Alexandra Sokoloff
Die Inschrift
Roman
Aus dem Amerikanischen von Andrea Brandt
btb
Die amerikanische Originalau...
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Alexandra Sokoloff
Die Inschrift
Roman
Aus dem Amerikanischen von Andrea Brandt
btb
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2006 unter dem
Titel »The Harrowing« bei St. Martin’s Press, New York.
Verlagsgruppe Random House
FSC-DEU-0100
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2007
Copyright © der Originalausgabe 2006 by Alexandra Sokoloff
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007
by btb Verlag in der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung: Design Team München
Umschlagfoto: Getty-Images
Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin
Druck und Einband: Clausen & Bosse, Leck
SL • Herstellung: BB
Printed in Germany
ISBN 978-3-442-73634-8
www.btb-verlag.de
Für Robin Stone ist es das erste Semester am Baird College. Aber genießen kann sie ihr neues Studentenleben nicht, zu quälend sind die Gedanken an ihre psychisch labile Mutter, die sie nicht gehen lassen wollte, und den Vater, den sie kaum kennt. Auf dem Campus bleibt sie eine Außenseiterin. Als die anderen Studenten an Thanksgiving nach Hause fahren, bleibt Robin mit ihren dunklen Gedanken zurück. Doch in den alten Gemäuern von Mendenhall trifft sie abends auf vier weitere Studenten, die sich vor dem Kamin im weitläufigen Aufenthaltsraum versammelt haben. Als sie ein altes Hexenbrett entdecken, beginnen die fünf aus Spaß Verbindung mit dem Jenseits aufzunehmen und beschwören einen Geist herauf. Sie forschen nach und glauben in einem alten Jahrbuch einen Hinweis auf sein früheres Leben zu finden. Fast zu spät erkennen sie, dass die Existenz, die sie gerufen haben, zutiefst böse ist. Fieberhaft versuchen sie, der Gefahr Herr zu werden. Doch da hat sich das Dunkle bereits einen Weg in ihre Leben gebahnt…
PROLOG
Das Ehrenmal war tief in einem Eichenwäldchen im Herzen des Campus verborgen. Ein anmutiger Kreis aus Bäumen, dazwischen eine geschwungene Marmorbank. An diesem Spätnovembertag war es im Wäldchen dunkel und still, bis auf das Flüstern der Regentropfen. Sie fielen aus dem Blätterdach auf den verwitterten Marmor und zogen sich wie schwarze, tränengleiche Schlieren darüber hin. Brombeersträucher und Ranken waren über den Pfad gewuchert, hatten den Zugang zu dem Baumkreis abgeschnitten und damit die Bank der Vergessenheit anheimgegeben, ebenso wie die Studenten, deren Namen sie trug. Über den verrottenden Blättern auf der Sitzfläche waren sie in den Stein geritzt wie Namen in einem Grabstein. Fünf Namen, ein Datum und ein schlichtes: IN MEMORIAM Fünf tote Studenten, seit so langer Zeit. Was könnte es heute noch bedeuten?
KAPITEL 1
Es war, als regnete es seit einer Ewigkeit. Robin Stone saß in der obersten Reihe des Psychologiesaals und hatte es längst aufgegeben, der Vorlesung unter ihr zu lauschen. Sie kauerte auf ihrem Stuhl und starrte verträumt durch die Bogenfenster auf den strömenden Regen hinaus, blind für die Gewalt der Elemente, die da draußen tobten, obwohl alle paar Minuten der Wind das Gebäude so heftig erbeben ließ, dass die Fensterscheiben leise klirrten. Bei angenehmerem Wetter war Baird College ein Inbegriff ländlicher Idylle. Von Bäumen gesäumte Pfade führten an efeubewachsenen Backsteingebäuden vorbei, in der Ferne erstreckten sich Wiesen, dazwischen vereinzelte Bäume… eine unberührte Landschaft, noch unverdorben von der Zivilisation. Doch nun bogen sich die alten Eichen unter dem peitschenden Wind und den dichten Wolken, aus denen eisiger Regen auf den verwaisten Campus fiel. Das fahle Licht des Sturms ließ die einsame Lage des Anwesens unheimlich wirken. Das Gelände duckte sich unter dem heftigen Sturm wie eine Stadt in Erwartung der Belagerung. Die Kälte war in Robins Glieder gekrochen, und der Wind dröhnte ihr in den Ohren wie das hohle Rauschen des Ozeans. Der Vorlesungssaal war erfüllt von Professor Listers einschläfernder, fast hypnotischer Stimme mit dem schwachen deutschen Akzent. Er stand weit unter ihr auf seinem hölzernen Podium und dozierte über Freude. »Das Stadium des Schlafes beinhaltet ein Abwenden von der realen, nach außen orientierten Welt, was die notwendige Grundvoraussetzung für die Entwicklung einer Psychose
schafft. Die harmlose Traumpsychose ist das Ergebnis der Abwendung von der realen Welt, die bewusst herbeigeführt und nur vorübergehend…« Robins trübsinniges Spiegelbild blickte ihr aus der Fensterscheibe entgegen. Dunkle Augen, leicht verschwommene, elfengleiche Züge, umrahmt von einem dichten Schopf fast schwarzen Haars – beinahe hübsch, wäre da nicht eine Aura der Distanziertheit und der Vorsicht, so als wäre sie stets auf der Hut. Sie löste den Blick vom gläsernen Gespenst ihrer selbst und ließ ihn blinzelnd über das Meer aus Studenten auf den Holzbänken unter ihr schweifen. Sie rutschten unruhig auf ihren Stühlen herum und sahen immer wieder auf die Uhr über der Tafel. Mittwoch, kurz vor drei Uhr nachmittags. Am nächsten Tag war Thanksgiving, und alle warteten ungeduldig darauf, endlich in die Ferien aufzubrechen. Alle außer Robin. Das lange Wochenende tat sich vor ihr wie ein gähnender Abgrund auf. Thanksgiving. Erntedank. Dank wofür? Wenigstens war ihre Zimmergenossin nicht da. Vier Tage ohne Waverly, dachte sie mit einem Anflug von – nicht Freude, nein, keine derart positive Gefühlsregung, sondern eine Art Erleichterung, als hebe sich ein klein wenig das zentnerschwere Gewicht, das unablässig auf ihrer Brust zu liegen schien. Kein sinnloses Geplapper. Keine kornblumenblauen Augen, die sie ständig taxierten. Und auch sonst niemand, sagte Robin sich. Keine Menschenseele. Wieder erfasste sie Besorgnis, ein Gefühl namenloser Bekümmerung. Vier Tage im unheimlichen alten Mendenhall… ganz allein…
Die sanfte Stimme des Professors drang leise in ihren Hinterkopf. »Bei der Psychose wird das Abwenden von der Realität entweder dadurch ausgelöst, dass das verdrängte Unterbewusstsein so übermäßig erstarkt, dass es das Bewusstsein übertrumpft. Oder, weil die Realität zu einer so unerträglichen Qual geworden ist, dass sich das bedrohte Ego in einem Akt des verzweifelten Aufbegehrens in die Arme der unbewussten, instinktiven Kräfte wirft…« Erschrocken über das plötzliche Zusammenfließen ihrer Gedanken, blickte Robin zum Professor hinunter und notierte: »Die Realität ist zu einer so unerträglichen Qual geworden…« Sie hielt inne und begrub die Worte hektisch unter Gekritzel. Irgendwo in ihrer Nähe bewegte sich hastig scharrend ein Stift übers Papier. Robin wandte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Auf der anderen Seite des Gangs saß ein schlanker junger Mann mit Brille und machte sich Notizen, als hinge sein Leben davon ab. Vor ihm stand ein Minirecorder, der die Vorlesung aufzeichnete, für den unwahrscheinlichen Fall, dass ihm etwas entging. Robin hatte ihn schon mehrfach im Wohnheim gesehen; seine bleiche Haut mit den dunklen Ringen unter den Augen, die Schultern gebückt unter dem Gewicht eines vollgestopften Rucksacks, immer auf dem Weg vom oder zum Unterricht, wirr und zerstreut wie das weiße Kaninchen aus Alice im Wunderland. Er sah jünger als die anderen Studenten aus, aber zugleich auch älter. Wahrscheinlich hatte er eine oder zwei Klassen übersprungen und war ohne Umwege aufs College gekommen, angetrieben von seinen ehrgeizigen Eltern oder seinem eigenen inneren Dämon. Damit kannte Robin sich aus.
Sie musterte ihn eingehend und genoss die Erleichterung, ihre Aufmerksamkeit auf etwas richten zu können, das sich außerhalb ihrer selbst befand. Eine Kälte umgab ihn, eine instinktive Wachsamkeit, die sie augenblicklich als unglückliche Verzweiflung identifizierte. Seine Miene war stets ernst und gefasst. Sie verriet noch größere Anspannung und Qual als Robins, falls das überhaupt möglich war. Dennoch hatte er etwas Strahlendes an sich, fast etwas Heiliges. Eine asketische Intensität, die sie an einen Mönch erinnerte. Ihre Gedanken formten sich scheinbar losgelöst, wie aus weiter Ferne, lediglich durch die Beobachtung. Es kam ihr nicht in den Sinn, ihn anzusprechen oder zu lächeln oder sonst irgendwie mit ihm zu kommunizieren. Sie hatte den Eindruck, als befänden sie sich nicht auf demselben Planeten. Stattdessen betrachtete sie ihn wie durch Glas, so wie den Sturm draußen vor dem Fenster. Deshalb traf es sie aus heiterem Himmel, als sich der junge Mann ihr zuwandte und ihr in die Augen blickte. Erschrocken starrte sie zurück. Augenblicklich schoss dem jungen Mann die Röte ins Gesicht, und sein Blick heftete sich wieder auf den gelben Schreibblock vor ihm. Die Turmglocken über dem Campus läuteten einmal, um anzuzeigen, dass es noch fünfzehn Minuten bis zur vollen Stunde waren. Ein hohles Geräusch, das sich in Vibrationen über dem Gelände ausbreitete. Auf dem Podium unter Robin hielt der grauhaarige Professor inne und lauschte. Das Geräusch verebbte, und er wandte sich wieder den Vorlesungsteilnehmern zu. »Doch während Freud argumentierte, die Kräfte, die uns antreiben, kämen aus unserem Inneren, unserem eigenen Unterbewusstsein, vertrat sein Kollege und Weggefährte Jung
die Meinung, dass ein universelles Unterbewusstsein existiert, das von archaischen Kräften geprägt ist, die neben uns existieren, aber dennoch mit uns interagieren und Einfluss auf uns nehmen.« Wieder hielt er inne und blickte sich im Saal um. »Und wer hatte Recht? Kommen unsere Dämonen von außen oder aus unserem Inneren?« Mit einem angedeuteten Lächeln klappte er seine Mappe zu. »Und mit dieser schönen Frage machen wir für heute Schluss, da ich weiß, dass Sie alle aufbrechen wollen.« Alle Studenten erhoben sich und griffen erleichtert nach ihren Mänteln, Aktentaschen und Rucksäcken. Die Stimme des Professors erhob sich noch einmal über das Stimmengewirr. »Nächste Woche müssen Sie das Thema Ihrer Semesterarbeit mit mir abstimmen, also vereinbaren Sie bitte einen Termin per E-Mail. Schöne Feiertage.« Robin schlug ihr Notizbuch zu und stand auf. Sie fühlte sich, als tauche sie aus dem Wasser nach oben, wenn auch nur ein paar Meter. Die Oberfläche schien sich noch immer weit über ihr zu befinden.
Im Strom mit den anderen Studenten trat sie durch die hölzernen Doppeltüren des Psychologieseminars. Die Kälte riss sie abrupt aus ihrer schläfrigen Benommenheit. Sie blieb auf den breiten Marmorstufen vor dem Gebäude stehen und ließ den Blick über das Gelände schweifen. Regentropfen platschten ihr ins Gesicht und liefen in den Kragen ihres unförmigen Wollmantels. In der Ferne schlug die Glocke vibrierend dreimal zur vollen Stunde. Ein Klang, der Freiheit verhieß – und Unheil. Jetzt fängt es also an, schoss es Robin in den Sinn… obwohl sie keine Ahnung hatte, was das bedeutete.
Von hinten schoben sich Kommilitonen an ihr vorbei und zwangen sie, die Treppe hinunterzugehen. Sie kramte ihren Schirm aus dem Rucksack, spannte ihn auf und ließ sich vom Strom der Studenten mitreißen, die über den Vorplatz strebten, der mit unebenen Steinplatten ausgelegt war. Sie sah keinen an, sprach mit keinem. Niemand sah sie an. Sie hätte ebenso gut ein Gespenst sein können. In den zwei Monaten, die sie in Baird war, hatte sie keine einzige Freundschaft geschlossen. Dabei war sie keineswegs ein Monster. Mit ihren feinen, blassen Zügen und dem dichten dunklen Haar hatte sie eine undurchsichtige, faszinierende Düsterkeit, etwas beinahe Elementares an sich. Nein, sie war nicht hässlich, sondern einfach unsichtbar. Sie war so lange im Nebel der Dunkelheit gefangen gewesen, dass sich ihr Körpergefühl aufgelöst zu haben schien. Sie ging weiter. Der Regen strömte über die gotischen Bögen und neoklassizistischen Säulen um sie herum, rauschte flüsternd durch den Baldachin aus Eichenzweigen über ihr. Jeder andere, jeder normale Mensch hätte angesichts der Zeitlosigkeit dieser Architektur melancholische Freude empfunden. Alle möglichen Abenteuer konnten unter einer Steinbrücke, unter einem uralten Bogengang warten. Eigentlich müsste es sie überglücklich machen, hier sein zu dürfen. Mit einer – hier musste sie der Wahrheit ins Auge blicken – verrückten Mutter, die schon in ihren besten Phasen mit richtig eingestellten Medikamenten kaum fähig war, einen Aushilfsjob zu behalten, wäre für Robin ein College wie Baird niemals infrage gekommen. Selbst bei ihren guten Noten und den für die Aufnahme wichtigen Ergänzungskursen, die sie sich aufgehalst hatte, in der Hoffnung, durch die angesammelten Zusatzpunkte ein Stipendium zu bekommen und damit die Gelegenheit auszubrechen…
Sie hatte zwar kein Stipendium erhalten, dafür aber war ein Wunder geschehen. Ihrem Vater, den sie nur als Unterzeichner der monatlichen Unterhaltsschecks kannte, war es gelungen, einen College-Aufenthalt für sie zu ergattern – ein Vollstipendium an seiner Alma Mater. Er hatte ein paar Beziehungen spielen lassen, einen Gefallen von einem alten Kommilitonen eingefordert, und schon war Robin aufgenommen – war sie frei, gerettet. Natürlich hatte das Ganze nichts mit Liebe zu tun. Robin wusste, dass das Geld eine Buße dafür war, dass er seine unzulängliche Tochter bei ihrer ebenso unzulänglichen Mutter zurückgelassen hatte. Wer wäre da nicht schon lange abgehauen… nur ich konnte das nicht, stimmt’s, Daddy? Inzwischen hatte er eine neue Familie, eine perfekte goldblonde Ehefrau mit zwei perfekten goldblonden Kindern. Eine Stimme meldete sich in ihrem Kopf. Er hat dich weggeworfen. Abserviert. Aussortiert. Du bist nichts. Ein Niemand. Sie keuchte, drohte für einen Augenblick an ihrem vulkanartig aufsteigenden Zorn zu ersticken. Dann drängte sie ihn ins Dunkle zurück. Als sein Brief gekommen war, hatte ihre Mutter tagelang getobt und geweint. Robin schenkte ihrer Hysterie keine Beachtung, sondern löste eiskalt den Scheck ein und packte ihre Sachen. Nimm sein Geld und sieh zu, dass du hier wegkommst, verdammt noch mal. Aber wohin? Das College war völlig in Ordnung – sie war diejenige, mit der etwas nicht stimmte. Sie hatte eine tödliche Bedrücktheit an sich, ein gähnend schwarzes Loch im Innersten, das die Menschen abstieß. Sie witterten ihre Düsternis, ihren bitteren Neid. Sie war Mom entkommen, sich selbst jedoch nicht. Sie war immer noch da.
Vier Tage lang mit sich allein. Und wenn sie anfing, Stimmen im großen, dunklen Wohnheim zu hören? Nun. In diesem Fall blieb ihr immer noch die Flasche Valium aus Waverlys unterster Schublade. Mehr als genug, um allem ein Ende zu bereiten. Der Gedanke verhieß ihr eisigen Trost, als sie durch den Wind weiterging.
KAPITEL 2
Der Exodus hatte bereits eingesetzt. In unablässigem Strom traten die Studenten mit prall gefüllten Taschen durch die Eingangstür von Mendenhall und gingen die Treppe hinunter. Robin kam den aufgeweichten Pfad herauf und wich mit ausdrucksloser Miene den Heimbewohnern aus. In der geschwungenen Auffahrt, die Mendenhall von den anderen Wohnheimen am westlichen Campusrand trennte, stiegen sie in die Wagen und Zubringerbusse zum Flughafen. Mendenhall Residence Hall, manchmal »M-Hall« oder gar »Zuhause« genannt, war eine umfunktionierte Villa, ein weitläufiges Mischmasch aus Türmchen, Baikonen, Feuertreppen und Giebeldächern unter einem dichten Baldachin aus Eichenblättern. Einst hatte das Haus als viktorianische Studentenverbindungsunterkunft gedient, bis im Jahr 1932 auch Frauen der Zugang auf dem Campus gewährt wurde. Es sah aus, als hätte seitdem irgendein verrückter Architekt einen Flügel aus jeder erdenklichen architektonischen Stilrichtung angefügt. Bei grauem Himmel wie an diesem Tag verströmte es dieselbe unheimliche GotikAtmosphäre wie alles, was Hawthorne und Poe jemals aus den fiebrigen Tiefen ihrer Fantasie heraufbeschwörten. Robin ging die Stufen hinauf, vorbei an den mit Seesäcken und Trolleys bepackten Studenten, die einander umarmten und sich verabschiedeten. Ihre Frotzeleien und Abschiedsgrüße schienen wie aus weiter Ferne herüberzudringen, kaum hörbar. Für sie, die Normalen, war es so einfach: Ferien, Freunde, Liebe… sie schäumten fast über vor Leben, vor Begeisterung. Ein Licht, in dessen Hitze sie beinahe verglühte.
Sie schob die dunkle Wolke des Neids beiseite. Durch die aus drei Bögen bestehende Eingangstür trat sie in eine dunkle Halle mit einer Reihe verschließbarer Postfächer. Sie zögerte. Automatisch wanderte ihre Hand in die Tasche, um nach den Schlüsseln zu kramen, während sich eine Stimme in ihrem Kopf über sie lustig machte. Weshalb der Aufwand? Du weißt doch, dass es sowieso leer ist. Spar dir die Zeit und geh nach oben. Sie zog die Schlüssel hervor, steckte den kleinsten ins Schlüsselloch und öffnete das Türchen. Leer. Siehst du? Nichts. Du bist nichts. Robin schloss die Briefkastentür und brachte damit die Stimme in ihrem Kopf zum Schweigen. Die Tür führte in eine baufällige Halle, die zwar die Aura von Größe verströmte, in Wahrheit aber völlig nutzlos war. Hochlehnige Bänke wie in der Kirche säumten die holzvertäfelten Wände. Auf der anderen Seite des mit längst abgetretenem Parkett ausgelegten Raumes war eine geschwungene Treppe, die in die beiden oberen Stockwerke führte. Dort befanden sich die großen Studentenzimmer mit rautenförmigen Panoramafenstern und in die Wände eingelassenen Fensterbänken. An diesem Tag fühlte sich der zweistöckige Raum noch größer an als sonst, geradezu unheimlich. Robin blieb im Türrahmen stehen und sah nach oben. Ihr war nie aufgefallen, dass die hohen Fenster oben an der Galerie wie Augen aussahen, die sie beobachteten. Hör auf damit, ermahnte sie sich. Du bleibst übers Wochenende hier, und dich deswegen verrückt zu machen, ist das Letzte, was du dir jetzt erlauben kannst. Sie ging über den kahlen Holzboden zur Treppe und erklomm sie steifbeinig vor Kälte. Die breiten Stufen aus abgetretenem
glänzendem Holz, auf denen zur Sicherheit ein Teppichläufer lag, fühlten sich unter ihren Füßen ein wenig schwammig an, als gäben sie mit den Jahren unter dem ständigen Getrampel der etwa sechzig Bewohner allmählich nach. Robins Nasenlöcher blähten sich, als ihr der vertraute Geruch von Mendenhall in die Nase stieg – ein alter Geruch, leicht muffig und von Übelkeit erregender Süße; diverse Aromen aus verstaubten Teppichen und feuchtem Holz, die mit Waschmittel, dem Geruch von Haschisch, schalem Bier und Parfumspuren wetteiferten. Und natürlich lag Sex in der Luft. Immer Sex. Im ersten Stock bog sie nach rechts ab und ging über den Treppenabsatz bis zu einem geschlossenen Stiegenhaus, das ins zweite Stockwerk führte. Sie blieb im Dunkeln stehen, als sie eine Bewegung rechts neben sich registrierte… Ein Kerl mit wirrem Haar und Nickelbrille schob sich an ihr vorbei, über die Schulter einen Seesack geschwungen. »Tschuldigung«, murmelte er, ohne sie anzusehen. Robin ging die letzten Stufen hinauf, ohne darauf zu reagieren. Ihr Zimmer befand sich im zweiten Stock des Mädchenflügels. Die Trennung nach Geschlechtern wurde nicht kontrolliert, so dass die Studenten zu jeder Tages- und Nachtzeit in den beiden Trakten anzutreffen waren. Und jeder außer der Verwaltung wusste, dass der Heimleiter mit seiner Freundin drei Blocks entfernt zusammenlebte. Sie trat durch die geöffnete Korridortür und wurde von Musik empfangen, die mit ohrenbetäubender Kakophonie die Ferien einläutete: Eminem, Green Day, die Sex Pistols und eine Sopranarie aus der Hochzeit des Figaro. Robin durchquerte den mit Teppich ausgelegten Flur, vorbei an den geöffneten Türen links und rechts. Dahinter waren Mädchen zu sehen, die Kleider und Bücher in Reisetaschen
und Rucksäcken verstauten, mit der collegetypischen Missachtung der Privatsphäre zwischen den Zimmern hin und her liefen und einander fröhliche Abschiedsgrüße zuriefen. Als sie an einem der Zimmer vorbeikam, brach darin ein Grüppchen in schallendes Gelächter aus. Robin versteifte sich. Lachten sie über sie? Über ihren formlosen Mantel mit den löchrigen Taschen oder über ihre abgetragenen Schuhe? Nein, niemand beachtete sie. Sie sahen sie nicht einmal. Ihre Schritte wurden langsamer, als sie sich ihrem Zimmer näherte. Die Tür war geschlossen, doch der Knoten in ihren Eigenweiden verriet ihr, dass Waverly drinnen war. Soll ich woanders hingehen und warten, bis sie weg ist? Sie zögerte. Überlegte. Ach was, sie ist ohnehin bald weg. Zögernd streckte sie die Hand nach dem Türknauf aus.
Robins Zimmergenossin packte die Hälfte ihres Kleiderschranks in die Louis-Vuitton-Tasche auf ihrem makellos gemachten Bett. Zum Glück war sie viel zu beschäftigt, über Handy ihre Reisepläne und Instruktionen für ihre Abholung durchzugeben, um Robin mehr als einen kurzen Seitenblick zuzuwerfen. Robin trat in die hintere Ecke auf ihrer Seite des Zimmers, zog ihre nassen Sachen aus und hob einen langen Pulli vom Boden auf, den sie zu ihren Leggins überstreifte. Sie kehrte ihrer Zimmergenossin den Rücken zu, die hektisch zwischen dem Schrank und ihrer Tasche hin und her lief, als wäre sie allein im Zimmer. Waverly Bell war eine Schönheit. Abgesehen davon hatte sie keine Eigenschaften, die für sie einnahmen. Sie musste eine Strafe für irgendeine schreckliche Missetat in einem früheren Leben Robins sein. Waverly war eine arrogante, zickige
Südstaatenschönheit mit Kleidergröße 36, der es gelang, den ganzen Raum und dessen Sauerstoffvorrat für sich in Anspruch zu nehmen, was auch immer sie gerade tat. Waverly war ihrem Freund, der ein Football-Stipendium bekommen hatte, aus der Gegend um Charleston hierher gefolgt. Sie wirkte wie ein Fisch, der aus dem Wasser geholt und in den kalten Osten des Landes verfrachtet worden war, und hasste jeden um sie herum mit finsterer, glühender Leidenschaft. Dieses Mädchen gehörte eindeutig in eine Studentenverbindung. Tatsächlich hatte sie bis Anfang des Jahres ihren festen Platz im Haus von Tri Delt, der renommiertesten Verbindung auf dem Campus. Doch während der Frühjahrsferien gab es irgendeinen Vorfall mit ihrem Freund, woraufhin man sie hinausgeworfen hatte. Ebenso wie ihr Freund von seinen Verbindungsbrüdern vor die Tür gesetzt worden war. Waverly war fuchsteufelswild darüber, vom griechischen Edelzirkel in die Niederungen der verbindungsunabhängigen Quartiere verfrachtet worden zu sein. Sie hatte heftig gegen ihre Verbannung protestiert und ließ ihren tiefen Fall an Robin, der niederen Bürgerlichen, aus, indem sie sich in jeder erdenklichen Weise unerträglich benahm. Robins einziger Trost war die Tatsache, dass ihre Existenz ein ebenso großes Ärgernis für Waverly war wie umgekehrt. Robin hängte ihren verhassten Mantel zum Trocknen über die Heizung, nahm ihr Ancient-Worlds-Buch aus dem Rucksack und setzte sich mit dem Rücken zu Waverly aufs Fensterbrett. Das Zimmer selbst war fantastisch – Buntglasfenster, eine gemütliche Fensterbank und die halbhohe Mahagonivertäfelung. Doch die Einrichtung symbolisierte das reinste Schlachtfeld mit klar gezogener Grenze. Waverlys Zimmerhälfte verströmte überladene, verspielte Weiblichkeit:
Laura-Ashley-Bettwäsche und Kristallkinkerlitzchen, dazwischen verschiedene Plüschtiere und ein gerahmtes Foto ihres Freundes auf der Kommode. Robins Hälfte war dunkel, kryptisch und kunstvoll: schwarze Bettwäsche und altgediente surrealistische Poster an den Wänden, die geschmolzenen Dali-Uhren als trotziges Aufbegehren gegen Waverlys kleine Martha-Stewart-Welt. Endlich beendete Waverly das Telefonat mit irgendeinem Mitglied ihrer Verwandtschaft und wandte sich wieder ihrer Reisetasche zu. Robin beugte sich über ihr Buch. Sie hatte nicht die Absicht zu lernen, tat aber so, als lese sie, um Waverly zu ärgern. Es funktionierte. Waverly beobachtete Robin argwöhnisch, schier wahnsinnig vor Zorn angesichts Robins stoischer Weigerung, ihre Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Die Stille zwischen ihnen war förmlich mit Händen zu greifen. Schließlich konnte Waverly sich nicht länger beherrschen. »Fährst du nicht nach Hause?« Robin blätterte die Seite um, ohne aufzusehen. »Nein.« »Du bleibst hier? Ganz allein?« Robin hob die Augen. »Sieht ganz so aus.« Waverly kniff die Augen zusammen. »Du fährst nie weg«, stellte sie mit noch gedehnterer Stimme als gewöhnlich fest. »Ich muss wunderlich sein oder so was«, erwiderte Robin tonlos. »Oder so was«, schnaubte Waverly. Die Tür ging auf, und ein hochgewachsenes, breitschultriges Mannsbild erschien im Türrahmen. Der Freund. Robin versteifte sich auf dem Fensterbrett, als sie mit jeder Faser ihres Körpers seine Anwesenheit registrierte. Wenn Waverly ein schwarzes Loch war, musste man Patrick O’Connor als Sonne bezeichnen. Groß, blond und voller
Leben. Robin spürte, wie ihre Laune sich hob und die Hoffnung zurückkehrte. Er kam mit seinem Seesack über der Schulter in den Raum getaumelt. »Das Taxi ist da«, verkündete er vorwurfsvoll in Waverlys Richtung mit einem Südstaatenakzent, der so vollmundig klang wie Butter. »Fertig?« Waverly packte weiter Kleider in ihre Reisetasche, die sie verdammt noch mal unmöglich alle in diesen vier freien Tagen würde anziehen können. »Es wird schon warten«, blaffte sie zurück. Robin starrte auf ihr Buch und tobte innerlich. Warum Waverly? Immer bekamen die Strahlenden, die Dummen alles, was sie wollten. Es war erbärmlich – das typische Südstaatendrama, das sich hier abzeichnete. Star-Quarterback vögelt HighschoolSchönheit das wenige Gehirn aus dem Schädel, das sie besitzt. Highschool-Schönheit spekuliert auf Hochzeit, während der hormongebeutelte Quarterback jedes andere Mädchen anmacht, das in seine Reichweite kommt. Wie zum Beweis ließ Patrick in diesem Moment seine Hand über die Linie von Waverlys Hintern wandern, während diese sich über ihre Reisetasche beugte. Sie schob ihn beiseite. Unbeirrt schob er seine Hand in ihr Haar und bog ihren Kopf nach hinten, um sie zu küssen. Er drückte seinen Mund auf ihre Lippen, ehe er die Hand abwärts wandern ließ, um ihren Hals zu liebkosen. Robins Kiefer spannte sich an. Trotzdem tat sie, als bekäme sie es nicht mit. Erbärmlich. Noch erbärmlicher war die Tatsache, dass sie wider jede Logik und besseres Wissen eine schier übermächtige Lust nach ihm empfand. Es war dumm, ein Klischee, lächerlich – doch Patrick war der einzige Mensch auf dem College, der ihr Beachtung schenkte, der sie anlächelte, wenn er sie sah, so als
wäre sie nicht irreparabel beschädigt. Er war zu jedem nett, so viel stand fest, ganz besonders dann, wenn er etwas wollte. Doch zumindest hatte Robin das Gefühl zu existieren, wenn er da war. Zumindest sah er sie. Er sah sie. Sie hatte oft zugehört, wenn die beiden miteinander geschlafen hatten, während sie nicht gewusst oder sich nicht darum geschert hatten, dass sie wach war. In diesen Momenten hatte sie sich ausgemalt, sie wäre die Frau unter ihm, sein Mund wandere über ihre Kehle, seine Hände hielten sie unten, seine Hitze erfüllte die ihre… Sie kehrte in die Gegenwart zurück, als Patrick Waverly losließ und sich grinsend Robin zuwandte. Warm und strahlend. »Hey, Rob. Ich konnte mich heute früh einfach nicht überwinden aufzustehen. Hab ich in Geschichte was verpasst?« Ein direkter Blick, unwiderstehlich. Robin legte den Finger auf die Seite und schloss das Buch. »Außer der Zwischenprüfung nächsten Freitag?«, fragte sie mit ruhiger Stimme. Patrick verzog in gespielter Bestürzung das Gesicht. »Vergiss es. Ich werde mit Pauken und Trompeten durchrasseln.« Seine Stimme wurde tief und schmeichelnd. »Es sei denn, ich kriege deine Aufzeichnungen.« Der Carolina-Akzent aus Waverlys Mund klang wie das Geräusch von Fingernägeln auf einer Schiefertafel, während er bei Patrick ein unterschwelliges Necken war, voller Wärme und Verheißung. Robin spürte, wie ihre Knie weich wurden, doch sie legte ihr Buch beiseite, stand auf und ging an ihm vorbei zu ihrem Schreibtisch. Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen. Er trat neben sie (so dicht!), als sie in einem Spiralblock zu blättern anfing. Ihr Magen zog sich vor Sehnsucht zusammen, sobald sie die Hitze seines Körpers spürte. Sie riss die Notizen der letzten vier Unterrichtsstunden über die Entstehung von Mythen heraus und drehte sich eilig mit
den Blättern in der Hand um, damit er nicht sehen konnte, dass sie zitterte. »Das sind die Unterlagen der letzten zwei Wochen. Du hast dich eine Weile nicht mehr blicken lassen.« Er sah ihr in die Augen, und ihr Atem stockte. »Du hast meinen Arsch gerettet. Ich schulde dir was.« »Bist du damit fertig, meine Zimmergenossin anzumachen?«, durchschnitt Waverlys schrille Stimme die Luft. Patrick zwinkerte Robin zu, wandte sich um und schnappte Waverlys Reisetasche, dann seinen Seesack, ehe er einen Arm um ihre Taille legte und sie sich wie ein Feuerwehrmann über die Schulter. Waverly trommelte auf seinen Rücken ein und begann zu kreischen. »Lass mich runter, du Arschloch!« Patrick beachtete sie nicht, sondern trug sie hinaus. »Bis dann, Rob. Schönen Truthahntag!«, rief er fröhlich. Robin hörte, wie Waverly eine wüste Flut an Flüchen ausstieß, während ihre Stimme auf dem Korridor verhallte. Sie trat die Tür hinter ihnen zu und stand reglos im schwindenden Licht des Tages da.
KAPITEL 3
Um fünf Uhr war das Wohnheim wie leergefegt, unheimlich leer, und die Räume wirkten dunkel und still wie Gräber. Robin hatte gedacht, sie würde wenigstens ein leises Gefühl der Erleichterung spüren, wenn Waverly fort wäre, doch stattdessen beschlich sie Angst, die in Panik umzuschlagen drohte. Ohne die Anwesenheit von mindestens einem Dutzend weiterer Studenten hatte sie das Wohnheim noch nie erlebt. So verlassen wirkte es viel größer als sonst, mit seinen drei Stockwerken und den zweieinhalb Flügeln voller gewundener Korridore. Ohne die vertrauten Gesichter war es nicht einfach, sich zurechtzufinden. All die Fluchten sahen so verwirrend gleich aus, wenn die Türen geschlossen waren. Und Robin war nicht klar gewesen, dass sich die Lebensfreude ihrer Mitstudenten so spürbar auf das Gebäude übertrug und wie anders es sich jetzt anfühlen würde. Selbst wenn sie sich in ihrem Zimmer aufhielt, hatte ihr Unterbewusstsein die Anwesenheit der Kommilitonen wahrgenommen. Doch nun war Mendenhall verwaist wie eine leere Muschelschale. Ohne Menschen schien das Wohnheim auch seine Isolierung gegen die Außenwelt einzubüßen. Der Wind griff mit eisigen Fingern durch die Ritzen in den Mauern und drang durch die Holzdielen. Der Regen hatte wieder eingesetzt, prasselte erbarmungslos und mit neuerlich auffrischendem Wind vom Himmel. Die Fenster klapperten wie Knochen, und das ganze
Gebäude schien sich in seinem Fundament zu biegen und zu ächzen. Außerdem war Robin mittlerweile aufgegangen, dass sich das Gemeinschaftsbad am Ende des langen Korridors befand. Das bedeutete, dass sie mitten in der Nacht würde aufstehen und ihr Zimmer verlassen müssen. Jederzeit konnte irgendjemand einem einsamen Mädchen auflauern, das dumm genug war, über die Feiertage nicht nach Hause zu fahren. Niemand würde sie hören, wenn sie schrie und schrie… Hör auf, befahl sie sich. Geh endlich raus, statt dich wie eine Idiotin zu benehmen. Sie öffnete die Tür und spähte auf den dunklen Korridor hinaus mit all seinen verschlossenen, stillen Zimmern. Sie holte tief Luft und schlug den Weg zum Badezimmer ein. Beim Eintreten blieb sie abrupt stehen und unterdrückte einen erschrockenen Schrei. Jemand war hier. Ein schlankes Mädchen mit einer wilden, wahrscheinlich gefärbten blonden Mähne beugte sich über eines der Waschbecken unter dem langen horizontalen Spiegel. Mit angespanntem Mund zeichnete sie ihre bereits geschwärzten Lider mit Kajalstift nach. Ihre zerrissene Spitzenbluse und der kurze Rock enthüllten ein raffiniertes Nabelpiercing und einige provokant platzierte Tattoos. Ein rotes Garn zierte mit mehreren Knoten und ausgefransten Enden ihr Handgelenk. Irgendein L.A.-Schnickschnack. Kein Zweifel, sie roch förmlich nach Kalifornien. Das Zimmer des Mädchens – Robin glaubte, dass sie Lisa hieß – lag gegenüber ihrem eigenen. Ihre Blässe und das ständige Gähnen ließen auf regelmäßigen Drogenkonsum schließen, doch in ihren Augen lag dieses faszinierende »Ihr könnt mich alle mal«-Funkeln. In den ersten beiden Monaten des Semesters hatte Robin zahlreiche Jungs zu allen Tages
und Nachtzeiten bei ihr ein- und ausgehen sehen. Es waren praktisch nie zweimal dieselben hintereinander. Lisa warf Robin einen Blick im Spiegel zu. »Ich finde die Feiertage geil…«, erklärte sie gedehnt. Wieder spürte Robin die schwärende Wunde des Neids auf die lodernde Lebendigkeit des Mädchens, diesmal jedoch in Verbindung mit etwas anderem – dem sehnsüchtigen, ungewohnten Impuls, sie zu berühren. Sie blieb neben den Spinden stehen und nahm all ihren Mut zusammen, sie zu fragen, ob sie ebenfalls hierbleibe, als sie eine Stimme hinter sich hörte. »Kommst du jetzt, oder was?« Robin drehte sich um. Ein mürrisch dreinblickender junger Mann in einer Lederjacke und mit gefärbtem schwarzem Haar lehnte im Türrahmen. Auf Lisas Gesicht erschien der Anflug eines zweideutigen Lächelns. Sie steckte sich den Kajalstift hinters Ohr und schlenderte mit wiegenden Hüften an Robin vorbei. Sie verströmte eine lässige, vielleicht auch leicht angetörnte Sinnlichkeit, als sie mit dem Jungen in Richtung Treppenhaus verschwand. Lange Zeit starrte Robin ihr Spiegelbild an. Dunkles Haar, dunkle Augen, dunkle Kleider… dunkel, dunkel, dunkel im harten Licht der surrenden Neonlampen über ihr. Hinter der gefliesten Trennwand tropfte Wasser aus einer Dusche. Sie streckte die Hand aus und legte sie auf den Spiegel, um ihr Gesicht nicht länger ansehen zu müssen.
KAPITEL 4
Der Wind tastete sich draußen am Gebäude entlang… suchte nach einer Möglichkeit einzudringen, bat flüsternd um Einlass. Robin ging den dunklen Korridor entlang… vorbei an geschlossenen Türen… unbeirrt in Richtung einer Tür am Ende des Ganges, unter der Licht hervordrang… Das Flüstern war überall um sie herum, wurde immer lauter, als sie näher kam… lauter… lauter… Die Tür sprang auf, aus den Angeln herausgerissen, während sich ein Sturm wild umherwirbelnder Energie Bahn brach, ein wütendes Heulen, das immer weiter vorwärtstrieb… Mit hämmerndem Herzen wachte Robin im düsteren grauen Licht auf. Die Fensterläden schlugen rhythmisch gegen die Fenster. Der Wind stöhnte, während eisige Regentropfen erbarmungslos herunterprasselten. Sie lag reglos da, in ihrem Bett vergraben, mitgenommen von ihrem Traum, von den Bildern umherwirbelnder Gegenstände. Sie war über Jungs Definitionen der Archetypen eingeschlafen und spürte das Gewicht des Buches neben sich. Das hatte das Umherwirbeln der Gegenstände in ihrem Unterbewusstsein ausgelöst. Sie griff nach dem Buch und betrachtete die fragliche Seite. Der Archetypus ist eine nicht darstellbare, präexistente Form, die Teil der angeborenen Struktur der Psyche zu sein scheint. Deshalb kann sie sich spontan überall und zu jeder Zeit manifestieren…
Robin war sich nicht sicher, ob sie den Grundgedanken richtig verstand, doch das Ganze hatte etwas höchst Besorgniserregendes an sich. Eine präexistente Form, die sich spontan überall und zu jeder Zeit manifestieren kann? Das war definitiv nicht das, was sie an diesem Wochenende hören wollte. Ehrlich gesagt ging ihr bislang alles an Jung auf die Nerven… ein Mann, der seine psychologischen Studien in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts aufgenommen hatte, indem er an Seancen teilnahm, was zwar cool sein mochte, aber bestimmt nicht dem entsprach, was sie sich von ihrem Collegestudium erwartet hatte. Schaudernd sah sie aus dem Fenster, wo der Wind die Bäume erzittern ließ. Ihr Magen gab ein fast komisches Grollen von sich, und ihr wurde bewusst, dass sie einen Bärenhunger hatte. Betrübt starrte sie in den Sturm hinaus. Sie hatte nicht an Lebensmittel gedacht, daran, dass der Sturm zu heftig werden könnte, um den Weg zu einem Supermarkt oder in die Campus-Kneipe anzutreten, die, wie ihr schlagartig bewusst wurde, über die Feiertage ebenfalls geschlossen war. Im Geiste ging sie die Vorräte in ihrem Schrank durch. Sie sahen so trübe aus wie der Tag: Eine Schachtel Kekse, einige Päckchen Trinkschokolade und ein paar Becher Instantnudelsuppe, der besten Freundin jedes Studenten – alles wenig verlockend. Waverly aß – selbstredend – niemals etwas, doch Robin wusste, dass sie für Notfälle eine Flasche Jack Daniels hinter der Tagesdecke im obersten Regal ihres Schranks versteckte. Damit spülte sie die schicken Designer-Schmerzmittel hinunter, die sie zweifellos von ihrer ebenso blonden, ebenso zierlichen und ebenso schrillen Mutter gestohlen hatte.
Robins einzige Hoffnung auf etwas Essbares barg der Gang in den ersten Stock in den Waschraum, wo ein Cola- und Süßigkeitenautomat stand. Außerdem ließen sich in der kleinen Küche bestimmt ein Kaffee und irgendwelche Reste eines Kommilitonen auftreiben. Doch das bedeutete, dass sie hinaus auf den Korridor gehen musste. Sie blieb so lange wie möglich unter der Decke liegen, klammerte sich an die Wärme, bis sie der Koffeinmangel hochscheuchte. Wahllos zog sie etwas über, einen Rock über ihre wollenen Leggings und eine ausgebeultes Oberteil über den Rollkragenpullover, alles in Schwarz. Knarrend öffnete sich die Tür zum Korridor, ehe sie vorsichtig nach draußen trat. Es war düster im Flur, da alle anderen Zimmertüren geschlossen waren, unheimlich, ihrem Traum viel zu ähnlich. Sie spähte zum Ende des Flurs… wo sich natürlich nur die Wand befand, keine Tür, durch deren Ritze ein Lichtstrahl hervordrang. Unbehaglich stand sie im Türrahmen und lauschte auf ein Geräusch. Doch es war nur der Wind, der am Haus vorbeiheulte. Ein Fetzen von Listers Vorlesung hatte sich in ihrem Hinterkopf festgesetzt: »…vertrat Jung die Meinung, dass ein universelles Unterbewusstsein existiert. Es ist von uralten Kräften bevölkert, die neben uns existieren, aber dennoch mit uns interagieren und Einfluss auf uns nehmen.« Sie zog die Tür hinter sich zu. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund wollte sie die Stille nicht durchbrechen oder jemandes Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wovor hast du Angst? Vor Archetypen?, neckte sie sich. Das zeugt wirklich von enormer Reife.
Sie hastete über den Flurteppich und ging so schnell sie konnte die stockdunklen Stufen hinunter. Das erste Stockwerk war genauso verlassen wie ihr eigenes, ein langer dunkler Schlauch mit verschlossenen Türen. Blaues Licht drang aus der offenen Tür der Waschküche. Robin schluckte und ging weiter. Sie streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus und sah dankbar zu, wie die fluoreszierenden Neonlampen knisternd über ihr zum Leben erwachten. Die Waschmaschinen standen wie schweigende Würfel vor ihr, die Trockner wie dunkle, dem Fenster zugewandte Augen. Sie ging an den Maschinen vorbei zum erleuchteten ColaAutomaten, ein fröhlicher roter Fleck mitten im Einheitschrom. Sie griff in ihre Rocktasche und schob ein paar Vierteldollarmünzen in den Schlitz, bis eine Dose mit blechernem Poltern in den Schacht fiel. Das Geräusch ließ sie vor Nervosität zusammenzucken. Hinter ihr ertönte ein Zischen, als hole jemand scharf Atem. Robin wirbelte herum, schnappte nach Luft – und starrte auf den Generator, der hinter ihr angesprungen war. Sie rannte den ganzen Weg zurück zu ihrem Zimmer, schlug die Tür hinter sich zu und lehnte sich bebend dagegen, während sie sich schalt. Sie fragte sich, wie sie die nächsten drei Tage überstehen sollte.
Der Anruf kam kurz nach Mittag, genau zum erwarteten Zeitpunkt. Als sie abhob, war es ihre Mutter, betrunken. Natürlich. Robin roch fast den schalen, süßlichen Whiskeygeruch durch die Leitung. Es war die richtige Zeit für sie, obwohl für Mom im Grunde immer die richtige Zeit war.
Bei ihrem letzten Anruf, als Mom nicht zu daneben war, um ein halbwegs vernünftiges Gespräch zu führen, hatte Robin ihr in aller Ausführlichkeit erklärt, dass sie über Thanksgiving im College bleiben würde. Damals schien es ihre Mutter begriffen zu haben. Doch in der Zwischenzeit musste bei ihr etwas auf der Strecke geblieben sein. Ihre Mutter hatte offenbar nicht realisiert, dass Robin nicht nach Hause kommen würde, denn nun befand sie sich an der Schwelle zur Hysterie. Robin versuchte, sie zu beschwichtigen. »Ich habe es dir doch gesagt, Mom. Ich kann nicht weg. Ich habe nächste Woche eine wichtige Prüfung. Fast alle bleiben hier. Wir organisieren ein großes Abendessen…« Sie zuckte zusammen und hielt sich den Hörer ein Stück vom Ohr weg, als lallendes Gezeter aus der Sprechmuschel drang. Sie ließ sich aufs Fensterbrett sinken und blickte auf einen einsamen Studenten hinunter, der mit gesenktem Kopf im strömenden Regen die Straße überquerte. Das Jammern und Betteln schlug in Beschimpfungen um, gefolgt von Weinkrämpfen. Robin presste die Stirn gegen die Fensterscheibe. Die Worte waren völlig unwichtig. Sie hatte sie schon so oft gehört. Es war ein undurchsichtiger, unverständlicher Wust, eine Flut aus Chaos und Verwirrung. Inzwischen schrie ihre Mutter – ihr Vater, immer wieder ging es um ihren Vater. »Du bist genau wie er. Ein verlogenes, egoistisches Miststück…« »Ich muss auflegen, Mom«, stieß Robin erstickt hervor. »Waverly braucht das Telefon. Ich muss Schluss machen.« Sie legte auf und trat vom Telefon weg, schwankend, an der Grenze zur Übelkeit. Augenblicklich läutete es wieder. Sie warf sich auf den Boden, tauchte unter den Schreibtisch und tastete nach dem
Telefonstecker in der Wand. Sie zog ihn heraus, worauf das Telefon in Schweigen verfiel. Robin hockte auf den Knien da, die Arme um den Oberkörper geschlungen, und spürte, wie die Energie ihrer Mutter sie mitriss wie ein Whirlpool ohne Boden, wie der Strudel sie immer weiter nach unten zog. Es war nicht die Ähnlichkeit mit ihrem Vater, vor der sie sich fürchtete. Sondern davor, wo sie herkam. Wer sie war – gebrochen, unzulänglich, auf fatale Weise anormal. Kein Wunder, dass sich niemand gern in ihrer Nähe aufhielt. Sie war die Schwärze, das Nichts. Der Abgrund.
Mittlerweile war es stockdunkel. Draußen prasselte noch immer der Regen, und die Bäume bebten im Wind. Mendenhall befand sich in seiner ganz eigenen Art der Agonie, ungerührt von dem einsamen menschlichen Wesen, das es beherbergte. Doch etwas in den dunklen Korridoren beugte sich vor und lauschte… Robin hatte sich auf dem Fensterbrett in ihrem Zimmer zusammengerollt, die Arme fest um die Knie geschlungen, und wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt. Die Schwärze hatte sich wieder über sie gelegt, ließ keinen Raum für etwas anderes. Viel später hob sie den Kopf und holte zitternd Luft. Ihre Brust schmerzte vom Weinen, doch mit einem Mal fühlte sie sich völlig ruhig. Erschöpft, aber ruhig. Sie stand auf, wischte sich die Augen mit einem überlangen Ärmel ihres Pullovers ab und wankte auf unsicheren Beinen zu Waverlys Schreibtisch. Sie kniete auf den braunen Teppich und zog die unterste Schublade auf, schob Sweatshirts und
winzige, pastellfarbige T-Shirts beiseite – und fand das Fläschchen mit Valium. Sie schüttelte es. Mehr als genug. Und mit einem Mal war ihr alles klar.
KAPITEL 5
Die breite Haupttreppe führte in die undurchsichtige Schwärze des Erdgeschosses, lediglich erhellt von vereinzelten roten Notausgang-Schildern. Robin stand mit Waverlys Flasche Jack Daniels in der einen und dem Tablettenfläschchen in der anderen am oberen Treppenabsatz und starrte in den Abgrund. Sie hatte das Fläschchen in ihrem Zimmer geöffnet, sogar die erste Tablette geschluckt und mit einem Schuss Whiskey hinuntergespült – und war sich augenblicklich darüber im Klaren gewesen, dass sie unter keinen Umständen zulassen würde, dass Waverly diejenige war, die sie fand. Sie hörte direkt ihre schrillen Schreie, die völlig übertriebene Hysterie. Im Aufenthaltsraum hingegen konnte sie ihr Schicksal in die weitaus freundlicheren Hände des erstbesten Fremden legen, der aus den Ferien zurückkam. Sie schwankte leicht, prallte gegen das Geländer, obwohl sie sich nicht im Mindesten betrunken, sondern lediglich etwas verträumt fühlte. Nun, da der Entschluss gefasst war, erschien alles so einfach, so unkompliziert. Nicht dass sie nicht schon früher darüber nachgedacht hätte, aber der Gedanke war nicht dasselbe wie der Entschluss. Eine Entscheidung bedeutete Freiheit. Sie machte sich auf den Weg nach unten. Der glänzende Boden im Erdgeschoss reflektierte die dunkelroten Lichter und gab ihr das Gefühl, als stiege sie in einen See hinab. Sie fühlte sich sogar ein klein wenig, als bewegte sie sich im Wasser, wie in Trance. Ein keineswegs unangenehmes Gefühl, sondern eher so, als besäße man keinen
Körper. Ein fernes Dröhnen drang an ihre Ohren, wie ein Vakuum, wie das Meer. Hinunter, immer weiter hinunter. Das Dröhnen wurde klarer, ein Flüstern wie von einer Million sich überlappender Stimmen. Sie war nicht allein, bemerkte sie nun mit kristallener Klarheit. Doch der Gedanke war nicht beängstigend, ganz und gar nicht. Sie riefen sie, die Stimmen… Sie hießen sie willkommen, luden sie ein… Sie trat von der letzten Stufe und wurde in die Realität zurückkatapultiert, als ihr Fuß den Boden berührte. Er war fest, unnachgiebig. Und die Stimmen waren verschwunden. Einen Moment lang stand sie da, ehe sie über die roten Lichtkegel hinweg durch die Eingangshalle ging, auf den Torbogen des Aufenthaltsraumes zu. Es war ein langer, tiefer Raum von verblassender viktorianischer Eleganz; einst ein eleganter Salon, diente er inzwischen als Wohnzimmer für die Allgemeinheit. Robin blieb im Türrahmen stehen und spürte, wie ihr die Schwere der Zeit entgegenströmte. Der Raum wirkte wie eine Bühne, die auf Schauspieler wartete. Er war mit dunkler Walnussvertäfelung und hohen Bogenfenstern ausgestattet. Am einen Ende standen vor einer Wand mit eingebauten Regalen eine Reihe Holztische, in denen sich die Studenten seit Jahrzehnten mit ihren Schnitzereien verewigten. Auf der anderen Seite waren einige ramponierte, durchgesessene Sofas vor einem üppig verzierten Kamin gruppiert. Auf diese Weise war der Raum in einen Lern- und einen Fernsehteil untergliedert. Von der stuckverzierten Decke hing ein verstaubter Kronleuchter, während ein halb blinder Spiegel über dem Kamin verzerrte Schatten reflektierte. In den Ecken verströmten ein paar Lampen, hässliche Dinger mit goldlackierten Putzsockeln, ein schwaches Licht – wie Nachtlampen, die verhindern sollten, dass betrunkene
Studenten bei ihrem Eintreffen über die eigenen Füße stolperten. Mit unsicheren Schritten durchquerte Robin den Raum, wobei ihre Schuhe tief im zerschlissenen, pflaumenblauen Teppich mit dem Rosenmuster versanken. Der Salon kam ihr riesig vor, die Wände wie ferne Schemen. Schließlich gelangte sie auf die andere Seite und ließ sich vor dem Kamin in einen der üppig gepolsterten Sessel sinken. Er schien sie zu verschlucken, sie in eine behagliche Lähmung verfallen zu lassen. Draußen prasselte noch immer der Regen, die Nacht schimmerte blau durch die Bogenfenster herein. Robin starrte in die düsteren Tiefen des leeren Kamins, schraubte die Flasche Jack Daniels auf und nahm einen großen Schluck. Der Whiskey schoss durch ihren Körper wie bernsteinfarbenes Feuer, einheftiges, prickelndes Brennen. Sie blinzelte die Tränen zurück und nahm noch einen Schluck. Ihr Körper fühlte sich zunehmend schwer an, als sie noch tiefer in den Sessel sank. Verträumt drehte sie ihre Hand, um das Fläschchen mit den Tabletten zu betrachten, die trocken in dem orangefarbenen Behältnis klapperten. Ein gutes Dutzend. Freiheit. Robin nahm noch einen Schluck Whiskey. Das Interieur verschwamm vor ihren Augen, begann sich zu drehen. Durch den behaglichen Nebel hindurch registrierte sie eine Aura gespannter Vorfreude des Raumes selbst, eine Art Neugier. Der Raum schien sie zu erwarten, schien förmlich den Atem anzuhalten. Das ferne Dröhnen drang wieder an ihre Ohren… wie das Rauschen in einer Muschel. Robin stellte die Flasche neben den Sessel und machte sich an dem Deckel des Tablettenfläschchens zu schaffen, der mit einer Kindersicherung versehen war. Sie hatte große Mühe, ihn
aufzuschrauben, ehe sie endlich den gesamten Inhalt in ihre Handfläche schütteln konnte. Sie holte tief Luft, setzte sich auf und beugte sich über die Tabletten. Eine Verszeile trieb in ihr Bewusstsein, das Fragment eines Liebesgedichts aus ihrem Ancient-WorldsBuch: »Ich liebe, ich brenne, die Liebe ist es, was ich verlange, und nicht Geringeres vermag das Feuer in mir zu löschen…« Sie schluckte gegen den Schmerz in ihrer Kehle an und hob die Hand. Im hinteren Teil des Raumes hustete jemand. Robin fuhr aus ihrem Sessel hoch und wirbelte herum. In der Dunkelheit des lang gestreckten Raumes erkannte sie einen schlanken, bleichen jungen Mann, der über einem Stapel Bücher brütete. Der Schock ernüchterte sie schlagartig. Durch den Schleier ihrer Verwirrung erkannte sie das Gesicht: Das weiße Kaninchen aus ihrem Psychologiekurs. Ein Name kam ihr in den Sinn, von dem ihr nicht bewusst gewesen war, dass sie ihn kannte: Martin. Ihre Hand schloss sich um das Tablettenfläschchen und wanderte hinter ihren Rücken. »Ich dachte… außer mir wäre niemand hier.« Martin sah sie wortlos an. Hatte er mitbekommen, was sie plante?, fragte sie sich errötend. Hatte er – bei dem Gedanken wurde ihr Gesicht purpurrot – absichtlich gehustet? Um sie zu warnen, sie innehalten zu lassen? Das diffuse Licht einer Straßenlaterne vor dem Haus spiegelte sich in seinen Brillengläsern, so dass sie seinen Blick nicht genau deuten konnte. Verzweifelt bemüht, das Schweigen zwischen ihnen zu brechen, durchforstete sie ihr Gehirn nach etwas, das sie sagen könnte. Ihr Blick fiel auf die Bücher, die vor ihm aufgestapelt waren und deren Titel sie erkannte. Totem und Tabu. Psychoanalyse und Okkultismus.
Traum und Telepathie. Alles von Freud. Alles Bücher, die über das obligatorische Lernpensum hinausgingen. Sieht so aus, als wäre er tief in der Materie drin. Sie suchte nach Worten, um die Situation normaler wirken zu lassen, wählte ihre Worte mit Bedacht, bemühte sich, nicht zu nuscheln. »Ist das für Psychologie eins achtundzwanzig? Ich habe dich in der Vorlesung gesehen.« Seine bleichen Augen hinter den Brillengläsern waren auf sie gerichtet. »Verhalten oder Entwicklung?« Sie blinzelte, ehe ihr der Sinn seiner Frage aufging. »Oh, es ist nicht mein Hauptfach. Ich war einfach nur… da.« Martin musterte sie ausdruckslos, ehe er sich ohne weiteren Kommentar wieder seinen Büchern zuwandte. Robin stand da, mit dem Gefühl, abserviert worden zu sein. Sie kehrte ihm den Rücken, löste die Finger um das Fläschchen und ließ die mittlerweile warmen Tabletten wieder hineinfallen. Dann schraubte sie den Deckel darauf und schob das Fläschchen mit einem Anflug von Erleichterung in ihre Rocktasche. Sie sah wieder zu Martin hinüber. Er beugte sich über den im Schatten liegenden Tisch, in seine Lektüre versunken. Am liebsten wäre sie geflohen, doch die Tür schien zu weit weg zu sein, und sie traute ihren Beinen nicht. Verloren sah sie sich im Raum um, als ihr Blick auf den dunklen Kamin fiel. Ein Feuer. Das könnte ich machen. Sie stützte sich mit einer Hand auf der Armlehne ab und ging vor dem verrußten Steinkamin in die Knie. Vorsichtig nahm sie ein paar Holzscheite aus dem Korb und häufte sie auf dem Kaminbock auf. Verstohlen warf sie einen Blick zu Martin hinüber. Er schien sie völlig vergessen zu haben. Wieder mal unsichtbar, dachte sie trübselig. Die Vergessene.
Ihre traumartige, schläfrige Melancholie war zurückgekehrt, doch die Scheite aufzustapeln und Zeitungspapier dazwischenzuschieben, hielt sie wach. Sie setzte sich auf die Fersen zurück und suchte auf dem Kaminsims und im Holzkorb nach Streichhölzern. »Versuch’s mal damit«, sagte eine Stimme dicht neben ihrem Ohr. Robin fuhr vor Schreck nach vorn. Ein hagerer, junger Mann ruhte auf einem durchgesessenen Kunstledersofa von der Größe eines Kahns, eine Ausgabe des Rolling Stone aufgeschlagen auf seiner Brust. Er sah sie mit kühlen grauen Augen an und reichte ihr ein Feuerzeug, ohne sich aufzusetzen. Robin ließ den Atem entweichen. »Oh Gott, ich habe dich gar nicht bemerkt.« Seine Miene war ausdruckslos. »Du hast nicht nach mir gesehen.« Robin zwang sich, ihm das Feuerzeug aus der Hand zu nehmen, und hielt es mit zitternden Fingern an die Ecken des Zeitungspapiers. Zu ihrer Erleichterung fingen die Blätter sofort gehorsam Feuer, das sich rasch ausbreitete. Sie zwang sich, möglichst normal zu wirken, und wandte sich dem jungen Mann zu, um ihm das Feuerzeug zurückzugeben. Er hielt es in der Hand, zog ein zerknittertes Päckchen Zigaretten aus seiner Hemdtasche und bot Robin mit einer knappen, wortlosen Geste eine davon an. Sie schüttelte den Kopf. Er zündete die Zigarette an und inhalierte. Mittlerweile schien er jedes Interesse an ihr verloren zu haben, wie eine Tür, die abrupt geschlossen wurde. Robin wandte sich wieder dem Feuer zu und betrachtete die sich ausbreitenden Flammen. Ihre angenehme benebelte Schläfrigkeit, die Präsenz, wenn nicht sogar stumme Zustimmung des Hauses, die sie vorhin noch empfunden hatte,
war verflogen. Die Gegenwart dieser beiden Fremden erfüllte sie mit einem Gefühl des Unbehagens, des Argwohns und leiser Beschämung. Es hatte sich herausgestellt, dass ihr stiller, höhlengleicher Zufluchtsort auch von anderen Menschen benutzt wurde, und nun musste sie so tun, als wäre sie nicht hergekommen, um… Ihr Bewusstsein zuckte vor dem Gedanken zurück, obwohl sie noch immer das Tablettenfläschchen an ihrem Oberschenkel spürte. Vorsichtig spähte sie auf die Whiskeyflasche, die zum Glück hinter dem Sofa verborgen war. Sie glaubte nicht, dass einer der beiden sie bemerkt hatte. Andererseits kümmerte es die beiden Jungs ohnehin nicht. Verstohlen warf sie einen Blick auf den Kerl auf dem Sofa. Geistesabwesend starrte er ins Leere, versunken in seiner eigenen Welt. Er sieht wie ein Musiker aus, dachte sie und gelangte zu dem Entschluss, dass es an seinen Händen lag, mehr noch als an den langen Gliedmaßen, dem zerzausten Haar und dem Rolling Stone auf seiner Brust. Seine Hände waren lebendig und zugleich vorsichtig – präzise und anmutig im Umgang mit der Zigarette. Dabei wirkten sie riesig, fast als hätten sie die falsche Größe für seinen drahtigen Körperbau. Als sie den Blick von seinen Händen löste, merkte sie, dass er sie beobachtete. Augenblicklich schoss ihr die Röte ins Gesicht, während er sie noch immer mit ernster Miene betrachtete. Doch bevor einer von ihnen etwas sagen konnte – falls es überhaupt so weit gekommen wäre –, drang eine kräftige, vertraute Stimme von der Tür herüber. »Hallo, ihr Waisenkinder. Fröhlichen Truthahntag!« Robin drehte sich um und stieß einen erstickten Schrei aus, als sie Patrick in einem dunkelgrünen Sweatshirt und Jogginghosen hereinkommen sah. Er zog einen großen Bierkühler auf quietschenden Rädern hinter sich her.
