Hallo, Tant, Van In hier. Können Sie für ein paar Stunden einen zuverlässigen Kollegen entbehren?« Robert Tant sah auf dem Dienstplan nach. »Bart Vermeulen hat bis dreizehn Uhr Dienst.« »Okay, schicken Sie ihn rauf.« Staatsanwalt Beekman, Hannelores direkter Vorgesetzter, war ein moderner Justizbeamter. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern hatte man ihn nicht aus dem Haufen mittelmäßiger Rechtsanwälte rekrutiert, die sich wegen Mandantenmangels ein Parteibuch angeschafft hatten. Mit seinen zweiundvierzig Jahren hatte er bei günstigem Lichteinfall durchaus noch etwas Jungenhaftes an sich, was nicht zuletzt daran lag, dass er bewusst auf die dunkelgrauen Anzüge verzichtete, die seine Kollegen für ach so unentbehrlich hielten. Beekman trug meistens ein sportliches Sakko und wurde ab und zu sogar ohne Krawatte gesichtet. »Mach’s dir bequem, Hannelore«, sagte er einladend. Das Büro des Staatsanwaltes war hell und freundlich, und umsonst hielt man nach den üblichen muffigen Akten in verzogenen Regalen Ausschau. Beekman hatte sogar das obligatorische Porträt des Königspaares auf eigene Kosten neu und modern rahmen lassen. »Die verschwundene Polizeibeamtin bereitet mir große Sorgen«, begann er. Hannelore ging hinüber zu der gemütlichen Sitzecke am Fenster. Die Fensterbank stand voller Kakteen; Beekman liebte stacheliges Grün. 302
»Mir auch«, gab Hannelore zu. »Leider ist die Haussuchung gestern ergebnislos verlaufen. Ich befürchte, wir müssen wieder von vorn anfangen.« »Und was sagt Van In dazu?« »Pieter hat alle Hände voll mit den beiden anderen Fällen zu tun. Er meint, wir könnten die Machenschaften Vandaeles zu diesem Zeitpunkt nur durch die Vernehmung der beiden Verdächtigen aufdecken, und er ist überzeugt, dass uns ihre Aussagen auch auf die Spur von Carine Neels bringen werden.« Beekman strich seine rechte Augenbraue glatt. »Ich will dir gegenüber mit offenen Karten spielen, Hannelore«, sagte er. »Gestern hat mich der Oberstaatsanwalt angerufen und mich gebeten, die Ermittlungen im Mordfall Herbert etwas ruhiger angehen zu lassen.« Hannelore begriff, dass Beekman ein hohes Risiko einging, indem er sie einweihte. Was der Staatsanwalt und der Oberstaatsanwalt miteinander besprachen, war normalerweise nicht für die Ohren junger stellvertretender Staatsanwältinnen bestimmt. »Was meint er denn damit?« »Wir sollen die Akte schließen«, antwortete Beekman matt. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst, Jozef!« Privat sprach sie ihn immer mit dem Vornamen an. »Warte, bis du erst den Rest gehört hast.« Beekman strich jetzt seine linke Augenbraue glatt. »Die Bitte, die Akte zu schließen, stammt geradewegs vom Außenminister persönlich. Er befürchtet, die Ermittlungen in einem längst verjährten Mordfall könnten seiner Partei schaden.« »Dieser Scheißkerl!«, fauchte Hannelore. »Der hat sich doch damals auch munter in De Love bedienen lassen!« 303
Beekman war für einen Moment sichtlich von ihrem Vokabular geschockt. »Und allem Anschein nach war er nicht der einzige Politiker«, fügte er nachdenklich hinzu. »Und die wollen sich jetzt allesamt schön aus der Affäre ziehen.« Wenn Hannelore Beekman nicht so sehr geschätzt hätte, wäre sie an diesem Punkt wütend aus dem Zimmer gerauscht. »Ich frage mich, ehrlich gesagt, was du von diesen Schweinereien hältst, Jozef.« »Nun ja, technisch gesehen ist der Oberstaatsanwalt mein Vorgesetzter«, antwortete Beekman mit einem matten Lächeln. Hannelore war froh, dass sie nicht wütend davongerauscht war. »Technisch gesehen«, meinte sie lächelnd. »Klingt ja viel versprechend.« Beekman mochte einen unkonventionellen Eindruck machen, ehrgeizig war er auf alle Fälle. »Versteh mich bitte nicht falsch, Hannelore. Offiziell kann ich dir nicht helfen. Im Gegenteil. Normalerweise müsste ich dir auf die Finger klopfen.« »Ich bin schwanger, Jozef. Ehe du dich versiehst, kriegst du eine Anzeige wegen Kindesmisshandlung.« Beekman konnte es nicht lassen, einen Blick auf ihren Bauch zu werfen. »Das behauptest du jetzt schon seit drei Monaten. In unserem Beruf brauchen wir Beweise.« Hannelore fand das Kompliment süß. »Und wenn wir hartes Beweismaterial liefern?« Beekman lächelte. »Offiziell kann ich nichts für dich tun, aber inoffiziell hast du von meiner Seite aus grünes Licht. Mir ist völlig 304
egal, wer alles in diesen Fall verstrickt ist. Ruf mich an, wenn ihr etwas herausfindet, und ich schwöre dir, dass ich ganz Flandern auf den Kopf stellen werde.« »Auch wenn der Minister in den Fall verwickelt ist?« »Wenn es dafür Beweise gibt, werde ich keinen Augenblick zögern, die nötigen Schritte zu unternehmen.« »Und wenn der Oberstaatsanwalt sein Veto einlegt?« Beekman schnaubte verächtlich. »Auch bei den Justizbehörden geht es nicht mehr so zu wie früher, Hannelore. Wenn du für fundiertes Beweismaterial sorgst, wird der Oberstaatsanwalt bald kleinere Brötchen backen.« »Van In wird sich freuen, das zu hören«, sagte Hannelore lachend. Sie drückte Beekman die Hand und verließ eilig sein Büro. Es wurde höchste Zeit, dass sie etwas unternahm. Wollte die Rijkswacht unbedingt eine gute Show bieten oder lediglich demonstrieren, dass ihr Wagenpark dringend einer Modernisierung bedurfte? Diese Frage stellte sich Van In, als ein gepanzerter Vorkriegs-Lkw auf den Innenhof des Präsidiums rollte. William Aerts wurde in Handschellen unter der Aufsicht zweier grimmiger Gendarmen in Gefechtsanzügen hineingeführt. Erst nachdem Van In die erforderlichen Dokumente unterzeichnet hatte, nahmen sie Aerts die Handschellen ab. Van In dankte den Kollegen von der Rijkswacht und lotste Aerts in ein Vernehmungszimmer im ersten Stock. Wie alle Räume, die solchen Zwecken dienen, war auch dieser nicht gerade gemütlich. Die Einrichtung bestand aus einem Metalltisch, drei Stühlen und einer mechanischen Schreibmaschine. Der kompakte Sony-Recorder 305
