Katherine Kurtz Deborah Turner Harris Adept Band 02
Die Loge der Luchse
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Katherine Kurtz Deborah Turner Harris Adept Band 02
Die Loge der Luchse
scanned by Ginevra corrected by Sir Adam Sinclair ist Arzt, Historiker, Detektiv - und Adept, ein Eingeweihter in magische Künste, die im zwanzigsten Jahrhundert längst vergessen sind. Gemeinsam mit seinen Freunden macht er es sich zur Aufgabe, jenen dunklen Mächten zu trotzen, die sich immer wieder gegen die Menschheit verschwören. Sinclairs Widersacher haben sich in der geheimnisumwitterten Loge der Luchse zusammen gefunden. Den Anschlägen auf sein Leben kann der Adept mit Mühe entgehen, doch insgeheim verfolgt die Loge einen teuflischen Plan - sie will die magischen Kräfte der alten Druiden entfesseln, denen nichts und niemand widerstehen kann... ISBN 3-453-14930-0 Originalausgabe The Lodge Of The Lynx Übersetzung aus dem Amerikanischen Michael Morgental 1999, by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlagbild malte Attila Boros/Agentur Kohlstedt Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
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Für unsere Tanten und Onkel: STEPHEN UND JANIE CARTER und in liebevoller Erinnerung an GRETCHEN UND MARSHALL FISHER
Prolog Eine brütende Stille lag in der frostigen Nachtluft. Hoch oben im konischen Dach des Turms spürte der alte Mann, wie die Energie sich zu sammeln begann - ein schwaches elektrisches Kribbeln, das ihm die Nackenhaare sträubte und dann unsichtbare Insekten über den winzigen Haarflaum der bloßen Arme krabbeln ließ. Zuerst war es kaum mehr als ein spannungsgeladenes ständiges Flackern im großen Schweigen, scheu wie ein Schwarm Fledermäuse auf der Jagd. Dann gewannen die Impulse an Kraft, wurden mächtiger mit jedem Augenblick, der verging. Bald schlug die Energie um das Schieferdach wie ein riesiger Raubvogel, der kämpfte, um sich von den Fesseln seiner Fußbänder zu befreien - und nur noch von der Willensstärke dessen zurück gehalten wurde, der ihn zu sich gerufen hatte. Schon einen solchen Ruf auszusenden war schwer und gefährlich zugleich. Die so herbeigerufene Macht zu lenken erforderte eine ausgezeichnete Beherrschung, die nur durch lange Jahre des Lernens und unbeschreibliche Opfer erworben wurde. Das geringste Schwanken des Willens, die leiseste Ablenkung konnte die an straffem Zügel geführte Energie vorzeitig freisetzen, und dann würde sie mit katastrophalen Folgen genau auf den Turm zurück stürzen, wo - umgeben von seinen Zwölfen - der Mann saß, der sie herbeigerufen hatte. Aber der altehrwürdige Großmeister, der über den Turm herrschte, war es durchaus gewohnt, kalkulierte Risiken einzugehen. Sowohl den Schauplatz wie auch seine Gehilfen hatte er sorgfältig ausgewählt. Der Raum, von dem aus sie arbeiteten, umfaßte das gesamte oberste Geschoß des Turms - eines massigen, zwölfeckigen Bauwerks, das über das burgartige Herrenhaus emporragte, zu dem es gehörte. Düster und unnahbar inmitten der Wasserfälle und Felsspitzen der -3-
schottischen Cairngorm Mountains gelegen, war das Haus im viktorianischen Zeitalter auf dem Fundament eines eisenzeitlichen brach gebaut worden, wobei der Turm und sogar Teile des Hauses unbehauene Steine aus dem früheren Gebäude enthielten. Nirgendwo war dieser urtümliche Ursprung deutlicher zu sehen als in der obersten Turmkammer, deren dicke, nahezu fensterlose Mauern ganz weiß getüncht waren. Die Decke wurde von schwarzen Eichenbalken geteilt, die wie Speichen eines Rades in der Mitte zusammentrafen. Obwohl im Haus und in den tiefer gelegenen Geschossen des Turmes elektrische Leitungen verlegt waren, blieb in diesem Raum Gas die einzige Lichtquelle. An Punkten, die den vier Himmelsrichtungen entsprachen, sirrten Gasflammen hinter Lampenschirmen aus karminrotem Glas, die auf Messinghaltern ruhten. In ihrem unruhigen, gelblichen Licht warfen die zwölf Gestalten in weißen Gewändern, die mit gekreuzten Beinen am Rand des Raumes saßen, nur sanfte, verschwommene Schatten. Auf den Haufen scharlachroter Kissen in der Mitte des Raumes fiel überhaupt kein Schatten. Von dort aus leitete der weißgekleidete Meister das Werk. Er hatte die Hände mit den Flächen nach oben auf die gespreizten Knie gelegt, den kahlen Kopf gesenkt und in dem hageren, runzeligen Gesicht, das einem mumifizierten Schädel ähnelte, die Augen geschlossen. Vor ihm lag auf einer Matte aus schwarzem Widderleder ein Stoß vergilbter, altersspröder Pergamente. Den Stapel beschwerte der Gegenstand, dem die Konzentration des Alten galt - ein keltischer Torques, ein Halsring aus schwarzem Meteoreisen, so weit gebogen wie die gespreizte Hand eines Mannes, hergestellt in derselben fernen Zeit, als der brach gebaut wurde, und verziert mit geometrischen Knoten und fließenden Tiersymbolen, die geschickt als silbernes Flechtwerk eingelegt waren. Graue Rauchquarze glommen unheilvoll wie Schlangenaugen inmitten der verschlungenen Formen und -4-
Wirbel. Der alte Mann konzentrierte sich auf die uralten Energien des Torques und streckte seine Hände darüber aus, als wärmte er sie an einem Feuer. Er spürte dabei, wie die mögliche Gefahr des Halsrings an seinen Händen prickelte, nur mit Mühe zurück gehalten von der dunklen Weihe, die er darüber vollzogen hatte. Sogar mit geschlossenen Augen fühlte er, wie der mächtige magnetische Einfluß des Torques auf die elementaren Energien einwirkte, die sich außerhalb des Turmes aufbauten und danach strebten wegzufließen. Und bald würden sie wegströmen. Der Augenblick war schon nahe. Der alte Mann bestärkte seine Entschlossenheit zu dieser äußersten Durchsetzung seines Willens, hob den Torques mit alterszittrigen Händen und streifte ihn sich um den dürren Hals. Der Kuß des kalten Metalls an seiner Kehle tauchte ihn noch tiefer in die Trance, während er spürte, wie die uralten Energien sich mit seinen eigenen verbanden. Er warf den Kopf zurück und hob die blauädrigen Arme zu einer Geste der Anrufung und zugleich des Befehls. Erst jetzt ließ er zu, daß sich in seinem Geist ein Bild des fernen Objekts seines Vorhabens formte. Etwa fünfundsechzig Kilometer entfernt lag das königliche Schloß Baimoral ruhig unter einem klaren, frostigen Gesprenkel von Novembersternen. Während die Königin und die königliche Familie sich den Winter über in London aufhielten, absolvierten die Scots Guards, die für die Sicherheit des Geländes zuständig waren, ihre festgelegten Spätnachtrundgänge mit dem gelassenen Ausdruck von Männern, die keinen Grund hatten, ernsthafte Schwierigkeiten zu erwarten. Trotzdem aber waren sie darauf vorbereitet - in Feldanzug und schwarzem Barett für die Nachtpatrouille, bewaffnet mit den neuesten Enfield- ›BullPup‹ -Gewehren. Corporal Archie Buchannan hatte gerade seinen stündlichen Rundgang auf dem südlichen Rasen vollendet und war zu seinem Posten an der Südtür unterwegs, wobei er das Gewicht -5-
seines Gewehres auf dessen Schulterriemen verlagerte, als ein Flackern am Himmel ihn aufblicken ließ. Er blieb sofort stehen und runzelte überrascht die Stirn. Eine dichte Wolkenbank fegte von Westen her auf das Schloß herab und bewegte sich dabei schneller als jeder Sturm, den Archie bisher gesehen hatte. Ihre dichten Dunstschwaden wanden sich und brodelten, aufgewühlt von erratischen Flächenblitzen, wie Pech in einem Kessel, so daß binnen weniger Herzschläge die Wolken den sternenübersäten Himmel schon zur Hälfte ausgelöscht hatten. »Was zum Teufel soll das?« murmelte Archie. Ein leises Donnergrollen rollte dumpf über den Rasen, begleitet von einem deutlicheren Geknister von Blitzen in den aufgewühlten Wolken. In dem kurzen Leuchten waren zwei weitere Gestalten im Feldanzug zu sehen, die aus dem Schatten des Gebäudes auf das Gras hinausrannten, die Augen unter den Baretts zum Himmel gerichtet. »He, Archie! Siehst du das?« schrie einer von ihnen. »Woher kommen denn diese Wolken?« Bevor Archie eine Antwort herausbrachte, zerriß ein blendend weißer Blitzstrahl den Himmel über dem Schloßdach. Ihm folgte ein ohrenbetäubender Donnerknall. Der Blitz schlug mit der Gewalt einer Mörsersalve in das nördliche Türmchen auf der Krone des großen quadratischen Hauptturms ein und wirbelte in einer lodernden Fontäne der Zerstörung Steine und Schieferplatten hoch. Die Erschütterung warf Archie auf den Boden. Als er verzweifelt auf die nächste Hecke zukroch, um Deckung zu suchen, und dabei versuchte, seinen Kopf vor dem Schutt zu schützen, der schon herab zu regnen begann, war sein einziger Gedanke, daß es eine Bombe gewesen sein mußte, ganz gleich, was seine Sinneswahrnehmungen ihm sagten. Über dem Klingen in den Ohren hörte er jetzt das Sirenengeschrill des -6-
Sicherheitsalarms. Während das Geprassel des herabfallenden Schutts nachließ, erklangen Rufe aus anderen Teilen des Schloßgeländes, dazu das Stampfen von Stiefelschritten, die sich ihm näherten. Vorsichtig hob Archie den Kopf und blickte sich um. Das plötzliche Gleißen der Sicherheitsleuchten, die sich überall am Schloß und auf dem Gelände alarmierend einschalteten, zwang ihn, die Augen zusammen zu kneifen. »Archie? Bist du okay, Mann?« fragte eine Stimme in der Nähe, und eine Hand packte ihn grob an der Schulter. »Aye, laß mich nur mal tief Luft holen«, brummte Archie und rollte sich auf die andere Seite. Er sah die verschmierten Gesichter zweier seiner Kameraden, die beide etwas wild dreinschauten und zerzaust aussahen. »Du lieber Himmel, was ist denn passiert?« fragte der eine, der Archie geschüttelt hatte, während sein größerer Partner sein Gewehr fester packte und sich unsicher umschaute. »Das hat sich angehört wie eine verdammte Bombe!« Archie schüttelte den Kopf und ließ sich von dem anderen hochhelfen, wobei er vorsichtig nach Verletzungen suchte, abgesehen von den Abschürfungen, von denen er wußte, daß sie unvermeidlich waren. Ihm klang es immer noch in den Ohren, als er sich steif hochrappelte, dann riß er vor Erstaunen den Mund auf, als er über den Rasen auf den prunkvollen Turm schaute. Wo vor Minuten noch das nördliche Türmchen aufgeragt war, hatte die Bombe - oder der Blitzschlag nur einen brennenden Stumpf verkohlten Mauerwerks übrig gelassen. Auf der anderen Seite des Gebirges, fünfundsechzig Kilometer entfernt, stieß der alte weißgekleidete Mann in einem langgezogenen Seufzer der Befriedigung den Atem aus und genoß diesen Augenblick des Triumphs. Für eine Bestätigung durch die Außenwelt würde man bis zum Morgen warten -7-
müssen, wo die Nachrichtensendungen zweifellos ausführlich darüber berichteten. Aber er hegte keinen Zweifel daran, daß er erfolgreich gezielt hatte. Langsam faßte er sich an den Hals, nahm mit beiden Händen den uralten Halsring ab und legte ihn vorsichtig wieder auf den Stapel Pergamente vor sich. Dann ließ er die Arme an die Seiten sinken und verneigte den Kopf in tiefer Ehrerbietung vor der Macht, die ihm den Blitz in die Hand gegeben hatte. Seine zwölf Anhänger verbeugten sich mit ihm. Ihre Schatten verschwammen ineinander, als sie mit der Stirn den Boden berührten. Doch das war nur äußerlich eine Geste der Demut. Ein Schweigen, das aus einem dunklen Jubel geboren war, herrschte in dem Raum, als sich die Anhänger wieder aufrichteten und dann erneut verneigten, diesmal ihm zu Ehren. Selbstgefällig lächelnd erwiderte der alte Mann ihre Ehrerbietung mit einem Nicken und einer Geste, dann schickte er sie fort und wartete, bis sie alle gegangen waren, bevor er sich auf seinen Kissen zurücklegte, um für sich allein zu frohlocken und die weitere Ausübung seiner Kunst zu planen... Kapitel 1 Wie das Geklingel von Schlittenglöckchen klang das silbrige Geklimper von Trensen durch die frostige Luft eines schönen Novembermorgens, als sich zwei Männer zu Pferd dem Gipfel eines bewaldeten Hügels näherten, von dem aus man einen Ausblick auf Strathmourne House hatte. Sir Adam Sinclairs graues Vollblut stellte die Ohren auf und schnaubte leise ob des Geruchs der Ställe, die unter ihnen lagen, und das Pferd hätte seinen Schritt zu einem Trab beschleunigt, wenn nicht sein Reiter Beine und Zügel mit sanfter Festigkeit eingesetzt hätte. »Ruhig, Khalid. Schritt!« sagte Adam. Der große Wallach hob stolz den Kopf und versuchte einige -8-
tänzelnde Schritte en piaffe, fast unmittelbar über dem Boden schwebend. Dann ging er wieder in einen fügsamen, gesetzten Schritt über, als hätte es nie eine Meinungsverschiedenheit zwischen Pferd und Reiter gegeben. Der zweite Reiter, ein jüngerer Mann mit goldbraunem Haar und einer Brille mit Goldrand, mußte über die pure Artistik der Partnerschaft lachen. »Aha, der Stil des Meisters«, bemerkte er mit einem Grinsen. »Khalid ist wirklich ein außerordentlich schönes Pferd, Adam. Sie müssen mir irgendwann einmal gestatten, euch beide auf die Leinwand zu bannen - vielleicht etwa in der Art der Studie von Ihrem Vater und seinem grauen Jagdpferd, die in Ihrem Salon hängt.« Er reckte den Kopf und blickte den Älteren fragend an. »Was halten Sie davon? Soll ich Ihnen für Weihnachten ein Pferdeporträt malen?« Die Frage erntete bei Adam ein leises, freundliches Lachen, gefolgt von einem kameradschaftlichen Lächeln. »Glauben Sie, daß Ihre Malhand die Anstrengung aushält? Wenn ja, dann gibt es nichts, was ich lieber hätte!« Peregrine Lovat hob die behandschuhte Hand von den Zügeln seines Reittiers, einer kastanienbraunen, etwas koketten Vollblutstute mit seidigem Maul, und streckte die in Leder gekleideten Finger, so daß Adam sie sehen konnte. »Oh, darüber machen Sie sich nur keine Sorgen«, erwiderte er fröhlich. »Meine Hand ist praktisch so gut wie neu, dank Ihrer strengen Aufsicht bei der Naht. Tatsächlich stehe ich seit fast einer Woche schon wieder an der Staffelei und habe nicht mehr als ein gelegentliches Stechen gespürt.« »Trotzdem würde ich es nicht übertreiben«, warnte Adam. »Es war eine häßliche Schnittwunde, die Ihre Karriere als Maler ein für allemal hätte beenden können. Mir gefällt der Gedanke nicht, daß Sie sie vielleicht aus Ungeduld gefährden.« Peregrine legte seine Hand wieder an die Zügel. Mit einem Mal war er sich des Schutzverbands unter dem Handschuh sehr -9-
bewußt, den er auch weiterhin trug, wenn er anstrengenden oder Schmutz verursachenden Tätigkeiten nachging. Wenn er einmal zu lange daran dachte, unter welchen Umständen er die Verletzung abbekommen hatte, mußte er sich immer noch zusammenkrümmen. Schwertwunden waren heutzutage nicht gerade alltäglich. Aber eigentlich war es gerade die Heftigkeit seiner Erinnerung, die ihn veranlaßt hatte, seine Farben und Pinsel so schnell wie möglich wieder herzunehmen, sobald die Fäden gezogen waren und er sich in der Lage fühlte, einen Pinsel wieder richtig zu halten. Er biß sich nachdenklich auf die Lippe und suchte nach Worten, die seinen neu erwachten, schier unwiderstehlichen Drang erklären konnten. »Es ist eigentlich nicht Ungeduld«, erklärte er. »Vielleicht habe ich mich ein wenig angetrieben, aber - nun ja, das mag ein wenig komisch klingen, aber Tatsache ist, daß ich glaubte, ich dürfte es nicht aufschieben. Die -äh - Studien, die ich gemacht habe, haben alle mit den Ereignissen am Loch Ness zu tun.« Adam warf ihm unter seiner samtenen Reitkappe einen scharfen Blick zu. Die beiden hatten sich vor kaum mehr als einem Monat kennengelernt, aber diese anfänglich kurze gesellschaftliche Bekanntschaft hatte sich, von einer beruflichen Beziehung ausgelöst, zu einer spirituellen Partnerschaft entwickelt, die so willkommen wie unerwartet gewesen war. Ohne Peregrines einzigartige und bislang unvermutete Talente, die sich am Loch Ness ebenso gezeigt hatten wie an den vorhergegangenen Tagen, die zu jenen Ereignissen geführt hatten, wäre das Ergebnis weit weniger zufriedenstellend gewesen. Der junge Künstler wußte vielleicht noch nicht viel über diesen Teil seiner Begabung, die weit über das bloß Künstlerische hinausging, aber er lernte jeden Tag - und offensichtlich war er eifriger gewesen, als Adam erwartet hatte. »Ich habe mich noch nicht an dieses Selbstporträt gewagt, das Sie angeregt haben«, sagte Peregrine, der die mögliche Richtung der Überlegungen seines Mentors erriet. »Irgendwie schien es -10-
mir einstweilen wichtiger, alles, woran ich mich hinsichtlich jener Nacht am Loch Ness erinnern kann, im Bild festzuhalten. Meine Erinnerung daran scheint irgendwie mit dieser Verletzung an meiner Hand verknüpft zu sein - fast, als wäre die Wunde selbst es, die mich in diesen Teil der Geschichte einbindet. Gleich nachdem es passiert war«, fuhr er fort, »waren alle meine mentalen Eindrücke kristallklar, bis hin zu den kleinsten Details. Aber seit meine Hand zu heilen begann, fingen auch diese Eindrücke an zu verblassen. Ich kann sie immer noch wachrufen, aber es kostet mich mehr Mühe.« Adam beobachtete ihn jetzt genau, während die Pferde sich ihren Weg den letzten Hang hinab suchten. »Das ist eine interessante Überlegung«, bemerkte er. »Was macht Sie so sicher, daß es nicht einfach daran liegt, daß die Zeit vergeht?« Peregrine verzog das Gesicht und schnaubte. »Nun, vielleicht könnten Sie an diese Erinnerungen gelangen, indem Sie Hypnose oder so etwas einsetzen. Die einzige Methode, zu der ich anscheinend fähig bin, besteht darin, daß ich zuerst meine Aufmerksamkeit auf die Wunde in der Hand konzentriere. Und da die heilt, dachte ich, ich sollte lieber mit den Bildern weitermachen, bevor ich vielleicht die Erinnerung verliere.« Ein Lächeln ließ Adams dunkle Augen aufleuchten. »Sie lernen schneller, als ich dachte. Ich möchte mir gerne einmal anschauen, was Sie gemalt haben.« »Das habe ich mir auch gedacht«, erwiderte Peregrine mit einem leichten Grinsen, das der unter Hochspannung stehende junge Mann, der er noch vor kaum einem Monat gewesen war, nicht zustande gebracht hätte. »Ich habe sie alle heute morgen in meinem Auto mitgebracht. Ich dachte, sie könnten für eine interessante Konversation beim Frühstück sorgen.« Der Klang der beschlagenen Hufe auf den Pflastersteinen des Stallhofes rief John herbei, den ehemaligen Kavalleristen von -11-
der Königlichen Garde, der sich um Adams Pferde kümmerte. Mit einem Grinsen und einer grüßenden Bewegung, die fast militärisch wirkte, kam er ihnen entgegen und übernahm die Zügel, als Adam und Peregrine abstiegen. »Hatten Sie und Mr. Lovat einen guten Ritt, Sir?« fragte er, während Adam seine Steigbügel an ihren Riemen hochzog und Khalids Sattelgurt löste. »Ja, es war ausgezeichnet«, erwiderte Adam. »Wir hatten einen guten, langen Kanter entlang dem Rain am oberen Feld, und Mr. Lovat versuchte sogar einige leichte Sprünge erfolgreich, möchte ich hinzufügen. Wenn es so weitergeht, dann werden wir ihn gegen Weihnachten schon so weit haben, daß er bei der Jagd mitreiten kann.« Peregrine, der sich gerade um sein Reittier kümmerte, rollte selbstironisch mit den Augen. »Ich fürchte, daß in diesem Fall erfolgreich ein sehr relativer Begriff ist, aber mir ist es immerhin gelungen, nicht herunterzufallen!« Adam lachte leise, während die Pferde in den Stall geführt wurden. Peregrine schloß sich ihm an, und sie gingen in flottem Tempo durch den Garten, der sich an die Rückseite des Hauses anschloß, auf die Hintertür zu. Dort hielt sich Peregrine kurz damit auf, eine Mappe vom Rücksitz eines grünen Morris Minor Traveller zu nehmen. Als er Adam im Umkleidezimmer wieder einholte und seinen Reithelm neben den von Adam hängte, hatte der Ältere schon seine Stiefel gegen Samthausschuhe ausgetauscht, die das Phönix-Wappen der Sinclairs trugen, und trocknete sich gerade die Hände in einem mit Monogramm verzierten Handtuch ab. »Ich nehme sie ins Morgenzimmer mit, während Sie sich waschen«, erklärte Adam und nahm Peregrine die Mappe ab. »Humphrey hat da neben den Stiefelknecht ein zweites Paar -12-
Hausschuhe gestellt. Wenn wir auf Mrs. G.s sauberen Fußböden Dreck hinterlassen, redet sie wahrscheinlich tagelang nicht mehr mit uns.« Grinsend zog Peregrine sich die Reithandschuhe aus, entledigte sich mit Hilfe des Stiefelknechts seiner schmutzigen Stiefel und schob die bestrumpften Füße in die bereitgestellten Hausschuhe. Nachdem er sich im benachbarten Waschraum Gesicht und Hände gesäubert hatte und sich mit einem Kamm durchs Haar gefahren war, folgte er dem Weg, den sein Gastgeber gegangen war, durch den Dienstbotengang in das mit Golddamast tapezierte Morgenzimmer. Humphrey, der schon mehr als zwanzig Jahre als Butler in Adams Diensten stand, hatte im Sonnenschein des breiten Bogenfensters den Frühstückstisch hergerichtet. Wie immer war der Tisch auf frischem irischem Leinen makellos mit schönem Porzellan und Kristall sowie antikem Silber gedeckt. Adam nippte an einem Waterford-Glas mit frischgepreßtem Orangensaft, während er die Schlagzeilen auf der Titelseite der Morgenzeitung las. Humphrey goß seinem Herrn gerade die erste Tasse Tee ein. Beide blickten auf, als Peregrine den Raum betrat. Adam hob grüßend sein Glas, Humphrey ging mit der Teekanne zu der Tasse, die vor Peregrines Platz stand. »Guten Morgen, Mr. Lovat. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee einschenken?« »Ja, danke, Humphrey. Guten Morgen auch.« »Sir Adam hat mir gerade erzählt, daß Sie Ihre letzten Kisten ins Torhaus gebracht haben«, fuhr der Butler fort. »Ich hoffe, daß Sie mit Ihrer neuen Unterkunft zufrieden sind.« Peregrine grinste, als er den Queen-Anne-Stuhl unter dem Tisch hervorzog, sich setzte und dann schwungvoll seine Serviette aufschüttelte. Es war kaum zwei Wochen her, seit er Adams Einladung angenommen hatte, in das leerstehende Haus am hinteren Tor ein zu ziehen, und er empfand es schon als eine -13-
ausgesprochene Verbesserung gegen über dem vollgestopften Atelier, das er in Edinburgh bewohnt hatte. »Mehr als zufrieden, Humphrey«, erwiderte er glücklich. »Sie wissen, ich dachte zuerst, mir würde der Wirbel der Stadt fehlen. Seltsamerweise jedoch ertappe ich mich dabei, wie ich mich ganz zufrieden im Leben eines Landedelmanns einrichte. Hier hat man wirklich mehr Raum zum Atmen.« Diese überschwengliche Äußerung gab Adam Anlaß zu heimlichem Amüsement, denn er wußte, daß es Peregrine gar nicht um buchstäblichen Raum zum Atmen ging. In Wahrheit, so vermutete Adam, war Peregrines neuentdecktes Gefühl der Freiheit ebensosehr einer Veränderung in seinen Ansichten wie dem Wechsel der Umgebung zu verdanken. Als Psychiater war Adam mit diesem Phänomen durchaus vertraut, aber Peregrines Fall wies Faktoren auf, denen Adam allzu selten begegnete. Obwohl Peregrine bei ihrer ersten Begegnung reserviert und in sich gekehrt gewesen war, wie ein Falke in Gefangenschaft dumpf vor sich hinbrütend, hatte er allmählich die Gelegenheit bekommen, seine Schwingen zu erproben. Obwohl er sich dessen eigentlich nicht bewußt war, befand sich der junge Künstler gerade jetzt in dem Prozeß, ebenso ernsthaft zur Jagd zu stoßen, wie der peregrine falcon, der Wanderfalke, nach dem er benannt war. Und wenn Adam Sinclair die Zeichen richtig deutete, dann näherte sich dieser Prozeß schnell seiner Vollendung. »Nehmen Sie von den Brötchen«, murmelte er lächelnd, während Humphrey dem Jüngeren ein mit Leinen ausgekleidetes Körbchen hinhielt. »Und Sie sollten wissen, daß Mrs. Gilchrist sie heute morgen frisch mitgebracht hat, besonders für ›diesen netten jungen Mr. Lovat‹. Anscheinend hat sie an Ihnen Gefallen gefunden.« Peregrine hatte eben nur ein einziges Brötchen genommen, doch jetzt schnappte er sich noch ein zweites aus dem Körbchen, bevor Humphrey es Adam hinhalten konnte. -14-
»Dann sollte ich mir lieber zwei nehmen, nicht wahr?« Er grinste schelmisch. »Schließlich möchte ich nicht, daß Mrs. G. denkt, ich wüßte es nicht gebührend zu schätzen. Gute Haushälterinnen sind ihr Gewicht in frischen Brötchen wert!« »Aye, und Sie werden im ganzen Land keine bessere finden«, pflichtete Adam ihm bei. »An drei halben Tagen in der Woche erledigt sie mehr für mich, als die meisten Leute bei Vollzeitarbeit fertigbrächten. Ich weiß nicht, was Humphrey und ich ohne sie anfangen würden. Wenn sie Ihnen angeboten hat, unten im Torhaus für Sie zu putzen, dann lassen Sie sich das nicht entgehen, was auch immer geschehen mag!« »Oh, das werde ich ganz gewiß nicht!« Während das Frühstücksgespräch von der Würdigung des Hauspersonals zu ihrem Morgenritt und den Wolken überging, die jetzt im Norden dunkel aufzogen, verschwanden die Brötchen langsam, hinuntergespült mit einigen Tassen Tee. Humphrey betrachtete die Mappe, die Adam beiläufig neben der Tür abgelegt hatte, und brachte dann aus dem benachbarten Salon einen zusammenklappbaren Kartentisch aus Rosenholz und stellte ihn neben dem Frühstückstisch auf, während die beiden aßen. »Werfen wir jetzt vielleicht einmal einen Blick auf die Sachen, die Sie mitgebracht haben, oder?« sagte Adam, als Humphrey sich in die Küche zurück gezogen hatte und die beiden mit dem Frühstück fast fertig waren. Peregrine stopfte sich den letzten Bissen von seinem letzten Brötchen in den Mund und wischte sich hastig die Finger an der Serviette ab, dann schob er seinen Stuhl an den Rosenholztisch, öffnete die Mappe und holte mit einem tiefen Griff einige Blätter Aquarellpapier heraus, die zu verschiedenen Größen zugeschnitten waren. »Meine Hand war noch ein wenig zu steif für die Arbeit mit dem Bleistift, als ich damit anfing, und Ölbilder brauchen zu -15-
lange zum Trocknen«, erklärte er, als er Adam ein Bild reichte. »Mir ist es jedoch gelungen, eine recht große Menge von Details unterzubringen, sogar mit den Wasserfarben. Außerdem war ich immer der Meinung, daß Wasserfarben das beste Mittel sind, um die Stimmung von miserablem Wetter einzufangen.« Das erste Bild zeigte drei Gestalten zusammengeduckt im stürmischen Regen auf dem Parkplatz von Urquhart Castle vor einem Hintergrund, der von einer Flut lumineszierenden Grüns unheimlich beleuchtet wurde. Die Gestalten, die Peregrine und Adam darstellen sollten, waren wenig mehr als verschwommene Andeutungen von Formen, doch bei der dritten, die eine lange Polizeitaschenlampe hielt, handelte es sich ganz deutlich um Detective Chief Inspector Noel McLeod, Adams langjährigen beruflichen und spirituellen Partner. Regen hatte die Fliegerbrille des Inspectors bespritzt und rann von seinem kurzgeschnittenen grauen Schnurrbart, während er sich etwas umdrehte und zu ihnen zurück schaute. Er und Adam trugen die dunkelgrünen Wachstuchjacken, die in ganz Großbritannien zu allen Tätigkeiten auf dem Land gehörten. Peregrine hatte seinen altbekannten Marine-Dufflecoat an. »Ja, wirklich«, murmelte Adam und lächelte, als er das Blatt mit der Bildseite nach unten hinlegte und den Titel las, den Peregrine dünn mit Bleistift auf die Rückseite geschrieben hatte: Meisterjäger und blutiger Amateur, Das Lächeln erstarb, als Peregrine ihm das zweite Bild reichte. Es zeigte das gleiche grünliche Leuchten wie das erste, aber die Perspektive war auf das vom Regen gepeitschte Ufer des Loch Ness verlagert. Mitten durch eine nächtliche Landschaft marschierte, von Blitzen zu Silhouetten reduziert, ein Zug von vier dunkelgewandeten und mit Kapuzen bedeckten Männern. Die beiden in der Mitte schleppten sich mit einer kleinen, aber schweren altertümlichen Kiste ab. Der Mann, der die Nachhut bildete, trug etwas über seinem Kopf, das wie ein gerahmtes Bild aussah, und er duckte sich darunter wie unter einen Schild. -16-
Der vierte Mann hatte so etwas wie die Maske eines Henkers vor dem Gesicht und schwenkte ein Schwert, während er die seltsame Prozession anführte. Licht schimmerte von einem schweren, silbernen Medaillon um seinen Hals und einem Ring an seiner rechten Hand. Doch gerade dieses Licht machte es unmöglich, die beiden Gegenstände im Detail zu erkennen. Über ihnen und um sie herum wirbelte wie ein Schwarm zorniger Hornissen eine hungrige Wolke grün glühender Kügelchen. Von den Kügelchen im Vordergrund enthielt jedes das gespenstische Abbild eines geflügelten Homunkulus mit weit aufgerissenem Rachen und rasiermesserscharfen Zähnen. Auf die Rückseite dieses Bildes hatte Peregrine gekritzelt: Die Wut der Sldhideach. »Wer hätte geglaubt, daß etwas so winziges so tödlich sein könnte?« bemerkte der Künstler, während er sein Werk mit einem verwunderten Kopfschütteln betrachtete. »Das nächste ist noch bizarrer, wenn man nicht an Monster glaubt.« Er reichte Adam ein drittes Blatt aus Aquarellpapier. Dieses Bild, eine wesentlich dunklere Nachtszene, zeigte zwei Männer, die auf dem Heck eines schnittigen Hochleistungsrennbootes kauerten, das auf einer stürmischen Woge schwarzen Wassers rollte. Das Rennboot war überschattet von einer riesigen schlangenhaften Form, die sich an Steuerbord vor dem Bug aus dem Wasser hochbäumte. In einem Basiliskenkopf glitzerten Reptilienaugen, während die Kreatur ihre Windungen zusammenzog, um zuzuschlagen und unterzutauchen... Wer das Aquarell betrachtete, hätte es für das Titelbild eines modernen Horrorromans halten können, doch Adam wußte es besser. Mit eigenen Augen hatte er das Geschehen vom Strand unterhalb von Urquhart Castle aus beobachtet, wo man einen Ausblick auf Loch Ness hatte - aber Peregrines Bild zeigte viel mehr Einzelheiten, als man vom Ufer aus hätte sehen können. Denn Peregrine Lovat besaß die Gabe, mehr als andere -17-
Menschen zu sehen. Dies war ein Teil des Talents, das ihn zu einem begabten Porträtmaler machte - die Fähigkeit, mehr an seinen Modellen zu sehen als nur deren bloße körperliche Erscheinung. Dies war es auch gewesen, was ihn dazu getrieben hatte, Adams Hilfe zu suchen. Indem er lernte, sein Talent als die Gabe anzunehmen, die sie war, ging ihm allmählich auf, was Adam schon wußte - daß die Wahrheit manchmal über den erfahrbaren Augenschein und das vor Gericht Verwertbare hinausging. Und die Wahrheit zu wissen, konnte natürlich gefährlich sein. Peregrines letzte beide Bilder waren Zeugnisse für diese Tatsache. Das erste zeigte den Oberkörper des Kapuzenmannes mit dem Schwert, dessen Klinge jetzt als reichgeschmücktes italienisches Rapier zu erkennen war. Die Einzelheiten der Schwerthand und des Hefts des Rapiers waren gut getroffen, die Klinge versetzte gerade den Schlag, der Peregrine verwundet hatte, aber der Ring mit dem roten Stein auf der Schwerthand war nicht deutlich sichtbar. »Hier ist ein besseres Detailbild des Rings und des Medaillons des Anführers«, sagte Peregrine und reichte Adam das letzte Aquarell. »Ich mußte lange darüber nachdenken, aber schließlich bekam ich einen klaren Blick auf ihre Embleme.« Es hätte sich um eine Zeichnung handeln können, die man einem Auftrag an einen Juwelier beigefügt hatte, so fein war sie ausgeführt. Der ovale rote Edelstein, der in dem goldenen Ringkasten saß, war kunstfertig geschnitten und zeigte die knurrende Maske einer großen Katze mit den Büschelohren und dem Backenbart eines Luchses. Die Scheibe des Medaillons trug, genau gezeichnet in Schattierungen von Schwarz und Grau, das gleiche Emblem. Adam preßte die Lippen zusammen, als er es sah, denn es weckte in ihm Erinnerungen, die alles andere als angenehm waren. »Sie haben es schon früher einmal gesehen, nicht wahr?« sagte Peregrine ruhig, als er bemerkte, wie der andere die -18-
dunklen Augen zusammenkniff. »Aye«, erwiderte Adam ruhig. »Um die Wahrheit zu sagen, der Ring, den Sie gemalt haben, wurde bei Loch Ness gefunden. McLeod zeigte ihn mir, nachdem wir von der Versorgung Ihrer Hand zurück gekommen waren.« Peregrine blieb der Mund offen stehen, er schaute erneut auf das Bild, dann wieder auf Adam. »Was bedeutet das dann?« Adam lächelte gepreßt und unfroh. Am Loch Ness hatten er und McLeod die Wahrheit erraten, aber sie hatten das Wissen für sich behalten. Doch wenn Peregrine sich der Jagd anschließen sollte, dann mußte er etwas darüber erfahren, womit sie es zu tun hatten. »Sie haben die Ringe gesehen, die Noel und ich bei der Arbeit tragen. Viele schwarze Logen tun es uns gleich. Das ist das Zeichen des Luchses.« Er tippte mit einem sehr gepflegten Zeigefinger auf das Bild des Luchsrings. »Sagen wir einfach, die Loge der Luchse ist ein alter Feind.« Peregrines haselnußbraune Augen weiteten sich, er sagte aber nichts. »Vor fünfzehn Jahren sind wir zum letzten Mal auf sie gestoßen. Damals war ihr Anführer ein Mann namens TudorJones. Wir verloren drei Mitglieder unserer eigenen Jagdtrupps, bevor wir Erfolg hatten und die Loge der Luchse zur Rechenschaft zwangen. Damals wagte ich zu hoffen, wir hätten die meisten ihrer Rädelsführers erwischt.« Peregrine erbleichte ein wenig. »Erwischt?« murmelte er. Sein Ton weckte Adam aus seiner versonnenen Erinnerung, und der Ältere mußte kurz über das Unbehagen seines jungen Mitarbeiters lächeln. »Tut mir leid, Peregrine, es wäre zutreffender zu sagen, daß wir sie - verhafteten. Sie werden sich vielleicht an das Gespräch -19-
erinnern, daß wir im Auto hatten, am Morgen nach dem Vorfall von Loch Ness. Dabei sagte ich, Noel und ich seien so etwas wie eine okkulte Polizeitruppe. Nun, diese Analogie trifft auf verschiedenen Ebenen zu. Wie unsere weltlicheren Kollegen sind wir verpflichtet, das Gesetz aufrecht zuerhalten in diesem Fall das Gesetz der Inneren Ebenen. Die Mitglieder von Organisationen wie der Loge der Luchse wollen wie jede andere kriminelle Vereinigung etwas bekommen, was ihnen nicht zusteht, und sie machen vor nichts halt, um es an sich zu reißen. Es ist unsere Aufgabe, solche Leute zu fassen und vor Gericht zu bringen, bevor sie in der Welt Unheil anrichten können. Was nicht bedeutet, daß es nicht auf beiden Seiten zu Verlusten kam«, fuhr er sachlich fort. »Zufällig sind im Falle von TudorJones und seinen Anhängern die meisten tot, die am schwersten in das Werk der Luchse verwickelt waren. Aber das entsprach gewiß nicht unserer Absicht. Wir sind Vollstrecker, keine Henker. Unsere Aufgabe war es damals - wie auch heute -, sie davon abzuhalten, daß sie ernsthafte Verstöße gegen das Gesetz der Inneren Ebenen begehen. Wenn wir gezwungen sind Gewalt einzusetzen, dann versuchen wir nur die Gewalt anzuwenden, die schon von den Gegnern eingesetzt wird - im besten Fall lenken wir sie auf die zurück, die sie herbeigerufen haben -, aber auch das nur, wenn es nötig ist.« Er hätte vielleicht noch mehr gesagt, aber in diesem Augenblick klopfte es kurz an der Tür, und noch bevor Adam antworten konnte, kam Humphrey herein. Er trug einen kleinen Tischfernseher mit sich. »Ich bitte um Verzeihung, Sir, daß ich so hereinplatze«, sagte er über die Schulter, als er sich eilig zur nächsten Steckdose begab, »aber eine der Schlagzeilen der Morgennachrichten wird Sie vielleicht interessieren. Der Bericht dürfte jeden Augenblick kommen.« Er stellte den Fernseher auf einen der Beistelltische aus Mahagoni, steckte den Stecker in die Dose und schaltete das -20-
Gerät ein. Fast sofort füllte die gezackte Silhouette grauer Türmchen vor einem noch graueren Himmel den Schirm, begleitet von einer kultivierten BBC-Stimme, die aus dem Off sprach. »... Die Grampian Police untersucht eine mysteriöse Explosion, die sich heute frühmorgens auf dem Gelände von Schloß Balmoral ereignet hat«, sagte die Stimme, während die Kamera auf die naß wirkende, weite Fläche eines architektonischen Gartens mit gutgemähtem Rasen hinabschwenkte. »Die Explosion, die den prunkvollen Turm des Schlosses beträchtlich beschädigte, ereignete sich kurz nach Mitternacht. Es wurde niemand verletzt. Chief Constable William McNab lehnte es ab, Aussagen über den möglichen Grund der Explosion zu machen und versicherte, daß die Fakten erst nach einer eingehenden Untersuchung des Schadens bekanntgegeben werden. Ein Spurensicherungsteam aus Aberdeen und ein weiteres Team der Armee durchsuchen im Augenblick die Trümmer nach einem Hinweis.« Die Kamera schwenkte auf den beschädigten Hauptturm des Schlosses und zeigte dort, wo auf seiner Krone das nördliche Türmchen hätte sein sollen, einen geschwärzten Stumpf geborstenen Mauerwerks. Einige Gestalten in Militär- und Polizeiuniformen durchsuchten den Schutt, der am Fuß des Gebäudes über das Gras verstreut lag. Die Kamera zoomte zurück und schwenkte auf einen offensichtlich frierenden Reporter in Regenmantel und Tweedmütze, der mit dem Mikrofon in der Hand im Vordergrund stand. »Ein Sprecher des Buckingham-Palastes hat bestätigt, daß sich zum Zeitpunkt des Vorfalls kein Mitglied der königlichen Familie auf Baimoral aufhielt«, berichtete der Reporter ernst. »Die Behörden untersuchen die Möglichkeit einer Gasexplosion, aber es heißt, daß sie die Möglichkeit eines terroristischen Anschlags noch nicht ausgeschlossen haben. Was die Sache noch mysteriöser macht, ist, daß es einige unbestätigte Berichte -21-
örtlicher Zeugen gegeben hat, die behaupten, sie hätten gesehen, wie ein außergewöhnlicher Blitz in das Dach des Schlosses eingeschlagen habe. Von Seiten der Polizei oder des Regiments, das derzeit für die Sicherheit des Schlosses zuständig ist, hat es noch keine offizielle Stellungnahme gegeben. Bis also die Behörden bereit sind, mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit zu treten, scheint die Ursache der Explosion noch ein Rätsel zu bleiben. Das war Alan Cafferty, BBC-Nachrichten, von Schloß Balmoral.« Der Bericht endete mit einer abschließenden Großaufnahme des zerstörten Türmchens. Von den geschwärzten Steinen stieg noch Rauch in dünnen Fäden hoch. Als die Berichterstattung dann zurück nach London zu den Wirtschaftsnachrichten wechselte, gab Adam Humphrey ein Zeichen, den Fernseher aus zu schalten und wieder weg zu bringen. Daraufhin blickte er zur Seite auf Peregrine, der große Augen machte. »Ein Rätsel, in der Tat«, murmelte er. »Ich frage mich...« Adam griff hinter sich, schnappte sich das Telefon und wählte die Privatnummer von Detective Chief Inspector Noel McLeod, einem Veteranen vieler solcher ungelöster ›Rätsel‹. Beim dritten Läuten wurde abgehoben. »Edinburgh 7978«, brummte eine wohlbekannte Baßstimme am anderen Ende der Leitung. Adams Gesichtsausdruck entspannte sich etwas. »Noel? Hier ist Adam. Haben Sie gerade die Nachrichten gehört?« »Die Meldung über Balmoral? Aye, die habe ich gehört«, erwiderte MacLeod. »Ich war gerade dabei mich zu rasieren, als Jane mich rief, ich solle es mir anschauen.« Adam ertappte sich bei einem Lächeln, als er sich vorstellte, wie McLeod noch mit dem Rasierschaum am Kinn in sein Wohnzimmer eilte. »Vermutlich wissen Sie dann nicht mehr darüber als ich«, sagte er. »Was halten Sie davon?« -22-
»Mein erster Gedanke war Dankbarkeit, daß das außerhalb meines Zuständigkeitsbereichs passiert ist«, erwiderte McLeod. »Nur die Geschichte mit dem Blitzschlag hat mich nachdenklich gemacht.« »Hmmm, mich auch«, sagte Adam. »Zumindest frage ich mich, wer die ungenannten Zeugen sind. Es kommt mir merkwürdig vor, daß jemand den Schaden einem Blitzschlag zuschreibt, wenn das nicht genau das war, was sie glaubten gesehen zu haben. Es könnte sein, daß da nicht mehr dahinter steckt als ein seltsamer Trick des Wetters, aber ich weiß nicht, ob ich bereit bin, von dieser Annahme auszugehen.« »Aye.« McLeods schroffe Antwort machte deutlich, daß er erst verdauen mußte, was Adam soeben gesagt hatte - und nicht gesagt hatte. »Nun, vermutlich würde es nicht schaden, sich das Gelände mal ein wenig anzuschauen, sobald die Presse sich von dem Fall zurück gezogen hat - und wenn auch nur, um unsere Gemütsruhe wieder herzustellen.« »Genau mein Gedanke«, sagte Adam. »Wenn Sie sich dafür freimachen können, dann könnten wir vielleicht irgendwann am Anfang kommender Woche einmal nach Baimoral hochfahren.« »Bei mir kein Problem«, erwiderte McLeod. »Ich rufe Sie an, sobald ich eine Gelegenheit hatte, es zu arrangieren. Haben Sie vielleicht daran gedacht, den jungen Lovat mit zu bringen?« »Wenn er mitkommen möchte«, sagte Adam mit einem fragenden Blick in Richtung Peregrine, der begierig Adams Hälfte des Gespräches mitgehört hatte und jetzt heftig nickte. »Um die Wahrheit zu sagen«, fuhr Adam mit einem Grinsen fort, »ist er im Augenblick bei mir. Wir sind zusammen ausgeritten. Mir wird gerade zu verstehen gegeben, daß ihn keine zehn Pferde davon abhalten könnten mit zu kommen.« McLeod gluckste. »In der Zwischenzeit sehe ich keinen Grund«, fuhr Adam fort, »warum Sie nicht das Wochenende in Ruhe genießen sollten. -23-
Richten Sie Jane liebe Grüße aus, und ich werde dann von Ihnen in ein paar Tagen hören.« Mit dieser Zusicherung legte er auf. Kaum hatte er den Hörer eingehängt, läutete der Apparat. Überrascht meldete sich Adam. »Strathmourne. Sinclair hier.« »Adam? Du lieber Himmel, du bist selbst am Apparat?« sagte eine musikalische männliche Tenorstimme, die Adams Ohr so vertraut war wie McLeods rauher Baß. »Oh, ausgezeichnet! Ich fürchtete schon, ich würde dich nicht mehr erreichen. Hier ist Christopher. Hast du die heutigen Morgennachrichten gesehen?« »Wenn du damit den Vorfall oben auf Balmoral meinst, so habe ich gerade darüber mit Noel telefoniert«, erwiderte Adam.. »Aha, dann kommt es dir also auch merkwürdig vor«, bemerkte der andere mit unbeschwerter guter Laune. »Tja, wir können darüber noch weiterreden, wenn wir uns treffen. Du kommst doch noch?« »Natürlich. Ich hatte vor loszufahren, sobald ich mit dem Frühstück fertig bin und aufgeräumt habe«, sagte Adam. »Ich nehme an, es hat sich nichts geändert seit unserem letzten Gespräch?« »Nein, nicht daß ich wüßte.« »In diesem Fall gehen wir vor wie geplant. Übrigens«, fügte Adam hinzu, »zufällig habe ich im Augenblick jemanden bei mir, der vielleicht nützlich sein könnte, wenn er dabei wäre. Er heißt Peregrine Lovat.« »Der Künstler?« »Genau der. Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich ihn mitbringe?« »Ausmachen? Du lieber Himmel, nein!« »In diesem Fall frage ich mal, ob es ihm etwas ausmacht.« Er wandte sich Peregrine zu, der sich mannhaft bemühte, seine Neugier zu verhehlen. -24-
»Nun, wie steht's?« fragte Adam. »Haben Sie Pläne für heute vormittag?« »Eigentlich wollte ich einen faszinierenden Vormittag damit verbringen, meine Bücherkartons auszupacken«, erwiderte Peregrine trocken, doch seine braunen Augen schauten hinter der goldenen Brille ganz begierig. »Aber wenn dies eine Einladung ist, dann können die Bücher warten!« Adam lachte leise. »Er sagt, daß er meint, er könne sich freimachen«, sagte er seinem Anrufer. »Wir treffen uns dann wie geplant im Pfarrhaus.« »Prima! Also bis später!« Als Adam den Hörer wieder auf die Gabel legte, beugte Peregrine sich eifrig vor. »Also, auf was habe ich mich da eingelassen?« »Oh, auf nichts sehr Ernstes«, erwiderte Adam. »Der Mann, der gerade angerufen hat, war Father Christopher Houston, ein Pfarrer der Episkopalkirche und ein sehr guter Freund von mir. Eine frühere Pfarrangehörige von ihm hat sich beschwert, in ihrer neuen Wohnung spuke es. Er hat mich gebeten, nach Edinburgh zu kommen und mir die Wohnung anzuschauen.« Als Adam das Wort spuken verwendete, erschien ein zweifelnder Ausdruck auf Peregrines offenem Gesicht. »Na, na, Sie brauchen nicht gleich so dreinzuschauen«, bemerkte Adam. »Ich glaube nicht einen Augenblick, daß es in der Wohnung wirklich spukt, so im Sinne von Schauergeschichten. Christopher ist schon einmal dort gewesen und hat die Örtlichkeit besucht, und er glaubt nicht, daß da so etwas wie ein formeller Exorzismus nötig ist. Andrerseits hat die junge Frau, die dort wohnt, seit ihrem Einzug Alpträume. Ob der Grund dafür okkult oder psychisch ist, bleibt noch zu entscheiden.« »Und das ist der Punkt, wo Sie ins Spiel kommen«, stellte -25-
Peregrine fest. »Ja, das ist der Punkt, wo ich ins Spiel komme«, stimmte ihm Adam zu. »Wir werden an die Situation unvoreingenommen herangehen. Die junge Dame, um die es geht, mag vielleicht einfach nur einem vorübergehenden Streß unterliegen. Oder vielleicht gibt es tatsächlich etwas Ungutes in der Atmosphäre der Örtlichkeit. So oder so werden wir die Sache nicht ungelöst lassen.« »Und wo komme dann ich ins Spiel?« fragte Peregrine. »Nun, als Christopher und ich den Fall zuerst besprachen«, fuhr Adam wie beiläufig fort, »erwähnte ich Sie als jemanden, der über einen ungewöhnlichen künstlerischen Scharfblick verfügt. Christopher war sehr daran interessiert, von Ihren Talenten zu hören, und er drückte den starken Wunsch aus, etwas von Ihren Werken zu sehen. Dann kam mir der Gedanke, dies biete vielleicht eine gute Gelegenheit, nicht nur für mich, Sie jemandem vorzustellen, den ich als Freund schätze, sondern auch für Sie, um Ihre Talente zu einem guten Zweck einzusetzen.« »Sie wollen, daß ich zeichne, was in der Wohnung los ist?« Adam nickte. »Unter der Voraussetzung, daß es etwas zu zeichnen gibt.« Beide wußten, daß sie nicht über Möbel oder Innenausstattung redeten. »Hört sich ziemlich vielversprechend an«, grinste Peregrine. »Sagen Sie mir nur noch, wann ich abmarschbereit sein soll.« »Tja, Christopher wohnt in Kinross«, erwiderte Adam. »Er erwartet uns gegen zehn.« Peregrine schaute zuerst auf die Uhr und dann auf seine Kleider. »Du lieber Himmel, Adam, einen so engen Zeitplan wie Sie hat sonst niemand, den ich kenne! Habe ich noch Zeit, mich zu duschen und umzuziehen?« -26-
»Wenn Sie schnell machen«, sagte Adam glucksend. »Ich mache schnell.« Peregrine leerte seine Teetasse und schob eilig seine Aquarellstudien zurück in die Mappe. »Ich weiß nicht, wie Sie das schaffen!« brummte er. »Woraus besteht die angemessene Uniform des Tages, wenn man Pfarrer besucht und Wohnungen erforscht, in denen es spukt?« »Oh, Freizeitkleidung - aber tragen Sie eine Krawatte«, erwiderte Adam, während der Künstler schon auf die Tür zustrebte. »Ich hole Sie in einer halben Stunde am Torhaus ab«, rief er Peregrine lachend hinterher. »Und vergessen Sie nicht, Ihren Skizzenkasten mit zu bringen!« Kapitel 2 Das rhythmische Hämmern von Hubschrauberrotoren dröhnte, nur wenig gedämpft von den Schneedecken auf den Bergspitzen, über die granitenen Gipfel der Cairngorm Mountains hinweg. Drei weißschwänzige Hirsche schreckten vom Äsen auf und setzten zur Flucht an. Sie stürmten über erfrorenes Heidekraut und Farngestrüpp davon, während der elegante Helikopter über einen Berghang hinwegfegte und dann die dahinterliegende Talsohle überflog. Am anderen Ende des Tals, am Rande eines öden Steilabbruchs, trafen die Strahlen der Morgensonne auf die bläulichen Dachschiefer und gotischen Fenster eines viktorianischen Herrenhauses, das atemberaubend über einem herabstürzenden weißen Wasserfall zu schweben schien. Der Hubschrauber folgte der Linie des Flusses, während er auf das Haus zuflog, und sein Schatten folgte ihm geisterhaft auf dem Talboden. Unmittelbar vor dem Katarakt stieg er ein weiteres Mal hoch und kreiste einmal um den Turm in der Mitte, bevor er wie eine Wespe auf dem Gras eines umfriedeten Vorhofes aufsetzte. -27-
Der Pilot schaltete die Rotoren ab und stieg aus, schlaksig und sparsam in seinen Bewegungen. Er duckte sich ein wenig unter dem langsamer werdenden Schwung der Rotorblätter, während er um die Maschine herumging und seinem Passagier die Tür öffnete. Er trug die braunlederne Fliegerjacke und die schmuddelige spitze Mütze, die vor einem halben Jahrhundert bei Militärpiloten beliebt gewesen waren. Dazu funkelte eine ganz moderne verspiegelte Brille im Sonnenlicht. Der Mann, der vom Passagiersitz stieg, war vergleichsweise bleich und schlank. Sein seidiges blondes Haar war am Scheitel schütter und an den Seiten zurück gekämmt. Nach seiner Kleidung zu urteilen hätte er von einem erfolgreichen Anwalt bis zu einem Universitätsprofessor alles sein können. Der gutgeschnittene Mantel ließ eher an ersteres denken, obwohl er vielleicht noch im Rahmen des Budgets eines hochrangigen Universitätslehrers gewesen wäre; doch der Anzug, den er darunter trug, erinnerte mehr an die Saville Row als an die Vorlesungssäle der akademischen Welt. Tatsächlich war Francis Raeburn auf beiden Gebieten tätig doch sein Vermögen hatte er mit keinem von beiden gemacht. Wenn man ihn drängte, etwas über die Quelle seines nicht unbeträchtlichen Reichtums zu sagen, dann pflegte er immer nur zu lächeln, unergründlich dreinzublicken und dabei undeutlich etwas über kluge Investitionen, einen verständnisvollen Bankdirektor und Familienvermögen zu murmeln. Die hellgrauen Augen waren jetzt noch unergründlicher als sonst, während er reglos auf dem Rasen stand und schweigend die gotische Pracht des Hauses betrachtete. Hinter ihm reckte sich der Pilot noch einmal ins Cockpit und holte einen teuren ledernen Aktenkoffer heraus, den er mit einem respektvollen Nicken an seinen Auftraggeber weiterreichte. »Sonst noch etwas, Mr. Raeburn?« Der Mann namens Raeburn schüttelte zerstreut den Kopf und -28-
klemmte sich den Aktenkoffer unter den Arm. Seine Aufmerksamkeit war jetzt auf die oberen Geschosse des Turms gerichtet. »Im Augenblick nicht, Mr. Barclay. Betrachten Sie sich während der nächsten Stunde als frei, aber gehen Sie nicht zu weit weg. Eigentlich könnten Sie in die Küche hinunter gehen und schauen, ob der Koch noch etwas für Sie vorrätig hat, Sie unersättliches Süßmaul.« Auf seinen Blick und sein gedankenverlorenes Lächeln hin grinste der Pilot und deutete achtungsvoll einen militärischen Gruß an. »Jawohl, Sir, Mr. Raeburn!« Während der Mann sich wieder in den Hubschrauber beugte, um sicher zu stellen, daß alles korrekt abgeschaltet war, ging Raeburn rasch über den Rasen auf das Haus zu. Als er näher kam, öffnete sich die Vordertür, und ein Mann in einem Gewand, das wie ein weißer Mönchshabit aussah, begrüßte ihn mit einem Kopfnicken, das schon fast eine Verneigung war. Ohne ein Wort zu sprechen, geleitete der Mann ihn respektvoll durch die Eingangshalle und in einen langen, mit Eichenholz getäfelten Korridor. Auf der linken Seite führte eine Tür zu einer kleinen Garderobe, wo neben einem Ganzfigurspiegel eine weitere Robe aus weißer Wolle hing. Raeburn streifte seinen Mantel und seine Anzugsjacke ab und übergab sie der Obhut des Wartenden, bevor er sich kurz auf einen kleinen Schemel setzte und seine Schuhe und Socken ablegte. Er zog das weiße Gewand über Hemd und Hose, nahm seinen Aktenkoffer auf und folgte dem anderen, der ihm wieder in den Hauptkorridor voranging. Über eine steile Wendeltreppe am anderen Ende gelangten sie auf einen kreisförmigen Absatz mit zwei Türen auf zwei Seiten. Der Begleiter klopfte an die südliche Tür und wartete auf eine Aufforderung von drinnen, dann ließ er Raeburn in eine opulent ausgestattete viktorianische Bibliothek ein. -29-
Die südliche Wand dieser Bibliothek wurde von einer großen Fensternische beherrscht; die oberen Fensterscheiben waren aus Buntglas und mit Grisaille verziert. Das Sonnenlicht, das von draußen hereinströmte, warf juwelenhafte Farbflecken auf die teuren Orientteppiche, die den Boden bedeckten. Wo die Wände nicht mit Bücherregalen gesäumt waren, zeigte eine gemusterte Tapete in Rot und Gold Echos der Vorhänge aus schwerem, altem Damast, die zu beiden Seiten der Fensternische hingen. In der Mitte des Raums stand, dunkel vom hellen Fenster abgehoben, ein breiter Bibliothekstisch aus Mahagoni, dessen verschnörkelte Beine mit ornamentalen Einlegarbeiten in Boulletechnik verziert waren. Am Kopf des Tisches saß in der tiefen samtenen Behaglichkeit eines üppig gepolsterten Ohrensessels der alte Mann, den zu besuchen Raeburn gekommen war. »Großmeister«, murmelte Raeburn und neigte kurz den Kopf, ohne die Augen von denen des anderen abzuwenden. Nach einem eindringlich forschenden Blick hob der Alte einen knorrigen Finger und lud den Ankömmling ein, näherzutreten. Dann wies er auf einen Sessel zu seiner Rechten. »Setzen Sie sich«, sagte er krächzend mit einer Stimme, die vom Alter dünn und rauh war. »Setzen Sie sich, und lassen Sie mich Ihren Bericht hören.« Raeburn ließ sich in dem Sessel nieder, ordnete die Falten seines Gewandes und lehnte den Aktenkoffer auf einer Seite an das Stuhlbein. »Ihnen wird nicht gefallen, was ich zu sagen habe«, warnte er. »Unsere schlimmsten Befürchtungen betreffs Geddes und den anderen sind bestätigt worden. Sie sind alle tot, und die Schätze sind verloren.« Als der strenge Gesichtsausdruck des anderen sich nicht änderte, redete Raeburn weiter. »Barclay war, wie Sie sich erinnern werden, in jener Nacht in -30-
dem Kleinbus auf der anderen Seite des Lochs und wartete darauf, Michael Scots Gold zusammen mit dem Zauberbuch in Empfang zu nehmen. Aus allen Indizien, die ich bisher zusammen tragen konnte, scheint es sich jetzt als sicher zu ergeben, daß der Lichtersturm, den er gesehen haben will, nur eine Heerschar der Sldhideach gewesen sein kann. Ich muß daraus schließen, daß sie für den Verlust der fraglichen Leute verantwortlich sind.« Der alte Mann schnaubte verächtlich. »Das würde dann bedeuten, daß Geddes die Wirkung der Feenfahne der MacLeods fatal überschätzt hat.« »Vielleicht«, erwiderte Raeburn, »aber das glaube ich nicht. Falls die Fahne darin versagt hat, unsere Leute zu schützen, so würde ich vermuten, daß das an einer Veränderung des Zustands der Fahne lag. Unser Agent bei der Edinburgher Polizei erzählte mir, die Feenfahne sei - ohne ihren Rahmen - bei Urquhart Castle von einem anderen Mitglied der Edinburgher Polizei, einem gewissen Inspector Noel McLeod, dem Chief der MacLeods zurück gegeben worden. Das bedeutet, daß der Rahmen und das Glas, die die Fahne umschlossen, irgendwie beschädigt worden sein müssen, bevor Geddes und die anderen ihre Flucht bewerkstelligen konnten. Und wenn die Fahne einmal nicht mehr von Rahmen und Glas umhüllt war, dann stellte sie eher eine Gefahr dar als einen Schutz.« »Erklären Sie das!« »Es gibt eine Legende«, fuhr Raeburn fort, »die besagt: Wenn jemand, der nicht zum Clan MacLeod gehört, Hand an die Fahne legen sollte, dann würde dieser Mensch auf der Stelle zum Opfer der Eiben. Die Polizei berichtete, es sei vielleicht eine Bombe explodiert, aber ich habe den Verdacht, daß die Legende tatsächlich wahr ist. Das Glas und der Rahmen sind irgendwie zerbrochen - vielleicht durch die Einwirkung dieses Inspector McLeod -, aber unser Mann hatte in seiner Panik die Legende vergessen. Er versuchte die Fahne wieder aufzuheben, -31-
und da er kein MacLeod war, zahlte er den höchsten Preis. Und als es deutlich geworden war, daß eine Berührung der Fahne den sicheren Tod bedeutete, hatten die Überlebenden keine andere Wahl, als es zu riskieren, inmitten der Elbenheerschar zu fliehen - von der sie dann in Stücke gerissen wurden.« Der Großmeister dachte über diese Vermutung längere Zeit schweigend nach, dann fixierte er den Jüngeren mit einem scharfen Blick. »Sind Sie sicher, daß Geddes sich unter den Opfern befand?« fragte er. »O ja«, erwiderte Raeburn. »Dessen bin ich mir ganz sicher.« Er schob die Hand in seine Hosentasche und holte einen schönen Goldring heraus, der mit einem blutroten Karneol besetzt war, einem Zwilling des Ringes, den er selbst an der rechten Hand trug. Als er ihn hochhielt, damit der andere ihn sehen konnte, fing sich das Sonnenlicht in dem Emblem, das in die Oberfläche des Steins geschnitten war: im knurrenden Kopf eines stylisierten Luchses. »Das war Geddes' Ring«, informierte er den Meister. »Er stak noch an einem abgetrennten Finger, als der eifrige Inspector McLeod ihn als Beweismittel aufnahm, zusammen mit anderen Resten menschlichen Fleisches und Kleiderfetzen, mit Stücken von dem Boot und dem Hepburn-Schwert. Unser Agent bei der Edinburgher Polizei war in der Lage, die Fingerabdrücke, die von dem abgetrennten Finger gemacht worden waren, mit Geddes' Abdrücken in unseren Mitgliedsakten zu vergleichen. Der Vergleich fiel positiv aus.« Der Großmeister streckte eine knochige, blaugeäderte Hand aus. Als Raeburn ihm den Ring in die offene Handfläche legte, krümmte der alte Mann die Finger fest um das Kleinod und schloß die Augen. Eine Weile saß er regungslos da, als wäre er in tiefe Gedanken versunken. Dann öffnete er die Augen wieder und nickte grimmig zur Bestätigung. »Ja, das ist Geddes' Ring«, sagte er. »Was den Fingerabdruck -32-
angeht, hoffe ich, daß die Polizei nicht auch den Vergleich anstellen und ihn identifizieren kann?« »Unmöglich«, sagte Raeburn mit kühler Gewißheit. »Geddes hatte keine Polizeiakte. In dieser Hinsicht sind wir ganz sicher.« »Was ist mit dem Medaillon?« »Es wurde nicht gefunden«, erwiderte Raeburn. »Es muß im Loch verlorengegangen sein.« »Und was ist mit den anderen?« Raeburn senkte den Kopf. »Barclay behauptet, daß zwei Mitglieder des Trupps versuchten, mit dem Boot zu fliehen. Sie hatten sogar die Kiste an Bord. Er bekam das Boot flüchtig zu sehen, als es vom Strand unterhalb der Burg wegfuhr, aber anscheinend ist es auf etwas gestoßen, das sich im Wasser befand. Barclay wollte mir zuerst nicht sagen, was er gesehen zu haben glaubte, aber ich habe mir zusammen gereimt, es war was man erwarten darf, wenn es von Magie aus den Tiefen von Loch Ness aufgescheucht wird! Auf jeden Fall zerschellte das Boot und sank, und die Männer selbst müssen ertrunken sein. Es wurden keine Leichen gefunden. Damit ist das Schicksal aller unserer Leute geklärt.« Das Gesicht des Großmeisters blieb ausdruckslos. »Und wo bleiben wir dabei?« Raeburn zuckte mit den Achseln. »Die Polizei hat in der Öffentlichkeit eine ziemlich konfuse Theorie vorgetragen, von wegen Sprengstoff, der aus Versehen explodiert sei, und möglicher terroristischer Verbindungen. Was das Boot betrifft, so unterstellen sie, es sei ein unter Wasser treibender Baumstamm schuld gewesen. So weit hergeholt diese Erklärungen auch sein mögen, niemand hat bisher eine andere vorgebracht, zumindest nicht offiziell. Mit dem zeitlichen Abstand und der Tatsache, daß kein Mensch ein lautes Geschrei wegen unserer vermißten Leute angestimmt hat, wird das wahrscheinlich auch niemand mehr tun. Wer würde schließlich -33-
die Wahrheit vermuten?« »Euer Inspector McLeod?« gab der Großmeister zu bedenken. Über Raeburns Gesicht huschte ein Ausdruck der Abneigung. »Möglicherweise. Ich habe ihn nicht vergessen. Im Augenblick erweist er uns einen Dienst, indem er die Aufmerksamkeit von den übernatürlichen Elementen bei dem Vorfall ablenkt, aber seine Motive dabei sind alles andere als klar. Man wird ihn beobachten.« »Das meine ich auch.« Die zusammengekniffenen Augen des alten Mannes funkelten boshaft. »Für meinen Geschmack ist er viel zu sehr in die Sache verwickelt - zuerst in Melrose, dann in Dunvegan und schließlich in Urquhart. Und immer begleitet von denselben beiden Männern - Sinclair und diesem jungen Künstler.« Raeburn hob eine seiner flachsblonden Augenbrauen. »Man könnte argumentieren, McLeods Anwesenheit sei großenteils zufällig. Er ist anscheinend die akzeptierte polizeiliche Autorität für Dinge, die nach Okkultem riechen, und Melrose liegt sicherlich in seinem Zuständigkeitsbereich. Was Dunvegan angeht man könnte es für ausreichend halten, daß der Inspector zum Clan MacLeod gehört und wahrscheinlich die Vollmacht seines Chiefs hatte. Urquhart jedoch ist eine andere Sache, und unser Mann in Edinburgh hat Befehl, McLeod zu überwachen.« »Und Sinclair?« »Über seine wahre Rolle kann man ebenfalls nur Vermutungen äußern. Ich habe einige Ermittlungen anstellen lassen, und es scheint, daß er ein ziemlich bedeutender Arzt für Psychiatrie ist, der gelegentlich von der Polizei als Berater hinzugezogen wird. Es würde sich die Mühe lohnen, einmal in Erfahrung zu bringen, ob sein Interesse für das Okkulte nur seiner beruflichen Neugier entspringt.« »Was ist mit dem Künstler?« Raeburn nickte. »In gewisser Weise erscheint er mir als der -34-
möglicherweise gefährlichste von den dreien, und zwar genau deshalb, weil er so anders ist als McLeod und Sinclair. Sein Name lautet Peregrine Lovat, und abgesehen von der Tatsache, daß er Sinclairs Protege zu sein scheint, ist er derjenige, dessen Anwesenheit an den Schauplätzen am schwierigsten zu erklären ist. Wenn er doppelt so alt wäre, wie er ist, hätte ich vielleicht den Verdacht, er sei der Anführer eines Jagdtrupps. Aber wie die Dinge liegen, ist er fast noch ein halber Junge.« »Ist er ein hübscher Junge?« fragte der Meister und schürzte verächtlich die Lippen. »Wenn die Antwort ja lautet, dann brauchen Sie vielleicht nicht weiter nach Gründen suchen, warum Sinclair ihn protegiert.« Raeburn schnaubte. »Das könnte einiges erklären, aber ich glaube nicht, daß es zutrifft. Der adlige Dr. Sinclair hat einen langweilig gleichbleibenden Ruf der Tüchtigkeit, was Frauen betrifft. Ich glaube, wir müssen anderswo nach der Verbindung zu Lovat suchen. Und das habe ich auch vor.« »Lovat ist Ihrer persönlichen Aufmerksamkeit nicht wert«, erklärte der Großmeister. »Wenn Sie ihn bewacht haben wollen, dann setzen Sie jemand anderen auf ihn an - jemanden, auf den Sie leicht verzichten können. Wenn unsere Pläne wie festgelegt vonstatten gehen sollen, haben Sie weit wichtigere Dinge zu tun.« »Da bin ich neugierig.« Ein paar Runzeln erschienen auf der glatten Stirn über Raeburns blonden Augenbrauen. »Was, wenn die Anwesenheit dieser drei Männer nicht zufällig ist? Wenn sie tatsächlich so etwas wie Adepten sind - dann könnten sie eine echte Bedrohung darstellen. Sie werden das magische Zeichen auf Geddes' Ring gesehen haben. Wenn sie genug wissen, um es zu erkennen...« Der alte Mann schnaubte. »Wenn sie genug wissen, um es zu erkennen, hätten wir es schon erfahren. Doch wenn es Ihnen gefällt, dann lassen Sie sie überwachen. Wenn sie uns lästiger -35-
werden sollten, werden wir uns mit ihnen befassen, sobald es an der Zeit ist.« »Aber was, wenn sie für unsere Verluste bei LJrquhart Castle verantwortlich waren...« »Unsere Verluste bei Urquhart Castle sind letztlich von geringer Bedeutung«, sagte der Großmeister abschätzig. »Was haben wir wirklich verloren? Das Gold? Vielleicht bedauerlich, aber wir haben andere Mittel, Reichtum zu erzeugen. Das Buch mit den Zaubersprüchen? Wer kann mit Sicherheit sagen, daß die Sprüche darin so mächtig waren, wie die Tradition behauptet? Wir wollen doch nicht vergessen, daß sogar der Stümper Geddes in der Lage war, den Geist von Michael Scot in die Falle zu locken und ihn zu zwingen, seinem Befehl zu folgen. Hätte er das tun können, frage ich mich, wenn Scot wirklich all das Wissen und all die Macht besessen hätte, die die Sage ihm zuschreibt? »Was Geddes und seine Männer betrifft«, fuhr er verächtlich fort, »müssen wir den Verlust derjenigen bedauern, die darin versagen, das zu tun, was sie sich vorgenommen haben? Nein, die Loge der Luchse hat keinen Platz mehr für Versager. Ohne sie sind wir stärker. Es sei, als wären sie nie gewesen!« Den Ring mit dem Karneol in der klauenartigen Hand, erhob er sich zittrig aus seinem Sessel und trat zu einem einfachen Beistelltisch aus Eichenholz, der in einem Alkoven links von der Fensternische stand. Auf dem Tisch befand sich ein kleiner tragbarer Schmelzofen, zusammen mit verschiedenen Werkzeugen und Gußformen zur Herstellung von Typen aus Blei. Der Großmeister schaltete den Ofen ein. Während der sich aufheizte, spannte er den Steg des Ringes in einen Tischschraubstock, dann nahm er einen kleinen Juwelierhammer. Ein flinker, heftiger Schlag zerschmetterte den Stein in ein halbes Dutzend Splitter, die wie kristallisiertes Blut -36-
aussahen. Er wischte sie in die gewölbte Hand und warf sie in einen Mörser. Ein paar Sekunden der Bearbeitung mit einem elektrischen Stößel verwandelten die Splitter in ein feines, scharlachrotes Pulver, das der Alte in eine Plastikphiole schüttete, die er dann verschloß. Er nahm die Goldfassung aus dem Schraubstock und ließ sie in einen winzigen Schmelztiegel fallen, den er dann in den Ofen stellte. Raeburn beobachtete die Prozedur von seinem Platz am Tisch aus. Als der Meister wieder zu ihm zurückkehrte, erhob er sich halb und fing geschickt die Plastikphiole auf, die der Meister ihm zuwarf. »Soviel zu Geddes«, bemerkte er, als der alte Mann sich wieder setzte. »In welcher Richtung gehen wir jetzt weiter vor?« »In die zu gehen immer unsere Absicht war«, erwiderte der Großmeister unwirsch. »Das Ziel bleibt unverändert. Wir werden einfach zu anderen Mitteln greifen.« Raeburn hob mit einem leichten Ruck den Kopf. »Sie meinen den Torques von Soulis?« »Und warum nicht?« Er öffnete eine Schublade an der Stirnseite des Tisches, holte eine längliche Schachtel aus poliertem Eschenholz heraus und schob sie über den Tisch hinweg Raeburn zu. Nach einem fast ungläubigen Seitenblick auf seinen Oberen öffnete der blonde Mann das Schnappschloß an der Vorderseite der Schachtel und hob vorsichtig den Deckel. Darin lag, auf scharlachrote Seide gebettet, ein schwerer Halsring aus Meteoreisen, der mit piktischen Mustern verziert war. Raeburns blasse Augen weiteten sich ehrfürchtig, als er das Stück erkannte. »Eindrucksvoll, nicht wahr?« murmelte der Meister. »Seine druidischen Schöpfer waren Meister ihres Handwerks. Die elementaren Kräfte, von denen dieser Torques durchdrungen ist, sind so mächtig wie jeder Zauberspruch, den Michael Scot sich jemals ausgedacht hat - und er befindet sich schon in unserem -37-
Besitz. Habe ich nicht von Anfang an darauf gedrängt, daß wir seine schlummernden Energien wieder wecken und sie entsprechend unserer Absichten benutzen sollten?« »Das haben Sie«, bestätigte Raeburn. »Aber nachdem so viele Jahrhunderte vergangen sind... die Risiken...« »Halten sich durchaus in akzeptablen Grenzen«, erwiderte der Meister. »Und Sie haben unrecht, wenn Sie meinen, der Torques sei viele Jahrhunderte nicht benutzt worden. Wie könnte ich denn für seine Potenz bürgen, wenn ich ihn nicht schon persönlich ausprobiert hätte?« Auf diese Enthüllung hin blickte Raeburn ihn scharf an. »Der Vorfall auf Baimoral? Darüber habe ich mich schon gewundert. Wer war denn Ihr Ziel?« »Niemand von Bedeutung«, sagte der Meister mit frostiger Gleichgültigkeit. »Ein Handlanger mit Ideen, die über seine Stellung hinaus gingen. Nächstes Mal werden wir jedoch jemand Bedeutenderen brauchen. Ich hoffe, Sie haben ihn für mich gefunden.« Raeburn hatte wieder seine Miene aalglatter Fassung angenommen. »Habe ich Sie jemals enttäuscht?« fragte er und griff nach dem Aktenkoffer auf dem Boden neben seinem Sessel. Während der Großmeister zusah, öffnete Raeburn die Tasche, entnahm eine Schwarzweißfotografie und reichte sie seinem Oberen. Der alte Mann blickte kurz auf das Foto, bevor er es umdrehte und die mit Schreibmaschine getippte Kurzbiographie las, die mit Klebeband befestigt an der Rückseite des Abzugs hing. Als er zu Ende gelesen hatte, sah er sich das Foto ein zweites Mal an, länger als zuvor, dann legte er es mit der Bildseite nach oben in den offenen Deckel der Schachtel mit dem Torques. »Ausgezeichnet«, murmelte er. »Eine außerordentlich passende Wahl. Brauchen Sie dabei Unterstützung?« -38-
»Es wäre vielleicht hilfreich«, erwiderte Raeburn. »Meine eigenen Leute wissen, was von ihnen erwartet wird, und sie sind darauf vorbereitet, ihre Rollen zu übernehmen, wenn die Zeit kommt. Aber dieses Unternehmen wird viel mehr erfordern, als nur einer Schachfigur, die man nicht mehr braucht, ein paar Kugeln in den Kopf zu jagen. Wenn ich auf eine zusätzliche Verstärkung hoffen dürfte, so wäre ich um so zuversichtlicher hinsichtlich des Erfolges.« Die runzeligen Lippen des Großmeisters verzogen sich zu einem kalten Lächeln. »Natürlich. Wählen Sie sechs Leute nach Ihrem Wunsch.« Kapitel 3 Beim Pfarrhaus der Gemeinde St. Paul der Schottischen Episkopalkirche in Kinross handelte es sich um ein verschachteltes viktorianisches Landhaus, das an die Kirche grenzte. Es lag weit von der Straße zurück gesetzt inmitten einer üppigen Orgie von Rosensträuchern. Als Adam den blauen Range Rover in die mit Kies bestreute Einfahrt vor dem Haus manövrierte und dabei achtgab, nicht ein pinkfarbenes Kinderfahrrad mit Stützrädern zu streifen, blickte Peregrine wehmütig zum Himmel empor, der sich seit ihrem angenehmen Morgenausritt beträchtlich zugezogen hatte. »Ich glaube, es gibt nichts Launischeres als das schottische Wetter«, bemerkte er. »Es ist gut, daß wir schon so früh losgefahren sind. Wir können von Glück sagen, wenn es nicht noch vor der Mittagszeit wie aus Kübeln regnet.« Als Adam den Motor abstellte, erschien aus einer gelb bemalten Tür ein Mann mit Priesterkragen, Trenchcoat und einer kleinen Aktentasche in der Hand. Er winkte ihnen schwungvoll zu und sprang von der mit Spalier verzierten Veranda herab ihnen entgegen, als sie aus dem Auto stiegen. »Nochmals guten Morgen, Adam! Ich bin so froh, daß du es -39-
möglich machen konntest. Und das ist dann also Mr. Lovat?« »Ganz genau«, erwiderte Adam. »Peregrine, erlauben Sie mir, daß ich Sie in aller Form mit meinem alten Freund Father Christopher Houston bekannt mache.« Peregrine musterte seinen neuen Bekannten bei einem festen Händedruck. Aus der Nähe gesehen, war Christopher Houston hager und gelenkig. Er hatte einen breiten, gutmütigen Mund und einen flatternden Schöpf feinen braunen Haars, der ihn natürlich zerzaust wirken ließ, wie einen Schuljungen, der gerade vom Spielplatz gekommen war. Seine schwarze Priesterkleidung trug er mit salopper Unbefangenheit. Doch die braunen Augen über der geraden Nase wirkten geradezu beunruhigend klug. Peregrine bemühte sich um den - wie er hoffte - passenden Respekt und sagte aufrichtig: »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir.« »Nein, hier ist Adam der ›Sir‹. Ich bin einfach Christopher«, erwiderte der Priester freundlich. »Mein Mann will damit sagen, daß man ihm gegen über nicht so förmlich zu sein braucht«, bemerkte eine amüsierte weibliche Stimme hinter Christophers Schulter. »Die Tatsache, daß er ein Kollar trägt, ist ganz und gar kein Grund, sich ihm gegen über zeremoniell zu benehmen - besonders da Sie doch in Adams Begleitung zu uns gekommen sind.« Leicht verwundert wandte Peregrine den Blick und bemerkte, daß er in zwei schöne blaugraue Augen schaute. Das Gesicht, das zu ihnen gehörte, war eher attraktiv als hübsch, mit einer glatten breiten Stirn und einem liebenswürdig entschlossenen Kinn. Sie hatte zwei kleine Mädchen bei sich, das ältere etwa fünf Jahre alt, das andere ein Kleinkind von ungefähr zwei Jahren. Alle drei waren zum Ausgehen gekleidet, in Mäntel und Hüte. »Meine Frau Victoria und meine Töchter Ashley und -40-
Alexandra«, erklärte Christopher zärtlich. »Vicky, hast du die Vorstellung eben noch mit bekommen?« »Ja«, antwortete sie. Ihr Lächeln ließ verborgene Grübchen erscheinen. »Willkommen auf Rosemont, Peregrine. Ich bin schon seit einiger Zeit eine Bewunderin Ihrer Arbeit - allerdings hatte ich keine Ahnung, daß Sie so jung sind. So wie Sie malen, sollten Sie eigentlich mindestens zwanzig Jahre älter sein!« Adam lachte leise und griff dem errötenden Peregrine unter den Ellbogen. Er dirigierte ihn zum Auto zurück und warf einen auffordernden Blick in Christophers Richtung. »Er ist eine alte Seele, Victoria«, sagte er beiläufig, »aber du wirst bis zu unserer Rückkehr warten müssen, um das weiter zu erörtern. Außerdem seht ihr drei so aus, als wolltet ihr auch ausgehen.« Victoria warf einen liebevollen Blick auf ihre Töchter. Die Mädchen schauten neugierig und mit großen Augen zu Peregrine empor. Die freundliche Unschuld ihrer Blicke zerstreute seine anfängliche Steifheit. Er fühlte sich sofort wie zu Hause und lächelte zu ihnen hinab. Befriedigt sah er, wie sie sein Lächeln scheu erwiderten. »Wir gehen nur bis zu meiner Mutter«, erklärte Victoria, »das heißt, falls die Mädchen aufhören, mit Peregrine zu flirten. Aber ihr drei kommt doch bis zum Mittagessen zurück, nicht wahr?« Christopher nickte bejahend. »Oh, gut. Dann sehen wir uns später. Kommt, Mädchen! Oma erwartet uns um zehn Uhr, und wir sind schon spät dran.« »Wir werden auch spät dran sein, wenn wir nicht losfahren«, sagte Christopher. »Wir warten ja nur noch auf dich«, erwiderte Adam lachend. »Los, Mann, steig ein.« Peregrine setzte sich auf den Rücksitz und kam zu dem -41-
Schluß, daß er die Houstons mochte. Christopher reichte seine Aktentasche nach hinten, Peregrine verstaute sie auf dem Boden neben seinem Skizzenkasten, während Adam den Wagen anließ. Doch als alle ihre Gurte anlegten und Adam und Christopher sich kurz besprachen, welchen Weg man am besten nehmen sollte, entdeckte Peregrine, daß er im Augenblick weit mehr auf die Houstons neugierig war als auf das, was sie in Edinburgh erwartete. Einer Sache war er sich im Hinblick auf die beiden schon sicher: Er hatte das deutliche Gefühl, daß in beiden mehr steckte, als der Augenschein verriet. Obwohl das kurze Gespräch vor dem Pfarrhaus sich nur in freundlichen Allgemeinplätzen erschöpft hatte, war Adams Verhalten ihnen gegen über ungewöhnlich offen gewesen, was den Gedanken nahelegte, daß er den beiden gegen über keine Notwendigkeit empfand, sich vorzusehen. Und diese scheinbar beiläufige Bemerkung, er, Peregrine, sei eine alte Seele... Neugierig, seine Intuition auszuprobieren, zumindest betreffs Christopher, holte Peregrine tief Atem, lehnte sich auf dem Sitz zurück und ließ seine Augenlider sinken, bis die physischen Bilder vor ihm nur noch verschwommene Farbe und Bewegung waren. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Christophers Hinterkopf und tat erneut einen tiefen und langsamen Atemzug, bereit, sein tieferes Sehen einsetzen zu lassen... Bevor er noch das erste Bild zu fassen bekam, drang Adams sanfte Stimme in seine Träumereien. »Also, mein Freund«, sagte er an den Priester gerichtet, »bevor wir deiner jungen Dame gegen übertreten, gibt es da noch mehr, was wir über sie wissen sollten?« Peregrine kam mit einem Ruck aus seiner Beinahe-Trance zurück und entdeckte, daß Christopher Houston mit gerunzelter Stirn nachdenklich auf die Windschutzscheibe starrte. »Eigentlich habe ich dir schon alles Wesentliche erzählt«, -42-
sagte er. »Helena Pringle ist ein vernünftiges Mädchen und gehört keineswegs zu denen, die sich phantastischen Einbildungen hingeben. Deshalb habe ich ja die Ohren aufgestellt, als sie mich anrief und erzählte, mit der Wohnung stimme etwas nicht.« »Hat sie eigentlich behauptet, etwas wie eine physische Manifestation gesehen zu haben?« fragte Adam. »Nein, Gott sei Dank. Doch seit meinem Besuch hatte sie noch weitere Alpträume - und die waren so schlimm, daß sie sich fürchtet, zu Bett zu gehen. Ich weiß, ich sagte am Telefon zu dir, ich glaubte nicht, daß ein formeller Exorzismus nötig sei, aber du solltest wissen, daß ich ein paar Sachen mit genommen habe, für alle Fälle.« Er zeigte auf seine Aktentasche auf dem Rücksitz, während er sprach, doch das Wort Exorzismus hatte Peregrine schon einen unangenehmen Schock versetzt. Er schaute argwöhnisch auf und begegnete Adams amüsiertem Blick im Rückspiegel. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Adam. »Ich weiß, daß ich sagte, wir hielten es nicht für ernst, aber Christopher ist gern auf alles vorbereitet, wie ich ja auch. Was immer sonst wir heute machen werden, ich bezweifle ernsthaft, daß wir mit Glocke, Buch und Kerze Dämonen vertreiben werden. Halten Sie einfach die Augen offen und seien Sie bereit, alles zu zeichnen, was Ihnen stark in den Sinn kommt...« In der Nicholson Street wohnten großenteils Studenten der Universität von Edinburgh. Helena Pringles Wohnung befand sich im ersten Stock eines großen Reihenhauses gegen über einer Zeile kleiner Läden. Christopher ging ihnen über zwei Treppenfluchten hinauf voran und klopfte munter an der Tür auf der linken Seite des Treppenabsatzes. Fast sofort meldete sich dahinter zögernd die leise Stimme eines Mädchens. »Father Houston?« »Zu Ihren Diensten, meine Liebe«, erwiderte Christopher -43-
unbeschwert. »Ich habe auch ein wenig Verstärkung mitgebracht. Ich dachte mir, wenn wir eine richtige Untersuchung durchführen sollen, könnten wir die Sache auch gleich gründlich angehen.« Die Tür ging auf. Helena Pringle war ein molliges, hübsches Mädchen mit einer frischen Gesichtsfarbe und glänzendem rötlichblondem Haar. Sie bemühte sich zu lächeln, während sie die Besucher in ihr Wohnzimmer führte, doch Adam bemerkte schnell die Schatten der Schlaflosigkeit unter ihren großen blauen Augen. »Das ist Dr. Adam Sinclair«, stellte Christopher vor. »Er ist Psychiater - spezialisiert auf Hypnotherapie. Und das hier ist Mr. Lovat. Zu dritt sollten wir diese Sache klären können.« Helena stand im Licht, das durch die Wohnzimmerfenster kam, und blickte unsicher von Christopher zu Adam. Nervös flocht sie die Hände ineinander. »Ein Psychiater?« murmelte sie. »Bedeutet das, daß ich geisteskrank bin?« »Überhaupt nicht«, erwiderte Adam mit einem beruhigenden Lächeln. »Aber aus Christophers Bericht habe ich entnommen, daß Sie einige außerordentlich beunruhigende Träume hatten. Uns kam der Gedanke, daß es vielleicht nützlich wäre, diese Träume genauer anzuschauen, um zu sehen, ob wir etwas finden können, was sie auslöst. Mit Ihrer Erlaubnis, so dachte ich, könnte ich es mit Hypnose versuchen, um Ihnen zu helfen, sich an Einzelheiten zu erinneren, die Sie vielleicht übersehen haben.« »Sie wollen mich hypnotisieren?« flüsterte sie ängstlich. »Ich versichere Ihnen, es wird ganz und gar nicht so sein, wie in den unheimlichen Horrorfilmen, die nachts im Fernsehen gezeigt werden«, sagte er, ein Versuch, sie wenigstens so weit zu beruhigen, um bei ihr ein Lächeln auszulösen. »Ich habe noch nie eine Patientin in den Hals gebissen.« -44-
Auf ihren verblüfften Blick hin lächelte er sanft und fuhr fort: »Im Ernst, das Verfahren ist vollkommen sicher und ganz nüchtern. Sie werden immer die Kontrolle behalten. Meine Funktion dabei ist nur die eines Führers. Christopher wird die ganze Zeit hier sein. Er kann sogar Ihre Hand halten, wenn Sie das wollen.« Obwohl sie sich offensichtlich bemühte, ernst zu bleiben, huschte unwillkürlich ein befangenes Lächeln über Helenas Lippen. »Ich - ich verstehe«, murmelte sie. »Vermutlich ist es töricht von mir, soviel Angst zu haben.« Ihre blauen Augen wanderten unsicher zu Peregrine, der sich unbehaglich im Hintergrund hielt. »Sind Sie auch Psychiater?« fragte sie. »Nein, ich...« »Mr. Lovat ist Künstler«, warf Adam ganz ungezwungen ein. »Er hat mir schon früher geholfen. Er hat die Gabe, psychische Eindrücke in konkrete Bilder zu übersetzen. Und es ist überhaupt nicht töricht, wenn Sie sich fürchten. Aber sobald Sie verstanden haben, was Ihnen Angst macht, werden Sie entdecken, daß Sie sich nicht mehr fürchten. Wenn Sie es gestatten, würde ich Mr. Lovat gern bitten, Skizzen zu machen, während Sie die Ereignisse aus Ihren Träumen erzählen.« »Father Houston?« Helena wandte sich bittend an Christopher, der sie ermutigend auf die Schulter klopfte. »Ich hätte die beiden nicht mitgebracht, wenn ich nicht dächte, sie könnten bei der Sache helfen«, sagte er ihr mit Nachdruck. »Ich glaubte, Sie könnten vielleicht bereit sein, es auf einen Versuch ankommen zu lassen.« Helena schluckte, dann nickte sie zustimmend. »Also gut«, sagte sie mit bebender Stimme. Sie straffte die Schultern und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Adam. »Ich bin noch nie hypnotisiert worden, Dr. Sinclair. Was soll ich tun?« Adam hatte sich schon einen Überblick über den Raum -45-
verschafft. Er war gemütlich eingerichtet, den altmodischen gußeisernen Kamin hatte man geschmackvoll auf modernes Gasfeuer umgestellt. Vom Ofengitter her fiel ein warmer Schein auf die mit Blumen bedruckte Polsterung einer bequemen dreiteiligen Sitzgruppe, die vor dem Kamin aufgestellt war. Zu den verschiedenen kleinen Schmuckstücken in dem Raum gehörte ein halbes Dutzend Kristallprismen, die an durchsichtigen Nylonschnüren vor dem rechten Fenster hingen. »Zuerst schlage ich vor, daß wir es uns alle bequem machen«, sagte Adam. »Darf ich Sie Helena nennen?« »Ja, natürlich.« »Danke. Dann setzen Sie sich bitte in diesen Sessel rechts vom Kamin, Helena, und gestatten Sie mir, daß ich mir eines dieser hübschen Prismen ausleihe. Ja, das hier eignet sich sehr gut.« Adam zu beobachten, wie er die Szene für die Arbeit vorbereitete, die er gleich tun würde, erinnerte Peregrine an seine eigene erste Erfahrung mit Hypnose. Wie Helena Pringle war er von Ängsten und Gespenstern heimgesucht worden - bis Adam ihm geholfen hatte, das Talent hinter seinen Ängsten zu erkennen. Er hoffte, daß Helenas Fall so glücklich enden würde wie sein eigener. Adam nahm das Prisma an seiner Nylonschnur vom Fensterrahmen und hängte es an einen Kerzenständer auf dem Kaminsims, so daß es über den Rand baumelte und das Licht auffangen konnte. »Jetzt werden wir die Vorhänge vorziehen, um einen Teil des Lichts wegzufiltern«, sagte er und trat wieder zu den Fenstern. »Sie werden es viel leichter finden, sich zu entspannen, wenn das Licht etwas gedämpft ist.« Helena beobachtete ihn genau. Ihre Unsicherheit nahm ab, aber ihr Verhalten war immer noch steif. Christopher rutschte -46-
auf dem danebenstehenden Sofa näher heran. »Na, kommen Sie«, murmelte er. »Es gibt nichts zu fürchten, das verspreche ich Ihnen. Hier - halten Sie meine Hand, wenn Sie sich dann besser fühlen.« Er streckte seine Hand aus und nahm eine von Helenas kleinen, nervösen Händen in die seinen. Als ihre Finger sich um die seinen schlossen, rückte er noch näher an sie heran, so daß sie sich jetzt fast mit den Knien berührten. Peregrine hatte sich inzwischen einen Stuhl mit gerader Rückenlehne zwischen den Fenstern ausgesucht, wo - wie er wußte - das Licht zum Zeichnen am besten sein würde. Außerdem würde er sich da außerhalb von Helenas Blickfeld befinden und so wahrscheinlich weniger ablenken. Er setzte sich und richtete gerade sein Skizzenbuch und seine Bleistifte zurecht, als ihm an Christophers Händen etwas auffiel. Er blickte genauer hin. Der Ring war vorher noch nicht da gewesen - Peregrine war sich sicher, daß er ihn bemerkt hätte. Der in Gold gefaßte Saphir war zwar quadratisch geschnitten und nicht oval wie die Steine, die Adam und McLeod manchmal trugen, und er war auch etwas kleiner, aber Peregrine hatte plötzlich keinen Zweifel, daß der Ring demselben Zweck diente. Du lieber Himmel, er ist einer von ihnen! dachte Peregrine. Er wußte nicht recht, ob die Entdeckung ihn schockierte oder beeindruckte. Er macht das Gleiche wie Adam - er hilft ihm, das Mädchen sicher in eine hypnotische Trance zu führen, damit sie keine Angst hat. Und sie arbeiten heute nicht zum ersten Mal zusammen! Der Priester ließ zwei Finger leicht über dem Puls in Helenas Handgelenk ruhen und sprach zu ihr, zu leise, als daß Peregrine die Worte hätte verstehen können, aber sein Gesichtsausdruck war heiter distanziert, als lauschte er einer fernen Musik. Während Peregrine noch damit beschäftigt war, diese Erkenntnis zu verarbeiten, schien sich ein gräulicher Film vor -47-
seine Augen zu ziehen. Es war, als blickte er durch eine Art schweren, halbdurchsichtigen Schleier, wie durch einen Duschvorhang. Noch vor sechs Wochen hätte eine solche Trübung seines Sehens ihn erschreckt - und hatte ihn damals auch wirklich erschreckt. Doch jetzt wußte er dank Adams Unterweisung, was es bedeutete und was er zu tun hatte. Er blinzelte einmal, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, ließ hinter seiner Brille die Augenlider sinken und fokussierte seinen Blick durch und über Helena hinaus. Während der nachfolgenden langsamen und tiefen Atemzüge begann der Schleier vor seinen Augen sich zu einer geisterhaften Überlagerung von Bildern zu wandeln. Peregrine ließ für den Augenblick alle konkreten Aspekte des Raumes außer acht und nahm sich vor, auf dem Papier die visuellen Resonanzen vergangener Ereignisse festzuhalten... Das Licht im Raum, das jetzt durch die hauchdünnen Vorhänge sickerte, war gedämpft. Adam, der aus den Augenwinkeln wahrnahm, daß Peregrine zu zeichnen begonnen hatte, kehrte an den Kamin zurück und warf einen fragenden Blick in Christophers Richtung. Der Priester nickte ihm leicht zu, und auch Helena blickte zu ihm auf und wirkte dabei weit weniger ängstlich als zuvor. Adam nahm den Wink mit der Geschmeidigkeit langer Erfahrung auf, holte das Prisma von dem Kerzenständer auf dem Kaminsims und ließ sich in den Sessel sinken, der gegen über seiner Probandin stand. Er hielt das Prisma an der durchsichtigen Schnur und streckte seine Hand so aus, daß es knapp über Helenas Augenhöhe hing. Die Kristallflächen fingen den Schein des Gasfeuers auf und brachen das flackernde bernsteinfarbene Licht in ein Regenbogengeglitzer aus Rot, Gelb und Grün. Das funkelnde Spiel der Farben zog Helenas Blick an wie ein Magnet. »Nun, dieser Kristall gehört Ihnen, Helena, und deshalb wissen Sie, daß nichts besonders Mysteriöses oder -48-
Beängstigendes daran ist«, sagte Adam ruhig und bewegte die Schnur des Prismas etwas mit den Fingern, so daß es sich leicht drehte. »Es ist einfach nur ein Fokus, damit Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit auf einen einzigen Punkt richten können. Auf diese Weise lenken wir Ihr Bewußtsein ab, so daß allmählich Ihr Unterbewußtsein, aus dem die Träume entstehen, näher an die Oberfläche kommen und sich an Dinge, die Sie sehen müssen, in größeren Einzelheiten erinnern kann. Ich möchte also, daß Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Kristall richten. Beobachten Sie, wie er sich dreht und funkelt, beobachten Sie, wie er das Licht auffängt. Lassen Sie den Kristall das einzige sein, was Sie sehen, und lauschen Sie nur meiner Stimme, während alle Hintergrundgeräusche draußen zurückweichen und Sie sich völlig auf den Kristall und meine Worte konzentrieren.« Adam beobachtete die Bewegung ihrer Augen, die schon vom subtilen Aufblitzen des Kristalls gefesselt waren, und ging in einem leisen Gesprächston zu spezifischeren Anweisungen über. »Das ist genau richtig, Helena. Lassen Sie sich treiben und entspannen Sie sich. Sie sind in Sicherheit und sitzen ganz bequem. Christopher ist hier gleich neben Ihnen... Sie haben in letzter Zeit nicht viel Nachtruhe bekommen, nicht wahr? Sie müssen sehr müde sein... Ich stelle mir vor, Sie wünschen sich im Augenblick nichts sehnlicher als ein bißchen Schlaf. Warum lassen Sie sich nicht gehen? Entspannen Sie sich einfach und lassen Sie Ihre Augenlider fallen... so ist es richtig. Sie fühlen sich warm und sicher und schläfrig... sehr, sehr schläfrig...« Allmählich wich die Anspannung aus Helenas Gesicht und Hals. Sie schloß die Augen, und ihr Atem sank zu einem langsamen, regelmäßigen Rhythmus. Adam senkte das Pendel und lehnte sich in seinem Sessel zurück, wobei er ständig beruhigend von Schlaf und größerer Entspannung sprach. Als er -49-
befriedigt feststellte, daß seine Probandin eine ausreichende Stufe der Trance erreicht hatte, begannen sich seine Suggestionen spezifischer dem Notwendigen zuzuwenden. »Sie machen es sehr gut, Helena. Wirklich einfach gut. Sie sind eine sehr geeignete Probandin. Sie können mich ganz deutlich hören, nicht wahr?« »Ja«. Die Antwort des Mädchens war nur noch ein Flüstern. »Sehr gut«, sagte Adam mit dem gleichen sanften, aber zuversichtlichen Ton. »Nun sind Sie in einem Sinn wach - völlig Ihrer derzeitigen Umgebung bewußt. Aber in einem anderen Sinn sind Sie wie jemand, der in einem Kino sitzt und darauf wartet, einen Film zu sehen. Der Film ist eine Aufzeichnung des Traums, den Sie vorletzte Nacht hatten. Ich würde gern gleich den Film anlaufen lassen. Sind Sie bereit, den Film anzuschauen und mir zu sagen, was Sie sehen?« »Ja.« Die Zustimmung kam erst nach einem leichten Zögern. »Ausgezeichnet«, sagte Adam sanft und beifällig. »Ich werde jetzt beginnen, von fünf rückwärts zu zählen, so wie man es manchmal auf der Leinwand sieht, bevor der eigentliche Film beginnt. Wenn ich die Zahl eins erreiche, wird das das Zeichen sein, daß Ihr Film beginnt, und Sie fangen an, alles zu schildern, was Sie auf der Leinwand sehen. Fünf... vier... drei... zwei... eins.« Helenas Lider zitterten, als sie sah, wie sich die Erinnerungen entfalteten, einen Augenblick später holte sie tief Atem, doch die Augen blieben geschlossen. »Es ist ein Zimmer, sieht aber anders aus als hier. An den Fenstern ist Reif. Der Teppich ist von stumpfer Farbe, statt blau, und die Sessel haben nackte hölzerne Armlehnen. Die Leute sind alle weggegangen, aber sie haben ihre Schatten zurückgelassen. Die Schatten schweben herein und heraus wie Gespenster...« Sie brach plötzlich ab und runzelte bestürzt die Stirn. -50-
»Es ist nur ein Film«, erinnerte Adam sie ruhig. »Sie können ihn jederzeit abstellen, wenn Sie wollen, aber nichts von dem, was Sie sehen, kann Ihnen irgend etwas antun. Christopher und ich sind hier bei Ihnen. Sie haben doch keine Angst, oder?« »Ein - bißchen schon«, murmelte sie. »Dann nehmen Sie hier auch noch meine Hand«, sagte er und nahm ihre freie Hand in seine Hände, wie Christopher es mit der anderen gemacht hatte. »Jetzt sind Sie vollkommen sicher, denn wir beide sind ja da. Wenn Sie also bereit sind, hätte ich gern, daß Sie zu dem Film zurück kehren und fortfahren mir zu erzählen, was Sie sehen. Werden Sie das für uns tun?« Auf ihr schüchternes Nicken hin tätschelte er beruhigend ihre Hand. »Sie sind ein tapferes Mädchen. Nun, Sie haben etwas von Schatten erwähnt. Können Sie mir sagen, was an diesen Schatten ist, das Sie so beängstigend finden?« Helena biß sich in die Lippe. »Sie sind - so dunkel wie Ausschneidefiguren aus dunklem Zellophan. Und sie bleiben nicht an den Wänden. Sie kommen ständig in die Mitte des Zimmers. Ich kann hören, wie sie flüstern. Sie sind grausam. Sie wollen die Dinge zerbrechen, die sie nicht haben können...« Ihre Stimme brach mit einem gedämpften Laut der Angst ab. »Das ist einstweilen genug«, sagte Adam und blickte nach hinten zu Peregrine, der noch eifrig zeichnete. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Es ist Zeit, den Film abzuschalten. Wenn die Lichter angehen, dann ist es, als hätten Sie sich in ein anderes Zimmer begeben an einen Ort, wo Sie sich sicher und beschützt fühlen. Welches Zimmer würden Sie sich da wünschen?« »Mein altes Zimmer zu Hause, im Haus meiner Eltern.« »Dann wird es also das sein«, sagte Adam zuversichtlich. »Die Lichter sind jetzt an. Was sehen Sie?« -51-
Helena lächelte wieder entspannt. »Mein Bett, mit der Steppdecke, die meine Großmutter für mich gemacht hat. Alle meine Puppen sitzen auf dem Fußbrett aufgereiht.« »Das hört sich nach einem wunderbaren, gemütlichen Ort an, Helena«, sagte Adam zustimmend. »Warum legen Sie sich nicht auf dieses Bett und gönnen sich ein kleines Nickerchen? Nichts wird Sie stören, und Sie werden sich an nichts erinnern, was Sie vielleicht hören. Nach einer kleinen Weile berühre ich Sie an der Stirn und rufe Sie bei Ihrem Namen. Dann werden Sie aufwachen und sich erholt fühlen.« Helena seufzte und sank mit einem leichten Zappeln in ihren Sessel zurück, wie ein Kind, das sich unter die Bettdecke kuschelt. Befriedigt, daß sie es sich bequem gemacht hatte, ließ Adam ihre Hand los und richtete sich auf. Er blickte Christopher fragend an. Der Priester ließ ebenfalls die Hand los, die er gehalten hatte, und schüttelte den Kopf. »Flüsternde schwarze Schatten«, murmelte er. »Das klingt für mich so, als würde wirklich etwas die Atmosphäre dieses Ortes verdüstern. Ich frage mich, was es sein könnte.« »Ich auch«, stimmte ihm Adam mit einem nachdenklichen Unterton zu. »Ich bezweifle jedoch, daß wir aus Helena noch viel mehr herausbekommen, zumindest nichts Brauchbares. Wenn ich dächte, daß sie unmittelbar in die Sache verwickelt wäre, könnte ich wahrscheinlich mit aggressiveren Techniken da herankommen - mit Unterstützung etwa von Drogen. Aber ich glaube nicht, daß das in diesem Fall gerechtfertigt ist. Mein Verdacht ist vielmehr, daß sie einfach Resonanzen von Dingen aufgefangen hat, die hier in der Wohnung lange vor ihrem Einzug stattgefunden haben - und was sie aufgefangen hat, läßt an einige interessante Möglichkeiten denken. Glücklicherweise haben wir ja noch andere Hilfsmittel zur Verfügung als ihre Träume.« Er warf einen vielsagenden Blick in die Richtung der Fenster. -52-
Peregrine zeichnete immer noch, sein Bleistift sauste mit flinker, unfehlbarer Genauigkeit über das Blatt. Der Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Künstlers verriet Adam, daß er vorübergehend die gegenwärtige Szene vergessen hatte und daß seine Aufmerksamkeit völlig auf die Aufgabe gerichtet war, ein bedeutsames Bild aus der Vergangenheit zu isolieren und einzufangen. Deutlich beeindruckt hob Christopher eine Augenbraue. »Er sieht, was geschehen ist?« fragte er fast ungläubig. »Und er hat das alles in nur einem Monat gelernt?« Adam nickte. »Genaugenommen in noch kürzerer Zeit. Schon nach unserer ersten Begegnung hatte ich den Verdacht, daß er das Zeug zum Jäger hat. In Melrose wurde ich davon überzeugt. Du verstehst jetzt, nicht wahr, warum ich so scharf darauf war, daß du und Victoria eine Gelegenheit haben solltet, ihn selbst kennen zu lernen.« »In der Tat«, pflichtete ihm Christopher mit einem flüchtigen Grinsen bei. »Ich kann es kaum erwarten zu sehen, was auf diesem Blatt Papier festgehalten wird.« Während er noch sprach, machte Peregrine ein paar weitere schwungvolle Bewegungen mit dem Bleistift, dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück. Mit dem nächsten Atemzug kehrten seine Augen wieder zum gewöhnlichen Blick zurück. Er schüttelte sich leicht, bevor er auf das Blatt schaute, das er vor sich hatte. »Adam!« rief er aus. »Kommen Sie und schauen Sie sich das an!« Adam erhob sich schnell, Christopher folgte ihm, nachdem er sich mit einem Blick davon überzeugt hatte, daß ihre Probandin noch schlief. Peregrine reichte Adam die Zeichnung, und der drehte sie ins Licht und betrachtete sie aufmerksam. Christopher trat näher heran und blickte über Adams Schulter. Die Zeichnung zeigte Helenas Wohnzimmer aus Peregrines -53-
Perspektive, doch einige Dinge waren verändert - besonders die Sessel und das Sofa, die viel schmuckloser aussahen als die gegenwärtige Einrichtung. Des weiteren befanden sich in der Fensternische ein Weihnachtsbaum und vor dem anderen Fenster des Zimmers ein großer orientalischer Wandschirm. Von größtem Interesse jedoch waren die beiden menschlichen Gestalten im Vordergrund. Die auffallendste von ihnen war ein angespannt wirkender junger Mann mit langem, glattem und dunklem Haar. Dunkel gekleidet wie ein Mönch, eine Kapuze über die Schulter zurückgestreift, kniete er aufrecht auf dem Teppich und hielt seine gekreuzten Handgelenke einem etwas älteren Mann hin, der ebenfalls eine Art Mönchsrobe trug und sich anscheinend anschickte, sie mit einer Schnur zu fesseln, die Peregrine als rot gekennzeichnet hatte. Die Fesselung wurde von einem dritten Mann in Robe überwacht, der etwas entfernt aus dem Hintergrund das Geschehen beobachtete. Obwohl seine Züge nur wenig mehr waren als ein impressionistischer Fleck, konnte man erkennen, daß er an einer Kette ein Medaillon um den Hals trug. »Schauen Sie«, sagte Peregrine und benutzte seinen Bleistift als Zeigestab, »wo haben Sie ein solches Medaillon schon einmal gesehen?« Kapitel 4 Der gebannte Ausdruck auf Adams Gesicht war für Peregrine Antwort genug, aber Christopher verstand offensichtlich nicht. Etwas verdutzt blickte er zwischen Adam und Peregrine hin und her. »Ich fürchte, mir ist da etwas entgangen, Freunde«, sagte er zu Adam. »Wo hast du schon einmal ein solches Medaillon gesehen?« »In letzter Zeit an viel zu vielen Orten«, erwiderte Adam -54-
tonlos, »falls Peregrine mit seiner Zeichnung das darzustellen beabsichtigt, was ich denke.« Als der Künstler stumm nickte, fuhr er fort: »Erst vor kurzem in einer Serie von Bildern, die er mir just heute morgen zeigte. Ich muß dir leider mitteilen, daß die Loge der Luchse anscheinend wieder tätig ist.« Christopher stieß einen leisen Pfiff aus. »Engel und Diener der Gnade, verteidigt uns! Ich hatte mich schon gewundert, bei all dem anderen, was da vor sich geht. Aber wer hätte gedacht, daß wir ausgerechnet hier über ihre Spuren stolpern würden, in einer Studentenbude in Edinburgh?« Adam biß grimmig die Zähne zusammen. »Sie müssen irgendwo neue Mitglieder rekrutieren. Wo ist es einfacher als in den Reihen der leicht zu beeindruckenden jungen Leute?« Peregrine hatte ihre Worte so aufmerksam verfolgt, daß ihm erst verspätet einfiel, daß Christopher wie ein Mann des Wissens gesprochen hatte - und warum. Er blinzelte und schaute sich den Geistlichen genauer an. Im Augenblick war die Miene eines fröhlichen Schuljungen verschwunden. Ganz plötzlich blickte Christopher Houston todernst drein, ein Mann, mit dem so wenig zu spaßen war wie mit Adam oder McLeod. Während Peregrine sich an seine frühere Vermutung erinnerte, blickte er verstohlen auf den Ring, den der Priester noch trug. »Ich sehe, Sie haben den richtigen Schluß gezogen«, sagte sein Mentor mit einem leichten Lächeln, als er ihm die Skizze zurückgab. »Ich fragte mich, wie lange es dauern würde, bis Sie es herausbrächten. Ja, Christopher und seine Frau Gemahlin sind Mitglieder derselben Vollstreckergruppe wie Noel und ich und haben uns in der Vergangenheit bei vielen Gelegenheiten auf der Jagd geholfen.« »Aber nie bei einer Sache, wo die Loge der Luchse die Hand im Spiel hatte«, warf Christopher etwas bestürzt ein. »Das war vor meiner Zeit, wissen Sie. Ich hatte eigentlich gehofft, unsere -55-
Vorgänger hätten ihrem Treiben ein für allemal ein Ende gesetzt.« Er verzog sein Schuljungengesicht zu einer ungewöhnlichen Grimasse. »Es scheint, wir waren allzu optimistisch.« Peregrine blinzelte überrascht, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Zeichnung in seiner Hand und verglich nun bewußt das, was er gezeichnet hatte, mit der derzeitigen Ausstattung des Zimmers. Adam nickte dem jungen Künstler anerkennend zu, daß er die Prioritäten schnell erfaßt hatte, dann schaute er sich kurz im Zimmer um. »Tja, ich frage mich, wie lange es her ist, seit die Wohnung noch in der Art eingerichtet war, wie es unsere Skizze zeigt.« Christopher runzelte die Stirn. Auch er kehrte zu den praktischen Fragen zurück. »Wenn ich mich recht erinnere, so sagte Helena, daß hier neu möbliert worden sei, bevor sie einzog«, sagte er. »Ich muß mal kurz mit Mrs. Beaton sprechen, bevor wir gehen - das ist die Hauswirtin. Sie müßte uns eigentlich sagen können, wann das gemacht wurde - und auch in der Lage sein, uns einige der früheren Mieter zu nennen.« »Einstweilen«, bemerkte Adam, »bleibt die Wohnung selbst ein Problem.« Er nahm wieder die Skizze in die Hand und betrachtete sie nachdenklich. »Die Tatsache, daß Peregrine diese spezielle Szene gezeichnet hat, anscheinend eine Art ritueller Fesselung, legt den Gedanken nahe, daß dies der Höhepunkt des Ritus war, wenn man es so nennen kann - was jedermann beruhigen sollte, daß der Kerl mit den gefesselten Händen nicht hier in der Wohnung umgebracht wurde. Ansonsten, dessen bin ich mir sicher, hätte Peregrine das gesehen und gezeichnet. Der Tod hinterläßt, wie er gelernt hat, eine andere Art von Nachhall.« Als Peregrine zur Bestätigung entschieden nickte, nahm Christopher die Skizze und studierte sie eingehender. -56-
»Wir können also ein einfaches Gespenst ausschließen, wie ich es schon von Anfang an vermutet habe. Du würdest demnach sagen, es sei eine Initiation gewesen?« Adam nickte. »Das wäre meine Vermutung, obwohl es bei diesem zeitlichen Abstand unmöglich ist, es sicher zu wissen. Es ist an sich schlimm genug, wenn die Loge der Luchse dahinter steht, doch nicht so gravierend, wie es hätte sein können. Doch häßlich genug, um unsere Helena noch nach fast einem Jahr zu beunruhigen, falls der Weihnachtsbaum ein zutreffender Hinweis auf den Zeitpunkt ist. Was immer die Ursache sein mag, jetzt muß man sich mit der Wirkung beschäftigen. Was empfiehlst du, Christopher?« Seit ihrer allerersten Begegnung hatte Peregrine es für selbstverständlich erachtet, daß Adam die Führung zufiel. Er war einen Moment lang überrascht, als er hörte, wie Adam Christopher um Rat fragte, bis er sich daran erinnerte, daß eine der wertvollsten Gaben der Führung in der Fähigkeit bestand, ein urteilsfähiges Vertrauen in die Fähigkeiten anderer zu hegen. Christopher überlegte einen Augenblick, bevor er antwortete. »Zuvor hätte ich gesagt, der Ort brauchte bloß eine spirituelle Lüftung - einen allgemeinen Segen, um die Atmosphäre aufzuhellen. Jetzt, da ich weiß, daß die Loge der Luchse in die Sache verwickelt ist, würde ich sagen, wir müßten etwas mehr in Richtung eines Exorzismus tun. Jedoch nicht den formalen Ritus der Kirche - die arme Helena würde das wahrscheinlich als ebenso beängstigend empfinden wie einen körperlosen Geist. Nein, ich würde eher etwas ein wenig Subtileres versuchen - etwas, woran Helena selbst teilnehmen kann. Es ist wichtig, daß sie Vertrauen zu dem hat, was wir tun, und das wird am besten erreicht, wenn sie daran teilnehmen kann.« Die Zeremonie, die er dann vorschlug, war sowohl würdevoll als auch einfach und enthielt nichts, was daran denken ließ, es handle sich um mehr als um eine einfache Haussegnung. Als -57-
Christopher geendet hatte, nickte Adam zustimmend. »Ich glaube, das wird den Zweck sehr gut erfüllen«, sagte er zu dem Priester. »Wecken wir also unsere junge Dame und machen wir sie mit dem bekannt, was dir vorschwebt.« Helena reagierte schnell auf Adams vorher abgemachtes Zeichen und erwachte. Christopher nahm wieder ihre Hand. »Hallo, meine Liebe«, sagte der Priester lächelnd und hob ihren Handrücken sanft an seine Lippen. »Schön, daß Sie wieder bei uns sind. Wie fühlen Sie sich?« »Ich - ich fühle mich besser«, erklärte sie mit einem zittrigen Lächeln. Dann huschte ein ängstlicher Schatten über ihr Gesicht. »Haben Sie - haben Sie etwas herausfinden können?« Adam lächelte und lehnte sich ungezwungen in seinem Sessel zurück. Dabei spielte er mit dem Kristall, den er wieder genommen hatte, bevor er sie weckte. »Das haben wir in der Tat. Und Sie waren eine sehr kooperative und nützliche Probandin. Nachdem wir die Indizien untersucht haben, können wir, glaube ich, mit Sicherheit sagen, daß diese Ihre Alpträume ihren Ursprung in Einflüssen haben, die nicht aus Ihrer Psyche kommen.« Helena blinzelte ihn mit Eulenaugen an, als wagte sie ihm kaum zu glauben. »Dann lag es nicht bloß an mir!« »Überhaupt nicht«, sagte Adam. »Es sei denn, Sie rechnen dazu, daß Sie über mehr als nur die gewöhnliche Portion weiblicher Intuition verfügen - und das hat nichts damit zu tun, solche Dinge zu verursachen, sondern nur, sie wahrzunehmen.« Auf Helenas verwunderten Blick hin fuhr er fort: »Es ist eine Tatsache, daß physikalische Objekte - sogar ganze Häuser - als psychometrische Rezeptoren wirken können und es auch tun, indem sie emotionale Resonanzen vergangener Ereignisse speichern«, erklärte Adam. »Jeder, der für solche Dinge -58-
empfänglich ist, kann davon nachteilig berührt werden - wie es in Ihrem Fall gewesen zu sein scheint.« Als Christopher sah, daß Helena noch immer ein bißchen verdutzt dreinblickte, drückte er ihr mitfühlend die Hand und lächelte. »Dr. Sinclair will sagen, daß mit einigen Leuten, die früher in dieser Wohnung gelebt haben, eine Menge negativer Gefühle verbunden gewesen sein müssen, Helena. Schlechte Ausstrahlung, wenn Sie es so formulieren wollen - ein bißchen so etwas wie ein häßlicher Geruch. Sobald der in die Wände zieht, tendiert er dazu hängenzubleiben, bis man den Ort gründlich reinigt. Und genau das werden wir jetzt tun«, fuhr er entschlossen fort und wiederholte Helenas hoffnungsvolles Nicken. »Wir werden dieser Wohnung einen metaphysischen Hausputz verpassen. Nur, daß wir dazu Seelenstärke statt Salmiakgeist verwenden.« Helena kicherte unwillkürlich. »Das ist genau das Richtige, meine Liebe«, sagte Christopher. »Nun, wie ich weiß, haben Sie eine Bibel und ein Gebetbuch. Ich dachte, Sie hätten wahrscheinlich nichts dagegen, Sie mir zu leihen, deshalb habe ich mir nicht die Mühe gemacht, sie selber mit zu bringen. Könnten Sie sie mir holen, während ich meine anderen Sachen vorbereite? Das wäre großartig.« Er öffnete seine Aktentasche und holte eine Priesterstola aus grüner Seide hervor, dazu eine kleine Plastikflasche, von der Peregrine vermutete, daß sie Weihwasser enthielt. Helena nahm die gewünschten Bücher aus dem Regal und setzte sich neben Christopher, während er die Stola umlegte und in ihrer kleinen, ledergebundenen Ausgabe der Heiligen Schrift blätterte. Während die Aufmerksamkeit des Mädchens auf den Pfarrer gerichtet war und sie seinen gemurmelten Anweisungen lauschte, welche Textstellen zu lesen seien, wobei er sie mit den bunten Lesebändern markierte, zog Adam Peregrine in eine -59-
Zimmerecke neben der Tür. »Bleiben Sie hier stehen und beobachten Sie«, wies ihn Adam an. »Sie sind derjenige, der sehen kann, wohinter wir her sind. Ich möchte sicher sein, daß wir alles beseitigen.« »Aber wie...« »Beobachten Sie nur«, beharrte Adam und wischte mit einem Kopf schütteln weitere Argumente beiseite. »Sie werden es wissen, wenn wir fertig sind.« Sie befanden sich beide außerhalb von Helenas Blickfeld. Trotzdem schirmte Adam sorgfältig das ab, was er aus seiner Jackentasche zog, so daß selbst Peregrine nur einen flüchtigen Blick davon erhäschen konnte. Adam nannte es seinen Zahnstein - dunkel und länglich, gekrümmt wie der Fangzahn eines Wolfes, fast ganz in seiner Hand versteckt. Doch es handelte sich dabei tatsächlich um ein Stück Magneteisenstein, das sowohl spirituell als auch materiell gepolt war, um übelwollende psychische Energie abzuleiten. Peregrine hatte Adam schon einmal den Stein verwenden sehen, und zwar in Melrose Abbey, wo er die Nachwirkungen der düsteren Absichten jener Leute vertrieb, die den Geist von Michael Scot wieder in sein Grab gerufen hatten. Obwohl er keine Angst hatte, spürte Peregrine, wie ihm das Herz in der Brust klopfte, als Adam sich ihm ganz zuwandte. Die dunklen Augen seines Mentors nahmen schon eine unirdische Tiefe an, seine Hand war um den Zahnstein geschlossen. Der Ältere beugte kurz den Kopf über der geschlossenen Faust, berührte sie mit den Lippen und begegnete dann mit zusammengekniffenen Augen Peregrines Blick. Plötzlich war er weit mehr als Dr. Adam Sinclair, Psychiater, oder Sir Adam Sinclair, Baronet. Peregrine kam er um etliche Zentimeter größer vor, als er tief Luft holte und dann mit der Spitze des Zahnsteins erst über sich selbst und dann über Peregrine ein Zeichen machte, das ein -60-
Symbol persönlichen Schutzes darstellte. Peregrine war es, als fühlte er die Spur des Zahnsteins in der Luft vor sich, und er stellte sich vor, wie er selbst dieses Symbol um sich als einen Schutzmantel zeichnete, während Adam ein wenig lächelte und nickte. Dann begann sein Mentor scheinbar beiläufig im Uhrzeigersinn einen Rundgang durch die Wohnung, wobei er sie rituell versiegelte, so daß das Böse gefangen war und nicht entkommen konnte. Christopher hatte inzwischen Helena eingeladen, mit ihm zusammen einen Augenblick still zu meditieren. Er kniete mit ihr in dem Raum vor dem Kamin, der durch die Sessel und das Sofa abgegrenzt wurde. Die Möbel boten eine zusätzliche Abschirmung für das, was Adam tat, falls Helena aufblicken sollte - allerdings hatte sie, Christophers sanften Anweisungen folgend, den Kopf in die Hände gesenkt und die Augen geschlossen. Als Adam seinen Rundgang der Versiegelung beendet hatte, wobei er auch kurz in den kleinen Flur vor dem Wohnzimmer verschwunden war, um sich mit etwaigen Resonanzen im Schlafzimmer und im Bad zu befassen, kehrte er zu seinem Ausgangspunkt neben der Tür zurück und nahm den Zahnstein zwischen Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand. Mit einer Hand - so ruhig wie die eines Chirurgen begann er dann die Wände des Wohnzimmers mit ausladenden Bewegungen abzustreichen, hin und her, nur ein paar Zentimeter über der Wandfläche. Peregrine schaute schweigend zu, während überall um ihn herum die Gespenster der vergangenen Ereignisse weggesaugt wurden, fast wie Staub in einen Staubsauger. Zurück blieb eine Art Leere. Das Böse war verschwunden, aber das Nichts, das es zurückließ, wirkte nicht behaglich: eine Dumpfheit, die die Luft im Mund schal schmecken ließ. Während Peregrine auf der Suche nach einer Erklärung noch instinktiv auf Adam achtete, brach Christopher das Schweigen. -61-
»Ich glaube, wir können jetzt beginnen«, sagte der Priester und stand auf. Er trat einen Schritt zurück und machte das Zeichen des Kreuzes über die noch kniende Helena, und dabei intonierte er: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, lasset uns beten. Vater unser...« Dann folgten verschiedene Lesungen aus der Heiligen Schrift mit unterschiedlichen anderen Gebeten dazwischen, von denen einige Helena selbst las und in denen göttliches Eingreifen erfleht wurde, um das Böse in Schach zu halten und den Frieden im Haus wieder herzustellen. Während Peregrine zuhörte und die Worte nur zum Teil verstand, spürte er, wie die dumpfe Leere des Raums einer neuen, lebendigen Frische zu weichen begann. Es war fast, als wäre die Wohnung ein Gefäß. Adam hatte das Gefäß geleert, das Gift entfernt und dann das Gefäß gereinigt, und jetzt füllte Christopher es erneut mit einer Heiterkeit, die Herz und Geist befreite wie funkelnder Wein. Nur daß Christopher lediglich das Medium war der Mundschenk beim Fest, nicht der Herr. Die wahre Autorität stand über ihm sowie jenseits von ihm, selbst wenn sie ihn mit ihrer Macht bekleidete. Und als Christopher dann herumging und die Ecken des Raums mit Weihwasser besprengte, mußte Peregrine sich eingestehen, daß er das, was der Priester tat, noch weniger verstand als das, was er Adam hatte tun sehen. Für ihn war Religion ein Rätsel. Als Kind hatte er die Formen des christlichen Gottesdienstes erlernt, aber das Wesentliche hatte sich ihm immer entzogen. Am Ende war er zu dem Schluß gekommen, daß es nichts Wesentliches gab. Doch in letzter Zeit war er sich dessen nicht mehr so sicher. Er rätselte immer noch darüber, was es war, das ihm anscheinend entging, als Christopher die offenbar schlichte Andacht zum Abschluß brachte. Helena lächelte. Jetzt, da die drückende Atmosphäre in der Wohnung behoben war, hatte sie offensichtlich auch alle ihre früheren Ängste abgestreift. Ihre Dankbezeigungen tat Christopher gutgelaunt mit einer -62-
Handbewegung ab. »Das gehört alles zu meinen Dienstpflichten, meine Liebe«, sagte er fröhlich. »Jetzt muß ich gehen, aber ich werde sicher Anfang nächster Woche mal vorbeischauen, um zu sehen, wie es Ihnen geht. Und zögern Sie nicht, mich anzurufen, wann immer Sie noch etwas beunruhigt.« Sie verabschiedeten sich auf der Türschwelle, bevor sie zu der Souterrainwohnung hinuntergingen, wo die Hauswirtin wohnte. Mrs. Beaton, eine mütterlich wirkende Witwe, begrüßte Christopher mit einer Freude, in die sich Erleichterung mischte. »Ich bin froh Sie zu sehen, Father Houston«, sagte sie mit breitem schottischem Akzent. »Die ganzen letzten zwei Wochen habe ich mir Sorgen um unser armes Lämmchen gemacht, aber wo Sie sie jetzt besucht haben, wird sie vielleicht unbesorgter sein.« Sie war durchaus bereit, Christophers Fragen über die Wohnung und deren frühere Bewohner zu beantworten. Als schließlich Adam und seine Gefährten sich von ihr verabschiedeten, hatten sie eine Reihe von Namen erfahren, und dazu die Tatsache, daß Helenas Wohnung erst vor einigen Monaten neu tapeziert worden war. Draußen war es regnerisch und windig geworden. In einem kalten Nieselregen gingen sie zum Auto zurück. »Vermutlich war es nur eine Frage der Zeit«, sagte Christopher ernüchtert und wischte sich vergeblich den Regen von den Schultern seines Trenchcoats, als sie das schützende Auto erreicht hatten. Adam warf einen Blick auf den Zettel, den sie von Mrs. Beaton bekommen hatten, dann steckte er ihn sorgfältig in die Brusttasche seiner Jacke. »Ich werde die Namen an Noel weitergeben«, sagte er. »Er wird wissen, wie man weitere Informationen aufspürt, soweit sie verfügbar sind. Wie liegen wir in der Zeit, Christopher?« -63-
Der Priester schaute auf seine Armbanduhr. »Nicht schlecht. Vicky wird hoffen, daß wir um ein Uhr zurück sind, aber sie weiß ja, daß es besser ist, fürs Mittagessen etwas zu planen, was sich mindestens eine Stunde hält. Warum?« »Ach, ich bekam gestern eine Mitteilung von Randall, daß es ihm gelungen sei, ein Buch für mich zu finden, hinter dem ich schon einige Zeit her bin«, sagte Adam und drehte den Zündschlüssel. »Hättest du etwas dagegen, wenn wir einen kurzen Umweg zu seinem Laden machten, um es abzuholen?« »Da wir schon einmal hier sind, können wir das ruhig tun«, erwiderte Christopher. »Bilde dir aber nicht ein, du könntest einen Parkplatz finden - nicht bei diesem Wetter und an einem Samstag.« »Wir können nur hoffen«, sagte Adam und lenkte den blauen Range Rover geschickt in den fließenden Verkehr. Der fragliche Buchladen lag am oberen Ende einer mit Stufen versehenen Seitengasse der Royal Mile. Scheinwerfer ergossen ihr Licht auf die Straße, während Autos und Lastwagen zäh durch den heftiger werdenden Regen pflügten. Nach zwei Fahrten um den Block gab Adam es auf, nach einem Parkplatz zu suchen, und hielt am Bordstein an einer Stelle, die offiziell als Ladezone ausgeschildert war. »Das muß reichen«, sagte er und schaute die Straße hinauf und hinab, ob eine Politesse zu sehen war. »Ich werde nicht lange bleiben, Christopher. Darf ich dich bitten zu warten und nach der ›gelben Gefahr‹ Ausschau zu halten? Ich bezweifle, daß selbst die pedantischste Politesse einem Geistlichen einen Strafzettel verpaßt.« »Ein Vorrecht des Klerus, was?« Christopher grinste seinen Nebenmann verschmitzt an, dann zupfte er betont den Kragen seines Trenchcoats zurecht, so daß sein Priesterkollar deutlicher zu sehen war. »Also gut, du Heide! Ich werde hier im Trockenen bleiben -64-
und hoffen, daß man mich nicht zwingt, das Auto weg zu fahren.« »In diesem Fall hoffte ich doch, daß du zurück kommen und uns holen würdest«, erwiderte Adam lächelnd. »Los, Peregrine. Dieser Laden dürfte Sie interessieren.« Im Parnassus Bookshop war es warm und still, eine Zauberhöhle voller Bücherregale, die mit Bänden aller Größen und Arten von Einbänden vollgestopft waren. Die Luft hatte einen angenehmen Geruch nach Bücherstaub, der Peregrine an die Manuskriptsammlungen der Universitätsbibliotheken in Oxford erinnerte. Fast auf der Stelle wurden seine Augen von einem kompletten Satz der gesammelten Märchen von Andrew Lang angezogen, deren goldgeprägte Einbände sie als Erstausgaben auswiesen. Als er stehen blieb, um sie zu bewundern, tauchte hinter der Theke an der Rückseite des Ladens ein schlankes Mädchen mit einem langen Wust dunkler, lockiger Haare auf und näherte sich ihm mit einem Lächeln. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?« begann sie, dann erhellte sich ihr Gesicht erfreut, als sie Adam erkannte. »Ach, Sie sind es, Adam! Wie schön, Sie zu sehen. Papa hat mir nicht gesagt, daß Sie heute vorbeikommen würden. Haben Sie da einen Freund mitgebracht?« Sie wies mit dem Kopf in Peregrines Richtung. Ihre dunklen Augen leuchteten wie die eines Zaunkönigs. »Miranda, wenn du mit diesem Schurken flirtest anstatt mit mir, werde ich untröstlich sein!« erklärte ihr Adam mit einem leisen Lachen. »Doch ich gebe gerne zu, daß ich ihn mitgebracht habe und daß er ein Freund von mir ist - zufällig ein einzigartig begabter Freund. Er heißt Peregrine Lovat, und er ist Porträtmaler.« »Porträtmaler?« Miranda war begeistert. »Haben Sie schon mal einen Berühmten gemalt, Mr. Lovat?« -65-
Die Frage machte Peregrine erröten, aber er merkte, daß er sich der gutmütigen Neckerei nicht mehr entziehen konnte. »Tja, ich habe schon einmal eine Skizze von der Königinmutter gemacht«, erwiderte er mit einem schiefen Grinsen. »Alles nur nach einem Foto, das jemand anders aufgenommen hatte, und so glaube ich nicht, daß das wirklich zählt.« »Laß ihn nicht mit falscher Bescheidenheit davonkommen, Miranda«, sagte Adam salopp. »Er hat zwar noch niemanden von der königlichen Familie gemalt, aber er hatte schon einige sehr distinguierte Kunden. Peregrine, das ist Miranda Stewart, die Tochter meines Freundes Randall.« Peregrine hatte sich schon ihr reizvolles Gesicht eingeprägt, dazu die Art, wie sie einen seidenen Schal mit Paisley-Muster im Zigeunerstil um ihre schlanken Schultern gelegt hatte. Jetzt hob er den Kopf herausfordernd in ihre Richtung. Ihm war ein neuer Gedanke gekommen. »Es freut mich sehr, Sie kennen zu lernen, Miss Stewart. Allerdings sollte ich Ihnen sagen, daß die berühmtesten Gesichter nicht unbedingt die reizvollsten sind.« Miranda blickte ihn unter langen, dunklen Wimpern hervor neugierig an. »Jetzt weiß ich nicht, was ich lieber wäre - berühmt oder reizvoll. Würden Sie so oder so mein Gesicht malen?« »Mit Vergnügen«, erwiderte Peregrine und fügte unbekümmert hinzu: »Wie dem auch sei, ich begreife nicht, warum Sie nicht beides sein sollten.« Miranda lachte, und Adam nutzte nicht ohne Bedauern die Gelegenheit, um einzugreifen. »So gern ich diesen fröhlichen Austausch auch noch fortsetzen würde, aber draußen wartet Christopher in einer Ladezone, und ich muß ein Wort mit deinem Vater wechseln, -66-
wenn ich kann. Ist er da?« »Er ist im Lager«, antwortete Miranda. »Wenn Sie mich entschuldigen, dann sause ich schnell mal nach hinten und sage ihm, daß Sie hier sind.« Mit zigeunerhaft wirbelnden dunklen Röcken verschwand sie durch eine Tür an der Rückseite des Ladens. Als sie wenige Minuten später zurückkehrte, wurde sie von einem schmächtigen älteren Mann mit Brille begleitet. Als er die beiden Besucher erblickte, eilte er auf sie los. »Adam!« rief er aus. »Was für eine angenehme Überraschung an einem sonst so trüben Samstagvormittag!« »Mit solchen Begrüßungen verwöhnst du mich, Randall«, sagte Adam mit einem leisen Lachen. »Vielleicht hätte ich vorher anrufen sollen, aber ich muß gestehen, dieser Besuch ist etwas improvisiert.« »Das macht überhaupt nichts«, erwiderte der Buchhändler. »Du weißt, daß du immer ein willkommener Gast bist.« Sein sanfter blauer Blick fiel auf Peregrine. »Und wer ist das?« fragte er. »Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet.« »Das ist Mr. Peregrine Lovat«, sagte Adam und winkte Peregrine nach vorn. »Peregrine, das ist mein sehr lieber Freund Randall Stewart.« Peregrine musterte Mirandas Vater, während sie einander die Hände schüttelten. Leicht gebaut wie seine Tochter, hatte Randall Stewart das silbrige Haar und das feingeschnittene Gesicht eines alternden Gelehrten. Seine liebenswürdige, altmodische Höflichkeit erinnerte an höfischere Zeiten. »Peregrine Lovat«, überlegte der alte Mann. »Der Name ist mir nicht unbekannt - ach, ich hab's! Sie sind der Porträtmaler, nicht wahr? Dessen Arbeiten so wohlwollend in The Scotsman besprochen wurden.« -67-
Peregrine errötete. »Die Kritiker sind sehr großzügig gewesen, Sir.« »Und Sie sind zu bescheiden«, erwiderte Randall. »Ich habe selbst eine Ausstellung Ihrer Arbeiten in der National Gallery gesehen, und ich freue mich, Sie persönlich kennen zu lernen.« Bevor Peregrine eine passende Antwort einfiel, wandte sich der alte Mann wieder an Adam. »Verzeih, ich habe es fast vergessen. Du bist wegen dem Bartholomaeus gekommen, nicht wahr? Den habe ich in meinen Schreibtisch eingeschlossen. Komm herauf und ich gebe ihn dir - Sie auch, Mr. Lovat. Miranda wird sich um den Laden kümmern, während wir plaudern, nicht wahr, meine Liebe?« Die beiden folgten ihm zwei Treppenfluchten hinauf in eine große Mansarde im obersten Geschoß des Gebäudes. Außer dem schweren Eichenholztisch an den Fenstern gab es da zu beiden Seiten eines Gasfeuers zwei bequem eingesessene Lehnsessel. Außerdem waren in eine Nische in einer Ecke eine Spüle und ein Sideboard eingebaut. »Mein Zuhause fern von zu Hause«, erklärte Randall Peregrine mit einem Lächeln. »Adam, wie war's mit etwas Tee für dich und deinen jungen Freund?« »Ich fürchte, wir haben wirklich nicht viel Zeit«, sagte Adam entschuldigend. »Ich habe Christopher zurück gelassen, damit er auf das Auto aufpaßt, mit der Anweisung, das Vorrecht des Klerus geltend zu machen, wenn eine Politesse grantig wird, und Victoria wartet auf uns mit dem Mittagessen. Außerdem haben wir dich anscheinend mitten in einer Arbeit gestört.« Er wies auf den Schreibtisch, auf dem eine uralte mechanische Schreibmaschine thronte. In der Walze steckte ein Blatt Schreibpapier, das zur Hälfte vollgetippt war. »Ach, das kann ruhig ein paar Minuten warten«, sagte Randall mit einem feinen Lächeln. »Ein Leserbrief an die Sunday Times. Für die Ausgabe dieser Woche kommt er sowieso nicht mehr -68-
rechtzeitig.« »Noch ein Brief?« Adam zog die Augenbrauen hoch. »Ich bewundere deinen Eifer, Randall. Dein Beitrag in der Times letzte Woche war eine elegante Apologie der Institution der Freimaurer.« Der Buchhändler schien angenehm berührt zu sein. »Ach ja, danke. Das ist ein großes Lob, da es von jemandem kommt, der kein Mitglied der Königlichen Kunst ist - allerdings weiß ich, daß du unserer Arbeit wohlwollend gegen überstehst.« Dann wurde sein Gesicht ernst. »Ich muß gestehen, ich bin nicht wenig beunruhigt wegen der kürzlichen Angriffe auf unsere Bruderschaft. Erst vorgestern nacht sind Vandalen in das Logenhaus in der George Street eingebrochen und haben einige Räume beschädigt. Und es hat noch andere Vorfälle gegeben...« Er verstummte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was aus der Welt noch werden soll. Zugegeben, die Öffentlichkeit hat nicht immer den Charakter unserer Institution verstanden. Unsere Kritiker mißtrauen dem, was sie für unsere Geheimnistuerei halten. Aber nur durch die Geheimhaltung können wir dafür garantieren, daß das uns anvertraute Wissen nicht von Menschen mit eigennützigen Ambitionen mißbraucht wird. Und so müssen wir auch weiterhin unsere Riten schützen und gleichzeitig hoffen, daß unsere Werke als Beweis für unsere wohlwollenden Absichten gelten.« Adam nickte. »Um eine etwas modernere Übertragung der Stelle aus dem Matthäusevangelium zu zitieren: Gebt acht, daß ihr euch nicht mit euren guten Taten vor den Menschen brüstet und ihre Aufmerksamkeit auf euch lenkt, denn damit werdet ihr allen Lohn bei eurem Vater im Himmel verlieren. Du gibst einen sehr fähigen Verfechter eurer Bruderschaft ab, Randall. Ich werde auf deinen Brief in der übernächsten Sunday Times achtgeben.« »In diesem Fall«, bemerkte Randall, »werde ich schauen, daß -69-
ich damit noch fertig werde. Jetzt laß mich dir den Bartholomaeus zeigen.« Er winkte Adam zu sich, trat an den Schreibtisch und schloß die unterste Schublade auf der linken Seite auf. Peregrine folgte den beiden und blickte über Adams Schulter, als der Buchhändler ein dickes Buch mit einem Einband aus gepunztem Leder herausholte. »Das ist lediglich ein viktorianisches Faksimile der Ausgabe von 1495 von Wynken de Worde«, erklärte Randall, »aber ich glaube, du wirst feststellen, daß es das Original getreu wiedergibt.« Adam schlug die Titelseite auf, dann hob er das Buch, so daß Peregrine lesen konnte: De Proprietatibus Rerum. »Über die Eigenschaften der Dinge«, las er laut und übersetzte dabei automatisch aus dem Lateinischen. Als Adam es dann durchblätterte, erkannte Peregrine, daß das Buch selbst nicht auf Latein, sondern auf Mittelenglisch geschrieben war. »Das ist eine spätmittelalterliche Enzyklopädie«, beantwortete Adam die stumme Frage. »Es wurde auf Latein von Bartholomaeus Anglicus - Bartholomäus dem Engländer – zusammen gestellt und später von einem gewissen John de Trevisa übersetzt. Es ist eine reiche Fundgrube des Wissens, wie es die damaligen Leser verstanden, und deshalb von beträchtlichem Reiz für jedermann, der sich mit der Entwicklung der Ideen beschäftigt.« Er lächelte Randall Stewart zu, während er das Buch zuklappte und mit befriedigtem Besitzerstolz an die Brust drückte. »Danke, daß du es für mich gesucht und gefunden hast, Randall. Ich weiß, es war keine leichte Aufgabe, und ich hoffe, du wirst deine Bemühungen nicht unterbewerten, wenn du den Preis festsetzt. Nenn mir jetzt keine Zahlen!« warnte er, hob die Hand und schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich bestehe -70-
darauf, daß du vielleicht in der nächsten Woche nach Strathmourne kommst, und dann sprechen wir darüber bei einigen Drinks.« »Das würde ich gerne tun«, erwiderte Randall lächelnd. »Zufällig muß ich morgen nach Stirling, um eine Erbschaft zu schätzen. Es soll sich um eine große Sammlung handeln, und so kann es einige Tage dauern. Wie war's, wenn ich dich anrufe, sobald ich fertig bin? Falls es sich dann herausstellt, daß du zu Hause bist, mache ich auf meinem Heimweg einen kleinen Umweg.« »Das dürfte gut mit meinen Plänen zusammenpassen«, sagte Adam. »Ich freue mich auf deinen Anruf.« Im Erdgeschoß warteten Adam und Peregrine noch, bis Miranda das Buch eingepackt hatte, dann sagten sie ihr und Randall herzlich Lebewohl. Als sie sich wieder draußen im Regen und im geschäftigen Treiben der Royal Mile befanden, war der Range Rover verschwunden. Leicht bestürzt stellte Peregrine seinen Kragen hoch und warf einen suchenden Blick in den vorüberfließenden Verkehr. Genau in diesem Augenblick drang der Ton einer wohlvertrauten Hupe an Adams Ohr. »Da ist Christopher«, sagte er und zeigte. »Laufen Sie, bevor wir völlig durchnäßt werden!« Als sie wieder im Pfarrhaus ankamen, war es eher zwei als ein Uhr. Victoria empfing sie an der Tür und zog sie in den Schutz der Diele. »Du lieber Himmel, es ist schrecklich kalt geworden, nicht wahr?« bemerkte Christopher, als sich die drei ihrer tropfnassen Mäntel entledigten. »Tut mir leid, daß wir so spät kommen, Vicky. Wenn es so weitergeht, wird es noch vor Einbruch der Nacht schneien.« »Mach dir nichts draus«, erwiderte Victoria. »Der Kessel steht auf dem Feuer, und die Suppe ebenfalls. Kommt herein ins Eßzimmer, und ich trage euch auf.« Kurz darauf setzten sich die -71-
vier zu einer dampfenden Terrine mit schottischer Fleischbrühe, dann folgten Omeletts und heißer Toast mit Butter. Im Laufe der Mahlzeit berichteten Christopher und Adam, was in der Wohnung geschehen war. Auf Adams Zureden holte Peregrine schließlich die Skizze heraus, die er dort gemacht hatte. Victoria betrachtete sie ernst einen nachdenklichen Augenblick lang, bevor sie sie ihm zurück gab. Er war jetzt kaum noch überrascht, als er bemerkte, daß der Hauptstein in ihrem Verlobungsring ein Saphir war. »Vermutlich sollten wir es als glücklichen Zufall betrachten, daß wir über etwas gestolpert sind, das sich vielleicht als wichtige Spur erweist«, bemerkte sie. »Glaubt ihr, daß es für Noel eine Chance gibt, den jungen Mann auf dem Bild zu finden?« »Wenn er es nicht fertigbringt, dann kann es keiner«, sagte Adam. »Der junge Mann selbst ist wahrscheinlich nicht mehr als ein Novize. Aber es ist immerhin noch möglich, daß er vielleicht in der Lage ist, uns etwas Nützliches über den alten Mann im Hintergrund zu erzählen.« »Über den Mann mit dem Medaillon?« Christopher hielt inne und rieb sich an der langen Nase. »Glaubst du, dieser Kerl könnte in die Ereignisse von Loch Ness verwickelt sein?« Adam runzelte die Stirn. »Diese Möglichkeit würde ich nicht ausschließen.« Victoria schüttelte nachdenklich den Kopf. »Was immer in Michael Scots Zauberbuch geschrieben stand, sie wollten es so dringend besitzen, daß sie Menschenleben dafür riskierten. Was haben sie eurer Vermutung nach vor?« »Ich wünschte mir, wir wüßten es«, erwiderte Adam. »Was immer es sein mag, offensichtlich scheuen sie dabei vor nichts zurück.« »Was ist mit dem Mädchen?« fragte Christopher. »Mit Scots derzeitiger Inkarnation - wie war nochmal der Name, Talbot?« -72-
»Gillian Talbot«, sagte Adam und nickte. »Es ist noch zu früh, da etwas zu sagen. Als ich sie im Krankenhaus sah, war sie in einem schlimmen Zustand - ihre eigene Persönlichkeit war zerrüttet, und das auf jeder Ebene. Ich konnte zwar der Mutter eine Visitenkarte von mir geben, aber bis jetzt hat sie sich noch nicht gemeldet. Wenn ich bis Ende nächster Woche nichts höre, werde ich mir überlegen, wie ich den Kontakt erneuern kann.« »Könntest du nicht einfach anrufen?« fragte Victoria. Adam verzog das Gesicht. »Da könnte es etwas schwierig werden, wenn ich mein Interesse an dem Fall erklären müßte. Außerdem gibt es vielleicht eine bessere Methode. Gegen Ende des Monats muß ich nach London; meine Mutter kommt über Weihnachten herüber. Wenn ihr Zeitplan das zuläßt, werde ich vielleicht noch einmal im Krankenhaus anrufen. Wir werden. sehen.« Ein kräftiger Windstoß rüttelte an den Fenstern hinter ihm. Christopher schielte auf seine Armbanduhr und schnalzte mit der Zunge. »Herrje, ist es wirklich schon so spät? Tut mir leid, Adam, aber ich muß mich auf die Socken machen. In einer halben Stunde habe ich eine Taufe.« »Wir müssen auch gehen«, erwiderte Adam mit einem Blick, der auch Peregrine einschloß. »Danke, Victoria, für ein ausgezeichnetes Essen. Ich hoffe, ich kann morgen abend auf euch beide zählen?« »Das würde ich mir nicht entgehen lassen, alter Bursche, selbst wenn es einen Schneesturm geben sollte«, erklärte Christopher mit einem Grinsen. »Um einen Spruch der Postboten aus der Heimat deiner Mutter umzuformulieren: Weder Regen noch Graupelschauer, Hagel oder Schnee wird diese Dinnergäste von ihrem verabredeten Festmahl abhalten.« Kapitel 5 -73-
Auf den dicht bewaldeten Bergen nördlich von Blairgowrie lag frisch gefallener Schnee. Wenn Jimmy McArdle an die siebenundzwanzig Jahre zurück dachte, die er jetzt als Wildhüter schon Dienst tat, konnte er an den Fingern einer Hand aufzählen, wann schon einmal so früh im Jahr der Schnee liegen geblieben war, da es doch bis zum 1. Dezember noch fast zwei Wochen waren. Das würde die Hirsche dieses Jahr früh ins Tal treiben. Er mußte dafür sorgen, daß zusätzliche Heuballen an den üblichen Plätzen ausgelegt wurden - und noch genauer als bisher auf die Wilddiebe achtgeben, die von der leichteren Zugänglichkeit des Wildes angelockt werden würden. Jimmy hielt kurz auf dem weiß überschneiten Pfad an, atmete tief den reinen Harzduft der Kiefern ein und wandte das Gesicht zum dunklen, sternenübersäten Himmel empor. Dann hob er seine Büchse an die Schulter und setzte das Zielfernrohr ans Auge, um den hellen Glanz des Sirius kurz anzuvisieren, der wie ein Leuchtfeuer rot und grün und weiß aufblitzte. Ohne Mond am Himmel war die Nacht trotz des frischen Schnees wie gemacht für Wilderer. Sein Atem stieg als zarte Dampfwolke zum Gewimmel der Wintergestirne auf, als er seine Waffe senkte, die Geräusche der Nacht in sich hineintrank und die Stille und Einsamkeit genoß. Jimmy liebte diese Wälder, und er liebte diese rauhen Berge, besonders im Winter. Aber jetzt, da das Wetter aufklarte, wurde die Kälte allmählich beißend und ging in die Knochen. In ein paar Jahren würde er für diese Arbeit zu alt sein. In letzter Zeit fiel ihm auf, daß ihm die Kälte mehr auszumachen schien als früher. Er spürte den leichten Stich, mit dem der Frost nach seinen Knochen griff. Jimmy setzte die mit einem Rotfilter versehene Försterlampe ab, die er immer bei sich trug, aber selten benutzte und griff unter seinen Parka nach dem Flachmann mit dem Brandy, der ein willkommenes Gegenmittel gegen die herankriechende Winterkälte war. Schwerfällig wegen der schweren Handschuhe -74-
schraubte er die Kappe ab und hob die Flasche an die Lippen. Noch als der Brandy auf seine Zunge auftraf, wurde die Stille der ihn umgebenden Wälder von einem gedämpften Laut durchbrochen, der einem Schrei nicht unähnlich klang. Das Geräusch kam vom Berghang, von irgendwo zu seiner Rechten. Wie ein Hirsch hatte es nicht geklungen. Auf der Stelle mißtrauisch, reckte Jimmy den Kopf und nahm allmählich eine noch gedämpftere, schlurfende Bewegung zwischen den Bäumen auf der anderen Seite wahr. Jenseits des Hügels lief eine ungeteerte Forstwirtschaftsstraße entlang, doch dabei handelte es sich um einen Privatweg, und niemand sollte sie eigentlich zu dieser Nachtzeit benutzen, vor allem nicht, ohne daß er, Jimmy, davon wußte. Hastig verstaute er seine Flasche, schob die Büchse in seine Armbeuge und hob die Lampe auf. Man hatte ihn angewiesen, sich nicht persönlich auf einen Kampf mit Wilderern einzulassen, denn in letzter Zeit hatte es einige häßliche Vorfälle in den Highlands gegeben, sogar ein paar Todesfälle. Falls er aber nah genug heran kommen könnte, ohne gesehen zu werden, würde er vielleicht durch das Zielfernrohr seiner Büchse einen besseren Blick auf die Übeltäter der heutigen Nacht bekommen. Der Schnee unter seinen Füßen war knöcheltief und pulvrig. Jimmy schlurfte mehr durch ihn hindurch als daß er auf ihm ging, damit er sich nicht verriet, und begann sich seinen Weg auf den Ursprung des Geräusches hin zu bahnen, wobei er die Deckung der schneebeladenen Bäume ausnutzte. Er hatte den Hang halb erklommen, als ein leises, singsangartiges Wehklagen durch den Wald klang. Er blieb sofort stehen. Als die Echos verklungen waren, begann ein dünner, flüsternder Chorgesang. Zischend stieg und fiel das Gewisper in der Dunkelheit mit der unheimlichen Modulation eines Sprechgesangs. Bei diesem Klang bekam Jimmy eine Gänsehaut. Einen Augenblick lang stand er wie angewurzelt und war unfähig, sich zu bewegen. Dann faßte er sein Gewehr fester und zwang sich weiter zu -75-
gehen. Ein trüber roter Schein wurde zwischen den Bäumen vor ihm sichtbar. Fast unwillkürlich kriechend, kam Jimmy auf dem Kamm des Hügels an und blickte in ein kleines, enges Tal hinab, das sich plötzlich auf seltsame Weise verändert hatte, obwohl er es sein ganzes Leben gekannt hatte. Etwa ein Dutzend Gestalten in weißen Gewändern mit Kapuzen standen in einem Kreis um eine Lichtung. In deren Mitte, auf dem flachen grauen Felsen, der in Jimmys Jugend oft als Picknickplatz gedient hatte, stand für sich allein eine weitere Gestalt in weißer Robe. Den mit einer Kapuze bekleideten Kopf zurückgeworfen, die Arme erhoben, blickte sie auf eine andere, kniende Gestalt am Rande des Steins, deren gesenkter grauhaariger Kopf unbedeckt war. Düsterrote Feuer brannten an den vier Himmelsrichtungen des Kreises und schickten unheilverkündende Spiralen eines schweren, schwarzen Rauchs zum Himmel. Das Geflacker der Flammen warf unheimliche Schatten auf den knienden Mann. Als Jimmy genauer hinschaute, erkannte er, daß ihm die Hände hinter dem Rücken gebunden waren. Und während Jimmy noch entsetzt, wie hypnotisiert, auf die Szene starrte, die sich ihm da bot, brach der Gesang jäh ab. Der alte Mann hatte keinen Widerstand geleistet, als die Männer, die ihn gefangen hatten, ihn den Hang hinauf durch den frisch gefallenen Schnee schleiften. Und er hätte sich auch gar nicht wehren können. Dafür hatten die anderen gesorgt. Von dem Augenblick an, da sie ihn gepackt hatten - von hinten, mit einem chloroformgetränkten Lappen, den sie ihm auf Mund und Nase hielten -, war ihre Herrschaft über ihn vollkommen gewesen. Er wußte nicht einmal, wie lange sie ihn schon gefangen gehalten hatten, denn sie hatten ihm nie erlaubt, sich ganz von den Wirkungen des Chloroforms zu erholen. Eine Folge von Injektionen ließ ihn immer wieder bewußtlos werden. Er erinnerte sich daran, daß man ihn genügend wachgerüttelt hatte, damit er einmal oder zweimal hatte auf die Toilette gehen -76-
können, und er erinnerte sich an eine Art Mahlzeit ein paar Stunden zuvor - ein altbackenes, nach Hafermehl schmeckendes Brötchen und ein Glas mit einem herben Rotwein -, aber sonst an kaum etwas. Kurz nach dem Essen hatte es eine weitere Injektion gegeben, unmittelbar bevor sie ihn in den fensterlosen Fond eines großen Autos verfrachtet hatten; dann kam eine lange Fahrt, bei der er auf dem Boden liegen mußte, bedeckt mit einer Reisedecke mit Tartan-Muster. Trotz seiner Bemühungen wachzubleiben und zu sehen, wohin man ihn brachte, war er die meiste Zeit eingenickt, und seine flüchtigen Träume waren voller beklemmender Bilder gewesen. Als man ihn aus dem Auto gehoben hatte, war er aufgewacht. Er war wacklig auf den Beinen und verspürte Brechreiz. In seinem Kopf pochte es von den Drogen und der Angst. Man hatte irgendwo unter Bäumen geparkt - ein verwirrendes Labyrinth von verheddertem Immergrün, dessen Duft herb in der frostigen Nachtluft hing. Er hatte keine Ahnung, wo er war oder was man mit ihm vorhatte. Er wußte nur, daß sein Leben in tödlicher Gefahr schwebte, und daß er machtlos war, sich dagegen zu wehren. Als die Männer mit ihm aus dem Auto ausgestiegen waren er meinte, es sei noch ein zweiter Wagen da, direkt hinter dem ersten geparkt -, bestand die einzige Beleuchtung aus den Taschenlampen, die die beiden Männer vorn und hinten trugen, um den Weg für den Rest der Gruppe zu erhellen. Der alte Mann vermutete, daß sie aus etwa einem Dutzend Leute bestand, aber er war sich nicht sicher. Sie bewegten sich zu schnell und waren alle gleich gekleidet, anonym in langen weißen Roben, die wie Gewänder einer seltsamen Priesterschaft aussahen, und hatten die Kapuzen tief in ihre Gesichter gezogen. Er hatte seine Entführer nie deutlich gesehen - seine Aufpasser hatten wollene Kopfschützer getragen -, und sich so keines der Gesichter einprägen können. Das weckte in ihm eine gewisse Hoffnung, -77-
daß sie ihn am Ende freilassen würden, denn er konnte gewiß keinen von ihnen identifizieren. Am meisten beunruhigte ihn, daß sie auch ihm eine der weißen Roben angezogen hatten. Sie mußten es während der langen Fahrt getan haben, als er immer wieder in den drogeninduzierten Schlaf fiel. Im Augenblick war er in einen Überzieher gehüllt, den er über dem weißen Gewand trug. Seine bloßen Füße staken in Gummistiefeln, die einige Nummern zu groß für ihn waren, aber er spürte, daß sie ihm unter der Robe nichts anderes angelassen hatten. Selbst sein von den Drogen geschwächter Verstand sagte ihm, daß dies nichts Gutes bedeutete, selbst wenn er ihre Gesichter nicht gesehen hatte. Sie hatten ihm seine Brille abgenommen. Seine Augen ließen sich wegen der Drogen ohnehin nicht richtig fokussieren, doch als er mit getrübtem Blick nach vorne schaute, sah er, daß sie sich dem Gipfel eines Hügels näherten. Die eisernen Hände, die seine Ellbogen gepackt hielten, stießen ihn vorwärts, hinauf und über den Hügelkamm hinweg. Dann ging es hinunter in ein kleines, enges, von Bäumen gesäumtes Tal. Zum Himmel hin offen, war die Lichtung in Weiß gehüllt, bis auf einen flachen grauen Felsen in der Mitte, der etwa die Größe eines Autos hatte. Die Luft wirkte eisig, es war grabesstill, und seine geisterhaften Begleiter sprachen kein Wort. Die Angst packte ihn wie ein Schraubstock. Er stieß einen Schrei aus und versuchte sich loszureißen. Seinen Aufpassern schien das nichts auszumachen, sie wurden leicht mit seinem Gezappel fertig und schoben ihn zwischen den Bäumen hindurch in die Mitte der Lichtung. Dort nahmen ihm grobe Hände den Überzieher ab und zwangen ihm die bloßen, halberfrorenen Hände auf den Rücken, wo sie sie mit einer dünnen Kordel fesselten, während andere ihm die Stiefel auszogen, erst den einen, dann den anderen. Der eisige Schock des Schnees unter seinen Füßen entlockte ihm einen Laut des Erschreckens, die Kordel grub sich grausam in seine -78-
Handgelenke. Er schluckte ein Schluchzen des Schmerzes und der Verwirrung hinunter, während man ihn zwang, sich in den Schnee zu knien, unmittelbar am Rand des riesigen, glatten Steins. Zwei standen neben ihm, um sicher zu stellen, daß er dort blieb. Der Schnee ließ seine Beine von den Knien abwärts gefühllos werden, drang naß durch das dünne Gewand, ließ sein Blut fast gefrieren und betäubte den geringen Rest von Verstand, der ihm noch geblieben war. Mit stumpfen Augen und zunehmender Trägheit beobachtete er, wie seine Entführer auf dem schneebedeckten Boden der Lichtung einen weiten Kreis aus Asche zogen. Flammen loderten rot und golden in der Dunkelheit auf, als an den vier Himmelsrichtungen des Kreises kleine Feuer entzündet wurden, jedes versorgt von einem der weißgekleideten Männer. Auf ein Signal von einem anderen hin, der ihr Anführer zu sein schien, warf jeder der vier eine Handvoll Pulver auf sein Feuer. Es loderte hoch wie Schießpulver, dunkle, ungesunde Rauchschwaden stiegen auf und schlängelten sich langsam in Spiralen empor. Der Geruch des Rauches war widerwärtig süß, schwer wie Opium, und stach in die Nasenlöcher. Der alte Mann zitterte, nun vor Schrecken statt vor Kälte, denn die mutmaßlichen Absichten seiner Entführer bekamen plötzlich eine neue Bedrohlichkeit. Als seine beiden Aufpasser etwas zurücktraten und ihr Anführer gebieterisch auf den flachen Felsen stieg, unternahm der alte Mann einen letzten, tapferen Versuch sich hochzurappeln, doch seine durchfrorenen Beine verweigerten ihm den Dienst. Dadurch verlor er fast das Gleichgewicht und wäre beinahe umgekippt. Er schwankte unsicher auf gefühllosen Knien, bis einer seiner Aufpasser sich vorbeugte und ihn einen Augenblick lang stützte. Als der Mann sich wieder zurückzog, hob der Anführer beide Arme über den Kopf und intonierte eine kehlige -79-
Anrufung in einer Sprache voller rollender Konsonanten und liquider Vokale, die ihm irgendwie bekannt vorkam, aber er konnte sie nicht einordnen. Die anderen Mitglieder des Kreises schlossen sich ihrem Anführer an. Ihre leisen Stimmen klangen bedrohlich in die eiskalte Nacht. Die Anrufung ging in einen gutturalen Gesang über, der so hart klang wie Stein auf Stein. Der stinkende Rauch der Feuer drang in die Nase des alten Mannes. An Geist und Körper wie gelähmt, schwankte er am Rande einer Ohnmacht. Der Gesang stieg zu einem plötzlichen, scharfen Crescendo an, dann brach er ab. Der Anführer kreuzte die Arme über der Brust und verbeugte sich tief aus der Hüfte, dann zog er etwas Dunkles und Metallisches unter seinem Gewand hervor, trat zu dem alten Mann, kniete würdevoll vor ihm nieder und reichte ihm den Gegenstand auf den ausgestreckten Händen, damit der Alte ihn betrachten konnte. Es handelte sich um einen Torques aus geschwärztem Metall, in den mit Silber altertümliche Muster eingelegt waren und der mit gelbbraunen Edelsteinen besetzt war. Der alte Mann starrte mit schierem Unverständnis darauf und schreckte zurück, als von beiden Seiten seine Oberarme gepackt wurden und weitere Hände seinen Kopf ergriffen. Eine Hand wölbte sich über seinen Mund und seine Nase, ein scharfer Geruch von Salmiakgeist machte plötzlich seinen Kopf klar. Mit einem Mal wußte er genau, was ihm bevorstand. Dann bewegte sich eine weitere Hand in der Dunkelheit und sauste von hinten auf den alten Mann nieder. Schmerz explodierte in seinem Hinterkopf, doch sein wacheres Bewußtsein blieb noch ein paar Herzschläge länger - genau bis zum dem Augenblick, als der Atem ihm plötzlich in der Kehle steckenblieb und heißes Feuer unter seinem rechten Ohr brannte. Jimmy, der dies inzwischen zitternd durch das Zielfernrohr seiner Büchse beobachtet hatte, unterdrückte einen Laut des -80-
Entsetzens, als Metall aufblitzte, plötzlich helles Blut aus dem Hals des alten Mannes hervorspritzte und sich in großen, dampfenden Stößen auf den Gegenstand ergoß, den der andere Kniende in den ausgestreckten Händen hielt. Der Körper des alten Mannes zuckte krampfhaft, der Mund war in stummer Qual weit aufgerissen, der Rücken krümmte sich gegen den Griff seiner Entführer, doch keiner zeigte Erbarmen mit ihm. Binnen Sekunden hatte das Blut, dunkelrot im Feuerschein, sein Gewand durchtränkt und die Männer, die ihn hielten, sowie den Schnee um ihn herum besudelt. Sein Zappeln ließ allmählich nach, zusammen mit dem Blut verrann seine Kraft. Fast ebenso unfähig sich zu bewegen wie das Opfer, starrte Jimmy weiterhin entsetzt auf das Blut, das über die ausgestreckten Hände des anderen Knienden floß, an seinen Armen hinabrann und von dem dunklen, metallischen Gegenstand tropfte, den der Mann schließlich triumphierend emporhob, während seine Helfershelfer den leblosen Körper des alten Mannes in den blutdurchtränkten Schnee sacken ließen. Die völlige Herzlosigkeit der Szene brach endlich den Bann und entließ Jimmy aus seiner entsetzten Starre. Empört wie auch erschrocken, versuchte er zitternd eine Kugel in die Patronenkammer zu schieben. Zu seinem Entsetzen blockierte der Mechanismus knirschend in seinen bebenden Händen. Das Geräusch klang fast so laut wie ein Gewehrschuß. Unten in der Mulde erstarrten die weißgekleideten Gestalten, verhüllte Gesichter wandten sich um und suchten die Bäume ab, die die Lichtung umgaben. Auf eine kurze Geste von ihrem Anführer hin lösten sich drei der Kapuzenträger und gingen in Jimmys Richtung los, wobei sie fächerförmig ausschwärmten. Erschrocken ließ sich Jimmy flach auf den Boden fallen und begann sich so schnell, wie es nur ging, ohne sich zu verraten, rückwärts zu schlängeln, wobei er seine Büchse mit sich schleifte und darum betete, daß man ihn nicht entdeckte. Erst als er unten den Wildwechsel erreichte, sprang er hoch und nahm -81-
die Beine unter den Arm wie ein Mann, der um sein Leben rannte. Kapitel 6 Der Sonntagsnachtfilm der BBC, ›Der Seefalke‹ , ein Schwarzweißklassiker aus dem Jahr 1940 mit Errol Flynn, Claude Rains und einer Menge anderer, endete kurz nach zwei Uhr morgens. Detective Chief Inspector Noel McLeod von der Lothian and Borders Police in Edinburgh wartete, versunken in die heroische Filmmusik von Korngold, bis der ganze Abspann über den Bildschirm gerollt war, dann drückte er den Abschaltknopf der Fernbedienung und dachte dabei mit Nostalgie, daß die alten Filme immer noch zu den besten gehörten. Neben ihm auf der Couch waren sein Frau und die Katze des Hauses schon längst eingeschlafen. Lächelnd erinnerte er sich daran, wie Jane sich zuvor am Abend loyal bereit erklärt hatte, aufzubleiben und ihm Gesellschaft zu leisten, um dann doch nur während eines der romantischen Zwischenspiele zwischen einer Seeschlacht und einem Schwertkampf einzuschlafen. Die große graue, getigerte Katze auf ihrem Schoß neigte dazu, immer zu dösen, wenn ein Schoß dafür vorhanden war. Im Gegensatz zu den beiden fühlte sich McLeod hellwach, sein Geist war seltsam ruhelos. Im Laufe des Abends hatte er versucht, in dem einen oder anderen seiner Hobbys Ablenkung zu finden; zuerst hatte er vorgehabt, die neueste aus seiner Sammlung von Lockenten zu bemalen - Dutzende davon standen auf den verglasten Kranzleisten über den Wohnzimmerfenstern, was es Jane zumindest ersparte, sie regelmäßig abzustauben. Dann hatte er sich der weniger schwierigen Kunst des Origami zugewandt, dem japanischen Zeitvertreib dekorativen Papierfaltens. Er hatte die Grundzüge der Origami-Technik von einem -82-
