Das neue Abenteuer 389
Andor F6ti: Die Gäste aus Loge zwei
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Titel d...
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Das neue Abenteuer 389
Andor F6ti: Die Gäste aus Loge zwei
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Titel des ungarischen Originals: "A 2. paholy vendegei" Ins Deutsche Übertragen von Hans Skirecki Illustrationen von JÜrgen Wagner © Verlag Neues Leben, Berlin 1979 Lizenz Nr. 303 (305/67/79) LSV 7713 Umschlag: JÜrgen Wagner Typografie: Walter Leipold Schrift: 10 p Excelsior Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 642 797 4 DDR 0,25 M
In den Zeitungen habe ich gelesen, der "Tanzpalast Budapest" werde in "Moulin Rouge", also "Rote MÜhle", umbenannt. Wer in meinem Alter ist, wird sich bestimmt erinnern, daß er schon einmal "Moulin Rouge" hieß. Nach der Befreiung war das hÜbsch eingerichtete Tanzlokal mit seinem ständigen Revueprogramm ein regelrechter Kriegsschauplatz, denn dort trafen sich die Piraten der Inflationswogen, um die "Schönheiten" des Lebens in vollen ZÜgen zu genießen . Neulich, eines Abends, ging ich mit meiner Frau in dieses Lokal. Die Kellner eilten uns zuvorkommend entgegen. "Loge zwei . Gibt es bei Ihnen Überhaupt eine Loge zwei?" erkundigte ich mich. Man geleitete uns zu dem einen Seitentisch. Ich schob meiner Frau höflich den Stuhl zurecht, dann setzte ich mich auch selbst hin. Und während der Kellner den obligatorischen Sekt servierte, wanderten meine Gedanken zurÜck zu den Gesichtern und den Leidenschaften jener Zeit.
Unser Mittagessen war damals in Butterbrotpapier eingepackt. Ein StÜckchen Sojawurst, ein StÜck steinhartes Brot und danach ein Glas Wasser. Das Läuten des Telefons durchbrach unsere Ruhe. Ich wurde zu dem einen Stellvertreter des Polizeipräsidenten beordert. Ein sowjetischer Oberst und ein Gemeindeschreiber erwarteten mich. "Bitte das ansehen", sagte der sowjetische Offizier, "bitte diese Quittung ansehen!" Er legte mir einen Zettel vor. Obwohl ich nicht russisch spreche und ebensowenig in Puschkins schöner Sprache schreiben und lesen kann, konnte ich immerhin feststellen, daß der Zettel mit Zeichen beschrieben war, die an die
russischen Schriftzeichen erinnerten, in Wirklichkeit aber sinnlose Krakel waren. Ich konnte nur eine Zahl erkennen: 2000, und dahinter stand ein zweimal durchgestrichenes $, das Symbol fÜr den Dollar. "Ich erbitte Ihre Hilfe", sagte der sowjetische Offizier in gebrochenem Ungarisch. "Wir beschlagnahmen nicht Fleisch, wir brauchen nicht. Front ist vorbei, Nachschub ist gut, wir beschlagnahmen nicht Fleisch. Und schon gar nicht mit Waffen auf ungarische BÜrger zielen und Neubauern das einzige Kälbchen wegnehmen. Siebzehn aus einem Dorf! BetrÜger, Halunke, Hochstapler hat sowjetische Uniform gestohlen und raubt jetzt die Dörfer aus." Na, das wird eine schwierige Sache, dachte ich mir. Als dann der ungarische Begleiter des sowjetischen Offiziers berichtete, was vorgefallen war, kam mir die Angelegenheit noch schwieriger vor. "Vor einer Woche", erzählte er, "kamen in einem Jeep drei Personen zu uns, ein sowjetischer Offizier und zwei ungarische Männer. Sie ließen mich durch den Gemeindediener holen und teilten mir mit, wir mÜßten fÜnfundzwanzig KÜhe oder Kälber fÜr die sowjetische Armee abliefern. Der eine Ungar sagte, ich wÜrde mit meinem Leben dafÜr haften, daß das Vieh binnen zwei Stunden vor dem Gemeindeamt stehe. Ich ließ sofort austrommeln: Wer zwei KÜhe oder Ochsen hat, bringt ein Tier davon sofort zum Gemeindeamt, wir kaufen es ihm ab. Aber niemand kam. Da ging meine Frau schluchzend von Haus zu Haus und flehte die Leute an: ,Wenn ihr wollt, daß mein Mann am Leben bleibt, dann bringt das Vieh!' Einige wenige Bauern ließen sich Überreden, aber es kamen nicht genug Tiere zusammen. Nun sagte der sowjetische Soldat etwas zu dem einen Ungarn, und der Übersetzte:
,Die sowjetische Armee zahlt fÜr ein Tier hundert Dollar.' Wir bekamen auch eine Quittung, den Zettel da, Über zweitausend Dollar. Er sagte noch, in ein paar Tagen wÜrde der Finanzdienst kommen und bezahlen, wenn wir die Quittung vorlegten." Der sowjetische Offizier hatte dem apathischen Bericht des Gemeindeschreibers aufgebracht zugehört. Er ließ sich die "Quittung" geben und zeigte auf den "Stempel", der auf den unteren Rand des Zettels gedrÜckt war, dann zog er ein RubelstÜck aus der Tasche, drÜckte es mit der Kopfseite auf das Stempelkissen und danach auf ein leeres Blatt Papier. Die beiden AbdrÜcke stimmten genau Überein. "So hat der Halunke den Stempel gemacht!" sagte er. "PlÜndert damit Neubauern aus, arme Leute, wir kennen diese Sorte. DafÜr gibt es im Krieg eine Kugel . Nicht fÜr so was", berichtigte er sich, "fÜr viel kleinere Dinge. Ein Dorf ausrauben, ja, das haben sie gelernt, aber ." Er winkte ab. "Bitte fangen die Banditen", fuhr er dann fort. "Wir sind Freunde, Waffenstillstand, Krieg aus, Zivilverwaltung in Ihren Händen, Arbeiter bitte sollen die Banditen fangen!" "Und was sage ich zu Hause?" warf der Gemeindeschreiber ein. "Die Leute warten auf ihr Geld, sie wollen Vieh kaufen, jetzt kommen die Sommerarbeiten, da brauchen wir die KÜhe nicht nur der Milch wegen. Soll ich nach Hause fahren und sagen: Na, liebe Leute, ich bringe schlechte Post mit ." "Das braucht ihr!" unterbrach ihn der sowjetische Offizier. "Einen Posten, der aufpaßt! Wir geben euch Gewehr und Munition. Wenn Sie Übernehmen die KÜhe, ich lasse ihnen geben ein Gewehr und zweihundert Schuß Munition."