und eine Thermoskanne mit Kaffee sorgten für einen Hauch Moderne. »Bitte setzen Sie sich, Mijnheer Aerts.« William ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er sah erschöpft aus nach der Nacht auf der harten Zellenpritsche. Van In schenkte zwei Tassen Kaffee ein und schaltete den Recorder an. »Der verlorene Sohn ist zurückgekehrt«, sagte er sarkastisch. »Ich hoffe, unsere Unterhaltung wird sich lohnen.« Aerts hob den Kopf. Er rieb sich über seinen Stoppelbart und warf einen kurzen, prüfenden Blick auf den Kripo-Ermittler ihm gegenüber. »Soll ich ganz von vorn anfangen, Commissaris?« Van In nickte, spulte das Band zurück, kontrollierte die Qualität der Aufnahme und drückte erneut die Starttaste. Anschließend lehnte er sich zurück und gab Aerts zu verstehen, dass er loslegen konnte. Der erste Teil der Geschichte war wenig relevant. Aerts hatte das Cleopatra von Vandaele übernommen und ein Luxusbordell daraus gemacht. Wichtige Kunden erhielten allerdings eine Spezialbehandlung in De Love. Diskret und sicher, versteht sich. Aerts arbeitete ausschließlich auf Kommission und brauchte selten professionelle Mädchen zu liefern. Die kamen erst zum Einsatz, wenn der Vorrat an Freiwilligen erschöpft war. »Sie wussten also, dass Vandaele seine Opfer über den Wohltätigkeitsverein Hilfe zur Selbsthilfe rekrutierte?« Aerts trank einen Schluck von dem Kaffee und fragte, ob Van In eine Zigarette entbehren könne. »Das haben Sie also herausgefunden«, bemerkte er grinsend. Van In nahm sich selbst eine Zigarette und schob dann Aerts das Päckchen zu. 306
»Je reicher, desto geiziger, Commissaris. In De Love wurde gratis gebumst. Jede junge Frau, die von den Fonds des Vereins profitierte, konnte ihre Schulden auf zweierlei Art und Weise zurückzahlen: in natura oder in bar.« »Sehr menschenfreundlich«, erwiderte Van In verbittert. »Von Menschenfreundlichkeit kann gar keine Rede sein, Commissaris. Der Verein brachte seine Klienten dazu, zwei Dokumente zu unterzeichnen. In dem einen stand, sie hätten einen bestimmten Betrag geschenkt bekommen, das andere war ein Schuldschein über denselben Betrag. Das galt für alle, die sich an den Verein wandten. Von alten Weibern, verstockten Säufern und braven Familienvätern wurde erwartet, dass sie ihre Schulden in bar zurückzahlten.« Jetzt erst wurde Van In klar, wie es dem Verein gelungen war, ihre Buchführung koscher aussehen zu lassen. Die so genannten Geschenke waren in Wirklichkeit Darlehen, die schwarz zurückgefordert wurden. »Und niemand hat dagegen protestiert.« »Arme Schweine mucken nicht auf, Commissaris. Jeder, der sich bei dem Verein meldete, wurde auf Herz und Nieren geprüft. Meist handelte es sich um Leute, die vorübergehend in finanzielle Schwierigkeiten geraten waren und sich an niemand anderen wenden konnten.« »Beispielsweise?« Aerts lächelte über die Naivität des Commissaris. Beamte mit festen Bezügen konnten sich nicht vorstellen, wie sich die kleinen Leute, die knapp über der Armutsgrenze lebten, abzappelten, um auf dem Konsumkarussell mitfahren zu können. »Sozialhilfeempfänger, Männer mit drückenden Unterhaltsverpflichtungen, Familien mit einem Riesen307
schuldenberg, Studenten, die kein Bafög bekommen, und allein stehende Frauen«, antwortete er kopfschüttelnd. »Die dritte Welt ist nicht nur in exotischen Slums zu Hause. Hunderttausende unserer Landsleute leben am Rande des finanziellen Abgrunds, obwohl sie in einer normalen Gegend wohnen und scheinbar ein normales Leben führen. Sie verdienen gerade mal genug, um sich eine Wohnung und genug zu essen leisten zu können. Doch sobald sie mal etwas übrig haben, geben sie es für Luxusartikel aus, die sie sich eigentlich gar nicht leisten können. An diese Leute vergibt der Verein zinslose Darlehen: ehrliche, arme Bürger, die ihre Schulden meistens zurückbezahlen.« »Und die schönen, allein stehenden Frauen erhielten die Chance, ihre Schulden in natura abzustottern.« »Richtig, Commissaris.« »Wovon wiederum diverse Geschäftsfreunde Vandaeles profitierten.« »In der Tat«, antwortete Aerts grinsend. »Vandaele weiß verdammt genau, wo Barthel den Most holt.« Van In hatte den Eindruck, dass Aerts die Wahrheit sagte. »Wenn ich Sie richtig verstehe, sammelte der Verein Spenden für einen guten Zweck. Offiziell wurde das Geld an Mittellose verschenkt, inoffiziell jedoch in Form zinsloser Darlehen wieder zurückgefordert.« »Ihre nächste Frage kann ich mir schon denken«, sagte Aerts lächelnd. »Sie möchten natürlich wissen, was mit dem gewaschenen Geld geschah.« Van In wusste bereits, wo die Millionen hinflossen, ließ sich jedoch nichts anmerken. Aerts schenkte sich einen Kaffee ein und nahm sich eine Zigarette. 308
»Lodewijk Vandaele ist ein Idealist. Er hasst unsere moderne, permissive, chaotische Gesellschaft. Er strebt nach einer Ordnung, in der jeder seinen Platz kennt und alles wie am Schnürchen läuft.« »Das Singapur-Modell.« »Genau, Commissaris. Singapur ist ein hervorragendes Beispiel. Er wollte Flandern zu einem Modellstaat machen, und um das zu erreichen, sollte erst einmal wieder Disziplin einkehren. Die VLOK sollte helfen, seinen Traum in die Tat umzusetzen.« »Ist das nicht ein wenig heuchlerisch für einen Pädophilen?« Aerts schüttelte den Kopf. »Sie verstehen das nicht, Commissaris. Vandaele betrachtet sich als Kinderfreund. Er hält die Liebe zwischen einem Kind und einem Erwachsenen für rein und unverdorben.« »Ich halte Vandaele für einen gefährlichen Spinner«, sagte Van In. »Und da haben Sie völlig Recht, Commissaris. Was glauben Sie wohl, warum ich mich selbst angezeigt habe?« »Das habe ich mich auch schon gefragt.« »Ganz einfach, ich hatte Angst vor Jos Brouwers.« Aerts beschrieb Van In den Profikiller, den Vandaele ihm auf den Hals gehetzt hatte. »Wahrscheinlich befürchtete Vandaele, dass ich etwas über den Mord an Dani verraten würde.« »Dem Transsexuellen«, ergänzte Van In. Aerts schwieg. »Kannten Sie sie von früher?« »Nein. Eines Tages erschien Dani im Cleopatra und fragte, ob ich Arbeit für sie hätte. Sie behauptete, sie brauchte dringend Geld für eine Brustkorrektur.« 309
