Sergio Ghione ist Arzt und Forscher beim Nationalen Forschungsrat Italiens. Seine Leidenschaft für Inseln veranlasste i...
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Sergio Ghione ist Arzt und Forscher beim Nationalen Forschungsrat Italiens. Seine Leidenschaft für Inseln veranlasste ihn 1997, ein Team von Meeresbiologen auf die Insel Ascension zu begleiten. Sergio Ghione lebt mit seiner Familie in Pisa.
Sergio Ghione
Die Insel der Schildkröten Ein ungelöstes Rätsel im Atlantik
Aus dem Italienischen von Andreas Simon
Campus Verlag Frankfurt/New York
Die italienische Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel »L'isola delle tartarughe « bei Gius. Laterza & Figli SpA. © Guis Laterza & Figli SpA, 2000. This translation of »L'isola delle tartarughe« is published by arrangement with Gius. Laterza & Figli SpA, Romana-Bari. Redaktion: Dr. Barbara Werner, Stuttgart
Die Deutsche Bibliothek – CIP- Einhe itsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 3-593-36798-X Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2002 Campus Verlag GmbH, Frankfurt/Main Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Satz: Fotosatz L. Huhn, Maintal- Bischofsheim Druck und Bindung: Druckhaus Beltz, Hemsbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei geble ichtem Papier. Printed in Germany
Meinem Vater
There is something about a small island that satisfies the heart of man. [Eine kleine Insel hat etwas, das zu unserem Herzen spricht.] Ronald M. Lockley Islands around Britain, 1945
Inhalt
Vorwort 11 Die Insel der Schildkröten 17 Epilog 188 Anhang 190 Sankt Helena 190 Im Netz 206 Danksagung 208
Vorwort
»Sergio, hier ist Floriano, ich habe versucht, dich im Krankenhaus zu erreichen, aber du warst schon weg. Ich habe eine gute Nachricht für dich. Ruf mich zurück, sobald du kannst.« Es war einige Monate her, seit Floriano Papi von seinem Wunsch gesprochen hatte, nach Ascension zu fliegen; danach hatte ich nichts wieder von ihm gehört. Floriano, Biologieprofessor und einer der bedeutendsten Experten für Tiernavigation und Tierorientierung auf der Welt, ist ein Studienfreund meines Vaters. Mittlerweile ist er auch mein Freund geworden: Wir teilen die Hobbys Malerei und Schach und arbeiten darüber hinaus zusammen an einer Reihe von Forschungsprojekten. Floriano ist es zusammen mit anderen gleichaltrigen Kollegen gelungen, seine Pensionierung zu verschieben, obwohl sie eigentlich jetzt anstünde. Er hat zwei weitere Jahre herausgeholt und hegt trotz seines Alters eine gesunde und ein wenig waghalsige Leidenschaft für seine Arbeit. In der letzten Zeit konzentriert sich sein Interesse auf Meeresschildkröten – auf jene außergewöhnlichen Tiere also, die in den warmen Meeren beheimatet sind und äußerst lange Reisen durch die offene See zurücklegen kön-
nen, bei denen sie mit schier unglaublicher Genauigkeit ihr Ziel erreichen. Floriano ist mit Paolo Luschi, einem Forscher seines Instituts, schon mehrfach nach Malaysia und Südafrika gereist, um die Wanderlust der Schildkröten zu studieren. Aber der faszinierendste Ort, um dem Geheimnis dieser Tiere näher zu kommen, bleibt die Insel Ascension. Ascension liegt inmitten des Atlantischen Ozeans etwas südlich vom Äquator. Die englische Kolonie ist vielleicht das entlegenste Eiland der Welt. Im Südosten ist der nächste Flecken Erde die Insel Sankt Helena, von der aus Ascension verwaltet wird. Sie liegt 1 500 Kilometer entfernt. Nach Norden hin sind es bis zur afrikanischen Kontinentalküste Liberias ebenfalls 1 500 Kilometer. Im Westen findet sich der westlichste Zipfel Brasiliens, die Stadt Recife, in 2 200 Kilometern Entfernung, im Osten sind es 3 000 Kilometer bis Luanda, der Hauptstadt Angolas. Nach Süden erstreckt sich bis zur Antarktis das offene Meer. Für diejenigen, die wie ich Gefallen an solchen Vergleichen finden: Befände sich Rom in einer solchen geografischen Lage, wäre von dort aus gesehen das nächstgelegene Land eine kleine Insel in der Nähe von Rhodos im Ägäischen Meer und alles ringsherum wäre offene See bis nach Kopenhagen im Norden, Baku am Kaspischen Meer im Osten, bis zum Atlantik auf halbem Weg zwischen Portugal und den Azoren im Westen und Südafrika im Süden. In Ascension kommen jedes Jahr die Meeresschildkröten an – die »Suppenschildkröten« oder, wenn Sie den gelehrten Namen vorziehen, die Chelonia mydas. Gewöhnlich leben sie nicht in den Gewässern der Insel, aber sie kommen dorthin zur Eiablage. Zwischen Januar und Mai landen sie zu Tausenden. Wie sie es schaffen, ohne offen-
kundige Orientierungspunkte inmitten des Ozeans eine so kleine und entlegene Insel zu finden, ist bis heute ein Rätsel. Und dieses Geheimnis ist es, dem unsere Expedition auf den Grund gehen will. Beginnen wollen wir damit, die Wanderwege einiger Schildkröten auf ihrem Rückweg zu rekonstruieren, indem wir auf ihrem Rücken (oder auf ihrem Rückenschild, wie die genaue Bezeichnung lautet) einen Sender anbringen, um via Satellit ihren Weg zu verfolgen. Floriano und Paolo haben einen englischen Mitstreiter gefunden, auch er ein Meeresbiologe, der sich für die Schildkröten interessiert und vor einigen Jahren schon einmal in Ascension war. Zusammen mit ihm haben sie ein Forschungsvorhaben vorgelegt, das gerade bewilligt wurde. Eben dies ist die Neuigkeit, die mir Floriano bei seinem Anruf mitteilt. Ja, das Projekt ist genehmigt, der Weg nach Ascension ist frei – und ich kann mitkommen, wenn ich mich an den Kosten beteilige. Ich kann es kaum glauben. Einige Monate später – es ist Ende April – befinde ich mich im Autobus, der mich von Gatwick nach Oxford bringt, um dort Floriano und die anderen zu treffen und mit ihnen noch am selben Abend nach Ascension abzureisen. Ein Freund gestand mir einmal seine etwas verrückte Leidenschaft für Brücken, nicht nur als Bauwerke (er hat eine Sammlung sehr schöner Fotos), sondern auch, wie ich glaube, weil sie etwas in ihm wachrufen. Dieser Freund ist Jude, und vielleicht ist seine ein wenig verschämte Vorliebe für etwas, das die Überwindung von Barrieren erlaubt und
den Austausch zwischen Menschen, von Waren und Ideen erleichtert, kein Zufall: Sie symbolisieren die – gelungene – Überwindung von Hindernissen. Meine Leidenschaft waren immer die Inseln, eine andere, in gewisser Weise entgegengesetzte geografische Metapher. Als mir Floriano daher eines Tages von seinem Plan erzählte, nach Ascension zu fliegen, rutschte mir sofort heraus, dass dies einer meiner Lebensträume sei. Das war noch nicht die ganze Wahrheit, aber sie kam der eigentlichen Wahrheit schon sehr nahe. Ich wusste zum Beispiel haargenau, wo die Insel Ascension liegt – wie ich im Übrigen genau weiß, wo die Cookinseln, die Hebriden, die Marquesasinseln, Tristão da Cuña, Pitcairn und viele andere liegen. Es ist eine Neugier, die in früher Jugend durch die Lektüre der Odyssee, der Schatzinsel oder Robinson geweckt wird und bei mir vielleicht sogar schon früher, in der Kindheit, entstanden ist. Ich erinnere mich, dass mir mein Vater, als ich drei oder vier Jahre alt war, jeden Abend einige Seiten von Jules Vernes Die geheimnisvolle Insel vorlas. Ich habe das Buch nie gelesen – und verspüre auch heute nicht das Bedürfnis. Lieber bewahre ich meine eigene verworrene und fantastische Erinnerung an die Geschichte einiger Figuren, Schiffbrüchige, wie ich mich zu entsinnen glaube, zu denen vielleicht ein Kind und ein Hund gehörten, die glücklich auf einer – natürlich geheimnisvollen Insel – strandeten, unbewohnt, aber voller Hinweise darauf, dass dort jemand lebte, wobei es sich, wenn ich nicht irre, um Kapitän Nemo handelte, der gerade Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer hinter sich hatte. Vor der Reise war mir die Insel Ascension bereits zweimal »begegnet«, das erste Mal, als ich noch zur Schule
ging. Sie verdankt ihren Namen der Tatsache, dass sie am Fest Christi Himmelfahrt entdeckt wurde – oder, wie wir noch sehen werden, wiederentdeckt wurde –, also an jenem Tag, an dem die christliche Religion nach Tod und Auferstehung die »Auffahrt« Christi in den Himmel feiert. Ich ging damals auf das deutsche Gymnasium, und im Klassenbuch stand auf Deutsch: »Himmelfahrt frei.« Zum Spaß hatten wir Schüler hinzugefügt: »Kinder und Soldaten: die Hälfte.« Wir waren stolz auf das Wortspiel – ich erinnere mich, dass der Geistesblitz von mir war und amüsierten uns köstlich darüber. Nicht so unser Lehrer, der den Witz nicht nur nicht zu schätzen wusste – ja vielleicht nicht einmal verstand –, sondern darin auch ich weiß nicht was für ein schlimmes Vergehen witterte. Die Geschichte ging glimpflich aus, aber vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir die Macht und Gefährlichkeit der menschlichen Stumpfheit bewusst. Meine zweite Begegnung mit Ascension geht auf den Falklandkrieg 1982 zurück, als meine kleinste Tochter wenige Monate alt war. Freunde, die für ein Jahr in die USA gegangen waren, hatten uns ihren Farbfernseher überlassen. Ascension tauchte häufig in den Nachrichten auf, weil es den Engländern, die allerdings eine eiserne Nachrichtensperre verhängt hatten, als vorgeschobener Stützpunkt diente. Diese Insel ließ in mir eine vage und unbefriedigte Neugier zurück.
I
In den langen Wintermonaten, die der Abreise vorausgingen, wollte ich mich so gut wie möglich sachkundig machen. Aber über dieses Eiland, verloren inmitten des Atlantiks, war nur sehr wenig zu erfahren. Immerhin fand ich beim Surfen im Internet heraus, dass Ascension eine Vulkaninsel ist, mit einer Fläche von 90 Kilometern (mehr oder weniger ein Drittel so groß wie die Insel Elba). Äußerst spärlich bewachsen, ist sie ein wichtiger strategischer Knotenpunkt für die Engländer und mehr noch für die Amerikaner, die dort einen Luftstützpunkt und eine Reihe von Systemen zur Raketenortung und Satellitenkommunikation errichtet haben. Es gibt dort keinen Tourismus, keine Hotels, Restaurants oder öffentlichen Transportmittel. Ascension ist eine »geschlossene« Insel, auf die man nur in Militärflugzeugen mit Zustimmung des britischen Verteidigungsministeriums gelangt. 1989 zählte die ansässige Bevölkerung 1127 Seelen. Wer heute genug Geld und Zeit hat, kann touristische Pauschalreisen in fast jeden Winkel der Welt buchen – von den Galapagosinseln bis zur Halbinsel Kamtschatka, von der Antarktis bis in die Mongolei, vom Nordpol bis zur Osterinsel – aber nicht auf die Insel Ascension. Sie bleibt bis heute von jedem Tourismus abgeschnitten, so
exotisch, alternativ oder teuer die Reiseziele sonst auch sein mögen. Aber was sollte ich eigentlich einen Monat lang auf Ascension? Das fragte ich mich im Bus, der mich Ende April vom Flughafen nach Oxford brachte, wo Floriano und Paolo bereits einige Tage zuvor zu einem Kongress eingetroffen waren. Das überschäumende Glück der ersten Momente, nachdem mich die Nachricht erreicht hatte, hielt sich monatelang. Ich sagte es allen, erzählte immer wieder davon, so oft, dass mich meine Kollegen im Krankenhaus schon damit aufzuziehen begannen. Je näher der Zeitpunkt der Abreise rückte, desto stärker kühlte meine Begeisterung ab. Fast gestand ich es mir selbst nicht ein. Mir kam ein Aphorismus der Wiener Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach in den Sinn, der ungefähr lautete: »Ich hatte mich so gefreut auf das, was geschehen sollte. Dann traf es nicht ein. Warum sollte ich jetzt verzweifeln? Warum kann ich mich nicht mit dem Glück begnügen, das mich glauben ließ, es würde geschehen?« Warum wollte ich mich nicht einfach damit zufrieden geben, was hätte sein können, aber dann doch nicht eingetroffen war? So klein der Schritt alles in allem war, für mich war er neu: Ich spürte, wie mich in diesen Gedanken die Mutlosigkeit beschlich. Einen Traum zu verwirklichen ist keine kleine Sache, und eine vage Unsicherheit befiel mich. Aber eine andere Stimme sagte: Hic Rhodus, hic salta! Dies ist eine Geschichte, die dem griechischen Fabeldichter Äsop zugeschrieben wird. Irgendjemand rühmt sich eines sagenhaft großen Sprungs, den er auf Rhodos getan haben will. Sein Zuhörer erwidert: »Gut, wenn du dazu auf Rhodos in der Lage warst, versuch es hier erneut.
Stell dir vor, hier ist Rhodos, und spring.« Und auch Rhodos ist eine Insel. Das alles ging mir durch den Kopf, als der Bus durch die englische Landschaft fuhr. Unter dem durchsichtigen, wolkenschweren Aprilhimmel breiteten sich wogend die Frühlingsfelder aus, die Hecken, die über die Weiden verstreuten Herden, die Dörfer mit ihren kleinen Häusern aus rotem Backstein, die viergeteilten, von großen weißen Simsen gerahmten Fenster und die Schieferdächer – die verzauberte Landschaft Südenglands. In Oxford angekommen, sind meine Hirngespinste mit einem Mal verflogen. Am Busbahnhof erwartet mich Paolo. Das Wetter ist umgeschlagen, der Wind pfeift, und es ist kalt. Floriano hat sich in eine Bar geflüchtet und liest begierig eine italienische Zeitung, die ich kurz vor der Abreise gekauft hatte. Brize Norton, in der Nähe von Oxford, ist der Militärstützpunkt, von dem aus zweimal die Woche eine Maschine zu den Falklandinseln startet – mit Zwischenstopp auf der Insel Ascension. Linienflüge gibt es nicht. Wir nehmen ein Taxi zum kleinen Flughafen, eines der üblichen, unwahrscheinlich großen und quadratischen englischen Taxis, das ein seraphischer Pakistaner steuert, der angesichts unseres umfangreichen und vielteiligen Gepäcks nicht die Fassung verliert. Tatsächlich gelingt es uns, wenn auch mit Schwierigkeiten, alles zu verstauen, einschließlich der »Mumie«. Dabei handelt es sich um einen Sack, so lang und breit wie ein Mensch, mit den Bauteilen eines »Schildkrötenkäfigs«, der in Florianos Institut entworfen wurde. Er soll dazu dienen, die Tiere festzuhalten, während wir die Sender anbringen.
Der Verkehr wird nach und nach weniger, als wir Oxford verlassen. Dann fahren wir übers Land, gelangen zur kleinen Ortschaft Brize Norton und schließlich zum Luftwaffenstützpunkt. Am Eingang erwartet uns unser britischer Kollege Graeme Hays. Er ist Meeresbiologe, arbeitet an der Universität von Wales und war bereits vor fünf Jahren für drei Monate in Ascension. Er ist 30, im gleichen Alter wie Paolo, wirkt aber kaum älter als ein Jugendlicher. Am Eingang werden wir zügig und nicht allzu gründlich kontrolliert, obwohl es sich um eine Militäreinrichtung handelt und die Briten allerhand Probleme mit den Iren haben. Für alle Fälle steht auf der Rückseite des Passierscheins, den man uns ausstellt, in großen Lettern: STAY ALERT – STAY ALIVE (Bleib wachsam, bleib am Leben).
Wir haben keine genaue Vorstellung davon, wie wir am besten wachsam bleiben können. Aber da wir uns alle einig darin sind, wie gut es wäre, am Leben zu bleiben, sagen wir, jeder auf seine Weise, unsere diesbezüglichen Beschwörungsformeln auf. Wir werden zum Flugplatz geleitet. »Was ist das?«, fragt uns in strengem Ton ein Militärpolizist, der den Zugang bewacht, und zeigt auf die Mumie. »Ein Käfig für Schildkröten«, erklären wir ihm. Ich und Paolo, einer vorne, der andere hinten, halten das Gepäckstück hoch, ein Anblick, der die Laune des Polizisten nicht sonderlich hebt. Zu unserer Erleichterung schreitet Graeme, unser englischer Kollege, rasch ein. Schließlich gelingt es uns, das Gepäck ohne größere Schwierigkeiten aufzugeben, einschließlich der Mumie. Ich betrachte den Flugplan: Zypern (24 Stunden Verspätung), Dubai, Ascension – Mount Pleasant, Gibraltar. Es
sind die letzten Überseestützpunkte, die Großbritannien geblieben sind. Der Wartesaal ist leer und schmucklos, an den Wänden hängen einige Fotos von Militärflugzeugen, doch schließlich füllt er sich langsam. Es sind fast alles junge Männer, Soldaten in Zivil. Nur wenige Frauen, einige mit männlichen Zügen und wenig ansprechend, andere trotz ihres militärischen Gepräges reizend und interessant. Die meisten rauchen, plaudern in gedämpftem Ton, und fast alle haben eine Dose Bier in der Hand. Ab und zu kündigt der Lautsprecher etwas an oder ruft jemanden aus. Ton und Inhalt dieser Botschaften verraten, dass wir uns in einem militärischen Umfeld bewegen: nicht die übliche weiche Frauenstimme, sondern eine männliche, trockene und schnell sprechende Stimme. Bei der Ankündigung von Verboten werden unmissverständlich die Strafen genannt, die die Nichtbeachtung nach sich zieht. Es ist zum Beispiel verboten, alkoholische Getränke mit an Bord zu nehmen. Wer dabei ertappt wird, hat mit Disziplinarmaßnahmen zu rechnen. Als wir uns in die Reihe stellen, um an Bord zu gehen, setze ich mir meinen australischen Hut auf, den ich einige Jahre zuvor in Melbourne gekauft hatte, Typ »Crocodile Dundee«. Ich werde sofort zurechtgewiesen: Die erlaubte Bekleidung sieht keinen Cowboyhut vor. Ich muss ihn also in der Hand halten. Draußen, wo jetzt die Nacht hereingebrochen ist, erwartet uns, beleuchtet von Scheinwerfern, die große weiße Tristar mit dem Abzeichen der Royal Air Force, das an die französische Trikolore erinnert. Die Neigung der Briten zu so vielen verschiedenen Fahnen ist schon merkwürdig: Es gibt den Union Jack für das Vereinigte Königreich, jeweils eine eigene Flagge für England, Wales und Schott-
land, eine Fahne für die Handelsmarine, die sich davon wieder unterscheidet (ganz rot mit dem Union Jack in einer Ecke), eine weitere für die Kriegsmarine und diese Flagge der Royal Air Force aus drei konzentrischen Kreisen in Rot, Weiß und Blau, die wesentlich besser zur französischen Luftwaffe zu passen scheint. Von außen wirkt die Tristar wie ein Zivilflugzeug, aber als wir an Bord gehen, wird uns sofort der Unterschied klar. Es herrscht ein weit spartanischerer und einförmigerer Stil, und es gibt keine Unterteilung in verschiedene Klassen. Im vorderen Teil fehlt eine ganze seitliche Sitzreihe, die durch seltsame Gestelle ersetzt wurde. Ihre wahre Bestimmung geht mir später auf, als ich nach dem Abheben wieder aufstehen darf und neugierig herumgehe. Es sind Ständer für Tragbahren. Es geht los. Ich verfolge eine Weile vom Fenster aus das Vorbeiziehen der wie an Schnüren aufgereihten gelb-orangen Straßenbeleuchtung, dann verschwindet alles in den Wolken. Wir haben einen achtstündigen Flug vor uns.
II
Wie immer, wenn ich mich in einem Flugzeug befinde, schlafe ich wenig und schlecht. Ich habe gegessen und getrunken, ein bisschen von dem Film gesehen, der gezeigt wurde, und die vertraute, ganz besondere Atmosphäre eines Nachtflugs genossen. Viele schlafen, der eine oder andere liest, einige reden. Im Halbdunkel scheint sich eine seltsame Vertrautheit einzustellen. Es ist jedoch auch ein Flug, der sich von anderen unterscheidet. Ich brauche ein bisschen, bis ich dahinterkomme: Die Flugbegleiter, die es auch hier gibt, benehmen sich schlicht, wie normale Menschen, und lächeln nicht die ganze Zeit. Einen Sonnenaufgang vom Flugzeug aus zu sehen ist immer bewegend. Durch das Fenster entdecke ich plötzlich draußen die ersten Zeichen des Tagesanbruchs. Eine blasse Linie am Horizont färbt sich langsam orange, darüber leuchtet ein feiner weißer Streifen auf, der nach oben in ein wunderschönes Hellblau übergeht, dann in intensives Blau, bis er in das Dunkel der Nacht eintaucht. Unter uns offenbart das erste Morgenlicht einen weitläufigen und bizarren Wolkenteppich aus schmutzigem Grau, voller fantastischer Gipfel aus helleren Wolkenbäuschen, die von dunkleren Furchen durchzogen sind.
Der Kapitän kündigt den Beginn des Landeanflugs auf Ascension an. Der Lärm der Motoren verändert sich, während das Flugzeug abtaucht und durch die Wolken stößt. Atmosphärische Turbulenzen bereiten uns allen vertraute Momente geheimer Panik. Das Meer taucht auf, bleiern und leer. Die Tristar legt sich in die Kurve, und plötzlich erscheint im fahlen Morgenlicht, dunkelviolett, ganz kurz ein Küstenstreifen, bevor sie wieder in die Horizontale schwenkt und uns graue Wolken umhüllen. Ich bin aufgeregt. Einsame Inseln faszinieren mich seit meiner Kindheit, denn sie ermöglichten meiner kindlichen Fantasie Reisen ins Geheimnisvolle. Der Ort der Verzauberung wurde dann zu einer fantastischen Welt der Erkundungen und Entdeckungen, aber auch zum Zufluchtsort. Sind Inseln nicht die vielleicht einzigen Orte auf der Welt, wo Utopien wahr werden können? Während ich noch in der Vergangenheit schwelge, kommen mir die ersten Worte über Ascension in den Sinn, die ich Monate zuvor im Internet gelesen hatte: »Es ist eine raue, trockene und unwirtliche Vulkaninsel.« Wie immer, wenn es mir gelungen ist, einen Fensterplatz zu ergattern, blicke ich angestrengt nach draußen. Das Meer rückt immer näher, zuletzt erscheinen der Erdboden und plötzlich die Landebahn. Das Flugzeug sinkt weiter. Dann setzt es auf dem Boden auf. Die Landschaft, die im unsicheren Licht des frühen Morgens rasch an uns vorbeizieht, während die Motoren zum letzten Mal aufheulen, ist beunruhigend. Da ist etwas, das nicht stimmt. Da ist gar nichts. Es gibt keinen Baum, keinen Strauch, kein bisschen
Grün – nur die Landebahn und die Farbe der Erde ringsum, ein eindringliches, dunkles Ziegelrot. Dann, noch während die Tristar bei der Bremsung große Fahrt macht, wölbt sich das Terrain brüsk auf, als ob das Flugzeug in einen Canyon glitte. Nicht weit entfernt ziehen auf halber Höhe die weißen und blauen Lichter vorbei, die bei normalen Flughäfen auf dem Boden die Grenzen der Landebahn markieren. Oben bemerke ich flüchtig eine große weiße Parabolantenne wie ein Radarbild und in geringer Entfernung eine zweite, noch größere. Das Flugzeug steht nun fast. Es ist am Ende seines Weges angelangt und wendet. Der Blick auf die andere Seite wird frei: kein Haus, keine Straße, kein Feld, kein auch noch so geringes Zeichen von Leben, nur Erde, Steine und seltsame Erhebungen. In der Ferne zeichnet sich gespenstisch ein wilder Berg gegen den perlfarbenen Himmel ab, von Wolkenfetzen umhüllt wie Dampf, der aus den Tiefen der Erde quillt. Plötzlich sehe ich vor meinem geistigen Auge Don Quixotes Windmühlen auftauchen: Auf einem Sattel zwischen zwei Gipfeln, entfernt und drohend, stehen vier Windgeneratoren mit ihren langsam kreisenden Flügeln. Als gigantische Wachposten dieses öden Landes lassen sie ununterbrochen ihre absurden Arme kreisen. Das Flugzeug hat seinen Stellplatz erreicht. Der Lautsprecher verkündet, dass der Aufenthalt in Ascension 45 Minuten betragen wird und warnt, dass es regnen könnte. Als ich auf die Gangway trete, verspüre ich das angenehme Gefühl des feuchtwarmen Windes, der einen in den Tropen umhüllt. Benommen überqueren wir zu Fuß die Landebahn. Ich sehe mich um: Es gibt kein einziges anderes Flugzeug, der Flughafen ist leer. Aber vor uns stehen – eine kleine Er-
leichterung, denn es scheint also wirklich jemand hier zu sein – ein Wagen der Feuerwehr, ein Krankenwagen und ich weiß nicht welche anderen Rettungsfahrzeuge, alle mit leuchtenden Scheinwerfern. Wir gehen weiter über einen kleinen umzäunten Platz, hinter dem das niedrige Flughafengebäude steht. »Welcome to RAF Ascension« begrüßt uns ein Schild. Kurz darauf bringt man uns in einen kleinen Wartesaal, zusammen mit den anderen drei oder vier Mitreisenden, die hier aussteigen. Die anderen bleiben draußen, sitzen auf den Bänken des Vorplatzes und warten auf den Aufruf, wieder an Bord zu gehen, um ihre Reise in noch einmal acht Stunden bis zu den Falklandinseln fortzusetzen. Es ist Ende April: In Europa ist es Frühling; hier, auch wenn es noch früher Morgen ist, kündigt sich bereits die kommende Tageshitze an. Auf den Falklandinseln, in Port Stanley, ist dagegen der erste Schnee gefallen, was den Abflug des Flugzeugs in der letzten Woche verzögert hatte. Ich fotografiere lieber nicht und lasse die Videokamera vorsichtshalber in der Tasche, sonst verstoße ich noch gegen irgendeine militärische Vorschrift und werde sofort wieder ausgewiesen. Als ich über die Landebahn laufe, empfinde ich plötzlich jene Genugtuung, die manchmal schon durch minimale Erkenntnisse hervorgerufen wird. Verrückt, denke ich, wirklich verrückt. Wo um alles in der Welt sind wir bloß gelandet? Auf dem Mond?
III
Portugiesische Seefahrer entdeckten die Insel Ascension, als sie einen Seeweg nach Indien suchten. Sie wollten das Handelsmonopol der Araber (und Venezianer) brechen und eine Route finden, die nicht der schrulligen Idee folgte, die Welt verkehrt herum zu umsegeln. Ende des 15. Jahrhunderts regten die portugiesischen Könige zahlreiche Expeditionen in den Südatlantik an, um auf diesem Weg über das Meer in den Indischen Ozean und in den Osten zu gelangen. Von der Möglichkeit, Afrika zu umschiffen, wussten bereits die alten Griechen. Herodot erzählt in seiner Geschichte, dass Nechos II., Pharao von Ägypten zwischen 610 und 595 V. Chr., einige phönizische Schiffe von Ägypten ins Eritreische (Rote) Meer entsandte, die Kurs auf den »Südlichen«, den Indischen Ozean nehmen sollten. Als der Herbst kam, gingen sie vor Anker, die Männer bestellten ein Stück Land, pflanzten Getreide und warteten, bis es gereift war. Nach der Ernte stachen sie erneut in See. So machten sie es zwei weitere Jahre, am Ende des dritten passierten sie die Säulen des Herkules (die Meerenge von Gibraltar) und kehrten nach Hause zurück. In ihren Erzählungen berichteten sie, dass sie bei der Umschiffung Li-
byens (Afrikas) die Sonne immer steuerbords, also auf der Rechten hatten. Was Herodot darunter verstand, wenn er sagte, die phönizischen Seefahrer hätten die Sonne immer zur Rechten gehabt, ist nicht ganz klar. Die wahrscheinlichste Hypothese ist diese: Wer damals zur See fuhr, setzte großes Vertrauen auf die Position der Sonne und wusste, dass sie sich bei der Umschiffung irgendeiner Insel mittags auf der einen Seite zur Linken und auf der anderen zwangsläufig zur Rechten befand. Das musste auch für die Phönizier gegolten haben, die Afrika im Uhrzeigersinn umsegelten. Da sie die Sonne entlang der Mittelmeerküste zur Rechten (im Süden) hatten, hätten sie sie an einem bestimmten Punkt auf ihrer Linken finden müssen. Weil die Phönizier das in ihren Erzählungen nicht erwähnten, war die ganze Geschichte in den Augen Herodots, der 200 Jahre später lebte, unglaubwürdig: Es war für ihn eine Geschichte, die »ich meinesteils nicht glaube […] auch wenn es vielleicht andere tun«. Für uns ist sie jedoch durchaus plausibel, da wir uns heute das Phänomen erklären können: Die Schiffe hatten den Äquator überquert, und von dem Punkt an befand sich die Sonne am Mittag im Norden und nicht mehr im Süden. Vielleicht erscheint uns diese Geschichte gerade deshalb glaubwürdig, weil Herodot sie anzweifelte, aber trotzdem so erzählte, wie er sie gehört hatte. Kehren wir zu den portugiesischen Entdeckern zurück. Einige ihrer Namen sind fast völlig vergessen, wie der Diogo Cãos, der 1481/1482 die Mündung des Kongos passierte und von dem kürzlich gerade in der Nähe dieser Mündung Spuren entdeckt wurden. Andere sind bekannter, wie Bartolomeu Dias, der 1488 das Kap der Guten
Hoffnung umschiffte, ohne es zu sehen, da er von einem heftigen Sturm abgetrieben wurde. Er fuhr weiter nach Süden, bis er bemerkte, dass es im Osten keine Küsten mehr gab. Dias gelangte nicht weit über das Kap hinaus. Auf dem Rückweg gab er ihm den Namen Kap der Stürme, sein König jedoch, Johann II., der um die beschwörende Macht der Namen gewusst haben muss, benannte es bald darauf in Kap der Guten Hoffnung um. Dias war scheinbar auch sonst kein großer Menschenkenner, denn es gelang ihm nicht, seine Mannschaft zu überzeugen oder zu zwingen, die Reise fortzusetzen (was letztlich auf das Gleiche hinauslief), vor allem nicht seine Offiziere, die unter solchen Umständen den Ausschlag gaben. Auch Vasco da Gama segelte neun Jahre später, im Juli 1497, von Lissabon aus. Die Situation hatte sich zugespitzt, weil Kolumbus, im Dienste der Spanier, von seiner Reise zurückgekehrt war. Um den Strömungen entlang der afrikanischen Küste und den Flauten am Äquator auszuweichen, wählte er eine Route, die weiter vom Festland entfernt lag. Und hatte Glück: Nach wenig mehr als vier Monaten passierte er das Kap der Guten Hoffnung und nach zehn Monaten Seereise gelangte er nach Calicut an der Südostküste Indiens, dem Haupthandelszentrum für Gewürze. Zwei Jahre später, 1499, kehrte da Gama nach Lissabon zurück. Der Seeweg nach Indien war frei. Im Jahr 1500 stach Pedro Alvares Cabral in See. Nach dem Vorbild da Gamas segelte er in den Südatlantik und entdeckte die Küste Brasiliens, bevor er wieder Kurs auf Afrika nahm, das Kap der Guten Hoffnung umsegelte, wo Bartolomeu Dias starb, einer der Kapitäne der Expedition, und Indien erreichte. In unaufhörlichem Rhythmus folgte Expedition auf Ex-
pedition. Im folgenden Jahr, 1501, verließ ein neuer Schiffsverband Portugal, den der portugiesische König unter das Kommando des Spaniers Juan da Nova Castella stellte. Als diese Schiffe den »achten südlichen Grad jenseits des Äquators passiert hatten, fanden sie eine Insel, der sie den Namen Conception gaben«, wird der portugiesische Geschichtsschreiber João de Barros 50 Jahre später berichten. Es besteht kein Zweifel, dass es sich dabei um die Insel Ascension handelte, deren exakte Position 7º 57' ist – die einzige im Atlantischen Ozean in diesen Breiten. Und zu jener Zeit – aber auch schon viel früher – konnten die Seefahrer den Breitengrad nach der Höhe der Sterne sehr gut bestimmen. Die Reise von da Nova verdient vielleicht nicht so sehr wegen der Entdeckung der Inseln Ascension und Sankt Helena im Gedächtnis zu bleiben, sondern weil an ihr auch der Kaufmann, Seefahrer, Abenteurer, Schriftsteller und Wissenschaftler Amerigo Vespucci teilnahm, der an einem bestimmten Punkt die Hauptexpedition verließ und die Küsten Südamerikas entlangsegelte, an die Mündung des Rio della Plata und vielleicht noch weiter nach Süden bis Patagonien gelangte. Vespucci, ein Sohn der Renaissance, war Bankier im Dienste der Medici mit einer Leidenschaft für die Geografie. Er nahm (vielleicht) an einer der Reisen von Kolumbus mit den Spaniern teil und später, so viel ist sicher, an portugiesischen Expeditionen. Er erkannte als Erster, dass die entdeckten Länder nicht zu Asien gehören konnten und dass es sich um einen neuen Kontinent handeln musste. Dies schrieb Amerigo Vespucci in einigen Briefen, weshalb der Kontinent nach ihm benannt wurde. Denn diese las ein deutscher Kartograf namens Martin Waldseemüller, der
1507 in Saint Dié, einem kleinen Städtchen zu Füßen der Vogesen, ein kleines Traktat in 1000 Exemplaren veröffentlichte, die Cosmographiae universalis introductio, sowie eine Weltkarte, die Universalis Cosmographia Secundum Ptholomei Traditionem Et Americi Vespucci Aliorum Lustrationes. Wahrscheinlich hielt sich da Nova nicht in Ascension auf. Die Insel war unbewohnt und sollte es noch lange bleiben. Alfonso de Albuquerque, der zwei Jahre später – vielleicht gerade am Tag Christi Himmelfahrt – vorbeisegelte, machte hier ebenso wenig Station. Der erste Name Conception entstammte schließlich dem Kalender. Die Idee, einer gerade entdeckten Insel den Namen des jeweils begangenen Festes zu geben, war verbreitet: Die Osterinsel, die Weihnachtsinsel (tatsächlich gab es zwei davon, das heutige Christmas Island und Kiritimati) und die Insel Sankt Helena verdanken diesem Umstand ihre Namen. Auch Albuquerque vollbrachte Denkwürdigeres, als eine inmitten des Atlantiks verlorene Insel zu taufen oder wieder zu taufen: Er wurde Vizekönig von Indien und eroberte Goa an der indischen Küste, das bis 1961 portugiesische Kolonie blieb, als Nehru mit einem Handstreich die Portugiesen vertrieb. Albuquerque besetzte wichtige strategische Positionen wie die Insel von Hormos am Eingang des Persischen Golfs, die Insel Sokotra am Eingang des Golfs von Aden und somit zum Roten Meer sowie die malayische Halbinsel Malakka in der Nähe des heutigen Singapur. Er legte die Fundamente für die Präsenz Portugals im Indischen Ozean und wurde zum eigentlichen Begründer der westlichen Vorherrschaft über den Orient. 1506 stach Albuquerque von Lissabon aus erneut in See, um nach Indien zurückzusegeln. Der Admiral, der die
Flotte befehligte, hieß Tristão da Cuña und entdeckte in jenem Jahr die Insel, die seinen Namen trägt. Sie ist zusammen mit Sankt Helena und Ascension die dritte Insel, aus der sich die britische Kolonie im Südatlantik zusammensetzt.
IV
Man holt uns vom Parkplatz des Flughafens mit einem Minibus und einem Jeep mit einem Anhänger ab, in dem wir unser Gepäck mitsamt der Mumie verstauen. Der Parkplatz neben unserem ist, wie mir auffällt, reserviert: »Reserved for H.H. the Administrator« steht auf dem Schild. Ich vermute, dass »H.H.« für »His Honour« steht, schließlich sind wir in einer der letzten britischen Kolonien. »Are you a television team?«, fragt mich in gutem Englisch schüchtern ein junger Mann, der unser Gepäck trägt. Er ist im Hemd, mager, mit dunkler Haut, aber ohne negroide Züge. Außerdem sind seine Augen – unglaublicherweise – mandelförmig und blau. Er hat ein sanftes Wesen und ist sehr schön. Meine erste Reaktion ist Misstrauen. »Nein«, antworte ich ein wenig brüsk, »wir sind Wissenschaftler.« Er ist der erste »Sankthelenaer« oder »Saint« (»Heiliger«), den wir treffen. Bei ihm ist ein Engländer, rotblond und rundlich, der das Kommando führt, auch er in Hemd und kurzen Hosen. Wir entdecken später, dass beide Polizisten sind. Einige Tage später finden wir sie in der Polizeistation in makellosen Londoner Uniformen: schwarze Hosen, weißes Hemd, Dienstmütze mit schwarz-weiß-karierter Borte.
