Marc Tannous
Die Geister von Greenhill Version: v1.0
Greenhill Manor lag wie ein verwunschenes Schloss inmitten eines...
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Marc Tannous
Die Geister von Greenhill Version: v1.0
Greenhill Manor lag wie ein verwunschenes Schloss inmitten eines einsamen Waldstücks. Zwei der äußeren Fenster im oberen Stock, sowie jenes in der Mitte des Erdgeschosses, waren schwach erleuchtet und verliehen der Villa das Aus sehen eines gewaltigen, mundlosen Totenschädels. Vereinzelte Schneeflocken tanzten wie kleine El fen im eisigen Wind. Manche ließen sich dreist auf der Windschutzscheibe des SUV nieder, bis sie von den unermüdlich arbeitenden Scheibenwischern des Mietwagens unsanft weggefegt wurden.
Eine tiefe Stimme aus dem Radio erzählte irgendetwas von den in wenigen Tagen anstehenden Präsidentschaftswahlen, die Walkers alte Heimat, die Vereinigten Staaten, derzeit in helle Aufregung versetzte. Offenbar war das ursprüngliche Duell der beiden aus sichtsreichsten Kandidaten unerwartet zu einem Dreierrennen ge worden, nachdem ein unabhängiger Drittkandidat in den Umfragen der letzten Wochen rasant zugelegt hatte. Walker hatte davon bisher nicht allzu viel mitbekommen. Er hatte in der letzten Zeit weiß Gott anderes zu tun gehabt. Seltsam, wie unwichtig die scheinbar bedeutungsvollsten Ereig nisse der Zeitgeschichte wurden, wenn man tagtäglich damit beschäftigt war, die Welt vor den Mächten der Hölle zu retten. Walkers Gegner waren keine Terroristen oder schurkische Po tentaten. Jedenfalls nicht mehr, seit er seinen Dienst bei der CIA quittiert hatte. Die Bedrohung, gegen die er heutzutage im Auftrag des Vatikan kämpfte, wurde von der breiten Weltöffentlichkeit beharrlich igno riert – und war doch mindestens so gefährlich, wie alle Atomwaffen dieser Welt. Seit Jahrtausenden lebten Vampire, Werwölfe und andere Dä monen auf Erden. Und immer wieder griffen sie aus dem Ver borgenen heraus nach der Macht über die Menschheit. So war es vermutlich auch in Walkers aktuellem Fall, der ihn von seiner Wahlheimat Rom aus – über Prag und den mexikanischen Regenwald in der Nähe der Ruinen von Uxmal – in den Nordosten Kanadas geführt hatte. Er war auf der Suche nach dem Tablett, auf dem einst der Kopf von Johannes dem Täufer geruht hatte. Sein Vorgesetzter, Monsignore Travelli, war davon überzeugt, dass der Besitzer der Reliquie den Verstand der Menschen beeinflussen konnte. Und irgendjemand war dabei, die Bruchstücke des Tabletts zu sammenzusuchen. Noch wusste Walker nicht, wer seine Gegner
waren. Doch dass sie irgendetwas Teuflisches im Schilde führten, stand für ihn außer Frage. Aus genau diesem Grund war er auf dem Weg nach Greenhill Ma nor, jener abgelegenen Villa, die dem exzentrischen Milliardär Sa muel Rockford gehörte, den Walker in Mexiko kennen gelernt hatte. Rockford selbst hielt sich noch immer im Regenwald auf, hatte Walker jedoch eine Vollmacht ausgestellt, die ihn dazu berechtigte, jenen Gegenstand abzuholen, wegen dem er die lange Reise auf sich genommen hatte. Er lenkte den Wagen an den hohen Metallzaun, der das großzügig angelegte Grundstück rundum begrenzte und zog den Zündschlüs sel ab. Ein heftiger Windstoß schlug ihm beim Aussteigen entgegen. Sein geöffneter Mantel bäumte sich auf wie ein lebendiges Wesen, das sich gegen seinen Träger wehrte. Schnell knöpfte Walker ihn zu und schloss den Gürtel. »Mistwetter«, brummte er und blickte sorgenvoll zum nacht schwarzen Himmel. Der Wetterbericht hatte für die Nacht weiteren Schneefall ange kündigt. Schon jetzt war die Zufahrtsstraße zur Villa von hohen Schneewehen bedeckt gewesen. Und der Sturm schien mit jeder Se kunde stärker zu werden. Aber Walker hatte ohnehin vor, die Nacht in der Villa zu ver bringen und den Rückweg erst am nächsten Morgen anzutreten. Mit ausladenden Schritten stapfte er bis zu dem schmiedeisernen Tor, das aufs Grundstück führte. Seine Stiefel versanken bis über die Knöchel im Schnee. Einen Moment lang verharrte er und starrte in das Antlitz der grimmig dreinblickenden Fratze, die in das Tor eingearbeitet war. Nachdem er vergeblich nach einer Klingel gesucht hatte, drückte er die Klinke nach unten. Das Tor löste sich mit einem Ruck und
schwang quietschend nach innen. Im Haus schien seine Ankunft noch nicht bemerkt worden zu sein. Niemand ließ sich an den Fenstern der drei erleuchteten Zimmer bli cken. Die Konturen von Greenhill Manor hoben sich kaum vom fins teren Nachthimmel ab. Mit seinen Türmchen und Erkern erinnerte die Villa ein wenig an die Miniaturausgabe eines europäischen Schlosses. Und irgendwie – er konnte es sich selbst nicht so recht erklären – hatte er das Gefühl, als würden tausend unsichtbare Augen seine Ankunft beobachten. Nicht aus dem Innern der Villa heraus. Nein, es war mehr so, als würde das Haus selbst ihn anstarren. Fröstelnd trat Walker durch das Tor auf den schmalen, mit Stein platten ausgelegten Weg, der geradewegs bis zum Haus führte. Je länger er sich im Freien aufhielt, desto mehr fühlte es sich an, als würden sich tausend winzige Nadeln in seine Gesichtshaut bohren. Leider hatte er kaum Zeit gehabt, sich auf seine Reise angemessen vorzubereiten. Als er Europa verlassen hatte, hatte er es in dem Glauben getan, die nächsten Tage im mexikanischen Regenwald zu verbringen. Erst nach der Landung in Halifax hatte er sich kurz die Zeit ge nommen, einen Schal, zwei warme Pullis und paar Fäustlinge zu kaufen. Und dennoch war die Kälte des Windes fast unerträglich. Die weißen Flocken wurden jetzt fast senkrecht durch die Luft ge weht, so dass Walker nur mit gesenktem Kopf dagegen angehen konnte. Er beschleunigte seine Schritte und blieb erst vor dem hölzernen Eingangsportal stehen. Auch hier suchte er vergeblich nach einer Klingel. Erst als er die mit zahlreichen Schnitzereien verzierte Oberfläche der Tür abtastete, fand er einen schweren Klopfer. Er ließ ihn dreimal gegen die dar unter angebrachte Metallplatte donnern.
Sekunden vergingen, ehe sich etwas tat. Endlich hörte er, wie ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde und trat einen Schritt zurück, während die Tür lautlos nach innen schwang. Walker nahm sich mehrere Sekunden Zeit, den Mann jenseits der Türschwelle ausgiebig zu mustern. Er war um die sechzig, hatte dünnes, streng nach hinten gestriegeltes Haar und ein schmales Gesicht mit einer langen spitzen Nase und zwei listig funkelnden, eisgrauen Augen. Irgendwie erinnerte er ihn an den Schauspieler Peter Gushing, der in zahlreichen britischen Gruselstreifen die Hauptrolle gespielt hatte. Nachdem ihn der Mann eine ganze Weile nur stumm angeblickt hatte, räusperte sich Walker und ergriff von sich aus das Wort. »Mr. Richardson, nehme ich an?« Rockford hatte ihm von seinem Butler erzählt. Ebenso von der Hauswirtschafterin, die sich zusammen mit den Zimmermädchen rund um die Uhr darum kümmerte, das Innere des Hauses sauber zu halten. »Mein Name ist Dan Walker«, stellte sich der Dämonenjäger vor. »Ich komme auf Einladung von Mr. Rockford.« »Der Herr des Hauses befindet sich zu Zeit auf Reisen«, sagte der Butler nur, ohne Anstalten zu machen, Walker hinein zu bitten. »Das weiß ich. Ich komme gerade aus Mexiko, wo ich ein Geschäft mit Mr. Rockford abgeschlossen habe. Hier ist eine Vollmacht, die er mir ausgestellt hat.« Er zog den Zettel aus seiner Manteltasche, faltete ihn auseinander und reichte sie seinem Gegenüber. Dieser warf einen langen Blick darauf, nickte schließlich und trat zur Seite. »Ich werde Ihnen die Reliquie einpacken«, bot er an, während er die Tür hinter Walker ins Schloss fallen ließ.