Aerts verzog das Gesicht, als hätte er einen verdorbenen Fisch verzehrt. »War sie so hässlich?« »Im Gegenteil, Commissaris.« »Sie gaben ihr also einen Job.« »Ja.« »Und, machte sie ihre Sache gut?« »Und ob«, antwortete Aerts verbittert. »Sie müssen wissen, Commissaris, dass ich die Mädchen, die bei uns arbeiten wollten, vorher selbst …« Seine Stimme stockte. Keinem Regisseur wäre es gelungen, seinen Abscheu so eindrucksvoll zu inszenieren. »Sie sind also mit ihm ins Bett gegangen.« Van In schaltete absichtlich auf das männliche Pronomen um. Aerts rang sichtlich um Fassung. »Und, war der Sex gut?« Manchmal können Worte schmerzlicher sein als körperliche Gewalt. In diesem Fall glühte die Bemerkung wie ein Brandeisen in einer offenen Wunde. Van In sah, wie Aerts die Fäuste ballte. Seine Knöchel traten weiß hervor. »Vor der Tür stehen zwei Kollegen, Mijnheer Aerts. An Ihrer Stelle würde ich ruhig sitzen bleiben.« Van In musste zugeben, dass er das Spiel genoss. Nichts verschafft größere Befriedigung als die Ausübung von Macht über einen Mitmenschen. Dieses euphorische Gefühl bildet die Grundlage jedes totalitären Systems. Van In sah es jedoch eher so, dass er als überzeugter Demokrat verpflichtet war, seine eigenen Grenzen auszuloten. Nur wer die Versuchung der Diktatur geschmeckt hat, kann dem Lockruf des Rechtsextremismus die Stirn bieten. »Sie sind also drauf reingefallen«, fuhr Van In in versöhnlichem Tonfall fort. 310
Aerts starrte abwesend ins Leere. Der Stress der letzten Tage forderte allmählich seinen Tribut. Ein zwei Zentimeter langer Aschekegel drohte von seiner Zigarette zu fallen. Van In reichte ihm einen Aschenbecher und schenkte noch einmal Kaffee nach. »Ja«, sagte Aerts müde. Van In konnte sich vorstellen, wie er sich fühlte. »Fahren Sie fort, Mijnheer Aerts. Was geschah dann?« »Am nächsten Abend kamen Provoost und Brys vorbei. Sie waren in ausgelassener Stimmung und verlangten das beste Fleisch, das ich zu bieten hatte.« »Und da präsentierten Sie ihnen Dani.« Aerts nickte. »Obwohl Sie wussten, dass …« »Provoost und Brys waren arrogante Snobs. Sie behandelten mich schon seit Jahren wie den letzten Dreck.« »Und da wollten Sie ihnen mal eins auswischen.« Aerts trank einen großen Schluck von dem Kaffee und zündete sich eine neue Zigarette an. Die Konfrontation mit der Vergangenheit machte ihn depressiv. Provoost und Brys hatten sein ganzes Leben beeinflusst. Als Kind hatten sie ihn gezwungen, die Kastanien für sie aus dem Feuer zu holen, und auf der höheren Schule ließen sie keine Gelegenheit aus, ihn zu demütigen. Brenn doch nochmal einen Furz ab, William. In meiner Suppe ist eine Fliege. Wetten wir um hundert Francs, dass William sie aufisst? Provoost und Brys gaben ihm für jede Heldentat ein Pils aus. Als Aerts dann mit achtzehn beschloss zu studieren, ließen sie ihn fallen wie eine heiße Kartoffel. Arbeiterkinder hätten an der Universität nichts zu suchen, höhnten sie. Nach einem katastrophalen Semester ging Aerts nach Amsterdam und landete dort im Drogenmilieu. Vier Jahre später kehrte er als reicher 311
Mann nach Brügge zurück und verprasste dort sein Vermögen. Jetzt ließ er Andere Fürze anzünden, Insekten fressen oder splitterfasernackt über den Marktplatz laufen. In dieser Phase lernte er Linda kennen, und gemeinsam versuchten sie ihr Glück mit dem Cleopatra. Vandaele empfing sie mit offenen Armen. Alles lief relativ gut, bis Provoost und Brys wieder auf der Bildfläche erschienen. »Mijnheer Aerts, hören Sie?« Van In reichte ihm noch eine Zigarette. »Sie wollten sich also an ihnen rächen?« »Was hätten Sie an meiner Stelle getan, Commissaris?« Van In lachte. Irgendwie war ihm Aerts fast schon sympathisch. »Und Sie brachten die Gesellschaft nach De Love?« »Genau.« Van In konnte sich den Rest der Geschichte mehr oder weniger zusammenreimen. Alle Puzzlesteine fügten sich jetzt zu einem Ganzen zusammen. »Nur eine knappe Stunde später rief mich Brys an. Er klang nervös, allerdings hatte ich den Eindruck, dass er stocknüchtern war. Er bat mich inständig, sofort hinaus nach De Love zu kommen. Es sei etwas Schreckliches geschehen.« »Sie hatten Dani ermordet.« »Brys schwor mir, dass es ein Unfall gewesen sei. Nach einem flotten Dreier hatte ihnen Dani gebeichtet, dass er eigentlich ein Mann war. Provoost geriet außer sich vor Wut, und es kam zu einem Handgemenge. Dani stürzte mit dem Kopf auf den Bettrand und war sofort tot.« »Ich gehe davon aus, dass Sie wissen, wer Dani in Wirklichkeit war?« 312