"Der Herr Gemeindeschreiber klagt, daß er seinen Leuten weder KÜhe noch Geld bringen kann", erklärte ich. Der sowjetische Offizier grinste breit. "Meine Truppen werden essen eine Woche lang kein Fleisch. Wir Übergeben dem Dorf siebzehn Rinder. Mageres Rind, Rind vom Krieg, nun ja. Aber die Tiere haben vier Beine, haben die Wagen vom Ural bis hierher gezogen. Und auf dem Wagen Futter. Die gebe ich euch, und ein Gewehr dazu, damit ein Posten kann aufpassen auf das Dorf." Das Polizeipräsidium beschaffte zwei Eisenbahnwagen, das Vieh wurde aufgeladen. Der Gemeindeschreiber konnte sich gar nicht genug bedanken. Er lud den sowjetischen Offizier ein, mit ihm zu fahren, doch der schÜttelte den Kopf. "Keine Zeit fÜr Bauchvollschlagen", sagte er zum Abschied, "wir haben Dienst!" Und er drÜckte dem Gemeindeschreiber noch ein SchriftstÜck in die Hand. Dieses Dokument bezeugte, daß die Gardedivision mit entsprechender Vollmacht dem betreffenden Dorf siebzehn StÜck Rindvieh Übergeben hatte und die mit dem Brandzeichen des sowjetischen Fiskus gekennzeichneten Tiere auf rechtmäßigem Wege in den Besitz der Bauern gelangt waren. Tags darauf erschien in den Nachmittagszeitungen unser folgender Aufruf: "Die Polizei gibt hiermit bekannt, daß gefährliche Banditen, von denen manche unrechtmäßig sowjetische Uniformen tragen, in den Dörfern erscheinen und unter Berufung auf angebliche Befehle Vieh beschlagnahmen. Auf ungarischem Territorium ist niemand berechtigt, mit oder ohne Gegenleistung bewegliches oder unbewegliches Gut zu beschlagnahmen, Großvieh wegzutreiben oder andere landwirtschaftliche Erzeugnisse in Besitz zu nehmen. Bei
allen Personen, die mit solchen AnsprÜchen in Erscheinung treten, handelt es sich um Hochstapler und Banditen, gegen welche jede Maßnahme angebracht und zu deren Unschädlichmachung auch der Waffengebrauch als berechtigt anzusehen ist." Unterzeichnet wurde der Aufruf von Bevollmächtigten des Polizeipräsidiums und der sowjetischen Kommandantur. Wir aber unternahmen die nötigen Schritte, um den Verbrechern auf die Spur zu kommen. Die Verarbeitung von siebzehn Rindern ist nur in einem Betrieb möglich. Also nahmen wir vor allem die Fleischverarbeitungsbetriebe der Umgebung unter die Lupe. Doch nirgends fanden wir etwas Auffälliges. Gearbeitet wurde in allen Betrieben, aber die Inhaber konnten anhand von Viehpässen und behördlichen Zuweisungen den Nachweis erbringen, daß sie das Vieh auf rechtmäßigem Wege Übernommen hatten. Da kam meinem Mitarbeiter Zoltan R6zsa die Idee, daß der Verkauf des Fleisches von siebzehn Rindern den Banditen sicherlich einen so hohen Gewinn gebracht hatte, daß sie nun in Saus und Braus leben und sich in den größeren Budapester Nachtlokalen herumtreiben konnten. Schon am selben Abend fanden wir uns im "Moulin Rouge" ein, das damals ein beliebter Treffpunkt der Neureichen und Schwarzhändler war. Die größte Gesellschaft sahen wir in der Loge Nummer zwei. An dem Tisch, der auf einem Podest stand, saßen Damen mit kostbarem Schmuck und Herren in AbendanzÜgen und tranken Sekt. Mittelpunkt der Gesellschaft war Erzsi R., der große Revuestar der damaligen Jahre. Die wunderschöne Halbweltdame hielt dort regelrecht
Hof. Auch jetzt wetteiferten mehrere Männer, wer ihr etwas bestellen dÜrfe. Schließlich ließ man französischen Champagner, ein paar Flaschen Ödenburger Blaustengler und einige Paar WÜrstchen kommen. Die Kellner nahmen die Bestellung ein wenig indigniert entgegen. Wer damals im "Moulin Rouge" arbeitete, kannte noch die Sitten und Gewohnheiten der "klassischen Aristokratie" und des GroßbÜrgertums und blickte mit Verachtung auf die Neureichen, die KÜnstlerin und ihren Anhang, herab.
