Berte Bratt Die Glücksleiter hat viele Sprossen
Sonja und Heiko wollen nicht mehr getrennt leben. Wenn auch kein Luxus ...
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Berte Bratt Die Glücksleiter hat viele Sprossen
Sonja und Heiko wollen nicht mehr getrennt leben. Wenn auch kein Luxus sie erwartet – heiraten sie. Und beide sehnen sich nach Afrika. Doch dann kommt ein Tag, der ein Prüfstein führ ihre Liebe ist. Müssen die beiden ihren Traum begraben? Doch die Glückleiter hat auch für sie eine Sprosse reserviert.
© 1971/1988 Franz Schneider Verlag GmbH, München Alle Rechte vorbehalten Illustration: Werner Heymann Umschlaggestaltung: Claudia Böhmer (Entwurf), Regina Steinhauer (Gestaltung), Nikolaus Moras (Illustration) Herstellung: Manfred Prochnow ISBN 3-505-04.009-6 Bestell-Nr.: 4009
Erster Teil
Glücklich im Elternhaus
Nina barua Der Herbstregen klatschte gegen das Fenster. Die Baumwipfel wurden vom Sturm unbarmherzig gerüttelt, und die letzten braungelben Blätter wirbelten durch die Luft und fielen naß und welk zu Boden. Diese Tatsachen nahm ich sozusagen im Unterbewußtsein zur Kenntnis. Ich saß an meinem Schreibtisch am Fenster, die Hände unter dem Kinn, starrte hinaus in den trostlosen Herbsttag und murmelte leise vor mich hin: „Nina – una – ana – tuna – mna – wana. Sina – huna – hana hatuna – hamna – hawana – – “ „Was murmelst du über Havanna?“ Ich drehte mich um. Ich war von meinen Suaheli-Hilfsverben völlig in Anspruch genommen. So hatte ich gar nicht gehört, daß jemand ins Zimmer gekommen war. „Ach, du bist es, Hans Jörgen! Ich habe kein Wort über Havanna gesagt, ich sagte ,hawana’, und das bedeutet: ‚Sie haben nicht’.“ „Was du nicht sagst! Und wie heißt ,du hast’?“ „Una!“ „Gut. Also, tafadhali, una barua!“ Er legte einen Brief auf meine Suaheligrammatik.
„O Hans Jörgen, tausend Dank – ich meine, ahsante sana! Übrigens, wo hast du das Wort ,barua’ gelernt?“ „Mensch, du läßt ja immer deinen Sprachführer in der Gegend rumliegen.“ „Ach so. Da hast du auch ,tafadhali’ gelernt?“ „Erraten. Wie kann man bloß darauf kommen, das Wort tafadhali zu schaffen? ,Bitte’ und ,please’ sind doch viel vernünftiger.“ „Frage nicht mich. Wäre ich gefragt worden, wäre Suaheli viel einfacher geworden. Aber verschwinde jetzt, ich muß meinen Brief lesen!“ „Ach nee! Welche Überraschung! Ich dachte, du würdest ihn irgendwann nächste Woche aufmachen, wenn du zufällig Zeit hast!“ „Brüder sind das Schrecklichste, was ein Mädchen haben kann!“ stellte ich fest. „Ihr Schwestern müßt euch für das Glück anderer Mädchen opfern“, erklärte Hans Jörgen. „Aus den Brüdern werden einmal Freunde und Ehemänner und Väter.“ „Und Haustyrannen“, sagte ich. „Hans Jörgen, bitte verschwinde, ich will meinen Brief in Ruhe lesen!“ „Hast du noch etwas von der Nußschokolade?“ „Alter Erpresser! Hier, dies ist der Rest, und dann dampfst du ab, kapiert?“ „Ich glaube schon. Deine zarte Andeutung soll wohl heißen, daß dir das Alleinsein wünschenswert erscheint?“ Hans Jörgen grinste breit und verschwand, den Mund voll Schokolade. Ich lächelte. Ich verstehe mich besonders gut mit Hans Jörgen. Er ist wirklich ein prima Kerl. Dann konnte ich endlich meinen Brief aufmachen. Mein Heiko hat eine sonderbare Fähigkeit. Nämlich die, ein Maximum an Liebe mit einem Minimum an Worten auszudrücken. Ich wußte, daß er nie die Zeit für lange Briefe aufbringen konnte. Der Ärmste, er saß bis zum Hals in seinem Staatsexamen. Er schrieb mir zweimal in der Woche, immer ganz kurz, aber voller Liebe. Und wie er selbst gesagt hatte: „Vergiß nicht, mein Mädchen, es kommt auf die Qualität an, nicht auf die Quantität.“ Über die Qualität konnte ich mich wirklich nicht beklagen! Heikos ganze Liebe und Zärtlichkeit, seine Sehnsucht und seine Zukunftshoffnungen strömten mir entgegen aus dem kleinen, schnell geschriebenen Brief.
Ich blieb sitzen mit dem Blick auf sein Bild, das vor mir auf dem Schreibtisch stand. Es war eine Vergrößerung einer Aufnahme, die Senta in Serengeti gemacht hatte. Wie glücklich sah er dort aus! Braungebrannt, mit strubbeligen Haaren, mit einem strahlenden Lächeln – fröhlich, gelöst, einen kleinen Schalk im Auge. Wie würde er wohl jetzt aussehen? Die afrikanische Bräune hatte er bestimmt verloren, vielleicht auch etwas von der Fröhlichkeit. Damals hatte er seinen „Ferienausdruck“ gehabt. Jetzt arbeitete er, arbeitete achtzehn Stunden am Tag, arbeitete für sein Ziel, das auch meins war. Er arbeitete für uns, für unsere Zukunft, für unser Glück. Vor einem halben Jahr hatten wir uns kennengelernt. Damals hatten meine Zwillingsschwester Senta und ich in der deutschen Fernsehlotterie eine Ostafrikareise gewonnen. Im April sind wir losgefahren, und auf dieser Reise lernte ich Heiko kennen. Heiko, der genauso afrikabesessen ist wie ich. Heiko, der mir diese schon an sich märchenhaft schöne Reise noch märchenhafter gemacht hatte. Heiko, mit dem ich mich an einem frühen Morgen in Serengeti verlobt habe. Heiko, dem ich versprochen habe, durch dick und dünn mit ihm zu gehen, mit ihm nach Afrika, wenn der Tag käme, wo er seine Pläne verwirklichen konnte: Mit Examenspapieren, am liebsten auch einem Doktortitel – mit Führerschein, Pilotenschein, vorzüglichen Englisch- und guten Suahelikenntnissen sich um irgendeine Stellung in Afrika zu bewerben. Ob als Wildhüter oder Wissenschaftler, „Game Warden“ oder Fahrer – , alles würde ihm recht sein, wenn er bloß da unten leben konnte und das Seine zu dem beitragen, was er als seine Lebensaufgabe betrachtete: die Erhaltung der unberührten Natur und der herrlichen Tierwelt. Jahrelang hatte er zielbewußt gearbeitet, hatte Naturwissenschaft studiert, Englisch glänzend gelernt, den Führerschein für Lastwagen gemacht. Er konnte etwas Suaheli, er hatte vor wenigen Wochen den Pilotenschein gemacht. Nur noch dieses Examen – und dann die Doktorarbeit, dann konnten wir heiraten und unseren Traum verwirklichen. Aber vorläufig saß ich hier in meinem norwegischen Elternhaus und sehnte mich halbtot! Nun ja, „saß“ ist vielleicht nicht das richtige Wort. Zum Sitzen kommt man nicht viel, wenn man kocht und wäscht und bügelt und Kleinkinder zu betreuen hat. Die Kleinen sind meine beiden jüngsten Geschwister, Stefan, der zu diesem Zeitpunkt sieben war, und Annettchen, die gerade ihren dritten Geburtstag gefeiert hatte.
Und dann waren noch die Mannsbilder zu versorgen. Vor allem mein vielbeschäftigter Vater, der manchmal nur ganz schnell zwischen einem zu schienenden Bein und einer komplizierten Gallenoperation nach Hause kam, um etwas zu essen, nach dem Rechten zu sehen und seine Frau zu küssen. Dann der fünfzehnjährige Hans Jörgen. Mein ältester Bruder, Bernt, war schon in der liebevollen Obhut seiner jungen Ehefrau Katrin. Aber die beiden wohnten noch in der Unteretage in unserem Haus, so daß die ganze Familie beisammen war. Nein, nicht die ganze. Senta fehlte uns. Sie lernte Diätkochen an der Universitätsklinik in Kiel, und es läßt sich nicht leugnen, daß ich sie beneidete. Nicht wegen des Diätkochens – das gewöhnliche, alltägliche Kochen genügte mir reichlich – , aber wegen der kurzen Entfernung von Hamburg. Denn in Hamburg saß mein Heiko über seinen zoologischen Büchern. Abgesehen von Senta waren wir also vollzählig zu Hause. Und die Seele des Ganzen, der feste Punkt, das Zentrum, diejenige, die die ganze häusliche Maschinerie im Gange hielt, das war Beate – unsere Beatemutti, unsere geliebte, junge, fröhliche Stiefmutter. Für Stefan und Annette ist sie die richtige Mutter, aber wir vier „Großen“ lieben sie, als wäre sie wirklich unsere Mutter. Was biologisch gesehen eine Unmöglichkeit wäre, weil sie nur zehn Jahre älter als ihr ältester Stiefsohn ist! Übrigens, es war verkehrt, was ich gerade sagte. Nicht wir vier großen. Fünf muß es heißen. Denn meine Schwägerin Katrin liebt Beatemutti genauso abgöttisch, wie wir es tun. Die liebe, gute, sanfte Beatemutti – Ich sprang hoch. Ein fürchterlicher Schrei hallte durch das Haus. Ich rannte die Treppe runter. In der Küche fand ich meine hoffnungsvolle jüngste Schwester vor. Sie brüllte ungehemmt, dicke Tränen kullerten aus ihren blauen Guckern, und sie hielt ihre beiden kleinen Hände fest an ihr Popöchen gedrückt. „Um Himmels willen, was ist denn los?“ Meine liebe, gute (siehe oben) Beatemutti stand über ihre Jüngste gebeugt und sah im Augenblick mehr tatkräftig als sanft aus. „Kein Grund zur Aufregung! So, und nun marsch rein mit dir (das letzte war an Annette gerichtet), und wenn du das noch einmal tust, zieh ich dir das Höschen runter! Hast du verstanden?“ „Aber Beatemutti - “ versuchte ich.
„Fang bloß nicht an, sie zu trösten!“ sagte Beatemutti. Sie verfrachtete die brüllende Sünderin ins Wohnzimmer zu ihren Brüdern. „Das kleine Biest weiß genau, daß sie die elektrischen Schalter nicht anfassen darf. Außerdem hatte ich ihr verboten, in die Küche zu kommen. Aber sie ist hinter meinem Rücken reingeschlichen und hat die Küchenmaschine angeknipst – um ein Haar hätte sie die Hand in die Rührschüssel gesteckt. Ein Klaps auf den Hintern ist weniger gefährlich als eine zerquetschte Hand, merk dir das, für den Fall, daß du selbst mal Kinder kriegst!“ Beatemutti wischte sich schnell die Augen. „Nanu, heulst du?“ „Ach, Quatsch – ich meine: ja, ich tu’s! Glaubst du, daß es Spaß macht, sein Kind zu schlagen? So, das wäre aber erledigt, hoffentlich begreift sie es nun, der Racker. Und daß du mir bloß keine Rede über psychologische Kindererziehung runterleierst. Ich pfeife auf die Psychologie!“ „Beatemutti, du bist einmalig!“ „Das wird allgemein behauptet in der Familie. So, nun sag mir lieber, was macht dein Heiko? Und übrigens, kennst du ein Mädchen mit dem sonderbaren Namen Nina Barua?“ „Nina Ba-?“ Ich lachte laut. „Wie kommst du darauf, Mutti?“ „Oh, es war Hans Jörgen, der grade den komischen Namen murmelte – sag mal, fängt der Beugel an, sich für Mädchen zu interessieren?“ Jetzt schrie ich vor Lachen. „Beatemutti! Das ist ja Suaheli! ,Nina barua’ bedeutet ,ich habe einen Brief, und wenn du weiter hingehorcht hättest, hättest du vielleicht die Fortsetzung mitgekriegt: ,Una barua – ana barua – tuna barua-’“ „Hör auf! Wie geht es Heiko?“ „Er arbeitet. Und hat mich lieb. Und läßt grüßen.“ „Drei gute Nachrichten also. Wann kommt er?“ „Mit Gottes Hilfe vielleicht zu Weihnachten. Oder jedenfalls Silvester.“ „Ja. das muß er doch! Er darf nicht am 21. Geburtstag seiner Braut fehlen.“ „Hoffentlich sieht er das ein. Was soll ich machen, Beatemutti, die Plättwäsche oder das Abendbrot für Papa?“ „Letzteres, bitte. Im Kühlschrank liegt ein Brathähnchen, das soll er nach diesem anstrengenden Tag haben.“
Ich nickte. Papa war gar nicht zum Mittagsessen gekommen. Wir hatten nur Bescheid von der Klinik gekriegt, Herr Doktor müsse operieren, es sei ein Unfall, die Operation würde voraussichtlich lange dauern. Solche Bescheide kannten wir hier im Haus. Beatemutti holte Eier und Butter und fing an, einen Kuchenteig anzurühren. Ja, heut war Freitag, also hatte sie den traditionellen Samstagskuchen im Sinn. Annettchens Gebrüll hatte aufgehört. Jetzt herrschte Ruhe im Haus. Wir standen da, jede mit ihrer Beschäftigung, – Brathuhn und Samstagskuchen. Es war schön, zusammen mit Beatemutti in der Küche zu arbeiten. Sie behauptet selbst immer, daß die Küche die beste Umgebung für vertrauliche Frauengespräche ist. „Es ist eigentlich komisch“, sagte Beatemutti nachdenklich, „daß wir den Mann kaum kennen, den du heiraten wirst.“ „Ihr habt euch doch zwei Tage von morgens bis abends mit ihm unterhalten!“ erwiderte ich. „Ja, zwei Pfingsttage mit der ganzen störenden Familie um uns!“ Das stimmte schon. Es war überhaupt ein Wunder, daß Heiko sich für die paar Tage losgerissen hatte und gekommen war. Eigentlich hatte ich das meinem zukünftigen Schwager Rolf zu verdanken. Er saß da im vorletzten Semester seiner Zahnarztstudien in Kiel, hatte im Frühling seinen Motorroller verkauft und sich ein Kleinauto zugelegt, und als er mit Senta zum Pfingstbesuch nach Norwegen fuhr, hatten die beiden ganz einfach Heiko am Schlafittchen genommen, ihm die Bücher sozusagen vor der Nase zugeknallt und ihm klargemacht, daß er jetzt die paar Tage seine Arbeit schwänzen sollte, um nach Norwegen mitzukommen, seine junge Braut abzuküssen und die Schwiegerfamilie kennenzulernen. So erlebten wir ein paar wunderschöne Tage. Heiko gefiel Papa und Beatemutti, und er fühlte sich wohl bei uns. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er Papa gegenübersaß und ihm von seinen Zukunftsplänen erzählte, während ich eifrig und zustimmend nickte. „Eigentlich habe ich nur eins gegen ihn“, sagte Papa mir nachher. „Daß er unser Mädelchen ganz einfach in einen anderen Erdteil entführen will.“ „Alles mit der Ruhe, Papa, du hast noch zwei Töchter“, tröstete ich ihn. „Ja, Gott sei Dank, Rolf und Senta werden ja nach Oslo
zurückkommen. Aber was meine Jüngste betrifft, fühle ich mich nicht sicher. Wer weiß, ob sie sich nicht in achtzehn Jahren in einen Mondpiloten verliebt und mit ihm die Flitterwochen auf einer Raumstation verbringt!“ „Siehst du, dann bin ich ja ganz in eurer Nähe. Vergiß nicht, Paps, nur zehn Stunden mit dem Flugzeug werden uns trennen.“ „Vielen Dank“, seufzte Beatemutti. „Meinst du, daß wir jedes Wochenende etliche tausend Kronen für Flugkarten aufbringen können?“ „Beatemutti“, sagte ich. „Sei ehrlich. Wenn Papa eine Anstellung als Krankenhausleiter auf dem Südpol bekommen hätte, was hättest du dann getan?“ „Ich wäre mit ihm gefahren“, sagte Beatemutti. „Na also. Dann mußt du ja mich verstehen!“ „Natürlich verstehe ich dich, mein Mädchen! Und Hauptsache ist nicht, wo du dein Leben verbringen wirst, sondern mit wem. Besser mit einem guten, klugen Mann, den du außerdem liebst, in Afrika, als mit einem Vernunftspartner in unserer unmittelbaren Nähe.“ „Richtig“, nickte Papa. „Nur eins muß sicher sein, Sonnie, es muß hundertprozentig sicher sein.“ „Und das wäre?“ „Daß ihr euch liebt. Daß ihr euch wirklich bis in die Tiefe eurer Seelen liebt.“ „Das ist sicher, Papa.“ „Ich glaube es schon. Aber ihr sollt euch prüfen, Sonjakind. Ihr sollt einander und euch selbst gegenüber ehrlich sein. Ist die Liebe so groß, daß sie euch über alle Schwierigkeiten hinweghelfen wird, so tief und so innig, daß sie alle Probleme für euch lösen kann? Ist sie so - verdammt noch mal!“ Das letztere bezog sich nicht auf die Liebe, sondern auf das aufdringlich läutende Telefon. Das Biest neigt sehr dazu, in unserem Haus die nettesten Stunden, die wichtigsten Gespräche, das gemütlichste Zusammensein zu unterbrechen. Zwei Minuten später saß mein vielgeplagter Vater im Wagen und sauste Richtung Klinik. Wie gesagt, das war alles nach Heikos Besuch im Juni. Er fuhr zurück zu seinen Flugstunden und seinen Büchern. Er hatte mir anvertraut, daß er es wagen würde, schon in diesem Herbst sich Hals über Kopf ins Examen zu stürzen. Außerdem hatte er schon einen Doktorvater und ein Thema für seine Doktorarbeit. Wenn er viel
Glück hätte, gesund bliebe und seine sehnsüchtige Braut mit sehr kurzen Briefen abspeisen dürfte, wäre es möglich, daß er im nächsten Frühjahr oder Anfang des Sommers seinen Doktortitel unter Dach und Fach hätte. Und dann - ja, dann! All das ging mir durch den Kopf, als ich an diesem Herbsttag dastand, mit einem der sehr kurzen Briefe in der Tasche und mit dem Brathähnchen vor mir auf dem Küchentisch. Beatemutti schaltete den Backofen ein. „Du brauchst doch nur den irdenen Topf für das Hähnchen?“ „Gewiß. Nimm du den Ofen für deinen Kuchen.“ Sie goß den Teig in die Springform, kratzte alles sorgfältig aus der Rührschüssel. „Sonjakind, ich stehe hier und denke an Heiko.“ „So, tust du das? Ich auch!“ „Was du nicht sagst. Weißt du noch damals im Sommer, als wir von der hundertprozentigen Liebe sprachen-“ „ – und Papa wegrennen mußte, ja das weiß ich genau.“ „Ich denke auch an die hundertprozentige Liebe, Sonnie.“ „Bezweifelst du, daß Heikos und meine Liebe hundertprozentig ist?“ „Ich bezweifle nichts. Aber ich frage mich immer, ob ihr euch gut genug kennt. Es war eine Urlaubsliebe, Sonnie – jeder Mensch ist im Urlaub glücklich, munter – sozusagen sympathisch! Ich meine, wagt ihr es, eure ganze Zukunft auf eine Urlaubsbekanntschaft zu gründen? Was weißt du über Heikos Alltagsleben, über seine Gewohnheiten, seine Schwächen und Fehler? Und was weiß er über deine?“ Ich holte die Paprikabüchse und schraubte langsam den Deckel ab. „Nein, da kannst du recht haben, Mutti. Aber siehst du, wir haben so sehr viel gemeinsam, und wir haben uns geliebt – ja wirklich auf den ersten Blick – , und ich glaube fest und sicher, daß unsere Liebe groß genug ist, um uns über kleine Alltagsschwierigkeiten hinwegzuhelfen.“ Ich rieb das Hähnchen sorgfältig mit Paprika ein. Dann sprach ich weiter: „Und vergiß nicht, daß meine Liebe so groß ist, daß ich willig und bereit bin, alles zu verlassen und mit Heiko ein neues Leben in einem fremden Land anzufangen-“ „Halt!“ sagte Beatemutti. „Jetzt bist du genau bei dem wunden
Punkt.“ „Wieso?“ „Daß du mit Heiko zusammen die Erfüllung deines größten Wunsches gern erlebst, das glaube ich dir schon! Du darfst aber dir selbst nichts vormachen, Kind. Du betrügst dich selbst, wenn du gerade das als Liebesbeweis anführst. Ich wäre mehr überzeugt, wenn du um Heikos und um deiner Liebe willen auf deinen Wunschtraum verzichten könntest. Könntest du das Sonja? Wenn nun eure ganzen Afrikapläne ins Wasser fallen sollten, wenn nun Heiko dasäße und sein schönes Examen nur als Ausgangspunkt für eine Studienratsstellung in Hamburg verwenden könnte? Wenn du dein Leben in einer ganz gewöhnlichen Mittelklassewohnung in Hamburg verbringen müßtest, deinen Haushalt machen, Kinder kriegen, jeden Sommer an der Nordsee oder in einer Familienpension in Bayern verleben müßtest – liebst du ihn so, daß du das könntest, Sonja? Alles hier verlassen, nicht wegen eines herrlichen, abenteuerlichen Lebens bei deinen Löwen und Giraffen in Afrika, sondern wegen eines ganz gewöhnlichen Alltagsdaseins in Hamburg oder in einer anderen deutschen Stadt. Die Frage mußt du dir stellen, Kind. Wenn du aus heiliger Überzeugung und aus einem ganz, ganz ehrlichen Herzen darauf ein Ja antworten kannst, – dann liebst du Heiko so, wie man den Mann lieben muß, mit dem man eine Ehe führen will.“ „Du meinst - “ sagte ich langsam, „du meinst, ob ich mir Heiko ohne Afrika denken könnte – oder Afrika ohne Heiko?“ „So kannst du es auch formulieren.“ Ich stellte den irdenen Topf auf den Herd und holte die Butter aus dem Kühlschrank. „Siehst du, du antwortest nicht gleich“, sagte Beatemutti, und ihre Stimme war sanft und voll Liebe. „Das freut mich eigentlich. Denn das bedeutet, daß du über die Frage nachdenkst. Ein schnelles, spontanes, unüberlegtes ,Ja’ hätte mir Kummer gemacht.“ Ich mußte lächeln. „Du bist eine komische Nudel, Beatemutti.“ „Nudeln!“ rief Mutti. „Setz schnell Nudeln auf, die ißt Papa doch so gern zum Hähnchen!“ Die Tür ging auf. Da stand Hans Jörgen mit der Sünderin Annette an der Hand. „Na, was wollt ihr beide?“ „Ich will gar nichts, aber mein verehrtes Fräulein Schwester will
was.“ „Nun, Annettchen, wolltest du Mutti was sagen?“ Beate hockte vor ihrer Jüngsten. „Bin wieder lieb“, teilte Annettchen mit. „Werde es nie wieder tun.“ Beatemutti nahm sie in die Arme. „Das ist aber schön, mein Schatz. Dann braucht Mutti dir auch keinen Klaps zu geben.“ „Küßchen geben“, sagte Annette und setzte ihr Vorhaben in die Tat um. Hans Jörgen schnupperte. „Hier riecht es aber gut – was gibt es? Warmes Abendessen?“ „Ja, für Papa. Paprikahuhn.“ „Fein. Wenn ich mal nach Afrika komme, werde ich das immer essen.“ „Ich wußte nicht, daß du so gern Paprikahuhn ißt.“ „Aber in Afrika unbedingt. Weil es mir Spaß machen würde, es auf Suaheli zu bestellen.“ „Und das könntest du?“ „Klar. Ganz einfach. Kuku na pilipili hoho.“ „Was?“ „Kuku na pilipili hoho. Das mußt du doch wissen. Es steht in deinem Sprachführer im Kapitel ,Restaurant und Cafe’!“ „Keine Ahnung. Ich kümmere mich vorläufig um die Verben und die Wortstellung. So, nun aber raus mit euch. Wenn du den Tisch decken würdest, könntest du zum allgemeinen Wohl erheblich beitragen, Hans Jörgen.“ „Na gut, wenn es sein muß. Komm, Annettchen, dein Typ ist hier nicht gefragt.“ Beatemutti schüttelte lächelnd den Kopf. „So ein Junge“, schmunzelte sie. „Ja, siehst du, das hast du aus dem verhätschelten Baby gemacht, das du vor neun Jahren hier vorfandest!“ „Dann habe ich also nicht vergeblich gelebt. Paß auf, Sonja, deine Nudeln kochen. Und – Himmel, mein Kuchen!“ Ein paar Minuten später hörten wir das Auto. Stefan stürzte in den Flur und machte die Tür auf. Hans Jörgen nahm Papas Mantel. Annettchen umarmte seine Knie. Beatemutti gab ihm einen Kuß, und ich nahm ihm die Tasche aus der Hand. Er sah müde und abgespannt aus, aber jetzt glättete sich sein
Gesicht, und er lächelte. „Wie schön ist es doch, nach Hause zu kommen, Kinder!“ „Hast du Hunger, Papa?“ „Und wie! Ich könnte ein halbes Schwein essen. Was gibt es?“ „Kuku na pilipili hoho“, sagte ich und rannte zurück in die Küche, um mein „Kuku“ anzurichten.
Kartoffelpuffer mit Apfelmus Auf einem Hocker neben mir stand ein überfüllter Wäschekorb, und am Plättbrett stand ich. Plätten gehört nicht zu meinen Lieblingsarbeiten. Aber wenn man freiwillig die Hausarbeit gewählt hat, muß man ja alles mitnehmen, das Gute und das Böse. Zum Bösen gehörte meiner Ansicht nach das todlangweilige Plätten. Eigentlich hätte ich ja diesen Herbst meine Ausbildung als Säuglingsschwester anfangen sollen. Aber Heiko hatte all meine Pläne durcheinandergebracht. Wir wollten ja so bald wie möglich heiraten, und dann mußte ich unbedingt für meine Hausfrauenarbeit besser gerüstet sein. Als Papa etwas über Haushaltsschule äußerte, protestierte ich. „Das ist ja alles Mumpitz, Papa – entschuldige, ich meine, das dürfte überflüssig sein. Warum soll ich meine Kräfte fürs Kochen und Abwaschen in einer blöden und außerdem teuren Schule vergeuden, wenn ich sie hier als Arbeitserleichterung für Beatemutti einsetzen kann? Mutti kann mir genausoviel beibringen wie irgendeine Haushaltslehrerin. Dann schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe, Mutti kriegt Hilfe, und ich kriege eine Ausbildung.“ „Und außerdem ein bißchen Lohn“, sagte Papa. „Damit du das Porto nach Hamburg bezahlen kannst.“ „Und Lehrbücher in Suaheli“, fügte ich hinzu. „Beatemutti, darf ich mich also um die Stellung als Hausgehilfin bei dir bewerben?“ „Mit Familienanschluß?“ fragte Mutti. Vier Monate hatte ich jetzt im elterlichen Haushalt gearbeitet. Ich hatte das Gefühl, daß ich in dieser Zeit zentnerweise Kartoffeln geschält, Megatonnen Obst eingekocht, eine ganze Rinderherde gebraten und Wäscheberge geplättet hatte, die, aufeinandergestapelt, ein Gebilde ungefähr wie der Monte Rosa ausmachen würden. Heut war ich also wieder bei der Wäsche. Es gibt keine Hausarbeit, bei der man so gut seinen eigenen Gedanken nachgehen kann, wie grade das Plätten. Es geht ja alles vollkommen automatisch, die Hände arbeiten selbständig, und der Kopf ist frei und kann für wichtigere Dinge eingesetzt werden. Ich brauchte meinen Kopf auch dringend. Ich brauchte ihn für Dinge, die für mich die wichtigsten im Leben waren. Nämlich für die Fragen, die Beatemutti an dem denkwürdigen Nachmittag bei dem
Paprikahuhn gestellt hatte. Ich war verliebt, verliebt bis über die Ohren. Und trotzdem hatte ich ein klein bißchen Vernunft behalten. Diese Vernunft sagte mir, daß ich den wunden Punkt durchdenken mußte, daß ich zu mir selbst erbarmungslos ehrlich sein mußte. Ich durfte nicht mein ganzes Leben auf einer Einbildung oder einer Ferienverliebtheit aufbauen. Wenn ich mein Vaterland und meine geliebte Familie verließ und mich ganz und gar von einem einzigen Menschen abhängig machte, dann mußte ich eben hundertprozentig sicher sein, daß dieser eine Mensch wirklich alles auf der Welt für mich bedeutete. Ich mußte ihn von ganzem Herzen lieben, mit seinen Fehlern und Schwächen, mit seinen Eigenarten und Ideen, mit seiner Erziehung und seinem Milieu. Ich hatte einen einzigen Tag in seinem Elternhaus verbracht. Den Tag, an dem wir im Frühjahr von unserer Afrikareise zurückkamen. Ich hatte meine Flugkarte Frankfurt – Hamburg einem Bekannten überlassen und fuhr selbst die Nacht durch mit der Bahn, zusammen mit Heiko. Wie gern dachte ich an diese Nacht! Zum Schlafen kamen wir kaum, dafür haben wir uns kennengelernt. Es ist erstaunlich, wieviel man in sieben Stunden fragen und erzählen kann, wenn man ganz ungestört ist. Und das waren wir. Wir waren allein im Abteil, es war still und halbdunkel um uns, nur der Schaffner kam hin und wieder mit seinem „Ist noch jemand zugestiegen?“ Wir erzählten einander von unseren Interessen, von unseren Steckenpferden, von unseren Familien. Und dann erzählten wir einander ein paar Mal – das heißt, ein paar Mal pro Stunde – , wie lieb wir uns hatten. Eins muß ich sagen: Heikos Eltern nahmen es mit Fassung auf, daß plötzlich eine junge Ausländerin, von der sie nie gehört hatten, hereinschneite und als Schwiegertochter vorgestellt wurde. Aber da war etwas – etwas, was mir fremd und sonderbar vorkam. Als wir uns Hamburg näherten, sagte ich: „Wer kriegt nun den ersten Schock, Heiko? Wer, glaubst du, holt dich am Bahnhof ab?“ „Abholen?“ sagte Heiko voll Staunen. „Menschenskind, warum sollte mich jemand abholen? Vati ist im Dienst, Muttchen hat zu Hause zu tun, mein Bruder ist in seiner Schule. Ich war schließlich nur vierzehn Tage weg, wir sind doch erwachsene Menschen!“
Daran hatte ich gedacht, als ich zwei Tage später nach Hause kam. Ich stand an der Reling des Schiffes, und schon von weitem sah ich Beatemuttis und Katrins winkende Hände – und Annettchen auf Muttis Arm. „Hops in den Wagen“, war Katrins Willkommensgruß. „Wir müssen wie die nackten Wilden fahren, wenn ich es schaffen soll, rechtzeitig im Labor zu sein.“ „Liebste Katrin, es wäre doch nicht nötig – “, fing ich an. „Bei dir piept’s wohl“, sagte Katrin und manövrierte mit Elan den Wagen aus der engen Parklücke. „Ich lasse dich doch nicht unabgeholt nach Hause kommen, wenn du auf der anderen Halbkugel gewesen bist. Aber ich muß euch einfach vor dem Gartentor rausschmeißen, dann muß ich wie ein geölter Kugelblitz zum Dienst!“ Beatemutti hatte mein Lieblingsessen – Hammelbraten und Karameleis – vorbereitet, und in meinem Zimmer standen Blumen. Als dann die ganze Familie versammelt war – zur Feier des Tages aßen Bernt und Katrin mit uns – , ging das Erzählen los und vor allem das Verteilen der Mitbringsel. Nicht daß ich große oder teure Geschenke gekauft hatte – ja doch, das Armband aus afrikanischen Steinen für Beatemutti konnte sich schon sehen lassen – , aber die kleinen hölzernen, geschnitzten Brieföffner für Papa und meine Brüder, das Salatbesteck für Katrin und ein winziges Holznashorn für Annettchen waren ganz billig gewesen. Alles wurde sehr feierlich ausgepackt und mit Jubel empfangen. Die Jungen verglichen ihre Brieföffner, Stefan hatte einen mit einem geschnitzten Löwen, Bernt eine Gazelle, Vati ein Krokodil. Beate legte gleich das Armband an – kurz, es war alles so, wie es sein soll. Aber bei Heiko… Als wir aus dem Zug stiegen, kam mir ein Gedanke. Ich wollte zuerst meine Freundin Anke besuchen. Sie wohnte nicht allzuweit vom Hauptbahnhof. Dann konnte Heiko allein nach Hause fahren und seine Eltern „schonend vorbereiten“. Anke war froh, daß ich kam. Eben hatte sie ihren Mann verloren – den Mann, den sie nur geheiratet hatte, weil ihr Kind auf die Welt kommen sollte. Wir verbrachten eine friedliche, vertrauliche Stunde zusammen, und Anke fand es wunderbar, daß ich einen Hamburger heiraten wollte. „Du wirst wohl nicht immer da unten bei deinen Löwen sein“, meinte sie hoffnungsvoll. „Wie schön, wenn du auch manchmal in Hamburg wohnen würdest!“ Dann holte Heiko mich ab. Kurz darauf stand ich meiner
zukünftigen Schwiegermutter gegenüber. Sie war reizend, ich mochte sie sehr gern. Heiko und ich erzählten, wie wir uns kennengelernt hatten, von unserem gemeinsamen Interesse, unserer großen Afrikaliebe. Heikos Mutter nickte: „Und dann war es Liebe auf den ersten Blick, nicht wahr? Ja, wenn jemand auf der Welt das versteht, dann bin ich es. Genauso ging es ja damals mir. – Und Sie wagen es wirklich, Sonja? Diesen verrückten, besessenen Afrikaner, dieses Arbeitspferd zu heiraten?“ „Ja“, sagte ich. „Verrückt und besessen bin ich selbst, und was Arbeitspferd betrifft, so arbeitet er ja für unser gemeinsames Ziel! Es ist ein größeres Wunder, daß Heiko es wagt, mich zu heiraten. Ich werde bestimmt eine kuriose Hausfrau abgeben, jedenfalls mit vernünftigen deutschen Hausfrauenaugen gesehen!“ „Ach, das kommt alles mit der Übung“, tröstete mich Heikos Mutter. „Aber da wir von Hausfrauenarbeit sprechen: Ich muß in die Küche, heut gibt es ja Heikos Lieblingsessen, damit muß ich rechtzeitig anfangen.“ „Darf ich mitkommen?“ fragte ich. „Herzlich gern, dann können Sie ja gleich lernen, echte deutsche Kartoffelpuffer zu machen.“ Kartoffelpuffer! Das war also Heikos Lieblingsessen! Ich kannte das Gericht nicht. Ich sah mit großen und erstaunten Augen, wie meine Schwiegermutter Berge von Kartoffeln schälte und auf der Reibe ganz fein rieb, und das mit Engelsgeduld. Lieber Himmel! Das hätte Beatemutti in Windeseile mit der Küchenmaschine gemacht, falls wir in Norwegen überhaupt Kartoffelpuffer gekannt hätten. Ja, dachte ich, dies wird also der Nachtisch sein, aber was gibt es sonst? Es gab gar nichts mehr. Kleine runde Plätzchen aus geriebenen Kartoffeln, dazu Apfelmus. Das war das ganze Mittagessen. Wenn ich das meinem hungrigen Vater und meinen gefräßigen Brüdern vorgesetzt hätte! Ich bekam so eine Ahnung, daß diese Kartoffelpuffer sozusagen das erste Warnsignal waren. Der erste kleine Beweis dafür, daß ich mich gewaltig umstellen mußte. Da würden bestimmt mehr – viel mehr – Überraschungen kommen. Heikos Vater war ruhig, freundlich und sympathisch. Den Bruder traf ich nicht, er würde erst spätabends nach Hause kommen. So saß ich mit diesen drei Menschen. Zwei davon sah ich zum
ersten Mal, den dritten liebte ich von ganzem Herzen, liebte ihn über alles auf der Welt. Der Blick aus seinen Augen, der schnelle Händedruck unter der Tischkante – das half mir durch diese ganze merkwürdige Situation. Wäre ich ohne Heiko in dieses – na ja, sagen wir, gutbürgerliche Milieu reingerutscht, hätte ich mich fremd und unsicher gefühlt. Jetzt wußte ich, die alten Möbel mit ihren Plüschbezügen, die Schränke mit Säulen und Knäufen, die Küche, ganz ohne blitzblanke elektrische Hilfsmittel, – ja, und die Kartoffelpuffer mit Apfelmus, das waren Teile von Heikos Dasein, er war damit verbunden, für ihn war das alles selbstverständlich. Also erkannte ich es an und sagte mir selbst, daß ich ja nicht von seinem Elternhaus erwarten könne, es sollte eine Kopie von meinem sein! Kein Mensch fand es auffallend, daß Heiko kein einziges Mitbringsel hatte. Niemand außer mir. Warum hatte er nun nicht mindestens seiner Mutter so ein kleines geschnitztes Tierchen für einen Schilling gekauft, – keine sechzig Pfennig – oder so ein Miniatur-Salatbesteck, das auch denkbar billig war? Natürlich war es eine Kleinigkeit, es bedeutete doch nichts, daß man in dieser Familie weniger schenkte und weniger auf die Beine stellte, um etwas zu feiern. Vielleicht war Heikos Familie normal und meine eigene ein bißchen verrückt. Aber, aber - manchmal war es doch schön, verrückt zu sein! Am Abend brachte Heiko mich zum Kieler Zug. Wir fuhren mit der Straßenbahn zum Bahnhof. Das Wort Taxe wurde überhaupt nicht erwähnt. War ich denn ein verwöhntes Luxusmädchen, weil es mir selbstverständlich vorkam, mit einem unhandlichen Koffer per Auto zum Bahnhof zu fahren? Es war die schlimmste Verkehrszeit, nur mit Mühe und Not kamen wir selbst und der Koffer in eine überfüllte Bahn und standen so eng wie die Dosenheringe. Aber beim Abschied am Bahnhof vergaß ich alles, was mir fremd und merkwürdig vorgekommen war. Denn Heikos Abschiedsworte, die er mir ins Ohr flüsterte, sein Händedruck, der Ausdruck in seinen Augen – ja, das machte mein Glück wieder groß und bewußt. Senta war am Bahnhof in Kiel. Wir fuhren – per Taxe! – zu Frau von Waldenburg, wo der Hund Bicky mich stürmisch empfing und wo ein schönes warmes Abendessen bereitstand. Am folgenden Morgen packte Frau von Waldenburg uns in ihren Wagen, fuhr zuerst Senta zur Universitätsklinik, wo sie heut als Diätküchenschülerin anfing, und dann brachte sie mich zum Kai.
Wie war ich froh, daß Senta diese reizende Frau von Waldenburg hatte, daß sie ihr schönes Zimmer behalten durfte – und dann hatte sie Rolf in der Nähe. Was für ein Glückspilz war doch meine Schwester. Während ich… Ja, ich hatte das Gefühl, daß das Leben, das vor mir lag, mir etliche Komplikationen verschaffen würde. „Ach was!“ sagte ich mir selbst. „Du hast grade die schönsten Tage deines Lebens hinter dir, und du hast ein Leben mit dem Mann, den du über alles auf der Welt liebst, vor dir. Was machst du dir bloß für unnötige Sorgen, du Schaf?“ Am folgenden Morgen war ich in Oslo, und da sah ich, wie schon gesagt, Beatemutti, Katrin und Annettchen auf dem Kai. Jetzt stand ich also an diesem kühlen Herbsttag am Plättbrett. Während ich in Gedanken die Geschehnisse der letzten Monate noch einmal erlebte, waren die Stöße fertiger Plättwäsche sehr schön gewachsen. Nur noch das Kleid von Annettchen und dann zwei Blusen... Wenn ich bloß bald Bescheid von Heiko bekäme! Jetzt müßte doch das Examensresultat da sein. Ich war riesig gespannt! Wenn nun alles gutgegangen war, hatten wir eine ganz große und schwere Sprosse unserer Glücksleiter unter uns. Dann waren wir viel, viel näher am Ziel! Aber wenn er nun Pech gehabt hatte? Es war ja ein Wagnis gewesen, daß er sich jetzt schon zum Examen gemeldet hatte. Oh, wenn bloß, wenn bloß... Das Telefon klingelte. Ich stellte das Eisen auf den Rost und ging ran. „Hier bei Dr. Rywig, Privatwohnung.“ Dann machte mein Herz einen Purzelbaum. Denn am anderen Ende der Leitung wurde deutsch gesprochen. „Bist du es, Sonnie?“ „Heiko! Liebster – was ist - “ „Glück gehabt, Liebling! Bestanden! Fein bestanden! Ich schreibe dir heut! Ich komme Silvester! Geht es dir gut?“ „Fein, Heiko! Du, wie schön, daß du-“ „Schon fünf Gesprächseinheiten, Sonnie, ich lege auf, Wiedersehen, mein Herz!“ Bums. Hörer zurückgelegt. Ich mußte lächeln. Mein sparsamer Heiko! Fünf Gesprächseinheiten zu 18 Pfennig – 90 Pfennig hatte er spendiert. Ach, mein lieber, vernünftiger, bescheidener Heiko! Himmel, wie war ich froh, daß es gutgegangen war! Nun konnte
er sich ganz und gar auf die Doktorarbeit konzentrieren – oder – vielleicht mußte er gleich anfangen zu arbeiten und die Doktorarbeit nebenbei machen. Nun, das würde er mir alles schreiben. Denn heute würde er wohl die Zeit für einen langen Brief aufbringen können! „Schon fünf Gesprächseinheiten“ – und wenn er nun noch fünf zugegeben hätte, damit ich ihm sagen konnte, wie glücklich ich war und wie ich mich freute! Aber – ach Unsinn, warum Geld für etwas ausgeben, was er sowieso wußte! Wieder lächelte ich und ging zurück zum Plättbrett. Dann hatte ich plötzlich das Gefühl, daß mein Lächeln sozusagen durchs Gehirn gegangen war. So ganz von allein war es nicht auf mein Gesicht gekommen. „Quatsch, Sonja“, sagte ich mir selbst. „In fünf Wochen kommt Heiko! Du kannst schon anfangen, Striche in den Kalender zu machen!“ Und dann sehnte ich mich so furchtbar – so ganz schrecklich, ich wußte gar nicht, wie ich die fünf nächsten Wochen aushalten sollte! Ach, wenn er nur näher wäre! Ich wollte so gern in seiner Armbeuge sitzen, so wie im Zug und im Auto am letzten Safaritag im Frühjahr – ich wollte – ich wollte - na, meinetwegen Kartoffelpuffer für ihn machen, Kartoffelpuffer aus einem Zentner handgeriebenen Kartoffeln!
Drei im Wagen Unser ganzes Haus duftete nach Schmalz und Tannenzweigen. In allen Schlafzimmern raschelte Papier, die Türen waren abgeschlossen – nur Stefan, der für seine Tür keinen Schlüssel hatte, mußte einen anderen Ausweg finden. Da hing ein großes Schild mit „Zutrit ferboten“. Ich stand in der Küche und rollte Pfeffernüsse aus. Die waren von jeher meine Lieblingskuchen. Beatemutti schwitzte über ihren Vanilleplätzchen und Schmalzkringelchen. Aber mit einer Kuchensorte mußten wir warten, bis Senta da war: Schürzkuchen! Die hatten wir gemeinsam gebacken, als Beatemutti gerade zu uns gekommen war. Damals standen wir alle in der Küche, sogar Papa war dabei – , und vielleicht hatten wir alle bei der Gelegenheit stärker als sonst empfunden, daß wir zusammengehörten, daß wir uns liebten, daß wir einander gefunden hatten. Das hatten wir alles Beatemutti zu verdanken. Denn unsere frühe Kindheit war nicht sehr sonnig gewesen. Senta und ich waren sechs, als Mama starb, Bernt war acht, und Hans Jörgen war eben geboren. Dann kam Tante Julie zu uns. Ja, bestimmt, sie war ausgezeichnet und großartig, aber kein Mensch konnte behaupten, daß sie Sonne oder Freude in unser Haus brachte. Die Sonne kam mit Beatemutti – und die Sonne blieb! Es überkam mich so ein Glücksgefühl, so eine unermeßliche Dankbarkeit, als ich dastand bei meinen Pfeffernüssen – so stark, daß ich plötzlich meine mehligen Hände schnell abtrocknete, zu Beatemutti hinging, ihr meine Arme um den Hals legte und ihr einen Kuß gab. „Na, Sonnielein, was hast du denn?“ lächelte sie und streichelte meine Wange (und hinterließ einen schönen Mehlklecks.) „Dankbarkeit“, sagte ich. „Und Liebe. Kannst du raten, woran ich denke?“ „Was kriege ich, falls ich es errate?“ lächelte sie verschmitzt. „Noch einen Kuß!“ „Ja, den kann ich mir natürlich nicht entgehen lassen. Denkst du vielleicht an unser erstes Weihnachtsbacken? An unsere schiefen, komischen, gemeinsamen Schürzkuchen?“ „Willst du den Kuß rechts oder links haben?“ fragte ich und küßte ihre andere Wange. Dann ging ich zurück zu meinen Pfeffernüssen.