»Was wollen Sie damit sagen, Commissaris?« »Sagt Ihnen der Name Desmedt etwas?« Wenn das Entsetzen in Aerts Gesicht gespielt war, hätte er dafür einen Oscar verdient. »Dani Desmedt?« »Dani Desmedt, mit dem Sie in die Grundschule gegangen sind, Mijnheer Aerts. Erinnern Sie sich noch an die Geschichte mit der Wäscheklammer?« »Das kann nicht sein«, erwiderte Aerts entschieden. »Ich hätte ihn ganz sicher …« »… wieder erkannt«, ergänzte Van In ironisch. Eine Weile lang sagte keiner von beiden etwas. »Jetzt wird mir alles klar«, stammelte Aerts. »Deshalb war Provoost so außer sich. Eine bessere Rache für das, was sie seinem Zwillingsbruder angetan hatten, hätte Dirk sich nicht einfallen lassen können.« »Sie kannten also wirklich nicht die ganze Wahrheit?«, fragte Van In verwundert. Die Frage war offensichtlich überflüssig. Aerts Gesichtsausdruck sprach Bände. »Schon gut. Erzählen Sie mir lieber, was weiter geschehen ist.« Aerts räusperte sich. Er klopfte sich die Zigarettenasche von der Hose, als wolle er seine Vergangenheit abschütteln. »Als ich zehn Minuten nach dem Vorfall eintraf, war Provoost völlig aufgelöst. Er hatte Vandaele angerufen, und der verlangte von mir, dass ich die Leiche irgendwo im Hohen Venn verscharrte.« »Aber das haben Sie nicht getan?« »Was dachten Sie denn? Das war meine Chance, es den hohen Herren mit gleicher Münze heimzuzahlen.« »Deshalb begruben Sie Dani auf dem Grundstück von De Love.« 313
»Wären Sie für hunderttausend Francs das Risiko eingegangen, eine Leiche in die Ardennen zu bringen?« »Sie wollten mehr.« Van In nahm die letzte Zigarette aus dem Päckchen. Als er Aerts einen begehrlichen Blick darauf werfen sah, rief er auf der Wache an und bat einen Kollegen, neue holen zu gehen. »Ich gebe zu, dass ich Provoost und Brys erpresst habe. Vandaele setzte mich finanziell stark unter Druck, und Dani war tot, er hatte sowieso alles hinter sich.« »Sie brauchten Geld«, sagte Van In voller Mitgefühl. »Wusste Vandaele, dass Sie Provoost und Brys erpressten?« Aerts hatte die ganze Zeit einen recht selbstsicheren Eindruck gemacht, doch nun begann seine Unterlippe zu zittern. »Das weiß ich nicht. Auf jeden Fall hat er mir Brouwers auf den Hals gehetzt. Ich kenne Vandaele gut. Niemand darf ihn ungestraft beleidigen. Für Verrat kennt er nur eine Strafe.« »Nemo me impune lacessit«, murmelte Van In. »Was sagten Sie, Commissaris?« Van In hatte an »Das Fass Amontillado« von Edgar Allan Poe gedacht. »Sie sind also geflüchtet, weil die Leiche auf dem Grundstück von De Love entdeckt wurde, was bewies, dass Sie damals Ihr Versprechen gebrochen hatten.« Aerts nickte. »Und Sie hofften, durch eine Selbstanzeige würden Sie mit einer milden Strafe davonkommen.« »Ich berufe mich nur auf das Gesetz, Commissaris.« Es klopfte an der Tür. Ein Hilfspolizist überreichte Van In ein Päckchen Marlboro und eine Schachtel 314
Streichhölzer. Van In riss die Packung auf und zündete sich eine Zigarette an. Den Rest gab er Aerts. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Mijnheer Aerts. Ich lasse Ihnen gleich Papier und Stift bringen. Ich möchte, dass Sie die ganze Geschichte für mich aufschreiben. Lassen Sie sich ruhig Zeit, denn die Aussicht, dass Sie dieses Gebäude innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden verlassen, ist ziemlich gering. Danach wird der Untersuchungsrichter über Ihr weiteres Schicksal entscheiden.« »Ich kenne die Gesetze, Commissaris.« »Das hoffe ich für Sie, Mijnheer Aerts.« Van In stand auf und ging hinaus. Ohne Versavel kam ihm Zimmer 204 vor wie eine kalte Gruft. Van In schaltete das Licht aus und setzte sich an seinen Schreibtisch. Ermittlungsarbeit war in der Regel eine Kombination aus Fleißarbeit und Methodik, wobei dieser Ansatz meist nur wenig Resultate einbrachte. Der große Durchbruch in den Untersuchungen gelang fast immer infolge irgendwelcher unvorhergesehener Ereignisse, einer unerwarteten Wendung oder durch pures Glück. Das Geständnis von Aerts war ein Geschenk des Himmels. Provoost hatte Dani ermordet, und damit hatte Van In einen Mörder, ein Motiv und einen Zeugen. Aerts konnte gewiss mildernde Umstände geltend machen, ja, ein geschickter Anwalt würde wahrscheinlich sogar ohne besondere Kunstgriffe einen Freispruch für ihn erzielen. Und genau das gefiel Van In nicht. Er hatte das Gefühl, dass Aerts versuchte, seine Haut zu retten, indem er nur das preisgab, was ihm in den Kram passte. Doch noch größere Sorgen bereitete ihm das Verschwinden von Carine Neels. Er war sich so gut wie si315
cher, dass sie in die Fänge von Vandaeles verbrecherischer Organisation geraten war. Die überstürzte Hausdurchsuchung in De Zorghe hatte nichts gebracht. Schlimmer noch, ihr übereiltes Vorgehen hatte offenbar sämtliche Komplizen im Milieu gewarnt. Und dann war da noch Baert. Letztendlich war er der einzige echte Mörder, und für Polizeiangehörige galten keine mildernden Umstände. Van In schaute auf seine Armbanduhr. Es war fünf vor zwölf, Zeit, Dirk Baert einmal auf den Zahn zu fühlen. Baert saß auf einem Stuhl und reagierte kaum, als Van In hereinkam. »Hallo, Dirk«, sagte Van In. »Wie geht’s dir?« Baert hob den Blick. Van In hatte ihn noch nie beim Vornamen genannt. »Ich weiß, dass wir bisher nicht die besten Freunde waren, aber glaub nur nicht, dass mir das hier Spaß macht.« Baert grinste matt. »Das weiß ich zu schätzen, Commissaris.« Van In setzte sich Baert gegenüber und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich weiß, dass du es getan hast, Dirk, und ich verstehe auch warum. Dein Bruder hat dich damals aus den Klauen dreier Sadisten gerettet, und als du letzte Woche den Autopsiebericht gelesen hast, wusstest du sofort, dass es sich bei Herbert um Dani handelte.« Baert nickte. Vor einer Stunde hatte er den Entschluss gefasst, alles zu beichten. Im Grunde war er sogar ein wenig stolz. Der Mord an Provoost war die einzige bedeutende Tat, die er in seinem Leben vollbracht hatte. »Ich arbeite schon seit zwanzig Jahren für Vandaele«, begann er. »Ich wusste, was in De Love vor sich ging.« 316