japanischen Polizeikollegen gelernt, den er kennengelernt hatte, als sie beide an einem Kurs an der vom FBI gesponserten National Academy in Quantico (Virginia) teilgenommen hatten. Seit jener Zeit hatte sich McLeod zu einem geschickten Praktiker dieser Kunst entwickelt. Aber an diesem Abend war es nicht einmal den lockenden Kompliziertheiten des Origami gelungen, seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Der Kaffeetisch war mit dünnen, leuchtend bunten Stücken von Reispapier übersät, die er - nur halbvollendet hatte aufgeben müssen, während seine Zerstreutheit die Oberhand gewonnen hatte. Irgend etwas hatte ihm seit der Teestunde keine Ruhe gelassen, ohne daß er es hätte benennen können. Er überlegte gerade, ob er vors Haus gehen und etwas Luft schnappen sollte, als das Telefon läutete. Jane erwachte bei dem Geräusch und scheuchte damit die Katze auf, die protestierend miaute. McLeod beugte sich über sie hinweg und bekam den Hörer mitten im Klingeln zu fassen. Er fragte sich, welche Krise bei der Polizei ihm um diese Zeit Kopfzerbrechen bereiten sollte. »Edinburgh 7978, hier McLeod«, meldete er sich schroff. »Inspector McLeod?« Die männliche Stimme am anderen Ende der Leitung klang trotz der späten Stunde hellwach, was McLeods Verdacht zu bestätigen schien, daß es sich um einen offiziellen Anruf handelte. Allerdings erkannte er den Sprecher nicht. »Aye«, knurrte er. »Mit wem spreche ich?« »Hier ist Sergeant Callum Kirkpatrick von der Polizeiwache in Blairgowrie«, erklärte die Stimme forsch. »Sie erinnern sich vielleicht nicht an mich, Inspector, aber ich gehöre auch zur Loge von Huntingtower, bei Perth. Wir sind uns letztes Jahr bei einer Sitzung des Generalrats begegnet. Es tut mir leid, daß ich Sie zu dieser Nachtzeit stören muß, Bruder McLeod, aber wir glauben, daß wir hier ein Problem haben, und wir brauchen -83-
jemanden mit Ihrer Erfahrung, um uns zu beraten, wie wir weiter vorgehen sollen.« Kirkpatricks kurze Erwähnung ihrer Begegnung hatte McLeods Gedächtnis auf die Sprünge geholfen, und jetzt fiel ihm ein, daß er einem Police Sergeant dieses Namens aus Huntingtower vorgestellt worden war ein ziemlich netter Kerl, wie er sich erinnerte: belesen und sehr professionell, ein Liebhaber amerikanischer Cowboyfilme und ein Meisterschütze, mit der Pistole wie mit dem Gewehr, dazu ein Mitglied des Tayside-Teams bei der Polizeiolympiade. Daß Kirkpatrick sich an ihn sowohl in seiner Eigenschaft als Freimaurer-Bruder wie auch als Polizeikollege wandte, jagte eine kribbelnde Vorahnung durch McLeods Nerven. Da er selbst schon fast seit seiner Volljährigkeit Freimaurer war, wußte McLeod wohl, daß Kirkpatrick den Bund der Brüderschaft nicht ohne guten Grund ansprechen würde. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Bruder Kirkpatrick«, erwiderte er und nahm seinen professionellen Tonfall an. »Erzählen Sie mir einfach, was passiert ist.« Am anderen Ende der Leitung folgte ein kurzes Schweigen, als wäre Kirkpatrick sich nicht ganz sicher, wie er beginnen solle. Dann sprudelte es aus ihm hervor. »Wir haben hier auf der Wache einen Mann namens McArdle, er arbeitet als Wildhüter auf dem Gut von Baltierny. Er schwört - und das klingt jetzt etwas verrückt -, aber er schwört, er habe oben mitten im Wald von Baltierny eine Art Menschenopfer beobachtet. Schwarze Magie, sagt er.« Kirkpatricks Stimme verstummte fast entschuldigend, und McLeod holte tief Luft und atmete langsam aus. »Das ist wirklich eine ziemlich spektakuläre Behauptung«, sagte er zurückhaltend und fragte sich dabei, ob es das gewesen war, was ihn den ganzen Abend in Spannung gehalten hatte. »Haben Sie seine Geschichte schon überprüft?« -84-
»Noch nicht«, gab Kirkpatrick zu, und es klang verlegen. »Die Gegend ist schrecklich zerklüftet, und deshalb scheint es nicht zweckmäßig, vor dem Morgengrauen etwas zu unternehmen. Ich sollte an dieser Stelle sagen, daß ich McArdle gewöhnlich für einen zuverlässigen Zeugen halten würde. Er arbeitet schon mehr als vierzig Jahre für Lord Baltierny und ist seit zwanzig Jahren Oberwildhüter. In der Stadt ist er sehr geachtet. Als McArdle heute nacht jedoch hier ankam, roch er stark nach Alkohol«, fuhr Kirkpatrick fort. »Der diensthabende Beamte ist neu in Blairgowrie und kannte McArdle nicht. Er dachte, der Mann rede wahrscheinlich im Suff, und er riet ihm, er solle heimgehen und sich ausschlafen. Doch McArdle war damit nicht einverstanden - er bestand weiter darauf, daß er gesehen habe, was er gesehen hatte, und sich nur danach einen kleinen Schluck genehmigt habe, um seine Nerven zu beruhigen, bevor er zur Wache kam und Meldung machte. Er schien so aufgeregt, daß der Diensthabende schließlich einverstanden war, einen Atemtest an ihm zu machen.« »Und?« fragte McLeod, als der andere nicht sofort weiterredete. »Tja, es wurde überhaupt nichts angezeigt, dem Alkoholtestgerät zufolge war er stocknüchtern.« »Ich verstehe«, murmelte McLeod. »Da rief dann der Diensthabende mich an«, fuhr Kirkpatrick fort. »Er erzählte mir am Telefon, was da behauptet wurde und von wem, und ich ließ es McArdle zweimal wiederholen, nachdem ich hier eingetroffen war.« Er seufzte. »Inspector, ich kenne Jimmy McArdle jetzt seit fast zehn Jahren, und ich glaube nicht, daß er lügt. Aber wenn er recht hat - wenn irgendwo dort draußen in seinem Revier eine schwarzmagische Tötung stattgefunden hat -, dann sind wir hier in Blairgowrie ganz sicher nicht darauf vorbereitet, solch einen -85-
Fall zu behandeln. Einbrecher sind mehr unser Fall, und Rowdys in Pubs, auch noch Wilderer, aber nicht Mörder - und besonders keine Spinner, die schwarze Magie betreiben. Ich erinnerte mich daran, daß mir jemand sagte, Sie seien derjenige, der bei der Lothian and Borders Police im allgemeinen solche Fälle bearbeitet. Deshalb hielt ich es für einen guten Gedanken, Sie anzurufen, anstatt das Risiko einzugehen, den Fall falsch anzupacken.« »Das weiß ich zu schätzen, Sergeant«, erklärte McLeod, »doch bevor ich Ihnen Ratschläge erteile, brauchte ich etwas mehr Informationen. Weshalb war Ihr Zeuge so sicher, daß es sich bei dem, was er gesehen hat, um eine Art okkultes Ritual handelt?« »Er sagt, die Täter hätten alle weiße Gewänder getragen und Kapuzen ins Gesicht gezogen gehabt. Er behauptet, er hätte sie eine Art Singsang über das Opfer murmeln hören, bevor sie den Mann niedermachten«, berichtete Kirkpatrick und fügte dann zweifelnd hinzu: »Vermutlich ist alles auch nur irgendein Streich - ein Studentenulk oder so etwas.« »Aye, vielleicht«, sagte McLeod, »aber ich glaube nicht, daß wir das annehmen sollten. Ihr Zeuge klingt zuverlässig. Vielleicht sollte ich selbst mal nach Blairgowrie hoch kommen.« »Ich hatte gehofft, daß Sie das sagen würden«, erklärte Kirkpatrick offen, »und ich wäre Ihnen schrecklich dankbar, wenn Sie kämen. Ich alarmiere Sie nur ungern in einer solchen Nacht, aber - wie schnell könnten Sie hier sein?« »Ich werde versuchen, innerhalb der nächsten halben Stunde abzufahren«, sagte McLeod. »Wie ist der Straßenzustand?« »Seit gestern abend acht Uhr sind gut zehn bis zwölf Zentimeter Schnee gefallen, aber die Hauptstraßen sind alle befahrbar. Wir haben hier Fahrzeuge mit Vierradantrieb, mit denen wir an den Tatort fahren können, sobald Sie hier sind. Gibt es etwas, was wir in der Zwischenzeit tun sollten, bis Sie -86-
eintreffen?« McLeod runzelte finster die Stirn. »Versuchen Sie bloß zu verhindern, daß die Presse Wind von der Sache bekommt, bis wir wissen, womit wir es dort zu tun haben«, sagte er. »Vermutlich haben Sie dort oben niemanden mit Ausbildung in Mordermittlungen?« »Ich fürchte, nein, Inspector.« »Nun, das macht nichts. Damit befassen wir uns, sobald - und falls - es sich als notwendig erweist. Wenn Ihr Zeuge mit seinen Aussagen recht hat«, fuhr er grimmig fort, »dann wird keine Notwendigkeit bestehen, sich zu beeilen, was das Opfer angeht. Und die Täter selbst werden längst verschwunden sein.« Er überlegte noch einen Augenblick. »Da gibt es jemanden, den ich gerne mitbringen würde, falls er erreichbar ist - einen Freund von mir, einen Psychiater mit großer Menge im Umgang mit solchen Fällen. Genaugenommen ist er der Mann, den ich anrufe, wenn ich einen Experten brauche. Ich habe mit ihm schon oft zusammen gearbeitet und schätze seine Meinung.« »Wenn Sie meinen, daß er uns helfen kann«, sagte Kirkpatrick, »dann werde ich Ihnen nicht widersprechen.« »Ich muß zuerst mit ihm Kontakt aufnehmen - aber das ist mein Problem, nicht das Ihre«, erklärte McLeod. »So oder so, wenn Gott will, dürfte ich in etwa drei Stunden bei Ihnen in Blairgowrie sein. Bis dann!« Damit legte er auf und wandte sich seiner Frau zu. Jane saß ruhig auf der Couch und streichelte zerstreut die Katze. Sie zog eine ihrer rötlichen Augenbrauen hoch und hatte einen Ausdruck geduldiger Resignation im Gesicht. »Sag mir nichts«, bemerkte sie. »Du mußt hinaus. Soll ich dir eine Thermosflasche mit Kaffee machen?« »Aye«, erwiderte McLeod kleinlaut, »das wäre sicher gut.« Er beugte sich zu ihr hinüber, drückte ihr zärtlich die Schultern und -87-
fügte dann im breiten Scots hinzu: »Ach, du bist eine brave kleine Polizistin, Janie, mein Mädel. Ich verspreche dir, daß ich es bei dir wieder wettmache, wenn ich zurück bin.« »Das wirst du wohl, Noel McLeod«, pflichtete sie ihm etwas streng bei. Aber ihre dunklen Augen funkelten. McLeod hielt sie noch einen Augenblick länger, bevor er sich von ihr losriß. Als sie aufstand und in die Küche ging - die Katze folgte ihr dabei auf den Fersen -, nahm er wieder den Telefonhörer auf und wählte die Nummer von Strathmourne House. Während Inspector Noel McLeod am Telefon mit Sergeant Kirkpatrick die Möglichkeit eines Mordes im Rahmen okkulter Praktiken erörterte, war Adam Sinclair Gastgeber eines formellen Dinners für einige Dutzend seiner Mitmäzene der Societas Musica Escotia, einer gesellschaftlichen Organisation, die sich der Würdigung und der Unterstützung der musikalischen Künste in Schottland widmete. Es war eine Einladung, bei der Gesellschaftskleidung erwünscht war. Die meisten Männer hatten Highland-Tracht oder zumindest Westen mit Tartan-Muster an, und die Frauen trugen alle Abendkleider, viele von ihnen mit bunten Tartan-Schärpen und anderen Accessoires. Im Laufe des langen, reichhaltigen Abends hatten die Gäste ein ausgezeichnetes Dinner zu sich genommen, bei dem es solche schottischen kulinarischen Köstlichkeiten gab wie pochierten Wildlachs, gebratenen Fasan in Hafergrütze und Creme Auld Alliance, eine süße, schwere Mischung aus Heidekrauthonig, Whisky und Sahne. Jetzt wurden sie vom Vorsitzenden der Gesellschaft in den Salon gescheucht, wo es Kaffee und musikalische Unterhaltung geben sollte, wobei für letztere, wie es üblich war, von Freiwilligen aus dem Kreis der Mitglieder gesorgt wurde. Das eine Ende des Raums mit der gebogenen Stirnseite hatte man notdürftig als Bühne eingerichtet, und einige der Gäste waren noch mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt, während der Rest hereinströmte und im Zuhörerbereich Platz nahm, Adam in -88-
ihrer Mitte. Während sich die letzten paar Nachzügler niederließen, beugte sich Lady Janet Fräser auf ihrem Platz vor und legte eine schlanke, mit Juwelen geschmückte Hand liebevoll auf Adams Schulter. »Mein lieber Adam, du gibst wirklich die vorzüglichsten Dinnerpartys!« murmelte sie. »Wahre Gastfreundschaft gilt doch gewiß als eine Kunstform, meinst du nicht auch, Caroline?« Die Frage war an die sylphengleiche blonde Frau gerichtet, die neben Adam saß. Lady Caroline Campbell antwortete mit einem Klimpern ihrer langen, fein getönten Wimpern. »Wirklich«, sagte sie mit einem schelmischen Blick in Adams Richtung, »ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie das schaffen. Es muß sehr schwer sein, wenn Sie außer Humphrey niemanden haben, der Ihnen bei den Vorbereitungen hilft.« Die kalkulierte Koketterie dieser Bemerkung ließ Adam innerlich zusammenzucken. Nach einem Abend, den er in der Gesellschaft von Lady Caroline verbracht hatte, wünschte er sich von Herzen, Janet wäre nicht so fest entschlossen, ihm eine Partnerin zu besorgen, so schön Lady Caroline sicherlich auch war. Sie hatte eine Haut wie weißes Porzellan, die Figur einer Ballerina, und die Smaragde an ihrem milchweißen Hals waren nur eine Nuance blasser als das Couturier-Kleid aus flaschengrünem Samt - und kosteten wahrscheinlich soviel, daß man dafür das Dach des ganzen Ostflügels von Strathmourne House hätte neu decken können. Trotz all ihrer körperlichen Schönheit klang jedoch in ihrem Gelächter eine Schrillheit und sogar Verzweiflung an, die ihm sagte, daß sie sich um seinetwillen dazu zwang - und nicht einfach aus einem Verlangen zu gefallen. Das war eine Reaktion, auf die er nur allzu häufig stieß. Ihm konnte kaum entgehen, daß er auf dem Heiratsmarkt als Hauptpreis galt. -89-
Nicht, daß er es Janet übelnahm. Sie hatte es versucht. Sie und ihr Mann Matthew waren alte und geschätzte Freunde noch aus seiner Kinderzeit, die in ihren Interessen und Neigungen ideal zusammenpaßten, und da sie in ihrer eigenen Ehe eine solche Erfüllung erfahren hatte, war es ein brennender Ehrgeiz in Janet Fräsers Leben, Adam zu helfen, daß er eine ähnlich passende Braut fand. Aber es begann ihn zu ermüden, Lady Carolines verbales Katz und-Maus-Spiel mit zu spielen. Selbst als er ihren jüngsten Geistesblitz höflich erwiderte, war er in seinem Inneren dankbar dafür, daß in Kürze die Musik der Konversation ein Ende bereiten würde. Die Nordwestecke des Salons dominierte ein Cembalo, das Adams Großmutter gehört hatte. Es war ein schönes Instrument, das honigfarbene Holz des Resonanzkastens war mit einem Flechtwerk aus Blattgold überzogen. Rechts davon waren einige Stühle in einem Halbkreis aufgestellt, jeder mit einem Notenständer. Im Hintergrund stand auf dem Boden eine keltische Harfe, die noch mit ihrer grünen Samthülle umkleidet war. Ein Schatten fiel über Adam Schulter. Er blickte zur Seite und sah, daß Peregrine Lovat sich neben ihm niederkauerte. Der junge Künstler machte ein schiefes Gesieht und hielt sich mit einer Hand an der Rückenlehne von Adams Stuhl fest. »Du lieber Himmel, Adam, seit meiner Schulzeit habe ich nicht mehr in der Öffentlichkeit gespielt«, stöhnte er und lockerte die Frackschleife über seinem eleganten Stehkragen. »Ich weiß nicht, warum ich mich von Julia dazu habe überreden lassen!« Adam mußte über Peregrine lächeln, sein Blick wanderte durch den Raum und blieb an einer schlanken, mädchenhaften Gestalt in einem Abendkleid aus weißem Satin mit TartanSchleifen auf den Schultern und Tartan-Bändern in den -90-
aufgesteckten Flechten aus rotgoldenem Haar hängen. Peregrine hatte Julia Barrett vor kaum mehr als einem Monat kennengelernt, und seitdem war ihre Beziehung erblüht - noch ein weiterer Wandel von dem steifen, niedergeschlagenen jungen Mann, an den er sich von ihrer ersten Begegnung her erinnerte. »Denken Sie einfach daran, daß dies eine Gesellschaft von Musikliebhabern und keine Versammlung von Kritikern ist«, sprach ihm Adam zu. »Entspannen Sie sich und denken Sie daran, daß Sie sich unter Freunden befinden.« Peregrine rollte mit den Augen, aber er ging doch auf die Bühne, setzte sich ans Cembalo und ordnete die Falten seines Kilts mit einer unbewußten Nonchalance, die noch vor zwei Monaten nicht möglich gewesen wäre. Einen Augenblick später gesellte sich Julia zu ihm, begleitet von ihrem Onkel, Sir Alfred Barrett, einem kräftigen distinguierten Mann in Gesellschaftskleidung statt im Kilt, mit funkelnden blauen Augen über einem üppigen silbernen Schnurrbart. »Liebe Freunde und Kollegen«, begann Sir Alfred mit gespielter Förmlichkeit, »als Senior in unserem Trio wurde ich dazu bestimmt, Sie alle darüber in Kenntnis zu setzen, daß wir in unserem Teil des Programms ausgewählte Stücke aus dem Notenbuch der Anna Magdalena Bach spielen werden. Bevor wir beginnen, möchte ich Ihnen versichern, daß wir jede Anstrengung unternehmen werden, um uns an die vor uns liegenden Noten zu halten.« Diese spaßige Zusicherung löste im ganzen Raum leises Gelächter aus. Mit einem humorvollen Gruß an seine Freunde im Publikum setzte sich Sir Alfred auf einen Stuhl gegen über dem Cembalo und nahm sein Instrument auf: ein italienisches Cello aus der Werkstatt eines Schülers von Stradivari. Mit einem verstohlenen Lächeln in Peregrines Richtung blieb Julia vorn auf der improvisierten Bühne stehen. Sie hatte nur einen Notenständer vor sich, auf dem sie ein schwarzgebundenes Buch -91-
mit Notenblättern aufklappte. Erwartungsvolle Stille legte sich über die Zuhörer, als die Mitglieder des Trios Haltung annahmen, um zu beginnen. Die drei Lieder, die sie ausgewählt hatten, gehörten zu Adams Lieblingsstücken. Das präzise Spieldosengeklimper des Cembalos und die weichen Klänge des Cellos lieferten einen zarten Kontrapunkt zu Julias beschwingtem Sopran, einer Stimme so hell und so rein wie die eines Knaben. Kein Mitglied dieses Trios zeigte Unsicherheit. Als sie geendet hatten, löste ihre Darbietung einen begeisterten Beifall aus. »So, Janet«, sagte Sir Matthew Fräser, als der Applaus sich legte und die Musiker begannen, Requisiten auf der Bühne um zu stellen. »Es sieht so aus, als wären jetzt du und Caroline dran.« Er und Adam standen auf, als die Damen sich mit Noten in den Händen erhoben und auf den Weg nach vorn machten. Caroline blickte mit hübsch gerunzelter Stirn auf die Bühne, wo Peregrine Julia half, die Harfe an ihren Platz zu schieben. »Ich hoffe doch, dieses Kind hat etwas Erfahrung als Begleitung«, bemerkte sie - ebenso aus Neid wie aus Besorgnis, vermutete der Psychiater in Adam. »Wenn sie der führenden Stimme nicht richtig folgt, dann wird das die Wirkung völlig verderben.« »Keine Angst!« lachte Janet. »Ich habe Julia schon spielen hören, und ich versichere dir, ich vertraue vollkommen auf ihr Können.« Von einem Blick auf die Notenblätter auf Janets und Carolines Schoß wußte Adam, daß die beiden Frauen beschlossen hatten, eine Serie von Duetten, Vertonungen von Gedichten von Robert Burns, darzubieten. Doch obwohl er persönlich die Werke des großen schottischen Dichters sehr mochte, bereitete ihm das erste Lied eine gewisse Enttäuschung. Janet, die sich kaum Illusionen über das bescheidene Ausmaß -92-
ihres Talents hingab, machte ihre Sache recht bemerkenswert, ihre echte Freude an der Musik verlieh ihrem Gesang einen gewissen Glanz. Caroline hingegen schien entschlossen, die Noten zu attackieren, und sie sang die Sopranstimme mit mehr Aggression als Stil. Adam rief sich die lyrische Frische von Julia Barretts klarer Stimme in Erinnerung und verzog das Gesicht bei dem Vergleich. Er wappnete sich gerade dafür, auch den Rest dieser Darbietung auszusitzen, als er spürte, wie ihn jemand respektvoll am Ärmel berührte. »Verzeihen Sie die Störung, Sir«, murmelte Humphrey, »aber da ist ein Anruf für Sie. Inspector McLeod ist am Apparat.« Adam verließ so unauffällig wie möglich den Salon, wobei er sich fragte, was McLeod veranlaßt haben könnte, so spät noch anzurufen. Es war schon nach zwei Uhr nachts. Er ging durch die Halle zur Bibliothek, setzte sich an den Schreibtisch und wartete darauf, daß Humphrey durchstellte. Als es läutete, hob er ab. »Hallo, Noel, hier Adam. Was ist los?« »Ich bin mir nicht ganz sicher«, ertönte McLeods rauher Baß. »Tut mir leid, daß ich Sie von Ihren Gästen weglotse, aber ich bekam soeben einen verdammt seltsamen Anruf von einem Police Sergeant namens Kirkpatrick, oben aus Blairgowrie. Vor ein paar Stunden ist einer der dortigen Wildhüter auf der Wache erschienen und hat behauptet, er habe eine Art Ritualmord beobachtet, irgendwo in der Wäldern nördlich des Guts von Baltierny.« Adam lauschte mit zunehmendem Interesse, während McLeod weiterredete und alle Einzelheiten mitteilte, die bekannt waren. »Ich habe Sergeant Kirkpatrick auf jeden Fall gesagt, daß ich nach Blairgowrie hochfahren werde und ihnen helfe, falls ich kann«, schloß McLeod. »Ich wollte Sie bitten mit zu kommen, aber ich hatte nicht daran gedacht, daß Sie ja Gäste haben. Die -93-
Sache ist seltsam genug, so daß ich dachte, Sie sollten davon wissen, aber es kann sich natürlich auch herausstellen, daß nichts dahinter steckt und die Mühe vergeblich ist.« »Ach, machen Sie sich keine Sorgen wegen der Störung«, sagte Adam. »Genaugenommen bin ich aus verschiedenen Gründen froh, daß Sie anrufen. So, wie die Dinge sich in letzter Zeit entwickelt haben, können wir es uns nicht leisten, etwas unbesehen abzutun. Ich hatte noch keine Gelegenheit, Ihnen von der seltsamen Geschichte zu erzählen, die Christopher und ich gestern in Edinburgh entdeckt haben. Im Augenblick sieht es nach einer ziemlich kalten Spur aus, aber es hatte doch den Anschein, daß unsere Luchs-Kerlchen vor ungefähr einem Jahr dort zu Werke waren.« »Wirklich?« fragte McLeod. »Vielleicht sollten Sie dann doch mit mir nach Blairgowrie fahren. Dann könnten Sie mir unterwegs von gestern erzählen.« Das Geräusch höflichen Beifalls aus der Richtung des Salons erinnerte Adam an Lady Caroline und ihre beutegierige Affektiertheit. Was immer hinter der Geschichte des Wildhüters stecken mochte, die Aussicht auf eine nächtliche Fahrt nach Blairgowrie erschien ihm doch wie eine Verheißung, frische Luft schnappen zu dürfen. »Eigentlich klingt das wie eine glänzende Idee«, sagte er entschlossen. »Meine Gäste dürften ohnehin bald nach Hause gehen. Wie schnell könnten Sie hier sein?« »In dreißig oder vierzig Minuten - vorausgesetzt, daß der Zustand der Straßen nördlich der Forth Road Bridge nicht zu schlecht ist.« »Fein«, sagte Adam. »Das läßt mir reichlich Zeit, mich umzuziehen. Wir können den Range Rover nehmen. Kommen Sie zur Garage, und Humphrey wird Sie hereinlassen.« Nach dieser Zusicherung legte er auf. Dann erteilte er Humphrey die notwendigen Anweisungen über das Haustelefon -94-
und kehrte schließlich in den Salon zurück. Julia, Janet und Lady Caroline verbeugten sich gerade, als er durch die Tür kam. Adam ging ihnen ruhig entgegen, als sie die Bühne verließen. »Ich entschuldige mich zutiefst dafür, daß ich mich gezwungen sah, das Ende eurer Darbietungen zu versäumen, meine Damen«, erklärte er ihnen. Dann wandte er sich der übrigen Gesellschaft zu, räusperte sich und rief: »Dürfte ich einen Augenblick um Ihre Aufmerksamkeit bitten?« Seine klare und tiefe Stimme drang bis in die äußersten Winkel des Raums. Als die Köpfe sich in seine Richtung drehten, breitete er vor ihnen die Hände zu einer anmutigen Geste des Bedauerns aus.. »Es tut mir leid, daß ich dieses schöne Konzert unterbrechen muß, meine Damen und Herren, doch leider hat sich etwas ereignet, das meiner beruflichen Aufmerksamkeit bedarf. Sie sind alle herzlich eingeladen, so lange zu bleiben, wie Sie wollen. Tatsächlich hoffe ich, daß Sie sich durch meine Abwesenheit nicht daran hindern lassen weiterzumachen. Gleichzeitig muß ich Sie jedoch bitten, mich zu entschuldigen.« Diese Ankündigung löste Gemurmel der Enttäuschung aus. Als er sich leicht vor seinen Gästen verbeugte und sich dann zur Tür zurückzog, gelang es ihm, Peregrines Blick von der anderen Seite des vollen Raums auf sich zu lenken. Der Künstler bestätigte die Aufforderung mit einem leichten Nicken und neigte den Kopf, um ein Wort der Erklärung in Julias Ohr zu flüstern. Einen Augenblick später schloß er sich draußen in der Halle Adam an. In seinen großen braunen Augen stand unausgesprochene Neugier. »Ich habe soeben einen Anruf von Noel McLeod bekommen«, sagte Adam und kam damit gleich zur Sache. »Die Polizei von Blairgowrie hat eine Meldung von einem Wildhüter erhalten, der sagt, er habe draußen in den Wäldern ein Menschenopfer gesehen. Noel und ich fahren hinauf nach Blairgowrie, um die -95-
Geschichte zu überprüfen. Mir kam der Gedanke, daß Sie vielleicht gerne mitkämen.« »Ein Menschenopfer!« murmelte Peregrine. »Du lieber Himmel, natürlich komme ich mit, falls Sie meinen, ich könnte dabei von Nutzen sein.« »Zu diesen Zeitpunkt kann man das noch nicht sagen«, erwiderte Adam. »Noel selbst räumte ein, daß möglicherweise auch nichts dahinter stecke. Aber wenn doch - wenn die Geschichte des Wildhüters stimmt -, dann könnten Ihre besonderen Talente sich als sehr nützlich erweisen. Ich sollte Sie jetzt allerdings warnen, daß die Spuren am Tatort alles andere als hübsch sein werden.« Er hielt erwartungsvoll inne, Peregrine straffte entschlossen die Schultern. »Wenn Sie damit versuchten, mir ein elegantes Hintertürchen offen zu lassen, so weiß ich das zu schätzen«, erklärte der Künstler ruhig. »Jedoch haben Sie mir den Eindruck vermittelt, daß ich fähig bin, einige ziemlich bedeutsame Beiträge zu Ihrer und Inspector McLeods Arbeit zu leisten - und Überempfindlichkeit ist wohl kaum eine gute Entschuldigung, wenn man versucht, sich vor der Verantwortung zu drücken. Das bedeutet nicht, daß ich nicht vielleicht ohnmächtig werde oder mich übergeben muß, wenn es eine Menge Blut gibt - Sie müssen dann halt Nachsicht mit mir üben. Aber wenn ich körperlich versagen sollte, so wird es nicht daran liegen, daß ich mich nicht nach Kräften bemühe.« Noch vor sechs Wochen hätte er eine solche Feststellung nicht getroffen. »Sie sind in Ordnung«, erwiderte Adam herzlich. »Ich hoffe, wir werden Ihren Magen nicht auf die Probe stellen müssen. Auf jeden Fall werde ich froh sein, Sie dabei zu haben. Also«, er straffte sich zu seiner vollen Größe, und seine Gedanken beschäftigten sich schon mit der praktischen Seite ihres -96-
Vorhabens, »Noel kommt von Edinburgh herüber und hofft, innerhalb der nächsten vierzig Minuten hier zu sein. Das läßt uns beiden Zeit, uns passender anzuziehen - und uns in Frieden von unseren jeweiligen Begleiterinnen zu verabschieden.« Peregrine verzog wehmütig das Gesicht. »Im Augenblick hatte ich gar nicht an Julia gedacht«, gab er zu. »Ich gehe gleich und rede mit ihr, und ich sorge dafür, daß Sir Alfred sie heimbringt...« Eine hektische halbe Stunde später befand sich Peregrine in der Diele des Torhauses und zog sich gerade schwere Stiefel an, als er hörte, daß draußen ein Auto hielt. Er zog sich schnell seinen Marine-Dufflecoat über einen schweren Pullover, dann schnappte er sich seinen Skizzenkasten und sauste hinaus, wo er Adams blauen Range Rover an den Torpfosten warten sah. Das derbe Profil des Mannes auf dem Beifahrersitz gehörte unverkennbar Noel McLeod. In seiner Fliegerbrille über dem borstigen Schnurrbart spiegelte sich das Licht von draußen. Peregrine schlug die Tür des Torhauses hinter sich zu, sprang die Stufen hinab und kroch auf den Rücksitz hinter dem Beifahrer. Auf dem Boden hinter dem Fahrersitz stand Adams Arzttasche neben einer Reißverschlußtasche aus Nylon, die auf beiden Seiten den Auftrug POLICE trug. McLeod drehte sich um und begrüßte ihn mit einem scharfen Funkeln in den Augen. »Willkommen beim Trupp, Mr. Lovat. Haben Sie und Ihr Mädel sich in Freundschaft verabschiedet?« »Mehr oder weniger«, erwiderte Peregrine und verstaute seinen Skizzenkasten auf dem Sitz oberhalb der anderen Taschen. »Sie war natürlich enttäuscht, aber ich habe ihr erklärt, daß ich einige forensische Zeichnungen für Adam angefertigt hätte und er mich gebeten habe, ihn heute nacht zu begleiten. Da schien sie nicht allzuviel dagegen zu haben.« »Das ist schon mehr, als man bei vielen anderen Frauen sagen kann«, erklärte McLeod, als sie vom Torhaus wegfuhren. -97-
»Sollten Sie jemals die Chance bekommen, Ihre Miss Barrett zu heiraten, so rate ich Ihnen: tun Sie's!« Kapitel 7 Obwohl der Verkehr den Schnee auf der Straße weggeschmolzen hatte, war die Fahrbahn immer noch glatt, als Adam den Range Rover auf der MIO nach Norden in Richtung Perth steuerte. Dann und wann rumpelte auf der Gegenfahrbahn ein Lastwagen vorüber, dessen Scheinwerfer dann Lichterkeile in die Dunkelheit stießen. Aber nur wenige Fahrzeuge waren nach Norden unterwegs. Als sie die Abzweigung zur A93 nach Blairgowrie erreichten, begann in leichten, feuchten Wirbeln wieder Schnee zu fallen, der schnell zu Schneeregen wurde. McLeod blickte finster durch das ständige Wisch und-Klapp der sich abmühenden Scheibenwischer nach vorn in die Dunkelheit. »Herrgott, was für eine üble Nacht«, brummte er. »Wenn das so weitergeht, werden wir durch Schneematsch waten, wenn wir am Tatort ankommen.« »Sie sollten lieber hoffen, daß unser Zeuge ein so guter Waldläufer ist, daß er den Tatort wiederfindet«, bemerkte Adam. »Sonst kann da noch ein Blindekuhspiel daraus werden.« »Aye, ganz zu schweigen davon, was dann aus den Spuren wird«, stimmte ihm McLeod zu. Danach sprach einige Zeit lang keiner mehr. Auf Adams Anregung hin lehnte sich Peregrine zurück und versuchte etwas zu schlafen. McLeod döste ebenfalls auf dem Beifahrersitz. Adams Kopf war klar, zum größten Teil unbeeinflußt von dem bescheidenen Quantum Wein, das er im Laufe des festlichen Abends zu sich genommen hatte. Doch gleichzeitig dachte er mit Bedauern darüber nach, daß er sich lieber dafür entschieden hätte zu fasten, als ein fünfgängiges Mahl einzunehmen, wenn er gewußt hätte, daß er zu einer Aufgabe wie dieser gerufen würde. -98-
Im Gegensatz zum behaglichen Gefühl körperlichen Wohlbefindens empfand er seine tieferen Sinne als träge. Doch er rechnete damit, daß er zu dem Zeitpunkt, da es draußen am Tatort wirklich wichtig würde, wieder zum größten Teil hergestellt wäre. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 4:53 Uhr, als er Gas wegnahm, da sie die Außenbezirke von Blairgowrie erreicht hatten. Die Drosselung des Tempos weckte McLeod aus seinem Nickerchen, er setzte sich auf und unterdrückte ein Gähnen, während er begann, nach einem Orientierungspunkt Ausschau zu halten. »Kurz bevor wir zum Stadtplatz kommen, müssen wir abbiegen«, sagte er zu Adam. »In die Leslie Street, da geht es scharf nach rechts. Da ist es schon.« Sie bogen ab. »Jetzt achten Sie auf eine weitere, sehr enge Kurve nach rechts - da ist sie, direkt in die Bricht Lane. Die Polizeiwache ist gleich vorn links.« Als sie zum letzten Mal abbogen, rührte sich auch Peregrine und rieb sich den Schlaf aus den Augen, dann setzte er seine Brille wieder auf und blickte nach links hinaus. Die Polizeiwache von Blairgowrie war ein zweistöckiges rotes Backsteingebäude aus der Zeit Edwards VII. Zwei runde Lampen, die alte Gasleuchten nachahmten, beleuchteten die Vordertreppe. Der Parkplatz lag rechts auf der gegen über liegenden Straßenseite. Er war größtenteils leer. Adam fuhr in eine Lücke zwischen einem weißen Polizeifahrzeug und einem schlammbespritzten gelben Jeep, an dessen Fahrgestell Zweige und nasse Blätter hingen. Als er den Motor abstellte, schauten alle auf den Jeep. »Ist das nicht vielleicht der Wagen des Wildhüters?« überlegte Peregrine laut. »Wenn ja, dann hat er anscheinend eine rauhe Fahrt hinter sich«, meinte McLeod. »Schauen wir uns den Mann einmal an -99-
und hören wir, was er selbst zu sagen hat.« Sie stiegen aus dem Range Rover und stapften über die schneebedeckte Straße, dann die vereisten Stufen hinauf. Die Tür zur Wache war zugesperrt. McLeod stampfte mit den Füßen auf, um den Schnee abzuschütteln, dann drückte er auf den Klingelknopf. »Diese kleineren, abgelegenen Wachen sind meist zwischen der Sperrstunde der Pubs und etwa sechs Uhr morgens nicht besetzt«, erklärte er über die Schulter hinweg. »Natürlich sind Streifenwagen unterwegs, aber - aha!« Geklirr war zu hören, ein dumpfer Schlag, dann schwang die schwere Tür nach innen. Der Mann, der ihnen geöffnet hatte, war groß und hager und hatte stachliges rötliches Haar und eine markante Highlander-Nase. Die Schulterstücke auf seiner Uniformjacke zeigten die drei Winkel eines Police Sergeant. Als er McLeod erblickte, erhellte sich sein grobknochiges Gesicht. Er war sichtlich erleichtert. »Inspector McLeod«, begrüßte er seinen Kollegen, »willkommen in Blairgowrie. Ich bin froh, daß Sie es trotz des Wetters geschafft haben.« »Wir sind schon bei schlimmerem Wetter unterwegs gewesen«, erwiderte McLeod vielsagend, was Peregrine nicht entging, während Kirkpatrick zur Seite trat, um sie einzulassen. »Adam, Peregrine, das ist Sergeant Callum Kirkpatrick. Sergeant, das ist Dr. Sinclair, der Berater, von dem ich Ihnen am Telefon erzählt habe, und dies ist sein Mitarbeiter, Mr. Lovat. Er ist so etwas wie ein forensischer Zeichner.« Kirkpatrick schüttelte allen Neu angekommenen die Hand. »Ich muß sagen, ich hoffe, daß ich Sie nicht umsonst hergerufen habe, meine Herren«, sagte er mit einem unschlüssigen Kopfschütteln. »Wenn das wahr ist, was mein Mann sagt, dann freue ich mich auf die kommenden paar Stunden gar nicht.« -100-
»Wo ist Ihr Mann?« fragte McLeod. »McArdle? Heißt er nicht so?« »Aye, er ist unten in der Arrestzelle«, erwiderte Kirkpatrick. »Wir hatten gerade niemand in Haft, und er sah sehr geschlaucht aus, und da sagte ich ihm, er könne sich auf einer Pritsche in einer der Zellen hinlegen, bis Sie hier wären. Wollen Sie sich seine Aussage einmal anschauen, bevor ich Sie nach unten bringe?« McLeod warf einen Seitenblick auf Adam, der kaum merklich den Kopf schüttelte. »Reden wir erst mit Mr. McArdle«, sagte der Inspector. »Dann werden wir sehen, ob er uns etwas anderes erzählt als Ihnen.« Kirkpatrick nickte sofort zustimmend. »Sie sind hier der Experte, Inspector. Was immer Sie für das Beste halten. Folgen Sie mir einfach.« Ohne weitere Worte führte er sie durch den Vorraum und einen anschließenden Korridor zu einer Treppe, die in das Kellergeschoß führte. An ihrem Fuß bildete eine Sicherheitstür den Zugang zum bescheidenen Arrestbereich der Wache, doch sie stand jetzt offen. Ein kräftiger junger Constable in Uniform saß an einem Schreibtisch rechts von der Tür und blätterte müßig in einem Computermagazin. Als er Kirkpatrick erblickte, schob er die Zeitschrift beiseite und stand auf. In seine blauen Augen trat offene Neugier, da er hinter seinem Vorgesetzten McLeod und dessen Begleiter erblickte. »Das ist PC Forsythe, der freundlicherweise bereit war, Überstunden zu machen, um auszuhelfen«, erklärte Kirkpatrick und wandte den Blick seinem jungen Untergebenen zu. »Wie geht es McArdle?« fragte er. »Der hat etwas gepennt, als ich das letzte Mal nachgeschaut habe, Sergeant.« »Tja, dann gehen Sie mal und schütteln Sie ihn, und sagen Sie -101-
ihm, daß die Experten aus Edinburgh eingetroffen sind«, wies Kirkpatrick ihn an. »Wir kommen gleich, sobald die Herren die Gelegenheit hatten, ihre Mäntel abzulegen. Und, Davie...« »Aye, Sir?« »Schauen Sie mal, ob Sie diesen schäbigen Automaten im Verbandsraum dazu bringen können, daß er genügend Tassen Kaffee für alle ausspuckt.« »Aye, Sir. Ich werde mein Bestes tun.« Das Kellergeschoß war gut geheizt. Adam tat es nicht leid, seinen schweren Schaffellmantel aus zuziehen. Er und seine Begleiter hängten ihre Mäntel in die benachbarte Umkleidekammer, dann folgten sie Kirkpatrick durch einen anderen Durchgang in einen kurzen Zellenkorridor. PC Forsythe kam ihnen entgegen und zeigte mit dem Daumen auf die Tür der ersten Zelle. »Jetzt ist er wach, Sir, und genauso grantig wie vorher«, erklärte er seinem Vorgesetzten. »Ich kümmere mich um den Kaffee.« McArdle saß in Strümpfen auf dem Rand der Pritsche. Er war ein kräftiger Mann Anfang Fünfzig, mit beginnender Glatze, einer Stupsnase und grimmigen braunen Augen über einem buschigen braunen Bart. Während Kirkpatrick beide Seiten einander vorstellte, war McArdle nicht sonderlich freundlich. Als er erfuhr, daß Adam Arzt war, blickte er finster drein und sagte kategorisch: »Ich brauch keinen Doktor. Und auch nicht der arme Mann, der dort draußen im Schnee liegt! nicht, daß irgend jemand mir glaubt.« »Niemand möchte es gern glauben«, erklärte McLeod ernst, »weil es schrecklich ist, wenn es stimmt. Aber wenn der gute Sergeant nicht Grund gehabt hätte, Ihnen zu glauben, dann hätte er mich nicht gerufen. Und wenn ich nicht Ihnen beiden geglaubt hätte - obwohl ich Sie, Mr. McArdle, noch nie gesehen habe! -, dann hätten mich in einer Nacht wie dieser keine zehn -102-
Pferde hierher schleifen können! Dr. Sinclair hat sogar seine Dinnergäste verlassen, um mit zu kommen.« McLeods schroffe Erklärung hatte McArdle einen leichten Dämpfer versetzt. Er blickte mürrisch auf seine Füße. »Vermutlich ist er Psychiater oder sowas«, brummte er. Adam lachte leise und nahm den Stuhl, den Kirkpatrick ihm vom Korridor hereinreichte, und stellte ihn absichtlich vor McArdle hin. Peregrine hatte sich unauffällig außerhalb der Tür aufgestellt, wo er trotzdem volle Sicht hatte. McLeod stand mit finsterem Blick neben der Tür und spielte den Düsteren, im Gegensatz zu Adams offener und freundlicher Art. »Du meine Güte, Mr. McArdle, Sie haben mein tiefes, dunkles Geheimnis erraten«, sagte Adam locker. »Tatsächlich wendet sich Inspector McLeod an mich als fachlichen Berater in Fällen, wo es um okkulte Dinge und um die Psychologie von Leuten geht, die Verbrechen mit okkulten Aspekten verüben. Eigentlich befasse ich mich viel öfter mit Verdächtigen und mit Opfern, seltener mit Zeugen - allerdings hatte ich auch schon Erfolg darin, Zeugen zu helfen, daß sie sich genauer an das erinnern, was Sie gesehen haben. Ich glaube, an so etwas hat Inspector McLeod eher gedacht im Hinblick auf Sie und mich.« McArdle entspannte sich ein wenig. »Dann glauben Sie also nicht, daß ich übergeschnappt bin?« »Ganz und gar nicht«, erwiderte Adam. Er setzte sich ungezwungen auf den Stuhl, wobei er billigend bemerkte, daß sich Kirkpatrick in aller Stille aus dem Raum entfernt hatte, um sie mit dem Zeugen allein zu lassen. »Im Gegenteil, es klingt so, als hätten Sie das Pech gehabt, zufällig auf etwas sehr Gefährliches zu stoßen - und Sie können sich wahrscheinlich an mehr erinnern, als Sie schon dem Sergeant gesagt haben. Dabei würde ich Ihnen gerne helfen.« Während er sprach, holte er beiläufig eine silberne Taschenuhr aus seiner Hosentasche und schaute flüchtig darauf, -103-
dann ließ er sie los, so daß sie scheinbar müßig an ihrer Kette sanft hin und her pendelte. Wie er es beabsichtigt hatte, wurde der Blick des Wildhüters davon angezogen. Während er die Uhr wie ein Pendel schwingen ließ, redete er im Plauderton weiter, wobei er allmählich seine Lautstärke verminderte, während sein nichtsahnender Proband zunehmend unter seinen Einfluß geriet. »Tja, Ihr Erlebnis von gestern abend muß Ihnen einen ziemlichen Schock versetzt haben, Mr. McArdle. So etwas hätte ja jeden geschockt. Ich weiß, daß Sie den größten Teil der Nacht auf gewesen sind. So müde, wie Sie sein müssen, ist es für Sie jetzt sehr wichtig, daß Sie sich zu entspannen versuchen.« McArdles Blick war dem rhythmischen Schwingen der Uhr am Ende ihrer Kette gefolgt, doch jetzt blinzelte er und holte Luft, um zu sprechen. Wahrscheinlich hatte er den Verdacht, er wisse, warum Adam das tat. Mit einem Lächeln ließ Adam die Uhr beiläufig in die Hosentasche gleiten und unterbach dabei nicht den Fluß seiner Worte, der tatsächlich bewirkte, was notwendig war. »Also möchte ich, daß Sie bloß ein paarmal tief Luft holen und sich an die Wand lehnen, wenn Sie wollen«, fuhr er fort. »Wenn Sie ausatmen, versuchen Sie, den Atem ganz heraus zu lassen.« Er zog das Wort ganz in die Länge, so daß schon sein Tonfall die Anweisung unterstrich. »Das ist gut so. Sie werden entdecken, daß diese Tiefatmung Ihnen hilft sich zu entspannen. Und Gott weiß, das brauchen Sie, nach allem, was Sie heute Nacht durchgemacht haben, nicht wahr?« »Aye«, flüsterte der Mann. »Machen Sie noch einen Atemzug, wenn Sie wollen so ist's richtig - und lassen Sie die Luft langsam heraus... Jetzt einen weiteren... Und noch einen... Fühlen Sie sich nun behaglicher?« McArdle nickte. »Gut.« »Jetzt möchte ich, daß Sie in Gedanken zu dem zurückgehen, -104-
was Sie im Wald gesehen haben. Sie werden merken, daß Sie sich an alles deutlich erinnern können - aber nichts, woran Sie sich erinnern, wird Ihnen Kummer bereiten. Es wird so sein, als schauten Sie Bilder in einem Buch an. Sagen Sie es mir, wenn Sie sich dazu bereit fühlen.« Der Wildhüter nickte, seine knorrigen Hände ruhten locker in seinem Schoß, und sein Atem ging leicht. »Vermutlich hat Collum Ihnen erzählt, daß ich der Oberwildhüter bei Lord Baltierny bin«, sagte er ruhig. »Ja, das hat er mir gesagt«, erwiderte Adam. »Und daß Sie einer der besten weit und breit sind.« »Tja, das denke ich auch gern.« McArdle hielt inne, um einen weiteren tiefen Atemzug zu tun. »Auf jeden Fall, heute nacht ging ich die nördlichen Wälder auf dem Baltierny-Besitz ab, genau so, wie ich es fast vierzig Jahre lang getan habe, als ich in der Ferne etwas schlurfen hörte, und dann einen heiseren Schrei - etwas zwischen einem Husten und einem Krächzen.« »Vielleicht ein Hirsch?« McArdle schüttelte den Kopf. »Ich hab' noch nie einen Hirsch einen solchen Laut von sich geben hören«, erklärte er kategorisch. »Wilderer, ja - das war mein erster Gedanke. Hinter der Gegend, wo das Geräusch herkam, gibt es eine Holzfällerstraße, aber dort oben sollte sich ohne Erlaubnis niemand aufhalten, und ganz bestimmt nicht um diese Uhrzeit.« »Wie spät war es Ihrer Meinung nach ungefähr?« fragte Adam. »Lange nach elf, schätze ich. Ich hatte meine Büchse dabei, also ging ich den Hügel hinauf, in Richtung des Geräuschs, um zu sehen, ob ich was sehen könnte. Dort oben war es ziemlich dunkel, weil jetzt kein Mond scheint, aber ich bin es gewohnt, in solchen Nächten bei Sternenlicht zu arbeiten. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, ich sollte meine Taschenlampe nicht benutzen. Ein Mann, der soviel Zeit in den Wäldern verbringt -105-
wie ich, entwickelt nach so vielen Jahren ziemlich gute Instinkte und ich war froh, daß ich heute Nacht achtgab.« »Warum denn das?« »Weil die mich sonst gesehen hätten!« erwiderte McArdle. »Zum Glück für mich hatten die Feuer brennen, und so konnten sie in der Dunkelheit nicht gut sehen. Aber jetzt bin ich schon zu weit. Also, ich war noch gar nicht oben auf dem Hügel angekommen, als der Singsang begann.« »Singsang?« fragte Adam im Plauderton. »Ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll«, sagte der Wildhüter. »Es war unheimlich - so eine Art Gewisper. Ich konnte nicht verstehen, was da gesagt wurde, aber der Klang ließ mir die Haare zu Berge stehen...« Er brach jäh ab, sein Atem wurde schneller, und seine Augen richteten sich auf etwas, das nur er sehen konnte. »Lassen Sie sich nicht von der Erinnerung berunruhigen«, murmelte Adam sanft und warf einen Blick auf McLeod, der an der Wand lehnte und begierig lauschte. »Ich glaube, ich weiß, was Sie zu schildern versuchen. Jetzt sind Sie außer Gefahr. Holen Sie einfach tief Luft und lassen Sie die Spannung zusammen mit dem Atem heraus.« Als der Wildhüter sich ein wenig beruhigte hatte, sagte Adam: »Schauen wir mal, ob wir weitermachen können. Sie hörten einen Singsang. Da war es nur natürlich, daß Sie Angst hatten. Sind Sie weggerannt?« McArdles Gesicht wurde hart, als er sich an seine Empörung erinnerte. »Nein, bin ich nicht! Jedenfalls dann noch nicht. Wer immer diese Leute waren, die sich da so aufführten, sie befanden sich doch ohne Erlaubnis auf dem Besitz Seiner Lordschaft. Zu dem Zeitpunkt war ich mir schon ziemlich sicher, daß sie keine Wilderer waren - sie hätten ja meilenweit das ganze Wild verscheucht! Aber es war meine Pflicht zu schauen, was sie da trieben.« -106-
»Also sind Sie weitergegangen, um genauer hinzusehen?« »Aye. Ich ging hinauf bis auf den Hügel, so leise ich konnte. Da kam ein Feuerschein durch die Bäume, unten in einer Mulde, etwa hundert Meter unter mir. Ich wollte nicht, daß jemand mich entdeckte - dieser Singsang hatte mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt -, also blieb ich in Deckung und schob mich nah genug heran, um mir das Ganze durch das Zielfernrohr meines Gewehrs anzuschauen. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber ganz bestimmt nicht so etwas wie das, was da vor sich ging.« Wieder hielt er inne, und Adam schaute kurz zu McLeod und Peregrine. Der Inspector blickte grimmig drein, die blauen Augen hinter seiner Fliegerbrille waren dunkel. Peregrines Gesicht über seinem dicken Arran-Pullover war einige Nuancen blasser als sonst. »Was haben Sie gesehen?« dränge Adam. McArdle zitterte leicht. »Es müssen etwa ein Dutzend gewesen sein«, murmelte er, »alle in lange weiße Gewänder mit Kapuzen gehüllt, fast als wären sie Mönche oder so etwas, Einer stand in der Mitte, die Arme in die Luft gestreckt, und die anderen gingen in einem Kreis herum - im Widersinn, wissen Sie?« »Ja, ich kenne den Begriff. Erzählen Sie weiter!« »Tja, dann blieben sie alle plötzlich stehen, und ich bemerkte, daß da noch dieser andere kleine Mann war, in dem Kreis neben diesem großen, flachen Felsen. Allerdings stand er nicht, deshalb hatte ich ihn zuerst nicht gesehen. Er kauerte da, als wäre er krank oder sowas - erst jetzt sah ich, daß ihm die Hände auf dem Rücken gebunden waren. Da wußte ich wirklich, daß da etwas Seltsames vor sich ging!« »Und was geschah dann?« fragte Adam. Seine Stimme war fast nur noch ein Flüstern. »Der in der Mitte stand, ging zu dem, dem die Hände gebunden waren, und dann kniete er sich auch hin. Er hatte etwas in den Händen - vielleicht eine Schale oder so etwas, ich -107-
konnte es nicht sehen - und er hielt es zu dem anderen Mann hin. Doch dann stieß einer von den anderen Männern in dem Kreis eine Art Geheul aus und stürzte vor. Ich glaube, er gab dem kleinen Mann eins über den Schädel. Und dann blitzte Metall auf - ein kleines Messer, glaube ich -, und dann spritzte überall Blut herum!« McArdle hielt inne und schluckte. Das Geräusch klang überraschend in dem gespannten Schweigen. »Der Mann mit den gebundenen Händen stieß um sich und zappelte, aber sie ließen ihn nicht vornüber fallen«, flüsterte McArdle. »Sein - Blut sprudelte einfach über das Ding, das der andere Mann in seinen Händen hielt - aus dem Hals, glaube ich. Als sie ihn schließlich fallen ließen, da war er tot - das weiß ich.« Adam hatte seit einiger Zeit den Blick nicht mehr von seinem Probanden gewandt. »Was haben Sie dann getan?« fragte er in einem neutralen Ton. Im Gesicht des Wildhüters zuckte es, und er schüttelte den Kopf. »Ich - ich habe es dem Sergeant vorhin nicht erzählt, aber es war nicht ein knacksender Zweig schuld, daß ich dort verduftet bin. Ich war so empört über das, was die getan hatten, und ich wollte ihnen wenn möglich eine Kugel verpassen. Aber mein Gewehr blockierte, als ich die Patrone in die Kammer schieben wollte - das machte einen Lärm, als ginge eine verdammte Kanone los! Ich blieb nicht da, um noch zu sehen, ob diese komischen Käuze mit den Kapuzen das gehört hatten. Ich machte mich einfach auf die Fersen. Ich blieb nicht stehen, bis ich wieder bei meinem Jeep war!« Er atmete heftig, als er das Ende seiner Geschichte erreichte, und Adam beugte sich zu ihm hinüber und legte ihm leicht eine Hand auf die Schulter. -108-
»Nur ruhig Blut, Jimmy«, murmelte er. »Sie sind jetzt nicht mehr in Gefahr. Lehnen Sie sich einfach zurück und atmen Sie ruhig. Schließen Sie die Augen, wenn Sie wollen. Sie haben sich Ruhe verdient. Jetzt brauchen Sie sich keine Sorgen mehr zu machen.« Der Wildhüter ließ sich zusammen sinken, als Adam seine Hand wegnahm, doch sein Gesichtsausdruck wirkte immer noch beunruhigt. »Sie haben den Mann vor meinen Augen umgebracht«, brummte er. »Ich hätte schon eher etwas tun sollen...« »Es gab nichts, was Sie da hätten tun können«, sagte Adam mit Nachdruck. »Ich möchte, daß Sie sich das ins Gedächtnis rufen und glauben. Als Sie erkannten, was da vor sich ging, war die Tat schon geschehen. Sie taten gut daran, abzuhauen und die Polizei zu informieren.« »Aber man hat mir nicht geglaubt...« »Man hat Ihnen soviel geglaubt, daß man Inspector McLeod und mich kommen ließ«, erwiderte Adam nachdrücklich. »Wie ich Ihnen schon zuvor sagte, wollte man nur nicht glauben, daß so etwas hier in Blairgowrie geschehen könnte. Das hat nichts mit Ihnen persönlich zu tun. Und niemand tadelt Sie für das, was geschehen ist.« Als er sah, daß seine Erklärung die erwünschte beruhigende Wirkung hatte, kehrte Adam zu seinen ursprünglichen Fragen zurück. »Also, können Sie sich erinnern, wo Sie das alles gesehen haben?« McArdle nickte. »Glauben Sie, Sie könnten uns dort hinführen?« »Aye.« Die Stimme des Mannes klang zuversichtlich. »Gut«, sagte Adam. »Dann werden wir dort hinfahren, sobald es hell wird. Sie werden uns zu dem Hügel führen, von dem Sie erzählt haben, und wir werden sehen, was wir finden. Bis dahin«, fuhr -109-
er fort, »hätte ich gern, daß Sie die Augen schließen und versuchen, ein wenig auszuruhen.« Er verstärkte die Suggestion mit einem festen Druck seiner einen Hand auf McArdles Schulter, mit der anderen strich er leicht über die Augen des Mannes, die der schon erleichtert zutat. »Legen Sie sich zurück und schlafen Sie«, sagte Adam und drückte ihn mit McLeods Hilfe sanft zurück, bis er friedlich auf der Pritsche lag. »Entspannen Sie sich und schlafen Sie tief, ohne beunruhigende Träume, und wachen Sie auf, wenn ich Sie bei Ihrem Namen rufe. Dann werden Sie sich erfrischt und ausgeruht fühlen.« Seine Hand blieb noch einen Augenblick lang auf den Augen des liegenden Mannes, um sicher zu stellen, daß sein Proband wirklich tief schlief. Dann richtete er sich auf und schaute McLeod an. Er winkte ihm, zusammen mit Peregrine die Zelle zu verlassen. »Nun, ich fürchte, ich bin überzeugt«, sagte er ruhig. McLeod nickte grimmig. »Ich auch.« »Aber wie können Sie sicher sein, daß er sich das nicht ausgedacht hat?« fragte Peregrine leise. Adam hob geduldig die Augenbrauen. »Zum einen, der Mann ist kein Okkultist. Er hätte nicht das Wissen gehabt, um eine solche Geschichte zu erfinden, selbst wenn man annimmt, daß er die Neigung dazu hätte. Und dann haben Sie ja gesehen, wie erregt er wurde, als er den Mord selbst schilderte. Das reichte fast aus, um ihn aus der Trance zu reißen. Und ich habe keinen Zweifel, daß er sich in Trance befand und die Wahrheit sagte - zumindest so, wie er sie wahrnahm. Er erzählte sogar, daß er auf die Täter schießen wollte und daß er daran gehindert wurde, weil das Gewehr blockierte - was so klingt, als hätte er das nicht einmal Kirkpatrick erzählt.« »Aber ein Menschenopfer, Adam...« Peregrines Gesieht wurde blaß. »Wenn er das wirklich gesehen hat, was bedeutet -110-
das dann?« »Es bedeutet, junger Mann, daß irgend jemand sehr gefährliche Pläne in Gang gesetzt hat«, sagte McLeod düster. »Und wir sollten lieber unser Allerbestes tun, um heraus zu finden, wer sie sind und was ihre Ziele sein könnten, bevor wir noch viel älter werden.« Er warf einen verstohlenen Blick auf den schnarchenden McArdle und schüttelte den Kopf. »Vermutlich sollte ich lieber alles Kirkpatrick erzählen. Wohin auch immer diese Ermittlungen führen mögen, bevor wir damit fertig sind, sie beginnen hier in Kirkpatricks Zuständigkeits bereich, und er sollte lieber derjenige sein, der die offiziellen Untersuchungen organisiert.« Kapitel 8 "Einige von Schottlands wichtigsten Skigebieten liegen nördlich von Blairgowrie -Spittal of Glenshee, dann Devil's Elbow auf halbem Weg nach Braemar, das für seine sommerlichen Highland-Spiele berühmt ist -, doch so weit würden die beiden Fahrzeuge, die kurz nach 7 Uhr morgens die Polizeiwache von Blairgowrie verließen, nicht kommen. Kirkpatrick fuhr im weißen Land Rover der Polizei voran. Jimmy McArdle wies vom Beifahrersitz aus den Weg, zwei weitere Polizeibeamte, die Kirkpatrick sorgfältig aus den Leuten der Morgenschicht ausgewählt hatte, saßen im Fond. Adams blauer Range Rover folgte dicht dahinter, und seine beiden Mitfahrenden schwiegen in der Dunkelheit vor Tagesanbruch, beide in ihre eigenen Gedanken versunken. So früh am Morgen war die schneebedeckte Landschaft nördlich von Blairgowrie immer wieder von dichten Bänken von Bodennebel durchzogen. Mit etwas Glück würden die beiden Wagen die Straße just beim ersten Morgenlicht verlassen. Doch jetzt war die Fahrt eine Schinderei, und Adam mußte seine -111-
ganze Aufmerksamkeit auf die Straße richten, die vor ihm lag. Während der ersten fünfundzwanzig Kilometer der Fahrt nach Baltierny gab es Augenblicke, wo er Kirkpatricks Land Rover, der ihnen voranstürmte wie ein Hund an der Spitze der Jagd, völlig aus den Augen verlor. Dieser Vergleich erschien Adam ominös. Sie hatten das Wild, das sie jagten, noch nicht ausgemacht, aber nachdem er die Geschichte des Wildhüters aus erster Hand gehört hatte, zweifelte er nicht daran, daß sie einer dunklen und äußerst gefährlichen Sache auf der Spur waren. Er wollte sich nicht zu der vorschnellen Annahme hinreißen lassen, daß die Loge der Luchse dahinterstand, aber die Möglichkeit war nicht von der Hand zu weisen, wenn man an die kürzlich aufgetauchten Beweise für ein Wiederaufleben dieser Gruppe dachte. Oder wurde er vielleicht schon paranoid? »Ich hoffe, dieser verdammte Nebel lichtet sich, bevor wir dort an unserem Ziel ankommen«, brummte McLeod und reckte den Hals, um die beiden roten Rücklichter nicht aus den Augen zu verlieren, die vor ihnen dahintanzten. »Falls nicht, dann wäre ich überrascht, wenn McArdle überhaupt die Abzweigung nach Baltierny fände - ganz abgesehen von der Leiche in den Wäldern.« Doch als sie die Abzweigung einer B-Straße erreichten und nach rechts abbogen, begannen sich die Nebel schon zu lichten und gaben flüchtige Blicke auf den blauen Himmel frei. Die Straße erwies sich als ein gräßliches Band aus Schneematsch glücklicherweise war sie frei von Eis -, aber die Nadelbäume, die sie säumten, trugen schwere Girlanden aus Weiß. Schnee bedeckte noch den Boden der freien Flächen und bildete tiefe Verwehungen in den Senken. Die B-Straße war einspurig, mit Ausweichstellen alle 400 Meter, aber sie fuhren weitere elf bis zwölf Kilometer, ohne jemandem zu begegnen, bis sie zu einer ungeteerten Fahrspur kamen, die zu ihrer Linken in die Wälder abzweigte. Etwa -112-
hundert Meter weiter hielten beide Fahrzeuge vor einem Tor aus Kettengeflecht, das zwischen den Endpfosten eines Stacheldrahtzauns hing. In den Boden davor war ein schlammverstopftes Rindergitter eingelassen. Das Tor war mit einer schweren Kette mit Vorhängeschloß gesichert. McArdle, der sich tief in die Wärme seines Parka duckte und sich wärmend auf die Finger blies, kletterte aus dem Polizeiwagen und öffnete das Schloß mit einem Schlüssel, der an einem Ring an seinem Gürtel hing. Er hievte das Tor zur Seite und ließ die beiden Fahrzeuge durchfahren, dann wollte er wieder absperren, aber McLeod steckte den Kopf aus dem Fenster, als sie durch waren. »Lassen Sie lieber, Mr. McArdle. Falls wir zusätzliche Leute herholen müssen, hätte ich gern, daß es offen bleibt, damit sie durchkönnen.« McArdle blickte etwas finster drein, doch er tat wie geheißen. Als er wieder im Land Rover saß, fuhren die beiden Autos weiter. Die Forststraße war schmal und machte viele Biegungen, sie war wenig mehr als ein fortlaufendes Paar schlammiger Radspuren, das sich durch den Wald schnitt. Allerdings war der Untergrund fest. Sie fuhren an etlichen Abzweigungen vorbei, etwa drei Kilometer geradeaus und hielten dann auf einer schlammigen Ausweichstelle an, die gerade lang genug für zwei Autos war. Zu beiden Seiten stieg der Boden an, und als Adam nahe hinter dem Polizei-Rover anhielt, erblickte er einen Pfad eigentlich war es nur wenig mehr als ein Wildwechsel -, der sich zur ihrer Rechten den Hang hinaufschlängelte. Alle stiegen aus und waren die nächsten fünf Minuten über damit beschäftigt, Schneestiefel, schwere Mäntel, Hüte und Handschuhe anzuziehen. Als sie sich am Fuß des Pfades versammelten, bemerkte Peregrine, daß einer der Constables eine Kamera über der Schulter hängen hatte und daß die drei Polizisten aus Blairgowrie ihre Pistolen einsteckten. -113-
McLeod hatte sich ebenfalls bewaffnet. Peregrine hatte beobachtet, wie er die wohlbekannte Browning Hi-Power aus der Reißverschlußtasche hinter dem Sitz geholt, ein Magazin in den Griff gesteckt und die Waffe in den Bund seiner Hose gezwängt hatte, bevor er den Reißverschluß seines schwarzen Anoraks hochzog. Adam, so vermutete er, trug spirituellere Schutzwaffen in seinem Schaffellmantel, und Peregrine selbst war mit seinem Skizzenkasten bewaffnet. »Sie sind sich ganz sicher, daß dies die Stelle ist, Jimmy?« fragte Kirkpatrick. Der Wildhüter wurde etwas ungehalten. »Denken Sie bloß daran, daß ich schon länger durch diese Wälder streife, als Sie überhaupt auf der Welt sind, Callum Kirkpatrick!« sagte er. »Es ist die richtige Stelle, warten Sie nur, und Sie werden sehen. Das kleine Tal, von dem ich Ihnen erzählt habe, liegt hinter diesem Hügelrücken. Folgen Sie mir einfach und geben Sie acht, wo Sie hintreten.« Am Anfang war der Pfad naß und matschig. Um sie herum wisperte der Wald mit dem feuchten Getrippel und Getropfe schmelzenden Schnees. Das Geräusch nagte an Peregrines Nerven, als er sich hinter Adam und McLeod den schlammigen Pfad hochkämpfte, wobei der Skizzenkasten nach jedem Schritt an seine Seite knallte. Ein kalter Knäuel des Schreckens begann sich irgendwo mitten in seiner Brust zusammen zuziehen, doch schweigend und mit zusammengepreßten Lippen zwang er sich weiter zu gehen.. Er wußte nicht, daß Adam seine bösen Vorahnungen ganz und gar teilte. Diese innere Spannung wuchs mit jedem Schritt weiter an. Dies war keineswegs das erste Mal, daß Adam und McLeod den Auswirkungen eines gewaltsamen Todes begegneten, aber selten hatte Adam ein so deutliches Vorgefühl empfunden, daß sich dieses Verbrechen als für ihn persönlich bedeutungsvoll heraus stellen würde. -114-
Während die Männer den Hügelkamm überschritten, brach die Sonne durch den winterlichen Dunst des sich lichtenden Nebels. Unter ihnen, an der Nordseite des Hügels, stand ein Kreis von Eichen, deren blätterlose Zweige steif in der leichten Morgenbrise knarrten, und in der Mitte... McLeod blieb unvermittelt stehen und knurrte eine Verwünschung. Kirkpatrick fluchte leise. Adam wurde ganz still. In der Mitte des Baumkreises lag ausgestreckt, mit dem Gesicht nach unten, auf einer Totenbahre aus schmelzendem Schnee, die schlaffe, gräuliche Gestalt eines Mannes. Selbst aus dieser Entfernung konnte man den dunklen roten Fleck sehen, der die obere Hälfte der Leiche umgab. »In Ordnung, Sergeant«, sagte McLeod ruhig, nachdem er tief Luft geholt hatte. »Das hier ist Ihr Zuständigkeitsbereich, also haben Sie hier das Sagen, aber ich glaube, wir werden eine Mordkommission brauchen.« »Aye, das und einen Sanitätswagen«, stimmte Kirkpatrick ihm düster zu. »Mr. Heriot!« »Sir?« Der Constable mit der Kamera trat einen Schritt näher heran. »Geben Sie mir die Kamera und gehen Sie dann zum Auto zurück und funken Sie die Station an«, sagte Kirkpatrick. »Melden Sie, was wir gefunden haben, sagen Sie ihnen, was wir brauchen, und veranlassen Sie, daß jemand in Perth anruft, damit ein Polizei-Pathologe und die anderen notwendigen Leute kommen.« »Aye, Sir.« Heriot reichte seinem Vorgesetzten die Kamera und zog sich geschwind zurück. McLeod sah ihn mit einem unguten Gefühl weggehen. »Schade, daß es keine Möglichkeit gibt, den Funkruf zu zerhacken«, bemerkte er, »aber vermutlich ist das nächste Telefon etwa eine Stunde entfernt?« -115-
Als Kirkpatrick bestätigend nickte, seufzte McLeod. »Tja, vermutlich geht es nicht anders. Doch wir werden Glück haben, wenn wir bis Mittag nicht die halbe schottische Presse am Hals haben. Bevor das jedoch geschieht, schlage ich vor, daß wir vorsichtig hingehen und uns die Sache näher anschauen und auch einige vorläufige Fotos machen, nur für den Fall, daß irgend welche Hinweise verlorengehen, wenn der Schnee schmilzt.« »Ganz recht, Inspector. Mr. Jamison?« Kirkpatrick blickte auf den anderen wartenden Constable. »Arbeiten Sie sich bitte um die Lichtung nach links vor. Geben Sie auf Fußspuren acht und halten Sie sich von ihnen fern, falls Sie welche finden. McArdle sagte auch, daß es auf der anderen Seite des Hügels eine Holzfällerstraße gibt - über die sind die Täter vielleicht her- und wieder weggekommen, da sie nicht durch das versperrte Tor kamen. Schauen Sie, was Sie dort finden können, vor allem Reifenspuren.« Der junge Constable nickte und machte sich auf den Weg in die Richtung, die sein Vorgesetzter gezeigt hatte. Kirkpatrick wandte sich wieder seinem Edinburgher Kollegen zu. »Sonst noch etwas, woran Sie denken, Inspector?« fragte er. McLeod schüttelte den Kopf. »Schauen wir uns die Sache näher an.« Auf Kirkpatricks einladende Geste hin bewegte sich McLeod vorsichtig über das noch unbetretene Gelände in Richtung auf den Rand der Bäume zu. Kirkpatrick folgte ihm und gab acht, genau in McLeods Fußstapfen zu treten, gleich hinter ihm ging Adam, dem wiederum Peregrine folgte, seinerseits gefolgt von McArdle. Peregrine widerstrebte es einerseits, näher heran zugehen, andrerseits wurde er von etwas angezogen, das er nicht nennen konnte. Selbst vom Rand der Lichtung aus gesehen wirkte die Szene so beunruhigend, wie Adam ihn schon vorgewarnt hatte. -116-
Der Tote lag mit dem Gesicht nach unten, sein weißgekleideter Körper bedeckte teilweise einen glatten, flachen Felsen, der mit gefrorenem Blut überzogen war. Unter dem dünnen, blutbefleckten weißen Gewand, das er trug, schien er nackt zu sein. Seine Füße und Beine schauten nackt unter dem schmutzbeschmierten Saum der Robe hervor, seine Hände waren auf dem Rücken mit einer dünnen roten Schnur fest zusammengebunden. Sein Kopf war voller Blut, das graue Haar war über einer eigenartigen Vertiefung im Hinterkopf steif verfilzt. »Ich hab's denen doch erzählt, ja wirklich«, murmelte McArdle heiser Peregrine zu. »Die haben gedacht, ich hätte das erfunden - als ob jemand sich so etwas ausdenken könnte!« Peregrine hörte nicht zu. Sie hatten jetzt den Kreis aus alten Eichen erreicht. Sergeant Kirkpatrick machte dann und wann ein Foto, und als Peregrine auf den mit schmutziggrauen Ascheresten in den Schnee gezeichneten, inzwischen aber schon verblassenden Kreis blickte, traf ihn eine schwarze Empfindung von Gewalt mit der plötzlichen, unvorhersehbaren Wucht eines körperlichen Schlags. Unvermittelt spürte er, wie er den Leichengestank vergossenen Blutes einatmete, vermischt mit dem widerwärtig süßen Geruch von Weihrauch, der irgendwie nicht ganz in Ordnung war. Im gleichen Augenblick verspürte er einen zurückgebliebenen Nachhall von Schrecken, der von der toten Präsenz des Opfers ausstrahlte. Mit einem Mal war die Lichtung voll von Gespenstern - von einer Versammlung fast durchsichtiger Bilder, die sich über die festen Gestalten von McLeod und Kirkpatrick legten. Gebannt vor Entsetzen zählte Peregrine dreizehn Gestalten in Roben, die im Schnee um die auf dem Boden liegende Gestalt ihres Opfers ihren Todesmarsch schritten. Und während er zuschaute, traf ihn das Wissen um die Identität des toten Mannes wie ein Faustschlag in die Magengrube. -117-
Die Offenbarung war so jäh und schmerzvoll, daß er laut keuchte, rückwärts taumelte und blind nach dem nächsten Ast griff, um nicht hinzufallen. Von seinem Schreckenslaut alarmiert, blickte Adam zurück und sah, wie der junge Künstler gegen den Stamm einer der Palisadeneichen stolperte. Sein Gesicht war fast so weiß wie Schnee, die braunen Augen hinter der Brille weit aufgerissen. Mit einem raschen Satz war Adam an seiner Seite und fing ihn auf, bevor er hinfallen konnte. »Ruhig, ruhig, ich halte Sie schon«, sagte er leise und packte mit starken Händen die Schultern des Jüngeren und blickte ihm forschend in die Augen. »Ich sehe, daß es nicht bloß wegen des Blutes ist. Holen Sie tief Luft und erzählen Sie mir, was Sie sehen. Mr. McArdle, würden Sie uns bitte einen Augenblick allein lassen?« Während McArdle sich entfernte und dabei verlegen etwas murmelte, holte Peregrine Luft und schloß die Augen fest bei dem Versuch, Adams Anweisung zu befolgen. Einen Augenblick lang bewegte er sich nicht und sagte nichts. Dann gelang ihm ein tiefer Atemzug, und er stieß die Luft mit einem Schaudern wieder aus. Er bemühte sich sichtlich, sich zusammen zu reißen. »Tut mir leid, Adam«, murmelte er mit eingeschnürter Stimme. »Mir ist gerade klar geworden, wer das ist, der da tot auf der Lichtung liegt. Es ist Ihr Freund - der alte Herr von der Buchhandlung.« »Randall?« Adam formte den Namen mehr mit den Lippen, als daß er ihn aussprach, während ihm auf diese Enthüllung hin ebenfalls schwindelte. Er warf unwillkürlich einen Blick über die Schulter auf den noch unwissenden McLeod, der sich der erstarrten Leiche näherte, dann spürte er, wie der junge Künstler in seinem Griff leicht schwankte. »Ruhig Blut!« murmelte er und kehrte mit seiner -118-
Aufmerksamkeit zu Peregrine zurück. »Sie werden mir doch hier nicht ohnmächtig werden, oder?« Peregrine schüttelte verneinend den Kopf und straffte sich. »Machen Sie sich keine Sorgen um mich«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich bin gleich wieder in Ordnung.« Er blickte Adam unsicher an und fügte hinzu: »Ich könnte unrecht haben, Adam. Ich hoffe es.« Adam tat einen bewußt tiefen Atemzug und stieß die Luft wieder aus. Unglücklicherweise zweifelte er nicht daran, daß Peregrine die Wahrheit sagte. »Ich weiß, daß Sie recht haben«, sagte er leise, »aber Sie können nichts für das, was Sie sehen. Was immer geschehen ist, es sind die daran schuld, die das Verbrechen begangen haben. Warten Sie einstweilen hier. Ich sollte lieber Noel warnen.« Peregrines Gesicht war noch immer bleich von dem Schock, doch ihm gelang ein vorsichtiges Nicken. Adam ließ ihn los, wappnete sich und lief, McLeod und Kirkpatrick unten in der Mulde einzuholen. Mit gesenktem Kopf kauerten die beiden Polizisten zu beiden Seiten der Leiche, McLeod links, Kirkpatrick rechts. Sie waren damit beschäftigt, die offensichtlichen Wunden aufzunehmen, der Sergeant machte weitere Fotos. McLeods Miene professioneller Sachlichkeit verriet Adam, daß er den Toten noch nicht erkannt hatte. Als Adam näher herantrat, sah auch er die blutigen Abschürfungen am Hinterkopf, die darauf hindeuteten, daß der Tote mehr als einmal von hinten geschlagen worden war. Daß soviel Blut vergossen worden war, lag jedoch an einer tief klaffenden Wunde im Bereich der Drosselvene unter dem rechten Ohr. Wortlos kniete Adam McLeod gegen über nieder und untersuchte den Körper nach Lebenszeichen, wie es förmliche ärztliche Konvention war. Er verlagerte sein Gewicht, dann hob er vorsichtig den Kopf der Leiche und drehte ihn gerade so weit, -119-
daß er das Profil des Toten deutlich sehen konnte. Ein einziger flüchtiger Blick reichte, um Peregrines visionäre Enthüllung zu bestätigen. Einen Atemzug lang schloß Adam die Augen und drängte eine Flut harter Fragen zurück, während er sich faßte, um die unumgängliche Mitteilung zu machen. »Du lieber Gott, ich kenne den Mann«, murmelte er. Er formulierte seine Worte Kirkpatrick zuliebe, doch ebenso, um McLeod auf die Enthüllung vorzubereiten. »Sie kennen ihn auch, Noel.« Er unterstrich seine Warnung mit einem Blick. McLeods Augen funkelten überrascht. Er beugte sich vor und spähte auf das halb abgewandte Gesicht, das von Adams Händen gehalten wurde, dann setzte er sich mit einem jähen Ruck auf seine Hinterbacken. »Herrje«, sagte er krächzend. »Das ist ja Randall!« Kirkpatrick öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, doch dann schaute er auf McLeods Gesicht und ließ sofort davon ab. Adam ließ Randalls Kopf sanft auf den Boden sinken und griff vorsichtig in die Brusttasche seiner Jacke, holte ein Taschentuch heraus und wischte sich die Blutspuren von den Fingerspitzen. Nach einem Augenblick benommenen Schweigens erhob sich McLeod mit einem Ruck vom Boden, setzte sich auf den Rand des flachen Felsens, nahm mit einer Hand seine Brille ab und rieb sich, grau im Gesicht, verwirrt die Stirn. »Tut mir leid«, brummte er schroff. »Ich muß erst einmal tief durch atmen.« Adam faßte ihn kurz an der Schulter, dann stand er auf und winkte Kirkpatrick. Sie entfernten sich ein paar Schritte von dem Toten. »Vermutlich sollte einer von uns den Toten Ihnen gegen über formell identifizieren«, sagte er düster und überließ McLeod für eine Weile seiner Trauer. »Der Name des Opfers ist Randall Stewart. Er ist - war - ein Antiquariatsbuchhändler in -120-
Edinburgh.« »In Edinburgh? Du lieber Himmel, was tut er dann hier oben?« fragte Kirkpatrick. »Ich weiß es nicht«, sagte Adam ausdruckslos, »obwohl ich mir nicht vorstellen kann, daß er freiwillig hier war.« Seine Stimme klang ihm in den eigenen Ohren bleiern. »Randall war Witwer. Er hatte eine Tochter namens Miranda. Sie wohnten zusammen in einem Haus in Mayfield...« Kirkpatrick schüttelte düster den Kopf und notierte sich die Informationen über Randall Stewarts vollen Namen, Anschrift, Beruf und Familie. Er starrte einen Augenblick lang auf sein Notizbuch, blies auf die steifen Finger, um sie zu wärmen, dann stieß er einen leisen Laut des Erkennens aus und schaute noch einmal auf die Leiche. »Randall Stewart - ich hatte mir doch gleich gedacht, daß der Name mir bekannt vorkam. Er war ein Historiker der Freimaurerei, nicht wahr?« »Stimmt«, erwiderte Adam. »Er hatte kürzlich für einige Zeitungen eine Serie über die Königliche Kunst geschrieben. Vielleicht haben Sie vor kurzem einen ziemlich polemischen Leserbrief von ihm in der Times gelesen. Er hatte es sich zu einem Anliegen gemacht, die Freimaurerei als Institution zu verteidigen...« Er verstummte plötzlich. »Glauben Sie, daß er vielleicht wegen seiner Aufsätze über die Freimaurerei ermordet wurde?« fragte Kirkpatrick. »Offen gesagt, ich weiß nicht, was ich in diesem Stadium glauben soll«, erwiderte Adam. »In seinem Privatleben war Randall Stewart ruhig und gelehrtenhaft nicht die Art Mann, die sich im allgemeinen Feinde macht. Aber man kann es sich schon vorstellen, daß er durch seine Veröffentlichungen feindselige Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.« »Aye«, stimmte ihm Kirkpatrick zu, »aber das kommt einem dann schon ziemlich drastisch vor.« Er reckte den Kopf. »Sind -121-
Sie vielleicht einer seiner Logenbrüder, Dr. Sinclair, oder Inspector McLeod?« Adam lächelte schief, denn er gehörte durchaus derselben Loge an wie McLeod und Randall, allerdings keiner der Freimaurer. »Nein, ich bin kein Mitglied der Königlichen Kunst, Sergeant, obwohl ich sie gewiß achte und respektiere. Mein Vater und Großvater waren beide Meister der Freimaurerei.« »Tja, dann wissen Sie ja, daß unsere Bruderschaft immer von Kontroversen umgeben war. Unglücklicherweise hatten wir in den vergangenen Jahren einige beträchtliche Skandale Beschuldigungen der Korruption und dergleichen. Aber das ist das schmutzige Werk von ein paar isolierten Einzelpersonen und hat nichts mit den wahren Absichten der ganzen Organisation zu tun.« »Das ist genau der Punkt, auf den Randall mit seinen Artikeln und Leserbriefen aufmerksam machen wollte«, bemerkte Adam. Er seufzte. »Alle Organisationen, die organisierten Kirchen eingeschlossen, sind menschliche Institutionen, selbst wenn sie von Gott inspiriert wurden. Und solange Menschen sie bilden und leiten, werden einige wenige immer versucht sein, die Privilegien der ausgewählten Mitgliedschaft zu mißbrauchen.« Eine Bewegung auf der gegen überliegenden Seite der Lichtung zeigte an, daß Constable Jamison von seinem Erkundungsgang durch die Umgebung zurückgekehrt war. »Ich konnte nichts Brauchbares finden, Sergeant«, rief er vom Waldrand herunter. »Dort hinten gibt es tatsächlich eine Straße, aber die ist schlimmer beieinander als eine Wildschweinsuhle, und der Schnee schmilzt alles zu Matsch. Es waren schon Autos dort, aber es sind keine deutlichen Reifen- oder Fußspuren zu erkennen.« Düster resigniert rollte Kirkpatrick mit den Augen. »Dann lassen wir das erst einmal«, rief er seinem jungen -122-
Untergebenen zu. »Gehen Sie weiter bis zurück zum Auto und tauen Sie sich dort auf - und schicken Sie Mr. Heriot zu mir, damit er mich ablöst. Wir werden hier abwechselnd Wache halten, bis die Burschen von der Mordkommission kommen.« Er winkte den jungen Mann fort, dann drehte er sich wieder Adam zu und straffte die Schultern, als wollte er die feuchte Kälte ihrer Umgebung abschüttern. McLeod war wieder aufgestanden und sah aus, als hätte er sich etwas gefaßt. »Sie könnten ebenfalls zurückgehen, meine Herren«, sagte Kirkpatrick. »Es wird einige Stunden dauern, bis die Verstärkung hier ist. Nehmen Sie McArdle und Mr. Lovat mit sich. Im Land Rover haben wir Kaffee. Lassen Sie sich von Mr. Jamison welchen geben. In ein paar Minuten komme ich dann nach.« Diese Bemerkung war hauptsächlich an McLeod gerichtet. Der Inspector raffte sich auf. Jetzt sah man ihm an, daß er schon zweiundfünfzig Jahre alt war. »Das erinnert mich an etwas anderes, das zu tun ist«, sagte er grimmig. »Wo ist denn Mr. Lovat?« »Hier drüben!« antwortete eine helle Stimme. Sie wandten sich um und sahen, daß Peregrine immer noch neben einer der Eichen aus dem Baumkreis stand, doch er hatte schon den Skizzenblock und den Bleistift in Händen. McArdle beobachtete ihn neugierig aus einer Entfernung von einigen Metern. Der junge Künstler sah immer noch etwas blaß aus, aber sein Gesichtsausdruck verriet verbissene Entschlossenheit und daß er ungehalten darüber war, daß der Wildhüter sich so nahe bei ihm aufhielt. »Ich hatte mir schon gedacht, daß Sie schließlich meine Dienste würden in Anspruch nehmen wollen«, sagte er etwas herausfordernd, »und so dachte ich, ich sollte lieber schon einmal anfangen, bevor meine Hände zu gefühllos zum Zeichnen sind. Ich werde noch fünfzehn oder zwanzig Minuten -123-
brauchen, aber wegen mir müssen Sie nicht warten.« »Sind Sie sich dessen sicher?« fragte Adam. Peregrine zuckte die Achseln und widmete sich wieder dem Zeichnen. Adam bemerkte allerdings, daß er es immer noch vermied, Randall Stewarts Leiche gezielt zu betrachten. »Ja, gehen Sie nur. Der Sergeant wird noch eine Weile hierbleiben, und dann kommt ja PC Heriot. Wenn ich fertig bin, komme ich nach.« Kapitel 9 Froh, daß er sich nun, nachdem seine Geschichte bestätigt worden war, von dem grausigen Anblick im Kreis der Eichen abwenden durfte, und zweifellos darauf erpicht, in die bescheidene Wärme eines Autos zu flüchten, kämpfte sich McArdle allein voran. Adam und - immer noch erschüttert McLeod folgten langsamer. Adam warf einen letzten, nachdenklichen Blick auf Peregrine zurück, bevor sie den Hügelrücken überquerten und hinabgingen, wodurch er den Künstler aus dem Blickfeld verlieren würde. Daß Peregrine schon begonnen hatte zu skizzieren und offensichtlich beabsichtigte, sich freiwillig den Visionen zu öffnen, die ihn fast umgeworfen hatten, als er auf die Szene gestoßen war, stellte das einzige ermutigende Ereignis an diesem tragisch überschatteten Morgen dar. So sehr Adam auch auf die Informationen neugierig war, die Peregrine vielleicht liefern konnte, war er doch nicht bereit gewesen, ihn darum zu bitten. Peregrines anfängliche Eindrücke wirkten verheerend, viel mächtiger und überwältigender als alles, was er erlebt hatte, seit er sich in Adams Schutz begeben hatte; die bisherigen Erfahrungen hatten gezeigt, daß der junge Künstler nicht gern etwas verweigern würde, von dem er glaubte, Adam würde es brauchen. Aber Peregrine hatte sich anscheinend schon dafür -124-
entschieden, die Belastung jeder weiteren parapsychischen Erinnerung zu ertragen, und war zuversichtlich genug, damit allein fertig zu werden. Es sagte viel über seinen persönlichen Mut, wie auch über seine zunehmende Hingabe an die Sache, der Adam und seine Kollegen dienten. Zumindest dies war für Adam tröstlich. In der Zwischenzeit gestatteten die Umstände endlich ein paar persönliche Worte mit McLeod, da McArdle ihnen immer weiter vorauslief. Adam warf einen Seitenblick auf den Inspector. McLeod fing den Blick auf. Er schaute finster drein, seine Stirn war so dunkel wie eine Gewitterwolke. »Selbst in meinen finstersten Träumen hätte ich mir nie vorgestellt«, murmelte er, »daß ein Mitglied unserer eigenen Jagdloge wie ein Schaf abgeschlachtet werden sollte, und daß niemand von uns etwas davon wußte, bis alles vorbei war!« Er grub die Zähne grimmig in seine Unterlippe und schüttelte den Kopf. »Es stimmt, mir war gestern den ganzen Abend unbehaglich - aber ich hatte nicht ein einziges Mal den Verdacht, daß dies der Grund dafür sein könnte. Nicht einmal, als Kirkpatrick anrief.« »Das ist nicht deine Schuld«, erwiderte Adam. »Christopher und Victoria waren bei mir auf Strathmourne, und keiner von uns hatte eine Vorahnung von Schwierigkeiten.« »Das verstehe ich nicht«, sagte McLeod. »Randall war einer von uns - ein ausgebildeter Okkultist. Er hatte die Möglichkeit, einen astralen Notruf auszusenden. Warum hat er es nicht getan?« »Ich habe den Verdacht, er stand schwer unter Drogen«, sagte Adam. »Das könnte es verhindert haben. Seine Mörder dürften ihn so lange bewußtlos gehalten haben, wie es für sie praktisch war. Aus der Aussage des Wildhüters und den Indizien an Ort und Stelle ergibt sich klar, daß Randalls Tod als rituelles Opfer beabsichtigt war. Da dies der Fall war, wären die Mörder kein -125-
Risiko eingegangen, daß etwas schiefgehen könnte.« »Die verdammten Mistkerle!« McLeod spie das Wort aus, als schmeckte es nach Galle. Als er sich wieder Adam zuwandte, schwelte es in seinen blauen Augen. »Wer zum Teufel waren diese Leute, Adam? Selbst wenn Randall zu betäubt war, um Hilfe zu rufen, so hätte doch eine solche Tötung ihre eigenen Schockwellen erzeugen müssen. Warum haben wir das nicht gespürt?« »Ich weiß es nicht«, sagte Adam düster. »Es ist möglich, daß die Mörder selbst unerfahrene Leute waren, die einfach eine vorgeschriebene Folge von Bewegungen ausführten, ohne tatsächlich eine Macht aufzurühren. Und es ist genauso möglich, daß sie genau wußten, was sie taten, und fähig genug waren, ihr Werk abzuschirmen, solang es vonstatten ging. Das können wir jetzt noch nicht wissen. Es gibt einfach zu wenig Beweise.« »Aber warum Randall?« fragte McLeod hartnäckig. »Das frage ich mich, seit wir ihn gefunden haben«, erwiderte Adam grimmig. »Bis jetzt habe ich keine befriedigende Antwort gefunden. Aber soviel bin ich mir sicher: Randall wurde nicht zufällig getötet. Im Gegenteil, er wurde sorgfältig von jemandem ausgewählt, der sich eine Menge Mühe gab, ihn aus dem Schutz seiner Familie und seiner Freunde weg zu locken.« »Ihn weg zu locken?« McLeod blieb stehen und starrte Adam an. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie eine Theorie über die ganze Sache haben?« »Eine Theorie, ja«, erklärte Adam, »allerdings ist sie mir erst jetzt gekommen. Am Samstag war ich bei Randall - ich hatte Peregrine mit genommen, damit Randall ihn kennenlernen konnte. Kurz bevor wir weggingen, erwähnte Randall, er plane, am Sonntag nach Stirling hinüber zu fahren, um eine Sammlung seltener Bücher aus einem Nachlaß zu schätzen. Jetzt frage ich mich, ob das vielleicht die Falle für eine Entführung war.« »Nun, wenigstens ist das so etwas wie eine Spur«, sagte -126-
McLeod bitter. »Sicher haben wir sonst nicht viel, von dem wir ausgehen können. Sobald ich wieder in Edinburgh bin, werde ich ein paar von meinen Männern darauf ansetzen. Gott weiß jedoch, daß der arme Randall nicht viel von schriftlichen Aufzeichnungen hielt«, fügte er hinzu und schüttelte mürrisch den Kopf. »Aber vielleicht erinnert sich Miranda an den Namen und die Adresse des vermeintlichen Sammlers - vorausgesetzt, der Schock über diese ganze elende Sache lastet nicht zu schwer auf ihr.« »Was mich daran erinnert, daß jemand zu ihr gehen sollte, bevor sie die Nachricht von Fremden hört«, sagte Adam. »Christopher oder Victoria wären ideal, falls ich sie erreichen kann. Haben Sie dieses höchst praktische Mobiltelefon dabei?« »Aye. Aber die Houstons schaffen es vielleicht nicht rechtzeitig, wenn sie erst von Kinross hinunterfahren müssen«, bemerkte McLeod. »Ich werde Jane schicken. Ich muß sie sowieso anrufen. Sobald sie hört, was geschehen ist, wird sie wissen, was zu tun ist.« Kurz bevor sie an den Autos anlangten, kam Constable Heriot an ihnen vorbei, erneut unterwegs zum Tatort, und sie fanden Jamison zusammen gekauert auf dem Fahrersitz des Land Rovers, wo er über Funk mit jemandem sprach und sich Notizen machte. McArdle saß mit einem Styropor-Becher Kaffee auf dem Rücksitz und sah müde und mürrisch aus. »Gehen Sie und rufen Sie an«, murmelte Adam und winkte McLeod zu ihrem eigenen Fahrzeug. »Ich schau mal, ob ich uns etwas Kaffee besorgen kann. Wir haben ja den unseren auf dem Herweg ausgetrunken.« McLeod knurrte und ging weiter zu dem Auto. Er saß fast eine Minute lang zusammen gesunken auf dem Beifahrersitz, bevor er sich dazu aufraffen konnte, das tragbare Telefon aus seiner Reißverschlußtasche hinter dem Sitz zu holen. Jane nahm fast sofort ab, aber er hielt das Gespräch kurz und absichtlich -127-
unbestimmt; in solchen Situationen war er sich nur allzu sehr bewußt, daß ein Mobiltelefon keine abhörsichere Verbindung herstellte. Jane brach in Tränen aus, als er ihr sagte, es habe einen Unfall gegeben und Randall Stewart sei tot, aber sie versprach, sofort zu Miranda zu gehen. McLeod seinerseits versprach ihr, er werde ihr mehr Einzelheiten erzählen, sobald er nach Hause käme, allerdings warnte er sie, daß es sehr spät werden könnte. Falls Jane sich an das erinnerte, was sie von seinem ursprünglichen Gespräch mit Kirkpatrick mitgehört hatte, dann würde sie zwei und zwei zusammenzählen und etwas von dem erraten können, was geschehen war. Aber er wußte, er konnte sich auf sie verlassen, daß sie Miranda nicht unnötig ängstigte. Am besten wäre es, wenn jemand anders dem Mädchen erzählte, wie ihr Vater gestorben war - obwohl er sich verzweifelt wünschte, daß es ihr gar niemand erzählen müßte. Danach war er plötzlich unsagbar müde. Er stellte den Motor an, so daß er einige Minuten die Heizung laufen lassen konnte die Ledersitze des Range Rovers waren eiskalt -, dann beugte er sich wieder über den Vordersitz und steckte Telefon und Pistole in die Reisetasche. Er hielt die Hände über zwei Heizungsdüsen, und allmählich bekam er wieder etwas Gefühl in den Fingern doch nicht in seiner Seele. Nach einer kleinen Weile kehrte Adam mit zwei dampfenden Styropor-Bechern zurück, und mit der Nachricht, daß die ersten Verstärkungen während der nächsten Stunde zu erwarten waren. Als sie an dem Kaffee nippten, den McLeod zum schlechtesten erklärte, den er je getrunken habe, kehrte Kirkpatrick zurück. Er winkte ihnen zu, während er an ihnen vorbei zu seinem Fahrzeug stapfte, doch Peregrine war nicht bei ihm. Als eine volle halbe Stunde vergangen war, seit sie den Schauplatz des Mordes verlassen hatten, und Peregrine sich immer noch nicht zeigte, begannen sich Adam und McLeod Sorgen zu machen. »Jetzt ist er schon so lange dort«, sagte McLeod und schaute -128-
auf die Uhr. Gereiztheit verbarg seine Sorge. »Hat unser junger Mr. Lovat sich mehr aufgeladen, als er aushalten kann?« Adam verzog das Gesicht. »Wenn er nicht binnen fünf Minuten zurückkommt, gehe ich und schaue nach. Ich dachte, er würde damit fertig werden - aber vielleicht doch nicht.« Genau in diesem Augenblick trat Peregrine zwischen den Bäumen am Ende des Pfades hervor. Er sah bleich und erschöpft, aber auch triumphierend aus und taumelte vor Müdigkeit. Sein Skizzenkasten hing an seinem Arm, als wäre er mit Ziegelsteinen beschwert. Er winkte ab, als McLeod seine Tür öffnete. Verbissen stapfte er durch den noch verbliebenen Schnee, riß die hintere Tür des Range Rovers auf und ließ sich praktisch hineinfallen. Nachdem er die Tür zugeschlagen hatte, drückte er den Skizzenkasten an die Brust und sank an die Lehne seines Sitzes. Er schloß kurz die Augen. »Ich glaube, die ersten Zeichnungen werden jede forensische Neugier befriedigen, Inspector«, sagte er heiser. »Es sind noch ein paar mehr...« Er verstummte und schien gleich vor Erschöpfung einzunicken. Nach einem beunruhigten Blick auf McLeod streifte Adam einen Handschuh ab und holte aus seinem Schaffellmantel die kleine Silberflasche hervor, die er für gewöhnlich auf seinen Ausflügen mitnahm. Mit einer geschickten Drehung öffnete er den Stöpsel und bot sie Peregrine mit einer Geste an, die keinen Widerspruch duldete. »Hier, nehmen Sie einen guten, kräftigen Schluck!« befahl er. Sanft nahm Peregrine die Flasche entgegen und hob sie mit zitternden Händen an seine Lippen. Der erste Schluck ließ ihn keuchen, brachte aber auch wieder etwas Farbe in sein bleiches Gesicht. »Jetzt nehmen Sie noch einen«, sagte Adam. »So ist's recht. Fühlen Sie sich schon besser?« Peregrine nickte, noch ziemlich außer Atem, und reichte -129-
Adam die Flasche zurück. »Mir geht es schon wieder gut«, sagte er mit etwas stärkerer Stimme. »Ich habe alle Skizzen in meinem Kasten verstaut. Die nur für Ihre Augen bestimmt sind, befinden sich unten. Ich war mir nicht sicher, ob ich es nicht zuerst mit einem Haufen neugieriger Polizisten zu tun haben würde. Und ich dachte schon, Sie würden McArdle gar nicht mehr von dort weg bekommen.« Adam steckte die Flasche wieder in seine Tasche und griff nach Peregrines Skizzenkasten. Während der Künstler vorgebeugt saß und zuschaute, die Ellbogen auf die Rückenlehnen der beiden Vorsitze gestützt, öffnete Adam den Skizzenkasten auf der Konsole zwischen Fahrer- und Beifahrersitz und nahm die Zeichnungen eine nach der anderen heraus. Bei den ersten paar Skizzen handelte es sich um die korrekten forensischen Studien, die Peregrine versprochen hatte. Sie gaben den Schauplatz des Mordes aus verschiedenen Blickwinkeln mit der klinischen Genauigkeit von Fotografien wieder. Adam kniff die Lippen zusammen, als er sie durchschaute, doch als er zu den letzten beiden Skizzen kam, weiteten sich seine dunklen Augen bestürzt und entsetzt. Die erste zeigte Randall auf den Knien, von hinten gefesselt inmitten einiger Männer mit weißen Gewändern und tiefen Kapuzen, die die Gesichter verdeckten. Einer von ihnen kniete mit gesenktem Kopf vor Randall, den Rücken dem Betrachter zugekehrt, und hielt ihm etwas hin, das von dem Körper des Mannes verdeckt wurde - wahrscheinlich die Schale oder was immer McArdle gesehen hatte. Weitere Weißgekleidete bildeten einen Kreis um die Männer in der Mitte, und zwar genau dort, wo der Aschenring den Bereich ihrer schwarzmagischen Arbeit umgrenzte. Doch alle Gesichter - außer dem von Randall waren in einem boshaften Kontrast zu den lebhaften Details des restlichen Bildes wie von einem dichten schwarzen Nebel -130-
verdunkelt. Diese Abschirmung selbst war ausreichende Bestätigung dafür, daß es sich bei Randalls Mördern um vollkommene schwarze Adepten handelte. Doch was Adams Blick wie ein Magnet anzog, mehr noch als der Ausdruck des Schreckens, der sich auf Randalls Gesicht abzeichnete, war der Hinweis, daß jeder der weißgekleideten Männer ein Medaillon um den Hals und einen Ring an der Hand trug - beides Kennzeichen der Loge der Luchse. Peregrines letzte Zeichnung bestätigte Adams Verdacht und vermittelte auch den vollen Schrecken des Mordes, mehr noch als die vorhergehenden. Peregrine wurde zu gut darin. Der Ausdruck der Todesangst, den er auf Randalls Gesicht eingefangen hatte, war etwas, von dem Adam hoffte, er würde es nie wieder sehen oder sich auch nur vorstellen müssen. Es war eine eingehendere Studie von Randall und dem Mann, der ihn tatsächlich getötet hatte, kurz vor dem tödlichen Stoß. Die Hand des letzteren war um den Griff eines Gegenstandes geschlossenen, der sich bei näherer Betrachtung als ein Chirurgenskalpell erwies und unmittelbar neben Randalls rechtem Ohr verharrte. Die linke Hand des Mannes zog - wie andere Hände auch - den Kopf des Opfers brutal zurück, um den Hals freizulegen. Aus diesem Blickwinkel konnte man nicht das Emblem auf dem Medaillon sehen, das um den Hals des Mörders hing, aber der Ring an seinem Ringfinger zeigte das Intaglio eines Luchskopfes. Neben ihm gab McLeod einen kehligen Laut von sich, der sich anhörte wie das warnende Knurren einer Bulldogge. »Also«, brachte er hervor, »die Loge der Luchse hebt wieder ihr häßliches Haupt. Vermutlich ist das ihre Idee einer Rache für die Geschehnisse bei Urquhart Castle.« »Ich weiß nicht«, sagte Adam langsam. Mit Mühe zwang er seinen Blick, von dem Ausdruck auf Randalls Gesicht -131-
abzulassen und wieder zu der Hand zurück zu kehren, die das Skalpell hielt. »Was heißt ›weiß nicht‹ ?« McLeods rauhe Stimme klang ungläubig. »Das ist doch ihre Visitenkarte, schlicht und einfach.« »Ja, aber Rache kann wohl kaum das Motiv gewesen sein«, erwiderte Adam und bemühte sich erneut um eine distanziertere Perspektive - als ob dies nach einem solchen Ereignis möglich wäre. »Randall war nicht einmal indirekt - in eines der Ereignisse verwickelt, durch die wir drei schließlich zu der Konfrontation am Loch Ness kamen. Ohne diese Verbindung gibt es einfach keinen Grund, warum die Loge der Luchse ihn mit uns in Beziehung gebracht haben sollte.« »Aber unsere Namen standen in den meisten Zeitungsberichten - zumindest aber meiner«, erwiderte McLeod. »Falls die Loge der Luchse sich einmal mit unserem Umfeld befaßt haben sollte, könnte durchaus jemand heraus gefunden haben, daß Randall ein enger Bekannter von uns war...« »Und in diesem Fall ist es noch unwahrscheinlicher, daß sie ihn aus Vergeltung umgebracht hätten«, bemerkte Adam scharf. »Denken Sie doch einmal nach, Noel. Falls unsere Gegenspieler jetzt genug über uns wissen, um zu erraten, wie und warum wir dazu kamen, uns in ihre Angelegenheiten einzumischen, warum sollten sie sich dann überhaupt mit Randall abgeben, wenn wir viel naheliegendere Ziele sind? Außerdem, wenn sie lediglich daran interessiert sind, ein Leben für ein anderes auszulöschen, dann gibt es viel leichtere und prosaischere Methoden, einen Gegner zu töten, als sich die Mühe zu machen und einen Ritualmord zu inszenieren. Aber sie haben einen Ritualmord inszeniert - was bedeutet, daß das Ritual selbst das Wichtige ist. Hätten sie auch nur einen Augenblick vermutet, daß Randall einer von uns war«, so schloß er, »dann hätten sie ihn niemals angefaßt, aus Angst, uns Übrige -132-
zu alarmieren. Das läßt mich glauben, daß sie es nicht wußten.« »Und Randall - Gott schenke seiner Seele Frieden hatte nicht vor, etwas zu tun, das ihn - oder uns - verraten würde«, sagte McLeod düster, »selbst wenn es ihn das Leben kostete.« »Selbst wenn er eine Wahl dabei gehabt hätte«, ergänzte Adam. »Ich wette mit Ihnen, was Sie wollen, daß die Autopsie ergeben wird, daß ihm eine hohe Dosis bewußtseinsverändernder Drogen verpaßt wurde. Wenn die Götter gnädig mit ihm waren, dann hat er gar nicht richtig gemerkt, was mit ihm geschah.« Das Schaudern, mit dem er die letzte Skizze mit der vorhergehenden bedeckte, legte den Gedanken nahe, daß er nicht daran glaubte. Peregrine glaubte es sicher nicht. Als er auch zitterte und sich die Arme um den Oberkörper schlang, gegen ein Frösteln nämlich, das nichts mit der Kälte zu tun hatte, da dachte Peregrine, er habe eine nur allzu klare Vorstellung davon, was mit Randall Stewart geschehen war. »Wenn es darum geht, wer im besonderen dafür verantwortlich war«, fuhr Adam mit festerer Stimme fort und wies auf die Skizze, die jetzt obenauf lag, »so deutet die Tatsache, daß Peregrine anstelle der Gesichter in dem Kreis nichts als verschwommene Flecken sehen konnte, darauf hin, daß zumindest ein Adept zugegen gewesen sein muß, der über Kräfte verfügt, die durchaus dem Besten ebenbürtig sind, was wir selbst aufbieten könnten. Wer immer dies sein mag, er beherrscht sein Handwerk ausreichend, um sein Werk selbst vor den Augen derjenigen zu verhüllen, die wissen, wonach sie suchen müssen.« Von plötzlichen Zweifeln gepackt, blinzelte Peregrine und blickte die beiden Älteren an. »Vielleicht lag es an mir«, flüsterte er düster. »Vielleicht wußte ich nicht, wonach ich suchen mußte.« »O nein, Sie wußten, wonach Sie suchen mußten«, sagte -133-
Adam und nahm die restlichen Zeichnungen, um sie alle wieder in den Kasten zu legen. »Sie hätten diese letzten beiden Bilder nicht zeichnen können, wenn Sie nicht genau gewußt hätten, womit Sie es zu tun hatten.« Er klopfte zum Nachdruck auf den Deckel des Kastens. »Nein, wir haben es hier mit Profis zu tun. Und deren Profession gefällt mir nicht!« Dieser knappen Erklärung folgte bestürztes Schweigen. Erst nach einigen spannungsgeladenen Sekunden räusperte sich McLeod. »Also gut, wir haben uns in etwa allgemein auf das Wer geeinigt - und das Wie ist auch nur allzu klar. Was ich noch wissen will, ist das Warum. Warum Randall?« Adam seufzte und schüttelte den Kopf, dann schaute er blicklos durch das Autofenster auf den jungfräulichen Schnee. Er versuchte, Randalls Gesicht nicht zu sehen. »Ich wünschte, ich könnte darauf eine Antwort geben«, sagte er ruhig. »Wenn wir das Rachemotiv beiseite lassen, folgt daraus, daß er ausgewählt wurde, weil etwas anderes an ihm war, etwas, was ihn zu einem passenden Opfer für die Zwecke seiner Mörder machte, worin auch immer die bestanden haben mochten. Wenn wir nur mehr über diese Absichten wüßten über den bloßen Vollzug eines Ritualmords oder eines Opfers hinaus -, dann könnten wir vielleicht erraten, warum Randall das Ziel sein mußte. So, wie die Dinge liegen...« Da er den Satz nicht vollendete, blickte Peregrine mit einem gewissen Unbehagen von Adam zu McLeod und wieder zurück. »Also, wie gehen wir weiter vor?« »Herrgott, ich wünschte, ich wüßte es«, sagte Adam, der sich sichtlich zwang, wieder zu den praktischen Dingen zurück zu kehren. »Die Tatsache, daß die Mordwaffe ein Skalpell war, legt den Gedanken nahe, daß ein Arzt in die Sache verwickelt ist. Aber das ist alles nur - eine Vermutung. So gut wie jeder kann sich ein Skalpell kaufen. Ohne weitere Informationen können -134-
wir genauso gut die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen suchen.« Noch nie zuvor hatte Peregrine Adam so ungeduldig gegen über sich selbst erlebt. Nach einem weiteren unbehaglichen Schweigen seufzte McLeod schwer und verschränkte die Arme über der Brust. »Tja, vermutlich könnte es noch schlimmer sein«, murmelte er. »Da gibt es noch das Ergebnis der Autopsie und die Berichte der Spurensicherung. Die könnten uns auf eine Spur bringen.« Adam hob den Kopf. In seinen dunklen Augen lag ein scharfes Funkeln, das Peregrine nicht zu deuten wußte. Doch bevor der Ältere sprechen konnte, klopfte jemand an McLeods Fenster. Er drückte den Knopf des elektrischen Fensterhebers und öffnete einen Spalt. PC Jamison beugte sich zu ihm. »Verzeihung, Inspector, aber die Mordkommission ist hierher unterwegs«, sagte er. »Sie haben soeben das Tor passiert und warnen uns, daß ihnen einige Medienleute folgen, die sie aufgespürt haben. Sergeant Kirkpatrick dachte, Sie sollten es wissen, Sir.« McLeod holte tief Luft und straffte die Schultern mit der kämpferischen Miene eines Ringers, der gerade mit einem Gegner handgemein wird, der als besonders schwierig und zu schmutzigen Tricks neigend bekannt ist. »Danke für die Warnung, Mr. Jamison«, sagte er und nickte. »Sagen Sie dem Sergeant, er solle sich keine Sorgen machen. Wenn er sich mit dem Team von der Mordkommission befaßt, werde ich schauen, was man machen kann, um die Presse in Schach zu halten.« Jamison salutierte andeutungsweise und zog sich zurück. McLeod schnitt eine Grimasse und zog den Reißverschluß seiner Jacke hoch, bevor er seine Handschuhe anzog. »Tja, Zeit für uns alle, uns wieder wie Profis zu benehmen. Das ist so ein Fall, wie ihn die Presse liebt. Kirkpatricks Leute -135-
werden so klug sein, den Mund zu halten, aber ich werde mal ein Wörtchen mit diesem Wildhüter reden. Die Windhunde von der Presse hätten einen Mordsspaß, wenn sie ihn zum Reden bringen könnten.« Als er ausstieg und die Tür fest zuschlug, nahm Peregrine seine Brille ab und wischte die Gläser mit seinem Taschentuch. Er schaute Adam nachdenklich an, bevor er sie wieder aufsetzte und versuchte, die Professionalität zu zeigen, die McLeod verlangt hatte. »Wie lange dauert es gewöhnlich, bis die Berichte eintreffen, die Inspector McLeod erwähnt hat?« Adam zuckte mit den Achseln und suchte zerstreut im Rückspiegel nach einem Anzeichen für die erwarteten Polizisten und Presseleute. »Von drei oder vier Tagen bis zu einer Woche, abhängig davon, wie viele andere Fälle auf den Polizeipathologen warten. Wir werden natürlich alles tun, was wir können, um den Prozeß zu beschleunigen, aber - aha, da kommt unsere Verstärkung.« Als das erste Polizeifahrzeug nahe hinter ihnen hielt, drehte sich Peregrine um und schaute durch das Rückfenster, dann blickte er wieder nachdenklich auf Adam, der seine Handschuhe anzog und sich anschickte auszusteigen. »Adam, ich weiß, das mag ein wenig abwegig klingen«, bemerkte er, »aber Sie haben es schließlich heute nacht erwähnt. Wir sind nicht sonderlich weit von Baimoral entfernt. Glauben Sie, wir sollten uns noch den Turm anschauen, der vom Blitz beschädigt wurde - sobald wir hier fertig sind?« Adam seufzte und nickte. »Wahrscheinlich sollten wir das. Aber offen gesagt, glaube ich nicht, daß wir noch fit genug sind für diesen zusätzlichen Abstecher. Das kann noch ein paar Tage warten. Im Augenblick ist es wichtiger, daß ich nach Hause komme. Miranda muß getröstet werden - möglicherweise in der professionellen Eigenschaft, an die Noel uns mit Recht erinnert -136-
hat und es gibt andere Leute, mit denen ich Kontakt aufnehmen muß - Verbündete, die erfahren sollen, was geschehen ist.« »Wie die Houstons?« fragte Peregrine. »Unter anderem«, erwiderte Adam grimmig. »Selbst wenn Randall nicht das Opfer gewesen wäre, so bestätigt all dies doch, daß eindeutig die Loge der Luchse wieder tätig ist. Und falls sie auf die Tatsache gestoßen sein sollten, daß wir hinter ihnen her sind, und wußten, daß Randall einer von uns war, dann ist es für alle wichtig, auf der Hut zu sein. So oder so zweifle ich nicht daran, daß wir hier erst am Anfang einer möglicherweise sehr gefährlichen Auseinandersetzung stehen.« Kapitel 10 Erst im Laufe des Nachmittags kam McLeod zu dem Schluß, sie seien endlich frei, Baltierny zu verlassen. Als schließlich die Ambulanz eingetroffen war, um die Leiche abzuholen, waren er und Adam noch einmal mit Kirkpatrick zum Tatort hochgestapft, aber Peregrine hatte es vorgezogen, im Auto zu bleiben, da er seiner Meinung nach schon soviel von dem Mord gesehen hatte, wie er an einem Tag gerade verkraften konnte. Am Schauplatz des Verbrechens übernahmen Adam und McLeod von den Sanitätern die Aufgabe, die Bahre mit den sterblichen Überresten von Randall Stewart, die in einen schwarzen Leichensack aus Plastik eingeschlossen waren, herunterzutragen. Am Unfallwagen angelangt, übergaben sie ihn der Obhut der Sanitäter. Den Vorschriften entsprechend würde man die Leiche in die Leichenhalle des Perth Royal Infirmary bringen, wo die Autopsie und weitere gerichtsmedizinische Untersuchungen stattfinden sollten. Adam schätzte, daß es wahrscheinlich mindestens eine Woche dauern würde, bis der Leichnam der Familie zur Bestattung freigegeben werden konnte. Während die Sanitäter die Bahre durch die offene Hecktür ihres Wagens -137-
schoben, suchte er in seinem Gedächtnis nach einigen persönlichen Worten des Abschieds und wählte Sätze aus der Vorstellungswelt der Galen, die der Mann, der so grausam umgebracht worden war, so sehr geliebt hatte: Das Erbarmen des großen Gottes sei mit dir, Randall, mein Freundder Friede Gottes, der Friede Christi, der Friede des Heiligen Geistes. Möge der Erzengel Michael dich im Schatten seiner Schwingen beschützen, um dich schnell heimzubringen an den Hof des höchsten Herrn und dich heimzugeleiten zur Dreifaltigkeit der alles übersteigenden Liebe... Auf dem Rückweg nach Strathmourne sprach keiner viel. Adam und McLeod schienen sich in die privaten Welten ihrer eigenen Trauer zurück gezogen haben, Peregrine saß zu einem müden Haufen zusammen gesunken auf dem Rücksitz und empfand ein entmutigendes Gefühl der Isolierung. Da er Randall Stewart nicht gut gekannt hatte, konnte er nur darüber spekulieren, was Adam und McLeod wohl denken mochten, während sie durch die Düsterkeit des trübseligen Novemberzwielichts nach Hause fuhren. Nach einer Weile überwältigte ihn seine Erschöpfung, und er fiel in einen unruhigen Schlaf. Irgendwann später wachte er auf, als der Range Rover anhielt, und zwar vor dem hinteren Tor von Strathmourne, wie er bald erkannte. Mit einer Plötzlichkeit, die fast abweisend gewirkt hätte, wenn Peregrine nicht die tiefe Trauer gespürt hätte, die sich hinter der Barschheit verbarg, ließ Adam ihn am Torhaus aussteigen. Er war sich schmerzlich seiner eigenen Unfähigkeit -138-
Adam zu helfen bewußt und schaute mutlos dem Auto hinterher, bis die Rücklichter in der Dunkelheit verschwunden waren. Sein hilfloses Verhalten entging McLeod nicht. Prüfend sah er zu Adam hinüber, während sie wegfuhren. »Ich bin mir nicht sicher, daß er von all dem soviel versteht, wie Sie meinen, Adam«, sagte er ruhig. »Und wenn Sie es wirklich vorhaben, ihn in die Jagd einzuweihen, dann ist es nicht hilfreich, wenn Sie ihn raten lassen.« »Glauben Sie, ich weiß das nicht?« In Adams gewöhnlich sanfter Stimme war ein herber Unterton von Erschöpfung zu hören. »Da Randall nun von uns gegangen ist, brauchen wir Peregrine mehr denn je - und ich weiß, daß dies heute hart für ihn war. Aber Erklärungen werden auf einen besseren Zeitpunkt warten müssen. Im Augenblick muß ich mich um dringendere Verantwortlichkeiten kümmern.« »Ich könnte noch bleiben und Ihnen zur Hand gehen wenn Sie sich diesen Luxus erlauben dürfen«, sagte McLeod. Adam schüttelte den Kopf. »Danke, aber nein. Sie müssen ebenfalls Ihre Arbeit machen, und Sie brauchen Ihre Ruhe, wenn Sie sie gut machen wollen. Als Meister der Jagd ist es an mir, mit den anderen Mitgliedern der Jagdloge Kontakt aufzunehmen und sie über die Tragödie zu unterrichten, die stattgefunden hat. Wenn ich ihnen schon keine Antworten liefern kann, dann muß ich doch zumindest den Trost anbieten, zu dem ich fähig bin...« Im Torhaus blieb Peregrine in dem winzigen Vorraum stehen und streifte die Straßenkleidung ab, bevor er in die Küche stapfte. Er stellte den Wasserkessel auf den Herd, dann ließ er sich auf den nächstbesten Stuhl fallen und versuchte, nicht nach zudenken. Schließlich bückte er sich und schnürte mit Fingern, die vor Müdigkeit zitterten, seine Stiefel auf. Früher am Tag war er nahe daran gewesen, die Fähigkeit zum Sehen zu verfluchen, die ihn zum unfreiwilligen Zeugen eines brutalen Mordes gemacht hatte. Ein Teil von ihm krümmte sich -139-
immer noch zusammen, wenn er das dachte, was in seinem Skizzenkasten lag - den er in Adams Auto zurückgelassen hatte, wie er plötzlich erkannte. Doch am nächsten Morgen würde es immer noch Zeit sein, ihn wieder zu holen. Wie beunruhigend und sogar übelkeiterregend die Erfahrung auch gewesen sein mochte, seine Abscheu war seitdem durch die Überlegung gemildert worden, daß seine Fähigkeiten den anderen immerhin Kenntnisse über die Umstände von Randall Stewarts Tod geliefert hatten, die sie auf andere Weise nicht hätten bekommen können. Als er auf seine Handlungen und sein Verhalten zurück schaute, tadelte er sich in Gedanken dafür, daß er sich fast von seiner Empfindlichkeit hatte überwältigen lassen. Er hoffte nur, daß er nichts getan hatte, womit er Adams Vertrauen in sein Engagement erschüttert hätte denn er erkannte, daß er auf Gedeih und Verderb engagiert war. Er wünschte sich nur, ihm fiele etwas Konstruktives ein, das er tun konnte. Schließlich war er zu müde, um noch weiter zu versuchen, es herauszufinden. Er schaltete den Herd ab, ohne sich noch die Mühe zu machen, Tee zu bereiten, und sank in sein Bett. Glücklicherweise träumte er nichts. Am nächsten Morgen erwachte er eine Stunde später als gewöhnlich. Er fühlte sich recht gut ausgeruht und ein wenig distanziert von der ganzen Sache. Es gelang ihm zu duschen, sich zu rasieren und sich anzuziehen, ohne sein Gehirn sonderlich zu beschäftigen. So richtig wachte er aber erst auf, als er die Morgenausgabe von The Independent hereinholte. Als er sie aufschlug, stürmte mit der Hauptschlagzeile der ganze Schrecken des vergangenen Tages wieder auf ihn ein, und sie enthüllte einen Aspekt von Randall Stewarts Tod, der ihm noch gar nicht aufgefallen war. Satanische Tötung auf schottischem Jagdbesitz, schrie es auf der ersten Seite in dicken schwarzen Lettern, volle zweieinhalb Zentimeter hoch. Und in kleinerer Schrift, aber nicht weniger schwarz: Mord unter Freimaurern? -140-
Peregrine blinzelte ganz verwirrt ob der gräßlichen Schlagzeilen, dann überflog er hastig den dazugehörigen Artikel. Das begleitende Foto zeigte nur eine Totale mit dem Baumkreis, den Absperrungsbändern, die über den Schnee gespannt waren und Polizeibeamten, die dahinter zugange waren, aber dem Autor des Berichts war es ein makabrer Genuß gewesen, mit Worten ein scheußlicheres Bild des Schauplatzes des Mordes zu malen. Der Artikel betrieb noch mehr Effekthascherei, indem er dunkel andeutete, Randall Stewarts Tod zeige eine deutliche Verbindung zwischen der Freimaurerei und der Ausübung schwarzer Magie. Was er las, reichte aus, um Peregrine wieder ins Haus sausen und Mantel und Autoschlüssel holen zu lassen. Sein Morris Minor war in der Garage auf der Rückseite des Torhauses geparkt, wo er ihn am Sonntagabend zurückgelassen hatte. Er holte ihn schnell heraus und jagte den kleinen Wagen die Auffahrt hinauf, daß Wasser und Kies nur so spritzten. Ein paar Minuten später bremste er kreischend an der Tür zum Westflügel, sprang aus dem Auto und klemmte die anstößige Zeitung unter den Arm. Aufgeregt riß er am Klingelzug. Ernst und ein wenig überrascht dreinblickend öffnete ihm Humphrey. »Vermutlich erwartet er mich nicht«, erklärte Peregrine ziemlich außer Atem, »aber glauben Sie, ich könnte kurz mit Sir Adam sprechen?« Adam stand in der Fensternische des Frühstückszimmers, als er die Schritte hörte, die sich draußen auf dem Korridor näherten. Der schnelle, ungestüme Schritt verriet sofort, wer sein Besucher war. Bevor Peregrine noch anklopfen konnte, wandte sich Adam vom Fenster ab und rief leise: »Kommen Sie herein, Peregrine.« Der Türknopf drehte sich mit Geklapper, der junge Künstler stolperte förmlich ins Zimmer und schwenkte eine zusammengerollte Zeitung. -141-
»Guten Morgen«, sagte Adam trocken. In seinem Mundwinkel zuckte ein freudloses Lächeln. »Ich nehme an, The Independent berichtet über den Mord von Baltierny mit der gleichen, ziemlich bizarren antifreimaurerischen Tendenz wie The Times und The Scotsman.« Diese nüchterne Bemerkung ließ Peregrine innehalten. Er holte tief Luft und nickte stumm. Sein Blick wanderte zur Seite, wo auf dem Frühstückstisch zwischen den spartanischen Überresten eines größtenteils nicht verzehrten Frühstücks die beiden anderen Zeitungen ausgebreitet lagen. »Ich wollte gerade Humphrey ins Dorf hinunter schicken, um zu sehen, was die anderen Tageszeitungen anzubieten haben«, fuhr Adam fort, »aber es sieht so aus, als könnten wir ohne weiteres davon ausgehen, daß alle größeren Zeitungen sich darüber einig sind, welche Motive Randall Stewarts Tod zugrunde liegen.« Peregrine hatte die Sprache wieder gefunden. »Adam«, sagte er ungehalten, »wie können die mit dieser Art billiger Sensationsmacherei durch kommen? Bloß weil die Freimaurer es vorziehen, ihre Rituale im Geheimen zu vollziehen, ist daß doch noch lange kein Grund zu unterstellen, sie befaßten sich mit Satanismus. Es gibt doch keinerlei Beweise für diese Behauptungen. Das ist ja alles ausgemachter Quatsch!« »Sie wissen das, und ich weiß es auch«, sagte Adam mit einem Achselzucken. »Aber mit Zurückhaltung verkauft man keine Zeitungen.« Peregrine blickte finster drein und warf seine Zeitung auf Adams Blätter. »Gibt es denn gar nichts, was man tun kann, um das zu berichtigen?« »Kurzfristig nicht«, erwiderte Adam. »Langfristig hoffe ich, daß wir das Glück haben werden, die wahren Verschwörer hinter dieser Sache zu erwischen.« Er sagte dies in einem kühlen, ruhigen Ton, doch seine -142-
Gedanken und Gefühle befanden sich nach dem Schmerz des vergangenen Tages noch im Aufruhr. Er riß sich von den Erinnerungen los, schaute Peregrines bleiches, angespanntes Gesicht genauer an und fragte: »Haben Sie heute morgen überhaupt schon etwas gegessen?« Der junge Künstler schüttelte den Kopf. »In diesem Fall«, sagte Adam, setzte sich und griff nach dem Telefon, »erlauben Sie mir, daß ich Humphrey noch etwas mehr Toast und eine frische Kanne Tee für Sie bringen lasse. Sie können essen, während ich Noel anrufe, um zu erfahren, ob es seit gestern abend irgend welche neuen Entwicklungen gibt.« Einen Augenblick lang war Peregrine versucht zu protestieren, doch Adam erteilte Humphrey schon die notwendigen Anweisungen. Als er dann ein Amt wählte und sich daran machte, McLeod aufzuspüren, ließ sich Peregrine auf seinem gewohnten Platz gegen über Adam nieder und lehnte sich wartend zurück. Dann nahm er sich eine Scheibe Toast aus dem silbernen Brothalter in der Mitte des Tisches. Wie Adam gehofft hatte, war McLeod schon in seinem Büro im Polizeipräsidium. Der Inspector meldete sich nach wenigen Sekunden. »O ja, ich habe die verdammten Zeitungen gesehen«, knurrte er auf Adams Frage hin. »Falls Sie noch keinen der Fernsehberichte von diesem Morgen angeschaut haben, da ist es fast genauso schlimm - außer daß sie dort über Korruption in der Regierung und Verschwörungen reden, anstatt von schwarzer Magie was bedeutet, daß keiner von den Journalisten irgend etwas weiß. Womit ich nicht sagen will, daß wir mehr wissen, so wie die Dinge im Augenblick liegen.« »Dann hat es also keine Fortschritte gegeben?« »Nein, nichts - es sei denn, Sie betrachten es als einen Fortschritt, wenn man im Kreis geht. Um die Sache noch schlimmer zu machen, ich habe die Anweisung bekommen, -143-
heute nach Perth zu fahren, um mit den dortigen Ermittlern zusammen zu arbeiten. Man hat für fünf Uhr nachmittag eine Pressekonferenz angesetzt. Ich hoffe bei Gott, daß wir bis dahin etwas Brauchbares in der Hand haben. Sonst werden die Medien weiter ihre Gerüchteküche brodeln lassen.« Er seufzte heftig. »In der Zwischenzeit schicke ich ein paar Leute zu Randalls Buchladen, um zu sehen, ob sie dort etwas Brauchbares aufstöbern können. Ich wünsche mir, sie würden Randalls Terminkalender irgendwo herumliegen sehen, aber ich würde wetten, daß Randall ihn bei sich im Auto hatte - wo immer das im Augenblick stehen mag. Wir suchen danach, aber wir werden abwarten müssen.« »Hatten Sie schon Gelegenheit, mit Miranda zu sprechen?« fragte Adam. »Nein, sie befindet sich noch mehr oder weniger in einem Schockzustand. Jane holte sie gestern abend in unser Haus, nachdem in Mayfield Terrace ein paar Schakale von einer Boulevardzeitung an der Tür erschienen. Da wußte sie schon, daß es kein Unfall gewesen war und daß ihr Vater ermordet worden war - die Polizei kam bereits am späten Nachmittag vorbei, um sie offiziell davon zu unterrichten -, doch weder sie noch Jane wußten irgend welche Einzelheiten. Das arme Mädel war danach wirklich außer sich, und deshalb rief Jane unseren Hausarzt an, damit er ihr ein Beruhigungsmittel gab. Als ich heute morgen aus dem Haus ging, schlief sie noch. Ich brachte es nicht übers Herz, sie zu wecken.« »Miranda ist also noch bei Ihnen zu Hause?« fragte Adam und spendete in Gedanken McLeods beherzter Gattin Beifall. »Aye. Ihre Tante kommt heute nachmittag von Aberdeen mit dem Zug und holt sie bis zur Beerdigung zu sich - wann immer die sein wird. Wir hielten es für eine gute Idee, sie in der Zwischenzeit in sicherer Entfernung zu halten. Und wenn sie schläft, kann sie sich wenigstens nicht grämen.« -144-
Adam blickte auf seine Armbanduhr. Sie zeigte zwanzig nach acht, was ihn daran erinnerte, daß er selber weniger als fünf Stunden geschlafen hatte, seit er in der letzten Nacht wieder nach Strathmourne zurückgekehrt war. Als Humphrey mit frischem Tee und Toast für Peregrine hereinkam, straffte Adam die schmerzenden Schultern und versuchte seine Müdigkeit zu vergessen, denn es blieb noch viel zu tun. »Nun gut. Um zehn beginnt meine Visite im Krankenhaus und ich habe sie schon gestern versäumt, also darf ich sie heute nicht ausfallen lassen -, aber sobald ich dort fertig bin, wäre es vielleicht eine gute Idee, wenn ich einmal zu Ihrem Haus hinüberfahre und Miranda persönlich besuche.« »Ich weiß, das bedeutet, daß Sie sich in einen ziemlichen Streß begeben«, bemerkte McLeod offen, »aber ich glaube, ein Besuch von Ihnen würde ihr im Augenblick mehr helfen als alles andere.« »Betrachten wir es damit als abgemacht«, erwiderte Adam. »Wenn Sie eher mit Jane sprechen als ich, dann sagen Sie ihr, daß ich sie anrufen werde, bevor ich von Jordanburn losfahre, um sie wissen zu lassen, daß ich unterwegs bin.« »Das wäre gut«, sagte McLeod. »Du lieber Himmel, bei mir warten jetzt schon Anrufe auf zwei verschiedenen Leitungen. Wahrscheinlich sind das auch alles Kerle von der Presse. Ich mache jetzt besser Schluß, aber ich werde versuchen, Sie am späten Nachmittag noch einmal zu erreichen.« »Das wäre schön. Danke, Noel.« Adam legte den Hörer zerstreut auf und wandte sich wieder Peregrine zu, der mit großen Augen Adams Teil des Gespräches mitgehört hatte. »Tja, die Pflicht ruft mich nach Edinburgh, fürchte ich«, sagte er und verzog das Gesicht. »Ich werde Sie jetzt sich selber überlassen müssen, während ich mich fertig mache.« Peregrine schluckte hastig einen Mundvoll Toast und spülte ihn mit einem Schluck Tee hinunter. -145-
»Hätten Sie gern, daß ich mitkomme?« fragte er mit heiserer Stimme. »Heute nicht«, erwiderte Adam mit der Andeutung eines Lächelns. »Mir ist so was in Erinnerung, als sollten Sie an einem Porträt des früheren Bürgermeisters von Edinburgh arbeiten.« »Das kann warten...« »Nein«, sagte Adam bestimmt. »Was auch sonst geschehen mag, ich bin immer noch ein Psychiater, der sich um Patienten kümmern muß, und Sie sind immer noch ein Künstler, der Aufträge auszuführen hat. Machen Sie sich keine Sorgen«, fügte er trocken hinzu. »Wenn ich Sie brauche - und ich versichere Ihnen, ich werde Sie wieder brauchen, sobald sich der derzeitige Staub etwas gelegt hat -, dann werden Sie früh genug davon erfahren.« Diese Zusicherung erleichterte Peregrine so weit, daß er es sich richtig bequem machen und Humphreys Tee und Toast tüchtig zusprechen konnte. Gern nahm er das Angebot eines warmen Frühstücks an, als der Butler kam und fragte, nachdem Adam nach oben gegangen war, um sich umzuziehen. Als Peregrine sich eine Schale mit dampfendem Porridge dazu reichlich Honig und Rahm - so richtig schmecken ließ, erinnerte ihn der Duft brutzelnden Specks aus der Küche daran, wieviel Zeit schon seit den altbackenen Sandwiches vom vorigen Nachmittag vergangen war. Er hatte den Porridge hinunter geschlungen und sich gerade die erste Hälfte eines Tellers mit Speck und Rührei einverleibt, als Adam den Kopf hereinsteckte und sich verabschiedete, bevor er zum Auto ging. Der Anblick, wie Peregrine mit so offensichtlichem Appetit sein Frühstück verzehrte, entlockte dem Herrn von Strathmourne ein Lächeln, und mit erhobenem Daumen signalisierte er seinem Gast: Gut so! Und da fühlte sich Peregrine erst so richtig wohl. Während Adams Schritte verhallten, kam Peregrine zu dem -146-
Schluß, daß er nach Beendigung des Frühstücks - nach vielleicht einem weiteren Ei und ein paar weiteren Speckschnitten wahrscheinlich bereit sein würde, erneut das Porträt des früheren Bürgermeisters von Edinburgh in Angriff zu nehmen. Eigentlich kam er mit dem Bild recht gut voran. Da der Range Rover immer noch von der Fahrt nach Baltierny mit Schmutz überzogen war, setzte sich Adam hinter das Lenkrad eines eleganteren Gefährts aus seiner Garage - eines schnittigen Jaguar XJS. Auf den Straßen lag Regenglätte, aber der Verkehr ins Stadtzentrum war relativ gering. Er kam rechtzeitig im Krankenhaus an, um seine routinemäßige Visite zu absolvieren, wobei er seine Zerstreutheit mit einer Gewandtheit überdeckte, die von langer Übung herrührte. Glücklicherweise befanden sich alle seine regulären Patienten in einem stabilen Zustand, es gab nur wenige Neuzugänge, und die Schar seiner angehenden Ärzte schaffte es, alle Neugier wegen des vorigen Tages zu zügeln. Einer der Reporter der Sensationsblätter hatte Adam am Tatort erkannt und ihn in dem begleitenden Artikel namentlich erwähnt. Kurz nach zwölf Uhr mittags war Adam fertig und konnte sich ungehindert den Dingen widmen, die den ganzen Vormittag über seine Gedanken an erster Stelle beschäftigt hatten. Er nahm einen schnellen Lunch ein, da er wußte, daß er essen mußte, rief wie versprochen bei Jane McLeod an und trug sich aus der Anwesenheitsliste aus, dann rief er ein Taxi, das ihn zu McLeods komfortablem Haus in Ormidale Terrace brachte. Noch bevor er die Gelegenheit hatte zu klopfen, öffnete Jane schon die Tür. Mit einem schnellen Blick auf das sich entfernende Taxi zog sie Adam ins Haus und schloß die Tür fest hinter ihm. Das Klicken des automatischen Schnappschlosses klang laut durch die Diele, während sich Adam verbeugte und der rothaarigen Hausherrin einen freundschaftlichen Kuß auf die Wange gab. »Haben Sie also schon wieder Journalisten verscheucht?« -147-
fragte er. »Gott sei Dank, nein«, erwiderte Jane mit einem kämpferischen Funkeln ihrer Augen. »Glücklicherweise scheinen sie bis jetzt noch nicht spitzgekriegt zu haben, wo wir uns aufhalten. Aber ich muß gestehen, Sie haben mir jetzt schon einen Schreck eingejagt, als Sie da in einem Taxi ankamen. Ich hatte erwartet, daß Sie eines Ihrer eigenen Autos fahren.« Adam, der gerade seinen Mantel ablegte, hielt mitten in der Bewegung inne. »Das tut mir aber leid«, sagte er. »Ich dachte, es trüge dazu bei, die Sache unauffälliger zu machen. Haben Sie mich für einen Vertreter der Presse gehalten?« »Für so etwas Ähnliches«, sagte Jane. »Aber machen Sie sich keine Gedanken. Hier, lassen Sie mich Ihnen den Mantel abnehmen. Ich werde ihn aufhängen.« Zusammen traten sie vom Vorraum in die Diele. »Wie geht es Miranda?« fragte Adam. Jane wedelte mit der Hand. »So gut, wie man es unter diesen Umständen vermutlich erwarten kann. Ich habe ihr vor einer Weile ein wenig Suppe zu essen gegeben, aber sie ist immer noch schrecklich schwach. Es half nichts«, fügte sie hinzu und verzog dabei das Gesicht, »daß sie am Vormittag aufstand und unten herumging. Ich hörte sie erst, als sie schon ins Wohnzimmer durchgegangen war, und da war es schon zu spät. Noel hatte die heutige Zeitung weggeworfen, bevor er ins Büro ging, aber ich war noch nicht dazugekommen, den Papierkorb auszuleeren.« »Da hat sie also zumindest die Schlagzeilen gelesen«, bemerkte Adam grimmig. »Ich weiß, wir hätten es nicht für immer von ihr fernhalten können«, sagte Jane seufzend, »aber ich hätte gerne die Gelegenheit gehabt, sie ein wenig darauf vorzubereiten. Jetzt, da Sie hier sind, können Sie sie vielleicht etwas beruhigen.« -148-
»Ich werde es auf jeden Fall versuchen«, erwiderte Adam. »Wo ist sie denn im Augenblick?« »Oben im Gästezimmer«, sagte Jane. »Kommen Sie, ich bringe Sie hin.« Miranda Stewart saß auf einem großen, altmodischen Messingbett und hatte die Spitzendecke bis unter ihr Kinn gezogen. Als Adam den Raum betrat, schreckte sie leicht auf, doch als sie sah, um wen es sich handelte, entspannte sie sich. Mit ihrem blassen Gesicht und den großen, dunkel umschatteten Augen sah sie mehr wie ein verfrorener Hänfling aus als wie Peregrines Zigeunertänzerin. Adam setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und nahm ihre kleinen, nervösen Hände in seinen starken, sicheren Griff. »Hallo, Miranda«, sagte er sanft. »Ich kann dir mit Worten nicht sagen, wie leid mir das mit deinem Vater tut. Er wird uns schmerzlich fehlen. Ich hatte selten das Privileg, einen so guten und aufrechten Mann zu kennen wie ihn.« Mirandas Gesicht zuckte leicht. »Die Zeitungen sagen aber etwas ganz anderes.« »Ja«, stimmte ihr Adam ruhig zu, »aber was die Zeitungen sagen, ist für alle, die deinen Vater persönlich gekannt haben, bedeutungslos. Füge dir keine weiteren Wunden zu, indem du dich mit übler Nachrede abgibst, die aus Unwissenheit geschrieben wurde. Denke statt dessen lieber darüber nach, daß es, wenn es um das Leben und den guten Ruf deines Vaters geht, dort draußen mindestens ebenso viele Menschen gibt, die sich dafür engagieren, daß die Wahrheit wieder zu ihrem Recht kommt.« »Aber das ergibt doch alles keinen Sinn«, sagte Miranda mit leiser, gepreßter Stimme. »Wer sollte sich solche Mühe gemacht haben, meinen Vater umzubringen, der doch in seinem ganzen Leben nie wissentlich jemanden verletzt hat?« »Was das betrifft, können wir nur raten«, sagte Adam, »aber -149-
diese Situation wird sich ändern, je mehr Beweise zusammen kommen. Im Augenblick würde die Polizei gerne so viel wie möglich über die Umstände herausfinden, die die Reise deines Vaters nach Stirling umgeben. Kannst du dich erinnern, ob er den Namen der Person erwähnt hat, die ihn wegen dieser Schätzung ansprach?« Miranda seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß er da etwas gesagt hat. Aber...« »Aber was?« fragte Adam. »Ich - glaube«, sagte Miranda unsicher, »daß es jemand war, mit dem er sich schon früher einmal getroffen hat.« »Du meinst einen Freund?« Adam legte den Kopf schräg. »Neiiin.« Miranda runzelte die Stirn und dachte nach. »Nur ein Bekannter«, stellte sie fest, doch es klang immer noch etwas unsicher. »Wie kommst du darauf?« fragte Adam ruhig. »Wegen der Art, wie Papa am Telefon sprach.« Durch Adams aufmerksames Schweigen ermutigt, fuhr sie fort. »Am Donnerstag waren wir zusammen im Laden. Etwa eine Stunde vor Ladenschluß läutete das Telefon. Ich saß auf der Leiter und machte ein wenig Bestandsaufnahme, also ging Papa an den Apparat. Nachdem er seinen Namen genannt hatte, sagte er: O ja, natürlich erinnere ich mich daran.« Auf ihrer Stirn erschienen tiefe Falten, als sie versuchte, die genauen Worte wiederzugeben. »Dann sagte er: In der Tat, es war - eine sehr gute Konferenz oder irgend etwas in der Art. Ich erinnere mich, daß ich dachte, es müßte einer von Papas Geschäftskollegen dran sein. Jetzt wünschte ich mir nur, ich hätte mir die Mühe gemacht und ihn gefragt, wer es war...« Ihre Stimme zitterte und verstummte, Tränen traten in die dunklen Augen. Adam drückte ihr tröstend die Hand und lächelte sie ermutigend an. -150-
»Du hast keinen Grund, dir Vorwürfe zu machen«, sagte er mit Nachdruck. »Im Gegenteil, du hast mir soeben eine sehr wertvolle Information gegeben.« »Wirklich?« »In der Tat«, versicherte ihr Adam. »Siehst du nicht, wie das der Polizei eine handfeste Spur für die Ermittlungen gibt. Inspector McLeod wird sehr stolz auf dich sein...« Als Adam Miranda verließ, befand sie sich in einer bedeutend helleren Stimmung als zuvor. Im Wohnzimmer im Erdgeschoß war Jane gerade dabei, einer schlanken Frau mit einem lieben Gesicht Tee zu servieren. Die Ähnlichkeit der Besucherin mit Randall Stewart war so ausgeprägt, daß Adam sofort wußte noch bevor Jane sie einander vorgestellt hatte -, daß es sich bei ihr um Mirandas Tante handeln mußte. Miriam MacLellan nahm seine Beileidsbekundung mit stoischer Fassung entgegen und drückte ihm bewegt ihre Dankbarkeit für seine Sorge um ihre Nichte aus. Nachdem er seine ärztlichen Empfehlungen für Mirandas zukünftigen Seelenfrieden ausgesprochen hatte, bat Adam Jane, ihm ein Taxi zu rufen. Es befriedigte ihn, daß Randalls Tochter in guten Händen sein würde. Jane begleitete ihn zur Tür, als das Taxi eintraf. »Nochmals Dank dafür, daß Sie gekommen sind«, sagte sie leise. »Es war mir eine Freude«, erwiderte Adam. »Übrigens, wann erwarten Sie, wieder etwas von Noel zu hören?« »Ich wünschte, ich wüßte es«, sagte sie traurig. »Ich glaube, er wird erst kurz vor Mitternacht kommen.« Dann schaute sie Adam genauer an, und ihre Augen weiteten sich. »Haben Sie etwa Neuigkeiten für ihn?« Adam brachte ein dünnes Lächeln zustande. »Miranda glaubt, daß Randall von jemandem, der beruflich mit dem Buchhandel -151-
zu tun hat, nach Stirling gerufen wurde. Falls Noel zufällig anrufen sollte, dann sagen Sie ihm, es könnte nützlich sein, wenn einer seiner Männer die Gelben Seiten durchschaute und eine Liste der Antiquare in der Gegend von Stirling zusammenstellte...« Das Taxi setzte Adam auf dem Parkplatz des Jordanburn Hospitals ab, wo er in seinen Jaguar umstieg und müde nach Hause fuhr. Die Abenddämmerung des frostigen Novembertages war schon übers Land gesunken, als er sich Strathmourne näherte. Er stellte den Jaguar in der Garage ab, schritt flott zur Vordertür und trat ein. Sein Butler kam zur Begrüßung, als er sich gerade seines Mantels und Hutes entledigte. »Hallo, Humphrey«, sagte Adam. »Sind irgend welche Nachrichten eingetroffen?« »Nur eine, Sir«, sagte Humphrey und half ihm aus dem Mantel. »Um etwa halb vier hat Ihre Mutter angerufen, um zu bestätigen, daß sie wie geplant am nächsten Dienstag in London ankommen wird, jedoch mit einem anderen Flug. Die neue Flugnummer ist British Airways 311, und die neue Ankunftszeit ist 19:14 Uhr.« »Oh, richtig. Sehr gut«, sagte Adam und prägte sich sofort die Änderungen ein. »Gab es noch etwas?« »Jawohl, Sir«, fuhr Humphrey fort. »Lady Sinclair wies mich an Ihnen zu sagen, daß sie in jeder Hinsicht erwarte, daß es sich um einen Arbeitsbesuch handle.« Humphreys sorgfältige Betonung des vorletzten Wortes verriet Adam, daß sein getreuer Butler die Mitteilung Ton für Ton genau so wiederholte, wie es ihm aufgetragen worden war was vielleicht bedeutete, daß Philippa Sinclair schon spürte, daß Schwierigkeiten im Gange waren. Daß seine Mutter vorgewarnt sein sollte, war für Adam keine Überraschung. Denn Philippas Talente waren, wie die Adams*, außerordentlich, sowohl beruflich wie auch spirituell. Selbst -152-
eine Eingeweihte der höheren Mysterien, war sie es gewesen, die ihren Sohn zu dem geistigen Erwachen geführt hatte, das die schlummernden Kräfte seines Geistes und seiner Seele geweckt hatte. Jetzt war sie fünfundsiebzig und hatte sich größtenteils von der aktiven esoterischen Arbeit zurück gezogen allerdings unterhielt sie immer noch eine florierende psychiatrische Praxis in ihrem Heimatstaat New Hampshire. Sollte die Jagdloge jetzt unter unmittelbare Bedrohung geraten, dann wußte Adam, daß die Anwesenheit seiner Mutter ihrer Verteidigung zusätzliches Gewicht geben würde. Gleichzeitig hatte er jedoch keine Illusionen hinsichtlich der möglichen Risiken. Die größte Schwäche Adams und seiner Mitstreiter war im Augenblick ihre Unwissenheit. Selbst als er Humphreys Frage, ob Tee erwünscht sei, beantwortete, beschäftigten sich seine Gedanken mit den vielen Fragen, die Randall Stewarts Tod umgaben. Sein Mangel an Wissen ließ ihn sich fühlen wie ein Falke, der mit einer Kappe über dem Kopf in einem Käfig saß. Irgendwo außerhalb seines Gesichtskreises lief seine rechtmäßige Beute frei herum - und er und die Seinen waren somit zu machtlos, um an der Jagd teil zu nehmen. Der sanfte Schlag einer Uhr unterbrach seine Gedanken - der Klang der Großvateruhr auf dem Treppenabsatz im Obergeschoß, die die halbe Stunde schlug. Ein Blick auf die Taschenuhr in seiner Weste bestätigte, daß es schon halb sechs war. »Wenn ich es mir echt überlege, Humphrey, so möchte ich den Tee im vorderen Salon einnehmen«, sagte er, als der Butler gerade wieder in die Küche zurückgehen wollte. »Ich möchte mir die schottischen Nachrichten um 5:45 anschauen.« Der Mord an Randall war die Hauptmeldung in der Zusammenfassung am Beginn der Sendung. Adam lehnte sich vor und vergaß ganz und gar die Teetasse neben sich. »Die Ermittlungen zum Tod des Edinburgher Freimauerers -153-
Randall Stewart gingen heute weiter«, meldete der Nachrichtensprecher nüchtern. »Stewart, dessen übel zugerichtete Leiche gestern auf einem bewaldeten Hügel auf dem Gut Baltierny nördlich von Blairgowrie aufgefunden wurde, ist vermutlich das Opfer einer bizarren rituellen Tötung geworden. Der Mord wurde am späten Sonntagabend von einem örtlichen Wildhüter während eines seiner routinemäßigen Rundgänge entdeckt. Bis jetzt ist der Fall von ausgedehnten Spekulationen begleitet, aber die Polizei hat noch keine Theorie hinsichtlich der möglichen Identität der Täter oder ihres Motives geäußert. Wir schalten jetzt nach Perth, wo unser Reporter George Gourlay von der ersten offiziellen Pressekonferenz über den Mord berichtet.« Das Bild wechselte vom BBC-Nachrichtenstudio zum Vordereingang des Polizeigebäudes von Perthshire. Grimmig dreinblickend stand McLeod auf den regennassen Stufen, flankiert von uniformierten Beamten und umgeben von Journalisten. »Nein, ich kann keine weiteren Erläuterungen zur tatsächlichen Todesursache machen«, beschied er die Fragesteller geduldig. »Wir erwarten in wenigen Tagen die üblichen gerichtsmedizinischen Berichte und die Ergebnisse der Autopsie. Bis diese vorliegen, bin ich nicht in der Lage, eine offizielle Erklärung abzugeben.« Ein eleganter junger Mann mit dem aufdringlichen Gehabe eines Menschen, der entschlossen war, sich nicht abwimmeln zu lassen, hielt McLeod ein Mikrofon vors Gesicht. »Inspector McLeod, ich glaube, Sie sind von Edinburgh herauf gekommen, nicht wahr?« sagte er. »Doch der Mord hat sich im Zuständigkeitsbereich der Polizei von Perthshire ereignet - genaugenommen ziemlich weit im Norden. Wie wurden Sie in diesen Fall verwickelt?« McLeods Miene müder Geduld wurde etwas mißtrauisch, als -154-
spürte er eine verborgene Falle. »Als die ursprüngliche Anzeige vorgebracht wurde, rief mich Sergeant Callum Kirkpatrick von Blairgowrie zum Tatort, um ihm bei den Ermittlungen zu helfen.« »Haben Sie eine Ahnung, warum er Sie angerufen hat, anstatt einen höheren Beamten in Perth davon zu unterrichten?« »Der Fall stellte sich als möglicher Ritualmord dar«, erklärte McLeod knapp. »Sergeant Kirkpatrick wußte, daß ich bei der Lothian and Borders Police Erfahrung mit ähnlichen Fällen habe.« »Also kannten Sie und Sergeant Kirkpatrick einander schon vor diesem Fall?« Der elegante junge Mann wirkte sehr selbstzufrieden. »Stimmt es«, fügte er hinzu und zog dabei demonstrativ die Notizen auf seinem Clipboard zu Rate, »daß Sie und er - wie auch Randall Stewart - Mitglieder der Bruderschaft der Freimaurer sind?« Aha, das ist die Richtung, in die diese Recherchen gehen! dachte Adam. »Ich sehe nicht, welche mögliche Bedeutung...« »Bitte beantworten Sie die Frage, Inspector. Es ist doch öffentlich bekannt, nicht wahr? Sind Sie und Sergeant Kirkpatrick und das Opfer nicht alle Freimaurer?« »Ja, das sind wir«, räumte McLeod zähneknirschend ein - und wappnete sich für den unvermeidlichen Gnadenstoß, der nicht lange auf sich warten ließ. »Das finde ich sehr interessant, Inspector«, bemerkte der junge Mann und drehte an seinem Kugelschreiber. »Ein freimaurerischer Polizist holt von außerhalb seines Zuständigkeitsbereiches einen anderen freimaurerischen Polizisten zu Hilfe, um den gewaltsamen Tod eines dritten Mitglieds der Bruderschaft der Freimaurer zu untersuchen. Würden Sie zu diesem merkwürdigen Zufall gern einen Kommentar abgeben?« -155-
McLeod straffte sich, seine blauen Augen funkelten, doch seine Selbstbeherrschung war stählern und kühl. »Falls Sie einen Beweis für eine Verschwörung zur Vertuschung haben wollen, müssen Sie woanders suchen. Zuerst einmal waren weder Sergeant Kirkpatrick noch ich uns überhaupt sicher, daß tatsächlich ein Mann getötet worden war, bis wir an den Tatort des berichteten Vorfalls kamen - und erst dann entdeckten wir die Identität des Opfers. Von da an haben sowohl Sergeant Kirkpatrick als auch ich in Übereinstimmung mit unserem Diensteid als Gesetzeshüter alles getan, was wir konnten, um der dafür verantwortlichen Täter habhaft zu werden. Wenn ich der Meinung wäre, daß es etwas nützte, würde ich die Vertreter der Presse einladen, ein ähnliches Maß an Professionalität an den Tag zu legen.« Nach dieser letzten boshaften Bemerkung tat er einen so heftigen Schritt nach vorn, daß sein Fragesteller sich gezwungen sah, ihm aus dem Weg zu springen. Die Kameras folgten dem Inspector hinab zu seinem wartenden Auto, während der eifrige Reporter kurz zusammenfaßte, was gerade gesagt worden war und sich verabschiedete. Als wieder in das Studio umgeschaltet wurde - die nächste Meldung befaßte sich mit neuen Demonstrationen gegen die Poll Tax, die Kopfsteuer -, drückte Adam den ›Aus‹ -Knopf an seiner Fernbedienung und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Mit verkniffenen Lippen starrte er eine Weile blind auf den leeren Schirm, während er sich bemühte, der siedenden Frustration Herr zu werden, die wieder einmal seine Selbstbeherrschung in Gefahr brachte. Es war schon schlimm genug, daß ein guter Mensch auf schreckliche Weise unter den Händen schlechter Menschen gestorben war; es war noch schlimmer, daß die Umstände seines Todes Grund für Zweifel an der wohltätigen Institution sein sollten, die er sein ganzes Leben als Erwachsener hindurch loyal unterstützt hatte. Adam kam der Gedanke, ob nicht das ganze -156-
konfuse Gerede über Verschwörungstheorien absichtlich als Nebelwand aufgebaut wurde, um das wirkliche Ziel hinter dem Mord zu vertuschen - allerdings mußte er zugeben, daß diese Vorstellung, wie alle anderen auch, keine solide Grundlage in den Fakten hatte. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich, Randall hätte einen Weg gefunden, Kontakt mit der Jagdloge aufzunehmen, bevor seine Feinde ihn zum Schweigen brachten. Aber Randall hatte das nicht getan, und auch noch soviel Wunschdenken konnte nichts daran ändern. Doch je länger diese Anspielungen unwidersprochen gemacht werden durften, um so größer war die Gefahr, daß die Wahrheit unwiederbringlich verdunkelt würde, selbst wenn am Ende die Gerechtigkeit siegte. Der Körper, der Randall Stewarts edlen Geist beherbergt hatte, war jetzt eine leere Hülle; doch der Geist selbst war eine fortdauernde Wirklichkeit, auf seine eigene Weise zugänglich gemäß den Gesetzen der Inneren Ebenen. Vielleicht - nur vielleicht - gab es etwas, was Adam tun konnte, um die Chancen nur ein wenig zugunsten einer späteren Gerechtigkeit zu verschieben. Er griff nach dem Haustelefon und rief Humphrey in der Küche an. »Es tut mir leid, daß ich es Ihnen erst jetzt sagen kann, aber ich fürchte, ich werde heute abend kein Dinner einnehmen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ein Feuer in der Bibliothek anzündeten. Ich habe heute abend zu arbeiten und muß Sie bitten, dafür zu sorgen, daß ich nicht gestört werde - von niemandem!« Kapitel 11 Eine heiße Dusche und frische Kleider halfen Adam, die Kräfte wieder herzustellen, von denen er wußte, daß er sie für die Arbeit der bevorstehenden Nacht brauchen würde. Er zog sich in Ruhe an, wobei er sich zu Gelassenheit und zentrierter -157-
Entschlossenheit anhielt, während er einen seiner Lieblingsmorgenmäntel aus gestepptem blauen Samt über graue Freizeithosen aus Flanell und ein frischgewaschenes weißes Hemd anzog. Die mit seinem Wappen verzierten Hausschuhe dämpften seine Schritte, als er zielbewußt die Haupttreppe hinab auf die Bibliothek zustrebte. In der Abwesenheit seines Herrn hatte Humphrey im Kamin ein kräftiges Holzfeuer entzündet, die beiden aufeinander abgestimmten Messinglampen eingeschaltet, die den Kaminsims flankierten, und so neben der Feuerstelle eine Insel aus Wärme und Licht geschaffen. Eine andere Lampe brannte auf dem Getränkekabinett in der Ecke des Raums und sorgte so für weitere unaufdringliche Hintergrundbeleuchtung. Mit einem dankbaren Gedanken an Humphrey, der ihm so gut diente, schloß Adam die Tür ruhig hinter sich und drehte den Schlüssel im Schloß herum. Natürlich war dies Humphreys wegen nicht notwendig. Angesichts der Anweisungen, die Adam gegeben hatte, würde der unerschrockene Butler nicht im Traum daran denken, ohne ausdrückliche Aufforderung einzudringen. Physisches Eindringen war Adams geringste Sorge, allerdings mußte es als Faktor ständig mitbedacht werden. Immer noch der Tür zugekehrt, griff er tief in die rechte Tasche seines Morgenmantels und holte seinen sgian dubh heraus. Das kleine Messer glich einem Highland-Dolch en miniature. Die schwarze Lederscheide war an Hals und Spitze mit Silbergeflecht besetzt, der schwarze Griff in einem komplizierten Korbwellenmuster geschnitzt und an dessen Schnittpunkten mit winzigen silbernen Nägeln beschlagen. Von der Spitze der Scheide bis hin zu dem klaren blauen Edelstein von nahezu Taubeneigröße, der in den Knauf eingesetzt war, maß der sgian dubh nur knapp achtzehn Zentimeter; er war außerordentlich praktisch, um ihn verborgen in der Tasche, im Ärmel oder im Bund eines Kiltstrumpfes zu tragen - wie Adam -158-
ihn tatsächlich manchmal trug. Für den Uneingeweihten war er nur wenig mehr als ein hübsches Stück Highland-Folklore oder vielleicht ein teures Spielzeug, doch in Adams Händen stellte dieser besondere sgian dubh eine Waffe von nicht unbeträchtlicher Macht dar. Und ein Instrument mannigfaltiger Zwecke. Adam legte seine Hände um Griff und Scheide und hauchte eine fast lautlose Anrufung, dann zog er beide auseinander, hob die Waffe und berührte die flache Seite der Klinge mit den Lippen. Gleichzeitig steckte er die Scheide wieder ein. Eine subtile Kraft prickelte von seiner rechten Hand den Arm hinauf, während er mit der Spitze der Klinge ein unsichtbares Pentagramm in die Luft vor der Tür zeichnete, wobei er von der Mitte der Oberschwelle herab, wieder hoch zur linken Seite, hinüber nach rechts und hinunter und wieder hinauf nach der oberen Mitte fuhr. Schließlich richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Punkt in der Mitte und bekräftigte seine Absicht mit dem Symbol, das er so geschrieben hatte. Als das Muster vollendet war, küßte er die Klinge aufs neue und legte sie wie salutierend auf die linke Brust, während er kurz den Kopf senkte - zu Ehren der Quelle aller Kräfte, über die er gebot. Dann trat er an die Feuerstelle, um sie auf dieselbe Weise zu versiegeln - denn ein Rauchfang stellte einen ebenso verletzlichen physischen Zugang zu einem Raum dar wie jede Tür oder jedes Fenster. Als letztes wurde die große Fensternische in der westlichen Wand versiegelt. Humphrey hatte schon vorher die Vorhänge zugezogen, so daß sie einen reichen, brockatverzierten Hintergrund für den schönen Mahagoniarbeitstisch und den dazugehörigen Stuhl abgaben. Als Adam seinen letzten Gruß vollzogen hatte, schob er den sgian dubh zurück in die Scheide und steckte ihn wieder in die Tasche, dann wandte er sich nach links und blickte suchend an einem hübschen gotischen Bücherschrank entlang. -159-
Hoch auf einem der Borde lag ein eleganter, faustgroßer Briefbeschwerer aus Caithness-Glas, der aus einer limitierten Edition namens ›Saltare‹ stammte. In seinen klaren Tiefen war ein durchscheinender spiraliger Wirbel aus Weiß und Gold eingefangen, wie eine in Eis eingefrorene exotische Glockenblume, und diese Kugel beruhigte und zog ihn schon an, als er nur danach griff. Seine Hände liebkosten das kühle, seidige Glas, während er es herabnahm und ans Feuer trug. Sein bevorzugter Armsessel stand schon an einem gewohnten Platz links neben dem Kamin. Nachdem er ihn noch ein wenig näher an die Wärme des Feuers herangezogen hatte, legte er den Briefbeschwerer auf einem kleinen Rosenholztisch ab und schob diesen vor den Sessel, bevor er die Lampen, die den Kamin flankierten, ausschaltete und sich setzte. Er ließ sich Zeit, um sich bequem hinzusetzen, und nahm eine aufrechte, aber entspannte Haltung ein, aus der heraus er sehen konnte, wie die flackernden Flammen durch die konvexen Kurven der Kugel reflektiert wurden, wie bei der Kristallkugel eines Wahrsagers. Er zentrierte seine Aufmerksamkeit auf das Herz dieser Kugel, hob die Handflächen zu einer Geste der Bitte und tat einen tiefen, sammelnden Atemzug, dann stieß er den Atem wieder aus und hauchte dabei die Silben eines jahrhundertealten Hymnus an den Allerhöchsten. Lob sei Dir, Urheber des Lichts. Tagesgestirn des Himmels, Sei Du mein Führer und Beschützer... Dieses Bittgebet war gleichzeitig ein Akt der Hingabe des Ichs an den Dienst des Göttlichen, eine Erneuerung jener rückhaltlosen Hingabe, die er schon zahllose Male im Verlaufe vieler Leben vollzogen hatte. Am Höhepunkt des Gebets legte er die Hände zusammen, Handfläche an Handfläche und führte in ehrender Anerkennung der geistigen Gegenwart, der er diente, die Fingerspitzen an die Lippen. Dann tat er einen weiteren -160-
tiefen Atemzug, legte die Hände leicht auf die Oberschenkel und richtete alle Aufmerksamkeit auf die vom Feuer beleuchtete Glaskugel, die jetzt zu einem Brennpunkt für den Eintritt in die Trance wurde. »Wie oben so unten«, flüsterte er, wie außen, so innen... Die Kugel vergrößerte das feurige Glühen aus dem Kamin. Das Sternennebelmuster entnahm den Flammen Wärme und Farbe. Als Adam weiterhin tief in das Herz der Kugel blickte, zitterte das spiralige Bild vor seinem geistigen Auge und machte den bloß physischen Blick überflüssig. Er tat einen weiteren, langsamen, zentrierenden Atemzug und schloß die Augen. In die Tiefen seines Seins drang plötzlich ein klingelndes Geklirr, wie wenn in der Ferne Glas zerschlagen wurde, und mit einem Mal wurde er aus sich selbst und in die klare Nacht der Inneren Ebenen gezogen und schaute von oben auf einen Sternennebel hinab, der wie die Blüte einer Purpurwinde aussah. Nur waren hier die Sterne nicht fix, sondern in Bewegung, gefangen in den schimmernden Drehungen eines kosmischen Tanzes. Adam ließ sich an einem leuchtenden Strang in die Mitte dieses Tanzes ziehen an der Silberschnur seiner eigenen Lebensader, die wie Spinnenseide glitzerte, während sie sich von ihm wegdehnte in den leuchtenden Wirbel von Sonnen und Planeten. Wie ein Schiffbrüchiger, der sich an einem Ankerseil entlanghangelte, folgte er der schlanken Silberschnur nach unten, hinab, tiefer in die Trance, in das Herz der astralen Spirale. Der Übergang auf die Inneren Ebenen bedeutete einen schnellen, eisigen Schock, der ihn stärker als gewöhnlich verunsicherte, bis seine Sinne sich festigten. Doch als er sein inneres Gleichgewicht wiedergefunden hatte, fand er sich am Beginn eines leuchtenden Pfades stehen und blickte empor zu zwei riesigen Toren, die sich zwischen hochragenden Säulen aus -161-
Feuer und Wolken, zwischen Hell und Dunkel, erhoben. Seine astrale Gestalt schien ein Gewand aus fließendem Weiß zu tragen, die Füße waren nackt - aus Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Bodens, auf dem er stand. Er holte tief Luft, während er seinen Blick nach oben richtete, denn dieser Anblick ließ ihm immer fast das Herz stillstehen. In der Vergangenheit hatte er hier schon viele Besuche abgestattet, aber die Ehrfurcht, die ihn überkam, war immer frisch und neu. Die Hände auf der Brust gekreuzt, näherte sich Adam der Schwelle und sprach das Wort eines Adeptus Major aus. Daraufhin öffneten sich die großen Türflügel ruhig und ließen ihn ein. Jenseits des Portals erstreckte sich die in Kammern untergliederte Weite der Halle der Akasha-Chronik, der unvergänglichen Chronik der gesamten Schöpfung, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ihre Gewölbe waren so unendlich wie der Geist des Absoluten, und nur einige von ihnen waren denen zugänglich, die noch an sterbliches Fleisch gebunden sind. Doch wenn es ihm gestattet würde, dann war Adam nun bereit, das Gewölbe zu suchen und zu betreten, das die Lebenschronik derjenigen Seele enthielt, die er unter dem Namen Randall Stewart gekannt hatte. Randall Stewart, Der Name selbst wurde zu einem Polarstern und Adam zur Kompaßnadel, unbeirrbar gezogen durch die sich krümmenden Sphären eines sanft leuchtenden Labyrinths. Dessen Korridore erstreckten sich perlenfarben leuchtend vor ihm, jede Abzweigung war anders und doch die gleiche. Ein tiefes Schweigen herrschte über allem - still, aber nicht statisch. Doch während er die sich windenden Gänge entlangschwebte, spürte Adam eine wachsende Dynamik, die sogar die Luft erfüllte, die er atmete, und ihn immer weiter voranzog. Vor ihm erschien ein überwölbter Durchgang. Der magnetische Zug, der auf seine Sinne einwirkte, ließ Adam keine Zweifel, daß er sich dem Ort näherte, den er suchte. Trotz dieser Gewißheit - oder vielleicht wegen ihr - bewegte er sich -162-
mit wohlabgemessener Behutsamkeit voran, wie jemand, der sich darauf vorbereitet, ein Heiligtum zu betreten, denn um dies handelte es sich - einen Raum unsterblicher Niederschriften, wo all die vielen Leben von Randall Stewarts Seele aufgezeichnet waren, gebunden wie die Kapitel eines Buches. Weil Adam sich Randalls Lebenschronik in diesen Begriffen vorstellte, erschien sie seinem inneren Auge in der Form eines Buches, als er über die Schwelle trat. Der dicke Band ruhte auf einem erhöhten Lesepult aus weißem Marmor, sein Einband war reich mit Edelsteinen und Emailarbeiten verziert, wie es dem Reichtum seines Inhaltes entsprach. Als Adam sich ehrfürchtig dem Lesepult näherte, wurde die stille, bedeutungsschwangere Atmosphäre des Raumes durch einen plötzlichen wirbelnden Luft stoß belebt, der den Deckel des Buches wie mit der Bewegung einer unsichtbaren Hand hob. Gleichzeitig war der Raum vom Empfinden einer geistigen Gegenwart erfüllt, die als die Randalls erkennbar war, doch vibrierte sie mit Ober- und Untertönen, denen Adam an dem lebenden Menschen früher nicht begegnet war. Adam wich nicht von der Stelle und formulierte in Gedanken alle Fragen, die zu stellen er gekommen war. Wie zur Antwort begannen sich die Seiten des Buches umzublättern und riffelten schnell frühere Leben vergangener Jahrhunderte vorbei, bis es bei dem Bericht über Randall Stewarts letzte Tage offen liegenblieb. Die Lesung erfolgte nicht in Worten, sondern in einer Kette mächtiger Eindrücke. Verwirrung... Schwachheit... eine ansteigende Flut der Angst. Dunkler Schlaf... weißer Schnee... Bewußtheit... atemloser Schrecken... ein blendender Schlag... der qualvolle Hieb einer aufblitzenden Klinge... und der rote Strom des Lebensblutes... Doch all dies hatte Adam schon vermutet. Plötzlich tauchte aus dem dunklen Gewirr von Empfindungen und Gefühlen ein neues Bild auf, nebelhaft noch, aber schon -163-
erkennbar. Obwohl es unscharf war, schien es sich dabei um einen schweren, anscheinend uralten Halsring aus schwarzem Metall zu handeln. Ein Torques? Ja, die Festigkeit der Form legte diesen Gedanken nahe. Adam schätzte, daß er etwa eine Handspanne Durchmesser hatte und mit hellerem, ineinander geschlungenem Flechtwerk besetzt war, das er nicht genau erkennen konnte. Sein Aussehen ließ an einen keltischen oder piktischen Ursprung denken. Nicht auf eine Vermutung angewiesen war die unstreitige Erkenntnis sowohl Adams wie auch des Wesens, das Randall war, daß es sich bei dem Torques um ein Objekt der Macht handelte. Die geflochtenen Muster, die sich um die feindselige Schwärze schlangen, schienen sich zu verschieben und zu verändern, als enthielten sie ein eigenes dunkles, elementares Leben. Blut - Randall Stewarts Blut - hatte die latenten Kräfte des Torques aktiviert. Nun war er mit Leben gefüllt und bereit, ja, er wartete darauf, benutzt zu werden. Die Seele, die Adam als Randall gekannt hatte, konnte dem Besitzer des Torques oder einem seiner Mörder keinen Namen zuordnen. Und der Ermordete hatte auch keine Ahnung, warum er als Opfer für dieses Ritual ausgewählt worden war. Die Chronik schwieg zu diesen Punkten, weil Randall es einfach nicht gewußt hatte. Also dann, ein weiterer Versuch. Adam verschob den Brennpunkt seiner Frage und bat um die Identität der Person, die Randall nach Stirling eingeladen hatte nach Mirandas Vermutung war es ein Bekannter ihres Vaters gewesen. Doch obwohl sich auf der Seite des Buches vor Adam Buchstaben zu bilden begannen, wurde sie plötzlich von einer Schattenwoge verdunkelt, bevor die Schrift ganz lesbar geworden war. Wie ein Strom verschütteter Tinte löschte sie die Schrift so völlig aus, daß Adam nichts erkennen konnte. -164-