„Weißt du, Mutti“, sagte ich, während ich den Teig sorgfältig zu Kügelchen rollte – „weißt du, was ich mir wünsche?“ „Ich glaube, deine Auswahl an Wünschen ist ziemlich reichhaltig“, schmunzelte Beatemutti. „Woran denkst du jetzt?“ „Ich denke daran, wie gut wir es haben. Wie glücklich wir sind. Was für ein schönes Zusammenleben wir haben. Nein, ich will dir keine Lobesrede halten, bei dieser Gelegenheit nicht. Aber ich wollte sagen, ich wünsche, daß ich dieses Glück, dieses offene Vertrauen, all die Sonne in Heikos und mein Heim mitnehmen kann. Daß wir es auch so schön haben werden wie hier im Hause.“ „Ja, warum solltest du das nicht können? Heiko ist doch auch ein sonniger und fröhlicher Mensch!“ „Ja, das ist er! Sonst hätte ich ihn wohl nicht liebgewonnen. Nein, gewiß nicht!“ „Dann kannst du bestimmt eurer gemeinsamen Zukunft ruhig entgegensehen, Sonnie. Aber sag mal, glaubst du, daß Senta uns erlaubt, den Teig für die Schürzkuchen anzusetzen? Oder verlangt sie, da auch mitzumachen?“ „Nein, das tun wir, Beatemutti. Es ist ja das Ausrollen und Ausstechen und Backen, was immer eine gemeinsame Arbeit war.“ „Ja, deine arme Schwester wird morgen direkt vom Auto an den Backtisch springen müssen“, meinte Beatemutti. „Denn morgen müssen wir die Schürzkuchen backen. Es ist höchste Eisenbahn!“ Ja, das konnte man wohl sagen. Morgen war der zweiundzwanzigste, und Senta würde voraussichtlich am Nachmittag kommen, in Rolfs Auto. Diesmal würde aber Heiko nicht dabei sein. Er hatte mir neulich geschrieben, es wäre ihm unmöglich, zum Heiligen Abend zu kommen. Aber Silvester ganz sicher! Silvesterabend war ja auch mein Geburtstag. Ich sage absichtlich mein und nicht unser, denn Senta ist am folgenden Tag und also in einem anderen Jahr geboren! Es ist ein Altersunterschied von 15 Minuten zwischen uns, aber diese Viertelstunde fing in einem Jahr an und endete im nächsten Jahr! Ich freute mich so schrecklich darauf, Heiko sein Weihnachtsgeschenk zu überreichen. Er mußte schön warten bis Silvester, denn es war zu spät, es nach Hamburg zu schicken. Erst heut mittag hatte ich das kleine Etui vom Goldschmied bekommen. Ich hatte es Beatemuttis Großreinemachen zu verdanken, daß ich zu diesem Geschenk kam. Zu ihrem Saubermachen gehört auch ein Generalaufräumen. Vor
etwa vierzehn Tagen hatte sie eines Abends Vati eine kleine Schachtel überreicht und ihn gefragt, ob all das Zeug nun unbedingt zwischen seinen Krawatten und Taschentüchern liegen müsse. Dann fing Papa an, sich die Sachen anzusehen. Es war allerlei Kleinkram, was sich so im Laufe der Jahre ansammelt. „Was ist das da, Papa?“ fragte mein immer neugieriger Bruder Stefan. „Zeig her – ach das – , das hatte ich ganz vergessen. Das ist eine alte Berlocke von meinem Großvater.“ „Was ist Berlocke?“ wollte Stefan wissen. „Ach, so ein kleines Anhängselchen, eine Art Schmuckstück, das man sich an die Uhrkette hängte. Damals gab es keine Armbanduhren, weißt du. Man trug die Uhr in der Tasche, und sie war mit einer Kette in einem Westenknopfloch befestigt. Und diese Kette verzierte man dann mit solchen Sachen.“ Ich sah mir die Berlocke an. Sie war aus Gold, kein Zweifel, mit einem ovalen, dunkelroten Stein, so dunkel, daß er beinahe schwarz wirkte. „Du, der ist hübsch – ist das – ja, was ist das eigentlich?“ „Ich glaube, ein Karneol“, meinte Papa. „Guck, das Ding ist auch zum Aufmachen, vielleicht hat euer Urgroßvater ein Löckchen von Urgroßmutter drin gehabt!“ „Das muß ein winziges Löckchen gewesen sein“, sagte Beatemutti. „Das ganze Ding ist ja klitzeklein.“ „Papa“, sagte ich. „Was machst du mit der Berlocke?“ „Keine Ahnung. Wegschmeißen kann man sie ja nicht, aber ich möchte mir auch keine Uhrkette zulegen.“ „Wenn jemand in deiner Familie das Ding wahnsinnig gern haben möchte, würdest du es dann verschenken, Paps?“ fragte ich. Papa schmunzelte. „Dieser Jemand’, sollte das vielleicht meine älteste Tochter sein?“ „Ach Paps, du verstehst aber auch alles!“ „Glaubst du denn, daß Heiko eine Uhrkette besitzt?“ „Nein, aber er besitzt Finger. Zehn Stück. Einer davon könnte einen Ring mit einem Karneol tragen.“ „Wäre es nicht schade, dieses hübsche Ding auseinanderzunehmen?“ „Will ich doch nicht! Wie Beatemutti sagt, es ist ja so klitzeklein, ich könnte alles, so wie es ist, an einen Ring löten lassen -“
„Und eine Haarlocke reinlegen“, sagte Papa. „Gut, du kannst sie haben, bitte schön. Aber Heiko soll sie eurem ältesten Sohn vermachen.“ „Ich werde es ihm sagen. Tausend, tausend Dank, Papa, du bist ein Engel!“ „Papa ist kein Engel“, äußerte sich Stefan. „Papa ist ein Haifisch.“ „Was bin ich?“ „Ein Haifisch. Es steht in einem Buch. Soll ich es dir mal zeigen?“ „Ja, das mußt du wirklich tun.“ Stefan verschwand, Papa schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich sag’s ja, wenn man Kinder hat, muß man sich immer auf Überraschungen gefaßt machen. – Na, zeig her!“ Stefan war zurückgekommen, und zwar aus meinem Zimmer. Denn in der Hand hielt er meinen ersten Suaheli-Sprachführer, der zur Zeit meine Brüder mehr interessierte als mich. Ich hatte ja inzwischen ausführlichere Lehrbücher in Suaheli bekommen. „Da!“ zeigte Stefan mit einem – nicht einwandfrei sauberen – Finger. Tatsächlich, da stand es unter „Meerestiere und Fische“: „Haifisch – papa.“ Unser Haifisch blieb sitzen mit dem Buch in der Hand. „Sonnie, verstehst du wirklich etwas von diesem Zeug?“ „O ja, ein bißchen.“ „Ich fange an, Respekt vor dir zu kriegen.“ „Das ist auch an der Zeit!“ Papa machte das Buch mit einem Seufzer zu. „Wenn ich mal nach Afrika kommen sollte, müßte ich mich ausschließlich von Kakao und Pudding ernähren“ sagte er. „Denn Kakao heißt Kakao und Pudding pudingi.“ „Du könntest ja auch papa essen“ lachte Stefan und nahm das Buch. Anscheinend hatte er vor, sich in Suaheli weiterzubilden. Ich hatte die Berlocke an Mamas Trauring, den ich als älteste Tochter geerbt hatte, anlöten lassen. Die winzigkleine Kapsel war noch leer. Aber etwas sollte da reinkommen. Heiko würde gleich wissen, was das war. Denn unser schönster Augenblick, unsere liebste Erinnerung war ihm bestimmt so nahe und so unsagbar teuer, wie sie es mir war: der frühe Morgen in Seronera, der Morgen, an dem ich Heiko auf seine Frage endgültig geantwortet hatte – der
Morgen, an dem wir statt Verlobungsringe zwei Handvoll roter, afrikanischer Erde ausgetauscht hatten. Ein paar Körnchen von dieser Erde sollten in die Kapsel kommen. Der Kaffeetisch war gedeckt. Die vier roten Kerzen des Adventskranzes waren angezündet. Es war Sonntag und der vierte Advent. Im Kamin knisterten die Flammen zwischen den Birkenscheiten und spiegelten sich im neugeputzten Silber auf dem Kaffeetisch. Unsere Pfeffernüsse und Vanilleplätzchen dufteten um die Wette mit den schönen Rosen, die Papa gestern Beatemutti gebracht hatte. Alles war bereit. Senta konnte kommen. Hans Jörgen stand mit Annettchen am Fenster. Er hatte sie aufs Fensterbrett gestellt und hielt sie fest. In ihrem rosa Kleidchen sah sie aus wie die süßeste Fensterblume. Vor ein paar Stunden hatte Senta telefoniert, sie waren gerade über die schwedische Grenze gekommen. Jetzt müßten sie jeden Augenblick eintreffen. Wir hatten die Außenlampe angemacht. Die Einfahrt war erleuchtet. Da konnte keine Maus rüberlaufen, ohne entdeckt zu werden. „Da sind sie!“ Wir rannten alle zur Tür, raus in den Garten, stürzten Rolfs Miniauto entgegen. „Sentachen, liebste - “ Aber plötzlich löste ich meine Arme von Sentas Hals. Hinten im Wagen bewegte sich etwas -, da war eine dritte Person, eine Person, die erst aussteigen konnte, nachdem Rolf... „Heiko!!“ Dann hatte ich seine Arme um mich, und in der Sekunde wußte ich es: Die Frage, die mir Beatemutti vor ein paar Wochen gestellt hatte, die hätte ich doch mit einem unbedingten Ja beantworten können. Denn das, was ich in diesem Augenblick empfand, war Liebe, Liebe zu Heiko – ich dachte nicht an die Zukunft, nicht an Afrika, nicht an unsere Pläne. Ich dachte vielleicht gar nicht. Ich wußte nur mit meinem ganzen Ich, mit meiner ganzen Seele, mit allem, was den Begriff „Sonja Rywig“ bildet, daß ich Heiko liebte. Nicht den Zoologen, nicht das unermüdliche Arbeitspferd, nicht den Afrikabesessenen – ich liebte den Menschen Heiko.
Gibt es was Schöneres auf dieser Welt als die Liebe zweier junger Menschen?
Backwerk, Liebe und Probleme „Allmählich wird unsere Familie ziemlich groß“, sagte Papa, als wir endlich um den Kaffeetisch versammelt waren. Und da konnte er recht haben. Eltern, sechs Kinder, eine Schwiegertochter und zwei Schwiegersöhne – das ergab eine ansehnliche Tischrunde. Heiko saß zwischen Bernt und mir. Bernt war – neben Senta und Rolf, natürlich – derjenige in der Familie, der am besten deutsch sprach. Mit Beatemutti ging es besser auf englisch, aber das war ja für Heiko kein Problem. Der begabte Hans Jörgen mobilisierte mit Todesverachtung seine englischen und deutschen Sprachkenntnisse. Annettchen plauderte internationale Babysprache – nur Stefan saß ziemlich hilflos da. Bis er endlich seinen Mund aufmachte und laut und deutlich sagte: „Wewe inanipendeza, Heiko!“ Heiko drehte sich um und guckte seinen jüngsten Schwager äußerst erstaunt an. Dann lächelte er breit. „Ahsante, Stefan! Du mir auch!“ Ich hatte es verstanden! Stefan hatte wirklich gründlich in meinem Sprachführer rumgeschnüffelt. Diesen Satz – „du gefällst mir“ – hatte er sich ganz bestimmt für Heikos Ankunft zurechtgelegt. „Heut abend müssen wir eine zweite Besetzung fürs Backen einsetzen“, meinte Senta. „Gar nicht!“ bestimmte Beatemutti. „Wir ziehen den Eßtisch aus, lassen die Tür zur Küche auf, dann wird im Eßzimmer mitgearbeitet, ich werde schon alle beschäftigen können!“ Als wir Kaffee getrunken hatten, gingen Heiko und ich nach oben, um sein Zimmer zu richten. Während ich das Bett bezog, konnte er endlich erzählen. „Mein Doktorvater fuhr über Weihnachten zu seinen Eltern“, erklärte er. „Und ich bekam für eine Woche einen phantastischen Job, habe haufenweise Geld verdient und furchtbar viel Trinkgeld bekommen – und dann büffelte ich die Nächte durch. Ja, das Schlafen habe ich mir beinahe abgewöhnt – ich arbeitete sozusagen auf Vorrat, verstehst du? Denn ich spielte ja immer mit dem Gedanken, dich zu Weihnachten zu überraschen!“ „Aber was sagen deine Eltern dazu – ich meine, daß du den Heiligen Abend nicht zu Hause verbringst?“ „Ach, die sind doch nicht sentimental. Außerdem gönnen sie uns
beiden von Herzen, Weihnachten zusammen zu sein.“ „Was für einen Job hast du nun gehabt, Heiko?“ „Pakete ausgefahren bei der Post und sie anschließend raufgetragen. Ich bin zusammengerechnet etwa sechsmal auf den Mount Everest geklettert – aber es war sehr schön, wenn die Empfänger im fünften Stock wohnten – in alten Häusern ohne Aufzug – und wenn die Pakete sehr schwer waren. Ich kam bald dahinter, daß Stufenzahl mal Kilozahl als Resultat Trinkgeldhöhe haben!“ Ich legte ihm die Arme um den Hals. „Heiko, ich bewundere dich!“ Er lachte und drückte mich fest an sich. „Du Dummerle! Von wegen bewundern! Dabei habe ich es dir zu verdanken, daß ich mein Examen geschafft habe, daß ich Geld verdient habe, daß es mit meiner Doktorarbeit vorwärtsgeht – nur dir, Sonnieschatz!“ „Mir? Du spinnst wohl!“ „Gar nicht! Wenn ich nachts über meinen Büchern saß, wenn die Pakete verdammt schwer zu tragen waren, wenn ich das große Paketauto durch Schneematsch fuhr – ja, das kam auch vor – , dann dachte ich immer: nur durchhalten, Heiko, vorwärts, vorwärts! Jede gelernte Seite, jede verdiente Mark bringt dich näher ans Ziel. Und du bist doch mein Ziel, Sonnie!“ „Aber das Ziel hast du doch erreicht, Heiko! Mir ist es doch so, als ob ich an einem Frühlingsmorgen in Seronera - “ „Gut, dann kann ich es genauer sagen: Dich zu heiraten, und das so bald wie möglich, das ist augenblicklich mein Ziel!“ „Und Afrika?“ „Ist Ziel Nummer zwei. Es wäre aber so schön, wenn wir gemeinsam für dieses Ziel arbeiten könnten!“ „Ja, Heiko, ich denke ja auch immer daran. Am liebsten möchte ich sofort heiraten, aber wo sollen wir wohnen, wovon sollen wir Aussteuer kaufen, und wovon sollen wir leben, bis du deinen Doktor gemacht hast?“ „Ich habe da einen kleinen Plan, darüber möchte ich in Ruhe mit dir reden. Aber ich glaube, wir müssen jetztna, da hörst du es selbst!“ Beatemuttis Stimme klang durchs Haus: „Alle antreten zum Backen! Hände waschen! Schürzen umbinden! Sonnie, Heiko, Kußpause machen, kommt herunter!“
Rolf war nach Hause gegangen, er wollte seine Eltern nicht länger warten lassen. Also waren wir zehn Menschen, die Küche und Eßzimmer füllten, mit Paps in einem weißen Arztkittel an der Spitze. Annettchen stand an ihrem kleinen Kindertisch und hatte einen Teigklecks ausgehändigt bekommen, wir anderen gingen mit Ernst und Eifer an die Arbeit. „Ihr werdet halb Norwegen mit Schürzkuchen sättigen können“, lachte Heiko. Er hatte einen Kittel von Vati geborgt und stand da und rollte feine, symmetrische Rhomben mit dem Backrädchen aus. „Und was halb Norwegen nicht bewältigt, kriegst du mit für deine Eltern“, sagte Beatemutti. „Bernt, paß auf den Kochtopf auf, er wird gleich heiß genug sein – Stefan, stell den Teig zurück in den Kühlschrank, wir dürfen nur kleine Portionen rausholen – Gerhard, mach die Kuchen bitte etwas kleiner, guck dir Heikos an, die sind richtig – Himmel, jetzt tritt Annette auf ihren Teig, Hans Jörgen, rette die Reste – Senta, hol eine neue Mehltüte, hier klebt ja alles – du kannst die Dosen gleich bereitstellen, Katrin - “ „Dies kann ja gut werden“, sagte Katrin. „Wenn wir nun in ein paar Jahren alle mit unseren Kindern ankommen, die sich auch am Backen beteiligen wollen - “ „Und wenn wir alle drei Zwillinge kriegen!“ schmunzelte Senta. „Ich kriege keine! Das Zwillingkriegen vererbt sich nur auf die Frauen! Aber natürlich, daß du und Sonja welche bekommen, damit müssen wir rechnen.“ Katrin lachte und fing an, einen neuen Teigklumpen auszurollen. Nie habe ich unser munteres Zusammensein so genossen wie an diesem Abend. Heiko glitt so selbstverständlich in die fröhliche Runde. Er sprach englisch nach links, deutsch nach rechts und ließ sich zwischendurch von Stefan darüber belehren, wie „Weihnachten“, „Kuchen“, „Backen“ und „Essen“ auf norwegisch heißen. Es war spät geworden, bevor all die großen Dosen gefüllt und Tische und Backgeräte sauber gewaschen und gescheuert waren. Und es war natürlich äußerst unvernünftig, daß Beatemutti zu dieser späten Stunde noch eine Tasse Kaffee und Gebäckkostproben servierte. Aber, das gehörte zu unseren Traditionen, und wir wollten uns nicht darum betrügen lassen. Außerdem schmeckt Weihnachtsgebäck immer am besten vor Weihnachten, behauptet Papa. Dabei zwinkert er immer Beatemutti zu. Weiß der Himmel, was die beiden für gemeinsame Erinnerungen
haben – vielleicht hatten sie damals vor neun Jahren auch so einen „après-Backen-Kaffee“ gehabt, nachdem wir Kinder ins Bett geschickt worden waren. „Wenn man euch ansieht“, sagte Senta und guckte sich unsere Eltern an, „dann könnte man glauben, daß ihr die Jungen und eben Verlobten seid! Paps, ich habe dich sehr in Verdacht, daß du genauso verliebt bist wie vor neun Jahren!“ „Sehe ich denn nicht auch so aus?“ fragte Beatemutti. „Und ob! Aber dich kennen wir nicht anders. Du warst immer verliebt in Papa!“ Senta lachte. „Paps, erinnerst du dich noch an die Ohrfeige?“ „Es ist nicht fein von dir, mich daran zu erinnern. Ich habe mich doch dafür entschuldigt!“ Ich mußte Heiko erklären, was für eine Bewandtnis es mit der Ohrfeige hatte. Damals, als Beatemutti noch Wirtschafterin bei uns war, hatte sie einen Verehrer, der ihr allerdings nichts bedeutete, aber Senta und ich haben sie immer mit ihm aufgezogen. Und als Senta zum x-ten Mal damit anfing, wurde Papa so wütend, daß er ihr eine gesalzene Ohrfeige knallte. Aus lauter Eifersucht! Und weil er nicht diesen Verehrer zu fassen bekam. So kamen wir auf unsere Kindheitserinnerungen zu sprechen. Senta, Papa, Bernt und ich führten es wirklich durch, deutsch zu sprechen, und was zwischendurch auf norwegisch gesagt wurde, übersetzte ich schnell. Heiko horchte, lächelte, amüsierte sich und war offensichtlich sehr interessiert. „So lerne ich dich richtig kennen, mein Mädchen“, sagte er. „Ich möchte alles über deine Kindheit wissen - “ „Um Gottes willen!“ rief Papa. „Dann fährst du mit dem nächsten Schiff zurück, lieber Schwiegersohn! Bevor Heiko noch mehr zu wissen bekommt, schlage ich vor, daß wir für heut Schluß machen. Unsere beiden Weitgereisten sehen ziemlich käsig aus.“ Als ich Heiko den Gute-Nacht-Kuß gab, flüsterte er: „Sonnie, wenn du wüßtest, was dieser Tag für mich bedeutet! Im Sommer, als ich die paar Tage hier verbrachte, war alles so gehetzt, jetzt habe ich aber das Gefühl, daß ich sowohl dich als auch deine wunderbare Familie so richtig kennengelernt habe. Was hast du für ein reizendes Elternhaus, mein Liebling!“ „Und doch werde ich es verlassen – deinetwegen“, flüsterte ich
zurück. „Denk dir bloß, welche Aufgabe wir beide vor uns haben“, sagte Heiko. „Ein Zuhause zu schaffen, das so fröhlich und harmonisch ist wie dieses Haus!“ „Dabei ist das ganze Geheimnis, daß unser Heim auf einem sehr soliden Grund gebaut ist“, sagte ich. „Nämlich ganz einfach: auf Liebe!“ „Wenn es so ist“, flüsterte Heiko, „dann schaffen wir es. Du und ich. Denn die Grundlage haben wir schon. Nicht wahr, Sonniemädchen?“ So. Da hatten wir den Skandal! Daß Senta nach der Reise müde war und Schlaf brauchte, war klar. Aber daß ich an diesem Morgen verschlafen würde! Nun ja, Senta und ich hatten bis tief in die Nacht geplaudert, und ich hatte ja auch viel zu tun gehabt den ganzen Tag – aber trotzdem! Ich traute meinen eigenen Augen nicht, als ich aufwachte und entdeckte, daß der kleine Zeiger des Weckers auf neun stand! So schnell habe ich mich noch nie gewaschen und angezogen. Ich raste in die Küche. Dort fand ich Beatemutti und Heiko vor. Erstere brühte Kaffee auf, letzterer war beim Brotschneiden. Beide sahen strahlend vergnügt aus. „Na, ihr seid mir ein paar – warum habt ihr mich nicht geweckt? Und wo sind die anderen?“ „In ihren Betten. Abgesehen von deinem armen geplagten Vater, der schon um acht losfuhr.“ „Warum stehst du denn so früh auf, Heiko – aua, du alter Igel, du hast dich nicht rasiert!“ „Nein, aber jetzt laufe ich rauf und tue es. Waschen muß ich mich auch, habe nur hier unten eine Katzenwäsche gemacht, ich wollte nicht so früh ins Bad und euch alle stören.“ „Na, habt ihr es gemütlich gehabt?“ fragte ich, als Heiko verschwunden war. „Und ob! Heiko und ich verstehen uns sehr gut. Er hat mir viel von seinem Elternhaus erzählt, und ich kannte das alles so gut wieder, es war ja auch so bei uns in Tjeldsund.“ „Was meinst du mit ,so’?“ „Ja, eben so – so, wie wir es hatten! Dieses stille, zufriedene Dasein in aller Bescheidenheit, die Genügsamkeit, das knappe Geld, alles, worauf wir verzichten mußten – und worauf wir verzichten
konnten, weil wir es von unseren Eltern gelernt hatten. Ach, Kind, das kannst du nicht verstehen, du bist in anderen Verhältnissen groß geworden - “ „Aber ich muß es verstehen lernen, Mutti. Wenn ich Heiko heirate, muß ich doch sein Elternhaus und sein Milieu verstehen! Übrigens, findest du, daß wir hier im Haus verschwenderisch sind oder daß wir besonders wohlhabend sind? Du meinst doch nicht, daß Heiko mich für ein verwöhntes, reiches Mädchen hält!“ „Nein, nein, um Gottes willen! Aber du kannst schließlich selbst sehen, daß wir es hier – sagen wir, finanziell besser haben als meine Eltern in Tjeldsund oder Heikos Eltern?“ „Nun ja – “ „Doch, Sonnie, darüber mußt du dir im klaren sein. Ich sehe den Unterschied gut! Wenn du wüßtest, was für ein Genuß es für mich war, als ich damals, vor neun Jahren, hier zu wirtschaften anfing! Daß man für einen Kuchen so viel Eier nehmen konnte, wie im Rezept stand, daß ich nicht immer Milch in die Sahne mogeln mußte, daß wir moderne, praktische Küchengeräte hatten – und wenn ich euch Kindern Kleidung kaufte, brauchte ich nicht unbedingt zu warten, bis Ausverkauf war, und wir brauchten nicht immer die alten Sachen zu wenden und umzuarbeiten – und ich brauchte mir nicht ständig den Kopf zu zerbrechen, wie ich ein denkbar billiges Mittagessen zusammenschustern sollte – “ „Kartoffelpuffer?“ fragte ich. „Kartoffel – was? Kenne ich nicht. Wo hast du das denn gegessen?“ „Bei Heikos Eltern. Es ist Heikos Lieblingsgericht. Schmeckt übrigens ganz gut. Ich werde mich schon daran gewöhnen.“ „Gut, daß du diese Einstellung hast. Denk daran, Sonnielein: Heiko hat Studienschulden. Er hat keine Reserven. Wenn ihr heiratet, werdet ihr bescheiden und vorsichtig anfangen müssen. Ich glaube, du wirst ein paar von deinen Gewohnheiten ablegen müssen!“ „Habe ich so teure Gewohnheiten?“ „Na – sagen wir, ein paar angenehme Angewohnheiten! Könntest du zum Beispiel Margarine statt Butter essen, könntest du aufs Fernsehen verzichten, könntest du es dir verkneifen, zu jedem Walt Disney-Film zu rennen? Kannst du Perlonstrümpfe stopfen, statt sie gleich wegzuschmeißen, wenn die große Zehe rausguckt? Kannst du auf dein Frühstücksei verzichten, kannst du deine bekleckerten
Kleider selbst in Ordnung bringen, statt sie in die Reinigung zu geben?“ „Beatemutti – nun sag mal, hast du das alles getan?“ „Das kann ich dir sagen. Und ich könnte noch viel mehr erzählen. So war es, die ganze Zeit, bis ich herkam und deinen Papa heiratete.“ Ich goß mir eine Tasse Kaffee ein, trank ihn im Stehen. Ich dachte nach. War dies ein neues Problem, etwas, womit ich fertig werden mußte? Oder war es nur eine lächerliche Kleinigkeit, die überhaupt nicht zählt? „Sag mal, Mutti – wenn du dich wieder umstellen müßtest, wenn du es nun wärest, die aufs Fernsehen und neue Strümpfe und chemische Reinigung verzichten müßtest – könntest du es dann? Ohne Bitterkeit, ohne – “ „Ich glaube schon, mein Mädchen. Wenn ich nur deinen Papa habe und euch Kinder, wenn wir alle gesund sind und uns liebhaben, dann glaube ich schon, daß ich mich umstellen könnte. Du weißt, gemeinsames Schicksal trägt sich leichter.“ „Ja“, sagte ich langsam. „Und außerdem, für dich wäre so eine Umstellung nur ein Zurück zu einem wohlbekannten Zustand. Aber für mich – ja, ich habe es eben gut gehabt mein Leben lang, ich habe Butter und keine Margarine gegessen und immer neue Strümpfe gekauft und so weiter. Für mich wird es neu, ich werde allein sein. Denn für Heiko war das Leben immer so.“ „Eben. Ach, Sonnielein, ich habe das Gefühl, daß ich immer so scheußlich vernünftig sein muß. Immer muß ich dir sagen, daß du alles genau durchdenken sollst, denn wenn erst die Würfel gefallen sind, dann gibt es kein Zurück!“ „Ich weiß es, Beatemutti. Aber wenn ich daran denke, wie glücklich ich mit Heiko bin, wie innig ich ihn liebe, dann ist es doch eine Kleinigkeit, Margarine zu essen und Strümpfe zu stopfen und den Fernseher zu entbehren.“ „Hoffentlich wirst du es immer als eine Kleinigkeit empfinden, mein Mädchen. Würdest du übrigens anfangen, den Tisch zu decken, bald haben wir wohl die ganze Bande – was habe ich gesagt, da ist schon der Anfang!“ Der Anfang war Annettchen in ihrem Schlafanzug mit aufgedruckten Kätzchen und Hunden. Sie rieb sich die Augen mit der einen Hand. In der anderen hielt sie ihr Lieblingsspielzeug, ein Babypüppchen mit Mamastimme. „Habe Hunger“ teilte sie mit.
„Wir auch, mein Schatz. Ach, Sonnie, machst du das Frühstück, damit ich mich um die Hauptperson des Hauses kümmern kann?“ Schon saß die Hauptperson auf Muttis Arm, und die beiden verschwanden in Richtung Badezimmer. Ich legte die Butter in die Butterdose, und zum ersten Male in meinem Leben war es mir dabei bewußt, daß es Butter und keine Margarine war. Ich warf ein paar Äpfel und Möhren in die Küchenmaschine und war mir zum ersten Mal darüber im klaren, daß ich sie nicht mühsam mit der Hand reiben mußte. Ich brühte frischen Kaffee auf und wußte plötzlich, daß es eine gute Sorte und daß es eine Selbstverständlichkeit war, daß wir immer nur richtigen Bohnenkaffee tranken. Bei allem, was ich tat, kam derselbe Gedanke: Wie wird das sein, wenn Heiko und ich verheiratet sind? Da wurden von hinten zwei Hände vor meine Augen gelegt. „O Heiko, du altes Scheusal!“ Dann war ich in seinen Armen, und das Glück erfüllte mich. Wieder erlebte ich dasselbe Wunder wie damals in Serengeti, wieder wußte ich, daß ich dem Mann gehörte, der für mich geschaffen und für den ich geschaffen war. Du liebe Zeit, was hatten die lächerlichen Problemchen des Alltags zu bedeuten? Sie waren es nicht wert, daß ich ihnen den kleinsten, flüchtigsten Gedanken opferte. „Heiko“, flüsterte ich ihm ins Ohr. „Heiko, ich liebe dich!“
Zwei Seelen – ein Gedanke Dieser Heiligabend wurde der bisher schönste meines Lebens. Ich war schon in Feststimmung, als ich aufwachte. Diesmal hatte ich nicht verschlafen! Ich war als erste in der Küche, und da kam mir eine Idee. Blitzschnell machte ich Kaffee, verteilte Vanilleplätzchen und Stollen auf eine ganze Reihe Tellerchen, und dann trug ich Kaffeetabletts in sämtliche Schlafzimmer! Zu Heiko ging ich zuletzt. Ich trank meinen eigenen Kaffee da bei ihm, und wir konnten zehn Minuten ungestört plaudern. Endlich kam er dazu, mir das zu erzählen, wozu er bis jetzt keine Ruhe gehabt hatte: Er hatte ein Angebot, bis zu den großen Ferien an einer neuen Oberschule zu arbeiten, als Lehrer in Chemie, Physik und Zoologie. Vorläufig handelte es sich um eine Vertretung, aber eine feste Anstellung stand ihm offen. „Ja, aber deine Doktorarbeit?“ fragte ich. „Mache ich nebenbei. Schule vormittags, Doktorarbeit nachmittags und abends.“ „Und nachts und sonntags und in den Osterferien, so wie ich dich kenne“, nickte ich. „Heiko, es klingt großartig, dann hast du ja ein festes Gehalt und weißt, wenigstens vorläufig, woran du bist, bis also –“ „Ja, bis also. Bis ich den Doktor unter Dach und Fach habe. Und dann, meine Impala – “ Es war so schön, den alten Kosenamen wieder zu hören. Ich fragte nicht mehr. Ich wußte ja genau, was nach „dann“ kommen würde. „Am liebsten möchte ich, daß wir gleich heiraten“, sagte ich. „Und was glaubst du, möchte ich? Aber Sonnieschatz, so ganz mit leeren Händen können wir auch nicht heiraten, wir müssen zuerst ein paar Stühle und Kochtöpfe und Handtücher und so was zusammenkratzen.“ „Die Handtücher habe ich allerdings“, beruhigte ich ihn. „Bettwäsche und Tischwäsche auch. Aber du hast recht, Kochtöpfe und ein paar Teller gehören dazu, ja und noch eine Kleinigkeit: eine Wohnung!“ Heiko schwieg ein Weilchen. Dann lächelte er: „Aber eins steht fest, Impala. Daß ich mein Staatsexamen habe und feste Einnahmen, während ich die Doktorarbeit mache. Das sind Dinge die uns noch
eine Sprosse auf unserer Glücksleiter weiterbringen!“ In der Küche duftete es himmlisch. Beatemutti war dabei, das Abendessen vorzubraten und so viel wie möglich vorzubereiten, damit wir uns am Abend nicht abrackern mußten. Im Wohnzimmer wurde der große schöne Baum geputzt. Das besorgten Heiko und ich, tatkräftig unterstützt von Hans Jörgen. Die beiden Kleinen waren rausgesetzt. Ich mußte immer an den vorigen Weihnachtsabend denken. Damals waren Senta und ich allein in Kiel, und wir bekamen das heißersehnte Telegramm von Papa, daß wir unseren Gewinn ausnutzen und nach Afrika fliegen durften. Heut war Senta verschwunden. Sie war mit Papa losgefahren und hatte mitgeteilt, sie brächte Rolf zu Mittag mit nach Hause. Er wollte mit uns essen und die ganze Bescherung am Nachmittag mitmachen. Wir mußten ja wegen Stefan und Annettchen recht früh anfangen. Nachher würde Rolf dann nach Hause gehen und die zweite Bescherung bei seinen Eltern erleben. Die Stunden flogen dahin. Ehe wir es uns versehen hatten, waren Senta, Rolf und Papa da. Bernt und Katrin erschienen auch, und der Milchreis kam auf den Tisch. Ich mußte Heiko diese norwegische Sitte mit dem Milchreis und der Glücksmandel erklären. Im Milchreis befand sich eine geschälte und kaum zu entdeckende Mandel. Wer die auf den Teller bekam, war seines Glückes im kommenden Jahr sicher. Aber keine Mandel tauchte auf. Komisch! Ich hatte sie ja selbst reingetan, darauf konnte ich schwören. Dann fiel mein Blick auf meinen jüngsten Bruder. Er kann weiß Gott Schabernack machen, aber eine Kunst hat er nicht gelernt: seine Sünden zu verheimlichen. Sein Gesichtsausdruck verrät ihn immer. „Stefan“, sagte ich. „Was hast du mit der Mandel gemacht?“ „Eh – “, sagte Stefan. „Raus mit der Sprache!“ „Es war nur so: Als ich in die Küche kam, war niemand da, und – “ „Und? Hast du die Mandel gegessen?“ „Gegessen – du bist wohl! Ich wollte euch doch nicht das Glück klauen! Nein, aber ich sah gerade die Spitze davon im Kochtopf, und dann habe ich sie rausgeholt und – ja, also, ich habe sie im Mörser zerstoßen und wieder reingetan und tüchtig umgerührt, damit wir alle
etwas davon abkriegten und alle glücklich werden!“ „Ach, Stefan! Du bist eigentlich ein Goldjunge!“ „Finde ich auch“ sagte Stefan und streute eine extra Zuckerschicht auf den Reisrest auf dem Teller. Tannenduft, Musik, brennende Kerzen, strahlende Kinderaugen, erwartungsvolle Gesichter, ein Weihnachtsabend, wie er sein soll. Wieder mußte ich Heiko eine norwegische Sitte erklären: die, daß man sich die Hände reicht, einen Ring bildet – was bei uns mit all den Familienmitgliedern sehr leicht war – und um den Baum geht, während man die alten, lieben Weihnachtslieder singt. Heiko fand es reizend, er sang die deutschen Texte zu den international bekannten Weihnachtsmelodien. Rolf, Senta und ich leisteten ihm Gesellschaft, und so klang es gleichzeitig auf norwegisch und deutsch: „Stille Nacht, heilige Nacht“ „Glade jul, hellige jul“ Die beiden Kleinen stritten sich darum, neben Heiko zu gehen und seine Hand zu halten. Es war ganz sonderbar, aber es zeigte sich immer wieder: Sie konnten kaum ein Wort mit ihm wechseln, aber sie hingen an ihm wie zwei kleine Kletten. Die Blicke gingen immer zu dem Paketberg unter dem Baum. Das war auch neu für Heiko: daß alle Pakete, säuberlich eingepackt in Weihnachtspapier, auf einem Riesenhaufen unter dem Baum lagen. Dann war endlich der große Augenblick da. Das Paketeverteilen war von jeher Papas Amt. Dazu setzt er sich auf den Fußboden neben den Baum und läßt sich durch nichts stören. Die Pakete holt er einzeln vom Haufen. Was auf dem Anhängezettel steht, wird laut vorgelesen, und dann erst landet das Paket beim Empfänger. Bald war das ganze Zimmer ein Wirrwarr von buntem Papier und Bändchen. Auf Stühlen, Tischen, auf Sofa und Fernsehgerät, auf Hockern und Regalen lagen Geschenke. Ich wartete und wartete. Ja, da kam es, ein ganz kleines Paket. War das nicht mein Geschenk an Heiko? „Für seine Sonnie von ihrem Heiko“, las Papa vor, auf deutsch. Ich riß das Papier auf – eine kleine Juwelierschachtel kam zum Vorschein. Mit zitternden Fingern machte ich auf. „Nein - Heiko! Heiko!!“
Es war ein Ring. Ein Ring mit einer kleinen ovalen Goldplatte, auf der Platte eine winzige Perle. An der Seite war ein Miniaturscharnier und unter der Platte ein ganz, ganz kleiner Raum – eben groß genug für ein Minibildchen – oder für ein paar Körnchen roter Erde. „O Heiko!“ Dann sah ich, daß er dastand mit meinem Geschenk in der Hand. Mein guter Papa, er wußte schon… „Sonnie! Impala!“ Wir hatten genau denselben Gedanken gehabt. Ich weiß nicht, wie es weiterging. Wie durch einen Schleier sah und hörte ich die Freude meiner Familie. Ich stand mit Heiko hinter der Tür zum Eßzimmer. Er schob den Ring auf meinen Finger und ich seinen auf seinen linken Ringfinger. Nachher wollten wir unsere Körnchen roter Erde in die kleinen Kapseln legen. Aber dabei wollten wir allein sein. Allein wie an dem Morgen in Serengeti. „Hast du den Ring extra machen lassen?“ fragte ich endlich. „Ich wollte es, aber es schien furchtbar schwierig zu sein. Und dann passierte es zum Glück, daß ich vor zwei Wochen ein Postpaket bei einem Antiquitätenhändler abzugeben hatte, und dann sprang mein Herz mir in die Kehle vor Freude, denn da lag der Ring in einer Vitrine! Genau der Ring, den ich suchte!“ „O Heiko – wie viele Pakete hast du geschleppt, um das schöne Stück zu bezahlen!“ „Sag mal ganz ehrlich, Impala“, sagte Heiko mit strahlenden Augen und einem kleinen verschmitzten Lächeln. „Ist dieser Ring es nicht wert, daß ich etliche Pakete etliche Treppen hochgeschleppt habe?“ Die Tage rannten nur so dahin. Beatemutti war wie immer einmalig. Sie sorgte dafür, daß ich sehr viel freie Zeit bekam. Endlich konnte ich in aller Ruhe mit Heiko plaudern, unsere Zukunft planen, alles Notwendige mit ihm besprechen. Ach, was gäbe ich nur dafür, ihn gleich heiraten zu können! Bei ihm zu sein, für ihn zu sorgen in diesen Monaten, wo er seine Doktorarbeit machen mußte, wo er soviel um die Ohren haben würde! Wie unpraktisch war es doch, daß wir in zwei verschiedenen Städten, ja sogar in zwei verschiedenen Ländern wohnten! Ich erleichterte mein Herz eines Abends, als Senta und ich zu
Bett gegangen waren. „Wem sagst du das“, seufzte Senta. „Allerdings sehe ich Rolf öfters, ich glaube, sein Wagen findet jetzt allein den Weg von seiner Bude zu Frau von Waldenburgs Haus, er braucht gar nicht mehr zu lenken – , aber so was Blödes, da wohnt man in derselben Stadt und doch getrennt. Das ist doch naturwidrig!“ „Aber Sentachen, du bist ja noch nicht mit deiner Ausbildung fertig.“ „Du hast wohl nie etwas von Studentenehen gehört? Papa und Mama waren auch im Studium, als sie heirateten.“ „Ja, aber Mama hatte Geld! Und das haben wir nicht.“ Plötzlich setzte ich mich hoch im Bette. „Senta! In drei Tagen sind wir 21! Du, wir haben doch eine Erbschaft! Weißt du noch, als Bernt 21 wurde, hat er sein Geld bekommen und hat geheiratet!“ Jetzt kam auch Senta hoch. „Ja, Menschenskind, du hast recht – sag mal, wieviel wird es sein?“ „Keine Ahnung. Bestimmt nicht allzu viel, so groß war Mamas Vermögen wohl nicht, und wir sind vier Geschwister – aber immerhin, etwas wird es ja sein, vielleicht genug für etwas Aussteuer und ein Notgroschen „for a rainy day“ – , falls du soviel Englisch verstehst!“ „Was denkst du, habe ich nicht im Frühjahr vierzehn Tage lang Englisch sprechen müssen? Übrigens ein lustiger Ausdruck – für einen regnerischen Tag! Aber Sonnie, wenn es so ist…“ „Ja, wenn es so ist, Senta – dann könnten wir ja…“
Wir können! Seit Beatemutti zu uns kam, freuen wir uns auf die Geburtstage wie kleine Kinder. Sie war es, die die löbliche Sitte einführte, für Senta und mich getrennt zu feiern. Als wir klein waren, wurde immer nur der 31. Dezember gefeiert, mit einem gemeinsamen Geburtstagstisch und zwei kleinen Torten. Aber seit wir zwölf sind, werde ich am 31. Dezember und Senta am 1. Januar beschenkt und gefeiert. Es geht also bei uns immer besonders turbulent zu am Silvesterabend. Während die Kirchenglocken das neue Jahr einläuten, Schiffssirenen heulen und die Raketen zischen, stoßen wir mit Senta an und gratulieren ihr zum Geburtstag. An meinem großen Tag, Silvester, ist es nicht weniger turbulent. Geburtstagstisch und Bescherung morgens, Geburtstagsessen mittags und dann Silvesterfeiern abends. Dann werden die Kerzen des Weihnachtsbaumes noch einmal angezündet, damit „das alte Jahr ausbrennt“, wie Beatemutti sagt. (Und Papa schleicht ins Herrenzimmer und stellt unsere größte Garten-Gießkanne voll Wasser hinter die Tür, griffbereit im Falle eines Falles. Weil wir nämlich keine elektrische Christbaumbeleuchtung haben wollen.) Früher hatten wir oft Gäste an diesem Abend. Diesmal hatten wir aber gebeten, allein mit der lieben Familie sein zu dürfen. Nur Rolf und seine Eltern kamen, aber die gehören ja auch zur Familie. Wie schön wäre es gewesen, wenn Heikos Eltern auch hätten kommen können! Als ich morgens aufwachte, war ich allein. Senta mußte lautlos aufgestanden sein. Ich ging ins Bad. Kein Laut war zu hören aus den anderen Schlafzimmern. Nanu – war es denn so früh, oder? Ich machte mich schnell fertig und ging die Treppe runter. Da, am Fuß der Treppe, stand Papa und wartete auf mich. Er nahm mich in die Arme. „Innige Glückwünsche, mein großes Mädchen!“ Dann nahm er meine Hand, um mich zum Geburtstagstisch zu führen. So war unser Geburtstagsprogramm immer, nur wenn Papa an der Reihe war, stand Beatemutti am Fuß der Treppe. Diesmal kam aber eine Programmänderung. Bevor wir die Wohnzimmertür erreichten, wurde sie aufgemacht, und da kam
Heiko. Er sagte kein Wort. Er küßte mich, er sah mich an, dann ergriff er meine andere Hand, und ich wurde von Vater und Bräutigam zum festlichen Tisch geführt. Und da standen sie: meine geliebte Beatemutti, meine fünf Geschwister, meine gute, liebe Schwägerin, all diese Menschen, an denen ich mit meinem ganzen Herzen hing. Annettchen in ihrem guten Kleidchen und mit Blumen in der Hand, Stefan im feinen Kadettenanzug. Jetzt bekam er einen kleinen Schubs, er trat einen Schritt vor und deklamierte in nicht einwandfreiem, aber jedenfalls verständlichem Deutsch: „Heute gratulieren wir, und wir alle wünschen dir viele Löwen, viele Affen, Leoparden und Giraffen.“ „Das habe ich gedichtet!“ teilte Hans Jörgen mit. „Sind viele Fehler drin?“ Wir versicherten ihm, Goethe hätte es nicht besser gemacht! Küsse, Umarmungen, Glückwünsche. In der wunderbaren Torte brannten 21 kleine Kerzen, und der Tisch bog sich fast unter den Geschenken. Lauter Sachen für mein zukünftiges Heim! Praktische kleine Küchengeräte, eine bildschöne Tischdecke, eine praktische Leselampe – und von den Eltern ein elektrischer Handmixer! Ich fiel ihnen um den Hals vor lauter Begeisterung. Als ich unter den Zusatzgeräten eine Reibe für Kartoffeln entdeckte, wechselte ich mit Beatemutti einen blitzschnellen Blick, und dann bekam sie einen Extrakuß. Von Heiko ein deutsches Buch: ein soeben erschienenes, prachtvolles Werk über die Tierwelt Ostafrikas. „O Heiko, wie viele Pakete…“ „Keine“, lachte Heiko. „Zwei Tage Autowaschen!“ Und das war der nüchterne und genügsame Mann, der nie eine Taxe nahm, der im Ausland keine Mitbringsel kaufte, der Kartoffelpuffer mit Apfelmus als Lieblingsessen hatte! „Ihr lebt aber gut“, sagte derselbe Mann am Mittagstisch. Der Hammelbraten war verzehrt, jetzt wurde die große Torte angeschnitten. „Ich glaube, ich habe fünf Pfund hier zugenommen!“ „Ja, wenn du grade zum Weihnachtsfest und Silvester und Geburtstagsfeiern kommst“, schmunzelte Papa. „Für täglich gibt es ganz andere Sachen! Erbsensuppe und gesalzene Fische und Frikadellen und dicke Bohnen…“ „Aber keine Kartoffelpuffer“, lächelte Beatemutti. „Heiko,
glaubst du, daß deine Mutter mir das Rezept geben wird?“ „Aber sicher! Dafür werde ich schon sorgen!“ Die Torte verschwand im Nu. „Du lieber Himmel“, stöhnte Heiko. „So eine Torte hält ein Jahr vor!“ „Dann ist es ja gut, daß morgen ein neues Jahr ist“, lachte Senta. „Denn morgen gibt es noch eine!“ „Welch Glück, daß ihr nicht Drillinge seid“, sagte Heiko matt, ganz erschöpft von dem vielen und ungewohnten Essen. „Wie gut, daß wir am Dritten zurück müssen.“ „Ja“, schmunzelte Beatemutti. „Das ist für euch ein Glück. Denn an dem Tag gibt es höchstwahrscheinlich gebratene Heringe!“ Silvester – brennende Kerzen, ein wunderbar gedeckter Tisch, Tannen- und Blumenduft, strahlende Kinderaugen – und strahlende Augen auch bei den Erwachsenen. Die Kleinen hatten einen ausgiebigen Mittagsschlaf hinter sich. Es war ihnen feierlich versprochen worden, daß sie bis zwölf aufbleiben durften. Daß Annettchen lange vor der Zeit vermutlich in einer Sofaecke einschlafen würde, war eine andere Sache. Ich saß mit Heiko am Kamin. Zwischendurch warf ich einen schnellen Blick auf meinen Ring. Ich war so unwahrscheinlich glücklich über dieses Geschenk! Jetzt lagen die paar Körnchen roter Erde drin, so wie in Heikos. Dann gingen meine Blicke zu den anderen, zu dieser fröhlichen Runde, zu der Harmonie, der Gemütlichkeit. Zu all dem, was ich bald verlassen sollte. Mein Herz krampfte sich trotz allem ein bißchen zusammen. Aber – ich würde das alles ja nicht für immer verlassen! Ich würde doch zu Besuch kommen – oft, so oft wie nur möglich! Ich würde manchmal Heimweh haben. Aber wenn ich nun weiterhin von Heiko getrennt leben müßte – wäre die Sehnsucht nach ihm nicht tausendmal schmerzlicher? Einmal muß man ja das Elternhaus verlassen. So hat die Natur es gewollt. Die flüggen Jungen müssen eben das Nest verlassen und sehen, wie sie in der großen, harten Welt zurechtkommen. Sie müssen das eigene Nest bauen – sie müssen eigene Erfahrungen sammeln. Heiko drückte meine Hand. Ich lächelte. Da saßen Senta und Rolf. Senta hatte keine Probleme. Für sie war die Zukunft sonnenklar. Sie würde den einzigen Sohn wohlhabender
Eltern heiraten, in der Nähe unseres lieben Elternhauses wohnen, sie würde es gut und sorgenfrei haben. Während ich – , nicht nur hatte ich mich in einen Ausländer verliebt, sondern sogar in einen, dessen Milieu ich erst kennenlernen, dem ich mich anpassen mußte; nicht nur das, die größte Schwierigkeit war ja die, daß ich mich mit jedem Nerv, mit allen Fasern nach Süden sehnte, nach diesem merkwürdigen Land, dem Land mit den unendlichen Steppen, mit dem hohen, blauen Himmel, mit der sengenden Sonne, dem Land mit seinen Millionen von Tieren. Es war das Land, wo die Löwen morgens ihr dröhnendes Gebrüll ertönen ließen, das Land, wo die niedlichen Gazellchen in fliegenden Sprüngen dahinsausten – wo die Erde unter Millionen galoppierenden Hufen der Gnus und der Zebras zitterte. Da, wo warmes, reiches Leben in jedem Baum, in jeder Höhle, unter jedem Busch war; da, wo immer gelebt und gekämpft wurde, wo Tausende und abermals Tausende kleine Wesen jedes Jahr geboren wurden; da, wo man seinem Schöpfer und dem Herzen der Welt am nächsten war. Mein Afrika! Heikos und meine Augen trafen sich. In diesem Augenblick dachten und fühlten wir dasselbe. Wir hielten uns die Hände und wußten, ohne ein Wort zu sagen, daß wir einander für immer gehörten. Bernt war aufgestanden. Jetzt kam er herein, den Sektkübel in den Händen. Hinter ihm erschien Katrin mit dem großen Tablett voll Gläser. Als die alte Standuhr zum Schlagen ansetzte, sprang der erste Korken. Dann heulten die Sirenen, die Glocken läuteten, ein Jahr war zu Ende. Bis jetzt das schönste meines Lebens. Die fröhlichen Rufe und Neujahrswünsche flogen durch die Luft, hier wurden Hände gedrückt, da gab es einen schnellen Kuß, dann kam endlich eine kleine Pause. Papa stand auf, das Glas in der Hand. „Senta, mein Mädchen, in dieser Sekunde bist du 21 Jahre alt. Wir gratulieren dir innigst – nein, wartet mit dem Abküssen, jetzt habe ich das Wort! Offiziell gratuliert wird erst in einigen Stunden, wenn wir alle morgenfrisch sind. Aber ich habe etwas zu sagen, euch beiden. Sonja hat warten müssen, bis du, Senta, auch mündig geworden bist, und das bist du jetzt seit“ – Papa warf einen schnellen
Blick auf die Uhr – „seit vierundfünfzig Sekunden. Vor 21 Jahren – ich war erst siebenundzwanzig und noch Medizinalassistent – , als ich plötzlich Vater von Zwillingen war, außer einem Sohn, da fühlte ich die Verantwortung so stark, daß ich am folgenden Tag aus lauter väterlicher Fürsorge hinlief und für die beiden kleinen Schreihälse eine Versicherung abschloß. Damit sie etwas Startkapital haben sollten, wenn sie groß wurden. Für Ausbildung oder Aussteuer oder irgend was. Hier, meine Mädchen, habt ihr die Policen. Die Summe ist jetzt fällig, ihr werdet sie in wenigen Tagen kriegen. Pro Nase fünftausend Kronen. Das ist nicht viel, nach dem heutigen Wert der Krone, aber immerhin, Geld ist es ja. Nein, wartet, gedankt wird noch nicht. Wenn ich ausnahmsweise in diesem Haus mal das Wort habe, das kommt nicht allzu oft vor, will ich auch ausreden. Ihr habt komischerweise nie gefragt, wie es mit euren Finanzen eigentlich steht. Das liegt wohl daran, daß ihr bis jetzt nie richtige finanzielle Sorgen gehabt habt, ihr Glückspilze. Wie dem auch sei: Ich habe heute die angenehme Pflicht, euch mitzuteilen, daß die Erbschaft von eurer Mutter, zuzüglich dem, was Opa euch vermacht hat, zusammen neuntausenddreihundertvierunddreißig Kronen fünfundachtzig Öre beträgt – pro Nase. Darf ich die Ehre haben, meinen beiden mündigen Töchtern ihr Vermögen auszuhändigen?“ Er reichte uns schmunzelnd je ein Sparbuch. Als Senta die Hand danach ausstreckte, sah ich, daß etwas an ihrem Ringfinger glitzerte. Rolf hatte nicht bis zur Bescherung am nächsten Morgen warten können. Er hatte ihr, wahrscheinlich in der Sekunde, wo sie 21 wurde, einen Brillantring auf den Finger gesteckt. Ich empfand keine Spur von Neid! Ich gönnte es meiner Schwester so innig, so aus vollem Herzen. Wenn ich meinen eigenen Ring betrachtete, meinen Ring, den Heiko mit so viel Liebe ausgesucht und für den er geschuftet und sich abgerackert hatte – ja, da konnten mir alle Brillanten, einschließlich des KohinoorDiamanten, gestohlen bleiben! Wir machten unsere Sparbücher auf, wir sahen uns andächtig unsere Versicherungspolicen an. Alles in allem vierzehntausenddreihundertvierunddreißig Kronen fünfundachtzig öre – umgerechnet etwas über siebentausend Mark. „O Papa, tausend Dank! Was bist du für ein wunderbarer Vater! Wir hätten uns keinen besseren aussuchen können!“ versicherte Senta. Dann ging es los mit Fragen und Überlegen. Rolfs Eltern, mit
denen wir übrigens alle an diesem Abend Brüderschaft getrunken hatten, beteiligten sich eifrig. Rolfs Vater ist ein tüchtiger Geschäftsmann, er konnte uns bestimmt gute Ratschläge für die Anlage von Geld geben. Die einzigen, die sich nicht am Gespräch beteiligten, waren die beiden reichgewordenen Geburtstagskinder. Senta saß da, ihre Hand in Rolfs gelegt. Ihre Augen leuchteten wie Sterne. Ich hatte das Gefühl, daß ich wie immer ihr genaues Ebenbild darstellte. „Was sagen nun die beiden Hauptpersonen?“ fragte endlich Beatemutti. „Sonja, Senta, was werdet ihr nun als erstes tun?“ „Heiraten!“ riefen meine Schwester und ich.
