Anne T.
Die Gier war grenzenlos
Eine deutsche Börsenhändlerin packt aus
Econ
Econ ist ein Verlag der Ullstein Bu...
190 downloads
946 Views
832KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Anne T.
Die Gier war grenzenlos
Eine deutsche Börsenhändlerin packt aus
Econ
Econ ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH
ISBN 978-3-430-20082-0
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2009
Alle Rechte vorbehalten
Satz: LVD GmbH, Berlin
Druck und Bindearbeiten: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
Anne T. schreibt unter Pseudonym. Ihr Name und ihre Arbeitgeber sind dem Verlag bekannt. Um das Persönlichkeitsrecht einiger Akteure zu wahren, wurden Namen, Orte und Personenbeschreibungen verfremdet. Alle in diesem Buch beschriebenen Ereignisse, Szenen und Dialoge haben sich so oder in sehr ähnlicher Weise bei Banken in Deutschland abgespielt.
„Märkte kennen nun mal keine Moral“ – Innenansicht der Tätigkeit einer InvestmentBankerin, über den Verkauf von „Derivaten“ (spekulativer Wertpapiere) und die Methoden, mit denen Risiko versteckt und Vernunft umgangen wurde. Zum einen bietet das Buch die differenzierte Innenansicht einer Profession, die nur Profit erzielen möchte, zum anderen auch eine (vereinfachte) Darstellung, mit welchen Mitteln Fonds- und Stiftungsmanager veranlasst wurden, sich auf riskantere Finanzinstrumente einzulassen. Mit Glossar der verwendeten Spezialbegriffe.
Prolog
15. September 2008. Die Stimmung im Handelsraum war an diesem Montagmorgen angespannt und aggressiv. Schon vor Handelseröffnung hatten die Broker Schweißflecken unter den Achseln, ein Anflug von Panik lag in der Luft. Lehman war über Nacht geplatzt – und damit auch die Träume der Derivatehändler auf millionenschwere Boni. Die unerschöpfliche Goldmine drohte zu versiegen. Milliarden hatten wir verkauft und uns dumm und dämlich an den unwissenden Privatanlegern verdient. Vorbei. Aus der Traum. Und schuld an all dem war diese US-Investment-Bank. Und noch schlimmer: Auch die institutionellen Anleger würden unsere Goldmine verschmähen, als sei sie plötzlich Gift. Das Luftschloss aus Dollars fiel in sich zusammen. Sieben Jahre lang war ich Händlerin für komplexe strukturierte Produkte, für exotische Derivate und, ja, für eben diese Zertifikate gewesen, Inhaberschuldverschreibungen. Ich war vor dem Crash ausgestiegen, weil das gesamte Business mich ankotzte. Investment-Banker sind verlogene, arrogante Selbstdarsteller, die ihre Liebe zum Geld über alles stellen und dafür sogar sich selbst verkaufen. Geld, immer mehr Geld, war Freibrief für alles, was folgte. Da unterscheidet sich die deutsche Investment-Banking-Szene kaum von der amerikanischen oder englischen – American Psycho lässt grüßen. Risiken waren uns egal, solange es nicht unsere eigenen waren. Sollte die Oma um die Ecke doch hopsgehen, egal, solange unsere Millionen-Sonderzahlungen flossen. Es waren doch alle mündige Bürger.
Man braucht ein hohes Maß an Selbstüberschätzung und vor allem an Gier, um es lange im Investment-Banking auszuhalten. Ich bin mir inzwischen sicher, dass Geld süchtig macht. Anders ist es nicht zu erklären, wie Menschen sich verändern, welchen Preis sie bereit sind zu zahlen, um möglichst viel davon zu bekommen. Und sie werden nicht satt, sondern immer hungriger. Im Investment-Banking funktioniert das Geldverdienen besonders sauber und einfach. Es ist kein schmutziges Geld. Weder handelt es sich um afrikanische Blutdiamanten noch werden indische Kinder ausgebeutet, die sich die Finger an unseren zu Hause ausgelegten Teppichen wund knüpfen. Der Preis ist ein anderer. Und ja, auch ich war gierig und habe viel Geld verdient. Eigentlich bin ich immer noch ein wenig enttäuscht über mich selbst, dass meine Gier nicht groß genug war, um dieses Geschäft weiterzumachen. Dann könnte ich bald in Rente gehen und auf einer Yacht im Mittelmeer schaukeln. Stattdessen will ich deutlich machen, was für zynische, arrogante und sich selbst überschätzende Menschen unsere Anlagegelder und Renten verwalten – und woraus sich deren Reichtum speist. Die Antwort ist einfach: Die Quelle sind ganz normale Anleger. So gut wie alle deutschen Banken haben Hunderte von Millionen, wenn nicht Milliarden Euro mit komplexen strukturierten Produkten verdient. Nicht wenige Banker sind durch sie Millionäre geworden. Das sollte man nicht durchgehen lassen. Jeder, der Geld verloren hat, der Verantwortung trägt für Gesetze, für die Finanzinstitution, sollte wissen, mit wem er es zu tun hat. »Das Kreditrisiko der Emittentin trägt der Investor.« Bahnhof? Nein, das bedeutet nichts anderes, als dass der Einzelne dafür geradestehen muss, wenn eine Investment-Bank
wie Lehman Brothers sich in Milliardenhöhe verzockt und er den Fehler gemacht hat, deren Zertifikate zu kaufen. Aber er ist in bester Gesellschaft – weder Rating-Agenturen noch Anlageberater wussten es besser.
Doch zurück zum Tag, als Lehman vollends pleiteging. Ich besuchte gerade meine Ex-Gefährten im Handelsraum, dem Ort der unheiligen Geldmaschinen. Philipp, Hartmut und Martin arbeiteten immer noch dort. Ich wusste, dass etwas Entscheidendes passieren würde. Und obwohl ich nicht mehr zum Kreis der Broker gehörte, ließen und lassen mich die Geschehnisse im Handelsraum nicht los. Einmal süchtig, immer süchtig. Schon Anfang September war deutlich geworden, dass die amerikanische Investment-Bank sich die Bücher massiv mit Risiken aus Schrottimmobilienkrediten vollgeladen hatte. Am Wochenende wollten Regierung, Zentralbank und andere Investment-Banken versuchen, Lehman zu retten, um einen Tsunami an den weltweiten Finanzmärkten zu verhindern. Jeder hoffte auf die Rettung in letzter Minute. Noch am Freitag hatte keiner der Händler daran geglaubt, dass man die Bank fallen lassen würde wie eine heiße Kartoffel – too big to fail. Die Amerikaner, so nahm jeder an, würden damit nur ein Gemetzel an den globalen Finanzmärkten riskieren, das uns alle in den Abgrund stürzen konnte. Unvorstellbar. Doch es war anders gekommen. Die amerikanische Notenbank Fed glaubte an die Selbstreinigungskräfte der Märkte. Aus diesem Grund weigerte sie sich, eine Notrettung einzuleiten. Oder wollte die US-Regierung ein Exempel statuieren?
Plötzlich schrie einer der Händler noch vor Markteröffnung in die angespannte Stille hinein: »Scheiße, die Amis haben Lehman hochgehen lassen. Fuck, Lehman ist explodiert.« Nach dem ersten Schock war jetzt richtig Panik unter den Händlern zu spüren – als würden sie sich auf der sinkenden »Titanic« befinden. Es gab kein Entkommen. Ein Crash, der alle mit in die Tiefe riss, schwebte wie ein Damoklesschwert über den Händlern. »Hat einer eine Indikation? Wo steht die Aktie? Wie stehen wir eigentlich da? Hat einer schon die Zahlen? Wie viel Lehman-Risiken haben wir in den Büchern?«, hörte ich einen Händler aufgeregt brüllen. Die Frage war, würde die Bank mit einem blauen Auge davonkommen? Jeder dachte an die Risiken in den eigenen Handelsbüchern, die man leichtfertig eingegangen war. Wie gut ich das alles kannte. Meine Nerven hätten sicher ebenfalls blankgelegen. Augenblicklich begann die Suche nach den Risiken. Würde man Ausfälle in Millionenhöhe hinnehmen müssen? »Was war da eigentlich los?«, schrie plötzlich einer der Juniors, der in seiner Aufgeregtheit nicht merkte, dass er sich gerade disqualifizierte. Nicht zu wissen, was die Märkte vor Handelsauftakt bewegt, ist ein absolutes No-Go unter Händlern. »Risiken aus den amerikanischen Häuserkrediten. Schrottkredite.« »Und wie werden die bewertet?« »Alles zweifelhafte Kredite. Okay, bis vor kurzem waren die Teile top-geratet. Erstklassige Bonität quasi.« »Warum haben wir unser Lehman-Exposure nicht schon vor Wochen mit Gegengeschäften rausgehedgt?« Auf den Gesichtern der Händler standen große Fragezeichen. Die Show kam mir bekannt vor, mir war, als hätte ich das alles schon einmal erlebt. 2001. 2003. Replay.
»Wir wussten doch alle, dass die amerikanische Kreditblase irgendwann platzen würde. Die Amis leben auf Pump, billiges Geld, egal, ob Häuser, Autos oder Kreditkarten. Wenn die wenigstens investiert hätten. Aber nein, die haben auf Pump gelebt wie die größten Schwachköpfe.« Pascal hatte plötzlich eine Einsicht. »Wir glauben doch auch nicht dran, dass irgendwas in unseren Büchern explodiert, solange unsere Kohle reinkommt.« »Die ganze Branche, wir selbst basteln doch unsere strukturierten Produkte nach dem Bauklötzchensystem um, Probleme werden einfach umdeklariert, neu verpackt und geratet – und tauchen am Ende woanders auf. Das konnte doch auf Dauer nicht gutgehen.« Ich traute meinen Ohren nicht. Hörte ich da einen Anflug von Selbstkritik aus Hartmuts Worten, nach der ich jahrelang vergeblich gesucht hatte? »Immerhin haben wir Unmengen verdient mit dem ganzen Mist. Die ganze Branche schwamm in den letzten Jahren in Geld. Alle haben davon profitiert.« Wie viele Immobilien mein früherer Kollege inzwischen wohl besaß? Alle machten betroffene Gesichter, das übliche Grinsen und die flotten Sprüche waren verflogen. Jeder hatte Angst. Was hier geschah, übertraf das Platzen der New-Economy-Blase bei weitem. Ein bisschen erinnerte mich die Situation an den Schmetterling, dessen Flügelschlag einen Tornado auslösen konnte. Wenn Lehman genügend hohe Wellen schlug – und so sah es im Moment aus –, war es vorbei mit der vielen Kohle. Außerdem: Wie sicher waren die Jobs der Investment-Banker noch? Die Kollegen im Sales-Bereich, einem Bereich, in dem ich bis zu meinem Ausstieg tätig gewesen war, hatten andere Probleme. Sie vertickten die komplexen Strukturen und Derivate an institutionelle Kunden.
»Fuck. Welche Kunden sind betroffen? Da waren doch einige am Dealen mit Lehman? Checkt das mal ab«, rief Martin. Wenn viele Kunden Ausfälle durch Lehman hatten, konnte man das Geschäft für den Rest des Jahres oder – schlimmer noch – für die nächsten Jahre mit ihnen vergessen. Doch wo sollte das Geld dann herkommen, wenn die Aufträge wegen des Lehman-Desasters versiegten? Mit Sicherheit würden die Kunden skeptisch auf strukturierte Produkte schauen. So langsam dämmerte es jedem, dass Lehman die fetten Jahre der strukturierten Produkte und komplexen Derivate beenden würde. Doch die nächste Schock-Erkenntnis ließ nicht lange auf sich warten: »Die waren doch auch am deutschen Zertifikatemarkt!« Es drohte ein gewaltiger Imageschaden. Der deutsche Zertifikatemarkt war über Jahre die Kuh gewesen, die wir gemolken hatten. 125 Milliarden Euro an Zertifikaten von deutschen Anlegern standen aus. Schätzungsweise hatten deutsche Banken mit dieser Summe über sieben Milliarden Euro verdient. Ein nicht zu toppender Reingewinn, direkt aus den Depots der Anleger in die tiefen Taschen der Banker. Und nun drohte dieser Geldfluss zu versiegen. Und das nur, weil die Broker von Lehman nicht in der Lage gewesen waren, ihre Risiken aus Schrottkrediten zu kontrollieren oder sie zumindest weiterzuverkaufen. Ich sagte zu Martin: »Die Kleinanleger werden davon betroffen sein.« »Selbst schuld, wenn die den Schrott kaufen«, antwortete er. »Hätten sie doch bei ihren Sparbüchern bleiben können.« »Aber denk doch an deren Renten, Ersparnisse, Altersvorsorge. Einfach futsch.« »Das ist doch alles Peanuts gegen das, was hier gerade abgeht.« Sein Zynismus schien ihm gar nicht aufzufallen.
War Martin damals auch so? Wahrscheinlich. Nur ich hatte mich geändert. Dennoch hatte er recht. Die Leute waren selbst schuld, wenn sie auf der Jagd nach hohen Zinsen und Gewinnen die Risiken aus den Augen verloren. Wer will schon sein Geld auf dem Sparbuch lassen, wenn »sichere« Produkte zwei, drei Prozent mehr Zinseinnahmen versprechen? Da lag der Hund begraben. Jedes strukturierte Finanzprodukt enthält Risiken – eine Tatsache wie jene, dass Coca-Cola Koffein enthält oder Whisky einen Mindestalkoholgehalt von 40 Volumenprozent hat. Ich kenne keinen Investment-Banker, der in seinem privaten Depot Zertifikate, also strukturierte Produkte und Anleihen, hält. Das galt auch für mich. Aber bei Anlageberatern und privaten Anlegern, den Letzten in dieser Kette eines nicht regulierten Finanzsystems, war das nie angekommen. Doch nun hatte das böse Erwachen begonnen.
1
Blut geleckt
Geschäftstüchtig, das war ich schon als kleines Mädchen. Als Sechsjährige malte ich mit meiner jüngeren Schwester Bilder, Häuser mit einem Garten, einer lachenden Sonne und ein paar Strichmännchen. Anschließend sprachen wir einen ganzen Sonntagnachmittag Passanten an, damit sie unsere »Kunst« für 20 Pfennig kauften. Jede von uns beiden verdiente ein, zwei Mark damit – ein großartiges Erfolgserlebnis. Ehrgeizig, wie ich war, wiederholte ich diese Aktion. Auf diese Weise kam ich zu eigenem Geld, konnte mir davon Süßigkeiten kaufen, ohne meine Eltern fragen zu müssen. Ich war einfach nicht auf ihre Zustimmung angewiesen. Geld, das hieß für mich Freiheit und Unabhängigkeit, auch wenn ich das damals noch nicht so formulieren konnte. So wichtig mir Geld war, so wenig konnte ich ein solches Verhalten bei meinen Eltern feststellen. Zwar setzte sich mein Vater, wenn er abends von seiner Arbeit als Konstrukteur bei einer großen deutschen Firma nach Hause kam, mit der FAZ in einen Sessel und las die Börsenkurse – langweilige Seiten mit viel Druckerschwärze und unendlichen Zahlenkolonnen –, aber eine Reaktion, nein, die war nicht erkennbar. Nie klagte er: »Ach Scheiße, jetzt hab ich wieder 20000 Mark verloren« oder brach in Begeisterung aus, stiegen möglicherweise die Kurse. Ich wusste zwar, dass mein Vater Aktien besaß und an der Börse spekulierte. Aber außer einer manchmal spürbaren Anspannung zeigte er keine Emotionen. Als Kinder der »Generation Golf« waren meine Altersgenossen und ich in relativem Wohlstand und in
Sicherheit aufgewachsen. Gewissermaßen unter einer Käseglocke. Über die Generation meiner Großeltern und Eltern konnte man das nicht sagen. Meine Großeltern mütterlicherseits waren Kriegsflüchtlinge, hatten alles verloren und mussten sich mühsam wieder eine Existenz aufbauen. Die Eltern meines Vater erlitten ein ähnliches Schicksal. Der politische Aktivismus meiner Eltern, der sich in den sechziger Jahren entlud, die intellektuellen Debatten und das gesellschaftliche Engagement kamen uns altmodisch und total übertrieben vor. Atomkraft, Pershing, Nato-Doppelbeschluss und auch die Friedensbewegung, das war uns eher suspekt und gehörte eigentlich in die Geschichtsbücher. Politisch inspirierte Themen passten nicht in mein Leben. Probleme gab es auch, doch von anderer Art: Wie wurde ich beliebter als alle anderen Klassenkameraden? Mit welchen Klamotten konnte ich die Nummer eins sein? Die großen Fragen waren die, ob einer lieber Techno, Pop oder Hard Rock hörte. Daraus ließen sich ganze Ideologien ableiten. Ähnlich verhielt es sich bei der Kleidung. Mit Levis, BurlingtonSocken und Barbour-Jacken war man meistens auf der sicheren Seite. Auch ganz wichtig: Wurde in Ibiza oder auf Mallorca abgefeiert? Meine bodenständigen, tendenziell intellektuellen und sozial engagierten Eltern irritierten mich eher. Meine Mutter war eine ausgebildete Lehrerin, die aber nie ihren Beruf ausgeübt hat, weil sie sich lieber um ihre zwei Kinder kümmern wollte. Sie erzog uns nach ihren konservativen, auch religiösen Werten und machte uns immer wieder klar, dass es nicht nur auf uns selbst und unsere eigenen Interessen ankam, sondern dass es wichtig sei, über den Tellerrand zu schauen und insbesondere Schwächere in unserer Gesellschaft nicht auszublenden. Ein großes Auto, Designerklamotten, teurer Schmuck – Statussymbole dieser Art waren bei uns zu Hause in einer
süddeutschen Kleinstadt kein Thema. Meine Eltern legten nicht den geringsten Wert darauf, was mich ebenfalls irritierte. Verstanden sie denn nicht, worauf es heute ankam? Die Welt war ein großer Spielplatz voller Möglichkeiten. Ein Leben wie das meiner Eltern kam da natürlich nicht in Frage. So konservativ, so langweilig, voller Routine. Ich dagegen wollte eines voller Spaß. Und Herausforderungen. Ich träumte davon, den Himalaja zu besteigen, im Amazonas zu jagen und Spielbanken zu sprengen – und nebenbei noch die Welt zu retten: Jede Herausforderung erschien mir recht, Hauptsache, ich erstickte nicht in Routine. War die Gestaltung der eigenen Coolness mit Hilfe der richtigen Markenklamotten, der richtigen Zigarette und der passenden Freizeitaktivitäten gelöst, gab es noch ein paar andere Gesprächsinhalte. Das System, in dem wir lebten, fanden wir irgendwie ungerecht, aber es kam uns nicht in den Sinn, dagegen anzukämpfen, wie es einige unserer Schulkameraden mit runden Brillen, in Wollsocken und mit Birkenstock-Sandalen taten. Die viel elegantere und intelligentere Lösung war für uns, Teil des Systems zu werden. Das schien praktikabel zu sein. Außerdem, wer von uns wollte schon die hervorragenden Möglichkeiten verwerfen, die sich uns boten: Das Studium würde eine endlose Party werden, nebenbei würden wir New York, London und Paris erobern. Logisch, dass wir alle viel Geld verdienen wollten. Aber wir wollten noch mehr. Wir wollten Grenzen überschreiten, mehr Herausforderungen, alles besser, schneller und aufregender als unsere Eltern machen. Nach bestandenem Einser-Abitur ließ ich mich mit dem Strom des Zeitgeistes treiben und traf die Entscheidung, BWL zu studieren. Mit einem guten Abschluss in diesem Fach musste man nur noch entscheiden, wo und in welcher Branche man reich werden wollte – und das wollten wir in jedem Fall.
Als Studentin fand ich mich dann in meinen kühnsten Träumen wieder: Der Boom der New Economy ging los. In Deutschland besonders 1996 mit dem Börsengang der Telekom – für die »Volksaktie« warb der einstige DDRSchauspieler Manfred Krug. Im nächsten Jahr wurde an der Deutschen Börse das Segment für junge Technologieunternehmen gegründet, und die Deutschen wurden zur »Nemax Nation«. Sie jagten den jungen Aktien hinterher wie einst die DDR-Bürger den Westwaren. Schon drei Jahre später trieb es die »Nemax Nation« auf die Spitze: 132 junge Unternehmen wurden wie eine Schafherde von den Investment-Bankern an die Börse getrieben. Eine unglaubliche Anzahl, wenn man bedenkt, dass es heute lediglich zehn bis fünfzehn Technologie-Firmen jährlich an die Börse schaffen. Damals wollte ich nur eines: mitmachen. Die TechnologieUnternehmer waren Shootingstars. Sie traten im Fernsehen auf – die Einschaltquoten von n-tv, dem Finanz- und Börsensender, lagen zu Spitzenzeiten über denen der Tagesschau –, sie waren kaum über dreißig, entspannt, trugen völlig zerschlissene Jeans. Und sie waren dadurch Millionäre geworden, weil sie ihre jungen Software- und Technologiefirmen an die Börse gebracht hatten. Bei ihren Geschäftsbesprechungen würden sie, so dachte ich, die Füße auf dem Tisch liegen haben, Zigaretten rauchen, in Reichweite immer eine geöffnete Flasche Champagner. So ähnlich stellte ich mir ja meine eigene Karriereplanung vor – und da kam die New Economy wie gerufen. Die Gründer dieser New Economy galten als diejenigen, die die Wirtschaft mit neuen Technologien ins 21. Jahrhundert führten, und sie waren diejenigen, die den Ton angaben und mit ihrer Lässigkeit die Medien beherrschten. Für mich waren
sie der Inbegriff einer mit Rebellion und Coolness kombinierten Millionärskarriere. Perfekt. Wirtschaft war auf einmal nichts Biederes mehr, beherrscht von Männern in Anzügen wie meinem Vater, die ein Fax unter dem Arm herumtrugen und ernste Gespräche mit gleich aussehenden Menschen führten. Die neuen Unternehmer verbreiteten eine Aura, die meiner Abenteurermentalität sehr entgegenkam. Goldrausch-Stimmung! Ich wollte bei der Party mitmachen, Jägerin sein, Spaß haben. Das Fieber hatte mich so gepackt, dass ich in den Semesterferien mit Begeisterung einen Praktikumsplatz in einer Frankfurter Bank annahm. Diese brachte die Börsengänge von New-Economy-Firmen über die Bühne. An dem Tag, als ich die IPO-Abteilung betrat – damals nannte man die Börsengänge noch Initial Public Offering –, begriff ich schnell: Hier waren die Typen, die ich aus dem Fernsehen kannte: Sie waren schnell, aggressiv, mit unglaublich viel Power und Überzeugungskraft. Volltreffer. Der Chef der Abteilung hieß Klaus, war Mitte dreißig und hatte braune Haare, die er mit viel Gel stylte. Er war der Antreiber und gab dabei ein Tempo vor, das kaum zu schaffen war. Wenn wir Praktikanten und Associates, die Juniors, schon wunde Finger und verwirrte Köpfe vom Tippen und Ausdenken unzähliger Powerpoint-Präsentationen hatten, rauschte er um neun Uhr abends mit vollem Elan in unser Büro: »Hey Leute! Wer holt Kaffee für alle? Die Nacht ist noch jung, und die Party geht erst richtig los.« Das hieß nichts anderes, als dass wir alle die halbe Nacht durcharbeiten würden, um den anderen Investment-Banken noch ein paar der lukrativen IPO-Mandate vom Neuen Markt abzujagen. In ihren besten Zeiten schaffte es unsere Bank, eine kleine Softwareklitsche innerhalb weniger Monate börsenreif zu
machen. Dass diese 2001 Insolvenz beantragen würde, ahnte niemand – und keiner der Investment-Banker hätte sich davon auch beirren lassen. Bei einem mittleren Börsengang von einem Emissionsvolumen von rund 100 Millionen Mark verdiente unser kleines Team immerhin drei, vier Millionen Mark. Klaus nahm keine Rücksicht, weder auf sich selbst noch auf andere. Schon am ersten Tag, man hatte mich gerade den Mitarbeitern vorgestellt, wurde ich sofort in ein Meeting hineingeschubst. Es ging um einen Computer-Nerd, der vor kurzem eine neue Internet-Software entwickelt hatte und der nun bei den Investment-Banken offene Türen einrannte: »Okay, ich will jetzt an die Börse.« Da man das nicht einfach selbst machen konnte, benötigte man eine Investment-Bank, die die Firma, die an die Börse gehen wollte, bewertete, vermarkte und entsprechende Anteile veräußerte. Das Problem bei den Neue-Markt-Unternehmen war nur, dass man nichts zu bewerten hatte, keine Fabrikgebäude, keine Patente, kein angesammeltes Vermögen – von Umsätzen ganz zu schweigen. Keiner konnte sich aufzählen der Vergangenheit stützen. Mit anderen Worten: Nach herkömmlichen Methoden wie dem KGV (Kurs-Gewinn-Verhältnis) oder dem Buchwert war eine Softwareklitsche oder ein gerade erst gegründetes Internetunternehmen überhaupt nichts wert. Aber wie heißt es bei dem Philosophen Kierkegaard: »Das Leben kann nur nach hinten verstanden werden, muss aber nach vorne gelebt werden.« Diese Softwarefirmen wurden zu exorbitant hohen Kursen gehandelt, man ging von explosionsartigen Umsatzsteigerungen und Marktenwicklungen aus. Unter Analysten waren sogenannte Discounted-Cash-Flow-Methoden der Hype – mit ihnen konnten sie exorbitante geschätzte Umsätze in der Zukunft
fabrizieren und die Unternehmen zu möglichst hohen Kursen verkaufen. Phantasie war also der Stoff, aus dem Millionäre entstanden. In den Räumen der Bank war dieser Hype mit Händen zu greifen, jeder der Mitarbeiter rechnete die Firmen, die an die Börse wollten, schlichtweg hoch. Hinterfragt wurde nichts. Zu diesem Zeitpunkt hinterfragte überhaupt niemand irgendetwas. Jeder wollte glauben, dass diese Unternehmen innerhalb von neun Monaten ihren Wert verzehnfachten, ich eingeschlossen. Außerdem waren alle davon überzeugt, dass das, was die Banken berechneten, auch Hand und Fuß hatte. Diese stellten die Verkaufsprospekte zusammen, eigentlich gigantische Verträge, mit denen die Unternehmen an den Mann gebracht werden sollten. In der Hochphase der New Economy verdienten sich Anwälte dumm und dämlich an diesen Dokumenten, die oft Hunderte von Seiten umfassten, voller Paragraphen. Galten sie doch als bombensicher… War der Verkaufsprospekt fertig, folgte der Werbeprospekt. Ein Hochglanzformat, das für Anleger mit einer aufwendigen Präsentation, der Road Show, verbunden war. Da die InternetFreaks nicht die geringste Ahnung hatten, wie sie sich gegenüber Anlegern oder auch Journalisten präsentieren sollten, wurden diese modernen Erfinder erst einmal in Medien-Trainings geschickt, damit sie überhaupt in irgendeiner Form wussten, was auf sie zukommen würde. Sie sahen sich einem knallharten Coach gegenüber, der versuchte, den zukünftigen Börsengänger zu Übungszwecken fertigzumachen, etwa mit aggressiven Aussagen und Fragen wie: »Ihre Firma ist doch gar nichts wert!«, »Warum ist denn Ihr Unternehmen so toll?«, »Als First Mover haben Sie keine Chance, das kann doch nichts werden«, »Bei der Cash-BurnRate, die Sie haben, können Sie niemals die angestrebten
Umsätze erreichen«. Alles wurde gefilmt, wir von der Bank spielten das Publikum, die Befragten kamen ordentlich ins Schwitzen. Am Ende hatte man die Leute so getrimmt, dass sie es hinterher halbwegs schafften, ihr Unternehmen auf n-tv oder gegenüber Anlegern und Journalisten vom Handelsblatt oder der Financial Times zu verkaufen. Das Ganze erinnerte mich an ein gigantisches Theater. Da jeder an Wachstum glaubte, fand es keiner merkwürdig, jährliche Steigerungsraten von mehreren hundert Prozent zu haben. Auch bei den Journalisten gab es keine Zweifel, sondern die Furcht, einen entscheidenden Newcomer zu verpassen. Und solange es Käufer gab, lief alles wie am Schnürchen. Und Käufer gab es in Massen, insbesondere unter den Kleinanlegern. Sie standen Schlange und waren froh, wenn sie von hundert bestellten Aktien wenigstens zehn erhielten. Sie eröffneten sogar Depots bei mehreren Banken, um dadurch ihre Chance zu erhöhen, auch hier vielleicht noch zehn weitere zu bekommen. So war es kein Wunder, dass viele der angepeilten Börsengänge glückten. Ich war damals Anfang zwanzig. Die Road-Shows der Börsengänge fanden in Fünf-Sterne-Hotels, dem Interconti, dem Hilton oder dem Steigenberger in Frankfurt statt. Die Kunden waren Fondsmanager, Leute von Versicherungen und Pensionsfonds. Die Männer trugen Anzüge wie aus der Armani-Werbung, die Frauen stylische Kostüme. Man trank Champagner, dazu gab es Fingerfood. Alle redeten nur über Geld: »Wir kommen kaum noch hinterher, schon fünfzehn Börsengänge dieses Jahr abgewickelt. Die Leute kriegen den Hals nicht voll, die wollen immer mehr.« Jeder befand sich auf einem Trip von Macht und Reichtum, jeder glaubte von sich selbst, für die Bank das dickste Mandat an Land ziehen zu können.
Das war schon eine ziemlich geile Welt. Ich war umgeben von verdammt schlauen Leuten, die gut drauf waren und mühelos Unmengen von Kohle scheffelten. Jeder sprach mich als Investment-Bankerin oder Unternehmensberaterin an, niemand kam auf die Idee, mich für eine Praktikantin zu halten. Dass mein Chef die einzelnen Börsengänge kaum noch auseinanderhalten konnte, ihm dies letztlich auch völlig egal war, er unglaublich viel Alkohol konsumierte, seine Frau permanent betrog und durch Swingerclubs tourte – diese Exzesse nahm ich nur am Rande wahr. Er war aber nur der Vorbote für das, was mir später in den Handelsräumen noch begegnen sollte. Die Geschichten von Investment-Bankern, die auf Partys gingen, auf denen unter den Tischen Frauen sitzen würden, um den Männern einen zu blasen – sie waren nicht erfunden. In Frankfurt hatte ich Blut geleckt. Und ein halbes Jahr später absolvierte ich ein zweites Praktikum – in der City of London, dem Finanzdistrikt der britischen Hauptstadt mit der höchsten Kapitalkonzentration in Europa. Dieses Mal suchte ich mir eine amerikanische Investment-Bank aus, um einen Einblick in die Aktien-Sales-Abteilung zu bekommen. Aktien-SalesHändler haben die Aufgabe, ganz normale Aktien zu verkaufen. Ihr Kundenkreis bestand meistens aus Fondsmanagern, die viel Geld verwalteten und ihren Gesamtbestand an Aktien ständig gewinnbringend umschichteten. In dieser Zeit war viel los an der Börse: Übernahmen waren der große Hype, Daimler hatte mit dem US-Autokonzern Chrysler fusioniert. Das war ein Riesending, mit dem sich der damalige Vorstandsvorsitzende Jürgen Schrempp ein Denkmal setzen wollte. Investment-Banken haben einen Bereich, der für Unternehmen Kapitalmarkttransaktionen wie Börsengänge und
Mergers & Acquisitions (Firmenkäufe und Übernahmen) durchführt. Daneben gibt es den großen Bereich der Brokerage- und Wertpapiertransaktionen. Hier werden Aktien, Anleihen und andere Finanzprodukte gehandelt und verkauft, auch der Eigenhandel und die Aktienanalysten der Banken sind hier angesiedelt. Man konnte nie eindeutig sagen, welcher dieser Bereiche grundsätzlich am profitabelsten war, das hing immer von der Marktsituation ab. Um die letzte Jahrtausendwende war es aber definitiv der Bereich der Börsengänge und der Mergers & Acquisitions. Die Börsengänge hatte ich ja inzwischen kennengelernt, sie waren spannend, aber ich empfand sie ein wenig als Hochstapelei. Meine Zukunft sah ich hier nicht. Die Leute waren zu verkrampft, nach echtem Spaß oder wirklichen Herausforderungen sah das nicht aus. Nach dem fünften Börsengang, davon war ich überzeugt, konnte es nur langweilig werden, wurden sie doch alle nach Schema F durchgezogen. In London bezog ich ein möbliertes Zimmer, das kaum größer als neun Quadratmeter war. Am Tag nach meiner Ankunft machte ich mich auf den Weg in die Londoner City. Als ich die angegebene Adresse erreichte, stand ich vor einem ultramodernen Glasgebäude, das im Keller einen Swimmingpool und einen Fitnessraum haben sollte. Die Aktien-Sales-Leute behandelten mich, als wäre ich nicht vorhanden. Ich studierte weder in Oxford noch in Cambridge, meine deutsche Universität hatte keine Bedeutung in diesem hierarchischen System. Diese Haltung wurde zwar nicht offensichtlich zur Schau getragen, aber dennoch bestimmte sie die Londoner Brokerwelt. Erstaunlich war, dass man nicht einmal BWL oder Finanzmathematik studiert haben musste, um im Handelsraum einen Job zu bekommen. Juristen, Historiker, Philosophen agierten hier – Hauptsache, man kam
von einer der besten Unis des Landes. Elitedenken in Reinkultur. Das kannte ich zwar aus Deutschland nicht, ich ließ mich aber trotzdem nicht irritieren. Schließlich ging es mir darum, zu verstehen, wie diese Geldmaschinen von Investment-Banken funktionierten. Der Anblick des Handelsraums erschlug mich fast. Unendliche Reihen von langen Tischen, an denen bis zu zwanzig Leuten – fast nur Männer – auf der einen wie auf der anderen Seite ihren Arbeitsplatz hatten. Wenn sie saßen, konnten sie sich in den seltensten Fällen anschauen, denn ihr Blickfeld war von Computer- und anderen Monitoren verstellt. Jeder Händler hatte weniger als einen halben Quadratmeter Platz – Fließbandarbeit in Sachen Geld. Privatsphäre gleich null, nicht einmal Stellwände gab es. Unter den Tischen stand die Hardware, ein Papierkorb, daneben war Platz für die Füße. Jacketts hingen an einer speziellen Konstruktion an den Händlerstühlen, nirgendwo entdeckte ich eine Garderobe. Den Kollegen rechts und links konnte man riechen, hören, fast mit dem Ärmel berühren. Tiere im Zoo hatten mehr Auslauf. Das sollte der Ort sein, um den so viel Hype gemacht wurde? An dem es um das schnelle Geld ging, ein Höhenrausch den anderen jagen sollte? Nichts davon war hier zu spüren. Ein Tag im Kaufhaus schien mehr Abenteuer zu garantieren. Louis hatte die Aufgabe, mich zu betreuen. Das tat er, der Oxford-Absolvent, indem er mich an einen freien Platz in seiner Nähe setzte. Danach hatte er mich mehr oder weniger vergessen. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Treiben um mich herum zu beobachten. Dauernd hingen die Broker am Telefon, schmissen mit mir völlig unbekannten Termini herum oder griffen im Eiltempo zu ihren Jacketts und verschwanden zu Treffen mit einem Fondsmanager. Sie kamen sich schrecklich
wichtig vor, und ihre Anzüge kosteten so viel wie das, was eine dreiköpfige Familie in einem Monat zum Leben brauchte. Die Informationsübergabe der Aktien-Analysten an die Broker fand jeden Morgen um Viertel nach sieben im Handelsraum statt. Als ich das erste Mal an einem solchen Morningcall teilnahm, hatte ich das Gefühl, in einer Kirche zu sein. Wenn alle versammelt waren, traten die Analysten wie Gurus auf, bestiegen eine Art Podium und verkündeten mit Pokerface, welche Erwartungen sie für den heutigen Tag auf ihrem Sektor hatten, welche Aktien Outperformer wären und welche Underperformer: »Deutsche Telekom erschließt neue Broadband-Internetleitungen, das wird der ganz große Trend in den nächsten Jahren, die Konkurrenz in Deutschland ist schwach und wird nicht mithalten können. Telekom Übergewichten.« Die Aktien-Sales-Händler notierten sich alles andächtig, als wäre es für sie das höchste Glück, in diesem Bibelkurs der Analysten zu sitzen. Danach rannten sie zu ihren Plätzen, riefen ihre Fondsmanager von Versicherungen, Pensions- oder Publikumsfonds nahezu im Minutentakt an und plapperten gebetsmühlen-artig alles nach, was sie gerade gehört hatten – in der Hoffnung, dass einer der Kunden ansprang und ihnen entsprechende Orders gab, die ihnen wiederum die ersehnten Kommissionen (Makler-Gebühren) brachten. Nachdenken über die Infos? Keine Zeit. Vielleicht auch keine Fähigkeiten? Ein Freund hatte mir vor meiner Reise nach London gesagt, die Aktien-Sales-Leute seien nichts anderes als die Papageien der Finanzbranche. Damals wunderte ich mich über eine solche Aussage, schließlich waren das hochbezahlte Spezialisten. Hatte er am Ende doch recht? Nein, das wollte ich nicht glauben. Trotzdem, wirklich wohl fühlte ich mich bei den Aktien-Sales-Leuten und Analysten nicht. Die Arbeit schien tatsächlich ein bisschen stupide zu sein.
Die Aktien-Analysten funktionierten nach einem anderen Anreizsystem. Simpel gesagt: Je öfter man in den »Morgenandachten« etwas Aufregendes mitzuteilen hatte, bestimmte Nachrichten puschte, umso besser wurde man bewertet – und je höher bewertet, desto mehr Geld. Der interne Wettbewerb führte zu den seltsamsten Spielchen: Hatte man keine Informationen, dachte man sich eben etwas über ein Unternehmen aus, sogenannte Non-Events, nichtssagende Fakten. Da brauchte der Vorstand dieses Konzerns nur mit der Augenbraue gezuckt zu haben, dann konnte das bedeuten, der Kurs der Aktie dieser börsennotierten Firma solle wohl übergewichtet (oder untergewichtet) werden. Interessant war für mich, dass die Analysten in den Finanzzeitungen immer als neutrale Experten herangezogen wurden, als absolute Autoritäten – im Grunde waren sie aber eine Art Marketinginstrument für die Aktienverkaufsleute. Und letzten Endes auch komplett finanziert durch diese. Sie tätigten ja die Deals. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass durch dieses eigenwillige Anreizsystem auch Kursbewegungen an der Börse ausgelöst werden konnten. Bestätigt wurde dies, als ich später im Derivatehandel tätig war und wir handfeste Gerüchte über eine Gewinnwarnung eines MDAX-Unternehmens hörten – der MDAX ist ein seit 1996 eingeführter deutscher Aktienindex. Wir scherzten herum, ob ein Analyst das nicht in seinem Research-Report (Recherchebericht) aufnehmen oder es einem Reuters-Journalisten stecken sollte, dann würde die Nachricht im nächsten Augenblick über den Reuters-Ticker laufen. Mit dem Ergebnis: Weltweit würden Aktienhändler diese Aktie verkaufen. Ein Vorgesetzter bekam das mit und stauchte uns zusammen: »Seid ihr bescheuert, mit einer solchen Info könnt ihr Kursstürze auslösen.« Wenn man es
sich recht überlegte, schien es relativ einfach zu sein, enorme Kursbewegungen in Gang zu setzen. In jeder freien Minute wurden im Londoner Handelsraum Witze gerissen, manche waren sehr merkwürdiger Natur. Einer der Top-Sales-Leute, ein Jude namens David, sollte einen Fondsmanager in Deutschland treffen. Er meinte, dorthin würde er nicht reisen, als Jude könne er nicht. Louis fragte ihn daraufhin, warum das denn nicht möglich sei. »Naja, ich habe ein wenig Angst, dass die mich nachts einsperren und nach Osten verfrachten«, antwortete David sarkastisch. »Eigentlich wollte ich noch ein bisschen länger leben. Gefährliche Sippe, diese Deutschen…« Dabei sah mich David herausfordernd an. Die Händler um mich herum hatten inzwischen mitbekommen, dass ich aus der Bundesrepublik war. Alle lachten schallend, ich war diesem Zynismus nicht gewachsen – noch nicht. Einige Tage später hatte Louis eine seltsame Anwandlung. Mir war schon aufgefallen, dass er sich für einen ziemlichen Outperformer hielt und dass er es genoss, wenn man ihn darin bestätigte. Eigentlich forderte er das geradezu ein. Einmal kam ich an die Reihe, er brauchte anscheinend eine neue Bewunderin, wenn sie letztlich auch vollkommen unbedeutend war. Aber Praktikantinnen scheinen ja einen gewissen Reiz auszuüben – siehe Bill Clinton. Louis lud mich eines Abends in die Met Bar ein, ein privater und extrem hipper Laden, in dem es von B-Prominenten nur so wimmelte. Manche Londonerin hätte gemordet, um dort einen Abend mit einem Citybroker zu verbringen. Auf einmal sagte mein Begleiter völlig unvermittelt zur mir: »Ich mach dir ein unwiderstehliches Angebot.« Wow! Ich horchte auf. Vielleicht würde er mich zu einen wichtigen Kundentermin oder sogar ins Ausland mitnehmen. Das wäre der Traum. Stattdessen legte er seine Hand auf mein
Knie und schaute in meine Augen. Was wollte der denn jetzt von mir? »Anne«, sagte er bedeutungsschwer. »Wir wissen beide, wir wollen doch nur das eine«. Er hatte absolut recht. Wir wollten beide nur das eine, wir wollten beide Geld verdienen – und zwar viel Geld. Er war mir allerdings schon weit voraus, sodass ich von seiner Erfahrung nur profitieren konnte. Aber Louis hatte anderes im Sinn. »Das wird der beste Sex deines Lebens, das verspreche ich dir. Ich kenne dich. Ich kenne deine Seele. Du bist so wie ich, animalisch und wild.« Wäre Louis nicht mein Chef gewesen, ich hätte ihm eine geknallt und danach den Club verlassen. Beides ging nicht. Ich war hier, um das Millionenbusiness zu erlernen, ich wollte es mir nicht mit ihm versauen. Gleichzeitig konnte ich nur den Kopf über mich schütteln: Ich war auf einen billigen Bauernfängertrick reingefallen! Männer! Ich hätte es wissen müssen. Doch wie kam ich aus der Nummer nur wieder raus? Sex mit Louis? Undenkbar. Mein Chef interpretierte mein Zögern falsch: »Anne, das ist nichts anderes als ein Deal. Aber ein richtig guter. Zwei Körper, die sich vereinen, um Spaß zu haben. Du lebst doch auch für den Spaß.« Louis trug einen Ehering, das war vielleicht eine Chance. »Louis, du bist verheiratet.« »Meine Frau würde es niemals herausfinden. Nie würde ich sie verletzen.« »Ich finde, wir sollten uns das noch mal überlegen. Man sollte nichts überstürzen…« Wie ferngesteuert richteten sich in diesem Moment seine Augen auf die Frau, die neben uns Platz genommen hatte. Eine rothaarige Schönheit mit einem Dekollete, auf das man unweigerlich schauen musste. Louis schien sein Angebot augenblicklich vergessen zu haben. Noch niederere Instinkte
hatten ihn im Griff. Er kam auch nicht mehr darauf zurück. Auch am nächsten Tag schien er es vergessen zu haben. Und ich hatte nicht die Absicht, ihn daran zu erinnern. Langsam fing ich an, mich unter den Verrückten wohl zu fühlen. Irgendwie ging es immer nur ums Geld – oder um Sex. Der Ölmilliardär Jean Paul Getty hatte einmal gesagt: »Wenn man kein Geld hat, denkt man immer an Geld. Wenn man Geld hat, denkt man nur noch an Geld.« Vielleicht war es mit Sex ähnlich. Immer häufiger nahmen mich die Aktien-Sales-Leute zu ihren Kundenterminen ins Sanderson oder ins St. Martins Lane mit, die damals angesagtesten Locations. Problemlos wurden an einem Abend in kleiner Gruppe 1000 Pfund ausgegeben – natürlich auf Firmenkosten. Mich beeindruckte das. Ich wollte da mitmischen, in ein, zwei Jahren selbst in einer Position sein, in der ich Leute einladen konnte. So schwer schien das doch nicht zu sein. Man machte ein paar Vorschläge, die Kunden nickten dazu – und schon hatte man auf einen Schlag für die Bank 250000 Pfund verdient, ein großes Ticket, wie die Händler sagten. Denise, eine von den wenigen weiblichen Aktienverkäuferinnen der Bank – Nordirin mit pechschwarzen Haaren, die sie fast wie eine Italienerin aussehen ließen –, nahm mich eines Abends ins Coq d’Argent mit, ein edles Design-Restaurant von besonderer Attraktion. Es befand sich im Herzen der Londoner City in den obersten Stockwerken eines Bürogebäudes und war ein beliebter Spot der Londoner Broker. Das Dach des Lokals war eine Art Anlage, mit einem kleinen Pool, Sandstrand, Deckchairs und Palmen in der Mitte. Von dort hatte man einen spektakulären Blick auf die Londoner City. Hier erlebte ich einen Abend, der mein weiteres Leben bestimmen sollte – zum ersten Mal traf ich auf Derivatehändler.
Denise und ich chillten auf den Deckchairs und genossen die letzten Sonnenstrahlen, umgeben von den typischen CityBrokern und Investment-Bankern in schicken Anzügen. Es war schon ziemlich spät, wir hatten bereits ein paar Strawberry Daiquiris getrunken, als plötzlich drei Typen auf uns zukamen. Irgendwie fielen sie mir auf, sie gehörten nicht zu den Heerscharen von Brokern mit dem Flair der OxbridgeAbsolventen, einem guten Konversationsstil und dem typischen Gentleman-Verhalten. Nein, diese drei Männer waren von einem anderen Schlag. Die Arme ihrer teuren Anzüge waren hochgekrempelt, die Körperhaltung herausfordernd, fast aggressiv. Schon die ersten Worte verstießen gegen die Regeln einer gepflegten Anmache: »Hey Mädels, wisst ihr überhaupt, wer wir sind? Wir sind die neuen Masters of the Universe.« Irgendwie kam mir der Spruch bekannt vor. Aus American Psycho. In dem Roman von Bret Easton Ellis gerät der reiche und arrogante Wall-Street-Broker Patrick Bateman in ein Art Blutrausch, zieht mordend und brutal durch New York. Sein Problem ist nur, dass es keiner merkt und es ihm auch keiner glaubt – selbst sein Anwalt nicht. Als er am Schluss erkennt, dass es keinen Ausweg aus seiner Psycho-Hölle gibt, dreht er vollkommen durch. »Ihr habt sowieso keine Ahnung von dem, was wir machen.« Das hatte ich tatsächlich nicht, und einordnen konnte ich sie erst recht nicht. Aber umso neugieriger machten mich diese durchgeknallten Typen. »Fuck you«, schrie mich einer der Typen auf einmal an. »Du hast nicht die geringste Ahnung von Religion. Geld ist die Religion, Geld ist die Droge, mit der ich dich einfangen werde. Du wirst mir glauben, und dein Glaube wird unerschütterlich sein.« Ich starrte ihn nur an. Er schien tatsächlich ein direkter Nachfahre von Bateman zu sein. Mit dem leicht ausgedünnten
Blondhaar und dem fiesen Grinsen wirkte er vollkommen planlos und wirr. Ständig knallte er mir irgendwelche Wörter an den Kopf, manche erschienen mir erfunden zu sein, andere gingen unter die Gürtellinie, die ganze Situation war pervers. Als das Trio Infernale schließlich abrupt weiterzog, fragte ich Denise fassungslos: »Was war das denn für eine Performance?« »Derivatehändler von Lehman Brothers.« »Das kann nicht sein, die sind doch nicht so asozial. Das waren doch die reinsten Proleten.« »Das sind die harten Jungs von der Straße. Die erste Generation der Derivatehändler. Diese Vögel schweben auf einem ganz anderen Level. Zuvorkommenden Umgangston – das haben sie nicht nötig. Sie stehen eine Stufe höher als alle anderen Broker.« Ich horchte auf. »Aber was ist denn das Besondere an Derivatehändlern? In Deutschland habe ich noch von keinem gehört. Da sind gerade Börsengänge und Unternehmensberater der Hype.« »Das, was sie betreiben, verstehen nur noch sie. Wenn überhaupt. Jedenfalls kommen normale Börsenbroker da nicht mehr mit.« »Die faselten doch nur Schwachsinn.« »Die waren auf Droge. Koks.« Damit wusste ich immer noch nicht genau, was Derivate waren und wie mit ihnen gehandelt wurde, aber das Ganze begann mich ernsthaft zu interessieren. Investment-Banking, Börsengänge, Aktien Sales – schön und gut, aber mit Derivaten schien man alles toppen zu können. Derivate-Leute waren viel cooler als alle anderen. Diese Händler konnten alles raushängen lassen – grade so, wie es ihnen in den Sinn kam. Und offensichtlich waren sie diejenigen, die das komplette
Finanzsystem verstanden und aus ihm viel Geld herausholten. Sie schienen einfach die bessere Party zu feiern. Das bestätigte sich, als ich meine nächste Begegnung mit den American Psychos in Nadelstreifenanzügen hatte. Denise nahm mich zu einer Einladung der EUREX mit, einer der größten Terminbörsen für Finanzderivate. Ihre jährlichen Händlertreffen waren legendär. Dieses Mal hatten sie eine total abgefahrene Location ausgesucht, ein Rohbau kurz vor der Fertigstellung mit mehreren Etagen. Ein Stockwerk war komplett von einem Künstler bestückt worden, der dort seine extravaganten Bilder ausstellte, zwei Etagen höher fand die eigentliche Party statt. Junge Frauen in extrem kurzen Röcken reichten Champagner oder kleine Hummerhäppchen – die vielen Männer mussten auch was zum Anschauen haben. Ich fühlte mich, als hätte ich gerade den Gipfel des Himalaja erklommen. Hier trafen sich also die Masters of the Universe. Und mich hatte man mitgenommen! Und wenn es auch nur darum ging, die Frauenquote zu steigern. Nach einer Weile sprach mich ein Mann an, Ron, der zwar aussah wie der perfekte Broker, aber keiner war, wie ich schnell herausfand. Alles an ihm strahlte eine entspannte Ruhe aus, er grinste nicht, sondern lächelte. Wir waren uns schnell einig, dass wir Spaß haben wollten – auf Kosten der versammelten Brokerschar, die sich in ihrem eigenen Universum befand. Um einige besonders arrogante Exemplare zu provozieren, überlegten wir uns, wie wir uns vorstellen könnten: »Wir kommen von der Müllwirtschaft. Unsere Aufgabe ist es, den Müll abzutransportieren und zu bearbeiten.« Ein größerer und absurderer Kontrast zu dem abgehobenen und abstrakten Geldbusiness fiel uns nicht ein. Das Ganze war so idiotisch, dass es uns keiner abnehmen würde. Uns aber interessierte die verstörte Reaktion auf unser Müll-Business.
»Wo seid ihr her, von welcher Bank?« Das war die Frage, mit der wir von den Selbstdarstellern sofort konfrontiert wurden. Unsere Antwort: » We are from waste-management. We work in a waste-management-company.« Stille. Ron und ich rissen uns zusammen, um nicht laut loszulachen. Gleich das erste Opfer sah uns erfreut an und bemerkte: »Das ist ein äußerst interessantes Business. Ich habe in den USA einen Freund, der mit Müll Millionen scheffelt.« Es war absurd. Die Broker glaubten tatsächlich, dass wir irgendwelche Millionäre aus dem Müllbusiness waren. Sie hatten uns ernst genommen. Vielleicht konnte ich mit Ron noch die Bonnie-&-Clyde-Tour abziehen? Natürlich ohne tragisches Ende. Ich hatte das Gefühl, dass ich mit diesen Leuten mithalten konnte, es eines Tages so weit wie sie bringen würde. Nein, ich wollte sogar noch besser sein als alle anderen. Keiner würde mich davon abbringen können. Ich, the Queen of money.
2
Alles nur ein Spiel
Als ich aus London zurückkam, wusste ich: Das Nonplusultra waren Derivate. Ich wollte den Derivaten, die die abgefahrensten Teile im Investment-Banking sein sollten, auf den Grund gehen. Also fing ich an, mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Schnell begriff ich, dass ich es dabei mit hochkomplexen, tatsächlich kaum noch nachvollziehbaren Strukturen zu tun hatte. Es waren Produkte des Finanzmarkts – Futures, Optionen und Swaps –, die von bestimmten Basiswerten abgeleitet wurden. Ich verstand am Anfang nichts. Alles war abstrakt, wie zum Teufel sollte man damit Geld verdienen? Ständig ging es um den Aufbau von irgendwelchen Gegenpositionen, um Derivate von Derivaten. Hätte ich nicht das Erlebnis London gehabt und jemand hätte zu mir gesagt: »Beschäftigen Sie sich mal mit Derivaten«, meine Antwort wäre eindeutig ausgefallen: »Sie ticken wohl nicht ganz richtig, warum soll ich mich mit einem solchen Mist auseinandersetzen?« Jetzt, nach London, war meine Motivation dagegen verdammt groß. Ich wollte diese Dinger kapieren, so blöde konnte ich nicht sein. Um mehr Praxiserfahrungen zu sammeln, fing ich an, privat mit Optionsscheinen zu spekulieren, und eröffnete ein Depot bei consors.de, einem Online-Broker. Die Optionen, die ich kaufte, waren Scheine für Privatanleger, extra in kleiner Stückelung ausgegeben, damit man nicht so viel verlieren konnte. Dennoch gelang es mir, mit 1000 Mark in unglaublich kurzer Zeit eine für mich sehr hohe Summe Geld zu verzocken. Ich merkte: So spaßig ist das alles nicht. Die
superlockeren Typen, dieses snobistische Verhalten, die coolen Sprüche, der ganze Champagner und die vielen Partys – das war nur die eine Seite des Derivatehandels. Auf der anderen musste man wirklich was draufhaben, weil in diesem Bereich nichts nach genauen Vorgaben funktionierte, wie etwa bei den Börsengängen oder den Aktien-Sales-Leuten. Es gab bei Optionen eine viel größere Hebelwirkung als bei anderen Finanzinstrumenten, also auch ein viel größeres Risiko. Die eigenen Verluste hatten mich aber nicht entmutigt. Ganz im Gegenteil, ich wollte unbedingt herausfinden, wie man mit diesen Teufelsteilen so viel Geld verdienen konnte. Ich wollte am großen Geld teilhaben. Und ich wusste, dass ich es schaffen konnte.
High Potential – das war ich, als ich im Jahr 2000 für meine Diplomarbeit eine Eins erhielt. Es konnte also losgehen. Ich war Anfang zwanzig, sprach vier Sprachen, hatte in Frankfurt und London Praktika absolviert – damit war klar, dass ich problemlos einen Job finden würde. Genauso klar war, dass ich bei Bewerbungsgesprächen nicht in meinen H & M- oder Esprit-Hosenanzügen auftauchen konnte. Einer von Armani musste es schon sein. Das Geld dafür hatte ich nicht, weshalb ich bei meinem Vater antreten musste. Ich brauchte 1000 Mark. Er fand das übertrieben, aber am Ende siegte meine Überzeugungskraft. Natürlich erzählte ich ihm nicht, was gerade in Frankfurt und London abging. Er, ein Herr der alten Businessschule, wäre wahrscheinlich vom Stuhl gefallen. Schnell war der Anzug gekauft – ein dunkelblauer mit einem kaum sichtbaren Muster. Nicht auffällig, aber er saß perfekt. Als ich in den Spiegel schaute, sah ich darin eine erfolgreiche Brokerin. Noch nie hatte ich ein solches Outfit besessen, aber
es war ideal, um mit Siebenmeilenschritten meine weitere Karriere zu verfolgen. Nun musste ich nur noch den richtigen Arbeitsplatz im Derivatehandel finden. »Die Bank« – eine etablierte deutsche Bank mit einer starken Investmentabteilung –, bei ihr wollte ich meinen Vorstellungsreigen beginnen. Man lud mich zu einem Gespräch ein, ich telefonierte mit der Personalabteilung, und man bedeutete mir, ich solle den ganzen Tag für das Treffen reservieren. Ich zog meinen neuen Hosenanzug an und fuhr nach Frankfurt, Deutschlands Bankenmetropole. Keine Ahnung, was mich erwartete, ich hatte mich auch nicht weiter auf diesen Termin vorbereitet. Das erste Interview führte ich mit der Personalabteilung, eine harmlose Konservation über das, was ich bislang gemacht hatte. Alles lief in einem freundlichen Ton ab. Danach brachte man mich zu einem Schrank von einem Mann, der nichts mit dem netten Menschen von der Personabteilung gemein hatte. Er wirkte auf mich wie ein Metzger, hatte ein fleischiges Gesicht und schütteres Haar. Nachts auf der Straße hätte ich einen großen Bogen um ihn gemacht. Er stellte sich vor, rotzte aber seinen Namen so heraus, dass ich ihn kaum verstehen konnte. Philipp, den Vornamen hatte ich gerade noch aufschnappen können. Philipp schien ein Händler zu sein, er ließ aber nichts Näheres verlauten. In einem unglaublichen Tempo führte er mich durch den Handelsraum, ohne mir etwas zu erklären. Ich konnte nur erkennen, dass hier – wie in London – rund zweihundert Männer in einer großen Halle zusammengepfercht auf ihren Händlerstühlen saßen. Auch diesmal fand ich es wieder seltsam, wie so gut gekleidete Männer so eng beieinander sitzen konnten. Sie telefonierten oder starrten auf ihre Monitore. Waren es bei den Aktien-Sales-Leuten ungefähr drei pro Händler, so konnte ich bei den Derivateverkäufern
acht, neun Bildschirme ausmachen, die meisten übereinander aufgetürmt. Darauf liefen Wirtschaftsprogramme, Handelspositionen, die aktuellen Tickernachrichten über Reuters, dazu der Bloomberg-Terminal mit seinen Analysen und Daten von allen möglichen Börsen der Welt. Mehr konnte ich nicht aufnehmen. Nachdem wir den Handelsraum wieder verlassen hatten, blieb Philipp vor einer Tür stehen und ließ mir den Vortritt. Immerhin. Das Büro war licht, aber ziemlich karg eingerichtet. An einem gewöhnlichen Konferenztisch saßen zwei Männer ähnlichen Formats wie Philipp. Als sie sich erhoben, um mich zu begrüßen, verloren sie nichts von ihrer leicht dubiosen Ausstrahlung. Gut sah keiner von ihnen aus, so viel stand fest. Einer hatte einen Bauchansatz und strähnige Haare, der Zweite war fast glatzköpfig. Ihr Alter schätzte ich auf Anfang, vielleicht Mitte dreißig, sie konnten jedoch locker auch als wesentlich älter durchgehen. Als sie sich wieder setzten, saßen sie noch breitbeiniger auf ihren Stühlen, als sie es bei meinem Eintritt getan hatten. Vor ihnen standen Aschenbecher, die fast randvoll waren. Beide zündeten sich auch gleich die nächste Zigarette an. Mich irritierte nichts, ich wusste ja: Derivatehändler konnten wie Asoziale aussehen, auch wenn sie in den seriösesten Banken arbeiteten. Ich setzte mich auf den Platz vor dem Tisch, aufgefordert hatte man mich dazu nicht. Philipp reihte sich in das Duo ein. Eine Zeitlang sah man mich nur an, sagte kein einziges Wort. Schließlich meinte der Glatzköpfige: »Sie wollen also Derivatehändlerin werden?« »Ja, das will ich«, antwortete ich. »Dann erklär mal, was eine Option ist.« Das »Sie« hatte man schon nach dem ersten Satz vergessen und war zum im Handelsraum üblichen Du übergegangen.
