Charles Darwin gewidmet
Inhaltsverzeichnis Einleitung Kapitel 1 Leistung als Selektionskriterium Kapitel 2 Vom Körper ...
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Charles Darwin gewidmet
Inhaltsverzeichnis Einleitung Kapitel 1 Leistung als Selektionskriterium Kapitel 2 Vom Körper getrennte Organe Kapitel 3 Die Entstehung der Hyperzeller Kapitel 4 Baumaterial und Organbildung Kapitel 5 Unternehmen und Staaten
Kapitel 6 Effizienz und ihre Meßbarkeit Kapitel 7 Besonderheiten des Menschen Kapitel 8 Die Entfaltung der Leistungen und ihre Folgen Zusammenfassung und Schlußfolgerungen Dank und Nachwort Literaturverzeichnis Register
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(Originalbuchseite 9)
Einleitung
Bei Tauchexpeditionen in tropische Meere zur Erforschung der Korallenriffe und ihrer Bewohner machte ich verschiedene Beobachtungen, die mir als Biologen Vergleiche zu Vorgängen in der Großstadt, in der Wirtschaft und im Staat nahelegten. Es drängte sich mir die Frage auf, ob nicht manche grundlegende Ansicht über die Stellung des Menschen in der Evolution neu überdacht werden sollte, ob nicht am Ende die gesamte menschliche Entfaltung, so verschieden sie uns auch in jeder Hinsicht erscheinen mag, von ähnlichen oder sogar gleichen Grundgesetzen beherrscht wird wie die evolutionäre Entfaltung der Pflanzen und der Tiere. Ich fragte mich, ob die Organbildung, auf der die körperliche Leistungsfähigkeit sämtlicher Lebewesen beruht, von der Herstellung etwa von Werkzeugen, Waffen, Bauten und Maschinen beim Menschen wirklich so grundverschieden ist, wie der sinnfällige Eindruck es uns vermittelt. Und ich fragte mich auch, ob die uns angeborenen Triebe, deren Verwandtschaft mit jenen der Tiere kaum zu übersehen ist, nicht letztlich die Entwicklung unserer Technik, Wirtschaft und Kultur sehr wesentlich beeinflußt haben, ja weitgehend bestimmen. Aus diesen Beobachtungen und Überlegungen zog ich 1960 die Konsequenz, beendete meine Forschungstätigkeit im Meer und bemühte mich in den folgenden Jahrzehnten, Betriebs- und Volkswirtschaft, Politik und andere Bereiche menschlicher Aktivität und Organisation als integrale Bestandteile der Lebensentfaltung zu analysieren. In diesem Sinne wandte ich mich auch der vergleichenden Verhaltensforschung zu. Ich hoffe,
daß man diese biographischen (Originalbuchseite 10)
Einzelheiten entschuldigen wird. Sie sollen zeigen, daß meine Darlegungen nicht das Ergebnis übereilter Schlußfolgerungen sind. Da ich bei meinen meereskundlichen Forschungen Unterwasserkameras entwickelt und eine Reihe von Filmen hergestellt hatte, kam mir der Gedanke, ob nicht vielleicht auch hier eine besondere Filmtechnik helfen könnte. Ich konstruierte ein Spiegelobjektiv, das es mir ermöglichte, Menschen ohne ihr Wissen zu filmen, und veränderte gleichzeitig den normalen Zeitablauf durch Zeitraffung von zwei bis sechs Bildern pro Sekunde bei Übersichtsaufnahmen sowie durch Zeitlupe bei Nahaufnahmen. Diese Technik zwingt das Gehirn, auch alltägliche Szenen neu zu bewerten. Schon die ersten Aufnahmen bei Wien, auf Samoa und in Benares (1962) lieferten vielversprechende Ergebnisse. Daraufhin filmte ich, meist in Begleitung meines Freundes Irenäus Eibl-Eibesfeldt, in allen fünf Erdteilen menschliche Aktivitäten bei Naturvölkern, in Hochkulturen und in der Industriegesellschaft. Wie sich inzwischen gezeigt hat, bewährt sich die neue Methode auch als Werkzeug für humanethologische Forschung. Mir führten diese Aufnahmen noch besser vor Augen, wie der Mensch mit seinen künstlich hergestellten Geräten und Maschinen zu Einheiten verschmilzt, die neue spezialisierte Leistungen ermöglichen. Ein Besucher aus dem Weltraum, der aus einem Raumschiff die Lebensentfaltung auf unserem Planeten studierte, würde den Menschen sicher mit besonderem Interesse betrachten: Er ist das einzige Lebewesen, das die Leistungsfähigkeit seines Körpers fast beliebig durch Verwendung von Werkzeugen und sonstigen künstlich geschaffenen Behelfen steigern kann. Mit
ihrer Hilfe kann er sich schneller fortbewegen, (Originalbuchseite 11)
Ozeane überqueren, fliegen, andere Himmelskörper erreichen und vieles andere mehr, wozu sein »natürlicher« Körper zunächst nicht fähig ist. Bis Darwin betrachtete sich der Mensch als etwas von den übrigen Lebewesen Grundverschiedenes. Man hielt es außerdem für selbstverständlich, daß jede Art von Lebewesen eine eigene Schöpfung sei. Darwin wies dagegen nach, daß sämtliche Lebewesen, einschließlich des Menschen, miteinander verwandt sind und von gemeinsamen Vorfahren abstammen. Seine zunächst sehr umstrittene Deszendenztheorie wurde von den nachfolgenden Forschergenerationen durch ein überwältigendes Beweismaterial bestätigt. Nach heutigem Forschungsstand nahm die Entwicklung des Lebens vor etwa vier Milliarden Jahren in seichten Meeresgebieten ihren Anfang. Aus Strukturen von molekularer Größe entwickelten sich zunächst die Einzeller, dann, vor etwa 1,8 Milliarden Jahren, aus Einzellern die Vielzeller. In immer größeren, höher organisierten Formen besiedelten sie die Meere und die sonstigen Gewässer. Erst vor etwa 400 Millionen Jahren gelang es ersten Organismen – zuerst Pflanzen, dann Tieren –, das trockene Land zu erobern. In immer neuen Arten breitete sich nun das Leben auch über die Kontinente aus. Der Mensch ging aus dem großen Kreis der Wirbeltiere hervor, und wird bisher als Art innerhalb der Ordnung der Primaten (Herrentiere) eingestuft. Seine Überlegenheit den übrigen Lebewesen gegenüber verdankt er seinem besonders hoch entwickelten Gehirn. Aufgrund gesteigerter geistiger Fähigkeiten vermag er seine Leistungsfähigkeit durch künstliche Hilfsmittel zu verbessern. Zunächst waren es Waffen und Werkzeuge. Da sie vom Körper getrennt sind und nicht aus lebenden Zellen bestehen,
betrachtet sie der Mensch als etwas, das von den Organen seines (Originalbuchseite 12)
Körpers grundverschieden ist. Kaum jemand hat bis heute daran Zweifel geäußert. Nun ist es aber so, daß sich im Konkurrenzkampf der Lebewesen ganz automatisch jene durchsetzen, welche die bestgeeigneten Leistungen erbringen. Darwin bezeichnete diesen geradezu zwangsläufigen Vorgang als »natürliche Auslese«. Arten mit leistungsfähigeren Organen verdrängen ihre Konkurrenten. Alle Organe der vielzelligen Lebewesen sind aus Zellen aufgebaut. Die vom Menschen künstlich hergestellten Hilfsmittel sind insofern »zusätzliche Organe«, als sie ebenfalls unseren Körper in seiner Leistungsfähigkeit steigern, ja ihm zu völlig neuen Fähigkeiten verhelfen können. Das Wort »Organ« wurde von der altgriechischen Bezeichnung für Werkzeug, »organon«, abgeleitet, was bereits seit Anbeginn wissenschaftlichen Denkens auf eine enge Verwandtschaft zwischen den aus Zellen bestehenden Organen und den von unserem Körper zusätzlich gebildeten hinweist. Zwischen einer Axt und einer Lunge besteht äußerlich zweifellos ein sehr großer Unterschied – ebenso zwischen einem Kochtopf und den roten Blutkörperchen. Ob jedoch Einheiten, die für unsere Lebensfähigkeit notwendig sind oder gar diese noch steigern, von Einzelzellen, von aus Zellen gebildeten Organen oder von Einheiten, die der Körper zusätzlich aus Umweltmaterial bildet, erbracht werden, ist von untergeordneter Bedeutung. Was zählt, ist die gesamte Leistungskraft, über die ein Lebewesen – und ein solches ist eben auch der Mensch – verfügt. Diese allein entscheidet darüber, ob Individuen und Arten sich durchsetzen können, ob es zu einer Vervielfältigung ihrer raumzeitlichen Struktur kommt.
Beim Übergang von Einzellern zu Vielzellern gingen lebenswichtige Leistungen von Zellorganen (Organellen) auf vielzellige Organe über. Meine hier vor(Originalbuchseite 13)
gelegte Theorie besagt, daß sich durch den Menschen und seine geistigen Fähigkeiten ein zweites Mal Leistungen auf noch effektivere Organe verlagern. Ein gutes Beispiel dafür ist etwa der Wurfspeer, durch den der Urmensch den Tieren überlegen wurde. Im Konkurrenzkampf der Menschen untereinander hatten ebenfalls jene einen entscheidenden Vorteil, die über die leistungsfähigsten zusätzlichen Organe verfügten. Die Leistungseinheit von Mensch und den ihm dienenden Hilfsmitteln nenne ich »Hyperzeller«. Ich behaupte, daß nicht der nackte Mensch, sondern diese größere und leistungsfähigere Einheit die evolutionäre Entfaltung der Einzeller und der Vielzeller fortsetzt. So gesehen ist der Mensch keineswegs der derzeitige Höhepunkt der Lebensentwicklung, sondern eine weitere Keimzelle, die noch mächtigere Arten von Lebenskörpern bildet. In ihren immer größeren Gefügen wird er zu einem immer kleineren, auswechselbaren Organ. Darwins Deszendenztheorie erklärte die Vorgeschichte, die zur Entstehung des Menschen führte. Die Theorie der Hyperzeller schließt unmittelbar an sie an und befaßt sich mit dem Evolutionsverlauf über den Menschen hinaus. So, wie vor rund 1,8 Milliarden Jahren einige Einzeller die ungeheure Entfaltung vielzelliger Pflanzen und Tiere einleiteten, so kam es, vom Urmenschen ausgehend, zu einer weiteren, nicht minder gewaltigen Entwicklung neuer Lebensformen, nämlich jener der Hyperzeller. Ihre zusätzlichen Organe werden alle vom Menschen gebildet – so, wie bis heute alle Organe der vielzelligen Tiere und Pflanzen aus einer Einzelzelle (der Keimzelle) entstehen. Ich versuche in diesem Buch darzulegen, wie kontinuierlich der
Übergang zu den Hyperzellern erfolgte und wie trotz des veränderten Erscheinungsbildes die gleichen Grundgesetze auch für sie maßgebend blei(Originalbuchseite 14)
ben. Für die Beurteilung des Menschen ergeben sich aus dieser neuen Sicht interessante Schlußfolgerungen. Darwins Theorie diente der Wahrheitsfindung, hat jedoch am Lauf der Geschichte wenig verändert. Bei der Theorie der Hyperzeller könnte es ähnlich sein. Immerhin stellen uns heute der immer schnellere technische Fortschritt, die Bevölkerungsexplosion und das sich ebenfalls steigernde Wirtschaftswachstum vor gänzlich neue Probleme und Gefahren. Zu deren Bewältigung könnte vielleicht der evolutionäre Überblick über das Gesamtgeschehen von Nutzen sein.
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(Originalbuchseite 15)
1 Leistung als Selektionskriterium
Da die Theorie der Hyperzeller unmittelbar an die Abstammungslehre Darwins anknüpft und sich im besonderen auf sein Konzept der natürlichen Auslese stützt, möchte ich zuallererst einige der wichtigsten Gedanken dieses bahnbrechenden Forschers in Erinnerung rufen. In seinem 1859 veröffentlichten Werk Über die Entstehung der Arten gründete er seine Behauptung, daß alle Lebewesen einschließlich des Menschen von gemeinsamen Urvorfahren abstammen, auf drei Prämissen, die er durch eine beeindruckende Zahl von Beobachtungen und Forschungsergebnissen untermauerte. Manche seiner Argumente und Schlußfolgerungen mögen heute naheliegend, ja sogar selbstverständlich erscheinen, doch sie waren es damals keineswegs. Wie der deutsche Naturforscher Ernst Haeckel, ein besonders tatkräftiger Verfechter der neuen Lehre, hervorhob, sind von alters her überkommene Vorstellungen von außerordentlicher Macht. Nach der damals allgemein herrschenden Überzeugung waren die verschiedenen Arten von Pflanzen und Tieren Einzelschöpfungen, die nach religiösen Ansichten Götter in die Welt gesetzt hatten – oder nach jener von Aristoteles eine zielhafte Kraft, die er »Entelechie« nannte. Darwins erste Prämisse war die Behauptung, daß sowohl bei Pflanzen als auch bei Tieren bei der Fortpflanzung auch Nachkommen entstehen, die sich durch erbliche Merkmale von der Norm unterscheiden. Dies war den Tier- und Pflanzenzüchtern, auf deren Erfahrungen sich Darwin überzeugend stützen konnte, bestens bekannt.
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Darwins zweite Behauptung, die sich nicht minder leicht beweisen ließ, besagte, daß sowohl Pflanzen als auch Tiere, wenn sie in günstige Lebensbedingungen gelangen, weit mehr Nachkommen hervorbringen, als das betreffende Gebiet ernähren kann. Insekten produzieren oft Tausende, ja viele Zehntausende von Nachkommen, Fische im Lauf ihres Lebens nicht selten Hunderttausende, ja Millionen. Die logische Folge ist, daß nicht alle Nachkommen überleben können. Sie fallen Raubfeinden zum Opfer oder gehen durch sonstige Umwelteinwirkungen zugrunde. In einem durchaus allgegenwärtigen und sehr harten »Kampf ums Dasein« können sich somit nur die Bestgeeigneten durchsetzen und zur Fortpflanzung gelangen – »the fittest«, wie sich im Englischen so treffend formulieren ließ. Der Kampf ums Dasein (»struggle for existence«) darf, wie Darwin ausdrücklich hervorhob, nicht allzu wörtlich genommen werden. Der jeweilige Feind sei durchaus nicht immer ein Lebewesen und auch keineswegs stets in konkreter körperlicher Auseinandersetzung wirksam. Hitze und Kälte können Nachkommen ebenso vernichten wie Wellenschlag, Lichtmangel und viele andere widrige Umstände. Ein höchst fataler Feind, so legte Darwin unmißverständlich dar, sind kurioserweise die Artgenossen. Sie haben es ja auf die gleichen Nahrungsquellen abgesehen und sind den gleichen Umweltbedingungen angepaßt. Könnten alle Nachkommen einer Art überleben, so argumentierte er, dann könnte der Planet Erde sie bald nicht mehr beherbergen. Nur ein winziger Bruchteil könne sich durchsetzen – und zwar im Durchschnitt pro Elternpaar nicht mehr als zwei. Denn überall zeigten ihm seine sorgfältigen Studien, daß die Zahl der Individuen einer Art in einer bestimmten Gegend ziemlich konstant ist. Entstehen leistungsfähigere Arten, die andere verdrängen, dann
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können sie sich für einige Zeit vermehren. Doch dann stoßen sie wieder an natürliche Grenzen und müssen sich in die Gegebenheiten ihrer jeweiligen Umwelt einfügen. Und somit – dritte Behauptung – kommt es zu einer »natürlichen Auslese« der jeweils für einen bestimmten Lebensraum bestgeeigneten Arten. Aufgrund der Variabilität der Individuen passen sie sich fortwährend in kleinen Schritten den Umweltbedingungen besser an. Die adaptive Verbesserung der Pflanzen und der Tiere, die Verdrängung weniger geeigneter Arten durch ihnen überlegene, ist somit keineswegs das Ergebnis bewußter Willensakte übersinnlicher Kräfte. Diese Höherentwicklung ist ein zwar langsamer, jedoch durchaus gesetzmäßiger Vorgang. Je genauer sich Darwin im einzelnen mit dieser Verknüpfung von Ursachen und Auswirkungen befaßte, um so mehr mußte er einsehen, daß es nur in seltenen Fällen, wenn überhaupt, möglich ist, genaue Gründe dafür anzugeben, was Individuen einer Art jenen von anderen – oder solchen der eigenen Art – in diesem Kampf um Lebensraum, Nahrung, gegen Raubfeinde und Naturgewalten überlegen macht. Die natürliche Auslese bewirkt so ganz von selbst, daß sich die Lebewesen immer besser den Umweltbedingungen anpassen, sich neue Lebensmöglichkeiten erobern, neue Nischen erschließen, sich so in differenzierte Arten aufspalten, vom Meer ans Land, ja sogar in die Luft übersiedelten und die erstaunlichsten Spezialisten (nicht zuletzt die Parasiten von anderen Lebewesen) hervorbrachten. Die gestaltende Kraft bei diesem Vorgang, der sich über außerordentlich lange Zeitspannen fortgesetzt hatte, war somit kein gezielter Wille, ja konnte es kaum sein. Denn was immer auch ein Schöpfer schuf: Änderte er nicht auch die gegebenen Naturgesetze
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oder die lokalen Verhältnisse, dann konnte er gar nicht darauf Einfluß nehmen, was sich durchsetzte und was nicht. Darwin selbst sprach das nicht explizit aus, doch ergibt sich dieser Schluß zwangsläufig. Gestalter der so zahlreichen verschiedenen Arten war somit eine »natürliche Auslese des jeweils Bestgeeigneten« (eine »natural selection«). Und hier machte Darwin in aller Deutlichkeit klar, wie komplex die Wechselwirkungen waren, aus denen sich diese Auslese schließlich ergab, wie praktisch unmöglich, sie in Zahl und Wort zu fixieren. In den letzten Jahrzehnten wurde in der Wirtschaft als besonderes Novum hervorgehoben, wie »vernetzt« die Vorgänge sind, die hier schließlich zum Erfolg führen, wie naiv die bisherige Gepflogenheit »linearen Denkens« ist. Auf ebendiese Vernetztheit im Bereich der Lebensgemeinschaften, also im Naturbereich, wies bereits Darwin anhand zahlreicher Beispiele in aller Eindringlichkeit hin. Er hielt es für beinahe aussichtslos, in einem natürlichen Biotop festzustellen, wodurch eine Pflanzenart der anderen überlegen wurde oder aufgrund welcher Eigenschaften eine Tierart eine andere allmählich verdrängte. Auf einer vom Menschen kaum berührten unfruchtbaren Heide in Staffonshire stieß er auf ein »einige Morgen großes Stück, das vor 25 Jahren eingezäunt und mit einigen Kiefern bepflanzt worden war«. Er staunte über den Unterschied der Vegetation in dem eingezäunten Stück gegenüber der übrigen Heide, der größer war, »als man gewöhnlich wahrnimmt, wenn man von einem Boden auf einen ganz verschiedenen übergeht«. Nicht nur war hier das Zahlenverhältnis der Heidepflanzen gänzlich verändert, sondern es gediehen in dem eingezäunten Stück noch weitere zwölf Arten (Ried- und andere Gräser nicht mitgerechnet), von denen auf
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der Heide nichts zu finden war. Die Auswirkung auf die hier festzustellende Insektenvielfalt war so groß, daß er in diesem Stück sechs Arten insektenfressender Vögel beobachtete, die er in der umgebenden Heide nirgends sah, während dort wieder drei andere Arten lebten. Darwin stellte hier fest, wie bedeutsam sich die Einführung einer einzigen Baumart ausgewirkt hatte, »wo sonst durchaus nichts geschehen war, außer der Abhaltung des Viehs durch die Einfriedung«. Als weitere Beobachtung führte Darwin an, wie etwa in Mittelamerika, wenn ein Wald abgeholzt wird, eine ganz andere Pflanzenwelt zum Vorschein kommt. Er schrieb: »Und doch ist beobachtet worden, daß die Bäume, die jetzt auf den alten Indianerruinen wachsen, deren früherer Baumbestand also abgeholzt worden sein mußte, jetzt wieder ebendieselbe Mannigfaltigkeit und dasselbe Artenverhältnis wie die umgebenden unberührten Wälder darbieten. Welcher Kampf muß hier jahrhundertelang zwischen den verschiedenen Baumarten stattgefunden haben, deren jede ihre Samen jährlich zu Tausenden abwirft! Was für ein Krieg zwischen Insekten und Insekten, zwischen Insekten, Schnecken und anderen Tieren mit Vögeln und Raubtieren, welche alle sich zu vermehren strebten, alle sich voneinander oder von den Bäumen oder ihren Samen und Sämlingen oder von jenen anderer Pflanzen nährten, welche anfänglich den Grund überzogen und hierdurch das Aufkommen der Bäume gehindert hatten.« Und er fügte hinzu: »Wirft man eine Handvoll Federn in die Luft, so müssen sie alle nach bestimmten Gesetzen zu Boden fallen; aber wie einfach ist das Problem, wohin eine jede fallen wird, im Vergleich zu der Wirkung und Rückwirkung der zahlreichen Pflanzen und Tiere, die im Laufe von Jahrhunderten Arten- und Zahlenverhält(Originalbuchseite 20)
nis der Bäume bestimmt haben, welche jetzt auf den alten indianischen Ruinen wachsen!« Seit Darwins wegweisender Schrift hat die Biologie eminente Fortschritte gemacht. Mit immer besseren technischen Hilfsmitteln gelang es, bis in den Molekularbereich der Strukturen des Lebens vorzudringen, wobei die Entdeckung und teilweise Entzifferung des genetischen Kodes der Höhepunkt in der Erforschung der Urbausteine des Lebens ist. Auch was die Ursachen des Evolutionsverlaufs betrifft, wurden wichtige neue Zusammenhänge erkannt: die von Gregor Mendel entdeckten Gesetze der Vererbung, die Mechanik der Mutationen, die Rekombination der Erbfaktoren durch den sexuellen Vorgang, die Definition der Art als Genpool, die Auswirkung von Populationsgröße, von Isolation, genetischer Drift und von weiteren die Anpassungsvorgänge und die Artenbildung begünstigenden oder einschränkenden Faktoren. Der Selektionsvorgang und die durch ihn erklärbare Zweckmäßigkeit in der Natur sind für den heutigen Biologen schlichtweg Tatsachen. Für metaphysische Schöpfungsakte gibt es in der Evolution der Pflanzen und der Tiere keinerlei Anhaltspunkte. Wunder sind hier nirgends beobachtet worden. Vielmehr gibt es genug Beispiele dafür, daß Fortschritte oft nur über sehr erstaunliche Umwege zustande kamen, während eine richtunggebende »hilfreiche Hand« dies weit schneller und effizienter zustande gebracht hätte. Ich habe bereits in einer früheren Schrift darauf verwiesen, und wir werden auf Beispiele dafür noch zurückkommen. Seit Darwin hat sich auch kaum etwas an der Schwierigkeit geändert, in der Praxis festzustellen, welche Strukturmerkmale und Eigenschaften eine Art der anderen überlegen machen, so daß sie diese allmählich verdrängt. Im Gegenteil: Der vielseitige
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Fortschritt in der Biologie führt zwangsläufig zu einer Aufsplitterung in eine immer größere Zahl von Fachrichtungen, was keineswegs dazu angetan ist, den Gesamtüberblick über das Lebensgeschehen zu erleichtern.
Die Intransparenz der natürlichen Auslese Wer sich an die Frage heranwagt, wie die natürliche Auslese die Artenbildung beeinflußt, an welchen Struktur- und Verhaltensmerkmalen sie ansetzt, der kann noch am ehesten bei solchen Arten zu einer Antwort kommen, die sich dem Leben in Extremräumen angepaßt haben. Wo es etwa besonders heiß, besonders kalt oder besonders trocken oder wo es extrem schwierig ist, an eine reiche Nahrungsquelle heranzukommen (wie etwa bei Endoparasiten), dort hat man einen klaren Anhaltspunkt dafür, welche neue Eigenschaft oder Fähigkeit sich als maßgebender Selektionsvorteil erweist und sich dann in kleinen Schritten immer mehr verstärken konnte. Bei Bakterien, die Temperaturen von –80° Celsius ertragen (sicher ein bedeutender Selektionsvorteil in polaren Gebieten), sind die morphologischen und physiologischen Leistungen, die das ermöglichen, bereits weitgehend analysiert. Von der Wüstenratte Dipodomys merriami, die extreme Trockenheit übersteht und deshalb Konkurrenten in manchen Gebieten überlegen ist, weiß man heute, daß sie durch hohe Produktion eines Hormons in der Hypophyse zu einer extremen Rückgewinnung von Wasser aus dem Harn befähigt ist. Bei der Larve des Ölkäfers Meloe, die auf Blüten hochklettert, sich am Pelz dort landender Bienen festklammert und von diesen in ihr Nest eingetragen wird (wo sie dann deren Larven und Vorräte verzehrt), (Originalbuchseite 22)
kann man zumindest rückschließen, welche ethologischen und morphologischen Anpassungen für diese »Fitneß« erforderlich waren, die dazu führte, daß die natürliche Auslese diesem Käfer aufgrund solcher Spezialanpassungen seiner Larve gleichsam grünes Licht für seine Weiterentwicklung gegeben hat. Zur generellen Beantwortung der Frage, wie die natürliche Auslese im einzelnen wirkt, sind jedoch solche Resultate nur von beschränkter Bedeutung. Denn naturgemäß vollzog sich die Lebensentwicklung in erster Linie in lebensgünstigen Regionen. Dort aber ist das Wirkungsgeflecht der Beziehungen zwischen den Arten meist so komplex, daß – wie Darwin durch sein Beispiel mit den in die Luft geworfenen Federn anschaulich hervorhob – eine Analyse der relevanten Faktoren kaum möglich, wenn nicht sogar praktisch undurchführbar ist. Dazu kommen aber noch weitere wesentliche Schwierigkeiten. Häufig üben Organe mehr als nur eine Funktion aus. Dann können mutative Veränderungen, die bei einer Funktion zu Verbesserungen führen, gleichzeitig andere beeinträchtigen. Die Lunge der Wirbeltiere ist dafür ein Beispiel. Zu ihrer primären Funktion des Gasaustausches kam die sekundäre hinzu, den für Lautäußerungen notwendigen Luftstrom zu liefern. Beim Menschen führt das letztendlich dazu, daß er nicht gleichzeitig essen und sprechen kann. In diesem Fall ist der Nachteil so geringfügig, daß er die evolutionäre Entwicklung nicht bremste. In anderen Fällen ist es jedoch fraglich, ob funktionelle Fortschritte nicht durch Nachteile, die sie an ganz anderer Stelle verursachen, aufgewogen werden. Auf diese Thematik der mehrfachen Funktion von Organen (Funktionerweiterung) und ihre Folgen kommen wir in Kapitel 6 ausführlicher zurück. Sodann müssen bei vielen Funktionen zahlreiche (Originalbuchseite 23)
Organe zusammenwirken. Für den Blutkreislauf bei den Wirbeltieren sind die Verzweigungen der Kapillaren und der Gefäßverlauf im Körper nicht minder wichtig als das Herz, das diesen Kreislauf antreibt, und die Automatiezentren, die den Takt des Herzschlags je nach Anforderung steuern. Verbesserungen sind hier an sehr vielen Punkten möglich. Ebenso ist für die erfolgreiche Fortpflanzung des Kirschbaums die Innenstruktur der Blüten nicht weniger von Bedeutung als die Beschaffenheit des Kirschkerns, dessen harte Schale verhindert, daß die Verdauungssekrete des Vogels, der den Kern in seinem Magen transportiert, den darin enthaltenen Keimling zerstören. Fast bei jeder neuen Funktion gibt es komplexe Korrelationen, die den Selektionswert von Mutationen ebenfalls beeinflussen können. Bei allen zur aktiven Bewegung fähigen Tieren hängt die Effizienz der Fortbewegungsorgane wesentlich von jener der sie steuernden Strukturen ab und umgekehrt. Nun wird das Verhältnis zwischen Körper und Verhalten bis heute häufig so dargestellt, als wäre die Zeitstruktur des Verhaltens von der Raumstruktur der Organe grundsätzlich verschieden. Das ist zwar plausibel, aber nur zur Hälfte richtig. Denn jede angeborene Verhaltensweise beruht auf Steuerungen, die ganz ebenso materielle Gefüge sind wie jedes Organ. Sie sind bloß um ein Vielfaches kleiner: unter Umständen »Schaltnetze« im molekularen Bereich. Das aber bedeutet, daß Mutationen, welche die mechanischen Steuerungsmechanismen betreffen – sowohl ihre »Hardware« als auch ihre »Software«, um diese Begriffe der Computertechnik zu übernehmen –, ebenso wichtig sein können wie solche bei den ausführenden Organen. Wie der Evolutionsforscher Ernst Mayr und der Philosoph Karl Popper hervorhoben, können erbliche Verhaltensänderungen der (Originalbuchseite 24)
Ausgangspunkt für die Evolution morphologischer Strukturen sein (Schrittmacherprinzip, Speerspitzentheorie). Das ist eine zweifellos wichtige Einsicht, die durch zahlreiche Fakten bestätigt wird. Doch gibt es nicht minder viele Beispiele für den entgegengesetzten Zusammenhang, daß nämlich die Verbesserung eines ausführenden Organes zum Ausgangspunkt einer großen Zahl neuer, immer perfekterer Verhaltenssteuerungen werden kann. Die menschliche Hand mit dem opponierenden Daumen, die wir der kletternden Lebensweise unserer tierischen Vorfahren verdanken, zeigt dies deutlich. Schon Affen vermögen mit diesem perfekten Greiforgan zahlreiche für sie nützliche Tätigkeiten auszuführen (Augenwinkel und Nase reinigen, Flöhe suchen, Früchte pflücken usw.). Beim weit intelligenteren Menschen wurde die Zahl der Funktionen, deren Steuerungen durch Lernvorgänge im Gehirn aufgebaut werden (besonders im Berufsleben), geradezu Legion. Eine weitere Schwierigkeit bei der Beurteilung der natürlichen Auslese ergibt sich, zumindest in der deutschen Sprache, aus der Abgrenzung der Begriffe »Funktion« und »Leistung«. Oft werden sie synonym gebraucht, indem eine »gute Funktion« gleichzeitig auch eine »gute Leistung« bedeutet. Wie wenig dies bei der Evolution der Organismen zutrifft, zeigt sich, wenn Umweltbedingungen sich verändern oder Arten neue Nischen erschließen. Verlieren in der Folge Organe an Bedeutung, so kann sich ihre Funktionsfähigkeit noch lange erhalten, um so mehr, als Rückbildungsvorgänge äußerst langsam erfolgen. Sie erbringen dann jedoch keine vom Lebewesen benötigte Leistung mehr, ja können zur genetischen Bürde, zum Selektionsnachteil werden. Andererseits können die Rudimente zurückgebildeter Organe, die keinerlei Funktion mehr erbringen, sehr wohl zum Ausgangs(Originalbuchseite 25)
punkt neuer Leistungen werden. Beim Übergang der Wirbeltiere
zum Landleben wurden deren Kiemen funktionslos und allmählich zurückgebildet. Das primäre Kiefergelenk wurde durch ein neues ersetzt und verlor so ebenfalls seine Bedeutung. In der Embryonalentwicklung der Wirbeltiere werden diese längst nicht mehr gebrauchten Organe immer noch angelegt, und es ist erwiesen, daß aus ihren Rudimenten völlig andere Organe von hoher Leistungsfähigkeit entstanden sind. Aus dem dorsalen Teil des ersten Kiemenbogens entstand das als Steigbügel bezeichnete Gehörknöchelchen und aus den Rudimenten des primären Kiefergelenks die beiden weiteren: Hammer und Amboß. So kann funktionslos gewordene Struktur neue Leistungen erbringen und einen hohen Selektionswert gewinnen. Die natürliche Auslese ändert dann gleichsam ihr Votum.
Die Bedeutung des konkreten Erfolges Bei meiner Forschungstätigkeit in Korallenriffen wurde ich auf einen Zusammenhang aufmerksam, der an sich seit langem bekannt ist, jedoch meines Wissens noch nie zum besseren Verständnis der natürlichen Auslese und ihrer Wirkungsweise herangezogen wurde. Besonders kleinere Riffe, die man als frei schwimmender Taucher von allen Seiten her gut studieren kann, sind ein weit besser zu überschauender Biotop als etwa ein Wald, eine Wiese oder ein Fluß. Ich konnte hier auf engem Raum bei kleinen und mittelgroßen Fischarten sehr verschiedene Verfahren zur Abwehr größerer Raubfische studieren. Manche Arten hatten an verschiedenen Körperstellen Stacheln ausgebildet, einige sogar mit Giftdrüsen. (Originalbuchseite 26)
Das Verhalten größerer Raubfische zeigte deutlich, daß sie
deswegen von diesen gemieden wurden. Bei anderen hatte sich eine Verhaltenssteuerung entwickelt, die sie befähigte, bei Annäherung eines Feindes durch eine blitzschnelle Bewegung im Sandboden zwischen den Riffen zu verschwinden, und zwar so geschickt, daß nach Absinken des aufgewirbelten Sandes keinerlei Kontur oder Aufwölbung verriet, wohin sie verschwunden waren. Eine wieder andere Methode der Abwehr zeigten Fischarten, deren Musterung und Färbung jenen des Grundes oder der Korallen so glichen, daß sie dort praktisch nicht zu erkennen waren. Bei Gefahr suchten sie solche sie schützenden Plätze auf. Schollen – wie auch zehnarmige Tintenfische – hatten diese Abwehr noch insofern verbessert, als sie Färbung und Musterung ihrer Haut auf das täuschendste verschiedenen Böden und Korallenstrukturen anpassen können. Eine Scholle, die halb auf hellem Sand und halb auf geflecktem Geröll lag, war säuberlich auf der einen Hälfte sandfarben und auf der anderen Hälfte gefleckt. Bei den mich besonders interessierenden Haien sah ich, wie Schiffshalter (Echeneis) diese großen Räuber zu ihrem Schutzschild machen. Sie schwimmen dicht am Körper des Haies, was ihnen einen doppelten Vorteil bietet: Ihre Beute, vor allem kleine Rifffische, sind für den Hai nicht groß genug; er ist für sie deshalb keine Gefahr. Nähert er sich, dann weichen sie, wenn überhaupt, nur eben geringfügig aus. So kommen sie dem Schiffshalter dicht vors Maul und werden von ihm aufgeschnappt. Jene Raubfische, für die der Schiffshalter selbst eine verloc kende Beute wäre, wagen sich wiederum nicht in die Nähe des Haies. So ist Echeneis gleichzeitig auch bestens geschützt. Für den Hai ist er offenbar zu klein und zu wendig. Außerdem frißt er auch Ektoparasiten, die (Originalbuchseite 27)
sich an der Haut des Haies festsetzen, und wird wohl auch deshalb
von ihm geduldet. Schließlich hat sich beim Schiffshalter in seiner langen phylogenetischen Entwicklung die Rückenflosse in eine Saugscheibe umgewandelt, so daß er sich, wenn er müde oder satt ist, an der Haut des Haies festsaugen kann und so Energie spart. Alles in allem lebt dieses Tier in einer höchst perfekten Situation – ein Beispiel für die Erschließung einer Nische, die sowohl Nahrung als auch Schutz bietet und der sich diese Fischart morphologisch wie in ihrem erbfixierten Verhalten bestens angepaßt hat. Vergleicht man diese vier angeführten Methoden zur Abwehr von Raubfeinden, so erweisen sie sich in jeder Hinsicht als grundverschieden. Die Ausbildung von Stacheln und Giftdrüsen erfordert ganz andere Zelldifferenzierungen als die Ausbildung einer Verhaltenssteuerung zum spurlosen Verschwinden unter dem Sand. Und wieder andere Mutationen sind erforderlich, um zur Tarnung geeignete Hautmusterungen und Färbungen zu bewirken – samt entsprechenden Sinnes- und Gehirnleistungen, um die Qualität des Bodens und der unmittelbaren Umgebung richtig einzuschätzen. Und wieder gänzlich andere Anpassungen im Verhalten und in der Organgestaltung sind erforderlich, um gar ein großes Raubtier wie den Hai gleichsam in einen persönlichen Schutzschild zu verwandeln. Gleich ist indes eines: das Ergebnis. Bei jeder der vier so grundverschiedenen Anpassungen ging es letzten Endes um die für sämtliche Tiere lebenswichtige Leistung, nicht selbst im Magen eines anderen zu enden. Hier gewann ich, so schien mir, einen wichtigen Einblick in das Wesen der natürlichen Auslese. Diese diffuse Vielheit von Faktoren, die den Weg der Artenbildung und damit den Weg der Lebensentfal(Originalbuchseite 28)
tung steuert, ist sozusagen am Detail gar nicht unmittelbar interessiert. Sie wertet bloß den Erfolg. Gelingt es einer Fischart – auf welche Weise auch immer –, Raubfeinde erfolgreich abzuwehren, dann ist das für ihr Bestehen und ihre Weiterentwicklung ein wichtiger Pluspunkt. Hat sie darüber hinaus aufgrund ihrer Abwehrmethode auch noch weniger Ausfälle als ihre Konkurrenten, die der ungefähr gleichen Beute nachstellen, dann bedeutet das einen zusätzlichen Selektionsvorteil. Im statistischen Mittel weist sie eine höhere Leistungsfähigkeit auf, setzt sich gegenüber der Umwelt einschließlich Konkurrenten besser durch. Oder anders formuliert: Sie besteht aufgrund völlig anderer Zelldifferenzierungen besser gegenüber der natürlichen Auslese. Sie vermag konkurrierende Arten Stück für Stück zurückzudrängen oder schließlich sogar deren Ausscheiden aus diesem Wettkampf zu bewirken. Weitere Strategien der Feindabwehr fand ich bei den Fischen rings um die Korallenriffe in beträchtlicher Zahl. Vertreter sehr verschiedener Arten fliehen, wenn Raubfeinde auftauchen, blitzschnell und gezielt in Höhlen oder Spalten, die sie zu ihrem Schutzorgan erwählt haben. Oder sie ziehen sich in selbstgegrabene Schlupfwinkel unter Steinen oder im Sand zurück. Die fliegenden Fische (Exocoetidae) erheben sich über die Wasseroberfläche und entziehen sich so der Sicht ihrer Verfolger. Bei ihnen haben sich die Brustflossen flügelartig erweitert und der untere Abschnitt ihrer Schwanzflosse ist stärker ausgebildet. Diese Anpassungen ermöglichen es diesen Fischen, als Mittel der Feindabwehr im etappenweisen Gleitflug über 100 Meter weit zu fliegen. Manche harmlose Fischarten sind in ihrem äußeren Habitus gefährlichen Fischarten zum Verwechseln ähnlich (Mimikry) und werden deshalb nicht angegriffen. An(Originalbuchseite 29)
dere leben im Schwarm, wo der Konfusionseffekt sie gegen
Angreifer schützt. In diesem Fall gelangen die Räuber zwar dicht an die Beute heran, werden aber durch die kreuz und quer schießenden Fische abgelenkt und daran gehindert, sich auf ein Individuum zu konzentrieren. Nur wenn es ihnen gelingt, einzelne Tiere vom Schwarm zu trennen, gelangen sie an ihr Ziel. Wieder andere Fischarten können aufgrund perfekter Stromlinienform besonders schnell schwimmen, was ihnen bei der Verfolgung von Beute, aber auch bei Flucht gleichermaßen dient. Anemonenfische (Amphiprion) finden wieder genau dort Schutz, wo andere Fische verschlungen und verdaut werden: zwischen den Fangarmen und im Verdauungstrakt großer Seeanemonen. Man nimmt an, daß diese sie an einer chemischen Substanz in ihrem Hautschleim erkennen und es zu dieser Symbiose kam, weil die Fische sie von Parasiten und Abfällen befreien. Schließlich setzen sich viele Fische gegen Angreifer durch Bisse und Schwanzschläge zur Wehr. Bei jeder dieser Methoden (man kann ebenso von »Strategien«, »Techniken« oder »Verfahren« sprechen) spielen sowohl Strukturbildungen als auch angeborene Verhaltensweisen eine wichtige Rolle. Doch was letztlich zählt, ist das Ergebnis, der Erfolg. Worauf es wirklich ankommt, ist die Wirksamkeit der jeweiligen Methode, die sich am Verhältnis zwischen gelungenen und mißglückten Abwehrleistungen auch meßbar erfassen läßt. Das aber gilt nicht nur für Feindabwehr und nicht nur für die Fische rings um Korallenriffe. Es gilt ebenso für praktisch sämtliche Lebewesen und für die meisten ihrer lebenswichtigen Leistungen. Wie sich an beliebig vielen Beispielen zeigen läßt, führen fast immer »viele Wege nach Rom«. So wird etwa die (Originalbuchseite 30)
Leistung der optischen Orientierung in der Umwelt vom Auge erbracht, das bei den Gliederfüßern völlig anders gestaltet ist
(Facettenauge) als bei den Wirbeltieren und den Mollusken (deren Augen sich ebenfalls in wesentlichen Merkmalen voneinander unterscheiden). Die Flügel der Schmetterlinge sind gänzlich anders strukturiert als jene der Vögel und der Fledermäuse, stimmen aber auch mit jenen der ihnen näher verwandten Libellen nicht völlig überein. Die Versorgung der Körperzellen mit Gasen erfolgt bei den Insekten durch ein eigenes Röhrensystem (die Tracheen), während bei den Wirbeltieren der Blutkreislauf neben seiner Funktion der Nahrungsverteilung auch diese Funktion übernimmt. Hier besorgt die Lunge die Aufnahme von Luft in den Körper und gibt den Sauerstoff an den Blutstrom zur Verteilung weiter. Wie jeder Biologe weiß, lassen sich für die Tatsache, daß lebenswichtige Leistungen auf sehr verschiedene Weise erbracht werden, beliebig viele Beispiele anführen. Leistungen, die grundsätzlich nur über eine Struktur oder eine Verhaltensweise erzielt werden können, sind eher die Ausnahme. Somit sind meistens sehr verschiedene Komponenten am Zustandekommen von Leistungen beteiligt: nicht nur körperliche Ausbildungen und Verhaltenssteuerungen, sondern auch (wie etwa der Schiffshalter zeigt) nutzbare Faktoren der Umwelt. Diese Einsicht führt zwangsläufig zu der Frage, ob denn der herkömmliche Begriff »Körper« wirklich alle materiellen Einheiten umfaßt, welche die Lebens- und Überlebensfähigkeit der Organismen konstituieren – ob es nicht auch Organe geben kann, die mit dem Körper, dem sie dienen, nicht fest verbunden sind. Und des weiteren führt sie zu der Frage, welche Leistungen die Lebewesen, unabhängig von ihrem äußeren Erscheinungsbild, konkret erbringen müssen, um sich (Originalbuchseite 31)
gegenüber der natürlichen Auslese durchsetzen zu können. Gibt es dafür möglicherweise klar formulierbare, vielleicht sogar
allgemein gültige Richtlinien? Beide Fragen führen zu Betrachtungsweisen, die von der in der Biologie bisher üblichen Art, an das Phänomen des Lebendigen heranzugehen, beträchtlich abweichen. Wir wenden uns zuerst den für Organismen maßgebenden Leistungen zu.
Grundleistungen und Hilfsleistungen Seit eh und je beurteilt der Mensch die Lebewesen in erster Linie nach dem Eindruck, den sie unseren Sinnen vermitteln, und nach dem Verhalten, das sich bei ihnen beobachten läßt. Wie bei der Beurteilung der gesamten Umwelt stand somit auch hier der materielle Aspekt im Vordergrund. Auch als im Altertum wissenschaftliches Denken einsetzte und es zu gezielter Forschung kam, wurde diese Bewertungsgrundlage – ganz so, als wäre sie über jeden Zweifel erhaben – übernommen und zum Ausgangspunkt weiterer Studien gemacht. Mit immer besseren Hilfsmitteln untersuchte man die Körper der Lebewesen und ihre Bestandteile genauer; die Tätigkeit und das Zusammenwirken ihrer Organe; das Verhalten der Arten zueinander und ihre Anpassungen an die Umwelt; ihre Baupläne und deren Verwandtschaft; ihre geographische Verbreitung, die Mechanismen ihrer Fortpflanzung und vieles mehr. Dann wies Darwin nach, daß eine natürliche Auslese darüber entscheidet, was sich durchsetzen und fortpflanzen kann. Wenn nun aber, wie oben ausgeführt, für die natürliche Auslese die materiellen Strukturen und die Verhaltensweisen gar nicht das Entscheidende sind, sondern der Selektionswert erbrachter Leistung, kurz: der Erfolg, dann ist (Originalbuchseite 32)
es wohl weniger wichtig, wie diese Körper aufgebaut sind und funktionieren, als vielmehr, auf welche Leistungen es bei ihnen
ankommt. Es mag zunächst schwerfallen zu erkennen, wo hier überhaupt ein Unterschied besteht. Ich hoffe jedoch, dies in der Folge klar darlegen zu können und zu zeigen, daß die an den Leistungen orientierte Betrachtungsweise zu einem wesentlich einfacheren und gleichzeitig besseren Verständnis der Lebenserscheinungen führt. Als erstes ist zu klären, welche Leistungen sämtliche Lebewesen erbringen müssen, um bestehen und sich fortpflanzen zu können, und welchen anderen dabei bloß eine unterstützende Rolle zukommt. Erstere bezeichne ich als »Grundleistungen«, die übrigen als »Hilfsleistungen«. So wie alle begrifflichen Einteilungen, die dazu dienen, Ordnung in die Vielheit der Erscheinungen zu bringen, so ist auch diese etwas Künstliches und läßt völlig scharfe Abgrenzungen nicht zu. Immerhin aber lassen sich zumindest die Grundleistungen, die alle Lebewesen erbringen müssen, recht klar definieren. Sie ergeben sich als Konsequenz notwendiger Erfordernisse, die auch über logische Schlußfolgerungen abgeleitet werden können. Hier seien sie, um einen Überblick zu geben, zunächst knapp formuliert: Die erste Grundleistung ist der Energieerwerb. Ohne nutzbare, arbeitsfähige Energie ist keinerlei Bewegung, keinerlei Prozeß, keinerlei Entwicklung möglich. So, wie kein Auto sich ohne Treibstoff fortbewegen kann, kann ohne Energiezufuhr kein Lebensprozeß stattfinden. Da nach dem heutigen Stand der Forschung Energie weder geschaffen noch vernichtet, sondern bloß von einer Erscheinungsform in andere verwandelt werden kann, muß jedes Lebewesen die für alle seine Tätigkeiten und Prozesse notwendige (Originalbuchseite 33)
Energie aus Umweltquellen gewinnen. Hier lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Methoden unterscheiden: Die Energiequelle nahezu aller Pflanzen ist das Sonnenlicht. Durch den Vorgang der Photosynthese bauen sie mit Hilfe der Strahlungsenergie aus anorganischen Grundstoffen organische Moleküle auf (Assimilation). Elektromagnetische Energie verwandelt sich dabei in chemische Bindungsenergie. Diese setzt die Pflanze wieder frei, wenn sie etwa Kräfte für Wachstum, Vermehrung oder sonstige Prozesse benötigt (Dissimilation). Die Energiequelle der Tiere sind dagegen die Gewebe von Pflanzen oder anderen Tieren. Ihre Erwerbsform ist somit räuberischer Natur. Sie fressen und verdauen andere Lebewesen oder Teile von diesen und setzen über Oxydation oder Gärung die in den Molekülen enthaltene Bindungsenergie frei. Sie verfahren also ähnlich wie Pflanzen, wenn diese die selbst aufgebauten Moleküle wieder spalten. Die so freigesetzte Energie verwenden auch die Tiere zum Aufbau ihres Körpers sowie zum Antrieb aller ihrer Prozesse und Tätigkeiten. Wie vorrangig diese erste Grundleistung ist, geht daraus hervor, daß sie den Körperbau der Pflanzen und der Tiere weitgehend bestimmt. Bei den Pflanzen bewerkstelligen Zellorgane (Plastiden) die Dienstbarmachung des Sonnenlichts. Sie befinden sich in den Blattflächen, die dem Sonnenlicht zugewandt werden. Bei den Landpflanzen wird ihnen durch Wurzeln und über Kanäle in Stamm und Zweigen das für die Photosynthese notwendige Wasser zugeführt. Dieser Grundbauplan ist also durch den Energieerwerb festgelegt. Bei den Tieren ist es nicht anders. Zum Zweck ihrer räuberischen Erwerbsform müssen sie ihre Beute meistens aktiv suchen und ihr nachstellen: dazu benöti(Originalbuchseite 34)
gen sie Fortbewegungsorgane. Sie müssen die Beute erkennen und finden: dazu dienen ihre Sinnesorgane. Sie müssen sich die Beute einverleiben und diese verdauen: deshalb haben sie fast immer eine Mundöffnung und einen Darmtrakt. Zur Koordination ihrer Sinneswahrnehmungen und Bewegungen sind entsprechende Steuerungen notwendig: das Zentralnervensystem mit spezialisierten Zentren. Gelingt es Tieren nicht, die erforderlichen Energiemengen aus der Umwelt zu erwerben, sterben sie zwangsläufig. Auch ihr Grundbauplan ist somit sehr deutlich durch den Energieerwerb bestimmt. Die zweite Grundleistung, die jedes Lebewesen erbringen muß, ist der Erwerb benötigter Stoffe zur Bildung und Aufrechterhaltung der Organe sowie für Wachstum und Fortpflanzung. Während die Tiere mit ihrer Nahrung außer Energie auch brauchbare Stoffe erwerben, gewinnen die Pflanzen die meisten von ihnen benötigten Substanzen aus der Umwelt: aus dem Wasser, dem Boden und der Luft. Die dritte Grundleistung ist die Abwehr widriger Umwelteinwirkungen. Hier sind drei Gruppen zu unterscheiden: erstens die Abwehr anorganischer Einwirkungen wie etwa Kälte, Wellenschlag, Sturm usw.; zweitens die Abwehr organischer Einwirkungen, insbesondere von Raubfeinden und Parasiten; drittens die Auseinandersetzung mit Konkurrenten, die sich um Erschließung der gleichen Energie- und Stoffquellen bemühen. Eine Besonderheit der letztgenannten Auseinandersetzung besteht darin, daß viele Konkurrenten miteinander gar nicht unmittelbar in Berührung kommen. Es dürfte kaum Lebewesen geben, die sich nicht gegen widrige Umweltbedingungen abschirmen müssen; doch können oft verschiedene schädigende Einwirkungen durch die gleiche Abwehrform neutralisiert werden, etwa durch Panzer. (Originalbuchseite 35)
Die vierte Grundleistung ist die Nutzung günstiger Umweltfaktoren. Dazu gehören fremde Leistungen, die eigenen Energieaufwand ersparen. Das ist bei Partnerschaften und Verbandsbildung der Fall. Auch anorganische Kräfte wie etwa jene von Strömungen und Wind können genutzt werden. Bei sämtlichen Tier- und Pflanzenarten beeinflussen günstige Umweltbedingungen die Größe des Verbreitungsgebiets. Die fünfte Grundleistung ist die Fortpflanzung. Ohne sie hätte die Evolution nie stattfinden können. Einzelne Individuen können zwar auch ohne Nachkommen existieren, aber als Voraussetzung für die quantitative und qualitative Entfaltung des Lebens insgesamt müssen mehr Nachkommen produziert werden, als Lebewesen absterben. Für diese Grundleistung sind besonders komplexe Steuerungen nötig. Die dafür zuständige Einheit ist bei allen Einzellern und Vielzellern das Genom, die in den Chromosomen enthaltenen Erbfaktoren; sie sorgen auch für Wachstum und Aufrechterhaltung aller funktionserbringenden Strukturen. Bei den vom Menschen gebildeten Hyperzellern, auf die wir in den weiteren Kapiteln eingehen, wird die artgleiche Fortpflanzung überwunden. Angehörige einer Art können bei diesen auch solche anderer Arten hervorbringen. Die sechste Grundleistung schließlich ist die Strukturverbesserung. Ohne sie hätte es nie zu einer Höherentwicklung des Lebens kommen können. Der wichtigste Mechanismus, der bei Pflanzen und Tieren dieser Aufgabe dient, ist die Zweigeschlechtlichkeit. Indem beim sexuellen Vorgang männliche und weibliche Keimzellen verschmelzen, kommt es zu einer Vermischung ihrer Gene. So werden gelegentlich auftretende Veränderungen im Erbgut (Mutationen) in immer neue Kombinationen (Rekombination) gebracht. Die Wahrscheinlichkeit, daß es so auch zur Entste(Originalbuchseite 36)
hung leistungsfähigerer Strukturen kommt, erhöht sich dadurch wesentlich. Bei den Vielzellern kam es zu einer ausgeprägten Verschiedenheit der weiblichen und der männlichen Individuen. Bei den Hyperzellern geht auch die Verbesserungsleistung weitgehend auf andere, effizientere Mechanismen über, die einfachere und schnellere Leistungssteigerungen ermöglichen. Jede der genannten Grundleistungen setzt sich aus hierarchischen Systemen von Hilfsleistungen zusammen, die darauf Einfluß nehmen, über welche körperliche Ausbildungen ein Lebewesen in einem bestimmten Lebensraum verfügen muß. Es gibt somit sehr viele und sehr verschiedene. Wir gehen darauf noch ausführlicher ein. Unter dem Aspekt der natürlichen Auslese sind die Lebewesen Leistungsgefüge. Entscheidend sind stets die Leistungen, die allerdings nur über entsprechend beschaffene Organe erbracht werden können. Wilhelm Ostwald, der Begründer der physikalischen Chemie, der sich auch eingehend mit dem Phänomen des Lebens und der evolutionären Entwicklung der Organismen beschäftigte, wies schon 1909 in seinem Buch Die energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaft darauf hin, daß nicht nur Maschinen Energietransformatoren sind, sondern auch alle Werkzeuge des Menschen sowie alle Organe der Tiere und der Pflanzen. Beim Auto verwandelt der Motor die im fossilen Rohöl gespeicherte molekulare Bindungsenergie in kinetische Energie – in die vom Menschen gewünschte Leistung einer bequemen und schnelleren Fortbewegung. Wer mit einer Axt einen Baum fällt, verwandelt chemische Energie seiner Muskelzellen in die kinetische Energie der Axt und damit ebenfalls in eine ihm dienende Leistung. Genauso aber verwandelt (Originalbuchseite 37)
jedes Organ eines Lebewesens Rohenergie, die es Umweltquellen entnommen hat, in die Nutzenergie sehr verschiedener Leistungen. Wie und über welche Strukturen diese Umwandlungen im einzelnen erfolgen, ist nur teilweise bekannt und auch von untergeordneter Bedeutung. Wesentlich ist das Ergebnis: die Qualität der benötigten Leistung. Im Konkurrenzkampf ist außerdem wichtig, wie schnell und verläßlich sie gewonnen wird und welchen Energieaufwand sie verursacht. Da man bis vor hundert Jahren nur wenig über das Wesen der Energie und ihre Eigenschaften wußte, konzentrierte man sich bei der Erforschung der Lebewesen mehr auf deren körperliche Gestalt und die Funktion ihrer Teile. Wie ich bereits ausführte, zeigt jedoch schon die Grundstruktur der Tiere und der Pflanzen deutlich, wie wichtig für alle Organismen der Energieerwerb ist. Die Umwandlung von Energie in differenzierte Leistungen ist es nicht minder. Wir kommen auf dieses Thema noch mehrmals zurück. Obwohl Ostwald im selben Jahr, in dem er das genannte Buch veröffentlichte, für seine Verdienste in Physik und Chemie den Nobelpreis erhielt, wurde es kaum beachtet. Seine Definition der Organe als Energietransformatoren ist bis heute kaum bekannt. Nach dem herkömmlichen Denken und Bewerten ist es zweifellos schwierig, sich die Lebewesen als Leistungsgefüge vorzustellen. Immerhin wurde bereits von manchen Biologen (Mittelstaedt, v. Holst, dem Nobelpreisträger Tinbergen und anderen) die Bezeichnung »Wirkungsgefüge« für organische Leistungsstrukturen verwendet. Der englische Philosoph Herbert Spencer, der zu den Wegbereitern der Selektionstheorie Darwins gehört, legte diesem nahe, den eher diffusen Begriff der »natürlichen Auslese« durch
den Begriff Ȇberleben (Originalbuchseite 38)
des Bestgeeigneten« (»survival of the fittest«) zu ersetzen. Darwin verwendete die Formulierung dann auch öfter. Sie deckt sich mit der von mir vorgelegten Ansicht, daß bei der Auseinandersetzung der Lebewesen mit ihrer Umwelt und ihren Konkurrenten nicht so sehr die jeweiligen Körperbildungen und Verhaltensweisen maßgebend sind, sondern die erzielten Leistungen. Wie ich später zeigen werde, ist deren Effektivität auch nach allgemeingültigen Kriterien meßbar. Gegen Spencers Formulierung wurde eingewandt, daß sie zu einer Tautologie führe. Denn auf die Frage: »Wozu bestgeeignet?« laute die Antwort: »Zum Überleben.« Und auf die weitere Frage: »Und was überlebt?« gebe es nur wieder die Antwort: »Das Bestgeeignete.« Dieser Einwand ist jedoch irreführend und unberechtigt, denn die richtige Antwort auf die zweite Frage lautet: »Das für die notwendigen Leistungen Bestgeeignete.« Und die notwendigen Leistungen lassen sich, wie ich bereits ausgeführt habe, recht eindeutig definieren. Meine Argumentation folgt hier mehr dem technischen Praktiker Spencer (er war von Beruf Eisenbahningenieur) als Darwin, mit dem ich sonst völlig übereinstimme.
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2 Vom Körper getrennte Organe
Wir kommen nun zur zweiten Frage, welche das neue, leistungsbezogene Denken nahelegt. Sie lautet: Müssen Organe, also leistungserbringende Einheiten, mit dem Organismus, dem sie dienen, fest verbunden sein? Solange man die Organismen als materielle Phänomene einschätzt, die sich durch besondere Eigenschaften von unbelebten Objekten unterscheiden, ist es durchaus verständlich, wenn man etwas, das nicht mit ihrem Körper fest verbunden ist, auch nicht als dessen Bestandteil ansieht. Betrachtet man dagegen die Lebewesen als Leistungsgefüge, bei denen die materielle Gestaltung nicht Selbstzweck, sondern notwendige Voraussetzung für bestimmte Vorgänge ist, dann ist nicht einzusehen, warum es nicht auch vom Körper getrennte Organe geben soll. Erbringen sie benötigte Leistungen, dann gehören sie zu ihnen, auch wenn sie noch so weit entfernt sind. Daß sich der menschliche Fortschritt weitestgehend auf solche vom Zellkörper getrennte Einheiten stützt, ist bekannt. Bedingt dies aber einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Organen der Lebewesen und den vom Menschen realisierten technischen, wirtschaftlichen, staatlichen und kulturellen Gebilden? Auch bei den Tieren gibt es zahlreiche Arten, die durch Abscheidungen oder aus Umweltmaterial »zusätzliche Organe« bilden, die nicht mit ihrem Körper verwachsen sind. Ehe wir uns also der Beurteilung des Menschen und seiner Werke aus evolutionärer Sicht zuwenden, ist es geboten, uns erst mit diesen (Originalbuchseite 40)
»Vorgängern« etwas näher zu beschäftigen. Ein eindrucksvolles Beispiel für ein solches vom Körper getrenntes Organ ist das von zahlreichen Spinnenarten angefertigte Netz. Es ist eine Fangvorrichtung, die bei diesen Tieren die ersten beiden Grundleistungen Energieerwerb und Stofferwerb entscheidend verbessert. Es gibt heute noch viele Spinnenarten, die in ursprünglicher Weise ohne Netz auf die Jagd gehen. Ihre Beute, insbesondere Insekten, wird in schnellem Vorstoß oder Sprung überwältigt. Im Lauf der Evolution kam es aber auch zur Entstehung von Arten, die aus Spinndrüsen Fäden abscheiden und mit diesen Netze bilden. Die höchste Perfektion finden wir bei den Radnetzspinnen, zu denen auch die Kreuzspinne gehört. Sie verfügen über sechs verschiedene Drüsentypen, die in paarigen Spinnwarzen am Hinterleib lokalisiert sind und von nicht weniger als 800 Einzeldrüsen versorgt werden. Die verschiedenen Techniken, wie solche Netze gebildet werden, sind den Tieren angeboren.
Die Kreuzspinne verfährt so, daß sie zunächst ihren Hinterleib schräg in die Höhe streckt und einen Faden mit einer fächerartigen Erweiterung an seinem Ende produziert. Dadurch wird der Faden wie ein Segel von Luftströmungen weggetragen. Klebt er an einem entfernten Objekt fest, etwa an einem Ast, dann ist eine Brücke geschaffen, die als Fundament für den weiteren Netzbau dienen kann. Der bekannte Biologe und Nobelpreisträger Karl von Frisch schreibt: »Hat sie ins Leere geschossen, so holt sie den Faden wieder ein und frißt ihn auf, um ihre Spinnsubstanz nicht zu vergeuden. Dann versucht sie ihr Glück aufs neue.« Wie die Spinne, deren optische Wahrnehmung nur mäßig entwickelt ist, nun weiter vorgeht, um zunächst ein mit dem Boden verbundenes Grundgerüst, dann die Umrahmung des Netzes und seine Speichen zu (Originalbuchseite 41)
produzieren, wurde in geduldigen Beobachtungen bis in kleinste Details erforscht. Der Vorgang läuft nach einem starren Verhaltensschema ab, richtet sich aber trotzdem nach den örtlichen Verhältnissen. In der Netzmitte bildet die Spinne eine Plattform (die Warte), von der aus sie später operiert. Während sie bis dahin nichtklebrige Fäden verwendet hat, über die sie beliebig laufen kann, bildet sie zuletzt aus klebrigen Fäden die eigentliche Falle: eine in zahlreichen Windungen über die Speichen verlaufende Fangspirale. Dann liegt sie in der Warte auf der Lauer, wobei sie mit einem Vorderbein eine der Speichen berührt. Gerät ein fliegendes Insekt in das Netz, dann erkennt sie an der Art der Schwingungen, wo sich die zappelnde Beute befindet. Nun muß sie möglichst schnell zu dem Platz eilen, gleichzeitig aber darauf achten, daß sie nicht selbst einen der klebrigen Fäden berührt und so zum Opfer ihrer eigenen Fangvorrichtung wird. Hat sie die Beute erreicht, dann ergießt sie aus weiteren Drüsen einen Schwall sehr dünner Fadenbüschel über das Tier, verabreicht ihm giftige Bisse und versetzt es in schnelle Umdrehung, wobei sie es mit nichtklebrigen Fäden umhüllt. Die Beute wird in einen Seidenmantel eingesponnen. Darauf löst die Spinne dieses Nahrungspaket aus dem Netz, transportiert es zu ihrer Warte und hängt es dort an einem kurzen Faden auf. Um an die darin enthaltenen Stoffe und Energiemengen zu gelangen, injiziert die Spinne mit ihren Mundwerkzeugen Verdauungssekrete und saugt später die gelösten Nährstoffe ein. Sie verwendet den Panzer des Insekts gleichsam als Verdauungstrakt. Wird es Nacht oder regnet es, dann sucht sie einen Unterschlupf am Rand des Netzes auf, wo sie über Fadenverbindungen weiter über die Vorgänge im Netz informiert bleibt. Da die leimige Beschaffenheit der Klebefäden nicht lange vorhält, muß das Netz häufig (Originalbuchseite 42)
erneuert werden, indem die Spinne die Fäden auffrißt und das zurückgewonnene Baumaterial zur Anfertigung des nächsten Netzes verwendet. Nähert sich ein Spinnenmännchen dem Netz eines Weibchens, dann sendet es durch Zupfen am Netz
arteigene Signale aus, so daß das Weibchen den »Bräutigam« von etwaiger Beute unterscheiden kann. Ich gehe so sehr auf diese Einzelheiten ein, um zu zeigen, wie viele günstige Mutationen notwendig gewesen sein müssen, bis angeborene Steuerungen für den Aufbau einer so komplexen Vorrichtung und eines so differenzierten Verhaltens entwickelt waren. Für jede dauerhafte Veränderung des Erbguts über Mutationen und sexuelle Rekombination der Gene ist es stets Voraussetzung, daß die natürliche Auslese sie als Fortschritt akzeptiert. Das aber ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß eine so große Zahl notwendiger Steuerungen nie hätte zustande kommen können, wenn das Netz für die Spinne nicht ein entscheidender Vorteil gewesen wäre. Selbst wenn das Netz also nicht mit dem Körper fest verbunden ist, kann es nicht abwegig sein, diese komplexe Einrichtung, deren Herstellung überdies im Erbgut kodiert ist, ebenfalls als Organ der Spinne anzusehen. Ein noch stärkeres Argument, das man sicher nicht leicht von der Hand weisen kann, liefert die unbestreitbare Tatsache, daß für die Spinne das Netz gar nicht von Nutzen sein könnte, wenn es mit den übrigen Organen fest verwachsen wäre. Der Fangvorgang wäre dann keinesfalls möglich. Die Spinne könnte das Netz weder bilden noch zum Beutefang einsetzen. Wenn wir den Menschen und die Beurteilung seiner künstlich gefertigten Hilfsmittel auch zunächst beiseite lassen wollen, so soll doch schon an dieser Stelle erwähnt sein, daß genau dies auch für alle unsere Werkzeuge zutrifft. Wären eine Axt, eine Zange, eine Heugabel, (Originalbuchseite 43)
eine Leiter fest mit unserem Körper verbunden, würden sie uns sicherlich mehr stören als dienen. Ein ganz entscheidender Vorteil aller mit dem Körper nicht fest verbundenen, die Leistungsfähigkeit steigernden Einheiten besteht darin, daß sie das Tier, wenn es ihrer nicht bedarf, weder belasten noch behindern. Und noch ein drittes Argument sei schon an dieser Stelle angeführt: Es ist zu bedenken, daß diese Fangvorrichtung einer besonders wichtigen Grundleistung, nämlich dem Energieerwerb, dient. Wie schon gesagt, ist kein Lebensvorgang ohne Energie möglich. Also kann kein aus Zellen gebildetes Organ ohne Energie die notwendigen Leistungen erbringen. Somit kann auch kein Organ der Spinne tätig sein, wenn ihm nicht Energie zufließt. Deshalb ist es schwer einzusehen, warum man ausgerechnet jener Einheit, welche die Voraussetzung für die Funktion aller übrigen schafft, die Bezeichnung »Organ« abspricht. Hindert man Radnetzspinnen daran, ihr Netz zu errichten, oder zerstört man regelmäßig ihre Netze, dann gehen sie zwangsläufig zugrunde. Sie mögen dann noch auf die eine oder andere Weise einige Zeit lang an Nahrung gelangen, sie sind aber freijagenden Spinnen und anderen Nahrungskonkurrenten deutlich unterlegen. Ohne Netzbildung können diese Arten daher gar nicht bestehen.