Die Quelle dieses Eingriffs, so erkannte er, lag nicht in der Kammer der Chronik selbst - denn die war unantastbar -, sondern Randalls eigenem Gedächtnis aufgezwungen. Der Schatteneffekt war ein weiterer Beweis für das Eingreifen eines schwarzen Adepten, der eine nicht geringe Macht zu seiner Verfügung hatte. Ganz offensichtlich hatte jemand nicht die Absicht, den Namen bekannt werden zu lassen. Was zusammen mit den Indizien, die Peregrine am Tatort gesammelt hatte, den Gedanken nahelegte, daß wenn der schwarze Adept und Randalls geheimnisvoller Anrufer nicht ein und derselbe waren - beide eng mit der Loge der Luchse verbunden waren. Die Verbindung war zu eng, um nur zufällig zu sein. Wenn es also den Schuldigen gelang, auf der astralen Ebene ihre Spuren zu verschleiern, vielleicht erbrächten dann profanere Ermittlungen den Schlüssel, der helfen würde, die Loge der Luchse aufzustöbern. Wenn Jane McLeod daran gedachte hatte, Adams Mitteilung an ihren Mann weiter zu geben, nämlich daß Miranda meinte, der Anrufer ihres Vaters sei vielleicht ein Kollege aus einem Antiquariat oder aus dem Buchhandel gewesen, dann würde die Polizei jetzt eine Liste entsprechender Namen aus dem Telefonbuch zusammenstellen. Randalls Tagebuch war eine weitere mögliche Quelle wertvoller Informationen - falls man es finden konnte. Nun gab es auch die soeben enthüllte Verwicklung des mysteriösen Torques - vielleicht war er das Objekt, das der Wildhüter gesehen und als möglicherweise eine Schale‹ beschrieben hatte. Nach einigem Nachdenken gelangte Adam zu der Überzeugung, die Natur der Kräfte des Torques sei in den Mustern gebunden gewesen, die er nicht ausreichend hatte visualisieren können, um sie zu deuten. Er wünschte sich, er hätte von der Existenz des Torques gewußt, als er sich noch am Tatort befand, denn dann hätte er versuchen können, Peregrines Aufmerksamkeit darauf zu lenken, damit dieser sich den -165-
Gegenstand genauer anschaute. Das konnte jetzt noch nachgeholt werden; doch solange der junge Künstler nur am Rande der Jagd blieb, durfte Adam ihn auch nur bis zu bestimmten Grenzen bitten, die Anwendung seines Talents auszudehnen. Diese Erkenntnis kristallisierte seinen Wunsch, dafür zu sorgen, daß Peregrine voll in die Jagdloge eingebunden wurde, sobald dies möglich wäre, denn er hegte keine Zweifel hinsichtlich der Stärke von Peregrines Engagement. Doch die Autorität, den jungen Künstler in einer solchen Berufung zu bestätigen, lag in anderen Händen als den seinen. Adam hielt kurz inne, um den Vorzug derer anzuerkennen, denen er selbst auf den Inneren Ebenen verantwortlich war. Und noch bevor er eine bewußte Absicht formuliert hatte, übersetzte sich diese Anerkennung ohne sein Zutun in die wortlose Bitte um eine Audienz. Sein Herz tat einen Sprung, fast als wäre für einen Augenblick die Zeit selbst aufgehoben. Dann war mit einem Mal die Kammer der Chronik von einem plötzlich pulsierenden Lichtschimmer erfüllt. So geschwind wie Quecksilber brachte das Licht die starke Empfindung einer geistigen Anwesenheit mit sich. Als Adam diese Wesenheit erkannte, neigte er den Kopf und öffnete die Hände zu einer Geste dankbarer Empfänglichkeit. Der Meister manifestierte sich nicht in menschlicher Gestalt, sondern als ein strahlender Pfeiler aus Licht, das so hell war, daß die Dimensionen der Kammer verdunkelt wurden. Die Helligkeit zitterte einen Augenblick lang vor Adams geblendetem Auge, dann wallte sie auf ihn zu und hüllte ihn in eine sprühende Säule aus Licht. Eine Stimme, so funkelnd und kühl wie eine Frühlingsflut, sprach zu ihm von Geist zu Geist. Ein hungriges Raubtier schleicht um den Schafpferch, Meister der Jagd. Was hält dich von der Verfolgung ab? -166-
In der Frage steckte eine leichte Spitze, fast als wollte der Meister ihn prüfen. Der Verlust eines Jägers, erwiderte Adam, und eine Spur, die von Finsternis verdunkelt ist. Um ein Wesen der Nacht zu fangen, muß die Loge manchmal bei Finsternis jagen, sagte der Meister. Das stimmt, gab Adam zu. Doch es ist auch richtig, daß die Finsternis selbst ebenso unser Feind ist wie jeder menschliche Gegner. Die Jäger, die noch verbleiben, sind heftig gewillt. Doch wir haben nicht unsere volle Stärke. Kaum atmend wartete er auf die Antwort des Meisters. Sie kam verhüllt, gewollt unergründlich. Wortlos verstand Adam, daß er sich selbst in einer Atmosphäre strikter Neutralität erklären sollte, weder gehemmt noch ermutigt von irgend etwas, das außerhalb seiner eigenen Unterscheidungs- oder Urteilskraft lag. Indem er sich fest an seine Überzeugungen hielt, faßte er sich, um seinen Wunsch zu formulieren. Vor nicht langer Zeit, Meister, wurde ein gewisser, kaum flügge gewordener Falke meiner Obhut anvertraut. Ein Jagdfalke mit seltenen Gaben des Sehens und der Weitsicht, doch seine Schwingen waren durch rohe Behandlung verletzt, und es wurde mir gewährt, ihm Heilung und Belehrung zu vermitteln. Obwohl ich diese Aufgabe frohen Herzens übernahm, wagte ich es kaum, auf schnellen Fortschritt zu hoffen. Doch der junge Vogel hieß die Heilung willkommen und hat alle Erwartungen übertroffen. Seine Schwingen sind so gut wie neu. Obwohl er noch an die Erde gebunden bleibt, sind seine visionären Talente offenbar, und sein Verlangen zu fliegen wird stärker mit jedem Tag, der vergeht und seine wahre Natur bestärkt. Ich habe ihn wiederholt geprüft, so wie er sich nun selbst zu prüfen beginnt, und ich bin von seiner Berufung überzeugt. Deshalb bitte ich um die Erlaubnis, ihn über die -167-
Schwelle der Einweihung zu geleiten, damit er zur Jagdloge zugelassen werden kann. Es folgte eine zeitlose Pause, in der Adam das Pochen seines Herzens spürte, wie das ängstliche Flattern der Flügels eines Vogels im Käfig. Zu diesem Zeitpunkt kann die Erlaubnis noch nicht erteilt werden, ertönte die durchdringend klare Stimme des Meisters in seiner Seele. Der Jungfalke ist noch nicht frei, der Jagd seine Ergebenheit zu geloben. Zuerst muß noch eine Pflicht zugunsten eines anderen erfüllt werden. Das kam völlig unerwartet. Adam war überrascht. Nach kurzem Zögern fragte er: Ist es gestattet, daß ich die Identität dieses anderen erfahre? Es ist gestattet, antwortete der Meister ruhig. Es ist der, welcher Michael Scot war, doch jetzt im Äußeren Leben auf den Namen Gillian Talbot hört. Michael Scot - oder Gillian Talbot, wie sie nun hieß. Auf den ersten Blick war diese zweite Enthüllung noch überraschender als die erste. Doch als Adam an die Ereignisse des Oktobers zurück dachte, erkannte er, daß er so etwas Ähnliches hätte erwarten können. In Melrose hatte der Geist von Michael Scot darauf bestanden, Peregrine als das Medium auszuwählen, durch das er den Standort seines Schatzes und seines Zauberbuches mitteilte - und anscheinend noch viel mehr als das. Zu dem Zeitpunkt hatte Adam angenommen, Peregrine sei lediglich der passive Empfänger einer bestimmten Information, aus praktischen Gründen dafür ausgewählt. Jetzt schien es mit einem Mal, daß Scots Wahl viel mehr als bloß praktisch gewesen und daß Peregrines Teilnahme alles andere als passiv war. Wie ungeschult Peregrine auch in seiner derzeitigen Inkarnation sein mochte, seine unsterbliche Seele war die eines Eingeweihten. Auf einer tieferen, unbewußten Ebene mußte Scot die Hilfe seines Mitadepten erbeten und Peregrine -168-
seinerseits diese Aufgabe angenommen haben. Niemand verstand die unantastbare Natur einer solchen feierlichen Bindung besser als Adam. Ob Peregrine schon die Natur seiner Mission in bewußten Begriffen erkennen - oder ihr gemäß handeln - konnte oder nicht, war eine andere Sache. Ich erkenne die Natur des Bandes, das die beiden miteinander verbinden mag, sagte Adam ernst zum Meister. Aber Peregrine Lovat ist erst dabei, zu seinem Potential zu erwachen. Darf ich erfahren, was von ihm verlangt wird, falls das Gelöbnis erfüllt werden soll? Der Künstler muß auch ein Handwerker sein. Zerbrochene Bilder müssen wiederhergestellt werden. Der Tempel des Lichts muß wiederaufgebaut werden. Die Meister der Inneren Ebenen sprachen selten in leichtverständlichen Begriffen. Bei ihnen war eine einfache Aussage lediglich der Schlüssel zu etwas weitaus Komplexerem, das Zeit und Nachdenken zur Entschlüsselung brauchte. Noch während Adam innehielt, um diese rätselhafte Enthüllung zu überdenken, sprach der Meister aufs neue. Gib acht, Meister der Jagd, denn die Raubtiere werden stärker. Sie suchen nicht nur Schafe, sondern auch Jäger. Ein Jäger wurde schon erschlagen, und an einen anderen werden sie sich heranpirschen. Gib acht, daß nicht einer verlorengeht, bevor er wahrhaft gefunden wird. Die blitzschnelle Veränderung im Ton war begleitet von einem Aufwallen des Lichts, das für den Blick zu hell war. Geblendet riß Adam eine Hand hoch, um die Augen abzuschirmen, und einen Herzschlag lang schwebte er zwischen Augenlicht und Blindheit. Als er wieder sehen konnte, befand er sich allein in der Kammer der Chronik. Mit seinem nächsten Atemzug lösten sich die Wände der Kammer um ihn herum auf. Einen Augenblick später fand er sich durch ein perlenfarbenes Meer nach oben -169-
hochschießen. Er kam an die Oberfläche wie ein Taucher, der plötzlich auftaucht, um Luft zu holen, und er rang etwas nach Atem bei dem schwachen psychischen Ruck, der die Wiedervereinigung der Seele mit dem Leib anzeigte. Einen Augenblick lang saß er regungslos da und gab seinen körperlichen Sinnen Zeit, wieder in Berührung mit seiner Umgebung zu kommen. Dann öffnete er mit einem leichten Zittern die Augen. Das Feuer im Kamin war zu einigen matten Glutstücken herabgebrannt. Ein Blick auf die Stutzuhr verriet ihm, daß fast zwei Stunden vergangen waren, seit er in Trance gegangen war. Jetzt, da er wieder sein Alltagsbewußtsein besaß, fühlte sich sein Körper ausgekühlt und verkrampft an, wie immer nach einem langen Ausflug zu den Inneren Ebenen. Er erhob sich steif und schloß die Tür auf, löste pflichtbewußt seinen Schutzzauber auf und rief dann Humphrey an, er solle ihm Sandwiches und heißen Kakao bringen. Schließlich ließ er sich in seinen Sessel sinken und überdachte die Ergebnisse seiner Nachtarbeit. Schon verblaßten die Einzelheiten des Erlebnisses, sanken zurück in den unerforschten Ozean unter der Ebene der Bewußtheit. Zwei Tatsachen blieben jedoch unauslöschbar klar in seinem Geist zurück. Die erste war die Enthüllung hinsichtlich der Verwicklung des mysteriösen Torques in Randalls Ermordung - und der wahrscheinliche Adeptenstatus desjenigen, der Randall in den Tod gelockt hatte und auch weiterhin die Jagd verfolgen würde. Die zweite war, daß Peregrine Lovats Zukunft als Mitglied der Jagdloge irgendwie von Gillian Talbots Schicksal abhing. Kapitel 12 Adams Schlaf war in dieser Nacht traumlos - was wahrscheinlich ein gutes Anzeichen dafür war, daß sein Unbewußtes sich damit beschäftigte, die mögliche Bedeutung -170-
der Offenbarungen des Meisters zu verarbeiten. Er erwachte pünktlich um acht und fühlte sich so frisch und klar im Kopf wie bisher noch nie seit Randall Stewarts Tod. Um halb neun setzte er sich, schon in den dunklen dreiteiligen Anzug für die Visite des Tages gekleidet, im Morgenzimmer zum Frühstück nieder. Er hatte gerade die Morgenausgabe von The Scotsman zur Hand genommen, und Humphrey goß ihm den Tee ein, als das Telefon läutete. Humphrey stellte die Teekanne auf den Untersetzer und ging ohne Eile den Anruf entgegen zu nehmen, wobei er ob der Aussicht die Stirn leicht runzelte, daß sein Herr gestört würde, noch bevor er richtig gefrühstückt hatte. »Strathmourne House. Oh, Sie sind es, Inspector.« Sein Gesicht hellte sich auf, er blickte Adam an und zog fragend eine Augenbraue hoch. »Einen Augenblick bitte, Sir.« »Inspector McLeod?« fragte Adam, legte die Zeitung zur Seite und streckte die Hand aus. »Ich übernehme, natürlich.« Mit einer leichten Verbeugung nickte Humphrey, hob das Telefon über den Frühstückstisch und reichte Adam den Hörer. »Ich bin's, Noel. Was ist passiert?« »Keine neue Katastrophe, kein Grund zur Aufregung«, brummte McLeods tiefe Stimme vom anderen Ende der Leitung. »Eine unserer mobilen Einheiten hat gerade einen Bericht durchgegeben. Sie haben Randalls Auto gefunden.« »Wo?« »In einem Teich etwa anderthalb Kilometer östlich von Boghall«, erwiderte McLeod. »Ein Bauer war auf der Suche nach verirrten Schafen und bemerkte etwas Metallisches, das aus dem Wasser ragte und Anfang der Woche noch nicht dagewesen war. Als sich herausstellte, daß es sich um die rückwärtige Stoßstange eines leeren Autos handelte, rief er die Polizei an. Das Auto befindet sich zur Zeit noch im Wasser, aber wir haben eine vorläufige Identifizierung aufgrund des -171-
rückwärtigen Nummernschildes. Ich mache mich gerade auf den Weg zum Bergungsteam, denn vielleicht besteht eine Chance, daß etwas im Auto zurückgelassen wurde, was uns einen Hinweis gibt - bleiben Sie mal einen Augenblick am Apparat.« Im Hintergrund stellte jemand McLeod eine Frage, auf die der Inspector gereizt antwortete: »Na schön, dann geben Sie es mal in den Computer ein und sehen Sie, was Sie dabei herausbekommen. Wie soll ich es wissen? Benutzen Sie Ihre Phantasie!« Einen Augenblick später war er wieder da. »Tut mir leid wegen der Unterbrechung. Hier geht es heute morgen zu wie auf dem Picadilly Circus! Übrigens, vielen Dank für die Information, die Sie von Miranda bekommen haben. Ich habe den jungen Cochrane darauf angesetzt. Er soll die Namen aller Leute im Gebiet von Stirling herausfinden, die ein dokumentiertes Interesse an antiquarischen Büchern haben, entweder als Händler oder als Sammler. Sobald wir über diese Liste verfügen, werde ich ein paar Besuche machen und eine Menge Fragen stellen.« Im Hintergrund war wieder störendes Gemurmel zu hören. »Die lassen mich hier nicht in Ruhe«, seufzte McLeod gereizt. »Ich sollte lieber von hier abhauen, bevor mir noch jemand einen hieb- und stichfesten administrativen Grund liefert hier zu bleiben. Was haben Sie heute vor?« »Nicht allzu viel«, sagte Adam. »Um zehn Uhr muß ich im Krankenhaus eine Vorlesung halten, anschließend folgt die Visite, aber am Nachmittag dürfte ich wieder zu Hause sein. Falls nicht, dann weiß Humphrey immer, wo ich zu erreichen bin.« »Ich werde Sie aufspüren, keine Angst - hoffentlich mit guten Nachrichten. Also, bis später.« Nach dem Frühstück, das er ohne weitere Unterbrechungen beenden durfte, packte Adam seine Vorlesungsnotizen in die mit -172-
seinem Monogramm versehene Aktentasche und machte sich auf den Weg nach Edinburgh. Seine Vorlesung lief gut - seine Studenten stellten weit intelligentere Fragen als gewöhnlich -, und der Vormittag verging ziemlich schnell. Rechtzeitig zu einem verspäteten Lunch in der Bibliothek war er wieder zu Hause. Er hatte gerade eine zweite Tasse geleert, als das Telefon läutete. Adam schob sein Lunchtablett zur Seite und ging ans Telefon. »Inspector McLeod ist am Apparat, Sir«, meldete Humphreys Stimme, »er ruft von Boghall aus an.« »Aha, das hatte ich schon gehofft. Stellen Sie bitte durch.« »Jawohl, Sir.« Als ein Klicken in der Leitung die Durchschaltung bestätigte, sagte Adam: »Sind Sie's, Noel?« »Aye, aber die Nachricht ist enttäuschend, machen Sie sich keine Hoffnungen. Randalls Auto können wir abschreiben.« Adam konnte an McLeods Stimme hören, wie niedergeschlagen er war. »Wer immer den Job übernommen hat, das Auto beiseite zu schaffen, hat vorsichtshalber das Wageninnere angezündet. Die Spurensicherung untersucht immer noch das Äußere, aber offengesagt glaube ich nicht, daß sie viel finden werden. Es sieht so aus, als müßten wir noch einmal von vorn anfangen.« Noch einmal von vorn... Die Vorstellung ließ Adam plötzlich nachdenklich innehalten. »Das erinnert mich an etwas«, sagte er. »Was ist mit der Liste von Namen, die ich ihnen gab, mit den früheren Mietern dieser Wohnung, in der es ›gespukt‹ hat?« »Eine Wohnung, wo es gespukt hat?« McLeod schien sich an nichts zu erinnern. »In der jetzt eine von Christophers Pfarrangehörigen wohnt«, sagte Adam. »Peregrine und ich erzählten Ihnen davon auf dem Weg nach Blairgowrie.« -173-
»Verdammt und zugenäht, das habe ich ja ganz vergessen!« rief McLeod aus. »Was zum Teufel habe ich denn bloß mit Ihrem Zettel angestellt? Der muß in meiner anderen Jacke stecken.« »Ich möchte nicht behaupten, daß es da notwendigerweise eine Verbindung gibt«, erklärte Adam und wählte dabei seine Worte sorgfältig, »aber wir können es uns gerade jetzt nicht leisten, selbst eine dürftige Spur zu übersehen.« »Aye«, stimmte McLeod ihm zu. »Ich werde mal zu Hause vorbeischauen und den Zettel mitnehmen, und dann setze ich gleich einen Mann darauf an. Ich melde mich später noch einmal bei Ihnen. Danke, Adam!« Und schon hatte er aufgelegt. Als Adam den Hörer auf die Gabel legte, dachte er bedrückt darüber nach, wie wenig sie noch über die Leute wußten, die Randall Stewart ermordet hatten, und wie wenig über die genaueren Umstände seines Todes. Irgendwo muß es einen Schlüssel zu der ganzen Sache geben, sagte er sich mit Nachdruck. Vielleicht sogar in den Werkzeugen des Todes selbst... Noch während dieser Gedanke ihm durch den Kopf ging, fiel ihm eine neue Möglichkeit ein. Auf einen plötzlichen Impuls hin zog er die obere rechte Schublade des Schreibtisches auf und holte sein persönliches Adreßbuch heraus. Nach kurzem Blättern fand er die Nummer, die er suchte, »Hallo, ist dort das Royal Infirmary?« fragte er, als sich eine angenehme Stimme mit dem gälischen Akzent der Western Isles meldete. »Hier spricht Dr. Adam Sinclair. Können Sie mir sagen, ob Dr. David diCapua heute nachmittag im Haus ist?« Weniger als eine Stunde später steuerte Adam seinen blauen Jaguar in eine Lücke auf dem Parkplatz des Perth Royal Infirmary. Er hatte die kurze Fahrt von Strathmourne hierher genossen, auch wenn der leichte Nieselregen ihn gezwungen -174-
hatte, das Verdeck oben zu lassen. Er schlug den Kragen hoch und eilte auf den nächsten Eingang zu. Der ausgedehnte Krankenhauskomplex des Perth Royal Infirmary umfaßte auch eine Reihe moderner Erweiterungsbauten, die an das ursprüngliche graue Steingebäude angepfropft waren. Die gerichtsmedizinische Abteilung gehörte zum Bereich der Pathologie ein sterilisierter, relativ neuer Anbau an der Nordseite des Krankenhauses. Adam folgte den entsprechenden Pfeilen an den Wänden und gelangte nach einem Zickzack durch Treppenhäuser und Korridore schließlich zu einer Doppeltür mit der Aufschrift Pathologie. Darunter stand: Zutritt nur für Krankenhauspersonal. Adam stieß die Tür auf und trat ein. Der Korridor war mit grünen Teppichfliesen ausgelegt; die Wände waren in dem blassen Senfgelb gestrichen, das in ganz Schottland die festgelegte Norm für Krankenhäuser zu sein schien. In diesem Teil des Gebäudes war die Luft einige Grade kälter als anderswo. Der stechende Geruch von Desinfektionsmitteln war so stark, daß man fast glauben konnte, die Chemikalien seien sichtbar. Adam waren die Gerüche eines Krankenhauses nicht fremd. Er ging den Korridor hinab bis zur T-Kreuzung am anderen Ende. Kurz bevor er sie erreichte, huschte aus der entgegengesetzten Richtung eine magere junge Laborassistentin in einem sackartig herunterhängenden grünen Overall um die Ecke. Sie trug ein Tablett mit etikettierten Probengläsern und schrak zusammen. Um ein Haar wäre sie mit Adam zusammengerumpelt - er hatte sich schon bereitgemacht, im Notfall das Tablett zu retten -, doch er entwaffnete sie mit einem Lächeln, als sie anhielt und ihn etwas mißtrauisch beäugte. »Hallo, ich bin Dr. Sinclair aus Edinburgh und soll hier mit Dr. diCapua sprechen. Er erwartet mich. Können Sie mir sagen, wo ich ihn finde?« -175-
Adams besondere Mischung von Autorität und Charme ließ die Frau sichtlich auftauen. »Tut mir leid, Doktor. Ich glaube, er bringt gerade eine Autopsie zu Ende«, sagte sie etwas befangen. Mit einem Ruck ihres scharfen kleinen Kinns zeigte sie in den linke Abzweigung des Korridors und fügte hinzu: »Der Autopsiesaal ist dort hinten - der zweite Eingang auf der rechten Seite.« »Vielen Dank«, sagte Adam und ging in die Richtung weiter, die sie ihm gezeigt hatte. Ein Dutzend rascher Schritte brachte ihn zur Schwelle der fraglichen Tür. In der oberen Hälfte der Tür befand sich ein kleines Fenster aus Tafelglas. Adam blickte hindurch und sah den ihm zugekehrten Rücken eines drahtigen, beschäftigt wirkenden Mannes, den er selbst von hinten als David diCapua erkannte. Der Name des Arztes war natürlich nicht schottisch. DiCapuas Vater war ein italienischer Hauptmann gewesen, der während des Zweiten Weltkriegs auf Sizilien in britische Gefangenschaft geraten und anschließend nach Schottland in ein Kriegsgefangenenlager gebracht worden war. Nach Ende des Krieges hatte sich eine Anzahl dieser italienischen Kriegsgefangenen dafür entschieden, in Schottland zu bleiben, anstatt in ihr verwüstetes und verarmtes Vaterland zurück zu kehren - eine Tatsache, die das zahlreiche Vorkommen italienischer Familiennamen in Perthshire, Tayside und Fife erklärte. DiCapua selbst war klein und mager, mit dunklem Haar und einem glattrasierten Profil, das an die Gesichter auf römischen Münzen erinnerte. Adam war gewöhnt, diCapua in Abendkleidung von ungewöhnlich gutem Schnitt zu sehen, denn der üblichere Schauplatz ihrer Begegnungen - vielleicht sechsmal im Jahr - war die Scottish National Opera, zu deren eifrigen Stammbesuchern die beiden gehörten. Irgendwie gelang es jedoch dem adretten kleinen Gerichtsmediziner, in dem grünen Operationsanzug und den Gummistiefeln - der -176-
vorschriftsmäßigen Kleidung für seine gegenwärtige Tätigkeit fast genauso elegant auszusehen. Im Augenblick war diCapua über eine teilweise verhüllte männliche Leiche gebeugt und arbeitete intensiv mit der Präzision eines Schweizer Uhrmachers, wobei er offensichtlich seine trübselige Umgebung völlig vergaß. Als Adam jedoch an das Glas klopfte, richtete er sich auf und schaute sich um. Als er Adams Gesicht in dem Fensterchen erblickte, huschte ein Willkommenslächeln über seine Züge, und er winkte seinen Besucher mit einer schwungvollen Gebärde der behandschuhten Chirurgenhand herein. Adam öffnete die Tür und trat in den Raum, der intensiv nach Formalin roch. »Adam, wie schön, Sie zu sehen!« rief der Pathologe aus. »Ich hatte erwartet, daß ich Ihnen erst nächsten Monat bei La Traviata wieder begegne!« Sein Profil mochte das eines Römers sein, aber sein Akzent war reines Scots. »Hallo, David!« DiCapua streifte seinen rechten Handschuh ab und schaltete das Diktaphon aus, in das er gesprochen hatte, bevor er seinem Besucher die Hand schüttelte. »Also dann«, sagte er herzlich, »erzählen Sie mir einmal, was Sie zu uns in die Wildnis von Perth treibt.« »Ich bin gekommen, um Sie um einen beruflichen Gefallen zu bitten«, erwiderte Adam. »Aha.« DiCapua nickte verständig. »Überflüssig zu sagen, daß ich gerne tun werde, was ich kann. Lassen Sie mich raten. Es hat etwas mit der Autopsie von Randall Stewart zu tun.« Adam nickte. »Sie haben richtig geraten. Mit Ihrer Erlaubnis würde ich gerne schon einmal einen Blick in den Autopsiebericht werfen.« »Ach so.« DiCapua klang plötzlich nachdenklich. »Nun, der -177-
offizielle Bericht wird erst morgen früh rausgehen - ich muß noch die Zusammenfassung schreiben und die Laborergebnisse einfügen -, aber ich glaube, die Niederschrift meiner Diktate ist schon erfolgt.« »Ich muß nicht unbedingt den fertiggestellten Bericht sehen«, sagte Adam. »Offen gesagt wäre ich schon zufrieden, wenn ich die Niederschrift und die Laborergebnisse sehen könnte.« DiCapua widmete ihm einen abwägenden Blick, dann zuckte er mit den Achseln. »Ich sehe keinen Grund, weshalb nicht. Besonders«, fügte er hinzu, »da doch Ihre Unterschrift auf dem Totenschein zu lesen war.« Er schaute wieder auf die Leiche. »Ich muß hier noch etwa zehn Minuten arbeiten. Gehen Sie doch bitten nach oben in den Personalraum und warten Sie dort auf mich. Ich bringe Ihnen das Dossier, sobald ich die Gelegenheit hatte, mich zu waschen.« Adam ging in den nächsthöheren Stock und fand den Personalraum leer, bis auf zwei Medizinalassistenten, die sich über die vorgesehene Behandlung eines Orthopädiepatienten zankten. Als sie Adam erblickten, brachen sie ihren Streit ziemlich verschüchtert ab und verschwanden. Der Kaffee aus dem Getränkeautomaten war von der Qualität, die sowohl Humphrey als auch Mrs. Gilchrist als ›stark genug, daß eine Maus drauf laufen kann‹ verurteilt hätten. Nach einem einzigen Probeschluck stellte er den Becher beiseite und wappnete sich mit Geduld, um auf das Eintreffen seines Kollegen zu warten. Zwanzig Minuten später schob sich diCapua durch die Pendeltür und steuerte auf den Tisch zu, an dem Adam saß. Er hatte seine grüne Operationskleidung und die Gummistiefel abgelegt und trug statt dessen einen elegant geschnittenen grauen Anzug und glänzende italienische Lederschuhe. Seine burgunderrote Seidenkrawatte wies diskret winzige goldene Paisley-Muster auf. Als der Pathologe sich ihm gegen über niederließ, zollte ihm Adam in Gedanken Anerkennung für das kleine Wunder persönlicher Körperpflege, mit dem diCapua es -178-
fertiggebracht hatte, jeden verbleibenden Hauch der Gerüche des Sektionssaals abzustreifen. »Hier bitte«, sagte diCapua und reichte ihm eine Aktenmappe. »Nicht angenehm zu lesen - aber ich nehme an, daß es Sie nicht sonderlich überraschen wird.« Schwarz auf weiß festgehalten erlaubten die kalten medizinischen Fakten, die Randall Stewarts Mord umgaben, einen Grad klinischer Distanz, für den Adam dankbar war. Das Opfer war dreimal auf den Hinterkopf geschlagen worden, zwei der drei Hiebe hatten Schädelfrakturen zur Folge gehabt. DiCapua vermutete, das wahrscheinliche Tarwerkzeug sei ein Hammer gewesen. Wie Adam selbst am Tatort bemerkt hatte, war die rechte Drosselvene mit fast chirurgischer Präzision geöffnet worden, wodurch der Körper schnell vom Blut entleert worden war. Jedoch vertrat diCapua die wohlüberlegte fachliche Meinung, weder die Schläge auf den Kopf noch die Wunde seien die unmittelbare Todesursache gewesen. Zu Adams Überraschung war Randall Stewart garrottiert worden. Adam runzelte die Stirn und las mit zunehmendem Interesse weiter. Die Ligatur war am Tatort nicht zu sehen gewesen, weil sie so straff in die Halsfalten des Opfers gezogen worden war. Sie war ihm mit Hilfe zweier Stränge aus Katgut möglicherweise eine Violin- oder Gitarrenseite - zugefügt worden, die dreimal verknotet waren. Die Garrotte hatte die Halswirbelsäule des Opfers gebrochen, das Rückenmark durchgetrennt und gleichzeitig die Luftröhre verschlossen. DiCapua postulierte, der Schnitt in die Drosselvene sei gemacht worden, während das Opfer an der Doppelwirkung von Strangulation und gebrochenem Hals starb, was dem schwer arbeitenden Herzen noch Zeit ließ, eine beträchtliche Menge Blut aus dem sterbenden Körper zu pumpen. Die drei Schläge auf den Kopf, die Garrottierung, das -179-
Ausbluten - zusammen mit dem Bericht des Augenzeugen bestätigte dies alles die Wahrscheinlichkeit eines gräßlichen Rituals. Unangenehm berührt und tief betrübt zwang sich Adam weiter zu lesen. Er suchte nach Bruchstücken von Informationen, die ihm einen Hinweis geben würden, der ihm helfen könnte, den spezifischen Ursprung des Rituals herauszufinden denn erst, wenn er das wußte, konnte er hoffen, den zugrundeliegenden Zweck zu erraten und vielleicht festzustellen, warum gerade Randall ausgewählt worden war zu sterben. Er stieß auf zusätzliche Einzelheiten, ohne daß sie ihm den entscheidenden Hinweis gaben, den er sich erhoffte. DiCapua hatte hier und da das Vorhandensein nebensächlicher Abschürfungen festgestellt, zusammen mit Anzeichen beginnender Erfrierungen an Händen und Füßen. Eine Reihe von Einstichen an den Armen des Opfers zusammen mit einer hohen Konzentration von Barbituraten im Blut deutete darauf hin, daß Randall während seiner Gefangenschaft stark mit Drogen betäubt worden war. Es gab auch Drogenspuren im Mageninhalt, was darauf hindeutete, daß Randall zusammen mit seiner letzten Mahlzeit noch eine weitere Dosis Sedative verabreicht bekommen hatte. Seine letzte Mahlzeit... Hier richtete Adam sich mit einem leichten Ruck auf und kniff die dunklen Augen zusammen. Plötzlich hatte etwas ein heftiges Interesse in ihm geweckt. Randalls letzte Mahlzeit hatte aus Rotwein und einer Art Brötchen oder Mehlkuchen aus Hafermehl bestanden. Der Mehlkuchen war angebrannt gewesen, und in den Wein waren Mistelbeeren gemischt worden. Ein angebrannter Hafermehlkuchen, Wein mit Mistelbeeren... Die Kombination in Verbindung mit den zugefügten -180-
Verletzungen ließ einen vertrauten Ton am Rande seines Gedächtnisses anklingen. Er suchte danach, doch als er sich bemühte, entzog sich diese Erinnerung dem unmittelbaren Zugriff. Er würde dem später strikter nachgehen müssen. Aber diesem Muster war er schon einmal begegnet! Er speicherte diese Information für spätere Überlegungen ab, legte die Aufzeichnungen des Pathologen wieder in die Aktenmappe und schob sie stumm über die Tischfläche zu ihrem Besitzer zurück. DiCapua nahm sie entgegen und hob fragend die Augenbrauen. »Nun?« fragte er, als Adam keinen Kommentar abgab. »Ergibt irgend etwas darin für Sie einen Sinn?« »Im Augenblick nichts«, sagte Adam wahrheitsgemäß. »Später werde ich vielleicht ein oder zwei Theorien bilden können - aber jetzt habe ich dafür so wenig eine Erklärung wie Sie.« »Ich hatte befürchtet, daß Sie das sagen würden.« DiCapua zog ein schiefes Gesicht, dann beäugte er Adam nachdenklich und sagte: »Verzeihen Sie mir, wenn ich neugierig erscheine, aber worin besteht genau Ihr Interesse an diesem Fall? Nicht um alles in der Welt kann ich mir die Frage verkneifen, wie ausgerechnet Sie zufällig als erster qualifizierter Arzt am Schauplatz eines Mordes ankamen, der sich in Blairgowrie ereignete.« Adam lächelte. »Daran ist nichts Mysteriöses. Noel McLeod war als Polizeiexperte angerufen worden, und er rief mich an. Er wollte professionelle Unterstützung von jemandem haben, der Erfahrung im Umgang mit der Psychologie des Bizarren hat. Wie Sie wissen, berate ich die Polizei von Zeit zu Zeit.« »Tja, bizarr ist bestimmt das richtige Wort dafür!« stimmte diCapua zu und schnaubte. »In den ganzen fünfzehn Jahren, die ich mich jetzt mit Gerichtsmedizin befasse, bin ich noch nie auf so etwas gestoßen. Wer immer das getan hat, es müssen echte -181-
Verrückte gewesen sein - aber vermutlich ist das der Grund, warum Sie damit befaßt sind, nicht wahr?« Während Adam mit den Achseln zuckte, seufzte diCapua und redete weiter. »Na ja, ich bin froh, daß Sie von hier an weitermachen müssen, und nicht ich. Die Kriminalpolizei in Perth wird ihre offiziellen Ausfertigungen des Autopsieberichts morgen bekommen, und ich werde auch ein Exemplar an Ihren Inspector McLeod schicken. Ich wünschte, ich hätte das Gefühl, der Bericht sei hilfreich. Wo fangen Sie an, nach jemandem zu suchen, der so etwas tun würde?« »Vielleicht unter Steinen, die ich aufhebe; ich weiß es nicht«, erwiderte Adam, obwohl er schon einige Ideen hatte, die zumindest besser waren als diese. Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Nebenbei bemerkt, wann, glauben Sie, wird die Leiche freigegeben? Als wäre die Welt nicht schon klein genug, habe ich das Opfer gekannt. Seine Tochter möchte, daß ihr Vater so schnell wie möglich beerdigt wird.« »Au, das ist eine schwierige Frage!« sagte diCapua und schüttelte seinerseits den Kopf. »Der Staatsanwalt kann durchaus die Leiche solange zurückhalten wollen, bis man die Täter aufspürt und eine Verhaftung durchführt.« »Was bedeutet, es könnte Wochen, sogar Monate dauern.« »Tja, die Gerichte müssen auch die bösen Kerle beschützen, Adam«, sagte diCapua leichthin. »Wie Sie wissen, hat jeder, der eines Mordes beschuldigt wird, das Recht, seine eigene gerichtsmedizinische Untersuchung der Überreste des Opfers zu beantragen - eine dieser köstlichen Kuriositäten des schottischen Rechts.« »Ja«, murmelte Adam dumpf. »Und manchmal ist das Gesetz ein Esel, um Dickens zu zitieren!« Er lächelte diCapua düster an. »Aber wenn wir über juristische Probleme meckern, wird Randall Stewart dadurch auch nicht schneller beerdigt, oder? Außerdem«, fügte er hinzu und warf einen Blick auf die Uhr -182-
neben dem Kaffeeautomaten, »sollte ich mich lieber auf den Weg machen, sonst kommen Sie bei Ihren Vorhaben für den Rest des Tages zu spät. Richten Sie Catriona meine Grüße aus und vielen Dank für Ihre Hilfe. Falls mir bis morgen noch eine Idee kommt, die für Sie nützlich sein könnte, rufe ich Sie bestimmt an.« Kapitel 13 Bis Adam wieder auf Strathmourne eintraf, war es ihm nicht gelungen, etwas in seinem Gedächtnis zu fassen zu bekommen. Und auch während des einfachen Abendessens, das Mrs. Gilchrist ihm aufdrängte, kam ihm keine Erleuchtung. Er nahm die Mahlzeit auf einem Tablett in der Bibliothek ein, während er mit den Augen die Bücherregale absuchte und sich den Kopf zerbrach, wo er den Hinweis gefunden hatte, der etwas Bekanntes hatte aufblitzen lassen, während er diCapuas Bericht las. Als er mit dem Essen fertig war, bat er Humphrey, ihm Kaffee zu bringen und bereitete sich auf einen Abend der Recherchen vor. Adams Bibliothek war der Zufluchtsort eines beschäftigten Wissenschaftlers, doch ebenso eine Fundgrube für seltene und wertvolle Bücher. Sein Vater und sein Großvater waren beide bemerkenswerte Sammler gewesen und hatten eine sehr respektable Auswahl an Titeln zusammengetragen. Adam war ebenfalls Sammler, aber unter seiner Obhut hatte die Bibliothek einen mehr eklektischen Charakter angenommen, der den enzyklopädischen Horizont seiner persönlichen Interessen widerspiegelte. Sie beherbergte immer noch ihren Anteil an seltenen Foliobänden und Erstausgaben und sogar an ungebundenen Manuskripten, handgeschrieben auf Pergament denn Adam verkaufte nur selten etwas -, aber jetzt schmiegten sich moderne Texte in glänzenden Schutzumschlägen und sogar Paperbacks freundschaftlich zwischen die alten Bände in ihren gepunzten Ledereinbänden. Adam hatte eine ungefähre Vorstellung davon, wonach er -183-
suchte, aber er brauchte fast eine Stunde, um es zu finden. Nachdem er wiederholt innegehalten hatte, um möglicherweise passende Bände herauszuziehen und dann wieder hineinzuschieben, stieß er auf einen kürzlich erschienen Titel aus dem Bereich Archäologie, der plötzlich sein Interesse fesselte. Er war noch nicht dazu gekommen, ihn in aller Ruhe zu lesen, aber er erinnerte sich verschwommen, daß er vor ein paar Jahren einen Auszug davon in der Sunday Times überflogen hatte etwas über eine Leiche, die von einem Torfstecher in Lindow Moss bei Manchester gefunden worden war. Zuerst hatte man sie für ein Mordopfer aus jüngster Zeit gehalten - nur hatte sich dann herausgestellt, daß der ›Mann von Lindow‹ das Opfer einer rituellen Tötung vor mehr als 2000 Jahren gewesen war. Schon in das Vorwort vertieft, trug er das Buch zu seinem Lieblingsarmsessel am Kamin, schaltete die Lampe ein und ließ sich zu einer gründlichen Lektüre nieder. Die nächste Stunde verbrachte er lesend. Ab und zu hielt er aufgeregt inne, um sich etwas zu notieren oder ein Lesezeichen einzulegen. Als er endlich die letzte Seite gelesen hatte und aufschaute, schlug die Uhr zehn. Er seufzte tief, klappte das Buch zu und legte es beiseite. Geistesabwesend straffte er die Schultern, während er in Gedanken die Bedeutung all dessen zusammenfaßte, was er soeben gelesen hatte. Dann erhob er sich nach einem weiteren kurzen Augenblick des Nachdenkens und ging zum Schreibtisch, um McLeod bei sich zu Hause anzurufen. McLeod meldete sich persönlich. »Ich habe einige Recherchen angestellt«, sagte Adam, als sie die Grüße ausgetauscht hatten. »Ich glaube, ich bin auf etwas gestoßen, das eine gewisse Beziehung zu Randalls Tod hat nichts über die Täter, aber möglicherweise einen Rahmen für die Tötung selbst. Hätten Sie vielleicht morgen nachmittag einmal Zeit, in meinem Büro im Krankenhaus vorbei zuschauen -184-
eventuell nach dem Mittagessen?« Das Jordanburn Psychiatrie Hospital, das jetzt einen Teil des Gebäudekomplexes des Royal Edinburgh Hospital darstellt, liegt mitten im vornehmen Edinburgher Stadtteil Morningside, in Sichtweite des Blackford Hill. Als Adam am nächsten Tag vom Mittagessen mit zwei seiner Studenten in der Krankenhauskantine zurück kehrte, fand er in seinem Büro McLeod vor, der es sich im Besuchersessel bequem gemacht hatte. Auf dem Schreibtisch lag auf einem Löschblock ein Origami-Schwan, gefaltet aus Krankenhausnotizpapier. »Hallo! Ganz so früh hatte ich Sie nicht erwartet«, sagte Adam und lächelte über den Schwan, als er sich hinter seinem Schreibtisch niederließ. »Ich hoffe, Sie haben nicht zu lange warten müssen.« »Tja, ich mußte etwas tun, um mir die Zeit zu vertreiben«, sagte McLeod ein wenig rechtfertigend mit dem Blick auf den Schwan, »aber nein, ich bin noch nicht lange hier.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und reckte den Kopf in Adams Richtung. »Es war auch gut so, denn sonst hätte mich meine Neugierde umgebracht, wenn ich hier nur herumgehockt wäre. Was haben Sie heraus gefunden?« Adam tippte den Schwan sanft mit dem Zeigefinger an, bevor er sich in seinem Sessel zurücklehnte. »Beantworten Sie mir zuerst eine Frage: Haben Sie den Autopsiebericht über Randall Stewart gesehen?« »Aye«, erwiderte McLeod grimmig. »Kurz nach elf Uhr heute vormittag hat ihn ein Kurier vorbeigebracht.« »Haben Sie ihn schon gelesen?« »Aye.« »Und was halten Sie davon?« McLeod biß die Zähne aufeinander. »Verdammt schreckliche Art zu sterben. Besonders für einen Freund.« -185-
»Da stimme ich Ihnen zu«, sagte Adam ruhig, »aber das habe ich nicht gemeint.« Diese Bemerkung brachte ihm einen scharfen Blick von McLeod ein. »In Ordnung. Was haben Sie dann gemeint?« »Ich bin gestern nachmittag ins Royal Infirmary nach Perth hochgefahren«, sagte Adam. »Der Chefpathologe ist ein Bekannter von mir, und er ließ mich vorab einen Blick auf seine Ergebnisse werfen. Als die klinischen Fakten ans Licht kamen im Unterschied zu der emotionalen Atmosphäre beim Anblicks des Tatorts -, da fiel mir auf einmal auf, daß gewisse Eigenheiten des Tötungsrituals mir seltsam bekannt vorkamen: die Beimischung von Mistelbeeren in den Wein und die Verwendung einer Garrotte zum Töten. Inzwischen habe ich einiges zusammen bringen können.« Während er sprach, zog er die linke Schublade seines Schreibtisches auf und holte ein Hardcover-Buch in einem überwiegend roten Schutzumschlag heraus. »Schauen Sie sich das einmal an«, sagte er und reichte das Buch über den Schreibtisch. McLeod nahm es wortlos und rückte seine goldgefaßte Fliegerbrille zurecht, so daß er den Titel auf dem Umschlag lesen konnte: Leben und Tod eines Druiden-Fürsten: die Geschichte einer archäologischen Sensation. Adam lehnte sich vor. Das Funkeln in seinen dunklen Augen glich einem Sturmlicht auf einem winterlichen Loch. »Entweder kennen sie dieses Buch, oder sie arbeiten in der gleichen Tradition«, sagte er leise. »Sie haben ihn auf genau die Weise umgebracht, wie es bei dem Mann von Lindow geschah. Schauen Sie es durch. Ich habe die entsprechenden Stellen markiert und Randbemerkungen gemacht.« Während McLeod das Buch erregt durchblätterte und schnell die Passagen überflog, die Adam angestrichen und hervorgehoben hatte, wiederholte Adam, was der Inspector -186-
gerade las. »Ich bezweifle, daß man das Opfer des Lindow-Mannes noch genauer hätte nachahmen können«, sagte er. »Die letzte Mahlzeit des Mannes von Lindow war ein verbrannter Hafermehlkuchen und Wein, in den Mistelbeeren gemischt waren; bei Randall verhielt es sich entsprechend. Dem LindowMann wurde dreimal auf den Kopf geschlagen, um ihn zu betäuben, er wurde garrottiert, und er wurde durch einen Schnitt in die rechte Drosselvene ausgeblutet; bei Randall war es genauso. Der Mann von Lindow wurde dann mit dem Gesicht nach unten in einen Teich gelegt, Randall zwar nicht, aber ihn hat man mit dem Gesicht nach unten im Schnee liegen lassen nur eine kleine Abweichung also. Beide Todesfälle passen in das klassische Profil eines dreifachen Opfers für die drei keltischen Hauptgottheiten«, fuhr Adam fort. »Diese Autoren behaupten, dahinter stehe ein druidisches System. Taranis war der keltische Thor oder Donnergott; Esus, der Herr und Meister, entsprach in etwa Odin, dem Allvater; und Teutates war der allgemeine Gott des Volkes oder Stammes - und jeder hatte eine besondere Art, in der ihm geopfert werden sollte. Die drei Schläge gegen den Kopf machten den Mann zu einem Opfer für Taranis, indem sie an die Macht seiner Blitzschläge und seines magischen Hammers erinnerten - und Sie werden sich daran erinnern: Der Bericht postuliert, daß möglicherweise ein Hammer die Kopfverletzungen verursacht hat. Der verbrannte Mehlkuchen knüpft ebenfalls an den Feueraspekt des Taranis an. Esus bevorzugte Opfer, die an einem Baum aufgehängt wurden - hier gibt es Anklänge an Odin - oder erdolcht oder beides, und das Garrottieren kommt dem Hängen gleich. Teutates wurde mit Opfern im Wasser assoziiert. Das ist die schwächste Verknüpfung, aber beim Lindow-Mann konnte die Beziehung zum Wasser kaum besser sein. Beide Männer waren schon tot, als sie ins Wasser - oder den Schnee -187-
gelegt wurden.« McLeod hatte es aufgegeben zu lesen, während Adam sprach, und lauschte mit zunehmendem Entsetzen. Als Adam schließlich endete, schüttelte der Inspector langsam den Kopf. Er wirkte niedergeschmettert. »Mein Gott, diese Mistkerle haben wirklich ihre Hausaufgaben gemacht, nicht wahr?« murmelte er. »Aber warum?« Er blickte finster drein. »Dieses Buch stellt das Opfer des Lindow-Mannes in einen spezifischen historischen Zusammenhang - und es gibt bestimmt keine historische Parallele, die heutzutage ein solches Opfer verlangt. Ich will damit sagen: Warum sollte die Loge der Luchse sich soviel Mühe machen, einen modernen Freimaurer nach einem uralten druidischen Ritual hinzurichten?« »Das hat mich auch beschäftigt«, gab Adam zu, »aber ich glaube, daß ich zumindest auf eine plausible Theorie gekommen bin.« »Und die lautet?« »Nun, einige Historiker postulieren eine historische Verbindung zwischen den Druiden und der Freimaurerei und behaupten, es habe eine gewisse Kontinuität zwischen den beiden Traditionen gegeben. Wenn wir annehmen, daß diese Historiker recht haben - daß nämlich die Freimaurer späte Erben der Mysterien der Druiden sind -, dann würde das erklären helfen, warum ein Meister der Freimaurer als passendes Opfer für die Opferung ausgewählt wurde.« »Ich bin dieser Theorie nie begegnet, und ich bin auch ein Freimaurermeister«, sagte McLeod und tippte auf das Buch, das vor ihm lag. »Außerdem behaupten diese Leute hier, das Opfer von Lindow sei ein Fürst gewesen.« »Ja schon, aber in bestimmten zeremoniellen Zusammenhängen ist die Fürstlichkeit nicht so sehr eine Sache der blutsmäßigen Abstammung, sondern eine Frage, ob die -188-
betreffende Person in Übereinstimmung mit den entsprechenden Mysterien ordiniert oder geweiht wurde«, sagte Adam. »Man könnte argumentieren, daß die verschiedenen Grade der höheren Freimauerer-Einweihung diese Funktion erfüllen. Was den zugrundeliegenden Zweck betrifft...« Er hielt kurz inne und überlegte sich seine Worte sorgfältig, dann fuhr er fort: »Ich habe es noch nicht erwähnt, weil ich mich nicht frei genug fühlte, es am Telefon zu erörtern, aber in der vorletzten Nacht habe ich einen Ausflug auf die Inneren Ebenen unternommen. Ich hatte vorgehabt, die Akasha-Chronik zu befragen, in der Hoffnung auf eine Enthüllung hinsichtlich der Identität von Randalls Mördern. Statt dessen erhielt ich eine Vision, in der es um eine Art Artefakt ging - ich glaube, das war es, was unser Augenzeuge sah, aber nicht beschreiben konnte -, und ein unerwartetes Gespräch mit dem Meister über Peregrine. Doch mehr davon später.« »Aye, was ist mit diesem Artefakt?« fragte McLeod. »Nun, ich konnte es nicht deutlich sehen«, fuhr Adam fort, »aber es schien sich um eine Art Torques zu handeln - was unsere Theorie von einer Verknüpfung mit den Druiden unterstützen würde. Ich bekam den Eindruck eines piktischen Musters und piktischer Handarbeit, aber wir wissen, daß die piktische Kunst auf die Druiden überging - und daß das religiöse System der Pikten viel blutdürstiger war als das der Druiden. Wenn ein solches Artefakt jemandem in die Hände gefallen ist, der zur Loge der Luchse gehört, dann wurde Randalls Tod möglicherweise als ein Mittel zur Wiedererweckung der Kräfte dieses Artefakts inszeniert - was immer das für Kräfte sein mögen. Ich glaube, darum ging es bei Randalls Ermordung.« »Herrje, der arme Randall!« flüsterte McLeod, schüttelte den Kopf, schob seine Brille auf die Stirn und massierte sich den Nasenrücken. »Glauben Sie, die haben damit Erfolg gehabt?« Adam zuckte mit den Achseln. Sein Gesicht wirkte sehr grimmig. »Wenn ja, dann erwarte ich, daß es nicht mehr lange -189-
dauert, bis sie ihre neugefundene Macht ausüben werden - so wie ich die Loge der Luchse kenne. Wenn es ihnen nicht gelungen ist, dann werden sie es sicher bald mit einem weiteren Opfer versuchen. So oder so wird jemand leiden müssen - es sei denn, wir stoppen sie.« McLeod knurrte. »Das ist ein bißchen viel verlangt, wenn man bedenkt, daß wir noch nicht den Fetzen eines handfesten Beweises haben, daß die Loge der Luchse dahinter steckt. Ja, Sie und ich, wir wissen es ganz allgemein, aber ich habe nichts in der Hand, was ich im juristischen Sinn einsetzen kann. Und wir haben keinen Hinweis auf die Identität eines ihrer Mitglieder.« »Ich weiß.« Adam konnte den enttäuschten Unterton in seiner Stimme nicht unterdrücken. »Ich wünschte, es gäbe eine Methode, mit der wir unsere Gegner ins Freie locken könnten. Einen unbekannten Feind zu bekämpfen ist immer schwieriger.« McLeod schwieg eine Weile, dann reckte er den Kopf in Adams Richtung. »Ich habe einen Vorschlag«, sagte er. »Aber ich bezweifle, daß er Ihnen gefallen wird.« »Sagen Sie ihn mir trotzdem.« »Vielleicht ist es an der Zeit«, sagte McLeod, »daß wir unseren Freunden einen Köder anbieten.« Er begleitete diese Erklärung mit einem durchtriebenen Blick, der bei Adam sofort eine saure Miene auslöste. »Ich hoffe, Sie schlagen nicht ernsthaft vor, daß ich zulasse, daß Sie sich absichtlich den Luchsen verraten, oder?« McLeod zuckte herzhaft die Achseln. »Haben Sie eine bessere Idee?« »Die Antwort ist: nein!« »Ich dachte mir schon, daß Sie das sagen würden«, fuhr McLeod fort. »Ich stelle mir folgendes vor. Donald hat diese -190-
Liste von Buchhändlern und Antiquaren in der Gegend von Stirling fertiggestellt. Ich würde sagen, es besteht eine gute Chance, daß einer von ihnen ein Luchs ist oder zumindest eine Verbindung zu den Luchsen hat. Vorausgesetzt ich betätige mich ein wenig als parapsychologischer Schnüffler, wenn ich losziehe, um meine Gespräche zu führen, und lüfte dabei absichtlich ein wenig mein Visier? Wenn irgend jemand dort draußen tatsächlich Verbindung zur Loge der Luchse hat, dann wird er eine solche Einmischung nicht übersehen. Falls und wenn er einen Gegenschlag unternimmt, haben wir die Spur gefunden, nach der wir suchen.« »Vorausgesetzt, die ganze Sache fliegt uns nicht um die Ohren«, protestierte Adam schwach. »Was Sie vorschlagen, ist viel zu riskant. Wir haben schon Randall verloren. Wir können es uns nicht leisten, noch jemanden zu verlieren.« »Wir können es auch nicht riskieren, untätig herum zu sitzen«, versetzte McLeod. »Sie haben gerade selbst gesagt, daß die Luchse bestimmt wieder zuschlagen werden. Wenn wir ihr Feuer auf uns lenken, haben wir eine Chance, sie von denen abzulenken, die kaum in der Lage sind, sich zu verteidigen.« »Dessen können Sie sich aber nicht sicher sein«, sagte Adam. Als er sah, wie eigensinnig McLeod die Zähne zusammenbiß, fügte er hinzu: »Glauben Sie mir, Noel, ich bin genauso scharf auf Ergebnisse wie Sie - aber es ist noch zu früh im Spiel, unsere Hand offen auszuspielen. Machen Sie durchaus Ihre Erkundigungen - aber um Gottes willen, verringern Sie nicht Ihre Verteidigung, nicht einmal einen Augenblick lang. Das ist ein Befehl!« McLeod seufzte schwer, dann nickte er und gab sich geschlagen. »Also gut. Wir werden es einstweilen auf Ihre Weise machen.« Er hob den kleinen Origami-Schwan auf und drehte ihn in seinen Fingern. »Um auf die zurück zu kommen, die weniger in der Lage sind, sich zu verteidigen: Sie hatten vorhin Mr. Lovat erwähnt. Ich hoffe, der Meister hat keine -191-
Einwände.« »Nein, ganz im Gegenteil. Wenn überhaupt, so drängt er auf schnelleren Fortschritt - oder zumindest interpretiere ich es so. Manchmal ist es schwer, den Sinn seiner etwas orakelhaften Aussprüche zu verstehen.« Er skizzierte kurz das Wesentliche seiner Audienz beim Meister und die zunehmende Gewißheit, daß Peregrines weiterer Fortschritt irgendwie mit einer erfolgreichen Lösung des Falles von Gillian Talbot zusammenhing. »Er sagte: Der Künstler muß auch ein Handwerker sein. Zerbrochene Bilder müssen wieder hergestellt werden. Der Tempel des Lichts muß wieder aufgebaut werden. Ich verstehe das so, daß Peregrine rätselhaft darin verwickelt ist, dem TalbotMädchen wieder seine Integrität zurück zugeben. Ich habe vor, nächste Woche zu versuchen, mit ihren Eltern Kontakt aufzunehmen, wenn ich nach London fliege, um Philippa abzuholen. Ich bin mir nicht sicher, wie ich es einrichten werde, die beiden in einer Umgebung zusammen zu bringen, wo wir ungestört arbeiten können, aber vermutlich hätte man mir gesagt, wenn es nicht möglich wäre. Natürlich bedeutet ›möglich‹ nicht immer ›leicht‹.« »Fast nie, wenn es um die Anweisungen des Meisters geht«, brummte McLeod. »Aber wie wir zu sagen pflegen, wir haben gewußt, daß die Aufgabe gefährlich sein würde...« Er seufzte, sah auf seine Uhr und richtete sich dann jäh auf. »Herrje, in einer halben Stunde habe ich eine Pressekonferenz! Ich melde mich wieder, Adam. Rufen Sie mich an, wenn Sie auf etwas Neues stoßen.« Der nächste Tag brachte keine neuen Einsichten und nur eine einzige Neuigkeit, die man als gut einschätzen konnte. Nach einer längeren Beratung mit der Polizei war der Staatsanwalt endlich damit einverstanden, daß Randall Stewarts Leiche der Familie zur Bestattung freigegeben werden konnte. McLeod -192-
übermittelte die Nachricht Adam, und Adam und Christopher halfen Randalls Familie, die notwendigen Vorkehrungen zu treffen. Wegen der großen Vielfalt und Anzahl von Randalls Freunden und Bekannten bewerkstelligte Christopher es, daß am folgenden Donnerstag anstatt der viel kleineren Pfarrkirche, die Randall in der Nähe seiner Wohnung besucht hatte, die Episkopal-Kathedrale St. Mary für die Trauerfeier reserviert wurde. Sechs von Randalls freimaurerischen Logenbrüdern wurden als Sargträger abgeordnet, und die Mitglieder seiner Loge bereiteten darüber hinaus eine eigene Gedächtnisfeier für den ermordeten Bruder bei einer Trauer-Loge am Freitagabend vor. »Ende des Monats werden die Brüder auch eine Gruppe organisieren, die nach Melrose Abbey zum jährlichen Umgang der Freimaurer fährt«, erzählte McLeod Adam, als sie sich über die endgültigen Entscheidungen für die Bestattung ausgetauscht hatten. »Das ist der Vorabend von St. Johannis, der Tag nach dem Boxing Day. Jane und ich werden bestimmt hinfahren, und Sie sind eingeladen mit zu kommen.« »Das werde ich auch«, sagte Adam. »Das ist die Art von Gedächtnisfeier, die Randall gefallen hätte.« Sobald Adams Teil an der Planung geleistet war, entschloß er sich jedoch, keine Zeit und Kraft mehr damit zu vergeuden, über ihren mangelnden Fortschritt beim Aufspüren von Randalls Mördern zu brüten. Strenge Selbstprüfung brachte ihn zu der Überzeugung, daß er nichts übersehen hatte, was für diesen Fall von wesentlichem Wert war, und so richtete er seine Gedanken statt dessen auf das leichter zugängliche, wenn auch nicht weniger verwirrende Rätsel Peregrine Lovats und seines zukünftigen Anteils innerhalb des Ganzen. Daß Peregrine eine Schlüsselfigur in der Gesamtstrategie gegen die Luchse war, daran zweifelte Adam nicht; aber zuerst mußte Peregrine auf einer kosmischen Waage seine Würdigkeit beweisen, indem er im Hinblick auf Gillian Talbot - oder Michael Scot - tat, was -193-
immer von ihm erwartet wurde. Vielleicht war Scot der Schlüssel. Vielleicht war das der Grund, weshalb der Meister Peregrines Zulassung zur Jagdloge mit dem Erfolg bei der Wiederherstellung der zerrütteten Psyche verknüpft hatte, die sowohl Michael Scot als auch Gillian Talbot war - und noch eine Reihe anderer, daran zweifelte Adam nicht. Nun gut. Er hatte einen Plan geschmiedet, nächste Woche mit Gillians Eltern Kontakt aufzunehmen, sofern nicht zuerst sie ihn aufsuchten. Inzwischen gab es Dinge, die Adam tun konnte, um den weiteren Weg für einen schließlichen Eintritt Peregrines in die Jagdloge zu bahnen. Bis jetzt hatte Peregrine nur drei von Adams esoterischen Mitstreitern kennen gelernt. Es war Zeit für ihn, die Bekanntschaft einer vierten zu machen. Kapitel 14 Ich glaube, Sie werden Lady Julian mögen«, sagte Adam zu Peregrine, als sie Samstagmorgen unter einem frostigen und veränderlichen Novemberhimmel mit dem Auto nach Süden fuhren. »Ich kenne sie seit meinem zwölften Lebensjahr. Sie ist wie eine Lieblingstante für mich. Ihr verstorbener Mann war Geschäftsmann, hauptsächlich engagiert im Handel mit Indien und dem Fernen Osten, und sie haben im Laufe der Jahre eine erstaunliche Sammlung östlicher Kunst zusammen getragen. Eine Menge davon ist inzwischen in Museen gewandert, aber einige der besten Stücke hat Julian für sich selbst behalten. Sie und Michael waren eigentlich zuerst Freunde meiner Eltern, sie und meine Mutter standen und stehen sich noch sehr nahe. Sie ist auch eine der talentiertesten Schmuckdesignerinnen, die ich kenne - deshalb hatte ich sie auch mit der Reparatur meines Ringes beauftragt. Sie werden ihre Wohnung mögen - und ihre Arbeit.« »Das klingt ja wunderbar«, erwiderte Peregrine. Was er nicht sagte, da Adam es nicht zur Sprache gebracht -194-
hatte, war sein Verdacht, daß es sich bei Lady Julian doch um mehr handeln dürfte als nur um eine alte Freundin der Familie, die sich zufällig aus Liebhaberei mit Schmuckgestaltung befaßte - genauso wie er wußte, daß der fragliche Ring kein gewöhnliches Schmuckstück war. In jener schrecklichen Nacht bei Urquhart Castle hatte der Ring vielleicht mehr gerettet als nur seine Hand vor einer ernsthaften Verletzung, und er bezweifelte, ob Adam den Ring je hergegeben hätte, wenn nicht an jemanden, zu dem er unerschütterliches Vertrauen hatte - was es mehr als wahrscheinlich machte, daß an Lady Julian mehr dran war, als Adam sich anmerken ließ. Sie plauderten weiter Belanglosigkeiten, während Adam den Range Rover durch die elegante Umgebung von New Town lenkte und schließlich in einen ruhigen halbmondförmigen Straßenzug einbog, der gut versteckt abseits des geschäftigen Treibens der Queen's Street lag. Etwa in der Mitte einer Reihe von Stadthäusern aus der Zeit Edward VII. hielt er am Bordstein an, und sie stiegen aus. Adam zeigte auf eine der Wohnungen auf der anderen Straßenseite. Hinter einem schmiedeeisernen Tor, das in der blassen Farbe von Grünspan gestrichen war, führten gemeißelte Steinstufen zu einer leuchtend zinnoberroten Tür, die von zwei grimmig dreinblickenden chinesischen Tempellöwen aus Granit bewacht wurde. Peregrine beugte sich kurz über einen von ihnen, um ihn genauer anzuschauen, während Adam die Türglocke läutete, dann bewunderte auch er einen ungewöhnlichen Schuhabkratzer, der in den Stein neben der Tür eingelassen war und die Form eines chinesischen Drachen hatte. Einen Augenblick später öffnete Lady Julians Gesellschafterin, eine stämmige, praktisch wirkende Frau Mitte Fünfzig. Sie hatte Apfelbäckchen und ein Funkeln in den Augen. »Guten Morgen, Mrs. Fyvie«, sagte Adam lächelnd. »Ich glaube, Lady Julian erwartet mich - und das hier ist Mr. Lovat.« Mrs. Fyvie strahlte sie beide an, trat von der Tür zurück und -195-
hieß sie eintreten. »Ja, sie erwartet Sie wirklich! Kommen Sie beide herein und lassen Sie mich Ihnen Ihre Sachen abnehmen.« Immer noch strahlend geleitete sie sie durch ein winziges, mit Fliesen ausgelegtes Vestibül in eine breite Diele, die mit blaßgrünem Damast tapeziert war - mit einem erhabenen Muster von Lotosblumen. Zwei hohe Kabinettschränke aus feiner chinesischer Lackarbeit standen einander auf dem mit Teppichen ausgelegten Boden gegen über, und vom Ende des Korridors blickte ihnen unter einem vergoldeten mittelalterlichen Baldachin eine fast lebensgroße Statue der buddhistischen Gottheit Kuanyin gelassen entgegen. Während die beiden sich ihrer Mäntel und Schals entledigten, spazierte hinter dem großen eingetopften Farn in der Ecke eine flaumige tibetische Katze hervor und begann sich um Peregrines Beine zu schmiegen. Mrs. Fyvie schnalzte mit der Zunge und scheuchte das Tier weg, während sie die Mäntel aufhing. »Heda, verschwinde, bevor du die Hosenbeine des jungen Herrn voller Haare machst«, schalt sie die Katze, doch sie lächelte, als sie sich wieder den Besuchern zuwandte. »Lady Julian ist im Sonnenzimmer, wenn Sie mir bitte folgen würden.« Das Sonnenzimmer war ein weiträumiger, nach Süden gerichteter Raum auf der Rückseite des Hauses. Eine Reihe bogenförmiger Fenstertüren gewährte einen ungehinderten Blick auf einen überdachten Steingarten mit einem Zierteich in der Mitte. Allerdings wirkte der Garten im trüben Licht des Novembertags etwas gedämpft. Im Gegensatz dazu stellte der Raum eine Orgie an Farben dar, Geweben und Formen, die zusammen eine märchenhafte Opulenz ergaben. Orientalische Teppiche in satten Nuancen von Smaragdgrün, Rubinrot und Gold bedeckten fast den gesamten schönen Parkettboden. Die Wände waren mit zart gemusterter gelber Seide behängt, die als Hintergrund für eine köstliche -196-
Sammlung von Fächern und Stickereien diente, sowie für blasse Aquarelle, die für Peregrines geübtes Auge die unverkennbaren Stilmerkmale der japanischen Edo-Zeit trugen. Im Gegensatz dazu handelte es sich, so meinte er, bei den Girlanden, die anstelle von Vorhängen über und neben den Fenstern angebracht waren, um indische Saris mit prächtigen Säumen aus Brokatstickerei. Jedes Bord und jede Tischfläche präsentierte eine Auswahl an Kuriosa und Kunstgegenständen - Stücke antiker Cloisonne, verschlungene Schnitzereien aus Elfenbein, Seifenstein und Jade, fragile Gefäße aus dünnem, durchscheinendem Porzellan, mit Edelstein und Perlmutt eingelegte Lackarbeiten, alles umwebt von dem zarten, würzigen Duft von Sandelholz und Kaneelblumen. Während Peregrine sich mit wachsendem Entzücken umblickte, kam es ihm fast vor, als wäre er aus der Alltagswelt in einen verzauberten Palast in einer alten orientalischen Fabel getreten. Der herrschende Genius loci des Märchens, Lady Julian selbst, saß bequem in einem altmodischen Rollstuhl aus Korbgeflecht in der Mitte des Raums, eine schmächtige, gekrümmte kleine Gestalt mit einem indischen Kopftuch über dem Haupt und einem weiteren auf dem Schoß. Als sie ihre Besucher erblickte, erstrahlte ihr schmales, elfenbeinfarbenes Gesicht in einem Lächeln des Willkommens. »Hallo, Adam, lieber Freund!« rief sie aus und hob ihm beide Hände entgegen, wobei Armreife und Armspangen musikalisch klimperten. »Ich freue mich so, daß du kommen konntest und einen so grauen, trüben Tag erhellst. Und«, fügte sie mit einem Zwinker hinzu, »ich sehe, daß du endlich zugestimmt hast, einmal deinen Mr. Lovat mit zu bringen.« »Habe ich nicht gesagt, daß ich das tun würde?« sagte Adam und lachte. Mit einer Haltung zärtlicher Galanterie hob er eine ihrer beringten Hände an seine Lippen, dann winkte er seinen Begleiter heran. »Peregrine, gestatten Sie mir, daß ich Ihnen -197-
Lady Julian Brodie vorstelle.« Mit einem schüchternen Lächeln trat Peregrine vor und sah sich dem freundlich forschenden Blick zweier leuchtender schwarzer Augen ausgesetzt - Augen so weise und aufrichtig wie die eines Kindes. In Lady Julians Gesichtsausdruck lag etwas, das ihn dazu einlud, diesen Blick zu erwidern, und so sah er sie an, von seinen üblichen Hemmungen befreit, und merkte, wie er tiefer schaute, als er bewußt beabsichtigt hatte. Lady Julian, so schätzte er, war zwischen sechzig und siebzig Jahre alt, doch er sah auch - wie in einer Überlappung - das Mädchen, das sie einst gewesen war ein zierliches, puppenhaftes Geschöpf mit rabenschwarzem Haar und lachenden Augen. Sie hatte, wie er sah, die helle Transparenz ihrer Augen und die feinen, beschwingten Bögen ihrer Augenbrauen bewahrt, gemindert jedoch von einem Schmerz und einer Tragik, deren Grund er nur raten konnte. Als er sich über ihre Hand beugte, ertappte sich Peregrine dabei, wie.er sie mit einer chinesischen Weide verglich, zart und knorrig zugleich. »Lady Julian«, murmelte er. Lady Julian lächelte versonnen, als wäre sie sich der Analogie, die er in Gedanken zog, bewußt, und das überlappende Bild löste sich mit einem Schimmern auf. Dann erhellte sich ihr Gesicht wieder so jäh wie ein Sonnenstrahl, der durch eine Wolke brach. »Mr. Lovat«, sagte sie. »Seit Adam zum ersten Mal erwähnte, daß er Ihre Bekanntschaft gemacht hatte, freue ich mich darauf, Sie kennen zu lernen. Leider hatte ich noch nicht die Gelegenheit, eines Ihrer Werke zu sehen, aber aus den Kritiken, die ich gelesen habe, entnehme ich, daß wir auf dem Gebiet der Kunst große Dinge von Ihnen erwarten dürfen.« Peregrine errötete schicklich. »Wenn Sie sich damit auf den Artikel in The Scotsmtm von letztem Monat beziehen, so fürchte ich, daß Mr. McCallum zu großzügig war - allerdings weiß ich -198-
gewiß die Komplimente zu schätzen, sowohl die seinen als auch Ihre.« »Ich dachte dabei nicht an Mr. McCallum«, sagte Lady Julian heiter. »Ich dachte an etwas, das Adam mir sagte, als er das letzte Mal hier war. Und Sie brauchen nicht rot zu werden. Ich habe in Adams kritische Instinkte volles Vertrauen.« Sie tätschelte Peregrine zutraulich die Hand, dann wandte sie sich Adam zu. »Er ist bezaubernd, Adam. Aber ich wollte Grace gerade bitten, uns Erfrischungen zu bringen. Willst du Tee oder Kaffee?« »Tee, wenn es dir nichts ausmacht«, antwortete Adam. »Und wenn ich eine Bitte aussprechen darf, ich glaube, Peregrine hat so etwas wie den ausgezeichneten grünen Tee, den du aus Kwangchow bekommst, noch nicht gekostet.« »Ich glaube, Grace kann das machen«, erwiderte sie. Der Tee, den Adam empfohlen hatte, war von der Farbe blassester Jade und schmeckte zart nach Jasmin. Dazu gab es zerbrechliche Kekse, die mit Honig und Sesamkörnern glasiert waren, und eine exotische Auswahl von Bonbons, die nach Anis, Ingwer und Orangenblüten schmeckten. Das Gespräch befaßte sich in angenehmer Atmosphäre mit verschiedenen Themen, von der zunehmenden Akzeptanz der Akupunktur in der westlichen Medizin bis zur Herkunft eines bronzenen Buddhas, der den Raum von einem Bord in der Ecke aus überblickte, sowie den technischen Raffinessen japanischer Pinselführung. Letzteres Thema fesselte Peregrine so sehr, daß er ganz den Grund vergaß, weshalb er und Adam hier waren, bis Grace Fyvie kam und das Teetablett holte und Lady Julian energisch zur Sache kam. »Du bist bewundernswert geduldig gewesen, Adam, mein Lieber«, sagte sie, »aber ich weiß, du mußt ganz erpicht darauf sein, deinen Ring wieder zu bekommen. Gedulde dich noch einen Augenblick, und ich hole ihn dir.« -199-
Bevor noch einer der beiden ihr seine Hilfe anbieten konnte, hatte sie schon ihren Rollstuhl herum gedreht und fuhr zu dem mit herrlichen Intarsien verzierten Schreibtisch an der einen Seite des Raums. Als sie zurück kam, hatte sie auf dem Schoß einen kleinen, mit Messing eingelegten hölzernen Kasten, auf dessen Deckel sich ein chinesischer Drache wild um einen großen Mondstein schlängelte. Sie hielt ihren Stuhl an und öffnete das Kästchen. Gold und Blau schimmerten durch ihre Finger, als sie einen schönen Goldring mit einem ovalen Saphir herausnahm und mit einer kleinen, anmutig schwungvollen Gebärde Adam überreichte. Er nahm ihn mit einem Lächeln entgegen, das noch breiter wurde, als er den Ring zu einer symbolischen Prüfung ins Licht hob. »Ach, Julian, das hast du meisterhaft gemacht«, sagte er mit Wärme. »Wenn ich es nicht besser wüßte, dann wäre ich nie darauf gekommen, daß dieser Ring jemals beschädigt war.« »Der Stein war glücklicherweise unversehrt«, sagte Lady Julian, als Adam den Ring ansteckte. »Und es war schon etwas Arbeit, aber ich schaffte es, ohne daß ich die ganze Fassung umarbeiten mußte. Aber bemühe dich trotzdem, in Zukunft etwas vorsichtiger damit umzugehen.« Auf diesen tadelnden Ton hin wand sich Peregrine in Unbehagen, denn er war ja der Grund für die Beschädigung des Rings gewesen, nicht Adam. »Bitte, seien Sie nicht böse auf Adam, Lady Julian«, sagte er reumütig. »Vermutlich hat Adam es Ihnen nicht erzählt, aber es war zu allererst meine Schuld, daß der Ring beschädigt wurde.« Lady Julian betrachtete ihn mit einem leichten Amüsement, das für ihn schwer zu deuten war. »O doch, er hat es mir erzählt«, sagte sie. »Das war der Grund, weshalb er und ich dachten, daß es in Zukunft ratsam für Sie sein dürfte, dies hier zu haben.« Sie langte erneut in das Kästchen. Peregrine blinzelte - und -200-
merkte, daß er auf einen zweiten Ring schaute. Bei dem Stein handelte es sich um einen Saphir in Facettenschliff, etwa so groß wie der in Adams Ring, tief gefaßt in einem schlichten goldenen Ringkasten. Doch der breite Steg zeigte ein ins Auge fallendes Flechtwerk aus chinesischen Drachen. Obwohl er ganz anders aussah als Adams Ring, war seine Ausstrahlung sehr ähnlich. Peregrine scheute sich, ihn zu nehmen. Überraschung und Verblüffung hatten seine braunen Augen geweitet. »Der ist doch gewiß nicht für mich«, brachte er hervor. »Im Gegenteil«, sagte Adam, »er ist für Sie. Und ja, er ist ein Geschenk aber ein Geschenk, das gewisse Verantwortlichkeiten mit sich bringt.« Er betonte diese Aussage mit einem Blick, dessen Bedeutung Peregrine nicht entging. Als Lady Julian den Ring ihm weiter wortlos hinhielt, nahm Peregrine seinen Mut zusammen und nahm ihn. »Er ist schön«, hauchte er und drehte ihn unbeholfen in seinen Fingern. »Ich - danke Ihnen.« »Wollen Sie ihn nicht einmal anstecken?« fragte Adam still amüsiert. »Oh«, sagte Peregrine, »o ja, natürlich.« Er schob den Ring auf den Ringfinger seiner rechten Hand. Der Ring paßte ausgezeichnet, stellte er fest. »Das ist erstaunlich!« rief er aus und schaute Lady Julian an. »Sie haben ihn doch gemacht, nicht wahr? Und wie um alles in der Welt haben Sie es geschafft, die richtige Größe in Erfahrung zu bringen?« »Oh, den habe ich nicht gemacht, mein Lieber«, sagte sie trocken. »Der Stein ist neu, aber die Fassung ist sehr alt. Was die Größe betraf, da hatte ich ja Adams fachkundige Beratung.« »Und wie haben Sie es gewußt?« fragte Peregrine Adam. Adam prustete vergnügt. »Aber wirklich, Peregrine. -201-
Man sollte ja fast meinen, an der Sache sei etwas Magisches. Ich habe mir einfach die Freiheit genommen, etwas zu schätzen, als ich diese Wunde in Ihrer Hand reinigte, die Sie bei Urquhart Castle abbekommen hatten. Ich - äh - glaube, Sie taten damals Ihr Bestes, überall hinzugucken außer auf Ihre Hand - wofür man Sie meiner Meinung nach nicht tadeln kann.« Peregrine schauderte, aber er grinste auch ein wenig verschämt. »Vermutlich hatte ich damals wirklich meine Gedanken ein wenig woanders«, gab er zu. »Aber so wäre es Ihnen auch gegangen, wenn Sie sich Sorgen gemacht hätten, ob Sie je wieder würden malen können.« Er blickte auf den Ring. »Sie haben allerdings bestimmt schon vorausgedacht. Ihre Listigkeit scheint nie zu schlafen!« »Das hoffe ich doch aufrichtig«, sagte Lady Julian. Ihr Ton war so ernst, daß Peregrine innehielt und nachdachte. Er überlegte, was sie wohl gemeint haben könnte und blickte wieder auf den Ring an seiner Hand. Er paßte gut, aber der Ring kam ihm mit einem Mal seltsam schwer vor für sein Gewicht, und er streifte ihn ab, um ihn genauer anzuschauen. Die Drachen zu beiden Seiten hatten am Unterteil des Steges ihre Schwänze ineinander geschlungen, von ihren Schuppen und Rückenflossen gingen Ranken aus, die in zartem Flechtwerk um den Ringkasten liefen. »Dieser Ring«, sagte er zögernd, »hat er irgend welche... irgend welche...« »Irgend welche Kräfte?« fragte Adam. »Keine, die in seiner gegenständlichen Erscheinung liegen. Welche Kräfte auch immer ihm vielleicht in der Zukunft verliehen werden, liegt bei Ihnen.« »Und wie mache ich das?« »Wie ich Ihnen schon einmal sagte«, erwiderte Adam, »ist es nicht so sehr eine Sache des Tuns, sondern des Werdens - und das tun Sie schon sehr gut. Aber wenn Sie mich um so etwas -202-
wie Anleitung bitten - Julian?« Lady Julian nickte weise. »Ich hatte mir schon gedacht, daß er etwas mehr würde wissen wollen«, sagte sie. »Falls Peregrine hören möchte, bin ich durchaus zu einer Auslegung bereit.« Peregrine blickte von Julian zu Adam und wieder zu Julian. »Über was für eine Auslegung reden Sie?« fragte er. »So etwas wie Wahrsagen?« Lady Julian lachte nachsichtig, und einen Augenblick lang konnte Peregrine in ihr das Mädchen sehen, das sie einmal gewesen war. »Vermutlich würden es die Uneingeweihten so nennen«, erwiderte sie. »Ich schlage vor, wir sollten das I Ging zu Rate ziehen.« »Das I Ging?« »Diesen Namen kann man in etwa mit ›Das Buch der Wandlungen‹ übersetzen«, erklärte Adam. »Der sagenhafte chinesische Kaiser Fuhsi soll es ungefähr im dritten Jahrtausend vor Christus erfunden haben. Manchen Leuten dient es als eine heilige Schrift, aber wenn man einmal die philosophischen Spitzfindigkeiten beiseite läßt, so stellt es eine der ältesten und nützlichsten Methoden der Orakelkunst dar, oder auch des Loswerfens, wie es manchmal genannt wird. Der Fragesteller befragt das Orakel, indem er Münzen wirft oder ein Bündel Schafgarbenstengel teilt. Die Kombinationen, die entstehen, wenn die Münzen fallen oder die Schafgarbenstengel ausgezählt werden, ergeben Hexagramme, die so heißen, weil die Münzen sechsmal geworfen werden bzw. das Bündel Schafgarbenstengel sechsmal geteilt wird. Die Deutungen der Hexagramme werden im Buch der Wandlungen dargelegt.« Lady Julian bestätigte diese Erläuterung mit einem Nicken und nahm den Faden auf, wo Adam aufgehört hatte. »Das I Ging ist als Orakel einzigartig, weil es uns nicht mitteilt, daß etwas Bestimmtes geschehen wird. Vielmehr richtet -203-
es die Aufmerksamkeit des Fragestellers auf Alternativen, die abhängig sind von den Wahlmöglichkeiten, die er zur Verfügung hat.« Sie lächelte Peregrine an und fügte hinzu: »Ich habe die Kunst der Deutung des I Ging, gelernt, als mein Mann und ich in Hongkong lebten. Werden Sie mir vertrauen, wenn ich Sie durch eine Auslegung leite?« Ihre Augen begegneten Peregrines Blick. In diesem kurzen Augenblick des Kontakts spürte er, daß sie keine Geheimnisse hatte, die sie nicht mit ihm teilen würde, wenn sich die Notwendigkeit dazu ergeben würde. Dieses Zutrauen war ansteckend. »Natürlich«, sagte er. »Sagen Sie mir, was ich tun soll.« Lady Julian lächelte. »Lassen Sie mich Sie zuerst mit den Münzen bekanntmachen.« Sie ließ die Hand unter das PaisleyTuch gleiten, das ihren Schoß bedeckte, und holte einen kleinen Beutel hervor, der aus schwerer, ungefärbter Seide gefertigt und mit einer Zugschnur versehen war. »Theoretisch kann man alle Münzen dazu verwenden, aber ich bevorzuge diese hier.« Sie zog die Schnur auf, kippte den Beutel um und schüttelte drei kreisrunde Goldscheibchen etwa von der Größe der ZehnPence-Münzen hervor. Jedes hatte in der Mitte ein kleines quadratisches Loch. Als Peregrine sie genauer anschaute, während Julian sie in ihrer Hand drehte, sah er, daß jedes der Scheibchen auf einer Seite chinesische Schriftzeichen trug, auf der anderen Seite aber eine Schrift, die ihm unbekannt war. »Diese Münzen wurden während der Regierung des letzten Mandschu-Kaisers geprägt«, sagte Lady Julian und liebkoste eine zwischen Daumen und Zeigefinger. »Seit vielen Jahren schon habe ich sie für diesen Zweck aufgehoben. Sie sind mir treue Freunde.« Die Münzen klimperten leise, als sie sie Peregrine reichte. »Halten Sie die Münzen in den gewölbten Händen, während Sie die Frage formulieren, die Sie stellen wollen«, sagte sie. »Je -204-
genauer die Frage, um so besser. Dazu müssen Sie sich an den weissagenden Geist des I Ging wenden und sich dabei vor Augen halten, daß dieser Geist gleichzeitig in Ihnen zugegen ist. Wenn Sie sich ausreichend eins mit dem Orakel fühlen - Adam würde es ›zentriert‹ nennen -, dann werfen Sie die Münzen sechsmal auf den Tisch vor Ihnen. Ich werde die Kombinationen notieren und Ihnen am Ende die Botschaft nennen.« Peregrine nickte, zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Er schob seinen Ring beiseite und drückte die glänzenden Goldmünzen mit den Handflächen, wie man ihn angewiesen hatte, dann lehnte er sich zurück, schloß die Augen und regulierte seine Atmung, wie Adam es ihn gelehrt hatte. Ein Gefühl der Gelassenheit überkam ihn und beruhigte sein Tagesbewußtsein, so daß sich seine inneren Fähigkeiten melden konnten. Während er weiterhin tief, zentriert und gelassen atmete, formte sich eine Frage: Wie kann ich meinen Freunden dienen? Er gab sich Zeit, um andere mögliche Fragen zu überlegen, aber jede Abwandlung kam immer wieder auf dasselbe grundlegende Anliegen zurück. Offensichtlich war dies die Frage, die er stellen sollte. Die Sache mit der Anrufung war etwas heikler, denn er war sich unsicher, ob er sich den ›Geist‹ , von dem Lady Julian gesprochen hatte, eher persönlich oder animistisch vorstellen sollte. Er versuchte, den Begriff aus verschiedenen unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, aber am Ende schob er alle beiseite und bot lediglich seine Bereitschaft an, sich leiten zu lassen. Hier bin ich, sagte er zu dem Orakel. Zeig mir, was ich tun soll. Er öffnete die Augen und nickte, zum Zeichen, daß er bereit war, die Münzen zu werfen. Adam rückte einen kleinen Beistelltisch näher heran, dann beugten sich er und Julian vor, -205-
um zu sehen, wie Peregrine sechsmal hintereinander die Münzen warf, wobei Julian jede Kombination aus den Seiten mit chinesischen Zeichen und denen der anderen Schrift auf ein Blatt Reispapier notierte. Als Peregrine fertig war, hielt sie das Papier hoch, so daß er sehen konnte, was sie notiert hatte - ein Hexagramm von sechs Linien, von denen einige durchgehend, andere unterbrochen waren. Dann lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück, ihre schwarzen Augen blickten versonnen, während sie das Ergebnis erwog. Schließlich sprach sie bedachtsam und deutete dabei auf individuelle Aspekte des Hexagramms. »Ihre Antwort liegt in dem Himmel oben - Ch'ien und im See unten - Tui. Diese beiden Zeichen ergeben zusammen genommen Lü, das bedeutet: › Vorsichtiges Auftretens Dieses Hexagramm weist hin auf eine Gefahr auf dem Weg zu einem erwünschten Ziel. Das Buch der Wandlungen sagt: Auftreten auf des Tigers Schwanz. Der Edle unterscheidet hoch und niedrig und festigt den Sinn des Volkes.« Sie hielt inne. Ihre Aufmerksamkeit bündelte und schärfte sich. Nach einer kleinen Weile sprach sie weiter. »Sie müssen eine Aufgabe erfüllen, wobei Sie eine Gefahr für sich selbst eingehen. Unterscheidung und Festigung - die sind der Schlüssel zu einem erfolgreichen Ausgang. Unterscheiden heißt, Unterschiede erkennen inmitten von Verwirrung. Festigung zu geben bedeutet, in der Eigenschaft eines Richters zu handeln, der Wiedergutmachung gewährt, wo ein Vergehen geschah.« Sie hielt wieder inne, als suchte sie nach weiterer Inspiration. Während Peregrine sie erwartungsvoll beobachtete, erstarrte ihr Gesicht zu einer Maske aus Elfenbein. »Mehr kann ich nicht sehen«, murmelte sie. »Das Übrige wird deutlich werden, sobald der Augenblick des Urteils vor Ihnen steht. Aber seien Sie gewarnt. Hier gibt es mehr zu fürchten als -206-
den Tiger.« »Die Loge der Luchse?« platzte Peregrine heraus, bevor er es sich verkneifen konnte. Bei dem Namen zuckte Lady Julian zusammen. »Sie sind die Kumpane des Schattens und achten kein Gesetz, weder das der Menschen noch das der Natur«, flüsterte sie. »Es gibt nichts, was sie um der Macht willen nicht wagen würden...« Sie schauderte und verstummte mit fest geschlossenen Augen. Als Peregrine genauer hinschaute, sah er bestürzt einen verräterischen Silberschimmer von Tränen auf ihren Wangen. Sein Blick flüchtete zu Adam. Ohne etwas zu sagen, lehnte sich Adam zu ihr hinüber und faßte Lady Julian sanft am Arm. Sie legte ihre Hand auf die seine und holte tief Luft. Kurz darauf öffnete sie die Augen und zwang sich zu einem bemühten Lächeln, als sie den Ausdruck auf Peregrines Gesicht sah. »Es tut mir leid, mein Lieber«, sagte sie leise. »Manche Wunden heilen nie ganz.« »Bei unserer letzten Kampagne gegen die Loge der Luchse hat Julian ihren Mann verloren«, erklärte Adam. »Und da ist auch ein Teil von mir gestorben«, fügte sie hinzu und blickte an Peregrine vorbei auf etwas, das nur sie sah. »Das war vor fast fünfzehn Jahren. Ich habe mir immer gesagt, das sei der Preis gewesen, den Michael gezahlt hatte, um unseren Sieg zu besiegeln. Aber jetzt haben sie Randall umgebracht, und der Kampf wird von neuem beginnen...« Sie richtete ihren Blick wieder auf Peregrine. »Als Adam mich bat, einen Ring für Sie zu machen, dachten wir beide, Sie würden eine wertvolle Verstärkung unserer Loge abgeben, auch wenn Sie noch unerfahren sind. Jetzt sieht es so aus, als fänden Sie uns schon kampfbereit, mit einer Bresche in unseren Reihen. Vielleicht wäre es um Ihrer eigenen Sicherheit willen besser, Sie würden sich jetzt zurück ziehen, solange Sie noch können.« -207-
Peregrine biß die Zähne aufeinander, nahm sehr bewußt den Ring wieder in die Hand und schloß die Faust darum. »Ich werde mich nicht zurück ziehen, Lady Julian. Vor sechs Wochen war ich fast reif für den Selbstmord, weil ich die Gaben, die mir verliehen worden waren, nicht beherrschen konnte. Ohne Adams Hilfe und Beratung wäre ich jetzt wahrscheinlich tot oder in einer Nervenklinik eingesperrt. Wenn ich sagte, ich hätte keine Angst, dann würde ich das Blaue vom Himmel herunterlügen. Aber die Angst zählt weniger als die Chance, etwas wirklich Wertvolles mit meinem Leben anzufangen. Ich würde gerne denken, daß ich zumindest schon einige kleinere Beiträge geleistet habe.« Lady Julians Lippen zitterten, als hätte sie gern noch weitere Einwände vorgebracht, doch Adam ging dazwischen. »Peregrine weiß, was er will, Julian«, sagte er mit Nachdruck. »Er ist sich der Gefahren bewußt - und er hat schon Beiträge geleistet, die alles andere als klein sind. Das Übrige werden die Zeit und die Mächte des Seins entscheiden.« Es folgte ein gedämpftes Schweigen, das dann von dem leisen Geklingel einer Uhr gebrochen wurde, die die Stunde schlug. Adam blickte reflexartig auf seine Uhr und seufzte. Peregrine nutzte die Ablenkung aus und ließ den Drachenring in seine Tasche gleiten. »Ich fürchte, wir müssen uns auf den Weg machen, meine Liebe«, sagte Adam, als wäre nichts gewesen. »Heute nachmittag kommt jemand nach Strathmourne, um mit mir die Kosten für die Dachdeckerarbeit am Templemor-Turm zu besprechen. Eine Sache noch, bevor wir gehen - hast du Vorkehrungen getroffen, um an Randalls Trauerfeier teilzunehmen?« Lady Julian schüttelte den Kopf. »Nein. Ich weiß, daß sie am Dienstag stattfindet, aber ich fürchte, ich war zu bekümmert, um praktische Überlegungen anzustellen.« -208-
»Dann mach dir darüber keine Gedanken mehr«, sagte Adam. »Ich werde Humphrey herüberschicken, damit er dich um halb elf abholt. Vielleicht können wir uns danach noch einmal unterhalten.« Als sie von ihr Abschied genommen hatten und über die Vordertreppe zum Auto gingen, drückte Peregrine seine Hand auf die leichte Ausbuchtung des Ringes in seiner Tasche. Er sprach kein Wort, bis sie durch das Tor hindurch waren. »Ich werde den Ring erst tragen, wenn Sie glauben, ich sei bereit dazu, Adam«, sagte er, während sie die Straße in Richtung auf den geparkten Range Rover überquerten, »aber ich möchte mehr über ihn wissen. Sie sagte ausdrücklich, nur der Stein sei neu. Wem hat der Ring vor mir gehört?« Adam warf ihm über das Dach des Range Rover hinweg ein schiefes Lächeln zu, während er die Türen aufsperrte. »Ihnen entgeht kaum etwas, oder?« sagte er. »Man könnte annehmen, Sie hätten es schon erraten. Der Ring gehörte Sir Michael Brodie, ihrem Mann.« Kapitel 15 Das Haus mit dem Namen ›Nether Leckie‹ lag auf einer sanften Anhöhe, teilweise versteckt hinter einer Mauer aus Bäumen, die dann wieder einem gepflegten Rasen wichen. Es war ein ansehnliches herrschaftliches Wohnhaus aus Quadersteinen, gebaut als Landsitz eines erfolgreichen viktorianischen Industriellen aus Stirling, der sich sein Vermögen mit der Lieferung von Stahl für schottische Brückenbauten verdient hatte. Kippen, das nächste Dorf, lag ungefähr neunzehn Kilometer westlich von Stirling, weshalb Nether Leckie einerseits ausreichend abgeschieden, andererseits nah genug an der Stadt lag, um leichten Zugang zu deren Annehmlichkeiten zu bieten. Sein derzeitiger Besitzer, Francis Raeburn, bezeichnete es seit einigen Jahren als bewundernswert -209-
geeignet für seine Bedürfnisse. An dem Montagnachmittag, der auf Peregrines Vorstellung bei Lady Julian Brodie folgte, hatte sich Raeburn in die Ungestörtheit seiner Bibliothek in Nether Leckie zurück gezogen, um seine jüngste Erwerbung zu begutachten, die soeben mit der Post eingetroffen war: ein anonymes Manuskript aus dem 13. Jahrhundert mit dem Titel De lapidibus, ›Über die Steine‹. Vor der deutschen Besetzung von Paris 1940 hatte das Manuskript zu den Beständen der Bibliotheque Nationale de Paris gehört, und es trug noch deren mit Bleistift geschriebene Katalognotizen. Raeburns Lieferant hatte nichts darüber gesagt, wie das Manuskript in seine Hände geraten war, und Raeburn hatte auch nicht danach gefragt. Er hatte gute Gründe für die Annahme, daß es von einem gelehrten Schreiber im Dienst der Tempelritter verfaßt worden war. Als er das Manuskript in der Abgeschiedenheit seiner Bibliothek auspackte, dachte Raeburn darüber nach, daß er wahrscheinlich einer von den wenigen lebenden Menschen war, die es sowohl wegen seines Inhalts als auch wegen seines Wertes als mittelalterliches Kunstwerk zu schätzen wußten. Es war ein außergewöhnlich wertvoller Fund, die Frucht einer langen Suche, und er genoß jetzt den Besitz dieser Schrift wie ein Mann, der einen guten Wein kostete. Liebevoll strich er über die Seiten. Seine Fingerspitzen waren empfindsam für die angesammelte Patina der Jahrhunderte. Hinter ihm schien die Nachmittagssonne hell durch die Fenster, spiegelte sich in den Scheiben der alten Bücherschränke und verwandelte alles Glas in Spiegel, die eine großartige Aussicht auf die Gargunnock Hills wiedergaben. Doch Raeburn hatte keinen Blick für den winterlichen Sonnenschein, er weidete seine Augen an den illuminierten Rändern des Manuskripts, beachtete die Eleganz der Handschrift, die Klarheit der lateinischen Abkürzungen und die Randbemerkungen, von denen einige sehr bemerkenswert waren. -210-
Er genoß immer noch träumerisch die Befriedigung des Besitzerstolzes, wobei er immer wieder mit einem Vergrößerungsglas Feinheiten der künstlerischen Gestaltung untersuchte, als er durch ein Klopfen an der Tür gestört wurde. Als Rajan, sein indischer Boy, eintrat, erschien ein Ausdruck des Mißvergnügens auf Raeburns Gesicht. »Wenn ich mich recht erinnere, habe ich die Anweisung gegeben, daß ich nicht gestört werden sollte«, bemerkte er kühl. Der turbangeschmückte Kopf duckte sich entschuldigend. »Es tut mir sehr leid, Mr. Raeburn, aber in der Halle warten zwei Polizisten. Sie sagen, sie wünschten Sie zu sprechen. Ich habe schon ihre Ausweise überprüft. Der ältere von den beiden bezeichnet sich als Detective Chief Inspector McLeod...« »McLeod?« Raeburns Verärgerung wich jäh einem Interesse, das - ohne daß er es zeigte - von einem Maß Mißtrauen gedämpft wurde. Beiläufig klappte er den Band, der vor ihm lag, zu und sagte dabei: »Man hätte sich wünschen können, daß diese Vertreter des Gesetzes es für angebracht gehalten hätten, einen Termin auszumachen. Doch was immer der Grund für diesen unangekündigten Besuch sein mag, wir können es genauso gut so schnell wie möglich hinter uns bringen. Ich werde sie hier empfangen. Geh und hol sie herauf.« Rajan verbeugte sich und ging. Inzwischen legte Raeburn das Manuskript in seinen Schutzumschlag zurück und versteckte es im oberen rechten Fach seines Schreibtisches. Als er sie zuschob, näherte sich auf dem Korridor das Geräusch gedämpfter Schritte. Ein respektvolles Klopfen zeigte an, daß Rajan zurück war. Ihm folgten zwei Männer in Mänteln und Anzügen. »Dies sind die Herren, Mr. Raeburn«, verkündete der Boy und zog sich schnell wieder in den Korridor zurück, um Mr. Raeburn mit seinen beiden unerwünschten Besuchern allein zu lassen. »Guten Tag, Mr. Raeburn«, sagte der ältere der beiden und -211-
trat vor, um seinen Ausweis zu zeigen. »Ich bin Detective Chief Inspector McLeod von der Lothian and Borders Police, und dies hier ist mein Mitarbeiter, PC Cochrane. Mit Ihrer Erlaubnis würden wir Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.« Raeburn nutzte die kurze Vorstellung des anderen aus, um erste Eindrücke in sich aufzunehmen. Der kräftige junge Constable war zu vernachlässigen - ein junger Mann Mitte bis Ende Zwanzig mit einem frischen Gesicht, kaum mehr als ein Junge. Inspector McLeod andererseits war Raeburn nicht unbekannt, zumindest dem Namen nach, und rechtfertigte zweifellos eine eingehendere Überlegung. Breitschultrig und stämmig, sah er außergewöhnlich durchtrainiert aus für sein Alter, das Raeburn auf etwa fünfzig schätzte. Die blauen Augen, die hinter der Fliegerbrille mit Goldrand hervorfunkelten, wirkten ungewöhnlich scharfsichtig. Doch das war noch nicht alles. Ohne daß er ihr einen Namen geben konnte, spürte Raeburn die undeutliche, unbeschreibbare Anwesenheit von noch etwas mehr. Seine Neugier nahm zu, er erhob sich von seinem Stuhl und reichte dem älteren Polizisten die Hand, was seine eigenen Genossen als eine fast unerhörte Geste der Vertrautheit betrachtet hätten. »Francis Raeburn«, sagte er mit einem kühlen Lächeln. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum Sie mich befragen wollen, aber wenn Sie es als notwendig erachten, habe ich bestimmt nichts gegen eine Zusammenarbeit einzuwenden.« Die Hand des Inspectors war fest und tüchtig, die Finger knotig und stark. Raeburn verstärkte kurz seinen Griff, dabei nutzte er gleichzeitig die Gelegenheit, seine tieferen Wahrnehmungsfähigkeiten einzusetzen. Zu seiner Überraschung und Bestürzung entdeckte er den schwachen, aber deutlichen Eindruck eines unsichtbaren Rings am Ringfinger von McLeods rechter Hand, doch nachdem sich ihre Hände voneinander gelöst hatten, zeigte ihm ein schneller, prüfender Blick, daß der Inspector keinen gegenständlichen Ring trug. An der anderen -212-
Hand schimmerte unterhalb einer gewöhnlichen Armbanduhr ein goldener Ehering, doch sein einziger anderer sichtbarer Schmuck war eine goldene Krawattennadel. Noch neugieriger als zuvor setzte sich Raeburn wieder und zeigte auf zwei Stühle auf der anderen Seite des Schreibtisches. »Bitte, setzen Sie sich«, sagte er zwanglos, »und sagen Sie mir, wie ich Ihnen zu Diensten sein kann.« Die beiden Polizisten setzten sich. Ohne jede weitere Vorrede griff McLeod in die Brusttasche seines Mantels, holte ein Foto hervor und schob es über den Tisch Raeburn zu. »Zuerst einmal hätte ich gern, daß Sie sich die Person auf diesem Foto anschauen und mir sagen, ob Sie sie erkennen.« Raeburn nahm das Bild entgegen. Es zeigte einen schmächtigen, älteren Mann mit silbrigem Haar und der leicht zerstreuten Miene eines Gelehrten. Es handelte sich unverkennbar um dieselbe Person, deren Foto und Dossier Raeburn vor kaum vierzehn Tagen dem Großmeister überreicht hatte. Er tat so, als schaute er sich das Bild genau an und wäre sich nicht sicher. Dabei runzelte er nach und nach die Stirn ein wenig. »Das Gesicht kommt mir bekannt vor«, sagte er zu McLeod. »Ich kann auf Anhieb keinen Namen nennen, aber ich bin sicher, ich habe den Mann schon einmal gesehen...« Er machte eine kunstvolle Pause, als suchte er in seinem Gedächtnis, dann rief er aus: »Jetzt fällt es mir ein! Es war in Edinburgh - in einem Laden. Antiquitäten?« Er schaute McLeod erwartungsvoll an. »Versuchen Sie es mal mit Büchern«, erwiderte der Inspector grimmig. »Ein Buchladen?« Raeburn überlegte weiter, dann tat er so, als ginge ihm ein Licht auf. »Natürlich!« rief er aus. »Jetzt verstehe ich, worum es geht. Das ist der Besitzer der Buchhandlung - dieser Freimaurer, der auf so spektakuläre -213-
Weise ermordet wurde - wann war das noch, letzte Woche? Wie hieß er denn gleich noch mal? Stanley? Nein, Stewart! Randall Stewart! So war doch sein Name, nicht wahr?« »Aye«, erwiderte McLeod mürrisch, »das stimmt.« Er holte tief Luft. »Wir versuchen uns ein Bild über Mr. Stewarts Bewegungen an dem Sonntag vor seinem Tod zu machen, Mr. Raeburn. Nach Aussage seiner Tochter verließ er Edinburgh an jenem Morgen gegen neun Uhr und war vermutlich nach Stirling unterwegs, wo er auf Vereinbarung die Schätzung eines Bestandes seltener Bücher durchführen sollte. Niemand scheint zu wissen, was danach mit ihm geschehen ist. Weil aber Stirling sein beabsichtigtes Ziel war, befragen wir alle Personen im Gebiet von Stirling, die ihn möglicherweise gesehen haben. Ihr Name erscheint in den Käuferlisten einiger örtlicher Buchhändler an hervorragender Stelle«, fuhr er fort. »Nach Ihren Ausgaben für Buchkäufe zu schließen, sind Sie ein ziemlich eifriger Sammler seltener Bücher - und darauf war Stewart spezialisiert. Wir dachten, es könnte sich lohnen Sie zu fragen, ob er vielleicht in der Woche vor seinem Tod mit Ihnen Kontakt aufgenommen hat.« Er warf Raeburn einen schnellen Blick über seine Brillenränder zu, den Raeburn ruhig erwiderte. »Leider hat er das nicht getan. Tatsächlich bin ich dem Mann nie begegnet.« Er reichte das Foto über den Tisch zurück. »Es stimmt, gelegentlich mache ich eine Erwerbung auf eigene Faust, aber im allgemeinen ziehe ich es vor, mich bei der Beschaffung von Büchern auf die Erfahrungen meiner Stammhändler zu verlassen einen oder zwei davon haben Sie offensichtlich schon kennengelernt. Sie müssen sich vor Augen halten, meine Herren, daß in dieser Hinsicht der Handel mit seltenen Büchern sehr in abgesteckte Territorien aufgeteilt ist. Falls Mr. Stewart mit jemandem Verbindung aufgenommen haben sollte, dann vermutlich eher einem meiner Lieferanten nicht mit mir persönlich.« -214-
»Wir werden das berücksichtigen«, sagte McLeod trocken. Er verlagerte sein Gewicht auf dem Stuhl. »Kommen wir zu einem weiteren Punkt - zu der Sammlung, die Randall Stewart anschauen sollte. Können Sie sich erinnern, irgend etwas davon gehört zu haben, daß eine Sammlung seltener Bücher verkauft werden sollte? Vielleicht der Verkauf eines Nachlasses?« Raeburn schüttelte höflich den Kopf. »Wieder muß ich verneinen, Inspector. Aber wie ich Ihnen schon sagte, bin ich Sammler, nicht Händler. Sie sollten wirklich mit den Leuten reden, die sich mit dem Buchhandel den Lebensunterhalt verdienen.« »Oh, das tun wir schon«, sagte McLeod, »keine Angst!« Cochrane, der Constable, der sich Notizen gemacht hatte, hielt im Schreiben inne und blickte zu seinem Vorgesetzten hinüber. McLeod richtete seine blauen Augen wieder auf Raeburn. »Nur um das einmal festzuhalten, Mr. Raeburn. Könnten Sie mir bitte sagen, wo Sie am Sonntag, dem 18. November, gewesen sind und was Sie da gemacht haben?« Raeburn verzog das Gesicht ein wenig, als betrachtete er die Frage als ein bißchen unverschämt. Dann lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und schürzte nachdenklich die Lippen. »Am 18. November... Warten Sie mal, das war das vorletzte Wochenende. Da war ich in Glasgow und besuchte einen Freund. Und, ach ja«, fügte er mit einem ironischen Lächeln hinzu, »ich habe einige Zeugen, die das bestätigen können.« »Das ist gut, Mr. Raeburn«, sagte McLeod. »Vielleicht sind Sie so freundlich und geben uns Name und Adresse des fraglichen Freundes?« »Wenn Sie das wirklich für wichtig halten«, sagte Raeburn mit einem Achselzucken, »allerdings hoffe ich auf Ihre Diskretion, denn es geht um eine Dame.« Er richtete sich an den jungen Cochrane und sagte: »Es ist Ms. Angela Fitzgerald, Nummer 23, Queen's Terrace.« Während er dies sagte, warf er -215-
McLeod einen verstohlenen Blick zu. Der Inspector schien sich mit dem Ergebnis der Befragung abgefunden zu haben und war anscheinend mit Raeburns Antworten zufrieden, doch in seinen blauen Augen war ein dunkles Flackern, das mehr als nur einen Hauch persönlicher Enttäuschung verriet. Ohne einen Grund, den Raeburn sofort hätte ausloten können, kam ihm plötzlich der Gedanke, daß McLeod durchaus einer von Randall Stewarts freimaurerischen Logenbrüdern sein konnte. Ein genauerer Blick auf die Krawattennadel des Inspectors bestätigte, was er unbewußt schon vorher wahrgenommen haben mußte - in die dekorative Raute waren diskret ein winziges Quadrat und ein Zirkel eingeprägt. Aha, der Inspector ist ein Freimaurer, dachte Raeburn. Und was ist er sonst noch? McLeods störende Verwicklung in das Desaster von Urquhart Castle würde den Gedanken nach mehr gewiß nahelegen allerdings konnte eine freimaurerische Ausbildung zumindest einen Teil dessen erklären, was über ihn berichtet wurde. Vielleicht stammte der Eindruck eines unsichtbaren Ringes, den Raeburn bekommen hatte, von einem freimauererischen Ring, den McLeod aus irgend welchen Gründen im Dienst nicht trug. Cochrane, der junge Constable, hatte pflichtbewußt den von Raeburn genannten Namen samt der Anschrift aufgeschrieben und reichte jetzt McLeod sein Notizbuch zur Überprüfung. Während McLeods Aufmerksamkeit so für einen Augenblick abgelenkt war, richtete Raeburn seinen Blick erneut auf die rechte Hand des Inspectors und kniff die Augen zusammen. In diesem kurzen parapsychischen Verschwimmen seiner äußeren Sinne bekam er einen schwachen visuellen Eindruck von dem Ring, den McLeod im Augenblick nicht trug es war ein Goldring mit einem tiefblauen Saphir -, und diesmal auch von dem pochenden Pulsieren einer streng beherrschten Kraft, die von einer Kontrolle, deren Symbol der Ring war, zurückgehalten und kanalisiert wurde. -216-
Die Entdeckung veranlaßte Raeburn, sich sofort hinter die Bollwerke seiner eigenen inneren Verteidigung zurückzuziehen, wobei er - um seine Bestürzung zu vertuschen - so tat, als riebe er sich etwas aus dem Auge. Das war kein bloßer Freimaurerring! Zwar hatte er Elemente mit freimaurerischen Resonanzen gemeinsam, aber er verriet eine hohe Einweihung in eine mächtige esoterische Tradition. Es konnte sich vielleicht sogar um das Mitgliedsabzeichen einer der abscheulichen Jagdlogen handeln - was eine Menge bislang ungeklärter Ereignisse erklären würde, besonders die von Urquhart Castle. Was immer er war, dieser McLeod war nicht bloß der Polizist, der er zu schein schien. Raeburn hielt eine Höflichkeit aufrecht, die keineswegs echt war, und richtete seinen Blick wieder auf McLeods Gesicht. Seine Prüfung hatte nur den Bruchteil eines Augenblicks gedauert, und McLeod blickte gerade von dem Notizbuch auf, das er seinem Mitarbeiter zurückgab. Anscheinend war er einstweilen zufrieden. »Also, Inspector, gibt es noch etwas, das Sie mich gern fragen würden?« sagte Raeburn in sachlichem Ton. »Diesmal nicht«, erwiderte McLeod und stand auf. »Ich danke Ihnen sehr, Mr. Raeburn, daß Sie uns Ihre Zeit geopfert haben. Wir werden Sie doch hier wieder antreffen, falls wir weitere Informationen brauchen, oder?« Raeburn lachte freundlich, während er nach dem Glockenzug griff, um Rajan zu rufen. »Machen Sie sich keine Sorgen, Inspector. Ich habe keine Pläne, das Land zu verlassen. Viel Glück für Ihre Ermittlungen. Mein Boy wird Sie hinaus begleiten.« Als die beiden Polizisten gegangen waren, saß Raeburn einige Minuten lang schweigend da und erwog die Bedeutung seiner Entdeckungen. Das Erscheinen eines Jägers an seiner Tür warf eine Menge schwieriger Fragen auf - falls McLeod tatsächlich -217-
ein Jäger war. Zunächst war da McLeods tatsächlicher Status innerhalb seiner Loge - denn dies würde im einzelnen bestimmen, wie man mit ihm umgehen mußte. Nach reiflichem Nachdenken bezweifelte Raeburn, daß McLeod tatsächlich ein Meister der Jagd war - aber das bedeutete nicht, daß es sich bei ihm nicht um einen potentiell ernst zu nehmenden Gegner handelte. Die Resonanz seines Ringes bewies das. Eine wichtigere Frage betraf McLeods besondere Fähigkeiten. Von all dem, was er sein mochte - Empath oder Telepath, Hellseher oder Psychometriker, Medium oder Wahrsager -, erschienen die ersten drei unwahrscheinlich, angesichts der Tatsache, daß er anscheinend nicht bemerkt hatte, daß er parapsychisch abgeprüft wurde. Gleichzeitig konnte Raeburn sich aber nicht gänzlich sicher sein, daß er sich nicht durch irgendein Zeichen verraten hatte, das McLeod nach weiterem Nachdenken erkennen würde. Auf jeden Fall war die Zugehörigkeit von jemandem wie McLeod zur Polizeitruppe einer Zeitbombe vergleichbar, die nur darauf wartete loszugehen. Falls die Bombe zu früh losging, konnte sie eine Menge sorgfältig geschmiedeter Pläne ernsthaft gefährden. McLeod aus dem Weg zu räumen, wäre zugegebenermaßen riskant - aber nicht so riskant, wie ihn frei herum laufen zu lassen. Das Tischtelefon stand bequem in Reichweite. Raeburn spielte mit einigen Gegenständen auf seinem Tisch herum, während er alle vorhersehbaren Variablen in Betracht zog, dann kam er zu einem Entschluß. Er nahm den Hörer ab und wählte die Edinburgher Nummer der Lothian and Borders Police. Es läutete dreimal, dann wurde abgehoben. »Guten Tag«, sagte Raeburn. »Ich würde gern eine Nachricht für Inspector Napier hinterlassen. Wenn er ins Büro kommt, dann sagen Sie ihm doch bitte, er soll seinen Onkel anrufen...« Der Rückruf erfolgte binnen einer Stunde. Raeburn nahm ihn -218-
in der Bibliothek entgegen, wo er sich wieder der Durchsicht seines neuen Schatzes gewidmet hatte. »Hier Napier«, meldete sich eine harte Tenorstimme am anderen Ende der Leitung. »Was gibt's?« »Zufällig ziemlich viel«, sagte Raeburn kühl. »Von wo aus rufen Sie an?« »Von einer öffentlichen Telefonzelle, natürlich. Was glauben Sie denn, von wo aus ich anrufe?« Raeburn überging die Frage. »Wir haben ein Problem«, stellte er fest. »Das habe ich mir schon gedacht. Was ist los?« »McLeod ist hier gewesen. Haben Sie eine Ahnung, warum?« Schweigen. Dann: »Ich nehme an, es war Routine.« »Das hoffe ich auch«, erwiderte Raeburn. »Er sagte, er befrage Leute, die etwas mit dem Antiquariatsbuchhandel zu tun haben, und versuche jemanden aufzuspüren, der vielleicht Randall Stewart an dem fatalen Sonntag gesehen hat. Ich neige dazu zu glauben, daß das alles war, aber etwas anderes veranlaßt mich zu glauben, daß er tatsächlich zu den Gegnern gehört. Genau genommen«, korrigierte er sich, »bin ich mir dessen so gut wie sicher.« Napier fluchte kurz, dann sagte er: »Glauben Sie, er hegt gegen Sie einen Verdacht?« »Das kann ich nicht sicher sagen«, erklärte Raeburn mit brutaler Offenheit. »Aber er darf kein Problem daraus werden. Nicht in diesem Stadium des Spiels. Verstehen Sie?« Am anderen Ende der Leitung herrschte ein kurzes Schweigen. Dann: »Verstehe. Was verlangen Sie von mir? Einen Mord arrangieren?« »Zu auffällig«, sagte Raeburn knapp. »Es muß etwas weniger Offenkundiges sein.« Wieder Schweigen. »Was schlagen Sie dann vor?« -219-
»Ich möchte, daß Sie ein paar notwendige Dinge beschaffen«, sagte Raeburn und notierte sich etwas mit Bleistift auf einen Notizblock. »Etwas, wo seine Unterschrift drauf ist - ein Original, keine Kopie - und, ach ja, wie wäre es mit einem Styropor-Becher, den McLeod gebraucht hat? Das sollte ziemlich leicht zu beschaffen sein und ausreichen. Bringen Sie mir die Sachen morgen abend hierher, und wir werden die Einzelheiten des Plans besprechen.« Kapitel 16 Randall Stewarts Trauergottesdienst fand am nächsten Vormittag in der gotischen Erhabenheit von St. Mary's Episcopal Cathedral im Herzen von Edinburgh statt. Für Peregrine war diese Trauerfeier nicht annähernd so belastend wie jene andere, die er vor kaum einem Monat mit Adam zusammen besucht hatte. Doch sie war von ihrer eigenen harten Tragödie geprägt, denn beide waren sich nur allzu sehr der Brutalität von Randalls Tod bewußt, da sie ja ihre Folgen unmittelbar erlebt hatten. Anders als Lady Laura Kintoul, deren langes und glückliches Leben sanft und mit reichlich Zeit für Vorbereitung und Abschied zu einem Abschluß gekommen war, war Randall vorzeitig in den Tod gestoßen worden, und seine letzte bewußte Wahrnehmung war Schrecken und Qual gewesen. Peregrine hatte Randall nur einmal getroffen, an jenem Samstagvormittag im Buchladen, aber er wußte, was der alte Mann Adam bedeutet hatte - und daß es lange dauern würde, bis die Wunden all derer geheilt waren, die Randall gekannt und geliebt hatten. Seine Mörder zu finden und sie der Gerechtigkeit zu überantworten, die dunklen Absichten zu vereiteln, die sie mit diesem unheiligen Opfer zu verwirklichen gehofft hatten, würde helfen, aber es würde Randall nicht zurückbringen oder die Lücke im Leben der Hinterbliebenen schließen. -220-
Traurig ob der sinnlosen Vergeudung menschlichen Lebens, ließ Peregrine seine Augen unaufdringlich in der Kirche umher wandern, während er auf den Beginn des Gottesdienstes wartete. Er vermied es bewußt, seinen Blick auf dem von Blumen gesäumten Katafalk ruhen zu lassen, der auf das Eintreffen von Randalls Sarg wartete. Der Organist spielte als Präludium eine Fantasia in gmoll von Pachelbel, und Peregrine ließ einen Teil seiner Gedanken der Musik folgen und sie genießen, während ein anderer Teil Gesichter wahrnahm, die er kannte. Die Kathedrale war bis zum letzten Platz gefüllt. Humphrey war kurz zuvor mit Lady Julian angekommen und hatte ihren Rollstuhl am Ende der Reihe aufgestellt, in der Adam und Peregrine saßen, danach hatte er sich still in den Seitengang zurück gezogen, um seine eigene persönliche Trauerbezeugung zu vollziehen. Lady Julian trug auf ihrem silbrigen Haar ein Kopftuch mit dunklen Paisley-Mustern und vergrub ihr Gesicht in ihren knorrigen alten Händen, während sie stille Andacht hielt. McLeod war etwa zur gleichen Zeit eingetroffen, begleitet von einer unauffällig attraktiven rothaarigen Frau in dunkelblauer Kleidung, die nach Peregrines Meinung die stets geduldige und nachsichtige Jane sein mußte. Mit gesenkten Köpfen setzten sie sich nach hinten, unmittelbar vor die formellen Reihen von Randalls freimaurerischen Logenbrüdern. McLeod trug allerdings keine Logeninsignien. Das Vorspiel der Orgel endete, die Familie Stewart kam durch eine Seitentür und setzte sich in die erste Reihe. Victoria Houston war bei ihnen, sie setzte sich nahe zu Miranda und hielt ihre Hand. Als Peregrine mit Adam in die Kirche gekommen war, hatte er Christopher am Haupteingang gesehen, wo er mit zwei weiteren Geistlichen, einem Kreuzträger und zwei kleinen Ministranten mit Prozessionskerzen auf die Ankunft des Leichnams wartete. Miranda schien sich tapfer zu halten und zeigte zumindest den Anschein einer gewissen Gefaßtheit, aber -221-
Peregrine tat es leid, sie so niedergeschlagen zu sehen, und er fragte sich, ob sie wohl jemals wieder ganz die fröhliche Zigeunertänzerin sein würde, als die er sie von ihrer ersten Begegnung in Erinnerung hatte. »Euer Herz betrübe sich nicht«, sagte Father Christopher Houston von der Rückseite der Kirche her. Er las aus dem Johannes-Evangelium, während der Kreuzträger und die Akolythen sich in Bewegung setzten und der Gottesdienst begann. Ihnen folgten die Freimaurer, die den Sarg trugen, angetan mit ihren Schurzen, Handschuhen und blauen Kragen. Der Sarg war mit der blauweißen Fahne des Hl. Andreas drapiert und mit einem einzelnen Kranz roter Rosen gekrönt. Die drei Geistlichen folgten hinterdrein. »Ihr glaubt an Gott, also glaubt auch an mich«, fuhr Christopher fort. »Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen. Wenn es nicht so wäre, hätte ich es euch nicht erzählt. Ich gehe, einen Platz für euch zu bereiten.« Viele Wohnungen... Als Peregrine einen Seitenblick auf Adams ernstes Profil warf und sich mit dem Rest der Gemeinde erhob, während sich die Prozession näherte, fragte er sich, ob es wirklich für ihn einen Platz unter den Leuten gab, die Adams Arbeitsgruppe bildeten. Und wie konnte er es sich auch nur anmaßen zu denken, er sei in der Lage, die Lücke zu füllen, die Randalls Tod hinterlassen hatte? Den Rest des Gottesdienstes war er darin vertieft, Gott um Führung anzuflehen, ihn um seinen Segen für Randall und die, die ihn geliebt hatten, zu bitten und dafür zu beten, daß er selbst sich würdig erweisen möge, einen Teil des Werkes aufzunehmen, das Randall unvollendet hinter lassen hatte und dem Adam auch weiterhin diente. Adam selbst spielte bei diesem Trauergottesdienst keine aktive Rolle und nutzte die Zeit, seinen eigenen, persönlichen Abschied von dem Toten zu nehmen. Obwohl Randall Stewart ein enger und hochgeschätzter Freund gewesen war, hatten -222-
weder Adam noch Randall diese Freundschaft vor den Augen der Welt an die große Glocke gehängt, denn die Jagdloge hatte wie die Freimaurer gute Gründe, Geheimhaltung als eine Bedingung für ihre Sicherheit zu betrachten. Als der Dekan der Kathedrale das Schlußgebet las, ertappte sich Adam dabei, wie er darum betete, daß er und die verbliebenen Mitglieder der Jagd in der Lage sein würden, diese Sicherheit während der ganzen Prüfungen aufrecht zu erhalten, die vor ihnen lagen. »O Vater aller, wir beten zu dir für diejenigen, die wir lieben, aber nicht mehr sehen«, betete der Dekan. »Gewähre ihnen deinen Frieden, laß dein ewiges Licht über ihnen leuchten, und in deiner liebenden Weisheit und Allmacht bewirke in ihnen die gute Absicht deines vollkommenen Willens, durch Jesus Christus unseren Herrn. Amen.« Es folgte ein Segen. Als sich die Prozession zum Verlassen des Gotteshauses formierte, begannen die Glocken der Kathedrale zu läuten. Auf den Wunsch der Familie sollte der Leichnam später am Abend im Familienkreis eingeäschert werden, aber vorläufig schulterten die sechs Freimaurer seinen Sarg aufs neue und trugen ihn hinaus, hindurch zwischen zwei Reihen ihrer Logenbrüder, die ihm stehend die letzte Ehre erwiesen. Adam ließ sich von der Menge der Trauernden mitziehen, die hinter dem Sarg und der Familie folgte und langsam nach draußen zog. Peregrine hielt sich eng hinter ihm - ohne Eile, denn er vermutete, daß an der zunehmenden Verstopfung im Vorbau der Kathedrale eine Verschlechterung des Wetters schuld war. Als er den Hals reckte und über die Köpfe der vor ihm Gehenden nach vorne blickte, sah er, wie auf den Stufen Regenschirme aufgespannt wurden und wie es in windgepeitschten Strömen auf den Palmerston Place herabregnete. Mit einem verstohlenen Blick auf seine Uhr wandte Adam seinen Blick zurück ins Kirchenschiff - in der Hoffnung, daß -223-
Humphrey die Kathedrale noch nicht mit Lady Julian verlassen hatte. Denn es war geplant gewesen, daß Humphrey Lady Julian nach Hause brachte und sich ihnen dann zur Totenwache in Randalls Buchhandlung anschloß. Aber Humphrey mußte sie schon durch einen passend gelegenen Hinterausgang entführt haben, denn er war nirgends zu sehen. »Wollen Sie, daß ich schaue, ob ich ihn noch erwischen kann, bevor er losfährt?« »Es ist einen Versuch wert«, erwiderte Adam. »Ich gehe weiter und warte in der Vorhalle - und schnappe uns ein Taxi, wenn ich eins sehe.« Während Peregrine sich im Mittelgang zurückzog, richtete Adam seine Aufmerksamkeit wieder auf die Menge vor ihm und bemerkte auf einmal einen großen, sportlich wirkenden Mann in einem langen Militärmantel, der etwas älter war als er selbst und sich seinen Weg durch den Seitengang bahnte, wobei ein anderer Mann in Uniform ihm vorausging. Der ältere der beiden bemerkte Adam etwa zur selben Zeit und schickte seinen Begleiter weiter, während er in Adams Richtung grüßend die Hand hob. Mit einem Lächeln wechselte Adam die Richtung und schob sich zwischen zwei Reihen von Stühlen auf eine Seitenkapelle zu. Aus dem Mantelkragen des älteren Mannes spitzten am Hals der Uniform die roten Kragenspiegel eines Offiziers im Generalsrang hervor, schwere Goldlitze säumte den Schirm der Mütze, die der Mann unter dem Arm trug. »Hallo, Gordon«, sagte Adam herzlich und hielt dem anderen die Hand hin. »Ich war mir nicht sicher, ob ich dich hier sehen würde.« Der andere lächelte unter einem stahlgrauen militärisch gestutzten Schnurrbart, stahlgraues Haar umrahmte stahlgraue Augen. Sie schüttelten die Hände. »Das gleiche könnte ich von dir sagen, Adam. Aber du kanntest Randall ebenfalls aus der -224-
Buchwelt, nicht wahr?« »Aye, ein Vermächtnis meines Vaters«, erwiderte Adam. »Er war einer von Randalls Stammkunden und reichte die Verbindung an mich weiter, als ich alt genug war, sie würdigen zu können.« »Dein Vater hat dir einen großen Dienst erwiesen«, sagte Gordon. »Randall Stewart - Gott gebe seiner Seele Frieden! war ein Mann seltener Prinzipientreue. Weißt du, daß er im Zweiten Weltkrieg in meinem Regiment gedient hat?« Adam schüttelte den Kopf. »Das war natürlich vor meiner Zeit, aber ich habe gehört, er sei ein guter Soldat gewesen; ich weiß, daß er ein guter Mensch war.« Er seufzte. »Solche Männer wie ihn gibt es heutzutage viel zu wenige, von jeder Generation. Ihn zu verlieren wäre unter allen Umständen traurig gewesen - wir müssen doch alle irgendwann einmal gehen aber einen Bruder auf diese Weise zu verlieren...« Er schüttelte den Kopf und seufzte, von Erinnerungen überwältigt. Dabei fingerte er an dem Siegelring an seiner rechten Hand herum. Ein freimaurerisches Symbol, das in den schwarzen Stein geschnitten war, reflektierte einen Lichtstrahl und zog kurz Adams Blick auf sich. Der Gesichtsausdruck des Generals wurde etwas wehmütig, als er die Hand ein wenig hob und ebenfalls auf den Ring schaute. »Ich hoffe wirklich, daß du mir eines Tages die richtigen Fragen darüber stellen wirst, Adam«, sagte er. »Du bist in fast allem, was du tust, von Freimaurern umgeben - McLeod und seine Mannschaft, ich -, und da ist die Tradition deines Vaters und Großvaters, die beide Freimaurer der höchsten Grade waren.« Der Blick, der diese Feststellung begleitete, drückte eine freundliche Herausforderung aus, aber_auch Resignation, denn er und Adam hatten ein solches Gespräch schon oft geführt. »Ich bin geschmeichelt, daß du mit dieser Frage weiter -225-
sondierst, Gordon«, sagte Adam mit einem leisen Lachen, »aber dann sag mir auch, wo ich die Zeit dazu finden soll. Angesichts der ganzen Verantwortlichkeiten, die mir schon jetzt obliegen, hatte ich immer das Gefühl, ich würde eurem Orden eine ernste Ungerechtigkeit zufügen, wenn ich mich ihm anschlösse, ohne das volle Engagement auf zu bringen.« Gordon grinste ihn wehmütig an. »Du verlangst von dir mehr, glaube ich, als wir je von dir erwarten würden. Aber solltest du jemals deine Meinung ändern, dann zögere nicht und laß es mich wissen.« Er schaute auf die Tür. »Tja, ich hoffe, mein Fahrer hat inzwischen den Wagen geholt - ein gräßliches Wetter, nicht wahr? Kann ich dich irgendwohin mitnehmen, oder kümmert sich Humphrey um dich?« »Ich fürchte«, sagte Adam, »es war wirklich etwas unklug von mir, daß ich mit Humphrey ausgemacht habe, er solle Lady Julian heimfahren, bevor mir klar wurde, daß es wie aus Kübeln gießen würde, wenn wir aus der Kirche herauskommen. Peregrine und ich wollten mit einem Taxi zur Totenwache fahren, und Humphrey sollte uns dort abholen, aber es würde uns die Sache etwas einfacher machen, wenn du uns am Buchladen absetzen könntest. Du hast doch nichts dagegen, Peregrine unter diesen Umständen kennen zu lernen, oder?« Gordon lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich dachte mir schon, daß er es war, der beim Gottesdienst neben dir saß. Hier kommt er schon.« »Und er hat offensichtlich Humphrey nicht mehr erwischt«, sagte Adam, als er Peregrines ernüchterten Gesichtsausdruck bemerkte. »Ich bin sicher, er wird sich freuen, daß er schließlich doch nicht ertrinken muß. Peregrine, kommen Sie und lassen Sie mich Sie mit Sir Gordon bekannt machen«, sagte er und winkte Peregrine heran. »Gordon, das ist einer meiner Mitarbeiter, Peregrine Lovat. Peregrine, das ist General Sir Gordon ScottBrown.« -226-
»Guten Tag, Mr. Lovat«, sagte Sir Gordon und schüttelte Peregrine die Hand. »Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen, Sir«, murmelte Peregrine. »Gordon nimmt uns zur Buchhandlung mit«, sagte Adam heiter und drängte den Künstler schon in Richtung Portal. Noch bevor Peregrine richtig begriff, was geschah, stiegen sie schon in den blauen Ford Granada. Als sie die Princes Street entlangfuhren und dann nach Süden über die Brücke, die den Bahnhof Waverley Station überquert, saß Peregrine mit großen Augen stumm hinten, während Adam und der General harmlose Bemerkungen über das Wetter austauschten und Adam den Fahrer zu Randalls Buchhandlung dirigierte. Nach zehn Minuten waren sie da. Peregrine blieb noch stehen und schaute hinter dem wegfahrenden Auto her, während Adam den Regen von den Schuhen stampfte und sich anschickte hinein zu gehen. »Adam, war das der Gordon Scott-Brown?« fragte er. »So weit ich weiß, gibt es nur einen«, erwiderte Adam. Peregrines Augen weiteten sich, und er stieß einen leisen Pfiff aus. »Aber er ist der höchste General in Schottland, der General Officer Commanding. Ich habe sein Porträt im Regimentsmuseum in der Burg gesehen.« »Tja, er ist der Kommandant der Burg, und das ist sein Regiment«, sagte Adam, als wäre damit alles erklärt. »Deshalb konnte er uns auf dem Rückweg zu seiner Arbeit mit dem Auto mitnehmen.« Peregrine hatte sich allmählich schon daran gewöhnt, daß Adam eine große Anzahl bedeutender Leute kannte, die aufzutauchen schienen, wann immer sie gebraucht wurden, aber etwas an diesem konkreten Zufall kam ihm selbst für Adam ein wenig ungewöhnlich vor. Die durch und durch lässige Art von -227-
Adams Erwiderung schien im Augenblick jede ernsthaftere Nachfrage zu verbieten, aber nachdem sie hineingegangen waren, ertappte sich Peregrine dabei, daß er überlegte, ob Sir Gordon auch mehr war, als er an der Oberfläche zu sein schien. Drinnen begegneten sie McLeod. Jane war allerdings nicht mehr bei ihm. Nachdem sie der Familie ihre Aufwartung gemacht hatten, ging Adam zum Inspector und zog ihn beiseite, damit McLeod ihn kurz über den Stand der Ermittlungen unterrichtete. Der Polizist war in mürrischer Stimmung. »Donald und ich müssen gestern mehr als ein Dutzend Leute interviewt haben«, brummte er, »aber trotz all der nützlichen Informationen, die wir dadurch erhielten, hätten wir uns genauso gut die Mühe sparen können. Ich wünschte mir bei Gott, jemand würde uns die Medien vom Hals schaffen. Es ist schon schlimm genug, daß wir in diesem Fall nicht weiterkommen, ohne daß wir diese Tatsache jeden Tag auch noch einem Dutzend Herren von der Presse offenbaren müssen.« Er hielt inne und biß heftig in ein Sandwich. »Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre«, verkündete er mit einem finsteren Blick, »würde ich diesen Job hinschmeißen und Buchhalter werden. Wie die Dinge liegen, denke ich allmählich, ich sollte in den Ruhestand gehen und Bienen züchten!« Adam wußte es besser und nahm eine solche Erklärung nicht ernst, aber er teilte die zugrunde liegende Enttäuschung in vollem Ausmaß. Kurz darauf trennten sie sich. McLeod kehrte zu seinen Ermittlungen zurück. Peregrine wollte einige Stunden auf sein Porträt des früheren Bürgermeisters von Edinburgh verwenden, Adam die letzten Besprechungen mit seinem jungen Stellvertreter führen, der sich während der zwei Tage, die er sich in London aufhalten würde, um seine Patienten kümmern sollte. Da es spät wurde, ließ Adam auf dem Heimweg Humphrey an einem Fish and-Chips-Laden anhalten, Peregrine sauste hinein -228-
und brachte drei in Papier gewickelte Portionen mit. Er und Adam legten diese elegante Kost auf den genoppten Picknicktischplatten aus Walnußholz ab, die sich an den Rückenlehnen der Sitze herunterklappen ließen, und Adam unterrichtete Peregrine wie auch Humphrey über den Zeitplan seiner Reise nach London. Er hatte für den nächsten Tag einen Mittagspendlerflug gebucht. Am Mittwochmorgen machte er sich mit Humphrey und einem einzigen großen Bordcase auf den Weg zum Flughafen, wobei er vorhatte, kurz in Jordanburn halt zu machen, um seine planmäßige Visite im Krankenhaus zu absolvieren. Unglücklicherweise hatte einer seiner instabileren Patienten sich genau diesen Morgen ausgesucht, um in eine nahezu suizidale Depression zu verfallen. Schließlich war es fast drei Uhr nachmittags, als Adam endlich fortkonnte. Glücklicherweise war Humphrey nicht untätig geblieben, während sein Herr sich mit der unerwarteten medizinischen Krise befaßte. Der nächste Flug nach London-Heathrow sollte um 15:45 Uhr starten, und Humphrey hatte fertiggebracht, Adams Reservierung umzubuchen und ihm einen Platz in diesem Flugzeug zu sichern. Der wackere Butler schaffte es sogar, Adam rechtzeitig zum Flughafen zu bringen - allerdings war der Status von Philippa Sinclairs Flug, der ebenfalls in London landen sollte, noch unbekannt. Als Adam in Heathrow landete, war es schon dunkel, über den Rollbahnen schwebte ein frostiger Dunst. Im Terminal strebte er sofort auf den nächsten Monitor mit den Anfangszeiten zu, denn die Verspätung hatte die Zeit bis zu Philippas geplanter Ankunft knapp werden lassen. Glücklicherweise ergab eine schnelle Durchsicht der Flugnummern, daß Philippas Flug eine halbe Stunde Verspätung hatte - was angesichts des Wetters kaum unerwartet kam. Adam nutzte den Aufschub, indem er sich sein Bordcase über die Schulter hängte und zu dem Flughafencafe schlenderte, das -229-
der Halle für internationale Ankunft am nächsten lag. Dort bestellte er eine große Tasse Tee, ließ sich an einem unbesetzten Tisch nieder und wartete. Die großen Fensterscheiben an der anderen Wand spiegelten kühl das Innere des Cafes. Draußen war die Dunkelheit gesprenkelt mit den verschwommenen Flecken sich bewegender Lichter, während mit dem Gedröhn fernen Donners Flugzeuge landeten und starteten. Sich bewegende Lichter... Felder der Dunkelheit. Fast unmerklich wurden Adams Gedanken wieder zur Erinnerung an seinen jüngsten Besuch auf den Inneren Ebenen gezogen - und zu den kryptischen Aussagen des Meisters hinsichtlich der Arbeit, die Peregrine Lovat bevorstand. Zerbrochene Bilder müssen wiederhergestellt werden... Der Tempel des Lichts muß wiederaufgebaut werden... Während Adam nachsann, ertappte er sich dabei, wie er versuchte, diese Bemerkungen mit Lady Julians Deutung des I Ging in Einklang zu bringen. »Unterscheidung heißt, Unterschiede zu erkennen inmitten von Verwirrung«, hatte sie gesagt. »Festigung zu geben heißt, in der Eigenschaft eines Richters zu handeln, der Wiedergutmachung gewährt, wo ein Vergehen geschah.« Zerbrochene Bilder. Verwirrung. Adam hegte keine Zweifel, daß beide Orakelworte auf die Zerrüttung aller zugrunde liegenden Persönlichkeiten Gillian Talbots hinwiesen. Das Bild des Tempels, der wiederaufgebaut werden sollte, war gewiß eine metaphorische Bezugnahme auf die Totalität des Individuums doch wie baute man eine solche Ruine wieder auf? Plötzlich sah er vor seinem geistigen Auge das Bild einer anderen Ruine von materiellerer Natur - den Templemor-Turm, der jetzt restauriert wurde -, und er versuchte sie in Beziehung zu dem Fall Talbot zu setzen. Wie restauriert man eine Ruine? fragte er sich. Bei einem materiellen Gebäude wie einem Turmhaus ist es offensichtlich. -230-
Man arbeitet vom Boden nach oben... Er grübelte immer noch über die möglichen Implikationen dieser Einsicht nach, als seine Träumereien jäh von einem lauten Geknister des Lautsprechersystems des Flughafens unterbrochen wurden. Es folgte eine quäkende Stimme, die verkündete, der Flug British Airways Nr. 311 von Boston sei soeben gelandet. Adam ließ sich Zeit, seinen Tee zu Ende zu trinken, da er wußte, daß seine Mutter noch durch die notwendigen Formalitäten bei der Paßkontrolle, der Gepäckausgabe und beim Zoll aufgehalten werden würde. Etwa zwanzig Minuten später schulterte er wieder sein Bordcase und machte einen kurzen Abstecher in einen der Blumenläden in der Passagierhalle, wo er einen zarten Zweig mit Treibhausorchideen kaufte. Als er sich dann in der Nähe des Treffpunktes in der Ankunftshalle aufgestellt hatte, mit einem Blick durch die Türen, die sich periodisch öffneten und immer weitere Neuankömmlinge durchließen, sickerten schon die ersten aus Boston eingetroffenen Passagiere in den Wartebereich, wo Freunde und Familienangehörige bereitstanden, um sie zu begrüßen. Etwas ungeduldig suchte Adam die Menge der Ankommenden ab. Kurz darauf erblickte er sie - eine schlanke Gestalt mit platinfarbenem Haar in einem scharlachroten Mantel und mit ebenso rotem Hut, die sich inmitten eines kleinen Wirbels von Flughafenangestellten entschlossen auf die Mitte der Halle zubewegte. In ihrer Jugend war Philippa Sinclair eine Schönheit gewesen. Mit fünfundsiebzig war sie noch immer eine auffällig schöne Frau, elegant und makellos gepflegt, mit einem gebieterisch geschnittenen Gesicht und funkelnden dunklen Augen. Ein schmucker junger Mann in der Uniform von British Airways beugte sich zu ihr herüber und machte dabei mit den Händen kleine, besänftigende Gesten, während hinter ihnen ein Mann mittleren Alters im Overall eines Vorarbeiters einen Wortwechsel mit zwei uniformierten Gepäckträgern zu haben -231-
schien. Einer der beiden schob einen Karren mit Philippas Gepäck. Philippa selbst schien die neugierigen Blicke, die die Gruppe von den anderen Leuten in der Halle auf sich zog, königlich zu ignorieren. Selbst aus dieser Entfernung konnte Adam die ruhige, zielbewußte Haltung ihres Kinns sehen. Er mußte lächeln. Es entsprach Philippa, mit großem Entree zu erscheinen. Er schob sich geschmeidig nach vorn und winkte mit der Hand, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sobald sie ihn entdeckt hatte, verwandelte sich ihre formidable Ruhe in ein Lächeln von blendender Wärme. Sie schwenkte unvermittelt in einem scharfen Winkel ab und schwebte anmutig ihm entgegen, wobei sie ihren Begleiter mit unschicklicher Hast hinter sich herrennen ließ. Als sie sich begegneten, umarmte Adam seine Mutter und begrüßte sie mit einem Kuß, dann übereichte er ihr die Orchideen. »Du lieber Himmel, Philippa«, murmelte er gutmütig, »kannst du nirgendwo hingehen, ohne Aufsehen zu erregen?« Die Antwort seiner Mutter auf diese Frage war ein kleiner, ironischer Schmollmund. Nachdem sie entzückt den Duft der Blüten eingesogen hatte, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und drückte einen Antwortkuß auf die sonnengebräunte Wange ihres Sohnes, dann hakte sie sich bei ihm ein und blickte auf ihr Gefolge zurück. »Irgend jemand scheint zwischen Boston und London einen meiner Koffer verräumt zu haben«, sagte sie streng in einem Akzent, in dem sich Yankee- und High land-Einflüsse mischten. »Es wird nachgeforscht, aber bis jetzt scheint niemand zu wissen, wohin er geraten ist. Ich verlasse mich auf Mr. Martin hier, daß er alles klärt.« Der Blick, den sie Mr. Martin zuteil werden ließ, war chirurgisch durchdringend. Von unendlicher Geduld mit den wirklich Unglücklichen, hatte Philippa keinerlei Geduld, wenn es um Inkompetenz in Bagatellen ging. Der -232-
Flughafenangestellte krümmte sich schuldbewußt und richtete an Adam einen stummen Gnadenappell. »Wir sind an der Sache dran, Lady Sinclair«, sagte er. »Es tut mir schrecklich leid, daß Sie Unannehmlichkeiten haben. Ich bin sicher, die Tasche wird in Kürze auftauchen. Falls sie diesen Flug in Boston verpaßt hat, wird sie mit dem nächsten kommen. Wenn Sie mir nur den Namen Ihres Hotels geben, dann werde ich sie Ihnen nachsenden, sobald sie eintrifft.« »Danke, das würde ich zu schätzen wissen«, sagte Philippa spröde und blickte ihren Sohn fragend an. »Wir wohnen bis Freitag im Caledonian Club«, sagte Adam, nahm aus einem mit Monogramm versehenen Etui eine Visitenkarte und reichte sie dem Mann. »Falls es länger dauern sollte, die Sache zu klären, wird der Verwalter des Clubs Ihnen meine Heimatadresse in Schottland mitteilen. Ich hoffe, daß dies kein Problem darstellt.« »Überhaupt nicht, Sir Adam. Vielen Dank. Ich bitte nochmals um Verzeihung, Lady Sinclair.« Philippa bedachte den Mann mit ihrem frostigsten Nicken und rauschte in Pachtung auf den Ausgang davon. Adam und ein Gepäckträger mit dem Gepäckkarren folgten in ihrem Kielwasser. Sie nahmen eines der Taxis, die vor dem Terminalgebäude in einer Reihe warteten. Adam nannte dem Fahrer ihr Ziel und beaufsichtigte die Verladung aller Koffer in den Kofferraum, dann ließ er sich auf seinen Sitz sinken und betrachtete seine Mutter mit sanft ironischer Zuneigung, während sie losfuhren. »Ich hoffe, du hattest nichts Unersetzliches in dieser verschwundenen Tasche«, sagte er. »Wenn sie in Paris auftaucht, ohne daß jemand sie abholt, wird man in ihr eine terroristische Bombe vermuten und sie in die Luft jagen.« Philippa nickte zerstreut. »Ja, mein Lieber, ich weiß.« Sie lehnte sich an das Polster wie ein Vogel, der sein Gefieder -233-
ordnet, und sagte etwas lebhafter: »Nein, es war nichts Lebenswichtiges darin: bloß eine reizlose Auswahl von persönlichem Firlefanz, ohne den ich leicht auskommen kann. Wenn ich mit diesem jungen Mann vorhin etwas streng umgesprungen zu sein schien, so lag es daran, daß er anfangs versucht hat, mich abzuwimmeln. Wenn es etwas gibt, das ich nicht ausstehen kann, dann ist es jemand, der zu faul ist, die Arbeit zu tun, für die er bezahlt wird!« Sie lachte und schüttelte den Kopf über ihre eigene Heftigkeit. »Was für ein schreckliches altes Weib ich geworden bin, seit du das letzte Mal drüben warst! Wir müssen uns öfter sehen. Wenn ich auch nur einen Augenblick lang der Meinung wäre, daß irgend jemand in der Klinik die Arbeit halb so gut machen könnte wie ich, würde ich mich in ein Cottage auf der Insel Arran zurück ziehen und meinen Lebensabend dem Züchten von Petunien widmen!« Adam mußte an McLeod denken und lachte leise in sich hinein. »Nein, das würdest du nicht. Du bist der Arbeit genauso schlimm verfallen wie ich. Was mich daran erinnert: Wie geht es denn in der Klinik?« Philippa zuckte elegant mit den Schultern. »Viel Arbeit. Genaugenommen mehr Arbeit als jemals zuvor. Wir bekommen immer mehr Überweisungen von Krankenhäusern außerhalb unseres Distrikts. Wahrscheinlich ist das eine Anerkennung unseres guten Rufs, daß wir Ergebnisse erzielen, aber es bedeutet auch eine beträchtliche Zunahme der Fälle für unser Personal. Binnen drei Monaten habe ich drei neue Fachärzte eingestellt. Zwei von ihnen sind kompetente Analytiker, aber der dritte ist wirklich vielversprechend. Ich werde mit Interesse beobachten, wohin seine Talente ihn in dem kommenden Monaten führen.« Sie hielt inne und blickte ihren Sohn lange an. »Wie geht es dir? Wie stehen die Dinge an der Heimatfront?« -234-
»Wenn du damit meinst, wie die Dinge im Krankenhaus stehen«, erwiderte er, »so machen wir mehr oder weniger weiter wie immer. Allerdings haben einige der kürzlichen Veränderungen im National Health Service eine höllische Menge zusätzlichen Papierkram nach sich gezogen. Was alles andere betrifft...« Er senkte die Stimme. »Was hast du bis jetzt über Randalls Tod gehört?« »Genug, um zu der Überzeugung zu gelangen, daß in der Sache wahrscheinlich mehr steckt, als die Polizei lösen kann abgesehen von deinem Inspector McLeod natürlich.« Philippas fein geschnittenes Gesicht wurde sehr still, und sie warf erst einen flüchtigen Blick auf den Rücken des Taxifahrers, bevor sie hinzufügte: »Das ist eines der Themen, über die ich später mit dir reden möchte. Bis dahin soll es genügen, wenn ich sage, daß ich es zutiefst bedaure, daß du auf diese Weise einen Freund verloren hast.« Im Caledonian Club wohnte Adam für gewöhnlich, wenn er London besuchte. Bei ihrer Ankunft überließen er und Philippa es dem Gepäckträger, sich um ihr Gepäck zu kümmern, während sie zur Rezeption hineingingen. Der Mitarbeiter am Empfang erkannte Adam sofort und sprang mit einem freundlichen Grinsen von seinem Sitz auf. »Guten Abend, Sir Adam.« »Guten Abend, Tom«, erwiderte Adam. »Das ist meine Mutter, Lady Philippa Sinclair. Ich glaube, mein Butler hat für uns zwei benachbarte Zimmer gebucht.« »Das stimmt, Sir Adam. Ich habe den Anruf selbst entgegengenommen. Wenn Sie sich bitte eintragen wollen, ich hole die Schlüssel.« Über die Schulter gewandt fügte er hinzu: »Es ist auch eine Nachricht für Sie da, Sir. Sie ist vor etwa zwanzig Minuten eingetroffen.« Er reichte Adam zusammen mit zwei Zimmerschlüsseln einen zusammengefalteten Zettel, Adam entfaltete das Papier und hielt -235-
es ins Licht. Für Sir Adam - Bei Ankunft zu übergeben, stand da in Blockschrift. Wichtige Neuigkeiten. Erbitte respektvollst unverzüglichen Rückruf zu Hause. Humphrey. Wortlos reichte Adam Philippa den Zettel. Sie zog die Augenbrauen hoch und murmelte: »Ich glaube, du solltest ihn lieber anrufen.« »Wenn es dringend ist, Sir«, warf Tom ein, »können Sie gerne den Anruf von hier aus machen.« »Danke«, sagte Adam und griff nach dem Telefon. »Wählen Sie nur zuerst eine 9, damit Sie ein Amt bekommen«, sagte Tom. Sobald er den Wählton hörte, tippte Adam die 9 und dann die Nummer von Strathmourne. Schon beim zweiten Läuten hob Humphrey ab. »Hallo, Humphrey«, sagte Adam. »Ich habe gerade Philippa abgeholt und die Nachricht bekommen, die Sie im Club hinterlassen haben. Was gibt's?« »Da versucht eine Dame mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, Sir, in Sachen ihrer Tochter«, sagte Humphrey. Seine am Telefon übliche Formalität konnte seine Aufregung nicht ganz verschleiern. »Sie nannte als Namen Mrs. Iris Talbot.« Gillian Talbots Mutter! »Ich verstehe«, erwiderte Adam zurückhaltend, bemüht, seine eigenen Gefühle zu zügeln. »Ich nehme an, sie hat von London aus angerufen?« »Das hat sie, Sir. Ich habe ihre Nummer hier, falls Sie sie sich aufschreiben wollen.« Adam griff schon nach einem Stift, der auf der Theke lag. »Ganz recht, Humphrey, schießen Sie los.« Er notierte sich die Nummer auf die Rückseite des Zettels mit der Nachricht und las dann zur Überprüfung Humphrey noch -236-
einmal die Ziffern vor. Als er aufgelegt hatte, wandte er sich Philippa zu. Bevor er eine Erklärung abgeben konnte, hob sie einhaltgebietend die Hand. »Ich sehe, daß das kompliziert werden wird, und ich für meinen Teil brauche unbedingt eine Tasse Tee. Ich kümmere mich darum, daß das Gepäck auf unsere Zimmer kommt und treffe dich dann im Salon, wenn du fertig bist.« »Noch besser«, erwiderte er und winkte dem Dienstmann, der gerade den Karren mit ihrem Gepäck hereinrollte, »ich rufe von meinem Zimmer aus an, und du kannst dir den Tee hochbringen lassen.« Er dachte an Iris Talbot, während er und Philippa dem Träger in den Lift folgten und zu den Zimmern gingen. Er dankte für den unbekannten Grund, der sie veranlaßt hatte, ausgerechnet heute abend zu versuchen, ihn anzurufen - allerdings legte die Tatsache, daß sie überhaupt angerufen hatte, den Gedanken nahe, daß in Gillians Zustand eine weitere Verschlechterung eingetreten war. Trotzdem, das Timing hätte kaum besser sein können. Sobald er sich in der Ungestörtheit seines Zimmers befand, hielt er nur solange inne, bis er seinen Überzieher abgelegt hatte, dann rief er die Londoner Nummer an, die Humphrey ihm gegeben hatte. Beim dritten Läuten meldete sich eine männliche Stimme, die besorgt klang. »Guten Abend«, sagte Adam. »Hier spricht Dr. Adam Sinclair vom Jordanburn-Krankenhaus in Edinburgh. Ich habe eine Nachricht bekommen mit der Bitte, mich mit Mrs. Iris Talbot in Verbindung zu setzen...« »Dr. Sinclair?« unterbrach ihn die andere Stimme. »O, Gott sei Dank, wir haben so gehofft, daß Sie anrufen würden! Ich bin George Talbot. Iris ist meine Frau. Wir - es geht um unsere Tochter Gillian.« »Natürlich. Ich erinnere mich sehr gut an den Fall«, flocht Adam geschmeidig ein. »Wie kann ich Ihnen helfen, Mr. -237-
Talbot?« »Es geht nicht um mich - es geht um Gillian«, erwiderte Talbot. »Als Sie letzten Monat mit meiner Frau sprachen, da sagten Sie zu ihr - daß heißt, Sie gaben ihr zu verstehen, daß, falls - falls der Zustand unserer Tochter nicht besser würde, wir uns wegen einer Behandlung an Sie wenden könnten.« »Daraus entnehme ich also, daß Gillians Zustand sich nicht gebessert hat«, sagte Adam. »Nein, er hat sich nicht gebessert. Eigentlich geht es ihr eher schlechter. Die Ärzte am Charing Cross haben alles versucht, was ihnen eingefallen ist, aber nichts wirkt. Sie entgleitet uns einfach immer mehr. Wir hatten ein Gespräch mit Dr. Ogilvy das ist Gillians behandelnde Arztin -, und sie hat zugestimmt, daß wir Ihre fachliche Unterstützung suchen. Ich weiß, daß ich damit vielleicht sehr viel von Ihnen verlange, aber würden Sie glauben Sie, Sie könnten sie einmal besuchen?« »Natürlich werde ich sie besuchen«, erwiderte Adam beruhigend. »Zufällig bin ich im Augenblick in persönlichen Angelegenheiten in London. Machen wir doch aus, daß ich Sie und Mrs. Talbot irgendwann morgen im Krankenhaus treffe? Es wäre hilfreich, wenn Dr. Ogilvy auch dabei sein könnte. Wann macht sie gewöhnlich Visite?« »Im allgemeinen kommt sie so um zehn«, erklärte Gillians Vater. »Aber wenn Sie meinen, das sei zu früh...« »Zehn Uhr paßt gut«, sagte Adam. »Und wenn ich darf, würde ich gern noch eine medizinische Kollegin von mir mitbringen.« Kapitel 17 Adam ging ins Nebenzimmer, wo er seine Mutter bequem in einem mit Tartanmuster gepolsterten Armsessel sitzend vorfand. Sie hatte die Schuhe weggeschleudert, die barstrümpfigen Füße -238-
wie ein Mädchen unter sich gezogen und nippte Tee aus einer zarten Porzellantasse. Ihr Lächeln erhellte den Raum, als sie die Tasse absetzte und sich vorbeugte, um auch ihm eine einzugießen. »Nun?« sagte sie. »Um was ging es denn?« Adam ließ sich in den gegen überstehenden Sessel gleiten und nahm Tasse und Untertasse entgegen, die Philippa ihm hinhielt, dann stellte er sie ab und gab Milch und Zucker dazu. »Du erinnerst dich doch, daß ich vor ein paar Wochen wegen eines Mädchens namens Gillian Talbot und der ganzen Geschichte mit Michael Scot anrief?« sagte er und rührte den Tee um. »Natürlich.« »Tja, die Eltern haben endlich Kontakt mit mir aufgenommen«, fuhr Adam fort. »Sie wollen ihre Tochter meiner Betreuung übergeben.« Philippa zog eine Augenbraue hoch und blickte ihn verständnisvoll an, jegliche Illusion mädchenhafter Ungezwungenheit wich der konzentrierten Aufmerksamkeit einer Expertin - auf verschiedenen Ebenen. »Nach dem, was du mir erzählt hast, bin ich überrascht, daß sie so lange dafür gebraucht haben.« Adam nippte am Tee. »Besser spät als nie«, sagte er. »Ich hoffe nur, die Situation kann noch gerettet werden.« »Ja, das ist das Problem.« Philippa überlief ein leichtes, vielsagendes Schaudern, und sie schlang die Arme um sich, als fröstelte ihr plötzlich. »Arme Seele, in der Vergangenheit und in der Gegenwart! Ich hoffe doch sehr, daß dann, wenn mein gegenwärtiger Leib achthundert Jahre tot ist, kein Übeltäter einen Grund finden wird, mich wieder in meine sterblichen Überreste zurück zuholen!« Nach kurzem Schweigen fügte sie hinzu: »Wie wirst -239-
du die Sache den Eltern erklären?« »Wenn sie mich dringend um eine konkrete Diagnose bitten«, sagte Adam und unterstrich seine Worte mit einer Geste der Hand, die die Tasse hielt, »dann werde ich das Problem vermutlich als Persönlichkeitsstörung definieren - was eigentlich zutreffend genug ist.« Er zuckte mit den Achseln. »Außerdem werde ich sie drängen, einer Verlegung Gillians nach Edinburgh zuzustimmen. Mir wurde zu verstehen gegeben, daß mein neuer Novize an der Lösung beteiligt werden soll, und ich kann ihn nicht gut nach London bringen, damit er seine Arbeit hier tut - besonders da wir ja noch gar nicht sicher sind, worin diese Arbeit bestehen wird. Außerdem habe ich noch andere Dinge, die auch in Edinburgh meiner Aufmerksamkeit bedürfen.« »Das ist sicher richtig«, erwiderte sie. »Nun, ich nehme an, du wirst von Seiten der Eltern nicht viel Widerstand erfahren. Vermutlich sind sie schon überzeugt, daß du die letzte Hoffnung für die Heilung ihrer Tochter darstellst.« Sie schwieg kurz und fügte dann nachdenklich hinzu: »Ich frage mich, ob die Loge der Luchse etwas von Gillians Existenz weiß.« Adam stellte seine leere Tasse ab und zuckte mit den Achseln. »Schwer zu sagen. Man würde meinen, daß ihre Existenz der Gruppe bekannt gewesen sein mußte, die in Melrose Michael Scot beschwor. Sie müssen sicher gewußt haben, daß sie Scot aus einer gegenwärtigen Inkarnation herausrissen. Und wenn auch nur ein Mitglied dieser Gruppe das Eibenmassaker von Urquhart Castle überlebt haben sollte, dann müßte er oder sie in der Lage sein, dieses Wissen an andere Leute in der Organisation weiter zu geben. Wenn es das wert ist.« »Und was ist es wert?« fragte Philippa. Adam verzog das Gesicht. »Ich wünschte, ich wüßte es. Wie es im Augenblick um Gillian steht, ist sie für diese Leute ohne Bedeutung, weder als gegenwärtige Bedrohung noch als -240-
zukünftiger Aktivposten. Doch dies könnte sich über Nacht ändern, falls unseren Feinden der Verdacht kommen sollte, daß eine Wahrscheinlichkeit für sie besteht, geheilt zu werden. Auf jeden Fall besitzt zumindest eine ihrer zugrunde liegenden Persönlichkeiten - die von Michael Scot - Wissen, das die Luchse für sich haben wollen. Wenn sie dächten, wir könnten an dieses Wissen gelangen - und damit einen Hinweis auf das erhalten, was sie erreichen wollen -, so wäre das allein schon ein ausreichender Grund für sie, Gillian zu vernichten, anstatt zu riskieren, daß sie dieses Wissen an uns weitergibt.« »Mit anderen Worten«, stellte Philippa lakonisch fest, »je weniger andere von dieser Sache wissen, um so besser.« Adam nickte. »Ich bin nicht einmal sonderlich glücklich darüber, sie nach Edinburgh zu verlegen - obwohl es notwendig ist, wenn ich ausreichend leicht Zugang zu ihr haben soll, um ihr oder uns zu helfen. Die Verlegung bringt sie in engere körperliche Nähe zu den Dingen, die die Luchse planen - und könnte sie verwundbarer machen.« »Wie wäre es mit der Verlegung in eine Privatklinik?« fragte Philippa. »Die Sicherheit wäre größer, und auch die Ungestörtheit für die notwendigen Maßnahmen.« »Wir befinden uns hier in Großbritannien, nicht in Amerika«, erinnerte Adam sie. »Ich muß innerhalb eines Systems arbeiten, das manchmal sehr rigide ist. Unglücklicherweise gibt es, solange sie Patientin im National Health Service ist, Beschränkungen dafür, wie weit ich mich von den Standardvorschriften entfernen darf. Es wird schon genug Stirnrunzeln geben, wenn sie nach Schottland verlegt wird. Sobald sie dort ist, muß ich jedes Aufsehen vermeiden, während wir herausfinden, was wir mit ihr machen sollen.« »In diesem Fall scheint mir«, sagte Philippa, »daß es keine schlechte Idee wäre, wenn ein Mitglied der Jagdloge die Verantwortung für die Sicherheit des Kindes übernähme, -241-
während du mit der Therapie beschäftigt bist.« Sie richtete einen bedeutungsvollen Blick auf ihren Sohn. Adam lächelte. »Soll ich das so verstehen, daß du dich freiwillig dafür meldest?« »Warum nicht?« »Ja, warum nicht, in der Tat?« Adam lächelte seine Mutter in einer Mischung aus Zuneigung und Respekt an. »Jeder Luchs, der dich als leichte Beute betrachtet, wird einen ziemlichen Schock erleben!« »Mir gefällt der Gedanke, daß ich meine Wirkung noch nicht verloren habe«, sagte sie mit einem komischen Grinsen, das in ein Gähnen überging, als sie sich erlaubte, sich zu strecken. »Du meine Güte, es liegt nicht an deiner Gesellschaft, glaub mir! Aber es war doch ein langer Tag, ich brauche unbedingt meinen Schönheitsschlaf.« »Du lieber Himmel, ja! Du mußt ja einen schrecklichen Jetlag haben«, erwiderte Adam und schickte sich an aufzustehen. »Du hättest mich nicht immer weiterreden lassen sollen.« Er schaute auf seine Uhr. »Ich - ah möchte keinen Druck auf dich ausüben, aber ich frage mich, ob du mich vielleicht morgen vormittag in das Krankenhaus begleiten und unsere Patientin kennenlernen möchtest. Ich habe ausgemacht, daß ich um zehn Uhr dort bin. Die Talbots haben schon den Vorschlag begrüßt, daß ich vielleicht eine Kollegin mitbringe. Doch diese Entscheidung liegt ganz bei dir.« »Als ob ich mich je müßig im Bett herumräkeln würde, wenn das Spiel im Gange ist!« In Philippas Augen war ein kämpferisches Funkeln erschienen, das ihr silbergraues Haar Lügen strafte. »Wenn ich als Wachhund fungieren soll, dann fange ich damit am besten sofort an. Sobald wir wieder in Schottland sind, werden wir vielleicht schon unter Beschuß sein, und ich hätte gerne auf jeden Fall das Gefühl, daß wir nichts dem Zufall überlassen haben.« -242-
Adam und Philippa waren keinesfalls die einzigen, die in dieser Novembernacht langfristige Pläne schmiedeten. Zweihundertvierzig Kilometer nördlich der schottischen Grenze saßen im obersten Turm ihrer finsteren, einsamen Burg inmitten der schneebedeckten Gipfel der Cairngorm Mountains zwölf höhere Mitglieder der Loge der Luchse in weiße Gewänder gekleidet um ihren Führer in der Mitte und warteten auf die Ankunft eines Besuchers. Der Großmeister war der erste, der über dem wintrigen Gekreisch des Windes das näherkommende Gedröhn der Hubschrauberrotoren hörte. Aus seinem Nachsinnen geweckt, hob er den kahlen Kopf und richtete einen durchdringenden Blick über den Kreis hinweg auf die Anhängerin, die der Tür am nächsten saß. Zum Zeichen, daß sie verstanden hatte, nickte die Frau, und erhob sich schweigend. Mit einer rituellen Geste kündigte sie an, daß sie sich aus dem Kreis entfernen würde. Dann verließ sie nach einer Verneigung den Raum. Als sie kurz darauf wiederkehrte, hatte sie Raeburn bei sich, barfuß und wie alle anderen in eine weite weiße Robe gekleidet, die wie ein Mönchshabit aussah. Dabei trug sie etwas, das in ein scharlachrotes Seidentuch gewickelt war. Sie brachte es ehrfürchtig zum Großmeister und legte es ihm in die Hände, bevor sie an ihren Platz zurückkehrte. Die Hände in Brusthöhe zusammengelegt, trat der Neuankömmling in die Mitte der Kammer und machte eine tiefe Verbeugung. »Großmeister!« sagte er. Mit einem Gesicht, das im gelben Schein der umgebenden Gaslampen so fahl wirkte wie Pergament, blickte der Großmeister ihn von oben bis unten an. »Meister der Luchse«, antwortete er ihm mit einer trockenen, kalten Stimme. »Erlauben Sie mir, Sie bei dieser denkwürdigen Gelegenheit willkommen zu heißen - auch wenn Sie etwas -243-
später kommen als erwartet.« Der leicht tadelnde Unterton ließ ein Knistern durch die Luft des Raumes laufen, das an das Geflacker statischer Elektrizität erinnerte. Raeburn neigte seinen eleganten blonden Kopf und sagte geschmeidig: »Vergeben Sie mir, Großmeister. Ich verfüge noch nicht über das Privileg, das schottische Wetter zu beherrschen.« Diese Erklärung wurde in einem nüchternen Ton vorgebracht, eine einfache Feststellung von Tatsachen, aber sie löste eine leichte Unruhe bei den anwesenden Anhängern aus. Nicht so beim Meister, der lediglich den Kopf senkte. »Da Sie nun hier sind, werden Sie Ihren Bericht erstatten.« »Gewiß, Großmeister«, sagte Raeburn mit einer Verneigung. Er straffte die Schultern und war sich dabei des Neides bewußt, der hinter den wachsamen Augen etlicher der anwesenden Anhänger lauerte, denn einige von ihnen hatten persönliche Gründe, ihm seine Erfolge zu mißgönnen. Die jüngsten Entwicklungen diktierten ihm ein vorsichtiges Vorgehen, wenn er hoffen wollte, seinen bestimmenden Einfluß aufrecht zu erhalten. »Wir alle sind uns der Ziele dieser derzeitigen Kampagne bewußt«, sagte er aalglatt und faltete dabei seine Hände ruhig in den weiten Ärmeln seiner Robe. »Da dies der Fall ist, sehe ich keinen Grund, sie hier zu wiederholen. Es genüge zu sagen, daß das nächste Ziel bestimmt ist, zusammen mit der Zeit und dem Ort seiner Exekution. Noch bevor diese Woche zu Ende geht, wird eine weitere Säule des Tempels gestürzt sein, und wir werden ein weiteres Maß an Macht gewonnen haben, um den Absichten unseres Schutzherrn Substanz zu verleihen.« Während er sprach, wich der Blick seiner blaßblauen Augen nicht von den verzerrten Zügen des Großmeisters. Dennoch war er sich lebhaft dessen bewußt, was zwischen ihnen auf dem Boden lag: ein dickes Bündel gelber Pergamentblätter auf einer -244-
Matte aus schwarzem Widderleder - und auf den Pergamenten das rote Seidenbündel mit dem Torques, den Raeburn gerade zurück gegeben hatte. Er konnte dessen schattenhafte Macht fast schmecken. Sie pulsierte wie ein unhörbar tiefes Donnergrollen - eine Macht, die mit Blut besiegelt war und bald mit neuem Blut verstärkt werden sollte. Das Verlangen, den Torques wieder in seinem Besitz zu haben wirkte wie der Zwang einer Droge. Halb berauscht, rief er sich mühsam in die Gegenwart zurück und erinnerte sich daran, daß er seinen Bericht noch nicht beendet hatte. »Kurz gesagt«, fuhr er fort, »unsere Pläne kommen planmäßig voran. Es gibt jedoch eine Komplikation.« Das Gesicht des Großmeisters erstarrte. »Erklären Sie!« Raeburn begegnete unerschütterlich dem harten Blick des alten Mannes. »Zuerst gestatten Sie mir zu versichern, daß man sich mit der Sache befaßt«, sagte er. »Es geht um einen gewissen Polizeibeamten in Edinburgh. Sie werden sich daran erinnern, daß wir uns vor nicht allzu langer Zeit über ihn unterhielten.« Die eingesunkenen Augen des alten Mannes begannen feindselig und reptilienhaft zu funkeln, während er mit einer flinken Bewegung seiner Zunge die runzeligen Lippen befeuchtete. »Inspector McLeod«, zischte er. »Genau der«, pflichtete ihm Raeburn bei. »Er hat mir die zweifelhafte Ehre erwiesen, vor zwei Tagen in meinem Haus aufzukreuzen. Im Laufe unseres Gespräches - das übrigens eine reine Routinesache gewesen zu sein scheint, wie das bei der Polizei so üblich ist - habe ich mir die Freiheit genommen, gewisse... Prüfungen durch zuführen. Ich bin jetzt in der Lage zu bestätigen, was wir zuvor nur vermutet haben: nämlich daß Inspector McLeod so gut wie sicher Mitglied einer Jagdloge ist.« -245-