Entlang der Straße, auf der wir den Flughafen verlassen, stehen einige Palmen, die mich einen Moment lang daran erinnern, dass wir in den Tropen sind. Dann verschwindet fast jedwede Vegetation, und wir sehen nur noch Steine, selten einmal einen Busch, sonst nackte, staubige Erde, die an einigen Stellen wie pechschwarzer Kies aussieht. Unser Fahrer grüßt die wenigen Autos, die uns entgegenkommen (es ist noch früher Morgen) und wird zurückgegrüßt. Es ist eine Gewohnheit, die auch wir bald annehmen. Was in unseren Großstädten unmöglich ist, hat hier einen wirklichen Sinn – wie in den Bergen, im Dorf oder wenn man mit dem Fahrrad übers Land fährt. Es gibt weniger als 1000 Menschen auf der ganzen Insel, fast alle kennen sich auf die eine oder andere Weise, und wenn sie sich begegnen, im Auto oder zu Fuß, grüßen sie sich. Das ist nicht nur eine Förmlichkeit. Die Strecke vom Flughafen nach Georgetown ist kurz. Man bringt uns zu unserer Unterkunft. Sie heißt »The Islander Hostel« und scheint auf den ersten Blick eines der wenigen Steingebäude mit zwei Stockwerken zu sein, die sich in Georgetown befinden. Es gibt ein Dutzend Zimmer, groß und bequem, die auf zwei ausladende Veranden zu beiden Hauptseiten des Hauses führen. Die Luvseite ist von Glas geschützt. Wie wir bald bemerken werden, bläst der Wind hier unaufhörlich und immer aus derselben Richtung. Die leeseitige Veranda öffnet sich auf einen kleinen, mit schwarzem Kies bedeckten Platz, der von einigen niedrigen Fertighäusern umgeben ist, durch die hindurch man im Hintergrund das Meer erblickt. Immer ist es Graeme, der uns anleitet. Nachdem wir das Gepäck aufs Zimmer gebracht haben, müssten wir uns
dem Verwalter vorstellen, doch dafür ist es wahrscheinlich noch zu früh am Morgen. So beschließen wir, uns zunächst bei der Polizei anzumelden. Die Polizeistation ist ein weißes, einstöckiges Häuschen mit einem Säulenvorbau, nur wenige Fußminuten entfernt. An den Seiten des Eingangs liegen zwei große, blau gestrichene Kanonenkugeln als Prellsteine. Daneben steht auf einem Schild an der Wand in derselben Farbe: S T H E L E N A P OL I CE ASCENSION DETACHMENT POLICE OFFICE GEORGETOWN Die Innenräume der Wache sind schlicht: ein Schreibtisch, ein Funkgerät, ein Megafon, an den Wänden eine Karte der Insel sowie ein großes und entschieden veraltetes Foto der königlichen Familie mit einer lächelnden Prinzessin Diana. Wir zahlen die Einreisegebühr, während unsere Pässe gestempelt werden: IMMIGRATION/25 APR 1997/ ASCENSION. Ich betrachte den Stempel lange, fast wie eine Trophäe. Ich frage, wo wir unser Geld lassen können. (Das brauchen wir schließlich noch für einen Monat Kost und Logis.) Gibt es in der Polizeistation einen Tresor? Der schwarze Polizist im Hemd, der mir eben den Pass gestempelt hat, blickt mich verwirrt an, er versteht erst nicht, dann lächelt er amüsiert. Wir könnten es ruhig auf den Zimmern lassen, gar kein Problem, hier gebe es niemanden, der irgendjemand bestiehlt. Wir entdecken später, dass die Leute, wenn sie aus dem Auto steigen, die Schlüssel stecken lassen. Niemand schließt nachts sein Haus ab. Und auch wir lassen nach den ersten Tagen die Zimmer of-
fen, ohne uns um das Geld und unsere anderen Besitztümer zu sorgen. Ich werfe einen verstohlenen Blick in den Raum neben dem Polizeiamt. Es ist das Gericht der Insel: Ich sehe den Richterstuhl in der Mitte, zu beiden Seiten die Bänke der Anklage respektive der Verteidigung. An einer Wand lehnt ein Schild, das, wie ich mir vorstelle, bei den wenigen Gelegenheiten, in denen das Gericht zusammentritt, vor die Tür gestellt wird: »Ruhe, das Gericht tagt«. Gleich neben der Polizei finden wir das Büro des Verwalters, der höchsten Autorität auf der Insel, nur dem Gouverneur unterstellt, der in Sankt Helena residiert. Er ist ein kleiner, hinkender Mann, rundlich und kräftig, mit einem roten Bärtchen, das sein Kinn bedeckt. Freundlich und mit perfektem Schliff heißt er uns feierlich auf der Insel willkommen. Er informiert sich über unser Vorhaben und ist interessiert: Sein Hobby ist die Naturgeschichte, und er schreibt eine kleine Monografie über die Schildkröten von Ascension. Er zeigt uns das Manuskript, präzisiert jedoch sofort wie zur Entschuldigung, dass er kein Wissenschaftler sei. Floriano erzählt von seinen Erfahrungen in Malaysia und Südafrika und wie es gelungen ist, die Wanderrouten der Schildkröten über Tausende von Kilometern zu rekonstruieren. Er erwähnt auch, dass bei den vorangehenden Expeditionen einige der Sender defekt waren, oder aber, da sie nur an den Weibchen angebracht wurden, von den Männchen zerquetscht worden waren, die sie bestiegen. Heiter klingt der kurze Empfang aus. Der Verwalter bittet um unsere Unterschrift in sein Gästebuch, dann verabschiedet er sich und kündigt an, uns bald zu einem Abendessen in seiner Residenz »in der Frische, oben auf dem
Berg« einzuladen. Geblendet von der Morgensonne treten wir auf die Straße. Alle Formalitäten sind erledigt, einen Monat lang sind wir nun »Ascensioner«.
V
Am Pier von Ascension verspüre ich plötzlich, wie ungeheuer isoliert die Insel liegt: die unendliche Entfernung vor und hinter uns; der gewaltige blaue Himmel, in dem sich versprengte weiße Wolken auftürmen; das grenzenlose Grün des Meeres, das sich öde bis zum Horizont erstreckt und wer weiß wie weit darüber hinaus; der immer steife Wind; der Gedanke, dass in jeder Richtung für Tausende von Kilometern nichts ist außer Meer und Himmel. Mir kommt Manaus ins Gedächtnis, die vom Regenwald umgebene brasilianische Stadt mitten im Amazonasbecken. Unser Hotel lag am Fluss am Rand der Stadt. Eines Abends zu später Stunde war ich noch ausgegangen, um ein paar Schritte zu gehen. Hinter mir gab es einen hellen Flecken am Himmel: die Stadt mit ihren Geräuschen und Lichtern. Aber in allem Übrigen ringsherum, in einem ungeheuren Raum, herrschte unangefochten das Reich des Dunkels und des Geheimnisses, in das wir vollständig und bedingungslos eingetaucht waren. Das Schauspiel, das sich am Ufer präsentiert, verscheucht bald die anfängliche Befremdung. Alles ringsumher ist ein einziges Kreisen von Vögeln. Es sind keine Möwen, die gibt es auf dieser Insel nicht, sondern Tölpel, sagen mir
meine Freunde, die es als gute Biologen wissen müssen. Wenn die Tunfische und die anderen großen Fische in die Nähe des Ufers kommen, erklärt uns später ein Fischer, flüchten sich die Blaufischschwärme in seichteres Gewässer und werden zur Beute der Tölpel. Zu Hunderten kreisen sie dann über dem Meer und stoßen wie Pfeile kopfüber ins Wasser. Zu uns gesellen sich ein paar andere Müßiggänger, die auf das Meer blicken und das Schauspiel der Tölpel genießen. Einige sind weiß (Engländer), andere schwarz (Sankthelenaer). Niemand scheint es hier besonders eilig zu haben. Auch wir haben keine Eile, alles sofort zu entdecken. Wir haben einen ganzen Monat vor uns. Ich bin schon recht viel in der Welt herumgekommen, aber immer in einem anderen Rhythmus. An einem Ort zwei oder drei Tage zu bleiben war das Äußerste, und dabei nahm die Arbeit die meiste Zeit in Anspruch. Ebenso in den Ferien: Wer kann sich schon mehr als ein, zwei Wochen erlauben? In Ascension dagegen dehnt sich die zeitliche Perspektive unglaublich aus, wie die Ferien in der Schulzeit: Die Zeit, die man noch vor sich hat und die uns von der Rückkehr trennt, bemisst sich nach Wochen, nicht nach Tagen. Während die anderen zum Islander Hostel zurückkehren, bleibe ich noch auf dem Pier, um das Meer zu betrachten, die Vögel, die Wolken, den leeren Strand, der sich zur Linken weiß abhebt, die Klippen zur Rechten, die Untiefen mit ihrem durchsichtigen Grün, in denen es von schwarzen Fischschwärmen wimmelt, das Brausen des Windes, die Schreie der Vögel, die sich im Flug nähern, und die Stimmen der Kinder aus Sankt Helena, die ab und zu herüberdringen.
In der Ferne liegt ein Tankschiff auf Reede, etwas näher ankern eine Gruppe von Fischkuttern und das einzige Segelschiff. Ein gelbes Ruderboot hebt sich vor der Yacht ab und nimmt Kurs auf den Pier. Von oben sehe ich ihnen zu, wie sie bis zur Anlegestelle direkt unter mir rudern: ein Mann, eine Frau und zwei Kinder. Die Kinder – sie dürften sechs und acht Jahre alt sein – springen aus dem Boot, rennen die Treppe hoch und laufen lachend und tobend zum Strand davon, ausgelassen wie alle Kinder in diesem Alter. Die junge Mutter geht ihnen etwas besorgt hinterher und lässt sie dann gewähren, gefolgt vom Vater, der das Boot vertäut hat, auch er jung, blond, mit sonnenverbrannter Haut. Der Mann wendet sich an die beiden Sankthelenaer, die neben mir an der Pierbrüstung lehnen. Er ist gerade angekommen und fragt nach den erforderlichen Formalitäten, in korrektem Englisch, das aber voller harter Kehllaute ist, die mir gut vertraut sind. Was macht ein Deutscher in dieser Gegend? Ich spreche ihn in seiner Muttersprache an: »Wo kommen Sie her?« Er antwortet mir ebenfalls auf Deutsch mit bayrischem Akzent. Er stammt aus Afrika, aus Namibia, das bis zum Ersten Weltkrieg deutsche Kolonie war und noch heute eine große deutsche Gemeinde hat. Der Mann dürfte höchstens 30 Jahre alt sein und wurde in Walvis Bay geboren, dem übelsten Ort der Welt, wie er sagt: kaltes, stürmisches Meer und glühend heißes Wüstenland, das eine wie das andere gleichermaßen unwirtlich, und als sei das noch nicht genug, immer Nebel. Er ist Schiffszimmermann und fasste irgendwann den Entschluss, mit seiner Familie wegzugehen. Er baute sich ein Boot, verkaufte alles und reiste ab. Sie brauchten drei Wochen bis Sankt Helena, wo sie die erste Etappe einlegten, und weitere neun Tage bis Ascen-
sion. Mit Wind und Wetter hatten sie bis dahin Glück gehabt. Ihr Ziel ist die Karibik, wo genau, wissen sie noch nicht, aber es soll ein schöner, warmer und heller Ort sein, fern vom Nebel Namibias. Dort will der Familienvater das machen, was er gelernt hat, und als Schiffszimmermann arbeiten. Ich wünsche ihnen Glück. Wie klein können diese Entfernungen erscheinen, die mir ein paar Minuten vorher noch so unermesslich vorkamen! Mit einer kleinen, selbst gebauten Yacht, zwei Kindern, einer jungen Frau und ein bisschen Glück wird der Zimmermann viel früher in der Karibik ankommen, als wir wieder zu Hause sind.
VI
Nachdem die Portugiesen die Insel entdeckt hatten, setzte jemand – vielleicht sogar eben jene Seeleute – auf Ascension Ziegen aus, wie es damals üblich war. Sie stellten eine Nahrungsreserve dar und dienten zugleich als Test, ob eine menschliche Ansiedlung möglich wäre. Trotz der kargen Vegetation überlebten die Ziegen und pflanzten sich, wenn auch mit Mühe, fort. Bis auf unregelmäßige und unfreiwillige Besucher blieb die Insel jedoch drei Jahrhunderte lang verwaist. Am 22. Februar 1701 strandete hier William Dampier. Weniger bekannt als Francis Drake, der ein Jahrhundert früher lebte, und als James Cook 60 Jahre nach ihm, war William Dampier einer der großen Seefahrer, denen England sein Imperium verdankte. Er war eine Mischung aus Pirat, Abenteurer, Entdeckungsreisendem und Wissenschaftler. Auf der Rückfahrt einer Reise im Auftrag der Admiralität des südlichen Indischen Ozeans versuchte er mit seinem Schiff, das von einem Sturm in der Nähe der Insel Ascension beschädigt worden war, dort vor Anker zu gehen. Es gelang ihm, doch verlor er dabei das Schiff und mit ihm möglicherweise einen sagenumwobenen Schatz, von dem man noch heute spricht und den manch einer weiter auf
der Insel und in ihren Gewässern sucht. Dampier und seine Männer hatten Glück: Auf der Spur der Ziegen entdeckten sie die einzige Wasserquelle der Insel und überlebten. Die Quelle ist heute ausgetrocknet, heißt aber immer noch Dampiers Drip. Wer weiß, ob zu den Männern von Dampiers Besatzung bereits der schottische Seemann Alexander Selkirk gehörte, der vielleicht gerade damals Gefallen am Schicksal des Schiffbrüchigen fand. Tatsache ist, dass Selkirk einige Jahre später, als er an einer Expedition englischer Schiffe unter Führung von Dampier teilnahm, nach heftigen Meinungsverschiedenheiten mit seinem Kapitän darum bat, auf der verlassenen Insel Juan Fernández im Pazifischen Ozean ausgesetzt zu werden, 600 Kilometer von der Chilenischen Küste entfernt. Dort blieb er viereinhalb Jahre und wurde 1709 erneut von Dampier geborgen, der auf seiner letzten Reise noch einmal durch jene Gewässer kam. Selkirk kehrte in die Heimat zurück und schrieb einen Bericht über sein Abenteuer, der ihm für kurze Zeit zu beträchtlichem Ruhm verhalf. Wenn man sich noch heute an ihn erinnert, so deshalb, weil seine Erinnerungen Anlass zu einem anderen Buch gaben, das kurz darauf erschien: Des weltberühmten Engländers Robinson Crusoe Leben und ganz ungemeine Begebenheiten von Daniel Defoe. Auch Dampier führte ein abenteuerliches Leben, unternahm zahlreiche Entdeckungsreisen bis an die Küsten Australiens und Neuguineas. Er schrieb ein Buch, A New Voyage Round the World (deutsch: Freibeuter), in dem er von seinen Reisen berichtete und die Idee eines großen südlichen Kontinents verbreitete: jene Terra Australis Incognita, Australien, deren Existenz bereits chinesische, arabische, portugiesische, spanische und holländische
Kaufleute und Seefahrer vage vermuteten, die dann aber englisch wurde. Das kleine Museum in Ascension bewahrt Kopien verschiedener Dokumente im Zusammenhang mit Dampier, von seinem Tagebuch, das er nach dem Schiffbruch führte, und von Berichten seiner späteren Abenteuer. Er verbrachte fünf Wochen in Ascension. Zurück in der Heimat, wurde er der Misshandlung seiner Offiziere angeklagt, für schuldig befunden und seiner Stellung enthoben. Nie wieder sollte er das Kommando auf den Schiffen seiner britischen Majestät übernehmen dürfen. Zehn Monate später segelte er jedoch erneut nach Indien, als Kapitän der »St. George«, nicht bevor ihm die Ehre zuteil geworden war, die Hand seiner Majestät zu küssen. In der Zwischenzeit war der Spanische Erbfolgekrieg ausgebrochen. Franzosen und Spanier waren zu Feinden der Engländer geworden, sodass ein Seeräuber, der im Dienste des Königs von England die südlichen Meere unsicher machte, wieder gebraucht wurde. Andere Seefahrer kamen durch diese Gewässer, darunter Louis-Antoine de Bougainville und James Cook, aber niemand hielt sich hier lange auf. Cook kam auf seiner zweiten Weltreise 1775 vorbei, auf dem Rückweg vom Pazifik, nachdem er im Südatlantik die Südsandwichinseln und Südgeorgien entdeckt hatte. In Ascension angekommen, nutzte er die Gelegenheit, um eine andere nicht weit entfernte Insel zu suchen, auf die er sehr neugierig war: die Insel St. Matthew. St. Matthew ist die Ascension am nächsten gelegene Insel. Sie befindet sich nordöstlich auf halbem Weg zur afrikanischen Küste. Finden lässt sie sich auf allen geografi-
schen Karten der Welt bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Und sie hat eine Besonderheit: Es gibt sie nicht. Sie ist das Phantasma einer Insel, geboren aus irgendeinem ungenauen Bericht oder aus der Einbildungskraft eines Seefahrers und hartnäckig mehr als drei Jahrhunderte von Kartograf zu Kartograf weitergegeben. Oder vielleicht handelte es sich wirklich um eine Insel, die auftauchte und wieder verschwand, wie eine andere, auf die wir später noch zu sprechen kommen. Die Geschichte der Inselphantasmen, der geheimnisvollen Inseln, die im Gedächtnis der Legenden überdauerten, würde ein eigenes Kapitel beanspruchen und wurde zum Teil schon erzählt: von der Insel St. Brendan, wo Frieden, Eintracht und ewige Jugend herrschten, über die Insel Buss, die gerissene Seeleute der Hudson-Schifffahrtsgesellschaft verkauften, bis zur Insel Frisland, deren Produkte venezianische Kaufleute vertrieben. Ganz zu schweigen von den fantastischen Inseln in Literatur, Musik und Dichtung: von der Utopia des Thomas Morus über das Niemals-Land aus Peter Pan bis zu einem Lied des Italieners Francesco Guccini nach einem Gedicht von Guido Gozzano, »La più bella« (»Die Schönste«): Aber schöner als alle ist die Insel Nichtgefunden Jene, die der König von Spanien von seinem Cousin erhielt Dem König von Portugal, mit gesiegelter Unterschrift Und der Bulle des Pontifex in gotischer Fraktur.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Gozzano sich gerade auf die Insel St. Matthew bezieht, die, mitten im Atlantik gelegen, zweifellos Gegenstand von Anfechtungen und unterschiedlichen Interpretationen des Vertrags von Tordesillas war. Dank dieser Übereinkunft, die 1494 in einem obskuren Städtchen Kastiliens durch Vermittlung des sich
überall einmischenden Papstes Alexander VI. Borgia getroffen wurde, hatte man sich bereits vorsorglich geeinigt, wie die zukünftig noch zu entdeckenden Länder zu beiden Seiten des Atlantiks zu verteilen wären. Es waren gerade einmal zwei Jahre vergangen seit der Reise von Kolumbus.
VII
Vor den Passatwinden geschützt, findet sich in der Nordwestecke von Ascension Georgetown, Hauptort und einziger wirklicher Ankerplatz der Insel. Die Landschaft dominiert der Cross Hill, der sich hinter dem Dorf erhebt: ein massiver Vulkankegel aus nackter, glatter Erde, von unregelmäßigen Regenfällen ungleichmäßig zerfurcht, der bis auf einen einzigen einsamen Baum auf halber Höhe keine Vegetation aufweist. Dunkel und imponierend erscheint er am frühen Morgen, wenn seine Georgetown zugewandte Seite noch im Schatten liegt. Doch dann erhellt sich der Berg nach und nach und leuchtet in einem intensiven Rostrot, das bei Sonnenuntergang feuerrot wird. Eine Straße schneidet sich in ausladenden Zickzackbewegungen in seine Flanke. Sie führt zu den beiden alten Kanonen, die aus dem Ersten Weltkrieg stammen, und zum rundlichen Gipfel, wo ein Kreuz aus dem 19. Jahrhundert und einige Antennen stehen, die die Amerikaner aufgestellt haben. Cross Hill ist einer der vielen Schlackekegel, wie sie die Geologen nennen, die sich auf der Insel befinden. Unten breitet sich friedlich, geordnet und schläfrig die Ortschaft aus. Etwa 30 Häuser liegen entlang der Hauptstraße und der drei kurzen Seitenstraßen, die zum Pier,
zum Friedhof und an den Strand führen. Zum Großteil sind es niedrige Fertighäuser mit einem Stockwerk, die in den letzten Jahrzehnten entstanden, Unterkünfte für die Arbeiter aus Sankt Helena und kleine Häuser der britischen Staatsbediensteten. Die einen wie die anderen sind nach Art angelsächsischer Wohngebiete von kleinen Gärten umgeben, in denen – weniger angelsächsisch – prachtvolle Bougainvillea und andere sehr bunte Tropenpflanzen blühen. Die wenigen zweigeschossigen Steingebäude gehen auf die Kolonialzeit zurück: das Garnisonshauptquartier, die Lagerhäuser neben dem Pier und der alte Sitz der Telekommunikationszentrale, die durch Unterseekabel England mit Südafrika und Südamerika verband und kürzlich in eine Herberge für die wenigen Besucher der Insel verwandelt wurde, zu denen auch wir gehören: das Islander Hostel. Der Hauptplatz der Ortschaft oder – wenn man so will – der »Hauptstadt« ist ein teilweise asphaltierter Platz, auf den die Post, der Supermarkt und der Exiles Club blicken. Im Hintergrund liegt das Gebäude des Verwalters, geweißelt und von einem schmucklosen Garten mit ein paar Bäumen umgeben. Im Zentrum weht, hoch oben und stolz, die britische Fahne. Das Postgebäude, das man am typischen roten zylindrischen Briefkasten neben dem Eingang erkennt, ist ein für die Philatelisten dieser Welt nicht ganz unbedeutender Ort. Die in England gedruckten Briefmarken und Gedenkmünzen werden hierher gebracht, wo sie mit dem authentischen Stempel der Insel versehen werden und zur Freude (sowie für den Tausch und das Geschäft) der Sammler in alle Welt verschickt werden. Im Inneren des
kleinen Amtes zeigt ein Schaukasten die jüngsten Serien. Zum siebzigsten Geburtstag der Königin sieht man eine betagte Elizabeth II. mit dem unfehlbaren Hut und, im Hintergrund, die Kirche St. Mary von Georgetown (20 Pence), die Residenz des Verwalters (25 Pence), den Exiles Club (65 Pence), dann die Meeresvögel, die Pflanzen von Ascension und schließlich einen wenig überzeugenden Weihnachtsmann, der zur Feier des Weihnachtsfestes 1995 auf der Insel seine Runde macht. Der Supermarkt ist der einzige Laden der Insel. Er würde irgendeinem anderen kleinen Dorfsupermarkt ähneln, wären da nicht einige Besonderheiten, darunter die Herkunft der Waren: Etwa zu zwei Dritteln stammen sie aus Großbritannien, zu einem aus Südafrika, der letzten Station der »Sant'Elena«, des Postschiffs, das in monatlichem Turnus die Insel anläuft. In der Zeit, als wir in Ascension waren, gab es keinen Käse. Vielleicht war eine Lieferung geplatzt oder der Konsum war plötzlich gestiegen. Tatsache ist, dass seit mehr als einem Monat aller Käse verschwunden war. So meldete es The Islander, die einzige Zeitung, die jeden Freitag in Georgetown erscheint. Einen Monat lang mussten wir uns bei unseren Mittag- und Abendessen auf die Kost der Heiligen (der Sankthelenaer) beschränken, mit einer einzigen Ausnahme: An dem Abend, an dem wir beim Verwalter in seiner Residenz zu Gast waren, wurde uns ein reichhaltiger und höchst willkommener Käseteller offeriert. Angesichts seiner Privilegien kam der Käse des Verwalters, wie ich vermute, per Luft. Im Supermarkt gab es andere Beispiele für das Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage. Ein ganzes Regal enthielt ausschließlich Waren, deren Verfallsdatum
überschritten war, worauf ein Schild korrekterweise hinwies. Weiter vorne fanden sich die typischen Produkte für wirklich sämtliche Feste des Jahres. Wir hatten Ende April, der Karneval war seit einigen Monaten vorbei, Ostern seit etwa einem Monat und bis Weihnachten waren es noch acht Monate. Dennoch lagen im Regal in nebeneinander liegenden, aber getrennten Fächern Konfettisäckchen, Ostereier, Weihnachtsdekorationen und Knallfrösche für Silvester. Ein Schild lud ein: »Bereiten Sie sich beizeiten auf die Feste vor! Nutzen Sie jetzt die Gelegenheit, damit Sie im letzten Moment keine Überraschung erleben!« Nicht weit vom Supermarkt erhebt sich ein großes, quadratisches, ein wenig verfallenes Gebäude, eines der ältesten von Georgetown. Das zweistöckige Gebäude im Kolonialstil, das ein Säulengang umgibt und ein Türmchen krönt, ist »The Exiles Club«, der Club der Exilierten. Eine alte Kanone neben dem Eingang erinnert an seinen militärischen Ursprung: Er war das Hauptquartier der Garnison. Dem Exiles Club ist seine lange Vergangenheit anzusehen. Durch die staubigen Fenster erkennt man im Inneren schmucklose Räume, hingeworfene Reifen, Kisten, Bauschutt, Schmutz. Im Obergeschoss gibt es noch den englischen Club, eben den Exiles Club, dessen Name auf einer so weit entfernten Insel zweifellos eine gute Wahl war: ein großes, halbleeres Lokal mit einem Bartresen in der Mitte und zwei von der Decke hängenden großen Ventilatoren. Ringsum erzählen die Wände von unwiederbringlich vergangenen Ereignissen. Auf zwei großen, aufgehängten Schildkrötenpanzern findet sich die Liste der englischen und amerikanischen Militärkommandanten der Insel –
aber sie wird seit langem nicht mehr weitergeführt. Daneben vergilbte Fotos von Militär- und Zivilschiffen, die vor der Küste ankerten, Flaggen und Standarten von Militärkorps, die vor wer weiß wie langer Zeit hier einen Besuch abstatteten. In einer Ecke hängt die verblasste Fotografie von Elizabeth und Philip am Tag ihrer Heirat. Mit ein bisschen Fantasie kann man in diesem vergessenen Winkel des Empire eine koloniale Atmosphäre heraufbeschwören, die eines William Somerset Maugham oder Joseph Conrad würdig wäre, wo eine kleine Gruppe von Beamten und Ingenieuren, versorgt von schwarzen Dienern, nicht enden wollende Abende damit verbringt, zu trinken und sich zu Tode zu langweilen. Vor fast fünf Jahren, als Graeme das erste Mal nach Ascension kam, war der Zugang Nicht-Briten (lies: Sankthelenaern) verboten. Heute stünde der Exiles Club allen offen, aber tatsächlich ist er fast jeden Abend geschlossen, und auch zur Mittagszeit öffnet er nur sporadisch. Vom Exiles Club führt die Straße zum Meer hinab: einige graue Steingebäude, ein Kran, ungeordnet verstreute Container, ein paar Lastwagen und im Hintergrund, plump und hoch über dem Meer, der Pier. Früher hatte man mehrfach versucht, einen längeren zu bauen, aber damals wie heute wäre das zwecklos: Früher oder später würde er von den rollers, den schweren Brechern, zerstört werden, die aus den atlantischen Stürmen entstehen und in periodischen Abständen gegen die Insel branden. Im Hintergrund, auf der Reede, ein Dutzend Kutter. Sie dienen dem Fischfang und zum Übersetzen der Menschen und Waren von den wenigen Schiffen, die hier ankommen und weit draußen ankern. Gelegentlich kommt auch eine
Yacht auf Transatlantikfahrt vorbei, aber die Regeln des Verwalters besagen, dass sie sich nicht länger als zwei Tage aufhalten darf. Etwas weiter draußen, in zirka einer halben Meile Entfernung, liegt die »Mærsk Ascension«, der Tanker, der die Insel mit Brennstoff versorgt und schon seit vielen Jahren fest vor Anker liegt. Das Schiff bewegt sich nie von Ascension fort, sondern wird in regelmäßigen Abständen von einem Schwesterschiff aufgetankt. Einmal im Monat macht es eine Runde um die Insel, um den müden Schrauben Auslauf zu geben.
VIII
Den Geologen zufolge war die Geografie der Erde vor 200 Millionen Jahren in der Periode der Trias, wo sich die ältesten Fossilien von Meeresschildkröten finden, ganz anders als die heutige. Gebildet aus den leichtesten Mineralien, die aus der Tiefe der Erde nach oben stiegen wie Schwimmkörper auf dem Wasser, hatten sich in den Milliarden vorangehenden Jahren Landmassen gefestigt. Wie gigantische Flöße (die Geologen sprechen lieber von Schollen oder Platten) drifteten diese überdimensionierten Erdkrustenstücke umher – und tun dies bis heute. Sie stoßen zusammen, zerbrechen, vereinigen sich wieder und schaffen beständig, langsam und unmerklich neue geografische Konstellationen. Ganz ähnlich, nur schneller und für uns sichtbar, mischen sich die unmittelbar darüber liegenden Schichten der Atmosphäre immer wieder neu. Diese können wir wahrnehmen und in geringem Maße in ihren bescheidenen und für uns scheinbar ziellosen täglichen Schwankungen vorhersehen. Die Bewegungen unter der Erdkruste bleiben uns verborgen. In der Trias hatten sich die aufgetauchten Landmassen größtenteils zu einem einzigen gigantischen Superkontinent vereinigt: Pangea. Zu jener Zeit war Afrika auf einer Seite mit Südamerika verbunden, auf der anderen, wo heu-
te Madagaskar liegt, mit der Antarktis, Australien und Indien, das noch weit vom übrigen Asien entfernt war. Eben zu jener Zeit begann sich, wer weiß aus welchem Grund, in dem riesigen Floß zwischen dem späteren Südamerika und dem Bereich, der den Namen Afrika erhalten sollte, eine gewaltige Spalte von Süden nach Norden wie ein Reißverschluss zu öffnen, um erst Afrika, dann Europa von Amerika zu trennen. In diesen Spalt, der sich nach und nach weitete, drang das Meer ein. So entstand der Atlantische Ozean. Etwas Ähnliches scheint sich heute im Roten Meer und im Golf von Aden zwischen dem nordöstlichen Afrika und Arabien zu vollziehen. Man muss nur einen Blick auf die Landkarte werfen, um zu ahnen, dass auch Arabien und Nordostafrika zwei Teile eines Puzzles sind, die – wie einst Afrika und Südamerika – früher vereint waren und sich nun langsam voneinander entfernen. In einigen Zehnmillionen Jahren wird das Rote Meer ein neuer Ozean sein. Dort, wo die Spaltung einer Scholle begonnen hat, reicht der Riss in der Erdkruste bis in jene Regionen hinab, in denen sich die Erde durch Hitze und Druck teilweise in einem flüssigen Zustand befindet. Durch diesen Spalt steigt langsam Lava auf, die erkaltet und sich zu einer unterseeischen Bergkette auftürmt. Ständig drängt weitere Lava nach und drückt die Ränder des Spalts und die bereits erkalteten Lavamassen auseinander. So wandert der Ozeanboden langsam nach außen, wie zwei Förderbänder, die sich vom Zentrum in entgegengesetzte Richtungen bewegen und die einst vereinigten Kontinente immer weiter auseinander treiben. Die Geschwindigkeit, mit der sich die Kontinente von-
einander entfernen, ist nicht gering. Im Museum für Naturgeschichte und Technologie von la Villette in Paris steht ein (künstliches) Mauerstück mit einem Spalt, der sich seit der Einweihung des Museums mit der gleichen Geschwindigkeit weitet, wie Amerika und Afrika auseinander driften. Das Museum wurde 1986 von Giscard d'Estaing eingeweiht. Heute ist der Spalt etwa 15 Zentimeter breit, und man kann leicht die Hand hineinlegen. Wenn es sich um die Mauer eines Hauses gehandelt hätte, wäre es wahrscheinlich schon eingestürzt. Und noch ein Vergleich: Die Geschwindigkeit, mit der die Kontinente auseinander driften, ist etwa die gleiche, in der unsere Fingernägel wachsen. Die zentrale unterseeische Bergkette des Atlantischen Ozeans heißt Nord- und Südatlantischer Rücken und dehnt sich über dessen ganze Länge aus, von Island bis hinunter zur Insel Bouvet in der Nähe der Antarktis, wo er sich nach Osten und Westen in den anderen ozeanischen Rücken des Indischen und Pazifischen Ozeans fortsetzt. Das System der ozeanischen Rücken ist, wie man glaubt, untereinander verbunden, ähnlich den Sprüngen in einer Kaffeekanne, und stellt die größte vulkanische Bergkette der Welt dar: Sie ist 70000 Kilometer lang, 1500 Kilometer breit und vom Meeresboden gesehen 3000 Meter hoch. Schätzungen zufolge wäre der Meeresspiegel ohne die ozeanischen Rücken 200 Meter niedriger. Es gibt darüber hinaus Vulkanherde, Schwächezonen, wo die Erdkruste dünner und die Produktion von Magma größer ist. Hier entstehen richtige unterseeische Vulkane, die früher oder später auftauchen und die Inseln vulkanischen Ursprungs bilden. So entstehen fast alle Inseln, die sich auf den Ozeanen finden.
Auf dem Ozeanboden verankert, der sich langsam bewegt, verschieben sich auch die Ozeaninseln mit ihm. Vom Vulkanherd entfernt, dem sie ihren Ursprung verdanken, erwartet sie gewöhnlich mit der Zeit alle das gleiche Schicksal: Sie versinken wieder im Meer. Das liegt zum einen daran, dass der Ozeanboden, auf dem sie ruhen, dazu neigt, sich abzusenken, zum anderen, dass die Vulkane mit zunehmender Entfernung von der Schwächezone kein neues Lavamaterial mehr produzieren. Zuweilen hinterlässt eine untergegangene Insel jedoch eine Spur. Während sich der Vulkankegel senkt, um dann völlig unter dem Wasser zu verschwinden, wachsen Korallen entlang der Küsten dicht unter der Wasseroberfläche weiter nach oben, schaffen zuerst ein Korallenriff und später, wenn die eigentliche Vulkaninsel schon viele Millionen Jahre im Wasser versunken ist, einen schmalen Ring, der den einstigen Küstenverlauf markiert: ein Atoll. Dieses Phänomen beschrieb bereits Charles Darwin. Ascension ist eine »junge« Insel. Ihre ältesten Felsen sind nicht älter als eine Million Jahre, die jüngsten weniger als 600 Jahre, als sich die letzte große Eruption ereignete. Unter der Meeresoberfläche fallen die Hänge des Vulkankegels weitere 3 200 Meter in die Tiefe hinab. Der Sockel des Kegels am Boden des Ozeans hat, so schätzt man, einen Durchmesser von zirka 60 Kilometern. Von diesem gigantischen Kegel, von dem nur die höchste und jüngste Spitze aus dem Wasser ragt, ist nichts bekannt. Ein paar weitere Geschichten von Vulkaninseln sind erwähnenswert. Am 27. August 1883 explodierte der Vulkan der kleinen Insel Krakatau in der Sundastraße zwischen Ja-
va und Sumatra. Die Explosion war bis nach Perth in Australien 3 000 Kilometer entfernt zu spüren. Das Meeresbeben, das ihr folgte, forderte 36000 Menschenleben und schickte seine Ausläufer bis nach Südamerika und zu den Hawaii-Inseln. Von der Insel blieb nur ein winziges Stück übrig. Alles Leben auf ihr wurde ausgelöscht. Am 8. Mai 1902 explodierte der Vulkan La Pelée (»Der Kahle«) in Martinique. Es sollte der Ausbruch mit den meisten Opfern im gerade angebrochenen Jahrhundert werden. Er zerstörte die Stadt Saint-Pierre und tötete alle 30000 Einwohner bis auf einen: einen Afrokariben, von Beruf Schuster, der im Keller des Gefängnisses auf seine Hinrichtung wartete. Der italienische Dichter Giovanni Pascoli erinnert daran in seinem Gedicht »Negro di Saint-Pierre«: […] In der tiefen Dunkelheit Begriff ich: Neger, lass mich nur machen! Ich bin's, Neger, der Kahle Berg, Ich bin das Schicksal, der stärkste Gott, Der die andern tötet und dich rettet.
Am 14. November 1963 bemerkten die Fischer auf einem Kutter wenige Kilometer vor der Südküste Islands, dass das Wasser eigenartig aufgewühlt war: Das war kein Sturm, der da nahte, sondern der Beginn eines unterseeischen Vulkanausbruchs. Er dauerte vier Jahre. Am Ende war auf den geografischen Karten eine neue Insel hinzugekommen. Die jüngste Insel des Planeten bekam den Namen Surtsey, nach Sutur, dem Giganten, der in der nordischen Mythologie am Tag des Jüngsten Gerichts die Welt in Flammen setzt und ihr Ende verkündet. Surtsey ist eine kleine Insel, in ihren Ausmaßen und in ihrer Entfernung von der Küste vergleichbar mit der Insel
Gorgona im Toskanischen Archipel. Sie wurde zum Nationalpark erklärt, und seither verfolgen die Wissenschaftler ihre Entwicklung. Die Ersten, die dort ankamen, waren Vögel, dann Krabben. 1987 gab es bereits 25 Pflanzenarten. Nach 30 Jahren ist ihr Schicksal immer noch ungewiss: Wenn es keine weiteren Eruptionen gibt, wird die Insel in ein paar tausend Jahren verschwunden sein, erodiert von den Stürmen, fortgetragen vom Meer und vom Wind. Mittlerweile musste Surtsey den Titel der jüngsten Insel des Planeten wieder abgeben. Wenn es nicht schon wieder neue Inseln gibt, heißt die jüngste Lahtayikee und wurde im März 1996 im Archipel von Tonga im Pazifischen Ozean im Norden Neuseelands geboren. In den uns vertrauteren Breiten ist schließlich an die Insel Ferdinandea zu erinnern, die 1831 in der Straße von Sizilien zwischen Sciacca und Pantelleria entstand. Die Einwohner von Sciacca waren zu Recht besorgt wegen der Rauchwolke, die am Horizont aus dem Meer stieg, und wegen der beängstigenden Erdstöße, die sich seit Anfang des Sommers immer wieder ereigneten. Im August erreichte die mittelgroße Insel ihren Entwicklungshöhepunkt: zirka fünf Kilometer Umfang und etwa 60 Meter Höhe. Sie erregte das – nicht ganz uneigennützige – Interesse verschiedener Nationen und erhielt zahlreiche Namen: Die Sizilianer nannten sie Insel von Sciacca, die Bourbonen Ferdinandea (zu Ehren von Ferdinand II.), die Franzosen Juliinsel (weil sie in diesem Monat entstanden war), die Engländer Grahaminsel (nach einem britischen Politiker der Zeit). Engländer, Franzosen und Bourbonen erklärten sie sofort zu ihrem Eigentum und entsandten Schiffe, um ihre Flaggen zu hissen. Die diplomatisch-militärischen Verwicklungen, die sie auslöste, dauerten nicht
lange. Ihre Lösung besorgte sie selbst, die Insel Ferdinandea. Denn so rasch, wie sie entstanden war, verschwand sie im Laufe weniger Monate wieder. 1863 tauchte sie kurzzeitig wieder auf und ging dann wieder unter. Was heute von Ferdinandea bleibt, ist ein unterseeischer Vulkan, dessen Spitze bis wenige Meter unter die Wasseroberfläche reicht, in recht flachen Gewässern, die den Namen Grahambank tragen.