Ihr Herz erwachte mit einem Satz zum Leben, Hoffnung keimte in ihr auf. Der junge Mann auf der Couch schüttelte leicht den Kopf und wandte sich wieder seiner Zeitschrift zu. Im hinteren Teil des Raumes beugte Martin sich noch ein wenig tiefer über seine Bücher. Leicht schwankend steuerte Patrick auf den großen alten Fernseher zu. »Mögen die Spiele beginnen.« Endlich bemerkte er Robin, die auf dem Boden kniete, und blieb stehen. Ein eigentümlicher Ausdruck flackerte auf seinem Gesicht auf, als wäre er ebenso überrascht über ihren Anblick wie umgekehrt. »Hey, Robin. Auch hiergeblieben, was?« Offenbar hat er ein schlechtes Gewissen, dachte Robin beim Gedanken an seinen Seesack und an das Aufheben, das er um seine Abreise mit Waverly gemacht hatte. Sie soll nicht wissen, dass er hiergeblieben ist. Patrick stellte den Bierkühler ab und nahm eine eisgekühlte schlanke Flasche heraus, die er Robin mit einer galanten Geste reichte. »Trink aus«, befahl er. »Ich hab einen ziemlich großen Vorsprung.« Vorsichtig schüttelte Robin das Eiswasser von der Flasche und öffnete sie mit dem Zipfel ihres Pulloverärmels. In ihrer Verlegenheit trank sie zu hastig, doch das Bier wärmte sie augenblicklich. Sie ließ sich mit dem Rücken gegen die Armlehne sinken und stellte überrascht fest, dass ihre düsteren Gedanken verflogen waren. Das Feuer verströmte eine glühende Hitze, und die Atmosphäre war erfüllt von Männlichkeit und zahllosen Möglichkeiten. Patrick fand die Fernbedienung auf dem Fernseher und schaltete ihn ein, woraufhin dröhnender Lärm den Raum erfüllte. Verärgert hob Martin den Kopf.
Augenblicklich wandte Patrick sich ihm zu. Der hat auch hinten Augen im Kopf, dachte Robin – eine Beobachtung, die sie nicht zum ersten Mal machte. »Wir stören dich doch nicht, oder, Chef?«, fragte er freundlich, obwohl jeder wusste, dass ihnen nun das obligatorische Footballspiel bevorstand. Martin ignorierte ihn und beugte sich im gelben Schein der Tischlampe noch ein Stück weiter über seine Bücher. Die alte Feindschaft – Streber gegen Sportler, dachte Robin, nahm einen weiteren Schluck aus ihrer Bierflasche und verzog beim Geschmack der Hefe das Gesicht. Patrick wandte sich an den jungen Mann auf der Couch. »Nebraska gegen Alabama. Irgendwelche Tipps?« Er zwinkerte Robin zu, die prompt erneut rot wurde. Der junge Mann auf dem Sofa löste kaum den Blick von seiner Zeitschrift. »Unentschieden.« Wieder fielen Robin seine Hände auf. Patrick musterte ihn eingehender, schien ihn erst jetzt wirklich zu bemerken. »Du spielst in McConlands Band, stimmt’s?« Der junge Mann blickte über den Rand seiner Zeitschrift hinweg. »Nein. Er spielt in meiner«, gab er mit tonloser Stimme zurück. Patrick grinste unbeschwert. »Wie auch immer, Kumpel.« Er zog eine weitere Flasche aus dem Eis und warf sie in Richtung Couch. Der junge Mann fing sie routiniert mit einer Hand auf. Robin war durchaus klar, dass es sich bei dem Gespräch um einen Test handelte, irgendeine Art maskulines Gerangel, eine animalische Mutprobe, und stellte fest, dass sie froh war, dass der sehnige junge Mann auf dem Sofa bestanden hatte. Patrick wedelte mit einer Flasche in Martins Richtung. »Wie sieht’s mit dir da hinten aus, Freund? Hoch die Tassen?«
Martin stieß einen demonstrativen Seufzer aus, ohne von seinem Buch aufzusehen. Patrick ließ sich in einen tiefen Sessel sinken, der ihm eine ungehinderte Sicht auf den Fernseher bot. Dann schaute er Robin auf dem Boden vor dem Kamin an und beugte sich zu ihr hinunter. Der Geruch nach Bier und seinem Aftershave stieg ihr in die Nase, und seine unvermittelte Nähe ließ sie schwindeln. »Waverly braucht nichts davon zu erfahren, verstehst du? Ich… hatte einfach keine Lust, nach Hause zu fahren.« In seinen blauen Augen lag ein ernster, fast flehender Ausdruck. Robin spürte ein tiefes Verständnis und den heftigen Drang in sich aufkeimen, ihn zu beschützen. Natürlich verstand sie. Er wollte ebenso wenig nach Hause fahren wie sie. Sie erwiderte seinen Blick und erkannte, dass er es wusste. Ein warmes Gefühl der Intimität brandete zwischen ihnen auf, geheim und vertrauenerweckend. Diese unvermittelte Verbundenheit machte sie leicht schwindlig. Doch der Moment wurde jäh zerstört, durch eine von der Tür herüberdringende Frauenstimme. »So, so, was haben wir denn hier? Die Insel der verlorenen Seelen?« Widerstrebend wandte Robin sich um. Das Mädchen aus dem Badezimmer – Lisa – stand lässig gegen den Türrahmen gelehnt, eine übertrieben sinnliche Pose, unterstützt durch den knappen, zerrissenen Pullover, der jede Menge Haut über ihrem kurzen Rock entblößte. Durch den Nebel aus Valium und Bier registrierte Robin, dass es sie nicht überraschte, sie zu sehen. Von dem Augenblick im Badezimmer an hatte sie aus irgendeinem Grund gewusst, dass sie hier sein würde. Lisa stieß sich vom Türrahmen ab und kam gähnend und mit Waschbäraugen in den Raum geschlendert. Sie beugte sich über Patricks Sessel und deutete auf ein Bier. »Machst du mir eins auf?«
Patrick öffnete den Verschluss einer Flasche und reichte sie ihr mit einem lässigen Grinsen. Lisa berührte seine Hand und ließ die Finger einen Moment lang verharren. Robins Blick verdüsterte sich bei diesem Anblick, und ihre Brust wurde eng. Ihr dämmerte, dass sie keinerlei Chance hatte, die Aufmerksamkeit von irgendjemandem auf sich zu ziehen, solange sich dieses Mädchen im selben Raum aufhielt. Wieder einmal fühlte sie sich wie ausgelöscht, verbannt in den Zustand der Unsichtbarkeit. Verzweifelt sah sie zu, wie Lisa sich von Patrick ab- und dem jungen Mann auf dem braunen Sofa zuwandte und ihn demonstrativ musterte. Mit ausdrucksloser Miene erwiderte er ihren Blick. »Hast du eine Zigarette?«, fragte sie. Der junge Mann warf ihr das Päckchen zu. »Können wir sonst noch was für dich tun?«, erkundigte sich Patrick amüsiert. Lisa lächelte geheimnisvoll mit der Zigarette im Mund. Ihre silbernen Armreifen klirrten, als sie die Hände um das Feuerzeug legte, und das rote Bändchen baumelte an ihrem Handgelenk. Sie stieß eine Rauchwolke aus und zupfte sich ein Stück Tabak von der Unterlippe, während sie Patrick in die Augen sah. »Ich werd’s dich wissen lassen, keine Sorge.« Sie warf das Zigarettenpäckchen dem jungen Mann zu, ehe sie mit einer Lässigkeit durch den Raum schlenderte, von der Robin annahm, dass sie von irgendwelchen Drogen herrührte. Zunächst musterte sie Martin, wobei ihr Blick zuerst über ihn, dann über die Titel der Bücher vor ihm glitt. Robin beobachtete, wie Martin sich unter ihrer kritischen Betrachtung versteifte und sich für einen entsprechenden Kommentar wappnete, doch Lisa sagte nichts. Stattdessen machte sie kehrt, blieb vor Robin stehen und musterte auch sie lange Zeit. Sie stand einfach da, rauchte und
sah sie an, während Robin unter der Direktheit ihres Blickes errötete. »Du wohnst doch auf meinem Stockwerk. Die haben dich mit dieser Südstaatenschnalle zusammengesperrt…« Augenblicklich fuhr Patrick von seinem Sessel hoch. »Hey, hey, wer ist hier eine Schnalle?« Robin sah in Lisas Augen boshafte Freude aufflackern, und mit einem Mal wurde ihr klar, dass das hier ein Spielchen war. Als ob man die Hand über ein brennendes Streichholz hielte. Das blonde Mädchen musterte ihn unschuldig. »Nur die Ruhe, Cowboy. Ich bin sicher, sie ist ein nettes… Ding.« Patrick stand da und starrte Lisa kampflustig an. Der junge Mann auf dem Sofa griff nach der Fernbedienung, drehte die Lautstärke auf – eine automatische Geste, die auf Routine im Ausblenden von Auseinandersetzungen schließen ließ. Patrick schäumte vor Wut. »Solltest du nicht unten im Mainline bei deinen Privatstunden sein?«, fragte er gehässig. Robin zuckte zusammen. Das Mainline war ein Stundenhotel am Stadtrand, das von Studenten frequentiert wurde, denen der Sinn nach ein wenig Privatsphäre stand. Robins Wangen brannten, doch Lisa ließ sich von der Anspielung nicht aus der Ruhe bringen. Ihre Bewegungen wurden höchstens noch eine Spur provokanter, und ihre Stimme troff wie flüssiger Honig. »Da komme ich gerade her. Zufällig bin ich dort deiner kleinen Miss in Begleitung der gesamten Footballmannschaft begegnet.« Robin sah, wie sich Patricks Hals anspannte und die Rückenmuskeln unter seinem Footballshirt hervortraten. Das ging zu weit, dachte sie erschrocken. Sie hatte sein Temperament schon einmal erlebt. Er machte einen Schritt auf Lisa zu. Robin stand auf, trat schnell zwischen die beiden und sah zu Patrick hinauf. »Sie kennt Waverly doch gar nicht. Sie macht sich nur über dich lustig.«
Der schlanke junge Mann auf dem Sofa sah von seiner Zeitschrift auf und musterte Robin mit einem Anflug von Interesse. Lisa wandte sich Robin zu und mimte übertriebene Überraschung. »Das Mäuschen muckt auf. Ich wusste ja gar nicht, dass Waverly und du so dicke miteinander seid.« Sie starrte Robin an, dann Patrick, ehe sie Robin unvermittelt anlächelte, als sie verstand. Sie schob sich näher an Patrick heran. »War nur Spaß, Schätzchen«, erklärte sie gedehnt und hob ihre mit Armreifen behängte Hand, um ihm über die Wange zu streichen, wich jedoch eilig zurück, bevor er reagieren konnte. Aus sicherer Entfernung zog sie eine kleine Emailledose aus ihrem Oberteil und fragte fröhlich in die Runde: »Jemand ein Vicodin?« Angewidert, wenn auch nicht länger wütend, wandte Patrick sich ab, sank wieder in seinen Sessel, nahm sich ein weiteres Bier und trank. Erleichtert atmete Robin aus. Lisa schnippte sich eine Tablette in den Mund und schluckte sie, ehe sie sich nach einem neuen Opfer umsah. Ihr Blick fiel auf Martin, der still im hinteren Teil des Zimmers saß. Das Licht aus der Tischlampe warf dunkle Schatten auf die Haut unter seinen Augen. Mit erwartungsvoll funkelnden Augen ging sie zurück zu ihm. Robin versteifte sich, als sie Lisa beobachtete, erfüllt von dem seltsamen Drang, ihn zu beschützen. Lisa baute sich vor Martin auf, wobei sich ihr nackter Bauch auf seiner Augenhöhe befand. »Willst du nicht zu uns rüberkommen?«, fragte sie freundlich. Martins Kiefer spannte sich an, doch er fuhr mit seiner Lektüre fort. Robin empfand so etwas wie Zuneigung für ihn.
Lisa beugte sich einladend vor und mimte Interesse an seinen Büchern. Ihre Brüste berührten seine Ohren. »Da drüben kriegst du jede Menge Psychologie geboten, weißt du.« Martin sah sie ausdruckslos an. Sie lächelte süßlich auf ihn herab. »Könnte eine gute Gelegenheit sein, etwas praktische Erfahrung zu sammeln.« Draußen ertönte grollender Donner. Ein Blitz tauchte den Raum in bläulich-weißes Licht. Der nächste prasselnde Schauer. »Herrgott noch mal«, murmelte Lisa mit einer Verärgerung, die nicht aufgesetzt zu sein schien. Rasch trat sie ans Fenster und starrte nach draußen – und machte plötzlich einen Satz. Erschrocken fuhr Robin zusammen, als Lisa mit flachen Händen gegen die Scheiben schlug. »Wenn das nicht bald aufhört, werde ich noch verrückt!«, schrie sie. »Werden?«, hörte Robin den jungen Mann auf der Couch leise sagen. Sie empfand einen Anflug von Mitgefühl für das andere Mädchen. Ein zweiter Donnerschlag ließ sie alle zusammenfahren. Der Raum war mit einem Schlag in tiefe Dunkelheit gehüllt, als das Licht und der Fernseher ausgingen. Lisa stieß einen schrillen Schrei aus. Eine Sekunde lang herrschte entsetztes Schweigen – dann brachen alle in Gelächter aus. Selbst der junge Mann auf der Couch und Martin glucksten leise vor sich hin. Robin betrachtete die vom Kaminfeuer erhellten Gesichter. Eine neue, warme Intimität hatte sich im Raum ausgebreitet, die Anspannung ließ spürbar nach. Der ewige Knoten in Robins Brust hatte sich wie durch ein Wunder gelöst. Das Gelächter erstarb, und die fünf sahen einander an. »Mal sehen, ob der Generator anspringt«, meinte der junge Mann auf der Couch.
Das Kaminfeuer zauberte Schatten auf ihre Gesichter, als sie warteten. Doch der Raum blieb dunkel, der Fernseher leblos. Patrick stöhnte. »Oh Mann… Third und Goal für Alabama…« »Pech gehabt, mein Freund«, meinte der junge Mann hinter ihm. Lisa wandte sich um und lächelte boshaft. »Tja, da wären wir, meine Damen und Herren. Was sollen wir im Dunkeln machen?« Patrick griff in seinen Rucksack und zog eine Tüte Marihuana heraus. »Warten und durchhalten«, erwiderte er, zog ein Blättchen Zigarettenpapier aus der Tüte und machte sich an die Arbeit.
KAPITEL 6
Das Feuer knisterte in dem alten gemauerten Kamin. Lisa, Patrick und Robin hatten sich davor niedergelassen. Sie saßen mit dem Rücken gegen die Couch und den Sessel gelehnt da, ließen abwechselnd Robins Flasche Jack Daniels und den Joint herumgehen und waren mittlerweile angenehm stoned. Robin saß in einem Zustand behaglicher Verträumtheit auf dem Boden, als wäre sie mit der Rückenlehne des Sessels verschmolzen. Die Flammen des Kaminfeuers wärmten ihr Gesicht, ihr Körper fühlte sich wie losgelöst und angenehm taub an. Kaum zu glauben, dass sie vor nicht einmal einer Stunde in tiefster Verzweiflung gewesen war – nur einen Schritt, einen Schluck von der Dunkelheit und dem endgültigen Vergessen entfernt. Sie betrachtete ihre Mitbewohner und wurde von einem Gefühl tiefer Zuneigung für sie alle erfasst. Lisa mit ihrem wunderschönen Haar, einem Meer aus Locken, auf deren Gesicht nichts mehr von ihrer anfänglichen Boshaftigkeit zu sehen war. Patrick, der neben einer Reihe leerer Bierflaschen auf dem Boden ausgestreckt lag. Sein muskulöser Körper wirkte entspannt wie der einer großen, trägen Katze. Robin war warm von der Hitze, die in weichen Wogen von ihm auszugehen schien. Ihr Blick schweifte zum Kunstledersofa. Der hagere junge Mann mit dem ausgefallenen Namen Cain hatte sich den ganzen Abend nicht vom Fleck gerührt, außer, wenn er nach dem Joint griff.
Ästhetisch, dachte sie. So ein zartes, fein geschnittenes Gesicht, irgendwie majestätisch. Und so sinnlich, wie er dalag und mit diesen Fingern an den Teppichfransen herumzupfte. Diese Hände… Er sah auf und erwiderte einen Moment lang ihren Blick. Schnell sah sie weg. Im hinteren Teil des Raumes setzte Martin seine Arbeit fort, ganz bewusst isoliert. Irgendwann hatte er das Zimmer verlassen, um nach Kerzen zu suchen, die nun flackernd vor ihm auf dem Tisch standen und sein Gesicht in weiches Licht tauchten. Wieder musste Robin an einen Mönch in der Einsamkeit seiner Zelle denken. Wenn er doch nur aufhören würde… wenn er herüberkäme und sich zu uns setzen würde… Und dann war da noch… Sie wandte den Kopf ab, setzte sich etwas auf und blickte sich um. Nein, natürlich waren sie nur zu fünft. Wie war sie auf die Idee gekommen, sie könnten zu sechst sein? Patrick lehnte sich scheinbar unabsichtlich vor, packte Lisa am Handgelenk und hielt sie provozierend fest, während er das rote Bändchen inspizierte. Seine kehlige Stimme klang, als käme sie aus weiter Ferne, halb verschlafen. »Wofür ist dieser Faden, Marlowe? Ein Knoten für jeden Kerl, mit dem du gestern Abend gevögelt hast?« Lisa riss ihre Hand weg. »Kabbala«, erklärte sie stolz und strich mit den Fingern über das Band. Zu Robins Überraschung schnaubte Martin hinter ihnen verächtlich. »Madonnas Kabbala«, murrte er. Lisa hörte ihn entweder nicht oder schenkte ihm keine Beachtung. »Es beschützt mich vor dem bösen Blick«, erklärte sie Patrick. »Und vor notgeilen College-Sportassen.« »Zu spät, Schätzchen, schon passiert.« Patrick ließ sich zurücksinken und grinste sie breit an. »Du kannst es ebenso gut abnehmen.«
Sein Tonfall war so eindeutig, dass Robin vor Eifersucht fast übel wurde. Lisa räkelte sich genüsslich, so dass der zerrissene Pulli bis knapp unter ihre Brüste hinaufrutschte. »Träum weiter, Cowboy.« Patrick nahm einen tiefen Zug von dem Joint. Dann wandte er sich unvermittelt Robin zu, legte die Hand in ihren Nacken und zog sie zu sich heran. Er presste die Lippen auf ihre und blies den Rauch langsam in ihren Mund. Es war unbeschreiblich erotisch. Eine Woge der Benommenheit und der Lust übermannte Robin, während sie sich in den nicht enden wollenden Kuss ergab. Schließlich löste Patrick sich von ihr. Robin lehnte sich gegen den Sessel, versank im lila Teppichboden und driftete ins Nichts. Der Boden unter ihr schien wie auf einem Boot zu schwanken. Lisas Augen funkelten in der Dunkelheit. Die sechs schwiegen wieder. Verwirrt fuhr Robin hoch. Sechs. Sie waren zu fünft. Wieso dachte sie ständig, es wären sechs Leute im Raum? Wieder sah sie sich um. Nur zur Sicherheit. Sie waren fünf, und es erschien ihr fast zwangsläufig, dass sie hier waren. »Wisst ihr eigentlich, warum wir alle hier sind?«, fragte Patrick in diesem Moment an die Decke gewandt, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Weil wir es durchschaut haben. Was soll das Theater mit diesem Thanksgiving? Man tötet einen großen Vogel, füllt ihn, isst ihn auf, zofft sich mit der Familie, und wenn die Blutlachen aufgewischt sind und keiner mehr mit dem anderen ein Wort redet, hängt man herum, langweilt sich und sieht sich das Spiel an. Deshalb sage ich, scheiß auf den Truthahn und die Familie, und kommen wir gleich zum Spiel.«
Robin starrte ihn wie gebannt an und hatte mit einem Mal das Gefühl, noch nie in ihrem Leben jemandem so nahe gewesen zu sein. Cain lachte. »Du hast so viel Mist im Kopf.« Er nahm einen Zug von dem Joint, den Lisa ihm gereicht hatte, und betrachtete das Grüppchen. »Wir sind hier, weil es uns zu Hause nervt.« Ein tiefes, bedeutungsvolles Schweigen breitete sich im Raum aus. Alle senkten den Blick, vermieden es, einander anzusehen. Das Feuer hinter ihnen schien aufzuwallen, die Flammen knisterten. Eine Woge der Hitze breitete sich in Robin aus – und der Scham. Patrick lachte auf, streckte seine Flasche aus und stieß mit Cain an. Als die beiden einander diesmal in die Augen sahen, war keine Rivalität mehr zwischen ihnen, stattdessen Anerkennung. Zu ihrer eigenen Überraschung streckte auch Robin ihre Hand mit der Flasche aus und stieß mit ihnen an. »Hört, hört!«, bemerkte Lisa leise. Martin saß noch immer gebeugt am Tisch und schwieg. Ein unvermitteltes Hochgefühl erfasste Robin – die Gewissheit, zum ersten Mal in ihrem Leben nicht allein zu sein. Patrick sah ihr in die Augen, ein unverbrämter, hungriger Blick, der nichts als sexuelle Begierde verriet. Lisa streckte die Hand aus, nahm die Whiskeyflasche und hob sie hoch. »Ein kleines Quiz, Thema: ›Wieso es nervt, zu Hause zu sein‹, mit 25 Worten oder weniger.« Mit einem lasziven Lächeln reichte sie Patrick die Flasche. Mit gespielter Galanterie gab er sie ihr zurück. »Ladies first.«
Lisa setzte sich auf die Fersen und zählte die Worte an den
Fingern ab. »Schlimmes Mädchen aus einer schlimmen
Familie macht schlimme Dinge mit schlimmen Leuten… fühlt
sich… richtig schlimm. Versucht deshalb alles, um sich gut zu fühlen.« Die Worte kamen mit reinem Sarkasmus über ihre Lippen, scherzhaft und locker. Doch Robin war klar, dass sie die Wahrheit gesagt hatte, und bewunderte sie dafür. Lisa nahm einen großen Schluck aus der Flasche, wischte sich den Mund ab und reichte sie an Robin weiter. In ihren hellen manischen Augen lag ein herausforderndes Funkeln. Langsam nahm Robin ihr die Flasche aus der Hand und spürte das glatte, quadratische Glas in den Fingern. Lisa fixierte sie abwartend. Robin zuckte knapp die Schultern und bemühte sich, denselben unbeschwerten Tonfall anzuschlagen. »Mom ist verrückt… Das Zuhause ist verrückt…« Sie hielt inne und blickte auf die Rose auf dem Teppich hinunter, ehe sie fortfuhr und voller Hass das Beben in ihrer Stimme registrierte. »Also hat sich Dad unser entledigt und neu angefangen.« Sie zwang sich, aufzusehen und den Blicken der anderen zu begegnen. »Ich fühle mich zerbrochen und hasse jeden, der heil ist.« Es entstand eine Pause, ehe Cain plötzlich die Hand ausstreckte und auf ihren Arm legte. »Wer tut das nicht?« Sie sah ihn an und spürte Tränen aufsteigen, dann hob sie die Flasche an die Lippen und trank, dankbar für das beißende Aroma des Whiskeys. Sie sah wieder auf und reichte die Flasche Cain, während sie in der Dunkelheit seinen Blick suchte. Sie spürte förmlich, wie er innerlich zurückwich, obwohl er sich nicht rührte. Dann griff er nach der Flasche und begann, mit tonloser Stimme zu sprechen. »Mutter – tot. Vater – unbekannt.« Seine Lippen kräuselten sich. »Falls es euch interessiert, die Betreuung von Pflegekindern in diesem Land ist für die Mülltonne.«
Er trank, ohne jemanden anzusehen, ehe er sich an Patrick wandte und ihm die Flasche hinhielt. Patrick musterte die Flasche und ließ sich gegen den Sessel sinken. »Vergesst es, ihr Penner!« Cain und Lisa fielen wie auf Kommando über ihn her. »Feigling!« Lisa stieß ihn unsanft mit dem Fuß an. »Los, spuck’s aus, Weichei!« Patricks Blick schweifte trotzig umher. Robin musterte ihn mit vorwurfsvollem Schweigen. Patrick riss Cain die Flasche aus der Hand, nahm einen tiefen Zug von dem Joint und sprach mit angehaltenem Atem. »Prominenter Chirurgenvater bringt Mom in die Klapse, um Sorgerecht für Sohn zu bekommen. Pumpt ihn voll mit Steroiden, weil er eine ultimative Footballmaschine haben will.« Er ließ den Rauch entweichen und starrte die drei trotzig an, die verblüfft schwiegen, während ihnen der Sinn seiner Worte allmählich aufging. »Und du hasst Football«, sagte Cain in die Stille hinein. Patrick lächelte schmallippig. »Allerdings, Coach. Aber was anderes kann ich nicht.« Er trank einen Schluck Whiskey, während hinter ihm die Holzscheite zusammenfielen und knackend Funken aufstoben. Martin hustete. Überrascht wandten sich die anderen ihm zu, als er im flackernden Kerzenschein zu sprechen anfing. »Orthodoxen Rabbivaters einziger Wunsch für seinen einzigen Sohn ist, dass er auch Rabbi wird. Nur – Sohn glaubt nicht an Gott.« Er fing an zu lachen, ehe er sich abrupt unterbrach. Wieder breitete sich Stille im Raum aus, eine sprachlose Intimität. Haschischrauch schwebte durch die Luft und brannte in Robins Kehle.
Lisa ergriff das Wort. »Tja, das hat Spaß gemacht. Was zum Teufel machen wir jetzt?«, fragte sie trocken, stand auf und streckte sich genüsslich, ehe sie zu den Einbauregalen aus Walnussholz ging. Robin sah Cain und Patrick an, ehe sie nach der Whiskeyflasche griff und sich ebenfalls erhob. Sie trat vor Martins Tisch und streckte ihm die Flasche hin. Er sah sie an, verwirrt, errötend. Beharrlich reckte Robin die Flasche vor, bis Martin zögernd danach griff. In diesem Augenblick stieß Lisa einen Schrei aus. Alle fuhren vor Schreck zusammen. Sie war halb in dem begehbaren Regal neben dem Kamin verschwunden und kramte nach etwas. Schließlich tauchte sie wieder auf, zog eine längliche Schachtel aus einem Stapel alter Brettspiele hervor und drehte sich um, so dass die anderen ihren Fund sehen konnten. »Seht mal!« Die rechteckige Schachtel war mit den Jahren braun geworden und an den Ecken abgestoßen, doch Robin erkannte auf den ersten Blick die Abbildung auf dem Deckel. Ein Hexen-Brett. Lisas Gesicht glühte vor Aufregung, als sie die Schachtel zu einem runden Tisch trug und ihn ein Stück über den Teppich bis zum Kamin zerrte. »Ich wette, in diesen alten Gemäuern gibt es jede Menge Geister.« Robin erhaschte einen kurzen Blick auf eine verblichene Handschrift auf dem Deckelinneren, als Lisa das Brett herausnahm und auf dem Tisch stellte. Sie sah ihr mit einem seltsam irrationalen Gefühl zu. Eine Seance? Das wäre ja völlig verrückt. Erst am Abend zuvor hatte sie über Jung und seine Seancen gelesen. Auf dem Boden neben dem Kamin zog Patrick ein neues Zigarettenpapier hervor und fing an, einen weiteren Joint zu
drehen. »Dann können wir ja gleich Flaschendrehen spielen und Kumbaya am Feuer singen.« Lisa winkte ab und ging zu den Tischen im hinteren Teil des Raumes. Sie trat an Robin vorbei und ergriff mit einem bezaubernden Lächeln eine von Martins Kerzen. Eine Hand schützend um die Flamme gelegt, kehrte sie zurück, stellte die Kerze ab, setzte sich vor das Brett und sah sich erwartungsvoll um. »Wer macht mit?« Keiner der Jungs rührte sich vom Fleck. Lisa sah Robin an. »Los, komm, du scheinst sensibel zu sein.« Ihre Augen ruhten auf Robin, als diese den Raum durchquerte. Es lag eine fast erotische Spannung in der Luft. Robin war sich überdeutlich der Blicke der drei Jungs bewusst, die sie beide mit wachsendem Interesse musterten, und sie beneidete Lisa um ihren unverblümten Narzissmus. Sie wusste ganz genau, wie man einen Raum beherrschte. Es war unmöglich, sie nicht zur Kenntnis zu nehmen. Ein angedeutetes Lächeln erschien auf Lisas Gesicht, als hätte sie Robins Gedanken gelesen, während sie vielsagend Patrick ansah. »Sie wollen, dass wir es tun. Jungs sehen unglaublich gern zu.« Wieder blieb ihr Blick an Robin hängen. Also gut, dachte Robin plötzlich. Ich kann auch spielen. Sie trat an den Tisch, zog einen Stuhl heran und setzte sich Lisa gegenüber. Lisas Lächeln wurde noch eine Spur breiter. »Ich werde auch ganz vorsichtig sein.« Sie legte ihre Finger, deren Nägel in der Farbe von getrocknetem Blut lackiert waren, auf die herzförmige Holzplanchette. Nach einem Moment tat Robin es ihr nach. Es war ein vertrautes Gefühl, das sie augenblicklich an ihre Kindheit denken ließ. Bestimmt hat das jeder schon einmal an einem verregneten Abend gespielt.
Patrick lag ausgestreckt auf dem Boden und lachte in sich hinein, während er die Enden des Joints ableckte. »Double, double, toil and trouble…«, flüsterte er. »Halt die Klappe«, befahl Lisa und sah Robin über den Tisch hinweg herausfordernd an. »Suchen wir uns jemand Gutes aus.« Robin musste zugeben, dass Lisa mit ihrer wilden Mähne, der Spitzencorsage, die unter dem zerrissenen Pullover hervorblitzte, und den funkelnden Ringen eine überzeugende Zigeunerin abgab. Robin starrte auf das Brett. Es war alt – mit den Jahren vergilbt und keines dieser industriell gefertigten Dinger aus Holzimitat. Antiquierte Buchstaben zierten den unteren Rand. BALTIMORE TALKING BOARD. Das Holz war an den Kanten geschwärzt, fast als wäre es – angesengt. Diese Erkenntnis jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Lisa ergriff das Wort und sprach in die Dunkelheit hinter dem glühenden Feuerkreis des Kamins. »Ist da draußen jemand?« In ihren Augen lag ein wissendes Glitzern, das Robin an eine Katze denken ließ. »Hat Alabama gepunktet?«, fragte Patrick durch eine dichte Haschischwolke. Lisa verpasste ihm einen Fußtritt, ehe sie an das Brett und die Zimmerdecke gewandt fortfuhr. »Ist da jemand, der mit uns sprechen möchte?« Robin hielt den Blick auf die schwarzen Buchstaben auf dem Brett gerichtet und hatte beide Hände auf den hölzernen Zeiger gelegt. Draußen prasselte der Regen vom Himmel und klatschte auf den Asphalt. Nichts rührte sich. Lisa zwinkerte Robin zu. »Wir hätte gern jemand Düsteren… und Geheimnisvollen… und verdammt sexy muss er sein.« Cains Kopf ruhte auf der Armlehne des Sofas. Rauch stieg von seiner Zigarette auf. »Für so was gibts hunderte spezielle Telefonnummern.«
Lisa fuhr fort, ohne auf seinen Kommentar einzugehen. »Ist da jemand?« Sie lauschten. Die Holzscheite knackten. Die Planchette unter ihren Fingern rührte sich nicht. Robin fühlte sich benommen von dem Haschisch und der behaglichen Düsternis, von der Hitze des Feuers, die den Rauch in schimmerndes Licht tauchte. Sie starrte in die Flammen und spürte erneut die Präsenz, die ihr zuvor aufgefallen war, dieses Gefühl der neugierigen Vorfreude im Haus, als beuge sich jemand gespannt vor… Heftige Sehnsucht rührte sich in ihr – der Wunsch, dass irgendetwas passierte, dass jemand sie hörte, sich bewegte, reagierte, dass eine Tür aufgehen und sich alles, alles ändern möge. Sie spürte eine Art elektrisches Kribbeln… Die Planchette wanderte plötzlich zu JA Robin schreckte hoch. Lisa schnappte nach Luft, ehe sie Robin scharf ansah und ihre grünen Augen zusammenkniff. »Gut gemacht!« Robin starrte zurück. So läuft sie also ab, dachte sie: die LisaShow. Patrick rollte auf dem Fußboden herum, stützte sich auf den Ellbogen und machte eine Kreisbewegung mit der Hand. »Ladies, ladies – voll in Aktion.« Wieder wich Robin abrupt zurück und sah Lisa ebenfalls zusammenzucken, als sich die Planchette in langsamen, gleichmäßigen Kreisen unter ihren Händen zu bewegen begann. Robin sah Lisa an. Die funkelnden Augen des Mädchens begegneten ihrem Blick. Mit einem Mal setzte sich der Zeiger in Bewegung und begann, über das Brett zu flitzen.
Robin sah zu, wie die Buchstaben unter dem kreisförmigen Ausschnitt in der Mitte der Planchette erschienen. Der Zeiger bewegte sich schnell und beständig, nur mit kurzen Unterbrechungen in der neutralen Zone zwischen den einzelnen Wörtern. ICH BIN Lisa las die Worte mit übertriebener Betonung laut vor. »Ich… bin…« HIER Patrick saß auf dem Boden und gab unheimliche Geräusche von sich. Martin sah unwillkürlich zu den Mädchen hinüber. Cain schüttelte den Kopf und zündete sich mit seinem ZippoFeuerzeug eine weitere Zigarette an. Doch Robin sah, dass er lächelte. Lisa ist gut, dachte sie. Die Bewegungen der Planchette waren geschmeidig, glaubhaft – kein verräterisches Zerren. Der Zeiger schien ein Eigenleben zu haben. Lisa lächelte aufreizend in die Dunkelheit. »Tja, hallo.« Mit ihrer beringten Hand strich sie sich das Haar aus dem Gesicht, ehe sie die Finger wieder auf die Planchette legte. Augenblicklich wanderte der Zeiger auf HALLO Und dann ging es im Eiltempo weiter. LISA Lisa las ihren Namen laut vor und wandte sich mit kindlicher Begeisterung vom Tisch ab. »Jungs, er weiß meinen Namen.« Patrick presste sich die Hand auf den Mund und tat, als erschaudere er. »Dann muss es echt sein.« Er grinste. Offenbar amüsierte er sich köstlich. Er hatte sich bis auf ein ärmelloses Shirt ausgezogen, lümmelte gegen ein Sofakissen gelehnt vor dem Kamin und sah den Mädchen zu, als genieße er eine Privatvorführung. Robins Augen wanderten über seine Oberschenkel hinauf bis zu der Stelle, wo seine Beine
zusammenliefen, und dachte an die Erregung, als sie seine Lippen auf ihren und die Hitze seines Atems in ihrem Mund gespürt hatte… Die Röte stieg ihr ins Gesicht, und sie war froh, dass es dunkel im Raum war. Lisa schüttelte ihr Haar zurück und wandte sich an das Brett. »Hast du auch einen Namen?« Der Zeiger erwachte augenblicklich zum Leben. Wieder las Lisa laut vor. NENNT MICH Das Holzstück zögerte. Robin und Lisa sahen zu, wie es ziellos über das Brett schweifte, als könne es sich nicht entscheiden, wie es antworten sollte. Patrick kicherte. »Ganz toll, Marlowe.« In diesem Moment setzte sich der Zeiger wieder in Bewegung, als hätte ihn die Bemerkung inspiriert. ZACHARY Robin spürte ein Kribbeln im Nacken, wie Finger, die am Haaransatz entlangstrichen. Die Kerze flackerte, wodurch die Buchstaben zu pulsieren schienen. Lisa warf Robin einen raschen, forschenden Blick zu, ehe sie die Achseln zuckte und leichthin fortfuhr. »Schön, dich kennen zu lernen, Zachary.« »Ich bin entzückt«, bemerkte Patrick mit einer frischen Flasche Bier in der Hand, ehe er lautstark rülpste, um seinen Worten noch mehr Gewicht zu verleihen. Der Zeiger reagierte mit gleichmäßigen Kreisen und kleinen Pausen zwischen den Worten. Robin stellte fest, dass sie die langsame Unterhaltung müde und gleichzeitig ungeduldig machte. Das Warten auf die Buchstaben war, als versuchte man, in einem Traum zu laufen. DAS VERGNÜGEN IST AUF MEINER SEITE
Triumphierend beendete Lisa den Satz und sah vom Brett auf. Ihre Augen funkelten. »Ein Gentleman.« Sie warf Patrick einen Seitenblick zu. »Die muss man besonders im Auge behalten, Schätzchen«, konterte er. Lisa wandte sich wieder dem Brett zu und strahlte Robin an. Robin, die sich allmählich von Lisas Begeisterung anstecken ließ, erwiderte das Lächeln. Was machte es schon aus, dass es ein Spiel war? Das Feuer brannte und ließ Schatten an der Wand tanzen. Vor dem Fenster schwankten die Bäume im Wind, der in rhythmischen Wellen aufbrandete, die Holzscheite im Kamin knisterten – all das war wie in einem Traum, verführerisch hypnotisch, und Robin beschloss, weiter mitzuspielen. Was konnte es schon schaden? Lisa wandte sich wieder an das Brett. »Bist du gekommen, um uns etwas zu sagen, Zachary?« Die Mädchen sahen zu, wie die Buchstaben erschienen. ALLES WAS IHR WOLLT Lisa lächelte verstohlen im flackernden Kerzenschein und wandte sich den anderen zu. »Alles, was ihr wollt, sagt er.« »Frag ihn, wer das Spiel gewinnt«, schnaubte Patrick und schluckte sein Bier hinunter. Lisa schien eine scharfe Antwort auf der Zunge zu liegen, doch der Zeiger setzte sich sofort gehorsam in Bewegung. ALABAMA Robin las vor, und Lisa beendete den Satz gemeinsam mit ihr. MIT 14 PUNKTEN Erfreut setzte Patrick sich auf. »Kann ich darauf wetten, Kumpel?« Seine leicht schleppende Stimme war rau vom Haschisch.
Wieder bewegte sich der Zeiger. Robin und Lisa sahen konzentriert zu, wie die Buchstaben erschienen, und lasen wieder gemeinsam vor. ES WERDEN KEINE WETTEN MEHR ANGENOMMEN Die Mädchen beugten sich vor, als sich das letzte Wort formte. Als Robin Lisas Scherz begriff, lächelte sie, und gemeinsam sprachen sie das Wort mit perfekt aufeinander abgestimmtem, bekifften Lallen aus: KUMPEL Robin und Lisa brachen in albernes Kichern aus. »Ziemlich hipper Geist«, murmelte Cain auf dem Sofa. Patrick brach in Gelächter aus. »Du solltest Eintritt kassieren, Marlowe.« Er nickte Lisa zu. Lisa schüttelte den Kopf, so dass sich das Kerzenlicht in der blonden Lockenpracht fing. »Ich bin das nicht, ich schwör’s.« Sie lächelte Robin über den Tisch hinweg an. Robin ertappte sich dabei, dass sie sich fragte, ob Lisa die Wahrheit sagte. Es lag auf der Hand, dass man Lisa nichts glauben konnte. Es war ein Spiel, und es funktionierte. Lisa stand im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, die sie offenbar ständig brauchte, und die Jungs amüsierten sich gut genug, um weiterhin bei der Stange zu bleiben. Robin bemerkte, dass selbst Martin die Aktivitäten am Brett verfolgte, wenn auch nicht mit seiner gesamten Aufmerksamkeit, sondern eher als Hintergrundgeräusch wie Musik oder einen Fernseher. Gleichzeitig spürte sie, dass etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Als Neun- oder Zehnjährige hatte sie mit ihren um ein paar Jahre älteren Cousinen Gläserrücken gespielt. Obwohl das Kerzenlicht im Kinderzimmer und ihre Begeisterung, mit Älteren zusammen zu sein, das Spiel neu und aufregend erscheinen ließen, hatte sie stets gewusst, dass sie von den
anderen hinters Licht geführt wurde. Cousine Jeannie hatte die Buchstaben pikante Hinweise auf Jungs geben lassen, die angeblich bis über beide Ohren in eine gewisse Person verliebt waren. Anfangs war sie ziemlich sicher gewesen, dass Lisa den Zeiger ebenso manipulierte, wie ihre Cousinen es immer getan hatten. Aber irgendwann schien Lisa damit aufgehört zu haben. Als hätte nun etwas anderes das Kommando übernommen. Sie erschrak und registrierte, dass Cain sich auf der Couch aufsetzte und sie fragend musterte. Lisa sprach merkwürdig eindringlich in die Dunkelheit, mit einem Anflug, der eindeutig über spielerische Neugier hinausging. »Wer bist du, Zachary?« Die Frage hing einige Moment lang in der Luft, ohne dass sich die Planchette rührte. Lisa sah Robin mit gerunzelter Stirn an. »Lebst du hier in Mendenhall?« Abrupt begann sich die Planchette unter ihren Fingern zu bewegen, und Robin bemerkte, dass sie den Atem angehalten hatte. Der Holzzeiger wanderte auf das Wort JA Unvermittelt schob sich ein Bild vor Robins geistiges Auge; ein kristallklares Bild. Ein junger Mann, blass und dunkeläugig, mit etwas längerem Haar, groß, schlank und, ja, mit einem leicht gequälten Gesichtsausdruck. Es schwebte irgendwo am Rand ihrer Wahrnehmung, doch einen Moment lang war es klar und deutlich zu sehen. Und dann war es auf einmal weg. Robin kehrte ins Hier und Jetzt zurück. Das Feuer im Kamin knackte und verströmte eine Hitze in ihrem Rücken, die ihr beinahe zu viel war. Lisa saß ihr gegenüber und sah sie merkwürdig an. Bestürzt bemerkte Robin, dass auch alle anderen im Raum in Schweigen verfallen
waren und sie anstarrten. Draußen rauschte der Wind durch die Bäume, ein hohles Heulen zwischen den Gebäuden. Robin beugte sich vor. »Wann? Wann hast du hier gelebt?« Die Planchette zuckte, ehe sie unter ihren Händen kreiste, als überlege sie. Eine höchst faszinierende Bewegung. Und dann erschienen die Buchstaben, nur diesmal so langsam, fast provozierend, dass Robin und Lisa sich vorbeugten und jedes Wort eindringlich hervorstießen, sobald sie ahnten, wie es lauten würde. ES GIBT Robin registrierte, dass sich die drei jungen Männer ebenfalls gespannt vorbeugten. Cain auf dem Sofa, Patrick auf dem Boden und Martin an seinem Tisch im hinteren Teil des Salons, alle völlig gefangen von dem Schauspiel, das sich ihnen bot. KEINE ZEIT Robin stockte der Atem, so dass Lisa das letzte Wort vorlesen musste. HIER Der Satz hing in der vom Kaminfeuer orange erhellten Dunkelheit. Robin und Lisa sahen einander erschaudernd an. Die Jungs sagten kein Wort. Lisa räusperte sich, beugte sich vor und stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch auf. »Was meinst du mit hier?«, fragte sie. Sie sah Robin in die Augen, ehe sie wegschaute. »Wo ist hier?« Die Planchette zuckte heftig, ehe sie zu kreisen begann, ohne eine Antwort zu geben. Die Frage schwebte im Raum, während Lisas rotes Bändchen am Handgelenk wie eine Blutspur über die Buchstaben strich. Robin spürte, dass die anderen warteten, sich leicht nach vorne beugten, vielleicht sogar den Atem anhielten. Ihre gesamte Aufmerksamkeit war
auf die glatte, vom Alter vergilbte Oberfläche des Brettes gerichtet, auf die schwarzen Buchstaben und Brandflecken. Und dann, als wäre eine Entscheidung gefallen, kam das Wort. Seltsam und fremd, so dass sie und Lisa die Buchstaben einzeln aussprachen. QLIPPOTH
KAPITEL 7
Robin war die Erste, die die Buchstaben zu einem Wort zusammenfügte, auch wenn es sich in ihrem Mund fremd anfühlte. »Qlippoth?« Mit neu erwachtem Interesse sah Martin zu ihnen herüber. Im Kamin knackten und ploppten die Holzscheite und sandten einen orangefarbenen Funkenregen den Kamin hinauf, während die Schatten an den Wänden flackerten. Lisa nickte zögernd, eher aus einer Vermutung als aus der Gewissheit heraus, dass Robin Recht hatte. Die anderen starrten einander im flackernden Kerzenschein verwirrt an. »Bringt mich zu eurem Anführer«, hob Patrick in bester Zombie-Manier an, doch die Nerven der anderen waren viel zu angespannt, um darüber lachen zu können. Lisa presste ihre beringten Finger auf die Planchette und fuhr mit aufgesetzter Fröhlichkeit an die Dunkelheit gewandt fort. »Wie wär’s mit Englisch, Zach?« Die Stille war förmlich mit Händen greifbar, als sich die Planchette in Bewegung setzte. Robin spürte, wie sich jeder im Raum vorbeugte, als sie und Lisa die Worte aussprachen. DIE SCHALEN Robin registrierte am Rande, dass Martin sehr still war und Lisa aus seiner Ecke anstarrte. Lisa musterte Robin. »Die Schalen? Welche Schalen meinst du?« »Muschelschalen? Am Strand?«, mutmaßte Patrick. »Oder von Eiern?«, warf Cain trocken ein. Patrick kicherte, teils vor Erleichterung, weil der Kommentar die Anspannung
ein wenig gelöst hatte, vermutete Robin. Lisa fixierte die Jungs mit finsterer Miene, doch dann zuckte der Zeiger mit einem Mal, worauf die Mädchen hochfuhren. Wieder spürte Robin, wie sich die Jungen in der Stille vorbeugten, um zu lauschen. Lisa las die Worte mit lauter, wenn auch leicht atemloser Stimme vor. EGAL JETZT BIN ICH HIER Robin starrte auf das Brett und spürte erneut dieses unheilvolle Prickeln. Der Zeiger bewegte sich wieder, fast beschwingt. ZU EUREN DIENSTEN Dieser unerwartete Witz löste ihre Spannung ein wenig. Robin und Lisa lächelten einander über den Tisch hinweg zu. »Ahh, ermutige sie doch nicht auch noch«, stöhnte Patrick vom Boden. Lisa lachte, sichtlich beruhigt, ehe sie sich wieder flirtend an Zachary wandte. »In diesem Fall kannst du uns wenigstens verraten, wie du aussiehst.« Robin spürte, wie sich die Bewegung unter ihren Händen veränderte und sich eine spielerische Sinnlichkeit bemerkbar machte. WIE DER MANN DEINER TRÄUME Wieder lachte Lisa, ausgelassener, als es dem Anlass angemessen war. Sie spielte den Vamp. Wie Mae West. »Tja, dann besuch mich doch mal bei Gelegenheit.« Immer aufreizend, was?, dachte Robin. Du kannst es einfach nicht lassen. Lisa fing Robins Blick im gelben Licht der Kerze auf. In ihrer Stimme lag ein herausfordernder Unterton, als sie sich an sie wandte. »Frag du doch mal was.« Robin zögerte, hin- und hergerissen zwischen Verlangen und Argwohn.
Lisa ließ sie nicht vom Haken. »Okay, dann stelle ich eine Frage.« Sie griff nach dem Zeiger. »Sag uns, Zachary, ist Robin noch Jungfrau?« Robin erstarrte. Sie sah, wie Patrick sich an seinem Bier verschluckte und wie Cain hinter ihm die Augen verdrehte. Sie wurde rot. »Schon gut, hör auf damit.« Sie wollte ihre Hände zurückziehen, doch Lisa legte sie auf ihre Finger und drückte sie mit einem boshaften Lächeln auf den Zeiger. Die Planchette begann sich zu bewegen. Robins Gesicht glühte, doch aus irgendeinem Grund brachte sie es nicht über sich, sie loszulassen. Wie gebannt starrte sie auf die Buchstaben, die sich vor ihr materialisierten. ICH LIEBE, ICH BRENNE, DIE LIEBE IST, WAS ICH VERLANGE Sie fuhr zusammen, als sie die Gedichtzeile wiedererkannte, die ihr durch den Kopf gegangen war, als sie die Tabletten in der Hand gehabt hatte. Tue ich das?, fragte sie sich verwirrt. Lisa las die Worte laut vor und zog die Brauen zusammen – Robin konnte nicht sagen, ob in gespielter oder in echter Verblüffung. »Oh, Baby«, murmelte Patrick auf dem Boden. Robin wurde dunkelrot, hörte jedoch über das Rauschen des Blutes in ihren Ohren einen Unterton in seiner Stimme, der ihr vorher nicht aufgefallen war: Wertschätzung. Ihr Herz begann zu flattern. Vielleicht gibt es ja doch Hoffnung. Lisa starrte Robin mit aufgerissenen Augen an. »Wie romantisch von dir, Zachary«, erklärte sie fröhlich. »Ihr anderen Clowns solltet am besten mitschreiben.« Überrascht registrierte Robin den widerstrebend eifersüchtigen Unterton in ihrer Stimme. Eifersüchtig worauf? Robin starrte sie an und überlegte fieberhaft. Buchstabiert sie all diese Worte? Oder ich?
Wieder fing Lisa ihren Blick auf und beugte sich leicht vor. »Siehst du, er mag dich. Komm schon.« Sie hielt Robins Blick fest, lockend, beschwichtigend. Nach einem Augenblick legte Robin die Hände wieder auf die Planchette. Mittlerweile war ihre Neugier viel zu groß, um einen Rückzieher zu machen. Mit neu gewonnenem Mut sah Lisa sich im Raum um. »Hat sonst noch jemand Fragen?« Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann ergriff Patrick das Wort, ohne seinen Platz auf dem Boden zu verlassen. »Okay, Zach, alter Junge.« Er machte eine dramatische Pause. »Schaffe ich die Geschichtsprüfung?« Cain schnaubte laut. »Davon träumst du«, hörte Robin Martin im Hintergrund murmeln. Gespannt saßen sie da. Der Zeiger bewegte sich leicht unter ihren Fingern, und blinzelnd richtete sie den Blick wieder auf das Brett, als sich die Worte zu formen begannen. MIT FLIEGENDEN FAHNEN Inzwischen erstaunte es Robin nicht länger, wie mühelos und schnell die Buchstaben erschienen. Es erschien ihr völlig natürlich, ja unvermeidlich. Lisa las laut vor, und Cain lachte halbherzig. »Ein kosmischer Glückskeks.« Doch Robin war nicht entgangen, dass er Lisas Stimme konzentriert gelauscht hatte. Die Zeitschrift lag vergessen auf dem Boden neben dem Sofa. Dich hat es auch gepackt. Also doch kein Zyniker bis ins Mark. Wieder ergriff Patrick das Wort, und sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem Brett zu, als er rief: »Wie denn, Zach? Schreibst du sie für mich?«
Robin bemerkte, dass sich etwas verändert hatte. Patricks Tonfall war locker, freundschaftlich. Er redete mit dem Brett, wie er mit einem Menschen reden würde. Aber da war noch etwas anderes. Sie spürte, wie das Haus lauschte. Als wäre es ebenso gefesselt und amüsiert von der Unterhaltung wie sie. Du bist stoned, sagte sie sich. Die Planchette bewegte sich unter ihren Fingern. Lisa las laut vor. WENN DU WILLST Patrick deutete vage in Richtung Brett und fügte leicht nuschelnd hinzu: »Alles klar, Kumpel. Nächsten Freitag um elf. Stimmt’s, Robin?« Der Zeiger sprang auf JA Und Robin spürte einen Anflug von Bestürzung. Auf der anderen Seite des Tisches sah sie Lisas leuchtende, fast fiebrig glänzende Augen. Sie bemerkte Robins Blick, sah eilig weg, als fühlte sie sich ertappt, und drehte sich auf ihrem Stuhl um. »Jemand sollte etwas fragen, was keiner von uns wissen kann«, verlangte sie mit einem dringlichen Unterton. Patrick ließ den Kopf gegen die Sofakante sinken und schwenkte seine Bierflasche. »Wie lautet der Mädchenname meiner Mutter?«, schlug er vor. »Das hier ist kein Geldautomat, für den man ein Passwort braucht«, sagte Cain hinter ihm und rollte die Augen. Doch auf dem Brett erschienen bereits die Buchstaben. COLE Lisa las vor. »Cole.« Patrick setzte sich auf. »Hey, das stimmt.« Die anderen sahen einander an. Patrick kam mühsam auf die Beine und trat leicht schwankend an den Tisch. Er sah auf das Brett hinunter, dann Lisa ins Gesicht. »Du hast mich ausspioniert, Marlowe.« Doch
in seiner Stimme war keine Spur mehr von seinem gewohnten Spott zu hören. Lisa setzte sich auf ihrem Stuhl zurück und sah trotzig zu ihm hoch. »Ich kenne nicht mal deinen Vornamen, Cowboy.« Nun sah Patrick Robin an. Sein Lächeln war breit, doch es lag auch ein Anflug von Unsicherheit darin. »Okay, Robin – du hast es aus Waverly rausgekitzelt.« Robin schüttelte den Kopf. Ihre Augen begegneten einander, und eine Sekunde lang sah sie etwas darin. Angst? Patrick lachte ein wenig gezwungen. Lisa drehte sich wieder auf ihrem Stuhl um und sah Cain herausfordernd an. »Du bist dran. Frag etwas.« Robin hatte Protest erwartet. Stattdessen gehorchte Cain erstaunlich bereitwillig. Seine Stimme war leise, doch mit einem unüberhörbar drängenden Unterton. »Wie ist meine Mutter gestorben?« Erschrocken sah Robin ihn an und registrierte den gefassten Ausdruck in seinen grauen Augen. Es hat angefangen. Es hat uns. Wilde, ungestüme Gedanken… Der Zeiger erwachte zum Leben. Auf der anderen Seite des Bretts sprach Lisa die Worte laut aus. SOLL ICH DAS WIRKLICH SAGEN? Robin holte scharf Luft. Cain verharrte reglos auf der Couch. Die Schatten der Flammen tanzten ungestüm an den Wänden. »Das ist verdammt clever, Marlowe«, sagte Cain leise, und der Zorn seiner Worte schnitt sich tief in Robins Brust. Lisa setzte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Hey, ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll.« Cain sah wütend und verwirrt zugleich aus, und mit einem Mal wusste sie es. Dann stimmt es also. Etwas sehr Schlimmes ist passiert. Woher weiß Lisa davon? Und was, wenn Lisa nichts davon wusste?
Robin sah auf das Brett hinunter. Der Zeiger verharrte noch an derselben Stelle. ? Sie erschauderte. Etwas hatte sich verändert. Die Stimmung war mit einem Mal umgeschlagen. Was geschieht hier? Ihr Blick wanderte zum Brettrand, zu den versengten Ecken, als wäre es irgendwann, irgendwo in Flammen aufgegangen. Lisa strich sich das Haar aus dem Gesicht. Ihre Armreifen klirrten. »Jemand soll etwas anderes fragen.« Sie starrte sie alle an. Patrick stand breitbeinig vor dem Kamin. »Okay, Zach, was denke ich gerade?« Noch bevor sich der Zeiger in Bewegung setzte, spürte Robin einen Anflug von etwas – Unergründlichem. Nein, dachte sie. Doch es war zu spät. Lisa beugte sich vor, angespannt und nervös, und stieß atemlos die Buchstaben hervor, sobald sie erschienen. DARAN DEINEN VATER Robin keuchte erschrocken, als sie begriff. UMZUBRINGEN Die Holzscheite fielen zusammen und sandten einen Funkenregen in die Höhe. Schwankend stand Patrick vor dem Kamin. Seine Stimme war leise, wie benommen. »Wer bewegt dieses Ding?« Mit einem Mal schien ihn kalte Wut zu packen. »Wer zum Teufel bewegt dieses Ding, hab ich gefragt?« Das Ganze war kein Spiel mehr. Patrick war völlig betrunken und außer sich vor Wut. Lisa und Robin saßen wie erstarrt vor dem Brett. Er ist riesig, dachte Robin verwirrt, als sähe sie ihn zum allerersten Mal. Steroide. Football. Sie hatte das Gefühl zu ersticken. Als bekäme sie auf einmal keine Luft mehr. Cain saß reglos auf dem Sofa und wählte seine Worte mit Bedacht. »Lass gut sein, Mann.« Seine Stimme war so ruhig,
dass Robin sich erleichtert von ihr einhüllen ließ und ihm nur allzu bereitwillig die Kontrolle überließ. Patrick schien ihn nicht zu hören. Sein Gesicht war gerötet, sein Akzent noch ausgeprägter als sonst, tief und kantig, kaum zu verstehen. »Marlowe, ich lass dich dieses Brett fressen, das schwör ich dir.« Robin machte einen Satz, als er auf den Tisch zutrat und mit einer abrupten Bewegung einen Stuhl beiseiteschob. Cain war augenblicklich auf den Beinen, viel schneller, als Robin es für möglich gehalten hatte, und verstellte ihm den Weg. Sie spürte eine Woge der Angst in sich aufsteigen. In diesem Moment drang Martins ruhige Stimme aus dem hinteren Teil des Raumes. »Ehrlich gesagt, lag das auf der Hand.« Patrick wirbelte herum. Martin saß reglos auf seinem Stuhl. Die Kerzen vor ihm auf dem Tisch flackerten. Patrick kniff die Augen zusammen. »Was für eine Scheiße erzählst du da?« »Ödipale Komplexe sind in den Südstaaten doch an der Tagesordnung. Und Wettkampfsport ist das klassische Schlachtfeld dafür.« Seelenruhig, fast lässig kippelte Martin auf seinem Stuhl. Robins Puls beschleunigte sich. Oh, Vorsicht. Doch Martin zuckte die Achseln und fuhr leise fort. »Und wer hat solche Gedanken nicht auch schon einmal gehabt?« Patrick versteifte sich. Er starrte den kleineren Kommilitonen durchdringend an, doch jeder im Raum wusste, dass der die Wahrheit ausgesprochen hatte. Das Feuer flackerte im Kamin. Es war totenstill. Alle Blicke waren auf Martin gerichtet. Als er erneut das Wort ergriff, war seine Stimme geradezu hypnotisch. »Du hast hier zwei
intelligente Frauen sitzen. Scharfsinnig genug, um emotionale Anhaltspunkte erkennen zu können.« Nun, da die akute Gefahr gebannt war, kam wieder Leben in Lisa. Wütend schob sie ihren Stuhl zurück. »Das Problem ist nur, das ich diesen Zeiger nicht bewegt habe!« Ein angedeutetes nachsichtiges Lächeln erschien auf Martins Gesicht, und er zeigte mit dem Stift in ihre Richtung. »Aber dein Unterbewusstsein. Darum geht’s doch, oder? Kaum befindet man sich in einem Stadium stärkerer Konzentration, treten scheinbar unheimliche Dinge zutage.« Ach ja?, dachte Robin. Geht es hier nur darum? Könnte einer von uns gewusst haben – rein intuitiv –, dass Patrick darüber nachdenkt, seinen Vater umzubringen, und dass Cains Mutter unter tragischen Umständen ums Leben gekommen ist? Sie sah Lisa an. Lisa begegnete ihrem Blick, schaute dann aber sofort weg. Lisa ist schlau. Ihr entgeht absolut nichts, trotz dieses ständigen Drangs, sich in Szene zu setzen. Cain trat noch einen Schritt vor. Sein Gesicht wirkte angespannt im Halbdunkel. Er sah zuerst Robin an, dann Lisa. »Dann fragt eben. Fragt, wie es dazu kommt.« Lisa rückte ihren Stuhl wieder zum Tisch und legte die Hände auf den Zeiger. Nach einem Moment tat Robin es ihr nach. »Zachary, kannst du unsere Gedanken lesen?«, fragte Lisa in die Dunkelheit. Robin spannte sich an, als sich der Zeiger zu bewegen begann. Er kreiste müßig, ohne sich festzulegen. Neckerei, dachte sie. Doch mit einem Mal begann er entschlossen zu buchstabieren. Lisa beugte sich über den Tisch, so dass ihr das Haar ins Gesicht fiel. Mit einem leisen Knirschen bewegte sich der Zeiger auf dem Brett. NIEMAND DER DIE ÜBELSTEN DÄMONEN
Martins scharfe Stimme unterbrach Lisa. »Ich will, dass sofort alle herkommen.« Patrick fuhr mit finsterer Miene zu ihm herum. »Was zum Teufel…« Martin fiel ihm ins Wort. »Tut es einfach.« Sein Gesicht glühte vor Aufregung. Patrick starrte ihn mit ungläubigem Staunen an. Cain stand stocksteif da, und selbst Robin registrierte überrascht die Autorität in seiner Stimme. Doch nach einem Moment standen alle auf und gingen durch den langen Raum bis zu dem Tisch neben den Bücherregalen. Martin deutete auf das Buch, das aufgeschlagen vor ihm lag. »Hier, seht euch dieses Buch an. Und jemand soll den Abschnitt oben auf der aufgeschlagenen Seite vorlesen.« Sie sahen einander an. Robin trat an die Tischkante und las den klein gedruckten Text. »›Niemand, der wie ich die übelsten‹…« Erschrocken hielt sie inne. Die anderen traten langsam hinter sie. Robin sah Martin an, der nickte, ehe sie sich dem Buch zuwandte und die gesamte Passage langsam vorlas. »Niemand, der wie ich die übelsten dieser halb gezähmten Dämonen heraufbeschwört, die der menschlichen Brust innewohnen, und bereit ist, sich mit ihnen zu messen, kann erwarten, unversehrt aus diesem Kampf hervorzugehen.« Die Stille wog schwer im halbdunklen Raum. Robin sah, wie Patrick argwöhnisch von Martin zu Lisa blickte. Martin wandte sich den anderen zu. »Ich habe diese Passage gelesen, bevor ich herkam.« Das Feuer hinter ihnen knackte. Martin sah die Mädchen an. »Reine Gedankenübertragung. Ich hatte die Worte im Kopf, und ihr – eine von euch – habt sie aufgeschnappt.«
Oder Zachary, hätte Robin am liebsten gesagt, tat es aber nicht. Der Raum begann sich um sie zu drehen, während sie von einer Erregung erfasst wurde, die sie schwindeln ließ. Sie sah das Glitzern in Martins Augen, in denen nichts mehr Distanziert-Akademisches zu erkennen war. Cain sah sie im Kerzenlicht an. »Ich habe gehört, wie du sagtest, du hättest dasselbe Psychologieseminar besucht. Du hast dasselbe Buch gelesen.« Seine Miene war eisig. Robin spürte Empörung in sich aufwallen. »Nein, habe ich nicht.« Martin zog seinen gelben Notizblock heran. »Wir werden einen Test machen. Jeder schreibt etwas Geheimes über sich auf und lässt es hier liegen. Dann befragen wir das Brett und sehen, was herauskommt.« Cain lacht auf. »Vergiss es. Ich bin raus aus dieser Nummer.« Mit weit ausholenden Schritten machte er sich auf den Weg zur Tür. »Ich habe nichts getan«, rief Robin ihm nach. Cain blieb im Türrahmen stehen, drehte sich um und sah sie an. Robin hielt seinem Blick stand und spürte sein Zögern, die Frage in seinen Augen. Doch dann verdüsterte sich seine Miene, und er ging hinaus. Robins Wangen waren glühend heiß, als hätte ihr jemand eine Ohrfeige verpasst. Dann benimm dich eben wie ein Arschloch. Nur am Rande registrierte sie, dass Martin ungeduldig auf sie einredete. »Will sonst keiner wissen, was hier los ist?« Langsam drehte Robin sich zu Martin um, der Seiten aus seinem Notizblock riss, Lisa ansah und ihr ein Blatt und einen Stift reichte. Mit gerunzelter Stirn nahm Lisa sie entgegen. Patrick schlenderte zum Tisch herüber. »Was soll’s, verdammt.« Er griff ebenfalls nach einem Blatt Papier.