Durch meine hart und teuer erworbenen Online-Kenntnisse über Derivate fühlte ich mich entspannt, als ich ihnen die gewünschte Erklärung gab. »Aha«, bemerkte das Trio, nachdem ich meine Ausführungen beendet hatte. »Und wie werden bei strukturierten Anleihen die Preise berechnet? Wie kann man diese verändern?« Klasse Frage. Selbst mir war inzwischen bekannt, dass die Preisberechnung bei Derivaten das große Problem war. Die drei Typen grinsten sich an, bevor sie ihren Blick erneut auf mich richteten. In diesem Augenblick wusste ich: Wenn ich hier etwas reißen will, dann war Aktion angesagt. Showeffekt mit Trickeinlage. Ich stand auf, straffte mich, sammelte mein gesamtes (mithin nicht vorhandenes) Wissen über strukturierte Anleihen zusammen und gab es zum Besten. Dann begann ich einige Berechnungen anzustellen. Sicher waren sie nicht falsch, aber definitiv auch nicht richtig. Es kam darauf an, überzeugend zu wirken, redete ich mir ein. Selbstbewusst schaute ich in die drei Gesichter. Keine Reaktion. Na, dann eben nicht. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz und holte meine Zigaretten hervor. Wenn die rauchten, konnte ich es auch. Man gab mir sogar Feuer. Plötzlich stand der Glatzköpfige auf und öffnete einen kleinen Kühlschrank, der im Konferenztisch eingebaut war: »Willst du Bier?« Super, dachte ich. Der könnte direkt nach London reisen, das Coq d’Argent aufsuchen und dort den Lehman-Händlern Konkurrenz machen. Wieder so eine absurde Situation. Und diesmal war es auch noch ein Bewerbungsgespräch. Ich beschloss, dass ich nichts zu verlieren hatte: »Danke. Ich trinke nur Champagner. Oder Wasser.« Während wir tranken und rauchten, blätterten die Männer in meinem Lebenslauf herum.
»Was liest du denn gerade?« Der Glatzköpfige fragte das. Ich hatte diese Freizeitbeschäftigung als Hobby angegeben. »Herz der Finsternis von Joseph Conrad.« Das sagte ihnen offensichtlich nichts, also fügte ich hinzu: »Der Film Apocalypse Now basiert darauf, es geht um die Abgründe der eigenen Seele.« Das kam ihnen bekannt vor, jedenfalls konnte ich eine gewisse Zufriedenheit in ihren Augen erkennen. Damit war das Gespräch auch schon zu Ende. Philipp führte mich nun in ein zweites gesichtsloses Büro, das sich von dem anderen Raum nur durch seine Fensterlosigkeit unterschied. Neonlicht brannte von der Decke. »Warum willst du in den Bereich? Was sind deine Ziele? Wie stellst du dir die Arbeit vor?« Der Boss der Derivateabteilung, wie ich inzwischen herausgefunden hatte, bombardierte mich mit Fragen. Ich wiederum versuchte, überzeugende Antworten zu finden. Dass ich möglichst viel Geld verdienen wollte, konnte ich schlecht sagen – meinte ich. Nach einigen Jahren, als ich selbst Bewerbungsgespräche führte, wusste ich, dass dies die beste Antwort auf die Frage war. Die InvestmentBanken wollten gierige junge Menschen, die sie aufbauen und trainieren konnten. Mittendrin fragte er mich plötzlich: »Was ist die Wurzel aus 1776?« Dreht der jetzt völlig durch?, dachte ich. Schnell wurde mir aber klar, dass es sich um einen Test handelte, ich sollte sofort eine Antwort geben. »38«, sagte ich, wissend, dass das Ergebnis falsch war. Später erfuhr ich, dass jeder Person, die sich bei dieser Bank bewarb, ähnliche Sachen an den Kopf geknallt wurden. Die wenigsten schafften es, in dieser kurzen Zeit die richtige Zahl auszurechnen, aber darum ging es auch nicht. Man wollte nur herausfinden, wie man auf Unerwartetes reagierte. Gerade im Handel wird erwartet, dass eine Antwort nicht nach einer bedenkenvollen Pause erfolgt. Und da ich nichts zu verlieren hatte, stellte ich zur Verblüffung meines
Befragers im Gegenzug eine Denkaufgabe: »Wie bringt man in neun Ställen zehn Pferde unter?« »Okay, alles klar.« Zum ersten Mal zeigte sich auf Philipps Gesicht ein Lächeln. Jetzt sah er sogar sympathisch aus. Er griff zum Telefon und redete kurz mit jemandem, wahrscheinlich mit einem weiteren Händler, der mich in die Mangel nehmen sollte. Jedenfalls stürmte kurz danach ein schlaksiger Typ ins Zimmer, mit roten Hosenträgern und einer Hornbrille, die ihn – anscheinend hoffte er das – intelligent aussehen ließ. Er verzog keine Miene und begann augenblicklich damit, mir Fachfragen zu stellen: »Was sind die Inputparameter für Optionsberechnungen? Was ist die implizite Volatilität, und wie werden Anleihen gespeist? Was sind Bund Futures?« Wahrscheinlich habe ich nur maximal 50 Prozent davon beantworten können. Das Ganze dauerte höchstens zwanzig Minuten, danach verschwand der Brillenträger wortlos. So seltsam das alles war, wie in einem abgefahrenen Film, umso interessanter fand ich das Ganze. Ich fühlte mich wohl, dieses unorthodoxe Verhalten gefiel mir ausnehmend gut. Hier schien es nicht langweilig zu sein. Sollte auch mit harten Bandagen auf allen Ebenen gekämpft werden, mich sollte das nicht abschrecken. Ich hatte in London gehört, dass ältere Derivatehändler zwar extrem viel Geld verdienten, aber völlig fertig und verbraucht waren, gar nicht mehr sie selbst. Mir würde das nicht passieren. Wäre ich erst einmal Brokerin, würde das bei mir keine Spuren hinterlassen. Sollten die anderen doch komisch werden, mich würde das nicht treffen. Inzwischen war es halb zwei – Lunchzeit. Wir gingen ins Living, nicht weit von der Zeil entfernt, das mich an die Londoner Lokale erinnerte: ein großer Raum mit weißen Lederbänken und hussenbezogenen Stühlen, weiße Tischtücher, weiße Servietten. Um uns herum nur Männer und
Frauen in mehr oder weniger gedeckten Anzügen. Mitten beim Essen redete mich der schlaksige Brillenträger – Henry hieß er – plötzlich auf Italienisch an. In meinem Lebenslauf hatte ich zwar unter der Rubrik »Fremdsprachen« diese Sprache angegeben, aber meine Kenntnisse reichten nicht einmal aus, um Smalltalk zu betreiben. Da ich aber Italienisch ganz gut verstand, antwortete ich auf Spanisch, diese Sprache beherrschte ich besser. Das schien ihn nicht zu stören. Im Nachhinein wusste ich, es ging es auch hier um die Fähigkeit, schnell auf neue Situationen reagieren zu können. Nach diesem Tag hatte ich kein Gefühl dafür, wie ich mich geschlagen hatte. Ich wusste es einfach nicht. Wie sollte ich auch in diese American-Psycho-Köpfe reingucken können? Ob man mir einen Job anbieten würde, das vermochte ich nicht einzuschätzen. Doch schon am nächsten Tag teilte man mir mit, ich könne sofort bei »Der Bank« anfangen. Obgleich ich noch zwei andere Angebote ausstehen hatte, war meine Entscheidung schnell getroffen. Der Laden schien mir trotz seiner via Medien und Presse nach außen getragenen Seriosität ein verrückter Haufen zu sein, wo man viel Spaß haben und einiges erreichen konnte.
In einer ruhigen Seitenstraße im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen bezog ich eine schöne Wohnung in einem Mietshaus aus der Jahrhundertwende. Dann kam mein erster Arbeitstag als Händlerin. Mit Stolz erfüllt stand ich vor dem imponierenden Hochhaus. Schließlich war ich meinem Ziel, bald ein sechsstelliges Gehalt einzustreichen, einen Schritt näher gekommen. Philipp schüttelte mir die Hand, als ich mich bei ihm meldete. Das war die einzige kommunikative Geste, die er zustande brachte. Danach stellte er mich im
Handelsraum ab und ignorierte mich vollkommen. Ich erhielt keine Einführung, keinen Rundgang, keine Visitenkarte. Dafür entdeckte ich mehrere Frauen. Sie waren eine noch relativ neue Errungenschaft in deutschen Handelsräumen. Noch vor einem halben Jahrzehnt hatte es große Diskussionen über ihre Zulassung gegeben. Gerade die Broker hatten sich dagegen gewehrt, mit der Begründung, dann würde sich alles ändern. Dahinter stand die Angst, sie könnten sich nicht mehr ungehemmt wie die Alpha-Männchen, die sie waren, aufführen und uneingeschränkt ihre Machosprüche von sich geben. Doch in den oberen Chefetagen sah man die Sache anscheinend anders, es ging mit Sicherheit auch um Political Correctness. Außerdem wurde der nutzbringende Charme der Frauen gerade in den Sales-Bereichen – mein Arbeitsbereich umfasste die Handels- sowie die Sales-Abteilung –, die Anlageprodukte und Aktien in Milliardenhöhe vertickten, entdeckt. Frauen drangen also immer mehr in die Männerdomäne Handelsraum. Ich fühlte mich wie eine Eroberin, die die Wüste Gobi durchqueren wollte. Aber: Keiner beachtete mich. Das kannte ich ja schon aus London, nur war ich da Praktikantin gewesen, die nichts anderes zu tun hatte, als alles in sich aufzusaugen. Hier sollte ich Deals machen. Konnte denn keiner erkennen, dass ich für die erste Million bereit war? Erst nach einer Weile erbarmte sich einer der Männer und brachte mich zu einem Platz im hinteren Teil des Raumes. Als ich mich gesetzt hatte, murmelte er noch etwas von »Heute ist die Hölle los«, und im nächsten Moment war er auch schon wieder verschwunden. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Ich hatte gedacht, wenn ich hier ankomme, würden mich alle anschauen und es würde irgendetwas passieren. Aber es tat sich nichts, wenigstens nicht um mich herum. Viele Monitore standen vor mir, aber sie waren abgestellt. Und sie blieben es auch, sosehr ich auch
versuchte, einen Knopf zu entdecken, um sie anzuschalten. Ich fand keinen, und alles blieb tot. Erst später sagte man mir, dass dieser Platz einem Kollegen gehöre, der gerade in Urlaub sei. Und überhaupt könne man nur mit bestimmten elektronischen Passwörtern die Bildschirme hochfahren. Na, das fing ja wunderbar an. Nicht einmal in den Computer kam ich hinein, weil hierzu ebenfalls ein Kennwort gebraucht wurde, dieses aber nur jener Kollege wüsste. Als ich die Telefonhörer abnahm, war gar nichts in den Leitungen zu hören. Diese Telefone hatten mit normalen Apparaten nichts zu tun, es war eher eine riesige Anlage mit Unmengen von Knöpfen, die – wenn man eine funktionierende Leitung hatte – in unterschiedlichen Farben blinkten. Headsets, wie sie in Callcentern benutzt wurden, wären natürlich viel einfacher gewesen, aber die galten – auch das erfuhr ich erst im Nachhinein – als schwul, lieber klemmte man sich zwei Telefonhörer ans Ohr und versuchte noch nebenbei mit hochgezogenen Schultern etwas in den Computer zu tippen. Da ich bislang nie unter diesen Brokern gewesen war, konnte ich all das auch nicht einordnen. Aus der Londoner Investment-Bank wusste ich, dass es bei diesen Geschäften ähnlich wie bei den Aktienverkäufen keine großen Verträge gab, die tagelang vorbereitet und stundenlang diskutiert wurden, auch wenn es um Millionendeals ging. Man hatte überhaupt nichts Schriftliches, niemand schickte etwa ein Fax. Alles wurde am Telefon abgemacht, weil sich die Märkte in einer unglaublichen Geschwindigkeit bewegen konnten und man blitzschnell reagieren musste. Wenn man sich dabei um eine Kommastelle irrte, konnte das sehr teuer werden. An diesem Tag herrschte eine extrem hohe Anspannung, sie war fast mit Händen zu greifen. Die nächsten Stunden saß ich vor den stummen Geräten, immer noch von niemandem beachtet. Da ich nicht einmal eine Zeitung bei mir hatte, blieb
mir nichts anderes übrig, als weiter das Geschehen zu beobachten. Ich fühlte mich gebremst, sah aber keine Möglichkeit, meinen Unwillen an jemandem auszulassen. Gegen Mittag tobte um mich herum ein Orkan, aber ich befand mich mitten in der Flaute. Von allen Seiten hörte ich Signalworte: »30000 OTC-Kontrakte Allianz an dich. Gemacht.« Aus London wusste ich, was das bedeutete: Ein anderer Broker hatte dann am Telefon zum Händler gesagt: »30000 Kontrakte Allianz von dir.« Der Händler bestätigte den Betrag, indem er ihn wiederholte und »an dich« hinzusetzte. Dieser mündliche Austausch gilt als Vertrag, hat also Gültigkeit. Aus London wusste ich auch, dass sämtliche Banken nahezu wie eine Stasi-Zentrale operieren. Jedes einzelne Gespräch wird aufgezeichnet, selbst die Privatgespräche. Das war schon eine seltsame Sache, und entsprechend hatte ich mich sehr gehemmt gefühlt, überhaupt zu telefonieren. Denn zu allem Überfluss konnte jeder, der an einem x-beliebigen Telefon vorbeikam, sich mittels Knopfdruck die letzten geführten Gespräche anhören. Dies war eine stete Quelle der Freude, die Kollegen mit den von ihnen geführten Telefonaten vorzuführen. Natürlich hatten die »Abhöranlagen« den Zweck, dass man sich sämtlicher Zahlen, die für Millionen oder Hunderttausende gehandelter Euros standen, noch einmal vergewissern konnte, da hinterher alles genau dokumentiert werden musste. Diese in Sekundenschnelle getätigten und im Nachhinein aufgeschriebenen Deals gingen dann vom Front Office, also von den Händlern und Sales-Leuten, zu den BackOffice-Leuten. Das Back Office ist der Hinterbau eines Handelsraums, riesige Abteilungen einer Bank, die die Abwicklung betreiben und alle Daten in irgendwelche Systeme eintippen. Am Ende dieser Kette treten irgendwann die
Juristen in Erscheinung, die das Geschäft vertraglich festhalten – eine umgekehrte Reihenfolge, verglichen mit üblichen Businessbedingungen. Ich hatte weiterhin nichts zu tun, als herumzusitzen. Also schaute ich mir die Plätze der Händler in meiner unmittelbaren Nähe genau an. Persönliche Dinge konnte ich so gut wie keine entdecken, wahrscheinlich hatte man Angst, dass andere darüber ihre Scherze machen würden. Hin und wieder gab es ein Foto von einem Kind. Das einzige Zugeständnis an Privatsphäre. Auffällig war, dass die meisten für ihren Computer keine beruhigend herumschwimmenden Fische oder schnelle Autos als Bildschirmschoner hatten, sondern nackte Frauen, Blondinen bevorzugt. Auf den Reuters- und Bloomberg-Tickern erschienen sekündlich neue Nachrichten. Das Besondere an diesen Tickern ist, dass man sie auf ein bestimmtes Land, sogar auf eine bestimmte Firma einstellen kann. Durch die beiden Nachrichtensysteme – zusammen kosteten sie mehr als 2000 Euro im Monat – ist die gesamte Finanzwelt gleichgeschaltet. Europa, Asien, Amerika haben zu jeder Zeit einen identischen Informationsstand. Wird eine Zinssenkung beschlossen oder stehen Quartalszahlen einer börsennotierten Firma an, erhalten die Händler sie weltweit zur selben Sekunde. Bloomberg – auch eine Erkenntnis aus London – war innerhalb der Kaste der Händler bevorzugt. Wer auf Bloomberg war, gehörte zu den Insidern, Nichtbesitzer konnte man getrost in die Schublade »unwichtig« einräumen – schon allein deshalb, weil Bloomberg ein Messenger-System integriert hatte (später konnte man damit auch chatten, Foto inklusive), mit dem Reuters nicht aufwarten konnte. Immer wieder sah ich, wie bei meinen mir noch nicht bekannten Kollegen Messages aufblinkten. Warum unter Börsenfreunden E-Mails schreiben, wenn man über Bloomberg kommunizieren konnte! Das war
hip und demonstrierte gleichzeitig, dass man zum Insiderkreis der hochbezahlten Broker gehörte. Natürlich benutzte man das Messenger-System von Bloomberg auch, um Deals abzuwickeln und zu flirten. Das Messenger-System von Bloomberg war in gewisser Weise eine frühe Variante von Internet-Communities wie Facebook oder XING. Überall im Handelsraum gab es riesige Fernseher, später wurde ich ständig Zeuge von Streitereien über das Programm und die Lautstärke. An diesem Tag aber hatte niemand Zeit, sich solchen Vergnügungen hinzugeben. Am Nachmittag meines ersten Arbeitstags sah ich plötzlich einen Kollegen, der vor wenigen Minuten noch im Handelsraum in meiner unmittelbaren Nähe gesessen hatte, plötzlich im Fernsehen auf n-tv. Aufgeregt wollte ich die neuen Kollegen um mich herum darauf aufmerksam machen, aber als einzige Reaktion erhielt ich nur ein kurzes Kopfnicken. Das war überhaupt die einzige Reaktion auf mich. Als meine offizielle Arbeitszeit um 17.30 Uhr, nach Handelsschluss, zu Ende war, stand ich von meinem Platz auf. Alle anderen blieben noch sitzen, analysierten den Markt oder bereiteten sich für den Morningcall vor. Hörbar und mit Nachdruck sagte ich: »Morgen komme ich wieder.«
3
Gegen die Wand gefahren
Um Viertel vor acht am nächsten Tag ging ich wieder auf den Platz, den man mir gestern zugewiesen hatte. Die Bildschirme waren immer noch ausgeschaltet. Bevor ich überlegen konnte, wie ich weiter vorgehen sollte, um nicht länger untätig herumzusitzen, tippte mir mein Hintermann auf die Schulter. Breitbeinig, mit verschränkten Armen und viel Gel in den schwarzen Haaren blickte er mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Florian«, sagte er. »Anne«, antwortete ich. »Was willst du eigentlich hier?« »Im Derivatebereich arbeiten.« »Was hast du dir da bloß für einen Quatsch ausgedacht. Keine normale Frau will in einem Handelsraum arbeiten, in dem die Leute kein Benehmen haben. Männer stinken und rülpsen, außerdem wollen Frauen in schönen Büros mit Grünpflanzen sitzen.« Es war klar, dass Florian provozieren wollte, deshalb konterte ich: »Alles klar, und mit Puppen spielen wollen sie auch. Im Ernst. Mir ist es scheißegal, wie mein Arbeitsplatz aussieht. Das Einzige, was ich will, ist Geld verdienen.« »Okay, okay, alles klar. Wollt’ ja nur mal sehen, wie du so drauf bist.« Mit diesen Worten rollte Florian auf seinem Händlerstuhl wieder zurück zu seinem Platz, weil er was erledigen musste – oder auch nur vortäuschte.
Kurz darauf sollte ich zu dem Chef, der den gesamten Handel leitete – Philipp war anscheinend nur der Zweite in diesem Insiderkreis. Bislang hatte ich die hierarchischen Strukturen noch nicht durchschaut, sie spielten in diesem Bereich aber auch keine besonders große Rolle. Marc Jander war mindestens zwei Meter groß, Mitte vierzig, athletisch gebaut, mit blonden Haarstoppeln. Seine linke Gesichtshälfte war von einer Narbe durchzogen, ein Autounfall, wie ich später erfuhr. Ich musste mich zusammenreißen, dass ich ihn nicht permanent anstarrte. Lenkte mich mit dem Gedanken ab, dass er was draufhaben musste, sonst wäre er nicht der Boss der Abteilung, die für eine Investment-Bank den größten Gewinn brachte. Florian hatte mir, noch bevor ich den Handelsraum verließ, zugeflüstert, Jander sei einer der Händler an der DTB gewesen, der Deutschen Terminbörse, die 1990 von siebzehn Banken gegründet worden war und einen Boom in börsengehandelten Derivaten ausgelöst hatte. Ihr Nachfolger, die EUREX, ist heute die weltweit größte Terminbörse für Aktienderivate, und das, obwohl ihr nur gut 400 Teilnehmer angehören. Das 2008 umgesetzte Nominal-Volumen entsprach mit mehr als zwei Milliarden Kontrakten der unvorstellbaren Summe von mehreren Billionen Euro. Janders Büro war im Gegensatz zu den »Verhörräumen«, in denen die Bewerbungsgespräche stattgefunden hatten, recht groß, mit Schreibtisch, Sitzecke und – fast erstaunlich – einigen Grünpflanzen. »Sie wissen, worauf Sie sich eingelassen haben?«, fragte er. »Was meinen Sie damit?« »Hier haben viele stets einen blöden Spruch auf den Lippen.« Das hatte ich schon erfahren. »Surfen den ganzen Tag im Internet herum, wenn sie nichts zu tun haben, und schauen sich mit Vorliebe nackte Frauen an. Da wird kein Blatt vor den
Mund genommen.« Marc Jander schaute mich direkt an, um meine Reaktion zu überprüfen. Da ich auf alles gefasst war, schreckte mich nichts. Wenn das zum Big Business dazugehörte, so würde mich das nicht von meinem Ziel abhalten. Das hatte ich schon Florian signalisiert. »Mich stört das nicht. Ich werde schon eine passende Antwort finden.« »Wie Sie meinen.« Dieser Chef gehörte also nicht unbedingt zu den Männern, die eine Frau im Handelsraum favorisierten. Doch wieso sollten wir nicht genauso ehrgeizig und durchsetzungsfähig sein und hart arbeiten wollen wie die Männer? Waren wir nicht sogar besser? Am liebsten hätte ich ihm das gesagt, aber das unterließ ich besser. Schließlich stellte er noch ein paar kurze Fragen, um meine Motivation einordnen zu können, wollte wissen, warum ich mir gerade diesen Bereich ausgesucht hatte. Immerhin schien er am Ende überzeugt davon zu sein, dass ich es ernst damit meinte, der Community der Derivatebroker angehören zu wollen. Ich durfte wieder gehen. Zurück an meinem Platz, hörte ich, wie Hartmut – den Namen dieses Händlers hatte ich am Tag zuvor aufgeschnappt – zu Florian sagte: »Mit dem, was du in der Hose hast, kannst du die sowieso nicht befriedigen.« Die beiden Männer betrachteten gerade ein Pornoheft. Auf einer Doppelseite räkelte sich eine Frau lasziv auf einem roten Ferrari und brachte ihren nackten Oberkörper besonders aufreizend zur Geltung. Da hatte ich die Bestätigung von Janders Warnung. Die Lektüre dieser Magazine gehörte tatsächlich zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen der Broker. Ein ganzer Stapel lag davon in einem Schrank. Jeder, der gerade Lust darauf verspürte, konnte dorthin gehen und sich eines heraussuchen. Für Nachschub wurde ständig gesorgt.
Hartmut verhielt sich so, als würde er zu den großen Cracks im Raum zählen. Er hatte tiefe Schatten unter den Augen, war klapperdürr, was er durch gutsitzende Anzüge zu verstecken wusste. Jetzt lagen seine Füße auf dem Tisch, und er schien sich fast totzulachen über den Spruch, den er eben gemacht hatte. Was Florian aber nicht daran hinderte zu kontern: »Ey, die hat so geile Titten, da kann deine Freundin nicht mithalten, oder?« Es gehörte zum guten Ton, nicht über die Frauen von Händlern zu lästern, aber Freundinnen – die es oft auch neben den Ehefrauen zahlreich gab – waren von diesem Codex befreit. Mir war bewusst, dass mein Arbeitsumfeld nicht normal war. Wer zur Geldkaste gehörte, musste es aushalten können, wenn es hammerhart zuging. Und anscheinend auch einen Tick haben. Es hätte mich auch nicht weiter irritiert, wenn jemand eine elektrische Miniatureisenbahn auf den schmalen Gängen aufgebaut hätte oder ein Zimmer-Golf-Spiel. Es ging darum, Geld zu verdienen. Wenn dazu bestimmte Dinge nötig waren, dann sollte jedes Mittel recht sein. Hartmut, so fand ich bald heraus, leitete eine Gruppe von Brokern, die in Milliardenhöhe mit Aktien- und Indexderivaten handelten, die an institutionelle Kunden oder aber über Zertifikate an Privatanleger vertickt wurden. Er schien davon überzeugt zu sein, einen guten Kleidungsstil zu haben – und wenn er nicht gerade fast durchsichtige rosafarbene Hemden trug, die seine Rippen durchscheinen ließen, traf das auch zu. Mal Dandy, mal Gentleman – er hätte gut nach London gepasst. Dorthin flog er auch öfter, weil ein Teil unserer Kollegen, insbesondere aus den Handelsbereichen, aber auch aus der Sales-Abteilung, von der City aus arbeitete. Plötzlich schien Hartmut mich entdeckt zu haben, als hätte er noch nicht bemerkt, dass ich seit ungefähr zwei Tagen im Handelsraum herumsaß. Ohne sich weiter vorzustellen,
konfrontierte er mich mit einer seiner Lebensweisheiten: »Wer mit einem goldenen Löffel geboren wurde, stellt keine weiteren Fragen ans Leben. Man ist einfach nur glücklich, wenn man mit seinem Rolls durch die Gegend fahrt. Doch wenn man ein bisschen mehr im Kopf hat, noch über anderes nachdenkt, dann ist es ein gutes Gefühl, hier angekommen zu sein und einen siebenstelligen Betrag auf dem Konto zu haben.« Hartmut lobte sich immer selbst, ließ keine Chance aus, seine »überragende Intelligenz« hervorzuheben, obwohl er eigentlich die ganze Zeit nichts anderes tat, als Leute herumzukommandieren, Wetten abzuschließen und wie fast alle im Handelsraum Kette zu rauchen. Hin und wieder musste er aber doch Geistesblitze haben, er galt tatsächlich als Crack. Da ich von diesem Männerclub akzeptiert werden wollte, nickte ich nur. Keineswegs wollte ich Hartmuts Selbsteinschätzung in Frage stellen. Wieso sollte ich auch! Ich dachte nicht viel anders als er. Im Gegensatz zu gestern war an diesem Dienstag nichts los. In allen Reihen ging es entspannt zu, einige hatten den Kinderkanal KiKa eingestellt oder schauten sich die Teletubbies an, am späteren Nachmittag Talkshows wie Arabella oder Bärbel Schäfer. Ich hatte das Gefühl, in einem Kindergarten zu sein, in dem jeder seinem eigenen Spieltrieb nachging. Irgendwann kam Marc in den Handelsraum und zitierte einen zu sich, der sich zuvor einen Papierkorb über den Kopf gestülpt und zur Belustigung aller Anwesenden einen Stepptanz aufgeführt hatte, wahrscheinlich hatte er gerade ziemlich viel Kohle mit einem Deal verdient: »Komm in mein Büro, dann zeige ich dir mal, wo’s langgeht.« Der Spaßvogel ließ sich dadurch aber nicht seine gute Laune verderben, sondern antwortete: »O Schreck, da muss ich wohl Vaseline
mitbringen.« Alles brüllte vor Lachen, ich eingeschlossen. Unterhaltung war also garantiert. Sehr gut. Aber ich fragte mich, wann man mich aus meiner Lethargie erlösen würde, oder war das etwa Teil des Spiels? Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, rollte Hartmut mit seinem Stuhl an meinen Platz. »Du willst also handeln, dann mach das doch mal.« »Wie?«, fragte ich und zeigte auf meine ausgeschalteten Monitore. »Komm rüber zu mir.« Mehr Befehl als Bitte. Zum ersten Mal saß ich an einem Handelsplatz mit funktionierenden Bildschirmen und Telefonen. Ich atmete tief durch. In der Zwischenzeit hatte sich ein Halbkreis von Händlern hinter mir versammelt, jeder wollte sehen, wie ich mich bei meiner ersten Aktion schlug. Den Spaß konnte man sich keineswegs entgehen lassen. Es war klar, ich sollte nicht mit der klassischen Parkettbörse handeln – der Aktienhandel läuft wirklich sehr simpel; eine Aktie ist eine Aktie und bleibt eine Aktie –, sondern an der größten Derivatebörse der Welt, der elektronischen EUREX. Bislang hatte ich mit ihr nur in London Kontakt gehabt, bei jener Party, auf der ich mich als Müllmillionärin vorgestellt hatte. Wo war meine große Klappe geblieben? Vor mir war ein Mainframe-Computerfeld, das so langweilig aussah wie ein Buchhaltungsprogramm. Lange schwarz-weiße Zahlenkolonnen bewegten sich mal träge wie Schlangen über den Bildschirm, mal schienen sie wie ein Schwarm von kleinen Fischen rasch vorbeizuziehen. Da es damals noch keine Windows-Oberfläche besaß, konnte man auch nicht mit der Maus irgendwo reinklicken, sondern musste seine Eingaben mit den F- und Pfeiltasten machen. Das sollte die Börse sein? Die Parkettbörse war ein Saal, in dem Leute herumschrien, als ging es um Leben und Tod! Immerhin wurde die Zukunft
gehandelt. Davon hing bekanntlich viel ab. Aber nun ging es um meine Zukunft, und ich ermahnte mich selbst, meine Konzentration auf dieses schwarzweiße Programm zu richten, das das Herz des Finanzcasinos sein sollte. Hartmut erklärte mir zuerst kurz die wichtigsten Schlüsselbegriffe: »Mit PageUp kaufst du, mit PageDown verkaufst du.« Anschließend erzählte er mir einiges zu Futures: »Wie Optionen sind auch sie Derivate, haben aber kein optionales Element. Futures sind in zwei Richtungen aufgebaut. Angenommen, der DAX steht bei 5500 Punkten. Jetzt kannst du einen Deal machen, bei dem dir pro Punkt 25 Euro gezahlt werden für alles, was über 5500 Punkte liegt. Steigt der DAX auf 6000 Punkte, hast du 12 500 Euro Gewinn aus dem Vertrag gewonnen. Ein Punkt steht für 25 Euro, das ist die Tickgröße. Du kannst es aber auch umgekehrt machen. Wenn der DAX fällt, müssen sie dir die Diskrepanz zu 5500 Punkten zahlen. Fällt er also auf 5000 Punkte, gewinnst du 12 500 Euro. Wenn die Jungs hier kurzfristig im DAX-Future zocken, gehen sie schon mal gern ‘ne Position von 100 FutureKontrakten ein.« Das konnte nicht wahr sein. Stimmte Hartmuts Bespiel, konnten die Händler an einem Tag über eine Million gewinnen – oder verlieren. Später lernte ich, dass sie diese Summen nicht nur an Tagen, sondern in Minuten und Stunden verzockten. Hartmut schien es ernst zu sein, dass ich jetzt tätig werden sollte. »Und vergiss nicht«, fuhr er fort, »Futures sind immer ein Vertrag auf einen Index, ganz egal ob EuroStoxx, DAX oder Dow Jones. Für jeden Fondsmanger gelten sie als Benchmark.« Benchmark war für den Fondsmanager ein Vergleichsmaßstab, eine Bewertungsmethode, um den Anlageerfolg seines Fonds zu messen. Das Ziel eines jedes Portfoliomanagers ist es, eine bessere Wertentwicklung als der Vergleichsindex zu erzielen. Die Indizes selbst bestehen aus
repräsentativen Aktien und bilden den Markt ab, letztlich auch eine gesamte Volkswirtschaft. In ihnen schlagen sich Rezessionsängste, Zinsentscheidungen, Arbeitslosenzahlen und Unternehmensnachrichten nieder. Hartmut gab mir mit diesen Hinweisen zu verstehen, dass im Derivatehandel anders und mit viel mehr Möglichkeiten gedealt wurde als an der Parkettbörse. Das war alles schön und gut, doch wusste ich immer noch nicht, wie ich vorzugehen hatte. Und dazu musste ich noch mit dem öden Bildschirm vor mir sowie Hartmut und der Meute hinter mir zurechtkommen. »Fangen wir beim Einfachsten an. Das, was du da vor dir hast, ist ein Orderbuch…« Hartmut half mir auf die Sprünge. Richtig, das Orderbuch. Zwei Zahlenreihen aus Käufern und Verkäufern standen sich gegenüber, jeder mit seiner eigenen Preisvorstellung für den Dax-Future. Sollte es zu einem Handel kommen, müssten sich beide auf irgendeine Art und Weise einigen – genau wie auf dem Wochenmarkt. Sie waren aber nicht allein auf dem Markt, hinter ihnen – auf dem Bildschirm sind sie untereinander aufgelistet – gab es noch eine Menge weiterer Käufer und Verkäufer mit den unterschiedlichsten Preisvorstellungen. Plötzlich verschwand die erste Zahlenkolonne. Der Deal war also gemacht, und die nächsten Positionen rutschten nach oben und stellten sich gegenüber. Alles erfolgte in einem so wahnsinnigen Tempo, dass ich das, was ich sah, kaum noch mit den Augen verfolgen konnte. Ich hatte keine Ahnung, wer sich hinter den Positionen verbarg. Ein amerikanischer Pensionsfonds, ein Kollege aus einer anderen Frankfurter Bank, ein Fondsmanager, mit dem Hartmut jeden Tag telefonierte? Ich versuchte mir vorzustellen, dass hinter dem Bildschirm, hinter diesem seltsamen Computerprogramm Händler und Fondsmanager aus der gesamten Welt saßen und um die Wette
schrien. Aber irgendwie traten keine Menschen in Erscheinung, vor mir flimmerten weiterhin nur still und stumm die Zahlenkolonnen. »Wir handeln jetzt einen ODAX«, sagte Hartmut. Obwohl ich ihn nicht sehen konnte, wusste ich, dass er ein breites Grinsen im Gesicht haben musste. »ODAX ist das Kürzel für die Optionskontrakte im DAX, FDAX für die Futurekontrakte.« Der DAX-Future ist einer der am meisten gehandelten Derivate an der EUREX-Börse, 2008 betrug das gehandelte Nominalvolumen rund 7600 Milliarden Euro – gut das Doppelte des Bruttoinlandprodukts der Bundesrepublik. In Lehrbüchern hatte ich mal gelesen, wie man einen ODAX handelte, und theoretisch glaubte ich auch, dies zu können, aber als ich jetzt in der Praxis tätig werden sollte, verstand ich überhaupt nichts mehr. Ich hatte keinen Plan, wusste nicht, welche Taste ich drücken sollte, welche finanziellen Auswirkungen es haben würde, wenn ich einen ODAXKontrakt handeln würde. Hartmuts nächste Ansage: »Du gehst jetzt eine Position von hundert At-the-money-Long-Call-Kontrakten im ODAX ein und hedgst diese mit dem Future.« Ich fühlte mich, als müsste ich mich auf einer spiegelglatten Eisfläche fortbewegen. Weder kannte ich die Größen der Optionskontrakte noch die der Futures. Zwar wusste ich, dass das Verhältnis von Future zu Option nicht eins zu eins war, aber mehr auch nicht. Zudem war mir nicht klar, ob ich den Futurekontrakt verkaufen oder kaufen sollte, um die Positionen neutral abzusichern. Es war vollkommen absurd. Das Einzige, was ich wusste: Ich war im Begriff, ein Volumen von rund drei Millionen Euro (als Buchgeld war der Euro schon seit 1999 eingeführt) an der Börse zu bewegen. Ich spürte, wie die Horde hinter mir höhnisch grinste. Die Witze, die sie über mich reißen würden,
ich konnte sie mir vorstellen. Mein Herz klopfte wie wild. Du willst mit diesen Summen umgehen, sagte ich mir immer wieder. Du willst! Laut begann ich meine Berechnungen darüber anzustellen, wie ich den Trade aufsetzen würde. Ich lag nicht ganz richtig, denn einer der jüngeren Händler verriet mir, dass das Delta, also das Verhältnis, in das ich Option und Future zueinander setzen musste, 0,5 betrug. Aha, es gab hier also auch richtig nette Kollegen. Schließlich hatte ich alles so ausgerechnet, dass die Position tatsächlich neutral war, ich die Verluste aus der einen mit der anderen ausgeglichen hatte. Das hier war ein Abenteuer der ganz neuen Art. Das Adrenalin, das mein Körper ausschüttete, würden normale Büroangestellte in einem Jahr nicht vorweisen können. Ich kaufte nun die ODAX-Optionen mit einem Tastendruck, und gerade als ich damit begonnen hatte, fing der DAX an, sich gegen mich zu bewegen. Mit jeder Sekunde fiel er um einige Punkte nach unten, mit jeder Sekunde hatte meine Position verloren. Mir brach der Schweiß aus. Ja, und jetzt? Ich kam mir vor, als würde ich in einem Auto sitzen, in dem die Bremsen nicht funktionierten. Was sollte ich tun? Wenn es so weiterging, hatte ich ganz rasant einige Tausend Euro verzockt. Ich musste rasend schnell die Gegenposition aufbauen, um wieder in einen einigermaßen sicheren Bereich zu gelangen. Hedgen hieß das (engl.: »absichern«). Ich rechnete und rechnete, laut sagte ich, dass ich wohl zehn von den Future-Kontrakten verkaufen müsse. Ich hoffte, niemand durchschaute, dass ich riet. Hinter mir hörte ich: »Ja, handle die!« Also stellte ich die zehn Future-Kontrakte in das Orderbuch. Das Orderbuch raste aber an mir vorbei, was bedeutete, dass der Preis, den ich benötigte, um keinen Verlust zu machen, schon längst an mir vorbeigegangen war. Zu 6500 Punkten
wollte ich verkaufen, man war aber in der Zwischenzeit bei 6492 Punkten angelangt. Schließlich stand ich fast am Ende des Orderbuchs – und wenn man dort ganz hinten ist, hat man eigentlich keine Chance mehr, am Handel teilzunehmen. Ich fing an zu zittern. Sehr wohl ahnte ich, dass es schlecht für mich stand. Aber egal, ich musste weitermachen. Aufgeben kam nicht in Frage. Wieder stand ich vor dem Problem, was ich als Nächstes tun sollte. In den vergangenen Sekunden hatte ich 2000 Euro Verlust gemacht, jetzt war ich fast schon bei 3000 Euro angelangt. Wie sollte ich bloß weitermachen? Welche Entscheidung treffen? Eine typische Situation, die später immer wiederkehrten sollte. Schließlich entschied ich mich, bei 6487 zu kaufen, zu einem hohen Preis. Dennoch war ich extrem erleichtert, obwohl ich einen Verlust von 3250 Euro hinnehmen musste. Bitter war das, nicht gerade das, was mein in den letzten Tagen sowieso schon geschundenes Ego brauchen konnte. Berechnungen und Entscheidungen in Sekundenschnelle waren im Handelsraum überlebenswichtig. Das musste auf Anhieb klappen – deutlicher als an diesem eben praktizierten Desaster konnte man es nicht erfahren. Ein noch längeres langes Zögern – und es hätte die Bank weitaus mehr Geld als 3000 Euro kosten können. Bei mir hatte die Aktion zwanzig Minuten gedauert, normalerweise hätte sie nicht länger als maximal zwei Minuten beanspruchen dürfen. Immerhin hatte ich auf diese Weise noch eine weitere Grundmaxime des Händlergeschäfts kennengelernt: Ein guter Händler dealt nicht mit Kursschwankungen in Aktien oder Derivaten wie ein Privatanleger – das hatte ich immer angenommen –, sondern er agiert mit Positionen, die er beispielsweise durch ein Kundengeschäft eingeht und die er an den ihm zur Verfügung stehenden Märkten mit entgegengesetzten Positionen nachbildet, genau wie beim
chinesischen Tangramspiel. Nur wird hier das ursprüngliche Finanzinstrument durch verschiedene andere neu strukturiert. Genau dies hatte ich getan, als ich die Long-Call-Positionen im DAX kaufte und sie mit einer Short-Future-Position absicherte. Solche Händler werden als Market Maker bezeichnet – sie stellen für die Kunden der Bank einen Markt. Dazu steht ihnen eine fast undurchschaubare Vielzahl an verschiedensten Optionen, Futures oder anderen Finanzinstrumenten zur Verfügung. Wobei es natürlich darum geht, sich für Positionen zu entscheiden, die möglichst gewinnbringend sind. Meine Feuertaufe hatte ich bestanden – was ich daran erkennen konnte, dass Hartmut keine höhnische Bemerkung machte, sondern nur kurz sagte: »Jetzt muss ich wieder an meinen Platz.« Sicher, ich hatte Verluste gemacht, aber die waren noch im Rahmen geblieben – und somit hatte ich mich halbwegs »gut« geschlagen. In den Augen meiner Kollegen handelte es sich bei diesen Beträgen um »Spielgeld«, es war bei einem Neuling wie mir von vornherein einkalkuliert worden. Selbst wenn ich 20 000 Euro verzockt hätte, im Zweifelsfall lief das unter Lehrgeld. Viel wichtiger war, dass ich in dieser Extremsituation nicht noch länger gezögert und keine Panik bekommen, mich nicht hatte einschüchtern lassen, auch nicht einfach aufgestanden und davongelaufen war. Wer das tat, das war die einhellige Meinung, hatte im Handelsraum nichts zu suchen. Und diejenigen, die so reagierten, merkten schnell, dass sie in diesem Umfeld nichts zu suchen hatten. Sie kamen nach ihrer »Initiierung« selten zurück, was ich später bei anderen Juniors beobachten konnte. Der erste Testlauf war ein Auswahlverfahren, wobei es hauptsächlich darum ging, sich nicht von seinen Emotionen überwältigen zu lassen. Ein kontrollierter Sprung in eiskaltes Wasser. Wer nicht schwamm, sondern unterging, verdiente auch keine zweite Chance. Das war ein zwar nicht ganz
billiges, aber dafür einfaches und effektives Auswahlverfahren. Was waren dagegen schon Assessment-Center, die andere Bereiche der Bank einsetzten, um gute Leute auszusieben? So wie es von den Kollegen kein Feedback gab, so war es, wie ich sofort begriff, entscheidend, von seinen eigenen Gefühlen Abstand nehmen zu können. Gerade wenn es um große Positionen ging, um Millionenbeträge, konnte es das Falscheste sein, sich von Ängsten oder einer Hochstimmung leiten zu lassen. Natürlich werden, wie ich es später selbst erlebte, bei einem guten Deal Unmengen von Glückshormonen ausgeschüttet. Besser als Sex, wie mir schien und etliche Kollegen bestätigen konnten. Und natürlich sind die Empfindungen, die man hat, wenn etwas schiefgeht, ziemlich schrecklich. Sie könnten einen zermalmen, zerquetschen. Aber trotz dieser Extreme muss ein Händler davon abstrahieren können, immer darauf achten, dass seine Entscheidungen analytisch begründet sind. Kein Wunder, dass die meisten sich wie Semi-Autisten verhielten – eine Folge der unglaublichen Anstrengung, die eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten und von den zu treffenden Entscheidungen abzukoppeln. Gesichter wie in Trance, Schweißperlen auf der Stirn, manchmal sogar der Geruch von Angst – das alles begleitet den Händler in schwierigen Marktsituationen. Mir kam das sehr archaisch vor, gleichsam Steinzeitkultur. Es ging ums Überleben, zwar nicht um das der Sippe in der Höhle, aber letztlich um das der Bank. Emotionen hatten hier auch deshalb keinen Platz, weil jeder den anderen dadurch etwas lieferte, was diese gegen ihn verwenden konnten. Unter Händlern herrscht ein absolutes Konkurrenzdenken. Darwin ließ grüßen. Der Stärkere gewinnt. Und nicht nur seine Gene setzen sich durch – viele Derivatetypen sind verheiratet und haben Kinder –, er erhält auch das meiste Geld.
Aber da ich selbst nichts anderes wollte und auch nicht zu den Menschen gehöre, die zu großen Gefühlsausbrüchen neigen, sondern eher alles kalkulierend im Blick haben will, konnte ich mit den Reaktionen meiner Kollegen leben. Es gab also für mich eine Chance, in diesen Club der Millionäre aufgenommen zu werden.
4
Bestien der Finanzwelt
Langsam behauptete ich mich. Mehr und mehr lernte ich über Derivate. An sich sind sie sinnvolle Finanzinstrumente. In erster Linie geht es darum, Risiken greifbar zu machen. Derivate ermöglichen eine feinfühlige Differenzierung von Risiken an den Kapitalmärkten. Hierbei handelt es sich um Kursrisiken von Aktien oder Währungen, Kreditrisiken von Firmen, Zinsänderungs- oder Preisrisiken von Rohstoffen – das sind dann die Basiswerte, von denen sich die Derivate ableiten. In dem Augenblick, in dem man sie erfasst hat, kann man mit ihnen arbeiten. Gehandelt wird mit den Derivaten aber nicht das Gut oder die Aktie, sondern eine Erwartung, wie sich etwas in der Zukunft verhalten wird. Eigentlich eine höchst komplizierte Wette auf die Zukunft. Derivate funktionieren in etwa so, als würde man eine Möglichkeit finden, einem Feuer seine gefährlichen Flammen zu entziehen, so dass man sich nicht mehr an ihm verbrennen kann. Es wärmt zwar noch – nur die bedrohlichen Flammen, die Risiken, werden abgespalten und können in einem Derivat weiterverkauft werden. Was aber nicht ausschließt, dass sich die frei herumschwirrenden Abspaltungen selbst zu einem globalen Feuerball entwickeln können, der schließlich zu einer Explosion führt. Derivate verhalten sich aber nie genauso wie das zugrunde liegende Instrument, sondern sind entweder gehebelt oder bewegen über ihren Multiplikator weit größere Summen an den Kapitalmarkten, als in sie investiert wurde. Bei allen Derivaten gibt es Short- und Long-Positionen, wobei immer
ein Händler die Long-Position hat und ein anderer die Gegenposition als Short-Position. Auf einfachster Ebene ist eine Short-Position in einer Aktie eine Position, mit der man gewinnt, wenn die Aktie fällt. Mit einem Long Put hingegen tut man dies, wenn die Aktie steigt. Ein einfaches Haben oder Nicht-Haben wie bei Aktien gibt es bei Derivaten nicht. Eine Position verschwindet erst dann völlig, wenn Positionen gegenseitig geschlossen werden. Da das aber häufig mit anderen Handelspartnern als dem ursprünglichen passiert, multiplizieren sich die Positionen. Mit anderen Worten: Derivate können immer neu und in immer größerer Größe geschaffen werden. Da liegt auch das Problem mit ihnen, denn oft sind sie hochriskante Instrumente, mit denen man mit relativ wenig Geld extrem hohe Volumina an den Kapitalmärkten bewegen kann. Wer richtig Action will, geht in den DAX-Future. Dort kann man zum Beispiel mit 40 Futures eine Long-Position eingehen, mit der man mit jedem DAX-Punkt 1000 Euro gewinnen kann – das ist tausendmal mehr als im ursprünglichen DAX-Investment. Klingt nach einer riesigen Geldmaschine, nur hat der Future einen Haken: In Nullkommanichts sind auch 10000 Euro verloren. Das Risiko eines Futures ist also um ein Vielfaches höher als das des Basiswertes. Bei Optionen wird es noch viel komplizierter, denn sie haben unterschiedliche Laufzeiten, Basispreise, Zeitwerte und Volatilitäten. Es gibt bestimmt über eine Million verschiedener Optionen. Und neben den einfachen Optionen wie den Calls und Puts, die es jeweils in Short- oder in Long-Ausführung gibt, existieren noch Myriaden von exotischen Optionen mit ganz eigenen Regeln. Optionen sind wie die meisten anderen Derivate ein Nullsummenspiel – was der eine verliert, gewinnt
der andere. Enorm riesige Wetten im Gewand der Finanzmathematik. Denn allen Derivaten ist gemeinsam, dass sie kompliziert zu berechnen sind. Die besten Derivatehändler sind aber trotzdem nicht die, die die besten Mathematiker sind, sondern die, die ein unglaubliches Marktgespür haben und intuitiv verstehen, wie ihre Derivate auf den Markt reagieren. Ursprünglich lag der Sinn von Derivaten darin, in einer prekären und unsicheren Marktsituation Möglichkeiten der Absicherung zu bieten. Sie sollten Sicherheit in einem unsicheren Umfeld schaffen. Einige Beispiele: Ein deutscher Unternehmer, der beim Verkauf seiner Waren in die USA Dollars einnimmt, hat ein Problem, wenn der Dollar sinkt und damit seine Einnahmen in Euro weniger wert sind. Er kann sein US-Dollar-Risiko etwa über Dollar-Forwards absichern. Ein Fondsmanager wiederum, der meint, in schwierigen Marktzeiten könnte sich sein gesamtes Portfolio halbieren, hat beispielsweise die Chance, es so abzusichern, ohne dass es komplett umgeschichtet oder wieder in Festgeld angelegt werden muss. Das funktioniert, indem man maßgeschneiderte Long Puts kauft, also eine Option, die dem Fondsmanager die Verluste auszahlt, wenn der Wert seiner Anlagegelder unter eine bestimmte Summe fällt. Ein Long Put ist also eine Art Versicherung. Derivate sollten ursprünglich die Funktion erfüllen, Risiken an den Finanzmärkten besser zu verteilen. Aus diesem Grund sind sie auch ökonomisch sinnvoll. Bei der Risikoabsicherung und -umgehung war es aber nicht geblieben. Mit voller Absicht gingen Spekulanten wie Hedgefonds etwa mit Krediten gehebelte Positionen ein, um gewaltige Summen gewinnen zu wollen. Und aus Bausteinteilchen wie Puts, Calls, Aktien, Futures, Optionen etc. ließen sich komplett neue Figuren zaubern. Aus etwas Festgeld, einem Short Put und einem Long Call konnte man
beispielsweise eine Aktie basteln. Aus einem Long Future und einem Short Put wurde plötzlich ein Long Call. Oder aus einer Händlerposition aus mehreren komplizierten Optionen entstand wie von Geisterhand Festgeld. Die Kombinationsmöglichkeiten der Derivatecocktails sind schier unbegrenzt. Zwar kennt ein guter Derivatehändler oder Spekulant seine Instrumente wie ein exzellenter Chirurg. Er setzt die gefährlichen Instrumente ähnlich sorgfältig ein und kann so – wenn er es denn versteht, mit den Risiken umzugehen, von denen die meisten Menschen nicht einmal ahnen, dass sie existieren – jonglieren und damit einen Haufen Geld verdienen. Aber nicht jeder will ein guter Chirurg sein. Der Konjunkturchef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin, Alfred Steinherr, bezeichnete Derivate einmal als »Bestien der Finanzwelt«. Aus gutem Grund: Allgemein stellt man sich vor, dass ein Totalverlust das Schlimmste ist, was einem passieren kann. Das stimmt aber nicht, es gibt eine Dimension, die noch entsetzlicher ist. Im Gegensatz zu einem »gnädigen« Totalverlust besteht die Gefahr vieler Short-Positionen darin, dass sie unkontrolliert ein Vielfaches der Einsatzsumme zerfressen und ganze Unternehmen zerstören können. Beispiele dafür gibt es genug: Die Metallgesellschaft, später mg technologies, ein börsennotiertes Unternehmen, war im Jahr 1993 durch Öltermingeschäfte an den Rand der Zahlungsunfähigkeit geraten. Der englische Händler Nick Leeson verspekulierte sich 1995 mit Optionen und ruinierte mit seinen Milliardenverlusten die traditionsreiche Barings Bank. Der Hedgefonds LTCM brachte 1998 mit Derivaten das globale Finanzsystem an den Abgrund, so dass er in einer weltweit konzertierten Aktion der Banker gerettet werden
musste. Im Frühjahr 2008 fuhr der Derivatehändler Jerome Kerviel mit spekulativen Optionsgeschäften die französische Großbank Societé Générale mit einem Verlust von über 4,8 Milliarden Euro fast an die Wand. Fälle, die nur die Spitze des Eisbergs bildeten. Die mit diesen und ähnlichen Aktionen befassten Händler waren Einzelkämpfer unter vielen und hatten innerhalb der Bank weitgehende Freiheiten. Und durch die liberalisierten Märkte prüfte keiner nach, wer mit wem Verträge einging, niemand führte wirklich Buch darüber. Optionen, Kreditderivate wurden zwar nicht im völlig luftleeren Raum gehandelt, dennoch erschien der globale Finanzmarkt wie eine große Black Box. Keiner konnte mehr von außen hineinschauen und die Handelswege nachvollziehen. Jeder handelte mit jedem, Risiken multiplizierten sich, immer mehr und neue Derivate wurden geschaffen. Aber was beschäftigen mich die Finanzkrisen und die Probleme von Derivaten! Ich wollte nur eins: dazugehören. Da konnten die Witze meiner Kollegen noch so daneben sein, sie noch so sehr mit dem Geld der anderen falsch jonglieren. »Damit du weißt, worum es hier eigentlich geht, musst du dich mit Volatilitäten beschäftigen.« Hartmut unterbrach mich in meinen Gedankengängen. »Wenn du das nicht im Griff hast, wirst du nie eine gute Händlerin.« Es war ein Freitag, Casual Friday. Normalerweise durfte jeder an diesem Tag in Freizeitkleidung erscheinen, aber das war ein Euphemismus. Denn Freizeitkleidung hieß in unserer Bank: ohne Krawatte, mit Stoffhose, Poloshirt oder Hemd, eventuell V-Neck-Pullover. Alles, was nach wirklicher Freizeit aussah, etwa Jeans, T-Shirt oder Sportschuhe, war nicht wirklich erwünscht. Also eher casual und chic. Als es später doch überhandnahm mit »casual«, kam vom Management eine E-Mail, die den Casual-Friday-Style exakt definierte: keine
Cargohosen, Arme müssen bedeckt sein, keine Turnschuhe. Schon paradox: Man führte einerseits den Casual Friday ein, gleichzeitig aber schrieb man uns vor, was wir an dem Tag anzuziehen hatten. Doch Hartmut interessierte das wenig, er trug auch an diesem Tag eines seiner durchscheinenden rosafarbenen Hemden. »Volatilitäten sind Kernelemente bei den Optionen«, ergänzte Florian, der sein Haar heute so in Form gegelt hatte, dass Geheimratsecken sichtbar wurden. »Ohne sie kannst du keine Optionen oder exotische Derivate mit viel Gewinn verklickern.« Ich kramte in meinem Kopf herum, was ich über Volatilitäten wusste, einige Stichworte fielen mir ein: Schwankungsausmaße, statistische Standardabweichungen, Risikomaß. Mehr nicht. »Bist du hier im Frauenverein oder im Handelsraum?« Der Hinweis von Hartmut war deutlich. Er zupfte ungeduldig an seinen Manschettenknöpfen herum. Also versuchte ich mich darauf zu konzentrieren, was ich noch über Volatilitäten zusammentragen konnte: Sie drücken Erwartungen der Marktteilnehmer im Hinblick auf zukünftige Kursschwankungen aus, beziffern also Unsicherheiten und Risiken an den Aktienmärkten. Waren die Volatilitäten hoch, war so viel Unsicherheit im Markt, dass er jeden Augenblick crashen konnte. Wenn der Markt in Panik war, waren die Volatilitäten am höchsten. Waren sie niedrig, war der Markt entspannt und erwartete keine größeren Ausschläge. Aber weiter kam ich allein auch nicht. »Hey«, rief ich Florian zu, der sich gerade die Fingernägel säuberte, »können wir nicht mal ein Beispiel durchgehen?« »Hmmm«, brummte er, rollte aber auf seinem Stuhl zu meinem Platz herüber. Den Fingernageldreck wischte er vorher achtlos auf den Boden.