Von uns Polizisten hatten die Kellner sicherlich eine noch schlechtere Meinung. Das "Moulin Rouge" rechnete in Dollars und in Gold, aber wenn wir anwesend waren, fÜhlten sich die meisten Gäste unbehaglich. (Viele Kellner
hatten damals eine Art kleine Gartenschere; beim Bezahlen hielt ihnen der Gast eine Goldkette hin, von der sie sich ein oder zwei Glieder abzwickten.) Auch diesmal hatten wir Schwierigkeiten. Das Personal wollte uns die Leute "mit Geld" nicht zeigen, sondern eher davon Überzeugen, daß das Geschäft miserabel lief und sich kein einziger großer Fisch im Netz befand. Wir saßen da und stellten fest, daß es sich durchaus nicht so verhielt, wie man es uns vormachen wollte. Unsere Blicke wanderten immer wieder zum Tisch des Revuestars, wo die Stimmungswellen immer höher schlugen. Weit nach Mitternacht begleiteten die Kellner einen nicht mehr ganz jungen, sehr gut gekleideten Herrn unter unablässigen Verneigungen zu diesem Tisch. Wir erkannten in ihm einen Staatssekretär, zugleich war er Abgeordneter der einen bÜrgerlichen Partei im Parlament. Er bewegte sich im "Moulin Rouge", als wäre er hier zu Hause; er entstammte einer alten großbÜrgerlichen Familie und hatte nicht erst in diesen Monaten erfahren, wo der Eingang zu diesem Nachtlokal war. Er saß kaum ein paar Minuten in der Gesellschaft, als der Revuestar zum Telefon gerufen wurde. Die Schöne trippelte zwischen den Tischen entlang, warf diesem und jenem Kußhändchen zu und bedachte andere mit einem freundlichen Winken. Durch uns sah sie hindurch, als wären wir aus Glas. Einer unserer Mitarbeiter bekam heraus, was das Telefongespräch in dem winzigen BÜro zum Inhalt gehabt hatte. Eine Männerstimme hatte von der KÜnstlerin zehntausend Zigaretten verlangt, sie hatte gesagt, im Augenblick könne sie ihm nicht antworten, aber sie erwarte ihn - den
Anrufer, den sie "Sany6ka" nannte - am nächsten Tag in ihrer Wohnung. Zigaretten waren zu jener Zeit Gold wert. Zehntausend StÜck (hundert StÜck kosteten einen Vierteldollar) hätten vierzig Dollar ausgemacht. Mit den Weltmarktpreisen verglichen, eine Kleinigkeit. An dem gemessen aber, was die ungarischen Arbeiter verdienten, der Lohn von drei Jahren. Die Inflation war unvorstellbar. Doch zehntausend Zigaretten zu beschaffen in einer Zeit, da Tabakwaren nur auf Karten abgegeben wurden und die Zigarettenfabriken strengstens kontrolliert wurden, das schien fast ausgeschlossen. Sofern nicht . Dieser Staatssekretär arbeitete, wie mir einfiel, in dem Ministerium, das fÜr die Tabakindustrie zuständig war. Aber wir wollten uns mit den Zigarettengeschäften vorerst nicht beschäftigen. Uns interessierten jetzt erst einmal die Fleischschieber. Als wir die Angelegenheit besprachen, waren wir uns darÜber einig, daß die Information Über das Telefongespräch der Revuedame wahrscheinlich nicht stimmte. Schwarzhandel mit so kleinen Beträgen wie vierzig Dollar, das war sicherlich nicht ihr Format. An den folgenden Tagen grasten wir die Umgebung des geschädigten Dorfes ab und stellten fest, daß die Tiere dort nirgendwo verkauft wurden. Wir gaben uns in den Städtchen und Dörfern selbst als Schwarzhändler aus, zwar boten wir kein Fleisch und keine Wurst an, wohl aber Zigaretten der verschiedensten Sorten. Nun beschlossen wir, die Hälfte unserer Gruppe, die nach den Viehdieben fahndete, sollte jetzt den Fall der Zigarettenunterschlagungen untersuchen. In den Zigarettenfabriken war die BuchfÜhrung aus-
nahmslos und Überall in Ordnung. Das heißt, daß die Ware nur auf Zuweisung abgesetzt wurde. Keine einzige Zigarette und kein einziges Streichholz - denn zu den Zigarettenfabriken gehörten auch die ZÜndholzfabriken hatte die Betriebe ohne die erforderlichen Papiere verlassen. Interessanter schien es uns schon, daß einige Zigarettenzuweisungen von dem Staatssekretär unterschrieben waren, dem wir im "Moulin Rouge" begegnet waren. Mit Abschluß der Voruntersuchungen verwandelten sich unsere Kollegen, die in dieser Angelegenheit ermittelten, in "Schwarzhändler", und da es uns nicht gelungen war, den Kopf der Schieberbande zu finden, sollte sie von unten, sozusagen von den FÜßen her, aufgewickelt werden. Gal ließ uns wissen, man habe ihm einige Hunderttausend Zigaretten angeboten, und die arglosen Zwischenhändler seien bereit, ihn mit dem Leiter des neuen Bezirksamtes fÜr Fleisch- und Fetterzeugnisse zusammenzubringen, der das Geschäft in den Händen halte. Er fuhr also mit den Mittelsmännern in die ferne Bezirksstadt, wo er von dem Leiter dieses Amtes - er war wegen seiner Zugehörigkeit zu der Partei, der auch der Staatssekretär angehörte, in diese Funktion berufen worden - empfangen wurde. Die Zigaretten, sagte der Leiter, könne er beschaffen, nur mÜsse er sich Überzeugen, daß ihm Gal wirklich den verlangten Kaufpreis zahlen könne. "Nichts leichter als das!" Unser Kollege lachte. "Morgen frÜh lege ich Ihnen, sagen wir, tausend Dollar auf den Tisch." Die Augen seines GegenÜbers leuchteten auf. "Interessiert Sie außer den Zigaretten noch etwas?" fragte er.