»Entschuldigen Sie …«, sagte Walker, als sich der Mann schon um gedreht hatte, um durch den kleinen, unmöblierten Vorraum zu ge hen. Richardson hielt inne. »Wäre es möglich, dass ich die Nacht hier verbringe? Der Wetterbericht sagt einen Schneesturm für die kommenden Stunden voraus. Mit dem Wagen könnte ich Probleme bekommen.« »Natürlich, Sir.« Der Butler ließ nicht erkennen, was er persönlich von dem Vorschlag hielt. »Ich werde ein Zimmer für Sie herrichten lassen.« »Machen Sie sich bitte keine Umstände«, sagte Walker schnell. »Ein schlichtes Bett, mehr brauche ich nicht. Morgen früh mache ich mich ohnehin wieder auf den Heimweg.« Bei diesem warmherzigen Empfang kann ich nur hoffen, dass es die Witterungsverhältnisse bis dahin zulassen …, fügte er stumm hinzu.
* Die Villa war in ihrem Innern so altmodisch eingerichtet, wie es der äußere Anschein versprach. Das Mobiliar bestand ausschließlich aus Antiquitäten, die jedoch so gepflegt waren, dass sie aussahen, als hätten sie erst vor Tagen die Schreinerwerkstatt verlassen. Richardsons Angebot, sein Gepäck aus dem Wagen zu holen, hatte Walker dankend abgelehnt. Er reiste ohnehin nur mit einer leichten Tasche, den er mühelos selbst tragen konnte. Schon als er wieder nach draußen trat, sah er sich in seinen Be fürchtungen bestätigt. Das Schneetreiben hatte innerhalb nur weniger Minuten massiv zugenommen. Der Sturm peitschte weiße Schleier durch die Luft, die die Sichtweite auf wenige Meter be grenzten. Walker senkte den Kopf, schlang den Schal bis knapp über die
Nase um sein Gesicht und eilte halb blind den Weg zum Gartentor zurück. Dort warf er sich hinter das Steuer seines Wagens, startete den Motor und fuhr links um das Grundstück herum. Richardson hatte vorgeschlagen, den SUV in der Garage neben der Villa unterzustellen. Walker war dankbar für diesen Vorschlag. Andernfalls würde er den Wagen morgen von Schneemassen be deckt vorfinden. Was der Butler als Garage bezeichnet hatte, glich mehr einem kleinen Pavillon mit einem spitzen Dach und einem wild im Wind kreiselnden Wetterhahn darauf. Richardson erwartete ihn bereits vor dem geöffneten Tor, so dass Walker nicht einmal anhalten musste, sondern das Auto aus dem weißen Inferno sofort in die beleuchtete Behaglichkeit der Garage fahren konnte. Vier Fahrzeuge waren bereits darin abgestellt. Ein Rolls Royce, ein Porsche, ein Mercedes und ein schwarzer Jeep, der aussah, als hätte er die Garage nie verlassen. Parker bugsierte den Mietwagen in die freie Lücke neben dem Ge ländefahrzeug, stellte den Motor ab und stieg aus. »Wir essen in etwa einer halben Stunde«, teilte ihm der Butler mit, während Walker seine Tasche aus dem Kofferraum wuchtete. »Wir würden uns freuen, wenn Sie sich zu uns gesellen würden.« »Sehr gerne«, antwortete Walker. »Zuvor würde ich mich allerdings gerne etwas aufwärmen.« »Das Gästezimmer verfügt über ein eigenes Badezimmer. Wenn Sie möchten, kann Margaret Ihnen gleich ein heißes Bad einlassen.« Um zurück in die Villa zu gelangen, mussten sie zu Walkers Erleichterung nicht mehr hinaus in die Kälte, da die Garage über einen unterirdischen Gang direkt mit dem Haus verbunden war. Das Zimmer, das Richardson für Walker herrichten ließ, befand
sich im ersten Stock, in den sie über eine knarrende Holztreppe ge langten. Die Wände waren hier oben mit zahlreichen Gemälden be hangen, die die Portraits diverser Personen unterschiedlicher Epo chen zeigten. »Ist das eine Art Ahnengalerie?«, fragte Walker im Vorbeigehen. »Das ist anzunehmen«, meinte Richardson, ohne ihn dabei auch nur eines Blickes zu würdigen. »Die Bilder hingen hier bereits, bevor Mr. Rockford dieses Haus erwarb.« Walker runzelte die Stirn. Sein Blick streifte das Antlitz eines äl teren Herrn, der mit einem schottischen Kilt bekleidet war und ein Monokel im rechten Auge trug. Er stellte es sich merkwürdig vor, tagein tagaus all diesen Menschen zu begegnen, ohne zu wissen, mit wem er es dabei zu tun hatte. Nach einer Weile hielt der Butler vor einer geöffneten Tür inne. Walker blieb hinter ihm. Über seine Schulter sah er eine junge Frau um die zwanzig in einer schwarzen Dienstmädchenuniform mit weißer Schürze, die gerade damit beschäftigt war, ihre Putzutensili en zusammenzupacken. »Miss Margaret!«, sagte Richardson tadelnd. »Sollten Sie hier nicht längst fertig sein?« Das Mädchen blickte verschüchtert zu Boden und murmelte ein leises »Verzeihung«. Dann ging es zu Tür und drückte sich an dem Butler vorbei auf den Gang. »Miss Margaret!«, rief Walker ihr hinterher. Sie blieb stehen, drehte sich um. Er lächelte sie an. »Danke!« Sie nickte, dann entfernte sie sich. Auf Richardsons Räuspern hin drehte Walker sich wieder zu ihm um. »Wenn Sie noch etwas benötigen … Sie finden mich im Salon, die Treppe hinab und dann rechts.«
Walker sah Richardson nach, als dieser den Weg zurückging, den sie soeben gekommen waren. Dann drehte er sich um und wollte sein Zimmer gerade betreten, als er unwillkürlich versteinerte. Am Ende des Ganges stand eine Gestalt. Im Halbdunkeln sah Walker nur ihre Silhouette, dennoch erkannte er ganz deutlich, dass es sich dabei um ein kleines Mädchen handelte. Sie hatte lange glatte Haare und trug ein rüschenbesetztes Kleid, das ihr bis zu den Knien reichte. Möglicherweise war sie Tochter eines der Dienstmädchen, überlegte Walker. Er hob die Hand zum Gruß, doch die Kleine blieb einfach nur stehen und sah ihn stumm an. Walker räusperte sich, warf einen schnellen Blick durch die offen stehende Tür in sein Zimmer, sah anschließend wieder dorthin, wo die Kleine stand – gestanden hatte! Sie war urplötzlich verschwunden, von einer Sekunde zur anderen. Walker schüttelte den Kopf und rieb sich die Augen. Sie musste den kurzen Moment, den er weggesehen hatte, genutzt haben, um nach links hinter die Biegung des Ganges zu verschwinden. Ein seltsames Verhalten, dachte er, während er sein Zimmer betrat. Doch damit war die Kleine nicht allein. Jeder in diesem Haus verhielt sich eigenartig, angefangen mit dem unheimlichen Butler, der sich benahm als würde ihm die Villa gehören. Und dann das Zimmermädchen. Auf Walker hatte sie den Ein druck gemacht, als habe sie vor irgendetwas unbeschreibliche Angst. Und noch etwas war seltsam … Obwohl hier im Gang und unten im Salon alle Lampen brannten, herrschte überall eine merkwürdig schwache Beleuchtung. Es war, als würden die Wände des Hauses einen Teil des Lichts absorbieren
und nur ein schattendurchsetztes Zwielicht übrig lassen. Walker schüttelte den Kopf und drückte die Tür hinter sich ins Schloss. War es möglich, dass er in letzter Zeit so häufig mit Dämonen kon frontiert gewesen war, dass er schon Gespenster sah, wo es keine gab? Einen gewissen Anteil daran hatte sicherlich auch die Atmosphäre dieses großen leeren Hauses. Die Dunkelheit und der Wind, der pfeifend um die Mauern wehte … Er ging zu dem schmalen Bett auf der rechten Zimmerseite, stellte seine Tasche darauf und streifte den Mantel ab. Das Gästezimmer war, wie alle anderen, altmodisch aber elegant eingerichtet. Das Bett war robust mit breiten Pfosten, die mit Schnitzereien verziert waren. Ein dicker Teppich dämpfte jeden Schritt. Die Tür zum Badezimmer stand einen Spalt weit offen. Ein schma ler Lichtstreifen sickerte hindurch. Dünne Dampfschwaden und ein leichter Duft nach Lavendel verrieten, dass Margaret tatsächlich Badewasser eingelassen hatte. Sehr gut, dachte Walker. Das würde seine Lebensgeister wieder wecken. Die Kälte, die sich in seinem Körper eingenistet hatte, schien sich wie mit Widerhaken in jeder Pore seines Körpers festzukrallen. Walker ging zum Fenster, warf einen langen Blick in die Nacht hinaus. Das Schneetreiben war noch dichter geworden. Es sah aus, als wäre eine weiße, sich ständig in Bewegung befindende Wand vor dem Fenster hochgezogen worden. Der Garagenpavillon, der von hier aus eigentlich hätte zu er kennen sein müssen, verschwand genauso dahinter wie der meter hohe Zaun. Lediglich ein paar knorrige Bäume stachen aus dem