»Angenommen, du bist ein Fondsmanager und rufst mich an. Wie läuft so ein Gespräch ab? Oder rufe ich ihn an, weil ich weiß, welche Aktien er in seinem Portfolio hat?« »Mal so und mal so.« Diese Auskunft war sehr hilfreich. »Konstruieren wir einen Fall: Der Fondsmanager hat eine Menge Telekom-Aktien in seinem Portfolio…« »… und möchte nun eine ordentliche Zusatzrendite machen, indem er auf die zukünftige Performance einen Call schreibt«, fügte Florian hinzu. Hatte er etwa selbst Telekom-Aktien, weshalb er plötzlich derart engagiert wirkte? »Vor fünfzig Jahren hätte man doch einem Menschen mit einem solchen Anliegen gesagt, er würde spinnen, er hätte doch die Aktie, das müsste doch genügen.« »Aber nun haben wir so tolle Derivateinstrumente entwickelt, mit denen wir Risken genau klassifizieren und einzeln rausziehen können – und mit denen wir außerdem Kohle verdienen.« Florian lachte. »Und Volatilitäten helfen bei dieser Differenzierung?« »Genau.« Florian schaute auf seine Fingernägel. Er schien mit seiner Reinigungsaktion zufrieden zu sein. »Wenn du weißt, dass du einen konservativen institutionellen Anleger an der Strippe hast, kannst du ihn überreden, mit unserer Bank Geschäfte zu machen. Sagen wir, seine Telekom-Aktie steht auf 50 Euro, er glaubt, dass sie in einem Jahr nicht mehr als 70 Euro erreicht. Das musst du natürlich in dem Gespräch oder bei einem Treffen herausfinden. Du gibst dem Fondsmanager also – beispielhaft gerechnet – 1 Euro dafür, dass er dir die Performance seiner Akten über 70 Euro verkauft. Woher du weißt, dass die Option 1 Euro wert ist? Durch die Volatilitäten, die am Brokermarkt gehandelt werden und die unsere Mathematiker eben in verschiedenen Modellen kalibrieren.« »Okay, und was macht er, wenn er seine Aktie nach unten hin absichern will?«
»Dann ist der Fall genau umgekehrt. Er zahlt uns eine Prämie, und wir ihm alle Verluste, falls die Aktie unter 50 Euro fällt: Ein Long Put auf Telekom, Basispreis 50, Laufzeit sechs Monate, kostet zirka 6 Euro pro Aktie.« Ich nickte, zugleich fiel mir eine Frage ein, eine intelligente, wie mir schien: »Hey – aber das sind doch krasse Risiken, die der Händler eingeht? Wenn Telekom, sagen wir, auf 20 Euro fällt, müssen wir ihm 30 Euro zahlen, haben aber nur 6 Euro eingenommen. Das ist doch ein ziemliches Verlustgeschäft. Vor allem dann, wenn der Händler das für Hunderte von Kunden macht. Dann hat er die Bücher doch voll von bescheuerten Aktienrisiken, die er sich nicht mal mehr selbst aussuchen kann, oder?« »Richtig.« »Aber solche Risiken kann doch keine Bank aushalten, das wäre doch unverantwortlich.« »Auch richtig. Deswegen muss ein Händler etwas anderes machen, sofort hedgen, sofort Gegenpositionen aufbauen.« »Das heißt, dass ich meine Position im selben Moment am Markt weiterverkaufe.« Langsam begriff ich, was ich vor einigen Tagen an Hartmuts Computer durchexerziert hatte. »Mit diesen synthetischen Gegenpositionen kannst du auch wieder etwas verdienen. Wichtig ist allein, dass du die Bank abgesichert hast.« »Okay, aber damit soll man Geld verdienen?« »Der Punkt geht an dich. Der Händler ist nur an Volatilitäten interessiert. Ihm geht es allein um die Vegas, Thetas und Gammas, die er gekauft hat, und um den ebenfalls verkauften Zeitwert.« Für mich klang das, als ginge es um verrückte kleine Marsmännchen, aber Florians Gesicht war auf einmal sehr ernst geworden. »Die Volas sind in der Option drin. Durch jene mathematischen Modelle trennt der Händler sie aus der Option
heraus und betrachtet sie im Einzelnen. Die Deltas, die als Element der Option die Bewegung der Aktien abbilden, kannst du vergessen. Die hedgt er direkt raus, deswegen sind sie uns total egal. Eigentlich ist er hauptsächlich auf die Gammas scharf, damit kann er scalpen.« Skalpieren? War ich unter Kannibalen gelandet? Ich verstand nur noch Bahnhof. Irgendwie hatte das, was er mir da erzählte, mit der Put Option, die ich kannte, so gar nichts mehr zu tun. Ob er mich auf dem Arm nahm? Ich änderte meine Fragetaktik. »Und wie baue ich eine sichere Gegenposition auf, an Hartmuts Computer ist mir das ja nicht so ganz geglückt?« »Das ist schon etwas komplizierter…« Florian spielte sich wie ein Guru auf, der zu seiner Jüngerin sprechen wollte, aber auch nur, wenn sie ihn dafür anbetete. Ich wollte zwar einiges tun, um Geld zu verdienen, aber da hörte es auf. »Du musst nicht so tun, als würdest du jetzt ein Geheimwissen offenbaren. Komm zur Sache.« Mein fordernder Ton ließ ihn nicht ganz unbeeindruckt. »Zuerst musst du wissen, wie sich eine Option zu der Aktie verhält. Dann, wie sich eine Option zu veränderten Zinsen verhält.« Ich stöhnte auf, während Florian fortfuhr: »Am einfachsten ist Delta. Dadurch wird zum Ausdruck gebracht, wie sich die Option ändert, wenn sich der DAX ändert. Jedes Mal musst du den entsprechenden Gegenwert berechnen. Und dieses Delta kann auch wieder long oder short sein, auch da geht es um Gegenwertberechnungen.« Ich erinnerte mich, wie mir einer der Händler ein Delta von 0,5 zugeflüstert hatte. Noch eine Weile erzählte mir Florian von immer komplexeren Strukturen. Je weniger ich ihm folgen konnte, desto mehr Vergnügen fand er an seinen Unterweisungen. »Was ist eigentlich der größte Fehler, den ich im Handelsraum machen kann?«, fragte ich, um seinen Redefluss
zu unterbrechen und auf weniger technisches Terrain zu kommen. Florian stutzte für einen Moment, danach erfolgte blitzschnell die Antwort: »Wenn Bewegung am Markt ist und alle wie versteinert vor ihrem Bildschirm sitzen, darfst du niemanden ansprechen.« Obwohl ich erst einige Tage mitzumischen versuchte, hatte ich diesen Unterschied schon erlebt: Entweder ging es zu wie auf dem Spielplatz, oder die Atmosphäre war extrem aufgeladen. Höflicher Umgangston, selbst wenn man ihn gewollt hätte, war dann undenkbar. Man hatte keine Zeit zu fragen: »Wollen wir das noch mal besprechen? Wie siehst du das aus deiner Perspektive?« Das schnelle Agieren, der Druck und die Geschwindigkeit des Marktes weckten bei vielen Urinstinkte. Der Händler, der in jeder Situation Haltung bewahrte und die sprachlichen Umgangsformen einhielt – das passte nicht zum Geschäftsmodell. Nur ein bestimmter Typus konnte ein Dasein als wandelnde Zeitbombe auf Dauer aushalten. Und die infantile Spaßstimmung diente dazu, Anspannung abzubauen. Denn plötzlich auftauchende Risiken waren in ihrer Ernsthaftigkeit vergleichbar mit einem Kriegsangriff aus dem Hinterhalt – danach brauchte es ein Ventil, um den Druck loszuwerden. »Und was macht eigentlich der da?« Florian war gerade gesprächsbereit, also nutzte ich die Gelegenheit, mehr über die Leute herauszufinden, die mir aufgefallen waren. »Meinst du Boris?« »Wenn er so heißt, dann meine ich den.« Boris hatte einen noch finstereren Gesichtsausdruck als Philipp. Nie lachte er, nie grinste er, wenn jemand einen Scherz machte. Sein dichtes haselnussbraunes Haar hätte auch mal wieder einen Schnitt nötig, der Anzug hatte so viele Knitterfalten, als könnte er sich keinen neuen leisten. Sein Gang war schleppend, wie ein in die
Jahre gekommener Pirat, der unschlüssig war, ob er noch Beute machen sollte oder nicht. Es fehlte nur die Augenklappe und der Ohrring. Dabei war Boris höchstens Mitte dreißig, ein völlig abgefahrener Typ. »Der leitet die Eigenhandelsabteilung.« Prop-Trading-Abteilungen – so der englische Ausdruck. In diesen agieren Händler, die mit dem üblichen Kundengeschäft nichts zu tun haben. Sie bekommen Geld von den Banken zur Verfügung gestellt – sehr viel Geld, das können durchaus mehrere Milliarden Euro sein. Und mit diesen Summen dürfen sie machen, was sie wollen, wenn sich das Geld am Ende nur vermehrt hat. Broker wie Boris sollen Futures kaufen, riskante Optionen eingehen, Aktienleerverkäufe tätigen, mit russischen Anleihen oder mit exotischen Derivaten handeln. Hauptsache spekulativ, Hauptsache geldvermehrend. Vom Prinzip her ähnlich wie ein gigantisches Depot eines Privatanlegers – ohne die störenden Begrenzungen der Händler aus dem Kundenhandel. »Boris ist unnahbar«, erklärte Florian weiter. »Muss sich nicht an normale Regeln halten, und es bleibt auch geheim, was er treibt. Er verdient sicher auch am meisten Kohle von uns allen.« »Bist du neidisch?« »Eigentlich nicht, das ist ein Job für Leute, die es mit Hardcore-Risiken aufnehmen können. Das ist nicht jedermanns Sache. Da starre ich dann doch lieber nur auf meinen Bildschirm.« Zockern in Eigenhandelsabteilungen sind Begrenzungen tatsächlich unbekannt. Aus diesem Grund trugen sie in den neunziger Jahren neben den Börsengängen und dem M&AGeschäft (Mergers & Acquisitions) maßgeblich dazu bei, dass die Gewinne der Investment-Banken explodierten. Die Kehrseite: Als die New-Economy-Blase platzte, zeigte sich,
dass die Ergebnisse der Prop-Trading-Abteilungen riesige Verluste produzieren konnten. Das konnte einer Bank das Genick brechen. Viele deutsche Geldhäuser zogen daraus die Lehre, ihre Eigenhandelsabteilungen zu verkleinern, sich auf das beständigere Kundengeschäft zu konzentrieren. Auch in meiner Bank wurde der Eigenhandel reduziert, aber die Risiken, so erfuhr ich später, waren noch immer immens. Boris besaß im Handelsraum größte Autorität. Jeder kuschte vor ihm. Sagte er einem Kollegen oder seinem Team: »Bau die Position ab«, wurde sofort und ohne Diskussion agiert. Er erinnerte mich an jene Londoner Investment-Banker, denen ich zum ersten Mal im Coq d’Argent begegnet war. Keine kultivierten Umgangsformen, kein erwähnenswertes Bildungsniveau, na ja. Dennoch brachten er und sein Team der Bank in guten Jahren mehrere 100 Millionen Euro ein. »Wir gehen jetzt zum Mittagessen in die Kantine. Willst du mit?« Ich nickte. Heute also kein Pizzaservice wie in den letzten Tagen. »Du kannst auch mit Gernot die Toilette aufsuchen, um dort deinen Hunger nach eiweißhaltiger Nahrung zu stillen. Dann weißt du, was gut schmeckt.« Hartmut konnte es nicht lassen, sich einzumischen und eine seiner saublöden Bemerkung zu machen. Dabei hatte er seinen Blick auf Gernots Schritt gerichtet. Oralverkehr, das war eine besondere sexuelle Obsession meiner Kollegen. Ich fand die Vorstellung extrem ekelhaft – Gernot war ein Kollege, der rechts von Hartmut saß und an dem alles aufgepolstert war, dazu hatte er eine fahle, bleiche Gesichtsfarbe. Zu allem Überfluss verwendete er ein stinkendes Eau de Toilette, das ich ins Klo geschüttet hätte, würde ein Freund von mir es verwenden.
»Aber dafür müsste ich mir noch die Eier rasieren.« Gernot fiel sofort in den frotzelnden Männerchor ein. Breitbeinig stand er da und reckte die Arme nach oben. In einer solchen Situation konnte ich nur empört sein oder kontern. Ich entschied mich für Letzteres: »Mit solchen Kleinigkeiten gebe ich mich grundsätzlich nicht ab, ich will was Richtiges in den Mund bekommen.« Betretenes Schweigen. Plötzlich wurde ihnen klar, dass vor ihnen eine Frau stand. Etwas hatte sich im Handelsraum tatsächlich geändert. An ihren Sprüchen konnte ich feststellen, dass sie mich bislang nicht als Frau betrachtet hatten, eher wie ein Neutrum. Okay, das sollte sich jetzt ändern. Schon allein, um meine eigene Position zu behaupten.
Eines Abends ging ich in den King Kamehameha Club, ein ehemaliges Kesselhaus einer Brauerei und eines der Szenetreffs der Frankfurter Broker. Ich war dort mit Lilly verabredet, einer Freundin, die ich während meiner Zeit als Praktikantin in Frankfurt kennengelernt hatte. Sie war schon seit einiger Zeit als Brokerin bei einer anderen InvestmentBank tätig. Dort war die Frauenquote aber auch nicht besser als bei uns. Als ich sie anrief, um mit ihr ein Treffen zu vereinbaren, sagte sie spontan: »Super, endlich noch eine Frau in diesem Gruselkabinett. Wir müssen zusammenhalten, um die Welt des Geldes für uns zu erobern.« Lilly war fünf Jahre älter als ich, hatte einen Zwanzigerjahrehaarschnitt, tiefrot geschminkte Lippen und trug am liebsten weite Marlene-Dietrich-Hosen oder engsitzende Kostüme, die ihre Figur betonten. Sie saß auf einem der cremeweißen Ledersitzwürfel, als ich das Lokal betrat. Ihr schwarzer Rock fiel durch einen beachtlichen Seitenschlitz ins Auge. Ohne Schwierigkeiten hätte sie als
Model arbeiten können, die Maße stimmten. »Na, hast du schon den Handelsraum aufgemischt?«, wollte Lilly wissen, als wir uns umarmten. Da mich mein erstes Brokererlebnis noch beschäftigte, berichtete ich ihr sofort davon, wie man mich ins kalte Wasser geschmissen hatte. Nachdem ich fertig war, sagte sie: »Glaub ja nicht, dass du die Einzige bist. Die haben dich noch recht glimpflich behandelt. Mich steckten sie in eine ähnliche Situation, diese Wichser. Aber davon lassen wir uns nicht unterkriegen. Der Handelsraum ist ein Dschungel: up or out – wie sie in London sagen. Entweder du schaffst es oder du bist schnell draußen. Es herrscht Selektion der Besten und Stärksten. Und da bieten wir mit.« Lilly sah blendend aus und siegessicher. Die perfekte Brokerin, die die Klaviatur der Tricks rauf und runter beherrschte. Sie gehörte schon zu der Elite, in die ich aufsteigen wollte. Und zwar sehr bald. »Ich habe Typen erlebt«, fuhr sie fort, »die bei dieser Auswahlzeremonie nicht mehr konnten und auf die Toilette rannten. Reinste Memmen. Können einfach keinen Druck aushalten, aber der gehört nun einmal zu unserem Job. Und die Versager will man ja keineswegs durchfüttern.« Lilly sog kräftig an dem Strohhalm, der in ihrem Cocktail steckte. »Weiche Knie hatte ich trotzdem. Wenn man Geld versenkt, als wäre es eine Plastikente im Badeschaum, so ganz spurlos geht das nicht an einem vorbei.« Ich hatte das Gefühl, meine Zitterpartie ein wenig rechtfertigen zu müssen. »Natürlich hat das jeder mal, aber man darf sich das nicht anmerken lassen. Tarnung ist alles, wenn du bei den Großen mitspielen willst. Und wenn du in diesem Männerhaufen überleben willst, musst du Mimikry betreiben. Wenn die merken, dass du nahe am Wasser gebaut bist, hast du keine Chance mehr. Wir sind Aufstehmännchen. Wir lassen uns von
einer Lappalie wie ein paar tausend Euro nicht beirren. Kollateralschäden gibt es überall, nicht wahr? Unsere einzige Leidenschaft ist das Geld.« »Klar, das seh ich auch so.« »Und hast du dich schon mit den Machos angefreundet?« Lilly konnte genauso breit grinsen wie Florian oder Hartmut. »Was die für ein Theater veranstalten. Ständig geht es nur um ihre Schwänze, lang, kurz, supergeil, oder was weiß ich. Als wir heute vom Mittagessen zurückkamen, da hatte ein Kollege noch etwas Spinat zwischen den Zähnen. Ein anderer fragte ihn glatt:»Sind das die Schamhaare von letzter Nacht?« Und letztens meinte einer meiner Kollegen zu seinem Nachbarn, ob er Druck hätte. Alles nur, weil er einen Fleck auf seiner Hose hatte. Natürlich an besagter Stelle.« »Die Männer in diesem Business kannst du dir abschminken. Such bloß nicht bei ihnen dein Glück. Das wirst du spüren, wenn du die erste Million zusammenhast.« »Stimmt. Das ist der Plan. Mein Plan.« Lilly hatte wieder das in mir herausgekitzelt, was für einen Moment von einer kleinen Wolke verdunkelt worden war. »Und wie war London?«, fragte Lilly. »Krass«, sagte ich. »Das reinste Trainingslager für Alkoholiker und Drogenfreaks. Besonders beliebt war eine Kaschemme namens Hotbeat, total düster und versifft. Dort ging man hin, wenn man schon ziemlich abgefüllt und der weiße Hemdkragen nicht mehr ganz so weiß war. Und man wollte dort nur eines: Leute kotzen sehen. Gerade die älteren Broker hatten ihren Spaß daran, die Juniors abzufüllen, um sie kotzen zu sehen. Der Applaus war garantiert. Wahnsinn, was die Menschen so mit sich anstellen lassen. Man konnte eindeutig erkennen, wer Dompteur und wer Zirkuspferd war.« »Drogen?«
»Koks. Koks. Koks. Und alles im Nadelstreifenanzug reingezogen. Einer von den Händlern, der mich zu einem Kundentermin mitnahm und anschließend in einen ziemlich schrägen Club, war einmal so breit, dass er mit einer genial aussehenden Blondine in der Toilette verschwand. Die Absicht war klar: Sex. Nach erstaunlich kurzer Zeit kam er zurück, das war ein Quickie, der seinen Namen verdiente. Aber er schien leicht verstört zu sein und schaute immer wieder auf seine Hände. Auf die Frage, was denn los sei, druckste er mit seinen fiebrigen Augen herum, dann sagte er mit leiser Stimme: ›War’ne Transe. Hab’s gemerkt, als ich an ihr herumfummelte, als sie mir einen blasen sollte.‹ Wahrscheinlich blieb er an diesem Abend seiner Frau treu.« »Wahrscheinlich eine Mutter Teresa.« »Was wir nie sein werden. Aber ich glaube, wir sollten uns jetzt noch einen Drink erlauben und ein paar von den arroganten Schnöseln, die an der Bar stehen, auf die Tanzfläche schleppen. Was meinst du?« Der DJ hatte seit einiger Zeit R&B-Musik aufgelegt, ziemlich klasse Songs. Ich nickte – zum Drink und zur Idee, Männer aufzureißen.
5
Die Goldader
Mit einem unglaublichem Ehrgeiz bereitete ich mich auf meine Börsenhändlerprüfimg an der EUREX vor. Sie ist so schwer, dass viele Handelsaspiranten daran scheitern, selbst im zweiten Anlauf. Um die Prüfung zu bestehen, musste man die hochkomplexe Optionstheorie und unendlich viele abgefahrene Handelsstrategien beherrschen sowie das ausufernde Regelwerk der Terminbörse auswendig aufsagen können. Hilfreich war, dass die Deutsche Börse mehrtägige Seminare zur Vorbereitung anbot, die ich aber alle nicht wahrnahm. Meine Chefs waren der Meinung, ein echter Broker würde es auch so schaffen. Und natürlich wollte ich ein echter Händler sein. Zugleich wiegten mich die Kollegen in Sicherheit und erzählten mir, wie einfach die Prüfung doch sei. Im Grunde war es aber die normale Prozedur im Derivatehandel, die Spreu vom Weizen zu trennen. Wenn ich die Prüfung schaffte, würde ich wirklich in den elitären Club der Händler aufgenommen werden. Bislang hatte ich ohne Zulassung gearbeitet, so wie es – und anders als heute – normal war. Mittlerweile ist die Prüfung Voraussetzung für die Händlertätigkeit, das kontrolliert sogar die Börse selbst nach. In den nächsten Wochen waren die Abende und die Wochenenden für Sheldon Natenberg und seine Händler-Bibel Option Volatility & Pricing sowie für die Börsenordnung der EUREX reserviert. In meinen Träumen verfolgten mich Arbitragegesetze, synthetische Duplizierungsmöglichkeiten
und Handelsstrategien, die so sonderbare Namen wie »Jelly Roll«, »Short Butterfly« oder »Strangle« trugen. An einem Montagmorgen war es dann so weit. Statt den Handelsraum aufzusuchen, machte ich mich auf den Weg zur Prüfung. Sie fand nicht im »Kapitalistendom« statt, wie die Alte Börse auch genannt wurde, sondern in der Neuen Börse. Die riesige Eingangshalle erinnerte an einen überdimensionierten Handelsraum ohne Händler. Journalisten und Börsianer lungerten herum, auf wohnzimmergroßen Bildschirmen wurden Börsen-Ticker, Nachrichtensender sowie Live-Bilder vom Parkett der Börse gesendet. Eine kleine Gruppe von jungen Händlern hatte sich schon in der Eingangshalle versammelt, gemeinsam wurden wir in einen Raum geführt, jeder von uns musste sich an einen mit einem Computer ausgestatteten Platz setzen. In den nächsten drei Stunden hatten wir Fragen aus sämtlichen Themengebieten des Derivatehandels zu beantworten. Als wir fertig waren, lagen die Auswertungen auch schon vor: 99,5 Prozent der Antworten waren bei mir richtig. Ich hatte die Prüfung damit bestanden – und war total euphorisch. Nun konnte ich mich Händlerin an der EUREX nennen, endlich war ich wirklich in den Kreis der Auserwählten aufgenommen. Jetzt konnte ich allen zeigen, das ich draufhatte. Als ich in den Handelsraum zurückkam und Hartmut stolz von meinem Ergebnis berichtete, klopfte er mir sogar auf die Schulter – das höchste Lob, das ich von ihm erwarten konnte. Die größte Anerkennung, die ein Broker im Handelsraum überhaupt genoss, hing von einer Sache ab, beziehungsweise von zwei Buchstaben: P und L. Dahinter verbarg sich der sogenannte Profit and Loss Report, in dem die tägliche Bilanz jedes Einzelnen festgehalten war. Da zumindest in einem gewissen Zirkel jeder Einblick hatte, wie die anderen dastanden, schürte das den Konkurrenzdruck. Und wer an
einem Tag eine halbe Million Euro verzockt hatte, wurde auch öffentlich an den Pranger gestellt: »Du musstest gestern wohl richtig Scheiße fressen. Der schnelle Markt war wohl nichts für dich.« Dass jemand mitfühlend sagte: »Das wird schon wieder, mach dir keine Sorgen«, konnte man nicht erwarten. Ich war wirklich in einem Haifischbecken gelandet. Wer ganz oben auf der P-und-L-Liste stand, war überzeugt davon, dass er den längsten Schwanz der Welt hatte, er war ein Big Swinging Dick, was auch unentwegt zur Sprache gebracht wurde. P-und-L, das war ein richtiges Männerding. Für sie war es gleichbedeutend mit ihrem Ego. Ihr Selbstbewusstsein wankte in dem Maße, wie das eigene P-und-L schwankte. Doch es war nicht abzustreiten, dass wir Frauen im Handelsraum ein ähnlich gutes Gefühl hatten, wenn wir nicht gerade das Schlusslicht auf der Liste bildeten. In gewisser Weise spielte uns beim weiteren Handeln der Niedergang der New Economy in die Hände. Die Parole »DAX 10 000« war vergessen – an den Stammtischen und in den Handelsräumen. Die Anleger weigerten sich hartnäckig, in Aktien zu investieren, nachdem sie von den Märkten mit unnachgiebiger Härte von Glücksrittern in die Rolle der Opfer des New-Economy-Possenspiels gezwungen worden waren. Börsengänge, mit denen die Banker sich goldene Nasen verdienen konnten, gab es auch keine mehr. Selbst die institutionellen Anleger hielten sich mit Aktienkäufen zurück. Später taten noch Skandale von Firmen wie Enron und WorldCom ihr Übriges, das Vertrauen der Anleger in die Aktienmärkte zu zerstören. Sie hatten die Tricks der NewEconomy-Gründer übernommen und in Milliardenhöhe Scheinumsätze vorgetäuscht oder – noch idiotischer, aber auf den ersten Blick plausibel – Ausgaben in Milliardenhöhe als Investitionen ausgewiesen.
Die Alchemie der strukturierten Produkte, die auf den komplizierten Derivaten beruhten, kam wie gerufen, um die Anleger aus ihrer Lethargie zu reißen. Schon seit Jahren liefen Discount-Zertifikate – sie bieten die Möglichkeit, eine Aktie zwar billiger als normal, aber dafür mit einer Kursobergrenze zu erwerben – und Aktienanleihen. Das waren die simplen Urformen unserer Geldmaschinen. Ein Discountzertifikat war nichts weiter als eine Aktie und eine Short-Call-Position, verbrieft zu einem Wertpapier. Und eine Aktienanleihe konnte man nur als kleine »Bestie« betrachten, die aber als nette Anlageform daherkam. Sie setzte sich aus einer hochverzinsten Anleihe und einer Short-Put-Position zusammen. Fällt bei dieser Wette die Aktie unter ein bestimmtes Niveau, wird das Festgeld über eine Abnahmeverpflichtung in Aktien umgewandelt. Und das gesamte Kapital wird über eine Abnahmeverpflichtung in ein geschrumpftes Aktiendepot verwandelt. Andererseits brachten Aktienanleihen eine gute Rendite, wenn man in der zugrunde liegenden Wette auf die Aktie richtig lag. Die Vorteile für uns Banker lagen auf der Hand: Packte man alle möglichen Positionen in einem Papier zusammen und entwickelte ein völlig neues Wertpapier daraus, konnte man durchaus noch ein paar Prozent Gewinn draufschlagen, ohne dass es irgendjemandem auffiel. Aktienanleihen, Optionsscheine und Discount-Zertifikate waren über Jahre ein nettes Zubrot im Derivategeschäft gewesen, und nun sollte es langsam losgehen mit den fetten Gewinnen im strukturierten Geschäft mit Privatanlegern. Als Hauptabnehmer identifizierten wir unsere eigenen Großmütter- oder zumindest jene Deutschen, die Milliarden auf ihren Konten angespart hatten. An diese mussten wir ran. Nur wie?
Das Problem lösten Pascal und Jürgen. Nach meiner Prüfung hatte man mir einen Platz mitten im Raum zwischen diesen beiden exzentrischen Kollegen zugewiesen. Jürgen saß links von mir, schon vor den Morgenmeetings saß er tiefgebeugt über Exceltabellen und stellte dauernd irgendwelche Berechnungen an. Eine Grau-in-Grau-Erscheinung, die kaum die Zähne auseinander bekam, um einen guten Morgen zu wünschen. So erfuhr ich auch erst nach Tagen, dass er Jürgen hieß. Unter den Händlern galt er nicht gerade als Superstar, aber immerhin hatte er den Ruf einer gewissen durchschnittlichen Solidität. Mein rechter Nachbar Pascal gehörte zum Kreis der Spaßmacher. Ich fand Pascal nur eklig, nicht nur, weil er sich jeden Tag mit Döner vollstopfte und ständig nach Zwiebeln und Knoblauch stank. In dem Moment, wo er sich morgens auf seinen Stuhl setzte, zog er seine Schuhe aus, die er auch erst wieder anzog, wenn er den Handelsraum verließ. Die Socken sahen so aus, als würde er sie nur einmal in der Woche wechseln. Aber dennoch, es war Pascal, der die zündende Idee hatte: »Leute, macht euch mal nicht so einen Kopf, wo der nächste Bonus herkommt. Ich schaukel das schon.« Das sagte er laut genug, um viel Aufmerksamkeit unter den Kollegen zu bekommen. »Anstatt Aktienanleihen und Discount-Zertifikaten verkaufen wir den Privatanlegern ganz neue Teile. Kapitalgarantierte Anlagezertifikate. Die Story ist eindeutig: Kapitalgarantie plus Partizipation an den Aktienmärkten. Quasi Aktie und Anleihe in einem: Bombensicher! Wenn das die Leute vom Vertrieb mal nicht fressen.« Der Einfall war nicht schlecht: Kapitalgarantierte Anlagen würden nach dem Gemetzel an den Märkten bei den gebrannten Kindern der New Economy ein sicheres Geschäft sein. Und auf diese Weise konnte man auch wieder »seriöser«
an den Aktienmärkten partizipieren. Es traute sich ja noch keiner so recht, wieder in Aktien zu investieren. Natürlich war Pascals Idee nicht neu – andere Banken hatten uns vorgeführt, wie man in diesen schweren Zeiten die Anleger wieder einfangen konnte. Unsere Bank hatte – wie alle größeren Banken auch – ein Netz von Filialbanken (in dem die kleinen Anleger betreut wurden) und einen sogenannten Private-Banking-Arm (der die großen Fische unter den privaten Anlegern betreute). Gemeinsam reichten die fetten Vertriebsarme bis ins letzte Wohnzimmer hinein. Das Vertriebsnetz der deutschen Banken ist engmaschiger als die Gebühren-Schikane der GEZ. Geld, das darauf wartet, angelegt zu werden, finden die Anlageberater wie Drogenhunde. Wo sie nicht hinkamen, würden wir Privatbanken, Online-Broker, Family Offices und unabhängige Vermögensberater einsetzen. Family Offices sind der Rolls Royce unter den Anlageberatern für Privatkünden: kleine, elitäre und äußerst verschwiegene Vermögensverwalter, die ursprünglich nur große Familienvermögen wie beispielsweise das der Quandts verwalteten. Den hauseigenen Vertrieb für die Privatkunden zu überzeugen, fiel uns nicht schwer: Die Investment-Story war gut. Nachdem Börsengänge und die Aktienhausse erloschen waren, suchte auch dieser Zweig unserer Bank nach neuen Ideen, um sie den Anlegern in den Filialen verkaufen zu können. Das überzeugendste Argument aber lieferte die Provisionsstruktur des neuen Produkts: Es sollte einen Ausgabeaufschlag von zwei Prozent geben, eine Vertriebsprovision von weiteren zwei Prozent sowie eine jährliche Bestandsprovision von 0,5 Prozent. Das machte bei siebenjähriger Laufzeit nach Adam Riese 7,5 Prozent. Eine fette Gans für jeden der Privatkundenbetreuer. Eigentlich
hatten die ja, genau wie die Aktien-Sales-Leute bei den Fondsmanagern, die Aufgabe, Bewegung in das Depot der kleinen Leute zu bringen. Dem Anlageberater wurden Ziele für seine Provision gesteckt, die er erreichen musste, wenn er seinen Job behalten wollte. Mit Festgeld und Bundesanleihen konnte er schuften, so viel er wollte, da sie nahezu provisionslos waren. Anlagezertifikate würden zudem den charmanten Vorteil haben, dass er nicht nur bei Abschluss Provisionen kassieren würde, sondern auch über die Laufzeit des Zertifikats. Eine attraktive Karotte, mit der wir die Anlageberater lockten. Warum wir so scharf auf die kapitalgarantierten Anleihen waren, brauchte unser eigener Vertrieb ja nicht zu wissen, vor allen Dingen nicht, dass sich später unsere MillionenBonuszahlungen aus genau diesen Anlageprodukten für Privatanleger speisen würden. Wir wussten es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber wir ahnten es: Wir hatten eine neue Goldader gefunden! Es konnte losgehen. Pascal weihte mich in die Geheimnisse der Zertifikatestrukturierung ein, auch wenn er mich spüren ließ, wer hier die Hosen anhatte. Nachdem ich ihn gefragt hatte, wie denn nun die Wunderanleihe funktionieren würde, schaute er mich mit seinem berühmten Schlafzimmerblick von oben bis unten an und antwortete schließlich: »Die heiße Nacht mit dir steht immer noch aus.« »Nur wenn du dafür zahlst. Und das wird teuer.« Der Gedanke daran, Pascal nackt zu sehen, ließ mich erschaudern. Ich fand es zwar unpassend, blöde Sprüche von mir zu geben, während ich doch nur versuchte, mein Wissen zu erweitern, um genauso viel Kohle wie die anderen für die Bank zu scheffeln, aber ich spielte das Spiel mit. Der Dialog zwischen Pascal und mir hatte bei den um uns herumsitzenden Händlern und Sales-Leuten einige
Aufmerksamkeit erregt, denn ich hörte mit einem Ohr, wie jemand mit hoher Stimme antwortete: »Ich bin so verliebt in dich, so verliebt.« Wo war ich hier nur gelandet? Pascal beugte sich konspirativ zu mir herüber. Auch wenn ich fast erstickte an seinem Knoblauchatem, dieses Geheimwissen schien es mir wert zu sein. »Also, Kleine, wenn du wirklich wissen willst, wie Geld gemacht wird, dann höre mir jetzt zu: Um dieses Teil zu strukturieren, brauchen wir nur eine Null Coupon-Anleihe. Die funktioniert so, dass etwa 70 Prozent vom Anlegerkapital fest angelegt sind und am Ende durch den Zinseszinseffekt auf die Kapitalgarantie anwachsen. Mit den restlichen 30 Prozent, die erst nach sieben Jahren fällig werden, können wir uns nach Belieben austoben.« Ich staunte: Darum ging es also, das sollte unsere moderne Goldmine sein. Ganz schön abstrakt, der Goldrausch am Klondike im 19. Jahrhundert war intellektuell sicher nicht so anspruchsvoll gewesen, dachte ich, das muss damals einfacher gewesen sein. Aber ich lebte im Hier und Jetzt und musste mein Geld wohl oder übel mit Derivaten verdienen, echte Goldminen gab es keine. »Aber die 30 Prozent geben wir doch für die Option aus, die in der Anleihe versteckt ist?«, warf ich ein. »Ja, wir geben sie für eine Option auf den Europa-Index aus, das ist richtig. Aber wie teuer die ist, weiß doch kein Mensch. Was ich meine, ist: Das wird kein Mensch je herausfinden, was wir denen für die 30 Prozent verkaufen«, grinste er mich stolz an. Der Knoblauchgeruch wurde immer intensiver, doch ich hielt durch. »Schau, die Option, die wir in unsere Anleihe packen, sieht zwar toll aus, aber sie ist ganz billig. Wir können sie für zwei Drittel des Preises am Brokermarkt einkaufen.« Aha, wir wollten die in der Anleihe versteckte Option also zu einem Wucherpreis verkaufen.
»Das heißt, dass wir die Option fast zum doppelten Preis verkaufen und dabei über 10 Prozent der gesamten Anlagesumme verdienen?« Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, ich versuchte aber nicht zu grinsen, sondern mein schon ziemlich gut antrainiertes Pokerface beizubehalten. Ich rechnete nach: Die Prognosen der Vertriebsleute beliefen sich auf 200 Millionen Euro für unser erstes kapitalgarantiertes Anlageprodukt. Wir würden folglich fast 20 Millionen Euro an diesem Produkt verdienen! Unglaublich. Ich konnte meine Begeisterung kaum noch zügeln und rief direkt in Pascals Knoblauchfahne hinein: »Aber hey, das sind fast 20 Millionen Euro. 20 Millionen Euro. Gewinn. Nicht Umsatz.« Fast wäre ich aufgesprungen, um ihn zu umarmen. Aber ich schaffte es noch rechtzeitig, mich zu bremsen. So weit kam es noch! Pascal schien das kaltzulassen. »Sachte, sachte, denk daran, der Großteil geht an diese Spinner vom Vertrieb, die bekommen den Löwenanteil, etwa 15 Millionen. Uns bleiben zirka 5 Millionen. Aber auch damit kann man arbeiten.« Das neue Produkt schlug ein wie eine Bombe: Wir setzten mit ihm über 200 Millionen Euro an Privatanleger ab. Die Geldmaschine hatten wir »MIDAS Garantanleihe« getauft. Der Name der Anleihe war Programm: Jeder, der mit dieser Anleihe in Berührung kam, sollte reich werden. Denn hatte sich nicht schon der sagenhafte König Midas gewünscht, dass alles, was er anfasste, zu Gold werden solle? Natürlich galt das Programm in erster Linie für uns Investment-Banker und für die Anlageberater. Die Verlierer waren deren Kunden. Denn sie hatten nicht nur in eine unverzinste Anleihe investiert, sie hatten auch von uns völlig überteuert eine Aktienwette auf die globalen Aktienmärkte gekauft. Unsere Boni waren gerettet – und eigentlich die ganze Branche gleich mit. Die Anlageberater, die Filialbanken, alle
atmeten auf. Eigentlich war das, was wir erfunden hatten, sogar noch viel besser als die jungen Aktien der New Ecomony-Unternehmen. Viel lukrativer, und vor allem so intransparent, dass außer uns eigentlich keiner verstand, wie man mit strukturierten Produkten Milliarden verdiente. Wir waren tatsächlich auf eine Goldader gestoßen, nach dem 11. September 2001 hoben MIDAS und seine Brüder richtig ab. Nicht nur wir, sondern alle anderen Banken in Deutschland fingen zeitgleich an, den Anlegermarkt mit Anlagezertifikaten zu überschwemmen. Im Jahr 2004 belief sich das Volumen auf ungefähr 30 Milliarden Euro und knapp 20 000 gehandelte Zertifikate. Die Anlageberater vermarkteten die Zertifikate immer aggressiver. Selbst vor Rentnern machten sie nicht halt, die ihr gesamtes Erspartes in Zertifikate investieren sollten. Aber damit hatten wir ja nichts zu tun, wir strukturierten, und wir schufen die Provisionsstrukturen als Anreiz für den Vertrieb an die kleinen Anleger. Der deutsche Markt entwickelte sich zum weltweit größten Markt für strukturierte Produkte, wenn es um Privatanleger ging. In den meisten anderen Ländern war es nicht so ohne weiteres möglich, Privatanlegern strukturierte Produkte inklusive hochspekulativer exotischer Optionen in die Depots zu legen, dazu sind sie zu streng reguliert. Dass in Wahrheit in den Bankfilialen Zustände wie in einer Drückerkolonne herrschten, erfuhr ich aber erst Jahre später, als ich mich auf einer Party mit einem Anlageberater aus einer der Filialen betrank. Dabei weihte er mich in die Geheimnisse des Vertriebs für diese Art Anlageprodukte an die Privatkunden ein. Im Oktober 2008, nach dem Crash der Lehman-Bank, waren dann die Geständnisse von Anlageberatern: »Ich bin ein Betrüger« in jeder Wochenzeitung zu lesen. Bis zum Jahr 2008 war der Markt für strukturierte Zertifikate in Deutschland auf rund 131 Milliarden Euro regelrecht
explodiert, in der Spitze waren es 2007 140 Milliarden Euro, davon zirka 99 Prozent in Anlageprodukten. Dazu kam ein Zertifikategesamtumsatz 2007 von über 600 Milliarden Euro. Für die Mathematiker: Bei einer angenommenen Provision dieser Zertifikate von im Schnitt vier Prozent (das ist wahrscheinlich niedrig angesetzt, wenn man die Gewinne der Broker und des Vertriebs mit einbezog) ergeben sich Provisionen in Höhe von fast sechs Milliarden Euro. Hinzu kommen die Gewinne aus den laufenden Umsätzen, mit einem Viertelprozent berechnet, kämen noch mal 1,5 Milliarden pro Jahr hinzu. Das war leicht verdientes Geld, nach den Risiken fragte damals kaum einer. Der Clou an der ganzen Sache aber war, dass auch kaum jemand mitbekam, wie wir uns mit den unregulierten Zertifikaten reich verdienten. Sie waren aufgrund ihrer unterschiedlichen Auszahlungsprofile so intransparent, dass keine Chance bestand, sie vernünftig miteinander zu vergleichen – zumindest nicht für Anlageberater, Privatanleger oder die Börsenmedien. Lange Zeit gab es keinerlei Verpflichtung, die in den Zertifikaten versteckten Provisionen – für den Käufer blinde Passagiere – öffentlich zu machen, noch weniger öffentlich waren die Handelsgewinne der Derivatebroker aus den exotischen Optionen, die in den Zertifikaten versteckt waren. Auch die EU-FinanzmarktRichtlinie (MiFid), die 2007 mit dem Ziel, mehr Transparenz zu erwirken, in Kraft trat, änderte daran wenig. Während es anfangs hauptsächlich Aktienindex Partizipations-Optionen waren, die sich in den Zertifikaten versteckten, wurde die Branche mit der Zeit immer mutiger. Die Anleger waren ja dankbare Abnehmer der neuen Produkte, und kritische Stimmen gab es bis zum Jahr 2008 nur vereinzelt. Sie, die Anleger, sollten mit der Zeit gehen und den Investment-Bankern nacheifern. So kam es, dass unter dem Deckmantel der Zertifikate immer exotischere und
spekulativere Derivate den Weg in die Depots der Privatanleger fanden. Neben dem Prototyp, der Wette auf die Aktienmärkte, wurden Wetten auf Volatilitäten, Währungen, Kreditrisiken bestimmter Branchen und Länder, Zinsstrukturkurven, stagnierende Seitwärtsmärkte, Varianzen bestimmter Aktienkörbe, Inflation, Gold und Öl verkauft. Das Ganze wurde in Discount, Bonus, Airbag, Express, Sprint, Outperformance und Alpha-Zertifikate verpackt. In diesen Strukturen haben erfahrene Anleger die Möglichkeit, gezielt bei zum Beispiel stagnierenden Märkten auf eine leicht steigende oder fallende Aktie zu wetten und hohe Rendite einzustreichen. Diese Wetten machen aber nur dann Sinn, wenn der Anleger genau weiß, was er da tut. Der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt, und oft genug mag es den Investment-Banken auch darum gegangen sein, bestimmte Risiken auf diesem mit Gold gepflasterten Weg aus den eigenen Handelsbüchern zu loszuwerden. Was all diese exotischen Derivate in den Depots der Privatanleger zu suchen hatten, ist mir bis heute ein Rätsel. Das Anlegerportal www.zertifikateweb.de gab sich Mühe, das vollkommen abstruse Auszahlungsprofil eines sogenannten Garant Rebound Zertifikats zu beschreiben: »BonusGarantieanleihen stellen je nach Ausstattung in Abhängigkeit von der Kursentwicklung eines zugrunde liegenden Baskets einen variablen bzw. einen im Rahmen einer Zinsstaffelung fix vorgegebenen Kupon in Aussicht, wobei sich der Zinssatz entweder an der kleinsten absoluten positiven oder negativen Performance eines einzelnen Korbwertes (= schwankungsabhängig), oder an der tatsächlichen Kursentwicklung (= kursabhängig), orientieren kann. Bei der vorliegenden kursabhängigen, sich auf 20 internationale Blue Chip Titel beziehenden Variante, ergibt sich der jährliche Kupon, ausgehend von einer 5-prozentigen Startverzinsung in
den ersten beiden Jahren, ab der dritten Laufzeitperiode, indem 60 % der Kursentwicklung der seit Emission am schlechtesten performenden Aktie zu einem Berechnungsfaktor von 10,00 % addiert wird. Mindestens wird jedoch ein Kupon von 0,75 % p. a. gezahlt.« Das ist kein Witz. Dieses und viele andere ähnlich abstruse Produkte wurden in die deutschen Depots verkauft. Was aber bedeutete das für den Anleger? Im Endeffekt erhielt er auch hier eine nach zwei Jahren mit 0,75 Prozent pro Jahr schlecht verzinste Anleihe sowie eine äußerst bizarre Option, die mit hoher Wahrscheinlichkeit fast wertlos war. Was mit den restlichen Anlagegeldern passierte, die man in das schöne Zertifikat investierte? Wahrscheinlich wurden auch hier Investment-Banker und Anlageberater des Vertriebs mit Vertriebsprovisionen glücklich gemacht – und mit Händlergewinnen aus den Optionen. Die Investment-Experten einer Bank spielten sich gar als Ornithologen und Botaniker auf und tauften ihre strukturierten Anleihen auf die Namen Buntspecht-, Blaumeisen-, Maiglöckchen- und Gänseblümchen-Anleihen. Gleich mehrere Banken nannten ihre strukturierten Zertifikate Ikarus-Anleihen. Die Ironie, dass Ikarus bei seinem Flugversuch in seinem Leichtsinn und seinem Übermut seine Flügel an der Sonne verbrannte und ins Meer abstürzte, schien ihnen entgangen zu sein. Die FAZ formulierte in ihrer Internet-Ausgabe vom 24. Juli 2007 treffend, der Anleger brauchte »seherische Fähigkeiten«, um erstens die Marktphasen, auf die die Wetten der strukturierten Produkte laufen, korrekt zu prognostizieren und zweitens überhaupt die Wetten zu identifizieren und zu verstehen, die sich in seinem Produkt verstecken. Wie schon weiter oben gesagt: Es ist Aufgabe von Derivaten, Risiken und Chancen an Kapitalmärkten aufzusplitten und sie handel- und
berechenbar zu machen. Die große Frage, die sich stellt: Kann das der deutsche Anleger, der vielleicht Rentner oder Handwerker ist, beurteilen? Kaum. Dass das Geschäft mit den hochkarätigen deutschen Privatanlegern extrem lukrativ war, wussten auch die ausländischen Investment-Banken. Wie anders lässt es sich sonst erklären, dass sich neben deutschen Banken die großen amerikanischen Investment-Banken wie Goldman Sachs, die Citigroup oder Lehman Brothers und auch europäische Geldhäuser von der französischen Societe Generale bis zur holländischen ING auf den deutschen Zerfitikatemarkt für Privatanleger stürzten? Selbst exotische Banken wie die japanische Nomura und die australische Macquarie-Bank rüttelten an den Depots der deutschen Privatanleger wie einst Gerhard Schröder am Tor zum Kanzleramt. Sie alle wollten da rein. Doch Raum gab es nur für einige Platzhirsche, und so entbrannte ein harter Wettbewerb unter den Emittenten. Es existierte nur ein Weg zum Ziel, und der lief über den Vertrieb in den Filialen, der an den Privatanlegern dran war. Also die Anlageberater der Banken, die die Privatanleger betreuten. Das galt umso mehr für die ausländischen Banken, die keinen eigenen Vertrieb in Deutschland hatten. Sie mussten irgendwie in den Vertrieb der deutschen Banken. Nur wie? Absurderweise ging es in diesem Kampf um den Vertrieb nicht darum, wer das beste Anlageprodukt hatte, sondern wer in der Lage war, die höchsten Provisionen zu zahlen und dabei den Anlageberatern noch ein halbwegs passables Produkt zu präsentieren. Nur die Fondsbranche feindete uns an. Waren doch unsere Zertifikate um so vieles flexibler als ihre schwerfälligen Fonds. Sie feierten einen Absatzerfolg nach dem nächsten, während die Fonds um Anlagegelder kämpften. Schöpferische
Zerstörung nannten wir das. Zertifikate waren ja eigentlich nichts anderes als Kredite an die vergebende Bank, eben Inhaberschuldverschreibungen: Man lieh ihr Geld, damit sie damit machen konnte, was sie wollte. Natürlich trug man auch das Ausfallrisiko dieser Bank, das war aber offensichtlich bei den Sparern nicht angekommen, wie sich beim Kollaps der Lehman-Brothers-Bank zeigte. Auch wenn beispielsweise die Hamburger Sparkasse Lehman-Zertifikate vertickte, glaubten nicht wenige gutgläubige deutsche Sparer ihr Geld bei der Sparkasse in gewohnt sicheren Händen – inklusive Einlagensicherung. Das Geld war aber bei der amerikanischen Investment-Bank Lehman Brothers gelandet, für die die deutsche Einlagensicherung nicht greift. So sperrig der Begriff »Inhaberschuldverschreibung«, so flexibel das Instrument. Im Bestzeiten gelang es unserer eigens dafür errichteten Emissionsabteilung, eine neues Anlagezertifikat in kaum mehr als einer Woche rauszuhauen. Ein neuer Fonds brauchte dagegen mehrere Monate und war juristisch eine hochkomplexe Geschichte. Mit diesen unbegrenzten Möglichkeiten im Rücken hatte ich immer mehr das Gefühl, auf dem Weg der Sieger zu sein.
6 Todeslisten
Wetten abzuschließen – das war neben den sexuellen Obsessionen ein weiterer beliebter Sport im Handelsraum. Wetten passten auch perfekt zur dort herrschenden Spiel- und Fun-Kultur. Täglich wurden auf die Zinsentscheide der amerikanischen und europäischen Notenbanken oder auf bestimmte Konjunkturzahlen Wetten abgeschlossen. Aber das waren die normalen Wetten, die zum Alltagsgeschäft der Händler gehörten. Für wesentlich mehr Stimmung sorgten etwa die sogenannten Todeslisten. Auf denen standen Namen wie etwa Papst Johannes Paul II. oder Rudi Carrell, und man konnte mit einem bestimmten Wetteinsatz (10 oder 20 Euro, eigentlich lächerlich, wenn man sonst mit Millionendeals zu tun hatte, aber gerade deswegen umso reizvoller) ankreuzen, wer von diesen Personen in den nächsten sechs Monaten sterben würde. Das gesamte Wettgeld wurde anschließend unter denjenigen aufgeteilt, die richtig geraten hatten. Bauarbeiter hätten nicht mehr Spaß haben können. Zu den erklärten Highlights zählten aber die Wetten, die man auf die Juniors abschloss. Mich als Frau hatte man glücklicherweise von diesem Ritual ausgenommen. Neulinge standen sich plötzlich einer Aufforderung gegenüber: »Wetten, du kannst nicht zwei Liter Bier in zehn Minuten trinken!« Da die Neuen sich selbst als hart im Nehmen einschätzten, davon ausgingen, alles zu können, denn sie seien genau die Richtigen für den Job, ließen sich auch alle ohne Ausnahme auf diese Wette ein. Jemand besorgte dann die Bierflaschen, anschließend versammelte man sich um den Junior. Die
Händler wetteten darauf, ob er die schaffen würde oder nicht. Manche der Opfer rannten vorher auf die Toilette und kotzten alles aus, andere schafften es tatsächlich und legten sich anschließend völlig fertig auf dem Boden, um ihren Rausch auszuschlafen. Waren sie wieder einigermaßen nüchtern, klopfte man ihnen hinterher anerkennend auf die Schulter. Bei einer anderen Wette wurden einem der jüngeren Kollegen 100 Euro dafür geboten, wenn er innerhalb von fünfzehn Minuten ein Kilo rohen Fisch hinunterbekam – Sushi de luxe hieß das dann. Er willigte ein. Es ging ja nicht ums Geld, sondern um die Ehre eines Händlers. Die ganze Angelegenheit wurde wie ein Event gehandelt. Die Römer hatten Brot und Spiele, kleine Jungen verspeisen Regenwürmer, Derivatehändler ihren rohen Fisch. Im gesamten Handelsraum wurde die Wette bekannt gemacht, ein Termin angekündigt. Der Junior würgte das Zeug hinunter, danach sah er ganz grün im Gesicht aus. Aber er hatte die Anerkennung der älteren Kollegen bekommen. Fred Schwed Jr. ein amerikanischer Broker aus der Zeit des großen Crashs 1929, hatte schon 1940 in seinem Buch Where Are the Customers’ Yachts die Wall Street, das (vielleicht einstige) Herz der gesamten Finanzwelt, als eine Straße beschrieben, an deren einem Ende ein Fluss liegt, an dem anderen Ende ein Friedhof – und in der Mitte ein Kindergarten: »Wall Street reads the sinister old gag, ›is a street with a river at one and a graveyard at the other‹. This is striking, but incomplete. It omits the kindergarten in the middle.« Michael Lewis, ein einstiger Wall-Street-Händler, hatte diesen treffenden Satz in seinem Buch Liar’s Poker zitiert. Ich hatte das Buch über den Geldrausch der achtziger Jahre noch zu Studentenzeiten gelesen. Meine Erfahrungen bestätigten seine Beobachtungen. In Handelsräumen arbeiten Menschen, die sicher keinen niedrigen IQ aufweisen, manche von ihnen
gehörten zu den intelligentesten Personen, die ich je getroffen hatte. Doch ihr seltsam infantiles Verhalten war fester Bestandteil der Tagesordnung. Standen jedoch wichtige Marktberichte an oder wurden Deals abgeschlossen oder gehedgt – was stündlich passierte –, verwandelte sich der Kindergarten wie durch eine seltsame Metamorphose in eine Schar professioneller und konzentrierter Händler. Dann war es vorbei mit dem Spaß, von diesem Moment herrschte eine Null Fehler-Toleranz. Ein falscher Knopfdruck konnte alles vom Porsche bis zum Einfamilienhaus kosten. Derjenige, der nicht in der Lage war, zwischen diesen beiden Szenarien zu unterscheiden, überlebte nicht lange im Handelsraum. Das galt auch für jene, die die spaßhafte Atmosphäre mit einer laxen Arbeitshaltung verwechselten. Das hatte ich inzwischen verinnerlicht – dieser schnelle Wechsel übte wie ein magisches Spiel seine Faszination auf mich aus.
Nach einer Weile – längst hatte ich überhaupt keine Schwierigkeiten mehr, an der EUREX oder mit Brokern anderer Banken zu handeln – sollte ich einen weiteren Bereich innerhalb des Handelsraums kennenlernen: die SalesAbteilung. Die Aufgabe der Sales-Leute besteht darin, mit Fondsmanagern zu kommunizieren. Hauptsächlich geht es dabei um die Absicherung der Portfolios von großen Publikumsfonds, Stiftungen oder Pensionskassen. Rentenversicherungen, Rückversicherer, die großen Versicherer wie Allianz, AXA, Gerling oder Swiss Life gehören ebenfalls dazu – im Prinzip alle, die viel Geld einnehmen und verwalten müssen. Dies ist eine überschaubare Gruppe, auch wenn man nicht jeden einzelnen Fondsmanager kennt und diese sich auch nicht immer untereinander. Die meisten von ihnen tragen eine Verantwortung für 100 bis 200
Millionen Euro, manchmal weniger, manchmal aber auch mehr. Einige Fondsmanager verwalteten Milliarden. Institutionelle Anleger dürfen nicht selbst handeln, da sie keine Börsenmitglieder sind. Dies müssen sie ihren Brokern wie unserer Bank überlassen, Händlern wie Hartmut, Gernot, Florian, Jürgen oder Pascal. Sie übernahmen die großen Risiken in ihre Bücher und mussten dafür Sorge tragen, dass sie nicht auf diesen Positionen sitzenblieben. Was aber nicht hieß, dass die Sales-Leute, die auch die Aufträge an Land zogen beziehungsweise sich überhaupt erst ausdachten, keine Risiken eingingen oder große Fehler machen konnten. Das sollte ich auch sehr bald selbst erfahren. Wieder erklärte man mir nur kurz, wie ich in diesem Bereich vorzugehen hätte. Und auf einmal saß ich an dieser komplizierten Telefonanlage und hatte einen Fondsmanager am Apparat, der sein gesamtes Portfolio – ein Volumen von 40 Millionen Euro – mit Puts absichern wollte. Er fragte: »Was seid ihr Brief für 10 000 OTC Puts, Basis 3900 EuroStoxx, Laufzeit ein Jahr?« OTC war die Abkürzung für »Over the Counter« (»Über den Schalter«). So heißen Geschäfte, die nicht an einer Börse gehandelt werden, also außerbörsliche Trades, die man am Telefon abwickelt. Die Basis war das Niveau, auf dem er sein Portfolio absichern wollte, das Ganze sollte für ein Jahr laufen. Und EuroStoxx 50 ist der europäische Aktienindex, der sich aus Anteilsscheinen von den fünfzig größten börsennotierten Aktiengesellschaften aus den Ländern der Eurozone zusammensetzt. Mein Gesprächspartner wollte also Puts, bei denen die Bank, sollte der Markt nach unten gehen, die Verluste zu zahlen hatte. Das war Adrenalinausstoß pur – mit einer Summe in dieser Größenordnung war ich bislang nicht konfrontiert worden. Ein Händler konnte diese auch nicht einfach an die Börse stellen, weil man mit einem derart hohen Betrag die
Preise kaputtmachen würde. Je nachdem, auf welchem Level oder mit welcher Laufzeit er absichern würde, gab es eine Option an der Börse oder nicht. Er musste sie also erst einmal in seine Bücher nehmen. Ich wiederholte die Frage des Fondsmanagers und rief zu Pascal herüber, was er für einen Preis stellen könne. Dabei drückte ich auf einen kleinen Knopf im Hörer meines Telefons und schaltete den Handelsraum für den Fondsmanager auf stumm – ich selbst konnte ihn weiterhören. Alle Telefone besaßen zwei oder sogar noch mehr Hörer, oft war es nötig, mit mehreren Brokern simultan zu handeln. Pascal brüllte mir nach einer kurzen Berechnungszeit einen Referenzkurs mit: »Pro Put 370 Brief auf Referenz 4000.« Anschließend knallte er mir noch ein Delta hinterher, »Delta 0,41« – Pascal konnte mich genauso wenig leiden wie ich ihn. Aber immerhin schickte er mir die Daten auch auf unserem System. Da der Markt an diesem Tag unruhig war – innerhalb von Minuten konnte der EuroStoxx um zwanzig Punkte sacken –, schien mir die Berechnung korrekt zu sein. Ich übermittelte meinem Telefonpartner, den ich inzwischen wieder zugeschaltet hatte, die von Pascal mitgeteilten Preise. »Okay, ich rufe Sie gleich noch einmal an.« Der Fondsmanager beendete das Gespräch. Ich wusste, er würde die Berechnungen jetzt mit seinem Team besprechen. Die meisten Portfoliomanager besaßen selbst Reuters und Bloomberg, sie konnten also die an der Börse gehandelten Preise sehen – aber eben nicht handeln. Die Schlauen unter ihnen waren sogar in der Lage, anhand der Volatilitäten aus den börsengehandelten Kursen die fairen Preise für ihre eigenen Produkte herauszurechnen. Das konnten aber nur wenige, die meisten stellten ihre Anfrage einfach an zwei Broker, um im Wettbewerb den besten Preis zu bekommen.
Nach knapp dreißig Minuten rief der Fondsmanager zurück und sagte, dass er zu dem Preis handeln wollte. Eine mögliche Konkurrenzbank war also ausgeschaltet. »Alles klar, wir haben ihn«, rief ich Pascal zu, der selbst gerade telefonierte. »Bist du noch 370 Brief für 10 000 Kontrakte, Basis 3900, Laufzeit ein Jahr?« Immerhin waren in der Zwischenzeit fast dreißig Minuten vergangen, da konnte sich der Markt bewegt haben. Meine Hände wurden ganz klamm, ich war im Begriff, ein Geschäft abzuschließen, dessen Größenordnung jenseits meines damaligen Vorstellungsvermögens lag. Pascal wiederholte den Kurs und bestätigte ihn damit, mit einem Ohr hing er noch am Telefon. Wohl ein anderer Deal. Zu dem Portfoliomanager sagte ich: »Können wir machen. EuroStoxx Puts, ein Jahr, Basis 3900, bin ich noch Brief 370.« »Alles klar, dann 10000 Puts EuroStoxx 3900 OTC zu 370 von dir.« Damit war das Geschäft gemacht. Perfekt! Aufgeregt schrie ich in Richtung Pascal: »Gemacht! Ich habe 10 000 Kontrakte zu 370 Euro verkauft. Der Deal ist gemacht.« Ich war in Champagnerlaune, hätte mir am liebsten selbst eine Medaille für meinen Trade verliehen. Pascal schien weniger begeistert und ausgelassen, murmelte etwas Unverständliches und fing auf einmal an zu rechnen. Völlig irritiert schaute ich ihm zu. Was hatte das zu bedeuten? Er hatte mir doch ganz klar und deutlich hörbar einen Preis genannt. Plötzlich meinte er: »Du hättest zu 376,15 verkaufen sollen!« »Wie? Du hattest mir doch gerade 370 gesagt.« »Quatsch. Jetzt ist der Markt um fünfzehn Punkte niedriger.« »Aber du hast mir 370 zugerufen.« »Ja, das stimmt.« »Und du hast mir gesagt, ich kann den Deal abschließen, und daraufhin habe ich ihn auch abgeschlossen.« Meine
Hochstimmung, die ich eben noch empfunden hatte, war augenblicklich verschwunden. Ein kaltes Gefühl breitete sich in mir aus. »Kennst du eigentlich den Unterschied zwischen einem Live Pricing und einem Referenz Pricing? Du weißt, was Referenz und Delta in diesem Zusammenhang bedeuten, ja?« »Referenz, ja, Delta, ja, nein…« Ich fing an herumzustottern. Pascal biss in seinen obligatorischen Döner, eine neue Wolke von Knoblauch und Zwiebeln verbreitete sich um ihn. »Der Optionspreis war nur gültig mit dieser Referenz, die aber längst nicht mehr aktuell war. Der Preis einer jeden Option ändert sich mit jedem Punkt im Basiswert des EuroStoxx im Verhältnis zum Delta. Du hättest das mit dem 0,41 Delta umrechnen und nach oben anpassen müssen.« Das hatte ich nicht gewusst, keiner hatte es mir explizit erklärt. Zusammen rechneten wir den Kurs aus, der zum Zeitpunkt des zweiten Anrufs des Fondsmanagers gestimmt hätte. So, wie mich Pascal anschaute, hatte ich das Gefühl, dass etwas ganz Schlimmes passiert war. Was auch stimmte. Mit diesem Telefongespräch, das mich so in Hochstimmung versetzt hatte, in dieser einen Minute hatte ich 60 000 Euro in den Sand gesetzt. Statt Lob von meinen Kollegen zu bekommen, wie gut ich das alles gemacht hätte – von dieser Erwartung ging ich aus –, war ich abgestürzt. Ich wurde eiskalt und glaubte auf einmal, nicht mehr zu existieren. Das war nicht vergleichbar mit meinem Anfängerfehler. Hatte mich Pascal ins offene Messer laufen lassen? Eine erfahrene Sales-Person hätte gewusst, dass eine entsprechende Umrechnung notwendig gewesen wäre. Aber ich war in diesem Bereich nicht erfahren. Und ein netterer Kollege, der keine Rachegedanken in sich herumtrug, hätte bei seinen Berechnungen meine mögliche Unwissenheit berücksichtigt.