ZWEITER TEIL
Als Hausfrau in Hamburg
Alltagsleben „Ein Vollkornbrot, einsfünfzig, ein halbes Feinbrot, fünfundachtzig, zwei Berliner – ja, sie sind ganz frisch, Frau Brunner, noch ganz warm – , das macht – “ Die Bäckersfrau addierte schnell und routiniert „zweifünfundsiebzig, danke schön, fünf Mark, zwofünfundzwanzig zurück, vielen Dank, Frau Brunner, auf Wiedersehen.“ Ich sah auf die Uhr. Gleich zehn, nur schnell nach Hause, vielleicht war die Post schon da! Der Märzwind pfiff mir um die Ohren. Ich schlug den Mantelkragen hoch und zog das Halstuch fester. Der arme Heiko, heute würde er aber einen schrecklichen Gegenwind auf dem Nachhauseweg haben. Nichts ist schlimmer, als bei Gegenwind zu radeln. Und dann die weite Strecke! Die Schule, in der er unterrichtete, lag ganz in der Nähe, dorthin ging er zu Fuß. Heut war aber schulfrei, und er war in aller Herrgottsfrühe zum Laboratorium geradelt. Ein Tag ohne Schule, das bedeutete einen langen, sozusagen geschenkten Tag für die Doktorarbeit. Er hatte heute früh einen ganzen Berg Butterbrote mitgekriegt und würde erst heute abend warm essen. Ja, richtig, ich wollte noch eine Dose Erbsen kaufen – und, lieber Himmel, beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen: die Möhren und Äpfel für Romeo und Julia! Also auf dem schnellsten Wege zum Selbstbedienungsladen. Alles war sauber, neu und blitzblank, es war ein Vergnügen, dort einzukaufen. Und wie es nun so kam – immer, wenn ich da reinging, um rasch ein Viertel Kaffee oder ein Stück Käse zu holen, dann entdeckte ich dies und jenes, was ich unbedingt haben mußte, und schon war der Einkaufswagen voll. Heut zum Beispiel. Statt der paar Äpfel für Romeo und Julia hatte ich plötzlich eine Zweipfundtüte im Wagen. Aber das hatte nun einen bestimmten Grund. Ich hatte Pakete mit fertig geriebenen Kartoffeln entdeckt, also sollte Heiko heut sein Lieblingsessen kriegen, und dazu mußte ich Apfelmus machen. Schokolade – Sonderangebot – 58 Pfennig für eine große Tafel, so eine Gelegenheit dürfte man sich doch nicht entgehen lassen. Ach ja, richtig, ich konnte ja gleich Mittagessen für morgen mitbesorgen! Mit anderen Worten, ich kam nach Hause mit einer prallen Einkaufstasche und völliger Ebbe im Portemonnaie.
Noch keine Post. Also schnell rein zu Romeo und Julia. Alte Futterreste weg, Näpfchen saubergemacht. Ein Apfelviertel und eine kleine Mohrrübe abwiegen und hinlegen. So, da hatten sie ihr Geschäftchen gemacht. Die winzigen, braunschwarzen „Pfefferkörnchen“ wurden in eine kleine Schachtel gelegt und das Datum aufgeschrieben. Das sollte morgen unters Mikroskop. Romeo und Julia waren zwei niedliche, winzige Geschöpfe, die in einem schönen Terrarium in unserem Schlafzimmer wohnten. Als sie mir vorgestellt wurden, habe ich meinen Ehemann zutiefst beleidigt. Ich rief nämlich „was für süße Mäuschen“ und mußte mich dann darüber belehren lassen, daß es gar keine Mäuse waren, sondern Zwergbilche. Als ob ich eine blasse Ahnung davon hätte! Ich hatte nie das Wort „Bilch“ gehört. „Auf englisch heißen sie Dormice“, versuchte Heiko meinem fehlenden Wissen nachzuhelfen. „Keine Ahnung. Warum heißen sie door mice? Türmäuse?“ „Dormice mit einem o, du Schafskopf. Hat nichts mit door zu tun.“ „Dor mit einem o – “ Ich dachte krampfhaft nach, versuchte meine spärlichen und mit nicht allzuviel Eifer notgedrungen erworbenen Schulkenntnisse aufzufrischen. „Dor – hat das nicht etwas mit Schlafen zu tun?“ „Gut, ausgezeichnet, ich nehme den Schafskopf zurück. Es sind kleine afrikanische Verwandte der Siebenschläfer.“ „Afrikanische…“, gleich empfand ich eine große Zärtlichkeit für die kleinen Viecher. „Und was machen sie hier?“ „Verhelfen mir hoffentlich zum Doktortitel. Ich schreibe doch meine Arbeit über Bilche und ziehe Vergleiche mit den Siebenschläfern, die wir im Labor haben.“ Jetzt war ich im Bilde. Es machte mir Spaß, daß ich mitarbeiten mußte, das heißt, ich machte sauber und fütterte – nach sehr strengen Vorschriften – , und neben dem Terrarium lagen Notizblock und Stift bereit, damit ich alle Beobachtungen gleich notieren konnte. Ich war es, die die lieben Tierchen sofort Romeo und Julia taufte, was Heiko ohne Protest gelten ließ. Nach vierzehntägiger Ehe hatte ich mich schon daran gewöhnt, daß sein erster Blick morgens zum Terrarium ging, ebenso sein letzter Blick abends, und daß mein vor Gott Angetrauter, wenn er nach Hause kam, nicht sofort sein sehnsuchtsvolles Eheweib abküßte, sondern schnurstracks zu Romeo und Julia ging, entweder
um die Futterreste auf die Briefwaage zu legen und so festzustellen, wieviel die Lieben zu speisen geruht hatten, oder um sich als „Stallbursche“ zu betätigen und das feierlich Aufgesammelte in dre Schachtel zu legen, die ich selbstverständlich nur „den Goldwagen“ nannte. Wenn das alles erledigt war, war ich an der Reihe, und ich kann durchaus nicht behaupten, daß mein Mann es an Zärtlichkeit fehlen ließ. Ich war vollkommen glücklich. Alles war neu und spannend. Es machte einen Heidenspaß, in den eigenen vier Wänden zu wirtschaften, alles hübsch ordentlich zu halten, gute Sachen zu kochen und all unsere neuen praktischen Dinge zu benutzen. Ich hatte grade die Äpfel für das Apfelmus aufgesetzt, da hörte ich das kleine Geräusch von der Posteinwurfklappe. Es klingelte auch noch. Ich rannte zur Tür. Einschreibbrief aus Norwegen! Außerdem ein Briefchen aus Kiel, ich hätte selbst diejenige sein können, die die Adresse aufs Kuvert geschrieben hatte, so ähnelten sich Sentas und meine Schrift. Ich begrub mich in unserem einzigen bequemen Sessel und machte den Einschreibbrief auf. Ja, ganz richtig, wie ich es gehofft hatte. Es waren die Bilder von der Hochzeit! Nein, wie waren sie doch gut geraten! Da: das lustige DoppelBrautbild von Senta und mir in unserer weißen Pracht, und Heiko und Rolf – da wieder mit den drei Elternpaaren – , dort der lange Tisch mit den Gästen – , da Vati, als er seine Rede hielt – , da die Aufnahme, die Hans Jörgen vor der Kirche gemacht hatte, Himmel, wie sah ich doch furchtbar aus, als ich in den Wagen stieg! Ich hatte wohl gerade etwas gesagt und mein Gesicht so komisch verzogen. Wie war Beatemutti doch reizend in ihrem hübschen blauen Abendkleid. Und da – ihre Eltern, unsere „adoptierten“ Großeltern aus Tjeldsund. Ach, ich hatte noch nicht an Omi Hettring geschrieben, das wollte ich doch tun! Sie würde Verständnis haben, sie würde begreifen, wieviel ich um die Ohren gehabt hatte. Ja, es war eine hektische Zeit gewesen, weiß der Himmel! Senta und ich hätten damals, am ersten Januar, am liebsten unsere beiden Zukünftigen bei den Händen gepackt und sie sofort mit zum Traualtar geschleppt, aber so schnell ging es nun doch nicht. Die besagten Männer fuhren zurück nach Deutschland zu Pflichten und Wohnungssuche – ja, Senta auch, sie stand ja mitten in der
Ausbildung und mußte weiter Kalorien zählen und Kohlenhydrate und Vitamine ausrechnen. Es war Rolf, der das Wohnungsproblem für die beiden löste, und zwar in einer sehr einfachen Art: Es gelang ihm, seiner Zimmerwirtin ein zweites Zimmer und die Erlaubnis abzuringen, in ihrer Küche zu kochen. Heiko hatte auch Glück. In diesem Vorort – ich persönlich nannte es Vorvorort, es war eine scheußlich weite Entfernung zu bewältigen, wenn wir mal in die Stadt mußten oder wollten – , also, hier in diesem Vorort, wo er an der neuen Oberschule unterrichtete, waren die Hochhäuser in den letzten 3 bis 4 Jahren wie die Pilze aus der Erde geschossen. Das einst idyllische und friedliche Dörfchen bekam Garagen und Apotheke, Selbstbedienungsläden und Kino, Verkehrsschilder und Polizeirevier. Aber abseits von Hochhäusern und neuen Läden lag die Fliederstraße, ein friedlicher Winkel mit kleinen, bescheidenen, gutbürgerlichen Einfamilienhäusern. Das Glück wollte es, daß die Tochter eines der Hausbesitzer nach auswärts heiratete. Die Eltern saßen allein im Haus, und die nette kleine Einliegerwohnung zu ebener Erde sollte vermietet werden. Wir bekamen sie. Wir hatten ein ziemlich großes, helles Wohnzimmer und ein kleines Schlafzimmer, eben groß genug für uns beide plus Romeo und Julia. Von der Waschküche der Wirtsleute war ein kleiner Raum abgezweigt, eine richtige Küche war es nicht, aber groß genug für mein bescheidenes Kochen, für ein Schränkchen und für meinen ganzen Stolz, einen schönen, modernen Kühlschrank, das Hochzeitsgeschenk meiner Eltern. Als wir dann ein Minitischchen hinstellten, fand Heiko heraus, daß ich kein Gramm zunehmen durfte. Wenn ich das täte, würde ich nicht mehr in den Raum passen. Was aber nicht stimmte, denn unsere Wirtin, die sehr viel mehr Gramm – oder vielmehr Kilo – hatte als ich, ging immer durch die Küche, um in ihre eigene Waschküche zu kommen. Was natürlich nicht ganz ideal war, aber das ließ sich nun nicht ändern. Dafür hatten wir unseren Toilettenraum mit Brause ganz für uns und eine eigene Eingangstür mit Schild und Briefkasten – mit anderen Worten, wir waren eine Familie geworden, Heiko und ich! Unsere Wirtsleute waren sehr freundlich, sehr hilfsbereit. Aber ich dachte immer an ein paar weise Worte meines klugen Vaters: „Halt immer Abstand von den anderen Hausbewohnern! Sei freundlich, höflich und hilfsbereit, aber werde nicht intim mit ihnen. Ein korrektes und unpersönliches Verhältnis kann man immer
intensivieren, aber umgekehrt ist es unmöglich.“ Also blieb ich höflich und freundlich und nichts mehr. Jetzt, zum Beispiel, hätte ich ohne die klugen Worte meines Vaters sofort Frau Schulz die Hochzeitsbilder gezeigt, aber ich beherrschte mich. Bloß nichts Persönliches! Abwarten und sehen, wie wir auf die Dauer miteinander auskommen würden. Heiko hatte übrigens genau dasselbe gesagt. Und wenn die beiden vernünftigsten Männer, die ich kenne, derselben Meinung waren, dann blieb mir natürlich nur eins: artig und folgsam sein! So saß ich da und war artig und sah mir die Bilder an und freute mich schrecklich darauf, sie Heiko zu zeigen. Dann vertiefte ich mich in Sentas Brief. „Vorläufig sind die Sonntage keine Sonntage“, schrieb sie. „Wir sind noch feste dabei, die Wohnung einzurichten und all das nachzuholen, was wir werktags nicht schaffen. Rolf hat ja mehr freie Zeit als ich, er behauptet, daß er nachmittags wie ein ruheloser Geist hier rumwandert und auf die Uhr guckt. Jeden Tag steht sein Wagen vor dem Kliniktor, wenn ich aus meiner Diätküche komme, dann geht es ruckzuck nach Hause, wo mein prächtiger Mann schon die Kartoffeln geschält und Einkäufe gemacht hat. Und dann koche ich, ohne an Kalorien, Kohlenhydrate, Vitamine und solches Zeug zu denken. Rolf genießt es, richtiges norwegisches Essen zu kriegen, das Mensaessen, womit er sich zwei Jahre notdürftig gesättigt hat, ist nichts für nordische Zungen. Wenn wir einigermaßen zur Besinnung kommen, machen wir an einem Sonntag den Katzensprung rüber zu Euch, um festzustellen, was für Unsinn Ihr betreibt. Was machen Romeo und Julia? Du hast es gut, du hast Haustiere, das hätte ich auch gern, aber wenn man den ganzen Tag weg von zu Hause ist! Wir waren eines Abends bei Frau von Waldenburg – Bicky läßt grüßen, sie fragt nach Tante Sonja, die so lieb zu ihr war. Frau von W. ärgert sich, weil sie nicht dabei war, als Bicky ihre Welpen bekam, und überlegt sich, ob ihr Liebling noch einen Wurf haben darf. Ja, und dann schneiten zwei von Rolfs Kommilitonen hier rein, ich hatte nichts im Haus und mußte wie ein Blitz Waffeln backen (ich danke Euch noch einmal für das herrliche elektrische Waffeleisen!). Wahnsinnig nett, natürlich, aber anderseits, wir haben ja eigentlich keine Zeit für Gäste! Noch eine Einladung schwebt wie ein Damoklesschwert (hieß er nicht so, der alte Grieche? Warst du nicht an der Reihe, die Schulaufgaben zu machen, als wir das mit ihm aufhatten?) – also so was schwebt über meinem Haupte, nämlich
eine Geburtstagseinladung zu einer Mitschülerin aus unserer Hexenküche. Nur Mädchen, so was Blödes, – aber ich bin die einzige Verheiratete der Gruppe. Du, ich habe sie noch nicht dazu gebracht „Frau Skostad“ zu sagen, ich bin nach wie vor Frl. Rywig, das heißt, wir nennen uns gewöhnlich beim Vornamen. Ich muß aufhören, Sonnielein. Ich sehne mich nach Dir. Komisch, nur anderthalb Stunden Autofahrt trennen uns, eigentlich müßte man sich jeden Tag sehen. Ja, ja, so ist es, wenn man einen Ehemann und einen Beruf hat. Du Glückspilz hast jedenfalls Zeit. Setz Dich hin und schreib Deiner sehnsuchtsvollen Schwester einen langen, lieben Brief. Denn Du brauchst wohl nicht den ganzen Tag, um Heiko die paar Kartoffelpuffer zu backen, und das bißchen Apfelmus…“ Ich sprang mit einem Schrei auf und ließ Sentas Brief fallen. Heiliger Bimbam, das Apfelmus!! Zuerst konnte ich die Platte mit dem Kochtopf gar nicht sehen. Die Küche war voll Rauch, und wie es stank! Fenster auf, dann bekam ich einen Hustenanfall – und dann erst konnte ich die Topflappen ergreifen und den Topf an mich reißen. Auf dem Topfboden lag eine schwarze Krustenschicht. Das war mein Apfelmus. Die Feuchtigkeit lief an den Wänden runter, es fehlte nur noch, daß Frau Schulz in diesem Augenblick in die Waschküche mußte! Ich trug das Unglück raus ins Freie, und dann ging es los mit Schrubben und Saubermachen. Himmel, wenn sie entdeckte, daß ich um ein Haar das Haus in Brand gesteckt hätte! Ein Holzlöffel, der neben dem Kochtopf gelegen hatte, war schwarz versengt. Schnell in den Mülleimer damit! Dann wie ein Blitz zum Geschäft, um neue Äpfel zu holen. Ich mußte trotz allem lachen. Ich formte schon im Gedanken einen Bericht an Senta! Als ich nach Hause kam, traf ich Frau Schulz. Sie kam aus meiner Küche. „Na, Sie haben wohl Pech gehabt, Frau Brunner“, lächelte sie. „Ich meine, bei Ihnen ist wohl etwas angebrannt?“ „Ach, riecht es noch? Ja, denken Sie sich, mein ganzes Apfelmus – jetzt habe ich neue Äpfel geholt.“ „Aber liebe Frau Brunner, machen Sie sich doch nicht die Mühe, ich habe sooo viel Apfelmus im Keller, ich gebe Ihnen gleich ein Glas“ – und schon war sie weg und kam gleich darauf zurück mit
einem großen Weckglas. „Hier, nehmen Sie es bloß, dann brauchen Sie nicht all die Äpfel zu schälen, Ihr Mann kommt wohl auch bald?“ „Nein, heut kommt er erst gegen Abend. Es ist furchtbar lieb von Ihnen, Frau Schulz, was darf ich dafür…“ „Nicht der Rede wert, nehmen Sie es nur, es ist von unseren eigenen Äpfeln aus dem Garten. Lassen Sie es sich schmecken!“ Was hatte Papa gesagt? Aber andererseits, ich konnte ja Frau Schulz nicht beleidigen. Also nahm ich das Glas und schenkte ihr dafür eine Dose norwegische Sardinen. Wie langsam verging doch die Zeit an diesem Nachmittag! Heiko würde erst gegen 19 Uhr kommen, hatte er gesagt. Es war erst vier. Zum ersten Male fühlte ich mich einsam. Ich setzte mich hin und las Sentas Brief noch einmal. Sie war ein Glückspilz, sie wußte sich kaum vor Einladungen zu retten, sie hatte viele Bekannte, Rolf hatte nach diesen Jahren in Kiel haufenweise Studienkameraden. Senta brauchte nie ganz allein in der Wohnung zu sitzen und zu warten. Kein Mensch, mit dem ich plaudern konnte. Niemand, dem ich die Hochzeitsbilder zeigen konnte. Niemand, dem ich von Beatemuttis Brief erzählen konnte – daß Bernt im Physikum eine „Eins“ geschafft hatte und daß Annettchen ein Glas Heidelbeermarmelade auf den Teppich hatte fallen lassen, und daß Papa wohl doch dieses Jahr einen neuen Wagen kaufen wollte. Plötzlich sehnte ich mich heftig nach Beatemutti und meinen Geschwistern und Papa und unserem Zuhause, und ich war so allein, so scheußlich, furchtbar allein! Ich setzte mich hin und fing an zu schreiben. Ich schrieb an Beatemutti, erzählte von Romeo und Julia, von dem angebrannten Apfelmus und Frau Schulz – und dann legte ich den Kugelschreiber weg. Ich hatte ja nichts mehr zu erzählen. Gar nichts. Ja – daß wir schönes Wetter hatten und daß ich heut Kartoffelpuffer machen würde – dann wußte ich wirklich gar nichts mehr! Es war viertel nach sechs. Eine dreiviertel Stunde, dann würde Heiko kommen. Ich konnte ja die Bilder ins Album kleben. Nein – zu dumm, ich hatte keine Fotoecken und keinen Leim. Die Wohnung war in Ordnung. Romeo und Julia waren versorgt. Ich hatte nichts zu waschen, nichts zu plätten. Wie war ich doch einsam. Senta schreiben? Omi Hettring? – Nein, ich hatte keine Lust. Es
gab ja doch nichts zu erzählen. Dann holte ich meine Suahelibücher und versuchte zu lernen. Ich dachte an Stefan, der herausgefunden hatte, daß „papa“ Haifisch bedeutete, an Hans Jörgen mit seinem „nina barua“. Ich blätterte, blieb an „Essen und Trinken“ hängen – ja, warum nicht, das sollte man auch können. Als es Zeit wurde, den Kartoffelpufferteig anzurühren und den Tisch zu decken, wußte ich, was Blätterteigpastete, Geflügelsalat, Würstchen, Kalbfleisch, Leber, Nieren und Zunge hießen. Ich konnte Eis und Obstsalat und frische Ananas bestellen. Und außerdem natürlich Haifisch und Paprikahuhn! Es war sieben. Der Tisch war gedeckt, das Apfelmus in der hübschen Schale von Omi und Opa Hettring angerichtet. Jetzt konnte ich es wohl wagen, die Kartoffelpuffer zu backen. Das hatte mir doch meine Schwiegermutter erklärt, die Dinger mußten frisch von der Bratpfanne auf den Tisch kommen. Nanu – viertel nach – und kein Heiko. Aber er müßte ja jetzt kommen. Man konnte sich immer auf Heikos Wort verlassen. Da war wohl sehr viel Verkehr zu dieser Zeit, er mußte ja durch die halbe Stadt radeln, beinahe! Viertel vor acht waren die Kartoffelpuffer weich geworden, und Heiko war noch nicht da. Lieber Himmel – wenn ihm bloß nichts zugestoßen war! Wie leicht konnte so ein Rad zwischen große, eilige Autos geklemmt werden. Um acht war ich außer mir vor Angst. Was sollte ich machen – konnte ich irgendwo anrufen – ja, aber wo? Ich wollte noch eine Viertelstunde warten, dann würde ich zur Telefonzelle laufen und sehen, ob ich irgendwie die Nummer des Labors ausfindig machen konnte. Ich hatte schon den Mantel an, ich zitterte vor Angst – und dann, dann hörte ich das Geräusch vom Gartentor. Ich hörte Schritte, hörte, daß das Rad abgestellt wurde. Dann riß ich die Haustür auf. Heiko, o Heiko! Ich schlang meine Arme um seinen Hals, ich drückte mich fest an ihn, und dann – dann liefen meine Tränen wie ein Wasserfall auf seinen Pullover. „Aber Sonnie, mein Mädchen, was ist? Was hast du? Hast du schlechte Nachrichten aus Norwegen? Nun komm, Impala, erzähl mir doch.“ Er holte sein Taschentuch raus und wischte mir die
Tränen weg, legte den Arm um meine Schultern und führte mich ins Wohnzimmer. „Nun, mein Schatz, erzähl doch…“ Er zog mich auf seine Knie. „Ich hatte solche Angst“, stammelte ich. „Angst? Warum denn?“ „Um dich – du wolltest um sieben kommen – und ich habe so gewartet – und dann dachte ich, es wäre dir etwas zugestoßen, und…“ „Aber Kind! Ich war mitten in einer Untersuchung, die eben etwas länger dauerte. Es tut mir furchtbar leid, mein Schatz, aber ich konnte nicht unterbrechen. So was kommt nun vor, wenn man Wissenschaft betreibt!“ „Und die Kartoffelpuffer sind weich geworden.“ „Dann essen wir eben weiche Kartoffelpuffer! Oder falls du sie einen Augenblick aufbraten willst, dann gucke ich eben nach Romeo und Julia. So, wasch dein hübsches kleines Gesichtchen, zeige mir, ob du lächeln kannst. Ja, so ist es richtig! Nun schnell in die Küche, nachher machen wir es uns gemütlich!“ Dann gab es aufgewärmte Kartoffelpuffer. Sie schmeckten scheußlich. „Es tut mir so furchtbar leid, Heiko, ich merke es selbst, sie sind ganz anders als die, die deine Mutter macht.“ „Oh, keine Sorge, du lernst es mit der Zeit, laß es dir doch mal von Muttchen zeigen. Dafür kannst du einen vorzüglichen Milchreis kochen, ich weiß es noch vom Heiligen Abend. Den hattest du doch damals gekocht?“ „Ja“, sagte ich. „Magst du Milchreis?“ „Furchtbar gern. Meinetwegen kannst du zentnerweise davon kochen. Übrigens, laß dir nur keine grauen Haare wachsen! Wenn auch die Kartoffelpuffer nicht so ganz richtig sind, ist das Apfelmus dafür erstklassig! Das kannst du wirklich aus dem ff!“ Ich merkte, daß meine Lippen wieder anfingen zu zittern. „Nanu?“ sagte Heiko. „Was ist denn, Sonnie?“ „Das Apfelmus ist von Frau Schulz“, flüsterte ich. „Meins ist mir angebrannt!“ Da lachte Heiko laut und befreiend, nahm mich in seine Arme und versicherte mir, daß er mich trotzdem lieb habe – und wie lieb – so über alle Grenzen lieb. Dann war alles wieder gut, und ich segnete den Tag, an dem das Schicksal uns im Flughafen von Kairo zusammengebracht hatte.
Geteilte Sorgen sind halbe Sorgen „Heiko“, sagte ich eines Morgens, „wäre es nicht möglich, diese scheußlichen Krachmacher umzustellen? Ich meine, daß sie am Tag ihren Unsinn machen und nachts schlafen wie anständige Geschöpfe?“ „Ich habe es mir schon überlegt“, sagte Heiko. Auch er war müde nach einer Nacht, wo Romeo und Julia rumgekratzt und gepiepst hatten und rumgeklettert waren, wo sie ihre Mohrrüben geknabbert hatten und wo Julia zu guter Letzt in den Wassernapf gefallen war, so daß Heiko sie trockenreiben mußte, und das um drei Uhr nachts! Keine Nacht hatten wir richtige Ruhe. Die Viecher über Tag zu beobachten, ergab herzlich wenig Interessantes, dann lagen sie zusammengerollt und schliefen so sanft, wie wir gern nachts hätten schlafen wollen. Was zu beobachten war, passierte nachts. Mit anderen Worten, Heiko mußte immer ein paarmal aus seinem warmen Bett. Es war schlimmer, als wenn wir einen Säugling gehabt hätten. Jetzt gähnte er herzhaft. „Wir haben es ja mit den Siebenschläfern im Labor geschafft“, sagte er. „In den Zoos schaffen sie es auch. Wir fangen heut an! Jetzt wird Licht gemacht, versteht ihr nun, ihr Quälgeister, daß schon Tag ist? Dann hops ins Heiabettchen, und heut abend wird eine Stunde eher dunkel gemacht. Jeden Tag eine Stunde weiterrücken, dann wird es wohl klappen.“ Das tat es auch. Nach gut einer Woche tobten die kleinen Kerle tagsüber im verdunkelten Kasten rum, und nachts schliefen sie süß unter dem milden Licht einer Lampe. „Komische Viecher“, sagte ich. „Die schönen, hellen Stunden zu verschlafen!“ „Du mußt dich beim lieben Gott beklagen, nicht bei mir“, schmunzelte Heiko. „Er hat es so gewollt.“ Als ich an einem schönen Morgen Anfang April das Wohnzimmerfenster aufmachte, blieb ich stehen. Ich horchte. „Heiko, sag mal, kann das schon die Lerche sein?“ Er antwortete nicht. Ich guckte ins Schlafzimmer. Da stand er mit Julia in der Hand und sah sie eindringlich an. Dann sprach er feierlich: „Es war die Nachtigall und nicht die Lerche, Die eben jetzt dein
banges Ohr durchdrang.“ Nein, wie habe ich gelacht. Ich ging hin zu ihm und zitierte genauso feierlich: „Die Lerche wars, die Tagverkünderin, und ich verkünd, das Frühstück wartet, Liebster!“ „Merkst du das Erdbeben?“ fragte Heiko. „Erdbeben? Wieso?“ „Es ist der Shakespeare, der sich wie ein Rotor im Grabe umdreht.“ „Der Ärmste. Aber nun komm, hoffentlich haben die Biester gut geschlafen und werden tagsüber unternehmungslustig sein. Heiko, manchmal könnte ich mich über dich totlachen!“ „Danke, gleichfalls“, schmunzelte Heiko und fing an, eine dicke Scheibe Schwarzbrot zu streichen. Ja, natürlich gab es Augenblicke, wo wir lachen mußten, wo wir Ulk machten und unsere Späße hatten. Aber es läßt sich nicht leugnen: Die Tage waren mir furchtbar lang, und die Umstellung fiel mir schwer. Und ich war so allein! Ein paarmal war ich in die Stadt gefahren. Ich hatte meine Schwiegereltern besucht und war eines Nachmittags ein Stündchen bei Anke gewesen. Aber sie hatte auch wenig Zeit. Sie hatte ihre Studien wieder aufgenommen, hatte den ganzen Vormittag zu tun, und nachmittags kümmerte sie sich um ihr Kind. Außerdem war ich ja durch Romeo und Julia ans Zuhause gebunden. Ich hatte selbst vorgeschlagen, sie von Nacht auf Tag umzustellen. Jetzt, wo es gelungen war, war ich es also, die sie dauernd beobachten und alles notieren mußte, was für Heiko von Interesse sein konnte. Er fand oft ganze Bogen voll Notizen, wenn er nach Hause kam. Dann aßen wir zu Mittag, hatten ein Stündchen Kaffee- und Plauderpause, und mein vielbeschäftigter Ehemann zog los zum Labor, um sich der Doktorarbeit zu widmen. Ich bekam es nicht mehr mit der Angst, wenn er spät heimkam. Ich wußte ja, daß er schlecht die Zeit berechnen konnte. So saß ich zu Hause, lernte Suaheli, schrieb Briefe und ging meinen eigenen Gedanken nach. Ich versuchte mir zu sagen: „Dies ist ein Übergang, Sonja! Unser Ziel rückt näher! Nur noch wenige Monate, dann wird Heiko mit seiner Doktorurkunde in der Hand, mit Pilotenschein und Führerschein in der Tasche, mit Englisch und Suahelikenntnissen vortreten und sich um eine Stellung irgendwo in Ostafrika bewerben können! Nur
durchhalten, Sonja!“ An einem Sonntag verließ er mich. Sein Doktorvater hatte ihn gebeten, mit nach Hannover zu kommen. Er wollte ihm da eine Sensation im Zoo zeigen, außerdem wollte er sich mit einem Zoologen treffen, der grade aus Afrika zurückgekommen war. Und wenn Heiko dann so lieb sein wollte, den Wagen zu fahren? „Ich bin allmählich zu alt für den Sonntagsverkehr auf der Autobahn“, hatte der Professor schmunzelnd gesagt. Gut. Natürlich mußte er fahren. Ich rief bei Anke an. Ob sie Sonntag Zeit hätte? Wunderbar, ihre Schwiegereltern seien eingeladen, sie sei den ganzen Tag allein mit dem Kleinen, es könnte gar nicht besser passen! Also verschwand Heiko ganz früh morgens, ich räumte auf, gab Romeo und Julia Futter und Wasser und fuhr zu Anke. Als ich abends nach Hause kam, war Heiko schon da. Er kam mir entgegen im Flur. Kein Lächeln auf seinem Gesicht, keine fröhlichen, scherzhaften Worte. „Heiko, mein Lieber, was ist mit dir? Bist du mir böse? Habe ich etwas verkehrt gemacht?“ „Um Gottes willen, Liebling, gar nichts, warum sollte ich dir böse sein?“ „Ist denn was passiert? Etwas mit deiner Arbeit?“ „Etwas mit meinen – mit unseren Zukunftsplänen, Impala“, sagte Heiko leise. „Komm, ich hänge deinen Mantel auf. Ich habe mir grade einen Kaffee gemacht, möchtest du auch eine Tasse?“ Ich setzte mich auf die Couch, zog Heiko an mich. „Erzähl, Liebling.“ Zum ersten Mal sah ich, daß Heikos Gesicht auch blaß, müde und überanstrengt aussehen konnte. So kannte ich ihn nicht. Entweder war er sonst fröhlich und munter, so wie im Urlaub, oder er war ruhig, zufrieden, von seiner Arbeit in Anspruch genommen, eifrig beschäftigt. Aber dieses müde, unglückliche Gesicht. Ich empfand eine große Zärtlichkeit, ich wollte ihm so gern helfen, wenn ich bloß konnte. „Impala, wenn man was Schlimmes erlebt, woran man selbst schuld ist, dann ist es – ja, es ist besonders schwer. Denn dann macht man sich Selbstvorwürfe, man begreift nicht, daß man so dämlich und so leichtsinnig sein konnte – , daß man vielleicht dem Menschen, den man über alles auf der Welt liebt, eine furchtbare Enttäuschung bereiten muß.“
Ja, Heiko brauchte Hilfe, das verstand ich. Und ich wußte auch, worin die Enttäuschung nun bestehen möge, ich würde sie tragen können. Ich mußte sie hinnehmen, ohne zu heulen, ohne eine große Szene zu machen. Ich würde es schaffen, alles konnte ich tragen, wenn nur ein einziges unverändert blieb: unsere Liebe. „Sprich ruhig, Heiko. Wie heißt es nun gleich, ich glaube, es steht in der Bibel: Geteilte Sorgen sind halbe Sorgen – ich weiß es nur auf norwegisch, aber so ungefähr wird es wohl auf deutsch sein.“ Er nahm meine Hand und hielt sie fest zwischen den seinen. „Sonnie, ich bin so unverzeihlich dumm gewesen. Ich bin blind und gedankenlos gewesen, ich habe wie ein Verrückter für ein einziges Ziel gearbeitet und habe dich in dieses einspurige Dasein mit reingeschleppt.“ „Was heißt hier geschleppt? Bin ich nicht in allerhöchstem Grade freiwillig mit in dein Dasein gekommen? Ist dein Ziel nicht auch das meine? Heiko, wenn ich an die Steppen denke – an die Tiere – an den blauen afrikanischen Himmel – , wenn ich bloß weiß, daß wir wieder dahin fahren, dann kann ich alle Enttäuschungen tragen!“ Es zuckte in Heikos Gesicht. Dann kam es, leise und angestrengt: „Und wenn wir nun nicht dorthin kämen?“ Ich schluckte. Ruhig, Sonja, sagte ich mir. Sei ruhig, mach es Heiko nicht schwerer. Wir lieben uns, dann ist alles andere unwichtig, es sei denn – , dann fühlte ich, daß ich ganz blaß wurde. „Heiko, sag mir nur eins: Hat es etwas mit deiner Gesundheit zu tun? Bist du krank? Darfst du nicht fahren? Verträgst du das Klima nicht?“ Da kam ein ganz kleines Lächeln auf seinem Gesicht zum Vorschein. „Kleine Impala. Nein, mein Mädchen, ich bin gesund wie ein Fisch und stark wie ein Bär. So, das war dein erster Gedanke? Du machst mich ja einfach glücklich mitten in unserem Unglück!“ „Dann erzähl doch endlich von dem Unglück, wie du es nennst!“ Er holte tief Luft und erzählte, was er an diesem Tage zu wissen bekommen hatte. In keinem Nationalpark in Afrika wurden Europäer angestellt. Die, die schon da waren, seit Jahren, zum Teil ihr ganzes Leben lang, wußten, daß sie eines Tages überflüssig sein würden, daß ihre Stellungen mit Afrikanern besetzt werden würden. Unzählige Afrikaner wurden als Parkwärter, als Wildhüter, als Büropersonal
ausgebildet. Afrika hat Menschen genug. Keine Kunst, dort eine Auslese zu treffen und intelligente, gut geeignete Männer zu finden und auszubilden. Da halfen weder Zoologiestudium, Fotomeisterprüfung, Suahelikenntnisse noch Pilotenschein. Piloten gab es schon in Hülle und Fülle da unten, und man brauchte kein Universitätsexamen, um Wildhüter zu sein. „Aber Heiko, es gibt doch noch Europäer, die da unten arbeiten!“ „Ja, im Rahmen der Entwicklungshilfe, es gibt Europäer, die unterrichten, das stimmt.“ „Und was ist mit den Wissenschaftlern?“ „Ja, siehst du, das ist meine einzige Möglichkeit. Wenn ich Glück habe, kriege ich ein Stipendium. Dann kann ich drei Jahre in einem Forschungslabor arbeiten, was ich natürlich brennend gern tun möchte. Ich habe heut stundenlang mit meinem Professor darüber gesprochen. Ebenso mit dem jungen Mann, den ich in Hannover traf, der grade nach drei Jahren aus Afrika zurückgekommen war. Er meinte übrigens, wenn es soweit ist, daß ich einen Vorstoß in Richtung Stipendium mache, soll ich bloß nicht meine Fähigkeiten verschweigen, ich soll den zuständigen Herren sowohl meine Fotokenntnisse als auch Pilotenschein und Suaheli und Englisch unter die Nase reiben.“ „Nichts wie los, Heiko! Fang an zu schreiben! Und vergiß nicht, daß du einen Lastwagen fahren kannst und daß du schon zweimal in Afrika warst und weißt, daß du das Klima verträgst!“ „Aber wann wird es werden, Sonnie? Zuerst muß ich meine Arbeit abschreiben und abgeben, und dann muß ich mich hinsetzen und Daumen drehen, während ich auf das Urteil und die Doktorurkunde warte.“ „Dich möchte ich beim Daumendrehen sehen“, sagte ich. „Nun werde ich dir was sagen, mein großer, dummer, geliebter Junge: Morgen nachmittag fahren wir in die Stadt. Wir beide zusammen. Dann wird von deiner reichen Frau eine Schreibmaschine gekauft. Dann kannst du zu Hause deine Arbeit abschreiben, wer weiß, vielleicht kann ich dich sogar an der Maschine ablösen. Die Hälfte der Maschine ist Vorschuß-Geburtstagsgeschenk, die zweite Hälfte kriegst du, weil morgen – weißt du, was morgen ist, Heiko?“ „Ja, ich weiß, mein Liebling.“ Ich löste meine Hand von Heikos, zog meinen Ring vom Finger und machte vorsichtig die kleine Kapsel auf.
„Weißt du noch, was wir dachten und sagten, als wir diese Körnchen Erde in unsere Taschentücher legten?“ „Und ob ich das weiß.“ „War das nicht so was wie ein Gelübde, Heiko? Sollen wir jetzt die Köpfe hängen lassen, bei der ersten Enttäuschung? Wir müssen eben unsere Pläne ein bißchen umbauen, das ist alles. Du arbeitest in Richtung Forschungsarbeit statt in Richtung Wildhüter – übrigens, was willst du erforschen?“ „Kleinstböcke, Klippspringer, Ducker oder so was. Oder Oribis.“ „Sind sie noch nicht erforscht?“ „Doch. Aber es gibt immer mehr zu erforschen.“ „Also, konzentrier dich auf deine Böckchen! Und noch etwas, Heiko! Afrikaner hin, Afrikaner her, aber es gibt doch weiße Afrikaforscher, es gibt große Wissenschaftler, die monatelange Expeditionen im Urwald machen, sie brauchen doch Assistenten! Assistenten, die etwas können!“ „Denkst du vielleicht an Assistenten, die verheiratet sind und deren Frauen das ganze Forschungsteam bekochen könnten?“ „Eben. Daran denke ich. Und wenn es gar nicht anders geht, Heiko, dann sparen wir Geld, wir sparen und sparen, bis wir uns ganz privat noch eine Afrikareise leisten können. Wir sind doch jung, wir haben viele Jahre vor uns – wir werden es schaffen!“ Er drückte mich an sich. „Wenn ich das damals gewußt hätte“, sagte er leise. „Wenn du was wann gewußt hättest?“ „Als ich die hübschen Zwillingsschwestern im Flughafen Kairo sah, – wenn ich da gewußt hätte, daß die eine davon nicht nur das liebste Mädchen auf der Welt ist, sondern auch die prachtvollste Kameradin!“ „Heiko, ich erröte über so viele Komplimente!“ „Tu das, das Erröten steht dir so gut.“ „Nun kümmere dich um deine wilden Tiere im Schlafzimmer, ich mache uns ein bißchen Menschenfutter zurecht. Weil es Sonntag ist, habe ich ein Viertel richtige Butter gekauft, jetzt mache ich warme Sandwiches, und dann wollen wir glücklich darüber sein, daß wir nicht wie vor einem Jahr in getrennten Zelten schlafen, sondern einander gehören. Ob in Seronera oder in Norddeutschland!“ Als ich dann allein in der Küche war, wunderte ich mich über mich selbst. Woher hatte ich die Kraft genommen, diese gräßliche Enttäuschung zu ertragen? Wie kam es, daß mir genau die richtigen
Worte in den Mund kamen, die Heiko trösten konnten? Woran lag es, daß ich es fertiggebracht hatte, einen festen Optimismus aufzubauen, eine Hoffnung, die uns beiden wirklich geholfen hatte? Da gab es nur eine Erklärung: so groß, so fest, so unerschütterlich war unsere Liebe. Was Logik, guter Wille und kühle Vernunft nie geschafft hätten, das schaffte die Liebe. Sie brachte bei mir Eigenschaften an den Tag, von deren Existenz ich gar nichts gewußt hatte. Zwei Stunden später kuschelte ich mich in Heikos Armbeuge. Er hob die freie Hand und machte die Nachttischlampe aus. „Leicht war es nicht“, flüsterte er. „Was war nicht leicht?“ „Damals, vor einem Jahr. Dich in dein Zelt gehen zu lassen und mich selbst in ein anderes zu trollen, klein und häßlich und allein.“ „Klein und häßlich bist du vielleicht noch, ich kann es nicht beurteilen, dazu liebe ich dich allzu sehr. Aber allein bist du jedenfalls nicht mehr.“ „Nein, Gott sei Dank. Es sei denn – man könnte vielleicht sagen ,wir beide sind zum Glück allein?’ Sozusagen – allein zusammen?“ Ich schloß die Augen. Wir waren so wunderbar allein. Zusammen allein.