"Beispielsweise Schmalz? Speck? Fleisch?" "Schon, schon", antwortete Gal zurÜckhaltend. "Das mÜßte ich aber erst mit meinem Chef absprechen. Doch wie ich ihn kenne, könnten wir schon ins Geschäft kommen." Der Geschäftsabschluß wurde im "Gasthof zum Goldenen Hirsch" gefeiert. Es floß reichlich Sekt, die Zigeuner fiedelten bis in den Morgen hinein. Bei den Gesprächen brachte Gal genau das in Erfahrung, was er erfahren wollte: woher nämlich das Schweinefleisch stammte. Der Leiter des Amtes fÜr Fleisch- und Fetterzeugnisse war verantwortlich fÜr den Schweineaufkauf, durch den die Bevölkerungsversorgung im ganzen Land gesichert wurde. Im allgemeinen sollte er Schweine mit hundert bis hundertzwanzig Kilogramm Lebendgewicht aufkaufen, aber er hatte die Möglichkeit, die Gewichtswerte "zusammenzuziehen", also drei Jungschweine von je vierzig Kilo als ein ausgewachsenes Schwein von hundertzwanzig Kilo anzunehmen. Bei der Verarbeitung der Jungschweine fielen viel mehr Abfälle an, so konnte der Bevölkerungsversorgung eine beträchtliche Menge entzogen werden. Die Methode war einfach: Den Verkäufern war es egal, wieviel Quittungen sie bekamen, sie wollten hauptsächlich einen Beleg in den Händen haben, daß sie die Ware auf gesetzliche Weise verkauft hatten. So geschah dann alles auf entgegengesetzte Weise, als es sich der Staat vorgestellt hatte. Der Leiter des Amtes fÜr Fleisch- und Fetterzeugnisse machte aus drei Vierzigkiloschweinen nicht ein Hundertzwanzigkiloschwein, sondern umgekehrt aus einem ausgewachsenen Schwein drei kleine. Er betrog, soviel er nur wollte. Ihm unterstand ein ziemlich großes Gebiet, in jeder
Aufkaufgruppe hatte er seine Leute, die fÜr jedes Kilogramm "eingespartes" Fleisch natÜrlich ein Drittel fÜr ihre eigenen Geschäfte verwenden konnten. Der Leiter des Amtes war äußerst vorsichtig, er verkaufte das durch Betrug erwirtschaftete - man kann ohne Übertreibung sagen: das den werktätigen Menschen vom Teller gestohlene - Fleisch nur in großen Posten. Erst als er in Untersuchungshaft genommen wurde, sagte er, er habe die "Ware" an den Hauptbuchhalter eines Budapester Großbetriebes verkauft. Das Leben wartet immer wieder mit verblÜffenden und erstaunlich einfachen Dingen auf. An jenem gewissen Abend hatte auch der Herr Hauptbuchhalter in der Loge Nummer zwei des "Moulin Rouge" gesessen. Eine Zeitlang vermuteten wir, der Hauptbuchhalter habe das Fleisch fÜr die Arbeiterversorgung gekauft. Zu jener Zeit nämlich verdiente ein Arbeiter in einer Woche soviel Bargeld, daß er sich auf dem schwarzen Markt nicht mehr als ein paar Schachteln Streichhölzer hätte kaufen können. Alle waren regelrecht vom Hungertod bedroht. Deshalb entlohnten manche Betriebe ihre Beschäftigten teilweise in Naturalien. Außer dem gesetzlichen Lohn oder Gehalt erhielten sie je Woche etwa einen Liter Öl, einige Kilo Bohnen oder Erbsen, Kartoffeln oder Mehl, Zwiebeln oder Paprika. Die Einkäufer der Betriebe durften keine Skrupel kennen. Sie wußten, daß sie auf dem schwarzen Markt schwarze Ware kauften, aber sie hatten keine andere Wahl. Wir zogen in dem betreffenden Betrieb Erkundigungen ein, wobei wir erfuhren, daß dort noch nie zusätzlich Fleisch ausgeteilt worden war. So ergab sich von selbst die Schlußfolgerung, daß der Hauptbuchhalter das Fleisch weiter eingetauscht hatte, beispielsweise gegen Erbsen
oder Bohnen. In den staatlichen Magazinen jedoch zeigte sich, daß die Arbeiter des Betriebes immer aus zentralen Vorräten versorgt worden waren, und zwar dank der Vermittlung eines Regierungsbeauftragten der Kommunistischen Partei. Das betrÜgerisch erworbene Fleisch war also niemals auf die Tische der Werktätigen gekommen. Aber wohin war es dann entschwunden? Die Antwort lag auf der Hand: Wir mußten die Lösung fÜr das Problem unter den Gästen aus Loge zwei im "Moulin Rouge" suchen. Vor allem kamen zwei Leute in Betracht: Herr Karsai, Besitzer einer Fleischwarenfabrik, und Frau Verö, eine Seifenfabrikantin. Wir fuhren mit Versorgungsspezialisten in die Fleischwarenfabrik, aber dort fanden wir keine Spur von illegalen Waren. Alle Belege stimmten, von jedem Gramm Wurst ließ sich die Herkunft nachweisen. Nun ja, damals Übten Stempel und Drucksachen sogar auf uns einen magischen Eindruck aus, und es dauerte eine geraume Zeit, bis wir unsere Gutgläubigkeit Überwunden hatten. Eine andere Gruppe fuhr am selben Tag in die Seifenfabrik. Auch dort war alles in Ordnung beziehungsweise: Alles war allzu Überzeugend in Ordnung. Gal blätterte der Besitzerin einen Beleg auf den Schreibtisch. "Entschuldigen Sie vielmals, gnädige Frau, aber auf dieser Rechnung steht das morgige Datum. Könnten Sie mir dafÜr eine Erklärung geben?" "Ich habe doch nicht die Zeit, mir auch noch jedes Datum anzusehen! Ich freue mich schon, wenn ich mal ein bißchen Rohstoffe bekomme und arbeiten kann. Mich
interessiert das Datum nicht, mich interessiert ein Datum einfach nicht." "Gnädige Frau ., das ist aber eine sehr interessante Rechnung. Das Fleisch, das Sie bekommen haben, wurde von einem Kammfabrikanten geliefert."