IX
Am Rand der Ortschaft kurz vor dem Strand finden sich zwei alte gemauerte Becken, jedes etwa zehn mal zehn Meter lang. Sie sind nicht tief und vom Meer durch eine halb verfallene Mauer getrennt. Bei Flut bricht das Wasser durch verschiedene Breschen in sie ein. Heute leben hier Myriaden von Krabben, einst schwammen Schildkröten in ihnen. Es sind die alten »turtle ponds«, die Schildkrötenbecken. Erbaut in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wurden dort Schildkröten gehalten, die man am Strand gefangen hatte, bevor man sie schlachtete oder, noch lebendig, an die Schiffe verkaufte, die hier vor Anker gingen. Das Tagebuch von Simon Frazer wird im kleinen Museum von Fort Hayes neben Georgetown zusammen mit einigen alten Fotografien aufbewahrt. Eine davon zeigt am Strand neben den Becken Dutzende von Schildkröten rücklings mit umgedrehtem Kopf und allen vieren ausgestreckt, fast als hätte man sie gekreuzigt. Es ist nicht leicht, eine Schildkröte bewegungsunfähig zu machen, es ist vielmehr nahezu unmöglich: Die einzige Möglichkeit ist, sie auf den Rücken zu werfen. An diesem Punkt hört die Schildkröte auf zu kämpfen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war Simon Frazer
Abbildung I Long Beach in der Nähe von Georgetown. Im Vordergrund sind die »turtle ponds« zu sehen, in denen in der ersten Hälfte des 79. Jahrhunderts Schildkröten gehalten wurden. Im Hintergrund die Erhebung Sisters' Peak.
der Kommandant der auf Ascension stationierten Royal Marines. Während der Zeit der Eiablage, die von Januar bis Juni dauert, rekrutierte er unter den Marinesoldaten die Freiwilligen für die Strandpatrouille. Die Glücklichen unter ihnen wurden in Gruppen von zwei nach Long Beach und Dead Man's Beach geschickt. Die anderen marschierten zur English Bay, South-East Bay und NorthEast Bay, entfernte und zur damaligen Zeit unwegsame Buchten. Auf sie wartete kein unterhaltsames Leben. Zweimal die Woche traf die Verpflegung ein. Es gab nicht einmal einen Baum. Eine Hütte diente als Sonnenschutz und zum Schlafen. Man arbeitete nachts, wenn die Schildkröten an den Strand kommen. Die Arbeit war einfach: Es galt, die ganze Nacht den Strand zu kontrollieren und, sobald eine Schildkröte erspäht war, zu warten, bis sie ihre
Eier abgelegt hatte, um sie dann mithilfe von Stöcken auf den Rücken zu werfen und sie so liegen zu lassen, bis zwei oder drei Tage später andere Soldaten kamen, um sie abzutransportieren und zu den Schildkrötenbecken zu bringen. In den Hochzeiten schwammen in den Becken bis zu 300 Schildkröten, und in einer Saison wurden bis zu 1 000 gefangen. Heute beträgt die Zahl der Schildkröten, die jedes Jahr ankommen, zwischen 2000 und 3000. Seit den ersten großen Reisen über die Ozeane und noch bevor sie zu einer Delikatesse vor allem als Suppe auf den Tischen der Vornehmen und Reichen Europas wurden, waren die Schildkröten ein einfacher und wirkungsvoller Weg, die Mannschaften der Segelschiffe mit Proviant zu versorgen. Sie fanden sich in großer Zahl, waren einfach zu fangen, ihr Fleisch war genießbar, und sie ließen sich wochenlang auf engem Raum ohne große Anforderungen am Leben halten: auf den Rücken geworfen, wie auf dem vergilbten Foto im Museum von Ascension. Deswegen machten die Segler im letzten Jahrhundert hier Station, in den Stoßzeiten zwischen fünf und sechs Schiffe pro Woche. Der Sand am Strand von Long Beach ist ocker-goldfarben. An anderen Stränden ist die Farbe anders: Der Pan Am Beach – so nannte man die Bucht im Zweiten Weltkrieg, weil sie neben dem von den Amerikanern gebauten Flughafen liegt – hat einen hellen, weißen Strand. Dunkler, fast schwarz, durch den großen Anteil zerriebener Lava, ist dagegen der North East Bay Beach auf der anderen Seite der Insel. Und es gibt einen Strand namens Crystal Beach mit offenbar grünem Sand, an dem ein bestimmtes Mineral dieser Farbe vorherrscht, das Olivin. Dieser ist jedoch auf dem Landweg gar nicht und vom Meer aus nur schwer erreichbar.
An all diese Strände kommen jedes Jahr die Schildkröten zur Eiablage. Wegen ihnen hat die Farbe der Strände möglicherweise eine gewisse Bedeutung. Tatsächlich hängt von der Farbe durch die unterschiedliche Absorption der Sonnenstrahlen die Wärmeaufnahme und daher die Temperatur des Sandes ab, was seinerseits kurioserweise das Geschlecht der Schildkröten beeinflusst. Wie bei anderen Reptilien hängt das Geschlecht der Nachkommen von der Temperatur während der Brutzeit ab: Wenige Grade Unterschied, und die ganze Brut wird aus Männchen oder Weibchen bestehen. Das Phänomen wurde zuerst bei den Krokodilen entdeckt, als man begann, diese Tiere zur Ledergewinnung in Massen aufzuziehen. Graeme hat einige Temperaturmessgeräte mitgebracht, die wir an verschiedenen Stränden eingraben – eins der nachgeordneten Ziele unserer Reise nach Ascension. Sie sind so groß wie Zigarettenschachteln und zeichnen die Temperatur ein Jahr lang alle sechs Stunden in einem kleinen elektronischen Speicher auf. In einem Jahr wird er zurückkehren und, wenn er Glück hat und nicht Sturmfluten die Strände durcheinander gebracht haben, seine Messgeräte wiederfinden, um die Temperatur während der Brutzeit der Eier zu rekonstruieren und auf diese Weise festzustellen, ob das Geschlecht der neu geschlüpften Schildkröten tatsächlich von der Farbe des Strandes abhängt.
X
Das einzige Buch über die Insel Ascension schrieb 1973 ein englischer Journalist namens Duff Hart-Davis, Ascension: The Story of a South Atlantic Island. Einige Monate nach meiner Rückkehr gelang es mir, in der Stadtbibliothek von San Francisco ein Exemplar davon aufzuspüren. Hart-Davis gibt darin die Beschreibung eines schiffbrüchigen Seemanns aus dem 17. Jahrhundert wieder: »Jeder hätte gedacht, dass der Teufel persönlich hier seine Wohnstatt genommen und hierhin den Eingang zur Hölle verlegt hat.« Auf dieser Insel, von einem Reisenden des letzten Jahrhunderts als »Inferno ohne Feuer« charakterisiert, gehört der Teufel zur Familie. Wenigstens fünf Orte erinnern an ihn: The Devil's Riding School (»Die Reitschule des Teufels«), The Devil's Ashpit (»Des Teufels Aschengrube«), The Devil's Cauldron (»Der Teufelskessel«), The Devil's Inkpot (»Das Tintenfass des Teufels«), The Devil's Punchbowl (»Der Punschbecher des Teufels«) – nicht wenig für eine Insel, die nur ein Drittel so groß ist wie Elba. Ein Seelenzustand, der dort in den ersten Tagen häufig auftritt, ist das Gefühl der Entfremdung, ein Unbehangen, das sich dann unmerklich verflüchtigt: Mein Gott, wo sind wir bloß gelandet!
Jeder Name, den wir benutzen, ruft eine primäre Bedeutung und eine Reihe von Assoziationen wach. Nehmen wir das Wort »Hügel«. Wie kann man dieses Wort nur für Cross Hill benutzen? Hill bedeutet »Hügel«, aber es entspricht nicht im Geringsten dem, was wir hier sehen. Es weckt andere Assoziationen, die nichts mit der Erhebung zu tun haben, die Georgetown überragt (die wogenden Hügel der Toskana, Die grünen Hügel Afrikas von Hemingway). Zu einem »Hügel« passen nicht das zu steile und zu gleichförmige Gefälle, der Mangel an Vegetation, die absurd rötliche Farbe. Es fehlen außerdem ähnliche »Hügel« in der Nähe, die wir doch erwarten würden. Stattdessen gibt es andere, entferntere, die wild verstreut liegen: manche in Trauben, andere allein, viele mit noch deutlich erkennbarem Kraterrand. Einige Tage nach der Ankunft auf der Insel, als ich mit dem Auto unterwegs war, verstand ich plötzlich. Cross Hill und die vielen anderen Vulkane sahen genau so aus wie gerade aufgehäufte Kieshaufen in Großformat: das gleiche Gefälle und die gleiche für einen natürlichen Berg unnatürliche Regelmäßigkeit. Es sind Erhöhungen, die eben erst entstanden sind, bei denen die umweltformenden Kräfte noch kaum Gelegenheit hatten, sich auszuwirken. Ich war einmal auf der Insel Lavezzi in der Straße von Bonifacio. Wind und Meer haben auf diesem ewig windgepeitschten Eiland die Felsen glatt poliert und bizarre, fantastische, wunderschöne Formen geschaffen. Warum sind diese Formen »schön«, während uns die von Ascension beunruhigen? Ich glaube, weil wir spüren, dass sie in gewisser Weise sinnvoll sind. Durch die formenden Kräfte von Wind und
Abbildung 2 Wideawake Airport, der Flughafen von Ascension. Der erste Hügel links im Hintergrund ist Cross Hill.
Meer haben sie eine charakteristische Gestalt gewonnen, wie vom Fluss geschliffene Kiesel, die verschiedene Größen und Formen haben können, aber sich alle in gewisser Weise ähneln. Selbst in ihrer Unterschiedlichkeit spüren wir, dass dahinter eine Kraft steht, der sich die Materie gebeugt, eine Ordnung, der sie sich unterworfen hat, eine Gestaltung, eine Regel, ein »Sinn« (»fast eine Absicht«, wie Thornton Wilder den Bruder Juniper in Die Brücke von San Louis Rey sagen ließ, der dafür auf dem Scheiterhaufen endete). Das gibt uns Orientierung, oder zumindest die Illusion einer Orientierung. Anderswo ist das Lebendige die Kraft, die die Landschaft geformt hat: Bakterien, Pflanzen und Tiere haben in wechselnder Weise und durch die außergewöhnlichsten Gleichgewichtszustände die unglaublichsten Formen ge-
schaffen. Im Mikro- wie im Makrokosmos verleiht das Leben der Landschaft ihr Gepräge, vom Regenwald bis zum trockenen Laub auf unseren herbstlichen Straßen, überall spürt man die Wiederholung von Vorbildern, die Gegenwart von Regeln. Schließlich hat der Mensch mit seiner Zivilisation und Technik eine weitere Ordnung geschaffen: Jede Stadt-, Industrie- oder Kulturlandschaft ist dafür ein Beispiel. Und dort, wo wir in der Welt eine (oder sogar mehr als eine) Ordnung erkennen, gibt es die Möglichkeit der Orientierung. Es lassen sich Vorkehrungen treffen, man kann Kontrolle ausüben und die eigenen Fähigkeiten nutzen, um die Dinge zusammenzufügen: Wir können unsere eigene »Intelligenz« nutzen. Es ist dort, wo diese Möglichkeit fehlt, wo das Unvorhergesehene, das Beunruhigende, der Alpdruck und das Monströse die Oberhand gewinnen. Wie ein Baum, aus dessen Stamm außer den Ästen plötzlich ein Arm herausragt. In Ascension fehlen die Wirkungen der drei großen »weichen« – aber beständigen – Kräfte, die unsere Umwelt gezähmt haben und sie, nach unserem Gefühl, geordnet, vertraut und damit »schön« gemacht haben, oder sie sind auf ein Mindestmaß reduziert: das Wetter, die Tier- und Pflanzenwelt und die Technik. Hier spürt man unvermischt die ungeheuren, machtvollen und undurchdringlichen Kräfte, die aus dem Innersten der Erde kommen. Hier herrscht bedrohlich das Gepräge der »starken«, explosiven und ursprünglichen geologischen Kräfte vor. Die Schlunde von 40 Vulkanen, ihre Form, ihre Ausmaße und Verteilung entbehren jeder Ordnung, sind unvorhersehbar, chaotisch – und mit ihnen selbst die Felsen und Steine, zu denen die
Lava erstarrt ist. Wie ist es möglich, Kontrolle in einer solchermaßen beschaffenen Welt auszuüben? Dies ist der Grund des Unbehagens, das uns im Moment der Ankunft überkam, und der Beunruhigung, die uns in den ersten Tagen begleitete. Doch nach und nach mildern sich das Erstaunen und die Unruhe, ein Beweis der fast unerschöpflichen Fähigkeit des Menschen, sind an jede Art von äußerer Welt anzupassen. Hoch über dem Strand neben den Schildkrötenbecken kreist ein großer schwarzer Vogel. Mit seiner Farbe, seinem gegabelten Schwanz und den großen schmalen, zunächst ein wenig vor-, dann zurückgekrümmten Flügeln erinnert er an einen Pterodactylus, einen jener Flugsaurier, die wir alle als Kinder in Büchern gesehen haben. Es ist ein Fregattvogel, der aus der Höhe über den Strand patrouilliert, auf der Jagd nach kleinen Schildkröten. Seine Silhouette, die sich gegen den Himmel abzeichnet, fügt sich in die umliegende Vulkanlandschaft und verleiht ihr einen weiteren alarmierenden Zug prähistorischen Zaubers.
XI
Entdeckt am 11. November 1493 von Kolumbus auf seiner zweiten Reise, erhielt die Insel Montserrat ihren Namen von dem Bergkloster in der Nähe Barcelonas, jenem Ort, wo einige Jahre zuvor Ignatius von Loyola seinen qualvollen mystischen Weg einschlug, der ihn später zur Gründung der Jesuiten führte. Montserrat – die Insel – ist eine der Inseln über dem Wind, der Kleinen Antillen, ein weiterer Landkrümel, der vom britischen Empire übrig geblieben ist. Im 17. Jahrhundert siedelten sich dort irische Kolonisten an, und ab 1871 wurde die Insel britische Kolonie. Es ist eine Vulkaninsel; doch seit ihrer Entdeckung durch Kolumbus hatte der Vulkan keinerlei Lebenszeichen von sich gegeben. Die Beatles nahmen hier einige ihrer Platten auf, die Zeitungen nannten sie die »Smaragdinsel«, und verschiedene Berühmtheiten bauten sich hier ihre Residenzen. Vor wenigen Jahren war der Sourfière Hill erwacht. Die Nachricht, dass zwei Drittel der Insel zerstört sind, stammt aus den letzten Monaten des Jahres 1997: Sie wurde von Lava überrollt, oder genauer und noch weit gefährlicher, von »Glutwolken« aus Gas, Dämpfen und glühender Asche, die der Vulkan ausstieß und die sich, schwerer als Luft, mit hoher Geschwindigkeit die Hänge hinabwälzten und alles zerstörten, was sich ihnen in den
Weg stellte. Ein Großteil der 13 000 Einwohner wurde evakuiert. Es ist ungewiss, ob sie jemals auf die Insel zurückkehren können. Könnte das Gleiche auch in Ascension geschehen, wo es seit der Entdeckung der Insel niemals Vulkanausbrüche gab? Doch dieser Zeitraum ist viel zu kurz und die vulkanischen Züge der Insel sind unzweideutig. Die letzte große Eruption ereignete sich vor 500 bis 600 Jahren. Als die Portugiesen die Insel entdeckten, war die Lava gerade erst erkaltet. An dem Tag, an dem einer der Vulkane von Ascension wieder aktiv wird und das Überleben der Insel bedroht, wird es allerdings einen Unterschied gegenüber Montserrat geben. Hier leben keine Familien, die seit Generationen auf der Insel wohnen und die ihre Häuser noch vielen weiteren Generationen hinterlassen wollen. In Ascension wohnt niemand seit Generationen. Es gibt und gab dort nie eine ansässige Bevölkerung. Niemand ist hier je länger als ein paar Jahre geblieben. Jeder ist auf der Durchreise. Graeme war hier vor fünf Jahren für drei Monate und lernte viele Leute kennen. Als er zurückkehrte, waren davon noch zwei übrig. Vor wenig mehr als 15 Jahren brach der Falklandkrieg wie ein Sturm über die Insel herein. Plötzlich war sie der vorgeschobene Stützpunkt für alle Kriegseinsätze der Briten. Nichts blieb seither, wie es war. Wenige Wochen lang war der Flughafen wortwörtlich der geschäftigste der Welt. Er wurde ausgebaut, es entstand ein neues Dorf für die Flieger der Royal Air Force, das Krankenhaus wurde renoviert, vor allem aber wurde eine zweiwöchentliche Fluglinie nach England eingerichtet. Heute, nach über 15 Jahren, gibt es noch etwa zehn Menschen, die schon vor dem Falklandkrieg auf der
Insel wohnten. Und niemand erinnert sich an den Zweiten Weltkrieg, als die Amerikaner ankamen und der Insel eine noch größere Umwälzung bescherten. Eine der wenigen, die sich an die Zeit vor dem Falklandkrieg erinnerten, war die Helferin des Zahnarztes. Ich besuchte John, den Zahnarzt, nicht, weil ich Zahnschmerzen hatte, sondern weil er und sein gelber Hund zu den sympathischsten und zuvorkommendsten Wesen gehörten, die ich dort getroffen habe. Er hatte mir gesagt, dass er die Fotokopie eines Artikels des National Geographic Magazine aus dem Jahr 1946 aufbewahrte, der über die Insel berichtete. Seltsam, dass sich das Magazin, das immer auf der Jagd nach besonderen Orten und Landschaften ist, seither nie wieder mit der Insel befasste. Statt des Zahnarztes traf ich seine Arzthelferin an. Sie war eine Dame von etwa 50 Jahren, sehr freundlich, mit einem etwas schleppenden Akzent. Auch sie stammte aus Sankt Helena und würde nach einem Jahr dorthin zurückkehren. Sie hatte eine Milchkaffeehaut, blaue, lächelnde Augen und strahlte eine sanft verblühende Schönheit aus, die erahnen ließ, wie hinreißend sie in ihrer Jugend ausgesehen haben musste. Ich kehrte verschiedene Male zu Johns Praxis zurück: weil er vergessen hatte, die versprochenen Fotokopien zu machen; um ihn zu fragen, ob ich ein altes Foto von ihm abfotografieren könne, vor allem aber, um mit seiner Arzthelferin zu plaudern. Sie hatte nicht viel zu tun. Sie musste jeden Nachmittag um zwei Uhr in der Praxis sein, aber es gab nur wenige Termine, und die Arbeit begann nie vor vier. Meine Freunde stichelten, dass ich in Wahrheit aus ganz anderen Gründen zu ihr ging. Aber in Wirklichkeit ging es mir natürlich um nichts
anderes als mit einem Menschen zu reden, der etwas über die Vergangenheit der Insel wusste. Ich schrieb ihre Geschichten in mein Notizbuch, das ich dann blöderweise verlor. Dort hinein schrieb ich all meine Reiseeindrücke bis zu den letzten Stunden, bis zum Flug von London zurück nach Hause. Als wir zum Landeanflug ansetzten (ich erinnere mich genau), steckte ich das Buch in die Tasche an der Rücklehne des Sitzes vor mir, wo ich es dann vergaß. Womöglich war der Verlust am Ende gar nicht so zufällig. Es war, als hätte ich unbewusst die Notwendigkeit erkannt, mich im Moment der Rückkehr davon zu befreien, wie um eine Art Zensur auszuüben. Und vielleicht ist die Tatsache, dass ich mich dennoch hinsetzte, um alles aufzuschreiben, eine Auflehnung gegen jene unbewusste Kapitulation vor dem »Realitätsprinzip«. Ich muss folglich aus dem Gedächtnis schreiben, auch die Geschichte der Arzthelferin. Ich habe eine ungenaue Erinnerung an ein Leben zwischen Sankt Helena und Ascension, unterbrochen von Besuchen bei Verwandten in England, ein Land, das ihr schön, aber zu teuer, hektisch und kalt erschienen war. In Ascension verdiente man ordentlich, aber auch dort war es nicht ideal. Wie alle hatte sie nach ein paar Jahren fern von Sankt Helena Heimweh nach ihrer grüneren, ruhigeren, normaleren Insel. Mit dem gesparten Geld kaufte sie ein Haus, um dort mit ihrem Mann alt zu werden. So bescheiden ihr Gehalt nach europäischen Standards war, sie verdiente hier viel mehr, als sie in Sankt Helena bekommen konnte, wo es keine Arbeit gibt und die Leute auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Die Tochter blieb in Ascension, weil sie in England studiert und noch vor Vollendung des 27. Lebensjahres eine Arbeit bei der BBC gefunden hatte. Danach
nämlich gibt es für die Kinder der in Ascension Beschäftigten nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie haben eine Arbeit auf der Insel gefunden, oder sie müssen sie verlassen – ausnahmslos. Die Arzthelferin erzählte mir von der Zeit vor dem Falklandkrieg, als die Engländer die Insel vergessen zu haben schienen, die Südafrikaner dort noch eine Fernmeldestation unterhielten und es mehr Amerikaner gab als heute. Es waren viele Leute von der NASA in Ascension, aber nur Militärangehörige. Einmal im Monat kam das Schiff aus England vorbei, auf dem Weg nach Sankt Helena und Kapstadt. Für die Zivilisten gab es jährlich vier oder fünf Charterflüge. Die Arzthelferin erinnerte sich, dass ein Flug im Herbst für die Kinder gedacht war, die wieder in die Schule mussten. Ein andere Maschine landete um Weihnachten, vielleicht auch eine im Frühling … Ein anderer, der die Insel schon lange kannte, war der Barmann des Exiles Club, der Bar der Engländer. Er war pechschwarz mit einem finsteren und sarkastischen Blick, der mich an Quarrel erinnerte, den schwarzen Fischer, der in dem James-Bond-Film James Bond jagt Dr. No zuerst dessen Feind ist und dann sein Freund wird. Auch der Barmann kam aus Sankt Helena, aber anders als die Arzthelferin hatte er in seinem Leben schon viele Berufe ausgeübt. Als Junge hatte er bei einer amerikanischen Expedition zur Erhöhung des Schildkrötenbestandes geholfen und Eier am Strand gesammelt. Er war in Diensten der Engländer, dann der Amerikaner, dann wieder der Engländer gewesen und hatte in den USA gearbeitet. Seit fünf Jahren war er Barmann. Ihn umgab die Aura der Allwissenheit, aber ihm etwas aus der Nase zu ziehen war unmöglich. Er machte es
einem schwer, zum Teil wegen seines unverständlichen Akzents, aber vor allem, weil er misstrauisch wurde und das Thema wechselte, sobald er merkte, dass sein Zuhörer sich für das interessierte, was er zu erzählen hatte.
XII
Wieder drängt sich mir der Vergleich mit dem Mond auf. Sollte er dereinst besiedelt werden, wird wohl auf lange Zeit niemand Lust verspüren, sich dort lange aufzuhalten. Man wäre auf einer Mission, für eine begrenzte Zeit, die im Arbeitsvertrag vereinbart ist, und könnte es nicht erwarten, wieder nach Hause zu kommen. So auch in Ascension. Das Land ist nicht in Privatbesitz. Es gibt nur die Beschäftigten der vier oder fünf Firmen, denen die Insel gehört und die sie »nutzen«. Ausdrücklich und ohne die geringste Verbrämung nennt sich die Gruppe von Firmen, denen die Insel gehört, The London Users Committee (»Londoner Nutzerkomitee«). Es handelt sich um die Telekommunikationsfirma Cable & Wireless, die BBC, die CSO (was für Composite Signals Organisation steht, eine halb geheime englische Staatsfirma, die den Äther abhört). Dazu kommen noch die Royal Air Force und die Amerikaner. Es gibt keine Bauern, keine Fischer, keine Händler, kein Privateigentum und keine Privatinitiative. Es gibt nicht einmal Steuern. Der Supermarkt und die anderen kleinen Geschäfte, die sich in Georgetown, Two Boats und Traveller's Hills befinden, gehören einem einzigen Unternehmen, dem AIS (Ascension Island Services), das die Insel
»betreibt«, vom Hafen über die Geschäfte und die Versorgung bis zur Gesundheit. Aber so ganz ohne Privatinitiative ist die Insel dann doch nicht. Es ist Sonntagmittag. Auf dem Pier herrscht ein ungewöhnliches Treiben. Da stehen drei oder vier Autos, ein paar kleine Lieferwagen und etwa ein halbes Dutzend Neugierige, die aufs Meer hinausblicken, das grau ist wie der wolkenbedeckte Himmel. Der kleine Fischkutter, der nur wenig größer ist als eine Schaluppe und der die Nacht über auf See war, ist soeben vor Anker gegangen. Ein Boot ist ihm entgegengefahren, das jetzt zurückkehrt. Ringsumher kreisen wie üblich die Tölpel im Wind. Vom Kai aus beobachte ich, wie sie ankommen. Es sind Fischer aus Sankt Helena, die ihr altes Handwerk hier nur am Wochenende ausüben, oder wann sonst es ihr Arbeitsrhythmus erlaubt. Es sind sieben Männer und ein Junge am Steuer – alle schwarz, aber jeder mit einem anderen Hautton. Zwei stehen am Bug, die anderen sitzen an den Seiten des Bootes, dessen Boden voller Fische ist. Mit den Tunfischen und anderen großen Fischen, die ich nicht kenne, zähle ich 16 Fische. Nachdem das Boot vertäut ist, greift jeder der Fischer zwei davon beim Schwanz, bringt sie die Treppe hoch zum Ende des Kais und legt sie unter einen Betontisch. Als sie an mir vorbeigehen, fällt mir auf, dass die Tunfische eine zitronengelbe Rückenflosse haben. Urteile, Witze und Kommentare gehen durcheinander. Der Fang war gut, so meine ich herauszuhören, wenn auch nicht außergewöhnlich. Aus einem Wagen wird eine Lage Bierdosen geholt. Alle bedienen sich, auch mich lädt man ein, aber für meinen Geschmack ist es dafür noch zu früh am Tag.
Zwei Fischer, bewaffnet mit großen Schürzen und zwei langen Messern, schicken sich an, die Fische auszunehmen und zu putzen. Rasch schneiden sie die Haut auf, häuten sie und lösen das Fleisch, das bei den Tunfischen rot ist wie bei einem Säugetier. Es kommt ein zweites Boot mit weiteren 20 Tunfischen und dann ein drittes mit einem Riesenthunfisch: Nur mit einem Seil und den vereinten Kräften von sechs Männern lässt er sich auf den Pier wuchten. Man hängt ihn mit dem Kopf nach unten auf, um ihn zu wiegen. Lebhafte Debatten entspinnen sich um die Frage, wie genau die Messung ist. Ist dieser hier größer als der Riesenfisch der Vorwoche, der den Jahresrekord hält? Der arme Tunfisch wird hochgehoben und wieder heruntergelassen, die Messung mehrfach kontrolliert. Schließlich müssen sich der Tunfischfänger und seine Freunde schweren Herzens geschlagen geben: Wenn auch nicht viel fehlte, den Rekord konnten sie nicht einstellen. Die Schlachter werden mehr, jetzt sind zehn um den Betontisch versammelt. Die Fröhlichkeit und das Durcheinander erreichen ihren Höhepunkt. Was von den Tunfischen übrig bleibt, wird ins Meer geworfen, wo es von Fischen nur so wimmelt, den so genannten blackfish, die absolut ungenießbar und höchst gefräßig sind. Was immer ins Wasser geworfen wird, es hat noch nicht das Wasser berührt, da ist es schon von einem brausenden Schwarm von Fischen verschlungen worden. Als das Brausen abklingt, ist von den Resten nicht die geringste Spur übrig. Die Fischer am Tisch sind fast genauso schnell wie die wimmelnden schwarzen Fische unter ihnen. Sie teilen das Fleisch auf, und bald zieht jeder frohgemut mit zahlreichen vollen Plastiktüten von dannen, die für den eigenen
Verzehr oder für einen halb legalen Privathandel bestimmt sind. In wenigen Minuten leert sich der Pier. In vielen großen und schönen europäischen Städten will es die Volkstradition oder eine touristische Legende, dass ein ritueller Akt oder eine Geste, die man an bestimmten Orten vollführt, die Gewissheit schafft oder erhöht, dorthin zurückkehren zu können. Wirft jemand zum Beispiel eine Münze in einen Brunnen und kehrt ihm den Rücken, wird er oder sie noch einmal im Leben an diesen Ort zurückkehren. Und die Touristen pflegen diesen Brauch. In Ascension dagegen gibt es einen Ort in der Nähe von Georgetown auf dem Weg nach Two Boats, für den die umgekehrte Regel gilt. Es ist ein Grenzstein, eine Art Prellstein, der in tausend Farben bemalt ist. Die Legende besagt, dass man dorthin gehen und einen Farbklecks auf den Stein malen muss, wenn man die Insel verlässt und sichergehen will, nie wieder zurückkehren zu müssen. Nur so kann man dem Risiko entgehen, jemals wieder einen Fuß auf diese verfluchte Insel zu setzen. Aber, so die Legende weiter, man muss es im Verborgenen tun, des Nachts, sodass einen niemand sieht, denn wer dabei überrascht wird, dessen Schicksal ist für immer besiegelt: Er darf die Insel nie wieder verlassen. Dieser Brauch stammt aus einer Vergangenheit, in der sich Georgetown noch The Garrison (»die Garnison«) nannte und die einzigen Inselbewohner eine Hand voll Marineinfanteristen mit ihren Offizieren sowie einige schwarze Arbeiter waren, die man aus Afrika geholt hatte. Seither hat sich viel verändert. Auf der Insel gibt es keine wirklichen Ansässigen. Ascension ist nur eine Durchgangsstation, wo man wohnt, weil man dort arbeitet, dazu
bestimmt, trotz der Angst einflößenden Legende früher oder später wieder fortzugehen. Verschiedene Male geschah es, dass jemand neugierig wurde, wer wir sind – ein sehr verständliches Interesse an einem Ort, an dem sich alle kennen. Die uns gestellte Frage war immer: »For whom do you work?« (»Für wen arbeiten Sie?«) und nicht »Wer sind Sie?«, »Woher kommen Sie?«, »Was machen Sie?« Das Entscheidende war der Arbeitgeber. Ascension ist ein Ort ohne geschichtliches Gedächtnis und ohne alte Menschen.
XIII
Mittlerweile ist eine Woche verstrichen, seitdem wir ankamen. Wir haben die Funktionstüchtigkeit der Sender überprüft und sind jeden Abend zum Strand von Long Beach hinuntergegangen. Wie überall in den Tropen kommt die Nacht plötzlich. In der Kantine der Sankthelenaer oder Saints, am »Tisch der Heiligen« also, isst man früh zu Abend. Wenn wir gegen sieben mit dem Essen fertig sind, ist die Sonne gerade untergegangen, und in der kurzen Zeit, die wir brauchen, um über die Straße zum Islander Hostel zurückzukehren, kurz aufs Zimmer zu gehen und uns dann auf die Veranda zu setzen, ist es schon dunkel geworden. In wenigen Tagen haben wir Gewohnheiten angenommen, die wir den ganzen Monat lang pflegen. Was das Kulinarische angeht, haben wir im Supermarkt einen guten südafrikanischen Wein entdeckt. Floriano entkorkt ihn, während ich die Schachfiguren aufstelle, Paolo nimmt sich sein Buch (Moby Dick von Melville), während Graeme das Radio einschaltet und die BBC-Nachrichten hört. Im Schach sind wir kaum besser als mittelmäßig. Es gewinnt, wie Floriano sagt, wer den vorletzten Fehler macht. So verbringen wir einige Stunden mit langen Phasen des Schweigens, unterbrochen nur dann und wann von einem
Abbildung 3 »Es gewinnt, wer den vorletzten Fehler macht.« Eine Schachpartie im Islander Hostel, bevor in der Nacht die Arbeit beginnt. Links im Bild Floriano Papi, rechts Sergio Ghione.
gepfefferten Witz, einem kleinen Lamento über einen schlechten Schachzug oder lautem Hohn über einen errungenen Vorteil – ganz üble Schachmanieren. Draußen ist es stockdunkel. Aus dem einzigen geöffneten Treffpunkt des Dorfes, The Saints' Club oder »Club der Heiligen«, dringen ab und zu Musik aus einer Jukebox und die Stimmen junger Männer zu uns herüber. Um zehn beginnen wir, uns wieder zu regen. Die Flasche Wein ist lange geleert, zwei oder drei Partien Schach sind ausgefochten, und auch Paolo und Graeme erwachen aus ihrer Trägheit. Die Arbeit beginnt. Wir packen die Taschen mit zusätzlicher Kleidung, Leim, Lösungsmittel, Handschuhen, den Satellitensendern, Empfänger, Nachtsichtgerät, Kopflampen, wie sie Höhlenforscher tragen, normalen Taschenlampen und was wir sonst noch brauchen. Wir überprüfen, ob wir auch nichts vergessen haben, teilen die Last unter uns auf und gehen zu Fuß los. Wir lassen den Club der Heiligen, dessen Lärm uns noch eine Weile begleitet, hinter uns. Zur Rechten liegt erleuchtet und die ganze Nacht geöffnet die Polizeistation. An der Tür steht ein Polizist in Uniform und grüßt uns. Das Büro des Verwalters ist leer und dunkel, ebenso wie etwas weiter das kleine, von einem niedrigen Zaun umgebene Haus mit einem geschlossenen Gitter, neben dem ein Schild angebracht ist: »H.M. Prison«, das Gefängnis Ihrer Majestät. Das letzte Mal saß hier jemand vor drei Jahren ein, erzählte uns später der Verwalter. Es waren zwei junge Männer, die mit einer Yacht aus Südafrika gekommen waren und Haschisch an Bord hatten. Sie verbrachten zwei Tage im Gefängnis und wurden dann von der Insel verwiesen, oder man ließ sie gehen, wenn man so will, jedoch erst,
nachdem sie eine Strafe bezahlt hatten, nämlich die Kosten ihres Zwangsaufenthalts: Kost und Logis. Die Straße fällt sanft ab, biegt erst nach links und dann wieder nach rechts. Außer dem Polizisten begegnet uns niemand. Jenseits des Hangs kommen wir an der letzten Laterne vorbei, wo die asphaltierte Straße endet. Jetzt sind wir im Dunkeln und laufen über einen befestigten Weg parallel zum Strand. Nach einigen Minuten blicke ich nach oben: die beste Gelegenheit, um den hinreißenden Sternenhimmel zu genießen. Nicht früher, denn da ist das Auge noch zu sehr an das Licht gewöhnt, aber auch nicht später, wenn man sich ganz an das Dunkel gewöhnt hat und die Details nicht mehr so gut erkennt. Wir laufen ein paar hundert Meter, den Strand zur Linken, Gestrüpp zur Rechten. Der Landstrich sieht aus wie der afrikanische Busch, sagen Floriano und Paolo, die schon dort waren, und wurde früher Benin City genannt, als hier das Lager der Cru-Arbeiter stand, die die Engländer aus Nigeria geholt hatten. Wir verlassen die Straße und gehen, umhüllt von schwarzer Nacht, den Strand entlang. Der Weg wird sofort beschwerlich. Der Sand ist mit Vertiefungen übersät, die von den Schildkröten stammen. Graeme besteht geradezu verbissen darauf, die Lampen nicht einzuschalten, um die vielleicht noch in der Nähe befindlichen Schildkröten nicht zu stören. Mitten auf dem Strand machen wir Halt und errichten eine Art Basiscamp, wo wir unsere Taschen lassen. Im Dunkeln suchen wir einen Orientierungspunkt, um sie später auch wiederzufinden, ein Stück Strandgut zum Beispiel, einen alten Reifenfetzen. Wir sind etwa auf halber Höhe des Strandes, weshalb zwei von uns zur einen und zwei zur anderen Seite losgehen, auf der Suche nach einer Schildkröte.
Ich laufe mit Graeme die Strandlinie entlang, während sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Der Mond ist noch nicht aufgegangen, aber es ist unbewölkt und die Landschaft rings um den Schildkrötenstrand bietet, schwach von den Sternen erleuchtet, einen außergewöhnlichen Anblick. Blickt man zurück, erhebt sich rechts von der Straße bedrohlich der Umriss des Cross Hill, während in der Ferne der gespenstische Schatten des Green Mountain auftaucht, des höchsten Bergs der Insel. In der Nähe des Gipfels erkennt man zwei leuchtende Punkte: die Residenz des Verwalters und das Farmhaus. Noch weiter in der Ferne sieht man die undeutlichen Umrisse weiterer Vulkane, dann, in der Nähe des Meeres, den einzigen anderen leuchtenden Punkt. Es ist Pyramid Point am anderen Ende der Bucht, eine von Reflektoren erleuchtete weiße Scheibe, die »Golfball« genannt wird. (Eine Radaranlage? Eine Antenne? Sie wird immer beleuchtet, und ab und zu kommt ein geheimnisvolles blaues oder rotes Blinklicht hinzu.) Die Ortschaft in unserem Rücken schläft mittlerweile. Über das Meer gleiten die dunklen Schatten der wenigen ankernden Boote. Ein wenig weiter die Lichter des Tankschiffes, das immer da ist und in gewisser Weise beruhigend wirkt. Außer dem periodischen Getöse der Brandung dringt von der Landseite von Zeit zu Zeit das Zirpen einer Grille oder ein Eselsschrei zu uns herüber. Graeme und ich wollen sehen, ob schon eine Schildkröte angekommen ist, was man an den Spuren im Sand erkennen kann. Wir sind sehr aufmerksam und immer bereit, einer größeren Welle auszuweichen. Im Dunkeln ist es nicht leicht, das Meer einzuschätzen, das man hier immer ernst nehmen muss. Einmal wurde Floriano sogar tagsüber
von einer Welle überrascht, die ihn umwarf und fast mit sich fortriss. Wir finden eine Spur. Sie stammt aus dieser Nacht und weist landwärts. Wir haben gelernt, die frischen Spuren von den Vortagsspuren zu unterscheiden, und erkennen mittlerweile, ob sie landeinwärts oder seewärts gerichtet sind. Graeme und ich folgen der Spur eine Weile, dann macht mein Freund mir ein Zeichen, mich zu ducken und zu warten. Er selbst legt sich hin, kriecht geräuschlos über den Sand und verschwindet im Dunkeln. Nach einigen Minuten taucht er wieder auf und flüstert mir zu, dass die Schildkröte gleich da vorne ist. Aber wir haben noch Zeit, sie hat gerade erst zu graben begonnen, und es wird noch eine halbe Stunde dauern, bevor sie mit der Eiablage beginnt. Wir sind unsicher, ob wir warten oder eine andere suchen sollen. In den vier Wochen auf Ascension habe ich viele Schildkröten gesehen. Auch bei starkem Wellengang kommen sie nachts an Land, schon ab Januar, wenn noch gewaltige Atlantikbrecher gegen die Insel branden. Sie tauchen aus dem Meer auf und beginnen mit unterbrochenen Bewegungen, den Strand hinaufzukriechen, indem sie sich mit ihren kräftigen Vorderbeinen voranziehen, mit den Hinterbeinen abstoßen und auf dem flachen Brustschild ihres Panzers über den Boden schleifen. Hinter sich lassen sie eine breite Spur zurück, die wie der Abdruck eines Kettenfahrzeugs aussieht. So elegant ihre Bewegungen im Wasser sind, so unbeholfen wirken sie an Land. Darin ähneln die Schildkröten vielen ursprünglichen Landtieren, die sich an ein Leben im Wasser angepasst haben – Seehunde, Pinguine, Krokodile, Flusspferde.