Wenn sich unser Gehirn dagegen sträubt, eine solche externe Einheit, weil sie nicht mit dem Zellkörper der Spinne fest verbunden ist, als zusätzlich gebildetes Organ anzuerkennen, so spricht die natürliche Auslese eindeutig gegen diese sicher vom subjektiven Eindruck beeinflußte Einschätzung. Andere tropische und subtropische Spinnenarten bilden ein technisch noch perfekteres und ebenfalls für unsere Fragestellung aufschlußreiches Fanggerät. Die Falltürspinnen (Ctenizidae, Actinopodidae und (Originalbuchseite 44)
Barychelidae, Abb. 1A) kleiden selbstgegrabene oder bereits vorhandene Löcher mit sehr dünnen und festen Spinnfäden aus und bilden daraus auch einen polsterartigen Deckel, der so genau in die konische Eingangsöffnung der Wohnröhre paßt, daß weder Licht noch Wasser eindringen. Er ist mit einem Scharnier aus Spinnfäden an der Wohnröhre befestigt. Rings um die Öffnung spannen einige Arten noch strahlenförmig verlaufende Fäden, die ihnen die Annäherung ihrer Beute (Insekten, Tausendfüßler und andere kleine Tiere) verraten. Doch die meisten von ihnen kommen mit ihren hochentwickelten Sinnesorganen, die ihnen Erschütterungen anzeigen, auch ohne solche Stolperfäden aus. Tagsüber hält das Tier in der Wohnröhre den Deckel mit ihren Tastern und Vorderbeinen geschlossen und öffnet ihn erst bei einbrechender Dunkelheit ein wenig. Kommt Beute in die Nähe, dann öffnet die Spinne blitzschnell den Deckel und springt vor, wobei sie meistens mit den Klauen der Hinterbeine in der Röhrenmündung verankert bleibt. Sie packt und beißt die Beute, zerrt sie in das Loch und schließt ebenso schnell wieder den Deckel. Bemerkenswert ist, daß Falltürspinnen während ihres ganzen Lebens (manche Arten erreichen ein Alter von zehn Jahren) in ihrer völlig dunklen Wohnhöhle
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Abb. 1: Zwei Beispiele für zusätzliche Organe, die Tiere aufgrund angeborener Verhaltenssteuerungen bilden. Beide dienen dem Beuteerwerb. A zeigt eine Falltürspinne, die ebenfalls aus Seidenfäden in Löchern eine feste Röhre anlegt, die nur das Männchen zur Paarung verläßt. Die Röhre hat eine runde Öffnung mit einem wiederum aus Seidenfäden gesponnenen Deckel. Hinter diesem lauert sie, wobei sie ihn nur wenig geöffnet hält. Kommt ein kleines Insekt vorbei, öffnet sie blitzschnell den Deckel, packt die Beute, zerrt sie in die Röhre, schließt den Deckel und frißt das Tier (s. S. 43ff.). B zeigt die Larve einer Köcherfliege (siehe Pfeil), die in Bächen lebt und aus Seidenfäden ein Fangnetz anfertigt, das sie an Wasserpflanzen und Zweigen so verankert, daß die Strömung es offenhält und Nahrung hineinspült. Die Larve sitzt am unteren Ende eines Trichters, wo sie gut vor Raubfischen geschützt ist, wandert von Zeit zu Zeit über das Netz und frißt, was sich in den Maschen gefangen hat; nach v. Frisch, 1974 (s. S. 51). (Originalbuchseite 46)
verbleiben. Bei Conothele arboricola, die im Bismarckarchipel in Baumlöchern lebt, beobachtete der Spinnenforscher Wolfgang Crome, daß sie die Größe ihrer Wohnhöhle nach der Maximalgröße, die sie erreichen kann, ausrichtet. Wächst sie heran, dann braucht sie die Röhre nicht zu wechseln oder zu erweitern. Zur Paarung verlassen nur die Männchen ihre Röhre, suchen die eines Weibchens auf und werden nach der Begattung von diesem gefressen. Die Jungen bleiben bis zu drei Jahre bei der Mutter. Die Trennung des Fangorgans vom Körper ist bei diesen Spinnenarten weniger ausgeprägt als bei den netzbauenden Spinnen. Ihre Wohnröhre ist gleichsam ein
zusätzlicher Panzer, der perfekt arbeitende Deckel ein der Tarnung und der Überrumpelung dienender, höchst effizienter »Körperteil«. Häutet sich die Spinne, dann schließt sie die Wohnröhre hermetisch ab, bis der neue Panzer ausgehärtet ist. Der Spinnenforscher Harro Buchli, der 1969 im Mittelmeerraum das Verhalten von Falltürspinnen studierte, errichtete im Freiland neben einer Wand, in deren Spalten sich die Wohnröhre einer Nemesia caementaria befand, eine Registrieranlage, die alle Aktivitäten des Tiers über ein Jahr hinweg aufzeichnete. In dieser Zeit jagte das Tier in 252 Nächten, wobei es kurz nach Sonnenuntergang den Deckel leicht öffnete, in Lauerstellung ging und bis Tagesanbruch in gespannter Angriffsstellung verharrte. Die durchschnittliche Jagdzeit betrug 8 Stunden 37 Minuten, und die Spinne legte fünf Rastpausen von insgesamt 2 Stunden 45 Minuten ein. War der Himmel stark bedeckt, dann begann sie schon früher und legte auch am Morgen bis zu vier Stunden zu. Die längste ununterbrochene Lauerzeit betrug in einer Oktobernacht 12 Stunden 57 Minuten. Von den insgesamt 724 Angriffshandlungen führten knapp 10 Prozent zum Erfolg. Die (Originalbuchseite 47)
unverdaulichen Reste der Beute deponiert Nemesia caementaria am rückwärtigen Ende der Wohnröhre und überspinnt sie mit Seide. Andere Arten formen daraus Bällchen, umspinnen sie ebenfalls und werfen sie aus der Röhrenmündung. Bei diesem Tier fällt es leichter, die vom Zellkörper zusätzlich gebildeten Organe nicht als etwas von diesem Getrenntes und Verschiedenes anzusehen. Die Leistungsfähigkeit wird durch weitere Einheiten verbessert; daß dies nicht über Zelldifferenzierungen, sondern über Weisungen des Zentralnervensystems erfolgt, dürfte gedanklich kaum eine unüberwindliche Barriere darstellen. Dies um so mehr, als offensichtlich die natürliche Auslese die Leistung der Gesamtheit beurteilt. Einige Falltürspinnen tarnen ihre Röhren, wenn diese freiliegen, zusätzlich durch Steinchen, Aststücke und Blätter, also mit Umweltmaterial. Geeignete organische und anorganische Objekte aus der Umgebung werden an die Röhre festgesponnen und so ebenfalls zu funktionellen Bestandteilen des Leistungskörpers gemacht. Auch dies stört nicht den Eindruck der Einheit, der unsere Begriffsbildung so stark beeinflußt. Deshalb erscheint es mir nicht korrekt, in all diesen vom Körper getrennten Strukturen etwas von den über Zelldifferenzierung gebildeten Organen grundsätzlich Verschiedenes zu sehen. Bisher wurde aber die Bezeichnung »Organ« in der Biologie ausschließlich für Einheiten verwendet, die aus Zellen gebildet sind. Nach der Zelltheorie von Schleiden und Schwann (1839) gilt die Zelle als »strukturelle Organisationseinheit lebender Systeme« und bei den Vielzellern als »Grundbaustein der tierischen und pflanzlichen Körper« schlechthin. Selbst wenn sich also eine Modifikation dieser bisher nicht angezweifelten Theorie als notwendig erweisen sollte, er(Originalbuchseite 48)
scheint es auf den ersten Blick unzweckmäßig, einen so etablierten Begriff wie jenen des »Organs« ohne zwingenden Grund zu verändern oder in Frage zu stellen. Andererseits zeigen bereits die beiden angeführten Beispiele, denen ich noch weitere hinzufügen werde, daß die aus Zellen gebildeten Organe der natürlichen Auslese gegenüber keineswegs das einzig Maßgebende sind. Bisher wurde nicht erkannt, daß es bei den Tieren nicht nur eine Methode der Bildung von leistungserbringenden Einheiten gibt, sondern deren zwei. Entweder entstehen solche Einheiten über Zelldifferenzierung, oder sie werden auf einem schwierigeren, indirekten Weg gebildet. Die zweite Möglichkeit besteht darin, daß vom Genom im vielzelligen Gehirn neben Programmen für angeborenes Verhalten auch Programme aufgebaut werden, mittels deren das Tier vom Körper getrennte Organe bildet. Um es noch klarer zu formulieren: Bei der ersten Methode veranlaßt das Genom der Zellen direkt die Bildung von Organen; bei der zweiten veranlaßt es das hochspezialisierte, aus Milliarden von Zellen bestehende Gehirn, zusätzliche Organe zu gestalten. Als Bezeichnung für die letzteren habe ich in früheren Schriften (1969, 1970 und 1978) den Terminus »künstliche Organe« verwendet, weil sie nicht auf dem »natürlichen« Weg der Zelldifferenzierung entstehen, sondern vom Körper »künstlich« gebildete Produkte sind. Wie sich herausstellte, war diese Bezeichnung nicht optimal gewählt und hat zu Mißverständnissen geführt. Denn diese zusätzlichen Strukturen sind ja ebenso »natürliche« Bildungen wie die über Zelldifferenzierung entstehenden Organe. Auch sie werden aufgrund von Weisungen, die im Genom kodiert sind, gebildet. Im ersten Fall wird das Baumaterial mit der Nahrung vereinnahmt und zur Bildung von Zellen verwendet, die Organe aufbauen. Im zweiten Fall er(Originalbuchseite 49)
hält das Gehirn zusätzlich zur Steuerung des Körpers die Aufgabe, aus Abscheidungen oder Umweltmaterial vom Körper getrennte lebenswichtige Werkzeuge (griechisch »Organa«) zu bilden. Daß dieses Getrenntsein vom Zellkörper neue Leistungen ermöglicht, die über Zellorgane gar nicht zu erbringen wären, wurde bereits erwähnt. Ein weiterer Vorteil, mit dem wir uns noch beschäftigen werden, sei hier schon angeführt: Sie brauchen auch nicht vom Blutstrom ernährt zu werden; ebensowenig ist es erforderlich, daß Nerven bis in sie hineinreichen. Ich glaube deshalb, daß die Bezeichnung »zusätzliche Organe« besser den Kern dieses für die Evolution überaus wichtigen Fortschritts trifft. Wenn diese zweite Methode nur verhältnismäßig selten und erst bei höherentwickelten Lebewesen auftreten konnte, liegt das wohl nicht zuletzt daran, daß sie wesentlich umständlicher ist. Denn sie setzt einen zweifachen Informationstransfer voraus: erstens vom Genom auf die im Gehirn aufgebauten Verhaltenssteuerungen, zweitens von diesen auf das zu bildende Organ. Außerdem kann es so nur zu einer Spezialisierung kommen und nicht gleichzeitig zu vielen austauschbaren, wie es beim Menschen der Fall ist. Darauf komme ich noch
zurück. Wesentlich aber ist, daß das Produkt dieser zweiten Methode der Organbildung bei den Tieren genauso natürlich ist wie jene der ersten. Solche zusätzlichen Organe steigern die Leistungsfähigkeit des betreffenden Lebewesens, tragen zu seiner Fitneß gegenüber der natürlichen Auslese bei. Sie steigern also ebenso wie effiziente Zellorgane die Potenz der Lebensentwicklung. Und noch zu einer weiteren Schlußfolgerung verhelfen schon diese beiden Beispiele. Vor allem die Falltürspinnen, die ihr ganzes Leben lang ihr zusätzliches Organ des Schutzes, des Beuteerwerbs und der (Originalbuchseite 50)
Fortpflanzung nicht verlassen, machen deutlich, daß man bei allen Lebewesen, die zusätzliche Organe bilden, zwischen ihrem Zellkörper (somatischer Körper) und ihrem Leistungskörper unterscheiden muß. Der Zellkörper bietet sich unseren Sinnen und der Bewertung unseres Gehirns als das Lebewesen schlechthin an. Worauf es jedoch gegenüber der natürlichen Auslese ankommt, ist der Leistungskörper. Dieser ist bei allen Lebewesen, die keine zusätzlichen Organe bilden, mit dem Zellkörper identisch. Bei all jenen, deren Zellkörper durch zusätzliche Organe in seiner Leistungsfähigkeit gesteigert wird, besteht er aus dem Zellkörper plus zusätzlicher Organe. Diese Betrachtungsweise ist ungewohnt und erfordert ein gehöriges Umdenken. Wir wenden uns deshalb weiteren Beispielen für Tierarten zu, die vom Zellkörper getrennte Organe bilden. Die meisten Beispiele sind seit langem bekannt. Man hat sie jedoch unter die Verhaltensweisen und deren Ergebnisse eingereiht und nicht erkannt, daß sie ein zweites, für die Organbildung der Individuen wichtiges Bildungsprinzip aufzeigen. Jedes Beispiel ist ein Beweis dafür, daß nicht der sich unseren Sinnen als deutliche Einheit darstellende Zellkörper für die Lebewesen ausschlaggebend ist, sondern ihr Leistungskörper, der aus sämtlichen für die Gesamtleistung maßgebenden Einheiten besteht.
Die Nutzung günstiger Umweltfaktoren Vergleichen wir als nächstes zwei Fangvorrichtungen, die Larven verschiedener Insektengruppen bilden. Äußerlich sehen sie sehr verschieden aus; trotzdem führt ihr Vergleich zum besseren Verständnis zusätzlicher Organe und ihrer Struktur. (Originalbuchseite 51)
Die erste Fallenart wird von Larven einiger Köcherfliegen gebildet, die in langsam strömenden Bächen leben (beispielsweise Hydropsyche). Auch sie scheiden, ähnlich den Spinnen, Seidenfäden ab, allerdings nicht am rückwärtigen Abschnitt ihres Körpers, sondern aus umgewandelten Speicheldrüsen, die am Mund nach außen führen. Sie bilden aus einem feinmaschigen Gespinst trichterförmige Reusen, die an Wasserpflanzen und Zweigen verankert sind. Das strömende Wasser hält die Reuse
offen und trägt kleine Lebewesen in den Trichter, dessen Wände von der wurmförmigen Larve von Zeit zu Zeit abgeweidet werden. Sonst sitzt sie in dem engen Trichterende, wo sie gegen Raubfische und sonstige Feinde bestens geschützt ist (Abb. 1B). Die zweite Fangvorrichtung, die wir mit dieser Reuse vergleichen wollen, ist vielen Kindern gut bekannt. An Waldrändern und Wegböschungen erzeugt sie der weit kräftigere Ameisenlöwe, die Larve der Ameisenjungfern (Myrmeleonidae). Auf flachen, feinkörnigen Sandböden errichtet er trichterförmige Fallgruben. Am Grund, zu zwei Dritteln im Sand versteckt, lauert er nach Ameisen, die oben dem Trichterrand zu nahe kommen und in den Trichter hinunterrutschen. Ihr Entkommen verhindert er, indem er sie mit Sandkörnchen beschießt und so kleine Lawinen auslöst, die das Opfer direkt vor seine kräftige Kieferzange bringen. Damit packt er sie. Er tötet sie, saugt sie aus und schleudert den nicht weiter verwertbaren Rest aus dem Trichter. Mit seiner übergroßen Zange, die ein Drittel seiner Körperlänge ausmacht, kann der Ameisenlöwe sich nur rückwärts bewegen. Demgemäß sind die Borsten seines Körpers nach vorn gerichtet. Beim Bau des Trichters geht er so vor, daß er an einem geeigneten Platz rückwärts schreitend einen kreisförmigen Graben bildet, sich dabei in den Sand einwühlt und durch (Originalbuchseite 52)
beidseitige Bewegungen des Kopfes und der vorderen Rumpfringe den Sand in verschiedene Richtungen fortschleudert. Die sich vertiefende Furche legt den Umfang des Trichters fest; den in der Mitte verbliebenen Kegel entfernt er, indem er in immer enger werdenden Spiralgängen den Sand auswirft. In der Kreismitte, am tiefsten Punkt des Trichters, kommt er schließlich zur Ruhe und lauert dort auf Beute. So, wie er den Sand durch ruckartige Schleuderbewegungen auswirft, werden auch die Ameisen gezielt beschossen, die aus dem Trichter zu flüchten versuchen; mit der gleichen Bewegung werden ihre Überreste aus dem Trichter entfernt. Im dritten Jahr verpuppt sich der Ameisenlöwe in einem kugeligen, außen mit Sandkörnern beklebten Kokon, aus dem die zierliche Ameisenjungfer entschlüpft, deren Flügel eine Spannweite von 3 bis 5 Zentimetern erreichen. Diesen Sandtrichter als integralen Bestandteil des Ameisenlöwen, als sein zusätzliches Organ anzusehen, bereitet sicher erhebliche Schwierigkeiten. Während die Köcherfliegenlarven ebenso wie die Radnetz- und die Falltürspinnen ihre Fangvorrichtungen aus körpereigenem Material bilden, besteht der Trichter des Ameisenlöwen aus losem Umweltmaterial und bietet sich unserer Beurteilung weit eher als eine zweckdienliche Umweltveränderung dar. Hier sind wir an ein Beispiel für die Grundleistung Nutzung günstiger Umweltfaktoren gelangt. Gemeinsam sind dem Sandtrichter und der Reuse der Köcherfliegenlarve, daß hier Umweltkräfte gleichsam in den Dienst für die Art eingespannt werden. Die Reuse wird von der Wasserbewegung offengehalten, die auch Kleinlebewesen in die Falle
hineinspült. Beim Sandtrichter wird die Schwerkraft der Erde den Ameisen zum Verhängnis. Beiden Tieren wird so durch Naturkräfte eigene Anstrengung erspart. Noch wichti(Originalbuchseite 53)
ger ist jedoch zu bedenken, daß es hier wie dort funktionell auf ein trichterartiges Gebilde ankommt, in das äußere Kräfte Nahrung hineinlenken. Bei der Köcherfliegenlarve wird es mit Hilfe der Fadenbildung und angeborener Steuerungen aus eigenen Mitteln errichtet. Dem Ameisenlöwen kommt ein weiterer günstiger Umweltfaktor in Gestalt flacher, aus sehr feinem Sand bestehender Böden zu Hilfe. Er braucht den Sand bloß zu formen – wie der Töpfer einen Krug. Was funktionell zählt, sind einzig die benötigte Form und ein Material, das ein Entkommen der Beute verhindert. Der Sand bietet dafür gleichsam seine Dienste an. Somit hilft dem Ameisenlöwen ein weiterer günstiger Umweltfaktor bei der Errichtung seiner Falle und erspart es ihm, für geeignetes Baumaterial selbst zu sorgen. Zu solchen Verhaltensprogrammen mußten beide Tierarten über Mutationen, Rekombinationen und die natürliche Auslese gelangen. Immerhin erspart sich der Ameisenlöwe in doppelter Hinsicht eigenen Kraftaufwand. Sieht man die Dinge so, dann ist der Sandtrichter sehr wohl ein von ihm zusätzlich gebildetes Organ der Nahrungsgewinnung. Er ist Bestandteil seines Leistungskörpers, ganz wie beim Urmenschen jene Steine, die quasi gebrauchsfertig in der Umgebung zu finden waren und die er als Wurfgeschosse zur Überwältigung der Beute benutzte. Günstige Umweltbedingungen, die ganz so genutzt werden können, wie die Natur sie bildet, sind auch alle Spalten und Höhlen, die Tieren oder dem Menschen als Schlupfwinkel zu dienen vermögen. Da sie nicht wie der Sand vom Ameisenlöwen verändert werden müssen, fällt es gedanklich schwerer, sie als Schutzeinheiten anzusehen, welche die körperlichen Leistungen steigern. Hier ist jedoch zu bedenken, daß angeborenes Verhalten notwendig ist, um solche Einheiten, die sich als schützende Organe eignen, zu (Originalbuchseite 54)
erkennen; schon der früher angeführte Schiffshalter, der den Hai zu seinem Schutzorgan macht, zeigte dies. Für den intelligenten Menschen ist es schwierig zu begreifen, daß nicht einmal das Erkennen eines Schlupfwinkels eine Selbstverständlichkeit ist, sondern entsprechende Steuerungen – angeborene, anerzogene oder durch eigene Erfahrungen gebildete – erfordert. Solange man die Lebewesen als rein materielle Phänomene ansieht, wie es bis heute der vorherrschenden Ansicht entspricht, ist es in der Tat schwer, einen Sandtrichter oder eine von der Natur geschaffene Höhle für die Dauer der Verwendung als integralen Bestandteil von Organismen anzuerkennen. Für die natürliche Auslese ist indessen weder die materielle Gestalt noch die Verhaltensweise, sondern die konkurrenzfähige
Gesamtleistung entscheidend. Und die kann durch sehr verschiedene Methoden und vielfältige Körperbildungen erreicht werden.
Die Vielgestaltigkeit zusätzlicher Organe Um sich mit dem Begriff der zusätzlichen Organe und seiner Berechtigung vertraut zu machen, ist es zweckmäßig, dafür möglichst verschiedene Beispiele aus dieser Sicht zu betrachten. Bei der für alle Arten von Lebewesen obligaten Grundleistung der Fortpflanzung ist die Nutzung günstiger Umweltfaktoren ebenso wichtig wie die Abwehr störender oder feindlicher Einwirkungen. Werden die Nachkommen nicht lebensfertig in die Welt gesetzt, dann sind vom Körper unabhängige Strukturen zu ihrem Schutz besonders wichtig. Solche können jedoch über Zelldifferenzierung nur sehr beschränkt zustande kommen. Hier erlangen vom Zellkörper zusätzlich gebildete Organe besondere Bedeutung. (Originalbuchseite 55)
Lebendgebärende Arten gibt es zwar in vielen Tierklassen, doch bilden sie eher die Ausnahme. Bei weit mehr Arten wird die Keimzelle, mit entsprechender Nahrung und einer schützenden Umhüllung versehen, als Ei vom Mutterkörper abgeschieden und ihrem weiteren Schicksal überlassen. So ist es bei den meisten Gliederfüßern, ebenso bei den Wirbeltieren, namentlich bei den Fischen. Werden dagegen den Nachkommen zusätzliche Hilfsleistungen zuteil – von der Mutter, den Eltern, dem Rudel oder dem »Staat« (bei den Insekten) –, dann gibt es für solche Brutfürsorge unzählige Möglichkeiten. Die technisch so vollendeten Waben von Bienen und Wespen sind funktionell gesehen kleine, künstlich gebildete Schutzeinheiten für außerhalb des mütterlichen Körpers heranwachsende Embryos. Die Bienen bilden sie in der Regel aus Wachs, das sie aus speziellen Wachsdrüsen ausscheiden; einige Arten verwenden auch von Bäumen abgeschiedenes Harz. Die Waben der Wespen werden dagegen aus Holzfasern mit einem körpereigenen Bindemittel zusammengekittet. Die Wandstärke mancher dieser Waben beträgt nur 73 Tausendstel eines Millimeters. Zierliche Urnen aus Lehm formt die solitär lebende Pillenwespe Eumenes. Ist der Lehm zu trocken, holt sie im Magen Wasser, spuckt darauf, schabt Lehm ab und formt daraus eine Pille, die sie zum Bauplatz trägt. Mit Kiefern und Beinen wird diese dort zu einem flachen Streifen ausgezogen; aus solchen Streifen bildet sie eine Hohlkugel, die oben krugartig verengt ist. Als Nahrung für die Larve zwängt sie dann gelähmte Larven oder Raupen durch die Öffnung und hängt das Ei vor Abschluß der Urne mit einer letzten Pille an einem kurzen Faden darin auf, so daß die schlüpfende Larve gleich entsprechende Nahrung zur Verfügung hat. Ebenfalls aus Lehm bilden die im tropischen Süd(Originalbuchseite 56)
amerika lebenden Töpfervögel kugelförmige Gefäße mit seitlichem Eingang und
schaffen sich so, wie v. Frisch sagt, »eine Höhle, wo die Natur ihnen keine bietet«. An der Herstellung arbeiten Weibchen und Männchen gemeinsam. Die Arbeit erfordert mehrere Wochen, denn rund zweitausend kleine Lehmkugeln müssen als Baumaterial zum Nistplatz gebracht werden. Dann wird die durch eine Wand abgetrennte Brutkammer mit feinen Grashalmen gepolstert. Wie dieses und die vorangehenden Beispiele zeigen, spielt es bei der Anfertigung derartiger zusätzlicher Organe keine grundsätzliche Rolle, ob sie zur Gänze aus körpereigenem Material gebildet sind (wie die Waben der Bienen) oder nur zum Teil (wie jene der Wespen) oder aus körperfremdem Material (wie die aus Lehm gebildeten Urnen der Pillenwespe). Für die natürliche Auslese beziehungsweise »das Überleben des Bestgeeigneten« ist lediglich maßgebend, daß die hier benötigte Funktion des Brutschutzes angemessen erfolgreich erbracht wird. Bedenkt man überdies, daß etwa die Wabenkröte (Pipa pipa) ähnliche Schutzeinheiten für ihre Embryonen auf ihrem Rücken ausbildet, die somit von körpereigenen Zellen aufgebaut und mit dem Körper der Kröte fest verwachsen sind, dann weist das meines Erachtens ebenfalls deutlich darauf hin, daß es nicht angemessen ist, diese Schutzeinheiten als Bestandteile des Tiers anzusehen, die anderen dagegen nicht. Häufig werden auch Organe anderer Lebewesen verwendet, um vom Körper getrennte Schutzorgane für die Nachkommen zu bilden. Die meisten Nester der Vögel sind aus abgestorbenen Zweigen und Gräsern gebildet, aber auch lebende Organe von Pflanzen werden verwendet, ebenso Ausscheidungen anderer Tiere, Umweltkräfte und letztlich auch die Dienstleistung anderer Lebewesen. Der im südlichen China und (Originalbuchseite 57)
in Indien verbreitete Schneidervogel (Orthotomus sutorius) verbindet große Baumblätter durch Halme, die er durch eingebohrte Löcher hindurchzieht, so daß eine oben offene Tüte entsteht, die er mit weichem Neststoff füllt. Als Nadel dient ihm bei dieser schwierigen Arbeit sein langer spitzer Schnabel; als Faden verwendet er Spinnseide, Bast und Baumwollfasern, die er zu einem stärkeren Faden zusammendreht. Ein Zurückschlüpfen des Fadens verhindert er durch je einen Knoten auf beiden Seiten. Der Schnabel und eines der Beine arbeiten hier geschickt zusammen. Bei den Ameisen gibt es dazu ein nicht minder erstaunliches Gegenstück. Im tropischen Südasien bilden Vertreter der Gattung Oecophylla kugelige oder ovale Nester, die ebenfalls aus lebenden Blättern bestehen und durch ein dichtes seidenartiges Gewebe miteinander versponnen werden. Da bei den Ameisen nur die Larven Spinndrüsen besitzen (um sich nach abgeschlossenem Wachstum in einem Kokon einzuspinnen), war es zunächst ein Rätsel, wie es zu dieser Nestbildung kommt. Dann stellte sich heraus, daß eine Anzahl der Arbeiterinnen benachbarte Blätter zusammenziehen, wobei sie, wenn der Abstand zu groß ist, auch lebende Ketten bilden. Eine Ameise klettert dann über die andere und wird von dieser am Hinterleib festgehalten. Weitere Arbeiterinnen bringen je eine Larve, die sie in den Kiefern halten, und drücken diese,
wenn die Blattränder genügend genähert sind, mit der Mundöffnung gegen die zu verbindenden Ränder. Die Larve wird durch Druck mit den Kiefern zur Abgabe ihres Drüsensekrets genötigt und so in zweifacher Funktion verwendet, als Fadenproduzent wie auch als »Weberschiffchen«. Die vorwiegend in Afrika und Südasien verbreiteten Webervögel (Ploceidae) verwenden Beine und Schnabel, um besonders kunstvolle Nester anzuferti(Originalbuchseite 58)
gen. Das Männchen packt den Rand von Blättern und Halmen und reißt im Davonfliegen längere Streifen mit sich. Aus solchen und anderen Fäden fertigt es kugelige Nester an, die wie große Früchte von den Bäumen hängen. Die Einflugöffnung befindet sich unten und ist oft durch eine Flugröhre verlängert. Wie ein Korbflechter befestigt der Webervogel seine Fäden durch Knoten, bildet Schlingen, steckt den Faden in das Geflecht, zieht ihn an anderer Stelle wieder heraus und erzeugt so für sich und seine Brut ein Heim von großer Haltbarkeit, das auch guten Feindschutz bietet. Ist das Nest fertig, liegt es am Weibchen zu entscheiden, ob es ihm zusagt. Wenn ja, hilft es bei der Innenausstattung mit; lehnt es das Nest ab, zerstört das Männchen nach einer Woche das Bauwerk, entknotet die Schlingen und macht sich erneut an die Arbeit, um ein noch gefälligeres Heim für sich und die Familie zustande zu bringen. Wieder ganz anders gebildet ist das Nest des javanischen Flugfroschs Rhacophorus reinwardti, der ähnlich wie der Schneidervogel und die Weberameisen lebende Blätter als Baumaterial mit verwendet. Zur Paarung suchen Männchen und Weibchen am Ufer eines Gewässers ein großes Blatt oder setzen sich zwischen einige kleinere Blätter. Hier werden die Eier abgelegt und vom Männchen besamt. Gleichzeitig scheidet das Weibchen eine schleimige Flüssigkeit ab. Nach jeder Eiablage führen Männchen und Weibchen gemeinsame Strampelbewegungen aus, wobei sie die Füße in den Schleim tauchen und zusammenschlagen. Nach 30 bis 60 Minuten liegen 60 bis 90 Eier in einem Schaumklumpen von 5 bis 7 Zentimeter Durchmesser. Nun drückt das Weibchen die Blätter gegen den Schaumballen, der sich oberflächlich erhärtet und so an sie angeleimt wird. Die Eltern kümmern sich in der Folge nicht weiter um (Originalbuchseite 59)
ihre Brut. Während der Embryonalentwicklung verflüssigt sich der Schaum teilweise, so daß sich in dem Schaumnest ein kleines Aquarium bildet. In diesem können sich die schlüpfenden Kaulquappen einige Tage lang tummeln, bis ein stärkerer Regen die Außenhülle des Schaumnests erweicht und die Jungen ins Wasser schwemmt. 1958, bei meiner »Xarifa«-Expedition in den Indischen Ozean, lag unser Schiff etwa einen Monat lang in einer Bucht der Insel Groß-Nikobar im Golf von Bengalen vor Anker. Wir waren die ersten, die in diesen interessanten Gewässern tauchten, und machten dort manche neue Beobachtung. Direkt unter dem Schiff, wo sich auf dem flachen, sandigen Grund in etwa 15 Meter Tiefe über Bord geworfene Abfälle
sammelten, entdeckte ich eine aufrecht stehende Herzmuschel, zwischen deren leicht geöffneten Schalen zwei Augen hervorlugten. Für ein Muscheltier waren sie viel zu hoch entwickelt. Ich brachte die Muschel herauf, und wir setzten sie in ein großes Aquarium, wo sie bald von den darin herumkriechenden Krabben und Einsiedlerkrebsen belagert wurde. In der Muschel verbarg sich nämlich ein Oktopusweibchen (Octopus aegina), das sein Eigelege zwischen den leeren Schalen untergebracht hatte. Mit den Saugnäpfen der Fangarme hatte es sich von innen an den Schalen festgesaugt und konnte diese ebenso öffnen und schließen, wie es zuvor das darin lebende Muscheltier getan hatte. Das Oktopusweibchen verwandelte so die verwaisten Muschelschalen in eigene, seine Brut schützende zusätzliche Organe. Bei den Maulbrütern unter den Fischen (beispielsweise manche Welse und Buntbarsche) wird nicht ein vom Körper getrenntes Gebilde zum Schutz der Nachkommen erzeugt oder genutzt, sondern ein körpereigenes Organ übernimmt vorübergehend eine völlig (Originalbuchseite 60)
andere Funktion. In diesem Fall ist es das Maul. Bei den Welsen sind es durchweg die Männchen, die in solcher Weise Brutpflege verrichten: Sie verwahren die vom Weibchen abgelegten Eier im Maul, bis die Jungen ausgeschlüpft sind. Beim brasilianischen Wels Arius commersoni kann das Männchen 30 bis 40 Eier von 13 bis 15 Millimeter Durchmesser im Maul beherbergen und muß demnach während der ganzen Dauer der Brutpflege fasten. Es nimmt keinerlei Köder an, und sein Darm erfährt gewisse Rückbildungen. Bei den maulbrütenden Buntbarschen sind es die Weibchen, die das zusätzliche Schutzorgan für die Eier zur Verfügung stellen; hier flüchten auch die geschlüpften Jungfische noch in das mütterliche Maul. Nach EiblEibesfeldt haben sie zum Erkennen dieser schützenden Höhlung einen angeborenen auslösenden Mechanismus entwickelt, bei dem die Augen der Mutter eine ausschlaggebende Rolle spielen. »Sie versuchen auch in einfache Attrappen des mütterlichen Kopfes einzudringen, wobei sie sich nach der Stellung der Augen richten und einen Punkt zwischen diesen ansteuern. Liegen die Augenflecken horizontal auf einer Ebene, so ist die Attrappe wirksamer, als wenn je ein Auge oben oder unten ist.« Beim chilenischen Nasenfrosch (Rhinoderma darwini) nimmt das Männchen die vom Weibchen abgelegten 10 bis 14 dotterreichen Eier mit dem Maul auf und befördert sie in die vom Mundhöhlenboden ausgehende Schallblase, die sich unter dem Einfluß dieser Füllung bis zum Hinterende des Kopfes ausdehnt. In diesem Kehlsack ordnen sich die Eier in zwei Schichten, von denen die eine der rückseitigen, die andere der bauchseitigen Wand anliegt. Von dort wird ihnen Sauerstoff und wohl auch Nahrung zugeführt. Die Jungen bleiben bis zum Abschluß ihrer Verwandlung im Kehlsack und verlassen ihn als vollkommene Frösch(Originalbuchseite 61)
chen. Das brutpflegende Männchen ist am Ende der Pflegezeit bis auf Haut und Knochen abgemagert. V. Frisch schreibt: »Das ist wohl die einzigartigste Kinderstube der Tierwelt. Sie braucht vom Vater Frosch nicht gebaut zu werden, sie ist ihm von der Natur geschenkt.« Ist es hier also nicht ein zusätzliches Organ, sondern ein aus Zellen gebildetes natürliches Organ, das die Schutzfunktion für die Jungen vorübergehend übernimmt, so ist es bei den Meeresschildkröten der heiße Sand, dem die abgelegten Eier von der Mutter zum Ausbrüten »überlassen« werden. Da diese Reptilien von an Land lebenden Vorfahren abstammen, drängt sie ihr Instinkt, zur Eiablage an Land zurückzukehren. Sie klettern mühevoll an Sandstränden empor, heben mit den rückwärtigen Flossen eine Grube aus, legen ihre Eier darin ab und decken sie wieder mit Sand zu. Schutz und Brutgeschäft übernehmen hier als fördernde Faktoren Sand und Sonne. Für die Energiebilanz, die bei allen Tieren eine wichtige Rolle spielt, ist die Einsparung durch diese anorganische »Ziehmutter« von beträchtlicher Bedeutung. Eine andere Energiequelle machen sich die Großfußhühner (Megapodiidae) der malayisch-australischen Tropen zunutze. Sie bilden bis fünf Meter hohe »Bruthaufen«, in denen die Gärungswärme des darin angehäuften Pflanzenmaterials das Brüten ihrer Eier übernimmt. Bis zu elf Monate im Jahr sind diese Vögel damit beschäftigt, die innere Wärme der Bruthaufen so zu regeln, daß die darin deponierten Eier auf konstant 34° Celsius gehalten werden. Die Temperatur wird fast täglich kontrolliert und für die meiste Zeit auf Höchstschwankungen von 1° Celsius reguliert. Mit fortschreitender Jahreszeit ändert sich dabei die Methode. Im Frühling genügt es, die überschüssige Gärungswärme durch Luftschächte abzuleiten und die Öffnungen rechtzeitig wieder zu schließen. Im Som(Originalbuchseite 62)
mer läßt die Gärung nach, aber die Sonne gewinnt an Bedeutung. Der Gefahr einer Überhitzung begegnen die Vögel durch Erhöhung der Sandschicht, die den Hügel bedeckt. Dringt allmählich die Sonnenwärme trotzdem tiefer ein, ergreifen sie eine ebenso überraschende wie wirksame Gegenmaßnahme: In der Kühle des frühen Morgens räumen sie die Kuppe ab, scharren einen tiefen Krater bis hart an die Eier und breiten den Sand aus. Nachdem er abgekühlt ist, werfen sie ihn wieder in das Loch und häufen zur Regulierung das alte Material in dicker Schicht darüber, was sie jedesmal eine Arbeit von zwei bis drei Stunden kostet. Der australische Ornithologe Harold J. Frith baute in ein solches Nest ein Heizinstrument ein, das er von außen bedienen konnte. Die Hühner reagierten zunächst richtig. Im Frühling pflegten sie das Nest nur alle zwei bis drei Tage zu öffnen. Als nun die Wärme künstlich gesteigert wurde, öffneten sie es täglich und bekamen so die Regelung wieder in den Griff. Als jedoch im Sommer aufgeheizt wurde, erkannten sie nicht, daß die Wärme von unten kam. Der Jahreszeit gemäß richteten sie ihre Tätigkeit gegen eine Überhitzung durch die Sonne ein: Sie bauten also den Hügel immer höher und höher, und er wäre wohl noch weit höher geworden, hätte nicht ein Defekt am Generator das Experiment beendet. Während diese Leistungen schon sehr an die technische Manipulation von Naturkräften
durch den Menschen erinnern, zeigt der allgemein bekannte Kuckuck, wie man nicht nur Blätter, Sand, Sonne und Gärungswärme für das eigene Brutgeschäft heranziehen kann, sondern auch andere Tiere. Die Weibchen verfahren hier so, daß sie zunächst andere Vogelarten bei ihrem Nestbau beobachten. Sobald diese ihre Eier ablegen, legt das Kuckucksweibchen möglichst unbemerkt ein eigenes hinzu und trägt oft eines der darin (Originalbuchseite 63)
liegenden fort. Die betroffenen Vögel kümmern sich meistens nicht darum und werden so zu Pflegeeltern, die das fremde Ei gemeinsam mit den eigenen ausbrüten. Vier Stunden nach dem Schlüpfen des jungen Kuckucks erwacht bei diesem blinden, hilflosen Jungen der angeborene Trieb, die anderen Eier und schon geschlüpfte Nestgenossen aus dem Nest zu entfernen. Er schiebt sich unter sie und drängt sie unter Anstemmen mit dem Kopf und den Füßen über den Rand. Aufgrund seines besonders großen und auffälligen Sperr-Rachens weckt er den Fütterungstrieb der Zieheltern weit stärker als die eigenen Jungen – sofern solche noch vorhanden sind. Sie müssen vom Morgen bis zum Abend Futter heranschaffen und folgen dem jungen Kuc kuck, wenn er das Nest verläßt, oft für einige Wochen, um ihn weiter zu füttern. Der Erfolg dieser auf angeborenen Verhaltenssteuerungen sowohl bei der Mutter als auch bei den Jungen beruhenden Methode, andere Vögel das Brutgeschäft ausführen zu lassen, sie also für diese Zeit in zusätzliche Organe des eigenen Leistungskörpers zu verwandeln, zeigt sich hier deutlich. Der Kuckuck ist heute in über 140 Arten über weite Teile der Erde verbreitet; etwa 50 von ihnen sind solche Brutparasiten. Diese Beispiele, denen ich zahlreiche weitere hinzufügen könnte, belegen meines Erachtens nachhaltig, daß vom Körper getrennte Organe durchaus nicht ein Privileg menschlicher Erfindungsgabe sind. Bereits zahlreiche Tierarten haben solche zusätzlichen funktionellen Einheiten, welche die Leistungsfähigkeit ihres Körpers erheblich steigern, hervorgebracht. Sie werden entweder aus körpereigenen Abscheidungen gebildet (wie das Spinnennetz) oder aus Umweltmaterial aufgebaut (wie die Nester der (Originalbuchseite 64)
Vögel, die aus Lehm gestalteten Urnen der Pillenwespe und der Sandtrichter des Ameisenlöwen). Unserer Wahrnehmung stellen sie sich als etwas vom Zellkörper des Tiers deutlich Getrenntes dar, doch funktionell gehören sie zu ihm. Jedes dieser zusätzlichen Organe muß mit entsprechendem Energieaufwand gebildet werden – nicht anders als die über Zelldifferenzierung entstehenden Organe. Jedes von ihnen muß dem Organismus, dem es dient, mehr Nutzen einbringen, als seine Herstellung und seine etwaige Betreuung an Aufwand kosten, muß allenfalls kontrolliert, gepflegt, repariert und nötigenfalls erneuert werden – nicht anders als bei den Organen, die aus Zellen entstehen. Mehr als das: Fast alle dieser zusätzlichen
Organe könnten, wie die genannten Beispiele zeigen, ihre Leistungen gar nicht erbringen, wenn sie mit dem Körper, der sie herstellt, fest verwachsen wären. Meistens könnte er sie nicht einmal bilden. Wenn ich in meiner Darstellung auf so viele Einzelheiten eingegangen bin, dann geschah dies, um zu zeigen, wie viele günstige Mutationen und sexuelle Rekombinationen der Gene notwendig gewesen sein müssen, damit so differenzierte Körperbildungen und Verhaltenssteuerungen entstehen konnten. Und jedes Zwischenglied in diesen oft über Jahrmillionen sich erstreckenden Entwicklungsfolgen mußte der natürlichen Auslese gegenüber bestehen, also Selektionswert aufweisen! Das scheint mir ein weiterer deutlicher Beweis dafür zu sein, daß die zusätzlichen Organe für das Überleben und die Weiterentwicklung der betreffenden Arten von wesentlicher Bedeutung waren, daß man sie somit keinesfalls als etwas vom Zellkörper völlig Getrenntes, nicht zu diesem Gehörendes ansehen kann.
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(Originalbuchseite 65)
3 Die Entstehung der Hyperzeller
In den ersten beiden Kapiteln habe ich darzulegen versucht, daß die natürliche Auslese nicht eigentlich an den materiellen Strukturen der Lebewesen ansetzt, sondern an Leistungen, die Lebewesen erbringen müssen, um bestehen und die Entfaltung des Lebens fortsetzen zu können. Stimmt meine Behauptung, daß die meisten dieser Leistungen über sehr verschiedene Körperbildungen und Verhaltensweisen realisiert werden können, dann kommt es ganz offensichtlich nicht so sehr auf die konkrete Beschaffenheit dieser Körper und Verhaltensweisen an, sondern darauf, was sie leisten, also auf ihr Ergebnis, auf ihren Erfolg. Wir werden später sehen, daß dieser durchaus meßbar ist. Wie ich anhand zahlreicher Beispiele gezeigt habe, müssen Organe, die lebenswichtige Leistungen erbringen, nicht unbedingt mit dem Körper des Lebewesens, dem sie dienen, fest verbunden sein. Die natürliche Auslese, die darüber entscheidet, was sich behaupten und fortpflanzen kann, wird dadurch nicht beeinflußt, ebensowenig dadurch, aus welchem Material Organe bestehen und auf welche Weise sie zustande kommen. Worauf es einzig und allein ankommt, ist das Leistungsergebnis, der Erfolg. So betrachtet sind die Lebewesen weniger materielle Phänomene als vielmehr Leistungsgefüge. In der Regel werden Organe der Lebewesen aus Zellen aufgebaut. Es gibt jedoch eine weitere Möglichkeit, zu leistungserbringenden Einheiten zu gelangen. Sie besteht darin, daß der fertiggestellte Zellkörper
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aufgrund angeborener Verhaltensweisen weitere Organe bildet, die nicht mit ihm fest verbunden sind und entweder aus körpereigenen Abscheidungen oder aus Umweltmaterial aufgebaut sein können. Solche leistungserbringende Einheiten – etwa das Spinnennetz oder der Sandtrichter des Ameisenlöwen – wurden bisher nicht als Teile des Lebewesens angesehen, sondern als dessen »Werk«. Andererseits erbringen derartige Einheiten ebenso fördernde Leistungen wie die aus Zellen gebildeten Organe und beeinflussen den Selektionswert gegenüber der natürlichen Auslese ebenso wie diese. Deshalb vertrete ich die Ansicht, daß auch sie integrale Bestandteile des Leistungskörpers der Lebewesen sind. Wenn es in der Evolution nur verhältnismäßig selten zu dieser zweiten Möglichkeit der Organbildung kam, dann liegt das wohl nicht zuletzt daran, daß sie ziemlich komplexe Verhaltenssteuerungen erfordert, die über Mutationen und Rekombinationen nur unter sehr günstigen Voraussetzungen zustande kommen. Man hat deshalb dieser Möglichkeit, die lediglich in manchen Tiergruppen besondere Fortschritte zeitigte, keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, ja die damit verbundenen Vorgänge gar nicht als Organbildung eingestuft. Bei den höheren Wirbeltieren steigerte sich indes die Fähigkeit, über Lernvorgänge individuelle Verhaltenssteuerungen zu bilden, so sehr, daß schließlich ein Lebewesen entstand, das aufgrund besonderer geistiger Fähigkeiten zielbewußt zusätzliche Organe bildet. Über sprachliche Verständigung vermag es außerdem die Anweisungen, wie diese zusätzlichen Organe herzustellen und einzusetzen sind, an Artgenossen weiterzugeben. Weil so die Bindung an angeborene Verhaltensweisen und die Abhängigkeit vom Genom entfielen, vermochte dieses Lebewesen weit
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schneller an solche von seinem Körper getrennte Organe zu gelangen, und dieser Bildungsmodus konnte sich fast unbeschränkt entfalten und immer weiter Leistungssteigerungen ermöglichen. Da das Lebewesen, über das sich diese evolutionäre Wende vollzog, wir selbst sind – der Mensch –, fällt es uns schwer, den Übergang objektiv zu sehen. Er bringt es unter anderem mit sich, daß der Mensch nicht eine unter vielen Arten von Säugetieren ist, sondern funktionell am ehesten mit jenen Einzellern verglichen werden kann, über welche die Bildung von Vielzellern ihren Ausgang nahm. Wie bis heute jeder vielzellige Organismus aus einer Einzelzelle – der Keimzelle – hervorgeht, so haben auch die größeren Leistungskörper, die der Mensch aus zusätzlichen Organen aufbaut, stets einen oder mehrere Menschen als steuerndes Zentrum. Ich bezeichne diese größeren Lebenseinheiten als Hyperzeller und behaupte, daß sie die Evolution der Einzeller und der Vielzeller unmittelbar fortsetzen.
Der Wendepunkt Mit dem für unsere Weltanschauung so wichtigen Thema der Stellung des Menschen in der Lebensentwicklung haben sich Vertreter sehr verschiedener Denkrichtungen in ausführlichen Arbeiten beschäftigt; wir werden auf einige dieser Ansichten näher eingehen. Zur Klärung der besonders wichtigen Frage, was unsere geistigen Fähigkeiten jenen der uns am nächsten verwandten Tiere so außerordentlich überlegen macht, scheint mir keine Untersuchung mehr beizutragen als die bereits 1921 von Wolfgang Köhler ausgeführten Experimente mit Schimpansen. Als Köder diente bei diesen Versuchen eine unter
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der Decke eines hohen Käfigs befestigte Banane. Mittel, um an diese zu gelangen, waren im Käfig verstreute leere Kisten, die aufeinandergestellt werden konnten, sowie Stockteile, die so gefertigt waren, daß sie durch Zusammenstecken einen längeren Stock ergaben. Die Intelligenz der Schimpansen (die dem Menschen entwicklungsgeschichtlich besonders nahe stehen) wurde also daran getestet, ob es ihnen unter diesen Umständen möglich wäre, an die für sie erwünschte Frucht zu gelangen. Einigen besonders intelligenten Tieren gelang dies tatsächlich. Nach einer Reihe erfolgloser Versuche, auftretendem Ärger, eingelegten »Denkpausen« und weiteren Bemühungen bekamen sie die Situation in den Griff und lösten das Problem. Als jedoch Köhler die Kisten und die Stockteile in mehrere durch Gänge verbundene Käfige verteilte, glückte es keinem der Versuchstiere mehr, an die Banane zu gelangen. Warum? Ganz offensichtlich deshalb, weil die Kisten und die Stockteile sich nicht gleichzeitig in ihrem Blickfeld befanden. Ein besonderer Fortschritt der menschlichen Intelligenz gegenüber jener geistig höchstentwickelter Tiere – seien sie uns nahe verwandt wie die Affen, seien sie anderen Tiergruppen zugehörig wie die Oktopoden – besteht offenkundig darin, daß wir Erfahrungswerte, auch wenn sie räumlich oder zeitlich getrennt an uns gelangen, in unserem Gehirn – unserem Vorstellungsvermögen, unserer Phantasie – miteinander verbinden können. Das ermöglicht uns, Eindrücke und Erfahrungen, die wir an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeitpunkten gewonnen haben, trotzdem »im Geist« wie auf einen Projektionsschirm zu rufen und dort, soweit unsere Erinnerungsfähigkeit es zuläßt, miteinander zu vergleichen und gegeneinander abzuwägen. In dieses Spiel von Vorstellungen und Gedanken vermögen
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wir auch uns selbst objektiv einzubeziehen – was wir als unser Ichbewußtsein erleben. Wir können beliebig Pläne schmieden, uns überlegen, welche Folgen diese oder jene Handlung nach sich ziehen mag, und wir können bei solcher Kombination und Planbildung auch Fehler in der möglichen Realisierung entdecken, ohne dies praktisch erproben zu müssen. Wir können also genau das, was in der bisherigen Evolution nur über sehr viele Mutationen und Rekombinationen verwirklicht wurde, bereits im voraus auf seine Erfolgschancen prüfen. Voraussetzung ist bloß, daß wir über das nötige geistige Handwerkszeug verfügen: über Eindrücke und Erfahrungen, die für die betreffende Problematik von Belang sind und so für unsere innere Erforschung der Zusammenhänge und der Auswirkungen herangezogen werden können. Ob es der Forschung je gelingen wird, genau zu ermitteln, wo und über welche Vorgänge in dem ungeheuer vernetzten Geflecht von Ganglienzellen unserer Großhirnrinde diese neue Leistungsfähigkeit zustande kommt, ist fraglich. Da es jedoch hierbei verschiedene Grade der Begabung gibt und diese Fähigkeit auch bei Ermüdung, Erkrankung und Gehirnschäden deutlich abnimmt oder gar ganz erlischt, kann kaum ernsthaft daran gezweifelt werden, daß es auch hier um konkrete Leistungen des Gehirns geht. Wie beim Bau einer Brücke, auch wenn sie noch so lang ist, nur der letzte Meter zählt, der schließlich die Verbindung zum anderen Ufer herstellt – woraus sich neue Möglichkeiten ergeben –, so ist es auch denkbar, daß bei der allmählichen Entwicklung der Lern- und Kombinationsfähigkeit der Lebewesen, die sich bis zu den Einzellern zurückverfolgen läßt, zum Schluß nur ein winziger letzter Fortschritt notwendig war, um funktionell »das andere Ufer zu erreichen«, wo sich dann neuartige Möglichkeiten
eröffneten. (Originalbuchseite 70)
Analysiert man den Vorgang im Blick auf eine Verbesserung im Leistungsgefüge, dann ist festzustellen, daß hier eine entscheidend wichtige Grundleistung, jene der Bildung neuer, leistungssteigernder Organe, beim Menschen vom Genom in die Kompetenz der für Intelligenzleistungen zuständigen Großhirnrinde überging. Wie in einem kühnen Sprung verlagerte sie sich von einer Einheit (den DNS-Fäden des Genoms) auf eine gänzlich andere (auf Ganglienzellen der Großhirnrinde). Dieser Übergang auf eine andere Einheit wurde zum Ausgangspunkt für unabsehbar viele weitere Leistungssteigerungen. Besondere »Großmutationen« waren dafür nicht notwendig. Wir kommen auf das Thema etwas später ausführlicher zurück. Diese Leistungsverlagerung hätte jedoch keine besonderen Auswirkungen gehabt, hätte sich nicht gleichzeitig eine zweite vollzogen. Aufgrund der differenzierten sprachlichen Verständigung beim Menschen konnten die so zustande kommenden Fortschritte unmittelbar an andere Artgenossen weitergegeben werden. Die Anweisungen für den Aufbau zusätzlicher Organe und für deren Verwendung mußten also nicht länger in den DNS-Fäden des Genoms kodiert sein. Auch in diesem Fall verlagerte sich eine wichtige Funktion von einem materiellen Gefüge auf ein völlig anderes, nämlich wiederum vom Genom auf die Großhirnrinde, genauer: von dem für Fortpflanzung zuständigen Bereich der Gene auf die in der Großhirnrinde zuständigen Bereiche für sprachliche Verständigung. Auch diese zweite Verlagerung ist insofern mit einem gewaltigen Sprung zu vergleichen, als die eine funktionelle Einheit die andere in keiner Weise direkt beeinflußte. Ein Organkomplex (die Großhirnrinde) mischte sich auch hier gleichsam in die bisherige Kompetenz eines anderen ein. Er
übernahm dessen Aufgabe im arbeitsteiligen Gefüge des (Originalbuchseite 71)
Körpers, ja führte diese besser weiter. Dadurch wurden Fortschritte möglich, welche die ursprüngliche Einheit nie hätte erbringen können. Man kann diesen Vorgang ebenfalls als Leistungsverlagerung bezeichnen oder als Shift (englisch für »Verschiebung, Umschwung, Lagenwechsel, Richtungsänderung«), was den Unterschied zur Mutation noch besser zum Ausdruck bringt. Bei Mutationen führt, wenn sie sich als günstig erweisen, eine Änderung in der materiellen Beschaffenheit des Genoms zu Leistungsverbesserungen. Beim Shift gehen Leistungen von einem Organgefüge auf andere über (die somit auch über einen anderen Selektionsdruck zustande kamen). Hier besteht deshalb kein unmittelbarer kausaler Zusammenhang zwischen der einen Bildung und der Entstehung der anderen. Indes ist auch hier kein gezielter Wille am Werk, sondern, ebenso wie bei den Mutationen, der Zufall. Verwenden wir die Bezeichnung Shift für derartige Leistungsverlagerungen, dann müssen wir allerdings im Auge behalten, daß zwar deren Ergebnisse ungeheure neue Möglichkeiten eröffnen können, es jedoch unter Umständen beträchtliche Zeit dauert, ehe diese Möglichkeiten Wirklichkeit werden. Im Fall der Bildung zusätzlicher Organe durch den Menschen und der sprachlichen Weitergabe ihrer Herstellungsund Verwendungsvorschriften vollzog sich die Realisierung zunächst überaus langsam und zögernd. Über eine Million Jahre lang verwendete der Urmensch günstig geformte Geröllsteine oder deren Bruchstücke zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit seiner Hand (Pebblekultur). Eine weitere Million Jahre nahm die Verbesserung des zugerichteten Faustkeils und seiner Abschläge als Schaber, Messer, Bohrer usw. in Anspruch. Immerhin dürften unsere Vorfahren in dieser langen Zeitspanne bereits über eine
beträchtliche (Originalbuchseite 72)
Anzahl zusätzlicher Organe verfügt haben, die aus pflanzlichem und tierischem Material gefertigt wurden, das keine Spuren hinterließ (Grabstock, Wurfspeer, Fellkleidung, Lederschuhe, Seile, Netze, Fallen und vieles andere). Doch erst in den letzten 10000 Jahren haben sich die Möglichkeiten dieser eminenten Fortschritte mit zunehmender Schnelligkeit realisiert. Dabei spielten Erfindungen zur besseren Fortbewegung, zur Informationsübermittlung und zur Energieverwertung eine wesentliche Rolle, förderten sich gegenseitig und steigerten sich so. Neben diesen beiden Shifts – wenn wir im weiteren diese Bezeichnung für Leistungsverlagerungen von einer funktionellen Einheit auf eine andere verwenden wollen – war zur »Menschwerdung« jedoch noch ein dritter, nicht minder wichtiger nötig. Denn alle Fortschritte, welche die vom Menschen gebildeten Hyperzeller auszeichneten, hätten nie erfolgen können, wenn unsere Urvorfahren an diesem entscheidenden Entwicklungspunkt nicht über geeignete Organe verfügt hätten, die es ihnen ermöglichten, diese gesteigerte Leistungsfähigkeit auch in die Tat umzusetzen. Unsere Hände mit dem opponierenden Daumen waren ideal zum Werkzeuggebrauch und zur Werkzeugherstellung geeignet. Wie allgemein bekannt ist, verdanken wir sie der Anpassung unserer Vorfahren an die kletternde Lebensweise in Urwaldbäumen. Eine dritte, somit auf eher prosaische Art erreichte funktionelle Einheit mußte somit noch hinzukommen, damit das »jenseitige Ufer« nicht nur erreicht wurde, sondern dort auch etwas unternommen werden konnte. Wie bedeutend der Beitrag der Hände zu allem ist, was der Mensch schuf und erreichte, wird weithin zugunsten der geistigen
Fortschritte vergessen. Ein praktisches Beispiel zeigt vielleicht am besten, wie wenig bei der Beurteilung evo(Originalbuchseite 73)
lutionsnotwendiger Leistungen Wertvorstellungen am Platz sind. Betrachten wir die Delphine. Wie Dressurversuche in Ozeanarien gezeigt haben und auch die Ausbildung ihres Gehirns verrät, sind diese ins Meer zurückgekehrten Landwirbeltiere besonders intelligent und verfügen auch über eine sehr differenzierte akustische Verständigung. Trotzdem könnten Delphine auch in Millionen Jahren keine dem Menschen ähnliche evolutionäre Entwicklung einleiten, und zwar deshalb, weil es ihnen an geeigneten Greiforganen fehlt, um Werkzeuge herzustellen und diese zielführend einzusetzen. Sie können sich weder einen Bleistift fertigen noch diesen gebrauchen, noch einen Postkasten anfertigen, noch eine Postorganisation auf die Beine stellen – um nur eine Entwicklungskette als Beispiel anzuführen. Dabei legen diese Zahnwale in ihrer Embryonalentwicklung immer noch die gegliederten Finger der vorderen Gliedmaßen ihrer Landvorfahren an. Doch diese Relikte sind jetzt in den steifen Flossenblättern versteckt und können nicht mehr reaktiviert werden. Und ebensowenig könnten sich die Flossenblätter über Mutationen und Rekombinationen in effiziente Greiforgane verwandeln. Dieses Beispiel zeigt, wie die Entfaltung des Lebens manchmal nur über eine Verbindung sehr verschiedener Leistungen möglich wurde. Manche Leistungen erfordern stärker differenzierte materielle Gefüge als andere, doch für den Evolutionsverlauf sind Leistungen sehr verschiedener Qualität gleichermaßen wichtig. Für uns Menschen stellt sich das Geistige leicht als eine andere Seinsebene dar. Für das Zustandekommen benötigter Leistungen gibt es indes keine prinzipiellen Wertunterschiede. Das Beispiel der Greifhand, die wir der Klettertätigkeit in Urwaldbäumen
verdanken, zeigt dies sehr anschaulich. Und (Originalbuchseite 74)
wie jeder weiß, führen nicht selten auch angestrengte geistige Bemühungen zu erheblichen Mißerfolgen, während das zufällige Zusammentreffen günstiger Umstände schon oft zum Ausgangspunkt bedeutender Erfindungen und Erfolge geworden ist. Welche Leistungsverlagerung fand nun bei den Affenhänden statt? In diesem Fall veränderte sich nicht das Organ, sondern die Umwelt. Vor etwa 3 Millionen Jahren wurden aufgrund von Klimaänderungen die Urwälder spärlicher, und die Savannen breiteten sich immer weiter aus. Das war nach heutiger Ansicht die Ursache dafür, daß einige Affen in die Steppe übersiedelten und sich den dortigen Gegebenheiten anpaßten. Es kam zur Aufrichtung des Körpers und zur Fortbewegung auf den Hinterbeinen; Vorderbeine und Kletterhände wurden so für andere Tätigkeiten verfügbar. Das aber war die Voraussetzung dafür, daß zusätzliche Organe Verwendung fanden, zuerst Äste und Steine, die zu Grabstock und Wurfspeer, zum Faustkeil, zum Schaber usw. funktionalisiert wurden und dann immer weitere Leistungsfähigkeiten möglich machten. So verlagerte sich nicht eine Leistung auf eine andere funktionelle Einheit, sondern ein für eine andere Funktion (Klettern auf Bäumen) entwickeltes Organ ermöglichte unverhofft eine wesentliche Leistungssteigerung in einem anderen Funktionsbereich. Auf diese weitere Möglichkeit für plötzliche Fortschritte kommen wir noch zurück.