Es war ein wenig unfair, als Pascal mir sagte, ich könne das zu jenem Kurs abschließen, obwohl ihm klar gewesen sein musste, dass ich keine Ahnung hatte. Dennoch hatte er mir keine falschen Preise gesagt. Das wäre fast strafbar gewesen. Die Konditionen stimmten. Er hatte einfach so agiert, wie er es mit einem bewanderten Kollegen auch getan hätte. Viel Zeit hatte er auch nicht. Er war ja nicht nur mit diesem Deal beschäftigt gewesen, sondern er handelte selbst und hatte auf seine eigenen Bücher zu achten. Mein Versehen war ein klassischer Fehler, der auch gestandenen Händlern passierte. Und es wurden oftmals mehr als 60000 Euro verzockt. Aber das wusste ich damals nicht und konnte mich also auch nicht beruhigen. Was mich verwunderte: Pascal hatte auf diese Weise einen Verlust für die Bank provoziert. Warum tat er das? Ich konnte es nicht nachvollziehen. Wir redeten auch im Nachhinein nicht darüber. Natürlich war es mein Fehler. Ich hätte, als ich das Geschäft mit dem Fondsmanager annahm, sagen können, dies sei mir noch zu riskant, und es an einen Kollegen abgeben können. Ich hatte mich selbst überschätzt und dachte, ich würde das alles durchblicken und schon hinbekommen. Doch unabhängig davon: Sollten Sales-Leute und Händler nicht ein Team bilden und an einem Strang ziehen? Anscheinend nicht. Es herrschte knallharte Konkurrenz, das hatte ich nun am eigenen Leib erfahren. In diesem Moment gab es aber noch ein anderes Problem: Ich befand mich mitten auf dem Präsentierteller, alle in meiner Nähe hatten von meinem Fehler mitbekommen. »Hast du etwa keine Augen im Kopf? Kannst du keine Zahlen lesen?«, fragte Hartmut. »Da hast du ja mal richtig Scheiße gebaut.« Diese Aufmunterung kam von Florian. »Einen solchen Fehler hat noch keiner gemacht. Jetzt bist du deinen Job los.«
Keiner tröstete: »Das ist mir auch schon mal passiert.« Ich ahnte, dass man mich fertigmachen und demotivieren wollte. Und ich wusste, dass ich Stehvermögen brauchte, um wiederzukommen, um weiterzumachen. Hatte Lilly uns nicht als Stehaufmännchen bezeichnet? Mir war klar, dass ich mich gerade auf keiner Party befand, hier wurde kein Spiel gespielt, bei dem ich wieder von vorne anfangen konnte. Ich ärgerte mich über mich selbst, dass ich so vorschnell gehandelt, mich dermaßen aus dem Fenster gelehnt hatte. In den letzten Monaten hatte ich erlebt, wie einige Händler 400000 Euro am Tag verloren. Aber das hatte jedes Mal mit einer falschen Markteinschätzung zu tun gehabt, da war es nicht um Fehler gegangen. Die Fehlertoleranz in Handelsräumen ist gleich null, dachte ich. Nun wusste ich, warum. Das war kein Spiel hier, das war Ernst. Nachdem ich alle Provokationen geschluckt hatte, entgegnete ich: »Mal sehen, was der Chef am Montag dazu sagt.« Meinen Deal hatte ich an einem Freitagnachmittag getätigt, Marc Jander war an diesem Tag nicht im Handelsraum. »Wenn du Glück hast, bekommst du am Montag einen Termin beim Vorstand.« Sollte das etwa ein Trost sein? Ich schaute an Gernot vorbei, wollte nichts mehr von dem hören, was meine Kollegen noch so auf Lager haben konnten. Schnell packte ich meine Tasche zusammen und verließ den Handelsraum. Das Wochenende war grauenhaft. Ich betrank mich mit schwerem Rotwein und war sauer auf mich selbst, weil ich mir alle Chancen versaut hatte. Warum hatte ich alles auf die leichte Schulter genommen und mich von dieser lustigen Kindergartenatmosphäre anstecken lassen, einfach gedacht, ich könnte es ja mal probieren? Aber ich durfte nicht aufgeben. Dafür hatte mich das Jonglieren mit Geld viel zu sehr in den Bann gezogen. Ich wollte das Mehr, von dem Lilly gesprochen
hatte. Die Sucht hatte mich gepackt. Nun wollte und musste ich denen erst recht zeigen, dass ich es konnte. Am Montagmorgen traute ich mich dennoch kaum, in die Bank zu gehen. Ich stellte mir vor, dass sich der gesamte Handelsraum über meinen Rausschmiss amüsieren würde. Nein, dazu durfte es nicht kommen. Um meine Unsicherheit bestmöglich zu kaschieren, war ich morgens schon um sechs Uhr aufgestanden, um eine Stunde lang meine Augenringe sorgfältig mit Make-up abzudecken. Auch die Auswahl meiner Kleidung hatte einige Zeit beansprucht. Schließlich entschied ich mich für einen gerade erworbenen silbrig-anthrazitfarbenen Hosenanzug. Ich musste ein gutes Bild abgeben, sollte ich zum ersten Mal beim Vorstand antreten müssen. Ich wollte weiter bei »Der Bank« bleiben. Als ich den Handelsraum betrat, war alles so, wie ich es kannte. Nach dem Morgenmeeting setzte sich jeder vor seine Bildschirme, las die Nachrichten auf Bloomberg und Reuters oder analysierte Charts oder Tickerdaten. Ich hatte ein Donnerwetter erwartet, aber keiner sprach mich auf meinen Verlust an. Dieser war nicht Thema Nummer eins, wie ich befürchtet hatte. Da ich nicht wusste, was ich jetzt machen sollte, setzte ich mich auch an meinen Platz. »Wenn du Zeit hast, komm mal rüber, ich geh dann noch mal den Fehler mit dir durch.« Hartmut zeigte wieder seine freundliche Seite. Man machte also jemanden fertig, damit man ihn, wenn er am Boden lag, am nächsten Handelstag wieder aufbauen konnte. Funktionierten Sekten nicht in ähnlicher Weise? Ließen die nicht auch Leute gegen die Wand laufen, um ihnen dann zu vermitteln: »Auch du hast noch eine Chance«? »Warst du schon bei unserem Hünen?« Vincent, ein in diesem Umfeld vergleichsweise hilfsbereiter und freundlicher Kollege Ende zwanzig, der mit Vorliebe Tommy-Hilfiger
Shirts und Puma-Schuhe trug, sprach mich als Nächstes an. Mit dem »Hünen« meinte er den Chef, Jander. Ich schüttelte den Kopf. »Es ist besser, wenn du zu ihm gehst, bevor er dich zu sich zitiert.« Mit seinen rötlich-blonden Haaren hätte er dem jungen Robert Redford Konkurrenz machen können. Sollte ich das wirklich tun? Ich haderte mit mir. Wie sollte ich Jander das Missgeschick erklären? Konnte das nicht ein anderer für mich regeln? Ja, ich hatte Mist gebaut, aber ich war nicht unqualifiziert und ungeeignet für diese Arbeit. Ja, ich hatte als Anfängerin bestimmt einen der teuersten Fehler in der Geschichte der Bank gemacht. Das hatte ich inzwischen zu hören bekommen, wenn es auch nicht stimmte. Dennoch: Ich war bereit zu kämpfen. Meine Gedanken drehten sich noch immer im Kreis, als Marc Jander im Handelsraum erschien und sich nach einem kurzen Gespräch mit Hartmut auf meinen Platz zubewegte. Mit seiner Narbe im Gesicht sah er aus, als wäre er ein direkter Nachfahre der Machiavellis. »Was war denn los?«, fragte er, als er in meiner Nähe stand. Ich erklärte ihm den Fehler, den ich am Freitag gemacht hatte. Meine Stimme klang fest. »Und wie viel hast du dabei verloren?« Mir blieb nichts anderes übrig, als die Summe zu sagen: »60 000 Euro.« Ich hatte schon öfter erlebt, wie Marc die Leute im Handelsraum vor allen anderen fertigmachte. Schrecklich. Ich wollte nicht öffentlich an den Pranger gestellt werden. Innerlich straffte ich mich, um gegen seinen verbalen Schlag gewappnet zu sein. Doch nichts dergleichen geschah. »Und was hast du daraus gelernt?«, fragte er. »Wie wirst du in Zukunft handeln, damit das nie wieder geschieht?« Ich war vollkommen perplex über so viel Nachsicht. Der cholerische Anfall blieb aus. Schnell hatte ich mich gefasst und
antwortete ihm, dass so etwas nie wieder vorkommen und ich beim nächsten Mal alles genau und mehrere Male durchrechnen würde. »Das war’s dann wohl. Kannst weiterarbeiten.« Mit diesen Worten drehte sich Marc um und verließ den Handelsraum. Ich war glimpflich davongekommen. Mein Fehler war nicht gleichzeitig mein Ende. Hatte mein Chef so reagiert, weil ich eine Frau war? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass die Belastungen in den letzten Tagen enorm gewesen waren. Nach einem solchen Desaster konnte man alles hinschmeißen – oder weitermachen. Ich wollte Letzteres. Auf jeden Fall. Ich wollte in dieser abgefahrenen Galaxie des Geldes bleiben.
7
Ich wollte ein Raubtier sein
Ich war getrieben, vom Geld, von der Aussicht auf Karriere, vom Spaß, vom Luxus und der Lust am Ausgehen. Und ich arbeitete mit Leuten zusammen, die viel draufhatten. Mir schien, als hätten wir mit den Derivaten die Geldmaschine gefunden, nach der schon die ganze Menschheit gesucht hatte – was sich auch im Spätsommer 2001 wieder zeigte. Auf sehr morbide Weise. Der DAX hatte seit dem Juni 20 Prozent seiner Marktkapitalisierung eingebüßt. Und der Wachstumsindex NEMAX 50, ein Aktienindex des Frankfurter Neuen Marktes und einst Aushängeschild der deutschen Börsenlandschaft, war durch misstrauisch gewordene Investoren um ein Drittel seines Wertes gesunken. Die früheren Stars der Internet-Hausse, etwa Heyde, Biodata, Metabox, überboten sich mit Skandalen, mit erfundenen Großaufträgen oder teilweise mit Insiderhandel, dem Vorzeigeunternehmen EM.TV warf man Kursbetrug vor, eine Insolvenz jagte die nächste. Die »neuen deutschen Helden« machten nur noch Negativschlagzeilen, und der letzte Börsengang am Neuen Markt hatte am 24. Juli stattgefunden. Es handelte sich um INIT, ein Karlsruher Softwareunternehmen, das Telematiksysteme für den öffentlichen Personennahverkehr programmierte. Auf lange Zeit sollte es auch der letzte sein. Damals ahnte man aber noch nicht, dass es 2004 mit dem Neuen Markt ganz zu Ende sein würde. Ein Tod auf Raten. Doch all das war nichts gegen die Dinge, die sich am 11. September 2001 ereigneten. Diesen Tag hätte ich gern selbst
im Handelsraum miterlebt, schon allein um die Atmosphäre aufzusaugen. Aber ich war nur morgens dort, um kurz darauf für einen längeren Termin zu einem Kunden zu fahren. Nach meiner Initiierung in den Handel durfte ich inzwischen auch einfache Kunden betreuen. Der 11. September begann als ein sehr ruhiger Handelstag, der DAX dümpelte vor sich hin, es war schon am frühen Morgen heiß, und die Broker hatten wieder einmal nichts Besseres zu tun, als Zoten zum Besten zu geben. Gernot ging mit einem Pornoheft umher und zeigte jedem einen Akt von Pornodarstellerin Michaela Schaffrath, Pseudonym: Gina Wild. Bei Pascal angelangt, sagte er: »Wenn ich eine Frau wäre, dann hätte ich solche Titten wie die da auf dem Bild.« Der lehnte sich mit einem Stöhnen in seinen Stuhl zurück und erwiderte: »Wenn ich eine Frau wäre, wüsste ich schon, was ich den ganzen Tag machen würde.« Dabei stöhnte er laut auf, befingerte unmissverständlich seinen Oberkörper und warf mir zweideutige Blicke zu. Schleimer. Ich ignorierte ihn, lackierte weiter meine Fingernägel. Im Hintergrund hörte ich, wie Hartmut lautstark mit einem Makler über eine Immobilie in Spanien diskutierte. Hatte er dort nicht schon eine? Aber er konnte ja nie genug davon bekommen. Florian sprang unvermittelt auf und versuchte besser zu sein als Bob Marley. Er sang »No Woman No Cry«, ohne auch nur einen einzigen Ton zu treffen. Gregor, ein weiterer Händler in meiner Nähe, Fußballfreak und Typ kleiner Diktator, fing plötzlich an, in den Gängen herumzugehen. Mit angestrengter Miene schrie er: »Wer hat 1966 das Tor geschossen, mit dem die Weltmeisterschaft entschieden wurde?« Niemand antwortete, die meisten waren zu dieser Zeit nicht einmal geboren oder trugen gerade Kinderschuhe.
»Ich habe gefragt, wer 1966 das Tor geschossen hat, mit dem die Weltmeisterschaft entschieden wurde?« Gregor brüllte fast. Waren die denn alle verrückt geworden? Es musste an der Hitze liegen, dachte ich, als ich mir die Szenerie betrachtete. Einzig Jürgen schien noch vernünftig zu sein. Er war in seine Bildschirme vertieft und analysierte Positionen. Einige zuckten mit den Schultern, schließlich sagte Vincent gelangweilt: »Weber.« »Ihr seid doch alle unfähige Idioten. Das war Hurst. Geoff Hurst, ein Engländer. England hat das Finale gewonnen.« Nachdem er sein Wissen losgeworden war, setzte er sich wieder auf seinen Platz und arbeitete weiter, als wäre nichts gewesen. Gregor wohnte im Taunus, trieb sich aber gern bis in den Morgengrauen in den Frankfurter Bars herum. Er mietete sich dann im Hilton ein, duschte und kam im selben Anzug wieder zur Arbeit. Der Blick wirr, riesige Fahne. War er gleich mehrere Abende on tour, kaufte er sich zwischendurch in einem Boss-Laden einen neuen Anzug. Mein Nagellack schien trocken zu sein, es war Zeit, diesem verrückten Kindergarten zu entkommen, noch nicht wissend, dass der eigentliche Wahnsinn erst eintreten sollte. Nur wenig später. Ich nahm meine Tasche und verschwand zu meinem Kundentermin nach Düsseldorf. Als ich an Pascal vorbeiging, konnte ich es mir nicht verkneifen, ihm noch eins auszuwischen: »Wenn ich ein Mann wäre, würde ich nicht so ruhige Kugeln schieben.« Ohne auf seine Reaktion zu warten, setzte ich meinen Weg Richtung Ausgang fort. Was dann geschah, bekam ich erst am Nachmittag mit, als das Kundenmeeting unterbrochen wurde. Man berichtete uns das Un-fassbare: Flugzeuge waren in das World Trade Center gerast. In einem Nebenraum starrten wir in einen Fernseher, vor dem sich viele Menschen versammelt hatten. Niemand sagte ein Wort. Meine ersten Gedanken: Was war jetzt im
Handelsraum los? Warum war ich nicht dort? Es musste die Hölle sein. Vor meinen Augen sah ich, wie Kurse stürzten, unsere Händler sich für einen Hardcore-Handelstag wappneten. Erst dann dämmerte mir, was das alles für die Menschen bedeutete. Am Abend, als ich wieder in Frankfurt war, rief ich Vincent an, mit dem ich sehr gut auskam. Ich wollte mich mit ihm treffen, wollte mehr darüber erfahren, was in den letzten Stunden im Handelsraum passiert war. Bislang hatte ich noch nicht miterlebt, wie Kurse und Katastrophen zusammenhingen. Vincent kam einige Stunden nach Börsenschluss zu mir nach Hause, einen pünktlichen Feierabend hatte es nicht gegeben. Ich saß ich vor dem Fernseher und hatte mir seit meiner Rückkehr in die Wohnung wie in einer Endlosschleife die Bilder des Grauens in den Nachrichten- und Börsensendungen angeschaut. Mein Kollege wirkte müde, seine rötlichblonden Haare waren noch feucht, er hatte wohl gerade geduscht und sich Jeans und ein frisches Shirt angezogen. Den Fernseher schalteten wir auf stumm, um sofort wieder den Ton einstellen zu können. »Ich hätte den Tag gern im Handelsraum erlebt«, fing ich das Gespräch an. »Den werdet ihr bestimmt nicht so bald vergessen. Dabei träumten doch alle nur davon, möglichst schnell am Main zu sitzen und ein kaltes Bier zu trinken.« »Es war furchtbar«, berichtete Vincent. »Plötzlich schrie Hartmut auf: ›Flugzeugabsturz in New York auf Reuters.‹ Die spaßhafte Atmosphäre war augenblicklich vorbei, alle versammelten sich vor den Fernsehgeräten, guckten CNN. Da war das Flugzeug der American Airlines in den Nordturm des World Trade Center eingeschlagen. Die erste Reaktion kam von Gernot: ›Das sieht nach einem Unfall aus‹, sagte er. ›Das wird keine gravierenden Auswirkungen auf das
Handelsgeschehen haben. Nicht wie damals das Erdbeben in Kobe.‹ Er hatte sich mächtig getäuscht.« »Und was geschah dann?« »Pascal rief uns zu, dass der DAX-Future aber um 20 Punkte eingebrochen sei. Er war auch in dieser Situation vor seinen Monitoren sitzen geblieben. Wir alle waren nervös, wussten nicht, wie wir das einzuschätzen hatten.« »Sprach einer über die Toten, die Menschen, die sich in dem Flugzeug und in dem Wolkenkratzer befanden?« »Anne, langsam müsstest du uns kennen. Nachrichten sind für uns nur insoweit bedeutsam, als sie zu unseren Positionen und Marktansichten passen. Jeder dachte einzig an die Auswirkungen für die Börse, ob man dadurch vielleicht sogar Gewinne machen könnte.« »Eine schlechte Nachricht kann dadurch zu einer guten werden«, konstatierte ich zynisch. »Die nächste Info kam dann wieder von Pascal. Er meinte, der DAX-Future hätte sich wieder erholt. Es gehe nur noch um marginale Abweichungen. Das ließ uns alle aufatmen, vielleicht konnten wir wirklich rechtzeitig den Handelsraum verlassen. Das änderte sich schlagartig, als nach dem ersten Crash die Boeing in den Südturm raste. Von diesem Moment an überstürzten sich die Ereignisse. Bevor CNN die ersten Analysen verbreitete, reagierten die Märkte. Der DAX-Future, der um kurz nach drei Uhr noch bei 4720 Punkten lag, befand sich in der nächsten Minute im Sturzflug.« Kein Wunder: Die kapitalistische Weltordnung, die sich in den Vereinigten Staaten in den beiden Türmen des World Trade Center manifestierte, war angegriffen worden. Es war klar, dass sich das auf die Börsenkurse auswirken musste. »Während die ersten TV-Kommentare von einem ›abscheulichen terroristischen Akt‹ sprachen, liefen wir zu unseren Plätzen«, fuhr Vincent fort, während er auf die
tonlosen Fernsehbilder schaute. »›Wer jetzt nicht Short ist, hat selbst Schuld.‹ Pascal verkündete seine Kampfansage. Zusammen mit seinem Mitarbeiter Maik saßen sie in den folgenden Stunden schweigend vor ihren Bildschirmen und bauten wie die Raubtiere enorme Short-Positionen im DAXFuture aus dem Nichts auf. Mit diesen hochspekulativen Positionen wetteten sie darauf, dass der Markt weiter fallen würde. Ihre Augen glänzten – nicht vor Trauer oder Betroffenheit, nein, es war die pure Gier, die in ihnen leuchtete. Mit jedem Punkt, den der DAX in der allgemeinen Panik verlor, wuchsen ihre Gewinne.« »Und reagierten unsere Großkunden in der Sales-Abteilung, die Versicherer, die Fondsmanager sofort?« »Nur wenig später. Die Telefonate klingelten plötzlich ununterbrochen. Sie waren auf einmal mit Risiken konfrontiert, die sie sich vor wenigen Stunden noch in ihren schlimmsten Szenarien nicht vorstellen konnten. Jeder versuchte verzweifelt, seine Portfolios abzusichern. Es war grotesk, aber jeder der Sales-Leute handelte an diesem Nachmittag ein Volumen von mehreren Hundert Millionen Euro stündlich im Future.« Und ich war nicht dabei gewesen. Nochmals bedauerte ich das. Wie gern hätte ich den Paniktag erlebt. Normalerweise wurden an der Terminbörse EUREX stündlich mehrere Hundert Millionen Euro gehandelt, nun hatte man nahezu das Doppelte in derselben Zeit in den Markt geprügelt. Ich konnte es mir vorstellen: Die Verkäufer hatten den Markt dominiert und ihn dadurch nach unten gerissen. Käufer wird es kaum gegeben haben. »Sie waren wie die Lemminge, einer rannte dem anderen hinterher. Herdentiere durch und durch.« Vincent nickte. »Der schnelle Markt zwang viele Investoren, ihre Orders unlimitiert auf den Markt zu werfen, also egal zu
welchem Preis.« Normalerweise setzte man sich ein Limit. Unlimitierte Future-Orders galten unter Händlern als Akt der Verzweiflung, prinzipiell wurden sie nur in einer Zwangslage getätigt, ähnlich wie bei Hausbesitzern in Not, die ihr Eigentum in einer Versteigerung weit unter Wert verkaufen müssen. Ein solcher Umstand war durch die Terroranschläge gegeben. »Unter uns verbreitete sich dagegen eine besondere Stimmung. Was zählte, waren die Handelsgewinne und die Provisionen. Vor der morbiden Kulisse der Anschläge wirkte es fast pervers, was wir machten. Immerhin konnten wir durch einen solchen Tag unseren Jahresbonus um eine beträchtliche Summe steigern.« Klar, denn mit jeder gehandelten Million konnten sie gewaltige Kommissionen verbuchen, die sie den Kunden in Rechnung stellten. »Zuerst explodierte der Ölpreis«, berichtete Vincent weiter. »Das hatte mit der Vermutung zu tun, arabische Terrorzellen steckten hinter den Anschlägen. Der Handel an der Londoner Ölbörse IPE musste sogar zeitweilig eingestellt werden – die exorbitant hohen Handelsvolumina hatten das elektronische Handelssystem der IPE überlastet. Gegen vier Uhr stürmte Marc in den Handelsraum und brüllte: ›Alle Deltas eindecken, und zwar sofort. Befehl von ganz oben.‹« Damit meinte Jander den Vorstand der Bank. Während Menschen versuchten, Stockwerk für Stockwerk aus den Zwillingstürmen nach unten zu kommen, um ihr Leben zu retten, hatten unsere Händler die Aufgabe, »alle Deltas einzudecken«. Das bedeutete, dass sie es den Fondsmanagern gleichtun und alle Long-Positionen augenblicklich auf den Markt werfen sollten. Wie ferngesteuert mussten die Händler den Befehl ausgeführt haben, noch bevor der Nordturm des World Trade Center ins Wanken geriet. Dass die großen Positionen abgebaut wurden, besagte keineswegs, dass andere in Derivaten oder Volatilitäten (besonders nachdem das zweite
Flugzeug in das WTC gesteuert war) untersagt waren. Von einem guten Broker wurde unausgesprochen erwartet, die händlerischen Chancen eines solchen Tages zu nutzen. Ich fragte mich, was ich getan hätte. Hätte ich die Chancen genutzt? Oder wäre ich vor Schock gelähmt gewesen? Vincent fragte nach einem Bier. Während ich eines aus dem Kühlschrank holte, schaltete er kurz den Ton des Fernsehers an. Zusammen hörten wir den Kommentaren von mehreren Reportern zu, bis mein Kollege wieder den Ton wegdrückte. »Pascal und Maik beendeten irgendwann ihr Schweigen. Laut begannen sie nun zu überlegen: War der letzte Verkäufer schon am Markt und somit der Zeitpunkt gekommen, die Short-Positionen, die sie geistesgegenwärtig eingegangen waren, einzudecken?« Mit dem Auflösen dieser Positionen würden sie gewaltige Gewinne realisieren, die ihnen die Panik der anderen Marktteilnehmer beschert hatte. Mit jedem Punkt, den der DAX in der Zwischenzeit gefallen war, vergrößerte sich ihre Ausbeute. Sollte er wieder nach oben gehen, würde sich ihr Gewinn verringern – dazu durfte es nach Ansicht der beiden erst gar nicht kommen. Ich wusste immer besser, wie sie tickten. Vincent erzählte weiter: »Kurz nach vier hatte der DAX mehr als zwölf Prozent seines Wertes verloren und 52 Milliarden Euro an Marktkapitalisierung vernichtet. Ein Irrsinn. In diesem Moment betrat Friederike den Handelsraum« – Friederike war eine Sachbearbeiterin aus dem Back Office – »und sagte mit Tränen in den Augen: ›So etwas Grausames können die doch nicht tun. Das können keine Menschen sein, das müssen Monster sein. All die unschuldigen Opfer… ich kann es nicht fassen.‹ Doch Pascal brüllte nur: ›Schnauze! Ruhe hier!‹ Gernot erklärte ihr die Situation, faselte etwas davon, dass jedes Jahr allein in Deutschland über 5000 Menschen durch
Autounfälle ums Leben kamen. Und dass wir aus der Story richtig Kohle machen könnten.« »Und wie reagierte sie?« »Friederike schaute uns nur entgeistert an. Dann drehte sie sich um und verließ den Handelsraum. Wir hatten sie aber sofort vergessen und kümmerten uns ums Business. Hartmut hatte anscheinend sämtliche Deltas auf den Markt geworfen, denn er saß vor seinem Computer, ohne mit seinen Händen die Tasten zu bewegen. Er kam mir wie ein Piranha vor, der unter der Wasseroberfläche auf seine Opfer lauerte. Aber welche sollten das sein? Waren die ersten Minuten nicht die wichtigsten gewesen? Später begriff ich Hartmuts Strategie: Er wollte den Punkt des allergrößten Entsetzens abwarten, um genau auf diesem makabren Höhepunkt Volatilitäten im großen Stil zu verkaufen. Denn: In dem Maße, in dem sich Unsicherheiten an den Aktienmärkten massiv durchsetzten, stieg die implizite Volatilität der gehandelten Optionen Prozentpunkt um Prozentpunkt – und neunzig Minuten nach Beginn der Katastrophe erklomm sie historische Höchststände. Hartmut wäre nicht Hartmut, wenn er nicht um die Verlaufskurven bei Panik Bescheid wüsste.« Seine Taktik war einleuchtend: Wenn es ihm gelang, auf dem Gipfel des Entsetzens mit Volatilität zu spekulieren, also über Optionen zu Höchstpreisen zu verkaufen, konnte er sich vermutlich schon wenige Tage später wieder mit Volatilität eindecken, aber nun zu Dumpingpreisen. Dadurch würde er Gewinne realisieren, die für ihn unter normalen Marktbedingungen Wochen oder sogar Monate mühsamer Arbeit bedeutet hätten. Wieder wurden die Bilder im Fernsehen gezeigt: wie die riesigen Stahlkonstruktionen einstürzten, Menschen aus Verzweiflung in großer Höhe aus den Fenstern und damit in
den sicheren Tod sprangen, Feuerwehrleute bis zur Erschöpfung arbeiteten. Vincent nahm einen großen Schluck von seinem Bier. »Diese Aufnahmen liefen auch, bevor Hartmut in Aktion trat. Er hatte seine Order vorbereitet, sein dir ja bekannter emotionsloser Blick pendelte zwischen den Bildern der Tragödie und seinen Handelsmonitoren. Es fehlte nur noch, dass er sagte: ›Springt ruhig weiter, ihr gebt mir gute Vola.‹ Aber es war der Moment, in dem er zuschlug. In wenigen Sekunden war die Order abgewickelt: Vola verkaufen über Short-Positionen, und zwar im Volumen von mehreren Millionen. Anschließend lehnte sich Hartmut verschwitzt und mit einem fast irren Blick in seinen Stuhl zurück.« Wenn er einen Raubtierzug beendet hatte, verschränkte er seine Hände am Hinterkopf, die Beine lang unter seinem Tisch ausgestreckt. »Er wusste, er hatte sein Möglichstes getan, um diesen Tag profitabel zu gestalten. Auf seinen Bildschirmen zeigten sich ganze Volatilitätsgebirge. Die Alpen oder der Himalaja kamen dagegen nicht an. Pascal und Maik hatten jedoch trotz aller Konzentration den Tiefpunkt im DAX-Future verpasst. Um ihre Short-Positionen einzudecken, warteten sie auf einen erneuten Ausbruch von Panik. Sie mussten nicht lange warten. Als bekannt wurde, dass die vermisste American-AirlinesMaschine auf das Pentagon in Arlington zuflog, war ihre Stunde gekommen. Noch mehr unlimitierte Aufträge wurden auf den Markt geworfen, die beiden deckten sich mit überaus günstigen Futures ein.« Mit Short-Positionen in den Optionen würden sie sich in den nächsten Tagen wieder billig eindecken, wenn die Vola gesunken war. Teuer auf dem Gipfel der Panik verkaufen und dann später, wenn sich die Lage wieder beruhigt hatte, billig wieder eindecken. »Als sämtliche Kauforders ausgeführt waren«, erzählte Vincent nun, »grinsten Pascal und Maik sich befriedigt an und lehnten sich zurück.« Kein
Wunder, sie hatten für die Bank auch Gewinne in Millionenhöhe gemacht. »Wow, das war ein Tag.« Wieder ärgerte es mich, dass ich diesen Kundentermin gehabt hatte. Gleichzeitig kam mir der Gedanke, dass es doch eigentlich ein Wahnsinn sei, mit Attentaten an der Börse zu jonglieren. Vincent sagte mir, als ich ihm diese Überlegung mitteilte: »Märkte kennen keine Gefühle. Die Welt geht ihren Lauf, und wir sind schließlich dazu da, Geld zu verdienen.« Ich gab ihm recht. Wie all meine Kollegen war ich von einem Virus infiziert, dem Virus Geld. Das nächste Mal wollte ich unbedingt dabei sein, wenn die Witterung aufgenommen wird, um an das ganz große Geld zu kommen. Auch ich wollte ein Raubtier sein und im richtigen Augenblick zuschlagen. Das jedenfalls glaubte ich damals.
8
Kreative Konstrukte
Doch wollte ich wirklich unter den Autisten arbeiten? Eigentlich fühlte ich mich unter den Sales-Leuten wohl. Die meisten der Derivate-Händler hatten ihre Gefühle vollkommen durch eine Liebe zum Geld substituiert. Frauen waren so austauschbar wie Handelspositionen, ganz gleich, ob es sich um Ehefrauen oder Freundinnen handelte. Sie lebten für ihre Positionen, ihre Boni und ihren Zynismus. Wenig übertrieben gesagt: Sie waren eigentlich nicht mehr so, wie man sich einen Menschen vorstellte. Geld konnte ich hier zwar verdienen, aber wollte ich mein Leben lang eingepfercht zwischen ihnen verbringen, vor einer Wand von Computerbildschirmen? Wollte ich mich ihrem Konkurrenzverhalten unterordnen? Das wäre unvermeidbar gewesen. Rebellen wurden in der Affenherde nicht geduldet. Ein wenig kamen mir die Händler vor wie die beiden Brüder in Michel Houellebecqs Roman Elementarteilchen: einerseits emotionslose Genies, andererseits sexbesessene Perverse. Die Sales-Händler, mit denen ich bislang zusammengearbeitet hatte, erschienen mir angenehmer als Broker wie Hartmut, Pascal oder Florian. Sie wirkten auf mich nicht ganz so abgewrackt, doch auch sie waren Sklaven ihrer Gier. Trotzdem: Keinen der Händler hätte ich als glücklich und ausgeglichen bezeichnen können, eigentlich mochten sie nicht einmal ihren Job. Bei den Sales-Kollegen hatte ich einen anderen Eindruck gewonnen. Also entschied ich mich, weiter in diesem Bereich zu agieren. Mehr und mehr verstand ich auch die Möglichkeiten, die es im
Sales-Bereich gab. Puts und Calls waren nur einfache Derivate, mit denen Fondsmanager ihre Portfolios absichern oder ihre Portfoliorendite aufbessern konnten. Viel spannender waren aber jegliche Formen der exotischen Derivate, mit denen man sich richtig austoben konnte. Sie wurden uns zeitweilig in Milliardensummen aus den Händen gerissen, so dass wir mit dem Strukturieren und Ausdenken neuer Phantasieprodukte kaum noch hinterherkamen. Jedes dieser Produkte bescherte der Bank einen Profit in Millionenhöhe, als schlechte Deals galten jene im sechs- oder gar fünfstelligen Bereich. Die Privatanleger lernten die Produkte natürlich nicht als hochriskante exotische Derivate kennen. Der nette Herr Meier oder die seriöse Frau Müller von der Anlageberatung einer Hausbank veräußerten sie für uns unter dem Mäntelchen der »Garantieanleihe« oder als »Classic Zertifikat« – selbstverständlich als sichere und profitable Anlage. Die Hotline, die wir für Privatanleger unterhielten, war entweder gar nicht oder nur mit Praktikanten besetzt, die uns mit den uns idiotisch erscheinenden Fragen und Anliegen eben jener Privatanleger unterhielten. Ob die Produkte sinnvoll waren, interessierte keinen von uns. Nur gut, dass Herr Meier und Frau Müller selbst keinen blassen Schimmer von dem hatten, was sie den braven Sparern in unserem Auftrag in die Depots für ihre Alterssicherung legten. Sie taten uns einen großen Gefallen, denn selbst die Härtesten von uns hätten es niemals geschafft, einen Privatanleger von der Sinnhaftigkeit strukturierter und exotischer Derivate zu überzeugen. Wir hätten uns wahrscheinlich nur vor Lachkrämpfen geschüttelt. Institutionelle Anleger, also etwa die Fondsmanager, waren den Privatanlegern ein kleines Stück voraus. Sie kauften nicht so abgefahrene Strukturen wie die Privatanleger – aber mit
dem richtigen Rahmenprogramm war auch bei ihnen einiges möglich. Besonders reizvoll fand ich beispielsweise Kreditderivate. Einer unserer institutionellen Kunden hatte Anleihen von sehr vielen Automobilwerken, nicht nur von deutschen, sondern auch von amerikanischen und japanischen. Ingesamt handelte es sich um ein Volumen von mehreren Hundert Millionen Euro. Mulmig wurde ihm, weil die Automobilbranche ein immer wiederkehrender Wackelkandidat war – schließlich hing sein Job von der Performance seiner Anlagestrategie ab. Da weltweit die halbe Branche im Dominoeffekt zusammenbrechen und pleitegehen konnte – der 11. September hatte das in Ansätzen gezeigt –, saß er auf einem relativ großen Ausfallrisiko der Anleihen. In Zeiten, in denen ihm dieses zu hoch schien, kam er zu mir, um die Ausfallrisiken loszuwerden. Calls und Puts waren ja eine Strategie, um Aktienportfolios zu optimieren. Bei Portfolios aus Anleihen existierten andere Strategien. Ein Derivateprodukt etwa nannte sich Credit Default Swap (CDS): ein Kreditderivat zum Handeln von Ausfallrisiken von Krediten, Anleihen oder Schuldnernamen. Der weltweite Markt für Kreditderivate umfasste 2008 ein Volumen von 47 Billiarden US-Dollar. Das weltweite Bruttoinlandsprodukt, also die globale Wirtschaftsleistung innerhalb eines Jahres, betrug 2004 dagegen rund 31,5 Billiarden US-Dollar. Das zeigt, welche Ausmaße die globale Finanzwirtschaft inzwischen angenommen hat – und weshalb das Depot eines einzelnen Anlegers für einen Investment-Banker wirklich nur eine Fußnote darstellte. Nach dem Kollaps im Herbst 2008 war übrigens CDS für die Finanzaufsicht BaFin ein Milliardenschock – ihre Bedeutung hatte man bislang unterschätzt. Banker dachten über systemische Krisen nicht nach, solange man mit bestimmten
Strategien Geld verdienen konnte. Sollten doch andere die Polizei spielen. Wie viele CDS in diesem Fall von welchen Institutionen gehalten werden und auf welche Unternehmensanleihen oder Kreditpakete sie lauten, weiß man bis heute kaum – die Branche arbeitete schließlich komplett unbeaufsichtigt. Um Credit Default Swaps einzugehen, zahlte der institutionelle Kunde einen Anteil seiner Zinsen aus seinen Anleihen (Fixed Leg) an meine Bank. Dafür übernahm die Bank alle Kreditrisiken aus diesen Anleihen. Im Grunde war das für den Kunden wie eine Art Versicherung. Sollten Firmen wie Daimler, General Motors oder Mitsubishi ihre Anleihen nicht mehr zurückzahlen können, besaß er ein Derivat, das ihm die Sicherheit gab – und bei einer möglichen Insolvenz würde unsere Bank einspringen. Im Grunde war das ein irrsinniges Wagnis, denn nun saßen wir auf diesen Risiken. Weil man sie in den eigenen Büchern nicht halten wollte, sie aber nicht vollkommen verschwinden lassen konnte, versuchte man sie zu neutralisieren – vom Prinzip her ein ähnlicher Vorgang wie derjenige, den ich in meinen ersten Handelstagen mit dem ODAX-Hedge vorgenommen hatte. Unsere Händler konnten die Risiken natürlich auch am Brokermarkt an andere Banken weiterverkaufen, aber damit holten sie sich nur wieder neue Kontrahenten- und Kreditrisiken ein. Gerade Kreditrisiken wurden in Milliardenhöhe zwischen den Banken gedealt. Zum Schluss wusste keiner mehr, wer welche Risiken hatte und wie viele neue dazugekommen waren. Ein Kartenhaus, das schnell zusammenstürzen konnte. Was also sollte man tun? Es bot sich an, das Risiko zu streuen.
Das gelang am besten, wenn man diese und andere abgefahrene Risiken einfach wieder weiterverkaufte – und zwar mittels exotischer, flexibler oder superkreativer Konstrukte. Da es bei Derivaten diesbezüglich keine Vorschriften gab, der Gier nach Geld keine Grenzen gesetzt waren, besaß man die Chance, sich alles Mögliche auszudenken. Wichtig war allein, dass man es noch irgendwie berechnen konnte. Das gehörte zu den Aufgaben der Physiker und Mathematiker unserer Bank, der Rocket Scientists, wie sie auch genannt wurden. Diese »Genies« mussten für die neu von uns strukturierten Derivate und Optionen Formeln erfinden und sie entsprechend programmieren. Derweil konnte man als Sales-Händler die CDS und andere Risiken weiterverkaufen, etwa an einen institutionellen Anleger in Liechtenstein, in der Schweiz oder sonst wo auf der Welt. Wobei diese Kredite natürlich nicht als CDS sichtbar gemacht wurden, die ursprünglichen Risiken also nur noch schwer erkennbar waren. Diese nahmen eine völlig neue Gestalt an, kamen beispielsweise als verbrieftes Wertpapier daher, also als ein völlig seriöses Produkt. Man konnte aber auch verschiedene andere Instrumente beziehungsweise Vehikel wählen: Inhaberschuldverschreibungen, Schuldscheine oder Anleihen, die alle auf dem ursprünglichen Swap beruhten. Ein Teil ließ sich auch an eine Zweckgesellschaft auf den Cayman Islands verkaufen, die aller Wahrscheinlichkeit nach wieder neue Finanzprodukte darauf konstruierte. Mit anderen Worten: Letzten Endes würde niemand mehr in der Lage sein, nachzuverfolgen, welchen Weg die Risiken genommen hatten. Potenzieren konnte sich die Gefahr, wenn Spekulanten auf die Bank zukamen und Risiken kaufen wollten, obwohl die Bank gerade gar keine aus einem Portfolio zur Verfügung hatte. In einer solchen Situation durfte ich den Handelspartner nicht abweisen oder auf die Zukunft vertrösten, sondern
musste ihm dennoch das Gewünschte anbieten. Möglich wurde dies, indem ich auch in diesem Fall Phantasieprodukte konstruierte, die Risiken schufen. Klar, dass sich diese auf solchen Derivaten, Swaps oder verbrieften Instrumenten noch schwieriger nachkontrollieren ließen. Inzwischen sind die globalen Finanzmärkte so liberalisiert, dass nicht mehr nachzuvollziehen ist, wer »reale Risiken« besitzt und wer Phantasierisiken, und wie viele Billionen an Kreditrisiken durch den Ringelreigen mit den ursprünglichen Risiken geschaffen wurden. Eine Nachprüfung scheitert in allererster Linie deshalb, weil es keine globale Aufsicht oder Datensammelstelle gibt. Mit diesen konstruierten Finanzstrukturen ließen und lassen sich durch den Weiterkauf Risiken multiplizieren – auf jeden Fall können mehr entstehen, als am Anfang vorhanden waren. Das Resümee meines oben angeführten Beispiels: Aus einer eigentlich reellen und sinnvollen Grundlage – Absicherung von Autoanleihen oder anderen Instrumenten in einem Portfolio – war ein hochgefährliches Finanzinstrument geworden. Den Spekulanten – Hedgefonds oder Eigenhandelsabteilungen von anderen Banken – war das nur recht. Hauptsache, es gab eine gute Rendite. Sie kauften die Risiken – etwa aus den Autowerten –, weil sie in ihren Augen überbewertet waren. Nach dem Motto von Warren Buffett: »Kaufe einen Dollar, aber zahle nie mehr als 50 Cent dafür.« Sie schätzten die Situation anders als der Markt ein, waren davon überzeugt, dass die Risiken in dieser Phase gerade überbewertet waren. Was sich hier wie Schwarze Magie anhören mag, ist Teil der Finanzkrise, die im Herbst 2008 ausgelöst wurde – zumindest strukturell. Auch hier wurden Risiken, mit denen man handelte – in diesem Fall aber nicht auf Autoanleihen, sondern aus US
Hypothekenkrediten –, wieder und wieder verbrieft und weiterverkauft, so dass die Derivate immer komplexer, vielschichtiger und undurchschaubarer wurden. Und diese fehlende Transparenz hatte auch damit etwas zu tun, dass es für all diese Kreditderivate keine Börse gab, sie wurden immer nur OTC gehandelt, »über dem Tisch«, also außerbörslich, mithin zwischen zwei »privaten« Kontrahenten, zwei Banken. Bei der Insolvenz von Lehman Brothers hatte sich zudem gezeigt, wie gefährlich die Domino-Effekte bei Kreditrisiken sind, wenn einer der Counterparts plötzlich nicht mehr existiert. Viele andere Geldinstitute und Bankhäuser waren davon betroffen, weil sie Geschäfte mit Lehman eingegangen waren. Als Lehmann sich im Abgrund wiederfand, konnte nichts zurückbezahlt werden, weil die Bank eben nicht mehr existierte. Das lähmte 2008 die Kreditmärkte unter den Banken und rief die Regierungen mit den größten Rettungs- und Bürgschaftsprogrammen, die die Welt je gesehen hat, auf den Plan. Natürlich gibt man einem anderen Geldinstitut nicht vorbehaltlos einen Kredit oder geht einen Swap mit ihm ein. Jede Bank hat Kreditabteilungen mit einer Reihe von Kreditanalysten, die Kreditlinien, also maximale Kreditsummen, für andere Geldinstitute festlegen. Bei diesen werden die Angaben von sogenannten privaten Ratingagenturen, die die Kreditwürdigkeit von Banken (und auch Unternehmen) bewerten, zugrunde gelegt. Wer ein Triple-A bekommt (AAA), hat höchste Bonität. Einer Bank, die ein einfaches A erhalten hat, wird auch nur eine kleinere Kreditlinie zugestanden. Noch schlechter sind B- und CBewertungen, ein D steht für Zahlungsunfähigkeit. Die von den Kreditabteilungen unserer Bank ausgearbeiteten Kreditlinien benutzten auch wir, wenn wir von einem anderen Geldhaus Risiken kauften, um beispielsweise mit ihnen zu
hedgen. Bei einem Volumen von 300 Millionen Euro hatte man also ein Kreditrisiko von 300 Millionen Euro gegen diese Bank – und konnte nur hoffen, dass das Geld in dem ausgemachten Zeitrahmen wieder zurückbezahlt wurde. Lehman Brothers hatte kurz vor der Pleite ein Single-A gehabt, was unter »Investment Grade« läuft, das heißt: Seriösen Anlegern wurde noch in dieser Zeit zu einem Investment in Lehman geraten. Im Nachhinein betrachtet eine völlig falsche Einschätzung. Rating-Agenturen sind übrigens genauso wie Wirtschaftsprüfer durch die Unternehmen und Banken finanziert, die sie bewerten sollen. Mit dem römischen Dichter Juvenal stellt sich da die Frage: Quis custodiet ipsos custodes? Wer bewacht die Wächter? Aber es ging noch weiter mit allen nur möglichen Verrücktheiten beim Strukturieren von Derivaten. Man konnte auf Zinsstrukturkurven, Zehn-Jahres-Zinsen, auf Korrelationen zwischen einzelnen Aktien, Inflation, Zinsen, Öl- und Goldmärkte wetten. Und alle kauften – viele ohne einen blassen Schimmer davon zu haben. Entscheidend war dabei der Begriff der Korrelation. Man kann etwa Beziehungen zwischen Kriminalitätsrate und Arbeitslosigkeit in bestimmten gesellschaftlichen Schichten berechnen – als Basis für politische und soziale Konzepte. Das ist ein sinnvolles Unterfangen. Eine solche nachvollziehbare Logik ist unter Brokern aber nicht immer gegeben. Sie stellten die seltsamsten Regeln auf: Wenn Autoaktien fallen, dann fallen auch Chemieaktien. Oder: Wenn der Goldpreis sinkt, fallen die Zinsen. Solange sich aber irgendetwas noch irgendwie berechnen ließ, konnte man es auch handeln. Doch was hieß das schon? Natürlich existieren mathematische Modelle, mit denen man faire Preise bestimmen kann und von denen jeder behaupten würde, diese seien gut oder sogar gesund. Wendet man sie an, um damit
Derivate zu modulieren, insbesondere die exotischen, ausgedachten, fängt es jedoch an, problematisch zu werden. Da im Grunde niemand die genauen Werte kannte, konnten die allenfalls mit Hilfe der Modelle – egal, ob man sie als gut oder schlecht einschätzte – erahnt werden. Und da die Input-Daten von den Händlern geliefert wurden, die im Zweifelsfall auch ohne Detailwissen agierten, war der letztlich bestimmte Preis eigentlich kein Preis – oder ein Preis, den man weder als falsch noch richtig bezeichnen konnte. Manchmal versuchte man, einen Preis zu gestalten, indem man bei anderen Banken anrief, um festzustellen, wie deren Rocket Scientists vergleichbare Produkte bewerteten. Damit besaß man eine kleine Rückversicherung. Aber immer funktionierte das auch nicht. Und die Garantie, dass die befragte Bank eine reale Grundlage für ihre Bewertung hatte, war auch nicht wirklich gegeben. Mithin galt es also mehr oder weniger zu erraten, wie die Preise der exotischen Optionen ausfielen – weshalb sie eigentlich auch fast wie Wetten beim Pferdrennen waren. Nach einigen Drinks beichtete Pascal mir einmal, dass sein milliardenschweres Handelsbuch ein einziges großes Wettbüro sei: Er konnte nur hoffen, dass sich Gewinne und Verluste aus den exotischen Optionen in etwa ausglichen, zum Glück könne er ja über die verschiedenen Bewertungsparameter seinen P und-L-Report unter Kontrolle halten. Eine erstaunliche Welt tat sich vor mir auf: Was konnte man nicht alles kreieren, und wie sorglos ging das Risikomanagement der Banken damit um! Über die Auswirkungen dachte damals keiner ernsthaft nach. Never change a running system. Und die Abgründe taten sich erst langsam für mich auf.
9
Besser als Sex
»Ich finde, du solltest zum Fernsehen, Anne« strahlte Hartmut mich eines Tages an. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er etwas von mir wollte. »Worauf willst du hinaus?« »Du weißt doch, bei n-tv und Bloomberg brauchen die immer Leute von den Banken, um Berichte über die Börse und Märkte abzuliefern.« »Und nun denkst du, weil sonst hier keiner Lust dazu hat, ich könnte das machen.« »Ist doch auch mal ganz interessant, wenn eine Frau sagt: ›Wir erwarten heute die Zinsentscheidung der amerikanischen Fed‹ oder ›Der DAX wird sich nicht behaupten können, er notiert vorbörslich 50 Punkte tiefer, die Vorgaben aus Tokio und New York waren schlecht.‹« Hartmut fingerte eine Zigarette aus einem schwarzem Lacketui. »Ein bisschen roten Lippenstift auftragen – und schon klingt es viel schöner, wenn du in die Kamera flötest, mit was für Zahlen die Telekom aufwarten kann.« »Vincent hat wohl keine Lust mehr?« Broker aus den verschiedensten Banken traten im Fernsehen auf, um das Marktgeschehen an der Börse zu analysieren und kommentieren, mein Kollege hatte das in letzter Zeit übernommen. Als ich ihn das erste Mal im Fernsehen sah, dachte ich, es müsste toll sein, auch einmal so etwas machen zu können. Doch mit der Zeit fand ich heraus, dass niemand diese Arbeit wirklich übernehmen wollte.
Zudem irritierte es mich, dass die Kollegen, die sich sonst mit Zynismus und dreckigen Witzen überboten, im Fernsehen plötzlich den charmanten Banker gaben. Dennoch: Die meisten Broker hatten kein Interesse daran, ihr Gesicht auf dem Bildschirm zu sehen, für sie bedeutete es nur Zeitverschwendung. Wenn sie im TV auftraten, konnten sie keine Millionen verdienen, keine großen Tickets. Es gab natürlich immer wieder ein paar Selbstdarsteller, die in erster Linie ihre Freundinnen oder andere Opfer mit ihren Medienauftritten zu beeindrucken glaubten. Bei Kollegen schafften sie es definitiv nicht. »Unser Moviestar Vincent hat keine geilen Krawatten mehr, und seine Tommy-HilfigerShirts kann auch keiner mehr sehen. Also, ab nächste Woche übernimmst du den Job.« Das war keine Frage mehr, sondern ein Befehl. Hartmut war auch schon längst wieder an seinem Platz. Befehlen musste man auch widersprechen können. Ich wusste, dass meine Freundin Lilly für ihre Bank im Fernsehen auftrat, also rief ich sie an, um sie zu fragen, ob ich sie nicht einmal begleiten könnte. Lilly war sofort einverstanden: »Komm morgen vor Handelsbeginn in meine Bank, dann ist die nächste Sendung.« Da Broker nicht stundenlang zu irgendwelchen Fernsehsendern reisen konnten, hatte jede größere Bank in Frankfurt ein eigenes kleines Studio – eigentlich ein ganz normaler Raum, in dem zur verabredeten Aufnahmezeit Kamera- und Tonmann erschienen. Die Aufzeichnung wurde dann beim Sender mit einem Bild aus der Frankfurter Börse unterlegt und schließlich ausgestrahlt. »Hallo«, begrüßte mich Lilly, die ihr ohnehin perfektes Makeup noch einmal auffrischte. »Willst du etwa auch unter die B-Promis gehen?«
»Ich bin mir noch nicht sicher«, antwortete ich, »vielleicht ist das überhaupt nicht mein Ding. Wie bereitest du dich eigentlich vor?« »Wenn ich wie heute einen Morgenauftritt habe, checke ich vorher auf Bloomberg die Marktereignisse des Tages und verschaffe mir einen Börsenüberblick in der Financial Times Deutschland oder einer amerikanischen Zeitung – online. Dadurch weiß ich wenigstens ungefähr, was passieren wird.« »Und du kannst sofort einschätzen, was die wirklich spannenden News sind?« »In vielen Fällen entscheide ich nach Bauchgefühl. Die Fragen, die man mir stellen wird, spreche ich vorher mit dem zuständigen Redakteur ab, so dass es keine Überraschungen gibt. Mich von einem Idioten vom Fernsehen vorführen zu lassen – das wäre ja noch schöner. Aber letztlich spielen sie mein Spiel mit. Wahrscheinlich sind sie faul und nur froh, wenn einer ihnen die Arbeit abnimmt. Wenn ich ihnen erzählen würde, der Dezember würde kalt werden und zu Hamsterkäufen führen oder eine zukünftige Staudichte auf Deutschlands Straßen ließe auf einen baldigen hohen PkwVerkauf schließen oder nachts wäre stellenweise mit Dunkelheit zu rechnen – selbst das könnte ich ihnen unterjubeln. Du wirst es ja gleich erleben.« »Aber das Ganze interessiert doch niemanden, Privatanleger und Bankanlageberater vielleicht ausgenommen.« »Klar, das ist ja auch die Zielgruppe, nur die kannst du mit den News von gestern füttern. Wir Broker lebten in einer anderen Welt, für uns sind Fernsehnachrichten aufgrund unserer Informationsdienste und Ticker doch vollkommen irrelevant. Auf die Storys, die die Kollegen auf den Kanälen verbreiten, können wir getrost verzichten.« »Bist du eigentlich aufgeregt, wenn du in die Kamera sprechen musst?«
»Nicht mehr. Aber vor meinem ersten Fernsehauftritt hatte ich entsetzliches Herzklopfen. Ich war mir sogar sicher, dass jeder Fernsehzuschauer dieses Klopfen unter meinem Kostüm sehen müsste. Meine Aufregung erreichte ihren Gipfel, als ich live auf Sendung ging. Oh Gott, wenn ich jetzt stotterte, würde ich mich zum Gespött von Tausenden und Hunderttausenden von Fernsehzuschauern machen. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Also sagte ich mit nahezu versteinerter Miene meine vorbereiteten Sätze auf, kein einziger Versprecher. Diese Zitterpartie war überstanden. Aber schon stand die nächste bevor: Fragen des Redakteurs. Doch zum Glück war er wohl in Gedanken bei seinem zweiten Frühstück, so dass wir uns nur gegenseitig irgendwelche Phrasen an den Kopf warfen und am Ende alle damit höchst zufrieden waren.« Wenn selbst Lilly, die ich immer als völlig cool empfand, Lampenfieber hatte, wie würde dann erst ich reagieren? »Eigentlich klingt das nicht, als würde man dabei über einen roten Teppich gehen.« »Vergiss nicht, ich bin dadurch an Spezialsendungen über Anlageprodukte auf Bloomberg und n-tv gekommen. Hier kann ich differenziertere Themen platzieren, etwa von Zertifikaten erzählen. Das ist Top-Marketing, dazu ganz umsonst und noch viel effektiver als ein Werbespot. Auf diese Weise bringen wir die innovativen Anlagemöglichkeiten, die unsere Bank bietet, unter die Leute. Das Fernsehen wird dadurch zu einem verlängerten Vertriebsarm der Bank. Entsprechend muss man sich etwas sorgfältiger vorbereiten als bei den Kurzauftritten.« »Erscheint mir tatsächlich gewinnbringender zu sein.« »Der allergrößte Witz sind Expertenrunden, zu denen man auch immer Journalisten einlädt. Früher dachte ich, diese Leute hätten sich einen kritischen und unabhängigen Journalismus auf ihre Fahne geschrieben. Bei vielen von ihnen konnte ich
das aber nicht feststellen. Einmal saß ich neben dem Redakteur eines Anlegermagazins. In seinen Beiträgen kamen die Produkte unserer Bank permanent schlecht weg, das lag wohl daran, dass wir in dem Heft keine Anzeigen schalteten. Und auch in der Talkrunde fing er wieder an, gegen sie zu wettern. Mir machte es einen Heidenspaß, ihn charmant auflaufen zu lassen.« Das konnte ich mir bestens vorstellen. Aber wie sollten Journalisten auch kritisch und informativ berichten, wenn niemand von uns die geringste Lust hatte, mit ihnen zu reden. Aus unserer Sicht besaßen die Print-Journalisten einen noch geringeren Stellenwert als die Leute vom Fernsehen. Ignoriert wurden sie allerdings auch nicht, weil sie auf anderer Ebene tatsächlich ein hervorragender und kostenloser Vertriebskanal für unsere Produkte waren. Man musste sie nur mit den passenden Argumenten füttern, und schon feierten sie unsere waghalsigen Konstruktionen als Bestseller, flexible Innovationen, intelligente Strukturen und natürlich als Megatrends. Schwer war das nicht, denn auch sie gehörten größtenteils zu den Kandidaten, die unsere kreativen Produktgeschöpfe nicht wirklich verstanden. Und wenn sie das schon nicht taten, wie sollten sie diese dann beurteilen und bewerten können? Oft genug hörte ich im Handelsraum den Satz: »Wer braucht denn diese Schmeißfliegen?« Da war etwas dran: Ständig riefen sie an und wollten eine Marktmeinung, ein knackiges Zitat. Das nervte einfach nur. Noch viel mehr als wir litten die Aktien-Analysten unter den Anfragen. Jeden Tag sollten sie die neuen Zahlen einschätzen und Prognosen abgeben. Zwar wollten die Analysten selbst gern ein- oder zweimal am Tag in den Wirtschaftsteilen der Finanzzeitungen genannt werden – schließlich half das, den eigenen Marktwert bei einem Jobwechsel zu steigern. Aber zwanzig Anrufe von Journalisten
pro Tag waren trotz aller Mediengeilheit einfach nur lästig. Die Analysten-Philosophie war vergleichbar mit der der Händler: Die Leute, die wirklich das große Geld machen, agieren sowieso im Hintergrund. »Jetzt muss ich aber ins Studio.« Lilly verschloss ihren Lippenstift und steckte ihn in die Tasche. Ich sah der Aufzeichnung zu – fünf Minuten in einem kleinen schalldichten Raum. Nein, das war nichts für mich. Lilly mochte es vielleicht als einen Kick empfinden, ihr Gesicht in die Kamera zu halten. Ich fand das alles viel zu aufwendig. Zu Hartmut sagte ich am selben Tag: »Ich werde nicht als Börsenfee auftreten, da musst du dir eine andere suchen.« Erstaunlicherweise gab es keinen Widerspruch. Aha, dachte ich, man fing mich also an zu respektieren. Ob mein besseres Standing im Handelsraum dazu beigetragen hat, ist schwer zu beurteilen, jedenfalls erhielt ich auf einmal wöchentlich mehrere Anrufe von Headhuntern, die mich zu einer anderen Bank abwerben wollten. Derivatehändler waren damals gefragt, und in diesen Wildwest-Zeiten standen uns alle Türen offen. Die Strategen nutzten das weidlich aus: Durch mehrere Bankenwechsel konnte man sehr schnell in sehr hohe Gehaltsgrößen kommen. Headhunter arbeiten ähnlich wie Investment-Banker auf Provision – nicht selten erhalten sie bis zu ein Jahresgehalt eines erfolgreich vermittelten Brokers. Dennoch konnten die meisten nicht zwischen Aktien- und Kreditderivaten unterscheiden, ebenso nicht zwischen Handel, Sales und Strukturierung. Ein typisches Gespräch mit einem Headhunter lief so ab: »Sind Sie Anne T.?« »Ja, das bin ich.« »Haben Sie einen Augenblick Zeit?« In dem Moment wusste man, mit wem man es zu tun hatte. Manchmal verneinte ich
die Frage, und damit war das Telefonat beendet. Mitunter interessierte es mich aber, zu wissen, wie hoch gerade mein Marktwert war, wie viel Verdienst man mir woanders anbieten würde. Nachdem ich über drei Jahre bei meiner Bank war, dachte ich, dass es an der Zeit sein könnte, Hartmut und die anderen aus der lustigen Truppe zu verlassen. So signalisierte ich dem Headhunter, den ich gerade an der Strippe hatte, dass ich mehr von ihm erfahren wollte. Ich gab ihm meine private Telefonnummer und machte mit ihm einen telefonischen Termin am Abend aus. »Na, um welchen Job geht es?« Bevor ich den Hörer aufgelegt hatte, sprach mich auch schon Martin an, mein Kollege im Sales-Bereich, mit dem ich zunehmend zusammenarbeitete. Durch die engen Reihen bekam jeder alles mit, im geheimen Kämmerchen konnte hier nichts ausgemacht werden. »London oder Frankfurt?« »Hast du etwa deine Finger mit im Spiel gehabt?«, fragte ich meinen Kollegen. Es passierte nicht selten, dass Headhunter von Händlern Informationen über die gesamte Besetzung im Handelsraum erhielten, wenn ihnen gerade langweilig war. »Überhaupt nicht.« Martin wehrte meine Frage mit beiden Händen ab. »Dann ist ja alles klar.« Mit diesen Worten wandte ich mich wieder meinen Bildschirmen zu. Das, was mir der Headhunter am Abend erzählte, klang gut, so gut, dass ich zu persönlichen Gesprächen mit ihm und der Bank bereit war. Ich flog tatsächlich nach London, wo man mich regelrecht hofierte. Am Ende nutzte ich das Angebot, um ein höheres Gehalt bei meiner Bank zu erpokern. Es ging mir gut, ich verdiente nicht schlecht, im sechsstelligen Bereich, dazu kam der Bonus: Um uns noch mehr zu motivieren und den Kampf um Kunden anzuheizen,
werden jährlich einmal Bonuszahlungen gemacht, die an den eigenen Verdienst gekoppelt sind. Pascal und Hartmut bekamen gerüchteweise Boni im siebenstelligen Bereich. Das Bonussystem selbst ist absolut untransparent, keiner von uns wusste, was der andere erhielt. Im Vorfeld vor dem großen Tag X, der in unserer Bank jährlich im Januar stattfand, wurde schon wochenlang spekuliert, wie die Boni wohl ausfallen würden. Insgeheim rechnete sich jeder reich. Händler und Sales-Leute fieberten regelrecht auf dieses Datum hin, es war das absolute Highlight. Und war der Tag endlich da, war die Stimmung in etwa so wie in der Sendung von Heidi Klum und ihren Supermodels: Alle liefen wie die Hühner herum, keiner konzentrierte sich auf die Arbeit, jeder hoffte auf fette Zahlungen. Dazu wurden wir einzeln ins Chefzimmer gerufen. Vor den Augen der Bosse mussten wir einen Brief öffnen, in dem die jeweilige Bonuszahlung auf einem Zettel geschrieben war. Oberste Regel: möglichst ein Pokerface bewahren, ganz gleich, ob man euphorisch gestimmt war, weil der Betrag größer als erwartet ausfiel, oder Hass verspürte, wenn die erhoffte Summe nicht auf dem Zettel stand. Den Leuten, die zurück in den Handelsraum kamen, sah man deutlich an, wie es um sie stand. Siegerpose und arrogantes Lächeln bei viel Geld, hohes Aggressionspotential bei zu wenig Geld. Einmal sagte ein aufgebrachter – und nicht sehr erfolgreicher – Juniorhändler zu Philipp, nachdem alle ihren Brief erhalten hatten: »5000 Euro – die kannst du dir in den Arsch stecken. Ich brauch die jedenfalls nicht.« Wahrscheinlich hatte er mit 40000 Euro und mehr gerechnet. Von den Boni kauften sich einige, wie Hartmut, Immobilien – oder Autos. Porsche waren die potenten Lieblingsspielzeuge der Händler. Pascal und Maik hatten jeweils zwei Exemplare in ihren Garagen stehen. Und natürlich ging es bei ihren Modellen nicht um einen x-beliebigen Porsche, sondern es
musste schon immer einer aus einer Limited-Serie sein, luftgekühlt, versteht sich. Die ausgedienten Wagen wurden an die Juniors verkauft, um sich anschließend einen teureren Porsche anzuschaffen. Andere Kollegen kauften sich in guten Verdienstjahren einen BMW aus der 7er Reihe oder fuhren mit einem Jaguar vor. Der Bonus war das A und O im Händlerleben – eine solche Perspektive motivierte unglaublich. Wer von den Brokern ein Gewinnziel von vier Millionen nachweisen konnte – dafür mussten schon einige Milliarden gedealt werden –, bekam am Ende des Geschäftsjahres durchaus 200000 Euro zusätzlich auf sein Konto überwiesen. Das ganze System war zwar undurchschaubar, aber es lohnte sich. Das war ein richtig gutes, geiles Gefühl. Das hatte etwas Orgiastisches an sich, ganz gleich, ob Mann oder Frau in den Genuss kamen. Es wäre gelogen, das abstreiten zu wollen. Dass es gerade die Boni waren, die uns alle motivierten, immer größere und immer riskantere Deals abzuschließen, fiel niemandem auf. Schließlich hatten wir nicht viel zu verlieren, im Worst Case unseren Job. Aber wozu gab es Headhunter. Außerdem würden wir ohnehin schon über alle Berge sein, bevor es Probleme mit den reingeholten Deals geben würde. Dass dieses kurzfristige Anreizsystem sich später für die Banken als tödlich erweisen sollte, das wäre einem Marc oder Philipp nie in den Sinn gekommen. Mein nächstes Ziel war glasklar: vier Millionen Euro. Darunter durfte ich im nächsten Jahr nicht kommen, ich wollte schließlich die Herausforderung – und den dazugehörigen Bonus. Das große Partygefühl, das besser als Sex war.