Martin wandte sich an Robin. Sie nahm den gelben Zettel und stand einen Moment lang da, ehe sie in ihre Rocktasche griff, einen roten Stift herauszog und zu schreiben anfing. Martin tat es ihr nach, dann faltete er sein Blatt zusammen, damit niemand sehen konnte, was er geschrieben hatte. Die anderen taten dasselbe. »Alle legen ihren Zettel auf den Tisch«, sagte er. In gewohntem Protest verdrehte Patrick die Augen, ehe er wie die anderen sein gefaltetes Blatt auf den Tisch legte. Martin stand auf und trat an den Tisch vor dem Kamin, dicht gefolgt von den anderen. Wie seltsam, er hat völlig das Ruder übernommen, dachte Robin. Und wir haben es zugelassen. Sogar Patrick. Martin ist also doch nicht so ein Angsthase. Martin blieb vor dem Brett stehen und sah Lisa und Robin erwartungsvoll an. Beinahe gehorsam setzten sich die Mädchen einander gegenüber. Lisa legte die Hände auf die Planchette, ehe Robin es ihr leicht widerstrebend nachtat. Martin räusperte sich. »Wir würden gern ein paar Fragen stellen«, erklärte er förmlich. Patrick und Martin blieben neben dem Tisch stehen, und Robin spürte, wie alle den Atem anhielten, doch der Zeiger bewegte sich nicht. Lisa biss sich auf die Lippe. »Zachary?« Die Planchette blieb reglos. Robins Hände fühlten sich auf dem Holz schwer und ungelenk an. Lisa sah Robin im flackernden Kaminfeuer an, und Robin war klar, dass auch sie es spürte. »Zachary?« Wieder vergingen einige Sekunden, dann schüttelte Lisa den Kopf, nahm die Hände vom Brett und sah zu den Jungs hoch. »Er ist weg.« »Wie meinst du das?«, fragte Martin stirnrunzelnd.
»Vorhin war da so etwas. Eine Art Energie. Man konnte sie spüren. Und jetzt ist sie weg.« Sie sah Robin an, die ihren Blick erwiderte und nickte. »Vielleicht spielt er nur den Unnahbaren«, witzelte Patrick. »Lasst mich es mal versuchen«, forderte Martin sie abrupt auf. Es hat ihn gepackt, schoss es Robin unbehaglich in den Sinn. Trotzdem stand sie auf und trat beiseite, damit er sich setzen konnte. Martin setzte sich gegenüber von Lisa, legte die Finger auf den Zeiger und sprach förmlich ins Leere. »Ist da draußen etwas?« Dunkelheit, Stille. Nichts. Lisa versuchte es noch einmal. »Zachary?« Lange Zeit saßen sie da, die Finger auf den hölzernen Zeiger gelegt. Der Wind heulte um das Gebäude, ließ die Fensterscheiben klirren, pfiff durch die Ritzen im Holz und drang tief in die alten Knochen des Hauses. Der Zeiger war vollkommen leblos. Wieder sah Lisa Robin an. »Nada. Er ist weg.«
KAPITEL 8
Die Stimmung war auf dem Nullpunkt, als sie mit Martins Kerzen in den Händen hintereinander nach oben gingen. Das flackernde Kerzenlicht erschwerte die Orientierung, so dass sie sich am Geländer entlangtasten mussten. Die Stufen knarrten lauter, als es Robin bei Tag jemals aufgefallen war. Keiner sagte ein Wort. Nach der unvermittelten Vertrautheit war es, als wären sie mit einem Mal wieder Fremde. Fast, als würden wir uns schämen. Robin brannte darauf zu fragen, die Eindrücke zu vergleichen, um herauszufinden, ob jemandem klar war, was sich vorhin abgespielt hatte. Ist es nur mir passiert?, fragte sie sich, während ein Anflug von Paranoia in ihr aufflackerte. Haben sich die anderen verbündet, um mir einen Streich zu spielen? Unbehaglich dachte sie an Martins Bücher auf dem Tisch zurück. Psychoanalyse und Okkultismus. Traum und Telepathie. Sollte sich das Ganze als mieser, demütigender Trick herausstellen? Robin erhaschte einen Blick auf Patricks Gesicht, das im Kerzenlicht erschreckend derb wirkte, und wandte sich bestürzt ab. Als sie zum Treppenabsatz im zweiten Stockwerk gelangten, blieb Martin stehen, um etwas zu sagen, doch Patrick brach das Schweigen als Erster und räkelte sich einladend. »Tja, Ladies, ich schlafe an Feiertagen nur ungern allein. Also, was sagst du, Marlowe?«
Mit einer abrupten Bewegung wich Lisa ihm aus, als er versuchte, sie an sich zu ziehen. »Nach Miss Tri Delt würdest du mit mir wohl kaum fertig werden.« Lüstern grinste Patrick sie an. »Ich wette, Martin täte es gut, mal ordentlich rangenommen zu werden.« Martin senkte den Kopf und verschwand im dunklen Gang des Jungenflügels. »Oh Gott, du bist so ein Arschloch«, platzte Lisa heraus. »Willst du ihn zurückhaben? Das kann ich arrangieren, kein Problem.« Lisa verpasste Patrick eine schallende Ohrfeige. Im ersten Moment herrschte eisige Stille, dann packte Patrick sie grob am Arm, drückte sie gegen die Wand und presste sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen sie. Beide atmeten heftig. Lisas Augen funkelten vor Wut. Die sexuelle Spannung zwischen ihnen war mit Händen greifbar. Robin stand mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Wand. Unsichtbar. Patrick lächelte herablassend, löste sich von der Wand und ließ Lisa los. »Das Sperma nicht wert.« »Das wirst du nie erfahren«, konterte Lisa, während er im dunklen Korridor verschwand. Sie fuhr herum und rauschte ohne ein weiteres Wort durch die Tür des Mädchenflügels. Robin blieb allein zurück. Verlassen. Wenige Augenblicke später folgte sie Lisa in die Dunkelheit des Mädchenflügels – und erstarrte mit hämmerndem Herzen. Eine spitz zulaufende Flamme schwebte vor ihr in der Düsternis des Korridors. Robin hielt den Atem an, ehe ihr aufging, dass es ihre eigene Kerze war, deren Feuer vom Spiegel an der Wand zurückgeworfen wurde.
Sie drehte sich um und sah Lisa, die an der Wand stand und sie beobachtete, während ihr Gesicht von ihrer eigenen Kerze erhellt wurde. »Willst du bei mir schlafen?«, fragte sie unvermittelt. Robin hatte nicht mit diesem Vorschlag gerechnet – wieder erfasste sie Paranoia. War das ein Teil des Spiels? Robin in ihr Zimmer zu locken und sie zu Tode zu ängstigen, wenn sie erst schlief? Doch dann fiel ihr die Energie der Planchette unter ihren Fingern wieder ein und das geheimnisvolle Zitat über die Dämonen, das am Ende auf dem Brett erschienen war. Welche Gemeinheit Lisa sich auch ausdenken mochte – nichts konnte schlimmer sein, als allein in ihr Zimmer zurückkehren zu müssen. Sie nickte knapp. »Okay.« Lisa ging den langen Korridor entlang. Robin folgte ihr durch die Dunkelheit bis zu einer Tür mit – Ein Fenster?, dachte Robin erstaunt. Sie betrachtete die Tür genauer und stellte fest, dass es sich um einen gemalten Fensterrahmen handelte. Dahinter erstreckte sich unter einem riesigen Vollmond eine nächtliche Wüstenlandschaft mit Sanddünen. Interessant. Wir sind allesamt so viel interessanter, als zunächst gedacht. Lisa reichte Robin ihre Kerze, um die Tür aufschließen zu können, und ließ sie eintreten – in ein Zimmer, das wie ein marokkanischer Harem aussah. Einen Moment lang vergaß Robin ihren Argwohn und ließ den Blick staunend schweifen – über die beiden zu einem breiten, behaglichen Lager zusammengeschobenen und mit Schleiern drapierten Einzelbetten, über die Spiegel mit Zinnrahmen, über den Paravent aus geschnitztem Holz und die dicken Kissen auf dem Boden. Überall lagen aufgeschlagene
Bücher, daneben quollen Aschenbecher über. Robin bemerkte die geöffnete Hülle einer Madonna-CD auf der Kommode. Also hatte Martin Recht, dachte sie erschrocken. Oder hat er Lisa schon vor heute Abend gekannt? Wieder überkam sie eine Übelkeit erregende Woge der Paranoia. Robin wandte sich um und ertappte Lisa, die sie eingehend musterte. »Du hast ein Einzelzimmer?«, fragte sie errötend. In gespielter Unschuld riss Lisa die Augen auf. »Offenbar hält es keine Zimmergenossin mit mir aus. Oh je.« Sie grinste Robin an und warf ihr ein T-Shirt zu, dann zog sie ihren zerrissenen Pulli über den Kopf und schälte sich mit betonter Lässigkeit aus ihrer Corsage, wobei sie ein tätowiertes keltisches Schriftzeichen auf ihrer linken Brust entblößte. Sie wandte sich um und betrachtete sich im Schrankspiegel, strich sich über den Bauch und fuhr mit den Händen den Schwung ihrer Taille nach, während sie Robins Blick im Spiegel festhielt. Meine Güte, bei dir muss immer alles mit Show verbunden sein, oder?, dachte Robin, dennoch spürte sie die Spannung im Raum, elektrisierend und prickelnd. Ärgerlich trat Robin ans Bett, um ihre Kerze auf dem Nachttisch abzustellen, und zog den Reißverschluss ihres Rocks herunter. Also reden wir kein Wort über heute Abend? Als sie ihren Rock abstreifte, fiel Waverlys Medikamentenfläschchen aus der Tasche und rollte klappernd über den Boden. Mit vor Scham dunkelrotem Gesicht streckte Robin die Hand danach aus, doch Lisa war schneller. Sie riss das Fläschchen an sich und betrachtete es mit Kennerblick, ehe sie sich Robin zuwandte und sie forschend ansah. »Wie viele wolltest du nehmen? Alle oder nur so viele, um ein bisschen Aufmerksamkeit zu erheischen?«
Lisa schnappte nach Luft, als Robin sie unsanft am Handgelenk packte und festhielt. »Das sage ich nicht. Du warst diejenige, die den Zeiger bewegt hat, stimmt’s?« Lisa zog die Brauen hoch und lächelte dünn. »Schätzchen, ich schwöre – ich dachte, du warst es.« Einen Moment lang sahen sie sich an. Robin fröstelte. Dann zuckte Lisa die Achseln. Ihre Augen glitzerten. »So, so. Das könnte interessant werden.« Sie stieg ins Bett, wobei sie ihre langen Beine entblößte, und kuschelte sich unter die Decke. Robin ließ sich auf die andere Seite des Bettes sinken, verwirrt – und zugleich seltsam fröhlich. Lisa schraubte den Deckel von Waverlys Tablettenfläschchen ab, schob sich eine in den Mund und hielt sie Robin hin. »Valium?« Robin schüttelte den Kopf. Lisa beugte sich über den Nachttisch, um die Kerzen auszublasen, ehe sie innehielt. Ihr Gesicht war leicht verzerrt von den tanzenden Schatten. »Nacht, Zachary«, rief sie fröhlich in die Schatten. »Träum was Schönes.« Und damit blies sie die Kerzen aus.
KAPITEL 9
Die letzte Kerze erlosch, ertrank in ihrem eigenen Wachs. In der vollkommenen Dunkelheit von Lisas Zimmer schliefen die Mädchen, jede ganz auf ihrer Seite des Bettes. Doch da war noch etwas anderes im Raum. Etwas, das nicht schlief. Die Dunkelheit schien zu atmen… Stirnrunzelnd regte Robin sich… Schlug die Augen auf… Ein blasser junger Mann stand im Schatten am Fußende des Bettes und sah auf sie herab, seine tief liegenden Augen waren dunkel und unergründlich… Mit einem Ruck fuhr Robin hoch. Ihr Herz hämmerte, während ihr Blick auf das Fußende des Bettes fiel. Niemand. Langsam atmete sie aus, als ihr bewusst wurde, dass sie geträumt hatte. Sie setzte sich auf und sah sich um. Sie hatte noch immer eine Gänsehaut auf den Armen, aber es war niemand im Raum. Natürlich nicht, schalt sie sich. Was denkst du denn? Mittlerweile drang gräulich-schmutziges Licht ins Zimmer, das zumindest hell genug war, um es als Nachmittagslicht zu erkennen. Sie sah nach links. Lisa hatte sich auf ihrer Seite des Bettes ausgebreitet und schlief tief und fest. Robin sah an ihr vorbei zum Fenster hinaus, auf einen weiteren, düsteren Regentag. Die Erinnerung an den Vorabend kam zurück, eine Flut eigentümlich bestürzender Bilder und Gefühle. Das elektrische Prickeln in den Fingerspitzen, das schockierende Gefühl, jemanden zu spüren oder etwas, das sich im selben Raum
aufhielt und den Zeiger bewegte, die Angst und das übermächtige Hochgefühl, die Verheißung etwas unglaublich Geheimnisvollen, das sich knapp außerhalb ihrer Reichweite befand. Sie war verwirrt, erregt, fühlte sich lebendig. Zum ersten Mal seit langer Zeit konnte sie es kaum erwarten, was als Nächstes passieren würde. Sie setzte sich auf, getrieben von einem schier unbezwingbaren Bedürfnis zu lachen, doch riss sie sich zusammen, holte tief Luft und stieg so leise wie möglich aus dem Bett. Lisa rührte sich nicht. Kaum war sie angezogen und hatte sich das Haar glatt gestrichen, schlüpfte sie leise aus dem Zimmer und zog mit einem Sartre-Kaffeebecher von Lisas Bücherregal in der Hand die Tür hinter sich zu. Sie spähte den Korridor entlang. Da die Deckenbeleuchtung immer noch nicht funktionierte und sämtliche Türen geschlossen waren, erstreckte sich der Flur so dunkel vor ihr, als wäre es mitten in der Nacht. Sie verharrte einen Moment, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, ehe sie sich durch das finstere Treppenhaus in den ersten Stock hinunterarbeitete. In der winzigen Küche herrschte ebenfalls Dunkelheit, da auch dort das Licht nicht funktionierte. Robin trat ein – und erstarrte. Jemand stand an der Arbeitsplatte. Sie erkannte die sehnige Gestalt, bevor Cain sich mit einer Kaffeekanne in der Hand umdrehte. Auf seinem schwarzen T-Shirt war ein Augapfel mit Zylinder und Frack aufgedruckt – zweifellos das Logo einer Band, die Robin erkannt hätte, wäre sie halbwegs hip. Seine Züge erhellten sich bei ihrem Anblick. »Oh, hey.« Einladend hielt er die Kanne hoch. »Wie hast du den warm gekriegt?«, fragte Robin erstaunt.
Cain zuckte die Achseln und schnippte sein Zippo-Feuerzeug mit der freien Hand an. »Jeder Versuch, mich vom Kaffee fernzuhalten, ist zwecklos.« Robin trat vor und streckte ihm die Sartre-Tasse entgegen. Als sie voll war, hob er den Kopf. Ihre Blicke begegneten sich. »Noch irgendwelche Spuk-Ereignisse gestern Abend?«, erkundigte er sich mit vor Hohn triefender Stimme. »Es hat aufgehört, nachdem du weg warst«, gab sie lässig zurück. »Wir dachten, du wärst es gewesen.« Freude durchströmte sie, als er in Gelächter ausbrach. »Erwischt.« Wieder begegneten sich ihre Blicke, und Robin spürte eine Woge der Wärme. Rasch wandte sie den Blick ab und nahm verwirrt einen großen Schluck Kaffee, an dem sie sich prompt den Gaumen verbrannte. Die Anziehungskraft war immer noch spürbar, als sie nebeneinander verlegen den Korridor entlanggingen. Robin schwieg. Sie war unsicher, was sie mit Mr. Skepsis im Hinblick auf den Vorabend reden sollte. Doch dann ertappte sie ihn dabei, dass er sie anstarrte. Ihre Arme berührten sich, und es fühlte sich an wie ein Stromschlag. Robin wich zurück und begann eilig zu reden, angestachelt vom Koffein und ihrer Nervosität. »Was ist eigentlich dein Hauptfach?« Ihre Frage entlockte ihm ein Lächeln. »Vorbereitung auf Jura – sieht man das nicht?« Sie merkte, dass sie ebenfalls lächelte und sich entspannte. »Und du?« »Ich habe mich noch nicht festgelegt«, erklärte sie. »Sieht man das nicht?«, fügte sie spontan hinzu. Diesmal lachte Cain nicht, sondern sah sie so eindringlich an, dass sie den Blick abwenden musste. Inzwischen hatten sie das Erdgeschoss erreicht, und obwohl Robin sich nicht über die Richtung bewusst gewesen war, die
sie einschlugen, schien es unvermeidlich, dass sie die Halle bis zum Aufenthaltsraum durchquerten. Sie traten durch den Torbogen und blieben abrupt stehen. Robin spürte, wie sämtliche Luft aus ihren Lungen entwich. Im Salon herrschte das reinste Chaos. Möbel waren umgestoßen, die Couch ans andere Ende des Zimmers gezerrt und mit einer Seite gegen die Wand gelehnt worden, Bücher aus den Regalen lagen verstreut herum, als hätte ein Wirbelsturm getobt. Robin sah sich wortlos um. Cains Gesicht sah im grauen Licht angespannt aus. »Jemand spielt ein Spielchen mit uns.« Erschrocken fuhr Robin herum. »Wer?« Seine Augen verengten sich. »Riecht nach einem Verbindungsbruder.« Robin versteifte sich. Sie verspürte das Bedürfnis, Patrick zu beschützen, sagte jedoch nichts, während sie langsam den Raum betrat. Der runde Tisch, an dem sie und Lisa am Vorabend gesessen hatten, stand noch vor dem Kamin – scheinbar der einzige Gegenstand, der nicht umgekippt worden war. Sie trat davor. Das Brett stand exakt in der Mitte des Tisches, der Zeiger verharrte über dem Buchstaben Z Robin schnappte nach Luft und starrte darauf. Eilig trat Cain neben sie. Bestürzt sah sie ihn an. Cain machte Anstalten, den Kopf zu schütteln, als etwas hinter ihnen polterte und sie herumfuhren. Patrick stand mit einer Bierflasche in der Hand im Türrahmen und sah sich um. »Whoa…« »Lass gut sein. Wir wissen, dass du das warst«, stieß Cain hervor. Bevor Robin protestieren konnte, starrte Patrick Cain aufgebracht an. »Blödsinn. Nicht ihr?«
Cain lachte trocken. »Ich fasse diesen ganzen Schwachsinn nicht!« Patrick streckte die Arme aus – der Inbegriff der Unschuld. »Hey, ich war’s nicht, Mann. Vielleicht Marlowe.« »Klar. Die kleine Lisa wirft alle Möbel um.« In diesem Moment betraten Lisa und Martin den Raum. Auch sie blieben im Türrahmen stehen und starrten fassungslos auf das Chaos. »Oh mein Gott«, flüsterte Lisa. Patrick wandte sich zu ihr um. »Patrick hat uns ein Geschenk hinterlassen.« Ungläubig blinzelnd sah Martin sich um, besah den Schaden, dann blickte er Patrick ins Gesicht. Cain blieb die Bedeutung dieser Geste nicht verborgen. »Ja, das denke ich auch.« »Er könnte es genauso gewesen sein«, sagte Patrick zu Cain. »Einer von ihnen oder alle beide.« Er wedelte in Lisas und Martins Richtung. Martin sah Robin an. »Ihr habt das nicht getan? Das hier ist kein Scherz?« »Ich weiß es nicht.« Schweigend standen sie im düsteren Licht des Aufenthaltsraumes. Lisa strich ihr Haar aus dem Gesicht. »Tja, aber ich weiß es. Zeig es ihnen.« Sie stieß Martin an – eine überraschend vertrauliche Geste. Martin zog die Zeitung unter dem Arm hervor und schlug den Sportteil auf, um ihnen die Schlagzeile zu zeigen. Er präsentierte sie wie ein Anwalt sein »Beweisstück A«. CORNHUSKER ROUT – 28:14 Patrick japste. »Alabama gewinnt mit 14 Punkten. Da hol mich doch der Teufel.« Er schnappte die Zeitung und überflog den Artikel.
Robin schwankte. Das konnte niemand wissen. Keiner von uns. »Und jetzt verrat mir mal, wie wir das nennen sollen, Kumpel«, höhnte Lisa. Cains Miene war ausdruckslos. Er warf Robin einen scharfen Blick zu, den sie bestürzt erwiderte. Lisa zog einen Stuhl heran und setzte sich vor das HexenBrett. »Okay, Zach. Zeit aufzuwachen.« Erwartungsvoll sah sie zu Robin hoch. Ihre Augen glitzerten im schwachen Licht. Patrick blickte von der Zeitung auf und musterte die anderen. »Wie zum Teufel konnte jemand so was wissen?« Seine Augen blieben an Lisa hängen. Lisa lächelte ihn katzengleich an. »Wir nicht. Zachary hat es gewusst.« »Blödsinn«, stieß Cain mit eisiger Stimme hervor. »Trotzdem ist es interessant, oder nicht?«, warf Martin ein. »Mir fällt jedenfalls keine logische Erklärung dafür ein, wie jemand die Spielergebnisse wissen konnte. Was zwei Möglichkeiten lässt: Zufall…« Er machte eine dramatische Pause. Effekthascherei, dachte Robin. »Oder… wir haben eine Art Vorahnung, eine Präkognition, gehabt. Vielleicht durch unsere vereinte Konzentration auf das Brett.« Lisa setzte sich auf ihrem Stuhl zurück und lachte. »Wir können weiterhin das Offensichtliche ignorieren. Wir können ihn aber auch einfach fragen. Zachary.« Cain stieß ein knappes Lachen aus und schüttelte den Kopf. »Es ist dein Spiel. Dann mach weiter.« Sein Blick blieb an Robin hängen, und einen Moment lang dachte sie, er würde noch etwas sagen, doch er wandte sich zum Gehen und ließ die vier im schwach erleuchteten Aufenthaltsraum zurück. »Robin«, drängte Lisa. Robin trat einen Schritt vor.
»Ich mache es«, erklärte Martin unvermittelt und schob sich an Robin vorbei. Gleichzeitig streckten beide die Hände aus, um sie auf die Planchette zu legen, und Robin fiel auf, dass sie seltsam vertraut miteinander zu sein schienen. Patrick trat näher. Einen Moment lang begegnete er ihrem Blick, dann sah er weg. Lisa legte ihre Fingerspitzen auf den Holzzeiger. »Zachary, bist du da? Wir wollen mit dir reden.« Es war still im Raum. Robin ertappte sich dabei, dass sie den Atem anhielt. Die Bäume vor den hohen Fenstern wiegten sich im Wind. Doch die Planchette bewegte sich nicht unter Lisas und Martins Händen. »Zachary, warst du das mit den Möbeln?«, fragte Lisa. Noch immer verharrte die Planchette über den Buchstaben. Lisa verlagerte das Gewicht auf ihrem Stuhl. »Bitte, willst du nicht kommen und mit uns reden?«, lockte sie. Nichts. Ungeduldig trat Robin näher an den Tisch. Mit Martin wird es nicht funktionieren. Er weiß es, schließlich haben wir es gestern Abend selbst erlebt. Lisa sah zu Robin hoch, als könnte sie ihre Gedanken lesen. Martin musterte die beiden Mädchen, ehe er widerstrebend aufstand und Robin den Platz überließ. Robin setzte sich und legte die Hände auf den Zeiger. Lisa sah ihr in die Augen und presste die Finger ebenfalls darauf. »Zachary…« Martin und Patrick standen neben dem Tisch. Alle hielten den Atem an. Robin beugte sich leicht vor, versuchte etwas zu erspüren… irgendetwas… »Zachary…« Die Planchette verharrte noch immer leblos unter ihren Fingern. Lisa sah Robin an. Robin schüttelte kaum merklich den Kopf. »Er ist nicht da.«
Martin nickte und betrachtete nachdenklich zuerst die Mädchen, dann das Brett. »Die Bedingungen stimmen nicht. Wieso?« Robin musterte die Gestalten vor dem Hintergrund der umgekippten Möbel. Sie konnte nicht sagen, warum, aber aus irgendeinem Grund wusste sie es plötzlich. »Cain. Wir brauchen alle fünf.«
KAPITEL 10
Draußen regnete es ununterbrochen. Auf den Rasenflächen vor den Campusgebäuden bildeten sich riesige Pfützen, während sich die Pfade unter den durchnässten Blätterdächern in schlammige Bäche verwandelten. Robin saß mit einem aufgeschlagenen Buch auf dem Schoß auf dem Fensterbrett, als wollte sie sich einreden, sie könnte allen Ernstes lernen. Doch ihr Blick war auf den Spiralnotizblock geheftet, auf dem sie eine reichlich romantische Skizze des blassen jungen Mannes aus ihrem Traum anfertigte. »Zachary«, schrieb sie darunter. Dann hielt sie einen Augenblick inne, ehe sie den Buchstaben Q hinzufügte. Sie starrte auf das Blatt, fuhr den Buchstaben nach und versuchte, sich an den Rest des seltsamen Wortes zu erinnern, das gestern Abend auf dem Brett gestanden hatte. Qloth? Qiloth? Doch es wollte ihr nicht einfallen. Sie spürte, wie der eisige Wind durch die Scheiben drang und versuchte, sich Zugang zum Haus zu verschaffen. Hastig zog sie die Tagesdecke enger um sich und sah nachdenklich hinaus. Der Wind zerrte heftig an den Bäumen, ließ die Äste beben, die Stämme schwanken. Robin erschrak, bestürzt über die Gewalt der Elemente. Sie spürte den Zorn dort draußen, den Zorn, ausgeschlossen zu sein. Etwas unterbrach ihre Gedanken, und sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Zimmer zu, lauschte.
Da draußen auf dem Gang war etwas. Zunächst spürte sie es eher, als dass sie es hörte. Schritte, gedämpft vom Teppich, kaum vernehmbar… sie kamen näher… blieben vor ihrer Tür stehen. Robin starrte auf die Tür, wartete auf ein Klopfen. Stille. Sie spannte sich an. Nach ein paar Augenblicken streifte sie die Daunendecke von den Schultern, stand auf und ging zur Tür, streckte die Hand aus – In ihrem Nacken prickelte es. Sie hielt inne, die Finger nur wenige Zentimeter vom Türknauf entfernt. »Hallo?«, fragte sie argwöhnisch in die Stille hinein. Keine Antwort. Sie lauschte. Aber es fühlte sich an, als wäre etwas dort draußen. Panik stieg in ihr auf. Sie stand da wie gelähmt, mit hämmerndem Herzen. Sie schloss die Finger um den Türknauf, drehte ihn und öffnete. Auf dem Korridor sah sie nach links und rechts, dann schlug sie die Tür wieder zu. In diesem Augenblick klapperte etwas hinter ihr. Erschrocken wirbelte sie herum – und sah, wie etwas an der gegenüberliegenden Wand sehr schnell nach unten fiel und hinter Waverlys Schreibtisch auf den Boden krachte. Wie erstarrt stand sie da. Ihr Puls raste. Ihre Kehle fühlte sich vor Angst wie zugeschnürt an. Tödliche Stille. Nichts regte sich. Hör auf, befahl sie sich. Etwas ist von der Wand gefallen. Geh hin und sieh nach. Sie riss sich zusammen und trat vor den Schreibtisch. Vorsichtig spähte sie dahinter und runzelte die Stirn. Sie hockte sich hin, streckte die Hand aus und zog ein schmales,
dekoratives Regalbrett hervor. An der Wand über ihr klaffte das Loch im Putz, der Nagel war verschwunden. Dummkopf. Es ist gar nichts. Du hast die Tür zugeschlagen, schon vergessen? Die Erschütterung… Doch dann sah sie den Gegenstand in ihrer Hand an. Ihr stockte der Atem. Ein Regal. Ein Regal »Die Regale«, flüsterte sie triumphierend.
Der Aufenthaltsraum war ausgekühlt und leer. Keiner hatte die Möbel wieder an ihren Platz gestellt. Zögernd stand Robin im Türrahmen und betrachtete das unheilvolle Chaos der umgekippten Möbel. Ihre Silhouetten hoben sich gegen das Zwielicht ab, das durch die Fenster hereindrang. Wer hatte das getan? Patrick war der am meisten Verdächtige, das musste sie zugeben. Jedenfalls hatte er ausreichend Kraft, und, ja, eine derartige Tat war ihm durchaus zuzutrauen. Aber Cain war ebenfalls stark, außerdem war er von Anfang an gegen die ganze Seance-Geschichte gewesen. Das bedeutete, er könnte sie ohne weiteres schikanieren – um ihnen eine Lektion zu erteilen. Lisa konnte man kaum weiter als bis zur Tür trauen, und es lag auf der Hand, dass sie alles tun würde, was ihr Aufmerksamkeit verschaffte, doch sie hatte die ganze Nacht neben Robin im Bett gelegen. Und Martin… das war einfach unwahrscheinlich. Aus irgendeinem Grund bezweifelte Robin, dass er sich dazu hinreißen ließe, ihnen einen so bösen Streich zu spielen. Trotzdem formte sich ein Gedanke in ihrem Hinterkopf: Vielleicht als Experiment? Eine Art… psychologischer Test?
Unbehagen keimte beim Gedanken an die Bücher auf, in die Martin vertieft gewesen war. Psychoanalyse und Okkultismus. Traum und Telepathie. Sie sah sich in dem chaotischen Raum um. Wer auch immer das getan hatte – als sie alle noch zusammen gewesen waren, hatte das Ganze nicht so unheimlich gewirkt wie jetzt. Und was, wenn keiner von ihnen dafür verantwortlich war? Sie erschauderte und schlang sich die Arme um den Oberkörper. Aber genau das willst du doch, oder nicht? Du willst, dass es Zachary war. Du willst, dass er real ist. Ein Luftzug streifte über ihr Haar, warm, wie ein Atemzug. Jäh fuhr sie herum, doch da war niemand. Natürlich nicht. In diesem Moment fiel ihr Blick auf die eingebauten Bücherregale an der Wand. Einige große Bände waren aus den unteren Fächern gerissen worden und lagen verstreut auf dem Boden, einige aufgeschlagen und mit den zerknitterten Seiten nach unten. Stirnrunzelnd zwang Robin sich, weiter in den Raum zu gehen, vorbei an dem umgekippten Tisch, an dem Martin gelernt hatte, über die Kerzen und die umgeworfenen Stühle auf dem Boden. Sie stand vor einem Stapel Bücher und sah zu den Regalböden hinauf, auf denen sie gestanden hatten. Zwei lange Regale voller schmaler hoher Bücher mit Ledereinband. Robins Augen weiteten sich, als ihr aufging, was sie vor sich hatte. Jahrbücher. Einige von ihnen lagen so auf dem Boden, dass die Schwarzweißfotos ernst dreinblickender Studenten zu
erkennen waren. Sie sahen jünger und zugleich älter aus, als Robin sich fühlte. Doch ein Band zog ihre Aufmerksamkeit ganz besonders auf sich. Ohne zu zögern, bückte sich Robin zu dem Buch, das mit dem Gesicht nach unten herausgefallen war und nun mitten in einer Rose des Teppichmusters lag. Auf dem Einband war eine leicht rissige goldene Zahl eingeprägt. 1920. Sie berührte die Zahl und spürte wieder dieselbe Energie, die auch von der Planchette ausgegangen war. Robin schlug den Band auf, doch bevor sie den Blick auf die Seite richtete, wusste sie bereits, was sie sehen würde.
KAPITEL 11
Robin stand vor Lisas Zimmer und hämmerte an die Tür mit der mondbeschienenen Wüstenlandschaft. Nach einer halben Ewigkeit ging die Tür auf, und Lisa stand in Morgenrock und Unterwäsche vor ihr. Sie hatte sichtlich Mühe, ihre schwarz umrandeten Augen aufzuschlagen, und sah völlig fertig aus. Robin hielt das Jahrbuch mit dem abgewetzten Ledereinband und dem goldenen Prägeschriftzug BAIRD LAW SCHOOL 1920 in die Höhe. »Sieh dir das an.« Ihr Gesicht glühte vor Aufregung. Mit zusammengekniffenen Augen musterte Lisa das Buch, das auf einer Seite mit einem ganzseitigen Schwarzweißfoto und einer Widmung aufgeschlagen war. »In Memoriam ZACHARY PRINCE 1901-1920.« Das Foto zeigte einen blassen jungen Mann, der verblüffend der Gestalt aus Robins Träumen ähnelte – auf düstere Weise attraktiv, mit dunklem Haar und gequältem Blick. Lisa sog bewundernd die Luft ein. »Junge, Junge«, murmelte sie. Robins Augen funkelten. »Er war hier. Auf der Jurafakultät. Er ist hier gestorben – 1920.« Die Mädchen sahen einander mit wachsender Begeisterung an. Sie knieten sich vor Lisas Bett, das Jahrbuch aufgeschlagen zwischen ihnen auf der Tagesdecke, und suchten Seite um Seite auf Hinweise ab, wer Zachary gewesen war. Die Inschrift unter dem Foto war von einer schier unerträglichen Diskretion
und etwas beängstigend: »Erhebt, erhebt Euch vom Tode, zahllose Unendlichkeiten der Seelen.«
Es gab weder Details über Zacharys Tod noch weitere Fotos von ihm, abgesehen von einer kleineren Version seines Fotos inmitten seiner Kommilitonen aus dem dritten Studienjahr. »Law Review und Sigma Chi« stand darunter. »Das war Mendenhall früher. Das Verbindungshaus von Sigma Chi«, murmelte Lisa. »Deshalb gehe ich jede Wette ein, dass er hier gewohnt hat. Wahrscheinlich ist er hier gestorben.« Obwohl es höchst unwahrscheinlich war, dass sie etwas finden würden, fuhren sie Lisas Laptop hoch und gaben eine Suche bei Google ein. Der Name Zachary Prince ergab 212 000 Treffer, doch keiner von ihnen stand im Zusammenhang mit Mendenhall, Baird oder Todesanzeigen aus dem Jahr 1920. »Verdammt, verdammt, verdammt.« Frustriert klappte Lisa den Computer zu. »Wir müssen herausfinden, was passiert ist.« »In der Bibliothek gibt es bestimmt alte Zeitungen«, warf Robin ein. Lisa verzog das Gesicht. »Die natürlich bis Montag geschlossen ist.« Sie lächelte hinterhältig. »Tja, dann werden wir ihn wohl fragen müssen.«
Lisa trug einen zerrissenen Pulli aus schwarzem Kaschmir, unter dem ihre purpurfarbene Spitzenunterwäsche hervorblitzte, als sie an eine Tür im Jungenflügel hämmerte. Robin stand direkt hinter ihr. Lisa schlug noch einmal gegen die Tür. »Geh zum Teufel«, hörten sie Patrick stöhnen.
Lisa streckte die Hand nach dem Türknauf aus. Er ließ sich drehen. Sie öffnete die Tür und trat ein, gefolgt von Robin. Überall an den Wänden hingen Rockposter, und die Regale waren vollgestopft mit Souvenirs von irgendwelchen Konzerten. Ansonsten wirkte das Zimmer erstaunlich ordentlich… fast penibel. Patrick lag mit nacktem Oberkörper und zerzaustem Haar auf dem Bett, ein Anblick, der Robin erröten ließ. Lisa hingegen zeigte sich unbeeindruckt. »Wir brauchen dich, Cowboy«, erklärte sie ihm, sprang aufs Bett und brachte die Matratze zum Wippen. »Das sagen sie alle«, konterte Patrick und zog sie an sich, als würden sie sich seit Jahren kennen. Es war eine unangestrengte Intimität, die nichts von der sexuell angespannten Rivalität des Vorabends verriet. Verlegen stand Robin im Türrahmen. Patrick musterte sie und hob mit einem langsamen Lächeln die Decke auf seiner Linken. »Hier ist noch Platz für eine…« Robins Röte wurde noch eine Spur tiefer, falls das überhaupt möglich war. Lisa ließ das Jahrbuch auf Patricks Brust fallen und schlug es auf der Seite von Zacharys Foto auf. »Robin hat Zachary gefunden.« Patrick starrte das Foto an. Robin sah, dass ihm das Ganze auf die Nerven fiel. »Verdammter Mist…« Lisa rollte zur Seite, stand auf und trat energisch mit dem Fuß gegen das Bett. »Los, schwing deinen Hintern hoch und lass uns spielen gehen.« Sie schnappte das Jahrbuch, warf ihm ein Sweatshirt zu und zerrte Robin aus dem Raum. Als die Mädchen den dunklen Korridor entlang gingen, lächelte Lisa Robin wissend zu. »Er mag dich auch.«
Wieder errötete Robin. »Er ist mit meiner Zimmergenossin zusammen.« Lisa schüttelte den Kopf. »Das ist doch Kinderkram. Highschool-Theater. Er ist weg aus dem Süden, weg von Daddy… die kleine Miss klammert sich an ihn, was das Zeug hält, aber er ist besser als sie, und das weiß er genau. Baby, dieser Cowboy ist auf der Suche nach etwas ganz Großem.« Sie stürmte den Korridor hinunter und warf Robin ein angedeutetes Lächeln über die Schulter zu, ehe sie um die nächste Ecke bog. Robins Stimmung hob sich mit einem Mal, und auch sie verfiel in Laufschritt. Vor der nächsten Tür holte sie Lisa ein, die energisch klopfte. Auf der Tür war das Plastikschild eines Schnapsladens angebracht. ZUTRITT FÜR MINDERJÄHRIGE VERBOTEN Typisch Cain, dachte Robin belustigt und sah Lisa an. Woher kennt sie eigentlich ihre Zimmer?, fragte sie sich. Lisa öffnete die Tür und trat ein. Robin folgte ihr ein wenig zögerlicher. Cain lag im düsteren Licht, das durch die Fenster hereindrang, auf dem Bett und spielte eine kompliziert klingende Melodie auf einer Akustikgitarre. Er sah kaum auf, als Lisa näher trat. Robin blieb unter der Tür stehen und sah sich im Zimmer um. In den raumhohen Regalen wetteiferten juristische Bücher mit einer beeindruckenden CD- und Vinylplattensammlung. In einer Ecke standen ein elektrisches Keyboard und eine zweite Gitarre, während die Wände Poster von Malcolm X, Che Guevara und Johnny Rotten zierten.
Cain lag auf dem Bett und ignorierte demonstrativ das Jahrbuch, das Lisa ihm aufgeschlagen vor die Nase hielt. »Das habt ihr also auf dem Boden gefunden, ja? Genau auf dieser Seite aufgeschlagen. Wie praktisch, was?« »Es war nicht aufgeschlagen«, protestierte Robin wütend. Aber es lag ein wenig abseits von den anderen Büchern… fast wie mit Absicht platziert, gemahnte sie eine innere Stimme. Es könnte eine Inszenierung sein… von jemandem, der ein Spielchen spielt… »Los, komm schon mit und spiel mit uns«, drängte Lisa ungeduldig und beugte sich verführerisch über ihn, ein Knie auf dem Bett abgestützt. Cain rührte sich nicht vom Fleck, sondern musterte sie mit diesem typisch ausdruckslosen Blick aus seinen grauen Augen. »Kriegst du eigentlich jemals selbst zu viel von dir, Marlowe?« Lisas Augen funkelten, doch sie gab keinen Zentimeter nach. »Jede Minute jedes Tages, Jackson.« Die beiden starrten sich einen Moment lang an – ein hitziger, kampfeslustiger Blick. Robin spürte, wie Wut in ihr aufstieg, wie etwas nach ihrem Herzen zu greifen schien. Cain schüttelte den Kopf. »Ich passe.« Dann sah er Robin ins Gesicht. »Und ich finde, du solltest das auch tun.« Verblüfft starrte Robin ihn an. Bevor sie etwas erwidern oder auch nur über eine Antwort nachdenken konnte, herrschte Lisa ihn an: »Dann kneif eben, wenn du willst, aber verdirb wenigstens uns anderen nicht den Spaß.« Cain wandte sich wieder seiner Gitarre zu. »Wie auch immer.« Er beugte sich über die Saiten und bedachte Robin mit keinem weiteren Blick. Robin spürte, wie ihr Gesicht glühte, doch Lisa packte sie am Arm, zerrte sie aus dem Zimmer und schlug die Tür so fest zu, dass das Plastikschild auf den Boden fiel.
Doch als sie Robin Richtung Treppe bugsierte, lächelte sie fröhlich – ihr gewohnt sprunghafter Sinneswandel. »Der kommt schon«, informierte sie Robin leichthin. »Glaub mir.« Sie fanden Martins Zimmer am Ende eines sehr dunklen Korridors im zweiten Stock. Im Gegensatz zu den meisten anderen war seine Tür nicht mit irgendwelchen Schildern, Postern oder Sonstigem geschmückt. Stattdessen fiel Robins Blick auf ein kleines rechteckiges Metallkästchen, das unmittelbar unterhalb der Augenhöhe mit einem Nagel im Türrahmen befestigt und vor dem Hintergrund des dunklen Holzes kaum sichtbar war. Im Inneren des Kästchens befand sich eine kleine Pergamentrolle mit hebräischen Buchstaben. Das Wort mezuzah kam Robin in den Sinn, doch sie war nicht sicher, ob das stimmte. Lisa klopfte wieder und wieder. »Martin, wir brauchen dich. Bitte, ja?…« Keine Antwort. Lisa legte das Ohr an die Tür und lauschte, ehe sie kopfschüttelnd zurücktrat. Trotzig schob sie sich das Haar hinter die Ohren. »Komm.« Robin folgte Lisa die Treppe hinunter in den Aufenthaltsraum. Auf Lisas Gesicht lag ein entschlossener Ausdruck, als sie das Jahrbuch wie einen Schild an ihre Brust drückte. Doch ein Teil der Energie war im Lauf ihrer Mission verloren gegangen. Insgeheim bezweifelte Robin, ob sie ohne die anderen etwas würden ausrichten können. Etwas hatte sich gestern Abend zwischen ihnen ereignet. Vielleicht war es die unvermittelte, unerwartete Intimität gewesen, vielleicht das Trinken und der Joint. Aber was es auch gewesen sein mag – es hat uns alle eingeschlossen. In diesem Punkt war sie sich ziemlich sicher. Sie folgte Lisa durch die Tür und prallte beinahe gegen sie, als Lisa abrupt stehen blieb.
Martin stand mit einem Notizblock und einem Stift über das Brett gebeugt und starrte es an; eine kleine, hagere Gestalt inmitten der umgekippten Möbelstücke. »Hey!«, rief Lisa laut. Erschrocken fuhr er zusammen. Es war nicht zu übersehen, dass er nicht mit ihrem Erscheinen gerechnet hatte und sich fast ein wenig ertappt fühlte. Lisa ging über den Teppich und trat neben ihn vor den Kamin, scheinbar ohne seine Verlegenheit zu registrieren. »Wir haben nach dir gesucht«, erklärte sie mit diesem nervtötend herrischen Tonfall, an den sich Robin allmählich gewöhnte. »Wir wollen noch eine Sitzung abhalten. Du stehst doch auf Spiele, oder?« Martin sah sie blinzelnd an. »Ziemlich. Ich habe zum Thema Hexen-Bretter recherchiert. Das Internet gibt einige durchaus ernsthafte Studien darüber her.« Er nahm seine Brille ab und deutete wie ein Nachwuchsprofessor auf das Brett. »Unsere Erfahrungen waren kein Einzelfall, müsst ihr wissen. Es ist erstaunlich, wie viele Fälle außergewöhnlicher Wahrnehmung von durchaus anständigen Leuten berichtet wurden.« Lisa zwinkerte Robin zu. »Anständige Leute.« Martin setzte seine Brille wieder auf und musterte Robin – ein schüchterner Blick. »Gestern Abend ist etwas zwischen uns geschehen… der kollektive Fokus auf das Brett, wahrscheinlich die Konstellation der Persönlichkeiten, eine Art Verbindung zwischen uns allen…« Es überraschte Robin, ihre eigenen Gedanken aus Martins Mund zu hören. Hinter ihnen blies der Wind eine Regensalve heran, die wie eine Hand voll Kieselsteine gegen die Scheiben prasselte. »Zumindest haben wir eine Art mentaler Kommunikation etabliert. Höchstwahrscheinlich Präkognition, also ein Wissen im Voraus, wie das Spielergebnis in der Zeitung beweist.« Wieder sah Martin Robin an. »Vom psychologischen
Standpunkt aus gäbe das ein gutes Thema für eine Semesterarbeit ab.« »Ich unterbreche dein Freudianisches Geblubber ja nur ungern…«, schaltete sich Lisa leichthin ein und schlug das Jahrbuch vor ihm auf. Martin starrte auf das Foto von Zachary. Seine Verblüffung war nicht zu übersehen. »Zachary war so real wie du und ich. Er hat hier gelebt. Wahrscheinlich ist er hier gestorben.« »Ein Geist?« Martin sah auf, blickte jedoch nicht Lisa, sondern Robin an. »Das glaubst du doch wohl nicht.« Lisa war beleidigt. »Und wie lautet deine außergewöhnliche Erklärung für die umgekippten Möbel?« Sie deutete um sich herum. Martin sah sie blinzelnd im düsteren Licht an. »Höchstwahrscheinlich war das mit den Möbeln nur ein Streich. Wir können den menschlichen Faktor nicht außer Acht lassen«, erklärte er – der Inbegriff des trockenen Humors. Robin und Lisa brachen in schallendes Gelächter aus, ehe Lisa die Hand ausstreckte und Martin mit etwas wie Zuneigung das Haar zerzauste. »Gott, nein – das menschliche Element natürlich nicht.« Wie aufs Stichwort kam Patrick in seinem gewohnten Outfit aus Jogginghose und Sweatshirt hereingeschlendert. Gähnend ließ er den Blick durch den Raum schweifen und lächelte genüsslich. »Was denn, nichts zu essen?« Robin und Lisa sahen einander an und brachen erneut in Kichern aus, während Martin schüchtern lächelte. Robin spürte einen Anflug von Wärme und Kameradschaftlichkeit und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie den Tränen nahe war.
Patrick sah sie an, dann zog er eine volle Flasche Jack Daniels aus dem Gummibund seiner Jogginghose. »Was für ein Glück, dass ich vorgesorgt habe.« Lisa bückte sich, um die Kerzen vom Boden aufzuheben. Sie arrangierte sie auf dem Tisch und kramte in ihrer Tasche nach einem Feuerzeug. Fast automatisch wandte Robin sich ab und kniete sich vor den Kamin, um ein Feuer anzuzünden. Patrick griff nach dem Jahrbuch und blätterte es durch. »Das ist also Zach, ja? Der Bursche redet aber nicht gerade wie einer aus den 1920ern, findet ihr nicht auch?« Lisa verdrehte die Augen. »Wie redet denn ein Geist aus den 1920ern?« Patrick legte einen britischen Akzent in seinen Südstaatenzungenschlag. »Er sagt Dinge wie alter Knabe und Ich habe mich einfach prächtig amüsiert.« »Er hat nie behauptet, dass er Brite sei«, gab Lisa spöttisch zurück. Trotzdem kam Robin flüchtig in den Sinn, dass Patrick Recht haben könnte. Zacharys Sprechmuster war irgendwie ungewöhnlich. Jedenfalls nicht konstant. »Der springende Punkt ist doch«, schaltete sich Martin ein, als lese er ihre Gedanken, »dass er kein Geist ist. Die Botschaften kommen aus uns selbst.« Er blickte auf seinen Block, dessen Blätter, wie Robin sehen konnte, voller Notizen waren. »Die Geschichte des Hexen-Bretts ist wirklich faszinierend. Das Spiel kam in den 1920ern schwer in Mode. Die Okkultismusbewegung mit ihren diversen Formen des Mystizismus – Seancen, Tarot, zeremonielle Magie, Kabbala.«, erklärte er mit einem kurzen Seitenblick auf Lisa, »hatte sich aufgrund all der unvorhergesehenen Todesfälle im Ersten Weltkrieg zuerst in Europa und anschließend in
Amerika verbreitet. Und es war allgemein eine düstere Zeit. Der Zweite Weltkrieg zeichnete sich bereits ab, und natürlich…«, seine Stimme verklang, während er seine Brille abnahm und sie putzte. Robin war augenblicklich klar, was Martin nicht aussprechen wollte. Hitler. Die Nazis. Martins Erwähnung seines Vaters, eines Rabbi, kam ihr wieder in den Sinn. Wir haben alle mit unseren Geistern zu kämpfen, stimmt’s? Martin setzte die Brille wieder auf und fuhr fort. »Plötzlich war eine ganze Generation versessen darauf, in Kontakt mit ihren toten Angehörigen zu treten. Rein zufällig stammt dieses Hexen-Brett auch aus dem Jahr 1920.« Er deutete auf eine Reihe römischer Zahlen unter dem aufgedruckten BALTIMORE TALKING BOARD. Schon wieder 1920, dachte Robin. Ich frage mich… Doch der Gedanke verflog, als Martin fortfuhr. »Das Hexenbrett war eine ziemlich raffinierte technische Innovation für diese Zeit. Vor dem Aufkommen des Bretts haben die Teilnehmer von Seancen versucht, mithilfe von Tischerücken oder Klopfen Kontakt mit dem ›Jenseits‹ aufzunehmen.« Robin sah förmlich die Anführungszeichen in der Luft, als er sprach. »Es hieß, ›Geister‹ würden sich mittels Klopfen auf die Tischplatte bemerkbar machen« – er demonstrierte die Theorie, indem er kräftig auf das Holz pochte, »was die Teilnehmer zwang, ihre Fragen als Ja- oder Nein-Fragen zu stellen. Oder sie mussten die Klopfgeräusche zählen und den jeweiligen Buchstaben des Alphabets zuordnen – ein Klopfen stand für ein A, sechsundzwanzig folglich für das Z.« Er pochte einige Male – vier, fünf, sechs, dann hob er die Hände. »Tja, man kann sich vorstellen, wie mühsam es gewesen sein muss, ständig zu warten.«
»Unerträglich«, murmelte Lisa, doch alle lauschten wie gebannt Martin. Er fuhr wie ein Magier mit den Händen über das Brett. »Aber dann erfand ein gewisser Georges Planchette das Brett mit dem Alphabet und diesem kleinen Ding hier.« Er griff nach dem Holzzeiger. »Die Planchette machte es überflüssig, die Klopfgeräusche zu zählen. Stattdessen konnte das Brett selbst Worte formulieren oder Zahlen anzeigen; für die damalige Zeit eine ähnlich revolutionäre Erfindung wie das Telefon.« Robin bemerkte den aufrichtig bewundernden Unterton in seiner Stimme. Doch dann wiegelte Martin ab. »Natürlich passierte in Wahrheit nur eines: ein Automatismus. Das Unterbewusstsein der Mitspieler brachte sie dazu, den Zeiger so zu bewegen, dass die gewünschten Worte gebildet wurden. Trotzdem gibt es zahlreiche Schilderungen ungewöhnlicher Prägkognitionen und übersinnlicher Botschaften, wie wir sie gestern Abend erlebt haben.« Mit einem scheuen Seitenblick in Robins Richtung fuhr er fort. »Sowohl Freud als auch Jung haben an Seancen teilgenommen und das Phänomen untersucht. Es ist, als erhöhe die kollektive Konzentration auf das Brett aus irgendeinem Grund die Wahrnehmung.« Patrick drehte bereits einen Joint an einem der Kaffeetische. »Tja, dann wollen wir doch mal sehen, ob der gute alte Zach uns die Lottozahlen von heute verraten kann.« »Das ist ja sehr faszinierend, Herr Professor«, höhnte Lisa, ohne auf Patricks Kommentar einzugehen, »aber du übersiehst dabei den entscheidenden Punkt, dass wir mit Zachary Prince gesprochen haben.« Sie griff nach dem Jahrbuch, schlug die Seite auf und schwenkte es vor Martins Gesicht. »Er war real. Er ist hier unter geheimnisvollen Umständen ums Leben gekommen«, erklärte sie und schnitt eine Grimasse. »Und zwar 1920. Und gestern Abend hatten wir ihn am Telefon.« Sie
tippte mit ihrem dunkelrot lackierten Nagel auf das HexenBrett und lehnte sich mit gekreuzten Armen auf ihrem Stuhl zurück. »Und jetzt willst du mir erzählen, dass das aus meinem oder aus Robins Kopf kommt.« Martin schob seine Brille hoch. »Ich kann mich nicht erinnern, den Namen Prince gehört zu haben.« »Klar. Zachary ist ja so ein geläufiger Name. Das muss ein Zufall sein.« Martin runzelte die Stirn. »Es wäre nicht weiter überraschend, wenn einer von euch gehört hätte, wie über den Tod eines Studenten gesprochen wurde – oder sogar das Jahrbuch gelesen hat. Wir hatten es die ganze Zeit lang vor der Nase. Es ist wohl kaum zu übersehen.« Plötzlich wurde Robin bewusst, dass Martin Recht haben könnte und dass Automatismus nichts damit zu tun haben musste. Sie selbst hatte das Jahrbuch nicht in der Hand gehabt, aber vielleicht Lisa. Sie spürte, wie ihr gleichzeitig heiß und kalt wurde und sie ein Gefühl der Paranoia und der tiefen Verlegenheit überkam. Was, wenn der ganze Abend nur ein böser Streich war? Einfach ein Hexen-Brett in den Spieleschrank stellen, so tun, als wäre ein lange toter Student aufgetaucht, und dann das Jahrbuch aus dem Hut gezaubert, um die Geschichte zu untermauern. Und alle außer Robin waren eingeweiht… Aber Cain nicht, widersprach ihre innere Stimme augenblicklich. Und was war mit dem Spielergebnis, mit der Zeitung, die es heute Morgen bestätigt hatte? Das war doch der Beweis… Es sei denn, die Zeitung war eine Fälschung. Der Gedanke löste eine neuerliche Woge der Panik in ihr aus, ein schwankendes Gefühl, fast wie seekrank. Aber wieso? Warum sollten sie so etwas tun?
Robin warf einen flüchtigen Blick zu Patrick hinüber. Obwohl er betont lässig auf der Couch lümmelte, ließ er Lisa und Martin keine Sekunde aus den Augen. In diesem Moment wandte er den Blick ab und ertappte Robin dabei, dass sie ihn ansah. Doch der Ausdruck in seinen Augen war unergründlich. »Jedenfalls haben wir den ganzen Abend Zeit, um die Theorie zu überprüfen«, erklärte Martin Lisa leichthin. Mitten im Satz hielt er inne und sah sich stirnrunzelnd um, als suche er nach etwas. »Wo ist Jackson? Wir müssen dieselben Bedingungen schaffen.« Lisa kramte eine Zigarette aus ihrer Tasche und lächelte geheimnisvoll. »Er kommt gleich.« Patrick lehnte sich auf dem Sofa zurück und zündete seinen Joint an. Alle Blicke richteten sich auf ihn. Er hob die Hände. »Ich schaffe dieselben Bedingungen.« Martin nickte. »Allerdings. Die veränderte Wahrnehmung hat wahrscheinlich zum Gesamterlebnis beigetragen.« Patrick grinste und stieß den Rauch aus. »Zu meinem in jedem Fall.« Er reichte den Joint an Lisa weiter, die ihn entgegennahm, an die Lippen führte und kräftig daran zog. Martin fuhr fort. Fast manisch, dachte Robin. »Die Atmosphäre ist ein zentraler Faktor für die Effizienz einer Seance. Alle Bedingungen waren gestern Abend wie geschaffen – der Sturm, die Gewalt der Natur, das Kaminfeuer…« Robin war so mit ihrem inneren Kampf beschäftigt gewesen, dass sie das Kaminfeuer vergessen hatte, das sie hatte anzünden wollen. Martin bemerkte die Holzscheite. Er nahm Lisas Feuerzeug und kniete sich ein wenig umständlich neben Robin, zündete das Feuerzeug an und hielt es an die Zeitungen zwischen den Scheiten. Augenblicklich begannen die Flammen daran zu lecken und tauchten sein Gesicht in oranges Licht.