Spezialist in vielseitiger Spezialisierung Wie ist nun dieser Vielzeller besonderer Art, der durch eine
zunehmende Anzahl zusätzlicher Organe seinen genetischen Körper immer leistungsfähiger macht, aus (Originalbuchseite 75)
Sicht der Evolution einzustufen? Die in den vorangehenden Kapiteln angeführten Lebewesen, die aufgrund angeborener Verhaltensweisen zusätzliche Organe bilden, sind mit diesem Wesen kaum vergleichbar. Bei ihnen verbessert sich durch die zusätzliche Organbildung meistens nur eine Leistungsfähigkeit (etwa bei Nahrungserwerb, Feindabwehr oder Fortpflanzung), was sie in der Regel zu extremen Spezialisten macht. Der Mensch dagegen gelangte zu der Fähigkeit, so gut wie alle für Lebewesen maßgebenden Grundleistungen sowie viele Hilfsleistungen durch zusätzliche Organe zu verbessern. Das aber erlaubt ihm, sich abwechselnd auf sehr verschiedene Tätigkeiten zu spezialisieren. Wie Teilhard de Chardin treffend formulierte, vermag hier »dasselbe Individuum gleichzeitig Maulwurf, Vogel oder Fisch zu sein«. Als einziges unter allen Tieren habe »der Mensch die Fähigkeit, Abwechslung in sein Werk zu bringen, ohne endgültig sein Sklave zu werden«. Es ist hier vielleicht angebracht, die generellen Vor- und Nachteile der Spezialisten kurz ins Gedächtnis zu rufen. Je mehr ein Lebewesen auf eine bestimmte Leistung spezialisiert ist, um so mehr wird es in den Biotopen und Nischen, wo es akkurat auf diese ankommt, Konkurrenten überlegen. Es kann dort sogar zu einer Monopolstellung gelangen, wie das bei zahlreichen extrem spezialisierten Arten der Fall ist. Diese Chance erkauft jedoch der Spezialist mit einem entsprechend größeren Risiko. Ändern sich die Umweltbedingungen, etwa das Nahrungsangebot, dann hat er kaum eine Möglichkeit zu überleben. Blutsaugende Mücken sind auf eine bestimmte Beute, der sie mit ihrem Saugapparat Blut entziehen können, angewiesen. Die Mistel, die sich die kostspielige Bildung von Stämmen und Wurzeln erspart, kann in
ihrer Sonderstellung nicht überleben, wenn Umstände eintreten, (Originalbuchseite 76)
die ihre Strategie und die sich daraus ergebenden Privilegien zunichte machen. Sterben die Vögel aus, die ihre Verbreitung besorgen, dann stirbt auch sie aus. Bei der menschlichen Berufstätigkeit ist es nicht anders. In der heute immer komplexer werdenden Wirtschaft wird jeder neu auftauchende Bedarf zu einer neuen »Nische«, auf deren Erschließung sich Anbieter spezialisieren können. Ist nur einer dazu imstande, erringt er hier ein Monopol. Konrad Lorenz bezeichnete den Menschen als einen »Spezialisten auf Unspezialisiertsein«. Er gründete diese Einschätzung darauf, daß der Mensch als Generalist über höchst verschiedene Fähigkeiten verfüge. So könne er etwa an einem Tag 35 Kilometer marschieren, an einem Hanfseil fünf Meter emporklettern und unter Wasser in vier Meter Tiefe 15 Meter weit schwimmen und dabei einige Gegenstände vom Grund heraufbringen, »was kein anderer Säuger vermag«. Diese Einschätzung des Menschen ist zweifellos berechtigt, wenn man der bisherigen Meinung anhängt, daß die zusätzlichen Organe nicht zu berücksichtigen seien. Auf ihnen beruht jedoch andererseits die Überlegenheit und damit der Selektionswert des Menschen. Ein nackter, isoliert aufwachsender Mensch hat heute kaum noch eine Chance zu überleben. Die Besonderheit des Menschen wird aus dieser Perspektive außer acht gelassen. Denn als einziges unter allen Lebewesen vermag er seinen Körper laufend zu verändern. Jagt ein Eingeborener mit einem Wurfspeer eine Gazelle, dann ist er besser als die meisten Raubtiere auf Beuteerwerb spezialisiert. Verstaut er den Speer in der Hütte und zieht anschließend ein Boot ins Wasser, mit dem er trockenen Fußes einen Fluß
überquert, dann ist er ein völlig anders spezialisiertes Lebewe(Originalbuchseite 77)
sen. Nirgends auf unserem Planeten hat die Evolution etwas Ähnliches hervorgebracht: ein Lebewesen, das seinen Leistungskörper nach Belieben verändert. So gesehen, muß man den Menschen wohl weit eher als einen Spezialisten in vielseitiger Spezialisierung einstufen. Für uns Menschen dürfte kaum etwas schwieriger sein, als uns von unserer subjektiven Selbsteinschätzung frei zu machen. Wohl ist es jedermann klar, daß Werkzeuge, Waffen, Maschinen, Bauten und sonstige Hilfsmittel unsere Leistungsfähigkeit erheblich steigern, und jeder setzt sich heftig zur Wehr, wenn ein anderer ihm solche zusätzlichen Organe wegnehmen will. Doch da die Nerven und die Blutgefäße nicht in diese Einheiten hineinreichen, empfinden wir sie als etwas von uns Getrenntes, und wir denken nicht einen Augenblick daran, daß getrennte Einheiten uns kaum wirklich dienen könnten, wenn sie etwa mit unserem Körper verwachsen wären. Carl von Linné stufte den Menschen in seinem System der Lebewesen als Art Homo sapiens ein. Die später von Louis Leakey gewählte Bezeichnung Homo habilis für einen unserer Urvorfahren deutet bereits an, daß es nicht so sehr auf die geistigen Fähigkeiten ankommt als vielmehr darauf, wozu der Mensch diese einsetzt. Aus der Sicht meiner Theorie repräsentiert unser ferner Vorfahr den letzten Vielzeller in der über die Affen verlaufenden Entwicklungslinie und gleichzeitig den ersten Hyperzeller: das erste Lebewesen, das die Leistung seines Körpers aufgrund geistiger Fähigkeiten durch Bildung zusätzlicher Organe beliebig steigern kann. In ständiger Veränderung vermag der Mensch sich abwechselnd einmal auf diese und dann wieder auf jene Spezialleistung auszurichten. Die Ablegbarkeit der
zusätzlichen Organe, ihr Nicht-mit-dem-Körper-verwachsen-Sein ist dafür die nötige Voraus(Originalbuchseite 78)
setzung. Wer mit einem Bleistift schreibt, ist auf eine gänzlich andere Spezialtätigkeit ausgerichtet, als wenn er anschließend mit Pfannen und Töpfen hantiert, um eine Speise zuzubereiten. Zur Benennung dieses ersten Vertreters einer neuen Ära der Lebensentwicklung, also des ersten Hyperzellers, erscheint mir eine neue Bezeichnung berechtigt, und als solche wähle ich Homo Proteus. Sie ist der griechischen Mythologie entnommen. Proteus hieß ein in einer Höhle hausender Riese, der beliebig seine Gestalt verändern konnte. Wie ein Zauberkünstler vermag der Mensch seinen Körper künstlich zu ergänzen und vielseitig zu verbessern. Das ist sein entscheidendes Merkmal. Ich habe in aller Welt Menschen bei den verschiedensten Aktivitäten gefilmt. Um ihre Tätigkeit nicht zu beeinflussen, verwendete ich ein Objektiv mit eingebautem Spiegel, das sie glauben ließ, ich filmte in eine andere Richtung. Gleichzeitig veränderte ich den normalen Zeitablauf durch Zeitraffung, bei Nahaufnahmen durch Zeitlupe. Wie ich feststellte, zwingen solche Aufnahmen unser Gehirn, den Menschen einmal aus einer ungewohnten Perspektive zu sehen, und führen so zu mancher interessanten Einsicht. Auf der Insel Bali filmte ich mit dieser neuen Methode einen Ziegelmacher bei seiner Arbeit. Die stark »verschnellte« Aufnahme zeigte später deutlich, wie maschinenhaft seine Handgriffe aufeinander abgestimmt waren. Mit stets gleichen Bewegungen füllte er eine roh gefertigte Holzform mit Lehm, strich sie glatt, hob das Holzgestell ab – und zwölf fertige Ziegel lagen auf dem Boden, wo sie dann trockneten. Daneben legte er den Rahmen wieder auf den Boden und füllte die Abschnitte abermals mit Lehm. In einer Automobilfabrik in Deutschland filmte ich einige Monate später die Bewegungen der
Arbeiter an einem Fließband, (Originalbuchseite 79)
unter ihnen zwei Männer an einer Spezialmaschine, deren Bedienung etwa achtzig präzise Handgriffe erforderte. Der eine war ein Anfänger, und ich konnte später bei der Analyse dieser Aufnahme deutlich sehen, wie schwer es für ihn war, die Bewegungen richtig auszuführen und den Gesamtablauf ökonomisch abzustimmen. Beim zweiten Mann, der schon seit drei Jahren an dieser Maschine arbeitete, war die Koordination perfekt. Die Maschine war wohl von ihm körperlich getrennt, doch er schien trotzdem mit ihr zu einer Einheit verwachsen. Sie war zu einem integralen Bestandteil seines Leistungskörpers geworden, selbst wenn seine Nerven und seine Blutgefäße nicht in ihre Metallstruktur hineinreichten. Dieser Anblick legte mir eine wichtige und überraschende Schlußfolgerung nahe. Bei jeder derartigen Abstimmung eines Menschen mit Werkzeugen und Maschinen wird im Gehirn des Betreffenden eine besondere »Software« zur Steuerung aufgebaut, die wahrscheinlich ähnlich beschaffen ist wie die angeborenen Steuerungsprogramme, die das Instinktverhalten von Tieren lenken. Diese stellen, wie sich aus Experimenten mit Gehirnsonden schließen läßt, komplexe »Verdrahtungen« zwischen zahlreichen Ganglienzellen dar. Beim Menschen und allen lernbefähigten Tieren kommen solche Steuerungsprogramme über Lernvorgänge zustande und werden zu ebensolchen funktionellen Einheiten wie das Werkzeug oder die Maschine, die sie lenken. Auch sie müssen als zusätzliche leistungserbringende Einheiten angesehen werden, doch sind sie nicht vom Körper getrennt, sondern kommen im Gehirn durch Veränderung der Ganglienstruktur zustande. Das aber bedeutet, daß zusätzliche Organe nicht unbedingt vom Körper getrennt sein müssen. Wesentlich ist bloß, daß ihre Herstellung und ihre Steuerung nicht
im Erbgut (Originalbuchseite 80)
(Genom) kodiert sind und nicht über Zellteilung fortgepflanzt werden können. Bei allen sämtlichen »Lerntieren«, die ihre Erfahrungen und ihre Errungenschaften nicht an Nachkommen oder sonstige Artgenossen weitergeben können, gehen jene mit dem Tod des Individuums zugrunde. Sie tragen somit nicht zur Höherentwicklung der jeweiligen Art bei. Beim Menschen dagegen, der sie über Gesten, Sprache und Schrift auf andere übertragen kann, pflanzen sie sich auf diese Weise unabhängig von seinem Genom fort und steigern die Fähigkeiten innerhalb der Populationen. Festzuhalten ist daher, daß fast jedes zusätzliche Organ, das Homo Proteus bildet, noch weitere erfordert, die bloß Veränderungen von organisch gebildeten Strukturen darstellen. Für die vielseitige Spezialisierung dieses besonderen Lebewesens, das die Ära der Hyperzeller einleitete, waren somit von Anbeginn zwei höchst verschiedene Typen zusätzlicher Organe gleichermaßen wichtig: erstens solche, die bewußt aus Umweltmaterial gebildet werden und die wir subjektiv nicht als Bestandteile des menschlichen Körpers ansehen, weil sie von diesem getrennt sind und nicht aus Zellen bestehen; zweitens weitere, die über Lernvorgänge zustande kommen und in der Ganglienstruktur so eingebettet sind, daß wir sie erst recht nicht als gesonderte Organe betrachten, obwohl sie ebenso Erbringer benötigter Leistungen sind wie etwa die Lunge oder das Herz. Da nun aber die einen ohne die anderen nicht funktionieren, beeinflussen beide den Selektionswert der vom Menschen ausgehenden Strukturbildung. Sie sind deshalb von wesentlicher Bedeutung für die meßbare Erfassung der Selektionswerte, auf die wir noch zu sprechen kommen.
Durch die Bildung zusätzlicher Organe konnte Homo Proteus und die ihm nachfolgenden Hyperzeller fak(Originalbuchseite 81)
tisch alle für Lebewesen maßgebenden Grundleistungen und ebenso die meisten Hilfsleistungen verbessern. Daß zunächst weitere Schutzorgane und Organe zur Verbesserung des Nahrungserwerbs im Vordergrund standen, liegt auf der Hand. Ohne Energie und ohne Stoffe ist kein Lebensvorgang und keine Fortpflanzung möglich. Beim Menschen beruht der Nahrungserwerb, wie bei allen Tieren, auf dem räuberischen Akt des Fressens anderer Lebewesen, den ein angeborener Trieb steuert. Es ist wichtig hervorzuheben, daß die besonderen geistigen Leistungen unseres Urvorfahren, sein Ichbewußtsein und die neuen Verhaltenssteuerungen, zu denen er über bewußte Lernakte gelangte, zu den angeborenen Raubinstinkten in keinerlei Gegensatz traten. Im Gegenteil: Intelligenz und Instinkt arbeiteten in diesem Bereich bestens Hand in Hand, indem die Intelligenz zum Werkzeug effizienterer Nahrungsgewinnung und geschickterer Feindabwehr wurde. Mittels der künstlich hergestellten Waffen konnten Hyperzeller erfolgreicher als Konkurrenten an Beute gelangen und sich gegen Raubtiere zur Wehr setzen. Sie konnten sich besser gegen die natürliche Auslese durchsetzen, sich immer neue Lebensbereiche erobern und sich dort ausbreiten. Zwei Großleistungen menschlicher Intelligenz waren in der Folge die künstliche Bodenbestellung und die Viehzucht. Beim Ackerbau beruht der Intelligenzakt auf der Erkenntnis, daß Früchte und Samen, wenn man sie nicht ißt, sondern in geeigneten Boden versenkt, Monate oder Jahre später zu einem vielfach größeren Nahrungsgewinn führen können. Bei der Viehzucht geht es um die ähnliche Einsicht, daß es vorteilhafter ist, erbeutete Tiere nicht zu töten und
aufzuessen (wie es die angeborenen Instinktsteuerungen fast zwingend nahelegen), sondern sie zu pflegen, zu ernähren, zu schützen (Originalbuchseite 82)
und zur Fortpflanzung zu bringen. Auch dies kann dann bewirken, daß man Monate oder Jahre später mit weit weniger Mühe als über Jagd und Fallenstellen an Beute gelangt. Beide neuen Methoden erforderten zusätzliche Organe: zur Rodung und zum Aufgraben des Bodens, dazu Käfige, Zäune und Ställe für das Vieh. Vor allem jedoch erforderten sie die Fähigkeit, im Gehirn – in der Phantasie, im Vorstellungsvermögen – Ursachen und Wirkungen, die zeitlich weit voneinander entfernt waren, miteinander zu verknüpfen und so zu neuen, zielgerichteten Verhaltenssteuerungen zu gelangen. Man kann mit Fug und Recht sagen, daß im Blick auf die Lebensentwicklung Homo Proteus dergestalt zu einem besonders effizienten und erfolgreichen Räuber wurde. Er konnte nun seßhaft werden, zwang den Boden, ihm zu liefern, was er brauchte, und ersparte sich Risiko und weite Wege. Durch gezielte Zucht gelang es ihm sogar, die Bildung neuer Rassen von Tieren und Pflanzen zu bewirken, deren Eigenschaften seinen Wünschen noch besser entsprachen als die ursprünglichen Arten. Dieser Vorgang ließ später Darwin erkennen, daß über eine analoge Auslese von seiten der Umweltfaktoren sich im Lauf der Evolution ganz automatisch das jeweils Bestgeeignete im »Kampf ums Dasein« durchsetzt und so eine natürliche Auslese zur Bildung immer besser angepaßter, effizienterer und höher differenzierter Arten führt, von denen sich dann wiederum neue, auf andere Umweltbedingungen spezialisierte Arten abspalten können. Häufig wird übersehen, daß gerade die eigenen Artgenossen
zwangsläufig zu gefährlichen Gegnern, ja zu erbitterten Feinden werden können. Da sie sowohl in ihrer körperlichen Ausstattung als auch in ihrem angeborenen Verhalten auf die Erschließung (Originalbuchseite 83)
der genau gleichen Energie- und Stoffquellen ausgerichtet sind, sind sie die ärgsten Nahrungsrivalen. Bei den Pflanzen geht es im innerartlichen Konkurrenzkampf – da Sonnenlicht fast überall reichlich vorhanden ist – besonders um geeignete Standorte und Böden sowie um das an Land oft schwierig zu gewinnende Wasser. Wenn wir jedoch beobachten, wie Bodenpflanzen und Bäume ihre Blätter über jene von Konkurrenten erheben, zeigt dies deutlich, daß trotz allem auch um das verfügbare Licht ein erbitterter Konkurrenzkampf herrscht. Bei den Tieren geht es dagegen eindeutig um Nahrung, um die Beute, die sowohl Energie als auch Stoffe liefert. Zu einer Verschärfung dieser Situation kommt es bei Tierarten, die soziale Verbände, etwa Rudel, bilden. Solche Gemeinschaften werden zu Lebenseinheiten höherer Ordnung, für die, wiederum zwangsläufig, andere Rudel der eigenen Art gefährlichste Konkurrenten sind, da sie auf die genau gleichen Nahrungsquellen aus sind. Deshalb fördert bei rudelbildenden Arten die natürliche Auslese, die stets das Bestgeeignete begünstigt, die Ausbildung angeborener Verhaltensweisen, welche die Angehörigen der Verbände fester aneinander binden, zur Arbeitsteilung anregen und so diese größeren Lebenseinheiten konkurrenzfähiger machen. Es entstehen soziale Instinkte, die sich in der Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe, zur Zusammenarbeit, zur Unterwerfung unter das Kommando von Leittieren, ja zur Aufopferung für die Gemeinschaft äußern. Außerdem äußern sie sich in einer angeborenen Kampfbereitschaft gegenüber konkurrierenden Rudeln, auch wenn es solche von Artgenossen sind.
So war es auch bei Homo Proteus. Wie seine Vorfahren – und wie die heute noch lebenden Primaten – lebte er in kleineren sozialen Verbänden. Als er nun (Originalbuchseite 84)
damit begann, seinen somatischen Körper durch zusätzliche Organe zu verbessern, kam ein völlig neuer Faktor im Verhalten gegenüber Artgenossen in die Welt. Wie ich schon hervorhob, bringen die zusätzlichen Organe entscheidende Vorteile: Sie belasten den Menschen nicht, wenn er sie nicht braucht, sind austauschbar und ermöglichen vielseitige Spezialisierung. Innerhalb von Verbänden können mehrere Mitglieder zusammenwirken und größere Gemeinschaftsorgane bilden, wozu der Einzelne nicht imstande wäre. Diese können dann auch anderen im Verband dienen und so dessen Leistungsfähigkeit steigern. Größere Gebäude wie eine Brücke, ein Schutzwall oder eine Wasserleitung sind Beispiele dafür. Wir kommen auf die große Bedeutung der Gemeinschaftsorgane noch ausführlich zurück. Die zusätzlichen, vom Zellkörper getrennten Organe führen andererseits zu einem schwerwiegenden Problem, denn der Umstand, daß sie auch von anderen verwendet werden können, verlockt dazu, sie zu entwenden oder zu rauben und dem eigenen Leistungskörper anzugliedern. Hier ist zu bedenken, daß es bis zu diesem Zeitpunkt in der gesamten Evolution der Organismen einem Lebewesen kaum je möglich war, einem anderen Lebewesen ein aus Zellen gebildetes Organ zu rauben. Frißt ein Tier ein anderes, kann es bloß dessen organische Struktur abbauen und dann mit Hilfe der gewonnenen Energie und der brauchbaren Stoffe eigene Körperstruktur bilden. Bei diesem Vorgang gehen jedoch im Durchschnitt 90 Prozent des Bruttogewinns verloren. Werden dagegen zusätzliche Organe entwendet, kommt es nicht zu einem vergleichbaren Verlust. Entwendet etwa Hyperzeller A dem Hyperzeller B ein Messer,
dann setzt dieses bei A ohne Werteinbuße oder Einschränkung seine (Originalbuchseite 85)
funktionellen Dienste fort, sofern er diese kennt und beherrscht. Durch Gesetz, Religion und Sitte wurde wohl innerhalb der Verbände dieser Tendenz entgegengewirkt; auch darauf kommen wir noch zurück. Doch läßt sich schwerlich bestreiten, daß die menschliche Intelligenz auch für solche Erwerbshandlungen eine große Hilfe war. Daraus geht wiederum hervor, daß die vom Menschen gebildeten Hyperzeller noch weit mehr als rudelbildende Tiere Ursache hatten, einander feindlich zu begegnen. Für die organisierten Verbände von Homo Proteus wurden somit nicht nur fremde Reviere zum lohnenden Beuteziel, sondern noch mehr die ertragbringenden Äcker und Viehherden, vor allem aber auch sämtliche Waffen, Werkzeuge, Kleider, Bauten und sonstige zusätzliche Organe – der gesamte Besitz fremder Gemeinschaften, der dem eigenen Leistungskörper unmittelbar angegliedert werden konnte. Neben den großen Vorzügen, die zusätzliche Organe den Hyperzellern boten, waren diese deshalb von Anbeginn mit der bedenklichen Hypothek belastet, daß sie quasi zu ihrem gewaltsamen Erwerb einluden. Insofern hätte schon in jener Zeit, da die ersten zusätzlichen Organe entstanden, ein damals lebender Philosoph voraussagen können, daß sich die Hyperzeller noch in weit erbitterteren Kriegen bekämpfen würden als die Tiere, und zwar auch dann, wenn Vernunftgründe und Gefühlsregungen eindeutig dagegen sprachen. Das war gleichsam der Preis, den der Spezialist in vielseitiger Spezialisierung für sein Privileg, eine neue Ära der Lebensentwicklung einzuleiten, zu bezahlen hatte.
(Originalbuchseite 86)
Leistungstausch und die Funktion des Geldes Ähnlich, wie sich vor rund 1,8 Milliarden Jahren aus den Einzellern die ersten Vielzeller entwickelten, begann vor nur etwa zwei Millionen Jahren mit Homo Proteus die Entwicklung der Hyperzeller. Bei beiden Übergängen verlagerten sich Leistungen auf neue, effizientere funktionelle Einheiten. Bei den Vielzellern übernahmen vielzellige Organe die Funktionen der Organellen der Einzeller. Bei den Hyperzellern waren es direkt aus Umweltmaterial gebildete zusätzliche Organe, welche die Leistungen vielzelliger Organe steigerten oder durch noch bessere ersetzten. Um einen Überblick über die Entfaltung der Hyperzeller zu gewinnen, gehen wir zunächst auf einige der wichtigsten Fortschritte näher ein, zu denen die Lebensentfaltung über sie gelangte. Zentrum jedes Hyperzellers ist stets ein Mensch, der die Leistungsfähigkeit seines Körpers durch zusätzliche Organe steigert. Bei Hyperzellern höherer Integration, etwa Wirtschaftsunternehmen, werden auch Gruppen spezialisierter Menschen zum Zentrum. Der menschliche Zellkörper, der somit stets aufbauendes und steuerndes Zentrum ist, bleibt weitgehend unverändert und pflanzt sich ebenso fort wie bisher. Was jedoch der natürlichen Auslese gegenüber zählt, sind die zusätzlichen, künstlich angefertigten Organe, die zu immer neuen Spezialleistungen verhelfen und sich unabhängig über eine andere Mechanik fortpflanzen. Wenden wir uns als erstes der Frage zu: Wer stellt sie her? Zunächst stellte sie Homo Proteus, der Ausgangspunkt dieser neuen Entfaltung, für sich und seine Familie selbst her. Bei isoliert lebenden Naturvölkern ist das noch heute der Fall. Ähnlich wie
bei anderen (Originalbuchseite 87)
höheren Säugetieren kam es auch bei den Urmenschen zu einer Arbeitsteilung: Die Frau ist in erster Linie für Kinder und Haushalt zuständig, der Mann übernimmt als wichtigste Aufgabe die Verteidigung der Gemeinschaft, die zunächst aus einer beschränkten Anzahl von Familien besteht. Zum Nahrungserwerb tragen beide Partner bei: der Mann durch Jagd und Fallenstellen, die Frau mit den Kindern durch Sammeln von Früchten, eßbaren Wurzeln und Kleintieren. Beide Partner fertigen auch zusätzliche Organe an: der Mann in erster Linie Werkzeuge, Waffen und Bauten, die Frau Kleidungsstücke, Netze, Tragtaschen, Schmuck und dergleichen. Der erste große Fortschritt in der Weiterentwicklung der Hyperzeller war aus funktioneller Sicht geradezu vorgezeichnet. Er konnte nur darin bestehen, daß sich einzelne in den kleinen Gemeinschaften auf die Herstellung besonders wichtiger zusätzlicher Organe spezialisierten. Sie konnten diese dann besser und rationeller herstellen, was gegenüber rivalisierenden und feindlichen Verbänden ein wichtiger Vorteil war. Voraussetzung dafür war allerdings, daß solchen spezialisierten Produzenten in irgendeiner Form die übrigen Pflichten des Lebens, besonders des Nahrungserwerbs und des Schutzes, abgenommen wurden. Solange die Gemeinschaften nicht allzu groß waren, ließ sich das verhältnismäßig leicht bewerkstelligen. Wer immer die Leitung eines solchen Verbandes innehatte, konnte dies organisieren. Da verstärkte Arbeitsteilung deutlich im Interesse aller lag, bestand kaum ein triftiger Grund dafür, daß solche Regelungen, gute Leistungen vorausgesetzt, nicht beibehalten wurden. Nicht selten dürfte die Führung vom Vater auf den Sohn übergegangen sein. Bei Anwachsen der Gemeinschaften mußte es jedoch, wiederum
zwangsläufig, zu einer gravieren(Originalbuchseite 88)
den Problematik kommen. So vorteilhaft eine größere Kopfzahl in Hinblick auf Auseinandersetzungen mit anderen Gruppen war, zumal größere Gemeinschaften auch eine immer weiter gehende Differenzierung und Spezialisierung auf Einzelaufgaben zuließen, so schwierig gestaltete sich der Überblick über die verschiedenen Spezialisten und ihre Ansprüche. Deshalb wurde es für diese ersten Gewerbetreibenden früher oder später günstiger, über Naturalientausch selbst für sich und die Familieninteressen zu sorgen. Hier soll keineswegs der Versuch gemacht werden, den historischen Ablauf zu rekonstruieren. Dieser hat sich, wie die urund frühgeschichtliche Forschung zeigt, keineswegs überall gleich vollzogen. Mir liegt vielmehr daran zu zeigen, daß die Herstellung der für alle Hyperzeller so entscheidend wichtigen zusätzlichen Organe der Entwicklung gleichsam die Richtung aufzwang. Ich versuche in diesem Buch darzulegen, daß der Mensch sich und seine Entfaltung bisher allzu subjektiv beurteilt hat, und gehe der Frage nach, wie sich unsere vielseitige Entfaltung darstellt, wenn wir uns nicht länger als etwas von der übrigen Lebensentwicklung Getrenntes ansehen, sondern als integralen Bestandteil in einer Entwicklung, die uns hervorgebracht hat und sich in den von uns aufgebauten größeren Einheiten weiter fortsetzt. Aus dieser Sicht sind die Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen keineswegs so frei und unbeeinflußt, wie man bisher angenommen hat. Sie müssen sich vielmehr in Rahmenbedingungen fügen, die für den gesamten Evolutionsverlauf maßgebend sind. Die natürliche Auslese blieb auch in dieser dritten Phase der Evolution zuständig für die Artenbildung, die sich nun auf die Entstehung etablierter Berufsformen verlagerte. Auch bei den Hyperzellern entschied sie darüber, welche sich im Daseinskampf durchsetzen konnten. Aus
evo(Originalbuchseite 89)
lutionärer Sicht ist keineswegs der menschliche Zellkörper, mit dem sich unser Ich identifiziert, das allein Maßgebende. Vielmehr sind die von uns gebildeten Leistungskörper, die ich als Hyperzeller bezeichne, der natürlichen Auslese unterworfen. Und für diese sind die für alle Lebewesen gültigen Grundleistungen maßgebend. Zu einer kritischen Barriere, die sich der Höherentwicklung der Hyperzeller entgegenstellte, mußte im weiteren Entwicklungsverlauf die eher banal erscheinende Problematik werden, daß Produzenten zusätzlicher Organe in Schwierigkeiten kamen, wenn sie für ihre Leistungsergebnisse das, was sie selbst für ihr Leben brauchten, eintauschen wollten. Stellte ein Handwerker Schuhe her und brauchte seine Frau drei Eier – um ein ebenso triviales wie anschauliches Beispiel zu wählen –, dann war ein Naturalientausch wegen des allzu großen Wertunterschieds nicht praktikabel. Was hier dringend fehlte, war ein vermittelndes Etwas, das solche Schwierigkeiten behob. Die beste Lösung für dieses funktionelle Dilemma war ein weiteres zusätzliches Organ: das Geld. Dieser Universalvermittler machte Leistungen beliebig teilbar und in das Ergebnis von Leistungen anderer konvertierbar. Auch die drei Eier konnten so über den Weg der Schuhherstellung ohne Verlust erworben werden. Erst durch das teilbare Geld wurde ein reibungsloser Tausch völlig verschiedener Objekte möglich. Welchen Wert das eine und das andere hatten, ergab sich von selbst aus der Schwierigkeit der Herstellung und aus dem Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage. Aus evolutionärer Sicht ist das Geld ein Werkzeug, um das Ergebnis jeder menschlichen Leistung in das Ergebnis beliebiger anderer menschlicher Leistungen zu verwandeln.
Wie ich schon ausgeführt habe, kam es bei der Ent(Originalbuchseite 90)
stehung des Menschen zu bedeutenden Leistungssteigerungen, indem sich Funktionen wie in einem Sprung von einem Zellgefüge auf gänzlich andere verlagerten. Ich bezeichnete dieses Phänomen als Shift und führte als Beispiele dafür an, wie sich die Funktion der Bildung neuer Organe und jene ihrer Fortpflanzung vom Genom auf die weit leistungsfähigere Großhirnrinde verlagerten. In einem ähnlichen Shift wurde auch die von den Affenvorfahren ererbte Kletterhand plötzlich zu einem perfekten Werkzeug der Organbildung und der Organverwendung. Kehren wir nun zur Funktion des Geldes zurück, und analysieren wir die Situation des als Beispiel genannten Schuhmachers. Er spezialisiert sich auf die Herstellung dieser vielgebrauchten Fußbekleidung und baut in seinem Gehirn über Lernvorgänge entsprechende Steuerungen für eine möglichst geschickte und kompetente Herstellung dieser Produkte auf. Den Beruf gibt es noch heute. Mit der Beschaffung von Nahrung oder der Herstellung anderer zusätzlicher Organe, etwa einer Zange, eines Fahrrads oder eines Staubsaugers, hat seine Tätigkeit nicht das geringste zu tun. Doch indem er für seine Schuhe Geld bekommt, kann seine Frau sich ohne weiteres drei Eier oder eine Zange kaufen, und wenn er den Ertrag mehrerer Paare von Schuhen zusammenlegt, kann er auch ein Fahrrad oder einen Staubsauger erwerben. Das klingt zwar selbstverständlich und simpel, ist es aber keineswegs. Aus der Sicht der Evolution ist es geradezu eine Ungeheuerlichkeit, daß ein Lebewesen, indem es sich auf eine Leistung spezialisiert, Zugang zum Ergebnis zahlreicher anderer erhält. Auch bei Symbiosen, auf die wir noch zurückkommen werden, liegt im Prinzip ein Leistungstausch vor, indem jeder der Partner durch eine vom anderen benötigte Leistung in den Genuß eines ihm selbst dienenden
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Vorteils gelangt. Auch das läßt sich als Shift bezeichnen. Doch steht dies in gar keinem Verhältnis zu der funktionalen Möglichkeit, über ein und dieselbe Spezialleistung an das Ergebnis beliebig vieler anderer heranzukommen. Damit erst ist die volle Bedeutung des Geldes, das zur Grundlage der gesamten Wirtschaft wurde, funktionell umrissen. Mit diesem »Zauberstab« – und beim Geld ist diese Bezeichnung nicht übertrieben – gelingt es Lebewesen (Hyperzellern) erstmals im Evolutionsverlauf, über eine einzige Leistung, auf die sie sich spezialisieren, ihren Leistungskörper durch beliebig viele andere zu ergänzen. Vorbedingung ist allerdings eine größere und entsprechend organisierte Gemeinschaft, in der sich dieser Vorgang entwickeln kann. Aber die zentrale Einheit, über welche dies möglich wird, ist das zusätzliche Organ »Geld«. Daß dieses, wie fast jedes Organ, nur unter bestimmten Voraussetzungen seine Spezialleistung erbringen kann, ist nicht verwunderlich. Solche sind unter anderem, daß es in genügend kleine Einheiten teilbar ist, daß eine Gemeinschaft es anerkennt und daß seine Wertbeständigkeit aufrechterhalten werden kann. Doch der Vorteil, daß man mit Geld, je nach Wunsch, in den Genuß der Leistungen unzähliger anderer zu gelangen vermag, bedeutet gleichsam einen »Mega-Shift«, wie es wohl in der gesamten Lebensentfaltung nichts annähernd Vergleichbares gab. Vor allem auf diesem beruht der sich immer schneller beschleunigende Fortschritt der Hyperzeller und damit der Menschheit. Er zeigt aber auch, wie sehr die Hyperzeller aufeinander angewiesen sind, wie wenig der sie aufbauende Mensch noch ein »Individuum« ist und wie sehr ihre Entwicklung zur Entstehung einer ungeheuer komplexen, riesenhaften Organisation führt, die gleichzeitig nach tausend verschiedenen Zielen streben kann und in-
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nerlich durch eine enorme Anzahl von Wechselwirkungen miteinander verknüpft ist. Nicht wenige Biologen waren der Ansicht – manche sind es noch heute –, daß es neben den bekannten Mechanismen der Verbesserung (Mutation, Rekombination, Selektion) weitere geben müsse, um die Entwicklung der Lebewesen zu erklären. Die Zeitspanne von vier Milliarden Jahren ist zwar beträchtlich, erscheint aber trotzdem für das Zustandekommen der höherentwickelten Tiere und ihre Leistungen äußerst kurz. Der von Jean-Baptiste de Lamarck postulierte Mechanismus einer »Vererbung erworbener Eigenschaften« hätte diese Schwierigkeit überbrückt, konnte aber nie nachgewiesen werden. Er realisierte sich erst bei Homo Proteus durch die Verlagerung der Fortpflanzungsfunktion bei den zusätzlichen Organen auf Sprache und Schrift. Das Hauptargument gegen die häufig geäußerte Vermutung, für den relativ schnellen Fortschritt der Evolution und für die Bildung neuer Arten seien »Makromutationen« verantwortlich, wurde sehr treffend von dem englischen Biologen Richard Dawkins formuliert: Ein ebenso banaler wie einleuchtender Grund zur Ablehnung aller solcher Theorien ist, »daß, wenn auf diese Weise eine neue Art entstünde, Angehörige dieser Art es schwer hätten, Paarungspartner zu finden«. Da bei fast allen höheren Tieren die Fortpflanzung an eine vorangehende Vereinigung der DNSStränge des väterlichen und des mütterlichen Genoms gebunden ist, kann man sich in der Tat schwer vorstellen, wie bei Großmutationen – die ja erhebliche Veränderungen in diesen langen Strängen voraussetzen würden – lebensfähige Nachkommen entstehen sollten. Verbindet sich ein »großmutiertes« Genom mit einem normalen, dann muß allein dies schon dazu führen, daß keine lebensfähigen Phänotypen
(Organismen) ent(Originalbuchseite 93)
stehen können. Voraussetzung für eine erfolgreiche Fortpflanzung wäre somit, daß die gleiche Großmutation bei einer weiblichen und einer männlichen Keimzelle stattfindet und daß beide außerdem innerhalb des Gen-Pools der Art zufällig bei der Paarung aufeinanderstoßen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist aber wohl so gering, daß dieser Mechanismus als ernsthafte Erklärung von Evolutionsphänomenen von vornherein ausscheidet. Durch diesen Einwand von Dawkins, dem ich voll zustimme, wird jedoch meine Behauptung, daß es durch Shifts zu sprunghaften Leistungssteigerungen kommen kann, in keiner Weise betroffen. Denn bei diesen geht es ja nicht um radikale Veränderungen materieller Strukturen (eben der DNS-Stränge), sondern um sprunghafte Leistungsverlagerungen auf schon bestehende andere materielle Strukturen. Ich könnte mir vorstellen, daß diese von mir als Shifts bezeichneten Funktionsverlagerungen tatsächlich einen Mechanismus darstellen, der den Weg der evolutionären Entfaltung wesentlich beschleunigt hat und somit ungefähr dem entspricht, was manche bisherige »Saltationisten« im Auge hatten. Ich werde noch weitere Beispiele für Shifts sowohl bei Einzellern und Vielzellern als auch bei der Entfaltung der Hyperzeller anführen, gehe jedoch in diesem Buch nur so weit auf sie ein, wie es zum Thema gehört. Stimmt meine Ansicht, dann gäbe es in der Tat wesentliche Entwicklungssprünge im Evolutionsgeschehen, auf die dann jeweils Perioden weiterer Verbesserungen in kleinen Schritten folgen, welche die Anwendungsmöglichkeiten der jeweiligen sprunghaften Veränderung (wie bei allen Erfindungen des Menschen der Fall) gleichsam »abtasten« und so praktisch
wahrnehmen. (Originalbuchseite 94)
Der Erwerb über »doppelten Tausch« und die Entstehung spezialisierter Arten von Hyperzellern Eine weitere Möglichkeit des Gelderwerbs bestand für Hyperzeller darin, anderen »Dienste« zu verkaufen. Diese Erwerbsform ist sogar weit älter: Es gab sie bereits, längst ehe das Geld erfunden war. Schon bei allen Symbiosen von Pflanzen und Tieren wird durch eigene Leistung die eines anderen Organismus erworben. Bei sozial lebenden Tieren kann man zahlreiche Formen des Leistungsaustauschs beobachten, etwa bei Affen, wenn ein Individuum den Körper des anderen nach Läusen absucht und ihm dann im Gegenzug von diesem der gleiche Dienst zuteil wird. Lange vor der Erfindung des Geldes gab es in den Verbänden der Hyperzeller (wie noch heute an vielen Orten) Knechte und Diener, die gegen Kost und gesicherte Unterkunft für andere Arbeiten verrichteten. Das gleiche dürfte auch für das »älteste Gewerbe der Welt«, die Prostitution, zutreffen. Das Geld eröffnete dann auch für alle Formen des Energieerwerbs über Dienstleistungen völlig neue Perspektiven. Ich glaube jedoch nicht, daß es durch den Austausch von Dienstleistungen zur Erfindung des Geldes kam, und zwar deshalb nicht, weil sich Dienste, im Gegensatz zu Produkten, beliebig teilen lassen. Als ich in Samoa mit meinem Spiegelobjektiv menschliche Verhaltensweisen filmte, erfuhr ich von einem dort lebenden Europäer, wie bei Samoanern zu wirtschaften üblich ist. »Will hier einer ein Hemd, dann erkundigt er sich zuerst, wieviel Geld es kostet, und anschließend, durch welche Arbeit er an diesen Betrag gelangen kann. Diese Arbeit führt er dann aus, kauft sich
das Hemd und setzt sein ungebundenes Leben fort.« In der heutigen, industrialisierten Welt (Originalbuchseite 95)
wurde Arbeit für Lohn zum Alltag, doch gibt es auch hier nicht wenige, die noch im Prinzip ähnlich verfahren wie die Samoaner. Kann man fremde Dienste durch eigene Dienste erwerben, ist Geld sogar überflüssig. Die Leistungen können dann gemäß ihrem Wert und ihrer Dauer unmittelbar aufeinander abgestimmt werden. Schon bei Homo Proteus kam es sicherlich, sobald er die Fähigkeit sprachlicher Verständigung erlangte, zu Vereinbarungen wie etwa: »Wenn du dies für mich tust, tue ich jenes für dich!« Solche Übereinkünfte haben bis heute sowohl im Privatleben als auch im Beruf nichts an Bedeutung verloren. Ich gehe hier ausführlicher auf diese Thematik ein, weil es mir aus den angeführten Gründen selbstverständlich erscheint, daß erst die Komplikationen, die sich beim Austausch von Produkten ergaben, zu dem Selektionsdruck führten, der schließlich die Erfindung des Geldes geradezu zwangsläufig nach sich zog. Das aber ist insofern bemerkenswert, als das Geld beim Erwerb über Dienstleistungen weit bedeutungsvollere Leistungssteigerungen ermöglicht als beim Erwerb über die Herstellung zusätzlicher Organe. Wer zusätzliche Organe erwirbt, hat nämlich faktisch nur einen Teil der Leistung erworben, die er benötigt. Wer einen Speer erwirbt, muß zusätzlich lernen, diesen auch zielführend einzusetzen. Er muß in seinem Gehirn Steuerungen aufbauen, die so beschaffen sind, daß er mit dem Instrument Beute oder Feinde zu treffen vermag. Erwirbt er hingegen die Dienste eines Jägers oder eines Kriegers, die mit einem Speer perfekt umzugehen verstehen, dann erspart er sich diese zusätzliche Mühe. Er erwirbt dann nicht nur das benötigte Instrument, sondern auch dessen fachgerechten Einsatz. Das aber ist bei jedem Erwerb einer Dienstleistung ebenso: Wer heute für eine entsprechende
Geldsumme die Dienste eines Arztes (Originalbuchseite 96)
oder eines Rechtsanwalts in Anspruch nimmt, gliedert für die Dauer des Dienstverhältnisses Spezialfähigkeiten seinem Leistungskörper an, die er selbst nie erbringen könnte. In weiterer Konsequenz bedeutet dies, daß Hyperzeller sich durch den Erwerb von Dienstleistungen so gut wie jede Spezialleistung angliedern können, die andere für Geld verrichten. Beim Erwerb von Werkzeugen, Maschinen etc. wird zwar der eigene Leistungskörper verbessert, doch müssen diese Einheiten dann selbst zielführend eingesetzt werden. Mehr noch: Sie müssen in Ordnung gehalten, vor Diebstahl geschützt, nötigenfalls repariert oder gar erneuert werden. All das entfällt beim Erwerb spezialisierter Dienstleistungen weitgehend oder ganz. Bei der Verpflichtung des Arztes oder des Rechtsanwalts kommt der Käufer außerdem in den Genuß sämtlicher Erfahrungen, über die solche hochspezialisierten Arten von Hyperzellern verfügen. Hier ist ein Beispiel dafür gegeben, über welche Umwege die Evolution bisweilen zu Leistungssteigerungen gelangt ist. Beim Erwerb über den Verkauf von Produkten wurde der Universalvermittler Geld notwendig. Den größten Nutzen erbringt dieser Vermittler indes beim Erwerb von Dienstleistungen. Der Käufer erwirbt dann nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern die gesamte für diesen Zweck relevante Leistung. Neben den beiden großen Gruppen der Anbieter von Produkten und jener von Dienstleistungen gibt es noch eine dritte: den Handel. Hier spezialisierten sich Hyperzeller auf die Vermittlung zwischen Angebot und Nachfrage. Ihre Berufstätigkeit ist somit durch eine zweifache Ausrichtung charakterisiert, indem sie einerseits zum Auffinden des Benötigten und andererseits zum Absatz des Produzierten verhelfen.
Funktionell betrachtet gibt es für diese Form des (Originalbuchseite 97)
Energieerwerbs bereits Vorgänger im Tierreich, zum Beispiel einige in Afrika lebende Vogelarten der Gattung Indicator, die als Honiganzeiger bezeichnet werden. Aufgrund angeborenen Verhaltens stellen sie fest, wo sich Bienenstöcke befinden, suchen dann nach einem Honigdachs (Mellivora capensis) und machen ihn durch auffällige Bewegungen und Laute auf sich aufmerksam. Der Dachs versteht das Signal, folgt dem Vogel, der immer ein Stück voranfliegt und wieder zu ihm zurückkehrt. So wird er zum Bienenstock hingeführt, den er dann mit seinen kräftigen Vorderbeinen öffnet und ausräumt. Der Vogel erhält – ähnlich dem Händler oder Agenten – für seinen Vermittlungsdienst eine »Provision«. In diesem Fall sind es Naturalien. Der Honigdachs ist nämlich nur am Honig interessiert und läßt das Wachs der Waben übrig. Dieses aber vermag der Vogel mit Hilfe von Symbionten, die in seinem Darm leben, aufzuschließen: Es ist seine Energiequelle. Ohne den Dachs wäre es ihm unmöglich, an diese Nahrung heranzukommen – ebenso, wie es für einen Händler ausgeschlossen ist, Gewinn zu machen, wenn es an Absatzmöglichkeiten fehlt. Interessanterweise haben Honiganzeiger überdies gelernt, daß Menschen ebenfalls an Honig interessiert sind, wie auch in diesen Gegenden lebende Menschen gelernt haben, was die Signale des Honiganzeigers bedeuten. Auch sie lassen sich darum von ihm zu den Bienenstöcken hinleiten und räumen sie aus, meistens sind sie gleichfalls nur beschränkt am Wachs interessiert. Auf jeden Fall bleibt genug übrig, so daß der Vogel auch hier seine Entlohnung erhält. Im Tier- und im Pflanzenreich haben sich, wie jedermann bekannt ist, eine ungeheure Vielzahl von Arten entwickelt: Allein bei den Insekten wurden bereits über eine Million Arten beschrieben. Jede
dieser Arten vermag an Nahrung zu gelangen, an Energie (Originalbuchseite 98)
und Stoffe, dank denen sie eigene Körperstruktur bilden und sich über Nachkommen fortpflanzen können. Bei den Hyperzellern ist es nicht anders. Sowohl die Hersteller benötigter Produkte wie auch die Dienstleistungserbringer und die Vermittler spezialisierten sich auf immer neue Berufe, erschlossen sich so immer neue Nischen, immer neue Lebensmöglichkeiten. Hier wie dort wurden Arten durch andere verdrängt, die besser angepaßt und somit effizienter waren, und starben dann aus. Hier wie dort bestand zwischen den Artgenossen ein besonders heftiger Konkurrenzkampf, während Angehörige anderer Arten indifferent behandelt wurden, weil sie die eigenen Interessen nicht berührten. Hier wie dort kam es zu Interessengemeinschaften und mannigfaltigen Abhängigkeiten. So setzten die Hyperzeller, obwohl sie sich äußerlich und in ihrem Verhalten so ausgeprägt von Tieren und Pflanzen unterscheiden, in ganz analoger Weise die Bildung von Arten fort. Zu den erwähnten Berufsarten der Hyperzeller kommen schließlich jene hinzu, die sich durch Umgehung der innerhalb von Gemeinschaften geltenden Regeln und Gesetze bereichern. Auch hierbei handelt es sich um echte, wenngleich verbotene und verpönte Erwerbsarten. Zusätzliche Organe lassen sich ja fast ohne Wertverlust in den eigenen Leistungskörper überführen und darüber hinaus durch Verkauf in den Universalvermittler Geld verwandeln. Diese Möglichkeiten haben ohne Zweifel sehr zur Entstehung der verbotenen Berufsarten beigetragen. Der Erwerb des Einbrechers, des Erpressers, des Dealers, des Betrügers ist oft mit beträchtlichen Gewinnchancen verbunden, freilich auch mit einem höheren Risiko. Zur Sicherung des Eigentums werden von den größeren Verbänden Gemeinschaftsorgane des Schutzes finanziert, auf die wir noch zu sprechen kommen.
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Wie ist nun der vom Geld so stark geprägte Energieerwerb der Hyperzeller in das Gesamtkonzept der Evolution einzureihen? Bei fast allen Pflanzen ist frei verfügbares Sonnenlicht die Energiequelle; kraft ihrer Struktur bewirken sie, daß die Energie der Sonnenstrahlen aus anorganischer Materie organische Strukturen aufbaut: Moleküle, in deren Gefüge ein Teil der dem Sonnenlicht entzogenen Energie in Gestalt von Bindungskräften erhalten bleibt. Die Pflanzen fangen also gleichsam Energie ein und machen sie dienstbar. Fast alle Tiere dagegen gewinnen die für sie nötige Energie dadurch, daß sie andere Lebewesen, sowohl Pflanzen als auch Tiere, sich zum Teil oder zur Gänze einverleiben, deren Moleküle abbauen und die darin enthaltene Bindungsenergie aufnehmen. Sie rauben also Energie. Die Hyperzeller bleiben ebenfalls bei dieser Technik, allerdings nur, soweit es die Ernährung des sie aufbauenden und steuernden Menschen betrifft. Auch die größeren Leistungskörper betreibt der Mensch zunächst mit der Kraft seiner Muskeln, also mit Energie, die er seiner Nahrung entzieht. Die Nutzbarmachung von in der Umwelt vorhandenen Energiequellen – etwa zum Antrieb von Maschinen – ist dann ein weiterer Fortschritt, auf den wir noch ausführlicher zurückkommen. Die für Hyperzeller charakteristische Form des Energieerwerbs ist jedoch eine andere. Sie erfolgt über »doppelten Tausch«. Beim ersten Tauschvorgang wird durch den Verkauf von Produkten oder Leistungen, die andere benötigen, Geld erworben. Beim zweiten, der in der Regel wesentlich einfacher ist, wird mit ebendiesem Geld Nahrung und sonst Benötigtes eingekauft. Die besondere Anstrengung verlagert sich bei dieser Erwerbsart auf den ersten Akt. Der Käufer, der Nachfragende, die Zielgruppe, der Absatzmarkt werden zur eigentlichen Energiequelle. Dies nicht nur deswe-
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gen, weil mit Geld von anderen Nahrung und weitere Energieträger (wie Kohle, Rohöl und Elektrizität) erworben werden können, sondern vor allem deshalb, weil mit Geld auch das Ergebnis spezialisierter Anstrengungen anderer in den eigenen Leistungskörper übergeführt werden kann. Es ist hier ausdrücklich festzuhalten, daß Geld keine Erscheinungsform von Energie ist, sich also nicht unmittelbar in Energiewerte umrechnen läßt. Geld ist vielmehr eine innerhalb organisierter Verbände anerkannte Anweisung auf Energie oder auf das Ergebnis des Energieaufwands anderer. Ganz ähnlich wie der Wert jeder Ware richtet sich auch der des Geldes (wenn nicht Verordnungen innerhalb der Gemeinschaften dies verhindern) nach Angebot und Nachfrage. Letzten Endes aber läuft der Gelderwerb der Hyperzeller trotzdem auf Energieerwerb hinaus: entweder auf den Erwerb von Energie, die dem eigenen Körper und seinen Organen zufließt, oder auf jenen von Energie, die andere zur Herstellung benötigter Produkte oder zum Erbringen spezialisierter Leistungen brauchen.
Der Mensch und die Hyperzeller Die Schwierigkeit meiner Theorie liegt weniger darin, geeignete Beweise vorzubringen, als vielmehr in dem Umstand, daß sie uns zu einer weitgehend anderen Bewertung unser selbst und unserer Stellung innerhalb der Lebensentwicklung zwingt. Die Begriffe »Mensch« und »Hyperzeller« decken sich keineswegs. Geht etwa der Betrieb eines Kohlenhändlers in Konkurs oder erlischt der Bedarf an einer bestimmten Berufsart, dann bedeutet das keineswegs den Tod der davon betroffenen Menschen. Diese kön-
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nen sehr wohl weiterleben, auf andere Weise Geld verdienen und eines Tages wiederum ganz andere Hyperzeller aufbauen. Durch das Absterben eines Betriebs oder einer Berufsart gehen zwar Menschen ihrer Arbeit und damit ihrer Erwerbsquelle verlustig; sie können jedoch in der Folge andere, unter Umständen sogar völlig neue Vertreter von Hyperzellerarten in die Welt setzen. Für all jene, die bisher die Ansicht vertreten, die soziokulturelle Evolution des Menschen sei von der biologischen Evolution grundsätzlich verschieden, mag dies ein markanter Beweis dafür sein, daß sie recht haben. Ich vertrete dagegen die Auffassung, daß dieser Übergang aus der Sicht der Entfaltung von Leistungen durchaus kontinuierlich verlief, sosehr sich auch das äußere Erscheinungsbild und manche funktionelle Abläufe verändert haben. Zentrum jedes Hyperzellers ist ein Mensch, der seinen Leistungskörper durch zusätzliche Organe verbessert. Es dürfte keinerlei Meinungsunterschied darüber bestehen, daß nicht der nackte menschliche Körper das für die natürliche Auslese Maßgebende ist, sondern ebendieser samt entsprechenden zusätzlichen Organen, die seine Leistungsfähigkeit steigern. Schon eine Reihe von Tierarten haben vom Körper getrennte funktionelle Einheiten hervorgebracht, mit denen sie eindeutig ihren Selektionswert steigern. Doch da diese über angeborenes Verhalten zustande kommen und somit auf Veränderungen im Erbgut angewiesen sind, kann ihre Bildung nur überaus langsam stattfinden. Da bei den entsprechenden Tierarten die Fortpflanzung außerdem an den genetischen Mechanismus gebunden ist, sind deren Entwicklungsmöglichkeiten beschränkt. Erst als sich über einen langen, bei heute lebenden Wirbeltieren noch nachvollziehbaren Entwicklungsweg am Punkt Mensch die
geistigen Fähigkeiten derart steigerten, daß wir (Originalbuchseite 102)
Ursachen und Wirkungen, auch wenn sie räumlich und zeitlich weit voneinander getrennt wahrgenommen werden, im Gehirn selbst (in unserem Vorstellungsvermögen) verknüpfen und beliebig kombinieren können, veränderte sich plötzlich die Situation. Ein Lebewesen konnte nun auch über Lernakte zusätzliche Organe bilden, deren Leistungsfähigkeit erproben und sie verbessern. Das aber hätte der betreffenden Art noch wenig genutzt, wäre die Weitergabe dieser Fortschritte an den genetischen Mechanismus gefesselt geblieben. Sie wären unweigerlich mit dem Tod des betreffenden Individuums zugrunde gegangen. Doch da sich beim Menschen auch die Fähigkeit einer sprachlichen und schriftlichen Informationsübermittlung ergab, kam es dahin, daß individuell erworbene Fortschritte unmittelbar an andere weitergegeben werden konnten, die Fesselung an die Kodierung im Genom also entfiel. So, wie bei manchem technischen Fortschritt eine winzige letzte Veränderung schließlich zu unabsehbaren neuen Möglichkeiten führt, war es auch hier. Zum erstenmal in der Evolution der Organismen war ein Lebewesen entstanden, das individuell erworbene Fortschritte auf breiter Basis an Artgenossen weitergeben konnte. Homo Proteus wurde zu einem Spezialisten in vielseitiger Spezialisierung und ist biologisch als über weite Bereiche der Welt verbreitete Art zu betrachten, die aufgrund ihrer besonderen Wandlungsfähigkeit Pflanzen und Tieren weit überlegen ist. Dieses besondere Lebewesen lebte, wie bereits seine Ahnen, in kleinen Verbänden, die untereinander um Nahrung und Lebensraum kämpften und so bereits zu Organismen höherer Ordnung wurden. Jede Verbesserung in ihrem speziellen Gefüge war der natürlichen Auslese gegenüber ein Vorteil. Ein weiterer
Vorteil bestand darin, daß einzelne sich auf die Herstellung (Originalbuchseite 103)
der außerordentlich wichtigen zusätzlichen, mit dem Körper nicht fest verbundenen Organe spezialisierten. Von diesem Augenblick an fächerte sich, ganz im geläufigen biologischen Sinn, eine über weite Teile der Welt verbreitete Art in eine große Anzahl von Einzelarten auf. Denn jeder Berufstätige, der über eine besondere Leistung Erfolge erzielte, brachte zwangsläufig andere dazu, ihm nachzueifern, und wurde so zum Begründer einer neuen Art. Der bisherige Artbegriff, der sich für alle Ein- und Vielzeller glänzend bewährt hat, ist an den Gen-Pool gekoppelt. Doch da die Fortpflanzung der zusätzlichen Organe (auf die es so sehr ankommt) sich vom Genom auf Sprache und Schrift verlagerte, ist dieser Artbegriff für die vom Menschen gebildeten größeren Leistungskörper, die Hyperzeller, nicht mehr signifikant. Gewiß ist es für heutige Biologen äußerst schwer, die altvertraute Einteilung in Frage zu stellen oder sich gar von ihr zu trennen. Tatsache jedoch ist, daß die bereits bei Tieren erfolgreiche Bildung von Organen, die nicht mit dem Zellkörper verwachsen sind, beim Menschen eine neue Ära der Organbildung und der Lebensentfaltung einleitete. Zwar beeinflußte der Mensch durch die Veränderung seiner Umwelt die natürliche Auslese, doch nicht mehr, als dies schon bisher durch spontane Umweltveränderungen der Fall gewesen war. Die auslesenden Faktoren werden durch jene, die der Mensch neu schafft, bloß ergänzt und abgeändert – bis auf den heutigen Tag. So blieb die steuernde Macht der auslesenden Faktoren auch weiterhin erhalten und legt nach wie vor fest, welche der menschlichen Geistesprodukte sich durchsetzen können und welche nicht. Daß nicht der menschliche Zellkörper das Wesentliche ist, sondern der Leistungskörper, den der Mensch aufbaut, müßte
eigentlich jedermann klar (Originalbuchseite 104)
sein. Doch da wir diesen nicht unmittelbar wahrnehmen, fällt es uns schwer, nicht unseren leiblichen Körper, sondern jene unsichtbare Einheit, die von Leistungen und Kräften bestimmt wird, als das unser wahres Ich Repräsentierende anzusehen. Dabei sollte es meiner Meinung nach nicht allzu schwierig sein, diesen Identitätswandel zu vollziehen, zumal wohl jedem das tägliche Leben auf das deutlichste zeigt, wie sehr unser Erfolg oder Nichterfolg von Einheiten abhängt, die nicht aus Zellen gebildet und mit unserem Zellkörper nicht verwachsen sind. In der Wirtschaft ist man längst auf die Bedeutung immaterieller Werte aufmerksam geworden, die kaum in den Bilanzen aufscheinen und doch für den Erfolg außerordentlich maßgebend sind. Beispiele dafür sind: Leumund, Ansehen, Kundenzufriedenheit, bewährte Geschäftsbeziehungen, Wissen um die Verläßlichkeit von Mitarbeitern und Anbietern, Engagement des eigenen Teams, Gefolgstreue des Kundenstamms. All das sind wichtige Bestandteile, auf die es beim Leistungskörper des einzelnen und der von vielen einzelnen gebildeten größeren Einheiten entscheidend ankommt. Auf die von den Hyperzellern aufgebauten Erwerbsorganisationen, in denen der Mensch völlig zur ersetzbaren und austauschbaren Einheit wird, gehen wir in Kapitel 5 ausführlicher ein. Sie umfassen in erster Linie die industriellen Wirtschaftsunternehmen, aber auch räuberisch tätige Großorganisationen wie etwa die Mafia. Wie ich zeigen werde, fallen auch manche Staatsformen unter diesen Begriff. Die vom Menschen gebildeten Hyperzeller können durch Angliederung anderer Leistungen ihr Potential enorm steigern. Es widerstrebt uns, fremde Leistungserbringer als Bestandteile des
für die natürliche Auslese maßgebenden Leistungskörpers anzusehen. Un(Originalbuchseite 105)
seren Sinnen stellen sie sich ja als völlig getrennte Einheiten dar. Wer meiner Argumentation folgen will, muß sich von diesen Vorurteilen frei machen. Das Weltbild, zu dem meine Theorie führt, ist vom bisherigen außerordentlich verschieden. Es wird unsere Einschätzung des Alltagslebens kaum beeinflussen. Aber es wird uns vielleicht dabei helfen, manche heute unübersteigbar erscheinenden Barrieren zu überwinden.
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4 Baumaterial und Organbildung
Wenn es dem Menschen so ungemein schwer fällt, zusätzlich gebildete Organe als zum eigenen Körper gehörig anzuerkennen, liegt das nicht nur daran, daß diese Einheiten deutlich von uns getrennt sind. Zwei weitere maßgebende Gründe dafür sind einerseits das weitgehend andere Baumaterial und andererseits die meistens ganz andere Art ihres Zustandekommens. Alle Organe des menschlichen Körpers – wie jene der übrigen Lebewesen – bestehen aus verschieden differenzierten Zellen oder, wie etwa unsere Fingernägel, aus Zellabscheidungen. Werkzeuge und Maschinen bestehen dagegen weitgehend aus Metall, Bauwerke oft aus natürlichem Gestein oder aus Beton. Und die meisten zusätzlichen Organe der Hyperzeller sind nicht von diesen selbst hergestellt, sondern werden von anderen durch Kauf erworben. Somit stellt sich die Frage, ob nicht vielleicht diese Unterschiede doch zu einer grundsätzlichen Abtrennung der zusätzlichen Organe von den aus Zellen gebildeten berechtigen. Auch hier ist es sinnvoll, bei möglichst verschiedenen Lebewesen nachzusehen, aus welchen Baustoffen deren Organe bestehen und wie sie zustande kommen. Schon einige Einzeller verwenden zur Organbildung sowohl selbstgebildete Bauteile wie auch Umweltmaterial. Ein instruktives Beispiel dafür sind die nahe verwandten Arten Amoeba euglypha und Amoeba difflugia. Beide leben auf feuchten Böden, oft sogar im gleichen Gebiet, etwa im Sphagnummoos von Mooren. Im Gegensatz zu den meisten Amöben,
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die ihre aus organischen Partikeln bestehende Nahrung gleichsam umfließen und so in das Körperinnere aufnehmen, gehören Euglypha und Difflugia zur Gruppe der Thekamöben, die einen urnenförmigen Panzer bilden, in den sie sich bei Gefahr vollständig zurückziehen. Um sich fortzubewegen, strecken sie aus der Urnenöffnung ihre fadenförmigen Scheinfüßchen (Filopodien) hervor, kriechen mit diesen über den Boden und ergreifen mit ihnen auch Nahrungsteilchen, die sie in die Urne zurückziehen und so in das Körperinnere befördern. Verschieden ist bei beiden Arten allerdings die Bildung ihres Panzers. Euglypha bildet aus Stoffwechselprodukten ihrer Nahrung Kieselsäureplättchen und verlagert diese in die Außenschicht, wo sie mit einer klebrigen Ausscheidung, Pseudochitin genannt, aneinander festgekittet werden. So entsteht die feste, aus ziemlich gleich großen Plättchen aufgebaute Urnenwand. Difflugia dagegen nimmt mit der Nahrung Sandkörnchen passender Größe in ihren Körper auf, die sie ebenfalls zur Außenschicht verlagert und dort mit Pseudochitin zur festen Urnenwand verkittet. Wie Abb. 2A zeigt, sind diese so verschieden gebildeten Schutzpanzer einander sehr ähnlich. Sie unterscheiden sich wohl kaum in ihrer Festigkeit, nur bestehen sie eben bei Euglypha aus selbstgebildeten Plättchen, bei Difflugia hingegen aus bereits in der Umwelt fertig vorhandenem Material von ungefähr ähnlicher Größe. Es stellt sich somit die Frage: Kann der Schutzpanzer von Difflugia etwa deshalb nicht als Organ dieses Tieres bezeichnet werden, weil er nicht aus selbstgebildeten Einheiten besteht? Wenden wir uns als nächstes einigen vielzelligen Lebewesen zu: den in Bächen häufig anzutreffenden Larven von Köcherfliegen. Eine solche Art dieser Gruppe lernten wir bereits kennen: jene, die aus Fäden trichterförmige Fangvorrichtungen bildet (S. 45).