Dorfklatsch „Heiko“, sagte ich am folgenden Tag, als ich ihn vor seiner Schule abholte: „Weißt du, daß es das erste Mal ist, daß wir zusammen in die Stadt fahren?“ „Du redest Unsinn wie immer“, sagte Heiko. „Wir sind doch zweimal zu meinen Eltern gefahren!“ „Ja, das schon, aber wenn ich ,in die Stadt’ sage, dann meine ich einen Stadtbummel, Stadtfahrt mit der Absicht, etwas zu kaufen.“ „Da hast du wohl recht. Übrigens bist du furchtbar leichtsinnig mit deinem Geld. Aber es hilft mir wohl gar nichts, wenn ich protestiere.“ „Gut, daß du das einsiehst. Außerdem möchtest du gern eine Schreibmaschine haben, da habe ich bestimmt wieder recht?“ „Ja, du hast heut unaufhörlich recht!“ Wir waren zur Bushaltestelle gekommen. Da stand die junge Verkäuferin vom Milchgeschäft. Ich nickte und lächelte. Sie bewegte nur etwas den Kopf, spendierte aber kein Lächeln. „Na, die ist vielleicht schlechter Laune heut!“ sagte ich. „Sonst ist sie so freundlich, ich kann mich kaum wehren gegen ihre Redelust!“ Übrigens hatte ich mich schon am selben Morgen gewundert. Ich hatte Frau Schulz wie immer ein freundliches Guten Morgen gesagt, als ich sie traf. Sie stand grade und putzte das Türschild, als ich zum Bäcker lief. „Nun, hatten Sie gestern einen schönen Tag?“ fragte sie. „O ja, sehr schön. Sie hoffentlich auch?“ „Gewiß. Ich war gestern in Kiel.“ „Ach, waren Sie? Ja, Kiel kenne ich gut.“ „Da ist zur Zeit Jahrmarkt.“ „So? Das wußte ich nicht.“ „Sie sollten mal hinfahren, mit Ihrem Mann.“ „Wenn mein Mann bloß Zeit dazu hätte! Er hat immer so furchtbar viel zu tun. Gestern mußte er nach Hannover fahren, beruflich.“ „So was habe ich mir gedacht.“ „Haben Sie? Entschuldigen Sie, ich muß laufen, heut habe ich nämlich auch zu tun – Wiedersehen, Frau Schulz!“
Komisch war sie gewesen. – Ihr Tonfall war so – ja, so anders gewesen. Aber jetzt saß ich im Bus neben Heiko, und wir wollten zusammen etwas kaufen, was er sich brennend wünschte. Das war so schön, daß ich Frau Schulz und die Milchverkäuferin völlig vergaß. Wir fanden eine sehr praktische, wenn auch nicht ganz billige Reiseschreibmaschine. Als der dezente Verkäufer sich umdrehte, um die Quittung zu schreiben, bekam ich einen blitzschnellen Kuß. Heiko freute sich wirklich ganz schrecklich. Dann standen wir vor dem Geschäft, Heiko mit dem netten kleinen Köfferchen in der Hand. Ich wollte grade vorschlagen, daß wir in der Stadt eine Kleinigkeit äßen, wir hatten ja kein Mittagessen gehabt. Aber es war Heiko, der etwas vorschlug: „Wollen wir auf einen Sprung zu den Eltern? Wenn ich Muttchen richtig kenne, zaubert sie ein bißchen Essen für uns.“ Gut. Also gingen wir zu den Schwiegereltern. Ich hätte so furchtbar gern noch ein Stündchen mit Heiko allein gehabt, grade heut, an unserem „Jubiläumstag“. Wir waren nie zusammen ausgegangen. Aber, wenn er es gern so haben wollte, natürlich! „Warte eine Minute, Heiko, ich kaufe schnell ein paar Blumen für deine Mutter!“ „Das ist nicht nötig, Sonnie. Muttchen ist so was gar nicht gewohnt.“ „Aber ich!“ antwortete ich und ging in das Blumengeschäft. Nein, das stimmte schon, daß man in Heikos Familie mit solchen kleinen Aufmerksamkeiten nicht verwöhnt war. Heiko hatte mir auch nie ein Blümchen oder eine Schokoladentafel oder sonst was mitgebracht. Meine Gedanken flogen für einen Augenblick zu Beatemutti, zu dem Gespräch, das wir damals, am Tage vor dem Heiligen Abend, gehabt hatten. Ob es auch in ihrem Elternhaus so gewesen ist? Hatte Opa Hettring nie ein paar Blumen oder ein Tütchen Süßigkeiten für seine Frau gehabt? Muß man denn wirklich immer sooo eisern sparsam sein, wenn man doch eine Stellung und ein festes Gehalt hat? Aber eins mußte ich zugeben: Heikos Mutter wirkte immer froh und zufrieden, sie erwartete nicht mehr vom Leben als das, was sie hatte. „Nein, Kinder, seid ihr es, wie reizend, wie geht es euch? Wie schade, daß Vati nicht da ist. Komm, Sonja, gib mir deinen Mantel, warte mal, hier ist ein Bügel. Geht rein, ich mache schnell eine Tasse
Kaffee. Nein, Kind, was für ein Leichtsinn, so entzückende Anemonen, tausend Dank, du solltest nicht – aber ich freue mich trotzdem schrecklich!“ „Muttchen, hast du zufällig was Eßbares im Haus, einen Rest vom Mittag oder so?“ „Natürlich habe ich das, habt ihr kein Mittagessen gehabt? Ich werde gleich die Suppe warm machen, ein paar Klöße sind auch noch da – geht rein und macht es euch gemütlich.“ Suppe mit Klößen, dachte ich. Wie herrlich! Eine schöne Brühe mit Fleischklößchen, darauf hatte ich Appetit! Schnell die Plastikdecke auf den Tisch gelegt – es war ja ein ganz gewöhnlicher Montag, also wurde auf wäschesparendem Plastik gegessen – und zwei Teller hingestellt. Dazu das Brotkörbchen mit zwei dicken Schwarzbrotscheiben. Was in aller Welt war dies? Die Suppe war gelblich-weiß und roch so sonderbar säuerlich. Heiko aß schon mit Wohlbehagen. Ich nahm vorsichtig einen Löffel. Das war das Schrecklichste, was ich in meinem Leben gekostet hatte! Ich bin wirklich nicht sehr wählerisch, aber dies…! „Kennst du auch die Buttermilchsuppe so, Sonja?“ fragte meine Schwiegermutter freundlich. „Oder ißt du sie lieber mit Backpflaumen?“ Himmel, steh mir bei, dachte ich. Backpflaumen in heißer Buttermilch, das wäre noch schrecklicher als Grießklöße. „Nein, nein, ich ziehe unbedingt die Klöße vor!“ Ich sammelte all meinen Mut und meine Selbstbeherrschung und nahm noch einen Löffel. Mit Hilfe eines großen Brotbissens schaffte ich es. Aber wie sollte ich mit dem großen Teller fertig werden, ohne zu brechen! Gott sei Dank, da ging Muttchen in die Küche, um das Kaffeewasser aufzusetzen. Blitzartig riß ich Heikos bereits leergekratzten Teller an mich und schob ihm meinen hin. „Schnell, Heiko, bitte, bitte, sei so lieb – ich schaffe es nicht!“ Heiko löffelte ohne Protest das widerliche Zeug, und ich aß trockenes Schwarzbrot zu Mittag. Später erfuhr ich, daß dies ein ganz gewöhnliches und häufig gegessenes Mittagsgericht in Norddeutschland war. O Schreck, o Graus! In diesem Augenblick hätte ich zehn von Beatemuttis Frikadellen verputzen können!
Natürlich war es zum Lachen. Nur zum Lachen. Und doch – diese grenzenlose Genügsamkeit, die so eisern durchgeführte Sparsamkeit fing langsam an, mir auf die Nerven zu gehen. Keine Blumen mitbringen, keine Mitbringsel von einer Reise, nie eine kleine, unvernünftige Überraschung. Nie ein wirklich raffiniert gutes Mittagessen. Ein Haushalt ohne eine Ketchup-Flasche, ohne pikante Gewürze, ohne die tausend Kleinigkeiten, die bei uns zu Hause eine Selbstverständlichkeit waren. An dem Sonntag, als wir bei den Schwiegereltern eingeladen waren, hatte es Schweinebauch und Grünkohl gegeben. Es lag furchtbar schwer im Magen. Aber es sättigte und war bestimmt billig. Hatten sie denn nie frische Fische mit Petersilienbutter, nie ein Stück mageres, kurzgebratenes Fleisch, nie eine schön angerichtete Gemüseplatte? Wir saßen im Bus, wir waren auf dem Heimweg. „Na, die Suppe war wohl zuviel für deine norwegische Zunge“, schmunzelte Heiko. „Du wirst halbtot vor Hunger sein, du Ärmste!“ „Das bin ich“, gab ich zu. „Ich überlege dauernd, was wir im Kühlschrank haben. Heiko, bist du mit solcher Suppe großgeworden?“ „Ich bin sogar zum Teil von solcher Suppe großgeworden“, lächelte Heiko. „Also gibt es doch einen Punkt, wo wir nicht übereinstimmen“, stellte ich fest. „Ist nicht schlimm! Ich bin Allesesser, du kannst immer nach deinem Geschmack kochen, mein Mädchen!“ „Solange mein Geschmack sich mit deinem Portemonnaie vereinbaren läßt“, dachte ich. Aber ich sagte es nicht laut. Zum Abendbrot aß ich sechs Scheiben Vollkornbrot mit norwegischem Ziegenkäse. Als ich am folgenden Morgen zum Bäcker kam, war der Laden voll. Der Bäckerladen war nun mal die „Quasselzentrale“, wie Heiko es respektlos ausdrückte. Da erfuhr man, wer geboren, gestorben, verlobt oder erkrankt sei. Da bekam man zu wissen, daß Frau X jetzt eine Zahnprothese trug und daß Frau Y demnächst zur Kur fahren wollte. Da wußte man, wer ein neues Auto bestellt hatte und wer sich einen Farbfernseher leisten konnte. Als ich reinkam, fielen plötzlich alle Münder zu. Niemand brauchte mir zu erzählen, daß von meiner Wenigkeit die Rede
gewesen war. Die Art, wie die Kundinnen mich begrüßten, war entschieden tiefgekühlt. Was in aller Welt hatten sie gegen mich? Als dann das Postfräulein mich von oben bis unten musterte und mir meine Briefmarken ohne ein Wort hinlegte – wo wir doch immer ein paar kleine Scherze ausgewechselt hatten, hatte ich mich entschlossen. Es mußte sich jemand finden, den ich fragen konnte, was in aller Welt los war. Die Wahl fiel auf meine Friseuse. Mit der verstand ich mich besonders gut. Also nix wie los zum Frisiersalon und „Waschen und Wasserwelle“ verlangen. Es war Mittagszeit und wenig Kundinnen im Laden. Als meine Haare gewaschen waren und das Legen an der Reihe war, saß ich als einzige Kundin da. Ich versuchte ein paar kleine belanglose Fragen, die nur einsilbig beantwortet wurden. Ich wollte grade das Thema anschneiden, als die Friseuse mir zuvorkam: „Nun, war es schön auf dem Jahrmarkt, Frau Brunner?“ „Wieso – auf welchem Jahrmarkt?“ „Frau Schulz erzählte doch, daß sie Sie auf dem Jahrmarkt in Kiel gesehen hatte, am Sonntag!“ Da fiel der Groschen bei mir! „Aha. Auf dem Jahrmarkt! Wahrscheinlich zusammen mit einem blonden jungen Mann, nicht wahr? Hatte er womöglich auch ein Auto mit norwegischem Kennzeichen? Und sprach er norwegisch und benahm sich wie ein verliebter Jüngling?“ Die kleine Friseuse sah mich mit großen Augen an. „Ich habe gleich gesagt, daß es nicht stimmen könnte“, flüsterte sie. „Wenn es gestimmt hätte, wäre es mein Bruder gewesen, denn der ist der einzige junge Mann, mit dem ich auf den Jahrmarkt gegangen wäre außer mit meinem eigenen Mann. Das können Sie all denen bestellen, die jetzt häßlich über mich reden! Nun bringen Sie bloß Ihre Haube, ich habe nichts mehr auf dem Herzen.“ Das kleine erschrockene Fräulein sah sehr erstaunt aus, als ich ihr mehr Trinkgeld als sonst gab. Ich war ihr ja zum größten Dank verpflichtet! Ich raste nach Hause, machte eine Suppe aus einem fertigen Pulver und schmiß ein paar Eier in die Pfanne. Mein Glück, daß mein Göttergatte „Allesfresser“ war!
Am Mittagstisch erzählte ich ihm die Geschichte. „Na so was!“ rief er. „Jetzt erwarte ich bloß, daß jemand zu mir kommt und vertraulich erzählt, daß meine Frau mich betrügt!“ „Mit hübschen jungen Männern in Kiel“, sagte ich. „Senta muß sofort kommen!“ schlug Heiko vor. „Ja, ich schreibe ihr gleich!“ „Schreiben? Telefonieren tust du gefälligst. Glaubst du, daß ich es dulde, daß man meiner Frau so was nachsagt? Wann kommt Senta nach Hause? Achtzehn Uhr – dann renne zur Post und sage ihr, sie soll herkommen wie ein geölter Blitz!“ Es zeigte sich, daß der Blitz erst zum übernächsten Tag kommen konnte. Dann hatte Senta ihren freien Tag, und sie versprach, mit dem Zug schon acht Uhr morgens zu kommen. „Bring deinen alten blauen Popelinemantel mit“, rief ich in die Muschel. „Bei dir piept’s wohl“, sagte meine Schwester. „Weiß der Himmel, was du vorhast. Aber ich bin kein Spielverderber.“ „Das weiß ich, Sentachen. Du mußt es mir glauben, es ist wirklich wichtig, daß du kommst.“ „Hab ich schon kapiert! Du brauchst mich nicht abzuholen, ich hopse in den Bus in Altona, es genügt, wenn du an der Bushaltestelle stehst.“ „Tu ich, verlaß dich drauf! Gruß und Kuß an Rolf!“ „Den Gruß werde ich weitergeben“, sagte Senta, und damit war unser Gespräch zu Ende. Aber als ich das kleine Postamt verließ, wußte ich mit inniger Schadenfreude, daß das ganze Dorf morgen wissen würde, Frau Brunner hatte ein Gespräch mit Kiel geführt, und zwar in einer Fremdsprache, höchstwahrscheinlich Norwegisch – aha! Noch ein Tag mit neugierigen Gesichtern, eiskaltem Grüßen, Flüstern hinter meinem Rücken. Na, ihr werdet was erleben, dachte ich und freute mich diebisch auf den nächsten Tag. Dann war es soweit. Es gelang mir, Senta auf einem Umweg vom Bus nach Hause zu lotsen, ohne eine einzige der Klatschbasen zu treffen. Es war ja auch ziemlich früh am Morgen. Heiko schaffte es eben noch, Senta ein Küßchen zu geben – er traf dabei ihre Nasenspitze – , dann lief er zu seiner Schule, und ich schob Senta ins Wohnzimmer. „Bleib vorläufig da“, flüsterte ich. „Ich brühe nur den Kaffee auf, dann erkläre ich dir alles.“ Das tat ich dann am Frühstückstisch.
„Du grüne Neune!“ rief Senta. „Jahrmarkt, ja, natürlich waren wir am Sonntag auf dem Jahrmarkt! Rolf hatte grade eine Lobrede von seinem Professor wegen einer Arbeit bekommen. Er war außer Rand und Band vor Freude und benahm sich danach! Vor einem Schießstand küßte er mich, als er ins Schwarze getroffen und ein rosa Teddybärchen gewonnen hatte. Das Tier sieht scheußlich aus, es sitzt augenblicklich in unserer Sofaecke. Ja, und vor einem Würstchenstand fütterte er mich wie ein Baby, weil meine Hände voll Teddybären und Handtasche und siebzehn anderer Sachen waren – er benahm sich so, daß der Würstchenverkäufer schmunzelnd etwas über „das Fräulein Braut“ sagte. Der dachte sich wohl nicht, daß Eheleute sich so blöd verliebt benehmen könnten! Ja, wenn dein oller Hausdrachen das gesehen hat und es überall herumerzählt!“ „Das hat sie anscheinend“, meinte ich. Dann erzählte ich, wie abscheulich alle Leute im Dorf sich benommen hatten und daß ich überall nur mit Eiseskälte und spöttischen Gesichtern dürftig begrüßt wurde. „Mensch, was werden wir für einen Tag haben!“ sagte Senta begeistert. „Ich freue mich schon darauf, daß deine Klatschbasen wie ohnmächtige Fliegen unseren Weg säumen werden. Gehen wir los?“ „Noch nicht. Zuerst der Drachen. Sie soll den ersten Schock haben! Sie wird ganz bestimmt gleich runterkommen. Sie hat gestern einen Berg Wäsche in den Keller gebracht, und sie läßt immer die Waschmaschine gegen neun laufen.“ Schnell noch einen Blick in den Spiegel. Wir trugen beide unsere blauen Pullis, – schnell der Frisur ein bißchen nachhelfen, so, jetzt lagen meine Haare genau wie Sentas. Ach ja, andere Schuhe, Senta trug braune Halbschuhe. Also meine auch in Windeseile angezogen. Dann waren wir zu allem Unfug bereit und standen horchend an der Tür. „Jetzt!“ flüsterte ich. Schritte auf der Treppe. Ich hatte im Flur Licht gemacht. Als Frau Schulz runterkam, standen Senta und ich vor unserer Wohnzimmertür, nebeneinander, in haargenau derselben Stellung und beide mit einem freundlichen Lächeln. „Guten Morgen, Frau Schulz“, sagte ich, und Senta bewegte den Mund, als spräche sie auch. Frau Schulz blieb stehen, japste nach Luft und faßte sich zuerst ans Herz, dann an den Kopf.
„Ist Ihnen nicht gut, Frau Schulz?“ fragte ich engelsfromm, und Senta bewegte wieder die Lippen. „Ich – ich glaube – meine Augen…“, sie fuhr mit dem Handrücken über die Augen. Nun bekam ich es mit der Angst. Ich wollte nicht daran schuld sein, daß sie einen Herzschlag erlitt. „Ach so, ja natürlich, Sie kennen ja nicht meine Schwester. Darf ich bekanntmachen – also meine Zwillingsschwester aus Kiel, Frau Senta Skogstad.“ „Aus Kiel“, flüsterte Frau Schulz. „Ja, gewiß“, lächelte Senta und reichte dem Drachen die Hand. „Meine Schwester erzählt mir grade, daß Sie mich am Sonntag auf dem Jahrmarkt gesehen haben!“ „Ja – das heißt – ich meinte, daß Sie es waren – nein, Sie – nein, ich meine…“ Ihre Augen flackerten von der einen zur anderen. „Das mußte ja einen komischen Eindruck auf Sie machen“, sagte ich. „Daß ich da mit einem anderen Mann rumlief und mich von ihm küssen ließ! Wie gut, daß ich Sie als einen so diskreten Menschen kenne, Frau Schulz. Wenn ich mir vorstelle, Sie hätten hier im Dorf das Gerücht verbreitet, ich führe hinter dem Rücken meines Mannes los, um mich mit anderen Männern zu treffen! Nicht auszudenken, dann wäre ja mein Ruf hier vollkommen zerstört!“ Ich nahm mit Genugtuung zur Kenntnis, daß Frau Schulz stumm wie eine Auster blieb. Sie wußte einfach nicht, was sie sagen sollte. Dann nickten wir beide sehr freundlich und zogen uns zurück. Nachher brachte Senta die Kaffeetassen in die Küche. Als ich Stimmen hörte, blieb ich stehen und horchte. „Ach, jetzt sehe ich es, Frau Brunner!“ erklang die Drachenstimme. „Ich begreife nicht, daß ich es nicht gleich kapiert habe. Natürlich waren Sie es nicht am Sonntag!“ „Bedauere, aber das war’s eben“, antwortete meine Schwester. „Ich bin nämlich die aus Kiel. Ihre Mieterin befindet sich im Wohnzimmer und gießt die Topfpflanzen!“ Ich hörte nur einen Japser. Dann gab Frau Schulz auf. Wir machten unsere Runde. Zuerst zur Post. Wieder nebeneinander vor dem Schalter. Wieder derselbe Schabernack. Zuletzt das erlösende Wort über die Schwester aus Kiel. Dann ins Milchgeschäft. Das dritte Mal wurde es Senta zu langweilig. Sie übernahm meine Rolle und stellte mich als die Kieler Schwester vor.
Dann auf einen Sprung zur Friseuse. Da machte ich es kurz. „Guten Morgen, Fräulein Müller. Ich möchte Ihnen nur die Dame zeigen, die am Sonntag auf dem Jahrmarkt war. Sind Sie jetzt überzeugt, daß ich es nicht war?“ Das arme kleine Fräulein Müller! Sie ließ ein ganzes Tablett voll Dauerwellenwickler auf den Boden fallen! Den Bäckerladen hoben wir uns bis zuletzt auf. Gegen elf war da immer Hochbetrieb. Wir guckten weder rechts noch links, sondern gingen direkt zum Ladentisch. Die vielen Kundinnen wichen zur Seite, machten uns Platz. Ich fühlte die Augen, die auf uns gerichtet waren. „Guten Morgen, kann ich bitte zwei Stück Teekuchen haben?“ sagte ich. „Guten Morgen, kann ich bitte zwei Stück Teekuchen haben?“ sagte Senta. „Ja, richtig, auch zwei Berliner“, fügte ich hinzu. „Ja, richtig, auch zwei Berliner“, kam das Echo von Senta. Die Bäckerfrau blieb stehen mit offenem Mund und der Kuchenzange in der Hand. „Ist Ihnen nicht gut?“ fragte Senta teilnehmend. „Ist Ihnen nicht gut?“ wiederholte ich genau so. Dann erklang ein „nein so was!“ mit matter Stimme hinter uns. Senta drehte sich um und lächelte die Versammlung an. „Ulkig, nicht wahr? Das wußten Sie wohl nicht, daß ich eine Zwillingsschwester habe?“ „Ja, aber – wer von Ihnen…“ Jetzt ergriff ich das Wort. „Raten Sie mal! Die eine von uns wohnt hier und heißt Brunner. Die andere wohnt in Kiel und war am Sonntag mit ihrem Mann auf dem Jahrmarkt.“ „Ja – aber dann…“ „Eben“, nickte Senta. „Aber dann - , das ist genau richtig!“ Nach einer ausgiebigen Einkaufsrunde im Selbstbedienungsladen, nach Schnürsenkeleinkauf beim Schuster und Briefpapierbesorgen im Papiergeschäft begaben wir uns auf den Heimweg. Da kam eine Nachbarin uns entgegen. „Wissen Sie, Frau Brunner“, fing sie an, die Augen auf mich gerichtet. „Ich bin die Schwester“, sagte ich und setzte meinen Weg fort.
Heiko lachte Tränen, als er am Mittagstisch ein genaues Referat bekommen hatte. Noch mehr Tränen lachte Rolf, der am späten Nachmittag kam, um seine Angetraute per Auto abzuholen. Vor dem Gartentor spielte sich die große Abschiedsszene ab. Nur wußte kein Zuschauer, daß es Rolf war, der mich küßte, und Heiko küßte seine Schwägerin. „Aber eins sage ich dir, Sonnie“, sprach Rolf feierlich. „Untersteh dich, eine Bank zu knacken oder ein Engagement als Stripteasegirl in St. Pauli anzunehmen und es meiner Frau in die Schuhe zu schieben!“ „Und sollte ich eines Tages Lust haben, Rolf zu betrügen, dann mußt du nach Kiel kommen und mir aus der Patsche helfen“, sagte mein Schwesterherz zum Abschluß. Dann winkte sie durchs Fenster, und der Wagen brauste ab.
Briefeschreiben 17. April 19 – Meine geliebte Beatemutti! Innigen Dank für Deinen Brief! Ich habe heut grade Zeit, ihn zu beantworten, denn bei meinem Göttergatten ist mein Typ augenblicklich nicht gefragt! Das heißt, er sitzt an der Schreibmaschine – nein, du irrst Dich! Es ist nicht die Doktorarbeit, die ist fertig und abgegeben, und wir drücken in jeder freien Sekunde die Daumen blau und grün! Heut schreibt er was anderes: einen Antrag auf ein Stipendium für Studien an einem Forschungsinstitut in Ostafrika. Und ich werde wohl auch die großen Zehen blaudrücken müssen, da die Daumen schon von der Doktorarbeit in Anspruch genommen sind! So, meine holde Schwester hat schon von unserer Zwillingskomödie erzählt! Aber weißt du, das war das richtige! Denn jetzt klatschen sie alle – nicht über meinen unmoralischen Lebenswandel, sondern über diese noch nie dagewesene Ähnlichkeit. Sie versichern alle, „ja, ich habe keinen Augenblick daran geglaubt, liebe Frau Brunner“, – Pustekuchen! Sie glaubten es alle, sie schwelgten in Sensation und Skandal. Aber seit Sentas Besuch hier überbieten sie sich in Liebenswürdigkeit, alle mögen mich plötzlich soooooo gern! Hoffentlich haben die ollen Klatschbasen nun etwas aus dieser Geschichte gelernt. Wenn nicht, dann habe ich es jedenfalls. Natürlich verstehe ich, daß Frau Schulz denken mußte, daß ich es war – auf dem Jahrmarkt – und daß sie es glaubte, das kann ich ihr nicht vorwerfen. Aber daß sie es weiterbrachte, daß sie diesen widerlichen Dorfklatsch daraus machte, das verzeihe ich ihr nie! Ich weiß, wenn ich durch einen Zufall so was sehen sollte, wenn ich von einem Mitmenschen etwas Nachteiliges erfahre, dann werde ich meinen Mund halten! Das kannst Du als ein heiliges Gelübde betrachten! Das wird mir auch nicht schwerfallen. Denn wenn ich es mir überlege, weiß ich, daß in meinem Elternhaus nie geklatscht worden ist! Einmal – das ist sehr lange her, bevor Du zu uns kamst, ich war wohl so ungefähr elf Jahre, fing ich an, eine Skandalgeschichte zu erzählen, es war etwas mit der Scheidung der
Eltern einer Klassenfreundin. Da hat Papa mich unterbrochen mit einer Frage: „Das, was du jetzt erzählen willst, nützt das jemandem, Sonja?“ Ich mußte zugeben, daß das nicht der Fall war. „Würdest du uns was Gutes dadurch tun?“ Das war auch nicht der Fall. „Würdest du es auch erzählen, wenn die Menschen, die es angeht, hier anwesend wären?“ „Nein, um nichts auf der Welt!“ rief ich entsetzt. „Dann erzähle es lieber nicht“, sagte Papa. Wenn du wüßtest, wie oft ich an das Gespräch gedacht habe! Eigentlich habe ich einen ganz klugen Vater, findest du nicht auch? Ja, selbstverständlich war es eine furchtbare Enttäuschung, dies mit unseren so rasch zerstörten Illusionen. Für Heiko noch schlimmer als für mich. Denn in seine Enttäuschung mischen sich viele Prozent Selbstvorwürfe. Daß er nicht auf den Gedanken gekommen ist, zu untersuchen, welche Möglichkeiten es in Afrika gibt! Daß er nicht längst irgendwo hingeschrieben und gefragt hat, was man tun könne und was man wissen und können muß, um dort eine Beschäftigung in einem Nationalpark zu kriegen! Er hat nur gelernt, gelernt, gelernt, hat unwahrscheinlich große Opfer gebracht, hat geschuftet, ist unbeschreiblich genügsam gewesen, hat alles aus seinem Dasein weggelassen, was andere junge Menschen als Selbstverständlichkeiten betrachten. Nie Ausgehen, nie ein Theater oder ein Kino, kaum Zeitunglesen!! Nie Dinge gekauft, die sonst die meisten haben – ein Kofferradio, einen Plattenspieler, ein Moped, geschweige denn ein Auto – keine Ferien gemacht, immer nur gelernt, gelernt! Aber eine gute Seite hat die ganze traurige Geschichte: Sie gab mir den entscheidenden Beweis für das, was Du mich damals im Herbst fragtest, weißt Du es noch? Ich kann mir ein Leben ohne Afrika und mit Heiko denken, aber das Umgekehrte – nein! Nein, Nein! Natürlich hoffe ich von ganzem Herzen, daß er ein Stipendium kriegen wird oder – was ich noch intensiver hoffe – daß er die Gelegenheit bekommen wird, mit einem richtigen wissenschaftlichen Forscherteam für längere Zeit hinzufahren (mit mir, natürlich, auch ein Forscherteam braucht jemanden, der kochen kann, Knöpfe annähen, Schürfwunden verbinden und Wäsche waschen) – , ob es nun wäre, um die Länge der Impalahörner mit der Schwanzlänge der Giraffen zu vergleichen oder die Kindererziehung der Mangusten zu
studieren, oder die Perlen der Perlhühner zu zählen! Nun ja. Abwarten und Tee trinken, es bleibt uns nichts anderes übrig. Und Geld sparen! Heiko verdient ja jetzt gut, aber der Himmel weiß, daß er sich keine großen Sprünge leistet! Jeden Monat eine anständige Summe auf die Bank gebracht, was natürlich richtig ist – aber – ach, Beatemutti, dies sage ich nur Dir: Ich liebe Heiko von ganzem Herzen, und wir sind so glücklich zusammen, aber wenn er nur ab und zu, ganz, ganz selten, ein Blümchen mitbringen würde oder wenn er ab und zu fragen würde: „Wollen wir nicht ins Kino gehen“ oder: „Heut essen wir auswärts“, aber nein. Er ist eisern und bleibt eisern! Ich glaube nicht, daß es ihm so sehr viel ausmacht, er kennt es nicht anders. Aber für mich ist es eine Umstellung, eine gewaltige Umstellung. Dies sage ich Dir ruhig, denn wenn ich es nicht sagte, würdest Du es doch wissen, Du immer Alles wissende! Besser, daß ich es offen zugebe. Und letzten Endes geht es ja auch, alles ist ein Übergang. Je sparsamer wir leben, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß wir uns ganz privat eine Reise nach unserem Traumland leisten können, falls alle anderen Pläne schiefgehen sollten. Wenn auch so eine Sammelreise nicht grade unseren Wünschen entspricht, unsere Leben, all unsere Kräfte, all unser Können für das Erhalten der Natur und der Tierwelt einzusetzen. Schade, verdammt schade, daß ein Mann mit Heikos Wissen und vielseitiger Ausbildung und brennenden Wünschen nicht ans Ziel kommt. Nun ja. Wir sind noch jung. Kommt Zeit, kommt Rat. Ich habe schon Heiko vorgeschlagen, er soll sich schwarz anmalen und sich als Afrikaner um eine Stelle bewerben! Wie du siehst, habe ich trotz allem nicht meine ganze gute Laune eingebüßt, auch nicht meine Fähigkeit, Unsinn zu reden! Das Schreibmaschinengeklapper hat aufgehört. Bald wird er erscheinen und nach Abendbrot fragen. Wenn ich nur Brot und Margarine auf den Tisch stellte, würde er es ohne Kommentar essen, lieb und freundlich. Ich könnte ihm Hafergrütze mit Magermilch oder Pellkartoffeln mit Sirup servieren, und er würde sich daran sattessen, mit derselben unveränderlichen Freundlichkeit wie in unserem Luxus-Strandhotel in Afrika, wo er Geflügelsalat, frische Ananas, gegrillte Koteletts und Cremespeisen sich zu Gemüte führte. Mein Ehemann ist wirklich einmalig. Muß Schluß machen. Grüße und küsse die ganze Familie. Das nächste Mal schreibe ich über
Euch und nicht Seitenweise über meine eigene uninteressante Wenigkeit. Es umarmt Dich ganz herzlich Deine Sonja.
Besuch aus dem Norden Ganz so einfach, wie ich es in meinem Brief ausgedrückt hatte, war es nicht. Es kam vor, daß ich deprimiert war, daß ich alles ziemlich hoffnungslos fand und vor allem, daß ich mich scheußlich einsam fühlte. Wenn Heiko zu Hause war und Zeit hatte, war alles wunderbar, dann vergaß ich die kleinen Sorgen des Alltags. Aber ich war ja so viel allein! Heiko würde es nicht verstehen, falls ich ihm meine Not geklagt hätte. Für ihn wäre es ein Geschenk des Himmels, reichlich Zeit zu haben. Das hatte er nie gehabt. Dann verkniff ich mir meine lächerlichen Problemchen, trug sie allein mit mir herum und dachte nicht daran, daß unausgesprochene Sorgen und Probleme sehr dazu neigen, ins Riesengroße zu wachsen, wenn man immer dran rumkaut und sie nicht ausspucken kann. „Haben Sie den Film gesehen, Frau Brunner? Das müssen Sie aber tun!“ „Haben Sie den Quiz im Fernsehen gestern mitgemacht? Ich hatte gleich die Lösung!“ „Haben Sie das Sonderangebot im Selbstbedienungsladen gesehen, Pfirsichdosen zu 1,28? Ich habe gleich zehn Dosen gekauft! Sie sind wirklich gut!“ Ich hatte den Film nicht gesehen, hatte keinen Quiz mitgemacht – wir hatten ja keinen Fernsehapparat – und hatte nicht die sonderangebotenen Pfirsiche gekauft. Mein Haushaltsbudget erlaubte beileibe nicht solchen Leichtsinn. Ich mußte sowieso jede Woche von meinem eigenen Geld ein bißchen zubuttern. Ich sagte es Heiko nicht. Wir waren uns ja einig geworden, ich bekam vorbildlich pünktlich mein Haushaltsgeld und hatte gedacht, es würde reichlich sein. Denkste! Ich hatte anfangs die Wäsche weggeschickt und bekam sie schrankfertig zurück. Das mußte ich anders machen. Ich fing an, die Leibwäsche und den Kleinkram selbst zu waschen, schickte nur Bettwäsche und Handtücher weg und bekam sie geschleudert zurück. Dann plättete ich alles selbst. Und nach zwei Monaten Ehe fing ich an, meine Schwiegermutter zu verstehen: Ich kaufte ein Plastik-Tischtuch. Allmählich lernte ich auch, allen Versuchungen im Selbstbedienungsladen zu widerstehen. Ich war ja einverstanden mit Heikos Programm: Sparen, eisern sparen, dann würden wir früher
oder später „ganz privat“ nach Afrika fliegen können und das nachholen, was wir damals bei unserer Sammelreise nicht geschafft hatten. Aber der Alltag war grau. Grau und ereignislos. Wie viel besser hatte es Senta! Und Heiko – ja, er lebte spartanisch, aber das störte ihn überhaupt nicht. Außerdem hatte er seine Arbeit, die ihm viel Freude machte. Er verstand sich mit seinen Schülern und fühlte, daß er ihnen wirklich etwas beibrachte. „Heut war ich ganz stolz“, erzählte er eines Tages. „Wir sprachen in der Physikstunde über Fotografieren, das hatten die Schüler in der Pause Kameraden aus der Parallelklasse erzählt. Na ja, dann tauchte der Direktor auf und fragte, ob es stimme, daß ich die fotografische Meisterprüfung gemacht hatte. Resultat: In der nächsten Physikstunde kommen noch zwei Klassen dazu, sie werden eng wie Dosenheringe sitzen müssen, – und ich soll ein erweitertes Unterrichtsprogramm absolvieren!“ Heiko lächelte vergnügt und setzte sich an den Mittagstisch. Es gab Milchreis und „das herzhafte kleine Etwas“, wie ich es aus Norwegen kenne, diesmal Speck und Spiegelei. „Ach, Sonnie, das ist doch nicht nötig!“ sagte Heiko. „Ich bin ganz satt von dem Milchreis!“ „Erkennst du denn wirklich einen Teller Reis als vollständiges Mittagessen an?“ „Na klar!“ Ich stocherte rum im Speck. Das „herzhafte Etwas“ schmeckte mir nicht mehr. Dann seufzte ich. „Nanu, hast du Kummer? Du seufzt so tief!“ sagte Heiko. „Ja, ich lerne es nie“, sagte ich leise. „Kartoffelpuffer mit Apfelmus – Buttermilchsuppe mit Schwarzbrot – Milchreis ohne etwas hinterher – Herrgott, eßt ihr dann nie etwas Gutes in diesem Land?“ „Aber Sonnie, natürlich tun wir das! Sonntags gibt es doch immer Fleisch!“ „Ja, ich danke! Fetten Schweinebauch mit Grünkohl, es liegt wie ein Stein im Magen!“ „Aber Kind, du kannst ja kochen, was du willst – “ „Das kann ich gar nicht, das erlaubt meine Haushaltskasse nicht!“ Ich wollte mehr sagen, viel mehr – und plötzlich ließen mich meine Sprachkenntnisse im Stich. Für täglich kam ich jetzt sehr gut
zurecht mit der deutschen Sprache, aber ich merkte, daß meine Kenntnisse längst nicht ausreichten, wenn ich etwas diplomatisch ausdrücken wollte oder sehr exakt. Oft mußte ich umschreiben, weil ich dieses oder jenes Wort nicht kannte. Dann wurde das Gesagte ungenau, es führte zu Mißverständnissen, und das wiederum machte mich wütend und unglücklich. Wenn ich nun bloß in meiner Muttersprache die Rede hätte halten können, die meinem nichtsahnenden Mann klargemacht hätte, mit welchen Schwierigkeiten ich zu kämpfen hatte! Aber von meiner Muttersprache verstand er höchstens zehn Worte! Schnell räumte ich den Tisch ab und wischte mir in der Küche die Augen mit dem Zipfel eines Geschirrtuchs. Als ich zurückkam, streichelte mir Heiko über die Wange. „Du, Kleines. Es ist bestimmt nicht leicht für dich. Weißt du, ich habe ja mein Leben lang so gegessen und so gelebt, wir haben uns nie irgendwelchen Luxus leisten können.“ „Ich wußte nicht, daß ein Spiegelei Luxus ist“, sagte ich. „Sonnie, du weißt genau, was ich meine. Natürlich kannst du es machen, wie du willst, aber siehst du – wenn wir nun jeden Tag drei Mark mehr fürs Essen ausgeben würden, dann wären das pro Monat neunzig Mark, pro Jahr eintausendachtzig Mark – das wäre ungefähr eine Flugkarte nach Nairobi!“ „Das stimmt wohl“, seufzte ich. „Gut, machen wir also weiter.“ Aber ich sagte es ohne Freude. Ich hatte heut einen schwarzen Tag. Am nächsten Tag machte ich Plätzchen aus dem Milchreisrest. Aus ganz billigen Kochäpfeln hatte ich Apfelmus gekocht. Jetzt würde wohl endlich mein genügsamer Gatte fragen, ob es nicht mehr gäbe! Zu Hause bei meinen Eltern aßen wir solche Resteplätzchen immer als Nachtisch. Heiko aß und aß, fröhlich und zufrieden. „Dies schmeckt aber phantastisch gut!“ sagte er und nahm das zwölfte Plätzchen. „Das Rezept mußt du unbedingt Mutti geben, wenn es nicht zu teuer ist!“ Das war das Resultat meiner Billigkochen-Demonstration! Ich wußte nicht, ob ich lachen oder weinen sollte! Es war Frühling, die Anemonen blühten, die Bäume hatten den ersten feinen Schleier von Grün. Ich wusch und plättete, kochte und machte sauber. Ab und zu
gingen meine Gedanken südwärts. Ich sehnte mich – sehnte mich so, daß es weh tat! Sehnte mich nach den endlosen Steppen, nach der glühenden Sonne am blauen afrikanischen Himmel! Sehnte mich nach den Giraffen, wenn sie in wiegendem Paßgang über die Steppe zogen und ihre herrliche Silhouette sich gegen den blauen Hintergrund abzeichnete. Ich sehnte mich nach den Klippschliefern, nach den süßen Dikdiks, nach all dem Kleingetier. Ich sehnte mich nach den zahmen Meerkatzen und nach den überwältigend großen Antilopenherden. Jetzt, in diesem Augenblick, während ich hier stand und Quadratmeterweise Bettlaken bügelte, jetzt räkelten sich die Löwen auf dem grünen Boden des Ngorongorokraters, jetzt, während ich Kartoffeln schälte, lagen Leoparden in den Bäumen und leckten die mächtigen Pranken – jetzt, während ich Staub wischte, flogen die Impalas in mächtigen Sprüngen über Wege und Hügelchen. Warum, warum hatte das Schicksal es nicht besser mit uns gemeint? Warum ging Heiko täglich zu seiner Arbeit in ein langweiliges Klassenzimmer, warum stand ich hier in einer halbdunklen Küche – wo wir doch darauf brannten, all unsere Kräfte für eine wichtige, herrliche, bedeutende Arbeit da unten einzusetzen? Und die Alltagssorgen wuchsen und nahmen einen übertriebenen Umfang an und töteten langsam und sicher meine Lebensfreude und meine gute Laune. Dann kam ein Brief von Senta. Sie wollte diesen Sommer mit Rolf nach Italien. Und sie hatte ein neues Abendkleid, sie waren zu einer Hochzeit eingeladen – und sie hatte Gäste gehabt, zu Fleischfondue, es hatte allen einen Heidenspaß gemacht… Wieder mußte ich zu einem Handtuchzipfel greifen. Und in dem Augenblick klingelte es an der Tür. Ich schmiß meine Küchenschürze in die Ecke und warf schnell einen Blick in den Spiegel, als ich durch den Flur ging. Na, ich war wohl hübsch genug für den Versicherungsvertreter oder Staubsaugeragenten, der bestimmt vor der Tür stand. Dann machte ich auf – und schrie! „Papa! Liebster, geliebtester Paps, nein – das kann nicht wahr sein!“ Ich hing um Vatis Hals, ich drückte mich an ihn, und die Tränen kullerten mir nur so aus den Augen. „Aber Sonnie, mein Mädchen, was hast du denn!“ „O Paps, ich freue mich nur so – du weißt ja gar nicht, wie ich mich freue! Komm, Paps, nein, diese Tür!“ Ich praktizierte meinen
Vater hin in den guten Sessel und setzte mich auf sein Knie. „Paps, was machst du hier und wo ist Beatemutti?“ „Zu Hause“, lächelte Vati. „Ich fahre morgen nach Kiel, von dort zu einem Kongreß in Lübeck. Es kam alles so schnell, ich hatte ganz aufgegeben, diesen Kongreß mitmachen zu können. Als es dann in Ordnung ging, sprang ich in das erste Flugzeug, damit ich auch meine beiden Töchter besuchen konnte. Ich hatte einfach keine Zeit, euch zu benachrichtigen. So, mein Kind, und wie geht es?“ „Oh, – es geht mir gut. Ich habe mich hier gut eingelebt, glaube ich.“ Papas forschende und unbehaglich erfahrene Ärzteaugen waren auf mich gerichtet. „So. Das hast du. Das ist ja schön. Und nun erzählst du, was nicht schön ist.“ „Wieso nicht schön?“ „Glaubst du, daß du einen alten Arzt hinters Licht führen kannst, du Flunkerliese? Raus mit der Sprache – oder – es ist doch nichts mit dir und Heiko?“ „Nein, Paps!“ Ich mußte lachen. „Ich liebe Heiko mehr denn je und er mich!“ „Dann ist alles in Ordnung. Das heißt, das Wichtigste. Warum hast du dann geheult?“ „Vor Freude, weil du da bist.“ „Mein liebes Kind“, sagte Papa. „Du hast feste geheult, bevor ich kam. So rote Augen kriegt man nicht von ein paar Freudentränen.“ Er streichelte meine Hand. „So, Kleines, nun erleichtere dein Herz. Streit mit Schwiegermutter? Krach mit den Nachbarn? Angebranntes Mittagessen? Oder ist dir der Alltag einfach zu grau?“ Dreimal hatte ich energisch den Kopf geschüttelt. Bei der vierten Frage blieb mein Kopf einen Augenblick still, dann nickte ich. „Sehnsucht nach Norwegen?“ „O ja. Manchmal. Nach euch allen, nach der Unruhe und dem Leben und Treiben, nach Hans Jörgens Neckereien und Stefans Schabernack und Annettes Geplauder und – und – “ „Aber Sonnie, du wußtest ja im voraus, daß…“ „Ja, ich wußte im voraus, daß ich nur Heiko haben würde und keine große, lebhafte Familie – aber ich wußte nicht, daß ich den ganzen Tag mutterseelenallein sein würde, ich wußte nicht, daß – daß – daß wir uns keine Kinokarte und keine Schokoladentafel
leisten würden und daß Heikos Eltern ihn gelehrt hatten, auf alles zu verzichten, was dem Leben ein bißchen Farbe gibt! Für ihn ist es eine Selbstverständlichkeit, zu radeln, wenn andere Auto fahren, aufs Fernsehen zu verzichten und Buttermilchsuppe zu essen – o Paps, wenn du wüßtest, wie scheußlich das schmeckt! Er braucht nicht auszugehen, wenn er bloß seine Bücher und seine Arbeit hat, er braucht keine Blume im Zimmer und keine kleine spannende Überraschung am Samstagabend, er braucht…“ „Sage mal“, fragte Papa sanft und sehr ruhig: „Braucht er dich?“ „Ja, Paps“, antwortete ich, fest und sicher: „Das tut er.“ „Und du ihn?“ „Und ob!“ „Dann wird alles andere sich finden, mein Mädel. Aber nun sag mir eins – nein, zwei Dinge mußt du mir näher erklären: Du hast doch von eurer Sparpolitik erzählt, ich hatte doch den Eindruck, daß du damit einverstanden warst?“ „Ja, Paps, das war ich – das bin ich an sich auch, aber Heiko ist so ganz furchtbar konsequent! Er macht nie, aber auch nie eine einzige kleine Ausnahme!“ „So so. Ja, und dann sprachst du von Heikos Eltern, die so ungeheuer genügsam sind. Sage mir, sind sie auch mit ihrem Dasein zufrieden? Sind sie guter Laune, können sie fröhlich lächeln, sind sie freundlich und aufgeschlossen, wenn ihr hinkommt?“ „Ja, unbedingt! Das ist es, was ich nicht fassen kann! Wenn ich fünf Pfund Kartoffeln per Hand reiben müßte, weil ich kein elektrisches Gerät hätte, wenn ich diese widerliche Suppe essen müßte, wenn ich wüßte, daß ich nie in meinem Leben ein Auto kriegen würde, wenn ich immer auf Plastik oder Wachstuch essen müßte – und mein Leben lang zwischen Omas und Opas Knäufen und Plüsch verbringen müßte, weil nun eben die Möbel da sind – wenn ich immer, aber auch immer, an den schönen Delikateßgeschäften vorbeigehen müßte und mir nie, kein einziges Mal, ein Döschen Mangofrüchte oder eine Avocadobirne oder ein Pfund Walderdbeeren leisten könnte – ich glaube, ich würde wahnsinnig werden.“ Papa hörte mich aufmerksam an. Als ich mit etwas zitternden Lippen schwieg, sagte er, gedämpft und sanft: „Weißt du was, Sonnie? Dein Heiko und seine Eltern sind wahre Lebenskünstler!“ „Was sagst du da? Lebens…“
„ – künstler, ja, du hast richtig gehört. Es ist keine Kunst, fröhlich zu sein, wenn man reich ist, wenn man das Wort Geldsorgen nur aus dem Wörterbuch kennt!“ „Aber Paps, ich habe doch nicht das Gefühl, daß meine Schwiegereltern Geldsorgen haben!“ „Nein, sie haben verstanden, sie zu vermeiden, weil sie – ja, weil sie eben Lebenskünstler sind. Sonnie, Heiko hat mir damals vor der Hochzeit viel über sein bisheriges Leben und sein Elternhaus erzählt. Sein Vater hat eine bescheidene Stellung und ein kleines, festes Gehalt. Auf diesen Tatsachen haben die beiden ihr Leben aufgebaut. Sie bekamen Kinder und wußten, daß das wichtigste von allem die Ausbildung der Kinder war. Heikos Vater hatte selbst auf ein Studium verzichten müssen, jetzt wollte er, daß seine Söhne besser ausgerüstet den Lebensweg antreten sollten.“ „Aber Paps, Heiko hat doch tausend Jobs gehabt und…“ „Weiß ich. Aber er hat die ganze Zeit, bis er 26 war, zu Hause wohnen können – gratis! Weißt du, was das für eine Hilfe für einen Studenten ist? Als er seine Fotolehre beendet hatte, konnte er umsatteln und Naturwissenschaft studieren. Die Eltern ließen ihn weiter zu Hause wohnen und essen. Anfangs zahlten sie auch seine Bücher und was er brauchte. Der Bruder bekam auch eine Ausbildung. Woher, glaubst du, nahmen sie das Geld dazu? Sie haben gespart, Sonnie, sie haben bescheiden gelebt, haben sich tausend kleine Wünsche verkniffen. Sie sind zu Fuß gegangen, statt ein Auto auf Raten zu kaufen, sie haben – “ „Buttermilchsuppe gegessen“, sagte ich. „Eben! Und all die zusammengesparten Groschen wurden eine Summe, die ihnen helfen konnte, wenn es nottat. Die Ausbildung der Söhne – eine Reserve für einen Krankheitsfall – oder für eine Norwegenreise, als ihr Ältester heiratete. Sie haben auf vieles verzichtet, um für das Wertvollste die Mittel zu haben, verstehst du das? Und sie haben, wenn ich dich richtig verstehe, mit einem Lächeln verzichten können, sie erlauben sich nicht, Wünsche zu hegen, die doch nicht erfüllt werden können. Deine Schwiegermutter wünscht sich nicht die Avocados oder den Räucherlachs oder was sie nun so in den exklusiven Schaufenstern sieht – sie weiß, daß es da ist, so wie die Nerzpelze beim Kürschner und die Brillanten beim Juwelier, aber sie gehören nicht zu ihrer Welt, denn sie lebt auf – ja, was soll ich sagen – auf einer anderen Ebene, wo andere Dinge sind, die zählen. Versuch, ob du das verstehen kannst, Sonnie!“
Ich schwieg eine Weile. Alles, was Papa gesagt hatte, mußte sich irgendwie festsetzen, ich mußte es systematisch in mich aufnehmen. Er hatte ja recht. Bestimmt hatte er recht! „Vielleicht –“ sagte ich langsam – , „vielleicht war es auch so bei Muttis Eltern.“ „Das war es. Und von deiner wunderbaren Beatemutti habe ich meine Weisheit. Verstehst du, Sonnie, dies hat nichts mit Geiz zu tun. Es ist – ja, ich kann kein besseres Wort finden. Es ist Lebenskunst.“ „Du meinst also“, versuchte ich meine Gedanken auszudrücken, „du meinst, daß ich die Kleinigkeiten, die ich gern gehabt hätte, als etwas wegschieben soll, was mich und meine Welt nichts angeht?“ „So kannst du es ausdrücken. Was ist deine Welt, Kind? Es ist in erster Linie deine Liebe zu Heiko, (ich nickte eifrig) und zweitens ist es euer Ziel, euer afrikanischer Traum.“ „Und ihr daheim“, ergänzte ich. „Ja, aber wir verschaffen dir hoffentlich keine Probleme? Also, ihr könntet euch ein Fernsehen und Blumen und Schokolade und Mangofrüchte und vielleicht sogar ein Auto leisten. Das tun die meisten, aber dann haben sie auch kein Geld übrig für Flüge nach Afrika! Und was ist dir lieber?“ Ich legte meine Arme um Papas Hals und küßte seine Wange. „Am liebsten ist mir im Augenblick der Gedanke, daß ich einen wundervollen, klugen Vater habe. Und dann hab ich das beschämende Gefühl, daß besagter Vater mich jetzt eigentlich übers Knie legen müßte.“ „Weißt du, das ist Heikos Sache. Ich habe keine Verantwortung mehr! Aber im Ernst, mein Mädel, etwas ist mir eingefallen. Du hast doch so viel Zeit, Zeit zum Grübeln und Bitterwerden und Heulen. Warum in aller Welt versuchst du nicht, eine Halbtagsstellung zu kriegen? Dann würdest du Menschen treffen, du würdest deinen Tag ausfüllen können, du würdest…“ „Geld verdienen!“ rief ich. „Das auch. Überleg es dir mal, Sonnie. Was du eigentlich kannst auf dieser Welt außer Hausarbeit, weiß ich nicht. Ja, doch, du sprichst ausgezeichnet Englisch und noch besser Norwegisch, nicht wahr?“ „Vergiß nicht Suaheli, Paps.“ „Es müßte doch möglich sein, in Hamburg, wo es immer nur so von Touristen wimmelt, deine Sprachkenntnisse an den Mann zu
bringen. Ist das vielleicht eine Idee?“ „Und was für eine! Du bist genial, Paps. Ach du lieber Himmel, jetzt fällt mir ein, daß ich dir nicht einmal eine Tasse Kaffee gemacht habe, nur meine Sorgen habe ich dir vorgesetzt. Ich werde gleich…“ „Halt, das ist nicht nötig, ich habe im Flugzeug gefrühstückt. Ach ja, richtig – wo ist mein Koffer?“ Papa machte ihn auf und wühlte darin herum. „Hier von Mutti, frisch gebacken, gestern spätabends – und hier, was sie zufällig an Ziegenkäse im Haus hatte, das heißt die Hälfte, den Rest kriegt Senta – und dies habe ich im Flugzeug gekauft, bitte sehr!“ Es war ein großer Karton Pralinen von meiner Lieblingsmarke. Heiko war freudig überrascht, als er nach Hause kam und seinen Schwiegervater mit Romeo und Julia in den Händen und sein Eheweib mit schokoladeverschmiertem Mund vorfand. Ich hatte das Sonntagsessen, das zum Glück schon im Kühlschrank lag, schnell als Donnerstagsessen zubereitet und konnte meinen beiden Männern was Anständiges vorsetzen. Zum Kaffee gab es Beatemuttis Kuchen und ein vernünftiges Gespräch. Papa fragte Heiko wegen der Doktorarbeit, Heiko erzählte eifrig – es war bestimmt schön für ihn, endlich einen Menschen zu haben, der ihm folgen konnte! Ich erzählte von meiner Arbeit mit den lieben Viechern, die jetzt „in Pension gegangen waren“, wie Heiko sagte. Sie waren nur noch niedliche Haustierchen und hatten keine wissenschaftlichen Aufgaben mehr. Papa blieb bis zum nächsten Morgen bei uns und behauptete, er hätte auf der Couch im Wohnzimmer wunderbar geschlafen. Heiko mußte zu seiner Schule, und ich brachte Papa zum Bahnhof. Dann kaufte ich mir eine dicke Zeitung, und als der Kieler Zug weg war, setzte ich mich auf eine Bank und studierte „Stellenangebote, weiblich“. Eine halbe Stunde später stand ich der Chefin der Konditorei „Zur sonnigen Ecke“ gegenüber und bewarb mich um die Stellung als Kuchenverkäuferin, in Vertretung der fest angestellten Kraft, die wegen eines freudigen Ereignisses erst Mitte Juli ihre Arbeit wieder aufnehmen konnte. „Nachmittags hilft mir meine Tochter“, erklärte die Chefin. „Ich brauche nur jemand für die Vormittagsstunden.“ Ich machte ihr klar, daß das für mich genau das Richtige wäre. „Sie sind Ausländerin, wie ich höre. Haben Sie denn eine Arbeitserlaubnis?“
„Ich bin durch meine Heirat deutsche Staatsangehörige“, erklärte ich. „Sind Sie Skandinavierin?“ „Ja, Norwegerin. Ich verstehe auch Schwedisch und Dänisch.“ „Sehr schön. Wir haben viele skandinavische Touristen hier. Können Sie auch etwas Englisch?“ „O ja. Ziemlich viel. Ich bin ein Jahr in England gewesen.“ „Ausgezeichnet. Wann könnten Sie anfangen?“ „Morgen früh, wenn Sie wollen.“ „Dann also abgemacht. Kommen Sie, ich mache Sie mit Ihren Kolleginnen bekannt.“ Nach einer weiteren halben Stunde schwebte ich zum Bus. Was für ein Rindvieh war ich doch gewesen! Warum hatte ich nicht längst daran gedacht, einen Halbtagsposten zu kriegen? Welch Glück, daß Papa gekommen war! Und nicht nur wegen der Idee mit der Arbeit. Ich saß im Bus und lächelte vor mich hin vor lauter Freude!