Robin erkannte, dass er durchaus attraktiv wirken konnte – die Art, wie er zum Leben erwachte, wenn er sich für ein Thema interessierte, ebenso wie das Selbstbewusstsein, mit dem er bereits den ganzen Abend den Ton angab. Martin wandte sich ihr zu und schaute ihr in die Augen. Eilig sah Robin zur Seite und spürte, wie sie rot wurde. In diesem Moment drang eine wütende Stimme von der Tür herüber. »Okay, Schluss jetzt. Das ist nicht witzig.« Alle wandten sich um. Cain stand im Türrahmen und starrte sie aufgebracht an, während die anderen verwirrte Blicke tauschten. Cains Stimme wurde noch eine Spur höher. »Das Hämmern? Gegen die Rohre?« Patrick setzte sich auf. »Wir waren alle hier. Niemand hat gehämmert.« Cain sah Robin fragend an. Unfähig, ein Wort herauszubringen, nickte sie. Martin stand vom Kamin auf und wischte den Ruß von seinen Händen. »Was genau hast du gehört?« Wieder sah Cain zu Robin, dann zu Martin. »An der Decke. Ein lautes Klopfen. Hämmern – « »Seltsam, aber hast du nicht gerade gesagt, Geister könnten über Klopfzeichen kommunizieren?«, wandte sich Patrick mit erhobenen Brauen an Martin. »Leute – «, unterbrach Lisa sie mit atemloser Stimme. Alle wandten sich ihr zu. Die Planchette bewegte sich unter ihren Fingern. Ihre Augen waren weit aufgerissen. »Er ist hier.« Erregung durchzuckte Robin, vermischt mit Unbehagen, Zweifel und einer neuerlichen Woge von Paranoia. Ein Streich? Ein Geist? Was war hier los? Lisa sah von dem langsam kreisenden Zeiger hoch und begegnete ihrem Blick – Robin erkannte so etwas wie
Hilflosigkeit, ja, einen Anflug von Furcht hinter der offensichtlichen Erregung. Robin biss sich auf die Lippe. Geh, dachte sie. Geh einfach wieder nach oben. Doch dann siegte die Sehnsucht dazuzugehören, Teil von etwas Außergewöhnlichem zu sein. Kurzentschlossen setzte sie sich Lisa gegenüber und legte die Hände über die Planchette. Die Berührung wirkte wie ein elektrischer Schock – hier war etwas so eindeutig Lebendiges, dass ihr der Atem stockte. Ungläubig sah sie Lisa an. Diese begegnete ihrem Blick und nickte. Auch sie spürte es. »Gütiger Himmel«, stieß Cain genervt hervor und wandte sich zum Gehen. Mit einem Mal erwachte die Planchette zum Leben und begann, hektisch und eindringlich zu buchstabieren. Robin starrte auf die fremden Worte. Lisa las die einzelnen Buchstaben nacheinander mit leiser Stimme vor und suchte nach dem Sinn der Worte. Latein, wurde Robin plötzlich klar. Lisa sprach den ganzen Satz aus. EVIDENTIA EXCULPARE ANWALT? Cain blieb wie erstarrt im Türrahmen stehen. Robin fragte sich, was der Satz zu bedeuten hatte. War es ein juristischer Begriff? Evidenz? Hatte es etwas mit Beweis zu tun? Ihr fiel wieder ein, dass Zachary ebenfalls Jura studiert hatte. Ungeduldig schnippte Patrick mit den Fingern in Cains Richtung. »Und? Was heißt das?« Cain warf ihm einen finsteren Blick zu. »Entlastungsbeweis. Ich habe eine Arbeit darüber geschrieben – gerade eben.« Er musterte Lisa mit wachsendem Argwohn. Sie erwiderte den Blick trotzig. »Er hat es gesagt. Nicht ich.« »Wieder Telepathie«, sagte Martin, mehr zu sich selbst als zu den anderen, zog seinen Block heran und machte sich Notizen.
Lisa presste die Fingerspitzen auf den Zeiger und hob die Stimme. »Zachary, hast du geklopft?« Ein Puffen, dann ein Zischen, gefolgt von einem orangen Licht… das Holz im Kamin hatte Feuer gefangen. Alle fuhren erschrocken herum. Der Zeiger erwachte zum Leben. Robin spürte das eindringliche Ziehen in den Händen. Viel schneller als am Vorabend, und selbstbewusster… fast frech. HABT IHR MICH VERMISST KINDER? Robins Augen weiteten sich. In ihrem Nacken prickelte es. Lisa sah sie über das Brett hinweg an, während Robin sich eindringlich vorbeugte. »Bist du Zachary Prince, der 1920 hier gestorben ist?« Der Zeiger blieb einen Moment lang reglos, ehe er ein wenig langsamer buchstabierte. ERHEBT ERHEBT EUCH VOM TODE »Die Widmung aus dem Jahrbuch«, erklärte Lisa den anderen leise. Robin erschauderte. Irgendetwas stimmte nicht. Sie spürte etwas Unheilvolles unter ihren Fingern, eine Hitze, fast so etwas wie Wut. Etwas, das sich vollkommen anders anfühlte als das spielerische Necken vom Vorabend. »Zachary, wie bist du gestorben?«, fragte Lisa. Wieder spürte Robin eine Woge der Hitze unter ihren Fingern, als sich der Zeiger schnell hin und her bewegte. VERBRANNT Robin zuckte zurück und beobachtete, wie Patrick das Gesicht verzog. »Das ist übel.« Abrupt trat Martin einen Schritt vor und starrte auf den Tisch. »Wenn du ein Geist bist, was ist dann ein Geist?«, fragte er. Der Zeiger hörte auf sich zu bewegen. Robin spürte gar nichts. Sie sah Lisa über das Brett hinweg an.
Wieder wandte sich Martin mit fordernder Stimme an das Brett. »Erklär uns, was du bist.« Der Zeiger verharrte leblos auf dem Brett. Aufgebracht beugte Martin sich über den Tisch. »Wieso willst du nicht mit mir reden?« Schatten tanzten an den Wänden, als der Zeiger sich wieder in Bewegung setzte. Müßig, in provokanten Kreisbewegungen, ehe er zielstrebig von Buchstabe zu Buchstabe glitt. FRAG FREUNDLICHER Martin wurde rot. Cain warf zuerst Lisa, dann Robin einen scharfen Blick zu. Robin schüttelte leicht den Kopf. Martin räusperte sich, zwang sich, höflich fortzufahren. »Ich… möchte gern mit dir sprechen. Bitte.« Robin zuckte zusammen, als der Zeiger seine Tätigkeit wieder aufnahm und fast hektisch buchstabierte. KRIECHE Martin wurde blass. Robin schnappte nach Luft und zog die Hände zurück. Cain trat vor. »Das reicht, Marlowe.« Lisa versteifte sich. »Ich habe nicht – « »Ich weiß, dass du es tust.« »Ich tue verdammt noch mal gar – « »Sie hat nichts getan«, unterbrach Robin. Stille senkte sich über den Raum. Die Holzscheite knackten im Kamin, als die Flammen sich in sie hineinfraßen. Langsam traten Patrick und Cain aus den Schatten, die den Tisch und das Brett umgaben. Robin kaute an den Nägeln, starrte auf die schwarzen Buchstaben, auf die verbrannten Kanten des Brettes. Verkohlt. Mittlerweile hatte die Schwärze etwas Geheimnisvolles, etwas, das keinen Sinn zu ergeben schien. Hör auf, ermahnte sie sich. Dieses Spiel gefällt mir nicht.
Cain blieb ihr gegenüber stehen und sah ihr in die Augen. Er schien etwas sagen zu wollen. Unvermittelt legte Robin die Hände wieder auf den Zeiger. Lisa sah sie an und streckte ebenfalls langsam die Finger danach aus. Für einen Augenblick fing sich das orange Licht des Kaminfeuers in einem Granatstein an einem ihrer Ringe und ließ ihn wie einen Tropfen Blut schimmern. Robin holte tief Luft. »Zachary, warum bist du so böse auf Martin?«, fragte sie mit angespannter Stimme. Der Zeiger kreiste und wanderte fast mürrisch zwischen den Buchstaben hin und her. Mit gerunzelter Stirn las Lisa die Worte vor. ADON OLAM Robin und Lisa sahen Martin an, der wie hypnotisiert auf das Brett starrte. »Was soll das…«, begann Robin. Die Planchette zuckte unter ihren Fingern und fuhr so heftig über das Holz, dass Lisa und Robin Mühe hatten, es festzuhalten. FRAGT SEINEN SCHWANZLUTSCHENDEN MEISTER DES UNIVERSUMS Lisa schnappte entsetzt nach Luft und schob ihren Stuhl zurück. Robin saß wie erstarrt da und starrte auf das Brett. Martins Gesicht war vollkommen ausdruckslos. »Meister des Universums? Ist das ein neues Videospiel? Was zum Teufel…« Patrick sah sich verwirrt um. »Gott. Es bedeutet Gott.« Martin zog Lisas Stuhl heran, ließ sich schwer darauf sinken, ehe er die Hände auf den Zeiger legte. »Los.« Erschrocken über seine Heftigkeit zuckte Robin zurück. Cain trat einen Schritt näher und stellte sich hinter Robin. »Ich glaube nicht…« Martin fixierte Robin mit funkelnden Augen. »Los.«
Wie betäubt streckte sie langsam die Hände nach der Planchette aus, wobei sie Martins eisig kalte Finger berührte. Sie hörte Martin mit krächzender Stimme fremd klingende Silben zwischen den Zähnen hervorstoßen. »Haim ata ruach o Qlippah?« Der Zeiger zuckte hektisch unter Robins Fingern, ehe er quer über das Brett sauste und klappernd gegen den Kamin prallte. »Scheiße«, schrie Patrick und wich erschrocken zurück. Robin stellte fest, dass sie neben dem Tisch stand – sie war so schnell aufgesprungen, dass sie es nicht einmal mitbekommen hatte. Alle waren auf den Beinen, außer Martin, der in ungläubigem Staunen wie erstarrt auf seinem Stuhl saß. Cain wirbelte zu Martin herum. »Was hast du gesagt, verdammt noch mal?«, fragte er mit erstickter Stimme. Martin rutschte zurück. Sein Gesicht sah aus wie Alabaster im flackernden Kaminfeuer, als er mit tonloser Stimme antwortete: »›Was bist du, Dreckskerl?‹, habe ich ihn gefragt.« Er erhob sich mit geradezu unheimlicher Ruhe und durchquerte den Raum, um den Zeiger vom Boden aufzuheben. Dann legte er ihn auf das Brett zurück und sah Robin durchdringend an. »Komm.« Cain trat einen Schritt vor. »Nein. Das reicht jetzt. Ihr habt euch viel zu sehr in diese Sache hineingesteigert.« »Komm jetzt.« Martin schrie beinahe. Robin zuckte zurück, kämpfte mit den Tränen, doch sie tastete nach dem Stuhlrücken, setzte sich und streckte die Hände nach dem Zeiger aus. »Du brauchst das nicht zu tun«, sagte Cain hinter ihr. Martin fiel ihm ins Wort. »Was bist du?«, fragte er fordernd in den Raum hinein. Jeder Ansatz wissenschaftlicher Distanz war mittlerweile von ihm abgefallen. Er hatte zu dem Geist gesprochen, als wäre er ein realer Mensch. Er legte die Finger
auf den Zeiger und starrte auf das Brett, als wäre er allein im Zimmer. Robin berührte den Zeiger mit den Fingerspitzen. Augenblicklich setzte er sich in Bewegung. Robin zuckte zurück. Etwas war anders. Keine neue Energie, sondern eine Veränderung der bestehenden Kraft. So viel… Verachtung. Boshaftigkeit. Wut. Die negative Energie drang förmlich durch ihre Finger. Doch die Worte erschienen langsam, fast provozierend. WÜRDEST DU DAS NICHT GERN WISSEN? Martin fuhr nach vorn und hob die Stimme. »Was bist du?« Die Planchette kratzte hektisch und ungestüm über das Brett. FRAG DOCH DEINEN SCHWEINE FRESSENDEN ITZIG GOTT Erschrocken riss Robin die Hände zurück. Sie spürte mehr, als dass sie sah, wie Cain hinter sie trat und ihr die Hände auf die Schultern legte. Lisa stand am Rand der Schatten und schlang sich die Arme um den Oberkörper. Martin presste die Finger auf den Holzzeiger. Sein Gesicht war kreideweiß, als er schrie: »Ich frage aber dich] Sag mir, was du bist!« Alle waren still. Der Zeiger kreiste unter Martins Händen. Wie gelähmt, die Hände im Schoß ineinander verkrallt, beobachtete Robin das Szenario, ohne Cains Hände auf ihren Schultern bewusst wahrzunehmen. Lisa hat den Zeiger nicht bewegt, dachte sie, zum ersten Mal mit absoluter Klarheit. Es war keiner von uns. Aber, oh Gott… was ist es dann? Unerbittlich formten sich die Worte vor ihnen. SAGEN? ODER Robin registrierte, wie die anderen sich vorbeugten und gebannt warteten, als die Kreise des Zeigers zu einer kaum merklichen Bewegung verebbten. Ehe die nächste Buchstabensalve folgte.
ZEIGEN? Das Wort hallte in Robins Kopf nach. Inzwischen machte sich niemand mehr die Mühe, die Worte noch laut vorzulesen. Stattdessen starrten alle in betäubtem Schweigen auf das Brett. Ihr blieb gerade genug Zeit, um sich zu fragen, Was zeigen? Wie… »Zeig es uns«, befahl Martin. »Nein – «, warf Cain augenblicklich ein. Wieder erschienen die Buchstaben rasch hintereinander. IHR WOLLT MICH KENNEN LERNEN DANN PASST MAL AUF Im Kamin brachen die Holzscheite auseinander und versprühten einen heftigen Funkenregen. Alle fünf fuhren erschrocken zusammen. Aus dem Augenwinkel registrierte Robin eine Bewegung und sah zum Spiegel über dem Kamin hinauf. Im dunklen Glas sah sie einen bleichen Schatten auf sie zustreben, als käme er aus weiter Ferne, aus einem Tunnel. Sie hatte keine Zeit zu schreien, keine Zeit zu reagieren… Nur der Bruchteil einer Sekunde blieb ihr, einen Blick zu erhaschen, ehe – Der Spiegel zerbarst. Lisa und Robin schrien. Alle fünf machten einen Satz, als die Splitter über dem Kaminsims explodierten und für einen kurzen Moment im Licht funkelten, ehe sie auf den Boden herabregneten. Keiner rührte sich. Alle standen da wie erstarrt, gelähmt vom Schock. »Verdammte Scheiße noch mal«, stieß Patrick schließlich schwach hervor. Robins Herz hämmerte. Sie hörte Martin flach neben sich atmen und sah, wie er hinter seinen Brillengläsern hektisch blinzelte. Im Raum herrschte völlige Stille, während die
Schatten noch immer an den Wänden tanzten. Glasscherben ragten wie scharfe Messer aus dem Teppichboden und funkelten im Feuerschein. Cain rührte sich als Erster. Er zwang sich, vor den Kamin zu treten, wobei er vorsichtig um die rasiermesserscharfen Scherben herumging. Er streckte die Hand aus (am liebsten hätte Robin »Nein, tu’s nicht!« gerufen, brachte jedoch keinen Ton heraus) und legte sie flach auf den bleichen Kreis an der Wand, wo der Spiegel gehangen hatte. »Heiß«, stellte er fest. Seine Stimme klang losgelöst, als wäre er in Trance. »Das Feuer muss… den Spiegel aufgeheizt haben, deshalb ist er gesprungen.« Lisa wandte sich ihm zu. »Auf welchem Planeten lebst du eigentlich?« Sie schrie fast. »Er ist also rein zufällig zerbrochen? Genau in diesem Augenblick? Klar, verdammt noch mal, das passiert ja tagtäglich.« Auch Martins Stimme klang, als käme sie aus weiter Ferne. Oder liegt es an mir?, überlegte Robin. Bin ich diejenige, die weit entfernt ist? »Hysterie«, sagte er, fast zu sich selbst. Lisa flippte aus. »Du willst mir, verdammt noch mal, nicht erzählen, ich sei hysterisch!« Martin deutete kühl und mit unnatürlicher Ruhe auf den zerbrochenen Spiegel. »Das da… Hysterie? Wir haben es an diesen Punkt getrieben. Ich habe von Berichten über ähnliche Vorkommnisse unter extremem psychologischen Stress gelesen…« Seine Stimme war tonlos, monoton. Dennoch registrierte Robin aus einer gewissen Distanz, aber ganz klar den Unterton darin. Erregung. Patrick, dessen Gestalt im Halbschatten riesig wirkte, lachte unbehaglich. »Wir sind alle ziemlich… aufgeregt.« Lisa, die bebend neben ihm stand, sah benommen aus, abwesend.
Patrick streckte seine Pranke aus und begann, ihren Nacken zu massieren. Robin spürte einen eifersüchtigen Stich, ehe sich ein Gedanke in ihr Bewusstsein schlich. Er ist an Hysterie gewöhnt. Wegen Waverly. »Ich habe etwas im Spiegel gesehen. Direkt bevor…«, hörte sie sich wie aus weiter Ferne sagen. »Ein Schatten… es ging sehr schnell… als käme etwas auf mich zu.« Die anderen standen da und musterten sie beinahe nachdenklich. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Sie fragte sich, ob sie sie vielleicht nicht gehört hatten. Die Kerzen flackerten, und die Holzscheite knackten, als die Flammen sich weiter vorwärtsfraßen. Wir haben einen Schock, dachte Robin. Deshalb fühlt sich alles so erstarrt und unwirklich an. Schließlich ergriff Cain das Wort. »Wahrscheinlich hat sich der Spiegel leicht gewölbt, bevor er gesprungen ist.« Er nickte kurz – Robin war sicher, dass es eine unbewusste Bewegung war –, als müsse er sich selbst von seiner Theorie überzeugen. Patrick legte den Arm um Robin. Er fühlte sich schwer an, warm und echt. Begierig ließ sie sich gegen ihn sinken, spürte ihren ganzen Körper an seinem. Sie registrierte, wie Cain sich abwandte, doch die Wärme von Patricks Körper, die Hitze seines Blutes, der Schlag seines Herzens, das Leben in ihm war alles, was in diesem Moment zählte. Martin sprach weiter, doch seine Stimme klang seltsam losgelöst von seinem Körper. »Was haben wir gedacht, kurz bevor es passiert ist?« Die anderen sahen ihn an. Robin spürte, wie Patrick sich neben ihr bewegte, und bemerkte, dass sie sich über die Störung ärgerte. Wie kindisch. Was Martin auch immer beabsichtigte – sie wollte nicht Teil davon sein. Stattdessen hatte sie nur einen Wunsch: in Patrick hineinzukriechen und nie wieder herauszukommen.
Martin sah sich um und musterte die vier anderen eindringlich. »Ich finde, wir sollten darüber reden, solange die Erinnerung noch frisch ist.« Robin spürte, wie Patrick sich vollends von ihr abwandte und sich vor Martin aufbaute, der nur halb so groß wie er zu sein schien. »Bist du verrückt? Nachdem es derart auf dich losgegangen ist?« Cain wandte sich Patrick zu. Die kaum zu bändigende Wut der beiden durchdrang den gesamten Raum. »Und von wem kommt das?« Patrick wirbelte herum. »Was willst du damit sagen?« Cain trat vor ihn, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt. »Wessen Unterbewusstsein hat denn hier geklopft? Für mich klang das nach einem Verbindungsbruderschwachsinn aus dem rechten Flügel.« »Du willst mich anmachen, du Freak?« »Ich sage nur, was ich sehe, Arschloch.« Schlagartig fühlte sich Robin, als wäre sie wieder in ihren eigenen Körper zurückgekehrt, herausgerissen aus einem nur allzu realen Traum. Hastig drängte sie sich zwischen die beiden. »Hört auf. Es ist auch so schon schlimm genug, oder?« Cain und Patrick starrten sich über Robins Kopf hinweg zornig an. Die Luft schien förmlich zu knistern. Dann trat Cain einen Schritt zurück. Robin stieß einen hörbar erleichterten Seufzer aus, obwohl sie ein wenig enttäuscht war, dass Patrick nicht derjenige gewesen war, der nachgegeben hatte. »Lassen wir es einfach… gut sein. Gehen wir schlafen«, murmelte Cain, ohne Robins Blick zu begegnen. Niemand rührte sich. Draußen pfiff der Wind, rüttelte an den Fenstern wie ein Tier, das nach drinnen wollte.
Lisas Stimme war tonlos und entschlossen. »Allein werde ich garantiert nirgendwo hingehen.« Und Robin war klar, dass es diesmal nicht genügen würde, wenn sie zur moralischen Unterstützung zusammenblieben. Die beiden Mädchen könnten gegen das, was sie im Spiegel gesehen hatte, nichts ausrichten. »Wir könnten hier unten bleiben.« Alle wandten sich Martin zu. »Wir könnten Bettzeug nach unten bringen.« Sein Blick fiel auf den Boden, wo die Glasscherben noch immer wie Dolche in die Höhe ragten. Patricks Miene verriet aufrichtiges Erstaunen. »Dich hat’s voll gepackt, was? Du willst unbedingt, dass etwas passiert, stimmt’s?« Martin erwiderte den Blick. »Du nicht?« Robin spannte sich beim herausfordernden Unterton in seiner Stimme an. Patrick war außer sich vor Wut. Die beiden starrten einander an – Patrick groß und breitschultrig, Martin schmächtig, aber wild entschlossen. Angewidert schüttelte Cain den Kopf und wandte sich zum Gehen. »Viel Glück mit den Rohren, Kumpel«, rief Patrick ihm nach. Cain blieb im Türrahmen stehen und drehte sich langsam um. Wieder blickten sich die fünf an. Keiner rührte sich vom Fleck.
KAPITEL 12
Sie träumte… von Chaos und Feuer… knisternd, unerträglich hell, es erfasste sie, verbrannte sie. Sie schrie aus Leibeskräften… Und explodierte, zerbarst in Millionen Teilchen. Dann Dunkelheit und eisige Kälte. Aufgegeben… weggeworfen… noch nie hatte sie sich so verlassen gefühlt… so ganz allein. Umgeben vom Nichts… heulender Wind… heulender Zorn… Mein Körper… wo ist mein Körper? Ihre Psyche wurde mit einem wütenden Heulen zerfetzt… Ein erstickter Laut ließ Robin die Augen aufreißen und hochfahren. Sie war im Aufenthaltsraum. Einige rotglimmende Kohlestücke im Kamin erhellten die schlafenden Gestalten auf dem Boden. Robin erinnerte sich, wie sie die Matratzen aus dem Jungenstockwerk heruntergezerrt und die Scherben mit einem Besen des Hausmeisters in die Zimmerecke gefegt hatten. Ein Schauder durchlief ihren Körper. Kalt. So kalt… Ihre Zähne begannen zu klappern. Etwas im Dunkeln bewegte sich. Entsetzt fuhr Robin herum und sah, dass Patrick und Lisa ebenfalls hellwach waren und sich neben ihr aufsetzten. »Was ist das?«, wisperte Robin in die Dunkelheit. Patrick schluckte. »Ich habe… etwas gehört.« Er sah so verwirrt aus, wie sie sich fühlte – unbehaglich und verschlafen.
Auch Lisas Zähne klapperten. Ihre Augen waren weit aufgerissen und glühten im Dunkeln. »Ich habe etwas gespürt. Es war auf mir. Ich habe Angst. Ich meine… richtige Angst.« Robin konnte kaum sprechen. »Ich weiß«, brachte sie mühsam heraus und holte zitternd Luft. Dann versteifte sie sich und starrte auf einen Punkt vor ihr. Ihr Atem bildete Wölkchen, als wäre die Temperatur im Raum gen null gefallen. Patrick und Lisa starrten in die Luft, was ihr verriet, dass auch sie es bemerkt hatten. »Gott, was läuft hier?«, stieß Lisa erstickt hervor. Auch vor ihrem Mund bildeten sich Atemwölkchen. Robin streckte die Hand aus und umklammerte Lisas Finger, sie spürte das Entsetzen des anderen Mädchens. In diesem Augenblick setzte ein leises Klopfen ein, als schlüge der Wind Fensterläden gegen die Hauswand. Die drei erstarrten und lauschten angespannt in die Dunkelheit. Mit einem Mal erhob sich ein dunkler Schatten vor ihnen. Robin zuckte zurück, während Patrick einen erschrockenen Satz machte. Dann erkannte Robin die sehnige, schlanke Gestalt als Cain, der sich auf seiner Matratze aufgesetzt hatte, das Haar zerzaust vom Schlaf. Sie spürte, wie die anderen sich entspannten, als auch ihnen klar wurde, wen sie vor sich hatten. Er sah in die Richtung, aus der das leise Klopfen kam. »Es ist ein Fenster… glaube ich«, flüsterte er, auch wenn er keineswegs überzeugt klang. »Großer Gott, es friert«, meldete Patrick sich zu Wort. Seine Augen waren glasig, und er schluckte hart. Robin hätte gern seine Hand genommen so wie zuvor Lisas, fühlte sich jedoch in benebelter, wie berauschter Reglosigkeit gefangen. »Ich glaube… ich glaube, da ist etwas«, flüsterte Lisa, während sie mit weit aufgerissenen Augen zum Kamin
hinüberstarrte. Diese Worte ließen Robin das Blut in den Adern gefrieren. Zögernd wandte Robin den Kopf. Sie wollte es nicht sehen, konnte aber nicht anders. Über dem Bett aus glühenden Holzresten stieg eine seltsam gekräuselte Rauchsäule auf, die eher aussah, als stamme sie von einer Zigarette als von den Holzscheiten. Als sie wie gebannt zusahen, schien etwas im Rauch zu atmen… in langen, tiefen Zügen. Alle vier saßen wie erstarrt in der Finsternis. Patrick gab einen erstickten Laut von sich. »Ich bin weg.« Doch er rührte sich nicht. Er kann nicht, dachte Robin. Keiner von uns… Und dann kam ihr ein Gedanke. Martin. Unter größter Mühe wandte sie den Kopf und sah zur letzten Matratze hinüber – und schnappte beim Anblick der schlafenden Gestalt nach Luft. Die Scherben des zerbrochenen Spiegels waren kreisförmig um Martins Kopf angeordnet, die Spitzen auf sein Gesicht gerichtet wie die Strahlen eines Heiligenscheins, als wären sie von selbst zum Leben erwacht, bösartig und mit der festen Absicht, ihn zu töten. Wie betäubt betrachtete Robin das Szenario. Martin, der anscheinend spürte, dass er beobachtet wurde, schlug die Augen auf und tastete automatisch nach seiner Brille. »Nein!«, schrie Robin. Die Panik in ihrer Stimme ließ ihn innehalten. Er blickte in die düsteren Schatten. »Den Kopf nicht drehen. Setz dich einfach gerade auf«, forderte Cain ihn im Befehlston auf. Steif hob Martin den Kopf von der Matratze, ganz vorsichtig, kurzsichtig blinzelnd.
Robin packte ihn an der Hand und zog ihn nach vorn, weg von den Scherben. Cain fand Martins Brille auf dem Teppich und drückte sie ihm in die Hand. Ungeschickt setzte Martin sie auf und starrte ungläubig die gläsernen Speere an. Cain drehte sich zu den anderen um. »Der Spaß ist vorbei«, stieß er mit erstickter Stimme hervor. »Das ist Schwachsinn.« Er warf Patrick einen finsteren Blick zu. »Jemand hier ist verdammt krank im Hirn, und ich glaube, dass du das bist.« »Das reicht, Arschloch.« Patrick stürzte sich auf Cain, und Sekunden später waren die beiden in eine erbitterte Prügelei verwickelt. Lisa und Robin schrien und versuchten, Patrick und Cain zu packen und voneinander zu trennen. Wieder setzte das Klopfen ein, als wäre es von dem unvermittelten Gewaltausbruch ausgelöst worden. Nur war es diesmal eindeutig kein auf- und zuschlagendes Fenster, sondern eine Reihe scharfer Klopfgeräusche, die von der Decke, aus dem Mauerwerk selbst zu kommen schienen. Cain und Patrick erstarrten mitten im Kampf und sahen suchend nach oben und um sich. Das Hämmern wurde lauter, schärfer, ein anschwellendes Dröhnen, das sich immer weiter aufbaute, bis die Wände unter ihm erbebten. Jemand schrie. Robin, kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, wusste nicht, ob sie es vielleicht selbst war. Unvermittelt machte Cain einen Satz in Richtung Tisch, landete auf den Knien und packte das Brett. Robin hatte keine Ahnung, was er vorhatte, hörte aber Martin neben ihr schreien. »Nein!« Cain wirbelte zum Feuer herum und schleuderte das Brett in die schwelenden Überreste. Das Hämmern um sie herum schwoll immer weiter an. Mittlerweile hatten beide Mädchen zu schreien begonnen.
Die Flammen im Kamin erfassten das Brett. Und mit einem Mal hörte es auf. Tödliche Stille. Die fünf saßen wie gelähmt da und starrten in den Kamin, während die gelben Flammen über das Brett züngelten und es schwärzten.
KAPITEL 13
Endlose Stunden später drang das erste graue Licht des Tages durch die Fenster. Robin, Martin und Cain saßen in Decken gehüllt da. Unfähig, noch länger zu schlafen, hatten sie sich wie arktische Expeditionsteilnehmer bei den Händen gefasst und auf den Weg gemacht. In dem winzigen Zimmer, das die Heimbewohner als untere Küche bezeichneten, kochten sie Kaffee, ehe einer nach dem anderen die Toilette aufsuchte, wobei sie die Tür einen Spaltbreit offen ließen, während die anderen draußen warteten. Nun saßen sie da, die Hände um ihre Becher gelegt, und tranken schweigend, derweil Lisa und Patrick neben ihnen dösten. Irgendwo schlug eine Tür zu, und die drei fuhren zusammen. Lisa und Patrick schreckten aus dem Schlaf. Frierend drängten sie sich aneinander und lauschten. Robin gefror das Blut in den Adern, als ein klapperndes, schleifendes Geräusch aus der Eingangshalle hereindrang. »Nein…«, flüsterte Lisa entsetzt. Eine Bewegung hinter ihnen ließ sie herumfahren. Ein Studienanfänger mit Strickmütze auf dem Kopf stand in der Tür zum Aufenthaltsraum. Robin erkannte ihn als einen der Jungs aus dem zweiten Stock. Hinter ihm erschien ein zweiter Studienanfänger in einer gestreiften Jacke und derselben Art Strickmütze auf dem Kopf. Er zog einen Koffer mit quietschenden Rädern hinter sich her. Die Jungen sahen sich im Raum um, registrierten das Bettzeug, die umgekippten Möbel, die fünf in Decken
gehüllten Gestalten, die hohlwangig, erschöpft und leichenblass zu ihnen hochsahen. Einer der Jungen lachte verlegen. »Whoa… muss ja ‘ne mächtig wilde Party gewesen sein.« Patrick rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Ja. Allerdings.« Robin, Cain, Patrick, Lisa und Martin fingen an, ihre Sachen zusammenzupacken. Schweigend, ohne den anderen in die Augen zu sehen.
KAPITEL 14
Das restliche Wochenende hätte nicht normaler ablaufen können. Ab dem frühen Sonntagmorgen trudelten die anderen Studenten ein. Schließlich standen die Zwischenprüfungen bevor, außerdem war der eine oder andere möglicherweise froh, den Besuch bei der Familie möglichst knapp halten zu können. Gegen Mittag des wolkigen Tages standen die Türen überall im Haus wieder offen, Musik drang aus den Zimmern. Die Bewohner besuchten sich gegenseitig, bereiteten Sandwiches aus den mitgebrachten Truthahnresten, ließen in Alufolie verpackte Fresspakete mit Kürbisbrot und Ingwerkeksen herumgehen, während sie über das zugelegte Gewicht klagten und sichtlich wegen der bevorstehenden Prüfungen und Semesterarbeiten in Panik gerieten. Robin war in ihr Zimmer zurückgekehrt und hatte zwei von Waverlys Valiumtabletten geschluckt, ehe sie das Fläschchen wieder in ihrer untersten Schublade verstaut hatte. Dann hatte sie sich hingelegt und bis sechs Uhr geschlafen, als sie das Geräusch einer zuschlagenden Tür entsetzt hochfahren ließ. Waverly kam hereingerauscht – eine ihrer typischen Rücksichtslosigkeiten. Sie schaltete sämtliche Lichter an und fing an, im Zimmer herumzukramen, Schubladen aufzuziehen und ihre Sachen auszupacken, lärmend und mit einer erschreckenden Rücksichtslosigkeit gegenüber ihrer Zimmergenossin. Robin lag in den Kissen, unfähig, sich zu bewegen. Trotz des Valiumnebels war ihr bewusst, dass Waverly Patrick noch bei seinen Eltern vermutete. Er würde einiges daransetzen, sie in
diesem Glauben zu lassen. Wenigstens wäre Robin in dieser Nacht nicht allein. Und zum ersten Mal während ihrer kurzen Bekanntschaft war Robin auf schmerzliche Weise froh über die Anwesenheit ihrer Zimmergenossin. Bestimmt würde nichts Geheimnisvolles oder sonst irgendwie Merkwürdiges passieren, solange Waverly in der Nähe war. Von diesem Gedanken seltsam getröstet, driftete sie wieder in betäubten und unruhigen Schlaf.
Spät an diesem Abend, als die Lichter in den Zimmern erloschen waren und die restlichen Heimbewohner schliefen, brannten noch zwei Lampen. Darunter eine Schreibtischlampe in einem ansonsten düsteren Raum, in dem jeder verfügbare Zentimeter mit Bücherregalen bedeckt war. Abgesehen davon war die Einrichtung schlicht – keine Poster auf dem Schrank, kein Teppich auf dem Boden. Das Bett war nicht gemacht, und das Zimmer verströmte eine Atmosphäre der Einsamkeit. Martin saß an seinem Schreibtisch, umgeben von unterschiedlich hohen Bücherstapeln. Sein Laptop war aufgeklappt, das Internet-Logo leuchtete am unteren Bildschirmrand. Doch er schien nichts um sich herum wahrzunehmen, sondern starrte blicklos ins Leere. Plötzlich stand er auf und trat an sein Bett. Er ging auf die Knie, griff darunter und zog einen Koffer hervor. Dann öffnete er den braunen Vinyldeckel und betrachtete den Inhalt. Nach einer Weile nahm er mehrere Bücher mit goldenen hebräischen Buchstaben auf dem Umschlag heraus. Er schien sich zu wappnen, ehe er eines aufs Bett legte und aufschlug. Das andere Licht stammte aus einer Lampe, die bei keiner Überprüfung der Elektrik durchgegangen wäre. Lediglich eine
einzelne Glückbirne tauchte das Untergeschoss in schwaches Licht. Der lange, niedrige Raum war der ideale Ort für einen Horrorfilm, ein klaustrophobisches Chaos aus aufeinander gestapelten Möbelstücken, Metallregalen und einer Vielzahl kreuz und quer verlaufender Rohre. Eine schemenhafte Gestalt ging mit gleichmäßigen Schritten durch die verwinkelten Gänge. Rechts von ihr zischte und klapperte es plötzlich. Der Schemen zuckte zurück – doch beim Anblick des alten Boilers entspannte Cain sich. Er trat davor, kniete sich hin, um das Kontrollkästchen zu öffnen und die Messanzeigen darin zu studieren. Dann fiel sein Blick zur Erde. Er runzelte die Stirn und streckte die Hand aus, um etwas vom Betonboden aufzuheben. Ein kaltes Lächeln spielte um seine Lippen, als er den Gegenstand in seiner Hand betrachtete.
KAPITEL 15
Am Montag war es so laut und voll wie immer in Mendenhall, und kaum etwas erinnerte an die endlosen, unheimlichen Räume und Korridore, wie sie die fünf übers Wochenende erlebt hatten. Es herrschte die übliche Betriebsamkeit, gewürzt mit der Furcht vor den bevorstehenden Semesterprüfungen. Überall sah man lernende Studenten. Sie verkrochen sich allein mit ihren Büchern in irgendwelche Ecken oder taten sich an jedem verfügbaren Tisch mit Kommilitonen zu nervös plappernden Grüppchen zusammen. Überall kehrte Normalität ein – nur bei Robin nicht. Statt ihre Tage wie gewohnt nach Art einer Schlafwandlerin in einer Blase der Trübseligkeit hinter sich zu bringen, war sie hellwach. Aus irgendeinem Grund war ihr Entsetzen über die unheimliche Erscheinung verebbt und hatte sie mit einem Gefühl der… ja, der Erregung und der Ungeduld zurückgelassen, mehr zu erfahren. Statt wie zuvor eifersüchtig auf die Studentenpärchen und -gruppen zu sein, eilte sie nun durch die Gänge, angetrieben und fast schwindlig vom Wissen um ihr Geheimnis. Endlich war sie Teil von etwas Bedeutsamerem – von etwas schier unerträglich Seltsamem und Faszinierendem. Ehrlich gesagt konnte sie kaum an etwas anderes denken. Hätte nicht die gefürchtete Biologieprüfung auf der Tagesordnung gestanden, wäre sie wahrscheinlich gleich als Erstes an diesem Morgen in die Bibliothek gegangen.
Nun, nachdem sie die erste Prüfung hinter sich gebracht hatte, saß sie mit Das Ich und das Es in ihrem Zimmer, während ihre Gedanken zu dem langen Wochenende zurückschweiften, zu dem geheimnisvollen Brett, dem köstlichen, fast sexuell erregenden Gefühl, außerhalb jeder Kontrolle zu sein. Das Ziehen von… etwas… das unter ihren Händen reagiert hatte. Und das Zerbersten des Spiegels. Sie erschauderte, aber nicht nur aus Furcht. Zachary war ihr ein Rätsel. Aber er war, wie Cain gesagt hatte, ein recht hipper Geist, wenn man bedachte, dass er aus den 1920ern stammte. Reizend und charmant. Sensibel und verletzend. Intuitiv und verspielt – und nicht zu vergessen die Wut, mit der er sich ohne ersichtlichen Grund auf Martin gestürzt hatte. Irgendwo hinter all dem verbarg sich ein Geheimnis, das einen unwiderstehlichen Reiz auf sie ausübte. Sie dachte an den empfindsam aussehenden jungen Mann aus dem Jahrbuch (das mittlerweile unter ihrem Bett versteckt lag, wo es zwar der Bedrohung durch Staub und Mäuse ausgesetzt war, sich aber immerhin außerhalb der Reichweite von Waverlys neugierigen Blicken befand). Dieses Gesicht hatte doch keinem Ungeheuer gehört. Vielleicht war es der Schmerz, der ihn diese beängstigenden Dinge tun ließ und diese Boshaftigkeit in ihm auslöste. Er war so plötzlich gestorben, war verwirrt, hatte Angst, fühlte sich verloren und war wütend. Und er, vielmehr seine verlorene Seele, hatte die Hände nach ihnen ausgestreckt. Nach ihr. Aber der Antisemitismus, erinnerte sie sich. Diese hässlichen Dinge, die er zu Martin gesagt hat. Es passte so gar nicht zu ihm, wer auch immer er gewesen sein mochte.
Aber in dieser Zeit, in den Zwanzigern, war das an der Tagesordnung… Schlagartig wurde ihr bewusst, wie dumm dieser Erklärungsversuch war. Es war eine Gemeinheit, aus welchem Blickwinkel man sie auch betrachtete. Daraus konnte nichts Gutes entstehen. Ihr Blick fiel auf ihren aufgeschlagenen Notizblock, und ein Ausspruch aus Professor Listers Vorlesung stach ihr ins Auge: »Kommen unsere Dämonen von außen oder aus unserem Inneren?« Sie biss sich auf die Lippe und wandte eilig den Blick ab, ehe sie merkte, dass Waverly sich auf ihrem Schreibtischstuhl umgedreht hatte und sie mit zusammengekniffenen blauen Augen musterte. »Was hast du eigentlich die ganzen drei Tage gemacht?«, fragte sie. Offenbar argwöhnte sie, dass ihre Zimmergenossin nicht nur gelernt hatte. Robin sah ihr in die Augen. »Mit Geistern geredet«, antwortete sie leichthin. Waverly starrte sie einen Moment lang an, dann packte sie ihre Tasche, stürmte hinaus und schlug die Tür zu, um Robins Lachen hinter sich zu lassen. Robin beschloss, in die Bibliothek zu gehen, als ein Fensterladen heftig gegen die Scheibe schlug und sie die kalte Angst packte. Augenblicklich kehrte die Erinnerung an das Hämmern und ihre Schreie zurück. Bebend wandte sie sich wieder Freud zu. Doch die Sehnsucht blieb. Sie hielt Ausschau nach den anderen, ging immer wieder in die Waschküche und zum Cola-Automaten, in der Hoffnung, ihnen zufällig in die Arme zu laufen. Doch sie schienen mit der
Holzvertäfelung verschmolzen zu sein wie das Phantom, mit dem sie gesprochen hatten. An einem stürmischen Mittwoch überquerte sie im unangenehm eisigen Wind den östlichen Teil des Campus, den Ahornbäume säumten. Durch ihre Zweige war der von dunklen Wolken verhangene Himmel zu sehen, und der Wind zerrte an ihr und drohte sie mit sich zu reißen. Jeder Schritt war ein mühsamer Versuch, das Gleichgewicht im Kampf mit der unsichtbaren, ungestümen Kraft zu halten. Doch Robin war von gespannter Erwartung und einem Gefühl der Heiterkeit erfüllt. Auf der Brücke über dem reißenden Fluss blieb sie stehen, um Atem zu schöpfen. Sie lehnte sich gegen das Geländer, während der Wind ihr das Haar ins Gesicht peitschte, und blickte an der verwitterten Fassade von Moses Hall empor, der Philosophiefakultät. Cain stand auf einem Balkon des Gebäudes. Er rauchte eine Zigarette und hatte den Blick starr auf die dunkle Wolkenmasse über dem Hügel gerichtet, ohne zu registrieren, wer unter ihm stand. Dann sah er nach unten, direkt in ihre Augen. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus. Sie beobachtete, wie er erschrocken zusammenzuckte. Ihre Augen begegneten sich über die Entfernung hinweg… elektrisierend. Real. Also ist es passiert. Und es ist noch nicht vorbei, wurde ihr bewusst. Noch lange nicht – ein Gedanke, erregend und unbehaglich zugleich.
KAPITEL 16
Der Radiowecker riss sie aus dem Schlaf. Sie hatte von Zachary geträumt, war durch die Korridore gelaufen, hatte versucht, ihn zu finden, und gehört, wie er ihren Namen rief… Sie ließ den Kopf auf das Kissen zurücksinken und dachte an ihren Traum. Er hatte nichts Beängstigendes an sich gehabt. Eigentlich war es sogar ein angenehmer Traum gewesen. Der Wecker summte erneut, und mit Schrecken fiel ihr ein, dass an diesem Morgen die Geschichtsprüfung anstand. Sie schlüpfte in die Kleider, die sie am Vorabend neben dem Bett liegen gelassen hatte, und schnappte einen leeren Kaffeebecher aus Plastik und ihren Rucksack. Sie ging über den Korridor und hastete die dunklen Treppen hinunter, die in die Küche im ersten Stock führten. Als sie sich dem letzten Treppenabsatz näherte, drangen Frauenstimmen herauf. Sie waren laut, übertönten sich im Streit, eine davon schrill und mit unüberhörbarem Südstaatenakzent. »Ich weiß genau, dass ihr alle etwas im Schilde geführt habt, während ich weg war…« Robin blieb an der Treppenhaustür stehen. Waverly stand mit der dampfenden Kaffeekanne in der Hand in der Küche. Ihr hübsches Gesicht war zu einer wütenden Fratze verzogen, als sie drohend auf Lisa zuging, die verschlafen an der Arbeitsplatte lehnte. »Wenn du Miststück mir noch mal in die Quere kommst, reiß ich dir deine schwanzlutschende Zunge raus!« Lisa lachte, und Robin hörte einen beinahe gefährlichen Unterton in ihrer Stimme. »Und bekommst Blut auf dieses hübsche kleine Ensemble? Nie im Leben…«
Fasziniert verfolgte Robin die Szene. Die Feindseligkeit zwischen beiden war mit Händen zu greifen. In diesem Moment bemerkte Waverly Robin im Türrahmen, und ihre Stimme kletterte eine Oktave höher. »Und was guckst du so blöd?« Lisa wandte sich angewidert ab. »Tu der Welt einen Gefallen und fall tot um.« Wieder schwollen ihre Stimmen an. Boshafte Gemeinheiten flogen zwischen den Kontrahentinnen hin und her, als ohne jede Vorwarnung die Kaffeekanne in Waverlys Hand zerbarst. Sie machte einen Satz rückwärts, um zu verhindern, dass sie etwas von der kochend heißen Flüssigkeit abbekam, doch es war zu spät. Ihr pinkfarbener Seidenpulli war klatschnass. Fassungslos stand sie da und sah auf den braunen Plastikhenkel hinab, der an ihrem Finger baumelte. Alle drei Mädchen waren wie erstarrt. Robin sah Lisa in die Augen – Zacharys Name stand unausgesprochen zwischen ihnen in der Luft. In diesem Moment begann Waverly zu kreischen und hielt ihren bespritzten Pullover von sich. »Verdammt noch mal! Das ist ein Modell von Nicole Farhi. Er ist ruiniert!« Lisa brach in Gelächter aus, in dem jedoch eine Spur Hysterie zu hören war. Sie stürmte aus der Küche, lief den Korridor hinunter und ließ die staunende Robin und die nasse, zeternde Waverly hinter sich zurück. Robins Gedanken wanderten zu dem Vorfall zurück, als sie sich im arenaförmigen Vorlesungssaal zu ihrer Geschichtsprüfung einfand. Wieder und wieder ließ sie die Szene vor ihrem geistigen Auge Revue passieren – die Kaffeekanne, die in Waverlys Hand zerbarst, die Spannung im Raum, das scharfe Knacken und die abrupte Explosion des Glases. Es war dieselbe Energie gewesen wie bei ihren Seancen, ein Gefühl statischer Elektrizität zwischen ihr und
Lisa, unmittelbar bevor das Glas zersprungen war. Und es war eine unangenehme Reminiszenz an ihren Traum, als ihr eigener Körper zerfetzt worden war. Sie war sich sicher, dass Zachary dafür verantwortlich war. Er war noch immer hier. Sie warf einen verstohlenen Blick auf Patrick, der einige Reihen vor ihr in einem Meer aus schweigenden Studenten saß, immer größer und blonder, als sie ihn in Erinnerung hatte. Seit die Prüfungsbögen ausgeteilt waren, saß er auf seinem Platz, ohne ein Wort zu schreiben, leichenblass. Robin verspürte einen Anflug von Mitgefühl. Sie wusste, dass er diese Prüfung brauchte, um sein Football-Stipendium zu behalten. Wäre er doch nur zu ihr gekommen. Dann hätte sie ihm beim Lernen helfen, ihm die Antworten auf die wahrscheinlichsten Fragen eintrichtern können. Doch nun konnte sie nichts mehr für ihn tun. Sie sandte ihm einen stummen Wunsch, er möge von irgendwoher eine Inspiration bekommen, und zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre eigene Arbeit zu richten. Nach einer Weile sah sie von ihrem Aufsatz über die Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Mythenbildung auf. Auf der anderen Seite des Vorlesungssaals saß Patrick in der typisch gekrümmten Haltung eines Linkshänders über sein Prüfungsheft gebeugt und schrieb mit rasender Geschwindigkeit. Seine große Hand schien förmlich über das Blatt zu fliegen. Überrascht sah Robin ihm einen Moment lang zu. Plötzlich hob Patrick den Kopf und sah ihr direkt ins Gesicht. Sein Blick war irritierend ausdruckslos. Er sah in ihre Richtung, schien sie jedoch nicht zu erkennen. Robin fuhr zusammen. Seine Hand schrieb weiter, als wäre sie von seinem restlichen Körper getrennt. Robin starrte ihn einen Moment lang an, ehe sie entsetzt den Blick abwandte.
Als sie das nächste Mal hinsah, war Patrick wieder über sein Heft gebeugt und schrieb ohne Unterbrechung.
Sie fand den Aufenthaltsraum in Mendenhall verlassen vor. Offenbar war die Angst der Heimbewohner vor den Prüfungen zu groß, um sich eine kleine Pause vor dem Fernseher zu gönnen. Der Anblick der dunklen Möbel erinnerte sie wie so oft an eine Bühne, die auf das Erscheinen der Schauspieler wartete. Ihr Blick wanderte zum Kamin. Er war leer. Der zerbrochene Spiegel war durch ein modernes Exemplar ersetzt worden, das nicht zum verschnörkelt viktorianischen Stil der Einrichtung passte. Entweder war das Chaos im Raum dem heftigen Sturm zugeschrieben worden, oder die Heimverwaltung hatte aus ihrer langjährigen Erfahrung heraus beschlossen, die Vandalen gar nicht erst ausfindig zu machen und zur Verantwortung zu ziehen. Robin stand im zugigen Raum mit dem Rosenmuster-Teppich und sagte laut: »Zachary?« Sie schloss die Augen und hielt den Atem an. Die kalte Luft umfing sie. Sie lauschte angestrengt in die Stille, um irgendetwas zu hören… zu spüren. Schließlich öffnete sie die Augen. Der Aufenthaltsraum war trübselig, verstaubt und auf dumpfe Weise normal. Keine Spur von dem, was an diesem langen einsamen Wochenende bei ihnen gewesen war, was auch immer es gewesen sein mochte. Warum zitterte sie also? Sie sah zu den Bücherregalen hinüber, wo die Jahrbücher wieder fein säuberlich einsortiert waren. Lange Zeit stand sie davor und betrachtete sie.
Vor ihrer Zimmertür lauschte sie bestimmt eine Minute lang, ehe sie den Schlüssel ins Schloss steckte und vorsichtig den Knauf drehte. Zum Glück war das Zimmer leer. Sie wandte sich ihrem Bett zu… und stieß ein Keuchen aus. Das Jahrbuch lag mitten auf dem Teppich vor ihrem Bett und war auf der Seite mit Zacharys Schwarzweißfoto aufgeschlagen. Heftiger Zorn auf Waverly wallte in Robin auf. Wie kann sie es wagen? Sie bückte sich, um das Buch aufzuheben. Ihre Hand glitt über den Ledereinband, als sie erneut nach Luft schnappte und erschrocken die Hand zurückriss. Sie hatte einen Schlag bekommen, ein Knistern wie statische Elektrizität. Mit einem Mal war sie sicher, dass Waverly das Buch nicht angefasst hatte. Einen Moment lang gab sie sich der Erinnerung an das Entsetzen an dem bewussten Abend hin – Zacharys verzweifelte und unausweichliche Anwesenheit, diese Wut… und die Verzweiflung. So voller Qual. Für immer gefangen in der Agonie seines Todes. Doch als sie auf das Foto hinabsah, spürte sie wieder dieses Ziehen in der Magengegend, diese Sehnsucht und den Wunsch nach Gesellschaft. Der gepeinigte Junge… attraktiv, sensibel, schüchtern… kein Anzeichen von Zorn oder Gewalt. Er fühlte sich verloren – so wie sie alle. Und er streckte die Hand nach ihr aus.
KAPITEL 17
Der Wind trieb dichte Wolken vor den hohen Fenstern der Bibliothek vorbei. Robin ging durch das Labyrinth aus archivierten Zeitungen, während ihre Augen über die Rücken der gebundenen Ausgaben wanderten – 1950, 1949, 1948. Es war ein etwas unheimliches Gefühl, eine solche Zeitreise zu machen. Sie ging an den Dreißigerjahren vorbei, dann durch die Zwanziger, dachte kurz an Gatsby, an die aufmüpfigen jungen Frauen der damaligen Zeit und an die großen Börsencrashs. Und an Hitler. »Eine allgemein düstere Zeit«, hatte Martin gesagt. Beim Jahr 1920 hielt sie inne und betrachtete die Jahreszahl in Goldprägung auf dem breiten, zerknautschten Buchrücken. Sie trat vor das Regal und nahm den dicken Band mit den vergilbten Zeitungsausgaben heraus. In der einschläfernden Stille der Lesenische betrachtete sie die uralten Schulzeitungen mit den Fotos ernst dreinblickender Jungen mit pomadisiertem, aus dem Gesicht frisierten Haar und weiten Schuluniformen. Anzeigen für Seife, die gottesgleiche Reinheit versprachen, für irgendwelche Flaschen mit Substanzen, die das Lernen erleichtern sollten und genauso gut das Etikett »Kokain« hätten tragen können; Nachrichten über den Krieg, von Studenten, die sich freiwillig gemeldet hatten und nach Übersee geschickt wurden. Die Schwarzweißseiten hatten einen bräunlichen Sepiaton angenommen und verströmten einen muffigen Geruch, eine sinnliche Erinnerung an eine Zeit, die nicht die ihre gewesen war.
Vorsichtig schlug sie die nächste brüchige Seite um und hielt inne, während sich ihre Augen weiteten. Sie hatte ein Foto von Mendenhall vor sich – nicht das bunte Mischmasch aus Stilrichtungen, wie sie es heute kannte. Doch die Grundstruktur war eindeutig erkennbar, nur dass das oberste Stockwerk, bei dem es sich um den Dachboden handeln musste, von Feuer geschwärzt war. Auf dem Foto stiegen noch Rauchsäulen aus den Türmen auf. FÜNF TOTE BEI BRAND IN VERBINDUNGSHAUS verkündete die Überschrift in riesigen Lettern. Robins Gehirn hatte kaum genug Zeit, die Information zu verarbeiten. Fünf? So wie wir. Wir sind fünf… Dann fiel ihr Blick auf einen der Namen. »Zachary Prince, Sohn von Dr. and Mrs. Abraham Prince.« Eilig überflog sie den Artikel, dessen Worte in ihrem Kopf nachhallten. »Das Feuer brach im Dachstuhl von Mendenhall aus und schnitt den fünf Studenten den Fluchtweg ab, die in den Flammen umkamen. Die Brandexperten können nach wie vor nicht erklären, wie das Feuer entstehen konnte oder warum sich die Studenten im Dachstuhl aufhielten…« Robin hob den Kopf. Ihre Gedanken wirbelten wild umher, und ihr Körper fühlte sich mit einem Mal taub an. Sie blätterte die Seite um, doch es wurde nicht weiter über Mendenhall geschrieben. Stattdessen stieß sie auf ein vergilbtes Blatt Papier mit einem handschriftlichen Gedicht zwischen den Seiten. In Harvard herrscht der Millionär, Yale ist ‘ne alte Säuferbude, In Cornell regiert der Farmerssohn, An der Columbia der Jude. Wir trinken auf die Baxter Street und die Professoren,
Und die kleine Judensau wird in der Hölle schmoren. Die Bosheit der Worte ließ Robin erschrocken nach Luft schnappen. Du hast keine Ahnung, womit du es überhaupt zu tun hast, sagte die Stimme in ihrem Kopf grimmig. Du steckst bis über beide Ohren drin. Sie spürte ein kaltes Prickeln im Nacken, das sich über ihr Rückgrat ausbreitete. Plötzlich war sie sich sicher, dass sie beobachtet wurde. Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um und ließ den Blick zwischen den engen Metallregalen hinter ihr wandern, über die Schatten zwischen den Bücherstapeln. Da war niemand. Nach einer Weile wandte sie sich wieder dem Buch vor ihr zu und versuchte, sich auf den Artikel zu konzentrieren. Doch das Gefühl der Störung blieb, so klamm und unwillkommen wie die Berührung eines Fremden.
Der Sonnenuntergang war auf spektakuläre Weise trostlos, markantes Silber und Schwarz wie auf einer preisgekrönten Fotografie, während der unangenehm eisige Wind durch die kahlen und spitz emporragenden Baumwipfel rauschte. Überall im Studentenheim brannten die Lichter, die Bewohner saßen in Decken gehüllt über ihren Laptops und Büchern im Bett oder an ihren Schreibtischen. Robin stand am Ende des Korridors im zweiten Stockwerk des Jungenflügels und klopfte an Martins Zimmertür. Sie trat einen Schritt zurück und wartete ein wenig atemlos. Unter ihrem Arm klemmte der Band mit den Zeitungsausschnitten aus dem Jahr 1920.
In Martins Zimmer war es still, und auch unter der Tür drang kein Lichtschimmer hervor, wie sie nun bemerkte. Robin zögerte, ehe sie noch einmal klopfte, etwas lauter diesmal, nur für den Fall, dass er sie nicht gehört hatte. Sie hatte keine Ahnung, weshalb ihr erster Gedanke gewesen war, zu Martin zu gehen. Es war ein Impuls, oder vielleicht eher ein Instinkt. In einer Gruppe von Außenseitern stand Martin ebenso am Rand wie sie selbst. Zwischen ihnen gab es eine Verbindung – die Gemeinsamkeit der Entfremdung? –, der sie mehr Vertrauen entgegenbrachte als jeder Art von Beziehung zu den anderen drei. Zumindest war das, was unter ihrem Arm klemmte, ein Beweis. Und diese Tatsache würde er anerkennen. Er war genauso entschlossen, mehr zu erfahren, wie sie selbst. Und da besteht noch eine andere Verbindung, richtig? Ihr Blick fiel auf das Metallkästchen am Türrahmen, dessen hebräische Buchstaben im Zwielicht des Korridors kaum zu erkennen waren. Mezuzah, sagte ihr Verstand, auch wenn sie nicht wusste, ob es das richtige Wort dafür war. Seltsam – hatte Martin am ersten Abend nicht erzählt, er glaube nicht an Gott? Aber war dieses Ding, diese Mezuzah, nicht dasselbe, als hätte man ein Kreuz neben seine Tür genagelt? Eine Erinnerung an Gott? Nicht unbedingt das, was man von einem Agnostiker erwarten würde. Unbehaglich dachte sie an die Wut des Brettes auf Martin. Aber die Wut hat sich gar nicht gegen Martin gerichtet, oder? In diesem Augenblick musste sie wieder an die seltsamen Botschaften denken. FRAGT SEINEN SCHWANZLUTSCHENDEN DES UNIVERSUMS und FRAG DOCH DEINEN SCHWEINE FRESSENDEN ITZIG-GOTT
Sie erstarrte. Gott… ein jüdischer Gott… der Zorn auf ihn… Zacharys Wut richtete sich nicht gegen Martin, sondern gegen Gott… Ihr war klar, dass das in irgendeiner Weise von Bedeutung war. Und dann war der Gedanke auf einmal verschwunden, und sie stand wieder auf dem Gang vor Martins Tür. Noch immer drang kein Laut aus seinem Zimmer. Nach einem Moment trat sie durch die Tür ins Treppenhaus und folgte den Geräuschen die dunklen Stufen hinunter. Sie bog in den Korridor im ersten Stock und blieb stehen, als hätte sie gewusst, dass ihr Weg sie vor die Tür mit dem Schild ZUTRITT FÜR MINDERJÄHRIGE VERBOTEN führen würde. Lange Zeit stand sie reglos da, ehe sie die Hand hob und klopfte. Keine Reaktion. Mit einem Mal hatte Robin ein Bild vor sich: eine an einen Verstärker angeschlossene E-Gitarre… die Musik, die Cain durch seinen Kopfhörer hörte, die ihn in der Dunkelheit durchzuckte… während er spielte, wild, wie besessen… seine Augen dunkel und fremd… Robin blieb länger im Dunkeln vor der Tür stehen, als ihr bewusst war, während die Musik in jede ihrer Zellen drang, in ihren Knochen vibrierte, auf geradezu unheimliche Weise vertraut. Und dann erkannte sie es plötzlich wieder. Das Übelkeit erregende, rasende Gefühl durch die Energie der Planchette. Sie wich zurück, machte kehrt und stürzte durch den Korridor ins Treppenhaus. Erhitzt, aber deutlich ruhiger blieb sie auf dem Rückweg vor Lisas Zimmer stehen und klopfte an die Tür mit der Wüstenlandschaft. Auch hier antwortete niemand. Einen sehnsuchtsvollen Moment lang überlegte sie, ob sie zu Patrick gehen sollte, doch die Chancen standen deprimierend gut, dass
Waverly bei ihm war, und sie hätte keine plausible Erklärung für ihr Erscheinen. Waverly war bereits argwöhnisch genug (sie hatte keine Ahnung, was sie sich vorstellte – Orgien, Opferrituale…). Am Ende beschloss sie, zu Bett zu gehen. Sie lag im Dunkeln da, lauschte dem stürmischen Wind, sah den Bäumen zu, die vor ihrem dunklen Fenster wogten, und dachte an die anderen vier. Die Gruppe. Keine Freunde, nicht einmal Gefährten. Doch sie hatte etwas Bedeutsameres mit ihnen geteilt als je zuvor in ihrem Leben. Sie hatte zwar keine Ahnung, wie sie sich ihnen nähern sollte oder ob sie überhaupt das Recht dazu hatte – aber sie wusste, dass es noch nicht vorbei war. Es dauerte lange, bis sie einschlief. Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen war fünf. Auch 1920 waren sie zu fünft. Zachary und die anderen. Und sie sind alle gestorben.