10 Kapitalgarantie
»Ich möchte für 3 Millionen Euro Aktienanleihen auf Siemens.« Einer meiner Kunden hatte mich angerufen, ein Vermögensverwalter eines der wenigen Familiy Offices in Deutschland. Ich hatte gerade Löcher in die Luft gestarrt und mir überlegt, was für ein grandioses Produkt ich mal wieder kreieren könnte, um meinem Jahresbonus näher zu kommen. Was, nur 3 Millionen, spinnt denn der?, war mein erster Gedanke. Unter 5 Millionen fange ich gar nicht erst an. Ich kam mir vor wie das Topmodel Linda Evangelista, die einmal gesagt hat, sie würde erst ab einer Tagesgage von 15000 Dollar aus dem Bett steigen. Immerhin war ich schon aufgestanden, aber 3 Millionen? Zum Glück war er nicht mit einer Million gekommen oder gar mit 150000 Euro. Mit solchen Kunden wollten Martin und ich meistens nichts zu tun haben, vergraulten sie, zu viel Aufwand für zu wenig Kohle. Sollten die doch zum Bankschalter gehen und sich dort von den Kundenbetreuern beraten lassen. Solche Summen waren für uns tatsächlich Peanuts. Gelangweilt bemerkten wir: »Wieso legt er sich das nicht aufs Sparbuch?« Oder: »Das reicht gerade für die Portokasse.« Langsam verlor ich die Relationen, zu Geld hatte ich inzwischen fast keine reale Beziehung mehr. Die Ängste, die ich durchgestanden hatte, als ich 60000 Euro vernichtet hatte, waren längst vergessen. Was würde ich bei 3 Millionen überhaupt verdienen? Mein Taschenrechner im Kopf fing an zu rattern, eigentlich war das schon in dem Moment passiert, in dem man mir die Summe genannt hatte. Wie hoch würde bei diesem Deal meine
Provision sein? 30000 Euro Gewinn konnte ich für die Bank herausschlagen, mehr aber nicht. Mein Bonus – unter dem Strich betrachtet – gleich null. Ich übergab den »Fall« an einen Kollegen, der noch nicht lange im Business war, sollte der sich doch damit herumschlagen. Ich starrte weiter Löcher in die Luft, auf der Suche nach genialen Produkten, die meinen Geldsegen weitaus mehr vergrößern würden als lächerliche Anleihen in einem Volumen von 3 Millionen Euro. Da ich mittlerweile immer perfekter mit Zahlen jonglieren konnte, auch größere Risiken emotional aushielt und mich eigentlich nichts mehr abschreckte, verbesserten sich meine Voraussetzungen, eines Tages in diesem Job zu den Top-Leuten zu gehören, rapide. »Die muss mal wieder durchgefickt werden.« Kaspar, ein neuer Kollege, der jetzt neben Pascal saß, hatte sich schnell dem im Handelsraum herrschenden Umgangston angepasst. »Gibt es einen Grund?«, fragte Pascal mit undurchdringlichem Blick und die übliche Dönerwolke verbreitend. »Eine von den Tussen, die den Vertrieb für die Privatanleger organisiert, wollte was handeln, was aber nicht ging. Anstatt dass sie mal schaut, wie sie eine halbe Milliarde von den Risiken vertickt, die ich in den Büchern habe. Wenn man es der ordentlich besorgt, dann rafft sie vielleicht, was Sache ist.« Fast hätte ich Kaspar zugestimmt, merkte dann aber doch, dass das wohl nicht so angebracht wäre. Stattdessen überlegte ich, wie sich das äußerst lukrative Geschäftsfeld der strukturierten Anleihen noch verbessern ließ. Mit Pascal hatten wir sie für Privatanleger kreiert, warum die Geldmaschine nicht auf Fonds ausweiten? Diesen milliardenschweren Vertriebskanal hatten wir bisher noch nicht erschließen können. Die Fondsbranche stand mit der Derivatebranche auf Kriegsfuß – schließlich befanden sich beide im ständigen
Kampf um Anlagegelder. Aber was machte das schon, wenn man auch sie ein wenig aufpeppen konnte? Fonds sind Sondervermögen. Muss etwa eine Kapitalanlagegesellschaft wie Union Investment oder die Allianz Insolvenz anmelden, kann kein Gläubiger kommen und fordern: »Ja, aber es gibt ja noch diesen Fonds da…« Fonds dürfen nicht leergeräumt und verkauft werden, um Schulden zu bezahlen, egal, wie hoch diese sind. Fonds sind unantastbar. Alles, was in den Fonds drin ist, das gehört immer den Anlegern. Das ist bei Zertifikaten anders. Für Fondsmanager existieren ebenfalls strenge Richtlinien, so dürfen sie niemals das gesamte Vermögen etwa in Zertifikaten eines Emittenten anlegen. Dennoch konnten bestimmte strukturierte Produkte in den verschiedensten Mäntelchen in Erscheinung treten, etwa als getarnte Zertifikate. Wir selbst waren aber nur an den Vertriebskanälen der Fondsmanager interessiert, für uns Strukturierungskünstler war es egal, ob unsere teuren Derivate in Fonds, Anleihen, Zertifikaten oder gar in Sparbüchern daherkamen – Hauptsache, wir konnten sie an den Mann bringen, und dazu war uns jede Möglichkeit recht. »Wollen wir nicht mal wieder Geld verdienen, so richtig Geld und nicht immer diese Peanuts?«, fragte ich Martin. Mein Kollege war schon einige Jahre in diesem Business tätig und ein richtiger Fuchs. Er war mir auf Anhieb sympathisch gewesen, weil er ähnlich dachte wie ich – und in seinen lässigen Paul-Smith-Anzügen, mit seinen weich fallenden braunen Haaren und seiner steilen Falte über der Nasenwurzel ziemlich sexy aussah. »Du bist wohl wieder mal auf der Suche nach Opfern, langweilst dich wohl.« Martin hatte es erfasst. »Was heißt hier Opfer, die müssen das hinterher nur fressen.« »Denkst du an Fondsmanager oder mehr an Privatanleger?«
»Am besten wäre eine Kombination von beidem.« »Klar, Madame möchte hoch hinaus.« Unsere Bank nutzte wie viele andere deutsche Geldhäuser die Vertriebsarme der eigenen Filialbanken. Aber wir fingen auch an, die Filialen fremder Banken, Sparkassen und Raiffeisenbanken zu kannibalisieren. Andere InvestmentBanken taten das Gleiche, der Wettbewerb um das lukrative Geschäft wurde schärfer. Aber noch lief alles prächtig. Und wenn man die großen Fondsmanager benutzte, um diesen Boom weiter voranzutreiben? Machte man das gut, brachte das ein paar hundert Millionen Euro Umsatz – und ein paar Millionen Gewinn für mich. Im Geiste rieb ich mir die Hände. »Also, die möglichen Opfer haben wir jetzt eingekreist, bleibt die Frage, wen wir konkret ins Visier nehmen? Wo ist viel Geld? Und natürlich müssen wir uns auch überlegen: Wer ist naiv genug?« Vor meinem Auge erschien schon die gigantische Präsentation, die wir aufziehen würden. Wir würden den Kunden von tollen Korrelationen und impliziten Volatilitäten erzählen und erklären, dass dies das Anlageprodukt sei, was schon immer ganz oben auf ihrer Wunschliste gestanden hätte. »Pascal, hast du nicht ein paar hundert Millionen Risiken in deinen Büchern, die du loswerden willst?« Martin tat das, was in einer solchen Situation unternommen werden musste – einen Händler ausfindig machen, der vielleicht noch ein paar Optionen rauszudrehen hatte. Sosehr ich Pascal immer noch nicht leiden konnte – und erst recht nicht riechen –, er war einfach ein verdammt guter Händler. Und für neue Aktionen hatte er stets ein offenes Ohr. »Klar, ein paar Korrelationsrisiken auf vier Indizes. Machen ungefähr 300 Millionen.« Pascal nahm dafür sogar seine Füße
vom Tisch. Er hatte sein Risikolimit erreicht, nichts kam ihm in diesem Moment gelegener, als seine Risiken abzubauen. »Wir können uns ja eine Umkehroption zu diesen Risiken überlegen«, warf ich ein. »Da braucht man den Kunden nur zu sagen: ›Ich kann Ihnen eine Option anbieten, einen Korb mit vier Aktienindizes.‹ Neben der Kapitalgarantie wird dieser dann an den Steigerungen der Aktienmärkte beteiligt. Und das Ganze basteln wir aus ein paar Optionen zusammen und zaubern so ein kapitalgarantiertes Produkt. Das ist der absolute Knaller.« »Perfekt«, bestätigte Martin meinen Gedankengang. »Gerade weil die Anleger momentan die Nase voll von den volatilen Aktienmärkten haben. Denen geht es dort zu sehr hoch und runter. Kapitalgarantiertes ist das, was die Leute wollen. Einerseits können sie damit an den Aktienmärkten partizipieren, haben das Gefühl, nicht außen vor zu stehen. Andererseits glauben sie, mit ihrem Vermögen im Festgeldkontobereich zu liegen. Das ideale Produkt.« »Naja, dass der Anlagekunde dabei total verarscht wird, weil er völlig überteuert eine Schrottoption kauft und auf Zinsen verzichtet, ist uns ja wohl klar? Dennoch: Der Fondsmanager wird schon auf seine Kosten kommen.« Pascal bedachte uns mit seinem typischen Grinsen. »Auf jeden Fall, die Risiken sind rausgedreht. Und wie schnell kriegt ihr das hin?« »Das wird nicht lange dauern.« Ich grinste zurück. »Jetzt brauchen wir wirklich nur noch den Dummen, der uns das abkauft«, sagte Martin zu mir. »Du kennst doch die Leute vom EGO Fonds so gut. Wollen die nicht gerade einen Fonds bei uns machen? So um die 300 Millionen Euro? Nutz doch mal dein Lächeln und deinen sexy Hintern. Schlag ihnen dein schönes neues Produkt vor. Sag, dass du das handeln, das Ganze strukturieren und dich um alles kümmern würdest.«
Ich grinste wieder, jetzt fast so breit wie Pascal, dann nickte ich und griff zum Telefonhörer, um den Manager der EGO Fonds anzurufen. Ein besseres Versuchskaninchen konnte ich mir in diesem Augenblick nicht vorstellen. Martins Einfall war genial. Hoffentlich sah die Gegenseite das genauso. »Wie geht es Ihnen?«, fragte ich in meinem freundlichsten Ton, als ich Ingo Stein am Telefon hatte. »Alles klar bei Ihnen? Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen, sollen wir nicht wieder einmal zusammen essen gehen? Es wäre für mich auch kein Problem, zu Ihnen zu kommen… Übermorgen sind Sie in Frankfurt? Das passt ja prima. Also, ich werde einen Tisch im Surf ‘N Turf reservieren.« Das Surf ‘N Turf war das Steakhaus Nummer eins in Frankfurt, hier gab es BelugaKaviar und Hummer, aber auch zarteste Rinderfilets mit Trüffelbutter. Geworben wurde mit dem Slogan »Das feinste Steakhouse außerhalb Amerikas«. Ich wusste, dass mein Gesprächspartner ein ausgesprochener Liebhaber von gutem Rindfleisch und besten Weinen war, also konnte ihm dieses Restaurant mit seiner gediegenen Club-Atmosphäre und bedrohlich geschwungenen Büffelhörnern an der Decke nur gefallen. Meine Geschäfte liefen viel im Zuge von gemeinsamen Essen ab. Aber es wurden von uns auch Partys oder WochenendEvents veranstaltet. Gute Kunden lud man zum Skifahren ein, zu Formel-1-Rennen, zu wichtigen Fußball- oder Eishockeyereignissen – genau ausgesucht nach den Interessenlagen der Geldmanager, die ich bezirzte. Natürlich wurden diese Events offiziell als »Seminare« deklariert. Und zu Weihnachten schickten wir ihnen Kisten mit erlesenem Wein oder Champagner. Zwei Tage später waren Martin und ich abends um halb acht im Surf ‘N Turf, eine halbe Stunde früher als zur verabredeten Zeit, um zu sehen, ob sich der Tisch auch tatsächlich in einer
ruhigeren Ecke befand. Alles war wie gewünscht arrangiert, jetzt mussten nur noch Ingo Stein und sein Mitarbeiter Oliver Precht eintreffen. Unsere Kunden waren meistens Männer, deshalb nahm ich einen solchen Abendtermin nie allein wahr, immer traten wir zu zweit auf. Das fand ich sehr angenehm. Von Lilly wusste ich, dass sie von ihrer Bank häufig allein »vorgeschickt« wurde. Einmal hatte sie mit einem ihr noch nicht bekannten Kunden eine geschäftliche Verabredung. Dieser rief vor dem Treffen bei einem Kollegen von ihr an, um Erkundigungen über ihr Aussehen und ihre Körbchengröße einzuholen. Der Mitarbeiter von Lilly sagte: »Ihr Hintern hat’s in sich. Und sehr geile Titten hat sie.« In anderen Situationen, in denen sie mit ihrem Chef zu Kundenterminen musste, ließ er sie nach Essen und Barbesuch mit den Männern allein. Lapidar warf er ihr die Worte zu: »Macht euch noch einen schönen Abend, du schaukelst das schon.« Eigentlich hätte sie auch gehen können, wer wollte schon mit ziemlich alkoholisierten Männern allein bleiben? (An solchen Geschäftsabenden wurde meist unglaublich viel getrunken. Manchmal hatte ich den Eindruck, als würde ich mich in einem Trainingslager für Alkoholiker befinden.) Aber wenn der Deal noch auf wackeligen Füßen stand, kam es nicht in Frage, einfach das Feld zu räumen. Das hätte nach verlorener Schlacht ausgesehen – unmöglich für uns aus dem Handelsraum. Wir lebten für unsere Tickets, hätten uns für Geld prostituiert. Aber auch nur dafür. Möglichkeiten, mit einem Kunden ins Bett zu gehen, gab es immer – gerade weil so wenige Frauen in diesem Business tätig waren. Ich hatte mir jedoch eine klare Regel gesetzt: nie Sex mit einem Kunden zu haben. Und diese Grenze überschritt ich nie – ausnahmslos. Wenn man einmal damit anfing, davon war ich überzeugt, würde man sich nur den eigenen Ruf kaputtmachen.
Die Herren kamen pünktlich, beide in Anzügen, die sicher einen hohen Kaschmiranteil enthielten. Ich erzählte ihnen, dass gestern noch Bärbel Schäfer und Michel Friedman in diesem Lokal gegessen hätten, das jedenfalls hatte mir der Geschäftsführer während unserer Wartezeit gesagt. Der Auftakt für den Small Talk war gemacht. Beim Aperitif stellte ich die übliche Frage: »Und was tut sich so bei Ihnen?« Jeder erzählte gern, wie toll gerade alles lief. Danach kam Martins Auftritt – auch eine mehr oder weniger einstudierte Nummer. Er berichtete von großen Deals, die wir gerade abgeschlossen hätten, und dass bei uns in der Bank Multi-Asset-KorrelationsOptionen ein großes Thema seien. In diesem Bereich würden die Amerikaner augenblicklich viel machen, das könnte also in Zukunft interessant werden, und auch bei den Zinsstrukturen würde sich sehr viel tun. Wirklich bewegen würde sich der Markt aber bei strukturierten Fonds. Einige Fondsmanager hätten sich aus der Deckung gewagt und feierten gigantische Vertriebserfolge. Wir wussten, wie man seine Opfer auf die richtige Fährte setzte, und mir war bekannt, dass auch Ingo Stein davon gehört hatte. Wie erwartet, horchte er bei den Hinweisen zu strukturierten Fonds auf. Inzwischen hatten wir Menü- sowie Weinkarte erhalten. Die Auswahl der Getränke überließen wir den Gästen, oft führte das zu amüsanten Situationen. Die meisten spielten sich als absolute Weinkenner auf – ihr Wissen äußerte sich aber vorrangig darin, dass sie vielfach mit großem Wortbrimborium die teuerste Flasche auf der Karte wählten. Wahrscheinlich tranken sie zu Hause nur Bier, dachte ich jedes Mal. Was hätten sie bloß getan, wäre die Karte ohne Preise gewesen? Ingo Stein gehörte aber nicht zur Kategorie der Teuer-ist-gutMänner. Er verstand etwas von Weinen und wusste genau, warum er uns einen Gaia Barbaresco zu unseren ausgesuchten Hummer- und Steakspeisen empfahl. Bei einer Flasche würde
es bestimmt nicht bleiben. Möglicherweise musste ich mit den Herren später noch weiter durch Bars ziehen und dabei Unmengen Champagner und Cocktails konsumieren. Sich einen Bonus zu verdienen war meistens harte Arbeit. Nachdem die Teller mit dem Hauptgang vor uns standen, war es an der Zeit, die beiden Fondsmanager langsam, aber sicher zu unserem Ziel zu führen. Martins Hinweis auf die Erfolge anderer Fondsmanager mit innovativen Strukturen griff ich auf, ergänzte noch wohlklingende Wörter wie »Aktienmarkt« und »Kapitalgarantie«. Unsere Gäste hatten angebissen, ich war richtig vorgegangen. »Ja, das klingt wirklich so, als könnte das etwas für uns sein.« Ingo Stein schaute zu seinem Kollegen hinüber. »Doch wie sieht unsere Provisionsstruktur dabei aus? Wir schaffen 300 Millionen in einem Fonds.« Eigentlich wollte er nur wissen, wie viel Geld er damit verdienen konnte. Ich lächelte Stein an: »Durch die flexible Optionsstruktur können Sie die Provisionen einfach strukturieren. Im Grunde fällt es gar nicht weiter auf, weil dem Kunden nichts von seiner Performance genommen wird.« »Aber mal rein theoretisch, wie gehe ich da vor?« Es fehlte nicht viel, und ich hätte die Augen verdreht. Mühsam beherrschte ich mich, ihm nicht zu verstehen zu geben, dass er doch Fondsmanager sei und das wissen müsste. Aber es war deutlich zu erkennen, dass er im Grunde keine Ahnung hatte. Was Martin und mir ja nur recht sein konnte. Hier hatten wir unser naives Opfer. Die Gunst der Stunde nutzte ich aus und fuhr fort: »Machen Sie sich darum keinen Kopf. Wir machen die Dokumentation und alles Juristische. Wir sorgen dafür, dass alles sauber verhandelt und verbrieft wird, so dass Sie die Kontrahentengrenzen einhalten. Und wir kümmern uns auch um den Sekundärmarkt.« Das hieß Folgendes: Da Fondsmanager ihre Fondsanteile – wenn sie sie
zurückbekamen – nicht am Markt abbauen, die strukturierten Fonds mit den in ihnen vorhandenen Optionen nicht auflösen konnten, musste die Bank den Verkauf übernehmen. »Und können wir die Produkte auch immer bei Ihnen zurückgeben?« Ingo Steins Begleiter Oliver Precht, einer von den ganz Jungdynamischen mit Igelhaarschnitt, mischte sich ein. Er hatte Angst, dass sich bei einer Laufzeit von sechs Jahren das Weltgeschehen verändert haben könnte. »Na klar«, sagte Martin. »In jedem Fall stellen wir Ihnen gute Kurse.« Das Steakfleisch zerfiel auf dem Gaumen, die Gemüsebeilagen konnten nicht knackiger sein, vielleicht hatte das zu unserem Glück beigetragen. Die beiden Männer vom EGO Fonds schienen tatsächlich so blöd zu sein, sich auf unser verdammt exotisch konstruiertes Produkt einlassen zu wollen. Das, was wir ihnen hoch und heilig versicherten, würde aber nur funktionieren, wenn der Markt nicht einbrach. Aber es musste nur ein Krieg ausbrechen, weitere Terroranschläge folgen, schon war’s vorbei mit der schönen Rendite. Anstatt Pascals Nummer mit dem müden Zero-Bond würden wir dem Anleger in dieser zweiten Variante ein hübsches Päckchen aus Anleihen, Index-Zertifikaten und Put-Optionen schnüren – im Endeffekt erreichten wir mit unserer Finanz-Magie mit diesem Paket exakt die Kapitalgarantie plus Aktienmarktpartizipation wie in Pascals Variante. Nebenbei finanzierte der Anleger natürlich die Boni der Fondsmanager und Investment-Banker aus seinem Ersparten. Ein Sparbuch wäre sicher besser für ihn. Alles lief nach Plan, ich hatte das Gefühl, dass wir sie im Netz hatten. Also wagte ich noch einen weiteren Vorstoß – einen Exklusivdeal. Unsere große Angst war immer, dass die Kunden zwar anfangs grünes Licht signalisierten, dann aber am nächsten Tag über alles nachzudenken begannen. Darüber, dass unsere
Produkte doch zu kompliziert und zu exotisch klangen, unsere Preisberechnungen zu unrealistisch, zu sehr manipuliert. Wenn dann der Klient zu bedenken gab: »Ihre Ideen sind einleuchtend, dennoch möchte ich mir das von drei anderen Investment-Banken durchrechnen lassen«, musste man plötzlich in einen Wettbewerb eintreten. Und nicht immer ging man als Sieger daraus hervor. Also versuchte ich das durch entsprechende Anreize für den EGO Fonds zu verhindern. »Wir unterstützen Sie selbstverständlich in jeder Hinsicht, wenn Sie mit uns eine Exklusivvereinbarung abschließen. Wir machen das Marketing, Schulungen für Ihre Mitarbeiter, stellen informative Materialien zusammen und arbeiten eine Performance-Strategie mit Werbebroschüren für Ihre Kunden aus.« »Aber haben wir dann nicht den Fonds voll von Kreditrisiken ›Der Bank‹, wenn wir das Ding mit euch durchziehen?« Oliver Precht runzelte die Stirn. Der Mann dachte tatsächlich mit. Ich konnte ihn beruhigen. »Keine Sorge, die Optionen in Ihrem Fonds werden von anderen Banken emittiert. Sie werden also auf der Kreditrisikoseite voll diversifiziert sein.« Was ich damit aber meinte: Den vollen Deal wollte ich machen, »Der Bank« würden wir aber andere Kreditrisiken in die Bücher schaufeln, damit andere Geldhäuser unsere Strukturen emittierten. Das war absolut üblich. Jede Bank hatte Abteilungen dafür, dass sie gegen geringen Aufpreis die strukturierten Risiken anderer Banken in die Bücher nahm, sie unter anderer Fahne wieder verbriefte und an einen Kunden verkaufte. Derartige Geschäftspraktiken verschärften natürlich das dominosteinartige Kreditrisiko der Banken untereinander. Würden sich Stein und sein Begleiter auf dieses Komplettsystem einlassen? Beide schienen nicht wirklich etwas von Optionen und Risiken zu verstehen. Ich atmete tief ein. Bloß jetzt nicht zeigen, wie scharf man darauf ist, diesen
Deal an Land zu ziehen. Völlig locker aussehen, als würde man sich gerade dafür entscheiden, lieber in den neuesten James-Bond-Film zu gehen und nicht in irgendeinen Schmachtfetzen. Wenn sie sich darauf einließen, hatte ich die vollkommene Kontrolle über den Fonds – für unsere Bank ein Jackpot. Und natürlich auch für mich. Es ging immerhin um einen Millionengewinn. »Mein Vorteil wäre dann ja, dass ich nichts mehr zu machen bräuchte.« Ingo Stein näherte sich der Wahrheit an, die ihm am meisten entgegenkam. Darauf hatte ich spekuliert, ihn entsprechend taxiert. Er war der Genießertyp, der sich lieber um Weine und andere schöne Dinge des Lebens kümmerte als um den schnöden Mammon, zumal der mit anstrengenden mathematischen Berechnungen verbunden war. Pech für ihn, denn das bedeutete, dass er am Ende gar nichts mehr verstehen würde, wenn er sich zu sehr aus allem heraushielt. Aber Ingo Stein schien auf All-inclusive-Pakete zu stehen. Wir würden ihm also die Verkaufsargumente liefern, mit denen er unser Konstrukt seinem Vertrieb gegenüber als ein Premium-Produkt anpreisen konnte. Würde dieser zustimmen, wäre der nächste Schritt geschafft: Die jeweiligen Vertriebsgebietsleiter würden sämtliche Vertriebsbanken aufsuchen und den Kundenberatern unsere Story mitsamt unseren zusammengebastelten Broschüren auftischen. Danach hätten diese die Aufgabe, die kleinen Anleger anzurufen: »Hören Sie mal, wir haben eine ganz tolle Sache für Sie. Ihr Depot ist so gut gelaufen, da sollten Sie von dem Produkt, das wir gerade ganz neu einführen, doch noch mal 30000 Euro umschichten. Und das Gute daran ist, es ist kapitalgarantiert. Eine todsichere Sache.« Und weil der Anleger der Bank vertraute, seinen Beratern Herrn Meier oder Frau Müller, käme er auch nicht auf die Idee, das in Zweifel zu ziehen. Da konnte also nichts schiefgehen. So kamen schnell ein paar Millionen
zusammen. Auch Kleinvieh macht schließlich Mist. Und Kleinanleger machten in dieser Menge extrem lukrativen Mist. Der Anlageberater wiederum würde das bombensichere Produkt ohne länger nachzudenken seinen Sparern ans Herz legen – mit der entsprechenden Order vom Chef der Filiale im Ohr: »Bis zum Ende der Woche müssen wir noch 400000 Euro von dem Zeug verkaufen.« Oder irgendeine andere gesetzte Summe. Sein Verkaufsinteresse war natürlich auch kalkuliert: Er war scharf auf eine Provision. Überhaupt sind Fondsgesellschaften so aufgebaut, dass diese nicht nur einmalige Ausgabenaufschläge erhalten, sondern auch jährliche Provisionen. Ein Aufgabenausschlag konnte schon mal fünf Prozent betragen – bei 300 Millionen Euro kam da einiges zusammen. Und hatte der von uns strukturierte Fonds eine Laufzeit von sechs Jahren bei jährlich 0,75 Prozent Verwaltungsgebühr, summierte sich der Gewinn schon mal auf fast zehn Prozent. Manchmal konnten bei solchen Strukturierungen mit einem Schlag 25 Millionen Euro und mehr verdient werden – Grund genug, schwach zu werden. Und das wollten wir, ich genauso wie Martin. Unser täglich vergoldetes Brot. »Und es ist auch wirklich kapitalgarantiert?« Ingo Stein musste noch einmal nachfragen, das war er seiner Funktion als Fondsmanager schuldig. Er hatte sich aus dem vom Kellner gebrachten Zigarrenkasten eine Cohiba ausgesucht. Jetzt blies er den Rauch seiner Zigarre Richtung Decke. Seinem entspannten Gesicht war anzusehen, dass er von eventuellen Kurseinbrüchen und ähnlich unangenehmen Dingen nichts hören wollte. Wie viele andere hatte er das Platzen der NewEconomy-Blase vergessen, auch die Erfahrungen des 11. September verblassten bereits. Der Mensch hat offensichtlich kein Erinnerungsvermögen, wenn es darum geht, den Geldtrieb erneut befriedigen zu können. Jeder wollte schon wieder an der
nächsten Rallye teilnehmen. So entstanden Blasen. Das Heimtückische an ihnen ist, dass sie stets im neuen Gewand daherkommen, so dass sie kaum wiederzuerkennen sind. Mark Twain sagte einmal: »Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.« »Das können wir Ihnen schriftlich garantieren, abgesichert von Juristen.« Ingo Stein lehnte sich noch weiter in seinem Stuhl zurück, es schien ihm alles zu gefallen, was er hörte und erlebte. Eine Kapitalgarantie hinzubekommen bereitete uns keine Schwierigkeiten. Für uns war das nur ein gut klingender, aber letztlich ganz simpler Trick, um Stein zu gewinnen. Im Umkehrung von Pascals Trick mit den berühmten Null Coupon-Anleihen und Calls würden wir uns jetzt über den Put austoben. Genau um den ging es uns bei dieser Strategie, was dem Fondsmanager aber nicht bewusst war. Mit ihm wollten wir uns die berühmte goldene Nase verdienen. Das Geld konnten wir in abgefahrenste Optionen stecken. Und weil die ja außerbörslich gehandelt wurden, Fondsmanager also keine Chance hatten, nachzuprüfen, worin sie ihr zu verwaltendes Vermögen gesteckt hatten, konnten wir so agieren, wie es unseren Vorstellungen von Geldvermehrung entgegenkam. Nicht in seinen kühnsten Träumen hätte Ingo Stein nachvollziehen können, durch welche Kanäle sein Geld wirklich floss – und dass wir im Grunde nur Risiken loswerden wollten. Und damit er sein Gehirn nicht zu sehr einschaltete und uns mit unangenehmen Nachfragen traktierte, musste er auf seine Kosten kommen – eben mit dem Versprechen einer ausgezeichneten Rendite für den Fonds. Und natürlich seiner eigenen Provision. »Also gut, der Deal ist gemacht. Trinken wir darauf noch ein Glas Champagner.«
Das war geschafft. Endlich konnte ich auf die Toilette gehen und nachprüfen, ob mein Make-up aufgefrischt werden musste. Vorher hatte ich nicht aufzustehen gewagt, weil ich keine Sekunde lang die Kontrolle über die beiden Männer verlieren wollte. Die kleinste Störung konnte sie zu einer anderen Meinung bewegen. Das musste mit allen Mitteln verhindert werden. Ich blickte in den Spiegel und zog meine Lippen nach, ein kräftigeres Rot durfte es jetzt schon sein. Zu diesem Zweck hatte ich mindestens drei Lippenstifte in den verschiedensten Farbabstufungen in meiner Handtasche. Während ich die Lippen mit einem dünnen Papiertuch aufeinanderpresste, um die Reste der Farbe aufzunehmen, lächelte ich meinem Spiegelbild zu. Der Blödmann in dieser Kette war der Privatanleger, das ahnte auch Ingo Stein. Denn natürlich agierten wir bei den Optionen erneut mit Risiken, die wir abwälzen mussten. Die lammfrommen Opfer waren die Kleinanleger. Banal gesagt: Sie kauften etwas, das nicht dem eigentlichen Wert entsprach, und verschenkten ordentlich Rendite. Zu fairen Marktpreisen hätten sie für das in Kauf genommene Risiko eine ganze Menge mehr Rendite bekommen. Doch woher sollten sie auch wissen, dass sie sich für eine superidiotische Option entschieden hatten, wenn diese doch im schönsten Fondsmäntelchen daherkam? Kapitalgarantiert – in der professionellen Vermögensverwaltung war das nicht viel wert. Aber gut, wenn die Anleger das haben wollten, sollten sie das doch schlucken und unsere teuren Optionen kaufen. Sollten sie doch ihre Kapitalgarantie erhalten und ein dämliches Auszahlungsprofil, damit sie nachts ruhig schlafen konnten. Naja, wenn die Märkte tatsächlich richtig gut laufen, wäre sogar einiges an Performance drin, vielleicht sogar bis zu acht Prozent. So ganz böse waren wir ja auch nicht mit dem, was wir da trieben und
uns ausdachten. Aber ein bisschen schon, ganz ohne Zweifel. Der Blick in den Abgrund hatte seine eigenen Qualitäten. Das Lächeln meines eigenen Spiegelbildes gefiel mir gut. Ich konnte es nicht verhehlen – das Gefühl der Überlegenheit verlieh mir einen außerordentlichen Sexappeal. Mehr zu wissen als andere bedeutete Macht – im Geldgeschäft noch viel mehr als anderswo. Wenn sie sich so etwas andrehen ließen, waren sie selbst schuld. Ich wollte nicht diejenige sein, die sie eines Besseren belehren und davon abhalten wollte. Da würde ich mir mein eigenes Geschäft kaputtmachen. Wieso rechneten eigentlich alle damit, dass der Markt sich immer weiter nach oben bewegt? Hatten all diese Naivlinge eigentlich schon mal bedacht, dass es von einem Tag auf den anderen aus sein könnte? Mehr und mehr fand ich Gefallen an meiner eigenen Ansprache vor dem Spiegel. Zum Glück betrat niemand anderes den Waschraum. Mit dem, was ich heute erreicht hatte, war ich endlich Teil der Elite geworden, die die Welt beherrschte, wenigstens bildete ich mir das ein. Ich sah schon im Geiste, wie all die vielen Kleinanleger, diese sicherheitsbewussten und kapitalgarantierten Spießer, ihre Unterschrift unter ihren Kauf setzten, voll blöder Dankbarkeit für eine Kapitalgarantie. Wirklich dumm für sie. Die meisten von ihnen wären mit anderen Anlagestrategien besser beraten. Bundeswertpapiere, auf die sollten sie setzen, wenn es ihr Ziel ist, später einmal ihren Kindern die Ausbildung zu finanzieren. Auch gegen einen Aktienanteil in Form von Indexzertifikaten, Exchange Traded Funds oder Einzelaktien sprach nichts. Aber nein, jeder will nach den Sternen greifen – auch wenn sie nur in Gestalt von ein, zwei Prozent mehr Zinsen aufblitzen. Und dabei vergessen sie, dass sich in diesen Produkten enorm hohe Provisionen für die Banker verstecken, die über die Zertifikate und Fonds gezahlt werden. Nur sind
diese für den Käufer natürlich nicht sichtbar, so dass sie gar nicht erst auf den Gedanken gebracht werden, sie müssten diese mitfinanzieren. Unter dem Strich, würde ihnen am Ende nicht so viel bleiben wie bei wirklich soliden Anlagen. Schon wollte ich mich umdrehen und den Waschraum verlassen, doch ich musste noch einmal in den Spiegel blicken: Ich hatte es gepackt, diesem Typen vom EGO Fonds das Ding zu verscherbeln. Ich! Das war der allergeilste Deal des Jahrtausends! Die Bank wird mich mit einem herrlichen Bonus belohnen, weil ich dieses sensationelle Geschäft gemacht habe – auf einen Schlag hatten wir einige Millionen Euro verdient, und die hässlichen Risiken waren aus den Büchern verschwunden. Und niemand würde merken, dass das alles nicht mit ganz rechten Dingen zuging. Vom Fondsmanager bis zum Kleinanleger würde jeder annehmen, er hätte es mit einem außerordentlichen Spitzenprodukt zu tun, das in keiner anderen Bank zu haben ist. Diesen Glauben wollte ich ihnen natürlich auf keinen Fall nehmen. Sie sollten ja nicht merken, dass wir sie bis zum Anschlag ausnehmen. »Ich freue mich, dass wir mit Ihnen das Geschäft abschließen konnten!« Ingo Stein hob sein Glas mit dem perlenden Champagner, als ich mich wieder zu den Männern an den Tisch setzte. Nur zu gern wollte ich auf meinen Erfolg anstoßen. Meine rotgeschminkten Lippen zeichneten sich am Rand des Glases ab. Dass ich das erste Mal Blut geleckt hatte, war schon eine Weile her. Jetzt hatte ich auch das Fleisch vor mir. Und wollte immer mehr davon kosten.
11
Denn sie wissen nicht was sie tun
Wir bekamen den Hals nicht voll. Wir wollten noch mehr Optionen verkaufen. Doch wie ließ sich das bewerkstelligen? »Hey, die Privatanleger haben wir bestens versorgt mit unseren Top-Produkten. Das läuft wie geschmiert. Wie wär’s, wenn wir das Zeug auch noch an kleinere Banken vertickern. Die haben ungefähr genauso viel Ahnung wie die Privatanleger und werden uns den Kram bestimmt abnehmen.«, sagte ich eines Tages zu Martin, nachdem wir uns in einer ruhigeren Phase mal wieder überlegt hatten, wie wir unsere Geldtruhe mit weiteren Bonuszahlungen füllen konnten. »Die haben doch alle Probleme im Eigenhandel und würden gern ihre Rendite aufbessern, nur wissen die nicht, wie. Noch nicht.« Jede Bank, auch wenn sie noch so klein ist, hat einen eigenen Eigenhandelsbereich, der nicht nur die händlerische Gesamtbanksteuerung übernimmt, sondern auch auf eigene Rechnung zockt – ganz ähnlich den großen Eigenhandelsabteilungen in unserer Bank in Frankfurt und London. Die Händler, die dort arbeiteten, waren oft nette Kerle, aber recht unbedarft, was komplexe Finanzstrukturen anging. In schlechten Zeiten ruhte ein gewaltiger Druck auf den Eigenhändlern jeder Bank, denn sie sind dafür verantwortlich, dass Renditen eingefahren werden. Wie auch immer. »Wir gehen selbst zu den Banken hin, sagen, wir hätten ein Zaubermittel für sie.« »Ich bin dabei«, war die spontane Reaktion meines Kollegen. »Das ist ja schnell strukturiert.«
In wenigen Wochen hatten wir tatsächlich ein Gesamtpaket ausgearbeitet, mit dem wir durch die Lande zogen, um es Leitern und Vorständen von verschiedenen kleineren Banken in mehreren größeren und kleineren Städten zu präsentierten: »Sie wissen ja, wie schwer es zurzeit ist, am Kassamarkt ordentliche Renditen zu erzielen.« Kassamarkt, das waren langweilige Produkte wie Aktien und Anleihen, die es natürlich nicht mit dem Sexappeal unserer Produkte aufnehmen konnten. Außerdem wussten wir, dass auch die kleineren Banken – ganz wie wir – Rendite einfahren mussten. Nur fressen die großen Fische die kleinen. Und die großen waren definitiv wir. »Mit innovativen Strukturen können Sie in jedem Markt, egal, ob er stagniert, das Zinsniveau weiter sinkt oder sogar fällt, entsprechende Renditen realisieren.« Bei diesem letzten Satz horchten alle auf, zu verlockend schien der Gedanke, Geld unabhängig vom Zinsniveau und der Richtung der Aktienmärkte zu verdienen. »Das System ist ganz einfach, ihr kauft selbst die strukturierten Produkte, die die großen Banken schon seit Jahren handeln. Wenn ihr wollt, werdet ihr sogar selbst Emittenten von strukturierten Papieren und verkauft sie an eure Kunden. Ihr habe ja einen Eigenhandel und könnt in diese Sachen anlegen.« Wenn wir an diesem Punkt angelangt waren, kam garantiert folgender Einwurf: »Wir können das Produkt aber nicht bewerten. Wir wissen nicht, wie wir mit den Risiken handeln sollen. Unser Risikomanagement ist dafür nicht ausgelegt.« Für uns Investment-Banker waren die Vorstände kleinerer Banken genauso blöd wie Privatanleger. Aber genau darauf spekulierten wir, genau darauf hatten wir unsere Verkaufsstrategie ausgerichtet. »Kein Problem. Wir werden euch nicht nur genau erklären, wie dieses Produkt funktioniert,
wir werden eure Bank auch bestens vorbereiten. Wir stellen sämtliche Bewertungssysteme und Tools zur Verfügung. Ihr müsst nur auf einen Knopf drücken, und ihr könnt strukturierte Papiere bewerten und handeln. Schon ist das Renditeproblem gelöst.« Das musste noch mal hervorgehoben werden, bevor sich die Bankleiter ins gemachte Bett legten. Selbst nach stundenlangen Unterweisungen würden sie niemals in der Lage sein, unser auf deren Computer installiertes System vollständig zu verstehen. Wir fixten sie an und machten sie heiß, möglichst viel in unsere Strukturen zu investieren – und blieben die Gewinner der Veranstaltung. Wöchentlich würden wir ihnen die Preise, die Info- und Inputparameter liefern. Sie hatten keinen Zugang, um in Erfahrungen zu bringen, wie die Korrelationen, Volatilitäten und zukünftigen Zinskurven an den internationalen Finanzmärkten gehandelt wurden, ob die Zinskurve gerade konvex, konkav oder invers war. Im Prinzip hätten wir ihnen bei unseren Set-Ups einen gigantischen Schrott andrehen können, der uns die totale Kontrolle ermöglichte. Aber wir beließen es bei der Rolle des Supporters, der die Software bereitstellte und den Risikobewertungsprozess unterstützte. Was wir machten, erinnerte mich ein bisschen an Drogenhändler, die eine Steigerung des Selbstbewusstseins und die einmaligen Erfahrungen, die ihr Stoff hervorrufen soll, anpreisen und verkaufen, bei den Risiken aber auf das Kleingedruckte verweisen. Die Banker der kleinen Banken bekamen nach und nach glänzende Augen, wir hörten immer häufiger Sätze wie »Klingt nicht schlecht« oder »Könnte ich mir schon vorstellen«. Nicht nur wir waren gierig, sie standen uns in nichts nach. »Euch entstehen keine Kosten, wenn ihr die Produkte exklusiv mit uns handelt«, fuhren wir fort, um die letzten
Zweifler zu überzeugen. »Wir sitzen alle in einem Boot und wollen den Markt aufbauen.« Dieses Wort zum Sonntag verfehlte nie seine Wirkung. Ich musste aufpassen, dass meine Augen beim Reden nicht feucht wurden. Und irgendwie stimmte es (wenigstens fast), dass andere Banken unser System fast unentgeltlich erhielten. Komplexe strukturierte Produkte waren ein Trend geworden, insbesondere die Zinsstrukturen, die wir anboten. Da wir das gesamte Set-Up fast umsonst, nur gegen eine lächerliche Beratungsgebühr anboten, gab es kaum noch Einwände. Und hatte der Vorstand die Sache erst einmal gefressen, schenkte man den Risiken kaum noch Beachtung. Was sagte einer der Banker: »Das ist wirklich fair.« Ein anderer freute sich: »Guter Deal, da kann ich nichts falsch machen, ihr liefert mir die Risikobewertung.« Immerhin verpflichteten wir uns, die Produkte jederzeit zurückzukaufen, wenn es am Ende doch nicht gewollt wurde. Also, was sollte man gegen ein solches Geschäft einwenden? Unserer Bank – auch andere deutsche und amerikanische Investmenthäuser hatten diese Geldquelle für sich entdeckt – ging es um die Optionen. Da mussten uns die Geldinstitute lediglich strukturierte Papiere für 30 Millionen Euro abkaufen – wir nahmen dafür »nur« zwei Prozent –, und schon hatte man 600 000 Euro eingesackt. Leicht verdientes Geld, dachten wir uns, und natürlich klopfte Marc uns vor versammelter Mannschaft auf die Schultern und lobte unsere innovativen Vertriebswege, mit denen wir neue Goldgruben erschlossen. Später zeigte sich, dass manche Geldinstitute strukturierte Produkte für ihren Eigenhandel kauften, die wirklich unseriös waren (was man von unseren nicht unbedingt behaupten konnte) – und an denen sie fast kaputtgingen. Einer Landesbank soll es laut Presseberichten sogar gelungen sein, im großen Stil strukturierte CDOs (Collateralised Debt
Obligations) aus einem über fünf Milliarden Euro schweren Programm im Eigenhandel von kleinen Sparkassen zu platzieren. CDOs sind besicherte Wertpapiere, mit denen Kredit- und Hypothekenrisiken, aber auch spekulative Ramschanleihen verkauft werden können, die jedoch als seriöses und geratetes Investment daherkommen. Ein Großteil dieser spekulativen Produkte muss in diesem Fall angeblich abgeschrieben werden. Aber aus Unverstand – und Habgier – hatten die kleineren Banken und Sparkassen viel zu große Risiken in ihre Bücher aufgenommen, weil man ihnen acht, ja sogar zehn Prozent Rendite versprochen hatte. Zu Klagen kam es wegen dieses Deals bisher nicht, denn dann hätten die kleinen Häuser wohl zugeben müssen, dass sie beim Kauf der Produkte keine Ahnung gehabt hatten. Die Blöße würde sich im Investmentgeschäft niemand geben. Nach der Installation der Software hatte ich nicht wenige Bankmitarbeiter am Telefon, die mich um Rat fragten: »Und jetzt muss ich auf diese Taste drücken? Und wenn ich dort noch die Volatilität und die Daten der Zinskurve eintrage, dann bekomme ich auch wirklich den richtigen Preis?« Mühsame Gespräche waren das, die mich ziemlich viel Nerven kosteten. Denn sie wissen nicht, was sie tun – dieser Filmtitel passte nicht nur auf eine verlorene Generation, sondern – eigentlich sogar noch besser – auf Banker in kleineren Geldinstituten, die auf verlorenem Posten standen.
Doch wir wollten noch höher hinaus. Und so dachten wir uns die verrücktesten Sachen aus: Hier ein paar strukturierte Anleihen, dort ein paar Spekulationen auf die Struktur von Zinskurven über Swaps – und zu gern tanzten wir mit Kreditrisiken aus den verschiedensten Branchen auf dem Hochseil.
Swaps schienen mir abgefahrener als strukturierte Anleihen oder Derivate. Mit ihnen konnte man zum Beispiel auf äußerst komfortable Art und Weise ein Aktienportfolio in eine Anleihe umwandeln, ohne eine einzige Aktie zu verkaufen. Denn mit einem Swap tauschte man nie Anlagewerte, sondern nur daraus resultierende Zahlungsströme – häufig sind dies Zinszahlungen. Wer aus steuerlichen Gründen sein Aktienportfolio nicht auflösen konnte oder wollte, bei dem konnte ich es über einen Swap in eine festverzinsliche Anleihe umwandeln. Der Vorteil: Man musste es nicht vollständig bilanzieren. Durch Swaps war eine weitere Methode gefunden worden, Risiken von zugrunde gelegten Instrumenten zu trennen und einzeln weiterzuverkaufen. Großer Beliebtheit erfreuten sich Credit Default Swaps, mit denen Anleger Ausfallrisiken weiterverkaufen konnten, ohne sich von den Basiskrediten oder -anleihen zu trennen. Noch schräger war eben jene Möglichkeit, auf Zinsdifferenzen zu wetten. Wettet man während einer bestimmten Laufzeit auf eine Verbreiterung der Differenz – des Spreads –, konnte man auch hohe Zinszahlungen realisieren. Blieb die Differenz klein, machte man Verluste mit diesem Geschäft. Das hing vom jeweiligen Können ab. Die Deutsche Bank hatte es sicher gut gemeint, als sie unbedarfte Mittelständler, Gemeinden und kommunale Unternehmen in die Geheimnisse der profitablen Zinswetten über Swaps einweihte. Weniger gut war, dass die jeweiligen Manager der Unternehmen die Produkte offensichtlich nicht richtig verstanden hatten, denn sie verklagten die Deutsche Bank. Anlegeranwälte gehen von möglichen Streitwerten von über einer Milliarde Euro aus. Bisher wurden 1,3 Millionen Euro an Schadensersatz verhängt. Ein Tropfen auf dem heißen Stein – im Vergleich zu der goldenen Nase, die sich vermutlich
die Banker bei diesen strukturierten Zinsgeschäften verdient hatten. Wir machten Zinszahlungen von irgendwelchen imaginierten Bedingungen in der Zukunft abhängig, Produkte stellten wir so dar, dass sie auf den ersten Blick wie eine normale Anleihe aussahen, die aber im Gegensatz zu dieser ein Zinsniveau von zehn Prozent aufwiesen, obwohl vergleichbare Anlagen bei vier Prozent lagen. Zwar unterlagen insbesondere Versicherungs-, Vorsorgekassen- und Stiftungsfonds strikten Anlagevorschriften. Sie hatten bestimmte Quoten für Anlageklassen, die aber vor zwanzig, dreißig Jahren definiert worden waren, also zu einer Zeit, als es unsere innovativen Produkte noch gar nicht gab. Doch die Frage lautete: Waren unsere Strategien überhaupt diesen Bedingungen zuzuordnen? Zum Glück spielten die Wirtschaftsprüfer unser Spiel mit. Zwar mussten wir sie teuer bezahlen, aber immerhin bestätigten sie uns oft genug in Gutachten die Eignung bestimmter strukturierter Produkte in seriösen Anlageklassen. Unabhängig davon: Alle diese von uns in die Welt gesetzten Dinge machten nur bedingt Sinn. Wenn Käufer eine derart präzise Marktmeinung hatten, dass sie stagnierende Seitwärtsmärkte, Zinskurven, Korrelationen und Volatilitäten einschätzen konnten, schienen die Wetten, die wir ihnen verkauften, durchaus einen Nutzen zu haben. Doch wenn sie so kompetent waren, interessierten sie sich kaum für von uns strukturierte Produkte, die versteckte Provisionen enthielten. Wenn überhaupt ließen sie sich auf wirklich spekulative Anlageformen ein, mit denen man riskante Wetten auf Zinsoder Aktienmärkte abschloss – ohne Kapitalgarantie. Dann marschierten sie jedoch fast schon in Richtung Hedgefonds. Die strukturierten Produkte ließen sich aber problemlos verkaufen, und zwar zu einem hohen Preis. Und einzig darauf kam es uns an. Wir selbst wussten, dass viele unserer
strukturierten Anlageprodukte riskante Wetten auf Zinsen, Aktien und andere Risiken enthielten und komplett überteuert abgegeben wurden. Natürlich favorisierten wir verbriefte Strukturen oder OTC-Geschäfte, mit ihnen konnte man wesentlich besser taktieren als mit strukturierten Fonds. Für unseren Geschmack gab es bei den Fonds relativ viele und ziemlich eindeutige Vorschriften, die eingehalten werden mussten. Und etwas offenzulegen, das passte uns gar nicht. Wenn wir Vorschriften akzeptierten, dann höchstens unsere eigenen. Und letztlich existierte nur eine: so zu strukturieren, dass möglichst alles kompliziert und im Detail nicht nachvollziehbar war. Das Problem, das die Deutsche Bank und die Landesbank hatten, tauchte dann leider auch bei mir auf. Ich hatte verschiedenen Pensionskassen strukturierte Anleihen verkauft, inklusive der dazugehörigen Zinswetten – und daran nicht schlecht verdient. Leider entwickelte sich die Zinskurve anders als geplant, und die Zinsen fielen aus. Pech, besonders für eine Pensionskasse, die immerhin um die 20 Millionen Euro investiert hatte. Da meine Bank und ich es nicht auf eine Klage hinsichtlich Beratungshaftung ankommen lassen wollten, fanden wir Wege, ihr hunderttausend Euro zurückzugeben, die sie aus unserer Sicht durch ihre eigene Unachtsamkeit verspielt hatte. Ich kaufte ihr einfach die Anleihe zu einem horrenden und völlig überteuerten Preis zurück, so dass sie die Verluste wettmachen konnte. Das tat weh. Aber besser so reagieren, als einen Kunden zu verlieren und mit schlechter PR die Branche zu verunsichern. Die Summe, da war ich mir sicher, würde ich mit den nächsten Deals wieder reinholen. Und natürlich erzählten wir unseren Kunden nie, dass ein Milliardär wie Warren Buffett einmal an die Investoren seiner Berkshire-Holding schrieb: »Es ist vergleichbar mit der Hölle: Man kann leicht ins Derivategeschäft hinein- und fast nicht
wieder herauskommen.« Später bezeichnete er Derivate als »Massenvernichtungswaffen« und »Zeitbomben«. Meine Kunden hatte ich – allerdings zähneknirschend – vor diesem Exodus bewahrt, ganz nach der Devise Don’t bite the hand that feeds you, Beiße nicht die Hand, die dich futtert. Alles in allem lief unser Handel mit Derivaten und anderen strukturierten Produkten hervorragend. In Millionen-, ja sogar Milliardenhöhe wurden wir das los, was kaum noch einer begriff. Ärztekammern griffen zu, Stiftungen, Vorsorgewerke, Kirchen, Kommunen, selbst beim Vatikan wurden wir vorstellig. Alle glaubten, sie seien besonders clever, wenn sie sich unsere Puzzlekonstruktionen an Land zogen. Und der ganze Boom funktionierte auch deshalb so blendend, weil nicht nur meine Bank dieses Business förderte, sondern alle Investment-Banken an einem Strang zogen. Keiner machte der anderen ein Geschäft kaputt, indem man sagte: »Leute, so geht das aber nicht, das ist doch nicht korrekt.« Wer dachte schon an Moral, wenn man noch reicher dabei werden konnte. Die Gier, die Habsucht, zählt nicht umsonst zu den sieben Todsünden. Im Lukasevangelium steht zwar: »Und er sprach zu ihnen: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier, denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.« Aber wir lebten im Hier und Jetzt. Wir glaubten an den im Kultfilm Wall Street verewigten Gordon Gekko, der uns Gier als evolutionäre Triebfeder verkaufte: »Ladies und Gentlemen, die wichtigste Erkenntnis ist: Gier ist gut. Gier ist richtig. Gier funktioniert. Gier klärt auf, setzt sich durch und ist Kern jeden evolutionären Geistes. Gier in allen Formen, Gier nach Leben, Geld, Liebe, Wissen bestimmt den Drang der Menschheit zu Höherem.« Er musste richtig liegen. Denn wie sollte es sonst angehen, dass wir uns gut dabei fühlten, wenn wir so viel Geld haben wollten, wie wir nur
bekommen konnten? Und weil wir so empfanden, waren wir in unserem Erfindungswahn auch nicht zu bremsen. Möglich wurde all das tatsächlich nur, weil das Informationsungleichgewicht zwischen uns Sales-Personen und den Kunden brutalst war. Erst im Zuge des Crashs von 2008 erkannte auch der Deutsche Derivate Verband (DDV) die Brisanz der Lage (das heißt den drohenden Verlust des lukrativen Geschäfts) und landete einen PR-Coup mit seiner neugegründeten Transparenzinitiative. Da hieß es auf der Internetseite des Verbands zum Thema eines neu eingeführten »Anlegerschutzprogrammes«: »Die Verbesserung der Verständlichkeit und Transparenz der Produkte und der Schutz der Anleger zählen zu den wesentlichen Zielen des DDV.« Der Derivateverband sah wohl die Milliarden, die in der deutschen Zertifikatebranche mit Privatanlegern verdient wurden, davonschwimmen und handelte nach der Devise: »Angriff ist die beste Verteidigung.« Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter, hatte dazu im Oktober 2008 auf einer Derivatetagung im Hinblick auf die deutsche Zertifikatebranche eine treffende Aussage gemacht: »Die Selbstregulierung der Finanzmärkte ist der falsche Weg. Das ist so, als würde man einen Hund damit beauftragen, einen Futtervorrat zu bewachen.« Damit hatte Walter überraschenderweise den Nagel auf den Kopf getroffen. Kann man sich vorstellen, dass dieser Satz mit Herrn Ackermann abgesprochen war?