"Da sieht man's! Sie sind kein Fachmann. Tierkadaver werden immer von den Kammachern aufgekauft. Sie lösen die Teile heraus, die sie verwenden können, und was Übrigbleibt, das verkaufen sie weiter." "Ich verstehe. Sagen Sie bitte, was sind das fÜr Rohstoffe, mit denen sie arbeiten?" "Krepiertes Viehzeug. Rinder, Schweine, aber auch Hunde und Pferde. Wir ÜberprÜfen nicht, ob das Rohmate-
rial, das wir bekommen, frÜher einmal gebellt hat oder geschnattert. Es muß Fett daran sein, darauf kommt es an." "Auf diesem Lieferschein ist nicht angegeben, ob es sich um die Überreste von Hunden oder Pferden handelt." "Das kostet mich nicht mehr als einen Anruf." Frau Verö seufzte und griff gereizt nach dem Telefonhörer. Doch Gal war auf der Hut. Mit einer lässigen Bewegung drÜckte er den Hörer auf die Gabel zurÜck, und das Telefongespräch endete, bevor es beginnen konnte. "Das Überlassen Sie besser uns, gnädige Frau", sagte er. "Und Überhaupt sollten Sie jetzt zwei Stunden lang nicht telefonieren: Und auch das BÜro nicht verlassen. Das ist keine Verhaftung, obzwar", und er griff in ihre Handtasche, die offen auf dem Schreibtisch lag, und zog eine Zehndollarnote heraus, "das durchaus genÜgen wÜrde, um Sie festzunehmen." In der Kammfabrik am Stadtrand lösten wir eine große BestÜrzung aus, als wir auftauchten, um die GeschäftsbÜcher zu ÜberprÜfen. Herr Kapor, der Inhaber, rieb sich bedauernd die Hände. "Sehen Sie sich diese Zeitung an", flehte er beschwörend. "Da ist die Annonce! Daß ich mein Hauptbuch verloren habe und sämtliche Rechnungen. Das Zeug ist fÜr jeden Fremden völlig wertlos, aber trotzdem hat es der Finder nicht zurÜckgeschickt." Gal legte ihm die Rechnung vor, die er aus der Seifenfabrik mitgenommen hatte. "Ich wÜrde mir gern die Kopie ansehen", sagte er. Später meinte Gal, er habe selbst nicht gewußt, was er mit der Kopie angefangen hätte, wenn der Kammacher sie ihm gezeigt hätte. Aber so ist das Leben halt: Der ermittelnde Kriminalist braucht zu seiner Arbeit genauso das
GlÜck wie ein Torwart oder der Libero der Nationalmannschaft. Und Gal hatte sich jetzt auf eine Art GlÜcksspiel eingelassen. Kapor wurde blaß. Er druckste eine Weile, bis er antwortete. "Bitt schön, bitt schön . Die BuchfÜhrung, darum kÜmmere ich mich nicht persönlich. Ich habe da einen Fachmann, der das fÜr mich erledigt." Und er nannte den Namen des Hauptbuchhalters. "Er hat alle Unterlagen bei sich", fuhr er fort, "aber ich werde ihn anrufen, damit er sie herbringt, und dann, meine Herren, wird sich alles aufklären." Und er griff ebenfalls nach dem Telefonhörer, so, wie ein Ertrinkender sich an einem Strohhalm festhalten möchte. Doch Gal war wieder auf der Hut und kam ihm zuvor. "Wir wenden uns persönlich an ihn", sagte er. "Aber um diese Zeit wird er nicht zu Hause sein!" "Oh, wir können warten!" "Und im Betrieb ist er jetzt auch nicht mehr." "Ach, wir finden ihn schon." "Aber wenn ich ihm sagen wÜrde, daß er mit Ihnen ein offenes Wort sprechen kann, dann wäre das etwas ganz anderes." "Er wird von uns sehr beeindruckt sein" brummte der lange J6ska, Gals engster Mitarbeiter. "Er braucht uns nur zu sehen, und schon wird er den Mund aufmachen." "Und Sie", sagte Gal" "werden den Raum vorläufig nicht verlassen. Sie werden nicht telefonieren und auf keine andere Weise mit irgendwem Kontakt aufnehmen. Mein Kollege bleibt hier. Wenn Sie irgendeinen sonstigen Wunsch haben, steht er Ihnen zur VerfÜgung." Es war wirklich schwierig, den Hauptbuchhalter auf-
zutreiben. Er hielt sich gerade bei Erzsi R. auf, dem Revuestar aus dem "Moulin Rouge", gemeinsam mit einem anderen Mann. Als wir in die luxuriöse Budaer Villenwohnung eintraten, zitterten den drei fragwÜrdigen Existenzen die Augenlider. "Polizei", murmelte Gal. "Wer ist der Herr Hauptbuchhalter?" "Stehe zu Ihrer VerfÜgung!" sagte der Betreffende und zog sein Zigarettenetui aus der Tasche. Die Finger zitterten ihm, als er die Zigarette anzÜndete, jedes Kind hätte erkannt, daß er alle Kraft aufbieten mußte, um seine Nervosität zu verbergen. Und das gelang ihm auch. "�ußerst sonderbar", bemerkte er nach einem Weilchen, "daß Sie so Über uns herfallen. Ich gehöre nicht zu Ihrer Mannschaft, wir haben nicht zusammen auf der Straße Fußball gespielt. Wenn Sie was von mir wollen, suchen Sie mich in meinem BÜro auf und nicht in einer fremden Wohnung, wo ich selbst nur Gast bin." "Sie werden verzeihen, Frau R.", sagte Gal galant, "fÜr uns war es ausgesprochen verlockend, in dieser schönen Umgebung einen berÜhmten Revuestar wiederzusehen." "Meine Herren", sagte die Sängerin, "ich weiß gar nicht, was ich zu diesem beispiellosen Insult sagen soll!" "Aber ich weiß es!" sagte der Hauptbuchhalter und trat zum Telefon, offenbar, um den Staatssekretär anzurufen. Diesmal unternahm Gal nichts dagegen. Den Staatssekretär nämlich schÜtzte das Immunitätsrecht. Gal dachte so: Wenn der Staatssekretär jetzt hierherkommt, können wir eventuell auch ihn auf frischer Tat ertappen, und in diesem Fall haben wir viele Möglichkeiten, die uns sonst versperrt blieben.