Tafadhali, Bwana! „Bitte, gnädige Frau, ein Stück Nußtorte – ja, die Obsttörtchen sind sehr beliebt, es wird bestimmt der Kleinen schmecken. Hier mein Kind, nimm diese Papierserviette! Das macht einsfünfundsiebzig, gnädige Frau – oh, vielen Dank!“ „Yes, Sir, this is apple pie, do you want some cream? – I’m awfully sorry, madam, I have no fruit cakes more, but I’ll ask for them in the kitchen – oh, thank you very much, sir – – “ „Ja, dette er flötehorn, eller vil De heller ha vannbakkels – det blir to femti, tusen takk…“ Ich rollte meinen süß beladenen Wagen von Tisch zu Tisch und jonglierte mit drei Sprachen. Ich bemühte mich sehr darum, in allen drei recht höflich und zuvorkommend zu sein. Nicht nur des Trinkgeldes wegen, obwohl das natürlich auch herrlich war – ich hatte zu Hause eine extra kleine Büchse dafür – , sondern auch, damit die Chefin mit mir zufrieden blieb – und weil es mir Spaß machte, zufriedene Kunden zu haben. Viele kamen jeden Vormittag zur gleichen Uhrzeit, bekamen ihre Tasse Kaffee und ihr Stück Kuchen. Dann hatten wir, wie die Chefin im voraus gesagt hatte, sehr viele Touristen. Neben unserer Konditorei war ein Andenkengeschäft, auf der anderen Straßenseite ein Auskunftsbüro, also ließ es sich einfach nicht vermeiden, daß die Touristen auch bei uns reinschneiten! Es machte Spaß, mal wieder Englisch zu sprechen, und erst recht, meine Muttersprache wieder zu hören und zu benutzen. Viele wunderten sich darüber, daß „ein deutsches junges Mädchen so gut Norwegisch sprach“. Dann mußte ich sie ja aufklären, und wenn ich Zeit hatte, konnte ich auch manchmal ein bißchen mit meinen Landsleuten plaudern. Die Zeit flog nur so dahin! Ich hatte alle Hände voll zu tun! Auf um sechs. Wohnung aufräumen, Frühstück machen, Mittagessen etwas vorbereiten. Mit dem Bus in die Stadt, dann vier Stunden Arbeit, anschließend Einkaufen, wie ein Blitz nach Hause und Mittagessen hervorzaubern. Der Nachtisch war beinahe jeden Tag der gleiche: „Unglückskuchen“ von der Konditorei. War ein Stück Sahnetorte auf die Seite gefallen und die Dekorationen abgerutscht, hatte der Konditor mit einem Törtchen Pech gehabt, so daß etwas ausgelaufen war, dann bekamen wir Angestellten die Pechkuchen. Das heißt, ich
bekam sie. Meine beiden Kolleginnen arbeiteten schon so lange in dieser süßen Umgebung, daß sie keine Kuchen mehr sehen konnten. Ich war noch lange nicht soweit, ich genoß die täglichen Kalorienstöße, und Heiko auch! Ich wusch ab, ich versorgte Romeo und Julia, ich plante für den nächsten Tag. Sonntags stand ich gewöhnlich ein paar Stunden am Plättbrett. Aber es machte mir alles Spaß, ich hatte meine ganze alte gute Laune wieder und blickte optimistisch in die Zukunft! Als Heikos Schuljahr zu Ende war, übernahm er beinahe die gesamte Hausarbeit. So hatte ich abends plötzlich Zeit und konnte mich im Sessel räkeln und mich von meinem Göttergatten verwöhnen und geistreich unterhalten lassen. Die Unterhaltung bestand übrigens hauptsächlich darin, daß er mich in Suaheliwörtern abhörte und ich ihn. Es machte viel mehr Spaß, wenn wir gemeinsam lernten, es regte an und erweckte in uns beiden den Ehrgeiz! Dann hatten wir eine angenehme Überraschung. Senta und Rolf kamen ganz früh an einem Sonntag morgen. Sie teilten uns mit, daß sie gegen Mittag nach Italien fliegen würden, wir müßten sie zum Flughafen bringen, und dann dürften wir den Wagen drei Wochen behalten – „aber bitte weder Wagen noch euch selbst zu Mus fahren!“ ermahnte uns meine Schwester. Wie war das himmlisch! Ich wurde nun jeden Morgen per Auto zu meiner Konditorei gebracht und mittags pünktlich abgeholt. Ja ja, es hatte schon etwas für sich, so ein eigenes Wägelchen zu haben. Aber – zum hundertachtundsiebzigsten Male dachte ich an Papas sonnenklare Logik: Entweder – oder! Entweder Auto und Ausgehen und feines Essen – oder Flugkarten nach Afrika! Dann gab es für uns keine Wahl. Ich hatte mich an unsere anspruchslose Lebensweise gewöhnt, ich wußte ja, warum wir sparen mußten – was heißt mußten, ich meine wollten! Auf dem Bücherregal stand ein Sparschwein. Da wurden jede Woche ziemlich viele Münzen reingesteckt. Heiko hatte ja sein Sparbuch, ich aber bleib beim Schwein! Wir feierten Heikos siebenundzwanzigsten Geburtstag. Ich kaufte eine schöne kleine Torte, die ich natürlich mit Prozenten bekam, und baute ihm ein Tischlein auf, das ich mit selbstgepflückten wilden Heckenrosen schmückte. Viele Geschenke waren nicht darauf, er hatte ja eine halbe Schreibmaschine schon weg. Die Kleinigkeiten, die ich ihm schenkte, waren lauter Sachen, die er für eine Afrikareise brauchen konnte: eine gute Taschenlampe, ein Taschenmesser, und –
von meinem Vater abgebettelt – eine praktische kleine Tasche für die notwendigsten Medikamente und Verbandmaterial. Die Schwiegereltern kamen zu Mittag, ich hatte Fleischklöße nach Beatemuttis Rezept gemacht. Uwe, Heikos Bruder, den ich beinahe nicht kannte, war in Urlaub. Der Tag wurde urgemütlich, in aller Bescheidenheit. Nach meinem Gespräch mit Papa empfand ich eine neue – ja ich kann beinahe „Zärtlichkeit“ sagen – für Heikos Eltern. Lebenskünstler, sagte Papa. Wie recht hatte er! Sie waren immer ausgeglichen, immer guter Laune, immer fröhlich und aufgeschlossen. Und wie sie es genossen, im Auto abgeholt und wieder nach Hause gebracht zu werden! Ja, es war ein schöner Tag. Als wir zu Bett gegangen waren, steckte Heiko den Arm unter meinen Nacken. „Ich danke dir, Liebling. Es war ein so schöner Tag. Der schönste Geburtstag, den ich jemals gehabt habe!“ „Ach, Heiko, du bist aber bescheiden!“ „Bescheiden! Von wegen bescheiden! Anspruchsvoll bin ich! Ich begnüge mich nur mit dem Besten vom Guten, hast du das nicht entdeckt?“ „Nein“, lächelte ich, „das habe ich allerdings nicht. Was ist dann das Beste in seiner Art? Die Fleischklöße oder das Taschenmesser oder…“ „Meine Frau“, flüsterte Heiko. Der Alltag ging weiter. Ich hatte mich in meiner Konditorei gut eingelebt, und die Arbeit machte mir Spaß. Nachdem ich so lange den ganzen Tag allein gewesen war, fand ich es schön, immer neue Menschen zu sehen, immer neue Gesichter. Ich fand auch Spaß daran, die Menschen zu studieren. Meine beiden Kolleginnen holten mich manchmal zu Hilfe, wenn wir ausländische Gäste hatten. Mein Amt war ja nur, Kuchen zu verkaufen, aber in solchen Fällen übernahm Fräulein Bluhm oder Frau Heinrichsen mein Wägelchen, und ich nahm Bestellungen auf Englisch oder Skandinavisch auf. Eines Tages stand ich gerade und ließ meine Tabletts neu beladen, als Fräulein Bluhm kam. „Ach, Frau Brunner, seien Sie doch so lieb und helfen Sie mir da bei Tisch drei, ich verstehe kein Sterbenswort, ich übernehme Ihren Karren!“ Am Tisch drei saßen zwei Herren. Als ich sah, daß der eine
pechschwarz war, machte mein Herz einen kleinen Sprung. Jedesmal, wenn ich einen Dunkelhäutigen sah, empfand ich es als einen Gruß aus Afrika. Ich versuchte es auf Englisch und kam damit an. Sie wollten wissen, ob man hier auch ein kleines, leichtes Lunchgericht bekommen könnte. Das hatten wir. Ich erklärte, daß die Auswahl nicht groß sei, aber vielleicht Pastetchen oder ein paar Würstchen? Der Schwarze hatte anscheinend nicht alles verstanden. Der Engländer übersetzte, und mein Herz sprang hoch! Er sprach Suaheli. Dann konnte ich der Versuchung nicht widerstehen! Ich hatte bis jetzt Suaheli nur als ein Schulfach gebüffelt – jetzt wollte ich versuchen, ob ich es auch sprechen konnte! Ich brachte die Karte, legte sie dem Schwarzen hin und sagte: „Tafadhali, Bwana! Tuna sambusa na ulimi.“ „Was?“ riefen die beiden Gäste gleichzeitig. Ich fuhr mit Aufbietung allen Mutes fort: „ – na ulimi na nyama ya ndama na uyoga.“ So – wenn ich nun die Aussprache einigermaßen richtig fertiggebracht hatte, müßten sie wissen, daß ich ihnen Pasteten mit Zunge, Kalbfleisch und Pilzen empfohlen hatte. Ein Wortschwall brach über meinen armen Kopf los, und demütigend genug mußte ich gestehen: „Nisamehe, sifahamu“ was so viel bedeutet wie „Entschuldigung, ich verstehe nicht.“ Dann fragten sie auf englisch. Wie in aller Welt das möglich sei, daß ein blondes deutsches Mädchen Suaheli könne? Ich mußte lachen. „Erstens kann ich es leider nicht, aber ich bin fleißig dabei, weiter zu lernen. Zweitens bin ich kein Mädchen, sondern eine verheiratete Frau. Drittens bin ich nicht deutsch, sondern norwegisch.“ „Noch merkwürdiger!“ sagte der Afrikaner. Es läßt sich nicht leugnen, daß sein Englisch entschieden besser war als mein Suaheli. „Wie in aller Welt kommen Sie dazu, Suaheli zu lernen?“ „Weil ich Ostafrika liebe“, sagte ich. „Und weil ich alles darauf setze, wieder hinfahren zu können!“ „Ach, Sie waren schon dort?“ „Ja, voriges Jahr. Und wir – mein Mann und ich – haben nur den einen Wunsch, wieder hinzufahren, am liebsten für längere Zeit.“
Sie fragten weiter, und ich erzählte willig. Als ich ihnen anvertraute, mein Mann sei Zoologe, horchte der Afrikaner auf. „Interessant! Ich werde vielleicht Zoologie studieren, vorläufig muß ich allerdings viel anderes lernen, ich bemühe mich um eine Stellung als Game Warden, entweder in Manyara oder Serengeti – “ „Sie Glückspilz! Das war es ja, was mein Mann so gern wollte, und er hat die allerbesten Kenntnisse – nur ist seine Hautfarbe verkehrt!“ „Er muß zusehen, daß er ein Stipendium kriegt“, sagte mein schwarzer Freund. „Der Antrag läuft schon“, erklärte ich. „Und wenn das nicht geht, wäre es vielleicht möglich, daß er mal eine wissenschaftliche Expedition mitmachen dürfte. Sonst müssen wir warten, bis wir ganz privat reisen können, uns von Sammelreiseprogrammen und so was unabhängig machen, und…“ Der Afrikaner kritzelte etwas auf eine Karte. „Hier“, sagte er. „Wenn Sie nach Aruske kommen sollten, dann lassen Sie sich bei mir blicken. Ich kann Ihnen vielleicht behilflich sein.“ „Es ist furchtbar, furchtbar lieb von Ihnen!“ sagte ich und steckte die Karte ein. „Und wie wird es nun, möchten Sie die Pastetchen – Sie können auch eine Suppe haben, und Nachtisch haben wir ja in großer Auswahl!“ Ich konnte wieder aus der deutschen Karte übersetzen: Supu ya mkia wa ng’ombe (Suppe von dem Schwanz von einem Ochsen, so kompliziert kann man es auch ausdrücken!) supu ya kuku – das hätte sogar Hans Jörgen verstanden, er wußte ja daß Kuku Huhn bedeutet – und supu ya kasa, was nicht Käse, sondern Schildkröte bedeutet. Ich verstand es mühelos, als sie nachher barufu verlangten, und brachte ihnen zwei Eisbecher von unserer Spitzensorte. Dann tranken sie „kahawa“ – Kaffee – und baten um die Rechnung. Die Zahlen waren mir geläufig! Daß ich in meinem Inneren die Summen auf norwegisch zusammenzählte, brauchte ja niemand zu wissen! Auf norwegisch wurden achtzehn Mark fünfunddreißig daraus. „Tafadhali, Bwana – marki kumi na nane, pfennigi thelatini na tano!“ Er reichte mir zwanzig Mark. Ich suchte Wechselgeld aus. Er machte eine abwehrende Handbewegung. „Hapana – hizi ni zako! Sparen Sie es für Ihre Flugkarte nach Afrika!“
„O, ahsante, Bwana – ahsante sana!“ Ich konnte es kaum abwarten, Heiko alles zu erzählen. Als ich im Auto saß, sprudelten die Worte wie Niagara – oder wie die Murchison Falls – aus mir heraus. Es hatte mir so furchtbar viel Spaß gemacht, und ich wollte fleißiger denn je lernen – und der Mann – wie hieß er nun gleich, ja richtig, mit Vornamen Evaristus, der Nachname bestand hauptsächlich aus m, b, und w, es sah aus wie ein Druckfehler – also Evaristus war furchtbar nett gewesen, und jetzt hätten wir einen Bekannten in Tanzania, wir wußten einen Menschen, an den wir uns wenden konnten, im Falle eines Falles… Ich plauderte weiter, während wir ausstiegen, während wir aßen, und als wir abends ins Bett gegangen waren, malte ich mir – und Heiko – aus, wie wunderbar es wäre, wenn Evaristus nun Game Warden würde und uns mitnehmen konnte, mit raus ins Gelände, in Gegenden, wo gewöhnliche Touristen nicht hinkämen. Endlich überkam mich die Müdigkeit. Heiko strich mir übers Haar, küßte mich. „Na, dann gute Nacht, meine kleine Impala!“ „Gute Nacht – ich meine, lala salama, mein – ach, wie heißt mein Schatz auf Suaheli?“ „Keine Ahnung. Auf Suaheli habe ich bis jetzt nicht geliebt“, sagte mein Mann und machte das Licht aus.
Zu schön, um wahr zu sein Meine Konditoreivertretung ging zu Ende. Eigentlich schade. Der Job hatte mir viel Spaß gemacht – und viele Trinkgelder zusätzlich eingebracht. Noch war Sommer und Ferienzeit. Was sollten wir bloß tun? „Weißt du was“, sagte Heiko, „ich werde mal sehen, ob ich einen gut bezahlten Sommerjob finde. Für ein paar Wochen vielleicht. Es kann nicht schaden, noch etwas Geld auf der hohen Kante zu haben, falls nun aus meinen Plänen nichts wird.“ Heikos Pläne bestanden nicht nur in dem Antrag auf ein Stipendium. Er hatte auch einen Vorstoß gemacht, an einem größeren Zoo als wissenschaftlicher Mitarbeiter engagiert zu werden. „Es ist bodenlos leichtsinnig von mir, daß ich nicht an der Schule geblieben bin“, gab er zu. „Aber sich vorzustellen, das würde im Wege stehen, falls nun das eine oder das andere gelingen sollte…“ Ich war einverstanden. Nicht auszudenken! „Wann kriegst du eigentlich deinen Doktortitel?“ fragte ich. „Das steht in den Sternen geschrieben! Und da ich kurzsichtig bin, kann ich es nicht lesen!“ „Quatschkopf!“ „Also, den Titel kriege ich, wenn ich die Urkunde bekomme.“ „Und wann kommt sie?“ „Wenn ich das wüßte! Weißt du, Sonnie, ich habe das Gefühl, daß ich vollkommen unverantwortlich gehandelt habe. Ich lebe hier ins Blaue hinein und hoffe auf Stipendien, eventuell auf eine Anstellung als wissenschaftlicher Zoo-Mitarbeiter, statt an Weib und Verpflichtungen und Miete und täglich Brot zu denken. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Sollte alles ins Wasser fallen, kann ich Postpakete austragen oder Autos waschen oder…“ „Schiffe löschen“, schlug ich vor. „Ich habe mir sagen lassen, daß man dazu besonders gut geeignet ist, wenn man ein naturwissenschaftliches Staatsexamen hat. Aua, ich schreibe Papa, daß du mich mißhandelst!“ „Unverschämtes Rotzkind!“ sagte Heiko und milderte sowohl den Ausdruck als auch den unsanften Klaps hintendrauf mit einem durchaus nicht unsanften Kuß. „Aber wie gesagt, vorläufig fahre ich in die Stadt und gucke mich um, mal sehen, was für ein Job daraus wird.“
„Aus dem Rumgucken? Gib zu, du führst was im Schilde!“ „Klar tu ich das. Wie spät ist es? – Du, ich laufe, dann schaffe ich den Zehn-Uhr-Bus!“ Ja, wir waren wieder Fußgänger und Busfahrer geworden. Senta und Rolf waren zurück, hatten ihr Auto geholt und uns als Trost zwei Flaschen Chianti hinterlassen nebst einem todschicken, bunten Einkaufskorb, der auch als Badetasche zu benutzen war. Wir waren auch ein paarmal schwimmen gewesen, als wir eine Woche glühende Hitze hatten. Einmal waren wir im Zoo und standen lange und sentimental vor dem Impalagehege und gedachten unserer ersten Begegnung. Wobei wir ganz fest Händchen hielten. Es war ein stillschweigendes Übereinkommen zwischen uns, daß wir den ganzen Sommer zu Hause blieben. Da alles mit Heiko so unsicher war, wollten wir kein Geld für eine Urlaubsreise anlegen. Es hieß jetzt warten, sparen und Daumen drücken. Ich machte sauber, ich plättete alles, was sich während meiner Konditoreizeit angehäuft hatte, ich fing mit dem Mittagessen an. Dann hörte ich Heikos Schlüssel in der Tür. „Sonnie! Mach ganz schnell, wo hast du deinen Impfschein?“ „Im Paß“, sagte ich und sah bestimmt wie ein Fragezeichen aus. „Hol ihn wie der Blitz – hier, nimm deinen Mantel, es nieselt draußen – ein bißchen Hoppla, ich habe eine Taxe vor der Tür!“ „Was hast du?“ Ich dachte, ich höre nicht richtig. Wenn er eine Mondrakete gesagt hätte, wäre ich auch nicht erstaunter gewesen. „Eine Taxe. Mach doch schnell – ja, richtig, mal sehen! – Das Paßbild ist scheußlich, macht nichts – da, der Impfschein – ich schalte die Kochplatte aus, nun komm!“ Er zerrte mich zur Tür hinaus. „Aber Heiko – was hast du? Was soll ich?“ „Mitkommen! Du sollst gegen Gelbfieber geimpft werden! Wir fliegen am Sonntag nach Afrika!“
DRITTER TEIL
Im Land meiner Träume
Aufbruch nach Süden Unter mir lag das Lichtermeer von Hamburg. Die Straßen wie leuchtende Bänder – die Autos schoben ihre Lichtkegel vor sich hin. Da: das dunkel-seidige Band der Elbe! Wir stiegen höher, die Lichter da unten schwanden allmählich. Jetzt durch eine Wolkendecke – hier oben strahlte noch die Sonne. Ich drehte den Kopf. Heikos Blick war unentwegt auf mich gerichtet. Seine Augen strahlten, voll Glück, voll Wärme – voll Liebe. „Heiko“, flüsterte ich. „Es kann nicht wahr sein!“ „Soll ich dich in den Arm zwicken?“ „Nein – lieber nicht. Ich werde versuchen, es doch zu glauben. O Heiko, wenn das nicht alles ein Märchen ist!“ „Ja, Liebling. Das kann man wohl sagen.“ Die Lichtbuchstaben vor uns erloschen. Wir durften die Gürtel abschnallen und rauchen, wenn wir wollten. Ich wollte nicht. Ich wollte nur eins. Endlich in Ruhe das alles durchdenken, was uns die letzten turbulenten Tage gebracht hatten. All das unfaßbar Schöne so richtig bewußt in mich aufnehmen – von dem Augenblick an, als Heiko mich in die Taxe schubste, um zum Tropeninstitut zu fahren. Eine schnelle Art „Erstorientierung“ hatte ich schon in der Taxe gekriegt. Ich wußte jetzt so ungefähr den Zusammenhang der Ereignisse. Während ich an jenem Morgen nichtsahnend im Milchgeschäft gewesen war, hatte Heiko einen Anruf gekriegt. Wir hatten die Telefonnummer unserer Wirtsleute ein paar Menschen anvertraut, „für äußerste Not“, wie Heiko es ausdrückte: meinen und seinen Eltern, Senta – und Heikos Doktorvater. Er war es, der anrief: Ob Heiko zur Zeit frei wäre, ob er interessiert an einem Sommerjob sei? Dann möge er sich im „Büro Tellus-Touren“ melden. Er würde gegen elf Uhr vom Chef, dem Direktor Grünbach, erwartet. Das war es also, was Heiko im Schilde führte an dem denkwürdigen Morgen, als er mit dem Zehn-Uhr-Bus in die Stadt fuhr. Eine Stunde später – gab er zu – hatte er sich selbst in den Arm zwicken müssen! Der Direktor hatte ihn aufgeklärt: Am Sonntag wollte eine
Reisegesellschaft nach Ostafrika starten. Achtzehn Personen. Also klein und ausgewählt. Studienreise durch Serengeti, mit Besuch in weiteren Nationalparks, dann Flug nach Entebbe, weitere Safaris in Uganda – Queen Elizabeth Park, Murchinson Falls, Ruwenzorigebirge, Bootsfahrten auf dem Nil. Nach drei Wochen zurück nach Deutschland. Dies sei die erste Reise dieser Art, und es läge dem Direktor sehr daran, daß die Teilnehmer recht zufrieden zurückkämen. Zu einer Studienreise gehörte eine wissenschaftliche Führung, und nun hatte, an diesem selbigen Morgen, der „afrikaerfahrene Zoologe“, der dazu engagiert war, absagen müssen. In seiner Verzweiflung hatte der Direktor unseren Professor, den er persönlich kannte, angerufen und gefragt, ob er zufällig jemand wüßte… Er wüßte weder aus noch ein, es sei ja mitten in der Ferienzeit, woher nähme er einen Zoologen, am liebsten einen, der sich in Ostafrika auskannte? So war es gekommen. Und jetzt war also die Frage, ob Heiko könne und wolle und sich sicher genug fühle – ob er diese Reise retten könne? „Ja“, hatte Heiko geantwortet. „Ich meine, es schaffen zu können, und ich tu es – allerdings unter einer ausdrücklichen Bedingung.“ „Und die wäre?“ sagte der Direktor und streckte schon die Hand aus nach dem Scheckheft auf dem Schreibtisch. „Daß ich meine Frau mitnehmen darf“, sagte Heiko. Sie hatten sich überlegt, wie es sich arrangieren ließe, daß ich mitkäme, ohne allzuviel zahlen zu müssen. „Ich muß ja meine Handlungsweise der Direktion gegenüber verantworten können“, erklärte Direktor Grünbach. Er fragte, ob ich mich nützlich machen könne, ob ich mich auch in Afrika auskannte oder vielmehr, ob ich gerade diese zu befahrende Strecke schon kenne? Heiko hatte dick aufgetragen, so dick, daß ich errötete, als er es mir erzählte. Ich spräche fließend Englisch (das Gesicht des Direktors hellte sich auf), ich könne mich in Suaheli einigermaßen ausdrücken (die direktörlichen Augen leuchteten), ich wisse sehr viel über die Tiere Ostafrikas (der Direktor lächelte begeistert), ich sei schon da unten gewesen (der Direktor nickte), und ich hätte soviel über Ostafrika gelesen, daß ich ein lebendes Lexikon sei. Wenn wir die Safaris machten, könne ich mühelos die Führung in dem einen Kleinbus übernehmen. Das alles hatte mein werter Gatte schamlos behauptet! „Dann zeigte ich ihm dein Bild“, hatte Heiko mir weiter
berichtet. „Natürlich fand er dich so entzückend, daß – “ „Heiko, du lügst! Du trägst doch kein Bild von mir mit dir rum!“ „Nun ja“, gab mein Mann zu, „es war allerdings von Senta. Das, was sie uns aus Italien schickte.“ Die Sache hatte also geklappt. Wir ließen uns gegen Gelbfieber impfen; das wurde in Uganda verlangt. Wir füllten blitzschnell unsere Visumanträge aus, und dann war ich an der Reihe, mit Direktor Grünbach zu sprechen. Das Resultat war, daß ich als Reiseführer-Assistentin engagiert wurde, und man ließ in Windeseile ein Ansteckschildchen mit diesem imponierenden Titel anfertigen. „Wie ist es, Herr Brunner, wie soll ich Sie der Reisegesellschaft vorstellen, haben Sie schon einen Doktortitel oder so was?“ fragte der Direktor. „Leider nein“, mußte Heiko zugeben. „Ich habe mein Diplom noch nicht. Das kommt wohl erst im Herbst, nehme ich an.“ „Schade“, sagte Direktor Grünbach. „So ein Titelchen hätte sich so gut gemacht!“ Ich schuftete wie eine Rasende. Kleidung durchsehen und packen – Rolf telefonisch um seine Filmkamera bitten – wiederholte Gespräche mit Tellus-Touren, tausend Ratschläge bekommen – Heiko machte, behauptete er selbst, einen Blitzkurs für Reiseleiter durch. Denn mit zoologischen Kenntnissen allein sei es nicht getan. Kluge Tips, vernünftige Hinweise, sanfte Ermahnungen prasselten auf uns nieder. Am Tage vor der Abreise per Taxe zu den Schwiegereltern, um uns zu verabschieden und ihnen den ganzen Behälter mit Romeo und Julia zu überlassen, mitsamt genauen Anweisungen über Pflege und Fütterung. Heiko trug grade den Behälter in die wartende Taxe, ich kam hinterher mit den kleinen Lieblingen in einem Karton, da tauchte der Briefträger aus dem Nachbarhaus auf. „Guten Morgen – einen Augenblick mal, ich habe einen Einschreibbrief für Sie, Herr Brunner.“ „Was ist denn das, Heiko, so ein riesengroßer Brief?“ „Mal sehen!“ Er machte auf, während der Taxifahrer den Behälter in den Gepäckraum verstaute. Ich machte einen „rubber neck“ – einen Gummihals, und las mit. „Heiko! Ich gratuliere! Das ist ja dein Diplom!“ „Eben! Das kam im richtigen Augenblick!“ „O Heiko, ich bin so stolz auf dich! Ich platze vor Stolz! Ich bin
also mit einem richtigen Doktor verheiratet!“ „Und ich mit einem richtigen Kindskopf!“ Der Fahrer saß wieder hinter dem Steuer. Nun drehte er den Kopf und grinste breit: „Und wo soll es hingehen, Herr Doktor?“ Direktor Grünbach grinste auch, hell begeistert. Natürlich war es für sein Unternehmen viel besser, den Reiseteilnehmern einen richtigen Doktor als Reiseführer vorsetzen zu können. „Wenn ich bloß auch irgendein Titelchen hätte!“ seufzte ich. „Wenn man so aussieht wie Sie, kleine gnädige Frau, braucht man keinen Titel“, meinte der Direktor. Was er wohl damit meinte? „Du, Heiko“, sagte ich nachher. „Was für ein Doktor bist du jetzt eigentlich? Dr. vier. bein. oder Dr. sieb, schlaf, oder was?“ „Dr. rer. nat.“, belehrte mich Heiko. „Du hast noch viel zu lernen, kleine gnädige Frau!“ Ich saß lange da mit geschlossenen Augen. Alles hatte ich in die Erinnerung zurückgerufen, alles, was in diesen letzten, wunderbaren Tagen geschehen war. Auch mein Telefongespräch mit Papa und Beatemutti, die sich so innig mit uns gefreut hatten! Den Blitzbesuch von Senta und Rolf, die uns die Filmkamera brachten – den heutigen Nachmittag im Hamburger Flughafen, wo Direktor Grünbach sich persönlich eingefunden und sich vergewissert hatte, daß alles in Ordnung war, und uns den achtzehn Reiseteilnehmern vorstellte. Wir flogen diesmal mit einer planmäßigen Linienmaschine, also nicht mit einem Charterflugzeug wie im vorigen Jahr. In Frankfurt würden wir umsteigen, ebenso in Wien. Von dort nach Entebbe, dann weiter nach Nairobi, wo wir am frühen Morgen eintreffen würden. Unsere Reisegesellschaft war leicht erkennbar an den blauen Flugtaschen, die jeder von „Tellus-Touren“ als Geschenk bekommen hatte. Ja, wenn das unterwegs Verwechslungen gäbe! Meine Tasche war voll Lesestoff. Ich bildete mir ein, ziemlich viel über die Steppentiere zu wissen, die Vierfüßler waren mir einigermaßen bekannt. Aber die gefiederten Viecher verschafften mir Angstzustände! In Uganda sollten wir angeblich ungeheuer viele Arten zu sehen bekommen. Ich hatte in jeder freien Minute – davon hatte es übrigens nicht allzu viele gegeben – über diese verflixten Piepvögel gelesen, hatte versucht, mir die Illustrationen in Heikos dicken Lehrbüchern genau zu merken. Daß ich einen Marabu von einem Nektarvogel unterscheiden konnte (was mein unverschämter
Mann übrigens bezweifelte), war nicht genug. Ich las und schwitzte über Pelikane und Kormorane, über Nilgänse und Goliathreiher, über Schlangenhalsvögel und Königsfischer und wie die Biester alle hießen! Ach ja, dann war auch der Hammerkopf da – und der Schreiseeadler – und der „Roller“ – wenn ich sie bloß nicht durcheinanderbrachte! Wie gesagt, ich schwitzte! Und meine blaue Tasche enthielt lauter Bücher und Hefte über die Vögel Ostafrikas. Außer meinem Lehrbuch in Suaheli, selbstverständlich. Flughafen Frankfurt. Hier hatte ich damals mit Senta gesessen, hier hatten wir das Ehepaar Dieters kennengelernt – da, durch den Ausgang waren wir zum Flugzeug rausgegangen – , hier hatte Heiko mich gesehen, aber ich ihn noch nicht. Himmel, was war alles seit damals passiert! Dabei lag es nur ein Jahr und vier Monate zurück. Unsere Gruppe hielt sich in der Nähe von Heiko und mir auf. Die meisten der Teilnehmer waren bis jetzt nie in einem anderen Erdteil gewesen, für fünf, sechs von ihnen war es sogar der erste Flug. Sie hatten allerlei Fragen, und wir gaben uns die größte Mühe, vernünftig und vor allem freundlich zu antworten. Es ging weiter mit einem österreichischen Flugzeug nach Wien. Zum dritten Male flog ich über die Alpen, ohne sie sehen zu können. Es war jetzt dunkel geworden, und außerdem flogen wir ja über den Wolken. Es gab Abendessen, es schmeckte köstlich, zum Essen waren wir den ganzen Tag nicht gekommen! Ich aß und las gleichzeitig, biß von meinem Brötchen ab und studierte gleichzeitig die Pelikane; ich löffelte meine Cremespeise und merkte mir das Gefieder der Goliathreiher. Die Zeit verging im Nu, und schon waren wir in Wien. Gleich nach der Landung kam eine Stimme aus dem Lautsprecher und teilte mit, unser Anschlußflugzeug habe eine Stunde Verspätung. Eine Stunde hätten wir planmäßig warten sollen. Also hatten wir zwei – nun gut, zwei Stunden konnte ich diese komplizierte Vogelwelt am Nil studieren! Denkste! Schon war die erste Tellus-Touren-Gruppenreisende da: Ob ich wüßte, wo die Damentoilette sei? Das wußte ich aus guten Gründen nicht, ich war ja selbst zum erstenmal dort, aber nach einigen Bemühungen kriegte ich es heraus. Die nächste wollte wissen, ob wir nun direkt nach Nairobi fliegen würden. Ich konnte mitteilen, daß wir in Entebbe zwischenlanden
würden. Es stand allerdings im Programm, das aus der Handtasche der Fragenden rausguckte, aber es gibt eben Menschen, die sich auf das gedruckte Wort nicht verlassen. So ging es weiter. Bis die Lautsprecherstimme sich wieder meldete. Man bedauere, das Flugzeug würde eine weitere Stunde Verspätung haben. Es war jetzt Nacht geworden. Die Andenkenläden im Warteraum waren schon geschlossen. Nur ein schläfriger, weißbejackter Mann hinter der Theke des Erfrischungsstandes und zwei Serviererinnen waren zu sehen. Es knarrte im Lautsprecher. Die Wartenden könnten beim Vorzeigen ihrer Bordkarte eine Erfrischung kriegen. Heiko ging freundlich von Tisch zu Tisch. Er würde vorschlagen, daß wir uns um einen großen Tisch versammelten, und wenn es den Herrschaften recht wäre, könnten wir die Zeit für eine kleine „Fragestunde“ ausnutzen, während wir uns die Erfrischungen zu Gemüt führten. Dann saßen wir da, zwanzig Menschen, die sich zum größten Teil nicht kannten und die gemeinsam so wunderbare Erlebnisse haben würden. Zwanzig Menschen aller Altersgruppen, mit verschiedenen Berufen, verschiedenen Interessen, verschiedenen Erfahrungen. Alle Augen waren jetzt auf Heiko gerichtet. Als er anfing zu sprechen, holte ich leise die Teilnehmerliste und einen Stift aus meiner Tasche. Vielleicht würde ich schon erfahren, wer wer sei, und es mir merken können. Eine gute Reiseleiterin mußte ja ihre Schützlinge auseinanderkennen! Heiko erklärte, daß er eigentlich vorgehabt hätte, nach der Ankunft in Nairobi die Gruppe zu sammeln und die Teilnehmer etwas zu orientieren. Aber da wir nun diese nicht eingeplante Wartezeit hätten, fände er, es wäre ganz praktisch, sie auszunutzen. Für die, die zum ersten Mal nach Afrika kämen, würden sich ein paar Probleme ergeben. Dann erzählte er kurz und klar, wie man die Bedienung anreden solle, wann und wieviel Trinkgeld angemessen sei, er orientierte über Postverbindungen und Porto, erzählte, wie und wann die Mahlzeiten serviert wurden, also lauter praktische Sachen. „Wenn jemand Fragen hat, bitte ich Sie…“ „Was ist mit Andenken?“ wollte jemand wissen. „Gibt es hübsche Dinge und sind sie teuer?“
„Ich glaube, da ist meine Frau zuständig“, nickte Heiko rüber zu mir auf der anderen Seite des Tisches. Der liebe Heiko! Er wußte genauso gut Bescheid wie ich, aber er wollte mir die Gelegenheit geben, meine Unentbehrlichkeit zu beweisen. Also erzählte ich über die reizenden handgeschnitzten Holzsachen, die Tierchen, die Brieföffner, die Salatbestecke und so weiter. Dann erwähnte ich die schönen Schmuckstücke aus afrikanischen Steinen, die Silberarbeiten und die herrlichen Tierfotos und Aquarelle. Dann erklang es von einer der Damen: „Wissen Sie vielleicht, ob man einen Leopardenpelz da unten günstig kaufen kann?“ Ich drehte den Kopf mit einem Ruck und merkte im Bruchteil einer Sekunde, daß eine andere – eine etwas ältere Dame mit ein paar klugen Augen in einem schon faltigen Gesicht – genau dasselbe tat. „Nein“, sagte ich. „Da weiß ich nicht Bescheid.“ „Der Leopard steht unter Naturschutz“, erklärte Heiko kurz. „Ich glaube, Sie wollten etwas fragen, gnädige Frau?“ Er lächelte einer anderen Teilnehmerin zuvorkommend zu. „Ja, Herr Doktor, wissen Sie, ob man in den Lodges Schmalfilme bekommen kann? Ich wollte ja noch welche in Flensburg kaufen…“ Ich kritzelte schnell etwas auf meine Teilnehmerliste. Wir hatten nur eine Dame aus Flensburg. Ich guckte sie schnell an und notierte neben ihrem Namen: „Stirnlocke, braune Augen“ (noch ein schneller Blick) „Korallenring links“. Meine Notizen hatte ich schlauerweise auf norwegisch gemacht. Ich würde bald die achtzehn auseinanderhalten! Heiko lachte sich nachher schief, als ich ihm meine Anmerkungen übersetzte: „Kahlköpfig, scheußliche rotgemusterte Krawatte“ – „gefärbte Haare, Brille ohne Fassung“ – „mager, klein, Muttermal linke Wange“ – „dick, rot, Schmiß am Kinn“ und immer so weiter. Acht Personen hatte ich nun identifiziert durch Bemerkungen, die sie gemacht hatten. Aber wer war wohl diese ältere Dame mit dem ruhigen Gesicht, mit den guten, klugen blauen Augen? Na, ich würde es schon rausbekommen! „Die Fluggäste nach Entebbe-Nairobi werden gebeten, sich zum Ausgang zu begeben.“ „Die mit den Augen“, wie ich sie so ganz für mich nannte, bückte sich nach ihrer blauen Tasche, aber ich war schneller.