Weiß hervor. Sie sahen aus wie bucklige Gestalten mit ver krüppelten Gliedmaßen, die sich der Villa genähert hatten, um dort Einlass zu begehren und noch auf dem Weg dorthin in der klir renden Kälte erstarrt waren. Walker griff nach den schweren Gardinen und zog sie mit einem Ruck zu. Er drehte er sich um und wollte gerade das Bad ansteuern, als er mitten in der Bewegung erstarrte. Sein Blick ging zur Tür. Und obwohl diese nur wenige Schritte entfernt war, konnte er kaum glauben was er da sah. Sie stand halb offen. Und mitten auf der Schwelle, die Hände hin ter dem Rücken verschränkt und zu ihm aufblickend, stand das Mädchen, dem er zuvor bereits auf dem Gang begegnet war. Verdammt, schoss es ihm durch den Kopf. Ich werde wohl nicht um hin kommen, die Tür von nun an abzuschließen. Als er einen Schritt auf das Mädchen zutrat, hob es abrupt die Hand, um ihm zu signalisieren, dass er stehen bleiben sollte. Walker respektierte ihren Wunsch. »Wie heißt du?«, fragte er und ging in die Knie, um auf einer Augenhöhe mit ihr zu sein. Sekunden vergingen. »Sue-Anne«, sagte sie schließlich mit leiser Stimme, die nicht mehr war als ein Hauch. Walker sah ihr fest in die Augen. Ihr Blick war leer, als wäre sie in Gedanken an einem völlig anderen Ort. »Was tust du hier?«, fragte er. Wieder sagte sie eine ganze Weile lang nichts. Doch plötzlich: »Du musst von hier verschwinden!« »Wieso? Ich bin doch gerade erst gekommen und …« »Sie sind hinter dir her«, sagte sie, ohne auf die Frage einzugehen. »Und jetzt haben sie dich gefunden …« Walker runzelte die Stirn und richtete sich langsam auf. »Wen
meinst du damit? Wer ist hinter mir her?« »Du bist in Gefahr!« Ungeachtet ihrer vorherigen Reaktion trat Walker erneut auf sie zu, doch das Mädchen drehte sich blitzschnell um und verschwand durch den Türspalt. Er folgte ihr, riss die Tür auf – und blickte in einen völlig leeren Gang. Er drehte den Kopf nach links. Nichts. Dann nach rechts. Dasselbe … Wie war das möglich? Der Gang setzte sich in beide Richtungen gut zwanzig Meter weit fort. Es war unmöglich, dass sie diese Strecke innerhalb der kurzen Zeit, die er bis zur Tür gebraucht hatte, zurückgelegt hatte. Auch gab es keinerlei Möglichkeiten, sich zu verstecken. Bis auf den grauen Läufer, der den Boden bedeckte, war der Gang völlig leer. Walker atmete tief durch und ging in sein Zimmer zurück. Dieses Mal drehte er den Schlüssel im Schloss, bevor er damit begann, seine Sachen abzustreifen. Während er sich nur mit einem Handtuch bekleidet auf den Weg ins Bad machte, kreisten seine Gedanken noch immer um jenes selt same Mädchen. Und um die Warnung, die es ausgesprochen hatte. Sie sind hinter dir her! Wen konnte es damit gemeint haben? Der Fluss seiner Gedanken gefror, als er über die Schwelle des Badezimmers trat und sein Blick auf die breite Badewanne fiel, die an der Rückseite des Zimmers stand. Er hätte schwören können, bis eben noch die Dampfschwaden ge spürt zu haben, die durch die geöffnete Tür geweht waren. Jetzt war davon nichts mehr spüren. Es war kein mit Badezusatz angereichertes, heißes Wasser, das da
in der Wanne auf ihn wartete. Es war Blut! Und mittendrin, die Arme auf die Ränder gelegt, als würde sie schlafen, lag eine Tote! In diesem Moment erlosch das Licht …
* Walker prallte zurück, tastete dabei nach der Tür in seinem Rücken. Er hatte den aufgedunsenen Leichnam nur ganz kurz gesehen, doch dieser Moment hatte gereicht, um sich alle Einzelheiten genau einzuprägen. Die Tote war weiblich, mit langen blonden Haaren, deren Spitzen die Oberfläche des blutigen Sees berührten, der den Körper bis zu den Schultern bedeckte. Sie musste dort schon lange gelegen haben. Ihr Körper war mit Flecken übersäht, die Haut blau und schwammig. Aber wie war es möglich, dass niemand sie bemerkt hatte? Walker stolperte zurück ins Nebenzimmer, tastete blind nach seinem Mantel und zog sein silbernes Feuerzeug hervor. Er schnippte es an, ging zurück zur Badezimmertür, blieb auf der Schwelle stehen und spähte zur Wanne. Einen kurzen Moment zweifelte er an seinem Verstand. Nicht nur die Leiche war verschwunden. Mit ihr fehlten sämtliche Spuren, die darauf hindeuteten, dass es sie je gegeben hatte. Kein Blut mehr, das die Wanne zu zwei Dritteln füllte. Nur schaumiges Badewasser, aus dem dünne Dampfschwaden zur Decke stiegen. Walker lehnte sich an den Türstock und atmete tief durch. Trotz der surrealen Atmosphäre, der Unwirklichkeit seiner Umgebung, analysierte sein Verstand blitzschnell und messerscharf.
In Ausübung seines Berufes war er schon des öfteren Zeuge von Geistererscheinungen geworden. Am häufigsten traf man sie in al ten Häusern mit einer langen Geschichte an. Ausgelöst wurden sie meist durch ein dramatisches Ereignis in der Vergangenheit. Häufig war es ein brutaler, ungesühnter Mord, der die Seele des Verstor benen daran hinderte, ewige Ruhe zu finden und ihn in einer Ebene zwischen dem Dies- und dem Jenseits bannte. Walker wollte sich der Badewanne gerade nähern, als er knar rende Schritte vernahm. Sie waren hinter ihm aufgeklungen! Aus dem Zimmer, das er erst vor wenigen Minuten abgeschlossen hatte! Hastig drehte er sich um. Die Flamme in seiner Hand begann im Luftzug seiner Bewegung zu flackern. Erst als sie sich wieder beru higt hatte, war ihr Licht stark genug, um das Zimmer notdürftig zu erhellen. Der Blick des Dämonenjägers fiel zuerst auf sein Bett, kroch dann über den Teppich bis zur Tür, von wo aus er ein weiteres Geräusch vernahm. Der Schein der Flamme reichte kaum bis dorthin. Der Umriss der Tür war im Halbdunkel nur schwach zu erkennen. Walkers Nackenhaare stellten sich auf. Ihm war, als würde ihn je mand aus den Schatten heraus beobachten. Eine unheimliche Präsenz, die seinen herkömmlichen Sinnen entging und die er mehr auf einer unbewussten Ebene wahrnahm. Walker trat einen Schritt in den Raum hinein. Die Schatten wichen vor dem Schein der Flamme zurück. Sein Blick fiel auf den Schlüssel, mit dem er die Tür zuvor abge schlossen hatte. Und der sich nun ganz langsam wie von Geis terhand im Schloss drehte. »Was, zum …?« Walker stürmte vor. Im selben Moment wurde die Klinke nach unten gedrückt und die Tür schwang nach innen.
Als Walker sie erreichte, hörte er gerade noch schnelle Schritte, die sich rasch den Gang hinunter entfernten. Er fluchte innerlich. Würde er sich ebenfalls im Laufschritt fortbe wegen, würde die Flamme des Feuerzeugs unweigerlich im Luftzug erlöschen. Und im Dunkeln durch eine ihm unbekannte Umgebung zu hasten, erschien ihm nicht gerade ratsam. Ganz davon abgesehen, war er nach wie vor nur mit einem Hand tuch bekleidet. Walker atmete tief durch, ging zurück ins Zimmer und entzündete die halb heruntergebrannte Kerze, die auf dem Nachttischränkchen stand. Dann streifte er sich frische Kleidung über. Mit einem dunklen Rollkragenpullover und seiner schwarzen Le derhose bekleidet, griff er nach der Kerze, trat auf den Gang hinaus und ging langsam in die Richtung, in der die Schritte zuvor verk lungen waren. Das Licht der Flamme reichte gerade aus, um einen Radius von etwa drei Schritten zu erhellen. Jenseits davon verschwamm die Umgebung in einem von tanzenden Schatten bevölkerten Zwielicht. Walker meinte, beinahe ihre wispernden Stimmen zu hören. Doch es war nur der Wind, der gegen das Haus blies, als wolle er es bis auf seine Grundmauern niederreißen. Dazu kam das Knarren im Ge bälk, das klang wie das Ächzen einer uralten im Sterben liegenden Frau. Immer wieder streifte sein Blick die Portraits an den Wänden. Bilder von Menschen, die bereits lange tot waren und die ihn dennoch mit funkelnden Blicken taxierten. Im zuckenden Wider schein wirkten sie fast schon lebendig. Kurz bevor Walker die Biegung des Ganges erreichte, blieb er stehen. Hatte er da gerade weitere Schritte vernommen? Ganz in sei ner Nähe? Langsam drehte er sich um die eigene Achse, die Augen zu Schlitzen verengt.