12
Krieg und Party
Es war eindeutig ein Signal. Die hohen Volatilitäten Anfang 2003 drückten wochenlang größte Unsicherheit aus. Was sich am Markt abzeichnete, war eine Reaktion auf die politische Situation. Wir Broker saßen regelrecht in den Starlöchern: Würde es im Irak zu einem Krieg kommen? Würden Soldaten mit verbündeten Streitkräften in das Land einmarschieren? Machte George W. Bush wirklich Ernst oder nicht? Wir standen alle unter Hochspannung, als am 28. Januar der amerikanische Präsident bekanntgab, er sei bereit, den Irak auch ohne UN-Resolution anzugreifen. Deutschland, Frankreich, die skandinavischen Länder hatten sich von Anfang an gegen den Krieg gestellt, die Briten und viele osteuropäische Länder verstanden sich als Wasserträger von Bushs aggressiver Politik. Wie viele in Deutschland politisierten mich die Diskussionen, die sich darum drehten, ob man mit Kampfflugzeugen, Panzern und Raketen Saddam Hussein unter Kontrolle bringen sollte. Würde sich Bush über sämtliche Abstimmungen im Sicherheitsrat hinwegsetzen? Und wenn ja, was bedeutete das für die Menschenrechte? Gab es Massenvernichtungswaffen? Bestanden Verbindungen zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001? Im Handelsraum glaubte keiner von uns daran. Unserer Meinung nach ging es allein ums Öl. Wir überlegten, wie der gesamte Nahe Osten auf einen immer wahrscheinlicher werdenden Krieg reagieren, welche Auswirkungen das auf den Aktienmarkt haben würde.
»Bei einem volatilen Markt, der so richtig schön schwankt, können wir wunderbar Optionen handeln und mit Futures zocken«, strahlte Pascal. »Wenn es zum Krieg kommt«, bemerkte Hartmut, dessen Schatten unter den Augen im letzten Jahr noch dunkler geworden waren, »wird es reißende Absatzsteigerungen bei den Öl- und Rüstungswerten geben. Schaut euch diese Aktien besonders an. Vielleicht sollte ich auch ein paar Positionen kaufen?« Als Broker durften wir in Aktien anlegen, unterlagen aber Compliance-Richtlinien. Bei jedem Kauf mussten wir einen Stapel von Papieren unterschreiben, in denen wir versicherten, dass wir keinen Insiderhandel betrieben, dass man mit allen Vorschriften konform sei. Alle Depots mussten gemeldet werden, sie wurden ständig kontrolliert; zugleich unterlagen wir bestimmten Mindesthaltefristen. Aber dennoch gab es immer Möglichkeiten… Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass es nicht schlecht wäre, jetzt in Öl- und Rüstungspapieren zu spekulieren. Und ich empfand es als äußerst angenehm, dass ich schon Instrumente aus diesen beiden Bereichen in meinem Depot hatte. Die Handelspositionen waren so bestimmend in meinem Leben geworden, dass ich für einen kurzen Augenblick selbst hoffte – so wie alle anderen Broker, die entsprechende Positionen hatten –, der Krieg würde kommen. 10000 Euro konnte ich dadurch locker verdienen, das hatte ich schon ausgerechnet. Ich war zynisch geworden. »Hoffentlich werden wir wieder so viel Action haben wie beim 11. September.« Pascal rieb sich im Geiste die Hände. Ja, das war wohl die richtige Einstellung. Wie hatte ich mich damals geärgert, nicht im Handelsraum gewesen zu sein. Wie hatte ich gehofft, dass sich noch einmal eine solche Chance ergeben würde. Nun schien sie in greifbare Nähe zu rücken, doch so ganz konnte ich diesmal nicht mitfiebern.
Eigentlich, so dämmerte es mir in bestimmten Momenten, war es erschreckend: Das, was wir im Handelsraum dachten und taten, war komplett entkoppelt von dem, was die Menschen interessierte und bedrückte. Auch wir diskutierten die politische Situation bis ins letzte Detail, aber am Ende hatte unsere Analyse keine inhaltliche Ebene. Es ging einzig darum – ähnlich wie bei den Terroranschlägen auf das World Trade Center –, die Bedeutung all dessen im Hinblick auf die Aktienkurse zu erfassen. Solange wir nicht persönlich betroffen waren, berührte es uns wenig. »Pascal und Hartmut gehen mit den Ölpreisen um, als würde ihnen der dahinterstehende mögliche Krieg egal sein«, sagte ich zu Martin. »Der geht ihnen am Arsch vorbei.« »Was ist denn mit dir los?« Mein Kollege schaute mich erstaunt an, seine steile Falte oberhalb der Nasenwurzel wirkte noch ausgeprägter als sonst. »Bist du etwa im falschen Film gelandet? So kenne ich dich gar nicht.« »Blick dich doch nur um. Hier wird ein riesiges Spekulationsgeschoss aufgebaut, und jeder sucht nach Anzeichen, dass der Krieg endlich kommt. Man kann doch keinen Krieg sehnsüchtig erwarten, nur weil man mit bestimmten Aktienpositionen spekulieren will, das ist doch absurd.« »Das klingt ernst.« Martin rollte seinen Stuhl näher zu mir heran. »Du darfst nicht darüber nachdenken. Keiner bricht in Jubel aus, sollte es Krieg geben. Wir sind hier, um Geld zu verdienen, und nicht um die Welt zu retten. Das ist unser Job. Ist der Krieg vorbei, wird er abgehakt, und man kümmert sich um die nächsten Trades. Business as usual. Aus unserer Perspektive ist es Quatsch, darüber nachzudenken, was ein Einmarsch von Bushs Truppen für die Welt bedeuten wird – nur die Märkte zählten. Du kannst daran sowieso nichts ändern, nur das Beste aus der Situation herausholen. Also,
vergiss deine Bedenken. Du weißt doch: Einer macht immer diese Deals. Da ist es doch besser, wenn wir sie machen, oder?« Martin hatte recht, natürlich wollte ich den Bonus kassieren, bevor ein anderer es tat. Als der Krieg dann ausbrach, konnte sich fast jeder freuen: »Strike. Mal wieder richtiggelegen.« Und ich freute mich, dass ich mit meinen Aktien tatsächlich so viel verdiente, wie ich angenommen hatte. Meine seltsamen Anwandlungen waren vorbei.
Ich war weiter auf dem Spaßtrip. Die Vorgängerorganisation des DDV hatte uns – weit bevor sie den Kotau vor den Privatanlegern machte und als die Welt des Derivatehandels noch in Ordnung war – zu einer Party eingeladen. In den Cocoon Club, eine Frankfurter Szene-Location, in dem auch die Investment-Banker ihre Partys feierten. Dieser Inbegriff eines futuristischen Nachtclubs war gestaltet wie ein Ufo, mit amorphen Wanddekorationen und ähnlich spacigen Videoanimationen. Da musste man hin, da wollte ich hin. Im Gegensatz zur Londoner EUREX-Party war ich nicht mehr jemand, die sich als Müllmillionärin outen musste, um gehört zu werden. Ich war jetzt Teil dieser Sekte von Brokern und Bankern und kannte immer mehr Leute von anderen Investmenthäusern, die mir Infos und den üblichen Klatsch zusteckten. Martin und ich gingen zusammen zu dieser wirklich coolen Szene-Veranstaltung. Jeder hatte sich gestylt, selbst die Typen, die sonst in ihren Anzügen aus allen Nähten platzten oder nur noch ein paar fettige Strähnen auf ihren Köpfen hatten, schienen sich verwandelt zu haben. Die Anzüge saßen, als hätten sie den Schneider gewechselt, das lichte Haar war wohl
mit einem Volumenshampoo behandelt worden. Alle sahen gepflegt und auf einmal ziemlich gut aus. Vielleicht lag es aber auch einfach nur am gedimmten Licht. Die ersten Small-Talk-Runden verliefen nach dem üblichen Schema ab: »Hey, wie geht’s, was läuft gerade bei euch?« Und diesmal konnte ich endlich auch einmal mit einem Mega-Deal aufwarten: »Geschäft läuft super, die Ziele für dieses Jahr erfüllt, und gerade hab ich ‘nen Trade über ein paar hundert Millionen abgeschlossen.« Natürlich erzählte ich das nur denjenigen, die von einer wichtigen Bank kamen. Und natürlich gab ich den Konkurrenten auch keine Einzelheiten preis. »Wir sind schon in einer geilen Situation«, antwortete mir Sascha, Händler einer amerikanischen Investment-Bank, die in Frankfurt ein Tochterhaus hatte. Er war ein Angebertyp der ersten Klasse, aber er sah einfach umwerfend aus und hatte ein verschmitztes Jungenlächeln. Mit ihm konnte ich mir gut vorstellen, gemeinsam auf Raubzug zu gehen. Martin fragte ihn, wann denn seiner nächster Marathonlauf sei. Dieser Sport war neben Golf unter Brokern gerade angesagt. »Ich hab letzte Woche an einem in Berlin teilgenommen«, antwortete Sascha. »Aber im nächsten Jahr ist New York dran. Da flieg ich Business auf Meilen hin.« War ja klar, New York musste es schon sein. »Ihr mit eurem Sport«, mischte sich nun Hartmut ein, der sich mit einem Whiskyglas zu uns gesellte. »Adrenalin wird bei mir nur ausgeschüttet, wenn es um Immobilien geht. Hab mir gerade Investitionsobjekte im Frankfurter Westhafen gekauft, zwei Wohnungen. Top Parkett, Gaggenau-Küche, mit Traumterrassen. Und die Ligne-Roset-Möbel sind schon bestellt.«
Hartmut und sein Immobilientick. Erst vor ein paar Tagen hatte er für seine Eltern ein Ferienhaus auf einer griechischen Insel gekauft, für 250000 Euro. Alle im Handelsraum bekamen das mit, weil er lautstark mit einem Makler verhandelte und es ihm egal war, wer zuhörte. »Und du hast dir wohl wieder etwas Quadratisches für die Wand geleistet?« Diese Frage richtete Hartmut an Martin, der Kunst sammelte. Ein Gerhard Richter stand ganz oben auf seiner Wunschliste, aber bislang schien das noch nicht geklappt zu haben. »Nur eine kleine Zeichnung von Beuys«, erwiderte Martin. »Komm mir bloß nicht mit diesen ekligen Fetten, warum nicht ein schöner Metallbunnyhase von Jeff Koons? Hab übrigens gerade gelesen, dass Koons früher mal Broker an der Warenbörse war, zuständig für Baumwollhandel. Solltest du mit vierzig nicht wissen, wohin mit deinen Millionen, kannst du dir ja ein Atelier leisten und an deiner zweiten Karriere basteln.« »Jedenfalls erscheint mir das besser, als in Ligne-RosetMöbeln und in einer Gaggenau-Küche nicht zu wissen, was man mit sich anfangen soll«, konterte Martin. In diesem Moment erschien überraschenderweise eine afrikanische Tanzgruppe, die barfuß, mit nackten, glänzenden Oberkörpern, Baströcken und mit Trommeln auf die ClubTanzfläche stürmte. Welcher Schwachkopf hatte sich das nun wieder einfallen lassen? Ein wirklich tolles Unterhaltungsprogramm in diesem futuristischen Ambiente. Was hatte der Urwald, in dem höchstens Glasperlen als Zahlungsmittel geschätzt wurden, mit dem zu tun, was wir taten? Als ich zu Sushi und einer Serviette griff, hüpfte ein Trommler um uns herum und versuchte wohl, uns mit seinen Rhythmen in Trance zu versetzen. Wahrscheinlich fand dieser
afrikanische Tänzer es mindestens so absurd wie ich, dass er hier mit nackten Füßen um die 1000-Euro-Anzugträger herumwirbeln musste. Ich war froh, als die Nummer vorbei war. Inzwischen hatten alle schon eine Menge getrunken, und die Seidenkrawatten saßen etwas lockerer um den Hals. Wer überhaupt noch Gespräche führte, gab fast nur Nonsense von sich, weshalb die meisten von uns tanzten. Leider legte der DJ erneut eine Pause ein, diesmal für den Auftritt einer Bauchtänzerin. Nach Afrika nun auch der Orient. Wahrscheinlich war am Ende des Abends mit einer brasilianischen Voodoo-Zauberin zu rechnen, die uns Goldmünzen prophezeite, die in keinen Geldschrank der Welt passen würden. Nach der aufreizenden Darbietung – es war ein Uhr morgens – zerrte mich ein biederer Fondsmanager auf die Tanzfläche, vollkommen animiert von dem vorher Gesehenen. Vor zwei Wochen hatte ich mit ihm einen 50-Millionen-Deal gemacht. Anscheinend meinte er, deshalb nun ein gewisses Recht auf mich zu haben, denn er ließ meine Hand nicht los. Natürlich wollte ich ihn nicht vor den Kopf stoßen und damit brüskieren, dass ich ihm meine Hand entriss – mit diesem Spießer wollte ich in den nächsten Jahren schließlich noch Geschäfte machen. »Ich will sehen, wie du Bauchtanz machst.« Immer wieder flüsterte er mir die Worte zu – und kam mir dabei näher und näher. Mein Gott, was konnten Kunden anhänglich sein. Nachdem ich drei Musiknummern durchgestanden hatte, hob ich meine linke Hand Richtung Hinterkopf. Martin war noch nüchtern genug, um diesen zwischen uns für solche Situationen abgemachten Code nicht zu übersehen. Manchmal gab es keine andere Möglichkeit, sich diesen aufdringlichen Typen zu entziehen. Immerhin konnten meine Kollegen das
verstehen und hatten sich einen Sport daraus gemacht, mich aus solchen Annäherungsversuchen zu befreien. »Hey«, sagte Martin, als er neben mir auf der Tanzfläche stand. »Du musst unbedingt mit mir mitkommen, hab dir jemanden vorzustellen.« Voller Bedauern entfernte ich mich von dem engagierten Tänzer, endlich froh, ihn los zu sein. Martin, Hartmut und einige Kunden wurden langsam unruhig. Sie wollten aufbrechen, zum Table Dance, der übliche Abschluss eines solchen Abends. Eine Flasche Champagner und eine halbnackte Frau auf dem Schoß, der man einige Euro in die knappsten Dessous steckte. Es war klar, dass ich ihnen dorthin nicht folgen würde. Aber es kam ihnen auch nicht in den Sinn, mir diesen Ausflug zu verheimlichen. Ich wusste, am nächsten Morgen würden sie in meiner Gegenwart von der süßen Blondine und der Rothaarigen mit dem knackigen Hintern schwärmen. Ihre Frauen, keineswegs InvestmentBankerinnen oder sonstige Überfliegerinnen, sondern Lehrerinnen oder Hausfrauen und Mütter, wie ich in der Zwischenzeit in Erfahrung gebracht hatte, ahnten wahrscheinlich nichts von diesen ausschweifenden nächtlichen Unternehmungen. Hatten die meisten von ihnen nicht irgendwann einmal ein Ehegelöbnis oder sonst wie geartetes Treueversprechen abgegeben? Es war schon erstaunlich, wie viele der Männer jede Gelegenheit nutzten, um irgendwelche Frauen abzuschleppen. Sicher gingen sie auch zu Prostituierten der Edelklasse. Aber war ich anders? Ich hatte keine feste Beziehung, und ich hatte auch nicht die Idee, dass ich eine haben müsste. Hin und wieder eine Affäre mit einem der Fondsmanager, mit denen ich keine Deals machte – das reichte vollkommen, um mein Ego zu stärken. Über längere Zeit konnte ich die meisten der Typen auch nicht ertragen, obwohl alle gut aussahen, intelligent und
gebildet waren – und selbstverständlich viel Kohle besaßen. Als Frau hatte man eigentlich wenig Probleme mit ihnen, aber auf Dauer gingen sie mir auf die Nerven. Manchmal brauchte es nicht mehr als einen Wochenendtrip, um zu wissen, dass ein Date mit einem anderen die einzige Chance war, sie abzuservieren. In meiner Branche war ich umgeben von Selbstdarstellern – und damit kannte ich mich aus, schließlich war ich selbst eine. Wahrscheinlich fand ich aus diesem Grund ihr Gehabe über kurz oder lang störend. Wie sie in teuren Restaurants die ganze Speisekarte rauf- und runterbeteten, als wenn mich das beeindrucken würde. In diesen Momenten schienen sie vergessen zu haben, dass ich ständig solche Lokale aufsuchte, man musste mir nicht erklären, was Norcia-Trüffel oder Fagottini sind. Ich war keine kleine Versicherungs-Angestellte, die sich tagelang aufbrezelte, wenn man sie in ein solches Lokal einlud. Stundenlang konnten sie über ihr Loft erzählen, welches sie gerade erworben hatten und nun nach ihrem Geschmack – den ich selten entdecken konnte – renovieren und umgestalten würden. Natürlich nicht selbst, dazu gab es ja Leute, Handwerker und einen der besten Innenarchitekten der Stadt. Am Ende kannte ich jede einzelne Badezimmerkachel, jede Marmorfliese im Wohnzimmer, sämtliche Regale. »Und was willst du in die hineinstellen?«, fragte ich einen vielversprechenden Kandidaten, als er mir sein neues modulares Edelstahlsystem zeigte. Er blickte mich verdutzt an. »Naja, meine Musikanlage…« »Und Bücher?« »Bücher?« »Ja, Bücher.« »Stimmt eigentlich, sonst sieht es wohl kahl aus. Ich glaub, ich hab irgendwo noch ein paar.«
»Vielleicht solltest du deinen Innenarchitekten mal fragen, ob man Bücher nicht quadratmeterweise kaufen kann. Als Attrappe.« Eine solche Antwort löste nur noch mehr Irritation aus. Meine Dates merkten nicht einmal mehr, dass sie die perfekte Parodie eines Fondsmanagers abgaben. Die Männer in meinem Handelsraum konnten sich dagegen selbst auf den Arm nehmen. Sagten von sich, dass sie ein Arschloch seien, aber ein reiches – und dabei lachten sie. Fondsmanager aber waren dazu nicht in der Lage. Also schien es angebracht, sie in Zukunft auf Abstand zu halten. Klar, Typen wie Sascha, die fand ich schon verdammt anziehend. Aber bei Brokern hatte ich immer das Gefühl, dass sie mir beweisen wollten, sie seien besser als ich. Und die Älteren unter ihnen waren es auch tatsächlich. Auch eine mühsame Angelegenheit. Ich wollte ja die Erfolgreichere sein. Einmal stritt ich mich mit einem Händler, mit dem ich eine Zeitlang befreundet war, über Geld. Das sollte man nie machen. »Ich verdiene mehr als du!«, trumpfte Moritz auf. »Klar, wenn ich in dem Alter bin, wo ich deine Stirnglatze hab, sprechen wir uns wieder«, erwiderte ich gereizt. Es ärgerte mich natürlich, dass er mehr auf seinem Konto hatte als ich. »Und überhaupt, Geld bedeutet mir nichts. Gar nichts.« »Das soll ich dir glauben? Warum telefonierst du denn hinter deinen Kunden her und lädst sie zu irgendwelchen blöden Veranstaltungen ein?« In meinem Trotz holte ich aus meinem Portemonnaie einen 100-Euro-Schein, zerriss ihn in kleinste Schnipsel, warf diese in einen Aschenbecher und zündete sie mit meinem Feuerzeug an. »Was sind schon lächerliche 100 Euro«, sagte Moritz. »Damit beweist du mir nichts.«
Dies war der letzte Abend, den wir zusammen verbrachten.
Plötzlich entdeckte ich in der Menge Lilly, die in ihrem nachtblauen Designer-Ensemble aussah, als hätte sie gerade ein Wellness-Wochenende hinter sich. Es schien sie nicht im Geringsten anzustrengen, stundenlang auf ihren hohen Pumps herumzugehen. Meine Freundin hatte eine Frau im Schlepptau, Nadja, Mitte dreißig, fitnessstudiogestählt, mit blonden, hochgesteckten Haaren und einem schräg gemusterten Kleid, passend zum Ambiente. Nadja, sagte Lilly, sei schon seit einigen Jahren Händlerin in Frankfurt, eine der ersten Frauen überhaupt in der deutschen Brokerbranche. »Kannst sie dir zum Vorbild nehmen«, fuhr meine Freundin fort, »sie hat schon so viel Kohle eingesackt, dass sie bei den großen Jungs mitspielt.« Das konnte nur heißen, dass sie bereits siebenstellig war. »Und wie fühlt sich das an?«, fragte ich. »Das reicht noch lange nicht.« Nadja machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber zum Glück gibt es genügend Trottel, die für einen Aufwärtstrend auf meinem Konto sorgen.« Sie war eine Brokerin von der ganz harten Sorte. Das konnte ich gleich feststellen. »Der Typ da drüben«, erzählte sie ohne Umschweife weiter, »mit dem war ich übrigens nach einem Geschäftsessen in der Kiste.« Ich folgte Nadjas Blicken. Es war Sascha, der gerade Gesten machte, die nur eines signalisierten, nämlich dass er wahnsinnig toll sei. »Den könnt ihr glatt vergessen, sollte er euch mal näherkommen. Der hat einen total kleinen Schwanz, und lecken kann der auch nicht.« »Das kann ich nur bestätigen.« Lilly hatte also auch schon ihre Erfahrungen mit ihm gemacht. »War mit dem in Prag, ein ganzes Wochenende. Tote Hose. Der hatte nur seinen nächsten
Marathonlauf im Kopf.« Sascha konnte ich also streichen. Aber was machte das schon? In unserer Welt waren Männer keine Mangelware. Wir standen noch eine Weile zusammen, und zu dritt machte es einen Riesenspaß, jeden, der uns ansprechen wollte, zu ignorieren. Oder wir zeigten ihm unsere hässliche Seite. Als ein Milchgesicht, der sich gerade etwas von seinem Getränk auf die Hose geschüttet hatte, einen Annäherungsversuch startete, sagte Nadja: »Hast wohl gerade mit deiner Mutter geschlafen?« Lilly: »Vielleicht trieb er es mit seinem Vater? Also wirklich.« Ich: »Oder war es einfach nur ein feuchter Traum? Armer kleiner Junge.« Mit hochrotem Gesicht verzog sich der Typ. Er musste noch eine Menge lernen, um in den Zirkel der hartgesottenen Kerle aufgenommen zu werden. Wir waren so überzeugt von uns, so arrogant, so selbstherrlich. Dabei führten wir nur das fort, was unsere männlichen Kollegen uns vormachten. Wir kannten keine Schwächen, und erst recht ließen wir keine zum Vorschein kommen. Keinem wollten wir eine Angriffsfläche bieten. Wir waren diejenigen, die wählten, wir nahmen uns das, was wir wollten – oder verstießen den, den wir satthatten. Und nur eines wollten wir wirklich: Geld, und immer wieder Geld. Das war unsere primäre Belohnung, Männer rangierten da nicht an erster Stelle, sondern waren ein netter Zusatzeffekt, den wir gern mitnahmen. Der Abend hatte sich am Ende noch richtig gelohnt. Das Ganze war jetzt für mich eine einzige große Party.
13
There is no free lunch
Kurze Zeit später hatte ich Herrn Zellner am Telefon, mein kleines Sorgenkind. Zellner, ein aufgeschlossener Fondsmanager einer großen Versicherung, traf sich gern mit uns Brokern – wahrscheinlich wäre er manchmal lieber auf unserer Händlerseite und nicht auf der eines Geldverwalters. Leider hatte er in den letzten Jahren eine schlechte Performance hingelegt. »Kann ich nicht irgendetwas machen, damit mein Portfolio in diesem Jahr nicht so miserabel dasteht?«, erkundigte er sich. Ich wusste, dass er einen sportlichen Anlagestil bevorzugte und auch vor Risiken nicht zurückschreckte. Im derivativen Bereich bewegte er sich schon ziemlich scharf an den Grenzen seiner Anlagevorschriften. Trotzdem, um wieder in den grünen Bereich zu gelangen, musste er ein paar Millionen an Performance aufholen. Ein idealer Kandidat für Martin und mich. »Sie meinen, wir sollten uns ein wenig in den offensiven Bereich hineinbewegen?« Mit ihm konnte ich eine so deutliche Sprache sprechen. Außerdem hatte er mir mit seiner Frage signalisiert, dass er auf konservative Anlagen keinen Wert legte. Das Wort »konservativ« steht in der Bankersprache für solide Investments mit sehr geringer Risikoklassifizierung, »offensiv« für spekulative Investments. Bei Adjektiven wie »sportlich« oder »mutig« sollte man am besten weglaufen, dann kann es sich nur um hochriskante Anlageprodukte handeln.
»Besser hätte ich es nicht formulieren können. Gibt es da eine Sache, die nicht so ins Auge fällt?« Manche Fondsmanager brachten mich zum Erstaunen. Wenn wir ihnen etwas unterjubelten, so war das eine Sache. Aber Zellner gehörte zu jener Sorte, die sich bewusst an die Grenzen ihrer Richtlinien heranarbeitete, diese gelegentlich sogar überschritt. Mir war es völlig egal, wie viel Verantwortung ein Fondsmanager an den Tag legte – manchmal so gut wie gar keine –, ich wollte einfach nur Geld verdienen und wunderbar exotische Produkte konstruieren. Das Ausloten der schwärzesten aller Grauzonen stand zwar nicht in meiner Jobbeschreibung, war aber faktisch Teil meiner Arbeit. »Es gibt eine Möglichkeit, in Hedgefonds anzulegen. Wir verpacken die Struktur für Sie in einem Schuldscheindarlehen. Wenn Sie das wirklich wollen und Interesse haben, kriegen wir das für Sie hin.« Zellner hatte ein millionenschweres Portfolio verschiedenster Schuldscheine, da würde ein getarnter Hedgefonds auch nicht weiter auffallen – das vermutete ich jedenfalls. Ich wusste nicht genau, ob oder wie haarscharf Zellner an seinen Anlagerichtlinien vorbei investierte, vielleicht würde er sogar versuchen, das hochriskante Papier in den Deckungsstock seiner Versicherung zu hieven. Der Deckungsstock soll die Ansprüche der Versicherten im Falle einer Insolvenz decken beziehungsweise sichern. »Klingt gut.« »Und können Sie sich vorstellen, in was für Hedgefonds Sie reingehen wollen?« »Ich denke da an einen Anbieter, der mit Leverage in allen Anlageklassen aktiv ist. Sagt Ihnen Global Macro etwas?« »Ich würde Ihnen da nicht widersprechen.« Leverage bedeutete, auf Kredit zu spekulieren. Das war mehr als hochriskant.
»Bleibt die Frage, was für ein Produkt ich am Ende von Ihnen bekomme.« »Eines von einer renommierten deutschen Bank mit einem erstklassigen Rating.« »Perfekt«, sagte Zellner. »Und hat das Ding auch einen Namen?« »Sie bekommen ein Wertpapier, dessen Tilgung an die Entwicklung eines Index gekoppelt ist, eines ganz offiziellen Index, der auch berechnet wird. Wir können ihn Delta Eins Index nennen. Sie können sich aber gern auch einen eigenen Namen ausdenken. Am besten etwas vollkommen Unverfängliches. Was das angeht, sollten Sie den Ball flach halten. Es muss ja nicht jeder wissen, was wir treiben.« Mir war schleierhaft, ob und wie er es schaffen wollte, die Hürde der Kontrolle durch seine Wirtschaftsprüfer zu nehmen. Hauptsache, er würde später nicht zu mir kommen und mir etwas vorjammern. Wirtschaftsprüfer auszutricksen, das war schon ein kleines Kunststück. Aber naiv war Zellner ebenso wenig wie wir. Mit ihm fühlte ich mich auf gleicher Höhe, er war Zocker wie ich, nicht so einer wie Ingo Stein, bei dem ein solcher Deal Herzrasen ausgelöst hätte. »Haben Sie eine Idee, wie Ihre Bank sich absichern will?« Zellner verstand wirklich etwas von unserem Business. Er war definitiv auf der falschen Seite. »Ich denke über eine Gesellschaft in Liechtenstein nach, die die Gelder über eine Zweckgesellschaft auf den Cayman Islands in die Hedgefonds investiert. Mit einer synthetischen Struktur aus Derivaten bekommen wir eine 1:1-Performance hin. Delta 1. Eine Finanzgesellschaft in London berechnet einen Index. Von den Liechtensteinern kaufen wir bloß noch die Optionen, die auf diesen laufen. Ich denke, so bauen wir den Hedge für Ihr Wertpapier auf. Wer geht schon in eine
Liechtensteiner Bank und nimmt dort die Bücher unter die Lupe? Keiner.« Hedgefonds sind praktisch unreguliert und nicht erst seit LTCM bekannt, der bekanntlich das Weltfinanzsystem zum Wanken brachte. Inzwischen sind ein paar mit Hedgefonds vergleichbare Fonds auf dem deutschen Markt zugelassen und damit über Banken erhältlich. Aber die Zulassung erfolgte erst, nachdem sie verschiedene Aufsichtsinstanzen durchgestanden hatten. Damit hatten sie aber auch einen großen Teil ihres Charmes verloren. Beispielsweise mussten sie strenge Offenlegungs-Pflichten einhalten. Daher verzichteten sie oftmals auf die Anerkennung durch die deutsche Finanzaufsicht BaFin. Die Anlage in 95 Prozent der weltweiten Hedgefonds ist für deutsche Anleger folglich nur über komplizierte Umwege möglich. »Ein brillanter Zug«, bemerkte Zellner. »Wir sollten mal eine Partie Schach zusammen spielen.« Während eines Essens hatte ich ihm von diesem Hobby erzählt. Das war eine Ausnahme, normalerweise hielt ich Persönliches unter Verschluss. Man konnte nie wissen, ob so etwas nicht einmal gegen mich verwendet wurde. »Aber statt der Caymans könnten es doch auch die Bermudas oder die Ärmelkanalinsel Jersey sein, oder?« »Stimmt, auch eine Alternative.« »Und was passiert da?« »Diese Steuerparadiese leben von sogenannten Zweckgesellschaften. Sie sind selbst Hedgefonds, kaufen Anteile aus Hedgefonds oder investieren in HypothekenKredite, in Kredit-Derivate, in russische Anleihen – da gibt es wieder die wunderbarsten Sachen. Natürlich geht das alles über fünf Ecken, alles wird immer weitergeschoben, wandert durch sämtliche Handelsbücher der Welt. Und dann kann wirklich kein Mensch mehr nachvollziehen, wie die
Zusammenhänge sind. Selbst der gründlichste Wirtschaftsprüfer oder ein schlauer Mensch von der Aufsicht muss irgendwann die Spur verlieren, wenn er denn überhaupt je eine hatte. Wir planen zwar nicht den perfekten Mord, dafür aber die perfekte Rendite. Doch im Gegensatz zum Mord ist das, was wir tun, nicht wirklich illegal.« Nein, unsere Art, Geld zu verdienen, war nicht kriminell, kriminell war es, wenn man eine Bank überfiel. Wir Derivate-Händler, wir hätten so etwas niemals getan, dafür waren wir zu intelligent. Bloß: Die Risiken wurden durch das Wandersystem auch nicht gerade weniger. »Doch was im Endeffekt bei diesen Domino-Strukturen herauskommt, ist selbstverständlich auch nicht im Sinne der Aufsicht.« Schlaues Kerlchen. »Es ist nicht unser Job, darüber nachzudenken. Dafür werden andere bezahlt. Der Zweck des Ganzen ist eine hohe Rendite. Bis die Aufsicht dahinterkommt, wie all diese Strukturen und Konstruktionen funktionieren, sind wir längst in Rente. Bisher lässt sie uns weitestgehend unsere Sachen machen – und wohl hauptsächlich deshalb, weil sie keinen Plan hat, was wirklich in den Banken abgeht.« »Und wie hoch könnte die Rendite nun bei mir sein, wenn ich mich dafür entscheide?« »Ich könnte Ihnen etwas anbieten mit 12 Prozent im Jahr, die Sie auch wirklich bekommen, wenn alles nach Plan läuft. Aber Sie kennen ja auch den Spruch, den Börsianer gern benutzen: There is no free lunch? Nichts ist in diesem Fall garantiert.« Es existieren viele Brokersätze, aber dieser erschien mir als einer der zentralsten, universell übertragbar. »Es gibt kein Mittagessen umsonst«, so würde man ihn wörtlich übersetzen, sinngemäß jedoch mit: »Von nichts kommt nichts.« Wer eine hohe Rendite wollte, musste auch bereit sein, hohe Risiken zu tragen. Jede Rendite, die höher als der risikofreie Zinssatz von
Bundesanleihen ist, wird mit Risiken bezahlt. Die Kunst ist es, die Risiken zu finden und zu verstehen. Diese Regel hat sich in der Finanzwelt seit vielen Jahrhunderten bewahrheitet. Seltsamerweise wurde sie nur in jedem Boom und auch in jeder Blase vergessen. Die Gier der Anleger ist stärker. Jeder folgt seinem Jagdinstinkt und greift nach dem Mehrgewinn wie nach einem Schnäppchen. Obwohl jeder weiß, dass einen Schnäppchen am Ende teurer zu stehen kommen können als regulär Erworbenes. Und auch Investmentschnäppchen haben oft einen ziemlich teuren Haken. Aber weil Risiken in den Köpfen der Menschen keinen Platz haben, sind nicht wenige deswegen brutal auf die Nase gefallen. Etwa jene Menschen, die an den Gothaer Versicherungskonzern glaubten. Nach der Wende hatte das Unternehmen unter anderem auf Osteuropa-Immobilienfonds gesetzt – und im Jahr 2002 einen Kapitalanlage-Verlust von 198 Millionen Euro verkraften müssen. Aber kranke Modelle vergaß man nur zu gern, und zu schnell. »Ist mir klar«, sagte Zellner am anderen Ende der Leitung, »je mehr Rendite, desto mehr Zusatzrisiken.« Ich konnte mir vorstellen, wie sich bei diesen Worten sein Gesicht zu einem allwissenden Lächeln verzog. »Und welche Summe wollen Sie anlegen?«, fragte ich. »Hab an 50 Millionen gedacht.« Der Arme, Zellners Bilanz musste wirklich schwer im Argen liegen, wenn er solche Summen in Hedgefonds investieren wollte. »Okay, ich werde Ihnen ein entsprechendes Produkt konstruieren, das Sie glücklich machen wird.« Und mich und die Bank natürlich auch. Meine Deals wurden langsam immer fetter, ich hatte nicht mehr nur mit Durchschnittsgeschäften zu tun. Genau das, was ich angestrebt hatte, schien sich nach drei Jahren zu realisieren. Keine schlechte Leistung, in Gedanken klopfte ich mir selbst auf die Schulter.
Manche Kunden äußerten den Wunsch, einmal die »heiligen« Hallen kennenzulernen. Paul Bunk war einer von ihnen, ein Geldmanager eines der elitären Family Offices, Ende vierzig, ganz angenehm, kultiviert. Irgendwie schien ich aber in der letzten Zeit nur noch eine latente Verachtung für meine Klienten übrigzuhaben, selbst für diejenigen, die ich zuvor immer sympathisch gefunden hatte. Mich irritierte das ein wenig, manchmal kam mir sogar der Gedanke, dass es doch eigentlich ziemlich ekelhaft war, was ich so trieb. Doch vorerst hatte ich Besseres zu tun, als weiter darüber nachzudenken. »Gleich kommt Paul Bunk«, rief ich Pascal zu. »Er würde gern mal mit einem richtigen Händler sprechen, nicht nur mit einer hübschen Frau wie mir, die unsere tollen Produkte vertickt. Könntest du das nicht übernehmen und ihm ein paar Dinge erklären?« Pascal verdrehte die Augen. »Das auch noch. Hattest du den nicht schon ein paarmal an der Strippe? War der nicht von der Sorte Dummschwätzer?« »Komm schon, gib dein Bestes. Er bemüht sich wirklich, nicht so blöd dazustehen. Und irgendwoher muss dein Bonus ja kommen.« »Stimmt auch wieder. Okay, schick ihn einfach zu mir rüber. Ich werd ihm mal zeigen, was ein echter Händler ist.« »Ich warne dich, vergiss deine schlechte Kinderstube und spiel den wohlerzogenen Businessmann. Kannst mich doch nicht blamieren.« Pascal lachte: »Jawohl, Frau Feldwebel, bitte gehorsamst, Ihnen zu Diensten sein zu dürfen.« Unsere einstige Abneigung hatte sich langsam in eine Art Hassliebe verkehrt, na ja, wenigstens respektierten wir uns. »Spinn nicht so viel rum, verdien lieber Geld.« Als hätte ich dies zu mir selbst gesagt, wandte ich mich wieder meinen Experimenten zu. Bunk hatte schon strukturierte Produkte im
Volumen von fast 100 Millionen Euro gekauft, jetzt dachte er an noch exotischere Produkte und neue Anlageklassen, hatte nach forderungsbesicherten Anleihen gefragt. Im Prinzip waren das Anleihen, die mit Schrottkrediten, also Forderungen, besichert waren, die die großen Investment-Banken aus ihren Portfolios hieven wollten. Sie wollten und konnten das Risiko der Schrottkredite, das sie sich über Jahre in die Bilanzen geschaufelt hatten, nicht mehr tragen. Und in den sogenannten Collateralised Debt Obligations (CDOs) hatten sie eine elegante Möglichkeit gefunden, ihre Risiken äußerst profitabel an Anleger zu verscherbeln: Mit CDOs gelang es, gekaufte Kreditrisiken zu bündeln, ein zweites Mal zu verbriefen und als neues Produkt weiterzuverkaufen. Hierbei wurden die Kreditrisiken in verschiedenen Tranchen angeboten: SeniorTranchen hatten ein relativ geringes Ausfallrisiko, MezzanineTranchen, die Bunk wollte, waren risikoreicher. Ganz am Ende standen die Equity-Tranchen – nur noch hochspekulativer Investitionsmüll. Problematisch war die Kaskadenstruktur, die sich die Investment-Banken für die CDOs ausdachten. Indem man die alten Papiere stets neu verkaufte und in Zweckgesellschaften tranchierte, wurden die eigentlichen Risiken immer intransparenter. Die Rating-Agenturen merkten dies nicht und vergaben für potentiell hochspekulative und neu verbriefte Tranchen Top-Bonitäts-Ratings. Pech für die Anleger. Auch andere Risiken wurden auf diese Art verhökert. Prominentestes Beispiel sind die Hypotheken und Kredite der US-Häuslebauer (Subprime-Segment) gewesen. Diese fielen schließlich der Reihe nach aus und rissen Investoren und Banken mit in den Abgrund. Bunk wusste, dass unsere Bank CDOs promotete. Neben unseren strukturierten Produkten waren sie der letzte Schrei bei den institutionellen Anlageprodukten. Wahrscheinlich würde
es nur noch wenig Zeit dauern, bis diese auch den Privatanlegern angeboten wurden. Aber er wusste nicht so recht, wie sie funktionierten. Ich selbst strukturierte CDOs nicht, das machte eine andere Abteilung, aber ich hatte diesen möglichen Deal angeleiert. Und damit das Geschäft auch zustande kam, wollten Bunk und ich gegen Mittag zu unserer Bank nach London fliegen. Ich wusste, wenn mein Kunde zuschlug, dann richtig. Ich schätzte, 150 Millionen Euro waren mindestens drin. Aus dem Grund ließ ich es mir auch nicht nehmen, ihn persönlich nach London zu begleiten. Wie alle Sales-Leute hütete ich meine Kunden eifersüchtig, und ich wollte nicht, dass er sich womöglich mit den Londoner SalesKollegen anfreundete. Keineswegs durften diese auch noch meinen Anteil an der Bunk-Beute einstreichen. Und wenn ich die Flüge selbst bezahlen musste – Bunk durfte nicht alleine nach London, so viel war klar. Die meisten dieser verbrieften Papiere, überlegte ich, während ich auf meinen Kunden wartete, wurden über Offshore-Zentren wie die Cayman Islands, die ja auch wir für unsere Strukturen nutzten, strukturiert. Und dabei ging es noch abenteuerlicher zu als bei unseren Produkten. Im Gegensatz zu dem, was die Londoner Kollegen betrieben, waren wir fast Waisenkinder. Die Malediven wären eigentlich auch ein gutes OffshoreZentrum, überlegte ich weiter, aber die hatten sich auf Touristen eingestellt, holten Surfer, Taucher und Sonnenanbeter in ihr Land. Ein anderes gesamtstaatliches Geschäftsmodell. Diese autonom agierenden Inseln wie eben die Cayman Islands – fünftgrößter Finanzplatz der Welt – oder Jersey hatten es sich zum Markenzeichen gemacht, es internationalen Firmen zu ermöglichen, mit sehr geringem Aufwand Anlagegesellschaften zu gründen – bei einer gegen null tendierenden Aufsicht: Kaum Vorschriften, so gut wie
keine Kapitalrestriktionen und Steuern. Deutsche Anleger mussten ihre Transaktionen nicht eindeutig in die Bücher hineinnehmen, die deutsche Finanzaufsicht konnte lange in diese Bücher hineinschauen, sie würde nichts Aussagekräftiges finden. Und ausländisches Geld durfte an diesen Plätzen nahezu unbegrenzt ein- und wieder ausfließen. Rund 45000 Einwohner leben auf den Cayman Islands – und ihnen stand damals wie heute ein Geldvolumen von Billionen von Dollar gegenüber. Für einen europäischen Industriestaat undenkbare Verhältnisse. Zwar waren Länder wie die Schweiz oder Liechtenstein durch ein bestimmtes Gesetzgebungs-, Aufsichts- und Steuersystem innerhalb Europas auch zu einem Steuer- und Finanzparadies geworden, doch Offshore-Zentren wie die Cayman Islands trieben es noch einige Schritte weiter. Auf diesen Spielwiesen war Geld gleichsam vogelfrei. Und sie boten etwa europäischen und amerikanischen InvestmentBanken trotz vorhandener Anlagerichtlinien die Möglichkeit, einige interessante Dinge mit Geld zu veranstalten – zum Beispiel mit eben jenen schon erwähnten Hedgefonds. Pünktlich um halb neun sagte man mir, ich könne Paul Bunk im Foyer unserer Bank abholen. Er hätte sich ein Taxi genommen, weil sein Auto in der Werkstatt sei, berichtete er mir, nachdem wir uns begrüßt hatten. Fast hätte ich ihm geantwortet, dass mich das einen Dreck interessierte. Stattdessen fragte ich nach den Problemen und nach der Marke seines Wagens. Natürlich Mercedes. Passte zu ihm. Modell solider Familienvater. Aber vorher führte ich ihn zu Pascal in den Handelsraum, der sich für diesen Auftritt sogar seine Schuhe angezogen hatte. Wahrscheinlich brannte Bunk schon den ganzen Vormittag auf diese Begegnung. Sicher hatte er auch Fragen parat, man hatte sich ja vorbereitet. Richtig geraten.
»Welche Modelle benutzen Sie eigentlich zur Berechnung von exotischen Optionen? Black Scholes ist ja ein sehr zuverlässiges Modell, zumindest im Vanilla-Bereich.« Das Black-Scholes-Modell war eine Formel zur Bewertung von Optionen, die 1973 als ein Meilenstein in der Finanzwirtschaft gefeiert wurde. Seit vielen Jahrzehnten hatte man mit Optionen gehandelt, aber niemandem war es zuvor gelungen, eine abgesicherte Grundlage zu schaffen, mit dem sich die komplexen Optionen bewerten und berechnen ließen. Für das Modell, das die Ökonomen Fischer Black und Myron Samuel Scholes entwickelt hatten, erhielten sie 1997 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Ein Jahr später, das ist die Ironie der Geschichte, straften die Finanzmärkte die Väter dieses Modells Lügen. Mit ihrem LTCM-Fonds bewegten sie über Derivate ein Volumen von 1,2 Billionen (!) US-Dollar und sahen sich schließlich nicht mehr in der Lage, ihre Kredite zu tilgen, da sämtliche Vermögenswerte vernichtet waren.* Der Zusammenbruch von LTCM führte dazu, dass die privaten Banken, die größere Positionen in diesem Fonds hatten, von Goldman Sachs bis hin zur Deutschen Bank, zitterten. Sie schnürten 1998 von sich aus ein Rettungspaket, damals ohne wesentliche staatliche Unterstützung. Die rettende Eigeninitiative für den LTCM war aus der Angst geboren, man fürchtete sich, dass alles explodieren könnte. Bunk wurde auch gleich von Pascal korrigiert. In einem ausgesucht höflichen Ton erwiderte er: »Black Scholes ist das kleine 1x1 der Optionen. Aber gut, dass Sie es kennen. Im exotischen Bereich arbeiten wir weniger mit analytischen Methoden, sondern bewegen uns in der Stochastik. Methoden wie Monte Carlo oder andere sind da hilfreicher. Oder wir nutzen Crank-Nicholson für finite Differenzen. Unsere Quants arbeiten viel numerisch.« Natürlich musste meine Kollege den *
Fischer Black war bereits 1995 verstorben, er gehörte LTCM nicht an.
Experten heraushängen lassen, der Angeber. Ich konnte kaum mein Lachen unterdrücken, denn Pascal verstand von den Modellen fast genauso wenig wie Bunk. Doch die Ausführungen verfehlten nicht ihre Wirkung. Mein Kunde war verwirrt, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. »Aha, ich verstehe«, sagte er. »Ein weiteres Problem sind ja die Volatilitäten, wie berechnen Sie die denn?« »Ja, das ist tatsächlich eine große Herausforderung – auch für uns.« Pascal neigte leicht den Kopf zur Seite, als würde er angestrengt nachdenken. »Wir orientieren uns natürlich an den gehandelten Volatilitäten an der EUREX, da bekommen wir aber nur einen Bruchteil der Volatilitäten mit, die wir für unsere Arbeit benötigen. Danach wird die Luft jedoch dünner. Wir kalibrieren mit GARCH beziehungsweise nutzen Modelle stochastischer Volatilität, etwa Hull. Außerdem haben wir noch das Problem der Fat Tails in den Volas, die Smiles, die Skews…« Mein Kollege machte eine bedeutungsvolle Pause. »Aaaaha«, sagte Bunk. Jetzt konnte er seine Irritation nicht mehr verbergen. »Ich rufe gerade mal einige Formeln auf meinem Rechner auf«, fuhr Pascal fort, »dann können Sie sich selbst einen Eindruck davon verschaffen. Hier, sehen Sie, wenn wir zum Beispiel diese exotischen Knock-Out-Barrier-Optionen bewerten wollen, müssen wir zunächst…« Noch eine Weile setzte Pascal seine technischen Erklärungen fort, am Ende des Gesprächs wirkte Bunk vollkommen beeindruckt. Er schien von dem Gefühl getragen zu werden, endlich in die Alchemie des Geldes eingeweiht worden zu sein. Das war das erklärte Ziel. Ich war mir aber sicher, dass er nichts verstanden hatte. Beste Voraussetzungen dafür, dass er meinem Deal, den ich mit ihm vorhatte, nicht ablehnend gegenüberstehen würde.
Pascal grinste mich breit an, als Bunk ihm seinen Rücken zugewandt hatte. Für einen Moment hatte er die Maske der Wohlanständigkeit fallen lassen. Nach der Landung auf dem kleinen Londoner City Airport nahmen wir uns sofort ein Taxi in die City. Meine Londoner Kollegen – Jimmy und Stefan – hatten uns einen Tisch im edlen Restaurant Le Gravroche reserviert. Hier kochte Michel Roux, einer der besten französischen Sterneköche außerhalb Frankreichs. Jimmy und Stefan waren scharf auf den BunkDeal, sie wollten auch die Zeche übernehmen. Schon während des Essens fragte Bunk uns Löcher in den Bauch: »So ganz habe ich nie verstanden, wie es funktioniert, dass eine Bank wie die Ihre es auf die Cayman-Inseln schafft. Sie wissen das bestimmt.« Dahinter stand die unausgesprochene Frage, wie ein Geldinstitut dort Geld anlegen kann, anscheinend an der deutschen Aufsicht vorbei. »Letzten Endes ist das eine juristische Konstruktion«, versuchte Jimmy relativ neutral zu erklären. Jimmy gehörte zu den Cracks in unserer Bank, was diese Strukturen betraf. Ein Mittdreißiger mit sandfarbenem Haar, einem markanten Gesicht und auffallend blauen Augen. »Es werden dabei Zweckgesellschaften gegründet.« »Man schließt sich zusammen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen?« »So könnte man es formulieren.« Eine solche Definition klang ein bisschen unscheinbar, aber Jimmy wollte ihn in diesem Glauben belassen. Wenn von Special Purpose Vehicles (SPVs), wie die Zweckgesellschaften im Englischen genannt werden, die Rede war, dann wusste man, dass dahinter häufig hochriskante, oft undurchsichtige Finanzierungsstrukturen standen, die man nicht in den Bilanzen haben wollte. SPVs waren nun einmal keine klassischen Anlagevehikel. Hier war alles noch eine Stufe unregulierter. Natürlich mussten die
Akteure auf den Cayman Islands sich nicht extrem riskant verhalten, man konnte dort auch in amerikanischen Staatsanleihen investieren, was weniger gefährlich war. Man konnten ihnen aber auch sämtlich Schrottkredite, die man in den Büchern hatte, verkaufen oder sie selbst neuen Risikopapiere einkaufen lassen, ohne dass sie jemals in der Bilanz auftauchten. In einem Land ohne ernstzunehmende Geldgesetze konnte jeder seine Exzesse ausleben – und wer beschränkte sich schon gern selbst? Verantwortungsbewusstes Handeln war eine Utopie, wie eine Gesellschaft, die glaubte, auf Regeln zur Verhinderung von Mord und Unterdrückung verzichten zu können. Außer man favorisierte die Anarchie. In dieser Beziehung waren soziale Gesellschaften vernünftiger als Finanzgemeinschaften. »Diese Zweckgesellschaften«, fuhr Jimmy fort, »sind also eine Form von Kapitalanlagegesellschaften. Dabei helfen uns Anwälte, die darauf spezialisiert sind, die Strukturen aufzusetzen.« Mit anderen Worten: Wenn eine Bank vorhatte, in Richtung SPVs zu gehen, gab es immer Berater, die einen unterstützten und die notwendigen Verträge aufsetzten. Und wir, die Bank, hatten Interesse an den Zweckgesellschaften, weil wir durch diese alternativen Assetklassen neues Marktpotential für unsere Kunden geradezu riechen konnten. Keiner von uns wollte sich von einem Klienten sagen lassen: »Hätten Sie vor zehn Jahren in diese Produkte für mich investiert, hätte ich jetzt die tollsten Gewinne.« Und wenn man dadurch auf russische Konsumentenschulden setzte, obwohl es solche überhaupt nicht gab. Hauptsache, es hörte sich gut an, man war innovationsgetrieben und konnte im Konkurrenzdruck bestehen und dadurch ein gutes Standing am Markt vorweisen. Innovationen waren Anknüpfungspunkte, um immer wieder
mit Kunden in Kontakt zu treten – oder wie im Fall von Bunk von sich aus auf uns zuzukommen. »Das klingt erst einmal solide.« Bunk hörte konzentriert zu. »Aber Kapitalgesellschaften brauchen Unternehmen als Gegenstand?« »Das ist etwas schwieriger zu erklären. Unternehmen können dort mit wenig Stammkapital gegründet werden«, erläuterte Jimmy. »Vielleicht mit einigen Tausend Dollar Stammkapital. Gleichzeitig haben die Bürger dieser Steuerparadiese Stiftungen oder gemeinnützige Vereine gebildet, die die Stimmrechtsaktien von all diesen neugegründeten Firmen kaufen. Und wenn die gesamten Stimmrechte nun beispielsweise auf den Caymans bleiben, weiß niemand mehr, wem das Unternehmen wirklich gehört. In den Bilanzen der Mutterbanken taucht es so gut wie nie auf. Das heißt, es entfällt das Problem, dass sie bilanziert werden müssen.« »Die Stiftungen existieren nur aus dem alleinigen Grund, Stimmrechtsaktien zu kaufen?« »So ist es.« »Und mit welchem Vorteil?« »Wir als Bank können – sagen wir mal – 200 Millionen Euro Vorzugsaktien oder Finanzierungsinstrumente von diesen Cayman-Kapitalaktiengesellschaften kaufen. Wir haben mit diesen zwar kein stimmbeherrschendes Recht, aber man erhält dadurch ein hervorragendes Finanzvehikel außerhalb der Bilanzen.« Keinesfalls wollte Jimmy mehr erzählen, Stefan erst recht nicht. Er war höchstens Ende zwanzig, saß in den Startlöchern und wollte von Jimmy lernen. Seine Körpersprache signalisierte das deutlich. Wenn Bunk eins und eins zusammenzählen konnte, dann vermochte er sich vorzustellen, dass das alles ungemeine Vorteile bot. Es ging bei einigen SPVs und deren Papieren sogar so weit, dass sie A-Ratings erhielten, obwohl die Werte,
in die sie investierten, überhaupt kein A hatten. Da jeder nur auf diese Qualitäts- und Gütesiegel der Rating-Agenturen schaute – man hatte so viel Vertrauen in sie wie in TÜVgeprüftes Spielzeug, das man bedenkenlos seinen Kindern zum Spielen gab – und nicht auf die realen Kreditrisiken, konnten sich dennoch in einem A-Rating erhebliche Risiken verbergen. Es war auch möglich, mit SPVs Hypothekenkredite einzukaufen oder Anleihen zu strukturieren. Und Zweckgesellschaften boten ebenso die Chance, die Eigenkapitalhinterlegung elegant zu umgehen. Normalerweise konnte man nur so viele Risiken eingehen, wie diese mit Eigenkapital gedeckt waren. Aber da hier nichts in den Bilanzbüchern auftauchte, konnten durch SPVs viel mehr, ja sogar doppelt so viele Geschäfte getätigt werden – und damit auch viel mehr an Rendite –, als an Eigenkapitalvolumen vorhanden war. Das war Finanzalchemie pur. Nur wenige hatten das Wissen, wie diese Blackbox funktionierte. Jimmy etwa. Sicher konnte sich da etwas zusammenbrauen, wenn weltweit Broker an solchen Produkten bastelten, bei denen die Investoren am Ende nicht mehr bekannt waren. Eine größere Flexibilität war nun wirklich nicht mehr möglich. Krassere Risiken auch nicht. Das war noch absurder und explosiver als unsichtbare Schiffe in James-Bond-Filmen, die man letztlich doch noch ausfindig machen konnte. Bei den Zweckgesellschaften war dies der Finanzaufsicht jedenfalls lange Zeit nicht möglich. Daraus ergab sich naturgemäß, dass wir gerne damit agierten. Diese Strukturen waren für uns die Königsklasse. »Können Sie so etwas für mich machen?« Auf diesen Augenblick hatten wir Banker nur gewartet. Natürlich konnten wir das. Bunk würde eine kreditbesicherte Anleihe von den Londoner Kollegen kaufen. Myriaden von Investment-Banken, Anwälten und Händlern würden am Ende daran beteiligt sein.