„Darf ich Ihnen behilflich sein, gnädige Frau?“ „Oh, das ist nicht nötig – vielen Dank – ich kann schon selbst –“ „Aber Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich annehme, daß ich ein bißchen jünger als Sie bin?“ sagte ich und nahm die Tasche. Sie lächelte, und das Lächeln machte ihr gealtertes Gesicht hübsch. Wir gingen nebeneinander zum Flugzeug. Ein paar Meter vor uns wanderte die Leopardenpelzdame. „Wenn die bloß nicht morgen losläuft und einen Leopardenmantel kauft“, sagte ich leise. „Keine Sorge“, sagte „die mit den Augen“. „Morgen ist Montag, es ist Bank Holiday in Nairobi, alle Geschäfte sind zu. Sie muß warten, bis wir in Serengeti gewesen sind, und ich glaube schon, daß man sie dort umstimmen kann, am besten im Museum in Seronera.“ „Sie sind schon öfters in Afrika gewesen?“ fragte ich. „Ja“, sagte die Dame. „Sehr oft.“ Dann waren wir an der Treppe, und einige Minuten später heulten die Triebwerke auf. Die schwere Maschine erhob sich. Ich drehte den Kopf und traf Heikos Blick. „Kleine Impala“, flüsterte er. Dann nahm er meine Hand und küßte sie.
„Die mit den Augen“ Es ist schön, wenn man zum ersten Mal ein neues Land oder eine neue Stadt betritt. Es ist aufregend und spannend, einen neuen Flughafen zu sehen, in einem neuen Hotel zu wohnen. Es ist herrlich, wenn man anfängt, die Eindrücke zu sammeln, aus denen einmal wunderschöne Erinnerungen werden sollen. Jetzt stellte ich fest, daß es etwas gibt, was noch schöner ist: Zu einem Ort zurückzukommen, an dem man unbeschreiblich glücklich gewesen ist. Das alles wiederzusehen, woran man immer gedacht und wonach man sich immer gesehnt hat. Ich mußte mich gewaltig zusammennehmen, um meine Pflichten nicht zu vergessen. Die Erinnerungen und mein persönliches Glücksgefühl mußte ich mir bis zum Abend aufheben, wenn ich endlich mit Heiko allein sein würde! Drei Kleinbusse mit Schildern „Tellus-Touren“ warteten vor der Ankunfthalle. Ich wollte so gern im Bus mit der Dame „mit den Augen“ fahren. Es gelang mir auch. Und wieder mußte ich staunen. Als sie unseren Fahrer erblickte, reichte sie ihm lächelnd die Hand: „Jambo, Francis! How are you?“ Die dunklen Augen des jungen Fahrers strahlten, als er ihr die Hand drückte. „Jambo, my lady! Very nice to see you again!“ Sie legte einen Finger auf den Mund, sagte leise ein paar Worte auf Suaheli, und Francis nickte mit einem „Aha!“-Ausdruck in den Augen. Nanu, dachte ich. Wieso mylady? Warum nicht nur einfach „madam“? Jetzt war ich wirklich neugierig. Während wir darauf warteten, daß das Gepäck verstaut wurde, sagte ich zaghaft: „Verzeihung, gnädige Frau, ich bin ja die Assistentin meines Mannes und müßte eigentlich die verschiedenen Reiseteilnehmer kennenlernen – ich weiß nicht, welcher Name auf der Liste zu Ihnen gehört.“ „Keiner“, lächelte sie. „Sie können den Namen da streichen“ – sie zeigte auf die Liste. „Doktor Jürgens wurde krank, und ich habe in der letzten Sekunde seinen Platz übernommen. Mein Name ist
Robinson.“ „Das klingt so englisch“, sagte ich. „Ist es auch. Mein verstorbener Mann war Engländer.“ „Oh, dann sprechen Sie bestimmt genauso gut englisch wie deutsch?“ „Das glaube ich schon. Sie vielleicht auch?“ „Nun ja, ich glaube, ich kann englisch etwas besser, obwohl ich mir redlich Mühe mit dem Deutschen gebe.“ „Sie sind Skandinavierin?“ „Ja. Norwegerin.“ „Ach, dann haben Sie aber ein schönes Vaterland! Ich bin mal dort gewesen, es ist aber lange her.“ Ich mußte mich um die fünf weiteren Fahrgäste kümmern, die allmählich den Kleinbus füllten. Dann ging es zum Hotel, da war alles vorbereitet, und es gelang uns ohne Schwierigkeiten, unsere Schützlinge und deren Gepäck in die bestellten Zimmer zu verteilen. Jetzt merkte ich, wie müde ich war. Keine Sekunde Schlaf die ganze Nacht, und dann die letzten ereignisreichen Taget Ob wir wohl heute nachmittag etwas schlafen konnten? „Du jedenfalls“, sagte Heiko. „So wie du jetzt aussiehst, möchte ich dich nicht der Gruppe vorführen.“ „Das kann ich gut verstehen“, nickte ich. Ich hatte nämlich grade das Kleid ausgezogen und ließ alles, was ich sonst anhatte, fallen, um unter die Brause zu gehen. „Ich dachte an deine Gesichtsfarbe“, sagte Heiko. „Ich habe doch schon immer gesagt, daß Grün dir nicht steht.“ Ich hielt durch bis nach dem Lunch, dann sank ich ins Bett. Kurz darauf kam Heiko auch. „Alles in Ordnung“, meldete er strahlend. „Die Gruppe ist ganz einverstanden, heut nachmittag wird geschlafen, damit wir morgen mit frischen Kräften losfahren können. Ich habe versprochen, heute abend nach dem Essen .Sprechstunde’ abzuhalten, unten in der Lounge, bis dahin dürfen wir Privatmenschen sein. – Blöde Einrichtung“, fügte er hinzu als er ans Bett trat. „Wer, was ist blöde? Das Essen oder die Sprechstunde?“ „Das Bettaufstellen. Hast du in deinem Leben so was Idiotisches gesehen? Ein Tisch zwischen den Betten, wie soll man da seiner kleinen Frau das Händchen halten können?“ „Tisch wegschieben“, murmelte ich schläfrig. „Betten einfach zusammenrücken.“
„Tu ich heut abend. Du, sag mal, wer ist die alte Dame, mit der du dich unterhalten hast?“ „Sie steht nicht auf der Liste. Ist im letzten Augenblick dazugekommen, statt Dr. Jürgens. Sie heißt Robinson.“ Heiko sank ins Bet und gähnte herzhaft. Dann runzelte er die Stirn. „Warte mal – Robinson – Robinson – , wo habe ich bloß den Namen gehört – in Verbindung mit – mit – “ „Crusoe“, sagte ich mit meinen letzten Kräften. Dann fielen mir die Augen zu, und die Welt mußte für ein paar Stunden mit ihren Problemen allein fertig werden, ohne jegliche Hilfe von ReiseleiterAssistentin Sonja Brunner, geborene Rywig. Als ich aufwachte, war es dunkel. Wo in aller Welt – war es Nacht oder war das Rollo runtergezogen, und warum war ein leerer Raum neben meinem Bett? Ich hatte abgrundtief geschlafen. Allmählich kam ich zur Besinnung, suchte in der Dunkelheit den Lichtschalter und fand ihn endlich. Vom anderen Bett kam ein Grunzen. „Was ist denn mit dir los?“ „Hunger“, sagte ich. „Du mußt wach werden, Heiko, es ist schon halb acht.“ „Alter Sklaventreiber“, murmelte Heiko, warf sich auf die andere Seite, um mir näher zu kommen – und fiel mit einem Bums auf den Fußboden! Ich lachte Tränen. Er krabbelte hoch, zog energisch meine Bettdecke weg und versetzte mir einen herzhaften Klaps auf den Hintern. „Ich werde dich lehren, einen würdigen Doktor auszulachen!“ Im nächsten Augenblick hatte ich seine Arme um mich, und wir küßten uns und waren unsagbar glücklich, weil wir einander hatten, weil wir uns liebten und weil wir in Afrika waren! Dann hieß es sich korrekt und dezent anziehen, unsere Anstecknadeln mit „Tellus-Touren, Reiseleiter“ „Reiseleiter-Assistentin“ anpieksen, Haare kämmen und das freundliche Reiseleiterlächeln im Gesicht festkleben. Ein paar der Reiseteilnehmer sprachen kein Englisch. Wir gaben uns alle Mühe, die Leute so zu verteilen, daß an jedem der fünf Tische mindestens eine englischsprechende Person saß. Was es alles für ein Reiseleiter-Ehepaar zu bedenken gab! Endlich konnten wir an uns selbst denken. Wir bekamen einen
winzigen Zweipersonentisch an der Wand. Allmählich war der Speisesaal voll geworden. Ich sah mich um. Wo in aller Welt war die mit den Augen – Frau Robinson? Sie war doch nicht etwa krank? – Nein, Gott sei Dank, da kam sie gerade zur Tür rein. Sie blickte um sich – kein freier Platz. Heiko schoß hoch wie Aladins Lampengeist. „Bitte, gnädige Frau, nehmen Sie meinen Platz, ich hole mir einen Stuhl und setze mich dazu.“ Sie lächelte ihr hübsches Lächeln, und dann hatte ich sie mir gegenüber. Sie warf einen Blick auf die Speisekarte, und als der Ober kam, sagte sie: „Nataka kula kidogo tu.“ Soviel verstand ich. Sie wollte nur eine Kleinigkeit essen. Aber die Antwort des Obers war mir unverständlich, ich hatte nur das Gefühl, daß er Fische empfahl. Nun ja, dachte ich. Kannst du, kann ich auch. Dann holte ich tief Luft und betete, daß es einigermaßen korrekt ausfallen würde: „Tafadhali, nipe sarara na mboga!“ Der Ober sah gar nicht erstaunt aus. Er notierte und hatte es anscheinend richtig verstanden, denn er brachte mir tatsächlich Filet mit Gemüse! Wer aber erstaunt aussah, war Frau Robinson. „Nun sagen Sie bloß – wie in aller Welt – oh, entschuldigen Sie, es geht mich ja gar nichts an!“ „Wie ich zu Suaheli komme? Ich habe es seit einem Jahr fleißig gelernt. Mein Mann kann es aber viel besser.“ „Waren Sie denn so oft hier unten?“ „Nein, nur einmal, mein Mann zweimal. Aber wir hatten ja immer die Hoffnung, wieder herzukommen. Mein Mann wollte so gern hier arbeiten.“ „Das dürfte schwer sein.“ „Das wissen wir auch – jetzt. Nachdem mein Mann seit Jahren nur mit dem einen Ziel vor Augen gearbeitet hat: sich bestmöglich für ein Leben in Afrika zu rüsten. Na, da kommt er ja, einen Stuhl hat er sich auch organisiert!“ Dann sprachen wir von dem morgigen Programm. Wir würden ganz früh starten, über den Äquator fahren, in einem schönen Hotel essen, und dann sollte es weitergehen, steil nach oben, in den Busch, zu einer primitiven Hütte mit dem verheißungsvollen Namen „Secret Valley“ – „Das geheimnisvolle Tal.“
Ich hatte mich natürlich gründlichst informiert und wußte, daß man da oben mit neunundneunzig Prozent Sicherheit Leoparden zu sehen bekommen würde. Das wünschte ich mir so brennend! Denn bei der Safari damals hatten wir keinen einzigen gesehen. Das erzählte ich Frau Robinson. „Ja“, nickte sie. „Die herrlichen Leoparden, die werden immer seltener. Aber in Secret Valley werden wir sie schon erleben. Nur braucht man sehr viel Geduld.“ „Sie waren schon da oben, gnädige Frau?“ fragte Heiko. „O ja, gewiß. Sie können sich darauf freuen, falls Sie sich auf primitiv einstellen können. Keine richtigen Zimmer, nur winzige Kabäuschen. Kein Bad, sondern ein gemeinsamer Waschraum.“ „Das macht doch nichts! Um Leoparden sehen zu können, würde ich herzlich gern auf dem Fußboden schlafen und mich in einer Teetasse waschen!“ Frau Robinson lächelte. „Gute Aufnahmen können Sie auch machen, falls Sie einen superempfindlichen Film haben. Wenn nicht, kann ich Ihnen einen überlassen, ich komme morgen doch nicht zum Fotografieren, mein Apparat streikt dummerweise. Ich muß sehen, daß ich ihn reparieren lassen kann, während wir oben sind.“ „Soll ich vielleicht einen Blick darauf werfen?“ erbot sich Heiko. „Verstehen Sie denn etwas davon, Herr Doktor?“ „Mein Mann hat die Gesellenprüfung als Fotograf“, beeilte ich mich sie aufzuklären. Wieder glitt ein erstaunter Ausdruck über ihr freundliches, intelligentes Gesicht. Während wir auf den Nachtisch warteten, holte sie den Apparat. „Vielleicht nehmen Sie ihn nachher nach oben“, schlug sie vor. „Hier ist das Licht so schlecht.“ Ich bemerkte, daß sie ein paarmal Heiko aufmerksam betrachtete. Als ob sie sich besonders für ihn interessierte. Das konnte ich gut verstehen. Meiner Meinung nach müßte jede Frau auf der Welt sich für Heiko interessieren, ob sie fünfzehn oder fünfundsiebzig wäre!
Das geheimnisvolle Tal Wir waren unterwegs. Wir hatten wie die Murmeltiere geschlafen und waren jetzt frisch und gut aufgelegt. Ich hatte meiner kleinen Gruppe erklärt, ich würde mein Bestes tun, um alle Fragen zu beantworten, und was ich nicht wüßte, würden wir nachher von meinem Mann erfahren. Morgen würde er in diesem Wagen mitfahren, übermorgen müßten sie ohne Führer zurechtkommen, und dann war ich wieder an der Reihe. Wir hatten ja drei Autos und mußten immer wechseln „von wegen der Gerechtigkeit“, wie mein Angetrauter sich ausgedrückt hatte. Ich hatte fünf Personen zu betreuen: zwei junge Männer mit Namen Roeder und Krause, sie waren Freunde und fußballbesessen. Auf der ganzen Reise hatten sie einen Fußball mit, und wo wir auch eine Pause oder eine Übernachtung hatten, flog der Ball zwischen ihnen. Dann eine Lehrerin aus Schleswig-Holstein, sie hatte immer ein dickes Notizbuch bei sich und machte Aufzeichnungen, hatte tausend Fragen; aber es waren immer vernünftige Fragen, die ich gern beantwortete. Wenn ich nicht so richtig Bescheid wußte, half mir Frau Robinson, die gute Seele. Neben der Lehrerin saß ein bildschöner Mann in den Dreißigern. Er hatte einen funkelnagelneuen Safarianzug, eine ganz tolle Filmkamera und einen sehr schönen Feldstecher. Neben dem Namen „K. Braun“ und Titel „Kaufmann“ hatte ich auf meine Teilnehmerliste als Gedächtnisstütze gekritzelt: „Filmtyp, feine Kamera.“ Aber, wie gesagt, auf norwegisch! Und dann hatte ich also die „mylady“, die sich schlicht und einfach Frau Robinson nannte. Ich mochte sie sehr gern. Auf dieser Strecke gab es längst nicht so viele Tiere zu sehen, wie ich gehofft hatte. Nur hin und wieder ein paar Gazellen, dann eine einsame Giraffe, etwas später schließlich zwei Impalaantilopen. Aber jedesmal, wenn ein Tier auftauchte, mußte Francis halten, damit unser Filmtyp seine Kamera betätigen konnte. Und jedesmal fragte er nachher: „Was war das nun für ein Viech?“ Er hatte anscheinend keine Ahnung. Wie war die Natur doch ganz anders als voriges Jahr! Damals war alles frisch grün gewesen und die Straßen zum Teil ganz aufgeweicht vom Regen. Jetzt war das Gras dürr und gelb, die
Straßen waren beileibe nicht aufgeweicht, sie waren im Gegenteil voller Staub! Bald waren wir von oben bis unten mit der roten Erde gepudert, die ich an sich so liebe. Aber nach dieser Fahrt hatte ich gelernt, sie mehr zu lieben, wenn ich darauf trat, als wenn sie als roter Staub auf meiner Haut und meiner Kleidung lag. Wir machten Lunchpause in dem wunderbaren „Outspan Hotel“. Alles klappte wie am Schnürchen, zwei große Tische waren für die „Tellus-Touren-Gruppe“ reserviert, und das Essen war ein Gedicht. Hier lernten unsere Schützlinge das köstliche ostafrikanische kalte Buffet kennen, und was in der ersten Stunde an frischer Ananas, gemischtem Obstsalat, Geflügel, Pastetchen und kaltem Fleisch verputzt wurde, war unglaublich. Endlich konnte ich auch ein paar Worte mit Heiko wechseln. Er warf einen Blick auf meinen Teller. „Leichtsinniges Huhn“, drückte er sich aus. „Erdbeeren hast du genommen!“ „Heiko, das kann ich doch nicht lassen – es sind ja Walderdbeeren, so was Schönes!“ „Und später kannst du in dein Tagebuch schreiben: Am 28. Juli holte ich mir unterwegs nach Secret Valley meinen Typhus!“ „Heiko“, sagte ich kleinlaut: „Deine Warnung kommt zu spät. Es ist schon meine zweite Portion!“ Wir tranken Kaffee im herrlichen Park, der Filmtyp rannte rum wie ein Rasender und machte Filmaufnahmen, was übrigens bestimmt lohnend war, denn so schöne und farbenprächtige Blumen und Sträucher hatte ich nie gesehen. Die beiden Jünglinge aus meinem Wagen spielten Fußball auf dem Rasen. Heiko beantwortete Fragen, die Sonne strahlte, und die Stimmung war ausgezeichnet. Es ging weiter. Ich hatte die Karte über diese Strecke so intensiv studiert, daß sie sozusagen an meiner Netzhaut klebte. Außerdem halfen mir Francis und Frau Robinson wunderbar. Wenn bloß die beiden anderen Fahrer auch so hilfsbereit sein würden! Ich konnte erzählen, wann wir 2000 Meter über dem Meeresspiegel waren und wann wir – hoffentlich! – den Gipfel von Mount Kenya zu sehen bekommen würden. Die Tiere, die wir hin und wieder sahen, machten mir keine Schwierigkeiten. Da kannte ich mich aus! Dann kam der große Augenblick, wo wir den Äquator überquerten. Sehr feierlich war der Punkt nicht vermerkt, nur mit einem großen gelben Schild, aber Francis tröstete uns: In Uganda würden wir es viel schöner erleben.
Mount Kenya war freundlich, oder vielmehr, Petrus war es: Er schob alle Wolkenvorhänge zur Seite und ließ uns den schneebedeckten, sonnenbestrahlten Gipfel sehen. Dann waren wir in Nanyuki, und unsere kleine Wagenkolonne hielt vor einem hübschen, niedrigen weißen Gebäude. Es gab eine schnelle Tasse Tee und ein bißchen Beinevertreten. Ein bildhübsches Mädchen von etwa zwölf Jahren begrüßte Frau Robinson strahlend. Sie wechselten ein paar Worte, das Mädchen rannte ins Haus und kam raus mit einem winzigen, molligen Etwas in den Händen. Sie gab es Frau Robinson. Die streichelte es mit einem Finger und machte mir ein Zeichen, ich sollte näher kommen. „Oh!“ rief ich. „Das ist doch ein Buschbaby! Ich habe so was im Fernsehen gesehen. Nein, wie ist es niedlich!“ Ich durfte den kleinen Kerl einen Augenblick halten, Heiko machte schnell eine Aufnahme, und ich stellte das reizende Tierchen mit den großen runden Augen auf die Erde. Mit Riesensprüngen verschwand es, zurück ins Haus. Das Mädchen war eine kleine Inderin, erzählte Frau Robinson, die Tochter des Hotelmanagers. Das Buschbaby hatte sie vor einem Jahr bekommen und liebte es heiß und innig. „Das kann ich verstehen!“ nickte ich. Dann erzählte ich von unseren Zwergbilchen, wie sie monatelang unseren ganzen täglichen Rhythmus bestimmt hatten und daß Heiko sie in seiner Doktorarbeit verewigt hatte. „Es wäre überhaupt schön, wenn man auch etwas vom Kleingetier in Afrika zu sehen bekäme“, meinte ich. Frau Robinson nickte. „Ja, aber dazu gehört viel Glück. Und die meisten Menschen, glaube ich, denken nicht daran, was für entzückende Geschöpfe in Höhlchen und Bäumen leben. Sie fahren nach Afrika, um Löwen und Elefanten zu sehen, und vergessen…“ „die kleinen Feinheiten der Natur?“ schlug ich vor. Sie lächelte. „So kann man es vielleicht ausdrücken. Nanu, Sie seufzen so tief, Frau Brunner?“ „Oh, tat ich das? Ich dachte nur an meinen Mann, der so wahnsinnig gern grade das Kleingetier studieren möchte. Die Nager und Schläfer, ja, und auch die kleineren Raubtiere – und die Kleinböckchen und so was alles.“ Wieder bekamen die schönen Augen von Frau Robinson diesen
wachen, interessierten Ausdruck. „Wirklich? Ist das sein Wunsch? Ach, ich glaube, es ist soweit, wir müssen einsteigen!“ Ein merkwürdiges Gefährt, eine Kreuzung zwischen Bus und Landrover, wartete auf uns. Im Führerhaus saß ein großer, kräftiger Mann mit einem imposanten roten Vollbart in seinem sonnenbraunen Gesicht. An seiner einen Seite hatte er ein großes Gewehr, an der anderen saß ein Junge von 13 bis 14 Jahren, sehr europäisch anzusehen. Es war schön, daß wir alle nun in einem Wagen waren. Jetzt konnte ich abschalten und meinem geplagten Mann die ganze Führung überlassen. Es ging aufwärts, auf einem schmalen, steinigen Weg, und es wurde immer enger. Ja, jetzt waren wir wirklich im afrikanischen Busch. Nach einer Weile hielt unser Rotbart an. Der kleine Junge sprang hinaus, holte etwas aus einem seitlich angebrachten Gepäckraum und fummelte mit einer langen Leine. Ich beugte mich raus. Da sah ich es: Er hatte einen riesengroßen Fleischbatzen an der Leine befestigt, und als wir jetzt weiterfuhren, schleppten wir ihn mit. Klar! So lockten sie die Leoparden an! Der Weg wurde noch enger – noch enger – , der Buschwald an beiden Seiten noch dichter – , und dann hielt der Wagen. Der Rotbart nahm sein Gewehr, sammelte uns, wie eine besorgte Henne ihre Küken sammelt, und erklärte, wir müßten alle ganz dicht hinter ihm bleiben. Nur wenige Schritte, dann tauchte ein hölzernes Haus auf. Es erinnerte mich lebhaft an eine norwegische Skihütte im Gebirge. Nur die Umgebungen waren anders. So ganz anders. All dies Dichte, Dunkelgrüne – was mochte wohl darin alles leben, vielleicht nur ein paar Meter von uns entfernt? Um das ganze Haus ging eine Art Veranda, breit und geräumig. Von dieser Veranda führten viele kleine Türen in die Schlaf räume – ja, das waren winzige Kabäuschen, ohne Fenster, mit einem ganz kleinen Tisch und zwei schmalen Bettstellen, das war alles. Ich bezweifelte aber sehr, daß wir dazu kommen würden, die Betten zu benutzen. Vielleicht würden wir die ganze Nacht aufbleiben und auf die herrlichen gefleckten Großkatzen warten. In der Mitte des Hauses war ein großer Aufenthaltsraum, wo zwei lange Tische gedeckt waren. Wir hatten eben noch Zeit, uns die
Hände zu waschen und die Haare zu kämmen, und schon gab es Abendessen. Rotbart saß am Tischende, seine wachen Augen paßten auf, daß alles reibungslos verlief. Freundliche schwarze Stewards stellten die Suppenteller auf. Dann räusperte sich Rotbart und sprach uns an, übrigens in einem so vorbildlich schönen Englisch, daß man es mühelos verstehen konnte. Er erklärte uns, wie dieses Haus entstanden war, was man damit bezweckte und wie wir uns verhalten müßten, um das Wild, vor allem die Leoparden, zu sehen zu bekommen. Dazu brauchten wir zweierlei: Geduld – und absolute Ruhe! Kein Sprechen, keine Geräusche – und wir müßten darauf gefaßt sein, daß die Leoparden vielleicht erst um Mitternacht kämen, vielleicht noch später. Manchmal kämen sie schon gegen 21 Uhr, manchmal gegen 4 Uhr morgens „and sometimes they don’t come at all!“ Ja, wir hatten ja auch da unten im Hotel bei dem Buschbaby ein Papier unterschreiben müssen: Wir verpflichten uns dazu, niemanden verantwortlich zu machen, falls wir keine Leoparden zu sehen bekämen! Mit anderen Worten, wir waren riesig gespannt. Nach dem sehr guten Essen und einer Tasse vorzüglichem Kenya-Kaffee vor dem offenen Kamin bezogen wir also Wache auf der Veranda. Jetzt hatten wir Gelegenheit, alles richtig zu studieren: die vielen riesengroßen Scheinwerfer, an die die Tiere sich gewöhnt hatten und die es uns ermöglichten, zu filmen und zu fotografieren. All die bequemen Sessel, das durchlaufende Abstellbord mit Aschenbechern darauf, alles war in seiner Einfachheit durchdacht und schön! Dann setzten wir uns hin, schauten hinaus und schwiegen. An der einen Seite des Hauses, sechzehn Meter vor der Hauswand – erklärte Rotbart – , war auf drei hohen Baumstämmen eine Art Gerüst befestigt, und darauf lagen enorme Fleischstücke. Drei große Scheinwerfer waren direkt darauf gerichtet. Ja, wenn die lieben Muschis bloß kämen, dann würden wir sie jedenfalls deutlich sehen können! Nach der anderen Seite öffnete sich das geheimnisvolle Tal. Es war eine Lichtung im dichten Wald. Da unten war eine Tränke, da waren Salzlecken und Stellen für besondere Leckerbissen, mit denen man die Tiere aus dem Wald lockte. An der dritten Seite fing das dichte Gebüsch wieder an, und die vierte Hausseite lag ganz dicht an
der steilen Böschung, von wo wir gekommen waren. Es war ganz dunkel und ziemlich kühl. Ich zog die Strickjacke an, die anderen Reisenden folgten meinem Beispiel. Wir hatten das Wesentlichste von Rotbarts Rede unserer Gruppe übersetzt. Wir hatten uns überzeugt, daß alle gut untergekommen waren, hatten sie ermahnt, sich warm anzuziehen – und somit konnten wir uns erlauben, für ein Weilchen Privatmenschen zu sein. Endlich konnte Heiko sich neben mich setzen, und wir konnten sogar im Schutze der Dunkelheit ein bißchen Händchen halten. „Da – “, flüsterte Heiko. Ein Scheinwerfer sandte einen strahlenden Lichtkegel auf das Ufer der Tränke. Und siehe da: Ein paar Büffel, noch einige, noch mehr – zuletzt stand ein ganzes Rudel da, einige leckten Salz, andere tranken, ein paar schubsten sich freundschaftlich – und wir saßen atemlos da und starrten. Allmählich gab es mehr anzustarren. Aus dem Busch, aus der Dunkelheit, aus der Nacht selbst traten schattenhafte Gestalten hervor, kamen langsam ins Scheinwerferlicht, nahmen Formen und Konturen an, aus den Schatten wurden lebendige, herrliche Tiere mit weichem Fell, mit schönem Gehörn, mit blanken Augen, mit Muskeln und warmem Leben. Wasserböcke – dort ein paar Antilopen – da – ja, tatsächlich, ein Nashorn – nein, zwei! Da ein Tier, das ich bis jetzt nicht gesehen hatte, auch nicht im vorigen Jahr. „Buschböcke“, flüsterte Heiko. Aber an der Seite der Leopardenköder war nichts zu sehen. Der kleine Junge vom Auto kam auf leisen Sohlen und bot uns Erfrischungen an. Es war ein hübsches, aufgewecktes Kind. Ich fragte Rotbart, ob es sein Sohn sei. Nein, es sei der Sohn eines kürzlich verstorbenen Freundes von ihm, eines „Game Warden“, der von Wilderern erschossen worden sei. Der Junge war sonst in einer Internatschule in England, jetzt machte er aber Ferien in Afrika, bei Rotbart und bei anderen guten Freunden des Vaters. So konnte es also einem Game Warden ergehen! Ein paar gemeine Wilddiebe konnten einem nützlichen, positiven Leben ein jähes Ende machen, einem reizenden Kind den Vater, einer jungen Mutter den Ehemann brutal wegreißen. Es war der Beruf, den Heiko so gern gehabt hätte. In diesem Augenblick war ich direkt froh, daß er den Plan hatte aufgeben müssen!
Die Stunden vergingen. Die Tiere da unten lösten sich ab, wunderbar waren sie anzusehen. Und dann diese wohltuende Stille und der sterndunkle Himmel über uns. Die ganze, mit Worten nicht faßbare Schönheit der afrikanischen Nacht. Nach einer Weile knackte und krachte es am anderen Ende des Hauses. Wir schlichen leise hin zu der Seite, wo der Busch bis zur Hauswand wucherte. Ein Scheinwerfer wurde eingeschaltet. Da sahen wir den Krachmacher: Ein mächtiger Elefant brach Zweige ab, stieg durch das Gebüsch, kam immer näher, ohne sich im geringsten vom Lichtkegel stören zu lassen. Ich hatte schon Elefanten im Ngorongorokrater gesehen, und doch beeindruckte mich dieses Tier enorm. So nahe – so zum Greifen nahe – so groß und so schön! Ein mächtiges, wuchtiges Stück gottbegnadeter Natur – ein König des afrikanischen Busches, genauso imposant wie seine Kollegen in der Savanne. Die Stunden vergingen. Die meisten Gäste waren müde. Es war still, kaum ein Flüstern war zu hören. Ein paar der Gäste hatten sich zurückgezogen, nachdem Rotbart versprochen hatte, sie zu wecken wenn – oder falls – der Leopard kam. Heiko und ich blieben sitzen. Dann fühlte ich eine Hand auf meiner Schulter. „Kommen Sie, Frau Brunner. Ich zeige Ihnen was.“ Es war Frau Robinson. Ich ging mit ihr bis zur entferntesten Ecke der Veranda. Sie legte den Finger auf den Mund und zeigte. Ja – da – ganz nahe, auf einem Scheinwerfer der augenblicklich nicht in Betrieb war, saß etwas – etwas Lebendiges – , es ähnelte einem Eichhörnchen. Es drehte das niedliche Köpfchen, ich sah die Augen – dann machte es einen eleganten Sprung aufs Verandageländer, wo es anfing, ein paar liegengebliebene Krümel zu sammeln. Heiko stand hinter mir. Er nahm leise meine Hand, sagte kein Wort. Ein paar Minuten blieb das schöne Tier sitzen, dann verschwand es wieder in die Dunkelheit hinein. „Ein Baumhörnchen“, erklärte Heiko. „Auch einer meiner Lieblinge.“ „Ich glaube, mein Mann würde am liebsten ein Jahr im Busch verbringen, um lauter Hörnchen und Bilche und so was zu studieren“, flüsterte ich. „Tausend Dank, daß Sie uns geholt haben, Frau Robinson.“
Sie nickte, lächelte und setzte sich so, daß sie den Leopardenplatz im Auge hatte. Wir setzten uns dazu, und wir schwiegen zusammen und waren glücklich zusammen – und verstanden uns ohne Worte. Dann geschah es. Ein Schatten, ein weiches, geschmeidiges Etwas kam irgendwie aus dem Nichts hervor. Frau Robinson drückte einen Augenblick meinen Arm, Heiko stand vom Sessel auf. Noch ein Scheinwerfer wurde eingeschaltet. Die Baumstämme mit den Ködern waren hell bestrahlt. Jetzt kamen auch die anderen Gäste aus den Schlafräumen, erschienen müde, zerzauste Gestalten. Aus dem weichen, schleichenden Etwas wurde etwas Festes, Handgreifliches. Ein Katzentier, prachtvoll anzusehen, überirdisch schön, vollkommen harmonisch gebaut, wunderbar in den Bewegungen. Es sprang auf den Baum, kletterte geschickt hoch – und da stand es auf dem Gerüst und begann, an dem Fleisch zu zerren. Fotoapparate machten Klick, Filmkameras surrten leise. Das Tier ließ sich nicht stören. Und da – da unten – da war noch ein Schatten! Ja, es war ein zweites Tier, diesmal etwas kleiner. Bald hatten wir beide vor uns im hellen Licht. Wie wunderbar war das Fell – so glatt, daß man die Muskelbewegungen sehen konnte, die kräftigen Hinterbeine beim Klettern, die Halsmuskeln beim Kauen. Und dann der lange, schöne Schwanz. Der fein geformte, runde Katzenkopf, die kräftigen Pranken – es war ;ine solche Schönheitsoffenbarung, daß mir einfach ein Kloß in den Hals kam. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte. Ich ahne nicht, wie lange wir so gestanden hatten, als die Tiere heruntersprangen und wieder im Busch verschwanden. Wir sagten uns gute Nacht. Es war halb vier morgens geworden. Am folgenden Morgen starteten wir schon um sieben. Wir hatten einen langen Tag vor uns. Wir bekamen ein solides Frühstück im Sportman Arms Hotel, ich durfte wieder das Buschbaby begrüßen, und dann ging es ohne Zwischenpause nach Nairobi, wo wir grade rechtzeitig zum Lunch ankamen. Auf dieser Strecke hatte Heiko „meinen“ Wagen vom Vortage zu betreuen. Als wir uns zu einem sehr notwendigen Mittagsschlaf hinlegten, sagte Heiko: „Übrigens, mein Kompliment, holdes Weib. Deine Leutchen waren ja derart im Bilde, daß ich ihnen nichts Neues
erzählen konnte. Immer, wenn ich meine Weisheit auspackte, sagten sie: ,Ja, das hat unsere Reiseleiterin schon gestern erzählt.’ – Ja, das habe ich mir schon aufgeschrieben.’ Übrigens, dieser glattgeleckte Filmtyp sagte etwas von dem ,jungen Mädchen’, er hatte einfach nicht mitgekriegt, daß du meine mir vor Gott angetraute Frau bist.“ „Hast du ihn denn aufgeklärt?“ „Na klar! Dann musterte er mich von oben bis unten und sagte: ,Sie sind also Doktor Brunner’, als ob er meinte, einen Doktor hätte er sich ganz anders vorgestellt!“ „Hast du ihm denn erzählt, daß dein Doktortitel erst vier Tage alt ist?“ fragte ich. „Nee. Das habe ich total vergessen zu erwähnen“, sagte mein Herr und Gebieter. Er fiel ins Bett, zog die Decke bis zur Nasenspitze hoch, und eine Minute später schlief er fest.
Wiedersehen mit dem Glück Wie war doch alles anders als das letztemal! Diese Trockenheit, dieser Staub! Meine blütenweiße Bluse war nach ein paar Stunden rotbraun, nach weiteren zwei Stunden schwarz. Das Schwarze kam von den Grasbränden. Es war ein trostloser Anblick: Weite Strecken standen in Brand, andere lagen schwarz und verkohlt da, und Asche und Staub vermischten sich mit dem roten Sand und wirbelten uns ins Gesicht, blieben an unserer Kleidung haften. Ich hatte über diese Brände gelesen und konnte meine Gruppe orientieren. Die Eingeborenen brennen das Gras ab, damit das neue schneller wächst. Aber dabei verbrennen sie das ganze Kleingetier, Schlangen und Schildkröten kommen jämmerlich ums Leben, und auf die Dauer wird auch der Humusboden zerstört. Wir waren unterwegs durchs Massaireservat, da, wo wir voriges Jahr unsere denkwürdige Fahrt durch Lehm und Schlamm gehabt hatten. Jetzt ging es fix vorwärts. Die Riesentierherden sahen wir nicht, aber es tauchten immer wieder kleinere Mengen Antilopen, Giraffen und Zebras auf. Heut hatte ich Wagen I, morgen würde ich wieder II haben, und darüber war ich froh. Denn morgen würden wir in Seronera ankommen, und wenn ich bei der Gelegenheit nicht mit Heiko fahren konnte, würde ich sehr gern Frau Robinson in der Nähe haben. Nur einmal hatten wir an diesem Tag eine Aufregung. Alle drei Wagen hielten in einem Dorf, um zu tanken. Die Wagen standen nebeneinander, die Schiebedächer waren aufgemacht. Heiko hatte uns vor der Abfahrt sehr ernst davor gewarnt, hier zu fotografieren. Es könnte die schlimmsten Folgen haben, die Leute würden wütend werden, und man könne nicht sagen, was ihnen dann einfallen werde. Unsere Fahrer hatten es wiederholt. Bloß nicht die Apparate zeigen, nein, auch nicht gegen Zahlung ließen sich diese Menschen knipsen. Also ließen wir es, schweren Herzens. Ich tröstete meine Gruppe: Wir würden in zwei Tagen viele Massais zu sehen bekommen, Massais, die mit sich reden ließen und die man gegen eine Entlohnung knipsen konnte.
Aber dann – plötzlich stand der Filmtyp im Nachbarwagen mit einem Mini-Fotoapparat vor dem Auge. Heiko war ausgestiegen, um mit dem Fahrer etwas zu besprechen. Er sah nicht, was im Wagen vor sich ging. Aber Frau Robinson sah es und handelte blitzschnell. „Sind Sie nicht bei Trost?“ rief sie und riß den Apparat an sich. Schon zu spät! Ein paar große Männer kamen näher, sie drohten, der eine spuckte den Wagen an. Hinter ihnen stand eine Frau schon mit einem Stein in der Hand. Frau Robinson rief den Leuten etwas zu. Nun war sich Heiko auch klar über die Situation. Frau Robinson warf ihm die kleine Kamera zu. „Holen Sie den Film raus und geben Sie ihn den Massais!“ rief sie. Dann sprach sie wieder zu den aufgeregten Leuten, erklärte ihnen etwas, alles in fließendem Suaheli. Sie schienen sich zu beruhigen. Der eine Mann streckte die Hand aus. Heiko nickte, nahm den Film aus der Kamera und überreichte ihn dem Mann. Die Frau ließ den Stein fallen. Herr Braun bekam seine Kamera wieder. Er war weiß vor Wut im Gesicht. „Ich verbitte mir, daß Sie…“ „Wir alle verbitten uns, daß Sie durch Ihren Mangel an Disziplin unser Leben gefährden!“ sagte Frau Robinson. „Wir haben alle ganz deutlich zu wissen bekommen, daß wir hier unter keinen Umständen fotografieren dürfen. Wenn Sie sich unbedingt in Gefahr bringen wollen, bitte schön, das ist Ihre Sache. Aber dann dürfen Sie nicht an einer Gruppenreise teilnehmen!“ „Und all meine Aufnahmen von Secret Valley…“ „Die hätten Sie jetzt gehabt, wenn Sie vernünftig gewesen wären!“ antwortete Frau Robinson, drehte Herrn Braun den Rücken und setzte sich auf ihren Platz. „So ein Quatsch – als ob das den Niggern schaden würde!“ Da erhob sich eine Stimme aus Wagen III. Es war ein Herr „reiferen Alters“, ein Professor der Geologie, der die Reise mit seiner Frau machte. „Würden Sie es sich gefallen lassen, jeden Tag von neugierigen Touristen begafft und fotografiert zu werden?“ fragte er. „Glauben Sie nicht, daß Sie auch nach einiger Zeit wütend würden? Die ,Nigger*, wie Sie sich auszudrücken belieben – ich darf voraussetzen, daß Sie ,Afrikaner’ oder ,Massais’ meinen – haben es
aus leicht begreiflichen Gründen satt! Filmen Sie die Tiere nach Herzenslust! Um die zu sehen, sind Sie doch wohl überhaupt hergekommen? Wir anderen sind das jedenfalls, und wir möchten uns unsere Reise nicht durch Unverstand von Einzelpersonen stören lassen.“ Nach ein paar weiteren Stunden waren wir in Keekorok. Das herrliche Keekorok Lodge mit den schönen Appartements, dem großen Aufenthaltsraum, mit dem Schwimmbecken, den wunderbaren Blumen – wie schön war es, wieder hier zu sein! Da war unser Appartement vom vorigen Jahr, da hatten Senta und ich gewohnt und daneben Heiko. Hier war der Pfad, auf dem Heiko und ich ganz früh am Morgen zum Swimming-Pool gelaufen waren, mit Obst und Brot für die Meerkatzen. Ja – die Meerkatzen? Wo waren sie bloß? Keine einzige zu sehen! So eine Bande! Ganz einfach wegzubleiben, wenn ich da war, ich hatte mich doch so auf sie gefreut! Damals hatte unsere kleine Gruppe das ganze Lodge für sich allein gehabt. Jetzt wimmelte es von Menschen. Da klang Englisch, Deutsch, Holländisch, Französisch. Ja, jetzt waren in allen Ländern Sommerferien, und überall stand zu lesen, daß die Sommerhitze in Afrika nicht viel schlimmer sei als in einem schönen europäischen Sommer. Was auch stimmte. Jetzt war ja Winter hier! Winter mit blühenden Bäumen, mit Touristen in Shorts und ärmellosen Kleidern, mit nackten Füßen in Sandalen! Winter mit 25 Grad Wärme! Ich traf Heikos Blick, er zwinkerte, und ich wußte, was das bedeutete: „Erinnerst du dich noch, Impala?“ Und ob ich mich erinnerte! Jede Minute, jedes Wort, das gesagt worden war. Jetzt, als ich in derselben Umgebung war, als ich alles, wovon ich anderthalb Jahr geträumt hatte, lebendig und wirklich vor Augen hatte, jetzt stieg das ganze Glücksgefühl von damals wieder an die Oberfläche meiner Seele, und es war schrecklich, daß ich Heiko nicht sofort in die Arme fliegen konnte. Aber was hätte wohl unsere Gruppe dazu gesagt? Hier hieß es, sich zusammennehmen! „Ja, gnädige Frau, das Gepäck wird in Ihr Appartement gebracht“ (gerade hier, unter diesem Baum standen wir damals). „Nein, Herr Professor, mehr als einen Schilling brauchen Sie nicht zu geben, das ist das Übliche“ (da war dein Appartement, Heiko, da vor der Tür hast du mich geküßt). „Nein, Sie brauchen sich nicht umzuziehen.
Sie können getrost in Ihrem Safarianzug zum Lunch gehen“ (und weißt du noch, wie kühl es war an dem Morgen, das Schwimmbecken war ganz kalt). „Ja, heute abend zum Dinner müssen die Damen ein Kleid anziehen, o nein, es kann gern ein schlichtes Sommerkleid sein“ (ob du noch weißt, was du mir ins Ohr geflüstert hast, als wir – ). „Ja, gewiß, Herr Roeder, wir machen nach dem Lunch eine Pirschfahrt ins Gelände!“ Das taten wir dann auch, und die Afrikaneulinge machten Augen, als sie den ersten Löwen sahen und das erste größere Giraffenrudel. Ich war aus irgendeinem Grunde wieder in meinem Wagen II gelandet und hatte die Freude, neben Frau Robinson zu sitzen – und die nicht ganz so große Freude, an der anderen Seite Herrn Braun neben wir zu haben. Er ging uns allen auf die Nerven. Wir fuhren mit offenem Dach, und wenn es etwas zu sehen und zu knipsen gab, hielten wir. Dann mußte man aufstehen und durchs Dach rausgucken und fotografieren. Herr Braun hatte da auch eine Eigenart. Er schoß hoch, legte seine Ellbogen auf die Kante, machte es sich unsagbar bequem und kümmerte sich überhaupt nicht darum, daß er der restlichen Gruppe im Wege war. Wir hatten gerade ein bezauberndes Motiv vor uns: eine bildschöne Löwin mit zwei spielenden Jungen. Die nette Lehrerin versuchte bald rechts, bald links von Herrn Brauns Ellbogen dranzukommen, die beiden Fußballjünglinge hatten sich hingesetzt und versuchten, durchs Fensterglas zu knipsen. Frau Robinson und ich fotografierten nicht, wir genossen nur den Anblick der wunderbaren Tiere. Da erklang es hinter uns: „Herr Braun, es ist mir eine Ehre, Ihre Ellbogen fotografieren zu dürfen, ich habe schon mehrere Nahaufnahmen davon. Dürfte ich vielleicht zur Abwechslung auch ein Löwenbild machen?“ Es war die sonst so sanfte und freundliche Lehrerin. Die beiden Jünglinge grinsten, Frau Robinson gelang es grade noch, das Lachen im Keim zu töten, es kam nur ein kleiner Gluckser. Herr Braun drehte einen Augenblick den Kopf, murmelte etwas, stieß ein verächtliches „Puh“ aus und zog den einen Ellbogen um ein paar Zentimeter an sich. Und solche Situationen sollte ich, die Jüngste der ganzen Gesellschaft, die nicht einmal einwandfrei deutsch sprach, meistern! Was hätte ich bloß ohne Frau Robinson getan? Sie fand die
richtigen Worte, sie war so ruhig, so beherrscht und hatte Autorität. Ich konnte nun meiner Gruppe die Kennzeichen der verschiedenen Antilopen und Gazellen erklären, ich machte sie auf ein paar Hyänen und einen kleinen Schakal aufmerksam. Aber plötzlich wußte ich auch nicht Bescheid. Da waren zwei Tiere, die ich nicht kannte, etwas Kleines, Hundeähnliches. Schakale waren es nicht; es müßte eine Art Füchse sein. Sie waren sehr scheu, rannten weg, verschwanden in ein Loch in der Erde. Francis hielt, bat uns, vollkommen still zu sein. Und siehe da – da lugte ein kleines Fellgesichtchen hervor, ein reizendes, feines Köpfchen mit zwei großen, lauschenden Ohren. Das Fell hatte einen bläulichen Schimmer. „Löffelfüchse“, half mir Frau Robinson. Dann lächelte sie. „Sehen Sie, wieder so was niedliches Kleines, das man vor lauter Löwen und Elefanten und Giraffen ganz vergißt!“ In diesem Punkt verstanden wir uns auch. Die anderen Mitreisenden waren – mit Recht! – hell begeistert jedesmal, wenn eine Zebraherde zu sehen war, wenn etliche Gnus quer über den Weg liefen, und erst recht, wenn ein Löwenpärchen auftauchte. Und wir beide, Frau Robinson und ich, hielten den Atem an vor lauter freudiger Aufregung, als wir eine Dikdikantilope sahen, als zwei Zebramangusten auf einem Hügelchen saßen und als noch so ein kleines blaues Füchslein durch das dürre Gras lief. „Wie ist das schön!“ flüsterte ich. Frau Robinson antwortete leise, und ihre Augen leuchteten: „Ja, Sonja. Es ist schön.“
Die Geschichte eines Mantels Vor uns tauchten die grünen Zelte auf. Mein Herz klopfte wild. Oh, daß ich in diesem Augenblick nicht Heiko neben mir hatte, daß ich nicht jetzt, in dieser Sekunde, seine Hand drücken konnte! Denn jetzt war der Augenblick da: Wir rollten in Camp Seronera ein. Ich wünschte, daß meine Gruppe – unsere ganze Gesellschaft – auf dem Mond säße. Daß ich mit Heiko allein, mit meiner Hand in der seinen, still und schweigsam und glücklich durchs Gelände gehen könnte, den Klippschliefern ein paar Bananenbissen zustecken, mich bücken und etwas von der trockenen roten Erde durch die Finger rieseln lassen könnte. Und dann, aus dem glühendweißen Mittags-Sonnenlicht wollte ich in ein halbdunkles, schattenspendendes Zelt hineintauchen und mit meinem geliebten Mann allein sein. Aber – unsere Reisegesellschaft war nicht auf dem Mond, sondern in Seronera, und sie wußte nicht, daß dies für mich eine heilige Stätte war. Für sie war es ein Lodge, ein Camp, eine Übernachtungsmöglichkeit, sogar eine ohne Swimming-Pool und ohne moderne Appartements. Kurz gesagt: ohne Komfort. Ein Platz wie viele andere, ohne eine persönliche Erinnerung. Kurz danach waren die Teilnehmer untergebracht, die Stewards liefen mit Gepäck auf nackten schwarzen Füßen zu Reihenhäuschen und Zelten. Heiko hatte alles mit dem „Clerk“ geregelt, und wir konnten aufatmen. Hand in Hand gingen wir zu derselben Zeltreihe, in der wir voriges Jahr gewohnt hatten. Heiko guckte mich an mit einem kleinen Lächeln, als er mich zielbewußt zum Zelt Nummer 42 führte. „O Heiko! Das war ja dein Zelt!“ „Ja, mein Schatz. Jetzt ist es unseres!“ Er steckte dem Steward einen Schilling in die Hand und bedankte sich fürs Koffertragen: „Ahsante sana!“ Endlich waren wir für uns. Wir standen vor dem Zelt, die Sonne brannte, über uns wölbte sich der azurblaue Himmel. Und endlich bekam ich den Kuß, der schon längst fällig war. Ein kleines Geräusch brachte mich dazu, mich aus Heikos Armen zu lösen. Es war Frau Robinson, die vorbeiging.