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Abb. 2: Zwei Beispiele dafür, wie verschiedenartig zusätzliche Organe beschaffen sein können. A zeigt zwei Amöbenarten, die Schutzgehäuse herstellen, in die sie sich bei Gefahr zurückziehen. Amoeba euglypha (a) baut ihres aus Kieselsäureplättchen auf, die sie im Körper bildet, dann zur Außenschicht verlagert und dort mit einer körpereigenen klebrigen Abscheidung fest verbindet. Amoeba difflugia (b) fertigt einen ganz ähnlichen Panzer, indem sie mit ihren Scheinfüßchen zusammen mit der Nahrung Sandkörnchen passender Größe in sich aufnimmt, diese ebenfalls zur Außenschicht verlagert und mit körpereigenem Klebstoff fest verbindet. Daß die Panzer ihren Dienst da wie dort gleichermaßen gut verrichten, wird dadurch bewiesen, daß beide Arten oft im selben Biotop leben. Hier läßt sich bereits an Einzellern erkennen, daß es unwesentlich ist, ob Organe aus selbsthergestellten Bausteinen oder aus Umweltmaterial bestehen. B: Einsiedlerkrebse verwenden leere Schneckenhäuser als Schutzorgan für den rückwärtigen Abschnitt ihres Körpers. Darüber hinaus verpflanzen manche Arten auch Seeanemonen, die ihnen zusätzlichen Schutz gegen Seesterne bieten, auf ihr
Schneckenhaus. Das zum Schutzorgan gemachte Schneckenhaus wurde von einem anderen Tier hervorgebracht; die zu Schutzorganen gemachten Seeanemonen sind fremde Lebewesen. Beide Beispiele belegen, daß es bei Organen nicht auf das Material und die Entstehungsweise, sondern auf die Erfüllung benötigter Funktionen ankommt. (Originalbuchseite 110)
Die meisten Köcherfliegenlarven verwenden jedoch die von ihnen produzierten Seidenfäden zur Herstellung von Schutzröhren, in die sie sich bei Gefahr ebenso zurückziehen wie die genannten beiden Amöbenarten in die von ihnen gebildeten Urnen. Zur Festigung der aus einem Gespinst von Seidenfäden bestehenden zarten, aber widerstandsfähigen Röhre, die sie mit sich herumtragen, verstärken sie diese Bekleidung durch Sandkörnchen, Steine, Pflanzenreste, winzige Schneckengehäuse, kleine Äste und sonstiges Umweltmaterial, das sie ebenfalls mit den Fäden an der Röhre befestigen. Sammler solcher Gehäuse können häufig am verwendeten Material und an dessen Anordnung die Artzugehörigkeit erkennen. Die Larven zeigen also bei ihrer Bautätigkeit angeborene Präferenzen. Manche Arten, die Pflanzenstiele verwenden, beißen diese so zurecht, daß sie eine bestimmte Länge haben; die Stiele liegen so der Seidenröhre besser an, bilden eine besser gefügte Schutzhülle. Auch hier stellt sich die Frage: Sind diese dem Körper dicht anliegenden, jedoch nicht mit diesem verwachsenen Panzer nun Organe des Tieres oder nicht? Bei den Schnecken, die durch Kalkabscheidung Schutzgehäuse bilden, in die sie sich ebenso zurückziehen, hat bisher kein Biologe daran gezweifelt, daß die Gehäuse Bestandteile des Schneckenkörpers, ja sogar sehr wichtige Organe des Tieres sind. Doch die Röhren der Köcherfliegenlarven werden ja weitgehend durch Anlagerung von Umweltmaterial gebildet! In entfernter Ähnlichkeit erinnern sie bereits an die vom Menschen aus Umweltmaterial gebildeten Kleider . . .
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Die Zelle als Baumaterial An diesem Punkt ist es sinnvoll, wenn wir uns mit den Vorzügen und den Mängeln beschäftigen, die den Zellen anhaften, wenn sie beim Übergang von den Einzellern zu den Vielzellern ihre individuelle Freiheit als Lebewesen aufgeben und zum Baustein noch größerer Lebenseinheiten werden. Dabei ist im Auge zu behalten, daß die Zelle zu dem Zeitpunkt, da sie in diese neue Rolle eintrat, bereits eine mehr als zwei Milliarden Jahre lange Entwicklung hinter sich hatte und zu außerordentlicher Effizienz und Differenzierung gelangt war. Mit einer einzigen Ausnahme, auf die wir noch zurückkommen werden, dürfte es kein Baumaterial geben, das so viele Vorzüge bietet und so viele verschiedene Aufgaben zu erfüllen vermag wie eben die Zelle. Es genügt, daran zu denken, daß im vielzelligen Körper die faktisch gleiche Einheit ebenso Muskeln wie Knochen bildet, ebenso Nerven wie Nieren, Sinnesorgane wie rote Blutkörperchen. In Gestalt der weißen Blutkörperchen bewahrt sie noch weitgehend ihre Selbständigkeit, durchstreift den Körper, beseitigt Abfälle, ja begeht, wenn sie sich mit Giftstoffen oder eingedrungenen Krankheitserregern belädt und als Eiter den Körper verläßt, im Dienst der größeren Gemeinschaft »Selbstmord«. Außerdem übernimmt die Zelle als Baumaterial weitgehend die Funktion ihrer Selbstinstandhaltung, bei Schäden sogar die Selbstreparatur. Wenn die Umstände es erfordern, vermögen sich Zellen oftmals auch umzudifferenzieren, was beispielsweise der Fall ist, wenn Muskelzellen sich in Knochenzellen verwandeln oder Bindegewebszellen in Zellen, die Blutgefäße bilden. Wenn einem Schwanzlurch (Molch) eine Gliedmaße abgetrennt wird, kann er diese vollständig regenerieren. Selbst
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wenn der gesamte Knochen entfernt ist, entsteht aus den verbleibenden Geweben über Umdifferenzierung neues Knochengewebe. Über welche Mechanismen die Zellen sich in so verschiedene Strukturen verwandeln, sich auf so viele verschiedene Leistungen auszurichten vermögen, ist heute schon weitgehend erforscht und soll uns hier nicht beschäftigen. Wesentlich ist zunächst nur die Feststellung, daß die Zelle als Baumaterial größerer Lebenseinheiten wahre Wunder an Vielseitigkeit erbringt und kaum hoch genug eingeschätzt werden kann. Diesen eminenten Vorzügen stehen allerdings auch sehr erhebliche Nachteile gegenüber, denen man im Blick auf das Lebenswunder weit weniger Augenmerk gewidmet hat. Als erstes ist hervorzuheben, daß jeder Zelle, also jedem Bauteil, die notwendige Menge an Energie und Stoffen zugeführt werden muß, wodurch der aufwendige Blutkreislauf notwendig wird: Eine Unzahl sich verästelnder Rohrleitungen samt einer oder mehreren Pumpen, um diesen Kreislauf in Bewegung zu setzen, sind erforderlich. Wird ein Mensch von einer Revolverkugel ins Herz getroffen, stirbt er fast augenblicklich, weil dieses Baumaterial seine Dienste nicht länger erfüllen kann. Auch alle sich bei der Zelltätigkeit bildenden Stoffwechselschlac ken und sonstige Abfälle müssen aus den Zellen beseitigt werden, weil sie deren Fähigkeiten vermindern. Beim menschlichen Körper – wie bei dem aller höheren Wirbeltiere – wird auch dies weitgehend durch den Blutkreislauf bewerkstelligt, macht allerdings zusätzliche Hilfsorgane notwendig, etwa die Nieren und die Ableitungskanäle für die Schadstoffe. Schon das zeigt deutlich, daß die Baueinheit »Zelle« zwar ungemein vielseitig ist, aber auch gehörige Ansprüche stellt und entsprechende Kosten verursacht. Und es bedeutet außerdem, daß sie nicht
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Organe zu bilden vermag, die nicht vom Blutkreislauf bedient werden, und somit grundsätzlich auch nicht solche, die vom Zellkörper getrennt sind. Organe, die ihre Leistungen nur erbringen können, wenn sie mit dem Körper nicht fest verwachsen sind – wie etwa das Spinnennetz und die meisten zusätzlichen Organe des Menschen –, sind daher über dieses Baumaterial nicht realisierbar. Das aber führt zwangsläufig zu der Frage, ob der als »Leben« bezeichnete Vorgang erklärtermaßen nur über bestimmte Baustoffe stattfinden kann, selbst wenn andere ihm zu wesentlichen Leistungssteigerungen verhelfen. Meines Erachtens ist das nicht vertretbar. Ein weiterer, nicht minder gravierender Nachteil des so effizienten Baumaterials »Zelle« ergibt sich daraus, daß diese hochdifferenzierte Einheit höhere Temperaturen nicht erträgt. Deshalb konnten sowohl die Einzeller als auch die Vielzeller keine aus Metall bestehenden Organe oder Organteile hervorbringen, deren Bearbeitung hohe Schmelztemperaturen erfordert. Durch zusätzlich gebildete, vom Körper getrennte Einheiten wie etwa eine Schmiede oder einen Hochofen wurden dagegen die Bearbeitung und die Umformung von Metallen ohne weiteres möglich. Gerade dies aber hat zur Bildung jener leistungserbringenden Einheiten geführt, die das Machtpotential der Lebensentfaltung so außerordentlich gesteigert haben. Die großen industriellen Produktionsbetriebe und Transportorgane zeigen das deutlich. Über Zelldifferenzierung hätten all diese Organe von Hyperzellern und ihren Organisationen nie zustande kommen können. Auch hier stoßen wir abermals auf die Frage, ob als »Leben« nur das bezeichnet werden soll, was sich über Zellen realisieren kann, oder ob diesem leistungsfähigen Baumaterial
vielleicht doch keine so grundsätzliche Bedeutung zukommt. (Originalbuchseite 114)
Bei Kristallen ist es in der Tat so, daß ihr Wachstum auf den Zufluß bestimmter Bausteine angewiesen ist. Sehen wir jedoch in den Lebewesen materielle Gebilde, die über bestimmte Leistungen verfügen müssen, um bestehen und sich vervielfältigen zu können, dann ist nicht einzusehen, warum sie begrifflich an bestimmte Baustoffe gefesselt sein sollten. Lassen sich über andere noch bessere Leistungen erzielen, dann werden sie von der natürlichen Auslese, die ja bloß Ergebnisse prüfen kann, sicherlich nicht gebremst. Schon bei den beiden angeführten Amöbenarten und bei den Köcherfliegenlarven deutet sich diese Weggabelung an. Über Euglypha führt, funktionell gesehen, der Weg zu all jenen Lebewesen, die sich auf Zellen als Baumaterial beschränken. Über Difflugia führt der andere Weg zu all jenen Lebewesen, die nicht selbstgebildete Bauteile mit zur Organbildung verwenden und im weiteren Entwicklungsverlauf auch vom Körper getrennte Organe bilden oder sich aneignen. Ich könnte den Nachteilen, die der Zelle in ihrer Rolle als Baumaterial größerer Lebenseinheiten anhaften, sehr erhebliche weitere hinzufügen; auf einige kommen wir noch ausführlicher zurück. Doch sollten die beiden genannten zunächst genügen.
Der Erwerb von Organen Bei meiner Filmtätigkeit in Korallenriffen folgte ich den zierlichen kleinen Pinzettfischen (Forciper longirostris) über lange Strecken und hielt in Zeitlupenaufnahmen fest, wie sie mit ihrem langausgezogenen röhrenförmigen Maul in den Spalten zwischen Korallenästen herumstocherten und dort versteckte kleine Schnecken, Krebse und sonstige Kleinlebewesen her-
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vorholten. Bei dieser Fischart, die auch Verwandte mit kurzem spitzem Maul hat, wurde mir deutlich vor Augen geführt, wie es im Lauf der Evolution zur Ausbildung dieses besonderen Merkmals gekommen war. Bei der Nahrungssuche hatten immer diejenigen Individuen einen Konkurrenzvorteil gehabt, die infolge der durch Mutationen und Rekombinationen erzeugten genetischen Variation ein längeres und spitzeres Maul besaßen. Sie konnten Nahrung aus Spalten hervorholen, die für ihre Artgenossen und ihre sonstigen Konkurrenten nie zugänglich waren. Dieser Selektionsvorteil, so geringfügig er erscheinen mag, führte dazu, daß in Jahrmillionen, unterstützt durch weitere Veränderungen im Erbgut, das Pinzettfischmaul sich immer mehr verlängerte. Ganz im Sinne Darwins kam es so in kleinen Schritten zu extrem angepaßten Formen, die sich kraft dieses Selektionsvorteils durchsetzten und allmählich eine neue Art hervorbrachten. Bei manchen Vogelarten verlief es ähnlich. So verhelfen dem Mauerläufer (Trichodroma muraria) und dem Schwertschnabelkolibri (Ensifera ensifera) ihre überaus langen dünnen Schnäbel dazu, Kleingetier, das sich in Felsspalten versteckt, oder Nektar aus Blütenkelchen hervorzuholen. Anderen Vogelarten ist das kaum oder überhaupt nicht möglich. Allerdings sind sie, ebenso wie der Pinzettfisch, nur dort im Vorteil, wo es solche besonderen Nahrungsnischen gibt. Würden Exemplare dieser Arten durch Wind oder Strömungen in die Wüste oder auf flachen, sandigen Meeresboden verpflanzt, könnten sie dort kaum bestehen, nicht zuletzt deshalb, weil so gestaltete Mäuler oder Schnäbel zur Abwehr von Raubfeinden schlecht geeignet sind. Während seiner fünfjährigen Reise auf dem Forschungsschiff »Beagle« beobachtete Charles Darwin auf den Galápagosinseln einen Finken, dessen Eigenheit der große Naturforscher, obwohl
er gerade an (Originalbuchseite 116)
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Abb. 3: Erschließung ähnlicher Nahrungsnischen durch drei Vogelarten. A: Der Mauerläufer (Tichodroma muraria) holt mit seinem besonders langen, dünnen Schnabel Insekten aus Felsspalten hervor. Seine Vorfahren hatten einen kürzeren Schnabel, doch Mutanten mit längerem Schnabel gelangten an Nahrung, die für Konkurrenten unerreichbar war, setzten sich deshalb durch und bildeten so diese Art. B: Der Buntspecht (Dendrocopos major) erwarb auf dem gleichen Entwicklungsweg einen langen, fester gebauten Schnabel, der ihm dazu verhilft, durch die Rinde morscher Bäume hindurch an die Bohrgänge von Insekten und so an deren Larven heranzukommen. Gleichfalls durch Mutationen entstand eine überlange Zunge mit klebrigem Ende, mit welcher der Vogel noch tiefer in die Bohrgänge vordringen kann. C: Der auf den Galápagosinseln lebende Spechtfink (Cactospiza pallida) erlangte einen analogen Vorteil, indem sich bei ihm – auch über mutative Schritte – eine angeborene Verhaltenssteuerung ausbildete, Kakteenstacheln abzubrechen und damit aus Ritzen Insektenlarven hervorzuholen. Er gehört aufgrund dieses Verhaltens zu jenen Tieren, welche die Leistungsfähigkeit ihres Körpers durch zusätzliche Organe steigern, die nicht fest mit dem Körper verbunden sind und so den Vorteil haben, ablegbar zu sein. Der Spechtfink kann seinen kräftigen Schnabel im Gegensatz zu den beiden anderen Arten auch zum Aufbeißen von Kernen verwenden. Benötigt er zum Vordringen in Ritzen einen Kaktusstachel, bricht er sich einen geeigneten ab – ganz ähnlich wie der Mensch die Leistungsfähigkeit seiner Hände durch zusätzliche, jederzeit ablegbare Werkzeuge verbessert (s. S. 115ff.). (Originalbuchseite 118)
diesen Vögeln besonderes Interesse hatte, offenbar nicht wahrnahm. Diese Art entwickelte, sicherlich über allmähliche Veränderungen im Erbgut, eine angeborene Verhaltenssteuerung, die es dem Vogel erlaubt, auch ohne morphologische Veränderung seines Schnabels an Kleingetier, das sich in Holzspalten verbirgt, heranzukommen. Hat er mit seinem Schnabel die Rinde abgelöst, bricht er längere Stacheln von Kakteen ab, behält sie im Schnabel und stochert damit Kleingetier aus seinen Verstecken hervor. Heute wird dieser Spechtfink (Cactospiza pallida) als ein Paradebeispiel für Werkzeuggebrauch im Tierreich angeführt. Die Besonderheit wird allerdings meistens
nicht erwähnt. Sie besteht darin, daß das Tier, das auch ohne Kaktusstachel Futter erwerben kann, durch sein Verhalten einen zusätzlichen Vorteil gewonnen hat. Kakteen gibt es auf diesen Inseln in genügender Anzahl. Wenn der Spechtfink eine Verlängerung seines Schnabels benötigt, hat er keine Schwierigkeit, einen geeigneten Stachel zu finden. Diesen wirft er anschließend weg und sucht sich bei nächster Gelegenheit einen neuen. Vertriebe es ihn plötzlich in ein Gebiet, in dem es keine Kakteen gibt, wäre er in seiner Futtersuche nicht sonderlich benachteiligt. Auf den Vorteil, den er durch die Verwendung des Stachels gewinnt, ist er keineswegs angewiesen. Kann er diesen nicht nutzen, dann gelangt er auch mit dem nichtverlängerten Schnabel an Nahrung, so daß er nicht zugrunde gehen muß. Der Urmensch, der einen passenden Stein als Wurfgeschoß bei der Jagd verwendete, wird in Gegenden, wo es genügend Steine gab, dieses zusätzliche Organ, das ihm zu besserem Jagderfolg verhalf, anschließend kaum weiter mit sich herumgetragen haben. Später, als er besonders zugerichtete Faustkeile als Universalinstrumente zum Graben, zum Abschla(Originalbuchseite 119)
gen von Zweigen und zum Herstellen von Jagdspeeren verwendete, bewahrte er sie wohl auf und verteidigte sie auch sicherlich gegen Diebstahl. Der große Vorteil zusätzlicher Organe zeigte sich hier wie beim Spechtfinken. Auch der Urmensch war auf den Vorteil, den ihm der Faustkeil und andere zusätzliche Organe brachten, nicht unbedingt angewiesen. Das Material spielte beim Wurfstein und beim Kaktusstachel noch keine besondere Rolle, weil es im einen wie im anderen Fall allenthalben verfügbar war. Im Blick auf die natürliche Auslese sind beide Einheiten, obwohl sie nicht selbst gefertigt sind, zusätzliche Organe. Der Stachel des Spechtfinken dient wie der Wurfstein des Urmenschen – und später der Faustkeil, der
Hackstock, der Jagdspeer, die Schlinge, die Fallgrube und andere von ihm gefertigte Artefakte – dem Nahrungserwerb und damit den entscheidend wichtigen Grundleistungen Energieerwerb und Stofferwerb. Es ist daher schwerlich einzusehen, warum sie nicht ebenso als Organe angesehen werden sollten wie das verlängerte Maul des Pinzettfischs, wie die Schnäbel des Mauerläufers und des Schwertschnabelkolibris. Das Material, aus dem zusätzliche Organe bestehen, ist dabei belanglos, solange die Leistung befriedigend ausfällt. Dies zeigen Amoeba difflugia und Amoeba euglypha. Dies zeigen die mannigfachen Muscheln und die Köcherfliegenlarven. Dies zeigen der Pinzettfisch und der Spechtfink. Es gibt viele weitere derartige Beispiele. Diese habe ich bloß herausgegriffen, weil ich sie besonders anschaulich finde. Vor allem gaben mir die Einsiedlerkrebse zu denken, die in zahlreichen Gattungen und Arten verbreitet sind und einen einleuchtenden Beweis für den Selektionsvorteil liefern, den ihre Methode, sich vor Raubfeinden und sonstigen Gefahren zu schützen, ihnen bietet. Während bei anderen Krebsen der Hin(Originalbuchseite 120)
terleib ebenso durch einen festen Panzer geschützt ist wie alle übrigen Körperteile, ist er bei den Einsiedlerkrebsen weichhäutig. Als Schutzorgan für den Schwanz benutzen sie gleichsam vorgefertigte Einheiten, die Schnecken nach ihrem Tod hinterlassen. Zunächst mag es so gewesen sein, daß die Vorgänger dieser Krebse die Schutzwirkung ihrer Panzerung lediglich verbesserten, indem sie sich mit dem Schwanz voran in leere Schneckenhäuser verkrochen. Im Lauf der Zeit, über viele kleine Entwicklungsschritte, bildete sich dann die Panzerung ihres Schwanzes als überflüssiger Aufwand allmählich zurück, so daß sie heute nur noch in Gebieten leben können, wo genügend leere Schneckenhäuser verfügbar sind. Da indes die marinen Gehäuseschnecken weit verbreitet und die Gehäuse, die sie
hinterlassen, überaus widerstandsfähig sind, ist für den weltweiten Erfolg der Einsiedlerkrebse, besonders an tropischen und subtropischen Meeresküsten, die notwendige Voraussetzung gegeben. Allerdings müssen Krebse, wie alle Arthropoden, wenn sie heranwachsen, den zu klein werdenden Panzer abstreifen und einen neuen, größeren bilden. In diesen Perioden verstec ken sie sich in Spalten vor Raubfeinden, bis der neugebildete Panzer entsprechend ausgehärtet ist. Ein solcher Wechsel bleibt auch dem Einsiedlerkrebs nicht erspart. Wird ihm sein Schneckenhaus zu klein, muß er nach einem größeren suchen und in dieses übersiedeln. Für diesen kritischen Vorgang, den Raubfische leicht zu gezielten Angriffen nützen, haben sich bei den Einsiedlerkrebsen eine Reihe weiterer angeborener Verhaltenssteuerungen entwic kelt. Sie prüfen verschiedene in Frage kommende Schneckenhäuser, begutachten deren Größe und Eignung, bis sie sich schließlich zu dem Wechsel, der dann möglichst schnell ablaufen (Originalbuchseite 121)
muß, entschließen. Auch zu morphologischen Anpassungen an diese Besonderheit, ein benötigtes Organ nicht selbst zu bilden, sondern zu erwerben, ist es im Lauf der Evolution der Einsiedlerkrebse gekommen. Ihr nackter Hinterleib ist heute ebenso gekrümmt wie das gewundene Schneckenhaus, dem sie nun unmittelbar angepaßt sind. Auch die Ausbildung ihrer Scheren hat Formänderungen erfahren, so daß sie mit diesen das Schneckenhaus, in das sie bei Gefahr auch den übrigen Körper samt den Beinen zurückziehen, wie mit einer gepanzerten Tür hermetisch abschließen können. Dies erinnert bereits an manche Details technischer Konstruktionen, zu denen der Mensch über Intelligenzleistungen ebenso gelangte wie diese Tiergruppe über den weit langsameren Entwicklungsweg von geeigneten
Veränderungen im Erbgut. Auch hier lautet die zu stellende Frage: Ist das erworbene und neu funktionalisierte Schneckenhaus als zusätzliches Organ des Einsiedlerkrebses anzusehen oder nicht? Bei der Schnecke, die es schuf, wird es ohne weiteres als körperliches Organ betrachtet, beim Einsiedlerkrebs, weil es nicht von ihm selbst, sondern von einem anderen Lebewesen erzeugt wurde, dagegen nicht. Für die natürliche Auslese, die darüber entscheidet, was sich als Lebewesen durchsetzt und was nicht, fällt dieser Unterschied jedoch nicht ins Gewicht. Was für sie zählt, ist eine – hier erforderliche – effiziente Schutzleistung. Und die kann eben auf ganz verschiedenen Wegen zustande kommen. Aus evolutionärer Perspektive sehe ich daher keinen zureichenden oder gar zwingenden Grund, leistungserbringende Einheiten, nur weil sie von einem anderen Lebewesen erzeugt wurden, nicht als echte Organe eines Lebewesens anzuerkennen. Die Anpassung des aus Zellen bestehenden Hinterleibs an die (Originalbuchseite 122)
Form der Schneckengehäuse bei den Einsiedlerkrebsen ist sogar ein deutlicher Hinweis darauf, daß deren Genom die Zugehörigkeit dieser aus der Umwelt gewonnenen Einheit gleichsam anerkennt. Dieser neue, erweiterte Organbegriff besagt somit, daß Organe keineswegs aus selbstgebildeten Bauteilen bestehen müssen. Zwar ist dies bei den meisten Organbildungen von Tieren und Pflanzen der normale Vorgang und deshalb über weite Strecken der Lebensentwicklung hinweg die Regel, doch gibt es eben weitere Möglichkeiten, an Organe zu gelangen. Dazu gehört der Erwerb bereits fertig verfügbaren Baumaterials aus der Umwelt (wie bei Amoeba difflugia und beim Ameisenlöwen) oder bereits
fertiggestellter Organe (von denen der Einsiedlerkrebs Gebrauch macht). Allerdings gelangte diese Technik erst bei der zielgerichteten Bildung zusätzlicher Organe durch den Menschen zu besonderer Bedeutung. Auch komplexe, von Zellen gebildete Organellen werden von manchen Tierarten räuberisch entwendet und in körpereigene Leistungsträger verwandelt. Der erstaunlichste Fall ist hier die Aneignung der von den Korallenpolypen produzierten Nesselkapseln. Es sind außerordentlich perfekte Schußvorrichtungen. Bei Berührung eines vorstehenden Stifts durch ein Beutetier oder einen Feind schnellt ein Pfeil hervor, dessen Spitze sich in mehrere Stilette auffächert, wodurch sich die Wunde vergrößert. Durch diese wird ein Schlauch in den Tierkörper eingeführt, aus dem sich ein lähmendes Gift in diesen ergießt. Manche marine Nacktschnecken (Aeolidiacea) und eine Rippenqualle (Euchlora rubra) fressen trotzdem die Korallenpolypen, jedoch so, daß deren Kapseln sich nicht entladen, und verfrachten dann diese in Körperausstülpungen, so daß sie zu eigenen Schutzorganen werden. Auch bei diesen geraubten Organellen (Kleptocniden), (Originalbuchseite 123)
deren Ursprung man schon lange kennt, kann man wohl kaum behaupten, sie seien etwa im Epithel der Korallenpolypen als Organe anzusehen, im Epithel der Nacktschnecken dagegen nicht. Ob von diesem oder ob von einem fremden Genom geschaffen, erbringen sie hier wie dort die benötigte Leistung. Bei Tieren und Pflanzen war solcher Raub von Organen nur in seltenen Ausnahmefällen möglich. Bei den Hyperzellern änderte sich das radikal. Während aus Zellgeweben bestehende Organe kaum aus ihrem Verband gerissen und in einen anderen übergeführt werden können, ist es bei den zusätzlichen Organen des Menschen ohne weiteres möglich, daß sie von anderen Hyperzellern entwendet
und in deren Leistungskörper eingegliedert werden. Ob also Organe ganz oder teilweise über eigene Zelltätigkeit hergestellt oder von anderen Lebewesen erworben werden, ist für Organismen von sekundärer Bedeutung, so, wie es auch bei Homo Proteus unerheblich wurde, ob er ein benötigtes zusätzliches Organ selbst anfertigte oder es über Raub, Tausch oder Kauf von anderen erwarb. Worauf es beim Kampf ums Dasein (diesen Ausdruck verwendete Darwin häufig) und dort besonders in der Auseinandersetzung mit Konkurrenten einzig und allein ankommt, ist, daß das Lebewesen über leistungserbringende Einheiten verfügt, wenn es sie benötigt, daß es sie richtig einsetzen kann und daß es sie in das Gefüge der übrigen aus Zellen gebildeten oder zusätzlichen Organe so zu integrieren vermag, daß möglichst keines die anderen behindert, sondern jedes die übrigen nach Möglichkeit unterstützt. (Originalbuchseite 124)
Die Umwandlung anderer Lebewesen in eigene Organe Bei meinen Untersuchungen in verschiedenen Meeren hatte ich die Möglichkeit, einzelne Tiere in aller Ruhe bei ihren Tätigkeiten zu beobachten. In einzelnen Fällen konnte ich zusehen, wie ein Meeresbewohner andere zielstrebig und rücksichtslos zu Bestandteilen des eigenen Leistungskörpers machte. Die Wollkrabbe (Dromia vulgaris) ist dafür ein gutes Beispiel. Sie benutzt Schwämme dazu, sich wirkungsvoller zu tarnen. Mit ihren Scheren schneidet sie sich einen von ihr ausgewählten und vom Substrat abgelösten Schwamm so zurecht, daß er genau die richtige Größe hat, um ihren Rückenschild zu bedecken. Beobachtet man das Tier bei seiner sorgfältigen Tätigkeit, dann ist man versucht, an eine Intelligenzleistung zu glauben. Aber auch
hier handelt es sich um angeborene Verhaltensprogramme, die ebenso wie morphologische Strukturen über eine lange Folge von Mutationen und Rekombinationen der steuernden Gene zustande kamen und so allmählich immer mehr verbessert wurden. Die Krabbe dreht den Schwamm hin und her, beäugt ihn, prüft ihr Werk und dessen Fortschritt, bis es schließlich genau der passenden Form entspricht. Sie zieht den Schwamm dann über den gewölbten Rückenschild, wo sie ihn rückwärts mit einem Beinpaar und vorn mit Häkchen festhält. Durch diese Tarnung ist sie in ihrem Biotop kaum mehr zu erkennen, wodurch sich ihr Risiko gegenüber Raubfeinden wesentlich vermindert und ihr entsprechend wenig gestörter Nahrungserwerb sich erheblich steigert. Der Schwamm lebt trotz der Verstümmelung weiter – man denkt hier unwillkürlich an Menschen, die andere ebenfalls für ihre Zwecke »zurechtstutzen« und (Originalbuchseite 125)
so zu funktionellen Bestandteilen des eigenen Leistungsgefüges machen. Solange man die Lebewesen, einschließlich des Menschen und seiner materiellen Gefüge, vom äußeren, materiellen Aspekt her betrachtet, wie das bis heute üblich ist, erscheint jeder solche Vergleich als bloße Analogie. Wenn jedoch im gesamten Lebensgeschehen den Leistungen die Vorrangstellung zukommt und es von sekundärer Bedeutung ist, über welche materielle Strukturen und Abläufe diese zustande kommen, dann wird das Ergebnis und damit die Frage, zu welcher Leistungssteigerung es hier wie dort kommt, entscheidend. Wird ein Mensch durch einen anderen so zurechtgestutzt, daß dieser sich seinen Wünschen und Zielen immer mehr unterwirft, dann wird aus einem ursprünglich selbständigen Organismus zunehmend das Organ eines anderen: ein zusätzliches Organ, das dessen Machtkörper steigert. Die individuelle Freiheit und die Individualität werden in diesem Fall vielleicht weniger plump und
drastisch umgeformt, als die Krabbe Dromia es beim Schwamm praktiziert, aber beidemal werden über entsprechende Verhaltensweisen aus selbständigen Lebewesen unter Umständen völlig abhängige und fremddienliche Werkzeuge gemacht. Eine weit elegantere Partnerschaft, die über beiderseitigen Vorteil dazu führt, daß Lebensindividuen sie fördernde Leistungen hinzugewinnen, ist die überaus verbreitete und gut erforschte Symbiose. Ein vielzitiertes Beispiel für eine solche liefert der bereits angeführte Einsiedlerkrebs, mit dessen Verhalten ich mich eingehend beschäftigt habe. Manche Arten verwandeln nicht nur Organe anderer Lebewesen in eigene Organe, nämlich die Gehäuse verstorbener Schnecken, sondern vermögen die Wirksamkeit dieser von ihnen erworbenen Schutzeinheit noch zu verbessern, (Originalbuchseite 126)
indem sie ein anderes Lebewesen in ein zusätzliches Organ verwandeln. Der Erbfeind der Einsiedlerkrebse ist der Seestern, der trotz des widerstandsfähigen Schneckenhauses, in das sich der Einsiedlerkrebs bei Gefahr zurückzieht, an seine Beute herankommt. Er verankert sich mit seinen fünf Armen auf dem Grund, saugt sich an den Scheren des Einsiedlerkrebses fest und zieht ihn trotz aller Gegenwehr aus seinem Schneckenhaus heraus. Bei manchen Einsiedlerkrebsen entwickelten sich nun weitere Verhaltensprogramme, die sie auch vor diesem Raubfeind schützen. Durch eine differenzierte Folge von Streichelbewegungen mit den Scheren vermögen sie Seeanemonen, an die sich wegen ihrer nesselnden Tentakel kein Seestern heranwagt, vom Felsen, an dem sie mit ihrem Fuß festgesaugt sind, abzulösen. Der Einsiedlerkrebs verpflanzt sie dann auf sein Schneckenhaus, wo sich die Seeanemone
bereitwillig festsaugt und dieses so zu ihrer neuen Lebensbasis macht. Ihr Vorteil besteht darin, daß sie auf diese Weise sozusagen gratis und franko vom seßhaften zum beweglichen Tier avanciert. Der Einsiedlerkrebs trägt sie nun mit sich herum; das ist für die Seeanemone ein beträchtlicher Vorteil gegenüber Konkurrenten, weil sie so weit bessere Chancen hat, in günstige Lebensbedingungen zu gelangen. Der Einsiedlerkrebs gewinnt durch diesen Tauschakt eine zusätzliche Abwehreinrichtung, die seinen Selektionswert steigert; die Seeanemone gewinnt ein Fortbewegungsorgan, was ihr ebenfalls zu besseren Lebensbedingungen verhilft. Jeder der Partner macht so ein anderes Lebewesen mit völlig anderem Genom zu seinem zusätzlichen Organ. Diese Form, an neue Organe zu gelangen, ist von besonderer Bedeutung, weil es dabei zu sprunghaften Leistungssteigerungen kommt. Bei der Symbiose zwischen Einsiedlerkrebs und Seeanemone wird das (Originalbuchseite 127)
besonders deutlich, wenn man die Situation der Seeanemone näher unter die Lupe nimmt. Dieses meistens an Felsen festsitzende Tier kann mit seinem dem Substrat anhaftenden Fußteil nur geringfügig seinen Standort verändern. Durch die Symbiose mit dem Krebs gelangt es jedoch unvermittelt in den Genuß der Leistung hochentwickelter Beine, die es auch in Hunderttausenden von Generationen nicht selbst hervorbringen könnte. Da die Fortbewegung für dieses Tier ohnehin keine überragende Bedeutung hat, weil ihm das Meer die Nahrung vor die Mundöffnung treibt, besteht der für die Entwicklung von Beinen notwendige Selektionsdruck nicht. Tatsache ist indes: Die Seeanemone kommt so über eine mäßige Anzahl von Mutationen und Rekombinationen in den Genuß dieser hochentwickelten Gliedmaßen – ein bedeutsamer Shift im Sinne meiner früheren
Ausführungen. Sie gelangt zu einem sprunghaften Leistungsgewinn durch eine eigene Leistungsfähigkeit, die sie quasi als Bezahlung bietet. Zwar ist der Vorteil der Fortbewegung für sie nicht von überragender Bedeutung, doch immerhin groß genug, um diesen Verbund mit dem Krebs zustande zu bringen. Es ist jedoch denkbar, daß in der Folge geänderter Umweltbedingungen die Leistung solcher Beine dann doch zu noch wesentlicheren Vorteilen verhilft. Hier äußert sich die evolutionäre Chance, die Symbiosen bieten: Die Partner gelangen in den Genuß neuer Leistungsfähigkeit, deren Entwicklungskosten sie nicht selbst tragen müssen. Das ist bereits das gleiche Prinzip, das bei den Hyperzellern über den Universalvermittler »Geld« zu gewaltigen Leistungssteigerungen führt. Schon bei Symbiosen können durch derartige Shifts auf völlig anderen Entwicklungswegen zustande gekommene Organe dem eigenen Leistungskörper angegliedert werden. Und jeder solche Shift kann sich in der evo(Originalbuchseite 128)
lutionären Weiterentwicklung entweder als nur von mäßiger Bedeutung erweisen – oder zu völlig neuen Selektionsvorteilen führen. Dies war bei Homo Proteus der Fall und führte über Faustkeile und Jagdspeere allmählich zu sämtlichen Werkzeugen und Industrien, welche die Hyperzeller hervorbrachten. Diese besondere Form der Organbildung in Gestalt des Erwerbs und der Eingliederung fremder Organe in den eigenen Leistungskörper, der bereits bei den Symbiosen von Tieren und Pflanzen seinen Ausgang nimmt, führt aber noch zu einem zweiten Entwicklungsweg, der hier bereits angedeutet werden soll. Zu den so entstehenden Partnerschaften gehört auch jene, die sich aus der Zweigeschlechtlichkeit, dem wichtigsten Mechanismus für die Grundleistung Verbesserung, bei höherentwickelten Vielzellern ergab. Bei Tierarten, die Brutpflege
betreiben, indem die Eltern sich aktiv um Schutz, Ernährung, ja sogar »Belehrung« der Jungen bemühen, ist dieses Zusammenwirken als ein der Symbiose funktionell verwandter Vorgang zu betrachten. Bei der Brutpflege geht es zwar um die Verbindung von Individuen der gleichen Art, doch wird auch hier jeder Partner zu einem zusätzlichen Organ des anderen – was sich beim Menschen in Ehe, Freundschaft und sonstigen Partnerschaften fortsetzt. Wenn wir zur Symbiose zwischen Einsiedlerkrebs und Seeanemone zurückkehren, dann stellt sich, sofern man Leistungen und nicht körperliche Strukturen als das für die Lebensentfaltung Vorrangige ansieht, unausweichlich die Frage, ob diese Gemeinschaft nicht bereits als Organismus höherer Integrationsstufe angesehen werden muß. Die Frage läßt sich sogar experimentell klären: Sind die Lebenschancen der Partner, wenn sie gemeinsam agieren, im Durchschnitt besser, als wenn jeder für sich allein lebt, dann (Originalbuchseite 129)
ist bereits ein Organismus höherer Ordnung entstanden: eine neue, komplexere Lebenseinheit, die sich mit der natürlichen Auslese auseinandersetzt. Das kann zu einer immer differenzierteren Arbeitsteilung führen wie bei den Insektenstaaten, aber auch bei den über Intelligenzakte entstehenden Staaten der Hyperzeller, denen wir uns im nächsten Kapitel zuwenden. Einen bemerkenswerten Übergang von freilebenden Individuen derselben Art, die zeitweise einen fest verbundenen Körper bilden, finden wir bereits bei manchen Einzellern. Bei den Schleimpilzen (Myxomyceten) strömen die Individuen nach einer Periode ungebundenen Lebens zusammen und bilden eine den Grundleistungen Fortpflanzung und Verbesserung dienende, aus Tausenden von Individuen bestehende Sporenkapsel, die
langstielig vom Boden emporwächst. Hier führt die Wirksamkeit des Genoms dieser Einzeller zu einem zeitweise festen Verbund und einer Zelldifferenzierung, die durchaus einem vielzelligen Körper gleicht. Andererseits stellt bei den Vielzellern das Genom jeder Keimzelle eine fest verbundene Einheit dar; entstehen dann jedoch durch Zellteilung neue Artgenossen, wird dieses Genom in vielen Exemplaren in alle Winde verstreut und ist doch immer noch eine gemeinsame Organisation, die wir mit der Bezeichnung »Art« zusammenfassen. Bei jeder festverbundenen Organisation wie bei all jenen Organisationen, deren Bestandteile nicht fest miteinander verbunden sind, ist jedes Organ nicht nur ein Organ der größeren Gemeinschaft, sondern auch ein zusätzliches Organ für alle anderen. Das tritt sowohl bei den Vielzellern als auch bei den Verbänden der Hyperzeller, den Erwerbsorganisationen und den Staaten, deutlich in Erscheinung. Wie wenig schon bei Symbiosen die Größenverhältnisse der Partner eine Rolle spielen, zeigt sich bei (Originalbuchseite 130)
den Termiten. Diese hochspezialisierten Organismen ernähren sich von der im Holz enthaltenen Zellulose, vermögen diese aber nicht selbst aufzuschließen. Das bedeutet, daß sie die in den Molekülen der Zellulose enthaltene Bindungsenergie nicht freisetzen und dem eigenen Lebensprozeß zuführen können. Zu ihrer Lebensbasis wurde die Symbiose mit Einzellern (Flagellaten aus der Ordnung der Polymastiginen), die zur Zellulosespaltung befähigt sind. Sie leben als »Verdauungshelfer« im Darm der Termite, bauen die vereinnahmte Zellulose ab, nehmen selbst vom Gewinn, was sie brauchen, und führen den überwiegenden Teil des Ertrags der tausendmal größeren Termite zu. Der Vorteil für die Verdauungshelfer liegt darin, daß sie im Körper der Termite
perfekten Schutz genießen und ihnen die Mühe der Nahrungsbeschaffung abgenommen ist. Holz wird ihnen von der Termite laufend zugeführt. Sterilisiert man den Darm einer Termite und tötet so sämtliche Verdauungshelfer, dann mag die Termite noch soviel Holz fressen – sie verhungert trotzdem. Hier ist sicherlich die Frage berechtigt: Sind diese Endosymbionten als Organe der Termite anzusehen oder nicht? Nach bisheriger Anschauung lautet die Antwort: Nein, sie sind keine Organe. Denn erstens sind es ja andere Organismen mit eigenem Erbgut, und zweitens hat das Genom der Termiten sie nicht hervorgebracht: Ihre Herstellung ist nicht im Erbgut der Termite kodiert. Nicht nur bei den Termiten gibt es solche Verdauungshelfer, sondern auch bei zahlreichen anderen Insekten, nicht zuletzt bei unseren Rindern, die ohne solche Symbionten nicht leben könnten. Bei säftesaugenden Insekten, etwa beim Blattfloh Psylla buxi, wurden im Hinterleib spezielle Organe zur Beherbergung der Symbionten (Myzetome) ausgebildet. Bei manchen Arten, so beim Rüsselkäfer Cleonus piger, kam es (Originalbuchseite 131)
darüber hinaus zur Entwicklung komplizierter Spritzorgane, durch welche die Verdauungshelfer – hier sind es Bakterien – auf die Eier gespritzt werden. Schlüpfen die Larven, dann infizieren sie sich mit den Bakterien, genauer: gelangen so an die für sie lebenswichtigen zusätzlichen Organe. Auch die zur Grundleistung Fortpflanzung notwendigen Hilfsleistungen übernimmt für die Bakterien der symbiotische Partner. Hier stellt sich noch deutlicher die Frage: Ist es berechtigt, diese zum Teil umfangreichen und komplexen vielzelligen Gebilde, weil sie vom eigenen Genom aufgebaut sind, als Organe des Insektenkörpers anzusehen, wie es bisher ganz selbstverständlich
geschieht, jene Einheiten, welche die benötigte Grundleistung Energieerwerb ermöglichen und denen dieser ganze Hilfsaufwand dient, hingegen nicht? Wäre es etwa den Termiten möglich gewesen, über eigene Zelldifferenzierung Drüsen zu bilden, die zellulosespaltende Fermente abscheiden, dann würde man diese Drüsen selbstverständlich als körpereigene Organe ansehen. Dies aber war offenbar über Mutationen und deren Rekombination nicht erreichbar, oder es bot sich über die Endosymbiose ein einfacherer Weg, der durch Hilfseinrichtungen, deren Bildung die natürliche Auslese automatisch guthieß, noch unterstützt wurde. Die entscheidende Grundleistung Energieerwerb kam somit auf einem völlig anderen Entwicklungsweg zustande. Meines Erachtens lassen sich die Verdauungshelfer der Termiten als guter Beweis dafür ansehen, daß auch ein artfremder Organismus in ein Organ des eigenen Leistungskörpers verwandelt werden kann. Ich bin auf diesen Sachverhalt bereits in einer früheren Schrift (1970) ausführlicher eingegangen. Nun gibt es außerdem Endosymbionten, die mit (Originalbuchseite 132)
dem Zellkörper ihres ebenfalls weit größeren Partners eine wesentlich innigere Verbindung eingehen. Die ungeheuren Bauten, welche die Korallenpolypen bilden, erfordern deren Fähigkeit, das notwendige Baumaterial (Kalziumkarbonat) dem Meerwasser zu entziehen. Dafür benötigen sie weit mehr Sauerstoff, als das umgebende Wasser ihnen in gelöster Form anbietet. In diesem Fall sind es symbiotische Pflanzen (einzellige Algen), die den Vorgang trotzdem ermöglichen. Sie leben in den Zellgeweben der Polypen und sind unter der Lupe nur an ihrer anderen Färbung erkennbar. Als Pflanzen produzieren sie Sauerstoff, den die Polypen somit unmittelbar in ihr Gewebe aufnehmen können. Die Gegenleistung bei dieser Partnerschaft ergibt sich aus der Tatsache, daß die Zellen der Polypen – wie die
Zellen aller Tiere – Kohlendioxyd abscheiden, das für die Algen wiederum ein wichtiger Baustoff ist. Behauptet man auch hier, daß die einzelligen Algen innerhalb der Zellgewebe der Polypen nicht integraler Bestandteil ihres Körpers sind – weil sie nicht über Zelldifferenzierung dieser Tiere zustande kamen –, dann kann man wohl nur schwer den Vorwurf zurückweisen, daß man sich durch das geschlossene Erscheinungsbild dieser Lebewesen und falsche Schlüsse, die man daraus zieht, nachhaltig täuschen läßt. Auch hier ist die rigorose Trennung zwischen echten und nicht wirklich zu den Polypen gehörenden Bestandteilen kaum aufrechtzuerhalten. Für die natürliche Auslese zählt ausschließlich die Leistung, der Erfolg. Es führen eben ganz verschiedene Wege nach Rom. Definiert man als Organ jede Einheit, die im arbeitsteiligen Gefüge eines Organismus zumindest eine benötigte Funktion erfüllt, dann kann man die einzelnen Symbionten mit Fug und Recht als Organe ansehen, auch wenn sie nicht vom eigenen Genom gebildet (Originalbuchseite 133)
und somit nicht als natürliche, sondern als zusätzliche Organe zu bezeichnen sind.
Zeitlich begrenzter Erwerb benötigter Organe durch »Miete« Es gibt jedoch eine weitere Möglichkeit, den Selektionswert des eigenen Leistungskörpers über zusätzlich erworbene Organe zu verbessern. Bei den vom Menschen gebildeten Hyperzellern wurde es geradezu selbstverständlich, daß zusätzliche Organe nicht unbedingt auf Dauer dem eigenen Leistungskörper angegliedert werden müssen. Wer etwa in einer von ihm
besuchten Stadt zur Nächtigung ein Zimmer benötigt, braucht es durchaus nicht käuflich zu erwerben, und wer nach Rio de Janeiro fliegt, kauft ebensowenig das Flugzeug, sondern mietet nur einen Sitzplatz für den Flug. Ebenso verhält es sich, wie schon ausgeführt, beim Erwerb von Dienstleistungen anderer Hyperzeller, etwa jener eines Sekretärs, eines Kochs, einer Speditionsfirma. Hier spricht man nicht von Miete, sondern von Verpflichtung für beschränkte Zeit, doch funktionell betrachtet läuft es aufs gleiche hinaus. Ein benötigtes zusätzliches Organ – und ein solches kann ebensogut eine anorganische Struktur wie ein anderes Lebewesen sein – wird in diesem Fall nicht auf Dauer an den eigenen Leistungskörper gebunden, sondern nur für eine beschränkte Zeitspanne gegen ein entsprechendes Honorar oder Entgelt. Auch dafür gibt es im Organismenreich bereits Vorstufen, insbesondere bei den Pflanzen. Deren Lebenssituation ist insofern grundsätzlich anders als jene der Tiere, als ihre Energiequelle, die von der Sonne zur Erde herunterströmenden Lichtstrahlen, alles eher als rar ist. Wie errechnet wurde, können Pflanzen be(Originalbuchseite 134)
stenfalls ein Prozent der auf die Erdoberfläche treffenden Sonnenenergie nutzen. Immerhin mußten pflanzliche Organismen, solange die Lebensentfaltung auf die Unterwasserräume beschränkt war, über Einrichtungen verfügen, die ein Absinken in lichtlose Tiefen verhindern. Das gewährleisten bei planktonischen Algen Fett- oder Gaseinschlüsse, die für Auftrieb sorgen; bei einzelligen Algen finden wir außerdem, ebenso wie bei einzelligen Tieren, Organe zur aktiven Fortbewegung. Das Geißeltierchen Euglena viridis, das sowohl Pflanze als auch Tier ist, verwendet seine Geißel für beide Erwerbsformen. Betätigt es sich als Tier, hilft ihm die Geißel bei der Nahrungssuche, betätigt es sich als Pflanze, hilft ihm die Geißel, wenn es in lichtlose
Bereiche gerät, wieder an Sonnenstrahlen zu gelangen. An Land wurde für die Pflanzen das zur Photosynthese notwendige Wasser zu einem Hauptproblem; hingegen erübrigen sich Organe zur Fortbewegung. Wir finden Landpflanzen deshalb am Ort festgewachsen, während die meisten Tiere über Fortbewegungsorgane verfügen müssen, um zu ihrer Energiequelle (andere Organismen) zu gelangen. Von den sechs genannten Grundleistungen, die meines Erachtens jedes Lebewesen erbringen muß, werden bei allen Landpflanzen zwei zum besonderen Problem: die Fortpflanzung und die Verbesserung. Produzieren Pflanzen Samen, können diese im Wasser von Strömungen und an Land vom Wind verbreitet werden. Von diesen günstigen Umweltbedingungen machten fast alle Wasserpflanzen wie auch zunächst alle Landpflanzen Gebrauch. Später gelangten einige dahin, auch Tiere zu ihren zusätzlichen Organen zu machen, indem sie den Keimling mit zuckerreichem Fruchtfleisch umhüllten, das Tiere als Nahrung schätzen. Die Tiere fressen diese von uns als Früchte be(Originalbuchseite 135)
zeichneten Hilfsorgane der Fortpflanzung; der pflanzliche Keimling passiert unverdaut ihren Darm und wird an einem anderen Ort samt dem sonstigen Kot ausgeschieden. Daß diese Dienstbarmachung anderer Lebewesen nur gelingt, wenn der Keimling so umhüllt ist, daß er vom transportierenden Tier nicht mit verdaut wird, liegt auf der Hand. Deshalb finden wir die in Früchten verborgenen Keime durch widerstandsfähige Schutzpanzer (Kerne) umhüllt. Die Gegenleistung, die das transportierende Tier – meistens Vögel oder Säugetiere – für seinen unbeabsichtigten Dienst erhält, ist, wie gesagt, der energiereiche Zucker. Es geht hier also um einen Tauschakt, von
dem beide Partner nichts »wissen«, was auch für alle sonstigen nicht vom Menschen bewirkten Symbiosen zutrifft. Für die natürliche Auslese ist stets nur das konkrete Ergebnis ausschlaggebend; ob es über bewußte oder über angeborene Strategien zustande kommt, ist dagegen unerheblich. Die zweite Schwierigkeit für alle Landpflanzen ist die sexuelle Vereinigung von Keimzellen (Gameten) verschiedener Individuen – wie schon gesagt, der wichtigste evolutionsfördernde Mechanismus bei allen Vielzellern. Aus Gründen, die bestens bekannt sind und auf die ich nicht einzugehen brauche, wirkt dieser Mechanismus nur dann optimal, wenn Keimzellen aus räumlich möglichst weit voneinander entfernten Gebieten sich kreuzen, während Inzucht, die Kreuzung nahe verwandter Keimzellen, erhebliche Nachteile mit sich bringt. Wie aber sollen bei den an Land festsitzenden Pflanzen die Keimzellen möglichst entfernter Individuen zur Paarung zueinander gelangen? Abermals können im Wasser Strömungen oder an Land der Wind als günstige Umweltfaktoren Hilfsdienste leisten. Aber auch hier kam es bei höherentwickelten Landpflanzen zu einer noch effektiveren (Originalbuchseite 136)
Lösung. Wiederum werden für diese Grundleistung andere Lebewesen zu zusätzlichen Organen gemacht, in diesem Fall fast ausschließlich Insekten. Auch für diese Dienstbarmachung entwickelten sich bei den betreffenden Pflanzen spezielle Organe: die Blüten. Sie verfügen über Einheiten, die zuckerhaltigen Nektar absondern, über weitere Einheiten, welche die in Frage kommenden Insekten anlocken (auffallende Blütenblätter), und schließlich über solche, die so beschaffen sind, daß sie den Insekten Pollen anheften, in denen männliche Keimzellen enthalten sind. Diese werden dann von den Insekten zu anderen Blüten der betreffenden Arten gebracht, wo sie mit weiblichen Geschlechtszellen verschmelzen und so funktionsfähige
Keimlinge bilden. Wenn die Früchte und auch die Blüten zumeist auffällig gefärbt sind, liegt das daran, daß sie die angestrebten Symbiosepartner aufmerksam machen und anlocken sollen. Bei den Blüten dienen auch Duftstoffe dieser Funktion. Ehe wir fortfahren, muß hier eine Banalität besprochen werden, die indes, wie sich zeigen wird, gar nicht so banal ist. Es geht um die Frage, warum ich soeben zunächst die Bildung der Früchte behandelte und dann erst jene der Blüten, obwohl, wie jeder weiß, die Früchte sich regelmäßig aus den Blüten entwickeln. Oder, allgemeiner formuliert, um die Frage, warum ich bei meiner Aufzählung der für alle Lebewesen maßgebenden Grundleistungen (S. 31ff. jene der Verbesserung als letzte auf die der Fortpflanzung folgen ließ, obwohl nicht nur bei den Pflanzen, sondern auch bei den Tieren die Fortpflanzung regelmäßig auf die Paarung folgt. Hier ist zunächst festzustellen, daß es bei diesen von mir angeführten Grundleistungen überhaupt keine naturgegebene Reihenfolge gibt. Wenn ich den Ener(Originalbuchseite 137)
gieerwerb an die erste Stelle setzte, dann geschah dies deshalb, weil ohne verfügbare Energie keine der weiteren Grundleistungen erfolgen kann. Andererseits ist Energieerwerb ohne die meisten der übrigen Grundleistungen sowie vieler Hilfsleistungen gar nicht möglich. Wenn ich die Fortpflanzung an die fünfte und die Verbesserung an die letzte Stelle setzte, dann deswegen, weil Fortpflanzung in der Evolution der Organismen von allem Anfang an Voraussetzung dieser Entwicklung war, während Mechanismen der Strukturverbesserung zwar für die Evolution ebenso notwendig waren, jedoch sicher erst später entstanden sind. Der wichtigste Mechanismus war mehrere Milliarden Jahre lang die Sexualität: die Verschmelzung der Genome verschiedener
Individuen der gleichen Art. Die bei der Zellteilung zufällig auftretenden Änderungen im Erbgut (Mutationen) werden so mannigfach kombiniert. Daß es auf diese Weise – selten, aber doch – zu Strukturverbesserungen kommt, ist die funktionelle Grundlage dieser zwar effizienten, jedoch nur überaus langsam zu Fortschritten führenden Mechanik. Die von mir angeführten Shifts, die ich in diesem Buch erstmals vorstelle, kommen meines Erachtens als weitere Ursache für bedeutende Verbesserungen hinzu, doch sind sie zunächst bloß eine von mir vorgelegte Hypothese und sollen deshalb an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben. Wenn ich also in meiner Reihenfolge der Grundleistungen die Fortpflanzung vor die Verbesserung stellte, während sowohl bei den Tieren als auch bei den Pflanzen diese Funktionen in entgegengesetzter Reihenfolge ablaufen, dann hat das folgende Erklärung: Logischerweise wäre die Paarung nach erfolgter Fortpflanzung in vielfacher Hinsicht uneffektiv; die umgekehrte Reihenfolge ist nach Spencer in jeder Hinsicht besser geeignet und hat nach Darwin gegen(Originalbuchseite 138)
über der natürlichen Auslese eindeutig Vorrang. Je dichter die Paarung vor den Vorgang der Fortpflanzung rückt, um so besser ist das mögliche Ergebnis, um so mehr werden überflüssige Anstrengung und schädigende Einwirkungen ausgeschaltet. Die meisten Menschen sehen bis zum heutigen Tag Paarung und Fortpflanzung als zwei Akte im gleichen funktionellen Vorgang an – und stehen unwissend der Tatsache gegenüber, daß es hier um eine zwangsläufige Verknüpfung zweier konträrer Funktionen geht. Denn Aufgabe der Fortpflanzung ist eine möglichst präzise artgleiche Vervielfältigung, die gewährleistet, daß kein erzielter Fortschritt der betreffenden Art bei diesem Vorgang verlorengeht. Dagegen ist es Aufgabe der Paarung, auch veränderte und in
diesem Sinne artungleiche Nachkommen entstehen zu lassen, weil ohne solche die gesamte evolutionäre Höherentwicklung nicht hätte stattfinden können. Es ist bisher viel zuwenig, wenn überhaupt, auf diesen Funktionskonflikt hingewiesen worden, der die Entfaltung des Lebens am allermeisten behinderte und hemmte. Um es noch deutlicher zu formulieren: Einerseits wäre ohne die Fortpflanzung (den möglichst fehlerlosen Informationstransfer auf die Nachkommen) die evolutionäre Entwicklung des Lebens unmöglich gewesen; bei diesem Vorgang war es ungemein wichtig, daß kein erzielter Fortschritt verlorenging. Andererseits konnte es über spiegelbildlich gleiche Nachkommen nie zu einer Weiterentwicklung und einer Leistungsverbesserung kommen. Wie aber konnte das eine mit dem anderen verknüpft werden? Die unmittelbare Koppelung der Paarung an die Fortpflanzung war bis Homo Proteus die einzige Lösung. Die Paarung mußte somit der Fortpflanzung unmittelbar vorangehen, damit einesteils artgleiche Nachkommen entstanden, anderenteils aber auch die Chance (Originalbuchseite 139)
größer wurde, daß einige unter diesen neuen Varianten Merkmale ausbildeten, die in der Folge zur Entstehung besserer oder neuer aus Zellen bestehender oder zusätzlicher Organe führten. Bei zahlreichen Arten von Landpflanzen wurden die Insekten zu wirksamen Vermittlern beim ersten der beiden so konträren Vorgänge, der Vereinigung männlicher und weiblicher Keimzellen. Die dafür notwendigen Hilfseinrichtungen sind die Blüten. Den Insekten ist angeboren zu erkennen, daß hier energiereiche Nahrung geboten wird, und die Blüte ist so geformt, daß sie den Insekten bei ihrem Besuch Pollen anheftet. Bei weiteren Blütenbesuchen gelangen diese so ganz von selbst zu weiblichen Blüten, wo einige der Körner auf die Narbe des
Stempels fallen und die in ihnen enthaltenen männlichen Keimzellen über den auswachsenden Pollenschlauch durch den Griffel die Eizellen erreichen. Die Verbreitung der aus ihrer Verbindung hervorgehenden befruchteten Samen wird im weiteren Verlauf durch eine zweite Symbiose, diesmal vornehmlich mit Vögeln und Säugetieren, erreicht. Hilfseinrichtungen dafür sind die auffälligen Früchte. Von wiederum zuckerhaltigem, energiereichem Fruchtfleisch umhüllt, ist in ihnen der funktionsbereite Samen versteckt. Damit dieser im Darm der Tiere nicht mit verdaut wird, ist er in der Regel durch die harte Hülle geschützt (bei der Kirsche ist es der Kirschkern). Der Same wird dann von dem Vogel oder dem Säugetier, welche die Frucht fressen, über kürzere oder weitere Strecken transportiert und schließlich ausgeschieden, samt den Exkrementen, die für den Keimling Dünger und damit eine wichtige Starthilfe sind. Hervorzuheben ist noch, daß es sich in beiden Fällen um befristete Symbiosen handelt, bei denen die betreffenden Insekten, Vögel, Säuger oder sonstigen (Originalbuchseite 140)
Tiere nur vorübergehend zu Bestandteilen des Leistungskörpers der Pflanzen werden. Sie werden von diesen für ihre Dienste mit Energie und verwertbaren Stoffen »bezahlt« – wie auch der Mensch die Leistungen anderer, deren Dienste er zeitweise in Anspruch nimmt, entsprechend honoriert. Nur so verläuft hier wie dort das »Geschäft«. Über die befristete Symbiose – die Miete von Fremdleistung – wurde von den Pflanzen die Methode des zeitlich begrenzten Erwerbs benötigter zusätzlicher Organe bereits auf breiter Basis eingeleitet. Bei den Hyperzellern wurde die Methode dann zur Grundlage einer unabsehbaren Vielheit wechselnder Leistungssteigerungen.
Zusammenfassend ist zu sagen, daß das Material und die Art der Herstellung für Organe ebensowenig erheblich ist wie der Umstand, ob sie mit dem aus Zellen gebildeten Körper fest verbunden sind oder nicht. Die Zelle als Baumaterial ist ungemein vielseitig, wandelbar und leistungsfähig, jedoch auch kostspielig und mit gravierenden Mängeln behaftet. Sie muß mit Energie und Stoffen versorgt werden, bedarf deshalb entsprechender Zuleitungen und vermag aus diesem Grund keine vom Körper getrennten Organe zu bilden. Sie erträgt höhere Temperaturen nicht und kann daher keine Metalle zur Organbildung verwenden. Dagegen stellen zusätzliche Organe keine solchen limitierenden Forderungen und lassen sich aus beliebigem Material erzeugen, sofern es sich für die benötigte Leistung eignet. Auch Organe anderer Lebewesen oder solche selbst können in zusätzliche Organe des eigenen Leistungskörpers verwandelt werden, gewaltsam oder über Tauschakte, für Dauer oder für begrenzte Zeit. Bei Einzellern und Vielzellern waren solche zusätzlichen Organbildungen nur beschränkt möglich, (Originalbuchseite 141)
ebenso der Erwerb fremder Organe und die Umwandlung anderer Organismen in eigene Organe. Bei den vom Menschen gebildeten Hyperzellern entfielen zahlreiche der bisherigen Beschränkungen. Sie bildeten oder erwarben in immer größerer Anzahl zusätzliche Organe und mußten für diese wohl ebenso sorgen wie für die aus Zellen bestehenden, doch waren diese ablegbar und austauschbar, so daß der Leistungskörper den verschiedensten Anforderungen angepaßt werden konnte. Werden zusätzliche Organe bloß gemietet, ist das über Geld leicht möglich und verursacht auch weniger Kosten und Aufwand als die Überführung in ständiges Eigentum. Beim Erwerb von Dienstleistungen sprechen wir bei längerfristiger Verpflichtung von »Anstellung« des Hyperzellers,
der sie erbringt. Außer entsprechender Honorierung müssen dann weitere Leistungen geboten werden, etwa eine Unterkunft, bezahlte Freizeit und Sozialversicherungen. Sie sind erforderlich, um den Mitarbeiter an den Leistungskörper des Hyperzellers oder der Erwerbsorganisation zu binden. Bei kurzfristiger Inanspruchnahme von Dienstleistungen anderer fallen solche zusätzlichen Verpflichtungen weitgehend weg, was den Dienstgeber noch flexibler und gegenüber Wettbewerbsveränderungen anpassungsfähiger werden läßt.