Diese knappe Erklärung löste unter den versammelten Anhängern Unruhe aus, wenn auch keiner zu sprechen wagte. Der Großmeister brachte das Geraschel mit einem durchdringenden Blick zum Schweigen, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf Raeburn richtete. »Sie sagen, Sie hätten ihn geprüft. Ich hoffe, Sie waren nicht so töricht, sich in dem Gespräch zu verraten.« »Nein.« Raeburn bemühte sich, zuversichtlich dreinzublicken. »Der Inspector hat eine beträchtliche Kraft, aber nur relativ wenig Sensibilität. Er ist schwer zu überwältigen, aber leicht auszumanövrieren. Da dies so ist...«, er machte eine kurze Pause und lächelte dünn, »...habe ich mir schon ein wirksames Mittel ausgedacht, ihn außer Gefecht zu setzen - für immer.« Da er sah, daß ihm die Aufmerksamkeit aller Anwesenden gehörte, fuhr er fort zu erklären. Als er geendet hatte, warf ihm der Großmeister einen berechnenden Blick zu. »Sie scheinen die Situation fest genug in der Hand zu haben«, erkannte er kühl an, »zumindest, was McLeod selbst betrifft. Aber er ist nicht der einzige aus dieser Richtung, der uns aufgefallen ist. Was ist mit dem lästigen Adam Sinclair? Wenn Sie im Fall McLeod recht haben, dann ist Sinclair fast so gut wie sicher ebenfalls ein Jäger - möglicherweise sogar ihr Anführer. Was wird ihn davon abhalten, zugunsten McLeods einzugreifen?« Raeburns Lächeln war so kalt wie das seiner Augen. »Ich habe meine Hausaufgaben gemacht, Großmeister. Sinclair ist für einige Tage nach London gereist. Selbst wenn McLeod sich stark genug erweisen sollte, dem anfänglichen Schock des Angriffs zu widerstehen, so wird er nicht in der Lage sein, mehr als ein paar Stunden ohne Hilfe von außen die Verteidigung aufrecht zu erhalten. Nicht einmal ein Mann von Sinclairs Talenten könnte hoffen, innerhalb der angesetzten Frist den Faktor Entfernung zu überwinden.« -246-
»Was ist mit anderen Jägern, die näher dran sind und vielleicht eingreifen könnten?« »Offensichtlich können wir diese Möglichkeit nicht ausschließen«, räumte Raeburn ein. »Aber bis jetzt ist Sinclair der einzige, von dem wir wissen, daß er über die notwendige Begabung und Ausbildung verfügt. Es mag noch andere geben aber um einzugreifen, müssen sie sich zeigen. Und wenn sie sich zeigen, werden wir sie von da an im Visier haben.« Der alte Mann entblößte seine Zähne zu einem totenkopfartigen Grinsen. »Zufrieden stellend. Sie überzeugen mich, daß Sie der Mission würdig sind, die Ihnen übertragen werden soll. Sind Sie bereit, unserem Schutzherrn vorgestellt zu werden?« »Ich bin bereit«, sagte Raeburn mit Nachdruck und unterdrückte die Nervosität der Erwartung. »Dann laßt uns unseren Schutzherrn anrufen, damit er Zeugnis ablegt.« Der Großmeister hob seine Hände mit den Flächen nach außen in einer gebieterisch befehlenden Geste und ließ seinen kalten Blick durch dem Raum wandern. Sofort rutschten die versammelten Anhänger auf die Knie, dann beugten sie sich gemeinsam und warfen sich mit der Stirn auf den Boden. Während sich der Großmeister langsam erhob, fiel Raeburn vor ihm auf die Knie. Sein Gesicht glühte erwartungsvoll. Vor ihm stehend und die Hände nun zur gewölbten Decke hebend, begann der alte Mann mit einer Stimme zu singen, die so heiser war wie die einer Krähe. Langsam lud sich die Luft in der Kammer mit einer dunklen Energie auf. Immer noch singend, wickelte der Großmeister feierlich den Torques aus und bot ihn den vier Himmelsrichtungen an, wobei er im Norden begann und sich dann im Widersinn, gegen den Uhrzeigersinn, drehte. Während sein Blut pochte, bückte sich Raeburn tief und berührte mit der -247-
Stirn ehrfürchtig den Pergamentstapel auf dem Widderleder. Der Geruch jahrhundertealter Geheimnisse blieb in seiner Nase zurück, als er sich wieder erhob und den Blick auf den Großmeister heftete. Um ihn herum fielen die anderen Anhänger mit kehligen Stimmen in das Bittgebet ihres Anführers ein. Der Sprechgesang erreichte ein Crescendo. Mit einem heiseren Ruf richtete sich der Großmeister auf und hielt den Torques wie eine Krone über Raeburns Kopf. »Komm, du hehrer geladener Gast!« intonierte er. »Taranis der Donnerer, wir flehen dich an, höre uns!« Etwas raschelte zwischen den Pergamenten auf dem Widderleder. Die obersten Blätter hoben und trennten sich, als bewegte sie ein Luftzug, dann sanken sie mit einem säuselnden Seufzer wieder in sich zusammen. Mit pochendem Herzen warf Raeburn den Kopf zurück, seine blassen Augen leuchteten von einem inneren Feuer, und er schwankte ein wenig auf den Knien, als der Großmeister hinter ihn trat, wobei er immer noch den Torques über dem Kopf des Knienden hielt. »Steige zu uns herab, erhabener Herr«, drängte der alte Mann mit rauhem Geflüster. »Steige herab und schaue mit Gefallen auf diese deine Diener. Ich übergebe dir einen, der Gemeinschaft mit dem Sturm wünscht. Prüfe ihn, bestürme ich dich, und wenn er in deinen Augen für annehmbar befunden wird, dann nimm ihn auf in die Bruderschaft derer, die dem Blitz gebieten!« Nach diesen Worten beugte er sich nieder und schob von hinten den Torques um Raeburns Hals. Raeburn hielt den Atem an und bäumte sich auf, sein Gesicht erbleichte kreideweiß im Licht der Gaslampen. Im gleichen Augenblick brach tief unter der Erde ein plötzliches, schweres Grollen los. Wie das Pulsieren eines unterirdischen Erdbebens schauderte es vom Sockel des Turms empor und krachte wie ein Donnerschlag. Einige der Anhänger wurden zu Boden geworfen. -248-
Der Großmeister behielt mit weitgespreizten Beinen sein Gleichgewicht und öffnete seine Arme weit, als böte er eine Umarmung an. »Willkommen, Taranis«, jubelte er. »Heil, mächtiger Donnerer! Erleuchte deine Diener mit einem Zeichen deines Wohlwollens!« Eine atemlose Stille erfüllte plötzlich den Raum, als wäre mit einem Mal die Luft aus der Kammer abgesaugt worden. Im nächsten Augenblick schoß ein wilder Blitz aus blauem Licht aus dem Bündel der Pergamente zu Raeburns Knien hoch, sprang in einem hungrigen Bogen vom Manuskript zu dem Torques um seinen Hals. Raeburn würgte einen Schrei hervor, halb Schmerz, halb Ekstase. Sein Körper erstarrte im Rigor der Energie, die fast zu mächtig für dieses irdische Gefäß war. Einen Augenblick lang war in dem Raum nichts zu hören außer dem rauhen Geknister von Energie, das jede Willenskraft lahmte. Dann begann der blaue Blitz genauso jäh zu flackern und erlosch. Raeburn sackte nach vorn auf die Hände und holte in einem tiefen, keuchenden Atemzug Luft. Dann richtete er sich langsam wieder auf und setzte sich auf die Fersen. Seine Hände stahlen sich zum Hals und berührten den Torques. In seinem Gesichtsausdruck mischten sich Staunen und Jubel. »Der Träger wurde angenommen!« verkündete der Großmeister. »Aller Lobpreis sei dem Donnerer!« Raeburn erholte sich schnell. Die blassen Augen leuchteten triumphierend. Wortlos reichte er dem Großmeister seine Hände. In einer Geste der Verleihung legte der alte Mann seine eigenen Hände auf die nach oben gerichteten Handflächen des Jüngeren. »Die Bauleute erdreisten sich, einen Tempel des Lichts zu errichten«, flüsterte der Großmeister. »In diese Hände überliefere ich sie nun. Zerstöret die Bauleute, und der Tempel -249-
selbst wird fallen. In der Abwesenheit des Lichtes soll die Macht der Dunkelheit gedeihen...« Der Donnerstagmorgen dämmerte kalt und grau herauf. Adam und Philippa nahmen ein kontinentales Frühstück ein: heiße Schokolade und frische Croissants. Dann machten sie sich in einem Taxi auf den Weg zu ihrem vormittäglichen Termin im Charing Cross Hospital. Philippa hatte statt des scharlachroten Kleids vom Vortag ein maßgeschneidertes Komplet in Königsblau gewählt, das modisch und zugleich professionell wirkte; Adam trug den allgegenwärtigen dreiteiligen Anzug seines Berufs. Außerhalb des Caledonian Club war der Luft der Londoner Innenstadt, die nach Themse-Wasser und Dieselabgasen roch, noch ein eisiger Hauch von Frost beigemischt. Während ihr Taxi den Hyde Park umrundete und dann durch die Kensington High Street in Richtung Hammersmith fuhr, unmittelbar hinter dem schlimmsten Pendlerverkehr her, ertappte sich Adam dabei, daß er der bevorstehenden Begegnung mit einer Spannung entgegensah, die von Sorge überschattet war. Wie auf den Straßen draußen herrschte auch in der Eingangshalle des Charing Cross Hospital geschäftiges Treiben. Adam nahm Philippa am Arm und geleitete sie am zentralen Auskunftsschalter vorbei zur Rolltreppe. Beide mischten sich leicht in den Strom der Fachärzte, die zu ihren Visiten unterwegs waren, und der Krankenschwestern und Techniker, die ihren Aufgaben nachgingen. Sie stiegen im ersten Stock aus und gingen im Strom der Leute mit, die in den Westflügel unterwegs waren, zur Kinderstation. So gelangten sie unbehelligt im Korridor zum Stationszimmer der Schwestern. Seit Adams letztem Besuch vor einem Monat war die Station neu gestrichen worden. Das Stationszimmer und die anschließenden Korridore waren jetzt mit Zirkusszenen -250-
geschmückt, die in fröhlichen Grundfarben gehalten waren. Als Adam und Philippa sich dem Besucherschalter näherten, blickte eine elfenhafte dunkelhaarige Stationsschwester in einer pastelblauen Umstandsuniform von dem Stapel Krankenblätter auf, der vor ihr lag. Während Adam aus einer Brusttasche seine Visitenkarte hervorholte und vor der Schwester auf die Theke legte, warf sie ihnen einen schnellen, aber umfassenden Blick zu und lächelte. Adam hatte schon verstohlen auf ihr Namensschildchen geschaut. »Guten Morgen, Mrs. Reynolds«, sagte er liebenswürdig. »Wir kommen, um Gillian Talbot zu besuchen. Ich glaube, Dr. Ogilvy erwartet uns.« Philippa legte wortlos ihre eigene Karte neben die von Adam. Die Stationsschwester nahm beide Karten, auf ihrem rosigen Gesicht zeichnete sich eine Mischung aus Überraschung und Respekt ab, während sie die beruflichen Qualifikationen der Sinclairs zur Kenntnis nahm. »Es ist für uns ein Privileg, Sie bei uns begrüßen zu dürfen, Sir Adam - und Sie auch, Dr. Sinclair«, sagte sie, als sie die Karten zurückgab. »Man hat uns gesagt, daß Sie erwartet würden - aber wir wußten nicht, daß es zwei Ärzte mit demselben Namen wären.« Adam lachte leise. »Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich keinen zweiten Namen genannt, als ich gestern abend mit Mr. Talbot sprach - nur daß ich die Absicht hätte, eine Berufskollegin mit zu bringen - was meine Mutter ja sicherlich ist. Aber ich versichere Ihnen, es ist nicht das erste Mal, daß die familiäre Bindung innerhalb des Berufes etwas Verwirrung auslöst. Sind die Talbots schon hier? Und Dr. Ogilvy?« »Dr. Ogilvy dürfte jede Minute kommen, Sir Adam«, erwiderte die Schwester. »Sie führt gerade ihre Visite zu Ende. Und Mr. und Mrs. Talbot sind schon vor etwa einer Viertelstunde gekommen. Wenn Sie zu ihnen gehen wollen, sie -251-
warten im Zimmer ihrer Tochter, geradewegs den Korridor hinunter.« »Eigentlich«, sagte Philippa, »würden wir gern zuerst einmal einen Blick auf Gillians Krankenblatt werfen, wenn Sie nichts dagegen haben - zusammen mit ihrer Krankengeschichte, falls Sie die zur Hand haben.« »Ja, Frau Doktor, ich habe sie hier«, sagte die Schwester und holte einen Aktenordner hervor. »Und hier ist auch ihr Krankenblatt.« Mit einem Wort des Dankes nahm Adam den Ordner und schlug ihn auf. An das oberste Blatt der darin enthaltenen Berichte war ein kleiner Zettel geheftet, auf dem in einer - wie bei den meisten Ärzten üblich - kritzeligen Handschrift geschrieben stand: Dr. Sinclair: Meiner Meinung nach könnte es die Sache reibungsloser gestalten, wenn Sie gleich diese Unterlagen zur Verfügung hätten. Ich hoffe, sie erweisen sich als nützlich. Die Unterschrift, die kaum zu entziffern war, lautete: H. Ogilvy. Diese Geste bereitwilliger Kooperation sprach für Gillians behandelnde Ärztin. Adam war erleichtert, daß er keine Zeit würde damit verschwenden müssen, die gekränkten Empfindlichkeiten einer Kollegin zu besänftigen, und kam zur Sache, indem er den Ordner durchblätterte, während Philippa das Krankenblatt durchschaute und dann über seine Schulter hinweg mitlas. Eine kurze Durchsicht genügte, um zu erkennen, daß Gillians Zustand sich seit seinem letzten Besuch in London drastisch verschlechtert hatte. »Es ist immer schlimmer geworden, fürchte ich«, sagte er grimmig zu Philippa. »Danke, Mrs. Reynolds. Ich glaube, wir werden uns jetzt mal die Patientin anschauen und die Talbots begrüßen.« Gillian war aus dem Vierbettzimmer in ein Privatzimmer verlegt worden. Ihre Eltern saßen auf Stühlen am anderen Ende -252-
des Bettes, hielten einander an der Hand und blickten sehnsüchtig auf ihre Tochter. Als Adam und Philippa hereinkamen, sprangen beide Eltern mit einer nervösen Schnelligkeit auf, an der zweifellos der Streß durch Gillians rätselhafte Krankheit schuld war. »Dr. Sinclair! Oh, vielen Dank, daß Sie gekommen sind!« rief Iris Talbot aus und klammerte sich ängstlich an den Arm ihres Gatten. »Das ist George, Gillians Vater. Ich glaube, Sie haben schon am Telefon miteinander gesprochen.« Iris Talbot sah immer noch so aus, wie Adam sie von ihrer ersten Begegnung in Erinnerung hatte: eine attraktive Blondine Ende Dreißig. Doch ihre Schönheit war jetzt durch einige Wochen der Schlaflosigkeit und Sorge getrübt. Ihr Ehemann war ein kräftig gebauter Mann mit einer gelehrtenhaften Hornbrille, den man als ›gemütlich‹ hätte beschreiben können, wenn er nicht so mit genommen ausgesehen hätte. »Natürlich. Ich freue mich, Sie persönlich kennen zu lernen, Mr. Talbot«, sagte Adam und reichte ihm die Hand. »Das ist meine Mutter, Dr. Philippa Sinclair, die mich einen großen Teil dessen gelehrt hat, was ich weiß. Wir hoffen, daß wir zusammen dem auf den Grund kommen können, was die Krankheit ihrer Tochter verursacht hat.« »Das hoffe ich auch, Herr Doktor!« erklärte George Talbot inbrünstig. Sein Händedruck war fest, doch seine braunen Augen wirkten tief beunruhigt, als seine Aufmerksamkeit wieder zur reglosen Gestalt seiner Tochter zurückkehrte. »Es ist so schwer gewesen zuschauen zu müssen, wie sie dahinwelkt...« Er verstummte jäh, bevor seine Stimme umkippen konnte. Adam folgte George Talbots Blick. Er konnte den Kummer des Mannes gut verstehen. Obwohl Gillian schon krank gewesen war, als er sie vor einem Monat gesehen hatte, war sie damals noch ein blondes, rosiges Kind mit dem robusten Aussehen eines Wildfangs gewesen. -253-
In dem gestärkten Krankenhausbett auf den Rücken hingestreckt, sah sie jetzt zerbrechlich und ausgetrocknet aus, ihr rundes Gesicht hatte eine wächserne Blässe angenommen, die Sprenkel der Sommersprossen hoben sich von der bleichen Haut auffällig ab. Die Krone aus goldenen Locken war jetzt plattgedrückt, die blau überschatteten Augenlider geschlossen. Ein Schlauch, der in ihre Nase führte, war mit Heftpflaster auf der eingefallenen Wange befestigt, an einem Handgelenk stellte ein Lederband den abgezehrten Arm ruhig, von dem sich ein Infusionsschlauch zu dem Gestell mit dem Tropf emporschlängelte - ein scheußlicher Beweis dafür, daß Gillian nicht einmal mehr in der Lage war, selbst zu essen. »Wenn doch nur irgend jemand sie erreichen könnte«, sagte Iris Talbot hilflos. »George und ich, wir haben unser bestes versucht. Wir kommen jeden Tag, aber...« Ihre kleine Geste der Ohnmacht machte deutlich, daß beide Eltern darunter litten, daß sie es offensichtlich nicht fertigbrachten, die Verbindung zu ihrem einzigen Kind wieder herzustellen, doch Philippas lebhafte Stimme durchbrach ihr gequältes Schweigen wie ein herber Hauch frischer Luft. »Wenn es Sie tröstet: Ich glaube nicht, daß hier Liebe die Lösung sein kann«, sagte sie forsch. »Sonst wäre das Problem schon längst gelöst. Sie dürfen sich keine Selbstvorwürfe machen.« Die Talbots tauschten Blicke aus, als seien sie leicht bestürzt von Philippas Offenheit. »Dem stimme ich absolut bei«, sagte Adam. »Was immer mit Ihrer Tochter nicht in Ordnung ist, Sie können sich ganz sicher sein: keiner von Ihnen beiden ist dafür verantwortlich zu machen, daß sie bis jetzt nicht reagiert hat. Ich nehme an, Dr. Ogilvy hat mit Ihnen die Komplikationen detailliert besprochen, die mit der Behandlung autistischen Verhaltens verbunden sind?« -254-
»Das hat sie in der Tat - insoweit klinische Definitionen in diesem speziellen Fall angewendet werden können«, meldete sich hinter ihm eine nüchterne Altstimme. »Und das ist um so mehr Grund für alle Betroffenen, einen Beitrag von Spezialisten Ihres Kalibers zu begrüßen.« Adam und Philippa drehten sich um. In der Tür stand eine große, stämmige Frau Ende Vierzig mit braunem Haar, in das sich reichlich Silbersträhnen mischten. Sie betrachtete die beiden mit scharfsichtigen grauen Augen und schenkte ihnen ein Lächeln freundlicher Ironie. »Die Doctores Sinclair, nehme ich an?« sagte sie. »Guten Tag. Ich bin Helen Ogilvy.« Adam und Philippa verbrachten fast die gesamte nächste halbe Stunde damit, die medizinischen Besonderheiten des Falles mit Dr. Ogilvy durchzugehen und eine kurze neurologische Untersuchung durchzuführen. Von Adams Standpunkt aus gesehen diente die Besprechung mehr dem Interesse von Gillians Eltern als Gillian selbst. Er und Philippa verstanden die wahre Natur von Gillians Krankheit nur allzu gut, aber es war wichtig, daß sie das Vertrauen der Eltern Talbot und der behandelnden Ärztin gewannen. Als sie alle Fragen abgehakt hatten, die Adam sich im Augenblick ausdenken konnte, überließ er es Philippa, das Gespräch mit den Talbots weiterzuführen, während er zu einer vertraulichen Unterredung mit Dr. Ogilvy beiseite trat. »Ich weiß Ihre Kooperationsbereitschaft sehr zu schätzen«, sagte er lächelnd. »Ich bin sicher, wir haben beide in der Vergangenheit auch mit Fachkollegen zu tun gehabt, die alles andere als hilfsbereit waren.« Dr. Ogilvy zuckte mit den Achseln und lächelte umgänglich. »Wir sind hier in einem großen Innenstadtkrankenhaus, Dr. Sinclair. Die psychiatrischen Fälle, die wir gewöhnlich tagtäglich zu sehen bekommen, haben mit Drogen, -255-
Alkoholismus und akuten streßbedingten Neurosen zu tun. Die meisten gestörten Kinder, die zu uns kommen, haben allen Grund, gestört zu sein. Sie kommen aus zerrütteten Elternhäusern und unterprivilegierten Milieus, aus Familien mit einer langen Geschichte von Gewalttätigkeit oder Mißhandlung - oder aus allen zusammen. Autistische Kinder sind selten überhaupt nicht mein Spezialgebiet. Und Gillian paßt auch nicht ins restliche Profil.« Sie seufzte. »Von den Krankheitstypen, mit denen ich vertraut bin, habe ich schon so viele Fälle, wie ich gerade noch schaffe. Da ich ehrlicherweise keinen Weg sehe, Gillian zu helfen, bin ich nur zu froh, sie in die Obhut von jemandem zu übergeben, der eine reelle Chance hat, positive Ergebnisse zu erzielen.« Adam lächelte über ihre Offenheit. »Danke für das Votum des Vertrauens. Ich verspreche, daß ich alles tun werde, um es zu rechtfertigen.« »Sie sind viel zu bescheiden, Doktor«, sagte Dr. Ogilvy. »Ihr Ruf eilt Ihnen voraus, sogar hier in London.« Sie blickte zurück ins Zimmer auf die Talbots, die noch in das Gespräch mit Philippa vertieft waren, dann fuhr sie unverblümt fort: »Um offen zu sein, als Mrs. Talbot mir erzählte, sie sei schon früh mit Ihnen in Kontakt getreten, da fragte ich mich, warum sie und ihr Mann sich nicht dafür entschieden hatten, gleich von vorherein Ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Ich bin eine qualifizierte und erfahrene Ärztin, aber ich schäme mich nicht zuzugeben, daß ich in diesem Fall ratlos bin.« Adam zuckte mit den Achseln. »Das ist verständlich. Als ich Gillian zum ersten Mal sah, schien es klar, daß alles getan wurde, was getan werden konnte - und das nahe an ihrem Elternhaus, wo Angehörige und Freunde sie regelmäßig besuchen konnten. Es bestand ja immer die Möglichkeit, daß ein Kontakt mit ihrer Familie sie aus diesem Zustand reißen würde. Aber da das nicht geschah, ist es an der Zeit, unsere Strategie zu überdenken.« -256-
»Bedeutet das, daß Sie daran denken, sie in ein anderes Krankenhaus zu verlegen?« »Nur um mir persönlich die Sache leichter zu machen«, erwiderte Adam. »Meine Praxis befindet sich in Edinburgh; hier kann ich nicht mit ihr arbeiten. Falls Mr. und Mrs. Talbot dafür zugänglich sind, möchte ich ihnen empfehlen, Sie nach Jordanburn zu verlegen.« Er lächelte. »Hier in London kennen Sie es vermutlich als Royal Edinburgh Hospital. Der Name wurde vor ein paar Jahren geändert, aber alte Gewohnheiten sind zählebig bei denen von uns, die dort ausgebildet wurden. Auf jeden Fall werden ich und meine Mutter - die auch beträchtliche Erfahrung mit Fällen wie diesem hat - in der Lage sein, Gillian ein Maß an konzentrierter Betreuung zuteil werden zu lassen, das anderswo nicht erreichbar ist.« Als Adam gegen über den Talbots das Thema anschnitt, legten sie gewisse Zeichen der Unsicherheit an den Tag. Nachdem sie Adam bis zum Ende angehört hatten, baten sie, die Sache einen Augenblick lang allein besprechen zu dürfen. Adam, Philippa und Dr. Ogilvy verließen das Zimmer, damit die Eltern ungestört waren. Als die Talbots nach einer Weile zu ihnen stießen, sah George Talbot bleich, aber entschlossen aus. »Wir haben alles überdacht, was Sie gesagt haben, Dr. Sinclair, und wir sind zu dem Schluß gekommen, daß wir es gern hätten, wenn Sie Gillians Fall übernähmen. Wir werden eine Hypothek auf unser Haus aufnehmen, wenn es nötig sein sollte. Wichtig ist für uns, daß unsere Tochter jede Chance bekommen soll, wieder gesund zu werden und ein normales Leben zu führen.« Adam ging ein Licht auf. »Haben Sie Sorgen wegen der Kosten, Mr. Talbot? Bitte beunruhigen Sie sich deshalb nicht. Ich werde dafür sorgen, daß die Krankenhausgebühren sich in dem Rahmen halten, der durch den National Health Service abgedeckt wird. Und meine Mutter und ich bieten Ihnen unsere beruflichen Leistungen umsonst an, pro bonum. Sagen wir einfach, der Fall Ihrer Tochter stellt eine -257-
interessante Herausforderung dar.« Beide Talbots blickten erstaunt und sichtlich erleichtert drein. »Das ist ungewöhnlich großzügig von Ihnen, Dr. Sinclair«, sagte George Talbot. »Wir - ich weiß kaum, was ich sagen soll...« »Außer Ihnen aus tiefstem Herzen zu danken!« sagte seine Frau weinend und lachend zugleich. »Mir kommt es fast vor, als hätten wir endlich wieder Grund zur Hoffnung.« Adam und Philippa tauschten Blicke aus. Das Vertrauen der Talbots war anrührend - und beunruhigend. Die Sinclairs ihrerseits wußten, daß der Kampf um Gillians Überleben gerade erst begann. Es gab noch soviel, was schiefgehen konnte. Kapitel 18 Am selben Donnerstagmorgen stattete McLeod dem Polizeipräsidium in Edinburgh nur einen kurzen Besuch ab, bevor er sich zu einem weiteren Pensum Pressearbeit in Sachen Mord an Randall Stewart nach Perth aufmachte. Er fuhr los, bevor die Morgenpost eintraf, und wurde so von einem seiner Polizeikollegen verfehlt, der ein persönliches Interesse daran hatte, seine Bewegungen zu verfolgen. Detective Inspector Charles Napier war ein massiger Mann Mitte vierzig mit dichtem dunklen Haar und borstigen Augenbrauen, die ihm den finsteren Blick eines Rottweilers verliehen. Er hatte den Ruf wortkarg zu sein, doch diesmal wirkte er weniger reserviert als sonst, als er zwischen den Schreibtischen des äußeren Großraumbüros dahin spazierte und dann und wann anhielt, um zu einem Untergebenen etwas zu bemerken. In dieser gemütlichen Art gelang es ihm, genau dann in der Nähe von McLeods Bürokabine zu sein, als das Mädchen von der Postabteilung ankam und einen Drahtwagen vor sich herschob, auf dem mit Gummibändern gebündelte Briefstapel aufgeschichtet waren. -258-
»Guten Morgen, Miss Desmond«, sagte er mit etwas barscher Höflichkeit. »Haben Sie etwas für mich dabei?« »Aye, Sir.« Als sie die ganz oben liegenden Sendungen durchschaute und dann ein ordentliches Bündel Briefe hervorzog, konnte Napier sich davon überzeugen, daß der Umlaufumschlag aus Manilapapier, den er früh am Tag durch den Einwurfschlitz der Postabteilung geschoben hatte, tatsächlich seinen Weg in den Stapel für McLeod gefunden hatte. »Hier bitte, Inspector«, sagte das Mädchen und reichte ihm sein Bündel. »Danke, das ist nett.« Während er die Briefe durchsah, die sie ihm gegeben hatte, verweilte Napier lange genug vor McLeods Büro, um zu sehen, wie die Bürobotin hineinging und das um einen Umschlag vermehrte Bündel Post auf dem Schreibtisch ablegte. Befriedigt, daß die Falle aufgestellt war, ging er in sein eigenes Kabäuschen, um die weiteren Entwicklungen abzuwarten. Doch an diesem Tag kehrte McLeod nicht in sein Büro zurück. Napier entfernte sich bewußt nicht weit von seinem Büro und tat so, als würde er liegengebliebenen Papierkram aufarbeiten. Doch der Mittag und der Nachmittag vergingen, ohne daß McLeod auftauchte. Um halb sechs sah sich Napier zu dem Schluß gezwungen, daß sein Opfer nicht mehr erscheinen würde. Auf den Telefonanruf, den er jetzt zu machen hatte, freute er sich nicht. Schließlich schob er seine Berichte beiseite, sperrte sein Büro zu, trug sich aus der Anwesenheitsliste aus und ging die Treppe hinunter. In der Vorhalle des Präsidiums warf er eine Münze in den Apparat einer öffentlichen Telefonzelle und tippte eine Nummer ein. Es meldete sich eine bescheidene, respektvolle Stimme mit einem Akzent, der an die Nordwestregion von Pakistan erinnerte. -259-
»Hier ist Charles Napier«, erklärte der Polizist kurz. »Falls mein Onkel frei ist, würde ich gern ein Wort mit ihm sprechen.« Einen Augenblick später war Raeburn am Apparat. »Nun?« »Alles an Ort und Stelle, genau wie Sie es angeordnet haben«, sagte Napier. »Leider sieht es so aus, als müßte das erwünschte Ereignis bis morgen warten. Er ist heute nicht ins Büro zurückgekommen.« Es folgte ein kurzes, unangenehmes Schweigen. »Nun gut«, sagte Raeburn kühl. »Denken Sie aber an den Preis des Versagens.« Am nächsten Morgen schleppte sich McLeod mit einem Gefühl zur Arbeit, als brauchte er einen Tag Urlaub. Er war mehr als reif für ein freies Wochenende. Die Serie von Sitzungen und Besprechungen in Perth hatte keine neuen Einsichten im Mordfall Randall Stewart vermittelt. Zu wissen, daß sich die Arbeit an all seinen anderen Fällen, die er gezwungenermaßen vernachlässigt hatte, aufstaute, hellte seinen düsteren Blick auch nicht gerade auf. Dieser Gedanke wurde aufs gräßlichste bestätigt, als er die Tür zu seinem Büro öffnete und seinen Schreibtisch mit hübschen Stapeln von Aktenordnern, Computerausdrucken, Briefen, Aktennotizen und Berichten überhäuft vorfand. McLeod blickte von der Schwelle aus auf das Durcheinander. Gleichzeitig schob sich PC Cochrane fesch uniformiert durch die Verbindungstür zum Strafregister, kam durch das Großraumbüro auf ihn zu und begrüßte ihn. »'n Morgen, Inspector«, begann er fröhlich. »Wie war's beim Staatsanwalt?« »Gar nichts war«, knurrte McLeod. Er blickte seinen Untergebenen schräg an und fragte: »Wie steht es mit dem Macintosh-Einbruch? Der Superintendent hat mich unterwegs beim Kragen gepackt. Gibt es da irgend welche Fortschritte?« -260-
»Einen kleinen. Etwas von dem Zeug ist in einem Leihhaus in Carlisle aufgetaucht. Die Polizei von Carlisle wird sich wieder mit uns in Verbindung setzen, sobald sie die Gelegenheit hatten, die Spur zu verfolgen, die der Pfandleiher ihnen nennen konnte.« Dann fügte Cochrane hinzu: »Ich habe auch meine Notizen von den Gesprächen fertiggetippt, die wir in Stirling durchgeführt haben. Sie liegen auf meinem Schreibtisch, falls Sie sie durchschauen wollen.« »Nicht jetzt, danke«, sagte McLeod. »Lassen Sie mich wenigstens erst etwas von diesem anderen Müll aufräumen.« Cochrane warf einen Blick in McLeods Büro, sah die Berge von Papierkram und grinste mitfühlend. »Aye, Sir, ich sehe, was Sie meinen.« »Und das ist nur die Spitze des Eisbergs«, erklärte ihm McLeod, dessen Humor allmählich wieder zurückkehrte. »Also, wenn Sie sich wirklich nützlich machen wollen, dann bringen Sie mir mal eine Tasse Kaffee.« Cochrane gluckste und ging, den Wunsch seines Vorgesetzten zu erfüllen. McLeod stieß die Tür zu, dann rollte er seinen Bürostuhl von einigen Poststücken zurück, die vom Schreibtisch gefallen waren, und setzte sich. Wo sollte er anfangen? Er seufzte, hob die heruntergefallenen Sachen auf und warf sie auf den Tisch, legte das Bündel Computerausdrucke auf einen Stuhl und den Stapel Aktenordner obendrauf. Dann machte er sich daran, die Post zu öffnen. Der erste Schwung ergab die übliche Sammlung von Krimskrams: übergroße Kataloge eines deutschen Schußwaffenherstellers und einer amerikanischen Firma, die auf Pistolenhalfter und andere Lederwaren spezialisiert war; ein Flugblatt mit der Ankündigung eines Weiterbildungskurses, der schon stattgefunden hatte; ein Brief, der darum bat, daß ein Polizeibeamter bei einem Treffen der lokalen Nachbarschaftswacht teilnahm; zwei Beschwerden von -261-
selbsternannten besorgten Bürgern, die an seinen jüngsten Presseerklärungen zu Randall Stewarts Beziehungen zur Freimaurerei Anstoß nahmen. Er warf das Flugblatt und die leeren Umschläge in den Papierkorb, kennzeichnete das Ersuchen der Nachbarschaftswache mit ›Weiterleiten an die Abteilung Bürgerkontakte! ‹ und legte es in seinen Postausgangskorb, der Rest wanderte in den Eingangskorb zur späteren Erledigung. Er machte eine Pause und widmete sich eingehender einer Neufassung der Polizeivorschriften für Verhaftungen in Drogenfällen, wunderte sich, wo Cochrane mit dem Kaffee blieb, und griff dann nach dem nächsten Stück auf dem Stapel. Dabei handelte es sich um einen großen Umlaufumschlag aus Manilapapier, der ein weißes Selbstklebeetikett mit McLeods Namen und Büronummer in Schreibmaschinenschrift und daneben den Stempel ›Persönlich‹ trug. Leicht neugierig geworden, nahm er ihn und drehte ihn in den Händen herum, dann griff er nach einem Brieföffner, da die Klappe fest zugeklebt war. Als er den Umschlag aufgeschlitzt hatte, spreizte er die beiden Seiten mit den Fingern auseinander und guckte hinein, dann drehte er den Umschlag um und schüttete den Inhalt vor sich auf den Tisch. Zu seiner Überraschung fiel eine glänzende goldene OrigamiFigur heraus, irgendein Tier, etwa fünfzehn Zentimeter lang. Er grinste, denn es schien, daß ihn wieder einmal einer seiner Kollegen aus der Abteilung aufzog - denn sein Können in der Kunst des japanischen Papierfaltens war im ganzen Präsidium wohlbekannt. An die Korktafel an der Wand neben seinem Kopf war neben einigen von McLeods besseren Exemplaren eine bunte, wenn auch etwas ramponierte Sammlung von Versuchen anderer Leute gepinnt. McLeod lachte leise in sich hinein, und während er noch überlegte, von wem wohl dieser neueste Zuwachs seiner Ausstellung stammte, nahm er das Origami-Tier in die Hand. -262-
Sofort wußte er, daß er einen Fehler begangen hatte. In dem Augenblick, als sich seine Finger um das Papier schlossen, schoß ein heftiger Energiestoß an seinem Arm empor, raste sengend wie ein Blitzschlag durch sein Nervensystem und lähmte ihn von Kopf bis Fuß. Starr vor Schock taumelte er auf seinen Stuhl zurück, und die Origami-Figur fiel aus seinen kraftlosen Fingern. Auch nach Ende des körperlichen Kontakts hörte die Attacke nicht auf. Die gegenständliche Welt um McLeod herum erschien alptraumhaft verschwommen. Wie in einem Traum fand er sich rückwärts durch geisterhafte Nebelbänke stürzen, in denen Feuer knisterten. Die Empfindung des Fallens endete mit einem weiteren glühenden Stoß. Er kämpfte darum, wieder die bewußte Kontrolle über seine Sinne zu gewinnen, aber das einzige physische Bild, das den ihn umhüllenden parapsychischen Nebel durchdrang, war das der Origami-Figur, die jetzt zwischen seinen Füßen auf dem Boden lag. Und er sah deutlich, daß sie einen Luchs darstellen sollte. Mit einem giftigen Sirren, das wie das verstärkte Zischen einer Kobra klang, schien das Origami-Tier in einer wogenden Wolke aus widerwärtigem gelbem Rauch Feuer zu fangen. Während McLeod vor ihr zurück schreckte und darum kämpfte, die Attacke abzuwehren, wurde der Rauch dichter, breitete sich aus und wurde zu einer sich aufbäumenden katzenartigen Gestalt mit büscheligen Backen und brennend roten Augen. In einer Mischung aus Hunger und Verachtung fauchte der Luchs ihn an und bleckte Fangzähne, von denen Speichel troff wie ein langsames Gift. Bevor McLeod noch die Kraft aufbieten konnte, sich zu bewegen oder zu schreien, sprang die Kreatur auf ihn los und überwältigte ihn in einem Miasma wie dem einer Gaswolke. Schwaden füllten seine Augen und Lungen, es war wie eine Giftgasattacke, nur viel, viel schlimmer. Die Heftigkeit des Schmerzes durchbrach seine Lähmung. Von Übelkeit gequält, tastete er blindlings durch die wirbelnden Nebel nach der -263-
Innentasche seiner Jacke. Einen Herzschlag später entdeckten seine zitternden Finger sie und griffen nach dem einzigen Ding, das ihn vielleicht aus seiner gegenwärtigen Not retten konnte. Warm und fest glitt ihm sein Jägerring in die Hand. Inzwischen war der Schmerz zu einer einschnürenden Dornenkrone geworden, die sich immer enger um seinen Kopf zusammenzog, bis er sich sicher war, sein Schädel würde am Ende noch bersten. Während er den Ring mühsam auf den Finger schob, ging sein Atem in schweren Zügen, und er nahm alles in Anspruch, was der Ring symbolisierte, während er seine schwindenden Kraftreserven bündelte, um die mörderische Gewalt des Luchses zurück zu drängen. Einen schrecklichen Augenblick lang dachte er, er sei schon zu spät dran, um sich noch zu retten. Während die Sekunden verrannen, erkannte er, daß der Druck auf seinen Schädel sich gefestigt hatte. Es war mühsam für ihn, seinen eigenen Gegenbefehl zu erneuern, aber er spürte, wie das enge Band des Schmerzes widerstrebend einen Bruchteil zurückwich. Ja, es gab Anzeichen, daß es sich lockerte. Wenn er nur... Hartnäckig drang eine Stimme durch den Nebel, der ihn umgab. »Inspector? Inspector McLeod, wie geht es Ihnen?« Die Worte schienen zu hallen und zu dröhnen. Die Flut des parapsychischen Widerhalls drohte für einen Augenblick, McLeod wieder ins Chaos zu stürzen. Zudringliche Hände packten ihn an der Schultern und verlangten eine Reaktion. McLeod richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die Gegenwart jenseits der Hände, zwang seine Augen auf und merkte, daß er verschwommen in das Gesicht von Donald Chochrane blickte. Er blinzelte und erkannte, daß er seine Brille nicht mehr trug. »Donald...«, gelang es ihm zu keuchen. »Ich glaube, ich sollte lieber einen Krankenwagen rufen«, -264-
sagte Cochrane und langte über McLeod hinweg nach einem der Telefone. »Nein!« McLeods Hand packte den Constable fest am Ärmel. Ein Teil von ihm war etwas erstaunt, als er feststellte, daß er sich immer noch auf seinem Stuhl befand, wenn auch ziemlich bedenklich zusammen gesunken. »Lassen Sie nur«, brachte er schnarrend hervor. Es bereitete ihm Mühe, die Stimmbänder zu benutzen. »Keinen Wirbel!« Als er sah, daß Cochrane zögerte, fügte er eindringlicher hinzu: »Das ist - nicht medizinisch, Donald! Keine Einmischung von außen!« Er versuchte die Anweisung durch ein Kopfschütteln zu unterstreichen, doch die Bemühung, den Kopf zu bewegen, ließ ihn fast ohnmächtig werden. Er würgte einen Mundvoll Galle hinunter und wiederholte: »Bin gleich wieder in Ordnung. Machen Sie die Jalousie zu. Bitte, Donald!« Zu seiner unendlichen Erleichterung tat Cochrane, wie ihm geheißen. Als der junge Constable sich ihm zuwandte, hatte McLeod seine Orientierung wiedergewonnen. Wie durch ein Wunder war die Tür zu seinem Büro fast zu. Der Origami-Luchs lag unversehrt einen halben Meter von seinem Stuhl entfernt auf dem Boden. Das Feuer war offensichtlich nur eine visionäre Manifestation der auslösenden Reaktion gewesen. »Machen Sie die Tür zu«, flüsterte er und zeigte fahrig in die Richtung. Während Cochrane gehorchte, wappnete McLeod sich gegen eine neue Welle von Übelkeit. »Seh'n Sie das?« knirschte er und zeigte mit zitterndem Zeigefinger auf den Luchs. »Seidentaschentuch... hier in meiner Jackentasche!« Er machte eine unbestimmte Geste, schien aber seine Bewegung nicht ausreichend koordinieren zu können, um das Tuch herauszuziehen. »Wickeln Sie es um das Ding da und heben Sie es auf - aber fassen Sie es nicht an... Um des Sohnes der Witwe willen...« -265-
Mit großen Augen trat Cochrane an McLeod heran und zog das Taschentuch heraus. Er wußte, abgesehen von der Freimaurerei, nichts von McLeods esoterischen Verbindungen, aber seine Ausbildung mit McLeod in derselben freimaurerischen Loge hatte ein Band des Vertrauens zwischen ihnen geknüpft, das nicht leicht eine Bitte abweisen konnte, die an diese gemeinsame Bruderschaft appellierte. Er beugte sich vorsichtig über den Luchs und schirmte seine Hand durch mehrere Lagen Seide ab, bevor er ihn zögernd vom Boden aufhob. »Was zum Teufel ist das?« flüsterte er, warf einen mißtrauischen Blick darauf und hielt es sich dann auf Armeslänge vom Leib. »Es sieht einfach aus wie - eine von Ihren Origami-Figuren.« »Wickeln Sie es ein und legen Sie es in die Schublade«, krächzte McLeod. »Ich kann es jetzt nicht erklären.« Er spürte, wie der Schmerz hinter seinen Augäpfeln pulsierte, und stützte seine Stirn auf die Fäuste, während er versuchte zu denken. Die Wirkungen der Attacke arbeiteten noch in ihm, kreisten durch seinen Geist und seinen Körper wie ein Virus, das nur darauf wartete, mit erneuerter Kraft wieder auszubrechen. Ich kann das nicht allein abwehren, dachte er benommen. Gott sei Dank war es Donald, der mich gefunden hat, aber er wird damit nicht fertig. Ich muß von woandersher Hilfe holen. Adam sollte kurz nach Mittag aus London zurückkommen, aber das war jetzt keine Hilfe. McLeod schluckte schwer und dachte wieder nach, obwohl die Anstrengung rotglühende Nadeln des Schmerzes durch sein Gehirn schießen ließ. Vor seinen Augen erschien ein Styropor-Becher, dann seine Brille. »Ihre Brille ist runtergefallen«, sagte Cochrane besorgt. »Würde vielleicht etwas Kaffee helfen? Soll ich Ihnen nicht einen Arzt holen?« McLeod winkte den Becher weg und murmelte: »Nein, nein.« -266-
Er holte tief Luft und sagte etwas deutlicher: »Mein persönliches Adreßverzeichnis. Rufen Sie Christopher Houston an.« Mit einem wachsamen Blick auf seinen Vorgesetzten, dessen Gesicht aschfahl war, suchte Cochrane die Nummer, nahm eines der Telefone und wählte. Am anderen Ende klingelte es, immer wieder, aber niemand hob ab. »Scheint niemand daheim zu sein«, sagte Cochrane. »Sie sehen verdammt schlimm aus. Ich glaube wirklich, Sie sollten mich einen Arzt rufen lassen.« Es schien die Gefahr zu bestehen, daß der Raum wieder zurückwich. McLeod schluckte vorsichtig und versuchte, sich in die Gewalt zu bekommen. »Versuchen Sie Peregrine Lovat zu finden«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Rufen Sie Humphrey in Strathmourne an - die Nummer steht unter Sinclair. Humphrey wird wissen, wo er sich aufhält.« John Edward Muir, den früheren Bürgermeister von Edinburgh, hätte man mit seinem Gesicht in einem anderen Zeitalter wohl für den Anführer eines Clans aus der Grenzregion zwischen Schottland und England halten können. Peregrine trat von der Staffelei zurück, um sein Werk mit kritischem Auge zu prüfen. Er war befriedigt, daß er dem kühnen, unternehmungslustigen Geist, den er hinter dem scheinbar nüchternen Äußeren des früheren Bürgermeisters spürte, gerecht wurde. Dann blickte er wieder nachdenklich auf den Mann, der wenige Meter entfernt von ihm geduldig in seinen vollständigen zeremoniellen Gewändern Modell saß. »Verzeihen Sie, Sir, aber dürfte ich Sie bitten, den Kopf etwas zu heben?« Die Sitzung fand in Muirs eigenem Salon im exklusiven Edinburgher Bezirk Ravelston Dykes statt. Der Bürgermeister tat wie gebeten und sagte mit einem gestrengen Zwinkern: »Wie -267-
lange dauert es noch, bis ich vollständig auf der Leinwand verewigt bin?« »Heute sollten Sie eigentlich zum letzten Mal für mich sitzen«, erwiderte Peregrine und konzentrierte sich auf seine Pinselstriche, während er an der Kinnbacke des Porträts noch einen feinen Hauch Krappbraun hinzufügte. Er beendete die Änderung, befand sie mit einem Lächeln für gut und entspannte sich. »Das war's, Sir. Sie können für einen Augenblick aufstehen und sich strecken, wenn Sie wollen.« Die Tür des Salons öffnete sich, und die Frau des Bürgermeisters kam herein. Sie wirkte etwas bestürzt. »Es tut mir leid, daß ich die Sitzung unterbreche, Mr. Lovat«, sagte sie, »aber ich habe einen Police Constable Cochrane am Apparat, der Sie sprechen möchte.« Überrascht legte Peregrine seine Pinsel und die Palette beiseite und wischte sich die Finger an einem sauberen Malertuch ab. Er konnte sich nicht erinnern, jemals einem Police Constable namens Cochrane begegnet zu sein. Er folgte Mrs. Muir in die Halle und nahm den Telefonhörer auf, den sie ihm zeigte. Vielleicht war Cochrane einer von McLeods Leuten. Aber warum sollte McLeod Peregrine hier anrufen wollen? »Hier Peregrine Lovat«, sagte er. »Ja, Mr. Lovat. Hier PC Donald Cochrane«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Ich rufe wegen Inspector Noel McLeod an. Er hat mich angewiesen Sie zu bitten, sofort in sein Büro im Polizeipräsidium zu kommen. Es geht um eine Sache von äußerster Dringlichkeit.« Es sah McLeod nicht ähnlich, zu übertreiben. Und warum hatte der Inspector nicht selbst angerufen? In Peregrines Hinterkopf leuchtete eine Warnlampe auf. »Warum geht es denn?« fragte er. »Können Sie mir sagen, -268-
was los ist?« »Es ist - ein bißchen schwierig, das übers Telefon zu erklären, Sir«, sagte Cochrane. »Es wäre besser, wenn Sie gleich herüberkommen und sich die Sache selbst anschauen könnten.« Es wurde immer seltsamer. Warum hatte nicht McLeod persönlich angerufen? Die geistigen Alarmglocken begannen ernsthaft zu läuten. Konnte vielleicht Adam etwas zugestoßen sein? »Also gut«, sagte Peregrine. »Sagen Sie dem Inspector, daß ich sofort losfahre und so schnell bei ihm bin, wie ich kann.« Nachdem er sich bei den Muirs hastig entschuldigt hatte, packte er so schnell wie möglich sein Malzeug zusammen und trug es zu seinem Auto hinunter. Ein schneller Blick auf seinen Stadtplan von Edinburgh bestätigte ihm vor dem Losfahren, daß sich das Polizeipräsidium - wie er schon angenommen hatte - in der Fettes Avenue befand, weniger als drei Kilometer entfernt. Als er anfuhr, ertappte er sich dabei, daß er sich alle möglichen Arten von Katastrophen vorstellte, während er den kleinen Morris Minor mit einem Ungestüm durch den Verkehr peitschte, das ihm mehr als einen ungehaltenen Blick von gesetzteren Fahrern eintrug. Nach weniger als zehn Minuten war er da. Um ein Haar hätte er den Lieferwagen eines Glasers gestreift, dann bog er auf den Parkplatz der Polizei ein und fand ihn restlos besetzt. Mit einem gemurmelten Fluch und einem Gebet zu jener unbekannten Gottheit, die Politessen fernhielt, ließ er den Morris neben dem Randstein auf einer doppelten gelben Linie stehen und ging schnurstracks auf den Eingang zu. Es war das erste Mal, daß er McLeods Arbeitsplatz betrat. Am Empfang blickte ein Beamter aufmerksam hoch, als er durch die Glastür kam. Und als Peregrine sich identifiziert und sein Anliegen vorgetragen hatte, nahm der Polizist das Telefon und rief nach oben. Kaum eine Minute später kam aus einer Tür -269-
hinter dem Empfangsschalter ein stämmiger, rotblonder junger Mann in Uniform, der etwa das gleiche Alter wie Peregrine zu haben schien, und winkte ihm. »Mr. Lovat?« fragte er. »Kommen Sie bitte mit!« »Was ist passiert?« murmelte Peregrine, während sie eine Hintertreppe hinaufgingen. Cochrane schüttelte den Kopf. »Nicht hier, bitte, Mr. Lovat. Er wird es Ihnen selbst erklären müssen - wenn er kann. Versuchen Sie, nicht zu besorgt auszusehen, während wir durch das Großraumbüro gehen.« Er sagte nichts weiter, als sie den Kopf der Treppe erreicht hatten und in einen mit Fenstern gesäumten Gang einbogen, der auf der Rückseite des Gebäudes entlangführte. Cochrane ging Peregrine durch ein ausgedehntes Großraumbüro voran zu einer Reihe mit Nummern versehener Türen am anderen Ende. An der Tür mit der Nummer 5B hing McLeods Namensschild, von drinnen klang gedämpft das hartnäckige Läuten eines Telefons. Cochrane klopfte kurz an, bevor er die Tür öffnete und Peregrine hineingeleitete, dann stürzte er sofort auf das Telefon zu - denn McLeod schien es offensichtlich nicht zu hören und ihre Ankunft nicht wahrzunehmen. Der Inspector war über dem Schreibtisch zusammen gesunken und hatte den Kopf unbequem auf seinen rechten Arm gebettet. Als Peregrine erschrocken die Tür hinter sich schloß, beugte sich Cochrane hinüber und griff nach dem läutenden Telefon. »Inspector McLeods Apparat«, sagte er ein wenig außer Atem. »Nein, er ist leider in einer Besprechung. Ich bin PC Cochrane, sein Assistent. Was kann ich für Sie tun?« Während Cochrane sich mit dem Anrufer befaßte, trat Peregrine ein wenig näher heran und blickte vorsichtig auf McLeod. Das Gesicht des Inspectors hatte die Farbe von Glaserkitt angenommen und war in Qualen gerunzelt, sein Körper wirkte angespannt. Als Cochrane aufgelegt hatte, wandte -270-
sich Peregrine an ihn. »Was ist passiert?« fragte er leise. »Was ist mit ihm los?« »Ich weiß es ehrlich nicht«, erwiderte der junge Constable ebenso leise. »Und er wollte nicht, daß ich einen Arzt riefe. Was immer passiert ist, scheint damit etwas zu tun zu haben.« Er zog die linke Schreibtischschublade auf. »Wir sollen es nicht anfasssen, außer mit der Seide. Das hat er sehr nachdrücklich gesagt.« Verblüfft hob Peregrine vorsichtig einen Zipfel des Taschentuchs und zog ihn zur Seite. Da lag ein Origami-Tier aus Goldpapier. Ein genauerer Blick zeigte, daß es sich um einen Luchs handelte. Sein Magen krampfte sich, ein Gefühl der Abscheu stieg in ihm auf. Peregrine gab acht, daß er das Goldpapier nicht berührte, breitete hastig wieder das Taschentuch darüber und stieß die Schublade zu. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf McLeod. »Inspector«, rief er leise und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Noel, ich bin's, Peregrine. Sie haben gebeten, daß ich komme, und hier bin ich. Bitte, können Sie mir sagen, was ich für Sie tun soll?« McLeod reagierte nicht. Mit wachsender Sorge schaute Peregrine zu Cochrane, der unruhig vor der Tür stand. »Wie lange ist er schon in diesem Zustand?« »Ich habe ihn vor etwa einer halben Stunde gefunden«, murmelte Cochrane. »Es kann nicht mehr als fünf oder zehn Minuten vorher passiert sein, denn er hatte mich nach Kaffee geschickt. Zuerst konnte er noch reden, aber jetzt sind es schon zehn oder fünfzehn Minuten her, seit ich das letzte Mal etwas von ihm gehört habe - kurz bevor ich Sie am Telefon erreichte.« Auf Peregrines Gesichtsausdruck hin fügte er hinzu: »Er sagte zuerst, ich solle einen Father Christopher Houston anrufen. Als dort niemand abnahm, hieß er mich, Sir Adam Sinclairs Butler -271-
Humphrey anzurufen, um herauszufinden, wo Sie seien. Ich bat ihn eindringlich, er solle mich einen Doktor anrufen lassen, aber davon wollte er nichts hören. Er nahm mir das Versprechen ab, niemanden um Hilfe zu rufen, bis Sie hier wären.« Warum ich? fragte sich Peregrine insgeheim und wandte seine Aufmerksamkeit wieder McLeod zu. Er konnte sich nur eine einzige Antwort vorstellen. McLeod hatte offensichtlich Grund zu der Annahme, Peregrine könne vielleicht helfen, wo die Schulmedizin sicher versagen würde. Ein beängstigender Gedanke. Peregrine blickte wieder auf McLeod und kämpfte eine starke Welle von Angst und Selbstzweifel nieder. Herrgott, ich hoffe, Sie haben recht, McLeod, dachte er grimmig. Ich muß nachdenken! Was würde Adam tun, wenn er hier wäre? Er bemühte sich, seine Gedanken zu beruhigen und durchsuchte seine jüngsten Erinnerungen nach Bildern von Adam an der Arbeit. Dabei tauchte unerklärlicherweise eine anscheinend damit nicht in Beziehung stehende Vorstellung von Michael Brodies Ring auf. Seit er ihn von Lady Julian bekommen hatte, hatte Peregrine es Adam gleichgetan und den Ring immer bei sich getragen, geschützt in einem kleinen Täschchen aus chinesischer Seide. Er befand sich jetzt in seiner Hosentasche, und der Drang ihn anzustecken wurde plötzlich sehr stark. Der Gedanke erschien Peregrine vermessen, besonders weil er ja noch kein Mitglied der Jagdloge war und noch nicht Adams offizielle Erlaubnis zum Tragen des Rings als Zeichen der Mitgliedschaft bekommen hatte. Gleichzeitig war er sich jedoch einer zunehmenden Überzeugung bewußt, daß er den Ring als Fokus brauchen würde, wenn er überhaupt eine Hoffnung haben sollte, McLeod in seiner derzeitigen Notlage zu helfen. Ein Blick auf McLeods rechte Hand bestätigte ihm, daß der Inspector seinen Ring trug. Vielleicht sollte Peregrine seinen eigenen Ring benutzen, um irgendwie eine Verbindung zu -272-
McLeod herzustellen, so daß er sich von der Erfahrung des anderen anleiten lassen konnte, was zu tun war. Peregrine biß sich auf die Lippe, ließ seine Hand in die Tasche gleiten und schloß die Faust um Täschchen und Ring, dann holte er beide heraus und drückte die Faust an die Lippen, während er im Geist nach Spuren von Sir Michael Brodie suchte, die an dem Ring zurückgeblieben sein mochten. Verzeihen Sie mir, Sir Michael, falls Sie nicht damit einverstanden sind, sagte er in Gedanken zu Lady Julians Gatten, aber der Inspector braucht Hilfe, und ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Den Rücken Cochrane zugekehrt, öffnete er schnell das Täschchen, holte den Ring heraus, steckte es wieder in die Tasche seines Blazers und schob den Ring auf den Zeigefinger der rechten Hand. Er hatte fast einen strafenden Energiestoß erwartet, doch statt dessen schien ein beruhigendes Gefühl von sanfter Wärme entlang seiner Hand auszustrahlen. Ermutigt wandte er sich Cochrane zu. »Ich werde sehen, was ich tun kann, um seinen Zustand zu verbessern«, sagte er zu seinem Gegen über. »Können Sie sicherstellen, daß wir nicht gestört werden?« Cochrane nickte und zog die Kabel beider Telefone aus den Steckdosen. »Einstweilen klemm ich die mal ab, dann werden Anrufer einfach denken, er sei außer Haus«, erklärte er. »Während ich auf Sie wartete, mußte ich einige Anrufe beantworten, aber ich mag nicht lügen. Das ist sicherer, wenn wir keinen Verdacht erregen wollen.« Gegen diese Logik konnte Peregrine nichts einwenden. Er nahm von dem anderen Bürostuhl die Aktenordner und die Computerausdrucke herunter, dann schob er ihn auf die linke Seite des Inspectors und setzte sich hin, während Cochrane seinen Wachposten an der Tür bezog. In Gedanken wiederholte -273-
er alles, was Adam ihm seit ihrer ersten Begegnung erzählt hatte, dann konzentrierte er sich zunächst darauf, in einen Zustand der Halbtrance zu gelangen und regulierte seine Atmung, bis es ihm gelang, alle seine Sinne in ein harmonisches Gleichgewicht zu bringen. Allmählich erfüllte ihn ein Gefühl tiefer Ruhe. Ihm kam der Gedanke, McLeod sollte auch ins Gleichgewicht gebracht werden - oder zumindest soweit es in seinem gegenwärtigen Zustand möglich war. Und nach einer kleinen Weile streckte er, in seiner eigenen Ruhe geerdet, die Ringhand aus und berührte mit den Fingerspitzen leicht McLeods Stirn. Damit ahmte er die hypnotische Geste nach, die er früher hatte Adam an ihnen beiden verwenden sehen. »Entspannen Sie sich, Noel«, murmelte er. »Schlafen Sie tief ein.« Zu seiner Überraschung und Erleichterung tat McLeod einen tiefen, schaudernden Atemzug, wie ein Taucher, der sich anschickt, in einen Brunnen zu springen, dann stieß er die Luft mit einem schweren Seufzer wieder aus. Instinktiv glich Peregrine seinen Atemrhythmus dem seines Probanden an und bot alles an mentaler Stimme auf, wozu er fähig war. »Noel, ich bin's, Peregrine«, rief er leise und verlagerte seine Hand, bis er McLeods Handgelenk umfaßte, wo er unter seinen Fingerspitzen den Puls spürte. »Wenn Sie mich hören können, dann versuchen Sie mir zu helfen, Ihnen zu helfen. Zeigen Sie mir, was Sie plagt.« Die Antwort kam nicht in Worten, sondern in einer Verschiebung seiner Sichtweise. Schlagartig erlebte Peregrine das inzwischen vertraute Verschwimmen seines Blicks. Als sich sein inneres Sehen meldete, sah er wie in einer Überlappung eine dornige Masse grauer Ranken, die wie ein Dornenhelm um McLeods Kopf und Hals gewickelt waren. Erschrocken verzog Peregrine das Gesicht. Die Ranken waren -274-
nicht leblos. Er sah, wie ein pochendes Pulsieren durch die verschlungenen Zweige lief, und zwar in einem unregelmäßigen Kontrapunkt zu McLeods eigenem Herzschlag. Sie waren so eng zusammengezurrt, daß schon der Gedanke, sie zu entwirren, absurd erschien. Während er noch zögerte und überlegte, was er tun solle, schien direkt hinter seinen Augen ein neues Licht aufzuglühen. In diesem kurzen Augenblick der Erleuchtung verlagerte er den Fokus auf den Ring an seiner Hand und spürte einen plötzlichen Ansturm von Energie in seinen Fingerspitzen. Diese Energie schien aus einem Teil seines Wesens zu kommen, von dem er nicht einmal gewußt hatte, daß es ihn gab. In einer Reaktion darauf schien der Ring selbst lebendig zu werden, der Stein glühte in seiner Innenschau mit einem reinen blauen Strahlen - ähnlich dem Stein im Knauf von Adams sgian dubh, der in jener Nacht bei Urquhart Castle geglüht hatte, als er mit ihm die Elbenheerschar abgewehrt hatte. Als das Licht immer heller wurde, nahm Peregrine seine Hand von McLeods Handgelenk weg und faßte instinktiv nach dem Kopf des Gequälten. Er sah die Energie, die jetzt seine Ringhand wie eine Aura umgab, fast eine Handspanne in jede Richtung, und er griff kräftig zu und zog an der nächsten Dornenranke, die sich um McLeod wand. Auf seine Berührung hin zischte sie und löste sich ab, dabei stieg von ihr ein ungesunder Brodem grauen Rauchs auf. Davon ermutigt, zog Peregrine eine ganze Handvoll der Schlingranken weg. Das biegsame graue Gestrüpp blieb an seinen Fingern und am Handgelenk hängen und brannte in seine Haut wie eine schwache Säure, aber es schien ihm keinen wirklichen Schaden zuzufügen. Er biß die Zähne gegen das kribbelnde Unbehagen zusammen, schüttelte die Ranken über dem Papierkorb ab und sah, wie sie unter dem Auflodern schmutziger Flammen verschrumpelten. Mit einem Lächeln grimmiger Befriedigung ging er auf die nächste Handvoll los. Als er endlich alle Ranken beseitigt hatte, begann McLeod -275-
leichter zu atmen, doch die feindselige Energie, die die Ranken geschaffen hatte, schwebte immer noch um ihn. Instinktiv erkannte Peregrine, daß ihre Quelle die Schreibtischschublade und deren Inhalt war; bis der Luchs-Zauber neutralisiert werden konnte, würde McLeod bedroht bleiben. Er öffnete die Schublade und zog das Taschentuch zurück, das den Luchs bedeckte. Versuchsweise hielt er die Ringhand darüber, doch eine Hitze wie aus einem okkulten Hochofen toste empor. Hastig zog er mit einem Ruck seine Hand zurück. »Lassen Sie das!« knirschte eine heisere Stimme fast in sein Ohr, während eine Hand die Schublade zustieß. »Damit muß sich Adam befassen.« Peregrine schreckte hoch und sah, daß McLeod den Kopf gehoben hatte und mit Augen zu ihm herüberschaute, die blutunterlaufen, aber vollkommen wach waren. Cochrane war auch vom Klang der Stimme des Inspectors aufgeschreckt worden und einige Schritte von der Tür zurückgetreten. »Sir«, rief er mit gedämpfter Stimme. »Gott sei Dank, daß Sie wieder bei Bewußtsein sind! Was zum Teufel ist denn mit Ihnen los?« McLeod zuckte sichtlich zusammen, wie ein Mann mit einem schweren Kater. »Fragen Sie mich das noch einmal, wenn mein Kopf nicht mehr pocht wie eine Baßtrommel«, brummte er. Er schwankte leicht auf seinem Stuhl und preßte die Handballen an seine Schläfen. »Kann ich sonst irgend etwas für Sie tun?« fragte Cochrane besorgt. McLeods Blick kehrte zu der Schublade zurück, die er gerade geschlossen hatte. »Aye«, krächzte er. »Sie können dieses Ding da nehmen und in den Bürosafe räumen, bis Adam Sinclair einen Blick darauf -276-
werfen wird. Dann schauen Sie mal, ob Sie mir vielleicht ein paar Aspirin und ein Glas Wasser bringen können. Und zu niemandem ein Wort über diese Geschichte!« Peregrine fing Cochranes Blick auf. »Keine Sorge! Ich bleibe bei ihm.« Cochrane nickte, wickelte vorsichtig den Luchs-Zauber wieder ein, steckte ihn in einen großen Umschlag, den er verschloß, kritzelte McLeods Name darauf, verließ das Büro und schloß die Tür. Als Peregrine mit McLeod allein war, fragte er mit schwerer Stimme: »Liege ich falsch, oder hatte es jemand darauf abgesehen, Sie umzubringen?« McLeod hatte wieder die Augen geschlossen. Ohne sie zu öffnen, sagte er: »Sie liegen nicht falsch. Wer immer mir den kleinen Luchs geschickt hat, er hat es ernst gemeint. Betrachten Sie es als so etwas wie eine okkulte Briefbombe.« Peregrine verzog das Gesicht. Ein Teil von ihm war ganz erstaunt, daß er diese Erklärung ohne Gegenfrage akzeptierte, ein anderer Teil überlegte schon, was er als nächstes tun sollte. »Adam sollte heute mit der Mittagsmaschine von Heathrow kommen. Das ist...«, er blickte auf seine Uhr, »in etwa dreißig Minuten. Soll ich ihn abholen und hierherbingen? « »Nein. Wer immer mir diese Falle gestellt hat, er hat Sie hereinkommen sehen, und so könnte man Ihnen auch nach draußen folgen«, sagte McLeod. »Es ist weniger auffällig, wenn Donald geht. Geben Sie ihm einfach die Angaben über Adams Flug und überlassen Sie ihm den Rest.« Kapitel 19 In London war für Adam die Reservierung eines Bettes in Jordanburn für Gillian Talbot die leichtere Aufgabe gewesen. Den Transport von London nach Edinburgh zu arrangieren, erwies sich als etwas komplizierter angesichts der Richtlinien -277-
des National Health Service, die vorschrieben, daß Verlegungen, bei denen kein Notfall vorlag, eine Woche vorher angemeldet werden müßten. Nachdem er das erforderliche Formular zur Anforderung eines Krankentransports ausgefüllt hatte, rief Adam direkt beim Ambulanzdienst an und erkundigte sich nach der Möglichkeit eines früheren Datums zur Verlegung. Mit Geduld und Überredungskunst gelang es ihm schließlich, das notwendige Fahrzeug samt Personal für den folgenden Montag zu reservieren. »Eigentlich ist ein Aufschub um vier Tage wahrscheinlich nicht schlimm«, bemerkte Philippa, als sie und Adam am Freitagvormittag mit dem Taxi nach Heathrow fuhren. »Das letzte, was wir zu diesem Zeitpunkt wollen, ist, daß jemand Gillian mit uns in Verbindung bringt, bevor wir ein paar grundlegende Schutzmaßnahmen getroffen haben. Falls irgend jemand dich in Edinburgh beobachten sollte, wird es für ihn nicht viel zu sehen geben.« Ihr Flug startete in London planmäßig und landete in Edinburgh-Turnhouse kurz vor ein Uhr. Bevor sie am Morgen den Caledonian Club verlassen hatten, hatte Adam Humphrey angerufen und angewiesen, sie am Flughafen abzuholen, und zwar im Bentley, seiner Mutter zu Ehren. Als sie aus der Passagierbrücke kamen, war Adam deshalb nicht überrascht, als er in der Menge der Leute, die im Ankunfsbereich warteten, Humphreys vertraute Gestalt entdeckte. Erst nachträglich erkannte er, daß der störrische rotblonde Constable, der neben Humphrey stand, ebenfalls zum Empfangskomitee gehörte. »Interessant«, bemerkte Philippa, die auch den Zusammenhang herstellte. »Entweder habe ich unwissentlich irgendeine obskure Einreisevorschrift verletzt, oder...« »Oder es ist etwas passiert«, sagte Adam. »Das ist Noels Assistent. Gehen wir!« Adam voran, schoben sich Mutter und Sohn schnell zwischen -278-
den anderen Passagieren hindurch, die in die Ankunftshalle strömten. Inzwischen hatten Humphrey und der junge Polizist ihrerseits die beiden Ankömmlinge entdeckt und strebten ihnen mit allen Anzeichen von Hast entgegen. »Mr. Cochrane«, sagte Adam, während Humphrey besorgt nickend Philippa begrüßte, »sollte Ihre Anwesenheit für mich Anlaß zu Besorgnis sein?« Nach einem etwas unsicheren Blick auf Philippa richtete Cochrane seine volle Aufmerksamkeit auf Adam; um ein Haar hätte er vor ihm salutiert. »Ich möchte Sie nicht beunruhigen, Sir, aber Inspector McLeod ist eine - eine Art Unfall passiert. Er und ein gewisser Mr. Peregrine Lovat sagten, ich solle hierherkommen und Sie abholen.« Mit gedämpfter Stimme berichtete er, wie McLeod einen besorgniserregenden Kollaps erlitten habe, nachdem er mit der Post eine Origami-Figur erhalten hatte. »Da er wußte, daß Sie zu diesem Zeitpunkt nicht erreichbar waren, Sir, ließ er mich Mr. Lovat herbeirufen«, fuhr Cochrane fort. »Mr. Lovat konnte erreichen, daß sich der Inspector ein wenig besser fühlte, aber es geht ihm noch immer ziemlich schlecht. Er und auch Mr. Lovat baten mich, Ihnen zu sagen, daß sie dringend Ihre Hilfe brauchten. Mein Auto steht vor dem Flughafengebäude. Ich könnte Sie geradewegs von hier ins Polizeipräsidium bringen, wenn Sie meinen, Sie könnten es einrichten.« Der Schock zu erfahren, daß McLeod offensichtlich Opfer einer okkulten Attacke geworden war, wurde für Adam etwas durch die überraschende Mitteilung gemildert, daß Peregrine direkt an McLeods Verteidigung beteiligt gewesen war. Doch die von Menschen wimmelnde Passagierhalle eines Flughafens war nicht der Ort, um weitere Informationen darüber zu erbitten. Er tauschte einen Blick mit seiner Mutter aus. »Wegen mir brauchst du nicht zu zögern«, sagte Philippa. -279-
»Humphrey und ich sind alte Hasen in Sachen Gepäck auspacken. Sollen wir einfach zu Hause auf dich warten, oder treffen wir uns irgendwo anders?« »Ich weiß nicht, wie lange das wahrscheinlich dauern wird«, erwiderte Adam offen, »also solltet ihr lieber heim nach Strathmourne fahren und dort auf mich warten. Ich werde euch später anrufen und wissen lassen, wie die Dinge stehen. Humphrey, haben Sie zufällig meine Arzttasche mitgebracht?« »Jawohl, Sir. Sie ist im Kofferraum des Bentley.« »Gut«, sagte Adam. »Steht der Bentley vor dem Flughafengebäude?« »In der Parkbucht für Limousinen, Sir. Soll ich die Tasche holen?« »Wenn Sie so nett wären, bitte.« »Mein Auto steht gleich dahinter, Sir«, sagte Cochrane. »Hier entlang.« Sobald sie den Flughafen verlassen hatten, schaltete Cochrane Blaulicht und Martinshorn ein und trat mit dem Fuß aufs Gaspedal. Das Geheul der Sirene machte es schwierig, ein Gespräch zu führen, aber mit vorsichtigen Fragen konnte sich Adam eine ziemlich gute Vorstellung von McLeods Zustand bilden. Während Cochrane weitersprach und erzählte, was nach Peregrines Erscheinen am Ort des Ereignisses geschehen war, öffnete Adam seine Arzttasche, die vor ihm auf dem Boden stand, und zog eine Spritze zur subkutanen Injektion auf. Er achtete darauf, daß er dies unterhalb der Fensterhöhe tat, um nicht irgend welche Passanten zu beunruhigen. »Das wird die Übelkeit lindern, die Sie beschrieben haben, und ihm helfen, sich zu entspannen«, sagte er auf Cochranes fragenden Blick hin, als er wieder die Plastikhülle über die Nadel schob und die Spritze zusammen mit einem alkoholdurchtränkten Tupfer in die Jackentasche steckte. »Manchmal benutzt man es, um Migräne zu behandeln.« Als -280-
seine Hand wieder aus der Tasche auftauchte, hatte er den Ring mit dem Saphir angesteckt. Einige Blocks vor dem Polizeipräsidium schaltete Cochrane Blaulicht und Martinshorn wieder aus und bog ohne Trara in den Polizeiparkplatz ein. Als sie an einem der Plätze anhielten, der für die Polizei reserviert war, erblickte Adam einen ihm wohlbekannten Morris Minor mit hölzernen Seitenleisten, der vor dem Gebäude auf einer doppelten gelben Linie am Randstein stand. Unter einem der Scheibenwischer flatterte ein weißes Stück Papier im Wind. Als Adam das Gesicht verzog, fing Cochrane seinen Blick auf und grinste. »Oh, das ist kein echter Strafzettel, Sir«, sagte er mit selbstzufriedenem Stolz. »Oder genauer gesagt, er ist echt, aber nicht ausgefüllt. Bevor ich zum Flughafen fuhr, habe ich kurz mit der Politesse gesprochen. Bevor Mr. Lovat wegfährt, nehme ich den Zettel wieder an mich und gebe ihn zurück.« »Ganz schön scharfsinnig, Mr. Cochrane«, rief Adam und schob seine Arzttasche halb unter den Sitz. »Mr. Lovat schuldet Ihnen einen Gefallen.« »Tja, nur, wenn es schwierig gewesen wäre«, erwiderte Cochrane mit einem verschmitzten Grinsen. »Glücklicherweise ist die fragliche Politesse meine Verlobte.« Sie betraten das Gebäude durch eine Nebentür und fuhren mit einem der Versorgungslifts zum Stockwerk von McLeods Büro hoch. »Der Inspector meinte, es wäre eine gute Idee, nicht durch die Vorhalle herein zu kommen«, erklärte Cochrane, als sie aus dem Aufzug in einen leeren Korridor traten. »Hier entlang, Sir.« Sie erreichten McLeods Büro, ohne daß sie jemand anderem begegneten. Trotzdem hatte Adam das unbehagliche Gefühl, er würde beobachtet. Da er wußte, daß er nicht viel dagegen tun konnte, kehrte er dem Großraumbüro den Rücken zu, während Cochrane an McLeods Tür klopfte. Einen Augenblick später öffnete Peregrine, der hinter seiner Brille bleich, aber -281-
kämpferisch dreinschaute. Als er Adam erblickte, erhellte sich sein Gesicht. »Gott sei Dank!« rief er mit einem inbrünstigen Unterton aus und trat zur Seite, damit sie eintreten konnten. McLeod saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl, ein nasses Papierhandtuch auf den Augen, sein Haar war zerzaust, die Krawatte verschoben. Als die Neuankömmlinge eintraten, nahm er das Papierhandtuch weg, setzte seine Brille auf und grinste Adam verzerrt an. »Willkommen zurück«, sagte er heiser. »Ich wäre zu Ihnen gekommen, anstatt Sie zu mir kommen zu lassen, aber im Augenblick sind meine Beine so zuverlässig wie zwei Gummibänder.« »Das habe ich gehört«, sagte Adam, trat zu McLeod heran und faßte sein Handgelenk, um den Puls zu fühlen. »Nach allem, was man hört, haben Sie Glück, daß Sie überhaupt noch hier sind. Wo ist das Ding, das die ganzen Scherereien verursacht hat?« Als er hörte, daß das Origami-Tier in den Bürosafe geräumt worden war, schickte Adam Cochrane, es zu holen. McLeods Puls war gleichmäßig, aber spürbar schneller als gewöhnlich, und sein Gesicht wirkte angespannt vom Schmerz. »Vermutlich muß ich Ihnen nicht erst sagen, daß dies das Werk der Luchse war«, sagte McLeod, während Adam den freien Stuhl näher heranzog und sich setzte. »Nein, die Methode selbst trägt ihre Signatur.« Als er McLeod die Brille abnahm und sie beiseite legte, damit er die blutunterlaufenen Augen anschauen konnte, tat McLeod einen gequälten Atemzug. »Ich kann mir vorstellen, was Sie nach jenem Gespräch, das wir am Montag hatten, denken müssen«, sagte er, während Adam zuerst das eine, dann das andere Auge abdeckte und aus -282-
einer Brusttasche eine dünne Stiftlampe hervorholte. »Aber ich schwöre, ich habe bewußt nichts getan, um mich zu verraten.« »Ich kenne Sie gut genug«, sagte Adam mit der Andeutung eines Lächelns. »Jetzt entspannen Sie sich mal und lassen mich Sie zu Ende untersuchen.« Er leuchtete mit dem dünnen Strahl kurz in jedes von McLeods Augen, McLeod zuckte zusammen und drehte sich brummend weg. »Tut mir leid«, murmelte Adam. »Ich habe ein Medikament mitgebracht, das den schlimmsten Schmerz vertreiben dürfte, doch zuerst muß ich Ihnen ein oder zwei Fragen stellen. Zu allererst: hat irgend jemand außer Ihnen dieses Origami-Ding angefaßt?« »Nein.« McLeods Antwort klang eindeutig. »Das ist gut«, sagte Adam. »Ich möchte es auseinandernehmen, um zu sehen, was drinnen steckt. Ich brauche etwas, das nicht leitet, als Pinzette - etwas aus Holz oder Plastik.« »Wie wäre es mit zwei Bleistiften?« schlug Peregrine vor. »Nein, der Graphit könnte ein Leiter sein. Vielleicht hat er ein Plastikbesteck in seiner Schublade?« McLeod schüttelte den Kopf, bevor Peregrine noch nachschauen konnte, doch sein Gesicht zeigte Anzeichen von Schmerz, den er nur mit Mühe in Schach halten konnte. »Wie wäre es mit Zahnstochern?« fragte Adam. »Noel, haben Sie Zahnstocher?« »Nein, aber vielleicht etwas besseres«, sagte McLeod und biß die Zähne vor Schmerz zusammen. »Wie wäre es mit zwei Eßstäbchen?« »Eßstäbchen? Ideal. Wo sind die?« »Am Mittwoch habe ich mir mittags etwas Chinesisches geholt«, erklärte McLeod und wies auf sein Bleistiftglas. »Man -283-
hat mir zwei Paar Eßstäbchen dazugepackt. Das zweite Paar ist da drinnen.« Adam holte die Eßstäbchen aus dem Glas und zog ihre Papierumhüllung ab. Sie bestanden aus Holz und verjüngten sich an den Spitzen. »Ja, die dürften gut geeignet sein«, erklärte er. »Wenn Mr. Cochrane mit diesem Ding zurückkommt, werden wir die notwendige Vivisektion vornehmen. Peregrine, ziehen Sie ihm die Jacke aus und rollen Sie einen Ärmel hoch, damit ich ihm eine Spritze geben kann.« Während Peregrine McLeod aus der Jacke half und die Manschette eines der Hemdärmel aufknöpfte, beäugte der Inspector die Spritze, die Adam aus seiner Jackentasche holte. »Was ist das?« murmelte er. »Etwas, das Sie entspannen wird und gegen die Übelkeit hilft«, sagte Adam, schob den Ärmel hoch und wischte mit dem Wattebausch energisch über eine Stelle auf der Rückseite des Bizeps. »Sie dürften fast sofort eine Erleichterung verspüren.« »Das wird mich doch nicht betäuben, oder?« brummte McLeod. Er merkte es kaum, als die Nadel in seine Haut drang. Adam schüttelte den Kopf und verabreichte ihm die Injektion. »Nein, das werde ich tun«, sagte er. »Dieses Zeug wirkt am besten, wenn Sie mir erlauben, Sie für eine kleine Weile in Schlaf zu versetzen.« »Das ist gut«, sagte McLeod gähnend. Unter dem Einfluß des Medikaments begann er sich schon zu entspannen. »Achten Sie aber drauf, daß Sie mit diesem Luchsding nichts falsch machen. Pfff, das Zeug ist gut!« Adam lächelte und steckte die entleerte Spritze wieder in seine Tasche, dann fühlte er noch einmal McLeods Puls und drückte mit der freien Hand kurz auf McLeods Stirn. »Jetzt überlassen Sie die Sorgen einfach mir, mein Freund. Es ist Zeit, -284-
gut und tief Luft zu holen und einzuschlafen. So ist's richtig... Lassen Sie den Schmerz los. Jetzt beugen Sie sich vor und betten Sie Ihren Kopf auf Ihren Arm.« Als er McLeod versorgt hatte, wandte Adam endlich Peregrine seine volle Aufmerksamkeit zu. »Nun denn, Cochrane hat mir einen Bericht aus seiner Sicht darüber gegeben, was Sie hier getan haben«, sagte er ernst, »aber offensichtlich hatte er keine Ahnung, was hier wirklich vor sich ging. Glücklicherweise hat Noel bei ihm schon seit einiger Zeit Vorarbeit geleistet. Wenn Cochrane so weiter macht, wäre er vielleicht ein geeigneter Kandidat. Doch bevor er zurückkommt, sollten Sie mir vielleicht mit Ihren eigenen Worten Ihre Seite der Dinge schildern. Übrigens haben Sie es sehr gut gemacht; Sie haben Noel eine kleine Gnadenfrist gewonnen.« Ohne zu wissen warum, merkte Peregrine, daß er unter Adams durchdringendem Blick errötete wie ein Schuljunge, der sich schuldig fühlte. Das Lob war berauschend, aber es wurde ein wenig durch Peregrines eigene Unsicherheit gedämpft. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich es richtig erklären kann«, sagte er. »Ich versuchte daran zu denken, was Sie wohl getan hätten...« Etwas stockend beschrieb er, wie er sein inneres Sehen gebündelt hatte, um zu erkennen, was McLeod quälte - die schmutziggrauen Ranken wie eine Dornenkrone -, und wie er diese Ranken mit den Händen weggezogen und dann verschrumpeln und sich auflösen gesehen hatte. »Ich muß allerdings noch etwas gestehen«, fügte er hinzu, als er seinen kurzen Bericht beendet hatte. »Ich habe schließlich Michael Brodies Ring benutzt.« Er ließ schuldbewußt den Kopf hängen, und Adam fragte: »Warum sollte Ihnen das zu schaffen machen?« Er beobachtete Peregrines Gesicht sehr genau. Der junge -285-
Künstler vermied Adams Blick und sagte leise: »Ich habe Ihnen doch gesagt, ich würde ihn nicht ohne Ihre Erlaubnis tragen.« »Ja, das haben Sie gesagt«, pflichtete Adam ihm bei. »Aber das war Ihre Regel, nicht meine.« Peregrines braune Augen warfen ihm einen überraschten Blick zu. »Wahre Tugend«, sagte Adam sanft, »besteht nicht darin, daß man Regeln aufstellt und dann um jeden Preis an ihnen festhält. Im Gegenteil, es geht darum, eine Situation abzuwägen und die Möglichkeiten richtig zu beurteilen. Erinnern Sie sich an die Anweisung des / Ging: Der Edle unterscheidet zwischen hoch und niedrig. In diesem Fall haben Sie richtig gehandelt, indem Sie ein geringeres Gut zugunsten eines größeren beiseite schoben.« Peregrines besorgte Stirn glättete sich. »Dann sind Sie nicht von mir enttäuscht?« »Enttäuscht?« Wenn der junge Künstler nur nicht so ernst dreingeschaut hätte, wäre Adam versucht gewesen, laut loszulachen. »Wohl kaum«, versicherte er Peregrine mit einem Lächeln. »Vielleicht überrascht - aber schließlich sind Sie seit Melrose für Noel und mich eine fast ständige Quelle von Überraschungen gewesen. Und ich möchte, daß Sie das als Kompliment verstehen.« Als er sah, daß Peregrine jetzt ebenfalls schwach lächelte, fügte er hinzu: »Gibt es sonst noch etwas, wovon Sie meinen, daß ich es wissen sollte?« »Ich glaube nicht - nein, warten Sie mal!« erwiderte Peregrine. »Es gibt noch etwas. Nachdem Cochrane weggegangen war, um Sie zu holen, machte ich ein paar Zeichnungen, während ich wartete. Es handelt sich eher um Eindrücke von Visionen statt um richtige Bilder, aber sie sind mir im Gedächtnis haftengeblieben, bis ich sie zu Papier -286-
gebracht habe. Vielleicht können Sie etwas damit anfangen.« Er griff in die Innentasche seines Blazer und holte ein zusammengefaltetes Bündel Papier heraus, das sich geöffnet als eine Serie von Zeichnungen auf Briefpapier mit dem Briefkopf von McLeods Abteilung erwies. Ein Außenseiter hätte die Skizzen als kurioses Werk eines Surrealisten abgetan, doch für Adams eingeweihten Blick stellten sie eine symbolische Sicht der Gefahr da, die über McLeod hing. Die erste Zeichnung schien ein Stilleben zu sein, das aus zwei Styropor-Bechern, einigen Blättern Papier, einem Skalpell und einer Rabenkielfeder bestand. Das zweite zeigte vier blutende Daumen über einer Schale, das dritte die Figur eines Mannes, der von einem Kreis brennender Ranken umzingelt war. Zusammengenommen zeigten sie, wie Karten, die man aus einem seltsamen Tarotspiel gezogen hatte, den Weg zu einer sonst verborgenen Wahrheit. »Sie scheinen Ihnen nicht viel zu sagen, oder?« bemerkte Peregrine. »Im Gegenteil«, erwiderte Adam nachdenklich und gab die Blätter an Peregrine zurück, »sie sagen mir sehr viel.« Er hätte mehr sagen können, doch ein Klopfen an der Tür verkündete, daß Cochrane mit dem Umschlag zurückkam, der den Origami-Luchs enthielt. »Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat, Sir«, sagte er, »aber da trieben sich eine Menge anderer Leute herum, und ich wollte nicht zu eifrig erscheinen.« »Sehr klug von Ihnen«, sagte Adam und nickte, als Cochrane ihm den Umschlag überreichte. Er hielt ihn kurz in den Händen, dabei erschien in seinen Augen dieser ferne Blick, den Peregrine inzwischen schon so gut kannte. Dann nahm er eines der Eßstäbchen und schob es unter die Klappe und öffnete sie. Während Peregrine und Cochrane zuschauten, zog er sorgfältig mit beiden Eßstäbchen das zusammengefaltete Taschentuch auf -287-
den Löschblock und öffnete es, um zu sehen, was darin lag. Der Papierluchs schimmerte golden, während Adam an ihm mit den Eßstäbchen herumstocherte. Er hatte noch nie einen Luchs als Origami gesehen. Er war geschickt gefaltet, das Werk eines Menschen, dessen Fertigkeit der McLeods gleichkam oder sie sogar übertraf. Der Körper war so prall, daß man vermuten mußte, es sei darin etwas enthalten. Adam ließ den Luchs wieder auf sein Nest aus Seide fallen, dann machte er über ihm mit der Ringhand ein abwehrendes Zeichen, schließlich holte er ein Lineal aus Plastik aus dem Bleistiftglas. Damit hielt er den Luchs fest, und während er seine Schutzmaßnahmen dicht um das Origami-Tier aufrechterhielt, stocherte er mit den Eßstäbchen zart hinein und drückte die Falten auseinander, wobei er die Eßstäbchen mit der Präzision eines Chirurgen einsetze. Langsam faltete er das Papier auseinander. Es war nur auf einer Seite vergoldet, aber das Papier selbst war auch goldfarben. Allmählich legte Adam vier lange, schmale Streifen frei, die nach Styropor aussahen, sowie einen weißen Papierfetzen mit seltsamen rostbraunen Markierungen. Auch auf der nichtvergoldeten Seite des Papiers gab es Markierungen, doch Adam nahm mit den Eßstäbchen zuerst einen der StyroporStreifen hoch und schaute ihn sich genauer an. »Das sieht so aus wie Stücke vom Rand eines Kaffeebechers aus Styropor«, erklärte er. »Ohne Zweifel in den letzten paar Tagen von Noel benutzt und später aus seinem Papierkorb geholt.« »Was ist mit diesem Stück Papier?« fragte Peregrine leise, als Adam den Styropor-Streifen zu den anderen legte. »Ist das da drauf eine Schrift? Eine Art Keilschrift oder so etwas? Und womit ist es geschrieben? Das sieht ja fast nach Blut aus!« Grimmig nahm Adam das Stück Papier mit seinen Eßstäbchen hoch. -288-
»Was hier und auf dem Origami-Papier geschrieben steht, dürfte die formelle Fixierung des Zaubers sein«, sagte er leise, »und Blut ist tatsächlich das bevorzugte Medium zur Aktivierung eines dunklen Zaubers. Was die Schrift auf der anderen Seite betrifft...« Er drehte den Fetzen herum und zeigte eine Unterschrift in schwarzer Tinte innerhalb eines gedruckten Unterschriftsblocks. »Das ist ja McLeods Unterschrift!« sagte Peregrine mit einem Laut des Erstaunens. »In der Tat«, sagte Adam. »Das dritte Glied, um den Brennpunkt dieses Zaubers auf ihn zu richten.« Cochrane spähte interessiert über Adams Schulter und runzelte die Stirn, als er das Papier sah. »Das gefällt mir nicht, Sir«, sagte er mit einem finsteren Blick. »Das hat man von einem Blatt mit offizieller Korrespondenz abgerissen - etwas, das direkt hier in der Abteilung geschrieben wurde.« Adam nickte. Zusammen mit dem Rest der Indizien wies Cochranes Beobachtung darauf hin, daß wahrscheinlich ein Agent der Luchse innerhalb der Abteilung im Polizeipräsidium operierte. »Ich hatte gehofft, ich würde diese Möglichkeit nicht in Betracht ziehen müssen«, sagte er zu Cochrane. »Sollten Sie auf noch spezifischere Zusammenhänge stoßen, dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie es mich wissen ließen.« »Das werde ich tun, Sir.« Adam ließ den Streifen mit der Zauberformel einstweilen noch einmal los, und der rollte sich zusammen, während Adam zwei gewöhnliche Blatt Papier aus der mittleren Schublade holte. Mithilfe der Eßstäbchen und eines Zipfels des Seidentaschentuchs zum Schutz seiner Finger heftete er das Origami-Papier mit der Goldfolienseite nach unten auf eines der -289-
Blätter, dann befestigte er den Papierfetzen an der Ecke mit der Keilschrift nach oben, legte das andere Blatt darauf und steckte das so entstandene ›Sandwich‹ in die erste Berichtsmappe, die er auf McLeods Schreibtisch fand. »Ich weiß nicht, wie gut sich das kopieren läßt, Mr. Cochrane, aber ich hätte gern eine Fotokopie, damit ich es mir genauer anschauen kann«, sagte er und reichte dem Constable die Mappe. »Würden Sie das bitte für mich machen? Geben Sie acht, daß Sie es nicht berühren!« »Kein Problem, Sir«, sagte Cochrane, »es kann allerdings etwas dauern, bis ich einen Kopierer finde, der nicht gerade benutzt wird. Ich nehme an, Sie wollen nicht, daß jemand anders das sieht.« »Ihre Annahme ist richtig«, erwiderte Adam. »Lassen Sie sich ruhig soviel Zeit, wie notwendig ist. Es lohnt sich zu warten.« Als Cochrane weg war, wandte sich Adam wieder MacLeod zu legte seine Hand leicht auf das Handgelenk des Inspectors. McLeod schien zu schlafen, aber das verräterische Flackern von Bewegungen unter seinen geschlossenen Augenlidern deutete darauf hin, daß er sich tatsächlich noch in Trance befand und daß ein Teil von ihm sich seiner Umgebung voll bewußt war. »Noel, ich hoffe, ich kann Sie bald von hier wegbringen«, sagte Adam ruhig. »Bevor wir jedoch versuchen, Sie mitzunehmen, werde ich noch etwas mehr Schutz um Sie aufbauen. Ist das in Ordnung?« »Aye«, murmelte McLeod, ohne die Augen zu öffnen. »Guter Mann! Dann schlafen Sie also tief.« Adam schloß die Augen und tat einen tiefen Atemzug, um seinen eigenen Trancezustand auszulösen. Leicht sank er in eine Tiefe, die für seine Arbeit brauchbar war. Der Wechsel in der Wahrnehmung bewirkte eine momentane Distanzierung seiner äußeren Sinne; doch mit dem nächsten Atemzug war er in der Lage, die Augen seines Geistes für den psychischen Nachhall all dessen zu -290-
öffnen, was in den letzten paar Stunden in diesem Bürozimmer geschehen war. Das erste Bild, das sich ihm zeigte, war McLeod, wie er schwach inmitten eines Rings aus Dornen stand, die nur eine Armlänge von ihm entfernt waren. Schatten spielten über die Dornen hinweg wie schwarze Flammen. Mit einer gemurmelten Anrufung des Lichts verließ Adam seinen Körper und stellte sich zu McLeod in den Kreis. Energie wallte in ihm auf wie eine Fontäne. Er bündelte diese Kraft in seiner rechten Hand und zeichnete ein Zeichen des Schutzes in die Luft. Die Bewegung seiner Hand hinterließ eine schimmernde Leuchtspur. Zischend wellten sich die Schatten vor dem Symbol davon, das er gezeichnet hatte. Während seine Konzentration sich vertiefte, ging Adam rechtsherum im Kreis und hielt an jeder der anderen drei Himmelsrichtungen an, um das abwehrende Zeichen zu wiederholen. Dabei war der Verlust an Energie für ihn spürbar. Als er den Kreis ganz versiegelt hatte, begann er vor Anstrengung zu zittern. Aber nachdem der Kreis einmal gezogen war, hielt er stand. Zufrieden, daß McLeod einstweilen gegen weitere Verwundungen geschützt war, zog sich Adam in die Mitte des Kreises zurück und machte den Ursprung zum Punkt seines Rückzugs. Der Wechsel in der Bewußtheit war von einem vertrauten Anflug von Schwindel begleitet. Als dieser nachließ, öffnete er die Augen. McLeod hatte sich nicht bewegt, doch sein Atem war etwas leichter geworden; sein Gesicht zeigte allerdings noch immer die Farbe von Wachs. Peregrine stand neben ihm, sein Gesichtsausdruck war mehr als nur ein wenig besorgt. Als er sah, daß Adam aus der Trance zurückgekehrt war, fragte er mit gedämpfter Stimme: »Wird es ihm jetzt wieder besser gehen?« »Wirklich gut gehen wird es ihm erst, wenn das Zauberding selbst beseitigt ist«, sagte Adam. »Aber das ist etwas, was ich -291-
hier nicht versuchen werde.« Er blieb ruhig sitzen und verstärkte McLeods Schutz, bis Cochrane mit der gewünschten Fotokopie zurückkam. Mit seidegeschützten Fingern entfernte Adam vorsichtig die Büroklammern, legte das Goldfolienpapier und das Papierstück mit der Unterschrift frei und beförderte sie mit Hilfe der Eßstäbchen wieder in das Nest aus dem Seidentaschentuch. Dann folgten die Styropor-Streifen, so daß Adam alles zu einer kompakteren Masse falten konnte, die dann mit Seide umwickelt wurde; er steckte es in einen neuen Umschlag und verschloß ihn. Er nahm die Kopie und schob sie zusammen mit dem Umschlag in seine Brusttasche. Seine Anzugsjacke war mit Seide gefüttert, was ihn zusätzlich vor dem Zauber abschirmen würde, den er jetzt bei sich trug. »Es ist Zeit, von hier zu verschwinden«, sagte Adam zu seinen beiden jungen Helfern nach einem Blick auf seine Taschenuhr. »Es muß bald Dienstschluß sein. Hoffentlich kommen und gehen in der nächsten Viertelstunde genügend Leute, damit wir hinausschlüpfen können, ohne daß jemand viel von unseren Bewegungen bemerken kann.« Peregrine nahm Mantel und Schal. Adam sprach währenddessen McLeod über die Schwelle der hypnotischen Trance hinweg an. »Hören Sie mich, Noel? Nicken Sie, wenn Sie mich hören können. In Ordnung, das ist gut. Jetzt hören Sie bitte zu«, fuhr er leise, aber eindringlich fort. »Wir werden gleich das Gebäude verlassen. Wenn ich es Ihnen sage, werden Sie zu vollem Bewußtsein erwachen und sich dabei an alles erinnern, was geschehen ist, aber nach außen nichts von Ihren Beschwerden zeigen. Ich weiß, daß es Ihnen noch ziemlich schlecht geht, aber solange wir brauchen, um sicher zu Ihrem Auto zu kommen, werden Sie diesen Beschwerden nicht nachgeben. Wenn jemand Sie fragen sollte, dann sagen Sie, daß Sie glauben, die Grippe habe Sie erwischt...« -292-
Sie zogen McLeod seine Jacke und dann seinen Mantel an. Cochrane geleitete sie aus dem Büro hinaus, zog die Tür zu und schloß sie mit einer Ungezwungenheit ab, die Adam auf ihrem Weg über die Hintertreppe nach unten lobte. Dank Adams posthypnotischer Suggestion schaffte McLeod es bis zum Parkplatz, ohne daß seine Beine unter ihm nachgaben. Allerdings warfen ihm einige seiner Kollegen seltsame Blicke zu. Während Cochrane losging, um aus dem Polizeiauto Adams Tasche und vom Morris Minor Peregrines ›Strafzettel‹ zu holen, hatten Adam und Peregrine McLeods schwarzen BMW an der ihm zugewiesenen Stelle ausfindig gemacht und öffneten mit dem Schlüssel des Inspectors die Türen. Mit Adams Hilfe kletterte McLeod auf den Beifahrersitz und legte seufzend den Kopf auf die Kopfstütze. Einen Augenblick später kam Cochrane wieder. Nachdem er Adam die schwarze Tasche überreicht hatte, beugte er sich durch das Autofenster herein und warf einen letzten besorgten Blick auf seinen Vorgesetzten. »So wenig es mir gefällt, das zu sagen, Sir«, sagte er und versuchte dabei, zwanglos zu klingen, »Sie sehen nicht so aus, als wären Sie fit genug, um heute abend in der Loge die Feiern zum St.-Andreas-Tag mit zu machen.« »So wenig es mir gefällt, das einzugestehen, ich glaube, Sie haben wahrscheinlich recht«, gab McLeod trübselig zu. »Wären Sie so nett und würden Sie mich entschuldigen?« »Das tue ich gern, Sir«, sagte Cochrane. »Haben Sie noch einen letzten Wunsch, bevor ich mich davonmache?« »Aye, genehmigen Sie sich irgendwann innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden ein Bier«, erwiderte McLeod. »Sie haben es sich mehr als verdient.« Kapitel 20 Adam fuhr McLeod in dessen BMW nach Hause, Peregrine -293-
folgte in seinem eigenen Wagen. Jane McLeod war einen Augenblick lang erschrocken, als sie sah, wie Adam ihren Mann den Pfad herauf begleitete und ein zweites Auto hinter dem BMW hielt, doch McLeod besänftigte ihre Besorgnis mit der Ausrede, die Adam im Polizeipräsidium vorgeschlagen hatte. »Sieht so aus, als hätte die diesjährige Grippe mich endlich erwischt«, verkündete er mit einem gequälten Grinsen. »Adam hat mir versichert, daß ich sie überleben werde, aber im Augenblick sind die Aussichten nicht sonderlich verlockend.« »Ihr Herr Gemahl ist nicht gerade der kooperativste Patient«, erklärte Adam und schnitt eine Grimasse, »aber ich glaube, das muß ich Ihnen nicht erzählen. Wenn Sie es fertigbringen, daß er ein oder zwei Tage im Bett bleibt, dürfte er sich jedoch bald wieder besser fühlen.« »Ach, das kenn ich schon von ihm«, erwiderte Jane ein wenig barsch, während sie McLeod am anderen Arm nahm und Adam half, ihn ins Haus zu bringen. »Der Mann ist manchmal unmöglich. Aber jetzt gehst du geradewegs ins Bett, Noel McLeod, und falls jemand vom Präsidium anrufen sollte, dann werde ich ihnen sagen, du hättest die Nase voll vom Stadtleben und seist durchgebrannt, um zur See zu gehen!« »Wenn die Kopfschmerzen zu arg werden, kann er ein Aspirin bekommen«, riet Adam, »aber ansonsten ist Schlaf die beste Medizin, glaube ich. Ich rufe Sie morgen früh an und erkundige mich, wie es ihm geht.« Nachdem er McLeod in die Obhut seiner Frau gegeben und in Strathmourne angerufen hatte, um Humphrey und Philippa zu informieren, stieg Adam in Peregrines Morris Minor. Als sie auf die Forth Road Bridge zufuhren, erreichte der Berufsverkehr seinen Höhepunkt, und während der nächsten Kilometer war Peregrine zu sehr mit dem Fahren beschäftigt, als daß er eine der zahlreichen Fragen hätte anbringen können, die wie Schmeißfliegen in seinem Hinterkopf herumschwirrten. Sobald -294-
sie jedoch aus der Stadt draußen waren, konnte er seine Gedanken nicht länger für sich behalten. »Adam«, brach er das Schweigen, »nach dem wenigen zu schließen, was ich bisher über die Loge der Luchse gehört habe, sieht es so aus, als bemühten sie sich, ihre ganze Tätigkeit geheimzuhalten. Was meinen Sie, warum die jetzt so unvorsichtig waren und sozusagen ihre Visitenkarte hinterlassen haben?« Adam regte sich auf seinem Sitz, als wäre er aus einer privaten Träumerei erwacht. »Ich glaube, es war mehr Arroganz als Unvorsichtigkeit«, antwortete er grimmig. »Der Angriff auf Noel sollte tödlich sein. Wäre er erfolgreich gewesen, so hätte es nach einem Tod durch Herzversagen oder Schlaganfall ausgesehen. Wer nicht gewußt hätte, wonach er suchen sollte, hätte nicht den geringsten Verdacht gehegt.« »Aber was ist mit dem Zauberding?« widersprach Peregrine. »Es war ein Luchs, um Himmels willen! Wer das getan hat, muß doch sicher damit gerechnet haben, daß man es findet.« »Ja, aber wer hätte sich dabei etwas gedacht?« gab Adam zu Bedenken. »Zum einen, wie viele Leute wissen überhaupt von der Existenz der Loge der Luchse oder würden daran glauben? Sehr wenige, das kann ich Ihnen versichern. Aber so gut wie jeder in McLeods Abteilung weiß, daß er sich mit Origami beschäftigt. Er hat ja Dutzende von Exemplaren dort in seinem Büro an der Pinnwand. Wie man es auch betrachtet, das Risiko war minimal. Stellen Sie sich vor«, fuhr er fort, während er auf die Rücklichter des vorausfahrenden Autos schaute, »jemand kommt in McLeods Büro und findet ihn tot über dem Schreibtisch zusammengebrochen. Er schlägt sofort Alarm, und jeder, der sich in Hörweite befindet, kommt angerannt, um zu sehen, was passiert ist. Und während sich die ganze Aufmerksamkeit auf das Opfer richtet, wem fällt da noch eine -295-
weitere Origami-Figur auf? Und nachdem die Leiche weggebracht worden wäre, ließe sich so etwas sehr leicht beiseite schaffen. Genau das war vielleicht ihr Plan.« Peregrine nickte. Er konnte sich die Szene sehr deutlich vorstellen. »Glücklich für uns«, fuhr Adam fort, »und noch glücklicher für Noel, daß die Gegenseite Noels Fähigkeit zur Selbstverteidigung unterschätzt zu haben scheint. Wie Sie ja schon selbst beobachtet haben, ist er ein Mann von ungewöhnlicher Willenskraft und Seelenstärke. Mit dieser Art von Robustheit haben die Gegner nicht gerechnet. Ich vermute, daß ihn dies wahrscheinlich gerettet oder ihm zumindest die Kraft verliehen hat, lange genug durchzuhalten, bis Hilfe kam.« Peregrine zitterte ein wenig. »Ich hatte keine Ahnung, daß es auch nur annähernd so kritisch war«, murmelte er. »Wahrscheinlich war es auch gut, daß ich das nicht ahnte.« Adam lächelte. »Sie haben einen glänzenden Sieg errungen. Lady Julian wußte sehr gut, was sie tat, als sie Ihnen Michaels Ring schenkte.« Das Lob ließ Peregrine erröten. Nach kurzem Schweigen fragte er neugierig: »Was hat Ihrer Meinung nach diesen plötzlichen Angriff ausgelöst? Ich meine, warum jetzt? Wenn sie seit Urquhart Castle hinter McLeod her waren, hätten sie dann nicht schon eher etwas unternommen? Und wenn sie hinter ihm her waren, wären sie dann nicht auch hinter uns her? Werden wir die nächsten sein?« »Nicht unbedingt«, erwiderte Adam. »Manchmal ist es ratsam, etwas einfach auf sich beruhen zu lassen. Aber die Tatsache, daß sie anscheinend keine genaue Vorstellung von Noels Stärken hatten, legt mir die Vermutung nahe, daß sie ihn vielleicht nicht sehr lange beobachtet haben. Was bedeutet, daß sie - zumindest bis sie erfahren, daß er überlebt hat - auch von uns nicht soviel halten. -296-
Ich vermute, daß in der letzten Woche vielleicht etwas geschehen ist, was sie zu der Überzeugung gebracht hat, es sei gewiß sicherer, ihn zu beseitigen, als ihn in Ruhe zu lassen. Wenn es ihm wieder besser geht und ich mich damit befaßt habe«, er klopfte sich auf die Brust seiner Anzugsjacke, »dann werden wir alle seine Tätigkeiten seit Randall Stewarts Tod durchgehen und sehen, ob wir irgend welche kritischen Punkte finden...« Als sie am Tor von Strathmourne ankamen, war es fast sieben Uhr. Inzwischen spürte Peregrine die Last einer Erschöpfung, die fast weh tat. »Herrgott, bin ich müde!« murmelte er, als er vor dem Seiteneingang des Herrenhauses anhielt. »Wenn ich wieder im Torhaus bin, werde ich zuallererst duschen! Und zum Abendessen würde mir eine Schale Cornflakes reichen, wenn ich nicht wüßte, daß Mrs. Gilchrist mir etwas Stovies und Mehlkuchen übriggelassen hat!« Adam grinste. Stovies - ein schmackhaftes Haschee aus Corned Beef, Zwiebeln und Kartoffeln - war ein fast ebenso typisch schottisches Gericht wie Haggis und eine Lieblingsspeise etlicher seiner adeligen Bekannten. Niemand bereitete es besser zu als die respekt einflößende Mrs. Gilchrist, deren mütterliche Fürsorge für Peregrines Wohlergehen sie nicht selten dazu verleitete, ihn mit Gaben aus ihrer Küche zu versorgen. »Ich bin froh, daß Sie das Abendessen erwähnt haben«, sagte Adam, als er seine Arzttasche hinter dem Sitz hervorholte. »Das erinnert mich an etwas, was ich Sie schon am Nachmittag fragen wollte. Haben Sie bereits Pläne für morgen abend? Wenn nicht, würden Sie dann vielleicht so gegen sieben ins Haus heraufkommen, zu einigen Drinks und zum Dinner? Nichts besonders Formelles - nur eine Gelegenheit für Sie und Philippa, sich gegenseitig kennen zu lernen.« -297-
»Danke, ich komme gern«, erwiderte Peregrine. »Dann sehen wir uns also morgen abend, wenn nicht schon vorher.« Nachdem die Einladung zum Dinner ausgesprochen war, wünschte Adam dem Künstler eine gute Nacht und stieg aus. Als er das Haus betrat, war Humphrey schon zur Stelle und begrüßte ihn, dann nahm er Adam Mantel und Tasche ab. »Es ist gut, daß Sie wieder zu Hause sind, Sir«, erklärte Humphrey. »Ich hoffe, daß es Inspector McLeod gutgeht.« »Gut genug für den Augenblick«, erwiderte Adam, »aber da ist noch ein hübsches Stück Arbeit zu tun. Ist Mutter in der Bibliothek?« »Jawohl, Sir. Und sie gab mir die Anweisung, das Dinner nicht zu servieren, solange sie nichts von Ihnen gehört hätte.« Adam nickte. »Dann werde ich mich lieber mit ihr beraten. Ich fürchte, das Dinner wird vielleicht ganz ausfallen.« Humphreys gewohnte Unerschütterlichkeit ließ ein wenig Besorgtheit durchschimmern. »Ist es so ernst, Sir?« »Ja, so ernst.« »Ich verstehe, Sir.« Humphrey hielt kurz inne, dann fragte er: »Wäre dann einstweilen vielleicht ein Schluck Tee recht?« Adam gestattete sich einen dankbaren Seufzer und nickte. »Ein ausgezeichneter Vorschlag«, sagte er, »aber bringen Sie ihn nicht sofort. Wir werden läuten, wenn wir bereit sind.« Er begab sich in die Bibliothek, wo er Philippa bequem mit einem Buch auf dem Schoß vor dem Feuer sitzend vorfand, entspannt, doch elegant in einem roten Sweater mit Kapuze und einem plissierten Hausrock mit dem roten Sinclair-Tartan. Am Einband des Buches erkannte Adam, daß es sich um eine deutsche Erstausgabe von Carl Gustav Jungs Aion handelte. In ihrer Jugend hatte Philippa bei Jung studiert. »Wie ich sehe, ziehst du einen alten Freund zu Rate«, sagte Adam scherzhaft. -298-
Philippas Lächeln glich einem fernen Wetterleuchten. »Einmal Schülerin, immer Schülerin«, bemerkte sie. »Und ich hasse es, Zeit zu vergeuden, wie du weißt. Da Gillian Talbot am Montag in Edinburgh eintrifft, dachte ich, es sei vielleicht angebracht, im Geist noch einmal den Hörsaal aufzusuchen, um die Phänomenologie des Selbst zu repetieren.« Sie nahm ihr Lesezeichen, einen dünnen Streifen aus purem Gold, und schob es an der aufgeschlagenen Stelle zwischen die Seiten, bevor sie das Buch beiseite legte. »Du siehst eher müde als besorgt aus«, bemerkte sie und musterte mit scharfen, dunklen Augen das Gesicht ihres Sohnes. »Heißt das, die Krise ist zufriedenstellend bewältigt?« Mit einem langen Seufzer sank Adam in den Lehnsessel, der ihr gegen über stand, und öffnete eine längliche Schatulle aus duftendem Sandelholz, die mit gehämmerten Messingbeschlägen versehen und innen mit meerblauer Seide ausgelegt war. Dahinein legte er den Umschlag mit McLeods Seidentaschentuch und dessen gefährlichem Inhalt. »Dank Peregrines brillantem Eingreifen und McLeods eigener Unverwüstlichkeit konnte ich den schlimmsten Schaden verhindern«, teilte er seiner Mutter mit und verzog das Gesicht. »Doch die Situation ist noch längst nicht bereinigt.« Er schloß die Schatulle. »Wirklich?« Philippa zog eine Augenbraue hoch, die wie eine Amselschwinge geschweift war. »In diesem Fall solltest du mich vielleicht lieber über alle Einzelheiten ins Bild setzen.« Mit so wenig Worten wie möglich berichtete Adam alles, was geschehen war, seit sie sich am Flughafen getrennt hatten, und präsentierte ihr die Kopie, die er von der Schrift auf der Innenseite des Zaubers hatte anfertigen lassen. Während er erzählte, gab Philippa keinen Kommentar ab, aber als er geendet hatte, war ihr elegantes, scharfgeschnittenes Gesicht hart wie die Maske einer Sphinx. -299-
»Diese Schrift, das sind Runen, keine Keilschrift«, sagte sie und gab ihm die Kopie zurück, »wahrscheinlich aus Nordeuropa. Der Zauberspruch selbst könnte aus der La-TeneZeit stammen und in Beziehung zu dem Torques stehen, den du beschrieben hast. Ich werde einige weitere Recherchen anstellen, um es genauer einzuengen, aber in der Zwischenzeit müßte das Zauberding selbst vernichtet werden, um die Bedrohung von McLeod zu nehmen.« Sie blickte kühl abwägend auf die Schatulle. »Es wird jedoch nicht einfach sein, es zu neutralisieren - besonders nach allem, was du heute schon durchgemacht hast. Willst du dich denn noch heute abend damit befassen?« Adam legte den Kopf an die Rückenlehne seines Sessels und rieb sich mit müder Hand die Augen. »Es muß noch heute abend geschehen«, erwiderte er. »Und wenn du daran denkst, es selbst zu machen, dann sage ich: nein. Ich bin am besten dafür geeignet, und wenn auch nur wegen meiner engen Beziehungen zu Noel. Aber ich würde es begrüßen, wenn du mir hilfst.« »Was meinst du denn, warum ich sonst den armen Humphrey wegen des Dinners auf die Folter spanne?« sagte Philippa mit einem grimmigen Lächeln. »Ich hoffe inniglich, daß er für heute abend nichts Besonderes geplant hat! So wenig es mir gefällt, eine Mahlzeit so kurzfristig abzusagen, fürchte ich, daß wir in diesem Fall nicht darum herum kommen. Wenn wir uns damit angemessen befassen sollen«, sie wies auf die längliche Schatulle, »dann werden wir all unsere Fähigkeiten nötig haben.« Adam akzeptierte ihr Argument mit einem ernsten Nicken. Fasten war ein wünschenswerter Teil der Vorbereitungen für jedes größere Werk von der Art, wie er und Philippa es vorhatten, denn der physiologische Vorgang der Verdauung zog Blut vom Gehirn ab und dämpfte so mentale Funktionen, die bei dieser Tätigkeit rasiermesserscharf sein mußten. Noch kritischer -300-
war esoterisch gesehen der Erdungseffekt der Nahrungsaufnahme, der die Hebung der Psyche auf höhere Ebenen störte. Allerdings war es angeraten, nach jeder okkulten Arbeit zu essen, um den Adepten wieder in der Realität zu erden. »Ich habe Humphrey schon vorgewarnt, daß es möglicherweise kein Dinner gibt«, erklärte Adam. »Auf jeden Fall glaube ich, daß Mrs. Gilchrist davon sprach, sie würde einen Eintopf herrichten, der warten könne, für den Fall, daß es Verspätungen im Flugplan gäbe. Ich bin sicher, er wird sich halten, woraus auch immer er besteht. Und Humphrey versteht die Notwendigkeit zur Enthaltsamkeit genauso gut wie du oder ich, wenn es um das Werk geht. Auch wenn wir vielleicht irgend welche kulinarischen Pläne umgeworfen haben, wird er uns nicht gram sein, da das Wohlergehen der Jagdloge auf dem Spiel steht.« Nachdem sie jeder eine Tasse Tee getrunken hatten, zogen sie sich in ihre jeweiligen Zimmer zurück, um sich zu duschen und einige Zeit getrennt den Vorbereitungen zu widmen. Als Adam eine Stunde später wieder ins Erdgeschoß hinunterging, trug er einen gesteppten blauen Morgenmantel über einer grauen Freizeithose und einem sauberen weißen Hemd sowie mit dem Sinclairwappen geschmückte Hausschuhe an den Füßen - seine bevorzugte Bekleidung für die formelle esoterische Arbeit. Philippa hatte ein kaftanähnliches Gewand in tiefem Malve angelegt. Als sie die schmalen Stufen in die süße, modrige Dunkelheit des Weinkellers hinabstiegen, trug Philippa eine antike Öllampe in der Form eines Papyrusblattes mit sich und verstärkte so das elektrische Licht mit einem gelblichen Leuchten und einem Hauch Zitronenstrauchduft. Hinter ihr trug Adam die Schatulle mit den Überresten des Origami-Luchses. Als sie am Fuß der Treppe angekommen waren, ging Adam seiner Mutter voran, vorbei an dämmrigen Gestellen mit edlen Weinen, bis zum anderen Ende des Gewölbes. In einer Nische -301-
wiederholte hier ein Türbogen die Wölbung der Decke; er war geschmückt mit dem Wappen der Sinclairs - einem Phönix, der aus einem Feuernest aufflog. Die Tür selbst bestand aus länglichen Feldern unterschiedlicher Hölzer, wobei jedes Feld etwa die Größe einer männlichen Hand hatte und seinerseits mit eigenen Intarsienmustern verziert war. Adam gab die Schatulle für einen Augenblick in Philippas Obhut, dann trat er unter den Türbogen und legte seine rechte Hand auf ein Feld aus Tulpenbaumholz in der Mitte der obersten Reihe. Unter dem Druck seiner Finger gab das Paneel nach, drehte sich - mit Hilfe einer Feder - an einem Scharnier nach oben und gab eine flache Vertiefung frei. Das links anschließende Feld aus Ahornholz glitt auf Adams Berührung hin reibungslos in die dafür vorbereitete Nut, wie ein bewegliches Segment in einem Geduldsspiel. Die nachfolgende Verschiebung einiger weiterer Felder deckte schließlich ein verborgenes Fach auf, das einen blankpolierten Messingschlüssel enthielt. Adam nahm ihn heraus und verschob weitere Felder in einem anscheinend zufälligen Muster, bis schließlich das Paneel in der Mitte zur Seite glitt und das Schloß freilegte, für das der Schlüssel gemacht war. Adam drehte ihn im Schloß, dann nahm er Philippa die Schatulle wieder ab. Während sie durch einen kurzen Vorraum weiterging und eine weitere überwölbte Tür öffnete, schloß er die erste Tür und sicherte sie. Hinter der zweiten lag ein weiteres Gewölbe von ähnlicher Größe wie der Weinkeller. Die weiß getünchten Wände wurden sanft beleuchtet vom Schein einer ständig brennenden Lampe, die an Bronzeketten von einer Bosse in der Mitte der Decke herabhing. Direkt unter der Lampe befand sich mitten auf einem großen gefransten Kelimteppich ein quadratischer, hüfthoher Altar in der Form eines Doppelkubus, der bis zum Boden mit einem tiefblauen Altartuch verhüllt war. Rechts vom Altar und ihm zugewendet stand ein -302-
Armsessel mit hoher Rückenlehne, der aus goldenem Eichenholz gefertigt war. Seine Sitzfläche und die ovale Lehne waren mit einem Samt gepolstert, dessen Blau den gleichen Farbton aufwies wie das Altartuch. Ein schmaler Durchlaß in der rechten Wand des Vorraums führte zu einer kleinen Sakristei. Philippa war schon mit ihrer Lampe hineingegangen, Adam trat jedoch zuerst an die Schwelle des Tempels und zollte ihm seine Verehrung, wobei er schon seine Aufmerksamkeit auf die vor ihnen liegende Arbeit zu bündeln begann. Als er sich ein paar Minuten später seiner Mutter anschloß, hatte Philippa ihren Kaftan gegen eine saphirblaue Soutane ausgetauscht und bediente gerade eine kleine Handpumpe mit Bronzegriff, um einen cremefarbenen Porzellankrug mit Wasser zu füllen. Adam stellte die Schatulle beiseite, legte seinen gesteppten Morgenmantel ab und zog statt dessen eine Soutane an, die der von Philippa ähnlich war; er knüpfte sie bis zum Hals hinauf zu wie ein Priester, dann legte er einen ebenfalls tiefblauen Gürtel um. Er trug schon den saphirgeschmückten Siegelring, der sowohl Emblem wie auch Instrument seiner Berufung als Adeptus Maior war; nun hängte er sich die kabbalistische Stola der Hohen Einweihung um, die auf der rechten Seite schwarz, auf der linken weiß war und an der Stelle, wo die beiden Farben aufeinanderstießen, mit einem winzigen roten Templerkreuz verziert war, das an das Banner Beauceant seines Templererbes erinnerte. In anderen Nächten, vor einem anderen Werk, hätte er vielleicht die weiße Seite über die schwarze gelegt und die Enden unter seinem Gürtel festgesteckt, was die Gnade bedeutete, die die Macht zurückhielt, den Priesterkönig, der sein Selbst der Gottheit als Opfer anbot. Aber an diesem Abend ließ er die Enden frei hängen, denn er sollte das Werkzeug der Gottheit sein und als die Mittlere Säule zwischen Macht und Gnade stehen, um das Gleichgewicht wieder herzustellen, das durch das dunkle Wirken der Loge der Luchse gestört worden war. -303-
Er faltete die Hände und drückte den Saphir seines Ringes sanft an die Lippen, dann verrichtete er ein Gebet, das die Templer als Motto angenommen hatten, als sie bei ihrer Gründung nur neun arme Ritter im Heiligen Land gewesen waren. Nicht uns, Herr, nicht uns, sondern dir sei Ehre! Als er sich wieder Philippa zuwandte, stand sie wartend mit dem cremefarbenen Wasserkrug und einem dazu passenden Becken da; über einen ihrer Unterarme hatte sie ein makelloses Leinenhandtuch gelegt. Er trat zu ihr, ließ sich Wasser über die Hände gießen und atmete den Duft von Rosenöl ein, dann trocknete er seine Hände ab und erwies seiner Mutter den gleichen Dienst. Ihr Ring blitzte im Licht der Lampe. Saphir und Gold waren geformt wie ein Skarabäus, das uralte ägyptische Symbol des ewigen Lebens. Adams Vater hatte ihr den Ring kurz vor der Hochzeit gekauft, wobei er damals noch nicht wußte, daß sie neben den Aufgaben der Ärztin, der Ehefrau und der zukünftigen Mutter noch eine weitere Berufung erfahren würde. Das Pectorale, das über ihrer Brust hing, war - obwohl später erworben - jedoch weit älter, es stammte aus der Zeit der XXXI. Dynastie des alten Ägyptens. Adams Vater hatte es bei einer Auktion gekauft, um die Geburt seines Sohnes zu feiern - blaue Fayence und Email zeigten einen Horus-Falken, der zwischen zwei Straußenfedern die Sonnenscheibe umklammert hielt. Sir lain Sinclair sollte nie erfahren, daß die Seele, die durch die klugen Augen seines kleinen Sohnes und zukünftigen Erben blickte, das Schmuckstück als ein Zeichen königlicher Priesterschaft gehegt hatte. Adam riß sich von den Erinnerungen los, als Philippa das Handtuch beiseite legte, er kippte das Becken über den Wasserablauf, der in die Wand eingebaut war, und ließ so das Wasser zur Erde zurück kehren, aus der es gekommen war. Während sie einige weitere Gegenstände in den Tempel trug, -304-
holte er seinen sgian dubh aus der Tasche seines Morgenmantels und steckte ihn einstweilen vorn in seinen Gürtel. Philippa kehrte zurück, sie waren bereit. Sie entzündete an der kleinen Papyruslampe eine neue Bienenwachskerze und ging voran, Adam folgte ihr mit der Schatulle. Diesmal hielt er in der Tür an und ließ Philippa die Bienenwachskerzen anzünden, die von Spiegeln hinterlegt - auf Leuchtern an den vier Wänden des Tempels staken. Während Philippa jede der vier Himmelsrichtungen grüßte und ihren Schutz herbeirief, rezitierte er in Gedanken die Antwortstrophen. An die östliche Wand war ein Fresko des Lebensbaumes gemalt, und die östliche Kerze stand an Stelle von Kether, der Krone. Knapp vor dieser Wand befand sich ein konventionellerer christlicher Altar, den sie in dieser Nacht jedoch nicht benutzen würden. Der Kerzenschein ließ an der Decke silberne Spitzen aufschimmern, wo das Gewölbe mit einem Mosaik von Sternen belegt war. Als sie ihren Rundgang beendet hatte, löschte sie ihre Kerze aus und legte sie in eine kleine Nische rechts von der Tür, bevor sie zwischen den mittleren Altar und den Sessel trat. Sie wandte sich nach Osten und verneigte sich tief in verehrender Anerkennung der Gottheit, der sie und Adam dienten. Dann wandte sie sich an diese geistige Präsenz mit den Worten des Psalmisten von Israel: »Dein ist der Tag, und dein ist die Nacht; du hast das Licht und die Sonne geschaffen.« Ein leichter Lufthauch wehte durch den Raum und ließ die Kerzenflammen flackern, so daß sie mit größerer Helligkeit tanzten. Philippa richtete sich wieder auf, wandte sich dann nach links und blickte Adam an, wobei sie ihre Hände mit den Flächen nach oben in Schulterhöhe hob. »Der Herr ist in seinem heiligen Tempel«, verkündete sie. »Nähere dich in Glauben und Ehrfurcht, damit unser Werk in seinen Augen Gefallen finde.« -305-
Auf diese Einladung hin näherte sich Adam dem Altar und begab sich an dessen Ostseite, gegen über von Philippa. Dort sank er in einer tiefen Kniebeuge zu Boden, in der Haltung eines Ritters, der seinem Lehensherrn Treue schwor, wobei er die Schatulle auf seinem freien Knie hielt. Als er sich wieder erhob, schlug Philippa das blaue Tuch vom Altar zurück und nahm es ab. Darunter kam weißes Damastleinen zum Vorschein. Sie faltete das blaue Tuch zusammen und legte es auf eines der beiden Borde, die speziell zu diesem Zweck in den Sockel des Sessels eingearbeitet waren, dann schüttelte sie ein viel kleineres quadratisches Leinentuch aus, das genau die Größe der Altarfläche hatte, und breitete es über den weißen Damast. Es folgten zwei kleine Silberschalen, die Salz und klares Wasser enthielten. Sie stellte beide auf eine Seite des Altars, verbeugte sich kurz mit gefalteten Händen und wies dann mit dem Zeigeund Mittelfinger der rechten Hand auf das Gefäß mit dem Salz. »Ich beschwöre dich, Geschöpf des Salzes, beim lebendigen Gott, beim heiligen Gott, beim allmächtigen Gott, du mögest gereinigt werden im Namen des Adonai, der der Herr der Engel und Menschen ist.« Sie zeichnete ein Kreuz über der Schale, dann einen umfassenden Kreis, schließlich hob sie die Schale mit beiden Händen in Augenhöhe. »Geschöpf der Erde, bete deinen Schöpfer an. So seiest du geweiht dem Dienst des Lichts, damit du die Finsternis abwenden und Reinigung allem bringen mögest, das deine heilige Berührung erfährt. Amen.« Nachdem sie die Schale mit dem Salz rechts auf dem Altartuch abgestellt hatte, verbeugte sie sich tief vor dem Altar, dann wies sie mit denselben Fingern wie zuvor auf die Schale mit dem Wasser. »Ich beschwöre dich, Geschöpf des Wassers, beim lebendigen Gott, beim heiligen Gott, beim allmächtigen Gott, du mögest -306-
gereinigt werden im Namen des Elohim Sabaoth, der der Herr der Engel und Menschen ist.« Wieder folgte das Kreuz mit dem Kreis, dann hob sie das Gefäß mit dem Wasser ebenso wie zuvor das mit dem Salz. »Geschöpf des Wassers, bete deinen Schöpfer an, und hiermit seist du dem Dienst des Lichts geweiht, durch den Namen, der über allen Namen ist, vor dem sich jedes Knie beugen und den jede Zunge preisen soll. Amen.« Nachdem sie die Schale mit dem Wasser links abgestellt hatte, verneigte sie sich wieder vor dem Altar, dann zeichnete sie mit ihrer Ringhand in die Luft über dem Leinenquadrat zuerst ein Kreuz, dann ein Pentagramm, und schließlich ein ankh, ein ägyptisches Henkelkreuz. Adams erhöhter Sinneswahrnehmung schien es, als hingen die Figuren noch als Nachbild in der Luft, als er die Schatulle in ihre Mitte stellte. Während er nach links im Kreis ging, um den Platz vor seinem Sessel einzunehmen, zog er den sgian dubh aus seinem Gürtel. Philippa bewegte sich in Übereinstimmung mit ihm, so daß sie schließlich ihm gegen über zu stehen kam. Er war sich ihrer Kraft bewußt, die bereit war, seine eigene zu verstärken, und zog den sgian dubh aus der Scheide, dann legte er Scheide und Klinge links und rechts von der Schatulle ab, bevor er deren Deckel öffnete. Der Umschlag gab einen cremefarbenen Kontrast zu der meerblauen Seide ab, mit der die Schatulle ausgelegt war. Adam holte ihn heraus, riß die obere Kante auf und zog den Inhalt vorsichtig am Saum von McLeods Taschentuch heraus und ließ alles in die Schatulle fallen. Vorsichtig mit dem sgian dubh stochernd schlug er die Seidenfalten zur Seite und setzte die Überreste des Origami-Luchses dem Licht der über dem Altar hängenden Lampe aus, zusammen mit dem gerollten Zettel mit McLeods Unterschrift und den gezackten Styroporstreifen. Ein knisterndes Aufwallen unsichtbarer Energien begleitete -307-
seine Handlung, zentriert auf die Schatulle, und schon erhob sich Widerstand als Reaktion auf seine Absicht. Adam war sich der plötzlichen Spannung, die sich da aufbaute, wohlbewußt, er legte seine Klinge quer über die Schatulle und breitete die linke Hand darüber aus, dann sog er die Lungen tief voll Luft und konzentrierte sich auf eine Anrufung um Schutz und Führung. Als er sich dem göttlichen Willen öffnete und die Mittlere Säule anrief, floh alle Besorgnis vor einem wunderbaren Gefühl beständiger Ruhe. In dieser Ruhe verankert, glitt er mühelos aus dem Gebet in eine tiefere Trance, wobei die Schärfung seiner Wahrnehmungen eine immer deutlichere Schau der nackten Bosheit mit sich brachte, die den Inhalt der Schatulle umgab. Das Böse, das hiervon ausdünstete, glich dem Gestank von Schwefel. Während er es mit der linken Hand in Schach hielt, legte er den sgian dubh beiseite, nahm die kleine Schale mit dem geweihten Salz und rief die Autorität desjenigen an, in dessen Namen es gesegnet worden war. Er sprach diesen Namen leise aus, während er das Salz über den Inhalt der Schatulle schüttete. Mit einem ätzenden Zischen, das klang, als spritzte hier heißes Fett, begann das Papier, das den Luchs gebildet hatte, sich zusammenzurollen. Schwarze Brandstellen sprenkelten das goldene Papier und breiteten sich von Falte zu Falte aus. Plötzlich schoß ein fahler Blitz empor, begleitet von einem Wölkchen schmutzigen Rauchs. Während der Rauch sich ausbreitete, merkte Adam plötzlich, wie er durch ein Fenster blickte, das sich in dem Rauch auftat. Er schaute in ein großes Zimmer, das wie eine viktorianische Bibliothek eingerichtet war. Vier von Nebel umhüllte Gestalten waren um einen Tisch in der Mitte des Fensters versammelt. Im Licht eines mehrarmigen Leuchters fuhr sich einer der vier mit einem Skalpell über den linken Daumen und ließ Blut in einen kleinen Glaskrug tropfen, der schon zum Teil gefüllt war. -308-
Mindestens einer der anderen hatte schon sein blutiges Opfer gebracht und drückte einen Wattebausch zwischen den linken Daumen und die Finger. Weitere Utensilien auf dem Tisch verrieten, daß dies die Sitzung war, die den Luchszauber hervorgebracht hatte. Eine Rabenkielfeder lag auf einer Seite, das Gold, das neben dem Ellbogen des Führers aufblitzte, schien zu dem Goldfolienpapier zu gehören, aus dem der OrigamiLuchs gefaltet worden war. Adam kniff seine Augen scharf zusammen und versuchte das Gesicht des Anführers genauer zu sehen, doch bevor er noch dazu Gelegenheit hatte, bäumte sich eine dunkle Gestalt mit ausgestreckten Armen vor ihm auf, einen düster schimmernden Torques um den Hals und Donnerkeile in beiden Händen. In einem Reflex hob Adam die Hand zu einer abwehrenden Geste. Das Bild verschwand in einer Lohe weißen Lichts. Er hörte, wie Philippa einen Laut des Erstaunens ausstieß. Einen Augenblick lang konnte er außer dem Nachbild nichts sehen. Als seine Augen sich wieder der Umgebung angepaßt hatten, war von dem Inhalt der Schatulle nichts mehr übrig als eine stinkende Schmiere aus glühender Asche und geschmolzenem Styropor. Sogar das Innere der Schatulle selbst war verschwunden, das Seidenfutter war sauber weggebrannt und das darunterliegende Holz fast bis zum Metall verkohlt. Um die Reinigung zu vollenden, nahm Adam das Gefäß mit dem geweihten Wasser und goß dessen Inhalt in die Schatulle. Dampf stieg auf, weit mehr, als dem Ausmaß des Feuers oder der Wassermenge entsprach. Der Gestank von Blut und Schwefel löste sich schnell auf und wich einem schwachen frischen Duft wie von reinem Schnee. Als der sich in einem letzten Wölkchen weißen Dampfs verzog, war die Schatulle leer und trocken, nur noch eine Hülle aus gehämmertem Metall. Adam stieß einen dankbaren Seufzer aus und beugte sich leicht vor, um zu prüfen, was übrig war, dann breitete er seine Handflächen über die Schatulle, um festzustellen, ob das Werk -309-
vollendet war. Schließlich sank er in einer Mischung aus Erleichterung und Erschöpfung auf die Knie und lehnte die Stirn dankbar an die Kante des Altars, während er wortlos für das Eingreifen des LICHTS Dank sagte. Eine halbe Stunde später, nachdem sie den Tempel wieder aufgeräumt und ihre rituelle Kleidung abgelegt hatten, kehrten Adam und Philippa in die Bibliothek zurück und nahmen ein verspätetes und dringend notwendiges Abendessen ein, das aus heißem Eintopf, knusprigem französischen Brot und Kakao bestand. Nahe ans Feuer gekuschelt, da sie immer noch das Frösteln spürte, das unweigerlich auf eine schwierige Arbeit folgte, musterte Philippa einige Minuten lang das Gesicht ihres Sohnes und versuchte seine Reaktion auf die Ereignisse auszuloten, die sie soeben erlebt hatten. Da er nicht zum Sprechen aufgelegt zu sein schien, stellte sie ihren Kakaobecher beiseite und legte ihre schlanke, blaugeäderte Hand auf sein Knie. »Anscheinend bereitet dir das Werk des heutigen Abends keine große Befriedigung«, bemerkte sie ruhig. Adam ließ seinen Blick vom Becher zu den Flammen im Kamin wandern. »Es würde mir besser gefallen, wenn wir jetzt etwas mehr wüßten als zuvor«, erwiderte er. »Wir haben die unmittelbare Bedrohung für Noel entkräftet, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß die Sicherheit der Jagdloge verletzt wurde. Die anderen werden es wieder versuchen, und sie werden ihr Netz ausdehnen, sobald sie herausfinden, daß ich in die Sache verwickelt bin - und Peregrine. Die Situation wäre schon schwierig genug, ohne daß wir dadurch behindert würden, daß unsere Feinde viel mehr über uns wissen als wir über sie.« Auf diese düstere Feststellung hin verzog Philippa das Gesicht. »Konntest du gar nichts über die Leute erfahren, die an der Herstellung dieses Zaubers mitgewirkt haben?« »Wenig über das hinaus, was Peregrines Skizzen schon -310-
angedeutet haben«, sagte Adam. »Sie waren zu viert, und anscheinend steuerten alle zu dem Blut bei, das verwendet wurde, um den Zauberspruch zu schreiben, aber ich konnte ihre Gesichter nicht sehen. Und ganz am Ende war da etwas anderes, das sicherstellte, daß ich sie nicht sehen konnte - etwas Nichtmenschliches. Ich konnte es auch nicht richtig sehen - und ich bin mir gar nicht ganz sicher, ob ich es überhaupt hätte sehen wollen -, doch da war wieder der Torques. Und Donnerkeile.« Er schüttelte den Kopf und unterdrückte ein Schaudern. »In welche Richtung wir uns auch wenden, es ist immer die gleiche Geschichte. Keine Namen, keine Gesichter, nur eine länger werdenden Liste von Verbrechen, jedes brutaler und unverfrorener als das vorhergehende - und jetzt ein Hinweis darauf, daß wir auf etwas sehr Dunkles und sehr Mächtiges gestoßen sind, vielleicht auf eine Art Elemental. Was immer sie vorhaben, es muß sich um etwas sehr Großes handeln. Und wenn wir nicht recht bald einen Umschwung erwirken, dürften sie es einfach erreichen - und uns damit wegfegen.« Adam verfiel in ein sorgenvolles Schweigen. Nachdenklich füllte Philippa ihren Becher aus dem Schokoladenkrug nach und nippte daran, während sie nachdachte. »Ich gebe zu, daß die Zeit nicht gerade auf unserer Seite steht«, räumte sie nach einer Weile ein. »Aber laß dir nicht von deiner Enttäuschung den Blick für die Tatsache rauben, daß der heutige Angriff auf Noel McLeod in gewisser Hinsicht ein Fehler war. Die Tatsache, daß er überlebt hat, da er doch eigentlich hätte tot sein sollen, ist vielleicht genau das lose Ende, das wir brauchen, um den Rest des Rätsels aufzudröseln.« »Ich hoffe, du hast recht«, sagte Adam mit der Andeutung eines Lächelns. »Wenn es dort draußen wirklich irgendein loses Ende gibt, dann hoffe ich doch, daß es uns irgendwo hinführt.« Kapitel 21 -311-
Nachdem Peregrine am folgenden Tag bis gut nach Mittag geschlafen und während der restlichen Stunden des Tages sehr wenig fertiggebracht hatte, fuhr er am Abend vom Torhaus zum Herrenhaus hoch, um seine Verabredung zum Dinner mit Adam und dessen Mutter einzuhalten. Als er durch den wirbelnden Schnee zum Haupteingang hinauflief, wartete Humphrey schon darauf, ihn einzulassen. »Guten Abend, Mr. Lovat.« »Hallo, Humphrey. Was für ein Abend!« rief Peregrine aus und stampfte sich im Vorraum den Schnee von den Schuhen. Dann legte er Hut und Schal ab, während Humphrey darauf wartete, ihm den Mantel abzunehmen. »In der Tat, Sir. ›Kaum geeignet für Mensch oder Tier‹ , wie man so sagt.« Peregrines Brille war noch mit Schneewasser bespritzt. Er reinigte sie schnell mit seinem Taschentuch. Dann steckte er es wieder in die Brusttasche seiner Anzugsjacke, setzte die Brille auf und fuhr sich flink mit den Händen durchs Haar. »In Ordnung, Humphrey. Wohin jetzt?« »Sir Adam und Lady Sinclair nehmen die Drinks im Rosenzimmer ein, Sir«, erwiderte der Butler. »Hier entlang, wenn Sie gestatten.« Ungeduldig, wenn auch ein wenig unsicher, folgte Peregrine Humphrey die Treppe hinauf und über den Absatz im ersten Stock. Ein verstohlener Blick in einen der Spiegel versicherte ihm, daß seine Krawatte richtig saß. Er mochte das Rosenzimmer mit seiner zarten Teerosentapete, den Rosenblattdraperien und den zarten Möbeln aus der Epoche Ludwig XIV. Für sein Künstlerauge erinnerte es an sanftere Zeiten, an damals, als der elegante kleine Salon als Morgenzimmer und Studio einer viktorianischen Dame gedient hatte. Adam benutzte es selten für sich, doch Peregrine wußte einzuschätzen, warum der Herr von Strathmourne House sich -312-
entschlossen haben mochte, es bei dieser Gelegenheit aufzuschließen - und warum es eines von Philippa Sinclairs Lieblingszimmern gewesen sein mußte, als sie noch Herrin dieses Hauses war. Kleiner als die Bibliothek und intimer als die beiden formellen Empfangszimmer im Erdgeschoß, bot das Rosenzimmer eine gemütliche und anmutige Umgebung, um sich miteinander bekannt zu machen und in Ruhe zu reden. Während er Humphrey zur Tür des Rosenzimmers folgte, zupfte Peregrine ein letztes Mal an seinen Manschetten, dann holte er tief Luft und nahm seinen Mut zusammen, als Humphrey diskret anklopfte und Peregrines Ankunft meldete. »Ach, Peregrine, da sind Sie ja!« sagte Adam. Er stellte sein Glas aus geschliffenem Kristall auf dem Kaminsims ab und kam ihm grüßend entgegen. »Kommen Sie herein und lernen Sie meine Mutter kennen!« Hinter Adam loderte ein Feuer im Kamin unter einem schönen Sims aus rosenfarbenem Carraramarmor. Davor saß in einem mit rosenfarbenem Samt gepolsterten Lehnsessel eine schlanke, silberhaarige Frau, aufrecht wie ein Ladestock. Ihre Augen erinnerten Peregrine an die Göttinnen auf den Wandgemälden ägyptischer Gräber. Ein einziger Blick reichte aus, um ihn zu überzeugen, daß er sie selbst unter hundert Menschen als Adams Mutter herausgefunden hätte. Denn die Ähnlichkeit zwischen ihnen war so stark wie auffällig. Mutter und Sohn hatten die gleiche elegante Größe und die gleichen starken, feingeschnittenen Züge. Noch auffälliger war ihre verwandte Art vibrierender Intensität. Unwillkürlich zu einem eingehenderen Blick verleitet, verstärkte Peregrine diesen Eindruck noch durch die geisterhaften Bilder, die er inzwischen mit der Anwesenheit von Menschen zu verknüpfen gelernt hatte, die Adams geheimnisvolle Berufung teilten. Es löste in ihm zwar Respekt, aber kaum noch Überraschung aus, als er entdeckte, daß Adam mit seiner Mutter mehr gemeinsam hatte als nur die körperliche Erscheinung. -313-
Während er noch dabei war, die Bedeutung dieser flüchtigen, doch bedeutsamen Entdeckung zu verdauen, wurde ihm verspätet bewußt, daß dies eine Vorstellung war, und er trat vor und beugte sich über die schlanke Hand, die Philippa ihm reichte. »Guten Abend, Lady Sinclair«, sagte er. »Seit Adam mir erzählt hat, daß Sie kommen würden, habe ich mich darauf gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Sein offensichtlicher Respekt erntete bei Philippa ein Lächeln. »Und ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen, Mr. Lovat«, sagte sie herzlich. »Adam hat mir einige Ihrer Arbeiten gezeigt. In unserem Zeitalter der mit Computer erzeugten Bilder ist es ein seltenes Erlebnis, einem Künstler zu begegnen, der eine Begabung zur wahren Porträtmalerei hat.« Ihre Stimme war ein leiser, klarer Alt, dessen amerikanischer Akzent auf subtile Weise von Anklängen einiger anderer Sprachen moduliert wurde. Die leichte Betonung, die sie auf das Wort wahr gelegt hatte, war unüberhörbar. »Sie sind sehr freundlich, Lady Sinclair«, sagte Peregrine. »Aber ich stehe eigentlich in Adams Schuld, da er mir eindringlich vorgeführt hat, daß an manchen Menschen viel mehr ist, als man mit dem bloßen Auge erkennen kann.« Er begleitete diese Feststellung mit einem bedeutsamen und ebenso bewundernden Blick. Philippas Lippen kräuselten sich zu einem wirklich amüsierten Lächeln. »Eins zu null für Sie!« sagte sie lachend. »Das habe ich davon, daß ich Sie mit Komplimenten anstachle. Da wir nun alle wissen, mit wem und womit wir es zu tun haben, wird Adam vielleicht so gut sein und Ihnen einen Drink eingießen. Und Sie müssen mich Philippa nennen. Ich hätte es gern, daß Adam es eines Tages für angebracht hält, den Titel ›Lady Sinclair‹ auf eine neue Herrin von Strathmourne zu übertragen.« Adam rollte gutmütig mit den Augen, und Peregrine merkte, -314-
wie er Philippa zulächelte, während sie ihn auf den Sessel zudirigierte, der ihrem eigenen gegen über stand. Während er anerkennend an einem Glas von Adams bevorzugtem Whisky, The MacAllan, nippte, wurde Peregrine auch weiterhin von der ungekünstelten Wirkung von Philippas Persönlichkeit beeindruckt. Trotz ihres Alters war an ihr etwas Quecksilbriges, das sich einer einfachen Definition entzog. Er ertappte sich dabei, wie er überlegte, ob sie schon einmal mit der Loge der Luchse die Schwerter gekreuzt habe, und er kam zu dem Schluß, daß sie gegebenenfalls durchaus in der Lage war, sich selbst zu verteidigen. Nach einer halben Stunde leichter Konversation wurde im Speisezimmer das Dinner in einem bescheidenen Rahmen serviert, auf einem Regency-Tisch, der mit wappengeschmücktem Sevres-Porzellan, antikem Silberbesteck und Edinburgher Kristallgläsern gedeckt war. Der erste Gang war eine Suppe aus frischen Muscheln, Apfelmost und Sahne, darauf folgte pochierter Steinbutt in Granville-Soße. Während sie davon aßen und Mahlzeit wie Gesellschaft genossen, erkundigte sich Peregrine nach McLeod und erfuhr, daß der Inspector sich zu Hause erholte und daß es ihm den Umständen entsprechend gut ging. »Ich habe ihn heute morgen angerufen«, sagte Adam. »Die offizielle Version lautet, daß ihn ein schlimmer Grippeanfall heimgesucht hat und daß ihm geraten wurde, sich einige Tage frei zu nehmen und zu erholen. Tatsächlich bedeutet das, daß er Dienstag oder Mittwoch wieder zur Arbeit gehen wird - und schon eher, wenn er seinen Kopf durchsetzt. Inzwischen schmeißt der junge Cochrane den Laden. Und wir erwarten zumindest keine dauernden Nebenwirkungen.« »Nun, das ist schon eine Erleichterung«, sagte Peregrine. »Wenn Sie mit ihm sprechen, dann richten Sie ihm meine Grüße aus.« -315-
Danach lenkte Philippa das Gespräch geschickt auf die Künste, indem sie ein lebhaftes Interesse an der Schule des amerikanischen Realismus eingestand. Peregrine war überrascht und erfreut, als er entdeckte, daß sie sich auf diesem Gebiet gut auskannte, und er fand sich in eine lebhafte Diskussion über die jeweiligen Vorzüge verschiedener amerikanischer Realisten von Winslow Homer bis John Sloan verwickelt. »Der Begriff Realismus paßt viel besser, als vielen Kritikern bewußt ist«, sagte Philippa mit einem Anflug von Ironie, nachdem Mrs. Gilchrist die Terrine mit frischem Obst zum Nachtisch gebracht hatte. »Soweit es die Kritiker betrifft, ist ein Künstler ein Realist, wenn er eher Szenen aus dem täglichen Leben als Szenen aus dem Reich der allegorischen Phantasie malt. Aber da ist mehr daran; Künstler wie Whistler und John Singer Sargent lassen Sie hinter die Gesichter ihrer Modelle auf etwas Inneres blicken - auf etwas Wirklicheres, wenn Sie so wollen, als auf einem fotografischen Abzug gezeigt wird. Es handelt sich um etwas, das das Auge der Kamera nicht einfangen kann - nur das Auge des wahrhaft begabten Künstlers.« »Da wir gerade davon sprechen«, sagte Adam mit einem pointierten Blick in Peregrines Richtung, »sind Sie mit dem Porträt des Bürgermeisters schon fertig?« »Fast«, erwiderte Peregrine mit einem Lächeln und führte eine Serviette an die Lippen. »Ich wäre gestern fertig geworden, nur mußte ich dann weggehen und mich um Noel kümmern. Ich habe die abschließende Sitzung auf Montag verlegt. Natürlich ist das Bild erst dann zur Ablieferung bereit, wenn es richtig getrocknet und gefirnißt ist, aber ich glaube, selbst dem Bürgermeister gefällt das Ergebnis, zumindest seiner Frau gefällt es, das weiß ich. Und so schmeichle ich mir damit, daß wir diesen Auftrag als erfolgreich abgeschlossen betrachten können.« Er beugte sich wieder über seine Terrine, und so entgingen -316-
ihm die Blicke, die sein Gastgeber und seine Gastgeberin über den Tisch hinweg miteinander austauschten. »In diesem Fall«, sagte Adam, »trage ich mich mit dem Gedanken, Ihnen einen neuen Auftrag zur Erwägung vorzulegen.« Mit einem gebannten Gesichtsausdruck blickte Peregrine auf und hielt mit dem Löffel auf halbem Weg zum Mund inne. Er begegnete Adams Blick und sagte: »Warum habe ich dieses plötzliche Gefühl, daß Sie das nicht im geläufigen Sinne meinen?« Philippa lächelte und warf Adam einen ihrer schnellen Blicke zu. »Du kannst genauso gut damit herausrücken, mein Lieber«, riet sie ihm. »Das Element der Überraschung hast du schon verloren.« »Das habe ich bemerkt«, versetzte Adam trocken. »Ich hoffe also, daß Sie sich noch an den Namen Gillian Talbot erinnern.« Peregrine legte seinen Löffel hin und warf Philippa verstohlen einen vorsichtigen Blick zu. »Natürlich«, sagte er ruhig. »Sie können völlig frei reden«, erklärte ihm Adam. »Philippa weiß alles über die Geschichte von Melrose Abbey. Übrigens«, fuhr er fort, »als ich jetzt in London war, haben die Talbots endlich mit mir Kontakt aufgenommen und um meine fachliche Intervention zu Gillians Gunsten gebeten. Philippa und ich haben sie dann am folgenden Tag im Krankenhaus besucht. Das Ergebnis dieser Begegnung war, daß Gillian nach Jordanburn herauf verlegt wird. Sie und ihre Mutter werden am Montag eintreffen.« Peregrine nickte und hielt sich noch vorsichtig zurück. »Ich weiß, Sie hofften, daß etwas derartiges arrangiert werden könnte. Aber was hat das mit mir zu tun?« »Ich habe eine Art Experiment im Sinn«, antwortete Adam. »Sobald Gillian gut untergebracht ist, hätte ich gern, daß Sie sie -317-
im Krankenhaus besuchen und einige Skizzen anfertigen. Ich habe den Verdacht, daß diese Zeichnungen sich als ziemlich aufschlußreich erweisen könnten, wenn wir uns dem Problem nähern, ihre Persönlichkeit wieder herzustellen. Zumindest könnten sie vielleicht die Rolle enthüllen, die Sie selbst dabei spielen sollen.« »Ich?« Peregrine wurde ein wenig blaß. »Aber ich weiß doch nichts über...« »Sie glauben vielleicht, Sie wüßten nichts«, warf Philippa ein, »aber ich glaube, Michael Scot hat in Melrose deutlich gemacht, daß er Ihre Talente für nützlich befunden hat. Adam glaubt und ich stimme ihm da zu -, daß diese Wahl nicht zufällig war. Ganz im Gegenteil. Wir glauben, daß Scot Sie als jemanden ausgesucht hat, der ihm in der Zukunft helfen könnte - in seiner Zukunft.« Peregrine blickte von Philippa zu Adam und wieder zurück. »Ich weiß nicht«, sagte er unsicher. »Was wird Gillians Mutter dazu sagen? Ich bin nicht einmal Arzt.« Adam lächelte. »Ich bin sicher, daß wir ihr eine plausible Erklärung liefern können.« Während Peregrine mit seinen Gastgebern auf Strathmourne beim Dinner saß, fand in der Bibliothek eines großen Landhauses knapp zwanzig Kilometer westlich von Stirling ein weit weniger freundschaftliches Treffen statt. Auf Verlangen anwesend waren Charles Napier, ein älterer Polizeibeamter aus Edinburgh, Dr. Preston Wemyss, ein bedeutender Arzt, und Angela Fitzgerald, eine prominente Glasgower Gesellschaftskolumnistin. Keiner von ihnen hatte Erfrischungen angeboten bekommen. Allen war unter dem kalten, geringschätzigen Blick ihres Gastgebers ausgesprochen unbehaglich. Francis Raeburn, der selbst gerade von einem Treffen mit seinem Oberen zurückgekommen war, befand sich nicht in der Stimmung, irgend jemanden zu schonen. -318-
»Ich vermute, daß ich mich nicht über die Tatsache äußern muß, daß Noel McLeod noch am Leben ist, obwohl er von rechts wegen tot sein sollte«, äußerte er sich seinen Untergebenen gegen über mit beißendem Sarkasmus. »Unser Versagen, ihn zu neutralisieren, hat Komplikationen geschaffen, ohne die ich jedenfalls gut zurecht gekommen wäre. Von jetzt an können wir uns keine weiteren Fehler mehr erlauben. Ich verlange von Ihnen allen die Zusicherung, daß es keine mehr geben wird.« Er heftete seinen Blick nacheinander auf jeden seiner drei Untergebenen. Napier, dessen schweres Gesicht unter heruntergezogenen Augenbrauen mürrisch dreinblickte, machte einen Buckel wie ein Ringer und sprach für die Übrigen. »Wie sollten wir denn wissen, daß er sich gegen über dem Zauber als so widerstandsfähig erweisen würde?« fragte er aufgebracht. »Außerdem waren Sie es, der über die Art des Angriffs entschied.« »Und ich habe mich darauf verlassen, daß Sie das Opfer einschätzen«, versetzte Raeburn. »Sie hätten es wissen sollen. Es war Ihre besondere Aufgabe, das zu wissen. Niemand von Ihnen ist bei diesem Spiel ein Neuling. Sie wußten, welche Tests durchgeführt werden sollten...« »Also wirklich, Francis, es war ein kalkuliertes Risiko«, protestierte die einzige Frau in der Runde. »Wenn Sie eine Garantie haben wollten, dann hätten Sie uns mehr Zeit geben sollen, um eine gründliche Einschätzung des Opfers vorzunehmen.« »Wieviel Zeit hätten Sie denn für angemessen gehalten?« gab Raeburn zurück. »Eine Woche? Vierzehn Tage? Einen Monat? Bis die Jagdloge in voller Stärke an unserer Türschwelle erscheint? Muße ist ein Luxus, den wir uns in diesem Geschäft nicht erlauben können. Oder haben Sie vielleicht vergessen, daß unser Großmeister noch viel weniger Geduld hat als ich?« -319-
»Falls der Großmeister so scharf auf Ergebnisse ist, sollte er vielleicht in Erwägung ziehen, eine unmittelbarere Rolle in dieser Sache zu übernehmen!« Angela Fitzgerald verzog affektiert ihren harten, geschminkten Mund, während sie eine imaginäre Fussel vom Ärmel ihrer grauen Seidenbluse klaubte. »Dieser McLeod hat nicht einfach zufällig überlebt, wie Sie wissen. Er bekam Hilfe von einigen seiner Mitstreiter.« »Aye, dieser verdammte Künstler, dieser Lovat«, brummte Napier. »Wer wäre denn auf den Gedanken gekommen, daß dieser schwächliche Schnösel überhaupt das Wissen besäße, um einzugreifen? Und ich ließ ihn direkt in McLeods Büro gehen, zusammen mit Cochrane - den man von nun an auch wird überwachen müssen. Ihm kann nicht völlig entgangen sein, was da vor sich ging.« »Konnte nicht eher er es gewesen sein, der McLeod rettete, statt Lovat?« meldete sich Wemyss zum ersten Mal zu Wort. Napier schüttelte den Kopf. »Wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, dann hätte er nicht Lovat und Sinclair dazuholen müssen. Und die Tatsache, daß er beide holte, scheint zu bestätigen, daß Sinclair ihr Anführer ist. Wenn er oder Lovat mir jemals wieder in den Weg geraten...« »Stoßen Sie keine Drohungen aus, die Sie nicht in die Tat umsetzen können«, sagte Angela. »Wir kennen die volle Stärke dieser Leute noch nicht. Was wir jedoch jetzt wissen und vorher noch nicht gewußt haben«, fuhr sie fort und wandte sich wieder Raeburn zu, »ist, daß wir es so gut wie sicher mit einer Jagdloge zu tun haben. McLeod mag noch am Leben sein, aber das Unternehmen war kein totaler Fehlschlag. Es ist uns gelungen, zwei seiner Verbündeten aufzuscheuchen.« Raeburn blickte sie finster und verdrießlich an. »Soll das ein Trost sein, oder handelt es sich dabei nur um eine Entschuldigung?« Wemyss, ein dünner, dunkelhaariger Mann mit den hungrigen Augen eines Wiesels, hatte einen schönen vergoldeten Füllhalter -320-
aus seiner Tasche genommen und drehte ihn nervös in seinen Fingern. »Um Gottes willen, was geschehen ist, ist geschehen!« sagte er gereizt. »Ich sehe nicht, weshalb solche Beschuldigungen zu diesem Zeitpunkt unsere Lage verbessern.« »Dem stimme ich zu«, sagte Angela. Sie richtete den durchdringenden Blick ihrer blauen Augen auf Raeburn und fügte giftig hinzu: »Da wir drei anscheinend so unfähig sind, wird Francis vielleicht freundlicherweise vorschlagen, was wir jetzt tun sollten.« Raeburn schürzte verächtlich die Lippen. »Soll ich Sie an der Hand führen? Wollen Sie das wirklich? Nun gut, vermutlich muß es irgend jemand tun.« Er beugte sich vor und verschränkte die Finger vor sich auf dem Schreibtisch, dann musterte er sie kühl. »Unsere einzige Zuflucht ist jetzt, sicher zu stellen, daß uns keine Pannen mehr unterlaufen. Wenn wir nächstes Mal zuschlagen, muß es hart sein. Sie beschweren sich, daß ich Ihnen nicht genügend Zeit gelassen habe, um Fakten über McLeod zu sammeln? Na schön, jetzt werde ich Ihnen diese Zeit geben. Ich möchte Informationen haben - komplette Dossiers, nicht nur über McLeod, sondern auch über Sinclair, Lovat und alle anderen, die vertraute Kontakte zu ihnen zu haben scheinen. Ich möchte wissen, wen sie besuchen, mit wem sie reden, wie sie ihre Zeit verbringen. Und ich möchte, daß Sie alle zum Einsatz bereit sind, wenn ich das Signal zum Handeln gebe.« »Sie klingen so, als wären wir die ganze Zeit untätig geblieben«, sagte der Doktor mürrisch. »Darf ich Sie daran erinnern, daß ich schon Leute sowohl auf Sinclairs Wohnung wie auf das Krankenhaus, in dem er arbeitet, angesetzt habe.« »Dürfte ich dann vorschlagen«, sagte Raeburn, »daß es an der Zeit ist, daß diese Ihre Mitarbeiter anfangen, sich ihren Lohn auch zu verdienen?« Wemyss öffnete den Mund, als wollte er ungehalten -321-
protestieren, dann gab er jedoch nach, als er Raeburns Blick auffing. »In Ordnung«, sagte Napier mit einem Blick auf seine beiden Kollegen. »Wir alle müssen die Dinge etwas beschleunigen. Aber was ist mit dem Ereignis, das für nächsten Freitag eingeplant ist?« »Es wird wie geplant vonstatten gehen«, erwiderte Raeburn. Angela Fitzgerald blickte ihn finster an. »Glauben Sie nicht, daß dies ein wenig riskant ist? Unsere Gegenspieler kommen bestimmt angerannt, um die Sache zu untersuchen.« »Sollen sie doch«, versetzte Raeburn mit einem Achselzucken. »Alle Indizien, die zurückbleiben, sollten ausreichend verwirrend sein, um sie für eine ganze Weile beschäftigt zu halten, während wir unsere eigenen Ziele anderswo verfolgen. Je mehr Ablenkungen wir unseren frommen Freunden anbieten können, um so besser ist es. Wenn sie dann endlich damit fertig sind, die Beweise auszusieben, werden unsere Pläne der Vollendung um so näher sein. - Wer weiß«, fügte er mit einem dünnen Lächeln hinzu. »Wenn wir darauf zählen können, daß sie jedesmal erscheinen, wenn wir zuschlagen, werden wir vielleicht in der Lage sein, ihre Berechenbarkeit zu unserem eigenen Vorteil auszunutzen.« Kapitel 22 Am späten Montagnachmittag um die Teestunde fuhr am Eingang des Royal Edinburgh Hospital, das im Volksmund allgemein unter dem Namen Jordanburn bekannt ist, ein Londoner Krankenauto vor. Als der Fahrer und sein Kollege zum Heck des Wagens gingen, um die rückwärtige Tür zu öffnen, kamen ihnen zwei Krankenträger und eine mütterlich wirkende Krankenschwester entgegen. Bei der Patientin, die blaß und bewegungslos auf der Trage lag, die die fünf aus dem Wagen zogen, handelte es sich um ein -322-
junges Mädchen von vielleicht elf oder zwölf Jahren. Ein Gewirr von Infusionsschläuchen kam unter der marineblauen Decke hervor, die über ihre reglose Gestalt gegurtet war. Gleich hinter ihr stieg eine erschöpft wirkende blonde Frau von Mitte Dreißig aus dem Auto; ihr besorgter Ausdruck machte es für alle Beobachter der Szene deutlich, daß sie die Mutter des Kindes sein mußte. Eine durchaus aufmerksame Beobachterin war eine der Putzfrauen des Krankenhauses, die gerade über den Parkplatz ging und zur Bushaltestelle an der Hauptstraße unterwegs war. Sie hatte rotblondes Haar und trug eine Brille, war mittleren Alters, hatte einen unauffälligen Tweedmantel über ihren Putzfrauenoverall gezogen und trug eine große Handtasche unter einen Arm geklemmt. Die Unruhe am Ambulanzeingang hätte sie nicht sonderlich interessiert, wenn sie nicht überrascht gesehen hätte, daß sich zum regulären Krankenhauspersonal noch ein Facharzt in einem frischen weißen Arztkittel gesellt hatte - ein großer, aristokratisch wirkender Mann mit dunklem Haar, das an den Schläfen schon silbrig wurde, genau der Mann, dessen Foto die Frau in ihrer Handtasche trug und dessen Tun zu beobachten man ihr befohlen hatte. Da ihr Interesse geweckt war - denn höhere Ärzte vom Range eines Dr. Adam Sinclair empfingen gewöhnlich keine Patienten am Ambulanzeingang -, zügelte sie ihren Schritt und zog aus ihrer Manteltasche eine Zigarette, die sie dann umständlich anzündete, während sie sich bemühte, etwas von dem Gespräch am Krankenwagen mitzuhören. Die Träger schickten sich an, ihre Patientin ins Krankenhaus zu bringen, während sich die Krankenschwester in aller Ruhe mit dem Fahrer der Ambulanz besprach und Dokumente austauschte. Doch Sinclairs Stimme drang wohlklingend durch die frostige Dämmerung, als er vortrat, um die blonde Frau zu begrüßen. »Guten Abend, Mrs. Talbot«, sagte er herzlich. »Sie haben eine lange Reise hinter sich, nicht wahr? Ich hoffe, es war nicht -323-
zu anstrengend.« Die blonde Frau blickte ängstlich an ihm vorbei auf das Kind auf der Trage, bevor sie ein tapferes Lächeln aufsetzte. »Danke, es war nicht so schlimm, Dr. Sinclair. Aber ich bin froh, daß wir endlich da sind.« »Nun, Gillians Bett ist schon vorbereitet und wartet auf sie«, fuhr Sinclair fort und lotste die Mutter der Patientin hinter der Trage her, die schon im Krankenhaus verschwand. »Kommen Sie erst mal aus der Kälte herein, und wir machen Ihnen eine hübsche Tasse Tee.« Die Frau in Tweedmantel und Overall trödelte noch lange genug herum, um zu sehen, wie Sinclair und die blonde Frau durch die Pendeltür verschwanden, bevor sie ihren Weg zur Bushaltestelle fortsetzte. Sobald sie vom Ambulanzeingang aus nicht mehr zu sehen war, kramte sie in ihrer Handtasche herum und holte ein abgegriffenes Notizbuch heraus, in dessen Spiralbindung ein Bleistift steckte. Sie schlug es auf und notierte sich die neueste Entwicklung in der täglichen Chronik, die sie über die beruflichen Aktivitäten des Dr. Adam Sinclair führen sollte. Gegen Mittag des folgenden Tages erhielt Francis Raeburn eine Visitenkarte, die ihm den Besuch von Dr. Preston Wemyss ankündigte. Er schickte seinen Hausboy mit der Anweisung los, den Gast in die Bibliothek zu führen. Dann setzte er sich hinter seinen Schreibtisch. Wemyss blickte gequält und mürrisch drein, als er den Raum betrat, und hielt eine alte schwarze Lederaktentasche fest in der behandschuhten Hand. Raeburn schickte den Boy mit einer Geste weg und beäugte seinen Untergebenen von oben bis unten. »Sie kommen bemerkenswert prompt«, stellte er fest. »Was haben Sie für mich dabei?« Wemyss blickte hinter sich, um sicherzugehen, daß der Boy -324-
wirklich gegangen war, bevor er auf den Stuhl sank, auf den Raeburn wies. »Ich hoffe, Sie erwarten keine Wunder«, entgegnete er säuerlich. Raeburns schmallippiger Mund zuckte ungeduldig, doch er unterließ eine Antwort. Nervös schob Wemyss die Aktentasche auf seine Knie und zog seine Handschuhe aus, bevor er die Ziffern des Kombinationsschlosses einstellte und mit den Daumen die beiden Messingschnäpper drückte. Die Schlösser gingen auf, und Wemyss holte einen Aktenbalg heraus, den er über den Schreibtisch hinweg seinem Oberen zuschob. »Wenn ich das alles selber durchlesen wollte, hätte ich es Ihnen gesagt«, bemerkte Raeburn kühl. »Geben Sie mir eine Zusammenfassung dessen, was Sie für wichtig halten.« In Wemyss' dunklen, dicht beeinanderstehenden Augen blitzte ein Funken Unmut auf. Er zog ein Leinentaschentuch mit Monogramm aus seiner Tasche und drückte es kurz an die Lippen, dann nahm er den Aktenordner wieder zu sich. »Soweit ich sagen kann«, informierte er Raeburn mürrisch, »gibt es nur zwei Entwicklungen, die der Erwähnung wert sind. Erstens, Adam Sinclair und seine Mutter - die Freitag angekommen ist, wie Sie wissen haben gestern mit einem Arztkollegen, Sir Matthew Fräser und dessen Frau Janet, zu Mittag gespeist. Fräser ist Chirurg. Die Verbindung scheint rein gesellschaftlicher Natur zu sein, doch ich habe jemanden beauftragt, ihr Umfeld eingehender zu überprüfen, einfach um sicherzugehen. Die andere Entwicklung besteht darin, daß Sinclair eine neue Patientin übernommen hat.« Auf Wemyss' etwas finsteren Gesichtsausdruck reagierte Raeburn mit einem scharfen Blick. »Wollen Sie damit sagen, daß das etwas Außergewöhnliches ist?« »Ich bin mir nicht sicher.« Wemyss runzelte die Stirn. »Bei -325-
der fraglichen Patientin handelt es sich um ein zwölfjähriges Mädchen namens Gillian Rose Talbot. Sonst behandelt Sinclair keine Kinder. Was mir auch merkwürdig vorkommt: Sie stammt nicht aus seinem Distrikt. Meine Informantin konnte heute morgen einen Blick auf die Krankengeschichte werfen und entdeckte, daß sie aus London stammt.« »Aus London? Das scheint den Rahmen ein wenig arg weit zu sprengen«, stimmte Raeburn zu. »Was fehlt denn dem Kind?« »Es liegt im Koma. Das ist die andere Merkwürdigkeit«, sagte Wemyss. »Die Fallgeschichte deutet auf kein offensichtliches Trauma hin, und sie scheint keine psychiatrische Vorgeschichte zu haben. Ursprünglich wurde sie am Morgen des 28. Oktober in das Charing Cross Hospital eingewiesen, bei Bewußtsein, aber ohne Kontakt zur Umwelt. Seit damals hat sich ihr Zustand verschlechtert...« »Einen Augenblick mal!« unterbrach Raeburn ihn scharf. »Am 28. Oktober, sagten Sie?« »Stimmt.« »Lassen Sie mich die Aufzeichnungen sehen«, befahl Raeburn. »Holen Sie sie heraus.« Wemyss warf seinem Vorgesetzten einen überraschten Blick zu, aber er zögerte nicht und zog die gewünschten Seiten heraus. Als er sie Raeburn reichte, nahm der sie ihm unzeremoniös aus der Hand und überflog sie schnell. »Sehr interessant«, murmelte er, als er sie zum zweiten Mal durchgelesen hatte. »Sie sind hier vielleicht auf etwas gestoßen, das echten Wert hat.« »Wirklich? Dann hätte ich gern, daß Sie es mir erklären«, sagte Wemyss verdrießlich. Raeburn richtete seine Aufmerksamkeit jedoch wieder auf die Aufzeichnungen, ohne seinen Handlanger einer Erläuterung zu würdigen. Obwohl er nicht erwartet hätte, daß Wemyss die -326-
Bedeutung des fraglichen Datums erkannte, hatte sich ihm schon die Tatsache eingeprägt, daß das Kind Gillian Talbot mit einem rätselhaften psychiatrischen Befund nur wenige Stunden nach jenem Vorfall ins Krankenhaus eingeliefert worden war, bei dem die Seele des Zauberers Michael Scot in Melrose Abbey wieder in die vermodernden sterblichen Überreste ihres Leibes gebannt worden war. Natürlich konnte es sich dabei um einen reinen Zufall handeln. Aber andrerseits... Er schichtete die Blätter wieder aufeinander und reichte sie seinem Untergebenen zurück. »Dieses Kind interessiert mich - und wenn auch nur deshalb, weil es Sinclair zu interessieren scheint«, teilte er Wemyss mit. »Schauen Sie mal, ob Ihre Kontaktperson in Jordanburn es schafft, Ihnen etwas zu bringen, was eine physische Verbindung mit dieser Gillian Talbot darstellt - vielleicht ausgekämmtes Haar oder abgeschnittene Fingernägel. Am allerbesten wäre eine Blutprobe. Auf jeden Fall etwas, das Barclay als Fokus für eine astrale Suche benutzen könnte. Ich möchte die Herkunft dieses Kindes untersuchen - ich möchte sehen, welche persönliche Vorgeschichte es hat.« »Was erwarten Sie denn da zu finden?« fragte Wemyss mit echter Verwunderung. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte Raeburn nachdenklich, obwohl er tatsächlich schon eine ziemlich klare Vorstellung hatte. »Ich werde es Ihnen sagen, falls und wenn sich die Notwendigkeit dafür ergibt. Einstweilen besorgen Sie mir einfach diese Probe - spätestens bis morgen abend.« Während Raeburn noch über das Rätsel Gillian Talbot nachdachte, speiste Philippa Sinclair in Edinburgh mit Lady Julian Brodie in der heiteren, zwanglosen Opulenz von Lady Julians Wohnung in New Town zu Mittag. Sie aßen kantonesisch: Drei-Kostbarkeiten-Suppe, grüne JadeKammuscheln und kandierte Früchte in Ingwersirup. Während -327-