„Lassen Sie sich nicht stören“, lächelte sie. Es war mir, als ob ich ihr eine Erklärung geben müßte. „Wissen Sie, wir sind wohl ein bißchen sentimental, aber…“ „Kind, Sie brauchen doch nichts zu erklären! Sie dürfen doch Ihren Mann küssen!“ In diesem Augenblick wurde Heiko weggerufen. Ich antwortete: „Ja, das darf ich wohl.“ Ich mußte lachen. „Aber – ich meine – wissen Sie, als wir voriges Jahr nach Seronera kamen, wußte ich, daß ich nie in meinem Leben so glücklich gewesen war. Seronera – das ist ein so schöner Name. Finden Sie nicht? Ich hatte mich so wahnsinnig darauf gefreut, und – ja, dann waren wir also eines Tages hier, und ich wohnte mit meiner Schwester in dem Zelt, das Sie jetzt haben, und Heiko hatte dieses. Und dann – ja dann erlebte ich das Unglaubliche. Als wir wieder wegfuhren, war ich noch glücklicher, denn inzwischen – hier, in Seronera – hatten wir uns verlobt!“ Frau Robinson kam einen Schritt näher. Ihre Augen waren voll Wärme, voll Güte. Sie strich mir schnell über die Wange. „Und jetzt, Kind? Was könnte Sie heut recht ,wahnsinnig glücklich* machen?“ „Ich bin es doch schon! Aber – das allergrößte Glück jetzt wäre wohl, daß wir hierbleiben dürften, daß wir hier arbeiten könnten. Aber ich weiß schon, daß es unmöglich ist.“ Frau Robinson sah mich lächelnd an. „Meinen Sie? Nun ja, warten Sie es ab, Ihr Mann kriegt vielleicht ein Stipendium.“ „Wenn er das bloß bekäme! Oh, helfen Sie uns, die Daumen zu drücken!“ „Ich tu es ja schon!“ lächelte Frau Robinson und hielt mir beide Fäuste hin. „Aber wie ist es, Frau Reiseleiterin – – Assistentin wollte ich sagen – , müssen Sie nicht zusehen, daß Ihre Schäflein zum Futtertrog gehen? In einer Stunde wollen wir doch rausfahren!“ „O ja, natürlich, sehen Sie, hier vergesse ich alles und benehme mich wie ein Privatmensch. Ach, es ist aber auch dumm: Wenn man zum Zielort seiner Träume kommt, ist man entweder ein folgsames Schäflein in einer Sammelreise, oder man ist Reiseleiter-Assistentin. Wenn man bloß einmal nur Mensch, nur eine Einzelperson sein könnte. Ich meine natürlich zwei Einzelpersonen – und sich einrichten könnte, wie man wollte!“ Jetzt entdeckte ich plötzlich, daß ich Englisch sprach. Es ließ sich nicht leugnen: Wenn ich meine Muttersprache nicht sprechen
konnte, war Englisch noch die Sprache, mit der ich am besten zurechtkam. „Sie sprechen sehr gut Englisch“, sagte Frau Robinson, als wir zusammen zum Essen rübergingen. „Das höre ich gern. Anfangs sprach ich auch immer Englisch mit Heiko.“ „Spricht er es so fließend wie Sie?“ „O ja. Das tut er.“ Wieder bekam Frau Robinsons Gesicht diesen aufmerksamen Ausdruck, als ob sie an etwas ganz Bestimmtes dachte. „Nanu!“ sagte ich. „Wo ist denn unser Eßzelt geblieben?“ „Oh, das ist weg, wußten Sie das nicht? Hier, durch die Loggia durch, da liegt doch das neue Haus!“ Ja, es war sehr fein geworden, das stimmte. Und doch trauerte ich dem einfachen, primitiven Zelt ein bißchen nach, ebenso den kleinen Mäuschen, die immer unter der Zeltwand hin und zurück gelaufen waren. Nach dem Essen hatte ich gerade noch Zeit, zu den zahmen Klippschliefern hinzulaufen, ihnen etwas Obst vom Lunchtisch zuzustecken und mit Freude festzustellen, daß etliche von ihnen Junge hatten. Da war der große, fette, der war sehr zahm – ob es nicht der war, der mich damals gebissen hatte? Sogar diesen Biß hatte ich auf die positive Seite meines Lebensbuches geschrieben. Als wir in den Wagen stiegen, kam – wie erwartet – eine Person mehr mit, nämlich ein grünuniformierter Begleiter mit einem mörderisch aussehenden Gewehr. Als ich sein Gesicht sah, stutzte ich. Es kam mir so bekannt vor! Er traf meinen Blick, und plötzlich lächelte er breit und strahlend und zeigte seine perlweißen Zähne. „Jambo, madam! Willkommen in Afrika! Wie geht es Ihnen? Kriegen Sie hier auch sambusa na ulimi? Und barafu?“ Da fiel der Groschen bei mir. Ich reichte ihm begeistert die Hand. „Evaristus! Oh, entschuldigen Sie, ich habe Ihren Familiennamen ganz vergessen, ich habe an Sie immer nur als Evaristus gedacht!“ „Und ich an Sie als das kleine Suahelimädchen in Hamburg. Sie verkaufen keine Kuchen mehr?“ „Nein, ich bin augenblicklich Assistentin bei meinem Mann. Er ist Reiseleiter für unsere Gruppe.“ „Na, dann müssen wir uns ja gewaltige Mühe geben und Ihnen ein paar Seltenheiten aufspüren, damit Sie Ihrer Gruppe etwas zu
zeigen haben.“ Er setzte sich neben Francis, und ich erzählte schnell Frau Robinson von unserer Begegnung in meiner Konditorei in Hamburg. Sie lächelte verständnisvoll, und wir fuhren los. Dieser Nachmittag brachte uns zwei wunderschöne Erlebnisse, die wir im vorigen Jahr nicht gehabt hatten. Auf denkbar kurze Entfernung hielten wir bei einer Gepardin mit zwei bezaubernden Jungen. Sie waren anmutig wie Kätzchen, so edel, so rassig, so – ich weiß gar nicht, wie ich es beschreiben soll! Als alle drei Wagen hielten, gelang es mir, Heiko ein Zeichen zu machen, er sollte filmen! Was er auch tat! Wir sahen eine Unmenge Paviane, unter anderen ein Weibchen, das die tollsten Kletterkünste in den Bäumen machte, alles mit einem Baby, das sich an ihrem Bauch festklammerte. Dann einen großen Elefanten, auch so unglaublich nah. „Sagen Sie doch dem Kerl, er soll den Motor abstellen!“ sagte Herr Braun. „Bei diesem Gewackel hier kann ja kein Mensch filmen!“ „Das geht leider nicht“, übersetzte ich Francis’ Antwort. „Bei Löwen und Antilopen und Giraffen ja, überhaupt immer, außer bei Elefanten und Nashörnern.“ Herr Braun nahm das als eine persönliche Beleidigung auf, wir hätten doch einen bewaffneten Begleiter, wozu war er überhaupt da? „Um unser Leben gegebenenfalls schützen zu können“, sagte ich. „Aber nicht, um Elefanten zu schießen. Wenn ein Elefant oder ein Nashorn einen Wutanfall kriegen sollte, heißt es, schnell Gas geben und ab und davon!“ Dann kam der Höhepunkt des Tages. Evaristus erklärte Francis, wie er fahren sollte. Ich verstand so viel wie „die drei hohen Bäume“ und „eine halbe Meile von hier“. Weiter reichten meine Suahelikenntnisse nicht. Francis nickte und fuhr los nach Evaristus’ Anweisung. Nach ein paar Minuten ging es langsamer, Evaristus sah immer durchs Fernglas – dann drehte er sich um zu uns: „In dem Baum rechts liegt ein sehr schöner Leopard. Sagen Sie bitte den Herrschaften, sie müssen sich ganz ruhig verhalten. Nur so können Sie das Tier in Ruhe beobachten und Ihre Aufnahmen machen.“ Ich übersetzte, und Herr Braun schoß wie immer hoch. Das Biest! Langsam hatte ich genug von ihm. Und dann geschah das Schönste, was uns passieren konnte: Seine
Kamera streikte! Da kam kein Surren, der Apparat war tot! Er sank runter auf die Bank, warf keinen Blick auf das prachtvolle Tier da oben, er kümmerte sich ausschließlich um die kaputte Kamera. Solche Menschen gibt es also auch. Der Leopard war viel größer als die beiden, die wir in Secret Valley gesehen hatten. Er lag so wunderbar ausgestreckt, so entspannt – lag auf einem langen, dicken Ast. Die eine Vorderpfote hing faul herunter, der Schwanz bewegte sich langsam, dann gähnte das Tier, sah uns uninteressiert an, streckte sich, änderte die Stellung ein bißchen und fing an, seine Pfoten zu lecken. Im Wagen neben uns befand sich die Dame, die schon in Wien nach Leopardenmänteln gefragt hatte. Ich warf einen Blick auf sie. Sie stand da wie gebannt, die Augen unentwegt auf das Tier gerichtet. Was ging wohl in diesem Augenblick in ihrem Kopf vor? Vielleicht das, was ich so herzlich wünschte? Vielleicht war sie, so wie ich selbst, überwältigt von dieser vollkommenen Schönheit? Und gerade diesem Tier, der schönsten Art der ganzen Nationalparks, wurde so übel nachgestellt! Ich wünschte innig, daß noch mehr Menschen hierherkommen würden, zu Tausenden, zu Millionen sollten sie kommen. Sie sollten dieses von Gott gesegnete Land kennenlernen und, so wie wir jetzt, andachtsvoll vor einer seiner allerschönsten Schöpfungen stehen. Sie sollten erkennen, daß man eine solche Gabe auch bewahren muß. Ist denn dieses Tierparadies nicht ein Geschenk für alle Menschen – nicht nur für die Bewohner des Landes, sondern für die Bewohner der ganzen Erde? Als wir zurück im Lager waren, sah ich, daß Frau Robinson sich mit der Leopardendame unterhielt, und zwar, schien es mir, in freundlichster Weise. Aha – genau, was ich dachte: Sie gingen in Richtung Museum. Da ich in diesem Augenblick nicht gebraucht wurde, trottete ich mit. Ich hielt mich auf Abstand, aber ich beobachtete, wie die beiden vor der furchtbaren Ausstellung von Fallen und Drahtschlingen standen, und ich sah den Gesichtsausdruck der Leopardendame. Ich fühlte mich davon überzeugt, daß Frau Robinson dies viel besser ohne mich schaffte! So plauderte ich ein bißchen mit dem Museumsführer, und als noch ein paar von unserer Gesellschaft erschienen, übersetzte und erklärte ich. Es wurde Zeit, sich umzuziehen und zum Essen zu gehen.
Unterwegs traf ich wieder Evaristus. Ich bedankte mich sehr für seine großartige Führung, und er fragte, wie lange wir bleiben würden. Er bedauerte, daß es so kurz sei, und fügte hinzu: „Sie sollten mal ganz privat herkommen, madam. Nur mit Ihrem Mann. Unabhängig von Gruppen und Programmen. Dann würde ich mir viel Zeit nehmen und versuchen, Ihnen Dinge zu zeigen, die die Touristen nicht zu sehen bekommen!“ „Was, zum Beispiel?“ „Oh, unsere Seltenheiten! Wenn man sehr viel Geduld hat, kann man Oribis treffen, und wenn man mucksmäuschenstill im Auto wartet, also richtig auf der Lauer liegt, wäre es möglich, daß ein Erdwolf erschiene, oder sogar – aber das wäre allerdings ein enormer Glücksfall – ein Serval.“ „Ja, Geduld hätten wir in unbegrenzten Mengen! Aber leider nicht Geld in unbegrenzten Mengen, und das würden wir brauchen, um ganz privat eine Afrikareise zu machen!“ „Ja, teuer ist es – aber wissen Sie was? Wenn Sie die Gruppe los sind, dann bleiben Sie doch noch eine Woche hier unten, mieten sich einen Wagen und fahren hierher!“ „Von Entebbe? Das wird uns zu weit.“ „Ach so. Sie wollen nach Entebbe. Dann ist es allerdings nicht so einfach. Aber jedenfalls, wenn Sie mal die Gelegenheit haben sollten, dann würde es mir eine sehr große Freude sein, Sie mitzunehmen, raus ins Gelände, einen ganzen Tag!“ Der gute Evaristus! Ich hätte heulen mögen, weil wir sein Angebot nicht annehmen konnten! Nach dem Essen saßen wir vor dem großen Feuer auf dem offenen Platz mit unseren Kaffeetassen. Die Leopardendame saß neben Frau Robinson. Sie – die Leopardendame, die übrigens Frau Heimann hieß, war eine sehr hübsche und sehr elegante Vierzigjährige. Sie war sehr gepflegt, hatte für den Abend ein raffiniertes Make-up aufgelegt und trug ein todschickes Kleid. Neben ihr wirkte Frau Robinson unscheinbar, in ihrem nicht ganz modernen Baumwollkleid, mit ihren kurzgeschnittenen Haaren und ihrem gealterten Gesicht. Aber man vergaß alles, wenn man ihre Augen sah. Diese strahlenden, dunkelblauen Augen, so voll Güte, so voll Klugheit – so voll Herz! Unsere Gruppe blieb abends gewöhnlich zusammen. Es gab immer was zu fragen, und Heiko antwortete mit Engelsgeduld, erklärte, ergänzte, gab Ratschläge. Dann besprachen wir auch das
Programm des nächsten Tages, und Heiko erzählte, wie weit wir zu fahren hatten, was wir voraussichtlich zu sehen bekommen würden und wo unser nächstes Nachtquartier war. Es entstand eine kleine Pause, dann erklang die Stimme von Frau Heimann: „Ich werde einfach das Bild von den furchtbaren Drahtschlingen nicht los! Wie ist es bloß möglich, daß man Tiere in einer so grausamen Weise umbringen kann?“ „Die Menschen tun oft Unverantwortliches, nur um Geld zu verdienen“, sagte Frau Robinson. „Und die Frage ist, ob wir nicht, jeder von uns, sein Gewissen ein bißchen untersuchen sollte. In wie hohem Grade sind wir schuld daran, daß die Tiere zu leiden haben? Ich denke nicht nur an die Drahtschlingen. Aber wir essen Gänseleber von Gänsen, die mit der Maschine gemästet werden, bis sie beinahe ersticken. Wir essen Hummern, die lebendig gekocht werden, Aale, die lebendig gehäutet werden, Fleisch von Kälbern, die in winzigen Boxen in Stockfinsternis, oft mit verbundenen Augen, gehalten und dauernd gefüttert werden. Wir essen Eier von Hühnern, die ihr Leben in schrecklich engen Käfigen verbringen müssen. Und wenn wir zum Kapitel Pelzwerk kommen…“ „Lehnen Sie denn überhaupt alles Pelzwerk ab?“ fragte unsere Lehrerin. „Durchaus nicht! Das wäre ja inkonsequent, wo ich selbst Lederschuhe trage und Fleisch esse. Einen Pelzmantel besitze ich auch. Aber die Felle sollen von Zuchttieren sein, nicht von Tieren, die in Gefahr sind, ausgerottet zu werden, und nicht von Tieren, die in grausamer Weise von Wilderern umgebracht werden! Meinetwegen können die Damen sich von oben bis unten in Chinchilla hüllen, in Zobel und Nerz. Und die, die kein Vermögen für Pelze anlegen können, haben eine überaus reiche Auswahl an entzückend verarbeiteten Lamm- und Kaninchenfellen. Ich gönne unbedingt den Kürschnern zu leben, und ihren Kundinnen gönne ich es, hübsche Sachen zu tragen, aber wie gesagt…“ „Sagen Sie, gnädige Frau“, sagte unser netter Professor: „Was täten Sie, wenn Sie einen Leopardenmantel als Geschenk bekämen?“ Jetzt waren alle still, alle Augen waren auf Frau Robinson gerichtet. Ein paar „Zaungäste“ hatten wir auch, Teilnehmer einer anderen deutschen Reisegesellschaft. Frau Robinson antwortete, langsam und deutlich: „Ich besitze einen.“
„Was?“ Das Wort fiel mehrstimmig. „Ja. Ich besitze einen. Wollen Sie die Geschichte von dem Mantel hören?“ Kein Zweifel, das wollten wir alle. Frau Robinson rückte ihren Stuhl ein wenig zurück. Ihr Gesicht lag im Schatten. Dann fing sie an zu erzählen: „Es ist schon lange her, beinahe zwanzig Jahre. Mein Mann brachte mir einen Leopardenmantel aus Afrika mit. Damals war ich vollkommen ahnungslos. Ich wußte herzlich wenig über andere Tiere als unsere Hunde, Katzen und Pferde. Die liebte ich allerdings sehr. Ich konnte nie einem Tier etwas antun, ich pflegte meine Lieblinge sehr gut und war Mitglied des Tierschutzvereins. Das war aber auch alles. Ich trug stolz und glücklich meinen hübschen Mantel und wurde von meinen Freundinnen sehr beneidet. Dann platzte eines Tages eine Naht, und ich brachte den Mantel zum Kürschner. Er untersuchte ihn fachmännisch und schüttelte den Kopf. Mein Mann sei gründlich betrogen worden. Die Verarbeitung war denkbar schlecht, und überall, wo es nicht gleich auffiel, waren schlechte Felle verwendet. Er zeigte mir die Unterseite des Kragens. Da war ein recht häßliches Stück Fell eingenäht, es hatte einen beinahe kahlen Streifen, und das Leder war brüchig. Ich fragte, wie in aller Welt das kommen könne. Ich vergesse nie seine Antwort, ich höre seine Stimme, ich sehe seine Augen, die mit Kennerblick den Kragen betrachteten: ,Tscha, das wird wohl die Spur einer Drahtschlinge sein, vielleicht ist das Tier gewildert, man kann nie wissen’ Ich nahm den Pelz mit nach Hause, packte ihn weg. Die Worte des Kürschners klangen immer in meinen Ohren: ,Es wird wohl die Spur einer Drahtschlinge sein!’ Mein Mann hatte den Mantel durch einen Zufall gekauft, er war ihm angeboten worden in einem Geschäft, das an sich gar keine Pelzsachen verkaufte. Er ahnte nichts vom Ursprung, er sah nur, daß der Mantel hübsch aussah, und der Preis war erstaunlich niedrig, verglichen mit dem, was man in europäischen Fachgeschäften bezahlen muß. Woher kamen wohl die Felle? Hatte ein Tier sich so sinnlos gequält, nur damit meine Freundinnen mich beneiden sollten? Hatte ein herrlicher Leopard, so wie der, den wir heute vormittag sahen, vielleicht tagelang
unbeschreibliche Schmerzen erlitten, hatte er unter der brennendheißen Tropensonne bis zum Wahnsinn gedurstet – war er schließlich an seinen Qualen gestorben, oder war der Fallensteller gekommen und hatte das Tier endlich erlöst? Aber wie? Was für ein zusätzliches Leiden war wohl das Töten gewesen? Ich verschaffte mir Bücher über Afrikas Tierwelt. Ich las vor allem das, was mein Mann in seiner Bibliothek hatte, dann kaufte ich mir mehr. Es ging mir, wie es vielen Menschen ergangen ist: Ich bekam eine brennende Sehnsucht danach, diese Tierwelt mit meinen eigenen Augen zu sehen. Dann sind wir hergefahren, mein Mann und ich. Mein Mann hatte gute Verbindungen in Ostafrika, er kannte Menschen, die uns viel zeigten und viel erzählen konnten. Langsam wurden mir verschiedene niederschmetternde Dinge klar: erstens, daß diese Wunderwelt der Tiere in hohem Grade bedroht war. Die Tierbestände nahmen immer mehr ab, nicht nur durch die Großwildjäger, die Tiere umbringen, für die sie gar keine Verwendung haben. Sie nennen es Sport und kommen sich mutig vor, wenn sie, geschützt und geleitet von einem bezahlten Berufsjäger, ein Geschöpf Gottes sinnlos töten. Eine weitaus größere Gefahr bedeuteten die Wilderer und die damals nicht ausreichenden Wildschutzgesetze. Und noch eins: Die primitiven Menschen hatten überhaupt keine Ahnung davon, daß ihr Land einen der schönsten Reichtümer dieser Welt besitzt und daß es ihre Pflicht war, diesen Reichtum zu erhalten. Nun ja, von diesem Thema könnte ich stundenlang reden. Aber ich sage Ihnen ja nichts Neues, Sie werden alle Bücher gelesen haben und Filme und Fernsehsendungen gesehen haben, die uns in erfreulicher Weise klar gemacht haben, was alles hier geschehen ist, wie man auf dem besten Wege ist, das Wild zu retten. Zurück zu mir. Es erging mir wie so vielen Menschen – nicht wahr, Frau Brunner? Ich wurde afrikabesessen. Dieses merkwürdige Land hatte mich ganz und gar in seinen Bann geschlagen. Ich fuhr wieder hierher und wieder und wieder, jedes Jahr. Als mein Mann vor einigen Jahren starb, fuhr ich allein. Wenn ich zurück nach England kam, hielt ich Vorträge, setzte mich in Verbindung mit Wissenschaftlern, unterstützte Forschungsexpeditionen, ich tat eben das, was eine alleinstehende Frau tun kann. Ich machte Propaganda! Inzwischen haben andere Menschen das getan, was ich nicht konnte. Idealisten, Tierfreunde, Wissenschaftler, Forscher haben, zum Teil
zusammen mit den neuen Regierungen, erreicht, daß die Tierbestände in mehreren Teilen Ostafrikas jetzt wieder zunehmen. Hier sind neue Naturparks errichtet, die Strafen für Wilderer sind schärfer geworden, immer mehr Leute werden als Wildhüter und Parkhüter ausgebildet. Jedes Jahr, wenn ich herkomme, gibt es Neues, worüber man sich freuen kann.“ Sie schwieg. Die Pause dauerte lange. Dann sagte einer der jungen Fußballfans aus „meinem“ Wagen: „Aber empfinden es die Afrikaner denn nicht als Einmischung, wenn die Europäer und Amerikaner sich um ihre inneren Angelegenheiten kümmern?“ „Zum Teil vielleicht. Aber sehen Sie, dies ist keine innere Angelegenheit! Wenn es den Italienern einfallen sollte, den Petersdom abzureißen und die Steine als Souvenirs zu verkaufen, würde die ganze Welt mit Recht laut aufschreien! Wenn man den Kölner Dom vernichten würde, um an seiner Stelle ein modernes Geschäftszentrum zu bauen – wenn man den Louvre zerstörte und aus seinen Steinen wahnsinnig teure Einfamilienhäuser baute, damit die Bewohner dieser Häuser sagen könnten „ja, mein Haus besteht aus Steinen vom Louvre“ – ginge das nicht alle Menschen an? Der Petersdom, der Kölner Dom, der Louvre – oder meinetwegen das Schloß in Versailles oder die Alhambra oder der Tower – es sind Schätze, die der Welt gehören! Und sehen Sie: Wer aus dem Kölner Dom Steine klaute, er trüge zum Zerstören eines herrlichen Menschenwerks bei. Wer aber hier ein Tier tötet oder direkt oder indirekt sich daran beteiligt, der trägt zur Zerstörung eines Gotteswerks bei. Denn das, was uns hier umgibt, was wir die letzten Tage gesehen haben, was uns öfters andachtsvoll gestimmt hat, das ist kein Menschenwerk. Es ist ein Paradies, von Gott selbst geschaffen.“ Sie schwieg. Ein schwarzer Waiter kam lautlos näher, legte mehr Holz aufs Feuer. Die Flammen bekamen neue Nahrung, stiegen höher. Der rote Schein erreichte jetzt auch Frau Robinsons Gesicht. Heiko stand leise auf. Er ging über den Platz, hin zu Frau Robinson. Sie hob den Kopf, lächelte ihn an. Heiko beugte sich über Frau Robinsons Hand und küßte sie. Wir blieben sitzen, wir starrten in die Flammen and fühlten, wie die dunkle afrikanische Nacht uns umhüllte.
Ein Zimmer zu wenig Es ging weiter. Am letzten Morgen in Seronera waren Heiko und ich vor Sonnenaufgang draußen vor dem Zelt. Wir sprachen nicht. Wir saßen nur da vor unserem Zelt und hielten uns die Hände – und ich dankte dem lieben Gott, daß es mir vergönnt worden war, noch einmal herzukommen. Und ich fügte eine brennende Bitte hinzu: „Laß mich öfter dies erleben! Laß mich auch als alte, lebenserfahrene Frau hier sitzen dürfen und sehen, wie die Sterne erblassen und wie der Tag über Afrikas Steppen geboren wird!“ Der Tag kam. Und mit ihm unsere vielen Pflichten und der Aufbruch. Wir erreichten den Ngorongorokrater, wieder fuhren wir im Landrover den steilen, schmalen Weg hinunter, wieder sahen wir die Elenantilopen, die Klippspringer, die Nashörner und außerdem wohl das Schönste auf der ganzen Reise: ein ganzes Rudel Löwinnen, die mit ihren Kindern dicht am Schilf einer Wasserstelle lagen. Kleine tolpatschige Löwenbabys trollten da rum in ihrem gefleckten Fellkleid, etwas größere Kinder spielten übermütig miteinander und mit den Schwänzen der großen. Eine Löwin lag da und säugte zwei Junge von verschiedener Größe. Heiko erzählte, daß das eine bekannte Sache war: Die Löwinnen betätigen sich nicht nur als Babysitter für die Kinder einer abwesenden Kusine oder Freundin, sie lassen sich auch als Amme engagieren! Spielende Meerkatzen am Rastplatz, Zebraherden mit einer Unmenge reizender Fohlen. Es war alles so schön, daß ich am liebsten hiergeblieben wäre. Aber wir hatten ein Programm, und darin stand, daß wir an diesem Nachmittag im Manyara Hotel eintreffen müßten. Was wir auch taten. Wieder etwas ganz anderes! Ein wirklich vornehmes Hotel mit einem sehr schönen Park, mit einem kleinen Schwimmbecken wie ein lächelndes, schimmerndes, grünliches Auge mittendrin. Vom Park ein herrlicher Blick quer über die dichten Bäume des etwas tiefer liegenden Naturschutzgebietes bis zu dem wunderbaren großen Salzsee. Ja, das war auch etwas Merkwürdiges: daß hier salzhaltige Binnenseen existierten. Ich weiß nichts von Geologie, aber unser Professor erklärte uns – für mich ein
bißchen zu wissenschaftlich – , etwas von vulkanischem Gestein, das Salz absetzt. Im Park wanderte ein süßes kleines zahmes Zebrafohlen herum, und als es seelenruhig durch die offene Tür in die Bar ging und vor der Theke stehenblieb, liefen die Kameras heiß! Heiko und ich mußten wie immer zusehen, daß all unsere Schützlinge untergebracht wurden. Dann zeigte es sich zu unserem Schrecken, daß man ein Zimmer zu wenig reserviert hatte. Man hatte nicht beachtet, daß zwei der Gäste – nämlich Frau Robinson und Herr Braun – Einzelzimmer bestellt hatten! „Ja, wir können ja die beiden nicht in einen Raum stecken“, philosophierte Heiko. „Es tut mir leid, Sonnie, wir beide müssen uns trennen, du kriegst Frau Robinson zu dir rein, und ich muß wohl oder übel zu Herrn Braun.“ „Also nicht wohl, sondern übel“, meinte ich und ging los, um Frau Robinson zu suchen. Sie war voll Verständnis, aber natürlich, das würde ja großartig gehen, und sie schnarche nicht! Daß Herr Braun genauso entgegenkommend war, bezweifelte ich, aber jedenfalls zog Heiko mit seinen Klamotten zu ihm rein. Ich paßte auf, als das Gepäck reingetragen wurde. Da war unter anderem eine kleine Reisetasche mit den Initialen H. W. Das konnte doch unmöglich – na, da kam ja Frau Robinson, und ich konnte fragen. O ja, die Tasche gehöre ihr. „Aus meiner Mädchenzeit“, erklärte sie. „So alt ist das Ding. H. W. bedeutet Helene Weiß.“ Wir hatten wie so oft englisch gesprochen, und automatisch dachte ich „weiß – white“ – und plötzlich blieb ich mit offenem Mund stehen. „Helene Weiß – auf englisch – Helen White – o ich Idiot! Ich vierfacher Megaidiot! Daß ich das nicht längst kapiert habe! Sie sind es!“ „Ja, ich bin es, aber was meinen Sie?“ „Sie sind Helen White! Sie sind der Mensch, dem ich es zu verdanken habe, daß ich afrikabesessen bin, daß ich meine ganze Existenz darauf eingerichtet habe, herzukommen! Sie sind der Mensch, dem ich das Schönste meines Lebens zu verdanken habe! Sie haben den Artikel geschrieben, vor vielen Jahren, ich fand ihn in einer uralten norwegischen Zeitschrift. Jetzt erst wird es mir klar, daß die Verfasserin Helen White hieß! Sie schrieb einen Artikel mit dem Titel ,Rettet das Tierparadies!’ Das stimmt doch, Sie waren es!“
Frau Robinson lächelte. „Ja, das stimmt schon.“ „O Frau White – ich meine Weiß – ich meine Robinson – Sie haben bestimmt noch mehr geschrieben! Bücher? Mehr Artikel? Kann man sie irgendwo kaufen? Auf englisch oder deutsch oder in norwegischer Übersetzung?“ „Ich habe nicht viel mehr geschrieben. Ich habe mehr im Hintergrund gearbeitet. – Wenn es Sie so interessiert, kann ich Ihnen ja heut abend ein wenig erzählen. Jetzt gibt es Tee, und ich habe einen furchtbaren Durst!“ Also tranken wir Tee, dann machte Heiko sich ein Stündchen frei, und wir sprangen ins Schwimmbecken. Wir hatten überhaupt einen herrlichen, erholsamen Nachmittag und gingen früh zu Bett. Ein anstrengender Tag lag vor uns. Als Frau Robinson und ich unter unsere Moskitonetze gekrochen waren, sagte ich: „Sie wollten mir noch etwas erzählen, Frau Robinson?“ „Ach so, ja richtig. Sie fragten, ob ich mehr geschrieben habe. Nein, nicht viel. Ich habe es nie zu einem Buch gebracht. Nur ein paar Artikel.“ „Waren Sie auch im englischen Fernsehen?“ „Nein. Man hat mich allerdings darum gebeten, aber ich habe es abgelehnt. Ja ja, ich weiß, jetzt fragen Sie, warum. Einfach, weil ich zu alt bin. Meine Falten und mein Omagesicht eignen sich nicht für den Bildschirm. Und noch etwas, Sonja. Wenn ein Mann, am liebsten ein gutaussehender, redegewandter Mann sich für eine Sache einsetzt, wie in diesem Falle Naturschutz und Tierschutz, dann hört man auf ihn, Gott sei Dank. Aber wenn eine alte Frau dasselbe vorbringt, dann heißt es gleich, daß sie so eine sentimentale alte Tunte ist. Nein, protestieren Sie nicht, ich weiß, daß ich recht habe. Deswegen mache ich es anders. Ich verschaffe Stoff, sowohl Filme als auch Kommentare für Fernsehsendungen. Sie kommen auch gut an bei den Zuschauern. Die Kommentare werden von einem Mann mit einer sehr schönen Stimme vorgetragen, und die Filme sind immer gut – ich habe sie ja nicht selbst gedreht, das tun Leute, die es wirklich können.“ Ich hatte noch eine ganze Reihe Fragen, aber zu indezent darf man nun auch nicht sein. Doch eine Frage mußte ich noch aussprechen, weil es um etwas ging, was mir ganz unbegreiflich war. „Frau Robinson, etwas begreife ich nicht. Sie sind regelmäßig hier in Ostafrika, Sie kennen sich gut aus…“
„Ja, das stimmt. Ich habe meine ganze Afrikagarderobe in Nairobi, übrigens bei Francis’ Mutter. Sie kriegt einen Koffer voll schmutziger Sachen, bevor ich nach Europa fliege, und wenn ich wiederkomme, bringt Francis mir die Sachen gewaschen und gebügelt. Seine Mutter ist ein Goldstück. Und Francis pflegt meinen Wagen, der steht in einem Schuppen bei seinen Eltern.“ „Ach – einen Wagen haben Sie auch hier? Ja, aber dann verstehe ich überhaupt nichts mehr!“ „Sie meinen, warum ich an einer Sammelreise teilnehme?“ „Ja, das war es, was ich fragen wollte.“ „Ich hatte meine Reise dieses Jahr aufgegeben, weil ich im Frühjahr lange krank war und die Anstrengungen einer solchen Alleinreise nicht wagte. Dafür machte ich bei Verwandten in Deutschland Urlaub. Da erzählte mir ein Bekannter, Dr. Jürgens, daß er eine gebuchte Afrikareise doch nicht antreten könne, – na ja, dann habe ich mich ganz schnell entschlossen, habe seine Karte übernommen und dabei gedacht, es sei eigentlich diesmal das Richtige, einmal ganz ohne Verantwortung fahren zu können, keine Anstrengungen auf sich nehmen zu müssen, sich einfach nur so mittreiben zu lassen. Und ich wollte doch so sehr gern wieder hierher. Wissen Sie, Sonja, wenn man alt ist, wird es einem immer mehr bewußt, daß man die Zeit nutzen muß. Die Jahre rasen nur so dahin, eines Tages ist es Schluß – ja, und ich wollte doch noch einmal nach Afrika, bevor…“ „Um Gottes willen, Frau Robinson, Sie sollen doch noch viele Afrikareisen machen!“ „Das kann man nicht wissen, Kind. Es kann eines Tages plötzlich vorbei sein.“ „Es kann genauso gut uns jungen Menschen was passieren!“ „Natürlich. Aber es ist doch ein erheblicher Unterschied. Ihr Jungen könnt bald sterben. Wir Alten müssen bald sterben.“ Sie sagte es ruhig, ohne eine Spur von Bitterkeit. Sie stellte eine natürliche Tatsache fest. „Übrigens“, sprach sie nach einem Weilchen weiter, „ich hatte noch einen Grund, an einer solchen Sammelreise teilzunehmen. Ich bin an einem Reiseunternehmen in London finanziell beteiligt, das auch diese Afrikareisen in sein Programm aufnehmen wird. Ich möchte feststellen, wie alles abläuft, worauf zu achten wäre und was geändert werden könnte. Aber, mein liebes Kind, es ist spät, wir müssen schlafen. Good night, Sonja!“
Ich lächelte unter meinem Moskitonetz. „Lala salama, mylady.“ „Warum mylady?“ „Weil Francis Sie so anredete, und Sie baten ihn, das „mylady“ wegzulassen. Eigentlich sind Sie doch Lady Robinson, nicht wahr?“ „Sssch, das behalten Sie aber für sich.“ „Wie Sie wünschen. Lala salama, Helen White!“ Was war das für eine Hetzerei! Koffer packen, abfahren, Ankunft, Pirschfahrt, Kofferpacken, abfahren, Ankunft, Pirschfahrt – so ging es Tag für Tag. Kaum hatten wir uns für ein neues Hotel, einen neuen Naturpark richtig begeistert, wurden wir von Uhr, Kalender und Programm weitergepeitscht. Wie gern hätte ich mehr Zeit in dem entzückenden Manyarapark verbracht! Da sahen wir zum ersten Mal Elefanten in großen Mengen, auch Elefantenkinder in allen Größen, unter anderen ein Elefantenbaby, das ich am liebsten mitgenommen hätte, so klein und niedlich und possierlich war es! Weiter, weiter. „Wir müssen vor 18 Uhr in Amboseli sein, sonst läßt man uns nicht rein“, erklärte Francis. Große Termitenhügel, felsenhart gebaut und mit „Untermietern“: Aus einem Hügel steckten zwei allerliebste Zwergmangusten ihre kleinen Köpfchen heraus. Dort ein anderer Hügel, ganz glattgeschliffen. Das besorgten die Zebras dadurch, daß sie sich immer dran rieben. Eine kurze Pause unten am See, wo Pelikane, Störche und eine Menge anderer Vogelarten ihre Nester hatten. Dann wieder einsteigen, schnell, schnell, die Zeit vergeht, vor 18 Uhr müssen wir… und so weiter. Dann wurden uns doch noch zehn Minuten bewilligt. Denn da standen wir plötzlich der ganz großen Manyara-Attrak-tion gegenüber: den Baumlöwen! Sie räkelten sich faul und uninteressiert in der Gabelung zweier großer Bäume. Sie sahen uns gleichgültig aus der Höhe an. Vielleicht hatten sie diese ewigen Autos mit den glotzenden Zweibeinern richtig satt. Was man natürlich verstehen konnte. Wenn sie etwas mehr von den Menschen gelernt hätten, hätten sie uns bestimmt eine große Pranke entgegengestreckt und hätten geknurrt: „One Shilling please!“ Der kameralose Herr Braun verhielt sich heut ganz merkwürdig ruhig. Gestern hatte er unaufhörlich gemault und geschimpft, heut
saß er in seiner Ecke mit dem Fernglas vor den Augen und sagte nichts. Ab und zu holte er seine Minikamera aus der Hosentasche und machte ein Foto. Sonst beobachtete er alles, was es zu beobachten gab. Nanu, war es mein einmaliger Mann, der im Laufe der Nacht dieses Wunder vollbracht hatte? Ich bekam vorläufig keine Gelegenheit zu fragen. Denn jetzt ging es unerbittlich zurück zum Hotel, wo die ganze Kofferreihe mit den „Tellus-Touren“-Anhängern schon vor dem Haus stand. Gepäck rein, Lunchpakete ausgehändigt, und schon waren wir unterwegs! Am späten Nachmittag kamen wir zum Grenzübergang. Wieder Papiere ausfüllen, wieder Stempel in die Pässe – weiter, weiter, wir müssen vor achtzehn Uhr…! Da fuhren wir wieder, und der rote Staub wirbelte wie eine dicke Wolke um uns und hinter uns. Und wir waren wieder in Kenya. Wann würden wir wohl das nächstemal nach Tanzania kommen? Am liebsten hätte ich sofort umgedreht und wäre zurück nach Seronera gefahren, ohne Reisegesellschaft, nur mit Heiko – ach, wie schön wäre das gewesen! Schön war aber auch der Amboseli-Nationalpark! Erstens war es ein Zeltlager so wie Seronera, und ich habe nun mal eine Schwäche dafür, im Zelt zu schlafen. Irgendwie habe ich dann das Gefühl, einen engeren Kontakt mit der Natur zu haben, wenn nur eine dünne Zeltwand mich von der schwarzen Nacht, von Löwen, Leoparden und Hyänen trennt. Gleichzeitig – das gebe ich zu – ist es mir eine Beruhigung, daß das Zelt sehr solide Reißverschlüsse hat! Wieder Zeltverteilung, Eintragung, Gepäckkontrolle, Fragen beantworten – endlich, endlich konnten Heiko und ich uns ins Zelt zurückziehen, wo wir um das Erstbenutzungsrecht der Waschschüsseln knobelten. Wir waren so schmutzig, daß wir gar nicht in den Spiegel schauen wollten! „So“, sagte Heiko. „Nun kriegst du deinen Gutenachtkuß von gestern und den Gutenmorgenkuß von heute früh. Ich war ja keine Sekunde allein mit dir. Ach was, es macht gar nichts, daß du schmutzig bist, ich bin es ja auch! Und nun erzähl mir, wie es dir und Frau Robinson ergangen ist!“ „Wunderbar!“ versicherte ich, während ich eine saubere Bluse aus dem Koffer rauskramte. Es war die letzte, heut abend mußte ich unbedingt waschen. „Und du, was für Wunder hast du mit dem Quälgeist vollbracht? Er ist ja heut recht manierlich gewesen!“ „Ach, der! Er maulte gestern abend eine halbe Stunde und grämte
sich halbtot über seine Kamera, bis ich ihm klarmachte, daß er jetzt eine Gelegenheit hatte, die er wahrnehmen sollte, nämlich die Tiere wirklich zu betrachten, sich ganz einfach zu freuen, ohne hektisch an Blende und Entfernung zu denken! Vielleicht hat meine Predigt gewirkt, ich weiß nicht.“ „Doch, tatsächlich, sie hat! Denn, wie gesagt, er war heut wirklich manierlich. Eins begreife ich allerdings nicht, warum er eigentlich diese Reise mitmacht. Wo er doch kaum den Unterschied zwischen einer Thomsomgazelle und einer Elenantilope kennt!“ „Das kann ich dir sagen. Er macht es, ,um einen ganz tollen Film zu drehen’, wie er mir wörtlich anvertraute. Komisch, nicht wahr? Filmen und fotografieren ist natürlich was Schönes, sehr schön sogar, aber wenn man in jedem Tier, jedem Sonnenuntergang, jeder Aussicht nur ein Filmmotiv sieht, wenn der Kilimandscharo nichts weiter ist als…“ „Kilimandscharo!“ rief ich. „Mensch, den habe ich vergessen! Den werden wir ja von hier sehen können!“ „Das werden wir, vorausgesetzt, daß er sein Haupt nicht schamhaft in eine Wolkendecke hüllt. Halt die Daumen, daß wir morgen schönes Wetter kriegen!“ „Ich komme ja gar nicht aus dem Daumendrücken raus“, seufzte ich. „Sie sind schon ganz blau und gelb. Hier, nimm den Waschlappen und wasch mir den Rücken!“ „Zu Befehl, gnädige Frau. Dann erzähl mir endlich über dich und Frau Robinson. Die Frau interessiert mich. Sie ist ein reizender Mensch.“ Heiko nahm das Frottiertuch und rieb meinen Rücken trocken, und ich erzählte. „Mensch!“ rief er, als ich von meiner Entdeckung erzählt hatte. „Sie ist Helen White! Das hätte ich mir beinahe denken müssen. Ist das nicht unglaublich, Sonnie, daß wir die Dame kennengelernt haben, der du zu verdanken hast…“ „Kennengelernt? Ich habe die ganze Nacht mit ihr verbracht! Das wirst du nie erleben! Ätsch!“ Ich wachte durch ein leises Geräusch auf. Wie spät war es wohl? Es war noch dunkel, aber die Leuchtzeiger meiner Uhr zeigten auf halb sieben. Ach so, dann war es wohl der Steward, der das Teetablett auf den Tisch vor dem Zelt gestellt hatte. Ach was, mir war gar nicht nach Tee. Heiko auch nicht, er schlief noch. Also kroch ich tiefer unter die Decke, um noch zehn Minuten
zu dösen. Noch ein Geräusch, aber – nanu, was war denn das auf dem Zeltdach? Als ob jemand da liefe – ein Eichhörnchen oder so… Ich schlüpfte aus dem Bett und machte unsere Reißverschlußtür auf. Und konnte kaum ein lautes Lachen zurückhalten. Denn da, auf unserem Tisch, saß eine Meerkatze und füllte den Mund mit Zuckerstücken, auf dem Nachbartisch saß eine zweite, ein Stück weiter weg trafen sich zwei Tierchen und stritten sich um den Zucker. Da lief ein größeres Tier über ein Zeltdach – das war vielleicht eine Bande! Von einem Zelt kam ein lautes Schreien. „Hilfe, Hilfe – mein Film – er hat meinen Film geklaut!“ Ich rannte rüber zu der hilfeschreienden Dame und sah grade, wie eine Meerkatze mit der erbeuteten Filmpackung in einem Baum verschwand. „Ich saß hier und wollte einen neuen Film einlegen, ich hatte ihn auf den Stuhl gelegt, und dann plötzlich kam das Biest!“ „War es ein neuer Film oder ein belichteter?“ „Zum Glück der neue! Wäre es der Film mit den Bildern von Manyara, hätte ich geweint! So ein Ungeheuer, so ein Dieb!“ Die Dame mußte plötzlich lachen, denn da sahen wir den Sünder. Er saß seelenruhig auf einem Ast und schmiß gerade den Filmkarton runter. Nun fing er an, das Stanniolpapier abzureißen. Was hatte der kleine Strolch doch für flinke Finger! Er hielt das Filmende fest, schmiß die Spule runter, und so rollte sich der Film ab und wurde immer länger, zum Erstaunen des Affen. Er saß da mit dem Ende des Films in der Hand und guckte fragend dem langen Zelluloidstreifen nach. „Gott sei Dank, daß ich noch einen Film habe“, tröstete sich die Bestohlene. „Sagen wir bloß den anderen, daß sie scharf aufpassen müssen!“ Das taten sie auch, nachdem sie alle – buchstäblich alle – ihren Morgen Tee ohne Zucker trinken mußten! Ich hatte meine Daumen nicht umsonst gedrückt. Als es hell wurde, erlebten wir es: Da zeichnete sich der weiße Kegel des Kilimandscharo klar und strahlend gegen den blauen Himmel. Wir standen alle da mit Ferngläsern und Kameras. Das war wirklich einer der Höhepunkte der Reise. Neben mir seufzte Herr Braun. Jetzt tat er mir wirklich leid. Ich war oft böse auf ihn gewesen, aber an diesem wunderbaren Morgen
war ich milde und versöhnlich gestimmt und wollte eigentlich zu allen Menschen lieb sein. Hier stand ich mit Rolfs vollautomatischer, „idiotensicherer“ Kamera, und neben mir, wie gesagt, der unglückliche Herr Braun. „Sie haben doch auch eine Superachtkamera, Herr Braun?“ sagte ich. „Wissen Sie, dann drehe ich einen extra Meter Kilimandscharo, und den schicke ich dann Ihnen!“ Er war so überglücklich und so dankbar, daß mein Herz windelweich wurde, und ich versprach ihm auch einen Meter Baumlöwen und ein Stück Ngorongoro! Dann war er ein neuer Mensch, er war liebenswürdig und direkt gesprächig. Komischer Kauz. Bisher hatte ich mich redlich abgemüht, hatte ihm alle Fragen beantwortet, hatte ihm jede Seltenheit gezeigt, ihm mit einer Kopfschmerztablette aus unserer Reiseapotheke geholfen – , das alles hatte ihm gar keinen Eindruck gemacht. Aber ein paar Meter Film brachten ihn wirklich zum Strahlen! An diesem Vormittag wehten frischgewaschene Blusen und Hemden vor jedem Zelt. Wir würden bis morgen bleiben, also hieß es waschen, waschen, waschen! Nach dem Lunch ging es dann raus ins Gelände. Von dieser Fahrt versprach ich mir viel. In Amboseli sollte man ja die Möglichkeit haben, Giraffengazellen zu sehen. Heiko hatte mir davon erzählt. Er hatte sie im Frankfurter Zoo gesehen, er hatte mir auch Bilder gezeigt. Ich brannte darauf, diese wunderschönen Tiere zu sehen! Vorerst trafen wir nun unsere altbekannten Löwen in großen Mengen, dann Zebras, Gnus und Antilopen. Und dann zu meiner großen Freude eine Nashornkuh mit Kind! Dank meinem allwissenden Mann konnte ich meiner Gruppe – heut war ich im Wagen I, mein lieber Wagen II hatte keinen Reiseleiter – erzählen, daß die Nashornmütter immer ihre Kinder vorgehen lassen, während bei anderen Tierarten die Mutter an der Spitze wandert, und die Kleinen trotten hinterher. Dann entdeckte ich Webervogelnester, die eng aneinandergebaut waren und richtige große „Mietskasernen“ oder „Reihenhäuser“ bildeten. In Seronera bauten die Webervögel nur Einfamilienhäuser, hier waren sie mehr rationell und modern. Immer hielt ich Ausschau. Ich hatte Francis gebeten, unbedingt zu halten, wenn er Giraffengazellen entdecken sollte – und dann, kurz bevor wir umdrehen mußten, als ich die Hoffnung beinahe
aufgegeben hatte, da geschah es: Francis hielt, die beiden anderen Wagen auch – und da, ein paar Hundert Meter entfernt, galoppierten fünf herrliche, anmutige Giraffengazellen, diese bezaubernden, schlanken Tiere mit den langen Hälsen, den großen Ohren und den dunklen Augen. Da blieb ein Tier stehen, richtete die Ohren in „Lauscherstellung“ gegen uns. Ich machte schnell ein Zeichen zu Herrn Braun in Wagen II, er nickte und verstand, und ich filmte Meter um Meter. Das Ganze dauerte vielleicht zwei Minuten, dann galoppierten sie davon. Aber wie schön war es gewesen! Und wie glücklich war ich, daß ich sie zu sehen bekommen hatte! Als wir abends im Eßzelt saßen – ja, hier aßen wir wieder in einem großen grünen Zelt – , fragte Heiko, ob wir nun alle die schönen Gerenuks gesehen hätten. „Gere-was?“ sagte Herr Braun. „Nein, das haben wir nicht!“ „Aber Herr Braun!“ rief ich. „Ich habe sie doch gefilmt und machte Ihnen ein Zeichen, daß ich für Sie mitfilmte!“ „Aber das waren doch Giraffengazellen!“ sagte Herr Braun. „Das hat jedenfalls Frau Robinson gesagt. Wer hat nun recht?“ „Beide“, lächelte Heiko. „Gerenuks und Giraffengazellen sind zwei Namen für dasselbe Tier!“ „So wie Leopard und Jaguar!“ meinte Herr Braun. Mit Engelsgeduld erklärte ihm Heiko, daß der Jaguar in Südamerika lebt und daß seine Zeichnungen etwas anders sind als die des afrikanischen Leoparden. Herr Braun nahm es zur Kenntnis. Aber das Wort Leopard brachte das Gespräch zurück auf Frau Robinsons Erzählung zwei Tage vorher, vor dem Feuer in Seronera. „Sagen Sie, Frau Robinson“, fragte eine Dame aus Wagen II, „es ist doch wohl nicht so, daß jedes Leopardenfell von einem gewilderten Tier ist? Von einem Tier, das in einer Drahtschlinge jämmerlich ums Leben gekommen ist?“ „Jedes nicht“, sagte Frau Robinson. „Aber ich möchte ein paar Zeilen aus einem Buch zitieren, ja ich kann sie auswendig – sie sind von dem bekannten Afrikaexperten George Adamson. Er schreibt: Wahrscheinlich werden neunzig Prozent der von modischen Frauen der westlichen Welt getragenen Leopardenmäntel aus illegal erworbenen Fellen hergestellt. Diese Damen sind unmittelbar für die fast völlige Ausrottung der Leoparden in vielen Teilen Afrikas verantwortlich.’ Ja, so schreibt er, und er weiß Bescheid! Illegal erworben, das bedeutet gewildert, gewildert bedeutet eine grausame Tötungsweise, entweder mit Giftpfeilen oder Fallen oder
Drahtschlingen. Was so ein Pelzmantel, den eine Frau nur aus Eitelkeit anschafft, an Leiden gekostet hat, das – ja das – “ Frau Heimann legte ihre Hand auf die von Frau Robinson: „Ich habe das alles nicht geahnt, Frau Robinson. Wenn ich nach Hause komme, sage ich meinem Mann, er darf mir einen Nutriapelz schenken. Aus Fellen von Zuchttieren!“ Frau Robinson drückte Frau Heimanns Hand. Sie warf einen ganz schnellen Seitenblick auf mich und lächelte mit verdächtig blanken Augen.