Abbildung 4 Diese Spur hinterließ eine Schildkröte, die nach der nächtlichen Eiablage auf Long Beach zurück ins Wasser ging. Im Hintergrund zu sehen: Georgetown.
Alle paar Minuten halten sie inne, vielleicht um auszuruhen. Dann strecken sie den Hals und drehen den Kopf in verschiedene Richtungen, als würden sie die Umgebung auf mögliche Gefahren untersuchen. Tatsächlich sind ihre Augen, wie Floriano mir erklärte, auf die Sicht unter Wasser eingestellt. So wie wir, die wir in der Luft gut, im Wasser dagegen (ohne Taucherbrille) nur unscharf sehen, können die Schildkröten umgekehrt aufgrund einer dafür nicht geeigneten Krümmung der Hornhaut in der Luft nur schlecht sehen, im Wasser allerdings gut. Das schließt unter anderem die Möglichkeit aus, dass sie sich auf dem Weg nach Ascension und bei ihrer Rückkehr an den Sternen orientieren, was viele Wandervögel zu tun scheinen. An Land erkunden sie die Umwelt auf andere Weise: mit dem Gehör- und vor allem mit dem Geruchssinn. Wenn sie Ge-
fahr wittern, kehren sie ins Meer zurück, um später oder in einer der folgenden Nächte wieder zurückzukehren. Nachdem sie sich ein Stück Strand hochgeschleppt hat, kriecht die Schildkröte etwas umher, um einen Ort zu suchen, wo sie ein Loch graben kann. Mit den Vorderbeinen, die sich wie die Hinterbeine in große Flossen verwandelt haben, macht sie Bewegungen wie beim Schwimmen, wirft sie nach vorne, gräbt sie in den Sand und drückt sie dann mit einer ruckartigen Bewegung nach außen beziehungsweise nach hinten. Bei jeder Grabbewegung hebt sie Sand aus, der einige Meter umherfliegt. Alle acht oder zehn Bewegungen hält sie inne, um sich auszuruhen, die Gegend zu erkunden und tief durchzuatmen. Von nahem sind die Geräusche, die sie dabei ausstößt, beeindruckend, ein tiefes Keuchen, ein unheimliches, viehisches Röcheln. Sie bewegt sich von Zeit zu Zeit etwas vor oder zur Seite, verschwindet langsam in ihrem Loch und wird unsichtbar in der Nacht. Nachdem das Hauptloch in etwa einer Dreiviertelstunde gegraben ist, bleibt die Schildkröte reglos liegen und beginnt erst nach einer langen Pause mit einem zweiten, kleineren Loch, das sie diesmal mit den kleineren Hinterbeinen gräbt. Sehr vorsichtig schaufelt sie nun ein vierzig bis fünfzig Zentimeter tiefes Loch und legt die Eier hinein. Manchmal, wenn die Schildkröte während der Arbeit irgendetwas stört, unterbricht sie das Graben, bewegt sich etwas weiter und beginnt ganz von vorn. Verschiedene Male, wenn wir eine Schildkröte fanden und lange darauf gewartet hatten, dass sie mit der Eiablage begann, kroch Graeme von seinem Spähversteck zurück und flüsterte: »Sie hat aufgegeben.« Eines Nachts kehrte eine Schildkröte, an der wir schon zwei Wochen zuvor einen Sender
Abbildung 5 »Dead Man's Beach« in der South-West-Bay: Deutlich zu sehen sind die Löcher, in denen die Schildkröten ihre Eier ablegen.
angebracht hatten, zur Eiablage an den Strand zurück (jede Schildkröte legt vier bis fünf Mal Eier ab). Nachdem sie aus dem Meer gekrochen war, unternahm sie drei Grabungen, die sie stets unterbrach. Erst beim vierten Mal legte sie ihre Eier. Das dauerte so lange, dass sie vom Sonnenaufgang überrascht wurde, weshalb wir sie fotografieren und auf Video aufnehmen konnten. Das entschädigte uns für die schlaflose Nacht. Nach einer Weile sieht Graeme wieder nach der Schildkröte und entscheidet, dass der Zeitpunkt günstig ist. Von dem Moment der Eiablage an lässt sie sich durch nichts mehr stören, als ob sie gezwungen wäre, die mühselige Abfolge programmierter Handlungsschritte bis zum Letzten auszuführen. Wir können jetzt die Taschenlampen an-
machen, uns nähern und den Sender auf ihrem Rückenschild anbringen, ohne dass sie im Geringsten reagieren wird. Nichts an ihrem Verhalten lässt darauf schließen, dass sie Notiz von uns nimmt. Ich sage den anderen Bescheid und hole die Taschen. Als wir zurückkehren, ist Graeme schon bei der Arbeit. Er ist um die Schildkröte herumgekrochen und dabei, die Eier zu vermessen. Jeder hat seine Aufgabe: Paolo und Floriano bereiten den Kleber und den Kitt vor, während ich Buch führe und die Zahlen aufschreibe, die mir Graeme nennt. Ich lege mich vorsichtig neben ihn. Man muss aufpassen, dass man nicht die Wände des Hauptlochs zum Einstürzen bringt, oder, schlimmer noch, des kleinen Lochs, wo die Eier abgelegt werden. Es wirkt wie eine Art Schrein unter dem großen Körper der Schildkröte, verborgen von dem kleinen dreieckigen Schwanz und den Hinterflossen, die Graeme mit viel Feingefühl beiseite geschoben hat. Unten sehen wir, beleuchtet von den Taschenlampen – rund, weiß und kaum größer als Tischtennisbälle – die Eier, die in Trauben von drei oder vier nach unten fallen. Am Ende hat die Schildkröte etwa 100 Eier gelegt, die wir aber nicht alle vermessen. Bäuchlings auf dem Boden liegend, sammelt Graeme sie auf, misst ihren Durchmesser mit einer Lehre und legt sie dann zu den anderen, wobei er flüstert: »Forty-one point seven«, »forty-two point one«, »thirty-eight point nine«… Um die Schildkröten ruhig zu halten, während wir die Sender anbringen (PTT oder Platform Transmitter Terminal), hatten wir einen passenden Käfig mitgebracht, eine einfallsreiche Vorrichtung, die, in ihre Einzelteile zerlegt, leicht, tragbar und wieder zusammensetzbar war: die Mu-
mie. Sie bestand aus einem aluminiumverstärkten Holzgestell, das an drei Seiten von einem Futteral geschützt war, damit sich die Schildkröte nicht verletzt. Doch dann haben wir unseren schönen Schildkrötenkäfig nur einmal benutzt, das erste Mal. Die Idee war, dass die Schildkröte durch die offene Seite in den Käfig kriechen sollte und dann dort gefangen wäre, sodass wir unsere Arbeit in aller Ruhe hätten verrichten können. Das funktionierte überhaupt nicht. Nachdem die erste Schildkröte in den Käfig gelaufen war, überwand sie ohne die geringsten Probleme die Barriere und stieg an der anderen Seite wieder aus. Eine Nacht, die man besser vergessen sollte: der ungleiche Kampf zwischen uns vieren, die wir uns ungeschickt abmühten, sie zurückzuhalten, und ihr, die mit weit überlegenen Kräften an allen Seiten immer wieder entwich. So gaben wir die Idee auf, die Schildkröten mit Gewalt zurückzuhalten und begriffen, dass wir nur mit List vorgehen konnten: Um ihnen den Sender anzukleben, mussten wir den Moment ausnutzen, in dem sie damit beschäftigt waren, die Eier abzulegen und zuzudecken. Während die anderen den Kitt vorbereiten, habe ich Gelegenheit, mir die Schildkröte in Ruhe anzusehen. Sie ist ein großes, beeindruckendes Tier. Im Dunkeln erscheint sie mit ihrem schwarzen, einen Meter langen und einen halben Meter breiten Panzer wie ein gewaltiger, kafkaesker Käfer. Tatsächlich ist der Panzer – pardon, der Rückenschild – bei richtiger Beleuchtung olivgrün, weshalb sie im Englischen und Italienischen »Grüne Schildkröte« heißt, und teilt sich wie bei den uns vertrauteren Landschildkröten in symmetrische Platten. Anders als diese kann sie jedoch ihre Gliedmaßen und den Kopf mit ihrer graugrünen
Haut, die ebenfalls ein Schuppenmuster zeigt, nicht in den Panzer einziehen. Die Vorder- und Hinterbeine sind flossenartig ausgebildet, haben aber Respekt einflößende Krallen. Die Schnauze ist quadratisch, ein wenig nach vorne gespitzt und hat zwei kreisrunde Nasenlöcher, über denen große, runde, schwarze Augen sitzen, die einmal vollkommen ausdruckslos erscheinen und ihr dann wieder ein fast sympathisches Aussehen verleihen. Das Anbringen des Senders geht schnell und folgt den Anordnungen von Paolo, der in dieser Phase die Leitung übernimmt. Im Licht der Taschenlampen schmirgeln wir das Oberteil des Rückenschildes an, tragen Klebstoff auf, dann Kitt, um dem Sender ein Bett zu bereiten. Danach wird dieser in den Kitt gepresst, ein Kreuz aus langen Glaswollstreifen über den Sender und den Panzer gelegt, um beides fest miteinander zu verbinden, und das Ganze mit einem äußerst starken Klebstoff bestrichen. Es ist ein Kampf gegen die Zeit. Nachdem die Schildkröte die Eiablage in etwa einer Viertelstunde beendet hat, beginnt sie, die Brutzelle mit den Eiern abzudecken. Das macht sie mit großer Sorgfalt und Genauigkeit, mit langsamen Bewegungen der Hinterbeine, die an das Teigkneten menschlicher Hände erinnern. Es ist wichtig, fertig zu werden, bevor das Zuschaufeln der Eier beendet ist. Solange die Schildkröte nur die Hinterbeine bewegt, gibt es keine Probleme. Aber wenn man zu spät beginnt oder auf ein Hindernis stößt, wird es kompliziert. Wie am Anfang, wenn die Schildkröte das Hauptloch zu graben beginnt, schaufelt sie nun mit ausladenden und kräftigen Schwimmbewegungen der Gliedmaßen Sand hinter sich, um den Grabungsort zu verste-
cken. Es sind Momente, wo man vom großen Aktionsradius ihrer Flossen besser Abstand hält. Sich eine Ohrfeige von einem ihrer Beine einzufangen, kann sehr wehtun, wie wir alle früher oder später erleben mussten. Für die letzten Handgriffe muss man die Ruhepausen abwarten, wenn das Tier innehält, um seine unglaublichen Stöhnlaute auszustoßen. Auch wenn alles beendet scheint, muss man noch warten. Wir müssen verhindern, dass sie zu früh ins Wasser zurückkehrt: Der Klebstoff und der Kitt müssen erst abbinden. Manchmal tritt diese Schwierigkeit nicht auf, es reicht, die Schildkröte im Auge zu behalten, die von sich aus genug Zeit verstreichen lässt und eine Ewigkeit damit verbringt, den Ort zu verbergen, an dem sie die Eier abgelegt hat. Bei anderen Gelegenheiten hat sie es plötzlich sehr eilig und setzt sich in Bewegung: Sie klettert aus dem Loch und kriecht auf das Meer zu. Dann müssen wir eingreifen. Trotz der ganzen Arbeit, die sie geleistet hat, ist die Schildkröte immer noch viel stärker als wir, und es ist unmöglich, sie bewegungsunfähig zu machen. Wieder ist eine List vonnöten. Wir müssen versuchen, ihr die Orientierung zu nehmen und leuchten den Sand an den Seiten ihres Kopfes an. Auf diese Weise gelingt es eine Weile lang, sie zu verwirren und in die Irre zu leiten. Doch bald orientiert sie sich wieder in die richtige Richtung, und dann müssen wir versuchen, sie umzudrehen, indem wir die Momente ausnützen, in denen sie Halt macht – wobei wir jedes Mal aufpassen müssen, uns keine Ohrfeige von ihren Flossen einzufangen. Das widerfuhr einmal Paolo, und einen Augenblick lang fürchtete ich, die Schildkröte hätte seine Nase abgeschlagen. Ich blicke auf die Uhr: Es ist nach drei. Jetzt können wir
Abbildung 6 Long Beach im Morgengrauen: eine Schildkröte kriecht – vom Sonnenaufgang überrascht — aus dem Loch, in dem sie ihre Eier abgelegt hat. Auf dem Panzer klebt der Satellitensender.
sie gehen lassen. Wir belästigen sie nicht weiter, und sie macht sich sofort auf den Weg und schleppt sich zum Meer. Dazu wird sie noch eine halbe Stunde brauchen. Wir könnten sofort schlafen gehen, bleiben aber noch und verfolgen ihre langsamen Bewegungen, unterbrochen von langen Pausen mit ihren röchelnden Atemzügen. In der Zwischenzeit ist hinter den Vulkanen eine Mondsichel aufgegangen und taucht den Strand in ein unwirkliches, silbernes Licht. Die Schildkröte erreicht die Strandlinie, eine erste Welle benetzt sie, eine zweite hebt sie sachte an und zieht sie einen kurzen Moment lang mit. Sie kriecht weiter, erreicht die Zone, wo sich die Wellen brechen, und wird von einer größeren Welle überrollt. Wir sehen einen letzten Augenblick lang, beleuchtet von unseren Lampen, das dunkle Profil des Rückenschilds mit der Sendeantenne,
das sich gegen die weiße Gischt abzeichnet. Dann verschwindet sie im schwarzen Meer. Wir schalten den Empfänger ein und warten. Nach einigen Minuten hören wir zwei kurze, krächzende Geräusche. Alles in Ordnung. Die Schildkröte ist zum Atmen aufgetaucht und mit ihr einen kurzen Moment lang die Antenne. Der Sender ist aktiviert und hat seine Signale zum Satelliten geschickt. Alles funktioniert bestens. Es ist vier Uhr morgens, wir können schlafen gehen. In ein paar Tagen werden wir die Nachrichten über diese Schildkröte per Fax von Florianos Institut erhalten und wissen, ob sie sich auf den Rückweg gemacht hat. Wohin wird sie wandern?
XIV
Das Schicksal von Ascension änderte sich, als Napoleon nach Sankt Helena verbannt wurde, nachdem er in Waterloo besiegt worden war und sich den Engländern ergeben hatte. Das war die Zeit, in der die Engländer beschlossen, die Insel Ascension zu besetzen, um auf Nummer Sicher zu gehen und nach Napoleons Flucht von Elba keine weiteren Überraschungen zu riskieren. Napoleon wurde von der »Northumberland« nach Sankt Helena gebracht, deren Kapitän, Sir George Cockburn, mit der Bewachung des Gefangenen beauftragt war. Cockburn selbst war es, der auf eigene Initiative beschloss, Ascension zu besetzen. Duff Hart-Davis berichtet, dass Cockburn wenige Tage nachdem er mit Napoleon auf Sankt Helena eingetroffen war, zwei Schiffe aus dem Geleitzug der »Northumberland«, die »Zenobian« und die »Peruvian«, in einer Sondermission entsandte. (Die »Peruvian« hatte übrigens schon eine wichtige Aufgabe auf der Hinfahrt nach Sankt Helena erfüllt, als sie 200 Flaschen guten französischen Weins beförderte, um die Tafel des Kaisers zu bereichern.) Die Instruktionen in einem versiegelten Umschlag, der erst auf hoher See geöffnet werden durfte, enthielten den Befehl, nach Ascension zu segeln. War die Insel unbe-
wohnt, sollte der Kapitän der »Peruvian« an Land gehen, die britische Flagge hissen und eine Garnison bestehend aus einem Offizier und zehn Soldaten zurücklassen, ebenso eine Kanone und was sonst noch zur Verteidigung nötig wäre. Fanden sie dagegen Schiffe anderer Nationen vor der Insel vor, sollten sie zuwarten und ihre Absichten geheim halten, bis diese die Gewässer wieder verließen. Wenn die Insel anders als erwartet bereits von einer anderen Nation besetzt war, so schlossen die Anweisungen mit Vorsicht, sollten sie in keiner Weise eingreifen und mit der Nachricht sofort nach Sankt Helena zurückkehren. Vom Wind getrieben erreichten die Schiffe nach fünf Tagen Ascension. Sie fanden dort niemanden vor und hissten die englische Flagge. So geschah es, wie die Logbücher der beiden Schiffe berichten, dass am späten Nachmittag des 22. Oktobers 1815 um halb sechs Uhr, eine Woche nach der Ankunft Napoleons auf Sankt Helena, Ascension ohne Schwertstreich britisch wurde. Und das blieb die Insel – ohne Schwertstreich – bis heute. Ähnlich war die Geschichte von Tristão da Cuña. Auch dorthin entsandten die Briten 1816 eine Garnison, besorgt, dass die Franzosen, aber vor allem die Amerikaner, die sie mehr fürchteten, die Insel als Stützpunkt benutzen könnten, um im Handstreich Napoleon zu befreien. Im Gegensatz zu Ascension fanden sie die Insel jedoch bewohnt. Tristan liegt viel weiter südlich, ein immer windgepeitschtes Eiland, das den atlantischen Stürmen ausgesetzt ist. Aber, und das ist wichtig: Es gibt dort Wasser. Die Engländer fanden auf der Insel einen seltsamen Kauz namens Tommaso Corri (anglisiert Thomas Currie), einen Italiener aus Livorno, der sechs Jahre zuvor zusammen mit einem Amerikaner, einem gewis-
sen Jonathan Lambert, angekommen war. Lambert war so klug gewesen, die Insel zu seinem persönlichen Eigentum zu erklären und sich selbst zum Kaiser von Tristão da Cuña auszurufen. Er hatte sogar daran gedacht, die Nachricht in der Boston Gazette zu veröffentlichen. Dann, eines Tages im Jahre 1812, war er zum Fischen ausgelaufen und nie wieder zurückgekehrt. Um völlig sicher zu gehen, ließen die Engländer Corri eine Erklärung unterschreiben, die ihnen die Herrschaft über die Insel zuerkannte. Was Corri, der auf der Insel blieb und 1817 starb, möglicherweise zu verbergen hatte, werde ich später erzählen. Als Napoleon 1821 starb, verlor Tristão jede Bedeutung, und die Garnison wurde abgezogen. Aber ein schottischer Seemann namens William Glass entschloss sich, zusammen mit seiner sehr jungen – zwölfjährigen – schwarzen Frau aus Südafrika zu bleiben. Sie schenkte ihm 16 Kinder. Mit der Zeit kamen andere Seeleute und Schiffbrüchige hinzu, unter denen 1893 zwei Italiener namens Andrea Repetto und Gaetano Lavarello aus Camogli waren, die die Havarie einer Brigantine, der Italia, überlebt hatten. Noch heute trägt ein Drittel der ungefähr 300 Bewohner von Tristão ihre Nachnahmen. 1962 überraschte ein plötzlicher Vulkanausbruch das einzige Dorf der Insel, Edinburgh. Die Bewohner mussten auf eine nahe gelegene Insel flüchten und wurden dann von einem Schiff der britischen Marine evakuiert. Man brachte sie nach England, wo sie einige Zeit in einem Flüchtlingslager blieben. Aber sie fühlten sich dort nicht wohl und wurden weitergeschickt auf eine Insel im Norden, vielleicht auf eine der Orkney- oder der Shetlandinseln, wo sie nicht minder unglücklich waren. Zwei Jahre später kehrten sie nach Tristão da Cuña zurück.
Im Gegensatz zu Ascension erregte Tristão da Cuña das Interesse von Schriftstellern. Edgar Allan Poe erwähnt sie in Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym, Jules Verne in Die Eissphinx und Primo Levi in Das periodische System. Auch einige Bücher jüngeren Datums berichten von der Insel. Die genaueste Quelle sind jedoch vielleicht die Annals of Tristão da Cuña von einem Italiener namens Arnaldo Faustini. Professor Faustini – so wird er auf der Internetseite tituliert, der ich diese Informationen entnehme – wurde 1872 in Rom geboren und war zur Jahrhundertwende ein Polarforscher von einem gewissen Ruhm. 1915 ging er in die USA, wo er für die Banca d'Italia arbeitete. Nach dem Tod seiner Frau 1990 – er selbst war lange zuvor gestorben – fand die Tochter bei der Sichtung des väterlichen Nachlasses ein Manuskript, von dem niemand etwas wusste, eben jene Annalen von Tristão da Cuña, die sie im Internet veröffentlichte. Es ist eine äußerst detailreiche Chronik. Sie beginnt mit der Entdeckung der Insel in den ersten Monaten des Jahres 1506, als das Schiff von Tnstäo da Curia durch einen Sturm abgetrieben wurde und die Insel zuerst erblickte. Erzählt wird die Geschichte von Lambert und Tommaso Corri, der wohl eine Art Pirat war und seinen Kompagnon wahrscheinlich umgebracht hat. Berichtet wird auch vom unvorstellbar harten und isolierten Leben einer Hand voll Kolonisten, die auf der Insel über ein Jahrhundert lang ums Überleben kämpften. Die Annalen enden am 23. März 1925 mit der Antwort des Kolonialministers an einen Londoner Rechtsanwalt, der ein Bittgesuch der Insulaner vorgetragen hatte: »Der
Innenminister versichert, dass er Seiner Majestät dem König die Ehrerbietungen übermitteln wird, die an Seine Majestät in der Petition der Insulaner gerichtet sind, und verspricht, ihnen einen Brief zu schreiben, sobald sich eine Gelegenheit findet. Die Regierung Seiner Majestät hegt jede Sympathie für den Wunsch der Bittsteller, jährlich die Post zu erhalten, und die Frage der Einrichtung einer regelmäßigeren und häufigeren Verbindung mit der Insel wird aufmerksam geprüft […]. Es steht jedoch zu befürchten, dass die Lords der Admiralität in Anbetracht der erheblichen Kosten und anderer Schwierigkeiten einen Besuch der Insel durch ein Schiff Seiner Majestät nur alle drei oder vier Jahre garantieren können […]«
XV
Es ist zwei Uhr nachmittags, jene Stunde, in der laut Noel Coward in den Tropen nur tollwütige Hunde und Engländer unterwegs sind. Die Sonne steht gnadenlos hoch am Zenit, aber die Hitze wird ein wenig vom Passat gemildert, der wie immer ununterbrochen aus Südost weht. Meine Freunde sitzen auf der Veranda, markieren auf der Karte die Position der Schildkröten, deren Koordinaten gerade per Fax aus Italien gekommen sind, und fragen sich, was sie wohl gerade tun. Ich nehme den Kleinbus, um eine Runde zu machen. Es war nicht leicht, den Lieferwagen aufzutreiben. Wie überall, wo es keine Nachfrage gibt, gibt es auch kein Angebot. Da keine Touristen nach Ascension kommen, war niemand darauf vorbereitet, ein Auto zu vermieten. Der Verwalter hatte sich von Anfang an klar geäußert: »Ich kann gar nichts machen. Ich habe kein Auto, das ich Ihnen einen Monat lang geben kann, die ansässigen Firmen haben ihre eigenen Wagen, und nur in begrenzter Zahl. Vielleicht kann ich Ihnen das Auto des katholischen Pfarrers geben, wenn er in zwei Wochen abreist. Oder hören Sie sich bei den Heiligen um. Aber darum müssen Sie sich selbst kümmern, wenn ich frage, wird es nur noch schwieriger.« Nach einer Woche fanden wir einen Heiligen, der
bereit war, uns gegen Bezahlung seinen überaus klapprigen Lieferwagen zu leihen. Benzin gibt es und auch Wasser, das, nach Empfehlung des Heiligen, jeden Tag aufgefüllt werden muss. Ich fahre los und mache die übliche Anstrengung, mich zu konzentrieren, denn hier herrscht Linksverkehr, und fahre nach Süden zum amerikanischen Militärstützpunkt und zum Flughafen. Die Straße führt parallel zur Küste bergan, durch eine öde und unwirtliche Landschaft mit dürrem Gestrüpp. Mir begegnen ein paar Autos – wir grüßen uns – und eine Gruppe von Eseln, die im Gänsemarsch am Straßenrand entlanglaufen. Sie erschrecken sich nicht im Geringsten, als ich vorbeifahre, nur ein Füllen läuft verängstigt zur Mama und drückt sich an ihre Seite. Ich stelle das Radio an. Es ist auf die Welle der BBC eingestellt, Africa Service. Die Sendung, die gerade aus Ascension über die gigantischen Antennen der English Bay ausgestrahlt wird, hat ein besonders für Afrika ernstes Thema: Wie kann man sich vor Aids schützen? Zwei hohe Fahnenmasten mit der britischen und amerikanischen Flagge markieren den Eingang zum Stützpunkt. Auf dem Boden stehen zwei Kanonen, ein Gedenkstein, der an den Bau des Flughafens im Zweiten Weltkrieg erinnert, und der unvermeidliche weiße Wegweiser voller Pfeile, die in alle Richtungen zeigen und die Entfernungen zu den unterschiedlichsten Orten auf der Welt angeben: so und so viele Meilen nach Los Angeles, so und so viele nach Singapur und viele andere Orte, einschließlich des Nord und Südpols. Es gibt keinerlei Absperrung, aber es wird sofort klar, dass es sich hier um eine andere Welt handelt. Im Radio erklärt ein Arzt die Nützlichkeit von Kondomen.
Ich arbeitete vor Jahren auf einem Stützpunkt in der Nähe der Stadt, in der ich lebe, und habe auch schon andere Militärbasen gesehen, in Deutschland, in den USA und auf Okinawa in Japan. Überall der gleiche Stil, die gleiche Art von Gebäuden, der gleiche erfolgreiche Versuch, das Ambiente eines »guten« Vorortes einer Kleinstadt des Mittleren Westens zu schaffen, wie immer die übrige Umgebung aussehen mag: die Hügel Mittelitaliens, die Felder und Wälder Deutschlands oder die verloschenen Vulkane einer verlorenen Insel inmitten des Ozeans. Quadratische Wege, große Autos, niedrige, von Rasen umgebene Häuschen und dann, weiter hinten, die Depots mit Lastwagen, Kränen, Verladebühnen, alles in dunklem Graugrün und, so scheint es uns, übertrieben, sowohl im Hinblick auf die Zahl wie auf die Dimensionen. So, wie es einem Sprung Tausende Kilometer nach Norden gleichkommt, wenn man abends in den Club der Heiligen in Georgetown tritt und sich wie durch ein Wunder im lauten Halbdunkel eines englischen Pubs wiederfindet, so wird man beim Betreten des Vulcano Clubs der amerikanischen Militärbasis wundersamerweise wer weiß wie viele tausend Kilometer entfernt nach Nordwesten in irgendeine amerikanische Bar versetzt. Es ist ebenso laut – nur dass hier Country-Musik spielt – und ebenso dunkel – hier jedoch mit den durch den Raum säbelnden rosafarbenen und dunkelblauen Scheinwerfern einer Lichtorgel. Und es ist größer, bunter, bequemer und funkelnder, voller kräftiger junger Leute der unterschiedlichsten Ethnien, Männer und Frauen, alle Kaugummi kauend, zuweilen mit einigen älteren, rundbäuchigen Möchtegern-Cowboys darunter. Während im Pub der Heiligen unangefochten das Bier regiert, wird der Vulcano Club von gefährlich
hochprozentigen, wenn auch schön präsentierten Spirituosen (Whisky) und Softdrinks (Coca-Cola) beherrscht. Die Wände sind mit leicht veralteten Farbfotos behängt, die von einer nahen Vergangenheit erzählen: Sie zeigen startende Raketen auf Cape Canaveral, Satellitenfotos, auf denen die Insel unfehlbar zum Teil von Wolken verdeckt wird. Man sieht die Besatzungen von Mondflügen mit den lächelnden Astronauten und ihren Autogrammen, die den Stützpunkt der NASA besuchen, der jetzt schon acht Jahre geschlossen ist. Die Straße steigt entlang anderer Vulkankegel an und erreicht das Zentrum der Insel. Die Landschaft verändert sich. Pflanzen tauchen auf, vertrocknet und gelb, die Büsche nehmen zu, hier und da steht ein Baum. Wir sind auf der zentralen Ebene, Donkey Piain, wo es viele wilde Schafe und, wie der Name schon sagt, Esel gibt. Im Radio hat eine neue Sendung begonnen: »This – is – London«, sagt die Stimme des Ansagers mit verhaltener Emphase. Es folgen die Nachrichten. Links in der Ferne neben einem kleinen, schwarzen Vulkankegel erscheinen drei Antennen, die wie riesige Salatschüsseln gegen den Himmel gerichtet sind. Rechts, neben der Straße, steht eine andere weiße Parabolantenne. Es ist die Satellitenempfangsstation von Cable & Wireless, erbaut 1967, neben einer kleinen, unbewohnten Hütte, in der ein geomagnetisches Observatorium untergebracht ist. Ich fahre ein paar weitere Kilometer bergan, während sich eine herrliche Aussicht über den Südwestteil der Insel eröffnet. Unter mir liegt die äußerst lang gestreckte Rollbahn des Flughafens. Sie ist, wie uns erzählt wurde, für die Notlandung eines Spaceshuttles ausgelegt, falls es ausge-
rechnet in diesem Weltteil zur Landung gezwungen sein sollte. Jenseits der Piste weitet sich der Blick auf die zentrale Ebene mit ihrem Durcheinander von kleinen und großen Vulkankratern, von denen der größte Green Mountain heißt. Auf der gegenüberliegenden Seite im Süden erstreckt sich eine endlose Lavafläche und dahinter der unermessliche Ozean. Während im Norden die dunklen Farben der Erde vorherrschen – Braun, Ocker, das Rostrot der Erde und das Dunkelgrün der Pflanzen –, bietet der Blick nach Süden ein noch öderes Bild. Hier erstrecken sich vom Guano der Vögel blendend weiß gefärbte Lavafelder, die abrupt in das intensive Blau des Meeres am Horizont übergehen. Ich gelange zu einem kleinen Pass und blicke auf eine gänzlich andere Landschaft. Der Übergang ist brüsk und unerwartet. Plötzlich ist alles ringsherum grün. Ich bin zur östlichen, der Luvseite der Insel gelangt, die dem feuchten Passat ausgesetzt ist. Die Straße wurde von der NASA angelegt und führt zu einer Station zur Weltraumbeobachtung und Kontrolle der Apollo-Missionen im Zentrum der Insel. Kilometerweit treffe ich niemanden, es gibt keine Gebäude und nicht einmal Antennen. Nur die wilden Schafe und auf dem Asphalt von Zeit zu Zeit die Reste einer riesigen Landkrabbe. Die Station wurde 1965/66 gebaut und 1989 geschlossen. Die Apollo-Missionen waren beendet und der Weltraum wurde nun von anderen Sternwarten aus studiert. Zwei schlecht gepflegte Palmen an der Straße markieren den Eingang. Aus dem rissigen Asphalt des Parkplatzes wächst Gras. Es ist ein einziges, leeres Gebäude. Von den Wänden bröckelt der Putz, einige Fenster sind zerbro-
chen, die Rahmen verrostet, an den Scheiben kleben Abziehbilder, die jemand vor zehn oder fünfzehn Jahren angebracht hat. Von den beiden großen Parabolantennen, die die erste Mondlandung des Menschen direkt verfolgten, sind als einzige Spuren nur noch die großen Betonfundamente auf dem Gelände übrig geblieben – sie wurden abgebaut und abtransportiert. Nur die wenigen Pfadfinder der Insel machen manchmal einen Ausflug hierher. Ich kehrte einige Male zu diesem Teil der Insel zurück und machte lange und einsame Spaziergänge, während sich Floriano und Paolo auf die Jagd nach irgendwelchen Insekten begaben. Ich verließ die Straße und ging einen befestigten Weg in Richtung Cricket Valley, das Tal der Grillen, hinunter und dann in Richtung Teufelskessel, Devil's Cauldron. Weit und breit keine Seele, keine Spur von Menschen, keine Geräusche von Stimmen oder von Autos, nur das ununterbrochene Pfeifen des Windes. Ringsherum überall niedriges Gebüsch, das im ersten Moment an die Macchia, den niedrigen Buschwald des Mittelmeeres, erinnert. Aber die Pflanzen sind nicht mediterran, keine Sträucher mit kleinen, duftigen Blättern, Beeren … Sie sind zwar ebenfalls niedrig und dicht, aber mit größeren und glänzenderen Blättern, allzu grellfarbenen Blumen und kleinen Schlingpflanzen, irgendetwas zwischen Zimmerpflanzen in einem verwilderten Gewächshaus und einem tropischen Regenwald in Miniaturformat. Auch der Boden ist, obwohl feucht und mit Grün bedeckt, unfruchtbar. Es reicht, ein wenig daran zu kratzen, um zu sehen, wie dünn die Humusschicht ist. Diese Umgebung, die für sich genommen schon seltsam ist, wird durch ihren hauptsächlichen – und lange Zeit einzigen – Bewohner noch unwirklicher.
An jedem anderen Ort auf der Welt wäre das Unterholz von Eichhörnchen, Nattern und Kaninchen bevölkert gewesen, hier jedoch leben nur große, angriffslustige, gelblich-orange Landkrabben, mit wissenschaftlichem Namen Geocarcinus langostoma. Es ist nicht schwer, auf sie zu stoßen. Es reicht, am Wegesrand innezuhalten und das Unterholz zu beobachten, schon lässt sich nach einigen Minuten eine große orange Krabbe blicken. Sie bemerken sofort, dass jemand da ist und legen von vornherein ein Verhalten an den Tag, das alles andere als furchtsam wirkt. Sie scheinen nicht die geringste Lust zu haben, zu fliehen oder sich zu verstecken – was bei der Körperfarbe allerdings auch nicht ganz einfach wäre. Stattdessen verharren sie reglos und scheinen einen durch die feindseligen kleinen Augen zu beobachten, die unter ihrem Panzer vorlugen, wobei sie gut sichtbar und drohend ihre Furcht einflößenden Scheren zeigen. Einst war die ganze Insel von Abertausenden von Landkrabben bevölkert. Im vergangenen Jahrhundert, als man versuchte, die höchstgelegenen und fruchtbarsten Böden zu bestellen, erkannte man, dass sie ein Problem darstellten. Ihre Angewohnheit, Löcher zu graben, machte jeden Versuch, einen Garten anzupflanzen oder ein Feld einzusäen, zu einem fruchtlosen Unterfangen. Daraufhin wurden sie von den Mannes ausgerottet. Für zehn Scherenpaare getöteter Krabben erhielt jeder Jäger eine bestimmte Menge Rum. In irgendeinem Dokument sind Reste der Buchführung über die abgelieferten Scheren – oder den dafür ausgegebenen Rum – erhalten geblieben. So konnte Duff Hart-Davis errechnen, dass zwischen 1880 und 1888 gut 385 5 35 Landkrabben getötet wurden. In diesem entlegenen und unbewohnten Teil der Insel
trifft man noch einen weiteren, nicht so alteingesessen und heimlicheren Bewohner: Katzen. Es sind kleine, magere und äußerst schnelle Tiere. Wenn man eine trifft, späht sie einen Augenblick von weitem, aber sobald man sich zu nähern versucht, ist sie verschwunden.