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5 Unternehmen und Staaten
Ebenso, wie vor mehr als einer Milliarde Jahren manche Arten von Einzellern dazu übergingen, größere, vielzellige Lebewesen zu bilden, kam es auch bei den Hyperzellern zur Bildung von größeren, auf gemeinsame Aufgaben ausgerichteten Erwerbsorganisationen. Und ähnlich, wie im vielzelligen Körper die Zellen größere, leistungsfähigere Organe aufbauen – zum Beispiel die aus vielen Zellen bestehenden Flossen, Augen und Knochen –, so entstanden auch in den größeren, von Tausenden von Hyperzellern gebildeten Lebenskörpern »Abteilungen«, die auf bestimmte Aufgaben ausgerichtet sind, in Wirtschaftsunternehmen etwa die aus zahlreichen Hyperzellern gebildete Betriebsleitung samt ihren ausführenden Organen, die Produktionsabteilung, die Verkaufsabteilung und andere. In den noch größeren Staaten entstanden ebensolche Abteilungen, so das für Ordnung und Sicherheit innerhalb des Staatsgebiets sorgende Ministerium, jenes für die Landesverteidigung sowie andere Ministerien, die beispielsweise für Finanzen, Verkehr, Handel zuständig sind. Ist bereits nach unserem gewohnten Denken die begriffliche Unterscheidung zwischen dem Vielzeller Mensch und den Hyperzellern, die er aufbaut, nicht einfach, dann ist eine solche zwischen den Hyperzellern und den größeren Wirtschaftsunternehmen, die sie bilden, kaum minder schwierig. Eine klare Grenze läßt sich hier nicht ziehen. Gliedert ein Hyperzeller, etwa ein tüchtiger Schneidermeister, seinem Leistungskörper immer mehr zusätzliche Organe an,
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seien es Werkzeuge und Maschinen, seien es andere spezialisierte Hyperzeller, die Dienstleistungen für ihn verrichten (Angestellte, Mitarbeiter), dann entsteht ein Lebenskörper höherer Integrationsstufe, zum Beispiel ein industrielles Unternehmen der Bekleidungsbranche, dessen Leitung lange Zeit in der Hand jenes einzelnen Menschen verbleiben kann (Unternehmerbetrieb). Bei üblicher Entwicklung geht diese Funktion jedoch früher oder später auf ein aus mehreren Hyperzellern zusammengesetztes Gremium über (Geschäftsleitung, Aktionäre). Ebenso fließend ist der Übergang zu den noch größeren Staaten: Er verläuft über Sippen, Horden und immer größere, stärker differenzierte und organisierte Verbände, die anfangs noch nicht an ein besonderes Territorium gebunden sind, dann aber seßhaft werden und zu klar definierten Grenzen gegenüber Nachbarstaaten gelangen. Wie schon eine oberflächliche Betrachtung zeigt, ist die begriffliche Abgrenzung zwischen Wirtschaftsunternehmen und Staaten, obwohl wir beide als höchst verschieden empfinden, aus evolutionärer Sicht nicht weniger schwierig. Ein einziger Hinweis mag hier zunächst genügen. So baut sich jeder Staat aus seinen Bürgern, den von ihnen gebildeten Hyperzellern, aus Wirtschaftsunternehmen und sonstigen Organisationen auf und ist all diesen in mannigfacher Hinsicht übergeordnet. Sie unterstehen ihm rechtlich und sind in vielen Belangen von ihm abhängig. Andererseits kann der Staat in seiner Funktion als Garant des Schutzes von Leben und Eigentum sehr wohl auch als riesiges Gemeinschaftsorgan aller seiner Bürger, von deren Hyperzellern, Wirtschaftsunternehmen und sonstigen Organisationen angesehen werden. Dieses große Gebilde untersteht dann jedem einzelnen Bürger, den von den Bürgern gebildeten (Originalbuchseite 144)
Hyperzellern, den Wirtschaftsunternehmen und sonstigen Organisationen und ist in diesem Sinne ihr Diener, ihr zusätzliches Organ. Ehe wir uns dieser aus evolutionärer Sicht kniffligen Problematik zuwenden, erscheint es mir sinnvoll, wenn wir uns vorher mit einer anderen, hier ebenfalls wichtigen Frage beschäftigen. Sowohl Wirtschaftsunternehmen als auch Staaten zeichnen sich durch die Bildung und den Einsatz großer Anlagen und Maschinen aus, die längst nicht mehr mit jener Energie, die der Mensch mit seiner Nahrung gewinnt, betrieben werden können. Bei den Wirtschaftsunternehmen belegen das deutlich die immer größeren Fabriken mit ihren machtvollen Maschinen. Bei den Staaten zeigen das etwa die öffentlichen Verkehrsmittel, vor allem aber die Landesverteidigung mit ihren Kanonen, Panzern, Kampfflugzeugen, Schlachtschiffen und Raketen. Woher stammt nun die zum Antrieb dieser Einrichtungen notwendige Energie?
Der direkte Antrieb zusätzlicher Organe durch Umweltkräfte Der Energieerwerb aller tierischen Organismen und somit auch des Menschen ist, ökonomisch betrachtet, nicht sehr ergiebig. Bei der Verdauung vereinnahmter organischer Gewebe, der anschließenden Spaltung ihrer Moleküle innerhalb der Zellen und den anschließenden Energieumwandlungen geht ein beträchtlicher Prozentsatz der Energie durch Umwandlungen und Reibungsverluste in Gestalt von Wärme an die Umgebung verloren (Entropiesatz). Nur ein kleiner Teil gelangt in Gestalt von Nutzenergie zu den vom Organismus benötigten Funktionen. Meistens beträgt der durchschnittliche Verlust 70 bis 90 Prozent, so daß (Originalbuchseite 145)
nur 30 bis 10 Prozent (oder noch wesentlich weniger) dem tierischen Organismus tatsächlich zukommen. Der Physiologe Werner Nachtigall errechnete genauer, wieviel der in den Muskelzellen eines Brustschwimmers freigesetzten Energie tatsächlich dessen Vorwärtsbewegung durch das Wasser zugute kommt. Etwa 70 Prozent beträgt der Verlust bei der Umwandlung der in die Muskelzellen gelangenden chemischen Energie (molekulare Bindungsenergie) in die mechanische Energie ihrer Kontraktion. Ungefähr 40 Prozent des verbleibenden Rests gehen durch die Reibung der Knochen in den Gelenken (trotz Knorpelüberzugs und Gelenkflüssigkeit), durch Deformierung von Geweben sowie durch Beschleunigung und Abbremsen von Armen und Beinen verloren, vom Rest weitere rund 50 Prozent bei der Übertragung hydromechanischer Kräfte auf das Wasser sowie durch die Bewegungen von Flüssigkeitsschichten gegeneinander und große Wirbelschleppen, die sich ablösen und sich so lange weiterdrehen, bis ihre Rotationsenergie aufgebraucht ist. Da Arme und Beine außerdem nicht genau von vorn nach hinten schlagen, sondern Kreisbogen beschreiben, weisen ihre Widerstandskräfte in alle Richtungen, so daß der schwimmphysiologisch nutzbare Kraftanteil (Vortriebswirkungsgrad) nochmals um rund 60 Prozent vermindert wird. Das aber führt zu einem Gesamtwirkungsgrad von nur etwa 4 Prozent Vortriebsleistung. Fügt man diesem gewaltigen Verlust noch jene Verluste hinzu, die sich beim vorangegangenen Energieerwerb durch Berufstätigkeit, durch Kauf und Einverleibung, durch Verdauung und Übertragung der gewonnenen Energieträger (Moleküle und Atome) in den Blutstrom und aus diesem in die Zellen ergeben, dann vermindert sich die Nutzenergie, die den Brustschwimmer im Wasser vorantreibt, auf weniger als 2 Prozent. Letztendlich sind (Originalbuchseite 146)
auch noch Betrieb und Instandhaltung des gesamten Körpers in Betracht zu ziehen, die sich amortisieren müssen, was die Energiebilanz ebenfalls belastet. Wie mir Professor Nachtigall erklärte, dürfte bei den vom Menschen benötigten Leistungen schließlich weniger als 1 Prozent der erworbenen Nahrungsenergie wirksam werden. Das aber bedeutet, daß der Mensch und die meisten höherentwickelten Tiere eine außerordentlich positive Energiebilanz zu erwirtschaften haben, genauer: daß sie bis über hundertmal mehr an arbeitsfähiger Energie einnehmen müssen, als ihre Selbstkosten betragen. Wesentlich günstiger fiel dagegen der Wirkungsgrad der Energieumwandlungen aus, wenn Homo Proteus sich einen Einbaum zurechtzimmerte und ihn mit weiteren zusätzlichen Organen (Rudern) dazu brachte, ihn über einen Fluß oder einen See zu befördern. Doch auch bei diesem Vorgang wurde noch sämtliche der Fortbewegung dienende Energie aus der über Nahrung aufgenommenen Rohenergie bestritten. Eine wesentlich größere Einsparung ergab sich indessen, wenn Umweltkräfte unmittelbar dazu genutzt werden konnten, zusätzliche Organe anzutreiben. Das geschah, als einer unserer fernen Vorfahren auf die Idee kam, einen Mast im Boot zu errichten, ein Segel anzufertigen, dieses mit Seilen festzumachen und zu bedienen. Er erschloß so eine neue Energiequelle. Durch diese Verbesserung seines zusätzlichen Organs »Boot« zwang er die in der Umwelt verfügbare Kraft des Windes, das Fahrzeug unmittelbar vorwärts zu bewegen. Jetzt mußte die zur Fortbewegung durch das Wasser notwendige Energie nicht mehr den umständlichen und verlustreichen Umweg über Mund, Darm, Blutstrom, Zellen usw. nehmen; vielmehr konnte die kinetische Energie des Windes sich bei nur geringen Reibungsverlusten unmittelbar in kinetische (Originalbuchseite 147)
Energie des Bootes verwandeln. Auf diese Weise wurde obendrein eine weit schnellere Fortbewegung als durch Ruderkraft möglich. Die Leistungssteigerung der Hyperzeller und ihrer Organisationen beruht wesentlich auf diesem Prinzip, zusätzliche Organe nicht mit körpereigener Energie anzutreiben, sondern über entsprechende Vorrichtungen Umweltkräfte zu ihrem Antrieb zu nutzen. So müssen wir etwa beim Auto die seine Räder antreibende Energie nicht in unseren Körper aufnehmen, dort freisetzen und über Muskelkraft auf die Räder übertragen, sondern die im Benzin enthaltene chemische Kraft wird durch den Motor direkt zum Antrieb des Autos eingesetzt. Mahlt eine durch einen Bach betriebene Mühle für den Müller das Korn, dann muß dieser ebenfalls die kinetische Energie des strömenden Wassers nicht erst in seinen Körper hineinleiten; vielmehr bewirken das Mühlrad und weitere zusätzliche Organe der Kraftübertragung direkt die Drehbewegung des schweren Mahlsteins. Zu solcher direkten Nutzbarmachung von Umweltkräften kam es aber auch schon bei verschiedenen Arten von Tieren und Pflanzen. Man kann daher auch diesen Fortschritt nicht als eine Zäsur bewerten, welche die bisher übliche Abtrennung der soziokulturellen Evolution des Menschen von der biologischen Evolution der Pflanzen und der Tiere rechtfertigen würde. Nehmen wir als Beispiel eine der zahlreichen Arten von Flugspinnen. So klettert etwa Erigone dentipalpis auf eine erhöhte, dem Wind gut ausgesetzte Stelle und produziert einen Faden, an dem der Wind angreift; sobald der Faden lang genug ist, um eine ausreichende Angriffsfläche zu bieten, wird die Spinne, wie von einem Segel getrieben, über weite Strecken durch die Luft transportiert. Das verbessert oft nachhaltig ihre individuelle Situation, dient jedoch (Originalbuchseite 148)
auf alle Fälle der Verbreitung dieser Art. Bei den Landpflanzen nutzen, wie schon erwähnt, viele Arten die Kraft des Windes zur Verbreitung ihrer Samen. Während bei den Flugspinnen der Wind nicht bloß ein einzelnes Organ antreibt (wie das Wasser den Mahlstein der Mühle), sondern die Gesamtheit des Körpers (wie das Benzin das uns fortbewegende Auto), wird im Fall der Windverbreitung, etwa beim Löwenzahn, der Wind dazu gebracht, einzelne Organe (die Samen) viele Kilometer weit fortzubewegen, was die Pflanze selbst nicht bewirken könnte. Allerdings ist auch hier eine zusätzliche Strukturbildung in Gestalt gefiederter Anhängsel (ähnlich wie beim Segelschiff Mast, Segel und Tauwerk) nötig, damit die Dienstbarmachung zusätzlicher Energieformen (von Fremdenergie) gelingt. Im Meer ersparen sich viele Tierarten, etwa die Korallenpolypen, die Ausbildung der sonst zum Beuteerwerb notwendigen Fortbewegungsorgane. Sie sitzen an geeigneten Plätzen am Meeresgrund fest und überlassen es Wasserströmungen und der Brandung, ihnen planktonische Nahrung direkt vor die Mundöffnung zu spülen. Hier genügt die Ausbildung von Tentakeln und Nesselkapseln, um die angespülte Beute zu erfassen, zu lähmen und in den Darm zu befördern. Bei den Schwämmen ist es so, daß ihr Körper über ein inneres Höhlensystem verfügt, in das Geißelzellen einen ständigen Wasserstrom hineinlenken. Dort wird von weiteren Zellen die Planktonnahrung in Empfang genommen und verwertet. Deshalb setzen sich viele Arten von »Einmietern« – Würmer, kleine Krebse, Ruderfüßer, Asseln und andere – im Röhrensystem solcher Schwämme fest und nutzen den verläßlichen Nahrungsstrom, der auch den für die Energiefreisetzung so wichtigen Sauerstoff in reichlichem Maß mit sich führt, zu ihrem Vorteil. Außerdem sind
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sie im Höhlensystem des Schwamms gegen größere Raubfeinde bestens geschützt. In einem großen Exemplar von Speciospongia vespara im Golf von Mexiko zählte Arthur S. Pearse 17128 solcher Einmieter, die sich auf 22 Arten verteilten. In diesem Fall handelt es sich um eine milde Form von Parasitismus: um ein Ausnutzen von Anstrengungen anderer Organismen, das eigene Energieaufwendung erspart. Insgesamt fallen alle Formen der Nutzbarmachung von Fremdenergie unter die für sämtliche Einzeller, Vielzeller und Hyperzeller gleichermaßen wichtige Grundleistung der Nutzung günstiger Umweltbedingungen. Eine der wichtigsten von Homo Proteus in seinen Dienst gezwungenen zusätzlichen Energieformen war jene des Feuers, das die in abgestorbenem organischem Material enthaltene chemische Energie über Oxydation in Wärme verwandelt. Unser Vorfahr verwendete sie zur Abwehr von Kälte, in erster Linie jedoch zum Kochen und Braten von Nahrung. Die Zellwände organischer Gewebe werden durch die Hitze ihrer Widerstandskraft beraubt, so daß die Energie und die Stoffe pflanzlicher und tierischer Nahrung besser verwertet werden können. Das wußte unser Urahn zwar noch nicht, doch wurde seine Kost so jedenfalls leichter eßbar und konnte auch schmackhafter zubereitet werden. Es ist hervorzuheben, daß diese wichtige Leistungssteigerung der Hyperzeller – denn eine solche war es – nur über zusätzliche Organe, die hohe Temperaturen ertrugen (Feuerstelle, Herd, Töpfe, Pfannen), zu erreichen war. Diesen wichtigen Vorgang, der nur über vom Körper getrennte Organe bewerkstelligt werden kann, als etwas vom Lebensprozeß Getrenntes anzusehen zeigt wieder die Überbewertung des Bauelements »Zelle« und wird dem Wesen des Phänomens Leben schwerlich gerecht. (Originalbuchseite 150)
Der Mensch gehört zu den Warmblütern – ein gehöriger Selektionsvorteil gegenüber den wechselwarmen Wirbeltieren, etwa den Sauriern, deren Leistungsfähigkeit sich bei Nacht, wenn es kälter wurde, entsprechend verminderte. Zusätzliche Organe, um den Effekt der Warmblütigkeit zu steigern, sind die wärmenden Kleider, im weiteren Entwicklungsverlauf die hitzespendenden Öfen. Man mag heute Kleider und Öfen als banale Selbstverständlichkeiten ansehen – aus evolutionärer Sicht führten sie zu einer Verdoppelung oder Verdreifachung des für Hyperzeller geeigneten Lebensraums. Mehr als das: Gerade in den kälteren Gegenden, in denen der Lebenskampf härter war, wurden die Fähigkeiten der menschlichen Intelligenz besonders gefordert; hier gab es Fortschritte und Erfindungen, zu denen die Evolution des Lebens in den lebensgünstigeren Gebieten vielleicht gar nicht gelangt wäre. Dazu kam noch die Bedeutung des Feuers zum Schmelzen von Metallen. Wärme ist eine Energieform, die zur kinetischen Energie (Bewegungsenergie) gehört. Als Wärme bezeichnen wir die Zitterbewegung von Atomen und Molekülen, die zur Ausdehnung der erwärmten Medien, etwa Luft oder Metalle, führt. Da diese Bewegung ungerichtet ist, kann nur der Ausdehnungseffekt als verwertbare Nutzenergie dienen. Über die Dampfmaschine und den Abbau des fossilen Brennstoffs Kohle wurde das möglich. Dies trug zur Ausbreitung der Hyperzeller über Kontinente und Meere hinweg wesentlich bei. Auch Erdöl ist fossile organische Substanz; seine Verbrennung über den Explosionsmotor bei Autos und Flugzeugen förderte die Machtsteigerung der Hyperzeller erheblich. Hier sind einige Worte über die Bedeutung von Gemeinschaftsorganen am Platze. Die von Homo Proteus gebildeten zusätzlichen Organe (Originalbuchseite 151)
sind nicht nur ablegbar und erfordern auch keine Ernährung über einen kontinuierlich wirksamen Blutstrom, sondern sie haben außerdem den Vorteil, daß sie von mehreren gemeinsam angefertigt werden und mehreren gleichzeitig oder abwechselnd dienen können. Eisenbahnen, Dampfschiffe, Autos und Flugzeuge sind dafür markante Beispiele. Ein einzelner Hyperzeller hätte sie nicht anfertigen können. Doch indem viele zusammenarbeiteten, war die Herstellung möglich, und sobald es sie dann gab und sie funktionierten, konnten viele, die an der Herstellung nicht beteiligt waren, die Vorzüge dieser Transportmittel für eigene Zwecke nutzen und durch deren kurzfristige Miete (Kauf eines Fahrscheins) die Kosten von Herstellung, Pflege und Erneuerung abdecken. Auch künstlich hergestellte Energieträger wurden möglich, etwa Schießpulver und Dynamit. Der Speer, den Homo Proteus zur Jagd verwendete und der ihn seinen ersten Gegnern und Konkurrenten gegenüber so überlegen machte, mußte noch mit Energie, die aus Nahrung gewonnen war, angetrieben werden. Pfeil und Bogen waren insofern ein Fortschritt, als durch den elastischen Bogen die Muskelenergie in Deformationsenergie umgewandelt und diese dann in erneuter Umwandlung den verkleinerten Speer mit noch größerer Kraft und Zielgenauigkeit aussenden konnte. Aber auch hier entstammte die notwendige Energie noch der ökonomisch so verlustreich zu erschließenden Nahrung. Die Muskete, das Gewehr, der Revolver, die Kanone sind dagegen bereits künstlich gebildete Organe, die das Geschoß nicht mehr mit körpereigener Energie, sondern mit Fremdenergie direkt antreiben. Daraus entwickelten sich im weiteren Verlauf die Raketen, mit denen Hyperzeller heute nicht nur Rivalen auf anderen Kontinenten bedrohen, sondern mit deren Hilfe einige bereits den Mond aufgesucht haben. (Originalbuchseite 152)
Eine entscheidende Entdeckung in der Entwicklungsgeschichte der Nutzung von Fremdenergie war jene Energieform, die wir als Elektrizität bezeichnen. Sie gehört gemeinsam mit den sichtbaren und den unsichtbaren Strahlen (Wellen) und dem Magnetismus in die große Gruppe der elektromagnetischen Erscheinungsformen von Energie. Für die Leistungssteigerung der Hyperzeller und ihrer Organisationen hatte sie den besonderen Vorteil der schnellen und zielgerichteten Verlagerung von Energie von einem Ort zum anderen sowie den weiteren, daß sie leicht in fast jede andere Energieform umgewandelt werden konnte. Ein praktisches Beispiel ist hier vielleicht instruktiv. Wenn Flüsse nach unserem gewohnten Denken abwärts fließen, dann fließen sie in Wahrheit, da es im Weltraum kein Oben und kein Unten gibt, in Richtung auf den Mittelpunkt unseres Planeten. Je steiler das Gefälle, um so mehr Energie wohnt jedem im Fluß enthaltenen Wassertropfen inne. Je größer der Fluß, um so mehr Wassertropfen sind, je nach Gefälle, Träger von mehr oder weniger starker Energie. Der Ursprung all dieser Bewegungsenergie ist die Anziehungskraft der Erde, genauer: die Anziehungskraft, die Massen von Materie aufeinander ausüben. Man spricht hier von Gravitationsenergie. Die kinetische Energie von Flüssen ist somit umgewandelte Gravitationsenergie. Die Verluste bei dieser Umwandlung sind gering; sie beschränken sich auf die Reibungsverluste, die der Fluß durch den Kontakt mit dem Gestein, über das er hinwegfließt, erfährt. Installieren wir nun unter einem Wasserfall Turbinen, die Generatoren antreiben, dann verwandeln sie die Bewegungsenergie des herabstürzenden Wassers in elektrischen Strom, der über Drähte blitzschnell an beliebige Orte geleitet werden kann. Der Verlust
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bei der Umwandlung beträgt rund 15 Prozent, der bei der Weiterleitung über Starkstromleitungen 1–2 Prozent je 100 Kilometer. Ist der Adressat etwa eine Fabrik, kann der dort anlangende elektrische Strom in sehr verschiedene andere Energieformen umgewandelt werden, zum Beispiel über Glühbirnen in Licht (das ist eine sehr kostspielige Umwandlung, bei der 97 Prozent als Wärme verlorengehen) oder über elektrisch angetriebene Maschinen wieder in kinetische Antriebsenergie (Verlust ungefähr 8–25 Prozent) oder über elektrische Öfen in Wärme (Verlust praktisch 0 Prozent) oder über chemische Verfahren in Bindungsenergie, die Atome und Moleküle zu neuen Kunststoffen verbindet, oder schließlich wieder in Gravitationsenergie, indem mittels einer elektrisch betriebenen Pumpe Wasser in ein höher gelegenes, also vom Erdmittelpunkt weiter entferntes Reservoir gepumpt wird, wo es als Träger potentieller Energie so lange arbeitsunfähig bleibt, bis der Hahn geöffnet wird, das Wasser wieder abwärts fließen und über Turbine und Generator erneut in elektrischen Strom verwandelt werden kann (Gesamtverlust bei dieser Transaktion etwa 25 Prozent). Wenn der Chemiker, Physiker und Philosoph Wilhelm Ostwald die Elektrizität als »Mädchen für alles« bezeichnete, dann hat dieses Beispiel wohl gezeigt, was er damit meinte. Zwischen der Elektrizität und dem Geld besteht eine bemerkenswerte Verwandtschaft: Wie Geld Leistungen fast beliebig in andere verwandeln kann, so kann die Elektrizität fast jede Energieform in fast jede andere verwandeln. Und wenn ich darlegte, daß über Geld Shifts von großer evolutionärer Bedeutung möglich werden, so ist das bei der Transformation von einer Energieform in beliebige andere analog der Fall. Durch solche Energietransformationen kann es ebenfalls zu außerordentlich bedeutsamen Leistungs-
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steigerungen kommen. Dies ist, um ein beliebiges Beispiel zu geben, der Fall, wenn über eine durch Elektrizität betriebene Nachrichtenübermittlung über Radio oder Fernsehen eine weltweite Katastrophe verhindert werden kann. Die größte Energiequelle auf unserem Planeten wäre, wie die moderne Physik aufzeigte, die Umwandlung von Masse in Energie. Die genaue Relation konnte Einstein in einer erstaunlich einfachen Formel bestimmen (Masse-Energie-Äquivalent). Sie lautet: E = m · c2 (Energie E ist gleich Masse m mal Quadrat der Lichtgeschwindigkeit c). Dies bedeutet, daß jedes Kilogramm beliebiger Materie, also 1 Kilogramm Heu, 1 Kilogramm Diamanten, 1 Kilogramm Sauerstoff oder 1 Kilogramm Fleisch, den gleichen potentiellen Energiewert – nämlich 9 · 1023 erg – repräsentiert. Das ist etwa das Hundertfache der Energiemenge, die bei der Explosion der über Hiroschima abgeworfenen Atombombe frei wurde. Der Mensch und die von ihm gebildeten Hyperzeller sind zur Zeit mit erheblichem Kosteneinsatz bemüht, auch diese Fremdkraft der Entfaltung der Hyperzeller und damit dem Leben untertan zu machen. Das kann durchaus dazu führen, daß die Lebensentfaltung sich am Ende selbst zerstört.
Die Wirtschaftsunternehmen In der gesamten Evolution hat sich zunehmende Größe als Selektionsvorteil erwiesen. Größere Fische fressen kleinere; die Amöbe umfließt die weit kleineren Bakterien und verwandelt sie in Nahrung; größere Büffel verdrängen kleinere von der Wasserstelle oder bei der Brunst vom Weibchen; die kollektive Einheit der Piranhas oder des Wolfsrudels ist der Beute, die (Originalbuchseite 155)
sie einkreist und von allen Seiten her gleichzeitig angreift, klar überlegen. Es widerspräche daher den Lebensgesetzen, wenn nicht auch bei den vom Menschen gebildeten Hyperzellern die Tendenz in Erscheinung getreten wäre, den Leistungskörper immer noch mehr zu vergrößern, ihm immer weitere Angestellte, Werkzeuge, Maschinen, Bauten und sonstige funktionserbringende Einheiten anzufügen, um so Konkurrenten überlegen zu werden, sie zu überrunden und selbst zu größeren Erträgen zu gelangen. Hier sei nochmals daran erinnert, daß ich als Hyperzeller jeden Menschen bezeichne, der seinen somatischen Körper durch zusätzliche Organe in seiner Leistungskraft steigert, über Lernvorgänge entsprechende Steuerungen in seinem Gehirn aufbaut und so zu Erwerbstätigkeiten fähig wird, die sein Dasein sichern. Im Anfang der Entwicklung war es noch ausschließlich räuberische Tätigkeit gegenüber Tieren und Pflanzen, aber auch gegenüber anderen Menschen. Dann spezialisierten sich die Hyperzeller in den anwachsenden Verbänden darauf, für andere die benötigten zusätzlichen Organe herzustellen oder für sie Dienstleistungen zu verrichten. Als Gegenleistung erhielten sie dafür Geld, mit dem Nahrung sowie Produkte oder Dienstleistungen anderer erworben werden konnten. Bei dieser neuen Erwerbsform über einen doppelten Tauschvorgang wurde Nahrung und somit die für den Lebensvorgang unerläßliche Energie nicht direkt erworben, sondern über den Vermittler Geld. Dieses stellt keineswegs eine neue Erscheinungsform von Energie im physikalischen Sinne dar, sondern ist im Rahmen einer gut funktionierenden Wirtschaft eine Anweisung auf Leistungsergebnisse anderer, wozu auch die Bereitstellung von Nahrung gehört. Deshalb können Nahrungsmittel an einem Ort beträchtlich mehr kosten als an einem anderen. Ei(Originalbuchseite 156)
nen genauen Schlüssel für die Umrechnung zwischen Geld und Energie gibt es nicht. Wer sich in der Wüste verirrt hat und am Verhungern ist, dem kann eine 100-Dollar-Note nichts nutzen. Andererseits läßt sich Geld bekanntlich auf vielerlei Weise in Energiewerte verwandeln. Für Geld kann man nicht nur Nahrung als Antriebsmittel für den Körper kaufen, sondern auch Energieträger zum Antrieb von Maschinen. Vor allem aber können mit Geld eine Unzahl von Produkten erworben werden, die andere herstellen und verkaufen, also das Ergebnis spezialisierten Energieeinsatzes, ebenso Dienstleistungen, die gleichfalls nichts anderes als das Ergebnis differenzierten Energieeinsatzes sind. Zwischen den Hyperzellern, die sich auf verschiedensten Bedarf (auf verschiedenste Absatzmärkte) ausrichten, und den Wirtschaftsunternehmen, die wir nach dem üblichen Sprachgebrauch weiterhin als Unternehmen bezeichnen wollen, gibt es keine klar zu definierende Grenze. Darauf wurde bereits hingewiesen. Der Unterschied zwischen den Hyperzellern und den Unternehmen ist in erster Linie dadurch gegeben, daß Unternehmen überindividuelle Organisationen sind, in denen so gut wie jede Einheit (auch der Eigentümer) ersetzbar wird. Sie entstehen durch kontinuierliches Wachstum, jedoch ebensooft dadurch, daß sich einige Hyperzeller (Geschäftsleute), die einen bestimmten günstigen Absatzmarkt erkannt haben, zusammentun, Geldgeber für das Projekt interessieren, die erforderlichen Grundstücke kaufen, die notwendigen Fabriken und sonstigen Produktionsmittel in Auftrag geben. Wie Aphrodite aus dem Schaum des Meeres erwächst dann in verhältnismäßig kurzer Zeit ein neues industrielles Unternehmen, ein neues Lebensindividuum, das gleichsam über Nacht mit allen seinen Kräften in das Wirtschaftsgeschehen eingreift. (Originalbuchseite 157)
Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß die für alle Lebewesen maßgebende Grundleistung Fortpflanzung, die sämtliche Vielzeller mit beträchtlichen Auflagen belastet, bei den Hyperzellern nicht selbst wahrgenommen werden muß, weil sie nicht mehr vom Erbgut her gezwungen sind, sich artgleich fortzupflanzen. Wenn eine entsprechende Nachfrage gegeben ist, bilden sich neue Artgenossen ganz von selbst, und zwar von neu erwachsenden Konkurrenten finanziert. Das mag auf den ersten Blick grotesk erscheinen, ist aber die Realität und verträgt sich auch mit der Tatsache, daß sich Artgenossen seit eh und je als die ärgsten Nahrungsrivalen erweisen, weil sie auf die Erschließung der gleichen Energie- und Stoffquellen ausgerichtet sind. Deshalb ist es eher ein Kuriosum, daß bei den Einzellern und den Vielzellern jeder Artgenosse genetisch gezwungen ist, die Erträge seiner Tätigkeit dafür einzusetzen, sich selbst neue Konkurrenten zu schaffen. Diese Hypothek mußte die Lebensentfaltung eben über lange Strecken hinweg auf sich nehmen. Für uns erscheint es selbstverständlich, daß jeder Frosch immer nur wieder spiegelbildlich ähnliche Frösche hervorbringen kann und jede Tanne nur immer weitere Tannen. Erst bei den Hyperzellern, aufgrund der geistigen Vorzüge von Homo Proteus und der von ihm gebildeten zusätzlichen Organe, wurde die erzwungenermaßen artgleiche Vermehrung plötzlich überwunden. Der Mensch kann sich, je nach seinen Möglichkeiten und seiner Einschätzung der gerade günstigen Erwerbsaussichten, auf höchst unterschiedliche Formen des Gelderwerbs (Energieerwerbs) ausrichten. Genau das gleiche gilt für jedes Unternehmen. Keines ist, zumindest in der freien Wirtschaft, dazu gezwungen, mit Mühe und Eifer gewonnene Überschüsse in die Gründung weiterer Unternehmen zu investieren, deren Produkte oder Dien(Originalbuchseite 158)
ste nicht gefragt sind und deshalb keine Gewinne abwerfen
können. Die Unternehmen können deshalb auf sehr verschiedene Weise zustande kommen; jedenfalls belasten sie durch die Art ihrer Entstehung die Lebensentfaltung weit weniger, als dies durch die Verschwendung erarbeiteter Erträge in Bereichen geschähe, in denen sie keinerlei Chance haben. Aufgrund ihrer Größe haben die Unternehmen den Hyperzellern gegenüber oft, jedoch nicht immer wesentliche Vorteile. Alle an den beträchtlichen Investitionen ihrer Gründung Beteiligten sind persönlich daran interessiert, daß ihr Einsatz auch Rendite erbringt. Das bedeutet, daß Unternehmen meistens ein weit stärkeres Machtvolumen darstellen als einzelne Hyperzeller. Dank einem größeren Maschinenpark können sie durch Massenproduktion zu günstigeren Preisbedingungen ihre Waren oder Dienste liefern als kleinere Produzenten, die über weniger Umsatz ihre Kosten abdecken müssen. Vor allem aber können große Unternehmen Produkte erzeugen, deren Herstellung selbst erfolgreichen Hyperzellern nicht möglich wäre, etwa Autos, Flugzeuge, Großbauten, Raumforschungstechnologien, und sonstige aufwendige Projekte verwirklichen. Während Hyperzeller immer noch mehr oder minder deutliche funktionelle Erweiterungen von Einzelmenschen sind, die bloß durch zusätzliche Organe ihre Leistungskörper steigern, stellen Großunternehmen bereits Lebensgefüge höherer Integrationsstufe dar. Es sind Organismen höherer Ordnung und Machtentfaltung, denen wir lediglich wegen ihrer völlig anderen materiellen Beschaffenheit gefühlsmäßig die Verwandtschaft mit Einzellern und Vielzellern nicht zuerkennen wollen. Wenn wir jedoch anerkennen, daß sämtliche Lebewesen nicht durch ihr äußeres Erscheinungsbild charakterisiert sind, sondern durch (Originalbuchseite 159)
die Leistungen, die sie erbringen, werden wir zu einem rigorosen
Umdenken gezwungen. Was sich letztlich als Lebewesen qualifiziert, darüber entscheidet die natürliche Auslese. Durch die Wirksamkeit des Menschen und seiner Hyperzeller kamen zu den Faktoren, die das Auslesevotum bestimmen, zahlreiche weitere hinzu, zum Beispiel die Gesetzgebung in den einzelnen Ländern, die Situation am Arbeitsmarkt, die verfügbaren Verkehrsmittel und die Stabilität der Währungen. Aber die bisherigen Kriterien verloren darüber nichts von ihrer Bedeutung. Jedes Unternehmen muß ebenso positive Energiebilanzen erwirtschaften wie ein beliebiges Tier und eine beliebige Pflanze. Gelingt ihm das nicht, dann mögen, um Arbeitsplätze zu sichern, Staaten und Großbanken für einige Zeit aushelfen; bleibt die für Energie- und Stofferwerb und alle sonst notwendigen Leistungsfähigkeiten maßgebende Geldbilanz jedoch in den roten Zahlen, geht das Unternehmen genauso rettungslos zugrunde wie jede Pflanze und jeder Maikäfer, die das für alle Lebewesen gültige Plansoll nicht erfüllen können. Kann ein Unternehmen, aus welchen Gründen auch immer, sich gegen Feinde, ungünstige Umweltbedingungen und Konkurrenten nicht durchsetzen, teilt es unweigerlich das Los jedes Regenwurms, der ähnliches nicht vermag. Und wenn wir ins Innere dieser so völlig verschieden anmutenden Lebenskörper schauen, bietet sich uns genau dasselbe Bild. Ob Regenwurm, ob Volkswagenwerk: Die Teile, aus denen ihre Leistungskörper bestehen, müssen irgendwie aneinander gebunden sein. Der Regenwurm erscheint uns als solide Einheit, doch wenn wir ihn genauer untersuchen, stellen wir fest, daß für die Bindung jeder seiner Zellen an die übrigen kostspielige spezialisierte Einheiten, die Tonofibrillen in den (Originalbuchseite 160)
Zellmembranen, erforderlich sind sowie weitere die Organe und
die Gewebe aneinander fesselnde Einheiten, etwa Häute, Bänder und Muskeln. Beim Volkswagenwerk sind Arbeiter und Angestellte durch Lohnabsprachen und Verträge an das Unternehmen gebunden, Maschinen und Einrichtungen durch Eigentumsrechte, die der Staat wahrnimmt, was über Steuern bezahlt werden muß. Auch hier führen sehr verschiedene »Wege nach Rom«. Doch für die natürliche Auslese oder, nach Spencer, für das »Überleben des Bestgeeigneten« zählt nur das konkrete Ergebnis, wie es auch immer zustande gekommen oder beschaffen sein mag. Betrachten wir eine weitere benötigte Leistung im inneren Gefüge des Unternehmens »Volkswagenwerk« und des Vielzellers »Regenwurm«. Hier wie dort kommt es entscheidend darauf an, daß Abläufe koordiniert werden. Zugegeben: Sie sind beim Regenwurm weniger komplex. Wenn er sich im Erdreich fortbewegen will, müssen aber trotzdem seine Muskelzellen in ordnungsgemäßer Abfolge ihre Leistung verrichten, und seine wenn auch noch so primitiven Sinnesorgane müssen ihre Meldungen an die für die Steuerung zuständigen Nervenzentren weitergeben und von diesen richtig verstanden werden. Beim Volkswagenwerk geht es darum, die Tätigkeit Tausender von Mitarbeitern und Maschinen zu überwachen und ihre Leistungen zu koordinieren. Tausende von Tätigkeiten werden hier völlig bedeutungslos, ja stören einander, wenn sie nicht am rechten Ort erfolgen und zur genau richtigen Zeit. Vielleicht genügt hier ein drittes Beispiel, um das unmöglich Scheinende zu schaffen: nämlich unser Gehirn entgegen allen seinen Erfahrungen dazu zu zwingen, das Volkswagenwerk und den Regenwurm als vergleichbare Einheiten zu erkennen. Bei jedem (Originalbuchseite 161)
Lebensindividuum ist es außerordentlich wichtig, daß die Organe, die es umfaßt, nicht zu groß und nicht zu klein sind, sondern den Anforderungen des übergeordneten Ganzen, dem sie dienen, entsprechen. Das Volkswagenwerk besteht aus Zehntausenden von funktionserbringenden Einheiten (Organen), ob das nun Hyperzeller, Maschinen oder Fließbänder sind. Es könnte im Konkurrenzkampf mit anderen Autoherstellern kaum bestehen, wenn etwa wichtige Teile dreimal zu groß oder dreimal zu klein dimensioniert wären. Dies würde einerseits zu überflüssigen Sonderausgaben und andererseits zu Schwachstellen führen, welche die Konkurrenzfähigkeit entscheidend beeinträchtigten. Das aber besagt nicht mehr und nicht weniger, als daß bei jedem Lebewesen die Teile, die seine Gesamtleistung erbringen, aufeinander abgestimmt sein müssen. Was sinnlose Mehrausgaben oder prekäre Schwachstellen verursacht, ist in der Praxis des Lebens wichtiger als sämtliche Unterschiede zwischen Volkswagenwerk und Regenwurm, die unsere Sinneseindrücke uns vermitteln. Weitere Beispiele für funktionelle Übereinstimmungen zwischen Volkswagenwerk und Regenwurm – zwischen sämtlichen Unternehmen und sämtlichen Vielzellern – lassen sich in beliebiger Anzahl anführen. Jedes Organ, hier wie dort, muß gewartet, überprüft, nötigenfalls ausgebessert oder erneuert werden. Jedes muß mit der benötigten Energie versorgt werden. Jedes muß von auftretenden Abfällen entsorgt werden. Jedes, das seine Leistung nicht erbringt, kann die Gesamtheit der übrigen in ihren Leistungen beeinträchtigen. Hier wie dort sind funktionslose Einheiten (wie auch immer es zu solchen kommt) eine Behinderung, ein Nachteil. Sie nehmen Platz weg, verursachen Umwege, bedingen zusätzliche Kosten und können Störungen verursachen. Hier sind Un(Originalbuchseite 162)
ternehmen den Vielzellern gegenüber im Vorteil: Sie können sich funktionsloser oder funktionsschwacher Einheiten wesentlich einfacher entledigen. Wenn diese für andere einen Wert haben, kann man sie sogar verkaufen, wenn nicht, zumindest aus dem Betrieb entfernen. Bei den Vielzellern dauert es hingegen oft viele Millionen Jahre, bis sie zurückgebildet sind. Hier wie dort gleicht das Verhältnis jedes Organs zu der von ihm zu erfüllenden Aufgabe jenem eines Schlüssels zu dem zu öffnenden Schloß. Die Zinken des Schlüssels repräsentieren das erforderliche Leistungsprofil. Je besser die Passung ist, um so höher ist die Effizienz der Leistung. Hier wie dort steuert somit das Schloß (die zu erfüllende Aufgabe) die für geeignete Schlüssel und ihre Zinken (Leistungsprofil) notwendige Gestalt. Je mehr man sich mit den funktionellen Erfordernissen der den Lebenskörpern und ihren Organen zugrunde liegenden Funktionen und ihren Wechselwirkungen befaßt, um so deutlicher wird die Übereinstimmung. Diese gilt nicht nur für Unternehmen und Vielzeller (Beispiel Volkswagenwerk und Regenwurm), sondern ebenso für sämtliche Einzeller und Hyperzeller. Sie gilt faktisch für alle den Lebensprozeß fortsetzenden raumzeitlichen Strukturbildungen. Nach meiner Theorie lassen sich somit vier große Gruppen von Gefügen unterscheiden, über die sich die Lebensentwicklung fortsetzt und zwischen denen es viele Übergänge und Zwischenstufen gibt. Erstens: die Einzeller, die sämtliche Vorstadien dieser Entwicklungsfolge umfassen und schließlich zu der hochdifferenzierten, äußerst leistungsfähigen Einheit »Zelle« geführt haben. In mannigfachen Arten den verschiedensten Lebensmöglichkeiten angepaßt, breiten sie sich überall in den Meeren und den sonstigen Gewässern aus. (Originalbuchseite 163)
Zweitens: die Vielzeller. Bei ihnen wurde die hochorganisierte, bis dahin die Meere beherrschende Zelle zur Baueinheit noch größerer Lebensindividuen. Diesen gelang es vor etwa 400 Millionen Jahren, in immer effizienteren Arten auch die Landgebiete zu erobern. Der Mensch ging aus ihrem Kreis hervor. Drittens: die Hyperzeller. Sie nahmen alle ihren Ausgang vom Menschen, dessen geistige Fähigkeiten sich besonders entwickelten. Schon andere Lebewesen hatten von ihrem Körper getrennte Organe gebildet; er aber bildete sie bewußt und zielgerichtet, vermochte so seine Leistungsfähigkeit immens zu steigern. Jeder Hyperzeller hat zum Zentrum einen Menschen, der durch Anfügung künstlich gebildeter Organe immer größere, leistungsfähigere Arten von Hyperzellern zu schaffen vermag. Viertens: die Erwerbsorganisationen. Sie setzen sich aus zahlreichen Hyperzellern zusammen, vermögen neue Energiequellen zu erschließen und entwickeln eine Eigendynamik, um zu immer größerer Macht und Leistungsvielfalt zu gelangen. Durch Abfälle, die sie verursachen, und sonstige Auswirkungen gefährden sie heute die gesamte übrige Lebensentwicklung, auch sich selbst. Bei jedem dieser Übergänge wurden selbständige Lebensindividuen zu Organen von noch größeren Lebenseinheiten. Daß sich daraus auch beträchtliche Interessenkonflikte ergeben müssen, liegt auf der Hand.
Der Staat Während die Unternehmen in ihrer Ausrichtung auf Erwerb, Wachstum, Vermehrung, Konkurrenzkampf und Leistungssteigerung die Entwicklung der Einzeller, der Vielzeller
und der Hyperzeller unmittelbar (Originalbuchseite 164)
fortsetzen, sind die Staaten ein sehr vielschichtiges Phänomen. Wenn der Rechtsphilosoph Hans Kelsen in seiner Allgemeinen Staatslehre (1925) hervorhob, daß sich schon »bei oberflächlicher Sichtung des wissenschaftlichen Sprachgebrauches« mehr als ein Dutzend höchst verschiedener Bedeutungen des Wortes »Staat« feststellen lassen, dann glaube ich aus der Sicht meiner Theorie zumindest Hinweise geben zu können, wo hier der gordische Knoten der Begriffsbildung liegt und wie er sich entwirren läßt. Um dies zu erreichen, gehen wir nicht von der historischen Entwicklung aus. Ich stelle vielmehr an den Anfang dieser Darlegung die Behauptung, daß zwischen dem zentralen Gefüge aller erfolgreichen Staatsbildungen, so verschieden sie auch im einzelnen beschaffen sein mögen, und der Bildung zusätzlicher Organe durch den Menschen notwendigerweise eine klar überschaubare, kausale Relation besteht. Dies mag den Eindruck einer kühnen, ja oberflächlichen Betrachtungsweise erwecken, läßt sich aber aus evolutionärer Sicht ohne besondere Schwierigkeit beweisen. Der Vorteil aller zusätzlichen Organe ist: Sie sind ablegbar, austauschbar, müssen nicht vom Blutstrom ernährt und nicht selbst gebildet werden. Bei ihnen ist es auch möglich, daß Gemeinschaftsorgane entstehen, die von zahlreichen Hyperzellern hergestellt und dann anteilig oder abwechselnd für den eigenen Bedarf verwendet werden. Bei Homo Proteus und allen seinen Nachkommen ermöglichten die zusätzlichen Organe eine bis dahin nie realisierbare Ausrichtung auf vielseitige Spezialisierung. Sie leiteten so die Entfaltung der Hyperzeller ein, die in der Folge ständig neue Lebensmöglichkeiten wahrnehmen konnten und bis zum heutigen Tag immer wieder neue Arten bilden. Ferner führten
sie zur Erfindung des Tausch(Originalbuchseite 165)
vermittlers »Geld«, durch den sich Hyperzeller und Erwerbsorganisationen immer neue Leistungen angliedern können. So wurde es unter anderem möglich, neue Energiequellen zu erschließen und Umweltkräfte dazu einzusetzen, zusätzliche Organe direkt zu betreiben. Das war wiederum die Voraussetzung für die Entstehung immer größerer Betriebe und Unternehmen, was in einer schrankenlosen Entfaltung industrieller Produktion gipfelte. Diesen bedeutenden Vorteilen der vom Menschen zielgerichtet gebildeten zusätzlichen Organe, denen ich später eine beträchtliche Anzahl weiterer Vorteile hinzufügen werde, standen aber auch bedeutende Nachteile gegenüber. Einer wirkte sich besonders gravierend aus: Mit dem Körper nicht fest verbundene Organe sind leichter entwendbar. Das führt zu dem akuten Problem, wie sie wirksam gegen Diebstahl oder Raub geschützt werden können. So, wie sie sind, können sie eben auch von anderen Menschen, von anderen Hyperzellern und Unternehmen zur Steigerung ihrer eigenen Leistungskörper verwendet werden. Innerhalb der Lebensentwicklung war dies ein Novum. Tiere können zwar andere fressen, sind dann aber nicht imstande, deren aus Zellen bestehende Organe selbst einzusetzen. Wenn etwa eine Eidechse eine Libelle frißt, kann sie mit deren Flügeln keineswegs fliegen. Tiere vermögen erbeutete organische Substanz bloß in deren kleinste Teile zu zerlegen, darin enthaltene Energie und benötigte Stoffe zu gewinnen und damit neues, eigenes Gewebe aufzubauen. Bei diesem Vorgang gehen jedoch durchschnittlich 90 Prozent des vereinnahmten Werts verloren. Außerdem kann jedes Tier nur solche Organe bilden, deren Aufbau ihm die Steuerungen seines Erbguts gestatten. Stiehlt dagegen ein Mensch
einem anderen (Originalbuchseite 166)
ein Werkzeug, kann er es unmittelbar selbst verwenden, ohne daß es auch nur das geringste von seinem Wert einbüßt. Raubt ein Mensch einem anderen sein Fahrrad, ohne je zuvor auf einem solchen gefahren zu sein, kann er sich in dieser Kunst unterweisen lassen und lernen, es selbst zu gebrauchen. Er ist dann also, um das vorgenannte Beispiel zu übertragen, eine Eidechse, die mit den Flügeln der gefressenen Libelle zu fliegen vermag. Das aber bedeutet in weiterer Konsequenz, daß von den zusätzlichen Organen des Menschen eine starke, naturgegebene Lockwirkung ausgeht, sie anderen zu entwenden. Schon seit Beginn der Entwicklung der Hyperzeller fielen deren Verbände über andere her, um ihnen Waffen, Werkzeuge und sonstige zusätzliche Organe zu rauben. Wohl raubten sie ihnen auch Nahrung und machten sie zu Sklaven, steigerten also dadurch auch ihre Leistungskörper. Später, bei den Raubkriegen zwischen Staaten, ging es insbesondere um Grund und Boden, also um den Gewinn von Lebensraum und Naturschätzen. Doch ein entscheidender Anreiz bei all solcher Raubtätigkeit blieben die zusätzlichen Organe – und ganz besonders Geld und Wertobjekte, mit denen sich solche leicht erwerben ließen. Aber auch innerhalb der Verbände, der Siedlungen, der Völker mußten sich die Hyperzeller gegen die Raubgelüste anderer Hyperzeller schützen. Wie also war der Schutz dieser wichtigen Einheiten möglich? Waffen und sonstige Wertobjekte können versteckt oder vergraben werden. Solche Verstecke werden jedoch nicht selten entdeckt und geplündert. Es besteht auch die Möglichkeit, zusätzliche Organe in Gebäuden, absperrbaren Räumen und Behältern einzuschließen. Aber sehr oft gelangten Räuber trotzdem an ihr Ziel. Worauf ich hinauswill, ist die Feststellung, daß die vom Menschen zielgerichtet gebildeten zu-
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sätzlichen Organe einerseits eine neue Ära der Lebensentwicklung und der Machtsteigerung einleiteten und die Erzielung von Fortschritten enorm beschleunigten, andererseits mit der schwerwiegenden Hypothek eines wirksamen Schutzes belastet waren. Ihre Vorzüge konnten nur dann zum Tragen kommen, wenn ein Weg gefunden wurde, sie trotz ihres körperlichen Getrenntseins vor Raub zu schützen. Für diese besondere Problematik, so behaupte ich, gab es nur eine Lösung, führte ausnahmsweise nur ein einziger Weg wirklich »nach Rom«. Lediglich innerhalb organisierter Verbände ist ein solcher Schutz möglich: durch Bildung umfangreicher Gemeinschaftsorgane, die räuberische Tätigkeit verhindern. Man kann hier einwenden, daß Staaten viele weitere Aufgaben erfüllen. Darauf kommen wir noch zurück. Zunächst behaupte ich bloß, daß zwischen den vom Menschen gebildeten zusätzlichen Organen und jenen Einheiten des Staates, die zum Schutz ebendieser Organe dienen, ein unmittelbarer und zwingender Zusammenhang besteht, ja daß die gesamte Entfaltung der Hyperzeller ohne diese besondere Einrichtung nie hätte erfolgen können. Das eine war ohne das andere einfach nicht realisierbar. Ohne staatlichen Schutz konnte die durch zusätzliche Organe mögliche Entfaltung faktisch nicht stattfinden. Es ist sicher nicht ganz einfach, einen Vorgang, der in grauer Urzeit einsetzte – eben die Bildung zusätzlicher Organe durch den Menschen –, mit der Realität der heutigen Staaten kausal zu verknüpfen. Trotzdem vertrete ich die Ansicht, daß jedes dem Menschen und seinen Organisationen dienliche Gerät außer den Kosten seiner Herstellung auch einen entsprechenden Anteil jener Kosten verursacht, welche die für deren Schutz notwendigen Gemeinschaftsorgane verschlingen. Denn ohne
Schutzmaßnahmen wäre es (Originalbuchseite 168)
weder möglich, die Geräte anzufertigen, noch wäre es möglich, sie zu nutzen. Aus welchen Hauptbestandteilen sich dieses erforderliche Gemeinschaftsorgan zur Abwehr räuberischer Interessen zusammensetzt, ist jedermann bekannt; es braucht bloß skizziert zu werden. Zum Schutz gegen andere Verbände (Länder) ist die gesamte Landesverteidigung nötig (also Befestigungen, Streitmacht, Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe, Raketen). Der Schutz innerhalb des Staatsgebiets erfordert eine entsprechende Gesetzgebung, sodann Polizei sowie Gerichte und Gefängnisse. Diese weiteren Bereiche der staatlichen Grundfunktionen werden unter den Begriffen Legislative, Exekutive und Judikative zusammengefaßt. Sowohl die Schutzmacht gegenüber anderen Staaten als auch jene im inneren Gefüge zur Sicherung von Leben und Eigentum – also der natürlichen und der zusätzlichen Organe der Hyperzeller (Bürger) und ihrer Organisationen – müssen in der einen oder anderen Form, meistens im Wege der Besteuerung, von den Teilnehmern des Verbandes finanziert werden. Das bedeutet eine weitere Organisation, einen weiteren beträchtlichen Aufwand. Und nicht zuletzt erfordert dieses dem Schutz dienende Riesenorgan wie jedes Organ eine Steuerung. Hier aber liegt die Schwachstelle des gesamten Systems. Denn besonders beim Schutz nach außen sind, wenn das Organ erfolgreich sein soll, schnelle Entscheidungen und entsprechende Befugnisse von höchster Wichtigkeit. Wenn wir in die Geschichte zurückblicken, stoßen wir auf beliebig viele Beispiele dafür, wie die oberste Militärleitung nicht selten ihre Kompetenz dazu benutzte, dieses ganze Gemeinschaftsorgan zum Bestandteil ihres persönlichen Leistungskörpers zu machen. Die Streitmacht ist in
der Regel durch Eid zu Gehorsam verpflichtet. Bei günstigen Umstän(Originalbuchseite 169)
den kann die Verbandsstruktur (Verfassung) in wenigen Stunden oder Tagen vollkommen verwandelt werden. Es entsteht eine absolute Monarchie oder eine Diktatur, die unter Umständen von einiger Dauer sein kann. An der inneren Organisation braucht sich dabei nicht viel zu ändern. Gegner des Vorgangs müssen unschädlich gemacht und einige Korrekturen an den Gesetzen vorgenommen werden. Doch – und damit komme ich zum wesentlichen Punkt – der Schutz nach außen und der im Inneren bleiben gleichermaßen notwendig, ebenso die weitere Finanzierung. Der Usurpator kann wichtige Posten an Freunde, Familienmitglieder und Fachleute, die sich für gute Bezahlung zur Verfügung stellen, übertragen. Der Polizeiapparat wird durch zusätzliche Einheiten erweitert, denen der Schutz des neuen Herrschers und seiner Anordnungen obliegt. Der Machthaber kann konfiszieren, was ihm beliebt, und hat weitere Vorteile in erheblichem Umfang. Überspannt er den Bogen nicht allzusehr oder erweist er sich gar als geschickter Herrscher, dann ist es sogar möglich, daß das Volk (die Gesamtheit der Hyperzeller dieser Gemeinschaft und ihre Organisationen) nach einiger Aufregung den Wechsel begrüßt. Uns interessiert hier jedoch der theoretische, evolutionäre Aspekt. Ein riesiges Gemeinschaftsorgan wechselt wegen einer schwer zu vermeidenden Schwachstelle seinen Besitzer. Ein beträchtlicher individueller Shift im Sinne einer plötzlichen Leistungssteigerung bei einem Lebensindividuum findet statt. Ein Verband mit einem großen Gemeinschaftsorgan des Schutzes wird über Nacht in ein Großunternehmen verwandelt, bei dem im Extremfall sämtliche »Aktien« in einer Hand sind.
Ein Staatsgebilde, das faktisch nur aus einem Verband von Hyperzellern, einem klar umgrenzten Ver(Originalbuchseite 170)
bandsgebiet (Staatsgebiet) und einem großen Gemeinschaftsorgan des Schutzes besteht, gilt als extrem liberaler Staat (der französische Astronom Pierre-Simon de Laplace bezeichnete ihn als »Nachtwächterstaat«). Ob es einen solchen je in reiner Form gegeben hat, ist hier von untergeordneter Bedeutung. Wesentlich ist für unsere Betrachtung allein, daß er die Minimalgröße des Gemeinschaftsorgans definiert, das notwendig ist, um alle Hyperzeller eines Verbandes, also sämtliche Menschen und ihre zusätzlichen Organe, gegen räuberische Aktionen zu schützen. In der Praxis übernimmt dieses minimale Staatsgebilde beinah automatisch weitere Aufgaben, welche die Gemeinschaft für notwendig und wünschenswert hält. Beispiele dafür sind der Straßen- und Brückenbau, die Erstellung von Wasserleitungen und Kanalisationen, öffentliche Verkehrsmittel, das Postwesen, die Elektrizitätsversorgung, die Erarbeitung eines Zivilrechts, die Errichtung von Schulen, die Schaffung einer Nationalbank, die mit der Ausgabe des Geldes und der Konstanthaltung seines Wertes betraut ist, der Bau öffentlicher Bibliotheken. Auch Auslandsvertretungen werden nötig. Die sich ergebenden Mehrkosten erfordern ein größeres Finanzministerium. Je nach Einstellung der Gesellschaft kommen noch Sozialeinrichtungen hinzu, etwa Spitäler, Alters- und Pflegeheime, Arbeitslosen- und Rentenkasse, ferner staatliche Unternehmen, Handelsförderung, Katastrophenhilfe und anderes mehr. So entstehen Staatswesen mit einer mehr oder weniger umfangreichen Beamtenschaft. Wird der Staat demokratisch geführt, dann wird er mehr und mehr zu einem Organismus höherer Ordnung, der im Gemeinschaftsinteresse Wirtschaftswachstum, Fortschritt, Gerechtigkeit, Frieden und eine positive Staatsbilanz anstrebt. Es
entsteht ein großer, unabhängiger Lebenskörper, den in (Originalbuchseite 171)
der Staatstheorie Georg Jellinek als »vollendeten Staat« (1914) und Herbert Krüger als »modernen Staat« (1964) bezeichnet haben. Für unsere Betrachtung ist wesentlich, daß auch diese Staatsform ohne die Gemeinschaftsorgane des Schutzes nach außen und im Inneren nicht auskommt. Der damit einhergehende Aufwand läßt sich aus dem Gesamtbudget nicht mehr leicht herauslösen; andererseits ist, um es zu wiederholen, die gesamte Entwicklung der Hyperzeller und ihrer Organisationen, im besonderen der Unternehmen, ohne derartige Schutzvorkehrungen faktisch nicht möglich. Ich glaube, es erübrigt sich, auf Details einzugehen. Im Lauf der Geschichte ist so gut wie jede erdenkliche Staatsform versucht worden, sind die jeweiligen Vor- und Nachteile zutage getreten; eine allgemein anerkannt beste hat sich bisher nicht gefunden. In Zeiten politischer, wirtschaftlicher und sozialer Schwierigkeiten haben sich straffere Regierungsformen, in ruhiger Zeit weniger autoritär geführte bewährt. Wirtschaftlich betrachtet, ist die staatliche Organisation ein Monopolbetrieb, dem die dafür charakteristischen Mängel anhaften. Wenn Konkurrenz fehlt und die Beamten gar lebenslang gesichert sind, vermindert dies die Initiative, ausgenommen bei jenen, die Führungsstellen anstreben. Es entsteht zwangsläufig eine Bürokratie, die dadurch gekennzeichnet ist, daß ihre Mitglieder mit möglichst wenig Mühe die geforderten Pflichten besorgen, Probleme vortäuschen und tunlichst jedes Risiko vermeiden, das die weitgehend festgelegte und gesicherte Lebenslaufbahn gefährden könnte. Eine weitere Problematik ergibt sich daraus, daß das Riesenorgan (oder Riesenunternehmen) Staat für manche Wirtschaftsbereiche der größte Auftraggeber ist und die Vergabe großer Aufträge automatisch Bestechung nach sich zieht. Wird der Staat
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von Parteien gelenkt, die gegeneinander um die Führungsstellung kämpfen, verhalten sich diese wie Wirtschaftsunternehmen und sind, auch wenn das Gegenteil erklärt wird, mehr auf den Geldbeutel als auf das Staatsinteresse bedacht. Die kurzen Legislaturperioden zwischen den Wahlen wirken sich hier überdies negativ auf die Verwirklichung notwendiger langfristiger und unpopulärer Projekte aus. Beherrschen führende Klassen den Staatsapparat, wie es über lange Strecken hinweg in der Feudalzeit der Fall war, dann wird das geduldige Gemeinschaftsorgan, wie Karl Marx zu Recht sagte, zu einem »Werkzeug, um Privilegien zu schützen«. In neuerer Zeit besteht bei größeren Staaten, wie John Kenneth Galbraith anschaulich darlegte, die Tendenz, daß Großunternehmen mit Staatsstellen Symbiosen eingehen, vor allem mit den für Rüstung und Weltraumerschließung zuständigen. Wie schon gesagt, kann jede Staatsform plötzlich in jede andere übergehen: durch Revolution, Staatsstreich, legale Machtübernahme oder als Ergebnis kriegerischer Auseinandersetzungen mit anderen Ländern. Schon seit dem Altertum befassen sich Philosophen und Denker verschiedener Schulen und Fachrichtungen mit dem Phänomen des Staates. Nicht selten haben sie diesen mit Organismen verglichen. Platon nannte ihn »einen Menschen im Großen«, für Aristoteles war er »ein beseeltes Lebewesen«. Der englische Philosoph Thomas Hobbes sah in der Furcht den Ausgangspunkt der menschlichen Staatsbildung und bezeichnete den Staat als »ein alles verschlingendes Ungeheuer«. Johann Gottlieb Fichte erkannte in ihm die »organische Erscheinungsform Gottes«. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling erklärte, der Staat sei nicht ein Mittel für bestimmte Zwecke, sondern die »Konstruktion des absoluten Organismus«. 1877 cha-
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rakterisierte Ernst Kapp in seinen Grundlinien einer Philosophie der Technik den Staat als »einen sich dem Menschenleib nachbildenden Organismus«. Ab 1890 setzte sich der bedeutende Zoologe Oskar Hertwig eingehend mit dem Phänomen des Staates auseinander und nannte diesen »eine dem Menschen übergeordnete, höhere Form von Organismus«. 1924 ging der schwedische Historiker und Staatstheoretiker Rudolf Kjellén so weit, den Lebensformen Pflanze, Tier und Mensch die Lebensform Staat zur Seite zu stellen. Er umschrieb den Staat als »eine wirkliche Persönlichkeit mit eigenem Leben«, als »einen Organismus im biologischen Sinne«. Aus der Sicht meiner Theorie sind manche Staatsformen in der Tat mit den Lebewesen unmittelbar zu vergleichen, stellen sie doch, wie im Fall von Diktaturen und absoluten Monarchien, extrem erweiterte Leistungskörper einzelner Hyperzeller dar oder ähneln, wie im Fall von Raubstaaten, theokratischen oder ideologisch gelenkten, zentralverwaltungswirtschaftlichen Staaten, den großen Wirtschaftsunternehmen. Wesentlich ist indes, daß alle Staaten notwendigerweise ein gemeinsames zentrales Gefüge haben, das sich als Folgeerscheinung der vom Menschen gebildeten zusätzlichen Organe erklärt. Dieses zentrale Gefüge ist ein großes Gemeinschaftsorgan des Schutzes, ohne das die dritte und die vierte Ära der Lebensentfaltung nicht möglich gewesen wären. Für Hyperzeller und Unternehmen stellt es zusätzlich eine beträchtliche Energiequelle dar, die in mannigfacher Weise ausgebeutet wird. Wenn Engels meinte: »Der Staat wird nicht abgeschafft, er stirbt ab«, dann ist dies aus evolutionärer Sicht in höchstem Maße unwahrscheinlich. Ohne die großen Gemeinschaftsorgane des Schutzes wäre die mit dem Menschen einsetzende technische Leistungssteigerung des Lebens (Originalbuchseite 174)
nicht möglich gewesen. Sollte es eines Tages zu einer Weltregierung kommen – was wegen der Umweltproblematik durchaus denkbar geworden ist –, würde die Schutzfunktion nach außen weitgehend entfallen, doch jene im Inneren gelangte dann zu noch größerer Bedeutung.
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6 Effizienz und ihre Meßbarkeit
Ehe wir uns im nächsten Kapitel der interessanten Frage zuwenden, was mit den beträchtlichen Gewinnen geschieht, die Hyperzeller und Unternehmen erwirtschaften, möchte ich meine Behauptung, daß sich die Evolution der Einzeller und der Vielzeller nahtlos in jener der Hyperzeller und der Erwerbsorganisationen fortsetzt, durch weitere Argumente erhärten. Der sinnfällige Unterschied zwischen Pflanzen und Tieren einerseits sowie erwerbstätigen Menschen und Industrieunternehmen andererseits ist so groß, daß ich, bevor ich zu dem heiklen Thema der Stellung des Menschen in diesem Geschehen gelange, noch einen besonders gewichtigen Beweis für meine Theorie vorlegen will. Wie schon am Anfang des Buches erwähnt, hielt Darwin es für ausgeschlossen, genauer zu bestimmen, aufgrund welcher besonderen Eigenschaften eine Tier- oder Pflanzenart in den vernetzten Ökosystemen der Natur anderen überlegen wird und diese allmählich verdrängt. Solange man die materiellen Strukturen der Lebewesen und ihr Verhalten als das den Konkurrenzwert Bestimmende ansieht, ist es in der Tat schwer zu entscheiden, wo man mit Untersuchungen ansetzen, mit Messungen beginnen soll. Die Körper der Vielzeller, die Ausbildungen ihrer Organe und ihre Verhaltensweisen sind so komplex, daß es aussichtslos erscheint, nach gemeinsamen Kriterien zu suchen, die generell für den Selektionswert maßgebend sind. Auch alle Darwin nachfolgenden Biologen teilten diese Meinung. Dazu kommt das von mir (Originalbuchseite 176)
ebenfalls angeführte Argument, daß bei den meisten benötigten Leistungen »mehrere Wege nach Rom führen«, so daß die Untersuchung einer bestimmten Methode bestenfalls über deren Effektivität Aufschluß gibt, was jedoch an Bedeutsamkeit verliert, wenn über andere Organe und Verhaltensweisen die gleiche Leistung besser erbracht werden kann. In bezug auf Extremgebiete, wo nur sehr wenige Arten leben, sind vielleicht Schlußfolgerungen darüber möglich, welche Merkmale hier eine Art den übrigen überlegen machen, und auch im Fall der Verpflanzung von Tieren und Pflanzen in andere Erdteile, wie sie oft vorgenommen wurde, ist man zu Hinweisen darauf gelangt, warum sich manche verpflanzten Arten in der neuen Umwelt als äußerst erfolgreich, andere hingegen als völlig erfolglos erwiesen. Jedoch zu behaupten, die Konkurrenzfähigkeit sämtlicher Organismen könne nach gleichen Kriterien beurteilt werden, ja diese meßbaren Kriterien gälten auch für alle vom Menschen gebildeten Strukturen und Organisationen sowie für deren Bestandteile, muß aufgrund des Gesagten höchst unglaubwürdig anmuten.