Van In lehnte sich in seinem Stuhl zurück und hörte zu. Baerts Geständnis dauerte über drei Stunden. Mevrouw Neels hatte nichts dagegen, dass Hannelore Carines Zimmer durchsuchte. Die arme Frau konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Der kleine Raum war gemütlich und ordentlich aufgeräumt. Die Einrichtung hätte aus einem Handbuch für Innenarchitekten stammen können. Hannelore zog vorsichtig die Schubladen der Kiefernholzkommode auf und durchforstete die Unterwäsche der verschwundenen Polizistin. Obwohl Mevrouw Neels die Notwendigkeit dieser Suchaktion nicht wirklich begriff, beobachtete sie Hannelore aufmerksam. Schon die Tatsache, dass sich jemand um das Schicksal ihrer Tochter Gedanken machte, beruhigte sie ein wenig. Hannelore hatte keine Erfahrung mit Hausdurchsuchungen. Sie vertraute einfach auf ihre Intuition. Feine Dessous, rosarote Bettwäsche, CDs mit Walzern von Strauß und Symphonien von Beethoven, ein Poster mit einer untergehenden Sonne, eine halb heruntergebrannte Kerze und ein feuerrotes Sofa bewiesen, dass Carine durch und durch romantisch war. »Führt Ihre Tochter Tagebuch?« Mevrouw Neels schreckte bei der Frage auf. »Ein Tagebuch«, wiederholte sie geistesabwesend. »Haben Sie sie je etwas aufschreiben sehen?« Mevrouw Neels runzelte die Stirn. »Als Carine so ungefähr sechzehn war, schrieb sie Gedichte, aber ob sie …« »Auf lose Blätter oder in ein Heft?« Mevrouw Neels zermarterte sich das Gehirn. Sie wollte ja so gerne helfen, aber … 317
»Ich weiß es nicht mehr!«, schluchzte sie. »Muss ich mir deswegen Vorwürfe machen?« »Aber nein«, sagte Hannelore. In einer Ecke des Zimmers stand auf einem Holzregal ein kleiner Fernseher mit eingebautem Videorecorder. Darunter befand sich eine Reihe Kassetten. »Sie schaut sich gern Filme an«, sagte Mevrouw Neels hilfsbereit. Hannelore überflog die Titel: Kramer gegen Kramer, Nell, Out of Africa, Die Geliebte des französischen Leutnants, The Sound of Music, Romeo und Julia, Alexis Sorbas. Bei der letzten Kassette hielt Hannelore inne. Betamax. Wer besaß heutzutage noch Betamax-Kassetten? Das System war schon seit vielen Jahren nicht mehr auf dem Markt. Hannelore nahm die Kassette aus dem Regal. Sie fühlte sich schwerer an als ein normales Videoband. Mevrouw Neels stand auf. »Haben Sie etwas gefunden?«, fragte sie hoffnungsvoll. Hannelore öffnete die Hülle. Darin steckte ein in Leinen gebundenes Buch mit der Aufschrift: Mein Tagebuch. »Haben Sie danach gesucht?« Mevrouw Neels lächelte erfreut. Hannelore schlug das Buch auf. In dem Moment piepte ihr Handy. »Hannelore Martens, hallo?« Es war Staatsanwalt Beekman. »Vandaele ist tot«, verkündete er. »Seine Haushälterin hat ihn heute Morgen gefunden.« »Ermordet?« 318
Mevrouw Neels blieb beinahe das Herz stehen, als sie das Wort »ermordet« hörte. »Nein. Vandaele litt an Krebs im Endstadium. Er ist an seinem eigenen Lungenauswurf erstickt. Daher hielt es der Arzt nicht für nötig, die Polizei zu benachrichtigen.« Hannelore gab Mevrouw Neels zu verstehen, sie solle sich keine Sorgen machen. »Es hat nichts mit Carine zu tun«, sagte sie mit der Hand auf der Sprechmuschel, als Mevrouw Neels laut anfing zu weinen. Van In schlüpfte aus seinen Schuhen, ging an den Kühlschrank und nahm sich ein Duvel heraus. Zwei Geständnisse an einem Tag waren mehr, als er verkraften konnte. Mit den Aussagen von Aerts hatte er keine Probleme. Dieser hatte alles ordentlich zu Papier gebracht, und Van In hatte sich vorgenommen, seinen ausführlichen Bericht gleich noch einmal zu lesen. Der Fall Baert erschien ihm dagegen wesentlich tragischer und machte ihm zu schaffen. Gerade, als Van In das Glas an die Lippen setzte, hörte er, wie Hannelore den Haustürschlüssel im Schloss umdrehte. Sicherheitshalber trank er einen großen Schluck. »Gemeinsam aus dem Haus, gemeinsam zurück nach Haus«, sagte er mit unschuldigem Gesicht. Hannelore reagierte gar nicht auf das Duvel. Sie wirkte äußerst aufgebracht. »Carine ist doch zu einem zweiten Fotoshooting in De Zorghe gewesen, und an dem Abend, an dem sie verschwunden ist, hatte sie wieder vor, dorthin zu fahren!« Sie warf das Tagebuch auf den Tisch. Van In las die entsprechende Passage. 319
»Sie schreibt, sie würde alles dafür tun, ihren Auftrag zur Zufriedenheit auszuführen«, rief Hannelore wütend. »Wenn ihr etwas zugestoßen ist, werde ich dir das niemals verzeihen, Pieter Van In! Du hast dem Mädchen mit deinen Räuberpistolen Flausen in den Kopf gesetzt. Ich habe heute Nachmittag ihr Zimmer durchsucht. Dieses Kind glaubt noch an Güte und Gerechtigkeit. Sie schwärmt für romantische Helden. Für sie ist das Leben ein Film mit einem Happy End.« Van In wartete, bis sie sich ausgetobt hatte. Die letzten Sätze im Tagebuch brachten seine innere Alarmglocke zum Schrillen. »›Eines fiel mir allerdings auf: Der Mann stank nach WC-Ente‹«, las er halb laut. »Was faselst du denn da?« »Benedict Vervoort!« Van In lachte hysterisch. »Der ist es, dieser Scheißkerl roch nach WC-Ente!« »Ich rufe Beekman an«, sagte Hannelore entschieden. »Es wird Zeit, dass jemand dieser Sauerei ein Ende bereitet.« Johan Brys streifte eine Lederkappe über den Kopf. Der Minister kontrollierte seine Werkzeuge. Alle Instrumente lagen ordentlich aufgereiht da. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass er in einem Snuffmovie auftrat. Im Keller wartete Carine Neels, gefesselt an die Pfosten eines altmodischen Bettes. Sie war nackt. Benedict Vervoort befestigte seine Kamera auf einem Stativ und machte eine Probeaufnahme. In der Ecke stand ein Behälter mit ungelöschtem Kalk, der nicht ins Bild kommen durfte. Vervoort verschob ein paar Scheinwerfer, bis er mit der Beleuchtung zufrieden war. In einer Stunde würden die Gäste eintreffen, und er wollte, dass alles tipptopp in Ordnung war.