KAPITEL 18
»Niemand von uns ist Herr in seinem eigenen Haus, sondern muss sich mit den winzigsten Fitzelchen an Informationen darüber begnügen, was sich unbewusst in seiner Seele abspielt…« Robin hörte Professor Lister in der obersten Reihe des Vorlesungssaals kaum zu. Ihre Gedanken kreisten um das Buch in ihrem Rucksack, um die Fotos des brennenden Dachstuhls. Plötzlich standen die Studenten um sie herum auf und packten ihre Sachen zusammen. Das bedeutete, dass die Vorlesung zu Ende war. Suchend ließ sie den Blick über die aufbrechenden Gestalten wandern. Schon bei Vorlesungsbeginn hatte sie nach Martin Ausschau gehalten, doch er war nicht da gewesen… und auch jetzt keine Spur von ihm. Robin stand auf, blieb aber noch neben ihrem Stuhl stehen und sah zu dem weißhaarigen Professor auf dem Podium hinunter, der seine Notizen für die nächste Stunde vorbereitete. Tu es, sagte sie sich. Sie machte sich auf den Weg die Treppe hinunter. Lister sah auf, als Robin auf ihn zukam. Sie zögerte, worauf er ihr wie ein freundlicher griechischer Gott entgegenlächelte. »Kann ich Ihnen helfen?« Robin holte tief Luft. Wie sollte sie es sagen, ohne wie eine durchgeknallte Irre zu klingen. »Ich habe mich gefragt… was Freud über Geister zu sagen hat.«
Der Professor hob die Brauen. »Ich meine…«, fuhr Robin hastig fort, »… die Leute haben doch damals Geister gesehen… in Wien, oder?« »Wie schon seit Anbeginn der Zeit«, stimmte der Professor zu, nahm seine Brille ab und begann sie zu putzen. »Freud sagt, Geister sind Manifestationen hysterischer Repression – tiefe Wunden in der Psyche, die der Zensur des Geistes entschlüpfen.« Er setzte seine Brille wieder auf und musste ihre verdutzte Miene registriert haben, denn er fuhr fort: »Auf die Gefahr hin, dass das stark vereinfachend klingt, aber was uns verfolgt, quält uns.« Robin runzelte die Stirn. »Also sagt er im Grunde, dass all die Geister im Kopf sind.« »Nicht unbedingt. Ich glaube, er meinte eher, dass Geister die Dinge sind, die wir in unserem Inneren vergraben haben und die irgendwann ans Licht kommen.« Die ersten Studenten trudelten zur nächsten Vorlesung ein. Robin trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Aber Jung hat an reale Geister geglaubt.« Ein angedeutetes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Professors. »Jung hat ernsthaft an Geister geglaubt.« Seine Stimme klang so sachlich, dass Robin den Kopf hob. »Und was denken Sie?« Er musterte sie abschätzend. »Ich denke, die Frage lautet eher ›Was denken Sie?‹« Sie hatte das Gefühl, als wäre es mehr als eine Frage. Doch in diesem Moment räusperte sich jemand hinter ihr, und der Moment war vorüber. Robin wandte sich um und sah einen schlaksigen Studenten aus dem Abschlussjahr mit einer Aktentasche und einem Stapel Unterlagen hinter ihr stehen und demonstrativ auf die Treppe blicken, die sie blockierte. Robin trat beiseite. »Entschuldigung«, murmelte sie in Listers
Richtung, während sich der Student an ihr vorbeischob, und hastete zum Ausgang.
Sie verließ den Vorlesungssaal und blieb auf den marmornen Mosaikfliesen unter dem Kuppeldach des Psychologiegebäudes stehen. Überhaupt keine Hilfe, dachte sie. »Was denken Sie?« In Wahrheit hatte sie erwartet, dass er ihre Geisteridee in Bausch und Bogen verwerfen würde. Hatte es beinahe gehofft. Stattdessen hatte sie nichts als nervtötende Zweideutigkeit zur Antwort bekommen. »Kommen unsere Dämonen von außen oder aus unserem Inneren?« Die Vorstellung, Zachary könnte etwas in ihrem Inneren sein, das nach außen drängte, beunruhigte sie. Sie würde den Geist bestimmt nicht als etwas betrachten, das aus ihrem Inneren gekommen war. Oder doch? Könnte sie Zachary nur erfunden haben? Einen Studenten wie sie selbst, ebenso verloren, der nach einem anderen Menschen suchte? Vielleicht könnte sie glauben, dass er aus ihr selbst kam – wäre da nicht das Buch mit den Zeitungsausschnitten in ihrem Rucksack. Zachary hat hier gelebt. Er ist hier gestorben. Plötzlich spürte sie wieder dieses Prickeln im Nacken, ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass etwas hinter ihr war. Sie wirbelte herum. Martin stand über ihr im düsteren Treppenhaus und sah zu ihr herunter. »Meine Güte«, japste sie. »Ich muss mit dir reden«, sagte er tonlos. Seine Stimme klang hohl in dem hohen Rundbau. Sie ließ den Atem entweichen. »Und ich mit dir.«
KAPITEL 19
Die Nordseite des Campus lag auf einem Hügel. Eine Reihe durch Treppen verbundene Terrassen verlief bis zum Hauptplatz. Jede Terrasse führte zu verschiedenen Pfaden und Gebäuden. Das Ganze wirkte wie ein raffiniertes Labyrinth. Robin und Martin gingen die Stufen hinunter, vorbei an Eichen, Ahornbäumen und mancher schlanken Pinie, während Robin ihm die Episode mit der Kaffeekanne schilderte. »Es war genau dasselbe wie mit dem Spiegel neulich Abend. Es fühlte sich genau gleich an. Diese… Spannung. Und dann platzte auf einmal die Kanne in ihrer Hand.« »Und das ist passiert, als nur du und Marlowe im Raum wart.« »Und Waverly.« Martin blieb auf einer Terrasse stehen und lehnte sich gegen den Sockel einer Statue, um sich in seinem spiralgebundenen Ringbuch Notizen zu machen. Robin überlegte, ob sie ihm von dem Jahrbuch erzählen sollte, das auf einmal nicht mehr unter ihrem Bett gelegen hatte, entschied sich jedoch dagegen. Er schien schon jetzt restlos überzeugt zu sein, und sie war dankbar, dass er ihre Schilderung nicht infrage stellte. Robin sah den Pfad entlang, der auf einer Seite von nachdenklich dreinschauenden griechischen Statuen auf Steinsockeln gesäumt war. Der Wind blies ihr das Haar ins Gesicht, das sie mit der Hand wieder zurückstrich. »Ich glaube, er ist immer noch da. Zachary. Ich glaube, das war er die ganze Zeit – seit dem Abend, als wir mit ihm geredet haben.«
Martin hörte auf zu schreiben. »Also doch wieder ein Geist?« »Was denn sonst?«, blaffte Robin aufgebracht. »Ein rein psychologisches Phänomen. Isoliert betrachtet, kann jeder Vorfall rational erklärt werden. Aber alle zusammen… tja, wir haben etwas Größeres ausgelöst. Wir haben ihm Energie verliehen, wenn du so willst.« Er hob den Kopf und spähte über die dichten Wolkenschichten am Horizont, über die Baumkronen hinweg. Die Kälte hatte rote Flecken auf seine Wangen gezaubert. »Und physikalische Manifestationen gab es. Der Spiegel ist tatsächlich zerbrochen. Es gab dieses Klopfen. Und nun, mit dieser zerborstenen Kaffeekanne, ist es auch zu peripheren Manifestationen gekommen.« Er blätterte ein paar Seiten in seinem Notizbuch zurück, und Robin bemerkte, dass es mit Anmerkungen über das Thanksgiving-Wochenende gefüllt war. Dutzende Seiten mit seiner krakeligen Handschrift. Sie erkannte ihren eigenen Namen, Lisas und etwas, bei dem es sich zweifellos um hebräische Buchstaben handelte, ehe er das Notizbuch zuklappte. Sie runzelte die Stirn. »Also ist dir seit diesem Abend nichts mehr passiert?« »Nichts.« Er klang kurz angebunden, enttäuscht. Nachdenklich tippte er mit seinem Stift auf das Notizbuch. »Aber wir bringen alle die klassischen Bedingungen für eine Poltergeisterscheinung mit. Du und Marlowe – all die hormonell gesteuerten Ängste…« Er sah sie kurz an, dann wandte er den Blick ab. »Ihr Jungs seid auch nicht gerade Chorknaben«, konterte sie hitzig. »Das ist genau der Punkt, auf den ich hinauswill. Zwischen uns besteht eine Synergie… die Synergie des Unglücklichseins. Eine Fusion der ›Aussortierten‹.«
Der Begriff schien ihn zu amüsieren, und Robin spürte, wie sie ein Schauder überlief, auch wenn sie nicht sagen konnte, weshalb. Sie betrachtete die Statuen um sie herum, deren ausdruckslose Marmoraugen auf sie gerichtet waren. »Ich habe ein neues Brett gekauft«, fuhr Martin fort. Robin wandte sich ihm zu. »Was?« »Wie könnten wir mit dem Ganzen einfach aufhören?«, erklärte er ungeduldig. »Es ist ein perfektes Thema für eine Seminararbeit. ›Kann eine konzentrierte emotionale Energie einen psychokinetischen Effekt bewirken?‹ So lautet meine Thesenfrage.« Robin schüttelte heftig den Kopf, zog den Reißverschluss ihres Rucksacks auf und nahm das Buch mit den alten Zeitungsausschnitten heraus. »Ich glaube, das hier ist nichts Emotionales. Auch ich habe ein wenig recherchiert.« Sie schlug das Buch auf dem Marmorsockel auf und blätterte bis zu dem Artikel über den Brand. (Vorsichtshalber hatte sie das Blatt mit dem Hassgedicht vorher herausgenommen.) Sie legte die Hand auf die Seiten, damit der Wind sie nicht erfassen konnte, und trat zurück, um Martin den Bericht lesen zu lassen. »Es steht alles hier, wie er gesagt hat. Zachary ist bei einem Brand in Mendenhall umgekommen. Ich glaube, das ist der Grund, warum er so wütend ist… und so verloren.« Ärgerlich trat Martin näher und überflog den Artikel. Sie sah ihm beim Lesen zu und bemerkte befriedigt ein Flackern in seinen Augen. »Wie erklärst du dir, dass wir mit einem Geist reden, der sich Zachary nennt, wenn es einen realen Studenten namens Zachary gibt, der genau in diesem Gebäude 1920 gestorben ist?« »Aber genau so funktionieren doch diese unbewussten Botschaften«, erläuterte er mit demonstrativer Geduld. »Du und ich haben Texte aus dieser Zeit gelesen. Das Brett, das wir benutzt haben, stammte von 1920, also war das Jahr 1920 in
der Atmosphäre zwischen uns. Wir leben in dem Haus, in dem dieser Student gestorben ist. Es ist klar, dass einer von uns etwas darüber gehört hat. Und all diese Fakten tragen wir« – seine Stimme troff vor Sarkasmus – »in einer dunklen, stürmischen Nacht zusammen. Die kollektive unterbewusste Energie führt all diese Verbindungen zusammen und manifestiert sich in Botschaften dieses so genannten Geistes.« Robin spürte, wie ihr Gesicht immer heißer wurde. Seine Weigerung, die Tatsachen anzuerkennen, grenzte an Perversion. »Vielleicht willst du es nur nicht glauben«, sagte sie. »Was willst du – «, stieß er hervor. »Vielleicht siehst du es nicht, weil du es nicht sehen willst. Es erinnert dich zu sehr an Religion, obwohl du doch all das von dir weist, stimmt’s? Für dich ist alles reine Psychologie. Kein Gott, keine Religion, keine Geister.« Im ersten Moment sah Martin schockiert aus, und auch sie selbst war ein wenig überrascht über ihren Ausbruch. Doch als er antwortete, war die Ungeduld in seiner Stimme nicht zu überhören. »Natürlich weise ich es von mir. Es ist so archaisch. Ich soll an eine Religion glauben, die auf Texten aus dem Mittelalter basiert, die allen Ernstes Dinge wie Astrologie, Numerologie… und Dämonen anerkennt? Das ist doch absolut lächerlich. Es ist absolut unbegreiflich. Da ist mir Freud schon lieber.« Robin hätte ihn gern daran erinnert, dass er einen Talisman aus genau dieser archaischen Religion an seinen Türrahmen genagelt hatte, doch sie wusste nicht, was das nützen sollte. Er befand sich in einem extremen Konflikt, so viel stand fest. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass er im Grunde gern gläubig wäre und diese Tatsache mit seiner Skepsis überkompensierte.
All das hing mit seinem Vater, dem Rabbi, zusammen, kein Zweifel. Ein absolut Freudianisches Muster. Doch bevor sie etwas sagen konnte, schlug Martin einen anderen Ton an. »Na schön, unsere Theorien gehen auseinander. Also probieren wir es einfach aus.« Er räusperte sich. Mit einem Mal schien er nervös zu werden. »Wir könnten… die Arbeit zusammen schreiben, aus zwei verschiedenen Blickwinkeln.« Er sah sie flüchtig an. »›Poltergeister – ein psychisches oder psychologisches Phänomen.‹« »Hast du mit den anderen geredet?«, fragte Robin, die nicht auf diesen Kurswechsel vorbereitet war, ausweichend. Martin wurde rot und ließ den Blick über die Terrassenstufen schweifen. »Ich habe gehofft, dass du das vielleicht tun könntest. Ich meine… du bist so ehrlich und echt und… sie mögen dich.« Seine Stimme verklang. »Mich mögen die Leute meist eher nicht.« Er wandte den Blick ab, und die Röte in seinem Gesicht vertiefte sich. Robin spürte, wie auch sie errötete – vor Freude über Martins Versicherung, die Leute hätten sie gern, und vor Verwirrung, als ihr aufging, dass auch er sie mochte. Verlegen stand Martin da. Sie streckte die Hand aus, legte sie ihm auf den Arm und drückte ihn leicht. »Ich rede mit ihnen. Aber nicht wegen einer Seminararbeit. Sondern um herauszufinden, warum Zachary hier ist und was er will. Wir können hier nicht irgendwelche Spielchen spielen.« Mit besorgter Miene sah sie zum Rand des Campusgeländes hinüber, zu Mendenhall. »Er spielt nämlich keine Spielchen.«
Am Himmel zeichneten sich die ersten Boten der Dunkelheit ab, als sie Martin am Fuß der Treppen des Hauptplatzes zurückließ. Sie bekam nicht mit, dass er sich umdrehte und ihr
nachsah, als sie davonging… und seinen Arm an der Stelle hielt, wo sie ihn berührt hatte. Sie bog auf den Pfad ab, der durch das Eichenwäldchen führte, und lauschte dem Knistern, als sie über die rutschigen trockenen Blätter trat. Nachdenklich bahnte sie sich ihren Weg unter dem Geflecht aus Zweigen und Ästen hindurch. Martin mochte sich selbst überzeugt haben, dass er eine wissenschaftliche Erklärung für die Vorkommnisse finden und am Ende möglicherweise mit einer brillanten und bahnbrechenden Theorie aufwarten würde, doch hinter seiner obsessiven Jagd nach knallharten Fakten verbarg sich etwas anderes. Auf seine Weise war er ebenso fasziniert von dem Geheimnis wie sie. Er mimte lediglich den Superakademiker, weil es sich vertrauter, sicherer anfühlte. Und er wies augenscheinlich alles von sich, was auch nur ansatzweise an Glauben erinnerte – seine Weigerung zu glauben war von einer solchen Vehemenz, dass er nicht einmal das anerkannte, was sich direkt vor seinen Augen befand. Das war nicht nur dumm, sondern könnte sich womöglich sogar als gefährlich erweisen. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass er ihr etwas verheimlichte. Vielleicht log er nicht direkt, aber er verschwieg eindeutig etwas. Ihre Gedanken wanderten zu den hebräischen Buchstaben in seinem Notizbuch zurück. Sie wusste, dass sie in irgendeiner Weise von Bedeutung waren, wenn auch nicht, in welcher. Vor ihr befand sich eine kleine Lichtung mit einer Bank in der Mitte. Sie verlangsamte ihre Schritte und stellte fest, dass sie etwas an diesen Ort geführt hatte, obwohl sie bisher selten einen Gedanken an ihn verschwendet hatte. Sie verließ den Pfad, trat durch das dichte Gestrüpp auf die Lichtung und ging auf die geschwungene Marmorbank zu. Obwohl sie einige Male daran vorbeigekommen war und die Namen darauf bemerkt hatte, war sie nie auf die Idee
gekommen, sie sich genauer anzusehen. Auf dem Campus gab es jede Menge dieser Bänke und Statuen – Geschenke reicher Ehemaliger, manchmal von einer ganzen Klasse oder den Mitgliedern einer Studentenverbindung. Doch diese hier hatte etwas Besonderes, eine Schwere – vielleicht lag es an ihrer isolierten Lage oder an der Förmlichkeit, mit der sich die Bäume um die Lichtung und die Bank selbst gruppierten. Sie trat am rauen Stamm einer Eiche vorbei, blieb vor der Bank stehen und betrachtete die in den Marmor geritzten Buchstaben. Der Anblick des Datums jagte ihr einen Schauder über den Rücken. KLASSE VON 1920: IN MEMORIAM Darunter waren fünf Namen in alphabetischer Reihenfolge eingraviert. Langsam streckte sie die Hand aus und berührte den letzten. ZACHARY PRINCE Als sie dastand, die Finger auf den kalten, glatten Stein gelegt, spürte sie einen Atemzug an ihrer Wange, als stünde jemand unmittelbar neben ihr. Sie fuhr herum und sah sich auf der dunklen Lichtung um. Die Bäume waren riesig und reglos, die Luft erfüllt von Schwere. Außer ihr war niemand hier. Aber da war etwas. Sie spürte es, eine Präsenz wie ein Blick, eine Berührung. »Zachary?«, flüsterte sie. Ein hauchzarter Wind fuhr durch das Unterholz um sie, zupfte neckend an ihren Kleidern, vergrub sich wie Finger im Stoff. Robin schnappte nach Luft. Die Brise strich über ihr Haar, liebkoste ihre Wange, blies ihr sanft ins Ohr. Robin schloss die Augen, legte den Kopf in die Berührung, während selbst ihr Herzschlag auszusetzen schien.
Der Wind rauschte durch die Bäume – und war mit einem Mal verschwunden. Robin schlug die Augen auf. In der Lichtung war es noch immer still und auf einmal merklich kühler. Der Himmel hatte sich fast vollständig verdunkelt. Ihr Gesicht glühte, doch gleichzeitig zitterte sie am ganzen Leib vor Kälte. In diesem Moment packte sie die Angst, sie machte kehrt und rannte aus dem Kreis der Bäume durch das Wäldchen.
Sie zog die schwere Eingangstür von Mendenhall hinter sich zu und blieb neben den Briefkästen in der schwach erleuchteten Halle stehen. In ihrem Inneren tobte eine Fülle an Gefühlen, und nicht alle hatten mit Furcht zu tun. Es war Zachary. Die Sehnsucht. Sie hatte sie gespürt. Sie war real, intensiv und… Wohltuend. Ihre Beine fühlten sich schwach und leicht zittrig an, und ihre Brüste schmerzten bei der Erinnerung an die Berührung des Windes unter ihren Kleidern. Jemand berührte ihren Rücken in der Dunkelheit. Entsetzt fuhr sie herum. Ein Schatten ragte über ihr in der Halle auf. Sie wich zurück, bis sie mit dem Rücken gegen den Garderobenständer stieß, und hatte Mühe, nicht laut aufzuschreien – ehe sie Patrick erkannte. Sein Gesicht sah zwischen den unheimlichen Schatten der Eingangshalle angespannt aus, und seine Stimme klang knapp und distanziert. »Wir müssen uns treffen. Alle. Um acht bei den Säulen.«
Robin nickte, unfähig, ein Wort herauszubringen. Einen Moment lang sah sie etwas in Patricks Augen aufflackern – etwas Starkes, das tief aus seinem Inneren zu kommen schien. Er hat Angst. Ihre Blicke begegneten sich. Dann wandte er sich abrupt ab und ging davon, während sie in der Dunkelheit zurückblieb.
KAPITEL 20
Am nördlichen Ende des Campus, ummittelbar am Waldrand, befanden sich die überwucherten Ruinen der alten Gartenanlagen. Niedrige Mauern umgaben die langsam zerfallenden Steinfliesen, abgestorbene Ranken krochen über die zerbröckelnden Säulen eines einstigen Torbogens. Bei Tag war es ein verwahrlostes Waldstück, in mondbeschienenen Nächten ein Dryadenkreis, ein Ort für Geister, gebrochene Herzen und fiebrige Träume. Da sich die Nutzungsmöglichkeit des Areals anders als bei einer Sportanlage nicht auf Anhieb erschloss, war es längst dem Verfall zum Opfer gefallen. Der Verwaltungsrat sah keinen Anlass, in den Wiederaufbau des Torbogens zu investieren. Doch die Studenten kannten und liebten den Ort wegen seiner völligen Abgeschiedenheit. Sie fanden zahllose Nutzungsmöglichkeiten für ihn, wie die Glasscherben, die zerdrückten Jointstummel und die bleichen, schlaffen Kondomleichen auf dem Boden verrieten. Wie in stummem Einvernehmen hatten sich alle fünf getrennt voneinander auf den Weg gemacht. Patrick war allein, als Robin eintraf. Sie stand im Schatten der Torbögen und sah zu, wie er einen Schluck aus einer Flasche nahm, während er um das Feuer herumging, das er inmitten der Steinplatten angezündet hatte. Sie blieb im Verborgenen und beobachtete, wie die anderen nacheinander eintrafen. Einer nach dem anderen erschien, blass in der Dunkelheit, selbst wie ein Geist aussehend. Sie erkannte die schemenhaften Gestalten auf Anhieb: Lisa mit ihrem wilden Haarschopf. Martins kleine, hagere Gestalt. Cain,
der sich mit sehniger, katzengleicher Anmut zwischen den verwitterten Steinen bewegte. Dann sah Patrick zu den breiten niedrigen Stufen hinauf, als hätte er die ganze Zeit über gewusst, dass Robin dort stand. Mit einem Anflug von Erregung und gespannter Vorfreude trat Robin vor. Keiner von ihnen sagte etwas, als sie sich im tanzenden Schein der Flammen versammelten. Doch ihre Augen begegneten sich, und die Stille verströmte eine Atmosphäre von größerer Intimität, als Worte vermocht hätten. Patrick brach als Erster das Schweigen. »Es passiert immer noch, richtig?«, sagte er mit tonloser Stimme. »Ja«, antwortete zuerst Robin, dann Lisa. »Oh, ja.« Martin nickte kurz, und Robin musterte ihn stirnrunzelnd. Er hatte nichts davon erzählt. Hatte er sie angelogen? Oder behauptete er es nur, um die anderen zum Reden zu ermutigen? Ein kühler Luftzug strich über das Gelände. Erschaudernd schob Robin die Hände noch tiefer in die Taschen. Cain wandte sich Robin zu und musterte sie mit seinem typisch direkten Blick. »Was ist dir passiert?« Robin dachte an das Wäldchen, an das Gefühl, berührt worden zu sein. Sie spürte, dass sie rot wurde, und sah zu Lisa hinüber, die mit einer Zigarette in der Hand neben einem Granitblock kauerte. »Gestern war ich in der Küche… mit meiner Zimmergenossin…« Patrick sah sie über die Flammen hinweg an. »Seiner Freundin«, bemerkte Cain mit einem Seitenblick auf Patrick. »Ja, und«, schoss Patrick zurück, wütend über den vorwurfsvollen Unterton in Cains Stimme.
In der Hoffnung, die aufkeimende Missstimmung zu unterdrücken, fuhr Robin eilig fort. »Waverly hat sich mit Lisa gestritten – und die Kaffeekanne ist in ihrer Hand zerplatzt.« Sie sah Lisa an, die sich gegen den Granitblock lehnte und rauchte. Sie wirkte distanziert und in sich gekehrt. Hier stimmt etwas nicht, dachte Robin. Aber was? Cain klang skeptisch. Wie immer. »Ich habe auch schon vorher miterlebt, wie Glas auf heißen Kochplatten zerborsten ist.« »Aber hier gibt’s ziemlich viele Scherben, verdammt«, gab Patrick zurück. Cain ignorierte ihn und wandte sich wieder an Robin. »Noch was?« Wieder dachte Robin an das Wäldchen, an die intime Berührung des Windes, an das überwältigende Gefühl der Anwesenheit von jemandem. Aber wie sollte sie es erklären, wo sie lediglich wusste, dass sie sich das Ganze nicht eingebildet hatte? »Es ist nur… ein Gefühl«, begann sie. »Dass man beobachtet wird. Die ganze verdammte Zeit«, warf Lisa eindringlich ein, nahm einen zittrigen Zug von ihrer Zigarette und drückte sie auf den Steinen aus, sorgsam darauf bedacht, Robin nicht in die Augen zu sehen. In Martins Augen lag ein inständiger Ausdruck, als er zwischen den Mädchen hin und her sah. Robin zögerte. »Ja…«, sagte sie langsam mit einem Blick in Lisas Richtung. »Heute Abend habe ich im Wäldchen etwas gespürt. Als… wäre jemand da.« Wieder errötete sie in der Dunkelheit. Cain musterte sie mit gerunzelter Stirn. »Vielleicht war ja tatsächlich jemand in diesem Wäldchen«, meinte er mit einem vielsagenden Blick in Patricks Richtung, doch Patrick winkte ab.
»Aber es hat sich real angefühlt«, protestierte Robin. »Ich meine, nicht real. Nicht… menschlich. Aber existent…« Ihre Stimme verklang. Patrick trat einen Schritt vor. »Tja, das hier ist jedenfalls real.« Er ließ ein Prüfungsheft auf die niedrige Steinmauer fallen. Robin erkannte die Geschichtsprüfung auf den ersten Blick. »Ruperts Semesterprüfung.« Patrick drehte das Heft so herum, dass Robin die innere Umschlagseite erkennen konnte. Ein großes A+ in Rot prangte dort, versehen mit etlichen Ausrufungszeichen und einem begeisterten Kommentar. Robin sah zu Patrick hoch. »Das ist toll.« »Ja, ganz toll. Nur dass ich es nicht geschrieben habe.« Sein Gesicht war kreidebleich. »Ich dachte, ich sei eingeschlafen. Als Rupert meinte, die Zeit sei um, bin ich völlig ausgeflippt. Dann habe ich auf das Prüfungsheft gesehen und – « Er blätterte durch das Heft, das Robin verblüfft anstarrte. Das gesamte Heft war mit einer winzigen, perfekten Handschrift gefüllt, selbst die Rückseite. Patrick hob den Kopf und sah Robin mit seinen blauen Augen unbehaglich an. »Es ist meine Handschrift – aber auch wieder nicht.« Sie traten um das Heft herum und lasen: Das Terem des Zerberstens fand im ersten Tzimtzum statt, als sich das Licht des Einsof über die Kelim der zehn Sefirot erstreckte. Die erste Partzufim ertrug die Erleuchtung von Chochma nicht, sondern zersprang in tausend Teile und starb, was zum Fall des zerbrochenen Kelim unter die Welten zu Churu Klipot führte, jenem Ort der Dunkelheit unterhalb von Malchut. Nach dem Zerbersten Kelims verschwand das Licht von Chalal und stieg empor, während in Achar Kach die Aviut
der Klipot blieb, berührt vom Licht Chochmas wie von einem Ölschleier auf einer Lampe… So ging es weiter, Seite um Seite. Völlig unverständliche Worte. »Was bedeutet das?«, fragte Robin. »Ich habe, verdammt noch mal, keinen Schimmer.« Patrick spuckte auf die Steinfliesen. »Ich habe dich schreiben sehen«, sagte Robin langsam. »Sehr schnell. Ich habe nur das halbe Heft vollgeschrieben.« Cain löste sich von der Wand und trat neben Patrick. »Für was für einen Idioten hältst du mich eigentlich?« Bevor Patrick etwas erwidern konnte, wandte sich Cain an die anderen. »Habt ihr euch eigentlich nie gefragt, weshalb dieser Kerl nicht Mitglied in einer Verbindung ist, wo er eigentlich hingehört? Weil sie ihn rausgeschmissen haben. Wegen eines Streichs. Er und seine Freundin sind ins BetaHaus eingebrochen und haben sämtliche Stuhlbeine im Speisesaal angesägt. Als sich die Jungs morgens zum Frühstück an den Tisch setzen wollten, fielen sie zu Boden. Putzig, was? Nur dass einer von ihnen dabei fast ein Auge verloren hätte.« Patrick warf Cain einen trotzigen Blick zu, schwieg jedoch. Robin fühlte sich, als hätte sie einen Schlag verpasst bekommen, doch ihr war augenblicklich klar, dass Cain die Wahrheit sagte. Sie hatte bereits läuten hören, dass Waverly wegen irgendeines Vorfalls im Zusammenhang mit Patrick aus ihrer Verbindung geflogen war. Doch Cain war noch nicht fertig. Er sprach leise, mit angespanntem Kiefer, ohne eine Sekunde den Blick von Patrick zu nehmen. »Ich habe mit dem Hausmeister geredet, mein Freund. Sieht ganz so aus, als würden die Rohre in Mendenhall zu Klopfgeräuschen neigen, wenn sich der Boiler überhitzt. Er meinte, am Thanksgiving-Wochenende sei der
Thermostat viel zu weit aufgedreht gewesen. Also bin ich in den Keller gegangen und habe ein bisschen herumgeschnüffelt. Und das hier habe ich auf dem Boden neben dem Boiler gefunden.« Er griff in seine Tasche und zog ein Päckchen Zigarettenpapier hervor. »Er hat es inszeniert. Er hat alles inszeniert. Noch einer seiner Späße.« »Na gut, dann habe ich eben den Boiler hochgedreht«, knurrte Patrick leise. Robin starrte ihn in verblüfftem Schweigen an. Sie fühlte sich aufs Übelste verraten. Auch Lisa und Martin schienen über das Geständnis schockiert zu sein. Patrick breitete die Arme aus. »Aber das war das Einzige, was ich getan habe. Die Möbel habe ich nicht angerührt. Der Spiegel – ihr habt es alle gesehen. Wie hätte ich das anstellen sollen?« Cain schüttelte den Kopf. »Damit ist mein Beweisvortrag abgeschlossen.« Er machte kehrt und ging auf die zerfallenden Steinstufen zu, die zum Campus zurückführten. Lisa wirbelte herum. »Warte. Nur eine verdammte einzige Minute.« Die Wut in ihrer Stimme ließ ihn innehalten. Er schaute über die Schulter. Lisa folgte ihm die Stufen hinauf, zitternd vor Anspannung. »Etwas war in meinem Zimmer. Es beobachtet mich. Ich kann es spüren.« Sie riss den Kopf herum und starrte Patrick an. »Wie sollte er so was anstellen?« Cain sah sie ungerührt an. »Irgendwelche Zeugen?« Lisa funkelte ihn zornig an. »Ich weiß, was ich gespürt habe, Arschloch!« Cain deutete auf Patrick. »Vielleicht steckst du ja mit ihm unter einer Decke.« »Kompletter Schwachsinn!«, blaffte Patrick mit unheilvoller Miene, baute sich hinter Lisa auf und deutete auf das Prüfungsheft, während er Cain mit finsterem Blick fixierte.
»Ich habe von dem Schwachsinn, den ich da geschrieben habe, noch nie etwas gehört.« Cain trat von der Stufe. »Du hast es irgendwo gefunden und abgeschrieben. Für so was gibt es das Internet.« Beunruhigt wegen des eskalierenden Streits, trat Robin über die mit Unkraut überwucherten Steinplatten. Doch in diesem Moment meldete sich Martin, der die ganze Zeit schweigend an der Mauer gelehnt hatte, mit ruhiger Stimme zu Wort. »Du hast es schon einmal gehört. Dein Bewusstsein hat es nur nicht registriert.« Fast gehorsam unternahm Patrick keinen weiteren Versuch, auf Cain loszugehen. Wieder einmal bemerkte Robin bewundernd, wie leicht es Martin fiel, Patricks aufbrausendes Temperament unter Kontrolle zu bringen. Selbst der kleine Seitenhieb auf Patricks Geisteszustand schien ihn nicht aus der Ruhe gebracht zu haben. Martin löste sich von der Wand, trat in den Lichtkegel des Feuers und sah die anderen an. »Meine Theorie ist, dass die Seance unterbewusste Blockaden gelöst hat. Sie hat uns einen Zugang zu einem Wissen – und zu einer Macht – verliehen, den wir sonst nicht haben.« Er hielt das Prüfungsheft in die Höhe. Patrick nickte nachdenklich. Robin holte Luft. »Aber was ist, wenn es sich um kein psychologisches Phänomen handelt?« Sie öffnete den Reißverschluss ihres Rucksacks, holte das Buch mit den gesammelten Zeitungsartikeln heraus und legte es aufgeschlagen auf die Mauer. Patrick und Lisa beugten sich vor, um im Feuerschein einen Blick darauf zu werfen. Martin blieb ein Stück abseits stehen und sah ihnen zu, während Robin nervös zu erzählen begann. »In dem Jahr, als Zachary Prince starb, gab es einen Brand im Dachgeschoss von Mendenhall. Zachary und vier weitere
Studenten kamen dabei ums Leben. Er ist im Wohnheim gestorben.« Lisa warf Robin einen kurzen Blick aus ihren dunklen Augen zu. Jemand trat neben Robin. Cain. Robin betrachtete Patricks und Cains Gesicht, während sie den Artikel lasen, und bemerkte das erschrockene Aufflackern in ihren Augen. »Scheiße…«, murmelte Patrick. Die beiden sahen auf. Der Wind pfiff zwischen den Torbögen hindurch, worauf die fünf ihre Jacken enger um sich zogen. Patrick wandte sich an Martin. »Also, was ist hier los? Haben wir unbewusst einen Geist heraufbeschworen?« »Was auch immer passiert sein mag – es gibt nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.« Das Feuer verwandelte Martins Brillengläser in lodernde Flammen. »Wir müssen es noch einmal versuchen.« Die anderen starrten ihn entsetzt an, während die Dunkelheit um sie herum noch schwärzer zu werden schien. Mit einem Mal verließ Robin die Geduld. Sie war Martins akademisches Getue leid, ebenso wie Cains verbohrte Skepsis. Es hatte einen echten Zachary gegeben. Er hatte im Wohnheim gelebt und war dort auf brutale Weise ums Leben gekommen. Keiner von ihnen hatte etwas davon gewusst, als sie in Kontakt mit ihm getreten waren. Welche Erklärung brauchten sie denn noch? Und er hatte sich aus irgendeinem Grund an sie gewandt – nein, nicht an die fünf, sondern an sie allein, Robin. Zachary hatte sich an sie gewandt, und sie fühlte sich verpflichtet, ihm zu helfen. Entschlossen schob sie die Erinnerung an das entsetzliche Thanksgiving-Wochenende beiseite und konzentrierte sich stattdessen auf die sanfte Präsenz des anderen Wesens, das sie im Wald gespürt hatte. Sie sah sich um und betrachtete die Gesichter der anderen. »Vielleicht macht Zachary all diese Dinge, weil er etwas will. Vielleicht braucht er unsere Hilfe.«
Die anderen standen da, reglos, stumm, nachdenklich. Robin schöpfte neuen Mut. »Wir sollten die Seance im Dachstuhl abhalten, wo sie gestorben sind.« Vier Augenpaare richteten sich auf sie. »Um Zachary zu fragen… was er will.« Sie sah, wie Lisa erstarrte. Eine Brise zupfte an ihrem Haar, und sie zuckte zusammen. Wieder beschlich Robin das untrügliche Gefühl, dass etwas nicht stimmte. In diesem Moment nickte Lisa knapp. »Du hast Recht. Wir müssen herausfinden, was los ist.« Patrick wich zurück. »Whoa, jetzt aber mal langsam. Ihr habt wohl schon wieder vergessen, was passiert ist. Dieser elende Drecksack ist ein verdammter Geist, der stocksauer ist. Am zweiten Abend hatten wir alle die Hosen bis zum Anschlag voll!« Patricks blaue Augen blieben an Robin hängen. Einen Augenblick lang drohte sie die Angst jenes Abends erneut zu übermannen – die Erinnerung an den Schatten im Spiegel, an die lähmende Kälte. Und an das Klopfen. Sie schob das Gefühl beiseite. »Denk doch an die Art, wie er ums Leben gekommen ist«, erinnerte sie Patrick eindringlich. »Natürlich quält ihn etwas… aber vielleicht können wir ihm helfen. Ihn freilassen oder so was.« Sie registrierte, wie Cain angewidert den Kopf schüttelte. Martin musterte Patrick eingehend. »Hast du etwa Angst? Das ist ja hochinteressant«, bemerkte er, fast freundlich. »Nein, verdammt, natürlich nicht. Ich bin nur völlig fertig. Ich habe noch zwei Prüfungen vor den Weihnachtsferien. Mach mir das erst mal nach«, polterte Patrick, der sich offenbar mächtig in die Ecke gedrängt fühlte. »Freitagabend«, erklärte Martin. »Und wir müssen alle dabei sein. Sonst funktioniert es nicht.«
Cain lächelte freudlos. »Oh, ich komme garantiert. Dieses Schauspiel werde ich mir nicht entgehen lassen.« Sie tauschten einen letzten Blick im Schein des Feuers, bekannten stumm ihr Einvernehmen. »Freitagabend«, wiederholte Martin. Patrick trat das Feuer aus, löschte die letzten Glut- und Aschereste, während sich die anderen zum Gehen wandten. Nur Cain blieb an der Mauer stehen. Patrick, Lisa und Martin gingen weiter zu den Stufen, doch Robin zögerte und drehte sich zu Cain um. »Also ist dir überhaupt nichts passiert?«, fragte sie. Er zögerte eine Idee zu lange mit seiner Antwort, und sie starrte ihn an, als ihr die Erkenntnis dämmerte. Er zuckte fast wütend die Achseln. »Ich habe Songs geschrieben. Eine ganze Menge. Und sie sind gut.« Plötzlich fiel Robin die unheimliche, eindringliche Musik wieder ein, die sie vor seiner Zimmertür gehört hatte, und ihre Nackenhärchen sträubten sich. »Okay, ich habe sie geschrieben. Kein Geist. Martin hatte durchaus Recht – wir haben die Kontrolle verloren und etwas losgetreten – unbewusst. Eine Begleiterscheinung von O’Connors kleiner Show«, erklärte er trotzig, bevor sie etwas erwidern konnte. Robin, stets bereit, zu Patricks Verteidigung einzuspringen, entgegnete hitzig: »Wenn du tatsächlich glaubst, dass Patrick für all das verantwortlich ist, wieso bist du dann heute Abend überhaupt hergekommen?« »Erwischt«, konterte Cain grinsend und zuckte wieder die Achseln. »Es hat mir keine Ruhe gelassen. Wer was wann wo und wie? Ich meine, was soll’s. Ich muss es wissen.« Sie sahen sich im Dunkeln an. Der Wind frischte auf, fuhr wispernd über die Steine, und Robin erschrak. Cain deutete mit dem Kopf auf das Buch unter ihrem Arm. »Darf ich es mir mal ansehen?«
»Robin? Kommst du?«, rief Patrick hinter ihnen. Sie wandte sich um und sah die anderen auf der obersten der abgetretenen Stufen warten. Sie reichte Cain das Buch. Sie sahen einander einen Moment lang in die Augen, bevor er es nahm. Robin drehte sich um und ging durch die Dunkelheit in Richtung der Stufen. Doch bevor sie sie erklomm, drehte sie sich noch einmal um und sah zurück. Er beobachtete sie – und sie hatte gewusst, dass er es tun würde.
KAPITEL 21
Der Rückweg nach Mendenhall durch die hohen Schatten der Bäume verlief nahezu schweigend. Es war, als gäbe es nun, da sie einen Entschluss gefasst hatten, nichts mehr zu sagen. Lisa bewegte sich seltsam steif, tief in Gedanken versunken, und Robin musste sich beherrschen, sie nicht zu fragen, was sie quälte. Was es auch sein mochte, Lisa wollte offensichtlich nicht vor den anderen darüber reden. Oder vor mir, mutmaßte Robin. Kaum war Mendenhall in Sicht, trennten sie sich. Lisa und Patrick blieben zurück, um eine Zigarette zu rauchen, doch das war nicht der einzige Grund – es war das instinktive Gefühl, dass sie nicht zusammen gesehen werden sollten. Und warum? Aus schlechtem Gewissen? Oder wollen wir nur niemand anderen dabeihaben? Selbst Martin blieb vor den Briefkästen stehen und fummelte abwesend mit den Schlüsseln herum, damit Robin vor ihm hineingehen konnte. Ihr Zimmer war zum Glück leer, so dass sie sich nicht mit Waverly würde herumschlagen müssen. Robin zog ihren Mantel aus – die Wolle roch nach kalter Luft und Rauch von Patricks Feuer – und warf ihn aufs Bett. Lange Zeit stand sie mitten im Zimmer, ehe sie kehrtmachte und es wieder verließ. Eilig ging sie den Korridor entlang in Richtung Badezimmer, doch vor der geöffneten Tür verlangsamte sie ihre Schritte und lauschte, während sich ihr Puls beschleunigte. Scharren drang aus dem Raum. Schweres Atmen.
Sie erstarrte, ehe sie vorsichtig auf die Tür zutrat und hineinspähte. Im bleichen Licht des Waschraums erkannte sie Lisa, die hektisch in ihrem Spind herumkramte, bis sie ein oranges Medikamentenfläschchen herausnahm und es aufschraubte. Offenbar leer. Robin wich zurück, als Lisa das Fläschchen an die Wand warf und die Spindtür zuknallte. In diesem Moment erblickte Lisa Robin im Spiegel, ein Schatten im Türrahmen hinter ihr, und fuhr erschrocken herum. Robin trat einen Schritt vor ins Licht. »Ich bin’s.« Lisa atmete hörbar aus, dann beugte sie sich eilig übers Waschbecken und wusch sich das Gesicht, um Robin nicht in die Augen sehen zu müssen. Das rote Bändchen um ihr Handgelenk wirkte wie ein blutiger Striemen. Langsam trat Robin näher. »Geht es dir gut?« Einen Augenblick lang dachte sie, Lisa würde keine Antwort geben. Sie vergrub das Gesicht in einem Handtuch, und als sie den Kopf hob, war ihr Blick in die Ferne gerichtet. »Ich träume von ihm«, sagte sie unvermittelt. »Ich meine, ich träume davon, wie er mich vögelt.« Sie wandte sich um. Robin sah in ihre tief in den Höhlen liegenden Augen in ihrem bleichen Gesicht. Entsetzt starrte Robin sie an, wusste nicht, was sie davon halten sollte. Grundsätzlich stand sie Lisas Prahlerei argwöhnisch gegenüber. Doch Lisa war den ganzen Abend so still gewesen, nicht so, wie sie sie sonst kannte. Sie war blass und nervös, von ihrer üblichen Großmäuligkeit keine Spur. Ehrlich gesagt sah sie ziemlich mitgenommen aus. Kann das sein? Wird sie tatsächlich – Robins Verstand verwarf den Gedanken eilig – angegriffen… Auf Robins Miene musste sich das Entsetzen abgezeichnet haben, das sie erfasste, denn Lisa warf ihr Haar zurück, und
auf ihrem Gesicht erschien das gewohnt höhnische Lächeln. »Oh, ich meine, er ist gut. Was soll ich sagen? Ich komme jedes Mal.« Sie schleuderte ihr Handtuch in den Spind, nahm eine Haarbürste heraus und begann, mit hektischen Bewegungen ihr Haar zu bearbeiten. Robin erstarrte, zutiefst getroffen von Lisas Tonfall, während die unterschiedlichsten Gefühle in ihr tobten – Argwohn, die alte Paranoia, aber auch etwas anderes. Eifersucht? Nein, natürlich nicht. Aber… aber was? Die Wahrheit war – sie hatte geglaubt, Zachary zeige sich nur ihr. »Wow. Toll. Wie schön für dich«, erwiderte sie knapp und wandte sich zum Gehen. »Mit dir macht er das nicht?«, hörte sie Lisa hinter sich sagen und registrierte das leise Beben in ihrer Stimme. Robin drehte sich um und schüttelte den Kopf. Lisa lächelte dünn. »Da hab ich ja mächtig Glück.« Die Badezimmerspiegel reflektierten ihre Gesichter in tausendfacher Zahl. »Soll ich bei dir bleiben?«, fragte Robin vorsichtig in die Stille hinein. Lisas Lächeln verzerrte sich. »Wieso… willst du mitmachen?« Robin lief dunkelrot an und wandte sich zutiefst verletzt um. »Robin«, rief Lisa ihr mit zitternder Stimme nach. Diesmal war die Verzweiflung nicht zu überhören. Wieder drehte Robin sich um. Sie fürchtete sich fast vor dem, was sie gleich erfahren würde. Lisa ließ die Haarbürste ins Waschbecken fallen, wandte Robin das Gesicht zu und begann, langsam ihre hochgeschlossene Bluse aufzuknöpfen. Robin rang nach Luft. Lisas Hals und Brust waren mit blauen Flecken und Schrammen übersät.
Und mit Bissspuren. Die Mädchen sahen einander im fluoreszierenden Licht der Deckenlampen an, zu verängstigt, um etwas zu sagen.
In Lisas Zimmer brannten einige Kerzen, da keine der beiden bei vollständiger Dunkelheit schlafen wollte. Robin war sicher gewesen, dass sie die ganze Nacht wach bleiben würde (was zweifellos besser wäre), doch irgendwann war sie eingedöst und schlief nun tief und fest auf ihrer Seite des Bettes. Am Rande ihres Bewusstseins registrierte sie, dass es anfing – ein langsames, rhythmisches Klopfen irgendwo im Raum. Irritiert runzelte sie im Schlaf die Stirn. Das Klopfen wurde lauter. Mühsam schlug sie die Augen auf. Im Halbschlaf und dem düsteren Schein der Kerzen erkannte sie zwei kämpfende Schatten an der Wand – eine wuchtige dunkle Masse, die sich über eine weibliche Gestalt beugte. Das Hämmern wurde noch lauter, erschütterte das Bett, ein heftiges, gewalttätiges Stoßen. Robin, inzwischen hellwach, fuhr hoch. Die Schatten waren verschwunden. Doch Lisas Seite des Bettes bebte noch immer, während Lisa auf der Matratze hin und her geworfen wurde und sich schreiend vor Entsetzen gegen irgendetwas Unsichtbares wehrte. Robin kauerte sich zusammen. Die Luft im Raum war eisig kalt. Die Gegenwart des unsichtbaren Wesens war unmissverständlich, förmlich mit Händen greifbar, eine erstickende Aura des Bösen, die sie mit schier atemberaubendem Entsetzen erfüllte. Ihr Bewusstsein drohte zu schwinden, sich in sich selbst zurückzuziehen, doch im letzten Moment wich sie vor dem Abgrund der Ohnmacht zurück und begann zu schreien.
»Zachary, hör auf! HÖR AUF!« Lisas Körper verkrampfte sich, ehe sie schließlich davon abließ, um sich zu schlagen, und auf der Matratze zusammensackte. Die Kerzen auf dem Nachttisch flackerten auf. Zu Robins Entsetzen spürte sie die Gegenwart des unsichtbaren Wesens neben sich, die dunkle Energie, die nun ihre Aufmerksamkeit auf sie richtete. Sie spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufrichteten, wie ihr Körper taub wurde, als ihr ein kalter Atemzug entgegenschlug und ein widerlich fauliger Gestank in die Nase stieg. Sie presste sich gegen das Kopfende des Bettes, die Augen weit aufgerissen und glasig. Das unsichtbare Wesen beugte sich über sie, so dass sie das Gewicht seines Körpers auf sich spüren konnte, groß und lebendig, pulsierend vor Bösartigkeit. Ein unsichtbarer Atemzug fuhr durch ihr Haar… und sie hörte sich wimmern wie ein Tier. Dann war es verschwunden. Die Schatten im Raum wurden weicher, die Luft erwärmte sich allmählich. Und das Gefühl einer Faust, die ihr Herz zu umklammern schien, ließ allmählich nach. Lisa lag neben ihr, zitternd vor Entsetzen. Unvermittelt wurde sie von trockenen Schluchzern geschüttelt. Robin löste sich aus ihrer Lähmung und beugte sich über sie, nahm sie in die Arme und hielt sie fest. Sie spürte Lisas krampfartiges Zucken, das sich auf ihren eigenen Körper übertrug, während ihre Zähne unter dem verebbenden Adrenalinstoß klapperten. »Oh Gott…«, begann sie. »War das… war es immer so?« Lisa schüttelte den Kopf und schluckte. »Nein, so schlimm noch nie.«
Robin grub ihre Nägel in die Handflächen und rang um ihre Selbstbeherrschung. »Wir können die Seance nicht abhalten. Es ist zu gefährlich. Wir wissen nicht, womit wir es hier zu tun haben.« Lisa löste sich von ihr. Ihre Augen waren glasig. »Wir müssen aber irgendetwas tun. Wir müssen ihn loswerden.« Die Mädchen sahen einander im flackernden Kerzenschein an. »Wag es nicht, jemandem davon zu erzählen«, sagte Lisa schließlich mit leiser, eindringlicher Stimme. Nach einem Moment nickte Robin stumm.
KAPITEL 22
Auf dem Weg zum Friedhof von Ash Hill blickte Robin durch das Fenster des Busses auf den kleiner werdenden Campus zurück. Lisa hatte sie zwar schwören lassen, über die Angriffe zu schweigen, doch das hieß nicht, dass sie nicht auf eigene Faust ein paar Recherchen anstellen durfte. Bevor sie weitermachten (flüchtig wanderten ihre Gedanken zu Cain), musste sie etwas überprüfen. Es war eine Erleichterung, dem Campus den Rücken zu kehren. Ein kurzer Anruf bei der Auskunft hatte genügt, um herauszufinden, dass es einen Friedhof unmittelbar außerhalb der Stadt gab. Und als sie vorgegeben hatte, nach einem Verwandten zu suchen, hatte der Friedhofs Verwalter bereitwillig bestätigt, dass ein im Jahr 1920 verstorbener Zachary Prince im älteren Teil des Friedhofs begraben sei. Die Busroute, über die man vom College aus zu verschiedenen Orten entlang dem Interstate-Highway gelangte, führte auch am Friedhof vorbei. Robin saß eingezwängt auf ihrem Fensterplatz und warf zum ersten Mal seit Studienbeginn einen Blick auf die Stadt. Der Ortskern von Ash Hill war ein gutes Stück vom Campus entfernt, und sie hatte keine Freunde, die sie eingeladen hätten, durch die wenigen Geschäfte zu bummeln oder ins einzige Kino der Stadt zu gehen. Sie registrierte kaum, wie die Hauptstraße endete und statt der Läden nun Schindelhäuser mit breiten Veranden die Straße säumten. Stattdessen war sie tief in Gedanken über Lisa und die Nacht zuvor versunken.
Was sie gespürt hatte – irgendwann, hinter dem Entsetzen, dem Abscheu und der fast psychotischen Irrealität des Vorfalls –, war das Gefühl, verraten worden zu sein. Irgendwie war es ihr gelungen, die ursprünglichen Heimsuchungen des Geistes (die mittlerweile mehrere Wochen zurücklagen) als den Schrei einer verlorenen Seele, einer zornigen und verwirrten Seele, einzuordnen. Doch was mit Lisa geschehen war, ließ sich nur als böser, unverzeihlicher Akt bezeichnen. Robin fühlte sich selbst missbraucht. Sie konnte nicht glauben, dass Zachary das gewesen sein sollte – nicht dieser gequälte junge Mann aus dem Jahrbuch, nicht der Zachary ihrer Fantasie, nicht der Zachary, der in ihren Träumen nach ihr rief. Im Gesicht dieses Mannes lag Sanftheit, Mitgefühl. Und keine Spur von der widerlichgrinsenden Gier eines Raubtiers, das seine Beute forderte. Doch sie hatte den Angriff auf Lisa mit eigenen Augen gesehen. Konnte der Tod – zugegebenermaßen ein grauenhafter Tod (der Gedanke an Flammen und zerschmelzendes Fleisch ließ sie erschaudern) – den Charakter einer Seele grundlegend verändern? Aus irgendeinem Grund konnte sie es sich nicht vorstellen. Natürlich musste sie zugeben, dass das verführerische Geplänkel des Brettes ebenfalls nicht zu dem Foto des traurigen jungen Mannes passte; ebenso wenig wie die abfälligen Dinge, die er zu Martin gesagt hatte. Also, wer war der wahre Zachary? Sie hatte blindlings akzeptiert, was das Brett und Zachary (oder wer auch immer mit seiner Hilfe zu ihnen gesprochen hatte) ihnen erzählt hatte. Nun fühlte sie sich hinters Licht geführt, belogen. Und genau darum war sie wild entschlossen herauszufinden, was wirklich vorging.
Doch trotz ihres Entsetzens im Augenblick, als das unsichtbare Wesen über ihr gewesen war, hatte sie das untrügliche Gefühl – nein, die Gewissheit –, dass es sich nicht in derselben Weise auf sie gestürzt hätte. Sie wusste es einfach, auch wenn sie nicht sagen konnte, weshalb. Ihre Gedanken kreisten unablässig darum, als sie aus dem Busfenster zusah, wie die Vorstadtstraßen dichten Wäldern und weitläufigen Feldern wichen. Lisa musste irgendetwas getan haben. Zum einen hatte Lisa offen mit Zachary geflirtet. Mehr noch. Sie hatte ihn förmlich eingeladen. Eingeladen. Robin setzte sich auf ihrem Platz auf. Das war es. Etwas, das Lisa an jenem ersten Abend ausgesprochen hatte. Wie Mae West – eine Einladung. »Tja, dann besuch mich doch mal bei Gelegenheit.« Und genau das hatte er getan. Robin hatte keine Ahnung, warum diese Tatsache wichtig war. Sie wusste nur, dass sie es war. Der Bus hielt vor einer hohen Granitmauer. Robin zog sich am Metallgriff des Vordersitzes hoch, ging ein wenig unsicher nach vorn und stieg die drei hohen Stufen hinunter, ehe sich die automatischen Türen hinter ihr schlossen. Der Bus fuhr davon und ließ sie in einer schwarzen Abgaswolke zurück. Allein stand sie vor den imposanten schmiedeeisernen Toren des Friedhofs. Der Wind war heftig, trieb die dunklen Wolken am Himmel vor sich her, die zwar zu hoch waren, um Regen mitzubringen, aber dunkel genug, dass sie sich wünschte, sie hätte die anderen gebeten, sie zu begleiten. Doch ihr Versprechen Lisa gegenüber hatte sie daran gehindert. Patrick zu bitten, war von vornherein ausgeschlossen gewesen. Seit Thanksgiving observierte ihn Waverly mit Argusaugen. Lisa war zu fertig
gewesen. Martin behandelte das Thema Geist mit einer solchen Verachtung, dass es sinnlos war, ihn hineinzuziehen, solange sie nichts Konkretes in der Hand hatte. Und was Cain betraf, war sie sich nicht ganz sicher. Aber er glaubte ja an gar nichts. Was sollte es also bringen? Trotzdem wäre jeder von ihnen als Begleitung besser gewesen, als allein vor einem Friedhof zu stehen. Robin zitterte im Wind, ehe sie mit grimmiger Miene die Schultern straffte, das hohe Tor aufschob und zusammenzuckte, als der Rost das Scharnier quietschen ließ. Der neuere Teil des Friedhofs war sehr gepflegt, mit Rasenflächen, die zwar bereits braun wurden, aber dennoch sorgfältig gestutzt und ebenmäßig wirkten. Die Mehrzahl der Gräber war bescheiden, mit schlichten, flach auf dem Boden liegenden Grabsteinen aus rechteckigem Marmor. Welchen Sinn haben eigentlich diese flachen Grabsteine?, fragte Robin sich, als über die festgetrampelten Pfade ging, vorbei an Marmorbänken unter Eichen. So diskret, dass sie nicht einmal nach Tod aussehen. Der ältere Teil des Friedhofs hingegen widersprach dem anfänglichen Eindruck – Robin betrachtete die Statuen, verwittert und schmutzig vom Alter, mit Moos bewachsen, das sich in hässlichen Flecken wie eine ansteckende Krankheit auf dem Stein ausbreitete. Der Wind toste um sie herum, flüsterte trocken durch das überwucherte Gras und die kahlen Bäume. Sie spürte eine Aura der… Schwere gefangener Zeit. Ihre Schritte wurden langsamer und langsamer, während sie sich mit einem Mal die glatte Modernität der polierten flachen Grabsteine zurückwünschte. Doch es war zu spät zum Umkehren. Sie zwang sich, durch das wahllose Gewirr aus Grabsteinen zu gehen, ehe sie unter einer Reihe geduckter Zypressen stehen blieb, um die
Wegbeschreibung, die ihr der Friedhofswärter gegeben hatte, noch einmal zu überprüfen. Eigentlich sollte sie zu einem Tor gelangen, das den Friedhof von dem Teil trennte, in dem sie sich mittlerweile befand – der Nordteil, hatte der Wärter gesagt, mit einem kurzen Zögern, das Robin ahnen ließ, dass ihm etwas anderes auf der Zunge lag. Sie wandte sich um und spähte an den Zypressen vorbei. Und dann sah sie – verrostete Eisenstangen und zerbröselnde Steinsockel. Sie ging darauf zu. Der Friedhofsteil schien sogar noch älter zu sein, mit willkürlich angeordneten, teilweise umgekippten Grabsteinen. Als Robin durch den schmiedeeisernen Torbogen trat, hatte sie augenblicklich das Gefühl, in einem vollkommen anderen Gottesacker zu stehen. Langsam bahnte sie sich einen Weg zwischen den Grabsteinen hindurch. Vereinzelt sah sie kleine Steine darauf liegen – irgendein Ritual, an das sie sich aus einem Film erinnern konnte, aber nicht mehr an seine genaue Bedeutung. Außerdem gab es hier nirgendwo Kreuze. Und auch die Schrift unterschied sich von der im anderen Teil. Sie drehte sich um ihre eigene Achse und betrachtete die Grabsteine. Viele von ihnen trugen englische Inschriften, doch jeder dritte oder vierte war mit einer anderen Schrift versehen, mit fremdartigen und archaischen Buchstaben. Und dann sah sie es – ein verwittertes Granitoval, etwa ein Meter zwanzig hoch. Als Erstes fiel ihr der mittlerweile so vertraute Name ins Auge. ZACHARY PRINCE 1901-1920 Doch erst der Anblick des Davidsterns am oberen Rand des Steins ließ sie erschrocken nach Luft schnappen. Jude. Er war Jude gewesen.
Sie sah sich um und erkannte denselben Stern auch auf anderen Grabsteinen, ebenso wie die kleinen Kiesel – ein Ritual, das sie in einem Film über den Holocaust gesehen hatte, wie ihr nun wieder einfiel. Die Schrift war hebräisch. Sie befand sich im jüdischen Teil des Friedhofs, das war es gewesen, was der Friedhofswärter nicht offen hatte sagen wollen. Nach Rassen getrennt – wie man es 1920 genannt hatte. Sie trat näher an den verwitterten Stein und las die Inschrift unter dem Namen. Ihre Augen weiteten sich. GÜTIGER BRUDER, LIEBENDER SOHN Alle Eindrücke strömten gleichzeitig auf sie ein: die Endgültigkeit des Grabes eines 19-jährigen Jungen, der kaum älter gewesen war als sie heute. Die verwirrende Inschrift – so weit entfernt von der boshaften Persönlichkeit, die sich ihnen gezeigt hatte. Und das Paradoxon des leidenschaftlichen Antisemitismus eines jüdischen Geistes. Erschaudernd sah Robin zum sich verdüsternden Himmel hinauf, dann kniete sie vor das Grab und legte ihre Hand auf den rauen Stein. »Was willst du?« Sie atmete kaum. Das Licht um sie herum verdüsterte sich, der Luftzug des Windes war kaum mehr zu spüren. Doch nichts und niemand antwortete ihr. Sie setzte sich auf die Fersen zurück, nahm die Finger vom Stein und legte beide Hände auf die Erde. In diesem Moment spürte sie ein Stechen in der Handfläche, ein dumpfer, aber unleugbarer Schmerz. Instinktiv zog sie die Hand zurück und musterte ihre Handfläche. Doch es war nichts zu sehen. Stirnrunzelnd suchte sie den Boden ab. Neben Zacharys Grabmal lagen einige kleine Steine wie jene, die sie auf den anderen Gräbern bemerkt hatte. Vielleicht waren sie im Lauf der Jahre heruntergefallen. Doch der Schmerz hatte sich nicht
nach einem Stein angefühlt. Dann sah sie es, halb vom Erdreich verborgen. Behutsam hob sie den Gegenstand auf – es war ein flaches, vom Alter geschwärztes Stück Silber. Sie bröckelte den Schmutz von den zarten Zacken und betrachtete das Medaillon: ein Davidstern. Gehörte er Zachary? Hatte jemand ihn vor all den Jahren hingelegt? Hatte er gewollt, dass sie ihn fand? Reglos verharrte sie vor dem Grab und hielt den Davidstern in der Hand, bis sie registrierte, dass sie auf die Berührung des Windes wartete. Abrupt sprang sie auf und lief wie von Furien gehetzt über den Friedhof.
KAPITEL 23
Robin stand im Jungenflügel im zweiten Stock und klopfte an Martins Tür, während sie wünschte, sie hätte eine Kamera mitgenommen, um die Existenz des Grabsteins zu dokumentieren. Doch sie hatte den Davidstern (sie tastete in ihrer Jeanstasche nach ihm). Bestimmt würde Martin ihr und dem Beweis, dass Zachary Jude war, glauben, auch wenn es noch so seltsam anmutete. Sie trat zurück und betrachtete das Metallkästchen mit den hebräischen Schriftzeichen am Türrahmen, während sie wartete. Wieder fiel ihr Zacharys Tobsuchtsanfall ein, seine Wut nicht nur auf Martin, sondern auf den jüdischen Gott. Zachary war Jude gewesen. Martin war Jude. Trotz seiner nach außen hin vehementen Ablehnung seines Glaubens hatte Martin etwas Hebräisches zu dem Brett gesagt. Irgendwo bestand hier eine Verbindung, etwas, das sie nicht verstand. Aber irgendwo tief im Kern all dessen musste die Antwort liegen. Sie war absolut sicher, dass Martin mehr wusste, als er preisgab. Wieder hob sie die Hand, um zu klopfen. Eine Hand berührte sie an der Schulter. Sie stieß einen kurzen Schrei aus und fuhr herum. Cain stand hinter ihr im dunklen Korridor und betrachtete stirnrunzelnd ihr bleiches Gesicht. »Was ist los?« Cains Zimmer wurde von zwei schwachen Lichtkegeln aus einer Deckenlampe und einem Nachttischlämpchen erhellt. Robin ging im Raum auf und ab, während Cain auf dem Bett saß und ihr zusah.