Sieht man jedoch nicht in den materiellen Körpern und Verhaltensweisen, sondern in den Leistungen das Wesentliche, wie es die natürliche Auslese nahelegt, dann ändert sich die Problematik. Denn die Effizienz von Leistungen läßt sich messen, und zwar mit Hilfe sehr einfacher Kriterien, die für alle Lebenserscheinungen gelten.
Die drei Effizienzkriterien Diese drei Kriterien fasse ich unter den Begriffen »Kosten«, »Präzision« und »Zeitaufwand« zusammen. Unter Kosten verstehe ich den zur Erzielung einer Lei(Originalbuchseite 177)
stung durchschnittlich notwendigen Energieaufwand. Er ist meßbar in Energieeinheiten oder, bei Hyperzellern und Unternehmen, nach dem Geldaufwand, der zur Erzielung der betreffenden Leistung in einem bestimmten Gebiet erforderlich ist. Da zwischen Geld und Energie kein konstantes Umrechnungsverhältnis besteht, ergibt sich hier ein Unterschied, der aber die Konkurrenzwerte nicht berührt, da jeder Konkurrent von den örtlichen Verhältnissen gleichermaßen betroffen ist. Mit Präzision bezeichne ich die Güte und die Verläßlichkeit einer Leistung: wie oft je Hundert sie zum benötigten Leistungsergebnis führt, wie oft sie also gelingt. Dieser Wert läßt sich statistisch ermitteln und in Prozentzahlen angeben. Beim Zeitaufwand, dem dritten Kriterium, geht es darum, wieviel Zeit die betreffende Leistung durchschnittlich in Anspruch nimmt, was sich in Zeiteinheiten meßbar erfassen läßt. Es ist nicht meine Absicht, eine breitangelegte Darstellung der Effizienzlehre zu präsentieren; das würde den Rahmen dieses Buches bei weitem übersteigen. Mir ist vielmehr daran gelegen, anhand einiger weniger Beispiele die innere Verwandtschaft der verschiedenen Ausdrucksformen des Lebensphänomens aufzuzeigen. Der Leser ist aufgefordert, darüber hinaus gemäß seinem Wissen und seinem Interesse beliebige Beispiele aus dem praktischen Leben auszusuchen und nach den genannten Effizienzkriterien zu prüfen. Ob es sich dabei um Leistungen von Einzellern, Vielzellern, Hyperzellern oder Erwerbsorganisationen handelt, ist einerlei. Ich beginne bei Einzellern und Vielzellern und behaupte, daß es für die Lebensfähigkeit und den Selektionswert jeder Art entscheidend ist, wieviel deren lebenswichtige Leistungen kosten. Wie schon ausgeführt wurde, ist Energie im gesamten Lebensge(Originalbuchseite 178)
schehen ein unabdingbares, wertvolles Gut. Beim Nahrungserwerb der Tiere geht ein großer Teil der vereinnahmten Rohenergie durch Energieumwandlungen verloren, so daß nur ein kleiner Prozentsatz in Gestalt von Nutzenergie bei den benötigten Leistungen »ankommt«. Eine möglichst positive Energiebilanz ist somit äußerst
wichtig, besonders im Hinblick auf Notzeiten. Führt Nahrungsmangel dazu, daß die Energiebilanz negativ wird, mag sich das betroffene Tier noch für einige Zeit durch Einsatz von Reserven und Abbau von Körpergewebe am Leben erhalten; bleibt sie jedoch negativ, dann erlahmen die Lebensvorgänge und kommen schließlich zum Stillstand – dem Tod. Daher ist es für jedes Tier – und jedes Lebewesen überhaupt – von höchster Bedeutung, alle seine benötigten Leistungen mit möglichst geringer Energieausgabe zu erbringen. Stehen im Konkurrenzkampf zwei Tierarten A und B einander gegenüber, die in allen Leistungen gleichwertig sind außer darin, daß A eine wichtige Leistung x wesentlich billiger – das heißt, mit erheblich geringerem Energieaufwand –, jedoch ebenso gut und schnell zu erfüllen vermag wie B, dann ist das ohne jeden Zweifel ein beträchtlicher Konkurrenzvorteil für A. In Notzeiten kann dies über Sein und Nichtsein der Art B entscheiden. Bei Hyperzellern und Erwerbsorganisationen ist es nicht anders. Hier werden mit Geld die erforderlichen Nahrungsmittel und Sachgüter, die Honorare für die Leistungen der Mitarbeiter und die für den Antrieb von Maschinen notwendigen Energieträger bezahlt, wobei Konkurrenten von denselben oder sehr ähnlichen Kursen bei der Umwandlung von Geld in Energiewerte betroffen sind. Auf die Bedeutung der positiven Geldbilanz in der Wirtschaft braucht nicht besonders verwiesen zu werden. Auch hier entscheiden (Originalbuchseite 179)
Notzeiten über Sein und Nichtsein. Wohl können bei schlechter Konjunkturlage Banken oder der Staat oder Freunde mit Krediten helfend einspringen; bleibt ein Gewerbetreibender oder ein Unternehmen indes weiterhin in den roten Zahlen, gelangt ihre wirtschaftliche Tätigkeit zwangsläufig an ein Ende. Der Gewerbetreibende muß seinen Laden oder seinen Betrieb schließen, das Unternehmen geht in Konkurs. Um sich im Wirtschaftskampf zu behaupten, ist es deshalb ebenfalls überaus wichtig, alle benötigten Leistungen möglichst kostensparend zu erbringen. Stehen hier zwei Konkurrenten A und B einander gegenüber, die in allem gleichwertig sind außer darin, daß es A mit weniger Ausgaben als B gelingt, eine wichtige Leistung zu erzielen, dann ist A gegenüber B im Vorteil. Da sich die Gesamtkosten aus den Einzelkosten aller Organe und Tätigkeiten zusammensetzen, gilt das Effizienzkriterium »Kosten« nicht nur für jeden Hyperzeller und jedes Unternehmen als Ganzes, sondern auch für jeden ihrer funktionserbringenden Bestandteile (Organe). Damit sind wir bereits auf eine innere Verwandtschaft zwischen sämtlichen Einzellern, Vielzellern, Hyperzellern und Erwerbsorganisationen gestoßen, die wohl als »ökonomisches Prinzip« jedermann bekannt ist, sich unseren Sinnen jedoch verschließt. Alle Lebewesen – womit wir weiterhin auch die Leistungskörper der Hyperzeller und der Unternehmen bezeichnen wollen – sind, so verschieden sie in ihrer Größe und ihrer Beschaffenheit sein mögen, von dem Effizienzfaktor »Kosten« abhängig. Es ist leicht zu erkennen, daß dieser Faktor die Wirksamkeit der natürlichen Auslese wesentlich beeinflußt. Überall, sowohl im Konkurrenzkampf bei Tieren und
Pflanzen als auch bei sämtlichen vom Menschen geschaffenen Unternehmen, kommt es, um effizient und überlebensfä(Originalbuchseite 180)
hig zu sein, entscheidend darauf an, mit möglichst geringen eigenen Ausgaben möglichst große Einnahmen zu erzielen. Anders ausgedrückt: Es kommt hier überall gleichermaßen darauf an, mit möglichst geringen Kosten zum gleichen Ergebnis zu gelangen. Jeder Bestandteil dieser so verschiedenen Körper und seine Ansprüche sind hier von Bedeutung. Wo immer gespart werden kann, ohne daß sich dadurch die Güte und Schnelligkeit der Gesamtleistung vermindern, ist dies nicht nur wichtig, sondern lebenswichtig. Erreichen läßt es sich entweder dadurch, daß Organe auf die eine oder andere Weise verbessert werden, oder dadurch, daß benötigte Leistungen über andere Verfahren und somit andere Organe erbracht werden. Bei der zweiten Möglichkeit sind Hyperzeller und Unternehmen eindeutig im Vorteil. Während bei Einzellern und Vielzellern Verbesserungen nur über Veränderungen im Erbgut und entsprechend veränderte Zelltätigkeit und Differenzierung zu erreichen sind, lassen die auswechselbaren zusätzlichen Organe es zu, weniger günstige Fabrikate durch solche zu ersetzen, die bei geringeren Kosten zu gleichwertigen Leistungen verhelfen. Auch Angestellte oder gemietete Dienstleistungen können durch andere ersetzt werden. Diese Lebewesen sind daher weit flexibler und anpassungsfähiger. Ferner ist darauf hinzuweisen, daß es keine entscheidende Rolle spielt, ob Verbesserungen über Zufälle oder Intelligenzakte zustande kommen. Auf das Ergebnis kommt es an. Wohl können Verbesserungen durch die Intelligenzleistungen des Menschen ungleich schneller herbeigeführt werden, und zusätzliche Organe lassen Fortschritte zu, die über Zelldifferenzierung überhaupt nicht möglich wären. Doch der menschliche Geist ist andererseits kein Garant dafür, daß seine Tätigkeit zu Verbesserungen führt. Die (Originalbuchseite 181)
Chancen dafür sind zwar erheblich größer, aber nicht der Herstellungsweg, sondern das Ergebnis ist das Wesentliche. Wenden wir uns nun dem zweiten Effizienzkriterium zu: der Präzision. Ihre Definition ist wesentlich schwieriger als die der Kosten, die leicht festzustellen und zu vergleichen sind. Das Kriterium Präzision stützt sich darauf, wie oft Leistungen gelingen und wie viele Bemühungen ihr Ziel verfehlen. Die Organe und ihre Tätigkeiten, die insgesamt zu Leistungen führen, haben oft sehr vielen und verschiedenen Anforderungen zu entsprechen. Man kann sie mit Schlüsseln vergleichen, die so beschaffen sein müssen, daß sie ein bestimmtes Schloß zu öffnen vermögen. Beim Schlüssel ist dafür in erster Linie der Schlüsselbart mit seinen Zinken
zuständig. Diese sind so geformt, daß sie den Mechanismus des Schlosses öffnen. Ist eine der Zinken zu lang oder zu breit, dann sperrt der Schlüssel nicht, dann vermag er nicht die Mechanik des Schlosses zu öffnen. Ganz in diesem Sinne muß jedes Organ so beschaffen sein, daß es allen gestellten Erfordernissen entspricht. Wenn wir unser Auge als Beispiel nehmen, dann hat dieses Organ ein ganzes Bündel von Leistungen zu erbringen, damit die von ihm benötigte Gesamtleistung – uns optische Eindrücke von der Umwelt zu vermitteln – zustande kommt. Die Linse muß ebenso in Ordnung sein wie die Pupille, der lichtempfindliche Augenhintergrund ebenso wie die das Auge bewegenden Muskeln und vieles andere. Funktioniert eine der untergeordneten Einheiten nicht, hat das die gleiche Konsequenz, wie wenn eine der Zinken des Schlosses abgebrochen ist und der Schlüssel das Schloß deshalb nicht öffnet: Das Auge kann seine Aufgabe nicht erfüllen. Bewertet man in gleicher Weise einen Hammer, dann stellt er sich als ein weit einfacherer Schlüssel dar. Seine Auf(Originalbuchseite 182)
gabe ist es, unserer Hand zum Einschlagen eines Nagels zu verhelfen. Dazu dient der Metallkopf mit flachem Ende und der Stiel, der in seiner Größe der Hand ebenso angepaßt sein sollte wie der Kopf mit seiner Fläche dem Nagel. Dieser »Schlüssel«, wenn wir bei dem Vergleich bleiben wollen, hat somit weit weniger »Zinken«. Doch diese wenigen muß er haben, sonst vermag er sein »Schloß« nicht zu öffnen (die Aufgabe, einen Nagel einzuschlagen, nicht zu erfüllen). Betrachten wir noch ein drittes Beispiel: die Produktionsabteilung eines Unternehmens, das bestimmte Güter erzeugt. Sie besteht aus zahlreichen spezialisierten Menschen (Hyperzellern), Gebäuden, Maschinen und Werkzeugen, ist also einem Schlüssel mit vielen Zinken vergleichbar, die alle vorhanden sein müssen, damit die geforderte Aufgabe erfüllt wird. Das Effizienzkriterium Präzision zeigt auf, wie gut bei einem beliebigen Lebewesen oder dessen Organ die Passung an die zu erfüllende Aufgabe ist. So wie man Sicherheitsschlösser nur mit ganz besonderen Schlüsseln öffnen kann, gibt es Aufgabenerfüllungen, die nur über besonders präzise Leistungen möglich sind. Weitere Kriterien, wie etwa Reparaturanfälligkeit, Regenerationsfähigkeit bei Beschädigungen, Empfindlichkeit gegenüber Umwelteinflüssen, also Zuverlässigkeit im weitesten Sinne, spielen dann bei dem Passungsverhältnis eine zusätzliche Rolle. Fallen bei einer Anlage zur Herstellung einer Ware 4% Ausschuß an, dann beträgt ihre Präzision 96 Prozent. Picken Vögel nach Körnern und treffen nur jedes zweite, dann beträgt die Effizienz ihres Nahrungserwerbes nur 50 Prozent. Es ist ein gewisses Umdenken erforderlich, will man den Präzisionsbegriff auf den Energieerwerb über Tauschakte anwenden. Die Erwerbsquelle des Produzenten ist der Bedarf an den von ihm angebote(Originalbuchseite 183)
nen Produkten oder Leistungen: Das zu öffnende Schloß sind die Wünsche der Kunden. Je genauer ein Produkt den Wünschen und Bedürfnissen des Nachfragenden
entspricht, je enger das Passungsverhältnis ist, desto präziser wird die Erwerbshandlung sein. Werden Kundenwünsche auch nur zu 80 Prozent erfüllt, dann liegt die betreffende Ware im Konkurrenzkampf besser als Produkte, die nur 50 Prozent der Wünsche entsprechen. Wird die Stelle eines Betriebsleiters ausgeschrieben, werden sehr verschiedene Eigenschaften in Betracht gezogen. Unter den Bewerbern wird schließlich jener gewählt, von dem man annimmt, daß er am besten den gegebenen Anforderungen entspricht. In diesem Sinne spricht man in der Wirtschaft auch von einem Anforderungsprofil, dem ein bestimmtes Leistungsprofil bestmöglich entsprechen soll. Die Zinken eines solchen Schlüssels sind dann sehr verschiedener Art: fachliche Fähigkeiten, Charaktereigenschaften, Familienverhältnisse, Entfernung der Wohnung vom Arbeitsplatz und anderes mehr. Bei jedem Organ eines Tiers oder einer Pflanze wie auch bei jedem funktionserbringenden Bestandteil eines Hyperzellers oder eines Unternehmens ist zu überlegen: Welches sind die Anforderungen an diese Einheiten, welche Aufgaben müssen sie erfüllen? Daraus ist dann abzuleiten: Über welche Eigenschaften und Fähigkeiten müssen sie verfügen? Der jeweilige Passungszustand gibt Auskunft über das Ausmaß der Präzision. Sie läßt sich in der Regel nur über statistische Erfahrungswerte oder konkret im nachhinein ermitteln. Daß jede bessere Passung eines Organs an seine Aufgabe ein Vorteil für den Lebenskörper ist, dem es dient, liegt auf der Hand. Ist die Passung schlecht, spricht man in der Wirtschaft von »innerer Reibung« und »falsch investiertem Kapital«. Ob es Einzeller oder Vielzeller sind, Hyperzeller, Un(Originalbuchseite 184)
ternehmen oder das Riesenorgan Staat: Die Präzision, mit der sie ihre Leistungen erbringen, ist für sie nicht minder von Bedeutung als die anfallenden Kosten. Ebenso wie das Effizienzkriterium der Kosten gilt auch jenes der Präzision gleichermaßen für die Lebewesen selbst, wie auch für die Bestandteile, aus denen sie sich zusammensetzen. Je besser ein Unternehmen oder ein Hyperzeller den Kundenwünschen und den Umweltbedingungen angepaßt ist, um so größer wird sein Selektionswert: sein Vermögen, sich im Lebenskampf durchzusetzen. Je besser Pflanzen oder Tiere den Energie- und Stoffquellen und sonstigen wichtigen Umweltbedingungen angepaßt sind, desto höher ist ihre Präzision und damit der jeweilige Selektionswert. Mir geht es in erster Linie darum, den Leser durch möglichst verschiedene Beispiele der Erkenntnis näher zu bringen, daß zwischen der bunten Welt der Tiere und der Pflanzen und der nicht minder bunten Vielheit der vom Menschen gebildeten Hyperzeller und ihrer Organisationen weit mehr Gemeinsamkeiten bestehen, als uns der äußere Aspekt vermuten läßt. Auch das Effizienzkriterium Präzision ist wie das Effizienzkriterium Kosten für die Konkurrenzfähigkeit aller Lebenserscheinungen gleichermaßen von Bedeutung. Ob es der kleinste funktionserbringende Bestandteil einer Zelle oder das Baumaterial irgendeines zusätzlichen Organs ist, das so komplexe Gangliengefüge von Tier und Mensch oder der Funktionsplan der Fließbandfertigung
in einem Unternehmen oder schließlich die Gesetzgebung in einem Staat: Überall zeigt das Kriterium »besser oder schlechter geeignet« die Präzision der jeweiligen Aufgabenerfüllung an, so, wie bei den jeweils notwendigen oder angestrebten Leistungen das Kriterium »mehr oder weniger kostengünstig« den Ausschlag gibt. (Originalbuchseite 185)
Das dritte Effizienzkriterium, der Zeitaufwand, beeinflußt ebenfalls in hohem Maß den Selektionswert der das Leben fortsetzenden funktionellen Einheiten, allerdings nicht überall und immer. So ist es beispielsweise durchaus kein Selektionsvorteil, wenn im Körper eines Tiers ein Organ seine Aufgabe doppelt so schnell erbringt, wie es das Zusammenwirken aller übrigen erfordert, oder wenn ein Arbeiter an einem Fließband seine Handgriffe weit schneller ausführt, als der Gesamtablauf dies nötig macht. Vielmehr kommt es auf eine Abstimmung aller natürlichen und zusätzlichen Organe an, und zwar nicht nur insofern, als ein Organ nicht die anderen stört oder ihnen im Wege steht, sondern auch im Hinblick auf eine zeitliche Abstimmung der Abläufe: eine möglichst harmonische Koordination. Wo immer eine Funktion nachhinkt, entsteht ein Engpaß, eine Schwachstelle. Bei Tieren und Pflanzen wie auch bei unserem Körper zeigen uns das die Folgen von Krankheiten oder Verletzungen einzelner Organe. In Betrieben, in der Industrie und im Staat äußert sich das nicht weniger deutlich, wenn ein wichtiges Organ oder ein wichtiger Vorgang ausfällt. In dieser Hinsicht tritt die Bedeutung des Effizienzkriteriums Zeitaufwand auch im Innengefüge von Lebenskörpern in Erscheinung. Sie sollen also weder zu schnell noch zu langsam tätig sein. Beim Energieerwerb und bei der Feindabwehr spielt das Kriterium Zeitaufwand bei Hyperzellern und Unternehmen genau dieselbe Rolle wie bei Einzellern und Vielzellern. »Early bird catches the fly«, sagt ein englisches Sprichwort, und im Deutschen heißt es: »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.« Wenn im Frühling die Pflanzen aus dem Boden sprießen, sind jene im Vorteil, die so schnell wachsen, daß sie ihre Blätter über jene der Konkurrenten erheben. Den gleichen Vorteil hat in der Wirtschaft derjenige, der als (Originalbuchseite 186)
erstes einen neu auftauchenden Bedarf erkennt und ihn befriedigt. Tiere, die sich schneller fortbewegen können als Konkurrenten, vermögen eher als diese an Beute zu gelangen und auch bei Gefahr schneller zu flüchten. Staaten, deren Heere schneller als jene des Gegners strategisch wichtige Punkte besetzten, waren im gesamten Lauf der Geschichte im Vorteil. Schließlich erfordert Effizienz auch eine Abstimmung zwischen den Kriterien Kosten, Präzision und Zeitaufwand. Offensichtlich wäre es am vorteilhaftesten, wenn Leistungen zugleich schnell, billig und dabei präzise erbracht würden. In der Praxis ist dies jedoch kaum möglich. Die Korrelationen zwischen den drei Effizienzkriterien sind
deshalb von entscheidender Bedeutung. Kommt es bei einer Erwerbsart oder Funktion in erster Linie auf Schnelligkeit an, führt das fast zwangsläufig zu geringerer Präzision und höheren Kosten. Wer ein neues Haus statt in drei Jahren in einem Jahr fertiggestellt haben will, dem kann dieser Wunsch erfüllt werden; allerdings muß er erheblich mehr zahlen, und außerdem wird er das Risiko von Mängeln bei Konstruktion und Ausführung in Kauf nehmen müssen. Wer auf hohe Präzision, etwa bei kriegerischen Akten oder sonstigen mit großem Risiko behafteten Projekten, Wert legt, darf keinesfalls bei den Kosten sparen und muß auch in der Lage sein, mit Geduld den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Wo es in erster Linie auf niedrige Kosten ankommt, darf man es ebenfalls nicht eilig haben und muß entsprechende Mängel in Kauf nehmen. Die richtige Abstimmung ist hier wie auch in jedem anderen Bereich des Lebensgeschehens von höchster Bedeutung. In der Wirtschaft wird die Bezeichnung »Qualität« heute oft im gleichen Sinne verwendet, wie er meiner Definition des Begriffs »Präzision« zugrunde liegt. Das (Originalbuchseite 187)
ist in manchen Fällen berechtigt, aber für eine klare Begriffsabgrenzung trotzdem problematisch. Denn mit Qualität bezeichnet man gerade in der Wirtschaft eine möglichst hohe Befriedigung der Kundenwünsche. Zu diesen gehört sehr häufig – und auch mit Recht –, daß die erstandene Ware nicht über Gebühr teuer ist und sowohl Lieferung als auch etwaige Wartung zügig erfolgen. In diesem Sinne stellt sich dann die Frage, ob der Begriff »Qualität« nicht alle drei genannten Kriterien Präzision, Kosten und Zeitaufwand umfaßt und in der Ausgewogenheit aller drei das Optimum bezeichnet. Deshalb und auch im Hinblick auf die Situation der aus Zellen bestehenden Lebenskörper, die nicht über Willensakte angefertigt werden und bei denen der Begriff »Qualität« deshalb einen falschen Beigeschmack gewinnt, bevorzuge ich nach wie vor die Bezeichnung »Präzision«. Ich veröffentlichte dieses Grundschema zur Beurteilung von Selektionswerten und Konkurrenzfähigkeit, von dem ich glaube, daß es in allen Bereichen der Lebensentfaltung gleichermaßen anwendbar und gültig ist, bereits 1970, allerdings weniger ausführlich. In der Folgezeit habe ich es bei Vorlesungen, Vorträgen und Wirtschaftsseminaren immer wieder präsentiert. Ich kann mich nicht erinnern, daß je Widersprüche oder ernsthafte Einwendungen auftauchten. Eher hatte ich den Eindruck, daß dieser Bewertungsmaßstab, dessen Komponenten ja allgemein bekannt und anerkannt sind, als zu simpel angesehen wurde, um zu neuen Einsichten zu verhelfen. In der Unternehmensberatung sind, so will mir scheinen, oft besonders komplexe und verwirrende Schemata eher beliebt und gewinnen, wenn sie dicht an den Grenzen der Verständlichkeit liegen, noch an Bedeutung. Um so mehr hat es mich gefreut, daß der prominente Qualitätsforscher und Professor an der Wirtschaftsuniver (Originalbuchseite 188)
A
B Aufbau Periode
a
1
b
4
2
5
3 ZeitAufwand
7 Kosten der Funktion
Präzision des Aufbaues
Präzision
c
Funktion
Kosten des Aufbaues
Kosten
10
8
Kosten der Stillegung
11 Risiko der Ruhepausen
9 Dauer der Funktionsakte
Stillegung
Kosten der Ruhepausen
Präzision der Funktion
6 Dauer des Aufbaues
Aktivitätsperiode Ruhe
Risiko der Stillegung
12 Dauer der Ruhepausen
Dauer der Stilegung
(Originalbuchseite 189)
Abb. 4: Zwölf für die Effizienz von Lebewesen maßgebende Kriterien. Da sich die Effizienz jedes Lebewesens aus der Leistungsfähigkeit seiner Organe ergibt, kann im Prinzip jedes Organ seinen Selektionswert beeinflussen. Drei in Durchschnittswerten meßbare Hauptkriterien sind für die Leistungsfähigkeit jedes Organs bestimmend: a die Kosten, die das Organ dem Lebewesen verursacht, b die Präzision seiner Funktionserfüllung (wie oft je hundert sie glückt) und c der Zeitaufwand, den die Funktion erfordert. A ist die Aufbauperiode des Organs und B seine Aktivitätsperiode, die sich aus alternierenden Funktions- und Ruhephasen zusammensetzt. Dazu können noch Stilliegephasen kommen, in denen das Lebewesen sein Organgefüge auf ein Minimum reduziert. Die Kriterien Kosten, Präzision und Zeitaufwand führen in der Aufbauperiode und in den drei Phasen der Aktivitätsperiode zu verschiedenen Werten, die den Selektionswert beeinflussen können (1–12). Zwischen all diesen Werten gibt es Korrelationen, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen (Näheres im Text). Zu beachten ist, daß das Schema nicht nur für die Organe, sondern für jedes Lebewesen als Ganzes (Einzeller, Vielzeller, Hyperzeller, Erwerbsorganisation) gilt. Dies ist ein deutlicher Hinweis auf die Verwandtschaft aller Lebewesen und ihrer Organe. (Originalbuchseite 190)
sität Sankt Gallen Hans-Dieter Seghezzy in seinem kürzlich erschienenen Werk Qualitätsstrategien die drei Faktoren Qualität, Geld und Zeit als maßgebendes »unternehmerisches Spannungsdreieck« vorstellt und dieses Konzept von dem Unternehmensberater Roland Berger im selben Werk unter der Bezeichnung »TimeCost-Quality-Leadership« praxisbezogen vertieft wird. Hier ist vielleicht auch von Interesse, daß in der japanischen Wirtschaft besonders Großunternehmen wie der Automobilhersteller Toyota schon seit 1975 ihre Produktion auf die Zielhierarchie
Qualität, Kosten und Zeit ausgerichtet haben. Diese Ausrichtung entwickelte sich aus einer als »Kaizen« bezeichneten japanischen Lebensphilosophie, bei der das Streben nach Perfektion und Vollkommenheit in den Vordergrund gestellt wird.
Das unsichtbare Wertgerüst In meiner Veröffentlichung von 1970 wies ich zusätzlich darauf hin, daß der Selektionswert der Lebenseinheiten noch genauer erfaßt werden kann, wenn man die drei Effizienzkriterien Präzision, Kosten und Zeitaufwand in den verschiedenen Daseinsperioden getrennt untersucht. Jedes Organ kann logischerweise seine Funktion erst dann erbringen, wenn es fertiggestellt ist. Das gilt ebenso für das Rad eines Autos wie für die Blutgefäße unseres Körpers, für die als Organellen bezeichneten Organe der Einzeller wie für jede Produktionsabteilung eines industriellen Großbetriebs. Bei manchen Organen besteht die Funktion in aktiver Tätigkeit, etwa bei den Beinen eines Käfers, bei unserer Niere oder bei der Lokomotive eines Zuges, bei anderen in einer passiven Wirkung, etwa bei den Panzerplatten eines Kriegsschiffes, beim Knochenskelett der (Originalbuchseite 191)
Wirbeltiere und bei den Fundamenten eines Gebäudes. Bei dem als »Buch« bezeichneten Organ besteht die Funktion darin, Informationen in einem handlichen Paket verfügbar zu machen, beim Organ »Rauchfang« darin, Abgase in den Luftraum zu leiten. Das Organ »Schauspieler« hat die Funktion, im Theater oder im Film eine bestimmte Rolle zu übernehmen; das Organ »Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika« übt als Funktion die Leitung dieses Landes aus. Die Organe im Lebensgeschehen sind äußerst verschiedenartig. Gemeinsam ist jedoch allen, daß sie mit ihrer Funktion nicht eher einsetzen können, als sie fertiggestellt und am benötigten Ort verfügbar sind. Man kann somit bei allen zwischen einer Aufbauperiode und einer Aktivitätsperiode unterscheiden. Die Aufbauperiode endet mit dem Einsetzen der selbständigen Funktionstätigkeit. Die darauf folgende Aktivitätsperiode läßt sich noch weiter in drei für den Selektionswert wesentliche Phasen unterteilen: erstens in die Phasen ihrer spezifischen Funktionstätigkeit, zweitens in Ruhepausen, in denen das Organ nicht funktionstätig ist, drittens in Phasen der Veränderung, in denen das Organ stillgelegt wird oder Umgestaltungen erfährt, die es zur Ausführung anderer als der ursprünglichen Funktion befähigen. Ich behaupte, daß man den Selektionswert von Organen noch genauer bestimmen kann, wenn man die Effizienzkriterien Kosten, Präzision und Zeitaufwand in jedem dieser Abschnitte getrennt untersucht (Abb. 4). Dies mag komplizierter erscheinen, als es tatsächlich ist. Die Kosten des Aufbaus eines Organs spielen für dessen Selektionswert eine wesentliche Rolle. Stehen zwei Konkurrenten A und B einander gegenüber, die in ihren Leistungen sonst gleichwertig sind, bei denen jedoch A ein benötigtes Organ mit
weniger Energieaufwand bildet oder erwirbt als B, dann ist A eindeutig (Originalbuchseite 192)
im Vorteil. Ebenso verhält es sich mit der Präzision. Beträgt beim Aufbau eines Organs der Ausschuß 15 Prozent, dann bedeutet das Konkurrenten gegenüber, die zu besseren Bedingungen an entsprechende Organe gelangen, einen mitunter bedeutsamen Nachteil. Was den zum Aufbau erforderlichen Zeitaufwand betrifft, so ist dieser ebenfalls von Bedeutung. Besonders wenn das Energieangebot Schwankungen unterworfen ist, kommt es darauf an, den günstigen Augenblick wahrzunehmen. Dann kann es entscheidend wichtig werden, wie schnell ein Organ verfügbar ist. Diese und ähnliche Zusammenhänge sind bei allen Lebewesen nachzuweisen, so verschieden sie gestaltet, so unterschiedlich ihre Lebensumstände sein mögen. In der sich anschließenden Aktivitätsperiode spielen die durchschnittlichen Kosten der einzelnen Funktionsakte eine wichtige Rolle und sind von den Kosten des Aufbaus getrennt zu betrachten. So mag der Aufbau eines Organs kostengünstig, seine Funktionstätigkeit indes weit aufwendiger sein – oder umgekehrt. Bei jedem Lebewesen ist die Energiebilanz vorrangig; sie setzt sich aus den Energiebilanzen aller seiner Organe zusammen. Besonders Notzeiten können hier zum limitierenden Faktor werden. Wird bei einem Einzeller, einem Vielzeller, einem Hyperzeller oder einer Erwerbsorganisation die Energie- beziehungsweise die Geldbilanz negativ, können sich diese Lebewesen mit Hilfe angelegter Reserven, die Hyperzeller und Erwerbsorganisationen durch Kredite von Banken, Freunden oder vom Staat allenfalls für einige Zeit noch existent erhalten. Bleibt die Bilanz jedoch negativ, führt das unweigerlich zum Tod beziehungsweise bei Hyperzellern und Erwerbsorganisationen zum Konkurs, was aus evolutionärer Sicht faktisch das gleiche bedeutet. Es ist nicht Zweck dieser Darstellung, auf weitere (Originalbuchseite 193)
Details einer allgemeinen Effizienzlehre einzugehen. Es liegt mir vielmehr daran, zu zeigen, wie gemeinsame Gesetzmäßigkeiten die Evolution der Pflanzen und der Tiere einerseits, sowie der vom Menschen gebildeten Leistungskörper andererseits gleichermaßen bestimmen. Selbstverständlich ist das Effizienzkriterium Präzision auch in der Aktivitätsperiode sämtlicher Lebewesen von Bedeutung. Je besser ein Organ seiner funktionellen Aufgabe entspricht, um so besser dient es der Lebensstruktur, der es angehört. Genau das gleiche gilt für den Zeitaufwand. Zwischen diesen angeführten Parametern – und weiteren, auf die ich noch zu sprechen komme – gibt es die verschiedensten Korrelationen, die ebenfalls den Selektionswert beeinflussen. Der kritische Leser wird gebeten, sich selbst Beispiele, die seinem Interessengebiet und seiner Erfahrung entstammen, auszusuchen und auf den Wahrheitsgehalt meiner Hinweise zu prüfen. Für unser gewohntes Denken ist es
sicherlich überraschend, daß es Vergleichsmaßstäbe von Belang geben soll, die für eine so ungeheure Zahl äußerst verschiedener Organe gelten. Aber genau dies ist der Fall. Nicht das äußere Erscheinungsbild gibt Aufschluß über Konkurrenzfähigkeit und Selektionswert, sondern ein unsichtbares Wertgerüst entscheidet darüber, welche funktionellen Einheiten sich im »Kampf ums Dasein« behaupten und die Lebensentfaltung in immer neuer Artenbildung fortsetzen. Die Ruhephasen, welche die Funktionsausübung fast aller aktiv tätigen Organe mehr oder weniger regelmäßig unterbrechen, sind besonders dann von Bedeutung, wenn sie den Lebewesen laufende Kosten verursachen. Je kürzer diese Phasen sind, desto besser. Wenn uns der angeborene Schlaftrieb dazu zwingt, regelmäßig unsere Aktivität zu unterbrechen, liegt dies daran, daß die Ganglienzellen unseres Ge(Originalbuchseite 194)
hirns solcher Ruhephasen bedürfen. Auch Maschinen und Werkzeuge benötigen entsprechende Pflege und Wartung. Bewirken Umweltbedingungen längere Ruhephasen, etwa bei Saisonbetrieben oder bei Lebewesen, die nur in bestimmten Jahreszeiten erwerbstätig sein können, gibt es zwei Möglichkeiten, die eigenen Reserven nicht allzusehr zu strapazieren: entweder zeitweilige Stillegung oder Umstellung auf andere Aufgaben. Beispiele für die erste Variante sind in der Wirtschaft Saisonbetriebe, die für die Dauer ungünstiger Erwerbsbedingungen ihre Angestellten entlassen und ihre laufenden Kosten auf ein Minimum reduzieren, bei Tieren solche Arten, die einen Winterschlaf halten oder Dauerstadien bilden. Die andere Möglichkeit besteht darin, für längere Zeit funktionslose Organe derart umzustrukturieren, daß sie andere den Organismus fördernde Tätigkeiten verrichten. Das ist etwa der Fall, wenn der Kohlenhändler im Sommer Eiscreme verkauft oder wenn man Maschinen mit Hilfe computergestützter Herstellung auf andere Produktionen umrüstet. Das gleiche Effizienzschema gilt nicht nur für alle Organe – ob sie nun über Zelldifferenzierung oder direkt aus Umweltmaterial gebildet sind –, sondern für sämtliche Lebewesen: Einzeller, Vielzeller, Hyperzeller und Erwerbsorganisationen. Aber dieses »verborgene Gemeinsame«, um mit Goethe zu sprechen, das sich hinter all diesen Lebenserscheinungen verbirgt, äußert sich noch in einem dritten Bereich. Fast alle Organe bestehen ihrerseits aus untergeordneten funktionellen Einheiten. Beispiele dafür sind bei unserem Auge die Linse, die Pupille und der Augenhintergrund, der sich aus einer großen Anzahl lichtempfindlicher Zellen zusammensetzt; auch sie umfassen in einem hierarchischen Aufbau untergeordnete funktionserbringende Einheiten. Bei der Maschinenhalle (Originalbuchseite 195)
eines Großunternehmens ist es nicht anders. Auch hier sind Maschinen und die sie bedienenden Hyperzeller untergeordnete Einheiten, die selbst wieder aus solchen
bestehen. Wie jeder nachprüfen kann, gilt für die Effizienz dieser und ähnlicher Einheiten das gleiche Schema wie für alle selbständig tätigen und sich fortpflanzenden Lebenseinheiten und ihre mannigfachen Organe. All dies, so scheint mir, ist ein eindrucksvoller Beweis für die Behauptung, daß das Lebensgeschehen nicht mit dem Menschen als abgeschlossen betrachtet werden kann, sondern sich in den von ihm gebildeten Leistungskörpern, den Hyperzellern und den Erwerbsorganisationen oder Unternehmen, unmittelbar fortsetzt.
Funktionswandel Ich möchte hier noch kurz auf einige Zusammenhänge hinweisen, die eine große Anzahl von Beweisen für die enge funktionelle Verwandtschaft der Einzeller und Vielzeller mit den Hyperzellern und Erwerbsorganisationen liefern. In den obigen Ausführungen bin ich stillschweigend davon ausgegangen, daß ein Organ nur eine Funktion erbringt. Das ist zwar weitgehend und oft über beträchtliche Zeitspannen hinweg der Fall, doch stützt sich der Evolutionsfortschritt auf Veränderungen der Leistungserbringung von Organen und ihres Zusammenwirkens. Wenn es zu einer solchen Veränderung kommt, müssen die Effizienzwerte neu ermittelt werden, weil dadurch fast immer mannigfache Korrelationen betroffen sind. Somit ist das bisher Gesagte wohl für die zu beurteilende Einzelsituation richtig; es trägt aber nicht dem Gesamtverlauf der Evolution und den Veränderungen von Selektionswerten Rechnung, (Originalbuchseite 196)
wenn es etwa zu Verbesserungen struktureller Merkmale oder von Verhaltenssteuerungen kommt. Da ich auf die Thematik des Funktionswandels in früheren Schriften ausführlich eingegangen bin, begnüge ich mich hier mit einer knappen Darstellung der Zusammenhänge und beschränke mich auf markante Beispiele für die Verwandtschaft sämtlicher Lebewesen einschließlich der Hyperzeller und der Erwerbsorganisationen. Wie der Leser erkennen wird, zeigen auch diese Verwandtschaften deutlich, daß der Mensch nicht augenblicklicher Höhepunkt der Evolution ist, sondern vielmehr all seine Werke in den Gesamtverlauf der Lebensentfaltung gehören (siehe Abb. 5). Ein in der gesamten Evolution außerordentlich wichtiger Vorgang besteht darin, daß Organe fähig werden, zu ihrer ursprünglichen Funktion weitere hinzuzunehmen, was ich als Funktionserweiterung bezeichnet habe (Abb. 5A). Ein Beispiel dafür sind die Wurzeln der Landpflanzen, die in primärer Funktion dem Erwerb von Wasser und Nährsalzen dienen, bei höher wachsenden Arten jedoch die zusätzliche Funktion der Stützung und der Verankerung wahrnehmen und entsprechend stärker dimensioniert sind. Beim Auto hatte das Kühlwasser zunächst die Funktion der Kühlung des Motors und wurde später, in weiterer Funktion, für die Erwärmung des Wageninneren
verwendet. Bei den auf dem Meeresboden festsitzenden Röhrenwürmern wurden die fächerartig ausgebreiteten, gefiederten Kiemen überdies zu Organen des Nahrungserwerbs. Wie ein Netz fangen sie herabsinkende organische Teilchen auf, die dann über Wimpernbewegungen der Mundöffnung zugeführt werden. Viele Werkzeuge und Maschinen werden heute so hergestellt, daß sie durch Auswechseln von Teilen oder durch eine andere Software für ihre (Originalbuchseite 197)
Steuerung mehr als eine benötigte Funktion erbringen können. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für eine Folge von Funktionserweiterungen ist der Blutkreislauf der Wirbeltiere. Ursprünglich versorgte er sämtliche Zellen mit den nötigen Nährstoffen. Im Verlauf der evolutionären Entwicklung übernahm er dann auch den Abtransport der auftretenden Stoffwechselschlacken und den Gastransport für die Atmung, wurde zum »Postweg« für die Hormone, zum Verkehrsweg für die als »innere Polizei« fungierenden weißen Blutkörperchen und Antikörper, bei den Warmblütern außerdem zur Trägerflüssigkeit einer »Zentralheizung«, und bei manchen Arten bedient er die Schwellkörper der Genitalorgane. Daß in der Regel für jede neue Funktion zusätzliche Einrichtungen notwendig sind – etwa zur Ausscheidung der Stoffwechselschlacken die Nieren und zum An- und Abtransport der Gase die Lunge –, ist dabei hervorzuheben. Dies kommt den Organismus indes wesentlich billiger zu stehen und ist über Mutation und Selektion weit eher zu erreichen als ein eigenes Zuführungs- und Abtransportsystem, wie es sich beispielsweise für Gase bei den Insekten ausgebildet hat (die Tracheen). Bei Hyperzellern und Erwerbsorganisationen ist ein vergleichbares Beispiel die über Drahtleitungen erfolgende Zufuhr von Elektrizität zu Fabriken. Dort dient sie in ursprünglicher Funktion der Erzeugung von Licht und dem Antrieb von Maschinen, kann jedoch, wenn sie erst einmal installiert ist, auch andere Leistungen erbringen, zum Beispiel den Betrieb von Lautsprechern und Radios, von Heizplatten und elektrischen Fönen für die Mitarbeiter und vieles andere mehr. Ebensowenig, wie sich für den Hormontransport oder die Schwellkörper der Genitalorgane ein eigenes Leitungssystem »ausgezahlt« hätte, hätten die Heizplatten und die Föne der Mitarbeiter für sich (Originalbuchseite 198)
(Originalbuchseite 199)
Abb. 5: Die sechs wichtigsten Möglichkeiten für den Funktionswandel von Organen. Die Organe (O) sind als Dreiecke dargestellt, ihre Funktionen als Pfeile, die von der Spitze ausgehen (a–x). A: Funktionserweiterung. Das Organ O1 leistet bloß eine Funktion (a), wird dann noch zu einer zweiten (b) und zu weiteren Funktionen fähig (O3a–e). B: Funktionsteilung. Durch Hinzunahme immer zahlreicherer Funktionen kann es so, indem die Funktionen sich gegenseitig behindern und stören, zur Funktionsüberbürdung kommen. Die funktionelle Lösung ist die Funktionsteilung. In der Abbildung übernimmt O4 die Funktionen a, b, d, O5 die Funktionen c und e. Dieser Vorgang ist mit der Differenzierung identisch, die bei allen komplexeren Lebewesen, besonders bei Vielzellern und Erwerbsorganisationen, deutlich in Erscheinung tritt. Es ergibt sich so eine wachsende Arbeitsteilung. C: Funktionswechsel. Ebenso wie bei A übernimmt ein Organ (O6) eine weitere Funktion (O7b). Diese wird nun zur Hauptfunktion, während die ursprüngliche Funktion sich zumeist völlig rückbildet. Auf diesem Umweg kamen in sämtlichen vier Gruppen von Lebewesen (Einzeller, Vielzeller, Hyperzeller, Erwerbsorganisationen) neue Funktionen zustande, die über Mutationen und Rekombinationen oft nicht erreichbar gewesen wären. D: Funktionspartnerschaft (Symbiose). Die beiden Organe O9 und O10 verbinden sich zu einer Partnerschaft (O11); jedes gewinnt durch den Partner Vorteile. E, F: Mehrere Organe (O12 bis Ox) verbinden sich zu einem größeren Organ. Verfügen die sich so zusammenschließenden Organe über die gleichen Funktionen, sprechen wir von Funktionszusammenlegung (E), verbinden sich solche mit verschiedenen Funktionen zu einem Organ mit neuer Fähigkeit, sprechen wir von Funktionsbündelung (F).
Hervorzuheben ist, daß diese überall für weitere Fortschritte der Evolution wichtigen Vorgänge als deutliche Hinweise auf die Einheit der Lebensentwicklung anzusehen sind. (Originalbuchseite 200)
genommen den Aufwand der Zuleitung von Elektrizität gerechtfertigt. Doch da unter starkem Selektionsdruck für wichtige Leistungen solche Verteilungssysteme nun einmal entstanden waren, konnten sie dann auch andere Funktionen mit verrichten. Eine derartige Funktionserweiterung von Organen wird vor allem über die Entstehung neuer Verhaltenssteuerungen möglich, worauf ich an früherer Stelle bereits eingegangen bin. Zwei Paradebeispiele dafür sind zum einen, im Bereich der Vielzeller, die menschliche Hand, die über zusätzliche Bewegungssteuerungen tausend verschiedene Funktionen erfüllen kann, zum anderen, im Bereich der Hyperzeller, der Mensch selbst, der im Gewerbe und in Unternehmen eine wahrscheinlich noch größere Anzahl von Funktionen ausübt. Funktionserweiterungen können allerdings auch zu einer Funktionsüberbürdung führen, die den Selektionswert mindert. Je mehr Funktionen ein Organ verrichtet, um so größer wird die Gefahr, daß die Funktionen sich gegenseitig stören oder ihre Präzision verringert wird. Das zeitigt namentlich bei den Vielzellern, aber auch bei Hyperzellern und Erwerbsorganisationen eine Funktionsteilung, was eine immer weiter gehende Differenzierung und Arbeitsteilung bedeutet (Abb. 5B). Dieser Vorgang ist so gut bekannt, daß ich wohl keine Beispiele dafür anführen muß. Wesentlich ist, daß hier ein weiterer gesetzmäßiger evolutionärer Vorgang abläuft, der natürliche und zusätzliche Organe gleichermaßen betrifft. Er führt in allen vier großen Gruppen von Lebewesen (Einzeller, Vielzeller, Hyperzeller, Erwerbsorganisationen) zu erheblichen Verbesserungen der Selektionswerte. Über den Weg der Funktionserweiterung kann es noch zu einem anderen bedeutsamen Fortschritt kommen: zum Funktionswechsel (Abb. 5C). Sowohl bei Tie(Originalbuchseite 201)
ren und Pflanzen als auch in der menschlichen Technik und Organisation ist es häufig geschehen, daß eine später hinzugetretene Funktion zur Hauptfunktion wurde, ja die ursprüngliche Funktion sich völlig rückbildete. So wurde etwa aus der Legeröhre mancher Insekten ein Giftstachel, und aus dem unpaaren Scheitelauge der Reptilien entwickelte sich bei den Säugetieren die den Tag-Nacht-Rhythmus steuernde Zirbeldrüse. Und beim Menschen? Nun, manche Knöpfe an Kleidern dienen schon lange nicht mehr dem Verschluß, sondern der Zierde. Das im Auto verwendete Differentialgetriebe war eigentlich für Webmaschinen erfunden worden. Bei den Pflanzen entwic kelten sich aus den Blättern Ranken und Dornen, die Fangapparate der Kannengewächse sowie die Staubgefäße und Stempel der Blüten. Goethe, der dies entdeckte, schrieb im Mai 1788 an Herder: »Vorwärts und rückwärts ist die Pflanze nur Blatt.« Die Urfische vermochten nicht über Mutationen und Rekombinationen eine
Schwimmblase zu bilden, ein zur Tarierung des Auftriebs überaus wichtiges Organ. Nachkommen von ihnen drangen an Land vor, wo ihre Kiemen vertrockneten und funktionsunfähig wurden. Die reichdurchblutete Haut des Gaumendaches übernahm, wenn auch zunächst nur mangelhaft, den nötigen Gasaustausch; sie konnte nun sehr wohl über Mutationen und Rekombinationen durch Faltenbildung die Oberfläche vergrößern und das Zustandekommen einer blasenförmigen Bildung bewirken, aus der sich dann die spätere Lunge der Landwirbeltiere entwickelte. Einige Urfische oder Uramphibien, wie immer wir diese Übergangsstadien nennen wollen, kehrten mit diesen Blasen ins Meer zurück und verwendeten sie dort als Schwimmblase. Dies ergab einen so großen Selektionsvorteil, daß die nun entstehenden neuen Arten, die über ein solches Tarie(Originalbuchseite 202)
rungsorgan verfügten – sämtliche heutigen Knochenfische –, die Urfische verdrängten. Nur wenige Gruppen, so die Haie und die Rochen, konnten sich ohne Schwimmblase bis heute behaupten. Bei den Urvorfahren der Haie wuchsen die Körperschuppen am Rand ihres Mauls länger aus und wurden, auch wieder durch Funktionswechsel, zu Zähnen. Bei den das Land erobernden Nachkommen wurden dann die Körperschuppen allmählich rückgebildet, während die Zähne blieben. Beim menschlichen Embryo werden die Zähne noch genauso angelegt wie die Plakoidschuppen der Haie, desgleichen die einstigen Kiemenspalten der Urfische, die, an Land nutzlos, rückgebildet wurden, wobei sich, wie schon früher angeführt, aus Rudimenten der Kiemenbogen Gehörknöchelchen entwickelten. Eine wieder andere Form des Funktionswandels ist die Funktionspartnerschaft, mit der überflüssige Kosten eingespart werden und jeder der Partner durch den anderen Vorteile erlangt (Abb. 5D). Wenn verschiedene Organe innerhalb eines Lebewesens die gleiche Funktion ausüben, kann die Funktionszusammenlegung in ein größeres gemeinsames Organ den Konkurrenzwert erhöhen (Abb. 5E). Bei Wirtschaftsunternehmen ist das fast eine Selbstverständlichkeit, wie etwa eine zentrale Reparaturwerkstatt, ein gemeinsamer Fuhrpark und andere Zusammenlegungen zeigen. Bei den Vielzellern war dies, wie bereits dargelegt, nur sehr eingeschränkt möglich, weil das hochorganisierte Baumaterial Zelle es nicht zuließ, daß mit den bescheidenen Mitteln von Mutation und Rekombination derart rigorose Veränderungen erfolgten. Andererseits hat bekanntlich auch Dezentralisierung bei manchen Funktionen erhebliche Vorteile. Eine weitere Möglichkeit zur Leistungssteigerung besteht darin, daß mehrere Organe mit verschiedenen (Originalbuchseite 203)
Funktionen sich zu einer größeren Einheit verbinden und so ein Organ mit neuen Fähigkeiten entsteht (Abb. 5F). Das ist es wohl – so nehme ich an –, was Konrad Lorenz als »Fulguration« bezeichnete. Ich habe in früheren Schriften diesen Funktionswandel Funktionsbündelung genannt. Auch Hakens »synergetischer Effekt«
ist vermutlich hier einzureihen. Anzumerken bleibt noch, daß wie beim Effizienzschema die gleichen gesetzmäßigen Zusammenhänge nicht nur für sämtliche Organe, sondern für sämtliche Lebewesen gelten. Zwei Beispiele mögen genügen. So spielen, wie wir sahen, die den Funktionspartnerschaften analogen Symbiosen bei Ein- und Vielzellern eine ebenso wichtige Rolle wie bei Großunternehmen und Konzernen, wenn sie fusionieren. Über einen der Funktionsbündelung analogen Vorgang entstanden aus Homo Proteus die Hyperzeller und die Erwerbsorganisationen wie etwa das Volkswagenwerk und die USA. Nicht zuletzt benötigen die allermeisten Organe zu ihrer Funktion entsprechende Steuerungen. Auch diese müssen aufgebaut werden und weisen Phasen der Tätigkeit, Ruhe und allfälliger Veränderung auf. Die drei Effizienzkriterien (Kosten, Präzision, Zeitaufwand) liefern auch hier den Selektionswert beeinflussende Daten. Daß die Steuerungen von den gesteuerten Organen meist getrennt sind, spielt keinerlei Rolle. Arme und Beine bzw. zusätzliche Organe nützen uns wenig, wenn sie nicht entsprechend gesteuert werden. Im gesamten Lebensbereich sind deshalb auch alle die Steuerungen betreffenden Werte des Effizienzschemas maßgebend für den Selektionswert und die Konkurrenzfähigkeit – ein weiterer Beweis dafür, daß somatische Organe und die »Werke« des Menschen als Bestandteil ein- und desselben Entfaltungsstromes angesehen werden müssen.
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(Originalbuchseite 204)
7 Besonderheiten des Menschen
Wenden wir uns als erstes jener Besonderheit zu, die uns Menschen am stärksten von den Tieren, aus deren großem Kreis wir hervorgegangen sind, unterscheidet. Es ist die Verfeinerung und Differenzierung unserer Lebensformen, unsere Kultur im weitesten Sinne des Wortes, das Streben des Menschen nach ethischen und ästhetischen Werten, nach Recht und Ordnung, nach Annehmlichkeit und Luxus. Bereits höherentwickelte Säugetiere, etwa die Löwen, führen uns vor Augen, wie ihr Alltag in zwei Bereiche zerfällt: einen Erwerbsbereich, der auf die Jagd nach Beute ausgerichtet ist, und einen zweiten, bei dem die Bezeichnung »Privatleben« zwar nicht üblich, aber trotzdem deutlich anwendbar ist. Die Löwenfamilie liegt dann gesättigt und sichtlich zufrieden an einem Platz, der einen guten Überblick nach allen Seiten gestattet – denn auch Löwen müssen vor Gefahren auf der Hut sein. Die Jungen spielen und balgen miteinander, wobei sie auch die Eltern einbeziehen. Diese wiederum liebkosen einander in Muße, ruhen sich aus, dehnen und strecken sich genüßlich. Alle sind deutlich erkennbar mit sich und ihrer Situation zufrieden. Als sich bei Homo Proteus die geistige Entwicklung so weit gesteigert hatte, daß er wie auf einem inneren Projektionsschirm Erlebnisse wiederaufleben lassen, miteinander vergleichen und Schlußfolgerungen daraus ziehen konnte; als er fähig wurde, in der Zusammenschau seiner Vorstellungen und Gedanken auch Ursachen und Wirkungen, die zeitlich und räumlich weit voneinander entfernt lagen, zueinander in Bezie-
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hung zu setzen, führte das nicht nur zur zielgerichteten Bildung zusätzlicher Organe, die seine Leistungsfähigkeit steigerten, sondern außerdem zu einer weiteren, sich auf seine Lebensgestaltung deutlich auswirkenden Tendenz. Früher oder später mußte er meines Erachtens auch zu der Erkenntnis gelangen, daß manche seiner Tätigkeiten und Situationen zu angenehmen Innenerlebnissen führten, während andere sich mit unangenehmen verbanden. Nichts erscheint mir deshalb naheliegender und selbstverständlicher, als daß dieser zielhafte Verbesserer seines Körpers auch dahin gelangte, sein Verhalten und seine Organbildung so auszurichten, daß die ihm angenehmen Innenerlebnisse nach Möglichkeit gesteigert, die von ihm als unangenehm empfundenen nach Möglichkeit vermindert wurden. Nachdem ihn sein Erfolg Konkurrenten gegenüber überlegen machte und die gewonnenen Überschüsse ihm zu Zeiten der Muße verhalfen, brachte er damit eine neue Grundausrichtung in die Welt: Er wurde zu einem »Glückssucher« par excellence.
Das angeborene Erbe Hier ist es zweckmäßig, sich die Ergebnisse der vergleichenden Verhaltensforschung in Erinnerung zu rufen, die sich eingehend mit der Frage beschäftigten, wie die angeborenen Instinktsteuerungen beschaffen sind, denen die Tiere ihre Leistungen verdanken, und welche funktionelle Bedeutung den Lust- und Unlustempfindungen zukommt. Im Alltagsleben hält man es für selbstverständlich, daß uns manches angenehme, anderes wieder unangenehme Empfindungen verursacht. Und da die meisten Menschen den Vergleich mit Tieren als unwürdig empfinden, betrachten sie es (Originalbuchseite 206)
als eher abwegig, unsere Innenerlebnisse mit der Evolution unserer Vorfahren in Verbindung zu bringen. Aber gerade aus dieser Vorgeschichte lassen sich wertvolle Einsichten in die Motive unserer Willensbildung und unserer Zielsetzungen gewinnen. Damit ein Tier etwa an seine Energie- und Stoffquelle, also seine Nahrung, gelangen kann, sind drei deutlich verschiedene Leistungen seines Zentralnervensystems, insbesondere seines Gehirns, nötig. Erstens müssen die Tiere ihre Beute an bestimmten, möglichst unverwechselbaren Merkmalen erkennen, die man als Schlüsselreize bezeichnet. Zweitens müssen sie über angeborene Verhaltenssteuerungen verfügen, die bei Aufspüren von Beute den Muskeln die notwendigen Befehle erteilen, damit das Tier an die Beute gelangt, sie überwältigt und sich ganz oder teilweise einverleibt. Und drittens muß eine weitere Gehirnstruktur darauf spezialisiert sein, das Tier, wenn es nicht auf einen Schlüsselreiz trifft, zur aktiven Suche nach einem solchen zu veranlassen. Dieser motivierende Mechanismus, der als Trieb bezeichnet wird, arbeitet so, daß Unlustempfindungen in Gestalt von Hunger in Erscheinung treten, die sich um so mehr verstärken, je länger Beute ausbleibt. Sobald aber das Tier an Beute gelangt und sie frißt, werden ihm als angenehm empfundene Geschmackserlebnisse und Sättigungsgefühle zuteil. Ähnlich verhält es sich bei den meisten Instinkthandlungen. Beim Sicherheitstrieb der Tiere geht es darum, Feinde und sonstige Gefahren rechtzeitig zu erkennen und ihnen zu entkommen. Auch hier bewirken Schlüsselreize, die Gefahren anzeigen, unlustvolle Gefühle der Angst. Entgeht das Tier der Gefahr, findet es ein schützendes Versteck, dann überkommen es lustvolle Beruhigung und Erleichterung. Besonders starke Unlustgefühle vermittelt der Sexualtrieb, wenn
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das Tier in seiner Paarungszeit nicht auf einen passenden Partner trifft. Dagegen erfährt es intensive Lustgefühle, wenn der Paarungsakt gelingt. Da wir mit Tieren nicht sprechen können, läßt sich nicht einwandfrei nachweisen, daß unsere menschlichen Innenerlebnisse jenen der höheren Wirbeltiere ähnlich sind. Doch aufgrund der engen Verwandtschaft und offensichtlicher Übereinstimmungen in ihrem Verhalten, das besonders bei Haustieren gut zu beobachten ist, gibt es daran kaum einen berechtigten Zweifel. Während somit bei den Tieren die positiven und die negativen Innenerlebnisse ein Mittel zum Zweck sind (ohne das der motivierende Instinktmechanismus gar nicht funktionieren könnte), gelangten Homo Proteus und seine Nachfolger geradezu zwangsläufig dahin, das Mittel zum Zweck zu erheben. Indem sie ihr Leben so ausrichteten, daß sie die positiven Innenerlebnisse kultivierten, ja nach Möglichkeit steigerten und mit anderen kombinierten, machten sie aus einem Werkzeug ein Ziel. Mit Hilfe zusätzlicher Organe gestalteten sie ihr Leben derart, daß sie ein Optimum lustspendender Gefühle anstrebten und es darauf anlegten, daß die unangenehmen Empfindungen nach Möglichkeit von ihnen abgehalten oder minimiert wurden. Es kam so zu einer regelrechten Umpolung, wie es bis dahin in der Evolution keine vergleichbare gegeben hatte, einer Umpolung, welche die weitere Lebensentfaltung und die Artenbildung entscheidend bestimmte.