sie geschickt mit einem Paar hübsch lackierter Eßstäbchen die Speisen aufnahm, zog sie spaßig die Augenbrauen hoch und fragte ihre Gastgeberin, mit der sie seit Jahrzehnten befreundet war: »Woran liegt es, daß chinesische Menüs sich immer so anhören, als handelte es sich dabei um das Inventar einer Schmuckschatulle? Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich meinen, ich sollte dies alles tragen, anstatt es zu essen.« »Pippa, du änderst dich nie!« erwiderte Julian lachend. Ihre schwarzen Augen funkelten wie geschliffene Pyrite. »Im Gegenteil, keine von uns wird jünger«, bemerkte Philippa. »Glücklicherweise müssen wir bei der Suche nach einem neuen Talent nicht zu weit in die Ferne schauen. Adam verspricht ein sehr fähiger Rekrutierungsoffizier zu werden. Und wenn wir schon davon reden«, fügte sie hinzu, »was hältst du vom jüngsten Kandidaten meines Sohnes?« »Vom jungen Lovat?« Julians Gesichtsausdruck wurde liebevoll. »Er ist sehr charmant, und außerdem sehr vielversprechend. Er erinnert mich ein wenig an Michael, weißt du.« »Ja, das dachte ich mir auch«, stimmte ihr Philippa bei. Sie schwieg eine Weile, dann fragte sie: »Hast du ihm deshalb Michaels Ring geschenkt?« »Zum Teil.« Ein Anflug von Traurigkeit überschattete ihre gefaßte Miene, sie reckte ihr Kinn und blickte zu ihrer Gefährtin auf, die größer war als sie. »Die Bibel spricht von Erben im Fleisch und Erben im Geist«, fuhr sie fort. »Du hattest das Glück, daß Adam für dich beides ist. Michael und ich hatten nie ein Kind, doch als ich dem jungen Peregrine begegnete - da hatte ich plötzlich die Empfindung, als befände ich mich in der Gegenwart eines Menschen, der mit uns verwandt ist, wenn nicht dem Blut, so doch dem Geist nach, der in ihm wohnt. Zur Anerkennung dieser Verwandtschaft habe ich ihm Michaels Ring geschenkt. -328-
Und ich hege keine Zweifel hinsichtlich meiner Entscheidung.« »Ich auch nicht mehr«, sagte Philippa mit der Andeutung eines schmerzlichen Lächelns. »Ich hoffe, du meinst nicht, ich hätte irgend welche Vorbehalte.« »Überhaupt nicht«, erwiderte Julian. »Du hattest recht zu sagen, was dir durch den Kopf ging. Doch irgend etwas beunruhigt dich. Möchtest du darüber reden?« Philippa zuckte mit den Achseln. »Ich wünschte nur, es wäre etwas Greifbares. Es hat nichts mit Peregrine oder unseren übrigen Leuten zu tun. Übrigens, er und Adam werden morgen ein Experiment beginnen, mit dem Talbot-Mädchen.« »So?« Philippa schüttelte nachdenklich den Kopf. »Die Begabung des Jungen ist wirklich ganz einmalig - diese Fähigkeit, die Resonanzen aus der Vergangenheit zu erfassen. Wenn die Mutter zustimmt, wird Adam ihn Skizzen von Gillian anfertigen lassen, um zu sehen, ob er imstande ist, Aspekte ihrer Persönlichkeit zu isolieren, die später im Prozeß der Reintegration verwendet werden können.« »Ist das möglich?« fragte Julian und hob eine Augenbraue. »Nun, das ist die Theorie - allerdings räume ich ein, daß dies um einige Stufen über das hinausgeht, was ich gelernt habe, damals, als ich vor dem Krieg bei Jung studierte. Er pflegte seine Patienten zu ermutigen, sie sollten malen oder zeichnen, was sie in ihren Träumen oder Tagträumen sahen. Oft fand er, daß die so entstehenden Bilder eine wirksame Hilfe für Diagnose, Therapie und Heilung gewisser psychischer Störungen waren.« »Ich verstehe«, sagte Julian. »Und Adam wird Peregrine versuchen lassen, solche Bilder hervorzubringen?« Philippa lachte glucksend. »Ich weiß, ich weiß, es klingt weit hergeholt, selbst für mich - und ich bin Psychiaterin. Aber wenn es gelingt, dann haben wir schon den halben Weg zurückgelegt, um eine Vorgehensweise auszuarbeiten, mit der alle zerrütteten -329-
Elemente von Gillians Persönlichkeit wieder vereinigt werden können - was abgesehen davon, daß es ihr eine weitere Chance für ein normales Leben schenkt, uns hoffentlich wieder den Zugang zu Michael Scot eröffnet. Nach dem, was Adam mir erzählt hat, bin ich zunehmend überzeugt, daß Scot weiß, worum es bei diesem neuesten Wiederaufleben der Loge der Luchse geht.« »Nun, wenn er es weiß, dann hoffe ich, daß Adam den Kontakt bald herstellen und es herausfinden kann«, sagte Julian. »Ich hatte gehofft, schon lang von dieser Welt gegangen zu sein, bevor man sich aufs neue mit ihnen befassen müßte.« »Ich auch, meine Liebe, ich auch«, erwiderte Philippa und tätschelte die Hand ihrer Freundin. »Aber da wir noch nicht gegangen sind, ist es da für Adam und diese jüngere Generation von Jägern nicht ein Glücksfall, daß wir noch da sind und unser hart erworbenes Wissen zur Verfügung stellen können?« Darüber mußte Julian lachen, Philippa ebenfalls, doch in ihrem Lachen klang eine Spannung an, die ihre äußere Fröhlichkeit Lügen strafte und eine tiefe Sorge um die Lage verriet, die sich jetzt anbahnte. Am nächsten Morgen fuhr Philippa mit Adam und Peregrine nach Jordanburn. Während die beiden Männer einen Abstecher zu Adams Büro machten, ging sie gleich weiter zu Gillians Zimmer. Peregrine war mit seinem Skizzenkasten bewaffnet gekommen, dazu belastet mit einigen unausgesprochenen Befürchtungen, die er während der letzten paar Tage gehegt hatte. Er warf einen Seitenblick auf Adam, als sie in die Ungestörtheit des Lifts traten und die Tür sich schloß. »Adam«, begann er, »ich muß Ihnen sagen, daß ich mehr als nur ein bißchen nervös bin über diesen Auftrag - wie Sie vielleicht aus meiner sprühenden Konversation auf dem Weg hierher gemerkt haben. Was mußten Sie Mrs. Talbot sagen, damit sie dazu ihre Zustimmung gab?« -330-
»Nichts, was nicht der Wahrheit entsprach - bis zu einem gewissen Grad«, erwiderte Adam. »Ich erzählte ihr, Sie seien ein Berufskollege von mir und daß wir schon viele Male zusammengearbeitet hätten. Ich ließ sie glauben, daß Sie das psychiatrische Gegenstück zu einem forensischen Zeichner sind, aber daß Sie nach den psychischen Eindrücken zeichnen, die Sie von dem Patienten empfangen.« Peregrine rollte ungläubig mit den braunen Augen, doch da sich in diesem Augenblick die Lifttür öffnete und zwei Krankenschwestern hereinkamen und überdies Adam ein Zeichen gab, daß sie auf diesem Stockwerk aussteigen müßten, hielt er seine Zunge im Zaum, bis sie in Adams Büro die Tür hinter sich geschlossen hatten. »Adam, Sie haben ihr doch nicht wirklich das gesagt oder?« fragte er, während sein Mentor lässig Mante und Schal abstreifte, beides in einen Schrank hinter sei nem Schreibtisch hängte und sich dann einen weißen Arztkittel anzog. »Warum nicht? Es ist grundsätzlich wahr. Ich sprach davon, daß die Kunst ein wichtiges Instrument der Psychiatrie sei - daß Bilder einem oft wertvolle Einsichten in die Probleme eines Patienten geben können. Hier, ziehen Sie das an«, fügte er hinzu und reichte Peregrine ebenfalls einen weißen Kittel. »Wenn Sie die Uniform tragen, werden Sie aussehen, als gehörten Sie zum medizinischen Personal.« Immer noch nicht überzeugt, setzte Peregrine seinen Skizzenkasten ab und tat, wie ihm geheißen. Als er seinen Mantel neben dem Adams aufgehängt und den weißen Kittel über seinen Blazer gezogen hatte, wandte er sich wieder Adam zu und schaute ihn unsicher an. »Das wird sie Ihnen nicht abnehmen.« »Ich habe Ihnen doch gesagt, sie hat es mir schon abgenommen.« »Jede Wette, daß dafür eine mächtige Überredung notwendig -331-
war«, murmelte Peregrine. Adam hob herausfordernd den Kopf, in seinen dunklen Augen flackerte kurz eine undeutbare Emotion auf. »Ihr Ton legt den Gedanken nahe, daß ich vielleicht eine unangemessene Nötigung eingesetzt haben könnte, um Mrs. Talbot zu ihrer Zustimmung zu zwingen. Wollten Sie das andeuten?« Peregrine bekam große Augen. »Nun ja, ich...« »Setzen Sie sich, Peregrine«, sagte Adam ruhig. »Ich nehme einmal an, daß Ihre Unsicherheit der natürlichen Nervosität darüber entspringt, daß Sie in Anwesenheit von jemandem arbeiten sollen, dem Sie noch nicht begegnet sind. Aber für den Fall, daß es auch nur den geringsten Zweifel gibt, möchte ich Ihnen etwas über Autorität und Verantwortung sagen.« Peregrine gehorchte und kam sich dabei plötzlich wie ein auf Abwege geratener Schuljunge vor. »Wir müssen etwas klären, bevor sich unsere Beziehung weiter entwickelt«, fuhr Adam fort und setzte sich auf den Schreibtischrand. »Ich bin nicht verpflichtet, meine Handlungen Ihnen gegen über zu rechtfertigen, aber ich möchte, daß Sie begreifen, was hier auf dem Spiel steht. Sie und ich, wir beide wissen, daß Gillian nicht geheilt werden kann, solange der Schaden, der angerichtet wurde, nicht wiedergutgemacht wird. Und wir beide wissen, daß Sie vielleicht durchaus etwas Wesentliches zu der Heilung beitragen können, nach der wir suchen. Falls Iris Talbot den gleichen Wissensstand hätte wie wir, würde sie Ihrer Teilnahme ohne Frage zustimmen. Aber sie verfügt nicht über dieses Wissen, und wir haben auch weder die Zeit noch das Mandat, sie zu unterrichten. Stimmen Sie mir zu?« »Ja«, flüsterte Peregrine. »Also, was dann?« fuhr Adam fort. »Was ist von größerem Wert: Iris Talbots Freiheit zur Wahl - zu einer Wahl ohne -332-
Wissen - oder Gillians Leben, ein Leben, das schon tief gefährdet ist?« Peregrine senkte den Blick und starrte auf seine verschränkten Finger. »Nun ja, offensichtlich Gillians Leben, aber...« »In diesem Fall gibt es kein aber«, sagte Adam ruhig. »Hören Sie mir sorgfältig zu. Wenn man mit einer Autorität ausgestattet ist, dann sieht man sich - um eines größeren Gutes willen früher oder später verpflichtet, sie auf eine Weise auszuüben, die man lieber vermeiden würde. Ja, ich habe mich einer mächtigen Überredungskraft bedient, um Iris Talbots Zustimmung zu diesem Experiment zu erlangen. Ich habe keine Gewalt angewendet, aber ich war bereit dazu; statt dessen habe ich auf ihre Ängste gezielt. Diese Entscheidung habe ich nicht leichtfertig getroffen, weil sie tatsächlich in den freien Willen eines anderen Menschen eingreift. Wenn ich so etwas aus Motiven persönlichen Gewinns täte, dann wäre ich unwürdig, über eine solche Macht und Autorität zu verfügen, wie sie mir übertragen sind, und ich würde schnell meiner Autorität entkleidet werden - von Mächten, die höher stehen als meine eigene. Umgekehrt wäre es gleicherweise meiner unwürdig, diese Fähigkeiten, die mir zu Gebote stehen, nicht einzusetzen in Situationen, die es erfordern. Ein Teil der Urteilskraft, die von unseresgleichen verlangt wird, besteht darin, daß wir diese Unterschiede erkennen und bereit sind, zu den Konsequenzen zu stehen. Verstehen Sie?« »Ich glaube schon«, flüsterte Peregrine. »Da ist noch mehr«, fuhr Adam fort. »Jede bedeutende Handlung enthält ein gewisses Element des Risikos. Manchmal muß man sogar etwas, was man für seine eigene Integrität hält, für das Wohlergehen eines anderen aufs Spiel setzen. Und dann wird es zu einer Frage der Demut, nicht des Stolzes. Es gibt, glauben Sie mir, keine größere Buße als wenn man gezwungen -333-
wird, seine eigene Selbstachtung zu opfern. Und keine größere Bürde, als daß man eine solche Entscheidung fällen muß.« Peregrine schaute ihn jetzt gelassener an, seine frühere Besorgnis hatte sich in Einsicht verwandelt. »Das war es, was Lady Julian versuchte mir zu sagen«, murmelte er. »Der Edle unterscheidet zwischen hoch und niedrig.« »Genau.« Adam nickte mit grimmiger Zustimmung. »Sie fangen an zu begreifen. Wenn Gott will, werden Sie auch dementsprechend handeln können.« Peregrine nickte, straffte die Schultern und nahm seinen Skizzenkasten auf. »Ich verstehe«, stimmte er zu, »und ich bin bereit, jetzt zu handeln - wenn Sie mich immer noch in Ihrem Team dabeihaben wollen. Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich mich aufgeführt habe wie ein ausgemachter Trottel.« Gillian hatte ein Privatzimmer bekommen. Als Adam und Peregrine eintrafen, fanden sie Philippa unmittelbar hinter der Tür stehend vor. Sie ging mit einer Krankenschwester Gillians Krankenblatt durch. Iris Talbot war ebenfalls zugegen, sie ordnete einen großen Blumenstrauß auf dem Nachtschränkchen und zeigte dabei die Miene eines Menschen, der entschlossen ist, immerzu beschäftigt zu bleiben. Als Adam und Peregrine eintraten, blickte sie etwas ängstlich auf. »Guten Morgen, Mrs. Talbot«, sagte Adam mit einer Stimme, die eine ungezwungene, wohltuende Professionalität vermittelte. »Darf ich Ihnen Mr. Lovat vorstellen, den Herrn, über den wir uns gestern unterhalten haben? Mit Ihrer Erlaubnis wird er im Laufe der nächsten paar Tage einige Zeit mit Ihnen und Ihrer Tochter verbringen.« Iris trat hinter dem Bett vor, ging auf Peregrine zu und reichte ihm schüchtern eine schlanke, feinknochige Hand. »Guten Tag, Mr. Lovat«, sagte sie etwas nervös. »Sie sind irgendwie jünger, -334-
als ich gedacht hatte. Ich muß gestehen, daß ich mir nicht anmaße zu begreifen, was Sie vorhaben.« Als er die ihm dargebotene Hand nahm, fielen Peregrine sofort die seit langem angestaute Erschöpfung und die blauen Schatten unter den Augen auf. Sein Mitempfinden verlieh ihm eine Inspiration und eine Entschlossenheit, die er noch vor einer Minute nicht gespürt hatte. »Ich verrate Ihnen ein kleines Geheimnis, Mrs. Talbot«, sagte er mit Verschwörermiene und dämpfte seine Stimme, während er sie etwas näher an sich heranzog, »ich begreife es in Wirklichkeit auch nicht. Ich bin einfach dankbar, daß es manchmal zu gelingen scheint. Ich nehme es Ihnen nicht übel, daß Sie das Ganze verwirrt.« Sein jungenhaftes und etwas befangenes Grinsen vertrieb ihre Ängstlichkeit völlig, und als er ihre Hand losließ, löste es bei ihr ein unerwartetes Lächeln aus, das etwas von dem bezaubernden Wesen vermittelte, das ihr zu eigen gewesen sein mußte, bevor sie sich mit Gillians Krankheit auseinanderzusetzen hatte. »Aber Mr. Lovat! Außer künstlerischen Fähigkeiten scheinen Sie auch das Talent zu haben, Leute zu beruhigen«, sagte sie. »Ich muß Ihnen danken, daß Sie sich zu diesem Einsatz bereit erklärt haben. Ganz gleich, welche Unterstützung Sie liefern werden, ich bin Ihnen dafür ewig dankbar. Wie wollen Sie beginnen?« Adam unterdrückte ein Lächeln und zog sich zur Tür zurück, wo er so tun konnte, als schaute er über Philippas Schulter auf Gillians Krankenblatt, während Peregrine seinen Skizzenkasten auf einem mit Rollen versehenen Nachttisch abstellte und ihn öffnete. »Damit ich in Schwung komme, mache ich erst einmal ein paar vorbereitende Skizzen«, erklärte der Künstler. »Danach nun ja, da werde ich einfach warten müssen und sehen, welche Eindrücke mir, wenn überhaupt, kommen. Es kann sogar sein, -335-
daß bei diesem ersten Mal gar nichts geschieht - allerdings erwarte ich nicht, daß dies ein Problem darstellen wird.« »Na, dann sollte ich wohl mal Gillians Haare ordnen«, erwiderte Iris zuversichtlich und trat an das Kopfende des Bettes. »Ich wünschte nur, Sie hätten sie sehen können, als sie noch - sie selbst war. Sie war so lebhaft und so hübsch...« »Sie ist immer noch ein sehr hübsches Mädchen«, versicherte ihr Peregrine und legte seine Zeichensachen zurecht. »Wenn dies alles vorbei ist, dann werden Sie mir vielleicht erlauben, ein richtiges Porträt von ihr zu malen. Die Porträtmalerei ist meine wahre Stärke, wie Sir Adam Ihnen vielleicht schon erzählt hat. Die heutige Arbeit ist nicht gerade typisch für das, was ich gewöhnlich tue.« Iris kauerte sich neben dem Nachtschränkchen nieder, holte eine mit Blumenmustern bedruckte Reisetasche heraus und kramte darin herum. »Das ist seltsam«, sagte sie. »Ich kann Gillians Haarbürste nicht finden.« »Was ist?« fragte Philippa, spitzte die Ohren und schaute vom Krankenblatt auf. »Gillians Haarbürste«, erwiderte Iris, immer noch suchend. »Ich habe sie immer in der Tasche bei ihren anderen Sachen, aber jetzt finde ich sie nicht mehr. Nein, hier drinnen ist sie nicht. Was habe ich denn bloß damit gemacht?« Mütterlich besorgt vor sich hinmurmelnd schaute sie zuerst ins Schränkchen und dann unter das Bett. Als Adam ihr von der Tür aus mit dem Blick folgte, spürte er plötzlich ein zartes, warnendes Kribbeln im Nacken. Ein Seitenblick auf Philippa bestätigte ihm, daß auch ihr Argwohn durch diese scheinbar harmlose Entwicklung geweckt wurde. »Wie merkwürdig«, sagte Iris und erhob sich mit einem Stirnrunzeln von den Knien. »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich glauben, daß diese Haarbürste sich in Luft aufgelöst -336-
hat. So etwas würde doch wohl kaum jemand stehlen.« »Vielleicht ist sie vom Nachtkästchen in den Abfallkorb gefallen, und die Putzfrau hat sie aus Versehen mit genommen«, überlegte Philippa. »Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich mal bei der Oberschwester nachfragen und schauen, ob ich etwas herausfinden kann.« »Ach, soviel Wirbel ist das doch nicht wert«, prostestierte Iris sanft, doch Philippa war schon verschwunden. »Schließlich geht es ja nur um eine Haarbürste. Wenn sie nicht mehr auftaucht, kann ich doch im Laden im Erdgeschoß immer noch eine neue kaufen.« »Nun, wir werden sehen, was wir herausfinden«, sagte Adam. »Inzwischen muß ich einmal bei einigen meiner anderen Patienten vorbeischauen. Wir sind in ungefähr einer Stunde wieder zurück und schauen, wie Sie zurechtkommen.« Philippa hatte im Stationszimmer schon eine grundlegende Auskunft über die Putzfrau der Station bekommen. »Die Oberschwester sagt, ihr Name sei Mrs. Lewis an den Vornamen konnte sie sich nicht erinnern«, sagte sie zu Adam, als sie zum Aufzug gingen. »Anscheinend ist sie erst seit ein paar Wochen hier. Ich glaube nicht, daß ich paranoid bin, aber irgend etwas gefällt mir an dieser Entwicklung nicht.« »Mir auch nicht«, erwiderte Adam. »Ich denke, ich werde mal beim Leiter der Hausmeisterei anrufen und hören, was er mir über diese Mrs. Lewis erzählen kann. Gehen wir noch einmal in mein Büro.« Die Auskunft, die er bekam, konnte keinen von beiden beruhigen. »Mrs. Marjory Lewis ist seit etwa zwei Wochen hier angestellt«, berichtete Adam. »Bei ihrer Bewerbung hat sie das Edinburgh Royal Infirmary als ihre letzte Arbeitsstelle angegeben. Interessanterweise ist sie vor etwa einer Stunde wegen einer Erkrankung heimgegangen. Irgend welche -337-
Vermutungen?« Philippa schnaubte. Ihr aristokratisches Gesicht verfinsterte sich. »Was würdest du wetten, daß es unter den ehemaligen Angestellten des Royal Infirmary keine Marjory Lewis gibt? Oder wenn doch, daß es sich dabei nicht um dieselbe Frau handelt, die hier gearbeitet hat?« »Keine Wetten!« erwiderte Adam. »Ich frage mich, ob Peregrine da etwas herausfindet...« Nachdem Adam und Philippa gegangen waren, nahm Peregrine einen der beiden Besucherstühle, die es in dem Zimmer gab, und stellte ihn am Fußende von Gillians Bett auf, dann rollte er den Tisch mit seinen Utensilien näher heran. Gillian Talbot war immer noch ein hübsches Mädchen, aber nicht mehr das rosenwangige Kind, das er damals vor einem Monat in der von Michael Scot ausgelösten Vision gesehen hatte. Es bereitete ihm Kummer zu sehen, in welchem Zustand sie sich jetzt befand. Da lag sie ruhig, atmete kaum, und ihr Gesicht war leblos und bleich. Wie auch immer ihre Verbindungen zur sagenhaften Vergangenheit sein mochten, er sah in ihr jetzt nur ein unschuldiges Opfer gegenwärtiger krimineller Ambitionen. Durch diese Erkenntnis wurde Adams Entschlossenheit, alles zu tun, was notwendig war, um sie wieder heil und gesund zu sehen, für ihn verständlich. Er erinnerte sich an seinen Auftrag und setzte sich, balancierte sein Skizzenbuch auf einem angehobenen Knie und wählte einen seiner bevorzugten Bleistifte aus dem Skizzenkasten aus. Also dann, sagte er sich, schauen wir mal, was wir sehen. Iris hatte ihren Stuhl zum Fenster geschoben und befand sich außerhalb seines Blickfelds. Trotzdem war sich Peregrine bewußt, daß sie ihn - halb ängstlich, halb erwartungsvoll aufmerksam beobachtete. Er machte ein paar versuchsweise Striche auf dem Papier, um Hand und Handgelenk zu lockern, -338-
dann begann er die Szene zu skizzieren, die er vor sich sah. Als die Striche geschmeidiger zu fließen begannen, sehr ähnlich jener ersten Skizze, die er in Melrose nach der Vision von Gillian in einem anderen Krankenhausbett gemacht hatte, richtete er seine Gedanken auf Bilder von Melrose Abbey und den Haufen vertrockneter Gebeine, die einst den lebendigen Geist von Michael Scot beherbergt hatten. Und er bat denselben Michael Scot inständig, zu enthüllen, was er von Peregrine Lovat wollte. Sein Blick verschwamm, als hätte jemand einen Schleier aus feiner Seide vor seine Augen gezogen. Da er auf die jetzt vertraute Änderung in seiner zeitlichen Perspektive eingestellt war, holte er erneut tief Luft und wartete darauf, daß seine geistige Sicht sich einstellte. Der Nebel vor seinen Augen löste sich auf. Er blinzelte, dann fand er seinen Blick auf eine andere Ebene der Wahrnehmung konzentriert. Seine erste Reaktion war Überraschung, denn die Szene hatte sich anscheinend nicht verändert. Gillian Talbot lag vor ihm auf dem Rücken in ihrem Bett, ihre Augen waren geschlossen, ihr Atem ging leicht und flach. Aber etwas war auf subtile Weise anders, wie Peregrine erkannte. Er kniff die Augen zusammen und schaute genauer hin. Im gleichen Augenblick lenkte eine geisterhaft flackernde Bewegung seine Aufmerksamkeit auf die linke Seite. Als er den Blick dorthin wandte, merkte er, daß er ein doppeltes Bild der Tür sah, das eine war solide, das andere halb durchsichtig, wie das Negativ eines Fotos, wenn es auf einen fertigen Abzug gelegt wurde. Als Peregrine das Doppelbild musterte, verwandelte sich die Durchsichtigkeit in Bewegung, wie bei einem Filmstreifen. Er fokussierte seinen Blick auf das aktive Bild und sah, wie die Tür aufging und eine rotblonde, bebrillte Frau in einem Putzfrauenoverall hereinkam. Sie trat hastig ins Zimmer und schaute sich um. Auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck listiger Befriedigung. Dem Licht -339-
nach zu urteilen war es Morgen, aber Mrs. Talbot war noch nicht gekommen. Die Frau schloß die Tür hinter sich, eilte zu Gillians Bett und begann herumzustöbern. Offensichtlich suchte sie etwas. Ohne seinen Blick von ihr abzuwenden, blätterte Peregrine auf eine neue Seite um und begann schnell den Eindruck ihres Gesichtes zu zeichnen. Die Frau blickte zuerst in den Abfallkorb neben dem Bett, dann öffnete sie die Tür des Nachtschränkchens und kramte darin herum. Einen Augenblick später zog sie die Hand heraus und hielt eine Haarbürste. Noch während Peregrine sich bewußt wurde, um was für einen Gegenstand es sich handelte, verbarg sie die Haarbürste unter ihrem Overall und trat mit einem letzten verstohlenen Blick nach hinten hastig den Rückzug aus dem Krankenzimmer an. Peregrine skizzierte wie wild, als ihm bewußt wurde, daß sich die Szene wieder gewandelt hatte. Gillian lag immer noch reglos im Bett, aber jetzt beugte sich ein grauhaariger Mann, der wie Peregrine selbst einen weißen Kittel trug, mit einer Spritze für subkutane Injektion über ihren rechten Arm. Zuerst fürchtete er, der Mann würde Gillian eine unbekannte Droge injizieren, doch - nein, die Spritze füllte sich langsam mit Blut. Bei dem Mann mußte es sich um einen Labormediziner handeln, der für weitere Untersuchungen Blut abnahm. Bevor er jedoch noch dieses Bild zu Papier bringen konnte, schreckte ihn ein unterdrückter Schrei von Iris Talbot aus seiner Halbtrance und zog seinen Blick auf die Frau. Er blinzelte heftig, während Bilder vor seinen Augen wirbelten, dann sah er, daß Gillians Mutter mit offenem Mund überrascht auf ihre Tochter starrte und zeigte. Peregrine blickte erschrocken auf Gillian und sah sich zwei weit offenen blauen Augen gegen über. Gillian starrte ihm gezielt ins Gesicht. Die Wucht ihres Blicks war wie ein körperlicher Schlag. Bevor Peregrine sich noch abwenden konnte, wurde er von einer plötzlichen Woge widersprüchlicher Bilder überschwemmt. Wie ein Katarakt aus -340-
Bruchglas stürzten die Bilder in einer Flut zersplitterter Farben und Formen auf ihn ein. Peregrine würgte einen Laut der Überraschung hervor und versuchte den Blick abzuwenden. Doch die Flut hielt ihn fest und überschüttete ihn mit Eindrücken, die so intensiv und verwirrend waren, daß ihre Wucht ihn schwindlig machte. Sein Bleistift glitt ihm aus den Fingern und fiel hölzern klappernd auf den Linoleumboden. Mit Mühe gelang es ihm, den Skizzenblock in den Händen zu behalten. Seine Entschlossenheit, ihn keinesfalls auch noch fallen zu lassen, stoppte eine letzte Woge zerbrochener Bilder, und danach war es plötzlich still. Er schloß die Augen und atmete lang und heftig aus, ein wenig überrascht, daß er immer noch auf seinem Stuhl saß. Die Hände weiterhin fest um den Skizzenblock geklammert, unterdrückte er mit dem Willen seine Benommenheit. Nach einer Zeitspanne, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, öffnete er vorsichtig einen Spalt weit ein Auge und sah, daß Iris Talbot sich blaß und aufgeregt über ihn beugte. »Haben Sie es gesehen, Mr. Lovat? Ja?« fragte sie etwas ängstlich. »Gillian hat die Augen geöffnet! Sie haben es gesehen, nicht wahr?« Peregrine nickte, doch dann wünschte er, er hätte es nicht gesehen. Er faßte sich und sagte: »Ja, ich habe es gesehen.« »Das ist die erste willentliche Bewegung, die sie seit Wochen gemacht hat!« fuhr Iris fort, schon auf dem Rückweg zu Gillians Bett, als eine Schwester den Kopf zur Tür hereinsteckte, um zu sehen, was los war. »Sie hat die Augen aufgemacht!« sagte Iris Talbot zu der Schwester. »Rufen Sie Dr. Sinclair und sagen Sie es ihm bitte! Ich hatte schon befürchtet, ich hätte es mir nur eingebildet, aber Mr. Lovat hat es auch gesehen!« Als die Schwester Peregrine fragend anblickte, nickte er nur. Sie zuckte mit den Augenbrauen und ging, um Dr. Sinclair zu rufen. Iris nahm eine der schlaffen Hände ihrer Tochter und -341-
streichelte sie. Peregrine blickte verstohlen auf Gillian, doch die verschatteten Augen waren jetzt geschlossen, und sie schien wieder in das seltsame Koma versunken zu sein, das sie im Bann hielt. »Mr. Lovat, glauben Sie, das könnte ein Zeichen sein, daß sie anfängt, aus diesem Zustand herauszukommen?« fragte Iris mit bebender Stimme. »Ich weiß es wirklich nicht«, erwiderte Peregrine. Die Erinnerung an das Chaos, das er gerade erlebt hatte, «* war stark genug, daß ihm schwindlig wurde. Er legte beiläufig die erste Skizze umgekehrt über die zweite und schob den Block in seinen Kasten. »Ich glaube, wir sollten lieber auf Sir Adam und Lady Sinclair warten und schauen, was sie meinen.« Adam und Philippa reagierten jedoch beide gleichermaßen vorsichtig auf Iris Talbots Bericht über den Vorfall. »Es ist ein durchaus ermutigendes Zeichen«, gestand Philippa zu, nachdem sie Gillians Werte überprüft hatte, »aber geben Sie nicht der Versuchung nach, einem so geringen Vorfall zu viel Bedeutung beizumessen. Während es theoretisch für einen autistischen Patienten durchaus möglich ist, daß er plötzlich auf dramatische Weise aufwacht, sind solche Fälle doch höchst ungewöhnlich. Es ist noch zu früh für Sie, sich übertriebene Hoffnungen zu machen.« Iris verschränkte ihre Finger. »Vermutlich haben Sie recht«, sagte sie widerstrebend. »Trotzdem, ich fühle mich so zuversichtlich wie schon seit Wochen nicht mehr.« Mit einem fast ehrfürchtigen Lächeln wandte sie sich Peregrine zu. »Noch vor einer Woche hätte ich es vermutlich übelgenommen, wenn meine Tochter auf jemand anderen reagiert hätte als auf meinen Mann oder mich. Aber jetzt denke ich anders darüber. Im Gegenteil, ich bin einfach froh, daß es irgend jemandem möglich ist, sie zu erreichen. Ich weiß nicht, was Sie getan haben, Mr. Lovat, aber ich bin Ihnen trotzdem -342-
dankbar. Sie werden doch wiederkommen, nicht wahr? Bitte sagen Sie mir, daß Sie wiederkommen.« Peregrine blickte ihr geradewegs in die Augen, überrascht von der Stärke seiner eigenen Entschlossenheit. »Um nichts in der Welt würde ich jetzt aussteigen«, versicherte er. »Ihre Gefühle gereichen Ihnen zur Ehre«, warf Adam sanft ein. »Aber bitte halten Sie sich vor Augen, daß wir noch weit davon entfernt sind, ein echtes Wunder zu erleben...« Das war alles, was er und Philippa in Iris' Gegenwart zu sagen bereit waren. Peregrine wartete klugerweise ab, bis die drei sich wieder in der Ungestörtheit von Adams Büro befanden, bevor er seine eigenen Fragen anbrachte. »Hatte Mrs. Talbot recht?« fragte er. »Hat Gillian speziell auf mich reagiert?« »So sieht es aus«, erwiderte Adam mit einem flüchtigen Lächeln ob Peregrines anhaltender Verwunderung. »Wir haben ja schon bemerkt, daß Gillians frühere Persönlichkeit als Michael Scot Sie in Melrose als die geeignete Person ausgesucht hat, mit der er kommunizieren will. Offensichtlich ist trotz allem Schaden, den die ihr innewohnende Seele erlitten hat, noch eine Form von Erkenntnis möglich, zumindest, wenn es um Sie geht. Mit etwas Glück gibt uns das vielleicht etwas Konkretes, worauf wir in den kommenden Tagen aufbauen können.« Er beäugte Peregrine genauer. »Nun erzählen Sie uns, was Sie gesehen haben.« Peregrine verzog das Gesicht, als er sich daran erinnerte. »Nichts sehr Klares, fürchte ich. Es war ein wenig, wie wenn man auf ein großformatiges Gemälde von Picasso schaut - alles war in Stücke zerbrochen und durcheinander. Ich hatte das Gefühl, alle Teile seien noch da - aber was für eine Arbeit, sie alle zu ordnen und wieder an den richtigen Stellen zusammen zufügen!« -343-
Adam beschloß, dieses Thema im Augenblick nicht weiter zu vertiefen. »Sie sagten doch, Sie hätten einige Zeichnungen angefertigt, nicht wahr?« »Nur zwei«, sagte Peregrine und reichte ihm seinen Skizzenblock. »Nichts, was sehr hilfreich wäre, Gillian selbst betreffend, glaube ich - aber ich kann Ihnen sagen, was mit ihrer Haarbürste passiert ist. Die erste Skizze brauchen Sie nicht zu beachten. Das war nur eine Lockerungsübung.« Adam öffnete den Block, nach einem beiläufigen Blick auf die erste Zeichnung blätterte er um und widmete seine Aufmerksamkeit eingehender der zweiten. »Das ist sehr interessant«, murmelte er und studierte die Zeichnung mit der Putzfrau. »Schau dir das an, Philippa. Marjory Lewis, würde ich schwören - falls dies ihr wirklicher Name ist.« Als Peregrine fragend aufblickte, betrachtete Philippa ihrerseits die Zeichnung. »Tja, das gibt der Sache eine ganz neue Wendung, nicht wahr? Anscheinend werden wir viel genauer überwacht, als wir befürchtet hatten.« »Sie meinen, diese Putzfrau ist eine Art Agent für die Loge der Luchse?« Peregrine blickte ob dieser Vorstellung empört drein. »Aber was wollen die denn mit Gillians Haarbürste anstellen?« »Sie sind offensichtlich auf sie neugierig geworden«, erwiderte Philippa. »Sie wollen wissen, wer sie ist oder war. Nach einer Blutprobe ist eine Haarprobe das zweitbeste als Fokus für jemanden, der gewisse okkulte Ermittlungen anstellen will - in diesem Fall wahrscheinlich eine Untersuchung über Gillians existentielle Vergangenheit.« Peregrine wurde sehr still. Er erinnerte sich an das andere Bild, das zu zeichnen er keine Zeit mehr gehabt hatte. -344-
»Adam«, fragte er besorgt, »haben Sie weitere Blutuntersuchungen bei Gillian angeordnet? Oder Sie, Lady Sinclair?« Die vorsichtigen Blicke, die Mutter und Sohn austauschten, bestätigten Peregrine, daß sie es nicht getan hatten. »Heute früh war ein Mann im Zimmer«, sagte Peregrine ruhig. »Ich habe ihn nach den Bildern mit der Haarbürste gesehen. Er nahm Blut ab. Wenn Sie nachschauen, dann bin ich sicher, daß Sie an ihrem rechten Arm einen frischen Einstich finden. Ich hatte angenommen, das sei Routine - und dann begann Mrs. Talbot zu schreien, Gillian habe die Augen offen. Aber es war keine Routine, oder?« Adam schüttelte den Kopf, dann blätterte er Peregrines Block auf eine neue Seite um. »Zeichnen Sie, was Sie gesehen haben, Peregrine«, sagte er und reichte ihm den Block wieder. »Schauen Sie, ob Sie ein Gesicht ausmachen können...« Peregrine blinzelte die leere Seite an, doch seine Hand schien sich seltsam zu sträuben. »Ich - glaube nicht, daß ich es kann, Adam«, flüsterte er. »Da ist etwas...« »Schließen Sie Ihre Augen und gehen Sie in der Erinnerung zurück«, befahl Adam, legte eine Hand auf Peregrines Schultern und berührte mit der anderen seine Stirn. »Holen Sie tief Luft, wie ich es Sie gelehrt habe, und begeben Sie sich in jenen veränderten Zustand, in dem Sie am wirkungsvollsten arbeiten können. Zeichnen Sie einfach, was Sie sehen. Lassen Sie es fließen...« Während Peregrine tief einatmete und versuchte zu tun, was Adam wollte, ließ Adam seine Hände sinken und lehnte sich zurück. Peregrine öffnete die Augen und begann zu zeichnen; doch obwohl die Andeutung eines Mannes, der sich in einem weißen Kittel über eine Person beugte, bei der es sich -345-
unverkennbar um Gillian handelte, Gestalt annahm, ließ der Bleistift das Gesicht des Mannes aus. »Zeichnen Sie das Gesicht, Peregrine«, drängte Adam flüsternd. Doch es sah so aus, als bekäme Peregrine es nicht klar in den Blick. Er schüttelte verwirrt den Kopf, als er aus der Trance zurückkam. »Ich erreiche es nicht, Adam«, sagte er. »Ich kann es einfach nicht richtig sehen. Als wäre da ein Schleier...« »Oder eine Abschirmung«, sagte Philippa und drehte die Skizze, um sie besser sehen zu können. »So auf Anhieb würde ich sagen, Peregrine sei vielleicht auf eines der Vollmitglieder der Loge der Luchse gestoßen - auf jemanden, der seine Identität schützt, während er seinem bösen Werk nachgeht.« »Und jetzt haben sie sowohl Blut als auch Haar, um die Verbindung zu Gillian herzustellen«, sagte Adam. »Wenn sie dazu fähig sind, wissen sie morgen um diese Zeit genau, wer Gillian ist - und, was noch wichtiger ist, wer sie war.« »Das können sie nur mit Blut und Haar?« fragte Peregrine mit großen Augen. Adam nickte. »Abhängig von dem Geschick der Person, die die Abfrage macht - ja. Wir könnten es jedenfalls. Und angesichts der Tatsache, daß sie das Wissen hatten, um Scots Leiche wiederzubeleben und seine Seele wieder hineinzuzwingen, müßte ich sagen, daß sie wahrscheinlich die Mittel dazu haben - es sei denn natürlich, ihr Experte auf diesem Gebiet gehörte zu denen, die bei Loch Ness umgekommen sind. Ein begabter Ausforscher könnte seinen Probanden zurück bis zu dessen uranfänglichem Erwachen ausloten.« »Nun, wenn sie die Verbindung zwischen Gillian Talbot und Michael Scot herstellen können«, sagte Peregrine, »was werden sie dann Ihrer Meinung nach tun?« »Es ist zwecklos, darüber zu spekulieren«, sagte Philippa und blickte finster in Adams Richtung. »Eines ist allerdings ganz -346-
sicher: Wir können Gillian in ihrer derzeitigen Krankenhausumgebung nicht angemessen schützen. Wenn ihr meine Meinung wissen wollt, so empfehle ich, wir sollten sie noch schnell wie nur menschenmöglich nach Strathmourne verlegen.« Adam verzog das Gesicht. »Dieser Gedanke ist mir auch gekommen. Die einzige Frage ist, schaffen wir das, ohne für Aufsehen zu sorgen?« »Aufsehen ist die geringste unserer Sorgen«, sagte Philippa nüchtern. »Wir haben eine Galgenfrist von allerhöchstens vierundzwanzig Stunden, würde ich sagen, bevor es unseren Feinden gelingt, in bezug auf Gillian die Schranken der Geheimhaltung zu durchbrechen. Danach bestünde die einzige Methode für dich und mich, Gewißheit über ihre Sicherheit zu haben darin, daß wir rund um die Uhr ihr Zimmer bewachen lassen - und ich verspreche dir, das würde noch mehr Gerede geben.« Adam runzelte die Stirn und überlegte. »Ich fürchte, das ist nur allzu wahr. Jedoch glaube ich, daß Peregrine uns vielleicht den Ausgangspunkt für eine plausible Begründung geliefert hat, um Gillian aus dem Krankenhaus in eine Privatwohnung zu verlegen.« »Ich?« Peregrine blickte von Adam zu Philippa und wieder zurück. »In der Tat, Sie«, sagte Philippa und nickte langsam. »Wo wir nun die Andeutung einer Reaktion hatten, könnte man argumentieren, daß es sich lohnen würde zu sehen, wie sie auf eine Umgebung reagiert, die eher einem Zuhause ähnelt nämlich auf Strathmourne, wo ihre beiden behandelnden Ärzte sie leicht im Auge behalten können.« Sie richtete einen fragenden Blick auf ihren Sohn. »Hast du nicht einmal erwähnt, deine Mrs. Gilchrist sei Krankenschwester gewesen, bevor sie in Ruhestand ging?« -347-
»Ja, das stimmt«, erwiderte Adam. »Daraus schließe ich, daß du vorschlägst, man solle sie überreden, eine Zeitlang in vertrauter Umgebung als Privatpflegerin zu arbeiten. Der schwierige Teil wird darin bestehen, den Ambulanzdienst dazu zu bringen, die Verlegung kurzfristig durchzuführen - aber ich werde sehen, was ich tun kann. - In der Zwischenzeit müssen wir noch Mrs. Talbot überreden.« Er warf Peregrine einen vielsagenden Blick zu. »Und ich wäre dir sehr verbunden, Philippa«, fuhr er fort, »wenn du heute nacht alles in deiner Macht Stehende tun könntest, um Gillians Zimmer zu schützen.« Kapitel 23 In derselben Nacht versammelten sich im Keller des Hauses Nether Leckie in der Nähe von Stirling Francis Raeburn und eine Handvoll ausgewählter Untergebener, um ihrem Interesse für Gillian Talbot nachzugehen. Anwesend waren die drei, die auf Raeburns Geheiß vor kaum einer Woche einen OrigamiLuchs angefertigt hatten - Napier, Fitzgerald und Wemyss - und der drahtige, dunkelhaarige Mann namens Barclay, dessen verschiedenartige Talente weit über das Steuern von Hubschraubern hinausgingen. Alle fünf hatten die schwarzen Kapuzengewänder angezogen, die ihre Arbeitskleidung darstellten, jeder trug das silberne Medaillon und den mit einem Karneol besetzten Ring - die Abzeichen der vollen Mitgliedschaft in der Loge der Luchse. Ihr Arbeitsplatz war magisch abgeschirmt und vorbereitet, an dreien der weißgetünchten Wände brannten Feuer in schwarzen eisernen Kohlepfannen. Die vierte Wand zeigte das dunkle, bedrückende Fresko einer gesichtslosen, verschwommen menschlichen Gestalt, die in Schatten und brodelnde Wolken gehüllt war und - hervorgehoben in getriebenem Eisen - dort eine Aureole von Donnerkeilen trug, wo der Kopf hätte sitzen -348-
sollen. Auf diese Wand gerichtet saß Barcley, der Pilot, still in einem hölzernen Armsessel mit hoher Lehne, den Kopf zurückgelegt, die Augen in Trance geschlossen. Zwischen ihm und der Wand stand ein Leuchter mit mehreren Kerzen. Zu seiner Rechten stieg von einer schwarzeisernen Kohlenpfanne auf einem Dreifuß ein dünner Faden Weihrauch auf. Daneben lagen auf einem kleinen Tisch weitere Utensilien, die für das Werk dieser Nacht notwendig waren: noch mehr Weihrauch, ein niedriges Glasgefäß, das einer PetriSchale ähnelte, ein eigroßes Gewirr goldblonden Haars und eine 10 cm3 fassende Injektionsspritze, die mit dunklem Blut gefüllt war. Raeburn führte den Vorsitz, Angela Fitzgerald, die Frau mit dem harten Blick, assistierte ihm. Auf der anderen Seite hatte Napier den linken Ärmel des Piloten hochgeschoben und zog einen Gummischlauch fest um seinen Oberarm, während Wemyss eine andere Spritze aus einer kleinen Phiole mit einer opaleszierenden rosafarbenen Flüssigkeit füllte. »Sie wissen ja, daß er dann vierundzwanzig Stunden nicht fliegen kann«, sagte Wemyss, zog die Nadel zurück und reichte die Phiole an Napier weiter, hielt die Spritze ins Kerzenlicht und drückte ein paar Luftblasen heraus. »Bis Sonntag muß er nicht für mich fliegen«, murmelte Raeburn und beobachtete, wie Wemyss einen alkoholgetränkten Tupfer aufriß und über Barclays anschwellende Vene wischte. »Dieser ›Flug‹ jetzt ist weit wichtiger. Wenn unsere kleine Gillian Talbot die derzeitige Inkarnation von Michael Scot ist, wie ich vermute, dann kann uns die Arbeit dieser Nacht den Weg zur Rückgewinnung der Schätze weisen, die wir am Loch Ness verloren haben. Barclay war zugegen, als der jüngst verstorbene Geddes Scot in Melrose wieder in seinen Körper zwang; er wird wissen, ob diese Vorstellung stimmt. Machen Sie bitte weiter.« Ohne Einwände stach Wemyss die Nadel in Barclay's Vene -349-
und lockerte die Adernpresse. Langsam injizierte er ihm etwa die Hälfte des Inhalts der Spritze, dann hielt er inne und blickte unter eines der Augenlider seines Probanden. Napier hatte seinen Platz gewechselt und stützte Barclay an den Schultern. So stand er bereit, als Barclay, nachdem Wemyss noch mehr von der Droge injiziert hatte, zitterte und stöhnte. »Er ist fast dort«, murmelte Wemyss, als sich die Augenlider flatternd öffneten. »Barclay, hören Sie mich?« »Ja.« Die Pupillen waren geweitet, Barclays Blick war starr und unbestimmt. Zufrieden drückte Wemyss ein wenig mit dem Daumen auf den Spritzenkolben und verabreichte Barclay noch eine kleine, zusätzliche Dosis der Droge. Dann preßte er den Tupfer auf die Einstichstelle, zog geschwind die Nadel zurück und legte den Arm seines Probanden auf dessen Brust, bevor er zur Seite trat. »Wenn Sie bereit sind, Mr. Raeburn«, sagte er. Raeburn trat lächelnd vor, legte beide Hände auf die Armlehnen von Barclays Sessel und blickte in die drogenumnebelten Augen. »Fühlen Sie sich gut, Mr. Barclay?« fragte er leise. Barclay nickte leicht. »Ich bin okay, Mr. Raeburn.« »Ausgezeichnet.« Raeburn trat zurück und ließ sich von Angela dabei helfen, die Kohlenpfanne vor den Sessel zu schieben, so daß sie fast Barclays Knie berührte. Napier und Wemyss nahmen den Sitzenden jeder an einer Schulter, schoben ihn weiter vor und spreizten seine Knie, so daß die Kohlenpfanne noch näher herangerückt werden konnte. Als Raeburn eine Prise Weihrauch auf die glühende Holzkohle streute, begann Barclay die Schwaden tief einzuatmen. Es war, wie Raeburn wußte, der gleiche Weihrauch, der in jener Nacht in Melrose verwendet -350-
worden war. Barclays Schaudern und der gespannte Ausdruck auf seinem Gesicht zeigten an, daß er es ebenfalls wußte. »Aisssso«, zischte Raeburn. »Sie kennen diesen Duft, nicht wahr? Er bringt Sie zurück in jene Nacht in Melrose. Versetzen Sie sich jetzt mit Ihrem Willen dorthin«, drängte ihn Raeburn. »Sehen Sie die Szene vor sich im Rauch. Konzentrieren Sie sich auf den Geist, der in jener Nacht herbeigerufen wurde. Und jetzt gibt es hier etwas, das Ihnen hilft, sich auf das Ziel zu fixieren.« Auf seinen Wink hin warf Angela Fitzgerald den Knäuel goldblonden Haars in die Kohlenpfanne. Als der Gestank brennender Haare aufstieg, beugte sich Barclay weiter vor und inhalierte ihn tief. Seine Augen blickten verschwommen durch den Rauch. »Suchen Sie danach«, befahl ihm Raeburn. »Bringen Sie die beiden zusammen und vergleichen Sie sie. Ist das TalbotMädchen Scots derzeitige Inkarnation?« »Es kommt«, flüsterte Barclay. »Nahe... Sehr nahe. Kann's allerdings nicht ganz klar sehen. Helfen Sie mir.« Raeburn nickte Wemyss und Napier zu und nahm die mit Blut gefüllte Spritze. Die beiden Helfer drehten Barclays Handflächen nach oben, und Raeburn drückte in jede eine dunkelrote Lache von der Größe einer Münze. Das restliche Blut wanderte in die niedrige Glasschale, die Angela schon auf die Holzkohle abgesetzt hatte. Das Blut zischte auf dem heißen Glas, einzelne Tropfen rasten am Rand entlang. Barclay atmete den Gestank tief ein und nickte, während er seine Handflächen aneinanderrieb, um den Kontakt zu verstärken. »Ja«, sagte er mit geschlossenen Augen, während er die blutigen Hände näher an sein Gesicht hielt, um das Blut selbst zu inhalieren. »O ja, sie sind einundderselbe. Aber Scot ist zornig. Seine Zusammenarbeit wird nicht leicht zu gewinnen sein. Er ist mächtig, auch wenn er durch den Zustand seines -351-
derzeitigen Körpers keinen Mittelpunkt hat. Aber Scot kann benutzt werden. Zwang kann Einfluß ausüben. Ja... es handelt sich eindeutig um Scot. Wir dürfen nicht zulassen, daß die Jagdloge seine Hilfe in Anspruch nimmt. Ein mächtiger Feind... aber auch ein mächtiger Sklave... Vorsichtig...« Allmählich verlor er an Kraft, schließlich sackte er erschöpft nach vorn zusammen und stützte den Kopf auf die blutigen Hände. Als deutlich war, daß keine Mitteilungen mehr folgen würden, zog Raeburn die Kohlenpfanne weg und gab Wemyss und Napier ein Zeichen, sie sollten ihren Probanden wieder hochziehen. Barclay war noch bei Bewußtsein, doch nur knapp. Raeburn blickte Wemyss fragend an. »Geht es ihm gut?« »Er wird wieder okay sein, wenn er geschlafen hat«, erwiderte der Arzt und beugte sich kurz vor, um Barclays Zustand zu überprüfen. Der rollte die Augen nach oben und erschlaffte im Griff der beiden Männer. »Ja, für heute nacht ist er fertig. Soll ich ihn hinaufbringen und waschen lassen?« »Ja, machen Sie«, stimmte Raeburn zu. »Mr. Napier wird Ihnen tragen helfen. Wir treffen uns in einer halben Stunde in der Bibliothek, um zu entscheiden, wie wir diese Information verwenden. Ich glaube nicht, daß es so dringend ist, daß wir vor Freitagabend etwas unternehmen sollten - nichts darf dieses Vorhaben stören -, aber ich glaube, wir werden in Zukunft Miss Gillian Talbot etwas Aufmerksamkeit widmen.« Kapitel 24 Der folgende Tag dämmerte grau und trüb herauf. Er kündigte Schneeregen und Schnee an, die dann am gleichen Abend über ganz Schottland fegten und die Highlands fest im Griff des Winters zurückließen. In Edinburgh waren Arbeiter der Region Lothian den ganzen Freitag über damit beschäftigt, Streusand auf die Straßen und Salz auf die Bürgersteige zu streuen, -352-
während der Verkehr durch Schneematsch rollte und die Fußgänger sich mühten, auf den Beinen zu bleiben, wenn sie stoisch auf den eisigen Gehsteigen dahinstapften, unterwegs zu ihrer Arbeit oder zu ihren Einkäufen. Trotz des ungünstigen Wetters versammelten sich die Brüder der Freimaurerloge Nr. 213 an jenem Freitagabend zu ihrem regelmäßigen Treffen im Edinburgher Bezirk Lochend. Der Meister vom Stuhl kam als einer der letzten an, denn ihn hatte ein altmodisches altes Taxi aufgehalten, das es darauf abgesehen zu haben schien, jede Kurve direkt vor ihm zu nehmen, und zwar in einem selbst bei diesem Straßenzustand entnervend langsamen Tempo. So verärgert war er, als er endlich auf seinem reservierten Platz auf der Rückseite des Privatparkplatzes der Loge ankam - zehn Minuten später als er eigentlich zu Logentreffen kommen wollte -, daß er sich die Nummer des Taxis auf der Rückseite eines alten Parkscheins notierte, bevor er sich darauf einstellte, durch Kälte und Nässe zu rennen. Er nahm das Köfferchen mit seinen Insignien vom Rücksitz, schloß das Auto ab und lief vorsichtig über den vereisten Asphalt. Dabei knöpfte er schon seinen Überzieher auf, als er den Hintereingang erreichte. Gleich hinter der Tür fing ihn der Sekretär der Loge ab, einen Zettel in der Hand und einen besorgten Ausdruck auf dem schnurrbärtigen Gesicht. »Ach, da sind Sie ja!« sagte der Sekretär. »Schon seit einer halben Stunde versucht jemand Sie zu erreichen. Er sagt, er arbeite für Sie - Murray heißt er. Hier ist seine Nummer. Er sagte, Sie sollten ihn gleich anrufen, sobald Sie hier ankämen.« Der Meister vom Stuhl der Loge Nr. 213 rollte die Augen gen Himmel, nahm den Zettel und schaute auf die Nummer - die ihm unbekannt war -, dann ging er zu der Garderobe und den Herrentoiletten, den Sekretär auf den Fersen. »Ich hab jetzt keine Zeit dafür, Robbie. Ich bin von einem -353-
verdammten Taxi aufgehalten worden. Hat er gesagt, um was es geht?« »Nur, daß es dringend ist«, erwiderte Robbie. Der Meister seufzte und nahm seinen Hut ab. »Schon gut, schon gut! Ich werde ihn vom Münzfernsprecher aus anrufen, während ich mich herrichte. Sag den anderen oben, daß ich in wenigen Minuten die Logensitzung eröffnen werde.« »Aye, hochwohllöblicher Meister.« Während der Sekretär der Loge eine Hintertreppe hinauftrappte, um zu tun wie ihm geheißen, stürmte der Meister in die Garderobe, hängte seinen Hut an einen Haken und warf sein Köfferchen auf einen Stuhl, der in der Nähe stand. Während er den Überzieher abstreifte, überlegte er, welcher mögliche Notfall im Betrieb Murray hätte veranlassen können, ihn hier in der Loge anzurufen. Er öffnete den Koffer und holte den weißen Schurz aus Moireseide mit seinen Borten und Symbolen aus himmelblauer Seide heraus und band sie sich um. Er rückte die Patte zurecht, um seinen Rang als Meister anzuzeigen. Als nächstes kam der breite Seidenkragen mit seinem Juwelenanhänger, das Abzeichen seines Amtes als Meister vom Stuhl. Er streifte ihn über den Kopf und rückte ihn so zurecht, daß das Juwel direkt auf seiner Brust zu liegen kam, dann zog er die Handschuhe heraus und wog sie in der Hand, blickte auf den Zettel mit der Telefonnummer, fischte schließlich eine Zwanzig-Pence-Münze aus seiner Hosentasche und warf sie in den Münzfernsprecher an der Wand zwischen den Mantelhaken, wählte die Nummer und klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr, während er die Handschuhe anzog und auf die Verbindung wartete. Am anderen Ende läutete es. Er schaute auf seine Uhr und zog die Stulpe an diesem Handgelenk zurecht. Währenddessen öffnete sich hinter ihm die Tür der Garderobe. Bevor er sich noch umdrehen und sagen konnte, er komme gleich, packte ihn von hinten ein starker Arm am Kragen, klatschte ihm einen dicken Baumwollbausch auf Mund und Nase und erstickte -354-
wirkungsvoll jeden Schrei, den er vielleicht ausgestoßen hätte. Der chemische Geruch von Chloroform strömte in seine Nase und reizte seine Augen. Würgend versuchte er sich nach vorn zu werfen, um seinen Angreifer abzuschütteln. Er war kein kleiner Mann, aber der Unbekannte riß ihn ohne Mühe zurück, nahm ihn in einen Würgegriff und drückte ihm den Chloroformbausch noch fester aufs Gesicht. Ihm verschwamm alles vor den Augen und seine Knie gaben nach, als das Chloroform seine Wirkung tat. Sekunden später hing er schlaff in den Armen des Angreifers. Noch war er verschwommen bei Bewußtsein, doch nicht länger fähig zu schreien oder sich zu wehren. Der Angreifer verhinderte, daß er zu Boden fiel und nahm den Chloroformbausch weg, doch sofort klebte ihm ein Komplize einen breiten Streifen Klebeband über den Mund. Während dem Meister von dieser Behandlung schwindlig wurde, drehte der erste Mann ihm die behandschuhten Hände hinter den Rücken und fesselte sie mit Klebeband. Gleichzeitig stülpte der zweite Angreifer ihm eine dunkle Kapuze über den Kopf. Dann packten sie ihn an beiden Seiten. Halb führten, halb schleiften sie ihn aus der Garderobe, durch den kurzen Korridor und hinaus in die frostige Nacht, wo sie ihn ganz unachtsam auf den Boden eines wartenden Fahrzeugs warfen - des Taxis, das ihm noch vor Minuten soviel Ärger bereitet hatte. Von einem plötzlichen spitzen Stich durch die Brust seines Hemdes ging eine dumpfe Welle der Lethargie aus. Der Ruck, mit dem das Auto anfuhr, war das letzte, was er wahrnahm, bevor er ohnmächtig wurde. Zwölfhundert Meter entfernt saß auf der Südseite des Calton Hill, eines der drei Edinburgher Berge, eine schmallippige Frau allein in einem geparkten Auto vor dem schneebedeckten Tor des Alten Friedhofs von Calton. Vor und hinter ihr erstreckte sich eine weit auseinandergezogene Reihe von anderen parkenden Autos. Sie gehörten den Gästen des schäbigen Pubs, -355-
das einen knappen Steinwurf entfernt - die Ladenfront auf der anderen Seite des Waterloo Place einnahm. Weiter hügelauf, hinter dem Pub, erhoben sich vor dem Winterhimmel die dunkle Masse der Gebäude des Scottish Office und des NelsonDenkmals. Der leicht rieselnde Schnee trug wenig dazu bei, das Gebrumm der Dieselmotoren zu dämpfen, als hinter dem Friedhof ein Zug in Richtung Waverley Station vorbeiratterte. Die Straßen waren menschenleer, das Wetter hatte die meisten Leute in die Häuser getrieben. Innerhalb der hohen Steinmauern des Friedhofs selbst jedoch wartete fast ein Dutzend dunkler Gestalten, die sich in einem schneebedeckten und mit Graffitti verschmierten Grabhaus untergestellt hatten; sie stampften mit den Füßen auf und hauchten sich wärmend in die Hände, während sie auf ein Zeichen ihres Anführers warteten. Francis Raeburn schlich wie ein Wolf vor einem verwitterten Grabstein in der Form eines mannsgroßen Obelisken hin und her. Als er stehenblieb und auf seine Armbanduhr schaute, schlug es von einem nahen Glockenturm acht Uhr. Als der letzte Glockenschlag verhallte, erschienen von der Regent Road her Scheinwerfer am Waterloo Place. Sie kündigten die Ankunft eines großen, schwarzen Taxis an, das schwerfällig den Hügel hinab auf den Friedhofseingang zukroch. Als das Taxi die Scheinwerfer aufleuchten ließ, lächelte die Frau, die in dem geparkten Auto wartete, grimmig sich selbst im Rückspiegel zu und antwortete mit ihren Scheinwerfern. Das Signal wurde von einem Mann weitergegeben, der unmittelbar hinter dem Friedhofseingang wartete. Raeburn blieb sofort stehen und winkte seinen Untergebenen zu. Einmütig legten sie Hüte und Mäntel ab, die dünnen weißen Gewänder wurden sichtbar, die sie darunter getragen hatten. Während einer aus der Gruppe die Mäntel und Hüte schnell auf einer Plane hinter dem Grabhaus aufhäufte, zogen sich die übrigen verhüllende weiße Kapuzen vors Gesicht. Als Raeburn es ihnen -356-
gleichtat und sich einen Schal vom Hals zog, fiel ein flüchtiger Lichstrahl von einer Straßenlampe auf den dunkelmetallisch glänzenden Soulis-Torques, den er um den Hals trug. Die Frau in dem geparkten Auto ließ den Motor an. Als sie zügig vom Bordstein wegfuhr, schlüpfte das Taxi glatt in die Lücke, die sie freigegeben hatte, hielt an und schaltete die Scheinwerfer ab. Die beiden dunkelgekleideten Männer auf den Rücksitzen warfen schnelle Blicke die Straße hinauf und hinab, um sicherzugehen, daß ihre Ankunft keine unerwünschte Aufmerksamkeit erregt hatte. Dann öffneten sie die dem Randstein zugewandte Tür, stiegen aus und hoben unter einer tartangemusterten Autodecke eine mit einer Kapuze verhüllte Gestalt hoch. Sie stützten den Mann von beiden Seiten, während sie ihn schnell aus der Dunkelheit des Taxis in den Schatten des überwölbten Friedhofseingangs verfrachteten. Einer von Raeburns weißgekleideten Helfern empfing sie vor dem Schnee fast unsichtbar - am Tor, ließ sie ein und schloß das Tor hinter ihnen wieder, auf Angeln, die offensichtlich gut geölt waren. Zwei weitere von Raeburns Anhängern schlossen sich ihnen an, um den Gefangenen den Hügel hinaufzuschleifen. Sie alle rutschten und stolperten im Schnee. Unter Raeburns schweigender Anleitung stellten sie den Mann mit dem Rücken an den obeliskenförmigen Grabstein und fesselten ihn daran mit Schnüren aus roter Seide. Als dies geschehen war, zogen sich die Männer aus dem Taxi auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren, und ließen Raeburn und seine Untergebenen das Werk fortsetzen, das zu tun sie hierher gekommen waren. Anonym und nahezu unsichtbar in ihren weißen Kapuzengewändern, stellten sich Raeburns Helfershelfer in einem Kreis um den Gefangenen auf, wobei sie direkt vor dem Opfer einen Platz freiließen. Diesen Platz nahm Raeburn ein. Er griff in die Brusttasche seiner Robe und zog ein rundes Medaillon mit dem Bild eines knurrenden Luchskopfes hervor das einzige derartige Abzeichen, das an diesem Abend hier zu -357-
sehen war. Doch alle trugen den Karneolring ihres Ordens. Raeburns blasse Augen funkelten unter seiner Kapuze. Er hielt einen Augenblick inne und befingerte das Medaillon, dann streckte er die Hand aus und riß dem Gefangenen die Kapuze herunter, die ihn am Sehen gehindert hatte. Ein wenig belebt vom Hauch kalter Luft, hob der Mann den schlaff herabhängenden Kopf, und seine drogengetrübten Augen streiften verständnislos über den Kreis weißgekleideter Gestalten, die rings um ihn standen. Als Raeburn dem Gefangenen das Medaillon um den Hals hängte, zuckte dieser matt zurück. Mit einer Grimasse der Ungeduld nickte Raeburn einem seiner Untergebenen zu und trat auf seinen Platz im Kreis zurück. Wortlos glitt der weißgekleidete Mann vor und entfernte das Klebeband vom Mund des Gefangenen, dann schien er unter der Nase des Manns mit den Fingern zu schnalzen. Als der Kopf des Gefangenen reflexartig zurück zuckte, wehte ein scharfer Geruch von Salmiakgeist durch die frostige Dunkelheit und löste sich ebenso schnell auf. Der Weißgekleidete trat schweigend im Schnee in den Kreis seiner Genossen zurück und ließ den Gefangenen allein in ihrer Mitte. In dessen braunen Augen flackerte jetzt eine wohlbegründete Angst auf. Raeburn hob die Hände. Ein noch drückenderes Schweigen schien sich auf den alten Friedhof zu legen, und die hier Versammelten vom Gejaul und Gewinsel der Dieselmotoren und Druckluftbremsen auf dem nicht fernen Rangierbahnhof sonderbar zu isolieren und die anderen fernen Geräusche einer Großstadt zu verschlucken. Dicke, träge Schneeflocken schwebten in der eiskalten Nachtluft hernieder. Eine blieb auf den Wimpern des Gefangenen liegen. Als die Erwartung den gewünschten Grad erreicht hatte, warf Raeburn schließlich den Kopf zurück und begann in einem zischenden Flüsterton die mitleidslose und schreckliche Anrufung zu singen, die die Macht herbeirufen würde, die ihm von ihrem Großmeister -358-
anvertraut war. Der Singsang durchschnitt die Luft wie das Geräusch einer auf Stein quietschenden Feile. Der gefangene Freimaurer rüttelte schwach an seinen Fesseln, echter Schrecken weckte noch einmal ohnmächtigen Widerstand. Raeburns Stimme wurde intensiver, nicht lauter, bis er sich schließlich zurückbäumte und in einer Geste, die den Himmel umarmte, beide Arme weit über den Kopf warf. »Komm, mächtiger Taranis!« krächzte er. »Komm und sei heute Nacht unser Gast!« Die Luft innerhalb des Kreises schien plötzlich lebendig zu werden. Es war, als berste der Himmel über ihnen und als finge die Luft auf einmal an zu sieden. Während die Dunkelheit dichter wurde und schwirrte, flackerte ein unheimliches Halblicht von Wolke zu Wolke und erzeugte ein elektrisches Kribbeln auf den Gesichtern und Händen, wie ein milder Schock oder das Gekrabbel von Insekten. »Komm, du Herr der Blitze!« drängte Raeburn. »Komm und nimm unsere Huldigung entgegen! Sieh die Gabe, die dir bereitet ist, ein Opfer, geziemend und reif, um zu verbrennen!« Seine Stimme vibrierte vor durstiger Erwartung, und der Donner antwortete mit einem leisen, tiefen Grollen, während sich Wolken wogend zusammen zogen. Der gefangene Freimaurer blickte wild um sich und warf sich schwach gegen seine Fesseln. Jetzt brachte er ein hörbares Quieken zustande, doch es nutzte nichts. Im selben Augenblick durchsengte ein Blitzstrahl den nächtlichen Himmel und schlug wie die Zunge einer Natter nach dem Luchsmedaillon, das vor der Brust des Gefangenen hing. Es folgte ein plötzlicher, ohrenbetäubender Knall. Die Weißgekleideten zuckten zurück und hoben die Hände, um die geblendeten Augen zu schützen, während der Blitz als blauweißer Lichtbogen zischte und knatterte. Durchbohrt von -359-
der Explosion roher Energie, zuckte und zappelte der getroffene Körper des Opfers wie eine beschädigte Marionette. Bläulicher Rauch umkränzte seinen Kopf und seine Brust, es stank nach verkohltem Stoff und verbranntem Fleisch. Gleichzeitig umarmte die Macht Raeburn und packte ihn in einem fast sexuellem Paroxysmus. Das Gesicht zum Himmel gewandt, stieß er einen heiseren Schrei des Jubels aus und atmete tief den Gestank der Opferung ein. Das Opfer, das sich in seinen seidenen Fesseln krümmte, wurde von einem letzten Krampf geschüttelt - nur noch ein Reflex des Fleisches, schon jenseits der Qual - und regte sich nicht mehr. Herumschweifende Energien umspielten den herabhängenden Kopf des Toten noch ein paar letzte Sekunden, dann erloschen sie jäh. Erneut fiel Dunkelheit auf den Friedhof. Nach diesem elementaren Feuer wirkte er noch finsterer. Eine Weile verharrte Raeburn bebend am blinden Abgrunc der Ekstase, berauscht vom noch verweilenden Kuß der Macht. Der Nachhall der Gewalt des Blitzes hatte seinen mageren Leib mit einer Verzückung erfüllt, die er sich bisher nur hatte vorstellen können. Er klammerte sich daran, solange er konnte, und preßte die Hände eindringlich an den Torques - im Bemühen, den Augenblick zu verlängern. Erst als das letzte Feuer aus seinen Adern gewichen war und jemand in dem Kreis hustete, öffnete er die Augen. Ihr lebloses Opfer hing schlaff am Grabstein. Rauchwölkchen stiegen von dem tiefschwarzen Brandfleck auf seiner Brust auf. Das Medaillon wie auch der Juwelenanhänger an seinem Freimaurerkragen waren verschlackt. Von verbrannter Seide und Wolle stieg noch ätzender Rauch auf. Um den Toten herum war der Schnee geschmolzen, der nackte Boden geschwärzt. Einige aus der Gruppe traten, nachdem Raeburn es mit einer Geste gestattet hatte, vorsichtig vor, um das Opfer zu untersuchen. In ihrer Ehrerbietigkeit spürte Raeburn auch Angst und Respekt, in -360-
die sich Neid mischte, und er genoß die Befriedigung, die ihm diese Erkenntnis schenkte. Aus der Ferne näherte sich das Geheul einer Sirene, höchstwahrscheinlich ein Zeichen dafür, daß das Feuerwerk über dem Friedhof nicht unbemerkt geblieben war. Als Raeburn Mantel, Hut und Schal anlegte, gab er eine kurze Anweisung, und einer seiner Helfer nahm mit einer gutisolierten Hand das verschlackte Überbleibsel des Luchsmedaillons von der Leiche des Opfers, während ein anderer die seidenen Fesseln löste, die den Körper an den Grabstein gebunden hatten. Sie legten die Leiche auf den Boden, und der erste durchschnitt das Klebeband, das die Handgelenke gefesselt hatte, und entfernte es. Als diese Maßnahmen abgeschlossen waren, ließ sich Raeburn von zweien seiner Anhänger zum wartenden Taxi geleiten, während sich die anderen Mitglieder der Gruppe so schnell und stumm entfernten, wie sie gekommen waren. Als das erste Polizeiauto in den Waterloo Place einbog, war der Alte Calton-Friedhof leer - bis auf die schlummernden Toten vergangener Jahre und die verkohlte Leiche eines Mannes, der vor kurzem vom Blitz erschlagen worden war. Auf Strathmourne wußten inzwischen Adam und seine Mitarbeiter noch nichts von dieser neuesten Eskalation in der Kampagne der Loge der Luchse. Nachdem sie sich die letzten zwei Tage darauf konzentriert hatten, Gillian Talbot zu schützen, hatten sie an diesem Nachmittag ihre Verlegung nach Strathmourne sichergestellt, und damit begann eine neue Phase ihrer Behandlung. Gillian war jetzt in einem gemütlichen Zimmer im Ostflügel untergebracht, das einst als Kinderzimmer gedient hatte, und ihre Mutter wohnte in einem Zimmer auf der anderen Seite des Korridors. Um Iris Talbot auf Strathmourne willkommen zu heißen und die entspannte, familiäre Atmosphäre zu unterstreichen, von der sie hofften, sie würde einen Durchbruch im Zustand von Iris' Tochter bewirken, hatte Philippa eine zwanglose -361-
Abendgesellschaft arrangiert. Es war nicht nur Peregrine zugegen, für den Mrs. Talbot eine schwärmerische Bewunderung empfand, seit sie seine Wirkung auf Gillian beobachtet hatte, sondern auch Christopher und Victoria Houston, die von Kinross heraufgefahren waren, um die Gruppe zu verstärken. Die beeindruckende Mrs. Gilchrist hatte bereitwillig zugestimmt, ihren früheren Beruf als Krankenschwester wieder aufzunehmen und saß bei Gillian, während der übrige Haushalt dinierte. Als die Gesellschaft sich freundschaftlich durch Lauchsuppe mit Stiltonkäse, Hähnchen a la Wellington und Reineclaudentörtchen geplaudert hatte, war Iris Talbot soweit, daß sie sich in ihrer neuen Umgebung wohlfühlte. Philippa wollte gerade vorschlagen, sie sollten sich zum Kaffee in den vorderen Salon begeben, da läutete das Telefon. »Humphrey wird sich darum kümmern«, sagte Adam und lächelte Iris zu, die bei dem Geräusch aufgefahren war. »Wenn es kein Notfall ist, nehme ich während des Dinners keine Anrufe entgegen.« Das Telefon am anderen Ende des Raums summte diskret. »Andrerseits gibt es manchmal Anrufe, mit denen man sich befassen muß. Warum geht ihr anderen nicht schon einmal in den Salon? Ich komme in ein paar Minuten nach.« Dieses Versprechen wurde jedoch nicht mehr erfüllt, denn der Anrufer war Noel McLeod, und seine Stimme klang grimmig. »Machen Sie sich auf etwas gefaßt, Adam«, sagte der Inspector. »Soeben wurde ein Mann, der freimaurerische Abzeichen trug, auf dem Alten Calton-Friedhof tot aufgefunden, dort zwischen den Bahngleisen und dem Calton Hill. Hören Sie gut zu - der Mann scheint von einem Blitz erschlagen worden zu sein. Ich bin gerade dorthin unterwegs und dachte, daß Sie vielleicht auch dazu kommen würden - Sie und der junge Lovat, falls er abkömmlich ist. Sorgen Sie dafür, daß er für alle Fälle seine Zeichensachen mitbringt.« -362-
Knapp eine Stunde später reihte Adam mit einem nervösen Peregrine auf dem Beifahrersitz den Range Rover vorsichtig hinter einem halben Dutzend Polizeifahrzeuge ein, die entlang der Nordseite des Waterloo Place geparkt waren, direkt gegen über dem Eingang zum Alten Calton-Friedhof. Um den Eingang selbst hatte man Polizeisperren errichtet. Am Randstein wartete ein Ambulanzwagen, dessen Blaulicht in dem leichten Schneefall gespenstisch aufleuchtete. »Das sieht nicht gut aus«, sagte Adam, als sie ausstiegen. Peregrine knurrte zustimmend, klemmte sich einen Skizzenblock unter den Arm und folgte Adam gehorsam über die Straße. Er kniff die Augen gegen die Schneeflocken zusammen und zog verspätet seine fingerlosen Handschuhe an. »Wir sind hier auf Ersuchen von Inspector McLeod«, sagte Adam zu dem uniformierten Beamten, der an der Absperrung postiert war, und reichte ihm seine Visitenkarte. »Können Sie mir sagen, wo wir ihn finden?« »Aye, Sir.« Der Polizist zeigte auf eine Ansammlung von Flutlichtern zwischen den Grabsteinen auf der oberen Ebene des Friedhofs. »Er wird irgendwo da oben sein. Geben Sie aber gut acht - der Boden ist ziemlich matschig.« »Danke«, erwiderte Adam. Zusammen mit Peregrine umging er die Absperrung und trat durch das Tor. Im Vorübergehen bemerkte er die schwere Kette, die neben dem Torpfosten auf dem Boden lag. Das zugehörige Vorhängeschloß war sauber abgeschnitten, wahrscheinlich mit einem Bolzenschneider. Als sie den Hang weiter hinaufkamen, hing in der Luft ein ätzender Geruch von verbranntem Fleisch. »Herr Jesus!« murmelte Peregrine mit unterdrücktem Abscheu. Er legte eine Hand auf Mund und Nase und mußte fast würgen. Im selben Augenblick erblickte Adam McLeod inmitten der Gestalten, die sich im Flutlicht hin und her -363-
bewegten. Er winkte, McLeod schaute herunter und sah sie. Als er ihnen entgegenkam, wirkte sein starkes, markantes Gesicht im Schein der Azetylenlampen bleich und grimmig. »Sie haben ja ziemlich lange gebraucht!« murmelte er, doch diese Bemerkung entsprang eher seiner Anspannung als einem echten Ärger, denn er wußte ja, daß sie so schnell gekommen waren, wie sie nur konnten. »Die Sanitäter und der Polizeipathologe sind schon seit einer halben Stunde hinter mir her, ich solle ihnen erlauben, die Leiche wegzubringen. Aber ich wollte, daß Sie die Dinge so sehen, wie wir sie gefunden haben. Lockern Sie Ihre Zeichenhand, Mr. Lovat.« Mit einer Geste forderte er sie auf, ihm zu folgen, und führte sie durch ein labyrinthisches Gewirr von gelben Absperrbändern zu einem Flecken von wintertotem Rasen zwischen zwei grauen Grabhäusern. Als Peregrine einen Schritt hinter Adam um die Ecke des rechten Bauwerks bog, scheute er vor dem Anblick der Leiche etwas zurück, die ein paar Meter entfernt auf einem Stück verbrannter und schlammiger Erde zu einem plumpen Haufen hingestreckt lag. Als er seinen Blick über den Körper streifen ließ, traf ihn eine frostige Empfindung des Nachhalls von Gewalt ins Gesicht wie der Schlag einer offenen Hand. Er hielt den Atem an und zuckte zurück. McLeod und Adam blickten sich nach ihm um, aber er machte eine stumme, abwehrende Geste und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den toten Mann. Das Opfer schien im gleichen Alter wie McLeod gewesen zu sein; ein kräftiger Mann vom Typ Arbeiter - mit den verkohlten Resten eines Freimaurerkragens und eines jetzt schmutzigen Schurzes über einem dunklen Anzug. Die Todesursache war offensichtlich, die geschwärzte Brandstelle mitten in seiner Brust sah aus, als hätte ein Mörserschuß den Mann getroffen. Peregrine holte einen Bleistift aus seiner Tasche und schlug mit der anderen Hand seinen Skizzenblock auf, dann holte er ein paarmal tief Luft und kniff seine Augen zusammen, während er -364-
versuchte, über die unmittelbare Szene hinweg zu den Ereignissen zu blicken, die ihr vorausgegangen waren. Es war hart, die Gewalttätigkeit auszufiltern, doch als er eine tiefere Ebene der Wahrnehmung erreicht hatte, belebte sich die Umgebung mit der geisterhaften Durchsichtigkeit, die die visionäre Natur des Wahrgenommenen anzeigte. Er sah jetzt eine Versammlung von Gestalten in weißen Gewändern und Kapuzen, die in einem Kreis um das Opfer aufgestellt waren und damit an Randall Stewarts Ermordung erinnerten. Die Luchsmedaillons, die man damals getragen hatte, fehlten auffällig, aber jeder trug einen Ring an der rechten Hand, wie sie es auch in jener Nacht getan hatten, und die Gesichter waren noch von mehr als nur den Kapuzen verhüllt. Der der Anführer zu sein schien, trug um den Hals einen dunklen, schweren Halsring, der Peregrine anzog wie ein Magnet - doch als er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, verschwammen die Einzelheiten. Peregrine bot seine Reserven an Konzentrationsfähigkeit auf und versuchte, den Halsring deutlicher auszumachen. Das Objekt war von einer unverkennbaren Aura von Bosheit umgeben. Es gelang ihm, einen flüchtigen Eindruck von fließenden Piktogrammen zu erhäschen, die zu Konfigurationen der Macht zusammengefügt waren. Doch bevor dieser Eindruck sich festigen konnte, brannte ein plötzlicher Schmerz weißglühend hinter seinen Augen und löschte die Vision aus. Der Schmerz war so intensiv, daß er würgte und sich zusammenkrümmte. Zwei Paar starke Hände kamen ihm zu Hilfe und bewahrten ihn davor hinzufallen; sie halfen ihm, sich allmählich wieder aufzurichten, während er sich erholte. Doch selbst wenn er nur an den unbekannten Halsschmuck dachte, wurde ihm schon übel und der stechende Schmerz hinter seinen Augen begann aufs neue. »Halt!« sagte Adams tiefe Stimme in sein Ohr. »Lassen Sie los, was diese Reaktion hervorruft. Das ist es nicht wert.« -365-
Kühle, ruhige Finger legten sich auf seine Stirn. Sofort ließ der Schmerz nach. Peregrine schluckte Luft. Als die Hand wieder von seiner Stirn abließ, wagte er nur allmählich die Augen zu öffnen. »Adam, ich glaube, das war dieselbe Bande, die auch Randall Stewart umgebracht hat«, murmelte er vorsichtig. Er war überrascht, daß er noch Block und Bleistift in den Händen hielt. »Der Anführer hatte etwas um den Hals, einen - einen Halsring oder - vielleicht einen Torques.« »Irgendwie dachte ich mir schon, daß dies der Fall sein würde«, sagte Adam ruhig. »Aber das ist für heute alles. Versuchen Sie nicht, an dem Bild zu arbeiten. Dieses Objekt ist viel zu gut abgeschirmt. Wie fühlen Sie sich?« Peregrine nickte. Der Schmerz hatte nachgelassen, und er merkte, daß er wieder normal sehen konnte. »Besser. Sie - wollen dann also nicht, daß ich mich auf den Anführer konzentriere?« fragte er. »Nicht um diesen Preis«, erwiderte Adam. »Nicht jetzt. Nicht hier. Haben Sie andere Bilder bekommen, bevor er Sie ausschaltete?« »O ja«, antwortete Peregrine. »Allerhand gute Details...« Er verstummte, während sein Blick wieder zu der Gestalt wanderte, die am Fuß des Grabsteins zusammen gesunken war, und sein Bleistift fuhr schon auf dem obersten Blatt seines Zeichenblockes hin und her. Als Adam und McLeod sahen, wie geistesabwesend sein Gesicht schien, gingen sie einige Meter zur Seite. Sie waren zufrieden, daß der junge Künstler wieder Herr seiner Sinne war, aber sie standen bereit, ihm zu Hilfe zu kommen, falls sich die Notwendigkeit ergäbe. Mit Peregrines Hilfe würden sie vielleicht noch etwas Nützliches über die Greueltat dieses Abends erfahren. McLeod straffte die Schultern. »Nun also, erneut wurde ein Freimaurer unter Umständen -366-
ermordet, die man nur als bizarr bezeichnen kann«, murmelte er. »Da werden die Zeitungen morgen wieder ein gefundenes Fressen haben, nicht wahr?« Adam verzog das Gesicht. Er konnte sich die Schlagzeilen schon vorstellen. »Haben Sie den Mann gekannt?« fragte er laut. »Nur flüchtig«, erwiderte McLeod. »Er heißt - hieß lan MacPherson. Hatte sein eigenes Schreinergeschäft in Lochend, wo auch seine Loge beheimatet ist.« Er zeigte auf den Schurz und den Kragen des Toten und schürzte in düsteren Überlegungen die Lippen. »Ich würde wetten, daß heute ihr regulärer Logenabend war. Ich vermute, daß er kurz vor Beginn der Sitzung entführt wurde - vielleicht sogar auf denn Logengelände. Ich habe Donald schon hinübergeschickt, um Erkundigungen einzuziehen. Als einer der ihren, wenn man so will, wird er wahrscheinlich eher Informationen bekommen als mancher andere - aber auch nur, wenn es etwas zu erzählen gibt.« Er hielt inne und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Adam. Randalls Tod war schon schlimm genug aber hier beginnt es wirklich gespenstisch zu werden. Wenn wir dieser Schweinerei nicht bald auf den Grund kommen, werden wir noch eine öffentliche Hexenjagd am Hals haben. Und was noch schlimmer ist, die selbsternannten Hexenjäger werden genau an den falschen Stellen suchen - und die Freimaurerei wird an der Spitze dieser Liste stehen.« »Das ist nur allzu wahr, fürchte ich«, stimmte ihm Adam nüchtern zu. »Was können Sie mir im Augenblick sonst noch sagen? Wurde MacPherson von einem Blitz getroffen?« McLeod blickte finster drein wie eine Gewitterwolke. »Das legen die Indizien nahe. Zuerst gibt es da die lokalisierte Schockbrandstelle mitten auf der Brust. Dann die Tatsache, daß MacPhersons Armbanduhr um 20.17 Uhr stehenblieb - was den Zeitpunkt des Todes bestimmt. Die Münzen in seinen Taschen -367-
waren verschlackt - ein weiteres Indiz, das bei Opfern von Blitzschlägen vorkommt. Ich bin kein Doktor, aber mir erscheint das ziemlich überzeugend.« Adam nickte grimmig. »Das wäre viel leichter zu erklären«, fuhr McLeod fort, »wenn es jetzt Sommer in den Tropen wäre. Aber elektrisch geladenes Sturmwetter klingt ziemlich verrückt für Schottland im Winter. Ich wünschte, ich könnte so tun, als dächte ich, die ganze Sache sei ein kunstvoll arrangiertes Verbrechen, das unter Studiobedingungen von jemandem begangen wurde, der zu viele Horrorfilme gesehen hat. Wie die Dinge liegen, haben wir ein paar Zeugen, die behaupten, sie hätten gesehen, wie sich nur Sekunden vor dem Blitzschlag seltsame Wolken über dem Friedhof zusammenballten.« Adams Blick wurde schärfer. »Warum klingt das plötzlich nach den Geschichten, die im Zusammenhang mit diesem Vorfall letzten Monat oben in Balmoral bekannt geworden sind?« McLeod blinzelte. »Glauben Sie, da könnte es einen Zusammenhang geben?« »Ich weiß es nicht«, sagte Adam, »aber diese Theorie ist es wert, daß man ihr einmal nachgeht.« Er hätte vielleicht noch mehr gesagt, aber in diesem Augenblick kam Peregrine angerannt. Sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Abscheu und Aufregung. »Schauen Sie sich das an!« sagte er und hielt ihnen den Zeichenblock hin. Adam nahm ihn und hielt ihn ins Licht. Die Zeichnung zeigte MacPherson an den Grabstein gefesselt, an dessen Fuß er jetzt lag, wobei er nicht nur den Schurz und den Kragen eines Meisters vom Stuhl trug, sondern auch ein rundes Medaillon, das an einer langen Kette um seinen Hals hing. Das Emblem auf dem Avers des Medaillons war der Kopf eines knurrenden -368-
Luchses. »Die anderen trugen es diesmal nicht«, erklärte Peregrine, während seine Mentoren die Zeichnung betrachteten. »Sie trugen Ringe, aber keine Medaillons. Es ist natürlich nicht mehr da«, fügte er hinzu und zeigte mit dem Finger auf das Luchsmedaillon. »Sie - die Männer in Weiß - müssen es ihm nach dem Blitzschlag abgenommen haben. Aber warum haben sie es ihm angelegt, wenn nicht...« »Wenn es nicht ein Faktor zur Ausführung des Rituals war«, überlegte Adam. »Ja, das würde in das Muster passen. Das Medaillon wirkt wie ein Zielsender und zieht das Feuer der Energie an, die unsere Gegner auf die materielle Welt loslassen wollen.« »X markiert das Ziel«, bemerkte McLeod und zeigte die Zähne. »Man nennt das auch den Judaskuß.« »Aber warum hier?« fragte Peregrine und warf einen Blick um sich. »Da, glaube ich, ist ein Teil der Antwort«, sagte Adam und zeigte. Peregrine schaute in die angegebene Richtung und sah, daß Adam auf den vom Feuer verunstalteten Grabstein hinter der zusammen gesunkenen Leiche wies. Als er genauer hinsah, entdeckte er, daß der Stein ein seltsames Emblem eingraviert trug: einen Kreis mit einem Dreieck darin, und im Dreieck eine linke Hand, die Finger aneinandergelegt, die Handfläche nach vorn, und darauf ein Auge. »Wenn ich mich nicht völlig irre«, sagte Adam, »dann ist das ein altes freimauererisches Schutzsymbol. Habe ich recht, Noel?« McLeod nickte und fuhr mit der Hand über die verwitterte Gravierung. »So sieht es gewiß für mich aus.« »Überdies«, fuhr Adam fort, »wäre ich sehr überrascht, wenn -369-
dieser Friedhof hier nicht in der Vergangenheit zur Beerdigung bedeutender Freimaurer benutzt worden wäre. Wenn das der Fall ist, vermute ich, daß unsere Feinde dieses Gelände nicht nur benutzten, um ein Opfer zu vollziehen, sondern auch, um die Stärke ihrer eigenen Angriffskraft zu testen.« Er betrachtete die Szene noch einmal, legte die Hände auf die Hüften und stieß einen Seufzer aus. »Ich glaube, wir können davon ausgehen, daß sie erreicht haben, weswegen sie gekommen waren«, sprach er weiter. »Wohin auch immer die Spur von hier aus führt, es wird unterwegs noch weitere Tote geben, wenn wir nicht schneller sind als sie. Dafür werden wir Wissen brauchen. Noel, wie bald können Sie mir die Niederschriften dieser Befragungen geben, die Sie und Cochrane in Stirling durchgeführt haben?« »Wie wäre es mit morgen?« erwiderte McLeod. »Spätestens am Sonntag. Ich werde Ihnen selbst eine Kopie ins Haus bringen und sehen, daß Sie auch eine Kopie des gerichtsmedizinischen Berichts über MacPherson bekommen, sobald er verfügbar ist.« Kapitel 25 Als der folgende Tag heraufdämmerte, hatte dichter, tief liegender Nebel die Flugsichtweite über den Cairngorm Mountains fast auf null reduziert. Raeburns Pilot Barclay, der hauptsächlich nach den Instrumenten flog, brummte etwas vor sich hin, als er den Hubschrauber vorsichtig über eine Decke aus cremigem Weiß steuerte, die fest genug aussah, daß man hätte darauf laufen können, wobei er gelegentlich einem schneebedeckten Gipfel auswich, der aus der Ebene des Nebels emporragte. Raeburn selbst saß gleichmütig neben dem Piloten, während der Hubschrauber durch eine unnatürliche Stille ratterte. Das stärker werdende Piepsen eines Leitstrahlsenders kündigte an, daß sie bald an ihrem Ziel ankommen würden. Der Pilot hielt den Atem an, als er mit dem Landeanflug -370-
begann. Es war, als sänke man in ein Glas mit geschmolzener Sahne. Nach einigen beklemmenden Sekunden völliger Blindheit gelangten sie in ein dunstiges Zwielicht über einer Schneedecke, die alles verhüllte. Unmittelbar vor ihnen zeigten Landefeuer neben dem burgartigen Herrenhaus den Weg zu einem sicheren Landeplatz, der vor dem Gebäude lag. Minuten später eilte Raeburn vom Helikopter durch die Kälte über den schneebedeckten Rasen zum Haupteingang. Dabei duckte er instinktiv, den Aktenkoffer unter einen Arm geklemmt, den Kopf unter den langsamer werdenden Rotorblättern. Im Haus halfen ihm schweigende, aufmerksame Diener, seinen Mantel gegen eines der weiten, weißen Gewänder auszutauschen, die unter diesem Dach wie eine Uniform verwendet wurden. So gekleidet ließ er sich von ihnen zum Fuß der Treppe geleiten, die zum Turm des Großmeisters führte. Es kostete Raeburn einige Mühe hinaufzusteigen. Sein bleiches, asketisches Gesicht zeigte ungewohnte Falten der Anstrengung, während er die Stufen eine nach der anderen hinaufging. Seine Gliedmaßen waren immer noch etwas wacklig von der Erschöpfung, die sein erster Versuch der Benutzung des Torques mit sich gebracht hatte, doch dies war eine Müdigkeit, die er genoß, ein willkommener Beweis für seine zunehmende Eignung zur Macht. Er tat einen tiefen Atemzug, um sich für das bevorstehende Gespräch zu stärken, dann klopfte er dreimal an die Tür und öffnete sie behutsam. Der Großmeister saß inmitten seiner Kissen am Rand seines Anhängerkreises. Vor ihm lag das Manuskript auf einer Matte aus schwarzem Widderleder, darauf befand sich etwas, das in scharlachrote Seide gehüllt war. Die Atmosphäre in dem kreisrunden Raum war mit Erwartung aufgeladen. Ein Dutzend Augenpaare funkelte begierig im Gaslicht. Das runzelige Gesicht des Großmeisters wirkte unergründlich, seine Augen brannten wie Kohlen. -371-
Als Raeburn die Schwelle überschritten hatte, zog er die Tür hinter sich zu und verneigte sich tief vor dem Großmeister, wobei er seinen Kopf fast bis zu den Knien beugte. Als er sich wieder aufrichtete und spürte, daß aller Augen auf ihn gerichtet waren, verkündete er: »Es ist geschehen, Großmeister. Der Herr Taranis hat unser Opfer mit Wohlgefallen angenommen.« Der jubilierende Unterton seiner Stimme hallte von den uralten Steinen wieder. Ein Seufzen lief wispernd durch den Kreis, das Gemurmel gierigen Stolzes. Der Großmeister winkte Raeburn näher heran und nickte, als der Jüngere sich in symbolischer Unterwerfung vor ihm niederkniete. »Willkommen, Sohn des Sturmbringers«, sagte er. »Heute hat der Donnerer Sie wahrhaft gezeugt.« Er langte über das Manuskript hinweg und zeichnete mit seinem Daumen ein Runensymbol auf Raeburns Stirn. Seine Berührung war so kalt und trocken wie Schlangenhaut, und der Jüngere zitterte leicht bei dem Kontakt mit der frostigen Autorität. »Es soll verzeichnet werden in den Annalen des Schattens, daß die Todesqualen des Tempelbauers als würdiges Opfer befunden wurden«, verkündete der Großmeister mit schroffer Genugtuung. »Möge seine Lebenskraft den Sturm nähren, der bald unter unsterblichen Blitzen den Tempel selbst wird bersten lassen. Und möge die Stunde bald kommen, da der Donnerer selbst in die Welt tritt durch das Tor des Fleisches, das bereit ist, ihn zu empfangen.« Die Anrufung wurde von einem Echo zustimmenden Gemurmels aus dem Kreis seiner Anhänger begrüßt. Raeburn allein schwieg. Im fahlen Geflacker der Gaslichter wirkte sein Gesicht bleich und hart. Das Meister zog eine haarlose Augenbraue hoch. »Sohn des Donnerers«, sagte er, »haben Sie noch mehr zu sagen?« -372-
»Ja, Großmeister«, sagte Raeburn. »Etwas, das alle Anwesenden betrifft. Ich habe weitere Neuigkeiten über die Jagdgruppe, die uns verfolgt. Und wenn ich mich in der Sache nicht sehr irre, könnte sie alle unsere Pläne gefährden.« Diese Ankündigung löste erneut raschelnde Unruhe in dem Raum aus. Die runzligen Lippen des Großmeisters unterstrichen einen finsteren Blick des Mißfallens. »Erklären Sie!« Raeburn verneigte sich noch einmal leicht vor seinem Oberen, dann setzte er sich auf die Fersen. »Alle Anwesenden wissen, daß unser kürzlicher Versuch, ein Mitglied der Jagd zu neutralisieren, durch das Eingreifen eines gewissen Sir Adam Sinclair of Strathmourne vereitelt wurde. Jetzt haben wir Grund zu der Annahme, daß dieser Sinclair tatsächlich ein Meister der Jagd ist«, sagte er. »Es muß noch gesagt werden, daß es ihm anscheinend gelungen ist auszunutzen, was er und McLeod und Lovat letzten Monat in Melrose beobachteten, als sie unsere Wiederbelebung des Zauberers Michael Scot verfolgten, um Scots derzeitige Inkarnation aufzuspüren. Sehr bald, wenn er es nicht schon getan hat, wird Sinclair zweifellos versuchen, die Kluft der Jahrhunderte zu überbrücken, um an das Wissen zu gelangen, das Scot verwahrt.« Falls er beabsichtigt hatte, eine Sensation auszulösen, so wurde er nicht enttäuscht. Der Großmeister erstarrte und blickte zornig drein, sein pergamentenes Gesicht verzerrte sich zur boshaften Fratze eines dämonischen Wasserspeiers an einer gotischen Kathedrale. »Wie konnte zugelassen werden, daß so etwas geschieht?« wollte er wissen. »Warum wurde ich nicht eher darüber informiert?« »Die Information konnte erst vor wenigen Tagen verifiziert werden«, sagte Raeburn ausdruckslos. »Bis zum Dienstag -373-
vergangener Woche hatte keiner von uns den Verdacht, und es dauerte einige Tage, bis die Nachricht bestätigt wurde.« »Und wer ist Scots derzeitige Inkarnation?« fragte der Großmeister. »Ein Kind namens Gillian Talbot«, antwortete Raeburn. Unter den Schülern des Meisters entstand betroffene Unruhe. »Sie wird zur Zeit als psychiatrische Patientin unter Sinclairs medizinischer Betreuung geführt. Wir erfuhren von ihr zum ersten Mal am Montag, als eine der geringeren Kundschafterinnen dieses Hauses ihre Ankunft in dem Edinburgher Krankenhaus bemerkte, wo Sinclair seine Praxis hat. Da Sinclair gewöhnlich keine Kinder behandelt, wurde meine Späherin neugierig. Vorsichtige Erkundigungen enthüllten, daß das Kind aus einem Londoner Krankenhaus kam, wo es seit dem Morgen unserer Beschwörung von Scot in einem Koma gelegen hatte. Um unsere weiteren Ermittlungen zu erleichtern, beschafften wir uns Haar- und Blutproben von dem Kind, die dann als physische Verbindung zu einer Erkundung ihrer astralen Vergangenheit benutzt wurden. Unsere Recherchen reichten aus, um zu bestätigen, daß Gillian Talbot in der Tat der jüngste Aspekt von Scot ist. Glücklicherweise befindet sie sich infolge der längeren Trennung von Scots Seele im letzten Monat derzeit nicht bei Sinnen - aber sollte Sinclair in der Lage sein, sie wieder zu Bewußtsein zu bringen, dann gibt es keinen Zweifel, daß sie Wissen aus der Vergangenheit besitzt, das uns in unserem gegenwärtigen Vorhaben bedeutend schaden könnte.« Der Helfer zur Rechten des Meisters hob eine Hand. Sein Gesicht war in den Schatten der weißen Kapuze fast unsichtbar. »Sprechen Sie«, sagte der Meister barsch. »Großmeister, man weiß, daß viel von Scots Wissen seinem Zauberbuch anvertraut wurde«, sagte eine weibliche Stimme mit einem Akzent, der deutsch gewesen sein könnte. »Dieses Buch -374-
befindet sich jetzt auf dem Grund von Loch Ness. Falls es für uns unerreichbar ist, dann sicher für Scot ebenfalls, besonders wenn seine Seele augenblicklich im Leib eines Kindes wohnt.« »Nur, daß Sinclair als Meister der Jagd möglicherweise über die Mittel verfügt, diese Informationen direkt von Scot oder sogar aus der Akasha-Chronik zu erhalten«, erwiderte der Großmeister bissig. Er legte die Hände vorsichtig auf die gespreizten Knie. Seine tränenden Augen waren heiß und hart, als er seine Anhänger mit seinem Blick streifte. »Pah, was wißt ihr denn!« murmelte er. Sein Atem ging pfeifend. »Der Führer hat es auch nicht gewußt. Er hat zu früh losgeschlagen, ohne wahrhaft die Weisheit des Taranis zu beherrschen, und die Macht wandte sich gegen ihn.« Er streckte eine bebende, klauenartige Hand aus und streichelte die oberste Seite des Manuskripts. »Ich habe diesen Fehler nicht gemacht«, flüsterte er. In diesem Augenblick sah er keinen der anderen mehr. »Ein halbes Jahrhundert habe ich studiert und geopfert, auf eine Art und Weise, die ihr kaum begreifen könnt, und ich verstehe, was er nicht verstand. Ich kann Taranis' Zorn rufen, um das zerbrechliche Firmament zu zerreißen, das die Dunkelheit zurückhält! Wenn der Weg geöffnet wird...« Ein unterdrücktes Husten rief ihn in die Gegenwart zurück, er schüttelte ein wenig den Kopf und richtete den Blick wieder auf Raeburn. Sein Gesicht war ungerührt wie Feuerstein. »Enttäuschen Sie mich nicht, Sohn des Donnerers! Ich habe nicht vor, dabeizustehen und ruhig zuzusehen, wie jetzt alles verloren geht, wenn der Erfolg greifbar ist. Richten Sie es so ein, daß dieses Kind nicht überlebt und kein Werkzeug in den Händen unserer Feinde wird.« »Wenn es nur so einfach wäre, Großmeister«, sagte Raeburn vorsichtig. Er spürte bei dem Alten eine bedenkliches -375-
Gleichgewicht zwischen gesundem Verstand und Wahnsinn. »Gestern hat Sinclair das Kind samt der Mutter in die Sicherheit seines eigenen Hauses auf Strathmourne verlegt. Wir wissen nicht sicher, was seinen Argwohn geweckt hat, aber unglücklicherweise macht dies das Mädchen für uns unerreichbar. Der Schutzzauber um dieses Haus ist undurchdringlich wir haben schon versucht, ihn zu durchbrechen, doch vergeblich. Da wir nicht selbst hineingelangen können, ist unsere einzige andere Möglichkeit, Sinclair dazu zu verleiten, daß er herauskommt.« »Was für einen Zweck soll das haben?« fragte mürrisch eine Frau mit einem leichten französischen Akzent. »Wenn überhaupt, würde nicht Sinclair wahrscheinlich seine persönliche Verteidigung außerhalb des Schutzes seines Hauses verstärken?« »Ich würde mich nicht erdreisten, in einer solchen Situation seine okkulte Verteidigung auszuprobieren«, sagte Raeburn mit einem Lächeln. Er gewann etwas von seiner Zuversicht wieder. »Aber solche Schutzzauber sind bei konventionelleren Attacken von wenig Nutzen.« »Die Kugel eines Attentäters?« fragte der Mann, der rechts vom Großmeister saß. »Das ist eine der Möglichkeiten, die erwogen werden«, stimmte Raeburn ihm zu. »Ich versichere Ihnen, die Sache wird rechtzeitig erledigt werden, um seine Einmischung in unsere nächste Operation zu verhindern.« »Sorgen Sie dafür«, knurrte der Großmeister. »Sinclair ist allzu unbequem geworden. In der Zwischenzeit werden Sie mich über die Pläne und deren Fortschritte auf dem laufenden halten. Ist das klar?« »Vollkommen, Großmeister« sagte Raeburn und verneigte sich. »Sie werden nicht enttäuscht werden.« »Ja, sorgen Sie dafür. Mehr als nur Ihr Leben mag davon -376-
abhängen.« Sein Blick schweifte wieder durch den Raum. In seinen tränenden Augen glommen noch Zorn und Wahnsinn, dann atmete er seufzend aus. »Doch genug davon. Arbeit bleibt zu tun, die die volle Konzentration aller Anwesenden fordert. Haben Sie den Torques mitgebracht?« »Hier, Großmeister«, sagte Raeburn, legte seinen Aktenkoffer flach neben sich und drückte die Schlösser auf. »Und das Medaillon?« »Ist ebenfalls dabei.« Zuerst überreichte er, was von dem Medaillon übrig geblieben war - ein kleines, in Seide gewickeltes scharlachrotes Bündel, in dem Metallstücke klimperten. Der Großmeister faltete die Seide auf und legte die Hand auf die vom Blitz verschlackten Überreste des Medaillons, das am Calton Hill verwendet worden war, dann reichte er das Bündel der Frau zu seiner Linken. »Sorgen Sie dafür, daß dies dem Schmelzofen übergeben wird«, wies er sie an. »Es wird geschehen, Großmeister«, sagte die Frau und steckte das Medaillon in eine Tasche, die in den Falten ihres Gewandes verborgen war. Währenddessen beugte sich Raeburn ein zweites Mal über seinen Aktenkoffer und holte den Torques heraus, der ebenfalls in schwere scharlachrote Seide gewickelt war. Mit leichtem Widerstreben legte er das Objekt, das immer noch in seiner seidenen Umhüllung isoliert war, auf die ausgestreckten Hände des Großmeisters. »Ausgezeichnet«, hauchte der Obere. »Laßt uns beginnen.« Er legte den Torques vor sich auf den Boden, während der Helfer zu seiner Rechten das kleine scharlachrote Bündel nahm, das noch auf dem Manuskript auf der Matte aus Widderleder lag. Als er es behutsam auswickelte, glitzerte gelbes Gaslicht auf -377-
einem weiteren silbernen Medaillon mit dem Luchsemblem, ein Pendant des Amuletts, das Raeburn am Calton Hill benutzt hatte. Die anderen Anhänger wisperten eine gutturale Anrufung, während der Großmeister das Medaillon an der Kette nahm und mit den klauenartigen Händen in Augenhöhe hob. »Alles Heil sei Taranis, dem Bringer der Blitze!« sagte er, seine Stimme klang rauh und krächzend wie das Gekolke eines Raben. »Dir, Herr der Stürme, weihen wir diese Medaille, Erz der Erde und Werk der Hände eines deiner Diener. Laß Eisen sich mit Silber vermählen, verbunden durch elementares Feuer. Laß Silber Magd des Eisens sein, Empfänger der Flamme des Himmels!« Während dieser Worte beugte er sich ein wenig auf seinem Platz, dann legte er das Medaillon ein Stück zur Seite. Er wickelte den Torques von Soulis aus, nahm ihn in beide Hände, hob ihn grüßend und zeichnete dreimal damit im Widersinn einen Kreis über das Medaillon. Beim letzten Mal ließ er die Hände soweit sinken, daß der Torques und das Medaillon sich kurz berührten. Der Kontakt löste ein zischendes Knistern aus und ließ Funken kurz aufsprühen, doch dem, der diese dunkle Magie ausübte, schien er nichts anzuhaben. Als das Blitzen erlosch, lag ein Hauch von Ozon der Luft. Der Großmeister streckte seine spindeldürren Arme aus und hob den Torques in einer Geste der Weihe über Raeburns Kopf. »Preis sei dir, Taranis, Urheber der Donner!« krächzte er. »Dir, Sturmreiter, weihen wir erneut diesen Mann, damit er dein Diener sei, Herold deines Namens und Träger deines Befehls. Schicke in seine Hände das Feuer vom Himmel, und er wird dich mit Brandopfern zu deinem größeren Ruhm ehren!« Als er mit dem Torques kurz den gesenkten Kopf berührte, zuckte Raeburn bei dem plötzlichen Prickeln der Energie zusammen, das an seiner Schädelbasis aufsprudelte. Wie statische Energie rann es an seinem Rückgrat hinab und schickte Verästelungen der Macht flackernd durch seine Nervenbahnen -378-
bis in die Spitzen der Finger und Zehen. Die Empfindung vermittelte ihm einen genußvollen Kitzel der Wonne, die um so erregender wirkte, da sie mit Schmerz durchsetzt war. Er holte tief Luft, als er leicht erstarrte, dann stieß er sie mit einem Seufzen wieder aus, als sich der akute Augenblick der Wonne in eine Gewißheit latenter Meisterung auflöste. Sein Gefühl für seine eigene Macht wurde von einem schmerzenden Zwang sie auszuüben begleitet, und es war um so süßer, weil die Macht noch gezügelt wurde. Er hörte kaum die abschließende Anrufung des Großmeisters, so versunken fühlte er sich in die Betrachtung der zukünftigen göttlichen Ekstase, die wieder die seine war, wenn er die Macht ausschickte, die ihm jetzt verliehen war. Nur mit Mühe beherrschte er sich und merkte, daß der Großmeister ihm den Torques förmlich überreichte. »Preis sei Taranis«, flüsterte er, als er den Torques aus den Händen seines Oberen übernahm. »Ich nehme diesen Auftrag an und gelobe die Erfüllung seines Willens.« Während der nächsten paar Tage klarte der Himmel auf, aber es blieb bitterkalt. Nach dem Schock ob der Gewalttat vom Freitagabend am Calton Hill, die nach Adams Überzeugung zweifellos ein Werk der Loge der Luchse war, schien es ihm wichtig, alle Mitglieder seiner Loge, die als solche noch nicht den Luchsen verdächtig waren, zu warnen; sie sollten - außer im Notfall - vermeiden, Kontakt mit ihm oder McLeod aufzunehmen. Aus Gründen der Vorsicht hielten er und McLeod ihre jeweilige Alltagsroutine bei und überließen es Philippa, über Strathmourne und dessen Bewohner zu wachen sowie Gillian Talbots Behandlung nach den Regeln der Schulmedizin fortzusetzen. Peregrine blieb gleicherweise innerhalb der Grenzen des Anwesens und verbrachte den größten Teil des Tages an Gillians Bett, wo er Skizzen anfertigte, die er ungern jemand anderem als Adam zeigte. Adam selbst spürte, daß ein brütendes Gefühl böser -379-
Vorahnungen in der Luft hing, aber er fand keinen Ausgangspunkt dieser Bedrohung. Die versprochenen Niederschriften der Ermittlungsgespräche trafen am Sonntagnachmittag ein, pflichtbewußt von McLeod höchstpersönlich abgeliefert. Aber es gelang ihnen nicht, ein neues Licht auf die Situation zu werfen. Am Dienstag kam McLeod in Adams Büro, doch seine einzige Neuigkeit befaßte sich mit den früheren Mietern der ›Spuk‹ -Wohnung, in der jetzt Christophers Pfarrmitglied Helena Pringle wohnte. »Leider gibt es da nichts, was wirklich ermutigend wäre«, sagte McLeod mißmutig und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Von den drei Leuten auf der Liste der Vermieterin war der erste - John Lariston ledig, als er dort wohnte, doch er hat seitdem geheiratet und ist nach England hinuntergezogen, wo er jetzt als Dentist arbeitet. Das Hauptpostamt konnte ihn über drei aufeinanderfolgende Wohnsitze verfolgen und uns seine derzeitige Anschrift in Sussex nennen. Sein Leben dort scheint mehr oder weniger ein offenes Buch zu sein. Ich bezweifle, daß er der Mann ist, hinter dem wir her sind.« »Dem würde ich zustimmen«, sagte Adam. »Und weiter?« »Joseph MacKellar, unser zweiter Mann, ist ein bißchen problematischer«, fuhr McLeod fort. »Mr. MacKellar ist bei der Bank of Scotland beschäftigt und wurde vor zwei Jahren an eine Filiale nach Paris versetzt. Wir versuchen noch, seine Adresse auf dem Kontinent herauszufinden. Ich werde es Sie wissen lassen, falls und sobald wir etwas finden. Auch er scheint als Kandidat für das, was Peregrine in der Wohnung aufgefangen hat, nicht in Frage zu kommen.« Er hielt inne und zog seine Notizen zu Rate, bevor er weiterredete. »Damit bleibt der Mieter übrig, der direkt vor Helena Pringle dort gewohnt hat. Sein Name ist Stephen Victor Geddes. Bei ihm hatten wir auch nicht viel Glück. Zu der Zeit, als er dort -380-
eingemietet war, arbeitete er als Lehrbeauftragter für Biologie an der Universität von Edinburgh, doch inzwischen hat er seinen Posten dort aufgegeben, ohne einen Hinweis darüber zu hinterlassen, anderswo eine Anstellung angenommen zu haben. Wir warten immer noch darauf, daß die Leute bei der Sozialversicherung dazu kommen, seinen Namen in ihrem Computer abzufragen, um zu sehen, ob er stempeln geht. Wenn ja, werden sie uns seine derzeitige Adresse nennen können. Wenn nicht, dann müssen wir es anders versuchen.« Adam nickte. »Ich glaube immer noch, daß es sich lohnt, dieser Sache nachzugehen, und wenn auch nur wegen des Luchsmedaillons, das Peregrine da gesehen hat und das in die Sache verwickelt war. Vermutlich hat keiner der drei einen Eintrag im Strafregister?« »Nicht unter diesen Namen«, erwiderte McLeod. »Und wir haben keinen Grund für den Verdacht, daß sie irgend welche Decknamen benutzt hätten.« »Das kann sich also als Sackgasse erweisen«, sagte Adam. »Aber wir wollen es noch nicht fallen lassen. Für die Zwischenzeit schlage ich vor, daß wir der Balmoral-Sache nachgehen und natürlich an dem Mord von Calton Hill weiterarbeiten. Ich nehme an, der Autopsiebericht liegt noch nicht vor, sonst hätten Sie ihn schon erwähnt.« »Man hat mir versprochen, daß ich ihn morgen bekomme«, antwortete McLeod. »Sie glauben doch aber nicht wirklich, daß das einen großen Unterschied macht, oder?« Adam lächelte grimmig. »Man kann immer Hoffnungen hegen.« Diese Hoffnung zumindest war unbegründet. McLeod rief am Mittwoch zurück, nachdem der versprochene Bericht eingetroffen war, aber es wurde zunehmend deutlich, daß die materiellen Befunde zum Tod des Freimaurermeisters MacPherson sie nicht näher an die Täter heranführen würden. -381-
Wie Randall war er von seinen Kidnappern chloroformiert und unter Drogen gesetzt worden, doch da endeten auch schon die Ähnlichkeiten, abgesehen von der Tatsache, daß es sich bei beiden um Freimaurer handelte. Die Verbrennung auf der Brust des Opfers legte den Gedanken nahe, daß er etwas Rundes und Metallisches am Hals getragen hatte - noch etwas anderes außer dem freimaurerischen Juwel, dessen unregelmäßigere Umrisse ebenfalls durch die intensive Hitze in das Fleisch gebrannt worden waren. Doch es wurde keine Spur eines solchen Objekts am Tatort gefunden. »Es kann durchaus das Luchsmedaillon gewesen sein, wie Peregrine postuliert hat«, sagte McLeod, »aber wenn dem so war, dann haben es die Täter von der Leiche entfernt, bevor sie geflüchtet sind. Ich bin geneigt zuzustimmen, daß es genau das war, was Peregrine gesehen hat, aber wir haben keinen Beweis dafür. Und selbst wenn wir ihn hätten, dann könnten wir ihn nicht bei den offiziellen Ermittlungen verwenden. Ich kann nicht die Ansicht vortragen, MacPherson sei von einem absichtlich umgeleiteten Blitz getroffen worden.« »Doch es ist vielleicht genau das passiert«, sagte Adam, »genauso wie ich mich zu fragen beginne, ob eben dies nicht auch auf Balmoral geschah. Haben Sie darüber noch mehr erfahren?« »Noch nicht«, erwiderte McLeod, »aber ich hoffe, daß ich Donald morgen dort hinaufschicken kann, damit er uns Kopien der Berichte und Fotos mitbringt. Ich melde mich wieder bei Ihnen, wenn ich mehr zu berichten habe. Wie geht es mit dem Talbot-Mädchen voran?« »Da gibt es noch nichts neues«, sagte Adam. »Peregrine fertigt einige sehr interessante Zeichnungen an, und wir machen in der Zwischenzeit mit der konventionellen Therapie weiter. Ich hoffe, in etwa einer Woche zu einer definitiven Maßnahme bereit zu sein.« -382-
»Das klingt so, als hingen wir alle für eine Weile fest«, erwiderte McLeod. Am gleichen Abend rief Francis Raeburn den Piloten Barclay in die Bibliothek seines Hauses bei Stirling. »Die Zeit wird knapp«, sagte er. »Haben Sie entschieden, wie Sie Sinclair erledigen?« Barclay gestattete sich ein Raubtierlächeln, während er seine magere Gestalt in den Sessel gegen über seinem Vorgesetzten sinken ließ. »Morgen um diese Zeit wird er tot sein - oder zumindest so schlimm verwundet, daß sein Tod unausweichlich sein wird. Dafür wird Dr. Wemyss sorgen.« »Dabei sollte es lieber keine Pannen geben«, sagte Raeburn. »Ich möchte am Freitag keine Störung erleben. Sind Sie sicher, daß es wie ein Unfall aussehen wird?« »Sinclair fährt schnell«, erwiderte Barclay mit einem selbstgefälligen Lächeln. »Und bei hoher Geschwindigkeit platzen manchmal Reifen. Es wird wie ein Unfall aussehen.« Am Donnerstag verließ Adam das Haus nicht, da er mit einer Serie von Untersuchungen beschäftigt war, die Philippa an Gillian durchführen wollte. Als er am Freitagmorgen zum Krankenhaus losfahren wollte, vereinbarte McLeod in einem frühen Anruf ein Treffen im Laufe des Tages, um die Fotos und Berichte durchzugehen, die Cochrane in Balmoral besorgt hatte. »Ich hatte noch nicht die Gelegenheit, selbst einen Blick darauf zu werfen«, sagte McLeod, »aber als Donald heute morgen ankam, sah er aus wie die sprichwörtliche Katze mit dem Kanarienvogel.« »Das klingt vielversprechend«, sagte Adam und zupfte einen Manschettenknopf zurecht. »Wie wäre es, wenn wir uns zu einem späten Lunch träfen. Sagen wir um zwei Uhr im -383-
Pimpernel?« »Paßt mir«, erwiderte McLeod. »Reservieren Sie oder soll ich es tun?« »Wären Sie so nett, das zu übernehmen?« fragte Adam. »Ich habe gestern meine Visite ausgelassen, damit Philippa und ich an Gillian arbeiten konnten, und somit muß ich heute etwas Zeit mit meinen anderen Patienten verbringen.« »Wird gemacht«, antwortete McLeod. »Also um zwei Uhr im Pimpernel. Dann bis später.« Adam war in Gedanken versunken, als er in den Range Rover stieg und sich angurtete. Es war kurz nach neun, und der Morgen schien kaum heller als bei Tagesanbruch, grau und trüb mit einem ziehenden Nebel, der sich anscheinend nicht ganz entscheiden konnte, ob er zu einem Graupelschauer oder zu Regen werden wollte - nicht gerade die besten Fahrbedingungen, aber der Range Rover war geschaffen, um mit genau solchem Wetter fertig zu werden, und Adam war ein ausgezeichneter Fahrer. Sobald er die eisglatte Auffahrt hinter sich gebracht hatte und auf der Nebenstraße war und schneller wurde, fuhr er schon halb automatisch, denn ihn beschäftigten viele Dinge. Eine Folge davon war, daß er den Mann auf dem Motorrad nicht sonderlich zur Kenntnis nahm, der sich ihm anschloß und ihm in einer diskreten Entfernung folgte. Und er nahm ebenfalls keine Notiz von dem gelben Mercedes, der sich hinter ihm einreihte, als er zügig in die Autobahn einbog und den Rover auf eine angenehme Fahrtgeschwindigkeit von 110 km/h beschleunigte. Er näherte sich der Forth Road Bridge, als der Mann auf dem Motorrad zuschlug. Adam fuhr mit dem blauen Range Rover auf der rechten Fahrspur, direkt neben der Trennwand am Mittelstreifen, und registrierte nur beiläufig das schwere italienische Motorrad, das in seinem Rückspiegel schnell näher kam. -384-
Bevor er die Spur wechseln konnte, um die Maschine überholen zu lassen, war sie nahezu auf gleicher Höhe mit seinem linken hinteren Kotflügel, deshalb blieb er, wo er war, und bemerkte nur beiläufig, wie die Maschine vorsichtig an der linken Seite des Rover entlangzog. Er sah nicht die abgesägte Schrotflinte, die der Motorradfahrer lässig unter seinem Bein und seinem Mantel hervorzog und auf das linke Vorderrad des Rover richtete, und er hörte auch nicht den Knall, als der Fahrer den Abzug drückte. Als der linke Vorderreifen mit einem Knall platzte, bemerkte Adam nur aus den Augenwinkeln, daß das Motorrad ihn überholte und aus der Gefahrenzone davonschoß, und er merkte nur allzu deutlich, daß der Ranger außer Kontrolle geriet, während die Felge des Rades in den Asphalt schrammte. Er kämpfte mit dem Lenkrad, aber der Wagen brach rechts hinten aus und prallte mit einem gräßlichen Bumm! gegen die Trennwand. Das hätte ihn wieder geradeaus schlittern lassen können, doch das linke Vorderrad mahlte weiter in den Straßenbelag. Er spürte, wie der Rover umkippte - er stemmte sich dagegen, als es geschah - und betete darum, daß der nachfolgende Verkehr in der Lage sein würde, auszuweichen und nicht in ihn hineinzufahren. In schrecklicher Zeitlupe stürzte das Auto auf die Fahrerseite, überschlug sich und schlitterte, erst auf dem Dach, dann auf der Beifahrerseite, mit einem ekelhaften metallischen Gekreisch dahin. Adam wurde gegen das Lenkrad gepreßt und hing in seinem Sicherheitsgurt. Die Windschutzscheibe war voller Sprünge und hatte sich teilweise verzogen, aber er konnte noch sehen, wie die metallenen Leitplanken am Rand der Autobahn mit schrecklicher Geschwindigkeit näher kamen. Die Wucht des Aufpralls schleuderte ihn hart gegen den Sicherheitsgurt, verrenkte seine rechte Schulter und ließ seinen Kopf gegen etwas Hartes prallen. Am Punkt des Aufschlags explodierte ein Schmerz, und vor seinen Augen wurde es schwarz. -385-
Kapitel 26 Adam kämpfte sich verzweifelt zurück ins Bewußtsein und kam in der unheimlichen Stille, die oft einem Trauma zu folgen scheint, zu sich. Er hielt sich eisern am Lenkrad fest und hing seitwärts im Sicherheitsgut, wobei er halb auf der Seite der Mittelkonsole des Rover saß, der auf der linken Seite zu liegen gekommen war. Selbst im ersten Nebel des Schmerzes, der von seinem Kopf, seiner rechten Schulter, ja von fast jedem Teil seines Körpers ausstrahlte, wußte er irgendwie, daß er aus dem Wagen hinausmußte. Der Benzingeruch machte es dringend notwendig, und durch die gesprungene Windschutzscheibe sah er, daß unter der Kühlerhaube Rauch oder Dampf austrat. Ein kalter Luftzug über seiner linken Schulter zog seinen benommenen Blick zu einer gähnenden Öffnung dort, wo das Schiebedach gewesen war. Anscheinend war es herausgesprungen, als das Auto sich überschlagen hatte. Er zwang seine linke Hand, sich vom Steuerrad zu lösen, betätigte den Schalter für die Warnblinkanlage, fingerte am Zündschlüssel herum, bis er den Motor abschalten konnte, verlagerte sein linkes Knie und stützte sich damit gegen die Mittelkonsole, und erst dann tastete er an die Seite des Fahrersitzes und drückte die Freigabe des Sicherheitsgurtes. Er stöhnte, als er nach der plötzlichen Verlagerung seines Gewichtes halb auf der Seite der Konsole zu knien kam, immer noch gegen das Lenkrad gedrückt; alles, was er tun konnte, war, seine Beine das restliche Stück unter der Lenksäule hervorzuziehen und sich in eine Stellung hochzurappeln, bei der er auf der Beifahrertür zu stehen kam. Als er erst ein zitterndes Bein und dann das zweite durch die Dachöffnung schob und sich mit der Schulter hindurchduckte, wobei er einen Laut des Schmerzes ausstieß, weil die geprellten Muskeln protestierten, -386-
stellte er fest, daß er sich dem nachfolgenden Verkehr gegenüber sah. Die ersten Autos hielten erst jetzt an, um Hilfe zu leisten - was zumindest bedeutete, daß er nicht sehr lange bewußtlos gewesen sein konnte. Als er sich aufrichtete, zuckte er zusammen, jeder Muskel protestierte. Taumelnd ging er um den Wagen herum zur Vorderseite und starrte benommen auf den Schaden. Mit zitternder Hand schob er sich das Haar aus dem Gesicht. Als er sie zurücknahm, war Blut an den Fingern. »Hallo, sind Sie okay?« rief hinter ihm eine weibliche Stimme. Etwas verwirrt drehte er sich um und sah eine brünette Frau von etwa vierzig Jahren in einem hellroten Kostüm und mit Weihnachtsglöckchen am Revers. In gefährlich hochhackigen Schuhen eilte sie auf ihn zu, ihr grell geschminkter Mund stand besorgt offen. »Herrgott, Sie haben ein Glück, daß Sie nicht tot sind!« sagte sie und betrachtete das Auto. »Sie bluten ja? Soll ich Sie zu einem Arzt bringen?« Adam blickte verwirrt auf das Blut an seinen Händen. Ein medizinisch kühl kommentierender Teil seines Ichs warnte ihn, daß er wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung hatte, möglicherweise gleich in einen Schock fallen würde und unbedingt medizinische Hilfe brauchte. »Vielleicht sollte ich auf einen Sanitätswagen warten«, hörte er sich sagen. »Ich möchte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten.« »Seien Sie doch nicht verrückt! Bis eine offizielle Ambulanz hierherkommt, kann es eine Stunde dauern. Kommen Sie! Ich arbeite gleich neben dem Royal Infirmary. Nirgendwo werden Sie besser versorgt als dort.« Irgend etwas meldete sich verschwommen in seinem Hinterkopf und riet ihm, das Angebot abzulehnen, aber das -387-
Royal Infirmary war schließlich die beste Notfallklinik in der ganzen Gegend. Verletzte Polizeibeamte wurden dorthin gebracht, wenn sie eine Wahl hatten, und Adam kannte einige der Fachärzte, die dort arbeiteten. Worin auch immer seine Verletzungen bestanden, dort würde er in den besten Händen sein. Er murmelte seinen Dank - er fürchtete, daß er wirklich in einen Schockzustand fiel - und ließ sich von ihr zu dem gelben Mercedes führen, der hinter dem Wrack seines eigenen Autos angehalten hatte. Als sie ihm auf den Beifahrersitz half, unterdrückte er ein Stöhnen. Sie schob den Sitz zurück, damit er mehr Beinfreiheit hatte, dann zog sie den Sicherheitsgurt herunter, gurtete Adam an und schloß die Tür. Während sie zur Fahrerseite hinüberging, klappte er die Sonnenblende herunter und sah in den Spiegel. Seine Pupillen schienen nicht geweitet zu sein, aber das Blut stammte aus mindestens zwei Rißwunden, die genäht werden müßten, eine auf der Stirn, die andere ein wenig hinter dem Haaransatz. Er tupfte mit seinem seidenen Einstecktuch auf die Wunden, doch diese Bewegung ließ einen scharfen Schmerz durch die verrenkte Schulter schießen. Während seine Wohltäterin in den Wagen stieg, wandte er seine Aufmerksamkeit seinem Puls zu und prüfte ihn. Er war ziemlich stabil, aber jeder Muskel seines Körpers begann zu schmerzen, als sich der Adrenalinstoß von dem Unfall allmählich verbrauchte. »Sie haben Ihren Wagen wirklich zu Schrott gefahren«, sagte sie, während sie den Gang einlegte und sich in den Verkehr einordnete. »Wissen Sie, was passiert ist?« »Ein Reifen ist geplatzt«, sagte er, lehnte den Kopf gegen die Rückenlehne und schloß die Augen. »Hören Sie, ich weiß wirklich zu schätzen, was Sie für mich tun.« »Sehen Sie mich einfach als die Weihnachtssamariterin«, sagte sie mit einem schmallippigen Lächeln, das er nicht sah. -388-
»Lehnen Sie sich doch einfach zurück und entspannen Sie sich. Ich bringe Sie ins Krankenhaus, so schnell ich kann.« Er versuchte sich zu entspannen, obwohl er wußte, er sollte nicht einschlafen - nicht, wenn er eine Gehirnerschütterung hatte. Er ging für ein paar Minuten in eine leichte Trance und tat, was er konnte, um Pulsfrequenz und Atmung zu stabilisieren, dann ließ er sich vom Gebrumm des Motors und der Bewegung des Autos treiben und versuchte zu rekonstruieren, was geschehen war. Jede Sekunde erschien ganz klar, aber etwas stimmte nicht ganz, etwas, das er nicht konkret zu greifen bekam. Er versuchte noch immer, es herauszufinden, als das Auto sanft anhielt und dann der Motor abgestellt wurde. Sie waren am Notfalleingang eines Krankenhauses vorgefahren. Seine Retterin war schon dabei, aus dem Wagen zu steigen, um Hilfe zu holen. Vorsichtig, weil es ihm schon schwerer fiel, sich zu bewegen, löste Adam den Sicherheitsgurt und öffnete die Wagentür. Es war ihm schon gelungen, beide Füße auf das Pflaster zu setzen, als ein Krankenpfleger mit einem Rollstuhl angetrottet kam. »Jetzt bleiben Sie einfach, wo Sie sind, Sir, bis ich mit diesem Stuhl bei Ihnen bin, okay? Dann geht es mit Ihnen ganz gut.« Die Stimme des Mannes hatte einen musikalischen Rhythmus mit weichem jamaikanischen Akzent, seine Hände waren sanft, aber stark. »Recht so, Sir. Schieben Sie sich jetzt einfach herum - gut gemacht!« Danach ging alles schnell, besonders nachdem Adam sich als Arzt identifiziert hatte. Seine Wohltäterin verschwand irgendwann, während die notwendigen Formulare ausgefüllt wurden, ohne daß er ihren Namen erfuhr. Und fast bevor er es richtig begriff, fand sich Adam flach auf dem Rücken liegend in einem Untersuchungsraum wieder. Er war bis auf die Shorts entkleidet, zitterte unter einer Decke und hatte die Luftmanschette eines Blutdruckmessers um den linken Oberarm. -389-
Die Ärztin, die ihn untersuchen kam, war eine attraktive, sachliche Brünette, deren Akzent auf amerikanische oder kanadische Abstammung hinwies. Auf dem Namensschildchen an ihrem grünen Chirurgenkittel stand Dr. X. Lockhart. Sie schien mit seinem Blutdruck und seinem neurologischen Befund zufrieden zu sein, doch das Herumstoßen und knuffen an den Stellen, wo er Beschwerden hatte, ergab, daß einige Rippen gebrochen und möglicherweise das Schlüsselbein angebrochen waren. »Ich schicke Sie jetzt zum Röntgen hinüber, bevor wir uns um diese Wunden kümmern, Dr. Sinclair«, sagte sie, während sie begann, die Formulare auszufüllen, und der Pfleger, der Sykes hieß, Adam dabei half, seine Arme durch die Ärmel eines Krankenhauskittels zu schieben. »Wir werden uns die Rippen und diese Schulter anschauen, und ich werde auch eine Schädelserie anfordern. Ich vermute nicht, daß es Probleme gibt, aber Sie waren ja schließlich bewußtlos, wenn auch nur ein paar Minuten lang. Mr. Sykes wird diese Wunden provisorisch verbinden, bevor er Sie zum Röntgen bringt, und ich sehe Sie dann, wenn Sie zurückkommen.« Sie hatte die Formulare an Adams Krankenblatt geklammert und war fort, ehe er sich dazu aufraffen konnte, ihr Fragen zu stellen. Nachdem Sykes die Verbände angebracht hatte, bat Adam um eine weitere Decke und ließ den Pfleger den Ring aus der Hosentasche holen, bevor er sich anschickte, ihn zum Röntgen zu rollen. Andere Gegenstände in seinen Taschen waren zwar auch wertvoll, aber ersetzbar, der Ring war unersetzlich. Er streifte ihn über den Finger und drehte den Stein nach innen, während Sykes Adams restliche Habseligkeiten aufsammelte und in ein Schließfach tat. »Könnte ich einen Anruf machen, bevor wir zum Röntgen gehen?« fragte Adam, als Sykes die neue Decke zurechtzupfte und dann die Seitenschienen der Rolltrage hochklappte. »Ich fürchte nein, Doktor. Je eher wir zum Röntgen kommen, -390-
desto schneller sind Sie fertig. Rufen Sie doch von dort aus an, nachdem die Aufnahmen gemacht worden sind. Wir müssen dann ohnehin fünf bis zehn Minuten warten, während der Film entwickelt wird.« »Einverstanden«, sagte Adam. Doch er wollte so schnell anrufen wie möglich, denn er hatte den Verdacht, die offensichtlich kompetente Dr. Lockart wolle ihn zur Beobachtung über Nacht dabehalten - was unter diesen Umständen völlig korrekt war, aber die Dinge beträchtlich komplizierte. Er legte sich resigniert zurück, während der Pfleger ihn zum Röntgen hinüberfuhr, und ihm war zu unbehaglich, um viel mit den Röntgenassistentinnen herumzuschäkern. Doch er tat sein Bestes, um ihnen die Arbeit so leicht wie möglich zu machen. Zumindest dachte er allmählich ein bißchen klarer. Danach wurde er, wie Sykes es versprochen hatte, in einen Wartebereich geschoben und bekam einen Telefonhörer in die Hand. »Sagen Sie mir die Nummer, und ich wähle sie für Sie, Doc«, schlug der Pfleger vor. »311-3131«, sagte Adam und legte den Hörer ans Ohr. Der Mann wählte und trat dann einige Schritte zurück, während es am anderen Ende läutete. »Polizeipräsidium«, meldete sich eine Stimme. »Verbinden Sie mich bitte mit Detective Chief Inspector Noel McLeod«, sagte Adam. »Hier spricht Adam Sinclair.« Nach einer kurzen Pause ertönte McLeods Baßstimme am anderen Ende. »Was gibt's, Adam?« »Ich muß leider unsere Verabredung zum Lunch absagen«, sagte Adam mit zittriger Stimme und suchte nach Worten, mit denen er den anderen möglichst wenig beunruhigte. »Ich habe äh - den Rover schwer beschädigt - zu Schrott gefahren, genau -391-
genommen. Ich bin okay, befinde mich aber im Royal Infirmary und warte auf die Entwicklung der Röntgenbilder.« »Du lieber Himmel, was ist denn passiert?« wollte McLeod wissen. »Während der Fahrt ist ein Reifen geplatzt. Ich habe die Kontrolle verloren, und der Wagen hat sich überschlagen. Das kann jedem passieren. Gott sei Dank bin ich mit dem Rover gefahren. Das hat mir vermutlich das Leben gerettet.« »Das würde ich auch sagen«, erwiderte McLeod. »Sie haben Röntgen erwähnt - ist etwas gebrochen?« »Ich weiß es nicht. Meine Schulter tut verdammt weh vom Sicherheitsgurt, was vermutlich zu erwarten war, und ich habe vielleicht eine leichte Gehirnerschütterung. Für ein paar Sekunden muß ich das Bewußtsein verloren haben. Ich rechne damit, daß sie mich über Nacht hierbehalten. Hören Sie, könnten Sie bei mir daheim anrufen und mitteilen, was passiert ist? Ich möchte nicht, daß meine Leute hier angerannt kommen, denn es gibt nichts, was sie tun könnten, aber es wäre mir lieb, wenn Sie es ihnen weitersagen würden.« »Mach ich gern«, sagte McLeod. »Was ist übrigens aus Ihrem Wagen geworden?« Adam lachte schwach. An das verlassene Auto hatte er noch gar nicht gedacht. »Gute Frage. Ich fürchte, ich habe ihn einfach zurückgelassen. Eine sehr nette Frau in einem Mercedes bestand darauf, mich ins Krankenhaus zu fahren, und so habe ich keine Ahnung, was mit dem Wagen geschehen ist. O Gott, ich habe mir nicht einmal ihren Namen sagen lassen, um ihr zu danken.« »Ich schau mal, was ich herausbringe«, sagte McLeod. »Wo ist es denn passiert?« »Auf der A90 in südlicher Richtung, kurz vor der Forth Road Bridge. Ich fürchte, der Unfall war ziemlich spektakulär. -392-
Glücklicherweise konnte ich es vermeiden, andere Fahrzeuge in die Sache zu verwickeln.« »Jetzt fangen Sie schon an zu schwatzen, wissen Sie«, sagte McLeod schroff. »Sorgen Sie dafür, daß man dort ein Auge auf Sie hat. Wenn ich diese Anrufe gemacht habe, soll ich dann mal vorbeikommen?« Adam blinzelte. Er schwatzte wirklich schon. »Ich denke, das wäre eine gute Idee«, erwiderte er. »Ich nehme an, daß man Sie in den nächsten ein oder zwei Stunden nicht zu mir lassen wird - ich habe ein paar Wunden, die genäht werden müssen -, aber bis ein oder zwei Uhr dürfte man fertig sein.« »Sie sind sicher, daß Sie okay sind?« fragte McLeod. »Ja, klar«, antwortete Adam und hob den Kopf etwas, als der Pfleger hinüberging, um den hellorangenen Umschlag mit den entwickelten Röntgenbildern zu holen. »Jetzt muß ich Schluß machen, Noel. Meine Bilder sind fertig, und mein Pfleger muß mich zur Notaufnahme zurückfahren. Ich sehe Sie dann in ein paar Stunden.« Er legte sich erschöpft zurück, während der Pfleger ihm den Hörer abnahm und auflegte und dann den großen Umschlag auf Adams Brust deponierte. »Okay, jetzt suchen wir Dr. Lockhart und zeigen ihr Ihre Bilder«, sagte Sykes fröhlich und löste die Bremse der Rolltrage. »Und keine kostenlosen Vorbesichtigungen!« fügte er hinzu, als Adam anfing, den Umschlag zu öffnen. Mit finsterem Blick ließ Adam den Umschlag wieder auf seine Brust fallen. »Mr. Sykes, das sind meine Röntgenbilder. Und ich bin Arzt!« »Jawohl, Sir, und ein Doktor, der versucht, eine Selbstdiagnose zu stellen, hat einen Narren zum Patienten«, sagte Sykes. »Außerdem können Sie sie ohne einen -393-
Röntgenbildbetrachter gar nicht richtig anschauen. Warten Sie einfach, bis wir wieder im Untersuchungsraum sind. Wenn Dr. Lockhart noch nicht da ist, hänge ich Ihnen die Bilder sogar auf.« »Einverstanden«, sagte Adam und legte sich mit einem zufriedenen Seufzer wieder hin. Sykes kam gerade noch dazu, den Bildbetrachter einzuschalten und die erste Röntgenaufnahme unter die Halteklammern zu schieben, als Dr. Lockhart wiederkam, ein mit einem Klebeband verschlossenes Bündel in chirurgischem Grün in der Hand. Adam hatte seinen Kopf gehoben, um zu schauen, doch er legte ihn brav wieder hin, als sie ihm einen mißbilligenden Blick zuwarf und das Bündel auf einem Tisch aus rostfreiem Stahl deponierte, den sie dann näher an seine Rolltrage heranrollte, bevor sie ging, sich die Röntgenaufnahmen anzuschauen, die Sykes jetzt alle aufgespannt hatte. »Sie können Dr. Sinclairs Verletzungen vorbereiten, Mr. Sykes«, sagte sie sanft. »Und Sie, Doktor, können sich zurücklegen und so tun, als seien Sie ein ganz gewöhnlicher Patient und als glaubten Sie wirklich, ich wüßte, was ich tue.« Während Adam dalag und überlegte, daß er Dr. Lockhart nicht viele Zugeständnisse würde abringen können, studierte sie schweigend die Röntgenbilder. Adam musterte die gute Figur und den dunklen Zopf, der unter der Chirurgenkappe hervorschaute, und versuchte, sich ein Bild von Dr. X. Lockhart zu machen. Kurz darauf rollte Sykes, die Hände jetzt in Gummihandschuhen, einen weiteren Stahltisch heran, auf dem sich ein stählernes Becken und Desinfektionsmittel befanden. Dann legte er ein Handtuch unter Adams Kopf, bevor er die provisorischen Verbände wieder abnahm. Es tat ein wenig weh, als Sykes die Wunden sanft reinigte, aber Adam hielt seine -394-
Aufmerksamkeit auf Dr. Lockhart gerichtet, die schließlich nickte und zum Waschbecken ging, um sich die Hände zu waschen. »Nun, ich habe grundsätzlich gute Nachrichten für! Sie, Doktor«, sagte sie. Ihre dunklen Augen begegneten seinem Blick im Spiegel, während sie die Hände desinfizierte. »Keine ersichtlichen Schädelfrakturen. Allerdings möchte ich Sie über Nacht hierbehalten.« Adam seufzte resigniert. »Unter diesen Umständen überrascht mich das nicht. Vermutlich würde ich mich! auch hierbehalten, wenn ich Sie wäre.« »Ich bin froh, daß Sie mir in diesem Punkt nicht widersprechen«, sagte sie. Der Anflug eines Lächelns milderte ihren strengen Gesichtsausdruck ein wenig. »Mit der Schulter haben Sie ebenfalls Glück. Falls Sie sich! nicht in der Vergangenheit einmal an der Stelle verletzt haben, so leiden Sie anscheinend an einem Haarriß des! Schlüsselbeins, aber das ist nichts Ernstes - abgesehen! davon, daß es ernstlich unangenehm ist, natürlich. Dasselbe gilt für die gebrochenen Rippen. Wir werden! Ihnen eine Armschlinge verpassen, hauptsächlich, um Sie daran zu erinnern, daß Sie den Arm nicht übermäßig einsetzen sollen, und ich werde Ihnen Mefenaminsäure verschreiben, um die Entzündung und den Schmerz zu dämpfen. Ansonsten werden Sie es einfach durchstehen müssen, fürchte ich.« »Erinnern Sie mich nur immer wieder daran, wieviel Glück ich hatte«, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln. Aus den Augenwinkeln sah er die blutigen Wattebäusche, die sich auf Sykes' Tisch aufhäuften, und schnitt eine Grimasse, als der Pfleger eine Rasierklinge nahm und geschickt die Kopfhaut um die Verletzung rasierte, die in die Haare ging. »Vorsichtig mit diesem Rasierer, Mr. Sykes«, sagte er. »Ich zahle meinem Friseur jedesmal 25 Pfund, daß er mein -395-
Haar genauso schneidet, wie es mir gefällt. Ich gebe Ihnen die gleiche Summe, wenn Sie so wenig Spuren Ihrer Arbeit hinterlassen wie möglich.« »Machen Sie sich bloß keine Sorgen, Dr. Sinclair«, sagte Sykes und ließ seine weißen Zähne aufblitzen. »Man wird kaum merken, daß ich da überhaupt zugange war. Und Dr. Lockhart näht die saubersten kleinen Stiche, die Sie je gesehen haben.« Als Adam finster zu ihm aufschaute und herauszufinden versuchte, wie ernst er das meinte, kam Dr. Lockhart herüber, jetzt ebenfalls mit Handschuhen, und inspizierte Sykes' Arbeit. Außer ihr war noch ein weiterer Pfleger hereingekommen, der jetzt die oberen Lagen des grünen chirurgischen Frotteetuchs zurückschlug und das Nahtbesteck offenlegte: Scheren, Blutstiller und Nadelhalter schimmerten im Licht der großen OP-Lampe, die er jetzt einschaltete und so einstellte, daß sie auf Adams Kopf zielte. Im gleißenden Lampenschein konnte Adam gerade noch Dr. Lockhart ausmachen, wie sie die Spitze einer Glasampulle abbrach und eine Spritze aufzuziehen begann. »Vermutlich haben Sie das schon einmal gehört, Doktor, aber in ein paar Sekunden werden Sie einen kleinen Pieks spüren«, sagte sie und legte die leere Ampulle beiseite. »Ich nehme an, Sie haben kein Problem mit 0,1prozentigem Lignocain?« »Nicht daß ich wüßte«, erwiderte Adam. Sie war gut. Sie näherte sich ihm von hinten, so daß er die Nadel nicht sah - nur ihre andere Hand, die teilweise seinen Blick behinderte, kurz bevor sie ans Werk ging. Es war mehr ein Prickeln als ein Piekser, aber sie infiltrierte die Ränder der ersten Wunde ohne eine überflüssige Bewegung und war schon fast fertig, bevor er richtig bemerkte, daß sie angefangen hatte. Die Wunde in der Kopfhaut erforderte mehr Aufwand, denn die Haut war zäher, aber auch die gab schnell Dr. Lockharts Geschick nach. Er spürte Druck, aber keinen Schmerz, als sie mit dem eigentlichen Nähen begann, und er schloß die Augen -396-
vor dem grellen Licht der OP-Lampe. »Sie brauchen sich nicht zu sorgen, daß ich Ihnen einschlafe, Frau Doktor«, sagte er, während er die Nachbilder des Lichtes vor den geschlossenen Lidern sah und sie die erste Naht setzte. »Ich weiß, daß ich ein paar Stunden wach bleiben sollte, bis wir sicher sind, daß mein Gehirn nicht bei dem ganzen Herumgebumse gequetscht wurde. Aber Ihr Licht ist brutal. Außerdem müssen Sie mich nicht überwachen.« »Ich weiß Ihr Vertrauensvotum zu schätzen«, sagte sie schelmisch und fuhr mit der Arbeit fort. »Reden Sie mit mir, wenn Sie wollen. Erzählen Sie mir etwas über Ihren Unfall.« »Da gibt es nicht viel zu erzählen«, sagte Adam. »Mir ist während der Fahrt ein Reifen geplatzt, nördlich der Forth Road Bridge. Zum Glück fuhr ich einen Range Rover - das Auto ist nur noch Schrott, aber ich bin jetzt hier.« »Fröhliche Weihnachten«, sagte sie heiter. »Haben Sie Ihre Praxis hier in Edinburgh?« »Aye, drüben in Jordanburn - oder für Ihre Generation vermutlich: im Royal Edinburgh Hospital.« Sie lachte glucksend. »So jung bin ich auch nicht mehr, Doktor«, sagte sie. »Außerdem befasse ich mich gerne mit alter Geschichte. Was ist Ihr Spezialgebiet?« Er öffnete das eine Auge einen Spalt weit und wagte ein leichtes Lächeln. Abgesehen davon, daß sie attraktiv war, hatte die tüchtige Dr. Lockhart einen herben Sinn für Humor. »Würde es Sie abstoßen, wenn ich Ihnen sagte, ich sei Psychiater?« fragte er. »Überhaupt nicht. Das ist interessanter als diese Arbeit hier. Und - sind Sie nun Psychiater?« Adam machte die Augen wieder zu und unterdrückte ein leises Lachen. »Ja, ich bin einer. Wie steht es mit Ihnen? Assistenzärztin für Chirurgie?« -397-
»Nein, Spezialistin für Notaufnahme. Ich bin hier mit einem Zweijahresvertrag, um beim Aufbau von Trauma-Zentren im Gebiet von Edinburgh mitzuhelfen. Das ist ein Konzept, das gerade jetzt hier auf dieser Seite des Großen Teichs Anklang findet - und es wird auch Zeit.« »Tja, da muß ich Ihnen zustimmen, besonders an einem solchen Tag«, sagte Adam. »Gestatten Sie mir die Frage: Wo wurden Sie ausgebildet?« »In Stanford und an der University of Southern California«, erwiderte sie. »Kalifornien ist in dieser Technik wirklich Spitze. Nach dem Abschluß meiner Assistenzzeit in allgemeiner Chirurgie habe ich mit plastischer bzw. rekonstruktiver Chirurgie angefangen - was bedeutet, daß nach dem Mißgeschick des heutigen Morgens bei Ihnen nicht viele Narben zu sehen sein dürften. Dann merkte ich jedoch, daß mir die Arbeit in der Notaufnahme fehlte, und so bin ich zur TraumaBehandlung übergewechselt. Es macht einen irgendwie besonders froh, wenn man an Patienten arbeitet, die übel zugerichtet ankommen, und man richtet sie dann wieder her. Jeder Tag ist anders. Und man kann hier die Menschen beobachten wie kaum irgendwo sonst.« Adam verzog das Gesicht etwas, als ein Stich ziepte; es tat allerdings nicht wirklich weh, ein Teil von ihm dachte nur, es sollte weh tun. »Ich ziehe es vor, Menschen unter etwas weniger chaotischen Bedingungen zu beobachten«, sagte er. »Wofür steht denn das X in Ihrem Namen.« Sie lachte leise. »Ich hatte mich schon gefragt, wie lange es dauern würde, bis Sie das fragen würden. Jedermann fragt mich danach. Raten Sie doch mal!« »Wenn ich es bei dreimaligem Raten herausbringe, erlauben Sie mir dann, Sie an irgendeinem Abend zum Dinner einzuladen?« konterte er, öffnete erneut ein -398-
Auge einen Spalt weit und schielte ins Licht. »Vorausgesetzt natürlich, daß ich überlebe.« »Oh, Sie werden überleben«, sagte sie sanft. »Aber das ist wohl kaum eine faire Wette - es sei denn natürlich, Mr. Sykes hat es Ihnen schon verraten. Haben Sie, Tony?« »Nein, Frau Doktor. Hab ich nicht. Aber vielleicht würde Dr. Sinclair Sie das Lokal aussuchen lassen, wenn er es nicht rät.« Sie lachte und setzte eine weitere Naht. »Das klingt fair. Na, was meinen Sie, Dr. Sinclair?« Adam schloß die Augen und lächelte. »Bedeutet es Xenia?« »Nein.« »Xanthe?« »Nein, Sie sind noch ziemlich weit weg.« »Wie wäre es mit Xanthippe, der Frau des Sokrates?« »Tut mir leid, Sie schulden mir ein Dinner. Es bedeutet Ximena.« »Aha, die Frau des Cid«, erwiderte Adam. Sie lachte entzückt. »Sehr gut. Genau dort ist meine Mutter auf den Namen gestoßen. Der Film war gerade ein paar Monate vor meiner Geburt herausgekommen. In meiner Geburtsurkunde steht eigentlich Chimene, aber als ich Studentin war, habe ich die Schreibung mit X eingeführt - vermutlich meine Geste in Richtung Revolution. Doch hat mir diese Schreibung immer noch gefallen, als ich aus dieser Phase herausgewachsen war, und deshalb habe ich sie beibehalten. Und sie eignet sich großartig, um ein Gespräch anzuknüpfen, wie Sie ja soeben zutreffend bewiesen haben.« »Dagegen kann ich nichts sagen«, murmelte Adam und schaute wieder zu ihr auf. »Damit sind Ihre Initialen X. L., das klingt wie excel, sich auszeichnen, und das tun Sie doch auch, oder?« Sie setzte die letzte Naht und warf ihm einen amüsierten Blick -399-
zu. »Du meine Güte, Doktor, wie freundlich von Ihnen. Ich nehme an, Sie befinden sich vielleicht immer noch im Schock, aber so etwas Nettes hat mir noch kaum ein Patient gesagt.« Adam lächelte. »Ich möchte das alte Sprichwort wiederlegen, daß Ärzte notorisch schlechte Patienten sind.« »Tja, Sie berechtigen zu den besten Hoffnungen, um dieses Sprichwort Lügen zu strafen«, sagte sie und warf ihre Instrumente auf das Tablett. »Geschafft, Sie sind fertig. Mr. Sykes, verbinden Sie jetzt bitte.« Als Adam versuchsweise die Augen öffnete - wegen des grellen Lichtes nur zu Schlitzen -, streifte Dr. Lockhart gerade ihre Handschuhe ab und warf sie umgestülpt auf das Instrumententablett. Sie schaltete das Licht aus, dann nahm sie Adams Krankenblatt und begann mit ihren Aufzeichnungen. »Sie werden gleich danach fragen, deshalb sage ich es Ihnen auf alle Fälle«, bemerkte sie, ohne aufzuschauen. »Sie haben acht Stiche an der ersten Wunde, und sechs an der Verletzung der Kopfhaut, falls Sie beim Mitzählen nicht mehr nachgekommen sind. Ich hätte es auch mit weniger gemacht, aber Sie brauchen ja keine Narbe auf Ihrer edlen Stirn. In ein paar Monaten werden Sie nicht einmal mehr wissen, daß Sie verletzt waren.« »Vielen Dank«, erwiderte Adam grinsend, während Mr. Sykes einen sterilen Wattebausch auflegte, der mit antiseptischer Salbe bestrichen war, und dann mit Pflasterstreifen festklebte. Als das vollbracht war, half Sykes ihm, sich aufzusetzen, so daß Dr. Lockhart ihm eine Schlinge am rechten Arm anpassen konnte - eine plumpe komische Apparatur aus Segeltuch und Nylonriemen. Als er sich wieder hinlegte, erschöpft von der Anstrengung, die das Sitzen ihm bedeutet hatte, steckte ein MTA den Kopf herein. In dem Drahtkorb, den er trug, -400-
klapperten Glasröhrchen. »Ist das der Patient zur Neuaufnahme, Dr. Lockhart?« fragte er. »Ja«, erwiderte sie. »Dr. Sinclair ist sehr kooperativ für einen Doktor -, deshalb bin ich sicher, er wird nichts dagegen haben, wenn Sie Ihrem Vampirgewerbe ein oder zwei Minuten nachgehen.« Der Gedanke, daß ihm Blut abgenommen würde, erinnerte Adam blitzartig an den geheimen Besuch, den jemand an Gillian Talbots Bett in Jordanburn gemacht hatte. »Ich habe tatsächlich etwas dagegen«, sagte er mit Unbehagen. »Ich glaube nicht, daß wir mit einer unnötigen Blutprobe dem National Health Service noch zusätzliche Kosten verursachen müssen.« »Aber so sind die Krankenhausvorschriften«, widersprach der MTA. »Und ich sage Ihnen, es ist nicht notwendig«, sagte Adam und schaute auf Dr. Lockhart. »Ich hoffe, ich muß nicht damit drohen, mich von hier abzusetzen, um den Steuerzahlern unnötige Ausgaben zu ersparen.« Sie lachte glucksend und winkte dem MTA, er solle gehen. »Lassen Sie ihn in Ruhe, David. Das ist keinen Streit wert. Er ist Psychiater. Ich glaube, die mögen keine Nadeln. Und da wir gerade von Nadeln sprechen, Dr. Sinclair«, fuhr sie fort und machte eine weitere Notiz auf seinem Krankenblatt, »wie steht es mit Ihrer Tetanusimpfung? Wann wurde sie zum letzten Mal aufgefrischt?« »Ich halte Pferde, Dr. Lockhart«, sagte er lächelnd. »Ich bekomme im Januar eines jeden durch fünf teilbaren Jahres eine routinemäßige Wiederholungsimpfung. Sie haben heute schon so viele Nadeln in mich gestochen, daß es mir für einen Tag reicht.« -401-
»Wie Sie wollen«, sagte sie mit einem Achselzucken, lächelte allerdings dabei. »Mr. Sykes, Sie können jetzt Dr. Sinclair in sein Zimmer hinaufbringen.« Als Sykes ihn hinausfuhr und Dr. Lockhart ihnen bis zum Anmeldeschalter folgte, entging Adams Aufmerksamkeit ein anderer Arzt im grünen Chirurgenkittel, der scharf beobachtete, wie man den Patienten hinausrollte. Es hatte nicht zu Preston Wemyss' Plan gehört, an diesem Morgen zu einer NotfallBlinddarmoperation gerufen zu werden. Dabei hatte er doch schon soviel in Bewegung gesetzt, um für die Notaufnahme in Bereitschaft zu sein, damit er sich mit diesem speziellen Patienten befassen konnte. Wahrscheinlich war dies die schnellste Appendektomie gewesen, die Wemyss je gemacht hatte - und ohne feststellbar größeres Risiko für den Patienten, der jetzt stabil war und sich auf der Aufwachstation befand. Aber er war nicht schnell genug gewesen, um wieder in der Notaufnahme zu sein, bevor Angela den verletzten Adam Sinclair anbrachte. Im Gegensatz zum Plan waren Sinclairs Verletzungen leicht und von einer Art gewesen, bei der sich die talentierte Dr. Lockhart als natürliche Wahl für diesen Fall ergeben hatte, besonders da es sich bei dem Patienten um einen bedeutenden Kollegen handelte; und sobald sie ihn zum Röntgen geschickt hatte, war es zu spät gewesen einzugreifen, ohne einen Verdacht zu erregen - was bedeutete, daß Wemyss zu anderen Mittel würde greifen müssen, um seine Aufgabe zu erfüllen. Wemyss wartete, bis der Pfleger mit Sinclairs Rolltrage im Aufzug verschwunden war und Dr. Lockhart sich in den Aufenthaltsraum der Ärzte zurückzog, dann ging er wie beiläufig zu dem Behandlungszimmer hinüber, das Sinclair soeben verlassen hatte. Als er sich sicher war, daß niemand ihn beobachtete, schlüpfte er in den Raum. Wie er gehofft hatte, hatte Sykes sich nicht damit aufgehalten aufzuräumen, bevor er Sinclair nach oben brachte. Dort, wo die -402-
Rolltrage gestanden hatte, lagen auf dem einen Stahltisch noch die Überbleibsel vom Nähen mit Sinclairs Blut auf den benutzten Gazetupfern und den chirurgischen Handschuhen. Mit einem Lächeln trat Wemyss an den Tisch und stopfte einige der blutigeren Tupfer in einen der umgestülpten Handschuhe, den er dann in eine Tasche seiner OP-Hosen steckte. Als er wieder herauskam, sprach er eine der Schwesternschülerinnen an und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Raum. »Wir brauchen einen Pfleger, der auf der Stelle hier aufräumt, Miss Harper«, sagte er. »Behandlungsräume in der Notaufnahme müssen immer sofort gereinigt werden, wenn ein Patient fertig ist, damit sie für den nächsten Notfall vorbereitet sind. Kümmern Sie sich bitte darum!« Nach diesen Worten ging er in sein Büro, um seinen Fund zu inspizieren. Nachdem seine ursprünglichen Absichten vereitelt worden waren, würde er alternative Möglichkeiten untersuchen, um den unverwüstlichen Dr. Sinclair auszuschalten oder zumindest seinen Widerstand gegen eine okkultere Attacke zu schwächen; doch so oder so war er entschlossen, Sinclair die Nacht nicht überleben zu lassen. Adam war inzwischen in seinem unfreundlichen Zimmer untergebracht und blickte zur Decke. Es war ein Zweibettzimmer, aber er hatte keinen Zimmergenossen. Er konnte sich durchaus aufsetzen, wenn er wollte, aber seine Rippen und die Schulter schmerzten weniger, wenn er nahezu flach liegen blieb. Als die lokale Betäubung nachließ, begann in seinem Kopf ein Schmerz zu pochen, der von den Verletzungen und auch von dem Aufprall herrührte, den er erlebt hatte. Eine Krankenschwester hatte ihm die Anfangsdosis der von Dr. Lockhart verordneten Medikation gebracht, aber die beiden gelben Kapseln linderten seine Beschwerden nur langsam. Er wußte, daß man ihm etwas Stärkeres geben würde, wenn er darum bat, aber er wußte auch, daß alles, was viel stärker war, seine Energie zur Selbstverteidigung dämpfen würde, während -403-
er in dieser ungeschützten Umgebung lag. Die notwendige okkulte Abwehr in dem Raum aufzubauen, bedeutete weit mehr Mühe, als sie eigentlich hätte kosten dürfen, denn in seinem Kopf hämmerte es, als er versuchte sich zu konzentrieren. Doch als dann McLeod den Kopf zur Tür hereinsteckte und grinste, weil er das Gesicht sah, nach dem er suchte, da spürte der Inspector schon die Wirksamkeit von Adams Bemühungen. »Sie sind ganz schön fleißig gewesen, nicht wahr?« bemerkte McLeod, als er hereinkam und sich einen Metallstuhl näher an das Kopfende des Bettes heranzog. »Wie geht es Ihnen? Sie schauen ganz schön mit genommen aus.« »Ich fühle mich ziemlich elend«, erwiderte Adam mit einer Grimasse, drückte den Arm in der Schleife an die Brust und hob den Oberkörper ein wenig, während er den Mechanismus bediente, der den Kopfteil seines Bettes etwas anhob. »Haben Sie die Anrufe gemacht?« »Ja. Ihre Mutter war natürlich erschrocken, aber ihr war sofort klar, daß sie an Ort und Stelle bleiben muß, um Gillan zu schützen. Ich habe dem jungen Lovat klar gemacht, daß er aus demselben Grund dort gebraucht wird. Und die anderen wurden auch informiert. Sie alle werden Ihnen in den nächsten paar Tagen heilende Energie senden.« Adam gestattete sich erleichtert zu seufzen. »Sie sind ein guter Mann, Noel, und ein unersetzlicher Beistand. Herrgott, was für ein beschissenes Timing! Daß ich ausgerechnet jetzt im Bett liegen muß.« »Tja, Unfälle passieren nun mal«, erwiderte McLeod. »Wenigstens sind Sie nicht dabei umgekommen. Übrigens, Ihr Wagen wurde zu einem Autohof der Polizei nördlich des Firths abgeschleppt. Anscheinend haben Sie ihn ganz übel zugerichtet. Ich habe die Information an Humphrey weitergegeben, und er setzt sich mit der Versicherung in Verbindung, aber es ist ziemlich klar, daß Sie sich einen neuen Wagen werden bestellen -404-
müssen.« Adam brachte ein mattes Lächeln zustande. »Kann mich nicht beschweren. Der Rover hat mir das Leben gerettet. Allerdings ist die Sache mit dem Reifen etwas komisch. Ich muß auf etwas drauf gefahren sein.« »Das hoffe ich doch«, sagte McLeod, plötzlich ganz sachlich. »Was meinen Sie damit?« Adam reckte den Kopf und schaute McLeod an. »Wissen Sie etwas, was ich noch nicht weiß?« McLeod schüttelte den Kopf. »Nein, nein, aber Sie selbst haben sich ja zu dem Timing geäußert. Und Sie hätten leicht getötet werden können. Gewisse Leute hätten das sehr passend gefunden.« Adam zitterte, auf seinem Unterarm sträubten sich die Härchen. »Ich wünschte, Sie hätten das nicht gesagt«, murmelte er. »Ich bin schon so paranoid, daß ich mich geweigert habe, mir routinemäßig Blut abnehmen zu lassen. Ich mußte daran denken, wie jemand sich an Gillian herangemacht hat. Sie hätten sie genauso leicht umbringen können. Hier bin ich verletzlich.« »Vielleicht sollten Sie dann nicht über Nacht hier bleiben«, sagte McLeod. »Oder ich könnte Ihnen einen Wachposten vor die Tür stellen...« »Jetzt werden wir schon beide paranoid«, sagte Adam und schüttelte den Kopf. »Die nackte Wahrheit ist, daß ich gerade einen ernsten Autounfall erlitten habe und vierundzwanzig Stunden unter ärztlicher Beobachtung sein sollte. Mir fehlt wahrscheinlich nichts, aber es ist wirklich leichter für uns alle, wenn ich über Nacht hier bleibe. Es ist zwecklos, Philippa zu belasten. Außerdem liegt die Beurteilung von Traumata in letzter Zeit etwas außerhalb ihrer Erfahrung - wahrscheinlich seit etwa fünfzig Jahren. Mit mir wird's schon werden. Wie Sie offensichtlich bemerkt haben, als Sie ins Zimmer kamen, habe ich bereits eine erhebliche Menge Energie in die Abwehr -405-
gesteckt.« »Dagegen kann ich nichts sagen. Sie meinen also, man wird Sie am Morgen entlassen?« »Das sollte man, es sei denn Dr. Lockhart und ich liegen beide völlig falsch. Übrigens wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie Humphrey ausrichten könnten, er solle mich gegen elf von hier abholen. Wie Sie sehen, hat dieses Zimmer kein Telefon.« »Wird gemacht«, erklärte McLeod. »Und da Sie sich einer unabhängigen medizinischen Meinung gefügt haben und tatsächlich einverstanden sind, hier zu bleiben, muß ich annehmen, daß Sie wirklich Schmerzen haben und zu kaputt sind, um sich heute nachmittag mit dem Material über Balmoral zu befassen.« Adam schloß kurz die Augen. »Ihre Annahme ist richtig«, sagte er. »Könnten Sie es so einrichten, daß Sie es mir morgen nachmittag nach Hause bringen, wenn ich wieder einen klareren Kopf habe? Es ist sowieso Zeit, daß wir uns alle einmal zusammen setzen. Peregrine sollte die Sachen auch sehen.« »Ich werde es vorbereiten. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« »Nicht, daß ich wüßte.« »Dann werde ich Sie jetzt mal ausruhen lassen.« McLeod erhob sich und salutierte ironisch. »Also bis dann, Boss. Schlafen Sie gut heute nacht, soweit Sie eine bequeme Stellung finden, und ich sehe Sie dann morgen.« Als Adam in diesem Zimmer untergebracht wurde, hatte er das Mittagessen schon versäumt, aber nachdem McLeod gegangen war, gelang es ihm, eine der Schwestern zu überreden, ihm einen Imbiß - Tee und Sandwiches - zu bringen. Dann schlummerte er ein, obwohl jede Stunde jemand kam, um seine Werte zu messen, bis schließlich kurz vor dem Abendessen Dr. Lockhart auftauchte, um nach ihm zu schauen. Selbst der mehrfach unterbrochene Schlaf schien den Schmerz in seinem -406-
Kopf gelindert zu haben, denn er fühlte sich nur noch an seinen verbundenen Wunden ein wenig empfindlich. Jeder andere Teil seines Körpers schmerzte sogar noch schlimmer. Auf seine Bitte hin erhöhte Dr. Lockhart die Dosis seiner Medikation, dann wünschte sie ihm freundlich eine gute Nacht, mit der Erlaubnis, jetzt dürfe er schlafen, und setzte ihren Rundgang fort. Nach einem leichten Abendessen und zwei weiteren gelben Kapseln, ließ sich Adam in richtigen Schlaf gleiten. Er war vielleicht eine Stunde eingeschlafen, als er den Traum hatte. Zuerst dachte er, der Mann sei lan MacPherson, der Freimaurer, der vor einer Woche vom Blitz erschlagen worden war, aber dann erkannte er, daß es sich um einen anderen Freimaurermeister handelte. Genaugenommen war da eine Menge freimaurerischer Meister, alle formell geschmückt mit den blaugesäumten Schurzen und Schärpen und Kragen. Sie standen auf dem schachbrettartig schwarzweiß gemusterten Boden eines Freimaurertempels und vollführten ein Ritual. Obwohl Adam kein Freimaurer war und nie mit eigenen Augen einen freimaurerischen Ritus verfolgt hatte, wußte er, worum es sich handelte, denn die meisten Werke dieser Art speisten sich aus einem gemeinsamen Vorrat spiritueller Traditionen. Sie unterschieden sich in den Formen, ähnelten sich aber in ihrer Konzentration auf das LICHT. Der Traum entwickelte sich. Der Mann, den er für MacPherson gehalten hatte und der in dieser Loge der Meister vom Stuhl zu sein schien, las aus einem großen Buch, umgeben von einigen seiner Amtsträger, und vielleicht dreißig weitere Männer lauschten aufmerksam seinen Worten. Adam konnte nicht hören, was der Mann sagte, aber er spürte, daß es heilige Lehren waren - was stimmte, wenn die Freimaurerei wirklich Verbindungen mit den universalen Mysterienschulen hatte. Plötzlich stockte der Meister, er und dann auch seine Amtsträger und Brüder begannen unsicher im Logenraum herum zu schauen, suchten mit weitaufgerissenen, erschrockenen -407-
Augen ängstlich in der leeren Luft, die plötzlich mit statischer Energie aufgeladen war. In einem Sekundenbruchteil, bevor es geschah, wußte Adam, was geschehen würde und versuchte sie zu warnen, aber es war zu spät. Mit einem ohrenbetäubenden Knall explodierte die Decke in Feuer und einem Hagel von geborstenem Stuck, verknäuelten Dachbalken und zerbrochenen Schieferplatten. Das Dach wurde völlig weggesprengt, so daß der Raum zum Himmel offen dalag! Wolken wallten und wogten über dem Loch im Dach, Blitze schlugen weiter in das Gebäude ein, doch sie hörten plötzlich auf, während eine schreckliche Stille über die Szene fiel, in die allmählich das Gestöhn und die Schreie der Verletzten drangen. Er keuchte, als er aus dem Traum auffuhr. Sein Herz pochte, und er hatte keinen Zweifel, daß er mit etwas Wirklichem und Schrecklichem in Berührung gekommen war - ob es nun noch bevorstand oder schon geschehen war, wußte er nicht. Wenn es schon geschehen war, so gab es wenig, was er tun konnte; doch wenn der Traum eine Warnung gewesen war, wie es seine Träume manchmal waren, dann wäre es vielleicht möglich, die Warnung weiter zu geben und etwas von der Katastrophe abzuwenden. Er zerbrach sich den Kopf, um welche Freimaurerloge es sich gehandelt haben könnte - als ob seine begrenzte Kenntnis dieser Dinge ihm helfen würde. Aber vielleicht würde McLeod es wissen. McLeod war ein Freimaurermeister. Vielleicht konnte McLeod ihm helfen, die Loge ausfindig zu machen. Diese Hoffnung verlieh ihm die Kraft, sich aus seinem Bett zu hieven und zum Kleiderschrank zu taumeln. Jeder Muskel protestierte. Himmel, er konnte nicht glauben, wie steif er nur von ein paar Stunden Schlaf geworden war! Ein Teil von ihm sehnte sich nach einer heißen Dusche, um den Schmerz zu lindern, aber er wußte, daß das warten mußte. Er holte sich einen Morgenmantel aus dem Kleiderschrank, schob den linken Arm durch den Ärmel und zog den Rest des -408-
Mantels über die rechte Schulter und die Armschlinge, dann humpelte er zum Stationszimmer, um sich nach einem Telefon umzusehen. Die Stationsschwester sah ihn bestürzt an. »Dr. Sinclair! Was machen Sie denn? Sie müßten doch im Bett sein. Gehen Sie sofort zurück!« »Ich muß einen Anruf machen«, erklärte Adam. »Es ist wichtig. Kann ich dieses Telefon benutzen?« Er beugte sich schon über die Theke und nahm eines der Telefone von hinten, stellte es auf den Sims, drückte den Hörer in seine rechte Hand und hob dann die linke, um zu wählen. »Komme ich mit einer 9 nach draußen?« fragte er. »Ja, aber...« »Danke.« Er wählte die 9, dann McLeods Privatnummer, doch die war die nächsten fünf Minuten besetzt. Er brauchte drei Versuche, um durchzukommen, während die Schwester immer ungeduldiger wurde und andere Leute vom Personal zusammenkamen und überlegten, was man mit dem exzentrischen Dr. Sinclair tun solle. Schließlich meldete sich McLeods Frau. »Jane, hier spricht Adam«, sagte er. »Ist Noel zu Hause?« »Nein, Adam«, erwiderte sie. »Er hat vor kurzem einen Notruf bekommen und Ihren Mr. Lovat angerufen und ist fortgefahren. Sie haben ihn eben verpaßt.« »Verdammt!« sagte Adam leise. »Hat er gesagt, wohin er unterwegs ist?« »Leider nicht«, antwortete Jane. »Aber es muß nördlich von hier sein, denn er hat Mr. Lovat gebeten, sich mit ihm zu treffen - und Mr. Lovat wohnt ja auf Ihrem Anwesen, nicht wahr?« »Ja«, flüsterte Adam. »Ach je, er sagte, es handle sich um eine Explosion in einer Freimaurerloge. Adam, glauben Sie, das hat etwas mit der -409-