Telegramm an Heiko Wir waren zurück in Nairobi. Müde, verstaubt und schmutzig, voll herrlicher Eindrücke, aber unbedingt mit dem Bedürfnis, einen Tag zu verschnaufen, bevor wir den zweiten Teil der Reise antraten. Übermorgen würden wir nach Uganda fliegen. Alle zogen sich, so schnell es ging, in ihre Zimmer zurück. Mit einer Ausnahme: Herr Braun wanderte, schmutzig und unrasiert, zielbewußt zum Fotogeschäft um die Ecke. Er kam erleichtert zurück. Man hatte ihm versprochen, die Kamera bis morgen abend in Ordnung zu bringen. Als Heiko und ich beim Empfangschef standen, um alles Notwendige zu besprechen, kam ein Bote und gab ein Telegramm ab. Der Empfangschef warf einen schnellen Blick darauf, dann überreichte er es Heiko. „Für Sie, Herr Doktor.“ Nanu? Um Gottes willen – es war doch wohl nichts Schlimmes passiert? Mit Heikos Eltern oder mit meinen – oder – oder – Natürlich las ich über Heikos Schulter mit: „Neue Gruppe eintrifft am 21. August Nairobi stop können Sie zweiwöchige Führung Serengeti Manyara Amboseli übernehmen stop umgehende telegrafische Antwort erbeten stop wenn ja alle Instruktionen Luftpostbrief Entebbe stop überweisen Geld telegrafisch stop grüß Tellustouren.“ Ich fiel auf einen Stuhl und schnappte nach Luft. „Heiko – ich werd verrückt!“ Heiko lächelte von einem Ohr bis zum anderen. „Um Gottes willen, warte damit! Du wirst das bißchen Verstand, das du hast, dringend brauchen! Also, was telegrafiere ich?“ „Ja – du Schafskopf!“ „Den Schafskopf lasse ich lieber weg“, sagte Heiko, ergriff eine Telegrammformular und malte darauf mit großen, freudigen Lettern: „Yes. Brunner.“ Zwei Minuten später war das Telegramm aufgegeben. Und nach weiteren drei Minuten waren wir in unserem Zimmer, wo wir uns, schmutzig und verschwitzt, um den Hals fielen. Unsere Gruppe sollte am 13. August zurückfliegen. Eine Woche
würden wir haben – eine Woche für uns – eine Woche in Afrika ohne Pflichten, ohne „Gruppe“ und ohne Programm – eine geschenkte Woche, sieben Tage, vom Himmel geschenkt! „Was machen wir dann?“ sagte Heiko. Als ob er nicht die Antwort wüßte! „Fahren nach Seronera! Leben eine Woche im Zelt, machen Pirschfahrten mit Evaristus – denk an die Erdwölfe und die Servale – Heiko, ich schreie gleich vor Freude!“ Heiko schrie nicht. Aber seine Augen strahlten, und er fing schon an, sich zu überlegen, wie man am besten und billigsten hinkäme – ob man vielleicht mit irgendeinem „Gruppenauto“ mitfahren durfte – oder ob ein Flug wohl erschwinglich wäre. Ich war so vollkommen durcheinander, daß ich nicht wußte, was ich tat! Ich nahm ein Bad und kämmte die Haare ganz automatisch, aber als ich mich zum Mittagessen anzog, mußte Heiko mich darauf aufmerksam machen, daß ich dabei war, in meine zerknitterte und unwahrscheinlich dreckige Safarihose zu steigen! Wie freute ich mich darauf, Frau Robinson dies zu erzählen! Sie würde es uns so richtig von Herzen gönnen. Das tat sie auch. Sie beglückwünschte uns aufrichtig und fragte gleich, wie wir diese „Verschnaufwoche“ verbringen wollten. „Wir machen eine verspätete Hochzeitsreise nach Seronera!“ sagte Heiko. „Wunderbar. Darf ich ein bißchen zu Ihrem Glück beitragen? Sie können für die Woche gern meinen Wagen haben. Sprechen Sie mit Francis, er fährt uns ja übermorgen zum Flughafen.“ „Oh, Frau Robinson, ich heule gleich vor Freude!“ Ich tat es auch. Ich mußte wirklich schnell zum Taschentuch greifen. „Gnädige Frau“, stammelte Heiko. „Wissen Sie eigentlich, was Sie für uns tun? Verstehen Sie selbst, wie glücklich Sie uns machen?“ „Ich glaube schon“, sagte Frau Robinson mit ihrem hübschen, stillen kleinen Lächeln. Zwei Tage später rollten wir über das weite Flugfeld von Entebbe. Dort erwarteten uns neue Autos, neue Fahrer und ein neues Land. Ich hatte Angst gehabt, daß ich meine Arbeit hier nicht schaffen würde. Ich hatte Zoologie und Geographie gebüffelt, das stimmte
schon – aber trotzdem! Wenn bloß unseren Leutchen nicht allzu verzwickte Fragen einfallen würden! Aber es ging besser, als ich dachte. Ich glaube, alle waren ein bißchen reisemüde. Das dauernde „Aus-dem-Koffer-Leben“ strengte an. Als wir am ersten Nachmittag in Entebbe in den herrlichen Botanischen Garten gingen, gab es kaum eine Frage zu beantworten. Wir erlebten übrigens etwas, was ich als eine große Sensation empfand: Hier im Garten lebten etliche Guerezas, diese unglaublich schönen schwarzen Schlankaffen mit ihren seidenweichen, weißen „Fransen“. Sie blieben in ihren Bäumen, sie schienen sogar die höchsten ausgesucht zu haben, aber mit dem Fernglas konnten wir sie sehr gut sehen und mit Teleobjektiv auch filmen und fotografieren. Dann holten wir, bildlich gesagt, tief Luft und begaben uns auf weite Fahrt. Mir wurde schwindlig, wenn ich das Programm studierte. „Ja“, sagte Frau Robinson, als ich ihr meinen Kummer mitteilte. „Eins habe ich gelernt: Man soll nicht allzuviel in eine solche ,Reise von der Stange’ einpacken. Lieber etwas länger in jedem Lodge und nicht unbedingt eine Rekordzahl an Kilometern fressen!“ Aber jetzt mußten wir Kilometer fressen, ob wir es wollten oder nicht. Unsere erste Pause machten wir ganz genau auf der Äquatorlinie! Hier war ein recht lustiges „Äquatorzeichen“ errichtet. Ein großer senkrecht stehender Ring, bei dem die bedeutungsvolle Linie genau durch die Mitte lief. Ein S und ein N sagten uns, auf welcher Halbkugel wir uns befanden. Herr Braun revanchierte sich bei mir. Mit Rolfs Apparat machte er eine Aufnahme von Heiko und mir, als wir Händchen haltend durch den Ring gingen, Heiko auf der nördlichen Halbkugel und ich auf der südlichen. „Halt!“ rief Frau Robinson. „Stehenbleiben! Küßchen geben!“ Lachend gehorchten wir. Frau Robinson knipste ein Foto, Herr Braun filmte. Es wurden überhaupt etliche hundert Meter Film verbraucht, alle ließen sich von allen fotografieren. Nun ja, schließlich steht man nicht jeden Tag mit den Fersen und den Zehen auf zwei verschiedenen Erdhälften. Es ging weiter. Wir hatten eine sehr weite Strecke vor uns. Die Sonne brannte auf uns und den endlosen Weg über die Sisal- und
Papyrusplantagen. Ach, wenn wir bloß mehr Zeit gehabt hätten, wenn wir ab und zu eine Pause hätten machen können! Aber – wir fräßen eben Kilometer. Neun volle Stunden saßen wir im Auto, bevor wir das Ziel des Tages erreicht hatten: Mweya Lodge im Queen Elizabeth Nationalpark. Steifbeinig und müde wanderten wir zu unseren Appartements – die übrigens sehr schön, sauber, praktisch und geräumig waren – , um nachher in Badeanzügen wieder zu erscheinen und uns in dem kleinen Swimming-Pool zu erholen. Das Programm des nächsten Tages war wunderbar. Es ging per Motorboot durch den Kazingakanal, der den Edwardsee mit dem Georgsee verbindet. Jetzt war endlich unsere ganze Gruppe beisammen, alle in einem Boot. Ich konnte ganz und gar entspannen und meinem allwissenden Mann die ganze Führung überlassen. Wir beobachteten ein unwahrscheinlich reiches Vogelleben. Ich habe nur ein paar Namen behalten – Kormorane, Pinguine, Schreiseeadler, verschiedene Reiher. Ich bin nun mal mehr für die Vierbeiner! Es war ein eindrucksvolles Erlebnis, Hunderte von Flußpferden auf einmal zu sehen, diese Riesen mit ihrem viereckigen Kopf, winzigen Ohren und kleinen Augen. Sie wirkten so friedlich, so gutmütig – ich mochte sie ganz einfach leiden! Auf den Ufern sahen wir Büffel, Elefanten und die schönen Uganda-Kobs, eine Antilopenart, die mir bis zu diesem Augenblick unbekannt gewesen war. Ich mußte genau hingucken, damit ich sie nicht mit Wasserböcken verwechselte. Von denen gab gab es auch eine ganze Menge. Ja, es war ein herrlicher, erholsamer Vormittag, der uns viele neue, schöne Eindrücke gab und gleichzeitig die Entspannung, die wir bitter nötig hatten. – Nachmittags ging es per Auto in den Park, wo am gleichen Morgen neun Löwen einen Büffel erlegt hatten. Jetzt waren sie wohl satt, nur ein paar Löwinnen lagen noch da und zerrten halbfaul an den Resten des mächtigen Tieres. Weiter, immer weiter. Ich sagte mir selbst zehnmal pro Tag: „Einmal kommst du wieder her, Sonja! Einmal fährst du mit Heiko allein, und wir bleiben lange in jedem Lodge, wir sehen uns in Ruhe alles an, vielleicht können wir sogar in die Ecken des Landes kommen, wo noch Schimpansen und Oryxantilopen zu sehen sind. Betrachte diese Reise nur als eine erste, kurze Orientierung. Noch einen ganzen Tag im Auto, durch kleine Städte, durch Dörfer, an Plantagen entlang. Und was für Plantagen: Grüne
Teesträucher, soweit wir blicken konnten. Mitten in all dem Grünen lag unser Hotel, Ruwenzori Tea Hotel, ein verschwenderisch gebautes Haus aus der Kolonialzeit. Nie hatte ich so große und so hohe Räume gesehen, nie eine so breite Veranda – und nie ein solches Gästezimmer! Es war so groß wie unsere ganze Wohnung daheim, und als ich in das Bad ging, mußte ich lachen: Das Badezimmer war ungefähr so groß wie unser Wohnzimmer in Hamburg! An dieses Hotel erinnere ich mich besonders aus zwei Gründen: Auf dem Dach rannte das Haustier rum, ein merkwürdiges, affenähnliches Geschöpf mit einer weißen Nase, dunklem Fell und einem langen, fuchsroten Schwanz! Leider hatte das Tier dieselbe Einstellung wie die Massais: Es hatte uns fotografierende Touristen herzlich satt und war ausgesprochen wenig freundlich. Mein zoologischer Doktormann klärte mich auf. Es war eine „Weißnasenmeerkatze“. Ich hatte wahrhaftig keine Ahnung, daß es so was auf der Welt gibt! Aber in diesem Land war die Tierwelt unerschöpflich. Ob ich wohl ein Tausendstel davon kennengelernt hatte? Dann erinnere ich mich an den riesengroßen Park, in dem ich am frühen Morgen mit einem großen Hund rumtobte. Er gehörte dem Hotelleiter, war ein entzückendes, verspieltes Tier, mit dem ich Norwegisch sprach und mich herzlich amüsierte. Ich warf ihm Fallobst zum Spielen hin, große, gelbe Früchte, die wie Riesenpampelmusen aussahen. Was war das wohl? Ich fragte einen Waiter, er schüttelte nur den Kopf und antwortete: „No good, madam. No good, no eat!“ Da sogar Heiko ahnungslos war, ließen wir es dabei bewenden. Bei uns werden diese Früchte nie anders heißen als „no good, no eat“. Heiko trat auf die breite Veranda, sah mich mit dem Hund, holte die Filmkamera und freute sich diebisch, als der Hund mich am Hosenboden zwickte, um mich zum weiteren Spielen anzuregen. Heut war die Welt schön! Ich legte die Arme um Heikos Hals und flüsterte: „Nur noch vier Tage, Liebster! Dann sind wir die ganze Meute los!“ „Nur noch fünf Tage, Liebling“ sagte Heiko. „Dann fahren wir nach Serengeti – du und ich – nur du und ich!“
Bei den Krokodilen Es war so heiß, daß es mir vor den Augen flimmerte. Das Getöse von stürzenden Wassermassen lockte mich. Es klang nach Kühle und Frische! Ich schleppte mich dichter an den Wasserfall. Die Sonne stand im Zenit. Dann standen wir da, Heiko und ich und ein Teil der Reisegesellschaft. Ein paar der ältesten saßen stöhnend und schwitzend unter einem Baum, der einen spärlichen Schatten spendete. Die drei, vier jüngsten der Gesellschaft wanderten hoch auf einem schmalen, steilen Pfad nach oben zu einem Punkt, von dem man die ganzen Murchinson Falls auf einmal überblicken konnte. Ja, wir standen an den Murchinson Falls, und ich mußte mich wieder selbst in den Arm kneifen. Ich, Sonja Brunner, geborene Rywig aus Norwegen, stand mitten in Afrika und ließ mich kühlen und besprühen von der staubfreien, wohltuenden Dusche vom Nil – vom Nil, der hier seine gewaltigen Wassermassen über die Felsen schleuderte, mit Brausen und Getöse und schneeweißem Schaum. Es war überwältigend. So überwältigend, daß ich für ein paar Minuten die quälende Hitze vergaß. Dafür merkte ich sie nachher im Auto. Die Sitze waren so glühend heiß, daß sie uns beinahe den Allerwertesten versengten! Jetzt ging es in den letzten unserer fünf Nationalparks: in den Murchinson Park. Ich mußte an meine erste Begegnung mit einem Elefanten denken, damals, im vorigen Jahr. Wie waren wir aufgeregt gewesen! Und hier – hier sahen wir Herden mit 40 – 50 Tieren. Du großer Gott, was für ein Reichtum, wie hatte der liebe Gott doch seine Gaben mit verschwenderischer Hand hier ausgestreut! Giraffen – Uganda-Kobs, – Löwen – Büffel – – gute alte Bekannte, aber immer wieder herrlich zu sehen. Dann mit einer Autofähre über den Nil, und da oben – da lag unser letztes Lodge, das große, bekannte Paraa Lodge. Es war mir beinahe zu elegant, hatte so wenig mit der unberührten Natur zu tun. Außerdem wimmelte es nur so von Menschen. Aber – selbstverständlich war es herrlich, wieder ein schönes, kühles Zimmer mit Klimaanlage zu haben und vor allem ein Bad! Heiko und ich liefen um die Wette, um zuerst unter die Brause zu kommen, mit dem Resultat, daß wir uns darunter trafen!
Am Abend, als es schon ganz dunkel war und der blauschwarze Himmel mit seiner liegenden, kahnförmigen Mondsichel und Millionen Sternen sich über uns wölbte, versammelten sich alle Hotelgäste auf der großen Terrasse. Da wurden ganze Schweine am Spieß gebraten, da wurden Hähnchen gegrillt, und ein großes kaltes Buffet war aufgebaut. Wie hat das geschmeckt, und wie war es stimmungsvoll! Fünf pechschwarze Afrikaner machten Volksmusik und sangen. Nachher schlichen die Hyänen vor der Terrasse herum und holten sich die Reste. Als sie fertig waren, war alles blitzblank. Ein Müllabfuhrproblem existierte hier anscheinend nicht. Frau Robinson kam mit ihrer Kaffeetasse in der Hand und setzte sich zu Heiko und mir. „Störe ich, Kinder?“ „Um Gottes willen – schrecklich nett, daß Sie kommen. Es ist nur so traurig, daß wir uns bald trennen. Sonst – “ ich biß mich auf die Lippe. „Na, was wollten Sie sagen? Sonst sind Sie ganz froh, daß Sie die Meute loswerden?“ „You said it!“ „Und ich darf mich selbst als eine Ausnahme betrachten?“ „Und ob!“ riefen Heiko und ich gleichzeitig. „Das ist aber beruhigend. Ich habe nämlich etwas vor, was Sie betrifft. Nein, jetzt ist es zu spät – aber es wäre sehr schön, wenn Sie sich in Entebbe für – sagen wir zwei Stunden – freimachen könnten. Ich möchte gern in Ruhe etwas mit Ihnen besprechen.“ „Selbstverständlich, gnädige Frau! Wir werden ja einen ganzen Tag in Entebbe haben, ohne Programm, es geht uns gar nichts an, ob die Gäste in den Botanischen Garten gehen oder nach Kampala fahren oder im Schwimmbecken rumplanschen. Wir stehen jederzeit zur Verfügung, nicht wahr, Sonnie?“ „Und ob!“ sagte ich wieder. „Was hat sie wohl vor?“ wunderte ich mich, als wir dabei waren, ins Bett zu gehen. „Worüber, glaubst du, will sie mit uns sprechen?“ „Das ist doch klar wie Kloßbrühe! Sie borgt uns ihren Wagen, diese gute Fee, dann ist es doch sonnenklar, daß sie uns über die Fahrt und alle Vorsichtsmaßnahmen aufklären wird. Du, was können wir bloß für sie tun, um unsere Dankbarkeit zu zeigen?“ „Wir werden es uns überlegen – nanu, was machst du denn da?“ „Rücke mein Bett“, sagte Heiko energisch. „Ich gewöhne mich
nie an diese blödsinnige Sitte hier im Lande. Die Innenarchitekten rechnen anscheinend nicht damit, daß ein Ehemann in seine Frau verliebt sein kann! Wenn das nicht der Beweis dafür ist, daß wir uns in einem Entwicklungsland befinden!“ Dann standen die Betten so, wie Heiko sie haben wollte, und ich schlief ein mit meinem Kopf auf seiner Schulter. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, als ein seltsames Geräusch mich weckte. Ich stand lautlos auf und schlich auf nackten Füßen zum Fenster. Es hörte sich an, als weidete eine Kuhherde da draußen auf dem Rasen. Es war stockfinster. Als meine Augen sich daran gewöhnt hatten, sah ich die Umrisse von etwas Großem, Gewaltigem – es war irgendein Tier, das sich bewegte – ein Tier, das da eine nächtliche Mahlzeit genoß – „Heiko! Du mußt wach werden! Komm und guck!“ Er kam, strubbelig und verschlafen. Dann holte er die Taschenlampe vom Tisch und richtete den Strahl auf das Große, Dunkle da draußen. „Menschenskind! Das ist ja ein Flußpferd!“ Wie wirkte das Tier doch enorm groß jetzt, wo wir es auf etwa fünf Meter Abstand hatten. Es ließ sich durchaus nicht durch den Lichtstrahl stören, auch nicht, als im Nachbarappartement noch eine Lampe aufleuchtete. Fenster wurden geöffnet. Man hörte gedämpfte Stimmen. Jetzt blitzten und klickten die Fotoapparate. Das Tier hob den Kopf, schnaubte, warf einen Blick auf die Reihe Appartements mit all den neugierigen Gesichtern. Dann machte es kehrt, zeigte uns sein mächtiges Hinterteil und wanderte gemächlich die steile Böschung runter, zum Ufer des Nils. „Mensch!“ sagte ich. „Du irrst dich. Es war ein Flußpferd“, murmelte Heiko und verschwand unter der Bettdecke. Am folgenden Morgen, als ich auf die kleine Terrasse des Appartements trat, blieb ich stehen und blinzelte. Dies konnte doch nicht wahr sein! Keine vierzig Meter von mir entfernt stand ein Elefant. Ein enormes Tier mit zwei Stoßzähnen wie überdimensionale Krummsäbel. Es sah ganz friedlich aus, interessierte sich herzlich wenig für mich, desto mehr aber für das Futter, das ihm in eine große, gegossene Zementwanne gelegt worden war.
Da rührte sich etwas hinter ihm – nein, hinter ihr, es war eine Elefantenkuh! Ein ganz kleines Elefantenbaby kam zum Vorschein, fuchtelte ein bißchen mit dem kleinen Rüsselchen, versuchte, etwas von dem Futter zu fassen zu kriegen, überlegte es sich anders und wählte schmatzend und saugend die mütterlichen Milchquellen. Wieder mußte ich Heiko wecken. Gleich darauf erschienen alle Zimmernachbarn, nur notdürftig angezogen, die Männer unrasiert, die Frauen mit Lockenwicklern und eingefetteten Gesichtern. Herr Braun stand in einem rotgestreiften Schlafanzug und filmte, taub und blind für alles andere. Diesmal konnte ich ihn verstehen. Mit Teleobjektiv müßte er ein formatfüllendes Bild von den Elefantenaugen kriegen können – und von dem Kopf mit den mächtigen Ohren erst recht! Mir gelang es, eine Aufnahme von dem saugenden Kälbchen zu machen – eine Aufnahme, die ich als Höhepunkt meines Afrikafilmes betrachte! Ja, dieser letzte Tag vor der Rückfahrt brachte uns eine Sensation nach der anderen. Nach dem Frühstück ging es per Motorboot auf den Nil, und endlich, endlich erlebten wir das, worauf ich mich die ganze Zeit gefreut hatte: Krokodile, richtige, große Nilkrokodile aus nächster Nähe zu sehen! Sie lagen am Ufer, auf Steinen, im Gras – und vor allem lagen sie auf den Sandbänken der kleinen Insel. Sie lagen da, ohne sich zu bewegen, mit weit aufgesperrtem Rachen, minutenlang, viertelstundenlang. Daß Krokodile so groß werden konnten! „Wie häßlich sind sie doch“, sagte ein junges Mädchen vom Wagen III. „Das mit den Leoparden verstehe ich, aber eine Krokodiltasche möchte ich doch haben – wenn sie bloß nicht so schändlich teuer wären!“ „Sagen Sie…“ Es war Frau Robinson, die sprach. „Warum finden Sie die Krokodile häßlich? Welchen Maßstab legen Sie zugrunde, wenn Sie etwas schön oder häßlich finden?“ Das Mädchen sah Frau Robinson unsicher an. „Ja, finden Sie nicht, daß sie häßlich sind?“ „Durchaus nicht. Und wenn ich es fände, dann würde ich mich selbst fragen, warum. Ein Krokodil ist anders als eine Raubkatze oder eine Antilope, aber wieso häßlich? Meinen Sie, daß der liebe Gott einen Mißgriff getan hat, als er sie schuf? Sollten wir den lieben Gott korrigieren und sagen: ,Nein, dies ist dir nicht gelungen, diese
Viecher schießen wir schleunigst ab und machen Taschen und Schuhe aus der Haut. Meinen Sie es so?“ „Nein – natürlich nicht – aber…“ Nun ergriff unser Professor das Wort. „Es wäre jammerschade, wenn diese Tierart ausgerottet würde. Es ist oft genug geschehen mit anderen Arten. Und wir dürfen auch nicht vergessen, daß wir, bei sinnlosem oder unüberlegtem Abschießen einer Tierart, das Gleichgewicht der Natur stören. Wir können uns wohl darüber einig sein, daß unser Schöpfer mehr von diesem Gleichgewicht versteht als wir?“ „Aber es gibt doch so viele davon – “, versuchte das Mädchen wieder, diesmal etwas kleinlaut. „Meinen Sie? Ja, weil die Tiere eben hier konzentriert sind, hier, wo ihnen nicht nachgestellt wird. Wenn man sie jagen dürfte, würden sie vielleicht ein paar tausend Handtaschen abgeben, dann könnten ein paar wohlhabende Damen mit einer echten Krokodilledertasche eine kurze Zeit angeben – und dann? Was dann?“ Das Mädchen schwieg. Sie starrte hinüber auf eine kleine Insel, wo grade drei mächtige Tiere sich niedergelassen hatten. Das vierte ging in diesem Augenblick ins Wasser und schwamm ganz dicht an unserem Boot vorbei. „Vielleicht“, sagte das Mädchen leise, „vielleicht stimmt es gar nicht richtig, daß sie häßlich sind. Vielleicht sind sie nur – nur – anders.“
Die gute Fee Ich hatte Herrn Braun für alle Zeit und Ewigkeit für mich gewonnen. Er fraß mir jetzt aus der Hand. Nicht, weil ich ihm besonders interessante Dinge aus Afrikas Tierreich erzählt hatte. Nicht, weil ich seine Wünsche in Englisch oder Suaheli übersetzt hatte. Nicht, weil ich ihn mit Jahreszahlen, Einwohnerzahlen, Tierarten und anderen Erläuterungen (die ich selbst schwitzend gepaukt hatte) gefüttert hatte. Nein, was mir seinen Respekt und seine Bewunderung einbrachte, war – ein Lederriemen. Es war Senta, die mich auf die Idee gebracht hatte. „Wenn du Reiseleiterin sein mußt“, hatte sie gesagt, „dann mach dich auf alle Situationen gefaßt! Ein Fahrgast setzt sich auf seine Sonnenbrille (ich hatte bei Woolworth zwei Stück zu 75 Pfennig gekauft), sie verlieren das Taschentuch (ich besorgte Papiertücher), sie kriegen Kopfschmerzen (ich hatte Tabletten bei mir), sie kriegen Durst (ich kaufte eine große Tüte säuerlicher Fruchtbonbons) oder einem platzt der Koffer, und der Inhalt liegt plötzlich in der Gegend verstreut!“ Genau das passierte mit Herrn Brauns Koffer! Kein Wunder! Er hatte überall Andenken gekauft, und was für welche! Einen Massaispeer und eine große Kalebasse, eine geschnitzte Holzmaske, eine Trommel und was weiß ich. Das meiste davon hatte er wohl mit Brachialgewalt in den Koffer gepreßt, und plötzlich geschah das Unglück. Die Verschlüsse sprangen auf, alles war restlos verbogen und kaputt, und Herr Braun stand daneben und raufte sich die Haare, während Kalebassen und Filmpackungen und schmutzige Wäsche aus dem Koffer quollen. Da kramte ich den Riemen aus meiner „Nottasche“, und von dem Augenblick an verehrte und bewunderte mich Herr Braun derart, daß Heiko kurz vor einem Eifersuchtsmord stand (behauptete er). Eins wußte ich aber: Wenn die Reiseteilnehmer später gefragt werden sollten, wie die Reiseleitung gewesen sei, würde jedenfalls ein Teilnehmer ein Loblied über meine Wenigkeit singen. Was mir eigentlich ganz lieb war! Wir waren zurück in Entebbe. Wir hatten uns sauber angezogen und erschienen in richtigen Kleidern. Die verschmutzten Safarisachen waren gepackt. Einige der Damen waren schnurstracks zum Friseur gelaufen. Ein paar
Energische machten einen Ausflug nach Kampala. Die Lehrerin war im Botanischen Garten mit Notizbuch und Fotoapparat, die beiden Jünglinge aus Wagen II spielten Fußball auf einer Wiese. Heiko und ich faulenzten. Wir saßen in Badeanzügen auf der Hotelterrasse, tranken eine kühle Limonade und starrten auf den blauen, enorm großen Victoriasee, der uns wie ein Meer vorkam. Nun ja, er ist auch der drittgrößte See der Erde. Heute abend würde unsere Gruppe nach Hause fliegen. Wir würden die Teilnehmer natürlich zum Flughafen bringen, ihnen bis zum letzten Augenblick behilflich sein. Aber dann – dann als Privatmenschen zurück zum Hotel, und morgen früh würden wir nach Nairobi fliegen – morgen mittag konnten wir starten, wir beide allein, wir beide, wir, die wir uns so über alles auf der Welt liebten – wir würden die Woche unseres Lebens starten! Heiko stand auf. Ich drehte den Kopf. Es war Frau Robinson, die kam. „Nun, Kinder? Wie ist es, faulenzen zu können?“ „Himmlisch! Aber trotzdem zählen wir die Stunden bis morgen mittag. Wir freuen uns so riesig auf diese Woche.“ „Das verstehe ich. Außerdem brauchen Sie ja ein bißchen Entspannung, bevor die nächste Gruppe kommt.“ „Na ja, das auch.“ „Und was machen Sie denn nachher?“ „Nachher? Ja, dann müssen wir ja schweren Herzens Afrika verlassen.“ „Aber Sie kommen bestimmt wieder.“ „Wir hoffen es – wir sparen eisern, um reisen zu können, falls Heiko kein Stipendium oder so was kriegt – daß wir dann selbst – aber es ist irgendwie so beklemmend, all das zu verlassen, was man so innig liebt, und nicht zu wissen, wann man es wieder zu sehen bekommt – wenn wir bloß etwas Festes wüßten, wenn es auch erst in einem Jahr oder in zwei Jahren wäre! Denn wir sehnen uns immer, immer zurück, und Heiko sitzt da mit seiner Ausbildung und seinen Sprachkenntnissen und seinem Fotografieren und Führerschein und Pilotenschein und…“ „Was? Pilotenschein? Fliegen kann er auch?“ „Ja, er sagte, daß es notwendig sei bei den großen Entfernungen in diesem Lande.“ Mein Pilot hatte sich um unser leibliches Wohl gekümmert, hatte noch einen Liegestuhl geholt, und jetzt kam er, von einem Waiter
mit Limonade und Eis begleitet. Frau Robinson guckte nach rechts und links. Kein Mensch aus unserer Gruppe war zu sehen. „Sagen Sie, Doktor Brunner“, fingt Frau Robinson an. „Haben Sie mal von der Mary-Green-Stiftung gehört?“ „Mary Green? Ja, den Namen habe ich gehört, das ist doch so ein naturwissenschaftliches Institut in England?“ „Nun – naturwissenschaftlich – ja, so kann man es auch nennen. Ich hätte Lust, Ihnen etwas darüber zu erzählen, falls es Sie interessiert?“ „Aber selbstverständlich, sehr!“ „Die Stiftung ist verhältnismäßig jung, etwa fünfzehn Jahre alt. Der Stifter war ein wohlhabender – ja, ein außerordentlicher wohlhabender Naturfreund, der der Stiftung den Namen seiner Mutter gab, Mary Green. Es fing bescheiden an, mit einem Labor und einer wissenschaftlichen Afrikaexpedition und dann ein paar Filmen. Als der Stifter starb, entschloß sich seine Witwe, sein ganzes hinterlassenes Geld in die Stiftung zu stecken. Jetzt arbeitet man dort mit einem bestimmten Programm. Man versucht, das gesamte Tierleben Afrikas zu erforschen – später sollen auch andere Länder an die Reihe kommen – , sozusagen ein zoologisches Kartenwerk auszuarbeiten. Welche Tiere leben wo? Was braucht jede Tierart, um leben, gedeihen und sich vermehren zu können? Wenn politische Umwälzungen oder neuentstehende Städte oder neue Plantagen es notwendig machen sollte, in ein tierreiches Gebiet einzudringen, wo könnte man die Tiere, oder jedenfalls eine Auswahl, ausreichend übersiedeln, um die Art weiterzuführen? – Andere Wissenschaftler – Botaniker, Geologen, Meteorologen – arbeiten ein entsprechendes Kartenwerk aus, so daß man gegebenenfalls gleich weiß, wo diese oder jene Tierart übersiedelt werden kann. Solche Übersiedlungen dürften bekannt sein, es ist viel darüber geschrieben und es sind Filme gezeigt worden.“ Wir nickten eifrig. Heiko horchte so intensiv, wie ich es nie erlebt hatte. „Zu diesem Zweck“, fuhr Frau Robinson fort, „werden regelmäßig Expeditionen nach Afrika geschickt, selbstverständlich nach Vereinbarung mit den verschiedenen Regierungen. Die Teams bestehen aus drei Wissenschaftlern und ein paar Assistenten außerdem ein paar eingeborenen Helfern. Diese Wissenschaftler – jeweils ein Zoologe, ein Biologe und ein Botaniker – werden sehr
sorgfältig ausgewählt. Man verlangt erstklassige Menschen mit erstklassigen Kenntnissen. Es gibt keine Gelegenheit, sich zu bewerben oder ein Stipendium zu beantragen. Die Verwaltung der Stiftung sucht sich selbst ihre Leute aus und untersucht auch, ob die Ausgewählten dieses Programm überhaupt mitmachen möchten. Denn es ist sehr anstrengend, das dauernde Beobachten und das dauernde Berichtschreiben. Was gebraucht wird, sind junge, gesunde Leute mit einem abgeschlossenen naturwissenschaftlichen Studium. Wer nach Ostafrika kommt, muß fließend Englisch sprechen, in Westafrika Französisch, außerdem im Osten etwas Suaheli. Sprachschwierigkeiten und solche Kleinigkeiten dürfen die sehr konzentrierte Arbeit nicht stören. Ja, dann wäre noch zu sagen, daß die Teilnehmer möglichst verschiedener Nationalität sein sollen. Weil“, hier lächelte Frau Robinson, „weil dies eine Nebenaufgabe der Stiftung ist: Die Freundschaft zwischen jungen Menschen aus allen Ländern zu fördern. Bis jetzt ist es recht gut gegangen, aber es sind immer ausgewählte Menschen, die losgeschickt werden. Sie sollen intelligent, ausgeglichen, freundlich sein – und Humor haben! Außerdem zieht man vor, daß sie verheiratet und, leider Gottes, vorerst kinderlos sind. Es wirkt nicht fördernd auf die Arbeit, wenn so ein junger Mann im Urwald sitzt und sich nach seinem Schatz oder Frau oder Freundin auf der anderen Halbkugel sehnt. Die Frauen kommen mit und verpflichten sich dazu, Sekretärinnen und Köchinnen zu sein. Ja, das wäre noch zu erwähnen? Ja natürlich, dem Team wird eine Unterkunft verschafft. Wenn es nicht anders geht, wird eine Art Hütte gebaut. Sie wird primitiv, aber brauchbar. Dann hat das Team einen Lastwagen und ein Kleinflugzeug zur Verfügung. Die Teilnehmer müssen sich für mindestens zwei Jahre verpflichten, wenn sie es für drei oder vier Jahre tun, wird es sehr begrüßt. Nun, es gäbe noch sehr viel darüber zu erzählen, aber jetzt muß ich zuerst fragen: Wollen Sie auf die nächste Expedition mit, Heiko? Es geht nach Kenia, Studienobjekt Kleinnager und Schleichkatzen.“ Heiko wurde blaß unter der Sonnenbräune. Er sah Frau Robinson an, konnte kaum sprechen. Endlich kam es, heiser und halb flüsternd: „Ist das – ist das ein Angebot, Frau Robinson? – Ist es Ernst?“ „Ja, es ist Ernst. Hundertprozentig. Sie können im Oktober zusammen mit einem englischen Biologen und einem schwedischen
Botaniker fahren.“ „Großer Gott – wissen Sie, was Sie für uns tun, Frau Robinson? Wissen Sie, daß Sie uns den größten Wunsch unseres Lebens erfüllen?“ „Ja, ich weiß es. Denn noch wertvoller als Ihre Kenntnisse und all Ihr Können ist das, was Sie beide in so hohem Maße haben: die Liebe zu diesem Lande – die Liebe zur Natur – der Respekt vor den Wundern, die der liebe Gott uns geschenkt hat.“ Wir blieben lange da sitzen, es gab sehr viel zu besprechen. Wir hatten tausend Fragen, und Frau Robinson erzählte und erklärte. „Noch eins“, sagte sie zuletzt. „Wenn mir etwas zustoßen sollte – nein, ich glaube es nicht, aber man kann nicht wissen – , das Flugzeug kann abstürzen, ich kann einen Herzschlag erleiden, dann wenden Sie sich an die Mary Green-Stiftung. Hier“, sie reichte Heiko ein Kuvert. „Schicken Sie dies, oder noch besser, fahren Sie rüber nach England und melden Sie sich bei Mr. Morgan. Dann kommt alles ins Lot.“ „Ich verstehe ja“, sagte Heiko langsam, „ich verstehe ja, daß Sie sehr viel mit dieser Stiftung zu tun haben. Aber was sagt nun die Verwaltung dazu, daß Sie einen jungen Deutschen auf einer Sammelreise auflesen und ihm ganz einfach…“ „Die Verwaltung sagt nichts außer „Yes, mylady“, lächelte Frau Robinson. „Kinder, habt ihr das denn nicht verstanden: Der Stifter, Sir Henry Robinson, war mein Mann. Mary Green war meine Schwiegermutter. Und ich, die kleine Helene Weiß aus Hamburg – ich bin ja die Verwalterin!“ Der Gong rief uns zum Lunch. Wir waren einen Augenblick allein auf der Terrasse. Die anderen Gäste hatten es eilig, zum Futtertrog zu kommen. Heiko stand auf, ergriff Lady Robinsons Hände. „Mylady – ich habe keine Worte – ich – ich – am liebsten möchte ich Sie küssen!“ platzte es aus ihm heraus. „Darauf warte ich doch bloß“, lächelte Lady Robinson und legte ihre Arme um Heikos Hals.
Nur Heiko und ich Die Gruppe war weg. Wir hatten sie zum Flughafen gebracht und uns teils mit Rührung, teils mit Erleichterung verabschiedet. Der gute Professor hatte Heiko ein verschlossenes Kuvert überreicht: „Von der ganzen Gruppe“, erklärte er. „Beitrag zu Ihrem Privaturlaub. Damit Sie es sich in dieser Zeit recht schon machen können!“ Der Beitrag bestand aus einem bunten und vor allem reichlichen Gemisch von Kenya, Tanzania- und Ugandageld in Scheinen und Münzen, zusammen eine wirklich schöne Summe. Wir hatten Lady Robinson umarmt und ihr versprochen, uns in drei Wochen bei ihr zu melden. Solange würde sie voraussichtlich in Deutschland bleiben. Dann ging es zurück zum Hotel, und wir waren allein, so wunderbar allein! Als wir am nächsten Morgen nach einem prachtvollen Flug über den Victoriasee in Nairobi landeten: Was sahen wir da? Das lächelnde Gesicht von Francis! „Ich bin da mit Myladys Wagen“, erklärte er. „Sie können gleich los, wenn Sie wollen. Dann schaffen Sie es noch heute bis Seronera.“ Es war ein Kombiwagen, sehr praktisch, mit Schlafmöglichkeiten für alle Fälle. Luftmatratzen und Schlafsäcke waren da, auch etwas Kochgeschirr, ein paar Teller und Bestecke. „Obst und Brot und ein paar Konservendosen sind da“, erklärte Francis. „So mache ich es immer, wenn Mylady selbst den Wagen braucht.“ Wir fuhren schnell, solange es ging, das heißt, so weit die Straßen asphaltiert waren und solange wir nicht riskierten, daß Tiere uns plötzlich über den Weg sprangen. Wir machten Pause in Keekorok und aßen Lunch. Heiko guckte mich an. „Was meinst du, Impala? Wollen wir doch hier übernachten? Und morgen früh mit den Meerkatzen baden?“ „Ja, wollen wir, Heiko? Wenn kein Appartement frei ist, schlafen wir im Wagen!“ Keekorok. Das wunderbare Keekorok. Allein mit Heiko. Und morgen – morgen würden wir in Seronera sein. Wir beide. Wir würden auf dem Fleckchen Erde stehen, wo ich damals
gestanden hatte, als ich Heiko das entscheidende „Ja“ sagte. Wir würden frühmorgens vor unserem Zelt sitzen, ganz, ganz still, Hand in Hand. Vielleicht würden wir ein fernes Löwengebrüll hören, vielleicht das Heulen einer Hyäne. Noch einmal würden wir sehen, wie die Sterne erblichen, wie die Nacht wich und wie die Sonne über der afrikanischen Steppe aufging. „Woran denkst du, Liebling?“ fragte Heiko sanft. „An Seronera“, flüsterte ich. „Und an noch etwas.“ „An was denn?“ „Ich denke daran, daß wir einmal in der Zukunft hoffentlich Kinder kriegen. Und daß unsere erste Tochter Helene heißen soll.“ „Einverstanden“, sagte Heiko.
NACHTRAG Meine lieben jungen Leserinnen! Manchmal hat ein Buch ein Vorwort, dieses kriegt aber ein „Nachwort“. Nachdem ich das Buch beendet und an den Verleger geschickt hatte, geschah mir das große Glück, zum dritten Mal nach Ostafrika reisen zu können. Jetzt sitze ich vor meinem grünen Zelt in Seronera, „im Herzen von Serengeti“, und sehe, wie der Tag anbricht. Ein paar hundert Meter weg weiden friedlich zwei Topiantilopen. Muntere kleine Webervögel hopsen herum und picken die Krümel auf, die ich ihnen hingestreut habe. Ich denke an meine gestrige Pirschfahrt, an die Tausende und abermals Tausende von Zebras, Gazellen und Antilopen – an die spielenden Löwenkinder auf einem „Inselberg“ in der Steppe – und ich bin dem lieben Gott demütig dankbar, daß ich dies alles noch einmal erleben durfte. Viele von Euch haben mir geschrieben, nachdem mein voriges Buch „Meine Träume ziehen nach Süden“ erschienen ist. Ihr habt gefragt, wie es nun Sonja und Heiko weiter ergangen ist, Ihr habt mich gebeten, weiter zu erzählen. Beinahe alle Briefschreiber haben gefragt, ob es wahr ist, was ich erzählt habe. Dazu muß ich „ja und nein“ antworten. Alle Personen sind erdichtet. Aber meine Schilderungen aus Afrika sind wahr, und Sonjas Glück, wenn sie in diesem Wunderland ist, ist mein Glück, so wie es das Glück jedes Natur- und Tierfreundes ist. Von ganzem Herzen gönne ich Euch, die Ihr jung seid und das Leben vor Euch habt, dieses Glück zu erleben. Ich gönne es allen Menschen, herzukommen und diese Wunderwelt mit eigenen Augen zu sehen. Wer das erlebt hat, wird immer das Seine tun, damit dieses Paradies auf Erden, dieses Gottesgeschenk, für die kommenden Generationen erhalten bleibt. Seronera, 6. März 1970
BERTE BRATT