Eine Bewegung links von ihm alarmierte ihn. Ein geisterhafter Lichtfleck … Er stoppte, kreiselte in die andere Richtung – und starrte in ein bleiches, eingefallenes Gesicht, das nur Zentimeter von seinem ent fernt war. »Wie ich sehe, wissen Sie sich selbst zu helfen«, meinte der andere mit knarrender Stimme und richtete seine Mini-Taschenlampe zu Boden. »Mr. Richardson?« »Wir haben einen Stromausfall«, erklärte der Butler überflüssiger weise. »Ärgerlich, aber bei diesem Wetter nicht ungewöhnlich. Ich wollte Ihnen mit ein paar Kerzen aushelfen.« »Danke«, sagte Walker erschöpft und nahm den Beutel mit den Teelichtern entgegen, die Richardson ihm überreichte. »Wenn Sie hier fertig sind, können Sie mich gleich nach unten in den Speisesaal begleiten«, schlug der Butler vor. Walker schwieg. Sein Blick ging an Richardson vorbei, auf eines der Portraits, das schräg hinter ihm an der Wand hing. Das Licht der Kerze erhellte ein kleines, kindliches Gesicht. Ein Mädchens mit langen, glatten Haaren – jenes Mädchen, dessen war Walker sich fast sicher, dem er zuvor begegnet war. »In Ordnung«, sagte er wie in Trance. »Gehen wir …« Richardson nickte, drehte sich um und trat um die Ecke. Walker blieb zurück, näherte sich dem Bild und ging davor in die Knie, so dass das Licht der Kerze die auf dem unteren Rahmen angebrachte silberne Plakette beleuchtete. Ein Name war darin eingraviert. Sue-Anne Lombardo. 1879-1888.
»Kommen Sie, Mr. Walker?«, klang Richardson Stimme aus einiger Entfernung auf. Walker erhob sich und folgte dem Butler um die Ecke …
* Beim Essen erhielt Walker Gelegenheit, auch den Rest der Beleg schaft kennen zu lernen. Neben Margaret und dem Butler wurde die Villa nur noch von Su san, dem zweiten Hausmädchen, sowie ihrer Chefin Mrs. Greywood bewohnt. Alle vier waren ausgesprochen höflich, jedoch gegenüber Walker distanziert und schweigsam. Die blonde Margaret sah während des Essens kein einziges Mal von ihrem Teller auf, sondern hielt den Kopf gesenkt. Susan wirkte etwas aufgeschlossener. Walker erwischte die Rothaarige mit den Sommersprossen zweimal dabei, wie sie in seine Richtung schaute, nur um seinem Blick sofort wieder auszuweichen. Vielleicht lag es an Mrs. Greywoods einschüchternder Präsenz. Die ältere Dame strahlte die Strenge einer alten Grundschullehrerin aus. Sie hatte graues, wie in Zement gegossenes Haar und trug ein hochgeschlossenes, matronenhaftes Kostüm, das sie, selbst wenn sie allein war, vermutlich nur im Dunkeln ablegte. Sie und Mr. Richardson schienen während Rockfords Abwesen heit ein strenges Regiment zu führen, Susan und Margaret wirkten wie zwei eingeschüchterte Kinder, deren Eltern ihnen verboten hatten, sich bei Tisch zu unterhalten. Zeitweise waren das Ticken einer großen, antiken Standuhr, das Heulen des Sturms und das Klappern des Bestecks die einzigen Ge räusche im Raum. »Sie sind Kunstsammler?«, fragte Mrs. Greywood, die Walker di
rekt gegenübersaß, während des Hauptganges. »Nicht direkt«, gab er zurück. Auch wenn er über die Hin tergründe seines Interesses für das Tablett nichts sagen konnte, sah er keinen Grund, seine Gastgeber zu belügen. »Ich arbeite für den Vatikan und habe den Auftrag, eine heilige Reliquie aus Mr. Rock fords Besitz nach Rom zu überführen.« Die Alte wirkte misstrauisch. »Sie haben Glück, dass Mr. Rockford Ihnen das gute Stück überlässt. Er trennt sich sonst nie von seinen Schätzen.« Walker nickte und schnitt in das Bratenstück auf seinem Teller. »Ich bin ihm überaus dankbar, dass er in diesem Fall eine Aus nahme gemacht hat. Das Stück hat für uns großen ideellen Wert. Mr. Rockford sah ein, dass es im Schoß der Kirche besser aufgehoben ist, als in der Vitrine eines Privatmannes.« Wieder herrschte minutenlanges Schweigen aus, bis Walker schließlich das Wort ergriff. »Dieses Haus macht den Eindruck, als würde es auf eine lange Geschichte zurückblicken. Wie alt mag es wohl sein? Fünfzig Jahre? Hundert?« Greywood und Richardson tauschten einen schnellen Blick. »Erbaut wurde es 1843«, sagte die Alte. »Angeblich wurde es einem italienischen Herrschaftssitz nachempfunden.« Walker nickte beeindruckt. »Seitdem muss es viele Besucher kom men und gehen gesehen haben.« »Das hat es wohl«, bestätigte die Richardson. »Mr. Rockford erwarb es vor zehn Jahren aus dem Erbe eines verstorbenen Ge schäftsmannes. Offenbar war keiner seiner Nachkommen an dem al ten Kasten interessiert, deshalb verkauften sie es zu einem Spott preis.« Er räusperte sich, als sei ihm soeben klar geworden, dass er bereits zu viel gesagt hatte. »Darf ich fragen, wie lange Sie hier schon leben?« »Mr. Richardson und ich sind gemeinsam mit Rockford hier einge
zogen«, entgegnete Mrs. Greywood. »Susan und Margaret leisten uns erst seit einigen Wochen Gesellschaft.« »Es ist nicht leicht, auf Dauer Personal zu finden«, fügte der Butler schnell hinzu. »Wie Sie sich vorstellen können, sind nicht viele junge Leute bereit, freiwillig in diese verlassene Gegend zu ziehen.« Walker nickte verstehend. Er überlegte kurz, dann beschloss er, Nägel mit Köpfen zu machen. »Ist Ihnen in all den Jahren schon einmal irgendetwas Ungewöhn liches aufgefallen?«, fragte er. Stille breitete sich nach seinen Worten aus. Walker fiel auf, dass Susan einen Moment lang regelrecht versteinerte, so dass ihre Gabel auf halben Weg zwischen Teller und Mund in der Luft hängen blieb. Margarets Reaktion war das genaue Gegenteil. Sie begann unwill kürlich schneller zu essen, als würde jemand mit einer Stoppuhr neben ihr stehen und ihre Zeit messen. Mrs. Greywood zog lediglich ihre rechte Augenbraue in die Höhe. »Spielen Sie auf irgendetwas Bestimmtes an, Mr. Walker?« Kurz hintereinander blitzen in seinen Gedanken das Bild des kleinen Mädchens und das der Toten in der Wanne auf. Dennoch schüttelte er den Kopf. »Ich weiß nicht wie es Ihnen geht, aber Häuser wie dieses regen meine Fantasie an. Wenn man die Augen schließt und ganz leise ist, glaubt man die Stimmen jener zu hören, die die Villa in den vergangenen Jahrzehnten bevölkert haben.« Sekundenlang starrten ihn alle an, als habe er den Verstand verlo ren. Schließlich räusperte sich Richardson. »Nach dem Essen werde ich Ihnen die Reliquie holen. Ich nehme an, Sie wollen morgen sehr früh aufbrechen.« Irgendwie hatte Walker den Eindruck, dass diese Bemerkung als Aufforderung zu verstehen war …
* Das Tablett von Johannes dem Täufer … Die Fähigkeit des Täufers, kraft seiner Worte die Massen in seinen Bann zu ziehen, war im Moment seines Todes auf das Tablett über gegangen. So jedenfalls behauptete es die Legende. Und Walker sah keinen Grund, daran zu zweifeln. Immerhin hatte er seine Magie be reits am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Ehrfurchtsvoll dachte Walker an jenen Moment in Mailand zu rück, als er ein Viertel der viergeteilten Tellers berührt hatte. Sofort hatte er die Macht verspürt, die auf ihn eingeströmt war. Jene Macht, die sich auch der Vampir Luigi zu Eigen gemacht hatte und mit deren Hilfe er selbst Walker um ein Haar dazu gebracht hatte, sich ihm zu unterwerfen. Obwohl seine Erlebnisse in der entweihten Kirche nicht einmal eine Woche zurücklagen, kam es dem Dämonenjäger vor, als sei eine Ewigkeit seitdem vergangen. Auch seine Begegnung mit den Prager Werwölfen und sein Abenteuer im mexikanischen Regen wald war für ihn längst abgehakt. Walker hatte es sich angewöhnt, die Vergangenheit rasch hinter sich zu lassen, sich stets auf die Gegenwart zu konzentrieren. Andernfalls konnte es leicht passieren, dass er beim Sinnieren über die Dinge, die mittlerweile seinen Alltag bestimmten, irgendwann den Verstand verlor. Richardson hatte ihm die Reliquie wie versprochen nach dem Essen ausgehändigt. Sie befand sich in einer quadratischen hölzer nen Schatulle, die Rockford offenbar genau für diesen Zweck hatte anfertigen lassen. Die vier Mulden im mit Samt ausgeschlagenen Boden der Schatulle, hatten exakt die Form der Tablettteile, so dass diese sich passgenau einfügten. Leider waren nur zwei der Mulden gefüllt, die anderen beiden
leer. Das dritte Teil hatte Walker dem Mailänder Vampir Luigi abge nommen, es jedoch kurz darauf wieder verloren, als er von einer Horde mysteriöser Unsichtbarer überfallen worden war. Wer diese Typen waren, wusste er bis heute nicht. Nur, dass sie ganz offensichtlich alles daran setzten, dass Tablett in ihre Hände zu bekommen. Allein diese Erkenntnis war für Walker Grund genug gewesen, sich selbst auf die Suche nach der Reliquie zu machen. Das Tablett, darin war er sich mit seinem Chef und Mentor, Monsignore Travelli, einig gewesen, durfte nicht in die falschen Hände geraten. Der jenige, der den kompletten Teller in seinem Besitz wusste, besaß da mit auch die Macht, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Entsprechend groß war Walkers Erleichterung darüber, dass er seinem unbekannten Widersacher dieses Mal zuvorgekommen war und zumindest die Hälfte der Reliquie in seinen Besitz gebracht hatte. Damit war die größte Gefahr fürs Erste gebannt. Doch ihm war klar, dass er alles daran setzen musste, um auch die übrigen beiden Bruchstücke zu finden. Auch wenn er im Moment noch nicht die geringste Ahnung hatte, wo er bei seiner Suche an setzen sollte. Möglicherweise würden seine Kontakte zum Vatikan den entscheidenden Hinweis erbringen. Der Heilige Stuhl hatte Spione und Kontaktleute in aller Welt. Und wie er Monsignore Tra velli kannte, hatte der Prälat bereits von Rom aus alles in Bewegung gesetzt, um das Problem zu lösen. Immerhin hatte Walker zum ersten Mal seit langem das Gefühl, dem Ziel einen entscheidenden Schritt näher gekommen zu sein. Entsprechend gelöst war seine Stimmung, als er an diesem Abend zurück zu seinem Zimmer ging. Jetzt musste er nur noch die Nacht hinter sich bringen. Der Rückflug nach Rom war bereits gebucht und wenn alles glatt lief, würde er Travelli das Tablett bereits in weniger als 48 Stunden überreichen.