»Und an welche Summe hatten Sie gedacht?« »150 Millionen Euro.« Richtig eingeschätzt. Da ich den Deal eingeleitet hatte, würde ich meinen Anteil bekommen. Auf dem Rückflug holte Bunk Familienfotos aus seiner Brieftasche hervor. Er war richtig aufgekratzt. So ganz ohne Kontrolle ging es bei den SPV-Produkten dann aber auch wieder nicht. Das Kerngeschäft von Banken, nämlich Geld auszuleihen und dafür Zinsen zu verlangen, sowie Geld von Anlegern zu bekommen und denen dafür Zinsen auszuzahlen, hatte durch strukturierte Produkte und Finanzierungen eine neue Dimension erhalten. Und entsprechend mussten Investment-Banken verschiedene interne, aber auch unabhängige Kontrollgremien einrichten, die der Finanzaufsicht alles zu melden hatten. Die Meldeabteilung fungierte als Stabsstelle, die unmittelbar dem Vorstand der Bank zugeordnet war. Für uns im Handelsraum waren das nervige kleine Kröten, die immer nur herumschnüffelten. Pedanten, schlimmer als die schlimmsten Steuerberater, die ständig versuchten, Geschäfte zu verhindern. Diese Wachhunde waren keineswegs lässig drauf, nicht den geringsten Spaß verstanden sie. Wir brauchten unsere Anwälte, unsere Kontakte auf den Cayman Islands oder Jersey, wir brauchten unsere Kunden und Handelspartner – aber bestimmt keine Kontrollfreaks. Nichtsdestotrotz konnten wir sie nicht völlig ignorieren. Auf die eine oder andere Weise musste man ihre lästigen Bedürfnisse befriedigen. Kurz nach dem Deal mit Bunk erhielt ich einen Anruf von einer solchen Meldekröte: »Wir würden gern mit Ihnen und Herrn Peters einen Termin vereinbaren.« Herr Peters war Martin. Musste das sein? Was wollten die eigentlich von uns? Konnten die nicht einfach in ihren Büros sitzen bleiben und in
ihrem eigenen Dreck wühlen? »Gern. Wann passt es Ihnen denn?« Ich Heuchlerin. »Sofort? Natürlich. Der Herr Peters ist auch da.« Den Hörer knallte ich fast auf den Apparat. »Ist was los?«, fragte Martin. »Unsere Bürohengste sind im Anmarsch, sie wollen mit uns plaudern.« »Da bin ich aber gespannt. Die haben doch keine Ahnung, wie man handelt und wie wir Millionendeals strukturieren. Was wollen die uns schon groß erzählen! Also nimm’s sportlich. Du bist in letzter Zeit immer so gereizt, ist was mit dir? Soll ich mir Sorgen machen?« Manchmal hatte ich den Eindruck, Martin wollte mehr als nur ein Kollege sein. Ich mochte ihn sehr, aber nebeneinander zu arbeiten und dann auch noch abends zusammen im Bett übers Geldverdienen zu reden, diese Vorstellung fand ich dann doch sehr abtörnend. »Nee, mir geht’s gut. Aber diese Kröten haben die Aufgabe, die Bank nach SPVs zu durchkämmen, das weißt du.« Martin lächelte hintergründig. Natürlich war ihm bekannt, dass unserer Bank nicht richtig klar war, was wir für Produkte in die Welt setzten. Es gab keine zentrale Aufstellung über SPVs, und erst recht gab es keine über die Risiken, die in ihnen steckten. Waren darin nur kleinere Hedgefonds, oder enthielten sie US-Hypothekenkredite in Milliardenhöhe? Irgendwelche Firmenanleihen oder andere Kreditbranchen wie etwa Konsumkredite? Wir waren ja nicht die Einzigen in der Bank, die SPVs strukturierten. Kollegen aus anderen Bereichen und in London feilten genauso wie wir an strukturierten Krediten und Anleihen. Wir wussten ja selbst nicht einmal, welche SPVs und Finanzierungsvehikel es in der Bank gab, wie sollten das dann die Kröten in Erfahrung bringen? In diesem Moment näherten sie sich uns im Doppelpack. Wurde im Radio nicht immer vor Froschwanderungen
gewarnt? Ich hätte diese hier gern platt gefahren. Beide waren jung, fielen durch ihre grauen Anzüge kaum auf, immerhin hatte der eine eine Krawatte mit grünen Streifen. Unter dem Arm trugen sie jeweils ein Notebook. Nachdem die beiden sich vorgestellt hatten, holten sie sich Stühle von freien Händlerplätzen heran und klappten eifrig ihre Notebooks auf. Exceltabellen, auch das noch! »Wir durchstreifen die Investmentabteilungen nach SPVs«, begann der Grüngesteifte. »Haben Sie Zweckgesellschaften auf den Cayman Islands, Jersey oder anderen OffshoreStandorten? Haben Sie auf diesen Inseln SPVs umgesetzt?« »Und wenn ja, seit wann? Wie viele und zu welchem Zweck?« Das war die Durch-und-durch-Graukröte. Martin und ich sahen uns an – und dachten beide dasselbe. Es war unglaublich, dass die hiesigen Vorstände anscheinend keine Ahnung über die wahren Risiken der Bank hatten. Wir hätten genauso gut von der Hand weisen können, dass wir solche überhaupt führten. Und nun sollte das durch Exceltabellen geändert werden? »Ja, wir haben mehrere SPVs.« Im weiteren Gesprächsverlauf gaben Martin und ich ihnen Informationen über die Höhe der Volumina und erklärten, warum wir diese Scheingesellschaften brauchten, um damit für die Bank Geld zu verdienen, und warum unsere Kunden diese exotischen Produkte wollten. Natürlich formulierten wir es so, dass die beiden Meldemänner – wären sie doch besser zur Feuerwehr gegangen – es in ihre Listen eintragen konnten. Danach zogen sie weiter zu anderen Kollegen – es gab zahlreiche Abteilungen, die unter Zuhilfenahme von SPVs und den Londoner Kollegen viel Kohle machten. Kurz darauf hatten wir die beiden Typen aus dem Vorstandsstab wieder auf der Matte. Sie hatten unsere Daten
einer internen Revision unterzogen, einer Art ConrollingAbteilung. »Wie kommen denn die Buchungen zustande?«, fragte die grüngestreifte Kröte, die diesmal eine peinlich blau glänzende Krawatte trug. Er wies mit einem Finger auf seine Exceltabelle, es ging da um einen Deal, den ich vor einiger Zeit gemacht hatte. Ich gab ihnen eine halbwegs plausible Erklärung, mit der sich die beiden Kröten auch zufriedengaben. Aber die echte Struktur würden sie wohl kaum vollständig nachvollziehen können. »Macht ihr das nicht viel zu riskant?«, fragte nun Kröte Nummer zwei. »Wir können euch nicht in dem folgen, was ihr tut.« Immerhin gaben sie zu, dass sie mit unseren Berechnungen überfordert waren. Hunde, die bellen, beißen nicht, dachte ich weiter, aber diesmal blieb es nicht beim Bellen. »Ihr müsst zum Vorstand der Bank.« Ihnen war wohl doch ein Licht aufgegangen. Ließ man uns einfach unkontrolliert gewähren, so konnte das nicht in jedem Fall unbedingt gesund sein. »Klar, machen wir«, sagte Martin. Ein paar Etagen höher hatte Hans Bachmann sein Büro. Er war direkt unter dem Vorstand angesiedelt und zuständig für das Risikomanagement der Bank. Über seine goldumrahmte Lesebrille hinweg sah er uns an, er hatte gerade in einem Report gelesen. Es war unser erstes Gespräch mit ihm. »Mir ist zu Ohren gekommen«, begann Bachmann, nachdem er uns aufgefordert hatte, auf zwei schwarzen Ledersesseln Platz zu nehmen, »dass Sie mit Produkten handeln, mit SPVs, die von unseren internen Risikoprüfern nicht bewertet werden können?« Die internen Risikoprüfer waren bei der Bank angestellt. Man konnte sie mit externen Leuten, die etwa bei der BaFin arbeiteten, vergleichen. Sie kontrollierten nach identischen Vorschriften und mussten nach diesen auch ihre
Erkenntnisse mitteilen. Sozusagen Berechnungen der Gesamtrisiken einer Bank nach mathematischen Formeln. Ihre Aufgabe war schon berechtigt, man konnte im Grunde nichts dagegen einwenden. »In welcher Weise konnte man denn unsere Geschäfte nicht nachvollziehen?« Das Beste war, Rechtfertigungen zu vermeiden. Ich setzte auf die Karte »Unkenntnis«. »Im Einzelnen konnten mir das die Leute von der ContollingAbteilung nicht richtig erklären.« Auch die internen Prüfer hatten also keinen Durchblick. Für eine Investment-Bank ein schwaches Zeugnis. »Aber vielleicht können Sie es.« Martin fing an, einen Kurzvortrag über unser Vorgehen zu halten, wobei ich immer wieder kleine Ergänzungen vornahm, um den seriösen Anstrich zu verstärken. Ich sprach von Varianzen, Zins-Korrelationsrisiken und OffshoreFinanzierungsstrukturen, die über mehrere Vehikel gingen. Ich war in meinem Element, ich brillierte und warf mit Fachtermini nur so um mich. Das hörte sich zwar alles genial an, die Struktur würde er aber nur begreifen können, wenn er wirklich verstand, was wir taten. Doch solange wir die Risiken für die Bank im Griff hatten, war aber alles in Ordnung. Und im Griff hatten wir unsere Risiken. Am Ende meiner Ausführungen fügte ich noch ein Argument hinzu, das ziehen musste: »Mit jedem einzelnen SPV-Geschäft hat die Bank zwischen ein und fünf Millionen Euro verdient. Und zwar auf einen Schlag.« »Mmmhhh.« Mehr sagte Bachmann nicht, in seinen Augen konnte ich aber deutlich die berühmten Dollarzeichen erkennen. Nach ein paar Sekunden fügte er hinzu: »Aber die Risiken sind abgesichert?« »Selbstverständlich können wir mit ihnen umgehen. Die Hauptrisiken gehen an unsere Kunden, uns bleiben die Kontrahentenrisiken.« Eigentlich hätte sich Bachmann, wäre er
beim Thema Risiken firm gewesen, auf eine inhaltliche Diskussion mit uns einlassen müssen. Tat er aber nicht. Konnte er auch nicht. Sonst hätte er sich nur bloßgestellt. Und sollte ihm unsere Versicherung immer noch nicht reichen, hatte ich noch ein weiteres Ass im Ärmel: »Und bedenken Sie auch, wenn wir diese Deals nicht machen, dann machen es die anderen Banken.« Bachmann nahm seine Brille ab. »Wenn das so ist, dann genehmige ich Ihnen diese Geschäfte.« Die Kröten kamen in der Zeit, in der ich in der Bank arbeitete, nicht wieder.
14
Das Steuersparmodell
Die nächste Herausforderung kam einige Wochen später. Auf dem Hockenheimring startete die Königsklasse im Autorennsport, die Formel 1. Meine Bank hatte einige Kunden zu diesem Event eingeladen, inklusive Boxenbesichtigungstour und einem Essen am Vorabend des Grand Prix. Man wusste, warum man gern zu diesem Ereignis einlud: Das Aufheulen und Surren der Motoren schon Stunden vor Rennbeginn, die vielen schönen und langbeinigen Frauen, die an den Boxen standen, Techniker und Ingenieure, denen man ansah, dass bald etwas Wichtiges ablaufen würde, bewirkten eine aufgeheizte Stimmung wie Broker im Fieber, wenn es ein richtiges Börsenspektakel gab. Hier handelte es sich jedoch um den berühmten Racing-Spirit, ein unglaublicher Kick, der Kunden bei ihren zukünftigen Portfolioentscheidungen mutiger werden ließ, als wenn man sie in den Frankfurter Hof zum Essen gebeten hätte. Am Samstag vor dem Abendessen hatte ich mich in dem Hotel, in dem wir untergebracht waren, mit meinem ersten Kunden verabredet. Dominik Rohne war mit seinem zwölfjährigen Sohn der Einladung gefolgt, der aber noch irgendwo draußen auf dem Hockenreimring herumschwirrte. Rohne hatte mir schon einige Tage zuvor am Telefon angedeutet, was er von mir erwartete: Ihm war die Möglichkeit zu Ohren gekommen, über eine durchdachte und wirtschaftlich sinnvolle Konstruktion Steuern zu sparen. Und darüber wollte er nun mit mir sprechen. Mit seinem Portfolio, das er für einen großen Versicherer verwaltete, hatte er eine Menge Gewinne
gemacht – zur Freude des Staates, müsste man sie denn vollständig versteuern. Das aber wollten wir nun mit ein ganz klein wenig legaler Finanzmagie verhindern. Trotz aller Verbesserungen wiesen die Steuergesetze immer noch gewisse Schlupflöcher auf. Derivate waren einfach viel flexibler, als sich jeder Gesetzgeber es vorzustellen vermochte – und diese Flexibilität konnte ich ausnutzen, um äußerst gewinnbringend einen Dividenden-Trick anzuwenden. Das Ergebnis war eine erhebliche Steuerersparnis. Natürlich hatte der Staat bestimmte Aufgaben zu erfüllen, weshalb es eine gewisse Berechtigung gab, dass man Steuern zahlte. Aber wir Derivatehändler schätzten Steuern eher als eine interessante Spielmasse ein, mit der man etwas bewegen konnte. Man musste es nur intelligent genug anstellen, und schon war es möglich, auch damit auf legale Weise Geld zu verdienen. Damit tat man niemandem weh – außer eben dem Staat. Es gab aber noch einen anderen Grund, warum ich mich intensiver um Rohne bemühte: Mein Ziel war es, ihn aus seinem gesettelten Aktienbereich ein wenig herauszuholen, ihn mehr mit strukturierten Produkten vertraut zu machen. Rohne schätzte ich als einen konservativen Anleger ein, der aber nicht abgeneigt war, in bestimmten Grenzen etwas auszuprobieren. Ach, wie ich meine Kunden liebte, wenn sie ihre Abenteuerseite zum Vorschein brachten. »Vielen Dank für die Einladung«, begrüßte mich Rohne, der sich schon in der Hotellobby eingefunden hatte. »Wir hätten auch gern für die Eintrittskarten gezahlt, aber der Kollege von Ihnen hat es immer wieder abgewimmelt. War schon toll, dass Ihre Bank sie überhaupt besorgt hat.« Er war wirklich begeistert, an diesem Event teilnehmen zu können. Aber wie kam er nur auf die Idee, die Karten kaufen zu wollen? Ich war perplex. Einen solchen Fall hatte es zuvor noch nicht gegeben.
Kundenservice wurde bei meiner Bank großgeschrieben, das waren die Regeln des Systems. Darüber verlor man kein überflüssiges Wort. Und nun stellte das einer in Frage. Über Korruption hatte damals doch keiner nachgedacht. Angesichts von Rohnes Doppelmoral schlug ich mir in Gedanken vor den Kopf. Der Mann rief mich an, weil er Steuerzahlungen wegzaubern wollte, und dann eine solche Überlegung. Aber ich lächelte ihn nur weiter an. »Wenn Sie sich besser fühlen«, antwortete ich, »können Sie ja einem wohltätigen Verein einen symbolischen Beitrag überweisen.« Ich war froh, ihm in meiner Ratlosigkeit eine meiner Meinung nach passende Antwort gegeben zu haben. Sie kam auch gut an. »Das werde ich sofort am Montag machen. Aber so habe ich die Gelegenheit, mal wieder persönlich mit Ihnen zu reden. Da ich mein kleines Problem schon telefonisch angedeutet habe – konnten Sie vielleicht in der Zwischenzeit über eine Lösung nachdenken?« »Das sollten wir nicht hier besprechen. Hier herrscht zu viel Trubel. Wir haben noch einen Raum, dahin können wir uns ungestört zurückziehen.« Dominik Rohne nickte. Er war höchstens Mitte vierzig, und ich fand, dass ihm der Casual Friday-Look richtig gut stand, viel besser als seine Anzüge, in denen ich ihn bislang gesehen hatte. Eine gewisse Lässigkeit machte ihn richtig attraktiv. Ich zeigte ihm den Weg. In zwei gediegenen Sesseln saßen schon Martin und ein Kunde in dem Konferenzzimmer, das eher den Charakter einer Bibliothek hatte. Den Klienten meines Kollegen kannte ich noch nicht, wusste nur, dass er Fondsmanager einer gemeinnützigen Stiftung war. Das war bestimmt kein leichtes Gespräch, dachte ich, denn Stiftungsleute klopften alles ab. Sie waren selten bereit, sich auf waghalsige Aktionen einzulassen, trauten sich nie oder nur selten, sich aus dem Fenster zu lehnen.
Rohne und ich entschieden uns für ein Sofa mit Sessel, ich sollte natürlich auf der Couch Platz nehmen. Eine junge Hotelangestellte brachte uns Kaffee, Gebäck und einen Gin Tonic für meinen Gast. »Es geht also um die Optimierung Ihrer Körperschaftssteuer?« Ich fiel gleich mit der Tür ins Haus. Wir Banker benutzen gern Euphemismen, um unser eigenes Geschäft schönzureden. »Optimierung« war ein anderes Wort für unsere steuerschonende Konstruktion. »Sie sagen es.« »Das ist eine hervorragende Sache.« Psychologisch musste man die Kunden bei ihren Vorhaben bestärken, das war eine wichtige Regel in unserem Business. »Gibt es da denn da wirklich Möglichkeiten? Von anderen Versicherern habe ich so etwas läuten hören. Aber nie hat jemand Konkretes gesagt.« »Die Andeutungen waren keine heiße Luft«, sagte ich und nahm einen Schluck von meinem Cappuccino. »Im Prinzip ist das eine einfache Sache. Funktioniert über einen bestimmten begrenzten Zeitraum, und zwar außerhalb von den Bilanzstichtagen.« An diesen musste genau festgehalten werden, was in den Büchern steht. Rohne schaute mich konzentriert an, während er einen Keks in die Hand nahm, ihn aber nicht in den Mund steckte. »Sie meinen, dass Sie die Optimierung zwischen den Stichtagen durchführen können?« »Exakt. Sonst müssten Sie ja Ihre Bilanz verlängern. So aber konzentrieren wir uns allein auf den Zeitraum, in dem die Dividenden gezahlt werden.« »Das Prinzip ist mir klar, aber wie wollen Sie das konkret umsetzen?« Bis zur großen Steuerreform im Jahr 2000 hatte es hervorragende Möglichkeiten gegeben, über Dividenden
Körperschaftssteuergutschriften legal Steuern zu sparen. Ausländische Besitzer deutscher Aktien verliehen diese einfach über die Dividendenstichtage an deutsche Unternehmen. Die konnten damit die Körperschaftssteuergutschriften für die Dividenden einlösen. Ein hübsches Modell, um im großen Rahmen Steuern zu sparen. Leider hatte der Gesetzgeber dieses Loch gestopft, und eine schöne Einnahmequelle war versiegt. Allerdings nicht so ganz – er hatte wohl nicht mit der Kreativität der Banker gerechnet, in rasender Geschwindigkeit neue Schlupflöcher aufzutun und auszunutzen. Wir kehrten das System einfach um. »Wie gesagt, mit einem ganz simplen System. Sozusagen ein Modell zur Steueroptimierung. Man muss da zwar ein bisschen kreativ sein, aber das ist ja mein Job.« Bei Derivaten brauchte man nur die richtige Idee zu haben, und schon konnte man sie umsetzen und die Welt der Zahlen in Bewegung setzen. Rohne schaute mich etwas skeptisch an. »Alles im legalen Rahmen«, fuhr ich fort, um seine sichtbaren Bedenken zu vertreiben. »Das Modell basiert auf Wertpapieren, also etwas ganz Normalem. Zwischen den Stichtagen leihen Sie von uns Wertpapiere. Wir sichern Sie ab, sodass Sie kein Kursrisiko tragen.« Ich hielt mich im Vagen, zu ausführliche technische Erklärungen, das wusste ich von früheren Gesprächen, beseitigten auch keine Zweifel, verstärkten sie oftmals nur. »Über die Ausleihzahlungen an uns und das Gegengeschäft für die Dividenden«, fuhr ich fort, »reduzieren Sie Ihre Körperschaftssteuerbelastung. Sie müssen einen Betrag an uns überweisen, der genau der Höhe der Dividenden entspricht. Diese Zahlungen können Sie in Ihren Betriebsausgaben wieder als Kosten geltend machen.« Mit diesem Prinzip konnte Rohne zwar nicht sämtliche Steuerforderungen loswerden, aber immerhin einen nicht
unerheblichen Betrag in Form von mehreren hunderttausend Euro einsparen. Das Gleiche galt für uns, wir passten die Ausleihzahlungen so an, dass er uns die Hälfte seiner Steuerersparnis zurückübertrug. Leicht gemachtes Geld, keiner musste bluten – außer dem Staat natürlich. »Verstehe ich Sie richtig: Und vor dem nächsten Stichtag löse ich sämtliche Wertpapiere und Gegengeschäfte bei Ihnen auf. Die gemachten Zahlungen haben meinen Gewinn verringert?« »Das ist das Vorgehen, und Sie reduzieren Ihre Körperschaftssteuern gewaltig, das ist Ihr Gewinn.« »Und was sagt mein Wirtschaftsprüfer dazu?« »Wir arbeiten mit einem der Big Five zusammen, der in der Branche einen sehr guten Namen hat. Er hat ein Gutachten dazu verfasst, das lassen wir Ihnen gern zukommen. Sie können das in Ruhe mit Ihrem Chef besprechen. Wie gesagt, alles läuft im legalen Rahmen ab.« Die Big Five sind die fünf größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften weltweit, obwohl es nach dem Zusammenbruch von Arthur Andersen 2002 eigentlich nur noch die Big Four waren, nämlich Deloitte, KPMG, PWC und Ernst & Young. Sie kontrollieren, prüfen und beraten die absolute Mehrheit aller internationalen Kapitalgesellschaften. Dass sowohl wir als auch der Wirtschaftsprüfer neben der absoluten Geheimhaltung uns schriftlich und weitestgehend von jeglicher Haftung freistellen lassen würden, sollte etwas mit dem Deal schiefgehen, gehörte natürlich zu unserem Konzept. »Legal schon, aber so ganz gerecht geht das ja nicht zu.« Dominik Rohne hatte seine moralische Sekunde, dachte in diesem Moment wohl an seinen Sohn und daran, dass sich die Welt auch für die nächsten Generationen weiterdrehen sollte. Steuern, das bedeutete Schulen, Ausbildungsplätze,
Universitäten. Ein solcher Augenblick musste weggeredet werden. Märkte kennen nun mal keine Moral – weder er noch ich konnte daran etwas ändern. »Es gibt immer welche, die übermäßige Profite machen, und andere, die nicht das bekommen, was ihnen vielleicht zustehen könnte, weil sie nicht die entsprechenden Informationen haben.« Das klang banal, aber selbst die schlichtesten Wahrheiten kamen erstaunlicherweise meistens gut an. Das lag wohl in der menschlichen Natur. »Wir haben hier Möglichkeiten, die andere nicht haben – und das nutzen wir aus.« Der moralische Moment war vorüber. Zum Glück sehr schnell. Wie konnte man solche überhaupt haben? Moral war doch letztlich so unfassbar wie unsere Derivate. Wir konnten nicht feststellen, dass in ihnen etwas Böses hockte. Oder zerstörten wir damit Existenzen? Brachten wir damit jemanden um? Nein, wir feuerten nur den Nervenkitzel mit Geld an. Die Lust auf mehr – das wohnte dem Menschen als homo ludens doch inne. Die letzten Blasen zeigten es: Das Pokern und Zocken ging nach jedem Desaster weiter. Sonst hätte die Welt nach dem Schwarzen Freitag von 1929 anders ausgesehen. Der Hunger nach Geld war noch längst nicht gestillt, falls das überhaupt jemals sein konnte. Es reichte nicht aus, etwas zu haben. Die Aussicht, ein weiterer Geldsegen könnte ins Haus stehen, die Erwartung eines solchen, das erst setzte die synaptischen Verbindungen im Gehirn in Erregung, das erst verursachte Glücksgefühle. So war es offensichtlich auch bei Rohne. »Scheint wirklich eine gute Sache zu sein. Wenn Sie das alles für mich in die Wege leiten könnten…« »Sicher.« »Und vielleicht machen wir in Zukunft noch den einen oder anderen Deal zusammen. In meinem Portfolio könnte einiges
umgeschichtet werden. In einigen Monaten werden 50 Millionen frei. Da brauchen wir neue Anlagemöglichkeiten.« Es hatte geklappt. Für mich ein gefundenes Fressen, darauf hatte ich spekuliert. Und Rohne hatte den Vorteil, sein Standing zu verbessern, wenn er mehr Rendite vorweisen konnte. Und ich würde an dem neuen Deal zwei Prozent, also eine Million Euro verdienen. Eine Million gegen ein Wochenende auf dem Hockenheimring, plus ein, zwei Essen, ein wenig Strukturierungsarbeit – eigentlich ein gutes Verhältnis zum Aufwand, den man betrieb. Zwar waren wir die Leute, die dem Geld hinterherrannten, andere überreden mussten, ihr Vermögen in unsere strukturierten Produkte anzulegen, aber wollte man auf der anderen Seite stehen? Selbst Aufträge rausgeben? Nein, viel zu öde. Und viel zu schlecht bezahlt. Lieber der Mastermind sein, ein Superhirn, das sich all das ausdachte, um von den Anreizen zu profitieren. »Wir sollten uns zu einem Essen verabreden.« Ich setzte mein strahlendstes Lächeln auf, von dem ich genau wusste, dass es umwerfend wirkte. »Dann bis bald«, verabschiedete sich Rohne. »Ich muss mal sehen, wo mein Sohn bleibt.« Wenn die Geschäfte wirklich so gut werden sollten, wie es sich jetzt anhörte, könnte ich ihm auch mal für einen Tag einen Ferrari vor die Tür stellen. Viele meiner Kunden fuhren darauf ab, und wie ich Rohne einschätzte, gehörte er dazu. Eine andere Investment-Bank hatte ihre Kunden zu einem Go-KartEvent eingeladen, die Formel 1 im Kleinen. Da saßen alle Kunden hinter dem Steuer, konnten ihre Bahnen ziehen und sich vorstellen, Michael Schumacher zu sein. Auch eine Idee, die ich mir merken sollte. Während ich meinen Überlegungen nachhing, blickte ich zu Martin hinüber. Wir machten so viel zusammen, verbrachten
so viel Zeit miteinander, dass sich Privates und Berufliches immer mehr miteinander vermischten. Er saß noch immer mit dem Stiftungsmenschen zusammen. Auf dem Tisch lag sein Taschenrechner, unentwegt tippte er neue Zahlen ein, die er auf einen Zettel schrieb und dem Kunden zuschob. Dieser blickte darauf, als würde er ihnen mehr Glauben schenken als meinem Kollegen. Aber er wusste ja nicht, wie wir unsere Summen berechneten. Eigentlich war der Deal mit Rohne schon seltsam: Es wurde ein Stück Papier gewechselt, die hin- und hergeschobenen Millionen waren nur Bits und Bytes – und trotzdem verdienten wir dabei alle eine Menge. Irgendwann würde vielleicht auch dem Finanzamt und damit dem Staat auffallen, dass ihm Steuern fehlten. Da konnte es dann eskalieren. Dann würde man eine Task Force vorbeischicken, die nachprüfen würde, was denn los sei, um zu dem Schluss zu kommen, das alles legal war. Anschließend würde der Gesetzgeber neue Gesetze erlassen und öffentliche Rundschreiben in die Welt setzen, dieses Steuerschlupfloch wurde meines Wissens nach auch erst mit der Unternehmenssteuerreform 2008 gestopft. Millionen an Steuergeldern waren damit aber zuvor sicher noch gespart worden. Aber es werden sich neue Möglichkeiten auftun. Banker und Wirtschaftsprüfer waren immer schneller als die Gesetzgebung. Aufsicht und Gesetzgeber hatten es da wirklich schwer, wenn sie gegenhalten wollten. Meist schrie man in Finanzkrisen nach ihnen. Und da war es längst schon viel zu spät. Lücken in politischen Gesetzen waren gemeinhin schneller zu entdecken. Zum Beispiel Hartz IV: Wie viele Expertenkommissionen hatten sich zusammengesetzt, um diese Reform in allen Einzelheiten auszuarbeiten! Trotzdem zeigte
es sich erst in der Praxis, ob die erlassenen Gesetze funktionierten. Als sich durch Berichte in den Medien zeigte, wie sich so mancher Hartz-IV-Empfanger ein schönes Leben auf Mallorca machte. Das war augenfällig, und man konnte relativ schnell die Mängel ausbessern. So konnte man beim Sozialamt nachprüfen, welche Leute wie viel bekamen, Mitbürger und Medien waren auch noch Kontrollinstanzen. Die Finanzaufsicht hat es jedoch nicht mit vergleichbar konkreten Nachvollziehbarkeiten zu tun. Es gibt hier kein »Sozialamt«, das etwa registriert, dass heute sieben Derivate nach Irland gegangen sind und gestern acht nach Luxemburg. Überblick? Den konnte man vergessen. Exzesse? Systemimmanent. Broker dachten nicht an mögliche Dominoeffekte, dafür waren sie nicht zuständig, zuständig waren sie für das eigene Wohl. Wie gesagt: Märkte waren unmoralisch – und effizient. Angesichts der Möglichkeiten, sich in einem liberalisierten Markt zu entfalten, brauchte es für uns Banker Gegenspieler in der Aufsicht, die sich mit uns auf einem Niveau befanden. Und wer etwas auf dem Kasten hatte, ging nicht zu einer Behörde, sondern landete bei uns. Da konnte er mit seiner Intelligenz und seinem Wissen mehr auf seinem Konto verbuchen. Klar gab es ein paar unter den Schlauen, die sich eine Karriere als Politiker vorstellen konnten, vielleicht saß man sogar eine Zeitlang in irgendwelchen Finanzausschüssen. (Und beim Crash 2008 sah man, dass die wirklichen TopLeute in der Bundesbank saßen, nicht in der BaFin. Die Bundesbankleute übernahmen in der allgemein herrschenden Ratlosigkeit ein bisschen das Steuer. Sie waren auch diejenigen, aus denen sich der Großteil des Personals rekrutierte, das die Milliarden aus dem staatlichen Rettungsfonds SoFFin verteilte.)
Genug nachgedacht. Ich war sicher, in absehbarer Zeit mit Rohne auf die Deals anzustoßen. Ich sollte recht behalten.
In der geräumigen und mit gemütlichen Sofas ausgestatteten Hotellobby wollte ich auf Martin warten. Zwei andere Kollegen, Sebastian und Michael, die in einem Nebenraum Kundengespräche geführt hatten, lümmelten schon in den weichen Polstern herum. Zusammen wollten wir noch einen Aperitif nehmen, bevor wir beim Dinner wieder Kunden Small-Talk betreiben mussten – was nichts anderes hieß, als unseren »Opfern« Honig um den Bart zu schmieren, damit wir sie ausgiebig melken konnten. Offene Worte à la Brokersprache konnten nicht miteinander gewechselt werden. »Erfolg gehabt?«, fragte mich Sebastian, der äußerst entspannt wirkte. »Oder soll ich einem deiner Kunden mal ausführlich erklären, womit man so sein Geld macht? Schick ihn nur bei mir vorbei.« Sebastian war einer von den Draufgängertypen, mit noch vollem braunen Haar, mindestens drei Eigentumswohnungen und zwei Porsche. Zu gern hätte er einen Dreitagebart, der ihm sicher auch gut zu Gesicht gestanden hätte, aber das galt in unserem Business nicht als salonfähig. Michael war von anderer Natur, das dunkle Haar exakt gekämmt und stets mit besten Manieren, als hätte er eine Erziehung auf einer französischen Eliteschule erhalten. Auch jetzt trug er einen Anzug der Oberpreisklasse. Ich konnte mir ihn nicht einmal in Jeans und T-Shirt vorstellen. In unserem Team hatte er die Rolle des Moralapostels – natürlich in einer Light-Variante. Im Grunde seiner Seele war er genauso unheilig wie wir. »Das ist nicht nötig«, konterte ich. »Alles paletti. Und wenn das so weitergeht, bin ich irgendwann so reich, dass ich Deutschland regieren werden.«
»Deutschland? Ich nehme mir die ganze Welt, sie gehört mir quasi jetzt schon«, konterte Sebastian. Er musste natürlich eins draufsetzen. »Und dann etablierst du dich als Spießer.« Das war eine gute Entgegnung, wir hassten nichts so sehr, als zu dieser Kategorie Mensch zu zählen. »Komm, du bist genauso scharf auf Macht wie ich.« »Will ich gar nicht abstreiten. Ich kann mir nichts Schärferes vorstellen. Wir haben das System perfektioniert, Kunden zu verarschen und ihnen viel Geld aus der Tasche zu ziehen.« Mann, immer redeten wir denselben Mist. Ich kam mir vor wie in einem Riesen-Monopoly-Spiel für Erwachsene. »Vergesst aber nicht, wie gut es euch dabei geht«, mischte sich Michael ein. »Ah, unser Mahner.« Martin setzte sich in diesem Augenblick zu uns, er wirkte leicht erschöpft, schien aber dennoch gutgelaunt zu sein. Zwischen ihm und seinem Kunden hatte sich am Ende wohl eine Einigung angebahnt – zur Zufriedenheit beider Seiten. »So gut, dass ich jedenfalls nicht für eine Million Euro einen Menschen umbringen würde«, warf ich ein. »Ist doch wahr«, fuhr Michael fort, ohne auf meinen Einwurf zu reagieren. »Jeder von uns hat Immobilien« – was nicht stimmte, ich suchte noch nach einer passenden –, »jeder fährt zweimal im Jahr auf die Malediven oder sonst wo hin, und dennoch hat jeder genug Asche auf seinem Konto. Wenn man sich ansieht, was heute so durch die Talkshows tingelt, Hartz IV rauf und runter, da weiß ich: Ich hab bislang verdammt viel Glück in meinem Leben gehabt.« »Komm mir jetzt nicht mit deiner sozialen Ader«, warf ich ein. »Ach Leute. Mit euch kann man einfach nicht philosophieren. Lasst uns erst mal richtig anstoßen.«
»Jetzt bist du wieder auf der Spur.« Sebastian klopfte Michael auf die Schulter. »Aber ohne dich wäre es auch nur halb so lustig.« Wir lachten, tranken unseren Campari und Whisky, amüsierten uns über unsere Kunden, bis es Zeit war, sich für sie in Schale zu werfen. »Und reißt euch nachher zusammen«, sagte Martin augenzwinkernd, als wir vor dem Fahrstuhl standen, um unsere Zimmer aufzusuchen. »Wir sind solide Sales-Leute, nichts weiter, höfliche Menschen und keine Zombies!« Darauf konnte es in einem eingespielten Team nur eine Antwort geben: »Oh je. Pass bloß auf, dass du nicht auf deiner eigenen Schleimspur, die du hinter dir herziehst, ausrutschst.«
15
Außerbörsliche Friedhöfe
Das Rennen ums Geld ging weiter. Ich hatte einen Termin mit Rolf Grassmann in seinem Büro in München. Grassmann gehörte der älteren Generation von Fondsmanagern an. Ich kannte ihn bislang nur vom Telefon, aber da hatte ich schnell rausgefunden: Leute wie er waren total antiquiert, sie hatten die Marktentwicklungen der letzten Jahre vollkommen verpasst. Das, womit ich agierte, begriff er in keinster Weise. In jedem Handelsraum würde er so rasant untergehen wie die Titanic. Eine Aktion mit Derivaten käme jenem Eisberg gleich, an den er anstoßen würde. Doch auch Menschen wie er waren von Wünschen getrieben: In zwei Jahren sollte er in den Ruhestand entlassen werden und ein anderer seinen Job bei einer Stiftung übernehmen. Bevor das geschah, wollte er für seinen Arbeitgeber noch eine gute Performance hinlegen. An dem Tag der Verabschiedung, so seine Vorstellung, sollten nur Lobeshymen auf ihn gesungen werden. Dazu musste aber eine gute Bilanz her. Und zu diesem Zweck waren wir ins Gespräch gekommen. Ich sollte ihm ein Zaubermittel verkaufen, das besonders hohe Zinsen abwarf – wenigstens solange er noch da war. »Ihnen ist ja mein Anliegen bekannt«, eröffnete Grassmann unser Gespräch. Ein Mann der großen Worte war er nicht. Einmal hatte er mir am Telefon kurz von einem Biedermeierschrank erzählt, den er gerade in einem Antiquitätengeschäft entdeckt hatte. Er überlegte, sich diesen zu kaufen. Mehr wusste ich nicht von ihm, aber ich nahm an, dass sich seine privaten Interessen von denen meiner anderen
Klienten stark unterschieden. Mit einer Einladung zum Formel-1-Rennen hätte ich ihm keine Freude gemacht. Die Haare waren schon ziemlich schütter, vielleicht war er als junger Mann mal schlank gewesen, aber das war angesichts seiner jetzigen Beleibtheit kaum vorstellbar. Einleuchtender wäre es mir erschienen, wenn er auf Gelsenkirchener Barock gestanden hätte. »Ja«, erwiderte ich. »Wir können alles umsetzen. Sie müssen mir nur signalisieren, was Sie wollen.« Unser Zauberkasten war groß, je nach Mut und Risikobereitschaft der Klienten konnte ich mich in ihm bedienen. »Ehrlich gesagt, ich will in den nächsten zwei Jahren nichts anderes als exorbitant hohe Zinsen vorweisen können.« »Ich könnte Ihnen beispielsweise eine Zins-Anleihe aufsetzen, die genau für diese zwei Jahre jene von Ihnen gewünschten extrem hohen Zinsen garantiert.« »Können Sie mir den Zinssatz genau sagen?« »Sieben Prozent, das ist doch schon was. Das haben Sie nicht alle Tage.« Ich hätte ihm auch einen Zinssatz von 15 Prozent strukturieren können, wenn er die dazugehörigen Risiken hätte tragen wollen. In der Welt der Finanzalchemie war alles möglich. »Und ich komme in diesen mir noch verbleibenden zwei Jahren nicht ins Strudeln?« »Nein, da sind die sieben Prozent garantiert, egal, wie sich der Markt entwickelt. Nach diesen zwei Jahren sieht es aber anders aus. Das Grundkapital ist garantiert, aber Zinsen gibt es nur noch, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Sehen Sie, die Differenz der Zinsen in den kurzen und langen Laufzeiten muss so bleiben, wie sie aktuell ist. Trifft das zu, werden Sie auch in den Folgejahren hohe Zinsen einstreichen.« Dass der Markt von einer Verringerung der Zinsdifferenz ausging, sagte ich ihm nicht. Das wäre auch nicht sehr sinnvoll
gewesen. Ich war gerade dabei, eine weitere Zinswette in großen Dimensionen zu platzieren. Ich schaute Grassmann direkt in die Augen, um zu prüfen, was in seinem Innern vorging. Wenn er sich auch nicht bei Derivaten auskannte, so war er dennoch nicht zu unterschätzen. Sein Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass er meine Vorschläge einordnen konnte: Mit einer solchen Anleihe, die Zinsausfälle beinhalten konnte, würde er seinem Nachfolger ein Kuckucksei ins Nest legen, nach dem Motto: »Nach mir die Sintflut, Hauptsache, ich komme gut dabei weg.« Legte sich Grassmann auf einen solchen Deal für sieben Jahre fest, würde die Stiftung möglicherweise in den letzten drei, vier Jahren keine Zinsen erhalten. Dafür sorgten schon bestimmte Klauseln in dem Vertrag. In unseren Konstruktionen waren die Bedingungen nie so, dass sie als »erfüllt« betrachtet werden konnten, dafür änderte sich alles viel zu schnell, dafür waren die Kriterien einfach zu hoch gesteckt. Wie gesagt: Nofree lunch. Wer das nicht verstand, hatte im Anlagegeschäft nichts zu suchen. In meiner Konstruktion für Grassmann brauchte der Markt nur gegen ihn zu laufen, musste der Zinsspread sich verkleinern, und die versprochenen hohen Zinsen konnte man vergessen, sie würden in diesem Fall einfach weggefressen werden. Auch in diesem Fall hätte man mehr davon gehabt, das Geld in eine zwar langweilige, aber dafür sichere Anleihe zu stecken. Aber Grassmann konnte nicht über seinen Schatten springen. Vielleicht waren ihm sein Nachfolger und die Stiftung tatsächlich egal, doch das lag alles in seinem Verantwortungsbereich, für diese Überlegungen war ich nicht zuständig. Für Stiftungen waren solche Anlagestrategien eine mittlere bis große Katastrophe, denn sie lebten allein von dem
Zinsertrag. Wie sollte die Miete der Stiftung bezahlt werden? Wie die Gehälter der Sekretärinnen? Es musste jährlich etwas ausgeschüttet werden, damit all das finanziert werden konnte, ohne das Stiftungsvermögen anzugreifen. Nichtsdestotrotz verscherbelten wir ihnen diese Produkte. Ging es denn uns etwas an, ob die Stiftung – ganz gleich, wie gemeinnützig – den Bach runterging? Hätte ich zu Grassmann sagen sollen: »Hören Sie mal, wir haben hier ziemliche Risken. Wenn der Markt nur ein bisschen gegen Sie läuft, dann haben Sie ein riesiges Problem. Nehmen Sie trotz Ihres Gutdastehen-Wollens lieber ganz normale Anleihen, da fahren Sie viel besser mit und haben auch dieses komische Risiko nicht«? Ich wäre schön blöd gewesen. Natürlich wollte ich ihm dieses Ding verkaufen. Natürlich wollte ich, dass die Bank daran 500000 Euro verdiente – und ich meine 30000 Euro persönlichen Bonus. Darauf zu verzichten kam nicht in Frage. Es war Grassmanns Job, diese Risiken zu erkennen, nicht unserer, auf diese hinzuweisen. »Sie wissen, dass Sie mit derartigen Anleihen in spekulative Anlageklassen kommen, die eigentlich nicht für Stiftungen gedacht sind?« Diese Frage musste ich stellen. Ich musste ausschließen, dass er hinterher den Deal rückgängig machen wollte, sich darüber beschwerte, ich hätte ihm eine große Luftblase verkaufen wollen, obwohl ich ihm doch einen Luftballon gefüllt mit Dollars versprochen hatte. Ich überlegte auch noch, ob Grassmann auf eine Börseneinführung des Produktes, das ich ihm verkaufen wollte, bestehen würde. Die Börse war der Garant dafür, dass Liquidität und eine faire Preisbildung durch regen Handel herrschten. Er hatte danach gefragt, als seien damit alle seine Probleme aus der Welt zu schaffen. Doch ein Produkt, das nur die Bank wirklich kannte, weil nur sie – besser gesagt Mitarbeiter wie ich – es strukturiert hatte, war außerhalb dieser
Bank nun einmal schlecht zu handeln. Wir machten die Preise für dieses Produkt. Natürlich gab es eine Börsenlistung. Da niemand sich mit dem Produkt auskannte, wurde es eben kaum gehandelt. Insbesondere die Luxemburger und Frankfurter Börsen nahmen unsere Produkte gern an, da gab es überhaupt keine Probleme. Schließlich verdienten sie daran einiges durch die Gebühren, die sie dafür verlangten. An der Luxemburger Börse und auch im deutschen Freiverkehr, einem relativ unregulierten Börsensegment, gibt es ganze Friedhöfe solcher Produkte, die kein Mensch kennt. Hilfreich waren für uns auch immer seriöse Referenzen, egal ob von Kunden, von Wirtschaftsprüfern, von Börsen, von Analysten oder sonst wo her. Auch wenn sie zweckentfremdet wurden, für uns erfüllten sie ihren Zweck. Tatsächlich gehandelt wurden die Produkte aber fast nur außerbörslich, und das zu Bedingungen, auf die wir direkten Einfluss hatten: Bei dem renommierten Nachrichtendienst Reuters mieteten wir uns eigene Seiten, auf denen wir hochoffiziell die Produkte ausstellten. Damit bekamen wir die Wirtschaftsprüfer ins Boot, die bestimmt von der Objektivität der Informationsquelle ausgingen. Allein im Frankfurter Freiverkehr sind fast 180000 Anlageprodukte (laut eigener Angabe) gelistet – man kann sich vorstellen, welche Anlagegelder dahinterstecken. Für Privatanleger gibt es inzwischen die Zertifikate-Börse Scoach mit mehr als 300000 gelisteten Produkten. Ein weiterer Versuch, mehr Transparenz zu schaffen? »Aber muss das denn unbedingt jeder wissen?« Grassmann warf mir einen konspirativen Blick zu. Er war also doch nicht so hinterwäldlerisch, wie er anfangs gewirkt hatte. Aber letztlich passte das auch zu seinem Anliegen, einzig bei seinem Abgang gut dazustehen. Das hatte etwas sehr Narzisstisches –
daran sollte man offensichtlich seinen Status und seine Beliebtheit ablesen können. »Und wie ich annehme, wollen Sie auch einige Millionen investieren, sonst würde sich Ihr Zinsgewinn kaum augenfällig zu Buche schlagen?« Zwar unterlagen Stiftungsvermögen in erster Linie dem Grundsatz des Kapitalerhalts, aber im Gegensatz zu den Versicherungen gab es für sie keine strengen und gesetzlichen Anlagevorschriften. Das machte das Jonglieren mit dem Geld um einiges leichter, wenn auch die Stiftungsleute in der Regel wesentlich konservativer als andere Vermögensverwalter waren. Das wiederum machte die Sache komplizierter. »Ich denke an 50 Millionen Euro.« »Gut«, sagte ich. »In der kommenden Woche werde ich Ihnen einen Vorschlag unterbreiten.« »Ist das nicht eine totale Schlamperei, die da bei den Derivaten herrscht?« Was wollte mir Grassmann damit sagen? Fähige Portfoliomanager würden erst gar nicht mit dieser Art Küchenpsychologie kommen. Und fähige Portfoliomanager würden auch dafür sorgen, dass die Ausschüttungen für eine Stiftung garantiert wären, und zwar in jedem Jahr. Aber das konnte ich ihm nicht ins Gesicht sagen. Die beste Taktik war, erst gar keine Antwort zu geben. »Schlamperei« war eigentlich ein viel zu harmloses Wort für das, was wir betrieben. Dieses Produkt, für das er sich entschieden hatte, eigentlich eine Anleihe, angelegt auf sieben Jahre, noch dazu kapitalgarantiert, konnte vielleicht schon bald nur noch einen Wert von 80 Prozent haben – wenn die in der Anleihe versteckten Optionen wertlos wurden. Möglicherweise musste sein Nachfolger eine Abschreibung wegen der Zinsverluste machen. Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. »Eine namhafte Wirtschaftsprüfungsgesellschaft wird Ihnen ein Gutachten
erstellen.« Vielleicht konnte ich damit Grassmanns letzten Zweifel vertreiben. Dem Teufel konnte man keineswegs mit versprochenen Sozialleistungen ins Handwerk pfuschen, aber bei Menschen, in denen eine verantwortungsbewusste Seite doch plötzlich ihr Unwesen treiben sollte, halfen nette kleine Gutachten. Bei dem Punkt »Verzinsung« würde dann da stehen: »Die jährliche Verzinsung beträgt grundsätzlich sieben Prozent. Sie kann jedoch auf null Prozent sinken, wenn sich die Zinsdifferenz der Zweijahres- und Zehnjahreszinssätze stark verändert. Die Prüfung dieser Bedingung erfolgt zu jeder Zinsperiode zu festgelegten Stichtagen. Darüber hinaus trägt das Kreditrisiko der Emittenten der Investor.« Der erste Satz, »Die jährliche Verzinsung beträgt grundsätzlich sieben Prozent«, übte jedes Mal eine so unglaubliche Magie aus, dass die folgenden nicht mehr gelesen wurden. Aber wer verstand schon: »Darüber hinaus trägt das Kreditrisiko der Emittenten der Investor«? Wirtschaftsprüfungsgesellschaften jedenfalls konnten ein schlechtes Gewissen beruhigen. Ein Zinsausfall als Risiko war auf einmal ausgeblendet. So auch bei Grassmann: »Wenn Sie ein derartiges Gutachten erstellen lassen, wäre das für mich eine große Hilfe.« Na klar würden wir das in die Wege leiten. Kostete zwar Geld, aber für den guten Zweck war uns nichts zu aufwendig. Man konnte nicht sagen, dass Wirtschaftsprüfungsgesellschaften mit uns Hand in Hand arbeiteten. Dennoch gab es in den seltensten Fällen große Meinungsverschiedenheiten. Die Beratungsarme der großen Wirtschaftprüfergesellschaften erstellten gegen entsprechende Gebühren nur zu gern Gutachten für uns oder gaben uns Ratschläge – wie im Falle des Dividendentricks –, wie wir haarscharf am illegalen Bereich vorbeischrammten. Gleiches
galt übrigens für die eine oder andere hochkarätige Anwaltskanzlei. Und die Finanzaufsicht kroch sowieso im Schneckentempo hinter dem her, was sich die Leute, die in den Investmentfirmen arbeiteten, ausdachten. »Haben Sie sich den Biedermeierschrank gekauft, von dem Sie mir damals erzählten?« Ich hatte genug von diesem doch etwas schwierigen Thema Schlamperei. Grassmann nickte, seine Augen leuchteten. Er schilderte ihn in allen Einzelheiten, zum Glück hatte er nicht noch ein Foto dabei. Vielleicht sollte ich einmal mit ihm eine Antiquitätenmesse besuchen? Wahrscheinlich hätte ich sogar das organisiert, wenn ich es mit einem Kunden zu tun gehabt hätte, mit dem ich noch mehrere Jahre zusammenarbeiten würde. Aber in zwei Jahren war Grassmann weg vom Fenster, da musste ich mich nicht zu sehr ins Zeug legen. Als er nichts mehr über seinen Schrank zu berichten hatte, verabschiedete ich mich höflich. Draußen atmete ich erst einmal tief durch. Geschafft. Zu manchen Kunden hatte ich überhaupt keinen Draht, und das lag im Fall von Grassmann nicht nur an der großen Altersdifferenz. Aber im nächsten Moment würde ich ihn vergessen haben – eine Technik, die ich mir als Brokerin angeeignet hatte.
16
Der kirchliche Segen
Das war kniffelig – ich hatte einen Termin mit einem Geistlichen, der das Portfolio eines kirchliches Vorsorgewerks in seiner Obhut hatte. Aus irgendeinem Grund hatte er Berlin als Treffpunkt vorgeschlagen, obwohl das Vorsorgewerk in Westdeutschland beheimatet war. Normalerweise hätte ich das Hotel Adlon genannt, um der Begegnung den richtigen Rahmen zu geben, aber bislang hatte ich mit Fondsmanagern aus dem geistlichen Bereich nichts zu tun gehabt. Ich stellte mir diese Menschen noch biederer als die Stiftungsleute vor, da konnte ein Luxushotel einen falschen Eindruck erwecken. Doch was war die Alternative? In seinem eigenen Büro wie bei Grassmann, das wäre das Einfachste gewesen. »Martin, wohin kann ich mit einem Geistlichen in Berlin gehen?« »Adlon.« »Nein, das ist bestimmt nicht der richtige Ort. Zu mondän und zu weltlich. Der denkt nur, dass wir am Ende sein Geld verprassen wollen. Solche Nobelherbergen fallen für ihn sicher unter die Rubrik ›Exzesse‹.« »Quatsch. Ein solcher Typ will auch mal aus seinem Weihrauchmief herauskommen und so richtig hofiert werden. Die sind doch keine Asketen. Ein Mittagessen mit Blick auf das Brandenburger Tor, da sorgst du gleich für die richtige Gesinnung: Nur in Einigkeit ist es zu schaffen, dass der Geldsegen von oben nicht aufhört.« »Du bist unmöglich.«
»Nein, ich sage nur die Wahrheit. Es geht doch nicht darum, dass du mit ihm beten musst. Oder will er dir etwa beichten, dass er Gottes Gaben verzockt hat?« »In seinem Fonds sind eine Menge Aktienbestände. Die liegen da einfach herum.« »Und das kannst du nicht länger mit ansehen.« »Richtig. Und du kommst mit zu dem Termin.« Martin hatte im Gegensatz zu mir – mein konservatives Elternhaus ließ grüßen – null Respekt vor der Kirche. Wahrscheinlich führte er im Geiste schon die unheiligsten Diskussionen mit unserem hoffentlich bald neuen Kunden. Auf dem Flug nach Berlin – ich hatte morgens einen Hosenanzug von Prada gewählt, der meiner Meinung nach unter meiner inzwischen angewachsenen passablen Auswahl den seriösesten Eindruck machte – überlegte ich mir noch einmal genau, wie ich am besten vorgehen konnte, um mein Ziel zu erreichen: ihn davon zu überzeugen, die Aktien der Kirche gewinnbringender einzusetzen. In einem Telefonat wollte der Geistliche nur eine Auskunft über eine bestimmte Aktie – das hatte mich auf die Idee gebracht, ihn weiter auszuhorchen. Seine Stimme hatte noch sehr dynamisch geklungen, wenn auch nicht mehr ganz jung. Vielleicht war er gar nicht so erzkonservativ, wie ich vermutete. Vielleicht hatte ich nur falsche Bilder von kirchlichen Geldmanagern im Kopf. Jesus wetterte in der Bergpredigt gegen eine Gesellschaft, die auf Reichtum aufgebaut ist. Aber hatte das die Institution Kirche je wirklich interessiert? Ein Blick in die Geschichte – und schon ist einem klar, dass die Geistlichen es immer verstanden haben, ihren Reichtum zu vermehren. Sie wussten, dass Besitz und Macht eine Einheit bilden. Und heute? Heute begründen sie ihren finanziellen Bedarf damit, dass sie karitativ tätig sind, Krankenhäuser, Kindertagesstätten und Altenheime unterhalten. Es musste also im Interesse des Herrn
sein, Kirchensteuern, Spenden und Einnahmen aus Immobilien im Sinne der Armen zu mehren. Mich hatte es ohnehin ziemlich umgehauen, als ich hörte, um welche Summe es sich in diesem Portfolio handelte: mehr als 80 Millionen Euro. Da konnte so manche Versicherungskasse nicht mithalten. »Wie reagierte Monsignore eigentlich auf deinen Vorschlag, uns im Adlon zu treffen?«, fragte Martin, als wir unsere Flughöhe erreicht hatten und die Stewardess uns Tomatensaft servierte. »Fand er ganz prima«, antwortete ich. »Du hast ihn richtig eingeschätzt.« »Was willst du ihm eigentlich unterjubeln?« Martin trank einen Schluck Saft. Wir hatten bislang nicht darüber sprechen können, weil jeder von uns mit anderen Deals beschäftigt gewesen war. »Leerverkäufe«, sagte ich. »Bei diesen Mengen von Aktienbeständen könnte man dadurch eine Menge Zaster herausholen.« »Na dann, packen wir’s an.« Leerverkäufe gehören zu den risikoreicheren Spekulationsstrategien. Im Oktober 2008 spielten sie bei VW eine große Rolle, Schätzungen zufolge hatten Spekulanten dadurch bis zu 15 Milliarden Euro verzockt. Vorwürfe? Sind in solchen Fällen nicht angebracht. Keiner hatte etwas falsch, aber natürlich auch keiner etwas richtig gemacht. Wie gesagt, bei einer riskanten Strategie gilt das Motto: Nofree lunch. Und bei VW war es voll daneben gegangen. Bei dieser Technik der Leerverkäufe geht es um ShortPositionen, die Hedgefonds im großen Stil aufbauten – natürlich um Milliardengewinne einzufahren und nicht Verluste, die sie fast zerschmettern sollten. Die gleiche Strategie fuhr übrigens der deutsche Pharma-Mogul und Milliardär Adolf Merckle, der dreistellige Millionenbeträge
verzockte und dabei sein Firmenimperium im Dezember 2008 aufs Spiel setzte – und sich im Januar 2009 das Leben nahm. Die VW-Spekulanten hatten auffallende Kurse gesetzt. Doch dann trat das Gegenteil ein: Die VW-Aktie setzte zu einem steilen Höhenflug an und war im Herbst mit einem Spitzenkurs von 1005 Euro viermal so viel wert wie zu Beginn des Jahres. Die Problematik dabei war, dass all dies nicht von der fundamentalen Entwicklung bei VW ausgelöst worden war, sondern von irrationalen Spekulationen, die Porsche angetrieben hatte, mit der eindeutigen Absicht, eine Übernahme von VW zu bewirken – dadurch hatte sich der Kurs der VW-Aktie extrem weit von seinem eigentlichen Wert entfernt und konnte eigentlich nur noch fallen. Der Logik von Spekulanten zufolge verkauften sie geliehene VW-Positionen auf hohem Niveau, in der Erwartung, die Aktien würden fallen und sich den fundamentalen Werten angleichen. Darauf setzten sie, doch entgegen ihren Annahmen stieg das Niveau der Aktien noch mehr und zwang die Spekulanten in die Knie. Sie mussten VW zu Höchstkursen eindecken, um nicht in den finanziellen Abgrund zu stürzen. Und das trieb die Kurse weiter in die Höhe. Ein unerbittlicher Teufelskreis. Hatte ein Fondsmanager wie jener mit uns verabredete Geistliche VW- und andere Aktien im Depot, könnte er sie uns für einen Zeitraum von beispielsweise drei oder sechs Monaten einfach ausleihen. Die Vorteile für uns lagen auf der Hand: Wir überließen sie einem Spekulanten, und der konnte in Zeiten sinkender Aktienmärkte – und diese Zeiten hatten wir gerade – viel Geld mit geliehenen Aktien machen. Anstatt aufsteigende würde er auffallende Kurse setzen. Er würde die Aktien verkaufen und sie später zu einem geringeren Wert zurückerwerben und an uns zurückgeben. Sein Gewinn kam durch den Neukauf zu einem geringeren Preis zustande.