Die Luxusstrukturen des Menschen Bei allen Einzellern und Vielzellern werden sämtliche erzielten Überschüsse stets in Nachkommen investiert. Bei den Hyperzellern, die der Mensch aufbaut, (Originalbuchseite 208)
ist dies dagegen nicht der Fall. Ein beträchtlicher Anteil der von ihnen erwirtschafteten Gewinne fließt in andere Kanäle, die dem Annehmlichkeitsstreben der sie steuernden Einheit Mensch dienen. Wenn ich hier das Wort Luxus, dem ein abwertender Beigeschmack anhaftet, verwende, dann möge das nicht mißverstanden werden. Aus der Sicht der Evolution sind alle mit diesem Phänomen zusammenhängenden zusätzlichen Organbildungen und Verhaltensweisen insofern ein Luxus, als sie Energie kosten, jedoch für die Überlebensfähigkeit und die Effizienz der Lebewesen nicht maßgebend oder förderlich sind. Gehen wir also dieser kuriosen Entwicklung etwas genauer nach. Bis zum Erscheinen des Menschen hatten die Organismen keinerlei Freiheit bezüglich ihrer erwirtschafteten Überschüsse. Sie konnten sie außer zu einem klar begrenzten Größenwachstum nur zur Fortpflanzung, und zwar zur artgleichen, verwenden. Tannen bringen weitere Tannen hervor, Bienen nur weitere Bienen, Krebse nur wieder ebensolche Krebse. Mir ist nicht ein Autor bekannt, der auf den negativen Aspekt dieses durch die genetische Mechanik erzwungenen Vorgangs näher hingewiesen hätte. Die berechtigte Bewunderung der Lebewesen und ihrer Leistungen ließ solche kritischen Gedanken wohl gar nicht aufkommen. Dabei ist leicht einzusehen, wie nachteilig dieser Fortpflanzungsmodus für die gesamte Lebensentwicklung gewesen ist. Wurden die Lebensbedingungen für eine Tier- oder Pflanzenart sehr schlecht, während für eine andere Art von Lebewesen die Bedingungen günstig gewesen wären, dann war sie trotzdem gezwungen, ihre immer spärlicheren Erträge zur Bildung weiterer Individuen ihrer Art zu verwenden. Der Fortpflanzungsmechanismus ließ es nicht zu, grundsätzlich andere Lebewesen zu produzieren. Erst Homo Proteus sprengte gleichsam die Fesseln. Die (Originalbuchseite 209)
von ihm gebildeten Hyperzeller, die aus seinem somatischen, also aus Zellen bestehenden Körper nebst einer wachsenden Anzahl zusätzlicher Organe bestanden, waren nicht mehr gezwungen, artgleiche Nachkommen zu erzeugen. Der Zellkörper pflanzte sich zwar auch weiterhin über die genetische Mechanik artgleich fort, aber die zusätzlichen Organe waren ihm nicht aufgezwungen! Er konnte verschiedenartige Hyperzeller bilden, die über sehr unterschiedliche Leistungen an Überschüsse gelangten. Nach diesem Schema verlief dann die weitere Entwicklung. Der Sohn eines Schmieds kann durchaus Ingenieur werden oder Polizist oder Baumeister. Er kann sich in äußerst verschiedene Arten von Erwerbstätigkeit als neues Individuum einreihen, und wenn der von ihm gebildete Hyperzeller keinen Erfolg hat, kann er den Beruf wechseln. Der Hyperzeller vermag seine Ausstattung an zusätzlichen Organen zu verändern, sich auf eine andere Produktion oder Dienstleistung auszurichten und sich dort in den Konkurrenzkampf einzureihen. Er kann sogar neue Arten von Hyperzellern ersinnen und erproben! Und was seine Kinder betrifft, so setzt sich dieser Vorgang fort. Sie können seinen Beruf oder seinen Betrieb übernehmen oder aber sich für völlig andere Erwerbsmöglichkeiten entscheiden. Das ist bereits ein ungeheurer Unterschied, den die Hyperzeller ihrem Zentrum und dessen Fähigkeiten verdanken: die schöpferische Freiheit, erzielte Überschüsse dorthin zu lenken, wo sie der Lebensentfaltung am besten dienen. Es eröffnete sich jedoch eine weitere ungewöhnliche Möglichkeit: Das steuernde Zentrum Mensch braucht erwirtschaftete Überschüsse gar nicht in weitere Erwerbstätigkeit zu investieren. Dank seines Ichbewußtseins, seiner Intelligenz und seiner Vielseitigkeit kann es diese auch dazu verwenden, seine individuelle Annehmlichkeit (Originalbuchseite 210)
zu steigern, sich Lustgefühle der verschiedensten Art zu
verschaffen. Als ich erstmals – irgendwo in einem Korallenriff – mit meinen Gedanken auf diesen Zusammenhang stieß, war meine erste Reaktion die Frage: Wie kann die natürliche Auslese eine solche Abweichung vom gewohnten Weg bloß zulassen? Wälzt sich ein Löwe genüßlich im Gras oder vollführen Mantarochen aus reinem Vergnügen Kapriolen, dann läßt sich das als Epiphänomen ihrer Triebausstattung erklären. Doch wenn das Zentrum eines erfolgreichen Hyperzellers Millionenbeträge, die ein enormes Energievolumen darstellen, zum Kauf einer Luxusvilla, einer Rennjacht oder eines kostbaren Schmuckstücks aufwendet, dann ist das doch für den Selektionswert dieses Individuums ein eindeutiger Verlust! Damals beruhigte ich mich mit dem Argument: Wenn der Hyperzeller darüber nicht zugrunde geht, »bemerkt« es die natürliche Auslese überhaupt nicht. Immerhin erschien mir der Mensch nun plötzlich als eine Art von Parasit, der die eigenen lustspendenden Mechanismen ausbeutet. Erst viel später sollte mir klarwerden, daß auch dieses Phänomen den Rahmen der Evolution keineswegs sprengt, sondern vielmehr ihren Fortschritt machtvoll unterstützt. Doch betrachten wir erst einige Beispiele für die praktischen Auswirkungen dieser Umpolung. Wie der uns angeborene Nahrungstrieb sich als Lustspender auswirkte, ist allgemein bekannt. Durch Kochen, Braten, Würzen und raffinierte Zubereitung werden Teile von Pflanzen und Tieren für den Gaumen schmackhafter gemacht. Dies wurde zur Erwerbsbasis nicht nur der als Köche und Restaurationsbetriebe bezeichneten Hyperzeller, sondern auch all jener, die Kücheneinrichtungen, Eiskästen und sonstige Hilfsmittel zur Erzeugung gastronomi(Originalbuchseite 211)
scher Produkte herstellen. Sowohl Tiere als auch der Mensch sprechen besonders auf süße Nahrung an, weil Zucker leicht erschließbare Energie liefert. Die entsprechend starken Lustgefühle, die zuckerhaltige Speisen vermitteln, führten einerseits zum Entstehen der überall beliebten Konditoreien und andererseits zum Bedarf an Praktiken und Mitteln zur Gewichtsabnahme, auf die wieder ganz andere Hyperzeller und Industrien spezialisiert sind. Der Bedarf an dem so lebenswichtigen Wasser führte zu einer riesigen Industrie, die schmackhafte Getränke herstellt, zu zahlreichen Unternehmen, die Flaschen als Behälter dafür liefern, und zu Betrieben, die Transport, Vertrieb und Verkauf an die Durstigen bewerkstelligen. Nicht minder umfangreiche Industrien bieten dem Menschen alkoholische Getränke an, die dessen Stimmung verbessern und deshalb besonders geschätzt sind. Die vom Menschen benötigte Atemluft wird dazu verwendet, nikotinhaltige, stimulierende Gifte dem Körper zuzuführen; in vielen Ländern hat der Staat ein Monopol auf den Vertrieb von Tabak, was zwar der Staatskasse zugute kommt, die Gesundheit der Bürger indes nicht eben fördert. Und was läßt sich der Mensch die Behebung von Angstgefühlen kosten! Bei den Tieren steht der ihnen angeborene Trieb nach Sicherheit jenem nach Nahrung in seiner praktischen Bedeutung kaum nach. Denn Energie- und Stofferwerb nutzen wenig, wenn der Erwerbende einige Augenblicke später selbst zur Energie- und Stoffquelle eines anderen Lebewesens wird. Bei den Hyperzellern ist es so, daß sie sich weniger durch Flucht und Verstecken als durch Waffen, Mauern und verschließbare Türen schützen. Ein Heer von Gewerbetreibenden und Unternehmen lebt davon, diese Schutzorgane zu erzeugen. Vor allem aber schützt die Bürger das kostspielige Gemein(Originalbuchseite 212)
schaftsorgan Staat, das von ihnen durch Steuern unterhalten wird. Weitere Hilfsmittel des Schutzes, die beträchtliche Lustgefühle der Sicherheit vermitteln und Angstgefühle vermindern, sind die heute über die ganze Welt verbreiteten, florierenden Versicherungsanstalten, die vor Verlust schützen, indem sie Schäden ersetzen, und die Pensionskassen, welche die Angst vor Armut im Alter beseitigen. Die vom Sexualtrieb bedingten Auswirkungen auf das Leben des Menschen und die Kosten, die er direkt oder indirekt verursacht, sind geradezu unabsehbar. Bei den Tieren ist dieser Trieb auf eine relativ kurze Brunstzeit beschränkt, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil die durch ihn abgelenkten Partner leicht Raubfeinden zum Opfer fallen. Daß der erwachsene Mensch das ganze Jahr hindurch und bis ins Alter den Einflüssen dieses Triebs unterworfen bleibt, erklärt man so, daß beim Urmenschen ein starker Selektionsdruck vorhanden war, den Mann an die Frau und die Kinder, die seiner Fürsorge und seines Schutzes bedurften, zu binden. Der Sexualtrieb wurde demnach in zusätzlicher Funktion zu einem Bindemechanismus, indem er den Mann an die Partnerin, mit der er diese Lustgefühle teilte, band. Heute freilich bewirkt dieser Trieb längst nicht mehr in erster Linie die festere Bindung der Ehepartner, sondern führt im Gegenteil nicht selten dazu, daß an sich gute Ehen wegen Verletzung der Bindung geschieden werden. Auf jeden Fall kommt er durch seine positiven und negativen Begleiterscheinungen den nach Glücksgefühlen suchenden Menschen teuer zu stehen. Dazu trägt nicht zuletzt das Imponierverhalten bei, das in engem Zusammenhang mit der Partnerfindung steht. Schließlich der Brutpflegetrieb, den wir ebenfalls ganz offensichtlich mit den höheren Wirbeltieren (Säugetieren und Vögeln) gemein haben: wie viele (Originalbuchseite 213)
Berufsanstrengungen dienen dem Ziel, den Fortsetzern des eigenen Ichs, den Kindern, Freude und eine erfolgreiche Zukunft zu bescheren! In der Wohlstandsgesellschaft freilich zeigt auch diese uns angeborene Motivation schon häufig ein Zuviel an Aufwand – ein Thema, auf das wir später noch zu sprechen kommen. Wer heute daran zweifelt, daß angeborene Verhaltensweisen uns mit den uns am nächsten verwandten Tieren verbinden, sollte durch die offensichtliche Übereinstimmung dieser unser Leben so deutlich beeinflussenden Mechanismen und ihrer Lust-UnlustSteuerungen eines Besseren belehrt werden. Für den Menschen wurden die fraglos erbbedingten Triebmechanismen jedenfalls ein wesentlicher Zielpunkt seiner Ausrichtung, seiner Kultur. Wenn Schopenhauer den Intellekt als »den Diener der Begierden« bezeichnete, dann klingt das abfällig; wenn wir aber sagen, daß beim Menschen der Intellekt auch sehr wesentlich zum Diener der Suche nach Glücksgefühlen und Freude wurde, dann ist an dieser Aussage wohl kaum etwas auszusetzen. So kurios und kostspielig aus evolutionärer Sicht die Umpolung sein mag: Sie lenkt ohne Zweifel sehr weitgehend unser Streben und stellt gleichzeitig eine beträchtliche Hypothek für die Hyperzeller dar. Hier zeigt sich bereits ein deutlicher Unterschied zwischen der gewohnten Einschätzung unserer Lage und jener, die sich aus evolutionärer Sicht ergibt. Die Entwicklung der Hyperzeller und der Erwerbsorganisationen stellt eine eindeutige Fortsetzung jener der Einzeller und der Vielzeller dar: Hier wie dort ist zwangsläufig der Energiegewinn eine überaus wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste Funktion. Hier wie dort verwandeln entsprechend strukturierte Organe Rohenergie in lebensnotwendige Leistungen. Hier wie dort erklären sich die Gestalt und das Verhal-
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ten der Lebenskörper aus Grundleistungen, die erfüllt werden müssen. Hier wie dort lenkt die natürliche Auslese des jeweils Bestgeeigneten den Weg der Artenbildung, wobei es sich sehr wohl versteht, daß bei Lebenskörpern, deren Teile nicht fest miteinander verwachsen sind, die Anpassung an die Umweltbedingungen eine wesentlich größere Variabilität ermöglicht, die auch der natürlichen Auslese gegenüber ein erheblicher Vorteil ist. Diese Übereinstimmungen, denen ich bereits andere hinzufügte, könnten durch sehr viele weitere ergänzt werden. Während hier somit eine klare Entwicklungslinie vorliegt, stellt das Ausufern des »Privatlebens« des zum Organ werdenden Menschen eine deutliche Abweichung vom vorangehenden Evolutionsverlauf dar. Wie ich noch zeigen werde, ist dieser »Abweg« im Grunde gar keiner, sondern vielmehr ein Weg, welcher der Evolution machtvoll dient. Hier sei zunächst nur hervorgehoben, wie radikal unsere Einschätzung von unserem eigenen Leben sich von unserer tatsächlichen Stellung im Evolutionsgeschehen abhebt. Denn für die meisten Menschen ist das Privatleben die Hauptsache, die Berufstätigkeit lediglich ein Mittel zum Zweck. Die nicht mit dem Zellkörper verwachsenen zusätzlichen Organe führen jedoch dazu, daß der Mensch selbst nicht an sie gebunden ist und sich von ihnen entfernen kann. So wurde aus seiner Sicht sein Heim zum selbstverständlichen Zentrum seines Lebens; von hier aus geht er zu seinem Arbeitsplatz. Aus der Sicht der Evolution dagegen ist er ein integraler Bestandteil größerer Lebenskörper, die er allerdings, da er mit diesen nicht fest verbunden ist, auch zu verlassen vermag. Um es ganz klar zu formulieren: Das Organ eines Lebewesens kann für einige Zeit, manchmal sogar für immer den Leistungskörper verlassen, dem es angehört und für den es
spezialisierte Leistun(Originalbuchseite 215)
gen erbringt. Wenn der Mensch diese Abwesenheit, dieses Privatleben als das zentrale Anliegen seines Lebens betrachtet, bedeutet das einen grundsätzlichen Unterschied zu seiner naturgegebenen Stellung als Hersteller und Lenker von Hyperzellern, die als Besonderheit innerhalb der Evolution eingestuft werden muß.
Der Neugiertrieb In Sankt Christoph am Arlberg filmte ich unbemerkt und in starker Zeitraffung Skiläufer, die sich beim Skilift anstellten und hinaufgezogen wurden, dann die Hänge herunterfuhren, sich abermals anstellten und bald wieder den Hang herunterkamen. Als ich später die Aufnahmen betrachtete, fragte ich mich: Wie würde ein Beobachter aus dem Weltraum diesen Vorgang interpretieren? Wahrscheinlich würde er sich fragen, welches Ziel die Anstrengung verfolgte. Nahrungserwerb war es bestimmt nicht, denn Nahrung gab es nirgends auf diesen schneebedeckten Bergen. Zur Paarung versammelten sich die Eifrigen, die so viel Energie für ihre Tätigkeit aufwandten, ebenfalls nicht. Bei der Akropolis filmte ich Schwärme von Touristen, die dort hinaufpilgerten und quer durch die verfallenen Säulengänge fluteten. Auch hier würde der Gast aus dem Weltraum, der das Lebensgeschehen auf unserem Planeten studierte, eher ratlos sein. Wozu dieser Eifer, dieser Aufwand? Bei den Tieren ließ sich nach einiger Beobachtung erkennen, was ihre verschiedenen Verhaltensweisen bedeuten. Bei den Akropolisbesuchern und noch mehr bei den Skifahrern ging es offenbar darum, irgendwie erworbene Energie loszuwerden, sie ohne erkennbaren Nutzen zu verbrauchen.
Der beim Menschen besonders stark ausgeprägte (Originalbuchseite 216)
Spiel- und Neugiertrieb leitet sich aus jenem ab, den die Jungen aller höheren Wirbeltiere zeigen. Sie kommen nicht »lebensfertig« zur Welt. Vor allem sind bei ihnen die motorischen Instinktsteuerungen rückgebildet. Über den Weg der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt bauen sie selbst die für ihr weiteres Leben notwendigen Verhaltenssteuerungen im Gehirn auf. Das erfolgt über aktives Erproben, Lernen und Üben (Explorierverhalten) und ist insofern ein wichtiger evolutionärer Fortschritt, als diese Tiere im weiteren Leben nicht so maschinenhaft agieren und reagieren wie etwa die Insekten, sondern sich verändernden Umweltverhältnissen weit besser anpassen können. Voraussetzung dafür ist allerdings ein bei den Eltern sich parallel entwickelnder Brutpflegetrieb, der sicherstellt, daß die Jungen in dieser Periode der Hilflosigkeit vor Raubfeinden geschützt, ernährt, betreut und in ihren als Spiel bezeichneten Versuchen angeregt werden. Beim Menschen wird das Kind besonders früh in die Welt gesetzt, was sich unter anderem durch die Aufrichtung des Körpers, die damit verbundene Verengung des Beckens und Schwierigkeiten bei der Geburt erklärt. Dies macht eine entsprechend lange Phase der Betreuung durch die Eltern erforderlich. Während bei den Tieren der Neugiertrieb – wie wir ihn nun vereinfacht nennen wollen – mit der Geschlechtsreife erlischt, bleibt bei uns Menschen der Trieb, uns spielerisch mit Neuem auseinanderzusetzen und uns in neuen Tätigkeiten zu erproben, bis ins hohe Alter wirksam. Das ist eine weitere Besonderheit des Menschen. Gemäß meiner Theorie ergab sie sich in Anpassung an die Bildung leistungsfähigerer Lebensstrukturen, eben der Hyperzeller. Mit Homo Proteus wurde der Mensch fähig, neue Verhaltensweisen zu erlernen, gezielt zusätzliche, vom Körper getrennte Organe zu bilden und
sachdienlich einzusetzen sowie (Originalbuchseite 217)
diese Fähigkeit über den Weg der Sprache und der Schrift nicht nur an die eigenen Nachkommen, sondern ganz allgemein an andere Menschen weiterzugeben. Daß die natürliche Auslese jeden genetischen Fortschritt unterstützte, der diese bedeutsame Fähigkeit steigerte, liegt auf der Hand. Für die Lebensentfaltung ergaben sich so immense neue Möglichkeiten der Strukturbildung, der Leistungssteigerung, der Bildung neuer Arten, der Eroberung neuer Lebensnischen, also der Machtsteigerung im weitesten Sinne. Bei den Tieren bestand kein Selektionsdruck zur Verlängerung des Neugiertriebs über die Geschlechtsreife hinaus. Sie bauten nach und nach alle für ihre Lebensweise nötigen Verhaltenssteuerungen auf; weitere Exploriertendenzen können ihnen kaum dienen, sondern weit eher schaden. Beim Menschen dagegen, in seiner neuen Funktion als »Keimzelle« der Bildung grundsätzlich neuer, größerer Lebenseinheiten, der Hyperzeller, bestand ein starker Selektionsdruck dahingehend, seine mit zunehmendem Alter sich steigernden geistigen Kräfte und Erfahrungen weiterhin spielerisch und in nicht erlahmendem Interesse für die Erkundung neuer Möglichkeiten zu Verbesserungen jeglicher Art einzusetzen. So wurde aus der zunächst auf die Situation des Kindes zugeschnittenen Spiel- und Explorationstätigkeit (ganz im Sinne Darwins »in kleinen Schritten«) der den Menschen so besonders auszeichnende Forschungstrieb, der sich auch wieder mit entsprechenden Lustund Unlustempfindungen verband und die weitere Entfaltung von Hyperzellern und Erwerbsorganisationen machtvoll vorantrieb. Dieses angeborene Verhalten, das zu immer neuen Experimenten und zur Entstehung immer neuer Arten führte, war freilich von Anbeginn auch für das Leben eine Gefahr. Ihm stand der Sicherheitstrieb gleichsam als natürlicher Antagonist entgegen,
der sich schon bei (Originalbuchseite 218)
den Tieren in einem Mißtrauen gegenüber allem Neuen, nicht Gewohnten äußert. Beim menschlichen Kind manifestiert sich das deutlich in Fremdenfurcht und Vorsicht. Auch Gemeinschaftsgewohnheiten wie Sitte und Gepflogenheit dämpfen den anhaltenden Neugiertrieb erheblich. So kam es wohl auch, daß im Lauf der Geschichte immer nur wenige, bei denen dieser Trieb besonders stark ausgebildet war (hypertrophierte), durch neue Ideen und Erfindungen den Gang der Dinge zu verändern suchten. Dagegen entspricht es ganz meiner bisherigen Aussage, daß auch dieser Trieb aufgrund der Lustgefühle, die er vermittelt, in das Kulturkonzept eingebaut, also ebenfalls im Sinne einer Umpolung zur Steigerung der positiven Innenerlebnisse eingesetzt wurde. Das erklärt den Eifer der von mir in Sankt Christoph gefilmten Skiläufer – und gilt für so gut wie alle Sportarten, die der Mensch ersonnen hat und zu denen, vor allem in der Wohlstandsgesellschaft, immer wieder neue hinzukommen. Man kann einwenden, daß hier auch Vernunftgründe maßgebend sind, etwa die Verbesserung der Gesundheit durch körperliche Ertüchtigung oder geschäftliche Interessen, aber der eigentliche Drang, der diesen mannigfachen und zum Teil kostspieligen Tätigkeiten zugrunde liegt, ist wohl eindeutig der Trieb, sich in Neuem zu erproben, zu neuen körperlichen Fähigkeiten zu gelangen. Am Strand von Nizza filmte ich – stets unbemerkt und in künstlich verändertem Zeitablauf – bei meterhoher Brandung eine ältere Frau, die sich die Schuhe ausgezogen hatte und bis über die Knöchel im Wasser stand. In meinem damals veröffentlichten Bericht schrieb ich: »In der verschnellten Aufnahme kam heraus,
wie sie sich – offensichtlich aus reinem Mutwillen – immer wieder ein Stück weiter gegen die Brecher vorwagte. Schließlich kamen einige besonders (Originalbuchseite 219)
hohe Wellen und erfaßten sie beinahe, wobei ihr lang hinunterreichendes Kleid bis zur Hüfte naß wurde.« Der an der vergleichenden Verhaltensforschung stark interessierte Philosoph und Soziologe Arnold Gehlen bezeichnete den Menschen als »das riskierte Wesen, das Wesen mit einer konstitutionellen Chance zu verunglücken«. Wie sehr dies richtig ist, zeigt sich nicht nur in Kriegen, wie sie überall in der Welt Verbände, Stämme, Fürstentümer und Länder untereinander ausgefochten haben (wobei es fast immer um materielle Interessen ging), sondern auch im Sport, wo gesteigerte Lebensempfindungen das triebhafte Motiv sind, etwa schroffe Felsgrate zu bezwingen, in unbekannte Meerestiefen hinabzutauchen oder sich mit dem Paragleiter mit Luftströmungen und Aufwinden auseinanderzusetzen; bei all diesen Aktivitäten können schon geringe Fehler den Tod zur Folge haben. Bereits Tiere zeigen, wie verschiedene Triebe einander nicht selten beeinflussen, miteinander in Konflikt kommen oder sich ergänzen. Ganz in diesem Sinne tritt auch der menschliche Neugiertrieb mit fast allen übrigen motivierenden Mechanismen verknüpft in Erscheinung. Den Sexualtrieb beeinflußt er, wenn nach neuen Partnern gesucht wird, den Nahrungstrieb, wenn chinesische, japanische, thailändische Kost erprobt wird. Das Spiel mit den Erregungen, die Angst und Überraschungen vermitteln, wird ausgekostet, indem man sich in einem Lunapark einem Karussell, einer Geisterbahn, einem Spiegelkabinett anvertraut. Bei einem orientalischen Festmahl werden Speisefolgen, Musik, Tanz, Spiele und sonstige unterhaltende
Überraschungen in virtuoser Weise miteinander kombiniert. Eine andere Kombination, bei welcher der Neugiertrieb zu positiven Innenerlebnissen verhilft, zeigte mir (Originalbuchseite 220)
eine Aufnahme, die ich – vor nunmehr dreißig Jahren – ebenfalls am Strand von Nizza filmte. Diesmal stellte ich die automatisch laufende Kamera auf einen jungen Mann ein, der mitten unter den Badenden sitzend Zeitung las. Auch hier vermittelte die stark verschnellte Aufnahme neue Aspekte, die ich folgendermaßen beschrieb: »Er durchpflügte die Zeitung, griff dann nach einer zweiten, durchpflügte diese, griff nach einer dritten, und als er diese beendet hatte, griff er wieder nach der ersten.« Wenn Menschen Zeitungen und Bücher lesen, ist ihnen oft nicht bewußt, daß sie sich mit Dingen befassen, die für sie von geringer Bedeutung sind. Auch Gespräche, die ich in aller Welt filmte, hinterließen bei mir diesen Eindruck. Sehr oft geht es längst nicht mehr darum, wichtige Informationen auszutauschen, sondern nur um den bloßen Kontakt, um ein als angenehm empfundenes Plaudern. Interessante Neuigkeiten zu erfahren bereitet dem Menschen sichtliches Vergnügen. Das ist auch ein wesentlicher Grund dafür, warum Theater, Kinos und der Fernsehschirm so viele anlockt: Der Neugiertrieb weckt den Wunsch nach Abwechslung. Zumindest in der Phantasie will der Mensch den engen Bereichen des täglichen Lebens entfliehen. Unsere Sinne dürsten nach neuen Eindrücken. Ein Drang, eine Gier nach Neuem motiviert die Ausrichtung unseres Willens – eben »Neugier«. Bei den Touristen, die ich so vor der Akropolis filmte, waren zweifellos konkrete Interessen im Spiel. Aber auch diese werden vom Neugiertrieb, der den Menschen lebenslang beeinflußt, gleichsam angeheizt. Aus der Sicht der Evolution handelt es sich bei allen Ausrichtungen auf positive Empfindungen, die Triebe
vermitteln, um eine erstaunliche Verschwendung, ja einen Abweg sondergleichen. Die große Verbreitung dieses Verhaltens läßt auch an der natür(Originalbuchseite 221)
lichen Auslese zweifeln. Denkt man jedoch genauer nach, dann zeigt sich, daß das Gegenteil der Fall ist. Denn warum arbeitet der Mensch, warum produziert er Güter oder erbringt Dienstleistungen für andere? Ganz offensichtlich deshalb, um Geld zu verdienen. Und wozu braucht er Geld? Zunächst wohl, um die eigene Existenz zu sichern und, wenn er eine Familie gründet, diese zu ernähren. Dazu ist auch notwendig, daß er seinen Leistungskörper mit allen zusätzlichen Organen, also auch Hyperzeller, die er aufgebaut hat und die ihm Energie einbringen, entsprechend pflegt, instand hält, überwacht und nach Möglichkeit verbessert und vergrößert. Doch wenn dies erreicht ist, wenn das Leben und die unmittelbaren Verbindlichkeiten gesichert sind, dann ist es höchst natürlich, daß er Überschüsse dazu verwendet, sich das zu leisten, was seine Annehmlichkeit, sein Wohlbefinden steigert, was ihm Befriedigung, Lust, Glück oder wie wir es nennen wollen vermittelt. Das aber bedeutet, daß die dem Menschen angeborenen Triebe, die solche erstrebten positiven Erlebnisse vermitteln können, in der dritten Phase der Lebensentfaltung zum stärksten Motor werden, der die Bildung von Hyperzellern und Erwerbsorganisationen vorantreibt. Denn je erfolgreicher diese sind, je mehr Gewinn sie abwerfen, um so mehr können jene, denen die Überschüsse zugute kommen, sich an Freuden, Genüssen und als positiv empfundenen Innenerlebnissen leisten. Der Mensch war also sehr wohl von Anbeginn darauf ausgerichtet, die ihm angeborenen Triebe derart zu manipulieren, daß seine Lustgefühle gesteigert und seine Unlustgefühle vermindert wurden. Doch ein Nachteil für die Entwicklung und
die Entfaltung des Lebens war das keineswegs. Denn nichts motiviert den Menschen mehr dazu, seinen Geist und alle seine Talente zur Bildung und zum Betrieb von Hy(Originalbuchseite 222)
perzellern und Erwerbsorganisationen einzusetzen, als das Ziel, zu mehr Geld und so zu höherem Wohlbefinden zu gelangen. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, daß die natürliche Auslese in der dritten Evolutionsphase nicht durch das, was kurzfristig geschieht, beeinflußt wird, sondern durch das, was sich längerfristig daraus ergibt. Auch hier kommt es auf das Ergebnis an, nicht auf den Weg – oder Umweg –, über den es zustande kommt.
Instinkt und Intellekt Zwei weitere Triebe, deren Mechanismen der Mensch ausbeutet, seien kurz erwähnt: der Gemeinschaftstrieb und der Imponiertrieb. Den erstgenannten Trieb teilt der Mensch mit allen in Rudeln oder größeren Verbänden lebenden Tieren. Er führt zum Leben in Gemeinschaften, die als Einheit agieren und in denen es dann, als weiterer evolutionärer Schritt, zu einer Arbeitsteilung kommen kann. Dieser Trieb spornt Angehörige von Verbänden dazu an, bei der Nahrungssuche und der Feindverteidigung gemeinsam zu agieren. Im Sinne des Strebens nach positiven Innenerlebnissen führte dieses angeborene Verhalten zu allem, was wir als die Freuden der Geselligkeit bezeichnen, zu gezielten gemeinsamen Mahlzeiten (was den Tieren gegenüber eine Ausnahme bedeutet), zur Freude an Festen und Spielen, an denen mehrere teilnehmen. Der zweitgenannte Trieb, der Imponiertrieb, äußert sich in der Bemühung, Verbandsgenossen zu beeindrucken; genaugenommen ist er kein klar umgrenzter Trieb wie die anderen, sondern eine angeborene Verhaltenstendenz, die in verschiedenen Trieben eine
Rolle spielt. Wie es neben den Grundleistungen Hilfsleistungen gibt, die werkzeughaft bei verschiedenen (Originalbuchseite 223)
Leistungen mitwirken – etwa Fortbewegung und Sinneswahrnehmung –, so gibt es auch bei den motivierenden Mechanismen einen hierarchischen Aufbau. Das Imponierverhalten äußert sich in diesem Sinne bei der Balz, bei der Abwehr von Feinden im künstlichen Sich-größer-Machen und im Vortäuschen von Kraft und Mächtigkeit, desgleichen beim Gemeinschaftstrieb, wenn es darum geht, eine Führerposition zu erobern und sie gegen Rivalen zu verteidigen. Beim Menschen wirkt sich dieses Verhalten ferner darin aus, höhere gesellschaftliche Rangstufen anzustreben, um von den anderen beachtet, respektiert und bewundert zu werden, in möglichst prächtigen Bauten zu wohnen, möglichst teure Kleider zu tragen, die Gattin mit möglichst kostbarem Schmuck auszustatten – um einige Beispiele zu nennen. Für Herrscher wurde das Imponierverhalten außerdem zu einem Werkzeug, die Untergebenen einzuschüchtern und die eigene Position sowie jene der Familie und des Clans zu festigen. Die Künste, die durch besonders ansprechende Werke beeindrucken, wurden durch diese Triebkraft nachhaltig gefördert. Für die Wirtschaft erwuchs daraus ein überaus ergiebiger und verläßlicher Markt, der Luxusgüter produziert, die in erster Linie den Zweck haben, andere zu beeindrucken, und deshalb mit besonders hohen Gewinnspannen arbeiten können. Im abschließenden Kapitel werden wir sehen, wie wichtig es ist, die Basis gerade dieser Triebtendenzen aus der Sicht ihrer biologischen Grundlage richtig zu erkennen und einzuschätzen. Von Interesse ist auch die Tatsache, daß nicht nur die angeborenen Triebe Lust- und Unlustgefühle vermitteln, sondern ebenso die erworbenen Triebe. Wir nennen sie Gewohnheiten; sie
leiten vom Instinktverhalten zu jenem Verhalten über, das durch Erziehung (Originalbuchseite 224)
und Intelligenzakte zustande kommt. Schon beim Hund sehen wir, wie er sich an einen bestimmten Liegeplatz oder an die Tageseinteilung seines Besitzers gewöhnt und Unlust zu erkennen gibt, wenn sich etwas am gewohnten Ablauf der Dinge ändert. Wenn ein Berufstätiger sich etwa angewöhnt hat, auf dem Heimweg von der Arbeitsstätte in einer bestimmten Kneipe einzukehren und dort ein Glas Bier oder einen Schnaps zu trinken – am besten mit Freunden –, dann weckt dies bei ihm, sofern er aufgrund besonderer Umstände auf den Besuch verzichten muß, deutliche Unlustgefühle. Betritt er dagegen das Lokal, werden ihm positive Empfindungen zuteil. Bei allen Arten von Suchtverhalten wird diese Bildung erworbener Steuerungen zum Diktat. Gemeinschaftsgewohnheiten nennen wir Sitten und Brauchtum – und jeder weiß, wie sehr sie den Jahresablauf bestimmen. Die Mode wurde zum wirtschaftlichen Werkzeug, in immer schnellerer Folge neue Anreize zur kurzfristigen Gewohnheit zu machen. Und die Werbung wurde zum wirkungsvollsten Werkzeug dieses Werkzeugs. Besonders zwingende und hartnäckige Lebensvorschriften lieferten die Religionen. Aus evolutionärer Sicht ist bei ihnen der Umstand, welche metaphysischen Lehren sie vertreten, von geringerem Interesse als die Tatsache, daß sie offenbar schon sehr bald, nachdem beim Menschen das logische Denken einsetzte, in Erscheinung traten – und zwar in aller Welt. Dies deutet darauf hin, daß sie ein wichtiges Bedürfnis beim Menschen erfüllen. Nach meiner Ansicht sind sie eine Folgeerscheinung unserer Fähigkeit, Ursachen und Wirkungen im Geist zu verknüpfen, die räumlich und zeitlich weit voneinander getrennt sind. Sie mußte früher oder später bei manchen zu der geradezu quälenden Frage
führen: Welches ist die Ursache, deren Auswirkung ich selbst bin? Jede Antwort auf diese (Originalbuchseite 225)
Frage, so unwahrscheinlich sie sein mochte, war hier besser als keine. Und war erst einmal eine solche in die Welt gesetzt, dann erwies sie sich als sehr beharrlich, weil sie sich kaum widerlegen ließ. Sie hatte den großen Vorteil, die Angst, die sich mit Nichtwissen verbindet, abzubauen; Einzelheiten konnten von der menschlichen Phantasie gehörig ausgeschmückt werden. Eine Priesterschaft, welche diese Antwort und die auf ihr beruhenden Riten lehrte, konnte zu beträchtlichen Machtpositionen gelangen. Die Moral innerhalb der Gemeinschaften konnte so noch weit wirksamer gesichert werden als durch Sitte und Gesetzgebung, denn ein unsichtbarer, alles überblickender Richter ist gefährlicher als ein solcher, der nicht überall präsent sein kann. Dazu kommt das Phänomen des Todes, mit dem der Mensch als erstes ichbewußtes Wesen konfrontiert war, und die stille Hoffnung, in einer anderen, metaphysischen Welt von Göttern und Dämonen auch nach dem Tod eine Rolle zu spielen. Somit erwiesen sich die Religionen im Rahmen der Gemeinschaftsbildungen als äußerst wertvoll, waren Ansporn für gemeinnützige Ideale und machtvolle Wegweiser für Gut und Böse. Andererseits mußten solche geistigen Fixierungen auch zur Gegnerschaft mit anderen führen, zu besonders fanatischen Auseinandersetzungen und starrer Unduldsamkeit. Wenngleich durch den wissenschaftlichen Fortschritt die Macht der Religionen in den Hintergrund gedrängt wurde, blieb doch die Frage »Warum bin ich?« bis heute aktuell und beschäftigt das Unterbewußtsein der Keimzelle Mensch beträchtlich. Da wir nun unversehens gegen die Grenzen möglichen Wachstums stoßen und wohl oder übel grundsätzliche Neubewertungen werden treffen müssen, gelangen die Religionen wieder zu größerer Bedeutung. Darauf kommen wir im nächsten,
abschließenden Kapitel zurück.
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(Originalbuchseite 226)
8 Die Entfaltung der Leistungen und ihre Folgen
Aus dem bisher Dargelegten geht deutlich hervor, daß der Mensch, was seine Verhaltenssteuerungen betrifft, kaum als ein harmonisch in sich abgestimmtes System angesehen werden kann. Der Übergang vom Vielzeller zum Hyperzeller erfolgte nach unserem Zeitempfinden wohl außerordentlich langsam, nach den in der Evolution anzulegenden Zeitmaßstäben jedoch außerordentlich schnell. Als Vielzeller ist der Mensch nach wie vor – und bis in ferne Zukunft – den angeborenen Trieben unterworfen, die seine Verhaltensausrichtung machtvoll beeinflussen. Als Zentrum von Hyperzellern, deren Nutznießer er ist, tastet er sich in eine neue Freiheit vor, auf die er kaum vorbereitet ist. Die zusätzlichen Organe, denen er seinen Erfolg verdankt, wirken auf ihn zurück und entwickeln sich schneller, als er sie in sein Unterbewußtsein integrieren kann. Seit Erwachen des einsichtigen Denkens und des Ichbewußtseins muß der Mensch sich außerdem mit zwei verschiedenen Steuerungssystemen zurechtfinden. Das eine ist jenes, das er über Erziehung und eigene Erfahrung aufbaute und das über Sprache, Schrift und sonstige Medien an eine ständig wachsende Anzahl von Zeitgenossen und Nachkommen weitergegeben und weiterentwickelt wird. Von der natürlichen Auslese gesteuert, führt es zu enormen technischen, wirtschaftlichen und organisatorischen Fortschritten. Das zweite Steuerungssystem, das sich viele nicht eingestehen wollen und dessen Wirkungen dem ichbewußten Denken oft (Originalbuchseite 227)
kaum gegenwärtig sind, verdanken wir der langen Ahnenkette unserer Vorfahren. Es sind die uns angeborenen Instinkte, die unser Leben mit einer eher verworrenen Vielfalt beglückender wie auch quälender und hemmender Gefühle einerseits bereichern und andererseits belasten. Diese Mechanismen trugen, wie ich zu zeigen versuchte, wesentlich zu der kulturellen Entfaltung der Völker bei, ausgehend von der Suche nach körperlicher Annehmlichkeit und Lust bis hin zu sublimen, mit geistiger Befriedigung verwobenen Glücksgefühlen, wie sie uns verfeinerte Lebensform und Künste vermitteln. Die vielen Konflikte, die sich seit eh und je zwischen Mensch und Mitmensch, innerhalb von Gruppen sowie zwischen Staaten und Völkern ergeben, wurden
dagegen nur teilweise abgebaut, etwa durch die Aufhebung von Sklaverei und Leibeigenschaft, durch ein Erreichen der Gleichheit vor dem Gesetz sowie andere Fortschritte. Im wesentlichen sind sie indes unverändert geblieben. Darauf wies Konrad Lorenz hin, als er feststellte, daß sich bei den geistig höherentwickelten Tieren das Verhältnis zur außerartlichen Umwelt in viel stärkerem Ausmaß verbesserte als das Verhalten zum Artgenossen. Er schrieb: »Daß dies beim Menschen leider ganz ebenso ist, drückt sich kraß in dem Mißverhältnis aus, das zwischen seinen ungeheuren Erfolgen in der Beherrschung seiner Außenwelt und seiner niederschmetternden Unfähigkeit, die innerartlichen Probleme zu lösen, besteht.« Lorenz führte das nicht zuletzt auf einen beim Menschen besonders ausgeprägten Aggressionstrieb zurück, auf den ich nicht näher eingegangen bin, da die Theorie der Hyperzeller zwei andere Motivationen in den Vordergrund rückt. Solange man den Menschen als Art einschätzt und als augenblicklichen Höhepunkt der Evolution, fragt man mit Recht, warum sich (Originalbuchseite 228)
gerade dieses als Höhepunkt angesehene Lebewesen Artgenossen gegenüber so grausam und rücksichtslos zeigt. Sieht man hingegen im Menschen kein Endstadium der Lebensentfaltung, sondern ein weiteres Glied des Übergangs zu noch machtvolleren Lebensformen, dann ändert sich das Bild wesentlich. Wie sich bei den von Einzellern aufgebauten Vielzellern neue Arten bildeten, so war es auch bei den vom Menschen gebildeten Hyperzellern. Jene, die sich bewährten, indem sie neue Energiequellen, neue Nischen, neue Lebensmöglichkeiten erschlossen, führten auch hier dazu, daß es zur Bildung zahlreicher Individuen ebendieser Arten kam (zum Beispiel Bäckern, Elektroingenieuren, pharmazeutischen Betrieben, Versicherungsanstalten), zwischen denen ein Konkurrenzkampf herrscht. Dies erklärt zumindest teilweise die unfreundliche Einstellung des Menschen zu seinesgleichen. Für weitere Feindschaft zwischen Mensch und Mensch sorgt allerdings ein weiterer wichtiger Umstand. Auf die besondere Bedeutung des Geldes habe ich bereits eingehend hingewiesen. Es ist nicht nur Grundlage der Wirtschaft und somit auch weithin Grundlage der Artenbildung bei den Hyperzellern, sondern darüber hinaus eine Art von Zauberstab, der im Prinzip jede Leistung in jede andere konvertierbar macht. Nach der von mir vorgeschlagenen Diktion wird über Geld die als Shift bezeichnete sprunghafte Leistungssteigerung, die bei Einzellern und Vielzellern nur gelegentlich aufgetreten ist, gleichsam zum Normalfall. Das
aber hat zwingend zur Folge, daß das Geld zu einem übernormalen Schlüsselreiz wurde, wie er in bescheidenem Ausmaß bereits Tiere beeinflußt (Abb. 6). So ist etwa brütenden Vögeln angeboren, aus dem Nest gerollte Eier in das Nest zurückzuholen. Legt man im Experiment einem Austernfischer ein (Originalbuchseite 229)
normales und ein übergroßes, künstlich gefertigtes Ei neben das Nest, dann bevorzugt der Vogel das letztere, obwohl er es wegen seiner Größe gar nicht bebrüten kann. Man spricht in diesem Fall auch von einem überoptimalen Schlüsselreiz, womit hervorgehoben werden soll, daß dessen Wirkungskraft noch stärker ist als das natürliche, die Reaktion auslösende Objekt. Ein anderes, geläufiges Beispiel ist der junge Kuckuck, der im fremden Nest mit seinem aufgerissenen Schnabel die unfreiwilligen Zieheltern dazu bringt, ihn eifriger zu füttern als die eigenen Jungen. In der Spielzeugindustrie regte Walt Disney die Produktion von Tiergestalten an, die bei Kindern durch übergroße Augen und Köpfe noch mehr Sympathie wecken als das naturgetreu nachgebildete Tier. In ebendiesem Sinn kann man, rein funktionell betrachtet, das Geld auch als ein Objekt ansehen, das für den Menschen zu übernormaler Wertschätzung gelangte, und zwar einfach deshalb, weil man damit nicht nur Nahrung und sonst Lebensnotwendiges erlangen kann, sondern auch erwünschte Luxusobjekte, ja so gut wie jede vom Menschen erbrachte und angebotene Leistung, wenn bloß genügend viele Münzen oder Scheine erworben werden. Daß es sogar zwischen eng verwandten Menschen, trotz aller Liebe, bei einem Erbfall des Geldes wegen zu tödlicher Feindschaft kommen kann, ist bekannt. Und daß Geld sowie alles, was sich leicht in Geld verwandeln läßt, zu Diebstahl oder Raub geradezu herausfordern, ist ebenfalls kein Geheimnis. Die meiste von Menschen gezeigte Aggression geht nach meiner Meinung auf den ursprünglichsten aller bei Tieren ausgebildeten Triebe zurück: auf den nach Nahrung, nach der so wichtigen Energie. Er äußert sich darin, das eigene Revier, die eigene Kundschaft, den eigenen Marktanteil zu verteidigen und zu ver (Originalbuchseite 230)
(Abbildung B auf Originalbuchseite 231)
Abb. 6: Beispiel für einen übernormalen Schlüsselreiz. A: Manchen Vogelarten ist angeboren, aus dem Nest geratene Eier wieder hereinzurollen. Legt man dem Austernfischer (Haematopus ostralegus) neben das Nest ein eigenes Ei sowie ein künstliches Riesenei gleicher Gestalt und Färbung, dann interessiert ihn das eigene Ei nicht, sondern er bemüht sich, das Riesenei hereinzurollen, obwohl es so groß ist, daß er es gar nicht bebrüten kann (nach Tinbergen, 1951). Daraus erhellt, daß es Schlüsselreize gibt, die ein Instinktverhalten stärker aktivieren als der normale Schlüsselreiz. Beim Menschen zeigt sich in der Werbung, der Spielzeugindustrie, der Karikatur und der Erotik, daß auch er auf übernormale Schlüsselreize anspricht. B: Zu den dem Menschen angeborenen Trieben kommen Gewohnheiten und Wünsche, die erworbene
Antriebe von erheblicher Kraft darstellen. Da beim Menschen sowohl Triebe als auch Gewohnheiten und Wünsche sich durch Geld leichter befriedigen lassen, entwickelt sich bei ihm ein erworbener, besonders starker Zentraltrieb nach Geld. So wurde der in der Wirtschaft äußerst wichtige Universalvermittler Geld zu einem übernormalen Schlüsselreiz, der die verschiedensten Aktivitäten auslöst, die zu dessen Erwerb führen können; nach Hass, 1988 (s. S. 228 und 231). (Originalbuchseite 231)
größern. Auch für die meisten Kriege dürfte der Trieb nach Besitz, nach Reichtum, Geld und Macht der zwar nicht offen eingestandene, aber trotzdem eigentliche und letzte Grund gewesen sein. In einer anderen Schrift (1988) bin ich ausführlicher darauf eingegangen, wie es beim Menschen über den Vorgang der Konditionierung zu dem Haupttrieb nach Geld gekommen ist (Abb. 6). Da Geld zur Erfüllung fast jedes angeborenen und auch jedes erworbenen Triebes (Gewohnheit) oder Wunsches verhelfen kann, wird ein Teil der triebspezifischen Energie jedes dieser Einzelantriebe abgezweigt und fließt einem neuen, zentralen Haupttrieb zu: jenem nach Geld. Wir werden bei der Besprechung der Umweltprobleme am Ende des Kapitels auf dieses wichtige Thema noch zurückkommen. Im vorliegenden Buch werden zwei neue Denkkonzepte vorgetragen. Das eine ist die Theorie der Hyperzeller, die unmittelbar an Darwins Abstammungs(Originalbuchseite 232)
lehre anschließt. Das andere ist der Vorschlag für eine grundsätzlich andere Betrachtungsweise der Lebewesen, die nicht von dem sinnfälligen Eindruck ausgeht, den diese, ihre Teile und ihr Verhalten uns bieten, sondern sich an den Leistungen orientiert, die Lebewesen erbringen müssen, um bestehen und den Lebensprozeß fortsetzen und steigern zu können. Diese Betrachtungsweise stützt sich darauf, daß die natürliche Auslese nicht eigentlich an den materiellen Gefügen und an den Verhaltensweisen ansetzt, sondern an ihrem Leistungsergebnis. Denn die meisten der lebensnotwendigen Leistungen können auf mehr als eine Weise erbracht werden, und die meisten der für Leistungen maßgebenden Kriterien sind meßbar. Auch hier schließe ich an Darwin an, indem ich mich an die von ihm erkannte natürliche Auslese halte, sie allerdings etwas näher prüfe. Da es schwierig ist, sich abstrakte Leistungsgefüge vorzustellen, will ich in diesem abschließenden Kapitel einige skizzenhafte Beispiele dafür geben, wie sich das Lebensgeschehen darstellt, wenn man nicht die Körper, die Organe
und die Verhaltensweisen, sondern die Leistungen zum Ausgangspunkt der Beurteilung macht, und anschließend versuchen, dieses Denken zur Einschätzung unserer heutigen Situation, ihrer Gefahren und etwaiger Möglichkeiten, diese abzuwenden, benutzen. (Originalbuchseite 233)
Die Urzeugung und die Leistungserbringung der Einzeller Wie ich im ersten Kapitel darlegte, sind meines Erachtens für sämtliche Lebewesen sechs Grundleistungen maßgebend: erstens der Energieerwerb, zweitens der Stofferwerb und die Bildung von Organen, drittens die Abwehr widriger Umwelteinwirkungen, viertens die Nutzung günstiger Umweltbedingungen, fünftens die Fortpflanzung, sechstens die Strukturverbesserung. Wenn man sich die Frage stellt, wie es wohl zur Entstehung der ersten Lebensformen gekommen ist, führt das zwangsläufig zu der Problematik, wie man sich den Beginn eines ganz von selbst einsetzenden Geschehens vorstellen soll, das mit so vielen und so verschiedenen Anforderungen belastet ist. Über die Beschaffenheit der Urmeere vor vier Milliarden Jahren, als nach heutiger Sicht die »Urzeugung« stattfand, hat man bereits sehr genaue Vorstellungen. Die Energie der Sonnenstrahlen und gewaltige elektrische Entladungen ließen in der Uratmosphäre eine große Anzahl von Molekülen entstehen, die reich an freien Valenzen waren, also an freier Energie, und durch heftige Regengüsse in die Urozeane geschwemmt wurden. Die erste Grundleistung, der Energieerwerb, war somit in jener Zeit überhaupt kein Problem, weil die meisten im Wasser treibenden Materieteilchen freie Energie in genügender Menge mitbrachten. Auch die zweite Grundleistung, der Stofferwerb, erledigte sich aufgrund der günstigen Umweltbedingungen zunächst von selbst, zumal sich auch für Lebensgefüge geeignete Grundbausteine bereits in beträchtlicher Menge gebildet hatten. Wie die Experimente von Stanley Miller (1953) bewiesen, kommen sogar heute bei entsprechender Nachbildung der damaligen Situation sowohl die zur Eiweißbildung wich(Originalbuchseite 234)
tigen Grundbausteine (Aminosäuren) wie auch die zur Informationsweitergabe wichtigen Stickstoffbasen der Nukleinsäuren (zum Beispiel Adenin) ganz von
selbst zustande. Die notwendigen Bausteine für einen Mechanismus der Selbstvervielfältigung waren daher bereits vorhanden und konnten durch günstige Umstände (Zufälle) in solche Kombination gelangen, daß autokatalytische, also sich selbst vervielfältigende Strukturen entstanden. Unter diesen setzten sich jene durch, die sich für die ersten Lebensprozesse als am besten geeignet erwiesen. Der Molekularbiologe und Nobelpreisträger Manfred Eigen hat mit seinem »Hyperzyklus« ein plausibles Konzept dafür geliefert, wie sich das praktisch abgespielt haben könnte. Ähnlich, wie sich bis heute im Protoplasma der Zellen manche chemische Abläufe über frei herumtreibende Moleküle vollziehen, indem die zeitlichen Abfolgen auf ein zufälliges Aufeinandertreffen bestimmter Moleküle angewiesen sind, mag es auch bei diesen ersten autokatalytischen Prozessen gewesen sein. Die im Mikrobereich wirksame Brownsche Bewegung dürfte dabei ebenfalls mitgeholfen haben. Wahrscheinlich schlossen sich die notwendigen Komponenten erst später zu fest verbundenen Gefügen zusammen. Somit kommt man, wenn man nicht von materiellen Körpern, sondern von bestimmten Leistungen, die erbracht werden müssen, ausgeht, zu den gleichen Folgerungen, zu denen man auch in der Molekularbiologie gelangt ist. Die ersten Urlebewesen bestanden demnach aus Molekulargefügen, die durch Bildung immer neuer Eiweißkörper mit immer neuen Eigenschaften erhöhte Leistungsfähigkeit erlangten. Über den Fortpflanzungsmechanismus der Nukleinsäuren wurden diese ersten Lebewesen vervielfältigt. Die damals einsetzende natürliche Auslese begünstigte die jeweils geeigneten und besten Varianten. (Originalbuchseite 235)
Eine der ersten und wichtigsten Leistungsverbesserungen dürfte dann die Bildung einer membranartigen Grenzschicht gewesen sein, die das nun fest verbundene System gegen widrige Umwelteinwirkungen schützte. Aber die zentrale Grundleistung, mit der das Lebensgeschehen offenbar begann, war die Ausbildung eines Organs der artgleichen Vervielfältigung, das die Befehle (Informationen) zu bestimmter Strukturbildung auf weitere identische Lebensindividuen zu übertragen vermochte. Traten dabei Fehler auf, die zu veränderten Individuen führten, deren Leistungsfähigkeit jedoch zufällig gesteigert war, wurden sie ganz automatisch durch die natürliche Auslese gefördert, die so in ersten Ansätzen auch die sechste Grundleistung, die Verbesserung der Strukturen, wahrnahm. An dem zentralen Steuerungs- und Vermehrungsorgan (DNS) hat sich bis
heute kaum etwas verändert. Es besteht aus fadenartigen Strängen, auf denen vier verschiedene Basen (Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin) wie Buchstaben in verschiedener Reihenfolge die einzelnen Worte der genetischen Schrift (des genetischen Kodes) bilden. Je größer und komplexer diese ersten Lebenseinheiten wurden, desto mehr Befehle mußten zur Herstellung der Nachkommen weitergegeben werden. So kam der Informationstransfer als erste wichtige Hilfsleistung in die Welt. Als später die energiereichen Moleküle in der »Ursuppe« der Meere seltener wurden, kam es zu einem Selektionsdruck, über andere Methoden an die unerläßliche Energie zu gelangen. Zwei Verfahren traten dabei in den Vordergrund: Einerseits entwickelten sich Lebensformen, welche die Energie der Lichtstrahlen in ihren Dienst zu zwingen vermochten – die ersten Pflanzen. Mit Hilfe der Energie des Sonnenlichts gelang es ihnen, aus anorganischen Bestandteilen körpereigene Stoffe aufzubauen. Andererseits (Originalbuchseite 236)
richteten sich Lebensformen darauf aus, ihnen diese Energievorräte zu rauben – die ersten Tiere. Sie beraubten einander auch gegenseitig, so daß das Raubgut sozusagen von Hand zu Hand ging. Die natürliche Auslese begünstigte auch dies. Wie fossile Spuren zeigen, dauerte es mehr als zwei Milliarden Jahre, ehe aus diesen noch sehr primitiven Ahnen jene hochspezialisierten Einzeller entstanden, die in ihrer Organausstattung mit den heute noch fast in jedem Wassertropfen lebenden Einzellern vergleichbar sind. Ihr so wichtiger Fortpflanzungsapparat ist nun von einer Membran umhüllt und bildet den Zellkern. Die übrigen Grund- und Hilfsleistungen gingen allmählich in die Kompetenz immer leistungsfähigerer, stärker differenzierter Organellen über: Golgi- Komplex, Vakuolen, Tentakel, Cilien, Lichtsinnesorganellen, Tastborsten, um nur einige zu nennen. Oft wirken mehrere von ihnen bei der Erbringung der gleichen Leistung zusammen. In anderen Fällen sind Hilfsleistungen an mehreren Grundleistungen mitbeteiligt. Jedenfalls ist deutlich zu sehen, wie das gesamte Organgefüge auf die Ausführung der lebenswichtigen Leistungen zugeschnitten ist. Die beiden interessantesten Organellen neben dem Zellkern sind die Plastiden, welche die Dienstbarmachung der Sonnenenergie (Photosynthese) bewirken, und die Mitochondrien, die den tierischen Organismen dazu verhelfen, die in erworbener organischer Substanz enthaltene Bindungsenergie freizusetzen.
Jedoch verfügt auch jede Pflanze über solche Mitochondrien, um selbstaufgebaute Moleküle wiederabzubauen, wenn sie die darin gespeicherte Energie für andere Funktionen benötigt. Ganz im Sinne Darwins vollzog sich diese hier nur grob skizzierte Entwicklung in kleinen Schritten, wobei der sexuelle Vorgang der Kombination verschie(Originalbuchseite 237)
dener Erbinformationen bereits sehr früh entstanden sein dürfte. Durch ihn wurde die Entwicklung wesentlich beschleunigt, weil so die Chance größer wurde, daß leistungsfähigere Neubildungen zustande kamen. Shifts dürfte es überdies schon genügend häufig gegeben haben. Zwei von ihnen sind von besonderer Bedeutung und haben ihre Spuren bis heute deutlich erkennbar hinterlassen. Es gilt mittlerweile als erwiesen, daß die für alle Pflanzen so wichtigen Plastiden und auch die für alle Tiere nicht weniger wichtigen Mitochondrien über den Weg der Endosymbiose entstanden sind. Wie vor allem ihr Fortpflanzungsmodus zeigt, sind die Plastiden nichts anderes als urtümliche Blaualgen, die in ferner Vorzeit in den Körper von Einzellern einwanderten und dort zu deren Organen wurden. Desgleichen sind die Mitochondrien nichts anderes als ebenfalls in weit zurückliegender Zeit in den Körper anderer Einzeller eingewanderte Bakterien, die dort zu Organen wurden. Dies aber bedeutet, daß weder die pflanzlichen noch die tierischen Einzeller ihre für den Energieerwerb notwendigen Organellen selbst hervorbrachten. Wie die Seeanemone durch ihre Symbiose mit dem Einsiedlerkrebs in den Genuß hochentwickelter Beine kommt, ohne deren Entwicklung selbst »finanziert« zu haben, so kamen auch die pflanzlichen und die tierischen Einzeller durch Verbindung mit anderen Lebewesen in den Genuß der für sie so wichtigen energieerwerbenden Organe. Die Einzeller erwiesen sich als äußerst erfolgreich. Vor der Entstehung der Vielzeller waren sie Alleinherrscher in den Meeren und den sonstigen Gewässern. Aber auch heute, so errechnete man, beträgt ihr Anteil an der Gesamtmasse der auf unserem Planeten lebenden Pflanzen und Tiere nicht weniger als 30 Prozent. Die Zelle wurde unter dem ständigen Druck der (Originalbuchseite 238)
natürlichen Auslese zu einer ungemein perfekten Konstruktion. Ihrer Weiterentwicklung und Verbesserung waren allerdings aus physikalischen und organisatorischen Gründen Grenzen gesetzt. Die Überwindung dieser Hürde war dann die Bildung der Vielzeller. Ihre Entstehung begann, als sich bei einigen die Tochterzellen nach der Teilung nicht trennten, sondern Klumpen bildeten, die offenbar durch ihre Größe bestimmte Vorteile hatten. Daraus wurden dann immer größere Gefüge (Kolonien), in denen es allmählich zu einer Arbeitsteilung kam. Grund- und Hilfsleistungen, die bisher von Organellen wahrgenommen wurden, konnten nun auf vielzellige, weit leistungsfähigere Organe übergehen.
Die Leistungserbringung der Vielzeller Betrachtet man die Evolution der Lebewesen nicht als solche materieller Strukturen, sondern als eine Evolution von Leistungen, dann bietet sie an manchen Punkten ein ganz anderes Bild, und es treten Fakten in den Vordergrund, die man bisher kaum beachtet hat. Zu ihnen gehört die Tatsache, daß bei diesem Gesamtvorgang nur ein Teil der Grundleistungen auf vielzellige Organe überging und gerade die wichtigsten im einzelligen Entwicklungsbereich verblieben, und dies, obwohl sie dafür keineswegs vorbereitet waren und deshalb in Gefahr kommen mußten, den neuen Anforderungen nicht voll gerecht zu werden. Beginnen wir mit der interessanten Frage, wie es organisatorisch möglich ist, einzelne Zellen innerhalb der größeren Gemeinschaft zu differenzierten Leistungen zu bringen, sie also etwa zu veranlassen, Leberzellen, Augenzellen, Muskelzellen, Knochenzel(Originalbuchseite 239)
len und viele andere Zelltypen zu bilden und aus solchen hochspezialisierte Organe aufzubauen. Im normalen Verlauf der Dinge gehen bei jeder durch Abschnürung erfolgenden Zellteilung aus einer Zelle zwei ebensolche mit gleichem Erbgut hervor. Die Lösung des Problems, die sicher auch über eine lange Folge von Mutationen und Rekombinationen erfolgte, ist eher erstaunlich. Sie besteht darin, daß bei den Vielzellern jede Körperzelle über die gesamte für den Aufbau des Lebewesens erforderliche Information verfügt. Durch entsprechende Botenstoffe (Repressoren) werden jedoch bei den Tochterzellen
alle für ihre Differenzierung nicht maßgebenden Kommandos ihrer Gene unterdrückt, so daß nur die für ihre spezifischen Aufgaben zuständigen in Aktion treten. Was hier geschieht, möchte ich an einem praktischen Vergleich deutlich machen. Man stelle sich die Errichtung einer größeren Fabrik vor, an der einige Tausend Mitarbeiter beteiligt sind. Die Gesamtheit der für den Bau und die dazugehörigen Einrichtungen notwendigen Anweisungen hat man in einem vielbändigen Riesenwerk niedergelegt. Von diesem erhält jeder Mitarbeiter ein vollständiges Exemplar ausgehändigt. Für jeden einzelnen sind alle Seiten rot durchgestrichen worden, die für seine Tätigkeit nicht maßgebend sind. Nur die nichtangestrichenen Seiten enthalten somit die ihn angehenden Instruktionen. So kann es sein, daß sich für manchen in ein oder zwei Bänden überhaupt keine ihn betreffenden Weisungen befinden, während er solche in den übrigen Bänden an sehr verschiedenen Stellen zu suchen hat. Ein heutiger Unternehmer würde über diese Lösung vermutlich den Kopf schütteln. Abgesehen davon, daß jeder Mitarbeiter dauernd ein derart umfangreiches Kompendium mit sich tragen müßte, würde das Auffinden (Originalbuchseite 240)
mancher für ihn wichtigen Angaben wahrscheinlich recht schwierig und zeitraubend sein. Beim Übergang zu den Vielzellern war jedoch offenbar eine bessere Lösung nicht möglich. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits gänzlich ausgeschlossen, daß die hochentwickelte Zelle über Mutationen und Rekombinationen ihren Fortpflanzungsvorgang grundsätzlich veränderte. Deshalb blieb es so, daß jede der Zellen, aus denen ein Vielzeller sich aufbaut, sämtliche für das neu gebildete Lebewesen nötigen Anweisungen vererbt bekommt. Zu den DNSSträngen innerhalb des Zellkerns kamen ständig weitere Nukleotide hinzu, so daß die auf diesen Fäden aufgereihte genetische Schrift entsprechend länger wurde. Durch die Repressoren, die wohl ebenfalls zahlreicher werden mußten, wurde laufend verhindert, daß in den Zellen falsche Weisungen oder die richtigen zur falschen Zeit aktiviert wurden. Dieser Sachverhalt ist ein gesichertes Ergebnis der Wissenschaft; er funktioniert offensichtlich ausgezeichnet, wenn man an die Vielzahl lebenstüchtiger Vielzeller – Pflanzen und Tiere – und insbesondere an den so erfolgreichen Menschen denkt. Ehe wir uns mit dem Grundmechanismus, dem wir jedes Detail unseres Körpers verdanken, näher beschäftigen, möchte ich an drei Beispielen zeigen, daß beim Übergang von den Einzellern zu den Vielzellern auch wichtige Leistungen auf vielzellige Organe übergingen. Ein anschauliches Beispiel
bieten uns die Fortbewegungsorgane, die sich bei den Einzellern im wesentlichen auf die peitschenförmigen Geißeln und die wie Ruder im Takt schlagenden Wimpern beschränken. Bei den Vielzellern übernahmen weit leistungsfähigere Einheiten diese für die meisten Grundleistungen notwendigen Funktionen. Es genügt hier, an die aus Hunderttausenden von Zellen gebildeten (Originalbuchseite 241)
Flossen der Fische zu denken, an die gepanzerten, vielgliedrigen Beine der Krebse, an die Beine von Lurchen und Echsen, an die Flügel der Vögel und an unsere eigenen Beine, Arme und Hände. In jeder der Zellen, aus denen diese leistungsfähigen Organe bestehen, befindet sich das für den Gesamtkörper und alle seine Funktionen erforderliche Erbgut mit seinen immer längeren DNSSträngen; eine Vielzahl chemischer Botenstoffe bewirkt, daß in jeder Zelle das akkurat Richtige geschieht. Noch eindrucksvoller sind die Differenzierungen der ebenfalls aus Hunderttausenden spezialisierter Zellen gebildeten Sinnesorgane. Man denke etwa an unsere Augen und Ohren. Beide sind Präzisionsinstrumente, deren Leistungen jene der kümmerlichen Sinnesorgane der Einzeller um ein Vielfaches übertreffen. Auge und Ohr bildeten sich – wie uns viele heute noch lebende Zwischenstufen zeigen – über Mutationen und deren mannigfache Rekombination durch sexuelle Vorgänge. Auch hier sorgt ein Heer von Signalgebern, kontrollierenden Einheiten und Hilfsorganen dafür, daß die Funktionsfähigkeit erhalten bleibt und Fehler, falls solche irgendwo auftreten, nach Möglichkeit wieder beseitigt werden. Daß dies bei den schlichteren Organen weniger hoch entwickelter Vielzeller einfacher ist als bei den hochdifferenzierten Organen höher entwickelter, versteht sich von selbst; dem perfekten Zusammenwirken der Zellen und ihrer Boten sind hier Grenzen gesetzt. Als drittes Beispiel seien die Organe des Energieerwerbs genannt. Wie uns jedes Tier zeigt, werden die Hilfsorgane der Fortbewegung und die verschiedenen Sinnesorgane zum Erkennen und Verfolgen der Beute eingesetzt. Vielzellige Organe des Nahrungserwerbs sind das Maul mit seinen Zähnen, seiner Zunge, seinen Speicheldrüsen, ferner die Speiseröhre, (Originalbuchseite 242)
der Magen und der Darmtrakt mit ihren Hilfseinrichtungen. Über die Darmzotten wird die vorzerkleinerte Nahrung, soweit sie brauchbar ist, in den
Blutstrom übergeführt, von diesem zu den einzelnen Zellen gebracht und in den Mitochondrien weiter abgebaut. Die gewonnene Energie wird dann von ADP-ATP-Batterien etwa zu den Ribosomen gebracht, die das benötigte Eiweiß aufbauen. Bei der Grundleistung Energieerwerb ist somit fast der ganze Erwerbsvorgang auf vielzellige Organe übergegangen; nur die letzte, eigentliche Spaltung und Energiegewinnung erfolgt, ebenso wie bei den Einzellern, durch die Mitochondrien im Zellinneren. Die zentrale Funktion dieses Ablaufs bleibt also ebenfalls noch in der Kompetenz eines Organells. Es sei hinzugefügt, daß die winzigen Energietransportbatterien (ADP-ATP), über die schon die Einzeller verfügen, von jeder Zelle selbst hergestellt werden. Das gleiche gilt für die Ribosomen, die das artspezifische Eiweiß aufbauen. Auch diese Organellen, die sich in jeder Zelle befinden, werden in ihr gebildet. Schließlich ist noch erwähnenswert, daß im Körper der Vielzeller ein eigenes Kanalsystem erforderlich ist, um der einst frei und selbständig im Meer lebenden Zelle ein angemessenes Milieu zu vermitteln. Diese Funktion leistet das Lymphsystem; es sorgt dafür, daß jede Zelle von einer dünnen Flüssigkeitsschicht umgeben ist, deren chemische Zusammensetzung ungefähr jener des einstigen Meeres entspricht. Zur Aufrechterhaltung eines spezifischen osmotischen Drucks der Zellflüssigkeit trotz wechselnder Umgebung verfügt jede Zelle in der sie umschließenden Membran über eine Anzahl von »Ionenpumpen«. Das ist beispielsweise für Fische wichtig, wenn sie von Salzwasser in Süßwasser überwechseln und umgekehrt. Wenn ich an früherer Stelle sagte, daß die Zelle (Originalbuchseite 243)
als Baumaterial zwar überaus anpassungsfähig, aber auch recht anspruchsvoll ist, dann wird das durch diese Einzelheiten noch verdeutlicht. In Anbetracht der Tatsache, daß der Körper des Menschen aus nicht weniger als 1013 bis 1014 Zellen besteht, deren jede ihre eigenen hochspezialisierten »Werkstätten« unterhält, dürfte ein in der Wirtschaft Tätiger über eine solche Vielgleisigkeit die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Doch war die Zelle, als sie zur Bildung von Vielzellern überging, bereits so perfekt organisiert, daß ihrer Organisation bestenfalls Einheiten hinzugefügt werden konnten, jedoch kaum etwas Grundlegendes an ihr zu verändern war. Kehren wir nochmals zu den in den Zellkernen ablaufenden Vorgängen zurück, zunächst zur Zelldifferenzierung bei der Bildung von Vielzellern. Bei diesem Vorgang mußte die Keimzelle bewirken, daß ihre Tochterzellen sich entsprechend differenzierten: in Muskelzellen, Nervenzellen,
Bindegewebszellen, Knochenzellen und andere Zellen. Dafür sorgen, wie gesagt, Botenstoffe, die in den betreffenden Zellen alle Kommandos, welche die differenzierte Zelle nicht benötigt, abblocken und nur solche zulassen, die zu der angestrebten Differenzierung führen. Es muß außerdem weitere Botenstoffe geben, die Teilfunktionen steuern; wenn wir etwa an das Auge denken, dessen Teile aus zahlreichen verschieden differenzierten Zelltypen bestehen, dann ist deren Funktionstüchtigkeit nur durch entsprechende Regelungen denkbar. Dem eigentlichen Geheimnis nähern wir uns jedoch erst, wenn wir genauer untersuchen, wie groß der Hohlraum des Zellkerns ist, in dem die DNS-Fäden (Chromosomen) wie in einem kleinen Aquarium schweben, und wie lang diese Fäden sind, die ja ursprünglich für die Fortpflanzung bei den Einzellern (Originalbuchseite 244)
ausgelegt waren. Bei den Vielzellern mußte der genetischen Schrift des Erbguts eine beträchtliche Anzahl weiterer Buchstaben und Worte angefügt werden, so daß sie entsprechend länger wurde. Beim Menschen, so errechneten Genetiker, umfaßt diese chemische Schrift, von der die Befehle für unseren Gesamtkörper ausgehen, drei Milliarden Buchstaben. Verglichen mit dem in Zeilen ausgedrückten Textumfang eines Buches, entspricht das der dreißigfachen Menge sämtlicher Zeilen der 23 Bände des Großen Brockhaus. Was uns indes besonders interessiert, ist die Anzahl dieser Fäden (Chromosomen) und ihre Länge. Der Mensch besitzt in jeder normalen Körperzelle 46 Chromosomen (diploider Satz). Jeder Einzelfaden ist etwa 10000 mal so lang wie der Durchmesser des Zellkerns. Vergleichen wir den Zellkerndurchmesser mit dem eines üblichen Weinglases, so würde die Länge der DNS-Fäden ungefähr 700 Meter entsprechen! Man versuche sich vorzustellen, wie in einem mit Flüssigkeit gefüllten Weinglas 46 etwa 70 Meter lange Fäden Platz finden und dort, ohne sich zu verwirren, auch noch komplizierte Manöver und Funktionen verrichten sollen. Bei jeder Teilung müssen sie sich außerordentlich verdichten, wobei die unter dem Mikroskop sichtbaren Chromosomen entstehen. Es wird angenommen, daß sie bei diesem Vorgang in besondere »Pakete« verpackt werden. Die Chromosomen ordnen sich in der Mitte des Zellkerns, und je ein Satz wird dann durch die unter dem Mikroskop ebenfalls erkennbare Mechanik der Zentralkörperchen (Zentriolen) und der Kernspindel in die beiden sich bildenden Tochterzellen auseinandergezogen. Bis zur nächsten Teilung müssen die DNS-Fäden, die nun wieder die komprimierte Form aufgeben, sich zur
Gänze verdoppeln, indem sich ihnen komplementäre Basen anlagern. Bei dem sexuellen Vorgang, den ich (Originalbuchseite 245)
hier nur flüchtig streife, treten in den Zellkern der Eizelle die ebenso vielen Fäden gleicher Länge des Geschlechtspartners ein. Ist all das schon fast unvorstellbar, fragt man sich zudem: Was bewegt diese endlosen Fäden, die ja über keine Fortbewegungsorgane verfügen? Wie wird vermieden, daß sie sich verwirren? Wie erfolgen die Verdichtung und das Verpacken in Pakete? Und wie vollzieht sich bei der Verdoppelung die Entspiralisierung in beschränkten Abschnitten (denn die Stränge bilden eine doppelte Helix)? Man vermutet im übrigen, daß die Repressoren bei der Zelldifferenzierung eine Art von Schutzhülle über alle zu blockierenden Gene legen, was die weitere Frage nach sich zieht, wie es kommt, daß diese Hüllen zusätzlichen Teilungsvorgängen nicht im Wege sind. Wie sich das alles von selbst, ohne Hilfswerkzeug, vollzieht, ist bis heute noch weitestgehend unerforscht. Wenn man bedenkt, daß der Zellkern mit seiner Innenausstattung für den Bedarf der Einzeller ausgelegt war, die sich über zwei Milliarden Jahre hinweg immer weiter verbesserten, an deren Dimension sich jedoch kaum Wesentliches verändert haben dürfte, führt das zu folgendem Schluß: Ein Organell, das zwei Grundleistungen erbringt – jene der Fortpflanzung und jene der Strukturverbesserung – und diese obendrein auf die viel größeren und ungemein differenzierten Vielzeller ausdehnte, ist hier außerordentlich überstrapaziert worden, zumal es als dritte imposante Leistung, über Steuerungen der Differenzierung, auch noch die Gesamtheit aller Vielzeller, den Menschen eingeschlossen, hervorbrachte. Daß dies alles fehlerlos funktioniert, ist über die Maßen erstaunlich. Wenn wir aus evolutionärer Sicht die Leistungen in diesem Geschehen als vorrangig betrachten, müssen (Originalbuchseite 246)
wir feststellen, daß zwei der wichtigsten Grundleistungen, Fortpflanzung und Strukturverbesserung, beim Übergang von den Einzellern zu den Vielzellern nicht auf vielzellige Organe übergingen und außerdem eine dritte Grundleistung, der Energieerwerb, weitgehend in der Kompetenz eines Organells verblieb. Erst so wird klar, welche Fesseln hier abgestreift wurden, als sich beim Übergang von den Vielzellern zu den Hyperzellern sowohl die
Grundleistung der Fortpflanzung als auch jene der Strukturverbesserung auf vielzellige Einheiten verlagerten (auf solche im Zentralnervensystem) und beide dann sehr schnell auf zusätzlich gebildete Organe übergingen (etwa auf Schrift und Forschungsstätten). Das trifft auch auf den Energieerwerb zu, der sogar die vielzellige Phase gleichsam übersprang, indem er sich bei der Verwendung von Fremdenergie zum Antrieb zusätzlicher Organe direkt von einem Organell (Mitochondrium) auf zusätzliche Organe, etwa ein Wasserkraftwerk, verlagerte.