XVI
Wenn man das erste Mal eine Meeresschildkröte nachts am Strand sieht, denkt man vielleicht zuerst an einen riesigen Käfer, aber als Zweites kommen einem unweigerlich ihre nicht so entfernten und weniger glücklichen Verwandten in den Sinn: die Dinosaurier. Schildkröten sind wahrhaft lebende Fossilien. Ihr erstes Auftauchen liegt 200 Millionen Jahre zurück, als die ersten Reptilien das Festland besiedelten. Das gelang ihnen vor allem aufgrund von zwei neuen Fähigkeiten, über die die Fische und Amphibien nicht verfügten: Sie legten Eier, die außerhalb des Wassers überleben konnten, und sie bildeten eine widerstandsfähige und undurchlässige Haut aus, die sie vor dem Austrocknen schützte. Bei einigen der ersten Reptilien nahm dieses Merkmal eine besondere Entwicklung: Die Schuppen des Rumpfes wuchsen untereinander und mit den darunter liegenden Rippen zusammen, verhärteten und verdickten sich und wurden zu einem echten, harten und äußerst resistenten Panzer. Es war nur eine der vielen Variationen, die in der Natur ständig entstehen, aber diese Innovation sollte sich als siegreich erweisen. Andere Reptilien, die Dinosaurier, bildeten unzählige Arten aus, bis sie in der folgenden erdgeschichtlichen Peri-
ode, dem so genannten Mesozoikum vor 220 bis 65 Millionen Jahren, das ganze Tierreich beherrschten, dann jedoch mit einer Katastrophe, wahrscheinlich einem Meteoriteneinschlag auf der Erde, ein plötzliches Ende fanden. Seither breiteten sich die Vögel aus, vielleicht Nachkommen der Dinosaurier, und die Säugetiere. Unter den Reptilien überlebten nach dem Aussterben der Dinosaurier andere Formen, die sich zu den Schlangen und Echsen entwickelten. Es überlebten die Krokodile und die noch älteren Schildkröten, die über Jahrmillionen die gleiche Skelettstruktur bewahrten und damit bewiesen, dass diese spezielle evolutionäre Lösung – ein äußerer, höchst widerstandsfähiger, wenn auch schwerer und hinderlicher Panzer – insgesamt besser war als so viele andere. Wie alle Tiere, die im Meer oder im Süßwasser leben und Luft atmen, sind die Schildkröten »sekundäre« Wassertiere, die von älteren Landschildkröten abstammen, welche in einer bestimmten Phase der Evolution – wer weiß vor wie vielen Millionen Jahren – ins Wasser zurückkehrten. Sie bewahrten neben der Atmung noch ein anderes Merkmal der Landtiere, das zu wichtig war, um geändert zu werden: die Art ihrer Fortpflanzung. Aus diesem Grund legen die Weibchen der Meeresschildkröten ihre Eier am Strand ab. Nachdem die Eier abgelegt und abgedeckt sind, kehrt die Mutter ins Meer zurück. Anders als andere Reptilien kümmert sie sich danach nicht mehr um sie. Nach etwa 50 Tagen, wenn der Sand die richtigen Bedingungen hatte, keine Sturzsee den Strand verwüstet und das Gelege zerstört und kein Räuber es entdeckt hat, schlüpfen die Klei-
Abbildung 7 Seltener Anblick: Eine Schildkröte kehrt erst im Hellen nach der Eiablage ins Meer zurück. Der Sender auf ihrem Panzer wird ihre Reise durch den Ozean nachverfolgen.
nen. Wie wir herausfanden, haben sie fast alle oder sogar alle – das gleiche Geschlecht. Der große Vorzug von Ascension ist für die Schildkröten, dass die Räuber nur dünn gesät sind: Es fehlen Hunde und Affen, die im Sand nach Eiern graben. Auch die Menschen, die anderswo, in Malaysia, Mexiko und Afrika, Schildkröteneier zu schätzen wissen und sie auf den dortigen Märkten kaufen können, verschonen sie hier – noch. Es gibt allerdings andere Feinde. Die Eier werden nicht nur nachts gelegt, auch die Jungtiere schlüpfen in der Nacht. Erst gräbt sich eins, dann zwei und dann in schneller Folge die ganze Brut nach oben und läuft auf das Meer zu. Dass alle zur gleichen Zeit schlüpfen, ist eine Notwendigkeit, weil sie es nur gemeinsam schaffen, sich den Weg nach oben aus dem Sand freizuschaufeln. Außerdem wächst, einmal oben angekommen, auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit, dass wenigstens das eine oder andere Jungtier überlebt. Weniger als zehn Zentimeter lang, sind sie perfekte Schildkröten in Miniaturformat. Nicht selten wurden wir in den langen Nächten, die wir am Strand verbrachten, von einem plötzlichen Gewimmel im Sand unter uns überrascht: Dutzende kleiner Schildkröten, die, statt sich ins Meer zu stürzen, vom Licht unserer Lampen angelockt worden waren. Was danach mit den Kleinen geschieht, blieb lange ein Geheimnis. Schildkrötenforscher sprachen von lost years, den verlorenen Jahren, von denen wir nichts wissen. Tatsächlich war das Ende für die übergroße Mehrzahl von ihnen immer recht vorhersehbar: Sie werden früher oder später zur Beute von Fischen oder Vögeln. Man glaubt heute, dass die wenigen glücklichen Schildkröten, die das Er-
wachsenenalter erreichen, sich jahre-, jahrzehntelang von den majestätischen Ozeanströmen treiben lassen, die wie gigantische unsichtbare Flüsse die Meere durchqueren. Sobald sie im offenen Meer sind und ihre letzten Energiereserven aufgezehrt haben, ernähren sie sich von Plankton, kleinen Quallen und kleinen Fischen. Wenn die Suppenschildkröten groß genug sind, verlassen sie aus unbekannten Gründen das offene Meer und bleiben in Küstennähe. Sie werden sesshaft und wechseln – wie die Meeresbiologen sagen, die sich wie alle Spezialisten eine exklusive Geheimsprache zugelegt haben – von einer »pelagischen« Lebensweise (im offenen Meer) zu einer »benthonen« (in Ufernähe). Jetzt ändern sie auch ihre Ernährungsgewohnheiten: Sie werden zu Pflanzenfressern und ernähren sich von der Meeresvegetation. Dann, nach vielen weiteren Jahren, ziehen sie los, um sich fortzupflanzen und finden – unglaublicherweise – den Ort wieder, an dem sie mindestens 15 bis 20 Jahre zuvor geboren wurden. Die Fähigkeit, zum Geburtsort zurückzukehren, um sich fortzupflanzen – die Verhaltensforscher sprechen von natal homing –, ist eins der faszinierendsten und geheimnisvollsten Phänomene des Tierreichs. Der – indirekte – Beweis, dass auch Schildkröten dies können, wurde erst vor wenigen Jahren erbracht. Er gründet auf der Analyse der mitochondrialen DNA, die jedes Tier einschließlich der Schildkröten von der eigenen Mutter erhält. Es ist eine Art weibliches Äquivalent zum Nachnamen, der in vielen Kulturen früher von den Männern an alle Nachkommen weitergegeben wurde. Untersuchungen an jungen Schildkröten, die an verschiedenen Orten auf der Welt gefangen wurden, haben gezeigt, dass
jeder Strand eine typische und begrenzte Anzahl von genetischen Merkmalen der mitochondrialen DNA hat. Wie bei Dörfern auf dem Land, wo fast alle Bewohner dieselben vier oder fünf Nachnamen tragen, weil sie seit Generationen hier leben oder, selbst wenn sie umgezogen waren, immer wieder an ihren Geburtsort zurückkehrten, kann die Tatsache, dass junge Schildkröten an jedem Strand alle die gleichen drei oder vier »mitochondrialen Nachnamen« haben, nur zweierlei bedeuten: entweder, dass die Schildkröten alle am selben Strand bleiben, oder dass sie, selbst wenn sie fortwandern, immer wieder an denselben Ursprungsstrand zurückfinden, um sich fortzupflanzen. Da wir aber wissen, dass die erste Hypothese nicht stimmt, bleibt nur die zweite übrig, dass nämlich, sobald sie nach ein bis zwei Jahrzehnten erwachsen geworden sind, jede Schildkröte in der Lage ist, die Ozeane wieder zu durchqueren und jenen Strand oder, in unserem Fall, jene äußerst entlegene und verlorene kleine Insel wieder aufzusuchen, an der sie so viele Jahre zuvor geboren wurde. Es gibt einen anderen, weniger bekannten und wissenschaftlich noch nicht ausreichend publizierten Beweis, der vielleicht direkter und noch überzeugender ist. Floriano erzählte mir davon, und später sah ich darüber auch ein Video. Es handelt sich um die Arbeit von George Hughes, dem Direktor eines Naturparks an der Küste des Indischen Ozeans in der Nähe von Durban in Südafrika. An den Stränden des Parks legen verschiedene Schildkrötenarten ihre Eier ab. Seit mehr als 30 Jahren führt Hughes mit seinen Mitarbeitern immer das gleiche Experiment mit den Schildkröten durch, die an diesen Stränden geboren werden. In der Schlüpfzeit, wenn jede Nacht Hunderte aus den
Gelegen krabbeln und zum Meer laufen, werden die Jungtiere gefangen, in Plastikbehälter gesteckt und der Rand ihres Panzers an ein oder zwei Stellen eingekerbt, immer an der gleichen in einem Jahr, aber jedes Jahr an einer anderen Stelle. Dabei stellte sich heraus, dass ein Großteil der erwachsenen Schildkröten, die zur Eiablage an die Strände kamen und bis heute kommen, eine oder zwei Kerben im Rückenschild tragen, Zeichen der kleinen Verletzung, die ihnen die Forscher nach der Geburt beibrachten. Es bleiben drei entscheidende Fragen: Warum kehren sie zurück, wie schaffen sie das und woher kommen sie? Der Grund, warum die natürliche Auslese dieses besondere Verhalten begünstigte, mit anderen Worten, der Vorteil, den es bedeutet, an den eigenen Geburtsort zurückzukommen, um dort die eigenen Nachkommen zur Welt zu bringen, lässt sich vielleicht ahnen. Schon die Tatsache nämlich, dass ein bestimmtes Exemplar lebt, beweist ja, dass es bis zu dem Moment in der Lage war, zu überleben. Das ist vielleicht eine banale Erkenntnis, aber sie bedeutet in der Natur in der Regel, eine Unzahl von Prüfungen bestanden zu haben, von denen die erste – und sicher eine der schwierigsten – darin besteht, die Momente unmittelbar nach der Geburt zu überleben, wenn jedes Tier wehrlos ist. Auch wenn dabei viel Glück im Spiel ist: Wenn ein Tier die anfänglichen Gefahren überstanden hat, beweist dies zweifellos, dass sein Geburtsort gut gewählt war. Und das dürfte wohl der Grund sein, warum es für die Schildkröten selbst um den Preis, unglaubliche Entfernungen zurücklegen und auf den ersten Blick unüberwindliche Hindernisse meistern zu müssen, von Vorteil ist, an ihre Ursprünge zurückzukehren, um die eigenen Nachkommen die gleichen Abenteuer bestehen zu lassen.
Schwieriger ist es, die Frage nach dem »Wie« zu beantworten. Es ist bekannt, dass sich einige Vögel an der Position von Sonne und Sternen orientieren und Geruchsspuren in der Luft folgen. Auch Lachse scheinen dem Geruchssinn zu vertrauen, wenn sie zum Laichen die Flüsse hochschwimmen. Das haben zahlreiche Experimente gezeigt, von denen eins recht einfach ist: Wenn man eine Gruppe von Fischen an einer oberen Stelle eines Flusses fängt, den die Lachse hochschwimmen, und sie ein Stück flussabwärts vor einer Flussgabelung wieder aussetzt, kehren sie zu dem Punkt zurück, an dem sie gefangen wurden. Das beweist, dass die Wahl der Flussarme nicht zufällig war. Wird den Lachsen jedoch vorher das Geruchsorgan entfernt, schwimmt die Hälfte von ihnen den »richtigen« Arm hoch, die andere den »falschen«, was belegt, dass die Wahl vom Geruchssinn beeinflusst wird, der zwischen dem »Geruch« der beiden Flussarme unterscheiden konnte. Gilt das, was für einen engen Wasserlauf bewiesen wurde, wo die Wahl relativ einfach ist – entweder links oder rechts –, auch für die unbegrenzten Räume des offenen Meeres? Folgt der Lachs, der Tausende von Kilometern zurücklegt, um zu dem Fluss zurückzukehren, in dem er geboren wurde, bereits im Meer der Geruchsspur, die ihn den richtigen Flussarm wählen lässt, wenn er landeinwärts schwimmt? Wie orientieren sich Lachse – und Schildkröten – in den riesigen Weiten der Ozeane? Darüber ist wenig oder nichts bekannt. Aber darauf und auf die Frage des »Woher« kommen wir in einem der nächsten Kapitel noch zurück.
XVII
Obwohl Ascension wahrscheinlich einer der Orte mit der höchsten Antennendichte auf der Welt ist, gibt es keinen örtlichen Fernseh- oder Radiosender. Es gibt wohl einen Fernsehkanal, der Spielfilme sendet, und eine Sendestation des BBC World Service mit enormer Leistung, die Atlantic Relay Station, die in einem halben Dutzend Sprachen – Englisch, Französisch, Swahili, Haussa, Spanisch und Portugiesisch – Nachrichten und Kommentare für zwei Kontinente ausstrahlt, aber keine Neuigkeiten über das Inselleben verbreitet. Die einzige Informationsquelle ist die kleine Zeitung The Islander, die seit 1971 jeden Freitag erscheint, herausgegeben von der fleißigen Frau eines Angestellten der BBC (oder der Royal Air Force oder von Cable & Wireless). Heute – wir haben die 1330ste Ausgabe – besteht die Zeitung aus etwa 30 zusammengehefteten, maschinengetippten Seiten. Man ahnt, dass die Herausgeberin neuerdings mit einem Computer arbeitet, der sicher bereitwillig, wenn auch noch nicht ganz perfekt eingesetzt wird. The Islander kostet 30 Pence beziehungsweise 55 Cent. Ich blättere im Durcheinander der Hefte, die ich mit nach Hause gebracht habe:
Visite des Augenarztes Wir erinnern daran, dass Dr. Eric Burton vom 29. September bis zum 14. Oktober für seine jährliche Visite auf die Insel kommt. Wer sich untersuchen lassen möchte, möge das Krankenhaus in Georgetown unter der Nummer […] anrufen, Namen, Organisationszugehörigkeit und Telefonnummer hinterlassen und angeben, ob er oder sie ein neuer Patient ist oder bereits früher hier oder auf Sankt Helena untersucht wurde. Die Sprechzeiten müssen vor dem 27. Juni vereinbart werden. Danach können keine Termine mehr vergeben werden, es werden keine Ausnahmen gemacht und für Termine, die nicht eingehalten oder wegen Verspätung verpasst werden, können keine neuen vereinbart werden. Jennifer Ross.
Ich sitze an meinem Schreibtisch und blicke auf den Kalender: Es ist der 12. Oktober, noch zwei Tage, und Dr. Burton wird sich für ein ganzes Jahr nicht mehr auf der Insel blicken lassen. Und wer es vergessen hat oder zu spät kommt, bekommt keine Brille oder muss die alte weiter tragen. Ob die eisernen Regeln, die Jennifer Ross verkündet, wirklich eingehalten werden? Könnte es vielleicht sein, dass Jennifer Ross dieselbe strenge, nicht mehr ganz junge, strohblonde Krankenschwester ist, die mich empfing, als ich im Krankenhaus war? Ich wette darauf! Am zweiten Tag nach unserer Ankunft ging ich zum Krankenhaus, um dem Arzt der Insel einen Besuch abzustatten. Meine Freunde zogen mich damit auf: »Erst murrst du, dass du es nicht abwarten kannst, deinem Beruf – wenigstens für kurze Zeit – zu entkommen, und jetzt, wo du die Möglichkeit hast, was machst du? Du nutzt die erstbeste Gelegenheit, um deinen Kollegen auf der Insel zu besuchen. Du kannst ohne Krankenhaus nicht leben.« Recht hatten sie, meine Freunde. Manche Berufe vereinnahmen den Menschen völlig, und man kann sie nicht so leicht abschütteln. Semel abbas, semper abbas, sagt ein al-
tes lateinisches Kirchensprichwort: Einmal Priester, immer Priester, man ist gezeichnet und bleibt es für immer. Das Gleiche gilt für Ärzte, und es ist nur natürlich, Seinesgleichen zu suchen. Der Doktor war ausgegangen und würde vielleicht später wiederkommen. »Aber was wollen Sie?«, fragte mich Jennifer Ross. Wie alle guten Schwestern und Krankenpfleger beschützte sie ihren Arzt, der ohne sie oder ihn verloren wäre. Ich erklärte ihr, wer ich war und was ich wollte. Sie blickte mich misstrauisch an. Dann sagte sie, ich solle mich setzen, der Doktor würde im Laufe einer Viertelstunde zurückkehren. Ich blieb eine Weile neben zwei anderen Patienten sitzen und wartete. Die Stühle standen auf einer Veranda, die auf einen Platz mit schwarzem Schotter mit dem Meer im Hintergrund hinausblickte. Nach ein paar Minuten zwang mich meine natürliche Unruhe – mein Arztberuf gab mir dazu die Autorität –, mich zu bewegen. Ich konnte ja schlecht dort sitzen bleiben wie ein normaler Patient, ich hatte das Recht auf einen Erkundungsgang, und schließlich belästigte ich im Grunde ja niemanden. Aber da war ich im Irrtum. Trocken rief mich die Krankenschwester zur Ordnung: Ich solle auf meinem Platz bleiben. Ich erwiderte, dass ich am folgenden Tag wiederkommen würde und ging. Ein anderer Artikel in der Inselzeitung sprach von Percy Yon: Percys letztes Volltanken Ein Kapitel in der Geschichte der Insel Ascension endete am Montagnachmittag, als Percy Yon zum letzten Mal seine Tankstelle schloss. Percy war am 9. November 1962 nach Ascension gekommen, um für drei Jahre auf dem amerikanischen Stützpunkt zu arbeiten. Danach ging er nach Sankt Helena zurück, heiratete und kehrte 1966 wieder,
um für Cable & Wireless zu arbeiten. Er arbeitete kurze Zeit auch für die Polizei, ging wieder zu C & W und wechselte dann zu AIS (Ascension Island Services), wo er die letzten 13 Jahre für die Tankstelle verantwortlich war. Seine Frau Doreen und seine Tochter Deborah folgten ihm 1971 von Sankt Helena auf die Insel, als Deborah vier Jahre alt war. Percy und Doreen verließen Ascension mit der Tristar am Mittwoch, um in Portsmouth im Vereinigten Königreich ihre Vorruhestandsferien zu verbringen. Es ist ihr erster Besuch in England, und wir alle hoffen, dass sie dort unten eine wunderbare Zeit verleben. Sie werden rechtzeitig in Ascension zurück sein, um am 19. Juni das RMS [Royal Mail Ship] zu nehmen und wieder nach Sankt Helena zurückzukehren, wo sie endgültig in Pension gehen.
Alle kannten Percy Yon und seine Tankstelle. Sie war die einzige auf der Insel und hatte wie jedes der wenigen Geschäfte ganz persönliche und unwahrscheinliche Öffnungszeiten. Einige Tage bevor Percy und Familie abreisten, um »im Vereinigten Königreich ihre Vorruhestandsferien zu verbringen«, waren wir zufällig tanken gefahren. Wir trafen einen zornigen und groben alten Mann an, der uns mit Schimpfwörtern überhäufte. Hinterher erfuhren wir, dass der arme Percy tatsächlich verzweifelt war: Er war gezwungen, den Ort zu verlassen, wo er 35 Jahre lang gelebt hatte, und vor allem musste er seine Tochter und seine kleinen Enkel zurücklassen – die Hälfte seiner Familie. In der Inselzeitung fand sich auch eine Meldung über das Kriminalitätsniveau: Polizeistatistik Die Zweigstelle Ascension der Polizei von Sankt Helena gab die Statistiken für das erste Jahresdrittel bekannt (1. Januar bis 31. März 1997). In dieser Zeit erhielt die Polizei 51 Anzeigen (die gleiche Zahl wie im gleichen Zeitraum im Jahr zuvor). Es gab acht Kriminalfälle, vier mehr als im Vorjahr. Vier Fälle wurden vor Gericht verhandelt (keiner im Vorjahr). Die Zahl der Verkehrsunfälle blieb gleich (7). Es gab nur
15 Übertretungen der Straßenverkehrsordnung, verglichen mit 30 im ersten Drittel 1996. Die vor Gericht verhandelten Fälle waren vier Diebstähle (einer 1996) […] Abgesehen von den Schiffen Ihrer Majestät betrug die Gesamtzahl der Einschiffungen in Ascension im untersuchten Zeitraum 15 (wovon 14 Yachten waren), im vergangenen Jahr waren es 13, davon 9 Yachten. Schließlich sind auf der Insel 867 Kraftfahrzeuge registriert, von denen 682 tatsächlich am Straßenverkehr teilnehmen. Es sind 107 Motorräder registriert, von denen 52 am Verkehr teilnehmen.
Ebenso wenig fehlt es an Arbeitsangeboten: Zeitungsdirektor Ab Mitte Juni wird der Posten des Verantwortlichen Direktors der Wochenzeitung The Islander frei. Diese wirklich interessante Position sieht einen Arbeitsaufwand von zwei vollen Tagen in der Woche vor. Die Befriedigung aus der Arbeit wird unterschiedlich sein, nicht selten wird sich Frustration einstellen. Erfahrung in diesem Bereich ist nicht unbedingt erforderlich. Günstig wirkt sich dagegen ein verständnisvoller Partner und eine ordentliche Portion Humor aus. Vorteile der Arbeit sind, an Festen, Geburtstagen, Taufen und so weiter teilnehmen zu können und einige interessante Fische von beträchtlichen Ausmaßen zu sehen zu bekommen, fotografieren und zuweilen auch kosten zu dürfen. Das sind die Vorteile, die sich mit dieser prestigeträchtigen Aufgabe verbinden, für die keinerlei Vergütung vorgesehen ist. Es wird jedoch eine Entschädigung für belegte Ausgaben bis zu einer Höchstgrenze von zehn Pfund pro Woche gewährt. Interessenten sind eingeladen, sobald wie möglich ihre Bewerbungen in den Briefkasten des Islander neben dem Eingang des Verwaltungsamtes zu stecken, um der Untersuchungskommission zu ermöglichen, die zu erwartende Bewerbungslawine zu bewältigen.
Schließlich noch die lange Mitteilung, in der das Verwaltungsamt die größten Neuigkeiten im Monat April bekannt gab: In einigen Tagen ist der Gedenktag der Insel Ascension, ein nationales Fest und eine Gelegenheit für eine große Feier, zu der alle eingeladen sind […] Vandalen drangen in das Challenger Outward Bound Center
ein und richteten dort Schaden an. [Ein früheres Gebäude der NASA, das heute teilweise als Unterkunft oder Herberge für Jugendliche dient.] […] Einige werden schon die Gruppe von Biologen kennen gelernt haben, die unsere Schildkröten untersucht und an ihnen Sender anbringt, um ihre Rückkehrrouten zu verfolgen – wo immer sie hinschwimmen mögen […] Andere Besucher haben sich angekündigt: John Wallace, der bereits im November des Vorjahres hier war, um uns über die Einführung einer Einkommenssteuer zu beraten, die dann doch nicht erhoben wurde, kehrt dieses Jahr zurück, um uns bei der besseren Organisation unserer Dienste zu helfen; Dr. Perch kommt mit seinen Käfern, um den Mesquitebaum zu bekämpfen. (Es wurde versichert, dass sie keine anderen Pflanzen befallen.) Andere sind vor kurzem abgereist, darunter David Henry von der Saint Helena Coffee Company, der daran interessiert ist, das Gut zu übernehmen. Das Leitungsteam führt weiter Gespräche mit ihm […] Achtung: Zwei neue Schwellen zur Geschwindigkeitsbegrenzung werden am Ausgang von Georgetown auf der Straße zum Stützpunkt geschaffen. Die Autos fahren auf dieser Straße zu schnell, und früher oder später wäre jemand zu Schaden gekommen […]
XVIII
Nach dem Tod Napoleons wurde die Insel nicht aufgegeben. Sie hatte als Stützpunkt für die Schiffe, die nach Asien und in den Pazifik fuhren, eine gewisse strategische Bedeutung gewonnen. Der Suezkanal wurde 50 Jahre, der Panamakanal erst ein Jahrhundert später eröffnet. Auch für den Kampf gegen die Piraten und vor allem gegen die Sklavenhändler war Ascension wichtig. Beseelt von einem humanitären Geist und vielleicht auch aus politischem Kalkül hatten die Engländer zu Beginn des 19. Jahrhunderts erklärt, dass es nicht mehr rechtens sei, Afrika seiner Menschen zu berauben und sie in Ketten nach Amerika zu verschleppen. Ascension hatte einen großen Vorteil und einen großen Nachteil. Der Vorteil bestand in seinem gesunden Klima, der Nachteil im Wassermangel. Für beides gibt es einen einzigen Grund: Es regnet wenig auf der Insel. Verglichen mit dem afrikanischen und südamerikanischen Festland auf demselben Breitengrad gibt es hier keine drückende Feuchtigkeit und weder Malaria noch andere infektiöse Tropenkrankheiten. Ascension wurde deshalb zu einem Ort, wo man erkrankte Seeleute ausschiffen konnte. Diese Funktion hat es bis heute. Als ich nach zwei oder
drei Tagen auf der Insel den Arzt besuchte, fand ich im kleinen, aber wohlgeordneten Krankenhaus als einzigen Kranken neben Jeremy, meinem Polizistenfreund, einen japanischen Seemann von einem Hochseefischkutter, der in den umliegenden Gewässern auf Fang kreuzte. Der Weg nach Comfortless Cove, in die »trostlose kleine Bucht«, führt vorbei an der weißen Rundkuppel von Pyramid Point, dem äußersten Punkt der Bucht, die wir jede Nacht von Long Beach aus sahen, über ein unwegsames, zerklüftetes Lavafeld. »Welcome to the Moon«, grüßt ein Schild, das ein Witzbold hier aufgestellt hat. Kurz bevor man auf der Linken das Meer erreicht, liegt der Friedhof von Bonetta. Die »Bonetta« war eins der vielen Schiffe, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Ascension Station machten. Sie war ein Patrouilleschiff zur Bekämpfung des Sklavenhandels vor der afrikanischen Küste. Als sie am 28. Januar 1838 eintraf, wurde ihr nicht erlaubt, vor Georgetown auf Reede zu gehen: An Bord wütete das Gelbfieber. Stattdessen ankerte sie vor Comfortless Cove. Wer auf dem Schiff starb, wurde im Meer bestattet, wer an Land verschied, wurde in Küstennähe begraben. Daran erinnern die Grabsteine des kleinen Friedhofs. Den Soldaten der Garnison war der Kontakt mit Schiffen unter Quarantäne verboten. Sie brachten die Lebensmittel bis in die Nähe von Comfortless Cove, und wenn sie fort waren, holten sie sich die Seeleute auf die Schiffe. Trotzdem brachen in der Garnison verschiedene Epidemien aus, die schlimmste in jenem Jahr 1838. Es starben 25 der etwa 100 auf der Insel stationierten Männer, darunter Kapitän William Bates, der zehn Jahre den Befehl geführt hatte.
»Im Jahr 1829 erhielt ich Instruktionen von der Admiralität, mich zur Insel Ascension zu begeben, um eine Erkundung durchzuführen und Kommandant Bates von den Royal Marines Bericht zu erstatten, welche Maßnahmen für eine dauerhafte Stationierung auf der Insel zu ergreifen seien.« So beginnen die »Aufzeichnungen über die Insel Ascension« des Kapitäns der Royal Engineers H.R. Brandreth. Bei der Beschreibung von Geografie und Geologie der Insel unterstreicht Brandreth anfänglich ihre außergewöhnliche Ödnis, kommt dann aber zu folgendem Schluss: »Die schwarzen Lavafelder, die dunkelroten Hügel, die wilden und erschreckenden Berge und Schluchten, die überall sichtbaren Zeichen einer kürzlichen Vulkantätigkeit, alles verleiht der Insel das Gepräge völliger Öde und Unfruchtbarkeit, das jedoch nicht wirklich gerechtfertigt ist […]. Während der erste Eindruck des zufälligen Besuchers völlig ungünstig ist, wird eine aufmerksamere Untersuchung diesen Eindruck zumindest teilweise beseitigen.« Schon einer der seltenen Orkane, die etwa alle zehn Jahre die Insel heimsuchen, reicht aus, um in wenigen Stunden die gleiche Wassermenge über ihr auszuschütten, die sonst in der ganzen übrigen Zeit fällt. Außer auf den Lavafeldern breitet sich dann plötzlich allenthalben eine flüchtige Vegetationsdecke aus, aus Samen, die das Meer und die Vögel von überallher herangetragen haben und die seit wer weiß wie langer Zeit im Boden schliefen.
XIX
Wenn sie die Umsicht besaßen, nachts zu schlüpfen, gingen die kleinen Schildkröten bis vor ein paar Jahrhunderten kein großes Risiko ein. Machten sie dagegen den Fehler, am Tag aus ihrem Gelege zu kriechen, war ihr Schicksal fast sicher besiegelt. Paolo beobachtete eines Abends das Schlüpfen eines Geleges, als es noch hell war und gerade geregnet hatte. Vielleicht hatte das Sinken der Bodentemperatur aufgrund des Regens die Kleinen zu dem Irrtum verleitet, dass es bereits Nacht sei. Die Fregattvögel über dem Strand erspähten sie sofort. Trotz ihrer frenetischen Bemühungen, zum Meer zu gelangen, konnten sich nur wenige retten. In den letzten Jahrhunderten ist den kleinen Schildkröten auf Ascension ein noch furchterregenderer Feind erwachsen, der auch des Nachts operieren kann: Katzen. Ursprünglich gab es sie auf der Insel nicht. Der Mensch brachte sie mit, um die Mäuse und Ratten zu bekämpfen, die mit den Schiffen ankamen. Ratten sind auf vielen entlegenen Inseln ein Unheil. Auf Tristão da Cuña wird noch heute jedes Jahr ein »Nationalfest« gefeiert, das ihrem Fang gewidmet ist, The Rat Day. Über die Ratten auf Ascension dachte auch der junge Charles Darwin nach, der hier auf dem Rückweg von sei-
ner Weltumseglung auf dem Schiff Seiner Majestät »Beagle« Station machte. Er kam im Gefolge des gleichaltrigen Kapitäns Robert Fitzroy, der später Gouverneur von Neuseeland wurde und Selbstmord beging. Darwin nahm im unglaublichen Alter von 23 Jahren fast durch Zufall an der Reise teil, nachdem zwei andere junge Naturforscher, die als tüchtiger galten, die Einladung abgesagt hatten, und kehrte vier Jahre später zurück. Und noch unglaublicher ist, dass bei Licht betrachtet sein ganzes folgendes Werk eine Ausarbeitung dessen war, was er auf dieser Reise beobachtete. In seinen Geologischen Beobachtungen erwähnt Darwin die Insel Ascension. Er bemerkt, dass sich dort »Landkrabben und Ratten in großen Mengen finden«, und fährt fort: »Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Ratten hier von jeher heimisch waren. Es gibt zwei Arten, eine schwarze mit feinem und glänzendem Fell lebt in den höchsten und grünsten Regionen der Insel, die andere ist braun, mit längerem, matterem Fell, und lebt näher an der Siedlung an der Küste [Georgetown]. Beide Arten sind um ein Drittel kleiner als eine gemeine schwarze Ratte (M. rattus) und unterscheiden sich von dieser in Farbe und Merkmalen des Fells, aber in keiner anderen wesentlichen Eigenschaft. Es ist meine Überzeugung, dass diese Ratten (wie die gemeine Maus, die sich hier ebenfalls ausgewildert hat), von außen auf die Insel gebracht wurden. Wie auf den Galapagosinseln haben sie sich aufgrund der neuen Bedingungen, denen sie ausgesetzt wurden, verändert. Daher unterscheidet sich die Varietät auf den hohen Inselteilen von jener an der Küste.« Zusammen mit den noch berühmteren Finken auf den Galapagosinseln regten folglich auch die Ratten auf der
Abbildung 8 Eine kleine Schildkröte verlässt ihr Gelege. Ein riskantes Unterfangen: Die meisten Tiere tun dies im Schutz der nächtlichen Dunkelheit.
Insel Ascension Charles Darwin in jungen Jahren zum Nachdenken an und inspirierten ihn womöglich zur Abfassung seines Buches Die Entstehung der Arten, einem der grundlegenden Standardwerke der modernen Biologie. Mehr noch als mit den Galapagos-Finken und den Ratten von Ascension verbindet sich die Geschichte der Theorie der natürlichen Auslese mit einem anderen leidenschaftlichen englischen Naturforscher, der weniger bekannt, aber ebenso außergewöhnlich ist: Alfred Russel Wallace. Beide waren in vielen Zügen sehr unterschiedliche, in manchem ähnliche Persönlichkeiten. Darwin, aus reicher und gebildeter Familie, war wenig älter als 20, als er in See stach, um »Erfahrungen zu sammeln«, ohne über eine
wirkliche Ausbildung als Naturforscher zu verfügen. Er nutzte die Reise jedoch für eine Vielzahl von Beobachtungen, besonders auf den Galapagosinseln, die ihn auf eins der ungelösten Probleme der damaligen Naturwissenschaft stießen: der Grund für die offenkundige Vielfalt und Verwandtschaft zwischen den Tierarten sowie ihre unterschiedliche geografische Ausbreitung – Phänomene, die sich nicht mit der damals noch vorherrschenden Idee vereinbaren ließen, dass alle Lebewesen so, wie sie waren, von Gott erschaffen worden waren. Wieder in der Heimat, wurde Darwin zu einem berühmten Naturforscher. Er wartete jedoch noch 20 – zwanzig! – Jahre, bevor er die Theorie von der Unveränderlichkeit der Tierarten öffentlich in Zweifel zog und stattdessen die Theorie von der natürlichen Auslese vorschlug. Und vielleicht hätte er noch länger damit gewartet, wäre da nicht Alfred Russel Wallace gewesen. 14 Jahre jünger, aus weniger wohlhabender und gebildeter Familie, wurde Wallace im Alter von 20 Schullehrer in einer Kleinstadt im Herzen Englands und ging einer damals üblichen Vorliebe für das Sammeln von Insekten nach. Er hatte eine Ahnung, darauf ein »business« gründen zu können. So machte er sich nach Amazonien auf, wo er vier Jahre auf der Jagd nach Schmetterlingen, Käfern und größeren Tieren verbrachte, die er aufspießte, präparierte und seinem Agenten in England schickte, der sie an Museen und Sammler verkaufte. Auf dem Rückweg fing sein Schiff Feuer und ging unter. Wallace konnte sich retten, verlor jedoch einen Großteil seiner Sammlung, seiner Ware – nicht jedoch seinen Mut. Im folgenden Jahr brach er wieder auf, diesmal in Richtung Sundainseln, wo er sieben weitere Jahre nach Insekten und Vögeln jagte. Er reiste
von einer Insel zur anderen – Java, Bali, Borneo, Celebes, Lombok, Timor und so weiter – und sammelte insgesamt 125 000 Exemplare. Dabei machte er die gleichen Beobachtungen wie 20 Jahre zuvor Darwin auf anderen Inseln. 1855 schrieb er einen ersten wissenschaftlichen Beitrag in Sarawak auf der Insel Borneo über die Entstehung neuer Arten, den er nach England schickte. Er wurde in einer der großen Wissenschaftszeitungen des damaligen England veröffentlicht. Auch Darwin las ihn, erkannte jedoch nicht die Gefahr, dass sich dieser junge Mann, ein obskurer Sammler und Händler aufgespießter Insekten und Vögel, den gleichen Schlussfolgerungen näherte, mit deren Ausarbeitung er sich seit Jahrzehnten befasste. Die beiden traten in Briefkontakt. Drei Jahre später hatte Wallace auf Ternate, einer verlorenen Insel der Molukken vor Halmahera, im Malariafieber die richtige Eingebung und fand den Schlüssel zum Rätsel: Er erkannte, dass der »Motor« hinter der Artenvielfalt die natürliche Auslese war, das Überleben der am besten Angepassten, der Stärksten. In zwei Nächten schrieb er – im wortwörtlichen Sinne fieberhaft – seine Theorie über die Neigung der Arten auf, sich von ihren Ursprüngen zu lösen. Wallace zögerte jedoch noch, sie in einer wissenschaftlichen Zeitschrift zu veröffentlichen, denn ihm wurde die potenzielle Sprengkraft seiner Hypothese klar. Er brauchte Unterstützung, Ermutigung. Daher sandte er seine Abhandlung zuerst an einen um so vieles angeseheneren und wichtigeren Wissenschaftler, als er selbst es war. Dieser hatte sich ihm gegenüber freundlich gezeigt, deshalb bat ihn Wallace, die Arbeit zu beurteilen und einer Wissenschaftszeitung zu schicken, die der Kollege für geeignet hielt. An diesem Punkt gewinnt die Geschichte Züge eines
Krimis. Nach der Lesart der offiziellen Geschichtsschreibung fuhr Darwin nach Erhalt des Briefes der Schreck in alle Glieder. Wallace hatte als Erster jene Theorie formuliert, an der er im Stillen schon so lange gearbeitet hatte. Aber er zögerte nicht und schickte die Arbeit von Wallace sofort an die Akademie der Wissenschaften. Zwei befreundete große Wissenschaftler, die zu den wenigen gehörten, die seine geheime Arbeit kannten, überzeugten ihn jedoch, damit nicht hinter dem Berg zu halten: Seine Arbeit und die von Wallace sollten gemeinsam auf einer Sitzung der Akademie präsentiert werden. Dieser Version, in der Darwin als Held von strenger moralischer Rechtschaffenheit erscheint, steht eine andere Hypothese gegenüber, in der er zwielichtiger, aber darum vielleicht auch menschlicher und glaubhafter wirkt. Danach erhielt Darwin den Brief und geriet in Panik. Zwar widerstand er der Versuchung, ihn zu zerreißen, aber er zögerte mit seiner Verbreitung, beschleunigte die Formulierung seiner eigenen Theorie, entlehnte vielleicht sogar einige Ideen von Wallace, beriet sich mit den befreundeten Wissenschaftlern und arrangierte die gemeinsame Veröffentlichung. Welche der beiden die wahre Version ist, wissen wir nicht. Tatsache ist, dass der an Darwin geschickte Brief am 9. März Ternate verließ und Darwin zufolge am 3. Juni bei ihm eintraf. Manche meinen, dass drei Monate eine allzu lange Zeit sei – aber ausgeschlossen ist es nicht. Die Rattenfang-Kampagnen auf Ascension haben Wirkung gezeigt. Heute ist die Plage vergessen. In einem Monat habe ich ein oder zwei Mäuse gesehen, aber nie eine Ratte. Es bleibt aber das Problem der verwilderten Katzen, die die zahllosen Vogelkolonien auf der Insel dezimiert ha-
ben. Wenn auf Ascension trotzdem so viele Vögel leben, liegt das daran, dass es in der Nähe noch eine andere, sehr kleine Insel gibt, die nach einer Raubmöwenart benannt und kaum mehr als ein Felsen im Meer ist, Boatswain Bird Island. Dorthin sind die Katzen nicht gekommen. Hier und auf den unzugänglichsten Klippen der Hauptinsel nisten noch alle Vögel von einst zu Tausenden. Nur eine Seeschwalbenart, die den größten Teil ihrer Zeit im Flug über den Ozeanen verbringt, kehrt in der Brutzeit auf die Hauptinsel zurück. Man nennt sie auch »wideawakes«, ein lautmalerischer Name, der den Schrei der Vögel nachahmt und der Insel Ascension den zweiten Namen gibt, unter dem sie bekannt ist: Wideawake Island. Ich war auf den Wideawake Fairs, einer wilden Lavafläche in der Nähe des Flughafens, nachdem gerade eine Brutkolonie von Seeschwalben angekommen war, ein beeindruckendes Spektakel. Auf dem Boden lagen über Hunderte von Metern Dutzende und Aberdutzende von Vogelskeletten und Kadavern in mehr oder weniger fortgeschrittenem Verwesungszustand, außerdem Eier, eine unendliche Zahl von leeren Eierschalen, über die sich die Katzen hergemacht hatten. Ein britischer Ornithologenverein organisierte 1957 eine wissenschaftliche Expedition nach Ascension, um die Vögel zu studieren. Daraus entstand das Buch Wideawake Island, von dem ich ein Exemplar im kleinen Museum von Ascension fand. Bernard Stonehouse, der Autor des Buchs, schreibt, dass in jeder Saison 750 000 Seeschwalben auf den Wideawake Fairs brüteten, von denen nur 10 000 bis 20 000 den Katzen zum Opfer fielen. Wie zahlreich diese Vögel hier früher waren, ergibt sich auch aus einem Bericht von Kapitän Brandreth. Damals
konnte man in einer einzigen Woche bis zu 120 000 Seeschwalbeneier sammeln. Da die menschliche Bevölkerung in jenen Jahren kaum mehr als 100 Personen betrug, überstieg das Angebot dieser offenkundigen Delikatesse bei weitem die Möglichkeit des Konsums.