Er schloss die Tür seines Zimmers auf, als er eine leise Stimme ver nahm. Sie schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Schnell drehte er sich um, sah den Gang hinunter. Und da war sie! »Sue-Anne …«, stieß Walker flüsternd hervor. Das Mädchen stand am anderen Ende des Ganges und sah ihn schweigend an – bis sie sich plötzlich umdrehte und hinter der Bie gung des Ganges verschwand. Walker ballte die Faust. Sein Blick zuckte zwischen seinem Zimmer und dem Ende des Ganges hin und her, dann stieß er die Tür auf, ging zu seinem Bett und schob die Schatulle darunter. Anschließend ging er zurück zur Tür und zog den Schlüssel ab. Er trat auf den Gang und schloss sein Zimmer von außen ab. Prüfend drückte er die Klinke und stellte zufrieden fest, dass sie tatsächlich verriegelt war. Jetzt eilte er, die Kerze in der Hand, in die Richtung, in der SueAnn verschwunden war. Er sah sie, als er die Biegung des Ganges hinter sich ließ. Sie stand da und blickte über ihre Schulter, als habe sie nur auf ihn gewartet. Doch bevor er sie ansprechen konnte, drehte sie sich auch schon wieder um und entschwand durch eine geöffnete Tür auf der linken Seite. Walker eilte ihr nach. Vorsichtig näherte er sich der Tür, blieb zunächst auf der Schwelle stehen und warf einen vorsichtigen Blick in den Raum dahinter. Im Licht der Kerze entdeckte er drei Regale, die die Wände des Raumes zur Gänze bedeckten. Eine Bibliothek, stellte er fest. Von dem Mädchen fehlte indes jede Spur. Walkers Blicke durch maßen gründlich den Raum, doch die Kleine blieb wie vom Erd
boden verschluckt. Er sah noch einmal den Gang entlang, dann trat er behutsam über die Schwelle. Was hatte es mit diesem Zimmer auf sich? Warum hatte Sue-Anne ihn hierher gelotst? Um ungestört zu sein, schloss er die Tür. Anschließend schritt er die massiven Regale langsam ab und sein Blick strich dabei über die Buchrücken. Es mussten mehrere hundert Bücher sein, die hier auf engstem Raum untergebracht waren. Walker zog wahllos eines von ihnen heraus und begann darin zu blättern. Es handelte von der Flora und Fauna des Landes. Rasch stellte er es zurück, ging weiter. Da fiel sein Blick auf einen dicken schwarzen Wälzer, der auf Augenhöhe zur Hälfte aus dem Regal ragte. Es war, als hätte es je mand bewusst so weit herausgezogen, um ihn ganz gezielt darauf aufmerksam zu machen. Walker nahm das Buch und schlug es auf. Zu seiner Überraschung war es nicht bedruckt, sondern enthielt zahlreiche Zeitungsausschnitte, die auf die leeren Seiten geklebt worden waren. Und sie alle schienen mit der Geschichte von Green hill Manor zu tun zu haben. Die erste Eintragung berichtete vom Bau des Hauses. Auf dem Schwarz-Weiß-Foto links des Textes war ein elegant, aber altertümlich gekleidetes Paar zu sehen. Offenbar die zukünf tigen Eigentümer der Villa, dessen Rohbau im Hintergrund aufrag te. Walker blätterte weiter. Die folgenden Artikel hatten nur indirekt mit der Villa zu tun. Die meisten handelten von einem gewissen Jonathan Lombardo, bei dem es sich um jenen jungen Mann auf dem ersten Photo zu handeln schien, der ein ziemlich hohes Tier der Finanzwelt des 19.
Jahrhunderts gewesen sein musste. Lombardo … Walkers Kehle wurde trocken. Das war der Name des Mädchens. Gebannt schlug er die nächsten Seiten auf, bis er zu einem Artikel gelangte, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er handelte von der Geburt von Jonathan Lombardos erstem Kind, bei der es zu Komplikationen gekommen war. Jedenfalls war Charlotte, Jonathans Frau, bei der Niederkunft gestorben. Das Kind, Sue-Anne, hatte den Zwischenfall dagegen unbeschadet über standen. Mehr war dem kurzen Artikel nicht zu entnehmen. Einige Seiten lang folgte nichts Weltbewegendes. Die Jahreszahlen, die den wenigen Artikeln zugeordnet waren, verrieten, dass mehre re Jahre zwischen den einzelnen Ereignissen gelegen hatten. Um ein Haare hätte Walker die bislang interessanteste Stelle überblättert. Es war ein zweispaltiger Text ohne Bild. Lediglich ein Name sprang Walker aus der fünften Zeile heraus an. Sue-Anne Lombardo. Walker musste den Artikel nur überfliegen, um zu verstehen, was passiert war. Offenbar war das Mädchen beim Spielen die Treppe hinuntergestürzt und so schwer gefallen, dass sie auf der Stelle tot gewesen war. Ein tragischer Schicksalsschlag für den ohnehin schon vom Schicksal gebeutelten Jonathan Lombardo, wie es dort hieß. Wieder folgten einige Seiten lang nur Nebensächlichkeiten aus dem Geschäftsleben des letzten verbliebenen Familienmitglieds. Und dann … Walker stockte der Atem, als sein Blick über die Überschrift glitt. Jonathan Lombardo verhaftet! Geschäftsmann gesteht Schuld am Tod seiner Tochter. Wie aus den folgenden Zeilen hervorging, hatte sich Lombardo aus freien Stücken bei der Polizei gestellt und zugegeben, seine Tochter in einem plötzlichen Wutanfall die Treppe hinunter
gestoßen zu haben. Und offenbar war dies nur der Höhepunkt zahlreicher Gewaltakte des Vaters gewesen, die das Kind hatte ertragen müssen. Im letzten Drittel des Textes wurde ein Psychologe zitiert, der Lombardos bru tales Verhalten mit einem tief sitzenden inneren Hass auf sein einziges Kind erklärte, das er unterbewusst für den Tod seiner jungen Frau verantwortlich machte. Walker stutzte und sah sich um. Ihm war, als habe jemand in eben diesem Moment den Raum be treten. Sein Blick ging zur Tür. Sie war nach wie vor verschlossen. Er musste sich getäuscht haben. Erneut wandte er sich dem Album zu, überflog die übrigen Einträ ge jedoch nur. Sie alle handelten von den weiteren Besitzern des Hauses und den Ereignissen, die sich in den kommenden Jahren hier abgespielt hatten. Walker vermutete, dass das Album zunächst von einem Mit glied des Hauspersonals geführt und danach von Generation zu Generation weitergegeben worden war. Das Bild einer blonden jungen Frau ließ ihn kurz innehalten. Ir gendwie kam sie ihm bekannt vor. Dem Text nach hatte sie Barbara Bonett geheißen, war in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts ein eher unbedeutender B-Movie-Star gewesen. Sie hatte das Haus im Jahre 1956 als Landsitz erworben, um, wie sie selbst sagte, zwischen den Dreharbeiten dem Trubel um ihre Person zu entgehen. Walker glaubte, sie wieder zu erkennen. Gespannt blätterte er wei ter. Tatsächlich. Bereits auf der übernächsten Seite fand er die Nach richt über ihren Tod. Offenbar hatte ihr eigener Verlobter, ebenfalls ein Filmsternchen, sie während einer Party im Drogenrausch mit Dutzenden von Messerstichen getötet. Anschließend, so hieß es, habe er ihr Badewasser eingelassen und sie fein säuberlich in der Wanne drapiert.