Gal hatte obendrein noch GlÜck. Neben dem Telefon hing ein zweiter Hörer an der Wand. Diesen hob er ans Ohr. Schließlich meldete sich der Staatssekretär. "Hier spricht Petö", begann der Hauptbuchhalter. "Wir sind in Erzsis Wohnung, und stell dir nur vor, plötzlich fallen drei Polizeibeamte Über uns her, als ob wir Mörder wären, sie geben keine Erklärung ab, was sie wollen, und während ich jetzt mit dir telefoniere, steht der eine neben mir und hört alles mit an. Komm doch bitte gleich her und rufe diese Wilden zur Ordnung. Erzsi ist schon ganz außer sich ." "Mit wem spreche ich?" ließ sich der Staatssekretär vernehmen. "Mit wem, fragst du? Mit Petö! Hier spricht Puci Petö!" "Ich kenne keinen Puci Petö", hörte Gal den Staatssekretär sagen. "Und ich bitte Sie, solche absonderlichen Scherze kÜnftig zu unterlassen." "Aber ich bitte dich . Das kann doch nicht wahr sein ." Es klickte. Der Staatssekretär hatte aufgelegt. Mit totenbleichem Gesicht, als wäre er binnen wenigen Augenblicken um Jahre gealtert, wandte sich der Hauptbuchhalter um. "Was sagt ihr dazu, er hat aufgelegt!" Sie standen wie versteinert da, der Revuestar vergaß geradezu zu zittern. "Aufgelegt hat er!" wiederholte der Hauptbuchhalter. Dann drehte er sich um und wählte nervös nochmals. Nun meldete sich unter der Nummer des Staatssekretärs eine Frauenstimme. "Hallo?" "Hier spricht Puci Petö", sagte der Hauptbuchhalter. "Unterlassen Sie diese Albernheiten", sagte die Frauenstimme. "Gegen solche Telefongangster gibt es Gesetze!"
Klick. Der Hauptbuchhalter starrte den Telefonhörer an, den er immer noch in der Hand hielt, dann knallte er ihn gegen die Wand. Die vernickelte Mikrofonkapsel ließ ein ansehnliches StÜck Putz abplatzen. "Aha, es stinkt also! Der Herr Staatssekretär will seine eigene Haut retten!" "Aber Pucilein .", begann der Revuestar zitternd. "Schluß mit Pucilein. Hier gibt es nur noch einen Herrn Petö. Nehmt das zur Kenntnis. Und einen Petö darf man nur einmal im Stich lassen. Habe die Ehre." Er ging hinaus und warf die TÜr hinter sich zu. Weiterer Putz bröckelte ab.
"Sorgen Sie sich nicht, er könnte verduften", bemerkte Gal. "Vor der HaustÜr wird der Herr Hauptbuchhalter schon erwartet." Als wir zum Präsidium zurÜckkamen, saß Petö bereits in meinem BÜro. Wie ein verwundeter Löwe, so starrte er uns wild an. Er sprang auf und begann im Zimmer auf und ab zu hasten. "Keine Bange, Sie werden noch reichlich Zeit zu Spaziergängen haben", sagte R6zsa gelassen. "Ich will Ihnen mal was sagen", posaunte der Hauptbuchhalter. "Sie lassen mich jetzt gehen, und wenn Sie an meine Gutwilligkeit appellieren, werde ich vielleicht darauf verzichten, Sie alle anzuzeigen!" "Oh, ich dachte nicht an Spaziergänge auf der Straße", fuhr R6zsa auf seine ein wenig umständliche Weise fort. "Ich dachte mehr an die täglichen Spaziergänge, die den Insassen unserer Zuchthäuser erlaubt werden. Allerdings", und er seufzte, "sind mir auch Fälle bekannt, in denen es dazu nicht mehr kam." "Wie meinst du das?" fragte ich ihn. "Ich meine das so, daß manche noch vor dem ersten Spaziergang gehenkt werden." Der Hauptbuchhalter unterbrach seinen Marsch. Er starrte uns ungläubig an. "Bitte, fragen Sie", sagte er. "Seit wann fÜhren Sie die Buchhaltung der Firma Kapor?" "Seit der Inhaber mich damit beauftragt hat." Der Hauptbuchhalter schien sichtlich erleichtert. "Aufgrund welcher Papiere haben Sie diese Rechnung ausgestellt?" fragte Gal und hielt ihm das SchriftstÜck
unter die Nase, das er bei dem Kammacher entdeckt hatte. "Ich brauchte keine Papiere. Ich habe ihm Kadaver abgetreten, allerlei totes Viehzeug, das unsere Einkäufer bei den Abdeckern, auf den Schlachthöfen und bei Tierärzten aufgetrieben haben. Und ich habe mir in jedem einzelnen Fall die Notschlachtungsbescheide angesehen, das hat mir genÜgt." "Ich glaube, Sie können sich vor lauter MÜdigkeit nicht mehr an die Dinge erinnern, Sie mÜßten sich erst einmal ausruhen. Ich lasse gleich ein Zimmerchen fÜr Sie aufschließen", sagte R6zsa, "gar nicht weit von hier. Unten im Souterrain haben wir reichlich Platz." "Wollen Sie mich verhaften?" "Verhaftet sind Sie schon. Sie haben Fleischwaren ohne die erforderlichen Belege Übernommen. Das ist ein Verbrechen gegen die Interessen der öffentlichen Versorgung." "Das werden Sie noch bitter bereuen", sagte der Hauptbuchhalter drohend. Gal wählte bereits die Telefonnummer des Staatssekretärs. "Hier spricht die Polizei", sagte er. "Herr Staatssekretär, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns eine kurze Charakteristik des Herrn Hauptbuchhalter Petö geben könnten." Stille senkte sich Über das BÜro. Gal saß am Tisch, den Hörer am Ohr, und lauschte. "Ich weiß nicht, ob ich alles richtig verstanden habe", sagte er dann, "wenn Sie erlauben, fasse ich zusammen, was Sie mir gesagt haben. Herr Petö ist also ein wetterwendischer, unkorrekter Mensch, der ständig in irgendwelche dunklen Angelegenheiten verwickelt ist und sich,