XX
Die zweite Straße, die von Georgetown ins Zentrum der Insel führt, steigt an der Flanke des Cross Hill zur zentralen Ebene des Donkey Piain an, nachdem man die Ortschaft und ihre Bucht verlassen hat. Zur Linken trifft man auf die einzige Tankstelle – die von Percy Yon – und etwas weiter auf den Prellstein, dessen bunte Farbkleckse bis heute von den englischen wie amerikanischen Soldaten aufgefrischt werden, sobald ihre Dienstzeit auf Ascension beendet ist. Man gelangt auf diese Weise nach One Boat – »ein Boot«, das treffender »halbes Boot« heißen würde. In der Hälfte durchgeschnitten und mit dem Bug nach oben aufgerichtet, bot es den Konvois, die im letzten Jahrhundert von Georgetown in die Berge stiegen, einen Schutz vor der brennenden Äquatorsonne. Nach One Boat kommt auf derselben Straße etwas weiter Two Boats, wo, wie der Name sagt, zwei Boote in die Erde gerammt sind. Von One Boat geht zur Linken die Straße ab, die nach Pyramid Point und zur English Bay führt. Auf dem Weg liegt der Golfplatz von Ascension. Er war im GuinnessBuch der Rekorde lange Zeit als der »hässlichste Golfplatz auf dem gesamten Planeten« verzeichnet. Es ist nicht schwer zu begreifen, warum: Die staubige Fläche ohne Grün und ohne Bäume, übersät mit spitzen Steinen und
dornigen Sträuchern und umgeben von einer beunruhigenden Mondlandschaft konnte nicht viele Rivalen um diesen Titel haben. Weiter in Richtung Pyramid Point durch die ödesten schwarzen Lavafelder der Insel kommt man am unglaublichen »Schwesterngipfel«, Sisters Peak, vorbei, der aus zwei hohen Vulkanerhebungen besteht, deren Hänge vollkommen glatt sind. Hier ereignete sich den Geologen zufolge vor zirka 500 Jahren der letzte Vulkanausbruch. Und hier war es, wo die Amerikaner, denen dieses Stück der Insel gehört, vor 20 Jahren ihr Roboterfahrzeug ausprobierten, das sie später auf dem Mond einsetzten. Jenseits der bizarren Formen erstarrter schwarzer Lava wirkt die Landschaft durch Dutzende von dreieckigen Antennen noch unwirklicher. In parallelen Reihen aufgestellt, sehen sie aus wie auf den Kopf gestellte Dreifüßler, die ihre Beine gen Himmel zu den Satelliten ausstrecken. Rechts führt die English-Bay-Straße zu weiteren Antennen. Sie sind schon von weitem zu erkennen, aber erst von nahem sieht man, wie groß sie wirklich sind. Es sind vier, die wie normale, aber gewaltig dimensionierte Eisengitter aussehen. Sie sind untereinander in verschiedenen Höhen mit Tausenden von Drähten verbunden, die sich gegen den Himmel kreuzen und ein undurchschaubares geometrisches Muster bilden. Es ist die Atlantic Relay Station der BBC, über die der BBC World Service seine Programme für Afrika und Lateinamerika ausstrahlt – der Weg, über den Radio London die beiden großen Südkontinente erreicht. Etwas weiter findet sich das Kraft- und Wasseraufbereitungswerk, wo der Brennstoff der »Masrsk Ascension« ankommt und verbrannt wird. Hier wird die Elektrizität für
die Insel produziert und das Meerwasser für die ganze Insel entsalzen – bis auf den Teil der Amerikaner, die alles rigoros selbst machen. Von One Boat führt die Hauptstraße nach Two Boats. Dort wohnt ein Großteil der Engländer. Früher hieß die Straße Old Mountain Road. Es war der alte Saumpfad, der die Garnison mit dem Berggipfel verband, dem einzigen fruchtbaren und frischen Ort, wo es ein paar Obstgärten, ein paar kultivierte Felder und ein paar Tiere gab, eine kleine Farm – und das Krankenhaus. In Two Boats zweigt die Straße auch nach North East Bay ab, der einsamsten Bucht, die sich noch mit dem Auto erreichen lässt. Zum Meer gelangt man durch einen ungewöhnlich lieblichen Landstreifen: ein Wäldchen aus immergrünen Bäumen, die auf den ersten Blick an Pinien oder Tannen erinnern. Es sind Kasuarine, die in den ganzen Tropen verbreitet sind und Mitte des 19. Jahrhunderts nach Ascension kamen. Hier brütet eine große Kanarienvogelkolonie, die zur gleichen Zeit von den kanarischen Inseln importiert wurde. Hat man das Wäldchen durchquert, stößt man wieder auf die gewohnte Vulkanlandschaft. Links erscheinen zwei Erhebungen mit viel sagenden Namen. Die erste ist der Perfect Crater, der exemplarisch die Formen und Proportionen eines idealen Vulkankraters zeigt. Etwas weiter stehen zwei weniger vollkommene Vulkanschlunde, die ebenso sprechende Namen haben: Hollow Tooth (»hohler Zahn«) und Broken Tooth (»abgebrochener Zahn«). Die Straße führt zur Ariane Site, der Station der europäischen Weltraumagentur ESA. Nach dem Start der Ariane-Raketen in Guyana übernimmt die Station in Ascension von etwa der dritten bis zur zehnten Minute die Kontrolle, die
danach für einige Minuten auf die Basis in Kenia übergeht und dann weiter, wer weiß auf wen. Vom Küstenkamm aus überblickt man plötzlich eine Landschaft von herber und einsamer Schönheit: ein langer brauner Strand, der sich wie ein Amphitheater öffnet, majestätisch, verlassen und unablässig vom Wind gepeitscht. Dann folgen die Klippen, Theaterrängen gleich, und im Hintergrund die schwarzen Umrisse des Broken und des Hollow Tooth. Davor und ringsherum Kobaltblau: unten das intensivere und mit weißer Gischt gesprenkelte Blau des Meeres, oben das hellere Himmelsblau, durchsetzt mit großen, unregelmäßigen, schnell über den Himmel fliehenden Wolken.
XXI
In der Fachsprache nennt man die Rekonstruktion der tierischen Wanderwege via Satellit »Satellitentelemetrie«. Sie steht seit einigen Jahren zur Verfügung und wird immer häufiger von Biologen eingesetzt, die sich mit Wandertieren beschäftigen. Das am häufigsten verwendete System stammt von einer französisch-amerikanischen Gesellschaft, die zwei Satelliten mit nord-südlichen, von Pol zu Pol verlaufenden Umlaufbahnen in 850 Kilometern Höhe einsetzt. Die Satelliten kreisen somit rechtwinklig zur Erdrotation und decken nach und nach die gesamte Erdoberfläche ab. In unserem Fall funktionierte das so: Die an den Schildkröten angebrachten Sender sandten jedes Mal, wenn diese zum Luftholen an die Wasseroberfläche kamen, ihre Signale aus. Wenn in diesem Moment wenigstens einer der beiden Satelliten die Zone überflog, wurden die Signale aufgefangen und, wenn sie stark genug waren, die Position bestimmt. Diese funkte dann der Satellit zur Erdstation in Toulouse, von wo aus sie mit elektronischer Post zu Florianos Institut in Italien gingen, um dann via Fax nach Ascension zu gelangen. Auf diese Weise wussten wir alle zwei Tage, wo alle unsere Schildkröten waren. Meine Freunde waren perplex.
Die Signale der ersten Funkortungen zeigten an, dass die Schildkröten immer in Inselnähe blieben. Sie schienen keinerlei Lust zu haben abzureisen. Das ging einige Tage so. Dann kamen von einer Schildkröte plötzlich keine Signale mehr. Am folgenden Tag waren es schon zwei Schildkröten, von denen die Informationen fehlten. Geheimnisvollerweise hörten vier der fünf Sender einer nach dem anderen auf, Funksignale zu übermitteln. Jedes neue Fax enthielt eine weitere schlechte Nachricht. Unsere Verwirrung verwandelte sich in Sorge, dann wurde aus der Sorge eine wachsende Missstimmung. Dass die Schildkröten nicht sofort fortwanderten, wussten wir, denn sobald sie die Orte der Eiablage erreichen, gehen sie nicht nur einmal, sondern mehrmals zur Ablage an Land, in Intervallen von zehn bis zwölf Tagen, bevor sie sich auf den Rückweg machen. Jetzt hatten wir ein wirklich gravierendes Problem: Die Sender schickten überhaupt keine Signale mehr. Es blieb uns nichts anderes übrig, als das Anbringen zu unterbrechen und darauf zu warten, dass schon mit Sendern ausgestattete Schildkröten wieder zur Eiablage an Land kamen, um zu sehen, was geschehen war. Waren sie defekt, hätten wir sie vom Panzer lösen, mit zurück nach Italien nehmen und dem Hersteller zurückgeben müssen, um neue und funktionsfähige zu erhalten. So begann eine der anstrengendsten Phasen unseres Aufenthalts. Es ging nicht mehr einfach darum, irgendeine Schildkröte zu finden, die an den Strand kam, um ihre Eier abzulegen, sondern wir mussten den Strand in seiner ganzen Länge patrouillieren und alle Schildkröten kontrollieren, die während der ganzen Nacht zur Eiablage kamen. Und das ohne jede Gewissheit, dass auch nur eine der ge-
suchten Schildkröten je wieder zurückkommen würde. Vielleicht waren sie schon auf der Rückreise, oder sie suchten andere Strände auf. Wir brachen gegen zehn Uhr abends auf. Auch wenn es schon um acht dunkel wurde, warteten die Schildkröten einige Stunden, bevor sie an Land kamen, um uns genug Zeit zu lassen, unsere Schachpartien zu diskutieren. Wir gingen in Hemd und kurzen Hosen zum Strand, der noch warm vom Tag war. Aber die Nacht war lang und der Wind wehte unablässig. Mit fortschreitender Nacht wurden die Temperaturen immer frischer und erforderten zunehmend mehr Kleidung. Wir hatten zwei Funksprechgeräte, die nie funktionierten, und ein Nachtsichtgerät, das im Gegensatz dazu beste Dienste leistete. Es war ein Fernrohr mit Bildverstärker, das Floriano sich von einem Kollegen in Rom geliehen hatte. Es wird von der britischen Armee eingesetzt und für die Nachtsicht auf Gewehre montiert. Das geringste Sternenlicht reicht aus, um die Landschaft zu erkunden, die ganz in fluoreszierendem Grün erscheint. Die Bilder erinnern an die nächtliche Bombardierung von Bagdad, die CNN während des Golfkrieges in die ganze Welt ausstrahlte. Während ich den Strand beobachte, ertappe ich mich dabei, wie ich in kindliche Fantastereien abgleite: Ich stelle mir vor, das Sichtgerät wäre tatsächlich auf ein Gewehr montiert. Auf den Schirm ist ein Fadenkreuz gezeichnet, um einen Feind in der Nacht unter Beschuss zu nehmen. In der Ferne, am anderen Ende der Bucht, gibt es Leute, von Zeit zu Zeit scheint das Licht einer Taschenlampe auf. Vielleicht sind es Soldaten der Royal Air Force, die neugierig auf die Schildkröten sind. Es gefällt mir, im Dunkeln zu spionieren, ohne gesehen zu werden, und den geheimnis-
vollen Bewegungen undeutlicher Gestalten zu folgen. Wie viele sind es? Was machen sie? Kommen sie näher? Soll ich schießen? Die langen Wartezeiten im Dunkel des Strandes, unterbrochen von unseren Erkundungsgängen, gehören zu meinen schönsten Erinnerungen. Auf dem Strand ausgestreckt, beobachten wir zwischen einem Rundgang und dem nächsten den unglaublichen Äquatorhimmel, ein einziger wimmelnder Sternenteppich. Floriano hat ein Buch mitgebracht, das ihre Namen und die Bilder erklärt. Im Norden, in Richtung auf das Meer, steht dicht über dem Horizont der Große Bär, während sein kleiner Bruder und der Polarstern hinter dem Horizont unsichtbar bleiben. Unmöglich, nicht an Dantes Odysseus zu denken. Und alle Sterne schon des andern Poles Sah man zur Nacht und unsern schon gesunken, So dass er nicht mehr aus dem Meere tauchte. {Die Hölle, XXXVI, 127-129)
Ob Ascension die Insel »in dunkler Ferne« ist, die Odysseus erblickte, nachdem er die Säulen des Herkules passiert hatte und fünf Monde lang nach Süden in den Atlantik gesegelt war? Im Süden, über den schwarzen Massen der Vulkane »alle Sterne schon des andern Poles«: das falsche und echte Kreuz des Südens, das komplizierte Bild des Zentaurs mit Alpha- und Beta-Zentaur (den so genannten Straußenzehen), rechts, etwas über der Ortschaft, Canopus, nach Sirius der zweithellste Fixstern, und rechts, in einer Himmelsregion, wo sich fast keine anderen Sterne finden, die lange und geschwungene Reihe des Sternbildes Skorpion.
Das Dunkel. Eingetaucht ins Dunkel, umgeben von Finsternis, ganz dem schwachen Licht des Mondes – wenn er sich blicken ließ – und der Sterne überlassen. So muss die Nacht für die Menschen bis vor wenigen Jahrzehnten und Jahrhunderten gewesen sein. Heute kennen wir das wahre Dunkel – die echte, vollständige Dunkelheit und nicht die von Autoscheinwerfern oder Straßenlaternen erleuchtete Nacht – nicht mehr oder lernen sie höchstens noch flüchtig kennen. Dass das Sehvermögen von zwei Arten von Rezeptoren abhängt, den so genannten Zäpfchen und Stäbchen, wusste ich seit dem dritten Semester meines Medizinstudiums. Die einen, die Zäpfchen, kommen bei stärkerem Licht zum Einsatz und ermöglichen die klare Sicht und Farberkennung, während die anderen, die Stäbchen, die Sicht bei nur geringem Licht erlauben, klare Konturen und Farben jedoch nicht erkennen. All dies hatte ich vor wer weiß wie langer Zeit studiert, aber erst jetzt wurde mir der tatsächliche Sinn der Nachtsichtfähigkeit klar. Die »Stäbchen«-Sicht hat eine ganz besondere Eigenheit, besonders, wenn sie sich über viele Stunden erstreckt, wie bei uns. Es ist eine andere Art, die Welt zu sehen – und in ihr zu leben. Es ist schwierig, sie zu beschreiben, so sehr hat sie sich bereits von unserer kollektiven Erfahrung entfernt. Nachtsicht bedeutet, in eine geheimnisvolle Unwirklichkeit ohne Tiefe und Farben einzutauchen. Man ist umfangen von einer Welt, die nicht grau ist, sondern milchig, aus Chiaroscuro, Schatten, körperlosen Formen, Flecken mit verschwommenen Konturen, die sich aufzulösen scheinen, wenn man sie fixiert, und die sich wieder verdichten, kaum dass sich der Blick von ihnen abwendet. Auch das hat eine physiologische Erklärung. Jener dunk-
lere Umriss, den ich zu erblicken meine, ist er eine Illusion, oder sind es die Felsen am Ende der Bucht? Und jenes andere, kaum deutlichere Schattenbild, das ich gegen den dunklen Hintergrund der Vulkane zu sehen glaube, ist es das Materiallager auf halber Höhe des Strandes oder meine Einbildung? Phantasmen, Ungeheuer, Gespenster, Elfen und wer weiß wie viele andere Gestalten, die in den Volkstraditionen und in der Literatur immer schon die Nacht bevölkerten – sie haben ihre Wurzel in der Stäbchensicht.
XXII
Die Nächte vergingen ohne besondere Ereignisse: das übliche Dutzend Schildkröten, das wir ergebnislos kontrollierten, der gespenstische Strand, den wir ungezählte Male kreuz und quer durchstreiften, der Duft des Meeres, das Zirpen der Grillen, gelegentlich der Drohruf eines Esels, der auf einen Artgenossen gestoßen war, die Golfkugel von Pyramid Point in der Ferne, die wie eine Astronautenbasis wirkte, die bleichen Silhouetten der Vulkane, der immense, mit Sternen gefleckte Himmel, über den die Wolken jagten, ab und zu eine Sternschnuppe. Ich habe nie so außergewöhnliche Sternschnuppen gesehen wie auf Ascension. Einige waren strahlend hell, und eines Nachts sahen wir eine besonders leuchtende, ein unglaublicher smaragdgrüner Schweif, der im Meer verschwand. In jener Nacht erzählte mir Graeme von einem Ereignis, das er fünf Jahre zuvor erlebt hatte, als er drei Monate lang auf Ascension war. Er hatte sich mit einigen Leuten, Engländern und Amerikanern, angefreundet, die ihm in allen Einzelheiten erklärten, was vor sich gehen würde. Die Amerikaner, die seit dem Zweiten Weltkrieg etwa ein Viertel der Insel besitzen, benutzen von Zeit zu Zeit die umliegenden Gewässer als Zielscheibe, um die Genauigkeit ihrer ballistischen Interkontinentalraketen zu testen. Ascension
war fester Bestandteil der Eastern Test Range, des »östlichen Testgebiets«. Auf dem Grund des Meeres, in einer Tiefe von ungefähr 1 000 Metern einige Meilen vor der Insel, wurden eine Reihe von Unterseemikrofonen versenkt, mit denen man sehr genau die Punkte feststellen kann, an denen die Raketenköpfe auf dem Wasser aufschlagen. Dieses System, MILS (Missile Impact Location System) genannt, stellt die amerikanische Regierung heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, den Vereinten Nationen zur Kontrolle der nuklearen Abrüstung zur Verfügung. Graeme war Zeuge der Vorbereitungen gewesen: Am Nachmittag hatte er einige Ballons aufsteigen sehen. Der Abend war hereingebrochen und kurz vor dem vorhergesehenen Aufprall der Rakete hatte man einige kleine Raketen abgefeuert, die mit großem Lärm in den Himmel schossen, um die letzten meteorologischen Informationen über die genaue Aufschlagzeit zu sammeln. Plötzlich tauchte wie eine grandiose Feuerwerksrakete am jetzt dunklen Himmel über dem Meer eine strahlend helle Leuchtspur auf, die mit einem Schirm begleitender Leuchtstreifen vertikal nach unten schoss und einen Augenblick lang wie bei einem plötzlichen Blitzgewitter den ganzen Teil des Meeres und des Himmels erleuchtete. Dann, nach vielen Sekunden absoluter Stille, drang durch das Dunkel ein anhaltendes fernes Grollen. Wer weiß, ob wir an jenem Abend nicht unwissentlich den Aufschlag einer Rakete oder eines Meteoriten erlebten, der besonders reich an irgendeinem Metall war und in der dunklen, sauberen Luft von Ascension aufstrahlte? Es ist eine zweite Yacht eingetroffen, seit wir auf Ascension sind. Am Morgen kam uns die Besatzung im Islan-
der Hostel besuchen. Kaum älter als Jugendliche, haben sie den Auftrag, das »Boot« eines reichen Südafrikaners von Südafrika nach England zu bringen. Es sind zwei Frauen und ein Mann aus Südafrika, eine Schottin und ein Australier; alle sind um die 25 Jahre alt. Zwei verstehen etwas vom Segeln: der südafrikanische Kapitän und die schottische Seefrau. Die anderen nutzen die Gelegenheit, um eine Kreuzfahrt zu machen. In etwa zwei Wochen sind sie von Kapstadt nach Sankt Helena gesegelt und in einer weiteren bis Ascension. Die anderen, noch vorgesehenen Stationen ihres Segeltörns werden die Kapverdischen Inseln, die Kanaren und schließlich England sein. Mir wurde ganz warm ums Herz, als ich diese jungen Leute sah, die nur wenig älter als meine eigenen Töchter sind und sich mit dem gleichen Abenteuergeist und der gleichen Lust, die Welt zu entdecken, in das Unternehmen gestürzt haben, den Atlantik zu durchqueren. Am Abend nehmen wir sie mit, um ihnen die Schildkröten bei der Eiablage zu zeigen, und an diesem Abend entdecken wir, warum die Sender aufhörten, Signale zu funken. Es war der Abend nach dem Meteoriten, den auch die jungen Leute auf ihrem Weg nach Ascension beobachtet hatten. Floriano und ich sind bei ihnen geblieben. Wir sitzen im Kreis im Sand, und Floriano kann der Versuchung nicht widerstehen, eine kleine Lehrstunde über den Orientierungssinn der Tiere abzuhalten, der alle fasziniert. Plötzlich tauchen Graeme und Paolo, die auf Erkundungsgang waren, verwirrt aus dem Dunkel auf. Sie haben eine legende Schildkröte gefunden, eine von jenen, an denen wir die Sender angebracht hatten.
Wir laufen alle, um die Schildkröte zu sehen, die noch dabei ist, ihr Gelege zuzuscharren. Es besteht kein Zweifel, sie gehört zu »unseren« Schildkröten. Am Rand des vorderen Rückenschilds in der Nähe des Kopfes finden wir das Schild mit unseren Adressen, Telefonnummern und anderen Informationen, das wir ihr angeklebt hatten. Die Rückenfläche ist jedoch glatt, keine Spur mehr von den verschiedenen Klebern, vom Kitt und von den Glasfaserstreifen: Der Sender ist einfach verschwunden. Meine Freunde sind fassungslos. Es ist nicht das erste Mal, dass sie Sender an Schildkröten anbringen. Sie hatten sie monatelang per Satellit durch das Chinesische Meer und den Indischen Ozean verfolgt. Der eine oder andere hatte vorzeitig seinen Betrieb eingestellt, war vielleicht von einem Haifisch verspeist worden oder im Netz eines Fischkutters gelandet, aber der Großteil hatte sehr lange gehalten. Außerdem sorgen sie sich um die Kosten. Jeder Sender kostet etwa 2 000 Euro, und die Finanzierung solcher Projekte ist, wie man weiß, begrenzt. Das Geld war nun ohne offenkundige Erklärung auf dem Meeresboden gelandet. Da jedes Schild eine Kennnummer aufweist, können wir die Schildkröte genau einordnen. Es war die erste, an der wir vor zwölf Tagen einen Sender anbrachten. Unsere südafrikanischen Freunde verlassen uns voller Anteilnahme. Sie haben die Schildkröten und ihre Eiablage gesehen und nicht viel von dem verstanden, was passiert ist. Jetzt haben sie anderes vor, trotz des Verbotes des Verwalters, der Besuchern untersagt, über Nacht auf der Insel zu bleiben. Sie sind von einigen Gleichaltrigen aus der amerikanischen Armee auf ein Fest eingeladen worden. Wie jedes anständige Fest in diesem Alter auf der ganzen Welt einschließlich Ascension fängt es gegen Mitternacht
an und endet am frühen Morgen. Wir treffen sie um sieben Uhr wieder, wir aufgerieben von einer Nacht auf Patrouille am Strand, sie in noch schlechterem Zustand, auf dem Rückweg zur Yacht nach einer Nacht voller jungendlichem Leichtsinn. Nachdem wir den ganzen Tag über verschiedene Hypothesen aufgestellt haben, bekommen wir in der folgenden Nacht die Bestätigung, dass die wahrscheinlichste Erklärung die richtige ist. Wir finden die zweite Schildkröte, an der wir einen Sender befestigten – auch bei ihr vor zwölf Tagen, auch sie erkennbar an ihrem Schild, auch sie ohne Anzeichen eines Senders. Sie zeigt jedoch Spuren, die an der ersten nicht erkennbar waren: eine quer verlaufende Verletzung, nicht groß, aber doch sichtbar. Meine Freunde, die Schildkrötenexperten, haben keine Zweifel: Dieses Zeichen stammt von einem Männchen, das sich vor kurzem mit ihr gepaart hat. Der hinderliche Rückenschild macht die Paarung, die im Meer stattfindet, schwierig. Das Männchen, das sich dem Weibchen von hinten nähert, muss sie mit aller Mühe zurückhalten, klammert sich mit seinen Beinen fest und verbeißt sich in ihrem Hals. Unter diesen Bedingungen, mit dem Körper des Männchens gegen den Rückenschild des Weibchens gedrückt, war angesichts der Masse der Tiere das Schicksal des armen Senders vorauszusehen: abgebrochen und zerrieben von der erotischen Leidenschaft zweier verliebter Schildkröten. Nicht alle Sender wurden auf diese Weise zerstört, der Großteil überlebte. Und so ließ sich dann doch noch die Rückreise der Schildkröten rekonstruieren.
XXIII
Trotz der Bemühungen und des Optimismus von Kapitän Brandreth blieb die Insel während des gesamten 19. Jahrhunderts nur der Sitz einer kleinen Militärgarnison. Nie hatte ein Siedler Lust, sich hier niederzulassen. Mit der Zeit fiel sie in einen langen Dornröschenschlaf, eine Periode, in der – verglichen mit einem Jahrhundert zuvor – nichts Besonderes geschah. Napoleon war seit langem tot und vergessen, der Krieg gegen die Sklavenhändler beendet und Mitte des Jahrhunderts war der Suezkanal eröffnet worden, der die Umschiffung Afrikas auf dem Seeweg nach Indien überflüssig machte. Die West African Squadron, die Flotte, die entlang der afrikanischen Küsten patrouillierte, wurde abgezogen. Der Zweck einer Garnison auf dieser Insel stand immer mehr in Frage, aber sie wurde nicht aufgegeben. Ein Jahrhundert lang, bis 1922, unterstand Ascension der britischen Marine. Da diese nicht das Recht hatte, sich um Festland zu kümmern, sondern nur um ihre Schiffe, wurde die Insel seit ihrer Besetzung einfach zum »Schiff« erklärt – zu einem Kriegsschiff, zu »His Majesty's Ship Ascension«. Für dieses »Schiff« war ein Kapitän verantwortlich, der das Kommando über eine »Besatzung« führte: die kleine Garnison aus etwa 50 Seeleuten der Royal
Marines und ein paar hundert afrikanischen Arbeitern vom Stamm der Kru. Das britische »Kriegsschiff« hatte in seiner ganzen Lebenszeit von etwas mehr als 100 Jahren nie, nicht ein einziges Mal, Gelegenheit zu einem Scharmützel mit feindlichen Schiffen. Und das war ein Glück. Die Insel wäre natürlich nur schwer zu versenken gewesen, aber aufgrund ihrer schwachen Verteidigung hätte man sie mit einem Minimum an Entschlossenheit sehr leicht entern können. Wer in jenen Jahren auf Ascension lebte, hatte andere Schlachten zu bestehen: gegen die Langeweile, die Krankheiten, die von der Admiralität auferlegten Ausgabenbeschränkungen, gegen die Natur und gegen die Störungen ihres Gleichgewichts, die der Mensch selbst verursachte. Bis zu ihrer Entdeckung besaß die Insel nur eine sehr dürftige Tier- und Pflanzenwelt. Es waren vielleicht nicht mehr als 30 Pflanzenarten aus Samen, die der Wind oder die Vögel herangetragen hatten – Pflanzen, die das zweifelhafte Glück gehabt hatten, hier Wurzeln zu schlagen und nun ein kümmerliches Leben an den höchsten und feuchtesten Orten fristeten. Tiere gab es dagegen unzählige, aber nur Vögel und Krabben, und jedes Jahr kamen für einige Monate die Schildkröten. Die Ankunft des Menschen führte von Anfang an zu einer Reihe von Neuheiten und Ungleichgewichten. Und das blieb bis zum heutigen Tag so. Jede Lebensform, die eingeführt wurde, stand vor der Alternative: untergehen oder gedeihen. Der Untergang war das wahrscheinlichere Schicksal. Doch wo der Zufall es wollte, wo Klima und Boden sich als geeignet erwiesen, da eröffnete sich für die jeweilige Art, ob Tier oder Pflanze, die Möglichkeit einer
explosionsartigen Ausbreitung. So unwahrscheinlich das war, unmöglich war es nicht, denn der Lebensraum war zwar schwierig, aber gewiss nicht ungünstiger als viele andere auf der Erde. Darüber hinaus bot er den Vorteil, dass es keine natürlichen Feinde gab, vor denen man fliehen, oder Konkurrenten, mit denen man um die verfügbaren Ressourcen wetteifern musste. In einer solchen Umwelt lief jeder Eingriff von außen Gefahr, zu missglücken und unvorhersehbare Konsequenzen nach sich zu ziehen. Die anfänglich mitgebrachten Ziegen drohten, die spärliche Vegetation fast völlig zu vernichten. Ratten breiteten sich aus, die unfreiwillig mit den Schiffen angekommen waren, während es die Katzen, die absichtlich mitgebracht wurden, um sie zu jagen, weit einträglicher fanden, gemeinsam mit eben jenen Ratten die Nester der Vögel zu plündern, deren Brutgebiete auf der Hauptinsel sie fast vollständig vernichteten. Jeder Versuch, auf den Höhen von Green Mountain Obstgärten oder andere Pflanzungen anzulegen, wurde von der sofortigen Ausbreitung von Parasiten – Insekten, Raupen, Larven – behindert, die üppig gediehen, da sie keine Vögel oder Insekten fressenden Säugetiere fürchten mussten, deren Einführung kläglich scheiterte: Die wenigen Exemplare von Krähen, Staren oder Igeln, die die lange Seereise überlebten, gingen aus ebenso rätselhafter wie erbarmungsloser Unverträglichkeit mit den Umweltbedingungen sofort ein. Nur die Hirtenstare kamen durch, Vögel, die 1879 aus Mauritius importiert wurden und deren Nachfahren sich noch in großer Zahl um Georgetown finden. Auch einige Kolonien von grünen Kanarienvögeln halten es schon seit 1890 auf der Insel aus. Andere Tiere, die der Mensch mitbrachte, entglitten sei-
ner Kontrolle und verwilderten. Die Katzen, die es noch reichlich gibt, und die Ziegen, die heute verschwunden sind, habe ich schon erwähnt. Hunde, Schweine, Kaninchen und Hühner versuchten ebenfalls die Flucht in die Freiheit. Von ihnen ist keine Spur mehr übrig. Es bleiben die Eselherden, die seit mehr als einem Jahrhundert wild leben und die trockene Zone der Insel durchstreifen, und die Schafe, die in den grüneren Bereichen weiden. Ähnlich erging es den Pflanzen: Eukalyptus, Kasuarine, Zypressen aus Bermuda, Orangen, Zitronen, tropische Pflanzen, Palmen, Bananen, Gummibäume, Zuckerrohr, Oliven, Mais, Gemüse, Bambus und Dutzende anderer Pflanzen wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts importiert. Viele sind verschwunden, einige haben kleine Nischen zum Überleben gefunden, wie den kleinen Olivenhain in der Nähe von Devil's Cauldron. Andere haben sich ausgebreitet oder tun dies heute noch, mal schneller und mal langsamer. Der Ostteil der Insel ist heute ganz grün, während im Westteil, der auf den ersten Blick so trocken und ungastlich wirkt, eine langsame Invasion stattfindet. Einige Vulkankegel sind nach wie vor völlig nackt, bis auf ein paar äußerst seltene, vereinzelte Kasuarine, aber der Fuß der Hänge ist schon mit Sträuchern gesprenkelt, die auf den Fotos im Museum, die erst vor wenigen Jahren aufgenommen wurden, noch fehlen. Vor 20 Jahren gab es in Georgetown keinerlei Vegetation, wie die Fotos von damals zeigen. Heute stehen hier überall Eukalyptus, Bougainvillea und Akazien, vor allem aber der Mesquitebaum, von dem im folgenden Kapitel die Rede sein wird.
XXIV
Ein Schaukasten am Eingang des Islander Hostel verkündete die wichtigsten Mitteilungen: Notfalltelefonnummern, die Öffnungszeiten der zwei oder drei Geschäfte der Insel, die eine oder andere Verordnung des Verwalters und die Gästeliste mit Ankunft und Abreise. In regelmäßigen Abständen brachte eine unsichtbare Hand die Liste auf den neuesten Stand. Wie in allen Gasthöfen, Pensionen und Hotels, wo es nur wenige und seltene Gäste gibt, erregt jeder Neuankömmling Neugier, umso mehr an einem so isolierten und von der Welt vergessenen Ort wie diesem. »Du wirst sehen«, sagte mir ein Freund vor der Abreise, »dass du die seltsamsten Menschen kennen lernen wirst: Es sind außergewöhnliche Leute, die es auf solche Inseln verschlägt.« Aber die Regeln in Ascension sind zu rigoros, als dass sich hier niederlassen könnte, wen man nach dem Sprachgebrauch der Alternativen der siebziger und achtziger Jahre im Englischen »dropout« und im Deutschen Aussteiger nennt, Leute also, die sich entschließen, an einem entlegenen Ort vor der Welt Zuflucht zu suchen. (Als Italiener fällt mir auf, dass es in meiner Sprache gar keinen vergleichbaren Ausdruck gibt.) Auf dieser Insel leben keine »Gestrandeten«, die vom
Schicksal wie Fische an Land gespült wurden. Alle haben Arbeit und sind hier nur, weil und solange sie welche haben. Trotzdem ist der Ort so eigenartig, dass man hier unweigerlich auf besondere Charaktere stößt. Als wir ankamen, stand auf der Gästeliste neben unseren Namen der eines weiteren Engländers, der am folgenden Tag mit der Tristar auf ihrem Rückweg von Port Stanley abreisen wollte. Wir verbrachten einige Stunden am Nachmittag mit ihm plaudernd auf der Veranda. Er war ein sympathischer englischer Journalist, rundlich und verschwitzt, von seiner Zeitung auf die Falklandinseln und nach Ascension geschickt, um einige Artikel über die letzten englischen Kolonien zu schreiben, nun, da Hongkong wieder an China fallen sollte. Er erklärte uns ein wenig die Regeln der Insel, aber vor allem sprachen wir über italienische Politik. Sein Spezialgebiet war Europa, und so kannte er Italien weit besser als die letzten Reste des britischen Empire. Einige Tage übernachtete ein junger Mulatte aus Sankt Helena in einem Zimmer im Erdgeschoss, der untätig auf sein Visum für die Falklandinseln wartete. In jenen Tagen klingelte jeden Nachmittag, wenn wir versuchten, den verlorenen Schlaf nachzuholen, das Telefon der Pension, das sich in der Eingangshalle befand und mit einem Mark und Bein durchdringenden Läutwerk ausgestattet war. Mario, so nannte sich unser Heiliger, war zu dieser Stunde nie da. Es oblag also immer einem von uns, aufzustehen und ans Telefon zu gehen. Am anderen Ende sprach immer eine andere Frauenstimme, aber immer mit dem gleichen besorgten und bebenden Ton, mit dem sie nach ihrem Mario verlangte. Es kam ein niederländisches Fernsehteam, das aus den
gleichen Motiven auf dem gleichen Rundflug war wie der britische Journalist. Auch sie sahen wir kaum, weil sie nur zwei Tage blieben und immer draußen waren, um Aufnahmen zu machen. Dann reisten sie ab und hinterließen einen unglaublichen Berg leerer Bierdosen. Einige Gäste bekamen wir nie zu Gesicht. Manchmal standen ein paar Personen auf der Liste, die für uns unsichtbar blieben – vielleicht nicht ohne Grund. Eines Tages traf, angekündigt vom Mitteilungsbrief des Verwalters, der Insektenforscher ein. Wir lernten ihn am Abend kennen, weil wir morgens lange schliefen und er, kaum angekommen, schon auf Käferjagd ging. Im Gegensatz zu den anderen geheimnisvollen Personen war seine Gegenwart nicht zu übersehen: Er nahm die gesamte Veranda des Erdgeschosses mit Schachteln unterschiedlicher Größe in Beschlag, die er mit feinen Netzen abdeckte. Darin waren trockene Blätter, Würmer und Raupen. Der Wissenschaftler besuchte uns abends, während wir auf unserer Veranda mitten über einer Schachpartie saßen. Mit Unterstützung der Flasche südafrikanischen Weins, die er mitgebracht hatte, schlossen wir sofort Freundschaft. Er arbeitete für ein Amt, das sich mit der biologischen Schädlingsbekämpfung in der Landwirtschaft befasste. Er war auf Bitten des Verwalters nach Ascension gekommen, um ein ökologisches Problem wachsenden Ausmaßes zu lösen: die Ausbreitung eines Dornenstrauches namens Mesquitebaum (Mexican Thorn Tree) auf der Insel. Diese Pflanze mit dem lateinischen Namen Prosopis juliflora gehört zur Familie der Leguminosae und ist entfernt mit der Akazie verwandt. Ähnliche Sträucher sind in allen
Trockenzonen Lateinamerikas verbreitet. Man vermutet, dass ein amerikanischer Soldat während des Falklandkrieges das Gewächs mitbrachte, um seinen kleinen Garten zu verschönern. Der Strauch fand ideale Bedingungen für Wachstum und Ausbreitung: trockenes Klima, in manchen Jahren unterbrochen von sturzartigen Regenfällen, den richtigen Boden, die Esel, die seine Samen fressen und dann über ihren Kot aussäen, und vor allem das Fehlen natürlicher Feinde, mit denen diese Pflanzen in ihrer Heimat kämpfen müssen. Um eben diese Feinde zu beschaffen, hatte man den Insektenforscher gerufen. Schon ein paar Jahre zuvor hatte er die Verhältnisse auf Ascension erkundet und war zu der Auffassung gelangt, dass man es versuchen könnte. Jetzt war der Forscher mit den Eiern von Algarobius prosopis und Nelturius arizonensis zurückgekehrt. Er musste die Larven einige Tage in Kontakt mit den Blättern der Pflanze bringen, damit sie sie kennen und schätzen lernten, dann wollte er sie aussetzen. Wenn alles nach Plan ging, würde man in einigen Jahren die ersten Ergebnisse sehen und der Mesquitebaum wäre – ohne Pestizide – in einem Jahrzehnt eingedämmt. An dem Abend, als wir den Insektenforscher kennen lernten, beschlossen wir, nicht zum Strand und stattdessen gemeinsam in den Saints' Club zu gehen, die einzige offene Bar in Georgetown. Der »Club der Heiligen« war ein englischer Pub aus dem Bilderbuch mitten im Atlantischen Ozean. Im Halbschatten saßen die Gäste auf Barhockern am Tresen und tranken Bier. Ringsum kleine Tische mit Stühlen und Sofas, die mit rotem, glatt gewetztem und ganz fleckigem Stoff bespannt waren. An den Wänden
hingen vergilbte Fotos des gewöhnlichen (und außergewöhnlichen) Insellebens: gefangene Fische in allen Größen, die Fußballmannschaft, die vor 15 Jahren das Team der amerikanischen Armee geschlagen hatte, Marineschiffe und Militärflugzeuge, die hier vor 20 Jahren angelegt hatten und gelandet waren, der Besuch von Prinz Andrew am 10. April 1984 und – Schildkröten. Das Lokal war brechend voll und die Menge an Bier, die alle, einschließlich meines Insektenforscherfreundes, konsumierten, gewaltig. Mit vom Alkohol gelöster Zunge erzählte mir der Entomologe von seinen Reisen um die Welt, die letzte einige Tage zuvor nach Syrien, davor nach Sankt Helena, Afrika und Südamerika. Er stellte mir einige Freunde aus Sankt Helena vor, die er von seiner letzten Reise kannte und mit denen auch ich eine ebenso großartige wie flüchtige Freundschaft schloss. Wir redeten über Frauen, Geschichte, Politik, das britische Empire. Schließlich sprachen wir darüber, wie unglaublich es doch war, sich an einem Ort inmitten des Atlantiks zu befinden. Nun schon fast betrunken, begann der Forscher, mit sich zunehmend verdüsternder Miene über die fortdauernde und, wie er sagte, ewige englische Arroganz herzuziehen. Wie in allen englischen Pubs wird auf dieser kleinen Insel inmitten des Atlantiks die Sperrstunde rigoros mit der gleichen, unwandelbaren Zeremonie ausgerufen. Zu genau festgelegter Stunde ruft der Barmann, es sei Zeit, das letzte Bier zu bestellen. Eine Gelegenheit, die sich niemand entgehen lässt. Dann fährt er ein Gitter herunter, das ihn von den Gästen trennt (und vor ihnen schützt), und während diese weiter trinken und plaudern, beginnt er unbeirrbar, Gläser zu spülen und Flaschen zu putzen. Dann, genau um Mitternacht, verkündet er, dass nun endgültig alle gehen
müssen. Die Gäste wissen Bescheid, kippen, wenn auch widerwillig, den letzten Schluck hinunter und verlassen das Lokal. Ich glaube, wenn es nicht diese eisernen Regeln gäbe, würde ganz England und auch die Insel Ascension im Laufe weniger Wochen einem kollektiven Delirium tremens zum Opfer fallen. Einige Zeit danach besuchte ein seltsames Trio die Insel, das ein paar Tage blieb, um auf das Schiff zu warten, das es nach Sankt Helena bringen sollte. Einer von ihnen war Psychologe, ein älterer, magerer und ein wenig eitler Herr. Die Gästeliste stellte ihn als Professor vor und tatsächlich wirkte er, wie viele Akademiker, betont distingniert. Der Zweite war ein Architekt um die 60, kleinwüchsig und kahl. Sein Englisch war so unverständlich wie das des Professors perfekt. Er warf ständig mit Witzen, Wortspielen und ironischen Bemerkungen um sich, die für uns undurchschaubar blieben, wobei er jedes Mal kichernd hochfuhr. Die Dritte war eine Dame unbestimmbaren Alters, klein, mager und etwas schüchtern. Sie war als Krankenschwester in Malaysia gewesen, nach England zurückgekehrt, dann zehn Jahre auf Malta gewesen und wieder nach England zurückgegangen. Sie hatte erfahren, dass das Außenministerium für drei Jahre eine leitende Krankenschwester auf Sankt Helena suchte und sich um die Stelle beworben. Sie ließ in England einen verheirateten Sohn und einen Enkel zurück. Von der Existenz eines Ehemannes sprach sie nie. Von den dreien plante nur die Dame einen längeren Aufenthalt auf Sankt Helena. Der Architekt wollte drei Mo-
nate bleiben, um für die Regierung ein Gutachten über nützliche (oder weniger nützliche) bauliche Veränderungen am Krankenhaus zu erstellen, die jedoch so wenig wie möglich kosten sollten, wie er kichernd erklärte. Der Professor schließlich stattete den »Problemkindern« der Insel einen Besuch ab, der auf ganze zwei Wochen beschränkt war, auf die Zeitspanne, die das Schiff, mit dem er wieder abreisen wollte, bis Kapstadt und zurück nach Sankt Helena benötigte. Zwei Tage vor unserer Abreise kam der letzte Besucher, mit dem wir das Islander Hostel teilten. Sein Name auf der Gästeliste wies ihn zweifelsfrei als Niederländer aus. Als wir am Morgen einen strohblonden, fahrig wirkenden Mann mit schweinchenrosa gerötetem, pausbäckigem Gesicht trafen, der uns mit einem gutturalen »good afternoon« begrüßte, wussten wir, dass der Holländer mit dem Nachtflugzeug angekommen war. Den ganzen Tag sahen wir nichts mehr von ihm, aber als wir vom Abendessen zurückkamen, trafen wir ihn wieder. Er trug immer noch denselben schlecht sitzenden dunklen Anzug und war noch fahriger als am Morgen. Der Tag auf seinem Zimmer hatte ihm keinerlei Erholung verschafft, sondern nur allen Mücken der Gegend Gelegenheit gegeben, von der Gegenwart des Neuankömmlings zu profitieren. (Die Mücken waren am Anfang für uns alle ein erhebliches Problem, das wir aus schierem Überlebensinteresse jeder auf seine Weise umgehend lösten: mit Anti-MückenCreme, Moskitonetz, Mückenfängern vor den Fenstern und so weiter.) Der Niederländer grüßte uns mit einem überraschenden »buona sera«. Wie klein die Welt ist! Er sprach nicht nur
gut Italienisch, sondern kannte auch unseren Landesteil hervorragend. Seine Eltern wohnten in einer Kleinstadt wenige Kilometer von unserer Heimatstadt entfernt. Er war Schriftsteller und hatte eben ein Buch über Bomarzo beendet, ein kleines mittelalterliches Dorf nicht weit von Viterbo. Hier befindet sich der Parco dei mostri, der »Park der Ungeheuer«, den ein Sprössling der Orsini, des einstigen Herrscherhauses der Gegend, anlegen ließ. Es gibt nicht viele Italiener, die Bomarzo kennen, und es war schon merkwürdig, mitten auf einer Insel im Atlantik darüber zu sprechen. Der Niederländer war auf Ascension, um über die Hauptperson seines nächsten Buches zu recherchieren, einen niederländischen Seemann, der 1725 auf Ascension ausgesetzt wurde, als die Insel noch nicht bewohnt war. Er hatte sich eines Verbrechens schuldig gemacht, das auf den Schiffen der Epoche ebenso verbreitet war, wie es verabscheut wurde: Sodomie. Die Geschichte erzählen auch der Katalog des kleinen Museums von Ascension und das Buch von Hart-Davis – aber beide geben zu verstehen, sie nicht für sehr glaubwürdig zu halten. Demnach ging die »Compton«, ein englisches Kriegsschiff, im Januar 1726 vor der Insel vor Anker. Am Strand fand die Besatzung die Reste eines Zeltes und ein Tagebuch, das am 5. Mai des Vorjahres einsetzte und als letzten Eintrag den 14. Oktober auswies. Von seinem Verfasser fand sich keinerlei Spur. Es ist hier nicht der Ort, um von den Leiden zu berichten, die in diesem Tagebuch beschrieben werden, in dem sich Momente halluzinierender Hoffnung mit immer größerer Verzweiflung mischen. Der Autor berichtet von Schrecken erregender Einsamkeit, Hunger- und Durstqua-
len, seinem wachsenden Schuldbewusstsein und dem wahnhaften Wunsch, Buße zu tun. »14. September: Ich werde zu einem wandelnden Skelett. Meine Kräfte schwinden zusehends […] Meine Reue über die Sünden, die ich begangen habe, könnte nicht wahrhaftiger und aufrichtiger sein, und ich bitte den Herrn, dass keinem Menschen ähnliche Leiden widerfahren möchten wie die, die ich erdulden musste und noch erdulde.« Ich möchte natürlich nicht die Ergebnisse vorwegnehmen, auf die unser Mitbewohner auf den Spuren dieses unglücklichen, phantomhaften Seemanns in den Archiven der britischen und niederländischen Marine stieß. Sein erstes Problem bestand darin, die Echtheit der Geschichte festzustellen. Die Veröffentlichung des Tagebuchs, das die Besatzung des Schiffs seiner Majestät »Compton« an der Küste der Insel Ascension fand, der einzigen Quelle der ganzen Geschichte, geht auf das Jahr 1726 zurück, nur einige Jahre nachdem ein Buch erschienen war, das seit seiner Veröffentlichung 1719 zu einem der berühmtesten und erfolgreichsten der Geschichte wurde: Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Es ist wohl legitim, den Verdacht zu hegen, dass das Tagebuch nur erdacht und erfunden war, um auf der literarischen Modewelle zu reiten, die Defoes Buch ausgelöst hatte. Ob wahr oder falsch, die Geschichte des wegen seiner homosexuellen »Sünden« auf eine Insel verbannten Seemannes griff in den achtziger Jahren ein homosexueller Schriftsteller aus San Francisco aus der Perspektive der Schwulenbewegung auf, ohne sich freilich, wie mein niederländischer Freund ein wenig abfällig bemerkte, die geringste Mühe um eine historische Fundierung zu machen. Was ist wahr an der schrecklichen Geschichte des ge-
strandeten Niederländers und seines Tagebuchs? Glaubt man unserem Mitbewohner, vielleicht doch mehr, als die Bücher glauben machen wollen, die ich konsultierte. Aber das ist, wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt, eine andere Geschichte.