schrecklichen Sache von letzter Woche zu tun? Ist Noel in Gefahr?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht«, murmelte Adam. »Jane, sind Sie sicher, daß er nichts Konkreteres erwähnt hat?« »Es tut mir leid, Adam, aber Sie wissen ja gar nicht, wie wenig er über seine Arbeit spricht.« »Nein, das kann ich mir schon vorstellen«, sagte Adam ruhig. Er seufzte. »Wenn er heimkommt, Jane oder falls er Sie anrufen sollte -, dann sagen Sie ihm, es sei wichtig, daß er sich so schnell wie möglich mit mir in Verbindung setzt. Egal, wie spät es ist, er soll die 24-Stunden-Nummer hier im Krankenhaus anrufen. Haben Sie verstanden?« »Natürlich, Adam. Ist alles okay mit Ihnen?« »Ja, mir geht es gut. Richten Sie es ihm einfach aus. Ich muß jetzt gehen. Es tut mir leid, daß ich Sie gestört habe.« Als er den Hörer auflegte, zitterte er, und die Stationsschwester schaute ihn ungehalten an. Als ihre Blicke sich begegneten, straffte sie sich und wurde amtlich. »Dr. Sinclair, ich muß wirklich darauf bestehen, daß Sie wieder ins Bett gehen, oder ich werde Dr. Lockhart anrufen müssen. Das ist höchst regelwidrig.« »Es tut mir leid, daß ich Ihren Betrieb gestört habe, Oberschwester«, sagte er ruhig. »Es war wirklich wichtig. Und wenn im Laufe der Nacht noch ein Inspector McLeod anrufen sollte, dann möchte ich, daß Sie mich ans Telefon holen, gleichgültig wie spät es ist. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dringend das ist. Würden Sie sich das bitte notieren?« Widerstrebend erklärte sie sich bereit. Adam beobachtete, wie sie es aufschrieb, dann duldete er, daß sie ihn wieder in sein Zimmer führte, wo sie noch seine Werte maß und in sein Krankenblatt eintrug, bevor sie ins Stationszimmer zurückkehrte. Nachdem sie gegangen war, lag er einige Stunden -410-
wach und starrte an die Decke, dachte an den Traum zurück und begann sich allmählich zu fragen, ob es wohl eine Verbindung zwischen seinem Unfall und dem Traum gab. Kapitel 27 Zur gleichen Stunde traf Peregrine Lovat in Dunfermline am Logenhaus der dortigen Freimaurer ein. Ihm bot sich ein Anblick des Chaos und der Verwirrung. Teile des Gebäudes brannten noch, ein halbes Dutzend Löschfahrzeuge kämpfte die letzten Flammen nieder, während Rettungshelfer die Trümmer nach Überlebenden durchsuchten. Die Schule auf der anderen Straßenseite war schon zu einer provisorischen Leichenhalle für die Toten umfunktioniert worden, und gerade fuhr wieder ein Sanitätsauto mit Blaulicht und Sirene davon, als Peregrine den kleinen Morris Minor direkt gegen über von McLeods wohlvertrautem schwarzem BMW parkte. Ungeduldig, aber auch ein wenig nervös - noch nie war er zu einem dieser Aufträge ohne Adam gegangen -, nahm er seinen Skizzenkasten und stieg aus. Mit der Hand schirmte er die Augen gegen das grelle Licht der Azetylenlampen und Rettungsscheinwerfer ab, während er die Straße überquerte und sich einem uniformierten Polizisten näherte, der an der Absperrung postiert war. »Ich soll hier Detective Chief Inspector McLeod treffen«, sagte er. »Mein Name ist Lovat.« »Gleich hier entlang, Mr. Lovat«, sagte der Beamte und wies in das Labyrinth hinter ihm. »Geben Sie nur auf die Rettungshelfer acht.« »Werde ich tun. Danke.« Peregrine duckte sich unter dem gelben Band hindurch, das der Polizist für ihn anhob, und ging auf eine kleine Gruppe von Uniformierten zu, in deren Mitte er einen wohlbekannten grauen Kopf und den dazu gehörigen Mantel entdeckt hatte. McLeods -411-
schroffe Stimme drang durch den Lärm der Umgebung bis zu ihm. »Ich möchte schriftliche Aussagen von allen in diesem Gebiet, die etwas gesehen haben - irgend etwas, kapiert?« sagte der Inspector gereizt. »Es spielt keine Rolle, wie ausgefallen es klingt. Wir werden später auf dem Revier die Spreu vom Weizen trennen.« Die Uniformierten zerstreuten sich. McLeod wollte selber weggehen, dann erblickte er Peregrine, der sich seinen Weg durch die Trümmer suchte. »Endlich!« murmelte der Inspector etwas ungnädig und winkte ihm, er solle sich beeilen. »Was haben Sie denn gemacht? Sind Sie über Aberdeen gekommen? Los, ich möchte, daß wir beide uns mal drinnen umschauen.« Peregrine kannte McLeod gut genug, um nicht beleidigt auf seine Brüskheit zu reagieren. Er hatte inzwischen ausreichend Zeit in der Gesellschaft des Inspectors verbracht und wußte, daß bei McLeod Reizbarkeit ein Zeichen war, daß er sich Sorgen machte - und jetzt hatte er allen Grund, sich schwere Sorgen zu machen. Selbst von hier draußen konnte Peregrine die heftigen, mißtönenden Nachschwingungen absichtlicher Gewalttätigkeit spüren, die aus dem rauchenden Inneren des Gebäudes drangen. Das war eine Resonanz, die er zu erkennen und zu verabscheuen gelernt hatte und die dem sehr ähnelte, was er auf Baltierny und am Calton Hill gespürt hatte. Er brauchte McLeod nicht zu fragen, wer für die Zerstörung verantwortlich war, die er vor sich sah. Das starke Gesicht des Inspectors zeigte ein wenig von dem gekränkten, wütenden Ausdruck eines Boxers, der sich wieder aufrappelte, nachdem er von einem unfairen Hieb niedergeschlagen worden war - und den Blick eines Menschen, der entschlossen war, die Rechnung mit Zins und Zinseszins heimzuzahlen. McLeod ging eine Steintreppe voran zu der Tür, die der -412-
Haupteingang der Loge gewesen war. Auf dem Weg nach drinnen machten sie Platz für zwei Bergungshelfer, die auf einer Trage festgeschnallt eine reglose Gestalt in einem schwarzen Sack hinaustrugen. Die beiden Männer waren mit Staub und Asche bedeckt, ihre Gesichter waren schmutzig und abgespannt. »Du lieber Himmel, MacKinnon, wie viele sind es denn jetzt?« fragte McLeod bitter und machte ein düsterungläubiges Gesicht. Die Männer blieben schlurfend stehen. Beide waren offensichtlich wie benommen von dem, was sie gesehen hatten. »Elf ins Krankenhaus und siebzehn in die Leichenhalle«, sagte der vordere Mann und schüttelte mürrisch den Kopf. »Hier ist niemand unverletzt davongekommen. Die einzige gute Nachricht ist, daß wir denken, wir haben alle gefunden.« Er warf einen mitleidsvollen Blick über die Schulter auf die verhüllte Gestalt auf der Trage. »Dieser alte Herr hier muß der Meister vom Stuhl gewesen sein. Wir haben ihn unter einer halben Tonne Schutt im Sitzungssaal im ersten Stock gefunden - er muß direkt unter einem Balken gestanden sein, als das Dach zusammenbrach. Der arme Kerl hat wahrscheinlich kaum bemerkt, was ihn getroffen hatte!« Er seufzte und machte seinem Kollegen ein Zeichen weiter zu gehen. McLeod trat zur Seite, den grauhaarigen Kopf tief gebeugt, und ließ sie passieren. Peregrine wußte nicht, ob der Inspector nachdachte oder betete. Ein paar Sekunden später schüttelte sich der Ältere und straffte seine breiten Schultern mit einem Ruck. »Ganz recht, Mr. Lovat«, sagte er mit schwerer Stimme. »Es scheint, die Sanitäter sind fertig. Jetzt sind wir an der Reihe.« Er ging voran durch die Überreste des Vestibüls in den Raum, der einmal eine weite Eingangshalle gewesen war. Der Parkettboden war mit einem Gewirr aus heruntergefallenem -413-
Putz und verkohlten Leisten und Balken bedeckt. Zu ihrer Rechten führte ein hübsches Treppenhaus zu einem Mezzanin, der jetzt zum Himmel hin offen war. Der ganze Ort war erfüllt von Brandgestank. Das Ausmaß der Zerstörung machte Peregrine todunglücklich. Welche Wirkung es auf McLeod hatte, der mit den hier getöteten Männern in einer brüderlichen Beziehung gestanden hatte, konnte er nur ahnen. »Wir nehmen uns jetzt Raum für Raum vor«, sagte McLeod. »Und schauen Sie, wo Sie hintreten. Ich möchte nicht, daß Sie durch ein Loch fallen und im Krankenhaus landen wie Adam. Wir sind ohnehin schon knapp dran mit Mitarbeitern.« ›Wir‹ , damit meinte er die Jagdloge, wie Peregrine plötzlich begriff. Dieser stillschweigende Hinweis, daß McLeod ihn akzeptierte, war so ermutigend wie unerwartet. Etwas beruhigt, schüttelte Peregrine in einer Welle frischer Entschlossenheit seine Bestürzung ab. »Suchen wir nach etwas Bestimmtem«, fragte er ruhig, »oder schauen wir uns nur um?« McLeod richtete seine hellen blauen Augen auf ihn. »Sie schauen einfach, junger Mann. Und wenn Sie etwas sehen, dann möchte ich es erfahren.« Der Durchgang hinter der Treppe führte in den einstigen offiziellen Empfangsraum, der sich über die ganze Länge dieser Seite des Gebäudes erstreckte. Peregrine duckte sich hinter McLeod unter der angekohlten Oberschwelle der Tür durch und fand sich vor einem Chaos aus zerschlagenem Glas und zerbrochenen Bilderrahmen wieder. »Das sieht wie eine Art Galerie aus«, sagte er leise. »Aye.« McLeod war stehengeblieben und richtete ein lebensgroßes, dreiviertellanges Porträt eines silberhaarigen Mannes mit einem Schnauzbart und den Insignien eines freimaurerischen Meisters auf. »Diese Loge hatte eine lange und ruhmvolle Geschichte. Ihre Mitglieder widmeten diesen Raum -414-
der Ausstellung ihrer Erinnerungsstücke...« Er verstummte. Peregrine trat neben den Inspector und betrachtete lange das Porträt. Trotz Rauchflecken und Brandstellen sah er, daß es sehr empfindsam gemalt war. Das Gesicht des verstorbenen Meisters war stark und streng; die gemalten blauen Augen, die Peregrine anschauten, schienen unendlich traurig zu sein, als trauerte der Mann selbst um das, was hier geschehen war. Das Empfinden einer lebendigen geistigen Gegenwart war so stark, daß Peregrine nicht glauben konnte, es handle sich nur um Einbildung. Wir sind hier, um zu helfen, versicherte er dem Mann auf dem Porträt. Ich wünschte nur, Sie wüßten, was passiert ist, und könnten es uns sagen. Neben ihm zuckte McLeod plötzlich zusammen und stöhnte laut. Überrascht schaute Peregrine ihn an. Der Inspector schwankte, die blauen Augen hinter der Fliegerbrille blickten leer und verschwommen. Sein Mund bewegte sich. Ein paar Sekunden lang kam kein Laut. Dann flüsterte eine unbekannte Stimme mit seinen Lippen. »Ein Eindringling hat den Schutz beseitigt«, sagte sie schnarrend. »Der böse Diener eines bösen Herrn. Der Tempel ist entweiht worden... gezeichnet mit dem Zeichen eines uralten Feindes...« Die heisere Stimme verstummte mit einem schaudernden Seufzen. Peregrine starrte mit offenem Mund auf McLeod, dann ging ihm auf, was da geschah. Eine von McLeods besonderen esoterischen Begabungen war seine Fähigkeit, als Medium zu dienen - wie Peregrine es selbst einmal in Melrose beobachtet hatte, wo McLeod dem Geist von Michael Scot erlaubt hatte, durch seinen Körper zu sprechen. Jetzt hatte er offensichtlich einem verstorbenen Mitglied dieser Loge die gleiche Erlaubnis gegeben. Ein weiterer Schauder schüttelte McLeods mächtigen Leib -415-
und ließ ihn taumeln. Peregrine griff ihm unter einen Arm, unsicher, was er tun sollte. »Reinigt den Tempel!« drängte die Stimme in einem ansteigenden Ton. »Findet und entfernt das Zeichen der Entweihung!« Die Dringlichkeit der Bitte schien eine Antwort zu verlangen. Mit pochendem Herzen fand Peregrine seine Zunge wieder. »Das werden wir!« versprach er. »Sagen Sie mir nur, wo wir suchen sollen!« Doch die nächsten Worte des Sprechers wurden zu einem unverständlichen Gemurmel. Ohne Vorwarnung schnellte McLeod zurück, als hätte man ihm einen Aufwärtshaken gegen das Kinn gegeben. Peregrine spürte, wie er steif wurde, dann stieß er ein leises Stöhnen aus und ging in die Knie. Peregrine versuchte McLeods Fall zu dämpfen und sich gleichzeitig aufzustützen, während McLeod zu Boden sackte. Als sie beide auf die Knie sanken, verschwamm Peregrines Blick. Mit einem Mal sah er mit seinem geistigen Auge das Bild eines Tisches mit einer schweren Marmorplatte, der einem Altar ähnelte. Die Seiten des Tisches waren mit Paneelen verziert, in die Flachreliefs geschnitzt waren. Einzelheiten des mittleren Felds prägten sich ihm ein - das Bild eines Kreises, der ein Sternensymbol umschloß, das aus zwei ineinandergeschobenen Dreiecken bestand und von dem er irgendwie wußte, daß es sich dabei um das Siegel Salomons handelte. Der Kreis wurde zu beiden Seiten von Säulen flankiert, jede Säule war mit einer Kugel gekrönt; die auf der einen Seite stellte die Weltkarte dar, die andere die Himmelskarte. Während er noch versuchte, die benachbarten Felder zu veranschaulichen, murmelte McLeod benommen und hob den Kopf. Im Nu blickten seine blauen Augen wieder gezielt. Während er mit der freien Hand nach Stützung tastete, holte -416-
er tief Luft und stieß sie mit einem uff wieder aus. »Himmel, ich hasse es, wenn sie es so machen!« schnaufte er mit einer Stimme, die wieder die seine war. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, genauso wie es in Melrose gewesen war, nachdem der Geist von Michael Scot ihn freigegeben hatte. Peregrine suchte seinen Blick und fragte: »Können Sie aufstehen? Ich würde vorschlagen, daß Sie sich setzen, aber der verdammte Boden ist buchstäblich mit Glas übersät. Sie haben sich doch nicht in die Hand geschnitten, oder?« McLeod schüttelte den Kopf, hob seine freie Hand vom Boden und wischte vorsichtig Glas und Asche ab. Er ließ sich von Peregrine stützen und kam taumelnd auf die Beine. Während er immer noch Peregrines Arm umfaßt hielt, um sein Gleichgewicht wiederzugewinnen, holte er einige Male tief Luft, dann wurde seine Atmung allmählich ruhiger, bis sie schließlich wieder regelmäßig war. »Geht es jetzt besser?« fragte Peregrine. »Aye«, erwiderte McLeod. Er richtete sich langsam auf und probierte sein Gleichgewicht aus, bevor er Peregrines Arm losließ. »Aye, so ist's schon besser.« Er seufzte wieder schwer. »Ich sollte das nicht ohne Vorbereitung tun. Aber es war dringend notwendig.« »Haben Ihnen dann diese Hinweise auf den Tempel etwas gesagt?« fragte Peregrine. »Was habe ich über den Tempel gesagt?« fragte McLeod zurück. »Ich erinnere mich nicht immer an die Dinge, die bei diesen Übungen herauskommen.« Seine Nonchalance war ermutigend. Peregrine wiederholte sorgfältig Wort für Wort und so genau, wie er sich erinnern konnte, was gesagt worden war. McLeod seufzte erneut und nickte. Dabei erwog er, was Peregrine ihm gesagt hatte. »In Ordnung. Ich kann Ihnen nicht genau sagen, was es bedeutet, aber er hat ziemlich klare Anweisungen gegeben. In einem gewissen Sinn geschieht alle Arbeit, die in der Loge -417-
vollbracht wird, im Tempel der Inneren Ebenen - aber jede Loge hat auch einen materiellen Tempel, meist in einem Obergeschoß des Gebäudes. Dorthin müssen wir jetzt gehen.« Er blickte auf das ramponierte Porträt, das noch an der Wand lehnte. Die Inschrift auf dem Sockel des zerbrochenen vergoldeten Rahmens nannte den Namen des Dargestellten: John Joseph Anderson. Daneben standen die Daten seiner Amtszeit als Meister vom Stuhl. Mit einem grimmigen Lächeln entbot McLeod dem Porträt einen ernsten, zurückhaltenden Gruß. »Danke für Ihren guten Rat, Hochwohllöblicher Meister«, sagte er leise. »Jetzt werden Mr. Lovat und ich die Sache übernehmen.« Trotz der Beschädigung der Läufer und des Geländers war die Treppe selbst noch solide. Das Obergeschoß wurde von Azetylenlampen intensiv ausgeleuchtet, während Teams von Feuerwehrleuten weiter an der Sicherung des Gebäudes arbeiteten, offen liegende Bodenbretter abspritzten und noch schwelenden Schutt wegräumten. Ein eisiger Wind wehte durch das gähnende schwarze Loch im Dach herein. Da und dort wirbelte eine Schneeflocke im Lampenlicht. »Hier entlang«, sagte McLeod und zeigte auf die Überreste einer Tür auf der anderen Seite des Mezzanins. Der große Raum dahinter wurde wie auch der Mezzanin von Lampen erleuchtet. Sie mußten sich tief bücken, um an einem Gewirr herabgestürzter Balken vorbeizukommen. Der Boden war an manchen Stellen gefährlich schwach, ein Schachbrettlabyrinth aus zerbrochenen schwarzen und weißen Fliesen lag über einem hölzernen Unterboden, da und dort unterbrochen von gezackten Lücken, wo das Feuer sich seinen Weg zu den darunterliegenden Räumen gefressen hatte. Den schlimmsten Schaden gab es am östlichen Ende des Raums. Hier, vielleicht im Epizentrum der Zerstörung, bildeten, -418-
zum Himmel hin offen, große Haufen von Schutt und zerschmetterten Dachbalken einen wirklichen Irrgarten. Ein paar Pickel und Spaten lagen neben einer zurückgelassenen Lampe und zeigten an, wo die Rettungshelfer gegraben hatten, um die Leiche des Meisters vom Stuhl zu bergen. Zwei große Platten aus angerußtem und brandgeschwärztem Marmor ragten wie zwei umgekippte Buchstützen schief aus dem Aschen- und Stuckhaufen heraus. »Vielleicht ist es das, was wir suchen«, sagte McLeod und zeigte auf die Trümmer. »Schauen wir es uns genauer an.« Sie nahmen die Lampe mit und bahnten sich vorsichtig den Weg zu ihrem Ziel. Aus der Nähe gesehen entpuppten sich die gekippten Platten als die zwei Teile eines Marmortisches, der in der Mitte gespalten worden war. Die verkohlten Überreste der stützenden hölzernen Seitenpaneele zeigten eine Vielfalt freimaurerischer Symbole, die in Flachrelief geschnitzt waren. Ein Siegel Salomons gehörte auch dazu. »Während Sie mit Ihrem Mr. Anderson beschäftigt waren, habe ich einen solchen Tisch gesehen«, murmelte Peregrine und berührte das Muster mit den ineinandergeschobenen Dreiecken. »Besonders dieses Symbol. Ich vermute, das Zeichen der Entweihung, von dem er sprach, muß irgendwo unter all dem Zeug begraben sein.« »Aye, schauen wir mal, ob wir etwas von diesem Schutt beiseite räumen könne«, pflichtete ihm McLeod bei. Zuerst mühten sie sich mit den Händen ab, dann nahmen sie das Werkzeug, das zu holen die Rettungshelfer noch nicht zurückgekommen waren, und machten sich an die Arbeit, die größeren Trümmerstücke vom Sockel des Tisches wegzuräumen. Als nichts mehr übrig war als Haufen noch warmer Asche, arbeiteten sie etwas langsamer und nahmen sich die Zeit, jeden Spatenvoll grauen Staubes durchzusuchen, während sie ihn beiseite schaufelten. Peregrine begann sich -419-
schon zu fragen, ob sie wohl die ganze Nacht damit beschäftigt wären, als seine Schaufel auf etwas stieß, das im Licht ihrer Arbeitslampe in einem stumpfmetallischen Grau schimmerte. Ohne nach zudenken, langte er mit seiner bloßen Hand hinunter, um es aufzuheben, und bekam einen Schlag, als hätte er einen Elektrozaun berührt. Er stieß einen Schrei aus und setzte sich jäh auf seine Hinterbacken. »Peregrine, was zum...« Er zeigte auf das Metallfragment, das er freigelegt hatte. Er war so erschüttert, daß er beinahe nicht bemerkt hätte, daß McLeod ihn zum ersten Mal mit seinem Vornamen angeredet hatte. »Das da hat mir einen Schlag versetzt, als ich es aufheben wollte«, sagte er. »Ich glaube, es ist vielleicht das, wonach wir suchen.« Er bog seine Finger. Die Knöchel kribbelten noch unangenehm. Als er sich aufrappelte und die Asche von seiner Sitzfläche und den Händen abwischte, kauerte sich McLeod nieder und betrachtete den Fund näher. Während er den Gegenstand studierte, griff der Inspector in eine Manteltasche. Als er die Hand herauszog, trug sie den vertrauten Ring mit dem Saphir und zeichnete eine Folge von Symbolen über dem Gegenstand, der die Luft um sich herum geradezu aufzuladen schien - dann griff McLeod wieder in den Mantel und holte ein Taschentuch heraus. »Tjaaja, so so«, murmelte er und schnalzte mit der Zunge, als er den Gegenstand vorsichtig mit dem isolierenden Taschentuch hochhob. Als er ihn ins Licht hielt, sah Peregrine, daß es sich dabei um die verschlackten und verbogenen Überreste einer silbernen Scheibe handelte, die einen Durchmesser von vielleicht fünf Zentimetern hatte. Er riß die Augen weit auf. »Ist es das?« sagte er mit stockender Stimme. »Ist das das Zeichen, nach dem wir suchen sollten?« -420-
»Sagen Sie es mir«, erwiderte McLeod. »Ist es das?« Peregrine holte tief Luft, kniff die Augen zusammen und verlagerte seinen Blickpunkt. Der verschwommene Blick wurde klar und vermittelte das geisterhafte Bild eines knurrenden Luchskopfes. »Du lieber Himmel, das ist ein Luchsmedaillon!« flüsterte er. »Das ist es, was ich immerzu vor mir hatte, seit die ganze Sache angefangen hat, nur habe ich noch nie eins im Original gesehen.« McLeod grinste wölfisch und wickelte das Taschentuch noch sicherer um das Medaillon, dann zeichnete er ein weiteres Symbol über das Bündel. »Tja, jetzt haben wir eins«, sagte er zu dem Künstler, »und ich würde sagen, es bestätigt unseren Verdacht, wer die Verantwortung für diese Tat trägt.« Er reichte Peregrine das Bündel. »Adam wird es sicher sehen wollen. Da ich nicht weiß, wann ich frei sein werde, um ihn persönlich zu treffen, sollten Sie es vielleicht lieber nehmen und bei ihm abliefern, sobald er nach Hause kommt.« Peregrine nickte und wickelte mit seinem eigenen Taschentuch eine weitere Stoffschicht um das Bündel, steckte es vorsichtig in eine Innentasche seines Dufflecoats und stand auf. McLeod warf einen Blick über die Schulter zurück, dann breitete er beide Hände mit den Flächen nach unten über dem zerstörten Altar aus. Einige Herzschläge lang behielt er diese Haltung bei und bewegte stumm die Lippen. Peregrine vermutete, daß er ein Gebet sprach. Dann zeichnete der Inspector mit der rechten Hand ein bannendes Pentagramm in die Luft. Peregrine spürte einen leichten Ruck in seinen Sinnen, als wäre soeben etwas Klebriges von seiner Haut abgezogen worden. Dann schien die Atmosphäre in ihrer unmittelbaren Umgebung sich zu klären. Peregrine erinnerte sich an den -421-
Augenblick in Helena Pringles Wohnung, als Adam seine Bemühungen mit denen Christopher Houstons vereint hatte, um den Ort von aller Unreinheit zu befreien. Nach einem weiteren Augenblick nach innen gewandten Schweigens straffte McLeod seine Schultern und seufzte. »Das war's«, sagte er ruhig. »Jetzt können die Brüder in Frieden ruhen.« Kapitel 28 Im Edinburgh Royal Infirmary, wo Adam Sinclair schlaflos in seinem Bett lag, war alles ruhig. Nach dem Traum waren seine Nerven gereizt. Es war zehn Uhr geworden, ohne daß McLeod sich gemeldet hatte. Er wußte, er sollte versuchen, etwas Ruhe zu bekommen, aber mit den Schmerzen in seinem Körper und den Sorgen, die sich in seinen Gedanken zusammen brauten, fand er sich nicht in der Lage, mehr als ein paar Minuten hinter einander ruhig zu bleiben. Pflichtgemäß absolvierte er die vertraute Übung, sich für den Schlaf zu sammeln, die sonst immer gelang. Doch schon ein paar Augenblicke später schreckte er wieder aus dem Schlaf hoch, verfolgt von der Lebhaftigkeit des Traums, von dem er zunehmend fürchtete, er sei ein Omen des Desasters gewesen, mit dem McLeod sich jetzt beschäftigte. Gegen elf Uhr verkündete ein kurzer Wirbel von Aktivität den Schichtwechsel der Krankenschwestern. Inzwischen hatte Adam es völlig aufgegeben so zu tun, als versuchte er einzuschlafen. Als die Geschäftigkeit des Wechsels abgeflaut war, wurde die nächtliche Stille auf der Krankenhausetage fast bedrückend. Nach einer weiteren Viertelstunde hielt er die Spannung nicht mehr aus, quälte sich erneut aus dem Bett und zog seinen Krankenhausmorgenmantel über, den er dann flüchtig mit seiner gesunden Hand zusammenhielt, während er zur Tür humpelte und hinausblickte. -422-
Der schwach beleuchtete Korridor war leer. Das Stationszimmer am anderen Ende schien nicht besetzt zu sein. Er konnte gedämpfte Stimmen hören, die aus der Stationstoilette kamen; offensichtlich war auch ein anderer Patient ohne Erlaubnis aufgestanden, und man bemühte sich soeben, ihn wieder in sein Bett zurück zu komplimentieren. Er seufzte innerlich über den Schäferhundinstinkt, der ein eingefleischter Charakterzug aller kompetent ausgebildeten Krankenschwestern zu sein schien, dann schob er sich so still aus seinem Zimmer, wie es seine schmerzenden Muskeln erlaubten und ging auf die Tür des Fernsehzimmers zu, entschlossen, noch die Spätnachrichten mitzubekommen, bevor er entdeckt und wieder in sein Zimmer geschickt werden würde. Um diese Uhrzeit hatte er den Raum ganz für sich allein. Er schaltete die Deckenlampe nicht ein - es wäre sinnlos gewesen, seine Anwesenheit zu verraten -, hinkte steif zum Fernseher hinüber und schaltete ihn ein. Als er zum nächsten Sessel zurückschlurfte, kam der Ton mit dem Vorspann für die Spätnachrichten und die aus dem Off gesprochenen Schlagzeilen für die lokalen und regionalen Nachrichten. Die erste Meldung verkündete eine gräßliche Katastrophe. »Siebzehn Tote und weitere Verletzte beim Einsturz einer Freimaurerloge in Dunfermline nach einer rätselhaften Explosion.« Vor Adams Augen drehte sich alles, während andere, harmlosere Schlagzeilen verschwommen an sein Bewußtsein drangen. Seine Augen wurden von dem sich aufhellenden Schirm angezogen, er tastete nach der Armlehne des Sessels und ließ sich darin nieder, während der Nachrichtensprecher einen detaillierteren Bericht der Tatsachen lieferte. »Siebzehn Menschen starben heute abend und mindestens elf weitere wurden verletzt, als eine außergewöhnliche Explosion das Obergeschoß der Freimaurerloge in Dunfermline zerstörte und den Rest des Gebäudes schwer beschädigte. Der Vorfall, der -423-
zur Zeit von der Polizei untersucht wird, ereignete sich kurz nach acht Uhr. Augenzeugen behaupten, sie hätten einen Blitz oder einen Feuerball in das Dach der Loge einschlagen sehen...« Der Bericht wurde fortgesetzt, begleitet von Aufnahmen, die am Ort des Geschehens gemacht worden waren. Adam verzog das Gesicht, als er das dachlose, schwelende Gebäude sah, dessen zerschmetterte Fenster wie blinde Augen in das geisterhafte Licht der Bergungsflutlichter glotzten. Für ihn gab es keinen Zweifel, daß dies das Ereignis war, das er in seinem Traum gesehen hatte. Als er über den Zeitpunkt nachdachte, erkannte er, daß die beiden Geschehnisse sich gleichzeitig ereignet haben mußten. Die Kamera schwenkte weg vom Ort der Verwüstung und zeigte eine ernste Fernsehreporterin. »Angesichts der kontroversen Berichte der Augenzeugen«, sagte sie, »ist die Aufgabe der Ermittlung der Ursache der Explosion schon von öffentlichen Spekulationen kompliziert worden. Auf die Frage, ob die Polizei den Vorfall als verdächtig behandeln werde oder nicht, sagte Detective Chief Inspector Noel McLeod...« Adam lehnte sich vor, als McLeods vertrautes Gesicht auf dem Schirm erschien. Über eine Wange zog sich ein Aschenstreifen. McLeod sah erschöpft und müde aus und sprach kurz angebunden ins Mikrofon, als wären seine Gedanken zum Teil mit viel wichtigeren Dingen beschäftigt als mit der Befriedigung der Bedürfnisse der Medien. »Ja, es gibt einige Indizien, die darauf hindeuten, daß sich die Ursache der Explosion eher außerhalb als innerhalb des Gebäudes befand«, sagte er der Journalistin, »aber wir haben auch konventionellere Erklärungen wie eine Explosion der Hauptgasleitung noch nicht ausgeschlossen.« »Könnte es sich um eine Terroristenbombe gehandelt haben, Inspector?« fragte ein anderer Reporter aus dem Off. -424-
McLeod richtete müde seinen Blick in die Richtung des Fragestellers. »Im Augenblick haben wir kein Indiz, das eine solche Erklärung unterstützt. Jede Spekulation, die irgend jemand zu diesem Zeitpunkt anstellt, beruht lediglich auf Vermutungen. Offen gesagt sind wir im Augenblick noch am meisten damit beschäftigt sicher zu stellen, daß unter den Trümmern keine Verschütteten mehr liegen.« »Wann erwarten Sie, eine Aussage über die Ursache machen zu können, Inspector?« fragte die erste Reporterin. »Ich versichere Ihnen, sobald wir dazu in der Lage sind, wird sie über die entsprechenden Kanäle kommen und die Medien werden unterrichtet werden«, sagte McLeod geduldig. »Ich muß betonen, daß die Sichtung der forensischen Beweise bei einer Katastrophe dieses Ausmaßes ihre Zeit braucht. Im Augenblick kann ich nicht mehr sagen.« Als er sich abwandte und die Kamera wieder zurück zur Reporterin schwenkte, die noch eine kurze Zusammenfassung gab, überlegte Adam, daß es sich fast um eine Wiederholung des Vorfalls von Calton Hill handelte, diesmal aber mit einem weit größeren Ausmaß an Opfern. Die Meister der Luchse ließen ihre Operationen in einem erschreckenden Tempo eskalieren. Er schaltete den Fernseher aus und starrte blind auf den leeren Schirm, während er die Tragweite dieses neuesten Aktes mutwilliger Zerstörung erwog. Er hatte nicht gemerkt, daß jemand anders den Raum betreten hatte, bis plötzlich die Deckenlampe eingeschaltet wurde und eine weibliche Stimme in einer Mischung aus Sorge und Empörung in sein Nachsinnen drang. »Was sollen wir mit Ihnen machen, Dr. Sinclair? Es ist fast Mitternacht, und da sollen alle guten Patienten im Bett sein!« Adam blinzelte, als er aus der Schwärze seiner Gedanken auftauchte, hob den Blick und begegnete den Augen einer sehr -425-
attraktiven Anklägerin. Diese Krankenschwester hatte er noch nie zuvor gesehen, eine schmächtige junge Rothaarige mit einer Stupsnase, deren Augen eher funkelten, als daß sie einen Ausdruck der Mißbilligung zeigten. Auf ihrem Namensschild stand: /. Broum, staatl. gepr. Krankenschwester. Sie verschränkte die Arme und reckte mitfühlend den Kopf in seine Richtung. »Ich muß sagen, Sie sehen nicht so aus, als gefiele es Ihnen sehr bei uns. Wenn Sie zu große Beschwerden haben, um schlafen zu können, dann hat es keinen Sinn, wenn Sie zu höflich sind, uns das zu sagen. Für Sie ist noch Medizin unterwegs, für den Fall, daß Sie etwas brauchen. Warum gehen Sie nicht wieder in Ihr Zimmer, während ich in der Apotheke anrufe und mich erkundige, warum es so lange dauert?« Adams verrenkte und ermüdete Gelenke schmerzten wie ein schlimmer Zahn. Plötzlich erschien ihm der Gedanke an Schlaf überwältigend verlockend. Aber zuerst mußte er noch eine letzte Aufgabe erfüllen. »Ich komme ruhig mit«, antwortete er der Schwester mit einem gezwungenen Lächeln. »Ich glaube aber, jeder Verhaftete hat einen Telefonanruf frei.« »Um diese Uhrzeit?« »Bitte«, sagte Adam, »es ist sehr wichtig.« Die Schwester warf einen zweiten Blick auf sein Gesicht, dann kapitulierte sie mit einem nachsichtigen Kopfschütteln, wie eine Mutter, die einem eigensinnigen Kind seinen Willen ließ. »Also gut«, sagte sie, »aber nur einen kurzen.« Der Weg vom Fernsehraum zum Stationszimmer schien meilenweit zu sein. Adam stützte sich schwer auf die Theke und wiederholte sein Vorgehen vom Abend vorher, bis es unter McLeods Privatnummer läutete. »Hallo, hier ist noch mal Adam«, sagte er. »Hören Sie, es tut mir leid, daß ich so spät anrufe...« -426-
»Das macht nichts«, erwiderte Jane. »Ich bin noch aufgeblieben für den Fall, daß Noel zufällig anrufen sollte.« »Dann ist er also noch nicht zurück?« »Nein - was wahrscheinlich bedeutet, daß er noch mitten in der Sache oben in Dunfermline steckt.« Sie schwieg kurz, dann fragte sie: »Haben Sie die schottischen Spätnachrichten gesehen?« »Ja, deshalb rufe ich ja noch mal an. Natürlich bin ich entsetzt, aber wenn es für Noel eine lange Nacht wird, dann ist es wohl für alle Beteiligten besser, wenn wir unser Gespräch auf morgen zu einem späteren Zeitpunkt verschieben. Dort, wo er ist, wird er offensichtlich gebraucht. Wir sollten lieber etwas schlafen und uns dann erfrischt an das Problem machen.« »In Ordnung, ich werde es ihm sagen, Adam.« Als er auflegte, öffnete sich zischend die Aufzugstür neben dem Stationszimmer. Heraus kam ein adretter junger Mann in einem weißen Kittel mit der Aufschrift Apotheke. Er trug ein Tablett mit Medikamenten, die in einzelne Verabreichungsumschläge abgepackt waren. Er grüßte die rothaarige Schwester mit einer schwungvollen Geste und setzte das Tablett vor ihr auf dem Tisch ab. »Da siehst du, Jeanne, mein Mädel«, sagte er fröhlich. »Alles da, nichts fehlt.« Jeanne warf einen Blick auf die Uhr an der Wand und schnalzte in gespielter Mißbilligung mit der Zunge. »Du hast dich nicht sonderlich beeilt hierherzukommen, was, Neu Redmond?« bemerkte sie. »Dr. Sinclair war schon nahe dran, sich selbst eine neue Verordnung zu schreiben.« »Heh, schimpf nicht mit mir deswegen«, sagte Redmond mit einem entschuldigenden Blick in Adams Richtung. »Dr. Wemyss hat mir aufgelauert. Er kam hereingestürzt, als ich mich gerade fertigmachte, die Medikamente herauf zubringen.« -427-
»Dr. Wemyss? Was tut denn der hier noch so spät?« »Muß wohl Nachtdienst haben«, erwiderte der Apotheker mit einem Schulterzucken. »Er hatte einen Tick wegen jemandem von der Tagschicht, der seine Verschreibung für einen seiner Patienten falsch gelesen hatte - er zwang mich, das Tablett wieder abzusetzen und in die Apotheke zurückzugehen, um die Aufzeichnungen zu überprüfen. Wenn das nicht dazwischengekommen wäre, wäre ich schon vor zehn Minuten hier gewesen.« »In Ordnung, es sei dir verziehen«, sagte die rothaarige Schwester und zwinkerte. Sie nahm den Umschlag mit Adams Namen darauf und reichte ihn ihm mit einem Lächeln. »Kommen Sie, Dr. Sinclair. Sie haben Ihren Anruf gemacht jetzt ist es Zeit für Ihre Medizin.« Adam blickte kaum auf die zwei gelben Kapseln, die die Schwester ihm aus dem Umschlag auf die Hand kippte. Er schluckte sie brav und legte sich mit einem langgezogenen Seufzer zurück, um darauf zu warten, daß der willkommene Schmerzstiller wirkte. Dabei fingerte er an seinem Ring herum, während er zum letzten Mal seine okkulten Schutzvorkehrungen überprüfte. Sehr bald begannen seine Augenlider zu sinken. Als seine angespannten Muskeln endlich anfingen, sich zu entspannen, gestattete er sich, in den Schlaf der Erschöpfung zu sinken. Lange Zeit war sein Schlaf tief und traumlos, eine stille Reise über ruhige, schweigende, einförmige Meere hinweg, die in gesegnetem Frieden dalagen. Doch nach einiger Zeit begann sich die Stille in Folgen von Bildern aufzulösen. Anfangs betrachtete er die vorüberziehenden Szenen von außen, wie Bilder, die in einer Kunstgalerie ausgestellt waren. Dann dehnte sich eines der Bilder aus und verschlang ihn. Er entdeckte plötzlich, daß er an einem weiteren außerordentlich lebhaften Traum teilnahm. -428-
Nur war er selbst diesmal der Mittelpunkt des Traums. Er lag auf dem Rücken in einem Krankenhausbett, doch die Vorhänge des Bettes waren teilweise zugezogen und verwehrten ihm den Blick auf die Tür und den größten Teil des Zimmers. Die einzige Beleuchtung war der schwache Schimmer eines Nachtlichts aus der Richtung des Korridors. Plötzlich hatte er das Gefühl, er sei auf dieser Traumversion des Krankenhausstockwerks völlig allein. Das Gefühl der Isolierung löste eine unbestimmte Empfindung der Bedrohung aus. Vorsichtig stützte sich sein Traumich auf einem Ellbogen auf und lauschte. Einen Augenblick später hörten seine gespitzten Ohren ein verstohlenes Geschlurfe irgendwo in der Gegend der Tür. Das Geräusch vermittelte ihm den Eindruck einer großen, wilden Kreatur, die im Dunkeln herumtappte. Der Laut und seine Bedeutung ließen Adam erstarren. Glücklicherweise war sein Traumich nicht von den Verletzungen behindert, die seinen physischen Körper beeinträchtigten - allerdings schien sein Denken etwas schwerfälliger zu sein, als er es von Traumaktivitäten sonst gewohnt war. Mit einer sehr leisen Bewegung erhob er sich in eine aufrechtsitzende Haltung. Sein Ring steckte an der rechten Hand, der Stein war nach innen gedreht, er drehte ihn mit dem Daumen und sah das Aufblitzen des Steins als ein klares blaues Leuchtfeuer von Mehr als-Licht. Das undeutliche Schlurfen wich einem verstohlenen Kriechen und Schnüffeln, direkt auf der anderen Seite des Vorhangs der, wie Adam plötzlich erkannte, die visuelle Manifestation der Schutzvorkehrungen darstellte, die er getroffen hatte. Und was immer sich ihm da näherte, es arbeitete sich unerbittlich auf den Ort zu, wo er verborgen war. Etwas streifte den Vorhang auf der rechten Seite des Bettes. Instinktiv warf Adam die rechte Hand hoch und zeichnete in der Luft zwischen sich und dem unsichtbaren Ding, das auf ihn -429-
zukroch, ein Symbol der Macht. Als Reaktion darauf wurde der Schutzzauber stimuliert und der Vorhang schien halb durchsichtig. Mit dem gleichen Herzschlag verschmolzen die Schatten an der Bettseite plötzlich zu einer drohenden bestialischen Präsenz direkt auf der anderen Seite, die ganz aus Zähnen, Augen und Finsternis bestand. Mit einem geifernden Zischen warf sie sich auf das Bett. Die Schutzwand blitzte in der Dunkelheit mit einem Wirbel blauer Funken auf. Einen Augenblick lang zeichnete sich die Silhouette der Kreatur im Licht des Energiegitters als riesiges schlurfendes Katzenwesen ab, dessen mit Reißzähnen bewehrter Rachen drohend aufgerissen war. Dann stieß es einen durchdringend schrillen Schmerzensschrei aus und sprang zurück. Der Rückprall der gegensätzlichen Kräfte ließ die Schutzwand flackern. Eines der Grenzzeichen waberte und erlosch. Außerhalb des zusammenfallenden Schutzkreises der Macht wirbelte der Schatten herum und kauerte sich zu einem neuen Sprung zusammen. Adam wußte, was er tun sollte, doch sein Wille schien in Sirup versunken zu sein. Bevor er noch eine neue Verteidigung aufrichten konnte, stürzte sich die Kreatur erneut auf seinen Hals, durch die durchbrochene Schutzmauer hindurch! Der Aufprall warf ihn wieder flach auf den Rücken und hatte genügend Wucht, ihm die Luft aus den Lungen zu pressen. Als er um Atem rang und das Wesen abzuwehren versuchte, schien sich der Schatten auszubreiten und ihn unter einer erstickenden Masse von Finsternis zu erdrücken. Es war, als würde er mit einer bleigefüllten Steppdecke zugedeckt, einem erstickenden Gewicht. Stöhnend vor Anstrengung verlagerte Adam seinen Körper mit großer Mühe, und es gelang ihm irgendwie, sich auf die Seite zu rollen. Prompt verteilte sich das Gewicht der Finsternis aufs neue und drückte jetzt von drei Seiten statt nur von einer gierig auf ihn ein. -430-
Der Puls pochte in seinen Ohren, sein Blick begann zu verschwimmen, und er wußte, daß er nicht viel Zeit hatte. Er spürte, wie seine Kräfte nachließen und wie das Böse nach den Grenzen seiner Seele griff, als die Bestie seinen nachlassenden Abwehrzauber auf die Probe stellte. Verzweifelt suchte er nach dem Ursprung des Angriffs hinter der Finsternis, und schließlich wurde er sich undeutlich einer menschlichen Gegenwart bewußt, die das dunkle Tier von außen lenkte und steuerte. Dieses Wissen half ihm sich zu konzentrieren, so daß es ihm gelang, durch Hin- und Herbewegung seiner Schultern die Hände lange genug zusammenzubringen, um eine knappe befehlende Geste auszuführen. Mit dem letzten Rest Luft, der noch in seinen Lungen war, schrie er das WORT hinaus, über das er in der Welt des Unsichtbaren gebot. Der schwarze Druck des Traums barst in einem plötzlichen flammenden Strahlen. Die Explosion streifte den Schatten ab und schleuderte Adam rückwärts durch Wirbel von Licht, die so hell waren, daß er die Augen schließen mußte, wenn er nicht geblendet werden wollte. Die schwindlige Empfindung des freien Falls endete schließlich mit einem verwirrenden Ruck, der endlich die Rückkehr seiner Seele in den Körper anzeigte. Als er die Augen öffnete und um Luft rang, sah er um sich herum aufs neue die saubere, kahle Umgebung eines Krankenhauszimmers. Seine Brust schmerzte, sein Herz raste. Er stützte sich auf die Ellbogen auf und stöhnte laut, als ein heftig stechender Schmerz von seiner gestauchten Schulter entlang der rechten Seite seines Körpers hinabschoß. Schwach und schwindlig fiel er zurück. Er fühlte sich so mit genommen und außer Atem, als wäre der Kampf, den er gerade überlebt hatte, eher körperlicher als seelischer Natur gewesen. Er holte tief Luft, um sich fester in der materiellen Welt zu erden, dann rollte er sich qualvoll auf die linke Seite und stemmte sich in Sitzstellung hoch, ohne seine verletzte Schulter zu belasten. Mit immer noch pochendem Herzen warf er einen -431-
benommenen Blick durch den Raum und versteifte sich, als er einen unregelmäßigen dunklen Fleck unter dem Stuhl neben dem Bett entdeckte. Er war zu dunkel und sah zu solide aus, um nur ein Schatten zu sein. Vor Erschöpfung zitternd zeichnete Adam ein bannendes Zeichen in die Luft und kanalisierte die Energie der Geste mit einer werfenden Bewegung seiner Hand. Der Schmerz, den diese Bewegung ihn kostete, ließ ihn keuchen. Aber der Schatten kräuselte sich und rollte sich zusammen, zappelte wie ein Wurm auf einem heißen Backblech, schrumpfte zusammen und verschwand schließlich in einem Wölkchen dünnen schwarzen Rauchs. Der psychische Nachhall war wie ein kalter Hauch von Aas. Mit einer Grimasse des Abscheus zuckte Adam zurück und sammelte die Reste seiner noch verbliebenen Energie, um wieder die spirituellen Schutzwände zu erneuern, die er schon zuvor um das Bett errichtet hatte. Als er fertig war, war Adam der Ohnmacht nahe. Schwer atmend legte er sich auf sein Kissen zurück und versuchte seinen Geist ausreichend zu klären, um denken zu können. Ein Teil von ihm wollte unbedingt wieder schlafen, aber er wußte, daß er es nicht wagte, diesem Wunsch nachzugeben. Seine Gedanken schienen schwerfällig und seltsam unzusammenhängend, als stünde er unter Drogen. Das ist nicht in Ordnung, dachte er verschwommen. Mefenaminsäure sollte nicht so wirken. Die ersten zwei Dosen hatten nicht diese Wirkung auf mich. Ist es möglich, daß Dr. Lockhart meine Medikation geändert hat? Bestimmt nicht! erwiderte ein anderer Teil seines Ichs ungehalten. Aber schuld an dem Vorgefallenen mußte das Medikament sein, das er kurz nach Mitternacht eingenommen hatte - nicht der erwartete Schmerzstiller und Entzündungshemmer, sondern ein starkes Sedativ. Die gelben Kapseln hatten genauso -432-
ausgesehen wie die, die er zuvor genommen hatte, aber er hatte nicht wirklich so sehr achtgegeben. Ein Frösteln lief ihm über das Rückgrat, als er erkannte, daß er leicht hätte tot sein können - eher von einer anderen Droge als von der okkulten Attacke, die sein verletzbarer Zustand erleichtert hatte. Daß er nicht an einer Droge gestorben war, bewies nur die äußerste Arroganz desjenigen, der für den Angriff verantwortlich war - oder vielleicht die verständliche Abneigung der Gegner, seinen Tod als Mord untersucht zu sehen. Daher die okkulte Attacke. Sie deutete auch darauf hin, daß die Luchse nicht nur bei den Gesetzeshütern, sondern auch in medizinischen Kreisen einen Agenten hatten. Nun, da Adam die Gefahr kannte, in der er schwebte, hatte er nicht vor, noch einmal zu schlafen, bis er sich wieder in der sicheren Umgebung von Strathmourne befand. Stöhnend vor Schmerz rollte er sich auf die andere Seite und drückte den Knopf des Schwesternrufs. Kurz darauf ging die Tür auf, und die hübsche rothaarige Krankenschwester steckte ihren Kopf zur Tür herein. »Was kann ich für Sie tun, Dr. Sinclair?« fragte sie besorgt. »Was ist los? Können Sie nicht schlafen?« »Wie spät ist es?« fragte er. »Erst fünf.« »Dann gibt es etwas, was Sie für mich tun können«, sagte er mühsam. »Ich hätte gern, daß Sie mir helfen, zu einem Telefon zu gehen. Und sobald ich mit meiner Familie gesprochen und den Transport geregelt habe, beabsichtige ich mich zu entlassen.« Philippa Sinclair war schon wach, als sie irgendwo tief im Inneren des Hauses das Telefon läuten hörte. Der Ton hatte etwas Rufendes. Sie glitt aus dem Bett und faßte nach ihrem gesteppten Satinmorgenmantel. Ein Augenblick später klingelte das Haustelefon auf ihrem Nachttisch. Sie setzte sich wieder auf -433-
den Bettrand und nahm ab. »Ja, Humphrey, was gibt's?« fragte sie ruhig. »Sir Adam ist am Apparat, Mylady. Er ruft vom Krankenhaus aus an.« »Wirklich?« sagte sie. »Dann stellen Sie ihn am besten sofort durch.« »Sofort, Mylady.« Es klickte ein paarmal, während Humphrey den Anruf umleitete, dann meldete sich Adams vertraute Stimme, zittrig und rauh vor Anstrengung und Schmerz. »Hallo, Philippa. Tut mir leid, daß ich so früh anrufe. Vermutlich habe ich dich aufgeweckt.« »Nein, ich war schon wach«, erwiderte Philippa. »Was ist los?« »Ich - äh - glaube, ich sollte nicht mehr Zeit im Krankenhaus verbringen, als unumgänglich ist«, sagte er schwach. »Ich habe Humphrey gebeten zu kommen und mich zu holen.« Die Worte selbst klangen sachlich genug, aber da war noch ein ominöser Unterton. »Adam, bist du okay?« fragte sie. »Jetzt schon«, erwiderte er. »Schick einfach Humphrey. Kein Grund zur Sorge.« »Ich verstehe«, sagte sie. »Tja, so früh wird nicht viel Verkehr sein. Möchtest du, daß ich auch komme?« »Nein, es geht schon. Ich sehe dich in ein paar Stunden.« Humphrey traf kurz nach sechs im Krankenhaus ein und brachte einen kompletten Satz frischer Kleidung mit. Inzwischen war Adam nach Einnahme einiger Tassen Kaffee zu dem Schluß gekommen, daß er die schlimmsten Auswirkungen des Beruhigungsmittels überstanden hatte, aber die Mühe des Anziehens, selbst mit Humphreys Hilfe, strengte ihn mehr an, -434-
als er sich gewünscht hätte. Nachdem er den notwendigen Papierkram erledigt hatte, um entlassen zu werden, hatte er nichts dagegen, in einem Rollstuhl zum wartenden Bentley gebracht zu werden. Als er auf dem Rücksitz untergebracht war und sie sich auf dem Weg nach Hause befanden, gestattete er sich ein wenig entspannter zu atmen. Aber als er auf Humphreys besorgte Fragen bezüglich des Unfalls antwortete, begann er wieder über diesen Aspekt seiner letzten vierundzwanzig Stunden nach zudenken - nicht über die Wirkung, sondern über den Grund. »Humphrey, ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich bin wirklich geschlaucht«, sagte er und versuchte, eine bequemere Stellung zu finden. »Ich werde versuchen, ein Nickerchen zu machen.« »Natürlich, Sir.« Aber während Humphrey weiter auf Strathmourne und damit auf größere Sicherheit zufuhr, ging Adam in Gedanken zu dem Unfall selbst zurück. Sogar McLeod hatte von Anfang an die Sorge ausgedrückt, daß es überhaupt kein Unfall gewesen sein könnte - was Adam, noch im Schock befindlich, mit einem nur beiläufigen Gedanken abgetan hatte. Jetzt dachte er zu wissen, wie es vielleicht arrangiert worden war - und von wem. Er erinnerte sich an das Motorrad, das schnell links von ihm herangekommen war - und genau zu dem Zeitpunkt, als der Reifen platzte, weiter vorangeschossen war. Er bezweifelte, daß man es jemals würde beweisen können, aber er war zu jeder Wette bereit, daß es sich bei dem Objekt, auf das sein Reifen ›gestoßen‹ war, wahrscheinlich um eine Kugel handelte, die genau dieser Motorradfahrer abgefeuert hatte, dessen Glück beim Vermeiden des Unfalls Adam selbst dann noch aufgefallen war, als er um die Kontrolle über das Auto gekämpft hatte. Und das rechtzeitige Eintreffen seiner ›guten Samariterin‹ auch das mußte ein Teil des Plans gewesen sein, um sicher zu -435-
stellen, daß er, wenn er den Unfall denn überlebte, im richtigen Krankenhaus landen würde, damit dann ein anderer aus dem ›Mordkommando‹ sicherstellen konnte, daß er das nicht überlebte. »Ich denke, du hast wahrscheinlich recht«, sagte Philippa, als er beim Frühstück im Morgenzimmer noch einmal alles durchgegangen war. »Ich muß sagen, es war alles sehr schlau geplant. Wenn du als Fahrer ein bißchen weniger geschickt gewesen wärest, dann wäre die Sache vielleicht ganz anders ausgegangen.« »Wenn ich ein bißchen mehr auf der Hut gewesen wäre, dann wäre die ganze Sache vielleicht überhaupt nicht passiert«, sagte Adam mit einem finsteren Blick, während er mit der linken Hand in seiner Tasse rührte. »Und jetzt bist du dir selber gegen über unvernünftig streng«, erwiderte sie. »Wenn das ›Attentat‹ wirklich so eingefädelt war, wie du geschildert hast, dann gab es da nicht viel, was du hättest tun können, um es zu verhindern. Und nachdem du den Unfall selbst überlebt hattest, hast du die Dinge ganz gut gehandhabt, besonders in Anbetracht der Tatsache, daß du dich in einem Schockzustand befandst. Du hast offensichtlich sehr früh gespürt, daß etwas nicht in Ordnung war, sonst hättest du dich nicht geweigert, dir Blut abnehmen zu lassen.« »Das scheint keinen großen Unterschied bedeutet zu haben«, sagte Adam säuerlich und schob seine Tasse beiseite. »Offensichtlich ist es ihnen gelungen, etwas anderes zu bekommen, das sie als physische Verbindung verwenden konnten - wahrscheinlich die blutigen Tupfer, die übrigblieben, nachdem mein Kopf genäht worden war. Und nein, ich glaube nicht, daß Dr. Lockhart etwas damit zu tun hatte.« Philippa zuckte mit den Achseln, als meinte sie: Das wollte ich ja keineswegs sagen, und Adam fuhr mit Unbehagen fort: »Es ist ihnen auch gelungen, an meiner Medikation -436-
herumzupfuschen - was wirklich beunruhigend ist, wenn ich nicht weiß, was ich eingenommen habe.« Philippa lächelte dünn. »Das können wir wahrscheinlich herausfinden, wenn es dich beunruhigt. Was immer es war, du hast offensichtlich schon die Spitzenwirkung hinter dir, aber es dürfte noch genügend in deinem Körper sein, daß es in einem Drogenprofil auftauchen müßte. Möchtest du, daß ich dir eine Blutprobe nehme und Humphrey sie nach Jordanburn hinunterbringt?« Er lachte bitter und stützte den Kopf auf die linke Hand, wobei er sacht an seinem Verband herumfingerte. »Das wäre keine schlechte Idee - obwohl ich aufgrund meiner Reaktion vermute, daß es sich einfach nur um irgendein Sedativ gehandelt hat. Nichts, was ich bemerken würde, als ich in den Schlaf fiel nicht nach dem Tag, den ich hinter mir hatte -, aber genug um meinen Widerstand zu schwächen, besonders, wenn es langsam wirkte, etwas, das seine Spitzenwirkung erst drei oder vier Stunden nach der Einnahme erreicht haben würde. So hätte ich es gemacht.« Er gähnte und seufzte. »Und wenn mein Angreifer Erfolg gehabt hätte, wäre mein Tod einer Gehirnblutung oder irgend etwas Ähnlichem zugeschrieben worden einer Folge der Verletzungen, die ich bei dem Autounfall erlitten hatte. Unter den Umständen hätte ein wenig Valium oder Librium in meinem Blut nicht einmal ein Stirnrunzeln ausgelöst.« »Ich glaube, ich hätte gern ein Drogenprofil von dir, Adam«, sagte Philippa und legte ihre Serviette beiseite. »Und ich glaube, ich hätte gern, daß du dich hinlegst und einmal richtig schläfst. Mir gefällt auch der Gedanke nicht, daß die Loge der Luchse Blutproben von dir besitzt. Mir stellt sich da die Frage, was sie wohl in der Hinterhand haben, um eine zweite Attacke zu versuchen, falls die erste gescheitert ist.« »Hier kommen sie nicht an mich heran, Philippa«, sagte er -437-
ruhig. »Das weiß ich. Aber schließlich mußt du ja hinausgehen.« »Das stimmt. Ich habe ja Verpflichtungen.« »Das weiß ich auch«, räumte Philippa ein, »aber ich möchte auch nicht, daß du unnötige Risiken eingehst. Versprich mir, daß du dich die nächsten paar Tage versteckt hältst - zumindest bis du eine Chance gehabt hast, dich ein wenig zu erholen. Beim besten Willen der Welt«, fügte sie nüchtern hinzu, »kannst du nicht gut Übeltäter jagen, wenn dein Arm in einer Schlinge steckt und deine Rippen jedesmal quietschen, wenn du atmest.« »Keine sonderlich heroische Vorstellung, was?« bemerkte Adam und lächelte, als ihm Dr. Lockharts Bemerkung über die ›edle Stirn‹ einfiel. »Ich kann keine Wunder versprechen, aber ich gebe dir mein Wort, daß ich nichts tun werde, was nach Tollkühnheit riecht.« »Das muß vermutlich reichen«, sagte Philippa seufzend. »Wenn du mit deinem Frühstück ganz fertig bist, kannst du ja deine vom gesunden Menschenverstand geregelte Lebensweise damit beginnen, daß du dich ins Bett begibst. In ein paar Minuten bin ich dann oben und nehme dir diese Blutprobe ab.« Kapitel 29 Kurz vor fünf Uhr abends wachte Adam auf. Ihm tat immer noch jeder Muskel weh, doch die Kopfschmerzen schienen fast verschwunden, und sein Kopf war wieder klar. Er überlegte noch, ob er über die Kraft verfügte, aufzustehen und ins Erdgeschoß zu gehen, als Humphrey mit dem Abendessen auf einem Tablett hereinkam. »Ah, Sie sind wach, Sir!« rief der Butler aus. »Ihre Ladyschaft sagte, ich solle Sie nicht länger als bis fünf schlafen lassen. Ich werde gehen und ihr sagen, daß Sie schon auf sind.« Adam hätte seinen Zustand kaum mit ›auf sein‹ bezeichnet, -438-
doch während Humphrey unterwegs war, gelang ihm ein wackliger Ausflug ins Badezimmer, und als Philippa kam, hatte er sich steif in einem Polstersessel am Tisch neben dem Fenster niedergelassen. »Na, wie fühlst du dich?« fragte sie, als sie beobachtete, wie er untersuchte, was sich unter der Serviette befand, die das Tablett mit dem Abendessen abdeckte. »Wie wenn mich ein Lastwagen angefahren hätte«, erwiderte er mit einem Grinsen. »Ihr hättet mich nicht so lange schlafen lassen sollen.« »Du hattest es nötig«, sagte sie. »Und ich möchte, daß du ziemlich schnell wieder ins Bett gehst, sobald du die Gelegenheit hattest, etwas zu dir zu nehmen.« Sie legte ein schmales, bernsteinfarbenes Plastikfläschchen mit gelben Kapseln neben das Tablett. »Das hier hättest du einnehmen sollen, und ich würde es immer noch empfehlen«, sagte sie. »Was du bekommen hast, in den Pillen, die du gegen Mitternacht einnahmst, war eine Dosis Valium, die ungefähr der Menge entspricht, die als vorbereitende Medikation bei einer größeren Operation verabreicht wird, aber in einer Langzeitform, die dich etwa vier Stunden später umgeworfen hätte. Auf jeden Fall sagt das Labor, daß das alles war. Du hattest großes Glück, oder dein Möchtegern-Mörder war sehr vorsichtig.« Adam blickte auf das vertraute Apothekenetikett des Royal Edinburgh Hospital auf dem Fläschchen, dann zog er mit einer Hand die Verschlußkappe ab und ließ zwei Kapseln herausfallen, die er mit Orangensaft von seinem Tablett einnahm. Das ›Abendessen‹ bestand genaugenommen aus Rührei, gegrillten Tomaten und Pilzen, dazu Toast und Brötchen. Er nahm mit der linken Hand unbeholfen die Gabel und schaute Philippa an. »Also, dann informiere mich mal darüber, was sonst noch -439-
geschah, während ich den Tag verschlafen habe«, sagte er und begann zu essen. »Nun, Noel und Peregrine haben beide angerufen und vorbeigeschaut. Sie kommen morgen wieder, nach dem Sonntagsbrunch. Und das hier haben sie gestern abend in Dunfermline in den Trümmern gefunden.« Aus einer Tasche ihren malvenfarbenen Strickjacke holte sie ein kleines Bündel heraus, das zuerst in einen ihrer Seidenschals und dann in zwei verschiedene Taschentücher eingewickelt war. Adam bemerkte, daß Philippa ihren Skarabäusring trug. Als sie die Umhüllung öffnete, legte er seine Gabel nieder. In die Stofffalten geschmiegt lag da eine geschwärzte Metallscheibe von etwa fünf Zentimeter Durchmesser. »Faß es ja nicht an«, sagte sie, als er sich dichter darüber beugte, um das Ding besser sehen zu können. »Jetzt ist es natürlich gebändigt, aber es enthält noch eine große Menge nachwirkender Energie. Morgen kannst du damit spielen. Zuerst dachte ich, es sei Silber, aber tatsächlich scheint es sich um Eisen oder Stahl zwischen zwei Schichten Silber zu handeln. Noel und ich haben es mit einem Magneten überprüft, und es enthält eindeutig Eisen - was mit dem übereinstimmt, was Donald Cochrane oben in Balmoral gefunden hat.« »Hat er eines von diesen Dingern dort oben gefunden?« fragte Adam. »Na ja, was halt von einem noch übrig war«, erwiderte Philippa. »Wichtig ist, daß wir jetzt ein Luchsmedaillon in unserem Besitz haben - und eine eindeutige Verbindung zwischen dem Blitzschlag von Baimoral und den beiden von Calton Hill und Dunfermline. Ich würde sagen, Baimoral ist wahrscheinlich ein Probelauf gewesen, um zu sehen, ob sie wirklich den Blitz beherrschen könnten - was sie offensichtlich können. Iß jetzt dein Abendessen, mein Lieber, sonst wird es noch kalt.« -440-
Während sie die Überreste des Medaillons wieder einwickelte, setzte Adam automatisch seine Mahlzeit fort, doch die Gedanken überschlugen sich wild in seinem Kopf angesichts der Bedeutung der Entdeckung. Ein paar Minuten später schaltete Philippa den tragbaren Fernseher für die Abendnachrichten ein. Die internationalen Meldungen befaßten sich vor allem mit der sich verschlechternden Lage am Persischen Golf, aber die schottischen Nachrichten widmeten einige Sendeminuten dem neuesten Stand der Ermittlungen über das - wie es hieß - ›Dunfermline-Desaster‹. Es gab einige kurze Interviews, deren Tenor vom Gemäßigten bis zum Extremen reichte. Ein Sprecher der Polizei in Dunfermline erklärte, da man an den Trümmern keine chemischen Spuren von Explosionsstoffen gefunden habe, behandle man den Vorfall als Naturkatastrophe. Ein lokaler Umweltschützer bekannte, er glaube, der Vorfall sei von natürlichen Kräften verursacht worden, doch dann gab er noch zu bedenken, es sei vielleicht an der Zeit, daß das Land strengere Maßnahmen zur Reinhaltung der Umwelt unternähme, bevor die Natur völlig aus dem Gleichgewicht geriete. Das letzte Interview wurde mit einem Kriminalbeamten namens Napier geführt, der gerade dienstfrei hatte und den man aufforderte, einen Kommentar zu den offensichtlichen Ähnlichkeiten zwischen diesem Vorfall und dem, der sich vor einer Woche am Calton Hill in Edinburgh zugetragen hatte. Nach Adams Auffassung war seine Antwort viel unfairer als die der anderen, da sie in Begriffe gekleidet war, die Uneingeweihte für vernünftig halten würden. »Ich kann nicht sagen, daß ich jemals sonderlich an göttliche Vergeltung geglaubt habe«, sagte Napier mit einem sarkastischen Lächeln, »aber selbst ich kann die Tatsache nicht übersehen, daß diese jüngsten Blitzschläge anscheinend beide insbesondere gegen Mitglieder des Ordens der Freimaurer gerichtet waren. Wenn ich ein religiöser Mensch wäre, wäre ich -441-
versucht zu sagen, sie müßten etwas getan haben, das ihnen den Zorn Gottes eingebracht hat. Vielleicht sollten wir uns fragen, was sie im Schilde führen, und einmal einen ernsthaften Blick in ihre sogenannten geheimen Dinge werfen.« Seine Erklärung war der letzte Teil der Nachrichtensendung. Adams Müdigkeit hatte sich beim Zuschauen zunehmend in Unwillen verwandelt, und er blickte finster drein, als Philippa den Fernseher ausschaltete. »Soweit es die Freimaurer betrifft, war das die denkbar vernichtendste Erklärung, die man hätte abgeben können«, sagte er ausdruckslos und schob sein Tablett beiseite. Philippa nickte. »Man könnte fast meinen, irgend jemand wolle eine moderne Hexenjagd in Gang setzen. Ich frage mich«, fuhr sie nachdenklich fort, »ob Noel mit diesem Napier irgendwie bekannt ist.« »Ich glaube, ich werde ihn mal anrufen«, sagte Adam. »Abgesehen davon, daß ich mich melde, um ihm zu versichern, daß ich okay bin, möchte ich ihn bitten zu schauen, was er über diesen ziemlich unangenehmen Inspector Napier herausbringen kann.« Er sprach kurz sowohl mit McLeod wie auch mit Peregrine, bevor er wieder ins Bett ging. In dieser Nacht war sein Schlaf traumlos, aber nicht völlig ruhig. Die ganze Nacht hindurch spürte er etwas wie ein wildes Tier, das ruhelos um die Grenzen des Anwesens schlich und wiederholt dessen Verteidigung auf die Probe stellte, indem es versuchte, einen Weg hinein zu finden. Doch als Adam Philippa versichert hatte, daß ihn hier nichts erreichen konnte, hatte er nichts anderes als die Wahrheit gesagt. Gegen unerwünschte astrale Eindringlinge war Strathmourne gut gesichert. Der Sonntag dämmerte frostig und hell herauf. Adam erwachte beim Klang ferner Kirchenglocken, körperlich noch steifer als am Tag zuvor, doch seine mentalen Fähigkeiten -442-
waren zum größten Teil wiederhergestellt. Eine lange, heiße Dusche trug viel dazu bei, die Schmerzen zu lindern; und daß er sich für den Sonntagsbrunch mit Philippa und Mrs. Talbot geziemend kleidete, in graue Flanellhosen und einen marineblauen Blazer statt in einen Morgenmantel, verbesserte seine Stimmung, obwohl es viel körperliche Anstrengung erforderte und er sich von Humphrey helfen lassen mußte. Seine Armschlinge aus Segeltuch und Nylon trug zwar wenig zur modischen Erscheinung bei, aber ihre Unterstützung verringerte die Beanspruchung seiner Schulter beträchtlich, und deshalb trug er sie. Nach dem Brunch schaute er bei Gillian vorbei und blieb eine halbe Stunde an ihrem Bett sitzen, während ihre Mutter ihr vorlas. Er dachte an die zerrüttete Seele, die in diesem zerbrechlichen, ausgezehrten Körper gefangen war, und hoffte, daß die körperliche Nähe ihm eine neue Inspiration für ihre Behandlung geben würde. Genau um zwei Uhr traf Peregrine ein, kurz darauf McLeod, der das Dossier über den Vorfall von Balmoral mitbrachte. Humphrey geleitete die beiden in die Bibliothek, wo Adam es sich schon in seinem Lieblingssessel neben dem Feuer gemütlich gemacht und die Beine auf einem Fußschemel ausgestreckt hatte. Philippa blieb im Obergeschoß zu einer ihrer täglichen Sitzungen der Berührungstherapie mit Gillian. »Ich vermute, Philippa hat Ihnen schon erzählt, daß Donald Erfolg gehabt hat«, sagte McLeod, öffnete den Ordner auf seinem Schoß und blätterte einige Dokumente durch, offensichtlich suchte er ein ganz bestimmtes. »Er ist allerdings ein cooler Junge. Er hat kein Wort über die ganze OrigamiEpisode verloren und keinen falschen Schritt in dieser Sache getan - obwohl ich weiß, daß er fast platzen muß, mich danach zu fragen. Sobald sich der Staub gelegt hat, werden wir ernsthaft darüber nachdenken müssen, ob er ein bißchen eingeweiht werden sollte - und sehen, wie er reagiert.« Er fand, was er suchte, blätterte eine Seite zurück und reichte -443-
sie Adam, während Peregrine schweigend zusah. »Das hier ist wichtig«, sagte McLeod. »Das übrige sind zum größten Teil die offiziellen Berichte - die Aussagen der Augenzeugen des Vorfalls, die forensischen Berichte, zusammengestellt von den Ermittlern des Sprengstoffkommandos, und die Erklärungen der verschiedenen Versicherungsgutachter, die den Schaden am Gebäude geschätzt haben. Es gibt auch Fotos, aber sie sagen Ihnen nicht viel. Ich habe alles mitgebracht, damit Sie das komplette Dossier zur Verfügung haben, falls Sie es später lesen wollen, aber Donald trifft den Nagel auf den Kopf, glaube ich.« Ich weiß nicht, ob dies von Bedeutung ist, hatte Donald in seinem persönlichen Bericht an McLeod mit der Hand geschrieben, aber als ich in dem Schutt am Sockel des Turmes herumkletterte, sehr nahe beim ›Bodennullpunkt‹ , wo der Blitz eingeschlagen sein muß, bemerkte ich ein metallisches Objekt, das zwischen zweien der Steine an dieser Ecke festgeklemmt war. Ein Teil davon war geschmolzen und an dem unteren Stein herabgelaufen. Es sah aus, als handelte es sich um geschmolzenes Zinn oder Silber. Ich versuchte mit meinem Taschenmesser herauszustochern, was übrig war, aber es war in den Spalt geschmolzen. Ich bemerkte jedoch, daß es - was immer es sein mochte - stark magnetisiert war. (Es zog meine Messerklinge an, die NICHT magnetisiert ist.) Mir kam der Gedanke, ob nicht dieses Objekt den Blitz angezogen haben könnte. »Er konnte keine Probe davon bekommen?« fragte Adam und blickte auf. »Nein, er sagte, es sei praktisch in den Stein geschweißt gewesen - was man erwarten dürfte, nachdem es von einem Blitz getroffen worden war. Außerdem waren ein paar Soldaten bei ihm, die ihn auf dem Gelände herumführten, und er wollte keine schwierigen Fragen gestellt bekommen.« -444-
»Nein, er hatte vollkommen recht«, stimmte ihm Adam zu. »Und Philippa sagt mir, daß das Medaillon von Dunfermline sich ebenfalls als stark magnetisch erweist.« McLeod nickte, doch Peregrine sah zunehmend beunruhigt aus. »Adam, das ergibt keinen Sinn. Ich kann die Indizien nicht ableugnen - aber warum Balmoral? Das paßt doch nicht ins Muster.« »Nein, das Muster kommt später«, erwiderte Adam. »Philippa äußerte gestern abend den Gedanken - und ich denke, sie dürfte recht haben -, daß der Blitzschlag von Balmoral wahrscheinlich ein Probelauf war, um zu sehen, ob sie es schaffen würden. Oder vielleicht war es eine Demonstration ihrer Autorität - eine Kraftprobe, wenn Sie wollen. Als sie erfolgreich verlief, waren die dafür Verantwortlichen bereit, zu ihrem nächsten Angriffsziel überzugehen.« »Aye, zur systematischen Ermordung verschiedener Freimaurer«, bemerkte McLeod bitter. »Ja, aber ich komme nicht umhin mich zu fragen, ob da nicht ein finsterer Zweck dahinter steckt«, erwiderte Adam. »Wenn man lediglich Menschen umbringen will, dann macht man sich nicht die Mühe und den zweifellos - okkulten Aufwand, sie mit natürlichen Blitzen zu erschlagen. Obwohl ich mir sicher bin, daß die meisten Menschen es sich in Augenblicken der Wut schon gewünscht haben, der Blitz möge einen lästigen Gegner treffen. Schußwaffen und Bomben und dergleichen sind weit wirksamer. Doch die Tatsache, daß unsere Gegner sich tatsächlich eine so beträchtliche Mühe und einen solchen Aufwand machen, zeigt, daß ihr grundlegendes Motiv weit über einen bloßen Groll gegen über den Freimaurern hinausgeht. Und damit wird es nur um so wichtiger herauszufinden, wer sie sind und was ihr endgültiges Ziel ist, bevor es zu spät ist. Glücklicherweise haben wir jetzt -445-
eines ihrer Medaillons in der Hand - und das ist vielleicht der Durchbruch, auf den wir gewartet haben. Peregrine, haben Sie irgend welche weiteren Pläne für heute nachmittag?« Peregrine lehnte sich eifrig vor. »Überhaupt nichts. Ich habe mich bereitgemacht, für den Fall, daß Sie mich brauchten.« »Gut. Dann brauche ich Sie, damit Sie losziehen und mir einige Landkarten besorgen«, sagte Adam. »Ich möchte Generalstabskarten haben - die größten und detailliertesten, die Sie finden können, und die ganz Schottland umfassen.« Peregrine stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich weiß, welche Sie meinen, aber um einen kompletten Satz zu bekommen, werde ich wohl bis Edinburgh fahren müssen, besonders an einem Sonntag.« »Dann sollten Sie sich lieber schon auf den Weg machen, bevor die Läden schließen. Also fort mit Ihnen!« Als der Künstler weg war, seufzte Adam, rutschte in seinem Sessel unbehaglich hin und her und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf McLeod. »Also, wie steht es mit diesem Inspector Napier, der so erpicht darauf scheint, Ihren freimaurerischen Mitbrüdern Schwierigkeiten zu bereiten.« McLeod schnaubte. »Eine gute Frage. Ich weiß nicht, wie der Mann zu dieser Marotte gekommen ist, aber ich habe mir gestern abend nach Ihrem Anruf extra noch die Spätnachrichten angeschaut. Der Mann hat natürlich das Recht auf seine Meinung, aber Leute seiner beruflichen Stellung sind im allgemeinen so taktvoll und behalten solche Ansichten für sich.« »Aye, es gibt ein paar Sachen, die er hätte sagen können und die noch schädlicher gewesen wären«, sagte Adam. »Was einen überlegen läßt, ob das nicht eine absichtliche Taktlosigkeit war, gezielt, um Öl ins Feuer zu gießen. Was haben Sie über ihn heraus gefunden?« -446-
McLeod zuckte mit den Achseln. »Nichts sonderlich Auffälliges, fürchte ich. Ich habe heute morgen im Büro vorbeigeschaut und mir seine Personalakte herausgeholt. Sein psychologisches Profil stellt ihn ein bißchen als Arbeitstier dar. Sie kennen den Typ - jemand, der eher durch harte Arbeit vorankommt als durch fachliche Brillanz. Aber er hat auch sein Teil Ehrgeiz. Seine Akten zeigen, daß er die letzten zehn Jahre in der Abteilung damit zugebracht hat, sich methodisch seinen Weg die Karriereleiter hinauf zu rackern, bis wir ihn dort finden, wo er heute ist.« »Also würden Sie sagen, es gibt nicht Ungewöhnliches an ihm?« »Überhaupt nichts. Genaugenommen ist er so normal zumindest auf dem Papier -, daß das in sich selbst fast merkwürdig ist. Er ist in jeder Hinsicht ein bißchen ein Einzelgänger nicht verheiratet, keine engen Familienbindungen. Nicht besonders beliebt bei seinen Untergebenen, aber auch keine nennenswerten Feinde. Das Schlimmste, was man von ihm scheinbar sagen kann, ist, daß er ein bißchen mürrisch ist und sehr für sich bleibt.« »Wie steht es mit seinen dienstlichen Leistungen?« »Auch da gibt es wieder nicht viel zu sagen. Er macht seine Arbeit, und das ist alles. Er ist niemals getadelt worden, nicht einmal für einen geringfügigen Verstoß gegen die Dienstvorschriften. Allerdings hat er auch nie Auszeichnungen bekommen.« McLeod verstummte kurz und machte ein finsteres Gesicht. »Wenn man darüber nachdenkt, dann ist das ein bißchen seltsam für jemanden von seinem Rang und seinem Dienstalter. Mir fällt auf Anhieb kein Inspector ein, den ich kenne und der nicht zumindest eine lobende Erwähnung wegen hervorragender Dienste bekommen hat. Ich frage mich, wie unser Freund Napier -447-
diesen Stufe in seiner Karriere erreichen konnte, ohne daß er in der einen oder anderen Hinsicht etwas Hervorragendes getan hat.« »Hmmm, ja. Es sieht fast so aus, als hätte er absichtlich vermieden, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, während er die ganze Zeit daran arbeitete, seine berufliche Stellung zu verbessern«, sagte Adam. »Was sagen Ihnen Ihre professionellen Instinkte?« »Meine Instinkte sagen mir, daß mehr an dem Mann ist, als aus seiner Personalakte hervorgeht«, erwiderte McLeod offen. »Falls Sie mich hier nicht mehr brauchen, werde ich mal losziehen und noch ein bißchen mehr herumschnüffeln. Wir wissen, daß die Luchse jemandem bei der Polizei haben. Allmählich wette ich darauf, daß es sich dabei um Napier handelt.« Nachdem McLeod gegangen war, nutzte Adam die Pause, um eine dringend notwendige Siesta einzulegen. Zwei Stunden später stand er wieder auf und setzte sich gerade zu einer Tasse Tee in der Bibliothek nieder, als Peregrine wieder in Strathmourne eintraf und die Landkarten mitbrachte, die Adam angefordert hatte. »Können Sie glauben, daß ich zwei Autobahnraststätten und vier verschiedene Buchhandlungen besuchen mußte, bis ich einen kompletten Satz beisammen hatte?« rief der Künstler aus und schwenkte die Früchte seiner Mühen. »Die Orkneys konnte ich allerdings nicht bekommen, also müssen wir hoffen, daß dort nichts Schlimmes passiert. Wo soll ich sie hinlegen?« »Werfen Sie sie einstweilen einfach auf das Sofa«, erwiderte Adam lächelnd. »Haben Sie schon etwas gegessen?« »Seit dem Mittagessen nichts mehr. Warum?« »Gut, dann werden Sie die nächsten ein oder zwei Stunden auch nichts mehr bekommen, weil ich ein bißchen Arbeit für Sie habe, und dabei handelt es sich um etwas, dem man sich am -448-
besten mit einem leeren Magen widmet, wenn man es noch lernt. Haben Sie schon einmal daran gedacht, das Pendeln auszuprobieren?« »Ich?« Das Verfahren war Peregrine nicht unbekannt, denn er hatte Adam schon in Schloß Dunvegan pendeln sehen, damals auch in Verbindung mit Landkarten, um den ungefähren Aufbewahrungsort der gestohlenen Feenfahne zu bestimmen. Seine Augen weiteten sich etwas bei dem Gedanken, daß er so etwas selbst ausprobieren sollte. »Ich bin gewiß bereit, es einmal zu versuchen«, sagte er, »aber ich hoffe, Sie haben vor, mir alles zu erklären.« »Genau das habe ich vor«, sagte Adam. »Wir müssen allerdings zuerst einige Vorbereitungen treffen - die erste wird sein, mehr freien Platz auf dem Boden zu bekommen, als wir hier haben. Humphrey ist gegangen, dieses Medaillon aus dem Safe des Hauses zu holen. Sobald er wieder da ist, werden wir unsere Operation in den Salon verlegen.« Nach der gemütlichen, vertrauten Wärme der Bibliothek wirkte der Salon kalt. Adam, der sich immer noch recht steif bewegte, steuerte auf eine viktorianische Chaiselongue zu, die an der einen Wand stand, und wies Humphrey und Peregrine an, den Boden in der Mitte des Raumes freizuräumen. Als sie begannen, die Landkarten auseinanderzufalten und sie in der richtigen Reihenfolge und Ordnung auszulegen, öffnete Adam die mit Seide ausgekleidete Schatulle, die Humphrey ihm gebracht hatte und nahm vorsichtig die verschlackten Überreste des Luchsanhängers heraus. Es lag ruhig auf seiner Hand, noch gezähmt durch den Bann, den Philippa am Tag zuvor darauf gelegt hatte, um McLeods anfänglichen Bann zu verstärken. Doch er spürte trotzdem eine zurückgebliebene Nachschwingung der Bösartigkeit, die an seiner Herstellung beteiligt gewesen war. Falls sie Glück hatten -449-
- und falls Adam Peregrines Begabung in dieser Hinsicht richtig eingeschätzt hatte - dann dürfte das Medaillon sie in die Lage versetzen, den feinen okkulten Faden aufzuspüren, der es noch mit seinen Herstellern verband. Adam legte es einstweilen beiseite und holte aus der Schatulle eine Rolle mit einem feinen blauen Seidenfaden hervor. Er rief Peregrine herbei, ein Stück - so lang wie sein Arm - davon abreißen. Während dann Peregrine wieder zu seiner Arbeit mit den Landkarten zurückkehrte, band Adam etwas unbeholfen mit der linken Hand ein Ende des Fadens fest um das Luchsmedaillon und schuf so ein freischwingendes Pendel. Er versuchte kurz, das freie Ende des Fadens um seinen rechten Zeigefinger zu binden und das Schwingen des Pendels auszuprobieren, aber die Belastung seiner Schulter war zu stark und er hätte sicher nicht durchgehalten, was er vorhatte. Nein, Peregrine sollte in dieser Übung selber flügge werden. Als er aufblickte, sah er, daß Peregrine erwartungsvoll vor der Chaiselongue stand, während Humphrey aufmerksam an der Tür wartete. Der Teppich aus Landkarten war nun komplett und zeigte ganz Schottland in zwei Dimensionen; seine gesamten geologischen Eigentümlichkeiten und Umrisse waren in mannigfaltigen Mustern von Grün- und Goldtönen dargestellt. Adam lächelte, als er sah, daß seine Helfer aus eigener Initiative die Karten an den überlappenden Ecken mit Kreppband verbunden hatten. Er legte das Pendel wieder in die Schatulle, entließ Humphrey mit einem Wort des Dankes und wandte sich wieder Peregrine zu. »Holen Sie sich einen Stuhl und machen Sie es sich einstweilen bequem«, wies er ihn an. »Von jetzt an wird es theoretisch.« »Das mußte ja früher oder später kommen«, erwiderte Peregrine grinsend und holte sich einen Stuhl mit gepolsterter Lehne aus der gegen überliegenden Ecke des Salons. Er stellte ihn Adams Chaiselongue gegen über auf den Teppich, setzte -450-
sich hin und sagte ironisch: »In Ordnung, machen wir uns auf das Schlimmste gefaßt.« »Entspannen Sie sich. Sie sind bereit dafür«, sagte Adam mit einem Lächeln. »Jetzt gebe ich Ihnen eine Schnellektion in Pendeltheorie. Um es so einfach wie möglich zu formulieren, das Pendeln funktioniert nach einem Prinzip, das man am besten als das Gesetz der Entsprechungen beschreibt. Dieses Gesetz postuliert, daß die Welt der Symbole und die Welt der materiellen Dinge in gegenseitiger Beziehung zueinander existieren. Mit anderen Worten, was physisch existiert, kann von jedem Menschen, der das notwendige Wissen dafür besitzt, symbolisch wahrgenommen werden. Nehmen Sie diese Landkarte von Schottland, die Sie und Humphrey so sorgfältig zusammengesetzt haben«, sagte er und wies mit der linken Hand auf die Karten. »Im einen Sinn handelt es sich dabei nur um bedrucktes Papier, in einem anderen Sinn aber ist die Landkarte eine direkte symbolische Entsprechung des Landes, das sie darstellen soll. Was in der materiellen Welt Raum besetzt, hat einen gleichwertigen Platz in der Welt der Symbole - und aus diesem Grund ist es möglich, das eine in Begriffen des anderen zu lokalisieren. Können Sie mir folgen?« Peregrine nickte. »Mein Kopf schwirrt mir zwar ein bißchen, aber ja, ich glaube, ich kann Ihnen folgen.« »Sehr gut. In diesem Fall gehen wir zum nächsten Punkt über - das Pendel selbst. Potentiell kann alles als Pendel benutzt werden, solange es eine gewisse Ladung der nachwirkenden Energie trägt, die entweder mit der Person, die pendelt, oder mit dem Gegenstand, den sie finden möchte, in Beziehung steht. In diesem Fall werden wir benutzen, was von diesem Luchsmedaillon übrig ist, das Sie in Dunfermline gefunden haben. Jetzt zur Theorie hinter der konkreten Verbindung, die wir suchen: Um die Funktion zu erfüllen, für die es geschaffen -451-
wurde - als eine Art Blitzableiter zu dienen -, dürfte dieses Medaillon magisch mit der Person verknüpft worden sein, die tatsächlich den Blitz herbeiruft, wahrscheinlich über ein Objekt der Macht. Ich vermute, daß es sich bei letzterem um den Torques handelt, den Sie am Calton Hill in Ihrer Vision gesehen haben. Wo sich der Torques befindet, da ist auch die Person, die ihn einsetzt. Indem Sie über die Karte gehen und das Pendel benutzen, um Entsprechungen zu entdecken, können wir - so hoffe ich - den Aufenthaltsort der Person entdecken, die über den Blitz gebietet.« Peregrine schaute auf die Karte und schürzte die Lippen, dann blickte er wieder auf das Medaillon. »Okay. Gibt es eine besondere Art, wie ich es halten soll?« »Sie bekommen den sensibelsten Kontakt, wenn Sie das Ende des Fadens mit Daumen und Zeigefinger halten, und zwar gerade fest genug, um es nicht fallen zu lassen.« Vorsichtig geworden nach dem Schock, den es ihm zuvor versetzt hatte, nahm Peregrine sanft das Ende des Fadens und hob das Medaillon aus der Schatulle. Als er es anschaute und sah, wie es leicht rotierte, begann er ein merkwürdiges Kribbeln zu spüren, fast als hätte das Medaillon ein eigenes Leben. »Ich schlage vor, daß Sie auch Ihre Schuhe ausziehen«, sagte Adam. »Das wird Ihnen helfen, einen physischen Kontakt mit der Kartenfläche und dem, was sie repräsentiert, herzustellen. Dann reinigen Sie Ihren Geist und machen Sie sich so passiv wie nur möglich. Wir wollen, daß das Pendel > nach Hause < gezogen wird.« Peregrine nickte und stieg aus seinen braunen Lederslippern. Der kribbelnde Zug des Pendels wurde stärker. Er stand auf, schöpfte dreimal tief und langsam Atem und erdete und zentrierte sich, wie Adam es ihn gelehrt hatte. Er ließ sich von dem nun hartnäckigen Zug des Pendels leiten und ging zum südlichen Rand der Karten hinüber. -452-
Während Adam von seinem Aussichtspunkt auf der Chaiselongue zuschaute, begann Peregrine langsam die Fläche knisternden Papiers zu überqueren. Er trat mit seinen bestrumpften Füßen sanft auf, hielt sich an die Mitte der dargestellten Landmasse und bewegte sich langsam nach Norden und Westen. »Ich spüre bestimmt einen Zug«, berichtete er, ohne sich umzudrehen. »Es scheint nicht sehr an Edinburgh interessiert zu sein. Es tendiert mehr in die Richtung von Falkirk... Ja, der Zug wird offenbar stärker. Ein bißchen mehr nach Westen... ein bißchen mehr nach Norden... vielleicht in Richtung Stirling...« Die Bewegung des Pendels schien sich zu stabilisieren, als Peregrine näher an Stirling herankam. Er hielt ein wenig den Atem an und wartete ab, um zu sehen, was geschehen würde. Doch gerade als er dachte, das Pendel käme zur Ruhe, spürte er einen plötzlichen, scharfen Ruck, und es begann zu schwanken und ohne erkennbare Folgerichtigkeit ungleichmäßig hin und her zu schwingen. »Verdammt, ich glaube, ich habe es verloren!« murmelte Peregrine. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Adam ruhig. »Und versuchen Sie nichts zu erzwingen. Es ist wichtig, daß Sie passiv bleiben. Bleiben Sie einfach still stehen und warten Sie. Schließen Sie die Augen, falls Ihnen das hilft. Wenn die Verbindung sich wieder herstellt, versuchen Sie nicht, etwas zu erwarten oder zu deuten - gehen Sie einfach mit dem mit, was Sie fühlen.« Peregrine nickte zustimmend, schloß die Augen und konzentrierte sich darauf, seinen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Seine Aufregung legte sich, er war erneut ruhig und empfänglich. Allmählich lenkte er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Pendel. Ein oder zwei Minuten später spürte er erneut den leichten Ruck an seinen Fingerspitzen, diesmal noch stärker -453-
als zuvor. Jetzt schien der Neigungswinkel direkt nach Norden zu weisen, mit einer leichten Abweichung nach Westen. Peregrine richtete seinen Blick auf die Banjo-Uhr an der gegen überliegenden Wand des Raums und verdrängte alle Spekulationen nach dem endgültigen Ziel des Pendels aus seinen Gedanken. Er erlaubte sich nur, im sanften Sog des Pendels mitgezogen zu werden. Nach einigen Minuten ließ der Zug nach, und das Pendel drehte sich an seinem Faden im Kreis. »Aber hier gibt es nichts!« erklärte Peregrine, als er sich niederkauerte, um zu sehen, was unter dem Pendel lag. »Auf diesem Teil der Karte gibt es nichts als Berge!« »In Ordnung«, sagte Adam. »Kommen Sie zurück an den Rand der Karte und versuchen Sie es erneut.« Unter Adams Anleitung wiederholte Peregrine den Prozeß einige weitere Male, wobei er von verschiedenen Himmelsrichtungen aus startete. Jedesmal nahm er eine leichte, aber unverkennbare Ablenkung in die Richtung von Stirling wahr, bevor das Pendel zur selben unbewohnten Region der Cairngorm Mountains hinstrebte. »Sehr merkwürdig«, sagte Adam nach dem fünften Versuch. »Wenn ich das richtig interpretiere, scheinen wir zwei separate Konzentrationen der Macht entdeckt zu haben. Besonders neugierig bin ich auf dieses Gebiet in den Cairngorms. Wenn im Augenblick in den Highlands nicht so viel Schnee läge, würden wir vielleicht Noel dazu bringen können, einen Luftaufklärungsflug zu arrangieren. Wie die Dinge liegen, bezweifle ich, daß aus der Luft viel zu sehen wäre...« Während er nachdenklich verstummte, reckte Peregrine fragend den Kopf. »Woran denken Sie?« »Vielleicht an einen Landausflug ins Innere von Schottland«, erwiderte Adam mit einem Seitenblick. »Ein Fahrzeug mit -454-
Vierradantrieb dürfte mit den Straßen fertigwerden - allerdings müßten wir uns einen Ersatz für den Range Rover mieten, und ich fürchte, ich bin nicht in der geeigneten Verfassung, selbst zu fahren, solange mein Arm in dieser Schlinge steckt. Aber wenn Sie meinen, Sie würden es schaffen, dann könnten wir es versuchen, sobald das Wetter wieder umschlägt, und ein oder zwei Tage in diesem Gebiet verbringen.« »Gewiß, ich bin dabei«, sagte Peregrine. »Allerdings, warum probieren wir es nicht in der Zwischenzeit einmal mit Stirling? Es ist viel näher als die Cairngorms, und man braucht keinen Wagen mit Vierradantrieb, um dorthin zu kommen.« »Darüber denke ich schon nach«, erwiderte Adam. »Im Augenblick ist es jedoch schon spät, und ich gestehe, ich spüre, daß ich Schlaf brauche. Lassen wir es für heute nachmittag genug sein, und ich werde mich morgen wieder bei Ihnen melden.« Kapitel 30 (Nachdem Peregrine gegangen war, blieb Adam noch einige Zeit im Salon sitzen und blickte nachdenklich auf die Anordnung der Landkarten, er grübelte über das rätselhafte Verhalten des Pendels nach und döste am Ende ein. Schließlich weckte ihn ein leichtes Klopfen an der Tür aus seiner Träumerei. »Ach, da bist du«, sagte Philippa, als sie ihren Kopf zur Tür hereinsteckte. »Hast du vor, hier den ganzen Abend zu kampieren? Falls ja, dann sollte ich dich doch wohl darauf hinweisen, daß du noch nicht in der Verfassung bist, um eine Nacht auf den Fliesen zu verbringen.« »Da ist vielleicht durchaus etwas dran«, gab Adam mit einem matten Lächeln zu. Als er sich aufsetzte, spürte er auf der Stelle die verschiedensten Schmerzen, und als eine unüberlegte Bewegung ihm einen scharfen Stich in die Schulter gab, verzog er das Gesicht. -455-
Philippa blickte wissend auf den mit Landkarten ausgelegten Boden und zog ironisch eine Augenbraue hoch. »So wie es hier aussieht, bist du ziemlich beschäftigt gewesen«, bemerkte sie trocken. »Ach, die meiste Arbeit hat Peregrine geleistet«, erwiderte Adam. »Ich werde dir alles beim Dinner erzählen - oder ißt Mrs. Talbot mit uns?« »Nein, sie hat sich mit einem Fernseher und einem Tablett mit dem Abendessen in ihr Zimmer zurück gezogen. Ich glaube, sie möchte unsere Gastfreundschaft nicht ungebührlich in Anspruch nehmen - und in diesem Fall würde sie uns ja stören. Essen wir oben im Rosenzimmer?« Sie nahmen ein einfaches Abendessen ein: Brathähnchen und grünen Salat. Adam verzichtete auf Wein, denn er hatte später noch etwas vor. Philippa hörte mit großem Interesse von Peregrines erstem Versuch in der Pendelpraxis, und sie nickte zustimmend, als Adam seinen Bericht beendete. »Der Junge macht wirklich Fortschritte, nicht wahr?« bemerkte sie. »Die Entscheidung liegt natürlich bei dir, aber mir scheint, daß er bereit - ja, mehr als bereit - ist, um als Kandidat zur Einweihung vorgestellt zu werden.« »Dem stimme ich zu.« »Es sind nur noch wenige Tage bis zur Sonnenwende«, fuhr Philippa fort. »Das wäre ein passender Zeitpunkt.« »Ja, ich denke auch schon daran. Es wäre mir jedoch lieb, wenn ich vorher bereits eine bessere Vorstellung davon hätte, was da vor sich geht. Bis jetzt haben aber die anderen das Sagen. Wir wissen nicht einmal sicher, wer sie sind - außer natürlich, daß es sich um die Loge der Luchse handelt. Wir müssen diesen Kreislauf durchbrechen und wieder die Oberhand gewinnen.« »Einverstanden«, sagte Philippa. »Aber denk daran, daß du im Augenblick nicht mit deiner vollen Leistungskraft operierst. -456-
Unterschätze nicht, wie sehr diese Episode deine Kräfte strapaziert hat.« Adam schnaubte und verlagerte seinen Arm in der Schlinge. »Ich bin mir meiner Beschränkungen bewußt, und ich bin nicht zu stolz, um Hilfe zu bitten, wenn ich sie brauche. Andererseits, wenn unsere Feinde glauben, sie hätten mich außer Gefecht gesetzt, so irren sie sich sehr. Ich habe noch ein bißchen über Peregrines Vorschlag nachgedacht, zumindest einen Teil unserer Aufmerksamkeit auf Stirling zu konzentrieren. Und mir ist da eine Idee gekommen.« Er erklärte Philippa kurz seine Absicht. »Das klingt vielversprechend«, erkannte sie an. »Es ist sicherlich einen Versuch wert. Hättest du gern ein wenig von der Hilfe, von der du sagst, du seist nicht zu stolz sie anzunehmen?« Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Nicht hierbei aber danke für das Angebot. Ich arbeite noch an den Einzelheiten. Nach dem Kaffee begebe ich mich wieder hinunter in die Bibliothek und schaue, was herauskommt.« »In Ordnung«, sagte Philippa, »aber denk daran, daß du dich eigentlich noch im Zustand des Rekonvaleszenten befindest, also bleib nicht zu lange auf.« Nach dem Abendessen legte Adam seine Krawatte ab und tauschte Schuhe und Blazer gegen Hausschuhe und Morgenmantel, dann ging er in die Bibliothek hinunter. Die Schatulle mit dem Luchsmedaillon stand schon auf seinem Schreibtisch. Aus der Schreibtischschublade holte er einen Schreibblock und den Umschlag mit den Niederschriften der Befragungen von Stirling. Er hatte sie schon einige Male durchgelesen, ohne irgend etwas offensichtlich Bemerkenswertes zu finden. Diesmal hatte er jedoch einen anderen Plan. Er ließ sich mehr oder weniger bequem am Schreibtisch nieder, nahm vorsichtig den rechten Arm aus der stützenden -457-
Schlinge und machte sich an die Arbeit, wobei er den rechten Ellbogen auf der Armlehne des Sessels aufstützte und nur die Namen und Adressen der Befragten aufschrieb, ohne den Texten Beachtung zu schenken. Als er damit fertig war, steckte er die Niederschriften wieder in den Umschlag und warf ihn neben sich auf den Boden, damit sein Arbeitsplatz frei blieb. Dann holte er aus der obersten Schreibtischschublade einen Stapel leerer Karteikarten, eine Schönschreibfeder und ein Fläschchen mit Tusche. Letzteres öffnete er, tat die Verschlußkappe beiseite, legte dann die rechte Hand flach auf den Schreibtisch und richtete seine Aufmerksamkeit auf und durch den Saphir an seiner Hand. Danach saß er lange Zeit sehr still und sammelte sich, während er seinen Absichten gestattete, sich in seinem Geist zu kristallisieren. Als sein Zielbewußtsein sich vertiefte, wandte er seine Aufmerksamkeit nach innen und konzentrierte sich auf seine Atmung. Als er ganz ruhig und zentriert war, holte er tief und langsam Luft, dann griff er nach der Feder. Sie kam ihm schwerelos vor. Er hielt inne und imaginierte ihre Spitze als einen Punkt fluoreszierenden Lichts, der die Gegenwart unsichtbarer Elemente in einer Matrix aus träger Masse beleuchtete. Er legte eine leere Karteikarte vor sich hin, tauchte die Feder in die Tusche und schrieb sorgfältig den Namen und die Adresse, die an der Spitze seiner Liste standen, wobei er immerzu den Gedanken an einen wandernden Lichtstrahl, der die Dunkelheit durchdrang wie der Strahl einer Grubenlampe, in der Schwebe hielt. Urheber des Lichts, bat er stumm, mach sichtbar, was unsichtbar ist. Mache offenbar, was verborgen ist. Langsam und sorgfältig kopierte er jeden der Namen auf eine eigene Karte. Als er fertig war, hatte er neunundzwanzig Karten beisammen. Er studierte sie, während er darauf wartete, daß die Tusche auf der letzten trocknete, und ließ dabei die Resonanz -458-
eines jeden Namens und Ortes in seinem Geist nachschwingen. Als er sich sicher war, daß er die Schrift nicht verschmieren würde, sammelte er die Karten zusammen und mischte sie einige Male. Dann breitete er sie mit der Schrift nach unten vor sich auf dem Tisch aus, so daß sich fünf Reihen zu je sechs Karten ergaben und die rechte untere Ecke unbesetzt blieb. Als nächstes nahm er ein Papiermesser aus dem Krimkramsbehälter auf dem Schreibtisch, schälte damit einen kleinen Span vom Silber des Luchsmedaillons ab und befestigte ihn an einem neuen Faden. Er schloß die Augen und visualierte ein Bild des Pendels als Kompaßnadel, die auf die Energiequelle eingestellt war, nach der er suchte. Dann hielt er das Pendel über die aufgereihten Karten - mit der linken Hand, denn die rechte Schulter ertrug die Belastung noch nicht - und konzentrierte sich darauf, das Silber zu der Person heimzuschicken, die es aufgeladen hatte. Er begann an der linken oberen Ecke der ausgelegten Karten und setzte das Pendel in Bewegung. Um seine Suche methodisch zu gestalten, fuhr er absichtlich horizontal zwischen den Kartenreihen entlang und schaute, ob es eine Ablenkung gab. Beim ersten Durchgang spürte er zwischen der dritten und vierten Reihe ein leichtes Zupfen in Richtung einer Karte, der dritten von links in der vierten Reihe von oben. Er spürte die Ablenkung wieder, als er zwischen der vierten und fünften Reihe durchging. Er nickt sanft, holte aus der mittleren Schublade einen Bleistift hervor und hob die Karte so weit, daß er den Bleistift darunterschieben und auf der verborgenen Seite eine Markierung anbringen konnte. Dann legte er den Bleistift beiseite, sammelte die Karten ein, ohne nach der zu schauen, die er markiert hatte, und legte sie erneut aus. Danach wiederholte er den Vorgang und markierte eine Karte in der zweiten Reihe von oben, die zweite von rechts. Als er den Vorgang ein drittes Mal wiederholt und die vom Pendel ausgewählte Karte markiert -459-
hatte, legte er das Pendel beiseite, hob die Karte auf und wog sie kurz in der Hand, bevor er sie umdrehte. Drei ungleichmäßige Bleistiftmarkierungen verunzierten ihre Vorderseite und umgaben den Namen Francis Raeburn. Darunter stand als Adresse: Nether Leckie, bei Stirling. Adam saß einige Minuten regungslos und preßte die Lippen aufeinander, während er die Bedeutung dieser Entdeckung erwog. Bloße Konzentration auf den Namen ergab nichts, aber das Ergebnis der Pendelbefragung war sicher ein starker Hinweis, daß dieser Raeburn irgendwie in die Sache verwickelt war. Drei ›Treffer‹ beim Blindpendeln gingen weit über die Möglichkeit eines Zufalls hinaus. Und wenn Raeburn der Mann war, der den Blitz lenkte - und somit für den Tod von Randall Stewart, lan MacPherson und der Freimaurer von Dunfermline verantwortlich war -, dann war es Adams geschworene Pflicht, ihn aufzuspüren, seiner Macht zu entkleiden und ihn auch noch der weltlichen Gerichtsbarkeit zu übergeben, wenn das möglich war. Doch es wurden erst die Ränder des Bildes sichtbar, und Adam war sich der Fallstricke bewußt, die darin lagen, wenn er zu früh und auf Grund zu geringer Beweise losschlug. Nachdenklich griff er nach dem Telefon und wählte McLeods Privatnummer. »Noel, es tut mir leid, daß ich schon wieder Ihren Sonntag störe«, sagte er, als McLeod sich persönlich meldete, »aber ich bin auf eine Spur gestoßen, von der ich glaube, daß man ihr nachgehen muß. Ich bin die Aufzeichnungen der Befragungen von Stirling durchgegangen, im Zusammenhang mit dem Gegenstand, den Sie und Peregrine in Dunfermline gefunden haben. Ich glaube, wir müssen ein paar sehr vorsichtige und diskrete Erkundigungen über einen Mann namens Francis Raeburn einziehen.« Während Adam Sinclair seine Experimente mit Landkarten -460-
und Pendel durchführte, war Dr. Preston Wemyss zu einem Gespräch unterwegs, auf das er sich nicht im geringsten freute. Er saß kläglich zusammen gekauert auf einem der Rücksitze in Francis Raeburns Hubschrauber und verbrachte die ganze Stunde des Fluges nach Norden damit, seine Rechtfertigung einzuüben, während die schneebedeckten Wälder von Balmoral unter ihnen hinwegzogen und die weißen Gipfel der Cairngorms vor ihnen auftauchten. Sein Kopf schmerzte noch dumpf von dem Gegenschlag der Macht, der ihn vor mehr als vierundzwanzig Stunden getroffen hatte, bei seinem erfolglosen Versuch, zu beenden, was Barclay begonnen hatte. Und von der Angst vor dem, was ihm bevorstand, wurde ihm fast übel. Weder Raeburn noch Barclay hatten seit dem Start mit ihm gesprochen. Wemyss wußte, daß er in Ungnade gefallen war. Als sie endlich das burgartige Herrenhaus erblickten, das ihr Ziel war, war die geringe Zuversicht, mit der er losgeflogen war, größtenteils zu einer ekelerregenden Verzweiflung geworden. Als Barclay zur Landung im Hinterhof ansetzte - Wemyss wurde nicht einmal die Höflichkeit zuteil, die Burg durch den Vordereingang betreten zu dürfen -, war sich Wemyss nur allzu bewußt, daß seine Erklärungen eher wie Ausreden klangen. Bei dem Gedanken, dem Mißvergnügen des Großmeisters gegen übertreten zu müssen, verfluchte Wemyss erneut die Kombination aus Pech und blindem Zufall, die Adam Sinclair gestattet hatte, den Angriff auf sein Leben zu überleben. Im Rückblick war er sich bitter bewußt, daß Raeburn ihm keinen Dienst damit erwiesen hatte, es ihm zu überlassen, die medizinischen Weiterungen für den Fall, daß Sinclair den Autounfall überleben sollte, zu fabrizieren. Er blickte mürrisch auf Raeburns Hinterkopf. Jetzt sah er, wie man ihn geschickt in eine Position manipuliert hatte, in der er verpflichtet war, im Falle des Scheiterns die Schuld auf sich zu nehmen. Aber diese Erkenntnis würde ihn wahrscheinlich nicht retten, falls der Großmeister beschließen sollte, eine Strafe zuzumessen. -461-
Das Herz schlug ihm bis in den Hals, als er hinter Raeburn und Barclay den Hubschrauber verließ. Da sie durch den Dienstboteneingang kamen, schien die Burg noch kälter zu sein als sonst. Als er seine Schuhe auszog und das notwendige weiße Gewand anlegte, drehte sich ihm der Magen vor Übelkeit und Spannung. Als er losging, um dem Großmeister zu begegnen, fingerte er nervös an dem Ring mit dem Karneol herum und fragte sich, wie lange er ihn noch würde tragen dürfen. Der Aufstieg mit bloßen Füßen über die Wendeltreppe trug nicht dazu bei, die Angstschauder zu lindern, die ihm bis in die Knochen drangen. Auf dem Treppenabsatz vor der Bibliothek verließ ihn Raeburn und zwang ihn, allein weiter zu gehen. Elf Mitglieder des Kreises der Zwölf waren schon auf ihren Plätzen, als Wemyss die Turmkammer betrat. In ihren weißen, wollenen Gewändern wirkten sie alle anonym, ihre Gesichter waren von ihren Kapuzen überschattet, so daß kein Gesichtsausdruck erkennbar war. Die ganze Situation wirkte wie ein Tribunal und genau das war sie auch, überlegte Wemyss angsterfüllt. Entschlossen, sich nicht so ängstlich zu zeigen, wie er war, straffte er die Schultern. Einen Augenblick später entstand Unruhe vor der Tür, und dann betrat der Großmeister selbst den Raum, schwer auf den Arm seines obersten Helfers gestützt. Im flackernden Schein der Gaslampen sah das runzelige Gesicht des Großmeisters einem Totenschädel ähnlicher als je zuvor. Die welken Lippen zu einer verkniffenen Grimasse des Mißvergnügens zusammengepreßt, schritt er ohne Eile zu seinem Platz auf der anderen Seite des Kreises und sank auf die scharlachroten Kissen, die man ihm bereitgelegt hatte. Eisiges Schweigen herrschte, während er sich niederließ, nur unterbrochen von Wemyss' schwachem, pfeifendem Atem. Der Großmeister ließ das Schweigen noch einige Herzschläge länger andauern, dann heftete er seine kohlschwarzen Augen mit unerbittlicher Festigkeit auf den dünnen, grauhaarigen Mann, der elend vor ihm stand. -462-
»Dr. Wemyss.« Die Stimme des Großmeister wehte durch den Raum wie ein eiskalter Luftzug. »Dies ist ein Augenblick, an dem ich ebenso wenig Gefallen finde wie Sie. Ihr Versagen, die Ihnen übertragene Aufgabe auszuführen, zwingt mich, eine Bestrafung zu verhängen, die diesem Versagen entspricht. Sind Sie sich dessen bewußt, was es uns wohl gekostet hat?« Wemyss sagte nichts, denn er wußte, daß es nichts gab, was er sagen konnte. »Vor einer Woche«, fuhr der Meister fort, »wurden Sie engagiert, bei der Aufgabe mitzuhelfen, ein bestimmtes Hindernis aus unserem Weg zu entfernen den Mann, von dem wir jetzt wissen, daß er der Anführer einer Jagdloge ist. Dies war ein Auftrag, der nicht nur die grundlegende Notwendigkeit des Augenblicks widerspiegelte, sondern auch unsere Hochachtung vor Ihren Verdiensten als ein Diener des Luchses und doch haben Sie uns enttäuscht. Ich glaube, Doktor, Sie sind uns eine Erklärung schuldig.« Der Alte hatte die Worte mit giftiger Gehässigkeit hervorgestoßen. Wemyss zitterte unwillkürlich. »Ich - ich hatte alle Vorkehrungen getroffen, Großmeister, das schwöre ich«, sagte er stockend. »Die Blutprobe war ausreichend. Ich richtete es ein, daß die Kapseln in seinem Medikamententütchen gegen solche ausgetauscht wurden, die ich zu diesem Zweck vorbereitet hatte. In seinem an sich schon geschwächten Zustand, und mit soviel Valium in seinem Körper...« »Valium!« Der Großmeister schnaubte verächtlich. »Wenn Sie sich schon die ganze Mühe machten, warum haben Sie dann nicht die Kapseln mit einer passenden Menge Blausäure gefüllt?« »Aber das hätte doch offensichtlich auf einen Mordfall hingedeutet«, protestierte Wemyss matt. »Ich habe angenommen, daß wir nur solche Methoden benutzen sollten, -463-
die bei einer gerichtsmedizinischen Untersuchung nicht nachweisbar wären.« »Welche Methoden auch immer Sie benutzen«, sagte der Großmeister brutal, »ich erwarte, daß ein solcher Versuch erfolgreich ist. Ein glatter Mord hätte ihn uns wenigstens vom Hals geschafft. Wie die Dinge liegen, müssen Sie sich noch dafür verantworten, daß Ihr okkulter Angriff gescheitert ist.« Wemyss wich dem zornigen Blick des Großmeisters aus. »Selbst von Drogen umnebelt, hat er einen Kampf geliefert. Trotzdem hatte ich ihn schon fast, aber er hatte ein Wort der Macht, das ich nicht erwartet hatte und nicht übertreffen konnte...« »Sie unfähiger Narr!« Die Stimme des Großmeisters klang wie ein Peitschenhieb. »Sinclair ist ein Meister der Jagd. Verstehen Sie, was das bedeutet? Sie hatten die Vollmacht, alle Hilfe anzufordern, die Sie brauchten. Und doch meinten Sie, Sie würden ihn sich allein vornehmen. Warum?« Wemyss' Lippen bewegten sich, doch es kam kein Laut hervor. »Soll ich Ihnen sagen, warum?« rief der Großmeister. »Weil Sie zu gierig waren - zu erpicht darauf, diesen Abschuß für sich selbst zu beanspruchen! Sie wollten eher ein Scheitern riskieren, anstatt die Ehre mit einem anderen zu teilen. Nun gut. Jetzt, da Sie versagt haben werde ich keinen anderen auffordern, die volle Strafe mitzutragen.« Wemyss' mageres Gesicht erbleichte, und er hob unwillkürlich die geballten Fäuste. »Erbarmen, Großmeister!« flüsterte er. »Haben Sie Erbarmen, ich bitte Sie.« »Erbarmen?« In den schwarzen Augen des Großmeisters lag Spott. »Erbarmen ist das Laster aller sentimentalen Narren, die wirklich glauben, das Licht werde sie vor der Finsternis retten. Das war eines der ersten Dinge, die Sie verwarfen, als Sie sich unserem Orden anschlossen. Da Sie mich enttäuscht haben, wie -464-
können Sie es da wagen, mich um Erbarmen zu bitten?« Wemyss zitterten die Beine. Jämmerlich stöhnend sank er auf die Knie und verbarg sein Gesicht in den Händen. Es herrschte ein eisiges Schweigen, in dem nur der schluchzende Atem des Doktors zu hören war. Dann bewegte sich der Großmeister und machte eine schroffe Geste zu den Anhängern hin, die zu beiden Seiten der Tür saßen. »Nehmt mir diesen Wurm aus den Augen«, befahl er in einem Ton äußerster Verachtung. »Entkleidet ihn der Zeichen seines Ranges und degradiert ihn zum Knecht, bis ich die Muße finde zu entscheiden, was mit ihm geschehen soll.« Die beiden Anhänger erhoben sich von ihren Plätzen. Wemyss unterdrückte ein Wimmern, als sie ihn mit groben Händen packten und aus dem Raum stießen. Während ein Schweigen über die Kammer fiel, ließ sich der Großmeister auf die Beine helfen. Mit einem eisernen Gesicht winkte er seine Helfer beiseite und verließ den Raum allein. Unten in der Bibliothek wartete Francis Raeburn auf ihn. Der Großmeister ging etwas wacklig zu seinem Sessel und ließ sich mit einer bitteren Miene erschöpfter Wut nieder. »Es darf keine Fehlschläge mehr geben«, murmelte er. »Es wird keine mehr geben«, sagte Raeburn ruhig. »Nicht, sofern nicht der Donnerer selbst es ablehnt, seine Abmachung einzuhalten.« »Er wird sie einhalten«, fuhr der Großmeister den Jüngeren an, und spreizte seine verwelkten Hände wie Klauen auf dem Tisch. »Was sonst, glauben Sie, hält mich an diesen jämmerlichen Körper gefesselt? Nicht Liebe zum Leben, sondern Hingabe an den Dienst unseres Dunklen Herrn. Von ihm erwarte ich, den passenden Lohn zu erhalten, wenn die Stunde des Erwachens kommt.« Er heftete den funkelnden Blick auf Raeburns blasses Gesicht und lehnte sich in seinem Sessel zurück. -465-
»Sie werden nicht nach Nether Leckie zurück kehren. Nach diesem jüngsten Rückschlag sind uns unsere Feinde vielleicht schon zu sehr auf der Spur, um dort nach Ihnen zu suchen. Sie werden hier in der Abgeschiedenheit bleiben, bis es Zeit ist für unseren nächsten Angriff im Namen des Donnerers.« Kapitel 31 Am folgenden Morgen fuhr Peregrine kurz vor elf Uhr nach Strathmourne House hinauf, um zu sehen, wie es Adam ging. Es war ein grauer, trüber Montag, und sein Mentor saß noch am Frühstückstisch, unrasiert und im Morgenmantel. Peregrine nahm von Humphrey eine Tasse Tee und ein Körbchen mit Brötchen entgegen, dann ließ er sich nieder und lauschte Adam, der mit einem gewissen Eifer erzählte, was er am Abend zuvor herausgefunden hatte. »Raeburn«, sagte Peregrine und gestikulierte mit der Hand, die das Brötchen hielt, von dem er gerade abgebissen hatte. »Ich glaube, der Name sagt mir etwas. Und dabei denke ich nicht an Sir Henry Raeburn, den berühmten schottischen Porträtmaler«, fügte er schnell hinzu. »Es geht um etwas anderes, erst aus jüngster Zeit - sicher erst, seit ich Sie kennengelernt habe.« Während er an seinem Brötchen kaute, kniff er die nußbraunen Augen zusammen. »Nein, mir fällt es nicht ein«, sagte er schließlich. »Es befindet sich irgendwo in meinem Hinterkopf, aber ich bekomme es nicht zu fassen.« Adam hatte das Gesicht des Jüngeren beobachtet, während er nachdachte. Falls sich Peregrine nur ungenau an etwas über einen Mann namens Raeburn erinnerte, seit diese ganze Geschichte angefangen hatte, dann würde es wohl wert sein, näher erkundet zu werden. »Jetzt haben Sie mich neugierig gemacht«, sagte er, faltete mit der linken Hand seine Serviette und legte sie beiseite. Er -466-
trug immer noch den rechten Arm in der Schlinge. »Im Licht unserer gegenwärtigen Lage ist jeder, der den Namen Raeburn trägt, einer gewissen Beachtung wert. Essen Sie Ihr Brötchen zu Ende, und dann schauen wir mal, ob wir diese Erinnerung nicht aufspüren können.« Grinsend stopfte Peregrine den letzten Bissen seines dritten Brötchens in den Mund und spülte ihn mit einem Schluck Tee hinunter. »Voila!« sagte er und wischte sich die Krümel von den Fingerspitzen. »Ich bin jederzeit bereit.« Adam mußte über den Appetit des jungen Mannes ein wenig lächeln, dann streckte er seine linke Hand über den Tisch und berührte Peregrines Stirn leicht. »Schließen Sie Ihre Augen und entspannen Sie sich«, murmelte er und zog seine Hand zurück, während die braunen Augen sich auf die posthypnotische Suggestion hin schlossen. »Holen Sie tief Luft, und während Sie den Atem wieder ausstoßen, fühlen Sie, wie sie auf eine gute, bequeme Arbeitsebene der Trance sinken, wie Sie es auch tun, wenn Sie versuchen zu sehen. Machen Sie mehrere Atemzüge. So ist es richtig...« Die Augen hinter seiner Brille geschlossen, entspannte sich Peregrine sichtlich, während Adam sprach. Sein Atem wurde leicht und regelmäßig, sein Kopf sank etwas nach vorn. »Das ist sehr gut«, sagte Adam ruhig und lehnte sich zurück. »Jetzt gehen Sie in Gedanken zurück zum Monat Oktober, zu unserer ersten Begegnung, und gehen Sie von da an langsam vorwärts, einen Tag nach dem anderen. Lassen Sie den Namen Raeburn wie einen Magnet wirken, und lassen Sie Ihren Geist davon angezogen werden wie die Nadel eines Kompasses.« Peregrine nickte zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Adam sah die flackernde Bewegung hinter den geschlossenen Augenlidern, als Peregrine auf die Anweisung reagierte. Die -467-
Sekunden vergingen in Schweigen, nur das schwache Zischen des Gasfeuers im Herd des Frühstückszimmers war zu hören. Dann hielt Peregrine mit einem leichten Zittern den Atem an. »Ich habe es«, flüsterte er und hob den Kopf, ließ jedoch die Augen zu. »Im Britischen Museum. Es war -Montag, der 29. Oktober. Ich hatte die Landkarten angeschaut. Ihr Freund dort Mr. Rowley - sprach am Telefon mit einem Kollegen namens Middleton. Sie sprachen über jemanden namens Raeburn.« Er legte die Stirn in Falten. »Etwas über eine Highlands and Islands Conference. Ich hatte den Eindruck, es sei etwas Unangenehmes geschehen. Rowley sagte: Tut mir leid, das zu hören. Aber Raeburn hätte doch kommen sollen, nicht wahr? Schließlich hat er ja geschäftliche Interessen in Inverness, und ebenso akademische...« Er verstummte. Adam dachte über das Datum nach und erkannte, daß das Gespräch ungefähr mit dem Diebstahl der Feenfahne aus Schloß Dunvegan zusammen gefallen sein mußte. Daß der Name Raeburn mit Inverness verknüpft war, das genau am Nordende des Loch Ness lag, war sicher zuviel der Übereinstimmung, als daß es sich nur um einen bloßen Zufall handeln konnte. Ob Peregrines Raeburn und Francis Raeburn ein und derselbe waren, blieb noch zu klären... »Das ist sehr interessant«, sagte er und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Künstler. »Wurde dabei ein Vorname erwähnt?« »Nein.« »In Ordnung, Sie haben es sehr gut gemacht«, sagte Adam. »Ich zähle jetzt rückwärts, von drei zu eins. Wenn ich eins erreiche, möchte ich, daß Sie wieder ins gewöhnliche Wachbewußtsem zurückkehren, erfrischt und entspannt, in vollem Besitz der Erinnerung, die wir soeben zurückgeholt haben. Drei, zwei, eins.« Wie Adam fiel auch Peregrine schnell die Übereinstimmung -468-
von Zeit und Ort auf. »Es muß sich um denselben Raeburn handeln, Adam!« sagte er aufgeregt. »Nein, muß es nicht«, erwiderte er und stand vorsichtig auf, »aber ich habe vor heraus zu finden, ob er es ist. Kommen Sie mit mir!« Fünf Minuten später saß er an seinem Schreibtisch in der Bibliothek und lauschte auf das Freizeichen eines Londoner Telefonanschlusses. Peregrine hatte sich einen Stuhl näher herangezogen und rittlings darauf gesetzt, Hände und Kinn auf die Lehne gestützt, während er zuschaute und ebenfalls wartete. Er konnte die Worte fast verstehen, als jemand am anderen Ende abhob und Adam seine Aufmerksamkeit auf das Gespräch richtete. »Ich möchte bitte mit Mr. Rowley sprechen. Hier ist Sir Adam Sinclair.« Während der Anruf in die Warteschleife ging, lächelte Adam Peregrine etwas schelmisch zu. »Einer der nützlicheren Aspekte eines Adelstitels ist, daß man schneller an den Zwischeninstanzen vorbei kommt«, murmelte er. »Hallo, Peter? Ja, es ist auch gut, dich mal wieder zu hören. Nein, nichts Besonderes. Ich fürchte, Weihnachten kommt dieses Jahr wieder einmal überraschend für mich. Irgendwie tut es das jedesmal. Hör mal, Peter. Ich muß mal dein Gehirn in Anspruch nehmen. Im Oktober habe ich es nicht zur Highlands and Islands Conference geschafft. Hat da ein Mann namens Raeburn teilgenommen? - Ja, Francis Raeburn - das ist er. Lebt oben bei Stirling. - Du klingst nicht sonderlich erfreut.« Einige Minuten lang lauschte er begierig, nickte gelegentlich und gab zustimmende Laute von sich, kritzelte sich ein paar Notizen auf einen Schreibblock -Peregrine reckte den Hals, um mit lesen zu können - und warf schließlich Peregrine einen Blick -469-
zu, als er Luft holte, um zu sprechen. »Oh, ich bin auch dieser Meinung. Das hört sich sehr unliebenswürdig von ihm an. Jedoch interessante Referenzen. Ja, ich dachte, das würde er tun. Es klingt allerdings, als hätten wir gegensätzliche Absichten. -Nein, es ist gut, das zu wissen. Hör mal, Peter, ich muß mich auf den Weg machen. Vielen Dank für die Information. - Ganz recht. - Auch dir fröhliche Weihnachten, Peter.« Ohne den Hörer vom Ohr zu nehmen, drückte Adam die Telefongabel und begann eine weitere Nummer zu wählen. »Adam«, flüsterte Peregrine, »was hat er gesagt?« »Eine Minute bitte noch«, murmelte Adam und legte den Finger auf die Lippen, während das Freizeichen ertönte. »Ja, verbinden Sie mich bitte mit Detective Chie: Inspector McLeod. Sir Adam Sinclair am Apparat.« Peregrine rutschte mit leuchtenden Augen auf seinem Stuhl nach vorn, während Adam verbunden wurde. »Ein guter Morgen, in der Tat. Nicht schlecht, wenn man alles in Betracht zieht«, erwiderte Adam. »Hören Sie, Noel, können Sie mich von einem anderen Telefon aus anrufen? - Ganz recht. Ich bin zu Hause. In fünf Minuten. - Ich warte.« Während er sprach, hatten seine Augen einen Raubvogelblick angenommen, und er ließ sich kein Wort entlocken, während sie auf McLeods Rückruf warteten Adam ließ Humphrey einen Zweitapparat bringen und an das Telefon auf seinem Schreibtisch anschließen. Als es dann läutete und Adam sich überzeugt hatte, daß McLeod der Anrufer war, ließ er Peregrine am zweiten Telefon mithören. »Ja, danke, daß Sie so schnell zurückrufen«, sagte Adam. »Übrigens, Peregrine hört am Nebenapparat mit, damit ich ihm nicht alles noch mal erzählen muß. Hatten Sie den Eindruck, daß Ihr Weggehen unerwünschte Aufmerksamkeit erregt hat?« -470-
»'n Morgen, Peregrine. Nein, ich glaube nicht. Napier ist irgendwo unterwegs, aber wir wissen ja noch nicht sicher, ob er unser Maulwurf ist. Im Augenblick verdächtige ich fast jeden. Was gibt's?« »Noch etwas über unseren Mann Francis Raeburn«, erwiderte Adam. »Peregrine hat sich an etwas erinnert, was mit ihm zu tun hat.« »So? Was haben Sie herausgefunden?« Adam berichtete kurz über das mitgehörte Gespräch, das Peregrine wieder eingefallen war. »Also habe ich Rowley angerufen, um zu sehen, ob es beidemal ein und derselbe ist - und er ist es. Anscheinend unternahm er eine ziemlich gehässige Attacke auf ein Referat, das jemand bei der Highlands and Islands Conference hielt. Wichtig ist jedoch, daß er damit zur Zeit der ganzen Gaunereien von Dunvegan und Loch Ness in der Gegend war. Alles nur Indizien, zugegeben, aber zumindest ist es mal ein Anfang.« »Das würde ich auch sagen. Gute Arbeit, Peregrine.« »Danke«, murmelte Peregrine. »Ich habe auch eine interessante Zusammenfassung seiner akademischen Karriere bekommen«, fuhr Adam fort. »Laut Rowley hat Raeburn in Cambridge ein Prädikatsexamen in Klassischer Philologie abgelegt, danach eine theologische Promotion begonnen, aber nicht abgeschlossen; er hat einige archäologische Grabungen finanziert und dilettiert in lokalpatriotischer Volkskunde. Und ich würde wetten, daß er auf gewissen anderen Gebieten mehr als nur dilettiert - allerdings dürfte das vor einem Gericht schwer zu beweisen sein.« »Aye, das klingt, als sollte ich noch einmal ein Wörtchen mit ihm reden«, sagte McLeod. »Ich glaube, ich habe vielleicht noch ein paar Fragen über den Handel mit seltenen Büchern, die ich ihm gern stellen würde. Eigentlich könnte ich sie ihm schon heute nachmittag stellen.« -471-
»Seien Sie vorsichtig, Noel. Wenn er wirklich unser Mann ist...« »Ach, ich bin doch nicht dämlich, Adam. Ich habe einen gesunden Respekt vor jemanden bekommen, der etwas mit dieser Luchs-Briefbombe gegen mich zu tun hat. Doch selbst wenn er unser Mann ist, bezweifle ich, daß er es wagen würde, mich bei hellem Tageslicht anzufassen - besonders wenn ich in einem Polizeiauto auftauche, mit Donald als Verstärkung und einer bürokratischen Spur im Schlepptau, die zeigt, wo ich gewesen bin. Ich werde Sie von Stirling aus anrufen, sobald ich ihn besucht habe.« Nachdem McLeod aufgelegt hatte, blieb Peregrine noch eine Weile und spekulierte eifrig darüber, was der Inspector wohl finden würde, doch kurz vor Mittag ging er fort. »Heute nachmittag findet im Holyrood Palace ein Weihnachtskonzert statt«, erklärte er seinem Mentor. »Eine Benefizveranstaltung für den National Trust for Scotland. Ich habe Julia versprochen, sie dorthin zu begleiten - und nachdem ich sie damals sitzengelassen habe, als wir nach Blairgowrie hochfuhren, möchte ich sie heute lieber nicht enttäuschen. Dort dürfte es großartig aussehen, alles ganz weihnachtlich geschmückte Als Peregrine gegangen war, schaute Adam bei Philippa vorbei, die eine Therapiesitzung mit Gillian abhielt, und verbrachte einige Minuten damit, Mrs. Talbot zu versichern, daß er sich wirklich besser fühlte, als er aussah, dann kam er zu dem Schluß, daß ihm vielleicht ein Schläfchen besser täte als das Mittagsessen. Er hatte sich in sein Schlafzimmer zurück gezogen und zog gerade die Vorhänge zu, als er über die Rasenfläche blickte und einen schönen Morgan-Sportwagen die Einfahrt herauffahren sah - hellgelb, mit schwarzen Kotflügeln und schwarzem Verdeck. Vorsichtig trat er vom Fenster zurück und beobachtete durch -472-
einen Spalt zwischen den Vorhängen, wie das Auto vor dem Haus vorfuhr und anhielt. Er kannte es nicht, und er erwartete niemanden. Seine Überraschung war komplett, als dann die Fahrertür aufging und eine große, gertenschlanke Brünette ausstieg. Sie war schon halb die Treppe herauf, als ihm aufging, warum er sie nicht sofort erkannt hatte. Die grüne Chirurgenkleidung war der schönen Dr. Ximena Lockhart nicht gerecht geworden. Er grinste wie ein Schuljunge, ließ die Vorhänge fallen und griff zum Haustelefon auf dem Nachttisch. Er drückte den Knopf für die Gegensprechanlage in der Eingangshalle, da er wußte, daß Humphrey schon auf dem Weg zur Tür sein würde. »Ach, gut, daß ich Sie erwischt habe«, sagte er, als Humphrey abnahm. »Ich weiß, wer die Dame an der Tür ist, und ich bin gleich unten. Führen Sie sie in die Bibliothek.« Humphreys »Sehr wohl, Sir« klang so korrekt und zurückhaltend wie immer, doch Adam dachte, er habe einen Anflug von Amüsement mitgehört. Vermutlich hatte er wirklich ein bißchen gespannt geklungen - und er war es auch tatsächlich. Er fühlte sich sehr belebt und huschte ins Badezimmer, um sich zu kämmen, dabei bedauerte er, daß er sich nicht die Zeit genommen hatte, sich zu rasieren, bevor er zum Frühstück hinuntergegangen war. Dann beschloß er, daß es ihm gleich war, denn schließlich befand er sich ja im Stand des Rekonvaleszenten. Und ein Dreitagesbart sollte doch neuerdings sogar in Mode sein. Er grinste das Gesicht im Spiegel an und strich die Aufschläge seines Morgenmantels so glatt, wie er mit der Armschlinge nur konnte, dann ging er hinunter ins Erdgeschoß. Humphrey kam gerade aus der Bibliothek und deutete ein Lächeln an, während er grüßend nickte. »Eine Frau Dr. Lockhart möchte Sie besuchen, Sir Adam«, sagte er förmlich. -473-
»Ja, danke, Humphrey«, erwiderte Adam, »ich werde Sie rufen, wenn ich Sie brauche.« Sie stand vor dem Kamin und blickte zu einer Jagdszene empor, die über dem Sims hing. Ihr dunkles Haar hing offen über die Schultern ihres langen schwarzen Mantels, es war auf einer Seite gescheitelt und lockte sich sanft. Ihr Rollkragenpullover und ihr Rock waren cremefarben. Sie drehte sich um, als sie die Tür aufgehen hörte, in ihren dunklen Augen funkelten Intelligenz, Esprit und eine Andeutung von Herausforderung. »Ach, da sind Sie ja«, sagte sie und zog leicht mißbilligend eine Augenbraue hoch, doch ihre Lippen umspielte ein leichtes Lächeln. »Wer hat Ihnen gesagt, Sie könnten ohne die Erlaubnis Ihrer behandelnden Arztin das Krankenhaus verlassen? Für was halten Sie sich denn, für einen Doktor oder sowas?« Er lächelte, ließ seine linke Hand in die Tasche des Morgenmantels gleiten und erwiderte ihren Blick Maß für Maß. »Ich bitte um Entschuldigung. Etwas Dringendes ist dazwischen gekommen. Da ich ein Doktor bin, und da meine Mutter, die auch Ärztin ist, über die Feiertage hier ist, kam es mir nicht unvernünftig vor. Wie Sie sehen können, befolge ich die ärztlichen Anweisungen.« Er hob die rechte Hand in der Schlinge. »Ich habe auch die letzten Vormittage lang geschlafen - deshalb bin ich heute noch nicht rasiert. Und als Sie vor meinem Haus vorfuhren, war ich gerade dabei, mich zu einem Mittagsschlaf hinzulegen. Das schwöre ich bei Gott!« Er hob die linke Hand zur Bekräftigung des Schwurs. »Hm!« Sie blickte ihn von oben bis unten kritisch an, dann nickte sie leicht. »Nun, Sie sehen aus, als ging es Ihnen ziemlich gut«, gestand sie zu. »Sie hätten allerdings noch ein wenig länger bleiben können. Das ist schon eine komische Art, sich davor zu drücken, eine Dame zum Dinner auszuführen.« -474-
»Oh, ich habe nicht die Absicht, unser Rendezvous zum Dinner abzusagen«, erklärte Adam und lud sie mit einer Geste ein, sich zu setzen. »Soll ich Humphrey Tee oder Kaffee bringen lassen? Für einen Drink ist es noch ein bißchen früh - es sei denn, Sie wären bereit, zum Essen zu bleiben.« Sie lächelte und setzte sich, wobei sie aus dem Mantel schlüpfte. »Das würde ich gern, aber ich fürchte, ich muß wieder zurück ins Krankenhaus. Ich mußte einmal dem vorweihnachtlichen Wahnsinn in der Notaufnahme für ein paar Stunden entfliehen, also dachte ich, ich würde einfach zu Ihnen hinaufflitzen und sehen, wie es Ihnen geht. Ein Tasse Tee wäre allerdings schön. Der Morgan ist bei dieser Art Wetter nicht sehr gemütlich.« Adam ging lächelnd zum Tischtelefon und rief in der Küche an. »Tee für zwei bitte, Humphrey«, sagte er, als der Butler abhob. Als Humphrey bestätigt hatte, legte Adam auf und setzte sich ihr gegen über. »Wie gefällt Ihnen Ihr Morgan?« fragte er sie. »Ich habe Morgan immer gemocht. Ich fuhr einen Plus 8, als ich an der Universität war.« »Wirklich?« »O ja. Er war ein bißchen schäbig, fürchte ich, wie es oft mit Studentenautos ist, aber was ihm an Komfort fehlte, das machte er an Angabe wieder gut.« Sie grinste. »Road and Track sagt, Elend, das sei ein Morgan im Regen. Über einen Morgan im Schnee redet man nicht einmal. Er ist kalt, er ist zugig, er fährt wie ein Kohlenkarren und ich mag ihn. Aber ich überlege mir auch ernsthaft, mir für den Winter etwas anderes anzuschaffen und dieses Biest bis zum Frühjahr stillzulegen.« Sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Was fahren Sie jetzt, wenn Sie keine Range Rovers zu Schrott fahren?« -475-
»Ach, ich habe einige alte Klapperkästen in meinem Stall«, sagte er mit einem amüsierten Lächeln. »Ich würde Sie gerne mit hinausnehmen und sie Ihnen zeigen, aber ich habe nicht das richtige Schuhwerk dafür an.« Zur Veranschaulichung hob er einen Fuß im Hausschuh hoch. »Vielleicht kommen Sie wieder einmal zu Besuch, wenn ich mich noch mehr erholt habe.« »Ist das eine Abwandlung von ›Kommen Sie mit hinauf und schauen Sie sich meine Briefmarkensammlung an‹ ?« erwiderte sie und richtete ihren Blick gezielt auf ihn. Er ertappte sich dabei, wie er leise lachte. Sie hatte ein gutes, starkes Gesicht, das eher keck attraktiv als klassisch schön war, mit einer klaren Offenheit, die er bei den Frauen, denen er sonst begegnete, nicht oft entdeckte. Ein diskretes Klopfen an der Tür ersparte ihm die Antwort. Der Butler kam mit dem Teetablett herein. Adam wollte Humphrey gerade ein Zeichen geben, er solle servieren, da er sich nicht sicher war, ob der Umgang mit einem silbernen Teeservice zur Standardausbildung selbstsicherer kalifornischer Ärztinnen gehörte, aber Ximena übernahm graziös, als Humphrey das Tablett auf dem Beistelltisch aus Rosenholz absetzte, und es sah in jeder Hinsicht so aus, als wüßte sie genau, was sie zu tun hatte. »Ich liebe schöne Antiquitäten, die wirklich benutzt werden«, sagte sie, als sie die Tassen und Untertassen aus Sevresporzellan näher heranschob. »Milch und Zucker?« »Ja, bitte. Zwei Stück.« »Der Mann sagt zwei - und zwei für die Dame. Sie wissen natürlich, daß wir beide zu Diabetikern werden.« Während sie den Tee eingoß, schaute sie wieder auf die Konturen der Teekanne. »Ja, eine schöne Arbeit. Ich würde es für Regency halten, oder für kurz danach, möglicherweise sehr früh viktorianisch. Allerdings hat es eine ausgesprochen schottische Note.« Er nickte anerkennend, als sie ihm seine Tasse und Untertasse -476-
reichte. Zusätzlich zu ihrem Esprit und ihrer offensichtlichen Intelligenz hatte sie auch ein gutes Auge - und andere Teile waren auch nicht gerade schlecht. »George IV., 1817«, sagte er. »Es wurde für eine meiner Ururgroßmütter als Hochzeitsgeschenk hergestellt. Hier ist ihr Wappen neben dem der Sinclairs eingraviert.« Er zeigte auf die Wappenschilder, während sie das Sahnekännchen hob, um sich die Gravur genauer anzuschauen. »Woher haben Sie Ihr Wissen über silberne Teeservices?« »Von meiner österreichischen Großmutter«, sagte sie und stellte das Kännchen wieder aufs Tablett. »Nicht alle Yankees sind unzivilisiert, wissen Sie.« »Meine Mutter wird sich freuen, das zu hören«, sagte er mit einem leisen Lachen. »Sie ist Amerikanerin und ein richtiger Yankee - aus gutem neuenglischem Stammbaum. Zufällig ist sie auch Psychiaterin.« »Ja, Sie sagten schon, sie sei Psychiaterin. Praktiziert sie hier?« »Nein, nein, sie ist nur zum Urlaub hier. Nach dem Tod meines Vaters ist sie wieder in die Staaten zurückgegangen. Sie hat eine Klinik in New Hampshire. Ich habe einen Teil meiner Ausbildung in den Staaten absolviert.« »Wirklich? Wo?« Ihr Gespräch drehte sich zum größten Teil um das Medizinstudium, während sie den Tee tranken, doch Adam entdeckte, daß die freimütige Dr. Ximena Lockhart ihn zunehmend fesselte. Als sie eine Stunde später auf die Uhr schaute und erklärte, es sei für sie Zeit zu gehen, tat es ihm wirklich leid, obwohl sein schmerzender Körper ihm sagte, er müsse sich schon längst ausruhen. »Es hat mich wirklich gefreut, Dr. Sinclair - eine willkommene Verschnaufpause vom Chaos der Notaufnahme um diese Jahreszeit.« -477-
»Dann werden Sie wieder einmal zu mir herauskommen müssen«, sagte er und stand auf, als sie sich erhob. »Und nennen Sie mich bitte Adam.« Sie beäugte ihn forschend, dann lächelte sie. »Das würde ich gerne tun - beides«, sagte sie offen. »Und wenn Sie sich auch ohne Erlaubnis von mir entfernt haben, so würde ich doch gern Ihre behandelnde Ärztin bleiben, zumindest bis diese Fäden draußen sind.« Sie zeigte auf den Verband an seinem Kopf. »Das erinnert mich daran, daß ich einmal einen Blick unter den Verband werfen möchte, um zu sehen, wie Sie heilen. Darf ich?« »Sie sind die Ärztin«, sagte er, folgte ihrer Geste und setzte sich. Ihre Berührung war sanft, als sie das Heftpflaster so weit hob, daß sie unter den Verband schauen konnte, und Adam war sich ihrer Nähe angenehm bewußt. »Ja, tatsächlich, Sie heilen sehr gut«, sagte sie, als sie den Verband ganz wegzog. »Hat Mama sich um Sie gekümmert?« Er lächelte ein wenig, denn obwohl Philippa sich die Verletzung kurz nach seiner Heimkehr angeschaut hatte, war der tägliche Verbandwechsel das Werk des unbezähmbaren Humphrey. »Es ist praktisch, wenn man eine Ärztin im Haus hat«, sagte er einfach. Sie faltete den Verband einmal zusammen und warf ihn mit einem Lächeln auf das Teetablett. »Tja, da sie und ich zusammen arbeiten, sollten Sie in ein paar Tagen zum Fädenziehen reif sein. Von jetzt an brauchen Sie keinen Verband mehr. Ich komme dann ein oder zwei Tage vor Weihnachten mal vorbei und mache es selbst. Ich kann Sie ja nicht für die Feiertage wie Dr. Frankensteins Monster aussehen lassen.« -478-
»Sehe ich jetzt so schlimm aus?« neckte er sie. »Nun, kleine Kinder würden Sie nicht gerade erschrecken«, sagte sie schalkhaft, »aber ästhetisch gesehen wirkt schwarze Seide bei Unterwäsche besser als bei einer Naht.« Sie tastete noch einmal sanft die Stellen um die Wunden ab. »Allerdings habe ich ziemlich gute Arbeit geleistet. Tut das weh?« »Nicht sehr«, sagte er nachdenklich. »Die Schulter macht mir am meisten zu schaffen. Ich bin noch ziemlich steif.« »Nun, dann nehmen Sie weiter Mefenaminsäure ein. Sie nehmen es doch noch, nicht wahr? Sie haben ja kein Rezept mit genommen, als Sie so schnell aus dem Krankenhaus abgehauen sind.« Er gluckste. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe mir von Mammi ein neues Rezept ausschreiben lassen, und ich nehme meine Medizin wie ein guter Junge.« »Seehr gut«, sagte sie, als wäre sie erstaunt, dies zu hören. »Ich werde Ihre Mutter einmal kennenlernen müssen, die es fertigbringt, daß Sie den ärztlichen Anordnungen gehorchen. Doch jetzt muß ich wirklich los. Danke für den Tee.« Als sie ihren Mantel nahm, stand er auf und half ihr hinein, wenn auch nur mit einem Arm. »Sie sind jederzeit willkommen. Und danke dafür, daß Sie vorbeigekommen sind. Ich weiß Ihren Besuch zu schätzen.« »Es war mir ein Vergnügen«, erwiderte sie. »Die Ärzte von der Notaufnahme geraten nicht oft in die Lage, Hausbesuche zu machen - und noch dazu in so erstaunlichen Häusern. Und in etwa einer Woche werde ich einen weiteren machen, um diese Fäden zu ziehen - es sei denn, Sie wollen es selbst machen.« »Nein, ich glaube, das überlasse ich meiner behandelnden Ärztin«, sagt er lächelnd, während er sie zur Tür begleitete. »Das wird ihr einen weiteren Grund für einen Besuch geben.« »Werden Sie mir nächstes Mal Ihre ›Klapperkästen‹ zeigen?« -479-
witzelte sie. »O ja, und möglicherweise auch meine Briefmarkensammlung«, gab er zurück. Sie lachte und winkte, während sie die Stufen zu ihrem Auto hinunterging. Adam begleitete sie nicht, denn die Stufen waren vereist und seine Hausschuhe gaben ihm da nicht genügend Halt, doch er blieb in der offenen Tür stehen, bis der gelbschwarze Morgan am Ende der Auffahrt verschwunden war. Dann erst kehrte er wieder in den Schutz des Hauses zurück. Danach zog er sich zu einem dringend notwendigen Schläfchen zurück und erwachte gegen vier Uhr. Jetzt war er wieder zum Essen bereit. Als er gerade fertig war, rief McLeod an, aber die Neuigkeiten waren spärlich. »Unser Vogel scheint sich aus dem Staub gemacht zu haben«, sagte er, während Adam sich bemühte, die Stimme des Inspectors vor den Hintergrundgeräuschen dichten Verkehrs zu verstehen. »Wir sprachen mit seinem Boy, aber Raeburn ist angeblich geschäftlich unterwegs - seltsame Geschäfte, wenn Sie mich fragen. Auf jeden Fall werden Donald und ich ein wenig nachfassen, wenn wir wieder im Büro sind - mal sehen, was wir sonst noch über seinen Lebenslauf herausbekommen.« »Was wissen Sie bis jetzt?« fragte Adam. »Ein bißchen mehr, aus dem Who's Who und solchen Nachschlagewerken. In offiziellen Biographien wird er als Unternehmer aufgeführt - was ja eine ziemlich allgemeine Bezeichnung ist. Alle seine aktuellen Lebensläufe betonen sehr nachdrücklich, daß er echter Schotte sei, in Schottland geboren und aufgezogen. Ich werde weitere Ermittlungen anstellen. Im Laufe des morgigen Tages dürfte ich etwas Konkreteres haben.« McLeod rief erst am Nachmittag des folgenden Tages zurück. Doch als Adam die Stimme des Inspectors hörte, wußte er, daß McLeod Grund hatte, aufgeregt zu sein. »Tja, wir können einen neuen Erfolg verbuchen«, sagte der -480-
Inspector. »Ich wußte doch, daß etwas an ihm verdächtig war, abgesehen davon, daß er einfach ein unangenehmer Bursche ist. Ich habe mich mit dem Personenstandsregister im St. Catherine's House in London in Verbindung gesetzt, um Nachforschungen sowohl im Geburts- wie auch im Heiratsregister anstellen zu lassen. Unser Mr. Raeburn ist nicht in Schottland geboren, und nur einer seiner Elternteile war schottisch. Er wurde in London geboren und später von seinen Großeltern mütterlicherseits in ihrem Haus Nether Leckie bei Stirling aufgezogen, wo er jetzt wohnt. Raeburn ist eigentlich der Name seiner Mutter.« »War sie dann nicht mit seinem Vater verheiratet?« fragte Adam. »O doch, sie war mit ihm verheiratet, alles in Ordnung. Er ist ehelich geboren.« »Sie werden mir gleich noch den zweiten Punkt verraten«, sagte Adam. »Wer war sein Vater?« »Wie wäre es mit einem Waliser namens David TudorJones?« Mit einem Klick fügten sich plötzlich viele der noch übrigen Stücke des Puzzles zusammen. David Tudor-Jones war in der Zeit von Adams Vorgänger der Meister der Loge der Luchse gewesen, und er war am unmittelbarsten für den Tod von Sir Michael Brodie, Lady Julians Ehemann, verantwortlich. »Du lieber Himmel«, sagte Adam ausdruckslos. »Ist Ihnen klar, über wen wir hier reden?« »Aye. Es sieht so aus, als wäre Philippa nicht die einzige, die ihr Wissen und ihre Berufung an ihren Nachwuchs weitergegeben hat. Ich dachte, dieser Stammbaum sei schon vor Jahren an den Wurzeln abgeschnitten worden.« »Das dachte ich auch«, pflichtete ihm Adam bei. Er starrte geistesabwesend auf die Wand und sah nicht die Tapetenmuster von Lilien und Weizenähren, sondern das Bild, -481-
wie Randall Stewart in einem verschneiten Wald nördlich von Blairgowrie tot in seinem gefrorenen Blut lag - und dann kam eine viel frühere Erinnerung, als er selbst kaum mehr als ein junger Falke wie Peregrine war und mit einer früheren Gruppierung der Jagdloge um den erschlagenen Michael Brodie trauerte. »Also, in welche Richtung gehen wir weiter?« fragte McLeod nach einem vielsagenden Schweigen, in dem nur die Geräusche des Verkehrs im Hintergrund zu hören waren. »Wir wechseln in die Gangart der Jagd über«, erwiderte Adam scharf. »Ich denke an die Pendelarbeit, die Peregrine am Sonntag gemacht hat. Ich glaube, es wäre nützlich, diese Gegend in den Cairngorms zu überprüfen, auf die er immer wieder zurückkam. Jetzt wissen wir, warum er immer wieder Stirling anzeigte. Glauben Sie, Sie könnten sich morgen freinehmen?« »Unmöglich, so kurzfristig«, antwortete McLeod. »Ich bin immer noch mit dem Dunfermline-Fall beschäftigt. Aber am Donnerstag könnte ich vielleicht loskommen.« »Das wird dann reichen müssen«, sagte Adam. »Wahrscheinlich sollte ich sowieso mal im Krankenhaus vorbeischauen. Seit letztem Mittwoch habe ich keine Visite mehr gemacht. Ich möchte jedoch, daß Sie unbedingt dabei sind, falls es auch nur die geringste Chance gibt, daß die Luchse sich dort oben ein neues Nest geschaffen haben.« »Sind Sie sicher, daß Sie dafür schon fit sind?« fragte McLeod. »Ich werde es schaffen - und besser noch, wenn Sie dabei sind, als ohne Sie«, sagte Adam. »Ich werde auch Peregrine mitnehmen. Es wird eine Vorbereitung für seine Einweihung sein. Übrigens, wir haben Freitagabend ins Auge genommen, um für Gillian Talbot die Fragmente wieder zusammen zufügen und Peregrine hoffentlich offiziell in die Loge aufnehmen zu -482-
können. Kann ich auf Sie zählen?« »Ich würde es mir nicht entgehen lassen«, erwiderte McLeod. »Dann planen wir unseren Ausflug in den Norden also für Donnerstag. Es hat viel Schnee gegeben. Wie steht's mit dem Fahrzeug? Ihr Rover ist nur noch für den Schrottplatz gut, und in der Gegend dort werden wir einen Wagen mit Vierradantrieb brauchen.« »Wie wäre es, wenn Sie einen passenden Leihwagen ausfindig machten und ihn am Donnerstagmorgen hierher brächten?« schlug Adam vor. »Reicht Ihre Kreditkarte für die Anzahlung? Ich werde dann alles auf meine Karte nehmen, wenn ich das Auto zurückbringe. Und Peregrine und ich werden Sie am Donnerstag nach unserer Rückkehr heimfahren.« »Das geht«, stimmte McLeod zu. »Wann soll ich am Donnerstagmorgen bei Ihnen sein?« »Kommen Sie so gegen sechs, und ich werde Humphrey ein herzhaftes Frühstück machen lassen, bevor wir losfahren. Auf diese Weise sind wir schon hinter Perth, bevor der Morgenverkehr einsetzt. Inzwischen halten Sie mich bitte auf dem laufenden, wenn sich morgen irgend etwas Neues ergibt, ja?« Als McLeod aufgelegt hatte, ließ Adam Humphrey eine schriftliche Nachricht zum Torhaus bringen, denn er wußte, daß Peregrine bei einer Sitzung für einen neuen Porträtauftrag war und wahrscheinlich erst spät zurück kommen würde. Später aßen Mrs. Talbot und Peregrine mit ihm zu Abend, doch danach nahm Adam seine Mutter beiseite und unterrichtete über die neuesten Entwicklungen und Pläne, bevor er zeitig zu Bett ging. Von Tag zu Tag erholte er sich mehr. Am Mittwochmorgen gelang es ihm tatsächlich, zum ersten Mal seit seinem Unfall seine Krawatte ohne die Hilfe eines anderen zu binden, und er fühlte sich fast wie früher, als Humphrey ihn nach Jordanburn fuhr. Er hatte die breite -483-
Schlinge aus Segeltuch und Nylongewebe gegen einen diskreteren schwarzen Seidenschal ausgetauscht, der sein Handgelenk hielt, da er immer noch seine verletzte Schulter entlasten mußte. Doch dies verlieh seinem gewöhnlich eleganten Erscheinen nur einen subtilen Schmiß und fiel bei seinem marineblauen Anzug kaum auf, als er eine Visite bei all seinen Krankenhauspatienten machte und ein improvisiertes Seminar für seine Studenten abhielt. Nach dem Mittagessen ließ er, einer Eingebung folgend, Humphrey einen Abstecher zum Royal Infirmary machen. Auf dem Ärzteparkplatz fiel ihm ein unverwechselbarer gelbschwarzer Morgan ins Auge, und so wies er Humphrey an, in einer der Ambulanzhaltebuchten vor der Notaufnahme zu halten, während er hineinschaute. Drinnen ging es geschäftig zu, wie bei einer solchen Einrichtung nicht anders zu erwarten, doch obwohl er Ximena nicht sofort entdeckte, erkannte er den Pfleger wieder, der ihn am vorangegangenen Freitag herumgefahren hatte. »Guten Tag, Mr. Sykes«, sagte er, als der adrette Jamaikaner aufschaute und ihn angrinste. »Heh, Dr. Sinclair! Wie geht es Ihnen? Dr. Lockhart war wirklich verärgert, als Sie letzte Woche wie Houdini verschwanden. Sind Sie hier, um die Fäden gezogen zu bekommen?« »Das kommt erst in ein paar Tagen dran«, erwiderte Adam lächelnd. »Wissen Sie, ob man sie sprechen kann?« »Hmmm, ich glaube, sie ist gerade bei einem Patienten, aber ich schau mal nach, wie lange das noch dauert.« Er steckte den Kopf in einige Behandlungsräume, aber als er ein paar Minuten später aus dem letzten herauskam, schüttelte er den Kopf. »Mann, da warten noch zwei auf sie nach dem jetzigen«, sagte Sykes. »Sie könnten jedoch ein paar Worte mit ihr -484-
wechseln, während sie von dem einen zum anderen überwechselt, wenn Sie schnell sind. Sind Sie hier, um sie zu dem Dinner einzuladen, das sie gewonnen hat?« »Tja, ein Gentleman nimmt nie ein Versprechen zurück, das er einer Dame gegeben hat«, erwiderte Adam und unterdrückte ein Grinsen. »Für heute abend sieht es allerdings nicht sehr vielversprechend aus, oder?« »Hmmm, ich fürchte nein, Doc. Alle versuchen für die Feiertage zusätzlich frei zubekommen, und einer unserer Ärzte ist schon die ganze Woche nicht erschienen. Die arme Dr. X arbeitet sich noch ihren hübschen Hintern ab, weil sie für alle einspringt - äh, das soll nicht unhöflich sein, Sir. Sie ist eine außergewöhnliche Ärztin.« »Ja, beide Qualitäten sind mir aufgefallen«, sagte Adam mit höflicher Zurückhaltung, doch etwas in Sykes' Bemerkung über einen Arzt, der bei der Arbeit fehlte, hatte sein Interesse geweckt. »Wer ist denn der Arzt, der nicht erschienen ist? Vielleicht kenne ich ihn.« »Es ist Dr. Wemyss. Sie haben ihn vielleicht an dem Tag getroffen, als Sie hier eingeliefert wurden. Doch hier ist sie selbst. Machen Sie schnell, wenn Sie sie erwischen wollen!« Sykes verschwand im Hintergrund, als Ximena aus dem Behandlungsraum kam, sich nach Adam umblickte und ihn dann entdeckte. Sie lächelte ihn müde an und streckte ihm die Hand entgegen, als sie auf ihn zukam. Während sie ihm die linke Hand drückte, blickte sie beifällig auf seine Seidenschlinge. »Hallo, Adam. Was für eine angenehme Überraschung an einem ansonsten gräßlichen Tag. Was tun Sie denn in der Stadt?« »Ich dachte, ich sollte lieber einmal meine Visite machen«, sagte er ungezwungen. »Ich hatte die meisten meiner Patienten schon eine ganze Woche nicht mehr gesehen - noch schlimmer als Ihr fehlender Kollege.« -485-
»Ach, Sie meinen Dr. Wemyss«, sagte sie. »Sykes muß Ihnen von ihm erzählt haben. Ein merkwürdiger Bursche - ein guter Arzt, aber nicht sehr sympathisch. Allmählich machen wir uns allerdings Sorgen um ihn. Seit Samstag hat ihn niemand mehr gesehen. Aber wie geht es Ihnen?« Er zuckte mit den Achseln und lächelte. »Ich bin spürbar auf dem Weg der Besserung - und bereit zum Dinner heute abend, wenn Sie es auch sind.« Sie schnitt ein Gesicht und zog die Nase kraus. »Ach, Sie sind aber grausam. Ich habe noch kein Mittagessen abbekommen, und es gibt keine Möglichkeit, daß ich zum Dinner wegkomme. Vielleicht später in der Woche, falls Wemyss zurück kommt oder wir eine Vertretung bekommen.« »Leider habe ich schon an den nächsten beiden Abenden eine Verabredung«, sagte Adam, der sich merkwürdig enttäuscht fühlte, »aber vielleicht wird es am Wochenende möglich sein. Haben Sie immer noch vor, nach Strathmourne zu kommen und meine Fäden zu ziehen?« »Verzeihen Sie, Dr. Lockhart, aber wir sind jetzt für Sie bereit«, rief eine Krankenschwester aus einem anderen Behandlungsraum. Ximena rollte mit den Augen und winkte der Krankenschwester bestätigend zu. Sie wirkte frustriert. »Die Absicht habe ich gewiß noch, aber hier geht es ja verrückt zu! Ich werde versuchen, Sie zuerst anzurufen. Es kann allerdings ganz kurzfristig sein.« »Einverstanden«, sagte Adam. »Falls Sie schnell einmal zu den Ambulanzhaltebuchten hinausschauen, bekommen Sie eine kostenlose Vorschau auf den Rundgang durch meine Garage.« Als er mit dem Kinn nach draußen wies, trat sie ein paar Schritte näher an die Tür und schaute in die entsprechende Richtung. -486-
»Ein alter Bentley. Hübsch«, murmelte sie und blickte ihn beifällig an. »Sir Adam Sinclair, Sie sind akzeptiert! Aber jetzt muß ich gehen. Ich rufe Sie an. Tschüs!« Nach diesen Worten trat sie schnell an ihn heran und gab ihm einen flüchtigen Kuß auf die Wange, dann war sie weg und hinterließ ihm nur noch einen letzten Blick auf ihren schwarzen Pferdeschwanz, der vor ihrem grüngekleideten Rücken auf und ab hüpfte. Er mußte ein törichtes Grinsen im Gesicht gehabt haben, denn Pfleger Sykes nickte ihm amüsiert wissend zu, als er sich aufraffte, wieder in die Kälte hinaus zugehen. Auf der Heimfahrt wollte er ihr Bild in Gedanken festhalten, doch er ertappte sich dabei, wie er statt dessen über den verschwundenen Dr. Wemyss nachdachte, der am Samstag zum letzten Mal gesehen worden war. Er hatte den Namen schon früher einmal gehört. Er brauchte eine Weile, um sich daran zu erinnern, wo der Name Wemyss schon einmal aufgetaucht war, aber als Humphrey sich mit dem großen Bentley Strathmourne House näherte, hatte er die Erinnerung wieder gefunden: ein Gespräch zwischen der hübschen rothaarigen Krankenschwester von Freitagnacht und dem Apotheker, der die Medikamente heraufgebracht hatte, an denen sich jemand zu schaffen gemacht hatte - es war darum gegangen, daß er verspätet war, weil ein Dr. Wemyss darauf bestanden hatte, einige Verschreibungen zu überprüfen. Das mußte der Augenblick gewesen sein, als die Medikamente ausgetauscht worden waren - und Wemyss' Verschwinden seit Samstag legte den Gedanken nahe, daß er derjenige gewesen sein mochte, der für die astrale Luchsattacke der vorausgegangenen Nacht verantwortlich war und jetzt untertauchte, nachdem es ihm nicht gelungen war, Adam zu erledigen. Ein ernüchternder Gedanke, aber es war ermutigend, daß er einen Namen für seinen mutmaßlichen Angreifer hatte. Wenn er jetzt eine Verbindung zwischen Wemyss und Raeburn -487-
herstellen könnte... Als er wieder zu Hause war, rief er McLeod an, um ihn zu bitten, er solle Donald Cochrane auf diesen Namen ansetzen, aber der Inspector und Cochrane hatten schon das Präsidium verlassen, vermutlich um das Auto für die Fahrt des morgigen Tages zu besorgen. So rief er dann das Royal Infirmary an und ließ sich Wemyss' Vornamen sagen - Preston -, dann speicherte er diese Information ab, um McLeod am nächsten Morgen davon zu erzählen, wenn sie nach Norden unterwegs wären. Kapitel 32 Am nächsten Morgen erzählte Adam davon beim Frühstück McLeod und Peregrine, während sie alle Porridge, Eier und Toast aßen und zu dritt fast ein Dutzend Speckschnitten vertilgten, dazu Mrs. Gilchrist's allgegenwärtige Brötchen, hinuntergespült mit Tee - Brennstoff für einen Tag in der Kälte im Freien. Philippa nahm an der Besprechung teil, beschränkte sich jedoch auf ihre übliche Kost: Grapefruit, Tee und Toast. Dann zogen sie ihre Landkarten zu Rate und legten ihre Route fest. Kurz bevor sie losfuhren, rief McLeod Donald Cochrane zu Hause an und sagte ihm, er solle sich auf die Spur von Preston Wemyss machen. »Finden Sie alles darüber heraus, was Sie können, ohne unnötigen Verdacht zu erregen, Donald«, wies McLeod seinen Mitarbeiter an. »Es sieht so aus, als gäben Freunde und Kollegen bald eine Vermißtenanzeige auf, was uns gewiß das Leben leichter machen würde, aber im Augenblick wissen wir nicht, ob er etwas Unrechtes getan hat. Es ist nicht gegen das Gesetz, zu verschwinden. Ich möchte jedoch wissen, ob Sie irgendeine Verbindung zu Raeburn herstellen können.« »Wird gemacht, Inspector«, erwiderte Cochrane. »Und viel Glück, Sir.« »Danke, Donald.« -488-
Kurz nach sieben waren sie schon unterwegs. Der weiße Toyota Land Cruiser, den McLeod für die Fahrt gemietet hatte, war nicht so luxuriös und komfortabel wie der Range Rover, aber er fraß die Kilometer mit Leichtigkeit und wurde mit dem teilweise scheußlichen Straßenzustand gut fertig, auf den sie hinter Perth stießen. In der Hoffnung, sie könnten damit die schlimmsten winterlichen Bedingungen umgehen, nahmen sie hinter Perth eine westlichere Route, anstatt direkt durch Blairgowrie und Braemar zu fahren. Sie kamen ziemlich gut voran und durchquerten Orte mit so historischen Namen wie Pitlochry, Killiecrankie und Blair Atholl und fuhren am immergrünen Saum des Waldes von Atholl entlang. Dann ging es bergauf durch die Grampian Mountains, und als die A9 wieder nach Norden bog, auf Kingussie und Aviemore zu. Sie hielten sich wieder mehr in Richtung Osten, umfuhren die dunkle Festung des Waldes von Glen More und kamen immer näher an das Gebiet heran, das Peregrine in den Cairngorm Mountains eingekreist hatte. Es ging schon auf Mittag zu, als sie von einer Straße, die in diesen Teilen der Highlands als Hauptstraße galt, abbogen und sich auf einer anderen entlangschlängelten, die zwar noch geteert, aber mit Eisglätte und zahllosen Schlaglöchern auch ziemlich tückisch war. Sie suchten nach einer noch schmaleren Abzweigung, die auf ihren Landkarten nur noch als blasse blaue Linie verzeichnet war. Sie erschien schließlich auf der unübersichtlichen Seite einer scharfen Kurve, und McLeod mußte scharf bremsen und einige Meter zurückstoßen, bevor er den Toyota vorsichtig durch die schmale Lücke zwischen zwei Quadersteinen, die als Markierungen dienten, hindurch lenken konnte. Die einspurige Straße, die hier begann, war holperig und ausgefahren, an manchen Stellen fast ganz zugeschneit, und der Vierradantrieb des Toyota wurde unentbehrlich, während sie auf der Spur dahinkrochen und nervös nach vorn schauten. Einige -489-
Male blickte McLeod zu Peregrine zurück, als wollte er fragen, ob sie noch weiterfahren sollten, aber Peregrine nickte immer bejahend. Nach einer halben Stunde derartiger Fahrerei kamen sie schließlich zu einem Tor aus Wellblech, neben dem ein Schild verkündete: Privatbesitz - Für Unbefugte verboten. Ein rostiges, doch robust wirkendes Vorhängeschloß versperrte das Tor, zu beiden Seiten zog sich ein Stacheldrahtzaun hin, der in Schneewächten und der zunehmenden Düsternis verschwand. Hinter ihnen hoben sich ihre Reifenspuren schwarz wie Lakritzstränge vom Schnee ab und begannen schon zu vereisen. Mittag war vorbei, eine frühe Dämmerung begann schon zu fallen. Um ein Uhr in den nördlichen Highlands, genau einen Tag vor Mittwinter - da hatten sie noch vielleicht zwei Stunden mit passablem Licht vor sich, bevor es dunkel wurde, selbst wenn das Wetter so blieb. Ein leichter Schneefall hatte schon begonnen, ihre Windschutzscheibe zu überstäuben, und Adam beugte sich herüber und schaltete die Scheibenwischer ein. »Was meint ihr?« fragte er ruhig, während das Geräusch der Scheibenwischer sich in den leisen Ton des Motors im Leerlauf mischte. »Ich meine«, sagte McLeod, während Peregrine den Hals reckte und zwischen den Sitzlehnen hindurchspähte, »daß wir von hier an zu Fuß weitergehen sollten, wenn überhaupt. Ich meine außerdem, daß ich wenden sollte, bevor wir aussteigen. Mir gefällt es hier nicht.« »Mir ebenfalls nicht«, sagte Adam ruhig. »Nicht, daß wir etwas anderes erwartet hätten.« McLeod mußte fast zwanzig Meter bis zu einer etwas breiteren Stelle der Straße zurückstoßen, bis er das notwendige Wendemanöver durchführen konnte, und selbst dann mußte er ein halbes Dutzend Mal hin und her rangieren, bis er den Wagen gewendet hatte. Als er den Motor abstellte, legte sich die Stille -490-
des Ortes wie ein Mantel drückend und schwer über sie. Einige Sekunden lang wagte keiner von ihnen zu sprechen oder gar zu atmen, bis Adam schließlich hinter den Sitz langte, damit Peregrine ihm seine Schneestiefel reiche, und nun begannen sie alle, sich darauf vorzubereiten, den Elementen die Stirn zu bieten. Peregrine senkte den Kopf, während er seine Wanderstiefel zuband, doch er sah, wie McLeod die wohlbekannte Browning Hi-Power in den Hosenbund und ein paar zusätzliche Patronenrahmen in die Taschen seines schwarzen Anoraks steckte. Adam hatte seine Schlinge zu Hause gelassen und ließ sich jetzt von McLeod in den Schaffellmantel helfen, als sie aus dem Auto gestiegen waren. Noch auf dem Beifahrersitz hatte er sich ein kleines Pentax-Fernglas umgehängt, jetzt steckte er es in die Vorderseite seines Mantels, bevor er ihn teilweise zuknöpfte und eine weiße enganliegende Strickmütze und mit Pelz gefütterte Handschuhe anzog. Peregrine vermutete, daß Adam auch seinen sgian dubh bei sich trug. Gewiß trugen er und McLeod beide unter den Handschuhen ihre Ringe; Peregrine hatte den seinen tief in einer Hosentasche versteckt. Ansonsten war er nur mit seinem Verstand, einem Skizzenblock und Bleistiften bewaffnet. Er hatte sich dagegen entschieden, seinen ganzen Skizzenkasten mit zu bringen - dann hätte er nur eine zusätzliche Last gehabt, falls sie einen schnellen Rückzug antreten mußten. Doch diesmal hatte er daran gedacht, gefütterte Handschuhe mitzunehmen, so daß er in der Kälte zeichnen konnte, und er hatte eine knubbelige ArranMütze auf, die seine Ohren warmhielt. McLeod war ähnlich gegen die Kälte gerüstet und hatte überdies noch eine Polaroidkamera dabei, die er aus seiner Mehrzwecktasche hinter den Vordersitzen herausholte. Um seinen Hals hing ebenfalls ein Fernglas, größer als das von Adam. »Mir kam der Gedanke, Fotos könnten nützlich sein«, sagte er, als er die Autotür schloß, ohne sie zuzuknallen oder -491-