»Ich habe Zacharys Grab gefunden«, platzte sie heraus und wurde mit seinem verblüfften Blick belohnt. »Er liegt auf dem Friedhof außerhalb der Stadt begraben.« Sie sah ihm in die Augen. »Im jüdischen Teil. Auf seinem Grabstein ist ein Davidstern. Und das hier habe ich vor seinem Grab gefunden.« Sie zog den Davidstern aus der Tasche und reichte ihn ihm. Cain inspizierte den geschwärzten Silberstern, ehe er misstrauisch zu ihr aufsah. Sein Blick verriet dieselbe Ungläubigkeit, die sie auf dem Friedhof beim Anblick von Zacharys Grab empfunden hatte. »Er war Jude?«, fragte Cain langsam. Sie nickte eindringlich. »In diesem Fall hätte er nie solche Dinge zu Martin gesagt.« Sie zögerte. »Aber eigentlich glaube ich gar nicht, dass er sie zu Martin gesagt hat. In Wahrheit geht es um Gott, glaube ich – « »Moment, Moment«, unterbrach Cain. »Du sagtest, Zachary hätte in Mendenhall gewohnt. Mendenhall war früher ein Verbindungshaus. 1920 haben die Verbindungen aber noch keine Juden auf dem Campus zugelassen. Damals gab es sogar ein Quotensystem für jüdische Studenten – die Verwaltung hat die Zahl der jüdischen Studenten über zwei Jahre hinweg halbiert.« Robin war schockiert, obwohl sie wusste, dass sie es nicht sein sollte. »Wie schrecklich.« Cain warf ihr einen zynischen Blick zu. »Na ja, aber dieses College war nicht das einzige.« Robins Augen verdüsterten sich beim Gedanken daran. »Vielleicht hat er ihnen verheimlicht, dass er Jude ist, um aufs College gehen zu können. Und hat sich die antisemitische Fassade zugelegt, um als Nichtjude durchzugehen.« Sie ließ sich auf die Fensterbank sinken. »Wie entsetzlich, so leben zu müssen. Kein Wunder, dass er so wütend ist.«
Cain runzelte die Stirn. Robin war sicher, dass er irgendetwas Gemeines über den nicht existenten Geist sagen würde, doch er besann sich eines Besseren und saß schweigend da. Schließlich sah er sie an. »Ich weiß noch etwas anderes über deinen Freund Zachary.« Er stand auf und hielt ihr den Davidstern hin. Sie ergriff ihn und sah zu, wie er vor seinen Schreibtisch trat, auf dem der Band mit den archivierten Zeitungen lag. Cain schlug das alte Buch auf einer Seite auf, die er mit einem Konzertflyer markiert hatte, und warf ihr einen Blick zu. Robin stand auf, trat neben ihn und las laut die Überschrift eines alten Law-Review-Artikels. »Steuerbehörde gegen die Baltimore Talking Board Company.« Verwirrt sah sie Cain an… obwohl ihr gleichzeitig klar war, dass sie etwas Bedeutungsvolles vor sich hatte. »Baltimore Talking Board.« »Genau. Derselbe Herstellername wie der auf unserem Brett.« Er sprach hastig und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Es handelt sich um einen echten Rechtsfall aus dem Jahr 1920. Ich habe es nachgeschlagen. Diese Talking Board Company hatte das Patent auf Hexen-Bretter und produzierte diese Dinger in rauen Mengen. Du erinnerst dich noch, was Martin über diesen Spiritualismus-Spleen der Leute damals erzählt hat. Die Steuerbehörde hat einen Blick auf die Profite geworfen und angefangen, die Bretter als Spiele zu besteuern, also ist der Hersteller vor Gericht gezogen und hat versucht, die Besteuerung mit dem Argument loszuwerden, es handele sich um die Ausübung einer Religion. Sie argumentierten, das Hexen-Brett sei kein Spiel, sondern eine Form der Spiritualität, und müsse deshalb von der Einkommensteuer befreit sein.« Er lächelte dünn. »Natürlich haben sie den Prozess verloren.« Robin sah ihn noch immer verständnislos an. Er nickte in Richtung des Buches. »Sieh mal, wer den Artikel verfasst hat.«
Robins Blick fiel auf den Namen. »Zachary«, stieß sie erstickt hervor. Cains Mundwinkel verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. »Ich schätze, er hat beschlossen, seine eigenen Recherchen anzustellen.« Ein düsterer Ausdruck lag in Robins Augen, als ihr die Bedeutung seiner Worte aufging. »Also hat er das Brett ausprobiert, um zu sehen, ob es funktioniert.« Sie holte tief Luft. »Das Brett, das wir benutzt haben, war seines. Glaubst du, das ist der Grund, weshalb sein Geist so eng damit verbunden ist?« Doch sie runzelte die Stirn, als ihr intuitiv bewusst wurde, dass ihre Theorie einen logischen Fehler aufwies. Wenn sie ehrlich war, machte sie die Vorstellung von Zachary und dem Brett schrecklich nervös. Die Brandspuren auf dem Brettrand. Er hat das Brett benutzt. Sind sie etwa umgekommen, als sie das Brett benutzt haben? Unbehaglich sah sie Cain an und gestattete ihrer heimlichen Furcht, an die Oberfläche zu kommen. »Glaubst du, dass derjenige, mit dem wir gesprochen haben, vielleicht gar nicht Zachary war?« Er lachte auf, ein harscher Laut. »Ich habe nie geglaubt, dass es Zachary war. Diese Geistergeschichte ist so unglaublich romantisch…« Sein überheblich-wissender Blick ärgerte sie, deshalb sah sie weg, wütend, ertappt. »Aber es ist Blödsinn. Jemand spielt Spielchen mit uns. Und ich weiß, dass O’Connor Dreck am Stecken hat – diese Nummer mit dem Boiler und die Scheinprüfung.« Wieder flackerte Robins Wut auf, als er mit seiner alten Leier über Patrick anfing. Sie trat einen Schritt zurück, wollte etwas erwidern. In diesem Moment fiel ihr Blick auf den Nachttisch neben Cains Bett, und der Gedanke war vergessen.
Neben dem Sockel der Nachttischlampe lag ein zusammengefaltetes gelbes Blatt Papier. Robins Augen weiteten sich, als sie das Blatt erkannte: Es war eine der Seiten aus Martins Notizbuch von jenem ersten Abend am Thanksgiving-Wochenende, die sie auf Martins Vorschlag hin geschrieben hatten – nachdem Cain gegangen war. Die purpurrote Tinte identifizierte das Blatt eindeutig als ihres. Was bedeutete, dass Cain an diesem Abend noch einmal hinuntergegangen war, um es zu holen. »Du«, sagte sie. »Du warst es.« Sie wandte sich ihm zu. »Du bist an diesem Abend noch mal nach unten gegangen. Du hast die Möbel umgeworfen.« Cain starrte sie an. »Wovon redest du?« Sie machte drei Schritte auf das Bett zu, schnappte das Blatt Papier und hielt es vorwurfsvoll in die Höhe. »Woher hast du das? Was tust du damit?« Cain sah betroffen aus, dann wütend. »Mit welcher Absicht hast du das geschrieben?« Robin schwankte, als ihr wieder einfiel, was sie auf das Blatt geschrieben hatte: Etwas, das niemand über mich weiß… Hitzig starrten sie einander an, ehe sich Cains Miene verfinsterte. »Scheiß drauf. Spielt weiter eure Spielchen. Ihr seid doch alle völlig durchgeknallt. Mich kratzt das nicht.« Unfähig, ihn anzusehen, fuhr Robin herum und stürzte zur Tür hinaus. Sie stürmte den Korridor entlang, wobei sie ein Grüppchen Studenten erschreckte, die plaudernd vor einer Tür standen, und verschwand im Treppenhaus. In der sicheren Dunkelheit blieb sie stehen, um zu Atem zu kommen, und faltete langsam das Blatt Papier auseinander. Wortlos betrachtete sie ihre purpurrote Handschrift, die Worte, die sie vorwurfsvoll aus einem anderen Leben anstarrten: Ich will sterben.
KAPITEL 24
Es war weit nach Mitternacht, und Robin sah niemanden auf den Gängen, als sie die schmalen Stufen hinaufging, die in den Dachstuhl führten. Sie war noch nie zuvor dort oben gewesen, hatte nur am Rande mitbekommen, dass der Dachboden überhaupt existierte. Er war überraschend groß: in der Mitte hoch genug, dass sogar Patrick aufrecht stehen konnte, ohne auf seinen Kopf achten zu müssen, während sich die Seitenschrägen fast bis zum Boden zogen. Dennoch hatte er mit seinen groben, unverputzten Wänden und all dem Plunder, der wohl schon seit Jahren vergessen herumlag, etwas Klaustrophobisches an sich. Mittlerweile saßen sie zu viert, alle außer Cain, auf den von Ratten zerfressenen Möbelstücken aus diversen Stilepochen; inmitten von Gemälden, staubigen Schachteln mit Krimskrams, Ständern mit alten Clubjacken und einer – passend zum Ambiente – Schneiderpuppe ohne Kopf. An den Dachschrägen hingen Spinnweben, und die Schatten verliehen dem Raum etwas Unheimliches. Martin hatte ein neues Brett gekauft, die vertraute kommerzielle Version. Er baute es auf einem schweren Tisch auf, den er unter den ausrangierten Möbeln aufgestöbert hatte. Gehorsam entzündete Patrick mit seinem Zippo-Feuerzeug die Kerzen, die Martin ebenfalls mitgebracht hatte. Patrick mag Martin, stellte Robin fest – ein Gedanke, der sie überraschte und zugleich rührte. Zumindest kann er ihn in einer abstrakten Art und Weise gut leiden. Vielleicht, weil Martin keine Angst vor ihm hat.
Sie sah zu Lisa hinüber, die allein dastand und im flackernden Kerzenlicht eine Zigarette nach der anderen rauchte. Jetzt weiß ich, was es der Begriff »ein Schatten seiner selbst sein« bedeutet, sinnierte Robin besorgt. Sie sieht wie ein Gespenst aus. Aber das ist schließlich der Grund, weshalb wir hier sind, nicht wahr? Um all dem ein Ende zu bereiten. Cain war der Einzige, dem sie von ihrer Entdeckung auf dem Friedhof erzählt hatte. Sie wollte das Brett befragen, ohne den anderen irgendwelche Antworten zu suggerieren. Sie wusste, dass Cain sich in Bezug auf Patrick irrte – ebenso bei den anderen. Das Ganze war kein mieser Scherz. Was hier passierte, ging weit über einen Scherz hinaus. Cain klammert sich an diese Idee, um sich zu schützen. Irrationale Rationalität. Aber er hatte Recht mit seiner Behauptung, dass jemand ein Spielchen mit ihnen spielte. Mittlerweile war sie ganz sicher: Zachary war derjenige, der mit ihnen spielte. In diesem Moment wandte sich Martin vom Brett ab und musterte sie, beinahe so, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Wo ist Jackson? Es ist fast halb zwei.« Robins Herzschlag beschleunigte sich. Durchaus möglich, dass Cain nicht auftauchte, und sie wusste nicht, ob ohne ihn etwas passieren würde. Wäre das so schlimm? In diesem Moment ging die Tür hinter Lisa auf. Cain trat ein und sah sich in dem von Kerzenschein erleuchteten Dachstuhl um. Martin räusperte sich. »Wir dachten schon, du kommst nicht.« Cain warf einen flüchtigen Blick zu Robin, sagte jedoch nichts.
Martin zuckte die Achseln. »Also, dann lasst uns anfangen.« Er trat zum Tisch und schaltete einen Minirecorder an, ehe er nach einem Klemmbrett griff. »Wir fangen mit den Mädchen an – sie sind am empfänglichsten.« Wieder übernimmt er das Kommando, dachte Robin. Warum will er sich aus der Angelegenheit heraushalten? Trotzdem setzte sie sich auf den Stuhl und sah auf das glänzend glatte, unversehrte Brett hinab. Ob es mit einem neuen, modernen Brett funktionierte? Ob Zachary sich zeigen würde? Ihre Haut prickelte. Will ich das? Martin zog den zweiten Stuhl heran und sah zu Lisa hinüber. Sie drückte ihre Zigarette aus, kam zum Tisch und ließ sich mit entschlossener Miene schwer auf den Stuhl sinken. Martin trat mit seinem Klemmbrett und einem Stift in der Hand neben sie. Wie offiziell wir auf einmal sind. Robin sah Lisa über den Tisch hinweg an und versuchte, Ruhe und Zuversicht auszustrahlen. Sie streckten die Hände aus und legten sie auf die Planchette in der Mitte des Brettes. Augenblicklich setzte sich der Zeiger in Bewegung. Überrascht sog Robin den Atem ein und spürte, wie Lisa zusammenzuckte. Das Brett buchstabierte eilig HALLO KINDER Martin las die Worte ohne jede Gefühlsregung vor. Für die Bandaufzeichnung, dachte Robin. Sie und Lisa tauschten einen entnervten Blick, während sich der Zeiger erneut unter ihren Händen bewegte. ICH HABE SCHON GEWARTET Die Kerzen flackerten und zischten, als ein wenig Wachs in die Flammen tropfte. Martin sah auf seine Uhr und machte sich eine Notiz. »Worauf?«, fragte Robin scharf.
Unter ihren Fingern flog der Zeiger über das Brett. HABE EUCH VERMISST Patrick, der sich gerade einen Joint angezündet hatte, stieß eine Rauchwolke aus. »Aber du warst doch hier, oder?«, fragte er tonlos in den Raum hinein. IMMER Robin spürte Cains Gegenwart hinter sich, registrierte, wie er umherging und alles mit Argusaugen verfolgte. Mit lauter Stimme fuhr sie fort. »Und all diese Dinge, die uns passiert sind… warst du das?« Sie spürte eine eigentümliche Intensität, fast eine Hitze, die der Planchette entströmte, während sie sich unter ihren Händen bewegte. AUCH ICH WAR EINSAM SÜSSE ROBIN Robin erstarrte und sah, dass Lisa ebenfalls stocksteif wurde. Martin trat neben sie. »Hast du O’Connors Prüfung geschrieben?« ICH HABE GEHOLFEN Hektisch kritzelte Martin etwas auf sein Klemmbrett. Robin beugte sich vor. »Warum?«, fragte sie eindringlich. Der Zeiger zögerte kurz, dann buchstabierte er mit leichten Bewegungen. DIE NATUR VERABSCHEUT DAS VAKUUM Martin las die Worte mit unbewegter Miene vor, und alle lachten, verblüfft über den unvermittelten Humor. Patrick musste zweimal hinsehen, ehe er mit gespielt beleidigter Miene knurrte: »Hey!« Robin spürte, wie die anderen sich entspannten. Nun war es wieder ein Spiel, amüsant und unbeschwert, und mit derselben lockeren Intimität wie damals am ersten Abend. Oh, nein, dachte Robin grimmig. Diesmal nicht. Ich bin dir auf der Spur. »Warst du in mir drin?«, fragte Patrick.
Die Planchette machte eine kurze Bewegung. JA »Ich bin nicht sicher, ob mir das gefällt«, meinte Patrick warnend. Sein Tonfall war scherzhaft, doch die Planchette bewegte sich voller Entschlossenheit. ABER MIR KUMPEL Patrick erstarrte. Robin war plötzlich kalt. Das Kerzenlicht flackerte, und die fünf tauschten einen unbehaglichen Blick. Konzentrier dich, ermahnte Robin sich. Finde heraus, was wir wissen müssen. Aber sei vorsichtig – übertreib es nicht. »Wie bist du in ihn eingedrungen?«, fragte sie laut. ER HAT MICH DARUM GEBETEN Mit einem Seitenblick zu Patrick las Martin die Worte laut vor. Patrick erwiderte den Blick. »Klar. Sonst noch was.« Martin hielt dem Blick mit ausdrucksloser Miene stand. »Doch, hast du. An diesem ersten Abend.« Er gab eine verblüffend gute Imitation von Patrick zum Besten. »Wie denn, Zach? Schreibst du sie für mich?… Alles klar, Kumpel. Nächsten Freitag um elf. Stimmt’s, Robin?…« Einen Augenblick lang hatte Robin das ungute Gefühl, dass Martin für Zachary sprach, um die Unterhaltung fortzusetzen. Dann erwachte der Zeiger unter ihren Fingern wieder zum Leben. ICH BIN HIER UM ZU HELFEN Auch diese Worte las Martin laut vor, und wieder beschlich Robin der unheimliche Eindruck, Zeugin einer schizophrenen Erscheinung zu sein. »Aber was willst du?«, fragte sie. Langsam kreiste der Zeiger über den Buchstaben, als wählte er seine Antwort mit Bedacht. Es spielt mit uns, dachte Robin kühl – ein beängstigender Gedanke. Nicht er – es. Was ist es?
Der Zeiger wanderte von einem Buchstaben zum nächsten. Martin hob den Kopf und las erneut laut vor. Seine Stimme war heiser. EURE SEELEN Tödliche Stille legte sich über den Dachboden, während das Kerzenlicht von den verstaubten Wänden zurückgeworfen wurde. Robin konnte den Blick nur kurz vom Brett abwenden, doch ihr entging nicht, dass die anderen leichenblass geworden waren. In diesem Augenblick erwachte der Zeiger erneut zum Leben. SCHERZ Dann begann er zwischen zwei Buchstaben hin und her zu flitzen, schneller und immer schneller. HAHAHAHAHAHAHAHAHA Robin riss die Hände zurück. Der Zeiger blieb stehen. Lisa ließ die Finger auf das Holz gepresst, als wäre sie zu keiner Bewegung fähig. »Sehr witzig, Zach«, warf Patrick grimmig ein. »Es ist nicht witzig.« Robins Miene war entschlossen, als sie die Fingerspitzen wieder auf die Planchette legte. »Was willst du? Wieso… belästigst du Lisa?« Der Zeiger blieb still. Dann schnappte Lisa nach Luft. Alle wandten sich ihr zu, und auch Robin japste. Lisa saß wie erstarrt auf ihrem Stuhl, während ihr Haar in der Luft schwebte, als würde es von unsichtbaren Fingern angehoben. Patrick machte einen Satz nach vorn und griff mit beiden Händen ins Leere. Lisas Haar fiel wieder auf ihre Schultern. Sie schlang sich die Arme um den Oberkörper und starrte in hilflosem Entsetzen zu Patrick hoch. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und presste sich wie ein Bodyguard gegen die
Stuhllehne. Cain stand hinter ihnen und beobachtete das Szenario verblüfft. »Spürt ihr das auch? Es ist kalt«, stellte Martin fest. Robin bemerkte, dass sie heftig zitterte. Vor ihren Mündern schwebten weiße Atemwölkchen. Robin beugte sich vor, nahm Lisas Hände und sah ihr tief in die Augen. »Wir können auf der Stelle aufhören.« Lisa erschauderte, schüttelte jedoch den Kopf. »Frag ihn, was er will.« Den Blick hohläugig und starr auf Robin gerichtet, legte sie die Hände wieder auf den Zeiger. Robins Finger glitten in ihre Hosentasche und tasteten nach den scharfen Spitzen des Davidsterns. Okay. Jetzt. Robin legte die Finger wieder auf die Planchette und stellte die Frage, die ihr seit dem Augenblick im Kopf herumging, als sie vor Zacharys Grab gekniet hatte. »Du bist nicht Zachary Prince, stimmt’s?« Alle außer Cain starrten sie verblüfft an. Der Zeiger verharrte reglos. »Wovon redest du…«, fing Patrick an. »Warte«, unterbrach Robin und starrte mit angespanntem Kiefer auf das Brett. »Antworte mir.« Sie spürte den Zeiger unter ihren Fingern, ein heftiges Zucken zorniger Energie. Lisas Augen weiteten sich. Dann setzte sich der Zeiger in Bewegung und buchstabierte, fast mürrisch. MEIN KLUGES MÄDCHEN »Ich bin nicht dein Mädchen«, gab Robin mit ausdrucksloser Stimme zurück. Wieder erwachte der Zeiger zum Leben und fuhr mit abrupten Bewegungen über das Brett. UND ICH BIN KEIN GOTTVERDAMMTER
Robin rang nach Luft, als ihr aufging, was gleich kommen würde. Martin stieß das letzte Wort mit zusammengebissenen Zähnen hervor. JUDE Sie zuckten zusammen. Lisa riss ihre Hände von der Planchette, als hätte sie sich verbrannt, doch Robin ließ sie entschlossen verharren. Sie spürte, wie Martin neben ihr starr vor Anspannung das Brett fixierte. Patrick fuhr zu Robin herum. »Was läuft hier, verdammte Scheiße noch mal?« Nun nahm auch Robin die Hände von der Planchette, als glaubte sie, das Wesen, mit dem sie sprachen, könne sie nicht hören, wenn der Kontakt zum Brett unterbrochen war. »Ich war heute auf dem Friedhof. Dort habe ich Zacharys Grab gefunden.« Sie sah Martin an. »Auf dem Grabstein war ein Davidstern.« Erschrocken wich Martin zurück. »Er war Jude?« Robin nickte. »Deshalb würde er nie diese antisemitischen… Gemeinheiten von sich geben.« Lisas Gesicht war totenbleich. »Also ist es nicht Zachary?« Hektisch ging Patrick im Raum auf und ab. »Aber mit wem zum Teufel reden wir dann?« Robin sah Cain an. »Wir wissen, dass Zachary einen Artikel über eine Firma namens Baltimore Talking Board Company geschrieben hat – der Hersteller des Brettes, das wir über Thanksgiving benutzt haben. Wir glauben, dass Zachary und einige seiner Freunde dasselbe Brett verwendet haben.« »Oh mein Gott«, flüsterte Lisa. »Und sie haben mit…« Sie starrte auf das Brett. Die anderen sahen sich im kalten Zwielicht um. Robin legte die Hände wieder auf die Planchette. Widerstrebend tat Lisa es ihr nach. »Warum hast du
gelogen?«, fragte Robin mit angespannter Stimme. »Wer bist du wirklich?« Der Zeiger bewegte sich in langsamen, unheimlichen Kreisen, ohne sich auf einen Buchstaben festzulegen. Es war schlimmer als jede Botschaft. Robin hörte die angestrengten Atemzüge der anderen in der Kälte. Sie versuchte es mit einer anderen Taktik. »Wieso hast du so getan, als wärst du Zachary?« Augenblicklich buchstabierte der Zeiger eine Antwort. SPASS Robin schluckte irritiert. »Kanntest du Zachary?« OH JA »Was ist mit ihm passiert?« Die Planchette bebte, als werde sie von Gelächter geschüttelt, ehe sie sich unter ihren Händen in Bewegung setzte, langsam und provozierend. Martin las die Worte vor. RATE MAL Robins Stimme klang heiser in der Stille. »Er hat das Brett benutzt, um mit dir in Kontakt zu treten?« JA »Wieso?«, fragte sie schnell. Der Zeiger kreiste unentschlossen, als denke er nach, ehe er buchstabierte. GEMEINSAMKEITEN Robin runzelte die Stirn. »Was hattet ihr gemeinsam?« Sie spürte eine rabiate Hitze durch ihre Finger strömen, ein Gefühl unverbrämter Wut. Dann flog der Zeiger über die Buchstaben. ADON OLAM Die Worte waren fremd, doch der Zeiger fuhr mit ungestümen Bewegungen weiter über das Brett.
UNSEREN BESCHISSENEN ITZIG-GOTT UNSEREN VERLOGENEN HINTERHÄLTIGEN HURENGOTT GOTT GOTT GOTT Der Zeiger begann wild auf dem Brett hin und her zu scharren. Lisa rang nach Atem. Unvermittelt trat Martin vor und wandte sich mit angespannter Stimme an das Brett. »Haim ata Qlippah?« Augenblicklich kam der Zeiger zur Ruhe. Robins Augen weiteten sich beim Klang der fremdartigen Worte, von denen sie nur ein einziges identifizieren konnte. »Was bedeutet das?«, wollte Cain wissen. »Was zum Teufel hast du zu ihm gesagt?«, knurrte Patrick in derselben Sekunde. »Klappe halten«, schnappte Martin, worauf beide erschrocken zusammenfuhren. Der Zeiger fuhr fort, unverständliche Worte zu buchstabieren. Robin spürte, dass sich die aus dem Zeiger strömende Energie verändert hatte – inzwischen lag so etwas wie Gerissenheit darin. ATA YODEA Reglos starrte Martin auf das Brett. Cain packte ihn am Arm. »Was ist mit dem Hebräischen? Was hast du zu ihm gesagt?« Martin befreite sich von seinem Griff. »Warte.« Er wandte sich an das Brett. »Wie meinst du das? Erklär uns, was du bist.« Wieder bewegte sich der Zeiger. Diesmal waren die Worte nicht in Hebräisch, dennoch nicht minder rätselhaft. EIN ÖLSCHLEIER AUF DER LAMPE Robin las den auf unheimliche Weise vertraut klingenden Satz laut vor. Martin stand vollkommen reglos neben ihnen. »Erklär es«, forderte er das Brett knapp auf. Der Zeiger fuhr fort. ICH BIN ENERGIE
Martin hatte innegehalten und starrte auf das Brett, völlig fixiert auf die Buchstaben. Lisa und Robin sprachen die Worte stockend aus. DU BIST MASSE Patrick trat näher und starrte ebenfalls auf die erscheinenden Buchstaben. »Weiter«, verlangte Martin harsch. ICH KANN DEINE MASSE BENUTZEN Robin spürte eine Bewegung an ihrer Seite. Sie stellte überrascht fest, dass Cain neben sie getreten war und ebenso gebannt auf das Brett sah wie die anderen. DU KANNST MEINE KRAFT BENUTZEN Martin ließ das Brett keine Sekunde aus den Augen. »Macht, um was zu tun?«, hakte er skeptisch nach. ALLES Die Energie im Raum hatte sich grundlegend verändert. Robin spürte es – die gespannte, neugierige Konzentration der fünf Studenten und eine Atmosphäre fast verschwörerischer Intimität, die vom Brett ausging. Sie hatte den vagen Verdacht, dass jemand versuchte, sie einzulullen. Dass das Wesen, mit dem sie sprachen, auf etwas ganz Bestimmtes abzielte – ein Gedanke, der sie mit Angst erfüllte. Sie zuckte zusammen, als Martin sich vorbeugte. »Dann lass mal sehen, was du kannst.« Der Zeiger bildete die Worte FRAG EINFACH Patricks Stimme klang wie aus weiter Ferne, als er sagte: »Beweg den Tisch.« Robin sah zu, wie der Zeiger fortfuhr. BERÜHRT IHN Sie sahen sich im Schein der Kerzen an. Robin verspürte den Drang, NEIN zu rufen, aufzuhalten, was auch immer geschah, doch sie hatte sich ebenfalls einlullen lassen, war wie hypnotisiert.
Martin legte die Hände auf den Tisch, dann presste Patrick seine Pranke auf die Tischplatte. Schließlich streckte Cain die Hand aus und umfasste die Kante. Ohne jede Vorwarnung rückte der Tisch anderthalb Meter über den Fußboden. Robin und Lisa saßen wie erstarrt auf ihren Stühlen, zwischen ihnen gähnende Leere. Die Jungen standen da, verblüfft, reglos und ohne zu atmen. Martin löste sich als Erster aus seiner Erstarrung, ging zum Tisch, packte ihn an der Ecke und zerrte ihn zurück zwischen Robin und Lisa. Robin bemerkte in ihrem benebelten Schockzustand, dass er seine gesamte Kraft aufbieten musste, um den Tisch bewegen zu können. Er war also sehr schwer – obwohl er wenige Momente zuvor so mühelos über den Boden gerutscht war, als hätte er Räder. »Keine Zirkustricks mehr«, erklärte Martin laut. »Wozu bist du wirklich in der Lage?« Robins Blick fiel auf Lisa, die mit weit aufgerissenen Augen und im Schoß verkrallten Händen dasaß. Sie sah, wie etwas in ihrem Gesicht aufflackerte – eine Grimasse, fast ein verächtliches Grinsen, das jedoch augenblicklich in einen Ausdruck der Verwirrung umschlug. Gehorsam wie ein Kind legte sie die Hände auf das Brett. Nein, dachte Robin. Schluss jetzt. Sie schob ihren Stuhl zurück, um aufzustehen, als sie einen seltsamen Druck im Kopf spürte, etwas, das sich am Rande ihres Bewusstseins entlangtastete, flüsternd versuchte, sich Zugang zu verschaffen. Unvermittelt stieg Abscheu in ihr auf. Sie setzte sich wieder, woraufhin das Gefühl augenblicklich wieder verschwand. Wie benebelt blickte sie auf das Brett hinunter und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass ihre Hände auf der Planchette lagen. Was passiert hier?
Die Jungen hatten sich um den Tisch versammelt, und Patrick und Martin lasen abwechselnd vor. ICH ZEIGE ES EUCH Der Zeiger fuhr fort. ZE MA SHE UCHAL LEHAROT LECHA Wieder diese fremd klingenden Worte, die sie Buchstabe um Buchstabe aussprechen mussten, doch Robin hörte, wie Martin den Satz im Ganzen sagte: »Ze ma she uchal leharot lecha…« Cain, der es ebenfalls bemerkte, wandte sich Martin zu. »Was passiert hier?« Wie gebannt starrte Martin auf das Brett. Es versucht ihn zu kriegen, dachte Robin mit erstaunlicher Klarheit. Es hat ihn schon fast. »Im ata Qlippah, tochi-ach et ze«, stieß Martin mit kaum verhohlener Anspannung hervor. Robin löste die Hände vom Zeiger. »Nein.« Sie stand auf und wandte sich an Martin. »Hör auf. Was tust du da?« Martin trat einen Schritt zurück und sah sich benommen um, als wäre er aus dem Schlaf gerissen worden. »Nur… fragen, was es bedeutet.« Robin stand heftig atmend vor ihm. Sie konnten immer noch aufhören. Sie wusste, dass sie genau das tun sollten, doch sie waren so dicht dran, so dicht davor, alles zu erfahren. Sie setzte sich hin, legte die Finger wieder auf den Zeiger und richtete ihren Blick auf das Brett. »Ich frage dich. Was willst du von uns?« Sie sah Lisa an, die die Finger ebenfalls auf die Planchette legte. Der Zeiger bebte unter ihren Fingern – ehe er sich wild zu bewegen begann und von einem Buchstaben zum nächsten zuckte, so dass Robin und Lisa kaum folgen konnten. LEBEN ATMEN WARM KÖRPER BLUT
Die Worte kamen so schnell, dass Robins Bewusstsein sie nur am Rande registrierte. KÖRPER MENSCHLICHER KÖRPER BLUT LEBEN ALLES ALLES ALLES Wieder begann der Tisch sich zu bewegen, sprang hin und her, vor und zurück auf den groben Holzplanken. Die Mädchen fuhren von ihren Stühlen hoch und wichen zurück. »Heilige Scheiße«, stieß Patrick hervor und zerrte Lisa von dem zuckenden Tisch fort. Robin taumelte ebenfalls rückwärts, wobei sie gegen Martin und Cain prallte, die die Hände nach ihr ausstreckten, um sie zu stützen. Währenddessen vollführte der Tisch weiter seinen wilden Tanz in der Mitte des Raumes. Hinter ihnen wurde eine Tür aufgerissen. Augenblicklich kam der Tisch zum Stehen. Die fünf fuhren herum – und sahen Waverly im Türrahmen stehen. Robin holte tief Luft. Eine entsetzliche Sekunde lang fürchtete sie, ihre Zimmergenossin habe den umherhüpfenden Tisch gesehen, doch Waverlys gesamte Aufmerksamkeit galt Patrick. »Du mieser Drecksack. Ständig hinter anderen Weibern her«, nuschelte sie und schwankte leicht, als sie sich umwandte und Lisa einen giftigen Blick zuwarf. »Ich hab doch gewusst, dass ich dich bei dieser Nutte finde – und dem restlichen Dreckshaufen.« Die fünf starrten sie an, wütend wegen der Unterbrechung, während das Adrenalin noch in ihren Venen pumpte. Waverly wandte sich an Robin, und ihre blauen Augen sprühten zornige Blitze. »Und du hechelst doch auch hinter ihm her, das Schwänzchen immer schön oben. ›Oh, Patrick, lass mich doch deine Arbeit schreiben, während ich dir einen blase‹«, höhnte sie mit ihrem teerig-zähen Südstaatenakzent. Robin spürte, wie die Wut in ihr aufloderte. »Raus hier – «
Ein brennender Kerzenstumpf flog quer durch den Raum und verfehlte ihren Kopf nur knapp. Waverly fuhr zu den anderen herum. »Wer war das?« Stille. Die Kerze rollte hinter Waverly auf einen Stapel verstaubter alter Zeitungen neben der Tür zu. Augenblicklich fingen die vertrockneten Seiten Feuer, und die Flammen fraßen sich mit erschreckender Geschwindigkeit vorwärts. »Da! Vorsicht!«, schrie Cain, zerrte Waverly beiseite und trampelte die Flammen aus. Die sechs standen in bestürzter Benommenheit da. Schließlich wandte sich Martin an Waverly. »Du solltest jetzt gehen.« Seine Stimme war kalt und von tödlicher Ruhe. Die Gruppe hatte sich zu einem Halbkreis formiert und starrte Waverly an. Waverly musterte Patrick, der reglos dastand, als wäre er auf dem Dielenboden festgewachsen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Du bleibst also allen Ernstes hier bei diesen Freaks?« Robin sah, wie etwas in Patricks Augen aufflackerte, auch wenn seine Miene so ausdruckslos wie die eines Schlafwandlers blieb. Seine Stimme war ein tonloses Knurren, in dem keinerlei Akzent mitschwang. »Hau ab und verreck doch, Miststück. Verreck doch – « Entsetzt taumelte Waverly rückwärts, ehe sie kehrtmachte und davonstürzte. Patrick erschauderte und sah einen Moment lang benommen aus, als würde er gleich umkippen. Doch dann durchquerte er den Raum und stürzte hinter Waverly hinaus. Alles passierte so schnell, dass Robin sich kaum rühren konnte. Cain und Lisa schienen ebenso erstarrt zu sein wie sie selbst. Nach einer Weile trat Martin vor, äußerlich ruhig, hob die Kerze auf und kehrte an den Tisch zurück. Auf seinem
bleichen Gesicht lag ein entschlossener Ausdruck. »Los, lasst uns weitermachen.« Er steckte die Kerze in den Halter zurück und kramte ein Streichholz aus der Schachtel. Robin sah, dass seine Hand zitterte. »Das soll wohl ein Witz sein.« Cain starrte ihn an. Martins Gesicht glühte fiebrig. »Wir lassen nicht zu, dass sie alles ruiniert.« Er griff nach Robins Hand und versuchte, sie zum Brett zu ziehen. Cain packte Martin beim Handgelenk, löste Robins Finger aus seinem Griff und starrte ihn finster an. »Keine Ahnung, was du vorhast, wir sind hier jedenfalls fertig.« Er legte den Arm um Robins Taille. Robin lehnte sich gegen ihn, ließ sich in seine schützende Berührung sinken. Cains Griff verstärkte sich noch ein wenig. Martin wich abrupt zurück und starrte die beiden erschüttert an, als wäre er verraten worden. Cain nahm Robins Hand und führte sie zur Tür. Egal wohin, dachte sie. Nur nicht hierbleiben. Sie streckte die Hand aus, berührte Lisas Arm, worauf Lisa ihnen gehorsam folgte. Unmittelbar bevor die Tür ins Schloss fiel, erhaschte Robin einen letzten Blick auf Martin, der allein unter den Dachbalken stand. Hinter ihm auf dem Tisch flackerten die Kerzen neben dem Brett.
KAPITEL 25
Der Mond schob sich durch die vorbeiziehenden Wolken. Der Wind fuhr durch die Zweige und wirbelte die Blätter auf der Straße vor dem dunklen Wohnheim auf. Robin lag in der Schwärze ihres Zimmers und schlief tief und fest. Etwas bewegte sich im Raum… glitt durch die Stille, ein dumpfes Etwas, dessen Blick suchend durch die Dunkelheit wanderte, bis er an Robin hängen blieb. Es näherte sich dem Bett… Mit einem Ruck fuhr Robin aus ihrem Traum hoch – und stellte fest, dass sie nicht träumte. Etwas war auf ihr, das Gewicht eines Körpers, so unfassbar schwer, dass es sie flach auf die Matratze presste. Ihr gesamtes Denken und Sein wich vor dem Wesen über ihr zurück – dem bösartigen, gierigen Etwas, das sie unter sich zu begrabend drohte. Sie begann sich zu wehren, schlug auf das Etwas sein, zuckte, warf sich hin und her im Versuch, ihren Körper von dem Gewicht zu befreien. Durch den Nebel ihres Entsetzens hörte sie ein dumpfes Poltern irgendwo im Zimmer, gefolgt von einem Krachen und einem spitzen Schrei. Unter Aufbietung all ihrer Kraft richtete Robin sich auf und schleuderte das Gewicht von sich. Hektisch, aber wieder frei, atmete sie tief ein – ehe sie vor Schreck zusammenfuhr, als erneut ein lautes Krachen den Raum erfüllte. Dann herrschte Stille. Robins Herz schlug gegen ihre Rippen, und ihr Atem kam in panischen Stößen, während sie sich gehetzt umsah.
Das Zimmer war leer, die Tür zum Korridor weit aufgerissen. Die Fenster neben ihrem Bett standen ebenfalls offen, so dass sich die Vorhänge bauschten. In diesem Moment hörte sie Schreie von draußen und hektische Stimmen. »Oh mein Gott!«, »Ruft einen Notarzt!« Robin schlug die Decken zurück, sprang aus dem Bett und stürzte ans Fenster, um nach draußen zu sehen. Überall um sie herum gingen die Lichter an, und verschlafene Studenten erschienen an den Fenstern. Menschen kamen aus dem Haus gestürzt, blieben jedoch abrupt stehen und starrten entsetzt auf den Boden. Ein zerschmetterter Körper lag inmitten einer Blutlache auf den Steinfliesen, das blonde Haar wie ein Heiligenschein ausgebreitet, die Augen blicklos ins Leere gerichtet. Erschüttert wich Robin zurück. Es war Waverly.
Robin stürzte zur Tür hinaus und hastete die Treppe hinunter. Immer mehr Studenten versammelten sich in Schlafanzügen auf dem zugigen Gehsteig, während überall die roten Lichter der Elektrowägelchen des Sicherheitsdienstes flackerten und die näher kommenden Sirenen jaulten. Jemand in einer Uniform herrschte die Studenten an, wieder ins Haus zu gehen. Robin ließ den Blick über die Schaulustigen schweifen. Als Erstes bemerkte sie Cains reglose, hochgewachsene Gestalt im Gewühl, dann die anderen, die sich fanden und langsam aufeinander zubewegten, wie von einem unsichtbaren Magneten angezogen – Martin, Patrick, Lisa. Robin schob sich durch ein Grüppchen schluchzender Mädchen. Patrick starrte mit glasigen, weit aufgerissenen Augen auf Waverlys leblosen Körper. »Was ist passiert?«, fragte Robin wie betäubt.
Die vier anderen, deren Gesichter von den flackernden Scheinwerfern der Sicherheitsfahrzeuge erhellt wurden, starrten sie eigentümlich an. Lisa ergriff als Erste das Wort. Ihre Stimme war leise und rau. »Weißt du es denn nicht? Sie ist doch aus deinem Fenster gefallen!« Robin wich zurück. »Was?« Lisa sah nach oben und deutete auf die sich bauschenden Vorhänge an Robins und Waverlys geöffnetem Fenster. Robin, die nur Jeans und ein Sweatshirt übergestreift hatte, begann im eisig schneidenden Wind zu zittern. »Wir sollten uns lieber überlegen, was wir sagen«, erklärte Cain neben ihr und trat ein Stück beiseite, damit niemand sie hören konnte. Die anderen folgten ihm unauffällig. Robin warf Cain einen raschen Seitenblick zu und schluckte. »Wir müssen die Wahrheit sagen.« »Welche Wahrheit?«, unterbrach Lisa eindringlich flüsternd. »Dass wir eine Seance abgehalten haben? Und riskieren, dass diese Hinterwäldlerbullen uns wegen eines Satanismus-Mordes drankriegen?« Robin sah sie erschüttert an. Martins Gesicht wirkte bleich und eigentümlich ausdruckslos in Mondlicht. Cain wandte sich an Patrick. »Wo warst du, als sie aus dem Fenster gefallen ist?«, fragte er ernst. Patrick sah ihn wortlos an. Er schien völlig benommen zu sein, und in seinen Augen schwammen Tränen. Schützend eilte Lisa ihm zu Hilfe. »Was zum Teufel redest du da?« Cain nickte knapp in Patricks Richtung. »Ich will wissen, wo er war, als es passiert ist.« Lisas Augen funkelten. »Er war bei mir.«
Verblüfft starrte Robin sie an. Lisa und Patrick. Lisa wandte den Blick ab. »Ich hatte Angst. Ich… ich wollte nicht allein sein.« Cain sah mit zusammengekniffenen Augen zwischen den beiden hin und her. »Moment mal. Ihr beide – « Martin unterbrach ihn. »Wir sagen einfach, wir wären im Dachstuhl gewesen und hätten ein psychologisches InterviewSpiel für den Unterricht abgehalten«, stieß er eilig hervor. »Wortassoziation. Ich sage Apfel, du sagst Orange. Nass, trocken. Warm, kalt und so weiter. Wir haben jemanden schreien gehört und sind heruntergekommen. Wir haben das Miststück nicht gesehen.« Robin sah ihn überrascht an, als das Wort über seine Lippen kam. »Klappe halten und lügen!«, zischte Martin unvermittelt. Robin folgte Martins Blick und sah einige uniformierte Polizisten auf sie zukommen – wuchtige Farmerjungs mit Bürstenhaarschnitt, die sich durch die Menge der Schaulustigen schoben. Sie steuerten direkt auf Robin zu, und einer von ihnen zeigte mit dem Finger auf sie. »Sie sind die Zimmergenossin?« Robin nickte und schluckte. »Der Sheriff will mit Ihnen reden«, erklärte der Deputy knapp. Robin sah zu den anderen hinüber. Sie standen am Rand der Menschentraube und sahen ihr im Mondlicht nach, als der Deputy sie wegführte.
Die Gänge des Verwaltungsgebäudes waren still und leer, die sorgfältig gebohnerten Fußböden glänzten in der Dunkelheit. Robin saß im Konferenzraum, das von kaltem Neonlicht erhellt wurde. Ein Deputy stand im Türrahmen Wache, falls sie Anstalten machen sollte zu fliehen – was rein physisch
ausgeschlossen war, da sie sich außerstande fühlte, auch nur einen Finger zu rühren. Am anderen Ende des Tischs saß der Sheriff und musterte sie skeptisch. »Sie waren also auf dem Dachboden? Um zu arbeiten?« In ihrer Panik hatte sie die Geschichte erzählt, die Martin ihr und den anderen vorgeschlagen hatte, da ihr instinktiv klar war, wie wichtig es sein könnte, dass sie den Dachboden erwähnte, falls jemand aussagen sollte, er habe Licht dort oben oder gar sie selbst hinaufgehen sehen. Sie beantwortete die Frage so ruhig wie möglich. »Dort ist es ruhig. Wir wollten einen Test für Psychologie ausprobieren. Im Aufenthaltsraum läuft pausenlos der Fernseher…« Viel zu viele Details, dachte sie. Lass ihn die Fragen stellen. Der Sheriff beugte sich vor. »Ich dachte, Sie hätten eine Semesterarbeit vorbereitet.« Robin fühlte sich plötzlich schwach und versuchte, das Beben in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Eine… Semesterarbeit für Psychologie. Auf der Basis… von Wort-Assoziationstests.« Mit ausdrucksloser Miene setzte sich der Sheriff auf und wartete. »Wir haben… Schreie gehört und sind nach unten gelaufen… Alle waren schon draußen… und Waverly… lag da. Tot.« »Also waren Sie nicht in Ihrem Zimmer.« Er starrte ihr ins Gesicht. Robin sank in sich zusammen, gab keine Antwort. »Jemand hat nämlich ausgesagt, er hätte Sie aus Ihrem Zimmer kommen sehen.« Robin zwang sich, den Blick zu heben. Sie sah ihn an, ohne etwas zu sagen. Ihr Gesicht war bleich im harten Licht der Neonröhren. Der Sheriff musterte sie eindringlich. »Haben Sie beide sich gut verstanden?« Robin reckte das Kinn. »Nein, sie mochte mich nicht.«
»Und warum nicht?« Robin zwang sich fortzufahren. »Sie war von ihrer Verbindung ausgeschlossen worden, und, na ja, schätzungsweise hat es ihr hier nicht sonderlich gefallen.« »Hart, mit so was leben zu müssen.« Die Stimme des Sheriffs troff vor Sarkasmus. »Und mochten Sie sie?« Robin holte zittrig Luft. »Nein.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Der Sheriff fixierte sie. Robin bemühte sich, dem Blick standzuhalten, doch es gelang ihr nicht. Schließlich senkte sie die Augen. Geräuschvoll schob der Sheriff seinen Stuhl zurück und stand auf. »Halten Sie sich zu unserer Verfügung, Miss Stone«, erklärte er mit unüberhörbarer Ironie.
Robin trat durch die schweren Türen und stürzte ins Freie. Im breiten Säulengang blieb sie stehen und starrte in die Dunkelheit, gequält von einem Wirbelsturm düsterer Gedanken. Sie glauben, dass ich es war. War ich es? Als dieses Ding auf meiner Brust lag und ich es weg… Sie erschauderte und zwang sich, den Gedanken beiseitezuschieben. Regentropfen fielen auf ihr Gesicht, ein feiner Film auf ihre Haut, der im Schein der Straßenlaternen glitzerte. Robin erstarrte. Am Fuß der breiten fahlen Treppe stand ein Schatten unter einem Laternenpfahl mit einer Reisetasche in der Hand und wartete. Er sah in ihre Richtung, so dass das Licht auf sein Gesicht fiel. Cain.
Robin konnte das Gefühl nicht benennen, das sie beschlich, doch es war keine Angst. Sie ging die Stufen hinunter und blieb vor ihm stehen. Im fahlen Licht blickten sie sich an. »Was ist passiert?« Sie sah zum Gebäude hinauf. »Er hat mir nicht geglaubt. Ich soll in der Stadt bleiben, hat er gesagt.« »Das sagen sie immer.« Cain warf seine Zigarette weg, die in einem Regen aus winzigen Funken auf dem feuchten Asphalt explodierte. Robin erschauderte. »Ich kann nicht zurückgehen.« Cain nahm sie am Arm. »Das tun wir auch nicht. Wir verschwinden, verdammt noch mal, auf der Stelle von hier.«
KAPITEL 26
Mittlerweile hatte es richtig zu regnen begonnen. Dicke Tropfen prasselten auf die Eisenbahngleise am Rande der Stadt, sammelten sich in tiefen Pfützen auf dem Bahnsteig des Bahnhofs von Ash Hill, dem Tor der Stadt zur Außenwelt. Cain lenkte seinen verbeulten Mustang über die Gleise und bog auf den Parkplatz des zweigeschossigen Bahnhofshotels ein, das gegenüberlag. Er stellte den Wagen vor dem Büro ab, schaltete den Motor aus und sah Robin im rötlichen Schein der Neonbeleuchtung kurz an. Wie auf ein Stichwort wandten sich beide ab, stiegen wortlos aus dem Wagen und liefen durch den Regen zur Tür. Die Rezeption des Mainline war genauso schäbig, wie Robin es nach den auf dem Campus kursierenden Schilderungen erwartet hatte. Sie blieb neben der ramponierten, schmuddeligen Couch an der Tür stehen, während Cain einige Banknoten auf den abgenutzten Tresen legte. Der zaundürre Nachtportier mit den rotgeränderten Augen sammelte die Zwanziger ein. Er warf zuerst Robin einen lüsternen Blick zu, dann ein schmieriges Lächeln in Cains Richtung, während er den Zimmerschlüssel an einem Finger baumeln ließ. »Dann mal viel Spaß.« Robins Wangen glühten, als sie in den Regen hinaustraten und die zerbeulte grüne Tür hinter ihnen ins Schloss fiel. In dem winzigen Zimmer zog Cain die verblichenen Chintzvorhänge vor, ehe er sich umdrehte und bemerkte, dass Robin das durchgelegene Bett anstarrte. Sie löste den Blick davon und sah ihm ins Gesicht.
Blaues Licht flammte im Zimmer auf – ein heller Blitzschlag, gefolgt von grollendem Donner, der den Himmel erschütterte, ehe ein neuerlicher Regenguss einsetzte. Robin ließ die Luft aus ihren Lungen entweichen und setzte sich zittrig auf die Kante des Bettes, dessen Sprungfedern quietschend unter ihrem Gewicht nachgaben. Cain setzte sich aufs Fensterbrett und betrachtete sie. »Also, was ist wirklich passiert… in deinem Zimmer?« Gequält sah sie zu ihm auf. »Ich weiß es nicht.« Die Erinnerung ließ sie zittern. »Ich dachte, ich träume… aber dann bin ich aufgewacht, und etwas war auf mir.« Wieder musste sie um Atem ringen, spürte das tote Gewicht auf sich, die grauenhafte Angst. »Ich habe mich dagegen gewehrt – und dann habe ich ein Poltern und einen Schrei gehört. Als ich zum Fenster ging, habe ich sie gesehen… ich habe sie gesehen…« In diesem Moment brach der Gedanke aus ihr hervor, den sie den ganzen Abend über niederzukämpfen versucht hatte. »Oh Gott, was ist, wenn ich sie umgebracht habe?« Überwältigt vom Grauen der Erinnerung, schlug sie sich die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus. Mit einer geschmeidigen Bewegung ging Cain vor ihr auf die Knie und schloss sie fest in seine Arme. »Du hast niemanden umgebracht, Robin.« Er schüttelte sie behutsam. »War etwas auf dir? Oder jemand?« Er umfasste ihr Kinn und zwang sie, ihm ins Gesicht zu sehen. »Hör zu. Die Sportskanone schreit sie an. Sie läuft davon. Er geht ihr nach. Und dann ist sie auf einmal tot.« Robin schob ihn von sich und funkelte ihn an. »Patrick war es nicht. Du weißt, dass es um mehr geht als um Patricks – « »Das weiß ich nicht!« Abrupt sprang sie auf die Füße. »Warum, Herrgott noch mal? Warum? Warum hasst du ihn so sehr?«
Cain wirbelte zu ihr herum. »Weil er alle betrügt«, schrie er. »Wie er seine Freundin behandelt… dich… Er hält dich in der Warteschleife… und du merkst es nicht. Er hat keine Ahnung, wer du bist… was du bist… was wirklich hinter deiner Fassade steckt. Und es kümmert ihn auch nicht. Das wird es nie.« Robin stand stocksteif da und starrte ihn an. »Oh«, stieß sie kleinlaut hervor. Cain trat vor und zog sie ungestüm an sich. Sein Mund näherte sich ihren Lippen. Robin holte Luft und erwiderte seinen Kuss voller Leidenschaft. Hitze durchströmte sie. Sie schob die Hände unter sein Hemd, spürte die Haut auf seinem Rücken, die angespannten Muskeln, die bebten, als er sie fester an sich zog, ihren Mund küsste, ihren Hals. Ihre Nägel gruben sich in sein Fleisch. »Ich will nicht, dass du stirbst«, flüsterte er mit bebender Stimme an ihrem Hals. »Ich will es auch nicht«, wisperte sie. Sie küssten sich, wieder und wieder, die Münder aufeinander gepresst, während ihre Hände sich unter ihre Kleider schoben, Haut ertasteten und ihre Arme und Beine sich ineinander verwoben. Jede Vernunft schmolz dahin, so dass nichts blieb als sein Körper, ihr eigener, sein Atem in ihrem Mund, der Schlag seines Herzens, das Blut, das durch seine Adern rauschte… Leben… Blut… Körper… warm… Leben… Blut… Leben Irgendwann zitterten ihre Beine zu sehr, um länger stehen zu können. Sie sanken aufs Bett… fielen… wurden mitgerissen von den Wogen der Gefühle und heftig lodernder Verzückung. Sie wachte auf. Um sie herum war es stockfinster, draußen prasselte noch immer der Regen herab. Ihr Herz hämmerte, als sie das allzu vertraute Gefühl des Entsetzens packte. Jemand flüsterte im Zimmer, ein metallisches Zischen.
Robins Augen weiteten sich, und ihre Nackenhärchen sträubten sich. Langsam setzte sie sich auf, darum bemüht, nicht zu atmen. Plötzlich erhob sich ein dunkler Schatten vom Boden. Robin schnappte nach Luft und wich zurück. Cains Gesicht tauchte vor ihr auf. »Tut mir leid. Tut mir leid, ich bin’s«, sagte er zerknirscht und nahm die Kopfhörer ab. Sie waren mit einem digitalen Kassettenrecorder verbunden, aus dem das metallische Zischeln drang. Cain legte den Recorder beiseite, zog Robin aufs Bett zurück und vergrub das Gesicht in ihrem Haar. Einen Augenblick lang verebbte ihre Angst. Sie presste ihre Wange auf seine Brust, während sich ihr Herzschlag erneut beschleunigte, als sie die Nähe seines Körpers auf ihrer Haut wahrnahm, das ungewohnte Gefühl, ihn neben sich zu spüren. Sie fühlte sich ein wenig wund und auf köstliche Weise lebendig. So fühlt es sich also an… Er zog sie enger an sich, doch sie spürte, wie sich sein Körper anspannte. Augenblicklich kehrte die Furcht zurück, wie ein eisiger Luftzug. »Was hast du gemacht?«, flüsterte sie. Er zog sich kaum merklich zurück. »Ich habe diese Seance auf dem Dachboden auch aufgenommen«, antwortete er leicht widerstrebend. »Ich hatte den Eindruck, dass Martin bei der Sache seine ganz eigenen Ziele verfolgt.« Sie setzte sich auf, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Er schüttelte den Kopf, während er nach dem Recorder griff. »Er hat Hebräisch gesprochen mit… was auch immer es sein mag, und dieses Wesen hat in derselben Sprache geantwortet.« Er schaltete den Recorder an und spulte das Band zu der Stelle zurück, wo Martins Stimme zu hören war. Dann zog er den Stecker der Kopfhörer heraus, so dass sie beide zuhören konnten. »Im ata Qlippah, tochi-ach et ze.«
Robin versteifte sich beim Klang der hebräischen Worte. »Da. Dieses Wort. Qlippah?« Sie sah Cain an. »Am allerersten Abend hat das Brett etwas in dieser Art gesagt.« »Stimmt. Aber das ist noch nicht alles.« Er tastete auf dem Boden nach der vertrauten vergilbten Schachtel, auf deren Deckel ein Alphabet abgebildet war, ebenso wie der Herstellername: BALTIMORE TALKING BOARD. Die Schachtel des Hexen-Bretts. Cain nickte. »Nachdem wir den Dachboden verlassen hatten, bin ich nach unten gegangen und habe im Spieleschrank im Aufenthaltsraum nachgesehen. Wir haben zwar das Brett, aber nicht die Verpackung verbrannt.« Du hast das Brett verbrannt, dachte Robin, als ihr wieder einfiel, wie Cain das Brett gepackt und ins Feuer geworfen hatte, während die Wände rings um sie gedröhnt hatten. Cains Gesicht war angespannt, als dächte auch er an den Augenblick zurück. »Sieh dir das an.« Er nahm den Deckel von der Schachtel und zeigte ihr die Innenseite. Ihre Augen weiteten sich. Etwas war in die Schachtel geschrieben worden. Die Schrift war alt und vergilbt, trotzdem noch immer lesbar. Nur die in unregelmäßigen Großbuchstaben notierten Worte waren fremd. In diesem Moment fiel ihr Blick auf ein Wort, das ihr bekannt vorkam – ADON OLAM –, ehe ihr ein weiteres Wort ins Auge stach. QLIPPAH. Sie sog scharf den Atem ein, als ihr klar wurde, was sie vor sich hatte. Cain sah ihr in die Augen. »Sie haben während der Seance Notizen gemacht, stimmt’s? 1920. Und es hat dieselben Dinge zu ihnen gesagt wie zu Martin.« Sie sahen einander in der Dunkelheit an, als Martins unheimliche Stimme aus dem Recorder drang und die Worte
aussprach, die wie ein uralter Spruch klangen. »Ze ma she uchal leharot lecha…« Mit entschlossener Miene hob Cain seine Hose vom Boden auf. »Wir müssen herausfinden, was das heißt.«
KAPITEL 27
Der Emanuel-Tempel lag einsam am Ende einer Straße in einem Wohngebiet am Stadtrand. Er war ein Produkt der Sechziger-Jahre-Architektur und bestand aus einer Reihe weißer Bögen, die ihm das merkwürdige Aussehen einer riesigen weißen Muschel verliehen. Es war früh am Morgen, doch im Inneren der Synagoge herrschte tiefe Dunkelheit, die lediglich vom Schein einiger gespenstisch wirkender Sicherheitslampen neben den Bankreihen erhellt wurde. Cain und Robin traten in die nachhallende Stille. Robin hob den Kopf und ließ den Blick über die hohe, gewölbte Decke wandern, dann über die hebräischen Schriftzeichen auf den Buntglasfenstern und die Mosaikfliesen unter ihren Füßen. Von irgendwoher drang die Stimme des Kantors, der ein Kirchenlied sang, qualvoll dissonante Töne. Robin hatte seit Jahren keinen Fuß mehr in eine Kirche gesetzt, doch dieser Ort fühlte sich älter an als jedes Gotteshaus, das sie jemals gesehen hatte. Sie hatte das eigentümliche Gefühl, in der Zeit zurückversetzt zu werden. Sie fuhr zusammen, als eine scharfe Stimme aus der Dunkelheit im vorderen Teil der Synagoge drang. »Ja? Brauchen Sie etwas?« Cain und Robin fuhren herum und suchten mit den Augen die Schatten ab. Ein schwerer Vorhang kräuselte sich, und ein Rabbi trat aus einer dahinterliegenden Tür – eine sehr förmlich und ernst wirkende Gestalt in einem schwarzen Mantel, weißem Hemd,
mit der Jarmulke auf dem Hinterkopf und einem schwarzen Brillengestell. Im Wagen hatten sie sich ihre Geschichte zurechtgelegt und waren sich einig gewesen, so wenig wie möglich preiszugeben. Doch nun, da sie gezwungen war, ihr Dilemma in der Realität einem erwachsenen Mann zu erläutern, verließ Robin der Mut. »Wir arbeiten an einem Studienprojekt«, stammelte sie. Cain unterbrach sie und nahm das Ruder in die Hand. »Wir brauchen jemanden, der uns das hier übersetzt.« Er durchquerte den langen Gang und schaltete den Recorder an, so dass Martins Stimme im Gebetsraum widerhallte. »Im ata Qlippah, tochi-ach et ze.« Der Rabbi hatte den Eindruck gemacht, als wolle er sie wegschicken, sich die Störung verbitten, doch beim Klang von Martins Stimme änderte sich etwas in seiner Miene. Er runzelte die Stirn, scheinbar verblüffter über die Worte als über die ungebetene Anwesenheit der beiden Studenten. Mit ausdrucksloser Miene sah er zwischen den beiden hin und her. »Wenn du Qlippah bist, beweise es mir.« Er schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn.« »Wieso?«, fragte Cain eilig. »Was ist Qlippah?« Der Rabbi zuckte die Achseln und breitete die Arme aus. »Es ist… eine Kartoffelpelle. Oder eine Orangenschale.« Cain warf Robin einen Blick zu. Ihr Mut sank. Das ergab tatsächlich keinen Sinn. Vielleicht waren Martins Hebräischkenntnisse einfach nicht besonders gut. »Sind Sie sicher?«, hakte Cain nach, spulte das Band zurück und ließ es ein zweites Mal laufen. »Im ata Qlippah, tochi-ach et ze.« Der Rabbi lauschte angestrengt, ehe er eine ungeduldige Geste machte. »Qlippah. Eine Rinde. Eine… Eierschale.« Robin horchte auf. »Eine Schale?«
Der Rabbi nickte. »Oder eine Hülle. Der Teil von etwas, das man wegwirft oder aussortiert. Der Abfall.« Robins Puls beschleunigte sich. Mit einem Mal erschien Martin vor ihrem geistigen Auge, damals, an jenem windigen Tag auf dem Hügel, als dieses geheimnisvolle Lächeln auf seinem Gesicht gelegen hatte. Sie sah Cain an. »Martin hat uns als die Aussortierten bezeichnet«, sagte sie leise. Der Rabbi musterte sie bestürzt, fast ungläubig, und trat einen Schritt auf sie zu. »Die Aussortierten – Sie meinen, Qlippoth? Die alte Schöpfungsgeschichte?« Robins und Cains Blicke begegneten sich, während sich ein Energiestoß zwischen ihnen entlud. Robin wandte sich an den Rabbi, bemüht, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. »Könnten Sie uns etwas darüber erzählen? Es ist für eine Seminararbeit.« Einen Augenblick lang schien der Rabbi mit sich zu ringen. »Es ist aus der Kabbala.« Wieder zuckte Robin beim Klang des Wortes zusammen, das Martin und Lisa am allerersten Abend benutzt hatten. Ein betrübter Ausdruck lag in den Augen des Rabbi. »Der Sepher Sohar erzählt eine Geschichte… der Meister des Universums habe mehrere vergebliche Schöpfungsversuche unternommen, ehe unsere heutige Welt entstand. Er hätte die zerbrochenen Schalen dieser ersten unbrauchbaren Geschöpfe in den Abgrund geworfen, heißt es.« Das ist es. Darum geht es. Robins Haut begann zu prickeln. Die zerbrochenen Schalen der ersten unbrauchbaren Geschöpfe. Cain stand gleichsam reglos neben ihr und lauschte angespannt. »Sind diese Schalen… am Leben?«, fragte er vorsichtig. »Nicht am Leben. Sondern gegen das Leben.« Der Rabbi hielt inne. »Teuflisch.« Das Wort schwebte in der Dunkelheit des Tempels. Robin erschauderte.