Die Leistungserbringung der Hyperzeller Da wir nicht daran gewöhnt sind, bei den Lebewesen die Leistungen als das Wesentliche anzusehen, ist ein beträchtliches Umdenken erforderlich, wenn man sich mit der Frage beschäftigt, wie sich im Lauf der Lebensentfaltung Leistungen auf besser geeignete Organe verlagerten. Wir sind es gewohnt, die Entfaltung der tierischen und der pflanzlichen Körper im Auge zu haben und uns bei der Untersuchung ihres evolutionären Fortschritts der kontinuierlichen Verbesserung ihrer Bestandteile zu widmen. Wenn man indes in den Lebewesen Leistungsgefüge sieht und demnach die Höherentwicklung der Leistungen verfolgt, (Originalbuchseite 247)
zeitigt das, wie der letzte Abschnitt gezeigt hat, manche ganz andere Fragestellungen und Bewertungen. So zeigte sich, daß bei den Vielzellern einige der wichtigsten Leistungen an Organellen gefesselt blieben, was dazu führte, daß sie sich wohl trotzdem verbesserten, aber nicht die Vorteile vielzelliger Organe erlangten. Um den Weg der Evolution und die Probleme, die dabei auftraten, aus dieser völlig anderen Sicht zu beurteilen, beginnen wir deshalb unsere Betrachtung des Übergangs von Leistungen auf zusätzliche Organe mit den gleichen Beispielen für gut überschaubare, komplikationslose Leistungsverlagerungen, die ich zuletzt anführte. Das erste Beispiel betraf die für Tiere besonders wichtige Leistung der Fortbewegung. Sie verlagerte sich von den Geißeln und Wimpern der Einzeller auf die wesentlich effizienteren Flossen, Beine und Flügel der Vielzeller. Ebenso augenscheinlich ist der nächstfolgende Fortschritt beim Übergang auf zusätzliche Organe. Hier verlagerte sich, etwa beim Menschen, die Fortbewegung von den Beinen auf das Fahrrad, auf das Auto, auf das Gemeinschaftsorgan Eisenbahn.
Was den Übergang von den Sinnesorganen der Einzeller zu jenen der Vielzeller betrifft, führte ich als Beispiel die Organe der optischen und der akustischen Sinneswahrnehmung an, die sich nicht nur bei den Wirbeltieren, sondern auch bei Mollusken und Insekten außerordentlich entwickelten und kaum mit analogen Organen bei den Einzellern vergleichbar sind. Bei den vom Menschen gesteuerten Hyperzellern wurden die Fähigkeiten der Augen durch die Brille, das Fernrohr, das Mikroskop und das Fernsehen weiter gesteigert, jene der Ohren durch das Telefon, die Telegrafie und den Rundfunk. Der Geruchssinn, der sich bei manchen Vielzellern bereits so sehr verbesserte, daß manche Insekten sogar einzelne (Originalbuchseite 248)
Duftmoleküle wahrnehmen können, steigerte seine Fähigkeiten bei den Hyperzellern etwa durch chemische Meßapparate. Dazu kommen bei den Hyperzellern zusätzliche Sinnesorgane, die bisher nie erbrachte Leistungen ermöglichen, beispielsweise der Geigerzähler, der Radioaktivität wahrnimmt und mißt. Die Grundleistung Energieerwerb, mein drittes Beispiel, wurde bei den Vielzellern durch Hilfseinheiten wie Maul, Magen, Darm, Blutkreislauf (bei Pflanzen: Blätter, Zweige, Stämme, Wurzeln, Saftkanäle) wesentlich gesteigert, verblieb jedoch in der Kernfunktion bei Organellen: den Mitochondrien und den Plastiden. Hier zeigt sich, wie Leistungen durch neue Organe gesteigert werden können, während die Zentralfunktion auf einer tieferen Entwicklungsstufe der Organbildung verharrt. Ebenso verhält es sich ja auch bei Augen, Ohren und Nase des Menschen, deren Leistungsfähigkeit durch zusätzliche Organe entscheidend verbessert wird, wobei die Zentralfunktion indes bei vielzelligen Organbildungen verbleibt. Beim Energiegewinn ist es komplizierter. Er teilt sich bei den Hyperzellern insofern, als das steuernde Zentrum Mensch noch in der Art aller vielzelligen Tiere mit der Nahrung gewonnene Energie benötigt, während der Antrieb der zusätzlichen Organe, denen zahlreiche Hyperzeller heute ihre Konkurrenzfähigkeit verdanken, auf den Erwerb von Fremdenergie übergeht. Ich muß hier aus Platzgründen den Leser bitten, sich selbst Beispiele für lebenswichtige Leistungen auszusuchen und zu überlegen, wie diese bei Einzellern, Vielzellern und Hyperzellern erbracht werden, wie sie von bestimmten Organen auf andere übergehen, oftmals durch neue Hilfsorgane bloß gesteigert werden oder sich gar, wie im oben beschriebenen Fall, in parallellaufende, verschiedenartige, letztlich
(Originalbuchseite 249)
aber doch aufeinander angewiesene Leistungskanäle trennen. Ich will hier nur noch kurz auf die beiden besonders wichtigen Grundleistungen Fortpflanzung und Strukturverbesserung zurückkommen. Bei der Fortpflanzung der Hyperzeller ist es, wie schon früher angedeutet, ebenfalls so, daß diese benötigte Grundleistung sich auf zwei Kanäle aufteilt. Das steuernde Zentrum Mensch pflanzt sich weiterhin in der Art aller Vielzeller fort, wobei zusätzliche Leistungsträger wie Ärzte, Medikamente und Spitäler Hilfsdienste leisten können. Die für die Hyperzeller maßgebenden, vom Zellkörper getrennten Organe werden hingegen auf ganz andere Weise fortgepflanzt: zunächst durch sprachliche Anweisungen, später durch spezialisierte Hyperzeller, von denen sie käuflich erworben werden können. In diesem Fall entfällt für das Individuum die Notwendigkeit eigener Fortpflanzung. Günstige Umweltbedingungen verhelfen dazu, daß diese Organe, sofern Bedarf an ihnen besteht, von anderen produziert werden und ihr Kaufpreis um ein Vielfaches geringer ist, als die Eigenproduktion kosten würde. Was die Grundleistung Strukturverbesserung angeht, so ist es an dieser Stelle zweckmäßig, sich an den schwerfälligen und unökonomischen Vorgang zu erinnern, der in der langen Entwicklung der Einzeller und der Vielzeller eine allmähliche Höherentwicklung bewirkte. Die Chance, daß über Mutationen Fortschritte mit Selektionswert zustande kommen, wird im statistischen Durchschnitt mit bloß 1:108 angegeben. Fast alle Mutationen führen zu fehlerhaften Nachkommen, die im Konkurrenzkampf zugrunde gehen. Die Chance, daß sich durch Rekombination verschiedener Mutationen über den sexuellen Vorgang ein Fortschritt mit Selektionswert ergibt, ist indes bereits um einige Zehnerpotenzen größer. Bedenkt man je(Originalbuchseite 250)
doch, welche Schwierigkeiten sich mit diesem Vorgang insgesamt verbinden – etwa durch die Notwendigkeit des Zusammenfindens artgleicher Partner; durch den erforderlichen Abbau der angeborenen Individualdistanz, den besondere Verhaltenssteuerungen bewirken müssen; durch die Bildung der unerläßlichen sekundären Geschlechtsmerkmale; durch die Komplikationen, die sich beim Rekombinationsvorgang der Gene und bei der Befruchtung ergeben –, dann muß dieser Mechanismus der Verbesserung, obwohl er zu der Fülle der heute
lebenden tierischen und pflanzlichen Lebewesen geführt hat, trotzdem als äußerst ineffektiv bezeichnet werden. Nur über eine sehr lange Zeitspanne hinweg konnte er – meines Erachtens durch zahlreiche Shifts beträchtlich unterstützt – zu solchen Ergebnissen führen. Durch die vom Menschen zielgerichtet gebildeten zusätzlichen Organe veränderte sich die Situation radikal. Die Informationsvermengung, um die es beim sexuellen Vorgang geht, kann bei den Hyperzellern über Gespräche, Diskussionen, das Lesen von Fachbüchern, Seminare, Universitätsvorlesungen und dergleichen entschieden effektiver und weniger aufwendig erzielt werden. Mit zunehmender Geschwindigkeit kam es in diesem Funktionsbereich zur Bildung aller zusätzlichen Organe und Verhaltensweisen, die den Fortschritt der Hyperzeller und der Erwerbsorganisationen ausmachen. Hier ist allerdings wieder ein Beispiel dafür gegeben, zu welch extrem verschiedenen Beurteilungen gleicher Sachverhalte das an Leistungen orientierte Denken führt. Angesichts der herausragenden Bedeutung, die der Sexualtrieb mit all seinen Auswirkungen auf die heutige Gesellschaft hat – nicht zuletzt in bezug auf die Bevölkerungsexplosion als eines der größten Probleme unserer Zeit –, dann scheint nichts (Originalbuchseite 251)
abwegiger, als ihn mit Lebensäußerungen wie Gesprächen, Vorlesungen, Forschung, Seminaren in unmittelbare Verbindung zu bringen. Und trotzdem handelt es sich aus evolutionärer Sicht um Vorgänge im Dienst derselben Leistung.
Die Leistungserbringung der Erwerbsorganisationen Wie schon gesagt, lassen sich die Erwerbsorganisationen gegenüber den Hyperzellern, aus denen sie hervorwuchsen, und den Staaten, mit denen sie in vielfacher Hinsicht verbunden oder gar identisch sind, nicht eindeutig abgrenzen. Je mehr der Lebensprozeß an Macht zunimmt, um so mehr verschmelzen die Strukturen, die ihn fortsetzen. Aus der Sicht der Evolution des Lebens ist festzustellen, daß der heutige Punkt dieser Entwicklung mit ihrem Anfang, der Urzeugung, eine gewisse Verwandtschaft zeigt. Bei der Urzeugung spielten günstige Umweltbedingungen eine wichtige Rolle, indem sie Grundleistungen übernahmen. Bei Hyperzellern und Erwerbsorganisationen sehen wir, wie etwa die Grundleistungen der Fortpflanzung und der Strukturverbesserung sich
teilweise oder ganz erübrigen. Bei der Fortpflanzung ist das der Fall, wenn erfolgreiche Menschen in andere Arten gleichsam eintreten, indem sie selbst die Aufbaukosten für neue Individuen ebendieser Arten übernehmen. Bei der Strukturverbesserung ist es ähnlich, wenn die Forschung mehr und mehr von staatlichen Stellen, also von der Gemeinschaft, übernommen wird oder wenn in Bereichen, in denen weiterer Fortschritt sogar zur Gefahr wird, sich zusätzliche Anstrengungen in dieser Richtung erübrigen. Zum günstigsten Entwicklungsfaktor könnte unter Umständen (Originalbuchseite 252)
die Umweltproblematik selbst werden: der erste gemeinsame Feind, dem die Lebensgesamtheit gegenübersteht. Ein gemeinsamer Feind, eine alle betreffende Gefahr kann das Wunder zuwege bringen, daß sämtliche individuellen Interessen und Zwiste sich wie Rauch auflösen und so eine auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtete Einheit entsteht. Das einzige wirkliche Novum, das sich mit der Entfaltung der größeren Staaten und Erwerbsorganisationen verbindet, ist die Erschließung der schwer zu bändigenden Atomenergie. Sie trat – in bezeichnender Weise – erstmals als Waffe und Vernichtungsmittel in Erscheinung und soll nun in die Fremdkräfte, die zusätzliche Organe antreiben, eingereiht werden. Da jeder Reaktor, auch wenn er bestens gesichert ist und seine Abfall- und Entsorgungsprobleme gelöst sind, eine potentielle Atombombe darstellt, die nur durch Beschuß oder Sabotage ihrer Schutzhülle beraubt werden muß, um die umliegende Gegend zu zerstören, und da ferner die Geschichte des Menschen auf das deutlichste gezeigt hat, daß ständig neue Konflikte auftreten und es immer wieder krankhaft veranlagte, unberechenbare Individuen gibt, dürfte es, wenn der Lebensprozeß sich endgültig konsolidieren soll, unabdingbar sein, diese Entwicklungslinie radikal zu beenden und die kurz geöffnete Pforte, trotz aller Verluste, welche dies der Gemeinschaft verursacht, wieder hermetisch zu schließen. Eine weitere ungefesselte Kraft von ähnlicher Tragweite ist das Geld, dem die Hyperzeller und die Erwerbsorganisationen ihre Fortschritte verdanken. In der freien Wirtschaft wird dieser Universalvermittler immer mehr zum übermächtigen Verführer und Götzen. Sicherlich ist es nicht einfach, die Vorzüge und die Gefahren, die seine Zusammenballung gleichermaßen bietet, dergestalt auseinanderzuhalten, daß (Originalbuchseite 253)
die Vorzüge wahrgenommen und den Gefahren ein Riegel vorgeschoben wird. Hier bin ich der Ansicht, daß dem erzieherischen Einfluß und einer entsprechenden Aufklärung der Kinder eine entscheidende Rolle in diesem kritischen Stadium der Lebensexpansion zukommt.
Die Gefahr der Selbstzerstörung des Lebens Da unser Planet von begrenzter Größe ist und somit für die Lebensentfaltung nur beschränkt Raum und die notwendigen Ressourcen bietet, ist die sich steigernde Vermehrung der Hyperzeller und der Erwerbsorganisationen inzwischen an einen kritischen Punkt gelangt. Dennis L. Meadows und seine Mitarbeiter haben in ihrem Buch Die Grenzen des Wachstums (1972) erstmals mit Nachdruck darauf hingewiesen, und seither ist es zu vielen Bestrebungen gekommen, den zahlreichen Umweltschädigungen entgegenzuwirken. Vereinigungen wie Greenpeace und Global 2000 bemühen sich in vorbildlicher Weise in aller Welt, auf die schnell akut werdenden Probleme aufmerksam zu machen sowie zu entsprechenden Aktionen und Verhaltensänderungen aufzurufen. Aus der Sicht der Lebensentwicklung scheint die heutige Situation allerdings so zu sein, daß sämtliche Bestrebungen dieser Art nur beschränkt Erfolg haben können, wenn man sich nicht mit den beiden eigentlichen Wurzeln des Übels auseinandersetzt: der immer schneller wachsenden Vermehrung der Menschheit und dem sich exponentiell steigernden Wirtschaftswachstum (Abb. 7). Das Thema des vorliegenden Buches ist der Nachweis, daß der Mensch nicht Höhepunkt, sondern Bestandteil der Lebensentwicklung ist und auch die Bildung unserer zusätzlichen Organgefüge deren Ge (Originalbuchseite 254)
Abb. 7: Die explosive Vermehrung des Menschen und der industriellen Wirtschaft. Beide Kurven, die auf den letzten Erhebungen beruhen, zeigen die Tendenz eines Wachstums, das auf einem Planeten begrenzter Größe nicht möglich ist. Jedes Schulkind kann dies erkennen. Wenn die führenden Köpfe in Wirtschaft und Politik dazu nicht imstande sind, liegt das an den Konsequenzen, die sich klar abzeichnen und die niemand wahrhaben will. Wüßte man, daß ein Komet auf uns zukommt und in genau berechenbarer Zeit die Erde vernichten wird, würde man sich vielleicht ähnlich verhalten. Dennoch läßt sich die selbstbewirkte, auf uns zukommende Katastrophe vermeiden. Allerdings muß innerhalb von ein bis zwei Generationen ein völliges Umdenken stattfinden. Neben dem Mahnwort »Erkenne dich selbst« auf dem Fries des Apollotempels in Delphi ist als weitere Maxime zu beherzigen: »Was können wir uns leisten?« (Originalbuchseite 255)
setzen folgt. Ich würde daher dem Anliegen meiner Theorie schlecht dienen,
wenn ich meine Beweisführung mit einer Anwendung auf umstrittene Augenblicksprobleme belastete. Andererseits wendet sich meine Theorie gegen viele geltende Grundüberzeugungen in verschiedenen Wissenschaften, so daß es an Gegnern sowieso nicht fehlen wird. In dieser Situation erscheint es mir richtig, nur kurz auf die Frage einzugehen, ob sich aus den bisherigen Ausführungen Schlußfolgerungen ergeben, die zur Bewältigung der jäh aufgetauchten, schicksalhaften Krise beitragen können. Als erstes ist vielleicht darauf hinzuweisen, daß seit dem Beginn der Evolution drei Werte stets von unbestrittener Bedeutung gewesen sind: Wachstum, Innovation und Vermehrung. Jede Art von Lebewesen, welche diese Fähigkeiten besaß, wurde von der natürlichen Auslese geradezu automatisch unterstützt. Und jetzt, in der kosmischen Mikrosekunde von knapp fünfzig Jahren, soll sich an diesen Grundprinzipien etwas geändert haben? Dies erscheint ebenso unglaublich wie absurd. Die wichtigsten und verläßlichsten Werte sollen mit einemmal neu überdacht und bewertet werden müssen? Ich behaupte, daß dies den meisten selbst bei bestem Willen nicht möglich ist. Wir und sämtliche anderen Lebewesen sind bis in die letzten Fasern unseres Körpers auf diese Werte pro(Originalbuchseite 256)
grammiert. Aufgrund unseres einsichtigen Denkens sind wir vielleicht in der Lage, die plötzlich eingetretene Veränderung und ihre Auswirkungen zu verstehen, doch ernsthafte Konsequenzen daraus zu ziehen ist etwas ganz anderes, zumal unsere Lebensspanne so kurz ist, daß man sich kaum vorstellen kann, die eigenen Handlungen hätten auf das Gesamtgeschehen irgendeinen Einfluß. Hinzu kommt die Informationsüberflutung, der heute fast jeder ausgesetzt ist. Die Medien vermitteln in ständigem Strom Neuigkeiten aus aller Welt, die kaum mehr Zeit lassen, sich in aller Ruhe eine eigene Meinung zu bilden. Des weiteren tritt ein uns ebenfalls angeborenes Verhalten hinzu, das in der Verhal(Originalbuchseite 257)
(Text zu Abbildung 8 auf Originalbuchseite 256)
Abb. 8: Perioden quantitativen und qualitativen Wachstums (stark schematisiert). Die Expansion der seit 4 Milliarden Jahren fortschreitenden Lebensentfaltung (A1, A2, A3) wurde schon zweimal durch
Perioden erzwungenen Nullwachstums unterbrochen (B1, B2). Nun gehen wir einer dritten solchen Periode entgegen (B3). In der Wirtschaft kann man sich zur Zeit ein Nullwachstum nicht vorstellen; statt dessen wird ein weiteres Wirtschaftswachstum angestrebt. Andererseits ist bei der begrenzten Größe unseres Planeten eine ständige Vermehrung des Menschen und der von ihm gebildeten Hyperzeller und Erwerbsorganisationen nicht möglich; nur ein Nullwachstum vermag eine weltweite Katastrophe zu verhindern. Da es in der Evolutionsgeschichte bereits, wie gesagt, zwei lange Perioden des Nullwachstums gegeben hat, sind wir in der Lage, die Folgen abzuschätzen. Ist quantitative Ausbreitung unmöglich, wird qualitatives Wachstum zum dominierenden Faktor; dann geht es darum, mit einem Minimum an Aufwand das qualitativ bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Auf unsere Situation bezogen, bedeutet dies eine Regelung der Vermehrung, ein Eindämmen nicht mehr erfüllbarer Luxusbestrebungen und von der Umwelt diktierte Rahmenbedingungen für Industrie und Wirtschaft (nach Hass, 1982). (Originalbuchseite 258)
tensforschung als »mitreißende Wirkung« bezeichnet wird und sich beim Menschen darin äußert, daß die Masse das Handeln des einzelnen stark beeinflussen kann – auch gegen seinen Willen und seine Vernunft. Der kanadische Philosoph und Soziologe Marshall McLuhan schrieb, jede technische Ausweitung führe »zu einer Art Betäubung des Menschen, die ihn benommen, taub, blind und stumm macht«. Für das Zentralnervensystem bedeute »jede Ausweitung unseres somatischen Körpers eine Schockwirkung, gegen welche es sich durch diese Reaktion schützt«. Das Auto, das Telefon, das Fernsehen und die Lawine eines immer größeren Angebots zusätzlicher Organe und zusätzlicher Möglichkeiten überfordert fraglos jene weiten Bereiche unseres Gehirns, zu denen unser Bewußtsein keinen unmittelbaren Zutritt hat und die wie ein Computer alles Neue irgendwie zu bewerten und einzuordnen versuchen. In gewissem Sinne ist der Mensch somit immer weniger in der Lage, sich mit weittragenden Problemen zu beschäftigen, die nicht unmittelbar für ihn von Belang sind. Zu nennen ist schließlich die ungeheure Macht der industrialisierten Wirtschaft, Produkte und Dienste zu verkaufen, um weiteres Wachstum zu gewährleisten. Hier gilt der englische Spruch »Grow or die!« – »Wachse oder stirb!«. Ich bin kaum je einem Wirtschaftler begegnet, der sich ein »Nullwachstum« vorstellen konnte. Man ist wohl bereit, erkannte Schäden zu bekämpfen und zu beseitigen, unterlaufene Fehler auch mit beträchtlichem Mitteleinsatz wiedergutzumachen. Nur eines vermag sich offenbar kaum jemand vorzustellen: daß nach Beseitigung aller Schäden das bisherige Leben nicht genauso weitergehen kann wie bisher. Doch gerade darauf werden wir uns einstellen müssen (Abb. 8).
Immerhin: Bei erkannter Gefahr hat sich der (Originalbuchseite 259)
Mensch häufig nicht bloß zu verändern, sondern auch zu steigern vermocht. Tatsache ist: Wir sitzen alle im gleichen großen Boot, das bereits zahlreiche Lecks aufweist. Zu bewältigen ist die Situation. Freilich nur, wenn jedermann unsere Lage bewußt wird.
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(Originalbuchseite 260)
Zusammenfassung und Schlußfolgerungen
Da dieses Buch eine lange Beweisführung ist, wird es dem Leser vielleicht angenehm sein, die wichtigsten Tatsachen und Schlußfolgerungen kurz rekapituliert zu sehen. Charles Darwin legte in seinem Werk über die Entstehung der Arten dar, daß die verschiedenen Arten nicht, wie damals angenommen wurde, das Ergebnis gesonderter Schöpfungsakte sind, sondern alle von gemeinsamen Urvorfahren abstammen. Er führte eine überwältigende Anzahl von Beweisen für diese Theorie an und wies nach, daß auch der Mensch Teil dieses Entwicklungsprozesses ist. Da die Nachkommen der einzelnen Arten einander nicht völlig gleich sind, sondern ihre Merkmale variieren, bewirkt eine natürliche Auslese ganz von selbst, daß sich die jeweils am besten Geeigneten durchsetzen. So kam es über lange Zeitspannen hinweg zu einer Höherentwicklung, bei welcher der natürlichen Auslese eine steuernde Wirkung zukam. Im vorliegenden Buch wird die Ansicht vertreten, daß der Mensch nicht, wie bis heute angenommen, augenblicklicher Endpunkt dieser Entwicklung ist, sondern funktionell mit jenen Einzellern verglichen werden kann, welche die vielzelligen Organismen hervorbrachten. Wie jeder Vielzeller bis heute aus einer Einzelzelle, der Keimzelle, hervorgeht, so gehen auch die von mir als Hyperzeller bezeichneten, noch größeren und leistungsfähigeren Lebewesen stets aus einem Menschen hervor, wobei wir diese Hyperzeller bloß aus unserer subjektiven Sicht nicht (Originalbuchseite 261)
in ihrer evolutionären Bedeutung und Stellung anerkennen. Alle berufstätigen Menschen samt ihren Werkzeugen, Werkstätten und Betrieben gehören zu diesen größeren Lebewesen, mit denen im Anschluß an Einzeller und Vielzeller eine dritte Ära der Lebensentfaltung einsetzte. Aus der großen Fülle neuer Arten, die sie bildeten, gingen im weiteren Entwicklungsverlauf die noch größeren und mächtigeren Erwerbsorganisationen hervor, zu denen in erster Linie die Wirtschaftsunternehmen gehören. Auch bei ihnen kam es je nach Erwerbsart zur Bildung zahlreicher weiterer Arten, deren Erfolg und Entwicklung nach wie vor der natürlichen Auslese unterliegen. Viele neue Faktoren wurden für ihre Bewertung bedeutsam, doch die Effizienz der neuen Arten blieb den gleichen, grundsätzlich meßbaren Kriterien unterworfen, die auch für Einzeller, Vielzeller und Hyperzeller maßgebend sind. Ihre Entwicklung wird gleichfalls ganz von selbst von der natürlichen Auslese gesteuert. In der bisherigen Biologie hält man die körperliche Beschaffenheit der Lebewesen und ihrer Organe sowie ihre Verhaltensweisen als für ihren Selektionswert maßgebend. Wie ich an zahlreichen Beispielen, besonders in Kapitel 1, gezeigt habe, können jedoch die gleichen Leistungen oft durch sehr verschiedene Körperbildungen, Organe und Verhaltensweisen erbracht werden. Meistens führt mehr als ein Weg »nach Rom«. Daraus leite ich ab, daß für den Selektionswert nicht die materiellen Gefüge und die Verhaltensweisen das eigentlich Ausschlaggebende sind, sondern die jeweils erzielten Leistungen, die, wie gesagt, auf sehr verschiedene Art erbracht werden. Fortschritte über Mutationen und Rekombinationen bei einem Verfahren können durch Fortschritte völlig anderer Verfahren übertroffen werden, die für die in (Originalbuchseite 262)
Frage stehenden Funktionen gar nicht entwickelt worden sind. Ich behaupte, daß bei sämtlichen Lebewesen, zu denen ich also auch die Hyperzeller und die Erwerbsorganisationen zähle, sechs Grundleistungen maßgebend sind, und gehe näher auf diese ein. Es sind dies in knapper Formulierung: Energieerwerb, Stofferwerb, Abwehr widriger und Nutzung günstiger Umweltbedingungen, Fortpflanzung und Strukturverbesserung. Dazu kommen zahlreiche Hilfsleistungen, die Spezialisierungen ermöglichen und aus denen sich die meisten Grundleistungen hierarchisch aufbauen. Wilhelm Ostwald wies darauf hin, daß sämtliche Organe und sämtliche vom Menschen gebildeten Werkzeuge als Energietransformatoren anzusehen sind, die aufgrund ihrer jeweiligen Ausgestaltung vereinnahmte Rohenergie in leistungserbringende Nutzenergie verwandeln. Ich stimme dem bei und erachte diese Erkenntnis als für meine Theorie von fundamentaler Bedeutung. Die meßbare Erfassung des Selektionswertes verschiedener Arten wurde bisher aufgrund der außerordentlichen Vernetzung ihrer Wirkungen als nur in Ausnahmefällen möglich angesehen. Sieht man hingegen in den Lebewesen nicht materielle Körper, sondern Leistungsgefüge – was unserem Denken beträchtliche Schwierigkeiten bereitet –, dann zeigt sich, daß ihre Effizienz nach den gleichen, grundsätzlich meßbaren Kriterien beurteilt werden kann. Ich bezeichne diese Kriterien als Kosten, Präzision und Zeitaufwand der Leistungserbringung, wobei, um zu noch genaueren Werten zu gelangen, zwischen der Aufbau- und der Funktionsperiode der leistungserbringenden Organe zu unterscheiden ist. In der zweitgenannten Periode ist zwischen Zeiten konkreter Funktionsausübung, Ruhepausen und Phasen, in denen es zu Funktionsveränderungen kommt, zu unter(Originalbuchseite 263)
scheiden. Auch darauf gehe ich in Beispielen näher ein.
Bei Einzellern und Vielzellern werden die meisten Organe durch entsprechende Differenzierung gebildet. In den Kapiteln 2 und 4 weise ich näher darauf hin, daß Organe nicht unbedingt mit dem Zellkörper fest verwachsen sein müssen und es ebensowenig von Bedeutung ist, aus welchem Material sie gebildet sind und auf welche Weise sie zustande kommen. Auf ihre Leistung kommt es an. Wie eine Reihe von Beispielen zeigen, bildeten bereits zahlreiche Arten von Pflanzen und Tieren über angeborenes Verhalten des Gesamtkörpers zusätzliche Organe, die vom Körper getrennt sind (etwa das Spinnennetz) oder aus anorganischem Material bestehen (etwa aus Lehm gebildete Vogelnester) und nicht selbst erzeugt werden (etwa das leere Schneckengehäuse, das der Einsiedlerkrebs zu seinem Schutzorgan macht). Sogar andere Lebewesen können in Organe des eigenen Leistungskörpers verwandelt werden (etwa die Zieheltern, die der Kuckuck zum Ausbrüten seiner Eier veranlaßt), ebenso alle Hyperzeller, die gegen Geld für andere Dienstleistungen verrichten. Bei Einzellern und Vielzellern waren der Leistungssteigerung über solche zusätzliche Organe Grenzen gesetzt, weil deren Bildung auf angeborenen Steuerungen im Zentralnervensystem beruht, die über Mutationen und Rekombinationen zustande kommen und somit auf die Kodierung im Genom angewiesen sind. Erst beim Urmenschen, dessen geistige Fähigkeiten sich so sehr gesteigert hatten, daß er gezielt zusätzliche Organe bilden und über den Weg der Sprache die Anweisungen, wie diese herzustellen und zu gebrauchen sind, an Mitmenschen und Nachkommen weitergeben konnte, wurde es möglich, daß sich ein Lebewesen auf die Bildung und die Verwendung ver(Originalbuchseite 264)
schiedener solcher Einheiten (etwa Werkzeuge, Waffen, Kleider) auszurichten vermochte. Er wurde zu einem Spezialisten in vielseitiger Spezialisation. In den von ihm gebildeten Verbänden
kam es in der Folge zu einer Arbeitsteilung, wobei sich manche auf die Herstellung benötigter Produkte, andere auf jene benötigter Leistungen spezialisierten. Das Geld wurde hier zu einem Universalvermittler, der es erlaubte, über eigene Leistung in den Genuß der Leistungen anderer zu kommen. Nun spalteten sich die so entstehenden Hyperzeller in eine große Anzahl von Arten auf, wobei nach wie vor die natürliche Auslese darüber bestimmte, was sich durchsetzen und vermehren konnte, und so auch der Entfaltung immer neuer Arten den Weg wies. Bei den Hyperzellern wurde auch artungleiche Fortpflanzung möglich – ein wesentlicher evolutionärer Fortschritt. Alle Hyperzeller werden von Menschen aufgebaut, die als steuerndes Zentrum auch in den Genuß der Erträge gelangen, welche diese erzielen. Ein Schmied ist keineswegs dazu gezwungen, seinen Gewinn in weitere Schmieden zu investieren. Jedes Individuum vermag also sehr verschiedene Hyperzeller zu bilden. Auch Berufswechsel und damit Artwechsel sind nunmehr möglich – ein weiterer Fortschritt. Da Informationen über immer größere Distanzen weitergegeben werden können (Briefe, Telefon, Radio, Fernsehen), steigerte sich der Fortschritt immer schneller. Der Energieerwerb über Tauschvorgänge fügt jenem der Pflanzen (Photosynthese) und der Tiere (Erwerb fremder Organgefüge, Freisetzung der darin enthaltenen chemischen Bindungsenergie) eine dritte Variante hinzu, für die der Vermittler Geld Voraussetzung ist. Über eigene Produktion oder Dienstleistung wird Geld erworben, mit dem sich in einem zweiten Tauschvorgang Nahrung und sonst Benötigtes kaufen (Originalbuchseite 265)
läßt. Ich nenne deshalb diese Art des Energieerwerbs von Hyperzellern »Erwerb über doppelten Tausch«. Daneben gab es weiterhin viele Arten von Hyperzellern, die sich der von den Tiervorfahren ererbten räuberischen Erwerbsform befleißigten
(Jäger, Fischer, Landwirte) oder sich auf den gewaltsamen Erwerb von Geld und Objekten, die sich in Geld verwandeln lassen, spezialisierten (Einbrecher, Räuber, Erpresser). Bei den meisten kriegerischen Auseinandersetzungen war der Raub fremder Territorien und Wertobjekte ein wesentliches, wenn nicht überhaupt das eigentliche Motiv. Hinzu kamen weitere Formen des Energieerwerbs. Ursprünglich wurden Werkzeuge und Waffen mit körpereigener Energie betrieben, was jedoch wenig ökonomisch ist. Bei den notwendigen Energieumwandlungen, die mit der Beutesuche beginnen, sich im Vorgang des Fressens und Verdauens fortsetzen, worauf die Energie über den Blutstrom in die Zellen gelangt, dort freigesetzt und in Spezialleistungen verwandelt wird, geht wegen der laufenden Verluste bei den genannten Vorgängen 80 bis 99 Prozent der freien Energie verloren (sie verwandelt sich in Wärme, die in die Umwelt entweicht). Weit rationeller ist es, in der Umwelt vorhandene freie Energie, etwa die der Winde und der Flüsse, später auch die in Holz, Kohle und Rohöl enthaltene, dazu zu bringen, direkt zusätzliche Organe zu betreiben (Segelboot, Wassermühle). Die Verluste sind dann erheblich geringer. Hier erwies sich die Elektrizität als ein dem Geld vergleichbarer Universalvermittler, der es gestattet, eine Energieform (etwa Wasserkraft) über weite Strecken zu leiten und dort beispielsweise in kinetische Energie (Maschine), in Lichtenergie (Glühbirne), in Wärme (Heizofen) zu verwandeln. Dieser Erwerb von Fremdenergie anstelle der mit der Nahrung aufgenommenen Energie ist für den Betrieb zu(Originalbuchseite 266)
sätzlicher Organe (vor allem Maschinen der verschiedensten Art) wesentlich ökonomischer und hat die Entfaltung der Hyperzeller und des Menschen nachhaltig gefördert. Er prägt den Weg der wirtschaftlichen Entwicklung. Allerdings kommt es auch hier auf Effizienz an. Diese Entwicklung wird nicht eigentlich vom menschlichen Geist gesteuert. Dieser erfand zwar vieles, doch nur
das, was sich bewährte, konnte sich durchsetzen. So steuert die natürliche Auslese, unter Einbeziehung immer neuer erfolgsrelevanter Faktoren, auch diesen gesamten Bereich der Erschließung zusätzlicher Energiequellen. Die größeren Wirtschaftsunternehmen sind davon besonders betroffen. Es kam zu industrieller Fertigung; Stück für Stück gingen Leistungen des Menschen auf zusätzlich gebildete Organe über, sogar Gehirnfunktionen, wie am deutlichsten die Entwicklung der Elektronik, besonders des Computers, zeigt. Die immer größeren, mächtigeren Erwerbsorganisationen verharrten bei der Erwerbsform über doppelten Tausch, wobei allerdings die dem Menschen angeborenen Raubinstinkte die Geschäftsabwicklung insofern stören, als sie zum Einsatz räuberischer Strategien führen. Kundenorientierte, zielgruppenorientierte und mitarbeiterorientierte Strategien sind Produkte nüchterner Überlegungen und setzen sich gegen die angeborenen Instinktweisungen des »Immer-noch-Räubers« und des »Quick money« nur allmählich durch. Doch nur so ist es möglich, Stammkundschaft, auf die es ankommt, zu erwerben und gute Mitarbeiter, die nicht weniger wichtig sind, an den Betrieb zu binden. Im übrigen sind die Wirtschaftsunternehmen mächtiger, weil sie ihre Aktivität über den ganzen Erdball auszudehnen und langfristig zu planen vermögen. Andererseits sind sie durch die notwendige Überwachungs- und Steuerungshierar(Originalbuchseite 267)
chie schwerfälliger, was wiederum, weiterhin durch die natürliche Auslese gesteuert, zur Aufsplitterung in Einzelbetriebe führt, die flexibler zu arbeiten imstande sind. Daß es bei diesen Giganten auch zu stärkeren sozialen Spannungen kommen kann als bei den wesentlich kleineren und übersichtlicheren Hyperzellern, liegt – aus evolutionärer Sicht – auf der Hand. Auch die engere Verbindung mit den Staatsorganen ist davon betroffen.
Die Staatenbildung, mit deren Wesen sich Philosophen und Staatstheoretiker eingehend beschäftigt haben, wird durch meine Theorie einer vielleicht überraschenden Erklärung näher gebracht. Wie ich ausführte, sind die vom Menschen erzeugten zusätzlichen Organe das Rückgrat aller der dritten und der vierten Evolutionsphase angehörenden Lebewesen. Über sie sprengte die Lebensentfaltung viele Fesseln, die durch die Bindung an die DNSFäden in dem winzigen Kern sämtlicher einen Vielzeller aufbauenden Zellen gegeben sind. Auf dieses bisher kaum beachtete Thema bin ich in Kapitel 8, dem letzten Kapitel, näher eingegangen. Die zusätzlichen Organe boten enorme Vorteile, waren aber auch mit einer besonders gravierenden Hypothek belastet. Da sie anderen fast ohne Werteinbuße ebensogut nutzten, galt es sie vor Diebstahl und Raub zu schützen. Die einzige Möglichkeit für eine wirksame Lösung war das große Gemeinschaftsorgan Staat, welches das Eigentum der Bürger, der Hyperzeller und der Erwerbsorganisationen schützt: durch Heere, Kanonen, Flugzeuge gegen den Angriff anderer Staaten, durch Gesetzgebung, Polizei, Gerichte und Gefängnisse gegen die räuberischen Tendenzen im Verbands- oder Staatsinneren. Ein solches Riesenorgan kann durch Umsturz und Diktatur recht schnell einem Hyperzeller oder einer Erwerbsorganisation unterworfen werden. (Originalbuchseite 268)
Der Verlauf der menschlichen Geschichte zeigt in großer Anzahl anschaulich solche Ereignisse. Auch auf demokratischen Wegen können sich Staaten in Erwerbsorganisationen verwandeln: durch Handelsförderung, Touristenattraktionen, Kreditgewährung zur Wirtschaftsbelebung und anderes mehr. John Kenneth Galbraith hat auf Symbiosen zwischen Großunternehmen und Großstaaten (besonders in den USA) hingewiesen. Wir leben heute in einer Zeit, in der sich fast jedes Interesse mit einer Unzahl anderer
Interessen verflicht. In Kapitel 7 habe ich dargelegt, welch kuriose Rolle der Mensch in der Ära der Hyperzeller und der Erwerbsorganisationen spielt. Während die Keimzelle, die Vielzeller aufbaut, in deren ebenfalls riesigem Gefüge faktisch aufgeht, hat der Mensch, der ja mit seinen zusätzlichen Organen wie Werkstätten, Fabriken, Unternehmen, Konzernen nicht fest verbunden ist, eine völlig andere Position. Er ist frei beweglich. Zwar ist er an die Hyperzeller, die er leitet, und die Erwerbsorganisationen, in denen er tätig ist, insofern gebunden, als er hier an den so wichtigen Geldverdienst gelangt. Doch was er damit tut, liegt weitgehend an ihm. Und bei seinem angeborenen Triebinventar ist es verständlich, wenn er sein Leben so gestaltet, daß er seine Annehmlichkeit, seine Empfindungen der Lust und des Glücklichseins optimiert. Er umgibt sich, wenn die Mittel es ihm gestatten, mit immer mehr lustspendendem Inventar. Fast hat es den Anschein, als sei er eine Art von Parasit, der alle in ihm verborgenen Quellen positiver Gefühle sorgsam erforscht und erschließt. Doch dem ist nicht so. Die Hyperzeller und die Erwerbsorganisationen, denen er dergestalt Mittel entzieht, werden durch diese seine Neigung keineswegs geschädigt. Denn gerade diese Grundausrichtung seines Trachtens wird in der drit(Originalbuchseite 269)
ten und der vierten Ära der Lebensentfaltung zum allerstärksten Motor dafür, daß er sich um Gelderwerb bemüht. Die freie Wirtschaft wiederum hat allen Grund dazu, diesen Glutofen besonders zu schüren. Immer neue Verfeinerungen, Vergnügungen, Luxusobjekte jeder Art werden produziert und angeboten, mit raffinierter Werbung schmackhaft gemacht und der Konsument in ständig neue Konsumkanäle gelockt. Inzwischen hat die Entwicklung bedrohliche Ausmaße
angenommen. Die zahlreichen Produkte und Tätigkeiten, so zeigt sich in aller Deutlichkeit, werden für die Dimensionen unseres Planeten und seine Ressourcen zuviel, schädigen immer spürbarer die übrigen Lebewesen, die Atmosphäre, das Land und die Gewässer – und uns selbst. Im letzten Kapitel bin ich kurz auf diese Gefahren und die wenig wahrscheinliche Möglichkeit einer Bewältigung der Situation, mit der wir höchst unvorbereitet konfrontiert worden sind, eingegangen. Mit dem Inhalt des vorliegenden Buches, in dem ich Darwins großem Werk einige weitere Gedanken hinzufüge, hat dies freilich nur mittelbar zu tun. Ob uns die Einsicht in unsere phylogenetische Entwicklung und unsere derzeitige Lage dabei helfen kann, sie besser zu bewältigen, bleibe dahingestellt.
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(Originalbuchseite 270)
Dank und Nachwort
Da sich die Untersuchungen, die zu diesem Buch führten, über mehr als drei Jahrzehnte erstreckten, ist es mir leider nicht möglich, alle, die mir durch Information, Beratung und Kritik geholfen haben, namentlich anzuführen. Meinen besonderen Dank möchte ich Herrn Prof. Dr. Erhard Oeser aussprechen, dem Vorstand des Instituts für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung an der Universität Wien, mit dem ich über zwei Jahre hinweg in regelmäßigen Abständen meine Theorie kritisch diskutieren konnte, was mir zu wertvollen Einsichten und auch zu beträchtlicher Ermutigung verhalf. Wichtige Anregungen erhielt ich bei der Niederschrift von Prof. Dr. Ernst Mayr (Harvard Universität), der mir laufend kritische Anmerkungen schickte und äußerst wertvolle Ratschläge gab. Da er wie kein anderer das umfangreiche Gebiet der Evolutionsforschung überblickt, waren mir neben seinen wegweisenden Büchern seine persönlichen Korrekturen und Fingerzeige besonders wichtig. Mein Mitarbeiter Dr. Andreas Hantschk führte für mich umfangreiche Recherchen durch und gab mir kompetente Hinweise aus Sicht der jüngeren Generation von Biologen. Er fertigte auch die Illustrationen an. Meinem Verleger, Herrn Viktor Niemann, danke ich für sein Verständnis und bedaure, daß ich durch Verzögerungen in der Ablieferung Schwierigkeiten bereitete. Herrn Wolfgang Schuler und Herrn Hermann Josef Barth bin ich für Ratschläge in der Gestaltung und für ihr vorzügliches Lektorat besonders verpflichtet. Mir ist bewußt, daß dieses Buch trotz aller Bemühung, Unklarheiten und Fehler zu vermeiden, sicher
(Originalbuchseite 271)
noch manche enthält, und ich bin für jede kritische Anmerkung dankbar. Da sich meine Theorie gegen bisher als gesichert angesehene Grundauffassungen und Lehrmeinungen wendet (wie etwa den bisherigen Organbegriff, den Artbegriff und die materielle Struktur der Lebewesen als Selektionskriterium), habe ich mich bemüht, durch eine möglichst einfache und klare Darstellung Mißverständnissen vorzubeugen und durch einen Überblick über die wichtigsten Themen einerseits kurz und andererseits vollständig zu sein. Daß ein Werk von mehrfacher Länge notwendig wäre, um auf die vielen Widersprüche, die sich zum gewohnten Denken ergeben, einzugehen, ist mir durchaus klar. Indessen schien es mir wichtiger, ein auch für interessierte Laien lesbares Buch vorzulegen. Denn die Theorie der Hyperzeller geht nicht nur die Vertreter einzelner Wissenschaften an, sondern jeden, der über sein Dasein und dessen Bedeutung nachdenkt.
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(Originalbuchseite 272)
Literaturverzeichnis
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(Originalbuchseite 275)
Register (kursive Zahlen verweisen auf die Abbildungen)
Abstammungslehre s. Deszendenztheorie Abstimmung 161 Abwehr – von Feinden 25 ff. – widriger Umwelteinwirkungen 34, 54, 235 Ackerbau 81 Aggression 227 f. Ameisenlöwe 51 ff., 66 Amoeba euglypha und A. difflugia 106 f., 108, 114, 119 Anforderungsprofil 183 Arbeitsteilung 87, 129, 222 Aristoteles 15 Artbegriff 103 Arten 97, 228, 261 – der Berufe 98, 100 – der Hyperzeller 101, 209, 264 Artenbildung 88 Atomenergie 252 Austernfischer (Haematopus) 230
Dawkins, Richard 92 f. Delphine 73 Deszendenztheorie 11, 13, 15, 232 Dienstleistung 94 f., 141, 155
Effizienz 175 ff. –kriterien 176 ff., 262 – –, Abstimmung, Korrelation der 186, 193 – – in der Aktivitätsperiode 192 ff. – – in der Aufbauperiode 191 –schema (Grundschema der Konkurrenzfähigkeit) 187, 188, 194, 203 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus, 10, 60 Eigen, Manfred 234 Einmieter in Schwämmen 148 f. Einsiedlerkrebs 109, 119 ff., 126 Einstein, Albert 154 Einzeller 35, 67, 86, 111, 140, 157, 162 –, Leistungserbringung der 233 ff. Endosymbionten 130, 237 Energie 32 f., 36 f., 144 ff., 150 f., 162, 246, 248, 262, 265 Berger, Roland 190 –bilanz 61, 146, 159, 178 Bindung 159 Bindungsenergie, molekulare 33, 36, 145 –erwerb 32 f., 40, 43, 119, 131, 136, 233, 241, 246, 248 Blutkreislauf 23, 30, 112 f., 197 – der Hyperzeller 99 f. Brutfürsorge 55, 128 – der Pflanzen 33, 99 Brutpflegetrieb 212, 216 – der Tiere 33, 99 Buchli, Harro 46 – durch Vermittlung 97 Buntspecht 116 –, Formen der 149 ff. Chilenischer Nasenfrosch (Rhinoderma) –transformatoren 36, 262 –verlust durch Umwandlung 144 ff., 265 60
Crome, Wolfgang 46 Darwin, Charles 11, 15 ff., 31, 38, 82, 115, 175, 232, 260 (Originalbuchseite 276)
–, Wirkungsgrad der 148 Gemeinschaften 83 ff., 91 Engels, Friedrich 173 Gemeinschaftsgewohnheiten 224 Erfolg 25 ff., 28, 31, 104 Gemeinschaftsorgan 84, 143, 150, 164 Erwerbsorganisationen 142, 163, 261 – des Schutzes 98, 167 –, Leistungserbringung der 251 f. Gemeinschaftstrieb 222 Evolution(-s) 69, 73, 84, 88, 102, 137, Genom 35, 48, 70, 80, 90, 126, 129 175, 238 Goethe, Johann Wolfgang von 194, 201 –, aus Sicht der 75, 90, 121, 164, 206, 213,Großhirnrinde 70, 90 220 Großmutation 70, 92 –fördernde Mechanismen 92, 135 Großfußhühner (Megapodiidae) 61 –fortschritte 92, 195, 210, 216 Grundleistungen 31 ff., 70, 81, 89, 136, –, Umwege der 96 233, 238, 246, 262 – und Werte 255 Haeckel, Ernst 15 Falltürspinne 43 ff., 44 Haken, Hermann 203 Fichte, Johann G. 172 Handel 96 Filmaufnahmen 10, 78, 94, 114, 215, 218 Hertwig, Oskar 173 ff. Hilfsleistungen 31 ff., 36, 55, 81, 238, 262 Forschungstrieb 217 Hobbes, Thomas 172 Fortpflanzung 35, 54, 129, 134 ff., 245 Holst, Erich von 37 –, artgleiche 157, 208 Homo habilis 77 –, artungleiche 35, 264 Homo sapiens 77 Fremdenergie 151, 246, 248, 265 Homo Proteus 78 ff., 92, 102, 128, 150, 204, 207 f. Frisch, Karl von 40, 56, 61 Frith, Harold J. 62 Honiganzeiger (Indicator) 97 Funktion(-s) 24 f., 195 Honigdachs (Mellivora) 97 –erweiterung 196 f. Hyperzeller 13, 65 ff., 77, 100 f., 141 f., –konflikt 138 155, 163, 260 –partnerschaft 202 –, Fortpflanzung der 249 –teilung 200 –, Fortschritt der 91 –überbürdung 200 – höhere Integration 86 –wandel 195 ff., 198 –, Leistungserbringung der 246 ff. –wechsel 200 f. –, Leistungsverlagerung bei 247 f. –theorie 13, 15, 227, 232 –zusammenlegung 202 Hyperzyklus 234
Galbraith, John K. 172 Ichbewußtsein 69, 209, 226 Gehlen, Arnold 219 immaterielle Werte 104 Geld 89 ff., 221, 252, 264 Imponiertrieb 222 – und Energie 100, 153, 156, 177 – als übernormaler Schlüsselreiz 229, 231 (Originalbuchseite 277)
Informationstransfer 49, 102, 138, 235 Instinktverhalten 79, 205 f.
Lernvorgänge 66, 80, 216 lineares Denken 18 Linné, Carl von 77 Javanischer Flugfrosch (Rhacophorus) 58 Lorenz, Konrad 76, 203, 227 Lustgefühle 210 Jellinek, Georg 171 Lust-Unlust-Steuerung 213 Luxus 204, 207 Kampf ums Dasein 16, 82, 123, 193 Luxusstrukturen 207 ff. Kapp, Ernst 173 Keimzelle 55, 67, 93, 135, 268 Kelsen, Hans 164 Kjellén, Rudolf 173 Kleptocniden 122 Köcherfliegenlarve 45, 51 f., 107, 110 Köhler, Wolfgang 67 f. Körper 30 Konkurrenten 28, 34, 83, 157, 178 f., 191 Koordination 160 Korallenpolypen 122, 148 Kosten 176 ff., 191 f. Kreuzspinne 40 ff. Krüger, Herbert 171 Kuckuck 62 f.
Marx, Karl 172 Masse-Energie-Äquivalent 154 Mayr, Ernst 23 Mauerläufer (Tichodroma) 115, 116, 119 maulbrütende Fische 59 f. McLuhan, Marshall 258 Meadows, Dennis L. 253 »Mega-Shift« 91 Mensch – als Keimzelle 217, 260 – als Organ 214 –, Entstehung des 72 f. –, Stellung des 67 ff., 214, 228 –, subjektive Selbsteinschätzung des 77 – und Hyperzeller 100 f. Lamarck, Jean-Baptiste de 92 – und seine Besonderheiten 204 ff. Laplace, Pierre-Simon de 170 Miete 133 ff. Leakey, Louis 77 Miller – Experiment 233 Leben 113, 149 Lebensentfaltung 103, 113, 134, 157, 187, Mitochondrien 236, 242, 248 Mittelstaedt, Horst 37 196, 228, 246, 257, 261 –, Gefahr der Selbstzerstörung der 253 f. Mutation 35, 42, 53, 64, 69 ff., 92, 239, 249 Lebewesen 158 f., 194, 246 Myzetome 130 –, Großgruppen von 162 f. Leistung 24 f., 114, 232, 261 –, lebenswichtige 29, 65
Nachtigall, Werner 145
Leistungsgefüge (Leistungskörper) 36, 39, Nahrungstrieb 210, 219, 229 50, 53, 65 f., 79, 85, 89, 95 f., 103, 124, Naturalientausch 88 f. 133, 155, 159, 232, 246 natürliche Auslese 12, 17 f., 27, 31, 37, 47 Leistungsprofil 162, 183 f., 82, 159, 210, 232, 234, 260 Leistungstausch 90, 94 –, Intransparenz der 21 ff. Leistungsverlagerung s. Shift Neugiertrieb 215 ff., 219 Nutzenergie 37, 144, 150, 162 Nutzung günstiger Umweltfaktoren 35, 50 ff. (Originalbuchseite 278)
Oktopus (Octopus) 59 Ölkäfer (Meloe) 21 Organ 12, 42 f., 48, 132 –begriff, erweiterter 122 –bildung 49, 66, 90, 103, 106 ff. Organellen 86, 122, 236 Organismus höherer Integration 128, 158 Ostwald, Wilhelm 36, 153, 262 Passungsverhältnis (Schlüssel-Schloß) 162, 181 Pearse, Arthur S. 149 Pillenwespe (Eumenes) 55 Pinzettfisch (Forcipiger) 114, 119 Phantasie 68, 82, 225 Photosynthese 33, 134, 236 Plastiden 33, 236, 248 Platon 172 Popper, Karl 23 Präzision 176 f., 181 ff., 192 f. Qualität 37, 186 f., 190 Rekombination 35, 42, 53, 64, 69, 239, 249 Religion 85, 224 f. Rohenergie 37, 146, 262 Schelling, Friedrich W. J. 172 Schiffshalter (Echeneis) 26
Shift 70 ff., 90 f., 93, 127, 137, 169, 228, 237 Sicherheitstrieb 206, 211, 217 Sitte 85, 218 – und Brauchtum 224 Spechtfink (Cactospiza) 116, 118 Spencer, Herbert 37 Spinnennetz 40 ff., 66, 113 Spezialisierung 49, 75 f., 80, 84, 88 Spezialist auf Unspezialisiertsein 76 Spezialist in vielseitiger Spezialisierung 77, 85, 102, 264 Spiegelobjektiv 10, 78, 94 Sprache 70, 80, 92, 226, 263 Staat(-s) 143, 163 ff., 267 –formen 171 f. –, liberaler 170 –, moderner 171 –, vollendeter 171 Staatsformen 171 f. Stofferwerb 34, 40, 119, 233 Symbiose 94, 127, 135, 203 – von Anemonenfisch und Seeanemone 29 – von Einsiedlerkrebs und Seeanemone 125 ff. – von Korallenpolyp und Algen 132 – von Termite und Einzellern 130 –, zeitlich begrenzte 139 f. Tausch 89 ff., 94, 264
Schimpansen 67 f. Schlüsselreiz 206 –, übernormaler 228, 230 Schneidervogel (Orthotomus) 57 Schrift 80, 92, 226 Schutzorgan 120 Schwertschnabelkolibri (Ensifera) 115, 119 Seghezzi, Hans-Dieter 190 Selektion s. natürliche Auslese Selektionswert 23, 25, 31, 64, 101, 133, 175 ff., 184 f., 195, 210, 249, 261 Sexualität 137, 249 Sexualtrieb 206, 212, 219
–, doppelter 99, 264 – und Präzision 182 Tautologie 38 Teilhard de Chardin, Pierre 75 Time-Cost-Quality-Leadership 190 Tinbergen, N. 37 Töpfervogel 56 Triebe 206 –, erworbene 223, 231 –, angeborene 223, 231
(Originalbuchseite 279)
Überleben des Bestgeeigneten 37 f., 56 Umweltproblematik 252 Unternehmen 143, 154 ff., 266 Urzeugung 233, 251
–, von Bevölkerung und Wirtschaft 254 Weberameise (Oecophylla) 57 Webervögel (Ploceidae) 57 Werkzeuge 42, 49, 125, 262 Werkzeuggebrauch 72, 118 Verbesserung 22, 35, 70, 92, 128 f., 134 Wirkungsgefüge 37 Wirtschaftsunternehmen s. Unternehmen ff., 180, 235, 245, 249 f. Wollkrabbe (Dromia) 124 Verdauungshelfer 130 f. Vererbung erworbener Eigenschaften 92 Wüstenratte (Dipodomys) 21 Verhalten(-s) 23 –, angeborenes 42, 48, 54, 75, 83, 101, Xarifa-Expedition 59 213, 222, 227 –, erworbenes 223, 228 Zeitaufwand 176 f., 185 ff., 192 f. –forschung 205 Zelldifferenzierung 47 f., 54, 64, 113, 129, –, Schrittmacherprinzip und 132, 180, 238 f., 243 Speerspitzentheorie des 24 Zelle als Baumaterial 111 ff., 140, 242 –steuerung 26, 64, 116, 200, 206, 226 Zellkern 243 f. Viehzucht 81 Zellkörper (somatischer Körper) 50, 54, Vielzeller 35, 67, 77, 86, 111, 140, 157, 64, 86, 89, 103, 209 163 Zelltheorie von M. Schleiden und T. –, Leistungserbringung der 238 ff. Schwann 47 –, Verlagerung von Leistungen bei 240 f. zusätzliche Organe 12, 39 ff., 44 f., 48 f., Vorstellungsvermögen 68, 82, 102 52, 54 ff., 64, 71 f., 108 f., 116, 119, 263 –, Antrieb von 144 f. Wabenkröte (Pipa) 56 –, Herstellung von 87 f.
Wachstum –, quantitatives und qualitatives 257
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–, Raub von 84, 165 ff. –, Typen von 80 Zweigeschlechtlichkeit 128