XXV
Am 20. Oktober 1922 hörte die Insel Ascension auf, offiziell ein britisches »Kriegsschiff« zu sein. Die Militärgarnison wurde abgezogen, die Munitionsbestände verfeuert und das restliche Eigentum der Marine an eine Gesellschaft verkauft, die seit einigen Jahren auf der Insel Fuß gefasst hatte: die Eastern Telegraph Company. Sie hatte schon Ende des 19. Jahrhunderts begonnen, sich mit Telekommunikation via Kabel zu befassen und ein Netz aufgebaut, das England mit Indien verband. Dann, 1899, hatte sie ein Unterseekabel von Cornwall über die Kapverdischen Inseln, Ascension und Sankt Helena nach Kapstadt verlegt, rechtzeitig zum Beginn des Burenkrieges. Die Insel Ascension hatte immer die Rolle eines Knotenpunktes gespielt, an dem sich dank ihrer geografischen Lage auf natürliche Weise Verkehrs- und Informationswege kreuzten, und dies schon seit ihrer Entdeckung, als die portugiesischen Seeleute die ersten Ziegen für nachfolgende Seefahrer aussetzten und die Schiffe hier Nachrichten hinterließen, in der Hoffnung, dass sie andere Schiffe auf dem Rückweg entdecken und in die Heimat tragen würden. Im Verlauf von ein paar Jahrzehnten, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, wurde Ascension wie eine Spinne inmitten ihres Netzes zu einem Knotenpunkt, an
dem die unterseeischen Telegrafenkabel von und nach Kapstadt, Jamestown in Sierra Leone, Porthcurno in Cornwall, Rio de Janeiro und Buenos Aires zusammenliefen. Die Insel wurde der Aufsicht des Kolonialministeriums und somit dem Gouverneur von Sankt Helena unterstellt. In der Praxis veränderte sich wenig. Die nun seltenen Seeleute, englischen Marinesoldaten und die wenig zahlreicheren Kru-Arbeiter wurden von ein paar Dutzend Angestellten der Eastern Telegraph Company und etwa 100 Sankthelenaern ersetzt, die für sie arbeiteten. Die Eastern Telegraph Company verschmolz dann mit der Firma Marconi und erhielt den Namen Cable & Wireless. Da sie sich nun nicht mehr nur um die Unterseekabel (cable) kümmerte, sondern auch um den – drahtlosen – Rundfunk (wireless), baute sie die Insel zum ersten Funkverbindungszentrum aus. Der Sitz von Cable & Wireless war anfänglich eben jenes Islander Hostel, in dem wir wohnten. Die einzigen, für die sich das Leben wirklich veränderte, waren die Schildkröten. Nachdem die Segelschiffe verschwunden und von den schnelleren und weniger witterungsabhängigen Dampfschiffen ersetzt worden waren, gingen immer weniger Schiffe vor Ascension vor Anker. Der Bedarf an Schildkrötenfleisch brach zusammen. Nach dem Erwerb der Insel beschränkte Cable & Wireless die Schildkrötenjagd und verbot sie schließlich ganz – zum großen Ärger der Lords der Admiralität, die nur widerwillig das Privileg aufgaben, regelmäßig Schildkrötensuppe aus Ascension zu beziehen, die passenderweise vom King's Turtle Soup Manufacturer gekocht wurde. Um dieses Vorrecht zu erhalten, entspann sich zwischen der Admiralität und Cable & Wireless ein verbissener, fruchtloser und amüsanter Briefkrieg, der gut zehn Jahre dauerte.
Heute ist es verboten, die Schildkröten zu jagen oder auch nur zu stören. Eine Anordnung des Verwalters warnt, dass mit einer Strafe von »nicht mehr als 100 Pfund« rechnen muss, wer dagegen verstößt. (Das britische Recht setzt der Willkür des Staates bei der Bestrafung seiner Bürger Grenzen. In Italien würde ein ähnliches Verbot, wie ich glaube, genau umgekehrt formuliert: Wer gegen dieses Verbot verstößt, wird mit einer Strafe von nicht weniger als 100 000 Lire belegt. Die Bürger sind gewarnt: Der Staat kann sie ab einem bestimmten Niveau aufwärts so hart bestrafen, wie er will.) Alles änderte sich, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Wieder war Ascension kein Schauplatz irgendeiner Seeschlacht, weder unter Wasser noch in der Luft. Trotz der Sorge der Engländer, die aufgrund der dürftigen Verteidigung – zwei Kanonen, die nie einen Schuss abgegeben hatten – mehr als berechtigt war, wurde die Insel nie angegriffen. Dennoch muss man im Rückblick sagen, dass sie eine entscheidende Rolle im Krieg gegen die deutschen Unterseeboote spielte, die die Schiffe im Atlantik bedrohten. Im Oktober 1941, als der Krieg schon im vollen Gange war, die Amerikaner sich aber noch nicht daran beteiligten, nahm die amerikanische Regierung mit der englischen Kontakt auf – oder war es umgekehrt? –, um die Möglichkeiten zu sondieren, einen Militärstützpunkt auf der Insel Ascension zu errichten. Ähnliche Abkommen waren für einige Inseln – britische Kolonien – in der Karibik getroffen worden. Bald war eine Übereinkunft erreicht, deren Details jedoch, wie Simon Winchester in seinem Buch über die letzten britischen Kolonien schreibt, nie an die Öffentlichkeit drangen. Tatsache ist, dass seither ein kleiner, aber
wichtiger Teil der Insel in jeder Hinsicht amerikanisch wurde und bis heute blieb. Im Dezember jenes Jahres griffen die Japaner Pearl Harbour an, und wenige Monate später kamen die Amerikaner nach Ascension, um dort den geheimsten und unglaublichsten Flughafen der Welt zu bauen. Er wurde in Rekordzeit – in nur zwei Monaten – fertig gestellt: vom 30. März 1942, als die ersten Pioniereinheiten landeten, bis zum 20. Mai, dem Tag, an dem der Flughafen eröffnet wurde. Selbst wenn man den einen oder anderen Zweifel an solchen von den Siegern erzählten Geschichten hegt, der Bau dieses Flughafens auf einem Lavafeld in so kurzer Zeit und unter derart schwierigen Bedingungen war zweifellos eine außergewöhnliche Leistung. Bis zum Kriegsende landeten zirka 20 000 Flugzeuge auf Ascension. Der Krieg in Afrika, El Alamein, die Landung der Engländer und Amerikaner in Algerien, in Sizilien, in der Normandie: All diese militärischen Unternehmungen glückten auch dank der Luftunterstützung von Flugzeugen, die in Ascension zwischenlandeten. Gegen Kriegsende flogen Bomber über Ascension, die sogar auf so entfernten Kriegsschauplätzen wie China, Indien und Birma eingesetzt wurden. If you miss Ascension/Your wife will get a pension. »Wenn du Ascension verfehlst, kriegt deine Frau eine Rente.« Dieser Schüttelreim war unter den amerikanischen Fliegern wohlbekannt, die von Florida oder Brasilien in Richtung Ascension starteten. Wenn sie die Insel verfehlten, hatten sie nicht mehr genug Treibstoff, um woanders zu landen, weil es kein Festland und keinen anderen Flughafen im Umkreis von 1000 Kilometern gab. Im Atlantischen Ozean ging der Kampf gegen die deutschen Unterseeboote weiter, die alle ein schlimmes Ende
nahmen. Gerade in der Nähe von Ascension ereignete sich eine Episode des Seekriegs, die als »Zwischenfall der ›Laconia‹« in die Geschichte einging. Im September 1942 griff ein deutsches Unterseeboot, das U-156, den englischen Ozeandampfer Laconia an, der 1 800 italienische Kriegsgefangene transportierte, und versenkte ihn. Der Kapitän des Unterseebootes bat das Kommando in Deutschland – vielleicht auch, weil er bemerkt hatte, dass unter den Schiffbrüchigen viele italienische Soldaten waren – über Funk um Instruktionen. Dieses ordnete an, die Überlebenden zu retten, jedoch ohne die Sicherheit des U-Bootes zu gefährden. Der Kapitän ließ daraufhin das Boot auftauchen, hisste die Fahne des Roten Kreuzes und begann mit der Bergung der Schiffbrüchigen, während er über Funk die Botschaft aussandte, dass er nichts gegen andere Hilfsaktionen von Feindesseite unternehmen wolle, um nicht selbst angegriffen zu werden. All das ereignete sich gefährlich nahe an der Insel, deren eben fertig gestellter Flughafen ein eifersüchtig gehütetes Geheimnis der Engländer und Amerikaner war. Ein auftauchendes feindliches U-Boot war, auch wenn es eine Hilfsaktion unternahm, ein Risiko. Daher wurde es, sobald die patrouillierenden Aufklärer es entdeckten, ohne Rücksicht sofort angegriffen. Das U-156 rettete sich, indem es abtauchte und die Rettungsboote der Schiffbrüchigen in seinem Schlepptau ihrem Schicksal überließ. Nach dieser Episode erließ Admiral Dönitz den Befehl, dass kein deutsches U-Boot mehr den Schiffbrüchigen der Schiffe zu Hilfe kommen durfte, die es versenkte. Einige Jahre später wurde dieser Befehl in den Nürnberger Prozessen gegen Dönitz ins Feld geführt, der sich jedoch mit der Zeugenaussage des – amerikanischen – Admirals Ni-
mitz retten konnte. Nimitz erklärte, ein ähnlicher Befehl sei auch an die amerikanischen U-Boote im Pazifik ergangen.
XXVI
Die Tage vergingen, und der Moment der Abreise rückte näher, aber der Verwalter schien seine Absicht vergessen zu haben, uns zu einem Abendessen einzuladen. Trotzdem war er sehr gut über uns informiert, weil Graeme, der die Kontakte hielt, regelmäßig zu ihm ging, um ihn über unsere Forschungen zu informieren, aber auch, weil in einem Ort von den Ausmaßen Georgetowns alle alles über alle wissen. Dann kam der Tag der Einladung. Wir fanden die Umschläge eines Morgens auf dem Tisch der Veranda des Islander Hostel. Darauf standen unsere Namen und die Adresse (c/o The Islander Hostel), die – man sah es an der ungleichmäßigen Schwärzung der Buchstaben – mit einer veralteten Schreibmaschine geschrieben worden waren. Die Billets im Inneren waren jedoch von ganz anderer Art. Oben prunkte, vergoldet und stolz, das verwickelte Wappen der britischen Krone: rechts der Löwe, links das Einhorn, beide aufsteigend, im Zentrum die Krone über den Wappen von Wales, England, Schottland und Nordirland mit den Inschriften Honi soit qui mal y pense und Dieu et mon droit. Unter dem Wappen, in schönen kursiven Druckbuchstaben, wurden wir davon in Kenntnis gesetzt, dass sich Seine Ehren und Seine Werte Gemahlin am 19. Mai
um 7.30 p.m., also um 19 Uhr 30, über unsere Gesellschaft in der Residenz freuen würden. Im Hinblick auf die Garderobe stand auf dem Billet: DRESS: INFORMAL/PLANTERS/CASUAL
Die Entschlüsselung dieses letzten Teils bereitete uns einiges Kopfzerbrechen. Was planters genau bedeutete, blieb ein Geheimnis, auch wenn es in diesem Zusammenhang unwichtig war, weil diese Art der Kleidung nicht von uns verlangt wurde. Unser Insektenforscherfreund kam uns zu Hilfe, der ebenfalls an jenem Abend eingeladen war und sich besser auskannte als wir. Er erklärte uns, dass nach dem klassischen britischen Understatement, der gewohnheitsmäßigen Untertreibung, informal tatsächlich »schrecklich formal« bedeutete, mit Jackett, Krawatte und schwarzer Anzughose, planters war (vielleicht) ein Grad dazwischen und casual bedeutete im Wesentlichen ohne Schlips. Das war im Grunde genau das, was wir wissen wollten. Die Bedeutung von planters und die Beschreibung der kompletten Kleiderordnung der englischen Etikette – nicht zu verwechseln mit der amerikanischen, die offenbar anders ist –, erklärte mir später ein Freund, der als junger Mann einige Zeit Steward auf einem britischen Kreuzschiff gewesen war. Von oben angefangen bedeutet formal im höchsten Grade förmlich – Smoking. Der arme Verwalter hätte in diesem Fall in Ausgehuniform mit dreizackigem Federhut erscheinen müssen. Informal hieß, wie der Insektenforscher richtig gesagt hatte, dunkler Anzug, schwarze Schuhe, weißes Hemd und natürlich Krawatte. Planters – von »Pflanzer, Siedler« – bedeutet: Jacke und Krawatte, jedoch braune Schuhe, kombinierter Anzug,
nicht notwendigerweise weißes Hemd. Casual will sagen: kein Jackett und keine Krawatte, aber lange Hosen. Barbecue meint schließlich Bermuda-Shorts und kurzärmliges Hemd. Die Residenz des Verwalters liegt fast auf dem Gipfel von Green Mountain. Einst beherbergte sie The San, das Sanatorium, ein kleines Bergkrankenhaus, wo die Seeleute und Soldaten der East African Squadron aufgenommen wurden, die im Allgemeinen unter Gelbfieber litten. Wir erreichen das niedrige, quadratische, eingeschossige Haus mit grauen Steinmauern hinter dunkelgrünen Bäumen beim letzten Tageslicht. Auf dem Kiesvorplatz stehen im Halbschatten bereits einige Wagen. Den Eingang erhellt das gelbe Licht einer Laterne. Es könnte auch ein Gasthof in einer entlegenen Heidelandschaft im Herzen Englands sein. Außer uns, Seiner Ehren und Seiner Werten Gemahlin sind bei dem Essen der Chef der Station von Cable & Wireless zu Gast, der den Verwalter vertritt, wenn dieser in England Ferien macht, ein Ingenieur der BBC und ein Offizier der Royal Air Force, alle nebst Gattinnen. Der Abend verläuft angenehm. Der Insektenforscher erzählt von seinen Insekten, meine Biologenfreunde von den Schildkröten, die Frau des Ingenieurs erklärt, wie glücklich sie sei, dass ihre Kinder auf die Grundschule in Two Boats statt auf eine in London gehen, und die Frau des Verwalters gibt sich als Vulkanexpertin zu erkennen und zeigt uns ihre Mineraliensammlung. Es kommt heraus, dass ich in Wirklichkeit kein Biologe, sondern Arzt bin. Der Verwalter fährt zusammen und kann seinen Schrecken kaum verbergen: Ist er betrogen worden? Warum also bin ich auf der Insel? Ich kann ihn
beruhigen: Ich begleite meine Biologenfreunde und beschäftige mich selbst auch mit Schildkröten, lüge ich. Nach dem Cocktail kommt das Abendessen. Es bedienen uns, still und untadelig, zwei Sankthelenaerinnen, Mutter und Tochter, in schwarzer Livree mit weißer Schürze. Der Verwalter erzählt von der möglichen Zukunft der Insel. England wird seine Präsenz weiter vermindern, nur die Amerikaner bleiben, aber auch sie in geringerer Zahl. Ein Unternehmer aus Sankt Helena möchte das Gut übernehmen und eine Kaffeeplantage anlegen. Das Klima, so scheint es, wäre für Kaffeepflanzen ideal. Und dann sind die Arbeitskräfte auf Sankt Helena ja so billig… Es gibt auch das Vorhaben, die Insel dem Tourismus zu öffnen – einem reichen, umweltschonenden Tourismus mit begrenzten Gästezahlen. Aber dazu wären Investitionen notwendig, und das Außenministerium – das die Insel vom Kolonialministerium geerbt hat – scheut die Ausgaben. Vielleicht könnte man Gelder von der Europäischen Union bekommen. Aber wären (der Verwalter spricht es nicht aus) die Amerikaner damit einverstanden? Ich habe im Internet den Bericht über die Lage der »abhängigen Gebiete« gefunden, den die Unterstaatssekretärin des Außenministeriums, Baronin Symons of Vernham Dean, am 11. Juni 1997 dem House of Lords, dem britischen Oberhaus, vorlegte. Gibraltar, Hongkong, die britischen Karibikinseln, Falkland, Sankt Helena – über Ascension findet sich nicht mehr als eine Zeile: »Wir diskutieren mit unseren amerikanischen Alliierten über die Möglichkeit, die Insel für den kommerziellen Verkehr zu öffnen.« Bei Tisch sprechen wir auch von anderen Dingen, von den kleinen, unvermeidlichen Geschichten des Gesell-
schaftslebens und des Alltags auf der Insel: »Neulich abends bei John haben wir so gelacht, als er erzählte …« »Es ist schon eine Weile her, dass die Waddingtons eine Party gegeben haben …« »Als wir sie das letzte Mal bei den Youngs gesehen haben, wollte Richards Frau einen chinesischen Kochkurs machen, aber bislang hat sie noch nicht damit begonnen … Nun ja, auch ich wollte ja ein kleines Buch über die Küche von Sankt Helena schreiben, aber ich bin immer noch mitten drin …« Unglücklicherweise gleitet das Gespräch auf medizinische Themen ab. »Wo Sie doch Arzt sind, dürfte ich die Gelegenheit nutzen, um Sie zu fragen …?« Jede Ärztin und jeder Arzt muss in einer solchen Situation unweigerlich mit dieser Art von Fragen rechnen. Man weiß, dass es unvermeidlich ist, erwartet es und fürchtet den Zeitpunkt. Mit einer Mischung aus Resignation und Bangigkeit warte ich auf die Fortsetzung des Gesprächs.
XXVII
Nach Kriegsende entvölkerte sich Ascension im Laufe weniger Jahre und alles oder fast alles – war wieder wie zuvor. Die britischen und amerikanischen Militärkontingente wurden abgezogen, auch der Verwalter ging, der in seiner Eigenschaft als Repräsentant des Gouverneurs von Sankt Helena von den Engländern entsandt worden war, um die Aktivitäten mit den amerikanischen Partnern zu koordinieren und sie im Auge zu behalten. Am 31. Mai 1947 wurde der Flughafen geschlossen. Es blieben eine verwaiste Landepiste, ein paar Gebäude, die abzureißen nicht lohnte, da sie von selbst verfallen würden, und es blieben die Beschäftigten von Cable & Wireless, um weiter die gewohnte Arbeit zu verrichten. Erneut war Ruhe auf der Insel eingekehrt, wenn auch nur für kurze Zeit. Zehn Jahre später, 1956, kehrten die Amerikaner zurück, dank jenes Abkommens von 1941, das ihnen einen Teil der Insel überließ. Der Kalte Krieg war ausgebrochen und Ascension wieder nützlich geworden. Es wurde der äußerste Punkt des Eastern Range, des »östlichen Testgebietes«, jenes bis auf wenige Karibikinseln fast menschenleere Seegebiet, auf dessen anderer Seite 5000 Kilometer weiter im Nordwesten Cape Canaveral liegt und in dem
die Amerikaner einen Großteil ihrer Versuche mit ballistischen Interkontinentalraketen unternahmen. Ascension war nun einer der Stützpunkte, von dem aus die Flugbahnen der Raketen verfolgt wurden, die von Cape Canaveral starteten, und die umliegenden Gewässer fungierten als eine Art Zielscheibe, um die Zielgenauigkeit der Flugkörper zu testen. Aus einer immer globaleren Perspektive wurde die Insel mit der Zeit zum strategischen Verbindungspunkt für die Satelliten, die über diesem Teil der Erde kreisten – Satelliten, mit denen sich diskret, ohne Belästigung und ohne großen Aufwand beobachten ließ, was in Afrika und Südamerika vor sich ging, den beiden äußerst reichen und politisch instabilen Südkontinenten. Doch die Insel diente nicht nur als Abhöranlage. Im Monat unserer Expedition fiel die Regierung von Mobutu in Zaire, das nun wieder den Namen Kongo erhielt. Vielleicht war es kein Zufall, dass in jenen Tagen höchster Unsicherheit auf der Flughafenlandebahn zwei gigantische Galaxys landeten, amerikanische Militärtransportmaschinen. Sie blieben dort einige Tage stehen und waren dann plötzlich verschwunden, als auch diese politische Krise vorerst gelöst schien. Dass es für die Weltmacht Amerika von Nutzen ist, über eine mit Antennen gespickte Insel im Zentrum des Atlantischen Ozeans mit einem großen Flughafen und ohne einheimische Bevölkerung zu verfügen, auf die man Rücksicht nehmen müsste, versteht sich. Weniger einsichtig ist der Nutzeffekt für die Engländer. Das Empire ist seit langem untergegangen. Es gibt nur noch winzige Reste, nur Inseln, die so klein sind, dass sich ihre Unabhängigkeit von selbst verbietet. Die letzte Zuckung von Nationalstolz war der Falklandkrieg. Er hatte den unleugbaren Vorteil, den
Bluff eines brutalen, korrupten und ineffizienten Militärregimes offenkundig zu machen und seinen Sturz herbeizuführen und er hatte es Margaret Thatcher ermöglicht, sich etliche weitere Jahre an der Macht zu halten. Aber auch diese Zeiten sind vorbei. Die Royal Air Force hat einen Großteil ihres Personals aus Ascension abgezogen und auch die CSO (der halb geheime Nachrichtenüberwachungsdienst) will in Kürze gehen. Nach dem kurzen Auflodern des Falklandkrieges tritt die Insel erneut in eine Phase der Ruhe und Vergessenheit.
XXVIII
Woher kommen sie, wohin kehren sie zurück, und welchen Routen folgen die Schildkröten von Ascension? Der Erste, der sich mit diesem Problem auseinander setzte, war der »Vater« der Meeresschildkrötenforschung, ein Zoologieprofessor der Universität von Florida namens Archie Carr, der vor einigen Jahren gestorben ist. Zusammen mit seinen Mitarbeitern versah Carr zwischen 1960 und 1980 die unglaubliche Zahl von 3 384 Schildkröten, die zur Eiablage an die Küsten von Ascension kamen, mit einem Kennschild. Das Schild versprach auf Englisch und Spanisch jedem eine Belohnung von fünf amerikanischen Dollar, der eine gekennzeichnete Schildkröte fand und die Informationen über Zeit und Fundort einsandte. Die Absender erhielten auf diese Weise die Daten von 66 Schildkröten, im Allgemeinen solche, die sich in den Netzen von Fischern verfangen hatten. Sie stammten alle aus den subäquatorialen Gewässern Brasiliens und in großer Zahl von der östlicheren Küste um die Stadt Recife herum, aber einige fand man auch viele hundert Kilometer weiter nördlich und südlich. Trotz der begrenzten Zahl dieser Stichproben – man hatte weniger als zwei Prozent der gekennzeichneten Schildkröten wiedergefunden wies die Studie darauf hin, dass die Schildkröten an den Küsten
Brasiliens beheimatet sind und alle zwei bis drei Jahre zur Insel Ascension wandern. Nach den ersten düsteren Tagen, als wir alle Satellitensender verloren hatten, gingen meine Freunde auf Nummer Sicher und warteten ab. Um das Risiko zu verkleinern, die Sender zu verlieren, musste man sie an Tieren anbringen, die den Eiablagezyklus hinter sich hatten und nicht länger in den Gewässern um die Insel blieben, um sich zu paaren. Es gab jedoch kein äußeres Zeichen, an dem sich eine Schildkröte am Ende ihres Eiablagezyklus von jenen unterscheiden ließ, die noch in der Nähe von Ascension verweilten. Die einzige Möglichkeit, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, die richtigen Schildkröten auszuwählen, bestand darin, einige Wochen zu warten, bis sich die übliche Zeit der Eiablage ihrem Ende zuneigte. Dann würde man sicher davon ausgehen können, dass die – wenigen – Schildkröten, die wir noch fanden, alle zur letzten Eiablage an Land kamen. Diese Überlegung erwies sich als richtig. Paolo kehrte im folgenden Monat nach Ascension zurück, um die letzten Sender anzubringen. Wieder in Italien, trafen immer mehr Daten ein, die die Erwartungen erfüllten: Die Schildkröten waren fortgewandert und senden weiterhin Signale, viele Wochen lang. Alle fünfzehn Schildkröten, die mit dem Satellit verfolgt wurden, hatten sich auf den Weg nach Brasilien gemacht. Aber der Beitrag unserer Reise zur Forschung beschränkte sich nicht nur darauf, mit einer anderen Methode eine bereits bestehende Hypothese zu bestätigen. Die Analyse der Wanderrouten der Schildkröten ermöglichte neue Er-
kenntnisse über die Art ihrer Wanderung durch die Meere und warf neue Fragen auf. Die Ergebnisse zeigten, dass sich die Schildkröten, sobald sie Ascension verlassen haben, nach einem anfänglichen leichten Südkurs sofort nach Westen orientieren. Die Routen in diesem ersten Abschnitt überlagern sich in ungewöhnlicher Weise: Es ist, als ob die einzelnen Schildkröten, die wir verfolgten, die ersten 150 Kilometer alle den gleichen unsichtbaren Korridor nahmen, auch wenn sie zu verschiedenen Zeiten zurückwanderten. Dann, nach einer längeren Wegstrecke über Hunderte von Kilometern, neigten sie dazu, zu divergieren, wobei einige leicht nach Norden oder Süden abwichen und andere eine mittlere Route hielten. Alle orientieren sich jedoch insgesamt Richtung Westen. Nachdem sie etwa zwei Drittel des Weges zurückgelegt hatten und noch weit von der Küste entfernt waren, begannen die Wanderrouten, wieder auf den Zielort zusammenzulaufen, den östlichsten Punkt der brasilianischen Küste. Wenn es sich dabei nicht um einen außergewöhnlichen Zufall handelt, lässt sich dies offenbar nur auf eine Weise erklären: Die Schildkröten sind in der Lage, den eigenen Kurs zu korrigieren, weil sie in irgendeiner Weise die Position des nächstgelegenen Küstenstreifens »bemerken«. Welche Informationen nutzten die Schildkröten, um ihre Richtung zu korrigieren? Sicher nicht den Anblick der Küste, die noch Hunderte von Kilometern entfernt ist. Vielleicht – so glauben meine Freunde – folgen sie irgendeiner Geruchsspur, einem Stoff, der vom Festland kommt und im Wasser gelöst von den Flüssen mitgeführt wird oder sich in der Luft ausbreitet. Aber auch dies ist nicht sehr wahrscheinlich, weil sowohl der Wind wie die vor-
herrschenden Meeresströmungen in diesen Regionen auf die Küste zu und nicht in die umgekehrte Richtung verlaufen. Die Schildkröten schwimmen mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 2,5 bis drei Kilometern in der Stunde. Das entspricht der Geschwindigkeit eines gemächlichen Spaziergangs oder der Fortbewegung mit einem Ruder- oder Paddelboot. Ob es sich dabei um ihre effektive Geschwindigkeit handelt oder ob sie zwischen schnelleren und langsameren Phasen wechseln und vielleicht sogar Erholungspausen einlegen, Nahrung aufnehmen oder sich orientieren, das lässt sich über die Satellitentelemetrie nicht feststellen. Um das zu klären, reicht die Häufigkeit der Erhebungen nicht aus. Sie schwimmen tagsüber und nachts, legen alle 24 Stunden 60 bis 70 Kilometer zurück und erreichen in 30 bis 40 Tagen die brasilianische Küste in einer Entfernung von 2300 Kilometern. Sie schwimmen ebenso bei Licht wie im Dunkeln, bei bedecktem wie bei klarem Himmel, mit und ohne Sonne, Sterne und Mond. Das bedeutet, dass sie sich anders als andere Wandertiere wie zum Beispiel Vögel nicht an den Himmelskörpern orientieren, oder auf sie verzichten können. Sie lassen sich auch nicht vom Kurs abbringen, wenn ihnen das Magnetfeld der Erde als Bezug fehlt. Dies war einer der interessantesten Aspekte der Forschung meiner Freunde. Bei sieben der 15 Schildkröten hatten sie mit einem besonders ausgeklügelten System kleine, aber starke Magnete an verschiedenen Stellen des Rückenschilds angebracht. Die Magnete wurden nicht direkt am
Rückenschild befestigt, sondern an kleinen, halbfesten Metallstielen von einigen Zentimetern Länge, die ihnen Spiel ließen, wenn sich das Tier bewegte. So schufen sie um die Schildkröten herum ein Magnetfeld, das nicht nur stärker als das der Erde war, sondern sich auch ständig veränderte. Um zu verhindern, dass die Magneten für immer an der Schildkröte haften blieben, war ein Teil der Halterung aus einem Metall gefertigt, das im Meerwasser korrodiert und nach etwa vier Wochen von selbst abfallen würde. Die Routen dieser sieben Schildkröten waren von den »nichtmagnetisierten« Tieren ununterscheidbar, trotz der Magnete und ungeachtet der verbreiteten Meinung, dass sich Meeresschildkröten wie viele andere Tiere am Magnetfeld der Erde orientieren und mit seiner Hilfe nicht nur die Himmelsrichtungen, sondern auch die eigene Position feststellen. Diese Auffassung ist zwar häufig anzutreffen, wurde aber nach Meinung meiner Freunde nie hinreichend bewiesen. Die Theorie, nach der die Schildkröten eine Art inneren Kompass zur Orientierung benutzen, war tatsächlich alles andere als unbegründet. Die Untersuchungen einer amerikanischen Forschergruppe hatten gezeigt, dass junge Schildkröten, die man in ein Becken setzte und frei schwimmen ließ, alle spontan dazu neigten, eine bestimmte Richtung einzuschlagen, die sie änderten, wenn sie einem Magnetfeld ausgesetzt wurden. Vielleicht, so sagen meine Freunde, gibt es hier keinen zwangsläufigen Widerspruch: Die kleinen Schildkröten könnten die Informationen des Magnetfeldes für kurze Zeit nutzen, um auf die offene See zu gelangen, bevor sie ihre geringen Energiereserven aufgebraucht haben und sich von der Strömung treiben lassen, während die er-
wachsenen Tiere ebenso gut den Weg zurück durch den halben Atlantik finden, auch wenn ihre Wahrnehmung des Erdmagnetfeldes – gesetzt den Fall, dass sie existiert – gestört wird. Wie es die Schildkröten also schaffen, auf ihrer Route mitten durch den Ozean Kurs zu halten, bleibt bis heute ein Rätsel – ein schier unglaubliches Geheimnis, wenn man bedenkt, dass sie im offenen Meer eine gerade Wanderrichtung einhalten können, trotz der Strömungen, Winde und Stürme und obwohl sie offenbar nicht die geringsten Bezugspunkte haben. Und dies, indem sie 40 Tage lang Tag und Nacht ununterbrochen in der Geschwindigkeit eines Ruderbootes wandern.
Abbildung 9 Rekonstruktion der Routen, auf denen die beobachteten Schildkröten von Ascension nach Brasilien wanderten. Einige Spuren verlieren sich rätselhafterweise vor der Ankunft.