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Staatsanwalt Beekman hörte sich Hannelores Bericht aufmerksam an. »Wir können nicht zweimal solches Pech haben«, sagte er, nachdem sie ausgeredet hatte. »Niemand wird uns verübeln, dass wir gegenüber diesem Gesindel hart durchgreifen.« Hannelore nickte, und das war für Van In das Zeichen, in Aktion zu treten. Innerhalb von drei Minuten rasten drei Streifenwagen mit heulenden Sirenen in Richtung Waardamme. Van In und Hannelore folgten im Twingo. »Weiß Baert über all das Bescheid?« Auf der Baron Ruzettelaan gab Hannelore Vollgas. Van In legte den Sicherheitsgurt um. »Ich glaube nicht. Baert wollte nur seinen Bruder rächen.« Vor der Brücke über den Kanal Gent-BrüggeOostende ging Hannelore vom Gas. Die Tachonadel zeigte achtzig Stundenkilometer an. Der Twingo protestierte, als sie mit quietschenden Reifen in die Kurve raste. Van In hielt die Luft an. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Die Geschichte Baerts war nicht leicht in ein paar Worten zusammenzufassen. »Dani brauchte dringend Geld für eine Brustoperation. Er kam nach Belgien, um seinen Bruder um Rat zu fragen, und der führte ihn im Cleopatra ein.« »War das 1985?« »Ja.« Hannelore holte die Streifenwagen ein und fuhr langsamer. »Baert hat über zwanzig Jahre lang für Vandaele gearbeitet. Er kannte das Bordell«, fuhr Van In fort. Er öffnete seinen Sicherheitsgurt und zündete sich eine Zigarette an. »Was soll das heißen, er hat für Vandaele gearbeitet?« 321
»Baert war sein Spion. Er hielt Vandaele über alles auf dem Laufenden, was sich innerhalb des Polizeikorps abspielte, warnte ihn, wenn eine Razzia geplant war und ließ belastendes Material verschwinden.« »Woher wusste Baert, dass Herbert sein Bruder war?« Hannelore nahm sich ebenfalls eine Zigarette. »Dani hatte sich zu Beginn der 80er Jahre am Kiefer operieren lassen. Diese Operation hatte ihn ein Vermögen gekostet. Als Baert den Autopsiebericht las, schwante ihm sofort etwas. Außerdem hatte sich Dani als Kind einmal das Schienbein gebrochen, und Baert wusste, dass er für die Herren von De Love gearbeitet hatte.« »Und deshalb hat Baert Provoost umgebracht?«, fragte Hannelore ungläubig. »Nicht direkt. Baert wusste zwar, dass Provoost ganz verrückt nach seinem Bruder gewesen war, aber er wollte zuerst ganz genau wissen, was sich abgespielt hatte.« An der Kirche von Oostkamp überfuhr Hannelore eine rote Ampel. Die Streifenwagen boten eine perfekte Deckung. »Er stellte ihm eine Falle. Er schickte Melissa vor.« »Melissa?« »Seine Freundin«, erklärte Van In. »Baert hatte sie im Cleopatra kennen gelernt. Bevor Baert bei ihr einzog, gehörte sie zu den Lieblingen Provoosts. Am Abend des Mordes rief Melissa bei Provoost an. Der hatte durchaus Lust auf ein kleines Stelldichein, und …« »Jetzt wird mir alles klar. Melissa klingelt an der Tür, Provoost öffnet, Baert legt ihm Handschellen an und quetscht ihn aus.« »So lautet Baerts Version«, bestätigte Van In. Er legte den Sicherheitsgurt wieder an, als der Tacho auf über hundertdreißig kletterte. Im Laufe ihrer Unter322
haltung waren sie wieder hinter den Polizeifahrzeugen zurückgefallen. »Dani Baert wurde also 1985 ermordet.« Van In schüttelte den Kopf. »Baert sagte, er habe seinen Bruder 1986 zum letzten Mal gesehen. Dani war kurz zuvor aus den Niederlanden zurückgekehrt, wo er eine Brustoperation hatte durchführen lassen. Doch er war nicht zufrieden mit dem Resultat, deshalb brauchte er erneut Geld für eine Korrektur.« Innerhalb von fünf Minuten stand die gesamte Nachbarschaft auf der Straße. Commissaris Decloedt von der Waardamer Polizei beaufsichtigte die Aktion, während seine Brügger Kollegen die Tür des Maklerbüros VerVoort aufbrachen. Das war zwar ungesetzlich, aber der Staatsanwalt hatte ihm versichert, dass er die volle Verantwortung für diesen Einsatz übernehmen würde. Nach der Affäre mit den verschwundenen Mädchen konnte sich die Justiz wieder so einiges herausnehmen. Die Beamten gingen gründlich zu Werke. Eine Viertelstunde später sahen die Geschäftsräume von VerVoort aus, als sei ein Tornado hindurchgefegt. Die Gäste nahmen auf den Klappstühlen Platz, die außerhalb des Scheinwerferlichts aufgestellt worden waren. Carine hörte das Stimmengewirr. Sie krümmte sich zusammen. Das Licht schien durch die Augenbinde hindurch. Johan Brys schob den kleinen Servierwagen vor sich her. Vervoort hielt ihm die Tür auf. Der Minister war nackt, bis auf die Lederkappe. Auf dem Servierwagen lagen die Messer, Zangen und Ahlen, die er gleich benut323
zen würde. Beim Auftritt des Henkers durchfuhr das Publikum ein Schauer der Lust. Guido Versavel betrat die Immobilienfirma. Er sah müde und blass aus. Hannelore zwinkerte ihm freundschaftlich zu und zeigte nach hinten. Im Büro Vervoorts hörte man Glas splittern und Holz krachen. »Pieter ist völlig durchgedreht, als er gemerkt hat, dass auch hier nichts zu finden ist«, sagte sie besorgt. »Er reißt noch das ganze Haus ab.« Versavel hatte in den letzten Tagen am eigenen Leibe erfahren, wie sich Ohnmacht anfühlte. Er öffnete die Tür einen Spalt und steckte den Kopf hinein. Das Zimmer sah aus, als hätten die Vandalen gehaust. Van In trat wie ein Wilder um sich. »Hebst du dir die Fenster bis zuletzt auf?«, fragte Versavel sarkastisch. Van In schaute auf. Sein wilder Blick hätte ein ganzes Sondereinsatzkommando abgeschreckt. Er griff nach einem lädierten Bürostuhl und warf ihn in hohem Bogen durch das geschlossene Fenster. »Zufrieden?« Versavel ging hinein. »Hannelore hat mich angerufen«, sagte er. »Sie hat Angst, du würdest dir etwas antun.« »Und was dann?« Versavel ging langsam auf ihn zu, wobei er sich behände zwischen den Scherben hindurchlavierte. »Du nützt Carine Neels überhaupt nichts, indem du hier so wütest.« »Ach nein?« Van In trat mit dem Schuhabsatz auf eine PC-Tastatur ein. Die Hälfte des Alphabets flog durch die Gegend. 324