Walker sah von dem Artikel auf und schlug das Album zu. Damit war zumindest klar, was es mit den Erscheinungen auf sich hatte. Aber warum waren sie ausgerechnet ihm erschienen? Und was hatte es mit den Worten des Mädchens auf sich? Du bist in Gefahr! Die Worte hallten wie ein Echo in Walkers Gedanken wieder und eine Gänsehaut rann über seinen Nacken. Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubender Laut – der spitze, gellende Schrei einer Frau! Eines der Hausmädchen, erkannte er und rannte auch schon los …
* Walker jagte die Treppe hinunter, rannte den kurzen Gang entlang und riss die Tür zum Speisezimmer auf. Er brauchte einen Moment, um die Situation zur Gänze zu erfassen. Mitten im Zimmer, neben dem langen Esstisch, stand Margaret. Etwas an ihrer Haltung irritierte ihn. Sie sah aus, als würde je mand sie festhalten und ihr die Hände gewaltsam auf den Rücken zwingen. Ihr Gesicht war angstverzerrt. Walker folgte dem Blick ihrer schreckgeweiteten Augen. Und da sah er, was sie in solche Aufregung versetzte – ein Kü chenmesser! Es schwebte etwa drei Schritte von ihr entfernt waagerecht in der Luft. Und seine Spitze war genau auf ihren Unterleib ausgerichtet. Walker überwand die Distanz mit zwei langen Sätzen. Doch kurz bevor er das Messer erreichte, drehte es ab und jagte schräg neben Margaret in die Wand.
Im nächsten Moment spürte er einen leichten Luftzug auf der Haut. Es war, als würde sich jemand dicht an ihm vorbeibewegen. Walker drehte sich um und sah noch, wie die angelehnte Tür von einem Windstoß erfasst nach außen schwang. Kurz darauf brach die Hölle los. Die Türen mehrere Schränke flogen wie von Geisterhand auf. Teller und Tassen lösten sich daraus und schwebten wie an unsicht baren Fäden gezogen in die Mitte des Raumes, um dort ungebremst zu Boden zu fallen. Walker rannte um den Tisch, packte Margaret bei den Schultern und schüttelte sie, um sie aus ihrer Starre zu lösen. »Kommen Sie! Wir müssen hier raus!« Das Mädchen setzte sich stockend in Bewegung. Mittlerweile hatte sich alles, was nicht niet- und nagelfest war, von seinem Platz gelöst und schwebte kreuz und quer durch die Luft. Da war eine marmorne Ballerina, die über der Tischplatte ihre Pi rouetten drehte. Kerzenständer drehten sich wie Kreisel und Bilder rotierten an den Wänden. Sogar einige Stühle hatten sich vom Boden gelöst und schwebten einen halben Meter hoch in der Luft. Walker hielt sich einen Arm schützend vor sein Gesicht, während er Margaret hinter sich her zog und sich einen Weg durch das Chaos bahnte. Sie waren noch wenige Schritte von der Tür entfernt, als diese er neut aufgerissen wurde und Richardson im Rahmen erschien. Der Butler starrte – keineswegs überrascht – in den Raum. Walker fand, dass er aussah wie ein Klempner, der einen Wasserrohrbruch begutachtete. Er trat erst zurück, als Walker und Margaret die Tür erreichten. Als beide hinaus in den Gang getreten waren, schlug er die Tür hin ter ihnen ins Schloss.
Der Lärm, der selbst durch die geschlossene Tür noch zu hören war, hielt etwa eine halbe Minute an. Dann, ganz schlagartig, wurde es still. »Ich weiß nicht, wie’s Ihnen geht«, knurrte Walker, während er sich erschöpft an die Wand lehnte. »Ich würde sagen, Sie haben da ein kleines Poltergeist-Problem.« Richardson musterte ihn ernst und mit durchdringendem Blick an. »Die Seelen der Toten verhalten sich normalerweise friedlich«, sagte plötzlich die Stimme einer älteren Dame. »Sie stören uns nicht, solange wir sie nicht stören.« Walker starrte in Mrs. Greywoods Richtung. Die Alte war am gegenüberliegenden Ende des Ganges nur schemenhaft zu erkennen. »Sie meinen …?«, setzte er an. »Irgendetwas hat sie aus ihrer Ruhe gerissen. Ich frage mich, Mr. Walker, weshalb Sie wirklich hier sind.«
* Mrs. Greywoods unverhohlenes Misstrauen war ihr auch durch Walkers Beteuerungen nicht zu nehmen. Doch eines wurde Walker aus ihrem anschließenden Gespräch klar: Sowohl sie als auch Mr. Richardson wussten, dass es in der al ten Villa spukte. Und beide hatten offenbar gelernt, damit umzuge hen. Greywood beharrte darauf, dass die Geister nur dann erschienen, wenn großes Unheil drohte. Und dieses Unheil, daran ließ die Alte keinen Zweifel, vermutete sie in Walkers Anwesenheit. Konnte er es ihr wirklich verübeln? Immerhin hatte der Spuk just in jenem Moment begonnen, in dem Walker den Fuß in das Gemäu
er gesetzt hatte. Was auch immer das zu bedeuten hatte, es bestärkte Walker in sei nem Wunsch nach einer baldigen Heimreise. Du bist in Gefahr! Die Warnung, die Sue-Ann Lombardo ihm gegenüber ausgespro chen hatte, erschien plötzlich in einem ganz anderen Licht. Auch wenn er sich damit noch verdächtiger machte, so hatte er es auf einmal ganz eilig, zurück in sein Zimmer zu gehen. Als er dort ankam war er zunächst erleichtert. Nichts wies darauf hin, dass die Tür in seiner Abwesenheit geöffnet worden war. Das Schloss war unversehrt und wies keinerlei Kratzer oder ähnliches auf. Schnell holte er den Schlüssel aus der Tasche und schloss auf. Mit wachsender Besorgnis bemerkte er den eisigen Luftzug, als die Tür lautlos nach innen schwang. Es war als würde er einen Kühl raum betreten. Kurz darauf wurde seine Kerze ausgeblasen. Und er erkannte den Grund dafür! Das Fenster stand sperrangelweit offen. Schnee wirbelte in ins Zimmer und die Gardine flatterte im Sturm, als sei sie zu unheimli chem Leben erwacht. Mit geballten Fäusten stürmte Walker nach vorn und warf sich vor dem Bett auf die Knie. Seine böse Ahnung wurde immer stärker und fand kurz darauf ihre Bestätigung, als er ins Leere griff. Die Schatulle war verschwunden! Nicht schon wieder!, zuckte es durch seinen Kopf, während er auf sprang und zum Fenster stürmte. Ungeachtet des Sturms beugte er sich weit hinaus und starrte in die Tiefe. Durch das Schneegestöber war kaum etwas zu erkennen, doch Walker war davon überzeugt, dass die Diebe an der Fassade nach oben geklettert waren und das Zimmer auf demselben Weg