Der Rabbi verlagerte sein Gewicht. Mit einem Mal schien er sich unbehaglich zu fühlen. »Es ist ein Mythos. Wie könnte Gott bei der Schöpfung versagen?« »Dieser… Sepher Sohar… sagt er etwas darüber aus, wie man jemanden loswird?«, hakte Cain nach. Robin war auf der Stelle klar, dass er diese Frage nicht hätte stellen dürfen. Der Rabbi versteifte sich sichtlich. »Jemanden loswerden? Was ist das für ein Spiel, das Sie da spielen?« Scharf sah er von Cain zu Robin. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Der Rabbi wich zurück. Beleidigt. Und vielleicht ein klein wenig verängstigt, dachte Robin, was sie mehr frösteln ließ als alles andere. »Der Sohar ist ein heiliges Wissen. Ein geheimes Wissen. Nichts für Kinder.« Wieder sah Robin das düstere Flackern in seinen Augen. »Und kein Spiel«, fügte er knapp hinzu. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging durch den Gang davon. Es war einfacher, sich durch einen Witz beleidigt zu fühlen, als zu glauben, dass man es mit einer ernsthaften Frage zu tun hatte. Doch dieser verängstigte Ausdruck in seinen Augen ließ einen letzten verzweifelten Hoffnungsschimmer in Robin aufflackern. Sie löste sich aus ihrer Erstarrung, riss Cain die Schachtel aus der Hand und lief dem Rabbi nach. »Bitte. Es ist nicht nur eine Geschichte.« Vielleicht war es die Angst in ihrer Stimme, die ihn zögern und stehen bleiben ließ. Sie nahm den Deckel der Schachtel ab und hielt ihn ihm hin, so dass er die Worte lesen konnte. »Wir müssen wissen, was das hier heißt.« Der Rabbi warf einen Blick auf die Buchstaben und wich zurück, dann drehte er den Deckel um, und sein Blick verfinsterte sich beim Anblick der Abbildung darauf. Er reichte Robin den Deckel zurück und wischte sich die Hände an seinem Mantel ab. »Verbrennen Sie es. Dieses
Spielzeug bringt nichts Gutes.« Abrupt wandte er sich ab und ging davon. Plötzlich war Cain neben ihr. »Komm«, sagte er, nahm ihre Hand und zog sie Richtung Gang. Doch Robin weigerte sich und sah dem Rabbi nach, der bereits hinter dem Vorhang verschwunden war. »Aber wir müssen doch herausfinden, was…« Cain schob sie durch die Tür in den dunklen Vorraum. »Das werden wir auch.« Sie keuchte, als er sie vor eine Tür zog, einen Finger auf die Lippen legte und nach oben zeigte. Über dem Türrahmen war ein Schild mit einem Pfeil angebracht. BIBLIOTHEK. Cain öffnete die Tür, und sie schlüpften hinein. Sie befanden sich in einem langen, unbeleuchteten Korridor. Der Gesang des Kantors klang hier lauter. Durch eine halb geöffnete Tür drang Licht. Cain deutete auf eine Doppeltür am Ende einer Reihe geschlossener Türen links und rechts von ihnen. Er nahm ihre Hand. Leise pirschten sie sich an der geöffneten Tür vorbei zur Bibliothek. Gerade als Robin die Finger um den Messingknauf gelegt hatte und die Tür öffnen wollte, spürte sie, wie Cain hinter ihr erstarrte. Im Korridor war es unnatürlich still. Der schauerliche Gesang hatte aufgehört. »Ihr da! Was tut ihr da?«, rief eine laute Männerstimme aus der Dunkelheit am anderen Ende des Flurs. Cain schob Robin durch die Tür in die Bibliothek. »Geh.« Er fuhr herum und lief los. Als die Tür leise hinter ihr zuglitt, drehte Robin sich um und suchte den düsteren Raum nach einem Winkel ab, der ihr als Versteck dienen könnte.
Schritte näherten sich von draußen, doch der Kantor stapfte an der Bibliothek vorbei und heftete sich stattdessen offenbar an Cains Fersen. Eilig ging Robin an den Bücherregalen entlang und ließ den Blick über die Titel auf den Buchrücken schweifen. Das Judentum und du. Die Seele der Thora. Hinter dem schweren Schreibtisch entdeckte sie ein Regal voller in Leder gebundener Bände. Sie trat davor und – erblickte eine beschriftete Schachtel. Sepher Sohar – das Buch des Glanzes.
Der Mustang stand bereits auf der Straße, als Robin durch die Tür der Synagoge ins Freie trat. Sie lief die zahlreichen Stufen hinunter, das Buch unter ihrem Mantel fest an sich gepresst. Cain öffnete die Beifahrertür von innen, so dass sie sich, behindert durch das unhandliche Buch, auf den Sitz schieben konnte. »Okay?«, fragte er knapp. Sie nickte und rang nach Atem. Auch sein Atem kam noch immer in Stößen. »Ich glaube, ich sollte aufhören zu rauchen.« Er drückte das Gaspedal durch und schoss los, während sie das in Leder gebundene Buch aus der Schachtel nahm und es aufschlug. »Oh nein«, stöhnte sie, worauf Cain vor Schreck bremste. »Was ist?« Sie legte das aufgeschlagene Buch auf das Armaturenbrett, so dass er die Seiten erkennen konnte. Das gesamte Buch war auf Hebräisch. »Wir müssen zurück«, stieß sie enttäuscht hervor. Cain kniff die Augen zusammen. »Ich habe eine bessere Idee.« Er legte den Gang ein und wendete.
»Wohin fahren wir?« Cain lächelte dünn. »Zu dem Ort, an dem das Geheimwissen verwahrt wird.« Sie fuhren ins düstere Licht des Morgens.
KAPITEL 28
Ash Hill mochte eine Kleinstadt sein, aber jede Stadt mit einem College macht widerstrebend Zugeständnisse an die Technologie, und so hatte auf der Main Street ein Internet-Café eröffnet. Die Bäume bogen sich unter dem unheilvoll grauen Himmel, als Robin Cain durch die schwarze Glastür eines lang gezogenen Geschäftsgebäudes folgte. Auch das Innere des lagerähnlichen Raumes war schwarz gestrichen und mit schweren Vorhängen versehen, um das Tageslicht auszuschließen. Weitere Vorhänge hingen von der Decke und schufen einzelne, halbwegs diskrete »Kabinen«. Schwache Lampen versorgten jeweils mehrere Tische mit Licht. Es gab mehrere kostenpflichtige Internetterminals, außerdem Anschlüsse und Telefonleitungen für Laptops. Robin und Cain bahnten sich einen Weg durch das Gewirr aus Vorhängen, ehe sie eine Ecke fanden und Robin einen Stuhl heranzog, während Cain seinen Laptop anschloss. Die Einfachheit, mit der sich alles bewerkstelligen ließ, war fast surreal. Cain loggte sich ein, und keine zehn Sekunden später erschienen mehr als tausend Treffer auf seine Anfrage nach »Qlippoth/Kabbala«. Cain warf Robin einen beinahe belustigten Blick zu, ehe er sich durch die Seiten zu arbeiten begann. Wikipedia bot eine Definition des Begriffes Kabbala: »Die Kabbala ist die mystische Tradition im Judentum. Die Wurzeln der Kabbala finden sich in der Thora, der Heiligen Schrift des Judentums. Neben die jahrhundertelange mündliche Weitergabe praktischer Traditionen innerhalb geschlossener
Schulen stellt sich die schriftliche Überlieferung bloßen theoretischen Wissens, welches im Laufe der Zeit verschiedene weitere Einflüsse in sich aufgenommen hat, darunter gnostische, neuplatonische und christliche.« Auf einer Seite waren alte mystische Bilder zu sehen: ein Diagramm aus Dreiecken und Ruten mit der Bezeichnung »Die zehn Sphären der Schöpfung« und einer schwarzen Schlange, die sich um den Lebensbaum wand. Cain klickte auf ein Stichwort mit dem Titel Qlippoth – die Aussortierten. Robin lehnte sich gegen seine Schulter und überflog den Text, der mit den beängstigenden Abbildungen formloser Energiewirbel mit bösartigen Augen illustriert war. Sie erkannte die vertrauten Worte und las sie laut vor. »›Der Sepher Sohar oder Das Buch des Glanzes besagt, dass es mehrere verworfene Versuche der Schöpfung gab, bevor es zur endgültigen kam. Diese ersten Wesen waren nicht fähig, dem Licht Gottes standzuhalten, und zerbarsten…‹« Wie auf ein Stichwort sahen sie einander an. »Das stand auch in Patricks Prüfungsheft«, meinte Robin, und Cain nickte langsam. »Es war vor unseren Augen, nur haben wir es nicht erkannt.« »Wir nicht, aber Martin schon, denke ich.« Robin wandte sich wieder dem Bildschirm zu und las weiter. »Der Meister des Universums warf die zerbrochenen Schalen dieser unzulänglichen Wesen, der ursprünglichen Sephirot, in den Abgrund.« »Der Rabbi kennt seinen Sohar«, murmelte Cain. Robin fuhr fort. ›»Qlippoth, jene Schalen oder Hüllen, sind nicht lebendig, dennoch tragen sie Spuren des Lebens wie ein Ölschleier auf einer Lampe.‹« Sie hielt inne, als sie die Worte als Zacharys erkannte. Ich bin Energie. Du bist Masse.
Aber es war nicht Zachary, oder? Sondern einer von ihnen. Cain scrollte weiter nach unten, und schweigend lasen sie weiter, versuchten, die Information zu verarbeiten. Manchmal war der Text zu unverständlich, doch allmählich kristallisierte sich das beunruhigende Bild der Qlippoths als unvollständige Energie heraus, als körperlose Geisterwesen vom Anbeginn der Zeit, die stets an den Rändern der Welt der Lebenden schwebten. Ihr Blick fiel auf einen nicht minder beängstigenden Satz: »Sie manifestieren sich als bösartige, autonome Formen im Universum.« Cain blieb an einer anderen Passage hängen und zitierte. ›»Wie die biblischen gefallenen Engel aus dem Himmel verbannt sind, sind die Qlippoth erzürnt über ihren Ausschluss aus der Schöpfung. Daher erfüllt sie der tiefe Drang, in die Menschheit einzudringen und ihr Schaden zuzufügen. Als Gestalt ohne Form, Wesen ohne Farbe, gelähmte Kraft, Gebärde ohne Bewegung, sehnen sie sich nach dem Leben und tragen die Verantwortung für alles Böse auf der Welt.‹« Robin beschlich ein eigentümliches Gefühl der Unwirklichkeit. Wie kann das alles hier passieren? Und dennoch lag etwas Vertrautes in diesen Worten. Unzulänglich. Unbrauchbar. Aussortiert. Neid auf die Auserwählten. Zorn auf den Ausschluss. Genau wie ich. Genau wie ich. Kommen unsere Dämonen von außen oder aus unserem Inneren? Ich schätze, das spielt keine Rolle. Wie auch immer – sie sind hier. Erschüttert betrachtete sie Cain im düsteren Licht des Bildschirms. »…vom tiefen Drang erfüllt, in die Menschheit einzudringen und ihr Schaden zuzufügen…« Cain hatte weitergescrollt und war auf eine andere Stelle gestoßen. »Großer Gott, hör dir das an. ›Die boshafte Absicht
der Qlippoth hat sich die gesamte Menschheit hindurch manifestiert, so auch im Fall von Adolf Hitler und der Nazis. Mithilfe von Seancen und anderen okkulten Praktiken etablierten sie einen weit verbreiteten Qlippoth-Wahn. Siehe auch Schlüssel des Salomon.‹« Wie erstarrt saß Robin da. Cains Gesicht verriet keinerlei Regung. »All das klingt nicht gut.« Er wandte sich ab und gab »Schlüssel des Salomon« in die Suchmaske ein. Die Links erschienen. Er klickte den ersten an, worauf sich eine Text-Website öffnete: Die Mysterien des Schlüssels des Salomon. »So viel zum Thema Geheimwissen«, murmelte Cain und scrollte durch den Text. Robin betrachtete die vorbeiziehenden Zwischenüberschriften: »Anrufung«, »Schutz«, »Verbannung«. »Stop«, stieß sie hervor. Beide beugten sich vor, um zu lesen… und sahen einander in derselben Sekunde an. »Heilige Scheiße«, flüsterte Cain.
Beim Anblick der Polizeischranke vor dem College lenkte Cain den Mustang in eine Seitenstraße. Er fuhr an den Straßenrand und parkte unter einer ausladenden Eiche. Der Himmel war dunkelgrau, und eisiger Regen fiel auf die Windschutzscheibe. Robin starrte an den Überresten eines McDonald’s-Frühstücks auf dem Armaturenbrett vorbei nach draußen. Wachposten säumten die Straße, Streifenwagen der Polizei und des Sheriffs, während ein steter Strom von Autos und Bussen voller Studenten in Richtung Highway vorbeizog. Cain schüttelte den Kopf. »Die machen den Laden ernsthaft dicht.« Er schaltete das Radio an und suchte nach einem
Sender, während Robin die Silhouetten in den Fahrzeugen nach vertrauten Gestalten absuchte. Cain hielt inne, als er einen Sender gefunden hatte. »Die Studenten des Baird College wurden heute nach dem mysteriösen Tod einer jungen Kommilitonin vorzeitig in die Weihnachtsferien entlassen. Nach zwei Studenten wird wegen eines Verhörs gefahndet…« Erschrocken fuhr Robin zusammen. Cain schaltete das Radio ab, dann sah er hinaus auf die Wagen, die den Campus im strömenden Regen verließen. »Sie können inzwischen schon meilenweit weg sein.« Robin schüttelte entschlossen den Kopf. »Weißt du nicht mehr, wie wir uns kennen gelernt haben? Keiner von uns fährt nach Hause.« Sie kramte Cains Mobiltelefon aus seinem Rucksack und wählte.
Robin und Cain waren die einzigen Gäste im trüben Restaurant auf der Main Street. Sie hatten sich auf eine mit rotem Vinyl bezogene Bank in der Ecknische zurückgezogen und starrten auf die halb überflutete Straße hinaus, wo sich das feine Nieseln zu einem handfesten Platzregen ausgeweitet hatte. Der Wind zerrte an den Bäumen am Straßenrand und peitschte gegen die Scheiben, während schmutzige Bäche am Gehsteig entlangflossen. Ein bulliger Toyota 4 Runner bog auf einen der Schrägparkplätze vor dem Restaurant ein. Gleich darauf stiegen zwei Gestalten aus, überquerten den nassen Gehsteig und strebten auf die Eingangstür zu. Die Glocke über der Tür läutete, als sie sich hinter ihnen schloss. Lisa und Patrick blieben einen Moment lang mit ihren vom Regen tropfenden Sachen da, bis sie Cain und Robin in
der Nische erblickten. Sie zögerten einen Moment lang, dann kamen sie herüber und setzten sich ihnen gegenüber an den Tisch. Robin sah Lisa in die Augen, doch bevor jemand etwas sagen konnte, erschien die Kellnerin, um ihnen Kaffee nachzuschenken. »Sauwetter«, bemerkte sie stoisch und reichte ihnen die Speisekarten, ehe sie wieder verschwand. Die vier sahen einander vorsichtig an. Cain ergriff als Erster das Wort. »Wo ist Martin?« »Wir haben in seinem Zimmer nachgesehen, bevor sie das Wohnheim dichtgemacht haben. Niemand war dort«, erwiderte Patrick ebenso knapp. Robin sah Lisa über den Tisch hinweg an. »Wir haben bei seinen Eltern angerufen. Die Haushälterin wusste nicht mal, dass die Schule ausfällt. Habt ihr ihn nirgendwo gesehen?« Lisa öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann weiteten sich ihre Augen, als sie aus dem Fenster sah. Ein Wagen des Sheriffs fuhr die aufgeweichte, schlammige Straße vor dem Lokal entlang. Die vier rutschten auf ihren Sitzen ein Stück tiefer und wagten kaum zu atmen, bis der Wagen um die nächste Ecke gebogen war. Patricks Miene war grimmig, als er sich aufsetzte. »Der Sheriff ist nach Mendenhall gekommen und hat euch gesucht.« Cain starrte Patrick über den Tisch hinweg an. »Wieso seid ihr dort geblieben?« »Wir mussten doch sichergehen, dass mit euch alles in Ordnung ist«, gab Lisa mit einem Blick auf Robin zurück. Robin spürte, wie sich ihre Kehle verengte. Sie sah aus dem Fenster, in die Richtung, in die der Wagen des Sheriffs verschwunden war, dann wieder zu Lisa. »Sie glauben, ich hätte Waverly umgebracht.«
Lisa schluckte. »War es… Zachary?« Die vier tauschten einen Blick, als ein Blitz den Himmel für Sekundenbruchteile in gleißendes Licht tauchte. Sie zuckten zusammen, ehe Cain hörbar den Atem entweichen ließ. »Wir glauben jetzt zu wissen, wer ›Zachary‹ ist.«
Der Regen prasselte auf den Parkplatz mit den tiefen Fahrrinnen vor dem Mainline. Drinnen, im düsteren Zimmer, breiteten Cain und Robin die Diagramme und Texte, die sie im Internet-Café ausgedruckt hatten, auf dem Bett aus. Robin beobachtete ihre Gesichter, als Cain zu erklären begann. »Dieser Schlüssel des Salomon ist voll mit komplett abgedrehtem Schwachsinn. Hier findet man praktisch alles. Dämonen, Exorzismus, Anrufungs- und Verbannungsrituale. Diese Leute haben den Quatsch allen Ernstes geglaubt – das Ganze klingt so sachlich, dass man sich nur wundern kann.« Robin fielen Martins Worte auf der Treppe wieder ein. Ich soll an eine Religion glauben, die auf Texten aus dem Mittelalter basiert, die ernsthaft Dinge wie Astrologie, Numerologie… und Dämonen anerkennt? Sie wandte sich Lisa zu, die leichenblass geworden war und ungläubig auf die Ausdrucke starrte. »Aber du hast doch schon davon gehört, oder? Du und Martin habt an diesem ersten Abend darüber geredet.« Lisa zwirbelte das rote Bändchen an ihrem Handgelenk. »Am Morgen danach, als wir die Spielergebnisse in der Zeitung gesehen haben, hat er mich gefragt, was ich über die Kabbala weiß, und…«, fing sie an und sog bei der Erinnerung scharf den Atem ein, »… über diese Qlippoth. Aber ich hatte von all dem noch nie etwas gehört.«
Sie betrachtete das rote Bändchen, als sähe sie es zum allerersten Mal. »Das habe ich in einer Zeitschrift gesehen. Ich fand es einfach witzig.« Unvermittelt begann sie, heftig an dem Bändchen zu zerren, zerriss es und schleuderte es fort. »Ich habe es nicht gewusst«, flüsterte sie angewidert. »Das hat keiner von uns«, beruhigte Cain sie und zeigte auf das Diagramm eines sternartigen Gebildes, ehe er sich bückte und hastig einen Tisch mit fünf in derselben Weise darum gruppierten Gestalten skizzierte. Robin registrierte flüchtig, dass von Cains gewohntem Zynismus nichts mehr zu spüren war, stattdessen legte er eine seltsame Sicherheit im Umgang mit den uralten Symbolen an den Tag. »Seht her. Wir haben die ganze Zeit ein Pentagramm gebildet – wir fünf in dieser Formation. Fünf ist eine magische Zahl. Ein Pentagramm bildet ein Tor, und wir haben eine Lücke geschaffen…« »Und… dieses Schalending ist herausgekommen«, beendete Patrick grimmig den Satz. »Zachary Prince und die anderen, die bei dem Brand umgekommen sind, haben eine Seance im Dachstuhl abgehalten«, erklärte Robin. »Mit demselben Hexen-Brett wie das, das Lisa gefunden hat. Sie haben die Antworten des Brettes aufgeschrieben.« Sie zeigte Lisa und Patrick die Worte im Deckel. »Sie haben die Qlippah angerufen.« Ihre Stimme verklang. »Und sie hat sie umgebracht.« Lisa wurde bleich. »Wieso? Was will sie?« Cain setzte sich auf die Heizkörperkante. »Die Kabbala sagt, die Qlippoth wollen Leben.« Lisa wandte sich Robin zu. »Aber du hast doch gesagt, es hätte diese Leute umgebracht.« »Und Waverly«, stieß Patrick hervor.
Robin nickte. »Darum geht es ja. Es will das Leben – es ist eifersüchtig auf jedes menschliche Leben. Aber es kann dieses Leben nicht haben, sondern es nur zerstören.« Patrick ging in dem kleinen Zimmer auf und ab. »Das echt Verrückte daran ist, dass ich diesen Schwachsinn glaube.« »Was machen wir jetzt?« Lisas Stimme war leise und klang, als wäre sie den Tränen nahe. Auch Robin wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen. Patrick unterbrach seine ruhelose Wanderung. »Wir machen uns vom Acker. Wir hauen von hier ab.« »Wir können Martin nicht im Stich lassen«, protestierte Robin. »Jeder kämpft für sich allein«, gab Patrick zurück. Robin wirbelte zu Cain herum und sah ihn flehend an. »Wir wissen nicht einmal, ob er irgendwo in der Nähe ist«, erklärte Cain unwirsch, doch er brachte es nicht über sich, ihr in die Augen zu sehen. Robin starrte die anderen an. »Martin würde nicht einfach verschwinden. Ihr wisst genau, dass er das nicht tun würde. Er ist besessen. Er kann nicht mehr logisch denken. Er ist immer noch in Mendenhall mit… diesem Ding.« Lisa schlang sich die Arme um den Oberkörper. »Und was, wenn er tot ist?« »Was ist, wenn er es nicht ist?«, schnaubte Robin aufgebracht. »Wir alle haben dieses Ding herausgelassen. Was, wenn es sich bewegen kann? Es hat Waverly getötet. Was wird es als Nächstes tun?« Unbehagliches Schweigen breitete sich im Raum aus. Wieder grollte der Donner, gefolgt von einem Blitz, der nicht allzu weit entfernt sein konnte. Cain griff nach einigen Ausdrucken. »Da ist noch etwas. Wir haben ein Verbannungsritual gefunden. Es ist eine ziemlich
wüste Angelegenheit. Aber wenigstens hat es schon mal jemand ausprobiert, das heißt, es gibt einen Präzedenzfall.« Lisa war auf einmal sehr still. »Du meinst also, wir könnten uns von ihm befreien? Für immer?«, fragte sie vorsichtig. Cain sah bekümmert drein. »Ich weiß es nicht. Aber jemand war zumindest dieser Ansicht… Dieses Zeug kursiert seit ewigen Zeiten.« Er sah vom einen zum anderen. »Aber wir müssen es alle tun, sonst funktioniert es nicht.« Schweigend sahen sie sich an. »Scheiß auf diesen faulen Zauber. Dieses Ding kann Menschen töten. Wir gehen rein, holen Martin und gehen wieder raus. Ende der Geschichte.« Vier Augenpaare hefteten sich auf die merkwürdigen Diagramme auf dem Bett. Und langsam nickten sie.
KAPITEL 29
Der Tag verging wie in Zeitlupe. Bei diesem Polizeiaufgebot auf den Campus zurückzukehren, kam nicht infrage. Stattdessen beschlossen sie, bis zehn Uhr abends zu warten, in der Annahme, dass die Schule dann geräumt und die Polizei abgezogen wäre. Patrick und Lisa machten sich auf den Weg, um ein paar Einkäufe zu machen, da Robin und Cain das Risiko nicht eingehen konnten, gesehen zu werden. Robin, die auf dem Bett vor sich hin döste, wachte mehrere Male auf und sah Cain über dem Ritual brüten. Fasziniert beobachtete sie ihn. Trotz seiner Bodenhaftung ist er völlig in seinem Element, vollkommen gefesselt von diesem Mystizismus. Vielleicht wollen wir alle ja an etwas glauben. Sie aßen die Pizzen, die Patrick und Lisa mitbrachten. Patrick trank ein Bier nach dem anderen und rauchte Joints, wobei sich seine Miene von vornherein jede Kritik verbat. Robin lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Ihre Gedanken wirbelten wild umher. Waverly ist tot. Sie ist tot, und wir könnten die Nächsten sein. Sie dachte an Martin, der allein war in den düsteren Gängen mit irgendeinem undefinierbaren Etwas, und erschauderte. Plötzlich kniete Cain vor ihr, nahm ihre Hand und sah sie fragend an. Sie schüttelte den Kopf, rang sich ein Lächeln ab, worauf er sich neben ihr gegen die Wand sinken ließ. Warm und real. Patrick betrachtete die beiden, und als er Robins Blick begegnete, nickte er. Wohlwollen. Oder sogar so etwas wie ein Segen.
»Die Aussortierten«, sagte er laut. Alle Blicke richteten sich auf ihn. »Das sind wir, stimmt’s? Schadhafte Ware. Das Ding hat sich direkt an uns gewandt – weil es das gewusst hat.« Cain drückte Robins Hand. Lisa legte den Kopf auf Patricks Schulter. Schweigend saßen die vier da, lauschten dem Regen. Warteten.
Der Campus lag verlassen da, als Patrick seinen Geländewagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern in den Wald lenkte und in Richtung der Säulen fuhr. Nach einer hitzigen Debatte zwischen den beiden Jungs hatten sie sich darauf geeinigt, es sei das Beste, zu Fuß über das Campusgelände nach Mendenhall zu gelangen. Sie ließen den Wagen im Wald stehen und bahnten sich einen Weg durch den Eichenhain, in dunkler Kleidung, nervös wie Katzen und jeder mit einer Reisetasche in der Hand. Der Regen hatte nachgelassen, doch die Blätter unter ihren Füßen waren feucht und rutschig. Der Wind fuhr noch immer durch die Bäume, so dass in regelmäßigen Abständen ein Tropfenschauer auf sie niederging. Sie blieben auf dem Pfad stehen und spähten durch das dichte Gebüsch zur Silhouette von Mendenhall. Wie eine riesige schwarze Muschel ragte das Wohnheim vor ihnen auf. Robin glaubte, irgendwo im Gebäude einen zuschlagenden Fensterladen zu hören. Cain trat einen Schritt vor, als Patrick zischte: »Warte!« Lichter erhellten die gepflasterte, kreisförmige Auffahrt. Alle vier zogen sich hinter die Büsche zurück, warteten, wagten kaum zu atmen. Ein Fahrzeug des Sheriff-Büros fuhr vorbei.
Seine Scheinwerfer glitten über sie hinweg und tauchten das Gebüsch um sie herum in geflecktes Licht. Mit hämmerndem Herzen presste Robin das Gesicht ins feuchte Blattwerk und atmete den fauligen Lehmgeruch ein. Der Streifenwagen fuhr um die Kurve und verschwand die Straße hinunter. Robin spürte Cains Hand, die sich um ihre Finger schloss und sie hochzog. Die vier verließen das feuchte Gebüsch und hasteten seitlich um das Gebäude herum bis zu einer Tür, die unter der Feuertreppe verborgen war. Cain fischte seine Hausschlüssel heraus und versuchte, sie ins Schloss zu stecken. Der Schlüssel ließ sich zwar drehen, doch wie erwartet war die Tür von innen verriegelt. Patrick trat einen Schritt zurück, blickte zu der Metallfeuertreppe über ihren Köpfen hinauf und versuchte, die Höhe einzuschätzen. Dann wandte er sich mit leiser Stimme an Lisa. »Steig auf meine Schultern.« Cain bückte sich und verschränkte die Finger. Lisa stellte den Fuß in seine Handflächen, während Patrick sie in der Taille packte und sie mit Cains Hilfe hochhievte, so dass sie die Knie auf Patricks Schultern aufsetzen konnte. Lisa stützte sich mit den Händen auf Patricks Kopf ab und richtete sich auf, wobei sie wie eine Akrobatin auf seinen Schultern balancierte. Patrick umfasste ihre Knöchel, um ihr Halt zu geben. Sie griff nach der untersten Sprosse der Feuerleiter, packte sie und zerrte daran. Nichts rührte sich. »Sie hängt fest«, flüsterte sie und zerrte noch einmal, ehe sie Patrick anwies, sie loszulassen. Voller Bewunderung sah Robin zu, wie Lisa die Beine bis zur Brust anhob, ein Bein in die erste Sprosse setzte und sich auf die Plattform hochzog.
Die Sohlen ihrer Nike-Turnschuhe quietschten auf dem feuchten Metall, als sie sich aufrichtete, auf die Sprosse trat und mit aller Kraft versuchte, sie zu lösen. Doch sosehr sie sich auch anstrengte, die Treppe rührte sich keinen Millimeter. »Schlag eine Scheibe ein, geh nach unten und lass uns rein«, rief Cain leise. Mit versteinerter Miene blickte Lisa über das Treppengeländer nach unten. »Ich gehe auf keinen Fall allein da rein.« Fragend sah Cain zuerst Robin an, dann die Leiter. Sie nickte, worauf er erneut die Finger verschränkte. Robin versuchte, Lisas Bewegungen zu imitieren, als Cain sie hochhob und die beiden Jungen sie nach oben stemmten. Sie spürte Lisas Finger um ihre Handgelenke, während Patrick sie an den Knöcheln packte und schob. Adrenalin flutete durch ihre Venen, als Lisa sie bis auf die Höhe des Treppenabsatzes zog. Robin bekam das Metall zu fassen und hievte sich strampelnd hoch, bis sie flach auf der Plattform lag. Sie zitterte am ganzen Leib, und auch Lisa stand schwer atmend gegen die Wand gelehnt, rang sich jedoch die Andeutung eines Lächelns ab. Robin kam auf die Füße und klopfte ihre Kleider ab. Dann zog sie die Taschenlampe hervor und schlang ihren Schal um die Lampe und ihre Hand. Lisa löste sich von der Wand und trat ans Geländer, während Robin mit der Taschenlampe die Fensterscheibe einschlug. Mithilfe der Taschenlampe brach sie die spitzen Scherben ab, die aus dem Fensterrahmen ragten, ehe sie vorsichtig den Kopf hineinsteckte. Sie knipste die Lampe an und ließ den Lichtkegel zuerst auf der einen, dann auf der anderen Seite des Korridors entlangwandern. Ihr Puls raste, als sie in die Dunkelheit starrte – doch es bewegte sich nichts. Mendenhall war dunkel und vollkommen still.
Sie sah Lisa an, die hinter ihr auf der Feuertreppe wartete, und schwang ein Bein über das Fensterbrett. Im Inneren des Gebäudes war es stockfinster. Glas knirschte unter Robins Füßen. Sie wandte sich zum Fenster um und half Lisa herein. Robin tastete an der Wand entlang, bis sie den Lichtschalter gefunden hatte. Sie legte ihn um. Nichts. »Der Strom ist abgeschaltet«, bemerkte sie mit Unbehagen, ehe ihr einfiel, dass sie wegen der Polizeipatrouillen das Licht ohnehin nicht hätten einschalten können. Lisa erbebte. »Beeilen wir uns.« Robin schaltete die Taschenlampe an und hielt den Lichtstrahl auf den Boden gerichtet, unterhalb der Fensterhöhe, wie Cain sie zuvor angewiesen hatte. Lisa nahm Robins Hand, und gemeinsam arbeiteten sie sich durch den dunklen Korridor. Der Flur mündete in den Treppenabsatz. Unter ihnen klaffte die Haupttreppe wie eine riesige Wunde in der Dunkelheit. Lisa und Robin überquerten den Absatz und hasteten die geschwungene Treppe hinunter, wobei der Lichtkegel von Robins Taschenlampe unruhig auf und nieder hüpfte. Im Erdgeschoss bogen sie ab und traten in die düstere Eingangshalle. Lisa, die vorangegangen war, blieb unvermittelt stehen und unterdrückte einen Schrei. Robin erstarrte. Eine Gestalt mit Kapuze stand neben der Tür. Robin spürte, wie in ihr ein Schrei aufstieg, während ihr Verstand auszusetzen drohte. Doch dann machte etwas »Klick« in ihrem Kopf, als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. »Garderobenständer«, stieß sie erstickt hervor und richtete den Lichtstrahl auf die Gestalt.
Jemand hatte einen Mantel auf die mannshohe Garderobe gehängt. Ein Hut vervollständigte die Illusion des schemenhaften Eindringlings. Zitternd ließ Lisa den Atem entweichen und lehnte sich kraftlos gegen Robin. »Zur Hintertür«, presste Robin mühsam hervor. Sie kehrten der Eingangstür den Rücken und arbeiteten sich langsam durch die in Düsternis getauchte Eingangshalle. Vorsichtig tasteten sie sich am offenen Badezimmer vorbei, an der verhängten Brandschutztür, an der winzigen Küche. Alles schien bedrohlich zu sein, von einer Art Leben erfüllt. Lisa umklammerte Robins Hand so fest, dass sie schmerzte. Als Nächstes gelangten sie zum Eingang des Aufenthaltsraumes. Lisa verlangsamte ihre Schritte, als sie sich ihm näherten. Zögerte. Gedämpftes Poltern drang heraus. Beide Mädchen blieben wie erstarrt stehen. Robin schluckte. »Martin?«, fragte sie mit bebender Stimme in die Stille hinein. Reglos standen sie da, wagten kaum zu atmen, während sie angestrengt lauschten. Irgendwo im Haus begann etwas zu klopfen, leise, rhythmisch, neckend. Robin versuchte, sich trotz ihres Entsetzens zu konzentrieren. Woher kam das Geräusch? Aus dem Aufenthaltsraum? Aus einem anderen Teil des Gebäudes? Lisa packte Robins Hand, und sie liefen los, vorbei am Torbogen, in den hinteren Teil des Hauses. Dennoch konnte sich Robin nicht verkneifen, einen Blick hineinzuwerfen. Der weitläufige Salon schien leer zu sein. Dunkel und still. Die Mädchen hetzten durch einen Korridor in die schmale hintere Eingangshalle, wo sie japsend neben der Hintertür stehen blieben. Robins Blut rauschte in ihren Ohren, doch das Klopfen hatte aufgehört.
Robin schob die Riegel zurück, steckte ihren Hausschlüssel ins Schloss und riss die Tür auf. Patrick und Cain schlüpften mit den Taschen in der Hand herein. Draußen ließ der Wind die Blätter an den dunklen Bäumen erzittern und zerrte an den Ästen. Einen Moment lang stand Robin in der offenen Tür, dankbar für die frische Luft auf ihrem erhitzten Gesicht. Doch dann traf sie ein Windstoß. Eilig schlug sie die Tür zu. Schlagartig legte sich tiefe Dunkelheit über die vier. Robin hatte Mühe, irgendjemanden in der Finsternis zu erkennen – nur das Glitzern ihrer Augen verriet sie. Doch sie spürte Cains drahtige Energie und die Wärme, die von Patricks bulliger Gestalt ausging, roch die Kälte, die sie von draußen hereingebracht hatten, und fühlte sich für einen Augenblick beruhigt. Patrick knipste die Taschenlampe an, deren heller Strahl sie erschreckte. »Bleib bloß vom Fenster weg mit diesem Ding«, warnte Cain. »Ich bin schon in mehr Häuser eingebrochen als du, darauf kannst du wetten, Kumpel«, gab Patrick zurück, zog einen dunklen Strumpf aus seiner Tasche und streifte ihn über die Taschenlampe, um den Lichtstrahl zu dämpfen. Cain wandte sich den Mädchen zu. »Alles okay?« Robin nickte kurz, obwohl natürlich nicht alles okay war. Sie hatte keine Ahnung, ob es das überhaupt jemals wieder sein würde. Ihr kam es nicht so vor, als wären sie in ein Haus eingebrochen, sondern auf einem anderen Planeten gelandet. Als hätten sie eine andere Dimension oder ein Paralleluniversum betreten oder wären von der realen Welt abgeschnitten worden. Ist es hier? In der Luft? In den Mauern? Wie sieht es aus?
Cain drückte ihre Hand, als hätte er ihre Gedanken gehört. »Irgendein Zeichen von Martin?« Robin biss sich auf die Lippe und sah Lisa an. »Wir haben etwas gehört. Im Aufenthaltsraum.« Patrick griff in die Innentasche seiner schweren Jacke und zog einen 38er-Revolver heraus. Schockiert starrten ihn die anderen an. »Hey…«, protestierte Cain. »Für Pferde braucht man Heu«, erklärte Patrick tonlos. »Dieses Ding hat Waverly umgebracht.« Er spannte den Hahn, legte die Waffe an seine Schulter und bedachte Cain mit einem schiefen Grinsen. »Südstaatentradition.« Cain lächelte grimmig. Patrick wandte sich um, und alle drei folgten ihm durch den schmalen Gang in die Haupteingangshalle. Sie blieben stehen, Patrick und Cain vorn, Lisa und Robin hinter ihnen, so dicht beisammen, dass sie den Atem der anderen spüren konnten, und starrten zu dem schmalen Durchgang hinüber, der in den Aufenthaltsraum führte. Robin spürte die Lebendigkeit, die Wohltat, die von den warmen Körpern ausging, und wurde von einer Woge der Zuneigung erfasst. Sie gehörten zu ihr, wurde ihr schlagartig bewusst, sie waren wie Blut. Patrick sah Cain an, dann trat er einen Schritt vor, dicht gefolgt von den anderen. Langsam arbeiteten sie sich zum Torbogen des Aufenthaltsraumes vor. Als sie ihn erreicht hatten, blieben sie erneut stehen und spähten vorsichtig hinein. Ein dunkler Schatten flackerte auf der anderen Seite des Raumes auf. Abrupt wichen sie zurück und prallten gegeneinander. »Scheiße«, stieß Patrick hervor, der wütend auf sich selbst zu sein schien.
Robin erkannte, dass sie in ihre eigenen Gesichter im Spiegel starrten. Alle vier entspannten sich augenblicklich und etwas tollpatschig. Robin sah sich in der Düsternis der Eingangshalle um. Draußen trommelte der Regen gegen die Bogenfenster, und die Silhouetten der Bäume wiegten sich im Wind. Wieder fuhren sie vor Schreck zusammen, als ein heftiger Knall ertönte, wie der Schuss aus einer Waffe, der von den Wänden und der Decke zurückgeworfen wurde. Robin spürte, wie das Geräusch in ihrem Körper nachhallte, so als würde jemand sie von innen heraus berühren. Lisas erschrockenes Japsen verriet Robin, dass sie genau dasselbe empfand. Patrick und Cain fuhren herum, beinahe wütend, und suchten mit den Augen den Raum und die gewölbte Decke ab. Das Geräusch ebbte jäh wieder ab, was die nachfolgende Stille nur umso beängstigender erscheinen ließ. »Oben«, stieß Cain knapp hervor und ging in Richtung Tür. Die vier verließen die Eingangshalle. Robin hörte Cain einatmen, als Patricks Taschenlampe auf den Garderobenständer traf, und spürte, wie er sich entspannte, als er die vermeintliche Gestalt erkannte. Sie gingen über den Holzboden zur Treppe und erklommen die Stufen, während die Lichtkegel der Taschenlampen im Dunkeln tanzten und ihre Augen nervös jeden Winkel absuchten. Der Teppich unter ihren Füßen war weich und schwammig, ein leicht ekliges Gefühl. Robin zuckte zusammen, als etwas knarrte. Lisa, die den oberen Treppenabsatz erreicht hatte, hielt inne und hatte Mühe, einen Schrei zu unterdrücken. Die Flurtür links von ihnen öffnete und schloss sich langsam, rhythmisch, als atme sie… ein… aus… ein… Die vier standen da und starrten wie gebannt auf die Tür.
Unvermittelt sprang Cain nach vorne und riss sie auf. Ein heftiger Windzug fuhr durch sein Haar, und Robin schnappte erschrocken nach Luft. »Es ist der Wind. Durch das kaputte Fenster.« Robin trat hinter ihn und spähte den langen, dunklen Korridor entlang. Sie spürte den Luftzug des Fensters, das sie eingeschlagen hatte. Sie lehnte sich gegen Cain, der seinen muskulösen Arm um ihre Taille legte und sie eng an sich zog. Patrick schob sich an Cain und Robin vorbei. »Bringen wir es, verdammt noch mal, endlich hinter uns«, sagte er und ging ins Treppenhaus voran. Cain schob Robin nach vorn, ehe er die Hand nach Lisa ausstreckte. Die drei folgten Patrick durch die Tür. Das Treppenhaus war ebenfalls dunkel und unheimlich, und ihre Atemzüge hallten in der Stille wider, als sie dem Schein von Patricks auf und ab hüpfender Taschenlampe folgten. »Warte, O’Connor«, flüsterte Cain. Der Lichtkegel kam zur Ruhe und verharrte in der Tür zum zweiten Stock. Die drei traten zu Patrick auf den Treppenabsatz. Patrick öffnete die Tür einen Spaltbreit und spähte in den Korridor. Robin spürte, wie seine Anspannung ein wenig nachließ. Er nickte den anderen zu, ehe er leise die Tür ganz öffnete. Sie folgten ihm in den düsteren Flur und erblickten eine Reihe von Türen, die allesamt geschlossen waren. Mit einem Anflug von Ungeduld trat Robin an den anderen vorbei und ging auf Martins Zimmertür zu. Cain schloss sich ihr an, wich nicht von ihrer Seite, während sie Patrick und Lisa hinter sich spürte. Vor der letzten Tür blieb Robin stehen und starrte auf den Türrahmen. Die Mezuzah war abgerissen worden und hatte einen langen Riss im Holz hinterlassen.
Robin schluckte, ehe sie die Zähne zusammenbiss und klopfte. Erschrocken wich sie zurück, als das Geräusch im gesamten Korridor widerzuhallen schien. Jetzt hat es uns gehört, dachte sie finster, während das Bild einer formlosen, wild umherwirbelnden Energie… von nicht greifbarer Bösartigkeit vor ihrem geistigen Auge aufflammte. »Martin?«, rief sie leise. »Bist du da drin?« Die anderen beugten sich vor und lauschten. Stille. Patrick schob die Waffe in seinen Hosenbund und legte eine Hand auf Robins Arm. »Weg da«, befahl er. Robin und Lisa pressten sich mit dem Rücken gegen die Wand, während Patrick das Bein hob und unmittelbar unter dem Türknauf gegen die Tür trat. Robin erhaschte einen Blick auf seinen Oberschenkel vom Umfang eines Baumstamms, ehe die Tür mit einem lauten Krachen gegen die gegenüberliegende Wand knallte. Patrick zog die Waffe wieder heraus, hielt sie vor sich und steckte vorsichtig den Kopf in das dunkle Zimmer. Robin spähte um ihn herum, ohne jedoch etwas zu sehen. Keine Bewegung. Kein Martin. Nichts als Schatten. Patrick trat in den Raum, dicht gefolgt von den anderen, die mit ihren Taschenlampen leuchteten. Die Vorhänge waren zugezogen, doch selbst in der undurchdringlichen Dunkelheit irritierte das Chaos im Raum. Bücher türmten sich zu schwankenden Stapeln, das Bett war das reinste Chaos. Überall lagen Getränkedosen und Verpackungen von Lebensmitteln herum, als hätte Martin über Wochen aus dem Snack-Automaten gelebt und nicht nur die letzten anderthalb Tage. Robin zuckte zusammen, als ihr ein widerlich fauliger Gestank in die Nase stieg. Cain richtete seine Taschenlampe auf den Spiegel, und Robin sog scharf den Atem ein. Hebräische Buchstaben waren auf
den Spiegel und die Wand daneben geschrieben worden – in dicken dunklen Schlieren, die verdächtig nach Blut aussahen. Lisa keuchte erschrocken hinter ihnen, worauf alle drei herumfuhren. Ihre Taschenlampe war auf den Schreibtisch gerichtet. Er war in die Mitte des Raumes gezerrt worden, davor stand ein Stuhl. Das Hexen-Brett lag auf dem Tisch, die Planchette in der Mitte, daneben Martins Minirecorder. Rings um das Brett standen dicke, halb abgebrannte Kerzen inmitten von getrockneten Wachspfützen. Robins Blick fiel auf eine Reihe von Büchern, die aufgeschlagen übereinander lagen, einige von ihnen auf dem Stuhl, andere auf dem Boden rings um den Tisch. Die Hälfte der Titel war hebräisch. Sie sah Cain an. Er trat vor und starrte auf das Brett, ehe er sein Feuerzeug aus der Tasche zog und die Kerzen anzündete. Doch die flackernden Flammen schienen den Raum nicht wärmer, sondern noch kälter wirken zu lassen. Cain schaltete den Recorder auf dem Schreibtisch ein. Alle vier zuckten zusammen, als Waverlys schrille Stimme den Raum erfüllte. »Du bleibst also ernsthaft bei diesen Freaks hier?« Beim Klang der Stimme ihrer Zimmergenossin erlebte Robin für Sekundenbruchteile ein Déjà-vu, ehe es ihr dämmerte. »Es ist Martins Aufnahme vom Dachstuhl. Er hat den Recorder laufen lassen.« Patricks raue Stimme drang aus dem Recorder, ein hässliches Knurren. »Hau ab und verreck doch, Miststück. Verreck doch –« Patrick wurde blass. »Schalt das aus«, befahl er mit belegter Stimme. »Warte.« Robin spulte das Band weiter, vorbei an Waverlys Gezeter, um Martins Stimme noch einmal zu hören.
»Los, lasst uns weitermachen«, sagte Martin. Dann folgte Cains Stimme, ungläubig. »Das soll wohl ein Witz sein.« »Wir lassen nicht zu, dass sie alles ruiniert.« Bestürzt registrierte Robin die Besessenheit in seiner Stimme. In diesem Moment hörten sie wieder Cains knappe Stimme. »Keine Ahnung, was du vorhast, wir sind hier jedenfalls fertig.« Robin sah Cain an. Sein Gesicht war angespannt, sein Blick auf den Recorder geheftet. Patrick verlagerte unbehaglich das Gewicht. »Okay, dann…« »Warte«, unterbrach Cain scharf. Sie standen um den Recorder herum und lauschten, während das Band weiterlief, hörten das Geräusch, als sich jemand bewegte, Schritte auf dem Holzboden, eine Tür, die aufging und sich wieder schloss. Stille… nur das Zischeln des Bandes. Dann ein Klicken, als der Recorder abgeschaltet wurde. Doch bevor jemand etwas sagen konnte, ging er wieder an. Robin versteifte sich. Das Knarzen eines Stuhles drang durch den Raum… und Martins laute, entschlossene Stimme. »Bist du noch da?« Die vier erstarrten beim vertrauten Kratzen der Planchette, die sich über das Brett bewegte. Wieder folgte Martins Stimme, leise und angespannt. »Ich bin auch hier.« Patrick sah auf. »Scheiße, er hat es allein getan.« »Bist du wirklich… Qlippah?«, hörten sie ihn mit einem Anflug von Sehnsucht in der Stimme fragen. Robin wich zurück. »Er hat es gewusst. Er hat gewusst, was es ist«, flüsterte sie, während Cains angespannter Blick sie traf.
Wieder hörten sie ein kurzes Scharren, dann Martins Stimme, der die Botschaft vorlas. »Ja!« Pause. »Und du warst da… zu Beginn der Schöpfung?« Diesmal dauerte das Scharren länger. »Vor dem Beginn…«, las Martin. Wieder Pause, wieder das Kratzen. Martins Stimme klang abgehackt und so angestrengt, dass Robin erneut zusammenzuckte. »Ich will mehr wissen.« Das Kratzen setzte erneut ein, schneller diesmal. Sie hörten Martins Atemzüge. »Was meinst du damit, dass ich sehen könnte?« Kratzen. Erneut Martins Stimme, ungläubig. »Gott sehen?« In der Dunkelheit trat Patrick neben Robin. »Was zum Teufel – «, platzte er heraus. Martins Stimme unterbrach ihn. »Ja. Ich will Gott sehen. Wie?« Robin überkam ein Gefühl der Schwäche, als das Scharren der Planchette aus dem Recorder drang. Dann folgte Stille. Ich werde verrückt, dachte sie. Ich werde ernsthaft verrückt. Martins Stimme, diesmal mit einem unüberhörbaren Anflug von Argwohn. »Ich weiß es nicht… was würdest du tun… wenn du an meiner Stelle wärst?« Robins Augen suchten Cains. Er erwiderte ihren Blick über die Kerzen hinweg, erschüttert. »Gütiger Gott«, murmelte Patrick, während Lisa sich gegen ihn lehnte. Mit ausdrucksloser Miene legte er den Arm um ihre Taille. Auf dem Band las Martin Buchstaben vor, kämpfte mit den fremd klingenden Worten. »Nayah, horeh, yiyeh…?«
Die vier sahen einander verständnislos an, ehe Martins Stimme fortfuhr, voller Sehnsucht, als er langsam über das Kratzen der Planchette hinweg vorlas. »Ich kann dir alles zeigen, was war… was ist… und was sein wird…« Robin war wie gelähmt vor Angst. »Nein, Martin, nicht«, flüsterte sie halblaut. Unvermittelt drang Martins Stimme aus dem Recorder. »Gut, dann… dringe in mich ein. Ich… ich lade dich ein.« Lisas Augen waren starr vor Entsetzen. »Nein…«, stieß sie erstickt hervor. Ein seltsam belegter Laut aus dem Recorder ließ sie erstarren. Martin japste, gurgelte. Dann ertönte ein schauerliches, triumphierendes Heulen. »Ahhh-ahh. Ahh. Aaahh.« Robin spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Ihre Beine fühlten sich so schwammig an, dass sie ihr Gewicht kaum noch trugen. Martins Stimme schnurrte in fast sexuellem Wohlbehagen. »Oh, ja… oh, der Körper… der Körper, jetzt…« Wildes Jubelgeheul drang aus dem Recorder, eine fremdartige Stimme, bei der sich einem die Haare sträubten. Robin spürte, wie Galle in ihrer Kehle aufstieg. Die anderen schienen ebenfalls gegen die Übelkeit anzukämpfen, als die Stimme fortfuhr. »Im Körper… jetzt… im Körper… im Körper… Körper.« Auf dem Tonband war ein Scharren zu hören, dann eine Tür, die sich öffnete und schloss. Stille. Nichts als das Zischen des leeren Tonbands. Cain streckte die Hand aus und schaltete den Recorder ab. Sie sahen einander im Schein der flackernden Kerzen an, alle vier totenbleich. »Das ist es, was es wollte«, sagte Cain. Alle Blicke richteten sich auf ihn. »Einen Körper. Die Körper, die Gott den Qlippoth
verwehrt hat. Das hat es sogar selbst gesagt. Wir haben einfach nur nicht richtig zugehört.« »Es hat die ganze Zeit nur mit uns gespielt – und hat versucht, sich irgendwo Zugang zu verschaffen«, fuhr Robin fort, als ihr klar wurde, was passiert war. Bei Patrick hat es sein Glück als Erstes versucht, dachte sie und rief sich die Semesterprüfung ins Gedächtnis. Und bei Lisa. Aber erst Martin hat es hereingelassen. In diesem Augenblick wusste sie es. »Das war Martin an diesem Abend in meinem Zimmer.« »Er hat Waverly getötet.« Patricks blaue Augen wirkten wie aus Eis. Draußen auf dem Korridor begannen Türen zu schlagen, schnell, erst auf einer Seite des Flurs, dann auf der anderen. Entsetzt fuhren sie herum. Ein schauerliches, irres Kichern hallte durch das Gebäude, das ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ… Wieder knallten die Türen, während das Geräusch immer näher kam… Patrick machte einen Satz zur Tür und stemmte sich mit seinem gesamten Gewicht dagegen. Eine unsichtbare Kraft begann von außen so heftig gegen die Tür zu hämmern, dass die Schläge das Holz vibrieren und den Rahmen erbeben ließen. Patricks Arme zitterten unter der Erschütterung. Plötzlich hörte das Hämmern auf. Sekunden später bog sich die Tür langsam nach innen, und eine enorme Wucht brachte die Scharniere zum Quietschen. Lisas Augen weiteten sich, und sie begann zu schreien. Cain warf sich gegen die Tür und stemmte sich ebenfalls mit aller Kraft gegen das Holz. Mit einem Ruck schnellte die Tür in ihre ursprüngliche Form zurück.
Draußen begann erneut das Hämmern, ein rasches Stakkato, zornig und drohend. Robin schrie ebenfalls. Wieder brach das Hämmern abrupt ab. Tödliche Stille. Die vier standen starr vor Schreck da, während Patrick und Cain sich noch immer gegen die Tür pressten, aus Furcht, sich zu bewegen. Es war, als trennte sie ein ganzer Kontinent von der Eingangstür zwei Stockwerke unter ihnen. Lisa zitterte am ganzen Körper, und ihre Zähne klapperten. »Gott… oh Gott… was machen wir nur?« Grimmig hob Patrick die Waffe. »Wir knallen ihn ab.« Er machte Anstalten, die Tür zu öffnen. »Nein!«, kreischte Lisa. Robin packte Patrick am Arm. »Du kannst ihn nicht einfach umbringen.« »Einen Teufel kann ich.« Alle begannen gleichzeitig zu reden, wild durcheinander, angetrieben von Adrenalin und Hysterie. »Denk doch mal nach.« Robin grub ihre Nägel in Patricks Arm. »Und was passiert dann? Du kommst wegen Mordes ins Gefängnis.« »Lieber das, als tot sein«, schoss Patrick zurück. »Ich bringe den Scheißkerl lieber um, bevor er uns umbringt. Er hat Waverly getötet.« Patricks Gestalt ragte in der Dunkelheit hoch über ihr auf, und seine Halsvenen traten hervor. »Nicht Martin«, wandte Cain mit atemloser Stimme ein. »Sondern dieses Ding in ihm.« Lisas Stimme war schrill, fast wie ein Schrei. »Aber er hat darum gebeten. Ihr habt es gehört. Er hat es dazu eingeladen!« Robin fuhr zu ihr herum. »Genau wie du, Lisa. Du hast das Brett gefunden… oder etwa nicht?« Blass, aber resolut wandte sie sich den anderen zu. »Aber wir wollten alle spielen. Wir haben alle weitergemacht. Wir alle haben es herbeigerufen.«
Schweigend standen sie da, als ihnen die Wahrheit allmählich bewusst wurde. »Selbst wenn wir Martin erschießen würden, hätten wir keine Gewissheit, dass es auch sterben würde«, sagte Cain, inzwischen etwas ruhiger. Ungestüm trat Patrick mit dem Fuß gegen die Wand und hinterließ eine Delle in dem dünnen Gipskarton. Lisa zuckte erschrocken zurück. »Verdammte Scheiße, was machen wir jetzt?« Hilflos sah er die anderen an. Die Kerzen warfen flackerndes Licht an die Wände und erhellten die ungelenken hebräischen Buchstaben. »Ihn einfangen«, erwiderte Robin langsam mit einem Blick zu Cain. »Und das Verbannungsritual abhalten.« »Ihn einfangen?«, wiederholte Patrick ungläubig. »Er hat einen verdammten Dämon in sich.« »Und du hast eine Waffe«, konterte Cain ruhig. »Du schießt ihm ins Bein, und ich springe auf ihn.« Lisas Blick schweifte hektisch zwischen ihnen hin und her. »Ihr habt dieses Ritual aus dem Internet. Was, wenn es nicht funktioniert?« »Dann fesseln wir ihn, rufen die Bullen und hauen ab«, erwiderte Cain grimmig. Sie sahen sich an. Lange Zeit sagte keiner von ihnen ein Wort. Robin wurde bewusst, dass dieses Schweigen gleichbedeutend mit einem Einverständnis war. Patrick wand sich unbehaglich. »Aber ich will keine Vorwürfe hören, wenn ich ihn verfehle und ihm stattdessen seine beschissene Rübe abschieße.« Cain drehte sich zu ihm um. »Das solltest du lieber nicht tun. Ich meine es ernst, Cowboy. Wir brauchen nämlich alle fünf, wenn dieses Ritual funktionieren soll.«
KAPITEL 30
Leise öffnete sich die Tür zu Martins Zimmer, und Patricks massige Gestalt füllte den Türrahmen. Die Waffe an die Wange gelegt, sah er sich auf dem Korridor um. Er war leer. Doch auf halber Höhe stand ein Schrank, in oder hinter dem sich jemand verstecken könnte. Patrick sah zum Schrank hinüber, dann zu Cain, der grimmig nickte. Dicht aneinandergedrängt traten die vier auf den Korridor hinaus, Patrick vorn, hektisch hin- und hersehend. Langsam bewegten sie sich Richtung Schrank vor, sorgsam darauf bedacht zusammenzubleiben. Patrick streckte den Arm aus, um den anderen zu bedeuten stehen zu bleiben, ehe er vortrat und mit gezückter Waffe um den Schrank herumlief. Als er erstarrte, hielt Robin den Atem an. Nach ein paar Sekunden löste sich seine Anspannung, und er gab den anderen zu verstehen, ihm zu folgen. Gemeinsam gingen sie weiter. Sie blieben an der Tür zum Treppenhaus stehen, während Patrick die nach oben und nach unten führenden Treppen überprüfte. Wieder winkte er sie heran. Langsam folgten sie ihm in das dunkle Treppenhaus, um sich Stufe um Stufe abwärtszutasten – Patrick vorneweg, Cain, dessen Augen argwöhnisch die Umgebung absuchten, hinter ihnen. Ihr Atem klang ungewöhnlich rau und laut in der widerhallenden Stille des Treppenhauses. Robin spähte an Patrick vorbei in die Tiefe. Die Tür am Fuß der Treppe war geschlossen. Kurz vor dem unteren Treppenabsatz blieben sie wie auf ein Stichwort stehen. Patrick holte tief Luft, ehe er die Tür auftrat,
die mit einem lauten Knall gegen die Wand in der Eingangshalle prallte. Mit erhobener Waffe wirbelte er auf dem düsteren Treppenabsatz herum und suchte mit den Augen den Raum ab. Niemand. Patrick kehrte ins Treppenhaus zurück. »Die Luft ist rein.« Vorsichtig traten sie nach draußen. Vor ihnen befand sich die Haupttreppe, die ins Erdgeschoss führte. »Runter«, flüsterte Cain. »Lassen wir ihn zu uns kommen.« Er blieb stehen und starrte auf den Boden. Robin folgte seinem Blick und bemerkte das Glitzern von Glassplittern. Sie sah auf, bemerkte kaum den eingeschlagenen Feuermelder an der Wand, als… in diesem Moment die Tür hinter ihnen aufflog. Entsetzt fuhren sie herum, als ein dunkles Etwas aus dem Treppenhaus gefegt kam. Sie erhaschte einen Blick in schwarze, irre Augen. Die Klinge einer Axt blitzte auf und sauste herab. Mit einem widerlich dumpfen Laut versank die Klinge in Cains Schulter. Robin schrie, auch dann noch, als Cain nach hinten kippte und polternd die Treppe hinunterfiel. Patrick hob die Waffe und feuerte rasch drei Schüsse ab, doch der Schatten wirbelte herum und verschwand in der Dunkelheit eines Nebenflurs, so dass die Kugeln wirkungslos in die Hauswand einschlugen. Patrick packte Lisa und zog sie ins Treppenhaus, Robin blieb wie festgewurzelt auf der Galerie stehen. Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen, hallte in ihrem Kopf nach, während sie wie betäubt nach unten auf den reglosen Cain blickte. Wenige Sekunden später riss sie sich aus ihrer Erstarrung, taumelte die Treppe hinunter und fiel schluchzend auf die Knie.