sobald er in der Patsche sitzt, auf Ihre Partei, oftmals sogar auf Sie persönlich, Herr Staatssekretär, beruft. Ja . Finanzmittel darf man ihm also nicht anvertrauen . Weder Sie noch Ihre Partei Übernehmen die Verantwortung fÜr ihn und seine Handlungen, ich verstehe . Aber mir ist, als hätte ich Sie mehrmals mit ihm zusammen im "Moulin Rouge" gesehen . Ja? . Er ist also wie eine Klette, er hängt sich regelrecht an Sie, ich begreife, der Freund eines Staatssekretärs zu sein, das ist eben eine große Ehre . Wie bitte? Wie alle Neureichen? Und von denen unterscheidet sich Herr Petö nicht, hm . Was Sie sagen, Überrascht mich natÜrlich, ich hätte das nicht von ihm geglaubt . Nur auf eigene Vorteile bedacht, will alle Übers Ohr hauen, ein schäbiger kleiner Ganove ." Da sprang Petö auf und riß Gal den Hörer aus der Hand, den dieser ihm bereitwillig Überließ. "Ich bin also ein schäbiger kleiner Ganove? Gut, mein Junge, du wirst noch baumeln, mein Junge! . Satisfaktionsunfähig!" Gal nahm ihm den Hörer wieder weg. "Wir bedanken uns, Herr Staatssekretär, mehr wollten wir im Augenblick nicht wissen. Dieser Hauptbuchhalter ist so gewalttätig, entschuldigen Sie, wenn wir nicht verhindern konnten, daß er Sie beleidigt." Der Hauptbuchhalter wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Und jetzt", begann er, "will ich alles auspacken. Diese Fleischgeschichte, das ist gar nichts. Eine Kleinigkeit, sie hat nicht mehr eingebracht als ein paar tausend Gramm Gold. Da habe ich noch viel interessantere Sachen auf Lager. Fahren Sie doch mal raus zu meinem Betrieb und holen Sie ein paar Leute her, zum Beispiel Lukacs Ravasz, den Chef von Betriebsteil sieben, Elemer Vadasz,
den Meister der Maschineninstandhaltung, Virgil Szalai, den Leiter der Abteilung Produktionskontrolle, und Frau Kenderesi, die fÜr die Finanzkontrolle in der Hauptbuchhaltung zuständig ist! Mit diesen Personen sabotieren wir seit sieben Monaten die Produktion, und zwar auf Anweisung des Herrn Staatssekretärs. Ich habe dabei die Aufgabe, auch den Arbeitern den vollen Lohn und sogar Prämien zu zahlen, die Ausschuß fabrizieren. Lukacs, der den Betriebsteil sieben leitet, bringt die Beschriftungen auf den Erzeugnissen so durcheinander, daß sich kein Auftraggeber unter unseren Ersatzteilen zurechtfindet. Vadasz, der fÜr die Instandhaltung der Maschinen zuständig ist, hat die Prägepressen fÜr die Leistungsschilder an den Maschinen so deformiert, daß die Werkangaben an unseren Erzeugnissen völlig unkenntlich sind. Szalai sucht aus den Erzeugnissen, die er zu kontrollieren hat, diejenigen heraus, deren Werkangaben unkenntlich sind, und schickt ganze Serien zum Einschmelzen zurÜck. Und Frau Kenderesi, die Finanzkontrolleurin, läßt regelmäßig die deckungslosen Zahlungen durchgehen, die ich einerseits an den Herrn Staatssekretär und andererseits an Benkö und die Parteikasse leiste." "Eine hÜbsche Geschichte", meinte Gal. "Und nun zu der Fleischgeschichte." "Ach, eine Kleinigkeit . Wir haben ein paar Leute, die in der Provinz Lebendvieh aufkaufen. Sie verkaufen es an den Leiter eines Bezirksamtes fÜr Fleisch- und Fettwaren weiter, und der liefert das Vieh en gros an eine Kammfabrik. Wir nehmen jedes Rind mit vorschriftsmäßigen Notschlachtungspapieren entgegen." Dann diktierte der Hauptbuchhalter die Namen und Adressen.
Unter diesen Adressen stießen unsere Kollegen auf die sowjetische Uniform und auf die an einem Stempel befestigte sowjetische MÜnze, mit der auch die Quittung des Gemeindeschreibers abgestempelt war. Wir beschlossen, vorerst nicht die Aufhebung der Immunität des Staatssekretärs zu beantragen, denn wir wollten ihn auf frischer Tat erwischen. Am nächsten Tag gelang es uns mit Petös Hilfe, auch die Zigarettenschiebung aufzudecken. "Der Staatssekretär konnte jederzeit jede beliebige Menge Zigaretten beschaffen, er brauchte nur einen Brief an eine Zigarettenfabrik zu schreiben und sie aufzufordern, zu Zwecken der Wiedergutmachung gegenÜber dem Westen soundso viel Kilo Tabakwaren zum Transitlager des Josephstädter Bahnhofs zu schicken. Da auch die Budapester Lieferungen dort eingingen, schickten die Buchhaltung der Fabrik und die Versandabteilung die Sendungen mit einem gemeinsamen Frachtbrief ab. Nun sandte der Staatssekretär aus dem Ministerium ein offizielles Schreiben an das Auslieferungslager auf dem Bahnhof, aufgrund dessen seine Beauftragten die Ware dort Übernehmen konnten." "Und die Wiedergutmachung?" "Diese BuchfÜhrung wird wohl niemand jemals zu Gesicht bekommen. Vielleicht weiß nur der liebe Gott, wieviel wirklich an die Westmächte ausgeliefert wurde und wieviel im Inland geblieben ist." "Sie haben noch gar nichts Über die Rolle von Frau R. erzählt." "Über Erzsi? Da gibt es nicht viel zu erzählen. Sie hat nur ein paar winzigkleine Geschäftchen gemacht, ein paar tausend Zigaretten, ein paar Sack Bohnen oder Erbsen.