auch wieder verlassen hatten. Allmählich begann er zu ahnen, was hier eigentlich los war. Schnell schloss er das Fenster und zündete seine Kerze wieder an. Anschließend eilte er hinaus auf den Gang und über die Treppe hin unter ins Erdgeschoss. Auf dem Weg zur Haustür begegnete ihm Mr. Richardson, der ihn völlig entgeistert anstarrte. »Mr. Walker! Wo wollen Sie hin?« »Ich muss etwas überprüfen«, gab der Dämonenjäger zurück. »Wenn Sie wollen, können Sie mich gerne begleiten.« Damit Sie sich auch davon versichern können, dass ich kein Unheil anrichte, fügte er in Gedanken hinzu. Richardson überlegte kurz, dann nickte er und schloss sich Walker an. Vermutlich hatte ihn soeben die Einsicht ereilt, dass er seinen Gast ohnehin nicht von seinem Vorhaben würde abhalten können. Eigentlich, dachte Walker, ist es ganz gut so. Immerhin hatte Richardson eine Taschenlampe bei sich. Mit seiner Kerze wäre er allein bei diesem verfluchten Sturm nicht sehr weit gekommen. An der Tür drängte sich der Butler an ihm vorbei und schloss auf. Schnee, Wind und eisige Kälte peitschten den beiden Männern entgegen. Walker senkte unwillkürlich den Blick und schirmte sein Gesicht darüber hinaus mit dem rechten Arm ab. Dann trat er ins Freie. Richardson blieb hinter ihm und schloss die Tür. Walker setzte sich, dicht an die Wand des Hauses gedrängt, in Bewegung und bog um die Ecke des Hauses. Schnell befanden sich die beiden Männer auf der Höhe von Walkers Zimmer. Jetzt erst drehte sich der Dämonenjäger zu Richardson um. »Leuchten Sie bitte auf den Boden!« Er hatte Mühe, mit seiner Stimme gegen das Brausen des Sturms anzukommen. Um seine Worte zu verdeutlichen, deutete er zusätz
lich mit der Hand auf die Stelle, die er meinte. Richardson senkte die Taschenlampe. Der Lichtfleck kroch ein Stück weit über Boden. Plötzlich hob Walker die Hand, um den Butler zum Innehalten zu bringen und beugte sich hinab. Der frisch gefallene Schnee hatte sie bereits verwischt, dennoch waren sie noch schemenhaft zu erkennen. Spuren! Die Abdrücke mehrerer Schuhe. Walker stand wieder auf, nahm dem völlig verdutzten Butler die Lampe aus der Hand und richtete sie erneut auf die Fußspuren, die von hier aus weiter am Haus entlang führten – und dann abrupt endeten. Er richtete den Strahl in Bodennähe auf die Hauswand und starrte auf das Fenster, das zur Hälfte über ein in die Erde eingelassenes Gitter ragte. Das Glas war zerbrochen. Ohne jeden Zweifel hatte sich hier jemand gewaltsam Zutritt verschafft. »Lassen Sie uns wieder ins Haus gehen!«, brüllte er Richardson zu. Er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte. Geister hinterließen keine Fußspuren. Auch mussten sie keine Fenster einschlagen, um sich irgendwo Zutritt zu verschaffen. Nein, die Diebe des Tabletts waren ohne jeden Zweifel aus Fleisch und Blut …
* »Wir sind … was?« Mrs. Greywood war sichtlich bestürzt, nachdem Walker ihr und den drei anderen Bewohnern der Villa von seinem Verdacht berichtet hatte. Sofort nach ihrer Entdeckung hatten er und Richardson die drei Frauen verständigt. Jetzt saßen sie alle in der geräumigen Küche bei
sammen. »Ich fürchte, wir sind nicht allein im Haus«, erklärte Walker noch einmal, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Einer oder mehrere Unbefugte haben sich unbemerkt Zutritt verschafft.« Tatsächlich war er der festen Überzeugung, dass sich die Diebe des Tabletts noch immer im Haus befanden. Solange der Sturm mit unverminderter Kraft tobte, waren sie hier genauso gefangen wie er. »Es scheint, als habe Mr. Walker Recht«, lautete Richardsons Ant wort auf den fragenden Blick, den ihm die Haushälterin zuwarf. »Die Spuren vor dem Haus sind kaum anders zu deuten.« »Wenn das wahr ist, dann sollten wir keine Zeit verlieren«, meinte Greywood und erhob sich von ihrem Platz. »Jeder von uns be kommt eine Waffe und dann stellen wir das Haus von oben bis un ten auf den Kopf. Wenn sich hier irgendjemand versteckt hält, finden wir ihn.« »So einfach ist es leider nicht«, wandte Walker ein, während er in Gedanken bereits nach einer möglichst schonenden Erklärung such te. »Was soll das heißen?« Mrs. Greywoods Misstrauen war of fensichtlich um keinen Deut geschwunden. »Nun …«, setzte er an, um noch ein paar Sekunden Zeit zu ge winnen. »Es wäre möglich, dass sich die Eindringlinge gezielt vor unseren Blicken verbergen.« Verdammt, das war ja noch schwieriger, als er gedachtet hatte. Wie sollte vier wildfremden Menschen erklären, was ihm vor wenigen Tagen in Mailand widerfahren war? Diese Stimmen, die aus einmal aus allen Richtungen gekommen waren, ohne dass ein Sprecher zu sehen gewesen war. Das kurze Flimmern in der Luft, das eindeutig menschliche Kon turen besessen hatte. Wie, um alles in der Welt, sollte er ihnen glaubhaft beibringen,
dass sie es hier aller Wahrscheinlichkeit nach mit einer Horde Un sichtbarer zu tun hatten, die wie er hinter dem Tablett her waren? »Ich kenne diese Kerle«, sagte er schließlich. »Ich bin ihnen zuvor schon begegnet. Und ich versichere ihnen: Sie sind mit allen Wassern gewaschen. Wenn sie nicht gefunden werden wollen, dann finden Sie sie auch nicht.« »Mr. Walker!« Eine steile Falte grub sich oberhalb ihrer Nasen wurzel in Mrs. Greywoods Stirn. »Was auch immer Sie uns verheim lichen, ich denke, dass es an der Zeit ist, reinen Tisch machen. Finden Sie nicht auch?« Walker begegnete ihrem Blick mit eisiger Miene. »Glauben Sie mir, Mrs. Greywood! Sie wissen nicht, womit Sie es hier zu tun haben. Ich schlage vor, dass Sie, Mr. Richardson und die beiden Mädchen sich in Ihrem Zimmer einschließen und mir das Feld überlassen. Andernfalls kann ich für Ihre Sicherheit nicht länger garantieren.« Susan und Margaret sahen verängstigt in die Richtung ihrer Chefin, die ihre Blicke jedoch völlig ignorierte. »Das würde Ihnen so passen, Mr. Walker«, sagte die alte Dame fest. »Denken Sie, ich weiß nicht, dass es Ihnen von Anfang an nur darum gegangen ist, uns aus dem Weg zu schaffen? Vermutlich haben Sie die Spuren vor dem Haus selbst gelegt. Was haben Sie vor, Mr. Walker? Wonach suchen Sie hier? Sie …« »Mein Gott!« Es war Margaret, die den Schreckensschrei ausstieß und dabei auf sprang, so dass ihr Stuhl umkippte und mit einem lauten Knall zu Boden ging. Walker sah, wie Mrs. Greywood bereits Luft holte, um ihren Schützling zu maßregeln. Was auch immer die alte Giftspritze dem Mädchen entgegenschleudern wollte, es blieb ihr im Halse stecken, als sie sah, was Margaret in solche Aufregung versetzt hatte.