abzusperren. »Wahrscheinlich wird es zu dunkel sein, um viel draufzukriegen, aber ein Versuch kann ja nicht schaden. Jetzt schauen wir mal, wie weit wir kommen. Und dämpft eure Stimmen. Töne dringen hier weiter, als man meinen würde.« Ihr erstes Hindernis war das Tor, aber sie machten sich damit keine Mühe. McLeod ging etwa zwanzig Meter am Zaun entlang nach links, wo einige der Pfosten umgesunken waren. Vorsichtig hielt er die Autoschlüssel etwa fünf Zentimeter über den obersten Stacheldraht, dann ließ er sie rittlings auf den Draht fallen - ohne sichtlichen Effekt. »Tja, zumindest steht der Draht nicht unter Strom«, murmelte er und hob die Schlüssel wieder auf, dann packte er den obersten Draht mit beiden behandschuhten Händen, während er mit dem Stiefel die anderen zu Boden drückte. »Natürlich kann es sein, daß ich einen anderen Alarm ausgelöst habe - und ebenso ist es möglich, daß ich schlicht paranoid bin. Kommt durch, ihr zwei.« Adam bückte sich steif durch die Lücke, dann half er Peregrine hindurch zuschlüpfen, schließlich hielt er den obersten Draht für McLeod, der ihnen folgte. Vor ihnen zog sich die schneebedeckte Straße in eine immer weißer werdende Fläche hinein, lief sanft bergauf und bog nach rechts ab. »Ich gehe voran«, murmelte McLeod und machte sich zielstrebig auf den Weg. »Ihr beide bleibt auf der Hut!« Dann stürmte er auf der einen Straßenseite voran und suchte ständig mit seiner Fliegerbrille das Gelände ab. Peregrine und Adam folgten ihm nebeneinander. Etwa achthundert Meter gingen sie schweigend die Straße hinauf, bis sie auf einem Steinbogen einen schmalen, halbgefrorenen Wasserlauf überquerten. Von irgendwo weiter oben im Tal hörten sie das Glucksen von Wasser, das unter dem Eis floß. Als sie weitergingen, jetzt spürbar bergauf, nahm Peregrine eine seltsame Unterströmung von Schwingungen in der Luft wahr, wie das tiefe Grollen fernen Donners. Ein Blick auf Adam bestätigte ihm, daß er ebenfalls etwas spürte oder war es vielleicht nur die -492-
Anstrengung des ansteigenden Weges? »Sind Sie okay?« flüsterte Peregrine. »Aye.« Adam preßte die Lippen aufeinander und kniff die Augen zusammen, während er das Gelände vor ihnen absuchte. Unter dem Streß der Schmerzen, die seinem Körper noch zu schaffen machten, atmete er etwas schwerer als sonst, während er sich die scharfe Steigung hinauf arbeitete. Oben wartete McLeod auf sie. Er kauerte hinter den Überresten einer uralten Steinmauer und richtete sein Fernglas auf etwas, das noch in einiger Entfernung zu ihrer Linken lag, neben einem niedrigen Wasserfall oberhalb des Baches. Adam gab Peregrine ein Zeichen, er solle den Kopf tiefhalten, kämpfte sich die restlichen paar Meter vor und ließ sich neben dem Inspector nieder, während Peregrine sich auf der anderen Seite niederhockte. Stumm zeigte McLeod auf eine verschwommene Kontur, von der man gerade noch wahrnehmen konnte, daß sie zu einem künstlichen, anscheinend aus Steinen errichteten Bauwerk gehören mußte. »Wofür halten Sie das?« flüsterte er. »Ist es vielleicht ein Luchsbau?« Adam antwortete nicht, sondern zog sein Fernglas heraus und versuchte es auf das ferne Gebäude einzustellen. Immer noch fiel etwas Schnee, aber selbst wenn man dies berücksichtigte, so wirkte das Bild, das das Fernglas heranzog, seltsam undeutlich. Adam hauchte die Linsen an, um allen Staub abzuwischen, und korrigierte das Glas für einen zweiten Blick, doch McLeod schnaubte leise. »Bei Ihnen auch, was?« flüsterte er. »Es hat keinen Zweck. Der Ort ist so schwer geschützt, daß ich außer einem allgemeinen Umriß nichts erkennen kann. Es läßt sich auch nicht richtig fotografieren. Schauen Sie sich das an.« Er holte einige Polaroidschnappschüsse aus der Tasche, doch obwohl die Umgebung des Gebäudes für die Entfernung und die -493-
Wetterbedingungen ziemlich deutlich zu erkennen war, wirkte das Bauwerk selbst zu verschwommen, als daß man hätte viel sehen können. »Können wir nicht noch näher herankommen?« fragte Peregrine. »Nicht ohne das Risiko, entdeckt zu werden«, erwiderte Adam. Noch während er sprach, spürte er, wie die dunkle Macht, die in diesen turmhohen Mauern wohnte, seine Nerven reizte wie Eisenketten, die an wundgeriebener Haut schabten. Ohne ihr mehr Kraft entgegenzusetzen, als hier im Augenblick aufgeboten werden konnte, wäre die Wirkung aus größerer Nähe vernichtend gewesen. Trotzdem zögerte er, den Befehl zum Rückzug zu geben, bevor sie Gelegenheit hätten, sich einen etwas klareren Eindruck davon zu verschaffen, was das dort oben war. »Was sehen Sie, Peregrine?« fragte er leise und richtete seinen Blick auf den Künstler. »Schauen Sie durch das Fernglas und versuchen Sie, ob Sie es scharf einstellen können.« Er reichte sein Fernglas Peregrine, der seine Brille abnahm und das Glas an die Augen hielt. Optisch war keine Schärfe herzustellen, aber Peregrine hatte das Gefühl, er könnte vielleicht etwas mehr sehen, wenn er seine tiefere Sehkraft wachriefe. »Lassen Sie mich mal mit dem Bleistift ran«, sagte er mit mehr Überzeugung, als er wirklich empfand. »Bin ich nicht schließlich deshalb hier?« Während Adam und McLeod besorgte Blicke austauschten, wand sich Peregrine, bis er an den Skizzenblock in seinem Dufflecoat kam, zog mit den Zähnen seine äußeren Handschuhe aus und stopfte sie dann in eine Tasche. Er holte gerade einen Bleistift aus einer Innentasche, als Adam ihm eine Hand einhaltgebietend auf die Schulter legte. »Warten Sie einen Augenblick, Peregrine«, sagte er, während -494-
McLeod um beide herumging und sich an Peregrines linker Seite niederließ. »Geben Sie uns eine Chance, Sie mit etwas Schutz zu umgeben, bevor Sie anfangen. Das dort oben ist anders als alles, womit Sie es bisher zu tun gehabt haben.« Verblüfft, aber ihrem Urteil vertrauend, hielt Peregrine mit dem Bleistift in der Hand inne, setzte seine Brille wieder auf und neigte den Kopf, während sich von beiden Seiten Hände auf seine Schultern legten. Er verstand die Worte nicht, die Adam nahe an seinem rechten Ohr murmelte, doch er spürte, wie ihn allmählich eine Wärme umgab, die nicht physikalischer Natur war. Einen Augenblick später fühlte er, wie Adams Griff an seiner Schulter fester wurde und damit anzeigte, daß er und McLeod fertig waren. »Okay, machen Sie - aber seien Sie vorsichtig«, sagte Adam leise. Peregrine holte tief Luft, hob seinen Blick auf das Ziel, das vor ihm lag, und kniff die Augen zusammen. Die Gegenstände in der Nähe verschwammen wie in einem Dunst. Er tat einige weitere tiefe Atemzüge, wie ein Perlenfischer, der sich auf einen Kopfsprung vorbereitet, dann tauchte er hinein, wobei er sich vorsichtig ausdehnte, um durch die Wolke aus Feindseligkeit hindurch zu schauen, die ihn und seine Beschützer vom Bollwerk ihrer Feinde trennte. Es war, als watete er durch einen verschmutzten Fluß. Er spürte fast, wie ein ungesunder Film seelischer Verderbtheit an seiner Haut kleben blieb. Vor Abscheu zitternd, bemühte er sich, in das Herz des Nebels vorzudringen. Vor seinen Augen kräuselte sich etwas ekelerregend, und plötzlich hatte er, für die Dauer eines Wimpernschlags, einen ungehinderten Blick auf die Burg und ihre äußere Umgebung. Im selben kurzen Augenblick der Wahrnehmung wurde sich die brütende geistige Präsenz in dem Haus des Eindringlings bewußt und schlug mit einem willkürlichen Energiestoß zurück, -495-
dessen Gewalt wie ein auf seine Augen gezielter Peitschenhieb wirkte. Noch während Peregrine keuchend zurück zuckte, prallte die Energie an die unsichtbare Mauer, die Adam und McLeod errichtet hatten. Es gab ein scharfes Knistern, wie von unsichtbaren Funken, und dann ein plötzliches, abgründiges Schweigen. »Das reicht! Wir müssen hier weg!« befahl McLeod, faßte ihn am Arm und begann ihn den Hang hinab zu schleifen, während Adam sich aufrappelte und folgte. »Versuchen Sie Ihren Geist so leer wie möglich zu halten und schauen Sie nicht zurück.« Zusammen traten sie einen hastigen Rückzug in die Richtung an, aus der sie gekommen waren, und stapften durch den Schnee, der jetzt noch etwas tiefer war als zuvor. Als sie wieder beim Auto ankamen, atmeten sie alle mühsam und schwitzten in der schweren Winterkleidung. Adam war weißer als die Mütze, die er sich vom Kopf riß, als er fast auf den Beifahrersitz fiel. Während McLeod auf den Fahrersitz kletterte und den Motor anließ, fingerte Peregrine auf dem Rücksitz hektisch an seinem Sicherheitsgurt herum und machte sich auf eine wilde Fahrt gefaßt, wie er sie von McLeod schon kannte. »Haltet euch alle fest«, sagte McLeod, als er auf das Gaspedal trat. Der Toyota sprang vorwärts, drehte sich und schwänzelte, bis McLeod den Vierradantrieb einlegte. Das Zwielicht wurde tiefer, doch er wagte es nicht, die Scheinwerfer einzuschalten, aus Angst, ihre Position zu verraten, falls sie verfolgt würden. Adam hatte seine Handschuhe ausgezogen und hielt sich mit der linken Hand am Haltegriff fest. Er hatte die Augen geschlossen und den Kopf auf den Rücken der rechten Hand gelegt. Zuerst dachte Peregrine, Adam konzentriere sich darauf, nach dem wilden Sprint wieder zu Atem zu kommen, doch dann erkannte er, daß die seltsame Haltung von Adams rechter Hand dazu diente, den Stein seines Ringes an die Stirn zu drücken. -496-
»Adam?« wagte er zu flüstern, während das Auto dahinholperte und schlitterte. »Lassen Sie ihn in Ruhe!« versetzte McLeod und murmelte etwas, als er vor einer weiteren Kurve bremsen mußte. »Aber was macht er?« »Er schützt uns. Versuchen Sie, es auch zu tun.« »Aber wie...« »Ich habe es Ihnen schon vorhin gesagt - versuchen Sie Ihren Geist leerzuhalten.« Die Antwort duldete keine weitere Diskussion oder Frage. In seine Schranken gewiesen, lehnte sich Peregrine zurück und versuchte McLeod zu gehorchen. Er tat sein Bestes, in seinem Geist die Vorstellung einer leeren Leinwand festzuhalten, die auf seinen Pinsel wartete. Es war schwer, weil er immerzu darauf malen wollte, und einige der Bilder, die ihm dabei in den Sinn kamen, durchaus nicht angenehm waren - wahrscheinlich genau der Grund, weshalb er seinen Geist leerhalten sollte. Etwa um die Zeit, als McLeod mit dem Auto wieder auf geteerter Straße fuhr und Geschwindigkeit zulegen konnte, hatte Peregrine heraus bekommen, wie man den Geist leerhielt. Und als sie wieder in die A9 einbogen und gen Süden rasten, war er fast eingedöst. »Jetzt sind wir in Sicherheit«, sagte Adam plötzlich, als sie an den Ausfahrten nach Kingussie und Newtonmore vorbei kamen und wieder südwärts in die Grampian Mountains unterwegs waren. »Noel, ich glaube, wir können gefahrlos am nächsten Rastplatz ein paar Minuten haltmachen. Peregrine, in dem Korb hinter Ihrem Sitz sind ein paar Sandwiches und Tee.« Die Art, wie McLeod erleichtert seufzte, legte Peregrine den Gedanken nahe, daß ihre Flucht vielleicht doch keine so ausgemachte Sache gewesen war, wie er zuerst gedacht hatte. Während er den Korb hervorholte und auf den Sitz neben sich -497-
stellte, hielt er Augen und Ohren offen und den Mund geschlossen; er begann im Korb herumzukramen und zu untersuchen, was Humphrey für sie eingepackt hatte. Nach ein paar weiteren Minuten erreichten sie den erwünschten Rastplatz, McLeod verlangsamte den Toyota und hielt an. Es schien aufgehört haben zu schneien, und als McLeod den Motor abgestellt hatte, nahm er seine Brille ab, warf sie aufs Armaturenbrett und stieß einen gewaltigen Seufzer aus. »Tja, das ist gerade noch einmal gutgegangen«, sagte er. »Reichen Sie mir bitte ein Sandwich, Peregrine. Das Frühstück ist schon einige Stunden her, und ich verhungere, wenn ich nicht etwas zu essen bekomme.« Mit großen Augen legte Peregrine ein Sandwich in die Hand, die über McLeods Lehne nach hinten langte, ein weiteres reichte er Adam. Als die beiden zu essen begannen, nahm er sein eigenes Sandwich in Angriff, obwohl er darauf brannte, mehr zu erfahren, aber er war entschlossen, nicht zu fragen. McLeods Hände zitterten, während er aß, und als Peregrine es bemerkte, reichte er Adam eine der Thermosflaschen und sagte: »Wollen Sie ihm nicht etwas Tee geben?« Adam murmelte dankend, füllte einen Becher und gab ihn McLeod in die Hand. Als der Inspector ihn zur Hälfte leergetrunken hatte, lehnte er, den Becher in den Händen, seinen Kopf an die Nackenstütze und schloß die Augen. Adam drehte sich auf seinem Sitz halb herum und schaute Peregrine an. »Alles in Ordnung. Bevor ich erkläre, was vorhin passiert ist, sollten Sie mir zuerst sagen, was Sie gesehen haben.« Peregrine schüttelte den Kopf. Während der letzten Stunde oder länger, die ganze Zeit, seit sie von den Cairngorms zurückgefahren waren, hatte er versucht zu entscheiden, was er denn tatsächlich gesehen hatte. »Ich weiß es wirklich nicht, Adam. Es war mächtig, aber es war nicht wie das Zeug, das ich bisher immer in Verbindung mit -498-
den Luchsen gesehen hatte. Es war anders - sogar noch feindseliger, wenn Sie sich das vorstellen können. Ich werde erst darüber nachdenken müssen. Ich konnte noch nicht einmal anfangen, es zu zeichnen.« »Noel?« fragte Adam. McLeod trank den Rest seines Tees und setzte seine Brille wieder auf. Anscheinend hatte er sich etwas erholt. »Er hat recht«, sagte er. »Da ist mehr am Werk als nur die Luchse - etwas, das so groß ist, daß ich mich nicht mit ihm einlassen möchte, bevor wir nicht eine viel bessere Vorstellung davon haben, wogegen wir da kämpfen. O ja, die Luchse sind daran beteiligt, aber das - das ist etwas Mächtiges. Vielleicht kommt hier die Geschichte mit den Menschenopfern ins Spiel. Die Luchse waren früher nicht in dieser Richtung orientiert.« »Dem stimme ich zu«, sagte Adam. »Ich konnte nicht einmal anfangen nach zudenken. Gut gemacht, ihr beiden.« Er blickte auf die Uhr am Armaturenbrett. »Aber jetzt sollten wir uns lieber auf den Weg machen. Noel, wären Sie damit einverstanden, daß von hier an Peregrine bis nach Hause fährt? Sie sehen ziemlich geschlaucht aus.« »Na, wie war's, Peregrine, alter Junge?« sagte McLeod und neigte den Kopf rückwärts in Peregrines Richtung. »Meinen Sie, Sie könnten diese Kiste übernehmen?« »Natürlich«, erwiderte Peregrine. Die unbefangene Kameradschaftlichkeit bestärkte ihn darin, daß er wirklich ein vollgültiges Mitglied des Teams war. Er tauschte mit McLeod die Plätze und gurtete sich an, stellte die Rückspiegel und den Sitz für sich ein, doch noch bevor er sich in den Verkehr auf der A9 einfädelte, schnarchte der Inspector schon leise. Aus Rücksicht auf McLeods offensichtliches Schlafbedürfnis schwieg Peregrine auf dem Rest der Heimfahrt. Er fragte sich, ob Adam ebenfalls döste, doch jedes Mal, als er, wenn genug Licht war, zur Seite blickte, schaute Adam immer mit auf der -499-
Brust verschränkten Armen geistesabwesend durch die Windschutzscheibe. Kurz nach acht kamen sie zu McLeods Haus und setzten ihn ab, doch als sie wieder über die Forth Road Bridge nach Hause fuhren, raffte Adam sich auf und dirigierte Peregrine zu einer Abfahrt direkt auf der anderen Seite, die sie schließlich zu einem Aussichtspunkt mit Blick auf die Förde führte. Schnee hatte wieder zu fallen begonnen, und die fernen Lichter von Edinburgh funkelten wie Diamanten auf dem schwarzen Samt des fernen Ufers. »Was gibt es?« fragte Peregrine, als er den Motor abgestellt hatte. »Warum haben Sie mich hier anhalten lassen?« Adam seufzte, blickte in die funkelnde Dunkelheit hinaus und lehnte den Kopf an die Rückenlehne. »Heute ist der Vorabend der Wintersonnenwende«, sagte er ruhig, »fast schon der Jahreswechsel. Ich habe die Gewohnheit, jedes Jahr um diese Zeit hier herauf zukommen, um mich daran zu erinnern, um was es bei dem Ganzen geht, wem es helfen soll - was wir tun.« Peregrine runzelte die Stirn leicht und blickte über die Förde hinaus. »Ich glaube, ich verstehe Sie nicht.« »Nein?« Adam holte leise Luft und atmete langsam aus. »Lauschen Sie auf das Schweigen, Peregrine. Spüren Sie es. Die ganze Welt liegt in Finsternis und hält erwartungsvoll den Atem an. ›Als die ganze Welt in stillem Schweigen lag und die Nacht die Mitte ihres schnellen Laufes erreicht hatte, sprang dein allmächtiges Wort, o Herr, vom Himmel herab, vom Königsthron...‹ « »Ach, Sie meinen Weihnachten«, sagte Peregrine. Adam lächelte. »Nicht ganz. Oder nur zum Teil, wäre vermutlich die bessere Antwort. Jenseits der physikalischen -500-
Lichter dieser Stadt, die wir beschützen, gibt es den Schein einer anderen Art von LICHT, wie einen weiten Schirm reiner, weißer Energie, die Teil eines größeren Baldachins ist, der den ganzen Planeten bedeckt. Seine Quelle liegt in den Herzen der Männer und Frauen guten Willens, die - besonders in dieser Jahreszeit ihre Gedanken und Gebete auf die Ankunft des LICHTS richten. Sie gehören vielen Völkern und Glaubensrichtungen an, doch sie alle streben auf ihren Myriaden von Wegen nach einer engeren Vereinigung mit jenem LICHT, ungeachtet der äußerem Form, die ihr Bekenntnis annimmt. Es gibt einige Zeilen von T. S. Eliot, die das sehr gut ausdrücken. Ich glaube, er hat es verstanden. Er mag vielleicht sogar einer von uns gewesen sein, wenn er sagte: ›O Unsichtbares Licht, wir preisen dich! Zu hell für sterblichen Blick... Wir danken dir für die Lichter, die wir entzündet haben, das Licht des Altars und des Heiligtums; kleine Lichter derer, die um Mitternacht meditieren und Lichter, die durch farbige Fensterscheiben scheinen und Licht, das von poliertem Stein reflektiert wird, vom vergoldeten geschnitzten Holz, vom farbigen Fresko. Unser Blick ist submarin, unsere Augen schauen hinauf und sehen das Licht, das sich im unruhigen Wasser bricht. Wir sehen das Licht, doch nicht, woher es kommt. O unsichtbares Licht, wir lobpreisen dich!‹ « Als er verstummte, blickte ihn Peregrine begeistert an. »Das könnte ich malen«, flüsterte er. »Ich habe die ganze Leinwand gesehen, während Sie es aufgesagt haben. Wie ist der Titel dieses Gedichts?« »Es heißt ›Chöre‹ und stammt aus dem Festspiel ›Der Fels‹ «, erwiderte Adam. »Was jedoch noch wichtiger ist: Um diese Jahreszeit bereiten sich überall auf diesem Planeten buchstäblich Millionen von Menschen darauf vor, die Rückkehr des LICHTS -501-
zu bekennen. Die Wiedergeburt der Sonne ist ein viel älteres und mächtigeres Symbol als die kommerziellen Gebräuche, die Sie in ein paar Tagen an einem Tag namens Weihnachten um sich greifen sehen werden. Weihnachten ist ohnehin ein willkürliches Datum, da niemand wirklich weiß, wann der Mann, der der Christus werden sollte, geboren wurde.« Peregrine lächelte. »Von einem Christen gesagt, klingt das fast zynisch. Ich dachte, Sie seien fromm.« »Oh, das bin ich auch. Und in dieser Zeit, an diesem Ort und in diesem Leben habe ich mich dafür entschieden, meinen Dienst für den Allerhöchsten in der äußeren Form des Christentums zu gestalten. Es bietet eine der mächtigeren Sammlungen von Symbolen für das, was geschieht. Wie hat es Paulinus von Nola noch einmal formuliert? Schauen wir, ob mir eine angemessen Übersetzung einfällt. Ach ja: ›Denn nach der Wintersonnenwende hat der im Fleische geborene Christus mit der neuen Sonne die Jahreszeit des kalten Winters verwandelt und - indem er den sterblichen Menschen eine heilende Morgendämmerung gewährte - den Nächten befohlen, bei seiner Ankunft mit dem vorrückenden Tag abzunehmen - Verstehen Sie?« Er lächelte. »Die Geschichte von der Wintersonnenwende in einem christlichen Kontext und außerdem schön ausgedrückt. Es ist jedoch wichtig zu erkennen und wirklich zu wissen, daß die Treue zum LICHT weit über alle konfessionellen Grenzen hinausgeht. Oh, organisierte Religionen dienen gewiß ihrem Zweck, indem sie kleine seelische Leuchttürme aufstellen - Sie können einige davon sehen, wenn Sie Ihren Blick in jene Richtung dort wenden und über den Kirchtürmen verharren. Aber der allumfassende spirituelle Schirm guten Willens ist am allerwichtigsten, ungeachtet dessen, wie die Menschen ihre entsprechende Unterstützung gestalten oder welche Form die äußeren Gebräuche annehmen. Genaugenommen könnte man vermutlich sagen, eines der wichtigen Dinge, die die Freimaurer -502-
und andere quasiesoterische Organisationen vollbringen, sei die Erzeugung eines wesentlichen Teils des allgemeinen Schirms von weißem Licht, der das seelische Bewußtsein der Welt vor den Schatten des Bösen schützt und die Lücken ausfüllt, die die organisierten Religionen übrig gelassen haben.« Peregrine dachte einen Augenblick über diese Vorstellung nach, dann nickte er. »Dann versucht vielleicht die Loge der Luchse Löcher in diesen Schirm zu stanzen«, sagte er. »Vielleicht sind die Blitzschläge dazu da, und sie töten Freimaurer, weil Freimaurer helfen, diesen Schirm geschlossen zu halten.« Überrascht blickte Adam Peregrine an. Er hatte das Problem bisher noch nie in genau diesen Begriffen betrachtet, aber vielleicht war dies ein Aspekt, der es wert war, daß man ihm nachging. Was immer da oben in den Cairngorms lauerte, hatte Gott weiß - etwas größeres vor, als nur einfach Freimaurer wegzuputzen. »Wissen Sie, an dem, was Sie sagen, ist durchaus etwas dran«, sagte er ruhig. »Ich werde mehr unter diesem Blickwinkel darüber nachdenken müssen.« Er hielt inne und unterdrückte ein Gähnen. »In der Zwischenzeit sollten wir heimfahren und Philippa wissen lassen, was geschehen ist. Fahren wir, und ich lade Sie zu einem Drink ein.« Allerdings verschlangen sie zuerst einige Stapel von Humphreys Sandwiches mit heißem Schinken, während Philippa aus ihnen Informationen über das beinah schiefgegangene Abenteuer des Tages herausfragte. Als Peregrine sich mit zwei Fingerbreit The MacAllan in einem Kristallglas in einem der Sessel in der Bibliothek niederließ, fühlte er sich voll und etwas schläfrig. »Das ist übrigens der letzte Alkohol, den Sie trinken werden, bis ich es Ihnen erlaube«, erklärte Adam und lehnte sich mit seinem eigenen Drink zurück. »Und morgen ab der Tagesmitte -503-
kein Essen mehr.« Auf Peregrines bestürzten Blick hin mußte Philippa lachen und stellte ihren Sherry beiseite. »Ich fürchte, Adam hat einen seiner logischen Sprünge gemacht, mein Lieber«, sagte sie und klopfte Peregrine aufs Knie. »Wir haben das jetzt seit mehr als einer Woche vorsichtig geplant - genaugenommen seit vor Adams Unfall -, aber offensichtlich hat niemand sich darum gekümmert, es einem der hauptsächlichen Teilnehmer zu sagen. Wir werden morgen abend versuchen, eine Lösung für Gillian Talbot zu finden - mit Ihrer Hilfe natürlich. In Verbindung damit würden wir Sie gerne, wenn Sie es noch wollen, zur formellen Einweihung in unsere Loge vorstellen. Sie haben inzwischen genug gesehen, um zu wissen, daß unsere Berufung gefährlich ist. Aber sollten Sie sich dafür entscheiden, sich uns anzuschließen, dann geloben wir Ihnen unsere vollste Freundschaft und Unterstützung bis in den Tod.« »Und darüber hinaus«, sagte Adam ruhig. Alle Gedanken an Schläfrigkeit fielen von Peregrine ab, und er unterdrückte ein seltsam flaues Gefühl im Unterleib, während er Adam anschaute. Sein Mentor hatte ein winziges Lächeln auf den Lippen und erwartete offensichtlich, daß er etwas sagte. »Ich - kann mir nichts vorstellen, was ich mir jemals mehr gewünscht habe als das, was Sie mir gerade großzügig angeboten haben«, sagte er etwas mühsam und richtete seinen Blick wieder auf Philippa. »Natürlich bin ich bereit. Ich hoffe nur, ich kann mich Ihres Vertrauens würdig erweisen. Doch alle Fähigkeiten, mit denen ich gesegnet bin, biete ich mit Freuden Ihrem Dienst an.« »Schön, das ist dann geregelt - allerdings ist es nicht nur unser Dienst«, sagte Philippa mit einem Lächeln und nahm wieder ihren Sherry auf. »Willkommen in unserer Gesellschaft, mein Lieber.« -504-
Sie blieb dann nur noch einige weitere Minuten bei ihnen, während sie praktische logistische Fragen für den kommenden Tag durchsprachen, danach zog sie sich zurück und überließ die beiden Männer ihrer Zweisamkeit. Niemand wußte besser als Adam, daß sich die Aussicht auf Einweihung für seinen flügge werdenden Falken wahrscheinlich als ebenso einschüchternd wie auch begeisternd erwies, deshalb war er nicht überrascht, als sein junger Protege den Rest seines Drinks hinunterkippte und ihm mit einem Blick purer Entschlossenheit, die an Panik grenzte, ins Gesicht schaute. »Adam, Sie werden mich wahrscheinlich für einen schrecklichen Narren halten«, sagte er mit der Miene eines Menschen, der ein Geständnis ablegte, »aber erst jetzt kommt es mir in den Sinn, daß ich nicht die leiseste Ahnung habe, wie ich mich dafür vorbereiten soll. Ich meine, gibt es da nicht etwas, was ich tun sollte? Etwas, das ich lernen sollte, oder zumindest etwas, worüber ich nachdenken sollte?« Adams dunkle Augen funkelten ernst. »Was die Vorbereitungen angeht, so meine ich, daß Sie schon eine sehr erfolgreiche Lehrlingszeit absolviert haben. Außerdem bedeutet die Tatsache, daß Sie mir genau diese Fragen stellen, daß Sie sich schon auf den richtigen Gemütszustand zubewegen. Ich kann Ihnen nichts besseres empfehlen, als so weiterzumachen wie bisher fragen Sie Ihr Herz und prüfen Sie Ihr Gewissen mit der Absicht, alles, was Sie sind und vielleicht noch werden, dem Dienste des Einen zu opfern, der auch das wahre LICHT ist.« »Aber ist eine Einweihung denn nicht eine Art Prüfung?« fragte Peregrine. »Oh, Sie werden in der Tat geprüft werden, wenn Sie das meinen«, sagte Adam mit einem Lächeln, »aber nicht so sehr, um Ihr Wissen zu beweisen, als um den Mut Ihres Geistes zu erproben, so wie wertvolles Erz im Feuer geläutert und gehärtet wird.« -505-
»Dann handelt es sich also um eine Art Feuerprobe«, sagte Peregrine. »Nun, nicht im Sinn von Angst und Schmerz«, erwiderte Adam, »aber es wird durchaus eine Probe sein. Sie dürfte jedoch Ihre Kräfte nicht übersteigen, wenn ich Ihr Potential richtig eingeschätzt habe. Wir haben schon einmal über Ihre Affinität zu dem Geist gesprochen, der Michael Scot war und jetzt in der Person der jungen Gillian Talbot wohnt, und wie all die Facetten ihrer früheren Inkarnationen reintegriert werden müssen, damit Heilung stattfinden kann. Die Aufgabe, die Ihnen bestimmt worden ist - die Aufgabe, an der Sie sich beweisen werden -, besteht darin, bei der Wiederherstellung der Ordnung ihrer Seele zu helfen.« Peregrines Augen weiteten sich leicht. »Adam, Sie wissen, daß es nichts gibt, was mir mehr Freude machen würde als in der Lage zu sein, ihr zu helfen«, sagte er, »aber ich kann nicht einmal so tun, als wüßte ich, wie das gelingen soll.« »Sie werden es wissen, wenn der richtige Zeitpunkt kommt«, sagte Adam. »Fürchten Sie sich nicht, sich auf Ihre Intuition zu verlassen. Der wahre Ritus des Übergangs findet auf einer inneren Ebene statt. Welche Form die inneren Bilder für Sie annehmen werden, kann ich zu diesem Zeitpunkt auch nicht voraussagen, aber soviel kann ich Ihnen versprechen: Sie werden alles in Symbolen wahrnehmen, die zu Ihnen passen. Und Sie werden nicht allein sein. Noel und ich werden bei Ihnen sein, um Sie anzuleiten, und es werden andere aus der Gemeinschaft zugegen sein, entweder körperlich oder geistig, um Sie mit ihren eigenen Hoffnungen und Bestrebungen zu unterstützen.« »Nun, das erleichtert mich«, sagte Peregrine mit einem leisen, nervösen Lachen. »Aber da gibt es immer noch etwas.« »Und das wäre?« »Ich denke an den Tag, als wir mit Father Christopher nach -506-
Edinburgh fuhren, um diese Wohnung zu reinigen. Ich habe alles beobachtet, was Sie beide taten, und mir ist klar, daß Sie es als einen Akt des Gottesdienstes betrachteten. Aber ich muß Ihnen sagen, daß ich es nicht verstehe. Ich will sagen, ich glaube, ich weiß nicht, wie man Gott verehrt. Was ich, selbst in diesem Augenblick, empfinde, scheint zu verlangen, daß ich es auf eine gewisse formelle Weise ausdrücke, aber ich - weiß nicht, welche Gesten ich machen, welche Worte ich sprechen soll. Als ich Sie jetzt über die Einweihung als eine Läuterung der Seele reden hörte, ging mir auf, daß es sich um ein unglaublich bedeutsames Ereignis handelt, aber - nichts in meiner bisherigen Erfahrung scheint mir einen Hinweis zu geben, wie ich mich dazu verhalten soll.« »Das ist keine Frage des Verhaltens«, sagte Adam mit einem Lächeln, »sondern eher eine des Werdens. Das äußere Ritual, das wir vollziehen, ist gewiß für unsere Arbeit wichtig, aber nur als gemeinsamer Rahmen, insoweit es dazu dient herbei zurufen, was schon durch Gnade in unseren Seelen zugegen ist. Falls Sie wirklich Anleitung wünschen, dann schlage ich vor, daß Sie wieder zu der Traumarbeit zurückkehren, die Sie schon einmal eingesetzt haben, um eine Weisung in die richtige Richtung zu bekommen. Und was den morgigen Tag betrifft, so rate ich, daß Sie sich richtig ausschlafen und den Tag damit zubringen sollten, dieses Gedicht von T. S. Eliot zu malen. Ich werde Ihnen eine Kopie geben, die Sie in das Torhaus mitnehmen können. Ich rate Ihnen, das Gedicht zu lesen, bevor Sie zu Bett gehen, und dann zu sehen, was geschieht.« Kapitel 33 Kurz vor zehn Uhr am folgenden Abend brachte Peregrine sein Gemälde nach Strathmourne House hinauf. Er hatte mit Wasserfarben ein Echo der Bildersprache des Gedichts gemalt und dachte, es sei ihm gelungen, das meiste von den Bildern einzufangen, die ihm in Hinblick auf das LICHT in seinen -507-
vielen Manifestationen gekommen waren. Philippa ließ ihn ins Haus, und McLeod wartete schon in der Bibliothek, allerdings wirkte er gedämpfter, als es sonst seine Gewohnheit war, worin sich vielleicht der würdevolle Ernst des Vorhabens dieses Abends zeigte. Kurz darauf kam Adam mit Christopher und Victoria Houston herein, und sie versammelten sich alle um das Gemälde, das auf einem der Bibliotheksstühle stand. Die Stimmung war feierlich und erwartungsvoll zugleich, als ob alle Anwesenden im Begriff standen, ein Opfer darzubringen - was sie alle vielleicht, wie Peregrine verwundert überlegte, auch tun würden. »Ich glaube, Peregrines Gemälde spricht zu uns allen von dem, worum es an diesem Abend geht«, sagte Adam schließlich, und seine ruhige Stimme umfing jeden von ihnen mit der Herzenswärme des Mentors und Kollegen. »Dessen eingedenk dachten Christopher und ich, es wäre angebracht, vor dem Beginn des Werkes am heutigen Abend zuerst eine Abendandacht zu halten. Also begeben wir uns vorläufig in die Kapelle, wo Christopher unsere Andacht leiten wird. Gehen wir?« Zum ersten Mal hatte Peregrine Adam erwähnen hören, daß es in Strathmourne House eine Privatkapelle gab. Er war noch überraschter, als er entdeckte, daß sie in den Weinkeller hinunterstiegen. Seine Verblüffung mußte an seinem Gesicht abzulesen gewesen sein, denn am Fuß der Treppe hielt ihn Adam zurück und erklärte: »Die Kapelle war schon ein unterirdischer Raum des Hauses, das an dieser Stelle stand, bevor Strathmourne gebaut wurde. Da ihre Existenz geheim war, wurde sie während der Reformation als Versteck benutzt, um Priestern Zuflucht zu gewähren, die auf der Flucht vor den staatlichen Autoritäten waren. Die Sinclairs haben es immer für ratsam gehalten, dieses Geheimnis für sich zu behalten; als dann Mutter eine Sinclair wurde, beschloß sie, den Gebrauch dieses Raumes auszudehnen. -508-
Er ist immer noch eine geweihte christliche Kapelle, und wir werden ihn heute abend auch als solche benutzen, aber er ist auch ein Ort, wo die Jagdloge sich manchmal auf der physischen Ebene zu einem Werk versammelt, das einen formelleren Rahmen benötigt.« Er blickte an Peregrine vorbei auf die Tür, durch die die anderen verschwunden waren. »Die anderen werden gleich für uns fertig sein - und Sie können sich entspannen. Hier findet nur die Abendandacht statt. Die wirkliche Arbeit wird oben in Gillians Zimmer getan - und da drinnen.« Er tippte Peregrine leicht an die Stirn und lächelte dabei, dann schob er ihn an den Weinfässern vorbei. Hinter der offenstehenden Tür wartete McLeod in einem schmalen Durchgang. Kerzenlicht strömte aus dem dahinterliegenden Raum. Die kleinere Kammer rechts daneben, wo Victoria und Philippa sich um zwei Öllampen kümmerten, schien eine Art Sakristei zu sein. Christopher zog einen langen weißen Chorrock über eine saphirblaue Soutane. Während er einen der weiten Ärmel zurechtzupfte, grinste er Peregrine in seiner jungenhaften Art an. »Ich habe uns auch die Kommunion mitgebracht«, sagte er. »Wenn wir den Luxus der vorherigen Planung haben und nicht gerade auf eine Krise reagieren, dann ist es unsere Sitte, zusammen zu kommunizieren, bevor wir uns als Gruppe an ein Werk machen, damit wir uns als Individuen stärken und die gemeinsame Einheit unserer Bindung an das Werk bestätigen. Ich weiß, daß Sie nicht der Kirche angehören, in der ich geweiht bin, aber ich hoffe, Sie haben keine Hemmungen, das Abendmahl mit uns zu teilen.« »Nun, wenn Sie sicher sind, daß es in Ordnung ist«, murmelte Peregrine etwas zweifelnd, während Christopher noch eine blaue Stola anlegte. Statt des Priesters antwortete McLeod, nicht in seinem üblichen schroffen Ton, sondern fast zärtlich, und er legte dabei -509-
beruhigend einen Arm um die Schultern des jungen Mannes. »Mein Junge, machen Sie sich keine Sorgen über irgend etwas, außer darüber, ob es richtig für Sie ist«, sagte er ruhig. »Wir dienen alle dem Gleichen, ob wir nun am Sonntagvormittag in eine Kirk oder eine Kirche, in eine Kapelle oder eine Abtei gehen. Wenn diese Gemeinschaft sich am Tisch des Herrn trifft, gibt es keine solchen Dinge wie Konfessionen.« Philippa wandte den Kopf und lächelte Peregrine über die Schulter zu. Mit der gewölbten Hand schirmte sie das Licht ihrer Lampe ab. »Noel hat recht, mein Lieber«, sagte sie. »Die Wahrheit ist eins, selbst wenn unsere Wahrnehmungen dieser Wahrheit sich in ihrer Perspektive und der Art, wie wir sie ausdrücken, unterscheiden.« »Aber sagen nicht alle Religionen, daß sie jeweils die Wahrheit besitzen?« fragte Peregrine. Adam lächelte. »Das ist jetzt wohl kaum die Zeit für eine eingehende Diskussion dieses Themas. Es genügt, wenn ich sage, daß die Riten und Praktiken der organisierten Religion alle die Absicht haben, die letzte Wahrheit zu ehren, und solche formellen Bekenntnisse können eine zusätzliche Quelle von Kraft für Leute sein, die unsere Art von Arbeit tun und sich im aktiven Dienst jener Wahrheit engagieren. Wenn man seine eigene spirituelle Ausrichtung verfeinert, kann man durchaus entdecken, daß die tätige Teilnahme an einer bestimmten Religion einem hilft, den Weg deutlicher zu sehen. Das soll zu diesem Zeitpunkt nur eine Anregung sein, ohne daß ich damit einen bestimmten Pfad für Sie unterstütze. Einstweilen hoffe ich jedoch, daß Sie keine Bedenken hegen, mit uns im Ritus der Episkopalkirche zu kommunizieren.« Danach gingen die beiden Frauen mit ihren Lampen in die Kapelle voran. McLeod kam als nächster, Peregrine schloß sich ihm schüchtern an, hinter Adam bildete Christopher den Schluß. -510-
Peregrine hielt den Atem an, als er unter die gewölbte Decke trat, die über dem Altar mit schützenden Sternen geschmückt war. Eine Erregung, die er nur zum Teil verstand, ließ ihn kurz stocken. Die Empfindung war ebenso mysteriös wie vertraut als sei er in einen uralten, geweihten Tempel gestolpert und als fühlte er sich dort zu Hause. Die Frauen stellten ihre Lampen auf den Altar und verstärkten damit das Licht der Kerzen, die auf Wandleuchtern brannten. Dann begaben sie sich je an eine Seite, während Christopher seinen Platz zwischen ihnen einnahm. Peregrine stand schließlich zwischen McLeod und Adam, mit denen er einen kleinen Halbkreis bildete. Hinter Christopher erblickte er auf dem Altar einen silbernen Kelch und eine silberne Schale. Doch dann hob Christopher die Hände zu einem Bittgebet, das sie alle einschloß, und sprach dabei Worte, die außerordentlich gut zu den Intentionen des Abends zu passen schienen und Peregrine kaum wie ein Ritual vorkamen. »Die Nacht ist weit vorgeschritten, und der Tag ist nahe«, sagte er mit freudig beschwingter Stimme. »Laßt uns deshalb die Werke der Finsternis abstreifen und die Rüstung des Lichts anlegen.« Die Litanei, die dann folgte, nahm die Form eines ausgedehnten Lob- und Bittgebetes an, dessen Responsorien sich leicht einprägten. Peregrine folgte den Stichworten seiner Gefährten und merkte, wie all seine Zweifel und Unsicherheiten sich auflösten. Was immer er jetzt nicht wußte, aber doch wissen mußte, würde er zur gegebenen Zeit lernen. Im gegenwärtigen Augenblick hatte er seinen Seelenfrieden. Seine Empfindung des Friedens wurde noch tiefer, als Christopher kam, um jedem die Hostie zu geben, und Victoria mit dem Kelch folgte. Der Geschmack von Brot und Wein, der sich auf seiner Zunge mischte, brachte ein beständiges Gefühl von Gemeinschaft und Befriedigung mit sich. Er neigte den -511-
Kopf über den gefalteten Händen und versank in einer Betrachtung dieser Befriedigung, bis Adams ruhige Stimme ihn in die Gegenwart zurückrief. »Peregrine«, sagte sein Mentor leise - offensichtlich störte er ihn nur ungern -, »nun brauchen wir Ihren Ring.« Peregrine nickte wortlos, holte den Ring hervor und gab ihn Adam, der ihn an Christopher weiter reichte. Der Priester nahm ihn sehr ernsthaft entgegen, umfing ihn kurz mit seinen Händen, dann zeichnete er mit seiner Ringhand ein Kreuz darüber. Schließlich nahm er ihn in die gewölbten Hände, hob ihn opfernd empor und betete laut. »Allmächtiger Gott, Schöpfer und Erhalter der gesamten Menschheit, erneuere deinen Segen auf diesem Ring, dem Werkzeug und Zeichen der Hingabe in deinem Dienst, damit er, der ihn in Kürze erhalten wird, in gleicher Weise alle Gnade und Führung erhält, um seine Pflicht in Übereinstimmung mit deinem Willen zu erfüllen, solange er lebt.« Auf das Gebet folgte ein ehrfürchtiges »Amen« der übrigen Versammelten. Christopher reichte den Ring mit würdevoller Förmlichkeit an Adam zurück, doch als er sich Peregrine zuwandte, leuchteten seine braunen Augen, als sei der Augenblick für ihn ein persönlicher Anlaß zur Fröhlichkeit. »Adam wird den Ring einstweilen aufbewahren«, sagte er zu dem Jüngeren. »Wenn Sie ihn wieder zurückerhalten, wird Ihr Recht, ihn zu tragen, von einem bestätigt sein, der viel höher steht als ich.« Dann wandte er sich zum Altar und hob die Hände erneut zur großen Antiphon des Tages: »O Tagesquell, Glanz des Ewigen Lichts und Sonne der Gerechtigkeit, komm und erleuchte, die in Finsternis und Todesschatten sitzen.« Der Gottesdienst endete mit einem Gebet, das ein Echo des Strebens von Peregrines Herz zu sein schien, während er den -512-
Kopf zu Christophers abschließendem Segen neigte. Während er sich mit den anderen schweigend wieder nach oben begab und jetzt sein Augenmerk auf die vor ihm liegende Aufgabe richtete, traten alle anderen Überlegungen in seinen Gedanken zurück. Er sah Gillians Gesicht vor sich, während er die Treppen hinaufstieg, und trug immer noch den Frieden in sich, den er durch die eben erlebte Zeremonie erlangt hatte. An erster Stelle stand jetzt in seinem Bewußtsein der entschlossene Wunsch dafür zu sorgen, daß Gillians Gesundheit und geistige Lebendigkeit wiederhergestellt würden. Sie versammelten sich kurz in der Bibliothek, während sie auf Christopher warteten, der noch seine liturgischen Gewänder abzulegen hatte, und so konnte Peregrine seinen Skizzenkasten an sich nehmen. Dann folgten alle Adam nach oben zu Gillians Zimmer. Mrs. Gilchrist hatte für die Nacht frei bekommen, und Iris Talbot schlief in dem Zimmer auf der anderen Seite des Korridors. Philippa sah, wie Peregrine im Vorbeigehen auf die Tür dieses Zimmers schaute, und sie flüsterte: »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, sie wird nicht aufwachen. Sie hat sich ihren Frieden heute nacht verdient, das arme Ding, und ich habe jede annehmbare Vorkehrung getroffen, um sicher zu stellen, daß sie ihn behält. Wir werden nicht gestört werden.« Die Vorhänge standen offen und ließen das bleiche, silbrige Licht des Mondes herein. Von diesem ätherischen Schein und dem Licht eines halben Dutzends Votivkerzen beleuchtet, wirkte Gillian so zart wie ein trockenes Blatt, so überaus zerbrechlich. Als Peregrine auf das eingesunkene kindliche Gesicht schaute, während Philippa die Tür schloß und absperrte, kam ihm der Gedanke, daß sie nicht einen Augenblick zu früh handelten. Philippa hob die okkulten Schutzvorkehrungen auf, die zuvor in dem Zimmer aktiviert worden waren, und bezog einen Wachtposten neben der Tür. Sie faßte hoch und zeichnete ein Symbol über den Türsturz, um den Eingang fest gegen jegliches Eindringen zu versiegeln. Adam schob einen Stuhl an das -513-
Fußende des Bettes und wies Peregrine an, sich darauf zu setzen, während Christopher und Victoria weitere Stühle herbeibrachten und sich am Kopfende des Bettes einander gegen über postierten. McLeod stand links von Peregrine, was Adam die Freiheit ließ, seinen eigenen Platz zu wählen, sobald das Werk im Gange wäre. Einstweilen stand Adam rechts von Peregrine und blickte ihn an. »Also gut. Für das, was wir vorhaben, muß ich Sie zuerst in Trance versetzen«, sagte er ruhig. »Dabei gibt es nichts, was Sie nicht schon erlebt haben, außer daß ich Sie diesmal tiefer mitnehme als gewöhnlich. Lehnen Sie sich zurück und entspannen Sie sich. Nehmen Sie sich einen Punkt an der Decke über dem Bett und richten Sie alle Aufmerksamkeit darauf. Lassen Sie sich vom Klang meiner Stimme führen.« Peregrine gehorchte, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, bis seine Schultern bequem auf der gepolsterten Rückenlehne ruhten, und blickte empor. Er atmete leicht, wie Adam sah, ohne Anzeichen von Streß oder Ängstlichkeit im Gesicht. Adam freute sich über diesen Beweis des Vertrauens. »Klären Sie jetzt Ihren Geist. Und ich möchte, daß Sie sich vorstellen, Sie blickten zum nächtlichen Himmel empor. Es gibt dort keine Wolken - nur eine Unmenge Sterne. Können Sie sie sehen?« »Ja.« Peregrines braune Augen hatten einen fernen Blick angenommen. »Gut«, sagte Adam ruhig. »Ich möchte, daß Sie aus all diesen Myriaden von Lichtpunkten einen Stern auswählen und zum Mittelpunkt Ihrer Aufmerksamkeit machen. Haben Sie einen gefunden?« »Ja«, antwortete Peregrine leise, aber deutlich. »Ausgezeichnet. Halten Sie Ihren Blick auf diesen Stern geheftet. Beobachten Sie, wie er flackert und glitzert. Sein Licht kommt auf Sie zu. Lassen Sie sich von ihm in die Tiefen Ihres -514-
Unbewußten hinabtragen... jetzt.« Während er sprach, berührte er Peregrines Stirn über dem Nasenrücken. Der Künstler schloß die Augen und seufzte, dann ließ er sich etwas schwerer auf den Stuhl sinken. »So ist es richtig«, murmelte Adam. »Gehen Sie tiefer... und immer noch tiefer...« Während er fortfuhr und seine Suggestionen verstärkte, zeigte Peregrine zunehmend alle Anzeichen tiefer Trance. Als Adam schließlich befriedigt war, daß sein Proband die Arbeitsebene erreicht hatte, die für die bevorstehende Aufgabe wünschenswert war, blickte er zu McLeod hinüber. Der Inspector antwortete mit einem Nicken und machte mit der rechten Hand ein Zeichen über dem blonden Kopf des jungen Mannes. Dann trat er an Peregrine heran und nahm dessen linkes Handgelenk in einen leichten Griff, wobei seine Finger fest auf dem Puls zu liegen kamen. Peregrine spürte, wie das Pochen seines Herzschlags unter McLeods Fingern pulsierte, und es schien ihm, als hätte sich das Licht des Sterns, dem er gefolgt war, ausgedehnt und ihn mit einem durchsichtigen Kegel schützenden Leuchtens umhüllt. Adam war neben ihm, McLeod ebenfalls, und beide waren jetzt in fließende saphirblaue Roben gekleidet. Er selbst trug ein einfaches weißes Gewand, das Kleid eines Postulanten. Während er all dies in seinem Geist wahrnahm, sprach sein Mentor, und in dessen Stimme klang mehr als ihre gewohnte melodische Autorität. »Mögen nun die, die zum Dienste des Lichts gerufen sind, in den Tempel des Meisters eintreten.« Durch den sanften Schein des Lichts, das ihn abschirmte, konnte Peregrine andere menschliche Gestalten erkennen, die sich um ihn versammelten. Er sah, daß er einige von ihnen schon als Gefährten kannte, und sie waren ebenfalls in fließende, tief saphirblaue Gewänder gekleidet. Lady Julian war -515-
mitten unter ihnen, in diesem anderen Reich jenseits körperlicher Beschränkungen nicht länger an ihren Rollstuhl gebannt. Und da waren noch andere, die er nicht erkannte. Einige von ihnen trugen anstelle des Rings, der auf der irdischen Ebene vorhanden gewesen wäre, einen Punkt Sternenlicht. Sie schienen am Portal eines großen klassischen Tempels aus weißem Marmor zu stehen. Jenseits des Eingangs erkannte Peregrine eine schimmernde Säule aus Licht. Das Licht strömte die Empfindung einer lebenden geistigen Präsenz aus, die noch dichter wirkte als die Adams. Staunend schaute er auf sie und war froh, daß die Gemeinschaft ihn umgab. »Kommen Sie«, sagte Adam ruhig an seiner Seite. »Kommen Sie, Sie werden dem Meister vorgestellt.« Ehrfürchtig, doch ohne Furcht, ließ sich Peregrine die Stufen hinaufgeleiten, die zum Tempeltor führten. Auf der obersten Stufe blieb Adam stehen und neigte respektvoll den Kopf. Meister, sagte er an die geistige Präsenz gewandt, ich komme im Namen der Jagdloge, um diesen Mann, Peregrine Justyn Lovat, als Kandidaten für die Einweihung vorzustellen. Der flügge gewordenem Falke hat seine Schwingen gefunden und steht bereit, um bei der Suche nach Heilung für die Seele zu helfen, die jetzt als Gillian Talbot inkarniert ist. Wenn dies vollbracht sein wird, bitte ich, er möge als Jäger angenommen werden, damit unsere Zahl gegen die Bedrohung gestärkt werde, die nun über dem Land lastet, das in unsere Verantwortung gelegt ist. Die Präsenz in dem Tempel schien noch größer zu werden, ihre Helligkeit noch intensiver. Eine Stimme sprach, die heller klang als die von Adam und einen kristallinen Unterton sanften Humors in sich trug. Vertraue und sei zufrieden, Meister der Jagd, erwiderte die Präsenz. Deine Bitte zu letzterem Punkt ist uns und unserem Oberbefehlshaber bekannt. Doch sieh ein, daß die Heilung des -516-
Kindes Gillian allem anderen vorausgehen muß. Du hast zu Recht entschieden, daß dein eben flügge gewordener Falke die notwendigen Talente besitzt. Es bleibt dir noch, ihn vor den Einen zu bringen, dessen Amt es ist, die schlafenden Fähigkeiten zu wecken, die noch gebraucht werden. Die richtige Ausübung seiner Gaben soll des jungen Falken Eintrittsritus in die volle Gemeinschaft als Eingeweihter sein. Adam neigte wieder den Kopf. Ich verstehe. Es wird nach deiner Anweisung geschehen. Dieser Auftrag war machtvoll. Nur einmal war Adam bis jetzt selbst zu jener anderen Präsenz gerufen worden, zur Bestätigung seiner eigenen Berufung als Heiler. Philippa war damals seine Bürgin gewesen, und als er sich dieses lang vergangene Ereignis in Erinnerung rief, dachte er, jetzt etwas von der freudigen Demut zu spüren, die sie bei dieser Gelegenheit empfunden haben mußte. Er tat einen festigenden Atemzug und verlagerte seine Aufmerksamkeit kurz auf die irdische Ebene, faßte hinunter und nahm Peregrine körperlich an der rechten Hand. »Ihr Stern steigt auf«, sagte er leise zu dem Jüngeren. »Erheben Sie sich und folgen Sie ihm, nicht mit dem Körper, sondern im Geist. Sein Licht ist wie ein Leuchtturm, der Sie aus Ihrem Körper heraus auf die himmlische Ebene zieht...« Peregrine spürte eine plötzliche Leichtigkeit in allen Gliedern, als wären ihm plötzlich Flügel gewachsen. Er spürte den Griff von Adams Hand und wurde sich bewußt, daß McLeod ihn an der anderen Hand hielt. Zusammen hoben sie ihn hoch und halfen ihm, in die Luft aufzusteigen, wie der gerade flügge gewordene Falke, den Adam ihn genannt hatte. Die Empfindung des Fliegens überwältigte ihn. Er schloß auch seine astralen Augen und gab sich rückhaltlos in die Hände seiner Führer, bis seine Füße mit einem Mal Boden spürten und er merkte, daß er aufrecht stand. -517-
Schüchtern blickte er um sich und entdeckte, daß der Rest der Gemeinschaft ihn auf dem Flug seiner Seele begleitet hatte. Obwohl um ihn herum nur sternenfunkelnde Nacht war, wußte er doch, daß er körperlich und geistig nach Osten hin orientiert war. Die Gemeinschaft war auf einem breiten Podium vor zwei großen blank polierten goldenen Türen versammelt, deren jede mit einem Emblem gekennzeichnet war, von dem er in seinem gesteigerten Zustand seltsam genau wußte, daß es sich dabei um das Sigill der Luft handelte - ein mit der Spitze nach oben stehendes gleichseitiges Dreieck, das durch eine querlaufende Linie halbiert wurde. McLeod ließ Peregrines Hand los und sank aufs Knie, mit Ausnahme von Adam taten die Übrigen es ihm gleich. Adam verlagerte seinen Griff auf Peregrines Schulter, streckte seine rechte Hand aus und fuhr mit Zeige- und Mittelfinger das Symbol auf der rechten Tür nach. Das WORT, das er dann aussprach, schien Peregrine aus keiner irdischen Sprache zu stammen, doch auf seinen Klang hin öffneten sich die Türflügel und schwangen langsam nach innen. Der Raum jenseits des Eingangs war erfüllt von hellem Licht und bewegter Luft. Als Adam Peregrine vorwärtsführte und dabei die anderen zurückließ, nahmen Licht und Luft die sichtbare Form durchscheinender goldener Vorhänge an, die sich in einer schimmernden Brise bauschten. Während sie durch die Vorhänge hindurchschritten, hing ein Duft wie von Weihrauch in der Luft. Vor ihnen lag eine große, luftige Halle, die von hellem, goldenem Licht überflutet war. In ihrer Mitte stand eine große Säule aus diesem goldenem Licht, die sich vor Peregrines geblendeten Augen in eine dunstige Gestalt auflöste, die unbestimmt menschlich wirkte, mit einer Andeutung ausladender Schwingen, die die ganze Halle mit den lebendigen Windstößen ihres Flügelschlags erfüllten. Augen wie tiefe Seen lebendigen Goldes beugten sich über ihn in einem Gesicht, das weder männlich noch weiblich, -518-
sondern in seiner androgynen Zartheit von höchster Schönheit war. Sternspitzen aus goldenem Feuer waren wie ein Diadem von den fließenden Flechten goldenen Haars umwoben, das von einer hohen, edlen Stirn herabfiel. Peregrine spürte den Druck von Adams Hand auf seiner Schulter und sank gehorsam auf die Knie. Verschwommen nahm er wahr, daß Adam sich ebenfalls niedergekniet hatte, er blickte hingerissen in die goldenen Augen und spürte die Einladung, sein Herz zu öffnen und sein Verlangen mitzuteilen. Er merkte, daß seine Antwort in Bildern kam statt in Worten. Ergeben bildete er Gillian Talbot im Spiegel seines Geistes ab, zusammen mit dem begleitenden Bild eines vermoderten Leichnams, der einmal denselben Geist in einer anderen irdischen Erscheinung beherbergt hatte, und mit der chaotischeren Vorstellung der Fragmente, die den fürchterlichen Schaden darstellten, der der Seele angetan worden war, die einst beide umschlossen hatte. Wenn es eine Gabe in mir gibt, mit der dieses Unrecht wiedergutgemacht werden kann, versuchte er zu sagen, dann zeig mir, wie ich diese Begabung nutzen kann. Ich erbitte nichts für mich selbst. Aber wenn ich in geringem Maße würdig befunden werden sollte, dann will ich mit Freuden alles, was ich habe, dem unbeirrbaren Dienst des LICHTS geloben. Der feurige Engelblick schien sich in die Tiefen seiner Seele zu brennen. Unfähig sich abzuwenden, selbst wenn er es gewollt hätte, verstand Peregrine plötzlich, wie er bislang noch nicht begriffen hatte, was Adam gemeint hatte, als er von der Prüfung des seelischen Mutes sprach. Schmerz lag im Bewußtsein seiner eigenen Unvollkommenheit. Doch ohne dieses Wissen war keine höhere Vision möglich. Demütig erkannte er die Autorität des Engels an, über ihn zu urteilen, und beugte den Kopf, um anzuzeigen, daß er bereit war, eine Abweisung zu akzeptieren, wenn das alles war, dessen -519-
er für würdig befunden werden sollte. Aber anstatt zurückgeschickt zu werden, fand er sich plötzlich umschlossen von zwei blendend hellen Schwingen, und sein Auge sah nichts mehr als unbeschreibliches Licht. Der Engel, der in schimmernder Majestät über ihm aufragte, schien sich zu ihm herabzubeugen und sein Gesicht leicht in zwei schöne, schlanke Hände zu nehmen. Peregrine hob sein Antlitz staunend zu der Herrlichkeit empor, aller Widerstand floh, und er spürte die leuchtende Berührung feuriger Lippen, die seine Augenlider streiften, begleitet von einer Stimme, die ganz Melodie war. Mögen deine Augen den Weg der Heilung sehen... Mächtig wie ein elektrischer Schock ließ der Kuß des Engels jede Faser von Peregrines Wesen nachhallen wie eine Glocke. Die Empfindung, die in ihrer Intensität jeden Schmerz überstieg, milderte sich zu einer warmen, ekstatischen Erregung, die Leib, Geist und Seele bis in ihre Tiefen umhüllte. Eine Glut, die eine Ausweitung der Essenz des Engels darstellte, spielte über seine Augenlider hinweg und blendete ihn für alles andere außer ihrer Herrlichkeit. Seine Sinne gerieten in Entzücken ob dem Ansturm der Ekstase, der nichts glich, was er in seinem bisherigen Leben jemals erlebt hatte. Einen zeitlosen Augenblick lang schien es, als würde er das Bewußtsein verlieren. Taumelnd und an Leib und Seele geblendet wurde er sich nur allmählich bewußt, daß Adam und McLeod ihn stützten, ihn immer noch an beiden Händen hielten und so in der realen Welt und in seinem physischen Leib verankerten, der immer noch auf seinem Stuhl saß. Er blinzelte und entdeckte, daß er nicht mehr einen luftigen Tempel auf einer fernen, ätherischen Ebene vor sich sah, sondern die gemütliche Umgebung von Gillian Talbots Zimmer. Als er seinen Blick auf Gillian Talbot selbst richtete, stellte er jedoch fest, daß seine Sehfähigkeit so erweitert worden war, daß er nicht nur ihre körperliche Anwesenheit, sondern auch ihr astrales Ebenbild -520-
wahrnehmen konnte. Dieses Ebenbild, dünn und mit genommen wie ihr physischer Körper, schwankte in einem Meer von Fragmenten wie ein Kind, das man in einen Haufen zerbrochener Spiegel geworfen hatte. Die Fragmente waren alle in Bewegung und wirbelten in völligem Chaos umher. Und doch begann er, als er genauer hinschaute, Stücke zu sehen, die zueinander paßten, wie separate Teile von verschiedenen Puzzlespielen. Als er seinen Blick schärfte, begann er die Muster deutlicher zu sehen und war in der Lage, nicht nur Farben, sondern auch Ähnlichkeiten der Form auszumachen. Es war möglich, diese Stücke zu ordnen und wieder zusammenzusetzen! Dessen war er sich sicher. Alles, was er brauchte, waren die richtigen Instrumente. »Adam«, sagte er laut, »erinnern Sie sich, wie ich einmal die Wirkung meines Sehens als einen Stapel von Dias beschrieb?« Adam warf McLeod einen durchdringenden Blick zu. »Ich erinnere mich«, sagte er ruhig. »Das ist der Schlüssel zur Wiederherstellung von Gillian«, erklärte Peregrine. »Die Skizzen, die ich angefertigt hatte, waren zur Übung, um die Masken ihrer früheren Inkarnationen zu unterscheiden. Wenn ich sie auf irgend etwas Transparentes zeichnen kann, dann können wir sie als Matrizen verwenden, um die Fragmente der verschiedenen Persönlichkeiten zu ordnen. Dann schichten wir sie übereinander, um ihren Geist als Einheit zu reintegrieren.« »Ich verstehe«, antwortete Adam und nickte. »Was haben Sie, das ich dazu verwenden kann?« fragte Peregrine und packte Adams Hand fester. »Glas vielleicht, oder Pauspapier...« »Ich habe etwas besseres«, erwiderte Adam. »Unten in meinem Schreibtisch liegt etwas Transparentpapier, wie man es für Overheadprojektoren verwendet. Halten Sie noch durch, -521-
wenn ich jetzt weggehe und es hole?« »Ja, ich schaffe es«, antwortete Peregrine mit einem knappen Nicken. »Bleiben Sie nur nicht zu lange weg, ja?« murmelte er atemlos. »Ich werde nicht lange fort sein«, versprach Adam. »Noel bleibt bei Ihnen. Er wird Ihnen helfen, wenn Sie ihn brauchen.« Philippa schickte sich schon an, das Sigill über der Tür zu löschen. Als der Weg frei war, schlüpfte Adam an ihr vorbei und rannte ins Erdgeschoß hinunter zur Bibliothek. Eine schnelle Suche in der entsprechenden Schublade lieferte ihm die Transparentfolien. Er schob die Schublade schwungvoll zu, schnappte sich noch eine Handvoll Filzschreiber aus der Schreibschale auf dem Tisch und zog sich eilends wieder ins Obergeschoß zurück. Die nächste Stunde überzeichnete Peregrine fieberhaft, während die anderen ihm stumme, aber starke Unterstützung zukommen ließen. Als er endlich die Filzstifte beiseite legte, hatte er sieben Porträtskizzen angefertigt, unter ihnen ein Bildnis von Michael Scot und eines von Gillian selbst, und jede der Skizzen stellte eine der früheren Reinkarnationen dieser Seele dar. Peregrine selbst war blaß und zitterte vor Erschöpfung, als er endete, und sein Atem war zu einem flachen Keuchen geworden. »Ruhig, ruhig«, sagte Adam leise. »Sie machen es brillant. Jetzt ist es Zeit für Sie, sich ein wenig auszuruhen, während Noel und ich den nächsten Teil der Arbeit übernehmen.« Vorsichtig legte er die sieben Skizzen in zwei Reihen, zu drei und zu vier auf das Fußende des Bettes. Dann stellten sich er und McLeod davor auf, verlagerten ihre Konzentration wieder auf die astrale Ebene und begannen aus dieser Perspektive das Meer psychischer Fragmente zu ordnen, wobei sie die einzelnen Segmente in die verschiedenen Porträts einpaßten, wie Kinder, die mit einem Satz hölzerner Puzzles spielen und wo jedes über -522-
die Umrisse eines fertigen Bildes als Anleitung verfügt, die ihm zeigt, wo und wie die Stücke zusammenpassen. Die Zahl der freischwebenden Fragmente nahm beständig ab, während die einzelnen Porträts Gestalt annahmen. Während dieser ganzen Arbeit hatte Peregrine den Eindruck, es würden feine Strähnen von Spinnenseide wie Zuckerwatte aus Gillians regungslosem Leib gezogen und als verbänden sie ihn mit den Bildern. Der Körper wurde befreit - aber anders als beim letzten Mal, als Gillians Seele aus ihrem Leib gezerrt worden war, um in Melrose Michael Scot wieder zubeleben. Alle Facetten dieser Seele wurden nun ganz in der Nähe verankert und würden bald wiederhergestellt sein. Philippa war an das Bett herangetreten, um den Körper zu bewachen, während sie arbeiteten, und gab genau auf die Funktionen acht, die ihn in Gang hielten, während seine Besitzerin fort war. Schließlich waren alle Fragmente geordnet und alle Porträts vollständig. Jedes schimmerte mit einer lebendigen Energie und war nicht mehr ein bloßes physisches Ebenbild der Persönlichkeit, die es repräsentierte, sondern eine Glyphe der Maske, die der Geist in dieser Inkarnation getragen hatte. Nach einer kurzen Pause, um Luft zu holen, wandte sich Adam wieder an Peregrine. Während Adam und McLeod arbeiteten, hatte das Gesicht des Künstlers wieder etwas Farbe angenommen. Auf Adams fragenden Blick hin blickte er aufmerksam auf. »In Ordnung«, sagte Adam ruhig. »In welcher Reihenfolge?« Peregrine konzentrierte sich und runzelte dabei ein wenig die Stirn, dann stand er auf und studierte kurz die Anordnung der Skizzen vor sich und ordnete sie zu einem Stapel, auf dem Gillians Porträt als letztes obenauf zu liegen kam. Während Adam den Stuhl zurückschob, auf dem Peregrine gesessen hatte, legte dieser den kompletten Stapel vor dem Fußende des Bettes auf den Boden und trat dann zurück. Feierlich begab sich Adam zum Fuß des Bettes, das Gesicht -523-
Gillian zugewandt, den Stapel der Zeichnungen zu seinen Füßen, McLeod zu seiner Linken und Peregrine zu seiner Rechten. Er neigte kurz den Kopf über den zum Gebet gefalteten Händen und sammelte alle Willenskraft, um seine Autorität als Heiler geltend zu machen. Für Peregrine, der ihn beobachtete, schien Adam plötzlich um einige Zentimeter zu wachsen. Und als er beide Hände leicht zu beiden Seiten seines Kopfes hob und das Kinn entschlossen reckte, nahm er jenes Aussehen einer früheren Maske seiner Inkarnationen an, die Peregrine schon einmal gesehen und gezeichnet hatte Zipfel aus kräftig gestreiftem Leinen umrahmten ein hageres, falkenhaftes Gesicht, das mit der Doppelkrone von Ober- und Unterägypten gekrönt war, in der die Sonnenscheibe zwischen zwei Pfauenfedern thronte der Schmuck eines ägyptischen Priesterkönigs. Beim Zeichen des Auferstandenen Osiris, intonierte Adam in einer Stimme, die nicht ganz die seine war, und zeichnete ein Sigill der Autorität in die Luft über den Porträts. Mögen die vielen eins werden, auf daß Ganzheit wieder hergestellt wird. Als er beide Handflächen über den Stapel der Skizzen ausstreckte, begann über der Fläche des obersten Bildes ein violettes Licht zu spielen. Nach einer Weile schien die Skizze sich im Licht aufzulösen. Während Peregrine schaute, flutete ein indigofarbenes Licht über die zweite Zeichnung, stieg dann auf und vermischte sich mit dem violetten, während sich die zweite Zeichnung im Gefolge der ersten auflöste. Die dritte Zeichnung ergab ein Leuchten von schimmerndem Blau, dem dann der Reihe nach Farbwellen aus dem Rest des sichtbaren Spektrums folgten: Grün und Gelb, Orange und Rot. Peregrine beobachtete gefesselt, wie die Skizzen, die er angefertigt hatte, sich inmitten der Farbenkorona auflösten, wobei jede der wachsenden Säule changierenden Lichts einige Handspannen hinzufügte. Am Schluß verblieb eine leuchtende, mehr als zwei Meter hohe Säule aus reinstem silbrigem Weiß, -524-
die ein Stück über der Stelle des Bodens schwebte, wo die Transparentfolien gelegen hatten. Adams fremdes Gesicht hatte sich bei Vollendung der Säule aufgelöst, doch war er immer noch mehr als ein bloßer Sterblicher. Er legte die Handflächen zusammen und grüßte die Säule würdevoll, dann öffnete er die Hände vor der stillen Gestalt des kleinen Mädchens, das dahinter auf dem Bett hingestreckt lag. »Das Gefäß des Leibes wartet darauf, dich aufzunehmen«, sagte er ruhig, doch mit Autorität. »Sei willkommen in deinem eigenen Haus.« Er erwartete zu sehen, wie die Säule aus Licht mit dem dazugehörigen Tabernakel aus Fleisch verschmolz. Statt dessen blieb sie, zu seiner Überraschung, an Ort und Stelle, schimmerte und pulsierte wie ein lebendiges Prisma - die Essenz eines reinen Geistes, der nach einem menschlichen Mittler verlangte, durch den er sich mitteilen konnte. »Noel«, sagte Adam leise, »ich glaube, jetzt werden Sie gebraucht.« Der Inspector nickte und begab sich zwischen das Bett und die Säule aus Licht, nahm seine Fliegerbrille ab und steckte sie weg, bevor er einen Gruß aussprach. »Ich bin hier«, sagte er zu der geistigen Präsenz. »Du bist frei, mit meiner Stimme zu sprechen.« Als er seine Hände an die Seiten fallen ließ und seinen Kopf in Empfänglichkeit senkte, schwebte die Lichtsäule vorwärts und überschattete ihn. Er erstarrte schaudernd, als ihre Essenz ihn durchflutete. Als er wieder aufblickte, schaute eine andere Intelligenz aus McLeods blauen Augen, und als die Lippen unter dem buschigen Schnurrbart sich öffneten, ertönte eine Stimme, die Peregrine schon in Melrose gehört hatte die Stimme von Michael Scot. »Dank wird allen geschuldet, die sich in diesem Raum -525-
befinden, aber besonders euch«, sagte er, an Adam und Peregrine gerichtet, »nicht nur für diese große Mühe der Heilung, die meintwegen unternommen wurde, sondern auch dafür, daß mein Gold und mein Zauberbuch vor der Entweihung durch die Hände unserer gemeinsamen Feinde bewahrt wurden. Wenn es etwas gibt, das ich in Gegenleistung für die mir erwiesenen Dienste anbieten kann, so bittet jetzt, und ich werde es bereitwillig geben.« Adam dachte nur einen Augenblick lang nach, denn er war sich durchaus bewußt, was er fragen mußte, und daß die Zeit begrenzt war. »Wir suchen keine Belohnung für uns, Bruder, sondern nur einen Brennpunkt zur Ausführung dessen, was wir um deinetwillen begonnen haben. Wir möchten gern, daß du uns dein Wissen über unsere gemeinsamen Feinde mitteilst. Weißt du, was sie in deinem Zauberbuch gesucht haben?« »Ich weiß es nicht«, lautete die Antwort, »aber die Magie, die mich nach Melrose rief, war in der Tat finster - eine fremdartige Kraft -, die gleiche, die den leiblichen Tod der Inkarnation bewirkte, die dieser vorausging, vor mehr als einem halben Jahrhundert...« Die Stimme verstummte, als erinnerte sie sich an alte Schmerzen. Als sie weitersprach, klang sie hart. »Der Herr der Schatten war in jenen Tagen ein Mann namens Hitler. Sein Werk tat dem Baldachin des LICHTS großen Schaden an. Hätte er mit all seinen Absichten Erfolg gehabt, so hätte er die ganze Wut der dunkleren Elemente herabgerufen...« Die Erwähnung Hitlers ließ Adam bis ins Mark frösteln. »Hat dich also Hitlers Magie gerufen?« fragte er. »Ich weiß es nicht«, kam die Antwort, »aber ich würde schwören, bei allem, was mir heilig ist, daß die Macht, die mich rief, aus der gleichen Quelle stammte wie seine. Und der Herr der Schatten hatte ein Zauberbuch...« -526-
»Hitler hatte ein Zauberbuch?« fragte Adam. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. »Ja«, bestätigte Scots Stimme, »aber ich weiß nicht, was daraus geworden ist. Mehr noch, ich kann es dir nicht sagen. Ich wünsche dir eine gute Jagd, Meister der Jagd. Aber damit nicht meine Abwesenheit das Gute wieder rückgängig macht, das du hier gewirkt hast, bitte ich jetzt um die Erlaubnis, in meine derzeitige Inkarnation wieder einzuziehen, um das Leben wieder aufzunehmen, das fortzuführen ich jetzt - durch dein Eingreifen - frei bin.« »Ich möchte dir keine weitere Qual verursachen«, sagte Adam. »Du hast alles erduldet, was jemand nur verlangen konnte. Gehe in Frieden mit dem Segen der Sieben, um deine dir zugewiesene Bestimmung zu erfüllen. Der Körper, den du bewohnst, soll geschützt werden, bis du stark genug bist, um deinen Weg allein zu gehen.« Mit einem Nicken wandte sich McLeods Körper um und legte die Hände auf Gillians Füße. Prismatisches Licht floß aus ihm in Gillian hinüber. Im Augenblick der Trennung gab McLeod einen leisen Ton des Erstaunens von sich, sank auf die Knie und hielt sich am Fußende des Bettes fest. Im selben Augenblick lief ein plötzlicher, krampfhafter Schauer über das Kind im Bett, und Gillian öffnete die Augen. Ihr großer, verblüffter Blick schweifte durch das Zimmer und wanderte über die vielen unbekannten Gesichter. Sie ließ ein leises ängstliches Wimmern vernehmen und drückte sich in die Kissen, zu schwach, um mehr zu tun als nur zu schauen. Victoria trat zu ihr, nahm sie in die Arme und tröstete sie, während Christopher eine ihrer Hände ergriff. »Na komm, Gillian, du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Victoria leise, wiegte sie wie ein Baby und streichelte die blonden Locken. »Ich weiß, das sieht alles ein bißchen seltsam aus, aber du bist ganz und gar in Sicherheit. Du bist ziemlich -527-
lange krank gewesen, aber jetzt wird es dir wieder gutgehen. Morgen früh wirst du deine Mama wiedersehen. Sie wird sehr glücklich sein, wenn sie sieht, daß du aufgewacht bist.« Philippa schickte sich schon an, sich um die medizinischen Aspekte der Situation zu kümmern, sie überprüfte schnell Gillians Werte und nutzte dann die Abschirmung, die Christophers Körper bot, um zu der Infusion des Mädchens ein leichtes Beruhigungsmittel hinzuzugeben. Während Adam McLeod half, am Fuß des Bettes auf dem Boden eine sitzende Stellung einzunehmen, ihm eine Kapsel mit Salmiakgeist unter die Nase hielt und Peregrine besorgt an seiner Seite kniete, zitterte und wimmerte Gillian ein wenig und klammerte sich wie ein Kleinkind an Victorias stützenden Arm. »Mami?« wisperte sie kaum hörbar. Nur ihre blassen Lippen formten das Wort. »Sie schläft im Nachbarzimmer«, sagte Victoria beruhigend. »Aber wir werden sie jetzt doch nicht aufwecken wollen, oder? Sie hat Tag und Nacht über dich gewacht, seit du krank wurdest, und sie ist sehr müde. Denk doch an die wunderbare Überraschung, die sie morgen früh erleben wird, wenn sie aufwacht und entdeckt, daß es dir besser geht.« Mit Adams und Peregrines Hilfe rappelte sich McLeod auf. Obwohl er noch etwas wacklig auf den Beinen war, sah er mit Befriedigung, daß Gillian zu sich gekommen war, und wenn auch nur für kurze Zeit. Unter dem Einfluß des Sedativs wurden ihre blauen Augen schon glasig, während sie in den Schlaf sank. Doch dies war ein Schlaf, der - anders als ihr vorheriger Zustand - beherrschbar war. Victoria fuhr fort, sie zu wiegen und liebe Worte zu summen, bis das kleine Mädchen an ihre Schulter sank. Als sie das schlafende Mädchen wieder unter seine Decken gebettet hatten, griff Adam in seine Tasche und holte den Ring hervor, der für Peregrine bestimmt war. »Ich fürchte, Ihr Part ist noch nicht ganz vorüber«, sagte er zu -528-
dem Künstler und zeigte ihm den Ring. »Ich denke, es kann keinen Zweifel geben, daß Sie sich dieses Ringes würdig erwiesen haben, doch liegt es bei einer viel höheren Autorität als bei mir, Ihnen die offizielle Bestätigung zu geben, die dieser materielle Ring darstellt. Sind Sie zu einem weiteren Gang auf die astrale Ebene bereit?« Peregrine sah mehr als nur ein bißchen benommen aus, überwältigt von dem, was er in dieser Nacht schon gesehen und erlebt hatte. Trotzdem brachte er ein Kopfnicken zustande. Adam nahm lächelnd die rechte Hand des jungen Mannes in seine linke und spürte die leichte Narbe, als er den Ringfinger suchte. »Noel, stehen Sie mir bei?« fragte er leise über die Schulter. McLeod stellte sich links neben Peregrine und tat seine Bereitschaft mit einem Nicken kund. »Also gut«, sagte Adam zu Peregrine, »schließen Sie noch einmal die Augen und bereiten Sie sich darauf vor, sehr, sehr tief zu gehen.« Während Peregrine gehorchte, konzentrierte sich Adam und schloß ebenfalls die Augen. »Peregrine Justyn Lovat, seien Sie jetzt und immerzu gesegnet im Dienste des LICHTS«, flüsterte er. »Empfangen Sie diesen Ring in Erinnerung an einen, der ihn vor Ihnen trug, und freuen Sie sich in der beständigen Gemeinschaft, von der ihr beide nun ein Teil seid.« Mit dieser Aufforderung steckte er den Ring an Peregrines Finger. Mit einem Mal standen die drei im Geist aufs neue in dem astralen Tempel. Als Peregrine an sich hinab schaute, sah er, daß er wie seine Gefährten ein Gewand von tiefem Saphirblau trug. Diesmal waren sie nach Süden orientiert, wo ein karminrotes Tor wartete, dessen Flügel weit offenstanden und dessen karminrote Vorhänge zurück gezogen waren. Der Eine, der -529-
dahinter wartete, trug die Erscheinung einer hochragenden Figur in einer Rüstung aus rotgoldenem Licht, mit einem Diadem scharlachroter Flammen um die Stirn. Die Spitzen seiner Schwingen flackerten wie Flammenzungen, geschmückt mit feurigen Pfauenaugen. Und sein Flammenschwert stand mit der Spitze auf dem Boden, seine Hände ruhten auf der kupferfarbigen Parierstange. Christopher und Victoria gesellten sich im Tempel zu ihnen und traten vor, um zu beiden Seiten als Zeugen zu stehen, dicht gefolgt von Philippa und Lady Julian. Andere waren noch da, die Peregrine erst noch würde im Leib kennen lernen müssen. Das Wesen nahm ihre Anwesenheit mit einem königlichen Nicken zur Kenntnis und unterzog Peregrine einer kurzen, eingehenden Prüfung, dann warf es den Kopf zurück, so daß sein wehendes kupferfarbiges Haar einen Flammennimbus um seinen Kopf und seine Schultern bildete. Wie schon in der Gegenwart des anderen Engels, hörte Peregrine die wohltönende Stimme in seinem Kopf. Du gereichst deinem Mentor, dem Meister der Jagd, zur Ehre, sagte das Wesen. Er hat deine Aufnahme in die Jagdloge erbeten und steht hier als Bürge deiner Hingabe an diese gewichtige Berufung, die an dich ergangen ist. Noch eines bleibt von dir zu erfragen: Bist du bereit, dem Höchsten rückhaltlose Treue zu geloben, wodurch du den Ritterschlag seiner Krieger und der Bewahrer seines Friedens erhalten sollst? Peregrine zuckte nicht zurück. Ich gelobe es. Dann nehmen wir dich als Oberbefehlshaber des Herrn der Heerscharen in seinem Namen an. Knie nieder. Zitternd vor Aufregung, sank Peregrine auf beide Knie. Adam trat vor, um ehrfürchtig das Flammenschwert in die Hand zu nehmen, während der Meister Peregrines gefaltete Hände umfaßte. Ein weißes Glühen breitete sich über Peregrines Finger aus und sammelte sich um den Ring, der an seiner rechten Hand -530-
loderte wie ein Stern. Dieser Ring sei ein Zeichen, daß deine Gaben dem Dienst des Herrn der Heerscharen geweiht sind, meldete sich die mächtige Stimme in seinem Geist. Mögen alle Werke deiner Hände und deines Herzens Ehre dem Namen geben, der da über allen anderen Namen steht. Nach diesen Worten trat der Meister zurück und streckte die Hand aus, um wieder das Schwert zu ergreifen. Er hob die feurige Klinge und berührte Peregrine leicht auf beiden Schultern und dann auf dem Kopf. Jede Berührung der brennenden Klinge verstärkte die Empfindung von urtümlicher Kraft, die durch Peregrines Adern pulsierte. Die abschließende Berührung ließ ihn über den Rand des Abgrunds stürzen, und er verlor das Bewußtsein. Kapitel 34 Als Peregrine wieder zu sich kam, lag er auf dem Boden von Gillians Zimmer flach auf dem Rücken. Adam kniete neben ihm und prüfte besorgt seinen Puls. McLeod war ebenfalls auf den Knien und schaute beunruhigt forschend auf ihn herab. Als er sah, daß Peregrine die Augen geöffnet hatte, stieß er einen schroffen Ausruf der Erleichterung aus. »Alles in Ordnung, er kommt zu sich«, verkündete er den Houstons und Philippa, die sich im Hintergrund hielten. Peregrine erinnerte sich an den Erzengel mit dem Flammenschwert und blinzelte. Er wußte nicht, wann er sich zum letzten Mal so erschöpft und doch so im Frieden mit sich selbst gefühlt hatte. »Stimmt«, murmelte Adam. »Dann helfen wir Ihnen mal hoch. Kommen Sie, Noel, gehen Sie mir zur Hand.« Mit der Hilfe seiner beiden Mentoren gelang es Peregrine, auf die Beine zu kommen und aufzustehen. Er blickte verstohlen auf -531-
den Ring an seinem Finger, während sie ihn zum nächsten Stuhl bugsierten. Ihm schien, daß der Ring mit einem neuen Glanz schimmerte und seine Freude widerspiegelte. Doch es handelte sich dabei um eine Eigenschaft, die er mehr spürte als sah - eine wortlose Zusicherung, daß das, was er soeben erlebt hatte, auf einer Ebene wirklich war, die über all sein früheres Verständnis hinausging. Als er die Hand zur Faust ballte und den Stein des Ringes an die Lippen führte, um ehrfürchtig Dank zu sagen, erkannte er, daß sowohl Adam als auch McLeod ihren Blick auf Christopher gerichtet hatten, der erwartungsvoll mit gefalteten Händen neben Gillians Bett stand. Während er sich ruhig und vorsichtig erhob, achtete er ebenfalls auf den Priester. »Herr«, betete der Priester und hob segnend die Hände, »nun lassest du deine Diener in Frieden ziehen nach deinem Wort. Und mögen die Worte unserer Münder und die Gedanken unserer Herzen immer vor deinen Augen bestehen können.« Peregrine fiel mit den anderen in das gemeinsame ›Amen‹ ein. »Das Werk dieser Nacht durch diese Loge ist vollbracht«, fuhr Christopher fort. »Laßt uns in Freuden gehen, um den Willen des Einen zu tun, der uns ausschickt.« »Amen, Selah, so sei es«, antworteten die anderen. Das war, wie Peregrine begriff, ein förmlicher Abschluß ihrer Arbeit, denn mit diesen Worten änderte sich die Atmosphäre, man begann die übliche Ordnung des Zimmers wieder herzurichten und schickte sich an zu gehen. Einer Eingebung folgend fing Peregrine Christopher ab und faßte ihn schüchtern am Ärmel. »Father Christopher, kann ich einen Augenblick mit Ihnen sprechen?« fragte er leise, wich jedoch dem Blick des Priesters nicht aus. »Ich - weiß nicht, wie ich Sie fragen soll, was ich fragen möchte, aber - würden Sie mir Ihren Segen geben, bevor Sie gehen?« -532-
Seine Bitte erntete bei Christopher ein sanftes Lächern, keine Spur von der üblichen Neckerei. »Sie haben genau gewußt, wie man fragt«, erwiderte er ruhig, »und ich gebe Ihnen meinen Segen von ganzem Herzen. Nur denken Sie daran: Was Sie aus meinen Händen erhalten, ist nicht Gabe und Segen von mir, sondern die des LICHTES, dem wir dienen.« Als Christopher die Hände hob, wurde Peregrine bewußt, daß er auf die Knie sank und den Kopf über den gefalteten Händen neigte. Die Berührung des Priesters auf seinem Haupt war eine irdische Spiegelung der Segnung, die er aus den Händen von Wesen erhalten hatte, die er sich nur als Engel vorstellen konnte, und er merkte, daß sein Blick vor Tränen der Freude und der Dankbarkeit verschwamm, während Christopher die Segensworte sprach. »Möge der Segen des allmächtigen Gottes auf deinem Haupt und in deinem Herzen sein und bei dir bleiben jetzt und immerdar.« Christophers linke Hand fiel auf Peregrines Schulter, die rechte zeichnete ein Kreuz über seinem Kopf. »Im Namen des Vaters, und des Sohnes, und des Heiligen Geistes. Amen.« »Amen«, flüsterte Peregrine und unterließ es, sich die Tränen aus den Augen zu wischen, als er aufstand. Nachdem man in der Bibliothek Tee und Sandwiches zu sich genommen hatte, um die Erdung nach ihrem Werk abzuschließen, verabschiedeten sich die nicht in Strathmourne House wohnenden Mitglieder der Loge mit lieben und guten Wünschen von Adam und Philippa außer Peregrine, der Philippas Vorschlag annahm, er solle den Rest der Nacht in seinem alten Gastzimmer verbringen. Als er ihnen auf dem Treppenabsatz gute Nacht gewünscht und sich mit strahlenden Augen zur dringend notwendigen Ruhe zurück gezogen hatte, beugte sich Adam zu seiner Mutter und drückte ihr einen -533-
heftigen Kuß auf die Wange. »Das war eine ziemlich bemerkenswerte Nacht, nicht wahr?« sagte er mit einem müden Lächeln. »Jetzt habe ich eine kleine Ahnung davon, was du durchgemacht hast, als du mich vor all den Jahren einführtest. Habe ich je daran gedacht, dir zu danken?« »Die Art, wie du dich entwickelt hast, ist meine Belohnung gewesen«, sagte sie stolz. »Das ist alles, was ich jemals in all meinen Gebeten erbeten habe - für dich die Lehrerin zu sein, die du brauchtest, um dich zu deinen vollen Möglichkeiten zu entwickeln. Doch wie ich mich erinnere, hast du mir in jener Nacht vor so langer Zeit gedankt. Und jetzt ist es an mir, dir Dank zu sagen.« Er drückte sie enger an sich und küßte sie auf ihren Scheitel. »Wir haben heute nacht gute Arbeit geleistet, nicht wahr?« murmelte er. »Ja, in der Tat«, stimmte sie ihm zu, mit einem Blick, der Bände sprach. »Und mit diesen Worten schlage ich vor, daß wir beide uns auch zurück ziehen, um das alles zu verdauen. Ich werde die Nacht in Gillians Zimmer verbringen. Das Kind wird wahrscheinlich bei Morgengrauen aufwachen, und der Himmel weiß, wie ich es Iris erklären werde.« Philippas Voraussage erwies sich als zutreffend. Iris Talbots Freude war grenzenlos, als sie am nächsten Morgen erwachte und hörte, ihre Tochter sei in den frühen Stunden des Morgens zu sich gekommen. Sie stürzte hinüber in Gillians Zimmer und sah sie gerade erwachen. Ihre Tochter sah zwar jammervoll schwach aus, doch die blauen Augen, die so lange leer und stierend gewesen waren, hatten wieder das verständige Funkeln angenommen. Philippa war schon tätig gewesen und hatte die Schläuche entfernt, die in den vergangenen Wochen Gillian versorgt hatten. Sie ließ Mutter und Tochter allein, damit sie ihre Wiedervereinigung mit tränenreichem Lachen und -534-
Umarmungen feiern konnten, während sie ins Erdgeschoß hinabging, um mit ihrem Sohn eine dringend nötige Tasse Tee zu trinken. »Gillian ist hellwach und Iris ebenfalls«, informierte sie Adam prosaisch. »Ich habe Humphrey gesagt, er solle ihnen eine halbe Stunde Zeit geben und dann hinaufgehen und schauen, was sie zum Frühstück wollen. Bis dahin sollten sie schon reif dafür sein.« Adam lächelte schief. »Zumindest eine kleine Schlacht ist gewonnen«, bemerkte er. »Aber der Krieg selbst steht auf Messers Schneide.« »Das habe ich nicht aus den Augen verloren«, sagte Philippa. »Ich habe den Verdacht, daß du dir schon unseren nächsten Schritt überlegt hast.« Sie sank in einen Sessel. Auf ihrem immer noch schönen Gesicht zeichneten sich bittere Erinnerungen ab. »Seit ich hier angekommen bin, habe ich gespürt, daß etwas in der Luft liegt eine Andeutung von etwas Finsterem und Gefährlichen, von dem ich dachte, ich würde es erkennen, das ich aber doch nicht benennen konnte. Wir sind uns schon einig gewesen, daß es nicht nur um die Loge der Luchse geht.« Adam blickte seine Mutter forschend an. »Sprich weiter.« »Ich habe ein wenig darüber nachgedacht, was Michael Scot gestern nacht gesagt hat, daß Hitler der Herr der Schatten war und ein Zauberbuch besaß«, fuhr sie fort. »Das ist gewiß wahr. Es gibt keinen Zweifel, daß Hitler ein Schwarzmagier ersten Ranges war und über ausreichend Macht verfügte, um seine wildesten und brutalsten Vorstellungen zu verwirklichen. Wer ihn letzten Endes stoppte, war Rudolf Heß. Heß war ebenfalls ein Amateur in den Schwarzen Künsten, doch nach einer Weile konnte nicht einmal er noch ertragen, was Hitler tat. Deshalb unternahm er 1941 diesen geheimen Flug nach Schottland.« -535-
Sie sah, wie Adam sie verblüfft anschaute, und fuhr fort. »Habe ich dir nie davon erzählt?« »Nein.« »Du lieber Himmel! Tja, nun ist das ja alles Geschichte, aber mein Onkel, Eric Rhodes, hatte Heß nach seiner Gefangennahme einige Male befragt. Damals wußte ich nichts davon, weil ich gerade meine Assistenzarztzeit absolvierte, aber -Jahre später habe ich einige der psychiatrischen Protokolle gesehen. Auf jeden Fall war er zuerst überzeugt, Heß sei ein irrer Spinner, aber Dougie Hamiltons Cousin behauptete immer, der wahre Grund, warum Heß nach Schottland geflogen war, sei nicht gewesen, weil er Dougie dazu bringen wollte, ihn dem König vorzustellen, sondern um Hitlers Zauberbuch aus Deutschland herauszuschmuggeln; ein Manuskript, das dieser aus einem Kloster irgendwo in Nordeuropa geraubt hatte. Es soll ein keltisches - vielleicht druidisches oder piktisches -Flair gehabt haben.« Adam erstarrte, aber sie schien es nicht zu bemerken. »Auf jeden Fall begann in esoterischen Kreisen das Gerücht zu zirkulieren, das Manuskript befinde sich in Schottland«, fuhr sie fort. »David Tudor-Jones bekam Wind davon - anscheinend handelte es sich bei ihm um den Vater unseres derzeitigen Gegners -, und er versuchte darüber zu verhandeln. Doch vernünftigere Köpfe hatten entschieden, es wäre sicherer, wenn man es nach Amerika brächte, wo Hitler es wahrscheinlich nie wieder in die Hände bekommen würde. Der Herzog von Kent sollte es in einer Diplomatentasche bis nach Island bringen - er hatte keine Ahnung, was er mit sich trug, und jedermann dachte, bei einem Angehörigen der königlichen Familie wäre es in Sicherheit - aber Tudor-Jones schmuggelte eine Bombe an Bord des Flugzeugs. Der arme Georgie knallte im August 1942 irgendwo oben in Caithness gegen einen Berg - ich glaube, es war der Morven. Auf jeden Fall war damit das Manuskript -536-
verloren, und mit ihm der attraktivste und charmanteste der königlichen Herzöge.« Sie blickte Adam nachdenklich an, doch er verknüpfte das, was sie gesagt hatte, mit einem anderen logischen Faden, der zu ihrer derzeitigen Lage zurückführte. »Philippa, ich glaube nicht, daß das Manuskript verloren ging«, sagte er mit einer Stimme von stählerner Ruhe. »Tudor-Jones mag das Flugzeug des Herzogs in die Luft gejagt haben, aber zuerst hat er das Manuskript an sich genommen. Ich glaube, Francis Raeburn besitzt es jetzt - oder Francis Tudor-Jones, wie man ihn nennen sollte -, und er benutzt es, um seine derzeitige Arbeit zu tun. Oder - nein, sie können es nicht die ganze Zeit gehabt haben, sonst hätten sie es schon früher verwendet. Die Loge der Luchse hatte nie zuvor dies Art von Macht zur Verfügung. Also muß es jemand anders bis vor kurzem gehabt haben, jemand, der eng mit der Geschichte der Kriegszeit verbunden ist. Jemand...« Er brach ab, denn gerade war ihm ein noch verwegenerer Gedanke gekommen. »Du lieber Himmel, es kann doch wohl nicht Heß selbst sein?« Philippa starrte ihren Sohn ungläubig an. »Sei nicht albern, Adam. Heß ist tot. Er ist vor drei oder vier Jahren gestorben.« »Ist er das wirklich?« »Nun ja, natürlich.« »Nein. Im Kriegsverbrechergefängnis von Spandau ist ein Mann gestorben, von dem man sagte, er sei Rudolf Heß gewesen, doch ein britischer Stabsarzt, der ihn in den späten siebziger Jahren untersuchte hatte, behauptete, der Mann in Spandau könnte gar nicht Heß gewesen sein, da die Narben der Verwundungen fehlten, von denen man wußte, daß er sie im Ersten Weltkrieg davongetragen haben mußte. Soweit ich mich erinnere, wurden auch bei zwei verschiedenen Autopsien die Narben nicht gefunden, die bei einem Mann hätten da gewesen -537-
sein müssen, der so verwundet worden war wie Heß. In jüngerer Zeit hat sogar Heß' Sohn, Wolf Rüdiger Heß, versucht, die Alliierten zu verklagen, die für die Haft seines Vaters verantwortlich waren, wobei er behauptete, die Leiche, die 1987 der Familie übergeben wurde, sei nicht die seines Vaters gewesen.« Tiefe Falten durchzogen Philippas hohe Stirn. »Jetzt, da du es sagst, erinnere ich mich an so etwas. Der Name des Arztes war Thomas, glaube ich. Hugh Thomas - noch ein Waliser. Und hat nicht David Irving kurz nach Heß' Tod etwas geschrieben, etwas über seine Aufenthaltsorte zwischen der Zeit des Absprungs über Schottland und dem Ende des Krieges?« Adam nickte. »Heß verbrachte nach seiner Gefangennahme viel Zeit in Wales, während man versuchte, zu einer Entscheidung zu kommen, was man mit ihm anstellen sollte. So unglaublich es scheinen mag, man erlaubte ihm immer wieder, lange Spaziergänge allein zu machen - und während dieser Zeit erlebte Heß anscheinend eine radikale Veränderung seiner Persönlichkeit. Nur glaube ich, daß nicht Heß' Persönlichkeit sich verändert hat, sondern der Mann selbst. Hugh Thomas hat das Vorhandensein eines Doubles postuliert. Was ist, wenn Tudor-Jones diesen Austausch eingefädelt hat«, fuhr er fort, »und dann den richtigen Heß nach Schottland wegzauberte, zusammen mit dem Manuskript? Was, wenn dieser Mann es ist, der sich dort oben in dem Bau in den Cairngorms versteckt? Das würde sicherlich den Eindruck erklären, daß noch etwas anderes in die Sache verwickelt ist außer den Luchsen - etwas unfaßbar Machtvolles.« Philippa tat einen langen, heftigen Atemzug. »Wenn man es so formuliert, ergibt es eine Art verrückten Sinn, oder? Jedoch...« Sie verstummte und biß sich in die Lippe. »Aber Heß ist doch sicher nicht mehr am Leben. Du meine Güte, er müßte du lieber Himmel, fast hundert Jahre alt sein!« -538-
»Gelegentlich werden Menschen so alt«, sagte Adam ein wenig ungeduldig. »Aber selbst wenn ich nicht recht habe und die Macht hinter all dem nicht Heß ist, so haben wir immer noch die erwiesene Verwicklung von Tudor-Jones' Sohn. Francis Raeburn steckt bis zu beiden Ohren in der Sache. Und wenn sein Vater wirklich das Manuskript gestohlen hat, und wenn es sich jetzt in den Händen von jemandem befindet, der weiß, wie er es benutzen kann...« Mutter und Sohn blickten einander bestürzt an. »Hitlers Zauberbuch«, sagte Philippa ausdrucklos. »Du lieber Gott, was für eine Art Macht hat es ihnen gegeben?« »Tja, zumindest Macht, um Blitze herabzurufen«, erwiderte Adam. »Und wie auch immer sie diese Macht fokussieren, die Geschichte mit den Menschenopfern fügt der Sache eine neue Dimension hinzu, der man nur sehr schwer wird entgegenwirken können. Was hat Scot über Hitler gesagt? Hätte er mit all seinen Absichten Erfolg gehabt, dann hätte er die Wut der dunkleren Elemente herabgerufen.« Philippa schnaubte. »Es klingt so, als würden unsere Gegenspieler das schon tun, wenn auch noch auf eine recht bescheidene Weise, verglichen mit Hitler. Aber sie werden stärker, da gibt es keinen Zweifel. Und der Tribut an Menschenleben steigt mit jeder neuen Woche. Die Frage ist: warum? Was hoffen sie davon zu gewinnen, über das bloße Chaos hinaus? Obwohl das einstweilen vielleicht schon genug ist.« Doch ihre weiteren Spekulationen an jenem Morgen förderten keine neuen Antworten zutage, und die geschäftige Vorweihnachtszeit ließ wenig Zeit und Kraft übrig, um neue Spuren zu suchen. Im Laufe der nächsten paar Tage gelang es Adam, ihren Verdacht an andere Mitglieder der Jagdloge weiter zu geben, doch das Phantom eines Hitlerschen Aspekts war für die meisten -539-
von ihnen eine neue Perspektive und verlangte ein drastisches Umdenken. Für die drei von ihnen, die die Grenzen jener brütenden Macht persönlich gestreift hatten, war die Aussicht, ohne eingehendere Informationen den Kampf dagegen aufzunehmen, ein Schrecknis - bis hin zu einem fast lähmenden Widerstreben. Unter dem Vorwand, er müsse sich immer noch von dem Verkehrsunfall erholen, konnte Adam jeden Tag einige Stunden abzweigen, um in die ausgedehnten Ressourcen seiner Bibliothek abzutauchen, aber dabei kam nichts Bemerkenswertes heraus. Sie schienen in einer Sackgasse zu stecken, gezwungen zu warten, bis der Feind wieder zuschlagen würde und selbst dann gab es keine Gewißheit, daß sich daraus ein Hinweis ergeben würde, wie man das Problem von diesem Punkt aus weiter verfolgen sollte. Inzwischen gab es die praktischen Dinge des gewöhnlicheren Lebens zu regeln, und dazu die sehr reale Aufregung durch eine zunehmend mobile und gesprächige Zwölfjährige unter dem Dach von Strathmourne. Nach einem langsamen Beginn am Samstag, als sie allmählich wieder fähig wurde, richtiges Essen zu sich zu nehmen, und anfing, ihre Körperkräfte zurück zu gewinnen, kam Gillian rasch wieder auf die Beine und war bald das blühende Leben, und das mit einer Spannkraft, die fast magisch war. Am Sonntag war sie schon kräftig genug, um zum Brunch ins Erdgeschoß zu kommen, und am gleichen Nachmittag flog ihr Vater von London herauf, nachdem er am Tag zuvor einen freudigen Anruf von seiner Frau erhalten hatte. Auf Adams Einladung bereitete sich die Familie Talbot vor, auf Strathmourne ein traditionelles schottisches Weihnachtsfest zu verbringen, denn während Gillian erstaunliche Fortschritte machte, gab Philippa ihren Eltern zu bedenken, daß die Prognose ihrer Tochter viel günstiger wäre, wenn neue psychologische Untersuchungen bestätigten, daß die Gefahr vorbei war, bevor sie ihr erlaubten, nach Hause zurück zu kehren. Persönlich widerstrebte es ihr und Adam, Gillian aus -540-
ihrem Schutz zu entlassen, bis sie weniger verwundbar war, und sie ergriffen aktive Maßnahmen, um unter der Tarnung einer fortlaufenden Therapie ihren Schutz zu verstärken. Angesichts ihres eigenen gegenwärtigen Dilemmas befreite das Wissen, daß Gillian unter ihrem Dach sicher war, sie von einer mentalen Last Sie brachten den Montagmorgen damit zu, im Salon zu Gillians Freude einen Weihnachtsbaum aufzustellen. Nach dem Mittagessen und einem Schläfchen verkündete die schnell sich erholende Patientin am Nachmittag ihren Weihnachtswunsch sie wolle Adams Pferde kennenlernen. Da Philippa keinen Grund sah, dem zu widersprechen, war Widerstand zwecklos. Gillian setzte sogar ihrer Mutter so lange zu, bis sie ihr erlaubte, anstatt eines langen Morgenrocks über dem Nachthemd richtige Straßenkleidung anzuziehen, denn sie hatte vor, Adams Stallungen so zu inspizieren, wie es einer richtigen Lady geziemte. Philippa erklärte, sie werde sich ihrerseits zu einem dringend notwendigen Nickerchen zurückziehen. Während ihre bewundernden Eltern staunend zuschauten - der Vater mit einer Kamera in der Hand -, setzte Adam Gillian auf den sanften Khalid und führte sie einige Male im Hof herum, dann schwang er sich hinter ihr aufs Pferd und ließ den großen Grauschimmel im Schritt aus dem Stallhof zur Vorderseite des Hauses gehen, wo der wintertote Rasen zumindest den rechten Boden für einen frommen Trab anbot. Peregrine war nach dem Mittagessen mit seinem Skizzenbuch vom Torhaus herauf gekommen und folgte den Talbots zur Vordertreppe des Hauses, um mit fliegendem Bleistift zu beobachten, wie Adam das Pferd auf dem Grasstreifen entlang der Auffahrt in einen sanften Kanter übergehen ließ. Gillian, die in der Stadt groß geworden war, schien begeistert. Sie hatten vielleicht hundert Meter entlang der Auffahrt zurückgelegt und wollten gerade umkehren - Gillian war schier außer Atem vor Aufregung -, als ein gelber Morgan-Sportwagen mit schwarzen Kotflügeln vorsichtig die Auffahrt heraufkam. -541-
Adam hielt das Pferd an und ließ es im Schritt zur Fahrerseite des Autos gehen, da erkannte Ximena ihn und stoppte. Während sie das Fenster herunterkurbelte, hob er die rechte Hand in einem lässigen Gruß an den Schirm seiner Reitmütze. »Guten Tag, Dr. Lockhart«, sagte er. Mit gespielter Mißbilligung zog sie die Augenbrauen hoch. »Sie sollten sich eigentlich noch im Stand des Rekonvaleszenten befinden.« »Oh, das tue ich auch«, erwiderte Adam. »Wir beide, genau genommen. Dies hier ist meine ganz besondere Freundin, Miss Gillian Talbot, die ausdrücklich darum gebeten hat, heute nachmittag zu einem Ausritt mit genommen zu werden.« »Oh, ich verstehe«, erwiderte Ximena. »Guten Tag, Gillian.« Gillian errötete und barg ihr Gesicht an Adams Reitjacke. »Sie ist ein bißchen schüchtern, fürchte ich. Fahren Sie ruhig zum Haus hoch, wir treffen Sie dann dort.« Mit einem nachsichtigen Lächeln legte Ximena wieder den Gang ein und fuhr weiter. Als sie sich außer Hörweite befanden, blickten Gillians blaue Augen über die Schulter ernst zu Adam empor, während er Khalid weiterlaufen ließ. »Dr. Sinclair, ist das Ihre Freundin?« »Tja, noch nicht«, erwiderte Adam. »Aber sie könnte es werden. Ich habe sie erst vor ein oder zwei Wochen kennengelernt. Sie ist Ärztin. Genaugenommen ist sie es, die meinen Kopf zusammengenäht hat.« »Hmmm. Sie ist hübsch«, meinte Gillian. »Dann sollten wir uns lieber beeilen. Meine Mami sagt, ein Gentleman sollte eine Dame nie warten lassen.« »Nein, das sollte er nicht«, pflichtete Adam ihr bei und lachte leise in sich hinein, während er die Zügel aufnahm. »Außerdem möchtest du ja auch einmal schnell reiten, nicht wahr? Also gut, meine Kleine. Halt dich fest, und wir legen los.« -542-
Selbst im Kanter holten sie Ximena nicht mehr ein. Als sie am Ende des Rasens ankamen, stieg sie schon aus dem Auto. Adam sprang vom Pferd und ließ Gillian im Sattel sitzen. Peregrine kam herbei und nahm Khalid am Zügel. »Ihre hübsche Ärztin?« fragte er leise. »Ja, in der Tat. Wahrscheinlich ist sie gekommen, um meine Fäden zu ziehen«, sagte Adam zurückhaltend. »Sind Sie so nett und bringen Sie Gillian und Khalid wieder in den Hof?« »Durchaus«, erwiderte Peregrine grinsend. »Komm, Gillian! Du kannst mir helfen, dieses große graue Tier wieder in den Stall zu bringen, okay? Und bevor wir das tun, können deine Mama und dein Papa einige Fotos machen, wie du auf dem Pferd sitzt.« »Ach, das wäre so nett von Ihnen, Mr. Lovat«, sagte Iris Talbot, die herangetreten war, um Khalids Hals zu streicheln, während George Stellung bezog, um ein Foto von dieser Szene zu machen. »Gillian, hast du daran gedacht, Dr. Sinclair ›Danke‹ zu sagen?« Während sie sich entfernten, nahm Adam seine Reitmütze ab und steckte sie unter den Arm. Er ging zu Ximena hinüber, fuhr sich dabei zerstreut mit den Fingern durchs Haar und spürte, daß sich sein Pflaster noch an Ort und Stelle über den Nähten befand. »Eine meiner Patientinnen«, erklärte er und wies mit dem Kinn auf die abziehende Gruppe, während seine Besucherin die Autotür zuschlug. »In der letzten Woche genaugenommen eher die Patientin meiner Mutter - es war praktisch, gleich hier zu Hause eine Vertretung zu haben. Hat sich Ihre Personalsituation entspannt, oder werden Sie auch diesmal gleich wieder ausreißen müssen?« Sie seufzte, während sie ihm die Stufen hinauf und ins Haus folgte. Ihr Haar hing offen auf die Schultern herab, doch sie trug unter dem schicken schwarzen Mantel, den sie schon beim -543-
letzten Besuch angehabt hatte, einen weißen Kittel und die grüne OP-Kleidung. »Ich fürchte, ich werde wieder ausreißen müssen. In weniger als zwei Stunden muß ich schon im Dienst sein.« »Dann sind Sie immer noch personell knapp besetzt?« fragte er und geleitete sie in die Bibliothek. »Ich fürchte, ja.« Sie ließ sich aus dem Mantel helfen. »Ich wünschte, ich wüßte, was mit Dr. Wemyss passiert ist. Es ist wirklich gemein von ihm, gerade vor den Feiertagen zu schwänzen und damit alle anderen zu zwingen, Überstunden zu machen. Von Donnerstag an haben wir jedoch eine Vertretung falls ich es noch erlebe.« Während sie ihre in ein grünes Handtuch gewickelten chirurgischen Instrumente aus der Tasche ihres weißen Kittels holte - offensichtlich wollte sie gleich zur Sache kommen -, lächelte Adam und ging zum Telefon auf dem Schreibtisch. »Erlauben Sie mir dann wenigstens, daß ich etwas Tee kommen lasse«, sagte er. »Sie hören sich so an, als könnten Sie ihn vertragen.« »Schön, aber sagen Sie Ihrem Butler, er soll ihn einfach in einem Becher mit Milch und zwei Zuckerstücken servieren«, sagte sie. »Ich mag das Silber, aber heute nachmittag habe ich einfach nicht die Zeit herumzutrödeln.« Adam gab Humphrey seine Anweisung und zog sich dabei das Heftpflaster ab, dann setzte er sich auf das Ende des Sofas, wo Ximena eine Stehlampe eingeschaltet hatte. »Es tut mir leid, daß Sie wegen mir hier herausfahren mußten«, sagte er und streckte die Hände aus, um das Bündel mit dem Chirurgenbesteck zu halten, während sie es öffnete. »Sie hätten mich anrufen sollen. Philippa hätte die Fäden ziehen können - oder ich auch.« Sie nahm Schere und Pinzette und grinste ihn an. »Machen -544-
Sie Witze? Hätte ich es versäumen sollen, den feschen Dr. Sinclair in engen Reithosen zu sehen? Drehen Sie Ihren Kopf ins Licht, damit ich Sie nicht steche.« Adam unterdrückte ein Lächeln und tat, wie ihm geheißen. Er beobachtete, wie die Knäuel aus schwarzer Seide sich auf dem grünen Handtuch, das er hielt, wie ein Schwarm kleiner, haariger Spinnen ansammelten, bis alle vierzehn beisammen waren. Nach den ersten paar richtete sie seinen Kopf nach vorn, so daß er an ihrer Seite ruhte, und hielt ihn mit ihren Handgelenken fest, während sie mit ihrer Arbeit fortfuhr. Sie sprach kein Wort, er auch nicht, doch er fand das Schweigen eher beruhigend als störend und spürte, wie er sich unter ihrer Berührung entspannte. »So, jetzt haben wir alle«, sagte sie und strich sein Haar zurück, um genauer hinzuschauen. »Sie sind sehr schön geheilt. In ein paar Monaten werden Sie gar nicht mehr wissen, daß Sie sich den Kopf angehauen hatten.« Er versuchte gerade zu entscheiden, ob er ihr einen Arm um die Taille legen sollte, als ein diskretes Klopfen an der Tür Humphreys bevorstehende Ankunft mit dem Tee ankündigte. Er seufzte, während er sich zurücklehnte und Humphrey eintrat und hielt das Handtuch hoch, damit sie Schere und Pinzette darauf legen konnte. Sie sagte nichts, während sie das Handtuch wieder um die Instrumente wickelte, ein kleines Päckchen daraus machte und es zurück in ihre Tasche schob, dann setzte sie sich bloß müde ihm gegen über, während Humphrey jedem der beiden einen Becher mit Tee brachte und sich dann stumm zurückzog. Adam hob seinen Becher wie zu einem Toast, lehnte sich auf dem Sofa zurück und betrachtete sie. Sie sah erschöpfter aus als beim letzten Mal, doch als sie an dem dampfenden Tee nippte, schien sie sich ein wenig zu beleben. »Ach, das ist gut«, murmelte sie und lehnte sich dankbar in -545-
ihrem Sessel zurück, mit dem Kopf bis zur Kopfstütze. »Abgesehen von der Fahrt hierher ist das, glaube ich, jetzt das erste Mal, daß ich mich heute setzen kann - und mein Tag hat um sechs Uhr begonnen.« Lächelnd schob er mit einem blankpolierten Stiefel einen Fußschemel näher heran. Sie trug die praktischen weißen Schuhe einer Krankenschwester, die den Fuß ausgezeichnet stützten. An den meisten Frauen, dachte Adam, sahen sie leicht klobig aus, doch an Ximena schienen sie modisch zu ihrem Beruf zu passen. »Dann legen Sie ein paar Minuten Ihre Füße hierauf und entspannen Sie sich«, sagte er ruhig. »Gott weiß, Sie haben es sich verdient.« »Ja, das habe ich«, sagte sie, zog den Schemel noch näher heran und legte ihre Füße darauf. »Mmmm, das tut gut. Sie verwenden doch wohl in Ihrer Praxis keine Hypnose, oder?« »Eigentlich schon. Warum fragen Sie?« »Wirklich?« Sie blickte ihn mit neuem Interesse an, während sie einen weiteren Schluck von dem Tee nahm. »Stimmt es, daß zehn oder fünfzehn Minuten unter Hypnose soviel sind wie einige Stunden gewöhnlicher Schlaf?« »Das kann sein, es hängt von der Person ab.« »Wäre ich dafür geeignet?« »Ich weiß es nicht. Würden Sie es gerne herausfinden?« Sie schaute sehnsüchtig auf ihre Uhr, dann schüttelte sie bedauernd den Kopf. »Verdammt! Ich würde schon sehr gerne, aber ich muß wirklich wieder ins Krankenhaus zurück.« Sie setzte sich auf, nahm noch einen großen Schluck Tee und verzog das Gesicht, weil er noch heiß war. »Du lieber Himmel, ich werde froh sein, wenn dieser Personalengpaß beseitigt ist! Am Donnerstag nehme ich mir jedoch frei, ganz egal, wer dann beim Dienst fehlt. -546-
Wahrscheinlich werde ich den ganzen Tag schlafen.« Sie reckte herausfordernd den Kopf. »Wären Sie bereit, Ihr Versprechen in puncto Dinner am Donnerstagabend einzulösen?« Die Vorfreude wich sofort der Enttäuschung, als Adam einfiel, daß Donnerstag St. Johannis war. »Ximena, es tut mir leid«, sagte er offen. »Es gibt nichts, was ich lieber täte, aber an dem Abend muß ich nach Melrose Abbey fahren - zu einer Veranstaltung, die ›Der Umgang der Freimaurer heißt. Ich bin kein Freimaurer, aber ein lieber Freund von mir, der ein sehr hochrangiger Freimaurer war, wurde letzten Monat ermordet. Seine Loge und einige seiner anderen Freunde fahren hinunter, um zu seinem Gedächtnis an dem Umzug teilzunehmen. Er findet schon seit mehr als hundert Jahren an diesem Tag statt - vielleicht sogar schon fast zweihundert Jahre -, und ich glaube, Randall hat wahrscheinlich die letzten fünfzig Male daran teilgenommen. Es war etwas, das ihm sehr viel bedeutete.« »Randall?« sagte sie. »Doch nicht etwa Randall Stewart, dieser Freimaurer, der bei einem Ritualmord irgendwo nördlich von hier umgebracht wurde?« Adam erstarrte leicht, als ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf ging, den er vorher immer abgetan hatte, nämlich daß sie sehr wohl in die Sache verwickelt sein könnte. Schließlich war es Wemyss anscheinend gewesen, und sie arbeiteten beide im gleichen Krankenhaus. Doch dann fiel ihm ein, daß sie den Namen auch wegen der Berichte in den Medien im Gedächtnis behalten haben konnte. »Ja, vermutlich haben Sie davon gelesen oder es im Fernsehen gesehen«, sagte er etwas vorsichtig. »Besonders unter diesen Umständen werden Sie verstehen, daß ich verpflichtet bin, nach Melrose zu gehen.« »Mensch, ja«, murmelte sie und zitterte. »Adam, es tut mir so leid, ich meine - daß so etwas jemandem passiert ist, den Sie -547-
kennen... Sie haben ihn auch gefunden, nicht wahr? Jetzt weiß ich, warum mir Ihr Name so bekannt vorkam, als ich Ihnen in der Notaufnahme zum ersten Mal begegnete: Ich hatte ihn in der Zeitung gelesen.« »Ja, manchmal - arbeite ich als Berater der Polizei«, gab er zu und schaute auf den Teebecher in seinen Händen. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen zwischen ihnen, irgendwie gespannt, doch freundschaftlich, dann richtete sie sich in ihrem Sessel auf und setzte die Füße wieder auf den Boden. »Adam, sagen Sie mir einfach, ob ich jetzt zu weit gehe, aber falls es Ihnen nicht zu aufdringlich erscheint, würde ich mich geehrt fühlen, wenn Sie mich am Donnerstagabend mit Ihnen mitfahren ließen.« Adam blickte sie prüfend an. »Warum wollen Sie das?« Sie wölbte ihre starken, ringlosen Finger um den Becher und starrte auf einen Punkt auf dem Boden irgendwo zwischen ihnen, und dabei wirkte sie etwas verlegen. »Ich könnte einige kecke Bemerkungen machen wie: ich genieße Ihre Gesellschaft, und das würde gewiß auch stimmen, weil ich Sie äußerst attraktiv finde. Aber außerdem - nun ja, mein Vater und mein Großvater und meine beiden Brüder sind Freimaurer, drüben in den Staaten. Als diese Geschichte bekannt wurde, habe ich die Artikel aus den Zeitungen ausgeschnitten und meinem Dad geschickt. Ich erinnere mich daran, daß Bücher von Randall Stewart bei uns im Bücherregal standen, als ich ein Teenager war, und ich weiß, was die Bruderschaft meiner Familie bedeutet.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Auf jeden Fall, wenn seine freimaurerischen Mitbrüder hier in Schottland ihn ehren wollen - nun, dann wäre ich stolz darauf, dabei zu sein, einfach um es zu erleben. Ich weiß, daß ich eigentlich nicht mitmarschieren kann, da ich ja kein Freimaurer bin.« Langsam gestattete sich Adam zu lächeln. Alle Zweifel, die er -548-
ihretwegen gehabt haben mochte, lösten sich auf. »Dann sind wir zu zweit«, sagte er leise. »Aber wenn Sie wirklich mitkommen und den zweifellos kalten und traurigen Abend durchstehen wollen - und das ist nur der Hin- und Rückweg! -, dann wäre ich für ihre Gesellschaft äußerst dankbar.« Er grinste sie schief an. »In Melrose gibt es im Hotel am Stadtplatz ein ganz anständiges Restaurant. Wenn Sie wollen, können wir das Dinner dort dann anschließend einnehmen - und Sie können immer noch später ein Lokal für ein angemessenes festliches Essen aussuchen, mit dem wir dann Ihren Namen feiern.« Sie mußte lächeln, die Stimmung stieg wieder, wie es seine Absicht gewesen war, doch dann blickte sie erneut auf die Uhr, schüttelte den Kopf und leerte den Teebecher. »Ich muß gehen«, sagte sie und stand auf. »Bis ich zurückkomme, hat man wahrscheinlich auf dem Korridor die Verunglückten schon zu dreien übereinander gestapelt. Nur einmal würde ich gern einen Weihnachtsabend erleben, der wirklich eine stille Nacht, heilige Nacht ist. Gehen Sie hier in Schottland am Heiligen Abend in die Kirche?« »Gewöhnlich schon«, sagte er und half ihr in den Mantel. »Da dieses Jahr Gillian und ihre Familie hier sind, vermutlich allerdings nicht. Ich versuche jedoch immer eine brennende Kerze ins Fenster zu stellen, selbst wenn ich nicht in die Kirche gehe. Das ist eine alte keltische Sitte - ein Wachlicht für Maria und Joseph, die nach einem Ort suchen, wo sie die Nacht verbringen können -, und vielleicht ein Zeichen für die Wiedergeburt des LICHTS zu dieser Jahreszeit. Macht man das da, wo Sie herkommen, auch?« »Nein, aber es gefällt mir«, sagte sie. »Vielleicht werde ich im Krankenhaus eine Kerze ins Fenster stellen.« »Soll ich Ihnen eine dafür mitgeben?« fragte er lächelnd. Sie reckte herausfordernd den Kopf und grinste. »Würden Sie -549-
das tun?« »Aber sicher.« Er ging zum Bücherregal neben seinem Schreibtisch, nahm eine Votivkerze in einem blauen Glasbecher herunter und reichte sie ihr. »Fröhliche Weihnachten«, sagte er ruhig. »Fröhliche Weihnachten«, erwiderte sie, dann legte sie ihre freie Hand auf seine Schulter, reckte sich und küßte ihn leicht auf den Mund. Er schlang die Arme um ihre Taille, während er sie zur Tür begleitete. Keiner von ihnen sagte ein Wort, und als sie sich voneinander lösten, bevor sie auf die Vortreppe traten, warf sie ihm einen ihrer offenen Blicke zu. »Also, um wieviel Uhr soll ich dich am Donnerstag erwarten?« fragte sie, während sie zu ihrem Auto hinuntergingen. »Sagen wir so um halb fünf? Ich muß die Talbots zu einem Vier-Uhr-Flug heim nach London zum Flughafen bringen, und so bin ich dann dort, sobald ich sie verabschiedet habe. Wo ist übrigens dort?« »Blackett Place Nr. 15«, sagte sie, glitt auf den Fahrersitz und gurtete sich an. »Du wirst das Auto sehen. Wonach sollte ich Ausschau halten?« »Tja, nicht nach dem Bentley, fürchte ich - nicht für eine Nachtfahrt nach Melrose bei wahrscheinlich fürchterlichem Wetter. Ich habe einen hübschen seriösen Toyota Land Cruiser gemietet, bis mein neuer Range Rover geliefert wird - er ist langweilig weiß.« »Ach, verdammt!« sagte sie. »Du hast mir den Bentley nicht gezeigt.« »Ich habe dir auch meine Briefmarkensammlung noch nicht gezeigt«, sagte er mit einem verschmitzten Grinsen. »So wirst du vermutlich einfach noch einen weiteren Hausbesuch machen müssen.« -550-
»Hmmm, dann wahrscheinlich schon«, sagte sie und erwiderte sein Grinsen, während sie den Zündschlüssel drehte und der Motor aufheulte. Kapitel 35 Der erste Weihnachtsfeiertag dämmerte mild, doch grau herauf. Peregrine kam ins Herrenhaus herauf - zum Brunch im Salon - und fand Gillian inmitten einer Flut von Geschenken neben dem Baum vor; sie hatte es sich dort gemütlich gemacht und schaute gerade ein Bilderbuch über Pferde an - ein Geschenk von Adam und Philippa. Die blauen Augen leuchteten sichtbar auf, als sie den Künstler erblickte - es war deutlich, daß sie für ihn die bewundernde Zuneigung einer kleinen Schwester entwickelt hatte -, und sie rappelte sich hoch und schlang beide Arme grüßend um ihn. In den drei Tagen, seit sie sich offiziell kannten, hatte sie sich angewöhnt, ihn ›Falk‹ zu rufen, und obwohl sie sich an nichts erinnerte, was sich in den fast zwei Monaten ihres Komas ereignet hatte, schien sie auf wortlose Weise zu spüren, daß er etwas damit zu tun hatte, daß sie wieder aus dem Schatten herausgetreten war. »Hallo, Onkel Falk!« rief sie und drückte ihm einen begeisterten Kuß auf die Wange. »Hat der Weihnachtsmann dir eine Menge Geschenke gebracht?« »Oh, er hat mir alles gebracht, was ich brauche«, erwiderte Peregrine und schaute an ihr vorbei grinsend auf Adam, als er sich von ihr soweit löste, daß er den Beutel absetzen konnte, den er mitgebracht hatte. »Ich glaube allerdings, daß er ein paar Sachen aus Versehen bei mir zurückgelassen hat.« Er griff in den Beutel und holte ein kleines, in Glanzpapier eingewickeltes Päckchen heraus, auf dessen Anhänger groß Gillians Name geschrieben war. »Das ist für dich«, sagte er lächelnd zu dem kleinen Mädchen. »Fröhliche Weihnachten!« -551-
Es handelte sich um einen Talisman in Form eines Armbands: ein zartes Kettchen aus blassem Gold, an dem die winzige Figur eines Weihnachtsengels hing. Gillian stieß einen Laut freudiger Überraschung aus und streckte prompt ihre Hand aus, so daß er es ihr am Handgelenk festmachen konnte. »Danke, Onkel Falk! Es ist wunderbar!« »Mr. Lovat, es ist wunderschön!« stimmte ihr Mrs. Talbot zu. »Aber Sie hätten doch nicht so verschwenderisch sein dürfen!« Peregrine erwiderte diesen sanften Vorwurf mit einem jungenhaften Achselzucken. »Vielleicht nicht«, gab er zu, »aber es erschien mir irgendwie passend.« Er hatte auch für den Rest der Gesellschaft Geschenke: für die Talbots eine Bleistiftskizze von Gillian, mit großen Augen und voller Leben. »Das ist eine Vorstudie für ein richtiges Porträt«, sagte er. »Wenn es fertig ist, bringe ich es persönlich zu Ihnen nach London hinunter.« Für Philippa hatte er ein Miniaturporträt von Adam angefertigt, auf Elfenbein gemalt und als Brosche gefaßt. Adam war darauf als viktorianischer Gentleman dargestellt. Philippa sagte nur: »Danke, Peregrine«, doch als sie ihn bat, ihr die Brosche an den Kragen ihrer mit Spitzenrüschen verzierten Bluse zu stecken, sagten ihre Augen alles übrige. Adams Geschenk befand sich in der größten Schachtel - eine Reiterstatuette aus Bronze, fast dreißig Zentimeter hoch. Adam pfiff anerkennend, als er sie aus ihrem Nest aus Seidenpapier und Styropor-Kügelchen nahm. Er war sichtlich erfreut, dann schaute er sie genauer an. »Du meine Güte, das ist ja Khalid!« rief er überrascht aus. »Ganz recht«, sagte Peregrine. »Nach einer meiner Skizzen von einem Freund in London angefertigt, der Bildhauer ist. Ich habe es nicht lange nach Urquhart Castle in Auftrag gegeben. -552-
Ich hoffe, es gefällt Ihnen.« »Gefallen?« sagte Adam. »Es ist großartig! Vielen, vielen Dank!« »Und ich werde immer noch diese Reiterstudie machen, über die wir gesprochen haben, im Stil des Bildes von ihrem Vater und seinem grauen Jagdpferd. Ich wollte sie für heute fertig haben, aber irgendwie ist immer etwas dazwischen gekommen.« Adam lachte leise in sich hinein und murmelte: »Entschuldigung, Entschuldigung!«, während er Peregrine ein Geschenk von sich und Philippa überreichte: einen kompletten Satz chinesischer Wasserfarbenpinsel in einer Schachtel aus feiner Lackarbeit, zusammen mit einem Mörser und einem Stößel aus Bronze zum Zermahlen von Pigmenten. Die Augen des Künstlers leuchteten freudig auf, als er alles untersuchte. »Ich freue mich, daß Ihnen die Sachen gefallen, mein Lieber«, sagte Philippa lächelnd, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. »Julian hat sie für uns ausfindig gemacht, durch einen Freund ihres verstorbenen Mannes, der Antiquar ist. Ich bin beauftragt worden, Ihnen zu sagen, daß die chinesischen Schriftzeichen auf der Schachtel Glückssymbole darstellen - und wir hoffen, daß Sie alle Tage Ihres Lebens Glück haben.« Zum Brunch gab es Champagner. Danach entschuldigte sich Peregrine, er müsse noch zu anderen Feiern. »Ich bin zu Julias Onkel zum Weihnachtsdinner eingeladen«, sagte er zu Adam, als sie sich an der Tür verabschiedeten. »Ich wurde gebeten, über Nacht zu bleiben, und Julia ist ein wenig sauer, daß ich nicht bleibe, aber ich bin wirklich erpicht darauf, morgen an dieser Boxing-Day-Jagd teilzunehmen, falls das Wetter nicht zu schlecht ist. Ich wünschte mir, Sie wären schon fit dafür.« »Oh, ich glaube, ich könnte es wahrscheinlich schaffen«, erwiderte Adam, »aber ich denke, ich sollte den Vorteil ausnutzen, daß eine Zeitlang alle anderen aus dem Haus sind, -553-
und mit meinen Recherchen weitermachen. Sie haben keine Vorstellung, wie sehr es einen ablenken kann, wenn man eine Zwölfjährige im Haus herumhüpfen hat - nicht, daß ich ihr ihre wiedergewonnene Gesundheit nicht gönne. Auf jeden Fall wird John mit Ihnen reiten und dafür sorgen, daß Sie nicht in Schwierigkeiten geraten. Und ich weiß, daß Gillian und ihre Eltern sich darauf freuen, der Jagd mit dem Auto zu folgen. Das wird für sie etwas ganz Neues sein.« Peregrine grinste. »Für mich ist es auch neu - oder zumindest ist es wieder neu. Du lieber Himmel, ich habe nicht mehr gejagt, seit ich auf der Universität war.« »Zumindest nicht hoch zu Roß«, bemerkte Adam mit einem freudlosen Lächeln. Peregrine Stimmung wurde nüchterner, und er winkte Adam, er solle ihn zum wartenden Morris hinabbegleiten. »Es gibt also keine Fortschritte?« fragte er. »Keine berichtenswerten. Ich arbeite an einer Theorie, die teilweise auf etwas beruht, das Scot in jener Nacht gesagt hat, aber bis jetzt habe ich nicht genug in der Hand, um mit einem gewissen Maß an Zuversicht auf Erfolg loszuschlagen. Unglücklicherweise befinden wir uns in einer Lage, wo wir abwarten müssen, bis die gegnerische Seite ihren nächsten Zug unternimmt keine Strategie, die ich normalerweise empfehlen würde; ich ziehe Präventivschläge vor, wenn ich eine Wahl habe. Aber ich möchte die Jagdloge nicht bei einer Mission gefährden, die zu einem Himmelfahrtskommando werden könnte, wenn wir ohne adäquate Vorbereitung verfrüht losschlagen.« Fröstelnd öffnete Peregrine die Tür seines Autos und legte sein Geschenk auf den Beifahrersitz. »Nun, ich halte mich in Bereitschaft für den Zeitpunkt, wann immer Sie meinen, er sei gekommen. Und ich werde es Sie auf jeden Fall wissen lassen, falls mir etwas einfällt.« -554-
Nach diesen Worten trennten sie sich. Peregrine versuchte, wieder in eine festliche Stimmung zu kommen. Adam bemühte sich, den freundlichen Gastgeber zu spielen. Nachdem Adam am folgenden Tag die Teilnehmer an der Jagd verabschiedet hatte - Peregrine und der Stallknecht saßen im Sattel, Philippa und die Talbots folgten im Toyota mit Humphrey am Steuer -, zog er sich wieder zu seinen Büchern zurück. Gegen Mittag riß ihn das schrille Läuten der Türglocke aus seinen Meditationen. Es war McLeod, der eine Flasche The MacAllan mitbrachte. Sie öffneten sie und genossen gemeinsam einen Festtagstrunk. Dabei saßen sie in der Fensternische der Bibliothek mit dem Ausblick auf den schneebedeckten Rasen vor dem Haus. »Ich wünschte, ich hätte auch einige Neuigkeiten dabei«, sagte McLeod etwas bedrückt und hob sein Glas, »aber unser Wild scheint sich in seinem Bau verkrochen zu haben, und wie sehr ich es auch versuche, anscheinend kann ich die Witterung nicht wiederfinden. Jetzt wurde endlich eine Vermißtenmeldung für Ihren Kniich Wemyss erstattet, aber bisher haben wir nichts herausgebracht. Interessanterweise jedoch scheint das wenige, das wir herausgefunden haben, auf eine ähnlich nichtssagende Karriere hinzudeuten wie bei dem finstren Inspector Napier.« »Und was macht der eigentlich?« fragte Adam. »Ich würde gern etwas ausgraben, das es rechtfertigte, ihn in Gewahrsam zu nehmen, während wir die ganze Sache klären.« »Das würde ich auch gern«, knurrte McLeod. »Es ist schwer, ihm überhaupt in die Augen zu schauen, wenn wir uns außerhalb meines Büros begegnen. Aber ich habe nichts gegen ihn in der Hand - nicht einmal genug, um die Innere Abteilung auf ihn loszuhetzen.« »Um so schlimmer!« Dann gingen sie kurz die Theorie von der Hitler-Connection durch, die ihnen beiden nur noch größeres Unbehagen bereitete. -555-
Schließlich kippte McLeod den Rest seines Drinks hinunter, stand auf und nahm Schal und Mantel vom Sofa. »Ich glaube, ich fahre lieber heim«, sagte er düster. »Am Abend kommen Verwandte von Jane zum Dinner, und da muß ich mich sehen lassen. Haben Sie immer noch vor, morgen abend mit uns nach Melrose zu fahren?« »Nein, deshalb wollte ich Sie schon anrufen. Ich nehme Dr. Lockhart mit - ja, meine bezaubernde Ärztin, die Hausbesuche macht -, und so werden wir uns dort mit Ihnen treffen. Wie wäre es mit einem Grog im Burt's Hotel so gegen sechs?« »Das hört sich gut an!« stimmte McLeod zu. »Sie und Dr. Lockhart können Jane Gesellschaft leisten, während die Freimaurer ihren Umzug machen. Kommt Peregrine auch mit?« »Nein, er sagte etwas von Plänen mit Julia, als ich ihn fragte.« »Tja, das ist schon in Ordnung«, erwiderte McLeod. »Er hat ja schließlich Randall nicht wirklich gekannt. Und ich bin froh, daß er einmal etwas Zeit mit seinem Mädchen verbringt. Glauben Sie, er wird sie heiraten?« Adam zuckte mit den Achseln und lächelte. »Er hat noch keine langfristigen Pläne erwähnt. Ich vermute, daß es noch zu früh ist, etwas zu sagen. Allerdings hat er sich im Vergleich zu der Zeit vor zwei Monaten schon sehr verändert.« »Aye, und dafür sind größtenteils Sie verantwortlich«, pflichtete ihm McLeod bei. »Sie haben ihn sehr schön gefördert. Und jene Nacht...« Er lächelte und nickte erfreut. »Tja, das war wirklich etwas Besonderes.« »Nun müssen wir nur dafür sorgen, daß er am Leben bleibt«, sagte Adam mit einem sarkastischen Unterton. »Wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätte ich ihn nicht unbedingt gerade in einer solchen Zeit eingeführt - aber schließlich haben wir nicht oft eine Wahl bei solchen Dingen, oder?« »Nein, aber meistens gelingt es uns, am Ende wieder -556-
unbeschadet davonzukommen.« McLeod schickte sich an, in sein Auto zu steigen, dann hielt er inne. »Wissen Sie, Adam, ich weiß nicht, ob Ihnen der Gedanke schon gekommen ist oder nicht, aber diese Sache morgen in Melrose könnte den nächsten Schritt der gegnerischen Seite auslösen. Ich will sagen, da werden mehr als hundert Freimaurer an einem Ort versammelt sein, bei einer öffentlichen Veranstaltung, wo Sicherheitsvorkehrungen fast unmöglich sind.« »Haben Sie eine Vorahnung?« fragte Adam. »Nein, mir ist das einfach nur so eingefallen. Wenn ich wirklich dächte, daß etwas passieren würde, würde ich Jane nicht mitnehmen. Aber es wäre vielleicht keine schlechte Idee, Augen und Ohren offenzuhalten.« »Ich werde daran denken«, erklärte sich Adam bereit. Doch während des restlichen Tages deutete sich keine bestimmte Gefahr an. Er las in der Bibliothek, bis das Licht nachließ, und war gerade aufgestanden, um mehr Lampen einzuschalten, als der Toyota die Auffahrt heraufkam und zur Garage fuhr, um dort frierende und hungrige Jagdbeobachter auszuladen. Kurz darauf trabten Peregrine und John im zaghaft fallenden Schnee die Auffahrt herauf. Hinter Peregrine saß Gillian mit rosigen Wangen atemlos auf dem Pferd und hielt sich eng an ihm fest. Die nächste Stunde war ein Wirbelwind von Aktivitäten: die Pferde wurden versorgt, schmutzige Gummistiefel ausgezogen, Gillian wurde im Obergeschoß in ein dringend notwendiges Bad gesteckt, und den Erwachsenen wurde heißer Tee serviert. Mrs. Gilchrist hatte zum Abendessen einen herzhaften Eintopf gekocht, und sie aßen ihn beim Schein des Christbaums um den Kamin des Salons geschart, während Peregrine und Gillian jede Minute der Jagd mit enthusiastischer Detailfreude nacherlebten, zur Erheiterung der Talbots und zur nachsichtigen Belustigung -557-
von Philippa und Adam. Als sich jedermann zeitig zu Bett begab, war Adam fast so erschöpft, als wäre er selbst auf die Jagd gegangen. Kaum hatte er den Kopf auf sein Kissen gebettet, da sank er schon in einen traumlosen Schlaf. Der St. Johannistag versprach noch grauer zu werden als der Vortag, wobei die Möglichkeit bestand, daß gegen Abend ein Schneesturm aus der Richtung von Glasgow hereinbrach. Folglich nahm sich Adam reichlich Zeit, um die Talbots zum Flughafen zu bringen. Der Abschied von Strathmourne war tränenreich und glücklich zugleich, denn Gillian reiste wiederhergestellt nach Hause. Peregrine kam herüber, um sich von ihr zu verabschieden, und brachte ihr ein flink angefertigtes Aquarell mit, das sie zeigte, wie sie auf Poppy saß. Selbst Philippas Augen wirkten ein wenig verschleiert, als der Toyota an der Vordertreppe abfuhr. Adam brachte sie rechtzeitig zum Flughafen, half ihnen beim Einchecken - ihr Flug sollte offensichtlich planmäßig starten -, dann sagte er ihnen Lebewohl und machte sich auf den Weg zum Blackett Place, um Ximena abzuholen. Über einem dicken Arran-Pullover und einer gelbbraunen Kordhose trug sie kräftige Schneestiefel und eine karamellfarbene Lederjacke mit einem Schaffellkragen, ein außerordentliches Pendant zu seinen eigenen Kordhosen und seinem Schaffellmantel. Als sie ihn an der Tür empfing, tauschten sie einen keuschen Begrüßungskuß aus, dann nahm sie Schal, Hut und Handschuhe und sie gingen zum Toyota hinunter. »Also, erzähl mir mehr über den Umzug der Freimaurer«, sagte sie, nachdem sie die üblichen Höflichkeiten über die Fortschritte im Krankenhaus und Ximenas verbesserte Stimmung nach einem ordentlichen Schlaf ausgetauscht hatten und auf der A7 nach Süden fuhren. Schnee wehte in böigen Wirbeln über die Straße, doch es reichte nur für einen leichten Puder auf den fünf bis sieben Zentimetern, die schon den Boden bedeckten - genug, um stimmungsvoll zu wirken, aber keinerlei -558-
Problem für den Vierradantrieb des Toyota. »Nun, ich bin selber noch nie dabeigewesen«, erwiderte Adam, »aber nach dem, was man mir erzählt hat, nehmen daran Freimaurer aus Logen der gesamten Borders Region teil. Sie versammeln sich am Logenhaus dort in Melrose, machen dann eine Fackelprozession dreimal um das Merkat Cross, schließlich marschieren sie weiter zur Abtei selbst, wo jemand eine patriotische Ansprache hält. Dann spielt ein einzelner Dudelsackpfeifer ›Flowers of the Forest‹ , zur Erinnerung aller Schotten, die bei der Verteidigung Schottlands gefallen sind. Und sie ziehen wieder zurück zum Merkat Cross zu einer zeremoniellen Verabschiedung, wo dann der älteste anwesende Meister vom Stuhl die Parade abnimmt. Das ist alles. Es dauert etwa eine Stunde.« »Es klingt großartig«, sagte sie. »Ich wünschte, mein Dad könnte dabei sein und zuschauen. In letzter Zeit hat die Freimaurerei hier eine ziemlich schlechte Presse, nicht wahr schon vor der Ermordung deines Freundes?« »In der Tat. Mein Partner von der Polizei ist ein ziemlich aktiver Freimaurer, und er mußte eine Menge Kritik kontern. Du wirst ihn und seine Frau heute abend kennenlernen.« »Warum sollte aber jemand die Freimaurer angreifen wollen?« fragte sie. »Sie tun doch nur Gutes. Und gewiß richten sie keinen Schaden an.« »Tja, dem stimme ich sicher zu. Eines der Argumente, das ihre Kritiker vorbringen, besteht darin, daß die Freimaurer ihre freimaurerischen Verbindungen ausnutzen, um sich am Arbeitsplatz ungerechtfertigt Vorteile zu verschaffen, indem sie Jobs und Beförderungen und Verträge eher anderen Freimaurern als Nichtfreimaurern geben. Das mag in einigen Fällen zutreffen, da die menschliche Natur nun mal so ist, wie sie ist, aber die Freimaurer, die ich kenne und die wirklich nach dem freimaurerischen Ideal leben, sagen, der freimaurerische Faktor -559-
komme erst dann ins Spiel, wenn alle anderen Qualifikationen gleich seien. Und wenn man dann die Wahl hat zwischen einem Nichtfreimaurer, den man nicht kennt, und einem Freimaurer, der zumindest die äußerliche Einhaltung eines gewissen Moralkodex vorzüglicher Leistung gelobt hat - nun, ich glaube, es ist nicht unvernünftig, daß dann eher ein Freimaurer den Zuschlag bekommt als ein Nichtfreimaurer.« Sie schnaubte. »Ich habe dieses Argument in den Staaten auch gehört - gewöhnlich von jemandem, der nicht qualifiziert war. Sie tun doch viel Gutes mit ihren wohltätigen Stiftungen und dergleichen. Für einige ist es fast wie eine Erweiterung ihrer Religion.« »Dem würde ich zustimmen. Tatsächlich würde ich so weit gehen und sagen, daß in einiger Hinsicht die Freimaurerei hilft, Lücken auszufüllen, die die organisierte Religion offen läßt wenn du willst, ist das ein Beitrag zu dem Schirm guter Schwingungen, der von Männern und Frauen guten Willens auf dem ganzen Planeten erzeugt wird und zu verhindern hilft, daß das Böse außer Kontrolle gerät.« »Du verstehst also das Böse als eine greifbare Macht?« fragte sie. »Das kann es sicherlich sein«, erwiderte er und dachte dabei an das, was er oben in den Cairngorms gespürt hatte. »Im allgemeinen jedoch glaube ich, daß das, was wir in der Welt als das Böse wahrnehmen, noch öfter eine einfach außer Kontrolle geratene Gleichgültigkeit oder Zerstreutheit ist. Es sind nicht nur die Dinge, die wir getan haben, sondern auch die, die wir ungetan gelassen haben, wie das Allgemeine Glaubensbekenntnis es formuliert. Ich neige zu dem Glauben, daß die meisten Menschen das tun wollen, was richtig ist.« Er verlangsamte das Tempo, während sie, den Wegweisern nach Melrose folgend, auf die A6091 überwechselten. »Aber dies ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt, um eine -560-
philosophische Diskussion über die Natur des Bösen zu führen. Ich hoffe, diese kleine Kostprobe schottischer Traditionen wird dir gefallen, auch wenn der Grund für unsere Teilnahme ein wenig traurig ist. Bist du schon in Melrose gewesen?« »Nein, ich habe nicht soviel Zeit, wie ich gerne hätte, um das Land zu erkunden. Seit ich letzten Juni herübergekommen bin, war ich fast nur mit der Arbeit beschäftigt.« »Tja, du mußt noch einmal bei Tageslicht hierher kommen«, erwiderte Adam, während er am Waverley Castle Hotel vorbei auf den Marktplatz zufuhr. »Die Eildon Hills gehören zu den schönsten Gegenden der Borders Region - und natürlich gibt es da noch die anderen Abteien der Borders: Dryburgh, Jedburgh und Kelso, alle weniger als dreißig Kilometer von hier entfernt. Jede ist auf ihre eigene Weise imposant, aber ich muß zugeben, daß ich Melrose besonders mag.« Der Marktplatz entsprach eher einem langgezogenen Dreieck als einem quadratischen Platz, durchgehend gepflastert, mit einem Parkplatz in der Mitte. Das Merkat Cross stand am anderen Ende, in der Mitte eines Kreisverkehrs, doch Adam hielt schon ein Stück vor dem Kreuz an und lenkte den Toyota in eine Parklücke neben McLeods wohlbekanntem schwarzem BMW, direkt vor Burt's Hotel. Noel und Jane McLeod nahmen schon in der Bar im Erdgeschoß ihre Drinks ein; McLeod hob die Hand zu einem vergnügten Gruß, als Adam und Ximena hereinkamen und sich den Schnee von den Stiefeln stampften. McLeod trug unter seinem offenen Mantel den Schurz und den Kragen eines Freimaurermeisters, Jane war in praktische Tweedsachen gekleidet. »Tja, da sind Sie ja«, sagte McLeod und gab dem Barkeeper ein Zeichen. »Sie haben gerade noch Zeit für einen heißen Grog, bevor wir wieder hinausgehen und der Kälte trotzen müssen. Und Sie müssen die unerschrockene Dr. Lockhart sein, die unseren unberechenbaren Freund hier wieder zusammengeflickt hat«, fügte er hinzu und reichte Ximena die Hand. -561-
»Noel und Jane McLeod, Dr. Ximena Lockhart«, stellte Adam vor und tauschte einen Kuß mit Jane aus. »Und wir haben versprochen, heute abend nicht vom Beruf zu reden. Ximena hat gerade fünf Tage Bereitschaftsdienst hinter sich - und das über Weihnachten! Sie kommt gerade erst wieder zu Atem, nachdem sie sich heute gründlich ausgeschlafen hat.« »Du lieber Himmel«, sagte Jane, als sie Ximena die Hand schüttelte. »Sie haben ja so schreckliche Dienstzeiten wie Noel.« Die nächsten zwanzig Minuten beschäftigte sich ihr Geplauder mit Belanglosigkeiten, wobei McLeod gelegentlich davonstürzte, um einen seiner Freimaurerbrüder zu begrüßen und eine Meinung über die Marschordnung zu äußern oder beim Zurechtrücken der Insignien zu helfen. Dazwischen unterrichtete er seine drei Begleiter, von welchen Stellen aus man am besten zuschauen könnte. Sehr bald sagte er ihnen jedoch Adieu und ging mit den übrigen Freimaurern, die die Bar verließen, nach draußen. Nachdem sie ihre Drinks ausgetrunken hatten, gingen Adam, Ximena und Jane ebenfalls ins Freie, setzten Hüte auf, zogen Handschuhe an und knöpften Mäntel zu, während sie sich zu einem Aussichtspunkt in der Nähe des Merkat Cross begaben. Ein Polizeiauto in den weißblauen Farben der Lothian and Borders Police parkte in der Nähe am Randstein, um die Menge zurück zuhalten, doch die meisten Menschen, die hier zusammenkamen, schienen - vielleicht wegen des Wetters - eher Teilnehmer der Veranstaltung statt Zuschauer zu sein. Sie versammelten sich im Fackellicht am anderen Ende des Platzes vor dem Logenhaus, während eine Dudelsackkapelle mit ihrer Musik auf das Ereignis einstimmte. Genau um halb sieben begann sich die Prozession in doppelter Reihe auf das Merkat Cross zuzubewegen eine kunterbunte Schar fackeltragender Männern im Alter von Zwanzig bis über Neunzig in unterschiedlichster Winterkleidung, über der die -562-
meisten von ihnen noch ihre Freimaurerinsignien trugen. Ein dunkelhaariger, gut aussehender junger Mann mit Zylinder, der ein gezücktes Schwert trug, ging der Prozession voran - ein Logenhüter, wie Ximena mit einer gewissen Autorität erklärte -, Zeremonienmeister führten die Truppe zu beiden Seiten mit langen weißen Stäben an, während die Dudelsackpfeifer eine schwungvolle Melodie spielten, in der Jane den Marsch ›Merry Masons‹ erkannte. Die Kapelle bestand aus fünf oder sechs Dudelsackspielern und der gleichen Anzahl Trommler, die alle so aussahen, als sei ihnen kalt. Die Reihen der marschierenden Freimaurer erstreckten sich über die volle Länge des Platzes, bevor sich die Spitze, die Fackeln feierlich über den Köpfen haltend, im Uhrzeigersinn das Merkat Cross zu umrunden begann. McLeod marschierte etwa in der Mitte des Zuges, neben sich einen sehr nachdenklich dreinblickenden Donald Cochrane. Ein paar Männer trugen Kilts, was nach Ximenas Auffassung in Verbindung mit den Zylindern sehr merkwürdig aussah, viele trugen den traditionellen Bowler, der oft mit formeller freimaurerischer Kleidung in Verbindung gebracht wird. Die Vielfalt der Schurze und Kragen und anderen Insignien war erstaunlich; sie repräsentierten die Traditionen von buchstäblich Dutzenden von Freimaurerlogen, und die Gesellschaft bildete einen kaleidoskopischen Wirbel von Farben und Bewegungen, während sie dreimal das Merkat Cross umkreiste, immer im Takt mit den Dudelsäcken und Trommeln. Als der Logenhüter die Prozession aus dem Kreis um das Merkat Cross heraus zuführen begann und gezielt auf sie und die Straße zukam, die ein paar Häuserblocks weiter zur Abtei führte, nahm Jane Adam und Ximena lächelnd beim Arm. »Jetzt laufen wir schnell zur Abtei voraus«, sagte sie, »dann können wir noch einen guten Aussichtspunkt bekommen. Sie werden nicht lange brauchen, also müssen wir uns beeilen.« Und während Adam und die beiden Frauen flott die Abbey -563-
Street hinabschritten, auf die beleuchtete Abtei am anderen Ende zu, und hinter ihnen der letzte Freimaurer in die Straße einbog, trat ein Mann, der alles aus dem Schatten neben Burt's Hotel beobachtet hatte, wie beiläufig zwischen einen schwarzen BMW und einen weißen Toyota Land Cruiser, stützte sich mit der Hand auf den letzteren, als müßte er etwas an seinem Schuh überprüfen, dann legte er etwas Silbriges auf dem Schnee ab, der sich auf der Kühlerhaube angesammelt hatte, direkt neben die Scheibenwischer. Die Kette wickelte er einmal um den Sockel eines Scheibenwischers und fädelte ihr freies Ende durch eine der schmalen Lüftungsöffnungen, die in diesen Teil der Kühlerhaube geschnitten waren. Was an der Kette hing, würde nicht herunterrutschen oder entdeckt werden, bevor es seinen Zweck erfüllt hatte. Er kauerte sich schnell nieder und schaufelte zwei Handvoll Schnee darauf, dann war sein Werk mit Schnee abgedeckt und der Mann wieder unterwegs. Er ging eine andere Straße entlang, die zur Abtei führte, und fiel in Laufschritt, als er außer Sichtweite des Marktplatzes war. Er wußte, er würde seine Partner über die Änderung des Plans informieren, bevor es zu spät war. Er hatte einige Minuten schwer nachdenken müssen, bis er sich entscheiden konnte, welches der beiden Autos er wählen sollte, denn beide hatten ihren Reiz, aber er war zuversichtlich, daß seine endgültige Entscheidung ein viel schöneres Ziel ausgewählt hatte als das zuvor bestimmte. Er erreichte den schmiedeeisernen Zaun, der das Abteigelände umgab, gerade in dem Augenblick, als die Spitze des Freimaurerumzugs im Eingang des südlichen Querschiffs der Abteikirche verschwand und die übrigen noch über den schneebedeckten Friedhof auf der Südseite der Abtei verteilt waren. Die Dudelsackpfeifer traten, immer noch spielend, vor dem Tor auf der Stelle, doch ihr Führer war dem Ende der Prozession gefolgt und hatte sein Instrument unter dem Arm zusammengerollt. Der goldene Schein der Außenbeleuchtung -564-
ließ die uralten Grabsteine lange, kräftige Schatten werfen. Ein leichter Schneefall schimmerte im Licht und überflockte das blonde Haar eines Mannes in einem stattlichen kamelfarbenen Mantel, der beobachtend neben der Hütte des Verwalters am nun geschlossenen Haupteingang stand. Inspector Charles Napier nahm seinen Mut zusammen und zog seinen Mantelkragen enger um seinen Hals, während er sich dem jüngeren Mann näherte. Raeburn würde zuerst verärgert sein, aber Napier war sich sicher, daß er die Änderung des Plans später billigen müßte. Als Raeburn die Schritte hörte, die auf dem neugefallenen Schnee knirschten, und er den anderen erkannte, riß er vor Überraschung und Bestürzung die Augen weit auf. »Was zum Teufel tun Sie hier draußen?« flüsterte er. »Ist das Medaillon untergebracht?« »O ja«, sagte Napier und blies in seine behandschuhten Hände, um sie zu wärmen, »aber nicht in der Abtei. Sinclair ist hier. Ich habe gesehen, wie er auf dem Marktplatz aus seinem Auto stieg. McLeod ist auch hier, wie ich es vermutet hatte, aber Sinclair ist das bessere Ziel.« Raeburn blickte drein, als könnte er nicht glauben, was er da hörte. »Sie wollen sagen, Sie haben sich berufen gefühlt, das Ziel zu ändern?« Napier blickte ihn ruhig und standhaft an, obwohl das angesichts von Raeburns zunehmendem Ärger schwer war. »Freimaurer können wir jederzeit auslöschen. Aber vielleicht bekommen wir lange keine so gute Chance mehr, gegen Sinclair vorzugehen. Er dürfte doch ein höchst wichtiges Opfer sein. Und ohne ihren Meister wird die Jagdloge uns einige Zeit aus dem Weg sein lange genug, daß die Pläne des Großmeisters in Erfüllung gehen.« -565-
Raeburn schaute ihn an, als hätte er Napier liebend gerne auf der Stelle erwürgt. »Ich hoffe sehr, daß wir das schaffen, Mr. Napier«, sagte er leise und biß die Zähne zusammen. »Wenn etwas schiefgeht, dann werden wir beide uns dem Zorn des Großmeisters stellen müssen, aber ich werde dann sehr deutlich sagen, wer dafür die Schuld trägt.« »Wenn Sie das Erforderliche mit diesem Halsring tun«, Napier wies auf den Torques, der unter Raeburns Schal hervorschaute, »dann werde ich den Verdienst beanspruchen, Sinclair eliminiert zu haben. Kommen Sie, wir müssen das Auto überwachen, damit wir bereit sind, wenn er losfährt.« Innerhalb von Melrose Abbey verklangen inmitten der verfallenen Mauern die letzten Töne von ›Flowers of the Forest‹ , während im Schein der Außenbeleuchtung Schneeflocken herabwehten. Die freimaurerische Prozession begann sich zwanglos aus dem Kirchenschiff durch die Tür des südlichen Querschiffs und wieder durch den Friedhof heraus zuschlängeln, dann ging's durchs Tor und diesmal nach rechts, zurück zum Marktplatz auf einem Weg, der am Logenhaus endete. Adam und die Frauen gingen wieder voran, um sich den besten Aussichtspunkt zu suchen, dabei nahmen sie auf dem Rückweg eine Abkürzung durch eine Gasse, zusammen mit einem jungen uniformierten Constable, den Adam von seinem letzten Besuch in Melrose wiedererkannte. Sie kamen rechtzeitig aus einer Seitenstraße heraus, um zu sehen, wie die Prozession das Merkat Cross einmal umrundete und dann in Richtung des Logenhauses zurückmarschierte. Jedoch hielt der Logenhüter seine Leute an, bevor sie es erreichten. Dann traten die beiden Reihen der Männer auseinander und öffneten eine Gasse, durch die der Logenwächter und die zwei Zeremonienmeister mit ihren weißen Stäben zu dritt allein marschierten, während die Dudelsackkapelle weiter ›Merry Masons‹ spielte und die Trommeln einen starken Marschtakt -566-
schlugen. Am Ende der Gasse warteten die drei ältesten anwesenden Meister mit Zylinderhüten und weißen Schnurrbärten, der allerälteste davon stützte sich auf die Arme der beiden jüngeren. Die Eskorte grüßte diese drei und ging dann durch die Gasse zurück, während die Freimaurer zu beiden Seiten ihre Hüte abnahmen und sich anschlossen, wodurch sich die Reihen in sich selbst zurück zogen. Im Fackellicht gab das ein schönes Bild ab, dazu im Hintergrund das Pfeifen der Dudelsäcke und der Trommelschlag. Als die Meister das Ende erreichten, gingen sie unter einem Bogen hindurch, der von den weißen Stäben zweier weiterer Zeremonienmeister gebildet wurden, und in das Logenhaus voran. Die restliche Prozession zerstreute sich allmählich an diesem Ende des Marktplatzes. »Ach, Randall hätte das gefallen«, sagte Jane, als sie wieder über den Platz zurückgingen, um auf McLeod zu warten. »Es war sehr schön gemacht, wenn auch das Wetter vermutlich einige abgehalten hat, die sonst gekommen wären. Dennoch, ein passendes Gedenken. Hat es Ihnen gefallen, Ximena?« »Ja, wirklich«, erwiderte sie. »Ich bin dankbar, daß Adam mich mit genommen hat. Werden Sie und Noel mit uns zu Abend essen?« »Danke, meine Liebe, aber ich werde meinen Mann nach Hause bringen und das Telefon herausziehen«, sagte Jane offen. »Das ist seit Wochen der erste Abend, den wir für uns haben, und das werde ich voll ausnützen. Adam, denken Sie bloß nicht daran, ihm eine neue Krise aufzutischen, oder ich spreche nie mehr mit Ihnen!« Adam lachte leise und schob einen Arm um Ximena. »Ich verspreche Ihnen, ich werde Ihren geplanten Abend ehelichen Glücks nicht stören. Weiß Noel davon?« »Ich glaube, er dürfte einen Verdacht haben«, sagte sie zurückhaltend. -567-
»Ich verstehe. Würden Sie uns dann noch wenigstens zu einem Drink oder einem Kaffee Gesellschaft leisten, bevor Sie losfahren?« »Nö«, sagte Jane kategorisch. »In meinem Kühlschrank wartet eine Flasche Champagner, und ich möchte nicht, daß er mir einschläft. Es war großartig, Sie kennen zu lernen, Ximena. Ich hoffe, wir werden Sie in Zukunft noch öfter sehen.« Mit diesen Worten ging Jane auf die Autos zu und dirigierte ihren Mann, als er näherkam, zu dem schwarzen BMW. McLeod hob eine Hand zum Abschied, als er Adam und Ximena sah, und zuckte mit den Achseln, als wollte er sagen, die Lage sei außer seiner Kontrolle, doch er hatte einen etwas schäfischen Ausdruck im Gesicht und widersprach nicht, als Jane ihn ohne viel Federlesens auf den Beifahrersitz schob und sich dann hinter das Steuer setzte. Adam lachte leise, während er und Ximena ins Hotel gingen und auf den Speisesaal zusteuerten. »Es muß schon schwer sein, wenn man mit einem Bullen verheiratet ist«, sagte sie, als sie Platz genommen hatten. »Ach, ich glaube, sie haben sich ziemlich zufriedenstellend zusammengerauft«, erwiderte er. »Sie sind jetzt schon fast dreißig Jahre verheiratet. Aha, heute abend steht Wildbret auf der Speisekarte. Das empfehle ich sehr.« Eine Stunde später hatten sie ein sehr beachtliches Mahl eingenommen, hinuntergespült mit je einem Glas eines erfreulich milden Mondavi Cabernet, den Ximena empfohlen hatte. Adam fühlte sich auf angenehme Weise gesättigt, als sie zum Auto hinaus gingen. Nachdem er Ximena hatte einsteigen lassen, streifte er seinen Schaffellmantel ab und warf ihn auf den Rücksitz, bevor er sich auf dem Fahrersitz niederließ. Der Marktplatz war inzwischen zum größten Teil leer, die meisten der feiernden Freimaurer hatten sich nach dem Umzug wieder ihren Angelegenheiten gewidmet. »Tja, das war ein sehr interessantes Erlebnis«, sagte Ximena, -568-
während sie ebenfalls ihre Jacke abstreifte, bevor sie sich angurtete. »Melrose ist auch eine hübsche kleine Stadt. Ich glaube, ich würde gern einmal wieder hierherkommen, um sie mir richtig anzuschauen.« Als Adam den Motor anließ und den Toyota vorsichtig auf die Straße steuerte, zurück zum Logenhaus, bemerkte er den schwarzen Mercedes nicht, der auf dem Platz hinter ihm herschlich. »Die beste Zeit dafür ist der Frühling«, sagte er. »Wir werden eines Tages einen Picknickkorb einpacken, wenn das Wetter schön ist - wann immer das in Schottland sein mag - und in deinem Morgan hier herunterfahren. Oder wir könnten eine meiner Klapperkisten nehmen.« »Schon gut, Adam Sinclair!« sagte sie. »Ich habe genug von all den Anspielungen auf deine Autos! Wie viele hast du denn, und was für welche, daß du diesen prächtigen Bentley als ›Klapperkiste‹ bezeichnest?« »Tja, du weißt ja von dem Range Rover, den ich einmal hatte«, sagte er mit einem Seitenblick und einem drolligen Lächeln. »Und mein Verwalter fährt den Land Rover, der zum Gut gehört - aber der ist eher gewerblich. Es gibt da noch die verschiedensten Traktoren und dergleichen. Dann ist da noch der altehrwürdige Humber Estate, den Humphrey benutzt, um die Einkäufe zu machen...« »Du verheimlichst etwas vor mir«, sagte sie. »Du hast noch etwas anderes, besonderes, das du bis jetzt absichtlich nicht erwähnt hast. Es muß irgendein offener Wagen sein. Was ist es denn?« »Tja...« Plötzlich kam ihm ein leises, warnendes Donnergrollen zum Bewußtsein, zusammen mit einem Gefühl der Bedrohung, das eine Saite des Schreckens anschlug und einer tödliche Gefahr entstammte. Immer noch fiel leichter Schnee und überstäubte -569-
die Windschutzscheibe. Er blickte mit zusammengekniffenen Augen nach vorn und schaltete die Scheibenwischer ein, während der Donner erneut grollte. Plötzlich nahm er dunkle Wolken wahr, die sich über ihnen zusammenzogen und vor ein paar Minuten noch nicht dagewesen waren. Weit vor ihnen im Norden wurde der Himmel kurz von einem fieberhaften Flackern blauer Blitze erleuchtet. Im gleichen Augenblick sah er das Silber aufschimmern, das sich unter dem Schnee bewegte, der noch auf der Kühlerhaube lag. Der Scheibenwischer bewegte es, entfernte es aber nicht. Adam versuchte es mit einem schnellen Schlenker nach links und nach rechts, um das Ding loszuwerden, aber es hing fest. Die Kette war offensichtlich um etwas gewickelt - und das Gefühl der Bedrohung nahm zu. »Ximena, rette dich!« schrie Adam und drückte die Freigabeknöpfe der Sicherheitsgurte, trat aber nicht auf die Bremsen. »Spring hinaus und so weit weg, wie du kannst! Da ist eine Bombe!« Das Wort Bombe ließ sie schlagartig aktiv werden, wie es kein anderes Wort geschafft hätte. Als er an ihr vorbei langte, um ihren Türgriff aufzureißen und dabei verzweifelt beobachtete, wie die Wolken über ihnen brodelten, warf sie sich schon selbst dagegen und katapultierte sich mit einer Judo-Rolle hinaus, die sie in den Schnee auf der anderen Straßenseite beförderte. Adam riß seine eigene Tür auf und schleuderte sich aus dem noch fahrenden Wagen, als der Donner wieder krachte und ein sengender Blitzstrahl aus dem Himmel niederfuhr und das Fahrzeug in eine vernichtende Entladung blauweißer Energie hüllte. Kapitel 36 Eine Detonation zerriß die winterliche Stille und ließ den Boden beben, und der Toyota zerbarst in einem Geheul -570-
zerreißenden Stahls. Adam fiel einige Meter hinter dem Bankett in einen Graben und barg seinen Kopf in den Armen, während um ihn herum Funken und Glassplitter auf den Schnee herabregneten. Es gab eine zweite Explosion, als der Benzintank in die Luft flog. Dann hörte er nur noch das stürmische Tosen chemischer Flammen und ein Klingen in den Ohren. Zitternd hob er den Kopf. Schwarzer Rauch quoll aus dem noch dahinrollenden Kadaver des Toyota, von unten her beleuchtet vom grellen Licht brennenden Benzins. »Ximena!« rief er heiser. »Ximena, bist du okay?« Statt einer Antwort rappelte sich eine schwarzhaarrige Gestalt in einem jetzt ramponierten Arran-Pullover aus dem Unterholz auf der anderen Seite der Straße hoch und kam herübergerannt, während das Auto weiter vorn in eine Schneewächte bretterte und, immer noch lodernd, zum Stehen kam. »Ich bin okay«, sagte sie außer Atem und duckte sich neben ihm nieder. »Wie geht es dir? Himmel, war das wirklich eine Bombe? Wer sollte denn in dein Auto eine Bombe stecken wollen?« »Jemand, der möchte, daß ich tot bin«, sagte er und zuckte zusammen, als ihm ein stechender Schmerz durch den Knöchel schoß, während er sie mit sich hinter einen mit Efeu bewachsenen Baumstamm in Deckung zog. »Und ich denke, ich werde sie auch glauben lassen, ich sei tot.« Hinten in Richtung der Stadt heulten schon Sirenen. Adam kniff die Augen vor dem grellen Leuchten des brennenden Autos zusammen und blickte die Straße hinauf und hinab, um sich zu orientieren. Als der Blitz eingeschlagen hatte, war kein Verkehr vor oder hinter ihnen gewesen, aber jetzt kamen aus allen Richtungen Autos zusammen. Er vermutete, daß sie sich irgendwo in der Nähe des Geländes des Waverley Castle Hotels befinden mußten. Mit etwas Glück würden sie dort vielleicht ein Taxi bekommen und flüchten können, bevor jemand kam, um -571-
sie zu erledigen. Weiter vorne brannte der Toyota noch heftig, die ersten paar Autos hielten schon an, ihre Fahrer sprangen heraus, versammelten sich am Wrack und unternahmen vorsichtige Versuche, näher heran zukommen, um zu sehen, ob sich jemand im Auto befand. Adam packte Ximenas Hand und kauerte sich mit ihr nieder, dann drängte er sie in die Dunkelheit neben der Straße und strebte auf den Lichtschimmer hinten zwischen den Bäumen zu. Sie schafften es in etwa zehn Minuten bis zum Hotel, und dort gelang es ihnen, ein Taxi zu bekommen. Der Toyota brannte noch, als ihr Fahrer vorsichtig darum herumfuhr, um Melrose auf einem anderen Weg zu verlassen, aber es waren schon Rettungsfahrzeuge angekommen und bekämpften die Flammen mit Feuerlöschern. Adam beobachtete die Szene durch das Rückfenster des Taxis, bis sie aus dem Blickfeld verschwunden war. Als sie an die Einmündung in die A68 kamen, die sie Richtung Norden zurück nach Edinburgh gebracht hätte, ließ Adam den Fahrer nach Süden einbiegen. »In Newcastle gibt es doch einen Flughafen, nicht wahr?« fragte er. »Aye, Sir.« Der Fahrer schaute ihn im Rückspiegel an. »Das wird allerdings ganz schön teuer. Es sind etwa hmmm, 100 bis 110 Kilometer.« »Reichen dafür 100 Pfund?« »Mit oder ohne Quittung?« fragte der Mann zurück. »Ohne.« »Dann reicht es.« »Dann fahren Sie los!« Als er dann vor Kälte und von den Nachwirkungen des Schocks zu zittern begann, lehnte er sich zurück und legte den Arm um Ximena - zum Trost und wegen der Wärme, und er -572-