Leerverkäufe nannte man diese Prozedur deshalb, weil es um dem Verkauf und Wiedererwerb einer geliehenen Aktien ging, nicht um solche, die man selbst besaß. Der Geistliche, so er denn bei dem Deal mitmachte, würde für seinen Einsatz eine Gebühr, eine Art Verzinsung erhalten – und mit hundertprozentiger Sicherheit die Aktien wieder zurückbekommen. Martin und ich wollten dabei die Vermittlerinstanz zwischen Spekulant und Fondsmanager spielen. Direkt nach der Landung auf dem Flughafen Tegel nahmen wir uns ein Taxi, das uns direkt zum Adlon fuhr. Monsignore erwartete uns schon. Er saß in einem der wuchtigen Sessel in der Nähe des Elefantenbrunnens, vor sich eine Tasse Kaffee und einige kleine Patisserien. Er trug zwar keine geistliche Kleidung, aber dennoch hatte er etwas an sich, das ihn von den anderen Gästen unterschied. Das hatte nicht nur mit seinem erstaunlich runden Gesicht zu tun, sein ganzer Habitus deutete auf eine begrenzte weltliche Erfahrung hin. Und so einer verwaltete ein derart horrend hohes Vermögen? Er war ein Fremdkörper in diesem Luxusambiente. Dennoch schien er es zu genießen, hier zu sitzen und ernst genommen zu werden. Freundlich begrüßten wir ihn, erzählten, wie und in welchen Bereichen wir arbeiteten. Als ich dachte, dass der Zeitpunkt für den Angriff gekommen war – ein stundenlanger Austausch von Banalitäten musste verhindert werden, so spannend war unser Gesprächspartner nun nicht –, sagte ich: »In Ihrem Portfolio haben Sie Aktienbestände, die Sie nicht einfach ohne einen Nutzen dort liegen lassen sollten.« Monsignore schaute uns an, als hätte gerade eine Wolke das strahlende Himmelsblau getrübt. Empfand er die Verantwortung für so viel Geld als eine Last? Es war wohl besser, noch vorsichtiger vorzugehen, sorgfältiger auf meine
Wortwahl zu achten. Kein salopper Ausdruck durfte über meine Lippen kommen. Hoffentlich hatte Martin Ähnliches registriert, aber das war bei seiner Menschenkenntnis zu vermuten. »Aber mit den Aktien mache ich doch schon eine Rendite«, entgegnete unser Gesprächspartner. »Angesichts Ihres christlich-sozialen Engagements – könnten Sie da nicht noch einige zusätzliche Gelder gebrauchen? Kindergärten und Krankenhäuser kosten doch einiges.« Martin nahm gerade ein rosa gezuckertes Herz von dem PatisserieTeller, um es von allen Seiten zu betrachten, bevor er es sich in den Mund steckte. Der Fuchs hatte seine Fährte aufgenommen. »Das wäre sicher schön… Aber Sie wissen, dass bei uns in Gelddingen Risikolosigkeit oberstes Gebot ist.« »Das verstehen wir ganz und gar«, bemerkte ich. »Nie würden wir Ihnen etwas vorschlagen, was Sie in eine schwierige Situation bringen könnte.« Diesmal meinte ich es sogar ernst. Monsignore nickte erleichtert. Die Farbe seiner wässrigen Augen hatte ein kräftigeres Blau angenommen, vielleicht bildete ich mir das aber nur ein. »Sie müssen auch nichts weiter tun, als uns Ihre Aktien auszuleihen.« »Ausleihen?«, fragte der Geistliche. »So wie man für eine Veranstaltung einen Frack ausleiht?« »Genau so. Und der Verleiher bekommt in dem einen wie in dem anderen Fall eine Ausleihgebühr.« »Das klingt erst einmal tatsächlich nicht kompliziert.« »Sie müssen nur festlegen, wie lange Sie uns die Aktien überlassen wollen. Oder haben Sie vor, sie in den nächsten Monaten zu verkaufen?« Das war der heikelste Punkt. Viele Fondsmanager, die Aktien verwalteten, schichteten je nach Wirtschaftslage ihr Portfolio häufig um, wollten selbst flexibel
bleiben und sich nicht auf einen fixierten Zeitraum festlegen. Aber nun hatte ich einen Fisch an der Angel, der eine Ausnahme sein konnte. Ich nahm an, dass kirchliche Geldanlagen langfristig Segen bringen sollten und nicht auf kurzfristige Spekulationen ausgelegt waren. »Nein«, sagte der Geistliche etwas bedächtig. »Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht.« Puh, das war geklärt. Ich vermied es, Martin mit Siegermiene anzublicken. Stattdessen bestellte ich einen Darjeeling, alles sollte so beiläufig wie möglich wirken. »Aber Sie müssen mir noch genauer erklären«, fuhr Monsignore fort, »wie ich mir dieses Ausleihen vorzustellen habe.« Diesen Part übernahm Martin: »Sie übertragen die Aktien in Ihrem Portfolio für vielleicht sechs Monate. Das wird vertraglich festgehalten, so dass Sie eine Sicherheit haben. Nach sechs Monaten bekommen Sie Ihre Aktien zurück, nicht eine einzige geht verloren. Für dieses Ausleihen erhalten Sie von uns eine Gebühr von mehreren Prozent per anno, abhängig von der Nachfrage nach dieser Aktie.« Dass es Spekulanten wie die Hedgefonds waren, die die Nachfrage nach diesen Aktien schufen, sagten wir ihm nicht. »Das klingt risikolos.« Die wässrigen Augen des Geistlichen fingen geradezu zu leuchten an. »Die Aktien gehen weg, die Aktien kommen wieder, und am Ende stehe ich mit demselben Aktienbestand da und habe dazu noch eine Extrarendite gemacht.« Martin und ich nickten. Auch Geistliche schienen sich mit dem Virus Gier anstecken zu können. Hoffentlich fragte er nur nicht weiter nach, was wir in den sechs Monaten mit den Aktien aus dem kirchlichen Fonds anstellen würden. Das wäre schwerer zu erklären und könnte ihn möglicherweise am Guten in der Welt zweifeln lassen. Und davon mussten wir ja bei ihm
ausgehen, dass er nur Gutes im Sinn hatte. Scheinheiligkeit, nein, das wollten wir ihm nicht unterstellen. Monsignore stellte keine weiteren Fragen, sagte nur, dass er mit dem Ausleihen einverstanden sei, auch mit der Ausleihgebühr, die wir ihm vorschlugen. Die Reise nach Berlin hatte sich gelohnt. Nun konnten wir zu Spekulanten gehen – das konnten Hedgefonds am Markt sein, aber auch ein Eigenhändler wie Boris aus unserer oder einer anderen Bank kamen in Frage – und anbieten: »Hier habe ich 50000 VWAktien« – das sind ein paar Millionen Euro – »die kann ich dir geben, die kannst du verkaufen.« Dass hinter dieser Spielmasse ein Geistlicher steckte, würden wir nie sagen, das wussten allein wir. Leerverkäufe von bestimmten Aktien wurden uns geradezu aus den Händen gerissen, weil es für Spekulanten wenig Sinn machte, selbst Aktien zu kaufen und wieder zu verkaufen. Sie wollten mit dem Geld, das sie durch die geliehenen Aktien erzielten, gleich wieder andere Geschäfte eingehen. Und wir als Bank verdienten natürlich auch bei diesen Deals. Nichts war umsonst. Jetzt konnten wir nur hoffen, dass in den sechs Monaten nichts an die Wand gefahren wurde. Monsignore sollte ja seine Aktienbestände unversehrt wiedererhalten, an eine Insolvenz der beteiligten Spekulanten glaubten wir damals nicht. Und eine Pleite unserer Bank? Davon gingen wir erst recht nicht aus. Ich saß im Adlon, trank feinsten Tee, und ein fetter Fisch hatte wieder einmal an meiner Angel angebissen. Eigentlich war es Zeit zum Mittagessen. Das Gebot der Kundenpflege schrieb uns vor, unseren Kunden einzuladen. Die Vorstellung, wie seine weißen, dicklichen Hände Lachs auf einer Silbergabel in den Mund schoben – ich musste sie schnellstmöglich verdrängen. Doch bevor Martin und ich ihm den Vorschlag unterbreiten konnten, uns ins Restaurant Lorenz
Adlon zu begleiten – von dort aus konnte man das Brandenburger Tor sehen –, erhob sich Monsignore. Er hätte leider noch einen Termin, entschuldigte er sich. Was wir pflichtschuldigst zutiefst bedauerten. Zum Schluss wandte er sich mir noch einmal mit den Worten zu: »Ich habe Vertrauen zu dem, was Sie machen.« »Ich werde Sie auch nicht enttäuschen.« Was redete ich da bloß für einen Mist. War ich noch ganz bei Trost? Es ging hier um Deals, nicht um ein Versprechen, dass man am nächsten Sonntag auch wirklich zur Beichte kommen wolle. Gemeinsam verließen wir das Hotel, nachdem Martin die Rechnung beglichen hatte. Wir verabschiedeten uns von Monsignore, der in ein Taxi stieg. »Und was machen wir jetzt?«, fragte ich. Unser Flieger startete erst in drei Stunden. »Du hast eben gerade eine Freundschaft fürs Leben geschlossen, da ist es nur richtig, wenn wir jetzt in die St. Hewigs-Kathedrale gehen und eine Kerze für den Monsignore anzünden. Soll die älteste katholische Kirche in Berlin sein. Liegt auch Unter den Linden, nur ein Stück weiter runter.« »Bin beeindruckt.« »Dann habe ich erreicht, was ich wollte.«
17
Ich will nichts mehr
Eines Morgens wachte ich im Le Meridien in Stuttgart auf. Unausgeschlafen und mit einem großen Hass auf die gesamte Finanzbranche. Martin und ich hatten tags zuvor einen Kunden getroffen und zum Essen eingeladen, zusammen wollten wir im ICE zurück nach Frankfurt fahren, um dort einen weiteren zu treffen. Beim Frühstück schaute ich Martin nur finster an. »Ah, Madame ist mit dem linken Fuß aufgestanden, dann ist es wohl besser, wenn ich meine Klappe halte.« »Das ist es, was ich so an dir schätze, du bist so wahnsinnig feinfühlig. Kannst du mir nicht noch sagen, ich sehe aus wie ausgekotzt?« »Stimmt, das hatte ich fast vergessen. Und deine Frisur sitzt auch nicht. Perfektes Vogelnest.« Ich trat Martin ans Schienbein und kaute danach weiter an meinem Brötchen herum. Trocken, krümelig, und der Kaffee eine einzige Katastrophe. Als wir in den ICE stiegen, hielt ich es kaum aus. Um mich herum waren nur Aliens in dunklen Anzügen, die in dem vollen 1.-Klasse-Abteil wohlgeordnet auf ihren Plätzen saßen. Kaum einer unterschied sich von dem anderen. Alle hatten kurze Haarschnitte, die meisten von ihnen arbeiteten an einem Laptop oder lasen in der FAZ oder der Financial Times Deutschland. Alle hatten den gleichen, vollkommen leeren Gesichtsausdruck. Marionetten, dachte ich, Marionetten, die auf ihren ferngesteuerten Auftritt in der großen Show der Selbstdarsteller warteten. Und du bist eine von diesen
abgerichteten Puppen. Du trägst auch einen dunklen Hosenanzug, du hast auch deinen Laptop vor dir. Aber war mein Blick auch so regungslos? Wahrscheinlich, an diesem Tag sicherlich. Ich hoffte, dass er so schnell wie möglich zu Ende ging. In Frankfurt angekommen, fuhren wir nur kurz in die Bank, um unser Gepäck loszuwerden und die Papiere für das nächste Kundentreffen zusammenzustellen. »Ich kann auch allein gehen«, bot Martin an. Seit dem Frühstück hatten wir kaum ein Wort miteinander gewechselt. »Nein, es ist schon okay«, erwiderte ich. »Ich komme mit.« »Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?« »Lass uns den Job machen, ja?« In einem Taxi fuhren wir ins Hilton, in dem wir uns mit einem Versicherer verabredet hatten, einem sehr guten Kunden von uns. Martin und ich hatten ein Produkt strukturiert, das in etwa dem für Ingo Stein entsprach, nur noch raffinierter. Unsere Trickkiste hatte sich in den letzten Jahren um einiges vergrößert. Konrad Beyer erschien in Begleitung seiner Assistenten. Adjutanten, dachte ich genervt, Lakaien. Was wollten die hier, die Typen würden sowieso nur Fragen stellen, um sich in Szene zu setzen, ansonsten aber nichts kapieren. Ich wollte keine sinnlosen Gespräche fuhren. Den Deal machen, und dann nichts wie weg. Es kam, wie es kommen musste. In den nächsten zwei Stunden ging es nur darum, sich gegenseitig zu beteuern, wie wichtig und toll man sei, wie gut man die Welt und die Finanzmärkte verstehen würde, wie viel Geld man in Zukunft sicher noch machen könne. Die ewigen Selbstdarsteller, die einzig Sprechblasen von sich gaben. Eine bessere Parodie auf Banker und Geldmanager hätte auch Harald Schmidt nicht hinbekommen.
Mittendrin überfielen mich plötzlich Fragen, die ich mir bisher noch in keinem Meeting gestellt hatte: Was mache ich hier eigentlich? Was habe ich hier zu suchen? Warum muss ich mit diesen grässlichen Männern reden? Nicht einmal Martin konnte ich aus diesen Gedanken heraushalten. Er war ein begnadeter Smalltalker und konnte eine ganze Gruppe unterhalten, so dass sich jeder wohl und angesprochen fühlte. Aber warum hätte ich ihn am liebsten in seinem Redefluss gestoppt und gesagt, er würde doch nur Schwachsinn von sich geben? In diesem Moment hasste ich ihn regelrecht für sein gestenreiches Hantieren mit seinen Händen, um die Bedeutung von bestimmten Aussagen zu unterstreichen, für sein Lächeln, mit dem er andere einfing, für seine ewig blank geputzten Schuhe. Eigentlich alles. Konnte er denn nicht sehen, dass er sich wie ein Idiot aufführte, nur damit Beyer & Co. ihm aus der Hand fraßen? Einfach widerlich! Ich hatte das Gefühl, im nächsten Moment vor Wut zu platzen – einer mir völlig unerklärlichen Wut. Ich hatte den unwiderstehlichen Drang, etwas zu sagen, etwas Dreistes, Freches, was im Handelsraum völlig normal gewesen wäre, nicht aber gegenüber einem Portfoliomanager. Also unterbrach ich Martins Ausführungen und sagte völlig unvermittelt: »Unsere Kunden kaufen sowieso immer nur das, was wir ihnen vorsetzen.« Stille. Martin schloss seine Augen augenblicklich zu schmalen Schlitzen, danach rettete er die Situation, indem er meine Aussagen gekonnt verdrehte. »Du hast da etwas falsch verstanden, Anne. Du wolltest doch sicher sagen, dass es genau umgekehrt ist.« Ich hatte mich wieder im Griff: »Oh ja, Entschuldigung. Da hab ich was durcheinandergebracht.« Auf einmal fingen alle an zu lachen. Ich lachte mit, um nicht die gesamte Situation aus dem Ruder laufen zu lassen. Dabei hätte ich größte Lust gehabt, dass genau das passierte. Grenzen
überschreiten – davon hatte ich immer geträumt. Im Bereich der Finanzen war mir das geglückt, aber in meinem Privatleben hatte ich nicht den Himalaja bestiegen. Ich folgte den Regeln der Menschen, die mich umgaben. Und das waren vorwiegend Banker und Fondsmanager. Die Papageien, die Spießer. Nie wollte ich so werden wie sie – und nun war ich auf dem besten Wege dazu. Ich hatte meinen Spieltrieb und meine Gier nach Wissen und Geld ausgelebt. Meine Gier hatte sich verselbständigt, ich hatte mein eigenes Ich kapitalisiert, meine Seele verkauft. Plötzlich kam ich mir wie eine schlechte Kopie von Gordon Gekko vor. Absurd. Da drang wieder die Stimme von Konrad Beyer an mein Ohr: »Hartz IV, das ist doch lächerlich. Wie wollen die denn überhaupt Vermögen nachprüfen? Wer geschlossene Liechtensteiner Stiftungsfonds hat, kann damit rechnen, dass bei einer Prüfung kein Finanzbeamter hinter diese Sachen kommt. Eigentlich eine Farce, das ganze Konstrukt. So wie Schweizer Konten, da kommen die Schnecken vom Finanzamt auch niemals hinterher.« Jetzt begann eine Diskussion über Schlupflöcher bei Hartz IV, über Steuerlöcher, die man in Millionen-, vielleicht sogar in Milliardenhöhe ausnutzen könnte, um Vermögen am Fiskus vorbei ins Ausland zu schleusen. Im Jahr 2008 zeigte sich dann ja auch, dass Post-Chef Klaus Zumwinkel sich hervorragend mit diesen Schlupflöchern in Form Liechtensteiner Stiftungen auskannte. Aber ein Hartz-IV-Empfänger war der bestimmt nicht. Ich traute meinen Ohren kaum: Da saßen wir, sechs Menschen, die sicher zusammen einen Jahresverdienst von zwei Millionen Euro hatten, und machten uns über die Hartz IV-Empfänger lustig. Wenn auch die Arbeitslosenzahlen in Deutschland gesunken waren, so war offensichtlich geworden,
dass die Gesellschaft sich mehr und mehr spaltete, dass es viele Menschen gab, die mit unserer Überflieger-Welt aus Wohlstand, Geld und Millionen-Deals rein gar nichts zu tun hatten. Wir in unserer Bank erfanden Sachen, die kein Mensch brauchte. Wir produzierten Unfug in Millionen- und Milliardenhöhe – und alle fühlten sich gut dabei. Wie diese Männer um mich herum. Hatten die denn jegliches Gefühl für die Verhältnisse anderer Menschen verloren? Als der Termin beendet war und wir uns von Beyer und seinen Adjutanten verabschiedet hatten – Martin war es zu verdanken, dass sie den nächsten Deal mit uns machen wollten –, sagte mein Kollege nur: »Das darf nicht noch einmal vorkommen.« Auch wenn er nicht so auf Mainstream getrimmt war wie viele andere in unserem Bereich, er war ein Broker und wollte auch einer bleiben. Am Nachmittag konnte ich mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren. Immer wieder musste ich darüber nachdenken, weshalb ich mich bei dem Termin so daneben verhalten hatte. Das war doch nur eine absurde Nummer gewesen. Oder war es doch nicht nur absurd? Hatte ich in den letzten Jahren nur alles unterdrückt, was mir gegen den Strich ging? Kam jetzt alles hoch? War ich doch nicht so glücklich, wie ich zu sein vorgab? Dabei hatte ich doch angenommen, dass ich mit der Zugehörigkeit zur Finanzelite etwas erreichen würde, was besser als Sex war. Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war, dann war ich nicht glücklich. Ich hatte es mit einem verdammt gefährlichen Business zu tun, mit enormen Möglichkeiten, die Welt aus den Angeln zu heben. Was, wenn es immer mehr von uns gab, die so verantwortungslos wie Nick Leeson handelten? Eine Horrorvorstellung. Nur leider nicht abwegig. Leeson, ein einfacher Angestellter in der Abwicklung, hatte es geschafft,
durch hohe Spekulationen mit Calls und Puts die Barings Bank, einst eine der ältesten Banken Großbritanniens, 1995 zusammenbrechen zu lassen. Leeson hatte an den Börsen in Hongkong, Südkorea und Japan operiert und mit Optionen, die kaum noch abzusichern waren, jene »Massenvernichtungswaffen« geschaffen, die die Bank ruinierten. Wir packten uns die Handelsbücher mit bizarren Risiken voll, die kein Mensch mehr verstand – alles, um ein paar tausend Euro mehr Bonus zu erhaschen. Und ich war nur eine von vielen. Auf der ganzen Welt krochen größenwahnsinnige Broker und Händler herum, die wie Irre mit Risiken um sich ballerten. Genau wie ich. Wir prostituierten uns für Geld, lebten vollkommen neben der Spur, waren nicht mehr wir selbst. Wir erstickten an unserer eigenen Überheblichkeit, die die Finanzbranche nur allzu gern nährte. Geld war eine so starke Macht, dass ich und viele meiner Kollegen sogar so weit gingen, uns selbst zu verraten. All dies kreiste in meinem Kopf herum. War ich in eine Midlife-Crisis geraten? Mit Anfang dreißig? Weil ich mit Martin nicht darüber reden konnte, rief ich Lilly an und fragte sie, ob sie am Abend zu mir kommen könne. »Was ist los?«, wollte Lilly wissen, als sie sich auf meine Couch gesetzt hatte. Sie trug eines ihrer schicken figurbetonenden Kleider. Selbst in ihrer Freizeit konnte sie sich nicht von ihren Glamour-Outfits trennen. »Irgendetwas scheint dich zu bedrücken? Hast du den Brokerkoller?« »Klingt, als könnte es stimmen. Der Job geht mir an die Substanz. Elite hin oder her, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass mich Dinge berühren, die mich gar nicht berühren dürften.« »Was meinst du damit?«
»Afghanistan, Arbeitslosigkeit, Terroranschläge – für uns sollen das alles nur Marktinformationen sein, nur auf diesem Level dürfen wir all das an uns heranlassen. Die Abgestumpftheit, die ich gegenüber Menschen entwickelt habe – sie erschreckt mich selbst. Ich bin so oberflächlich geworden, dass ich es kaum noch aushalte.« Lilly hörte mir einfach nur zu, während ich mir alles von der Seele redete. »Die Typen betrügen ihre Frauen, drehen die seltsamsten Dinger, alles nur, weil sie glauben, über allem zu stehen. Dabei prostituiert man sich nur für Geld. Aber hat Geld überhaupt diesen hohen Stellenwert, den wir ihm geben? Wir blenden doch nur alles aus, was das wahre Leben betrifft.« »Anne, was faselst du denn über das wahre Leben? Das ist doch ein Klischee, das man heranzieht. Wer weiß, vielleicht leben wir das wahre Leben. Wer kann das schon wissen? Hör auf, dir den Kopf zu zerbrechen. Such dir lieber ‘nen anständigen Kerl. Der wird dich von so wirren Gedanken ablenken.« Sie hatte recht, aber… »Aber so wie meine Kollegen will ich auch nicht enden. Es ist schon auffällig, wie schnell sie altern. Sie bekommen früh graue Haare, wenn sie sie nicht gleich ganz verlieren, stopfen alles in sich hinein und werden immer dicker. Die kriegen der Reihe nach Hörstürze, haben Herzprobleme, einer hatte letztens einen Zusammenbruch, und der Rest mutiert zu Alkoholikern. Partys, viele Reisen, der Druck, Millionen zu verdienen, dieser ganze sinnlose Überfluss – das verbraucht. Manchmal habe ich das Gefühl, wir sind lebendige Tote, Spielzeugfiguren zum Aufziehen, um Geld zu verdienen.« »Führ dich nicht auf wie eine Pubertierende. In zehn Jahren bist du reich genug, um aussteigen zu können. Das war unser Traum, und nach unseren bisherigen Erfolgen spricht nichts dagegen, dass er sich auch erfüllt.«
»Ich gehe an Grenzen, koste es, was es wolle, vergesse Moral und Mitgefühl, und dann soll ich in zehn Jahren auf einmal wieder wie ein normaler Mensch leben? Bis dahin bin ich fertig. Fix und fertig.« »Wenn du aufhörst, stehst du vor dem Nichts.« Das ist das Totschlag-Argument, das alle antreibt, weiter als Broker zu arbeiten. »Es ist nicht so, dass ich alles hinschmeißen möchte…« »Vielleicht solltest du die Bank wechseln.« »Das könnte eine Möglichkeit sein.« Von einer Brokerin hatte ich gehört, dass sie sich ein Jahr Auszeit genommen hatte. Währenddessen hatte ihr das Business so sehr gefehlt, dass sie nach ihrem Wiedereinstieg noch größere Deals machte. Vielleicht war das eine Alternative. Es machte keinen Sinn, weiter mit Lilly über meine Gedanken zu reden. Sie hatte noch keinen Brokerkoller gehabt, Zweifel an ihren Geldspielen waren ihr bislang nicht gekommen. Für mich war alles nur noch wie Friedrich Dürrenmatts Stück Der Besuch der alten Dame. Diese Titelheldin unterbreitet den Bürgern einer Kleinstadt ein unmoralisches Angebot: Sie würde ihnen eine Milliarde schenken, wenn sie einen Mord begingen. Eine Forderung, die die Bewohner entrüstet ablehnen, doch seltsamerweise beginnen sie, das Geld auszugeben, als stünde das Verbrechen unmittelbar bevor. Schließlich passiert es tatsächlich, und die Bürger des Städtchens sind plötzlich reich. Wer den Mord begangen hat, wird nie aufgeklärt. Genau in dieser Welt bewegte ich mich, in dieser von Gier getriebenen Welt, die Heuschrecken hervorbrachte. Ich hatte mit das System perfektioniert, Kunden zu verarschen und ihnen viel Geld aus der Tasche zu ziehen. Aber all diese Extreme auf Dauer auszuhalten, war ich dafür geschaffen? War ich die absolute Zynikerin?
Lilly erzählte noch eine Weile von ihrer neuesten Männereroberung. Als sie ging, war es kurz nach Mitternacht. Der furchtbare Tag war vorüber.
In den nächsten Monaten führte ich meinen Job fast mechanisch aus. Der alte Spaß war verflogen, und ich hatte auch keinen Ehrgeiz mehr, mehr Geld zu verdienen. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich wäre einem Riesenbetrug aufgesessen. Anstelle von Herausforderungen sah ich nur noch Falschheit und Lüge. Ich erfreute mich nicht mehr an meinem Geld. Nach und nach hatte Geld nur noch einen bitteren Nachgeschmack bekommen. Eine verdammt harte Erkenntnis. Eines Morgens erwachte ich und wusste, was ich wollte: die Kündigung. Noch im Pyjama schaltete ich meinen Computer an und setzte sie auf. Mit großer Zufriedenheit schaute ich auf das Blatt Papier, das aus meinem Drucker kam. Mir war noch nicht klar, ob ich tatsächlich zu einer anderen Bank wechseln wollte. Aber dass ich eine Auszeit brauchte, um meine Gedanken zu ordnen, das wusste ich mit aller Bestimmtheit. Nur noch die Unterschrift, dann ab in die Bank. Der letzte Tag. Mit der Kündigung würde ich den Handelsraum nicht mehr betreten dürfen: »Mit sofortiger Wirkung freigestellt.« Marc hatte gerade Zeit, als ich sein Büro betrat. »Ich kündige«, sagte ich ohne Umschweife und legte mein Scheiben auf seinen Tisch. »Was willst du? Wie viel mehr willst du haben?« Auf die Idee, dass ich wirklich wegwollte, kam er nicht. Es war gängige Strategie in Handelsräumen, mit dem unterschriebenen Kündigungsschreiben auf dem Tisch noch mehr Geld rauszuhandeln. Harte Bandagen eben. »Ich will kein Geld mehr«, erwiderte ich. »Ich will nichts mehr.«
Lächelnd verließ ich die Bank.
Ich war draußen – ein gutes Gefühl.
Epilog
Die Geister, die ich rief
Hirnforscher haben herausgefunden, dass die Gier nach Geld ein ähnliches Suchtpotential hat wie Kokain oder Sex. Das war all die Jahre die unausgesprochene Wahrheit in den Handelsräumen, das war die Motivation von Brokern wie Hartmut, Pascal, Lilly, Martin und mir. Es ist ein unglaublicher Kick, an einigen Tagen mehrere Hundert Millionen Euro zu handeln – und dabei einige Millionen zu verdienen. Im Rückblick denke ich, dass die Verantwortung, die wir trugen, in keinem Verhältnis zu unserer persönlichen Reife stand. Nach dem Kollaps der Finanzmärkte 2008 und der Erkenntnis, dass vorerst nur die Regierungen den totalen Zusammenbruch verhindern können, machte ich mir Gedanken über die Ursachen des Crashs. Die Billionen, die auf den internationalen Kapitalmärkten täglich gehandelt werden, sind nur Bits und Bytes in den Datenleitungen der Händler. Nur ein geringer Anteil dieser Gelder, insgesamt 5 Prozent, sind durch realen Güterverkehr bedingt, bei den restlichen 95 Prozent handelt es sich um Anlage- und Spekulationsgelder, die für die Jagd nach hohen Renditen eingesetzt werden. Problematisch wurde es, als Leute wie wir sich zu Masters of the Universe erklärten und anfingen, mit den Milliarden der Anleger und Banken gigantische Wetten abzuschließen und magische Geldmaschinen zu konzipieren. Was uns dabei aber nicht in den Sinn kam: Die nahezu neuronale Vernetzung der Banken untereinander konnte alle über einen Domino-Effekt mit in den Abgrund reißen. Mir schien, als wäre durch die Abkopplung der Finanzmärkte von den Gütermärkten diese
absurde Situation entstanden, in der Produktion und Jobs zum Spielball liberalisierter Finanzmärkte wurden. Wir katapultierten Milliarden um den Globus, als gäbe es kein Morgen. Aufsichten und Risiko-Management, die ob der Komplexität unserer Deals kapitulierten, besaßen keine Möglichkeiten, uns aufzuhalten. Warum taten wir das alles? Damals konnte ich das nicht genau erkennen, heute lautet meine Antwort: Wir hatten Aussichten auf immense Gewinne, Bonuszahlungen, ohne die Konsequenzen unseres Handelns tragen zu müssen. Wir konnten nicht persönlich haftbar gemacht werden. Für eventuelle Risiken hatten andere aufzukommen, die Bank, die Anleger. Diese Aufspaltung von Haftung und Gewinnchancen war eine desaströse Mischung. Wer als Broker ohne persönliches Risiko seinen Bonus um 50000 oder 100000 Euro nach oben schrauben konnte und diese Chance nicht nutzte, konnte nur als unökonomisch bezeichnet werden. Und nicht zu vergessen: Die Gier der Aktionäre und der Anleger befeuerte die der Broker. Ich fragte mich, wer oder was die Schuld an der Misere der Finanzmärkte trägt? Ist es das System an sich? Die menschliche Gier? Wo beginnt eigentlich diese Gier? Und worin bestanden meine eigenen Motive? In dem Wunsch, dazuzugehören zu den Geldjongleuren? Wollte ich einfach besser sein als andere? Schwamm ich vielleicht einfach nur mit dem Zeitgeist und orientierte mich an dessen Normen und Zielvorgaben? Im Nachhinein kommt es mir so vor, als hätten wir Banker auf einem riesigen Spielplatz gespielt und keiner hatte uns gesagt, wo die Grenzen liegen. Wir waren so überzeugt von uns selbst, dass uns Selbstkritik nur etwas für Schwächlinge zu sein schien. Als abgeklärte Bankerin frage ich mich aber auch: Ist Gier nicht ebenso das, was uns Gordon Gekko, der Held aus Wall
Street, prophezeite? Die Triebfeder wirtschaftlicher Evolution? Ist sie nicht die Kraft, die seit jeher Innovation, Produktivität und Fortschritt in Gang setzt und weitertreibt? Der Anreiz für Arbeit? Ist nicht der Kapitalismus das System, das durch seine freien Marktkräfte die Verwertung des Eigennutzes in Wohlstand für jeden Einzelnen ermöglicht? Das System, dem es gelingt, die menschliche Gier so zu lenken, dass alle davon profitieren können? Im Kapitalismus als Wirtschaftsordnung sollte aber keine Anarchie herrschen, er braucht funktionierende Regeln. Ludwig Erhard, der »Vater der Sozialen Marktwirtschaft«, verglich einmal die Rolle des Staates mit der eines Schiedsrichters beim Fußball, der nicht am Spiel teilnimmt, sondern die Regeln des Spiels aufstellt und überwacht. Um dies tun zu können, muss er aber die Dynamik des Spiels verstehen. Für die Realwirtschaft sind diese Regeln weitestgehend erforscht. Die Spielregeln für die Finanzmärkte sind jedoch noch längst nicht so ausgereift – aus meiner Zeit als Brokerin weiß ich das nur allzu gut. Die Büchse der Pandora ist geöffnet, strukturierte Finanzprodukte und Derivate sind in die Welt gekommen. Eine neue Ordnungspolitik für die globalen Finanzmärkte zu finden wird in den nächsten Jahren eine der großen Herausforderungen sein. Für die Banken werden das Verstehen, das Sammeln und die Kontrolle ihrer eigenen Risiken zur zentralen Aufgabe. Um weltweit Finanzspielregeln festzulegen, braucht es ein gewisses Mindestmaß an internationaler Kooperation und Einigung – mit Sicherheit die größte Schwierigkeit. Denn die einzelnen Staaten liegen in dieser Frage so weit auseinander, dass eine internationale Finanzaufsicht fast utopischer erscheint als eine Weltregierung.
Und: Die nächste Blase wird kommen. Der aktuelle Crash ist ein Wake-up-Call, ein Wachrütteln, um endlich damit zu beginnen, die Risiken globalisierter Finanzmärkte zu verstehen und zu kanalisieren.
Nachwort
Hochspekulative Finanzinstrumente sind genauso wie die dazugehörigen juristischen Konstruktionen technisch und mathematisch so komplex, dass ich zur Verständlichkeit des Buches vieles vereinfachen musste. Ich möchte mit diesem Buch nicht die gesamte Finanzbranche Deutschlands verteufeln. Insbesondere unter den Fondsmanagern der Versicherer, Pensionsfonds, Stiftungen, Vorsorgekassen und Kirchen habe ich viele integre Menschen getroffen – dies führe ich darauf zurück, dass in diesen Branchen andere Anreizsysteme als im InvestmentBanking herrschen. Von den Investment-Bankern, die von Bonuszahlungen getrieben sind, kann ich dies nicht behaupten. Bei ihnen ist die vorherrschende Mentalität eine gierige. Sie verhalten sich hochriskant und rücksichtslos, wollen wenig Verantwortung tragen und kennen nur einen einzigen Zweck: das eigene Vermögen zu mehren. Vielleicht ist das Offensichtliche inzwischen besser kaschiert als am Anfang meiner Karriere im Investment-Banking, die Mentalität bleibt aber die gleiche.
Dank
Mein besonderer Dank geht an HK, der dieses Buch vor Jahren mitinitiiert und mich jederzeit unterstützt hat. Dem GMW danke ich für alle Unterstützung und das Ertragen der Plage, die ich während der Zeit des Buchschreibens gewesen sein muss. Meinen Eltern danke ich dafür, dass sie immer für mich da waren. MC für die tolle Freundschaft und die vielen Inputs für das Buch. MB danke ich für die vielen guten Kommentare und Gespräche der letzten Monate. RT ist überraschenderweise Teil des Buchteams geworden, wofür ich mich ganz herzlich bedanke. Zu guter Letzt geht mein Dank an KH: Die »Keep the-Spirit-up-Meetings« haben noch nie ihre Wirkung verfehlt.
Insbesondere möchte ich weiterhin Jürgen Diessl und Linda Lauer-Dvorak vom Econ-Verlag danken, die einen beeindruckend langen Atem und vorausschauende Weitsicht in diesem Buchprojekt bewiesen haben. Mein größter Dank aber geht an RC, ohne die dieses Buch nicht möglich gewesen wäre und deren Ausdauer, Witz und Power meinen größten Respekt verdient haben.
Und natürlich danke ich allen Händlern, Brokern und Kunden, die dieses Buch und seine Entstehung überhaupt erst ermöglicht haben.
Glossar
Absicherung Wertpapierpositionen können durch Kauf beziehungsweise Verkauf von → Derivaten (→ Futures, → Optionen, → Swaps) gegen Kursschwankungen abgesichert, die Risiken verringert werden. Zum Beispiel ist dies möglich, indem man darauf setzt, dass die Preise der Derivate sich in eine andere Richtung bewegen. Dies ist eine Absicherung durch Gegengeschäfte. Wird auch als Hedgen bezeichnet. Aktienanleihen Auch Reverse-Convertible-Bond genannt. Ein noch nicht sehr lang existierendes Produkt am Kapitalmarkt, bei dem der → Emittent die Möglichkeit hat, die Rückzahlung zum Nennwert in bar oder in Aktien vorzunehmen. Wird strukturiert aus der Kombination einer hochverzinslichen → Anleihe und einem Short → Put. Analyst Ein Analyst ist ein bei Banken, → Rating-Agenturen oder anderen Organisationen angestellter Experte, der Prognosen über die weitere Entwicklung von Aktien-, Kredit- oder anderen Märkten abgibt. Anleihe Wertpapiere mit festem Zinssatz und einer vollständigen Kapitalrückzahlung. Meist ausgegeben vom Bund oder von Gemeinden, aber auch von Unternehmen zur Finanzierung. Anleihen von Hypothekenbanken nennt man Pfandbriefe.
Arbitrage Nutzung vorübergehender Preis- und Kursunterschiede zwischen zwei Märkten für ein identisches Wertpapier oder Finanzprodukt oder eine → synthetische Position. Der Arbitrageur kauft das Finanzprodukt im billigeren Markt und verkauft es fast gleichzeitig im teureren Markt zu einem höheren Preis. Backoffice Abrechnungsstelle; interne Abteilung einer Investment-Bank, die für die Abrechnung der Transaktionen zuständig ist. BaFin Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) in Frankfurt am Main und Bonn ist eine selbständige staatliche Allfinanzaufsicht und kontrolliert alle Bereiche des Finanzwesens, also Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute, Versicherungsunternehmen sowie den Wertpapierhandel. Basispreis (Engl.: Strike Price). Bei Abschluss eines Optionsgeschäfts vereinbarter Preis, zu dem der Käufer beziehungsweise Verkäufer einer → Option das Wertpapier am Ende der Laufzeit kaufen oder verkaufen kann. Beim Abschluss eines Kontrakts wird der Basispreis festgelegt. Benchmark Zielvorgabe, für einen Fonds kann das zum Beispiel die Wertentwicklung des DAX sein.
Bloomberg Amerikanischer Finanznachrichten- und Informationsdienst, der international über Online-Terminals arbeitet. Ähnlich wie Reuters ein wichtiges Arbeitsinstrument für Händler. Bonität Ausdruck für den Grad der Zuverlässigkeit eines Schuldners. Brief Verkaufsangebot eines bestimmten Wertpapiers zu einem bestimmten Kurs. Broker Englischsprachige Bezeichnung für Aktien-, Derivate- und andere Händler. Brokermarkt Markt der → institutionellen Anleger, insbesondere der Banken unter sich. Buchwert Der Buchwert einer Aktie gibt die Höhe des auf die Aktionäre entfallenden Eigenkapitals pro Aktie an. Bundesanleihe Festverzinsliche Wertpapiere, die von der Bundesrepublik Deutschland als Staatsanleihen herausgegeben werden, damit finanziert der Bund sein Haushaltsdefizit. Bundesobligation Festverzinsliches Wertpapier des Staates mit kürzerer Laufzeit (bis fünf Jahre).
Call Ein Call ist eine Kaufoption. Ein Käufer zahlt eine Prämie und erwirbt durch einen Call das Recht, innerhalb eines bestimmten Zeitraums eine bestimmte Anzahl von Wertpapieren oder anderen Finanzprodukten zu einem vereinbarten Preis kaufen zu können. Dabei wird auf steigende Kurse spekuliert, also auf einen steigenden Preis des zugrunde liegenden Instruments. Cap Die vertragliche Vereinbarung einer Zinsobergrenze, der ein nomineller Kapitalbetrag zugrunde liegt. Beim → DiscountZertifikat die Obergrenze der Partizipation an den Kursgewinnen der Aktie. Cash Burn Rate Engl. für »Geldverbrennungsrate« – ein Begriff, der hauptsächlich für junge Unternehmen aus der New Economy verwendet wurde; gibt an, wie schnell eine Firma ihre finanziellen Mittel verbraucht. CDO Collateralised Debt Obligations (CDO) ist ein Oberbegriff für Wertpapiere, die durch einen Pool diversifizierter Vermögensgegenstände besichert sind. Diese sind wiederum ein Pool von Forderungen in Form von Anleihen (in sogenannten Collateralised Bond Obligations = CBO), Krediten (Collateralised Loan Obligations – CLO) oder → Credit Default Swaps (CDS) oder eine Mischung daraus. Die Finanzierung der Forderungen erfolgt durch die Emission von Senior, Mezzanine und Equity Anleihe-Tranchen unterschiedlicher Rangfolge und Qualität. Equity-Tranchen haben oft Spekulationsstatus.
CDS Ein Credit Default Swap (CDS) ist ein Instrument zur Absicherung von Kreditrisiken. Es handelt sich dabei um eine Vereinbarung zwischen zwei Parteien, in der sich Vertragspartner A dazu verpflichtet, Vertragspartner B Ersatz zu leisten, und zwar für den Fall, dass sich das Rating der Kreditausleihungen von Vertragspartner B an Dritte verschlechtert. Als Gegenleistung für die Übernahme dieses Risikos erhält Vertragspartner A eine Prämie. Closen/Eindecken/Glattstellen Zurückkaufen von Aktien, die man nicht hat, auch das Schließen von offenen Positionen. DCF Discounted Cash Flow: Abgezinste Zahlungsströme eines Unternehmens. Beliebte Methode der Unternehmensbewertung. Delta Diese auch »Griechen« genannten Sensitivitätskennziffern geben die Anpassung eines Optionspreises bezüglich der Veränderung von preisbestimmenden Faktoren an. Als Sensitivitätskennzahlen der Optionen gelten: Delta (Aktie), Gamma (Delta des Deltas), Vega (→ Volatilität), Rho (Zinsen), Theta (Zeit). Depot Ort, an dem Wertgegenstände, zum Beispiel Wertpapiere, aufbewahrt werden.
Derivate Finanzinstrumente, künstliche Wertpapiere, die sehr spekulativ sind. Sie beziehen sich meist auf Aktien, Währungen, Zinsen oder Rohstoffe, also auf ein Basisinstrument. Von diesem wird dann ein Preis abgleitet. Eine kleine Veränderung beim Preis des Basisprodukts bewirkt in der Regel eine sehr viel größere Veränderung des Derivats (Hebelwirkung). Discount-Zertifikat Ein Discount-Zertifikat bildet die Wertentwicklung eines Basiswerts ab. Die maximale Rendite wird durch den → Cap begrenzt. Als Ausgleich dafür ist das Discount-Zertifikat billiger als ein direktes Investment in den Basiswert. Wird strukturiert aus der Kombination von Aktie und Short Call. Dividende Einen Teil der Gewinne schütten Unternehmen als Dividende an ihre Aktionäre aus. Duplizieren/Synthetisch darstellen Eine Strategie des Hedge-Geschäfts, mit der Händlerpositionen durch → Derivate und andere Finanzinstrumente im Hinblick auf Preisabsicherung und Gewinnmöglichkeiten nachgebildet werden. Synthetische Positionen sind eine Form der → Arbitrage. Eigenhandel Auch Eigengeschäft genannt (Engl.: Prop Trading). Das sind Wertpapiergeschäfte einer Bank, die sie im eigenen Namen und auf eigene Rechnung vornimmt. Die Bank tritt also auf dem Markt wie ein privater Anleger auf. Der Eigenhandel taucht in den Bilanzen der Banken oft nur versteckt auf.
Eindecken → Closen. Emission Ausgabe neuer Wertpapiere (Aktien, → Anleihen usw.). Emissionsvolumen Wert der Wertpapiere, die einer → Emission angehören. Emittenten Emittenten sind Unternehmen, die Wertpapiere ausgeben und für die darin verbrieften Rechte haften. Es handelt sich meist um Aktiengesellschaften oder juristische Personen des öffentlichen Rechts. ETF Exchange Traded Funds sind börsengehandelte passive → Fonds mit hoher Liquidität, die oft mit Hilfe von → Derivaten einen → Index abbilden. EUREX Abkürzung für: European Exchange. Weltweit größte elektronische Terminbörse mit Sitz in Frankfurt, an der → Optionen und → Futures gehandelt werden. Die EUREX ist die Zentrale Gegenpartei (Central Counterparty) aller an ihr abgeschlossenen Geschäfte. Sie ist die 1998 gegründete Nachfolgeorganisation der DTB (Deutsche Terminbörse). Exotische Derivate Sind Optionen mit außergewöhnlichen, auch gefährlichen Konstruktionen, die nicht den üblichen Optionen entsprechen, beispielsweise: Digital-Optionen, Barrier-Optionen, BermudaOptionen, Asiatische Optionen, Lookback-Optionen, Chooser Optionen, Range Optionen, Russische Optionen, Cliquets oder Multi-Asset-Optionen.
Exposure Damit werden Risiken beschrieben, die Marktschwankungen herbeiführen. So spricht man von Market Exposure oder Aktienexposure, Zins- und Währungsexposure. Um derartigen Risiken Rechnung zu tragen, werden Instrumente zur Exposuresteuerung eingesetzt. FED Federal Reserve, oft auch Federal Reserve oder Fed genannt: das Zentralbanksystem der Vereinigten Staaten (USNotenbank). Festgeld Geld, das man einer Bank für eine bestimmte Zeit gegen Zinsen zur Verfügung stellt. Festverzinsliche Wertpapiere Wertpapiere mit einem festen Zinssatz, zum Beispiel Anleihen. Fonds (Aktienfonds/Investmentfonds) Kapitalanlagegesellschaft, die zum Beispiel verschiedene Aktien kauft und den daraus entstehenden Wert wieder neu aufteilt, um ihn zu verkaufen. Es gibt auch Fonds für Anleihen oder Immobilien. Oder gemischte Fonds, die Aktien, Anleihen und Immobilien beinhalten. Fonds sind Sondervermögen, auf die im Fall der Insolvenz des Fondsverwalters nicht zugegriffen werden darf. Aktive Fonds werden von Fondsmanagern geführt, die Entscheidungen bezüglich der Anlagegegenstände treffen. Im Gegensatz dazu bilden passive Fonds einen Aktienindex ab – ohne aktives Management.
Freiverkehr Börsenabteilung, für die nicht die höchsten Kontrollen gelten. Hier werden meist kleinere Werte gehandelt. Frontoffice Das Frontoffice – oder der Handel – sind die Abteilungen der großen Banken, die mit dem Abschluss von großen Geldgeschäften, mit Kundenhandel oder Eigenhandel befasst sind. In der Regel arbeiten hier Broker und Händler. Futures Ein spezielles Anlageinstrument mit hohem Kreditanteil: kleiner Einsatz – großer Gewinn oder Verlust. Wird nur von Profis benutzt. Im Gegensatz zu einem → Optionsgeschäft, bei dem der Käufer ein Wahlrecht hat, müssen Future-Kontrakte ausgeführt und erfüllt werden. Glattstellen → Closen. Hedgefonds Investmentfonds, die in → Futures, → Optionen oder anderen Derivaten anlegen. Sie können nicht nur am → Terminmarkt, sondern auch am → Kassamarkt agieren, zudem handelt man außerbörslich mit direkten Verträgen zwischen Käufer und Verkäufer. Sie sind in der Regel hochspekulativ. Hedgen → Absicherung.
Index Genormte Messzahl, die angibt, wie sich die Kurse einer Wertpapiergruppe entwickeln. Indizes existieren beispielsweise für einzelne Branchen und Länder. Inhaberschuldverschreibung Eine Inhaberschuldverschreibung ist eine Form der Schuldverschreibung, bei der der Urkundenbesitzer automatisch der Gläubiger des → Emittenten wird. Institutionelle Anleger Das sind die großen Anleger, also Banken, Versicherungen und Investmentfonds. In der Summe bilden sie eine erhebliche Macht auf den Kapitalmärkten und können auf Aktien, Anleihen, sogar Währungen einwirken. Solange institutionelle Investoren von einer Aktie nicht überzeugt sind, so lange wird ihr Kurs kaum steigen können. Wird etwa eine Aktie massiv verkauft, wird ihr Kurs spürbar sinken. Investment-Bank Hat unterschiedliche Geschäftstätigkeiten: Vermögensverwaltung ihrer Kunden, Handel mit Wertpapieren sowie Unterstützung von Unternehmen bei Kapitalaufnahme (etwa Börsengänge). Investment-Banken dienen der Unterstützung des Handels an Finanzmärkten. Jelly Roll Ebenso wie Short Butterfly oder Stangle sind dies komplexe → Optionsstrategien, mit denen teilweise → Arbitrage betrieben, teilweise auf stagnierende oder stark schwankende Märkte gesetzt werden kann.
Kassamarkt An ihm werden sogenannte Kassageschäfte abgewickelt, bei der Lieferung, Abnahme und Bezahlung von Wertpapieren sofort erfolgen. In der Regel sind dies Aktien, Anleihen oder Rohstoffe. KGV – Kurs/Gewinn-Verhältnis (Engl.: Price-Earnings-Ratio, PER, P/E). Das Kurs-GewinnVerhältnis gibt an, in welchem Verhältnis der Gewinn einer AG zur aktuellen Börsenbewertung steht, ist also eine Aktienbewertung. Bei einem niedrigen KGV gilt eine Aktie als günstig, bei einem hohen KGV als ungünstig. Bei Verlusten kann kein KGV ermittelt werden. Analysten betrachten nicht nur das aktuelle KGV, sondern schätzen den künftigen Börsenkurs aufgrund von Gewinnvorhersagen. Von Branche zu Branche ist das durchschnittliche KGV aber unterschiedlich hoch. Kontrakt Kleinste handelbare Einheit im Rahmen des Börsenhandels mit → Optionen und → Futures. Die Spezifikationen eines Kontrakts sind bis auf seinen Preis standardisiert. Bei → Options- und → Futureskontrakten sind Qualität des Basiswerts sowie Laufzeit festgelegt, bei Optionskontrakten zusätzlich die Angabe des Basispreises. Korrelation Wechselseitige Beziehung beziehungsweise Abhängigkeit zweier Größen untereinander. Der Korrelationsgrad gibt die Wahrscheinlichkeit gleichlaufender Kursund Marktentwicklungen wieder, beschreibt also die gemeinsame Entwicklung zweier Werte. Liegt keine gemeinsame Entwicklung vor, ergibt sich daraus eine Korrelation von 0.
Verändert sich der eine Wert gleichartig mit dem anderen, so steigt die Korrelation auf 1. In einem Portfolio wird eine hohe Risikoreduzierung dadurch erreicht, dass verschiedene Wertpapiere hereingenommen werden, die möglichst wenig miteinander korrelieren, das heißt eher gegenläufig als gleichläufig tendieren. Kreditderivate Finanzinstrumente, die es ermöglichen, Kreditrisiken von Darlehen, Anleihen und anderen Kreditpositionen zu bewerten und separat zu handeln. Kreditrisiko Für den Kreditgeber besteht ein Kreditrisiko, wenn der Kreditnehmer seiner Pflicht zur Zurückzahlung nicht mehr nachkommen kann. Zu diesem Fall kann es zum Beispiel durch die Insolvenz des Kreditnehmers kommen. Gilt auch für → Anleihen, → Schuldscheine und → Zertifikate, im Gegensatz zu → Fonds. Laufzeit Zeitraum von der Ausgabe einer Anleihe bis zur Tilgung; bei Optionsscheinen und → Optionen bis zum letzten möglichen Ausübungstag. Leerverkäufe Beim Leerverkauf (auch »Short Selling« genannt) werden Wertpapiere über die Börse verkauft, obwohl der Verkäufer zum Zeitpunkt des Verkaufs die Wertpapiere noch nicht besitzt. Mit dieser Strategie kann der Verkäufer mit überdurchschnittlichen Renditen von fallenden Börsenkursen profitieren. Im Gegensatz zu → Optionsgeschäften mit festen Optionsterminen handelt es sich bei Leerverkäufen um sehr
kurzfristige Geschäfte, da die geliehenen Wertpapiere nach relativ kurzen Fristen nachgeliefert werden müssen. Leverage Hebelwirkung, bei der durch einen vermehrten Einsatz von Fremdkapital die Eigenkapitalrentabilität erhöht wird. Tritt auch in → Derivaten auf. Long-Position Eine Wertpapieranlage, die auf steigende Kurse spekuliert. Bei → Optionen ist die Long-Position die des Käufers, der eine Prämie zahlt. Das Gegenteil dazu: → Short-Position. Marktkapitalisierung Unternehmenswert insgesamt. Ergibt sich, wenn man alle Aktien zusammenzählt und mit dem Kurs multipliziert. Mergers & Acquisitions Englischer Begriff für Firmenfusionen und -übernahmen.
NEMAX
Startete am 1. Juli 1999. Bis zum 21. März 2003 umfasste er die fünfzig nach → Marktkapitalisierung und Börsenumsatz größten in- und ausländischen Unternehmen im Neuen Markt. Die Berechnung des NEMAX wurde 2004 eingestellt. Nachfolger ist der deutsche Aktienindex TecDAX.
Neuemission Ausgabe von Aktien eines Unternehmens, das neu an die Börse kommt. Null-Coupon-Anleihe Werden auch Zero Bonds genannt; sie sind langfristig abgezinste Anleihen. Bei ihnen wird kein jährlicher
Nominalzins ausgezahlt. Eine Rendite nimmt der Anleger trotzdem mit, wobei diese sich aus dem niedrigeren Ausgabekurs und dem höheren Rückzahlungskurs ergibt. Die Differenz daraus ist die Rendite. Offene Position Eine Position von → Optionen oder → Futures, → Long oder → Short, die nicht durch entgegengesetzte Transaktionen abgesichert ist. Offshore-Finanzzentren Internationale Finanzplätze mit besonders günstigen Standorteigenschaften, insbesondere steuerlicher und/oder aufsichtsrechtlicher Art. Option Finanzprodukt am Terminmarkt. Eine Option beinhaltet das Recht, gegen eine vereinbarte Zahlung (→ Optionsprämie) Finanzprodukte zu einem festgelegten Zeitraum zu kaufen oder verkaufen. Wird das Recht bis zum vereinbarten Zeitpunkt nicht ausgeübt, so verfällt die Option. Optionsprämie Zahlung eines Optionskäufers an den Optionsverkäufer. Order Auftrag zum Kaufeines Wertpapiers. OTC-Markt Ein Over-the-Counter-Markt (OTC-Markt) ist nicht lokalisiert und hat keine festen Handelszeiten. Die Preise werden an diesem Markt frei ausgehandelt. Die Transaktionen finden außerhalb der Verantwortung einer Börse statt, unterliegen
aber den geltenden gesetzlichen Bestimmungen für den Wertpapierhandel. Im Optionshandel: Over-the-CounterOptionen zeichnen sich durch eine individuelle Laufzeit, fehlende Börsennotierung, wenig Transparenz und eine geringe Zugangsmöglichkeit für den privaten Investor aus. Outperformer Auch: Marketperformer. Eine Aktie, die sich Analystenurteil besser als der Index entwickeln soll.
nach
Performance Wertentwicklung. Plain Vanilla Klassisch strukturierte Optionen in der → Call- oder → PutVariante, die keine zusätzlichen Eigenschaften aufweisen. Im Gegensatz dazu die → exotischen Optionen. Portfolio Bestand an Wertpapieren. Prop Trading → Eigenhandel. Put Ist eine Verkaufsoption. Ein Käufer zahlt eine Prämie und erwirbt durch einen Put das Recht, innerhalb eines bestimmten Zeitraums eine bestimmte Anzahl von Wertpapieren oder anderen Finanzprodukten zu einem vereinbarten Preis verkaufen zu können. Dabei wird auf sinkende Kurse spekuliert, also einen fallenden Preis des zugrunde liegenden Instruments.
Rating-Agentur Bewertet Unternehmen und deren Kreditwürdigkeit. RatingAgenturen beurteilen → Emittenten danach, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie ihren Zins- und Tilgungsleistungen nachkommen können, sowohl kurz- als auch langfristig. Anhand dieser Kriterien teilen sie die Unternehmen in → Bonitätsklassen ein. Bekannte Rating-Agenturen sind Moody’s, Fitch und Standard & Poor’s. Bei Standard & Poor’s beispielsweise haben die Unternehmen mit der höchsten Bonität ein AAA (Triple A)- Rating; Unternehmen, die bereits in Zahlungsverzug sind, bekommen ein D. Realtime-Kurse Kurse in Echtzeit. Normalerweise sind die Kurse bis zu zwanzig Minuten verzögert. Deshalb sind Realtime-Kurse etwas Besonderes und kosten viel Geld. Rendite Ertrag eines Wertpapiers im Verhältnis zum investierten Kapital; wird immer in Prozent angegeben. Renten Alte, aber immer noch gebräuchliche Bezeichnung für festverzinsliche Wertpapiere (zum Beispiel → Anleihen). Scalpen Ein Scalper ist ein kurzfristig agierender Händler, der kleinere Kursbewegungen zu nutzen versucht. → Offene Positionen werden sehr kurzfristig, oft innerhalb von Minuten, auf jeden Fall jedoch innerhalb einer Börsensitzung glattgestellt → Closen/Eindecken. Short Butterfly
→Jelly Roll. Short-Position Position eines Investors, der eine → Option beziehungsweise einen Optionsschein verkauft. Bei → Futures hält der Verkäufer des Futures eine Short-Position. Er muss bei Fälligkeit das Gut liefern. Bei Aktien wird eine Short-Position durch → Leerverkäufe erzielt. Gegensatz: → Long-Position. SoFFin Abkürzung für »Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung«: auf der Grundlage des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes eingerichteter Hilfsfonds für durch die Finanzmarktkrise 2008 in Schwierigkeiten geratene Banken und Versicherungen. Spekulation Hauptwort für darauf hoffen, dass ein bestimmtes Ereignis in Zukunft eintritt, und auf diese Erwartung Geld setzen. Spread Hat in der Welt der Finanzen verschiedene Bedeutungen. Zum einen ist es die Differenz zwischen zwei Preisen oder Zinssätzen. Börsianer unterscheiden auch zwischen Geld- und → Briefkurs (Bid-/Ask-Spread). Weiterhin ist es eine Strategie, um den gleichzeitigen Kauf und Verkauf von → Optionen der gleichen Optionsklasse zum Zweck der beziehungsweise Eingrenzung von GewinnVerlustmöglichkeiten zu erreichen. SPV Zweckgesellschaften (Special Purpose Vehicles) nutzen Kreditinstitute, um besondere Geschäfte abzuwickeln. Über
dieses Konstrukt haben viele Banken in US-Hypotheken investiert – auch, um die riskanten Geschäfte aus der eigenen Bilanz herauszuhalten. Stangle →Jelly Roll. Strukturierte Produkte Strukturierte Produkte sind hochkomplexe Kapitalanlagen, hinter denen mehrere Komponenten wie beispielsweise Aktien, → Anleihen oder → Derivate stecken. Durch die Strukturierung erhält jedes Produkt ein eigenes Risikoprofil. Swap Ein Swap ist ein Tauschgeschäft, das zwischen den Vertragspartnern individuell vereinbart wird – zu vertraglich festgeschriebenen Konditionen und Zeitpunkten. Beispielsweise werde Zinsströme oder andere Zahlungsprofile ausgetauscht. Swaps lassen sich den → Derivaten zuordnen. Synthetisch darstellen/duplizieren Eine Strategie des Hedge-Geschäfts, mit der Händlerpositionen durch → Derivate und andere Finanzinstrumente im Hinblick auf Preisabsicherung und Gewinnmöglichkeiten nachgebildet werden. Synthetische Positionen sind eine Form der → Arbitrage. Terminbörse/Termingeschäft/Terminmarkt Markt für Profis, an dem auf die zukünftige Entwicklung von Wertpapieren gewettet wird. Underperformer
Aktie, die sich nach Analystenurteil schlechter als der Index entwickeln wird. Varianz Maßzahl für die Abweichung einer Zufallsgröße von ihrem Erwartungswert. Verkaufsprospekt Enthält alle Angaben, die für die Beurteilung einer Investmentanlage wie einer Aktie, einer → Anleihe, einem → Zertifikat oder einem → Fonds wichtig sind. Volatilität Maß für die Schwankungsbreite eines Kurses. Je stärker der Kurs schwankt, desto höher ist die Volatilität und desto größer das Risiko des Investments. Vorzugsaktie Aktie ohne Stimmrecht für den Aktionär, dafür aber mit höherer Dividende. Wirtschaftsprüfer Sind öffentlich bestellte und vereidigte Person, die Prüfungen durchführen. Wirtschaftsprüfer haben das alleinige Recht, als Abschluss- oder Bilanzprüfer die Jahresabschlüsse von mittelgroßen und großen Kapitalgesellschaften zu prüfen.
Zertifikat → Inhaberschuldverschreibung eines → Emittenten, die Anlegern die Teilnahme an der Kursentwicklung bestimmter Wertpapiere oder anderer Finanzinstrumente verbrieft. Häufig sind Zertifikate → strukturierte Produkte. Zinsstrukturkurve Die Zinsstrukturkurve zeigt das Zinsniveau festverzinslicher Anlagen bei kurz-, mittel- und langfristigen Laufzeiten. Die Zinsen sind entweder für Rentenpapiere aller Laufzeiten gleich, für kurze niedriger als für lange oder umgekehrt. Entsprechend verlaufen die Zinsstrukturkurven flach, normal oder invers. Im normalen Zinskurvenverlauf liegen die langen Zinsen über den kurzen, beim inversen ist es umgekehrt. In Deutschland gab es Anfang der neunziger Jahre eine inverse Zinskurve.