Es war ein Trinkglas, das bisher unauffällig neben der Spüle gestanden hatte und zur Hälfte mit Wasser gefüllt war. Jetzt hatte es sich von seinem Platz gelöst und schwebte wie von selbst durch den Raum. Wie an unsichtbaren Fäden gehalten. Walker ärgerte sich darüber, dass er seine Magnum in seinem Zimmer gelassen hatte. Andererseits hätte die Waffe sicher nicht dazu beigetragen, Mrs. Greywoods Misstrauen ihm gegenüber zu zerstreuen. »Bewegen Sie sich nicht!«, befahl er und beobachtete, wie das Glas an ihnen vorbei zur Rückwand der Küche schwebte, wo der große Kühlschrank stand. Mit einem Mal ging alles ganz schnell. Urplötzlich kippte es leicht, stieß dabei nach vor, so dass das Wasser durch die Luft spritze. Doch statt gegen die Außenseite des Kühlschranks zu klatschen, blieb die Flüssigkeit mitten in der Luft stehen. Und nicht nur das. Es zeichnete eine Kontur nach. Ein Gesicht, das sich wie auf magische Weise aus der Luft heraus schälte. Einer der Unsichtbaren!, wurde es Walker sofort klar, während Margaret erneut aufschrie. »Raus hier!«, schrie er die anderen an. »Verlassen Sie auf der Stelle den Raum!« Er bemerkte, dass auch Mrs. Greywood erste Zweifel verspürte. Die alte Dame hatte den Blick starr auf das geisterhafte Gesicht gerichtet, während ihr Mund weit offen stand. »Gehen Sie!«, forderte er noch einmal. Dieses Mal zuckte Mrs. Greywood wie unter einem Stromstoß zu sammen, stand auf und scheuchte die beiden Mädchen in Richtung Ausgang. Walkers Blick streifte den des Butlers. Richardson war ebenfalls von seinem Platz aufgesprungen, sah je
doch nicht so aus, als würde er auch nur daran denken, die Flucht zu ergreifen. Egal. Möglicherweise konnte Walker seine Hilfe noch brauchen. Das Gesicht war mittlerweile verschwunden. Der Unsichtbare musste sich Wasser abgewischt haben. »Wir dürfen ihn nicht entkommen lassen!«, zischte Walker und postierte sich mit ausgebreiteten Armen in der Mitte des Raumes. »Stellen Sie sich vor die Tür!« Richardson ging an ihm vorbei und baute sich als menschlicher Schutzwall vor dem Eingang auf. Walker tastete sich derweil langsam vorwärts. Er war stets darauf gefasst, gegen einen unsichtbaren Widerstand zu stoßen. Seine Arme … Plötzlich explodierte ein donnernder Schlag auf seiner Brust. Glü hender Schmerz zuckte durch seinen Körper und drohte, ihn von den Beinen zu reißen. Beherrsch dich!, fuhr er sich selbst in Gedanken an. Da erwischte ihn auch schon der nächste Faustschlag und er spür te, wie sich jemand sich an ihm vorbei schob. »Passen Sie auf!«, schrie der Dämonenjäger Richardson an. »Er kommt auf sie zu!« Der Butler bewegte sich wie ein blinder Torwart, der einen Ball abzuwehren versucht. Ein plötzliches Geräusch zu Walkers Linken ließ ihn herumfahren. Sein Blick fiel auf die mittlere Tür eines Küchenregals, die sich wie von selbst geöffnet hatte. Er entdeckte mehrere Vorräte, die darin gelagert waren. Einige Salzstreuer, eine Dose mit Parmesankäse und – ein Beutel mit Mehl! »Danke!«, zischte Walker seinem unsichtbaren Helfer zu. Er sprang vor, griff nach dem Beutel und riss ihn auf, ohne sich darum zu kümmern, dass eine nicht geringe Menge des weißen Pu
ders über seinen Pulli und auf den Boden staubte. Kurz darauf vernahm er Richardsons unterdrückten Aufschrei. Der Unsichtbare musste ihm einen Tritt gegen das Schienbein ver passt haben. Richardson umklammerte es mit schmerzverzerrtem Gesicht. Als Walker losrannte, wurde der Butler bereits von unsichtbaren Händen gepackt und zur Seite geschleudert. Kurz darauf schwang die Tür auf. Walker war noch einige Schritte entfernt, dennoch stieß er den Beutel nach vorne und warf den In halt in die Richtung, in der er den Unsichtbaren vermutete. Und tatsächlich. Das Mehl verteilte sich in der Luft und zeichnete die Konturen eines menschlichen Oberkörpers nach. Der Kerl war für einen kurzen Moment irritiert. Er blieb stehen, sah an sich hinab. Als er weiter rennen wollte, hatte sich Walker be reits auf ihn gestürzt und riss ihn zu Boden. Doch bevor der Dämonenjäger einen Schlag anbringen konnte, fühlte er sich von hinten gepackt und in die Luft gerissen. Ein zweiter Unsichtbarer! Da spürte er auch schon einen brutalen Stoß in den Rücken. Er taumelte zur Seite, verlor dabei das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Ein Tritt in seinen Magen ließ tausend winzige Sterne vor seinen Augen zerplatzen. Verdammt! Durch den Schleier vor seinem Blickfeld sah er, wie sich der mit Mehl eingestäubte Unsichtbare auf die Beine zwang. Es war ein bi zarrer Anblick. Das Mehl bedeckte fast nur die obere Hälfte seines Oberkörpers, so dass es aussah, als würde der Teil eines Torsos über dem Erdboden schweben. Plötzlich registrierte Walker eine Gestalt, die mit einem Mal in der geöffneten Tür erschien.
Mrs. Greywood! Sie hielt eine doppelläufige Flinte, die sie kaltblütig auf den mehlbedeckten Torso richtete – und abfeuerte! Walker hörte einen Aufschrei und sah Blut, das sich mit dem Mehl vermischte. Der Getroffene stürzte zu Boden und blieb regungslos liegen. Im selben Moment spürte er, wie jemand ihm die Arme brutal auf den Rücken zerrte. Er schrie auf, versuchte mit aller Macht, sich gegen den Klammergriff zu wehren. Auch Mrs. Greywood wurde auf seinen Kampf aufmerksam. Blitz schnell schwenkte sie den Lauf der Flinte in die Richtung, in der sie den Unsichtbaren vermutete. Walker spürte wie der Kerl von ihm abließ und ließ sich fallen. Die Schrotflinte krachte und die feurige Ladung donnerte knapp über Walker hinweg, ohne ein bestimmtes Ziel zu treffen. Offenbar hatte sich der Unsichtbare ebenfalls in letzter Sekunde aus der Schussbahn gebracht. Sichtlich irritiert schwenkte Mrs. Greywood den Lauf hin und her und drückte schließlich völlig ziellos ein drittes Mal ab. Das Klirren von Glas mischte sich unter das Donnern des Schusses. Walker dachte zunächst, die Kugel habe die Glastür des Regals getroffen, das hinter ihm stand. Er wollte bereits vor den vermeintlich auf ihn einprasselnden Scherben in Deckung gehen, als er den eisigen Windstoß bemerkte, der plötzlich in den Raum fuhr und einen Schleier aus Schnee mit sich brachte. Jemand hatte das Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes eingeschlagen. Den Schmerz ignorierend zwang sich Walker auf die Beine, schleppte sich zum Fenster und schaute hinaus. Ganz deutlich erkannte er zwei verschiedene Fußspuren, die vor dem Fenster vom Haus weg führten. Einen Moment später entdeck
te er in der Ferne zwei Silhouetten, die sich aus dem Schneegestöber deutlich herausschälten. Sie flüchten! Walker spielte einen Moment lang mit dem Gedanken, sich eben falls aus dem Fenster zu schwingen und die Verfolgung auf zunehmen, besann sich dann jedoch eines Besseren. In seiner Verfassung wäre er bei diesem Wetter nicht weit gekom men. Es hatte keinen Zweck. Ihm blieb nichts anderes übrig als einzusehen, dass ihm die Unsichtbaren erneut überlegen waren. Leise fluchend drehte er sich um. Sein Blick fiel zunächst auf Mrs. Greywood, die durch die Tür getreten war, den Lauf der Flinte gesenkt hatte und zu Boden sah. Er folgte ihrer Blickrichtung – und bemerkte den Mann, der leblos auf dem Bauch lag. Eine Blutlache hatte sich um seinen Körper her um ausgebreitet. Sein Pullover war noch immer mit Mehl besch miert. Der Unsichtbare! Was Walker bislang nur vermutet hatte, schien sich nun zu bestä tigen. Wer auch immer diese Kerle waren, eines waren sie ganz si cher: Menschen aus Fleisch und Blut. Doch woher kamen sie? Was führten sie im Schilde? Und was ver lieh ihnen die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen? Walker ging vor dem leblosen Körper auf die Knie. Der Mann war so muskulös wie ein Bodybuilder. Ein blonder Borstenhaarschnitt bedeckte den Kopf. Da fiel Walkers Blick auf den Unterarm. Der Pullover war hochgekrempelt, so dass das Tattoo darauf deut lich zu sehen war. Eine stilisierte Schlange … Walker kannte das Symbol. Er stammte aus New York und hatte dort einen Großteil seiner Jugend verbracht. Bei dieser Tätowierung handelte es sich eindeutig um das Erkennungszeichen einer Gang
aus der Bronx. Dieser verfluchte Fall wurde zunehmend merkwürdiger. Doch zumindest wusste er jetzt, wo er seine Nachforschungen anknüpfen konnte. Rom war erst einmal aus seinem Reiseplan gestrichen. Bevor er die Heimreise antreten konnte, musste er alles daran setzen, die Diebe des Tabletts aufzuspüren. New York, ich komme …
* Sie verbrachten den Rest der Nacht und den halben Vormittag da mit, das Haus nach weiteren Eindringlingen zu durchsuchen. Doch wie es schien, waren die Unsichtbaren wirklich nur zu dritt ge wesen. Walker spielte einen Moment lang mit dem Gedanken, die nähere Umgebung rund um die Villa abzusuchen. Möglicherweise hatten sich die Flüchtigen im Schneegestöber verirrt und waren irgendwo unterwegs gestrandet. Doch er verwarf die Idee recht schnell wieder. Er würde sie nicht finden. Selbst wenn die Männer es nicht geschafft hatten, so lagen ihre gefrorenen Leiber mittlerweile unter einer dicken Schneedecke begraben und erst der Frühling würde sie daraus befreien. Mr. Richardson und Mrs. Greywood versprachen, ihn sofort zu be nachrichtigen, sollten ihre Leichen irgendwann gefunden werden. Zu Walkers Erleichterung hatte der Schneesturm bis zum frühen Morgen aufgehört und auch die Straßen schienen einigermaßen befahrbar zu sein. Die Rückfahrt trat Walker nicht alleine an. Susan und Margaret, die beiden Hausmädchen, hätten es kaum ei
liger haben können, ihre Kündigung einzureichen. Walker erklärte sich gerne einverstanden, sie mit in die Stadt zu nehmen. Als er aus der Garage hinaus und an der Vorderseite der Villa vor beifuhr, stoppte er noch einmal kurz und winkte dem Butler und der Haushälterin, die vor dem Eingang standen, noch einmal zu. Sein Blick glitt dabei an der Fassade entlang in die Höhe und blieb an einem der Fenster hängen. Er hätte schwören können, ganz kurz eine Gestalt hinter dem Glas zu sehen. Ein neunjähriges Mädchen, das die Hand erhob und ihm zuwinkte. »Mach’s gut Sue-Anne«, flüsterte Walker, während er den Wagen weiterrollen ließ. »Und danke für alles …« ENDE