versuchte nach zudenken, während ihr Taxi auf der schneebedeckten A68 nach Süden fuhr. Glücklicherweise spürte sie genug von seiner Stimmung - und der Notwendigkeit, nichts zu sagen, was der Fahrer mithören könnte -, um zu schweigen. Er wußte, daß sie vor Fragen fast platzen mußte. Die Gegenseite hatte wieder versucht, ihn umzubringen diesmal nicht mit Vorbedacht, denn man konnte nicht gewußt haben, daß er geplant hatte, an diesem Abend in Melrose zu sein, aber nichtsdestoweniger hatten sie es versucht. Die Art der Attacke legte den Gedanken nahe, daß sie - genau wie McLeod es angedeutet hatte - ursprünglich als weiterer Schlag gegen die Freimaurer beabsichtigt gewesen war, von denen bekannt war, daß sie sich zur jährlichen Feier des St. Johannistages alle an einem Ort versammeln würden. Außer daß jemand im letzten Augenblick die Pläne geändert und versucht hatte, statt dessen Adam zu töten. Das bedeutete, daß sie ihn fürchteten. Und was wäre, wenn Adam bei denen, die die Gegenseite zu vernichten versuchte, Verbündete finden könnte... Ja, vielleicht war das die Antwort. Als das Taxi vor dem Flughafen von Newcastleupon-Tyne vorfuhr, war es schon nach Mitternacht, aber Adam hatte inzwischen einen Plan für das weitere Vorgehen entwickelt. Er ließ Ximena im Taxi warten und ging hinein, um herauszufinden, wann die letzten Flüge des Tages abgingen Newcastle war ja nicht gerade London-Heathrow, nicht einmal Edinburgh-Turnhouse -, aber er bekam den Flugplan für den nächsten Morgen. Als er zum Taxi zurückkam, nachdem er sich am Geldautomaten im Flughafen Bargeld verschafft hatte, wies er den Fahrer an, sie zum Flughafenhotel zu fahren und gab ihm noch 20 Pfund extra. Der Angestellte an der Rezeption tat wenigstens so, als glaubte er die Geschichte von einem Autounfall, bei dem ihr ganzes Gepäck verlorengegangen sei, und gab ihnen die Schlüssel für ein Doppelzimmer im dritten Stock. Als sie im Zimmer in Sicherheit waren und die Tür -573-
abgesperrt hatten, brach Ximena endlich ihr Schweigen. »Ich habe ja schon von recht komplizierten Methoden gehört, um eine Frau ins Bett zu bekommen, Adam Sinclair, aber diese ganze Mühe hättest du dir wirklich nicht machen müssen«, sagte sie und sank erschöpft in einen der Sessel neben dem kleinen runden Tisch am Fußende des Bettes. Adam öffnete eine Minibar im Durchgang zum Badezimmer und holte eine Dose Coke heraus. »Willst du etwas trinken?« fragte er. »Alles, was nichtalkoholisch ist und wo nichts von Diät draufsteht«, erwiderte sie. »Adam, was ist los?« Er holte ein zweites Coke heraus, knallte die Tür zu und humpelte zu dem Sessel ihr gegen über. Er sagte nichts, bis er seine Dose aufgerissen und einen langen Schluck getrunken hatte. »Das hat mit meiner Arbeit für die Polizei zu tun«, sagte er wahrheitsgemäß, allerdings ließ er sich nicht näher darüber aus, für welche Art von Polizei. »Ich fürchte, ich darf keine Einzelheiten erzählen.« Was ebenfalls stimmte. »Ich hatte keine Ahnung, daß es heute nacht so eskalieren würde, sonst hätte ich dich nicht mitkommen lassen. Es tut mir leid.« »Nun, das hattest du ja nicht wissen können«, bemerkte sie. »Es ist nicht deine Schuld. Und es ist mir ja nichts passiert.« Sie hielt einen Herzschlag lang inne. »War es die IRA?« »Nein«, sagte er flach. »Eine andere Art Terroristen. Hör mal, ich muß ein paar Telefongespräche führen. Nimm doch inzwischen eine Dusche und mach dich frisch, und ich werde dir mehr erzählen, sobald ich mehr weiß.« »In Ordnung.« Als sich die Badezimmertür hinter ihr geschlossen hatte und er hörte, wie das Wasser lief, nahm er den Telefonhörer und wählte McLeods Nummer, auf die geringe Chance hin, daß Jane -574-
es mit dem Herausziehen des Telefonsteckers doch nicht so genau genommen hatte. Am anderen Ende läutete es immer wieder, doch wie erwartet hob niemand ab. Als nächstes rief er zu Hause an. Philippa hatte schon geschlafen, doch als sie seine Neuigkeiten hörten, war sie sofort hellwach. »Und deshalb möchte ich, daß du morgen die trauernde Mutter spielst«, sagte er, als er ihr seinen Plan erklärt hatte. »Ich kann Noel nicht zu Hause erreichen, um ihm zu sagen, was passiert ist, deshalb möchte ich, daß du am Morgen, sobald du es schicklicherweise kannst, zu ihm ins Büro gehst, ihn beiseite nimmst und ihn wissen läßt, daß ich in Sicherheit bin. Du kannst ihn nicht dort anrufen, wegen des Maulwurfs bei der Polizei; die Leitung ist vielleicht nicht sicher. Wenn es dir nicht gelingt, zu ihm durch zukommen, dann wird er auf die brutale Weise von dem ausgebrannten Auto erfahren - entweder vom Autoverleiher, da der Wagen auf seinen Namen gemietet war, oder aus einem routinemäßigen Polizeibericht, der mit der Nachricht von einer Autobombe in Melrose auf seinen Schreibtisch kommt - und er wird das gewiß auch glauben. Es wäre leichter für ihn, wenn er die Wahrheit wüßte, bevor das geschieht. Ich weiß nicht, ob Peregrine vorhatte, heute abend heimzukommen, aber du solltest versuchen, ihn ebenfalls ins Bild zu setzen.« »Ich verstehe, mein Lieber«, sagte sie. »Ich werde mich um alles kümmern. Was wirst du in der Zwischenzeit machen?« »Ich werde so still wie möglich nach Edinburgh zurückkehren, auf einem Weg, den die Gegenseite wahrscheinlich nicht erwarten wird«, sagte er. »Ich habe die genauen Einzelheiten noch nicht ausgearbeitet, aber ich kann dir sagen, daß ich versuchen werde, irgendwann morgen abend mit dem Zug an der Waverley Station anzukommen. Ich werde jemanden anrufen, dessen Leitung sicher ist und ihm sagen, er solle Noel anrufen mit einer Nachricht, um wieviel Uhr die Silvesterparty seines Bruders anfangen wird. Von dieser -575-
Zeitangabe soll man zwei Stunden abziehen, und das ist dann der Zeitpunkt, wann ich an der Waverley Station sein werde. Hast du verstanden?« »Natürlich, mein Lieber. Sonst noch etwas?« »Nichts, was mir im Augenblick einfallen würde.« Er blickte auf die Badezimmertür, hinter der das Geräusch fließenden Wassers verstummt war. »Ich muß jetzt aufhören. Hier bei mir wird gleich eine schöne, intelligente und bis jetzt sehr verständnisvolle Frau aus dem Bad kommen, die eine Menge Erklärungen haben möchte.« »Oh, dann mach aber nicht die Stimmung kaputt, indem du zuviel erklärst, mein Lieber«, sagte Philippa schelmisch. »Ja, Mutter. - Ich erzähle dir später mehr. Und ich liebe dich«, fügte er hinzu, bevor er auflegte. Ein paar Minuten später kam Ximena heraus. Sie war in einen der Frotteebademäntel mit dem Monogramm des Hotels gehüllt, ihr Haar war in einem Handtuch hochgedreht. Adam dachte, er sei noch nie einer Frau begegnet, die für ihn anziehender gewesen wäre, und das in jeder Hinsicht. Und niemals hatte er so wenig Lust gehabt, aus seinem Sessel aufzustehen. »Du siehst aus, als könntest du als nächster eine Dusche vertragen«, sagte sie, als sie ihm wieder gegen übersaß, das Handtuch vom Kopf nahm und ihr Haar zu trocknen begann. »Gibt es noch mehr, was du mir sagen kannst, nachdem du jetzt deinen Anruf gemacht hast?« »Zuerst werde ich mich duschen«, erwiderte er und ergriff die Chance, das Unvermeidliche noch eine Weile aufzuschieben. Er stand auf und ging ins Bad. Er blieb unter dem heißen Wasser, bis seine versteiften Muskeln sich zu lösen begannen, und ließ das fließende Wasser auch seinen Geist reinigen. Als er eine Viertelstunde später herauskam, fühlte er sich fast wie ein Mensch. Nach dem Abenteuer dieser Nacht würde er neue Prellungen aufweisen, -576-
aber abgesehen von einem hartnäckigen Stechen im linken Fußknöchel und einem erneuten Schmerz in der Schulter war er bemerkenswert glimpflich davongekommen. Ximena saß an die Kissen gelehnt auf dem Bett und sah fern, doch als er die Badezimmertür öffnete, drückte sie den Ausknopf der Fernbedienung und klopfte neben sich auf das Bett mit einer Geste, die keinen Widerspruch duldete. »Okay, ich habe nachgedacht«, sagte sie. Ihr offener Blick entwaffnete ihn, als er sich zögernd neben sie setzte. »Du willst offensichtlich nicht über das reden, was heute nacht passiert ist, und ich will wahrscheinlich auch nichts davon hören. Wir beide sind jedoch heute nacht um ein Haar umgekommen - und das hat mich sehr erschreckt. Also hätte ich gern, daß du mich festhältst, bis ich mich beruhigt habe und mich überzeuge, daß ich lernen kann, damit zu leben, wenn ich vorhabe, viel Zeit mit dir zu verbringen. Und dann möchte ich, daß wir uns lieben - denn bei der Art, wie du lebst, fürchte ich, daß ich nie eine zweite Chance bekomme.« Dann verlor sie die Fassung, und er merkte auf einmal, wie er ihr die Tränen wegküßte, die sie zurückkämpfte - verwirrt, geschmeichelt und auch ein wenig ungläubig, daß es ihr so viel ausgemacht hatte. Als er später zufrieden an der Grenze zwischen vollem Bewußtsein und Schlaf dahintrieb, ertappte er sich dabei, wie er sich fragte, wohin das alles führen würde und wie entschlossen er war, daß ihr durch diese Beziehung kein Leid geschehen sollte, ganz gleich, was sonst passieren mochte. Als er endlich eingeschlafen war, schlief er traumlos und erwachte am nächsten Morgen von dem Geräusch der Dusche und dem Duft einer Tasse Tee neben dem Bett. Nur sehr widerstrebend brachte er sie eine Stunde später zum Morgenflug nach Edinburgh. »Ich rufe dich an, sobald sich das alles aufgelöst hat«, versprach er ihr, als sie sich am Flugsteig trennten. »In der -577-
Zwischenzeit weißt du nichts von der ganzen Sache.« Sie verstand offensichtlich nicht, was er meinte, aber anscheinend vertraute sie ihm genug, um keine Szene zu machen. Als er ihr Flugzeug hatte starten sehen, ging er zu einer Telefonzelle und wählte die Nummer von McLeods Büro. Seit dem Gespräch mit Philippa am Vorabend hatte er sich eine Methode ausgedacht, seinem Stellvertreter in der Jagdloge eine Vorauswarnung zu geben - falls McLeod den obskuren Hinweis verstand, den Adam über die Leitung der Polizei zu geben wagte. »Inspector McLeod, bitte«, sagte er, als sich die Telefonistin der Polizei meldete. »McLeod am Apparat«, sagte einige Sekunden später die vertraute Stimme. »Bitte keine Reaktion«, sagte Adam mit allem Gewicht, das er in diese Aufforderung legen konnte. »Sie sind immer noch der Zweite.« Damit legte er ruhig auf. Wenn die Leitung nicht ständig abgehört wurde, dann konnte niemand anderer das gehört haben - und wenn man mitgehört hatte, würde man nicht wissen, was es bedeutete. Er hoffte, daß McLeod es begriffen hatte. Dann schob er dieses Problem beiseite, denn sich deswegen Sorgen zu machen, würde keinen Zweck haben. Statt dessen machte er sich daran, die Morgenzeitungen durchzuschauen, während er auf seinen Flug nach Glasgow wartete. Er suchte nach einer Erwähnung des Vorfalls vom Vorabend. Inzwischen hatte McLeod etwas verwirrt seinen Telefonhörer aufgelegt. Die Stimme war unzweifelhaft die von Adam Sinclair gewesen, aber die rätselhafte Botschaft... »Guten Morgen, Inspector«, sagte Cochrane und steckte zögernd den Kopf durch die offene Bürotür. »Haben Sie schon von der Autobombe und von der Löschaktion gehört, gestern abend auf der Ausfallstraße von Melrose?« -578-
McLeod blickte ihn verständnislos an. »Um was geht es, Donald?« »Es steht in den Einsatzberichten von heute nacht«, erwiderte Cochrane. Er trat näher und reichte McLeod einen Stapel Papiere. »Muß passiert sein, nachdem ich schon weg war. Die Polizei von Melrose sagt, es habe ziemlich arg gebrannt. Sie wissen nicht, wer der Fahrer war, aber es sieht nicht so aus, als sei er aus dem Wagen heraus gekommen. Das AntiterrorKommando bringt das Wrack zur forensischen Untersuchung her.« McLeod lief es eiskalt über den Rücken. Er überflog den Bericht, rückte seine Fliegerbrille zurecht und starrte verständnislos und geschockt auf das Papier, während er die Beschreibung des weißen Toyota Land Cruiser las. »Herrgott, das ist ja das Auto, das ich für Adam gemietet hatte!« flüsterte er. Noch während er das sagte, wußte er, was der rätselhafte Telefonanruf bedeutet hatte. Adam war nicht in dem zerbombten Toyota umgekommen, aber er wollte, daß man dächte, er sei getötet worden. McLeod nahm die Brille ab und barg sein Gesicht in einer Hand, um seine Erleichterung zu verbergen, und er hauchte ein stilles Dankgebet, was Cochrane als plötzlichen Schock der Trauer interpretierte. »Das war Sir Adams Wagen?« fragte der junge Constable vorsichtig. »Aye«, flüsterte McLeod bebend. Er wagte immer noch nicht aufzublicken, ohne sich zu verraten. »Lassen Sie mich ein paar Minuten in Ruhe, Donald? Und schauen Sie, was Sie sonst noch herausfinden können wohin man das Auto gebracht hat und so weiter.« Zwanzig Minuten später - McLeod hatte sich inzwischen eine Tarngeschichte ausgedacht und sich im stillen für die Rolle gewappnet, die er jetzt spielen mußte -, klopfte Cochrane an der -579-
Tür und berichtete sehr schüchtern, was er herausgefunden hatte. McLeod biß die Zähne zusammen, nahm Hut und Mantel und verließ mit dem jungen Constable das Büro, vorgeblich, um zum Abschlepphof zu gehen, wohin man das Auto gebracht hatte, aber ebenso, um aus dem Blickfeld der vielen Augen zu verschwinden, die ihn anstarrten. Während Donalds Abwesenheit schien die Nachricht die Runde gemacht zu haben, und McLeod spürte, wie ihm die Blicke des Mitgefühls und Mitleids folgten, während sie zum Lift gingen. Sie waren gerade dabei, das Polizeipräsidium durch den Haupteingang zu verlassen, als er den schwarzen Bentley sah, der gerade am Randstein vorgefahren war. Humphrey stieg aus, um die hintere Tür zu öffnen. »O Gott, das ist Adams Mutter«, murmelte er. »Donald, holen Sie den Wagen, ja?« Während der junge Constable zum Parkplatz ging, offensichtlich erleichtert, daß ihm die Begegnung erspart blieb, die jetzt stattfinden würde, stieg Philippa aus dem Auto. Sie trug schwarze Kleidung. Hinter ihr, tiefer im Schatten des Rücksitzes, konnte McLeod einen eulenhaft dreinblickenden Peregrine Lovat sehen, der düster in einen dunklen Anzug gekleidet war. Aus beider Gesichtsausdruck konnte er nicht schließen, ob sie wußten, daß er wußte - nicht einmal, ob sie es überhaupt wußten... Dachten sie, Adam sei wirklich tot? Während er noch überlegte, wie er diese heikle Frage angehen sollte, da doch möglicherweise neugierige Augen ihn beobachteten, öffnete Philippa die Arme und ließ sich von ihm unbeholfen umarmen. Sie barg ihr Gesicht an seiner Schulter, während sie murmelte: »Zeigen Sie keinerlei Reaktion, Noel McLeod, aber er lebt und ist nicht verletzt. Er hat mich in der Nacht aus Newcastle angerufen. Machen Sie weiter und tun Sie so, als weinten Sie, bevor es Ihnen die Kehle zusammenschnürt.« Aus purer Erleichterung tat McLeod genau das, und er zog -580-
sich für ein paar Minuten mit ihr und Peregrine auf den Rücksitz des Bentley zurück, um sich zu erholen und von seinem rätselhaften Anruf zu berichten, während Humphrey die Tür schloß und draußen grimmig Wache stand. »Also möchte er, daß wir den Mund halten und daß Sie sich um diese Maßnahmen kümmern«, sagte ihm Peregrine, nachdem sie Adams Plan erklärt hatte. »Können Sie das tun?« »Aye, es wird einiges nötig sein, doch - aye, es ist zu machen.« Als sie die letzten Details ausgearbeitet hatten, stieg McLeod wieder aus dem Wagen. Peregrine kam mit ihm. »Wir werden diese Farce weiterspielen müssen, selbst vor Donald«, sagte McLeod zu dem Künstler, als sie auf das Polizeifahrzeug zugingen, in dem Cochrane wartete. »Ich vertraue ihm stillschweigend, und am Ende wird er es sowieso erfahren, aber ich glaube, wir kommen besser durch, wenn es bis zu Adams sicherer Rückkehr so wenig Leute wie möglich wissen. Das bedeutet, wir werden das ganze Prozedere der Besichtigung des Autos durchmachen. Wir werden versuchen, die offizielle Darstellung von wegen Bombe aufrechtzuerhalten - in gewisser Weise war es ja auch eine Bombe, falls die Luchse den Wagen mit einem Blitz abgeknallt haben.« Das ausgebrannte Wrack auf dem Abschlepphof machte es leichter, die Fiktion von Adams Tod aufrechtzuerhalten, denn dieses Inferno konnte sicherlich niemand überlebt haben. Die intensive Hitze hatte die Seitenschalen verbogen, das Glas verschlackt und sogar den schweren Rahmen verzogen. Das Innere war völlig ausgebrannt. Der Gestank von verbranntem Plastik und ein noch schwererer Geruch von verbrannter Tierhaut hing noch daran, schwer und drückend selbst nach einer Nacht im Freien und einem Bad chemischer Löschmittel, die das Feuer erstickt hatten. Es zeigte sich, daß die Gerüche nicht von menschlichem Fleisch kamen, sondern von den -581-
eingeäscherten Überresten eines einstmals stattlichen Schaffellmantels und einer Lederjacke, die auf den Überresten der Rücksitzes kaum noch erkennbar waren. Das Äußere des Autos lieferte zusätzliche interessante Hinweise. Als McLeod die verbogene Kühlerhaube in Augenschein nahm, entdeckte er die geschmolzenen Überreste des Luchsmedaillons, so geschwärzt und verformt, daß es unmöglich war, es zu entfernen, und fast unmöglich, zu erkennen, um was es sich handelte. »Wissen Sie«, sagte Cochrane und stocherte mißtrauisch an der verschlackten Stelle herum, »das sieht dem Ding ziemlich ähnlich, das ich oben in Baimoral gefunden habe. Meinen Sie, daß auch dieses Auto von einem Blitz getroffen wurde?« »Ich weiß es nicht«, sagte McLeod müde. »Ich glaube, von jetzt an lasse ich das Bombenkommando weitermachen. Ich habe nicht die Nerven dafür. Gehen wir zurück ins Büro. Ich muß einige Anrufe erledigen.« Inzwischen war Adam in Glasgow gelandet und machte sich daran, sich zu tarnen, bevor er zurück nach Edinburgh fuhr. Er fühlte sich ziemlich schmuddlig und sah auch so aus, denn er trug immer noch die dreckige Cordhose und den Pullover vom Abend zuvor. Überdies war ihm kalt, und so ließ er sich von einem Taxi zu einem Laden für Armeeartikel fahren, wo er sich Hosen in Tarnfarben kaufte, dazu einen schwarzen Rollkragenpullover, wie er bei U-Boot-Matrosen üblich war, und einen khakigrünen Anorak, wie ihn die Special Forces trugen. Seine Schneestiefel waren noch einsatzfähig. Als er dann noch eine schwarze Strickmütze aufgesetzt hatte, sah er mit seinem mehr als vierundzwanzig Stunden alten Bart keineswegs dem eleganten und kultivierten Sir Adam Sinclair ähnlich, den Bekannte - und Feinde - auf der Stelle erkannt hätten. Seine anderen Kleider nahm er in einer Plastiktüte mit, wobei er hoffte, dieser Anflug von Häuslichkeit würde ihn -582-
weniger bedrohlich erscheinen lassen. Doch selbst so machten die Leute auf den Straßen einen weiten Bogen um ihn, als er zum Glasgower Hauptbahnhof ging, um dort auf seinen Zug nach Edinburgh zu warten. Er war etwas früher da, als für den Zug, den er nehmen wollte, notwendig, aber er mußte einen weiteren rätselhaften Telefonanruf machen. Einige Stunden später erhielt Noel McLeod zum zweiten Mal an diesem Tag einen rätselhaften Anruf, diesmal von dem Mann, den Adam zuvor angerufen hatte. »Noel, alter Junge, ich bin froh, daß ich dich erwische«, meldete sich eine forsche militärische Stimme am anderen Ende der Leitung. »Mein Bruder wollte, daß ich dir mitteile, daß du zum Dinner vor seiner Silvesterparty am Montag eingeladen bist. Wenn du so gegen acht auftauchst, wäre es großartig.« »Ja, ganz recht. Vielen Dank für die Nachricht«, erwiderte McLeod und schaute auf seine Uhr - es war fast sechs. »Das werde ich mir nicht entgehen lassen.« »Bitte, gern geschehen«, sagte die Stimme. »Ich hoffe, ich sehe dich bald!« Als er den Hörer aufgelegt hatte, stieß McLeod einen schweren Seufzer aus, rappelte sich auf die Beine und griff nach Hut und Mantel. Peregrine und Cochrane standen ebenfalls auf, nahmen ihre Sachen und folgten ihm zur Tür hinaus. »Meine Herren, ich glaube, dies war ein verdammt beschissener Tag, und ich denke, es ist Zeit heimzugehen«, sagte McLeod so laut, daß es alle hören konnten, die horchten. Er zog seine Bürotür zu und sperrte sie ab. »Ich weiß nicht, wie Ihnen zumute ist, aber ich meinerseits werde mich jetzt mal so richtig besaufen.« Erst als die drei auf dem Korridor verschwunden waren, nahm Charles Napier Hut und Mantel und eilte hinter ihnen her. Er rannte wie verrückt die Hintertreppe hinab, während die anderen den Lift nahmen. Den ganzen Tag über zu beobachten, wie -583-
McLeod wegen Sinclairs Tod litt, war fast so befriedigend, wie McLeod selbst zu eliminieren - was Napier auch sehr bald zu bewerkstelligen hoffte. Aus einem unauffälligen blauen Mazda beobachtete er, wie die drei sich vor dem Haupteingang trennten, wobei Lovat mit McLeod ging, und er entschied sich dafür, eher den beiden als Cochrane zu folgen, den er für ein Leichtgewicht hielt. Er folgte dem schwarzen BMW bis zur Waverley Station und wartete ungeduldig in einer Parkverbotszone an der Straße, während Lovat ausstieg und in den Bahnhof eilte, aus dem er ein paar Minuten später mit einem großen dunkelhaarigen Mann in Armeekleidung herauskam, der sich ganz wie Adam Sinclair bewegte nur daß Adam Sinclair tot war. Oder war er es wirklich? Schon der Gedanke versetzte Napier in Panik, denn wenn Sinclair nicht tot war, dann befand sich Napier in ernster Gefahr. Mit pochendem Herzen gelang es ihm, sich im Stoßverkehr näher an den BMW heran zu manövrieren, um einen deutlichen Blick von dem Mann mit der Strickmütze auf dem Rücksitz des BMW zu erhäschen - kurz bevor McLeod unerwartet rechts abbog und im Verkehr verschwand. Fluchend schlug Napier gegen sein Lenkrad es war unmöglich, am Verkehr vorbei zu kommen und dem schwarzen Auto zu folgen. Denn es war Sinclair! Dessen war sich Napier sicher. Er hatte keine Idee, wie es Sinclair gelungen war, der Brandkatastrophe zu entrinnen, aber das wie war jetzt nicht wichtig. Die bittere Realität war, daß Sinclair entkommen war! Und ob Napier nun berichtete, was er gesehen hatte, oder nicht, wenn die Neuigkeit schließlich dem Großmeister zu Ohren kam, was unvermeidlich war, dann war Napier in Schwierigkeiten. Nein, es war viel besser, es Raeburn jetzt zu sagen und zu versuchen, noch etwas aus der Situation zu retten. Vielleicht konnte er Sinclair und McLeod noch heute abend aufspüren und töten - und Lovat ebenfalls! Napier, der in seinem Mantel schwitzte, hielt neben einer -584-
Telefonzelle an, stellte ein Blaulicht auf das Dach seines Wagens und stieg aus. Mit zitternden Fingern suchte er in der Manteltasche nach seiner Telefonkarte und der Geheimnummer, die Raeburn ihm am Abend vorher gegeben hatte. Er spürte, wie das Blut in seinen Ohren pulsierte, als er wählte, und er holte zitternd Luft, als sich die erwartete Frauenstimme meldete. Er identifizierte sich und fragte nach Raeburn. »Guten Abend, Sir«, sagte er, als Raeburn sich meldete, »ich äh - muß eine ziemlich bedauerliche Neuigkeit berichten.« Und am anderen Ende der Leitung, in einem Penthouse in einem der vornehmeren Stadtteile, hörte Francis Raeburn seinem Untergebenen mit zunehmender Kälte zu. »Ich verstehe«, sagte er, als Napier geendet hatte. »Und Sie sind sich sicher, daß es Sinclair war?« »Ich wünschte, er wäre es nicht«, sagte Napier bitter. »Ganz recht«, murmelte Raeburn und dachte heftig nach. »Nun gut, ich werde mich darum kümmern. Rufen Sie von zu Hause aus an?« »Nein Sir, aus einer Telefonzelle in der Nähe des Bahnhofs.« »Also gut, dann gehen Sie heim. Unternehmen Sie nichts. Vermeiden Sie weiteren Kontakt, für den Fall, daß er Sie durchschaut hat. Offensichtlich hat man diese Scharade Ihnen zuliebe aufgezogen. Genehmigen Sie sich einen Drink und legen Sie die Füße hoch. Ich habe vor, dafür zu sorgen, daß dies alles bis morgen früh gelöst ist.« »Jawohl, Sir. Danke, Mr. Raeburn.« Als Napier aufgelegt hatte, drückte Raeburn die Telefongabel, überlegte einen Augenblick lang, hob dann die Hand und wählte eine Nummer. »Hier spricht Raeburn«, sagte er zu der schroffen Stimme, die sich meldete. »Sagen Sie Mr. Scharf und Mr. Delaney, sie sollen sofort ins Penthouse hochkommen, ja? Ich habe einen Auftrag -585-
für sie.« Am selben Abend lauschten in einem kleinen Hotel in einer Seitenstraße der Minto Street, das der Inspector schon als konspirative Wohnung für gefährdete Zeugen benutzt hatte, McLeod und Peregrine Adam, während er wiederholte, was in der Nacht zuvor geschehen war. Er legte ihnen seine Einschätzung dar und skizzierte den Plan, der seit dem Anruf bei Philippa noch detaillierter geworden war. »Sie haben recht«, sagte McLeod, als Adam geendet hatte, »und ich glaube, ich weiß, wie man an die richtigen Leute herankommt. Wir werden das hochrangigen Polizeibeamten vorlegen, die auch Freimaurer sind und somit das esoterische Element akzeptieren werden. Ich habe mir heute im Laufe des Tages schon einige Namen notiert, während wir darauf warteten, von Ihnen zu hören, aber ich wollte keine weiteren Schritte unternehmen, bevor ich nicht mit Ihnen gesprochen hatte, einfach um sicherzugehen, daß ich alles richtig verstanden habe. Wir können das morgen früh persönlich klären und die Räder in Bewegung setzen.« Während der restlichen Nacht schliefen sie noch ein paar Stunden und begaben sich am nächsten Morgen ins Polizeipräsidium. McLeod und Peregrine sahen ziemlich vorzeigbar aus, in seinem khakigrünen Anorak und der Strickmütze wirkte Adam jedoch wie ein im Untergrund operierender Polizist. Es war kurz nach neun, als sie auf den Parkplatz fuhren. Dort empfing sie ein uniformierter Beamter, der McLeod ein Zeichen gab, er solle sein Fenster herunterkurbeln. »Sie brauchen erst gar nicht zu parken, Inspector«, sagte er und beugte sich zu McLeod herab. »Wir haben einen schwerwiegenden Fall unter der Forth Bridge ein Polizist wurde getötet - sehr blutige Sache, nach allem, was ich gehört habe. Man sagt, es sehe aus wie eine Hinrichtung im Stil der Freimaurer.« -586-
McLeod erstarrte und machte ein grimmiges Gesicht. Adam lehnte sich etwas herüber, um besser hören zu können. »Weiß man schon, wer das Opfer war?« fragte McLeod. »Gerüchtweise heißt es, es sei Charles Napier.« McLeod quittierte diese Neuigkeit mit einem Knurren, dann legte er den Rückwärtsgang ein, wendete und gab Adam ein Zeichen, er solle das Blaulicht unter seinem Sitz hervorholen, während sie wieder in die Fettes Avenue hinausfuhren und dann in die Straße Comely Bank einbogen. Peregrine machte sich auf eine neue wilde Fahrt a la McLeod gefaßt. Als sie durch den Kreisverkehr und weiter die Craigleith Road entlang rasten, hatte Adam das Blaulicht auf dem Dach befestigt und eingeschaltet. Während sie sich der Abzweigung in die Queensferry Road näherten, verringerte McLeod das Tempo. »Tja, angesichts des Verdachts, den wir schon lange gegen Charles Napier hegten, kann ich nicht behaupten, daß es mir die Kehle zusammenschnürt, wenn es ihn statt eines Freimaurers erwischt hat«, sagte McLeod schließlich und nutzte sein Blaulicht, um sich seinen Weg über die Kreuzung zu bahnen. Als er durch war, trat er aufs Gas, der BMW schwänzelte etwas und fing sich wieder, während sie nach Westen rasten. »Aber das hätte ich ihm doch nicht gewünscht.« »Glauben Sie, daß dies wirklich ein Freimaurer getan hat?« fragte Adam. »Natürlich nicht. Allerdings wird es danach aussehen - ein sehr überzeugender Schwindel. Falls es dem traditionellen Muster folgt, wird das Opfer zwischen der Flut- und Ebbelinie an einen Pfahl gebunden sein, wahrscheinlich kurz vor der Ebbe letzte Nacht. Darüber hinaus kann ich nicht voraussagen, wie weit es die Killer getrieben haben.« Die nächsten zehn Minuten verbrachte er damit, ihnen in anschaulichen Einzelheiten die Strafen zu schildern, die in den Verpflichtungen ausgeführt wurden, die alle Freimaurer im -587-
Laufe ihrer verschiedenen Einweihungen für den Fall beschworen, daß sie jemals die Königliche Kunst verraten würden. »Nicht, daß ich glaube, diese Strafen sollten jemals buchstäblich verhängt werden«, sagte er, während er in die Abzweigung zur Edinburgh Road einbog, auf eine Überführung über die Straße, die sie gekommen waren. »Ich habe immer behauptet, daß es sich bei diesen Strafen zum größten Teil um verbale Ausschmückungen handelt, die die Ernsthaftigkeit der Eide unterstreichen sollen. Ich muß jedoch einräumen, daß es bemerkenswerte Beispiele sogenannter Freimaurerhinrichtungen gegeben hat. Aber sie wurden für gewöhnlich von Nichtfreimaurern vollstreckt, besonders weil das Opfer ein Freimaurer war und deshalb den vollen Schrecken durchleben würde zu wissen, was der Symbolismus bedeutete.« Er blickte beunruhigt im Rückspiegel auf Peregrine. »Das kann sehr blutig sein, junger Mann - möglicherweise noch schlimmer als das, was wir oben bei Blairgowrie gesehen haben. Wenn es Ihnen hilft, daß er Ihnen nicht übermäßig leid tut, dann denken Sie daran, daß wahrscheinlich er es war, der mir diese Briefbombe mit dem Origami-Luchs hat zukommen lassen, und daß er so gut wie sicher derjenige war, der vorgestern abend versucht hat, Adam umzubringen. Wissen Sie, Adam, ich dachte, ich hätte ihn in Melrose gesehen, habe es aber sofort abgetan. Ich sagte mir: ›Was sollte er den bei einer Veranstaltung der Freimaurer zu suchen haben? ‹ « »Wahrscheinlich hatte er den Befehl, ein Medaillon zu plazieren, um einen Blitzschlag auf die Abtei herabzurufen und all diese Freimaurer zu töten«, sagte Adam, »nur daß er zu dem Schluß kam, ich sei ein wertvolleres Ziel. Vermutlich sollte ich mich geschmeichelt fühlen...« Vor sich sahen sie schon die Forth Bridge, und zwar die Eisenbahnbrücke, statt der vielspurigen Brücke etwas weiter westlich, über die der motorisierte Verkehr den Firth of Forth -588-
überquerte. McLeod bremste hart, als er in die letzte Kurve kam, bevor die Straße unter der Brücke hindurchführte, und er verlangsamte das Tempo noch mehr, als sie Dutzende von Fahrzeugen - meistens Polizeiautos - erblickten, die an der Westseite wahllos versammelt waren. Unten am Strand unmittelbar unter der Brücke sahen sie Dutzende von Männern, die sich scheinbar wie zufällig am Ufer versammelt hatten. Viele trugen Anoraks mit der Aufschrift POLICE auf dem Rücken. McLeod fluchte leise, als er den BMW in eine Lücke neben einen viel größeren und ebenfalls schwarzen Ford Granada lenkte. »Das Auto des Chief Superintendent«, murmelte er, bevor sie ausstiegen. »Er geht fast nie zu einem Einsatz. Er war nicht in meiner engeren Auswahl. Das kann sehr heikel werden.« Schweigend, die Lippen zusammengepreßt, führte McLeod sie an den Polizeiabsperrungen vorbei direkt unter die Brücke, wo unter einer Plane eine Hand hervorschaute, die zweifellos dem Opfer gehörte. Unter den Männern, die nervös an einer Seite standen, befand sich auch Donald Cochrane. Merkwürdigerweise schien er bei einem uniformierten Sergeanten eine Aussage zu machen. Als er McLeod mit Adam und Peregrine näher kommen sah - er konnte es anscheinend gar nicht glauben, als er Adam erkannte -, riß er sich mit gewissen Schwierigkeiten aus dem Gespräch los und kam herübergerannt. »Bin ich froh, daß Sie hier sind!« sagte er leise. »Und Sir Adam...« »Das werden wir später erklären«, murmelte Adam. »Was ist denn hier los?« Cochrane verzog das Gesicht und blickte verzweifelt auf McLeod. »Es ist Inspector Napier, Sir. Wer immer das getan hat, hat alle klassischen Strafen kopiert. Aber er war ja nicht einmal Freimaurer. Er hat uns doch gehaßt...« McLeod stieß ausdrucksvoll den Atem aus, und Adam -589-
tauschte einen warnenden Blick mit Peregrine. »Tja, wenigstens war es diesmal keiner von uns«, knurrte McLeod. »In gewisser Weise ist das jedoch schlimmer, weil man uns jetzt die Schuld zuschieben wird.« »Das tut man schon, Sir«, murmelte Cochrane und blickte zu dem Sergeant zurück, der ungeduldig wartete. »Sie haben mich schon gefragt, wo ich gestern abend war und warum ich nicht in der Loge war.« »Dann gehen Sie nur rasch zurück, junger Mann, und halten Sie die Leute eine kleine Weile beschäftigt, während wir uns schnell einmal das Opfer anschauen«, sagte McLeod, schob sich an Cochrane vorbei und ging auf die Plane zu. Adam und Peregrine folgten. Adam betrachtete die Männer, die um sie herumstanden, forschend und merkte, daß sie mit unterschiedlichem Maß von Interesse oder Feindseligkeit beobachtet wurden. Peregrine empfand die Situation als viel gespannter als an allen Tatorten, die er bislang mit Adam und McLeod besucht hatte - vielleicht weil einige der Männer ihn anschauten, als hielten sie ihn für einen Verdächtigen. Das Opfer war nicht vom Ort bewegt worden, aber ein Team von der Spurensicherung schickte sich gerade dazu an, den Toten wegzuschaffen, denn die Flut kam wieder. Wie von McLeod vorhergesagt, war er zwischen Flut- und Ebbelinie gefesselt worden, Fußknöchel und Handgelenke waren an Pflöcke gebunden, die man in den Sand getrieben hatte. Als Peregrine erkannte, daß man dem Mann den Bauch aufgeschlitzt hatte, wandte er schnell die Augen ab. Adam ging mit McLeod näher heran, um das Gesicht des Opfers genauer anzuschauen und bestätigte, daß der Tote tatsächlich Charles Napier war. Es war schwer zu sagen, welche der Wunden ihn getötet hatte. Der tiefe Schnitt im Unterleib ließ ein weißes Gewirr von Eingeweiden sehen, wo man ihm die Gedärme fast bis zu den Füßen aus der Wunde gezogen hatte, und seine Kehle war vom -590-
einen Ohr zum anderen aufgeschlitzt worden. Der ungläubige und gequälte Ausdruck auf seinem Gesicht legte den Gedanken nahe, daß er schon einige Zeit vor seinem Tod genau gewußt hatte, was mit ihm da geschah, aber im aufgerissenen Mund war nur ein Stummel der Zunge zu sehen. »Du lieber Gott«, flüsterte McLeod, als er die Plane wieder über das Gesicht des Mannes fallen ließ und sich mit bleichem Gesicht ab wandte. Adam blickte schnell auf Peregrine, während die Leute von der Spurensicherung mit einer Bahre und einem Leichensack kamen und sich an ihre Arbeit machten, aber der Künstler starrte, wenn auch käsebleich, mit unverwandter Aufmerksamkeit auf das Geschehen, vielleicht sah er hinter die Unmittelbarkeit der gegenwärtigen Szene und speicherte hoffentlich die Bilder, um sie später auf Papier zu bannen. Adam hatte schon bemerkt, wie der ausgesprochen nichtfreimaurerische Teil der Versammelten, der sich allmählich am Strand herauskristallisierte, finstere Blicke auf McLeods Rücken richtete. Er nahm McLeod am Ellbogen und zog ihn und Peregrine vom unmittelbaren Tatort weg. »Das wird nur schwer zu entschärfen sein«, murmelte er. »Sie bilden schon zwei Lager. Ich denke, wir sollten lieber einige dieser aufgeschlossenen freimaurerischen Vorgesetzten aufscheuchen, die Sie gestern abend erwähnt haben.« »Zu spät, sie haben uns schon gefunden«, erwiderte McLeod und blickte an Adam bedeutungsvoll vorbei auf den distinguiert wirkenden grauhaarigen Mann, der auf ihn zukam, umgeben von einer Phalanx uniformierter Beamter, von denen einige auffällig bewaffnet waren. »Was immer Sie beide tun, melden Sie sich nicht zu Wort, es sei denn, Sie werden gefragt, und leisten Sie keinerlei Widerstand.« Sie wichen nicht von der Stelle, während die Männer näher kamen. Ihr Anführer beäugte sowohl Adam als auch Peregrine, -591-
als er stehenblieb. Er trug Zivilkleidung, doch Adam vermutete, daß es sich bei ihm um den Chief Superintendent handelte, neben dessen Auto sie geparkt hatten. Als McLeod seinen Blick nicht senkte, nickte er ihm zu, zog einen Handschuh aus und schlug damit ungeduldig gegen die andere Hand. »Detective Chief Inspector McLeod«, sagte er ruhig. Seine grauen Augen waren so kalt wie das wintrige Wasser des Firths hinter ihm. »Bruder McLeod.« An der Hand, die mit dem Handschuh schlug, steckte ein Freimaurerring. »Ich hoffe, Sie haben hiermit nichts zu tun.« »Ich darf eigentlich hoffen, daß Sie in dieser Hinsicht keine Zweifel hegen, Sir«, erwiderte McLeod ohne mit der Wimper zu zucken. »Das darf ich auch hoffen«, erwiderte der andere. »Jedoch ist es mir nicht entgangen, daß immer dann, wenn in letzterer Zeit einem unserer Brüder etwas zugestoßen ist, auch Sie in der Nähe waren - und Ihre Freunde ebenfalls. Ich werde Sie bitten, in aller Ruhe mit zu kommen, aber ich bin durchaus willens, Sie unter Arrest zu stellen, falls Sie das vorziehen.« »Wir werden ruhig mitkommen, Sir«, sagte McLeod. »Eine kluge Entscheidung.« Der Mann richtete jetzt seinen Blick auf Adam. »Sie sind Sir Adam Sinclair, nicht wahr? Gerüchte haben gestern wissen wollen, Sie seien tot.« »Ich bin Sinclair«, räumte Adam ein. »Und offensichtlich bin ich nicht tot.« »Nein, und ich komme nicht umhin mich zu fragen, ob es da eine Verbindung zwischen der Tatsache gibt, daß Sie nicht tot sind und Napier es ist. Und Sie sind Lovat, der Künstler«, fuhr er fort und richtete seine Aufmerksamkeit auf Peregrine. Peregrine sagte nichts, sondern reckte zustimmend das Kinn und hoffte dabei, daß er nicht so eulenäugig wirkte, wie er sich vorkam. -592-
»Sehr gut«, sagte der Mann und blickte zur Seite, um vier Männer herbei zurufen, die die schwarze Kleidung von Spezialwaffenexperten trugen. »Sie gehen jetzt mit diesen Beamten, und in ein paar Stunden bin ich bei Ihnen. Inspector Crawford, nehmen Sie die Herrn bitte mit.« Ein jüngerer Mann in Zivil schloß sich ihnen an, während die vier Polizisten McLeod, Adam und Peregrine zu einem geschlossenen Polizeikleinbus eskortierten, der oben auf der Straße geparkt war. Eine halbe Stunde später hatte man sie durch einen Hintereingang des Polizeipräsidiums und hinunter ins Innere des Gebäudes geführt, wo man sie in einem verschlossenen Raum allein ließ, der nach Peregrines Meinung allzu sehr einer Zelle ähnelte. »Was ist los? Was werden die mit uns machen?« fragte er, als das Klirren der Türen, die man im Korridor zugeschlagen hatte, verhallt war. Während Adam einen Finger an die Lippen legte und den Kopf schüttelte, zeigte McLeod stumm auf winzige Ausbuchtungen in den Ecken des Raumes und machte deutlich, daß sie Mikrofone enthielten. »Wir warten einfach, junger Mann«, sagte der Inspector. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir sind in guten Händen.« Sie richteten sich aufs Warten ein und hielten abwechselnd ein Nickerchen, denn Adam gab zu verstehen, daß sie nicht mehr viel Schlaf bekommen würden, sobald die Dinge wieder in Bewegung gerieten. Peregrine spielte mit der Idee zu skizzieren, was er unten am Strand gesehen hatte, doch da war eine Präsenz dabeigewesen, die nicht gezeichnet werden wollte, sehr wahrscheinlich Raeburn selbst, und nach einer Weile gab Peregrine es auf. Er wollte es später erneut versuchen, in einer Umgebung, die für ihn persönlich weniger bedrohlich wirken würde. Gegen ein Uhr brachte ihnen der Mann namens Crawford Sandwiches und Kaffee und geleitete sie einzeln zur -593-
Toilette am Ende des Korridors. Doch er gab ihnen zu verstehen, daß man ihn angewiesen hatte, nicht mit ihnen zu sprechen. Kurz nach zwei kam der Chief Superintendent in Begleitung eines anderen Mannes etwa gleichen Alters, der kein Polizeibeamter war. McLeod erkannte ihn als den wahrscheinlich höchstrangigen Freimaurer in Edinburgh und einen der führenden Großwürdenträger Schottlands. »Bitte stehen Sie nicht auf, Mr. McLeod«, sagte er und bedeutete ihnen mit einer Geste, sie sollten sitzen bleiben, während er und der Chief Superintendent zu ihnen traten und sich ihnen gegen über Stühle zurechtstellten. »Ich nehme an, daß Sie wissen, wer ich bin, doch ich würde es vorziehen, bei dieser Begegnung keine Namen zu gebrauchen. Ich werde weder Polizei noch Freimaurertitel verwenden, und Sie können mich einfach mit ›Sir‹ , bezeichnen. Einverstanden?« Während sich die Neuankömmlinge setzten und ›Sir‹ ein tragbares Tonbandgerät auf den Tisch zwischen ihnen stellte, tauschte McLeod einen Blick mit Adam aus, der ihm mit einem Nicken bedeutete, er solle weitermachen. »Einverstanden... ›Sir‹.« »Danke.« Der Mann schaltete das Gerät ein und lehnte sich zurück. »Nun, es ist unseren beiderseitigen Oberen nicht entgangen, daß im Laufe der letzten paar Wochen äußerst merkwürdige Dinge geschehen sind, und im Mittelpunkt stand der Tod einiger unserer Brüder. Interessanterweise scheinen Sie und Ihre beiden Begleiter immer mittendrin zu sein. Das führt uns zu dem Verdacht, daß Sie weit mehr über diese Vorfälle wissen, als Sie bisher für angebracht hielten, irgend jemandem mitzuteilen. Vielleicht wären Sie so gut, uns aufzuklären.« McLeod rutschte etwas unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. Durch die Eide seiner Bruderschaft war er verpflichtet, wie -594-
befohlen Bericht zu erstatten, aber er blieb unsicher, wieviel oder wiewenig er sagen sollte, nun, da der Augenblick gekommen war. Von dem Augenblick an, da sich der Chief Superintendent ihnen an der Brücke genähert hatte, hatte Adam schon so etwas erwartet. Als er sah, daß sein Stellvertreter noch seine Worte abwägte, nahm es Adam auf sich einzugreifen. »Verzeihen Sie, wenn ich mich an dieser Stelle einmische«, sagte er mit einem Blick auf McLeod, »aber als die Person, die in diesem Fall die meiste Verantwortung trägt, bin ich vielleicht am besten geeignet, gewisse Aspekte dieser Vorfälle aufzuklären, auf die Sie sich beziehen. Wenn wir bisher noch nicht freiwillig zu Ihnen gekommen sind, so liegt das nur daran, daß wir selbst noch eine Erklärung suchen. Ich möchte nicht einen Augenblick vorgeben, daß das, was ich Ihnen gleich sagen werde, logisch oder auch nur glaubhaft klingen wird, aber ich hoffe, daß Sie und die Leute, denen Sie Bericht erstatten«, er wies auf das Tonbandgerät, »trotzdem Nachsicht mit mir üben werden.« Mit diesen Worten stützte er die Ellbogen leicht auf die Armlehnen seines Stuhls und verschränkte würdevoll die Finger. Peregrine bemerkte, daß er seinen Ring trug; der Saphir schimmerte dunkel vor dem Hintergrund des schwarzen Rollkragenpullovers und unterstrich Adams Autorität, wenn auch nur in Peregrines Augen. »Also. Die Presse hat einen Tanz um die Idee eines übernatürlichen Eingreifens veranstaltet - und Noel hat versucht, sie in andere Richtungen zu lenken, denn dies ist - auf verschiedenen Ebenen - sein Job. Es kommt mir nicht zu, in Einzelheiten zu gehen, aber die Leute, die sich Ihren Orden zum Feind wählten, haben das zumindest teilweise wegen der Art Ihrer esoterischen Arbeit zur Aufrechterhaltung des TEMPELS getan - des wahren Bauwerks, das Ihre Feinde zu zerstören suchen. O ja«, fuhr er mit einem Nicken fort, als er das überraschte -595-
Funkeln in den Augen beider Männer sah. »Obwohl offensichtlich nicht mit den genauen Einzelheiten Ihrer geheiligten Mysterien vertraut, da ich selbst kein Freimaurer bin, bin ich mir trotzdem bewußt, welche Art von Werk Sie tun. Zufällig sind meine Kollegen und ich bei einem ähnlichen Werk engagiert - das mit dem Ihren nicht identisch ist, aber sich zu ihm sicher komplementär verhält. Auf diese Weise sind wir uns zum ersten Mal der Gefahr bewußt geworden, die sich in den letzten zwei Monaten über Ihnen und Ihren Brüdern zusammenzog - einer Gefahr, die zu erkunden und abzuwehren wir uns seitdem bemühen.« Als er sah, daß er jetzt die volle Aufmerksamkeit der Männer für sich hatte, fuhr er fort, sie über die wesentlichen Punkte des Mosaiks zu informieren, das er und seine Mitarbeiter im Hinblick auf die Aktivitäten der Loge der Luchse hatten zusammen tragen können, wobei er seine Theorie skizzierte, wie die aufgeladenen Medaillons als Zielgeräte dienten, um die Blitzschläge herab zurufen. Er ließ nur seine persönlichen Spekulationen über die mögliche Identität des Großmeisters weg, der anscheinend die Luchse dirigierte, und er erwähnte die Jagdloge selbst mit keinem Wort. Als er seinen Bericht beendet hatte, wirkten seine Zuhörer beide ziemlich geschockt. ›Sir‹ blickte zuerst seinen Kollegen, dann Adam an. »Wie Sie uns schon gewarnt hatten«, sagte er, »klingt all dies unglaublich, aber ich betrachte mich nicht kompetent, im Namen der Bruderschaft eine einseitige Entscheidung zu treffen. Wenn Sie mich entschuldigen, so werden wir so schnell zu Ihnen zurück kommen, wie wir können.« Mit diesen Worten schaltete er das Tonbandgerät aus und stand auf. Sein Kollege öffnete schnell die Tür, die sich dann mit einem Knall hinter ihnen schloß. »Verdammt anmaßend von denen, wenn Sie mich fragen«, murmelte Peregrine. »Man könnte glauben, wir seien -596-
Verbrecher.« »Entspannen Sie sich, Peregrine«, erwiderte Adam. »Das ist alles neu für sie. Wir hatten Wochen Zeit, um uns allmählich an den Gedanken zu gewöhnen. Ich hege jedoch keine Zweifel, daß wir, wenn sie diese Informationen zu ihren Oberen bringen«, er wies bedeutsam auf die verborgenen Mikrofone, »Gehör bei jemandem finden, der die Vollmacht hat, etwas zu unternehmen.« Nach diesen Worten richteten sie sich erneut auf ein längeres Warten ein. Gegen sieben Uhr kamen wieder Sandwiches und es wurde ihnen ein weiterer Ausflug zur Toilette gestattet. Gegen acht erschien erneut der Chief Superintendent. »Ich habe die Anweisung, Sie drei aufzufordern, mit mir zu kommen, ohne Fragen zu stellen. Ich habe auch die Anweisung, Ihnen auf der gleichen Ebene zu versichern, daß Ihnen nichts geschieht. Es gibt jemanden, der mit Ihnen sprechen möchte.« Die Worte wurde freundlich ausgesprochen, doch die ganze Situation begann Peregrine allmählich auf die Nerven zu gehen. Er warf einen unsicheren Blick in Adams Richtung, aber dessen Gesichtsausdruck war peinlich neutral. McLeod jedoch schien etwas von Peregrines Unbehagen mit zu bekommen. »Keine Sorge, Mr. Lovat«, sagte er über die Schulter, während er Hut und Mantel nahm. »Ich verspreche Ihnen, Sie erwartet nichts Schlimmeres als eine Tasse Kaffee und ein bißchen Konversation.« Kapitel 37 Zwanzig Minuten später befanden sich die drei mit verbundenen Augen auf den Rücksitzen eines geschlossenen Lieferwagens und wurden über unbekannte Straßen gefahren. Die Anwesenheit Adams und McLeods, die zu beiden Seiten von ihm saßen, beruhigte Peregrine etwas, doch er hatte keine Ahnung, wohin sie unterwegs waren. Er dachte, Crawford sitze -597-
am Steuer; er wußte, daß die vier schwarzgekleideten Männer von der Spezialeinheit ihnen gegen übersaßen. Er kam sich sehr hilflos und ziemlich eingeschüchtert vor, obwohl die vier Männer nur höflich und kühl distanziert gewesen waren. Er wollte gerne glauben, er befände sich nicht in Gefahr -Adam und McLeod schienen nicht sonderlich besorgt zu sein -, aber die Situation machte ihn trotzdem nervös und unruhig. Sie fuhren fast zwei Stunden - was bedeutete, daß man sie an einen beliebigen Ort innerhalb eines sehr großen Teiles von Schottland oder sogar nach England gebracht haben konnte. Als der Wagen anhielt, wand sich Peregrine schon auf seinem Sitz. Es bedeutete eine große Erleichterung, als er hörte, wie die rückwärtigen Türen mit Geklirr geöffnet wurden, und dann die plötzliche schneidende Kälte spürte, obwohl er keine Ahnung hatte, was als nächstes kam. Adam holte man zuerst heraus. Dann führten starke Arme Peregrine zur Rückseite des Lieferwagens und halfen ihm herunter. Er spürte, wie unter seinen Füßen Kies nachgab, und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als jemand von hinten seine Augenbinde löste und abnahm. Das plötzliche Licht der Scheinwerfer eines anderen Fahrzeugs, das hinter dem Auto hielt, machte ihn blinzeln, und er sah, daß sie vor Steinstufen standen, die zu einem stattlich wirkenden Steinhaus führten. Er fischte in seiner Tasche nach der Brille und setzte sie auf, um besser sehen zu können. Bei dem Gebäude schien es sich um ein viktorianisches oder edwardianisches Jagdhaus zu handeln; zu beiden Seiten ragten dunkle Nadelbäume auf. In den reinen Duft frisch gefallenen Schnees mischte sich der Geruch von Kiefern. Von irgendwoher auf der Rückseite des Hauses verriet das Gegluckse fließenden Wassers die Anwesenheit eines Baches. Neben ihm sprang McLeod als nächster auf den Kies und gab ihm mit nach oben gerichtetem Daumen ein beruhigendes Zeichen, bevor er seine Fliegerbrille wieder aufsetzte. Die -598-
Polizisten ihrer Eskorte schlugen die Türen des Lieferwagens zu, dann führten sie sie über die von Schnee überstäubten Stufen hinauf. »Lassen Sie sich von nichts, was Sie sehen, beunruhigen«, sagte Adam leise von der Seite zu ihm. »Ich versichere Ihnen, ich bin nicht beunruhigt.« Drinnen empfing sie ein kämpferisch wirkender Mann in der Uniform eines Butlers, der sie nüchtern prüfend anschaute, mit einem Mann der Eskorte ein paar leise Worte wechselte und dann die Gruppe einen langen Korridor hinab und durch eine doppelte Tür in einen großen, zur Hälfte getäfelten Raum führte, bei dem es sich nach Aussehen und Größe um eine Jagdhalle zu handeln schien. Eine Wand war mit einer Anzahl schöner Hirschköpfe und anderen Jagdtrophäen geschmückt, doch Peregrine war nicht in der Stimmung, sie zu bewundern. Als ihr Begleiter sie nach vorne führte, hatte er nur Augen für das Dutzend Männer, die auf der anderen Seite eines langen Tisches saßen, der vor einem großen Kamin aus grauem Stein stand. Alle trugen über ihren Kleidern freimaurerische Kragen und Schurze, selbst die drei oder vier in Polizeiumformen, von denen einer in der Tat einen sehr hohen Rang innehatte. Der Chief Superintendent und Crawford saßen am einen Ende, der andere Freimaurer, der sie zuvor befragt hatte, am anderen. In der Mitte, offensichtlich an einem Ehrenplatz, saß ein silberhaariger Mann mit scharfen blauen Augen, der die Insignien eines freimaurerischen Großmeisters trug. »Hochwohllöblicher Meister«, sagte McLeods Chief Superintendent, als die Gruppe stehenblieb, »darf ich Ihnen Bruder Noel McLeod, Sir Adam Sinclair und Mr. Peregrine Lovat vorstellen.« »Danke, daß Sie gekommen sind, meine Herren«, sagte der Meister. »Ich glaube, ich bin Bruder McLeod schon einmal bei -599-
einer Großloge begegnet. Sir Adam, ich habe Ihren Vater und Ihren Großvater sehr gut gekannt.« Adam erwiderte den Gruß, indem er den Kopf leicht neigte, doch er sagte nichts. Auf ein Zeichen des Meisters hin brachten zwei der untergeordneten Mitglieder Stühle mit senkrechten Lehnen und stellten sie hinter Adam, McLeod und Peregrine. Die vier Männer in Schwarz zogen sich daraufhin aus der Halle zurück und ließen die drei allein vor diesem freimaurerischen Tribunal stehen. Der Meister faltete würdevoll die Hände vor sich auf dem Tisch, doch er lud sie nicht ein, sich zu setzen. »Meine Herren, ich habe mir die Aufzeichnung Ihres Gesprächs mit zweien meiner geschätzten Brüder angehört«, sagte er. »Da Sie aus freien Stücken gekommen sind, um einen Dienst zu leisten, sind Sie in unserer Mitte willkommen. Bevor wir jedoch fortfahren, muß ich darauf bestehen, daß nichts, was hier gesprochen wird, aus diesen Mauern nach außen dringt nicht einmal, daß diese Begegnung überhaupt stattfindet. Bruder McLeod ist schon durch seine Verpflichtung zum Schweigen gebunden, aber ich muß auch Ihre Zusicherung haben, Sir Adam, und Ihre, Mr. Lovat. Wollen Sie auf den Band des Heiligen Gesetzes schwören, sich an diese Bedingung zu halten?« »Ich will«, sagte Adam. Peregrine schluckte und fand seine Stimme wieder. »Auch ich will«, murmelte er. Auf ein Zeichen des Meisters hin holte Crawford eine Bibel von einem Ständer an seinem Ende des Tisches und brachte sie zuerst Adam, dann Peregrine. Als sie die Hand auf das Buch gelegt und den geforderten Schwur nach seinen Worten wiederholt hatten, bedeutete ihnen der Meister, sie sollten sich setzen, und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Adam. »Also, erzählen Sie uns mehr von der Gefahr, die Sie sehen, und von der Allianz, die Sie vorschlagen, um mit dieser Gefahr -600-
fertig zu werden«, sagte er ernst. Auf diese Einladung hin wiederholte Adam die grundlegenden Informationen, die er schon den ersten beiden Fragestellern dargelegt hatte, dann skizzierte er eine elementare Strategie, wie vorzugehen sei. Als er geendet hatte, saß der Meister eine Weile schweigend da, dann blickte er auf McLeod. »Stimmen Sie dem zu, was Sir Adam uns gerade erzählt hat?« »Ja, Sir, in jeder Hinsicht«, sagte McLeod. »Er ist ein Mann von Rechtschaffenheit und Ehre und mir wohlbekannt. Er genießt einen guten Ruf.« »Ich verstehe«, sagte der Meister. »Was ist Ihre Empfehlung als Freimaurermeister in dieser Sache?« »Hochwohllöblicher Meister, es ist mir so klar, wie es auch Ihnen sein muß: Je eher wir uns zusammentun, desto besser sind unseren Chancen, die Pläne unseres gemeinsamen Feindes zu vereiteln«, sagte McLeod offen. »Sir Adam ist kein Neuling im Reich der esoterischen Arbeit. Er weiß, wovon er spricht. Ich würde deshalb darauf drängen, daß sich die Bruderschaft mit denen verbündet, über die er verfügt. Und ich würde des weiteren empfehlen, daß man ihm die Autorität verleiht, unsere vereinten Kräfte zu führen.« Der Meister hob elegant eine graue Augenbraue. »Ein energische Rückenstärkung, Bruder McLeod. Sind Sie sich bewußt, was Sie da vorschlagen?« »Ja, Hochwohllöblicher Meister.« »Ich verstehe.« Der Meister blickte Adam an. »Und Sie, Sir Adam - wären Sie bereit zu handeln, wie Bruder McLeod vorschlägt, ein gemeinsames Unternehmen Ihrer und meiner Leute zu leiten?« »Wenn eine solche Vereinbarung Ihre Zustimmung erhält, Sir, so bin ich bereit«, erwiderte Adam. Ihre Blicke begegneten sich. Peregrine, der zuschaute, schien -601-
es, daß beide einander mit den Augen gründlich maßen. Er war nicht überrascht, als nach langer Prüfung der Meister als erster seinen Blick zurück nahm. Offenbar war er von dem, was er gesehen hatte, befriedigt. »Ich bin geneigt, Bruder McLeods Vorschlag zu akzeptieren der auch der Ihre ist«, sagte er zu Adam, »aber mein Amt macht es erforderlich, daß ich gewisse - Schwierigkeiten anspreche, die noch bewältigt werden müssen. Haben Sie nie erwogen, selbst Freimaurer zu werden?« »Ich habe es in Erwägung gezogen, ja«, antwortete Adam. »Wenn Sie meinen Vater und meinen Großvater gekannt haben, dann müssen Sie auch wissen, daß beide mit Freuden für mich gebürgt hätten, wenn ich sie darum gebeten hätte.« »Und warum haben Sie es nicht getan?« »Die Anforderungen meines Berufs zusammen mit meinen anderen Verpflichtungen waren immer so beträchtlich, daß es mir widerstrebt hat, Mitgliedschaft zu suchen, wo ich nicht einen angemessenen Dienst anbieten konnte«, sagte Adam aufrichtig. »Ein durchaus würdiger Vorbehalt«, pflichtete ihm der Meister zu. »Wie wäre es jedoch, wenn Sie sich in einer Lage befänden, einen einzigartigen Dienst zu leisten, der eine Lebenszeit von geringerer Berufung ausgleichen würde? Aber Sie müssen bitten, Sir Adam, denn ich kann es nicht.« Langsam stand Adam auf. McLeod erhob sich ebenfalls, gab jedoch Peregrine ein Zeichen, er solle sitzen bleiben. »Hochwohllöblicher Meister«, sagte Adam ruhig, »aus meinem eigenen freien Willen bitte ich Sie, mir die sehr große Ehre zuteil werden zu lassen, mich in die Bruderschaft der Freimauererei aufzunehmen, und zwar in dem Rang, der für mich passend ist, um Ihnen diesen Dienst zu erweisen.« Während Peregrine schwer schluckte, schenkte der Meister Adam ein feines, zufriedenes Lächeln und nickte. -602-
»Sind Sie bereit, gemäß Gesetz und Brauchtum die Verpflichtungen unserer Bruderschaft zu übernehmen?« fragte er. Peregrine erkannte plötzlich, daß sie hier keine einfachen Höflichkeiten austauschten. Adams Annahme der Mitgliedschaft in der Freimaurerei war ein Schlüsselfaktor, um ihn in den Augen der Brüder geeignet zu machen, ein gemeinsames Unternehmen zu leiten. »Unbeschadet der Verpflichtungen, die ich schon vor einem anderen Tribunal geschworen habe, bin ich bereit«, erwiderte Adam. Der Meister stand auf, gab Crawford ein beiläufiges Zeichen und richtete seine Aufmerksamkeit auf Peregrine. »Ich fürchte, ich muß Sie jetzt bitten, uns zu verlassen, Mr. Lovat«, sagte er im Ton eines freundlichen Befehls. »Bruder Crawford wird Sie in die Bibliothek geleiten. Ihre Gefährten werden Sie wieder holen, wenn wir unsere Angelegenheit hier beendet haben.« Als Adam diese Aufforderung mit einem Blick unterstützte, hatte Peregrine keine andere Wahl, als zu gehorchen. Widerstrebend ging er mit Crawford hinaus, der ihn dann in der Bibliothek allein ließ. Fast eine Stunde lief er in dem Raum auf und ab oder hing sorgenvollen Gedanken nach. Schließlich hörte er jedoch, wie sich leichte, aber feste Schritte der Tür näherten, an denen er Adam erkannte. Einen Augenblick später öffnete Crawford die Tür und ließ McLeod und dann Adam ein. »Bevor Sie fragen«, sagte letzterer zu Peregrine mit einem schiefen Lächeln, »genügt es wohl, wenn ich sage, daß ich als Freimaurermeister in die Bruderschaft der Freimaurerei aufgenommen und mit den entsprechenden Symbolen, Worten, Griffen und Zeichen betraut worden bin. Der Meister - der übrigens Großmeister von ganz Schottland ist und ein sehr guter Freund meines Vaters war - hat mich unterrichtet, daß man dies -603-
nennt, jemandem zu einem Freimaurer auf Anhieb‹ zu machen. Offenbar geschieht es nicht oft, aber es spart eine Menge Zeit.« Peregrines Gesichtsausdruck ließ McLeod herzlich lachen. »Als soeben ernannter Sonderbevollmächtigter des Großmeisters hat er - zusätzlich zu unseren eigenen Ressourcen - volle Autorität über die entsprechenden Ressourcen der Bruderschaft der Freimaurer«, sagte er. »Aber kommen Sie jetzt wieder in die großen Halle«, sagte Adam lachend. »Ich habe zuverlässige Informationen, daß der Butler, der uns so eindrucksvoll begrüßt hat, während der letzten Stunde seine Lakaien hat schuften lassen, um uns ein warmes Abendessen herzurichten, bevor wir mit der ernsthaften Planung beginnen. Und das ist auch richtig, denn für das, was wir heute nacht noch zu tun haben, reichen Sandwiches nicht aus. Jetzt, da wir Verstärkung zur Hand haben, setzt sich das Spiel wirklich in Gang!« Bei den Gegnern in diesem Spiel versuchte inzwischen Francis Raeburn seinem Oberen zu erklären, was genau in Melrose schiefgelaufen war. Nachdem er die losen Enden aufgewickelt hatte, die im Gefolge von Napiers Hinrichtung noch übrig gewesen waren, fühlte er sich soeben mit dem Hubschrauber zurückgekehrt - persönlich neu belebt von der Kraft, die er aus Napiers Todesqualen gesogen hatte - und er war entschlossen, keine Schuld für Napiers Fehleinschätzung zu übernehmen. »Doch Sie waren verantwortlich für die Blitze!« krächzte der Großmeister. »Warum haben Sie sich nicht zurückgehalten?« Raeburn, der weißgekleidet in symbolischer Unterwerfung im Kreis der kauernden Anhänger des Großmeisters kniete, zuckte vor dem Zorn seines Oberen nicht zurück. »Die Gelegenheit, das zu bewirken, was ursprünglich beabsichtigt war, war schon verpaßt«, sagte er sachlich. »Zu dem Zeitpunkt, als Napier mir sagte, was er getan hatte, war es -604-
zu spät, das Medaillon noch zu holen und in der Abtei zu plazieren, bevor die Freimaurer dorthin marschierten. Angesichts der Veränderung der Umstände schien es am ratsamsten, den Plan so weiterzuführen, wie Napier ihn geändert hatte. Der Angriff auf Sinclairs Wagen war präzis und machtvoll. Ich kann nicht erklären, wie es ihm gelang, die Gefahr rechtzeitig genug zu erkennen, um noch zu fliehen, aber ihn auf diese Weise ohne ausreichende Vorbereitung anzugreifen war nicht meine erste Wahl gewesen.« »Verschwendet, verschwendet...«, murmelte der Großmeister mit seniler Verdrießlichkeit. »Wir hätten Taranis Hunderte opfern können - und dann ist uns Sinclair wieder entgangen...« »Ich fürchte, es kann sich die Frage erheben, wie wir ihm entgehen, Großmeister«, sagte Raeburn mit Unbehagen. »Heute morgen ist er, wie ich es schon vermutet hatte, kurz aufgetaucht - er und McLeod und Lovat. Unglücklicherweise scheinen die Freimaurer endlich eine Verbindung zwischen diesen dreien und den Unglücksfällen hergestellt zu haben, die in den letzten Wochen so viele ihrer Brüder heimsuchten. Bevor ich noch etwas unternehmen konnte, wurden sie alle drei in Polizeigewahrsam genommen. Ich hatte gehofft, es handle sich dabei um eine Verhaftung, die sie wenigstens eine Zeitlang außer Gefecht setzen würde, doch meine Agenten konnte keine offiziellen Polizeimaßnahmen in dieser Sache bestätigen. Anscheinend wurden noch keine Beschuldigungen gegen sie vorgebracht was mich zu der Annahme führt, daß sie sich tatsächlich im Gewahrsam der Freimaurer, nicht aber der Polizei befinden.« »Das bedeutet dann, daß die Freimaurer hören, was Sinclair zu sagen hat, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er sie überzeugt, seine Verbündeten zu werden«, sagte der Großmeister. »Ach, er ist schlau, dieser Meister der Jagd. Man muß sich fragen, ob er und die Seinen es waren, die letzte Woche in unsere Außenverteidigung eingedrungen sind.« -605-
»Das müssen wir annehmen«, erwiderte Raeburn. »Und wenn dem so ist, dann werden sie wiederkommen, wahrscheinlich mit Verstärkung.« »Aye, und zwar in den nächsten zwei Tagen, falls sie hoffen, sich die Stoßkraft des zunehmenden Mondes nutzbar zu machen«, erwiderte der Großmeister. »Wir müssen Vorbereitungen treffen, um sicher zu stellen, daß Taranis für sie bereit ist - für ein noch willkommeneres Opfer zu seinem Ruhm!« Am Abend unterrichtete Adam seine neuen Verbündeten in weiteren Einzelheiten über die Form, die nach seinem Wunsch die freimaurerische Unterstützung bei dem bevorstehenden Angriff auf den Feind annehmen sollte. Der Meister hatte entschieden, daß die kompletten Details der Kampagne nur den Anwesenden dargelegt werden sollten, dazu noch einigen wenigen sorgfältig ausgewählten Teilnehmern, die noch zu bestimmen waren. Doch er war entschlossen, eine allgemeine Tempelarbeit zu ihrer Unterstützung anzuordnen, sobald über die Form entschieden war. Nach dem Abendessen verwandelte sich die große Halle in einen Strategieraum. Auf dem einen Ende des langen Tisches waren Landkarten ausgebreitet, auf der anderen wurden Einsätzpläne möglicher Mitstreiter erarbeitet. McLeod befand sich mittendrin, da er als Adams Stellvertreter die Verbindung zu den Freimaurern darstellte, von denen er viele kannte. Peregrine, der keine militärische Vorgeschichte und wenig formelle esoterische Erfahrung hatte, blieb vorerst hauptsächlich im Hintergrund, hörte zu und beobachtete, und kam sich die meiste Zeit über wie das fünfte Rad am Wagen vor. Bei der erstbesten Gelegenheit verschwand er und ließ sich in einem der Gästezimmer nieder, wo er sich endlich daran machte zu zeichnen, was er am Tatort unter der Brücke empfunden hatte. Dabei brachte er hervor, was McLeods Versicherung zufolge am nächsten Morgen zu einem fast fotografischen Abbild von -606-
Francis Raeburn - oder Tudor-Jones - wurde, wie er Napiers gräßliche Hinrichtung leitete. Der reine Horror seiner Zeichnungen unterstrich auf eine Art, wie es Worte nicht konnten, was Adam den Freimaurern über die gefühllose Brutalität ihres Feindes erzählt hatte. Dadurch wurde eine Stimmung geschaffen, die im Laufe des Tages noch mehr Diskussionen auslöste. Der Vormittag war schon halb vorüber, als Peregrine sich allmählich als Teil einer Operation zu fühlen begann, obwohl er kaum wußte, worüber er mehr überrascht sein sollte: über die Situation, die schnell so aussah, als würde sie einen tatsächlichen militärischen Einsatz erfordern, oder über sich, der er dies so bereitwillig akzeptierte. »Irgendwie verstehe ich den esoterischen Aspekt der ganzen Geschichte«, sagte er nach der Morgenbesprechung zu Adam, als sie sich aus einer Teemaschine am anderen Ende der Halle ihre Becher füllten. »Zumindest verstehe ich, was getan werden muß - glaube ich. Aber Sie reden auch von einem physischen Angriff auf diese Burg. Diese Männer sind dafür nicht qualifiziert. Die genug davon wissen, sind zu alt, und die jungen wissen nicht genug. Das ist selbst für mich offensichtlich.« Adam stellte seinen Teebecher neben einem Telefon ab, zog sich einen Stuhl her und setzte sich. »Das habe ich schon in Betracht gezogen«, sagte er mit einem dünnen Lächeln, »und ich glaube, ich kenne genau den Mann, der uns da helfen kann.« Als Peregrine ihn fragend anblickte, hob Adam den Hörer ab und wählte. General Sir Gordon Scott-Brown war angenehm überrascht, von ihm zu hören. »Adam!« rief er aus. »Was für ein unerwartetes Vergnügen! Ich habe mich gerade fertig gemacht, um in die Kirche zu gehen, aber es sind noch ein paar Minuten Zeit. Was kann ich für dich tun?« »Ich würde dich gerne um ein privates Treffen bitten«, sagte -607-
Adam. »Im rechten Winkel.« Am anderen Ende gab es eine kleine Pause, die erkennen ließ, daß der General das freimaurerische Erkennungswort zur Kenntnis genommen hatte. »Ich verstehe«, sagte Sir Gordon in einem veränderten Ton. »Ja, ich glaube, das geht. Welchen Zeitpunkt hast du dir vorgestellt?« »So bald wie möglich«, erwiderte Adam. »Ich weiß, es kommt überraschend, aber es ist wichtig - um des Sohnes der Witwe willen.« »Ja, ich verstehe. Mir ist klar, daß du auf gleicher Ebene sprichst. Wie wäre es um ein Uhr auf der Burg?« »Ich kann dir gar nicht genug danken, Gordon.« »Es ist mir ein Vergnügen. Eigentlich könnte es die Dinge beschleunigen, wenn ich einen Wagen schicke, der dich abholt«, fuhr Sir Gordon fort. »Sagen wir gegen Mittag?« »Äh - ich bin nicht zu Hause, Gordon«, sagte Adam, dem plötzlich einfiel, daß er keine Ahnung hatte, wo er sich befand nicht, daß das in den letzten zwölf Stunden eine Rolle gespielt hätte. »Nun, sag mir, wo du bist, und ich werde den Wagen dorthin schicken«, sagte Sir Gordon. Adam, der sich ein bißchen töricht vorkam, deckte den Hörer ab und reckte den Hals in Richtung auf den Eigentümer des Hauses, der gerade Rauchwolken aus seiner Pfeife ausstieß, während er sich über eine der Landkarten beugte. »Sir Neville, wo sind wir hier? Ich habe eine Verabredung mit Gordon Scott-Brown, und er möchte mich mit einem Wagen abholen lassen.« »Gordon?« Der alte Mann grinste, kam herüber und übernahm den Hörer von Adam, während er weiter seine Pfeife paffte. »Hallo, Gordon. Hier ist Neville Stephenson. Ja, Sinclair ist -608-
bei mir. Er wird dir alles erzählen, wenn er bei dir ist. - Ja. - Ja, das ist er.« Er hielt inne und nickte, wobei er weiter paffte, gelegentlich knurrte und dann wieder nickte. »Tja, ich kann ihn mit einem Fahrer schicken, Gordon, aber wenn du lieber... Hmmm, ja. Sicherheit. Ich verstehe. - Ja. Nun, wenn du ihn um ein Uhr bei dir haben willst, dann solltest du deinen Mann lieber gleich losschicken. - Ja. - Ja, ich werde es ihm sagen.« Er reichte Adam wieder den Hörer, aber am anderen Ende war schon aufgelegt. »Nun, Sie haben es gehört«, sagte Stephenson. »Ich nehme an, sein Fahrer wird kurz vor zwölf hier sein. Sagen Sie Cromarty, er soll Ihnen ein paar saubere Kleider suchen und einen Rasierapparat. Sie sind ein bißchen zu schmuddelig, um Generäle zu besuchen, besonders an einem Sonntag.« Adam zügelte seine Ungeduld und legte den Hörer wieder auf die Gabel. »Das werde ich tun«, sagte er ruhig, doch zuerst hatte er noch etwas anderes auf dem Herzen. »Sie haben jedoch meine Frage noch nicht beantwortet.« »Hmmm?« »Darf ich wissen, wo wir hier sind, oder muß ich auf dem Weg zur Burg und zurück eine Augenbinde tragen?« Stephenson blinzelte ihn an, paffte ein paar Rauchwölkchen und grinste dann breit mit der Pfeife im Mund. »Du lieber Himmel, hat es Ihnen noch niemand gesagt?« »Nein, und ich war offen gesagt viel zu beschäftigt, um zu fragen.« »Tja, nun, da Sie einer von uns sind, ist es sicher kein Geheimnis mehr.« Als Stephenson ihren Aufenthaltsort detailliert erklärte, mußte -609-
Adam lächeln. Sie waren nicht sonderlich weit von Strathmourne entfernt, wenn auch etwas weiter westlich. Als er sich von Stephensons Redseligkeit losmachen konnte, besorgte er sich einen Rasierapparat und nahm eine Dusche; doch als der Stabswagen des Generals ihn bald darauf wegbrachte, trug er immer noch seine quasimüitärische Kleidung vom Vortag, um die Natur seines Besuches zu unterstreichen. Mit der fraglichen Landkarte als Unterlage kritzelte er zusätzliche Notizen auf einen Schreibblock, während sein militärischer Fahrer durch den leichten Verkehr nach Süden fuhr. Es begann zu schneien, und das Wetter versprach noch schlimmer zu werden. Kurz vor eins schlitterten sie über die Pflastersteine der Royal Mile und über die eisglatte Esplanade der Burg von Edinburgh, rumpelten über die Zugbrücke vorbei an schneidig in Trews mit dem grünen Hunting Stewart Tartan gekleideten Wachen, die Haltung annahmen und salutierten, als das Auto vorüberfuhr. Ein Adjutant wartete schon und geleitete ihn zu Sir Gordons Regimentsbüro. Als sie allein waren, begrüßte der General Adam herzlich mit einem Handschlag nach Art der Freimaurer und lächelte breit, als Adam den Griff erwiderte. »Eine höchst interessante Entwicklung«, sagte Sir Gorden und betrachtete den Jüngeren von oben bis unten. »Gestatte mir, dir meinen wärmsten Glückwunsch auszusprechen. Ich würde dich ja nach Einzelheiten über deinen Entschluß, dich der Königlichen Kunst anzuschließen ausfragen, aber aus deiner ziemlich ungewöhnlichen Kleidung und dem, was du am Telefon gesagt hast, schließe ich, daß andere Prioritäten angesagt sind.« »Beides ist miteinander verknüpft«, erwiderte Adam, als sie sich an einem Tisch an einem Ende von Sir Gordons Büro gegen übersaßen. »Das ist genau der Grund, warum ich hier bin.« Er fuhr fort und erklärte die Situation, breitete seine Landkarte aus und ließ nichts von dem weg, was er schon dem Großmeister und seinem freimaurerischen Rat erzählt hatte. Sir -610-
Gordon lauschte in ernstem Schweigen, während Adam seine dringlichsten Bedürfnisse skizzierte. Am Ende seiner Schilderung funkelten die scharfen Augen des Generals anerkennend ob der Vorschläge des Jüngeren. »Beginnen wir mit der Luftaufklärung - es klingt so, als brauchtest du die im Augenblick am dringendsten«, sagte er und blickte auf die Uhr. »In ein paar Stunden haben wir kein Tageslicht mehr - und es wird ohnehin eine kleine Weile dauern, um das zu organisieren. Aber wenn das Wetter sich nicht drastisch verschlechtert, kann ich morgen beim ersten Licht zwei Hubschrauber losschicken. Für Bergrettung und Militärmanöver haben wir in der Gegend dort so gut wie das ganze Jahr über Luftfahrzeuge stationiert.« Er reckte den Kopf Adam entgegen und grinste. »Einige dieser Burschen von der Royal Air Force liefern ziemlich spektakuläre Aufklärungsbilder vom örtlichen Wild. Vielleicht entdecken sie sogar ein oder zwei Luchse.« Adam lächelte anerkennend. »Danke, Gordon. Ich wußte, daß ich auf dich zählen kann.« »Gehört alles zum Dienst. Nun zu den anderen Punkten auf deiner Liste. Es stimmt, daß ich dir nicht die Armee geben kann«, sagte er mit einem gepreßten Lächeln. »Nicht offiziell, auf jeden Fall. Inoffiziell jedoch...« Er blickte zur Seite, fingerte an einer Feder herum, dann nickte er. »Ja, ich habe genau den Mann für dich. Du brauchst keine Sorgen zu haben, daß später jemand heikle Fragen stellt. Sag mir einfach, wann und wo deine militärische Unterstützung auftauchen soll.« »Da ist noch etwas anderes, was ich dich fragen wollte«, sagte Adam. »Wir werden oben in den Cairngorms einen Bereitstellungsraum für mein ziviles Kontingent brauchen. Irgend welche Vorschläge?« -611-
»Ich bin dir immer einen Schritt voraus«, erwiderte Sir Gordon. »Zufällig habe ich Zugang zu einer Jagdhütte oben in der Nähe von Drumguish, vielleicht dreißig Kilometer von dem Gebiet entfernt, von dem du sprichst. Sie hat sogar einen Hubschrauberlandeplatz. Würde dir das passen?« »Ideal«, sagte Adam. »Bist du aber sicher, daß es dir keine Probleme verursachen wird? Angesichts der Natur der Operation ist es wesentlich, daß kein Wort davon an die Öffentlichkeit dringt.« »Das gilt für meine Leute ebenfalls«, versicherte ihm Sir Gordon mit einem schelmischen Grinsen. »Es ist jedoch sicher. Betrachte es als meinen persönlichen Beitrag zu diesem ganzen Unternehmen. Also, wann möchtest du sie haben?« »Wäre morgen mittag zu früh?« fragte Adam. »Morgen nacht ist Vollmond - was in verschiedener Hinsicht hilfreich ist.« »Verstanden«, sagte der General. »Damit kommen wir zwar etwas ins Gedränge, aber wir werden es schaffen.« Er kritzelte eine Notiz auf einen Block und fuhr fort. »In Ordnung. Wir werden den morgigen Aufklärungsflug als eine Bergrettungsübung tarnen, und was den Rest angeht - naja, mit etwas Glück werden sie drin und wieder draußen sein, bevor es jemand merkt. Außerdem haben wir schon militärische Übungen in dieser Gegend eingeplant, die am nächsten Wochenende beginnen sollen - was die Requisitionsbefehle erklären wird, die ich einfließen lasse, um diese Sache zu tarnen.« Er hielt inne und grinste Adam verschmitzt an. »Weißt du, da Vollmond und morgen Silvester ist, sollte auch alles Feuerwerk getarnt sein, das man vielleicht auslöst, wenn man in Aktion geht. Noel wird das gefallen, da er es ist, der am Ende wahrscheinlich versuchen muß, es der Presse zu erklären, falls etwas herauskommt.« Adam lächelte. »Ich schätze deine Zuversicht, Gordon - und deine Hilfe. Wenn es uns gelingt, das durch zuziehen, wirst du -612-
dir einen großen Anteil am Verdienst anrechnen können.« »Überhaupt nicht, alter Junge«, sagte Sir Gordon. »Ich wünschte nur, ich könnte persönlich dabeisein, um nützlich zu sein. Wie die Dinge liegen, sind meine Frau und ich verpflichtet, morgen abend an einer hochoffiziellen Silvesterparty teilzunehmen - du weißt, was die Leute von Generälen erwarten. Ich werde jedoch im Geiste bei euch sein, keine Angst!« Adam erledigte einige Telefonanrufe, bevor er das Büro des Generals verließ. Er bat auch noch Sir Gordon, einen weiteren Anruf für ihn zu tätigen, nachdem er gegangen sein würde. »Ihr Name ist Dr. Ximena Lockhart«, sagte er und reichte ihm einen Zettel mit den einschlägigen Informationen. »Ich habe keine Telefonnummern bei der Hand, aber du wirst sie entweder im Royal Infirmary erreichen oder unter dieser Adresse. Du brauchst dich nicht zu identifizieren; sag einfach, daß ich dich gebeten habe, sie anzurufen, daß es mir gut geht und daß ich mich so bald wie möglich melden werde - hoffentlich, um ihr ein Glückliches Neues Jahr zu wünschen.« Dann ließ er den Fahrer einen Umweg über Kinross machen, um Christopher abzuholen, und machte auch noch auf Strathmourne halt. Dort nahm er die Gegenstände mit, die Philippa auf seinen Wunsch hin für ihn bereitgehalten hatte. »Ich werde mich auf dich verlassen, daß du die Dinge auf der astralen Ebene im Griff behältst«, sagte er ihr mit einem Kuß, bevor er wieder in das Auto stieg. »Du kannst auf mich zählen, mein Lieber. Mir ist es sogar gelungen, zu Lindsay durchzukommen. Gute Jagd!« »Mit Gottes Segen«, murmelte Adam, als er sich neben Christopher niederließ und der Wagen des Generals wieder die Auffahrt hinabfuhr. Nachdem alle Vorbereitungen für einen frühen Aufbruch am nächsten Morgen zu Sir Gordons Jagdhütte getroffen waren, versammelte Adam am Abend sein freimaurerisches Team in -613-
der großen Halle und stellte Christopher vor, der am folgenden Abend ihre Visualisierung vom Bereitstellungsraum aus leiten würde. »Das beste Bild, das ich Ihnen empfehlen kann«, sagte Adam zu ihnen, »ist das eines Baldachins oder eines Schirms aus strahlend weißem Licht, der den Planeten umgibt und schützt. Das ist es, was Ihre Logenarbeit unterstützt, ob Sie sich dessen schon einmal bewußt gewesen sind oder nicht. Und ich möchte, daß Sie sich morgen besonders auf die Projektion dieser Vorstellung konzentrieren, wenn wir unseren Angriff auf die Gegenseite starten. Wie Sie wissen, werden gleichzeitig Ihre Brüder in ganz Schottland daran arbeiten, dieses Bild in weniger spezifischen Begriffen zu verstärken, indem sie Frieden und guten Willen zur Jahreswende darbringen. Deren Arbeit wird helfen, das zu stärken, was wir zu tun versuchen, aber sie allein können nicht tun, was getan werden muß - also ist es an uns.« Am nächsten Morgen rückten sie wie geplant in verschiedenen Land Rovers, Jeeps und anderen Fahrzeugen mit Vierradantrieb aus - insgesamt waren es neun, die nahezu vierzig Mann transportierten. Sie versuchten den Eindruck zu vermeiden, es handle sich um einen Konvoy, während sie auf Seitenstraßen zur A9 nach Norden fuhren. Kurz vor elf erreichten sie die Jagdhütte beim Drumguish. Dort richteten sie sich aufs Warten ein und kauten Sandwiches, die Sir Nevilles Haushalt vorbereitet hatte, und tranken Tee aus Thermosflaschen. Schon gegen Mittag fiel die Temperatur, und der Wind wurde bitterkalt. Als Adam auf der vorderen Veranda der Hütte hin und her ging, versuchte er nicht daran zu denken, daß noch mehr Schnee fallen könnte. Doch er kam nicht umhin sich zu fragen, ob die Gegenseite über die Macht verfügte, das Wetter zu beeinflussen. Kurz nach zwölf Uhr mittag kamen zwei gelbe WessexHubschrauber mit den Hoheitszeichen der Air-Sea Rescue aus einem zinnfarbenem Himmel angeknattert. Der schlaksige SAS-614-
Major, der aus dem zweiten Helikopter sprang und sich unter dessen langsamer werdenden Rotorblättern hindurchduckte, um dann auf sie zuzulaufen, hatte einen großen Aktenumschlag unter dem Arm und schien gut unterrichtet zu sein. »Ich soll nach Sir Adam Sinclair fragen«, sagte er und beäugte Adam zögernd, als erkenne er ihn. »Ich bin Sinclair.« Der Major grinste und reichte ihm die Hand. Der Handschlag war ebenfalls von einem freimaurerischen Griff begleitet. »Der General läßt Sie grüßen, Sir Adam. Ich bin lan Duart. Ich glaube, Sie haben ein paar Luftaufklärungsfotos angefordert - und einige Arbeit, die erledigt werden soll. Wenn Sie mir sagen, wo wir uns niederlassen sollen, dann werde ich meine Männer ihre Ausrüstung ausladen lassen.« »Danke, Major. Mr. Crawford und Mr. Lovat werden Ihren Männern den Weg zeigen«, sagte Adam und nahm den Umschlag, den der Mann ihm anbot. »Inzwischen schlage ich vor, daß Sie und Ihr Stellvertreter vielleicht mit mir hineingehen, dann werden wir uns das anschauen und uns gegenseitig ins Bild setzen.« Auf Duarts Signal hin stiegen außer den Piloten ein weiteres Dutzend SAS-Männer aus den Hubschraubern aus. Als sie sich anschickten, ihre Geräte auszuladen und ein leichter Schnee zu fallen begann, breiteten Duart und ein Captain namens Kinsey im Speisezimmer ihre Landkarten und Fotos aus, damit Adam und McLeod sie durchsehen konnten. Ihre freimaurerischen Verbündeten blieben im Salon oder standen draußen und beobachteten die Vorbereitungen der Männer vom SAS. »Man hatte mir gesagt, daß die Fotos vermutlich verschwommen ausfallen würden, deshalb habe ich gestern abend einige Overlays von älteren Luftaufnahmen angefertigt«, sagte Duart und glättete eine Klarsichtfolie über einer der Karten. »Die hier wurde vor etwa einem Jahr aufgenommen. -615-
Was immer die Fotos von heute verschleiern, war damals noch nicht da. Aber Sie können sehen, wie der Zugang zu der Burg von diesen Felsklippen geschützt wird.« Er fuhr die Linie mit dem Finger nach. »Wenn der Verantwortliche dieses Gebäudes halbwegs klug ist, dann wird er entlang der ganzen Felslinie Männer mit soviel konventioneller Feuerkraft postieren, wie er nur aufbieten kann.« Adam nickte zustimmend, obwohl er nicht erwartete, daß konventionelle Feuerkraft ihr Hauptproblem werden würde. »Ich vermute, daß das, wohinter wir her sind, sich in diesem Turm befindet«, sagte er und zeigte auf das Bauwerk auf der Karte. »Das Haus selbst ist viktorianisch - was bedeutet, daß der größte Teil der Anlage nur Schau ist, nicht wirkliche Verteidigung.« Er fuhr mit dem Finger an einer Linie nachgeahmter Gußerker und Pechnasen entlang. »Aber der Turm ist deutlich älter als das übrige Gebäude. Ich würde vermuten, daß die Mauern fast sechs Meter dick sind.« »Schwierig, aber nicht unmöglich«, pflichtete ihm Duart bei. »Machen Sie sich Sorgen über den Schaden, der am Turm angerichtet wird?« »Nein, nur darüber, wie wir zu dem durchkommen, der sich dort oben versteckt. Ich würde es vorziehen, ihnen nicht das ganze Ding über den Köpfen zusammen zuhauen, solange ich nicht die Gelegenheit hatte zu sehen, was dort wirklich vor sich geht. Aber ich bin nicht wählerisch, wenn es darauf ankommt, unsere eigenen Leute zu schützen.« »Verstanden.« Der Major studierte erneut die Landkarten, offensichtlich konsolidierte er seine Pläne, dann blickte er Adam und McLeod fragend an. »Es gibt noch etwas, das Sie wissen sollten«, sagte er. »Es kam nicht auf den Fotos vor, und kein anderer hat es gesehen, ich eingeschlossen, aber einer meiner Burschen schwört, daß er -616-
einen Hubschrauber von zivilem Typ auf diesem Vorfeld hier auf der Vorderseite gesichtet hat. Neddy hat ein bißchen was von einem Hellseher - aber ich glaube ihm.« »Ich auch«, sagte Adam, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wir werden daran denken.« »Ganz recht«, erwiderte Duart. »Lassen Sie mich mit meinen Männern reden, und dann werden wir entscheiden, ob das Wetter uns zwingt, es auf die schwere Art und Weise zu machen.« Gegen zwei Uhr waren Duarts Leute bereit, aber um halb drei schien es klar, daß die Hubschrauber an diesem Tag nicht noch einmal starten würden. Nachdenklich richtete Duart seine Aufmerksamkeit auf die Flotille ziviler Fahrzeuge, aus der einer seiner Sergeants schon drei Land Rovers und einen Jeep als Reservetransportmittel ausgewählt hatte. Während die SASLeute ihre Geräte in die Fahrzeuge umluden, wies Kinsey einen seiner Männer an, Adam, McLeod und Peregrine mit Wintertarnkleidung auszustatten. In ihren weißen Overalls, Überstiefeln und Parkas paßten die drei sofort in das übrige Team und zogen sich, so bekleidet, mit Christopher in ein Zimmer im Obergeschoß zurück. Dort gab ihnen der Priester die Kommunion und seinen Segen, bevor er sie wieder ins Erdgeschoß begleitete, um sie zu verabschieden. Es war kurz nach drei am letzten Tag im Dezember, als sich der kleine Konvoi im dichter fallenden Schnee in Richtung der fernen Höhen der Cairngorms in Bewegung setzte. Als die Kolonne zwischen den Quadersteinen, die die Abzweigung markierten, einbog, wurde das Licht schnell schwächer, und der Schnee fiel jetzt ständig. Peregrine, der eng gedrängt zwischen Adam und McLeod saß, spähte eifrig durch die Windschutzscheibe nach vorn. Er wußte nicht recht, ob die Aussicht auf den bevorstehenden Kampf ihm Angst machte oder ihn begeisterte. Davon unabhängig war er aber froh, daß Adam es für angebracht gehalten hatte, ihn dabeisein zu lassen. -617-
Ohne offensichtlichen Widerstand kamen sie bis zu dem Zaun. Als der Jeep vor dem Eisentor knirschend zum Stehen kam und Duart und sein Sergeant ausstiegen, um sich damit zu befassen, nahm Peregrine auf einmal ein scharfes, unterschwelliges Knistern in der Luft wahr, das bei ihrem vorhergehenden Besuch nicht dagewesen war. Sofort setzte er sich auf. Seine haselnußbraunen Augen verengten sich zu scharfsichtigen Schlitzen. »Adam, ist das...« »Ja«, sagte Adam. »Er weiß. Aber warnen Sie mich, wenn Sie etwas bemerken. Ich kann nicht immer voraussehen.« Duarts Sergeant war an dem Zaun schon am Werk. Binnen Sekunden hatte er ihn entwaffnet, das rostige Vorhängeschloß durchgeschnitten, das das Tor sicherte, und die Barriere aus Wellblech zurückgeschwenkt, so daß der Konvoi passieren konnte. »Sie sind sich dessen bewußt, nicht wahr«, murmelte McLeod, als Duart und der Sergeant zum Jeep zurück kamen, »daß das etwa so ist, als hätten wir an der Türglocke geläutet?« »Es geht nicht anders«, murmelte Adam. »Von jetzt an gibt es kein Zurückschauen mehr.« Die Fahrzeuge rollten durch das Tor und begannen langsam den schwierigen, schneebedeckten Fahrweg hinaufzurollen. Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet. Während sie an dem Wasserlauf entlangfuhren, stießen sie auf keinerlei physischen Widerstand, doch Adam war sich einer brütenden, wachsamen Spannung in der Luft bewußt, als tief am Horizont Donner grollte. Die Verteidiger dieses Ortes, das wußte er, paßten nur den richtigen Zeitpunkt ab. Sie rückten mit gebotener Vorsicht vor und hielten kurz vor der Anhöhe an, wo die drei ihre frühere Erkundung durchgeführt hatten. Duart stieg aus und gab den anderen ein Zeichen; hinter ihnen schalteten die anderen Fahrzeuge den Motor aus, Männer -618-
sprangen heraus. Adam und McLeod stiegen vorsichtiger aus, Peregrine folgte ihnen. McLeod hatte eine Maschinenpistole vom Typ H-K MP5 um den Hals, wie sie die SAS-Männer trugen, dazu einen Browning Hi-Power in einem Schulterhalfter über dem Parka. Adam schien unbewaffnet zu sein, doch Peregrine wußte, daß dem nicht so war. Peregrine selbst hatte nicht einmal seinen Skizzenkasten dabei, allerdings steckten in einer Innentasche seines Parka Bleistifte und ein Block, und unter dem Handschuh trug er - wie auch die anderen - seinen Ring. Inzwischen war es fast völlig dunkel, ein schweres tintiges Zwielicht wurde kaum vom zunehmenden Schein des Mondes erhellt, der hinter den Bergen im Südosten aufstieg. Es hatte aufgehört zu schneien, aber Peregrine konnte keine Sterne sehen. Die SAS-Leute teilten sich in zwei Sturmpatrouillen zu je vier Mann auf, während Duart und eine dritte Vierergruppe ihren zivilen Partner heranführten. Als die Patrouillen an der Spitze sich in Bewegung setzten und im Schnee schnell unsichtbar wurden, schloß sich Peregrine Adam an und stapfte und stolperte mit ihm und McLeod dahin, während sie auf ihr Ziel zugingen. Als das Mondlicht heller wurde, konnte man nur die dunkle Silhouette der Burg sehen. Ein paar Fenster waren erleuchtet - das Gebäude sah kaum aus, als sei es die ganzen Schwierigkeiten wert, denen sie entgegengingen. Die Gruppe, zu der er und Adam gehörten, war ein paar hundert Meter an den letzten, relativ glatten Zugang zur äußeren Mauer der Burg und ihrem viktorianischen Tor herangekommen, als Peregrine sich von einem übelkeiterregenden Stich nackter Angst fast überwältigt fühlte, so daß er sich beinahe übergeben mußte. Gleichzeitig brach in der Düsternis weiter vorn, jenseits des kleinen Tals, das von dem Bach durchschnitten wurde, nahe am Sockel der Burg, das Geratter automatischer Feuerwaffen aus und verstummte sofort wieder. Während Duart und seine Männer in Deckung gingen, -619-
zog Adam Peregrine und McLeod ein paar Schritte zurück. Die animalische Angst ließ sofort nach. Peregrine spähte erneut nach vorn zur Burg und zog Adam plötzlich am Ärmel. »Adam, sehen Sie das?« flüsterte er drängend. »Was sehen?« »Es ist ein - eigentlich schwer zu beschreiben.« Er kniff die Augen zusammen und versuchte schärfer zu sehen. »Ich glaube, wir haben hier eines dieser - Löcher im astralen Schirm, von denen Sie sprachen. Knapp über der Burg.« »Ein Loch?« fragte Adam. »Ein wirkliches Loch?« »Nun ja. Es ist allerdings dichter als ein Loch - wie wenn es mit schwarzem Mull oder - oder mit Tüll bedeckt oder zugestopft wäre - fast wie Spinnweben.« Während Adam diese neue Information verdaute, kam Duart zu ihnen zurückgerannt und kauerte sich in den Schnee. »Vorn hängen sie alle fest«, teilte er Adam mit. »Zusätzlich zur Feuerkaft gibt es dort noch eine Art Zone der Finsternis, die den Ort umgibt. Als wir versuchten, uns den Weg hindurchzubahnen, war es, als bewegte man sich in einem Faß mit Leim. Können Sie etwas dagegen tun?« »Aye, möglicherweise«, erwiderte Adam. »Sagen Sie Ihren Männern, sie sollten sich in Bereitschaft halten.« Als Duart sich zurückzog, um diese Anweisung zu befolgen, zog Adam seinen rechten Handschuh aus und stopfte ihn in eine Tasche. Als er die Hand wieder herausnahm, hielt sie den wohlvertrauten sgian dubh, in dessen Knauf der Edelstein, der Gefährte des Saphirs an seinem Ring, sanft glühte. Er gab Peregrine und McLeod ein Zeichen, sie sollten ihm Platz machen, zog die Scheide von dem Dolch und steckte sie ein. Dann berührte er mit der flachen Seite der Klinge grüßend die Lippen, bevor er sich bückte und ein großes Pentagramm in den Schnee zeichnete. Eine Spitze der Figur zeigte auf die Burg. Als -620-
er das Symbol vollendet hatte, kniete er mittendrin nieder, neigte den Kopf und drückte die Klinge flach an die Stirn. Urheber des Lichts, gibt Kraft und Führung denen, die deinen Willen tun wollen, betete er schweigend und zentrierte seine Absicht. Ihr Diener der Gnade, verteidigt uns, damit die Bollwerke der Finsternis durchbrochen werden und der Feind vor dem Licht der Lichter niedergeworfen wird. Ein tiefes Schweigen schien sich just über diesen einen kleinen Raum zu legen, obwohl vereinzeltes Gewehrfeuer weiterhin die Nacht durchlöcherte. Adam blickte auf und öffnete Peregrine und McLeod in wortloser Aufforderung die Arme. Ohne zu zögern trat Peregrine heran und kniete sich links von Adam nieder, während McLeod rechts niedersank. Als er, seinen Mentor nachahmend, den Kopf senkte und die Augen schloß, wurde er spontan aus sich selbst herausgezogen und stand zusammen mit McLeod neben Adam auf der astralen Ebene. Und sie waren nicht die einzigen, die sich da aufgestellt hatten. Anwesend waren ebenfalls - in den fließenden saphirblauen Gewändern ihrer Berufung weitere Mitglieder der Jagdloge: Philippa, Victoria, Lady Julian und andere, denen Peregrine bisher nur in den Visionen seiner Einweihung begegnet war - und Christopher, der die mannigfaltigen Stränge brüderlicher Harmonie hinter sich herzog, das Opfer der Brüder, die er im Bereitstellungsraum anleitete. Die ganze glänzende Gruppe schien auf den Vortreppen eines Tempels versammelt, den Peregrine noch nie gesehen hatte - er bestand ganz aus majestätischem Grün und gebieterischen Schatten. Und hinter ihnen konnte Peregrine die allgemeineren Energieströme anderer Geister und Herzen spüren, die zu dem Opfer guten Willens beitrugen, ein sanfter Lichtschein von Kraft und Harmonie. Die hochragende Doppeltür des Tempels war glänzend schwarz, wie polierte Kohlen, durchschossen von beweglichem -621-
Glitzern irisierenden Grüns, wie ein schwebender Staub von Smaragden. Adam hob die Ringhand und zeichnete das Sigill auf die Tür, das Peregrine ihn in der Nacht seiner Einweihung hatte zeichnen sehen. Als er die tönende Losung sprach, öffneten sich die Türflügel lautlos und ließen schwere Vorhänge von tiefstem Grün sehen. Der Wind, der zwischen ihnen wehte, trug einen schwachen lebhaften Geruch von frisch umgepflügtem Erdboden mit sich. Adam ging in den dahinterliegenden Raum voran in eine hohe Halle, deren Säulen wie die Stämme lebendiger Bäume aussahen. Die geistige Präsenz, die in der großen Halle herrschte, schien dunkel wie Ebenholz, doch grünes Licht strahlte von ihr aus, wie Wasser aus einer unterirdischen Quelle. Adam kniete sich nieder, die anderen neben und hinter ihm, und alle neigten den Kopf. Herr der Erde, sagte Adam, als Meister der Jagd und Diener des Lichts der Lichter komme ich und suche Hilfe im Namen der Söhne der Witwe, den Gefolgsleuten in den Fußstapfen von Salomon dem Tempelbauer, Heute abend stehen wir und sind bereit, um gegen die Diener des Schattens zu kämpfen, um den Tempel zu vernichten, den du selbst sie zu bauen geheißen hast im Namen des Adonai - gesegnet sei sein Name. Doch der Feind verbirgt sich in der Erde, obwohl schon die Steine nach Gerechtigkeit schreien, fuhr Adam fort. Wir bitten dich, durchbrich ihre ruchlose Zufluchtsstätte und zerreiße den Schleier der Finsternis, der sie verhüllt, damit die Reinigung des Lichtes des Herrn der Heerscharen auf sie gerichtet werden kann. Adam neigte den Kopf und hielt die Hände flehend empor. Während Peregrine wartete und nicht wagte aufzublicken, stürmte die lebendige Präsenz des Wesens vor und umhüllte Adam mit einer schimmernden Aura. Diese Aura dehnte sich aus, weit jenseits der Grenzen des Tempels. Von dieser -622-
Aufwallung der Macht mitgerissen, wurde Peregrine hinweggefegt in einer Sturzempfindung des Seelenfluges, der in einem Schwindelanfall endete. Als er die Augen öffnete, befand er sich wieder in seinem physischen Körper, zitternd und benommen in der frostigen Umarmung einer Winternacht. Mit seinem nächsten Atemzug spürte er in seinen Knien ein plötzliches Beben, das von tief unter der Erde zu kommen schien. Das Beben stieg auf und schwoll an und schickte Schockwellen aus, die über den Boden liefen. Das begleitende Gerumpel verrutschender Felsen wuchs zu einem Crescendo an. Während Peregrine noch instinktiv die Hände auf die Ohren legte, zerriß ein dröhnendes Krachen die Luft - wie der Knall eines Düsenjägers, der die Schallmauer durchbricht. Einen Augenblick lang schien die Erde unter ihm nachzugeben. Kapitel 38 Peregrine landete am Boden mit einem Aufprall, der mehr psychisch als physisch war. Als er sich keuchend bemühte, sein Gleichgewicht wiederzugewinnen, wurde der dunkle Baldachin, der die Burg bedeckte, plötzlich von unten her von einem schimmernden grünen Glühen beleuchtet. Haarfeine Fäden eines smaragdgrünen Lichts durchbrachen die Oberfläche der Erde und entrollten sich wie ein Teppich neu erblühter Schößlinge. Die Ranken wurden dicker, verzweigten sich und blühten empor, wie wenn in einem Augenblick sich ein ganzer Frühling entfaltete. Mit der Kraft der Erde selbst geladen, breiteten sich die blühenden Reben über der Finsternis aus wie Efeu, der an einer Gartenmauer emporwuchs. Überall, wo der leuchtende Rankenwuchs sich ausbreitete, brachte er Würzelchen hervor und stieß sie tief ins Gewebe der Finsternis. Während das Netz grüner Lichter immer dichter wurde und sich zusammenzog, begann die Düsternis rissig zu -623-
werden wie altersschwaches Mauerwerk. Bruchstücke opaler Finsternis begannen abzufallen wie Stücke einer verrottenden Eierschale. Diejenigen, die diese Befestigung errichtet hatten, kämpften darum, sie zu bewahren und wieder herzustellen. Von einer Gegenwelle feindseliger Energie aus dem Gleichgewicht geworfen, spürte Adam, wie seine eigene Kontrolle nachließ und schwankte. Der Nebel begann sich wieder zu sammeln und den Nachthimmel auszulöschen. Bebend vor Anstrengung, richtete Adam seinen sgian dubh auf die Burg und sprach eine leise Bitte um Unterstützung aus den Reihen seiner freimaurerischen Brüder. Er spürte, wie dieser Beistand ihm zufloß, stark und tröstlich, doch dann schoß eine riesige Säule der Finsternis empor, überlagerte den Turm der Burg und überwältigte fast allen Fortschritt, der schon gemacht war. Adam warf sich wieder auf die Astralebene und versetzte sich mit seinem Willen vor seinen Oberen, der der Oberbefehlshaber aller Heerscharen des Himmels war. Sein wortloses Flehen verhallte nicht ungehört. In einem schwindelerregenden Rückprall fand er sich zwischen McLeod und Peregrine auf den Knien taumelnd wieder und fing sich mit den Händen ab, da der Schwindel ihn einen Augenblick lang sein Gleichgewicht verlieren ließ. Der Laut des Erstaunens, den Peregrine ausstieß, zog seinen Blick himmelwärts. Er blickte nach Norden, wohin auch McLeod zeigte - auf den bewegten Vorhang des Nordlichts, der sich teilte und eine himmlische Heerschar enthüllte, die schon im Angriff war. Gekleidet in Rüstungen aus Licht, die quecksilbrigen Schwerter um ein prächtiges Banner hoch erhoben, donnerten die Krieger über den mondbeschienenen Himmel und stürmten mit Freudengesängen heran. Das Fell ihrer feurigen Schlachtrösser schimmerte wie geschmolzenes Gold, die mächtigen Hufe schlugen Funken aus den Bergspitzen der Cairngorms und ließen die Erde aufs neue erbeben. Ihre -624-
Kolonne machte einen Schwenk über der Burg, und die himmlischen Ritter begannen große Risse in das mullartige Zeug zu hauen, das den Turm einhüllte und seine Bewohner verbarg. Wo ihre Schwerter reinigendes Feuer austeilten, welkte und schrumpfte das Dunkel. Adam spürte, wie der Schatten sich hob, und kam torkelnd hoch. Erneut richtete er den sgian dubh auf die Burg, bündelte alle Kraft, die die Brüder in seine Hände gelegt hatten, in seinem Dolch und schleuderte sie auf den dunklen Turm. In der Burg, in der Kammer hoch oben im Turm, fiel der Großmeister mit einem unterdrückten Ausruf auf die Knie. Der Zusammenbruch des okkulten Bollwerks der Burg erschütterte den Turm bis in seine Fundamente. Als zwei seiner vertrautesten Schüler ihm zu Hilfe eilten, stieß er sie mit zittrigen Händen von sich. Seine schwarzen Augen blitzten vor Wut. »Keine Zeit dafür!« knurrte er. »Wir müssen neue Befestigungen errichten. Der Sieg wird immer noch unser sein!« Ohne anzuklopfen, platzte Raeburn in den Raum. Sein hageres Gesicht war mit Schmutz verschmiert, der Torques hing ihm schief um den Hals. Sein weißes Gewand war an einer Schulter aufgerissen. Die blassen Augen wirkten immer noch etwas glasig von dem, was er draußen gesehen hatte. Mit einem Blick nahm er den großen Blutfleck auf der Vorderseite der Robe des Großmeisters wahr. Wemyss' zusammen gesunkener Körper lag in einer wachsenden Blutlache nicht weit von der Stelle, wo das Manuskript auf seiner Matte aus schwarzem Widderleder lag. Wemyss' Handgelenke waren hoch hinter dem Rücken mit einer scharlachroten Kordel zusammengebunden, die auch seinen Kopf zurückgebeugt hatte für die Opferklinge, mit der beide Drosselvenen geöffnet worden waren. Das Messer selbst lag näher am Manuskript - nicht das rasiermesserscharfe Skalpell, das Wemyss bei seinen Opfern benutzt hatte, sondern eine schwarze, uralte Waffe, dem Torques verwandt. Raeburn -625-
spürte die nachwirkende Macht von Wemyss' Sterben - ein berauschendes Fluidum. Doch sie hatte nicht ausgereicht, um die okkulten Befestigungen des Turms aufrechtzuerhalten. »Das okkulte Beben hat einen Teil des Westflügels einstürzen lassen«, berichtete er wie unbeteiligt und zwang sich, den Blick von Wemyss abzuwenden. »Auf der Seite ist das Haus jetzt offen für erzwungenes Eindringen. Ich habe dort meine Männer und die Diener mit Uzis aus dem Arsenal postiert und sie angewiesen, ihre Stellungen um jeden Preis zu halten. Wenn wir aber aus dieser Richtung mit einer gewissen Stärke physisch angegriffen werden, dann können sie sich auf Dauer nicht halten.« »Dann müssen Sie ihnen helfen«, sagte der Großmeister kühl. »Nehmen Sie vier Männer von hier, um den Sockel des Turms zu bewachen.« Er wies auf die vier Anhänger, die der Tür am nächsten saßen. »Gehen Sie zu Ihren Leuten zurück und bleiben Sie dort. Errichten Sie in den Ruinen eine Schanze und plazieren Sie an dieser Stelle ein Medaillon. Wenn es unseren Feinden gelingt durchzubrechen, rufen Sie den Blitz herab und vernichten Sie sie.« Das bedeutete ein Todesurteil für Freund und Feind zugleich. Raeburns blasse Augen flackerten. »Großmeister«, sagte er ruhig, »Sie sind sich doch bewußt, nicht wahr, daß das, was Sie verlangen, Selbstmord wäre?« »Nur, wenn es Ihnen nicht gelingt, den Westflügel wie befohlen zu halten«, gab der Großmeister zurück. »Lassen Sie dies einen Ansporn für Sie und Ihre Männer sein. Jetzt gehen Sie! Ich muß mich um eigene Angelegenheiten kümmern.« Mit einer knappen, peitschenden Handbewegung schickte er ihn fort. Raeburn zögerte einen Augenblick. Unausgesprochene Argumente lagen ihm auf der Zunge. Dann machte er auf dem Absatz plötzlich kehrt und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Seine Verstärkung folgte ihm schweigend. -626-
Murmelnd befahl der Großmeister seine Anhänger zurück auf ihre Plätze. Da er Raeburn vier Männer mitgeschickt hatte, waren nur noch acht übrig, doch sie waren seine Elite. Sie würden ihn nicht im Stich lassen. »Nun«, sagte er, als er ihnen seine knotigen Hände entgegenstreckte. »Wir sind noch keineswegs geschlagen - was unsere Gegner binnen kurzem entdecken werden. Schauen wir, wie die Jäger reagieren, wenn ihr Wild zu einem unsichtbaren Raubtier wird...« Nachdem Peregrines ›Schwarzes Loch‹ jetzt beseitigt und dem Baldachin aus Licht dort, wo der Riß geklafft hatte, zumindest ein fragiler Flecken angebracht worden war - dank Christophers fortgesetzten Bemühungen mit seinem freimaurerischen Verstärkungsteam weit hinten im Bereitstellungsraum - konnten sich Adams Verbündete vom SAS der Arbeit zuwenden, die sie am besten verstanden. Der Stoßtrupp himmlischer Krieger hatte sich hinter dem schimmernden Vorhang des Nordlichts zurück gezogen, und die Burg war im Licht des Vollmonds offen sichtbar. Duart und seine Männer begannen vorzurücken, dabei bewegten sie sich mit der schneidigen Präzision der Profis, die sie waren. Adam und McLeod folgten ihnen vorsichtig zusammen mit Peregrine. Der Westflügel hatte bei dem Beben beträchtlichen Schaden davongetragen und bot sich jetzt direkt als Brennpunkt für einen physischen Angriff an. Der Hang war weniger steil, als sie befürchtet hatten, und mit Findlingen und Felsbrocken übersät. Der Austausch von Gewehrfeuer setzte sich zu beiden Seiten ihrer Sturmposition fort, während Duarts flankierende Gruppen sich beide systematisch ihren Weg über die offene Fläche suchten und dabei den Vorteil eines jeden Schattens und jeder Deckung ausnutzten. Die Luft stank nach Kordit. Als sie den Schutz der Mauer erreichten, die nur etwa 1,20 in hoch war, bestrichen kurze Salven feindlichen Gewehrfeuers die -627-
Decksteine; Steinsplitter hagelten über die Männer herab, die unten im Schatten kauerten. »Damit kommen wir überhaupt nicht weiter«, murmelte McLeod, erhob sich aus der Deckung und feuerte eine schnelle Salve - dreiunddrei, die Soldaten nachahmend - in Richtung einer Lücke in der Mauer des Westflügels. Das dünne Jaulen eines Querschlägers war zu hören, gefolgt von einer erwidernden feindlichen Salve. Mit einem gemurmelten Fluch ließ sich McLeod wieder sinken und bereitete sich auf die nächste Chance zum Feuern vor. Diese Art fast ständiger Schießerei dauerte etwa zehn Minuten, bis plötzlich das Gewehrfeuer aus dem Gebäude aufhörte. Als die letzten Echos erstarben, fiel eine unheimliche Stille über die Gegend. Die Geräusche andauernden Feuers an anderer Stelle im Umkreis der Burg wichen zurück, wurden plötzlich fern und seltsam gedämpft. »Da passiert etwas«, murmelte McLeod und drehte den Kopf hin und her, als wollte er einen umherwandernden Laut auffangen. »Fühlen Sie die Veränderung in der Luft?« Adam nickte stumm. Als er mit seinem okkulten Blick um sich schaute, nahm er auf einmal eine geisterhafte Bewegung hinter einer der Schneewächten jenseits der Mauer wahr und fing den flüchtigen Eindruck einer mit Reißzähnen bewehrten Bestie auf, die zum Sprung ansetzte. Noch während er den Männern zu beiden Seiten eine Warnung zurief, brandete eine Bewegung hoch, die Kreatur sprang über die Mauer und landete mitten unter ihnen. Ein Mann schrie auf und kippte nach hinten, die Arme hochgeworfen, als kämpfte er mit einem unsichtbaren Monster was er auch wirklich tat. Eine blutige Garbe aus klaffenden Wunden erschien auf seiner Brust: wie Krallenspuren einer gigantischen Katze. Während die Männer um ihn herum verwirrt zurückwichen und sich nach einem Feind umschauten, gab es -628-
einen weiteren Wirbel unsichtbarer Bewegung, zwei weitere Mitglieder der Gruppe sanken schreiend zu Boden. »Paßt auf!« rief McLeod. »Hier kommt noch eins!« Adam war schon auf den Beinen. Er packte mit der rechten Hand seinen sgian dubh und warf beide Hände in einer abwehrenden Geste vor sich hoch, als ein schweres, unsichtbares Gewicht vom Mauerkranz auf ihn nieder krachte. Heißer Tieratem strich an seinen Wangen entlang, während unsichtbare Reißzähne unter Knurren um Haaresbreite vor seinem Gesicht nach ihm schnappten. Er wehrte es mit einem Stoß seiner gekreuzten Unterarme ab und warf sich auf die Seite, während McLeod fluchend eine dreifache Salve in den Raum pumpte, wo sich die Brust der Kreatur befinden mußte. Es gab ein ohrenzerreißendes, katzenhaftes Gejaul, als das Wesen auf McLeod losging. Adam nutzte die kurze Verschnaufpause, um seine volle Aufmerksamkeit auf die astrale Ebene zu verlagern. Auf einmal wurden die Angreifer sichtbar: in der Gestalt riesiger Luchse mit brennenden Augen und büscheligen Backen. »Noel, zu mir!« keuchte er. »Peregrine, benutzen Sie Ihre Seelensicht!« Halbbetäubt gegen die Mauer gedrückt, wachte Peregrine beim Klang der Stimme seines Mentors auf. Er verschloß seine Ohren gegen die momentane Panik, die ihn umgab, rappelte sich auf und verengte seinen Blick, indem er hinter das Sichtbare schaute, wie Adam es ihn gelehrt hatte. »Ich sehe sie!« schrie er, als die Natur ihrer Angreifer sich ihm zeigte. »Was soll ich tun?« Statt einer Antwort hob Adam seinen sgian dubh über den Kopf und rief ein befehlendes Wort, das so tief hallte wie eine läutende Alarmglocke. Darauf antwortete ein Blitz überirdischen Lichts. Kurz geblendet, rieb sich Peregrine die Augen mit den Fingerknöcheln und entdeckte, daß seine Wahrnehmung sich -629-
ganz auf die astrale Ebene verlagert hatte. Als er einen Blick in Adams Richtung warf, hielt er erstaunt den Atem an, denn das Aussehen seines Mentors hatte sich völlig verändert. Verschwunden war die Wintertarnkleidung und die eng anliegende Strickmütze, die Adam wie jeder andere Mann ihrer Gruppe getragen hatte. Statt dessen trug er jetzt die Kleidung eines mittelalterlichen Ritters, mit einem saphirblauen Wappenrock, der über einem Kettenhemd zusammengegürtet war, das in der Dunkelheit wie Quecksilber schimmerte. Der sgian dubh war in ein glänzendes Langschwert mit einem Heft und einer Parierstange aus Gold verwandelt. Die behandschuhte Hand, die das Schwert hielt, trug einen Ring, der flimmerte und blitzte wie der Abendstern. Und Adam war nicht der einzige, der sich verändert hatte. Als McLeod rechts von Adam anrückte, sah Peregrine, daß auch er eine Rüstung aus Licht trug. Er blickte an sich herab und sah, daß er ähnlich gekleidet war, und in einer Scheide an seiner Seite hing ein Schwert, das nach seiner Hand rief. Bevor er die Verwandlung noch anzweifeln konnte, hob Adam schwungvoll sein Schwert und stürzte sich auf den nächsten der Luchse. Als die Kreaturen sich umwandten, um den Angriff zu kontern, stürmte McLeod herbei und geriet mit zwei weiteren Bestien aneinander. In diesem Sekundenbruchteil wich Peregrines Verblüffung einem plötzlich lodernden Wissen. Er kannte keine Angst und keinen Zweifel mehr, zückte seine eigene Klinge und ging auf eine der Bestien los, die einen weiteren von Duarts Männern anfiel. Sein erster Streich streifte die Flanke der Kreatur. Knurrend wirbelte sie herum, duckte sich und schlug mit Klauen nach ihm, von denen Gift triefte. Sein Wappenrock fiel in Fetzen von ihm, doch sein Kettenhemd lenkte die schlitzenden Krallen ab. Peregrine schlug wieder zu, diesmal auf den Kopf, und versetzte der Bestie einen Hieb über das weit aufgerissene Maul. -630-
Anstatt zurück zu zucken griff sie an und rammte mit der Wut eines anstürmenden Keilers eine Schulter in ihn. Mit einer Wucht, die ihm den Atem aus der Lunge quetschte, schlug er auf dem Boden auf. Bevor er sich aufrappeln konnte, fiel die Kreatur mit all ihrem Gewicht auf ihn und drückte seine Klinge gegen seine Brust, während sie versuchte, ihn zu zerquetschen und zu ersticken. Das Blut toste in seinen Ohren. Er krächzte einen heiseren Hilfeschrei hervor. Der Druck auf seiner Brust nahm zu, bis er sicher war, daß seine Rippen brechen würden. Die Kreatur zischte in einem vorweggenommenen Triumph und zog eine riesige Vorderpfote zurück, um ihm damit übers Gesicht zu kratzen, dann krümmte sie sich jäh, bäumte sich rückwärts auf und schlug mit den Klauen in die Luft, während Adams Schwertspitze sie mitten zwischen den Schulterblättern traf. Jaulend und um sich schlagend, wand sie sich bei dem Versuch, die Klinge loszuwerden. Mit einem eisern entschlossenen Gesicht hielt Adam mit beiden Händen fest und trieb die Schwertspitze tiefer hinein. Immer noch kämpfend, stieß der große Luchs einen durchdringenden, unheimlichen Schrei aus und brach auf der Seite zusammen. Einen Augenblick später zitterte er und verschwand. Peregrine holte schmerzhaft Luft und schloß kurz die Augen. Als er sie wieder auftat, beugte sich Adam vor dem trüben Hintergrund des schottischen Nachthimmels über ihn. Das Aussehen eines Kriegers und Ritters war verschwunden. »Gut gemacht«, flüsterte er und gab Peregrine einen Klaps auf die Schulter. »Sie haben gut gekämpft.« »Meiner Meinung nach nicht gut genug«, erwiderte Peregrine schwach, während Adam sich daran machte, den SAS-Mann zu untersuchen, den Peregrines Eingreifen gerettet hatte. »Ist er okay?« »Es muß gehen«, antwortete Adam und begab sich schnell zu -631-
den anderen Verletzten. Peregrine stützte sich auf die Ellbogen hoch und blickte sich besorgt um. »Wo sind die Luchse? Sind sie verschwunden?« »Die uns hier angegriffen haben, aye«, meldete sich McLeods Stimme aus dem Schatten auf der anderen Seite. »Mit etwas Glück hat es gereicht, um einen allgemeinen Rückzug zu erzwingen. Können Sie sich schon wieder bewegen?« Peregrine holte tief Luft. Seine Brust schmerzte noch, aber er war erleichtert, als er merkte, daß er ansonsten unverletzt war. »Ich glaube schon«, sagte er. »Aber ich hätte nichts dagegen, wenn mir jemand aufhülfe.« McLeod grinste und streckte eine Hand aus. Als Peregrine sich hochzog, blickte er sich um und sah, daß einige Männer am Boden lagen, von denen nur einer sich nicht bewegte. Weiter vorn hatten sich Duart und eine Handvoll seiner Männer neugruppiert und pirschten sich erneut an den Westflügel heran. Weiter hinten gab eine der anderen Patrouillen Deckungsfeuer. Peregrine zuckte zusammen, als das Rülpsen der Maschinenpistolen plötzlich von einigen schnell aufeinanderfolgenden Schrotflintenschüssen unterbrochen wurde. Er schaute auf die schwere Tür und sah, wie zwei Soldaten sie gerade eintraten und dann beiseite sprangen, während ein dritter etwas nach innen warf. Das dumpfe wumm einer Blendgranate erschütterte sie selbst hier draußen, dann stürmten Duart und seine Männer schon durch die Überreste der Tür. Von weiter hinten kamen noch mehr Männer angerannt. Raeburn bewachte zusammen mit Barclay und den vier anderen den Eingang zum Turm, als er hörte, wie die Tür zum Westflügel aufgesprengt wurde. Die Blendgranate war zu weit weg, um mehr Schaden anzurichten, als nur ihre Ohren klingen zu lassen, aber er wußte, um was es sich handelte, und daß es nur eine Frage der Zeit war, bis die Angreifer sich durchsetzen -632-
würden. Seine Männer würden ihnen einen guten Kampf liefern und sterben, bevor sie gefangengenommen würden, aber gegen solche Gegner konnten sie nicht durchhalten. »Sinclair hat den verdammten S AS mitgebracht!« sagte Barclay bitter und streichelte die Uzi, die er um den Hals hängen hatte. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß das heute morgen keine Bergrettungsoperation war!« »Ja, und ich habe es ihm gesagt«, erwiderte Raeburn und beäugte nervös die Tür zwischen ihrem Standort und dem Westflügel. »Aber ich kann vielleicht immer noch etwas retten. Gehen Sie und tun Sie, was wir besprochen haben.« Barclay nickte knapp und trabte davon, einen Korridor entlang, der in einem rechten Winkel vom Westflügel wegführte. Die anderen rührten sich nervös. Vielleicht argwöhnten sie, was er plante, aber Raeburn wußte, sie würden es nicht wagen, ihm zu trotzen nicht, solange er den Torques trug und ein aufgeladenes Medaillon bei sich hatte. Er wies sie an, ihre Stellung zu halten, dann verließ er sie und stieg die Wendeltreppe zum obersten Raum empor. Er fand die Turmkammer in einem Zustand völliger Unordnung vor. Fünf der acht verbliebenen Anhänger des Großmeisters lagen auf dem Boden ausgestreckt, entweder tot oder im Koma. Die anderen, die noch aufrecht dasaßen, sahen blaß und benommen aus und zitterten von der Anstrengung ihrer jüngsten Bemühungen. Der Großmeister selbst kauerte über seinem kostbaren Manuskript, fuhr mit einem krummen Finger an einer vergilbten Seite entlang und murmelte bitter vor sich hin. Als Raeburn erschien, hörte er jedoch auf zu murmeln und kam torkelnd auf die Beine. Seine Augen funkelten wild in seinem totenkopfgleichen Gesicht. »Sie!« keuchte er heiser. »Was tun Sie hier? Warum sind Sie nicht auf Ihrem Posten?« Raeburn beantwortete weder die eine noch die andere Frage. -633-
»Der Westflügel wird gerade überrannt. Sinclair und seine Männer werden in Kürze hier sein. Ich dachte, Sie sollten das wissen.« Der Großmeister atmete schwer, sein Gesicht verzerrte sich in schwarzer Wut. »Warum sagen Sie mir Dinge, die ich schon weiß?« fragte er. »Sie sind mir noch die Antwort schuldig, warum Sie es für richtig gehalten haben, meinen Befehlen nicht zu gehorchen!« »Mit allem Respekt, Großmeister«, sagte Raeburn ruhig, »ich glaube nicht, daß der Schutzherr der Schatten von uns verlangt, daß wir uns in einem sinnlosen Akt des Widerstandes opfern, nur weil uns Jäger auf den Pelz rücken. Der Hubschrauber steht im hinteren Hof bereit und ist bis jetzt nicht beschädigt. Ich habe Barclay geschickt, die Motoren warmlaufen zu lassen. Wir können Sie in Sicherheit bringen.« Das Gesicht des Großmeisters verzerrte sich. »Was für ein Rat ist das? Der Kampf ist noch nicht verloren!« »Doch, der Kampf ist verloren«, sagte Raeburn. »Aber der Krieg kann noch gewonnen werden - wenn wir jetzt gehen.« »Feigling!« krächzte der Großmeister. »Das ist alles Ihre Schuld! Ihr Befehl lautete, eher den Blitz herabzurufen als zu gestatten, daß diese Festung überrannt wird. Warum haben Sie nicht gehorcht?« »Weil es eine sinnlose Verschwendung von Ressourcen gewesen wäre«, gab Raeburn zurück und trat zornig ein oder zwei Schritte vor. »Sehen Sie das nicht? Wir erweisen doch nur Sinclair einen Dienst, wenn wir uns dazu treiben lassen, uns das Leben zu nehmen. Ein Opfer ist eine Sache; Selbstmord eine ganz andere.« Der Mund des Großmeisters arbeitete wütend, seine verwelkten Lippen waren mit Schaum besprenkelt. »Verräter!« kreischte er schrill. »Sie sind unwürdig, der Sohn -634-
des Taranis zu heißen! Geben Sie mir den Torques zurück!« Raeburns Hände bewegten sich reflexartig zu seinem Hals, wo der Torques kalt auf seiner Haut lag, mit Macht geladen. Er richtete sich kerzengerade auf und schüttelte den Kopf. »Wenn Sie nicht mitkommen, dann geben Sie mir das Manuskript«, verlangte er, »und gestatten Sie mir, daß ich es in Sicherheit bringe.« Die schwarzen Augen des Großmeisters blickten wild. »Das ist es also, was Sie die ganze Zeit im Sinn hatten!« kreischte er. »Mir so oder so das Manuskript des Führers zu entreißen! Oh, Sie ähneln so sehr Ihrem Vater! Er dachte, er könnte es, aber er hatte unrecht und so auch Sie!« Er schlug mit einer Hand um sich. Eine schwarze Flamme schoß von seinen Fingern und entzündete den Torques mit einem solchen Stoß blendenden Schmerzes, daß Raeburn aufschrie und den Halsreif von sich warf. Der Torques rollte auf dem Boden dahin und kam in der blutigen Lache neben Wemyss' leblosem Körper zu liegen. Als der Großmeister lossprang, um ihn aufzuheben, und dabei in dem Blut ausrutschte, holte Raeburn das noch unbenutzte Medaillon heraus, das er bei sich gehabt hatte, und warf es bitter hinter dem Großmeister her, dann schnappte er mit einer schwungvollen Bewegung das Opfermesser. Er überlegte, ob er auch nach dem Manuskript greifen sollte, doch der Großmeister schrie auf, als er sich umwandte und Raeburns Absicht sah. Er hatte schon eine blutige Hand um den Torques gekrallt. Die darin enthaltene Drohung verlieh Raeburns Füßen Flügel. Er drehte sich auf dem Absatz um und floh. Im Westflügel rührte sich nichts. Als Duart und fünf seiner Männer ihn systematisch in Richtung auf den Turm durchkämmten, wobei ihr Vorankommen immer wieder von Maschinenpistolenfeuer markiert wurde, bog Adam um eine Ecke und blieb stehen. -635-
»Hören Sie!« sagte er. »Was ist das für ein Geräusch?« McLeod spitzte ein Ohr. »Klingt wie dieser Hubschrauber, den keiner gesehen hat. Duart!« rief er scharf. »Hinaus in den Hinterhof! Ich glaube, einige unserer Vögel wollen fliehen!« Als auf Duarts Zeichen hin eine vier Mann starke Patrouille lostrabte, sagte Adam: »Gehen Sie mit!«, und McLeod trottete hinterher. Inzwischen war Duart zum Erdgeschoß des Turms durchgedrungen, wo drei blutige weißgekleidete Körper in verschiedenen Stellungen eines plötzlichen und gewaltsamen Todes auf dem Boden hingestreckt lagen - nicht das Werk von Duart und seinen Begleitern. Eine Tür stand offen, sie führte zur Spirale eines dunklen Treppenschachtes, und Duart schob sich schon vorsichtig die ersten Stufen hinauf, während sein Partner sich noch vergewisserte, daß die drei Männer auf dem Boden wirklich tot waren. »Hier ist es, nicht wahr?« flüsterte Peregrine, fast so weiß im Gesicht wie seine Schneetarnkleidung, während er mit Unbehagen an Adam vorbei auf das Blutbad äugte. »Fast«, sagte Adam und folgte den beiden SAS-Männern. »Ich gehe als erster.« Die Spirale des Treppenschachtes bildete eine zweite, kleinere Turmsäule, die nahe an der ersten errichtet worden war. Sie wurde schwach vom Mondlicht erleuchtet, das durch schmale Spitzbogenfenster fiel, die bei jeder Wende eingelassen waren. Nur ein einziger Absatz führte von der Turmtreppe ab, bevor sie die Spitze erreichten - zu einem leeren Schlafzimmer und einem dunklen, als Bibliothek eingerichteten Raum, dessen Fensterläden geschlossen waren. Adam und Peregrine warteten auf der Treppe, bis Duart und sein Mann sie für sicher erklärt hatten, dann stiegen sie weiter hinter ihnen her. Allmählich drang ein gelber Lichtschein von der obersten Wendung der Treppe herab. Adam zischte Duart zu, er solle langsamer machen. Die Luft im Treppenschacht war dumpfig -636-
vor Feindseligkeit, doch jetzt war es für Adam Zeit, mit seiner Erfahrung die Führung zu übernehmen. Er schob sich an dem SAS-Major vorbei, ging vorsichtig um die Kurve und hielt kurz vor dem letzten Treppenabsatz an, wo gelbes Gaslicht über die Schwelle des dahinterliegenden Raumes fiel. Etwas Metallisches lag glitzernd auf dem Boden gleich hinter der Schwelle ein nicht unerwartetes Luchsmedaillon. Seine Plazierung warnte ihn, daß mindestens einer der Gegner, die zweifellos in diesem Raum lauerten, schon die Grenzen der Vernunft überschritten hatte. Er wandte sich ruhig Peregrine und den beiden Soldaten zu und trat einen Schritt zurück. Als Jäger wußte er sehr wohl um die Gefahr, die ein in die Enge getriebenes Wild darstellte; als Meister der Jagd war er verpflichtet, dafür zu sorgen, daß dieses Wild so gefaßt wurde, daß seine Mitjäger und die unter deren Schutz Stehenden so wenig wie möglich gefährdet würden. Duart dachte, er schütze Adam und Peregrine, aber eigentlich war es Adam, der sie jetzt alle schützen mußte. »Von hier an übernehme ich«, sagte er zu Duart. »Sie beide gehen zurück zum Sockel des Turms und warten mit Mr. Lovat.« »Adam...«, begann Peregrine. »Tun Sie's«, sagte Adam in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Was von hier an geschieht, unterliegt meiner Verantwortung.« Mit offensichtlichem Widerstreben zogen sie sich zurück, jedoch erst nachdem Duart Adam einen Browning Hi-Power in die linke Hand gedrückt hatte, wobei er sie demonstrativ, ohne ein Wort zu sagen, mit dem Daumen entsicherte. Mit der Pistole in der linken und den sgian dubh fest in der rechten Hand, straffte Adam die Schultern und empfahl stumm sich und alle, die mit ihm waren, dem fortwährenden Schutz des LICHTS. Dann zog er den Mantel der Autorität um sich, der ihn nicht nur -637-
als Meister der Jagd, sondern auch als Bewahrer des Friedens auswies. Angesichts der Taten, die die Leute dort oben in der Turmkammer schon vollbracht hatten, zweifelte Adam nicht, daß sie fähig sein würden, die astrale Überlagerung dieser Autorität ebenso zu bemerken wie seine körperliche Gestalt. Jetzt kannte er auch die Quelle und den Umfang ihrer Macht, und er wußte, daß er die Mittel hatte, sie abzuwehren. Gelassen stieg er die letzten drei Stufen hinauf und hielt einen Schritt vor der Kammer an. Der Mann, den er suchte, saß auf einer Seite des Raums zusammen gekauert inmitten eines Haufens scharlachroter Kissen - eine glatzköpfige, gnomenhafte Gestalt in einem fließenden weißen Gewand, das an der Vorderseite mit Blut besudelt war. Um ihn herum lag fast ein Dutzend Körper, von einem davon stammte offensichtlich das Blut. Einige andere lagen lediglich tot da und strömten die okkulte Signatur von zu großer Verausgabung in der Überwelt aus - wahrscheinlich waren es die Leute, die den Luchsangriff gestartet hatten. Doch die drei, die dem Mann am nächsten lagen zwei davon waren Frauen -, hatten scharlachrote Kordeln um den Hals geknüpft. Offenbar waren sie erst vor kurzem erdrosselt worden. Adam spürte die Macht, die ihr Mörder aus ihrem freiwilligen Opfer absorbiert hatte. Ihre Köpfe lagen auf den Kissen, die ihn umgaben, die Arme waren in Hingabe ausgestreckt, doch Adams wahre Sorge galt dem, was der alte Mann bei sich hatte. Klauenartige Hände hielten einen Stapel vergilbter Pergamentblätter an die blutige Brust geklammert. Um den dünnen Hals lag ein schwerer Torques aus Meteoreisen, dessen Schwärze durch die trüben Rauchquarze und die mit Silber gezeichneten piktischen Symbole noch betont wurde. Adam hatte ihn zuvor schon in Visionen gesehen, jetzt schreckte er vor der dunklen, elementaren Macht zurück, die von dem Halsreif ausstrahlte. Während er die böse Kraft spürte, die den Torques mit dem verband, was in diesem Manuskript geschrieben stand, -638-
bückte er sich und legte seine Pistole sanft auf den Boden des Treppenabsatzes - sie war hier nutzlos -, dann richtete er sich auf, ohne seine Augen von seinem Wild zu nehmen. »Sind Sie hier der Großmeister?« fragte er streng. Wilde schwarze Augen funkelten ihn haßerfüllt aus einem runzeligen, aschfarbenen Gesicht an. »Ich bin es«, flüsterte die Gestalt in der Robe. »Dann befehle ich Ihnen mit der Autorität, die mir vom Rat der Sieben als Meister der Jagd übertragen wurde, dieses Amt nieder zulegen und alle Geräte und Utensilien heraus zu geben, die sich derzeit in Ihrer Obhut befinden.« »Was fällt Ihnen ein?« Die Antwort des Großmeisters begann als Geflüster einer Grabesstimme und verfiel dann in einen Ton schriller Hysterie, als er sich unsicher schwankend erhob. »Was fällt Ihnen ein, so etwas von mir zu verlangen, und das in meinem eigenen Haus? Meine Macht Ihnen zu übergeben? Ich denke nicht daran! Nicht, solange ich noch die Mittel besitze, mein eigenes Schicksal zu bestimmen! Hier ist der Sitz meiner Macht!« Er lachte manisch und zeigte mit einem Daumen auf den Torques, den er um den Hals trug. »Und da!« Er wies mit dem Finger auf das Medaillon mit dem Luchskopf, das zwischen ihnen auf dem Boden lag, und grinste wie ein Totenschädel. Dann tat er einen Schritt nach hinten und hob beide Arme zu einer theatralischen Geste der Anrufung. Genauso schnell trat Adam über die Schwelle, Während die Luft in dem Raum mit dem Summen sich aufbauender Energien zum Leben erwachte, setzte er seinen Fuß absichtlich auf die Kette des Medaillons, das auf dem Boden lag. Er blickte dem Großmeister in die Augen, richtete seinen sgian dubh auf das Medaillon und sprach ein Wort der Macht. Licht blitzte blau von der Klinge, von dem Saphir im Dolchknauf und von dem Ring an seinem Ringfinger, und mit einem dumpfen Winseln zitterte die dunkle Aura der Macht in der Luft und sank zusammen. Es -639-
klang wie das Geräusch eines Dynamos, der abgeschaltet worden war. Entgeistert starrte der Großmeister Adam an. Jetzt nahm er endlich die astrale Autorität jenseits der nur physischen Erscheinung wahr. »Das Spiel ist zu Ende, Großmeister«, sagte Adam ruhig. »Der, dem ich diene, wird nicht gestatten, daß ich durch Ihre Hände Schaden erleide. Ich kenne Quelle und Maß Ihrer Macht. Noch einmal befehle ich Ihnen, beiseite zu legen, was Sie gestohlen und mißbraucht haben, und es der gesetzmäßigen Autorität des Lichts zu übergeben.« »Über mich können Sie nicht urteilen«, krächzte der Großmeister und drückte das Manuskript fester an seine Brust. »Ich habe ein ganzes Leben darauf verwendet, das zu beherrschen, was hier liegt. Das Ziel ist in Reichweite. Taranis ruft mich, seine Geißel gegen diese armseligen Sterblichen zu sein, die wie Kinder mit dem spielen, was sie niemals begreifen oder verstehen können. Warum das Licht suchen, wenn die FINSTERNIS mit solch süßer Macht lockt? Sie können über mich nicht richten.« »Es ist nicht an mir zu richten, sondern nur, Sie vor das Gericht zu bringen«, sagte Adam. »Legen Sie das Manuskript und den Torques nieder.« Zitternd schüttelte der Großmeister den Kopf und schaute sich wild nach einer Fluchtmöglichkeit um. »Es gehört mir« flüsterte er. »Nie gebe ich es her niemals!« »Weder Sie, noch die Dinge, die Sie da halten, werden diesen Raum verlassen«, gab Adam streng zurück. »Legen Sie das Manuskript und den Torques nieder.« Der Großmeister ließ die Schultern sinken. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte er kapitulieren. Er bückte sich steif aus der Hüfte und legte das Manuskript ehrerbietig zu seinen Füßen nieder. Dann bäumte er sich ohne Vorwarnung auf, faßte -640-
mit verkrümmten Händen den Torques an beiden Seiten und warf seinen wilden, suchenden Blick zur Decke und darüber hinaus. »Schlag zu, Gebieter Taranis!« schrie er schrill. »Schlag zu, Donnerer! Nimm deinen Diener an und dazu das Opfer des Todes deiner Feinde!« Donner rollte am Himmel und entlud sich mit einem lauten Knall. Jetzt war es der Torques, der den Blitz anzog. Adam warf seine Hände zu einer abwehrenden Geste hoch, griff nach der astralen Macht, die ihm zu Gebot stand und umgab sich mit ihr wie mit einer Glasglocke, die auf der Außenseite verspiegelt war. Mit einem Krachen und einer Explosion blendenden Lichts brach das Dach durch, als ein blauer Blitzstrahl gezielt wie eine Lanze auf den Torques um den Hals des Großmeisters zustieß. Es ging zu schnell, als daß man es hätte wahrnehmen können. Erst in Nachbild sah Adam, wie der steife Körper von einer sengenden Flammenwand umhüllt wurde. Der Ausdruck auf dem runzeligen Gesicht zeigte Ekstase und zugleich Qual, als Taranis sein eigenes Opfer einforderte. Adam schirmte seine Augen gegen den Blitz ab und zog sich schnell auf den Treppenabsatz zurück. Mit einem zweiten Knall explodierten die Gaslichter, und der ganze Boden der Kammer gab nach. Die Wucht der Erschütterung schleuderte Adam zurück in den Treppenschacht, wo er mit den Armen ruderte, um sein Gleichgewicht wiederzufinden, während ein zweiter, noch hellerer Blitz die Luft durchschnitt und einen gähnenden Spalt in das dimensionale Gewebe des Himmels über dem Turm riß. Noch während Adam zurückwich, fiel aus dem Spalt himmlisches Feuer herab, um den Raum mit Flammen zu reinigen und fegte alles fort, was ihm im Weg lag. In dem Feuer meinte Adam einen Blick der astralen Verbündeten von vorhin zu erhäschen, die jetzt mit ihren feurigen Schwertern um sich schlugen und Verderbnis vor sich hertrieben, wo ihre Klingen hintrafen, und sie dann zu einer Lohe himmlischer Herrlichkeit -641-
emporhoben, die dem Blitz des Taranis so unähnlich war wie die Sonne dem Mond. Im Sog ihrer Rückkehr in die Überwelt wurden die Seiten des Manuskripts in einer wilden Spirale flammender Blätter in die Höhe gerissen, wie das Feuerwerk, das andernorts am Himmel erschien, als das neue Jahr begann. Dann schloß sich in einer letzten strahlenden Explosion der Riß im Himmel mit donnerndem Knall. Draußen hinter der Burg beobachteten im düsteren Schweigen nach dem Verstummen des Gewehrfeuers McLeod und seine SAS-Männer ohnmächtig, wie die Lichter eines fliehenden Hubschraubers in der Nacht verschwanden. Kinsey, der McLeod am nächsten stand, riß den verbrauchten Patronenrahmen aus seiner H-K MP5 und schob einen neuen in das Magazin. »Verdammt!« brummte er leise. »Ganz meiner Meinung«, erwiderte McLeod. Einer der Sergeants hatte schon sein Walkietalkie gezogen und rief zur Basis zurück, man solle die eigenen Hubschrauber losschicken - doch es würde nicht mehr ausreichen, um die Leute zu stoppen, die jetzt entkamen. Sie drehten gerade ihre Köpfe wieder nach innen, als die brodelnden Wolken am Himmel sich plötzlich auftaten und ein kolossaler Blitzstrahl pfeilgerade auf das Turmdach niederstieß. Die Erschütterung warf sie zu Boden. Erschrocken schützten sie ihre Köpfe mit erhobenen Armen, da viele Trümmer herab zu regnen begannen. Als sich eine drückende Stille über die Szene legte, rappelte Peregrine sich auf und spähte furchtsam zum Eingang des Treppenschachtes. Hinter ihm rührten sich Duart und seine Männer. Einer von ihnen sprach über sein Funkgerät eindringlich mit weiteren Leuten von ihrer Truppe, die sich anderswo im Gelände befanden. »Himmel, was war das?« murmelte Duart beeindruckt. »Lovat, gehen Sie nicht dort hinauf! Dieses Gebäude hier kann uns jeden Augenblick um die Ohren fliegen!« -642-
Doch Peregrine war schon über die Schwelle und stürzte die Treppe hoch. Je höher er kam, desto öfter stolperte er über Trümmer, die die Treppe zunehmend unpassierbar machten. Er war gerade zum mittleren Treppenabsatz gekommen, wo er und Adam Minuten vorher darauf gewartet hatten, daß Duart und sein Mann eine Bibliothek und ein Schlafzimmer durchkämmten. Jetzt gähnte dort, wo die Bibliothek gewesen war, ein riesiges Loch im Turm: nach unten so tief, wie er nur schauen konnte, und nach oben, zum Himmel hin, offen. Fast krank vor Angst richtete Peregrine seinen Blick hinauf zu den Überresten des Treppenschachts - und stieß einen Ruf der Erleichterung aus, als eine große, aufrechte Gestalt in rußverschmierter Wintertarnkleidung aus Staub und Rauch auftauchte. »Adam!« Immer noch ein wenig unsicher auf den Beinen, stolperte Adam die wenigen restlichen Stufen zum Treppenabsatz und sank auf der letzten nieder. Mit einer Hand stützte er sich auf Peregrines Schulter. »Ich bin okay«, sagte er. »Und dort oben ist auch alles in Ordnung.« »Aber was ist denn passiert? Was war das für ein sagenhafter Knall?« Adam lächelte dünn. »Der Meister des Turms rief seinen dunklen Herrn, er solle ihn zu sich nehmen - und das hat der auch getan. Nicht auf die Art, vermute ich, wie er es erhofft hatte. Man kann keinen Handel mit Elementalen abschließen. Und als das fragile Gleichgewicht gestört war, stürmten die heran, die auf einer höheren Ebene bestimmt sind, solches Ungleichgewicht aufzuheben, und führten einen allgemeinen Hausputz durch.« »Dieselben, die wir schon zuvor gesehen haben?« flüsterte Peregrine. -643-
»Eine andere Einheit derselben Streitkraft«, sagte Adam mit einem glucksenden Lachen. »Schauen Sie jetzt mal hinauf.« Als Peregrine seinen Blick gen Himmel richtete, sah er, was er zuvor zu sehen schon gehofft hatte - der astrale Baldachin über der Burg zog sich zusammen und schloß sich über dem Loch. Schon füllten die strahlenden Lichtstränge, die Christopher und die Jäger zu Hause auf Strathmourne flochten, die Lücke, knüpften ein neues Gewebe aus Licht über dem Loch und machten es noch stärker als zuvor. Ihr Werk wurde unterstützt von dem subtileren Schein jener Menschen überall auf der Welt, die mit ihrer Kraft zu dem Baldachin aus Licht beitrugen, während die Jahre wechselten der gute Wille von Männern und Frauen überall, ganz gleich, ob sie sich des guten Werks bewußt waren, das sie taten, indem sie auf ihren Myriaden von Wegen das LICHT suchten. »Zumindest glaube ich, daß das Feuerwerk vorbei ist«, sagte Adam, erhob sich und zog Peregrine hoch. »Inzwischen sollten wir lieber hinunter gehen. Ich bin immer noch Arzt, und vielleicht braucht man mich.« Unten versammelte Duart seine Männer vor dem Haupteingang, die Sanitäter unter ihnen versorgten die Verletzten. Es gab Schuß- und Rißwunden, und nur wenige waren unversehrt. Doch es gab keinen Toten. Der SAS-Major stand auf, als Adam herauskam, nahm Haltung an und salutierte schneidig mit seiner H-K MP5, dann trat er auf ihn zu und tauschte mit ihm einen freimaurerischen Handschlag aus, der eine Freimaurermeister mit dem anderen. McLeod stand nicht weit hinter Adam und Peregrine, er hob seine Waffe und salutierte salopp, als sie sich umdrehten, um ihn zu grüßen. »Und Raeburn?« fragte Adam ruhig. McLeod schüttelte den Kopf. »Er ist abgehauen. Doch wir bekommen ihn nächstes Mal.« Aus der Ferne näherte sich das Geknatter von Hubschraubern. -644-
Die hellen Suchscheinwerfer zweier Wessex-Helikopter durchschnitten die Dunkelheit. Adam schaute sich schnell bei den Verwundeten um und überzeugte sich, daß die Erste-HilfeMaßnahmen, die schon getroffen worden waren, ausreichten, dann ging er zu dem schneebedeckten Rasen hinüber, auf dem der erste Hubschrauber niederging. Der Großmeister der Freimaurer stieg als erster aus und blickte mit großen Augen auf Adam, bevor sein Blick zu der Szene offensichtlicher Zerstörung wanderte. »Mission erfüllt, Großmeister«, sagte Adam und reichte die Hand zu einem weiteren freimaurerischen Handschlag. »Die Brüder haben ihren Teil großartig getan.« »Aber, was...« Adam lächelte. »Später, Sir. Ich muß mir selbst noch einiges klarmachen. Aber die Bruderschaft kann jetzt beruhigt sein und ihre Arbeit fortsetzen. Der Baldachin ist wiederhergestellt.« »Aber, das ist alles...« »Ich weiß«, sagte Adam müde. Doch als er den Piloten entdeckte, der aus der Wessex stieg, entschuldigte er sich und ging auf ihn zu. »Lieutenant, ich bitte um einen persönlichen Gefallen«, sagte er und zog den Mann zurück zur offenen Tür des Hubschraubers. »Können Sie mich mit Ihrem Funkgerät auch mit dem Festnetz verbinden?« »Tja, sicher, aber...« »Also, dann man los«, murmelte Adam und drängte den Mann mit einem erschöpften Lächeln zurück in den Helikopter. Nach Anrufen in Strathmourne und in der Burg von Edinburgh gab es da noch eine sehr faszinierende Ärztin in Edinburgh, der er ein Glückliches Neues Jahr wünschen wollte.
Einige Anmerkungen zu Namen und Begriffen (Im 1. Band der Serie, ›Der Adept‹ , erläuterte Namen und -645-
Begriffe sind hier nicht mehr aufgeführt. In eckigen Klammern [] wird, wenn nötig, die Aussprache in deutscher Schreibweise angedeutet.) Air-Sea Rescue: Organisation zur Rettung Schiffbrüchiger aus der Luft. Aviemore: Früher ein Highland-Kaff mit Bahnstation und ohne eigene Gastwirtschaft; seit den sechziger Jahren zu einem Zentrum des Massentourismus ausgebaut. Baimoral [bälmorel]: Hier, in der Nähe von Ballater und Braemar, ließ sich Königin Victoria 1855 unter der Aufsicht ihres Prinzgemahls Albert eine Sommerresidenz bauen, in der sich über 100 Menschen (Gäste und Gefolge) unterbringen lassen; das aus blaßgrauen Quadersteinen gefügte Bauwerk ähnelt allerdings mehr einem mittelalterlichen deutschen Schloß als einem typisch schottischen Turmhaus. Blackford Hill: Zerklüfteter nördlicher Ausläufer der Braid Hills in Edinburgh, 164 in hoch, aus vulkanischem Gestein bestehend, bildet einen ca. 40 ha großen Landschaftspark und beherbergt ein astronomisches Observatorium. Blair Atholl: Dieses Dorf in den Grampian Mountains ist ein beliebter Fremdenverkehrsort. Besondere Attraktion ist Blair Castle, der Sitz des Herzogs von Atholl, dem einzigen britischen Adeligen, der noch über eine eigene private Armee verfügt, die ca. 50 Mann starken Atholl Highlanders. Blairgowrie: Kleinstadt am Fluß Bricht, berühmt wegen ihrer großen roten Himbeeren; in drei Burgen in der Nachbarschaft (Newton, Ardblair und Castle of Clunie) spukt es. Boghall: Der Ort zwischen Edinburgh und Glasgow, wo Randall Stewarts Auto gefunden wurde, ist sehr weit von Blairgowrie entfernt, liegt aber nicht weit südlich von Stirling. Boxing Day: Der 2. Weihnachtstag heißt seit Beginn des 19. Jahrhunderts so, weil an ihm früher die ›Christmas Boxes‹ verteilt wurden: (Geld)-Geschenke an Diener, Briefträger, -646-
Handwerker und Ladeninhaber. Braemar: Sehr populäres Tourismuszentrum in der großartigen Landschaft am Oberlauf des River Dee, unweit Baimoral. Brochs: Rätselhafte runde, bis 15 in hohe Steintürme aus prähistorischer Zeit (100 v. Chr.lOO n. Chr.), die nur in Schottland vorkommen, vor allem auf den Hebriden, den Orkneys, den Shetland-Inseln und in Caithness. Brodie: Der Clan von Lady Julians Mann Michael Brodle ist eine der ältesten schottischen Sippen, die vermutlich auf Brudei, König der Pikten (ca. 555-584), zurückgeht. Burns, Robert (1759-1796): Der Nationaldichter Schottlands, der vor allem in seiner Muttersprache Scots schrieb. Noch heute feiern Schotten überall in der Welt seinen Geburtstag (25. Januar) mit einem ›Burns Supper‹. Cairngorms: Teil der Grampians, höchstes Gebirgsmassiv der Britischen Inseln (bis zu 1310 in), mit subarktischer Fauna und Flora und neuerdings ausgedehnten Skigebieten. Caithness: Dünn besiedelte Grafschaft im äußersten Nordosten des schottischen Festlands. Schmuckglasfabriken im Hauptort Wick stellen das ›Caithness Glass‹ her, ein leicht getöntes Kristallglas von hervorragender Qualität. Calton Hill: Ein Überrest des Edinburgh Vulcano‹ (der hier vor ca. 325 Millionen Jahren explodiert ist), 108 in hoch, ca. 2,4 km lang und von dreieckiger Form. Auf seinen höheren Hängen befinden sich in einem Park einige bemerkenswerte Monumente (u.a. zu Ehren von Nelson und Robert Burns) sowie das Edinburgh City Observatory. Chief Constable: Polizeipräsident einer Stadt oder Grafschaft. Chief Superintendent: Polizeichef einer Großstadt. Constable: Wachtmeister. Detective Chief Inspector: Polizeirang, der in etwa einem -647-
deutschen Kriminalhauptkomissar entspricht. Devil's Elbow: ›Teufels Ellbogen‹ - so hieß wegen einer extrem scharfen Kurve früher der Cairnwell Pass, über den zwischen Glenshee und Braemar die höchstgelegene Fernstraße Großbritanniens führt (bis 670 in über dem Meeresspiegel). Dunfermline: Stadt in der Grafschaft Fife, im Mittelalter Sitz einer berühmten Benediktinerabtei, jahrhundertelang Residenz der schottischen Könige, Geburtsort Charles #L, des letzten in Schottland geborenen Königs, und des amerikan. Industriellen und Philantropen Andrew Carnegie. Father: ›Vater‹ - die Anrede eines Priesters in der katholischen und anglikanischen Kirche. Fish and Chips: Bratfisch mit Pommes frites, seit 1876 die traditionelle ›fast food‹ in Großbritannien. Flowers of the Forest: Volkslied von den ›Blumen des Waldes, die abgemäht sind‹ ; erinnert an die Schlacht von Flodden Field, bei der am 9. September 1513 der schottische König James IV. zusammen mit zehntausend Rittern und Kriegern im Kampf gegen die Engländer fiel. Diese schottische Totenklage, das ›Sterbelied Schottlands‹ , hat Theodor Fontane ins Deutsche übersetzt. Galen: Inselkeltische Sprachgruppe mit drei Zweigen in Irland, Schottland (v.a. Hebriden) und auf der Isle of Man. Glenshee: Langes nordsüdliches Tal zwischen Blairgowrie und Devil's Elbow, beliebtes Wintersportgebiet mit dem Dorf Spittal of Glenshee, das so heißt, weil es früher von der Dunkelheit überraschten Reisenden als Hospital (Hospiz) Zuflucht bot. Grampian: Nach den Grampian Mountains benannte Region im Osten der Highlands, besteht aus den früheren Grafschaften Aberdeenshire, Banffshire, Kincardineshire und Moray. Haggis: Schottisches Nationalgericht: Herz, Leber, Zunge und -648-
Lunge des Schafs durch den Fleischwolf gedreht, mit Zwiebeln, Hafermehl und Gewürzen vermischt, im Schafsmagen gekocht. Hebriden: Inselgruppe im Westen Schottlands mit u.a. Skye, Mull, Islay, Jura (Innere Hebriden) und Lewis, Harris, Uist, Barra (Äußere Hebriden). Hier ist die gälische Sprache noch lebendig. Holyrood Palace: Die offizielle Residenz des britischen Monarchen in Schottland; der Palast entwickelte sich aus dem alten königlichen Gästehaus der Abtei vom Heiligen Kreuz (= Holy Rood), die seit der Reformation nur noch eine Ruine ist. Hunting Stewart: Der zur Jagd getragene Tartan der Königsfamilie (die vom mittelalterlichen Haus Stewart abstammt) wird auch von königlichen Garden getragen. Kelten: Europäische Völkerfamilie, seit der frühen Eisenzeit einer der großen Zweige der indogermanischen Sprachen. Kurz vor der Zeitenwende wohnten die Kelten in ganz Mitteleuropa (im heutigen Böhmen, Süddeutschland, Frankreich, Norditalien), auf den Britischen Inseln, der Iberischen Halbinsel und sogar in Kleinasien (Galatien). Heute sind nur noch die Inselkelten übrig, nach sprachl. Verwandtschaften in Galen (Irland, Schottland, Isle of Man) und Britonen (Wales, Cornwall, Bretagne) gegliedert. Killicrankie: An diesem zwischen Blair Athol und Pitlochry gelegenen Paß fand der Höhepunkt der jakobitischen Rebellion von 1689 statt: Unter der Führung von John Graham of Claverhouse, Viscount Dundee (der im 3. Band dieser Serie, ›Der Schatz der Templer‹, eine nicht unbedeutende Rolle spielt), besiegten 2500 Highlander, Anhänger des abgesetzten Königs James VII./II. (= Jakob, daher Jakobiter) ein mehr als doppelt so starkes Heer der Anhänger des neuen Königs William III. Dundee fiel jedoch in dieser Schlacht und lebt historisch verklärt als ›Bonnie Dundee‹ weiter. Kingussie [Kinjussie]: Wichtiges Fremdenverkehrszentrum -649-
mit Golfplatz und Skigebiet (bei Aviemore); der Ort wurde vermutlich schon im 6. Jahrhundert von dem iroschottischen Missionar St. Columba gegründet, der die Pikten bekehrte. Kinross: Ein verschlafenes Städtchen am Westufer des Loch Leven; der Herrensitz Kinross House, Ende des 17. Jahrhunderts im Stile Palladios errichtet, gilt seit Daniel Defoe (dem Autor des ›Robinson Crusoe‹ ) als ›das schönste und regelmäßigste Bauwerk von ganz Schottland, vielleicht von ganz Großbritanniens Kirk: volkstümliche Bezeichnung für eine presbyterianische Kirche in Schottland, auch für die Church of Scotland (im Gegensatz zur anglikanischen Church of England). Lindow man: Die 1984 entdeckte, gut erhaltene Moorleiche wurde tatsächlich so ›geopfert‹, wie Adam es McLeod erzählt und stammt aus der Zeit von ca. 300 v. Chr. bis 300 n. Chr. Merry Masons: ›Fröhliche Freimaurer‹ eine Marschmelodie. Morgan: Der exzentrischste Sportwagen, den es in Großbritannien gibt; das Grundmodell, der Morgan 4/4, hält den Weltrekord als am längsten produziertes Auto der Welt: es gibt ihn seit 1935, und die Lieferzeit für einen neuen Morgan 4/4 beträgt immer noch einige Jahre. Morningside: Dichtbevölkerte südwestliche Vorstadt von Edinburgh; hier fließt der kanalisierte Bach (auf Scots ›burn‹ ) Jordan, der Adam Sinclairs Krankenhaus Jordanburn den Namen gab und an dem einst das von Zigeunern besiedelte Dorf Little Egypt ( ›Kleinägypten‹ ) lag, an das noch Straßen- und Hausnamen wie Nile, Canaan und Eden erinnern. National Health Service: Der Staatliche Gesundheitsdienst, 1948 eingeführt, ist der am höchsten geschätzte Teil des britischen Wohlfahrtsstaats, der immer noch (d.h. zur Zeit, da dieser Roman spielt) für alle Patienten kostenfreie Behandlung beim Hausarzt und im Krankenhaus vorsieht. National Trust for Scotland: Stiftung zum Erhalt und zur -650-
Restaurierung von historisch wertvollen Gebäuden, Parks und Landschaftsschutzgebieten. New Town: Dieser Stadtteil von Edinburgh gilt als ›StädteWunder‹ oder ›Symphonie in Stein‹ : hier hat von 1767 bis ca. 1830 ein Handvoll schottischer Architekten ganz nach ihren Ideen und Vorstellungen eine neue Stadt gebaut, Wohnort und Kulisse für die Reichen ihrer Zeit, heute bedeutendstes Ensemble der georgianischen Architektur. Orkneys: Inselgruppe zw. Caithness und den Shetland-Inseln mit eindrucksvollen vorgeschichtlichen Bauwerken (Brochs). Perth: Stadt am Westufer des River Tay, wegen ihrer Lage zwischen zwei Parks auch ›The Fair City‹ (Die schöne Stadt) genannt; im 13.-15. Jhdt. königliche Residenz und ›heimliche Hauptstadt‹ von Schottland. Pikten: Erstes namentlich bekanntes Volk (im 3. Jhdt. in einem römischen Text erwähnt) auf dem Gebiet des heutigen Schottlands, das sich wild gegen die Invasion der Römer verteidigte; im 9. Jhdt. verschmolzen sie mit den aus Irland gekommenen Galen (Scoti). Ihre Kunst lebt weiter in den mit verschlungenen Motiven verzierten Gedenksteinen und Steinkreuzen. Pitlochry: Mit vielen Hotels und touristischen Einrichtungen seit 150 Jahren ein beliebter Mittelpunkt für Besucher der Highlands, seit 1951 auch Sitz von Sommerfestspielen (Musik und Theater). Der Name des Ortes geht auf die Pikten zurück, die im 7. Jhdt. in der Nähe eine reich verzierte Kreuzstelle errichteten. Regency: Die Epoche 1811-1820, als der damalige Prince of Wales (der spätere König George IV.) als Regent für seinen an einer Geisteskrankheit leidenden Vater George III. regierte; der Begriff wird vor allem für den damaligen Stil in den ornamentalen Künsten und der Architektur verwendet. Royal Mile: Die ›Königliche Meile‹ in Edinburgh, gebildet -651-
von sieben aufeinanderfolgenden Plätzen und Straßen, führt von der Burg durch die Altstadt zum Holyrood Palace. Schottisches Recht: Schottland hat ein eigenes Rechtssystem, das nicht mit dem englischen Recht identisch, sondern stärker vom Römischen Recht beeinflußt ist. Scottish Office: Oberste Verwaltungsinstanz der britischen Regierung in Schottland mit Sitz in Edinburgh, untersteht dem Staatsminister für Schottland, der allerdings in London residiert (vielleicht nicht mehr lang, denn der Ruf nach Selbstständigkeit wird in Schottland immer lauter). Scots: Die Alltagssprache der meisten Schotten, auch ›Lallans‹ (= Lowlands, Sprache des Tieflandes genannt); dem Englischen nahe verwandt, aber in Akzent, Wortschatz, Grammatik und Idiomatik doch unterschiedlich; erlebte ein ähnliches Schicksal wie Plattdeutsch: im Mittelalter Amts- und Literatursprache, später zum Dialekt herabgesunken, in neuerer Zeit von patriotischen Dichtern (Robert Burns, Hugh MacDiarmid) wiederentdeckt und gebraucht. Scots Guards: Regiment der königlichen Leibgarde, in London stationiert, mit Rekruten aus ganz Schottland. Special Forces: Staatssicherheitspolizei mit dem Schwerpunkt Terrorismusbekämpfung. St. Mary's Episcopal Cathedral: Das Edinburgher Gotteshaus, in dem Randall Stewarts Trauerfeier stattfand, wurde 1873-1879 im Stil der viktorianischen Gotik errichtet und gilt als größte und schönste Kirche, die in Schottland seit der Reformation gebaut wurde. Stirling: Hauptstadt der Central Region mit Beinamen wie ›Tor zu den Highlands‹ , ›Bollwerk des Nordens‹ , Schottlands Glorie‹ , lange Zeit königliche Residenz. Tayside: Region in Ostschottland zwischen Grampian und Fife, besteht aus den früheren Grafschaften Angus, Perth und Kinrossshire. -652-
Torques: Halsring aus Bronze, Eisen, Gold u. a., von den keltischen Kriegern als Halsschmuck getragen. Trews: enganliegende Hose mit Tartanmuster. Western Isles: Die Äußeren Hebriden (Lewis, Harris, North & South Uist, Benbecula, Barra und zahlreiche kleinere Inseln); hier ist Gälisch noch Umgangs- und Amtssprache.
DANKSAGUNGEN Besonderer Dank gebührt folgenden Personen für ihre Unterstützung bei der Gestaltung dieses Romans: Sergeant Graham Brown, Police Constable Alan Jeffries und Police Constable lan Richardson von der Lothian and Borders Police, Edinburgh, für Informationen über schottische Polizeivorschriften; Dr. Richard Oram, der uns auch diesmal eine Fülle wissenschaftlicher Informationen über schottische Geschichte und Archäologie zur Verfügung gestellt hat; Mr. Kenneth Fräser, der uns auch diesmal in der St. Andrews University Library geholfen hat; Mrs. Edith Rendle für ihre Beratung über schottisches Recht und schottische juristische Verfahren; Dr. Ernan J. Gallagher für allgemeine medizinische Beratung und Dr. A.V.M. Davidson für ihre Beratung über medizinische Einrichtungen und Verfahren in Schottland; Scott MacMillan für seine Sachkunde in bezug auf Waffen, das Vorgehen der Polizei und interessante Motorfahrzeuge; Peter Morwood für militärische Beratung, besonders über den S.A.S; Bob Harris für allgemeine Unterstützung, Beistand und Hilfe bei Recherchen; und erneut der Zweigstelle des Scottish Tourist Information Bureau in St. Andrews, besonders Rhona McKay für ihre unermüdlichen Bemühungen, lokale Informationen -653-
ausfindig zu machen, die nicht in den Reiseführern zu finden sind.
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