Gerade nur soviel, daß ihre Weste nicht blÜtenweiß blieb." Zu der Gesellschaft, die wir im "Moulin Rouge" in der Loge zwei gesehen hatten, gehörte noch ein Mann. Ein fleischiger, untersetzter Mann. Ein Wurstfabrikant. Jetzt schien Petö zum erstenmal ernsthaft nachzudenken. "Ein verschlossener Bursche", meinte er dann, während er sich eine Zigarette anzÜndete. "Niemand weiß etwas Näheres Über ihn, und er hat keinen von uns in seine Geschäfte hereingezogen. Er ist in Erzsi verliebt, deshalb setzte er sich immer wieder zu uns. Ich glaube, er könnte uns alle, den Staatssekretär eingeschlossen, aus seiner Jackentasche auszahlen." "Mit Gold? Diamanten? Womit pflegt er zu zahlen?" Petö lachte bitter auf. "Mit Steuerpengö. Er hat ein Saldokonto bei der Italienisch-Ungarischen Bank. Ein Konto Über Steuerpengö. Darauf können Sie sich wohl Ihren Reim machen." Wir hatten den Eindruck, der Hauptbuchhalter hätte jetzt alles ausgepackt. Doch wir irrten uns. Er hatte noch was zu sagen. "Meine Herren", sprach er, "ich habe noch eine einzige Bitte. Ich möchte noch einmal im "Gundel" Mittag essen." Wir sahen uns an. "Sie haben's sich verdient", sagte Gal. "Wir werden Sie begleiten." Ich erinnere mich genau. Er speiste eine Ragoutsuppe, Fasan, Forelle vom Rost. Und er ließ Rotwein und Weißwein kommen. Zum Abschied drÜckte er dem Kellner eine Goldkette in die Hand. "Meine wird schwerer wiegen", sagte er mit Galgenhumor.
Ich wundere mich noch heute, wie natÜrlich uns seine erschöpfende, auf alle Einzelheiten eingehende Aussage vorkam. Ich glaube - dieser Gedanke kam mir damals, vielleicht wegen der Ermittlungsmethode, die Gal angewandt hatte -, jeder Kriminelle verläßt sich darauf, daß ihm seine Mittäter selbstlos helfen werden. Wenn er aber sieht, daß seine bisherigen Freunde ihn bedenkenlos fallenlassen, um ihre eigene Haut zu retten, daß sie ihn dem Gesetz sozusagen zum Fraß hinwerfen, um selber nicht gefressen zu werden, dann drehen sie durch, und dann lassen sie sich nur noch von einem Gedanken leiten: Die sollen es auch nicht besser haben! Wenn bei mir abkassiert wird, dann sollen sie auch bezahlen! . Petö machte seine Aussagen aus dieser Art Rachedurst heraus. Wir jedenfalls nahmen uns vor, später, wenn der Prozeß stattfinden wÜrde, vor Gericht nicht zu verschweigen, daß uns Petö eine Menge Arbeit erspart hatte. Doch bis zur Gerichtsverhandlung wÜrde noch viel Wasser die Donau hinabfließen. Wir waren nämlich entschlossen, die Ermittlungen nicht einzustellen, bevor die gesamte Bande dingfest gemacht war. Vor allem mußten wir den Wurstfabrikanten ausfindig machen und unter die Lupe nehmen. Das gelang uns. Der Betrieb des Wurstfabrikanten - wir wollen ihn Firma Fleischhacker nennen - arbeitete mit einer pedantisch genauen BuchfÜhrung. Wir holten Steuerspezialisten, sie zuckten mit den Schultern, alles war bestens in Ordnung, jeder Eingang war genau verbucht, von allen verarbeiteten Rindern und Schweinen waren Belege vorhanden, woher sie stammten und von wem sie gekauft waren, die Menge des verarbeiteten Fleisches war an drei verschiede-
nen Stellen verbucht, wir waren außerstande, auch nur ein Gramm Differenz zwischen der verarbeiteten Fleischmenge und den an die Verkaufsstellen gelieferten Wurstmengen festzustellen. Dieser Betrieb arbeitete ausschließlich mit Steuerpengö, auch die Beschäftigten wurden mit diesem Geld entlohnt, und zwar - anders als bei den sonstigen Firmen - nicht zum Kurs des Steuerpengös, sondern mit SteuerpengöBanknoten. (Der Steuerpengö war eine Art Hilfswährung zu jener Zeit. Es wurde täglich festgestellt, wieviel Milliarden, Billionen oder Trillionen Inflationspengö jeweils ein Steuerpengö wert war. Diese Form der Lohnzahlung war fÜr die Werktätigen verhältnismäßig gÜnstig, denn die Steuerpengö-Preise der Waren stiegen nicht so schnell wie die Inflationspreise.) Außerdem hatte der Wurstfabrikant so gut wie gar keine Investitionen gemacht. Ein Betrieb hatte ihm, wie aus den BÜchern hervorging, ein paar Maschinen hergestellt, aber das war von den zuständigen Behörden genehmigt worden. Im Endergebnis der sehr umfassenden Untersuchungen und Ermittlungen stand vor uns also ein Mann, gegen den nicht das geringste sprach - abgesehen davon, daß auch er ziemlich regelmäßig zu der Tischgesellschaft in der Loge zwei stieß. Dennoch waren wir mißtrauisch, zumal wir wußten, daß der Herr Staatssekretär sich nicht gescheut hatte, den Revuestar auf bescheidene Weise in seine Geschäfte hineinzuziehen, nur damit die Dame keine weiße Weste mehr hatte. Es schien uns unvorstellbar, daß der Chef der Firma Fleischhacker in der Loge zwei akzeptiert wurde, ohne daß er es dicke hinter den Ohren hatte. Um herauszukriegen, wie sich das alles verhielt,
brauchten wir viel Zeit. Wir konnten dem Wurstfabrikanten schwerwiegende Devisenvergehen nachweisen. Aber, wie gesagt, erst eine geraume Zeit später. Den Schlußpunkt unter die Aktivitäten der Gangsterbande, die sich zu ihren Straftaten einer sowjetischen Uniform bedient hatte, setzte das Gericht.
Heft 390
Herbert Friedrich Jakow und seine Frau
Seit einer Woche irren Jakow und seine Frau Valentina im hohen Norden am Jenissej durch den Schneesturm. Sie wollten das Neujahrsfest mit ihren Verwandten feiern und hatten Proviant fÜr zwei, drei Tage mitgenommen. Sie finden den Weg nicht wieder, ihr Proviant ist fast alle, die Hunde sind hungrig und erschöpft. Da kämpft sich Jakow allein weiter durch die SchneewÜste, um doch noch Hilfe fÜr seine Frau und sich zu finden .