»Im Foyer hängt ein großer Spiegel«, bemerkte Versavel trocken. Van In zog den Fuß aus der zerstörten Tastatur. Er musterte Versavel durchdringend und fuhr sich nervös durch sein verschwitztes Haar. »Kannst du ein Kaninchen aus dem Hut zaubern?«, fragte er verzweifelt. »Vielleicht«, antwortete Versavel ruhig. »Was heißt hier vielleicht?« Versavel zog einige zusammengefaltete Blätter Papier aus der Innentasche seiner Jacke. »Erinnerst du dich noch daran, dass du mich gebeten hattest, den Aufenthaltsort von Catrysse festzustellen?« Van In trat mit einem großen Schritt über den Schutt hinweg. Seine Stirn war gerunzelt wie ein Apfel, der den ganzen Winter über auf dem Speicher gelagert wurde. »Catrysse wohnt in einem alten Bauernhof, der Vandaele gehört.« Als Hannelore merkte, dass Van In seine Abrissarbeiten beendet hatte, kam sie ebenfalls herein. »Und warum sagst du das erst jetzt?«, rief Van In. Versavel entschuldigte sich. »Ich war bis obenhin voll mit Beruhigungsmitteln, Pieter. Erst als Hannelore mich angerufen hat, wurde mir klar …« »Okay, okay«, unterbrach ihn Van In gereizt. »Catrysse wohnt in einem Bauernhof, der Vandaele gehört und arbeitet als Gärtner für den Verein. Was hast du sonst noch?« »Catrysse ist bei uns aktenkundig«, fuhr Versavel fort. »1982 wurde er zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er ein Nachbarmädchen vergewaltigt hatte.« »O je!«, seufzte Hannelore. »Baert muss auch dahinter gekommen sein«, sagte Versavel. 325
»Hat aber geschwiegen, weil Vandaele ihn dazu zwang.« Van In brauchte nicht lange nachzudenken. Wenn Vandaele Catrysse geschützt hatte, musste er einen verdammt guten Grund dazu gehabt haben. Nach dem Mord an Dani hatte er De Love aufgegeben. Es schien logisch, dass sie auf einen anderen Ort ausgewichen waren. »Sag Beekman Bescheid!«, rief er Hannelore zu. »Bin mal gespannt, was unser Gärtner gerade so treibt!« Von John Catrysse wurde erwartet, dass er die Zufahrt zum Bauernhof im Auge behielt. Aber nun, wo alle Gäste eingetroffen waren, konnte er es nicht lassen, in den Keller zu schleichen und heimlich ebenfalls das Schauspiel zu genießen. Carine Neels erstarrte, als sie die Lederkappe sah, weniger als dreißig Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Vervoort ließ die Kamera laufen. Es konnte noch eine Weile dauern, bis Brys seinen Höhepunkt erreichte. Hannelore holte das Letzte aus dem Twingo heraus. Das Lenkrad in ihren Händen vibrierte ebenso heftig wie die Tachonadel. Van In zog die Pistole aus seinem Schulterholster und legte sie auf seinen Schoß. Die Streifenwagen folgten in weniger als fünfhundert Metern mit kreisenden Blaulichtern, jedoch ohne Sirenen. Catrysse achtete nicht auf das Knirschen der Räder, die über den Kies der Auffahrt schlidderten. Er war wie gebannt von dem Schauspiel. Nach zehn Minuten hatte der Henker endlich seinen Orgasmus gehabt. Der magere Kerl brauchte immer viel Zeit. Catrysse fragte sich, wer sich hinter der Maske verbarg. 326
Brys richtete sich auf. Carine öffnete langsam die Augen. Erst jetzt bemerkte sie den Servierwagen mit den Folterwerkzeugen. Ihr Geschrei ging durch Mark und Bein. Das Publikum murmelte anerkennend. Brys griff nach einer Nagelzange. Vervoort visierte Carines rechte Brust an, schüttelte den Kopf und bedeutete Brys, dass er noch warten solle. Brys nickte zustimmend. Er hatte den Ablauf vorher mit Vervoort durchgesprochen. Sie wandten die gleiche Methode an wie die Inquisition. Vor dem Einsatz zeigte er dem Opfer jedes Mal erst die Werkzeuge. Carines Geschrei hatte jetzt nichts Menschliches mehr. Brys wollte gerade die Zange an die Brustwarze ansetzen, als die Kellertür aufknallte und Van In in einer fließenden Bewegung seine Pistole auf den maskierten Mann richtete und dreimal feuerte. Das erste Geschoss traf Brys im rechten Auge, das zweite zerschmetterte ihm die Schulter und das dritte hinterließ ein sauberes Loch im Hinterkopf von Vervoort, der zufällig in der Schusslinie stand. Zehn Sekunden später rollte die erste Welle von Polizeibeamten über den Bauernhof von Catrysse hinweg, einige Zuschauer nutzten das Durcheinander, um sich aus dem Staub zu machen. Doch sie kamen nicht weit. Nach einer kurzen Verfolgungsjagd wurden sie gestellt. Hannelore zog ihre Jacke aus und kümmerte sich um Carine. Das Mädchen stand unter Schock und reagierte kaum auf den Tumult. »Statistisch gesehen hattest du eine Chance von eins zu hunderttausend«, bemerkte Versavel. »Der Mensch lebt nicht von statistischen Gesetzmäßigkeiten allein«, erwiderte Van In philosophisch. »Ich hätte es mir niemals verziehen, wenn wir fünf Minuten zu spät gekommen wären.« 327
Während die Beamten den Zuschauern Handschellen anlegten, ging Van In nach oben. Er brauchte frische Luft. Er fragte sich, in was für einer Welt sie lebten, nachdem der Henker und die Hälfte der Zuschauer identifiziert waren. Unter ihnen befanden sich auch Doktor De Jaegher, der inkompetente Gerichtsmediziner, und Melchior Muys, der korrupte Steuerprüfer. Van In schaute hinauf zu den Sternen. Er hoffte, dass es dort oben ein anderes Leben gab. Hannelore stellte die dampfenden Teller auf den Tisch. Es war über drei Monate her, dass sie zuletzt Fritten zubereitet hatte, aber Not kannte kein Gebot. Van In hatte seit gestern Abend kaum etwas zu sich genommen. »Guido.« Versavel hatte es sich am offenen Kamin bequem gemacht. Nach einer Viertelstunde waren ihm die Augen zugefallen, und jetzt schlief er den Schlaf der Gerechten. »Lass ihn doch«, sagte Hannelore. »Wir haben noch Käse im Kühlschrank, falls er gleich wach wird und Hunger hat.« Van In verschlang schweigend die Fritten und nahm sich reichlich von der Mayonnaise. »Ich frage mich, was die Zeitungen morgen schreiben werden«, fragte er sich laut zwischen zwei Bissen. »Polizist erschießt Außenminister«, antwortete Hannelore trocken. »Morgen bist du der berühmteste Mann in ganz Flandern.« Van In tunkte die letzten Fritten in die fettige Mayonnaise. »Der Mistkerl hat seinen verdienten Lohn erhalten. Jetzt kann niemand mehr den Fall einfach so unter den Teppich kehren.« 328
Er schob seinen Teller beiseite und zündete sich eine Zigarette an. »Du musst gerade von ›unter den Teppich kehren‹ reden«, antwortete Hannelore kritisch. »Was willst du denn damit sagen?« Hannelore spießte eine Fritte auf ihre Gabel. »Wenn ich dich richtig verstehe, hast du nicht vor, Baert strafrechtlich zu verfolgen.« Van In inhalierte tief. »Im Vergleich zu den Schweinereien der hochgestellten Herrn ist Baerts Verbrechen eine Lappalie. Provoost und Brys haben ihren verdienten Lohn gekriegt. Ich sehe nicht ein, warum wir mit einem kostspieligen Prozess die Staatskasse belasten sollten. Die Gerechtigkeit hat gesiegt. Niemand wird im Nachhinein noch Fragen stellen.« Hannelore schluckte. Im Prinzip hatte er Recht, aber als stellvertretende Staatsanwältin musste sie dafür sorgen, dass alles mit rechten Dingen zuging. »Es sei denn, die Staatsanwaltschaft will Baert anklagen«, sagte Van In phlegmatisch. »Okay. Ich kann mir vorstellen, dass Beekman keine Einwände haben wird. Aber was machen wir mit Aerts?« »Aerts hat seine Mitschuld gestanden«, sagte Van In. »Sein Geständnis habe ich schwarz auf weiß. Aber mit ein bisschen Glück wird er freigesprochen.« Er zog die Erklärung von Aerts aus der Innentasche seines Sakkos. »Unser Freund kennt sich aus. Er hat sich mehr oder weniger selbst angezeigt und beruft sich auf das Prinzip der Straffreiheit für Taten, die unter Zwang begangen wurden. Außerdem sind alle, die gegen ihn aussagen könnten, tot. Also was soll’s. Die wahren Schuldigen sind verurteilt und bestraft worden.« 329