Dicht an dicht standen Patrick und Lisa heftig atmend da, den Rücken gegen die Tür gepresst. Über ihnen ertönte eine höhnische Stimme. Ihr fremdartiges Zischeln echote im Treppenhaus und in den Gängen. »Haben die Kinder des Lichts etwa Angst? Fürchten sie sich vor der Dunkelheit?« Entsetzt drehten sich Patrick und Lisa um und spähten nach oben. Die Stimme vibrierte in der Düsternis um sie herum, ein heiseres, hässliches Kichern. »Willst du spielen, Schlappschwanz?«, schrie Patrick zornig. »Ich jage dir eine Kugel in deinen beschissenen Schädel.« »Nicht – «, flehte Lisa eindringlich. Patrick sah sie an, registrierte ihre glasigen Augen und das Zittern, das ihren ganzen Körper erfasst hatte. Er legte die Finger um ihr Kinn und blickte ihr ins Gesicht. »Geh runter zu den anderen. Wenn du mich nicht schreien hörst, dass ich ihn habe, dann macht, dass ihr wegkommt.« Ihre Augen waren weit aufgerissen. »Pat, nein – « Schnell beugte er sich hinab und presste die Lippen auf ihren Mund. »Los, geh schon.« Zitternd sank Lisa gegen die Wand, während er die Waffe nach oben streckte und sich auf den Weg hinauf machte.
Cains Gesicht war totenbleich. Auf seiner Stirn wölbten sich blaue Venen, und aus einer tiefen Schnittwunde an seiner Schulter sickerte Blut. Vorsichtig berührte Robin ihn, wagte kaum zu hoffen… Er bewegte sich. Ihr Herz machte einen Satz. Er schlug die Augen auf, worauf sie einen erleichterten Seufzer ausstieß. »Oh mein Gott…«
»Es ist… nicht so schlimm«, brachte er mühsam heraus. »Ich bin ausgewichen.« Robin zog ihre Sweatjacke aus und band sie fest um seine Schulter. Sie war kaum fähig, etwas zu sagen. »Du musst… wir müssen dich hier rausbringen…«
Patrick erklomm die Stufen. Die fremdartige Stimme schwebte um ihn herum, umkreiste ihn, bizarr und neckend, eine Parodie des Südstaatenakzents nach Insektenart, zischelnd in der Dunkelheit. »Hat unser großer Junge Daddys Waffe?« Patrick fuhr zusammen, als hätte ihn etwas gestochen, in seinen Augen flackerte eine fatale Erkenntnis auf. Sein Blick schoss im Treppenhaus umher. Die Stimme wurde tiefer, rau und kehlig. »Komm, mach, dass Daddy sich gut fühlt… Los, mach es so, wie ich’s dir beigebracht habe… Mach es gut, Junge, sonst schlag ich dich grün und blau…« Das irre Gelächter dröhnte durch das Treppenhaus. Patrick knurrte zornig, stürmte die restlichen Stufen hinauf bis zum ersten Stockwerk, wo er stehen blieb und wild herumwirbelte, beide Hände um die Waffe gelegt. Inzwischen hatte das Gelächter aufgehört. Es war still und dunkel, bis auf das Notausgangschild über der Tür und das bläuliche Licht des Snackautomaten in der Waschküche. »Wo bist du, du elender Drecksack?«, schrie Patrick, spuckte aus, umfasste seine Waffe ein wenig fester und trat nach vorn in den Korridor. Aus der Waschküche drang ein Geräusch, ein leises Wimmern wie von einem Tier. Patrick fuhr herum und stürmte zum Waschraum, wo er wie erstarrt im Türrahmen stehen blieb.
Martin kauerte zusammengesunken in einer Ecke und hielt sich die Seite. Er war blutüberströmt, weinte und sah benommen zu Patrick hoch. »Patrick? Es… hat mich erwischt.« Martins Hände umklammerten den Stiel einer Axt, die in seinem Oberkörper steckte. »Scheiße! Martin…«, stieß Patrick erschüttert hervor. »Ich bin verletzt… ich glaube, ich… sterbe…« Mit erhobener Waffe ging Patrick auf Martin zu.
Ein Stockwerk tiefer hatte Robin Cain aufgerichtet und gegen das Geländer gelehnt. Ihre Jacke benutzte sie als Druckverband für die Wunde an seiner Schulter. Ihr Hals fühlte sich rau an vom Schreien, und sie schmeckte Blut im Mund. Trotzdem zwang sie sich, gegen ihre Panik anzuatmen. Ich brauche ihm nur die Stufen hinunterzuhelfen… Wir können einfach durch diese Tür hinausgehen… Wir können frei sein. Aber Martin. Gab es überhaupt noch einen Martin? Wieder sah sie, wie die irre Gestalt aus dem Nichts erschien und die Axt erhob. Ihr Verstand rebellierte gegen das Bild. Doch sie wusste, dass der Mensch hinter diesen schwarzen Augen Martin gewesen war, der mit diesem irrsinnigen Grinsen die Axt geschwungen hatte. Drei Schüsse hintereinander rissen sie ins Hier und Jetzt zurück. Sie erstarrte, ebenso wie Cain, und beide sahen nach oben. Eine unnatürliche Stille breitete sich aus. »Oh, nein«, flüsterte Robin. Im Treppenhaus fuhr Lisa herum und stürmte die Treppe hinauf. »Patrick…« Stille.
»Patrick!«, schrie Lisa. Entsetzt starrte sie nach oben, ohne zu bemerken, wie sich die Tür langsam hinter ihr schloss… und eine Hand nach ihr griff… Schreiend wirbelte Lisa herum. Im Dunkeln packte Robin ihren Arm. »Schhh…« Lisa sackte vor Erleichterung zusammen. »Großer Gott…« Robin grub ihre Nägel in Lisas Arm, um sie zum Schweigen zu bringen, während sie die Treppe hinaufsah. »Ich hab ihn«, rief Patrick von oben. Beide Mädchen stießen einen erleichterten Seufzer aus, doch schon in der nächsten Sekunde beschleunigte sich Robins Puls, als ihr der Sinn der Worte aufging. Hat er Martin erschossen? Ist er tot? Trick, sagte eine glasklare Stimme in ihrem Kopf. Lisa stürzte bereits nach oben. Robin hetzte wie von Sinnen hinter ihr her. »Warte – « Sie stürmte in den Korridor im ersten Stock. Stille empfing sie. Der Flur war düster und voller unheimlicher Schatten, nur schwach vom bläulichen Licht aus der Waschküche erhellt. Sie hörte keinen Laut. »Lisa?«, stieß Robin hervor und suchte mit den Augen den dunklen Flur ab, der leer zu sein schien. Sie durchquerte den Flur, trat in die Waschküche – und prallte gegen Lisa, die wie erstarrt im Türrahmen stand. Robin blickte an ihr vorbei. Patrick lag in einer Blutlache, die sich auf dem Linoleumboden ausbreitete. In seiner Seite steckte eine Axt. Martin war über die Leiche gebeugt. Seine Augen waren tiefschwarz, als er sich auf den Fersen herumdrehte – kichernd, ein irres, kaum menschliches Etwas, das wieder und wieder den Abzug der leeren Waffe betätigte.
Robin und Lisa waren starr vor Entsetzen. Das ist nicht Martin, formte Robins Gehirn in ihrem Grauen. Sondern mehr als Martin. In regungsloser Überwältigung starrte sie das Geschöpf vor ihr an. Das Ding, das nicht Martin war, fuhr hoch und riss die Axt aus Patricks Leib. Lisa schrie, als die Klinge neuerlich herabsauste. Die schwarzen Augen des Dings in Martin funkelten, als es Lisas Schrei nachäffte. In diesem Moment registrierte Robin eine Bewegung auf dem Boden. Martins Körper wurde nach hinten gerissen, so dass die Axt nur knapp Lisas Hals verfehlte. Über ihre Schulter zog sich eine dünne Blutspur. Robin zerrte Lisa nach hinten, außer Reichweite der Klinge, als Martin erneut knurrend vorschnellte. Doch wieder geriet er ins Straucheln. Patrick lag auf dem Boden, eine Hand um Martins Knöchel gelegt, während das Blut pulsierend aus der tiefen Wunde strömte. Er schlug die Augen auf und sah Robin ins Gesicht. »Geht«, flüsterte er. Martin wirbelte herum und hob die Axt. Robin und Lisa wichen entsetzt zurück, als die Klinge aufblitzte. Wie von Sinnen taumelten sie in den Flur hinaus, prallten gegeneinander, richteten sich wieder auf und stürzten ins Treppenhaus, schluchzend und hyperventilierend. Hinter ihnen knallte die Tür gegen die Wand. Martin drängte sich ins Treppenhaus, schnitt ihnen den Weg nach unten ab. In einer sekundenschnellen Entscheidung liefen die Mädchen durch die Dunkelheit die Treppe hinauf, heftig atmend, angetrieben vom Adrenalin, das durch ihre Venen schoss. Das Gelächter der Kreatur hallte im Treppenhaus wider, folgte ihnen mit erschreckender Geschwindigkeit.
Robin und Lisa stürzten durch die Tür in den Korridor des zweiten Stocks, den eine Reihe geschlossener Türen säumte. Der Jungenflügel. Sie standen im engen Flur, zerrten einander hektisch flüsternd in entgegengesetzte Richtungen. »Die Treppe hinter der Küche«, stieß Lisa erstickt hervor. Ihre Augen waren dunkel, die Pupillen bis an den Rand der Iris geweitet. Robin konnte sogar ihren Pulsschlag an ihrem Hals erkennen. »Was, wenn abgeschlossen ist?«, fragte Robin, doch Lisa riss sich los und stürmte davon. Lautes Poltern auf der Treppe ließ Robin innehalten. Hektisch sah sie sich im Flur um. Nichts als verschlossene Türen. Die Küche schien eine halbe Ewigkeit entfernt zu sein. Instinktiv wandte sie sich der Badezimmertür zu, stürzte los. Sie schlug die Tür hinter sich zu und presste sich mit dem Rücken dagegen, als sie bemerkte, dass die Tür kein Schloss besaß. Panisch sah sie sich um, packte einen Mülleimer und zerrte ihn eilig davor. Den schiebt er im Handumdrehen weg, dachte sie und suchte in dem verspiegelten Raum nach etwas Geeigneterem, das ihr als Blockade dienen konnte. Am anderen Ende des Korridors lief Lisa in die kleine Küche, stürzte sich auf die Tür zum hinteren Treppenhaus und packte den Türknauf. Abgeschlossen. Lisa zerrte an der Tür, klammerte sich daran wie ein Tier. »Scheiße, Scheiße, Scheiße…«, schluchzte sie. Die unmenschliche Stimme drang an ihr Ohr, höhnisch, neckend. »Lisa. Liii-saa. Du weißt, dass du mich willst.« Lisa wirbelte herum. Ihre Augen waren glasig. Sie sprang zum Küchentresen, riss eine Schublade auf und suchte sie fieberhaft nach einem Messer ab.
Nichts als Plastiklöffel und Pfannenwender, verhedderte Gummis und Beutelverschlüsse. Die Stimme kam näher. »Ich mag es, wie du an deinen Bruder denkst, wenn du kommst«, säuselte sie. Lisa schrie und legte sich die Hände auf die Ohren. Ein Schatten erschien im Türrahmen. Erschrocken drehte sich Lisa um und presste sich mit dem Rücken gegen die Arbeitsplatte. Schwankend stand Martin mit der blutigen Axt da. Mit einem wölfischen Grinsen hob er sie an den Mund und leckte das Blut ab. Lisa schnappte einen Kaffeebecher und schleuderte ihn in Martins Richtung. Er traf ihn am Kopf und zerstob in tausend Scherben, die sich in seine Haut schnitten. Blut sickerte ihm übers Gesicht, doch er hielt auf sie zu, als bemerke er den Schmerz nicht. Lisa warf sich gegen die Arbeitsplatte, packte wahllos alles, was ihr in die Finger kam, und katapultierte es in seine Richtung – Toaster, Kaffeekanne, Besteckkasten. Die Gegenstände prallten mit einem Übelkeit erregenden, fleischig-dumpfen Laut an ihm ab, doch nichts schien ihn aufzuhalten. Nur wenige Zentimeter trennten ihn von ihr. Sie war in der Falle, wich zurück, am ganzen Leib zitternd… sie saß fest. Martins Augen waren schwarz, als er lächelte. Er hob die Axt. Hinter ihm rief eine Stimme. »Martin.« Martin fuhr herum, leicht schwankend, als besitze er nicht die vollständige Kontrolle über seinen Körper. Hinter ihm kam Robin durch den Korridor auf ihn zu. Sie war totenbleich.
Martins Gesicht verzog sich langsam zu einem Lächeln. »Martin wer?« Robin schluckte. Übelkeit stieg beim Anblick des leeren Ausdrucks auf seinem blutigen Gesicht in ihr auf. Sie fühlte sich so benommen, dass sie fürchtete, das Bewusstsein zu verlieren. Sieh zu, dass du ihn von Lisa wegbekommst, dachte sie. »Dann eben Zachary«, schlug sie mit tiefer, verführerischer Stimme vor. »Wie du willst.« Sie zwang sich zu einem Lächeln, ehe sie sich einladend in den Flur zurückzog. Martin erschien im Türrahmen, noch immer leicht schwankend. Er hielt die Axt lose mit beiden Händen und ging auf Robin zu. Einen Moment lang standen sie einander reglos gegenüber und sahen sich in die Augen. Eine Welle so reinen, unverbrämten Entsetzens erfasste Robin, dass sie fürchtete, ihr Verstand entziehe sich ihr endgültig. Das Ding vor ihr hatte nichts Menschliches an sich. Es schien das Böse in Reinform zu verströmen. Es war wie ein Schwarm zorniger schwarzer Insekten, die unter der dünnen Hülle seiner menschlichen Haut umhersurrten, wie das Chaos, das Martins schmächtige Gestalt kaum zu bändigen vermochte. Sie kämpfte eine Woge der Übelkeit und der Panik nieder und hob das Gesicht, bemüht, ihre Angst nicht zu zeigen. Denk nicht nach. Rede. Jetzt. Unvermittelt trat er einen Schritt vor, der sie instinktiv zurückweichen ließ. »Angst, süße Robin?«, schnurrte das Ding. Robin reckte das Kinn und sah ihm wieder in die Augen. »Angst wovor? Du wirst mich nicht umbringen. Du willst etwas anderes von mir.« Langsam machte sie einen Schritt rückwärts, hob die Hände und begann, ihre Bluse aufzuknöpfen. Martin fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und trat vor.
Schritt für Schritt ging Robin weiter zurück, während sie ihre Bluse weiter aufknöpfte. Wie gebannt starrte Martin auf die sich öffnenden Knöpfe. »Du warst in dieser Nacht in meinem Zimmer. Waverly ist hereingekommen und hat dich gesehen. Da hast du sie aus dem Fenster gestoßen.« Das Martin-Ding grinste. Ein grauenhafter Anblick. Seine Stimme klang angewidert, verächtlich. »Dämliches Miststück, mit ihrem Geschrei. Nicht gut für die Stimmung.« Wieder zwang sich Robin zu einem Lächeln. »Jetzt bin ich hier. Wir können alles tun, was du willst.« Sie bewegte sich kaum merklich rückwärts. »Weißt du denn nicht, dass ich eifersüchtig war, als du zu Lisa gekommen bist statt zu mir?« Das Ding legte den Kopf schief. »Du hast nicht darum gebeten. Du musst darum bitten.« Robin streifte ihre Bluse ab. »Jetzt bitte ich darum.« Das Martin-Ding machte mit unfassbarer Geschwindigkeit einen Satz auf sie zu. Robin wandte sich blitzschnell ab und stürzte durch den Korridor auf das Treppenhaus zu. Die Kreatur war unmittelbar hinter ihr, ihre Füße scharrten auf dem Boden wie die Klauen eines Insekts, ihr Atem brannte heiß in ihrem Nacken, als sie immer näher kam. Robin spürte, wie Hände nach ihrem Haar griffen und einen scharfen Schmerz, als sie zurückgerissen wurde. Robin schrie auf. Das Ding presste sie gegen die Wand des Treppenhauses, stemmte sich mit den Händen links und rechts neben ihr ab und hob die blutige Axt an ihr Gesicht. Sie roch Blut. Patricks Blut. Und – was noch entsetzlicher war – Martins Gesicht befand sich unmittelbar vor ihr, grotesk verzerrt. Ein widerlicher Gestank nach Verbranntem ging von ihm aus, als die unmenschliche Stimme an ihrem Ohr säuselte:
»Süße Robin, du warst es. Du warst diejenige, die mich hereingelassen hat.« Robin riss den Kopf hoch und starrte in die schwarzen Augen – ein Anblick, der ihr den Verstand zu rauben drohte. »Du wolltest am Thanksgiving-Abend sterben. Die Dunkelheit in dir hat mich hereingelassen. Sie war die perfekte Pforte für mich.« Robins Kehle verengte sich. Tränen traten ihr in die Augen. »Nein…«, flüsterte sie. »Du bist schuld.« Ein gähnender, dunkler Abgrund tat sich in Robins Bewusstsein auf. Das Ding hob die Axt. Sie registrierte kaum den dumpfen, metallischen Glanz der Klinge. Ihre Knie gaben nach, als sie unaufhaltsam der Ohnmacht entgegentrieb. Unvermittelt riss das Martin-Ding den Kopf herum. »Keinen Schritt näher«, zischte es. Es hob den Arm, reckte die Axt. Robin wandte den Kopf und sah Lisa im Korridor stehen. Sie stand da, ein Tranchiermesser in der Hand, und starrte Robin mit weit aufgerissenen Augen an. Beide Mädchen waren wie erstarrt. Die Kreatur grinste. In diesem Moment flog die Tür zum Treppenhaus auf und traf das Geschöpf schmetternd am Kopf. Cain kam in den Korridor gestürmt, beide Hände fest um einen Baseballschläger gelegt, und rammte die Tür gegen die Wand, so dass Martin dahinter eingeklemmt war. Lisa lief los und warf sich ebenfalls mit ihrem gesamten Gewicht gegen die Tür, dicht gefolgt von Robin. Das Martin-Ding wand sich, knurrte und schäumte wie ein tollwütiges Tier. Cain taumelte rückwärts, holte aus und ließ den Schläger mit voller Wucht auf Martins Schläfe herabsausen.
Martin verdrehte die Augen und erschlaffte, noch immer hinter der Tür eingeklemmt. Die Axt fiel ihm aus der Hand und schlug polternd auf dem Boden auf. Robins und Cains Blicke begegneten sich. Es war still im Korridor, bis auf ihre heftigen Atemzüge und Lisas Schluchzen.
KAPITEL 31
Holzscheite brannten im Kamin und ließen helle Flammen aufsteigen. In der Mitte des Aufenthaltsraumes stand der runde Tisch mit fünf Stühlen drumhererum. Auf der Tischplatte prangte ein Pentagramm aus Kreidestrichen. Kerzen flackerten an dessen Ecken. Martins schlaffer Körper hing auf einem der fünf Stühle, an den ihn Lisa und Robin mit einer Wäscheleine fesselten. Meter um Meter schlangen sie die Schnur um seinen Oberkörper, verwoben sie mit den Sprossen der Stuhllehne. Dabei hatten sie keine Ahnung, wie viel Kraft das Ding in seinem Inneren besaß und ob die Leine standhalten würde. Die Fenster hatten sie mit Decken verhüllt, damit der Schein des Feuers nicht nach draußen dringen konnte, und den Teppich mit dem Rosenmuster aufgerollt. Cain, dessen Schulter noch immer in Robins Verband steckte, kniete und zeichnete auf dem Holzboden um den Tisch herum ein weiteres Pentagramm. Die Axt, von der sie Patricks Blut abgewischt hatten, stets in greifbarer Nähe, ließ er Martin nicht aus den Augen. Eine Gaslampe tauchte den Raum in gelbes Licht. Draußen regnete es noch immer in Strömen. Robin versuchte, sich voll und ganz auf die Wäscheleine in ihrer Hand zu konzentrieren. Die Tatsache, dass zwei Stockwerke über ihnen der tote Patrick lag, machte jeden Ansatz eines Gedankens unerträglich. Cain beendete das Pentagramm, stand auf und klopfte sich die Kreidespuren von der Hose.
Robin beugte sich über Martin, um einen weiteren Knoten zu schlingen… als Lisa hinter ihr aufschrie. »Robin!« Robin sah nach unten. Martins Augen waren geöffnet. Erschrocken schnappte sie nach Luft und wich zurück, während ihr Herz wie verrückt klopfte. Martin sah sie an. Verletzt, benommen. »Robin?«, murmelte er schwach. »Was ist los?« Die anderen beäugten ihn argwöhnisch. Cain hob den Baseballschläger, während Martin sich bebend umsah. »Ich war auf dem Dachboden. Ihr wart gegangen. Dann… was ist passiert? Ich… erinnere mich nicht.« Beim Anblick seines blutdurchtränkten Hemdes schnappte er entsetzt nach Luft. »Oh mein Gott. Robin…« Er sah zu ihr hoch, zitternd, erschüttert. Robin zögerte. »Martin?« Vorsichtig trat sie einen Schritt näher. »Nein – «, hörte sie Cains scharfe Stimme. Robin beugte sich vor und schlug Martin kräftig ins Gesicht. Martin riss die Augen auf und starrte sie wutentbrannt an. In Bruchteilen von Sekunden schoss er mit gebleckten Zähnen vor, stürzte sich auf Robins Kehle, während sich die Wäscheleine in die Haut an seinem Hals schnitt. Robin sprang gerade noch rechtzeitig zurück, als Martins Zähne mit einem widerlichen Klappern aufeinanderschlugen. Entsetzt fuhr Lisa zusammen. Jeder vorgetäuschte Anflug von Menschlichkeit war verschwunden. Das Wesen, Qlippah, wand sich in Martins Körper, rutschte auf dem Stuhl umher, zischte und spuckte. »Wie könnt ihr es wagen! WIE KÖNNT IHR ES WAGEN! Lasst mich sofort los!« Es zerrte an der Wäscheleine, tobte wie ein wild gewordener Stier, während seine Augen schier aus den Höhlen traten. Cain hob den Baseballschläger, bereit zum Schlag. Martin zuckte und wand sich. Die Leine schnitt sich in seine Haut und grub sich tief ins Fleisch. Doch die Qlippah schien in Martins
physischer Erscheinung gefangen zu sein – jenem hageren Körper, der nicht die Kraft besaß, die Leine zu zerreißen. In starrer Ungläubigkeit beobachteten Lisa und Robin, wie der Tisch zu beben und sich zu bewegen begann. »Du wirst verschwinden«, schrie Cain. »Zurück in den Abgrund.« Der Tisch kam zur Ruhe. Das Martin-Ding grinste zu ihnen hoch, ein schauerlicher Anblick. »Kein Präzedenzfall, Herr Anwalt. Ihr habt euren fünften Mann verloren. Der Stern ist zerbrochen.« Cains Züge verhärteten sich. Er wandte sich um und warf Robin über den flackernden Kerzenschein hinweg einen Blick zu. Robin nickte, nahm Lisas Hand und zog sie zur Tür. »Komm.« »Sei vorsichtig«, flüsterte sie, als sie an Cain vorbeiging. Ihre Blicke trafen sich. Er berührte kurz ihre Finger, ehe er sich wieder dem Ding zuwandte, das einmal Martin gewesen war. Robin zog Lisa durch den Torbogen hinaus in die Dunkelheit der Eingangshalle. Lisa unterdrückte ihr Schluchzen, als sie und Robin die Treppe in den zweiten Stock hinaufgingen. »Ich halte das nicht aus. Ich kann das einfach nicht.« Robin starrte in die Dunkelheit. »Nur noch ein bisschen«, sagte sie in der Hoffnung, dass ihre Stimme ruhig klang. Im zweiten Stock traten Lisa und Robin in die von bläulichem Licht erhellte Waschküche. Patrick lag mit weit aufgerissenen, blicklosen Augen inmitten einer riesigen Blutlache. Wieder wurde Lisa von heftigen Schluchzern geschüttelt. Auch Robins Augen füllten sich mit Tränen, während sich ihr Herz vor Kummer zusammenzog.
Die beiden Mädchen knieten auf den Linoleumboden. Lisa bettete Patricks blonden Kopf in ihren Schoß. Zärtlich fuhr sie mit der Hand über seine Augen, schloss sie und strich ihm behutsam über Wangen und Haar. Robin hielt seine Hand. Du hast uns gerettet, dachte sie voller Inbrunst. Ich werde nie vergessen, was du getan hast. Ich werde dich nie vergessen. Niemals. Du wirst für immer ein Teil von mir sein. Beide saßen einen Moment lang schweigend da und hielten ihn. Lisa schien fast ruhig zu sein, streichelte verträumt sein Haar. Robin suchte ihren Blick. »Er würde es so wollen«, sagte sie. Lisa nickte. Robin sah auf Patricks Körper hinab und schluckte gegen den Schmerz in ihrem Inneren an. »Wir brauchen dich, Cowboy.«
Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte Cain gegen den pochenden Schmerz in seiner Schulter an und bückte sich, um die fünf Kerzen in jeder Ecke des Kreidepentagramms auf dem Boden anzuzünden. Die Qlippah sah aus Martins Körper zu und warf auf groteske Weise den Kopf an der Stuhllehne hin und her. »Vergiss den Engelstaub nicht«, höhnte es. »Du musst mich damit benetzen und dreimal die Hacken zusammenschlagen.« Cain stand auf und rang eine Welle der Benommenheit nieder, als der Schmerz ihn zu übermannen drohte. Sein Atem ging flach und langsam. Er schob die linke Hand in die Tasche seiner Jeans, um sein Feuerzeug hervorzuziehen, und trat an das Kaminsims, wo er die restlichen Kerzen anzündete. Die Qlippah sah ihm gierig durch Martins Augen zu. »Du glaubst doch diesen Schwachsinn gar nicht. Und wenn du nicht
gläubig bist, kannst du diese Rituale sowieso nicht durchführen. Das haben schon Bessere ausprobiert als du.« Cain schenkte dem höhnisch grinsenden Ding keine Beachtung. Er blieb vor einer der mitgebrachten Taschen stehen und zog den Ausdruck des Verbannungsrituals aus dem Internet heraus. »Das Verbannungsritual des Pentagramms« lautete der Titel. Die Qlippah starrte ins Feuer, worauf die Flammen unvermittelt aufflackerten und einen wilden Funkenregen auslösten. Erschrocken wich Cain zurück. Die Qlippah lächelte. »Bist du neuerdings Priester? Oder Rabbi? Ausgerechnet du, der sowieso an nichts glaubt? Der Sohn einer syphilitischen Hure, und das im wahrsten Sinn des Wortes.« Cain versteifte sich und ballte die Hände zu Fäusten. Wieder flackerte ein Lächeln auf Martins Gesicht auf. Ein hinterhältiger, boshafter Unterton schlich sich in die Stimme der Qlippah. »Würdest du gern wissen, wer dein Vater ist?«, lockte es. »Ich kann es dir sagen. Es ist nicht schön, aber dann wüsstest du es endlich.« Cain wandte sich der Kreatur zu. »Halt die Schnauze«, flüsterte er und ließ das Springmesser in seiner Hand aufklappen. Die Klinge schimmerte silbern im Schein des Kaminfeuers. Martins Gesicht verzog und wölbte sich, als bahne sich eine Schlange ihren Weg unter seiner Haut. Das Flüstern der Qlippah war wie ein animalisches Zischeln, nichts Menschliches. »Du wirst versagen. Du wirst versagen, weil du aus dem Dreck kommst. Aus dem Abschaum. Du bist nichts wert.« Sämtliche Farbe war aus Cains Gesicht gewichen. Seine Finger lösten sich vom Griff des Messers. Ein Poltern drang aus dem Treppenhaus.
Cain kam wieder zu sich, wirbelte herum und schwang das Messer. Wieder ertönte ein Poltern, dann noch einmal, gefolgt von einem leisen, schleifenden Geräusch, das sich dem Aufenthaltsraum näherte. Robin und Lisa erschienen in der Tür und zerrten Patricks Leiche über den polierten Holzboden. Beide Mädchen ächzten vor Anstrengung. Einen Augenblick lang spiegelte sich animalischer Zorn auf Martins Miene wider, dann bleckte die Qlippah die Zähne und grinste hinterlistig. »Ah. Gesellschaft. Daddys guter Junge.« Cain trat vor, um den Mädchen zu helfen, Patricks Leiche zum Tisch zu ziehen. Unter Mühen bückten sich die drei und hoben den leblosen Körper auf einen Stuhl, den Cain an einer Spitze des Kreidepentagramms gegenüber von Martins gefesselter Gestalt aufgestellt hatte. Schwer sank der Körper auf den Stuhl. Lisa legte die Arme um Patricks Oberkörper und hielt ihn von hinten fest, während Robin die Leine darum schlang, um ihn in einer sitzenden Position zu halten. Sie bemühte sich, nicht darüber nachzudenken, was sie da gerade tat, sondern sah zu Lisa hinüber, deren Gesicht blass, aber entschlossen war. Ihnen gegenüber wand sich die Qlippah in Martins Körper, so dass sich die Wäscheleine noch tiefer in sein Fleisch grub. »Kluge Kinder. Außergewöhnliche Kinder. Aber steht in eurem Do-it-yourself-Handbuch nicht, dass es nicht zählt, wenn er TOT IST?« Die letzten beiden Worte waren ein ohrenbetäubender Schrei. Sämtliche Fenster begannen zu klappern, als hätte eine ungebärdige Kraft das Gebäude erfasst.
Robin wich zurück, während Lisa neben ihr scharf den Atem einsog und sich mit weit aufgerissenen Augen umsah. Das unfassbar laute Rattern und Poltern ging weiter. Dann hörte es so jäh auf, dass sie nichts außer ihren eigenen Atemzügen vernahmen. Die Qlippah grinste und ließ die Zunge aus Martins Mund hängen. »Es zählt nicht, wenn er tot ist«, höhnte sie. Cain starrte die Gestalt grimmig an. »Das stimmt nicht. Es heißt nur, dass wir alle hier sein müssen.« Er sah zuerst Robin und Lisa an, dann wanderte sein Blick zu Patricks lebloser Gestalt. »Und genau das sind wir.« Er griff wieder nach dem Ausdruck, zögerte jedoch kurz und warf Robin einen fragenden Blick zu. Sie sah ihm in die Augen und formte lautlos JA mit den Lippen. Mit fast anmutiger Förmlichkeit nahmen Robin, Cain und Lisa ihre Plätze an den Spitzen des Pentagramms ein. Die Qlippah wand sich auf dem vierten Stuhl, während Patricks Leiche auf dem fünften festgebunden war. Robin starrte auf das Kreidepentagramm und verspürte trotz ihrer Anspannung einen Anflug von Erregung. Eine greifbare Energie ging von dem uralten Symbol aus – eine Aura der Kraft und der Unendlichkeit. Bei irgendjemandem hat es funktioniert, vor all den Jahren. Vielleicht funktioniert es auch bei uns. Cain sah auf den Ausdruck, den sie vom Schlüssel des Salomon gemacht hatten. »Als Erstes vermischen wir unser Blut.« Robin und Lisa wurden blass, als er das Messer hob, sich in die Handfläche schnitt, vortrat und das Blut in die Schale tropfen ließ, die er in die Mitte des Pentagramms auf dem Tisch gestellt hatte.
»Wieso vögeln wir nicht stattdessen einfach?«, schlug das Martin-Ding vor und zuckte rhythmisch mit dem Becken. »Das verbindet doch auch.« So ist also das Böse, dachte Robin. Dem Menschlichen so nah, doch eine Pervertierung alles Menschlichen. Jetzt verstehe ich endlich. Cain reichte Robin das Messer, dessen Schneide schimmerte… Sie packte es mit einer Hand und zog die Klinge durch ihre Handfläche. Der scharfe Schmerz überraschte sie fast. Nach allem, was ich hier erlebt habe, war ich nicht sicher, ob ich überhaupt noch etwas empfinden könnte, dachte sie. Sie hielt ihre Hand über die Schale, spürte das Pulsieren in der Wunde. Das Blut sickerte in die Schale, wo es sich mit Cains Blut mischte. Robin sah zu Lisa hinüber, fragte sich, wie sie damit umgehen würde, doch Lisa zögerte keine Sekunde, sondern trat vor und schnitt mit grimmiger Miene in ihre Handfläche, während sie Martin mit eisigem Blick anstarrte. Cain nahm ihr das Messer ab, schnitt in Patricks Handfläche und drückte die Wundränder zusammen, um das Blut herauszupressen. Als er sich Martin zuwandte, begann die Qlippah auf dem Stuhl zu toben und zu zetern. »Neeeiiin… bleib mir vom Leib, Abschaum…« Das Geschöpf gab ein tiefes, blindwütiges Brüllen von sich wie ein Ochse. Cain packte eine der Hände, die die Mädchen fest auf Martins Brust gebunden hatten, und schnitt hinein. Eilig trat Robin neben ihn, um die Blutstropfen in der Schale aufzufangen. Das Bellen der Qlippah schlug in lustvollen Singsang um. »Aaaahh… wie schön… tiefer… schneid mich…«
Cain wandte sich um und stellte die Schale mit dem Blut auf den Tisch zurück, ehe er zu seinem Platz auf dem Pentagramm zurückkehrte, dicht gefolgt von Robin und Lisa. »Wir sind im Namen des unerkennbaren Unbekannten zusammengekommen, um das unreine Ding aus dem Körper unseres Freundes Martin Seltzer zu verbannen«, las er mit klarer, kräftiger Stimme vor. Die Kerzen auf dem Kaminsims flackerten wie auf einem Altar. Cain legte die Fingerspitzen aneinander, berührte zuerst seine Stirn, dann seine Brust, dann seine rechte und schließlich seine linke Schulter, während er aus dem Buch vorlas, das Gesicht ernst wie das eines Priesters. »Ateh… Malkuth… ve Geburah… ve Gedulah…« Die Qlippah spuckte und wand sich auf ihrem Stuhl. »Dieses alberne jüdische Ritual hat dem armen Zachary und seinen armen kleinen Freunden doch auch nicht geholfen, oder?« Robin und Lisa sahen einander in die Augen, vollführten dieselben Bewegungen wie Cain und übertönten die Einwände der Qlippah. »Ateh… Malkuth… ve Geburah… ve Gedulah…« Die Qlippah begann in Martins Körper zu zucken und schrie: »Sie sind verbrannt… Sie haben geschrien, als sie verbrannt sind…« Cain sah der sich windenden Gestalt ins Gesicht und legte sich eine Hand auf die Brust. »Le-Olahm, Amen.« Verblüfft registrierte Robin die Kraft in seiner Stimme, während sie und Lisa sich ebenfalls die Hand auf die Brust legten und die Worte wiederholten. »Le-Olahm, Amen.« Wieder setzte das Klopfen ein, das von den Wänden und von der Zimmerdecke widerhallte. Gleichzeitig begann der Stuhl, auf dem Martin gefesselt war, bebend hin und her zu hüpfen.
Lisa verließ ihre Position an der Spitze des Pentagramms. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie im Raum umher, dessen Wände sich nach innen wölbten. Die Qlippah ließ ein widerliches Kichern hören. »Du bist die Nächste, Lisa. Ich komme aus dir. Ich komme zu dir, überall – « »Lisa!«, schrie Cain. Lisa wirbelte herum und starrte sie blicklos an. »Nein…« Sie stürzte auf die Tür des Aufenthaltsraumes zu, doch Robin machte einen Satz vorwärts und packte sie am Arm. Wild schlug Lisa um sich. »Ich kann nicht – wir können nicht… Es kann nicht funktionieren.« Robin schrie Lisa an, brüllte über das Hämmern und Pochen, über das Gelächter der Qlippah hinweg. »Lisa, denk nach. All das hier ist unmöglich, und trotzdem passiert es.« Einen Moment lang schien Lisa den Sinn der Worte zu erfassen. Ein listiger Ausdruck trat in Martins Augen, als die Qlippah erneut zum Vorschein kam und seine Züge verzerrte. »Willst du etwa sterben, um diese jämmerliche Hülle zu retten? Er hat dich betrogen. Er hat gewusst, was ich bin, und er hat dich benutzt, um mich zu rufen – « Lisa fuhr zusammen und sah zu Martins zuckendem Körper hinüber. »Er hat dich benutzt, und der Cowboy ist dafür gestorben«, spie er ihr entgegen. »Hör nicht auf das Ding. Es lügt.« Robin grub ihre Finger in Lisas Arm. »Wir müssen es glauben. Wir müssen es tun. Für Patrick. Für Martin.« »LISAAAA…«, bellte die Qlippah hinter ihnen. Lisa entwand sich Robins Griff mit einem gutturalen Laut, ehe sie sich der Qlippah zuwandte und sie anfunkelte. »Ich scheiß auf dich!« Steifbeinig kehrte sie zu ihrem Platz auf dem Pentagramm zurück, dicht gefolgt von Robin.
Cain trat zum Tisch und tauchte die Finger in die Schale mit dem Blut. Er wandte sich nach Osten und beschrieb ein Pentagramm in der Luft. Dann steckte er die Hände aus, die Handflächen nach oben gerichtet, ballte die Fäuste und riss abrupt die Arme auseinander, als ziehe er einen Vorhang auf. »Wir öffnen das Portal des Feuers!«, schrie er eindringlich. Mit einem lauten Zischen loderten die Flammen im Kamin auf. Robin und Lisa schnappten erschrocken nach Luft, während überall im Raum die Kerzen aufflammten. Selbst das Licht der Gaslampe erwachte zum Leben und schlug gegen das Glas. Martin saß auf seinem Stuhl und begann erneut, um sich zu spucken und unmenschliche, bellende Laute von sich zu geben. Draußen schnitt ein Blitz durch den Himmel und erhellte die Decken vor den Fenstern. Cain und Lisa standen in reglosem Staunen da, während Robin sich im Raum umsah. Sie spürte Cains Blick auf sich ruhen, der darauf wartete, dass sie fortfuhr. Sie zwang sich, ihre Erstarrung abzustreifen, sich zu bewegen. Schließlich trat sie vor und tauchte die Finger in die Schale mit dem Blut. Sie wandte sich nach Süden und beschrieb mit der Hand ein Pentagramm in der Luft. »Wir öffnen das Portal der Luft!«, rief sie. Sie streckte die Hände aus und verschränkte sie, ehe sie sie abrupt auseinander riss, als ziehe sie einen Vorhang auf. Ein heftiger Windstoß fegte durch den Raum, ein dröhnendes Rauschen in ihren Ohren… als wären den Elementen Tür und Tor geöffnet worden. Robin musste die Füße in den Boden stemmen und sich vorbeugen. Sie sah, dass Cain und Lisa dasselbe taten. Sie war benommen, fast taub von dem heulenden Wind.
Es funktioniert, dachte sie ungläubig. Wir bewirken etwas… Martin zuckte, wand sich und stöhnte vor Schmerz. »Lisa«, rief Cain über das Heulen des Windes hinweg. Lisa taumelte vorwärts, tauchte ihre Finger in die Schale und wandte sich nach Westen. Ihre Hand zitterte, als sie ein Pentagramm in der Luft beschrieb, doch ihre Stimme war fest und klar. »Wir öffnen das Portal des Wassers!«, schrie sie. Sie streckte die Arme aus und riss sie mit einem Ruck auseinander. Draußen erschütterte ein grollender Donner die Luft, und der Regen begann in Sturzbächen auf die Erde zu prassein. Wieder setzte das Hämmern ein, wurde immer stärker. Robin spürte, wie sie die Irrealität des Ganzen allmählich betäubte. Beinahe vergnügt schien sich ihre Seele von den Absonderlichkeiten um sie herum loszulösen. Wie aus weiter Ferne sah sie Lisas Gesicht, kalkweiß und zugleich abwesend, verwirrt. Es ist der Schock, dachte sie. Wir durchleben alle einen Schock. Robin zwang ihren Verstand, wieder in die Realität zurückzukehren. »Lisa! Leute!« Lisa sah sie erschrocken an. Auch Cain kehrte mit einem Ruck ins Hier und Jetzt zurück und warf Robin einen bewundernden Blick zu. »Los!« Er trat hinter Patricks Stuhl. Die beiden Mädchen folgten ihm, drehten Patricks Stuhl nach Norden und tauchten gemeinsam seine Finger in die Schale mit dem Blut. Dann legten ihm alle drei eine Hand auf die Schulter und beschrieben mit der anderen Hand in der Luft ein Pentagramm. »Wir öffnen das Portal der Erde!«, riefen sie wie aus einem Munde. In derselben Sekunde machten sie die Bewegung, als zögen sie einen Vorhang auseinander.
Unter ihnen begann die Erde zu beben und zu dröhnen wie bei einem Beben. Lisa musste einen Schrei unterdrücken und geriet ins Taumeln. Robin, die ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, streckte den Arm aus, um sie zu stützen. »Helft mir, ihn umzudrehen«, rief Cain über das Getöse hinweg. Er packte Patricks Stuhlrücken mit seinem gesunden Arm. Die Mädchen sprangen vor und zogen Patrick auf dem Stuhl zurück zum Tisch, während der Boden unter ihren Füßen zitterte und bebte. »Zurück auf eure Plätze«, schrie Cain, worauf die Mädchen wieder ihre Position an den Spitzen des Pentagramms einnahmen. Sie wandten sich Martin zu, der auf dem bebenden Boden um die Balance rang. Cain griff nach der Schale mit dem Blut und besprühte Martin mit den Überresten. Die Qlippah schrie vor Zorn. Über den donnernden Wind hinweg verfielen die drei in Singsang. »Wir verbannen dich mit Feuer. Wir verbannen dich mit Luft. Wir verbannen dich mit Wasser. Wir verbannen dich mit Erde.« Die Qlippah schrie. »Ihr werdet es nicht schaffen, mich loszuwerden. Ich bin aus dir gekommen, Robin. Du hast mich gerufen, und ich bin gekommen.« Robin zuckte zusammen, ohne ihren Sprechgesang zu unterbrechen, den Blick fest auf Martin im Schein des Kaminfeuers geheftet. »Wir verbannen dich mit Feuer. Wir verbannen dich mit Luft. Wir verbannen dich mit Wasser. Wir verbannen dich mit Erde.« Martins Blick bohrte sich in Robins Augen, wobei erneut die Qlippah zum Vorschein kam und seine Züge verzerrte. »Ihr
könnt mich nicht loswerden, weil ich du bin. Dein Neid. Dein Zorn. Dein Hass.« Robin sackte zusammen und starrte in die unergründliche Schwärze von Martins Augen. Die Qlippah lächelte. »Du hast sie gehasst. Du wolltest, dass sie tot ist. Ich mache sie tot. Ich bin du.« Robin schrie vor Qual und Schmerz. Ihr unvermitteltes Zögern ließ die drei rückwärts taumeln, hilflos gegen diese immense Kraft. Robin spürte, wie sämtliche Luft aus ihren Lungen gepresst wurde. Sie wurde hochgehoben, herumgeschleudert, dann folgten ein lautes Krachen und ein schneidender Schmerz. Die drei wurden mit voller Wucht nach hinten geworfen und fielen zu Boden. Robin lag vor der Fußleiste. Helle Lichter tanzten vor ihren Augen, ihr Schädel hämmerte von der Wucht des Aufpralls. Neben ihr lag Lisa und hielt sich den Arm, der in einem unnatürlichen Winkel von ihrer Schulter baumelte. Martin brach in wildes Gelächter aus, in der widerwärtigen Insektenstimme der Qlippah, während das Hämmern abermals einsetzte. Die Wände wölbten sich auf abstoßende Weise nach außen, wie pulsierendes Fleisch. Die Zimmerdecke über ihnen zerbarst. Weiße Flocken fielen herab. Wie hypnotisiert starrte Robin auf die pudrige Substanz, die auf ihren Arm rieselte. Es schneit, dachte sie in vager Ungläubigkeit. Das Dach muss eingefallen sein… es steht offen… Mühsam setzte Cain sich auf, packte Robin am Arm und zwang sie, ihn anzusehen. »Es funktioniert nicht«, schrie er über den ohrenbetäubenden Lärm hinweg. »Wir müssen aussteigen.« Grollender Donner erschütterte das Gebäude, das ein Ächzen von sich gab, als löse es sich aus seinem Fundament. Etwas Hartes begann, rings um sie herabzuregnen.
In ihrem benebelten Zustand sah Robin nach oben und registrierte, dass Putz und Steine von der Decke fielen. Sie wandte sich um und starrte über das Pentagramm hinweg zu Martin, der noch immer gefesselt auf seinem Stuhl saß und dessen Gesicht zu einer schadenfrohen Fratze verzogen war. Die Qlippah wand sich in seinem Körper, lachte sie aus, während um sie herum das Chaos tobte. »Ich bin du, ich bin du, ich bin du«, kreischte das Geschöpf. »Nein«, schrie Robin. Taumelnd kam Cain auf die Füße und machte einen Satz auf die Axt auf dem Boden zu. Er riss sie hoch und schwang die Klinge in Martins Richtung. Robin sprang ebenfalls auf und packte Cains Arm, wobei sich ihre Nägel in seinen Arm bohrten. »Nein. Warte – « Cain starrte in ihr aufgebrachtes Gesicht und ließ die Axt sinken. Sie trat auf die Qlippah zu. »Du lügst«, sagte sie mit rauer Stimme. »Ich habe Freunde. Ich habe Liebe. Ich habe ein Leben.« Licht. Ihr Verstand rief auf, was sie wusste. Die Qlippoth waren zerborsten, weil sie das Licht nicht hatten halten können. Sie konnten das Leben nicht halten. Licht. Liebe. Leben. Sie starrte die widerwärtige Kreatur auf dem Stuhl an. Martin lebte noch. Wenn sie sein innerstes Wesen erreichen konnten, es mit Liebe erfüllen… Sie packte Cain an der Hand. »Die Qlippoth sind zerborsten, weil sie das Licht nicht halten konnten.« Cain sah sie fragend an. Robin trat vor die Qlippah, stemmte sich gegen den Wind, der um sie herum tobte. »Martin«, sagte sie mit lauter Stimme. »Ich weiß, dass du da drin bist.«
Die Qlippah lachte gackernd. »Martin ist tot! Der Cowboy ist tot! Ihr werdet alle sterben!« Robin trat einen weiteren Schritt vor und zwang sich, in das irre, dämonische Gesicht zu sehen. »Ich weiß, dass du da drin bist, Martin. Komm zurück zu uns. Wir sind hier, warten auf dich… Wir sind hier.« Plötzlich war Cain neben ihr und starrte Martin eindringlich an. »Komm heraus, Martin. Komm zurück.« Lisa zuckte vor Schmerz zusammen, als sie auf die Knie kam. Sie trat neben Cain und Robin, hielt ihren nutzlosen Arm fest und rief über den tosenden Wind hinweg. »Bitte komm zurück, Martin…« Ohne es zu bemerken, riefen die drei wie aus einem Munde: »Martin!« Für den Bruchteil einer Sekunde erschien Martins Gesicht hinter der verzerrten Grimasse der Qlippah. Seine Augen, verzweifelt, unglücklich, starrten sie an. Robin fuhr zusammen, ehe sie ihm eindringlich zurief: »Martin. Es ist in dir. Martin. Es ist dein Körper. Schick es fort.« Cain fiel in ihre Rufe ein. »Schick es fort, Martin.« Lisas Augen glühten, als auch sie die Stimme erhob. »Schick es weg, verdammt noch mal!« »Schick es weg!«, schrien alle drei gleichzeitig. Mendenhall erbebte in seinen Grundfesten. Auf dem Stuhl vor ihnen zuckte Martin, wand sich, kämpfte mit Leib und Seele gegen den grausamen Geist in seinem Inneren an, ehe sich sein eigenes Gesicht aus der schlaffen Formlosigkeit der Qlippah löste. Seine eigenen Augen begegneten Robins Blick in verzweifeltem Flehen, und seine eigene Stimme rief: »Lasst… mich…«
Ein erbitterter Kampf entbrannte auf Martins Gesicht… Nerven und Muskeln zuckten und bebten, als die menschlichen Züge gegen das ungebändigte, tobende Böse aufbegehrten. In diesem Moment löste sich eine ungeheure Energie aus Martins Körper, unsichtbar und dennoch deutlich zu spüren. Robin erstarrte angesichts der unfassbaren Stärke, mit der das Etwas aus Martins Körper fuhr. Lisa stand neben ihr und starrte das Geschöpf wie gelähmt an. Die Energie zuckte durch die Luft, durch den Raum, rauschte durch die Flammen im Kamin, ließ die Fensterscheiben erzittern, bauschte die Vorhänge auf und riss alles um, was sich ihr in den Weg stellte. Robin klammerte sich an Cain, der Lisas Hand nahm. Gemeinsam standen sie da, hielten sich fest, während die Möbel um sie herum schwankten und zu Boden fielen. Über ihnen gab die Zimmerdecke ein tiefes Ächzen von sich. Lisa schrie, und Robin wusste nicht, ob sie dasselbe tat. Die Energie tobte weiter durch den Raum. Die Couch kippte um, Bücher wurden aus den Regalen gerissen und segelten mit flatternden Blättern zu Boden. Der Spiegel über dem Kamin zerbarst in tausend Stücke, die auf sie herabregneten. Inmitten des Tumults hörte Robin eine verängstigte Stimme. »Was passiert hier?« Sie fuhr herum. Martin saß mit weit aufgerissenen Augen auf dem Stuhl und starrte entsetzt das Chaos an, das um ihn herum tobte. Robin schnappte nach Luft. »Martin?« Er erwiderte ihren Blick. Verloren und klein. »Was passiert hier? Wo sind wir?« Seine Stimme klang heiser, doch der widerwärtige unmenschliche Tonfall war verschwunden. Robin starrte ihn an, wagte kaum zu hoffen. Kein Zeichen der irren, boshaften Freude der Qlippah.
Martins Blick fiel auf Patricks Leiche ihm gegenüber. »Oh mein Gott… was ist passiert?«, schrie er. Ein Dachbalken löste sich und fiel krachend zu Boden. Cain gelang es gerade noch rechtzeitig, zur Seite zu springen. Robin lief zu Martin und drückte seine Schultern. »Pass auf. Lass es nicht noch einmal in dich hinein.« Die Energie wirbelte noch immer durch den Raum, erfasste den Tisch, hob ihn hoch und schmetterte ihn an die Wand. Schreiend stemmten sich die vier gegen die Wucht der Erschütterung, während Patricks Leiche vom Boden hochgerissen wurde. Glasscherben flogen durch den Raum und regneten auf sie herab, als sämtliche Fensterscheiben zerbarsten, peitschender Regen hereingeweht wurde und Blitze am Himmel zuckten. Ein gutturales, unmenschliches Zorngeheul erfüllte den Raum. Die Energie wirbelte um sie herum, ließ das Kaminfeuer aufflackern, riss die Vorhänge aus den Schienen, wirbelte Blätter, Putzbrocken und die Möbel in einem Anfall ungebändigter Wut auf. Und dann war es mit einem Mal, als wäre der tosende Wirbelsturm ins Vakuum gesogen worden. Schlagartig war alles still. Eine ohrenbetäubende Stille, die in Robins Ohren dröhnte. Verblüfft sahen die vier sich um. Der Aufenthaltsraum lag in Schutt und Asche, überall um sie herum lagen zerbrochene Möbelstücke und Glasscherben. Die Vorhänge bauschten sich, als der Regen durch die zerborstenen Fenster in den Raum geweht wurde. »Ist… es vorbei?«, stieß Lisa kleinlaut hervor. Cain holte tief Luft. »Es ist weg… glaube ich…« Robins Herzschlag drohte auszusetzen, als Patrick neben ihnen die Augen aufschlug.
Die Leiche fuhr hoch und grinste wölfisch. »Habt ihr… mich… vermisst… Kinder«, krächzte die Stimme, während die toten, ausdruckslosen Augen auf sie gerichtet waren. Lisa starrte die Gestalt an. Ihr Gesicht war totenbleich. Patrick streckte die Zunge heraus und bewegte sie lockend hin und her. Entsetzt wich Lisa zurück. Patricks Stimme war schleppend, das Gesicht verzerrt, die Muskeln schlaff und grotesk, als die Qlippah versuchte, mithilfe der toten Stimmbänder die Laute zu bilden. »Großer… Junge… hätte… nichts dagegen…« Bebend wichen Lisa und Robin zurück. »Verbrennt ihn«, stieß Martin hinter ihnen hervor. Cain fuhr herum und starrte den noch immer gefesselten Martin auf dem Stuhl an. »Feuer. Wir müssen es austreiben.« Cains Miene versteinerte. »Schneidet Martin los, schnell.« Mit seiner gesunden Hand zog er das Taschenmesser aus seiner Hosentasche. Robin griff nach dem Messer und schnitt die Wäscheleine durch, dann half sie dem zitternden Martin, auf die Beine zu kommen. Die vier traten vor Patrick. Die Leiche zuckte spasmisch auf dem Stuhl, als die Qlippah versuchte, die leblosen Glieder zu bewegen. »NEIIIINN. NEEEINNNN«, schrie sie und zerrte heftig an den Fesseln. »Verbrennt die Leiche. Treiben wir es aus. Feuer ist reines Licht«, erklärte Martin mit lauter Stimme. »NEEIIIN!« Patricks Körper wand sich grotesk in seinen Fesseln, während sich der Stuhl unter ihm zu bewegen begann. Es war, als lege sich tiefe Dunkelheit um ihn. »Oh, Scheiße«, stieß Cain neben Robin hervor. Ungläubig beobachteten die drei, wie der Stuhl langsam in die Luft schwebte. »Verbrennt ihn! Los, tut es!«, schrie Martin.
Cain wirbelte herum, packte die Campinglampe, die inmitten des Durcheinanders lag, riss sie hoch und schleuderte sie auf Patrick, so dass sich das Petroleum über ihn ergoss und seine Kleider tränkte. Robin sah die Streichhölzer auf dem Kaminsims liegen und schnappte sie, zögerte jedoch einen Moment und sah Lisa an. Lisa trat vor, den Blick fest auf die sich windende Leiche gerichtet. Ihre Stimme war von tödlicher Entschlossenheit. »Bringt das Ding um!« Robin zündete ein Streichholz an und warf es in Patricks Richtung. »NEIIIN – LEBEN – LEBEN – NEEEINNN…«, bellte die Qlippah. Flammen explodierten rings um Patrick, leckten an seinen Kleidern, fraßen sich durch die Wäscheleine. Die Leiche kreischte auf und wand sich so ungestüm hin und her, dass sich der Brustkorb verformte; die Haare standen wild in der Luft. Mit einem Mal riss die Leine um Patricks Brust. Der Stuhl kippte um. Patricks Leiche kippte nach vorn, wobei seine leblosen Glieder wie bei einer Marionette mit durchtrennten Schnüren umherbaumelten. Flammen erfassten sein Haar und versengten sein totes Fleisch. Gelähmt vor Entsetzen sahen die vier zu, während sich die Wirklichkeit um sie herum aufzulösen begann – alles, was vom Aufenthaltsraum übrig geblieben war, schien körperlos zu werden, als befände sich nichts als Dunkelheit um sie herum, wirbelnde Formen im Wind. Robin schloss die Finger um den Davidstern in ihrer Tasche. Cain packte Robin beim Arm. »Raus hier – « Lisa und Martin waren bereits auf dem Weg zur Tür, während Robin noch immer den Metallstern umklammert hielt. Hilfe…
In diesem Augenblick sah sie ihn am anderen Ende des Raumes. Nur ein Schatten, körperlos, reglos im tosenden Chaos, stand er auf einer Spitze von Cains Pentagramm – der bleiche junge Mann aus dem Jahrbuch, aus ihren Träumen. Robin stand da und starrte wie gebannt auf die Erscheinung, während Zachary seinen unergründlichen Blick auf sie richtete und sich die Faust auf die Brust legte – die Geste aus dem Ritual. Cain zerrte sie heftig am Arm und schrie über das Getöse hinweg: »Robin! Jetzt!« »Zachary – «, stieß sie hervor. Cain starrte sie verständnislos an. Martin und Lisa standen im Türrahmen und warteten. Auch ihre Mienen waren ausdruckslos. Sie sehen es nicht. Robin sah wieder zu Zachary hinüber, der sich erneut die Faust auf die Brust presste. Robins Augen weiteten sich, als sie begriff. Sie drehte sich zu den anderen herum. »Wir müssen das Ritual beenden. Die anderen haben das Ritual nicht zu Ende geführt.« Martin, der sich zum Gehen gewandt hatte, blieb abrupt stehen, packte Lisas Hand und fuhr herum. »Ja!«, schrie er. Robin wandte sich zu der torkelnden, brennenden Leiche um und hob die Arme. »Wir schließen das Portal der Erde!« Sie machte eine Geste, als ziehe sie Vorhänge zu. Der brennende Leichnam stieß ein Heulen aus. »LEBEN. WARM. KÖRPER. BLUT. LEBEN.« Robins Augen brannten, und sie rang nach Atem, dennoch wandte sie sich zu Lisa um. Entsetzt starrte Lisa auf den brennenden Körper. »Wir schließen das Portal des Wassers!«, schrie sie. Sie hob die Arme und machte eine Bewegung, als ziehe sie Vorhänge zu. Die Leiche taumelte auf sie zu, die brennenden Arme erhoben. Als Lisa schreiend rückwärts stolperte,
umrundeten Cain und Robin die Leiche von der anderen Seite. Martin hob die Arme. »Wir schließen das Portal der Luft!«, schrie er. Die Leiche wandte sich von Lisa ab und fuhr zuckend zu Martin herum. »ATEM LEBEN KÖRPER GOTT BLUT VERDAMMT BLUT!« Cain hob die Arme. »Wir schließen das Portal des Feuers!«, schrie er. Die brennende Leiche stieß ein schauerliches Jaulen aus. »GOTT VERDAMMT VERDAMMT GOTT VERDAMMT DICH!« Die vier reichten einander die Hände. Und Patricks brennender Körper ging in Flammen auf. Die Wucht der Explosion ließ die vier rückwärts taumeln, während die Flammen durch den Raum züngelten. Cain, Robin, Lisa und Martin richteten sich auf und klopften sich Funken von den Kleidern. Über ihnen gingen die Dachbalken in Flammen auf, das Feuer fraß sich über die Wände und entzündete das trockene alte Holz der Vertäfelung und des Mobiliars. »Lauft!«, schrie Cain. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Robin zu Zacharys Geist hinüber, der noch immer an der Spitze des Pentagramms stand. Mit einem Mal schien die Zeit stillzustehen. Dann hob Zachary die Hand – ein letzter Gruß oder ein Segen. Tränen schossen ihr in die Augen, ehe sie sich abwandte. »Geht!«, rief sie den anderen über die Flammenhölle hinweg zu. Sie packte Martin am Arm und lief zur Tür, dicht gefolgt von Cain und Lisa. Die vier stürzten durch die Halle und auf die Eingangstür zu. Hinter ihnen ertönte zuerst ein Rauschen, dann ein knisterndes Dröhnen, als der Aufenthaltsraum vollends zum Inferno
wurde. Flammen züngelten bis in die Eingangshalle, so dass Robin die Hitze im Rücken spüren konnte. Cain stürzte vor zur Eingangstür, schob den Riegel zurück und riss sie auf. Die vier taumelten ins Freie, auf die Veranda, schlugen die Tür hinter sich zu und liefen die Stufen hinab. Wie von Sinnen stürzten sie davon, weg von dem brennenden Gebäude, hinaus in den Wald, in die Nacht. In Mendenhall begannen die Scheiben in der glühenden Hitze zu zerbersten. Die Flammen loderten ins Freie hinaus, glühten und tanzten in den oberen Stockwerken. Und innen ertönte ein letzter dämonischer Wutschrei, schwoll zu einem Crescendo an, ehe er fortgerissen wurde. In den Abgrund.
KAPITEL 32
Ash Hill Courier, 21. Dezember 2006: Die örtliche Polizei hat heute den Mord an Waverly Todd, Studentin der Betriebswirtschaftslehre am Baird College, einem psychisch gestörten Mitstudenten zugeschrieben. Der junge Mann, dessen Name bislang nicht veröffentlicht wurde, habe seine Kommilitonin ermordet, ehe er das Studentenwohnheim in Brand setzte, hieß es. Der Student kam in den Flammen ums Leben.
KAPITEL 33
Die standen inmitten der Eichen vor der Gedenkbank aus dem Jahr 1920 und sahen zu, wie Cain ein neues Bronzeschild unter den Namen von Zachary Prince und der vier anderen Studenten anbrachte. Behutsam legte Lisa einen Strauß Wiesenblumen auf die Bank; dann traten Cain und Robin nach vorne und legten ihr den Arm um die Schultern. Martin blieb im Hintergrund, bis Lisa ihn ansah und die Hand ausstreckte. Er trat neben sie. Die vier betrachteten die neue Bronzeplakette: IN MEMORIAM – PATRICK O’CONNOR
UNSER FREUND
EPILOG
Hinter dem Campus eines Colleges im Mittleren Westen ging die Sonne unter und tauchte die sanft geschwungenen Hügel in goldenes Licht. Studenten wandelten müßig auf den Pfaden zwischen den modernen Gebäuden. Im Aufenthaltsraum der Norton Residence Hall lümmelten einige Studenten herum. Sie sahen fern, spielten auf ihren Gameboys, lernten halbherzig. Einige hoben die Köpfe, als eine aufgeregte Stimme von den Einbauregalen herüberdrang. Ein Mädchen zog eine abgegriffene rechteckige Schachtel hervor und wandte sich an die anderen. »Hey, seht mal, was ich gefunden habe. Hat jemand Lust zu spielen?«