XXIX
Ich wanderte drei Mal auf den Green Mountain und schwor mir jedes Mal, dass es das letzte Mal sein würde. Von Two Boats steigt der Weg plötzlich steil an und windet sich in die Berge. Der Anstieg ist kurz, beeindruckend und gefährlich. Uns erwartet eine Reihe von Spitzkehren einer äußerst steilen Serpentine und jedes Mal scheint der Wagen es nicht zu schaffen. Doch jedes Mal gelingt es im letzten Moment dann doch, das Äußerste aus dem Motor herauszuholen und das Hindernis zu überwinden. Währenddessen verändert sich die umliegende Landschaft rasch. Die fast wüstenhafte Vegetation von Two Boats belebt sich. Es tauchen Büsche, Stauden, Blumen aller Art, immer üppigere und majestätischere Bäume auf, während man in alle Richtungen freie Sicht gewinnt. Schließlich erreichen wir mit kochendem Motor und dampfendem Kühler das Ende der Straße. Jedes Mal, bevor wir uns auf den Rückweg machten, war das Kühlwasser vollständig verdampft. Wir befinden uns 730 Meter über dem Meeresspiegel, und es sind nur noch wenig mehr als 100 bis zum Gipfel, der jedoch nur zu Fuß zu erreichen ist. Kurz nach dem Parkplatz kommt das Gut, immer schon und bis heute der einzige Ort der Insel, wo etwas Ackerbau und Viehzucht
betrieben wird. Einst waren die Marines hier die Bauern, heute sind es einige Sankthelenaer, die bei den Ascension Island Services angestellt sind, dem Konsortium, das große Teile der Versorgungsdienste auf der Insel übernimmt. Es ist verwirrend, dort oben anzukommen. Man lässt den Wagen unterhalb eines Waldes riesiger Bananenstauden und anderer Tropenbäume stehen und findet sich nach einer Biegung vor einem typischen englischen Rasen. Auf der einen Seite liegt eine perfekte, tief grüne Wiese mit einem Baum und einer Wippe, auf der anderen befindet sich ein Garten mit Rosenhecken und Himbeeren, die die Nutzgärten verbergen. Etwas höher liegt der Schweinestall, zu dem eine Sau und eine ebenso ängstliche wie neugierige Ferkelschar gehören. Der Wind trägt vertraute, aber für eine Tropeninsel inmitten des Ozeans unwahrscheinliche Geräusche heran: den Schrei eines Hahns, den Klang von Kuhglocken. Weiter bergan treffen wir einen Heiligen in Arbeitskleidung. Vor ihm trippelt ein kleines Schwein, das er mit leichten Stockschlägen auf den Rücken führt. Von hier aus überblickt man den Nordwestteil der Insel: die Vulkane, die Lavafelder, den Flughafen und ringsum das unendliche Meer. Das dritte Mal war ich an unserem letzten Tag mit unserem Insektenforscherfreund auf dem Elliot Path, um mit einem langen Spaziergang Abschied von der Insel zu nehmen. Der Weg, angelegt 1839 und eingeweiht von Admiral Elliot, dem Befehlshaber der britischen Flotte an der afrikanischen Westküste, ist ein langer, ebener Pfad, der etwas unterhalb des Gipfels des Green Mountain verläuft, in einer Höhe, wo sich nur selten Wolken finden, die stattdes-
sen häufig den Gipfel verhüllen. Von Elliot Path aus konnten wenige Wachposten die gesamte Küste kontrollieren und die eventuelle Ankunft von Piraten und anderen feindlichen Schiffen ankündigen. Während des Zweiten Weltkriegs wurde der Pfad erweitert. Manche sagen, dass es noch Reste eines amerikanischen Jeeps gibt, der vom Weg abkam und den Berg hinunterstürzte. Wir lassen ein kleines, mit grauem Stein ausgepflastertes Tal auf der Rechten hinter uns. Nach oben fächerförmig geöffnet, läuft es unten wie ein Trichter zusammen. Es handelt sich um ein Regenwasserauffangsystem, das 1881 erbaut wurde und bis vor wenigen Jahrzehnten das Überleben auf der Insel sicherte. Zur Linken kommen wir an dem Weg nach Dew Pond vorbei, dem kleinen Teich auf dem Gipfel des Berges im alten Krater, in dem eine Kolonie von Rotfischen lebt, die wer weiß wann von wer weiß wem hier ausgesetzt wurden. Ringsum wächst ein dichter Bambuswald. Noch heute findet auf Ascension vier Mal im Jahr einer der verrücktesten Gehwettbewerbe der Welt statt. Daran müssen oder sollten – alle rüstigen Erwachsenen der Insel teilnehmen. Die Strecke beginnt am Strand von Georgetown in der Nähe von Turtle Pond. Beim Start muss man die Hand im Wasser baden, dann geht es – für die, die es schaffen – bis hoch zum Gipfel des Green Mountain, um dort dieselbe Hand ins Wasser des Dew Pond zu tauchen. Erfunden, um die auf der Insel stationierten Marines und Soldaten in Bewegung zu halten, fand der Wettkampf – zum Glück – nicht in dem Monat statt, in dem wir dort waren. Lange verläuft unser Weg wie ein Schützengraben, der zu beiden Seiten von sehr dichter, über zwei Meter hoher
Vegetation begrenzt ist. Über uns das außergewöhnliche Blau des Himmels, über den hoch fliegende große Wolken ziehen. Ab und zu lichtet sich die Vegetation oder verschwindet ganz, und dann eröffnen sich Schwindel erregende Ausblicke. Wir sind an der windzugewandten Seite Richtung Südosten, auf der grünen und unbewohnten Seite der Insel. Unten gibt es kein Zeichen von Menschen, bis auf die Straße, die zur NASA-Station führt. Dank der engen Beziehung zwischen Insekten und Pflanzen ist der Insektenforscher auch ein guter Pflanzenkenner und rattert die lateinischen Namen herunter, natürlich mit englischer Aussprache. Es muss nicht eigens erwähnt werden, dass ich von dieser Sturzflut von Namen so gut wie nichts behalten habe. Hier aus Madagaskar stammende Agaven. Dort eine besondere, krautartige Pflanze, die aus dem Himalaja kommt und sich ölfleckartig in den Höhen vieler Ozeaninseln ausbreitet. Und hier wiederum eine, wie es scheint, äußerst seltene, auf Bermuda autochthone Zedernart. Wir gelangen zu einem Tunnel, der angelegt wurde, um die gefährlichsten, aber auch wirklich nur die allergefährlichsten Stellen zu umgehen, versichert mir mein Freund. Wenige Schritte, und wir befinden uns in völliger Dunkelheit. Man sieht nur das Licht des Ausgangs in etwa 50 Metern Entfernung. Ohne Taschenlampe haben wir nicht die geringste Vorstellung, wohin wir unseren Fuß setzen. Draufgängerisch und plaudernd geht mir der Insektenforscher voran, während ich mich auf schlüpfrigem, ungleichmäßigem Boden hinterhertaste. Als wir erleichtert aus dem Tunnel treten, hat sich die Landschaft plötzlich verändert. Wir sind um den östlichsten Vorsprung gebogen und blicken an diesem Punkt nach Norden. Die Vegetation ist
Abbildung 10 Abschied von der einsamen Insel: Noch einmal schweift der Blick über Long Beach und – im Hintergrund – den Sisters' Peak.
anders: Es fehlt der beruhigende Vorhang aus Sträuchern, der uns eben noch vor der Tiefe sicherte. Wir sind ihr schutzlos ausgesetzt. Nur Gras wächst an den Schwindel erregend steilen Hängen. Über uns sehen wir zum Bambushain am Dew Pond hinauf. Unter uns liegt ein Felsvorsprung, und der Blick schweift über den Nordostteil der Insel, den man nicht erreichen kann, weil keine Straße dorthin führt. Vor uns sehen wir den Weather Post, den zweithöchsten (Vulkan-)Gipfel von Ascension, der die kleine Insel Boatswain Bird verbirgt, den Zufluchtsort für einen Großteil der Meeresvögel. An der Seite zur Rechten erstreckt sich Cricket Valley, links liegt der imposante Krater von Devil's Cauldron. Wir sind wieder auf dem Rückweg. Unter uns beginnt der trockene und wüstenartige Teil der Insel. In der Ferne
stehen die riesigen Gittermasten der Atlantikfunkstation der BBC in der English Bay, die Vulkanerhebungen der Sisters, Broken und Hollow Tooth, Perfect Crater und schließlich im Hintergrund die nun schon vertrauten Umrisse von Cross Hill, hinter dem bald die Sonne im Meer versinken wird. Wir gehen schneller. In einigen Stunden müssen die Koffer gepackt sein, bevor uns der diensthabende Polizist zum Flughafen bringt, wo die Tristar aus Falkland landet. Bei der Abreise wird mich, wie ich bereits weiß, eine Art Allmachtssehnsucht befallen, ein melancholisches Bewusstsein meiner ausweglosen Vergänglichkeit, das mich jedes Mal überkommt, wenn ich von einem fernen und ungewöhnlichen Ort abreise, an den ich, wie ich nur zu gut weiß, niemals wieder zurückkehren werde.
Epilog
Meine Freunde sind nach Ascension zurückgekehrt, um weitere Sender an den Schildkröten anzubringen und die Untersuchungen über ihren Orientierungssinn fortzusetzen. Nach dem, was mir Paolo und Floriano erzählen, hat sich auf den ersten Blick nichts verändert: Die gleiche schläfrige Atmosphäre von Georgetown mit einem blassen Hauch von Melancholie, dieselben Leute, dieselben leeren Strände, dieselbe Abgeschiedenheit, zwei Flüge in der Woche für die wenigen, die eine Erlaubnis haben, und sonst nur das Schiff, das einmal im Monat vorbeikommt. Aber einige Veränderungen gibt es doch. Ein australisches Taucherteam entdeckte das Wrack des Schiffes von Dampier vor Long Beach, eine Glocke aus Bronze wurde aus dem Wasser gezogen. Auf dem NASA-Stützpunkt wurde eine große Parabolantenne installiert, dort, wo andere Antennen die erste Mondlandung des Menschen verfolgten. Sie erlaubt, die Fernsehprogramme der BBC direkt zu empfangen. Die Zeitung The Islander wurde modernisiert, sie hat jetzt Farbfotos und widmet zwei volle Seiten dem Fernsehprogramm. Heute ist sie sogar – siehe Anmerkungen – im Internet zu finden. Die Mittel zur Renovierung des Exiles Club werden möglicherweise
bewilligt, und Graeme hat das Geld für die Anstellung zweier Heiliger aufgetrieben, die die Schildkröten kontrollieren und schützen, die an den Stränden ankommen. Der Direktor des Museums ist in die USA zurückgekehrt und dann nach Alaska, aber ein Nachfolger ist schon gefunden. Auch der Verwalter steht kurz vor der Pensionierung und hat ein Buch über die Schildkröten geschrieben, auf dessen Veröffentlichung er hofft. Überdies haben meine Biologen-Freunde nun bewiesen, dass die Schildkröten ihren Weg nach Ascension finden, indem sie in den Wind riechen. Das zeigten Studien, bei denen die Schildkröten am Strand eingefangen und wieder ins Wasser gebracht worden waren. Diejenigen, welche auf der Luvseite ausgesetzt wurden, schwammen direkt nach Ascension zurück; die, die auf der Leeseite ins Wasser kamen, schwammen genauso zielstrebig nach Brasilien. Rätselhaft ist jedoch noch, wie nah sie bereits an der Insel sein müssen, um sich orientieren zu können. Nachdem die peinliche Hongkong-Frage gelöst ist, sollen auch die übrigen Kolonien einen anderen Status erhalten. Die Einwohner von Sankt Helena haben die Britische Staatsbürgerschaft erhalten, und ein spärlicher Fremdenverkehr hat in Ascension eingesetzt. Die Insel wird von der Welt in Besitz genommen werden und ihre Eigenschaft als »nicht-existenter Ort« verlieren. Ob das eine gute Nachricht ist, weiß ich nicht.
Anhang
Sankt Helena Sankt Helena ist etwas Besonderes: Sie ist zugleich eine der bekanntesten und unbekanntesten Inseln der Welt. Alle haben von Sankt Helena gehört, aber nur wenige wissen etwas von ihr, außer dass Napoleon dort in Verbannung lebte. Fast niemand ist je auf der Insel gewesen. »The best kept secret of the world«, wie man auf Sankt Helena sagt, das bestgehütete Geheimnis der Welt. Auch ich war nicht auf Sankt Helena, aber es ist fast so, als würde ich die Insel kennen. Sankt Helena, das dort unten alle seintilíne aussprechen, mit der Betonung auf der vorletzten Silbe, ist auf Ascension sehr präsent. Mehr als ein Drittel der Einwohner kommt von dort. Die Hafenarbeiter, die Polizisten, die Feuerwehrleute auf dem amerikanischen Stützpunkt, die Angestellten der verschiedenen Dienste, von den Geschäften bis zur Tankstelle, die Straßenwacht, die Angestellten der Telefongesellschaft, die Elektriker, die Köche der Kantine, in der wir essen gingen, die Dame, die zweimal in der Woche unsere Zimmer aufräumte, alle kamen sie aus Sankt Helena. Wenn Ascension schon entlegen ist, so gilt dies umso mehr für Sankt Helena. Die Insel hat keinen Flugplatz,
keinen wirklichen Hafen, sie wird regelmäßig nur von einem einzigen Schiff angelaufen, das sich ebenfalls »Sankt Helena« nennt und ein-, bestenfalls zweimal im Monat vorbeikommt. Das Schiff fährt die Route von Cardiff in England nach Kapstadt in Südafrika und zurück. Es macht in Teneriffa, Ascension, Sankt Helena und, einmal im Jahr, in Tristão da Cuña Station. Von Cardiff nach Sankt Helena braucht es etwa zwei Wochen, von Kapstadt aus fünf Tage. Die Insel ist nur etwas größer als Ascension – mit einer Fläche von 122 Quadratkilometern im Vergleich zu 98. Es gibt aber einen großen Unterschied: Sankt Helena befindet sich in gemäßigteren Breiten und verfügt über Wasser. Sie ist seit 1659 bewohnt, immer schon von den Engländern, bis auf ein sehr kurzes Intervall von einigen Jahren, als die Niederländer die Insel besetzt hielten. Unter den ersten Siedlern waren einige Londoner, die alle Habe im großen Feuer von London 1666 verloren hatten. Bevor der Suezkanal eröffnet wurde, kam der Insel – abgesehen von Napoleons Exil – als Station auf dem Weg nach Indien eine gewisse Bedeutung zu. Außerdem war sie der Sitz einer Leinenmanufaktur. Heute jedoch ist Sankt Helena fast vergessen. Gerade in den Tagen unserer Expedition war die Insel in die Schlagzeilen geraten. Auch einige italienische Journalisten widmeten ihr ein paar Artikel. Es gab einige Demonstrationen gegen den Gouverneur und einige Tumulte. Die Situation war »angespannt«. In den Nachrichten des Islander, der Sankt Helena immer einige Seiten widmet, klang die Lage weniger dramatisch: Zwei Mitglieder des Inselrates hatten ihren Rücktritt erklärt, der Gouverneur hatte Neuwahlen anberaumt und war in Urlaub nach England geflogen. Die Probleme, die dahinter steckten, be-
standen allerdings schon seit langem: die wirtschaftliche Situation und die Verweigerung der britischen Staatsbürgerschaft. Seit dem Zusammenbruch der letzten Ressource der Insel, der Flachsmonokultur für die Leinenproduktion, verfügt Sankt Helena nicht mehr über ein wirkliches Wirtschaftsleben. Man produziert ein bisschen Dosenthunfisch von sehr guter Qualität, der auch im Supermarkt von Ascension zu haben ist, und etwas Kaffee, der als sehr gut, aber auch als »der teuerste Kaffee der Welt« gilt. Im Übrigen lebt oder überlebt – Sankt Helena von staatlichen Subventionen. Das andere, ebenso brennende Problem besteht darin, dass die Heiligen nicht die britische Staatsbürgerschaft haben. Einst besaßen sie sie, aber 1981 wurde sie ihnen von der britischen Regierung aberkannt. Als Margaret Thatcher klar wurde, dass es die Chinesen ernst meinten und England auf Hongkong würde verzichten müssen, beschloss sie, den Einwohnern Hongkongs die britische Staatsbürgerschaft zu nehmen. Da sich dies nicht nur auf Hongkong beschränken ließ, weitete sie das entsprechende Gesetz, den Nationality Act, auf alle anderen Einwohner abhängiger Gebiete aus. Die Konsequenzen sind nicht unerheblich. Im Gegensatz zu den letzten französischen Ex-Kolonien, aus denen »überseeische Departements und Territorien« wurden – Neukaledonien, Martinique, Réunion, Tahiti und so weiter –, brauchen die Einwohner Sankt Helenas eine Aufenthaltsgenehmigung, um in England zu wohnen und zu arbeiten. Kurz vor der Übergabe Hongkongs an China war der Moment gekommen, das Problem wieder aufzuwerfen, »weil es sich bei den Sankthelenaern«, wie Reverend Ni-
cholas Turner aus Sankt Helena schrieb, »nicht um arme kleine Ureinwohner handelt, die Großbritannien ergeben sind. Sie sind Engländer, ebenso wie die Einwohner Englands. Engländer gemischter Ethnien: genauso wie im restlichen England.« Auf der Insel leben 5 500 Menschen, »Heilige« genannt. Die Europäer, Afrikaner, Inder, Chinesen und Polynesier – Seeleute, Schiffbrüchige, Siedler, befreite Sklaven, Garnisonssoldaten, Prostituierte, Kaufleute … –, die dort im Laufe der Jahrhunderte ankamen, vermischten sich, und es entstand eine heterogene Bevölkerung, in der die spezifischen Züge der einzelnen Ethnien die unvorhersehbarsten Mischungen eingehen. Es finden sich dort alle möglichen Farbabstufungen der Haut, die mit den unterschiedlichsten anderen Körpermerkmalen zusammengehen: Schwarze mit typisch weißen Zügen (gerade Nase und kleine Lippen) oder asiatischen Merkmalen (Mandelaugen), Weiße mit typisch negroiden Zügen (breite und platte Nase, große Lippen) und vieles mehr. Vom jungen schwarzen Polizisten mit den mandelförmigen, blauen Augen, der uns vom Flughafen abholte, habe ich schon berichtet. Der Ort, wo wir die Heiligen am nächsten kennen lernten, war ihre Kantine. Sie befand sich gegenüber dem Islander Hostel. Wir mussten nur über die Straße gehen, um das niedrige Gebäude zu erreichen, wo sie speisen. Floriano hatte sich unter anderem auch deshalb auf die Reise nach Ascension gefreut, weil er dort unten sicher jeden Tag Fisch zu essen bekäme. Nichts hätte ferner liegen können. Es gibt keine typisch englischere Küche als jene, die uns in Ascension angeboten wurde: Shepherd's Pie, Yorkshire Pudding, Kartoffelpfannekuchen, Kidney Pie, Banbury Cakes, das waren einige der Gerichte, die uns
vorgesetzt wurden. Und dann, als Alternative, ein Gericht mit einem unaussprechlichen Namen auf der Grundlage von Fleisch mit Curry: Rind-, Lamm-, Hühnerfleisch, Kartoffeln mit Curry, Worcestershire-Sauce, Tomatenketchup, Heidelbeermarmelade. Ich weiß, wo immer man auf der Welt hinkommt, findet man französische, italienische, chinesische, indische, arabische, japanische, spanische, vietnamesische, afghanische, deutsche, russische, türkische, ungarische, brasilianische und noch viele andere Restaurants. Dagegen ist es beinahe ausgeschlossen, außerhalb von England ein typisch englisches Restaurant zu finden. Nachdem ich einen Monat in Ascension war, erlaube ich mir die Bemerkung, dass die Angst davor unbegründet ist. Wir aßen gut am Tisch der Heiligen. Von den Heiligen lässt sich sagen, dass sie »päpstlicher als der Papst« sind: Ihre Loyalität zur Heimat und ihre Identifizierung mit dem Mutterland sind sehr ausgeprägt. Das zeigt sich außer an der Küche auch an der Kleidung, am bevorzugten Sport (Cricket) und an der Verehrung der königlichen Familie. In den Geschäften, den Amtsstuben und, wie man uns sagte, in jeder guten Stube der Insel hängt ein Bild der Königin. Typisch englisch sind schließlich auch die Gebräuche. Kurz vor unserer Abreise ging die »Sankt Helena« in Ascension vor Anker. Am Morgen, als ich zum Hafen ging, lag sie in der Bucht. Sie war in der Nacht angekommen und sollte am Nachmittag nach den Ein- und Ausschiffungen ablegen. Ein großer Lastkahn pendelte zum Schiff und zurück, an der Anlegestelle türmten sich Kisten, und ein imposanter roter Kran war auf dem Pier aufgebaut worden, der im Begriff stand, einen Lastwagen auf
den Kahn zu hieven. Fünf oder sechs Arbeiter im blauen Overall mit Handschuhen und Helm und ein Vorarbeiter beschäftigten sich mit dem Lastwagen, riefen sich laute Anweisungen und Warnungen zu, die zwischen ihnen und dem Kranführer oben in der Kabine hin und her gingen. Ein Polizist und einige Schaulustige sahen dabei zu, die übliche Gruppe von müßigen Ansässigen und der eine oder andere Reisende, der eben mit dem Schiff angekommen war und vor der Ausschiffung nach Sankt Helena stand. Plötzlich bleibt alles wie durch Zauberhand stehen, einschließlich des Lastwagens in der Luft. Der Kranführer steigt aus seiner Kabine herunter, die Arbeiter ziehen die Handschuhe aus und legen den Helm ab und der Polizist – es scheint geradezu, dass er nur deshalb da ist – geht auf einen Tisch zu, auf dem ein großer, zylinderförmiger Metallbehälter mit einem Hahn steht, und beginnt, allen Tee einzuschenken. Er bietet auch mir eine Tasse an. Einige Minuten trinken wir friedlich unseren Tee in der Sonne und im Morgenwind. Dann machen sich alle wieder ans Werk, und die Arbeit geht weiter. Ich blicke auf die Uhr: Es ist zehn nach elf.
Im Netz
Wir alle wissen, dass das Netz, das Internet, eine Art ständige Baustelle ist, wo unablässig neue Gebäudeteile und Anbauten errichtet werden, während an anderer Stelle abgerissen und neu gebaut wird. Es ist daher wahrscheinlich, dass einige der angegebenen Adressen in dem Moment, wo die Leser sie zu finden versuchen, nicht mehr vorhanden sind.
Kapitel I Eine der Websites mit den meisten Bildern von Ascension findet sich unter http://eclipse.span.ch/live.htm. Der Autor ist Olivier R. Staiger, ein leidenschaftlicher Fotograf von Himmelsphänomenen – Eklipsen, Sternbilder und so weiter –, der im April 1998 genau ein Jahr nach uns Ascension besuchte, weil dies der einzige Ort war, wo er ein seltenes Phänomen beobachten konnte, die gleichzeitige Eklipse von Venus und Jupiter durch den Mond. Wie ich nach der Fertigstellung des Buches entdeckte, kann man auf diesen Seiten eine virtuelle Parallelreise unternehmen. Am Anfang, auf http://eclipse.span.ch/20ap98.htm, beginnt man die Reise von Brize Norton aus.
Kapitel II Bilder vom Flughafen von Ascension finden sich unter http://eclipse. span.ch/21ap98.htm. Dieselbe Site bietet kurioserweise einen Blick aus dem Flugzeugfenster im Morgengrauen, so wie auf diesen Buchseiten beschrieben.
Die Windgeneratoren sind unter http://www.hr.doe.gov/energy100/ world/51.html zu betrachten.
Kapitel III Eine interessante Site, von der aus man mit einem Surf-Trip durch geografische Entdeckungen beginnen kann, ist http://www.win.tue.nl/ cs/fm/engels/discovery/. Von Martin Waldseemüllers Traktat Cosmographiae Introductio gibt es nur ganz wenige Exemplare auf der Welt. Ein Auszug findet sich im Netz: Die Seite, wo der Name Amerika vorgeschlagen wird, kann man sich auf der Site der Library of Congress, Washington, unter http://lcweb.loc.gov/rr/rarebook/guide/rao15001.jpg ansehen. Über die Weltkarte Universalis Cosmographia Secundum Ptholomei Traditionem Et Americi Vespucci Aliorum Lustrationes erfährt man einiges unter http://www.galaxymaps.com/AWAWM.HTM.
Kapitel IV Wer dem Verwalter von Ascension einen – virtuellen – Besuch abstatten möchte, wähle http://www.ascension-island.gov.ac/.
Kapitel V Was auf dem Pier von Ascension geschieht, kann man in »Echtzeit« auf der Website http://www.the-islander.org.ac/webcam/ begutachten. Die Seite ist mit einer Webcam auf dem Fensterbrett der Hafenmeisterei verbunden. Es handelt sich um eine automatische Telekamera, die Bilder aufzeichnet und automatisch von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends alle drei Minuten auf den neuesten Stand bringt.
Kapitel VI Interessante Sites über William Dampier sind: http://www.athen apub.com/damp1.htm und http://pacific.vita.org/pacific/dampier/ dampier.htm. Zur Verbindung zwischen den Erinnerungen von Alexander Selkirk und Daniel Defoes Robinson Crusoe vergleiche die Website http:// wy.essortment.com/alexanderselkir_rehj.htm. Im Hinblick auf die Geschichte der Insel-Phantasmen und der Legenden, die sich mit ihnen verbinden, weise ich hier ausnahmsweise auf eine »papierne« Quelle hin, das Buch Fata Morgana der Meere. Die verschwundenen Inseln des Atlantiks von Donald J. Johnson. Eine alte und mit einiger Fantasie gezeichnete Karte von Ascension – Vera effigies et delineatio Insulae Ascensio … – findet sich unter der Adresse http://www.telepath.com/bweaver/maps/linsch-ai.htm.
Kapitel VII Einige Fotos von Georgetown kann man sich auf einer der Websites von Barry Weaver ansehen: http://geowww.gcn.ou.edu/~bweaver/ Ascension/ai.htm. Ein Bild des Postgebäudes von Ascension findet sich unter http://www.ascension-island.gov.ac/postoffice.htm. Die Sammlung der jüngsten gestempelten Briefmarken ist unter http://www.ascension-island.gov.ac/cgi-bin/web_store/web_store.cgi zu betrachten. Wer sich für eine Stippvisite im Exiles Club interessiert, sei verwiesen auf http://eclipse.span.ch/24april98.htm.
Kapitel VIII Eine Darstellung der Ereignisse in den verschiedenen erdgeschichthchen Epochen findet sich unter http://www.enchantedlearning.com/ subjects/astronomy/planets/earth/Continents.shtml. Eine Karte der Ozeanrücken erscheint unter http://volcano.und. nodak.edu/vwdocs/vwlessons/volcano_types/spread.htm. Über die Vulkane von Ascension vergleiche http://geowww.gcn. ou.edu/~bweaver/Ascension/ai-geol.htm.
Zu Krakatau siehe http://volcano.und.nodak.edu/vwdocs/volc_ images/southeast_asia/indonesia/krakatau.html. Bilder des Ausbruchs des Pelée finden sich unter der Adresse http://volcano.und.nodak.edu/vwdocs/volc_images/img_mt_ pelee.html. Einige sehr schöne Fotos von Surtsey, begleitet von einem rein isländischen Text, kann man sich unter http://www.islandia.is/hamfarir/ jardfraedilegt/eldgos/surtsey.html ansehen. Eine andere Site über Surtsey ist: http://www.soest.hawaii.edu/ GG/ASK/surtsey.html. Über die junge Insel Lahtayikee im Archipel von Tonga vergleiche http://www.mclmk.1t/n/infoc1ty/archivio/scienzamar96.htm. Informationen über die Geschicke von Ferdinandea kann man unter http://www.geocities.com/Heartland/Acres/9369/isolaferdinandea. htm finden.
Kapitel IX Eine kurze Geschichte der Schildkrötenbecken von Ascension von der Hand des Verwalters ist verzeichnet unter http://www.the-islander. org.ac/1431.htm.
Kapitel X Typische Bilder der Vulkanlandschaft der Insel finden sich unter verschiedenen Adressen, zum Beispiel: http://eclipse.span.ch/22ap98later %2oin%2othe%20morning.htm; http://www.ascension-island.gov.ac/ virtualtour/crosshill/index.htm sowie unter http://www.websmith. demon.co.uk/ AscensionIsland/index.html#FIRSTIMP.
Kapitel XI Informationen und Bilder über die Ausbrüche in Montserrat: http://volcano.und.nodak.edu/vwdocs/current_volcs/montserrat/ montserrat.html sowie http://www.geo.mtu.edu/volcanoes/west. indies/soufriere/.
Aufnahmen von John Hobson, dem Zahnarzt von Ascension, und von Paddy, seinem Hund, finden sich unter http://eclipse.span.ch/ 25april98.htm.
Kapitel XII Über das staatliche britische Amt CSO (Composite Signals Organization) vergleiche die Website: http://www.fas.org/irp/world/uk/gchq/ index.html. Am Sonntagmorgen kann man via Webcam die Ankunft der Fischer erleben, sofern es keine Aus- oder Einschiffungen gibt. Häufig sieht man im Hintergrund den Tanker, und zwar unter http://www.the1slander.0rg.ac/webcam/.
Kapitel XIII Fotos von Schildkröten bei Nacht auf dem Strand von Long Beach finden sich auf der schon vertrauten Site von Olivier R. Staiger unter der Adresse http://eclipse.span.ch/april21evening.htm. Andere Sites über Meeresschildkröten sind http://www.seaturtle. org/ sowie http://www.turtles.org/.
Kapitel XIV Die »Annalen von Tristão da Cuña « kann man einsehen, aber nicht ausdrucken unter http://www.btinternet.com/~sa_sa/tristan_da_cunha/ tristan_annals.pdf.
Kapitel XV Über den amerikanischen Militärstützpunkt in Ascension vergleiche http://geowww.ou.edu/~bweaver/Ascension/usbase.htm.
Die Basis kann man besuchen unter http://eclipse.span.ch/24 april98.htm. Dort findet sich auch der Wegweiser in alle Himmelsrichtungen. Ein sehr aufschlussreiches Foto des geomagnetischen Observatoriums gibt es unter http://ub.nmh.ac.uk/ascension.html. Ein Bild von der Deep Space Station, Ascension Island, ist unter http://www.scouts.org.ac/nasa_site.htm zu sehen. Eine Aufnahme des Cricket Valley von Ascension steht unter http://www.heritage.org.ac/aria8b.htm.
Kapitel XVI Eine erschöpfende Site über die Evolution der Sc hildkröte n ist http://www.ucmp.berkeley.edu/anapsids/anapsidalh.html.
Kapitel XVII Heute kann man The Islander, die Zeitung von Ascension, im Netz lesen, und zwar unter http://www.the-islander.org.ac/.
Kapitel XVIII Ein Bild vom Friedhof Bonetta kann man unter der Adresse http://geo www.ou.edu/~bweaver/Ascension/comfort.htm anschauen. Lithografien der Insel sind auf der Website http://www.telepath. com/bweaver/allen/allen.htm zu finden. Sie stammen vom Leutnant zur See William Allen, der in jenen Jahren auf der Insel Dienst tat.
Kapitel XIX Den Text des Buches von Darwin kann man unter der Adresse http://www.literature.org/authors/darwin-charles/the-voyage-of-thebeagle//chapter21.html lesen.
Die Lebensgeschichte von Alfred Russel Wallace gibt es unter verschiedenen Adressen, darunter: http://www.wku.edu/~smithch/ index1.htm. Die Texte der Vorträge, die Darwin und Wallace gleichzeitig der Akademie der Wissenschaften präsentierten, findet man unter http://www.inform.umd.edu/PBIO/darwin/darwindex.html. Fotos der Vögel von Ascension bietet die Website http://geowww. gcn.ou.edu/~bweaver/Ascension/boatbird.htm.
Kapitel XX Sisters Peak, Two Boats und Broken Tooth sieht man, indem man http://geowww.gcn.ou.edu/~bweaver/Ascension/sisters.htmanwahlt. Den hässlichsten Golfplatz der Welt besucht man unter den Adressen http://www.heritage.0rg.ac/Ross4b.htm und http://eclipse.span.ch/ 22ap98later%20in%20the%20morning.htm. Auf einer anderen Seite derselben Website sieht man auch die Ariane-Beobachtungswarte: http://eclipse.span.ch/22ap98afternoon.htm.
Kapitel XXI Bilder der Schildkröten mit angebrachtem Sender zeigen http://ccc turtle.org/attach_perd.htm; http://www.kustem.edu.my/seatru/ und http://www.tamar.org.br/sat_fotos.htm. Wer sich für Studien der Satellitentelemetrie interessiert, kann unter http://www.argosinc.com nachschauen. Eine Website, die sich der Tierwanderung widmet, ist http:// www.argosinc.com/biology.htm.
Kapitel XXII Informationen über das Missile Impact Location System bietet die Seite http://www.pidc.org/hydrobox/NetworkInformation/Ascension/ summary.html.
Kapitel XXIII Über die Vegetation von Ascension findet sich etwas unter http:// eclipse.span.ch/22ap98afternoon.htm.
Kapitel XXIV Die Mesquitebäume kann man sich unter http://echpse.span. ch/22ap98afternoon.htm ansehen.
Kapitel XXV Zur Gründungsgeschichte von Cable & Wireless und zum Radiosender, der seit 100 Jahren auf der Insel in Betrieb ist, vergleiche die Website http://www.atlantis.co.ac/. Informationen über den »Zwischenfall der ›Laconia‹« finden sich bei http://uboat.net/ops/laconia.htm.
Kapitel XXVI Über das Projekt von Kaffeepflanzungen auf Ascension informiert die Site http://www.theeastindiacompany.com/coffee3.html.
Kapitel XXVII Die Geschichte des Falklandkriegs findet sich auf zahlreichen Websites, zum Beispiel: http://www.falklands-malvinas.com/chronolo.htm sowie http://www.yendor.com/vanished/falklands-war.html.
Kapitel XXVIII Zwei Websites, die an die Arbeit von Archie Carr erinnern, sind http://www.flmnh.ufl.edu/natsci/herpetology/turtcroclist/fore.htm und http://www.turtles.org/archie.htm. Eine Reihe von sehr schönen Unterwasserfotos von Suppenschildkröten in der Nähe von Ascension kann man unter http://www.sea turtle.org/mtrg/projects/ascension/undersea.shtml bewundern.
Kapitel XXIX Wer eine virtuelle Besteigung des Green Mountain machen möchte, sollte die Website http://eclipse.span.ch/upgreenmountain.htm und folgende besuchen. Dabei geht man auch durch den Tunnel.
Epilog Seit der Erstveröffentlichung dieses Buches hat sich die virtuelle und, in bescheidenem Maße, auch die tatsächliche Zugänglichkeit der Insel enorm erhöht. Das Internet ist auch in Ascension angekommen. Heute hat die Insel einen eigenen Regional-Code (ac). Zu den wichtigsten Websites der Insel gehört die des Verwaltungsamtes (http://www.ascensionisland.gov.ac/), die auch über die Modalitäten eines Besuchs auf der Insel informiert, der heute möglich, wenn auch nicht einfach ist (http:// www.ascension-island.gov.ac/visitors.htm). Zu nennen sind außerdem die Sites von Cable & Wireless (http://www.atlantis.co.ac/), der Ascemon Island Services (http://www.aiwsa.co.ac) und vor allem der Zeitung The Islander (http://www.the-islander.org.ac/). Die Websites mit den besten Links, von denen aus man die Insel erkunden kann, sind: http://www.atlantis.co.ac/ascension_links.htm sowie http://www.websmith.demon.co.uk/AscensionIsland/hnks.htm. Erinnert sei noch einmal an die Adressen zweier Besucher aus jüngster Zeit, die Berichte und viele Bilder der Insel ins Internet gestellt haben: http://www.websmith.demon.co.uk/AscensionIsland/index. html#FIRSTIMP sowie http://eclipse.span.ch/live.htm. Schließlich weise ich auf Adressen hin, unter denen man mit ande-
ren interessanten Personen chatten und sich über neueste Informationen auf dem Laufenden halten kann: http://www.ascension-island.gov.ac/visitorsbook.htm#visitors http://www.ascension-island.gov.ac/visitorsbook.htm#discussion
Anhang: Sankt Helena Einige interessante Websites zur »Erkundung« von Sankt Helena sind: http://geowww.ou.edu/~bweaver/Ascension/sh.htm und www.sthelena. se/. Über den Kaffee, der auf Sankt Helena angebaut wird, gibt die Site http://www.theeastindiacompany.com/coffee_introduction.html Aufschluss.
Literatur
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Carr, Archie, »The Ascension Island Green Turtle Colony«, in: Copeia, 1975, S. 547-555. Ders., The Sea Turtle. So Excellent a Fish, Austin (Texas) 1992. Clarke, F.J., »Ascension Island. An Engineering Victory«, in: National Geographic, Mai 1944, S. 623-640. Gallery of Photographs, Old Documents and Other Memorabilia, Katalog, Ascension Island Historical Society, Ascension Island 1985. Hart-Davis, Duff, Ascension. The Story of a South Atlantic Island, Garden City (New York) 1973. Johnson, Donald, S., Fata Morgana der Meere. Die verschwundenen Inseln des Atlantiks, München u.a. 1999. Keilor, J., Memoires of Ascension 1929-31, Newmarket (Suffolk) 1997. Luschi, Paolo u. a., »The Navigational Feats of Green Sea Turtle Migrating from Ascension Island Investigated by Satellite Telemetry«, in: Proceedings of the Royal Society London. B, Nr. 265, 1998, S. 2279-2284. Lutz, Peter L.; Musick, John (Hg.), The Biology of Sea Turtles, New York 1997. Marx, R., »Ascension Island«, in : Oceans, November 1975, S. 38-43. Mortimer, J.A.; Carr, Archie, »Reproduction and Migrations of the Ascension Island Green Turtles (Chelonia Mydas)«, in: Copeia, 1987, S.103-113. Packer, J.E., A Concise Guide to Ascension Island, Ascension Island 1968. Papi, Floriano; Mencacci, R., »The Green Turtles of Ascension Island.
A Paradigm of Long-Distance Navigational Ability«, in: Rend. Fis. Acc. Lincei, Reihe IX, Bd. 10, 1999, S. 109-119. Quammen, David, Der Gesang des Dodo. Eine Reise durch die Evolution der Inselwelten, München 1998. Stonehouse, Bernard, Wideawake Island. The Story of the B.O.U. Centenary Expedition to Ascension, London 1960. Winchester, Simon, Outposts. The Sun Never Sets. Travel to the Remaining Outposts of the British Empire, New York 1991. Young, Louise B., Islands. Portraits of Miniature Worlds, New York 1999.
Bildnachweise Die angegebenen Ziffern verweisen auf die Abbildungsnummern. Paolo Luschi 1, 4, 5, 8, 9 Sergio Ghione 2, 6, 7 Graeme Hays 3
Danksagung
Ich möchte an einige Menschen erinnern, denen ich meinen Dank schulde, vor allem an meine Töchter Anna und Silvia, die mich gezwungen haben, dieses Projekt zu Ende zu bringen, von dem ich ihnen unbedacht erzählt hatte, meinen Eltern, Gabriella und einigen Freunden, die die Geduld hatten, das Manuskript in Teilen oder ganz zu lesen und kostbare Ratschläge gaben (Paolo, Lauretta, Armando, Carol Enza, Marirosa, Mauro, Michael, Nayva, Nino, Ruth), Francesco Orlando, Armando Petrucci und Luigi Donato für die Ermutigung und Enrico Alleva für seine Unterstützung sowie Roberto Santacroce und vor allem Floriano Papi, Professoren in Disziplinen, in die ich Exkursionen bis an die Grenze der Verwegenheit unternommen habe, dafür, dass sie zahlreiche Fehler korrigierten. Für die verbliebenen bin ausschließlich ich selbst verantwortlich.