Hannelore las das Geständnis von Aerts. Van In entkorkte eine Flasche Moselwein und machte es sich neben dem schnarchenden Versavel bequem. »Sagtest du nicht, Dani hätte sich 1986 einer Brustoperation unterzogen?«, fragte Hannelore nach einer Weile. Van In kämpfte gegen den Schlaf. »Ja. Was ist denn damit?« Hannelore las die entsprechende Passage erneut. »Aerts behauptet aber, der Vorfall habe sich im Oktober 1985 abgespielt.« »Verdammt nochmal!«, fluchte Van In. »Was ist denn?« »Wenn das stimmt, hat Aerts mich an der Nase herumgeführt.« William Aerts schaute sich in seiner Zelle die Abendnachrichten an. Das ganze Land war in heller Aufregung, nachdem bekannt geworden war, dass der Außenminister bei Aufnahmen zu einem Snuffmovie erschossen wurde. Aerts begriff, dass das Spiel aus war. Die Justizbehörden würden ihn nicht eher laufen lassen, als bis jede einzelne Aussage auf Herz und Nieren überprüft worden war. Jos Brouwers kam nach Hause in seine prächtige Villa, die er ein Jahr zuvor gekauft hatte. Dieser Kauf hatte die Erfüllung seines letzten Traums bedeutet. Das Haus sollte sein ultimatives Statussymbol werden, ein sichtbares Zeichen seiner erfolgreichen Karriere und eine Verneigung vor Gerda, die all die Jahre für ihn gesorgt hatte. In dieser Reihenfolge. Doch Gerda würde nicht mehr nach Hause zurückkehren. Vor zwei Wochen hatte sie ihre Koffer gepackt. Sie habe es satt, immer in seinem Schatten 330
zu stehen, hatte sie gesagt, und die verlorene Zeit könne nie wieder nachgeholt werden. Gerda war der Meinung, sie habe endlich das Recht auf ein eigenes Leben. Die Reise in die Karibik war eine Lüge gewesen, die er Vandaele aufgetischt hatte, weil er lieber tot umgefallen wäre, als zuzugeben, dass seine Ehe gescheitert war. Brouwers dachte an das Pärchen auf Malta. Erneut sah er die Kutsche vorüberfahren. Der Mann hatte der Frau etwas zu trinken eingeschenkt. Sie winkten und wirkten durch und durch glücklich. Sogar Brooks war besser dran als er. Die sinnliche Penelope war wenigstens für ihn da, wenn er sie brauchte. Brouwers schenkte sich ein Glas Cognac ein und öffnete anschließend den Tresor. Aus dem Arsenal an Handfeuerwaffen, die er darin aufbewahrte, wählte er eine israelische Pistole, ein Sammlerstück, für das er eine Stange Geld hingelegt hatte. Brouwers trank einen Schluck von dem Cognac, schob den Lauf der Pistole in den Mund und drückte ab. Brouwers starb ebenso banal wie er gelebt hatte, aber das war ihm völlig gleichgültig. Van In rüttelte Versavel wach. »Komm, es gibt Arbeit, Guido.« Hannelore legte den Telefonhörer auf. Sie hatte zuerst Beekman und anschließend den Gefängnisdirektor angerufen. »Wir können Aerts in einer Viertelstunde vernehmen«, sagte sie zufrieden. William Aerts wurde von drei Vollzugsbeamten zum Besucherraum geführt. Plötzlich hatte er den Status eines gefährlichen Straftäters inne. Aerts graute vor dem hohlen Echo seiner eigenen Schritte. Gleich würde Van In ihn verhören. Der Zeitpunkt der Vernehmung war nicht 331
zufällig gewählt. Der Commissaris hatte herausgefunden, dass er gelogen hatte. Während er durch die Gänge wanderte, lief in seinem Kopf der ganze Film noch einmal ab. Provoost hatte ihn an dem bewussten Abend angerufen. Es sei ein Unfall passiert. Dani sei tot. William sollte sich um das Verschwinden der Leiche kümmern, und Vandaele war bereit, ihm eine hohe Summe dafür zu bezahlen. William schleppte die Leiche in den Kofferraum seines Wagens. Als er die Klappe schließen wollte, hörte er ein Stöhnen. Dani lebte noch. William machte ihm einen Vorschlag. Wenn er den Mund hielte und in die Niederlande ginge, würde William ihm hunderttausend Francs bezahlen. Alles verlief reibungslos, bis Dani sechs Monate später wieder auftauchte und mehr Geld verlangte, für eine weitere Operation. Falls William nicht zahlte, drohte Dani damit, Provoost unter Druck zu setzen. Mit diesen Worten hatte er jedoch sein eigenes Todesurteil unterzeichnet. In einem Anfall von Panik nahm William den Transsexuellen in den Schwitzkasten und brach ihm das Genick. Er begrub die Leiche auf dem Grundstück von De Love. Auf diese Art und Weise konnte er Provoost und Brys weiterhin erpressen. Van In parkte den Twingo vor dem Gefängnis. Der Himmel war klar. Tausende Sterne erhellten die Dunkelheit. »Apropos«, sagte Hannelore, als sie ausstiegen. »In all der Hektik habe ich eines völlig vergessen.« Van In schloss die Türen ab. »Hast du das Bügeleisen nicht ausgeschaltet?«, fragte er lakonisch. Hannelore kannte ihren Mann, und sie mochte die Art, wie er unter bestimmten Umständen mit seinem ganz eigenen Humor reagierte. 332
»Nein«, erwiderte sie lächelnd. »Das Ergebnis der Fruchtwasseruntersuchung war negativ. Wenn alles nach Wunsch verläuft, bekommen wir in wenigen Monaten ein gesundes Baby.« Van In zog seine letzte Zigarette aus der Packung. Der Rauch brachte seine Augen zum Tränen. Oder bildete er sich das nur ein?
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Brügge
Brügge – Stadtplan
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1. Burg 2. Vismarkt 3. Jozef Suveestraat 4. Astridpark 5. Pandreitje 6. Huidenvettersplein und Mozarthuys 7. Dijver und Europa-College 8. Standbild von Guido Gezelleplein 9. Katelijnestraat und Restaurant »Malesherbes« 10. Walpleintje und Restaurant »Heer Halewyn« 11. Wijngaardstraat und Beginenhof 12. Minnewater 13. Liebfrauenkirche 14. Steenstraat 15. Kleine St.-Amandsstraat 16. Geldmuntstraat 17. Eiermarkt 18. St.-Jacobsstraat 19. St.-Jacobskerk 20. de Vette Visport 21. Grauwwerkersstraat 22. Academiestraat 23. Jan Van Eyckplein 24. Spinolarei 25. Kraanplein 26. Vlamingstraat 27. Markt 28. Wollestraat 29. Breydelstraat
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